Walter Flegel
Es gibt kein Niemandsland Roman
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Walter Flegel
Es gibt kein Niemandsland Roman
Militärverlag der Deutschen Demokratischen Republik - Berlin, 1980 Lektor: Wolfgang Lange Schutzumschlag und Einband: Wolfgang Ritter Typografie: Günter Molinski Printed in the German Democratic Republic Gesamtherstellung: Karl-Marx-Werk Pößneck V 15/30 Bestellnummer 746 218 1 DDR 9,50 M
Das Buch Friederike Schanz bricht aus ihrer Umgebung aus. Sie geht Wege, die fragwürdig erscheinen, und kümmert sich nicht um andere, die längst den Stab über sie gebrochen haben. Einzig Friederikes Vater, ein hoher Offizier, hält zu seiner Tochter und hilft ihr, einen Lebenskreis zu finden, der letztlich doch wieder der alte ist und dennoch ein neuer. Ausgehend von der Geschichte einer Familie blättert Walter Flegel eine Vielzahl von Schicksalen auf, die das Zentrum des Romans immer wieder tangieren. Menschen sind auf der Suche nach Liebe. Erfahrene Offiziere wachsen in ungewöhnlichen Situationen über sich hinaus oder versagen. Junge Soldaten finden zu sich selbst und zur Gemeinsamkeit mit anderen. Die Geschichte von Friederike Schanz ist eingebettet in die Atmosphäre einer großen militärischen Übung, Einzelschicksale verbinden sich mit dem Geschehen im ganzen Land und werden so zur Geschichte ebendieses Landes und seiner Armee. Mit Generalmajor Werner, Oberst Bredow, Leutnant Ahnert oder dem Soldaten Litosch werden Personen vorgestellt, die Hervorragendes leisten, aber nicht frei von Schwächen sind. Sie formieren sich insgesamt zu einem Bild der Volksarmee, das ebenso vielseitig wie konfliktreich erscheint. „Es gibt kein Niemandsland“ ist das bisher reifste Werk Walter Flegels. Es enthält viele Szenen, die in ihrer Art einmalig sind und unvergeßlich bleiben werden.
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1. Kapitel Die Birke weint. In bebenden Tränen rinnt der Regen am Stamm herab. Friederike Schanz steht nahe am Baum, sie drückt die Handkante gegen die weißgraue Rinde und beobachtet, wie das Wasser über ihre Finger tropft und sich in der Hand sammelt. Nach einer Weile trinkt sie einen Schluck Regen, der nichts Winterliches mehr hat. Er riecht nicht mehr nach Frost und schmeckt nicht mehr wie Schnee. Plötzlich ist er gekommen, lautlos und freundlich. So ist im Frühjahr die erste Schwalbe da. Friederike hebt den Kopf und spürt, daß ihr Tuch nach hinten gleitet. Sie schüttelt es ganz in den Nacken, und nach wenigen Augenblicken erreicht der Regen die Kopfhaut, läuft schließlich hinter die Ohren und über die Stirn. Sie hat das Gefühl, daß er in sie eindringt, sie durchfließt und die Gaststättengerüche, denen sie seit Jahren ausgesetzt ist, aus ihrem Körper spült: Tabaksqualm, Küchendünste und fremden Schweiß, nach dem die Uniformen riechen, die den Tanzsaal allabendlich überfluten und zwischen denen jede weiße Bluse, jedes bunte Kleid auffällt wie die Birke zwischen den Kiefern. Die Soldaten drängen, sobald die Musiker nach den Instrumenten greifen, auf die wenigen Frauen und Mädchen ein, versuchen, deren Tische als erste zu erreichen, oder jagen einander die Tänzerinnen mit List, Geld und manchmal auch mit Gewalt ab. Viele Soldaten bemühen sich stundenlang darum, wenigstens einmal tanzen zu können. Jedesmal verlieren sie, und trotzdem versuchen sie es immer wieder. Da sind sie wie erfolglose Spieler, die doch nie die Hoffnung auf bessere Karten oder glücklichere Würfe aufgeben. Abend für Abend wiederholt sich das. Friederike kennt es seit vier Jahren, und sie hat sich nicht daran gewöhnt. Ob sie bedient oder als Gast im Saal sitzt, sie erlebt diese Abende nie wie ein unterhaltsames Spiel. Mögen die anderen es als Spaß auffassen oder so tun, als hielten sie es für eine Art Wettbewerb. Sie weiß es anders, empfindet es 4
genauer. Sie erkennt die Enttäuschung, die plötzlich wie Schatten in den Augen steht. Die gleichzeitige Erfolglosigkeit vieler nimmt sie auf wie eine augenblicklange Stummheit, die sich nicht als Stille äußert, die nur wahrnehmbar ist im kurzen Luftholen, dem der Lärm folgt: Lachen und Zurufe, Finger trommeln den Takt der Musik gegen die Tischplatten, und Füße stampfen ihn auf den Dielen mit. Gesang und Gläsergeräusche. Bewegung an der Oberfläche, während ein Steinchen mehr auf den Grund sinkt, Zuwachs an Bitterkeit. Möglich, daß die Soldaten ihre unerfüllten Wünsche nicht als Bitternis fühlen. Für sie ist das alles zeitlich begrenzt. Sie gehen von hier wieder fort. Tagsüber, während der Ausbildung, haben sie Wichtiges zu tun, und außerdem sind es beinah jeden Abend andere, die ihren Ausgang in der Gaststätte verbringen. Friederike erlebt immer wieder, daß auf diese abendlichen Niederlagen alle gleich reagieren. Nur wenige Unteroffiziere und Soldaten verlassen vorzeitig den Saal. Die meisten von ihnen suchen Ersatz im Bier und im Schnaps. Diese Abende machen Friederike immer von neuem den Zustand deutlich, in dem sie sich befindet. Sie betrifft das alles viel stärker als jeden Soldaten, der vielleicht einmal in der Woche das durchmacht, womit sie seit langem lebt. Ein Leben, in dem bisher nichts von Dauer gewesen ist außer dem ständigen Wechsel. Der Regen tut gut. Leise ist er wie eine flüsternde, beruhigende Stimme. Friederike spürt ihren Mantel schwerer werden vor Nässe und fühlt sich unter dem allmählich zunehmenden Gewicht fester und sicherer. Die Birke ist jung. Drei Meter über dem Erdboden teilt sich ihr Stamm in zwei Arme, die sich wie bei einer Tanzenden nach oben recken. Und die dünnen Äste des Baumes hängen heute voller Regenknospen. Oft geht Friederike auf dem Weg zur Gaststätte und von dort nach Hause an der Birke vorüber. Sie ist ihr vertraut geworden, ihr ist sie nahe gekommen. Vielleicht weil dieser Baum zwischen den Regimentern von Kiefern so allein ist, wie Friederike sich zwischen den steingrauen Uniformen fühlt. Der nasse Mantel wird schwerer. Jetzt spürt sie den Druck nicht mehr nur auf den Schultern, er überträgt sich auch auf die Beine. Sie
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schließt die Augen. Stehenbleiben, so lange stehenbleiben möchte sie, bis die Füße in die Erde sinken, als wären sie Wurzeln. Endlich ganz irgendwo hingehören. «Rike!» Sie öffnet die Augen nicht, will nichts sehen und nichts hören. Aber die bekannte Stimme hinter ihr wiederholt leise: «Rike!» Sie ist näher gekommen, und Friederike spürt, daß Ulrich Fichtner dicht hinter ihr steht. In den Manteltaschen drückt sie die Fingernägel gegen die Handballen, bezwingt den Drang, sich umzudrehen. «Rike, steh doch nicht so da, bitte, wie angewachsen.» «Geh», sagt sie leise, «laß mich in Ruhe.» «Ich liebe dich doch», erwidert Fichtner, «und mir ist es egal, mit wem du vorher alles…. du weißt schon. Ich brauche dich, Rike.» «Ich dich nicht.» «Aber, du hast doch… mit mir…» «Geschlafen! Ja, aber deinetwegen, nur deinetwegen, verstehst du? Geh!» Der Soldat rührt sich nicht und schweigt. Jetzt wird er so dastehen, wie er ihr im Saal aufgefallen ist. Die braunen Augen wie im Erschrecken aufgerissen, den Daumen auf der Unterlippe, die Oberarme hilflos an den Leib gepreßt, von allen übersehen und unfähig, in den Kampf um die wenigen Tänzerinnen einzugreifen. Unbeholfen und ratlos, als wäre er durch ein Versehen mit seiner Schafherde in ein belebtes Stadtzentrum geraten. Friederike wiederholt leise: «Bitte, geh!» «Ich bin froh, daß ich dich gefunden habe. Ich such’ dich nämlich. Seit Wochen weichst du mir aus. Aber gehört hab’ ich ’ne Menge von dir. Geben die alle nur an, oder stimmt’s, was sie erzählen?» «Das ist mir egal», entgegnet sie, «wie du mir egal bist.» «Ich verstehe», sagt er und keucht plötzlich wie nach einer körperlichen Anstrengung. «Verstehe! Bin ja nur ein lausiger Soldat, Schütze Arsch im letzten Glied. Ein Schäfer, der nach Hammel stinkt. Nichts für ’ne Offizierstochter. Da muß einer Major sein, wenigstens, wie der, der seit zehn Tagen am Extratisch sitzt, und du
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streichst um ihn rum wie ’n rammliges Schaf.» Sie spürt seine Bewegung und herrscht ihn an: «Finger weg!» Er bleibt stehen, stumm, nur sein Atem ist zu hören. Ein kurzes Atmen mit offenem Mund, dem Friederike schon einmal gelauscht hat und das ihr auch in jener Nacht fremd geblieben ist, als er neben ihr lag. Nun bittet er wieder: «Rike, die Übung geht los, heut oder morgen. Ich wollte mit dir… Ich hab’ doch ein Recht darauf, und ich will dich heiraten, trotzdem, was du so alles…» «Bist du blöd oder was? Leid getan hast du mir. Mehr als Mitleid ist es nicht gewesen. Darum hab’ ich dich mit aufs Zimmer genommen, damit du’s endlich weißt! Ein Recht willst du auf mich haben? Auf mich hat keiner ein Recht. Und du schon gar nicht, du mit deinem Schafsverstand und deinem Bockgefühl!» Friederike hält sich nicht mehr zurück. Sie weiß, daß sie übertreibt, daß manches ganz anders gewesen ist. Es hat Gefühle und Regungen in ihr gegeben, die sich jeder Erklärung entziehen, für die es wahrscheinlich gar keine Worte gibt. Aber sie will, daß es zu Ende ist, will alles los sein, was sie mit Fichtner erlebt hat. Darum kränkt und beschimpft sie ihn. In Wirklichkeit gilt es eher anderen, geht es Friederike selbst mehr an als ihn, lehnt sie sich gegen Umstände auf, die der Soldat oder sie weder verursacht haben noch verändern können. «Verschwinde!» ruft sie. «Hau endlich ab!» Jetzt erst wendet sie sich um und sieht, daß der Soldat gar nicht mehr hinter ihr steht. Er ist längst auf die Schneise hinausgetreten, die Hände in den Taschen des Mantels, dessen Schöße lappig gegen die Stiefel schlagen, und entfernt sich langsam. Die Schulterblätter stoßen scharf aus dem Rücken hervor. «Schäferrücken», hat er gesagt, «kommt vom vielen Stehen und vom Stützen auf den Stab.» Dieses Stehen hat er ihr vorgemacht. Er hat den Besen aus der Ecke geholt und sich vor das Bett gestellt. Sie hat «Kehrt!» befohlen. Dann sah sie seine Schulterblätter, stand auf und betastete sie. Über ihnen war nur Haut, braune, feste Haut, ein wenig kühl und trocken. Friederike sagte: «Mann, daraus kannst du ja Schippen machen.» Er lachte leise, ließ den Besen fallen und hob sie aufs Bett. Friede-
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rike griff in seine Schulterblätter, spürte deren kraftvolle und rhythmische Bewegung, bis Ulrich flach auf ihr lag und sein Rücken plötzlich leer wirkte. Nach einer Weile drehte sie sich zur Seite, drückte ihn in das Kissen, holte ihre Nivea-Schachtel und cremte ihn vom Hals an abwärts ein. Er schwitzte nicht. Nur seine Haut hatte sich etwas gerötet, und als Friederike mit beiden Händen seine Schenkel einzureiben begann, richtete er sich schon wieder auf. Ihr schien es, als wollte er in dieser halben Nacht alles nachholen, was andere ihm voraushatten. Er war vor ihr noch nie mit einer Frau zusammengewesen. Das hatte er ihr gesagt, bevor sie sich nebeneinanderlegten. Er überließ alle ersten Schritte ihr und zog sich erst aus, als sie schon nackt war. Danach kam er nicht zu ihr, sondern sie mußte ihn holen. Seine großen Hände mit den starken Fingern waren behutsam und sanft gewesen. Ulrich schwieg meistens. Auch das erklärte er, wie die Form seines Rückens, mit seinem Beruf. Mit Schafen kann man nicht reden. Man ruft ihnen Kommandos zu, und höchstens mit dem Hund spricht man hin und wieder, weil der reagiert. Alles an sich selbst bezog Ulrich auf seinen Beruf, als hätte der schon im Mutterleib seine Entwicklung bestimmt. Die Größe sei wichtig wegen der Übersicht über die Herde, meinte er. Die schmale, leicht gerötete Nase hänge mit dem Wetter zusammen, die Stimme sei so rauh vom Kommandieren und weil er oft gegen den Wind schreien müsse. Die schlanken, starken Finger seien gut, wenn die Lämmer geboren würden, und der langsame Gang gehöre zum Schäfer wie der schwarze Hut mit der breiten Krempe. Wie der Stab und die zweirädrige Pferchbude. In jener Januarnacht ging Frische von ihm aus. Alles, was er über seine Arbeit sagte, bezog sich auf den Sommer, die Erde, betraf Gras und Blumen, Flüsse und Wege, an denen entlang er mit der Herde der Genossenschaft bis nach Potsdam gezogen war. Von seinem Heimatdorf bei Gotha bis in den Park von Sanssouci! Dreimal hatte er diesen Weg gemacht. Das erstemal gemeinsam mit seinem Vater, da war er zwölf Jahre alt gewesen. Er erzählte alles so genau, daß Friederike das, worüber er sprach, nicht nur hörte, sondern auch sah
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und roch. Und sie fragte ihn, ob es auch Schäferinnen gebe. Er kenne wenige, erwiderte Ulrich. Aber er könne es sich schon vorstellen, daß eine mit ihm zöge und wochenlang mit ihm in der Pferchbude lebe. Von ihm aus könne er sich das vorstellen. Aber von ihr aus nicht, höchstens einmal, zur Abwechslung vielleicht. Sie hatte streiten wollen. Sie wollte behaupten, daß sie so etwas brauche. Einen Beruf wie seinen, Menschen um sich, wie er einer war, deren Leben von zwei dauerhaften Beziehungen bestimmt wurde, von der Bindung an die Erde und von der Notwendigkeit des Unterwegsseins. Doch Friederike kam nicht dazu, es auszusprechen, weil er sie heftiger nahm als vorher. Vielleicht hatte er in jenen Augenblicken zu ahnen begonnen, was heute eingetreten war. Für ihn war es erst heute eingetreten. Sie wußte schon an jenem Morgen, als Ulrich Fichtner das Koppel über dem Mantel mit einem knirschenden Kratzen schloß und seine Mütze aufsetzte, daß sie ihn nicht wieder mit in ihr Zimmer nehmen würde. Er hatte nur an sich gedacht, und so würde es bleiben. Ulrich Fichtner erreicht das Schneisenkreuz. Ohne sich noch einmal nach Friederike umzusehen, biegt er in den linken Weg ein. Zwischen den am Jagenrand licht stehenden Kiefern sieht sie noch eine Weile seine Umrisse, die Stiefel und die schwer aufschwingenden Mantelschöße. Sie atmet auf, als die braunen Stämme ihr jede Sicht auf den Schäfer nehmen. Friederike ist ihm dankbar, weil er gegangen ist. Und sie ist ihm dankbar, daß er sie in jener halben Nacht kaum hat zu Wort kommen lassen und vieles ungesagt geblieben ist. Unbedachte Empfindungen, Wünsche und Sehnsüchte, die mit dem Augenblick nichts zu tun hatten, die aber später als unfreiwilliges Versprechen hätten aufgefaßt werden können. Nach jener Nacht im Januar hat Friederike Fichtner fast sechs Wochen nicht gesehen. Er hatte damals den Ausgang um mehr als vier Stunden überschritten und war bestraft worden. In ihrem Zimmer, das ihr zur Verfügung stand, damit sie bei schlechtem Wetter und nach der Spätschicht nicht bis in die Siedlung laufen mußte, sah sie ihn wieder. Sie wusch sich, als er plötzlich ins Zimmer trat. Er sagte
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kein Wort, und während er auf sie zukam, warf er Mütze und Mantel ab. Nach Schnee roch er und wirkte sicherer und älter als vor sechs Wochen. Friederike war müde nach der Schicht. Sie fühlte sich jetzt, da Ulrich in frischer Spannung vor ihr stand, schlapp und verbraucht und sagte: «Raus, man klopft doch an.» Er lachte, legte seine Hände auf ihre nackten Schultern, von wo aus sie sofort tiefer glitten und ihren Körper mit festem Griff in Besitz nahmen. In dem Augenblick war ihr Widerstand da. Wenn Ulrich abgewartet hätte, wenn er sanft gewesen wäre wie beim ersten Mal, dann hätte sie ihn vielleicht nicht abgewiesen. Aber Friederike mag nicht, wenn jemand versucht, ihr seinen Willen aufzuzwingen, wenn einer ins Zimmer tritt und sie wie ein Stück Eigentum behandelt. Sie drückte seine Hände von ihrem Leib weg und sagte: «Geh! Laß mich in Ruhe.» Doch er begriff nicht, schien ihre Ablehnung für Spaß zu halten, für spielerische Verzögerung, und begann, seine Jacke aufzuknöpfen. Schärfer und lauter sagte sie: «Du sollst gehen.» «Aber Rike, sechs Wochen, ich bin…» «Geh jetzt endlich!» «Das versteh’ ich nicht. Was ist denn los mit dir?» «Verstehen! Verstehen wirst du das wahrscheinlich nie. Da sind deine Schafe klüger als du. Die paaren sich nur, wenn ihre Zeit ran ist. Geh, bitte.» Da schwieg er. Die Spannung und Frische, die er ausgestrahlt hatte, als er ins Zimmer gekommen war, fielen von ihm ab. Ein Vorgang, der ihn auch körperlich veränderte. Friederike sah, wie seine Schultern nach vorn sanken, wie er vor Enttäuschung blaß wurde und auf einmal trotz seiner Größe schmächtig wirkte. Er stand so vor ihr, wie er damals im Saal gestanden hatte, fast ängstlich, stumm und verloren in der Menge und ihrem Lärm. Er kam meistens mittwochs, da hatte er Ausgang. Dreimal beobachtete sie ihn, und jedesmal rührten sie seine Hilflosigkeit und Verlorenheit. Am vierten Abend wies Friederike alle anderen ab, tanzte nur noch mit ihm und führte ihn allmählich zu sich selber zurück. Dabei vergaß sie ihre eigene Vereinsamung für ein paar Stunden und fühlte sich gut.
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Aber nun ist die Trennung vollzogen. Was sie in Ulrich Fichtner auslöst, interessiert Friederike nicht. Sie fühlt sich erleichtert und wendet sich um. Vor ihr liegt die Schneise. Geradeaus führt sie weiter, der Siedlung zu, und verliert sich in dunstiger Helligkeit. Auf diesem Weg ist Friederike selten jemandem begegnet. Er gehört ihr wie die Birke, deren Zweige nicht mehr grau, sondern von violetter Helligkeit sind. Laut Kalender beginnt in wenigen Tagen der Frühling. Während Friederike in Richtung Wohnsiedlung geht, hört es auf zu regnen. Ihre Erleichterung über die endgültige Trennung von Fichtner und die augenblickliche Stille vertiefen einander. Plötzlich wird alles zerrissen von starkem Motorenlärm. Panzer. Friederike lebt seit langem in der Nähe von Kasernen und Soldaten und kann alle Geräusche unterscheiden. An vielen, manchmal unscheinbaren Zeichen liest sie ab, daß eine große Übung bevorsteht. In der Gaststätte tauchen fremde Offiziere auf, die es eilig haben und selten länger bleiben, als eine Mahlzeit dauert. Je näher der Tag der Übung rückt, um so weniger Uniformierte sind zu sehen. Bleiben die Soldaten aus, steht eine Übung uns ins Haus! Hat die begonnen, genießen die Kellnerinnen die Ruhe. Doch schon am zweiten Tag blicken sie erwartungsvoll zur Tür, wenn sich Schritte nähern. Am dritten Tag ist ihnen die Ruhe bereits langweilig, und sie beginnen, sich nach dem Ende der Übung zu sehnen. Für Friederike sind diese Tage die besten. Sie hat Zeit für sich und nutzt die Gelegenheit, allein sein zu können. Sie bummelt Überstunden ab, fährt an die polnische Ostseeküste oder in die Bezirksstadt, wo sie herumspaziert und sich in guten Restaurants bedienen läßt. Der erste Abend nach einer solchen Übung ist in der Gaststätte immer ein besonderer. An keinem anderen wird so wild getanzt, so viel gelacht und so einmütig gesungen. Die Serviererinnen brauchen an solchen Abenden die Kraft und die Schnelligkeit von Spitzensportlern, um Speisen, Wein, Bier und Schnaps zu den Tischen zu schleppen. Und doch gibt es weniger Betrunkene, als hätte die Übung die Soldaten trinkfester gemacht. Zwischen ihnen herrscht ein erstaunliches Zusammengehörigkeitsgefühl und eine mitreißende Heiterkeit. Beides hat mit der vergangenen Übung zu tun. Friederike weiß, daß sich während dieser Zeit zwischen
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den Männern irgend etwas abspielt, das sie verändert, das sie einander näherbringt. Sie selbst fühlt sich im Restaurant nie so gut wie an solch einem Abend. Nie ist sie so nachsichtig gegenüber Annäherungsversuchen und Anzüglichkeiten, nie sind ihr all diese fremden Männer so vertraut wie in jenen Stunden. Irgend etwas geht draußen, weit entfernt von Städten und Dörfern, in ihnen vor. Dort, wo sie für Tage unter sich und aufeinander angewiesen sind, wo keiner, der nicht dazugehört, sie sehen und hören kann, von wo nur das Echo der Detonationen hin und wieder zu vernehmen ist. Und wenn sie zurückkommen, wenn die langen Kolonnen langsam durch die Siedlung den Kasernen zurollen, von Frauen und Kindern begrüßt und empfangen, erinnert sich Friederike an bestimmte sowjetische Filme, die im Krieg spielen. An Szenen, in denen sowjetische Soldaten als Sieger in befreite Dörfer oder Städte einmarschieren. Eine Spur jener Ergriffenheit, die von solchen Szenen ausgeht, empfindet sie jedesmal in sich selbst und beobachtet sie bei anderen, wenn die Regimenter heimkommen. Vielleicht verändert der gemeinsame Erfolg die Soldaten, der immer etwas von einem Sieg hat. Vielleicht sind sie so heiter und miteinander verbunden, weil sie nach Hause kommen, hierher, wo sie für achtzehn Monate so etwas wie ein Zuhause haben. Es sind nur Vermutungen, die Friederike anstellt und die nicht einmal ihr Vater bestätigen kann, obwohl er immer dabei ist auf den Übungsplätzen, in den weiten Wäldern, auf versandeten, ausgefahrenen Schneisen, in den Gräben und Stellungen. Er kennt die Veränderungen, denn sie sind auch in ihm oft genug vorgegangen. Aber er kann sie ebenso wenig erklären wie Friederike. Er hat jedoch aufmerksam zugehört, als sie ihm eines Tages schilderte, wie im großen Saal der Gaststätte die Stimmung noch einmal zu einem Höhepunkt auflebte. Und er bedauerte es, daß bis auf einige ledige Offiziere und junge Leutnants, deren Frauen noch nicht hier wohnen, alle anderen diese Abende nicht miterleben. Daran wird sich auch in Zukunft nichts ändern. Die meisten Offiziere gehen nach Hause zu ihren Frauen und Kindern. Das ist normal, und niemand wirft es ihnen vor. Aber bei ihnen wiederholt sich diese Stimmung nicht.
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Friederike denkt über das alles nach, während sie nach Hause geht und rechts von ihr die Motoren warmlaufen. Fast zwei Kilometer entfernt ist die Kaserne des Panzerregiments. Aber die Stille, die hier herrscht, und die saubere Luft verkürzen die Entfernung. Friederike beschäftigt die Stimmung der Soldaten, weil sie etwas Gutes ist, etwas Großes, das den Soldaten während der nächsten Tage erneut bevorsteht. Und sie beneidet sie um dieses Erlebnis. Die Motoren verstummen ebenso plötzlich, wie sie aufgeklungen sind. Friederike geht nun schneller. In ihrer Handtasche trägt sie fünf Schachteln «Dannemann-Zigarren», die Übungsration für ihren Vater. Oberst Karl Schanz steht am linken Wohnzimmerfenster, von dem aus er die lange, schnurgerade Siedlungsstraße bis zum Ende einsehen kann. Vor seinem Haus knickt sie nach beiden Seiten rechtwinklig ein und führt ebenso gerade nach Norden und Süden weiter. Alles in der Siedlung ist wie mit dem Lineal gezogen. Ausgerichtet und im gleichen Abstand zueinander reihen sich die Holzhäuser beiderseits der Wege auf wie angetretene Soldaten. Sogar einheitlich in Farbe und Form, bis auf die Vorgärten, an denen sich Geschmack und Liebhaberei der Bewohner frei entfalten können. Schanz wohnt mit seiner Frau und den vier Kindern seit reichlich vier Jahren in diesem Haus. Die siebente Versetzung während seiner Offizierslaufbahn verschlug ihn hierher, wo ihn vor ein paar Monaten die achte ereilte. Seit Beginn des neuen Ausbildungsjahres dient er in der Politischen Verwaltung des Kommandos. Er befindet sich allein im Haus. Seine Frau holt die beiden Kleinen aus dem Kindergarten ab. Schanz liebt die Stille, die es im Haus nur am Tage gibt, aber da ist er meistens in der Dienststelle. Die Wände der Häuser sind so dünn, daß von Zimmer zu Zimmer fast jedes Geräusch zu hören und jedes Wort zu verstehen ist. Schanz ist marschbereit und wünscht sich, daß die Stille anhalten möge bis zu seiner Abfahrt. Selten genug kann er so dastehen wie im Augenblick, umgeben von dämmriger Wärme, die Gedanken mit keiner Aufgabe beschäftigt, auf kein dienstliches Problem gerichtet.
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Die Hände spielen in den Taschen der Stiefelhose mit dem Schlüsselbund und dem Feuerzeug. Schanz blickt über die braunen Hauswände und roten Dächer, er nimmt den hellen Dunst wahr, den der Regen zurückgelassen hat. Und die Gedanken gehen eigene Wege, bis sie nur noch zusammenhanglose Visionen von außerordentlicher Schärfe sind, wie sie auch morgens in der Zeit zwischen Schlaf und Erwachen auftreten. Schanz mag diese Zustände der geistigen Schwerelosigkeit, und er versucht, sie so weit wie möglich auszudehnen. Manchmal führt er sie bewußt herbei, macht sich zu seinem eigenen Medium. Dabei dringt er in Bereiche seines Bewußtseins vor, die selten eine Frage berührt hat, in denen Reste von Gedanken und Gefühlen gespeichert sind, die ihm Auskunft über sich selbst geben. Selten spielt das Dienstliche dabei eine Rolle. Meistens tauchen private Dinge auf, geht es um persönliche und familiäre Ereignisse, um all das, was er während seines über dreiundzwanzigjährigen Dienstes oft weit von sich wegdrängen mußte. Das wirft Schanz niemandem vor, er fragt auch nicht, ob das eine oder andere tatsächlich notwendig gewesen wäre oder vielleicht anders hätte gelöst werden können. Nie ist er zu etwas gezwungen worden. Immer hat er so entschieden, wie er es für richtig hielt, und immer hat er das getan, was er als notwendig betrachtete. Um Vorwürfe und Abrechnungen geht es ihm gar nicht. Ein Spiel mit Möglichkeiten ist es, mit den gewesenen und den noch ausstehenden. Oder es geht um Versäumnisse, die er bedauert. Wenn er damals weiter zur Musikschule gegangen wäre, wenn er nach dem Sturz mit dem Fahrrad, bei dem er sich das Handgelenk gebrochen hat, den Klavierunterricht nicht aufgegeben hätte… Er sieht sich in Konzertsälen sitzen, sieht die sicheren, leichten Bewegungen seiner Finger, verfolgt sie, als würde er einem anderen über die Schulter sehen, und hört die Konzerte, die er hätte spielen können. Am Flügel steht er, die linke Hand auf dem schwarzen Lack, verbeugt sich, und der Beifall setzt ein. Nach jenem Unfall hat Schanz selten Klavier gespielt. Mehrere Male hatte er Gelegenheit gehabt, ein Klavier zu kaufen, aber er hätte in den Wohnungen, die er besaß, nie Platz dafür gefunden. In Räumen,
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wo Klaviere stehen, hält Schanz sich nicht gern auf. Geschlossene Klaviere wirken wie Vorwürfe auf ihn und offene ziehen ihn fast magisch an. Nur wenige Male hat er nachgegeben. Immer nur dann, wenn er irgendwo ganz allein war und sicher, daß niemand ihn hören würde. Seine Hände haben sich verändert. Schwer sind sie geworden und die langen Finger ungelenk vom Umgang mit groben Dingen, mit Geschützen und Panzern, Granaten und Schaufeln. Vor knapp drei Monaten jedoch hat er nach langer Unterbrechung wieder einmal Klavier gespielt. Aber daran erinnert er sich nicht gern. An einem Tag Anfang Januar fuhr er auf dem Heimweg vom Kommando zu Generalmajor Werner in die Stadt, um ihm eine Sendung bestellter Bücher aus der wissenschaftlichen Bibliothek zu überbringen. Werner, der ein paar Tage Urlaub machte, lud ihn ins Haus ein. Sie redeten über dienstliche Angelegenheiten, fragten einander nach Ereignissen oder gemeinsamen Bekannten aus. Dabei schnürte Werner das Bücherpaket auf, und Schanz trat zu dem «Förster-Klavier», das Werners Tochter gehört hatte. Schanz hatte sie im vergangenen Jahr einmal spielen hören, sie bewundert und beneidet. Seit ihrem Tod Anfang Dezember hatte Schanz den Generalmajor nicht mehr gesehen. Äußerlich hatte Werner sich nicht verändert. Seine Bewegungen waren leicht und sicher, und seine Augen blickten lebhaft und aufmerksam wie immer. Freundlicher wirkte er als sonst. Das lag möglicherweise daran, daß er keine Uniform trug und nicht im Dienst war. Schanz stand am Klavier, fuhr mit der rechten Hand über den Deckel und hob ihn mit einem Finger leicht an. Plötzlich sagte Werner neben ihm: «Du kannst doch spielen!» «Hab’ ewig nicht gespielt. Viele Jahre nicht.» Werner kippte den Deckel zurück und zog mit einem Fuß den Hocker unterm Klavier hervor. Schanz setzte sich und schlug einige Akkorde an. Schwer lagen seine Finger auf den Tasten, die Saiten dröhnten laut und unsauber auf. Er wollte sich erheben, doch Werner drückte ihn auf den Hocker zurück. Dann stellte er ein Notenblatt vor ihn hin, die As-Dur-Polonaise von Chopin. Schanz kannte sie. Ein schwieriges Stück Klaviermusik, das Begabung und Meisterschaft braucht. Abermals wollte er aufstehen, und wieder
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drückte Werner ihn auf den Sitz zurück. Der Divisionskommandeur sagte nichts, aber seine Bewegungen und Gesten waren so unnachgiebig, daß Schanz sich in die Noten vertiefte. Er ahnte, warum Werner wollte, daß jemand das Klavier seiner Tochter benutzte, warum Werner gerade diese Polonaise hören wollte, an der nichts Trauriges war und deren Stimmung mit Verlust und Tod überhaupt nichts zu tun hatte. Und er ahnte auch, warum ausgerechnet er sie spielen sollte, von dem nur ein laienhaftes Geklimper zu erwarten war. Werner wollte etwas loswerden, vielleicht die Erinnerung an die Begabung seiner Tochter, vielleicht die Stille, die ständig an ihren Tod erinnerte. Schanz begann zu spielen. Aber er spürte bald, daß die Unsicherheit seiner Finger und die in seinem Inneren mit dieser Musik nicht fertig wurden. An jenem Tag und an jenem Ort jedenfalls nicht. Er brach sein Spiel vor dem Mittelteil ab. Da schluchzte hinter ihm jemand auf. Schanz fuhr herum. Werner drückte seine Frau an sich, die noch im Mantel war. Ihre Arme hingen herab, in der einen Hand hielt sie ihr Halstuch, in der anderen ihre Pelzmütze. Werner nickte Schanz beruhigend zu und hob ein wenig die Hand. Im Weggehen hörte Schanz, wie Lore Werner sagte: «Und ich habe gedacht…. hab’ wirklich geglaubt, daß Katrin…» Alles Weitere ging im Schluchzen unter. Auf dem Weg zu seinem Wagen schwor Schanz sich, nie wieder ein Klavier anzufassen. Seine frühere Fähigkeit und seine ehemaligen Wünsche erlebt Schanz jetzt nur noch in seinen Wachträumen. Aber die schmerzen ihn nicht. Schanz ist diesen Träumen gegenüber längst nicht mehr empfindlich. Sie gehörten zu ihm, sind gute Erinnerungen, die sein Gedächtnis der Vergessenheit entreißt. So weitet er seine Vergangenheit aus und bereichert sie. Versäumnisse, ungenutzte Möglichkeiten tauchen im Leben jedes Menschen später irgendwann einmal auf. Den einen quälen sie, den anderen erdrücken sie. Schanz ist fähig, sie einzuordnen zwischen diejenigen Ereignisse, die für ihn wichtig geworden sind. Weit hinten in der Straße taucht im freundlichen Dunst ein Schatten auf, löst sich schließlich aus den schleiernden Vorhängen und nimmt
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deutlichere Umrisse an. Schanz erkennt Friederike. Nicht am Gang, an der Figur oder an anderen Einzelheiten. Dafür ist sie noch zu weit entfernt. Schanz erkennt sie, weil sie wieder mitten auf der Straße geht. Durch die Siedlung geht Friederike nie anders. Spießrutenlauf! Die angetretenen Häuser heben die Leitungsmasten wie riesige Ladestöcke, holen zum Schlag aus. Gegen Friederike, die manchen Frauen in der Siedlung ein Dorn im Auge ist. Es gibt welche, die betrachten ihre Anwesenheit als Gefahr und wechseln mit Mann und Kindern sonntags beim Kaffeetrinken im Restaurant den Tisch, um nicht von Friederike bedient zu werden. Flittchen! Das schmerzt. Schanz wahrscheinlich mehr als seine Tochter, die auf die Frauen nicht achtet, mitten auf der Straße durch die Siedlung geht, sich regelmäßig mit einem anderen Mann sehen läßt und lachend mit dem Finger auf die Fenster weist, hinter denen sie Bewegung erkennt. Hure sogar! Mit Friederike reden sie nicht. Über sie reden sie, haben ihr einen Ruf besorgt, der viele schon aufhorchen läßt, wenn bloß der Name fällt. Die einen lüstern, andere betroffen oder empört. Und einige reden mit Frau Schanz, die ratlos und hilflos ist und unter dem Ruf ihrer Tochter wie unter einem Makel leidet. Auch zu ihm kommen sie, und selbst bei seinem Vorgesetzten haben sie sich über Friederike beschwert. Sogar das Wort «Ausweisung» ist schon gefallen. Man fürchtet Friederikes Beispiel für die heranwachsenden Töchter und für bestimmte Verhaltensweisen der Söhne. Dabei ist die Mode noch zu verkraften. Die größeren Mädchen ahmen Friederike nach, krempeln die Hosen über den Stiefeln hoch, stricken lange Schals, die bis zu den Waden reichen, und wollen knöchellange Röcke haben mit einem Seitenschlitz bis zur Hüfte. Friederike kommt näher. Das rote Kopftuch liegt im Nacken. Seit Jahren trägt sie mohnfarbene Kopftücher oder kornblumenblaue. Spießrutenlauf! Eigentlich müßte Schanz jetzt seiner Tochter entgegengehen und alle noch fälligen Schläge abfangen, ihr Schmerzen ersparen, sie auf sich nehmen. In den letzten vier Jahren hat er Friederike oft nicht einmal mit Worten beigestanden, hat sie nicht verteidigt, wenn sie beleidigt wurde, wenn er Zoten über sie hören mußte. Geschwiegen hat er. Das Gelächter und die Gelüste der einen hat er
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ebenso hingenommen wie die Empörung der anderen. Auf den Rat mancher Freunde aus dem Stab, endlich etwas zu unternehmen und Ordnung zu schaffen in der Familie, hat er nur genickt und insgeheim gehofft, daß Friederike vielleicht eines Tages von selbst aus der Siedlung verschwinden würde. Außerdem war längst nicht mehr zu unterscheiden, was an dem Gerede um Friederike der Wahrheit entsprach und was Gerücht oder Legende war. Schanz unternahm nichts. Er hatte im Stab und in den Regimentern Wichtigeres zu tun, als sich immer wieder mit den Forderungen jener hartnäckigen Frauen zu befassen, die von Friederike nicht abließen, die von einer eigenartigen Eifersucht getrieben wurden, die sie unsicher und rücksichtslos zugleich machte. Selten waren es junge Frauen, sondern meistens alteingesessene, die bereits viele Jahre hier lebten, ohne arbeiten zu können. Nachdem Friederike achtzehn geworden war, unterließ Schanz es ganz, mit ihr über solche Dinge zu reden. Sie schüttelte den Kopf, wenn er es versuchte, hob abwehrend die Hände oder ging aus dem Zimmer. Das einzige, was sie respektierte, war die Forderung der Eltern, keinen ihrer Freunde mit ins Haus zu bringen. «Wenn ich einen mitbringe», hatte sie zu ihrem Vater gesagt, «ist es der, den ich heiraten oder von dem ich wenigstens ein Kind haben möchte.» Selten hatte Schanz seiner Tochter geholfen. Auch gegenüber seiner Frau nicht, die Friederike noch jetzt manchmal anschrie, wenn sie in der Siedlung bedauert oder nicht gegrüßt wurde. Friederike ließ alles stumm über sich ergehen. Mutter und Tochter waren einander fremd geworden, ähnlich waren sie einander nie. Langsam und ruhig nähert sich Friederike dem Haus. Ihr regennasses Haar wirkt schwer und matt wie feuchtes Stroh. Äußerlich ist sie auch ihrem Vater nicht ähnlich. Schanz und seine Frau sind größer und schwerer. Beide stammen vom Lande, und sie haben etwas von der gewichtigen Behäbigkeit erfolgreicher und hart arbeitender Bauern. Und doch gibt es etwas, das Schanz und seine Tochter gemeinsam besitzen. Friederike erscheint ihm so, wie seine Hände waren, als er noch Klavier gespielt hat. Ihre frühere Leichtigkeit und Beweglichkeit haben sich in Friederike fortgesetzt, sind in ihr Gestalt ge-
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worden. Dieser Vergleich ist ihm auf dem Tanzsaal eingefallen. Am 28. Februar feierten die Offiziere des Divisionsstabes, die Kommandeure der Truppenteile und ihre Stellvertreter den Tag der NVA. Schanz, als ehemaliger Mitarbeiter des Stabes, war eingeladen worden. Seine Frau lag mit Angina im Bett. Friederike, die Frühschicht gehabt hatte, hörte oben in ihrem Zimmer irgendwelche Beatmusik. In der Küche klopfte Schanz ein paarmal mit dem Besenstiel gegen die Decke, sofort wurde die Musik leiser. Schanz wiederholte das Signal, und wenige Augenblicke später lehnte Friederike am Türpfosten und fragte: «Was liegt an?» «Hast du Lust? Dann komm mit. Für Mutter.» Friederike schloß die Augen. Die Haut über den dichten Wimpern war hell, und Schanz sah, daß sie ein wenig zitterte wie bei kleinen Kindern, wenn sie einschlafen. «Du willst mich wirklich mitnehmen?» fragte Friederike und öffnete die Augen. Er nickte. Es war die letzte Feier, die er hier miterleben würde. Lange war er seiner Tochter ausgewichen und hatte sich außerhalb der Wohnung nicht mit ihr sehen lassen. «Mach dich fertig», entschied er. Friederike sah ihren Vater lange an. Weit hinten in ihren Augen tauchte Freude auf, wurde in ihrem Gesicht immer deutlicher. Sie verspäteten sich an diesem Abend ein wenig. Im Foyer des Hauses der NVA hielten sich nur ein paar Kraftfahrer und jene Soldaten auf, die für die Garderobe verantwortlich waren. Schanz griff nach Friederikes Ellenbogen, spürte daß er kalt war und daß sie zitterte. Beruhigend drückte er ihren Unterarm, und Friederike lehnte sich an ihn, als sie den Saal betraten. Wer sie bemerkte, machte die Tischnachbarn auf sie aufmerksam. Gespräche wurden leiser oder ganz unterbrochen. Friederike trug ein schulterfreies Kleid mit weitem Rock, der bis auf den Boden fiel. Ein rundgestrickter Stoff in Graugrün, mit weißen Orchideen und roten Kolibris. Leicht und hautweich war er, und Friederike trug das Kleid trotz ihrer Aufregung ungezwungen und locker. Auf dem Weg zu ihrem Tisch, der in der vorderen Hälfte des Saales stand, sah und hörte Schanz, daß an vielen Tischen getuschelt wurde. Auch später blieben die beiden von Neugier, Abwarten und
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Ablehnung umspannt. Keiner der Männer forderte Friederike zum Tanz auf. Schanz aber ließ keine Runde aus. Friederike tanzte leicht und sicher, blickte ihn ununterbrochen an wie vor sechs oder sieben Jahren, als er zum erstenmal mit ihr auf einem Ball gewesen war. In ihren Bewegungen lag soviel Schwung und Freude, daß viele Männer über die Schultern ihrer Frauen immer wieder zu Friederike herüberblickten. Gleichzeitig jedoch wichen sie ihnen aus, und der freie Raum, der so um sie entstand, charakterisierte deutlicher als alles andere, welchen Mut sowohl Schanz als auch Friederike an jenem Abend aufboten. Das Außergewöhnliche wird entweder bewundert oder gehaßt. Was viele im Saal dachten, sprach der schon grauhaarige Oberstleutnant Kunze aus, den Schanz seit vielen Jahren kannte. Kunze stand mit seiner Frau an der Bar, von der Schanz zwei Cocktails holen wollte. Kunze blickte ihn ununterbrochen an, und Schanz entdeckte in den Augen des Oberstleutnants eine unangenehme Strenge. Die war auch in seiner Stimme, obwohl Kunze freundliche Worte wählte. «Na, Karl», sagte er, «das hättest du nicht machen sollen. Die Leute, weißt du, mögen sein, wie sie wollen, aber deine Tochter gehört nicht hierher. Du ärgerst die anderen, bringst sie auf. Sag mal, wolltest du das?» Schanz hatte schon eine Antwort auf den Lippen; aber ein anderer gab sie für ihn. Vor Friederike stand ein Major am Tisch, den Schanz nicht kannte. Er trug Artillerieschulterstücke. Ein kräftiger Mann, dem die Jacke in den Schultern zu eng war. Schanz sah ein breites Gesicht mit männlichem Kinn. Ein wenig steif verbeugte sich der Major vor Friederike und führte sie am Arm zur Tanzfläche. Schanz spürte, daß Freude in sein Gesicht schoß. Er begann, herzhaft zu lachen, und reichte Kunze einen der Cocktails. Der Oberstleutnant griff auch zu, stieß sogar mit Schanz an, der sagte: «Auf die Männer, die es noch gibt.» Lachend ging er danach zu seinem Tisch. Die Kapelle spielte einen Walzer. Friederike und der Major blickten einander an, während sie sich am Rand der Tanzfläche entlangdrehten, die aus wer weiß wel-
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chen Gründen verhältnismäßig leer geblieben war. Jetzt erst bemerkte Schanz, wie gut Friederike aussah, mit welcher Hingabe sie tanzte, und in jenen Augenblicken entdeckte er, daß seine Tochter ihm doch ähnlich war. Nach dem Tanz ging der Major mit Friederike zur Bar, wo man ihnen bereitwillig Platz machte. Später tanzte auch Generalmajor Werner mit Friederike, und andere Offiziere folgten. Ein paarmal kam der Major wieder, der den Bann gebrochen hatte, und allmählich vereinte die zunehmende Ausgelassenheit alle. An diesem Abend haben die Beziehungen zwischen Schanz und seiner Tochter begonnen, sich zu verändern. Seitdem denkt er oft und immer gründlicher über sie nach, beobachtet sie genauer, und immer schmerzhafter brennt die Erkenntnis, daß Friederikes Wesen und Verhalten geformt worden sind durch jene Ereignisse und Abläufe, die sein Leben bisher bestimmt haben und weiter bestimmen werden. Seine tiefe und gleichzeitig durch ihn selbst kaum beeinflußbare Schuld besteht darin, daß Friederike seine Tochter ist und geboren wurde, als er für sie weder Zeit noch Erfahrung besaß, und daß er nicht in der Lage war, ihr je etwas Dauerhaftes zu bieten. Wenn man nach jedem dritten oder vierten Jahr umziehen muß, gibt es keine Landschaft und keinen Ort, keinen Baum, keine Wiese, kein Haus und nichts von all diesen Kleinigkeiten, die man fühlt und an die man denkt, sobald das Wort «Zuhause» fällt. Die Familie hat Freunde und Bekannte gewechselt wie Schanz seine Vorgesetzten. Großeltern, Onkel und Tanten waren meist so weit entfernt, daß ihre seltene Anwesenheit nie einen bestimmenden Einfluß auf die Kinder gewann. Freundschaften mit Klassenkameradinnen gingen zu Ende, kaum daß sie begonnen hatten. Und für Friederikes Berufswahl vor etwa vier Jahren war vor allem die dienstliche Abhängigkeit des Vaters ausschlaggebend gewesen und Friederikes Pflichten innerhalb der inzwischen kinderreichen Familie Schanz. Aber auch die Arbeit als Serviererin war vom Wechsel bestimmt und hier im Ort sogar vom doppelten Wechsel. Denn die Mehrheit der Gäste bestand aus Soldaten, die kamen und gingen wie Schlager, die im Saal gespielt wurden. Alle diese Einzelheiten und die Zusammenhänge, die sie bewirkten, sind Schanz in den letzten Tagen nach
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und nach bewußt geworden. Nun besitzt er ein genaueres Bild von seiner Tochter. Manches in ihrem Verhalten kann er sich jetzt erklären, vieles beginnt er zu verstehen. Das tut ihm und Friederike gut. Obwohl beide wissen, daß sie damit nichts mehr ändern, daß Abläufe und Wirkungen nicht mehr rückgängig gemacht werden können. Und Schanz ist nicht einmal gegen Wiederholungen gefeit. Außer Friederike hat er noch drei Kinder, den fast sechzehnjährigen Stefan und die Zwillinge, die im Sommer fünf Jahre alt werden. Friederike hat sich dem Haus so weit genähert, daß Schanz ihr Gesicht erkennt. Von hinten kommt ein P 3 angefahren. Er verringert allmählich die Geschwindigkeit, gleicht sich Friederikes Schrittempo an und begleitet sie wie ein riesiger, freundlicher Hund. Der Fahrer beugt sich aus dem Wagenfenster, zieht mit der linken Hand das Käppi wie einen Hut und redet auf Friederike ein. Sie blickt ihn an, erwidert etwas, worauf beide lachen. Der Soldat so herzhaft, daß er das Gaspedal losläßt, denn der Wagen bleibt plötzlich stehen, ruckt noch zweimal um Zentimeter vorwärts, bis der Motor endgültig aussetzt. Friederike öffnet die Gartentür und ruft dem Fahrer zu: «Warten Sie, mein Vater kommt gleich.» Schanz nimmt seiner Tochter den regenschweren Mantel ab und hängt ihn über einen Bügel. Inzwischen packt Friederike die Zigarren aus. Als er seine Brieftasche zieht, schüttelt sie den Kopf, drückt ihr nasses Haar hinten zusammen und sagt lächelnd: «Mein Beitrag zum Gelingen der Übung.» Friederike riecht wie die regenfeuchten Kiefernwälder, in denen Schanz sich nun für wenigstens acht Tage herumtreiben wird. Hoffentlich regnet es in dieser Zeit nicht zu oft. Regen erschwert alles, macht phlegmatisch, stumpft ab. Friederike holt sich ein Handtuch und reibt ihr Haar trocken. Dabei beobachtet sie, wie der Vater die flachen Blechschachteln mit den Zigarren in die Kartentasche schiebt. «Bring die leeren wieder mit», sagt sie. Er nickt und meint: «Du mußt doch bald hundert davon haben.» «Mehr», erwidert sie und reibt kräftig ihre Kopfhaut. Sie mag die Schachteln, weil sie nicht viel Platz wegnehmen und weil sich Fotos
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und andere Erinnerungsstücke gut in ihnen aufbewahren lassen. Und wegen des Bildes mag Friederike sie. Der bärtige Herr Dannemann sieht freundlich aus und stark wie ein berühmter Erfinder oder wie ein Forscher. Die Schachteln, ihre Farben und ihr Geruch wirken auf Friederike wie Ansichtskarten aus fernen und für sie wahrscheinlich ewig unerreichbaren Ländern. Der Vater nimmt die Brille ab, hebt sie gegen die Lampe und putzt an den Gläsern herum. «Aufgeregt?» fragt Friederike. «Warum?» «Weil du jetzt deine ehemaligen Vorgesetzten kontrollieren mußt, oder sag’ ich besser: darfst?» Er antwortet nicht sofort. Das mag Friederike sehr. Leute, die immer und sofort auf alles eine Antwort haben, sind entweder dumm oder weise. Einem Weisen aber ist sie noch nicht begegnet. Menschen, die nicht sofort antworten, hält Friederike für aufrichtig und auch für fähig, etwas unwidersprochen zu lassen. Der Vater zieht die Schultern fast bis an die Ohren hoch und sagt: «Ich werde ja sehen.» «Weißt du was», sagt Friederike und beginnt, sich vorm Spiegel die Haare zu bürsten. «Wenn ich etwas zu bestimmen hätte bei euch, dich zum Beispiel würde ich nie nach oben versetzen, weg von den Soldaten, an irgendeinen Schreibtisch. In den Kompanien sind die Soldaten oft solchen jungen Schnöseln ausgesetzt, die noch nicht mal mit sich selbst fertig werden. Die größte Auszeichnung bei euch müßte sein, in die Kompanie geschickt zu werden. Die Besten und Klügsten zu den Soldaten.» Sie schüttelt den Kopf und fügt hinzu: «Nee, nee, das macht ihr verkehrt.» Der Vater lächelt und meint: «Kneipenphilosophie, mein Mädchen.» «Sage nichts gegen Kneipen! Einer, von dem die Soldaten auch am Biertisch gut reden, ist wirklich was wert. Dir hören die Soldaten nämlich noch zu, und ich sage dir, das ist viel wert. Das ist überhaupt der Anfang. Ihr solltet alle abends viel öfter dorthin gehen, wo die Soldaten sind.» Im Spiegel sieht Friederike, daß der Vater lächelnd abwinkt. Er wendet sich seinem Mantel zu, der an der Garderobe hängt, stopft irgend etwas in die Taschen. Dabei sagt er leise, wie nebenbei: «Üb-
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rigens, der Schäfer war vorhin hier.» «Ich bin ihm begegnet!» Sie beobachtet den Vater im Spiegel, sieht, daß er für Augenblicke seine Geschäftigkeit unterbrochen hat und auf weitere Erklärungen zu warten scheint. Friederike gibt sie. «Ich hab’ ihn zurückgeschickt zu seiner Herde.» «Wegen des Majors?» Friederike hält im Kämmen inne. Der Vater hat sich ihr zugewandt. Im Spiegel mustern sie einander. Das runde Gesicht des Vaters mit der immer höher werdenden Stirn ist nicht streng, und in den Mundwinkeln sitzen nicht die tiefen Falten, die seine Lippen sonst kurz und schmal machen. Er hat gefragt, ganz ohne Vorwurf. Friederike hebt die Schultern, starrt in den Spiegel. Ihr Blick beginnt sich zu verlieren. Das hat Schanz schon oft beobachtet. Wenn sie bei geöffneten Fenstern in der Veranda sitzen oder im Garten hinter dem Haus. Sowie aus der Ferne das Geräusch eines fahrenden Zuges zu hören ist, wenn hoch über ihnen Flugzeugmotoren brummen oder beim schwirrenden Flug der Zugvögel geht etwas in Friederike vor, worüber sie nie spricht, ihre Augen werden groß und scheinen ein wenig zu schielen. Es ist, als warte sie auf etwas, das bisher nicht eingetreten ist. Und wenn sie wieder zu sich selbst zurückgekehrt ist, steht sie meistens auf und geht weg, schweigend und ein wenig traurig. Heute überwindet sie diesen Zustand rascher, und sie geht auch nicht weg. Sie beginnt, ihr Haar erneut zu bürsten, das bereits wieder locker wird und seinen Glanz zurückgewinnt. Dabei sagt sie: «Den Schäfer hätte ich auf jeden Fall weggeschickt.» «Und wer ist der Major?» «Ein Mann ist er, bei der Artillerie ist er, verheiratet ist er, Vater ist er. Und Wittenbeck heißt er.» «Rike», sagt Schanz leise und läßt seine Tochter nicht aus den Augen. «Bleib bei den Ledigen. Die gibt es hier in Hülle und Fülle.» «Ich bin kein Schaf, Vater, dem der Bock egal ist.» Schanz sagt darauf nichts. Er zieht sich den Mantel an. Friederike weiß, daß der Vater sogleich das Haus verlassen und für viele Tage unerreichbar sein wird, als ginge er an die Front. Von dort, wohin er geht, kommen wohl Nachrichten und Meldungen, die den ungefähren
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Weg der Division und besondere Ereignisse während der Übung mitteilen. Mitunter erreicht auch ein persönlicher Gruß oder ein Geburtstagsstrauß die Siedlung, überbracht von den Insassen eines Wirtschaftsfahrzeuges oder eines Sankra. Friederike weiß, welche Freude und Ergriffenheit solche Sendungen auslösen, bei den betroffenen Frauen ebenso wie bei den anderen. Ein Gefühl, um das Friederike die Frauen jedesmal beneidet und von dem sie ausgeschlossen ist. Heute empfindet sie die bevorstehende Abfahrt des Vaters zum erstenmal wie eine schmerzliche Trennung, wie Vereinsamung. Niemanden in der Familie braucht sie so wie den Vater. Mit ihm vermag sie zu reden und nachzudenken wie mit sich selbst, ehrlich und rückhaltlos. Von dem Abend an, als sie an Stelle der Mutter mit zur Feier gegangen ist. Bis heute weiß Friederike nicht, warum der Vater sie mitgenommen hat. Ob aus einer Laune heraus oder ob es das Ergebnis eines langen Nachdenkens über sie gewesen ist. Doch die Gründe, die der Vater hatte, sind heute nicht mehr wichtig. Wesentlich ist nur, wie es nach jenem Abend vor etwa drei Wochen weitergegangen ist. Friederike hat den Eindruck, daß auch der Vater sie braucht, um sich das eine oder das andere von der Seele zu reden, um sich die Gedanken und Gefühle junger Leute verständlich zu machen, um sich selber, seine Überlegungen und Argumente zu prüfen, um neugierig zu bleiben. Der Vater fährt zu einem Zeitpunkt weg, da sie ihn sehr nötig braucht. Lange hat Friederike innerhalb der Familie für sich gelebt, über sich allein entschieden und die Folgen jeder Entscheidung auf sich genommen. Die Frage des Vaters nach dem Major hat etwas in ihrem Inneren getroffen, bloßgelegt, das wie ein plötzlicher Schmerz ist, dessen Ursache sie nicht kennt. Sie wird vom Vater, solange er bei der Übung ist, keine Grüße bekommen, und wenn der Major jemandem schreiben sollte, wird nicht sie es sein. Vieles möchte sie den Vater fragen. Antworten braucht sie, aber sie schweigt. Draußen läuft der Motor des Wagens. Hin und wieder tritt der Fahrer aufs Gaspedal, erinnert daran, daß er wartet. Friederike geht auf den Vater zu. Er drückt sie an sich. Noch immer riecht ihr Haar nach Regen.
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Schanz trägt seiner Tochter Grüße auf an die Mutter und die Geschwister, und er bittet sie, sich um alle ein wenig zu kümmern und der Mutter zu helfen. Friederike nickt und sagt: «Viel Erfolg.» Er geht und nimmt im Gehen sein Marschgepäck auf. Als er schon die Tür schließen will, hört er Friederike rufen. Sie eilt ihm nach. Mit zwei Fingern reicht sie ihm ein Foto, das ein wenig größer ist als ein Paßbild. Es ist in der Mitte durchgerissen. Schanz hält es in der Hand und betrachtet das halbe Gesicht seiner Tochter. Friederike ist siebzehn oder achtzehn Jahre alt gewesen, als das Foto gemacht wurde. Damals trug sie das Haar ganz kurz und wurde von allen noch für ein Schulmädchen gehalten. Das Bild ist irgendwo abgerissen worden, auf der Rückseite hat es Klebestellen. «Die andere Hälfte hat er, denk’ ich», sagt Friederike. «Hilf mir. Bitte, hilf mir. Und grüß ihn. Grüß ihn auf jeden Fall. Er heißt Wittenbeck.» Schanz nickt und geht. Er setzt sich neben den Fahrer, dessen Gesicht er gegen das helle Fenster wie einen Scherenschnitt sieht, an dem die Nase auffällt, die lang und stark gebogen ist, und der zum Pfeifen gespitzte Mund. Der Soldat fährt in einem weiten Linksbogen auf die Straße zurück und gibt Gas. Mit diesem Mann wird Schanz über eine Woche Zusammensein, zu jeder Tages- und Nachtzeit. Er wird ihn beanspruchen müssen, ihm wenig Schlaf bieten können. Die Wege zwischen den Regimentern und Stäben sind lang und im Frühjahr von schlammigen Spuren zerschunden, und Regen und Nebel hängen wie Hindernisse über ihnen. Der Fahrer und Schanz werden aufeinander angewiesen sein und voneinander abhängen wie die Mitglieder einer Expedition, wie Kosmonauten vielleicht während eines Raumflugs. Schanz hofft, daß der Fahrer einer von denen ist, die ihre Arbeit lieben, die neugierig auf ein solches Übungsabenteuer sind und ehrgeizig genug, es bestehen zu wollen. Aber er fragt den Fahrer nicht danach, will ihn nicht verlegen machen oder gar nervös, will ihn nicht zu Behauptungen und Versprechen verführen. Bald genug wird sich herausstellen, was sein Begleiter wert ist. Schanz tut lediglich das,
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was er immer getan hat, wenn er mit einem anderen, ihm unbekannten Uniformierten durch Befehl für längere Zeit verbunden wurde. Er stellt sich vor. «Ich heiße Schanz. Bin Politoffizier, dreiundvierzig Jahre alt, davon dreiundzwanzig in der Armee, vier Kinder.» Der Fahrer antwortet: «Ich heiße Kinzel, Hans, bin Agrotechniker. Dreiundzwanzig Jahre alt. Seit Mai vergangenen Jahres dabei. Zu Hause in der KAP Ferdinandstal, Bezirk Potsdam. Ledig.» Schanz blickt den Fahrer an, der lautlos vor sich hin pfeift und auf einmal fragt: «Ihre Tochter, ist die noch frei?» Schanz nickt, und der Soldat stößt einen kurzen Pfiff aus. Anerkennend sagt er: «Verdammt noch mal! Und das bei dem Männerangebot. Spricht das gegen ihre Tochter - oder?» «Gegen die Männer», antwortet Schanz. Sie erreichen den Wald. Dämmerung umgibt sie. Kinzel schaltet die Scheinwerfer ein. Schanz lehnt sich zurück, setzt sich in dem Sitz so locker und bequem wie möglich zurecht und nimmt erst jetzt wahr, daß Kinzel eine der grauen Armeedecken mehrfach zusammengelegt über die Lehne gehängt hat, wo sie manchen Stoß abfangen oder wenigstens mildern wird. Erstes Lob für den Fahrer, das aber unausgesprochen bleibt. Schanz denkt an die Übung, eilt in Gedanken dem fahrenden Wagen voraus. Wann sie beginnen wird, weiß er nicht. Den genauen Zeitpunkt erfährt nie jemand. Aber es gibt einen Augenblick, da wissen die Stäbe und die Kommandeure der Einheiten, daß es soweit ist. Wenn alle Transportwege, die auf den Straßen und die auf dem Schienennetz, abgesichert sind. Wenn auf den Übungs- und Schießplätzen alle Vorbereitungen für die Bewegungen, den Stellungsbau und das Scharfschießen abgeschlossen sind. Wenn die zeitweilige Sperrung von Hauptverkehrsstraßen oder von Flußabschnitten zeitlich abgestimmt ist. Dann tritt in den Regimentern eine angespannte Ruhe ein, jenes Warten von Tausenden von Menschen auf ein akustisches oder optisches Signal. Generalmajor Werner bevorzugt für die Auslösung von Alarmen keine bestimmte Tageszeit. Nur eine Regel wird deutlich: Er hält sich an keine Regel. Jeder Alarm, den Werner bisher ausgelöst hat, überraschte die Offiziere ebenso wie die Solda-
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ten. Eine der Regimentsübungen des letzten Jahres begann fünf Minuten nach Beginn des Frühsports, und es gab eine Menge Überraschungen, angenehme und unangenehme. Vor zwei Jahren löste der Divisionskommandeur einen Alarm in der Stunde zwischen Mitternacht und ein Uhr morgens aus, wo auch der Unruhigste eingeschlafen und der Schlaf am tiefsten ist. Schanz freut sich auf die Übung. Sie unterscheidet sich tatsächlich von allen - anderen, die er bisher mitgemacht hat. Nicht dadurch, daß er seine ehemaligen Vorgesetzten kontrollieren und beobachten kann. Das wird er nicht tun. Was sie leisten, was jeder einzelne von ihnen kann, weiß er. Aber er wird sich während dieser Übung gründlich und über längere Zeit mit der einen oder der anderen Einheit beschäftigen können. Und er wird immer dort dabeisein, wo sich etwas für die Übung und damit für die gesamte Division Wichtiges ereignet. Schanz will sich ausgiebig mit der politischen Arbeit in den Kompanien und Zügen befassen, will sein Notizbuch mit weiteren Erfahrungen, Beispielen und Überlegungen füllen. In diesem Büchlein blättert er öfter, aus ihm überträgt er auf andere mehr als aus dem gedruckten, an der Militärakademie erarbeiteten Werk über die Führung der politischen Arbeit bei Truppenübungen. Dieses Buch trifft viele seiner Erfahrungen, bestätigt sie, aber es ist zu dick und in vielen Abschnitten zu theoretisch. Es ist kein Buch, mit dem man täglich und vor allem während einer Übung umgehen kann. Für Schanz wiegen die hundertzwölf Seiten von Breshnews kleinem Land das Sechsfache an Seiten auf. Er träumt davon, eines Tages in ähnlicher Form seine Erlebnisse, Eindrücke und Erfahrungen in der Armee aufzuschreiben. Während dieser Übung wird er dafür weiteren Stoff sammeln können. Und er hat noch einen anderen Auftrag. Er soll den Major Wittenbeck von Friederike grüßen, ihm wie eine Erkennungsmarke das halbe Foto zeigen. Aber er muß ihn erst einmal finden. Wie und womit Schanz seiner Tochter überhaupt helfen kann, weiß er im Augenblick noch nicht. Und er weiß auch nicht, was Friederike wirklich helfen würde. Schanz wird sich nach dem Major umsehen, wird ihn beobachten
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und wird mit ihm reden. Dieser Mann hat in Friederike etwas ausgelöst, das Schanz an seiner Tochter noch nie beobachtet hat, wenn es um einen Mann ging. Hastige, fast verstörte Bewegungen und Worte, sekundenlange Hilflosigkeit, in der Friederike ihn an ihre Kindheit erinnerte, wenn sie vor irgend etwas Unbekanntem erschrocken war und bei ihm Schutz suchte. Er will ihr helfen. Schanz wird den Major Wittenbeck suchen. Lore Werner steht am Fenster und blickt ihrem Mann nach, der eben das Haus verlassen hat und auf dem schmalen Weg nach vorn geht. Die Hände hat er in die Manteltaschen gesteckt, die Ellenbogen fest gegen die Seiten gedrückt. Das sieht aus, als friere er. In der gleichen Haltung ist er vor fast achtundzwanzig Jahren zum erstenmal von ihr weggegangen, nachdem er sie vom Tanzsaal heimbegleitet hatte. Auch im Frühjahr, in einer schneelosen Frostnacht. Damals trug er keinen steingrauen Mantel, sondern ein blaues, uniformartiges Jackett ohne erkennbare Rangabzeichen. Er hatte keine Pelzmütze auf, nur eine gefärbte Schimütze, und seine Füße steckten nicht in gefütterten Stiefeln, sondern in ausgetretenen dunklen Halbschuhen. Schon damals schob er die Hände tief in die Taschen, drückte die Ellenbogen fest gegen die Seiten. Aber in jener Nacht fror ihn wirklich. Sie rief ihn zurück, ließ ihn durchs Fenster herein, und es dauerte lange, bis es ihr und dem dicken Federbett gelungen war, das Bündel Haut und Knochen zu erwärmen. Lore Werner möchte die Fensterflügel aufreißen und ihren Mann zurückrufen wie vor achtundzwanzig Jahren. Sie unterläßt es. Weil sie weiß, daß die vierzig Meter Weg zwischen Haustür und Gartentor, sobald er sie einmal zurückgelegt hat, bereits eine unüberbrückbare Entfernung darstellen. Sie unterläßt es, obwohl sie sich vor dem Alleinsein, das nun für sie anbricht, vor der Leere, die wieder in ihr und um sie herum herrschen wird, fürchtet. Es wird Augenblicke geben, da steht sie wie gelähmt irgendwo, und abends wird sie nicht einschlafen können. Das ist das schlimmste. Diese dröhnende Schlaflosigkeit, die nur durch Erinnerungen erträglich wird. Aber alle Erin-
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nerungen führen ohne ihren Willen immer wieder zu jenem Tag im Dezember, an dem von der Klinik die Nachricht eintraf, daß ihre Tochter gestorben sei. Generalmajor Werner hat die Gartentür fast erreicht. Der Fahrer öffnet sie ihm. Lore ruft ihren Mann nicht zurück. Nie hat sie ihn zurückgerufen oder aufgehalten, wenn es um seinen Dienst ging. Würde sie es heute tun, käme er entgegen seiner Gewohnheit wahrscheinlich noch einmal zurück. Noch einmal würde er sie umarmen, ihre Schultern drücken, und seine Hände dann über den Rücken hinunter bis zu den Hüften führen. Reden würden sie beide kein Wort, denn Lore Werner weiß ebenso sicher wie ihr Mann, daß er gehen muß, trotz alledem. Nichts kann und darf ihn zurückhalten. Warum also nach ihm rufen, die Trennung wiederholen, ein paar Minuten hinausschieben? Sie hat es nie getan, obwohl es sie bei jeder der vielen Trennungen, die es zwischen ihnen schon gab, immer dazu getrieben hat. Die Wagentüren schlagen zu. Leise und langsam rollt der Shiguli an, verschwindet hinter der Hecke des Nachbargrundstücks. Nur der Motor ist noch eine Weile zu hören. Ihr Mann hat sich nicht mehr nach ihr umgesehen. Auch das versteht sie. Als sie sich im Korridor getrennt haben, hat sie gelächelt, jedenfalls hat sie zu lächeln versucht. Während der Übung wird ihr Mann wenig Zeit haben, an sie zu denken, weder am Tag noch nachts. Doch wenn er sich an sie erinnert, wird er sie lächeln sehen. Man erinnert sich immer an den letzten Augenblick eines Abschieds. Lore Werner geht vom Fenster weg und im Zimmer umher. Sie hätten fortziehen sollen nach Katrins Tod, nicht nur aus dem Haus, auch aus der Stadt hätten sie weggehen sollen, an einen anderen Ort, an dem sie noch nie gewesen sind und nichts sie an Katrin erinnert. Hier hat jeder Gegenstand mit ihr zu tun. In den Räumen leben noch die Laute der Schritte, haben die Bücher noch ihre Lesezeichen, und das Klavier scheint noch vom Anschlag ihrer Finger zu schwingen. Im Garten werden Blumen wachsen, die Katrin im vergangenen Herbst gepflanzt hat und von denen sie nur den Winterjasmin erlebte, ein blattloses gelbes Blütengewirr an der schneehellen Hauswand unter
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ihrem Fenster, kräftiger im Farbton als die Forsythien, deren Knospen sich jetzt zu öffnen beginnen. Weit fort hätten sie gehen sollen. Dorthin, wo alles wie ein neuer Anfang hätte sein können, wenn es das für Fünfundvierzigjährige überhaupt gibt. Doch kein Divisionskommandeur, auch wenn er Generalmajor ist, kann aus solchen privaten Gründen den Wohnort und die Dienststellung wechseln. Im Oktober hatten sie noch gemeinsam seine Ernennung zum Generalmajor gefeiert. Nachdem alle offiziellen Gratulationen und Empfänge überstanden waren, hatten sie sich zu dritt ganz mit sich selbst beschäftigt. Die Generalsuniform hing hinter dem Flurvorhang und spielte an jenem Abend keine Rolle. Katrin und ihre Immatrikulation an der Musikhochschule standen im Mittelpunkt. Über eine Stunde saß sie am Klavier und erfüllte die Wünsche des Vaters, spielte Etüden von Chopin und seine As-Dur-Polonaise, Bach- und Händelmenuette und Lieder von Tschaikowski. Keiner von ihnen ahnte, daß Katrin damals nur noch ein paar Wochen zu leben hatte. Lore Werner tritt wieder ans Fenster. Draußen ist alles ruhig, viel zu ruhig. Hier in dieser Straße der Stadt wird nichts geschehen in den nächsten zehn Tagen bis zur Rückkehr ihres Mannes. Sie beneidet ihn um diese Übung, die ihn vom Haus und von den Erinnerungen an Katrin wegreißt, hineinwirft in eine Reihe von Ereignissen, Abläufen und Tagen, auf die er all seine körperlichen und geistigen Kräfte konzentrieren muß. Und wenn er wiederkommt, wird er vielleicht ganz über den Verlust der Tochter hinweg sein, jedenfalls weiter von ihm entfernt als sie. Männer werden mit solchen Ereignissen vielleicht rascher fertig. Er wird wiederkommen, wie er schon als Leutnant von Übungen und Manövern zurückgekehrt ist, schmal und gesund, angespannt bis zur Kantigkeit, voller Eindrücke und Erlebnisse, die er unzusammenhängend, bald fröhlich, bald zornig zu Hause erzählte. Die Lebhaftigkeit, die ihn nach jeder Rückkehr erst einmal beherrscht, hat mit ihr nichts zu tun und macht ihn für eine ganze Weile fremd. Solange, bis die Erschöpfung ihn übermannt, und er von einem Augenblick auf den anderen einschläft. Dann setzt sie sich neben ihn, er-
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lebt, wie sein Gesicht die Härte verliert, allmählich durchblutet wird und sich rötet wie bei einem schlafenden Kind, das mit anderen auf einem Spielplatz herumgetobt ist. Lore Werner sieht ihren Mann schon wiederkommen, bevor er die Kaserne überhaupt erreicht und die Übung begonnen hat. Sie blickt zur Uhr. In der nächsten Viertelstunde wird er sein Arbeitszimmer im Stab betreten. Lore Werner geht zum Telefon, wählt eine Nummer. Nach einer Weile meldet sich ihre jüngere Schwester, die den Hörer sofort weitergibt. «Gerhard», sagt Frau Werner, «die Kraniche ziehen.» «Danke, Lore.» Sie will den Hörer schon wieder auflegen, da ruft ihr Schwager noch einmal ihren Namen und sagt: «Marlies meint, du solltest rüberkommen für die nächsten Tage. Hier bist du nicht allein, hast die Kinder. Komm rüber, hörst du.» «Mal sehen, Gerhard», antwortet sie, «vielleicht komm’ ich. Viel Erfolg für dich.» Gerhard Leichsenring kommandiert eines der mot. Schützenregimenter der Division. Er wurde zum Oberst befördert, als sein Schwager Generalmajor wurde. Leichsenring gilt als fähiger Regimentskommandeur und wird spätestens in zwei bis drei Jahren sein Studium an der Generalstabsakademie in Moskau beginnen. Eines Tages erfuhr Lore Werner von ihrer Schwester, daß Gerhard, wenn Alarmierungen bevorstehen, nervös bis zur Unbeherrschtheit werde, daß er nächtelang nicht schlafe, bei den leisesten Geräuschen aus dem Bett hochfahre und manchmal sogar ein oder zwei Nächte in voller Uniform in seinem Dienstzimmer zubringe. Ein Zustand, unter dem viele zu leiden hätten. Leichsenring selbst aber am stärksten, weil er ihn wie einen körperlichen Makel empfinde und weil er dann, wenn der Alarm einmal ausgelöst ist, mitunter schon erschöpft sei, wie nach tagelanger anstrengender Arbeit. In dieser Zeit denke er nicht einmal mehr an die Liebe. Auch der Generalmajor weiß von dieser Schwäche seines Schwagers. Er hat aber kein Verständnis für sie und verlangt, daß Gerhard durch Willenskraft mit ihr fertig werde. Lore Werner jedoch hält das, was ihr Mann Konsequenz nennt, für Sturheit. Sie hat sich mit ihm nicht lange gestritten, sondern jenen
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Code gefunden, durch den sie ihren Schwager, wenn es soweit ist, informiert. Seitdem ist in und um Gerhard Ruhe eingetreten, was auch ihrem Mann nicht verborgen geblieben ist. Und Werner nimmt das wie einen Erfolg seiner Forderungen zur Kenntnis, als Ergebnis dieses besonders bei Offizieren so verbreiteten Ehrgeizes, sich gegenseitig noch erziehen zu wollen. Zufrieden ist vor allen Dingen Marlies. Ihr Mann vergißt die Liebe nicht mehr, ehe sie sich für einige Tage trennen. Vielleicht wird Lore Werner morgen wirklich zu ihrer Schwester fahren und bis zum Ende der Übung in der Siedlung bleiben. Vielleicht tut ein Ortswechsel ihr ebenso gut wie ihrem Mann die Übung. Immerhin wäre sie für acht Tage dort, wo sie kaum etwas ständig an Katrin erinnert. Wo nicht dauernd dieses «Wozu?» alles in Frage stellt. Sogar die Tätigkeit ihres Mannes, auch diese Übung. Weil alles, was damit zu tun hat, keine persönliche Bedeutung mehr besitzt. Weil die wichtige Ausgewogenheit zwischen Gesellschaftlichem und Familiärem gestört ist. Wozu alles? Welchen Sinn hat alles noch, wenn ein achtzehnjähriges Mädchen, das sich bewußt und mit Recht auf ihr Leben zu freuen beginnt, plötzlich stirbt? Herzinfarkt infolge einer Embolie. Wozu? Generalmajor Werner sitzt in seinem Dienstzimmer. Nicht hinter dem Schreibtisch, sondern in einem der schweren Sessel. Mitternacht ist vorüber. Für ein Uhr hat der Divisionskommandeur seine Stellvertreter zu sich befohlen. Die Zeit bis zu ihrem Eintreffen braucht er für sich. Außer dem Diensthabenden ist nur einer früher als der Generalmajor im Stabsgebäude gewesen oder hat es gar nicht erst verlassen. Sein Adjutant Fähnrich Rissmann. Ein stämmiger Mann Anfang Dreißig, der Schuhgröße fünfundvierzig und die Figur eines Schwerathleten hat. Werner hört ihn im Vorzimmer hantieren. Für seine Körpergröße und sein Gewicht bewegt sich Rissmann erstaunlich leise und rasch. Geschirr klappert. Wenige Augenblicke später bringt der Fähnrich ein Kännchen Kaffee und einen doppelten Kognak. Mit Gläsern und Tassen kann er ebenso geschickt umgehen wie mit Waffen und Autos. Er hat ein
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ruhiges, breites Gesicht, das voller Sommersprossen ist. Ohne ein Wort zu sagen, geht er weiter. Eine weitere Fähigkeit, die Werner an seinem Adjutanten schätzt. Er spricht nur, wenn er dazu aufgefordert wird. Werner hört ihn telefonieren. Auch am Telefon spricht Rissmann wenig, stellt Fragen und übermittelt Anweisungen in ruhigem, freundlichem Ton, daß sie meistens wie Bitten klingen. Und die werden auch für einen Generalmajor rascher und zuvorkommender erfüllt als Befehle. Werner nippt vom Kognak, gießt Kaffee in die Tasse und streckt sich im Sessel aus. Für ihn beginnt die Übung jetzt, während er sich entspannt, sich allmählich von dem entfernt, was bis zum Betreten des Stabsgebäudes für ihn wichtig gewesen ist und ihn beschäftigt hat. Der Abschied von seiner Frau zum Beispiel, der ihm heute viel schwerer gefallen ist als je vorher. Lore hat sich seit dem Tode Katrins verändert, ist langsamer geworden. Aber es ist keine schwerfällige Langsamkeit, sondern eine beherrschte, nach innen gerichtete. Beim Abschied im Korridor hat seine Frau gelächelt. Das hat ihn stärker ergriffen, als Tränen es vermocht hätten, denn er wußte, daß sie seinetwegen lächelte. Nach Katrins Tod war seine Frau stiller und weicher geworden. Trotz des grau werdenden Haars wirkte sie jünger, Katrin ähnlicher. Es war, als bemühe sie sich, ihre Tochter in sich selbst zu bewahren, lebendig zu erhalten. Und wie ihre Liebe sich nun ganz auf ihn richtete, liebte er in seiner Frau auch seine Tochter. Der heutige Abschied erscheint ihm jetzt in der Erinnerung zu hastig. Werner bedauert, daß er nicht ein paar Augenblicke länger bei seiner Frau stehengeblieben ist, mit den Daumen nicht noch einmal ihre starken Brauen berührt, nicht noch einmal ihr schmales Gesicht zwischen seine Hände genommen hat, damit ihre Lippen sich lustig spitzen. Er hätte sein Gesicht noch einmal auf ihr kräftiges Haar legen sollen. Werner trinkt wieder vom Kognak. Er braucht diese stille, einsame Stunde, um sich ganz auf jenen Augenblick zu konzentrieren, in dem er mit einem einzigen Wort eine gewaltige militärische Maschinerie in Bewegung setzt, die ihn stets von neuem packt. Diese Bewegung
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beginnt an vielen Orten gleichzeitig, und einmal ausgelöst, entwickelt sie sich nach Gesetzmäßigkeiten und Regeln, die ein möglicher Krieg ihr aufzwingt. Der bestimmt auch alle Abschnitte der Bewegung und ihr Gesamtziel. Der gibt jeder Übung ihre Bedeutung weit über ihren Rahmen hinaus. Keine einzige von denen, die Werner bisher mitgemacht hat, ist je Selbstzweck gewesen. Keine diente der Befriedigung irgendeines Ehrgeizes oder Spieltriebes. Keine Übung wird organisiert, um Massen zu beschäftigen oder zu belustigen. Damit wäre der Aufwand an menschlicher Leistung, an Zeit und an ökonomischen Werten nicht zu rechtfertigen. Bereits die Phase der direkten Vorbereitung und Planung geht über bloße Berechnungen, militärpolitische Erörterungen und über die Auseinandersetzungen um Gefechtsvarianten weit hinaus. In den Befehlen, die vorbereitet werden, in der militärischen Lage, die schriftlich entworfen und auf der topographischen Karte in lesbare Zeichen übersetzt wird, ist nur von Eingeweihten und Beteiligten das gesamte Ausmaß der Arbeit zu erkennen, die durch Tausende von Soldaten, Unteroffizieren und Offizieren geleistet wird. An der außer ihnen viele oft unbekannte Helfer aus der Bevölkerung beteiligt sind: Eisenbahner und Transportpolizisten, Abschnittsbevollmächtigte, Forstarbeiter, Genossenschaftsbauern und Staatsfunktionäre. Werner hat während seiner Laufbahn solche Übungen auf allen Kommandoebenen, die es vom Zugführer bis zum Divisionskommandeur gibt, mitgemacht und ist außerdem an vielen Manövern der Vereinten Streitkräfte des Warschauer Vertrages beteiligt gewesen. Schon immer haben ihn die Gefechtskarten interessiert und beeindruckt, deren Umfang für ihn mit seiner Verantwortung gewachsen ist. Jene, mit denen er als Zugführer oder Kompaniechef umging, hatten in einer normalen Kartentasche Platz. Rissmann kommt noch einmal ins Zimmer. Er bringt die Lagekarte und breitet sie auf dem großen Arbeitstisch aus, faltet sie so weit auseinander, daß der Handlungsraum der Division in der Breite und Tiefe zu übersehen ist. Werner trinkt den Kognak aus, gießt Kaffee nach und nimmt die Tasse mit zum Tisch. Rissmann verläßt ebenso leise das Zimmer, wie er hereingekommen ist.
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Werner liebte schon als Kind Landkarten und trug alle zusammen, die er kriegen konnte. Es war ihm gleich, ob er die Namen und Bezeichnungen lesen konnte oder nicht. Ihm kam es auf das Land an, über das er sich entweder im Geographieunterricht oder selbständig informierte. Wie und wodurch auf den Karten die Gebirge und Flüsse, die Wüsten, Wälder und anderen Gebiete gekennzeichnet werden, wußte er. Manchmal saß er stundenlang vor einer seiner Karten, verfolgte die Wüstenexpeditionen Sven Hedins, drang mit Livingstone und Stanley bis nach Zentralafrika vor oder entwarf, organisierte und träumte eigene Unternehmungen, die ihn ins innere Australiens, auf die Osterinseln oder in die Urwälder Brasiliens und nach Peru führten. Bald entdeckte er unbekannte Völker und Stämme, bald stieß er auf gewaltige Bodenschätze, und in Südamerika löste er das Geheimnis um das Dorado der Inkas und ihren sagenumwobenen Reichtum. Über diese träumerischen Spiele entwickelten sich in ihm zwei wichtige Eigenschaften: die Phantasie und das Interesse an allem, was in der Welt geschieht. Beide haben etwas mit der Neugier zu tun, und alles wurde später durch die Arbeit und den Alltag gezügelt und diszipliniert. Für Werner hieß dieser Alltag vom achtzehnten Lebensjahr an Armee. Den Karten ist er treu geblieben. Seine Vorliebe für sie ist durch den militärischen Umgang mit ihnen nicht zerstört worden. Für Werner ist die Lagekarte nicht nur ein Stück militärisches Arbeitsmaterial, auf der die rote Seite der blauen gegenübersteht. Auf die man Marschstraßen und Angriffskeile zeichnet, Rückzugsbewegungen und Ausweichmanöver, Artillerievorbereitungen, Feuerwalzen, Stellungen und was man sonst noch alles in den festgelegten Farben schwungvoll und akkurat einträgt. Werner hütet sich davor, solche Karten nur mit den Augen des Militärs zu sehen. Er blickt genauer hin und blickt tiefer. Wenn er allein vor der Karte steht, wie im Augenblick, interessiert ihn die Lage wenig. Die hat er im Kopf. Er liest die Namen der Ortschaften, bei denen sich die Trennungslinien brechen, entziffert die Namen der Dörfer und Siedlungen, über die hinweg die Angriffskeile vorwärtsstoßen oder um die sich Stellungen
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ziehen. Und er verfolgt, was die Orte miteinander verbindet. Straßen und Wege, Flüsse und Eisenbahnlinien. Von den Städten und Dörfern, die im Angriffsstreifen der Division liegen, kennt Werner viele. Er kennt die Marktplätze und Hauptstraßen ebensogut wie die schmalen, verwinkelten Gassen der mittelalterlichen Städte, die Reste von Stadtmauern und die stehengebliebenen Türme. An katenähnliche Fachwerkhäuser erinnert er sich, an die vielen herrisch wirkenden Backsteinbauten und an Kirchen, die fast alle etwas Festungshaftes haben. Die freundlichen massiven Wehrkirchen der Dörfer ebenso wie die gebieterischen, finsteren in den Städten. Viele von den neugebauten Kulturhäusern kennt er, die in den Dörfern zu Zentren des Gemeindelebens geworden sind und den Kneipen längst den Rang abgelaufen haben. Belebte Straßen und Plätze sieht er vor sich, Menschen mit Einkaufstaschen, Spaziergänger, Pärchen und Kinder, viele Kinder, immer und überall Kinder. In manchem der ausgedehnten Wälder hat er mit seiner Frau und Katrin Pilze gesucht und Blaubeeren gesammelt, in diesem oder jenem See gebadet. Und weit oben auf der Karte, wo die Übung auf einem der Schießplätze enden wird, liegt das Dorf Barsekow, Zentrum einer der ausgedehntesten Kooperativen Abteilungen für Pflanzenproduktion der DDR. Dort ist Ruth Drewen Bürgermeisterin. Dort endet seit vielen Jahren jede Übung der Division mit einem Manöverball, zu dem der Rat der Gemeinde und die Leitung der KAP einladen. Dort steht immer noch, umgeben von hohen Pappeln, die wie Posten wirken, jene Backsteinscheune, in welcher der Oberleutnant Konrad Werner und die Agronomin Ruth Drewen vor über zwanzig Jahren, während eines Ernteeinsatzes der Kompanie mehrere Nächte miteinander verbracht haben. Für ihn endete das mit einem Parteiverfahren, denn er war damals schon verheiratet. Doch Werner nahm das Parteiverfahren so ruhig hin wie seine Frau den Seitensprung. Nie hat sie ihm etwas vorgeworfen. Sie hat ihn nicht ein einziges Mal daran erinnert. Ruth Drewen hatte damals vierzehn Tage lang neben ihm Kartoffeln gelesen. Ihre schmalen Hände waren flink und geschickt und je nach Wetter bald staubig und trocken, bald schmutzverkrustet und kalt. Er hatte sie lächeln sehen, hatte bei Regen die Tropfen auf ih-
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rem Gesicht für Tränen gehalten und sie trösten wollen. Bei einem heftigen Guß, der in harten Hagelschlag überging, standen sie eng aneinandergedrückt unter seiner Plane. Ruths Kopf lag unter seinem Kinn, und ihr Haar roch nach Kartoffelerde. Dann küßte sie ihn auf den Hals, und gleichzeitig drückte sie ihren Schoß gegen seinen. Sie wiederholte diese Zärtlichkeiten heftiger, und er erwiderte sie. Die Nächte in der Scheune waren so ungewöhnlich gewesen wie der Ernteeinsatz gegenüber dem alltäglichen Dienst in der Kaserne. Heute Nacht noch werden die Kolonnen die Unterkünfte verlassen. Die Erschütterungen und der Lärm, verursacht von den schweren Fahrzeugen, werden viele Menschen aus dem Schlaf reißen und erschrecken. Auf manchen Wegabschnitten werden die Kolonnen die Verkehrsstraßen blockieren, Stockungen hervorrufen, Ärger und Flüche auslösen. Alles, was die Division in den nächsten Tagen unternimmt, geht nicht heimlich, sondern in aller Öffentlichkeit vor sich. Viele Menschen wird es unmittelbar berühren, und alle wird es betreffen, ob sie sich dessen bewußt sind oder nicht. Werner weiß, daß die meisten Menschen im Lande nie eine solche Lagekarte gesehen haben, daß viele von ihnen nicht einmal ahnen, welche Rolle sie in Verbindung mit einer militärischen Übung überhaupt spielen und welche Größenordnung sie darstellen. Viele wissen nicht, daß eine solche militärische Lage, die einer Übung vorausgeht, mit ihren Wünschen und Absichten, mit ihren Träumen und Sehnsüchten eine Menge zu tun hat, weil all diese Dinge der eigentliche Ausgangspunkt und das Ziel jeder Übung sind. Aber das wissen nicht einmal alle Soldaten. Viele denken darüber zu wenig nach, und sie werden auf solche Zusammenhänge zu selten und zu oft noch sehr oberflächlich und agitatorisch aufmerksam gemacht. Werner kennt Offiziere, die das alles wenig interessiert. Auch in seinem Stab gibt es welche, die sich in jeder militärischen Lage ausgezeichnet zurechtfinden, die fähig sind, rasch exakte taktische Überlegungen anzustellen und Entschlüsse zu fassen. Truppenbewegungen planen, organisieren und führen sie beispielhaft. Aber an Wäldern interessiert sie nur ihre mögliche Nutzung als Konzentrierungsraum oder als gedeckte Marschstrecke. Ortschaften haben für sie nur taktische Bedeutung,
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weil sie besondere Gefechtsvarianten erfordern, zum Beispiel den Einsatz schwerer Waffen oder langwierige und verlustreiche Straßenkämpfe. Da hat mancher die notwendige Spezialisierung bis zur Einseitigkeit getrieben. Aber wer in seine militärischen Kalkulationen und Pläne die Menschen nicht einbezieht, die im Gebiet der Truppenbewegungen leben, und ihre Gefühle, Gedanken und Verhaltensweisen nicht berücksichtigt, dessen Entscheidungen fehlt eine wichtige Größe, er muß schon vor einem realen Gefecht mit Niederlagen rechnen. Weil im Grunde genommen solche Stabsoffiziere auch die Soldaten, Unteroffiziere und Offiziere der Truppenteile zu sehr als taktische Größe und zu wenig als menschliche Potenz betrachten und behandeln. Bei solchen Offizieren werden schließlich ganze Perioden der Stabsarbeit zum Selbstzweck, und damit wird ein Stab wirkungslos und nutzlos. Das sind nicht allein persönliche Erkenntnisse Werners, sondern Erfahrungen, mitunter bittere, die man in der sowjetischen Armee während des zweiten Weltkrieges gesammelt hat. An der Generalstabsakademie hat Werner sich auch damit gründlich beschäftigt. Und nun, als Divisionskommandeur, grübelt er immer wieder über diese und andere Probleme nach, sucht Erklärungen und Ursachen für diese Erscheinungen in manchem Stab, und er versucht herauszufinden, woher sie rühren, wer sie verbreitet. Solange es nur um Übungen geht, kann er noch grübeln. Bei Übungen gibt es keine Verluste, wenn dem Faktor Mensch in den Plänen und Aufgabenstellungen nicht die notwendige Aufmerksamkeit geschenkt wird. Doch jede Stunde Übung, jeder Ausbildungstag, jede politische Schulung dient dem Ziel, die Masse der Armeeangehörigen besser verstehen und führen zu lernen. Das Besondere und gleichzeitig Schwierige in der Armee ist, daß die Offiziere und Berufssoldaten einer riesigen Menge zeitweilig Uniformierter in kurzer Zeit das beibringen müssen, was sie in vielen Jahren an Überzeugungen, an Kenntnissen und Fertigkeiten in sich ausgebildet haben. Und es geht hierzulande eben nicht nur um das Militärhandwerk, sondern auch um Einsichten, Erkenntnisse und Überzeugungen. Ein Offizier, der das alles nicht begreift oder mit der Zeit vergißt, taugt nicht mehr für diesen Beruf. Offiziere, die Einheiten oder Truppenteile benut-
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zen, um ihren militärischen Ehrgeiz zu befriedigen und auf der Stufenleiter der Dienstgrade und Würden rasch emporzusteigen, sollte man in den Kompanien noch einmal in die Lehre schicken. Die Soldaten sind nicht für die Stäbe da, sondern die Stäbe für die Soldaten. Schon im Frieden, aber erst recht im Krieg ist der Mensch die entscheidende Größe, die schöpferischste, variabelste und gleichzeitig unberechenbarste. Werner hört Schritte auf dem Flur und richtet sich auf, trennt sich von der Karte und seinen Gedanken. Oberst Bredow betritt das Zimmer. Ein kräftiger Mann, untersetzt, mit Bauchansatz, den er aber durch betont gerade Haltung noch gut zu verbergen vermag. Vorschriftsmäßig meldet er sich. Er hat eine tiefe, angenehme Stimme, und trotzdem geht Kälte von ihm aus. Bredows ältester Sohn, Schüler des dritten Lehrjahrs an der Offiziershochschule der Landstreitkräfte, hatte sich im Verlauf des letzten Jahres mit Katrin angefreundet. Zum Begräbnis kam die ganze Familie. Der zukünftige Leutnant Bredow saß stumm und blaß da, und über sein Gesicht jagte ein Zucken nach dem anderen. Sein Vater weinte. Die Tränen tropften auf seine Jacke und hinterließen dort dunkle Spuren. Werner begrüßt den Oberst, spürt dessen ballige, feste Hand, die stark behaart ist und zweimal zudrückt wie schon oft seit der Beerdigung, als wolle er Werner immer von neuem sein Beileid ausdrücken. Für Augenblicke erinnert sich Werner ganz deutlich an seine Tochter, sieht sie am Klavier sitzen, sieht ihre dunklen, leichten Haare, die Bewegungen ihres Körpers, mit denen sie das Spiel begleitet. Und Werner sieht im nächsten Augenblick seine Frau, die nun allein ist mit ihrer immer noch so schweren Traurigkeit. Da ärgert er sich über Bredow, obwohl der Oberst schuldlos ist. Er hat nur etwas ausgelöst, das Werner zurückzuhalten versucht. «Kaffee?» fragt der Divisionskommandeur. Bredow nickt, und Werner ruft Rissmann herein und trägt ihm auf, eine ganze Kanne zu kochen. Danach wendet er sich von neuem der Karte zu, beschäftigt sich aber in Gedanken mit Bredow. Der Oberst ist in den Truppenteilen und Einheiten kein gern gesehener Gast.
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Aber als Stellvertreter des Divisionskommandeurs für Ausbildung hat er häufiger mit den Kommandeuren zu tun als die anderen Stellvertreter Werners. Bredow ist verschlossen, manchmal unzugänglich. Als er vor zwei Jahren, nach erfolgreichem Studium an der Generalstabsakademie, in die Division kam, folgte ihm ein Spitzname: «Stiefel-Heinrich». Bredows Steckenpferd sind seit jeher die Stiefel. Auch als Stellvertreter des Divisionskommandeurs überprüft er bei Kontrollen ganze Kompanien auf den Stiefelputz. Ganze Einheiten konzentrieren sich ausschließlich auf ihre Stiefel, wenn Bredows Besuch angekündigt ist. Werner hat in seinen Dienstjahren eine Reihe ähnlicher Veranlagungen bei anderen Offizieren erlebt. Da gab es einen «Mützenwilli», einen «Koppel-Kurt», einen «Schnupftuch-Bruno». Von solchen Äußerlichkeiten hält Werner nichts, weil sie von Wichtigerem ablenken, weil sie nicht populär machen, sondern lächerlich, und weil sie im Grunde die Disziplin und Ordnung der Soldaten nicht verbessern, sondern ganze Züge oder Kompanien vorübergehend auf einen einzelnen Gegenstand konzentrieren. Aber solchen Angewohnheiten ist schwer beizukommen, sie sind zählebig. Bredows Verschlossenheit drückt sich auch in seiner Schweigsamkeit aus, die manchmal etwas Vorwurfsvolles hat. Während der bevorstehenden Übung wird der Oberst eine Reihe wichtiger Aufgaben erhalten. Als Absolvent der Generalstabsakademie steht er auf der Kandidatenliste für Divisionskommandeure. Für ihn hängt von der Übung einiges ab. Die Situation ähnelt fast der einer Prüfung. Bredow neigt zur Unbeherrschtheit, und es hat einige Vorfälle gegeben, die bei Stiefeln begannen und bei Beschwerden aus den Truppenteilen endeten. Wieder nähern sich Schritte. Zwei Offiziere treten ein. Der Leiter der Politabteilung und der Stabschef der Division. Sie sind nicht miteinander verwandt, aber ähneln sich sehr. Ihre Nasen sind groß und vorne breit. Beide haben dunkelblondes welliges Haar, blaue Augen und eine unerschütterliche Ruhe und eine Heiterkeit, die ihnen selbst und vielen anderen schon in mancher verfahrenen Situation geholfen hat. Meisterliche Pistolenschützen sind sie und gute Volleyballspieler. Werner faltet die Karte zusammen. Er mag beide Offiziere, die in
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der Division schon ihre Funktionen ausübten, als er vor vier Jahren ihr Kommandeur wurde. Sie haben ihm sehr geholfen, sich rasch mit der Division vertraut zu machen. Von einem der beiden muß er sich am Ende des Ausbildungsjahres allerdings trennen. Oberst Peter Hempel, der Leiter der Politabteilung, geht zur Akademie nach Moskau. Ein neuer Offizier wird in den Stab kommen, denn Schanz hat es vorgezogen, zum Kommando überzuwechseln. Werner hätte ihn gern in der Division behalten, weil er ihn kennt und überzeugt ist, daß er ein ebenso guter Leiter der Politabteilung geworden wäre wie Hempel. Warum Schanz sich für die andere Funktion entschieden hat, weiß Werner nicht genau. Er nimmt an, daß die Auseinandersetzungen, die um seine Tochter in der Siedlung immer wieder wie kleine Gewitter ausbrechen, diese Entscheidung stärker beeinflußt haben, als Schanz selber wahrhaben will. Rissmann bringt den Kaffee. Die Offiziere setzen sich in die Sessel. Sie wirken munter, ein wenig aufgeregt wie vor jeder Übung. Keine gleicht der anderen. Obwohl sich vieles wiederholt, die Märsche bei Tage und in der Nacht, das Schießen auf abgelegenen Plätzen, gleicht keine Übung der anderen, denn immer besteht die Masse der Soldaten aus neueinberufenen Männern, und die Technik und Ausrüstung ändern sich ständig, werden moderner, komplizierter und schlagkräftiger. Horst Seiffert trifft ein, Werners Stellvertreter für Technik und Ausrüstung. Schwitzend kommt er ins Zimmer, mit stark gerötetem Gesicht, als wäre er den Weg von seiner Wohnung bis zum Stab gerannt. Er begrüßt die anderen, nimmt seine Brille ab, die im Zimmer sofort beschlagen ist. Während er sie trockenreibt, blinzelt er fragend zu den anderen hin, lächelt dabei ein wenig, wirkt verlegen. Wie einer, der zu spät gekommen ist und die anderen nun wortlos darum bittet, ihm das mitzuteilen, was er verpaßt hat. Seiffert hat ein rundes, freundliches Gesicht, in dem die dichten schwarzen Brauen auffallen, die so lebhaft alle Bewegungen des Gesichts mitvollziehen, daß Werner immer wieder an weiche, sich windende Raupen erinnert wird. Als letzter kommt Manfred Nauendorf. Auf die Minute pünktlich.
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Langsam betritt er das Zimmer, grüßt militärisch exakt, und sofort riecht es im Raum nach Lavendel. Hempel schnalzt mit der Zunge und sagt: «Eine Duftnote strahlst du wieder aus!» Alle lachen. Oberst Nauendorf wirkt sogar in der Wattekombination elegant, so als wäre sie ihm nach Maß geschneidert worden. Der Chef der Rückwärtigen Dienste der Division ist den anderen Anwesenden in einigen Belangen überlegen. Keiner von ihnen tanzt so gut wie Nauendorf, keiner geht so oft mit seiner Frau ins Theater oder ins Kino wie er. Und kein anderer vertritt den Divisionskommandeur bei gesellschaftlichen Anlässen und Ereignissen so gern wie Nauendorf. Er trinkt seinen Kaffee im Stehen. «Setz dich», fordert Werner ihn auf. Nauendorf schüttelt den Kopf, und Bodo Kulonska, der Stabschef, bemerkt: «Die Bügelfalte in der Wattehose kriegt bloß ’nen Knick.» Schweigend und intensiv beschäftigt sich jeder mit seinem Kaffee, so als wären sie alle lediglich nachts um ein Uhr zusammengekommen, um miteinander Kaffee zu trinken. Werner mustert einen nach dem anderen. Bis auf Bredow kennt er alle seit vielen Jahren. Nauendorf und Seiffert sind aus Regimentern der Division in den Stab gekommen, inzwischen Oberste geworden. Beide haben den relativ großen Sprung ohne Probleme verkraftet. Werner fühlt sich wohl unter ihnen. An der Spitze der Division verkehrt man miteinander ebenso wie in der Regimentsführung, das heißt in der Regel selten wie Vorgesetzte und Unterstellte. Andere Beziehungen bestimmen das Verhältnis der Offiziere zueinander. Freundschaft und Achtung, Offenheit und die gemeinsame Verantwortung, die auch durch das Prinzip der Einzelleistung nicht aufgehoben wird. Der einzige in der Runde, zu dem Werner diese persönliche Bindung noch nicht gefunden hat, ist Bredow. Der Divisionskommandeur steht auf. Sofort stellen die anderen ihre Tassen hin und erheben sich ebenfalls. Werner weiß, daß keiner von denen, die jetzt vor ihm stehen, in dieser Übung persönliche Ziele verfolgt, auch Bredow nicht, selbst wenn die kommenden Ereignisse für ihn zu einer besonderen Bewährung werden. Alle sind darauf vorbereitet, vom Augenblick der A-
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larmierung an über viele Tage eine kräfte- und nervenzehrende Arbeit zu leisten, Tausende von Menschen und die von ihnen bediente Technik zu bewegen, einzusetzen, mit ihnen gemeinsam den Kampf aufzunehmen um Schnelligkeit, Genauigkeit und Sicherheit. Sie alle wissen, daß hinter der Grenze eine Armee existiert, deren motorisierte Verbände in der Lage sind, in anderthalb bis zwei Stunden die DDR zu erreichen und deren Luftwaffe bis zur Grenze nur zwei bis fünf Minuten braucht. Sie wissen auch genau, daß die Überfälle zu den großen Kriegen des Jahrhunderts in Europa von den Vorgängern dieser Armee ausgegangen sind. Sie blicken Werner an und erwarten von ihm den ersten Befehl für ihre Übung.
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2. Kapitel Ulrich Fichtner sitzt auf seinem Platz im Schützenpanzerwagen, die Hände zwischen den Knien, die Schultern nach vorn gedrückt und die Augen geschlossen. Seit sie aus der Kaserne gefahren sind, ist das Gefühl, sich vor irgend etwas schützen zu müssen, in dem Soldaten immer stärker geworden. Die Haltung, in der er ohne größere Unterbrechungen seit beinahe drei Stunden sitzt, führt zur Verkrampfung. Die Schultern schmerzen ihn, als hätte er ein Lamm zehn Kilometer weit geschleppt. Die Fußsohlen brennen, und der lederne Helmriemen scheint sich von Minute zu Minute enger um seinen Kopf zusammenzuziehen. Fichtner befindet sich im Zustand hilfloser Angst, ist einer Bewegung ausgeliefert, gegen die weder Wille noch Gebet etwas ausrichten. Wie damals, vor etwa zehn Jahren, als sie ihn in die alte Blechtonne geschoben haben. Wehren konnte er sich nicht. Die anderen waren viele, waren älter als er und hatten ihn außerdem gefesselt. Das Faß verschlossen sie und stießen es unter johlendem Gelächter den Hang hinab. Langsam rollte es an, nahm ständig an Tempo zu. Eine ganze Weile hörte Fichtner außer dem Dröhnen und Poltern des Fasses die Rufe und das Lachen der anderen, die schließlich zurückblieben oder verstummten. Er spreizte die Knie und die Arme so weit wie möglich auseinander, um an den Wänden des Fasses ein wenig Halt zu finden. Durch irgendein Hindernis bewirkt, begann das Faß plötzlich zu springen. Fichtner verlor jeden Halt und wurde in der blechernen, dröhnenden Enge herumgeschleudert, bis das Faß hart aufschlug und es still um ihn wurde. Einige von den anderen waren nicht weggelaufen. Sie befreiten ihn aus dem Faß, das durch ein Schlehengebüsch von der weiteren Talfahrt abgehalten worden war. Vierzehn Tage lang lag Fichtner im Krankenhaus. Heute fühlt er sich im Grunde nicht viel besser, obwohl er in diesem Faß auf Rädern nicht allein ist. Aber die anderen schlafen. Bis auf den Fahrer. Sogar der Leutnant scheint eingenickt zu sein. Der 45
Kopf des Zugführers pendelt haltlos hin und her. Das sieht aus, als schüttele er dauernd über irgend etwas den Kopf. Viel sieht Fichtner im Inneren des SPW nicht. Rechts von sich hat er die kalte Metallwand des Fahrzeugs, gegen die er immer wieder gestoßen wird. Von links sinkt dauernd der schlafschwere Körper des Gefreiten Eisner herüber. Alle anderen, auch die Soldaten, die vor fünf Monaten mit Fichtner in die mot. Schützengruppe gekommen sind, haben sich rasch zurechtgefunden. Keinem ist es schwergefallen, sich dem neuen Lebensrhythmus anzupassen. Sie haben es in ganz kurzer Zeit geschafft, ihre bisherigen Lebensgewohnheiten und Bedürfnisse tief in sich zu verschließen, zu konservieren oder ganz zu vergessen. Erst in der Kaserne hat Fichtner begriffen, daß der Mensch mit Instinkten ausgerüstet ist, die weit über das Tierische hinausgehen. Die anderen Soldaten um ihn vermögen im richtigen Augenblick teilnahmslos zu sein bis zur Gleichgültigkeit. Sie sind in der Lage, von einem Augenblick zum anderen einzuschlafen und im nächsten Moment blitzschnell auf einen Befehl oder ein Kommando richtig zu reagieren. Sie können hungern und dürsten, aber sich ebenso betrinken und überfressen. Märsche, Härtekomplexe und andere Anstrengungen, die mehrmals in der Woche von ihnen verlangt werden, stehen sie bis auf wenige Ausnahmen mit stoischem Gleichmut durch. Sie sind fähig, bald Schaf, bald Hund, bald Schäfer zu sein. Immer das, was gerade nötig ist oder von ihnen verlangt wird. Nur er, der von Kind an mit Tieren zu tun gehabt hat, der mit Hunden und Schafen groß geworden ist, schafft das nicht. Noch immer sehnt er sich täglich nach Hause zu seiner Herde zurück, und nach fast fünfmonatigem Dienst kann er wie am Anfang manches nur ertragen, wenn er sich ans Dorf erinnert. Zuerst ist es nur das Heimweh gewesen. Später, als er Friederike begegnete, kam die Sehnsucht dazu. Aber auch die ist zur Qual geworden. Fichtner wäre es überhaupt lieber gewesen, wenn er erst im Mai Soldat geworden wäre. Im Frühjahr, wenn die Herde aus dem Stall in den Pferch umzieht oder auf Wanderschaft geht. Wenn es überall lebendig und unruhig wird, wenn Aufbruchsstimmung herrscht und
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etwas Neues beginnt. Auch wenn es sich jedes Jahr wiederholt, es bleibt immer etwas Neues. Fichtner ist überzeugt, daß es ihm im Mai leichter gefallen wäre, Soldat zu werden, aber er mußte im Herbst gehen. Im November, wo Tier und Menschen sich ins Dorf zurückziehen, in die Wärme und Häuslichkeit, hinter die Mauern der geschlossenen Gehöfte. In einer Zeit, wo im Dorf gefeiert und geschlachtet wird, wo die meisten Hochzeiten stattfinden und jeder mehr Geld in den Taschen hat als übers ganze restliche Jahr. Der schlafende Eisner drückt ihn plötzlich heftig gegen die Wand. Enge, überall Enge. Im SPW, im Zimmer, das Fichtner mit neun anderen bewohnt, in seinem Bett, über dem ein zweites steht. Beim Marschieren auch, wo er eingekeilt ist und mitgehen muß wie das einzelne Schaf mit der Herde; und wenn es sich von ihr trennt, wird es von einem der Hunde zurückgejagt. Enge auch im Speisesaal und im Kino, sogar im Restaurant und auf dem Tanzsaal. Immer und überall diese aufdringliche, widerliche Enge. Und Fichtner ist Weite gewohnt. Wiesen, Flüsse, sanfte Hügel und Hänge. Er hat geglaubt, ohne das alles nicht einen Tag leben zu können. Die gemächlich wandernde Herde, das Wogen der wolligen Rücken, die kehligen Laute der Böcke, die hellen Rufe der Muttertiere und die kläglichen Schreie der Lämmer. Das alles macht sein Leben aus, bis man ihn holte und musterte und Schweißfüße bei ihm feststellte und den Schäferrücken. Das hatte er vorher gewußt. Beides gehörte seit Generationen zu seiner Familie wie die Schafe und die Hunde. Aber beides war kein Hinderungsgrund für die Einberufung. Zwischen seinem bisherigen Leben und dem, was er zur Zeit führen muß, findet er keine Beziehungen, keinerlei Zusammenhänge. Wenn er im Sommer beim ersten Morgengrauen am Pferch war und das Gatter öffnete, um mit der Herde aufzubrechen, wenn er zur Lammzeit mitunter nächtelang nicht schlief oder während der Schur bis zur Erschöpfung und völligen Heiserkeit schuftete, das alles hatte Sinn und Ziel. Aber welchen Sinn soll es haben, sie nachts aus dem Schlaf zu reißen und irgendwohin zu transportieren? Hier kann er nicht mal reden, wie er es gewohnt ist, weil sogar Wörter und mitun-
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ter ganze Sätze vorgeschrieben sind. Nicht einmal gehen kann er, wie er es will, wie eine ganze Ahnenreihe von Schäfern es in ihm vorgebildet hat. Hier gibt es nur drei Gangarten, und die werden noch befohlen: Gleichschritt, Laufschritt, Exerzierschritt. Mit niemandem kann er über seine Empfindungen und Gedanken reden. Denn die einen nehmen ihn nicht ernst, brauchen ihn nur, um regelmäßig lachen zu können, und die anderen behandeln ihn wie einen kleinen Jungen, auf den man aufpassen muß, daß ihm nichts passiert. Nur Friederike hat ihn ernst genommen. Mit ihr konnte er sogar über die Schäferei sprechen. Aber erst, nachdem er sich von der Uniform getrennt hatte. Das fällt ihm jetzt ein. Als beide nackt waren und ihn nichts mehr beengte, konnte er ohne Scheu über sich sprechen. Vielleicht hätte Friederike ihm manches von dem erklären können, was hier täglich vorgeht. Vielleicht wäre es ihr gelungen, ihm die bis heute undurchschaubaren Zusammenhänge des Kasernendaseins aufzuhellen und damit alles wenigstens erträglich zu machen. Aber Rike hat ihn weggeschickt. Nach allem, was zwischen ihnen gewesen ist, hat sie ihn weggeschickt. Fichtners Gefühl, sich in einer Tonne zu befinden, die einen Hang hinunterrollt, bis sie an irgendeinem Hindernis zerschellt, hat ihn, seitdem er Soldat ist, nie ganz losgelassen. Er öffnet den Helmriemen. Sofort läßt der Druck in seinem Kopf nach. Der SPW biegt von der Straße auf einen zerfahrenen Landoder Waldweg ab. Langsam, mit dröhnendem Motor schlingert er durch Löcher und über andere Unebenheiten. Es beginnt, nach Kraftstoff und Abgasen zu riechen. Fichtner lockert das Koppel. Das Schlingern und der Gestank ballen sich in seinem Magen zusammen, füllen ihn allmählich aus. Schließlich hält Fichtner dem Druck nicht mehr stand. Er muß hier raus, springt auf, öffnet die Luke über sich und zieht sich hinauf. Tief atmet er durch und blickt dabei nach oben. Sterne sind zu sehen, und im Osten hellt der Himmel auf. Vor Fichtner rollen SPWs, hinter ihm fahren auch welche. Schwankend, wie unter einer schweren Last, bewegen sie sich langsam nach Norden. Fichtner versucht zu erkennen, was für ein Feld das ist, an dem sie entlangfahren. Er beugt sich ein wenig hinunter. Aber es ist noch zu
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dunkel, und die schmalen Lichtstreifen der SPWs reichen nicht weit genug. Auf der linken Seite stehen Laubbäume. Trotz der Abgase riecht Fichtner die vom Regen erwärmte Erde und den Märzgeruch der Bäume. So frisch und ein wenig wie Honig riechen Linden, Kastanien und Ahorn nur, wenn die Knospen aufbrechen und die ersten noch schrufnpeligen Blätter hervorstoßen. Hier oben fühlt sich Fichtner freier und besser, sich selber näher. Die Kolonne biegt nach links ab. Die Fahrer schalten. Drohend brüllen die Motoren auf, und helle Gaswolken wallen hoch. Plötzlich erhält Fichtner einen scharfen Schlag ins Gesicht. Sein Kopf wird nach hinten gerissen. Ein Ast peitscht ihm den Helm vom Kopf. Fichtner verliert den Halt und rutscht in den SPW zurück. Stirn und linke Gesichtshälfte schmerzen. Nach einer Weile spürt er fremde Hände auf seinem Gesicht. Warm und vorsichtig sind sie und kleben ihm Pflaster über die getroffenen Stellen. Dann vernimmt er Eisners Stimme. «Mensch, Fichtner», sagt der Gefreite, «dir passiert noch mal was.» Eisner erhebt sich und schließt die Luke. Beim Hinsetzen fügt er hinzu: «Was soll das bloß werden mit dir?» Wenige Augenblicke später schläft er schon wieder. Fichtner beneidet ihn um diese Fähigkeit, und er beneidet ihn, weil Eisner schon Gefreiter ist und in ein paar Wochen entlassen wird. Im Konzentrierungsraum ist Ruhe eingetreten. Die erste Aufregung ist vorüber. Alle Fahrzeuge haben ihren Platz gefunden und sind gesäubert worden. Das Regiment von Oberst Leichsenring ist in einem ausgedehnten Waldgebiet untergebracht, dessen Zentrum ein Kiefernhochwald bildet. Die dritte Kompanie liegt diesem Hochwald gegenüber in einem schmalen, langgestreckten Eichenhain. An den Bäumen hängt noch immer vorjähriges Laub. Auf den Blättern spiegelt sich die Vormittagssonne, taucht die graugrünen Stahlplatten der Schützenpanzerwagen und die Planen der Fahrzeuge in ein weiches, gelbliches Licht. Leutnant Ahnert sitzt auf dem Rand der Fahrerluke und blickt hinüber zu den Zelten, Fahrzeugen und Führungspunkten des Regimentsstabs. Für Ahnert hat die erste große Übung begonnen, seit er
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Offizier und Zugführer ist. Alles ist neu und interessant für ihn. Müdigkeit spürt er im Augenblick nicht, weil trotz der Ruhe viel zu sehen und zu hören ist. Irgendwo hackt jemand Holz, vielleicht für eine der Feldküchen, in denen das Mittagessen schon vorbereitet wird. Die schweren Tankwagen machen die Runde von Kompanie zu Kompanie. Gleichmäßig rattern im Hochwald die Dieselaggregate, produzieren Strom für den Regimentsstab. In einem der Zelte befinden sich zur Zeit alle Bataillonskommandeure und Kompaniechefs zu einer Einweisung. Erst wenn Major Puhlmeyer von dort zur Kompanie zurückkehrt, gibt es für Ahnert wieder Arbeit. Hin und wieder jagt ein Krad davon, oder ein anderes kehrt von der Fahrt zurück. Die hohen Kiefern hinter der Schneise stehen fast in Reih und Glied vor dem Leutnant, und die zur Harzung in die Rinde gerissenen Winkel wirken wie Rangabzeichen. Zwischen der Kompanie und dem Regimentsstab liegt augenblicklich nur eine Schneise. Doch Ahnert weiß, daß der Weg zu diesem Stab weit und beschwerlich ist. Er hat lediglich den ersten Schritt getan, als er vor ein paar Monaten die Hochschule als Leutnant verließ. Zum zweiten Schritt, der ihn dorthin führen kann, will Ahnert während der Übung ansetzen. Wenigstens das will er erreichen. Und er hofft, daß der Kompaniechef ihm Gelegenheit gibt, sich zu bewähren. Neben dem SPW sitzen einige Soldaten. Das reichliche Frühstück hat sie schläfrig gemacht. Einer spielt Mundharmonika. Das kann nur der Schäfer sein. Fichtner hat stets ein paar von den nur daumenlangen Instrumenten in verschiedenen Tonlagen bei sich. Meistens spielt er Volkslieder. Er ist ein wandelndes Liederbuch, denn er kennt fast alle Texte auswendig und behauptet, in seinem Heimatdorf würden abends auf dem Dorfplatz noch Volkslieder gesungen. Das erscheint den anderen im Zug so kurios und außergewöhnlich wie Fichtner selber und sein Beruf. Aber die Mundharmonika spielt er gut. Er spielt verhalten, unaufdringlich, und Ahnert hört ihm gerne zu. Im Augenblick spielt Fichtner «Am Brunnen vor dem Tore». Plötzlich ruft einer der Soldaten: «Mensch, Ulrich, du warst auch schon fröhlicher. Mir kommen
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gleich die Tränen.» Der Schäfer unterbricht das Spiel nicht, er wird nur ein wenig leiser. Ein anderer meint: «Er hat den Laufpaß gekriegt, darum.» Da lacht jemand und erklärt: «Ist doch wohl klar. Ulrich und die schöne Friederike… Das ist… Wißt ihr, was das ist? Wie Quasimodo und Esmeralda. So ungefähr.» Er lacht wieder, findet aber keinen Beifall. Es ist Litosch, einer der jüngsten Soldaten des Zuges. Gerade neunzehn ist er geworden. Ein lauter, manchmal aufdringlicher Junge, der alle wie seinesgleichen behandelt, sogar den Zugführer. Immer hat er was zu sagen, viele seiner Erklärungen bricht er mit den Worten «So ungefähr» ab. Dieser Lieblingsausdruck ist sein Spitzname geworden. Litosch kommt aus Berlin, von der Baustelle Marzahn, und er ist ein ausgezeichneter SPW-Fahrer. «Meinst du», fragt jemand, «daß Ulrich wirklich mit der Kellnerin geschlafen hat? Oder haut er uns nur die Taschen voll. Er und diese Frau, von der ganze Regimenter träumen.» «Ich wette», behauptet einer, «er spinnt.» «Na, na, vorsichtig», widerspricht Litosch. «Frauen sind in dieser Beziehung unberechenbar.» Mehrere lachen. Auch Ahnert lacht leise. Fichtner jedoch spielt ungerührt weiter, als ginge es gar nicht um ihn. Er sagt auch nichts, als Litosch sich an ihn wendet und ruft: «He, Ulli, steck den Schnauzenhobel mal weg. Wie ist das? Hat sie wirklich ein Muttermal auf dem Schenkel?» Alle schweigen, warten auf Antwort. Aber Fichtner gibt keine. Da ruft Litosch lauter: «He, Schäfer, bist du taub?» Fichtner setzt die Mundharmonika ab. Doch nicht, um zu antworten. Er schlägt sie gegen den flachen Handteller und spielt dann weiter. «Es blies ein Jäger wohl in sein Horn.» Wieder ein trauriges Lied. Ahnert kennt die Kellnerin. Mehrere Male ist er von ihr bedient worden. Der Leutnant kann sich in der Erinnerung einen Menschen nie genau vorstellen. Ihm fallen nur Details ein. Bei der Kellnerin sind es zwei Besonderheiten, die ihm im Gedächtnis geblieben sind. Sie geht sehr ruhig, auch wenn sie es eilig hat und das Restaurant
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vollbesetzt ist, obwohl sie eigentlich wissen müßte, daß alle ihr nachstarren. Ahnert findet sogar, daß ihr Gang vorsichtig ist, fast ein wenig schüchtern. Und an ihren Mund erinnert er sich. Sie hat feste Lippen mit tiefen, grübchenhaften Mundwinkeln. Trotzdem ist es kein lachender, kein fröhlicher Mund. Ahnerts Gedächtnis ist bei solchen Einzelheiten sehr genau, schärfer mitunter als seine Sinne. Traurig ist ihr Mund, findet Ahnert, und er hat etwas von der Stimmung der Lieder, die der Schäfer meistens spielt. Und diese Verbindung läßt den Leutnant plötzlich auf eine mögliche Beziehung zwischen Fichtner und der Serviererin schließen. Doch ihm ist das alles gleich. Für Ahnert ist Friederike Schanz unerreichbar. Mit seinen einhundertvierundsechzig Zentimetern scheidet er sogar als zeitweiliger Bewerber um sie aus. Und auf aussichtslose Unternehmungen richtet Ahnert weder Kraft noch Zeit. Zweimal in seinem Leben hat er sich um Mädchen bemüht. Im zehnten Schuljahr gab es in der Parallelklasse ein blondes, sanftes Mädchen, das nicht größer war als er und von allen anderen Jungen übersehen wurde. Sie gingen zusammen, bis Manuela in der elften Klasse plötzlich zu wachsen begann und ihn schließlich um einen ganzen Kopf überragte. Das zweite Mädchen lernte er im Haus der Armee in Löbau kennen. Eine energische, rundliche FDJlerin aus der Kreisleitung, mit der während der Disko keiner tanzte. Hanna stammte aus einem Ort zwischen Löbau und Görlitz. Sie war in dem Dorf und der Landschaft fest verwurzelt und hing sehr an ihren Eltern. Ahnert war überzeugt, daß er sie davon loskriegen würde, und bemühte sich ein ganzes Jahr darum. Sogar noch in den Wochen der Prüfungsvorbereitungen, wodurch er an Boden verlor, den er nur durch Fleiß wieder aufholen konnte. Als Hanna dann von ihm erfuhr, wohin er versetzt werden würde, schüttelte sie den Kopf, und Ahnert sah sie nie wieder. Doch eines Tages wird auch er die Frau für sich finden. Jetzt vermißt er sie noch nicht, hält es sogar für einen Vorteil, während der ersten Dienstjahre als Offizier ohne Familie zu sein. Er braucht seine Kräfte nicht zu zersplittern. Die Sorgen um Wohnung oder Urlaub, die andere Offiziere beschäftigen, beobachtet er gelassen und belustigt. Geduld haben muß man, warten können, bis man an der Reihe
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ist. Aber dann muß man zugreifen, darf sich nicht wegdrängen lassen. Die Gunst der Stunde muß man erkennen und mit allen Mitteln nutzen, im Privaten ebenso wie im Dienst. Ahnert weiß, was er will, und auf dieses Ziel konzentriert er sich ganz. Im Stab will er arbeiten und das so bald wie möglich. Mit den Soldaten und all dem Kleinkram, von der Ausgangsüberschreitung bis zur EK-Stimmung, von der eintönigen Ausbildung bis zu den oft fruchtlosen Diskussionen im Politunterricht, will er nicht lange zu tun haben. Er ist Offizier geworden, um es wenigstens bis zum Oberst zu bringen. In der Armee spielt die Körpergröße eine untergeordnete Rolle. Hier entscheiden über Achtung und Anerkennung andere Merkmale. Vorschriften und Dienstgrade bestimmen darüber, wer etwas zu sagen hat und wem die Soldaten zu gehorchen haben. An der Oberschule hat er sich vier Jahre lang gefallen lassen müssen, daß die meisten Schüler und Schülerinnen ihn «Michael den Kurzen» nannten. Nachdem er sich für den Offiziersberuf entschieden hatte, war der Spott sogar noch lauter geworden. Da er jedoch zur Klassenspitze gehörte, blieb für die anderen nur seine Körpergröße als Zielscheibe. Der Leutnant wünscht sich jetzt, daß der Zufall ihm eines Tages wenigstens einen dieser ehemaligen Mitschüler als Soldaten in die Hände spielen möge. Fichtner hört plötzlich auf zu spielen. Ahnert hat das Gespräch der Soldaten in den letzten Minuten nicht mehr verfolgt. Leise und ohne besondere Betonung sagt der Schäfer: «Ihr seid Schweine.» Ein paar Augenblicke herrscht Ruhe, dann lacht einer laut. Das könnte Litosch gewesen sein, und andere fallen in das Gelächter ein. Plötzlich läßt sich Eisner mit seiner tiefen Stimme hören. «Laßt ihn in Ruhe, endlich!» Litosch verteidigt sich. «Mann, er wird doch ’n bißchen Spaß verstehen. Unter uns. Ist doch keine Jungfer mehr, wenn er mit der Kellnerin… Na ja, hängt wohl mit seinem Beruf zusammen. Muß ja zum Individualismus führen, dauernd mit so ’ner Herde Hammel alleine, so ungefähr.» Eisner fährt fast im Befehlston dazwischen: «Du sollst deine Klappe halten, endlich!»
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«Ich meine ja nur», entgegnet Litosch. «Vielleicht kommt er mal zu uns, für ’ne Weile. In die Jugendbrigade. Auf eins der Hochhäuser, die wir montieren. Da kriegt er Nehmerqualitäten wie ein Boxer, so ungefähr.» «Und ich krieg’ sie doch», behauptet Fichtner. «Wartet nur.» «Die Friederike Schanz?» fragt Litosch und singt: «Lebe wohl, du holde Kellnerin! Gehst fort von uns, wirst eine traute Schäferin.» Es wird wieder gelacht, und Litosch fügt seinem Gesang noch etwas hinzu: «Ulli, wenn du das schaffst, stehn mindestens drei volle Regimenter Spalier, und alle müssen Gummistiefel anziehen. Die Tränen werden wie ein reißender Fluß sein, so ungefähr.» Ahnert sieht, daß Fichtner aufsteht und weggeht, auf die Kiefernschonung zu, die hinter den Eichen liegt. Auch durch die Wattejacke hindurch zeichnen sich seine Schulterblätter deutlich ab. Seine Schritte sind kurz und wirken müde, fast erschöpft. Der Leutnant ruft den Schäfer zu sich. Er muß zweimal rufen, ehe Fichtner kehrtmacht. Das passiert selten. Doch Ahnert geht heute darüber hinweg. Er schickt den Soldaten zum Hauptfeldwebel nach einem neuen Helm. Der verlorene ist bestimmt heute nacht von den folgenden SPWs und Panzern zu einem Stück Blech breitgewalzt worden. Aber ein Helm stellt keinen großen Verlust dar. Schlimmer wäre es gewesen, wenn Fichtner nicht nur ein paar Kratzer davongetragen hätte. Das Genick hätte der Ast ihm brechen können. In dem Falle wäre Ahnerts Laufbahn schon nach ein paar Monaten unterbrochen gewesen. Er war eingenickt ebenso wie Eisner, der den erkrankten Gruppenführer vertritt. Keiner von ihnen hatte bemerkt, daß Fichtner nach oben gestiegen war. Ahnert blickt dem Soldaten nach, der am Schneisenrand entlang in Richtung Feldküche davongeht. Ein Mann wie Fichtner hat in einer Gruppe oder innerhalb eines Zuges seinen Wert. Er sorgt immer von neuem für Gesprächsstoff, erheitert und belustigt die anderen. Leute wie Litosch reagieren sich an ihm ab und werden für wichtigere Dinge frei und zugänglich. Und Ahnert hat in den fünf Monaten, die er als Zugführer dient, noch etwas begriffen. Innerhalb eines mot. Schützenzuges treffen so viele unterschiedliche Charaktere, Tempe-
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ramente und Erfahrungen aufeinander, daß sich viele Diskussionen und Auseinandersetzungen ohne sein Zutun als Vorgesetzter regulieren. An Gesprächen wie dem eben abgelaufenen beteiligt sich Ahnert selten, und er mischt sich nie ein. Bisher jedenfalls hat er nicht einzugreifen brauchen. Soldaten wie Eisner passen auf, daß es nicht zu schlimm wird. Ahnert hört lieber zu, nimmt auf und beobachtet. Dadurch erfährt er mehr über die Soldaten, als wenn er dauernd zwischen ihnen säße. Es kommt nur darauf an, sie im rechten Augenblick die Zügel fühlen zu lassen. Ahnert ist für Distanz. Er hält nichts davon, in die Soldaten einzudringen, sie umzukrempeln, alles das an ihnen in anderthalb Jahren nachholen zu wollen, was andere achtzehn Jahre versäumt haben. Für ihre Freuden und Leiden interessiert er sich wenig. Er will ihnen nicht dauernd Gespräche aufzwingen. Das verwöhnt und führt schließlich dazu, daß sie mit jedem Wehwehchen zu ihm kommen. Wer es versucht hat, den hat er zum Gruppenführer geschickt. Ordnung in der Armee kommt vor allem durch Unterordnung zustande. Es gibt geschriebene und ungeschriebene Gesetze, nach denen man sich als Soldat zu richten hat oder auch als Offiziersschüler. Es gibt viele Lehrer und noch mehr Vorgesetzte, die Widerspruch und Kritik nicht vertragen. Sich danach zu richten, ist Ahnert auf der Offiziershochschule nicht schwergefallen. Warum sollte das im Regiment anders sein? Er weiß, daß viele Soldaten so denken und handeln. Achtzehn Monate läßt sich das schon aushalten. Man kommt aus miteinander, wenn man einander nicht dauernd belästigt. Ahnert will bei der Armee etwas werden. Obwohl er das ohne die Soldaten nicht kann, liegt es doch nicht in ihren Händen. Sie befinden sich in der Mitte einer Kopplungsreihe, an deren Anfang und Ende er als Zugführer steht. Drüben im Hochwald ist auf einmal Bewegung. Aus dem langen, mit Tarnnetzen abgedeckten Zelt, in dem der Regimentskommandeur Beratungen und Dienstbesprechungen durchführt, treten die Kommandeure. Ahnert erkennt Puhlmeyer zwischen den anderen. Der Major ist unter den Kompaniechefs der einzige Pfeifenraucher. Einen seiner Knösel schiebt er jetzt kalt zwischen die Lippen. Der Tabaksqualm ist nur zu ertragen, wenn der Major die Pfeife anraucht, denn
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von Zug zu Zug stinkt der Tabak mehr. Puhlmeyer ist seit zehn Jahren Kompaniechef in diesem Regiment und stolz darauf, was Ahnert nicht verstehen kann. Aber er hütet sich, das seinem Vorgesetzten zu sagen. Der Leutnant ruft die Gruppenführer zu sich und befiehlt ihnen, die Waffen und die Ausrüstungsgegenstände ihrer Soldaten noch einmal gründlich zu überprüfen. Zu lange Untätigkeit macht die Soldaten bequem und widerspenstig. Erst als die Gruppenführer kehrtgemacht haben und zu ihren Soldaten gehen, schwingt Ahnert sich vom SPW hinunter auf die Erde. Während des Sprunges sieht er, daß Eisner zurückkommt. Der Sprung ist nicht mehr aufzuhalten. Ahnert landet, federt nach. Dann steht der hühnenhafte Gefreite vor ihm, dessen Schultern sich in der Höhe von Ahnerts Augen befinden. Breite muskulöse Schultern, mit denen Eisner eigentlich jedesmal in der Luke steckenbleiben müßte. Doch irgend etwas muß es an der Arbeit eines Stahlschmelzers geben, das diesen Mann so geschickt und so schnell gemacht hat. «Was ist?» fragt Ahnert und blickt zu dem Gefreiten hoch. Eisner hat hellblaue Augen mit graubraunen Sprenkeln in der Iris, die wie Funkenspuren wirken. So nah vor großen Leuten steht Ahnert nicht gern. Das macht ihn unsicher. Bei Eisner ist es nicht die Körpergröße, die ihn nervös macht. Der Gefreite benimmt sich ihm gegenüber zurückhaltend, vorsichtig, fast mißtrauisch, aber immer auch sehr bestimmt. Eisner sagt: «Wir müssen uns um Fichtner kümmern, Genosse Leutnant.» «Wir? Sie sind sein Gruppenführer, also kümmern Sie sich.» Eisners Augen werden ein wenig kleiner. «Wir», wiederholt er, «damit meine ich uns alle im Zug.» «Für Versammlungen ist der FDJ-Sekretär zuständig. Gehen Sie zu Litosch.» Eisner geht nicht darauf ein, sondern sagt: «Irgendwas geht in Fichtner vor. Auf der Ofenbühne, wenn da einer so rumschleicht, jagen wir ihn runter. Und hier, das ist nicht ungefährlicher, das…» «Sie hören das Gras wachsen.» «Es wächst, Genosse Leutnant, es wächst wirklich.» Ahnert holt
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tief Luft. Er will nicht heftig werden. Deshalb bricht er das Gespräch einfach ab und befiehlt dem Gefreiten: «Kümmern Sie sich um Ihre Gruppe!» Dann geht er dorthin, wo der Kompaniechef seinen Platz hat. Er weiß genau, daß Eisner noch an der selben Stelle steht und ihm nachblickt. Der Leutnant kämpft gegen den Drang an, sich umzusehen. Er bezwingt ihn erst, als er an Eisners Augen denkt, an diese hellblauen, mißtrauischen Augen, die Ahnert nicht in Ruhe lassen. Der Gefreite ist einer von jenen, die sich nicht einpassen, sich nicht unterordnen wollen, die dauernd ihre Lebens- und Betriebserfahrungen ins Spiel bringen, als ob hier irgendein Werk wäre. Doch in ein paar Wochen wird Eisner entlassen. Puhlmeyer sitzt mit den Zugführern und dem Politstellvertreter der Kompanie am Raucherplatz in der Nähe der Feldküche. Auf den Knien hat er Karte und Arbeitsbuch liegen und erläutert den Offizieren die Ausgangslage. Wie oft er das in seinen zwanzig Dienstjahren schon getan hat, weiß er nicht. Es ist immer die gleiche Lage gewesen, und sie wird sich vermutlich auch nie ändern. Seit Jahrhunderten müssen sich immer die gleichen Leute vor den Angriffen der anderen verteidigen. Zu großen, entscheidenden Gegenangriffen sind sie lange zu schwach gewesen. Aber das hat sich geändert. Gründlich. Vor über sechzig Jahren hatte der erste Gegenangriff Erfolg und jeder weitere auch. Und so wird es bleiben, bis es keine Leute mehr gibt, die auf Angriffe aus sind. Puhlmeyer kann an all das denken und gleichzeitig über die Lage sprechen. Beides hat miteinander zu tun, und es verbindet sich fast von selbst in der Eindringlichkeit, mit der der Major spricht. Seine militärischen Erfahrungen und seine Überzeugung geben allem, was er sagt und tut, eine beeindruckende Sicherheit. Und er kann noch etwas, während er redet. Er beobachtet die Offiziere, die bei ihm sitzen. An den Reaktionen, die sich in ihren Gesichtern abzeichnen, und besonders an ihren Augen erkennt er, wie intensiv sie mitdenken und ob auch sie sehen, was hinter den taktischen Zeichen auf der Karte und hinter den militärischen Formulierungen steht. Heute blickt er immer wieder den neuen Zugführer an. Ahnert hört
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zu wie die anderen, macht sich im Gegensatz zu ihnen jedoch kaum Notizen. Das hat nichts zu sagen. Ein gutes Gedächtnis reicht Puhlmeyer, und er wird heute noch prüfen, ob Ahnert das hat. Über fünf Monate ist der Leutnant schon in der Kompanie, und trotzdem weiß Puhlmeyer nicht viel mehr über ihn, als in der Kaderakte steht. Bei keinem der fast dreißig Zugführer, die durch seine Kompanie gegangen sind, hat er jemals so lange gebraucht, um ihre persönlichen Eigenschaften und Fähigkeiten oder Schwächen zu entdecken. Vielleicht hängt Ahnerts Zurückhaltung mit seiner Körpergröße zusammen. Aber schon die Tatsache, daß Puhlmeyer das nicht genau weiß, ärgert ihn. Der Neue hat bisher auch zu den anderen Zugführern keine engere Bindung gefunden, wie es auf Grund der gleichen Dienststellung sonst üblich ist. Ahnerts schmale blaue Augen sind immer aufmerksam, der Leutnant ist offenbar stets bei der Sache. Aber der Kompaniechef kennt nur das Äußere seines neuen Zugführers. Das Innere läßt Ahnert nicht sehen. In Straßen, wo Bäume am Rand des Gehweges stehen, hat Puhlmeyer oft erlebt, daß ihm jemand auf der anderen Seite entgegengekommen ist. Doch zwischen ihm und dem anderen befand sich immer ein Baum. Puhlmeyer wußte zwar, da geht einer, aber sein Gesicht konnte er nicht erkennen. Ähnlich geht es ihm mit Ahnert. Nach fünf Monaten hat bisher jeder Zugführer in der Kompanie schon die ersten Erfolge oder Niederlagen hinter sich gehabt. Bei Ahnert ist nichts von all dem eingetreten. Sein Zug liegt nicht an der Spitze, aber auch nicht am Ende der Kompanie. Alles ist bisher gut gegangen. Die Ordnung und Disziplin seiner Soldaten läßt kaum Wünsche offen. Vielleicht zieht der Leutnant bei dieser Übung an, um zu beweisen, was in ihm steckt. Aber ein vielleicht ist Puhlmeyer zuwenig. Er ist entschlossen, nicht länger abzuwarten. Er wird Ahnert in den nächsten Tagen ins «Feuer schicken», wann immer es möglich ist. Er braucht Ahnerts Bekenntnis, braucht es im Interesse der Soldaten, denen es beileibe nicht gleichgültig ist - wenn sie auch manchmal so tun - , ob sie einen Dienstgrad oder einen Menschen aus Fleisch und Blut zum Vorgesetzten haben. Der Major muß auch noch aus einem anderen Grund Klarheit über Ahnert haben. Zu Beginn des neuen Ausbildungsjahres hat die dritte Kompanie alle Batte-
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rien und Kompanien der Armee, alle gleichgeordneten Einheiten der Volksmarine und der Luftstreitkräfte zum Wettbewerb aufgerufen. Puhlmeyers Kompanie hat ihre Ziele und Absichten in einem Soldatenbekenntnis zusammengefaßt. Während dieser Übung, die noch gar nicht richtig begonnen hat, werden alle, die vor dem Kompaniechef sitzen, viel zu leisten und zu beweisen haben, am meisten aber Ahnert. Puhlmeyer kommt im Augenblick nicht dazu, das Gedächtnis des Leutnants zu prüfen. Er kriegt Besuch. Bei der Feldküche steht Oberst Schanz. Ruhig führt der Kompaniechef die Besprechung zu Ende und schärft am Schluß den Zugführern ein, daß sie mit ihren Soldaten gründlich und ausgiebig über die Lage sprechen sollen. Besonders jetzt, wo noch Zeit dazu ist. Jeder einzelne Soldat muß wissen, warum und mit welchem Ziel er etwas tut, in welchem Zusammenhang seine Bewegungen und Handlungen mit der gesamten Division und ihrer Aufgabe stehen. Der Soldat muß es wissen, weil er manchmal tagelang auf Achse ist, dann wieder lange in einem Bereitstellungsraum liegt, Stellungen ausheben muß, die er Stunden später schon wieder verläßt. Er wird über Flüsse hin und her gefahren, und wenn er den Sinn dieser Aktionen nicht kennt, wird das ganze Hin und Her für ihn zu einer Art Räuber-und-Gendarm-Spiel, das obendrein eine Menge kostet. Denn rechnen können die Soldaten. Wenn sie auch vieles übersehen oder einfach hinnehmen, rechnen können sie sehr gut. Puhlmeyer kennt das alles aus der Erfahrung im Umgang mit zahlreichen Soldatenjahrgängen. Es ist zum Beispiel eine schlechte Sache, wenn Soldaten am Ende einer solchen Übung für etwas getadelt oder gelobt werden, ohne daß sie genau wissen, warum. Keiner der Zugführer hat eine Frage. Puhlmeyer schickt sie weg. Oberleutnant Freier, der Politstellvertreter der Kompanie, geht mit Ahnert. Puhlmeyer freut sich über die wortlose Verständigung zwischen Freier und ihm. Häufig hat er Grund sich über den jungen Politoffizier zu freuen, der, bevor er zur Offiziershochschule ging, Sekretär einer FDJ-Kreisleitung war. Der Major wendet sich nun Schanz zu, den er seit vielen Jahren
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kennt. Puhlmeyer war schon Kompaniechef im Regiment, als Schanz Politstellvertreter war. In jene Zeit fiel auch die einjährige Gastrolle Puhlmeyers als Bataillonskommandeur. Unter anderen verdankt er es Schanz, daß er unbeschadet in die Kompanie zurückkehren und seine alte Funktion wieder übernehmen konnte. Aber es hat auch welche gegeben, die nach dem Mißerfolg des Bataillons in jenem Ausbildungsjahr Puhlmeyer loswerden wollten. Das waren vor allem jene, die mehr wußten als er selber, nämlich daß er das Zeug zu einem guten Bataillonskommandeur hätte. Man soll sich eben nie anloben lassen. Schanz übernimmt an der Feldküche zwei Tassen Kaffee vom Koch und geht auf die Raucherinsel zu. Der schwergewichtige Oberst wirkt unbeholfen, weil er trippelt und die Hände mit den Tassen weit von sich streckt. Kaffee liebt Schanz über alles. Er braucht bei Übungen manchmal einen ganzen Tag lang nichts zu essen, Hauptsache, er kriegt seinen Kaffee. An keiner Feldküche kommt der Oberst vorbei, ohne nach Kaffee zu fragen. Aber zu Puhlmeyer kommt er nie nur wegen des Kaffees. Von ihm will er mehr. Auch jetzt, wo nach seiner Versetzung der Weg von der Kompanie zum Kommando weit geworden ist. Doch äußere Entfernungen machen Schanz nichts aus. Regelmäßig taucht er in der dritten Kompanie auf, angemeldet und auch überraschend. Puhlmeyer sieht ihn immer gern. Anfangs hat Puhlmeyer nicht begriffen, warum Schanz die Division verlassen hat, warum er in der Anonymität eines großen Stabes untertauchen wollte. Doch längst weiß er, daß der Oberst damit keine persönlichen Ziele verfolgt wie mancher andere, der sich hinter einer Stabstür zur Ruhe setzt. Während Schanz mit den Tassen heranbalanciert, erinnert sich Puhlmeyer an den Inspektionsbesuch einer größeren Gruppe von Offizieren im Regiment. Ende Februar trafen sie ein, und mehrere von ihnen nahmen sich unter Leitung des Chefs der Inspektionsgruppe die dritte Kompanie vor. Der Chef war ein schlanker Oberstleutnant, der eine Brille mit viereckigen Gläsern trug. Die machte sein weiches Gesicht mit dem runden Kinn strenger und soldatischer. Er konnte beim Reden nicht still-
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sitzen, sondern lief in Puhlmeyers Dienstzimmer hin und her und beschloß jede Frage mit einem Fingerschnipsen, gleichsam als schösse er sie auf seinen Zuhörer ab. Der Oberstleutnant redete viel, und Puhlmeyer hörte ihm gerne zu, weil er lebhaft und betont sprach, lange Sätze baute, in denen er sich nie verirrte, als durchwandere er sie an einem Ariadnefaden. Und er konnte sich ereifern, daß man allein von diesem Eifer mitgerissen wurde. Aber wenn er aus dem Zimmer ging, wußte der Major meist ebensowenig wie Oberleutnant Freier, was der Oberstleutnant eigentlich gesagt, geraten und angeordnet hatte. Zwei Tage hielt der Oberstleutnant die Offiziere viele Stunden im Dienstzimmer oder im Kompanieklub fest und hinderte sie daran, sich mit den Soldaten und ihrer Ausbildung zu beschäftigen. Er redete über Grundsatzfragen der politischen Ausbildung und Erziehung und fragte sie nach allen Regeln der Kunst aus. Während einer Beratung der Parteigruppe am Nachmittag des zweiten Tages interpretierte er eine Rede Erich Honeckers, gab in zwei Stunden eine inhaltliche Übersicht zum «Abriß der Geschichte der SED» und betonte immer wieder die Bedeutung des vertrauensvollen Dialogs mit den Soldaten. Schanz hörte sich alles geduldig mit an. Er saß neben Puhlmeyer und musterte die zwölf Parteimitglieder der Kompanie, zu denen außer den Offizieren und dem Hauptfeldwebel zwei Unteroffiziere und vier Soldaten gehörten. Fragen gab es am Ende nicht. Oberleutnant Freier wollte die Beratung bereits beenden, da bat Schanz ums Wort und wandte sich an die Soldaten und Unteroffiziere. «Nun, Genossen, ihr habt zugehört, euch viel aufgeschrieben», sagte er. «Was fangt ihr nun in euren Gruppen mit all dem an?» Sie blickten in ihre Notizen, einer wartete auf den anderen, keiner antwortete. «Nun aber raus mit der Sprache!» forderte Schanz. «Wir sind hier unter uns.» Eisner stützte sich breit auf die Unterarme, lehnte sich mit der Brust gegen die Tischkante, und sein kräftiger Rücken buckelte sich vor. «Das ist schwer zu sagen, Genosse Oberst. Jedenfalls wenn ich das so erzähle, wie ich’s eben gehört habe. Aber wie ich’s anderen sagen soll, einfacher… Dann muß ich es erst übersetzen.»
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Er hob die Schultern, ließ sie wieder fallen und drückte sich mit den Händen vom Tisch weg. Die anderen nickten. Sogar die Zugführer. Schanz schlug vor, daß die Genossen der Inspektionsgruppe am Abend zu den Soldaten auf die Zimmer gehen und dort gemeinsam mit den Parteimitgliedern der Kompanie den vertrauensvollen Dialog führen sollten. Die Parteigruppe stimmte dem Vorschlag zu. Puhlmeyer ging mit dem Oberstleutnant zu Eisners Gruppe. Der Gefreite überließ dem Chef der Inspektionsgruppe das Feld, nachdem er ihn vorgestellt hatte. Als der Oberstleutnant sagte, er sei gekommen, um mit den Soldaten ein vertrauensvolles Gespräch zu führen, horchten alle auf. Sogar der Schäfer kam zum Tisch. Litosch, der Häuserbauer mit dem Jungengesicht und den immer noch rissigen Pranken, sagte: «Klingt gut, was? Vertrauensvolles Gespräch. Wirklich. Aber, Genosse Oberstleutnant, so ohne weiteres, ich meine, wir sehen uns heute zum erstenmal. Und ich staune, daß sie sich für uns interessieren. Bloß ich weiß nicht, gleich beim erstenmal mein Liebesleben vor ihnen ausbreiten…» Alle lachten. Obwohl später auch andere etwas sagten, blieb Litosch der Sprecher der Gruppe. Eisner und Puhlmeyer griffen nur hin und wieder ins Gespräch ein. Den Hauptteil bestritt der Oberstleutnant allein. Auch hier im Zimmer blieb er nicht sitzen. Eifrig redete er und versuchte, in agitatorischen Verallgemeinerungen die großen Zusammenhänge aus Führungsdokumenten und öffentlichen Reden zu erklären. Er bemühte sich redlich darum, Fuß zu fassen, verlor aber jedesmal von neuem den Boden unter den Füßen, wenn Litosch oder ein anderer ihre Alltagsfragen und Erfahrungen dagegensetzten. Und die hatten mit Urlaub zu tun, mit der manchmal langweiligen Ausbildung, mit der Politschulung, wo man wie beim StabüUnterricht dauernd auf Fragen antworten mußte, und stellt man selbst welche, gehörten sie meistens nicht zum Thema. Mit Gerüchten kamen sie und erzählten von manchen bitteren Ereignissen, die von kleinen Gaunereien bis zur großen Unterschlagung reichten. Sie gerieten miteinander in Streit, denn Eisner hatte in seinem Stahlwerk in Brandenburg andere Erfahrungen gemacht als Litosch in Berlin. So wurde das Gespräch auf dieser Soldatenstube doch noch eine nützli-
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che Sache. Besonders für den Oberstleutnant. Die Soldaten machten deutlich, was sie unter einem vertrauensvollen Gespräch verstanden. Zwei Tage später wurde ausgewertet. Die Inspektionsoffiziere, die Kommandeure und Politoffiziere des Regiments saßen im Parteikabinett zusammen. Der Oberstleutnant mit dem weichen, hellen Gesicht faßte die Ergebnisse der Inspektion zusammen. Er lobte, tadelte, wies nach, fragte und antwortete in einem Atemzug und hangelte sich durch eine lange, wohlgeordnete Rede. Puhlmeyer hörte dem Offizier wie immer aufmerksam zu. Aber als der sich setzte, hatte er wieder den Eindruck, daß der Redner zu früh aufgehört und das Wichtigste noch nicht gesagt hätte. Wahrscheinlich empfanden andere ähnlich, denn alle schwiegen, blickten in ihre Arbeitsbücher und warteten ab. Da erhob sich Schanz, schwerfällig, fast widerwillig. Mit den Fäusten stützte er sich auf die rot abgedeckte Tischplatte und musterte die Offiziere vor sich. Wenn Schanz so vor anderen stand, dauerte es nie lange, bis sein rechter Mundwinkel von einem freundlichen Grinsen nach unten gezogen wurde. Puhlmeyer kannte Schanz gut genug, um zu wissen, daß der Oberst ein Ziel gefunden hatte, gegen das er jetzt sein Wort treffsicher und unbarmherzig abfeuern würde. Da aber niemand genau wußte, auf wen und worauf er zielte, herrschte im Raum eine besondere Stille. Und in diese Stille hinein sagte Schanz leise: «Wir reden zuviel. Wenn der Kommunismus vom Reden käme, hätten wir ihn längst. Und stellt euch mal vor, was los wäre, wenn das Reden nicht mehr bezahlt würde. In den letzten Tagen wurde von allen Inspektionsoffizieren und von den Offizieren des Regiments viel über die sozialistischen Beziehungen in unserer Armee gesprochen. Einmal hab’ ich mitgezählt, wie oft das Wort ‹Sozialistische Soldatenpersönlichkeit› gefallen ist. An einem Nachmittag allein einundfünfzigmal. Und kein einziger Soldat war dabei. Wir reden einfach zuviel über das, was wir machen wollen und sollen. Ich zum Beispiel hab’ hier im Regiment schon drei Einweisungen zur letzten Rede von Genossen Honecker gehört. Einmal vom Parteisekretär, einmal vom Politstellvertreter des Regiments und einmal von dem Leiter der Inspektionsgruppe. Das hat zusammengerechnet rund
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sechs Stunden gedauert. Der Inhalt der Rede war dreimal fast der gleiche, und dreimal saßen, bis auf ein paar Ausnahmen, dieselben Offiziere am Tisch. Da muß ich euch leider sagen, ihr habt verdammt viel Zeit im Regiment.» Schanz machte eine Pause und zog aus seiner Aktentasche einen Stoß Papiere, den er vor sich auf den Tisch legte. «Auch schriftlich reden wir zuviel», sagte er und schlug mit der Hand auf den Papierstapel. «Wenn ich hier reinblase, staubt’s. Lauter Anweisungen, Mitteilungen und Aufforderungen zu Berichten, Auswertungen aus allen Stäben vom Regiment bis zum Kommando. Wenn das so weitergeht, müssen wir das ‹Neue Deutschland› auch sonnabends noch einsparen.» Noch einmal schlug er auf den Stoß. «Cui bono? Wir sollten uns immer fragen: Wem nutzt es? Das hier nutzt vor allem den Verfassern, bringt ihnen bei diesem und jenem Vorgesetzten ein Bienchen ein. Eine der Ursachen für das viele Gerede sehe ich darin, daß mancher von uns nur ganz allgemein was über die Soldaten weiß und daß er zuwenig von dem ausgeht, was sie wirklich denken und fühlen, wissen und verstehen. Je weiter weg vom Regiment…» Schanz hob die Hände und ließ sie auf den Tisch fallen. Widerspruch kam nicht von den Offizieren des Regiments. Jetzt kommt der Oberst dem Raucherplatz langsam näher. Er läßt die Tassen nicht aus den Augen, sieht aber trotzdem, daß Puhlmeyer eine seiner Tabakspfeifen im Mund hat. Wenn der Major die Watteuniform trägt, wirkt er ein wenig breiter. Sonst ist alles an ihm schmal und scharf, von der Nase übers Kinn bis zum Adamsapfel. Spötter behaupteten einmal, das habe der lange Dienst als Kompaniechef aus ihm gemacht. Soldaten seien wie Sand, die schliffen jeden Ko-Chef ab, bis nichts mehr von ihm übrigbleibt. - Und Puhlmeyer konterte lächelnd: «Nicht die Soldaten, die vielen Stäbe machen das. Von Jahr zu Jahr wird der Trichter oben breiter, und der Strahl, den’s unten rausdrückt, wuchtiger. Und direkt unter dem Strahl stehen die Kompaniechefs - oder?» Wenn Schanz Puhlmeyers Beine sieht, fällt ihm immer ein alter Vers ein, den seine Großmutter jedesmal mitservierte, wenn sie eine Schüssel Weißkäse auf den Tisch stellte. «Butter und Quark macht
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stark, Quark alleene macht krumme Beene.» Bei Vorbeimärschen kann man den Major nur im Winter vor seiner Kompanie marschieren lassen, wenn der Mantel die Beine verdeckt. Das alles stört Puhlmeyer nicht, verdankt er doch seinen Beinen den Spitznamen «Tschapajew». Er hat zwar nie auf einem Pferd gesessen, und keiner weiß genau, ob Tschapajew O-Beine hatte. Der Kompaniechef aber ist auf diesen Beinamen stolz wie auf eine Auszeichnung. Unteroffiziere und Soldaten, die in die dritte Kompanie versetzt werden, amüsieren sich nur anfangs über Puhlmeyers Beine. Es dauert nie lange, bis sie begriffen haben, das alles andere an ihrem Vorgesetzten gerade ist. - Schanz erreicht jetzt den Major, der ihm eine Tasse abnimmt. Beim Hinsetzen ächzt der Oberst ein wenig, weil der für die Beine ausgehobene Graben zu schmal ist. «Na, Karl», sagt Puhlmeyer, «du mußt aufpassen, Stabsarbeit macht fett und faul.» Schanz lacht und beschäftigt sich mit seinem Kaffee. Genüßlich schlürft er den ersten Schluck. Flöhe bleiben an der Oberlippe hängen. Er leckt sie mit der Zunge ab, spuckt sie aber nicht aus, sondern zerkaut sie. Puhlmeyer sagt nach einer Weile: «Stiefel-Heinrich hat sich angesagt, ist das ein Zufall - oder?» Schanz hebt die Schultern, und der Major meint: «Seit wann heißt du Hase? Du kommst doch vom Divisionsstab.» Schanz weiß, daß man Puhlmeyer nichts vormachen kann. Der riecht den Pup schon, wenn er noch gar nicht raus ist. Und weil er mit dem Kompaniechef in aller Ruhe reden will, befriedigt er dessen Neugier. «Ein Bataillon aus euerm Regiment», sagt er, «kriegt während der Übung Flügel, genauer gesagt Tragschrauben.» «Welches?» «Das legt Oberst Bredow eben mit deinem Regimentskommandeur fest.» Puhlmeyer schweigt, und Schanz beschäftigt sich wieder mit seiner Tasse. Von der Feldküche her riecht es nach Erbsen. Die Sonne wärmt bereits. Vorhin, als der Oberst durch den Hochwald gegangen
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ist, war ihm der Mantel schon lästig. Die trockenen Harzreste an den Kiefern glitzern wie Bernstein. Die Ruhe, die im Konzentrierungsraum herrscht, ist keine schläfrige, sondern eine besondere, die von angespannter, zielgerichteter Tätigkeit kommt. Hier draußen tun die Stäbe das, wofür sie eigentlich da sind. Sie planen Bewegungen und Gefechte, setzen Menschen, Technik und Bewaffnung ein, um Wasserhindernisse zu überwinden, Brückenköpfe zu bilden, gegnerische Ziele zu vernichten. Sie formieren breite Fronten für Verteidigung und Angriff, bilden Staffeln, ziehen Verstärkungen nach und setzen ganze Regimenter um. Schanz mag diese Phase bei großen Übungen, weil sie ohne Hektik und für Politoffiziere eine große Zeit ist. Wenn die Truppen erst vorwärts rollen, Stellungen ausbauen und beziehen, wenn sie auf den Schießplätzen mit den Schützenwaffen, den Kanonen, Haubitzen und Raketen die Ziele bekämpfen oder unter der Schutzbekleidung keuchen, haben Gespräche und Beratungen kaum einen Sinn. Da überzeugt ein Politoffizier nicht mehr mit dem Wort, sondern durch das Beispiel. Dann hat er dort zu sein, wo der Kommandeur nicht ist. Er muß dort mit zupacken, wo es am schwersten ist, muß Ruhe und Sicherheit verbreiten, wenn das Leben der Soldaten außer von ihrer Arbeit nur noch von solchen körperlichen Bedürfnissen bestimmt wird wie dem Schlafen und dem Essen. Im Konzentrierungsraum treibt Schanz jeden Politoffizier, der tatenlos herumsitzt, unbarmherzig zu den Soldaten in die Kompanien und Züge. Von einem Gedanken zum anderen fällt Schanz wieder seine Tochter ein. Das geht ihm so, seit er gestern die Siedlung verlassen hat. Auf der Fahrt sprach er mit dem Fahrer des P 3 über den Einsatz moderner Landmaschinen bei der Ernte. Beide schwärmten von Krautfeuern, in denen Kartoffeln geröstet werden, erinnerten sich an den dörflichen Herbstgeruch, an den wolkigen Rauch, der wie Nebel übers Feld zieht, und unvermittelt dachte Schanz an Friederike. Bei Generalmajor Werner machte er sich Notizen über die Lage, skizzierte wichtige Räume und Operationen auf seiner Karte, wobei er einen versteckten See entdeckte, in dem er vor Jahren während einer Stabsübung gebadet hatte. Bis auf einen schmalen Streifen war der
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See von Schilf umgeben, das wie eine gelbgrüne Wand das Wasser abschirmte. Dort gab es Rohrdommeln, und Schanz dachte, während sein Rotstift an dem blauen Fleck auf der Karte stehenblieb, daß er diesen See einmal seiner Tochter zeigen müßte. Das Gefühl, mit dem er neuerdings an Friederike denkt, ist eine eigenartige Mischung aus Freude und Schmerz. Schanz hat seine Tochter wiedergewonnen. Und erst bei dieser Veränderung in den Beziehungen zwischen ihnen hat er begriffen, wie allein er sie gelassen hatte. Und er hat die Frau in ihr erkannt, er begreift plötzlich, daß die Männer von ihr reden und an sie denken, versteht aber auch die Frauen in der Siedlung, die Friederike gerade deswegen nicht mögen. Oft denkt er an den gestrigen Abschied von seiner Tochter, wie sie ihm das halbe Foto gegeben und ihn gebeten hat, ihr zu helfen. Mit Friederike ist etwas geschehen. Nie ist sie unruhig und schon gar nicht ängstlich gewesen, wenn es um einen Mann ging. Friederike hat etwas begonnen, worum er sie beneidet. Ein Gefühl, das auf alles verzichten kann, nur nicht auf sich selbst, das Freude und Leid in gleicher Weise umfaßt und den ganzen Menschen ergreift. Für Schanz wird es so etwas nicht mehr geben. Und seine Liebe ist anders gewesen. Nicht oberflächlich, aber trotzdem ist etwas in ihm nie erreicht worden und unbeteiligt geblieben. Das spürt er immer dann, wenn er erlebt, wie sehr mitunter jungen Leuten die Liebe zu schaffen macht, wie sie alles andere über sie vergessen. Schanz wird seiner Tochter helfen. Jetzt wendet er sich Puhlmeyer zu und fragt: «Kennst du einen Major Wittenbeck, Artillerie?» Puhlmeyer blickt hinüber zum Hochwald, und Schanz weiß nicht, ob der andere seine Frage überhaupt gehört hat. Plötzlich steht der Major auf, zieht einen Lederhandschuh aus der Tasche und wischt mit ihm über seine Stiefel. Da weiß Schanz, wer sich der Kompanie nähert. Puhlmeyer geht rasch auf den Weg zu, der die Kompanie vom Regimentsstab trennt. Wenig später sieht Schanz ihn mit Oberst Bredow am Rand der Schneise entlanggehen, dorthin, wo die SPWs der Kompanie stehen. Schanz hat im vergangenen Jahr Bredow einmal während einer Par-
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teiversammlung des Stabes kritisiert und einige Bemerkungen wiedergegeben, die in den Regimentern und Bataillonen über ihn gefallen waren: «Wenn Bredow in die Reserve geht, wird er Stiefelputzer, wetten?» Einige Offiziere hatten Schanz damals heftig widersprochen. Sie erklärten, daß sie mühelos in der Lage wären, ähnliche Redewendungen über Offiziere in den Einheiten einzusammeln und zur allgemeinen Erheiterung zum besten zu geben. Wenn sie wollten. Dadurch würde allerdings die Disziplin und Ordnung in der Division nicht besser und die Achtung vor dem Offizierskorps nicht größer. Ordnung und Disziplin aber begännen nun einmal beim Stiefelputz und Mützensitz, bei Bügelfalte und Haarschnitt. Und Bredow verlangte in seiner Antwort an Schanz von den Politoffizieren mehr Einfluß auf derartige Kleinigkeiten. Aber die meisten von ihnen sähen über diese Erscheinungen großzügig hinweg und machten jene Offiziere, die unermüdlich gegen Unordnung und Disziplinverstöße ankämpften, obendrein noch lächerlich. Schanz trennte die Forderung nach Ordnung und Disziplin von den Marotten, deren Folgen er kannte. Auf Marotten stellt man sich ebenso rasch ein wie auf Gewohnheiten von Lehrern. Man belächelt sie, aber sie bleiben ohne Wirkung. Und Marotten, die sich auf einzelne Gegenstände oder Erscheinungen richten, verunsachlichen nur die Beziehungen zwischen den Menschen. Gefechte werden nicht durch blanke Stiefel entschieden… Schanz blickt Puhlmeyer und Bredow nach, die beim ersten SPW stehenbleiben. Offensichtlich hat Bredow nichts an der Tarnung und der Sauberkeit des Fahrzeugs auszusetzen, denn die beiden gehen bald weiter. Bredow hat kleine Füße und macht kurze Schritte, was stets so aussieht, als habe er wenig Zeit. Wenn er die Wattekombination trägt, verlieren seine Bewegungen den Schwung und werden eckig. Der Oberst erkundigt sich bei Puhlmeyer nach den Zug- und Gruppenführern. Er will wissen, wie lange sie in der Kompanie sind und über welche Erfahrungen sie verfügen. Dabei nähern sie sich den Soldaten des dritten Zuges, die eben auseinandergehen wollen, aber von einem lauten Kommando ihres Zugführers zurückgehalten wer-
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den. Ahnert eilt auf die Offiziere zu. Das filzige, vorjährige Gras reißt an seinen Füßen. Hoffentlich fällt er nicht hin, denkt Litosch, der sich auf die Pause gefreut hat und nun die aufwendige Zeremonie der Meldung beobachtet. Dabei denkt er mit einem Anflug von Heimweh an seine Baustelle in Marzahn. Wenn dort Besuch kommt, geht es immer sofort um die Sache, um Pfusch oder Rückstände oder um mehr Wohnungen. Wer da zu den Brigaden kommt, ist nicht Vorgesetzter, sondern Kumpel, und man braucht nicht jedes Wort erst rundzulutschen, ehe man’s ausspuckt. Und in den Pausen taucht überhaupt nur jemand auf, wenn ein Stockwerk kurz vorm Einsturz steht. Alles ordnet sich der Arbeit unter und denen, die sie machen. Davon, vom Bau her, denkt Litosch, könnte manches auf die Truppe übertragen werden. Die Soldaten warten ab. Litosch kehrt als erster zu seinem Platz an einem moosigen Stubben zurück. Nach und nach folgen zögernd die anderen. Auch Oberst Bredow und Puhlmeyer stehen unschlüssig. Sie können nicht weitergehen, wenn die Soldaten auf irgend etwas warten. Ahnert führt die Entscheidung herbei. Er holt zwei Klapphocker aus dem SPW, und die Offiziere setzen sich mit dem Rücken zum Fahrzeug. Ein Gespräch mehr, eine Pause weniger. Ahnert steht neben dem Oberst, die Hände auf dem Rücken, und blickt ihn ununterbrochen an, um auf eine Geste oder ein Wort hin sofort reagieren zu können. Litosch mag solche Gespräche nicht. Meistens bringen sie nicht viel ein. Mit einer allgemeinen Ausfragerei beginnen sie, und mit Vorträgen enden sie. Na, Genossen, wie ist die Stimmung, schmeckt denn das Essen? Gibt’s vielleicht irgendwelche Probleme? Haben Sie Fragen? Diese Übung, Genossen, wissen Sie… Schnee vom vergangenen Jahr. Auch «Tschapajew» scheint sich nicht wohl in seiner Haut zu fühlen. Er ist Litosch eigentlich nie fremd gewesen. Vom ersten Augenblick an hat der Soldat keine Scheu vor dem Major empfunden. Aber «Tschapajew» wird in dieser Runde kaum zu Wort kommen. Viel-
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leicht versucht er, mit seinen grauen, freundlichen Augen den einen vom Sprechen abzuhalten und den anderen dazu aufzufordern. Das Gespräch beginnt fast wörtlich so, wie Litosch es vorausgesehen hat. Der Oberst stützt sich beim Reden bald mit der einen, bald mit der anderen Hand auf seine Schenkel. Ein wenig später nimmt er die Mütze ab und legt sie unter den Hocker. Er wirkt müde und auch ein bißchen nervös. Die Müdigkeit kann sich Litosch erklären, die richtet sich nicht nach den Dienstgraden. Aber warum soll ein hoher Offizier vor den Soldaten unsicher sein? Das Haar des Obersten ist farblos. Wer weiß, wie viele Jahre er schon Helm und Käppis und Mützen trägt? Auf der Baustelle zottelte regelmäßig ein Alter mit seinem Gaul umher, fuhr Holzabfälle weg oder Schrott. Der Gaul hatte ein Fell, das weder braun noch grau war wie die Haare des Offiziers neben Puhlmeyer. Ahnert macht ein aufmerksames Gesicht. Ab und zu nickt er beifällig, wenn der Oberst etwas sagt, fragt oder feststellt. Die Antworten der Soldaten sind kurz, vorsichtig, lustlos. Litosch versucht, sich den Oberst ohne Uniform vorzustellen. Da bleibt nichts Auffälliges übrig. Bis auf die Augen. Die sind hellblau wie an Frosttagen der Himmel, wenn die Sonne aufgeht. Augen, die genau hinsehen, denen nichts verborgen bleibt. Sie erreichen Litosch, noch bevor der Oberst sich an ihn wendet. «Und Sie, Genosse, was sind Sie von Beruf?» «Ich baue Häuser, Genosse Oberst.» «Wo?» «Berlin-Marzahn.» Bredow nickt und sagt: «Schön. Häuser bauen ist eine schöne Arbeit, wenn man weiß, für wen man sie baut. Sie wirken also mit an der Erfüllung des Kernstücks unseres Sozialprogramms.» Litosch nickt und meint: «So kann man das auch nennen, was ich mache.» Bredows Blick wandert weiter. Litosch versteht nicht, wie es diesen Augen verborgen bleiben kann, daß die Soldaten jetzt lieber flachsen oder vor sich hindösen oder rauchen möchten. Litosch unterbricht den Offizier und fragt, ob geraucht werden darf. Der Oberst erlaubt es. «Tschapajew» hat seine Pfeife schon zwischen den Zähnen. Er
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muß sie gestopft in der Tasche gehabt haben, denn er stößt als erster graue Wolken aus. Litosch bietet Bredow eine Zigarette an, und das Rauchen lockert auf. Sogar der Oberst verliert an Strenge. Rauchen verbindet wie Singen oder Trinken. Plötzlich sind mehrere Gespräche zugleich im Gange. Es wird sogar gelacht. Die Runde beruhigt sich erst, als einer fragt, wie lange die Übung denn dauern werde. «Acht bis zehn Tage.» Bredows Antwort löst nicht nur Kopfnicken aus. Irgendeiner ruft: «Die Hälfte tut’s doch auch!» Der Oberst nickt. Aber das ist keine Zustimmung. Er beugt sich vor und drückt die halbaufgerauchte Zigarette in den Sand zwischen seinen Stiefeln. Damit trennt er sich wieder von den anderen, löst eine Verbindung, die für ein paar Minuten dagewesen ist. «Ihnen dauert wohl alles zu lange, was?» meint er. «Die Übung, der Wehrdienst…» Das ist keine Frage und auch keine Feststellung. Litosch glaubt, einen Vorwurf herausgehört zu haben. Wahrscheinlich nur er, denn die anderen scheinen Bredows Bemerkung mehr als Spaß aufzufassen. Einige lachen und stimmen dem Oberst zu, hinter dem plötzlich Schanz steht. Die Soldaten witzeln, machen Vorschläge, und von Vorschlag zu Vorschlag verkürzt sich die Dienstzeit, bis sie bei vier Wochen angelangt ist. Da springt plötzlich einer auf und ruft lachend in die Runde: «Leute, los, einpacken! Wir sind ja schon viel zu lange hier.» Alle reden durcheinander. Puhlmeyer schweigt und verzieht keine Miene. Ahnert macht ein strenges Gesicht und sieht auf einmal dem Oberst ein wenig ähnlich. Plötzlich kommandiert der Leutnant: «Ruhe!» Alle reagieren sofort. Bis auf einen, der ein wenig abseits sitzt. Sein Lachen verstummt erst, als er die allgemeine Stille bemerkt. «Ich weiß nicht», sagt der Oberst leise, und sein Blick schweift in die Runde, «was daran so lächerlich ist.» Litosch vernimmt ein scharfes Räuspern. Schanz hat es ausgestoßen, aber Bredow überhört es. Er spricht weiter, und der Vorwurf in seiner Stimme nimmt zu. Der Oberst spürt es und versucht, ruhiger und eindringlicher zu reden. Gleichzeitig bemerkt er, daß die Solda-
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ten ihm nicht mehr zuhören, daß es zwecklos ist, überhaupt weiterzusprechen, weil der Abstand zwischen ihm und den anderen wächst. Doch während er das denkt, spricht er weiter, vom zwanghaften Willen bedrängt, die Soldaten zu erreichen und wichtige Dinge gegen ihr Lachen und ihre allgemeine Zustimmung zu dieser Art von Abrüstungsvorschlägen zu setzen. In Bredows Innerem gibt es eine Grenze, die am fünfzehnten August neunzehnhunderteinundfünfzig von den Gummiknüppeln der Stummpolizisten gezogen worden ist und bedingungslos das eine vom anderen trennt. Im September desselben Jahres verließ er ein Berliner Krankenhaus. Sein erster Weg führte zur nächsten Volkspolizeidienststelle. Zwei Tage später zog er die blaue Uniform an. Das zischende Geräusch der Gummiknüppel, das harte Klatschen auf die Köpfe und Schultern und die waagerecht geführten Schläge gegen Leib und Brüste der Mädchen hat Bredow bis heute nicht vergessen. Und er sieht Hilde zusammenbrechen unter den Hieben. Aus Nase und Mund quillt Blut, das blasse Gesicht des achtzehnjährigen Mädchens droht auf dem grauen Pflaster zu zerspringen wie dünnes Glas. Schädelbasisbruch und innere Verletzungen. Als er Hilde Wochen später in seiner Uniform besucht, schreit sie auf. Sie erkennt ihn nicht wieder. Ihre Liebe und ihr Wunsch nach vielen Kindern sind damals erschlagen worden. Das alles schmerzt und brennt noch immer in ihm, und das Weh wird nur dadurch gemildert, daß er sich auch an das angstgraue Gesicht jenes Stupos erinnert, den er gewürgt hat und dessen Hals er nicht losließ, bis er selbst schwer getroffen wurde. Jener Tag hat sein Leben bestimmt, wie kein anderes Ereignis vorher. Seit jenem Tag besitzt Bredow einen sechsten Sinn für alles, das von der anderen Seite kommt, das zu ihr gehört oder dorthin tendiert. Mit diesem Sinn ausgestattet, spürt er in den Empfindungen, Gedanken und Äußerungen anderer das auf, womit sie, ohne es zu wissen oder zu wollen, allen uniformierten und nichtuniformierten Nachfolgern jener Stupos das Schlagen, Schießen und Töten erleichtern, es unbewußt hinnehmen, als ginge es sie nichts an. Wenn Bredow solche Haltungen nur zu ahnen beginnt, fühlt er sich schon im Stich
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gelassen, machen Enttäuschung und Verbitterung es ihm mitunter unmöglich zu unterscheiden. In letzter Zeit packt ihn immer häufiger eine Unruhe, die sich in ihm zusammenballt, bis sie schließlich explodiert. Schon unausgesprochener Widerspruch bei den Soldaten beunruhigt ihn. Erst recht die deutliche Ablehnung dessen, wofür er lebt. Auch wenn sie unter Lachen und Heiterkeit geäußert wird, bleibt es für ihn Ablehnung. Und dahinter sieht er langes verfilztes Haar, sieht er Plastbeutel von drüben, Jeans mit Aufnähern und anderen Zeichen westlicher Herkunft, die nicht nur Gedankenlosigkeit sind. Wobei er schon die nicht hinnehmen will, weil sie zur Gewohnheit werden kann und sich schließlich zu Verhaltensweisen entwickelt. Über den Wehrdienst werden Witze gemacht und die Tage bis zur Entlassung gezählt. Und das alles zu einem Zeitpunkt, wo es Leute gibt, die die Neutronenbombe zu einer humanen Vernichtungswaffe erklären, weil sie sie gerne besitzen möchten. In solchen Situationen hört Bredow wieder das Zischen der Gummiknüppel, hört und sieht er die dumpfe Brutalität der Schläger, die zu weit mehr bereit sind als zum Überfall auf eine Jugenddemonstration. Und er sieht immer auch die anderen Opfer solcher Schläger, Frauen darunter und Kinder, die schuldlosesten Opfer jedes Überfalls oder Krieges. Dann bohrt wütender Ärger in ihm. Er möchte eindringlich sein und ist doch meistens nur heftig. Überzeugen möchte er die anderen, aber er beunruhigt sie bloß. Und je deutlicher er spürt, daß die Soldaten sich innerlich von ihm zurückziehen, um so lauter und vorwurfsvoller wird er. «Warum schimpfen Sie mit uns?» fragt Litosch plötzlich. «Als wären wir irgendwelche krummen Hunde, so ungefähr.» Keiner sagt etwas. Nicht einmal Bredow. Es ist, als wäre er durch die Frage des Soldaten zu sich gekommen. Das Schweigen hat unterschiedliche Gründe. Schanz spürt es. Die einen sind betroffen und blicken zu Boden, fühlen sich vielleicht zu Recht kritisiert. Andere schweigen aus Widerspruch und manche, weil sie gleichgültig sind oder den Eifer des Offiziers albern finden. Aber es kommt darauf an, alle zu erreichen, sie wenigstens nachdenklich zu machen, sie soweit zu bringen, daß sie genauer sehen
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und hören. Bei einem solchen Gespräch mit vierzig jungen Leuten braucht einer viele Stimmen auf einmal. Bredow besitzt nur eine einzige. Argumente überzeugen nicht allein durch sich selbst, sie brauchen auch eine Stimme, ein Gesicht. Das Schweigen, in dem alle verharren, wird von außen her gebrochen. Von der Feldküche kommt das Signal zum Mittagessen. So findet das Gespräch ein offizielles und begründetes Ende. Schweigend gehen Schanz und Bredow von der Kompanie weg. Bredow geht schnell, beinahe hastig, als habe er es eilig, von hier wegzukommen. Erst im Hochwald, den die Mittagssonne hell und warm macht, wird der Oberst ruhiger. Schanz bricht ein Stück des honiggelben Harzes aus einer der eingeritzten Rinnen, kratzt an ihm herum, riecht daran und wundert sich von neuem, weil es fast geruchlos ist. Und doch duftet es im Wald um diese Stunde schon sommerlich nach frischem Kien. Für eine Weile überläßt sich Schanz ganz der Erinnerung. Sein Gedächtnis, das ihn mühelos weit in die Vergangenheit zu tragen vermag, relativiert manches. Auch dieses mißlungene Gespräch. Schanz findet seine Gelassenheit wieder, ohne die er wichtige Unterhaltungen nicht führen kann. Bredow scheint zu ahnen, daß Schanz mit ihm reden möchte, es vielleicht sogar zu wünschen. Er geht nicht auf kürzestem Weg zum Führungspunkt des Regimentskommandeurs, sondern weicht nach links ab, und sein Gang verliert alles Eilige. Schanz weiß nicht, wie er das Gespräch beginnen soll. Aber er weiß, was Bredow sagen müßte. Daß er nämlich beabsichtige, nach dem Mittagessen noch einmal zu Puhlmeyers Kompanie zu gehen, sich den Soldaten zu stellen und das Gespräch weiter und zu einem guten Ende zu führen. Wenn Bredow das sagt, kann Schanz jetzt ebenfalls Mittag essen und dann weiterfahren, um Major Wittenbeck zu suchen. Viele formale Unterhaltungen in der Truppe rühren von der Unsicherheit und der mangelnden Erfahrung mancher jungen Zugführer und Kompaniechefs her oder sie sind durch deren dienstliche Belastung bedingt. Auf Bredow aber trifft nichts davon zu. Was macht ihn derartig unzugänglich, so streng und so kalt? Und was macht man
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mit ihm? Hält man ihn am besten ganz von den Soldaten fern? Deckt man ihn dort bis unter den Helmrand mit Arbeit ein, wo er gut und durch kaum einen anderen zu ersetzen ist? Im Führungspunkt, an der Karte, bei der Planung und Organisation? Während einer solchen Übung wie dieser erkennt jeder, der zum Stab gehört, wieviel militärisches Wissen Bredow in sich gespeichert hat und daß er fähig ist, es anzuwenden. Er kann das Gelernte in Befehle und Entscheidungen umsetzen, in denen alle Details berücksichtigt sind vom Zustand der Marschwege bis zur genauen Geländebeschaffenheit. An solchen Tagen ordnen sich ihm Tausende von Menschen unter, führen seine Befehle rasch und sicher aus, und keiner denkt an die kalte Strenge des Obersten. Sollte das nicht genug sein? Sollte man sich damit nicht zufriedengeben? Vielleicht ist es überhaupt überflüssig, aus jedem Offizier auch einen überzeugenden Erzieher machen zu wollen. Solange Schanz die Uniform trägt, hat es immer Bredows gegeben, und die Armee hat sie verkraftet. Wahrscheinlich ist es richtig, sie ihre operative Arbeit machen zu lassen und sie von allem anderen fernzuhalten. Diese Gedanken stimmen Schanz versöhnlich. Sie haben die Grenze des Konzentrierungsraums erreicht, einen künstlich angelegten Graben mit steilen Wänden, der oben fünf bis sechs Meter breit ist und auf dessen Sohle klares Wasser steht. Gefällte, schon entastete Kiefern liegen herum. Bredow setzt sich auf einen Stamm, stützt die Ellenbogen auf seine Schenkel und greift nach einem Kienapfel, an dem er herumpflückt. Schanz brennt sich eine Zigarre an. «Tun sie nur so, oder sind sie wirklich so? Gleichgültig gegen alles, was mit Pflicht zusammenhängt», sagt Bredow. Er drückt die Worte vom Hals her nach vorn und durch die fast geschlossenen Zähne. Das klingt ärgerlich, heftig. Schanz hat sich angewöhnt zuzuhören, andere ausreden zu lassen, manches erst einmal unwidersprochen hinzunehmen. Je besser ihm das mit der Zeit gelingt und je gelassener er dabei ist, um so aufmerksamer hören ihm die anderen zu und um so ruhiger verläuft ein Gespräch. «Manchmal packt mich die Angst», fährt Bredow fort. «Keine Ideale mehr. Alle Ziele und Wünsche betreffen nur das Eigene.» Er
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schüttelt den Kopf, allmählich spricht er ruhiger und lockerer. «Da haben wir unsere Knochen hingehalten, diesen Staat in mühevoller Arbeit immer besser gemacht, und trotzdem ziehen sie die Flappe. Wie Kinder, die zur Jugendweihe ein Moped erwartet haben und nur ein Fahrrad geschenkt kriegen. Manchmal denk’ ich, die leben gar nicht seit zwanzig Jahren hier, sondern sind eben erst gekommen, irgendwoher aus der Fremde. Und da hab’ ich Angst. Du etwa nicht?» Schanz schüttelt den Kopf, sagt aber nichts. Er möchte, daß Bredow alles ausspricht, was er in diesem Zusammenhang denkt und fühlt. Er möchte wissen, ob der Oberst sich das alles wirklich fragt oder ob er sich nur wegen des danebengegangenen Gesprächs herausreden will und Gründe sucht für sein Unvermögen. «Wie ist das denn?» fragt Bredow. «Warum sind sie so? Erklär mir das!» «Du machst es dir verdammt einfach, Heinrich», antwortet Schanz. «Du willst von mir etwas erklärt haben, was schwer zu erklären ist und was man nur beantworten kann, wenn man regelmäßig bei den Soldaten ist. Aber wenn du in die Truppe gehst, interessierst du dich zuerst für die Stiefel, und dann hast du oft keine Zeit mehr, dich mit ihren Besitzern zu beschäftigen. Vielleicht sind die jungen Leute so, weil es Männer wie dich gibt. Nicht nur in der Armee, auch in den Familien, in den Schulen und Betrieben, die nur mit ihnen herumschimpfen, ihnen keine Antwort geben, sondern auf Fragen nur Vorwürfe und Verdächtigungen haben.» «Jetzt machst du’s dir aber einfach, Karl. Junge Generation! Hausherren von morgen. Gutgemeinte Losung, aber das ist nicht die Wirklichkeit. Willst du denen etwa das Haus überlassen? Die lassen doch jeden rein und raus. Bei ihnen gilt die Gesinnung nichts, der Besitz ist alles. Disziplin und Ordnung, die Fähigkeit, im Interesse der Sache auf das eine oder das andere verzichten zu können, wo findest du das? Kaum einer von ihnen ist noch bereit, von sich aus und umsonst mehr zu machen, als unbedingt nötig ist. Ich weiß nicht, ich weiß nicht. Sorgen mach’ ich mir eben.» Bredow läßt den Kienapfel von einer Hand in die andere rollen,
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wirft ihn schließlich nach einem in der Nähe stehenden Baum und trifft den Stamm. «Welches Bataillon wird fliegen?» fragt Schanz. «Das erste.» «Also auch Puhlmeyers Kompanie.» Bredow nickt. Schanz blickt ihn an und sagt: «Ich an deiner Stelle würde das nicht tun. Ich würde dem Divisionskommandeur andere Kompanien vorschlagen. Wie kannst du einen solch wichtigen Kampfauftrag diesen gleichgültigen, disziplinlosen und egoistischen jungen Leuten übertragen?» Bredow sagt nichts dazu. Er steht auf und geht am Stamm hin und her, tritt mit den Absätzen heftig auf. Schanz spricht weiter, sagt mit harter Offenheit Dinge, die mit Bredow zu tun haben und doch weit über ihn hinausgehen. Und er korrigiert sich. Man darf sich nicht zufriedengeben mit Bredows operativen Fähigkeiten. Zu oft und zuviel hat er auch mit den Soldaten zu tun. Und wie soll er die führen, wenn er sie nicht kennt, wenn er sie nicht versteht, wenn er ihnen nicht vertraut? «Daß du überhaupt noch in der Armee bist, Heinrich, das wundert mich», sagt Schanz. «Diese Leute gewinnen doch das kleinste Gefecht nicht. Bildest du dir etwa ein, du bist hier der einzige echte Kommunist, der auf verlorenem Posten steht? Bloß gut, daß es noch den großen Bruder gibt, wie?» Bredows Schritte werden kürzer. Wie aufgezogen geht er zwischen Schanz und dem Baumstamm auf und ab. «Dich läßt das alles wohl kalt?» ruft er Schanz zu. «Mich macht es nicht heiß. Mich machen Leute wie du heiß. Die den Jungen nichts zutrauen und ihnen deshalb nichts überlassen. Die hinter jeder Frage eine Provokation wittern. Was können diese Achtzehn- bis Zwanzigjährigen denn dafür, wenn das Wort ‹Klassenkampf› für sie nur ein Begriff aus der Politik ist und der ‹Klassengegner› so etwas wie eine historische Figur? Für dich hat er Gesicht und Stimme. Aber nicht für diese Jungs. Denen kommt er nicht mehr mit dem Gummiknüppel, sondern mit allerhand interessantem Krimskrams, nicht mit Haß, sondern ungeheuer freundlich. Aber du donnerst sie zusammen und machst sie dadurch nicht klüger und besser, sondern nur gleichgültiger und manchen schließlich wirklich zu
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dem, wofür du die meisten hältst.» Bredow bleibt direkt vor Schanz stehen, der auf die Stiefel des Obersten blickt. Blitzblanke Stiefel, nur der linke hat an der Spitze und am Spann ein paar graubraune Flecken. Schanz verspürt für einen Augenblick das Verlangen, diese Stiefel schmutzig zu machen, sie mit Erde zu bewerfen oder seine Zigarre auf ihnen auszudrücken. «Fertig?» fragt Bredow. Schanz nickt und erklärt: «Für heute ja, Heinrich. Ich könnte dir noch vieles sagen, müßte es wohl auch. Aber für heute genügt’s. Nur eins noch.» Er steht auf, blickt dem Oberst ins Gesicht und sagt: «Eines Tages, weißt du, werden wir so weit sein, daß wir manchen von seiner Funktion ablösen wegen seiner Überheblichkeit, mit der er mehr kaputtmacht, als er in seinem ganzen Leben aufgebaut hat.» Bredow macht auf dem Absatz kehrt und geht davon. Schanz blickt ihm nach. Er weiß, er hat grobe Keile geschlagen. Aber er weiß auch, daß man nur so in manchen einzudringen vermag. Es schmerzt, es gibt Wunden, aber es ist nötig. Bredow hat eine zu wichtige Funktion und wird wahrscheinlich nach der Übung eine noch höhere Verantwortung übertragen bekommen. Darum kann es keinem gleichgültig sein, wie er denkt und was er fühlt. Schanz will wissen, ob der Oberst noch fähig ist zu begreifen und sich zu ändern, oder ob er schon zu jenen gehört, die verloren sind. In deren Leben es irgendwann einen Punkt gegeben hat, wo sie geschwiegen haben, anstatt zu fragen, wo sie auswendig gelernt haben, anstatt nachzudenken. Irgendwann einmal meinten sie wohl, eine Station erreicht zu haben, von der aus sie umsonst weitergefahren werden. Aus ihnen wurden die Ungeduldigen und Ungerechten, die versuchen, den Jüngeren das politische Abc einzubleuen wie den Satz des Pythagoras. Sie machen die lebendige Philosophie und Weltanschauung, an die man sich hier hält, zu einem Fahrplan oder Kochrezept und erklären sie auch so. Wieviel davon auf Bredow zutrifft, will Schanz nicht seinetwegen wissen. Er muß es im Interesse dieser oder einer anderen Division erfahren, im Interesse der gesamten Armee. Denn davon, wieviel sie über Bredow wissen, wie genau sie ihn in diesen Tagen noch kennenlernen, davon hängt eine Entscheidung ab, die Generalmajor
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Werner und andere nach der Übung zu treffen haben, wenn es um Bredows Perspektive geht. Schanz meint, daß sie das alles schon wissen müßten, denn Bredow ist seit fast zwei Jahren in der Division. Aber sie haben manches unterlassen, sind über vieles hinweggegangen und haben im Grunde genommen Bredow nicht geholfen. Der Oberst ist zwischen den Bäumen nicht mehr zu erkennen. Auch Schanz steht auf. Er geht jedoch nicht zu seinem Wagen. Nach diesem mißlungenen Gespräch kann er nicht ohne weiteres aus dem Konzentrierungsraum verschwinden. Er geht hinüber zur dritten Kompanie. Puhlmeyers Politstellvertreter hat die Parteimitglieder zusammengerufen. An der hinteren Luke eines der SPWs hängt eine Karte, auf der die Ausgangslage für die Übung angedeutet ist. Außer dem Kompaniechef sind alle Mitglieder und Kandidaten der Parteigruppe bei Freier, der nicht allgemeine politische Leitsätze herunterredet, sondern den Soldaten, Unteroffizieren und Offizieren, die vor ihm sitzen, erklärt, welche NATO-Kräfte den Armeen des Warschauer Vertrages gegenüberstehen und mit welchen von ihnen es die Division zu tun hat. Der Oberleutnant blickt die Genossen an. Er ist einer der wenigen, die dunkle Haare und blaue Augen haben. Sehr helle Augen, die nicht lange auf ein Gesicht sehen, sondern rasch von einem zum anderen wandern. Freier will alle erreichen, in alle eindringen, denn sie sollen das, was er ihnen erzählt, was sie hier bei ihm begreifen, ebenso eindringlich an die Soldaten in ihren Zügen und Gruppen weitergeben. Freier teilt den Parteimitgliedern mit, daß am letzten NATOManöver mehr als eine Million Mann teilgenommen haben und daß die NATO-Führung davon ausging, daß durch eine innere Krise in einem der sozialistischen Staaten ein Spannungsherd entstanden wäre, den die NATO durch einen überraschenden Kriegsbeginn ausnutzen wollte, um in kurzer Zeit die strategische Initiative zu erringen und ihre Ziele erreichen zu können. Auch über diese Ziele spricht Freier und über die vielen Versuche der NATO-Staaten, eine solche innere Krise in der DDR oder in einem anderen sozialistischen Land
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hervorzurufen. Und dann kommt der Oberleutnant auf die Divisionsübung zurück. Schanz, der hinzutritt, sieht, daß dem Politoffizier nicht nur die Parteimitglieder zuhören. Auch am Nachbar-SPW sind einige Soldaten aufmerksam geworden und ein bißchen näher gerückt. «Versteht ihr mich, Genossen?» fragt Freier. «Ihr müßt wissen, jeder von euch und alle anderen in der Kompanie, was von uns, von jedem einzelnen abhängt. Wenn ihr das nicht wißt und wenn irgendeiner das nicht begreift, dann ist das alles bloß für die Katz. Ich weiß, das ist schwer. Manchmal sogar unangenehm, wenn einer dahergrinst so ungläubig wie ein Besserwisser. Aber laßt nicht locker. Wir greifen niemanden an, wenn nicht er… Doch dann, dann müssen wir zuhauen, daß er nicht mehr weiß, ob er Weibchen oder Männchen ist.» Schanz geht. Hier hat er nichts mehr zu tun. Nur einen Namen wird er in sein Arbeitsbuch schreiben: Freier. Diesen Oberleutnant darf man nicht aus den Augen verlieren. Der Oberst verläßt die Kompanie mit einer Erkenntnis. Das Zusammentreffen mit Bredow haben die Soldaten verkraftet, vielleicht schon vergessen. Die Arbeit geht weiter. Wichtigere Dinge haben sich in den Vordergrund geschoben. Ähnlich geht es manchmal daheim zu. Die Eltern streiten sich noch um ihre Kinder, die eine Zurechtweisung oder eine Auseinandersetzung längst vergessen haben. Beruhigt begibt sich der Oberst zu seinem Fahrzeug.
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3. Kapitel Friederike sitzt in einem großen Sessel, der sie mit seinen weichen Armstützen und der hohen, schalenartigen Rückenlehne fast völlig umschließt. Seit drei Jahren besitzt sie ihn. Sie hat ihn in die metertiefe Nische gestellt, die hinter dem Ofen beginnt und vom Sessel bis zur Dachschräge von einer braunen Anrichte ausgefüllt wird. Wenn Friederike in ihrem Sessel sitzt, fühlt sie sich geborgen, wie von etwas Gütigem umgeben. Als wäre da plötzlich jemand hinter ihr, der sie mit dem Rücken an sich drückt und ganz sacht die Hände auf ihre Schultern legt. Dieses Gefühl hat mit einer fernen Erinnerung zu tun. Irgendwann einmal ist sie auf diese Weise beschützt oder getröstet worden. Doch sie weiß nichts Genaues mehr, nicht einmal, ob es die Mutter oder der Vater oder die Großmutter gewesen ist. Dieses Gefühl ist erst mit dem Sessel wiederaufgetaucht. Wie etwas Lebendiges ist er, und Friederike hat ihn schon manches Mal, wenn sie ins Zimmer trat, mit einer Geste oder einem Wort begrüßt. Die Großeltern einer Kollegin aus dem Restaurant haben Friederike den Sessel geschenkt, der schon zum Zerhacken im Schuppen stand. Sie hat nur einen Tischler gebraucht, gepolstert und neu bezogen hat sie den Sessel selber. Mit einem beigefarbenen Stoff voll züngelnder Blätter und Blüten. Fast jedes Möbelstück und beinahe jeder Gegenstand des Zimmers haben ihre Geschichte, haben mit Friederike mehr zu tun, als daß sie lediglich von ihr gekauft oder ihr von jemandem geschenkt worden sind. Der Tischler hat auch die Anrichte für sie gebaut. Vierzehn Tage nach dem Sessel war sie fertig, und der Meister hatte Friederike zu sich bestellt, um mit ihr gemeinsam den passenden Farbton für das neue Möbelstück auszusuchen. Schon als Kind hat sich Friederike gern in Tischlereien aufgehalten. Der scharfe Geruch des frischen Sägemehls und die wie im Schmerz gekrümmten Späne haben für sie etwas Trauriges und Schönes zu81
zugleich. In der Tischlerei strömen die Bäume zum letztenmal ihren Duft aus. Die glatten gemaserten Bretter, Leisten und Balken, die überall herumliegen, wirken rein und sauber. Das letzte Sterben der Bäume geht hier vor sich, aber es ist leicht und freundlich. Nur die Sägen stören Friederike. Sobald sie ihre Zähne ins Holz schlagen, schreit es auf. Jedes Holz hat seine eigene Stimme, die Birke eine hellere als die Kiefer, die Eiche eine dumpfere als die Esche, und jeder dieser langgezogenen Schreie endet in einem zitternden, wehen Singsang der Säge, als wüßte sie, daß sie zerstören muß. Als Friederike vor drei Jahren die Tischlerei betrat, herrschte Stille in der Werkstatt. Die Sonne schien schräg durch die staubblinden Fenster und hüllte alles in warmes, gelbliches Licht. Der Tischler, ein muskulöser Mann Mitte der Vierzig, stand vor einem leeren Uhrenkasten, in dem er sein Kundenbuch und die Bestellzettel, Rechnungen und Notizen aufbewahrte. Er kehrte Friederike den Rücken zu. Der Mann war halbnackt und trug über der Hose nur eine blaue Latzschürze, deren Schleifenenden vom kurzen Hals bis zu den stark behaarten Muskelwülsten über dem Hosenbund herabhingen. Neben ihm stand die Anrichte. Fast zwei Meter lang und einen Meter breit, aus starken, gleichmäßig gemaserten Eschenbrettern gebaut und auf flachen Füßen stehend, sah sie mehr einer Truhe ähnlich. Die gehobelten und geschliffenen Bretter wirkten weich und frisch. Friederike ging zur Anrichte und legte ihre Hand auf das kühle, ein wenig staubige Holz. «Na?» sagte der Tischler, den sie für einen Augenblick völlig vergessen hatte. Er wandte sich Friederike zu, blickte sie an, und sie begriff sofort, daß dieses «Na?» nichts mit der Anrichte zu tun hatte. Mit sicheren Bewegungen öffnete seine rechte Hand die Schleifen am Hals und auf dem Rücken und warf die Schürze auf einen dreibeinigen Hocker. Jetzt wirkte der Mann noch kräftiger und größer, und obwohl er sich nicht vorwärts bewegt hatte, erschien es Friederike, als wäre er näher gekommen. Sie musterte ihn und versuchte sich vorzustellen, was sie empfinden würde, wenn er sie anfaßte, wenn seine breiten, vom Umgang mit dem Holz hart gewordenen Hände ihr Gesicht, ihren Hals, ihre Brüste berührten, wenn er sein rundes,
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glattes Gesicht mit der fleischigen Nase in ihre Achseln oder gegen ihre Schenkel drückte und wenn der Holzstaub, der seine Brauen, sein Brusthaar und den ovalen Nabel grau machte, auf ihrem Leib kleben bliebe. Friederike sah auch die Hobelbank hinter ihm, auf der ein paar Decken lagen. Der Tischler kam langsam auf sie zu, hob die Hände und begann, ihren Mantel aufzuknöpfen. Er war geschickt, war schnell, und Friederike wartete immer noch auf eine Regung ihrer Sinne, auf Abwehr oder Zustimmung. Sie reagierte erst, als der Mann seine Hände unter ihren Pullover schob und nach ihren Brüsten griff. Da nahm Friederike eine der kantigen Leisten, die in Bündeln an der Wand lehnten, hielt sie mit beiden Händen und schlug von oben auf die angespannten Muskeln der Unterarme. Der Tischler schrie auf. Friederike sah, wie sich an den getroffenen Stellen rote Streifen bildeten, dann war sie frei und wenige Augenblicke später auf der Straße. Ein paar Tage danach klingelte jemand an der Haustür. Zwei Männer brachten die Anrichte. In ihr fand Friederike Pinsel, Flaschen und Büchsen mit Beize und Farbe und eine vom Tischler geschriebene Gebrauchsanweisung. In einem Briefumschlag steckte ein Rechnungsbogen, auf dem der Tischler ihr viel Freude wünschte. Ganz unten auf dem Formular, anstelle des Preises, hatte er geschrieben: «Entschuldigung.» An der rechten Seite der Anrichte, mit dem Steg gegen die Wand gelehnt, steht eine Geige. Das lackierte Holz des Instruments verbreitet einen warmen Glanz. Vor anderthalb Jahren hat sich Friederike die Geige von ihren Eltern zum Geburtstag schenken lassen. Ein paar Wochen zuvor war ein Orchester aus Berlin im Haus der NVA gewesen. Das Kollektiv der Serviererinnen hatte aus Wettbewerbsgründen beschlossen, dieses Konzert zu besuchen. Was damals als erstes gespielt wurde, weiß Friederike nicht mehr. Nach der Pause schob sich ein Solist zwischen den dicht nebeneinander sitzenden Musikern hindurch nach vorn. Geige und Bogen hielt er mit der rechten Hand hoch wie ein schwimmender Soldat seine Waffe. Der Geiger kam aus Leningrad. Er war ein großer, beleibter Mann mit kurzem Hals und
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glattem, nach hinten gekämmtem dunklem Haar. Das alles und der eng sitzende Frack machten ihn einem riesigen Pinguin ähnlich. Friederike und die anderen Serviererinnen kicherten über den Mann, der von der Figur her viel besser hinter die Pauken gepaßt hätte. Als er die Geige unter sein fleischiges Gesicht schob und das Kinn in die dunkle Auflage legte, wurden seine Augen schmal und wirkten wie leer. So stand er eine Weile reglos neben dem Dirigentenpult. Und so stand er auch noch, als das Orchester einsetzte, verhalten, fast zögernd. Friederike ließ den Geiger nicht aus den Augen. Sie sah, wie er zu spielen begann, ohne seine Haltung zu verändern. Sie hörte ein paar leise, vorsichtige Töne, als probierte er seine Geige aus. Doch auf einmal schien er die Melodie gefunden zu haben, und was er spielte, war so fröhlich und gleichzeitig so voller Weh, daß Friederike sich betroffen fühlte und die Töne wie Zärtlichkeit und Schmerz in sie eindrangen. Und sie wunderte sich, daß ein solch schwerer, grobschlächtiger Mann das zerbrechliche Instrument mit derartiger Leichtigkeit zu spielen vermochte, welche Töne und Melodien die Saiten hergaben. Der Solist veränderte sich. Er schien sich zu strecken, wurde leicht und beweglich wie die Musik. Und je länger das Konzert dauerte, um so mehr sah Friederike den Geiger so, wie sie die Musik empfand. Sie klatschte nicht, als das Konzert zu Ende war. Sie drängte hinaus, holte ihren Mantel von der Garderobe und verließ rasch den Klub. Sie wollte allein sein. Nach dieser Musik wollte sie nicht die alltäglichen Stimmen der anderen, nicht ihren Klatsch und ihr Lachen hören, nicht im Saal der Gaststätte sitzen bei Qualm und Lärm, bei Schnaps und Schlagermusik. Auf dem Heimweg ging sie an der Birke vorüber, die noch Blätter hatte, ein paar bronzefarbene Tupfer im dunklen Geäst. Friederike blieb stehen und betrachtete den Baum. Vielleicht hatte Tschaikowski eine solche Birke gemeint oder wenigstens an sie gedacht, als er dieses Konzert komponierte. Eine jener biegsamen russischen Birken, die in so vielen Volksliedern besungen werden. Freundliche Bäume, die man öfter als alle Artgenossen mit jungen Mädchen vergleicht, die stärker als andere die Bewegtheit und Schwermut einer
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herbstlichen Ebene in sich vereinen. Friederike stand vor ihrer Birke und begriff, daß dieses Konzert eines jener großen Ereignisse ihres Lebens war, auf das sie gewartet hatte, um dessentwillen sich das Leben überhaupt lohnte. Schon als junges Mädchen hatte Friederike alle Autoritäten, die es für sie gab, im stillen angefleht, daß ihre Lebenslinie noch viele solcher Ereignisse schnitt und es den Reiz des Ungewissen, die neugierige Erwartung von etwas Besonderem immer für sie gab. So hatte sie die Reise nach Belorußland aufgenommen, als sie ein Jahr später überraschend mit einem Freundschaftszug der FDJ nach Minsk geschickt wurde. Friederike wischt die Geige täglich ab, nimmt sie aber nur hin und wieder in die Hand, um behutsam an den Saiten zu zupfen. Sie wird immer in ihrem Zimmer bleiben als das äußere Zeichen einer inneren Veränderung. Das erste Konzert, das Friederike sich auf einer Schallplatte gekauft hat, ist jenes D-Dur-Konzert von Tschaikowski für Violine und Orchester gewesen. Viele andere Platten sind inzwischen dieser ersten gefolgt, vor allem Violinenkonzerte und Kompositionen für Streicher. Friederike ist nicht in der Lage, musikalische Zusammenhänge und Feinheiten zu erkennen. Musikkritiken versteht sie nicht. In ihnen verschwinden Inhalt und Ausdruck eines Konzerts meist hinter einem Wust mystischer Worte und Begriffe. Das Wesentliche verblaßt, wie im Nebel Gegenstände unsichtbar werden. Die Musik rührt Friederike zuallererst durch ihre Ordnung und Poesie an. Sie lauscht ihr, weil sie ihre Phantasie beflügelt, weil sie über die Musik zu vertrauten Dingen und Erscheinungen ihrer Umwelt neue, tiefere Beziehungen findet. Zu den wie Soldaten aufgereihten Kiefern oder zu dem fünf bis sechs Meter breiten Flüßchen, das an vielen Stellen von Panzern und schweren Lastkraftwagen zerschundene Ufer hat, das an versandeten Abschnitten nur knöcheltief ist und doch nie versiegt. Zu den horizontweiten Koppeln und Wiesen und zu den kaum betretenen Schneisen, die von Moos und dünnhalmigem Gras überwachsen sind. Zum Haff, wo zwei Welten sich berühren, das Meer und das Land, und auch zu den Leuten, mit denen sie innerhalb und außerhalb der Gaststätte zu tun hat.
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Friederike hat dieses Musikerlebnis nachgeholt wie etwas lange Versäumtes, und die abendlichen Stunden vor dem Plattenspieler sind für sie die besten des Tages. Der Sessel bildet den Mittelpunkt des Zimmers, das sie von ihm aus ganz überschauen kann. Hier, wo er steht, wo sie sitzt, treffen sich die Geschichten der Gegenstände wie ungezählte unsichtbare Linien. Das Zimmer hütet Friederike vor anderen wie ein Versteck. Selten hat es jemand betreten, nie ein Mann außer ihrem Vater. Nur einige Kolleginnen haben es einmal gesehen, als sie mit Grippe fiebrig im Bett lag. In den letzten Tagen denkt Friederike, wenn sie im Sessel sitzt, häufig an Wittenbeck und erinnert sich an die Begegnungen mit ihm. Seit Wochen kommt er regelmäßig ins Restaurant und setzt sich an einen bestimmten Tisch in ihrem Bereich. Er ißt Abendbrot, sitzt danach noch eine Weile, liest Zeitung, raucht eine Pfeife und geht wieder, ehe die Soldaten die Gaststätte überfluten. Anfangs nahm sie ihn nur flüchtig wahr, bediente und behandelte ihn wie jeden anderen Gast und reservierte nach einer Weile lediglich den Tisch für ihn. Miteinander geredet haben sie nur das, was für Bestellung und Bezahlung nötig war. Dann tanzte er das erste Mal mit ihr. Er drehte sich gleichmäßig und ohne aus dem Rhythmus zu kommen, aber seinen Bewegungen fehlte die Leichtigkeit, der Schwung. Er exerzierte gleichsam den Walzer, und so steif wie sein ganzer Körper war, so unbewegt blieb auch sein Gesicht. Knochige Jochbögen sah Friederike, über denen dichte Brauen wucherten. Die rechte hatte zur Nase hin einen Wirbel. Die Augen lagen ungewöhnlich weit auseinander, graublaue Augen, von überraschender, freundlicher Scheu. Das Haar war kurzgeschnitten und braun wie sommertrockene Kienäpfel. Alle drei Tänze hindurch blieb er stumm. Auch später, als er sie noch zweimal zum Tanz holte, sprach er nicht mehr als «Darf ich bitten?» und «Danke schön!». Aber er beobachtete sie. Wenn sie tanzte oder mit dem Vater zur Bar ging, merkte sie, daß er ihr nachblickte. Zwei Tage danach sah sie ihn in der Gaststätte wieder. Sie war an jenem Tag arbeitsfrei, holte die Zwillinge aus dem Kindergarten, ließ
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Dieter bei Stefan und nahm Ingrid mit in den Saal. Mitunter gab sie die kleine Schwester als ihre Tochter aus, und bei bestimmten Gelegenheiten benutzte sie sie ihren Kolleginnen gegenüber als Vorwand. Die Kapelle spielte mit halber Kraft, und die wenigen anwesenden Soldaten nutzten die Gunst der Stunde. Friederike schlug ihnen die Tänze nicht ab. Ingrid spielte inzwischen mit ihrer Schlenkerpuppe, die Friederike ihr in Polen gekauft hatte, sie aß Eis oder rollte Bierdeckel auf dem Tisch hin und her. Als Friederike zu ihrem Platz zurückkehrte, war Ingrid fort. Eine vorbeieilende Kellnerin wies wortlos auf einen Ecktisch. Ingrid saß Wittenbeck gegenüber. Das Kinn stützte sie auf die verfalteten Hände, die auf dem Tisch lagen. Der Major hatte Blumenvase und Aschenbecher beiseite gerückt und hielt die Puppe in den Händen. Friederike zögerte, ging dann aber doch hinüber, und je näher sie kam, um so gröber erschien ihr das Gesicht des Majors, in dessen Stirn die Mütze eine rote Strieme gedrückt hatte. Erst in diesem Augenblick, der wie eine Ernüchterung wirkte, gestand sich Friederike ein, daß sie seit dem Abend im Haus der NVA oft an ihn gedacht hatte. Wittenbeck nahm sie flüchtig wahr und begrüßte sie mit einem kurzen Nicken, wobei wieder die Scheu in seinen Augen war. «Es ist meine Schuld», erklärte er. «Ihre Tochter saß so allein da. Ich habe sie herübergewinkt.» Danach beschäftigte er sich wieder mit der Puppe. Den Zeigefinger der rechten Hand schob er von oben in das flachshelle Haar und den Daumen und den Mittelfinger unter ihre Arme. Die Puppe hat große blaue Augen, eine Stupsnase und einen lachenden Mund. Wittenbeck drückte ihren Oberkörper gegen die Tischkante, und auf einmal wurde die Puppe lebendig, bewegte den Kopf hin und her, blickte sich nach allen Seiten um, nickte, schüttelte den Kopf, hob die Arme, klopfte mit den Händen auf den Tisch, winkte Ingrid zu und begann schließlich, mit ihr zu reden. Stumm starrte das Mädchen auf die Puppe. Friederike beobachtete alles, was Wittenbeck machte, ebenso gebannt wie ihre Schwester. Sie erlebte etwas, das in ihrer Kindheit nie stattgefunden hatte und wozu sie selbst nicht fähig war. Puppen wie etwas Lebendiges zu behandeln.
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Plötzlich wurde die Puppe müde. Ihr Kopf sank auf die Tischdecke nieder. Dann richtete sie sich noch einmal auf und glitt in den linken Arm des Majors, wo sie sich zurechtlegte und still wurde. Ingrid ließ keinen Blick von ihr, während Friederike Wittenbeck musterte. Sein flächig und grob wirkendes Gesicht hatte sich verjüngt. Alles Grobe war ausgelöscht wie bei jenem Geiger, von dem während des Spiels auch alles Schwere und äußerlich Unschöne gewichen war. Der Saal füllte sich allmählich, und Friederike hoffte, daß keiner der Soldaten sie von hier wegholte, daß keiner in diese Stimmung eindrang und der Major sein Spiel noch nicht beendete. Wittenbeck legte die Puppe in Ingrids Arm, die sie mit kindlicher Innigkeit zu wiegen begann. Dann nahm er vom Besteckteller eine Gabel und einen Löffel und ließ sie nacheinander über den Tisch laufen. Die Gabel trippelte geziert und steif, und der Löffel, immer einen halben Schritt zurück, folgte ihr schwerfällig und unlustig. Plötzlich stolperte er, fiel nach vorn aufs Gesicht, drehte sich um und räkelte sich wie einer, der in der Sonne liegt und die Hände unter dem Kopf verschränkt. Indessen stolzierte die Gabel weiter, bis sich ein Messer zu ihr gesellte, das schöntat und nach allen Seiten blitzte. Es wurde von einer Papierserviette abgelöst. Ein langes, dürres Ding, das sich ein wenig nach vorn beugte, um die Gabel besser sehen zu können. Beide paßten zueinander wie zwei hochnäsige Klatschtanten und verschwanden nach einer Weile hinter der Blumenvase. Friederike lachte, Ingrid und der Major fielen ein. «Sie mögen Kinder, stimmt’s?» fragte Friederike. Er nickte und blickte, während er antwortete, Ingrid an. «Das beste, was es gibt, sind Kinder.» Sein Gesicht war noch heiter vom Spiel, und Friederike wollte wissen, ob er Kinder habe. «Einen Jungen», entgegnete er, «der wird sechs.» Mehr sprachen sie an jenem Tag nicht miteinander, denn wenig später ging Wittenbeck. Auf einmal war er wieder steif und scheu, und sein Aufbruch wirkte auf Friederike wie eine Flucht. Am nächsten Abend kam Wittenbeck nicht, und auch an den folgenden fünf Tagen blieb der reservierte Tisch leer. In dieser Woche
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beschäftigten sich Friederikes Gedanken mit ihm wie vorher mit keinem anderen Mann. Es begann damit, daß ihr auf einmal etwas Vertrautes fehlte. Jedesmal, wenn sie sonst durch die Schwingtür gekommen war, hatte Wittenbeck zu ihr herübergeblickt, und nie hatte sie das Gefühl gehabt, daß er sie taxierte wie mancher andere, der sie später mit Anzüglichkeiten, mit versteckten oder offenen Angeboten verfolgte. Wittenbeck gehört nicht zu denen, aber auch nicht zu der Gruppe von Stammgästen, die mittlerweile ein kameradschaftliches Verhältnis zu Friederike gefunden hatten, weil sie begriffen, daß es sinnlos war, sich ihr unaufgefordert zu nähern. Sie halfen ihr und verteidigten sie, und aus ihrer Mitte wählte Friederike hin und wieder den einen oder den anderen aus, ließ sich von ihm nach Hause bringen, ging mit ihm mitten auf der langen Gneisenaustraße durch die Siedlung. Wittenbeck war auch nicht zu vergleichen mit jenen Gästen, die gleichgültig taten und deren wenige Worte beim Bestellen oder Bezahlen wie ein stiller Vorwurf klangen. In jenen Tagen hatte Friederike den Major mit anderen verglichen und schließlich von Stunde zu Stunde mehr auf ihn gewartet. Immer wieder erinnerte sie sich an sein Spiel mit der Puppe, sah seine Hände vor sich, die schwer und ungelenk wirkten. Rauh waren sie, über den Knöcheln aufgesprungen, und die Haut an Daumen und Zeigefinger schimmerte dunkel. Die Nägel hatten Risse und Bruchstellen. Er mußte mit schweren und harten Gegenständen zu tun haben. In dieser Woche verließ Friederike die Gaststätte nach der Schicht nicht, sondern blieb, bis die Stunde, in welcher der Major gewöhnlich kam, lange überschritten war. Auf dem Heimweg drehte sie sich immer wieder um, und einmal, als sie glaubte, ihn im Licht der breiten Eingangstür erkannt zu haben, machte sie kehrt und verließ wenig später enttäuscht zum zweitenmal die Gaststätte. Am siebenten Abend war er wieder da. Niemand hatte ihn kommen sehen. Plötzlich saß er auf seinem üblichen Platz. Aber Friederike zögerte. Sie überließ die Bestellung einer Kollegin und beobachtete Wittenbeck von der Tür aus. Sie mißtraute ihm, obwohl sie fand, daß
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es dafür keinen Grund gab. Diese Unruhe erlebte Friederike nicht zum erstenmal. In zwei Fällen war es ihr ähnlich ergangen, und sie hatte schlechte Erfahrungen gemacht. Der eine war ein geschiedener Hauptmann gewesen, dessen Sicherheit und Ausgelassenheit sie beeindruckten. Ein großer blonder Mann, der mehrmals in der Woche ins Restaurant kam und es als letzter verließ, wenn Friederike Dienst hatte. Er brachte sie nach Hause, ohne sich je aufzudrängen. Erst nachdem sie zusammen geschlafen hatten, entdeckte sie, wie egoistisch er war. Schon am Tag danach maßte er sich Rechte an, die sie ihm nie zugebilligt hatte. Zuerst versuchte er, ihr die Schicht vorzuschreiben. Friederike sollte sich nach seinem Dienstplan richten. Dann verlangte er von ihr, sie solle aufhören zu servieren und in der Verwaltung arbeiten. Als sie sich über seine Forderungen lustig machte und sie ablehnte, verfiel er in eine verbissene Eifersucht, die ihn bis zur Rücksichtslosigkeit trieb. Friederike wehrte sich mit aller Kraft dagegen, und als er mitten in der Nacht verschwand, empfand sie ihr Alleinsein wie einen Sieg. Der andere war ein junger Leutnant gewesen, der alles mit Hingabe tat. Er tanzte gut und lachte viel. Wenn der Dienst ihn hinderte, in die Gaststätte zu kommen, schrieb er Briefe an Friederike, die sie rührten und fröhlich machten. Niemand hatte ihr bisher Briefe geschrieben. An einem Sonntag im Juni lud der Leutnant sie zu einem Ausflug ein. Aber als sie nebeneinander auf der Decke saßen, wurde er von einem Augenblick zum anderen so ernst, daß er um Jahre älter wirkte. Schließlich gestand er ihr, daß er verheiratet sei. Sie schwiegen. Er gefiel Friederike. Sie hatte sich auf das Zusammensein mit ihm gefreut und erklärte: «Du, das macht mir nichts aus.» «Du bist ja auch nicht verheiratet», antwortete er. Das sagte er so vorwurfsvoll, als hätte sie sich ihm an den Hals geworfen, als hätte sie ihm Liebesbriefe geschrieben. Er sagte noch mehr, aber kein Wort war besser, und er tadelte sie für etwas, das gar nicht stattgefunden hatte. Friederike stand an der Flügeltür und beobachtete den Major, bis sie sich albern vorkam. Schließlich setzte sie sich an einen Tisch ge-
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genüber dem Tresen. Die Serviererin kam mit der Bestellung, die Wittenbeck aufgegeben hatte, rief etwas in die Küche und legte einige Plastmarken auf den Teller über den Zapfhähnen. Unentschlossen saß Friederike da, verfolgte den hellbraunen Strahl, der in die Biergläser floß, und hörte die Stimmen der Kolleginnen. Die alltäglichen Geräusche und die Hast, mit der hier alles ablief, kannte sie seit Jahren, sie waren für sie etwas Vertrautes, Unumstößliches und beruhigten sie. Von einem Augenblick zum anderen stand sie auf und nahm der Serviererin das Tablett mit dem Kaffee und der Soljanka ab. Wozu noch Warten und worauf? Wittenbeck starrte auf seine Hände, die vor ihm auf dem Tisch lagen. Vor Müdigkeit grau und seltsam erschlafft, saß er an seinem Platz. Aber er war wieder da. Friederike goß Kaffee in die Tasse, schob den Teller mit der Suppe nahe zu ihm hin und sagte: «Guten Appetit!» Erst in diesem Augenblick sah Wittenbeck auf und blinzelte wie einer, der eben erwacht ist. Friederike erkannte deutlich, daß er sich freute. Er stand auf und sagte heiser: «Schön, daß Sie noch hier sind.» Friederike hatte ihn größer in Erinnerung. Sie sah die Wölbung seiner Stirn und den Wirbel über dem rechten Auge. Die Freude veränderte sein Gesicht, glich alles in ihm aus. Darauf hatte sie gewartet, sieben Tage lang. Fast gleichzeitig setzten sie sich. Er begann zu essen, ruhig und gleichmäßig, obwohl Friederike, den Kopf auf die Fäuste gestützt, ihn ununterbrochen ansah. Nach einer Weile fragte er: «Wie geht es Ihrer Schwester?» «Gut», sagte sie und wußte auf einmal, daß er sich nach ihr erkundigt hatte. Vor sieben Tagen hatte er Ingrid noch für ihre Tochter gehalten. Dann wollte er wissen, ob sie noch zu tun habe. «Nein», antwortete sie, «mein Dienst ist zu Ende, Genosse Major.» Er hielt im Essen inne, lachte, beugte den Kopf ein wenig über den Teller und stellte sich vor: «Frank Wittenbeck.» Schweigend musterten sie einander. Allmählich verloren sich seine Blicke auf ihrem Gesicht, und seine Augen wurden leer und durch-
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sichtig. Er schien sich an irgend etwas zu erinnern, und dieses Etwas stand plötzlich zwischen ihnen. Friederike wartete. Sie saß bei ihm, sie war da, und sie war stärker als jene Erinnerung. Doch sie wurden gestört. Die Musik setzte ein, und plötzlich stand Ulrich Fichtner vor ihnen und forderte Friederike zum Tanzen auf. Sie schüttelte den Kopf, worauf Ulrich die Hacken zusammenschlug und sich an Wittenbeck wandte. «Gestatten Sie, Genosse Major, daß ich mit ihr tanze?» «Soll ich es ihr befehlen?» erwiderte Wittenbeck ruhig und aß weiter. Fichtner blickte von einem zum anderen. Plötzlich war in seiner Haltung wieder etwas von der alten Hilflosigkeit. Er preßte die Oberarme an den Leib und legte den Daumen an die Unterlippe. So ging er zum Tisch zurück, wo seine Begleiter ihn mit Gelächter empfingen. In diesem Augenblick bereute Friederike, daß sie ihn abgewiesen hatte. Wittenbecks Augen blieben leer. Er trank den Kaffee, dann erhob er sich, lächelte ihr noch einmal zu und gab ihr die Hand, die schwer und warm in der ihren lag. Seitdem hatte sie ihn nicht mehr gesehen. An das alles erinnert sich Friederike immer wieder. Weil sie gegen die Zweifel, die sie überfallen und erschreckt haben, Beweise braucht. Aber sie hat nur einen einzigen. Sie nimmt an, daß sie dem Major nicht gleichgültig ist. Wenn sie an den letzten Tagen vor Übungsbeginn zur Schicht kam, fragte sie jedesmal ihre Kolleginnen, ob Wittenbeck dagewesen sei. Doch niemand hatte ihn gesehen. Erst an dem Tag, als der Vater wegfuhr, behauptete eines der Lehrmädchen, sie habe den Major in der Gaststätte gesehen. Später war Friederike aufgefallen, daß sich an der Wettbewerbstafel, die vor der Flügeltür hing, nur noch eine Hälfte ihres Fotos befand. Friederike trennte auch die andere ab und gab sie ihrem Vater. Aber erst nach der Übung, wenn der Vater wieder zu Hause ist und Wittenbeck abends an seinem Ecktisch sitzt, wird es sich entscheiden, ob er eines Tages dieses Zimmer betreten darf. An Konsequenzen denkt Friederike nicht. Folgen stellen sich meistens von selber ein, und dann muß man sich ihnen ergeben oder mit ihnen fertig
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werden. Dieses erneute Warten auf Wittenbeck ist für sie schwerer, als das erstemal. Morgen wird sie den Skoda ihrer Eltern aus der Garage holen und für zwei Tage verreisen. Wohin sie fahren wird, weiß sie noch nicht. Vielleicht in Richtung Barsekow. Dort wird die Übung immer mit einem Manöverball abgeschlossen, und wenn Friederike Glück hat, sieht sie Wittenbeck zwei Tage früher als in der Siedlung. Zwei Tage früher kann sie ihre Unruhe los sein oder auch all ihre Hoffnungen. Friederike hört, wie jemand das Haus betritt. Unten werden Türen aufgerissen und zugeschlagen. Stefan kommt zurück. Er geht ins Bad, dann in die Küche. Dort klappert er mit Geschirr herum. Er hört wieder mal nichts wie nach jeder Disko. Außerdem wird er Bier getrunken haben. Das macht ihn ungelenk und schwerfällig. Seine ganze zur Schau getragene Erwachsenheit geht verloren. Für eine Weile gewinnt sein Gesicht die jungenhafte Weichheit eines Zehnjährigen zurück. In solchen Augenblicken lacht er viel, ist gefügig und einsichtig und spricht aus, was ihm gerade einfällt. Aber in der Regel bringt er kaum einen Gedanken, geschweige einen Satz zu Ende. Meistens macht sich, kaum daß er angekommen ist, auch die Mutter bemerkbar. Stefan ist einen ganzen Kopf größer als sie und sieht ihr sehr ähnlich. Die braunen Augen mit den schweren Wimpern hat er von ihr, die großen, weichen Lippen auch, und wenn er sich mit den Zwillingen beschäftigt, besitzt er die unerschöpfliche, heitere Geduld der Mutter. Jetzt vernimmt Friederike Schritte. Die Mutter wird in die Küche treten, behutsam die Tür schließen und ruhig, aber mit einem leisen Vorwurf in der Stimme zwei Fragen stellen: «Mußt du solchen Lärm machen?» und «Mußt du soviel Bier trinken?» Sie erhält nie eine Antwort, erwartet wohl auch keine. Sie spricht diese zwei Sätze wie eine Begrüßung aus, nach der sie Stefan jedesmal wortlos ein paar Brote zurechtmacht. Aber heute wiederholt sich diese Zeremonie nicht. Die Stimme der Mutter ist streng und drohend. «Was ist das?» Entweder hat Stefan diesmal mehr Bier als sonst getrunken, oder er ist aus einem anderen Grund sehr erregt. Dann spricht er immer be-
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tont langsam und preßt die Zähne aufeinander, daß alle S-Laute stark zischen. «Wie du siehst», sagt er, «ist das ein Parka.» «Das ist ein dreckiges, stinkendes Etwas.» «Parka müssen so sein.» «Wo ist deine Pelzjacke?» «Eingetauscht.» «Gegen diesen Fetzen?» «Wie du siehst.» Dann wird es unten still. Und was dieser Stille folgt, ahnt Friederike. Die Mutter wird schreien. Nicht sofort. Die ersten Worte spricht sie leise und langsam, doch allmählich wird sie lauter und heftiger und steigert sich schließlich in eine Erregung hinein, in der sie sich nicht mehr zu beherrschen vermag. Friederike und die Mutter haben sich mehrmals auf diese Weise gegenübergestanden. Die letzte Szene liegt fast zwei Jahre zurück. Doch Friederike erinnert sich noch genau an sie. Das Gesicht der Mutter wurde hart, jede Linie und jede Falte in ihm schienen zu erstarren, und Friederike kam sich wie in einem Stummfilm vor. Mit dieser nüchternen Beobachtung wehrte sie sich damals gegen die Mutter. Die schien es zu spüren, und Friederikes Stummheit machte, daß sie zuschlug. Friederike nahm es regungslos hin. Erst in ihrem Zimmer weinte sie. Nicht wegen der Schläge, sondern weil sie erschrocken war von der Fremdheit und der Kälte zwischen ihnen, die eine Nichtigkeit plötzlich aufgedeckt hatte. Friederike hatte damals aus dem Vorratskeller der Eltern eine Flasche Weinbrand, ein paar Büchsen Juice und ein Glas Würstchen für eine Brigadefeier mitgenommen, ohne die Mutter vorher zu fragen. An jenem Abend verloren Mutter und Tochter einander endgültig. Friederike hat ihre Enttäuschungen schon hinter sich. Ihrem Bruder stehen sie noch bevor, oder sie beginnen heute abend. Stefan schweigt, wie Friederike in solchen Situationen geschwiegen hat. Doch die Mutter wird immer lauter. «Den Verstand habt ihr euch aus dem Schädel gebeatet. Über vierhundert Mark hat die Pelzjacke gekostet. Zum Geburtstag haben wir sie dir geschenkt. Vierhundert! Bist du wahnsinnig? Wirst ja immer verrückter, und ich habe gedacht… Aber jetzt trittst du in die Fußtapfen deiner Schwester. Je
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länger, desto unverschämter. In den Ofen steck’ ich das Dreckding! Ich werde…» «Nein!» schreit Stefan. «Nein!» «Laß los!» ruft die Mutter. «Oder… Loslassen!» Friederike springt auf und rennt die Treppe hinunter. Sie hört die beiden keuchen. Die Mutter hält den graugrünen, verwaschenen Parka fest, und Stefan umklammert ihre Handgelenke. Das Gesicht der Mutter ist nicht hart, sondern vor Schreck ganz jung, und sie wird nicht mehr lange festhalten können. Aber sie darf den Parka nicht loslassen. Friederike will es verhindern, weil sie spürt, daß es nicht gut wäre, wenn die Mutter losließe, für sie nicht und schon gar nicht für Stefan. Sie drängt sich in die kleine Küche und gibt ihrem Bruder zwei Ohrfeigen. Sofort läßt er die Handgelenke der Mutter los. Er riecht nach Bier, und der Parka stinkt wirklich wie ein Aschenbecher voll kalter Kippen. Friederike faßt ihn mit Daumen und Zeigefinger. Widerstandslos überläßt die Mutter ihr das Kleidungsstück. Friederike hat nie so deutlich wie heute die Hilflosigkeit ihrer Mutter bemerkt, die wahrscheinlich schon immer die tiefere Ursache solcher Auftritte gewesen ist. Sie befiehlt Stefan, das Fenster zu öffnen, hält das Streitobjekt hinaus und läßt es fallen. Es klatscht auf die Stufen, die von draußen in die Waschküche hinunterführen. Während Friederike das Fenster schließt, hört sie die Mutter sagen: «Wenn du diesen Westkittel noch einmal anziehst, fliegst du raus.» So etwas sollte sie nicht sagen. Solche Drohungen sollte sie nicht aussprechen, weil Stefan davon nicht einsichtiger, sondern eher verstockter wird, und weil die Mutter sie sowieso nicht wahrmachen würde. Schlimm, daß so etwas immer geschieht, wenn der Vater nicht da ist. Seine Ruhe und Konsequenz, seine Logik, die gedankliche wie die gefühlsmäßige, gleichen sonst vieles aus, machen nachdenklich und überzeugen. Aber da er oft nicht zu Hause ist, graben sich manchmal in Friederike ebenso wie in Stefan und der Mutter bestimmte Meinungen und Widersprüche so tief ein, daß der Vater sie später nur mit Mühe überwinden kann. Friederike will die Küche verlassen, bleibt aber in der Tür stehen.
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Die Ohrfeigen haben Stefan zu sich gebracht. Er steht vor der Anrichte und schiebt mit den Fingern Brotkrumen hin und her. Friederike ist das älteste Kind in der Familie Schanz, und sie hat jahrelang niemanden gehabt, an den sie sich hätte um Rat und Hilfe wenden können. Jetzt tritt sie zu ihrem Bruder, greift nach seinem Arm und sagt: «Bring dich in Ordnung. Geh endlich schlafen. Mach so etwas nicht noch einmal. Morgen sehen wir weiter.» Die Mutter ist ins Zimmer der Zwillinge gegangen. Im Dunkeln sitzt sie auf einem Stuhl vor den Kinderbetten, den Kopf gegen die Wand gelehnt. Auf Zehenspitzen tritt Friederike zu ihr. Wie jung das Gesicht der Mutter vor wenigen Minuten gewesen ist! So hat Friederike sie schon einmal gesehen. Vor sehr langer Zeit. Ihr Gedächtnis hat das Bild aufbewahrt, und heute hat Friederike es plötzlich wiedergesehen. Dabei stellt sie verwundert fest, das nicht nur jenes Bild über Jahre hinweg in ihr erhalten geblieben ist, sondern auch eine Spur des damaligen Gefühls für ihre Mutter, das wie etwas Sanftes, Vertrautes wieder in ihr lebendig wird. «Danke, Rike», sagt die Mutter nach einer Weile. Wie lange hat sie nicht «Rike» gesagt. Es ist Jahre her. Friederike legt ihre Hand auf die feste, runde Schulter der Mutter. Eine scheue Geste, denn solche Bewegungen sind für beide ungewohnt. Und die Hand der Mutter, die jetzt nach Friederikes Finger greift, hat sie lange nicht gespürt. Warm ist sie und ein wenig rauh und gleich wieder fort. Nur Augenblicke hat es gedauert. Doch über diese Augenblicke ist Friederike froh und steigt wenig später die steile Treppe zu ihrem Zimmer hinauf. Sie verläßt es an diesem Abend noch einmal. Aus dem Keller kommen irgendwelche Geräusche, die sie sich nicht erklären kann. In der Waschküche brennt Licht. Stefan kniet vor dem Parka, schrubbt ihn mit einer Bürste, unter der schmutzige Lauge aufschäumt. Friederike setzt sich auf einen der Wannenböcke und beobachtet ihren Bruder. Als er nach dem Waschpulver greift, rät sie: «Laß! Sonst wird er grau, und wenn er trocken ist, staubt er.» Stefan befolgt ihren Rat und schrubbt weiter mit kräftigen, gleichmäßigen Zügen. Hin und wieder gießt er aus einem Holzeimer klares
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Wasser über seine neue Errungenschaft, und dem Wasser folgt jedesmal eine Portion Weichspüler. Stefans Bewegungen sind von verbissener Hingabe, die bei Arbeiten für die Familie an ihm nicht zu beobachten sind. Mit derselben Gründlichkeit, mit der Stefan jetzt schrubbt, kämmt und bürstet er mehrmals am Tage sein dunkelblondes weiches Haar, das die Schultern fast erreicht hat. Seine Bewegungen, die vor ein paar Wochen noch eckig und unausgeglichen wirkten, sind sicher geworden und drücken männliche Spannung aus. Friederike beobachtet seine Hände, die die Bürste kräftig gegen den Stoff drücken und keine Ecke, keinen Zipfel des Parkas auslassen. Irgend etwas für Stefan Wichtiges hängt mit dem abgenutzten Kleidungsstück zusammen. Aus Sturheit oder Kränkung allein würde er es so nicht bearbeiten. Vielleicht bedeutet ihm der olivgrüne Kittel das, was für Friederike die blechernen Zigarrenschachteln sind. Ein Teil jener Dinge und Erlebnisse, die für ihn möglicherweise ewig unerreichbar bleiben, einfach ein Stückchen Abenteuer. Vielleicht ist dieser Parka für ihn ein winziger Ausgleich für all jene Beschränkungen, denen er als Sohn eines Offiziers und Bewohner einer solchen Siedlung unbesehen und von vornherein ausgesetzt ist. Und vielleicht ist der Parka für ihn die einzige Art der Auflehnung, die hier und in seinem Alter überhaupt möglich ist. Wieder denkt Friederike an ihre Zigarrenschachteln. Keine liegt leer in den Schubfächern. Schon als Zwölfjährige hat sie begonnen, diese Schachteln mit Bildern und Fotos aus vielen Städten der Welt zu füllen, die sie auch heute noch aus Zeitungen, Zeitschriften und Illustrierten ausschneidet. Fünfzehn Schachteln allein gehören Paris. Auch London, Amsterdam, New York, Oslo, Madrid, Rio de Janeiro, Frankfurt am Main und Hamburg sind in ihrer Sammlung vertreten. In Prag und Warschau und Minsk ist Friederike schon gewesen. Dorthin kann sie, ebenso wie nach Moskau oder Leningrad oder Budapest, jederzeit reisen. Stefan schrubbt ohne Unterbrechung. «Warum macht ihr das?» fragt sie ihn.
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«Was?» «Die Klamotten tauschen.» «Verstehst du sowieso nicht.» «Das hängt doch von dir ab», erwidert sie. Stefan hält inne, stützt sich mit beiden Händen auf die Bürste und blickt zu Friederike hinüber. Die Geschichten um seine Schwester und ihr Ruf haben die Schule längst erreicht, und es gibt Lehrer, die Friederikes Namen nie erwähnen. Aber es gibt auch andere. Die erinnern sich, daß Friederike gut gelernt hat, daß sie die zehnte Klasse mit der Note «sehr gut» abschloß und daß sie viel fragte, manchmal zu viel und zu genau. Und es gibt Schüler, auch Klassenkameraden von Stefan, die ihn nach Friederike ausfragen und sowohl innerhalb der Siedlung als auch im Restaurant auf eine Gelegenheit warten, ihr zu begegnen. Einer aus Stefans Klasse, der bei seinen Großeltern in Kerkow wohnt, einem alten Fischer- und Weidnersdorf, das etwa zwanzig Kilometer von der Siedlung entfernt unmittelbar an der polnischen Grenze liegt, hat Friederike im vergangenen Sommer am Haffufer entdeckt und beobachtet. Mit seiner Entdeckung gab er am anderen Tag an, beschrieb den engsten Freunden Friederikes Figur sehr genau und vergaß das groschengroße Muttermal am Schenkel ebensowenig wie die Blinddarmnarbe. Zu viert zogen sie an jenem Nachmittag los. Aber Friederike fanden sie nicht mehr. Stefan hatte seine Schwester gewarnt. Er weiß, daß Friederike gut aussieht, daß viele hinter ihr her sind. Aber das ist für ihn nicht wichtig. Nach außen hin, selbst Friederike gegenüber, tut er gleichgültig. Doch im Inneren bewundert er sie, weil ihr die Leute und deren Meinung über sie gleichgültig sind, weil sie sich über Normen und Anschauungen, die hier herrschen, hinwegsetzt, weil sie sich nichts gefallen läßt. Eigentlich müßte sie ihn verstehen. Wenn einer aus der Familie ihn begreifen kann, ist es Friederike. Stefan steht auf. Die Knie schmerzen. Er schwabbt Wasser über den Parka, das sich noch immer trübt, dann setzt er sich auf den umgedrehten Eimer. Auf dem Wannenbock vor ihm sitzt Friederike und wartet geduldig auf eine Antwort. Aber
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Stefan weiß nicht, womit er beginnen soll, wie er diesen Tausch erklären kann. Wie läßt sich überhaupt etwas erklären, das man tut, ohne zu zögern, ohne nachzudenken, nur aus dem Gefühl heraus, daß es gut und richtig ist? «Ich wollte schon immer einen Parka haben», sagt er, «aber sie schenken mir eine Pelzjacke, eine dreiviertellange für über vierhundert Mark. Und das hör’ ich jeden Tag, ehrlich. Vierhundert Mark! Paß auf, sie hat über vierhundert Mark gekostet!» «Ist das alles?» fragt Friederike und ist ein wenig enttäuscht. Er schüttelt den Kopf, bürstet an den Fingernägeln herum, wirkt verlegen und spricht schließlich langsam, fast zögernd weiter. «Eigentlich…», er macht eine Pause und blickt Friederike an, als überlege er wieder, ob er überhaupt mit ihr reden soll. Sie entdeckt Falten in seinem Gesicht, die gestern noch feine Linien gewesen sind. Sie haben sich vertieft, machen sein Gesicht strenger und ein wenig älter. «Eigentlich», wiederholt er, «ist es was anderes. Es ist…. weil wir alle Kumpels sind. Nicht irgend so ein Klub, sondern echte Freunde. Einer hilft dem anderen. Unterschiede gibt es nicht, ehrlich. Ich zum Beispiel, ich wollte schon immer einen Parka. Und Hanne war auf eine Pelzjacke scharf. Aber vierhundert auf einmal kriegt seine Mutter nicht zusammen, mit vier Kindern allein. Außerdem braucht er die Pelzjacke mehr als ich, ehrlich. In ein paar Tagen fliegt er von Schönefeld nach London, steigt auf einen Frachter um und kommt irgendwann im Herbst wieder. Aber ich hätte ihm die Jacke auch gegeben, wenn er nicht geflogen wäre. Auch einem andern, ehrlich. Wenn er wieder da ist, gibt er sie mir zurück, vielleicht.» Friederike blickt an Stefan vorbei zur Wand, an der Wäscheleinen und verschiedene Zuber hängen. Die Mutter liebt hölzerne Arbeitsgeräte. Sie hat die Zuber vom Hof ihrer Eltern mitgebracht, wo sie Generationen von Bauern gedient haben. Friederike steht auf, reibt mit den Händen ihre Oberarme, weil ihr plötzlich kalt ist. Sie geht zwischen der Wand mit den Zubern und dem Wannenbock hin und her. Vor Stefan auf dem zementgrauen Boden liegt leblos wie ein abgestürzter Vogel der Parka.
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Stefan spürt, daß sein Geständnis Friederike beunruhigt. Für Augenblicke ist er verwirrt über ihre Reaktion. Er besitzt noch nicht die Fähigkeit, sich selbst, seine Überlegungen, Verhaltensweisen und Worte hin und wieder mit den Augen anderer zu sehen, sondern nur jene Bedingungslosigkeit, mit der man in seinem Alter versucht, sich gegen alles durchzusetzen und seiner Meinung Geltung zu verschaffen. Eine Bedingungslosigkeit, die mit einem strengen, fast rücksichtslosen Rechtsgefühl verbunden ist. Junge Leute und diese Haltung brauchen Geduld, und man muß wenigstens bereit sein, sie verstehen zu wollen. Stefan holt aus und wirft die Bürste weg. Sie klatscht auf den Parka und bleibt liegen. Im nächsten Augenblick spürt der Junge die Hand seiner Schwester im Haar. Friederike greift bis auf die Kopfhaut durch, reibt sie mit den Fingerspitzen hart und zärtlich und drückt Stefans Kopf gegen ihren Leib. Die Geste seiner Schwester überrascht ihn derart, daß er jeden Widerstand vergißt. Sie überrascht ihn, weil er sie in der gleichen Art von der Mutter kennt und es seltsam findet, daß Friederike diese Geste hat wie eine äußerliche Ähnlichkeit. Er fühlt sich in die summende Sanftheit seiner Kinderjahre versetzt, fühlt jenes Geborgensein, das nie im Leben wiederkehrt, und als Friederike zu fragen beginnt, antwortet er ruhig und ohne zu zögern. «Sind auch Mädchen dabei?» Er nickt. «Aber die tauscht ihr nicht?» «Quatsch», sagt er und lacht ein wenig. «Wir machen doch nicht auf Kommune.» «Und wer ist Hanne?» «Hans Krüger aus Barin. Hat vergangenes Jahr ausgelernt. Kühlanlagenmonteur.» «Ist er euer Chef?» «Chef», wiederholt Stefan und schüttelt den Kopf. «So was gibt’s nicht, ehrlich. Wer kommt, der kommt. Zum Klub, oder wo wir uns gerade treffen. Manchmal sind wir auch bei Hanne. Seine Mutter hat nie was dagegen. Über zwanzig waren wir schon bei Krügers. Aber wir dürfen auch hinkommen, hat seine Mutter gesagt, wenn er weg ist. Jeder kommt und geht, wann er will. Das ist alles ohne Zwang und Verpflichtung, ohne Organisiererei. Nur zum Spaß. Wir treffen
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uns, reden, singen, tanzen. Jeder ist gleichberechtigt, egal wie er aussieht und was er ist. Chef, nee, wir sind doch keine Bande oder Clique, ehrlich.» «Weißt du», sagt sie, «das klingt alles ein bißchen religiös.» Er schüttelt den Kopf, antwortet aber nicht gleich, denkt über Friederikes Feststellung nach. Und er spürt, daß er sicherer wird. Er fühlt sich wohl bei diesem Gespräch, weil er ernst genommen wird, weil er etwas, das er für gut hält, nicht verteidigen muß, sondern erklären kann. «Mit der Kirche hat das doch nichts zu tun, Rike. Niemand predigt dem andern was vor. Wie etwas klingt und was mancher denkt, ist egal. Was denken denn die Leute von dir, Rike, und du bist es doch nicht.» Rikes Hand auf seinem Kopf wird leichter, die Bewegung ihrer Fingerspitzen langsamer. Friederike scheint nachzudenken. Stefan bedauert, daß sie nicht weiterfragt. Er möchte mehr sagen und erklären, denn beim Reden fällt ihm allerhand Vernünftiges ein. Er spürt, daß seine Gedanken sich ordnen und seine Empfindungen erklärbar werden. Hier in der Waschküche, den Kopf gegen den Leib seiner Schwester gedrückt, spricht er sich aus wie nie vorher. Und Friederike hört zu, obwohl die feuchte Kühle des Kellers allmählich die Schultern und den Hals erreicht. Das, was Stefan sagt, ist so wichtig für ihn und Friederike, daß sie ihn nicht unterbricht. Der Tausch der Pelzjacke gegen den Parka ist keine Laune gewesen, keine Augenblickshandlung, die man am anderen Tag bereut. Was Friederike für ein unlauteres Geschäft gehalten hat, stellt sich als Uneigennützigkeit heraus, ist Verbundenheit miteinander, wie sie zwischen jungen Leuten häufig anzutreffen ist in einer Zeit und in einem Land, in dem ökonomische, soziale und andere Unterschiede noch objektive Tatsachen sind. «Mich stinkt es einfach an, ehrlich», sagt Stefan, «daß ich wie ein Angeber rumrennen soll. Und wem alles mitgeteilt wird, daß die Jacke über vierhundert Mark gekostet hat! Aber man kann’s sich ja leisten. Im Gegensatz zu anderen, deren Kinder in billigen Anoraks herumlaufen. So ein verdammter Egoismus! Ich muß mir eine Pelz-
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jacke anziehen, bloß damit andere auf sich stolz sein können. Ich geb’ die Jacke weg, und schon ist der ganze Stolz im Arsch, ehrlich! Dieses Ausstellen von Sachen, das so viele Leute betreiben, was hat das noch mit Sozialismus zu tun? Sachenlismus ist das!» «Ich friere», sagt Friederike. «Das ist auch zum Frieren», meint Stefan und steht auf. Friederike hilft ihm beim Wegräumen. Zuletzt klammert Stefan den Parka an eine Leine, die über Eck gespannt ist. Von neuem mustert Friederike die stabilen Zuber und Eimer, die ohne Wasser schon schwerer sind als gleichgroße gefüllte Plastbehälter. Aber die Mutter kann sich nicht von ihnen trennen. Wahrscheinlich hängt das damit zusammen, daß sie als Kind an einem Tragholz die vollen Eimer vom Brunnen zur Küche und zum Waschhaus schleppen mußte, viele Eimer am Tage. Es gibt ein Foto davon, das die Mutter den Kindern manchmal zeigt. Auf dem Bild hat sie Zöpfe. Sie ist barfuß, - trägt eine Art Hemd und eine unterhalb der Knie abgeschnittene Hose. Würde sie keine Zöpfe haben, könnte man sie für einen Jungen halten. Das Foto stammt aus dem Jahr 1948, da gab es im Heimatdorf der Mutter, das in der Wittstockschen Prignitz liegt, noch keine Wasserleitung und kein elektrisches Licht. «Wie sich die Zeiten geändert haben», sagt die Mutter jedesmal, wenn sie das Foto in die Kassette zurücklegt. Sie sagt es mit Stolz, als wäre sie an allen bedeutenden Ereignissen der letzten Jahrzehnte persönlich beteiligt gewesen. Der Parka hängt nahe bei den Zubern, und darunter steht die halbautomatische Waschmaschine. Einträchtig, ohne daß eins das andere ausschließt. Es sind nur die Menschen, die solche Dinge mitunter voneinander trennen. Zu allen Zeiten hat es Menschen gegeben, die meinen, daß jene Veränderungen, die sie selbst mitbewirkt und durchgemacht haben, die wichtigsten und größten gewesen sind, und alle, die noch bevorstehen, immer unscheinbarer werden. Und je heftiger sie diesen Anspruch vertreten, um so ungerechter sind sie… Friederike schaltet das Licht aus, schließt die Waschküche ab, und auf dem Weg vom Kellereingang zur Haustreppe sagt sie leise: «Morgen entschuldigst du dich bei Mutter, hörst du?»
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«Klar doch.» «Und sprich mit ihr über den Tausch. Erklär ihn, so gut du kannst.» Stefan seufzt und fragt: «Meinst du, das hat Sinn?» «Du mußt es versuchen.» «Ich dachte, vielleicht, daß du…» «Denkste», antwortet Friederike. «Ich hab’ ja nichts eingetauscht.»
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4. Kapitel Wenige Minuten vor zehn beendet Generalmajor Werner die Rekognoszierung. Er hockt neben Schanz an der bewachsenen Wand eines mannstiefen abgestuften Dränagegrabens und blickt seinen Stellvertretern und den Kommandeuren der Truppenteile nach, die auf der schmalen Grabensohle im knöcheltiefen Wasser davongehen. Nach etwa sechzig Metern stoßen sie auf einen Quergraben, der an einem vier Meter breiten Damm entlangführt. Oben ist der Damm mit Ziegelsplitt und Schlacke befestigt und erreicht im Osten nach ein paar hundert Metern ein Pappelwäldchen. Dort erst werden die Offiziere den Graben verlassen und, von den Bäumen gedeckt, zu ihren Fahrzeugen gehen, die am Waldrand stehen. Ein Offizier nach dem anderen verschwindet um die Grabenecke. Sie haben diesen Weg von selbst eingeschlagen. Hempel, Kulonska und Werners Schwager gehen gebückt. Keiner von ihnen erlaubt sich irgendwelche Erleichterungen. Gefechtsnähe ist keine Losung, sondern eine Bedingung, eine Forderung, die nicht nur bei den Soldaten durchgesetzt wird. Werner fordert sie zuerst von sich selber und von allen anderen ohne Rücksicht auf Dienstgrad und Alter. Jeder hält sich daran, und jeder hält es für richtig. Noch vor drei Jahren gab es andere Gewohnheiten, und Werner mußte, nachdem er die Division als Kommandeur übernommen hatte, ein paarmal hart durchgreifen. Damals zum Beispiel fuhr der Kommandeur des Artillerieregiments mit seinem Wagen bis an eine flache Mulde heran, von der aus sie das Gelände und die Lage des Gegners aufklärten. In aller Ruhe stieg Oberstleutnant Hauschild aus, gab seinem Fahrer irgendwelche Anweisungen und betrat dann aufrecht die sandige Kuhle, in der Werner und die bereits eingetroffenen Offiziere lagen. Das schien den Oberstleutnant zu belustigen. Mit freundlicher Geste grüßte er und wies dann weitausholend ins Gelände. «Sehn Sie dort im Waldesgrün feindliches Gewehrmaschin, und hundert Meter weiter liegt feindli104
ches Gefreiter!» Jemand lachte. Werner drehte sich im Liegen so weit herum, daß er Hauschild ansehen konnte, und befahl: «Fahren Sie zurück und schicken Sie mir Ihren ersten Stellvertreter her! Der übernimmt ab sofort das Kommando über das Regiment. Sie beurlaube ich vom weiteren Verlauf der Übung. Fahren Sie zur Kaserne zurück!» Auf dem Gesicht des Oberstleutnants machte sich ein Lächeln breit, doch seine Augen blickten unsicher von einem zum anderen, suchten eine Erklärung und fanden sie schließlich im ernsthaften Schweigen derer, die vor ihm im Sand lagen. Das Lächeln verschwand ohne Übergang aus dem Gesicht des Oberstleutnants, das für ein paar Augenblicke hilflos wirkte. Und genauso lange fühlte sich Werner versucht, seine Entscheidung zurückzunehmen. Aber er gab seinem Gefühl nicht nach. Dieser Befehl würde schon in den nächsten Stunden in der gesamten Division verbreitet sein, und kein Offizier würde sich noch einmal leichtfertig und selbstsicher über notwendige militärische Erfordernisse hinwegsetzen. Seine Entscheidung hatte keine persönlichen Gründe. Oberstleutnant Hauschild war ein ausgezeichneter Artillerist und ein guter Kommandeur. Es hätte an jenem Tag auch einen anderen treffen können. Werner ersparte sich damals durch einen einzigen Befehl wochenlange Gespräche, Erklärungen und Diskussionen. Entscheidungen überzeugen meistens rascher und räumen gründlicher mit schlechten Gewohnheiten auf. Schanz richtet sich bis an den Grabenrand auf und legt seine Mütze neben sich ins Gras. Hinter ihnen liegt der Übungsplatz. Das Gelände steigt über ein paar hundert Meter hin wellenförmig zu einem langen Hügelkamm an, der bis auf Heidekrautflechten und filziges Büschelgras, das während des ganzen Jahres nicht richtig grünt, kahl ist. Schanz spürt an den Händen staubigen Sand, in dem die beiden Offiziere noch vor wenigen Minuten gelegen haben. Er bückt sich bis auf die Grabensohle hinunter, stellt sich breitbeinig über das Wasser, das wieder klar und ruhig fließt, und wäscht sich die Hände. Vorn biegt als letzter Bredow um die Grabenecke. Schanz trocknet sich an seinem nicht mehr ganz sauberen Taschentuch die Hände ab,
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und während er sich wieder neben den Generalmajor setzt, sagt er: «Ich glaub’ nicht, daß Bredow Divisionskommandeur werden kann.» «Darüber entscheiden nicht wir.» «Er kann nur dort eingesetzt werden», fährt Schanz fort, «wo er mit Menschen nichts zu tun hat.» Werner schließt die Augen und richtet das Gesicht der milchigen Sonne zu, die neben dem Pappelwäldchen steht. «Er hat die Generalstabsakademie mit Auszeichnung abgeschlossen. Man wird ihn nicht auf irgendeinen Posten abschieben.» «Truppenführung ist Menschenführung», sagt Schanz. «Und ein Kommandeur, der nichts von den Soldaten hält, die er führen soll, der den Soldaten nichts zutraut, kann das Militärwesen mit Löffeln gefressen haben und wird doch nichts erreichen.» Werner schweigt. Nicht, weil er keine Antwort weiß, sondern weil er mit Schanz schon einige Male über Bredow gesprochen hat. Jedes dieser Gespräche begann Schanz, und immer war er kurz zuvor mit Bredow aneinandergeraten. Die beiden Offiziere haben so wenig gemein wie die ewig staubgraue Erde des Übungsplatzes und das auf der anderen Grabenseite beginnende Feld, dessen Halme steif und in saftigem Grün stehen. Schanz spricht weiter, leise und ruhig, trotzdem ist in seiner Stimme ein wenig Ärger, der immer erst am Ende jedes Satzes zu hören ist. Der Oberst betont und artikuliert das vorletzte Wort besonders. «Heinrich Bredow versteht die Soldaten nicht. Junge Leute wahrscheinlich überhaupt nicht. Sie sind ihm fremd geworden, manchmal sogar gleichgültig. Er gehört zu denen, die dauernd von der sozialistischen Soldatenpersönlichkeit reden. Die sich aus Vorschriften, Losungen und Leitsätzen ein Idol aufgebaut haben, das sie bei jeder Gelegenheit den Soldaten aus Fleisch und Blut gegenüberstellen. Und sie sind maßlos enttäuscht, wenn die jungen Leute sich nicht nach ihrem homunculus militaris richten. Bredow kann niemals Kommandeur werden.» «Nach der Übung wird entschieden», erwidert Werner, «und du weißt, daß man uns fragen wird.» Der Oberst schweigt. Vom Pappelwäldchen her kommt Motorenge-
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räusch. Die ersten Wagen fahren davon. Der Weg ist noch feucht, und die Räder schleudern keinen Staub auf. Die gedrungenen Geländewagen stoßen ihre Schnauzen, über jeder Unebenheit wippend, nach vorn, als müßten sie Hindernisse umwerfen, die sie von rascherer Bewegung abhalten. Die Kommandeure fahren zu ihren Regimentern, an die Arbeitstische mit den Lagekarten, um dort ihre Entschlüsse zu fassen. «Weißt du», sagt Werner und sieht Schanz nachdenklich an, der auf einem Grashalm herumkaut, «wenn die Kommandeure vor mir stehen, Befehle entgegennehmen oder ihre Entschlüsse vortragen, der eine ruhig und sicher, der andere hastig, der nächste mit einem Zittern in der Stimme, dann frag’ ich mich manchmal, wie sie sich wohl in einem abgedeckten Erdbunker verhalten würden. Draußen detonieren Granaten, bei den Funkern treffen Verlustmeldungen ein, irgendwo sind Panzer durchgebrochen, und eine eben fertig gewordene Pontonbrücke ist zerbombt worden.» «Warum willst du das wissen?» fragt Schanz, der solche Überlegungen für nutzlos hält. «Weil ich einkalkulieren möchte, wie die Kommandeure empfinden und entscheiden, wenn sie wissen, es geht um Leben oder Tod ihrer Regimenter, der Division, des ganzen Landes.» «Darauf findest du jetzt doch keine Antwort. Im Krieg liegen Heldentum und Feigheit, Versagen und Bewährung oft ganz eng beieinander.» «Das klingt, als hättest du schon ein paar Kriege mitgemacht.» Schanz lächelt ein wenig und entgegnet: «Ich habe genausooft darüber nachgedacht wie du. Aber ich hab’s aufgegeben. Eine Antwort gibt es nur im Krieg selber, und den wollen wir nicht. Weißt du, jemand, der dir heute einen Entschluß vorträgt, der allen Regeln der Kriegskunst entspricht, kann bei einem wirklichen Gefecht so hilflos sein, daß du ihn ablösen lassen oder vor ein Gericht stellen mußt. Und einer, der vor lauter Unsicherheit stottert, ist vielleicht im Krieg einer der Ruhigsten, der geschickt und verbissen den Gegner schlägt.» Werner schweigt eine Weile und fragt dann: «Und was für einer
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wärst du?» «Von der zweiten Sorte», antwortet der Oberst sofort, und Werner glaubt ihm. Sie kennen sich seit vielen Jahren, und sie vertrauen einander bedingungslos. Noch immer bedauert der Generalmajor, daß Schanz nicht bei ihm bleiben konnte, sondern zum Kommando versetzt wurde, wo er eine Reihe Verbündete hat, die genau wie er meinen, daß die schriftliche und mündliche Agitation, die politische Erziehungsarbeit lebendiger werden müssen, daß man ganz nahe an die Soldaten heran muß, an ihre Empfindungen und Gedanken, daß man vom Grad ihrer Überzeugung und Bereitschaft ausgehen muß, wenn man sie erreichen und nachdenklich machen und ihre Haltungen und Einstellungen verändern will. Werner weiß, daß vieles in der politischen Arbeit zu theoretisch abläuft, nicht sinnfällig genug. Und wenn sich einer damit nicht abfindet, dann ist es Schanz. Auf niemanden nimmt er Rücksicht, am wenigsten auf sich selber. Die Freundschaft zwischen Werner und Schanz beruht nicht auf besonderen Ereignissen oder außergewöhnlichen Erlebnissen. Sie hat sich in der täglichen Arbeit entwickelt und beiden das sichere Gefühl gegeben, sich auf den anderen verlassen zu können. Trotzdem sind sie sich längst nicht immer einig. Worüber Schanz nicht mehr nachdenkt, das beschäftigt Werner weiter. Immer wieder versucht er sich vorzustellen, wie sich seine Offiziere im wirklichen Gefecht verhalten würden. Und er klammert sich selbst nie aus dieser Befragung aus. Er hat in seinem Leben Krieg und bewaffnete Auseinandersetzungen kennengelernt. Konrad Werner wurde 1933 in einer mittelgroßen Industriestadt geboren, die zu jenem Teil Schlesiens gehörte, in dem es von 1919 bis 1921 erbitterte Kämpfe zwischen Polen und Deutschen gegeben hatte. Ein Grenzgebiet wie viele andere in der Welt, um das Jahrhunderte lang immer wieder Streit und Auseinandersetzungen entbrannten. Dort erlebte Werner auch das Ende des zweiten Weltkriegs, und von dort siedelte er mit seiner Mutter und drei Schwestern 1947 in die Nähe von Leipzig über, wo ein Bruder der Mutter zu Hause war. Werners Großvater nahm an allen drei Aufständen der polnischen Bevölkerung von 1919 bis 1921 teil und fiel beim letzten, den der
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Vater als Geschützführer mitmachte. Werners Mutter besaß einige Fotos, die ihr Sohn im Mai 1971 dem Aufstandsmuseum des Städtchens Lesnica übergab. Er war auch dabei, als beim Denkmal am St. Annaberge Teilnehmern der Aufstände hohe militärische Orden verliehen und sie zu Offizieren ernannt wurden. Unter den Ausgezeichneten befanden sich einige, die Werners Vater und Großvater gekannt und die mit ihnen gemeinsam gekämpft hatten. Am Abend jenes 5. Mai feierte Werner mit ihnen, trank und sang, und einer der ältesten behauptete in vorgerückter Stunde, er habe ihn schon als Kind gekannt und Werners Vater prophezeit, daß sein Sohn einmal Offizier werden würde. Werner erinnert sich gern an die Maitage des Jahres 1971. Obwohl er keinen der Männer persönlich kannte, waren sie ihm vertraut gewesen. Er fühlte sich bei ihnen wohl, weil er ihre Sprache versteht und noch immer spricht. Und weil dort auch die Alten noch mit Hingabe singen und tanzen, weil sie an allem, was sie unternehmen, mit ganzer Seele beteiligt sind. Seine Mutter lebte 1971 nicht mehr, sonst hätte er sie mitgenommen und durch ihre Anwesenheit jene Tage gewiß noch tiefer erlebt. Er war von den alten Kämpfern wie ihresgleichen aufgenommen worden. Ihm gegenüber war nicht in einer einzigen Geste, in keinem Wort oder Blick jene prüfende Distanz zu spüren gewesen, die man sonst häufig Menschen entgegenbringt, die unerwartet zu Besuch kommen. Sie behandelten ihn, wie man den Sohn eines geachteten Genossen behandelt, und Werner kann sich an keine andere Zeit in seinem Leben erinnern, wo er so oft «Sohn» oder «Söhnchen» genannt worden ist. Einer von ihnen, der einen Bart trug und ein breites, bäurisches Gesicht hatte mit einer Narbe an der rechten Schläfe, sagte beim Abschied: «Sei mein Sohn und nenne mich Vater!» Als Werner abfuhr, waren sie heiter und ruhig gewesen. Er ging wieder zur Arbeit und übernahm seine Aufgaben, deren Lösung auch in ihrem Interesse liegt. Am 17. Juni 1953 kommandierte Werner in Halle eine Einheit der Volkspolizei. Neben ihm stand ein sowjetischer Hauptmann, und hinter ihm schwenkten die Rohre einer Kompanie T-34 der Sowjet-
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armee. Im August 1961 zog Werner an der Spitze eines Artillerieregiments der NVA für sechs Wochen aus der Gegend von Pasewalk nach Berlin-Johannisthal in die unmittelbare Nachbarschaft eines sowjetischen Panzerregiments. Und 1968 stand er an einem nebligen Novembermorgen mit Generalmajor Siegmann, dessen erster Stellvertreter er war, in der Nähe der Grenze zur CSSR. Bei ihnen war der erste Sekretär der Bezirksleitung Dresden der SED und der Vorsitzende des Rates des Bezirkes. Sie empfingen die ersten sowjetischen Truppenverbände, die aus der CSSR wieder abgezogen wurden. Der Kommandeur eines sowjetischen Panzerverbands, der den Boden der DDR als erster erreichte, umarmte und küßte sie wortlos. Der erste Sekretär fragte den untersetzten, grauhaarigen Generalmajor, wohin die Division fahre, und erhielt zur Antwort: «Nach Hause.» «Und wo ist das? In Brest oder Minsk?» Da lachte der Generalmajor und erwiderte: «Zu Hause, das ist Potsdam!» Auf der Generalstabsakademie hat sich Werner mit Schlachten und Kriegen beschäftigt, hat ihren Verlauf studiert und sich besonders mit dem zweiten Weltkrieg befaßt. Dabei ist er bei vielen sowjetischen Heerführern in die Schule gegangen. Und doch fragt er sich immer wieder, ob ihn all das gegen jede Überraschung feit, ihn zu jedem Zeitpunkt vor falschen Entscheidungen und Irrtümern bewahrt. Um persönlichen Mut, um Tapferkeit oder um das Überwinden der Todesangst geht es Werner bei solchen Überlegungen nicht, sondern einzig darum, daß er Tausende von Männern zum Sieg führen muß und dies mit den geringsten Verlusten. Schanz spuckt den Grashalm ins Wasser, wo er allmählich davonschwimmt. «Wittenbeck, kennst du einen, der so heißt?» fragt er. «Artillerieregiment», antwortet Werner, «Kommandeur zweite Abteilung.» «Und?» Schanz blickt, während Werner spricht, nach links hinüber, wo sich an einer Kiefernschonung die Ausläufer eines Dorfes hinziehen. Scheunen, Schuppen, ein paar Gärten…
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«Ich will ihn zum Stab holen und für Oberstleutnant Keuner als Stabschef bei den Artilleristen einsetzen», erklärt Werner. «Aber dieser Wittenbeck ist stur wie eine Haubitze. Genauso stur wie Keuner, der seine fünfundzwanzig Dienstjahre im Juli hinter sich hat und nach Hause geht, unwiderruflich. Und Wittenbeck lehnt die Arbeit im Stab ab.» «Hört, hört», sagt Schanz. «Was willst du von ihm?» fragt der Generalmajor und blickt Schanz ins rundliche, von der frischen Morgenluft gerötete Gesicht. Der Oberst zieht aus seiner rechten Brusttasche das halbe Foto und hält es Werner hin. «Das soll ich ihm geben.» Katrin und Friederike sehen sich überhaupt nicht ähnlich. Trotzdem erinnert das durchgerissene Foto den Divisionskommandeur an seine Tochter. Auch Katrins Gesicht hat zwischen dem sechzehnten und siebzehnten Lebensjahr noch mädchenhafte und doch schon frauliche Züge besessen. Ohne die halbe Fotografie aus den Augen zu lassen, sagt Werner: «Der Mann ist zu beneiden.» «Er ist verheiratet», entgegnet Schanz und steckt das Foto wieder ein. Der General erhebt sich und hält Schanz die Hand hin, damit der Oberst sich hochziehen kann. Vom Wäldchen her, das sie während ihres Gesprächs nicht mehr beobachtet haben, biegen ein paar Offiziere um die Grabenecke. An der Spitze geht ein langaufgeschossener Major, dessen Uniform zahlreiche Schmutzflecken aufweist. Seine Stiefel sind bis zu den Schäften hinauf verdreckt. Unmittelbar hinter ihm geht Bredow, mit kurzen, eiligen Schritten ist er dem anderen immer dicht auf den Fersen. Es sieht aus, als treibe er ihn an oder versuche, ihn zu überholen. Der Offizier an der Spitze ist Major Hirschberg, einer der Aufklärer des Stabes. Auch sein Gesicht ist dreckverschmiert. Plötzlich stolpert er und versucht, sich durch ein paar kurze Schritte abzufangen. Dabei bleibt er an irgendeinem Hindernis auf der Grabensohle hängen und kippt langsam gegen die linke Grabenwand. Durch keine Bewegung versucht er, den Sturz zu verhindern. Er läßt sich einfach fallen. Alles geht fast lautlos vor sich, nur das Wasser gurgelt ein wenig unter
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den Stiefeln. Es sieht aus, als sei der Major von einem Augenblick zum anderen so tief eingeschlafen, daß nichts ihn wieder auf die Beine bringen kann. Doch Bredow schafft es. Er greift mit der rechten Hand ins Koppel des Offiziers, mit der linken an dessen Oberarm und richtet den Major wieder auf. Nach ein paar Schritten steht Hirschberg vor dem Divisionskommandeur. Bredow befiehlt: «Sprechen Sie!» Der Major strafft sich. Sein Gesicht ist vor Müdigkeit grau. Ein Frösteln nach dem anderen zuckt über die Haut. Hinter Bredow steht der Kommandeur des Pionierbataillons und am Schluß der kleinen Gruppe der Chef des Pionierdienstes der Division, ein breitschultriger, großer Oberstleutnant mit strichdünnen Lippen. Hirschberg spricht langsam, von Pausen unterbrochen, in denen er ein wenig den Kopf zur Seite neigt, als lausche er seinen Worten nach. Der Aufklärer kommt vom Fluß, wo er sich die ganze Nacht über aufgehalten hat. Er hat eine mögliche Übersetzstelle gesucht und alle Abschnitte geprüft. In jenem Raum, wo nach der Ausgangslage für den Angriff der Fluß forciert und ein Brückenkopf gebildet werden soll, gibt es dafür keine Möglichkeit. Während der letzten vierundzwanzig Stunden ist der Wasserstand um sechzig bis achtzig Zentimeter gestiegen. Wiesen und Koppeln sind überschwemmt, und der Boden ist so weich, daß die schweren Pionierfahrzeuge das Ufer gar nicht erreichen würden. Auch die Strömung hat stark zugenommen, so daß nicht einmal an eine Pontonbrücke zu denken ist. Der Kommandeur des Pionierbataillons bestätigt Hirschbergs Worte, indem er fast nach jedem Satz nickt. Generalmajor Werner ahnt, was der Aufklärer vorschlagen wird. Trotzdem fragt er: «Und?» Aber nicht der Major antwortet, sondern Bredow. Seine Stimme klingt ärgerlich, er ist ungeduldig. «Im Namen einiger Kommandeure will er Sie bitten, den Fluß nicht zu forcieren, sondern die Division über eine Brücke ans andere Ufer zu bringen. Ich lehne diesen Vorschlag grundsätzlich ab. Solche Erleichterungen führen zu nichts. Der Krieg findet bei Regen noch lange nicht im Saal statt. Ich bin…» Der Divisionskommandeur hebt die Hand und unterbricht Bredow, der die Aktion am Fluß sicherlich auch deswegen verteidigt, weil er
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mit ihrer Planung, Organisation und Führung beauftragt ist. Werner wendet sich wieder an Hirschberg. «Sie befürchten Komplikationen, Unfälle?» «Ich möchte…», erklärte der Major schwerfällig, «es könnte passieren, daß… wie im vergangenen Jahr, als der Soldat Dittmann aus dem gekenterten SPW gerettet werden mußte…» Werner winkt ab, spitzt die Lippen und blickt einen Offizier nach dem anderen an. Sie schweigen und warten. Er könnte sie fragen, könnte ihre Meinung und ihren Rat hören. Aber entscheiden muß er. Er kann weder abstimmen lassen und sich nach der Mehrheit richten, noch kann er eine Versammlung einberufen. Entscheiden muß er, das nimmt ihm keiner ab. Werner weiß, daß Hirschberg nicht vor Schwierigkeiten zurückweicht, daß er diesen Vorschlag aus Sorge um die Soldaten gemacht hat, aus Verantwortungsgefühl. Doch ebensowenig kann Werner seinem ersten Stellvertreter Verantwortungslosigkeit vorwerfen, wie immer Bredow seine Ablehnung auch formuliert hat. Es gibt Situationen, da muß zwischen zwei Vorschlägen entschieden werden, die beide im gleichen Maß berechtigt sind. Aber wie der Divisionskommandeur auch entscheidet, in beiden Fällen kann es Folgen geben, die weit über den Augenblick und die Division hinausgehen. Werner weiß auch, daß die Offiziere widerspruchslos gehorchen würden, wenn er jetzt befiehlt: «Der Fluß wird am festgesetzten Abschnitt forciert!» Aber ihm ist es lieber, wenn sein Befehl und die innere Überzeugung der Offiziere, ihre Sicherheit, die Aufgabe am Fluß trotz äußerst schwieriger Bedingungen erfüllen zu können, völlig übereinstimmen. Diese Übereinstimmung gibt es im Augenblick nicht. Die Argumente des schmutzigen, völlig übermüdeten und augenscheinlich ratlosen Majors sind stärker. Mit Hirschberg wird Werner noch reden, sobald der wieder trocken und ausgeschlafen ist. Der Aufklärer hat gegen eine wichtige Regel verstoßen, gegen eine der ungeschriebenen, die oft genauer befolgt werden als jene, die in Vorschriften und Ordnungen festgelegt sind. Hirschberg hat andere eher als den Kommandeur über die Lage informiert. Aber es kann sein, daß Bredow ihn dazu aufgefordert hat.
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Werner blickt Schanz an und fragt ihn nach seiner Meinung. «Ich war noch nicht am Fluß», erklärt der Oberst, «und kann und will also nicht bestreiten, was uns Genosse Hirschberg eben mitgeteilt hat. Er war ja die ganze Nacht dort. Nur, denke ich, am Tage sieht manches ganz anders aus. Wenn der Fluß in vierundzwanzig Stunden um sechzig Zentimeter zugenommen hat, kann er bis übermorgen genausoviel und mehr wieder abnehmen…» «Oder noch mehr steigen!» wirft der Kommandeur der Pioniere ein. «Das ist festzustellen», meint Schanz ruhig. «Außerdem, Kommandeur, Sie müssen uns doch sagen können, wie gut Ihre Truppen ausgebildet sind. Ob sie mit der Situation fertig werden oder nicht. Sonst können wir im Grunde genommen die ganze Übung abbrechen und heimfahren. Ich denke wie Oberst Bredow.» Werner blickt auf die Uhr, dann ordnet er an, daß er mit den Offizieren, die jetzt bei ihm sind, um fünfzehn Uhr vom Gefechtsstand zum Fluß aufbrechen wird. Nicht, um dort an Ort und Stelle erst die Entscheidung zu treffen, sondern um festzulegen, wo und wie der Fluß überwunden werden muß. «Beim Forcieren bleibt es, Genossen», sagt Werner. «Gehen Sie jetzt!» Die Offiziere entfernen sich. Schanz und Werner klettern aus dem Graben. Am Rand des Übungsplatzes entlang gehen sie dem Weg entgegen. Schanz bemerkt dabei: «Nun hast du schon eine Antwort.» Werner blickt ihn fragend an. «Du wolltest doch immer wissen, wie sich die Offiziere in einem wirklichen Gefecht verhalten. Bei einigen weißt du’s jetzt. Wenn das Wasser steigt, bleiben sie und warten ab, weil es Brücken im Krieg kaum noch geben wird.» Werner schweigt und blickt den Offizieren nach, die den Weg schon erreicht haben. Nur unmittelbar am Graben wächst frisches Gras. Zwei Fuß daneben beginnt die braungraue, zerschundene und ewig trockene Landschaft, die merkwürdig leblos wirkt. Da liegt etwas im Sterben und gibt sein letztes bißchen Kraft her: Das Wasser auf der Sohle des Grabens für die Felder, die auf der anderen Seite beginnen.
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Fichtner sitzt, den Rücken gegen einen Stamm gelehnt, abseits von den anderen am Rand des Mischwaldes, den sie vor etwa einer Stunde erreicht haben. Ihm kommt es vor, als seien sie, seit sie gestern nachmittag den ersten Konzentrierungsraum verlassen haben, immerzu im Kreis gefahren. Kiefernschonung folgte auf Kiefernschonung, Hochwälder, in denen selten ein Laubbaum stand, lösten einander ab. Die Wege, auf denen sie fuhren, glichen einander aufs Haar genau wie die Dörfer, die sie passierten. Stumme, rotwandige Häuser, selten brannte in einem von ihnen Licht. Sie wirkten wie die leblosen Häuserfassaden auf Übungsplätzen. Keins hatte die Freundlichkeit der thüringischen Dörfer, in denen Fichtner zu Hause ist. Er hat auf der Fahrt nicht einen einzigen Menschen gesehen. Nur hin und wieder hörte er Hundegebell. Schließlich hat Fichtner versucht, die stoische Ruhe der anderen nachzuahmen, alles zu tun, was von ihnen verlangt wurde. Absitzen und kilometerweit hinter dem SPW über eine sandige Fläche laufen. Schutzmaske und Schutzbekleidung anlegen, einen Wald durchkämmen, Schützenmulden ausheben und im Morgengrauen darin herumliegen und auf irgend etwas warten. Weiterfahren, von neuem laufen und danach gegen zehn Uhr am Vormittag die erste und zweite Schulübung mit der MPi schießen. Die Kompanie hatte erstaunlich gute Ergebnisse, doch Fichtner verstand nicht, daß jene, die in tierischem Gleichmut neben ihm im SPW gehockt hatten, mit ihm marschiert waren und die Erde umgegraben hatten, sich über dieses Schießergebnis freuten wie über eine hart erarbeitete Leistung. An Sommerabenden, wenn sich die Herde im Pferch, von einem uralten Instinkt beherrscht, zusammendrängt und die Hunde mit hechelnden Zungen unter der Pferchbude liegen, sitzt Fichtner am Wagenrad und spürt im Rücken die harten, rissigen Speichen. In solchen Stunden denkt er nicht, er lauscht und nimmt den staubwarmen, milchigen Geruch der Tierleiber wahr, die Geräusche aus dem nahen Dorf und das Zirpen der Grillen. Das sind Augenblicke, in denen er nichts vermißt. Ihm fehlt fast nichts, wenn er bei der Herde ist, aber ohne sie fehlt ihm alles. Die anderen können sich noch soviel Mühe
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geben, sie erreichen ihn nicht. Litosch mit seinem lauten Spott, Eisner, der ihm mit seiner wortlosen Hilfe noch am liebsten ist, und Ahnert mit seiner beunruhigenden Aufmerksamkeit, die ihm immer wie eine Drohung vorkommt. Die Begegnung mit Friederike, das Zusammensein mit ihr haben so viele Hoffnungen und Sehnsüchte, so tiefe sinnliche und körperliche Unruhe in ihm aufgerissen, daß er nicht weiß, ob er je wieder seine frühere Ruhe finden wird. Er möchte es wissen. Versuchen müßte er es. Fichtner schaut sich um. Sogar Leutnant Ahnert ist von seinem Beobachtungspunkt auf dem SPW herabgestiegen und liegt auf der Erde. Ein Posten ist nirgends zu sehen. Im Augenblick scheint Fichtner der einzige zu sein, der nicht schläft. Über den SPWs liegt das Schattengewirr der Äste wie ein riesiges Tarnnetz, das flimmernde Dämmerung schafft. Fichtner könnte sich ungesehen entfernen, in der Schonung hinter der Schneise verschwinden und schon zwanzig Minuten später jenen baumlosen Hügel erreichen, der sich im Süden aus dem Waldmassiv aufbuckelt und an dem sie vor dem Mittagessen vorbeigefahren sind. Nach wenigen Schritten schon schlagen die mannshohen Kiefern hinter Fichtner zusammen. Die Nadeln streifen die Uniform, und die zurückschnellenden Äste, die seinen Rücken treffen, empfindet er wie sanfte Stöße, die ihn vorwärtstreiben wollen. Seit seiner Einberufung hat Fichtner außer zum Ausgang, zu Märschen und zum Schießen die Kaserne nicht verlassen. Zum erstenmal blieb sie weit hinter ihm zurück, als die Übung begann. Und heute bietet sich ihm vielleicht die einmalige Gelegenheit, all dem wenigstens für Minuten ganz nahe zu sein, was er im November aufgeben mußte. Ulrich Fichtner beginnt zu laufen. Er hebt die Arme vors Gesicht, drängt sich durch die geschmeidigen Äste, als hinge die Möglichkeit zur ungestörten, einsamen Erinnerung von einem bestimmten Zeitpunkt ab. Er riecht die erdige Feuchtigkeit des weichen Bodens, die harzige Wärme der Stämme, die sich unter der Sonne zu öffnen scheinen. An den Händen spürt er den klebrigen Saft, der an den jungen Nadeln haftet. Ulrich Fichtner denkt nicht, er spürt, riecht, sieht und lauscht. Er fühlt, daß er dem Hügel näher kommt, auf dem er sich ganz oben hinlegen wird, die Arme zur Seite gestreckt, die Au-
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gen geöffnet und seit Monaten zum erstenmal wieder ganz mit sich allein. Für Minuten wird ein märzheller Himmel über ihm sein und um ihn nur Wald, eine summende Weite in Grün und Braun. Alle SPWs und Panzer, die Geschütze und Fahrzeuge der gesamten Division werden auf dem Grund dieser Weite unsichtbar sein. Fichtner rennt aus der Enge heraus, die ihn seit Monaten fesselt, in die er zurückkehren muß. Dort oben kann er etwas wiederfinden, das er sein Leben lang brauchen wird. Allmählich wird Fichtner ruhiger, geht langsamer und denkt an seine Herde. Er sieht sie in breitem Pulk den Hang eines Hügels hinaufgrasen. Die prallen Euter und die roten, steif abstehenden Zitzen sind bei den Muttertieren mitunter so groß, daß sie die Schafe beim Gehen hindern. Die dunkelbraunen, scheuen Augen der Tiere haben für Fichtner immer etwas Kindliches, Rührendes. Sogar beim Fressen sind die Schafe vorsichtig und ängstlich, als müßten sie ständig vor irgend etwas auf der Flucht sein. Und immer umdrängen sie den Menschen, folgen ihm und fühlen sich am sichersten in der Nähe dessen, der sie schließlich töten wird. Jedesmal wenn Fichtner an seine Herde denkt, träumt er, daß Friederike neben ihm geht. Er sieht sie am Abend in der Pferchbude sitzen und zuhören, wie er Mundharmonika spielt, und nachts liegt sie an seiner Seite. Friederikes Leib roch in jener Nacht, wie trockene Erde im Sommer riecht, sobald die Sonne untergegangen ist und Fichtner das Gefühl hat, daß die Wiesen und Äcker zu atmen beginnen. Friederike ist ihm vertraut geworden, wie ihm sein Dorf vertraut ist und die Landschaft, in der er lebt. Der letzte Rest Scheu fiel von ihm ab. Die Geborgenheit, die ihn zu Hause und bei der Herde umgibt, fand er, seitdem er die Uniform trägt, nur ein einziges Mal. Bei Friederike in ihrer freundlichen und geduldigen Hingabe. Während er sich jetzt daran erinnert, wird das letzte Zusammentreffen mit Friederike immer bedeutungsloser und verliert allmählich alles Endgültige. Immer wieder denkt er an jene Nacht. Nichts hat er vergessen, die Gespräche nicht, nicht Friederikes Bewegungen und ihre festen Brüste, auf denen dunkle Warzen wie krumpelige Maul-
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wurfshügel stehen. An das groschengroße Muttermal erinnert er sich und an ihr dichtes, starkes Haar, das die Farbe des kurzhalmigen, braungelben Weizens hat. Und ihre Augen sind blau wie die Blüten der Wegwarte, jener einfachen Pflanze, die an Straßenrändern wächst, an Ackerrainen und sogar zwischen Pflastersteinen. Die leuchtend blauen Blüten sitzen stiellos an den harten Stengeln wie runde Schmetterlinge. Blüten, die ihre Farbe auch unterm Staub nicht verlieren. Über diese Erinnerungen wird Friederike mehr und mehr ein Teil seiner selbst, und die Enge der Kaserne erscheint ihm erträglicher. Er fühlt immer sicherer, daß er mit Friederike nach der Übung wieder zusammensein wird. Fichtner erreicht den Rand der Schonung, überspringt einen Graben, in dem Wasser steht, und betritt eine breite, zerspurte Schneise hinter der ein paar hohe Kiefern wachsen und einige Birken. Eine der hellen, knospenden Birken sieht der ähnlich, vor der Friederike im Regen gestanden hat. Und gleich hinter den Birken beginnt der Hang, der, von Straußgräsern, Heidekraut und Schafschwingel bewachsen, allmählich ansteigt. Zur rundlichen Kuppe des Hügels blickend, überquert Ulrich Fichtner die Schneise. In wenigen Minuten wird er am Ziel sein. «Stehenbleiben!» Fichtner reagiert sofort… Die Festnahme des Schäfers durch eine Streife des Kommandantendienstes läuft als Meldung über die Instanzen nach oben und unten. Während sie im Divisionsstab eine Meldung von vielen ist, die zwischen weit wichtigeren kaum beachtet wird, gewinnt sie um so mehr Gewicht, je näher sie dem Zug des Leutnants Ahnert kommt. Der Leutnant befindet sich bei seinem Kompaniechef. Er ist allein mit «Tschapajew». Aufmerksam mustert der Major das Gesicht seines jüngsten Zugführers, der auf seine von Erde, Eisen und Öl rissig gewordenen Hände blickt. Um die Nase sieht Ahnert blaß aus, und in den sonst so ruhigen, manchmal fast gleichgültigen Augen des Leutnants sitzt immer noch der Schreck. Diese Regung verrät dem Kompaniechef, daß Ahnerts Distanz
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nichts mit Gleichgültigkeit zu tun hat. Ruhig und ohne Vorwurf spricht er weiter. «Wie Fichtners Ausflug während einer solchen Übung gewertet wird, brauch’ ich Ihnen nicht zu erklären.» Ahnert hört alles, aber er reagiert nicht, weil er bereits weiterdenkt und sich die Folgen schon auszurechnen beginnt. Hinter Fichtners Namen wird von heute an immer die Erklärung stehen: «Na, der Schäfer vom zweiten Zug der dritten Kompanie, der während der Übung abhauen wollte.» Auch Ahnerts Name hat einen Flecken bekommen, ohne daß der Leutnant persönlich etwas dafür kann. Man braucht als Offizier nur das Pech zu haben, daß zur Einheit ein Mann wie Fichtner gehört, und schon ist man gezeichnet. Nach jedem Vorfall, nach jedem Vorkommnis, das sich ein solcher Soldat leistet, kriegt man automatisch eins übergebraten. Da funktionieren die Vorgesetzten aller Stufen wie ein mathematisches Zählwerk. Heute hat es Ahnert erwischt, und darüber tröstet ihn auch nicht der Gedanke hinweg, daß vor ihm vielleicht schon Puhlmeyer und vor dem Kompaniechef schon der Bataillonskommandeur oder sogar Oberst Leichsenring angezählt worden sind. Auch daß Ahnert nicht das letzte Glied dieser Reihe ist, hilft ihm nicht weiter. Unter Ahnert ist nur noch der Gefreite Eisner, der für Fichtners Ausreißversuch ebensowenig kann wie der Leutnant. Dann kommt schon der, der alles verursacht hat und dem es offenbar völlig gleichgültig ist, wie die Sache ausgeht. Der zieht nach achtzehn Monaten die Uniform aus, und in den meisten Fällen interessiert sich dort, wohin er zurückgeht, niemand dafür, wie er als Soldat gewesen ist. Das, was einer hinter den Kasernenmauern geleistet oder nicht geleistet hat, spielt, wenn er nur wieder da ist, fast keine Rolle. Jener Spruch, der Ahnert schon an der Offiziershochschule begegnet ist und über den er gelacht hat wie über einen Witz, hat seine Berechtigung nun auch ihm gegenüber bewiesen: «Nicht alle Beulen im Helm eines Offiziers stammen vom Klassenfeind.» Wenn Puhlmeyer ihn auch nicht bestrafen wird, nach der Übung wird auf jeden Fall abgerechnet. Falls es dem Leutnant im weiteren Verlauf nicht gelingt, das Endergebnis positiv zu beeinflussen. Immerhin ein schwacher Trost…
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«Hören Sie mir überhaupt zu?» fragt Puhlmeyer. Ahnert nickt und versucht, den Major anzusehen. Aber dessen Augen sind so voller Mißtrauen, daß der Leutnant seine Zuversicht gleich wieder verliert. Das, was der Kompaniechef ihm jetzt noch sagt, ist das Übliche. Ein Universaldeckel, der auf alle Töpfe paßt. Sich stärker mit dem Wesen der Soldaten befassen. Sie genauer kennen und gründlicher beurteilen lernen. Mehr mit den Unteroffizieren arbeiten. Ahnert nickt zu allem. Er kennt das seit dem ersten Jahr an der Offiziershochschule. Solche Lehren werden ständig wiederholt, wie Gläubige in der Kirche das Vaterunser wiederholen. Aber an der Schule ist man zu selten und hier im Regiment bisher überhaupt nicht über solche Floskeln hinausgegangen. Zu selten hat ein Lehrer oder Vorgesetzter persönliche Erlebnisse, Erfahrungen, Niederlagen und Erfolge bei der Erziehungsarbeit geschildert. Als wäre jedem anderen vor Ahnert alles auf Anhieb gelungen. Doch passiert ihm als neuem Zugführer etwas, dann tun sie erstaunt und bequemen sich schließlich zu ein paar Ratschlägen, die schnell in eine Lektion ausarten. Ahnert geht langsam zu seinem Zug zurück. Nach diesem Vorfall kennt er nur noch ein Ziel: Rasch weg, weit weg aus der Nähe von Soldaten. Zwischen sich und sie mehrere Stäbe bringen, damit er nicht mehr diesen Zufällen und Vorfällen, diesem oft ergebnislosen Mühen um die Erziehung und Ausbildung der Soldaten ausgesetzt ist. Immer wieder wird von der Herausbildung sozialistischer Soldatenpersönlichkeiten gesprochen. Sogar Soldaten gebrauchen diesen Begriff, als wüßten sie genau, was er bedeutet. In Wirklichkeit aber verbirgt sich dahinter bei dreißig Soldaten dreißigmal etwas anderes. Das hat der Leutnant schon nach ein paar Wochen begriffen. Aber wie soll das einer schaffen? Eine Sisyphusarbeit ist das! Man muß jeden Augenblick auf alles gefaßt sein, denn wenn der Stein erst ins Rollen gerät, walzt er einen nieder. Nur, mit wem soll er darüber reden? Mit «Tschapajew» etwa? Dann müßte er doch eingestehen, daß er fürchtet, mit seiner Arbeit nicht fertig zu werden. Oder mit den anderen Zugführern? Aber hieße das nicht, sie mit seinen Prob-
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lemen zu belästigen und sie vielleicht unsicher zu machen? Oder sie lachen ihn einfach aus. Seine Distanz den anderen gegenüber beunruhigt Ahnert heute zum erstenmal. Als Kind hat er sich immer vor dem Keller gefürchtet. Aber da er der älteste von fünf Geschwistern ist und die Eltern viele Jahre in Schichten gearbeitet haben, mußte er die Kohlen für die Öfen aus dem Keller holen und die Kartoffeln fürs Mittagessen. Im Keller gab es einen breiten Gang, dessen Wände die Staubschwärze von Jahrzehnten aufgesaugt hatten und der kein elektrisches Licht besaß. Jedesmal, wenn Ahnert dem Lichtkegel der Taschenlampe folgte, bedrohte ihn die Finsternis von allen Seiten. Er fühlte sich belauert und hatte Angst, jeden Moment angegriffen zu werden. An diese Kellerminuten erinnert er sich noch heute, und manchmal ähnelt das Gefühl, mit dem er morgens vom Ledigenheim zur Kaserne geht, jener früheren Erwartung irgendeines Unheils. Und heute ist ein Stück davon bestimmbar geworden. Fichtner heißt es. Aber allein in seinem Zug hat dieses Unheil mehr als dreißig Namen, und es vermag seinen Sprung in einen der Stäbe sogar aufzuhalten oder wenigstens zu verzögern. Ahnert erreicht seinen Zug. Er ruft Eisner zu sich und stellt sich auf eine etwa dreißig Zentimeter hohe Erhebung vor dem SPW. Der Gefreite kommt heran mit weiten, ruhigen Schritten. Alles an diesem Mann wirkt sicher, und für Bruchteile von Sekunden geht in Ahnert wieder jene schon ein paarmal erlebte Verwandlung vor sich. Wäre dieser Gefreite Zugführer, denkt Ahnert, er würde Eisner bedingungslos folgen. Der Leutnant wehrt sich gegen dieses Gefühl, aber es fällt jedesmal so überraschend über ihn her, daß er sich immer wieder fragt, ob die Soldaten seines Zuges, ihm, Ahnert, ebenso bedingungslos folgen würden. Antwort findet er auch heute nicht. Dabei weiß der Leutnant, was unter anderem dem Gefreiten Achtung bei den Soldaten verschafft hat. Als Eisner mit zwei weiteren Soldaten zu der Gruppe des Zuges kam, der er auch jetzt noch angehört, bezeichnete man ihn und die beiden anderen Neuankömmlinge als Hüpfer. Doch das ließ Eisner ebenso kalt wie die Tatsache, daß sie in der Woche öfter als die älteren Soldaten die Stube und den
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Gang wischen mußten. Auch in der Lehrausbildung läßt man die Anfänger erst eine Weile die Dreckarbeit machen. Doch dann gingen die anderen zu weit. Einer der vier Gefreiten aus der Gruppe feierte eines Abends in einem Lokal seinen Geburtstag. Das warf Eisner ihm nicht vor, und er verstand sogar, daß die Heimkommenden übermäßig lärmten, als sie das Zimmer betraten. Sie hatten getrunken, und einer von ihnen konnte den vielen Schnaps und das Bier und das Abendbrot nicht mehr bis zur Toilette bringen. Im Zimmer, nicht weit von der Tür, erbrach er sich. Das Geburtstagskind, das gleichzeitig ihr Stubenältester war, befahl einem der neuen Soldaten, Eimer und Lappen zu holen und alles aufzuwischen. Der Soldat weigerte sich, worauf der Stubenälteste versuchte, ihn aus dem Bett zu zerren. Dabei wurde er von einem zweiten Gefreiten unterstützt. In diesem Augenblick erhob sich Eisner, griff die beiden Gefreiten am Kragen, schleppte sie zu dem Erbrochenen, drückte ihre Köpfe bis nahe an die Dielen und sagte: «Wenn ihr Terror machen wollt, wir sind dabei.» Danach riß er sie wieder hoch, ging mit ihnen zu den Toiletten, wo sie Eimer und Lappen nehmen und im Zimmer die Dielen sauberwischen mußten. Der Vorfall sprach sich rasch herum. Schon am folgenden Tag erreichte der Bericht den Kompaniechef, der daraufhin Eisner und einige andere neue Soldaten als Stubenälteste einsetzte. Seit jenem Tag gab es in der dritten Kompanie keine Zusammenstöße mehr zwischen Soldaten der verschiedenen Diensthalbjahre. Eine schlechte Tradition wurde durchbrochen und seither nicht wieder aufgenommen. Das alles weiß Ahnert über den Gefreiten, der ihn jetzt erreicht hat und lächelnd vor ihm stehenbleibt. Er lächelt auch noch, als der Leutnant leise sagt: «Ich werde Sie bestrafen.» «Und weswegen?» will Eisner wissen. «Soldat Fichtner ist zwei Kilometer von der Stellung entfernt gefaßt worden.» «Fichtner?» fragt Eisner zweifelnd und schüttelt den Kopf. «Ja, Fichtner. Haben Sie noch gar nicht bemerkt, was? Wissen Sie, wie das bei einer Übung gewertet wird? Wenigstens als unerlaubte
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Entfernung, wenn nicht als Fahnenflucht!» «Ist ja Quatsch», sagte Litosch, der hinter dem SPW hervortritt. «Der Schäfer doch nicht. Vielleicht hat er ein verirrtes Schaf entdeckt, oder er war abprotzen und hat sich dann in der Richtung geirrt, so ungefähr.» «Ein Mann, der seit Jahren durch die Botanik wandert, irrt sich in der Himmelsrichtung? Das glauben Sie doch selber nicht.» «Und Sie meinen wirklich, daß Fichtner abhauen wollte?» fragt Litosch. «Was ich meine oder nicht, spielt keine Rolle. Nur die Tatsachen zählen», erwidert Ahnert barsch. Doch Litosch läßt sich nicht beeindrucken. Beim Näherkommen sagt er beruhigend, aber so laut, daß auch andere Soldaten aufmerksam werden: «Genosse Leutnant, wissen Sie denn, was Sache ist? Sie haben doch mit Fichtner noch gar nicht gesprochen und hauen ihn schon in den Sack, als wären Sie dabeigewesen.» Ahnert spürt, daß die anderen dem Fahrer zustimmen. Aber das ist bei Soldaten wohl nie anders gewesen, denkt er. Wenn es gegen die Vorgesetzten geht, sind sich alle einig, verbindet sie plötzlich ein kritikloses Kameradschaftsgefühl, das nicht zu durchbrechen ist. Wenn er jetzt nicht ruhig bleibt, verliert er Boden, der ihm auf seinem weiteren Weg fehlen kann. Noch schweigen die anderen. Sie überlassen Litosch das Wort wie so oft. Diesen schlagfertigen Jungen haben sie zu ihren FDJ-Sekretär gewählt. Auch Ahnert hat die Hand für Litosch gehoben, der nie etwas umschreibt und dessen lärmende, fast respektlose Sicherheit immer ein wenig Spaß verspricht. Jetzt stehen auch hinter dem Leutnant Soldaten, und alle scheinen auf seine Reaktion zu warten. Ahnert wünscht sich, daß im nächsten Augenblick das Kommando zum Aufbruch käme, damit er das Gefühl der Einkreisung verliert, damit er hier rauskommt, zu Befehlen und Aktionen greifen kann. Aber alles bleibt still. Auch Litosch schweigt jetzt. Ahnert wendet sich an den Fahrer, blickt ihm ins Gesicht, das rot und warm vom Schlaf ist. Ein Jungengesicht mit großen, neugierigen Augen und einem runden Kinn, auf dem helle Härchen stehen. Litosch hat sich wahrscheinlich noch nie rasiert, und Ahnert fällt
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plötzlich sein Bruder ein, der etwa so alt wie Litosch ist und demnächst auch vor seinem Zugführer stehen wird. Auf einmal fühlt er sich freier, und das Reden fällt ihm leichter. «Kennen Sie den Schäfer so gut», fragt er, «daß Sie für ihn die Hand ins Feuer legen?» Litosch poltert nicht sofort los. Als er antwortet, spricht er weder so laut noch so aggressiv wie sonst. «Wer kann das schon? Trotzdem, ich verbrenn’ mir lieber mal die Pfoten und das Maul. Ich kann da Pech haben. Aber unser Schäfer ist… So einer ist das nicht, das hab’ ich im Urin.» Einige lachen. Litosch spricht weiter. «Manchmal, geb’ ich zu, ist er ja ein bißchen seltsam. Vielleicht wollte er ein paar Blumen holen oder Zweige für ’n Muckerbus. Fichtner hängt an so was. Aber hier wird gleich ein großes Faß aufgemacht. Das Schlimmste ist immer gleich Fakt, so ungefähr.» Die anderen nicken, auch Eisner. Die Spannung in Ahnert läßt nach. Litosch hat das ausgesprochen, was sich der Leutnant bei Puhlmeyer und auf dem Weg hierher selber gesagt hat: Das Schlimmste ist immer gleich Fakt! Woher hat der Junge diese Erfahrung? Vielleicht wird auf dem Bau mitunter ebenso gedacht und gehandelt. Aber Litosch hat Fichtner verteidigt. Ahnert nicht. Vor dem Kompaniechef hat er gesessen und alles hingenommen. Was hat ihn davon abgehalten, den Schäfer bei Puhlmeyer in Schutz zu nehmen? Vielleicht muß man Soldat sein, um das ungestraft zu können. Und vielleicht steckt man als Leutnant schon viel zu tief in der Hierarchie von Dienstgraden und Vorgesetztenverhältnissen drin? Ahnert sagt nichts mehr. Er steigt von der verwachsenen Aufschüttung hinunter, und die Soldaten fassen das als Beendigung des Gesprächs auf. Sie gehen auseinander. Nur Eisner steht noch bei dem Leutnant. «Was wird nun?» fragt der Gefreite. «Womit?» «Bleibt Fichtner dort oben, oder soll er abgeholt werden?» Der Leutnant hebt die Schultern. Puhlmeyer hat nichts davon gesagt, und Ahnert hat nicht danach gefragt. Nicht einmal das hat er fertiggebracht.
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«Soll ich mal losgehen?» bietet sich der Gefreite an. «Nicht mehr nötig!» ruft Litosch vom SPW herab. «Männer, er kommt schon. Mit seinem Schwiegervater. Gottverdammich! Ich wär’ jede Wette eingegangen, daß der Schäfer spinnt. Aber an der Geschichte mit dieser Friederike muß doch was Wahres dran sein.» Zwischen den SPWs sind Schanz und Fichtner zu erkennen. Sie gehen langsam und reden miteinander. Ein paar Meter von Ahnert entfernt bleibt der Oberst stehen, schiebt den Soldaten mit einem leichten Klaps weiter und sagt: «Der gehört doch hierher, was?» Litosch springt vom SPW herab und schlägt Fichtner lachend die Hand auf die Schulter. «Mensch, Schäfer, du hast vielleicht Beziehungen!» Die Soldaten umringen Fichtner, reden auf ihn ein und lachen. Schanz winkt den Leutnant zu sich, mustert ihn und fragt: «Wie lange sind Sie hier?» «Ein halbes Jahr.» «Alles verdammt hart, was?» «Es geht», erwidert Ahnert und fühlt sich ertappt. Der Oberst lächelt wie einer, der es besser weiß, und Ahnert fügt hinzu: «Ja, hart.» «Und, wie wird euch so geholfen, als Anfänger?» Ahnert weiß nicht, was er sagen soll. Es hängt zuviel von der Antwort ab. Außerdem ist hier wenig Zeit und Ruhe, um all das auszusprechen und zu bereden, was Ahnert beschäftigt. Vielmehr möchte er jetzt wissen, warum und wie Schanz den Schäfer zurückgebracht hat. Wirklich seiner Tochter wegen? Um nicht ins Gerede zu kommen durch Fichtner? Oder sind es die gleichen Gründe, aus denen heraus Litosch vorhin den Schäfer verteidigt hat? Weil sie Fichtner besser kennen und sich für ihn auch mal die Pfoten verbrennen würden und das Maul? Ahnert möchte es genau wissen, nicht Fichtners oder des Obersten wegen, sondern um seinetwillen. Vor ihm steht einer, der vom Dienstgrad und den Dienstjahren her längst in das Räderwerk militärischer Abläufe und Gepflogenheiten, geschriebener und ungeschriebener Regeln und Gesetze eingeordnet sein müßte, so sicher, daß er in dem Mechanismus reibungslos funktioniert. Aber Schanz hat eingegriffen, wie es aussieht, und den Schä-
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fer herausgeholt. Einen von vielleicht Zehntausend, als hinge von diesem einen auch die Bewegung der ganzen Division ab. Hat das alles mit Mut und Feigheit zu tun, mit Gleichgültigkeit und Verantwortungsgefühl? Oder hängt es doch vom Dienstgrad ab? Muß man Soldat oder ein hoher Offizier sein, um diesen militärischen Mechanismus folgenlos unterbrechen zu dürfen? Je mehr Gedanken sich Ahnen aufdrängen, um so ratloser wird er. «Marschbereitschaft herstellen!» Das Kommando erlöst auch Ahnert. «Viel Erfolg», ruft Schanz ihm zu. «Wir reden noch miteinander!» Ahnert nickt, dann wiederholt er laut das Kommando, obgleich die Soldaten seines Zuges längst dabei sind, es auszuführen. Aber er braucht es für sich, um erst einmal alle Fragen und Grübeleien aus sich herauszuschreien und das Gefühl von Hilflosigkeit, unbestimmbarer Furcht und Beschämung loszuwerden. Schanz steht rauchend am Rand einer Kreuzung, die er vor etwa zehn Minuten erreicht hat. Vom Regulierer, der an der Bordsteinkante von Kindern und Halbwüchsigen umringt ist, hat der Oberst erfahren, daß bisher ein mot. Schützenregiment und das Flakregiment der Division die Kreuzung passiert haben. Die Kolonnen rollen der Sonne zu, die auf der Krone der roten Mauer des Vorwerks sitzt, das Schanz gegenüberliegt. Mit dem Rücken lehnt der Oberst am Pfeiler eines Zauns. Hinter Schanz liegen mehrere Reihen Einfamilienhäuser, bis zum Rand einer mit Schilf bewachsenen Senke hin, in der sich das Schmelzwasser und der Regen zu einem flachen, langen Teich gesammelt haben. Enten und ein paar Möwen schwimmen auf dem Wasser. In den Gärten blühen Krokusse, Schneeglöckchen und die ersten Osterglocken. Schanz hat das Artillerieregiment bisher nicht erreicht. Als er mittags vom Divisionsstab wegfahren wollte, trafen die Posten mit Fichtner dort ein. Es dauerte eine Weile, bis der Oberst den Stabskommandanten von Fichtners Harmlosigkeit überzeugt hatte. Erst nach einigem Hin und Her übergab man ihm den Soldaten gegen Unterschrift wie ein Stück Inventar. Der Umweg zu Puhlmeyers
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Kompanie hat die meiste Zeit gekostet. Nun will Schanz hier auf die Artilleristen warten und sich ihnen anschließen. Von der Stadt her, die ein paar hundert Meter vom Vorwerk entfernt beginnt und unmittelbar an Felder und Koppeln anschließt, kommen Neugierige. Nicht nur Kinder, auch Erwachsene. Zwischen Vorwerk und Stadt stößt von Süden her ein befestigter Weg auf die Hauptverkehrsstraße. Dort steht ein weiterer Regulierer. Etwa dreihundert Meter müssen die Kolonnen die Hauptstraße benutzen, ehe sie am Vorwerk vorüber auf einem Feldweg westwärts weiterrollen. Von dem befestigten Weg bis zur Kreuzung hat sich ein lockeres Spalier von Zuschauern gebildet. Der erste Regulierer sperrt nun die Straße zur Stadt hin ab. Schanz macht den stämmigen Gefreiten, der noch am Gehweg steht, darauf aufmerksam. Sofort tritt er auf die Kreuzung. Hinter beiden Regulierern beginnen sich PKWs, Lastwagen und Motorräder zu stauen. Schanz hat zahllose Märsche in seinem Leben mitgemacht und ebensooft an Kreuzungen gestanden. Für die Zeit der Märsche verlassen die Regimenter die Übungsplätze, und in diesen Stunden begegnen sich Armee und Bevölkerung auf besondere Weise. Schanz weiß, daß diese Begegnungen meist stumm verlaufen. Der Motorenlärm macht Worte sinnlos. Nur Gesten werden gewechselt oder manchmal bloß angedeutet, weil die Geschwindigkeit der Kolonnen, der aufgewirbelte Straßenstaub und die Abgase mehr nicht zulassen. Aber schon diese Andeutungen genügen. Auf beiden Seiten werden sie aufgenommen und in der Phantasie vollendet. Es ist, als ob die einen genau wissen, woran die anderen denken, als ob ihre Empfindungen sich aufeinander übertragen. In solchen Augenblicken werden die meisten von einem Zusammengehörigkeitsgefühl ergriffen, das weder mit den Kolonnen wieder verschwindet noch in den Ortschaften zurückbleibt. Die müden, staubigen, doch lachenden Gesichter sind den Menschen nah, und alles, was mit den Soldaten zu tun hat, was zu ihnen gehört, empfinden sie plötzlich als das Ihrige. Die Soldaten wiederum fühlen sich nie so tief mit dem Land verbunden wie dann, wenn sie an so vielen vertrauten und zur Zeit entbehrten Dingen vorüberfahren. Und jeder von ihnen entdeckt etwas, das ihn besonders
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betrifft und rührt. Winkende Kinder erinnern an die Stimmen der eigenen. Mädchen und Frauen lösen Sehnsüchte nach Nähe und Berührung aus. Häuser, Gehöfte und erleuchtete Fenster ziehen Soldaten nie so stark an wie beim Vorüberfahren, denn nichts vermissen sie mehr als das Zuhause, nichts fehlt ihnen so sehr wie die heimische Umgebung und in ihr die persönlichen Gegenstände, die winzigen wichtigen Alltagsdinge, und die freie Entscheidung über Zeit und Bewegung. Schanz weiß auch, daß die meisten Soldaten während dieser weiten Märsche durchs Land den zwangsläufigen zeitweiligen Verzicht auf all diese Dinge als etwas Besonderes auffassen. Die ihnen winken, verlassen in wenigen Minuten die Straße, gehen nach Hause oder in eine Gaststätte oder ins Kino. Sie spielen mit ihren Kindern, feiern, lieben einander. Während die Soldaten weiterfahren, stundenlang noch unterwegs sind, bis sie den Stellungsraum erreicht haben und dort über Nacht Gräben und Bunker in die Erde treiben. Und von diesem Zusammenhang her empfinden viele ihr Soldatsein auf einmal wie etwas Freiwilliges. Und jeder freiwillige Verzicht macht die Sache besser, schafft Stolz und verbindet die Beteiligten fester miteinander. Bei vielen Anstrengungen und Mühen der Soldaten stehen oft unscheinbare Dinge, banale Alltäglichkeiten Pate, die mancher Vorgesetzte nicht als Motiv erkennt. Die blühende Forsythienhecke in einem Garten zum Beispiel oder ein Tulpenbeet, eine Kuhherde auf der Koppel, ein qualmender Schornstein am Horizont, das Lächeln und die winkend erhobene Hand einer Frau, ein träge fließender Fluß oder ein Angler am Seeufer, eine Dorfkneipe, an deren Hauswand Fahrräder lehnen, die lächelnden Fensterfronten eines Kindergartens oder einer Schule. Das alles löst Erinnerungen aus und Gefühle, die keine Worte und schon gar nicht Erklärungen brauchen. Mancher weiß nichts über derartige Wahrnehmungen, die oft am Anfang von Gedankenreihen, Erkenntnissen und Überzeugungen stehen. Andere wiederum wollen, davon nichts wissen, weil ihnen diese sinnlichen Vorgänge nicht ganz geheuer sind. Sie liegen ihnen zu nahe beim Unterbewußten, und dieser Bereich menschlicher Sinne ist für die
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Betreffenden dasselbe wie für einen Gläubigen der Teufel. Diese Leute wollen alles kontrollierbar machen, berechenbar, wollen alles Menschliche auf Normen und Formeln reduzieren und stellen die ganze komplizierte Erkenntnistheorie auf den Kopf oder vereinfachen sie zumindest bis auf ein Maß, das sie verstehen. Aber irgendwann einmal funktioniert ihr System nicht mehr, erweist sich der Wirklichkeit gegenüber als oberflächliches Glaubensbekenntnis. Die einen trennen sich dann von ihm, während die anderen mit inquisitorischen Mitteln versuchen, es durchzusetzen. Oder sie beginnen bewußt, allem auszuweichen, das es in Frage stellt. Schanz kennt solche Leute, er ist ihnen in allen Stäben schon begegnet. Ihre Haltung hängt weder vom Dienstgrad noch vom Alter ab und auch nicht von der Funktion, die sie ausüben. Sogar unter Politoffizieren gibt es hin und wieder einen, der Augen und Ohren geschlossen hält, der seine Sinne nach innen gerichtet hat auf sich selber und auf das, was in seinem Lebenskreis geschieht. Die Vertreter dieser Gattung müßte man in bestimmten Abständen zwischen den Soldaten auf den Stuben schlafen lassen, denkt Schanz, oder sie regelmäßig in jene Gaststätten schicken, in denen die Soldaten ihren Ausgang verbringen. Und während solcher Märsche müßte man sie auf die SPWs und die Ladeflächen der Fahrzeuge verteilen. Lautes Hupen unterbricht seine Gedanken. Die wartende Fahrzeugschlange überholend, fährt ein Wagen auf die Kreuzung zu. Ein beigefarbener Wartburg mit einem knallroten Dach und roten Doppelstreifen an beiden Seiten und über Kofferraum und Motorhaube. Der Fahrer lenkt seinen Wagen in die Lücke, die ein Trabantfahrer zwischen sich und dem Regulierer gelassen hat. Im Wartburg gibt es viel weißes Fell, über den Sitzen, ums Lenkrad, auf der Ablage, und darauf einen schwarzen Stoffhund, der allen Überholten die Zunge heraussteckt. Der Fahrer des Wartburgs steigt aus und läuft zum Regulierer. Er redet auf den Soldaten ein, sein schwarzes Oberlippenbärtchen zuckt heftig beim Sprechen. Der Regulierer fragt: «Sind Sie Arzt?» «Nein», erwidert der Mann, «aber ich habe eine wichtige…»
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«Da müssen Sie warten wie alle anderen. In wenigen Augenblicken tauchen hier Großgeräte auf.» «Großgeräte! Gib doch nicht so an, Junge. Ein paar Eisenschweine, da muß ich ja lachen.» «Bitte», sagt der Gefreite und dreht dem Mann den Rücken zu. Einen Augenblick lang zögert der andere und scheint sich fügen zu wollen. Aber dann bemerkt er, daß die Leute an der Straße längst auf ihn aufmerksam geworden sind. Von neuem wendet er sich an den Regulierer und schlägt ihm mit einer Hand auf die Schulter. Doch der Gefreite tritt nur zwei Schritte zur Seite. Wieder zögert der Mann. Er blickt sich um und geht jetzt auf Schanz zu. «Ach, Sie da, Genosse…», er reckt sich, um Schanz auf die Schulterstücke sehen zu können, «Genosse Oberst, befehlen Sie doch dem Gefreiten mich durchzulassen. Ich hab’ wirklich eine dringende…» Schanz schüttelt lachend den Kopf und erklärt: «Ich habe hier nichts zu sagen. Befehlsgewalt über die Kreuzung hat der Gefreite.» «Befehlsgewalt! Großgeräte! Ihr kommt euch wohl sehr wichtig vor?» Der Mann regt sich auf, das Zucken seines Bärtchens wird heftiger. «Die ganze Fahrzeugschlange könnte schon durch sein. Ich höre und sehe noch nichts von euren Großgeräten.» Über die Schultern des Mannes hinweg sieht Schanz, daß der Trabantfahrer, der eine dunkelgrüne Jacke und eine ebensolche Hose trägt, ausgestiegen ist und zum Wartburg geht. Der Beifahrer eines Lastzuges und der Fahrer eines vollbesetzten Linienbusses folgen ihm. Der Förster löst die Handbremse des Wartburgs und greift von außen ans Lenkrad. Die beiden anderen schieben den glänzenden beigeroten Wagen rückwärts auf die Mauer des Vorwerks zu. Schanz beißt die Zähne zusammen, um nicht loszulachen. Er sagt nun, um den Mann noch ein wenig hinzuhalten: «Schließen Sie mal die Augen und lauschen Sie. Dann können Sie die Kolonne schon hören.» Der Mann stößt ein ärgerliches Knurren aus. Was er sagt, ist nicht zu verstehen, denn die Leute, die neben Schanz an der Straße stehen, fangen an zu lachen. Der Wartburg steht jetzt dicht an der Mauer. Der Förster fährt mit seinem Trabant zwanzig Meter vor. Der Lastzug rückt auf, und der Wartburg ist nicht mehr zu sehen. Die Mo-
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torengeräusche deutet der Wartburgbesitzer falsch. Er sagt: «Na also, warum nicht gleich so!» Dann wendet er sich um und bleibt mitten im Schritt stehen. Das erneute Lachen der Leute, in das Schanz einfällt, reißt den Mann aus seiner Starre. Er rennt über die Straße, um den Lastzug herum. Eine Weile ist noch seine zeternde Stimme zu hören. Aber auch die geht unter im Lärm des Pionierbataillons, dessen Grabenbagger und Planierfahrzeuge die Hauptstraße als erste erreichen. Ihnen folgen die Pontoniere und die anderen Fahrzeuge des Bataillons. Dreißig Minuten später fährt der Wartburg als letztes Fahrzeug von der Kreuzung weg dem Städtchen zu. Die Zuschauer gehen auseinander, zur Stadt hin oder auf ihre Grundstücke. Schanz lehnt immer noch am Pfeiler und beobachtet den Regulierer, der seinen Platz verläßt und herüberkommt. Langsam geht er, übermüdet, nimmt seinen Helm ab und legt ihn auf den Pfeiler. Dann schiebt er eine Zigarette zwischen die aufgesprungenen Lippen und sucht in den vielen Taschen seines Watteanzuges nach Streichhölzern. Schanz gibt ihm Feuer und drückt sich dabei vom Pfeiler weg. Er muß sich bewegen, sonst schläft er ein. «Wollt ihr ’nen Topp Tee?» «Klar», sagt Schanz und wendet sich um. Ein grauhaariger Mann stellt zwei hohe Tassen auf die Pfeilerkrone neben den Helm und füllt sie. Hinter dem Teedampf ist ein schmales Gesicht mit altersfeuchten Augen zu sehen. Der Mann lächelt, doch nur mit dem linken Mundwinkel, wodurch sein Gesicht den Ausdruck von Besorgnis annimmt. Es sind Kindertassen, die der Alte gebracht hat, mit Ostermotiven, lachende Hasen, eigelbe Küken, glanzgrüne Birken, von denen Heiterkeit ausgeht, und Schanz denkt mit weher Sehnsucht plötzlich an zu Hause. Der Tee ist stark. Rauchig schmeckt er und macht munter. Auf einmal fegt ihnen Wind ins Gesicht. Hinter dem Teich am Rande des Städtchens wächst eine graublaue Wolkenwand hoch. «Ihr seid nicht zu beneiden», sagt der Mann hinter dem Pfeiler, wieder das besorgte Lächeln im Gesicht.
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Schanz kommt nicht zum Antworten. Hinter ihm quietschen Bremsen, es wird gehupt. Er erkennt einen dunkelroten Skoda und hört Friederike rufen: «Vati! Vati!» Sie rennt über die Straße auf ihn zu. Schanz schüttelt den Kopf und lacht. Ein stummes Lachen, das seinen Oberkörper durchschüttelt und das er immer hat, wenn er sich sehr über etwas freut. Friederike umarmt ihn, spürt seinen Mund auf ihrem Haar und seine rauhe Hand im Gesicht. Dann sagt Schanz mit tiefer Stimme: «Nun sag aber mal.» Seit langer Zeit hat Friederike diese Worte nicht mehr gehört, und beim letztenmal galten sie den Zwillingen. Aber es hat Jahre gegeben, da ist dieser nichtssagende Satz auch für sie Trost und väterliche Zärtlichkeit gewesen. Friederike läßt ihren Vater nicht los, dessen linke Hand ihr Gesicht gegen seine Schulter drückt, und der Daumen streichelt ihre Nase. Sein Mantel riecht nach Erde, nach Benzin und Zigarrenrauch. So hat er immer gerochen, wenn der Vater von Übungen oder von der Geländeausbildung heimkam. Schon in jenen Jahren, als dieser Satz noch ihr galt. «Nun sag aber mal.» Der Vater wiederholt die vier Worte, als habe er begriffen, was sie Friederike auf einmal bedeuten. Und für ihn selbst. Denn die Worte holen etwas nach, füllen eine stumme, leere Zeit zwischen ihnen aus. Sie setzen etwas fort, was am 28. Februar begonnen hat, als Friederike auf sein Klopfzeichen herunterkam in die Küche und ihn am Abend zum Fest begleitete. Friederike fühlt sich geborgen wie seit Jahren nicht. Wie angekommen fühlt sie sich, nachdem sie jahrelang unterwegs gewesen ist, in den Tag hinein gelebt hat, ohne zu wissen, worauf sie wartet, was sie sucht. Wenn sie die Siedlung in den letzten vier Jahren einmal verließ, füllte sie sich mit Landschaften auf, mit mittelalterlichen Ortschaften und historischen Stätten. Aber immer kehrte sie in die geschichtslose und traditionsleere Kasernengegend zurück, wo der gleichförmige Alltag sich auf ihre Eindrücke legte wie Staub auf die Gegenstände unbewohnter Räume. Jetzt löst sie sich von ihrem Vater, der sie fragt, ob zu Hause alles in Ordnung sei.
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«Ja», sagt sie, «oder nein, aber nichts Besonderes.» «Und wie kommst du hierher, ich meine…» «Zufall. Eigentlich… Ich will nach Barsekow.» «Nach Barsekow?» «Na ja, ihr macht doch wieder einen Manöverball dort.» «Sicher», antwortet er, «das haben wir vor.» Und auf einmal versteht er seine Tochter, nickt und zieht sie wieder an sich. Erneut wirft sich vom Teich her kalter Wind über die Straße, wirbelt Sand und Staub heran. Schanz drückt seine Schultern nach vorn, möchte Friederike, die nur ein blaues Jeanskostüm trägt, mit der warmen Wölbung seines Körpers schützen. In diesem Augenblick begreift er, daß Kinder immer Kinder bleiben, auch wenn sie groß und erwachsen sind, und daß es falsch ist anzunehmen, von einem bestimmten Alter an brauchten sie die Aufmerksamkeit und Zärtlichkeit der Eltern nicht mehr. «Du», fragt sie, «ob du soviel Zeit hast, daß wir…? Ich möchte mit dir Kaffee trinken.» Er nickt, ohne zu zögern. Friederike ist ihm jetzt wichtiger als alles andere. Die anderen Kolonnen werden die Kreuzung auch pünktlich erreichen, wenn er nicht hier steht. Und das Artillerieregiment samt Wittenbeck wird er schon noch finden. Friederike fragt den Alten, der immer noch hinter dem Pfeiler steht, wo es im Städtchen guten Kaffee gebe. «Am Markt», antwortet er, «‹Cafe am Turm›.» Er nickt ihnen zu, als sie sich verabschieden, wieder das besorgte Lächeln um den Mund. Eine Viertelstunde später sitzen Vater und Tochter einander am Fenster eines verandaartigen Raumes gegenüber. Um diese Stunde befinden sich wenige Gäste im Cafe. Für die Bewohner des Städtchens ist der Feierabend noch nicht heran. Volle Taschen und Netze tragend, Kinderwagen schiebend, passieren sie in beiden Richtungen einen überdachten Durchgang zwischen der Stadtmauer und einem backsteinernen Rundturm, über dessen Tür schwarze eiserne Buchstaben mitteilen, daß er das Stadtmuseum beherbergt. Während Friederike von zu Hause erzählt und den Vorfall mit Ste-
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fan wiedergibt, wandern ihre Blicke zwischen dem Turm und dem Gesicht des Vaters hin und her, das sich allmählich verändert. Es rötet sich von Minute zu Minute stärker und scheint mehr und mehr zu ermüden. Der Vater nimmt sogar seine Brille ab und bearbeitet mit Daumen und Zeigefinger seine Augenwinkel, als spüre er Sand unter den Lidern. Zum Ende von Friederikes Bericht hin werden die Falten um seine Mundwinkel ständig tiefer und machen seine Lippen kurz und schmal. Friederike läßt ihn nicht aus den Augen. Sie sieht, wie sein Gesicht sich allmählich wieder entspannt und an Strenge verliert. Schließlich blickt er hinaus auf die Straße, auf der es stiller geworden ist. Aber er interessiert sich nicht für das, was draußen geschieht. Er würde es auch nicht wahrnehmen, wenn er die Brille wieder aufsetzte. Er denkt und erinnert sich an irgend etwas Gutes. Vielleicht hat er bereits eine Erklärung für Stefans Verhalten, überschaut es und weiß, was zu tun ist. Aber als er endlich etwas sagt, hat es mit Stefan nichts zu tun. Er spricht leise, zum Fenster gerichtet: «Sie ist eine Mutter für kleine Kinder, nur für kleine Kinder.» Das sagt er nachsichtig und mit einem Lächeln, daß Friederike plötzlich etwas begreift, woran sie bisher nicht gedacht hat. Ihre Mutter ist nicht nur ihre Mutter, sondern auch die Frau ihres Vaters. Diese Erkenntnis verwirrt Friederike, denn sie hat bisher der Mutter in ihren Gefühlen und Gedanken immer einen anderen Platz zugeordnet. Beide schweigen. Schanz sieht Gudrun vom Brunnen weggehen. Am Tragholz hängen große hölzerne Eimer, von denen Wasser in die blühenden Taubnesseln zu beiden Seiten des Pfades tropft. Sie geht barfuß, mit ruhigen, gleichmäßigen Schritten. Ihre Arme liegen überm Joch. Nur ihr blauer bis an die Waden reichender Rock bewegt sich bei jedem Schritt, wippt und tänzelt ihr um die Beine. Der Pfad steigt zum Gehöft hin ein wenig an. Zwischen ihren dicken Zöpfen, von denen einer nach vorn hängt, wirrt im Nacken lockeres Haar, das nach Sonne riecht und Heu. Aber das wußte Schanz an jenem Nachmittag noch nicht, als er für die Kompanie, die auf dem nahen Übungsplatz lag, den zweirädrigen Wassertank füllen wollte. Er blickte dem Mädchen nach, wie es den
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Pfad hinaufging, den Oberkörper hochaufgerichtet und doch nicht steif, den Kopf nach vorn gebeugt, um dem dunklen Holz im Nacken mehr Platz zu lassen. Ihre Bewegungen waren sicher und trotz der Last leicht. Schanz setzte sich auf den Brunnenrand. Alles war ihm vertraut, der windstille Sommernachmittag, die Hofgeräusche, denen das Mädchen entgegenging. Jemand stampfte in einem hölzernen Trog Futter, und Schanz hatte sofort den Geruch von gedämpften Kartoffeln in der Nase. Ein leerer Melkeimer wurde irgendwohin getragen und quietschte an den Henkelnieten. Eine volle Mistforke stickerte über Steine. Dann wurde Wasser in einen leeren Kessel gegossen. Wenn der gefüllt werden muß, dachte Schanz, wird das Mädchen wenigstens noch dreimal zum Brunnen kommen. Er wartete auf sie. Sie drehte sich und hüpfte den Pfad herab. Die leeren, immer noch tropfenden Eimer pendelten und schwangen hin und her wie die dicken Zöpfe, und hinter der weißen Bluse böckelten die Brüste. In den mehr als zwanzig Ehejahren hat Schanz seine Frau oft so auf sich zukommen sehen. Wenn er lange von ihr getrennt war, wenn es einmal Ärger und Streit zwischen ihnen gegeben hatte, wenn eine andere ihm gefiel, erinnerte er sich immer an jenen Juninachmittag am Brunnen. Bis heute hat die damals siebzehnjährige Gudrun ihre Wirkung auf seine Sinne nicht verloren, und immer erkennt er in seiner Frau, obwohl sie schwerer und langsamer geworden ist, das fröhliche, starke Mädchen von früher. Trotz aller Veränderungen an Leib und Seele gibt es auch jetzt noch Bewegungen, Gesten und andere Merkmale, die Gudrun schon vor zweiundzwanzig Jahren besessen hat. Von Anfang an ist es eine bedingungslose, zuverlässige und willige Liebe gewesen, die ihn getragen hat wie ein breiter, freundlicher Fluß ohne Klippen und Wirbel. Sie ist eine Mutter für kleine Kinder, denkt Schanz, und er müßte ihr mehr helfen, wenn es um die großen geht. Zu oft läßt er sie mit ihnen allein, muß sie ganz einfach alleine lassen. Und über andere weiß er oft mehr als über seine Kinder. Bredows Wesen zum Beispiel, seine häufig so kalte Strenge, vermag Schanz zu erklären und
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zu werten. Aber er weiß bis heute nicht, warum sich Friederike zu ihrem achtzehnten Geburtstag eine Geige gewünscht hat und trotz aller Verwunderung, allen spaßigen Spotts und aller bissigen Bemerkungen bei ihrem Wunsch geblieben ist. Seine Frau wollte ihr wie immer etwas Nützliches schenken oder sich an einer größeren Anschaffung finanziell beteiligen. «Eine Geige», sagte sie aufgebracht, «seit wann kann sie denn Geige spielen?» Als Schanz seiner Tochter das Geschenk überreichte, schwieg seine Frau, und der Gratulationskuß für Friederike fiel flüchtig aus. Schanz hoffte damals, Friederike würde wirklich Geige spielen, wie er einst Klavier gespielt hatte. Aber die Geige blieb stumm. Für ihn und seine Frau blieb sie stumm. Auch über den Schäfer, dem er am heutigen Nachmittag erst zum zweitenmal begegnet und mit dem er bis zur Kompanie etwa eine Stunde unterwegs gewesen ist, weiß er nun besser Bescheid als über die Empfindungen, Motive und Gedanken des eigenen Sohnes. Schanz kann nicht lange stumm neben einem anderen Menschen sitzen. Er hat Fichtner ausgefragt, und der Soldat antwortete bereitwillig. Es schien ihn zu erleichtern, über sich selbst zu sprechen und zu erklären, wie er sich in der Kaserne fühle, was ihm fehle, wonach er sich sehne und warum er zu jenem baumlosen Hügel wollte. Nach Friederike fragte er nicht, über sie sagte er kein einziges Wort. Das wunderte Schanz, und es gefiel ihm. Jetzt wendet er sich wieder Friederike zu, die noch einmal Kaffee bestellt hat. Er legt seine Hände über ihre und sagt: «Danke, Rike! Kümmere dich um Stefan, bis ich zurück bin. Vielleicht müßte ich sogar selber… Aber ich kann hier nicht weg, mitten aus der Übung kann ich nicht weg.» Sie nickt und möchte ihren Vater beruhigen, dessen schwere, warme Hände etwas von seiner Stimme haben, mit der er sie auf der Straße begrüßt hat: «Nun sag aber mal.» Inzwischen sind neue Gäste ins Cafe gekommen. Stimmenlärm und andere Geräusche haben zugenommen. Friederike blickt durch die Scheibe auf die Straße, wo es ruhiger geworden ist und die Umrisse
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des Turmes in der Dämmerung verschwimmen. Nach einer Weile fragt sie: «Hast du das halbe Foto noch?» Wortlos gibt er es ihr. Friederike legt es auf ihren Handteller und betrachtet es nachdenklich. Er kennt seine Tochter immer noch zu wenig und weiß nicht, warum sie das halbe Bild zurückverlangt hat. Wenn sie es behält, hat sie mehr als ihr Foto zurückgenommen. Ihm scheint, daß Friederike nach einer Entscheidung sucht, und auf einmal ist er sicher, daß sie ihm das Bild nicht zurückgeben wird. Wittenbeck jedoch will er trotzdem suchen. Er möchte ihn kennenlernen und beobachten, denn er will wissen, was Friederike an ihm findet oder ob ihre Unternehmungen und Gefühle nur noch von der Sucht nach Wechsel bestimmt sind. «Ich geb’ es ihm selber», sagt sie und steckt das Bild in ihre Handtasche. «In Barsekow.» «Und wenn er nicht dort ist?» «Warten wir ab.» Als sie den Geländewagen erreichen, ist es fast dunkel. Kinzel hat sein Radio am Ohr. Der Nachrichtensprecher kündigt für die Nacht Niederschläge an und Temperaturen um fünf bis zwei Grad. Friederike steht mit dem Vater unter einer Straßenlaterne. Das Zwielicht macht sein Gesicht grau. Von der Stadt her nähert sich Kolonnenlärm. «Danke», sagt Friederike, «auf Wiedersehen. In Barsekow.» Er nickt, und sie spürt, daß er es auf einmal eilig hat. «Warte bis die Kolonne durch ist», rät er und bittet: «Grüß zu Hause und hilf Mutter!» «Verlaß dich drauf!» Wenige Augenblicke später fährt der Wagen an. Friederike blickt ihm nach, bis die Kolonne heran ist. Nie vorher ist sie einem fahrenden Regiment so nahe gewesen. Zum erstenmal spürt sie jenes drängende Ziehen, jene soghafte Kraft, die von der staubigen, fahrtheißen Kolonne ausgeht. Hier auf freier Strecke wirken die Schützenpanzerwagen und die anderen Fahrzeuge energischer, lebhafter als in der Siedlung. Wenn die Kolonnen dort eintreffen, sind sie meistens er-
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schöpft und verausgabt. Wie ein steingrauer Strom füllen die Fahrzeuge die Straße aus. An der Mauer des Vorwerks hinter Friederike bricht sich der Motorenlärm, schlägt hoch und wogt in die Straße zurück. Mitunter hört Friederike Laute, die Pfiffe sein können, sieht über den Rückklappen der Lastwagen gesichtslose behelmte Köpfe, die aber immer rasch wieder hinter anderen Fahrerhäusern, Planen oder stählernen Platten verschwinden. «Rike!» schreit auf einmal jemand, «Rike!» Es ist einer der Signalisten, die bis zu den Hüften in den Luken stehen und nur als Schemen zu erkennen sind. «Rike!» schreit der Soldat noch einmal und winkt heftig mit den Flaggen. Sie erwidert diesen Gruß und die anderen, winkt immer wieder, bis das Regiment vorüber ist. Den Schluß bilden Lastwagen mit Feldküchen, die unwirsch über die Pflasterköpfe springen wie störrische Tiere, die man an der Leine hinter sich her zieht. Die letzten Fahrzeuge verlieren allmählich ihre Konturen, verschwinden ganz, werden Teil der staubgrauen Dunkelheit. Nur der Lärm der Motoren ist noch zu hören. Friederike steht allein in der leeren, stummen Straße, fühlt sich auf einmal verlassen, zurückgelassen. Hilflos steht sie da und empfindet plötzlich eine kindliche, dem Weinen nahe Sehnsucht nach ihrem Vater, nach seinem tröstlichen «Nun sag aber mal». Gegen neun Uhr abends erreicht Schanz das Pappelwäldchen wieder, von dem er vor zwölf Stunden mit Generalmajor Werner aufgebrochen ist. Jetzt stehen ein paar Zelte neben den kahlen Bäumen, und rechts parken ein paar Fahrzeuge. Im mittleren Zelt brennt Licht, und aus dem Rohr, das über das Dach hinausragt, springen Funken. Als Schanz mit Kinzel auf das erleuchtete Zelt zugeht, beginnt es zu regnen. Große, kalte Tropfen schlagen ihnen ins Gesicht. «Ausgerechnet heute stimmt der Wetterbericht», meint der Fahrer. «Sie haben doch einen Spaten im Wagen?» fragt Schanz. «Ja.»
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«Holen Sie ihn mir!» Schanz betritt das Zelt, in dem es nach Kaffee und gebratenen Zwiebeln riecht. Im Eingang gegenüber steht auf einer Verpflegungskiste ein Propangaskocher, und auf einem Tisch daneben liegen Bestecke, türmen sich Tassen und Teller. Die Tischdecken sind blendendweiß wie die Jacke des Gefreiten, der hier herrscht. Er stochert in der Glut des runden eisernen Ofens herum, in dem der Wind pfeift. Das feine, helle Geräusch erinnert Schanz an die alte Kochmaschine in der elterlichen Küche. Die Mutter hob, sowie das Feuer brannte, mit dem Schürhaken einige Ringe aus der Herdplatte und setzte einen Topf Wasser auf, der vor dem Sieden immer zu singen begann. Warme Stille umgibt ihn. In seinen Augen brennt die Müdigkeit, und im Kopf summt es. Nur ein paar hundert Meter von hier entfernt, gräbt sich ein ganzes Bataillon Soldaten in die Erde, reißen Grabenbagger den Boden auf, schieben Planierraupen Wälle zusammen. Schweiß und Dreck vermischen sich auf den Gesichtern zu einer brennenden Schminke. Die spitzen Nadeln der letzten Kiefern bohren sich in die Haut der Hände. Nur von kurzen Rauch- oder Eßpausen unterbrochen, wird am Vorderhang der Hügelkette das gesamte Bataillon zehn Stunden schuften. Jeder, ob er Stahlschmelzer oder Friseur, Schäfer, Agronom oder Abiturient ist. Das ist der Erde gleich, die Hunderte Male schon von Soldatenspaten umgegraben worden ist. Das aber macht die Arbeit nicht leichter, denn der Boden ist zerschunden und kraftlos geworden, er besitzt in sich selber nur noch wenig Halt. Die Grabenwände rutschen immer wieder nach. Schon Schanz hat vor vielen Jahren auf diesem Platz Gräben und Bunker ausgehoben, als Soldat, als Offiziersschüler, als Zugführer. Und vor ihm viele andere Generationen von Soldaten. Es regnet. Aufs Zeltdach trommeln Tropfen. Wind schlägt plötzlich gegen die Wände. Die Tischdecken flattern auf wie erschrockene Vögel. Der Gefreite beruhigt sie wieder mit sauberen, leichten Händen. Kinzel ist naß. Er wischt sich mit dem Handteller übers blasse Gesicht und stellt den Spaten an einen Tisch, von wo der Gefreite ihn sofort wegträgt in eine Ecke.
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«Was darf’s sein, Genosse Oberst?» fragt er. «Einen Topf Kaffee und ein doppeltes Steak für meinen Fahrer.» «Das ist ein Speisezelt für Offiziere», erwidert der Gefreite und legt das Steak, das schon an der Bratengabel über der Pfanne schwebt, zurück. Da geht Schanz zum Kocher, nimmt dem Gefreiten die Gabel aus der Hand, wählt zwei besonders große Stücke Fleisch aus und läßt sie in das siedende Fett gleiten. «Sie essen sich erst einmal satt», sagt er zu Kinzel, «und dann verziehen Sie sich in eins der Schlafzelte.» Kinzel nickt und setzt sich. Der Fahrer spürt, wie die Müdigkeit auf ihn zukommt, von den weißen Decken her, vom bullernden Ofen, aus dem Bratenduft, von der hellen Jacke des Gefreiten, der keinen Widerspruch mehr wagt. Kinzel wird erst wieder munter, als Fleisch und Kaffee vor ihm stehen. Der Oberst hat das Zelt bereits verlassen. Schanz schultert den Spaten und entfernt sich rasch. Er hat etwas gegen diese Oasen auf Übungsplätzen, weicht ihnen am liebsten aus. Für sie gibt es viele Argumente. Aber Begründungen findet man für alles. Ihm stehen solche Zelte zu weit weg von den Kompanien, von den Stellungen der Soldaten, von den Feldküchen und Essenkübeln, den SPWs und den Schlafbunkern. Solche Zelte hat es immer gegeben, und es wird sie immer geben. Für notwendig hält Schanz sie nicht, denn er kann sie ganz gut entbehren, er kommt ohne sie aus. Viele jedoch haben sich an sie gewöhnt wie an den morgendlichen Bürokaffee oder das Billardspiel nach dem Mittagessen. Schanz betritt das Pappelwäldchen, in dem der Wind umherhetzt. Wenige Minuten später überspringt er den Graben, in dem er am Vormittag mit Generalmajor Werner gesessen hat. Als er das kluftige, zerrissene Stück Erde betritt, wird ihm bewußt, daß er allein ist. Zum erstenmal, seit er die Wohnung verlassen hat, ist Schanz ganz allein. Er bleibt stehen, lauscht, versucht etwas zu erkennen, aber nur der Wind ist zu hören. Er wirft ihm Sand ins Gesicht, und Schanz dreht sich um, dem Graben zu, den er vor einigen Augenblicken überquert hat. Doch er sieht weder den Graben noch etwas vom Feld, das hinter ihm beginnt und zum Horizont hin an einem Hochwald
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endet. Weit dahinter liegt irgendwo die Siedlung. Dort weiß Schanz seine Frau, sieht sie in einem Sessel sitzen, den Kopf über Hosen, Röcke oder Strümpfe gebeugt, an denen etwas zu nähen oder zu stopfen ist. Er beugt sich zu Gudrun hinab, küßt sie auf den Nacken. Dann zieht er sie aus dem Sessel hoch und drückt sie an sich. Die Umarmung hat etwas Schmerzliches, und Schanz weiß nicht, woher dieses Gefühl kommt. Es ist, als brauchten beide die Nähe des anderen wie einen Halt, als suchte einer beim anderen Trost für einen Verlust, an dem sie keine Schuld haben, für den sie sich aber verantwortlich machen. Die Trennung der Söhne von zu Hause ist endgültiger als die der Töchter. Denn was Friederike mit Stefan erlebt hat, bedeutet innere Trennung, deren Abstände und Tiefen noch nicht genau zu verfolgen und festzustellen sind. Schanz stößt den Spaten in die Erde und setzt sich. Bereits auf dem Weg hierher hat Friederikes Bericht ihn beschäftigt. Er ist unruhig gewesen und hat sogar Angst gespürt. Und er hat versucht, sich zu trösten, indem er an Stunden mit Stefan dachte, in denen sie einander ganz nahe gewesen sind. Zum letztenmal auf diese Weise ist das im vergangenen Sommer gewesen, als sie mit den Fahrrädern und einem Zelt tagelang am Haff unterwegs waren. Während der Fahrt hierher konnte Schanz aus diesen Gedanken in die Unterhaltung mit Kinzel flüchten. Jetzt ist er allein, und alles überfällt ihn von neuem. Er wehrt sich nicht dagegen, überläßt sich den Grübeleien, Zweifeln und Selbstvorwürfen. Schanz hält sich an diesem Zustand nicht für schuldlos. Er redet sich nicht heraus mit seinem pausenlosen, uneigennützigen Einsatz für die Armee und das Land. Er benutzt dieses «Entweder-Oder» nicht als Alibi, mit dem mancher schon so weit gegangen ist, daß er die eigenen Kinder mit der Masse der Soldaten, die er ständig auszubilden und zu erziehen hat, aufwog und damit alles auf ein Mengenverhältnis reduzierte. Und er macht auch jenen keinen Vorwurf, die ihn ununterbrochen beschäftigen und einsetzen und dann, wenn die Kinder einmal ausbrechen, die ersten sind, die sich wundern, die kritisieren und verurteilen, weil er das eine getan hat und das andere unterließ. Stefan ist sein Sohn, und niemand und nichts nimmt ihm die Verantwortung
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ab. Schanz stützt sich auf die Ellenbogen. Der kalte Wind geht über ihn hinweg und jagt übers Feld. Zu oft werden besonders Söhne von ihren Vätern allein gelassen. Zu sorglos überläßt man sie von einem bestimmten Alter an anderen Leuten oder sich selber. Zu eilig fertigt man sie mit Erfahrungen und Erkenntnissen ab, die sie nicht gemacht haben und nie machen können. Ihre Fragen werden häufig mit ausführlichen Lektionen oder knappen Vorwürfen beantwortet, solange, bis sie gar nicht mehr fragen oder nicht mehr zuhören. Schanz erinnert sich an seine Mutter. Sagte er oder eines seiner Geschwister früher zu ihr: «Mama, ich hab’ Hunger», antwortete sie: «Leck Salz, da kriegste Durst!» Und auch heute gibt es noch welche, die auf ernsthafte Fragen in ähnlicher Weise antworten. Leute, die versuchen, Hungrige mit bunten Kochbüchern zu sättigen. Und wie oft noch wird auch in den Kasernen zu diesem Rezept gegriffen. Bereits während der Fahrt hierher ist Schanz nahe daran gewesen, nach Südosten abzubiegen und in die Siedlung zu fahren. Nun spürt er denselben Wunsch wieder. Niemand würde ihm einen Vorwurf machen, wenn er erst morgen früh in der Stellung einträfe. Aber vor Mitternacht wäre er nicht zu Hause. Alle würden schlafen. Er würde sie nur stören, vielleicht sogar erschrecken, und er hätte nicht einmal zwei Stunden Zeit, um mit Stefan zu reden. Und was brächte Reden schon ein? Was bringt das viele Reden überhaupt ein? Oft schon hat er sich das gefragt, manchmal zwischen den Zeilen einer Lektion oder während des Politunterrichtes oder bei einem Gespräch mit Soldaten. Hören ihm die anderen wirklich zu? Verstehen sie ihn, denken sie nach, wenn er mit ihnen spricht, denken sie weiter? Während der ersten Dienstjahre hatte niemand, nicht einmal er selbst, danach gefragt. Und wäre er gefragt worden, er hätte mit voller Überzeugung ja gesagt. Aber mit der Erfahrung nimmt auch die Aufrichtigkeit zu, man sieht manches schärfer, genauer. Spitzenleistungen in der militärischen Ausbildung sind nicht automatisch Folge und Beweis entwickelten politischen Bewußtseins, sondern oft von unbekannten Zufällen und Motiven abhängig, ja sogar von Berechnung und ähnlichem. Das bedeutet gleichzeitig, daß der mühevollen täglichen Arbeit eines Politoffiziers reale Maßstäbe und Vergleiche
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fehlen und daß man diese Fragen niemals wird gültig beantworten können. Schanz lauscht dem Wind, der über ihn hinweghechelt, und spürt die kalte Erde durch Mantel und Hose. Doch er bewegt sich nicht. Denn wieder einmal zieht ein Heer von Soldaten an ihm vorüber, all jene, mit denen er bisher zu tun gehabt hat. Wieder versucht er Gesichter zu entdecken und voneinander zu unterscheiden. Doch er erkennt in den Gesichtern keine Einzelheiten. Verschwommene, helle Flecken unter Käppis, Mützen und Helmen huschen an ihm vorbei, ohne ihn anzusehen oder wahrzunehmen. Sie haben ihn vergessen wie er sie, und sie geben ihm keine Auskunft. Nur wenige Gesichter heben sich von der Masse ab. Das sind jene, die bereits während des Dienstes ihre besonderen Merkmale besessen haben, oder jene, denen Schanz später in irgendeiner Kaserne oder irgendwo im Land wiederbegegnet ist. Heute fürchtet er, daß Stefan eines Tages zu dieser gesichtslosen Kolonne gehören und an ihm vorbeimarschieren könnte, ohne daß einer den anderen erkennt. Trotzdem geht Schanz wenig später nicht zu den Zelten zurück, sondern steigt den Hang hinauf. Möglich, daß er sich mit jedem Schritt weiter von seinem Sohne entfernt. Er geht dorthin, wohin er jetzt gehört: zu den Soldaten. Er geht den Weg, den Tausende, Hunderttausende vor ihm gegangen sind. Er will mit den Soldaten schwitzen und mit ihnen Hunger und Durst kriegen. Wie sie will er hemmungslos von all dem schwärmen, was sie im Augenblick nicht haben können. Bier, Wodka, Ausgang und Frauen, Betten und viel freie Zeit. Die nächtliche Graberei will er mit ihnen verfluchen und sie doch verbissen durchstehen bis zum Ende. Für diese Nacht will er einer von ihnen sein, weil er weiß, daß Arbeit gegen alles hilft, auch gegen Zweifel und Grübeleien, und weil er annimmt, daß er seinem eigenen Sohn in dieser Nacht noch am nächsten bei den Soldaten ist. Je näher er der Kuppe des Hügels kommt, um so lauter werden die Geräusche. Kommandos sind zu hören, Wortfetzen. Ein Motor heult auf, dann kreischen und quietschen die Lager eines Grabenbaggers. Und die Erde seufzt unter zahllosen Spaten- und Schaufelblättern.
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5. Kapitel Lore Werner steht in der Küche ihrer Schwester und blickt aus dem Fenster. Nur die Flamme des Kochers, auf der ein Pfeifkessel steht, wirft spärliches Licht gegen die Wand. Die Frauen, die im Wohnzimmer zusammensitzen, sind, nachdem Frau Werner in die Küche gegangen ist, lauter geworden. Jetzt lachen sie sogar. Zum erstenmal, seit sie hier sind, lachen sie. Lore Werner wünscht sich, am Fenster der eigenen Wohnung zu stehen, allein zu sein, die Rücksicht anderer nicht spüren zu müssen. Denn diese Rücksicht verbindet nicht, sie trennt. Doch Lore Werner wirft den Frauen ihr Verhalten nicht vor. Die Trauer anderer macht Menschen meistens verlegen. Nur Kinder können sich verhalten wie immer. Und die drei Kinder der Schwester sind wild, laut, voller Fragen und Einfälle. Wenn Lore Werner mit ihnen zusammen ist, vergißt sie Katrin mitunter für eine Weile. Sie drückt die Stirn gegen die Scheibe, um ein größeres Stück der abendlichen Straße übersehen zu können. Draußen bewegt sich nichts außer den Kiefern, die im Wind schwanken. Irgendwo schlägt hin und wieder eine unverschlossene Schuppentür gegen eine Wand. In den meisten Häusern ist das Licht schon gelöscht. Während einer Übung wirkt die Siedlung an manchen Abenden wie unbewohnt. Lore Werner denkt an ihren Mann. Sie sieht ihn deutlich vor sich, aber immer nur, wie er vom Haus weggeht. Die Hände in den Manteltaschen und die Ellenbogen gegen die Seiten gedrückt. Sie möchte ihn einmal kommen sehen. Immer wieder hat sie sich das vorgenommen, wollte am Fenster stehen, wenn er zurückkehrt. Aber all die Jahre ist er gekommen, wenn sie nicht zu Hause war oder wenn sie schlief. Nun nimmt sie es sich erneut vor. Auch nachts will sie am Fenster sitzen, will nicht einschlafen, wird auf ihn warten. Er ist der einzige, der sie trösten kann, weil er selbst ihren Trost braucht. Auf einmal gibt es für sie in den nächsten Tagen etwas, worauf sie sich freuen kann, was sie jetzt schon bewegt. Sie wird ihren Mann heim144
kommen sehen, wird ihn in der Tür umarmen, seine Stimme hören, seine Lippen an ihrem Hals fühlen. Schwer wird er sich gegen sie lehnen, mit dem ganzen Gewicht von acht mühevollen, endlosen Tagen und Nächten, in denen nichts und niemand ihm auch nur ein Quentchen seiner Verantwortung abnehmen konnte. Im Augenblick des Wiedersehens, wenn ihre Hand seinen Nacken und sein Haar streichelt, wird er die Anspannung los sein, wenigstens bis zum Morgen, bis er das Haus wieder verläßt. Über diese Erinnerung fallen ihr ein paar Gedichtzeilen ein. Leise spricht sie gegen die Scheibe: «Für die Freiheit meines Lands, rings umdröhnt, umblitzt, kämpfend, fühl ich, wie im Kampf mich dein Warten schützt. Was am Leben mich erhält, weißt nur du und ich: Daß du, so wie niemand sonst, warten kannst auf mich.» Zum erstenmal hat sie dieses Gedicht von ihrem Mann gehört, als er noch Leutnant und Zugführer war. Irgendeinen Jahrestag der Sowjetarmee hatten sie gefeiert in einer zugigen, mit viel rotem und blauem Tuch geschmückten Kasernenturnhalle. Ruhig und langsam sprach er damals, sprach das Gedicht, als wäre es sein eigenes, und sie und die anderen Frauen konnten vor Ergriffenheit lange nichts anderes in sich aufnehmen. Dieses Gedicht ließ sie stärker als spätere Eindrücke und Erlebnisse die Arbeit ihres Mannes begreifen und bestimmte seit jenem Tag ihr Verhältnis zu ihm. Seitdem hat sie es oft von ihm gehört, auch in russischer Sprache. Obwohl sich das Gedicht auf den Krieg bezieht, hat es auch etwas mit ihrem augenblicklichen Gefühl und mit ihrer Sehnsucht nach ihrem Mann zu tun. In ein paar Tagen wird sie ihn kommen sehen. Sie wird nicht vom Fenster weggehen, bis er das Zimmer betritt. Der Kessel pfeift. Lore Werner löst sich aus ihren Gedanken und brüht Tee auf.
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Die Frauen stehen am Tisch, als Frau Werner das Zimmer betritt. Vor ihnen liegt das Muster eines Wandteppichs, den sie gemeinsam knüpfen wollen. Zwei Meter breit und drei Meter hoch soll er werden und im Foyer des Hauses der NVA hängen. Heute wollen die Frauen über das Motiv entscheiden. Das Für und Wider wird laut erörtert, sie gestikulieren, fallen einander ins Wort. Marlies Leichsenring nimmt den Entwurf vom Tisch und hängt ihn an die Schrankwand. Alle treten ein paar Schritte zurück, und Lore Werner kann in Ruhe den Tisch decken und gleichzeitig der Unterhaltung folgen. Sie freut sich, daß die Frauen hier sind, daß der Abend nicht wie sonst verläuft und sie an jene Jahre erinnert wird, in denen sie selbst in der Siedlung lebte. Beruhigend ist auch, daß die Frauen mit einer Sache beschäftigt sind, an der sie innerlich nicht beteiligt ist. Sie kann zuhören, zuschauen, vergleichen und werten. Von den fünf Frauen, die bei ihrer Schwester sind, kennt sie nur eine nicht. Die unterscheidet sich von den anderen schon dadurch, daß sie wenigstens fünfzehn Jahre jünger ist. Marlies hat sie ihr vorgestellt. «Frau Freier», sagte sie. «Lehrerin für Zeichnen und Musik. Zur Zeit unsere Zirkelleiterin. Seit knapp drei Jahren hier.» Die Aufenthaltsdauer in der Siedlung wird oft mitgenannt wie anderswo Orden und Ehrenzeichen. Die Lehrerin steht im Augenblick etwas abseits und beobachtet stumm das Gespräch der Frauen über ihren Entwurf. Nur ihre Hände gleiten hin und wieder an den Oberarmen auf und ab. Im Zentrum der Skizze umarmt sich ein nacktes Liebespaar, das in einer Wiese kniet. Auf einem Tuch neben ihnen liegen große, feste Äpfel, die den Brüsten des Mädchens ähnlich sind. Für ein paar Augenblicke wendet Frau Freier sich um. Ihr schmales, mädchenhaftes Gesicht wirkt ratlos, fast erschrocken. Lore Werner möchte zu ihr treten und sie trösten, ihr sagen, sie solle sich die Ablehnung der anderen nicht allzu sehr zu Herzen nehmen. Sie möchte ihr erklären, daß die anderen Frauen schon fünfzehn Jahre und mehr in der Siedlung leben und manches, was anderswo alltäglich ist, als ungewohnt und fremd empfinden, ihm erst einmal mißtrauen und es ablehnen. Und daß die Frauen manchmal schon aus Unsicherheit, die
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ihnen gar nicht einmal bewußt ist, ein Urteil übertreiben. Das alles braucht Lore Werner nicht zu sagen, denn die Lehrerin verteidigt sich allein. Freundlich und ganz ohne Vorwurf spricht sie. Aber ihre Freundlichkeit hat etwas Belehrendes, was die anderen zwar beeindruckt, sie aber gleichzeitig ungeduldig und unzufrieden macht. «Sicherlich», sagt die Lehrerin, «für einen Wandteppich vielleicht ungewöhnlich. Aber warum soll das, was wir täglich um uns haben, Soldaten, Panzer, Geschütze, warum soll das auch noch auf dem Wandteppich zu sehen sein? Ich dachte mir, hier leben viele junge Leute, und die Soldaten…» «Das sieht mir zu sehr nach Adam und Eva aus», unterbricht Frau Kunze sie, eine hochgewachsene, vollbusige Blonde, die seit Jahren in der Siedlung Briefe und Zeitungen austrägt und zur Wohnungskommission gehört. «Sogar die Äpfel sind da», meint sie, «fehlt nur noch die Schlange. Aber unser Haus der Armee ist doch keine Kirche.» Sie schüttelt lächelnd den Kopf und fügt noch ein fragendes «Oder?» hinzu. Das ist an Marlies gerichtet. Von ihr erwarten die anderen nun das entscheidende Wort. Sie ist die Gastgeberin und außerdem die Frau des standortältesten Offiziers. In solchen Siedlungen überträgt sich die dienstliche Rangfolge der Männer in Verbindung mit öffentlichen Angelegenheiten häufig auch auf die Frauen. Lore Werner kennt es aus eigener Erfahrung. Sie ist manches Mal um Rat gefragt worden, hat schlichten und richten müssen. Gedrückt davor hat sie sich nie, aber auch nicht darum gerissen. Doch es hat schon manche Kommandeursfrau gegeben, die diese ungeschriebene Regel wie ein gegebenes Recht, wie persönlichen Verdienst beanspruchte und danach handelte. Dann war es zu Einmischungen in persönliche und öffentliche Beziehungen gekommen, die nicht einmal vorm Kasernentor Halt gemacht hatten. Frauen sind Machtversuchungen gegenüber anfälliger als Männer. Marlies Leichsenring bildet da keine Ausnahme. Wen schmeichelt es nicht, daß er um Entscheidungen gebeten wird, zumal wenn er weiß, daß seine Entscheidungen anerkannt werden? Marlies versucht zu vermitteln, möchte wohl keinen leeren Raum zwischen den Frauen entstehen lassen. Sie tut unentschieden, und
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doch wird deutlich, daß sie sich der Meinung der Mehrheit anschließt und der Entwurf damit erst einmal abgelehnt ist. Lore Werner ist froh, daß keiner sie nach ihrer Meinung gefragt hat. Die Lehrerin mustert sie jetzt mit großen Augen, als ahne sie, daß die Frau des Generalmajors anders über den Entwurf denkt. Aber auch sie fragt nicht. Frau Werner will sich nicht einmischen, und ihr ist es völlig gleich, welches Motiv der Wandteppich zeigt. Davon hängt überhaupt nichts ab. Aber sie freut sich, daß die Lehrerin sich neben sie setzt. Frau Freier ist jung, erinnert ein wenig an Katrin. Daß die Lehrerin sich von den anderen unterscheidet, macht sie interessant und die übrigen Frauen gleichzeitig einander ähnlich. Diese plötzlich bemerkte Ähnlichkeit zwischen ihnen ist keine äußerliche, sondern eine, die das Wesen betrifft. Auch die hölzernen Siedlungshäuser bleiben trotz aller Unterschiede in Farbe und Garten, Gardinen und Zäunen hölzerne Siedlungshäuser, die auf die Dauer langweilig wirken. Die Ähnlichkeit der Frauen hängt mit all dem zusammen. Mit den gleichförmigen Häusern ebenso wie mit den linealgeraden Straßen, mit jenen durch den Rhythmus von Entlassung und Einberufung der Soldaten sich ewig wiederholenden dienstlichen Aufgaben und Problemen ihrer Männer. Das hinterläßt Spuren in jedem. Wie tief und dauerhaft sie sind, wie deutlich und auf welche Weise sie sich äußern, hängt von der inneren Struktur der Frauen ab und von den Beziehungen, die sie zu anderen Menschen haben. Immer wieder gibt es in solchen Siedlungen Zusammenbrüche und Ausbruchsversuche, die in den letzten Jahren sogar häufiger geworden sind und am Ende einer Reihe oft unscheinbarer Vorgänge und Veränderungen stehen. Die einen werden gleichgültig, innerlich wie äußerlich. Andere treibt die Sucht nach Abwechslung zu sexuellen und anderen Abenteuern. Manche werden ihrer Umwelt gegenüber streng bis zur Rücksichtslosigkeit, und wieder andere stürzen sich in allerlei Beschäftigungen, denen sie früher keinen Blick gegönnt und anderswo keine Zeit geopfert hätten. Die meisten jedoch finden sich zurecht, machen das Beste aus ihrer Lage, leben mit bewundernswerter Konsequenz für die Familie und den Mann. Sie machen aus der Not eine Tugend und fühlen sich gut. Zu dieser großen Gruppe ge-
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hört Marlies Leichsenring, und Lore Werner zählt auch die anderen dazu. Und sie selbst hat jahrelang ebenso gelebt. Bewußt geworden sind ihr die zwangsläufigen Mangelerscheinungen dieses Lebens erst nach Katrins Tod. Weil sie sich damals gefragt hat, wozu sie denn überhaupt gelebt habe bisher. Die Lehrerin besitzt durch ihren Beruf allen anderen gegenüber einen unaufholbaren Vorteil. Die Alteingesessenen, von denen Marlies mit ihren neununddreißig Jahren noch die jüngste ist, arbeiten meistens, wenn sie schon irgend etwas tun, nicht in ihrem Beruf. Sie folgen einer einfachen Logik, die ihr Leben betrifft: «Was wir können, dürfen wir auch von anderen erwarten!» Von diesem Satz aus beurteilen und verurteilen sie manchmal all jene, die aus irgendwelchen Gründen in der Siedlung nicht zurechtkommen. Auch alles Außergewöhnliche an Anschauungen und Verhaltensweisen, das durch immer neue Generationen von Offizieren und deren Frauen in diesen Lebenskreis getragen wird. Selbst ein nacktes Liebespaar auf einem Wandteppich, der im Foyer des Klubhauses hängen soll. Es erscheint manchmal so, als ob sich von Zeit zu Zeit in einigen Frauen alles, was sie hier entbehren müssen, zu schroffer Unzugänglichkeit zusammenballt. Dennoch gibt es genug Frauen, die ihre hilfreiche, mütterliche Güte keinen Augenblick verlieren, sie von nichts abhängig machen und der kalten Strenge anderer erfolgreich entgegensetzen. Schweigend trinken die Frauen den Tee. Nach einer Weile steht Frau Freier auf, nimmt den Entwurf von der Schrankwand und rollt ihn zusammen. «Wo werden sie jetzt sein?» fragt sie. «Es ist ziemlich kalt draußen, nicht wahr?» Wieder reibt sie mit den Händen die Oberarme. «Das ist gar nichts gegen eine Winterübung», erwidert Marlies. Frau Kunze nickt und erklärt: «Sie werden in den Rabenbergen liegen, auf dem Kratzerplatz, und sich eingraben.» Die Lehrerin horcht auf und mustert Frau Kunze überrascht. «Das klingt, als wären Sie schon dabeigewesen.» Frau Christian trägt eine Brille mit starken Gläsern, die ihre sehr hellen Augen groß und langsam machen, daß sie wie scheue Lebewesen wirken. Wer hier so lange wohne wie sie, sagt sie, und immer
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neue Übungen erlebe, der wisse fast genau, wo sich die Männer befinden und was sie gerade unternehmen. Und als Beweis dafür fügt sie hinzu, daß die gesamte Division morgen oder spätestens übermorgen über die Havel gehen werde. Frau Freier solle sich das von ihrem Mann nach seiner Rückkehr bestätigen lassen. Stolz und gleichzeitig auch ein wenig Vorwurf klingen in ihren Worten mit, und das ältliche, schmale Gesicht der kinderlosen Frau Christian spiegelt diese Gefühle wider. Die anderen Frauen empfinden wie sie, aber auf dem Gesicht von Frau Christian spielt sich alles am deutlichsten ab. Sie gehören zu den Pionieren der ersten Stunde und waren an der Gründung der Armee unmittelbar beteiligt. Nun erleben sie, daß die Bereitschaft und Fähigkeit zu einem solchen Siedlungsleben bei den Frauen immer geringer wird. Und da beginnt der Vorwurf, der sich manchmal bis zur Verachtung steigert, sobald jemand diesen Stolz geringschätzt oder gar lächerlich findet. Aber lächerlich ist er nicht und darf er nicht gemacht werden. Allerdings auch nicht von denen, die ihn fühlen. Denn zu häufiger Gebrauch nutzt ab, und Frau Christian ist eine jener Frauen, die nicht viel mehr als diesen Stolz haben. Das ist auch der Grund dafür, daß sie ihrem Mann vor fünf Jahren nicht gefolgt ist, als er zum Divisionsstab versetzt wurde. Seine Frau wollte aus der Siedlung nicht weg, sie blieb in dem kleinen Holzhaus wohnen und an der Kasse der Kaufhalle sitzen. Gleichwertige Wohnung und Arbeit hätte sie natürlich auch in der Stadt bekommen. Aber nicht das Gefühl, etwas Besonderes zu sein. Denn dieser Stolz gilt, wenn er überhaupt von anderen anerkannt wird, nur in einer solchen Siedlung wie dieser. Und nur hier gibt es Gleichgesinnte, die jedoch von Jahr zu Jahr weniger werden. Frau Werner denkt all das ohne Wertung, aber sie sieht es mit einem überraschenden Scharfblick, gegen den sie sich nicht wehrt. Denn er ist unbestechlich. Er verzerrt nicht, sondern ist auffallend genau. Er entfernt sie allmählich vom Fühlen und Denken der Frauen, die mit ihr Tee trinken, entfernt sie von ihrem eigenen früheren Leben. Von den Männern und ihrem Dienst wechseln solche abendlichen Gespräche meistens zu den Kindern über. Doch dieses Thema berüh-
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ren die Frauen heute nicht. Sie erinnern sich gleich an «früher» und meinen jene Zeit, die über zwanzig Jahre zurückliegt. In den Kasernen hatte das Leben schon damals seine Ordnung, seinen von der Uhrzeit und durch Befehle bestimmten Rhythmus, auch wenn die Kasernen anfangs aus Zeltlagern bestanden. Alles, was außerhalb dieser dienstlich geregelten Abläufe zum Leben notwendig war, das Wohnen und die Versorgung, die Schule und die gesamte Verwaltung, bestand als Provisorium oder gab es noch gar nicht. Es mußte erst geschaffen und stabilisiert werden. Und es konnte nur bewältigt werden, weil sich die ersten Frauen, die damit begannen, einig waren, die nachfolgenden mitrissen und sie je nach Fähigkeit und Bereitschaft in die neue Lebensgemeinschaft einordneten. Es war eine Zeit, in der man winters manchmal das Brot und die Milch mit einem Panzer aus dem nächsten Dorf holen mußte. Wo im Sommer ganze Familien zu Fuß oder mit dem Fahrrad zu einem etwa acht Kilometer entfernten Brunnen wanderten, dessen reines Wasser im ganzen Kreis noch heute berühmt ist. Damals wurden die Blaubeeren und Pilze, die in den weiten Kiefern- und Mischwäldern wachsen, noch geerntet und eingeweckt, damit man für den Winter versorgt war, und das gemeinsam geschlagene Holz wurde bei den ersten Wohnhäusern zu gewaltigen Rundschobern gestapelt. Jahre des Siedlerlebens, das jeden brauchte und ausfüllte, in dem Verzicht und Entbehrung zum Abenteuer gehörten. Eine Zeit, in der die Siedlung und Kasernen noch ganz ohne Anordnungen lebendig und fest miteinander verknüpft waren wie später nie wieder. Verwaltung und Versorgung dieser beiden, meist nur durch eine Straße getrennten Bereiche, wurden in den Jahren danach immer entschiedener voneinander getrennt. Dieser Zeit trauert auch Frau Werner ein wenig nach. Aber sie vergleicht jene Jahre nicht direkt mit der Gegenwart. Vergangenes verklärt sich immer, steht in einem besonderen Licht, das seine Schatten übers Heute wirft. Und dann wird geseufzt und geklagt, dann ist es bis zum Vorwurf nur noch eine Atempause. Die ist an diesem Abend besonders kurz. Das hängt mit der Abwesenheit der Männer zusammen, denn während der längeren Übungen und anderer militärischer
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Einsätze lebt das Zusammengehörigkeitsgefühl in den Siedlungen stets wieder auf, ohne allerdings die Größe der Anfangsjahre zu erreichen. Frau Kunze als Briefträgerin und Frau Christian als Kassiererin treffen täglich mit vielen Menschen zusammen. Die eine liest vom Inhalt der Einkaufskörbe und die andere von der Zahl der Briefe und ihren Absendern aufschlußreiche Lebensgewohnheiten und Verhaltensweisen der Siedlungsbewohner ab. Und da gibt es viel zu vergleichen, zu bedauern, zu beurteilen. Frau Werner mischt sich nicht in die Unterhaltung ein. Sie beobachtet die Lehrerin, die entweder alles durchschaut oder froh ist, an diesem Abend nicht allein sein zu müssen. Sie schweigt und hört zu, obwohl vieles so verallgemeinert wird, daß sie sich eigentlich getroffen fühlen und sich verteidigen müßte. Frau Kunze zum Beispiel möchte nicht wissen, warum diese oder jene Frau eines Offiziers oder eines Feldwebels nicht einmal das Zeitungsgeld bereit hat, obwohl die Kassierung angekündigt ist. Und wann hat es je so verlotterte Vorgärten in der Siedlung gegeben wie heute? Und erst die Wäsche, der man mitunter ansieht, daß sie nur durchs kalte Wasser gezogen wurde. Und wer kennt überhaupt noch wen? So viel junges, unreifes Volk zieht ein und wieder aus, das die Siedlung nur als Durchgangsstation benutzt und alles, was zu ihr gehört, entsprechend behandelt. In der Kaufhalle wird geschimpft, sobald es mal an Getränken fehlt, an Obst und Gemüse oder an besonderer Wurst, anstatt daß die Leute sich mal ein bißchen einschränken. Aber acht Tage vor der Gehaltszahlung ist in mancher Familie Hochsaison für Quark und billigen Schmelzkäse, für Blutwurst, Knäckebrot und Marmelade. «Und wann», fragt Frau Christian, «ist jemals gestohlen worden in der Kaufhalle? So was gab es früher nicht.» Die anderen nicken. Die Ordnung hat nachgelassen, und von Zusammengehörigkeit innerhalb der Siedlung, geschweige von einer verschworenen Lebensgemeinschaft, kann nicht einmal mehr während der großen Übung gesprochen werden. Lore Werner gießt Tee nach. Das zustimmende Nicken der Frauen
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wirkt rührend. Sie haben etwas verloren, etwas für sie Wichtiges ist zu Ende gegangen, und sie haben es nicht bemerkt oder nicht bemerken wollen. Außer der Lehrerin haben alle anderen am Tisch ihre große Zeit schon hinter sich. Vielleicht ahnen sie das in solchen Augenblicken. Ein gesellschaftlicher Organismus, einmal ins Leben gerufen und in Bewegung gebracht, braucht nach einer gewissen Zeit seine Begründer nicht mehr. Er bewegt sich nach neuen, aus sich selbst entstehenden Gesetzen, die oft mit den Vorstellungen und Idealen der Erbauer nicht mehr übereinstimmen, aber trotzdem nicht schlechter sind. Erschwert wird dies alles noch dadurch, daß die Ortschaften zu klein und zu jung sind, um schon über Traditionen zu verfügen. Ihre Bewohner sind nicht durch jene gemeinsamen Merkmale miteinander verbunden, die sich über Jahrhunderte als sprachliche, charakterliche und geschichtliche Besonderheiten innerhalb einer bestimmten Landschaft herausbilden. Hier in der Siedlung gibt es nur eine wichtige Gemeinschaft, das ist der Dienst, der Beruf der Männer, der in sich jedoch schon wieder viel Trennendes und Zeitweiliges besitzt. Vielen Frauen ist das alles nie bewußt geworden. Zu tief und zu lange stecken sie in diesen Lebensbedingungen. Sie hängen durch unzählige Erlebnisse, Erfolge und Enttäuschungen zu fest an dem, was sie einst geschaffen haben und was ihnen später immer mehr entglitt. Das ist das Rührende und gleichzeitig Tragische am Schicksal solcher Frauen. Sie machen etwas durch, einen Verlust, der ihre Vergangenheit betrifft und zugleich ihre Gegenwart und Zukunft. Lore Werner möchte den Frauen irgend etwas Gutes, etwas Tröstendes sagen, aber ihr fällt so rasch nichts ein. Frau Kunze setzt das Gespräch fort. «Oder wann war das schon da, daß ein Offizier, als er die Zuweisung für eine Wohnung abholen soll, sein Gesuch zurückzieht? Major Wittenbeck, der seit Jahren schon von Frau und Sohn getrennt lebt und auch hier bleiben wird.» «Wittenbeck?» Frau Christian wiederholt den Namen. «Ist das so ein Schwarzhaariger, Kräftiger?» Frau Kunze nickt, und die Kassiererin sagt lebhaft: «Das ist er, jawohl, er ist es.»
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«Wer?» fragt Marlies. «Der mit Friederike Schanz getanzt hat. Als erster und einziger.» «Als erster ja», entgegnet Marlies, «aber nicht als einziger.» Eine Pause entsteht, in die hinein Frau Kunze sagt: «Was soll’s?» Sie lehnt sich zurück, hebt die Hände und läßt sie langsam auf die Sessellehnen sinken. Eine Geste, die einen Themenwechsel ankündigt. Frau Kunze hat helle, schmale Hände mit schlanken Fingern, die Lore Werner an Katrins Hände erinnern, die vor und nach dem Spiel jedesmal ruhig auf ihren Oberschenkeln oder auf den Tasten lagen. Frau Kunzes Hände sind wie geschaffen für das Teppichknüpfen, das keine so geschickt und rasch kann wie sie. Aber das Thema wird noch nicht gewechselt. «Schanz?» fragt die Lehrerin. «Ist das ihr Bruder, der Stefan?» Man nickt, und Frau Freier spricht lebhaft weiter. «Stefan zeichnet erstaunlich gut. Landschaften aus der Umgebung zum Beispiel, da habe ich gedacht, so langweilig und eintönig ist es hier doch gar nicht. Der Junge hat Talent, aber er weiß es nicht, oder es ist ihm egal. Den Eindruck hab’ ich eher. Was kann man da wohl tun?» Sie hat alle angesprochen, aber die Frauen gehen auf ihre Gedanken nicht ein. Daß Stefan zeichnet, wissen sie nicht, und es interessiert sie auch nicht. Er ist ihnen keine Unterhaltung wert. Dann schon eher seine Schwester. Marlies Leichsenring beginnt damit. Niemand hält sie und Lore Werner für Schwestern. Marlies ist fünf Jahre jünger und fast einen Kopf kleiner. Dafür aber breiter in den Schultern und muskulös. Ihre Brüste sind auch nach den Entbindungen nicht größer geworden, sondern mädchenhaft und fest geblieben. Die dunklen Augen, die ungewöhnlich weit auseinanderstehen, sind außen ein wenig nach oben gerichtet. Das mag daher rühren, daß Marlies ihr schwarzes, kräftiges Haar seit langem straff nach hinten kämmt und zu einem schweren Knoten bindet. «Tja», sagt Marlies, «ihr Männerverschleiß…» «Sie hat ja zeitig genug damit angefangen», ergänzt Frau Kunze. «Mit dem Kellner damals, erinnert ihr euch?» Sie erinnern sich, und Frau Christian sagt: «Daß Schanz seine
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Tochter zum Ball mitgebracht hat…» Ihre Augen schauen scheu in die Runde. «Da hört bei mir jedes Verständnis auf.» Lore Werner ist froh, als die Teekanne leer ist und die Frauen sich verabschieden. Frau Freier geht als erste. Sie wohnt im Lehrerhaus, einem der ältesten Steinbauten in der Siedlung, das ein wenig abseits von den Holzhäusern liegt, dort, wo jetzt die neuen Wohnblocks stehen. Lore Werner entschließt sich, die Lehrerin zu begleiten. In den hohen Kiefern hinter den Häusern verfängt sich der Wind, der ein wenig nach Kien riecht. «Eine Ruhe ist das», sagt Frau Freier, «fast wie im Urlaub. Und alles wirkt so freundlich, als ob es zwischen den Leuten hier nur lauter Gutes geben könnte.» «Ihr Entwurf, das Liebespaar, gefällt mir.» Die Lehrerin bleibt stehen und fragt: «Warum haben Sie das vorhin nicht gesagt?» «Weil ich möchte, daß Ihr Entwurf sich durchsetzt, von selber und nicht deshalb, weil er mir gefällt.» «Verstehe», sagte Frau Freier, «verstehe, Frau General!» Sie lachen herzhaft und vertraut, wie Lore Werner oft mit Katrin gelacht hat. «Ob es den Männern gut geht?» fragt die Lehrerin und reibt im Weitergehen wieder ihre Oberarme. Lore Werner hakt sich bei ihr unter und sagt: «Aber ja. Es geht ihnen gut.» «Manchmal friert man schon bei dem Gedanken, daß man zu Hause allein ist. Hier in der Siedlung ist das Alleinsein abends und überhaupt viel schwerer», meint Frau Freier. «Schafft euch Kinder an», rät Lore Werner, «ein paar Kinder, und wartet nicht zu lange damit. Das beste hier oben sind Kinder. Die fangen vieles ab.» «Sie haben nur die eine Tochter gehabt?» Lore Werner nickt. «Es war eine komplizierte Geburt, die Ärzte haben mir von jeder weiteren Schwangerschaft abgeraten. Wenn ich damals alles gewußt hätte, ich wär’ das Risiko eingegangen. Jetzt ist es zu spät. Mit fast vierundvierzig Jahren.» «Wieso?» widerspricht Frau Freier. «Es gibt doch elternlose Kinder, auch ganz kleine, in Heimen.» «Adoptieren?»
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«Warum nicht?» Lore Werner sagt nichts dazu. Das Wort «Adoptieren» ist ihr völlig fremd. Nie hat es für sie Bedeutung gehabt, auch nicht nach Katrins Tod. Sie wiederholt das Wort, denkt es immer wieder, ohne daß es sie berührt. Sie biegen zum Lehrerhaus hin von der Straße ab. Wieder beginnt Frau Freier das Gespräch. «Was da über die Friederike Schanz gesagt wurde, stimmt das alles?» «Das weiß ich nicht. Ich weiß nur, daß von Zeit zu Zeit die Gemüter einiger Frauen zu kochen beginnen, und der Dampf weht manchmal bis zu uns in die Stadt rüber. Meine Tochter ist gestorben, ohne einen Mann geliebt zu haben. Wie Friederike auch sein mag, sie lebt. Und ich wünsch’ ihr das Beste im Leben, wie ich es meiner Tochter gewünscht habe.» «Und ich mag den Stefan», erklärt die Lehrerin, «und ich hoffe, daß er begreift, was in ihm steckt. Alles werde ich dafür tun. Solch eine Fähigkeit darf nicht verkümmern.» «Viel Erfolg dabei», wünscht Lore Werner. Sie verabschieden sich voneinander. Langsam schlendert Lore Werner zurück. Sie denkt an ihren Mann, der zu dieser Stunde bestimmt auch nicht schläft. Sie sieht ihn heimkommen, sieht ihn vom Gartentor her mit schweren Schritten aufs Haus zugehen. Und dieser Freude gegenüber erscheint Lore Werner alles, was sie heute gehört und gesehen hat, belanglos. Es geht sie nichts mehr an. Nur ein Wort ist in ihr geblieben: Adoptieren. Gegen Mitternacht lenkt Litosch den Schützenpanzerwagen in die aus dem Hinterhang gebaggerte Stellung, schlägt das Tarnnetz über den SPW und hebt es mit den Stützen so aus, daß er ungehindert hinters Lenkrad gelangen und ohne Zeitverlust zum Angriff fahren kann. Danach zieht er seinen Spaten aus der Erde und geht hinauf zu den anderen. Der Wind hat nicht nachgelassen, ist aber milder geworden und hat die Wolken auseinandergetrieben. Die hellen Zwischenräume am Himmel werden immer größer, und die dunklen Schatten wirken wie
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Nachzügler einer riesigen schwarzen Herde. Wie Büffel etwa aus amerikanischen Western. Oder wie Schafe vielleicht, die Litosch als Herde bisher nur in Filmen gesehen hat. Er ist überzeugt, daß Fichtner jetzt irgendwo sitzt und ebenfalls nach oben blickt und an seine Herde denkt. Und an Friederike Schanz. Über beides spricht der Schäfer nicht, als gingen diese Dinge nur ihn etwas an. Alle anderen sind längst aus ihrer stummen Anonymität herausgetreten. Der eine früher, der andere später. Sie erzählen von zu Hause, von der Arbeit, von der Freundin, zeigen Fotos oder lesen Briefstellen vor. Mancher beschreibt sogar Einzelheiten, Lippen, Brüste oder Schenkel, nach denen er sich sehnt. Sie erzählen sich in eine heitere Gelöstheit hinein, und obwohl sie Männerworte gebrauchen, macht keiner eine Schweinerei daraus. Die leisen, freundlichen Gespräche haben sie ebenso zusammengebracht wie die Arbeit, wie gemeinsamer Ärger und Erfolg. Nur Fichtner beteiligt sich nicht an der Unterhaltung. Er benimmt sich wie ein verklemmter Schuljunge, er zieht sich zurück wie eine Mimose, so ungefähr. Aber Fichtner blickt nicht hinauf zum Himmel, der inzwischen leergefegt ist und eine Menge Sterne sehen läßt, die sich vervielfachen, wenn man die Augen zusammenkneift, und wie die Lichter einer entfernten Stadt wirken. In diesem Licht erkennt Litosch den Schäfer, dessen Schulterblätter kantig aus dem Rücken ragen und bei der Arbeit das Unterhemd über den Körper hin und her zerren. Litosch tritt näher und sieht ein ansehnliches Stück Graben sauber ausgebaut. «Da komm’ ich ja zu spät», sagt er. Fichtner stützt sich für Augenblicke auf den Schippenstiel. Litosch sieht, daß der Schäfer grinst, und er fragt: «Hast mit deinen Schulterblättern geschaufelt?» «So ungefähr», erwidert Fichtner und reckt sich. Da sieht Litosch, wie groß der Schäfer ist und wie dürr, und er meint: «Hammelfleisch setzt wohl nicht an, wie?» «Ich esse kein Schaffleisch.» «So? Na, dafür trifft dich nie ’ne Kugel, wenn du dich seitwärts zum Gegner stellst.» «So ungefähr», sagt Fichtner zum zweitenmal, und Litosch geht
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kopfschüttelnd am Graben entlang weiter. An der MG-Stellung arbeitet ein Fremder, einer, der gar nicht zu ihnen gehören kann. Denn ein so blendend weißes Unterhemd, wie der trägt, hat Litosch in all seinen Soldatenmonaten bei keinem Wäschetausch zu sehen gekriegt. Und über Hemden weiß er Bescheid, da kann ihm keiner etwas vormachen. Einmal haben sie abends nach dem Wäschetausch, Litosch weiß nicht mehr, wer damit begonnen hat, eine Modenschau veranstaltet. Litosch hielt das Koppelschloß wie ein Mikrofon vor den Mund und begann, die Kollektion der Hemden, die im Zimmer vorgeführt wurden, anzupreisen. Das Gelächter lockte Neugierige an, und nach wenigen Minuten verlagerte sich das Spiel auf den Flur. Rechts und links standen die Zuschauer an den Wänden, und die sieben Soldaten aus Litoschs Zimmer spazierten zwischen ihnen auf und ab. Litosch selbst ging mit dem einen oder dem anderen ein paar Schritte mit und sprach in sein Koppelschloßmikrofon. Der erste, den er begleitete, war Eisner. «Hier stelle ich Ihnen unseren Dressman Roland vor, liebe Freunde», sagte Litosch. «Er trägt ein trikotartiges, nabelkurzes Hemd, gut geeignet für Unteroffiziere und deren Stellvertreter, weil es die Brustpartie besonders betont. Darum bezeichnen wir es auch als ‹Autoritätshemd›. Und nun richten Sie bitte Ihre Aufmerksamkeit auf das nächste Stück unserer Kollektion. Schon seine Länge weist darauf hin, daß es sich um ein ganz und gar völkerverbindendes Kleidungsstück handelt. Während es in Mitteleuropa als Unterhemd dient, kann es im Süden Europas und im Orient wie ein Kaftan getragen werden, bei dem man auf die Betonung jeglicher Körperformen von vornherein verzichtet…» Litosch sieht, daß der Mann im weißen Hemd mit ruhigen Bewegungen arbeitet. Nicht wie einer von den Wühlern, die den Dreck irgendwohin schippen, wo er ihnen später wieder im Wege ist. Er wirft den frischen, hellen Sand aus der Grabensohle in Kuhlen und Vertiefungen auf der Brustwehr, über die er dann die nach hinten gehobene Oberschicht verteilt. Einfache und sichere Tarnung. Der Mann denkt erst, bevor er was tut. Während Litosch ihn beobachtet,
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fällt ihm ein weiteres Muster ein, das er damals auf dem Flur angepriesen hat. «Und nun, meine lieben Freunde der militärischen Mode», rief er, «bitte ich um Aufmerksamkeit für eine besonders schöne Ausführung unserer Kollektion, die zunächst nur für den Export hergestellt werden sollte. Wer mit solch einem Stück ausgestattet wird, ist entweder ein Glückspilz, oder er hat beim Spieß einen Stein im Brett. Wir haben hier mehrere zur Zeit gültige Modetrends miteinander verbunden. Den langen, nach unten allmählich weiter werdenden Ärmel, große Axelöffnungen, Knielänge vorn und Überwadenlänge hinten, so daß der rückwärtige Teil mühelos zwischen den Beinen nach vorn und dort hochgeschlagen werden kann, wodurch wir die Unterhosen einsparen… Dieses Exemplar ist absolut schweißdurchlässig und garantiert wolfsfrei, weshalb wir es auch als Härtetesthemd bezeichnen.» Der Unbekannte im Graben reckt sich, blickt zum Himmel hinauf und schippt dann weiter. Gegen dieses blendendweiße Hemd wirkt das von Fichtner wie ein grauer, unscheinbarer Vogel. Auch über die Farbe der Unterwäsche hat Litosch damals einige Erklärungen abgegeben. «Liebe Freunde, wir haben erfahren, daß über den Farbton, der unsere Kollektion auszeichnet, viele Vermutungen angestellt werden. Der durchgehaltene Grauton, der hin und wieder ein wenig gelbstichig oder bläulich schimmert, wird irgendwelchen Waschmitteln zugeschrieben, dem Eisengehalt des Wassers, dem Schweiß vieler Soldatenjahrgänge, ja, es wird sogar behauptet, daß die Farbe der Uniform allmählich auf die Hemden übergehe. Aber das sind und bleiben Vermutungen. Das Einfachste und für Soldaten Normalste wird von keiner dieser Erklärungen getroffen. Der Farbton, liebe Freunde, ist von uns gewollt, ist Absicht, aus zwei Gründen: Wenn nämlich ein Spieß, er kann ja überarbeitet sein oder den Kopf mit wichtigeren Dingen voll haben, den Wäschetausch einmal verpennt, fällt es bei einem graugehaltenen Hemd nicht so stark auf wie bei einem weißen, falls die Soldaten es vierzehn Tage oder länger tragen. Und der zweite Grund ist natürlich der wichtigere. Wir sind davon
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ausgegangen, daß graue Hemden im Gelände vom Gegner schwerer zu erkennen sind als weiße.» Weiter kam Litosch nicht. Von der Treppe her tauchte der diensthabende Offizier auf, ging zwischen den verstummenden Soldaten auf Litosch zu, blieb wippend vor ihm stehen und fragte: «Was geht hier vor?» «Modenschau, Genosse Oberleutnant», erklärte Litosch, «wir machen eine Modenschau.» Der Oberleutnant schwieg und musterte ihn. Litosch wünschte sich, daß auch im Gesicht des Offiziers ein Lächeln erschiene, aber der Oberleutnant bekämpfte es erfolgreich. Er war zwar klug genug, aus der Modenschau kein besonderes Vorkommnis zu machen, aber zum Schweigen war er noch nicht erfahren genug. «Wir sind hier nicht im Kabarett», sagte er mit einem drohenden Ton in der Stimme, und seine braunen Augen verengten sich. «Wir sehen uns wieder! Ihr Name?» Litosch mußte sich am nächsten Tag bei «Tschapajew» melden und berichten. Der Kompaniechef lachte, und dann rief er den Hauptfeldwebel zu sich. Seitdem wird in der Kompanie nach den befohlenen Fristen die Wäsche getauscht. Ihre Tarnfarbe jedoch hat sie behalten. Bis auf dieses Hemd dort vorn. Sein Besitzer hat fast ebenso breite Schultern wie Eisner. Aber der Gefreite ist um die Hüften nicht so füllig, und ein Bauchansatz ist bei ihm auch noch nicht zu erkennen. «He! Was machst du hier?» fragt Litosch. «Ich pflanz’ Radieschen.» Eine tiefe, ruhige Stimme antwortet. Litosch kennt sie nicht. Er weiß nur, daß sie nicht in die Kompanie gehört. «Reich mir mal das Heidekraut rüber», sagte der andere und wendet sich ihm zu. Litosch setzt sich verblüfft auf die Brustwehr. «Das gibt’s nicht! Fichtners Schwiegervater. Das ist…» Im nächsten Augenblick wird er gerufen: «Litosch! Fichtner! Essen holen.» Litosch gibt Schanz das Heidekrautbüschel, dann schwingt er sich aus dem Graben und wiederholt leise: «Das gibt’s doch nicht!»
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Fichtner geht mit langen, sicheren Schritten vor ihm her, als wäre es Tag. Nach ein paar Sekunden fragt Litosch: «Wie lange ist denn Schanz schon in der Stellung?» «Gut zwei Stunden.» «Deinetwegen?» «Keine Ahnung. Er ist gekommen, als der Grabenbagger wegfuhr, und hat sich von Eisner ein Stück Graben zuweisen lassen. Seitdem arbeitet er.» «Mehr nicht?» fragt Litosch, und zum drittenmal sagt er: «Das gibt’s doch nicht!» Dann überläßt er sich Fichtners Führung, der entweder genau weiß, wo die Feldküche steht, oder er sieht sie trotz der Dunkelheit. Während der bisherigen elf Monate seines Dienstes ist Litosch vielen und ganz unterschiedlichen Offizieren begegnet. Er weiß genau zu differenzieren und läßt schlechte Erfahrungen mit diesem oder jenem Offizier nicht an allen anderen aus. Auch auf dem Bau gibt es taube Nüsse. Litoschs erster Zugführer ist ein ganz kurzer, so ein abgebrochener Riese gewesen, der einen gewissen Abstand zwischen sich und den Soldaten nie überschritt. Vielleicht aus Angst, sonst in den toten Winkel zu geraten, wo er gar nicht mehr wahrgenommen wurde. Aber zu überhören war der Leutnant nicht. Er hatte eine ganz trockene Stimme, die klang wie heller, scharfer Donner. Außerdem kaute er ständig auf Kaugummis herum, auch während der Ausbildung und beim Politunterricht, und die Soldaten tauften ihn schon am dritten Tag «Ami». Doch das half ihnen nichts. «Ami» donnerte sie weiterhin mit seiner Stimme nieder, und Litosch ärgerte sich über die Hasenschwänze im Zug nicht weniger als über diesen Vorgesetzten. Nach vierzehntägiger Grundausbildung, es war kurz vor der Vereidigung, fiel Litosch etwas ein. Im Militärladen kaufte er dreißig Kaugummis, und am Abend erklärte er den Soldaten des Zuges seinen Plan. «Der macht uns zur Schnecke», sagte einer, und Litosch redete wie ein Buch, weil der Erfolg nur dann zu erwarten war, wenn sich alle beteiligten.
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«Mensch, ihr halben Hähne», schimpfte er, «wo leben wir denn? Der einzige ‹Ami› im ganzen Regiment ist unser. Ihr braucht bloß zu kauen, alles andere ist meine Sache.» Am nächsten Morgen stand die Ausbildungskompanie zum Appell auf dem Exerzierplatz angetreten. «Ami» musterte die Soldaten zunächst aus der Entfernung. Schließlich trat er an den Zug heran, schritt kauend die Front ab und korrigierte stumm die Fußstellung, den Sitz eines Koppels oder die Haltung des einen oder anderen Soldaten. Dann stellte er sich an die Spitze des Zuges, spuckte den Kaugummi aus und drückte ihn mit der Stiefelspitze in den Sand. Litosch erschrak, denn er nahm an, daß einer aus dem Zug gepetzt hatte. Wenige Augenblicke später jedoch entdeckte er den wahren Grund. Der Regimentskommandeur näherte sich in Begleitung von zwei weiteren Offizieren den angetretenen Soldaten. Litosch zögerte mit dem Zeichen, auf das hin sie zu kauen beginnen wollten. Oberstleutnant Leichsenring sprach zu ihnen über die bevorstehende Vereidigung. Er hielt keine Lektion, sondern erzählte ein paar Geschichten aus der Vergangenheit des Regiments, Geschichten zum Nachdenken und welche zum Lachen. Er betonte, wie wichtig die kameradschaftlichen Beziehungen im Soldatenkollektiv für die erfolgreiche Ausbildung seien, und riet ihnen, Probleme, Konflikte und Fragen nicht zu verschweigen, sondern sie auszusprechen, zu den Offizieren zu gehen und sich vertrauensvoll mit ihnen zu beraten. «Wenn der wüßte», flüsterte einer, und in diesem Augenblick entschied Litosch, bei seinem Plan zu bleiben. Als «Ami» aus dem Block des Zuges heraus und zum Regimentskommandeur trat, nieste Litosch, begann zu kauen und überzeugte sich durch einen raschen Seitenblick, daß seine Nebenmänner mitkauten. Leichsenring stutzte. «Ami» wurde blaß und war auf einmal ein hilfloser, kleiner Junge, dem vor Schreck kein Wort einfiel. «Guten Appetit!» sagte der Regimentskommandeur. Seine dunklen Augen unter den dicken, schwarzen Brauen nahmen die kauende Parade ab. Er schien irgendeinen Spaß zu erwarten, denn Litosch sah deutlich, daß Leichsenring lächelte. «Hat euch das Frühstück nicht gereicht, oder…?»
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«Wir eifern unserem Zugführer nach, Genosse Oberstleutnant», erwiderte Litosch rasch. Leichsenring musterte ihn eine Weile und forderte ihn dann auf weiterzusprechen. «Wir dachten», erklärte Litosch, «wenn unser Zugführer immer kaut… Und da hat der Volksmund ihn eben ‹Ami› getauft.» Mehr brauchte Litosch nicht zu sagen. Den Kompaniechef und ihren Zugführer sahen sie nach dem Appell über eine Stunde lang nicht. Als «Ami» wieder bei ihnen auftauchte, kaute er nicht. Nach dem Mittagessen rief er Litosch zu sich. Die anderen Soldaten im Zimmer verstummten, aber der Fahrer lachte sie aus und meldete sich bei seinem Zugführer, der hinter seinem Schreibtisch saß und den Soldaten aus zusammengekniffenen Augen musterte. Schließlich sagte der Leutnant: «Ich könnte Sie von nun an auf dem Zahnfleisch laufen lassen.» Litosch hob die Schultern und erwiderte ruhig: «Das kommt auf einen Versuch an. Nur, mein Zahnfleisch ist auf dem Bau gehärtet worden.» Er verließ das Zimmer, und der Leutnant hielt ihn nicht zurück. Danach kaute «Ami» nur noch in den Pausen. Außerdem bemühte er sich um einen anderen Ton. Litosch ist seither körperlich kleinen Offizieren gegenüber mißtrauisch. Deren Geltungstrieb scheint durch die Uniform manchmal noch gesteigert zu werden. Und Ahnert, seit September ihr Zugführer, ist nur ein paar Zentimeter größer als «Ami». Litosch stolpert und fällt mit dem rechten Knie auf einen Ast. Vor Schmerz möchte er am liebsten schreien, doch dann ruft er nur: «Warte!» und schließt humpelnd zu Fichtner auf. Inzwischen hat Litosch viele Offiziere kennengelernt, aber keinen aus einem hohen Stab, der nachts in einer Kompaniestellung auftaucht, einen Spaten mitbringt und den Soldaten beim Schippen hilft. Litosch treibt jetzt den Schäfer an. Er ist neugierig geworden. Daß Schanz zu ihnen gekommen ist, weil Fichtner möglicherweise sein Schwiegersohn wird, glaubt er nicht. Es muß andere Gründe geben, und die möchte er wissen. Eine halbe Stunde später sitzen sie auf Helmen oder auf dem nackten Boden im noch unabgedeckten Mannschaftsbunker zusammen.
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Fichtner übernimmt unaufgefordert die Verteilung des Essens. Der Schäfer bewegt sich rasch und sicher, schöpft die heiße Bohnensuppe in die Kochgeschirre und schneidet dicke Scheiben vom Kastenbrot ab. Die anderen brauchen nur die Hände auszustrecken, und Fichtner reicht ihnen alles, was ihnen zusteht, ohne danebenzugreifen oder auch nur einen Tropfen oder Krümel zu vergeuden. Die gerechteste Sache unter Soldaten ist und bleibt die Verteilung des Essens. Wer dabei Unterschiede macht oder gar betrügt, ist in den Augen der anderen weniger wert als ein Feigling. Fichtner teilt zum erstenmal Essen aus, und nicht einer murrt. Entweder sind sie alle zu müde und zu erschöpft oder sie trauen ihm keine Ungerechtigkeit zu. Und Fichtner scheint sich wohl zu fühlen. Sogar seine Stimme ist anders als sonst. Sie hat einen beruhigenden, kehligen Klang. Vielleicht redet er im gleichen Ton auch auf seine Tiere ein. «Da», sagt er leise, «greif zu! Na, nimm schon, nimm, laß es dir schmecken. Vorsicht, Vorsicht! Hier dein Brot.» Fichtner bewegt sich jetzt leicht und lebhaft, nachdem er wochenlang wie unter einem Alpdruck herumgelaufen ist. Dieses Aufatmen hat etwas von jenem Augenblick, in dem man nach stundenlanger, staubheißer Ausbildung irgendwo im Schatten seinen Helm abnimmt. Oder hängt die Veränderung, die mit Fichtner vor sich gegangen ist, mit Schanz und dessen Tochter zusammen? Der Oberst sitzt zwischen Litosch und Eisner und löffelt Suppe aus seinem Kochgeschirrdeckel. Fichtner nimmt sich erst jetzt seine Portion. Ein guter Hirt denkt an sich selbst zuletzt! Vielleicht ist der Schäfer auch nur deshalb anders, weil er hier draußen seiner gewohnten Umgebung näher ist als in der Kaserne, denkt Litosch. Hier ist Erde, Wald und Gras, wenn man das, was hier wächst, noch als Gras bezeichnen kann. Hier ist alles offen und weit, und nirgendwo gibt’s einen Zaun oder eine Mauer. Litosch ist ein halbes Jahr länger Soldat als Fichtner und weiß, welche Unterschiede das Gefühl manchmal macht. Ein Baum in der Kaserne ist etwas anderes als einer hier draußen, und das saftigste Gras an der Innenseite des Mauergeviertes ist nichts gegen eine graugrüne Steppenlandschaft außerhalb der Kaserne.
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Es macht Litosch Spaß, andere zu beobachten und über sie nachzudenken. Denn nirgendwo, nicht einmal auf der Berliner Baustelle, von der er kommt, ist er so verschiedenartigen Leuten begegnet wie hier. Und nie vorher hat Litosch erlebt, daß eine veränderte äußere Umgebung einen Menschen auch innerlich verändern kann. Die meisten sind inzwischen mit dem Essen fertig und füllen aus dem Teekübel ihre Feldflaschen. Litosch lehnt sich an die Bunkerwand, sieht Feuerzeuge und Streichhölzer aufflammen. Schanz raucht irgendeine aromatische Zigarre. Eine Weile werden alle noch ruhig sein und stumm den Rauch genießen. Solche Pausen im Dunkeln mag Litosch. Jeder ist mehr mit sich beschäftigt als am Tage und trotzdem den anderen auf eine besondere Weise nahe. Das beweisen auch die Gespräche, die leise sind, ehrlicher und nachdenklicher als sonst und ohne jede Streitsucht. Nachts wird alles gründlicher getan, auch die Arbeit auf der Baustelle. Für Litosch hat die Nacht nie etwas Beunruhigendes gehabt. Schon als Kind hat er sich nie vor ihr gefürchtet. Wahrscheinlich hängt das mit seiner Mutter zusammen, die immer eine starke und laute Frau gewesen ist. Doch abends, wenn das Zimmer dunkel war, setzte sie sich auf den Bettrand, flüsterte ihm Geschichten zu, krabbelte ihn mit weichen Fingern am Hals und am Ohr, bis er eingeschlafen war. Zu solchen leisen Zärtlichkeiten schien die Mutter nur in der Dunkelheit fähig zu sein. Vielleicht beenden sie die Pause heute auch ohne Gespräch. Sie haben an ihrer Gruppenstellung noch etwa zwei Stunden zu arbeiten. Und sollte sich irgendwo in der Kompanie aus wer weiß welchen Gründen die Arbeit verzögert haben, werden einige von ihnen dorthin gehen und helfen. Das Schweigen dauert an. Schwere Schläfrigkeit breitet sich aus. Nur einer hantiert an den Kübeln, wahrscheinlich Fichtner. Plötzlich taucht am Bunkerrand, Litosch gegenüber, die Silhouette eines Soldaten auf. «Die Waffen!» ruft er. «Die Waffen sind weg!» «Du spinnst ja!» erwidert einer aus dem Bunker und lacht. «Ich war abprotzen, ein Stück unten, und als ich wiederkomme…» «Hast die Richtung verfehlt», beruhigt ihn Fichtner. «Warte, ich
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zeig’ dir, wo sie sind.» Gleich darauf stakst er vor dem anderen her den Hang hinauf. «Dann ist die Übung für uns zu Ende», meint einer. «Auch gut.» «Red keinen Quatsch!» fährt Eisner ihn an. Da kommt Fichtner schon zurück, und Litosch sieht, daß er die Schultern hebt und leere Hände hat. «Nur die Maschinengewehre sind da», sagt der Schäfer heiser. Er blickt hinunter in das rechteckige, dunkle Bunkerloch und versucht, Gesichter und Gesten zu erkennen, aber alles bleibt still. Fichtner begreift das Schweigen ebensowenig wie das Verschwinden der Waffen. Jetzt stolpert der Posten heran. Er keucht und ruft, von Atempausen unterbrochen: «Nichts. Nur fünf Minuten, mehr nicht, war ich weg. Die muß… Geklaut hat die einer. Weit kann er nicht sein. Was jetzt?» «Pennen!» erwidert einer, und Fichtner hört eine Plane rascheln. Jemand deckt sich zu und wiederholt dabei laut und böse: «Pennen! Die sollen mich alle kreuzweise! Noch zweiundvierzig Tage.» Keiner stimmt ihm zu, keiner widerspricht ihm. Auch Schanz schweigt. Vielleicht ist er gar nicht mehr hier. «Wer so was macht», sagt Litosch leise, als spreche er zu sich selbst, «wer so was macht, ist ein Scheißkerl. Waffen klauen, das ist wie…. wie Häuser anzünden ist das, so ungefähr!» Er geht langsam zum Bunkerausgang, aber Eisner hält ihn zurück. «Bleib hier!» ruft der Gefreite. «Du sollst hierbleiben! Den Muckerbus wird schon keiner mitgenommen haben.» Litosch bleibt stehen, dreht sich aber nicht um. Fichtner spürt, wie aus dem hilflosen Schweigen der einen, aus der Gleichgültigkeit und der Enttäuschung der anderen etwas Drohendes auf ihn zukommt. Enge! Auf einmal ist diese bedrückende Enge wieder da. Seitdem sie hier auf der Kuppe sind und Fichtner die Erde riecht, den Himmel über sich sieht und hin und wieder in der Ferne die Umrisse bewaldeter Hügel erkennt, fühlt er sich frei und fast wie zu Hause. Die Stellung mit ihren Befestigungen, mit den Lauf- und Verbindungsgräben und den Bunkern hat für ihn trotz ihrer Zeitweiligkeit etwas Sicheres
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und Dauerhaftes. Wie die Pferchbude immer nur für eine Weile sein Zuhause gewesen ist. Er steht am Rand des Bunkers, und sein gutes Gefühl aus den letzten Stunden beginnt abzubröckeln wie eine zu steil angelegte Grabenwand. Plötzlich sagt Schanz: «Gruppenführer! Schicken Sie jemanden zum Kompaniechef. Der soll die Sache melden und ihm sagen, daß ich mit Ihnen und Ihrem SPW für eine halbe Stunde unterwegs bin. Alle anderen arbeiten weiter. So flott und so gut wie bisher. Los!» Keiner sagt ein Wort. Fichtner hört wieder die Plane rascheln. Eisner schickt ihn zu Puhlmeyer, und der Schäfer läuft in langen Sätzen hangabwärts. Die Bewegung erlöst ihn, die bedrohende Enge bleibt zurück, nach kurzer Zeit hört er hinter sich die Motoren des Schützenpanzerwagens aufheulen. Es klingt zornig. Der SPW rollt jenem Damm entgegen, der zum Pappelwäldchen führt, wo die Zelte stehen. Auch Schanz nimmt an, daß jemand die Waffen mitgenommen hat. Und derjenige muß an den Zelten vorbei, hat dort vielleicht seinen Wagen stehen. Aus dem Bataillon, das sich eingräbt, kann es keiner gewesen sein und schon gar nicht einer aus Puhlmeyers Kompanie. Denn wenn jemand von der Truppe auf unbeaufsichtigte Waffen stößt, läßt er sie nicht verschwinden, der löst das anders. Weil er weiß, daß eine einzige mot. Schützengruppe, wenn ihr die Waffen gestohlen werden, den Angriff einer Kompanie oder des ganzen Bataillons aufhalten und wirkungslos machen kann. Schanz hofft, die Waffen bei den Zelten zu finden. Für die Soldaten hofft er es und auch für sich selber. Er ist ihnen noch immer so nahe, daß er ihre Gefühle verstehen kann. Die Männer verdienen es einfach nicht, daß ihnen jemand, während sie nachts bei Wind und Kälte eine Stellung in die Erde graben, im Vorbeigehen die Waffen wegnimmt. Die Soldaten werden die Waffen zurückerhalten. Spätestens eine Stunde vor Angriffsbeginn werden sie ihre Maschinenpistolen wieder in den Händen haben. Schanz weiß es, aber er weiß auch, daß es dann schon zu spät sein kann. Einige Soldaten aus der Gruppe werden vielleicht nur noch der Uniform und anderen äußerlichen Merkmalen nach Soldaten, und damit für den Angriff verloren sein. Darum treibt Schanz den Fahrer an. Er öffnet die Luke und nimmt seine
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Mütze ab. Der kalte Fahrtwind reißt an den Haaren, brennt auf der Stirn und sticht in die Augen, daß sie tränen. Als sie den Damm erreichen und sich dem Wäldchen nähern, verliert der Wind an Schärfe. Schanz wischt mit dem Handballen über die Augen. Noch immer brennt im mittleren Zelt Licht, und aus dem Ofenrohr tanzen Funken. Aber jetzt stehen hier mehr Fahrzeuge herum. Der Oberst und der Gefreite gehen aufs Zelt zu, während Litosch beim SPW bleibt. Der Duft nach Gebratenem weht ihnen entgegen. Der Gefreite atmet tief ein und stößt die Luft mit einem knurrigen Stöhnen wieder aus. Für Augenblicke schämt sich Schanz vor dem Gefreiten, schämt sich für jene, die an den weißgedeckten Tischen sitzen, Steaks oder Rostbrätl essen und in ein paar Sekunden vorwurfsvoll von ihren Tellern aufblicken werden, wenn man sie beim Essen stört. Schanz überlegt, ob er Eisner nicht doch zum SPW zurückschicken soll. Aber wenn sich die Waffen tatsächlich hier befinden, wird er den Gefreiten ohnedies rufen müssen. Schanz will gerade die Zelttür öffnen, da hört er drinnen jemanden sprechen und läßt die Hand wieder sinken. Eine heisere Stimme, die Schanz nicht kennt, sagt: «Ich würde Sie die Maschinenpistolen einzeln zurückbringen lassen, wenn ich was zu sagen hätte. Und Sie müßten sie jedem persönlich übergeben, damit die Soldaten wissen, wie ein Offizier aussieht, der nachts aus ’ner Stellung Waffen klaut.» «Aber Sie haben nichts zu sagen», antwortet ruhig und unbeeindruckt eine andere Stimme, die Schanz kennt. Sie gehört Oberstleutnant Christian. «Ihnen habe ich noch ’ne Menge zu sagen.» «Da bin ich aber gespannt», entgegnet Christian und lacht kurz auf. «Ich höre.» Bestecke klappern, dann ist der Heisere wieder zu vernehmen. Er spricht langsam als wäre er sehr müde. «In einer Nacht vorm Angriff Waffen verschwinden lassen, ist doch das Letzte. Wären Sie in der Stellung meiner Abteilung aufgetaucht, würden Sie jetzt mitten auf dem Schießplatz stehn, unter Bewachung, oder ich hätt’ Ihnen eigenhändig ’ne Schippe in die Hand gedrückt, die Haubitzenstellung auszubauen. Damit Sie sich mal wieder daran erinnern, was Arbeit ist,
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und so was wie Achtung vor den Soldaten bekommen.» «Sind Sie fertig?» «Mit Ihnen ja. Aber der Genosse Hauptmann an Ihrer Seite sollte sich alles gut merken, damit er sich an einem solchen Blödsinn nicht wieder beteiligt. Denn wenn irgendein Vorgesetzter mal nicht nachdenkt, muß man ja nicht gleich auch das eigene Hirn abschalten.» Schanz nickt zu allem, was der mit der heiseren Stimme sagt. Er hätte es nicht besser ausdrücken können. Jetzt mischt sich ein Dritter in die Debatte. «Schluß mit dem Gerede, Genosse Major!» Das ist Oberst Bredow, dessen strenge und ein wenig schleppende Stimme nicht zu verwechseln ist. «So schaffen wir die Tatsache nicht aus der Welt, daß Waffen eine längere Zeit unbeaufsichtigt…» Aber der heisere Major läßt sich nicht bremsen. «Sagen Sie bloß, Sie unterstützen diesen Quatsch noch.» «Seit wann», fragt Bredow scharf, «halten Sie Disziplin und Ordnung in der Truppe für Quatsch!» «Nicht die Disziplin, sondern daß ein Oberstleutnant vom Divisionsstab Waffen aus ’ner Stellung mitnimmt und das für ein Mittel hält, die militärische Ordnung zu verbessern.» Eine Pause entsteht, in der Schanz wieder deutlich das Klappern von Bestecken hört. Er zieht den Türvorhang zur Seite und betritt das Zelt. Der Gefreite folgt ihm. Rechts stehen, gegen einen Stuhl gelehnt, die Maschinenpistolen. Schanz befiehlt dem Gefreiten, sie zu prüfen. Die Offiziere haben das Essen unterbrochen. An einem der Tische nahe beim Eingang sitzt mit einem jungen Hauptmann, den Schanz nicht kennt, Oberstleutnant Christian. Er trägt wie seine Frau eine starke Brille, die seine Augen scheu und langsam macht und seinem Gesicht den Ausdruck ständigen Lauschens gibt. Seine Blicke wandern abwartend zwischen Schanz und Bredow hin und her. Der Oberst, der eine Tasse Kaffee in der Hand hält, steht neben dem Propankocher und beobachtet den Gefreiten, der jetzt meldet: «Es sind unsere Waffen.» Danach beginnt Eisner mit ruhigen, sicheren Bewegungen die Maschinenpistolen über seine Schulter zu hängen. Bredow stellt seine Tasse ab. Der Kaffee schwappt ein bißchen ü-
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ber den Rand. Leise befiehlt der Oberst: «Lassen Sie die Waffen stehen!» Der Gefreite unterbricht für einen Moment seine Tätigkeit und nimmt Haltung an. «Genosse Oberst, entschuldigen Sie, ich richte mich nach den Befehlen von Oberst Schanz.» Schanz sieht, daß Bredow die Zähne aufeinanderpreßt. Sein Gesicht wird kantig, der Hals dick und kurz. Ehe er etwas sagen kann, ruft Schanz: «Genosse Oberst!» Bredow wendet sich ihm zu. Schanz geht ihm ein paar Schritte entgegen und sagt so leise und freundlich, wie es ihm im Augenblick möglich ist: «Muß ich an meine Dienststellung erinnern?» Bredows Gesicht läuft rot an. Schanz spürt, welche Qual es dem anderen bereitet, stumm bleiben zu müssen. Er möchte ihm am liebsten die Hand auf die Schulter legen und beruhigend sagen: Heinrich, laß es gut sein, aber ich kann nicht anders. Hättest du dem Christian schon vor einer halben Stunde befohlen, die Waffen wieder zurückzuschaffen, brauchten wir uns jetzt nicht gegenüberzustehen. Es geht doch nicht allein um ein paar Waffen… Schanz schaut den Oberst eindringlich an und hofft, Bredow könne ein wenig von diesen Gedanken und Empfindungen in seinen Augen entdecken. Dann befiehlt er dem Gefreiten, die Waffen zum SPW zu tragen. In diesem Augenblick springt der Hauptmann, der bei Christian sitzt, auf. Er ist groß und geht ein wenig krumm, als fürchte er, mit dem Kopf gegen das Zeltdach zu stoßen. Rasch geht er zu Eisner, nimmt den Rest der Waffen auf und tritt vor dem Gefreiten aus dem Zelt. «Bravo, Hauptmann», hört Schanz hinter sich die heisere Stimme rufen und wendet sich um. Sofort erinnert er sich, sieht, wie dieser Mann mit dem breiten Gesicht und dem eckigen Kinn sich vor Friederike verbeugt und sie als erster im Saal zum Tanz auffordert. Es ist Major Wittenbeck. Sein Gesicht ist von Müdigkeit gezeichnet, und um die Augen liegen dunkle Schatten. Wittenbeck riecht nach Geschützfett, verbranntem Pulver und heißen Kartuschen, einem Geruchsgemisch, das Schanz schon in der Nase hat, wenn er das Wort «Artillerie» nur denkt. Nun steht der
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Major, den er seit Tagen sucht, vor ihm, und vor wenigen Stunden hat Friederike das halbe Foto zurückverlangt. Am liebsten möchte er sich mit Wittenbeck an einen Tisch setzen, heißen Kaffee bestellen und über Friederike sprechen. Aber sie haben keine Zeit dazu. Christian beginnt sich zu rechtfertigen. Er spricht so, wie er seit fünf Jahren die Informationen, die täglich aus den Regimentern und Bataillonen bei ihm eintreffen, für den Leiter der Politabteilung zusammenfaßt. Lange, übersichtliche Sätze, in denen Hauptwörter hintereinanderstehen wie ganze Reihen von Soldaten. «Diesen Vorfall werde ich in einem Bericht schildern», sagt Christian. «Denn unbeaufsichtigte Waffen während einer Übung sind ein Vergehen, das Strenge zur Folge haben muß, und im übrigen ist mein Vorgehen in jener Kompanie nicht als Diebstahl zu bezeichnen, sondern als Sicherstellung gefährdeter Waffen, zumal ich vom Leiter der Politabteilung den Auftrag hatte, in dieser Kompanie nach dem Rechten zu sehen.» «Deinem Leiter werde ich erzählen, was du darunter verstehst, Genosse Christian, und wie unauffällig du dabei gearbeitet hast.» Schanz zieht aus der Innentasche seines Mantels ein schmales, olivgrünes Heftchen, Breshnews «Kleines Land». Er wirft es Christian zu. Es schlägt hart auf den Tisch, und der Oberstleutnant sagt: «Danke! Das habe ich schon gelesen.» «Aber nicht verstanden», entgegnet Schanz. «Lies noch mal, Genosse Christian, das Wichtigste ist unterstrichen.» Der Oberstleutnant will noch etwas sagen, aber Schanz winkt ab. Irgendwo in der hinteren Zeltecke sagt jemand: «Natürlich, die lieben Soldaten kriegen immer recht. Und wenn sie ihre Waffen verbuddeln, sind wir auch noch Schuld.» Schanz entgegnet nichts. Auf anonyme Zurufe reagiert er nicht. Er spürt jedoch, daß seiner Entscheidung nicht alle zustimmen. Im Augenblick ißt keiner. Alle scheinen auf irgend etwas zu warten. Aber es geschieht nichts. Bredow kehrt ihnen den Rücken zu. Immer noch steht er neben dem Propankocher, seine Tasse wieder in der Hand. Zum zweitenmal innerhalb weniger Minuten spürt Schanz den Wunsch, im Zelt zu blei-
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ben. Diesmal Bredows wegen. Der Oberst, gewohnt zu befehlen und zu entscheiden und auch gewohnt, daß seine Befehle widerspruchslos befolgt werden, ist heute im Beisein anderer zurechtgewiesen worden, und vorher haben ein Major und ein Gefreiter ihm widersprochen. Ein Mann wie Bredow vergißt so etwas nicht. Wenn er im Augenblick auch alles mit soldatischer Selbstdisziplin hinnimmt, wird er es nicht wieder loswerden. Es wird ihn schmerzen, verbittern, und es ist möglich, daß er noch unzugänglicher wird. Für Augenblicke weiß Schanz nicht, ob er richtig gehandelt hat. Aber er zweifelt nur, solange er an Bredow denkt. Wenn er sich an die Soldaten erinnert, die hilflos und enttäuscht und gleichgültig im Bunker hockten, zweifelt er nicht mehr. Es geht nicht um Bredow, nicht einmal um die Soldaten, sondern um eine Sache, an der sie alle beteiligt sind, deren Erfolg von ihnen allen abhängt. Und um dieser Sachen willen wird Schanz nicht länger im Zelt bleiben. Draußen dröhnt der Motor des SPW auf. Schanz nickt Wittenbeck zu, dann schlägt das schwere, ein wenig feuchte Zelttuch hinter ihm zusammen. Er geht dorthin, wo sich in den ersten Morgenstunden etwas für die gesamte Division Wichtiges ereignen wird, zu den Soldaten. Und alles, was für oder gegen seine Entscheidung spricht, die er eben getroffen hat, hat Zeit, bis die Übung vorüber ist.
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6.Kapitel Leutnant Ahnert steht breitbeinig über dem Graben. Das Wasser ist klar und eiskalt. Er schöpft es sich mit beiden Händen ins Gesicht, über die nackte Brust und den Rücken, bis die Haut spannt und die Müdigkeit nach und nach von ihm abtropft. Grau ist der Himmel und verrät nichts über das Wetter des anbrechenden Tages. Im Augenblick ist es windstill und überraschend mild, und eine Ruhe herrscht, als wäre der Leutnant allein. Keine Stimme, kein Motorengeräusch. Ahnert liebt diese Morgenstunden. Um die Zeit ist er so, wie er wirklich ist: jung, unternehmungslustig, voller Erwartung. Er tut das, was ihm gerade einfällt, handelt nur nach dem Gefühl wie den ganzen Tag über nicht mehr. Denn mit dem Wecken der Kompanie beginnt das Leben nach Plan und Zeit, nach Vorschrift und Befehl. Das Wasser unter ihm hat sich beruhigt. Sand und Pflanzenteilchen, die er beim Waschen vom Grund aufgewirbelt hat, sind davongetrieben. Die graubraune Oberfläche spiegelt Ahnerts Gesicht wider. Schmal ist es, kantig ums Kinn. Die Augen sind deutlich zu erkennen, und der Leutnant beschließt, sich hier gleich noch zu rasieren. Er nickt seinem Spiegelbild zu, steckt ihm die Zunge heraus, klatscht mit der flachen Hand aufs Wasser. Dann schmiert er Rasiercreme auf die Haut. Während er sich rasiert, kräht irgendwo ein Hahn. Kurz darauf sind vom Hang her, wo die Stellungen liegen, Geräusche zu vernehmen. Holz wird zerbrochen, Geschirr scheppert. An der Feldküche beginnt man zu arbeiten. Diese Laute verbinden Ahnert wieder mit der Kompanie, machen ihn wieder zum Leutnant und Zugführer, dem heute eine schwere Arbeit bevorsteht. Ein Angriff über eine zwei bis drei Kilometer lange Strecke, ein anstrengender Marsch bis zum Fluß, wo ein Brückenkopf gebildet werden soll, wo sie übersetzen und sich am anderen Ufer noch einmal eingraben müssen. Vor all dem fürchtet sich Ahnert nicht. Er spürt Erwartung, fast Freude, und doch hätte um ein Haar der Tag für ihn und für viele Soldaten seines Zuges ganz anders begonnen: lustlos, mit einer Kränkung und 173
voller Widerspruch. Die Zugführer waren bei Major Puhlmeyer zur Lagebesprechung, als der Schäfer die Meldung brachte, daß die Waffen verschwunden seien. Ahnert erschrak wie nie vorher in seiner Laufbahn als Zugführer. Er sah sich bereits abgelöst und am Ende aller Wünsche und Ziele, die er mit dieser Übung verband. Doch Puhlmeyer unternahm nichts, als er hörte, daß Schanz bereits unterwegs sei. In aller Ruhe führte er die Besprechung zu Ende, in der es um die Zeit zwischen Wecken und Angriff und um den Angriff selbst ging. Ahnert fiel es schwer, sich zu konzentrieren. Er horchte jedem Laut nach, der aus der Stellung kam, schrak bei jedem Schritt zusammen und erwartete jede Minute die Nachricht, daß die Waffen unauffindbar seien. Ein paarmal ermahnte ihn der Kompaniechef, und am Schluß der Besprechung sagte er zu ihm: «Ich hoffe, daß wir die Waffen bald zurückbekommen. Aber daß sie überhaupt verschwinden konnten, liegt allein an euch. Machen Sie das allen Soldaten Ihres Zuges klar! Und zwar nachdrücklich und noch vor dem Angriff.» Als Ahnert endlich bei seinem Zug eintraf, tarnten die Soldaten bereits die Stellung und den Geländeabschnitt davor. Die Waffen lagen wieder an ihrem Platz. Der Leutnant setzte sich in den Sand und hielt das Gesicht mit geschlossenen Augen in den feinen Nieselregen, der erneut eingesetzt hatte. Dann suchte er Schanz, fand ihn aber nirgends und erfuhr schließlich von Litosch, daß der Oberst im SPW schlafe. Der Fahrer ließ niemand heran. Ahnert dankt der Vorsehung, die den Oberst ausgerechnet zu ihrer Kompanie geführt hat. Frisch rasiert und sauber geht er jetzt den Hang hinauf zur Feldküche. Unter dem Tarnnetz hervor quillt Rauch und Dampf. Der Koch rührt im Kessel, während der Stabsfeldwebel auf der Ladefläche seines Versorgungsfahrzeugs vor einer großen Kiste sitzt und Brot schneidet. Diesem Mann gegenüber, der seit acht Jahren Puhlmeyers Hauptfeldwebel ist und die Kompanie nicht vor «Tschapajew» verlassen will, fühlt sich Ahnert immer ein bißchen verlegen. Die Erfahrung und Reife des Hauptfeldwebels lassen den Leutnant die eigene Jugend und seine Unerfahrenheit besonders stark spüren.
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«Na, Leutnant?» fragt Kilian, der sich für die jungen Offiziere ebenso verantwortlich fühlt wie für die Soldaten. «Was liegt an, Hunger?» «Kaffee wollte ich gerne, kräftigen und, wenn es geht, eine ordentliche Portion.» «Frühstück, Leutnant», sagt Kilian, ohne seine Arbeit zu unterbrechen, «in vierzig Minuten.» «Ich will ihn nicht für mich, für Oberst Schanz.» Da springt Kilian vom Wagen herab. Ein paar Minuten später steigt Ahnert den Hang noch weiter hinauf. Er hat eine Thermosflasche mit Kaffee, eine Tasse und ein Paket Brote bei sich, die Kilian dick mit Wurst belegt hat. Schanz befindet sich nicht mehr im SPW. Nur Litosch ist da und teilt dem Leutnant mit, daß der Oberst in die Stellung gegangen sei. Ahnert mustert den Fahrer und fragt: «Wie war das mit den Waffen? Sie sind doch dabeigewesen.» «Da müssen Sie Eisner fragen, der war mit im Zelt», antwortet der Fahrer und gähnt, daß ihm die Tränen in die Augen treten. Ahnert geht weiter. Vielleicht erfährt er von Schanz, was sich im Zelt abgespielt hat. Aber der wird es ihm nicht erzählen. Es ist eigentlich auch völlig unwichtig. Die Waffen sind wieder da, das ist die Hauptsache. Aber eins möchte Ahnert doch gerne wissen. Warum hat ihm der Oberst zweimal innerhalb von vierundzwanzig Stunden geholfen? Erst bringt er den Schäfer zurück, und dann holt er die Waffen wieder. Warum tut er so etwas? Warum greift er in Abläufe ein, die Ahnert sonst schweigend über sich hätte ergehen lassen? Der Leutnant schaut sich suchend um und sieht Schanz in der Nähe einer der MG-Stellungen sitzen. Bei ihm ist der Schäfer. Ahnert zögert. Fichtner stört ihn. Dem Leutnant ist es unangenehm, Schanz im Beisein des Soldaten das Frühstück zu bringen. Aber zum Umkehren ist es zu spät. Fichtner hat ihn bereits entdeckt. Er scheint die Sinne eines seiner Herdenhunde zu haben. Jetzt blickt auch Schanz auf, und Ahnert geht zu ihnen. Sie sprechen übers Wetter. «Es wird wieder regnen heute», sagt der Schäfer langsam und blickt ins frühgraue Gelände des Übungsplatzes. «In einem Dorf gestern»,
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erklärt er seine Vorhersage, «hab’ ich Katzen gesehen, die schliefen mit dem Kopf nach unten.» Schanz lacht und meint: «Hundertjähriger Kalender, was?» Fichtner antwortet mit einer Kopfbewegung, die Nicken und Schütteln zugleich ist. Schanz’ Mütze liegt im Sand. In sie hinein legt Ahnert die Brote. Der Oberst hat nur Augen für die Thermosflasche und fragt: «Geben Sie mir was ab von Ihrem Kaffee, Leutnant?» «Das ist für Sie. Ganz frisch von der Feldküche. Ich dachte, weil Sie, bevor das Frühstück… Dann ist nämlich was los hier.» Schanz blickt ihn an, sagt aber kein Wort, sondern greift nach der Tasse. Fichtner läßt sich in den Graben hinabgleiten und geht davon. Während Schanz sich Kaffee eingießt, sieht Ahnert dem Schäfer nach, für den der Graben nicht tief genug ist. Nachher wird er sich krumm machen müssen hinter seiner MPi, und dann werden die Schulterblätter wieder wie Teller aus dem Rücken ragen. Nachts, als sie die Stellung getarnt haben, erwies sich der Schäfer plötzlich als unersetzlich für den ganzen Zug. Zwei Soldaten seiner Gruppe schleppten vom Hinterhang ganze Arme voll Ginsterzweige heran, kräftige dunkelgrüne Büsche, die sie vor den Gräben in den Sand stießen, bis Fichtner dazukam. «Ihr seid wohl verrückt?» rief er. «Weg mit dem Zeug! Raus und alles nach hinten!» Sie lachten ihn aus und arbeiteten weiter. «Was hast du denn dagegen, Mann? Siehst doch, wie das fleckt.» «Weil das Zeug morgen früh grau und welk ist. Und weil auf dem ganzen Vorderhang nicht ein Ginsterbusch steht.» «Wer weiß das schon?» rief einer. «Ich», erwiderte Fichtner. «Du bist ja auch der einzige Schäfer in der ganzen Division!» Sie lachten und steckten weiter Zweige in den Sand. Da fuhr Fichtner sie erneut an: «Bringt das Zeug weg, sag’ ich euch, oder wir machen morgen früh alles noch mal!» Noch nie, solange Ahnert ihn kennt, hat der Schäfer so bestimmt gesprochen, sich so energisch für etwas eingesetzt, was alle betrifft.
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Eisner brach schließlich das Schweigen und befahl: «Hört auf ihn und macht, was er sagt.» Von diesem Augenblick an beaufsichtigte Fichtner die Tarnarbeiten. Er war überall, griff mit zu oder schickte andere mit Zeltbahnen nach hinten, wo sie von der oberen, verwitterten Erdschicht nur soviel abnehmen durften, daß der helle Sand nicht sichtbar wurde. Nicht mit dem Spaten, sondern mit den Händen ließ er sie arbeiten, und ebenfalls mit den Händen wurde die Erde später vor den Gräben zwischen dem spärlichen Bewuchs und den wenigen krüppligen Kiefern wieder ausgebreitet. Nirgendwo vor sich, soweit Ahnert blicken kann, sieht er einen Ginsterbusch. Fichtners Anweisung ist nicht nur in seinem Zug, sondern in der ganzen Kompanie befolgt worden. Schanz hält die Tasse zwischen den Händen und blickt ebenfalls hinter dem Schäfer her. Nach einer Weile sagt er: «Sie haben gute Soldaten im Zug, Leutnant.» «Dafür kann ich nicht», entgegnet Ahnert und begreift auf einmal, daß er diesem Mann gegenüber ehrlich sein kann. Aber erst einmal schweigen sie. Mit spitzen Lippen zieht Schanz den starken Kaffee Schluck um Schluck über den Tassenrand, und sein rundes Gesicht rötet sich dabei. Er ist so versunken, daß Ahnert ihn nicht stören mag. Schanz bricht als erster das Schweigen. Er nimmt die Brote, stülpt die leere Tasse über die Thermosflasche und sagt: «Gehen wir. Es wird hell, und sie werden bald die Stellung beobachten.» In einer Kuhle, etwa zehn Meter weiter am Hinterhang, setzen sie sich wieder hin. «Der Posten von heute nacht», sagt Schanz, «der uns das alles eingebrockt hat, den nehmen Sie sich vor. Bestrafen Sie ihn. Von Waffen geht man nicht weg, und wenn man sich in die Hosen macht.» Ahnert nickt. Dann beginnt auch er zu sprechen. Anfangs langsam und noch ein bißchen verlegen. «Wenn Sie nicht gewesen wären, Genosse Oberst, ich wäre… Schon zweimal hätt’s mich schwer erwischt. Unten durch wär’ ich, vom Kompaniechef bis zum Regimentskommandeur, wenigstens. Und mein Name, der wär’ an-
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gekreuzelt für lange, und viele würden sich gleich an alles erinnern, wenn er fällt. Ich möchte mich bedanken, daß Sie mir geholfen haben, daß Sie das für mich getan haben.» Schanz mustert ihn. Im rechten Mundwinkel hat der Oberst ein freundliches, doch nicht ganz zufriedenes Lächeln. Das erinnert den Leutnant an einen seiner Lehrer auf der Hochschule, der während der Seminare bei mancher Antwort auch so skeptisch lächelte. Schanz gießt die Tasse zum zweitenmal voll und sagt schließlich: «Nun passen Sie mal gut auf, Leutnant. Ich habe Sie gestern zum erstenmal gesehen. Und wenn Sie tatsächlich annehmen, ich hätte das Ihretwegen gemacht, haben Sie noch nicht viel begriffen.» Schanz macht eine Pause, trinkt einen Schluck, mustert Ahnert dabei und fügt hinzu: «Wissen Sie, wenn einer über sich selber nicht hinausdenkt, macht er es bei uns nicht lange. Oder er klaut eines Nachts aus irgendeiner Stellung heimlich die Waffen. Merk dir das, Junge.» Schanz wickelt die Brote aus. Ahnert fühlt sich weder beleidigt noch beschämt. Plötzlich erübrigt sich für ihn jede weitere Frage. Alle Antworten, die er gesucht hat, stecken in diesen paar Sätzen. Nicht nur in den Worten, sondern auch in der Aufrichtigkeit, mit der sie gesagt wurden. Eine Ahnung von menschlicher Größe berührt den Leutnant, die er nie wieder verlieren wird. In diesen wenigen Minuten geht, ohne daß etwas Besonderes geschehen ist, in Ahnert eine Veränderung vor. Seit er Leutnant und Zugführer ist, hat er mit soviel Dingen gleichzeitig zu tun, ist er für so viele Dinge auf einmal verantwortlich wie nie vorher in seinem Leben. Und täglich prasseln die Eindrücke wie Platzregen auf ihn nieder. Einer folgt dem anderen, und er wird schon wieder eingeweicht, bevor er vom letzten Guß trocken ist. Das alles führte zu dem Gefühl, daß heute oder morgen oder vielleicht schon in der nächsten Stunde alles über ihm zusammenbricht. Nirgends sah er einen festen Orientierungspunkt außer in sich selber. Aber er hatte gespürt, daß das nicht ausreicht auf die Dauer. Schanz hat eben Zusammenhänge angedeutet und Beziehungen aufgedeckt, die für ihn selber gelten, nach denen er lebt und arbeitet. So konsequent, daß ein Mann wie Litosch den Schlaf des Obersten bewacht, Stabsfeldwebel Kilian das Beste aus seinen Kisten
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holt und Fichtner, dieses schwarze Schaf des Zuges, plötzlich sicher und bestimmt auftritt. Der Leutnant hat etwas gesucht, das es ihm ermöglicht, alles zu beurteilen und einzuordnen, sich selbst eingeschlossen, und mit dem sicheren Gefühl zu handeln, daß er das Richtige tut. Bis heute besaß er so etwas nicht. Schanz hat es ihm gegeben. Eine Lebenserfahrung aus vielfach erprobtem Verhalten. «Man muß über sich selber hinausdenken.» Diese Weisheit hört Ahnert nicht zum erstenmal. Aber es ist ein Unterschied, ob man sie im Hörsaal während einer Lektion gesagt bekommt oder in einer Stellung von einem Mann, der ein paar Stunden vorher zwölf Soldaten - zwölf von einigen Tausend! - die Waffen zurückgebracht hat. Und Ahnert bedankt sich noch einmal bei Schanz, der spürt, daß der Leutnant mit diesem zweiten «Danke» etwas anderes meint. Schanz sagt, ehe der Leutnant ihn verläßt: «Macht einen guten Angriff.» «Verlassen Sie sich darauf!» erwidert Ahnert. Schanz blickt ihm nach. Klein ist der Zugführer, und er wird es schwer haben, wenn in etwa zwei Stunden die Soldaten nach vorn aus ihren Stellungen springen. Wenn Soldaten wie Eisner oder Fichtner einen Schritt machen, muß der Leutnant zwei tun und obendrein noch drei Gruppen führen. Eine Quälerei für alle, besonders für Ahnert, für die man nicht nur körperliche Kondition braucht. Am liebsten würde sich Schanz in diesen Zug einreihen und gemeinsam mit den Soldaten angreifen. Nicht, daß er fürchtet, ohne ihn könnten sie es nicht schaffen. Aber er möchte bei ihnen bleiben, so lange es geht. Denn nur wer lange bei ihnen ist, kennt sie genau, er spürt ihre Motive, über die sie nicht gern reden. Bei den Soldaten erfährt Schanz, was er sucht und für seine Arbeit braucht. Hier erst äußern sich seine eigenen Anstrengungen und die der anderen Offiziere in einem Lachen, einem offenen Wort, in Leistungen und Ergebnissen, die nur jene überraschen, die äußerlich und innerlich einen zu weiten Abstand zwischen sich und den Soldaten haben entstehen lassen. Und immer ist Schanz betroffen, wenn er im Stab eines Regiments oder einer
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Division Offiziere entdeckt, die den Soldaten ausweichen, statt sie zu suchen. An Jahre erinnert er sich, in denen es Pflicht jedes Offiziers war, wenigstens einen Abend in der Woche bei den Soldaten zu sein. Wie rasch mitunter gute Regeln aufgegeben werden, wenn man sich nicht ständig um sie müht! Wieder denkt Schanz an die endlose Kolonne, die in manchen einsamen Augenblicken vor ihm auftaucht. Nur hier bei den Soldaten kann er die Reihe derer verlängern, die in dieser Masse ein Gesicht haben. Schanz möchte mit den Soldaten angreifen, weil er die kraftvolle Vorwärtsbewegung empfinden will, die von den Hunderten von Menschen ausgeht, die jeden mitreißt und während der sich alle Gedanken und Handlungen auf ein einziges Ziel konzentrieren. Eine Bewegung, die alle unterschiedslos vereint, ob Soldaten oder Kommandeure, und in der alle gleich sind. Denn die Kugeln eines wirklichen Gegners würden weder den einen bevorzugen, noch den anderen verschonen. Auch diese Ahnung verbindet sie miteinander. Im Laufgraben über Schanz taucht Fichtner auf. Er setzt sich auf den Grabenrand und nimmt seinen Helm ab. Schanz geht zu ihm. Der Schäfer reibt sich mit seinen schlanken Händen die Schläfen. Krumm hockt er da und blickt mit weit geöffneten Augen in die stumme, leblose Landschaft. Seine linke Hand nimmt Sand auf und läßt ihn wieder fallen. Auch das ist nicht zu hören. Laute, die anderswo diese frühen Stunden begleiten, gibt es hier nicht. Dorfgeräusche zum Beispiel, Hundegebell, das fordernde Gebrüll hungriger Kühe, Spatzengezänk. Fichtner sagt leise: «Hier würden nicht mal meine Schafe was zu fressen finden.» Und nach einer Pause fügt er hinzu: «Wie lange dauert das wohl, bis in dieser Steppe wieder etwas Brauchbares wächst?» «Das werden wir beide nicht mehr erleben», sagt Schanz, und der Schäfer fragt ein wenig verwundert: «So lange soll das alles noch dauern?» Er wendet sich Schanz zu und mustert ihn nachdenklich. «Sie wollen sogar Neutronenbomben einsetzen, hat Oberleutnant Freier gesagt.»
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Schanz nickt, und Fichtner schüttelt ratlos den Kopf. «Aber warum?» fragt er. «Was soll das denn?» «So waren sie, und so werden sie bleiben. Krieg gehört zu ihrem System wie Rauch zum Feuer. Sie haben ihre Niederlagen vergessen und glauben, das nächste Mal gelingt es ihnen besser. Von uns hängt ab, was aus allem wird. Auch von dir. Zum Beispiel davon, wie schnell und genau du schießt, sobald ich es dir befehle oder ein anderer von uns.» Schanz füllt die Tasse wieder und gibt sie dem Soldaten. Dann schiebt er ihm die Brote zu. Fichtner ißt ruhig und langsam und blickt dabei ununterbrochen nach vorn. Als er die Tasse zurückgibt, sagt er: «Wenn ich bloß erst wieder bei der Herde wäre! Da ist ein Hund immer ein Hund. Die Lammzeit ändert sich nicht, und wir wissen genau, wann wir scheren müssen. Aber hier… Manche halten die Armee ja für überflüssig. Wozu eigentlich…? Das hab’ ich auch mal gedacht. Wozu das Ganze?» Schanz hört aufmerksam zu und unterbricht den Schäfer nicht, der sich offenbar an etwas Wichtiges heranredet. Er muß es noch aussprechen, bevor der Angriff beginnt, damit er es nicht mitschleppt über die ganze Strecke. Dort, wo er wohne, sagt Fichtner, spiele die Armee kaum eine Rolle. Nur wenn einer zurückkomme oder in die Kaserne ziehe, gebe es mal ein paar Sätze oder Gedanken, ein paar Fragen, sonst nichts. Fragen nach Vorgesetzten oder nach dem Essen und dem Ausgang und dem Urlaub. Witze würden erzählt und Anekdoten. Aber sowie man bei der Armee eintreffe, sei es auf einmal so, als breche morgen der Krieg aus. Das sei ein Unterschied wie die frische Saat hinter dem Graben und die graue, tote Erde vor ihnen. Belehrungen über die Geheimhaltung müsse man unterschreiben, aber von ihm habe noch nie jemand was Geheimes wissen wollen, obwohl sie zu Hause schon oft Besuch gehabt hätten von drüben. «Und dann…», plötzlich schweigt Fichtner und wischt mit seinen Händen über die Schenkel. «Und dann», wiederholt er, «wer weiß denn, was einige Leute hier machen würden, wenn sie wirklich über die Grenze kämen mit ihren Panzern und Raketen? Vielleicht würden
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sie die sogar begrüßen…» «Und du», fragt Schanz, «was würdest du machen?» Der Soldat hebt die Schultern, dann antwortet er: «Ich bin Schäfer. Schäfer sind friedliche Leute. Schon immer, solange es welche gibt.» «Dir ist es also egal, ob du eure Herde hütest oder die irgendeines Gutsherrn? Hauptsache, du bist Schäfer.» Fichtner schweigt, nimmt wieder Sand auf, läßt ihn auf die Erde rieseln. «An so was hab’ ich nie gedacht. Erst als ich hier war. Aber hier sind ja auch Sie und ‹Tschapajew›, der Zugführer oder Eisner. Danach richt’ ich mich. Doch hinterher bin ich wieder allein. Ich weiß nicht.» Schanz holt eine Zigarrenschachtel aus der Kartentasche. «Rauchst du?» fragt er. Fichtner schüttelt den Kopf. Der hellgraue Rauch steht eine Weile vor ihnen. Fichtner wünscht sich ein wenig von der Sicherheit des Mannes neben ihm, der schweigt und raucht. Den Leutnant hätte der Schäfer das alles nicht gefragt. Ahnert wäre wahrscheinlich erst erschrocken gewesen, dann hätte er eine Lektion gehalten, eine laute, vorwurfsvolle. Was soll er sonst auch tun? Der Zugführer ist für eine solche Frage viel zu jung. Einem wie Schanz macht sie nichts aus, der hat die Uniform schon angehabt, als Fichtner und Ahnert noch gar nicht geboren waren. Ihm macht es auch nichts aus, zu solch einer Frage nichts zu sagen. Nicht etwa, weil ihm nichts einfällt, sondern weil er sich einfach Zeit lassen will. «Natürlich, solche Leute gibt es», sagt Schanz und bläst den Rauch aus. «Die würden jubeln, wenn sie kämen. Aber es sind zu wenige. Entscheiden werden sie nichts mehr. Die meisten in unserm Land haben inzwischen zuviel zu verlieren. Die wehren sich. Verlaß dich drauf.» Mehr sagt Schanz nicht, denn er will nur antworten, nur seine Meinung sagen. Überzeugen kann er den Soldaten damit nicht, der ist nicht durch ein paar Sätze zu überzeugen. Der kann nur nachdenklich gestimmt werden. Denn Schanz’ Überzeugung ist nicht die von Fichtner. Die des Offiziers ist in über dreißig Jahren gewachsen, wie sich ein Korallenriff in Jahrtausenden aus winzigen Ablagerungen aufbaut und dann dem Meer widersteht. Seiner Wucht ebenso wie
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seiner ständigen stillen Wirkung. Schanz gehört nicht zu denen, die meinen, Überzeugung sei lehrbar wie im Unterricht etwa das Einmaleins. Fichtners Überzeugung braucht Zeit. Sie wird sich auf eigene Weise entwickeln oder gar nicht. Vielleicht hört der Schäfer, nun da er einmal zu fragen begonnen hat, nicht mehr auf damit. Und er wird viele Antworten erhalten, brauchbare und wertlose, aufrichtige und verlogene, tiefgründige und oberflächliche, freundliche und erschütternde. Wer soll sie ihm auswählen? Er selbst muß es tun, muß mit ihnen fertig werden. Aber das braucht Zeit. Überzeugung braucht immer Zeit. Und der Zeit muß man geduldig vertrauen, denn es ist unsere Zeit, und Ungeduld hat noch nie überzeugt. Schanz erzählt von sich selber höchstens dann, wenn man ihn dazu drängt. Er teilt sein Schicksal mit vielen anderen, und Leute in Fichtners Alter kennen diesen Entwicklungsweg nur aus Schulbüchern oder von ihren Eltern oder aus Romanen und Filmen. Durch die Verknappung, die viel Persönliches wegläßt, werden solche Lebensläufe oft einander ähnlich und dann langweilig. Und durch Ausschmückung werden sie mitunter zur Lüge. Fichtner ist knapp zwanzig Jahre alt. Schanz wurde im Juli 1953 zwanzig, und was er erlebt hat, ist für den Soldaten Nachricht, Geschichte. Doch wer soll diesen jungen Mann aus Thüringen wenigstens zu einem Teil nacherleben lassen, was vor fünfundzwanzig oder dreißig Jahren geschehen ist? Die Gruppen- und Zugführer, mit denen er täglich zusammen ist, vermögen es nicht, denn sie sind nicht älter als Fichtner selber. Schanz jedoch und andere Offiziere, die es könnten, sind zu lange und zu weit von ihm fort. Friederikes Vorschlag fällt Schanz ein. Die besten Offiziere sollte man nicht in die Stäbe versetzen, sondern in die Kompanien. Hinter Schanz wird es lebendig. Stimmen, Schritte und andere Geräusche sind zu hören. Die Kompanie wird geweckt. Das ist für Schanz das Zeichen zum Aufbruch. Alles weitere wird er vom «Feldherrnhügel» aus beobachten, von wo Generalmajor Werner, die Inspektoren des Ministeriums und die Vertreter des Vereinten Oberkommandos den Angriff verfolgen werden. Dort wird Schanz auch
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Genaueres über den weiteren Verlauf der Übung erfahren. Der Oberst steht auf, auch Fichtner erhebt sich. Schanz blickt den Schäfer an und sagt: «Weißt du, was ich immer mache? Bei solchen Fragen, wie du sie stellst, denke ich an etwas, das ich sehr gern habe und nicht verlieren möchte.» Fichtner nickt. Ihm ist sofort Friederike eingefallen. Und jetzt erst, da sie voreinander stehen, um sich zu trennen, wird dem Soldaten bewußt, daß er die ganze Zeit über mit Friederikes Vater zusammengesessen hat. Plötzlich ist Schanz ihm nah und vertraut, und er möchte nicht, daß er geht. «Ich habe gestern abend Friederike gesehen. Beim Marsch in der Stadt», sagt der Schäfer. «Ich auch», entgegnet Schanz und entfernt sich langsam. Aber er wendet sich noch einmal um. «Noch was», sagt er, «halte dich an Leute wie Eisner oder Litosch. Und versteck dich nicht immer hinter deinen Schafen. Es gibt kein Niemandsland. Mach’s gut!» Der Oberst geht zur Feldküche. Die Nacht war gut. Schanz hat das Gefühl, etwas Vernünftiges getan zu haben. Trotzdem bleibt ein Rest Unruhe in ihm, die mit Bredow zu tun hat und mit Stefan. Schanz fragt sich, ob er bei seinem Sohn auch so ruhig geblieben wäre wie bei Fichtner. Oder hätte es ihn vielleicht geärgert, daß Stefan etwas Derartiges fragt? Und führt nicht schon allein dieser Ärger häufig zu Ungeduld und Vorwurf und zwangsläufig auch zu Widerspruch? Man nimmt vielfach an, die eigenen Kinder hätten keine Probleme, als ob sich von Geburt an alles von selbst regle und der Beruf der Eltern das Seine tue. Und tauchen eines Tages Fragen auf, erschrickt man und ist böse. Aber nicht auf sich selber, sondern auf die Kinder. Und dieser Vorgang, wenn er sich zu oft wiederholt, führt zur Entfremdung und endlich zur Trennung. Aus der Stellung, die Schanz eben verlassen hat, kommt ein leiser Ton. Eine Mundharmonika spielt. Schanz kennt die Melodie. «Kein schöner Land in dieser Zeit.» Als der Oberst von der Feldküche weggeht, sieht er, daß sich die Kompanie bei einem der SPWs versammelt hat. Im Halbkreis stehen die Soldaten und Unteroffiziere vor dem Politstellvertreter und vor Puhlmeyer. Oberleutnant Freier spricht. Schanz tritt näher, um zu
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verstehen, was er sagt. Aber der Oberleutnant ist mit dem Reden schon fertig. Er ruft die Namen einiger Soldaten auf, die vortreten müssen. Drei erhalten die Artur-Becker-Medaille in Bronze. Zu ihnen gehört auch Litosch. Sogar Blumen hat Freier aufgetrieben, Fresien, die Puhlmeyer den Soldaten überreicht. Und danach belobigt der Kompaniechef jene, die sich während der nächtlichen Arbeit besonders hervorgetan haben, die einen mit Büchern, die anderen mit Sonderurlaub. Fichtner bekommt zwei Bücher. Vor Überraschung steht er krumm, hält die Bände eine Weile in der ausgestreckten Hand, klemmt eins schließlich zwischen die Knie und versucht, das andere in seine Maskentasche zu schieben. Alle beobachten den Schäfer, der als einziger noch immer zwischen der Kompanie und den beiden Offizieren steht, drei Schritte vor dem Oberleutnant, dem die anderen Soldaten die Bücher zur Aufbewahrung zurückgegeben haben. Irgend jemand lacht. Kein böses Lachen, sondern ein freundliches, das andere aufnehmen. Fichtner blickt hoch, fällt in das Lachen ein und gibt dann erst dem Oberleutnant die Bücher. Während der Schäfer zu seinem Platz geht, tritt Schanz zu Freier. Er möchte wissen, ob Fichtner irgendwelche Bücher erhalten hat oder ob der Oberleutnant sie extra für ihn ausgewählt hat. Obenauf liegen die zwei Bände Kriegsnovellen von Wassil Bykau. Freier überläßt nicht einmal eine Buchprämie dem Zufall. Aber der Politstellvertreter ist mit dem Appell noch nicht zu Ende. Er geht, nachdem er die Bücher abgelegt hat, ein paar Schritte näher an die Soldaten heran, mustert die Gesichter lange und sagt dann: «Liebe Genossen, zum Schluß habe ich etwas vor, das eigentlich immer anders gemacht wird.» Er spricht nicht laut, doch seine Stimme ist in der noch stillen Morgenstunde gut zu hören. «Wir haben gedacht, es geht um einen von euch. Und ein Geheimnis brauchen wir nicht daraus zu machen. Vor diesem neuen Höhepunkt der Übung sollen es alle miterleben, meine ich. Gefreiter Eisner, treten Sie vor!» Die Soldaten richten sich auf und verfolgen Eisners Schritte. Kurz vor Freier bleibt der Gefreite stehen. Der Oberleutnant zieht seinen Brustbeutel hervor und nimmt ein rotes, dünnes Büchlein heraus.
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«Auf Beschluß der Parteileitung überreiche ich dem Gefreiten Eisner das Mitgliedsbuch der SED», sagt Freier, und dann spricht er noch einige Worte mit dem Gefreiten, aber so, daß alle hören können, was er sagt. «Ich freue mich, Genosse Eisner. Und ich danke dir für das, was du als Stellvertreter des Gruppenführers bei uns leistest. Von heute an bist du Mitglied der Partei. Was das heißt, weißt du. Mach deine Sache gut, es ist unsere Sache.» Puhlmeyer drückt ihm schweigend die Hand und gibt ihm einen Strauß Nelken. Eisner weiß nicht, wohin mit den Blumen. Er betrachtet sie, riecht an ihnen und hebt die Schultern. Da ruft Litosch: «An die Muckerbusse. An jeden eine Nelke!» Die Soldaten lachen. Generalmajor Werner steht auf einer mit Buschwerk bewachsenen Anhöhe, die zum Fluß hin etwa zwei Meter steil abfällt. Dieser Punkt liegt an der linken Seite der Übersetzstelle, die Werner gestern nachmittag mit den Offizieren ausgewählt hat. Scheinbar träge strömt der Fluß vorüber. Der Wasserspiegel ist tatsächlich wieder ein wenig gesunken, liegt aber immer noch über dem Normalstand. Das Forcieren des Flusses wird schwer sein, aber nicht unmöglich. Brakig riecht das Wasser und ein wenig nach den großen Industriewerken der Stadt, deren Silhouette bei klarem Wetter von hier aus gut zu erkennen ist. Aber heute hängt Dunst über dem Land, noch in der elften Stunde des Vormittags. Das Vorfeld des Flusses wirkt wie ein Sumpf. Hochwasser hat sich in den Vertiefungen gesammelt, aus denen Grasbüschel ragen. Diese Stellen sind tückisch. Manchem Wagen und sogar Kettenfahrzeugen sind sie schon zum Verhängnis geworden, weil sich unter der Oberfläche häufig tümpelähnliche Löcher verbergen. Der Generalmajor erkennt die Markierungspfähle und andere Orientierungsmerkmale. Die Übersetzstelle ist aufgeklärt und gesichert worden. Am Ufer des Flusses ist es kälter als in jenen Geländeabschnitten, die von der Division seit sechs Uhr morgens durchquert werden. Pausenlose Bewegung aller Truppenteile und Stäbe, die mit dem Angriff des zweiten mot. Schützenregiments begann und sich
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über das Panzer- und Artillerieschießen fortsetzte bis zum scharfen Raketenstart, der sehr gut bewertet wurde. Eine so geringe Abweichung vom Zielpunkt ist bei keinem vorherigen Raketenstart in der Division erreicht worden. Pausenlose Bewegung, nur unterbrochen vom Absitzen und Aufsitzen der mot. Schützen, vom Abprotzen der Geschütze und von gelegentlichen Ortskämpfen. Die kurzen, ruhelosen Pausen in der Nähe toter Flußarme oder kanalähnlicher Wasserläufe, über die von den Pionieren Spurbahnbrücken gelegt werden, sind selten. Schon über fünf Stunden dauert der Vormarsch, während dem, angefangen von Generalmajor Werner und seinem Stab bis hinunter zu den Stäben der Regimenter und Bataillone und bis in die Kompanien hinein, die Kunst der Führung großer Truppenverbände auf eine schwere Probe gestellt wird. Stunden, in denen Meldungen, Nachrichten und Berichte eintreffen, die nicht alle mit Erfolgen zu tun haben, sondern auch mit Fehlern in der Führung, mit Verlusten an Zeit und Technik. Das wird nicht nur entgegengenommen und vermerkt, das macht auch Veränderungen und Truppenverschiebungen notwendig. Bewegung, in der nichts dem Zufall überlassen bleibt, die geplant und berechnet wird bis zu jedem Schritt, bis zu jeder Minute und zu jedem Schuß. Und alles dient einem Ziel, das Werner in seinem während der Nacht erarbeiteten Entschluß ausgedrückt hat: Die in unser Land eingedrungenen gegnerischen Truppenverbände werden im Handlungsstreifen der Division aufgehalten, durch einen Gegenangriff zurückgeschlagen und mit allen Kräften und Mitteln verfolgt, um zu verhindern, daß sie sich sammeln und von neuem festsetzen oder angreifen. Werners Entschluß wurde unverändert vom Vertreter des Kommandos bestätigt. Wie in allen Übungen, die der Generalmajor vor dieser miterlebt hat und nach ihr noch führen wird, geht es um Schnelligkeit, Sicherheit und Genauigkeit in der Führung durch die Stäbe und bei den Handlungen der Truppenteile und Einheiten. Werner fröstelt. Er schiebt die Hände in die Manteltaschen und drückt die Arme gegen den Körper. Heute nacht hat er nur zwei Stunden geschlafen. Wenn Zeit und Umstände es ermöglichen, begibt sich Werner frühzeitig an den Ort späterer militärischer Ereig-
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nisse. Er möchte eine Landschaft, in die er eingreifen muß, in ihrem natürlichen Zustand sehen, ihre besonderen Merkmale erkennen und ihr Wesen begreifen, das sich der bloßen militärischen Betrachtungsweise nie ganz erschließt. Er braucht diese innere Beziehung zu einer Landschaft für seine Entscheidungen als Divisionskommandeur, denn auch um die Landschaft geht es. Manche Offiziere, die durchs Land fahren, betrachten es nur mit militärischen Augen, entwickeln Gefechtslagen und Einsatzvarianten, bestimmen den Verlauf von Stellungen, wählen Führungs- und Beobachtungspunkte aus. Werner ist mit solchen Offizieren schon oft unterwegs gewesen. Und wenn sie gar nicht mit dieser Beschäftigung aufhörten, befahl er ihnen schließlich zu schweigen. Bis heute weiß er nicht, ob dieses Verhalten nur eine Berufsmarotte ist oder schon bis zur Einseitigkeit entwickeltes Spezialistendenken. Aber eines weiß er genau: Bei manchem führt das alles zu einem undialektischen Vorranganspruch für das Militärische innerhalb des Landes, der sich gelegentlich als Unverständnis gegenüber mancher Entscheidung von gesamtgesellschaftlicher Bedeutung äußert. Es wird gemeckert, es wird geklagt, und es gibt Vorwürfe. Immer folgt eine stumme oder laute Mißachtung jener, die nicht so denken können oder wollen, zum Beispiel der Masse der Soldaten. Und dann kehrt alles plötzlich in die Armee zurück und wirkt gleichzeitig weit über sie hinaus. Es ist, als sei der Tag stumm und blind. Solche Tage mag der Generalmajor nicht. Ihre Schwere geht unmerklich auf die Menschen über, deren Beweglichkeit sie beeinträchtigt. Für Übungen wünscht sich Werner sonnige Tage mit Wolken und Wind oder mäßigem Frost. Doch das Wetter richtet sich nicht nach dem Ausbildungsplan, und weil bei schlechtem Wetter nicht im Saal weitergekämpft wird, müssen sie lernen, mit solchen Umständen fertig zu werden. Noch herrscht am ganzen Abschnitt Ruhe. Nur aus Werners gepanzertem Führungsfahrzeug dringen Stimmen. Dort arbeitet Bredow, der die gesamte Aktion am Fluß bis ins einzelne geplant und vorbereitet hat und nun mit den Funkern und den Offizieren der operativen Gruppe die Meldungen von der Strecke entgegennimmt, den An-
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marsch der Regimenter zum Fluß verfolgt, um bei Zwischenfällen sofort eingreifen zu können. Es ist ein Schlehengebüsch, das auf dem Hügel zwischen Werner und seinem Fahrzeug steht. Die Knospen sind schon aufgebrochen, und die Spitzen der schneeweißen Blüten, die immer vor den Blättern kommen, sind bereits zu erkennen. Werner hat als Junge die kugeligen, pflaumenblauen Früchte jeden Herbst aus den dornigen Hecken gepflückt. Er zerstach und zerkratzte sich die Arme bis zu den Ellenbogen und aß die Früchte, deren gelbgrünes Fleisch herb und sauer schmeckt. So genau erinnert er sich noch an den Geschmack, daß ihm jetzt das Wasser im Munde zusammenläuft. Körbeweise schleppte er damals die Schlehen nach Hause, wo der Vater in riesigen Kruken Wein aus ihnen machte. Schlehenwein wird im Schlesischen noch heute angesetzt, das weiß Werner von seinen Besuchen her. Auch Sliwowitz brennt man aus ihnen. Der Stimmenlärm im Führungsfahrzeug nimmt plötzlich zu. Deutlich hört Werner jemanden rufen: «Wiederholen Sie! Sie sollen wiederholen!» Er geht den Hang hinab und steigt ins Fahrzeug. Bredow hat einen Hörer am Ohr, wirft ihn plötzlich dem Funker zu und tritt an die Karte. Werner erfährt, daß die Vorausabteilung, die das Ufer als erste erreichen und über den Fluß setzen soll, auf einen gesperrten Bahnübergang gestoßen ist und einen Umweg machen muß, der trotz höchster Marschgeschwindigkeit etwa zwanzig bis dreißig Minuten Zeit kosten wird. Bredow arbeitet ruhig. Er stützt sich mit beiden Händen auf die Lagekarte und stellt eine neue Vorausabteilung aus Einheiten zusammen, die ihrem augenblicklichen Standort nach den Fluß zum festgelegten Zeitpunkt erreichen können. In wenigen Minuten wissen ihre Kommandeure über die Lageänderung Bescheid und beginnen, den Befehl auszuführen. Erst in ummittelbarer Nähe des Flusses werden sie aufeinanderstoßen. Erst im Vorgelände der Übersetzstelle können sie sich formieren und gemeinsam den Versuch unternehmen, den breiten Fluß zu überwinden. Was jetzt auf den Marschwegen los ist, weiß Werner. Die vorwärts
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rollenden Kolonnen müssen Richtung und Geschwindigkeit ändern. Die Artilleristen und mot. Schützen, die Panzer und Nachrichtenleute der neuen Vorausabteilung müssen andere Kolonnen überholen, müssen Kreuzungspunkte frei machen. Niemand wird ihnen dabei helfen, denn nicht alle kennen die Veränderungen, viele halten sich noch an die befohlenen Zeiten und Wege. Die Kommandeure der Einheiten müssen trotz möglicher Hindernisse, trotz der Kolonnenstaus zur befohlenen Zeit am Fluß sein, wenn die gesamte Aktion Erfolg haben soll. Trotzdem ist Werner nicht beunruhigt. Bredow arbeitet exakt und mit höchster Konzentration, er nimmt den Generalmajor neben sich gar nicht wahr. Bredow ist der Kopf, von dem die Impulse zu allen Bewegungen des riesigen militärischen Apparats ausgehen, der sich auf den Fluß zubewegt. Unfähige Offiziere gibt es in der Division nicht. Einschließlich der Zugführer sind sie alle politisch und militärisch ausgezeichnet ausgebildet. Aber es gibt Unsichere unter ihnen, noch wenig Erfahrene. Da warten einige ab, und mancher zögert. Und es gibt auch welche, die zu sehr an ihre persönliche Laufbahn denken, an Auszeichnungen und Beförderungen. Offiziere, die deshalb bei mancher Entscheidung mehr als andere abwägen, was zu Zeitverlusten und manchmal zu Fehlhandlungen führt. Solche Haltung ist während einer Übung besonders problematisch und gefährlich, weil von einem einzigen Zugführer mitunter abhängen kann, ob ein Regiment oder eine ganze Division erfolgreich ist oder nicht. In realen Gefechten können Offiziere, die zuerst an sich selbst denken, sogar ganze Frontabschnitte und damit das Leben von Tausenden gefährden. Werner steht immer noch neben Bredow und blickt auf die Karte. Und er sieht andere vor sich auftauchen. Karten aus dem zweiten Weltkrieg, Karten mit Operationen sowjetischer Fronten, Armeen und Divisionen. Nie während seines Studiums in Moskau sind diese Karten für ihn bloßes geschichtliches Anschauungsmaterial gewesen. Immer wurden sie gründlich analysiert. Die Entscheidungen und Befehle der Kommandeure wurden gemessen am Verlauf der Schlachten, am Erfolg oder Mißerfolg der Truppenteile. Gestritten haben sie sich, andere Varianten wurden durchgespielt und alle Erfahrungen,
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die aus Fehlern ebenso wie die aus Erfolgen, an der gegenwärtigen militärischen Situation erprobt. Und nie vergaßen sie, hinter all den Zeichen und Linien einer Lagekarte die Menschen zu sehen, die gekämpft hatten. Die Gefallenen, die Verwundeten, die Siegreichen. Denn um die Menschen geht es, für sie werden solche Karten geschaffen. Von der Karte, vor der Werner und Bredow jetzt stehen, hängt kein Menschenleben ab, noch nicht. Und der Generalmajor wünscht sich, daß das so bleibt. Er weiß, daß es von ihm und von allen, die zur Division gehören, mit abhängt, auch vom Ergebnis dieser Übung. Überraschungen, Veränderungen und mitunter sogar Zwischenfälle bleiben bei solchen Übungen nicht aus. Wer damit nicht rechnet, ist gegen Schrecksekunden, gegen Unsicherheit und Hektik nicht gefeit. Die Entfernungen, die zurückgelegt werden müssen, sind zu groß, die Technik zu vielfältig, das Verkehrsnetz im Übungsraum zu dicht, und die Tausende von Soldaten, Unteroffizieren und Offizieren sind trotz der umfangreichen Vorbereitung zu unterschiedlich veranlagt, als daß acht Tage lang alles stabsmäßig ablaufen könnte. Von draußen kommt Motorengeräusch. Werner verläßt das Fahrzeug. Die Vertreter des Vereinten Oberkommandos und des Hauptstabes treffen ein. Der Adjutant des Divisionskommandeurs, der, mit dem Rücken gegen das Fahrzeug gelehnt, mit geschlossenen Augen raucht, tritt die Zigarette in den feuchten Boden und nimmt eine handlich gefaltete Karte aus der Tasche, die er dem Generalmajor überreicht. Fähnrich Rissmann hat in der letzten Nacht noch weniger geschlafen als Werner. Er hantierte noch am Tisch herum, als der Divisionskommandeur sich hinlegte, und als Werner erwachte, roch es schon nach Kaffee im Zelt. Der Generalmajor nimmt die Karte entgegen, lächelt dem Fähnrich zu und steigt auf den kleinen Hügel. Rissmann folgt ihm. Vor den sich nähernden Offizieren schreitet Generaloberst Beljajew. Er ist einen Kopf größer als Werner und trägt eine hohe Pelzmütze. Fest drückt er dem Divisionskommandeur die Hand und erkundigt sich nach der Lage, die Werner ihm in russisch erklärt. Weder Beljajew noch der Generalleutnant Klinkmann, der die Gruppe des Hauptstabes führt, fragen etwas. Sie rauchen,
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reden miteinander, warten auf den Beginn der Aktion am Fluß. Werner, der etwas abseits von ihnen steht, hebt sein Glas an die Augen. Durch die starke Optik wirken die Wiesen und das Wasser heller. Immer noch liegt das Gelände still und ohne Bewegung vor ihm. Dann plötzlich sind die MiG-Staffeln da, überraschend wie immer, obwohl Werner sie erwartet hat. Sie fliegen das andere Ufer an, und unmittelbar nach der letzten Maschine setzt das Artilleriefeuer ein. Im gesamten Abschnitt detonieren auf dem gegenüberliegenden Ufer Sprengladungen und reißen einen grauen Staubvorhang hoch. Vor allen anderen und früher, als Generalmajor Werner erwartet hat, trifft die Haubitzenbatterie am Fluß ein. Den Geschützen folgen drei geräumige Amphibienfahrzeuge, die Lasten und Soldaten über Wasserhindernisse transportieren sollen. Irgendwo auf dem Wege hierher werden die Artilleristen auf diese Spezialfahrzeuge getroffen sein, und der Batteriechef hat das, was er braucht, um ans andere Ufer zu kommen, gleich mitgebracht. Zügig hält die Kolonne auf den Flußlauf zu, und es sieht aus, als wolle ihr Kommandeur ihn sofort und ohne die mot. Schützen forcieren. Der Generalmajor verfolgt jede Bewegung der Artilleristen. Fünfzig Meter vom Ufer entfernt teilt sich die Kolonne, je drei Fahrzeuge schwenken nach rechts und nach links ein. Die Haubitzen werden abgeprotzt, die Zugmittel entladen, und während sie vom Ufer wegfahren, machen die Kanoniere die sechs Geschütze feuerbereit. Danach beginnen sie, im direkten Richten das andere Ufer zu beschießen. Werner sucht nach dem Batteriechef, dessen Gesicht er sich einprägen möchte. Als er den kommandierenden Offizier der Batterie entdeckt, erkennt er Major Wittenbeck. Nun begreift Werner das umsichtige und schnelle Handeln der Artilleristen. Major Wittenbeck ist ein erfahrener und entschlossener Offizier, und der Generalmajor bedauert erneut, daß der Major es abgelehnt hat, im Divisionsstab zu arbeiten. Aber während der Übung oder unmittelbar danach wird Werner noch einmal mit ihm sprechen. Der Major ist fähig, Entscheidungen zu treffen und Aufgaben zu erfüllen, die weit über die Möglichkeiten von Batterien und Abteilungen hinausgehen. Nun erreicht das mot. Schützenbataillon die Übersetzstelle. Geführt
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wird es von einem Wagen aus, der nicht zum Bataillon, sondern zum Divisionsstab gehört. Das gedrungene, geländegängige Fahrzeug trägt das Kennzeichen des Leiters der Politabteilung. Plötzlich schlägt der Wagen scharf nach rechts ein und bleibt stehen. Oberst Hempel steigt aus, läuft auf den ersten Kampfwagen zu und verschwindet rasch im Innern des BMP, der weiterrollt. Der Bataillonskommandeur wird über diesen Begleiter ebensowenig böse sein wie der Batteriechef über Wittenbecks Anwesenheit. Das Bataillon entfaltet sich, die erste Welle der flachen und schnellen Kampfwagen nähert sich dem Ufer. Wittenbecks Artilleristen sind bereits beim Stellungswechsel. Zwischen den Haubitzen hindurch stoßen die Kampfwagen bis ans Ufer vor, verringern die Geschwindigkeit und tauchen ins Wasser ein. In diesem Augenblick verlegt die Artillerie das Feuer nach vorn. Auch auf dieser Seite des Flusses detonieren jetzt vorbereitete Sprengladungen. Flakbatterien feuern. Die Erd- und Pulverfontänen erschweren den Fahrern die Sicht, aber auch dem Divisionskommandeur. Generalmajor Werner erkennt durch den Rauchvorhang, wie die zweite Welle der BMP eintaucht und danach Wittenbecks Artilleristen neben den Granatwerfern die Überfahrt auf den Amphibienfahrzeugen beginnen. Welche Verschiebungen in den Marschtabellen der Regimenter es nun noch geben mag, welche Verluste an Zeit und Technik auch auftreten mögen, alles ist auszugleichen und im weiteren Verlauf der Übung wieder aufzuholen, wenn jetzt bis zum Eintreffen der nächsten Truppenteile, die über den Fluß müssen, keine allzugroße Pause entsteht. Flüsse zu forcieren und am gegnerischen Ufer Brückenköpfe zu bilden, sind im Krieg komplizierte, taktisch und strategisch wichtige Operationen. Es kommt darauf an, rasch Raum zu gewinnen und die im Brückenkopf kämpfenden Einheiten sofort zu verstärken, damit sie Gegenangriffe zurückschlagen können. Darüber hinaus müssen sie den Brückenkopf erweitern und ihn so zum Ausgangspunkt neuer Angriffe machen. Generalmajor Werner weiß, wie reich an erfolgreichen Beispielen dafür der Vormarsch der sowjetischen Armee im zweiten Weltkrieg
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ist. Aber er kennt aus Dokumenten und aus persönlichen Berichten sowjetischer Offiziere auch Fälle, in denen es nicht gelang, die übergesetzten Einheiten rechtzeitig zu verstärken. Auf sich selbst gestellt, wurde der Brückenkopf für sie fast zu einem Kessel, in dem sie bis zum letzten Mann kämpften. Generalmajor Werner blickt nach rechts. Er sucht die gesamte Breite des Vorfelds ab, wartet auf die Panzer und die Gleiskettenfähren und atmet auf, als er durch den nordwärts abziehenden Rauchschleier die Halbfähren erkennt und an der linken Grenze des Abschnitts die ersten Panzer auftauchen. Er beobachtet das Einfahren und Entfalten der Fähren. Die langen Auffahrtsrampen werden abgeklappt und scheinen sich am Ufer festzukrallen. Die Panzer rollen auf die Basisfahrzeuge, die Rampen heben sich, und die Fähren lösen sich vom Ufer. Oberst Hempel auf der anderen Seite des Flusses erhält Verstärkung. Plötzlich erkennt Werner eine neue Welle BMP auf dem unruhigen Wasser. Das müssen die mot. Schützen der am Bahnübergang aufgehaltenen Vorausabteilung sein. Die Kampfwagen erreichen das andere Ufer unmittelbar nach den Fähren, und neben den ersten Panzern dringen sie in den Brückenkopf vor. Inzwischen ist die Pontonkompanie herangekommen. Die Fahrzeuge rollen zum Fluß, schwenken am Uferstreifen ein und stoßen, rückwärts fahrend, Zentimeter um Zentimeter durch den aufgewühlten, schlammigen Untergrund bis ans offene Wasser vor. Als die Pontons von den Fahrzeugen herabgleiten, drückt der Generalmajor auf die Stoppuhr. Die Pontons klatschen ins Wasser, öffnen sich automatisch, und schon springen die Pontoniere auf. Sie stoßen die weißroten Staken in den Grund und drehen die Pontons in die erforderliche Richtung, um sie miteinander zu verkoppeln. Schon oft hat Werner beobachtet, was die Pontoniere nach dem Kommando «Zum Brückenschlag vorwärts!» tun. Mit welcher Geschicklichkeit und Genauigkeit sie sich auf den glitschigen und schaukelnden Flächen bewegen, die vielen Verschlüsse schließen, einander helfen, wenn einer stolpert oder gar ins Wasser fällt. Doch die Schwimmweste läßt ihn nicht untergehen. Jeder von den Ponto-
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nieren weiß das. Alle haben ihre Flußtaufe schon hinter sich und Unsicherheit oder übertriebene Vorsicht längst überwunden. Aber heute hat die Strömung mehr Gewalt. Die Soldaten haben es schwer bei der Kopplung der Brückenabschnitte. Jeder ihrer Bewegungen setzt der Fluß starken Widerstand entgegen. Die Bugsierboote quälen sich mühsam vorwärts. Und doch wächst die Brücke. Auch im Fluß detonieren jetzt Ladungen, jagen graubraune, schlammige Fontänen hoch, die ihr Wasser auf die Pontons schleudern und sie zusätzlich bewegen. Spätestens in dreißig Minuten werden die Hauptkräfte der Division ans andere Ufer rollen. Der Brückenkopf ist gebildet. Werner möchte zu Bredow gehen, ihm die Hand auf die Schulter legen und dem Oberst für die gute Arbeit danken. Aber er bleibt auf dem Hügel. Bredow ist nur einer von Hunderten, von Tausenden von Männern, denen der Generalmajor heute zu danken hat. Er bleibt auch, weil Schanz plötzlich da ist. Er steht am Schlehengebüsch, sucht etwas, streckt schließlich vorsichtig die Hand aus, bricht einen Zweig mit weitentwickelten Blüten ab und riecht an ihnen. Am Morgen während des Angriffs hat Werner den Oberst nur einmal flüchtig gesehen. Aber Schanz hat von sich reden gemacht in der letzten Nacht. Die Geschichte mit den Waffen hat Generalmajor Werner schon zweimal gehört. Zuerst von Oberst Bredow und wenig später von Oberst Hempel, der von Schanz unterrichtet worden ist. Viel Zeit zur Erörterung war nicht gewesen, sonst hätte sich sofort eine prinzipielle Diskussion entwickelt. Die einen teilten Bredows Meinung, die anderen schlossen sich Hempel an, der gesagt hatte: «Ich hätt’s wie Oberst Schanz gemacht. Und im übrigen, Prinzipien sind fürs Leben da, nicht das Leben für die Prinzipien.» Werner hatte sich nicht geäußert, sondern das Gespräch auf die bevorstehenden Aufgaben zurückgeführt. Während er jetzt auf Schanz zugeht, ist er sicher, daß einige Offiziere die Sache nicht auf sich beruhen lassen werden. Zu ihnen gehört auch Oberst Bredow. Werner hält sich bei derartigen Ereignissen an Erfahrungen, die er selbst gemacht hat. Die Situation entscheidet über die Mittel. Und einem Mann wie Schanz traut Werner zu, daß er eine Situation rich-
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tig einschätzen kann. Christian hat nur an sich gedacht oder an gar nichts. Als er die unbeaufsichtigten Waffen sah, sind ihm Prinzipien eingefallen, Vorschriften, in deren Sinn er zu handeln glaubte. Und Bredow? Der Oberst sprach am Morgen über die Geschichte, als hätte sie im Zelt begonnen und nicht bei den Soldaten in der Stellung. Schanz ist rot im Gesicht, und seine Augen sind klein, die Lider geschwollen. Er sieht aus, als wäre er nach kurzem Schlaf eben erst geweckt worden. Werner begrüßt ihn stumm und spürt, daß Schanz’ Hand beim Druck zusammenzuckt. Wie geschwollen fühlt sie sich an. Werner dreht den Handteller nach oben und sieht, daß sich zwischen den Fingern Blasen aufbeulen, helle noch geschlossene und eine aufgeplatzte, deren Hautränder schon hart geworden sind. Der Oberst lächelt, hebt die Schultern und sagt: «Total aus der Übung.» Werner nickt und schweigt. Er weiß längst, daß Schanz den Soldaten in der Nacht beim Stellungsbau geholfen hat. Er mag diesen Mann vor sich. Aus vielen Gründen mag er ihn, auch deswegen, weil Schanz bei seinem oft zufällig wirkenden Umherfahren in der Truppe meistens an entscheidenden Handlungsorten auftaucht. Vielleicht verdankt die Division auch ihm den ausgezeichneten Angriff. Denn der Soldatenfunk verbreitet rasch solche Nachrichten wie das Verschwinden und Wiederauftauchen der Waffen. Möglicherweise hängt sogar das heisere, langgezogene «Hurraaa!» irgendwie mit Schanz zusammen, das jemand in der ersten Welle der Angreifer aus sich herausgeschrien hat. Zuerst nahmen es nur wenige auf, dann schon mehr, und das vierte «Hurraaa!» schlug wie eine Salve in die angenommene gegnerische Stellung ein. Schanz und Werner gehen nebeneinander weiter nach vorn, wo die anderen stehen. «Hast du eine Ahnung, wer das erste Hurra gerufen hat?» fragt Werner. Schanz schüttelt den Kopf und sagt: «Aber heute abend weiß ich’s.» «Im Grunde genommen ist es unwichtig», entgegnet Werner, und Schanz stimmt ihm zu. Es kann irgendein Soldat, ein Unteroffizier oder auch ein Offizier gewesen sein. Vielleicht aus Erleichterung, endlich das Ziel erreicht zu haben. Oder jemand hat gespürt, wie die
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Erschöpfung über ihn und die anderen immer stärkere Gewalt gewann, und hat mit diesem Ruf alles noch einmal vorwärtsreißen wollen. Doch das ist tatsächlich unwichtig. Das Besondere an diesem Hurra besteht für Werner nur darin, daß es die anderen aufgenommen haben. Der Dunst über den Wiesen und der Qualm der Detonationen haben sich zu einem schweren, graubraunen Nebel vermischt, in dem nur hin und wieder die Umrisse von Panzern und anderen Fahrzeugen zu erkennen sind. Der Fluß aber ist gut zu übersehen, weil die Detonationswolken vom Wasser immer wieder mit heruntergerissen werden. Die Pontoniere arbeiten bereits am letzten Drittel der Brücke. Neue Pontons werden von den Bugsierbooten eingefahren, und bereits die nächste Fähre schließt die Lücke zum anderen Ufer. Nach der nun beginnenden Kontrolle wird das erste Fahrzeug über die Brücke rollen. Es ist einer der schweren sowjetischen Lastwagen, auf denen die Pontons über Land transportiert werden. Als das Fahrzeug auf die Brücke fährt, stoppt Generalmajor Werner die Uhr. Vierundzwanzig Minuten und zwölf Sekunden zeigt sie. Er wendet sich um. Generaloberst Beljajew tritt zu ihm, nimmt ihm die Uhr aus der Hand und vergleicht sie mit seiner. Dann schüttelt er den Kopf, blickt hinunter zur Brücke, auf der jetzt Panzer zum anderen Ufer rollen. Schließlich nimmt er seine Pelzmütze ab, wischt mit ihr über das graue, borstige Kopfhaar und schlägt sie dann ein paarmal in die linke offene Hand. Laut ruft er einen Namen. Ein junger, schwarzhaariger Leutnant bringt einen kleinen Koffer, öffnet ihn und hält ihn dem Generaloberst hin. Beljajew nimmt ein paar dickwandige Gläser heraus, reicht eins Werner, das zweite gibt er Generalleutnant Klinkmann, das dritte behält er für sich, und fünf weitere verteilt er an andere Offiziere. Zuletzt holt er eine Flasche Wodka aus dem Köfferchen, reißt den Verschluß mit den Zähnen ab, und während er die Gläser füllt, erklärt er, daß er in Tschuikows Armee Pionier gewesen sei und daß es auf dem Vormarsch Sitte gewesen wäre, den Oberbefehlshaber an Flußläufen zu einer gebauten Brücke zu beglückwünschen und mit ihm auf die Pioniere anzustoßen, die den Weg von Stalingrad nach Berlin gebahnt haben.
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Aluminiumbecher waren es damals, erzählt Beljajew, aber der Wodka sei auch in jener Zeit gut gewesen. Er hebt sein Glas und drückt es, solange er spricht, fest an das des Generalmajors. «Wir wollen trinken, Genosse Werner», sagt er. «Wir trinken auf diese Brücke und auf unsere Soldaten.» Zehn Minuten später überquert Beljajew mit seinen Begleitern den Fluß. Er fährt an der Spitze von fünf Wagen, beugt sich aus dem Fenster und ruft den Soldaten irgend etwas zu. Die reagieren sofort, legen die Hand an den Helmrand oder winken dem Generaloberst nach. Werner steht allein auf der Anhöhe. Auch Schanz ist mit den anderen weggefahren. Zu Wittenbeck will er, hat er beim Abschied gesagt. Vierundzwanzig Minuten und zwölf Sekunden haben die Pontoniere gebraucht. Diese Zeit ist zwar schon unterboten worden, aber da war man auf einen Rekord aus. Von solchen Hau-ruck-Aktionen hält Werner nichts und schon gar nichts von Meldungen und Berichten darüber. Aber wenn die Soldaten nach tagelanger Übung und bei überdurchschnittlich hohem Wasserstand eine Brücke in einer Zeit schlagen, die fast sechs Minuten unter der Norm für die Note Ausgezeichnet liegt, ist das eine Leistung, die mehr wert ist als jeder Rekord. Werner freut sich. Nicht seinetwegen. Diesen Erfolg am Fluß hält er nicht für seinen oder Bredows Verdienst, nicht für ein Ergebnis ihrer Führungsqualitäten und ihres Willens. Dieser Brückenschlag ist ein Erfolg der Pioniere, wie der morgendliche Angriff ein Erfolg des Regiments war, das sein Schwager kommandiert. Werner freut sich, weil er weiß: Diese Soldaten, Unteroffiziere und Offiziere quälen sich nicht etwa um Treffer, Meter und Sekunden, weil hinter ihnen Vorgesetzte stehen, die sie dazu antreiben und deren Existenz in ihnen irgendwelche Urtriebe weckt wie Untertänigkeit oder knechtischen Gehorsam. Werner kennt zahlreiche Soldatenjahrgänge. Er weiß, daß die Soldaten voller Widersprüche sind, bald unzufrieden oder unwillig, dann wieder fröhlich und gefügig. Es sind junge Leute, die Wünsche und Pläne haben, Sehnsüchte und viele Fragen. Und sie sind kritisch, vor allem das. Was sie tun, solange sie
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Soldaten sind, tun sie trotz ihrer Verschiedenheiten und trotz der Befehle, die sie erhalten, freiwillig. Zwingen zu etwas, was sie im Grunde nicht begreifen und nicht wollen, lassen die sich nicht. Das macht seine Überzeugung, mit diesen Menschen jede militärische Aufgabe für die DDR erfüllen zu können, so sicher. Werner steht am Fluß, die Hände in den Taschen seines Mantels, die Arme gegen den Körper gedrückt. So steht er nicht nur, wenn ihm kalt ist, sondern auch, wenn Freude ihn ergreift. An dem uralten Flußlauf steht er und sieht, wie die Kolonnen der Regimenter über die Brücke fahren und den roten Pfeilen folgen, die auf Werners Lagekarte so schnell gezeichnet sind. Er freut sich und denkt plötzlich an seine Tochter. In den Augenblicken tiefster Freude schmerzt ihn Katrins Verlust am stärksten.
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7.Kapitel Friederike biegt ein paar Kilometer vor der Siedlung in einen Feldweg ein, der zu einer Waldspitze führt. Dort windet sich ein Urstromtal in weitem Bogen dem Haff entgegen. Gräser und Blumen wuchern Sommers auf seinem Grund und an den Hängen. Wie eine Oase schließt es sich an trockene Kiefernwälder und sandige Flächen an. Morgens und abends zieht oft nebliger Dunst durch die Senke, die als Weide genutzt wird. Noch immer sieht sie einem Fluß ähnlich, so daß Friederike jedesmal mit Erwartung hierherkommt, klares, bewegtes Wasser vorzufinden. Diese Vorstellung hat sich so tief in ihre Sinne gegraben wie vor Jahrtausenden der Strom in die Erde. Friederike steigt aus dem Wagen und setzt sich nahe am Hang auf einen länglichen, grob behauenen Feldstein, der früher als Wegweiser gedient haben mag. Aus Barsekow ist sie bereits gegen acht Uhr aufgebrochen. Sie ist schnell gefahren. Eine innere Unruhe treibt sie seit Beginn der Übungen, seit sie ihrem Vater das halbe Bild gegeben hat. Friederike zieht es aus der Tasche ihres Kostüms und wünscht sich, daß die andere Hälfte wirklich bei Wittenbeck sei, daß er, immer wenn er allein ist, es in die Hand nimmt und lange betrachtet. Sie stellt sich vor, wie sein Gesicht dabei allmählich das Grobe verliert und sich verjüngt. An alle Einzelheiten kann sich Friederike erinnern, an die gewölbte Stirn, an den Wirbel in der rechten Braue und die weit auseinanderstehenden Augen. Wittenbeck lächelt, flüstert Worte, die wie scheue Berührungen sind. Friederike hört das Knistern ihres Haars, das in den Hautrissen seiner Hände hängenbleibt, spürt, wie er ihr Gesicht umfaßt und seine Daumen leicht auf ihren Lippen liegen. Und die Hände riechen nach Eisen. Diesen Vorstellungen und Wünschen folgt jedesmal die Ernüchterung. Wie ein Schatten, der über eine Landschaft fällt. Die Wechsel von Sehnsucht und Enttäuschung folgen neuerdings immer rascher aufeinander, werden von Mal zu Mal heftiger und treiben Friederike vorwärts. Nur in Gegen200
wart ihres Vaters wird sie ruhig. Wie an der Kreuzung, wo er sie umarmte und leise sprach: «Nun sag aber mal.» Friederike weiß nicht, ob Wittenbeck das halbe Foto wirklich genommen hat. Außer ihm können noch viele an der Tafel gewesen sein, auch Ulrich Fichtner. Sie erhebt sich. Selbst hier in der Stille der Landschaft findet sie keine Ruhe. Fünfzehn Minuten später erreicht Friederike die Siedlung, sie fährt den Wagen in die Garage und geht zur Mutter, die hinter dem Haus Wäsche aufhängt. Zwischen den Laken und Bezügen herrscht freundliche Helligkeit, in der die Mutter rasch und ruhig hantiert. Vertieft in die Arbeit, bewegt sie sich trotz der Gummistiefel, die sie trägt, leicht. Nichts von der Schwere des beginnenden Alters ist an ihr zu beobachten, nichts von grämlicher Langsamkeit. Heute sieht Friederike in ihrer Mutter zum erstenmal auch die Frau, die ihr Vater liebt. Sie trägt einen bunten selbstgenähten Tuchrock, der bis unter die Knie reicht, und einen weitausgeschnittenen weißen Pullover, der ihre Brüste kaum bewältigen kann. Noch immer sind ihre Hüften nicht in die Breite gegangen. Unter dem leichten, ein wenig ausgestellten Rock zeichnen sich bei jedem Schritt, bei jedem Bücken ihre kräftigen Schenkel und der schwere Schoß ab. Eine gesunde Frau mit weicher, warmer Haut ist ihre Mutter. Eine von den unauffälligen, die das Gleichmaß brauchen, um sich wohl zu fühlen, die zur Untreue nicht fähig sind und nicht zur Lüge. Sie gehört zu jenen, die über Arbeit nicht klagen, sondern jede, auch die eintönigste, geschickt und freundlich verrichten. Die nie aufgeben, sondern das, was sie begonnen haben, fleißig zu Ende führen und ihre Freundlichkeit immer aus sich selber holen. Aber solche Menschen sind leicht zu verwunden. Unvorhergesehenes erschreckt sie. Alles, was die für ihr Glück nötige Ausgewogenheit bedroht, macht sie hilflos und manchmal auch nachtragend und ungerecht. Doch wenn man das erst einmal weiß, läßt sich manches vermeiden. Friederike hat all das über ihre Mutter bisher nicht gewußt oder nicht wissen wollen. Möglicherweise sind Kinder zu sehr mit sich selber beschäftigt, mit ihren eigenen Interessen, Wünschen und Sehnsüchten. Dabei vergessen
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sie, daß auch die Eltern welche haben und daß sie das Recht besitzen, sich diese Wünsche zu erfüllen. «Rike», ruft die Mutter plötzlich, «da bist du ja wieder!» Friederike horcht dem Satz nach, in ihm ist etwas von Vaters «Nun sag aber mal». Die Mutter steht vorm Wäschekorb, ein Laken in den Händen, und schiebt mit dem Unterarm die Haare aus dem Gesicht, das gerötet ist. Friederike geht zu ihr, atmet tief den Duft der sauberen Wäsche ein. Je näher Friederike der Mutter kommt, um so ruhiger wird sie. Die Mutter ist größer als sie und breiter, und als Friederike vor ihr steht, erinnert sie sich an die wohlige Geborgenheit ihrer Kinderjahre, wenn sie bei der Mutter lag, zwischen ihren angezogenen Knien und dem ausgestreckten Arm, ganz nahe dem mütterlichen Schoß. Der sicherste Platz auf der Welt. Sie umarmen einander, ohne ein Wort zu sprechen. Dann greift Friederike zu, reicht der Mutter Stück um Stück aus dem Korb. Beide schweigen noch immer, und sie finden es gut, daß keiner spricht. Erst, als der Korb fast leer ist, bestellt Friederike die Grüße des Vaters, und die Röte im Gesicht der Mutter nimmt zu. Sie will alles genau wissen. Und während des folgenden Gesprächs begreift Friederike noch etwas, das ihre Eltern betrifft. Sie passen zueinander. Der Vater hat die richtige Frau geheiratet. Eine andere, eine von den widerspruchsvollen, den eigenwilligen oder egoistischen, die unnachgiebig und ununterbrochen um ihr eigenes Ich und seine ständige Bestätigung ringen, wäre für den Vater nicht gut gewesen. Zerrieben worden wäre er zwischen ihr und den Kasernen. Und Friederike fragt sich gleichzeitig, ob sie zur Ausgeglichenheit der Mutter, zu ihrer widerspruchslosen Hingabe, die bis zur Unterordnung unter den Lebensrhythmus des Vaters, ja, bis zur Selbstaufgabe geht, je fähig sein wird. Sie weiß nicht einmal, ob sie es möchte. Im Haus ist es still. Die Zwillinge schlafen. Aus der Küche riecht es nach Kartoffelsuppe, seit Jahren die Sonnabendmahlzeit der Familie. An der Garderobe hängt Stefans Pelzjacke. «Na was!» sagt Friederike. «Die ist ja wieder da.» Sie fühlt Erleichterung, und für Augenblicke bereut sie, daß sie dem Vater den Vor-
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fall erzählt hat. Die Mutter lehnt sich gegen die Füllung der Küchentür und berichtet, wie sie die Jacke zurückbekommen hat: An der Kasse der Kaufhalle sei heute vormittag der Name Krüger gefallen, und sie habe Hannes Mutter einfach angesprochen. Die wußte zwar von dem Tausch, war jedoch sofort bereit, ihn rückgängig zu machen, als sie erfuhr, daß Stefan ohne Wissen seiner Eltern gehandelt hatte. Vor einer Stunde nun sei Frau Krüger mit ihrem Sohn bei ihr gewesen und habe die Jacke zurückgebracht. «Gut nur», sagt die Mutter, «daß es noch den Zufall gibt. Hanne ist nämlich von hier aus gleich zum Bahnhof gegangen und nach Schönefeld gefahren.» Sie lacht und tritt in die Küche. Friederike folgt ihr und fragt: «Und Stefan?» «In der Schwimmhalle, zum Training.» «Ich meine, weiß er schon, daß die Jacke wieder…?» «Nein», antwortet die Mutter, während sie Bockwürste in Scheiben schneidet und sie vom Brett in den Topf schiebt. «Er weiß es noch nicht. Aber ich glaube, er hat’s schon bereut. Gleich gestern früh hat er sich entschuldigt, und nun wird er froh sein, daß sie wieder da ist.» «Na, hoffentlich», sagt Friederike leise. «Hast du schon gegessen?» fragt die Mutter. «Hab’ ich.» «Aber einen Kaffee mach’ ich uns, ja?» «Einverstanden.» Friederike verläßt die Küche und steigt langsam die schmale Treppe zu ihrem Zimmer hinauf. Im Übungsgebiet herrscht Ruhe. Fahrzeuge und Waffen stehen getarnt und gefechtsbereit in den Stellungen. Die Männer haben gegessen, sich gewaschen und rasiert. Jetzt werden Stiefel geputzt und die Waffen gereinigt. Diese Arbeitsverrichtungen laufen außerhalb der Kasernen ganz ohne Hast ab. Hier draußen haben die Soldaten ein anderes Verhältnis zu ihren Waffen und Ausrüstungsgegenständen. Tagelang tragen sie sie bei sich, spüren ihre Nützlichkeit und begreifen, daß von ihnen im Gefecht Gesundheit und Leben abhängen kön-
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nen. Erst wenn sie sich in den Kasernen wieder von diesen Dingen trennen, wenn ein Teil davon ausgerichtet und sauber auf den Spinden liegt und anderes in Waffenkammern verschlossen wird, werden die Sachen den Soldaten wieder fremd, und die notwendige Pflege stellt oft eine unangenehme Pflicht dar. Während der gefechtsmäßigen Putz- und Flickstunde in den Wäldern verteilen die Politoffiziere Zeitungen und Briefe. Man erinnert sich an zu Hause, erzählt davon und diskutiert die neuesten Meldungen aus aller Welt. In diesen Ruhestunden sammelt die gesamte Division neue Kräfte. Nur die Posten sind auf den Beinen, und in den Stäben wird gearbeitet. Dort analysiert man den bisherigen Verlauf der Übung. Die Ergebnisse beim Kampf um Schnelligkeit und Genauigkeit werden zusammengefaßt und gewertet. Die Kommandeure loben und tadeln. Jene Offiziere, die schon jetzt die Übung als die bisher erfolgreichste der Division ausgeben möchten, werden von Generalmajor Werner und seinen Stellvertretern zurechtgewiesen. Denn auf den Karten entstehen bereits neue Gefechtslagen. Neue Marschwege, weitere Stoßrichtungen und Angriffe werden geplant, die nicht leichter zu bewältigen sein werden als die vorangegangenen. Trotzdem ist nicht zu verhindern, daß der Soldatenfunk die erfolgreiche Zwischenbilanz in kurzer Zeit in der gesamten Division verbreitet. Auch in den Kampfblättern werden Berichte über besondere Leistungen veröffentlicht, darunter eine Reportage, die den Angriff des zweiten Regiments schildert und von der Umsicht berichtet, mit der Unteroffiziere, Zugführer und eine Reihe von Soldaten gehandelt haben. Zwischen den Männern herrscht fröhliche Gelassenheit, Achtung voreinander und jene Vertrautheit, die sich nur dann entwickelt, wenn man tagelang nebeneinander läuft und schießt, miteinander flucht, sich eingräbt, im Dreck liegt, naß wird oder friert und wenn einer dem anderen hilft, wo immer es nötig ist. Zu denen, die in diesen Nachmittagsstunden keine Ruhe haben, gehören die Truppenärzte und das gesamte medizinische Personal. Auf den Verbandplätzen werden kleinere Verletzungen behandelt, Erkältungen und andere Krankheitserscheinungen untersucht, und es wird entschieden, wer in der
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Einheit bleiben darf oder mit dem nächsten Sankra in die Kaserne zurücktransportiert wird. Zur Ruhe kommen auch die rückwärtigen Dienste nicht. Die Truppenteile müssen mit Munition, Treibstoff und Verpflegung versorgt werden. Defekte an Fahrzeugen und Waffen sind zu beheben. Die Werkstattwagen und Bergefahrzeuge sind unterwegs, um liegengebliebene Panzer, Lastwagen und SPWs wieder einsatzbereit zu machen. Am späten Nachmittag bricht die Wolkendecke auf, und plötzlich ist die Sonne da. Weiches, strahlendes Licht dringt in die Wälder und mildert die harten Konturen der Waffen und Fahrzeuge. Um diese Zeit befindet sich Schanz in Puhlmeyers Kompanie. Er lehnt an der verschmutzten Rückwand seines Wagens, raucht eine Zigarre und hört dem jungen Politstellvertreter zu, der unmittelbar vor ihm steht. «Ob Sie’s glauben oder nicht», sagt Oberleutnant Freier, «ich weiß nicht, wer zuerst gerufen hat. Das Hurra kam von hinten. Da liefen Fichtner und Eisner. Aber die waren’s nicht. Behaupten sie jedenfalls. Wir hatten genug anderes zu tun. Laufen, hinlegen, schießen, wieder aufspringen. Und an der Stimme… Nach zwei, drei Kilometern, wer unterscheidet da noch Stimmen? Da erkennt man die eigene kaum wieder. Auch ‹Tschapajew›… Ich meine… Der hat’s auch nicht mitgekriegt.» Ein Gähnen unterbricht den Oberleutnant. Schmal ist sein Gesicht in den letzten drei Tagen geworden, aber nicht nur seins. Schanz hat heute viele solche Gesichter gesehen, mit geschwollenen Lidern, aufgesprungenen Lippen, der Hals gerötet und aufgerieben von den feuchten Uniformkragen. Ein Frösteln schüttelt Freier plötzlich, und als er weiterspricht, stoßen seine Zähne aufeinander. «Ist ja auch egal, wer’s war, ich denke…», sagt er, und Schanz nickt. «Trotzdem», meint der Oberst, «ich möcht’s gern wissen. Oder sind Sie nicht neugierig auf den Mann, auf sein Motiv?» Freier hebt die Schultern und entgegnet: «Vielleicht weiß er das nicht mal selber genau. Aber wenn er gefragt wird, muß er antworten. Und was kommt dabei raus? Klartext, Losung vielleicht. Davon
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haben wir genug.» «Aber vielleicht», Schanz gibt keine Ruhe, «vielleicht, und darum…» Er spricht nicht weiter, denn Freier gähnt erneut. Alles, was Schanz dem Oberleutnant noch sagen wollte, läßt er für heute unausgesprochen. Auch das Lob für ihn und die Anerkennung für die gesamte Kompanie, die bisher zu den besten gehört. Er sagt nur noch: «Leg dich hin, Junge, in der Nacht, irgendwann, geht’s weiter.» Freier nickt. «Gleich.» Wieder stoßen seine Zähne aufeinander. «Ich will nur sehen, ob alle versorgt sind.» Er deutet einen Gruß an und macht sich auf den Weg nach hinten. Schanz blickt ihm nach. Er wünscht sich, daß es Stefan sein möge, der da ein wenig nach vorn gebeugt, stolprig und langsam von ihm weggeht. Schanz möchte, daß sein Sohn eines Tages ein solcher Offizier wird wie Freier. Bei jedem Schützenpanzerwagen, die an der linken Seite des Weges zwischen dem noch tropfnassen Astgewirr von Birkenbüschen fast unsichtbar sind, bleibt Freier ein paar Augenblicke stehen, ruft den Soldaten etwas zu, fragt sie nach diesem oder jenem. Schanz beneidet Freier plötzlich. Darum, daß er erst Oberleutnant ist und fast zwanzig Jahre jünger als er selber. Schanz hat die Mitte des Lebens längst überschritten. Seine aktiven Dienstjahre in der Armee sind gezählt. Aber er wird sie ausfüllen. Jeden Tag, der noch vor ihm liegt, wird er nutzen, damit die Freiers so bleiben wie sie sind und ständig mehr werden. Er geht an seinem Wagen entlang nach vorn. Er will endlich zu Wittenbeck. Heute ist die letzte Gelegenheit, noch während der Übung mit dem Major zusammenzutreffen. Schanz tritt den Rest der Zigarre in den feuchten, von Reifen und Kettenspuren durchzogenen Wegsand, dann steigt er ein. Eine Stunde später erreicht Oberst Schanz den Führungspunkt des Artilleriestabes, wo er sich nach der genauen Stellung von Wittenbecks Abteilung erkundigen will. Kinzel stößt den Wagen zurück und lenkt ihn zwischen zwei hohe Kiefern. Irgendwo im Wald tuckert ein Aggregat. Das gleichmäßige Auf- und Abschwellen klingt wie der Motor eines Traktors, der einen
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Pflug über ein entferntes Feld zieht. Schanz tritt auf den Weg und bleibt stehen. Die Sonne wirft lange Schatten und spiegelt sich in den Scheiben eines Gehöfts, das etwa zweihundert Meter entfernt an einer Wegbiegung liegt. Vielleicht eine Försterei, in deren Nähe sich häufig ein Dorf oder eine Siedlung befindet. Förstereien verfügen über Wasser und Telefon, und meistens besitzen sie auch einen Kraftstromanschluß. Das sind drei Dinge, die Oberstleutnant Keuner bei der Wahl eines Führungsstützpunktes immer berücksichtigt. Für alle Fälle. Der Oberstleutnant befindet sich mit einigen Offizieren des Artilleriestabes stets in der Nähe der Raketenabteilung. Von hier aus ist die Funkverbindung zu allen Gegenstellen immer stabil, der Weg zur Abteilung nie länger als zwanzig Minuten, und außerdem kann Keuner ungestört arbeiten. Manchmal verläßt er sein getarntes Fahrzeug zwei bis drei Tage nicht, führt den Artilleriestab und die Artillerietruppenteile der Division mit unerschütterlicher Ruhe und erstaunlicher Übersicht. Keuners Geländekenntnis ist sprichwörtlich. Der Oberstleutnant besitzt die Fähigkeit, sich in einen Geländeabschnitt so zu vertiefen, daß sich die durch ihn zugewiesenen Marschwege und Stellungsräume immer als brauchbar und zuverlässig erweisen. Außerdem kann er schon aus dem Tonfall und dem Stimmenaufwand einer Meldung heraushören, ob sich dahinter eine Unsicherheit verbirgt. Sein inneres Signalsystem ist so gut entwickelt, daß er Unregelmäßigkeiten, Versäumnisse und falsche Entscheidungen bereits frühzeitig erkennt und stets eingreifen kann, ehe sie sich zu Schwierigkeiten auswachsen. Deswegen will Generalmajor Werner diesen Mann auch in der Division behalten. Denn nicht alle Erfahrungen Keuners sind auf seinen Nachfolger zu übertragen. Sie können nicht übernommen werden wie Dokumente, Schlüssel und Siegel. Schanz hat die Fahrt nicht unterbrochen, um Keuner zu überzeugen, daß er noch in der Armee bleiben muß. Bessere Argumente als der Divisionskommandeur hat er auch nicht. Aber Keuners Motive interessieren ihn, und die erfährt er am besten von ihm selber. Oberstleutnant Keuner gehört zu denen, die Anfang der fünfziger Jahre dem FDJ-Aufgebot gefolgt sind, zur Grenzpolizei gingen, in
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die KVP eintraten und später Offiziere der Nationalen Volksarmee wurden. Nun, nachdem sie etwa fünfundzwanzig Jahre gedient haben, sind sie Mitte vierzig. Eine ganze Generation von Offizieren hat mittlerweile dieses Dienstalter erreicht. Unter ihnen gibt es welche, die seit längerer Zeit wissen, daß sie sich von der Armee trennen werden. Die einen gehen aus gesundheitlichen Gründen in die Reserve, andere, weil sie ihre Leistungsgrenze erreicht haben und jüngere inzwischen nachgerückt sind. Von diesen Offizieren möchten viele bleiben, und der Wechsel fällt den meisten schwer. Auf Keuner jedoch will man noch nicht verzichten. Er aber gehört zu jenen, die unbedingt nach Hause gehen möchten. Mancher aus dieser Gruppe freut sich auf das Ausscheiden, wie sich Soldaten auf den Tag der Entlassung freuen. Im vergangenen Herbst gab es im Divisionsstab einen Oberstleutnant, der ein paar Wochen vor seiner Versetzung in die Reserve bei jeder Gelegenheit laut und fröhlich erzählte, wie schön er dann leben würde mit pünktlichem Feierabend und jeden Sonnabend arbeitsfrei, und am Wochenende könne er fahren, wohin er wolle, ohne die ständige Unruhe, irgendein Vorkommnis oder ein Alarm könne ihn in die Kaserne zurückholen. Alle Schilderungen vom Leben nach seiner Entpflichtung klangen wie Vorwürfe gegen seine augenblickliche Lage, und er trieb es so lange, bis Bodo Kulonska am Ende einer Besprechung dem Oberstleutnant vor allen Stabsoffizieren ein Bandmaß überreichte. Keuner verhält sich zwar nicht wie dieser Offizier, aber den Dienst wird er quittieren. Obwohl Keuner sicherlich auch an einem anderen Platz sein Bestes geben wird, ist Schanz enttäuscht und fühlt sich im Stich gelassen. Da tritt einer aus der Front, der weiß, daß er eine Lücke hinterläßt. Aber er geht mit einer gelassenen Entschiedenheit, und alle Begründungen, die er für diesen Entschluß angibt, haben nur mit ihm selber zu tun. Männer, die die Entwicklung der Armee vom ersten Tag ihrer Gründung an mitbestimmt haben und mehr als einmal mit durchgeladenem Gewehr dem Feind gegenüberstanden, denken plötzlich nur an sich, als wollten sie etwas nachholen, was sie in fünfundzwanzig Jahren versäumt haben. Diesen Vorgang kann Schanz nicht begreifen.
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«Parole!» Der Oberst gibt sie dem Soldaten, der den Führungspunkt bewacht und sich danach wieder in den Schatten eines Baumes zurückzieht. Vor der blankgetretenen Treppe zum Stabsfahrzeug bleibt Schanz noch einmal stehen. Wenn er Männern wie Keuner gegenübertritt, wird er rasch grob und manchmal laut. Aber der Stabschef ist gar nicht im Wagen. Im sauberen, geräumigen Innenraum befindet sich ein Funker, der gerade eine Meldung entgegennimmt und sie in eine Kladde einträgt. Rechts, vor einem schmalen Wandbrett, sitzt auf einem Klapphocker ein Offizier und schmiert Brote. Neben einem Stapel Schnitten steht ein bauchiger Thermoskrug. Dorthin geht Schanz, und beim Näherkommen erkennt er in dem Offizier den Hauptmann, der während der Nacht mit Oberstleutnant Christian die Waffen aus der Stellung mitgenommen hat. Der Hauptmann sitzt krumm auf dem Hocker, als fürchte er, sogar im Sitzen mit dem Kopf anzustoßen. Sein Gesicht ist gerötet, und der Mund steht ein wenig offen. Rasch schmiert er Butter über die Kastenbrotscheiben, legt Wurst darauf und läßt keinen Rand. «Das haben Sie gelernt», meint Schanz. «Bei fünf jüngeren Geschwistern», sagt der Hauptmann, ohne aufzusehen. «Trockene Krusten haben die glatt liegenlassen.» «Ich auch», bemerkt Schanz und weist auf den Krug. «Ist da ’n Schluck für mich übrig?» Wortlos gießt der Hauptmann eine Tasse voll und schiebt das Papier, in dem Butter und Wurst liegen, ein wenig zur Seite. Schanz zieht sich einen Hocker heran und fragt den Hauptmann, was er bei den Artilleristen mache. «Ich bin hier als Instrukteur eingesetzt, von Oberst Hempel», antwortet der Hauptmann. «Also Politabteilung?» Der andere nickt, und Schanz fragt: «Da schmieren Sie Brote? Haben Sie nichts Besseres zu tun?» Der Hauptmann preßt die Lippen aufeinander und zieht weiter die Butter gleichmäßig über die Schnitten, als hinge von den randlos geschmierten Broten der Erfolg der ganzen Übung ab. Je länger
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Schanz auf das breite Messer blickt, an dem winzige Wasserperlen wie Schweißtropfen haften, um so wütender wird er. «Leg das Messer weg!» verlangt er. Der Hauptmann läßt es in der Butter stecken. Unbeweglich und stumm sitzt er vor Schanz und blickt auf seine Knie, die spitz gegen die Wattehosen stoßen. Es ist kein hilfloses, kein müdes Schweigen, sondern ein gleichgültiges, fast gelangweiltes. So schweigt man vor Lehrern oder Vätern, von denen man bei einer schon oft verbotenen Dummheit erwischt wird. So schweigt man gegenüber Vorgesetzten, deren Meinung und Befehl man nicht begreift, aber hinnehmen und ausführen muß. Ein gefährliches Schweigen, weil es Widersprüche nicht löst. Es verpflichtet zu nichts und bietet viele Auswege. Wer so schweigt, gibt nach und schließlich auf. Er läßt sich herumstoßen und macht alles, was man von ihm verlangt, aber tut es doch nie ganz. Und wer sich verpflichtet hat, fünfundzwanzig Jahre zu dienen, für den wird diese Zeit zu einer Quälerei. Sein Schweigen wächst wie eine Mauer, die ihm jede innere Beziehung zu seiner Arbeit unmöglich macht. Und am Ende ist er einer von den ewigen Nörglern und Besserwissern, denen jeder aus dem Weg geht. Der Hauptmann ist noch nicht so alt, daß bei ihm Hopfen und Malz verloren wäre. Welch ein Unterschied zwischen ihm und Oberleutnant Freier! Zu dem müßte man ihn schicken, aber nicht als Instrukteur, sondern als Praktikanten. Ganz unten in der Kompanie müßte er seinen Dienst noch einmal beginnen. Aber der Hauptmann ist schon in der Politabteilung der Division und hat mit Aufgaben zu tun, denen er noch nicht gewachsen ist. Wer hat ihn in diesen Stab geholt? Es gibt Menschen, die von Beginn ihrer Laufbahn an mit Aufgaben und Verantwortung betraut wurden, die weit über ihre Fähigkeiten hinausgehen. Aber sie bringen nie den Mut auf, dies einzugestehen, und haben immer Glück, daß ihre mangelnden Kenntnisse nicht entdeckt werden. Diese Gedanken machen Schanz den Offizier nicht sympathischer, und er fragt nach Keuner. «Zum Artillerieregiment.» «Und warum sind Sie nicht mitgefahren?»
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«Weil kein Platz mehr war.» «Und das lassen Sie sich bieten?» «Ich bin Hauptmann…» «Politoffizier sind Sie», unterbricht ihn Schanz, «Politoffizier! Da spielt der Dienstgrad keine Rolle. Aber Sie bleiben lieber im warmen Stabswagen hocken, machen Küchendienst, und wenn Sie genug Brote geschmiert haben, kehren Sie hier aus und putzen den anderen die Stiefel. Ein Politoffizier degradiert sich zum Putzer! Wissen Sie, was ich gemacht hätte, wenn Keuner wirklich keinen Platz mehr für mich frei gehabt hätte? Gelaufen wäre ich, marschiert!» «Und wozu?» fragt der Hauptmann und blickt Schanz an. «Zum Rumstehen? Anderen im Wege sein? Dauernd spüren und hören, daß die anderen mich für überflüssig halten? Wär’ ich bloß Batteriechef geworden!» Der Hauptmann greift wieder nach dem Messer und legt das nächste Paar Schnitten vor sich zurecht. Schanz erinnert sich an die Situation im Zelt. Niemand hatte dem Hauptmann befohlen aufzustehen und Eisner zu helfen. Er handelte gegen Christian und Bredow. Aber hier schmiert er Schnitten. Hier hat er aufgegeben. «Möchten Sie weg von hier?» fragt Schanz. Sofort läßt der Hauptmann das Messer liegen und nickt. Gleich danach steht er auf, als wolle er das Fahrzeug im nächsten Augenblick verlassen. «Mach das, was man dir aufträgt, setz dich durch», sagt Schanz. «Wer einmal wegläuft, reißt immer wieder aus. Und demjenigen Offizier in der Truppe, der dich für überflüssig hält, rückst du nicht von der Pelle. Du schweigst, gehst Schritt für Schritt hinter ihm her und hältst Augen und Ohren offen. Da wirst du mal sehen, was dir alles auffällt, an Gutem und Schlechtem. Mach dich auf die Socken, los!» Der Hauptmann setzt schweigend die Mütze auf, legt das Gurtkoppel um und nimmt seine Aktentasche, aus der ein Stoß gefalteter Kampfblätter quillt. Am Tisch, auf dem die Lagekarte liegt, skizziert er auf einem Zettel mit ein paar Strichen seinen Marschweg. Dann geht er zur Tür, die plötzlich von außen aufgerissen wird. Major Hotte steht auf der Treppe. Der Hauptmann drängt sich grußlos an ihm vorbei, springt auf die Erde und geht mit langen Schritten in den
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Wald. Hotte schaut ihm kopfschüttelnd nach und ruft: «Verlaufen Sie sich nicht!» Lachend betritt er den Wagen und schließt die Tür. Er begrüßt Schanz, dann bleibt er an der Karte stehen und vertieft sich in sie. Hotte ist ein kleiner Mann, von dem jeder den Eindruck hat, er bewege sich auch, wenn er sitzt, und sogar, wenn er strammsteht. Zwei Drittel seiner Arbeitszeit verbringt er in den Truppenteilen. Hotte wird unruhig und fällt beinahe körperlich zusammen, wenn er länger als eine Woche keine Geschützhalle betreten hat, wenn er keinen Verschluß ausbauen konnte oder den hellen Dröhnton nicht hörte, den ein abgezogener Schlagbolzen im leeren Rohr einer Haubitze auslöst. Solche Trennungen von den Geschützen machen ihm mehr zu schaffen als Hunger, Durst und Getrenntsein von seiner Frau und den sieben Kindern. Überall in der Division und weit über ihre Grenzen hinaus nennt man ihn nur «Arihotte». Er dient schon so lange im Stab, daß man von ihm sagt, er gehöre zum Inventar. Aber er ist ein lebendes und zudem sehr lebendiges Inventar. Ein Praktiker, der soviel Erfahrung besitzt und so viele Kniffe und Fertigkeiten kennt, daß er jeder Bedienungsanleitung oder Vorschrift überlegen ist. Das macht sich immer dann besonders bemerkbar, wenn modernere Artilleriesysteme eingeführt werden. Sobald die ersten Geschütze einer neuen Serie in der Division eingetroffen sind, schließt sich Hotte mit einem Geschütz in der Halle ein. Niemanden möchte er während des ersten Zwiegesprächs mit der neuen Waffe dabeihaben. Vor ein paar Jahren versteckte sich ein Offizier des Artillerieregiments im Fahrerhaus einer Zugmaschine und beobachtete, wie Hotte leise auf das Geschütz einredete. Er umkreiste es mehrmals, näherte sich ihm allmählich und betastete, beklopfte und beroch es schließlich. Dann öffnete er den Verschluß, spannte den Schlagbolzen, zog ab und drehte an der Höhen- und Seitenrichtmaschine, bis das lange, schlanke Rohr mit der Mündungsbremse leicht und lautlos in die entsprechende Richtung schwenkte. Bei all diesen Handgriffen und Bewegungen redete Hotte leise vor sich hin. Er zerlegte den Verschlußblock und setzte ihn wieder zusammen. Erst danach beschäftigte er sich mit der Vorschrift. Und dann folgte rasch alles an-
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dere, was nötig war, um die Artilleristen mit dem Geschütztyp vertraut zu machen. Dabei stellte der Major Rekorde auf, die bisher in keiner anderen Division erreicht wurden. Hotte steht über die Karte gebeugt, geht zum Funker, liest die in der Kladde aufgeschriebenen Meldungen, tritt wieder an die Karte und betrachtet sie mit geblähten Nasenflügeln, was aussieht, als nehme er eine Witterung auf. Der Major hat seine fünfundzwanzigjährige Dienstzeit schon überschritten und denkt nicht daran, nach Hause zu gehen. Aber auf Keuners Platz wird er nie vorrücken können und auch gar nicht wollen. Hotte ist der Praktiker, einer von den unentbehrlichen Handwerkern unter den Offizieren, die mit ihrem Platz, den sie gefunden haben, völlig zufrieden sind, weil er sie weder unter- noch überfordert. Schanz tritt zu dem Major an die Karte und läßt sich zeigen, wohin Keuner gefahren ist. «Was will er dort?» fragt der Oberst. Hotte hebt die Schultern. «Der Name Wittenbeck fiel», sagt er. Schanz verläßt den Wagen. Kinzel liegt auf der hinteren Sitzbank, seine Aktentasche unterm Kopf, und schnarcht. Da geht der Oberst zu Hotte zurück. Allmählich füllt sich das Zelt. Wittenbeck sitzt in einer Ecke nahe beim Eingang auf einem Klapphocker. Den Kopf gegen den Zeltpfahl gelehnt, raucht er seine Pfeife, eine kurze mit breitem Biß und rundem Kopf, der fast den ganzen Handteller ausfüllt. Ruhig und mit gleichmäßigen Zügen raucht er und versucht, Ringe in die Luft zu blasen. Die Wärme des verbrennenden Tabaks dringt durch das Holz, das die Farbe frischer dunkelbrauner Kastanien hat, überträgt sich auf seine Hand und verbreitet sich von da aus über den ganzen Körper. Ein Wohlgefühl umfängt Wittenbeck, das ihn in eine schwebende Schläfrigkeit hüllt, die Sinne aber wach und lebendig hält. In Gedanken legt der Major Stiefel, Helm und Uniform ab, entledigt sich des Dienstgrads und der Verantwortung und wird nach jedem Pfeifenzug leichter und heiterer. Diese zeitweilige Trennung von Körper und
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Geist vollzieht sich bei allen, die ins Zelt kommen. Unterschiedslos sprechen sie ihre geheimen Wünsche und Zweifel aus und allerhand Einfälle von traumhafter Bewegtheit. Wittenbecks Tabakskollegium. Es ist keine Wiederaufnahme jener vom Soldatenkönig am preußischen Hof ins Leben gerufenen Abendunterhaltung, sondern eine Art Freizeitgestaltung, die sich ausnahmslos an die grundsätzlichen gesellschaftlichen Veränderungen seit der Regierungszeit Friedrich Wilhelms des Ersten hält. In diesem Zelt gibt es keine Ordonnanzen, die der Generalität die Pfeifen stopfen und anrauchen oder Backwaren und Zuckerwerk reichen. Hier gibt es auch keine Gelehrten, keine Hofnarren und Possentreiber, die zur Unterhaltung und Belustigung der anderen da sind. Alle haben Zutritt ohne Ansehen der Person und des Ranges, und Wittenbeck ist nicht König von Preußen, sondern Major und Abteilungskommandeur der NVA. Wer etwas essen oder trinken will, drängt sich zwischen den Sitzenden hindurch in die hintere Ecke oder reicht Geld rüber und nimmt Cola, Kekse oder Bonbons in Empfang. Die Flaschen und Tüten verkauft ein Soldat, der hinter einem schmalen Tisch sitzt. Darauf stehen auch zwei Haushaltskerzen und ein Feldtelefon, über das hin und wieder der eine oder andere zu seiner Einheit gerufen wird. Die meisten Zeltbesucher sind Soldaten und Unteroffiziere, was wohl damit zusammenhängt, daß die Offiziere in der NVA mehr zu tun haben, als je von den Offizieren der alten preußischen Armee verlangt wurde. Das Zelt verdankt seine Existenz genaugenommen einem Zufall. Seit dem 1. Dezember des vergangenen Jahres gehört Wittenbeck zur Division und kommandiert eine Haubitzenabteilung. Am selben Tag erhielt er den Auftrag, eine Lehrvorführung für den Militärbezirk vorzubereiten. Das gefiel ihm, denn bei dieser Aufgabe würden er und seine Stellvertreter, sein ganzer Stab und alle, die zur Abteilung gehörten, einander rascher kennenlernen und schneller zusammenwachsen als im normalen Ausbildungsalltag. Um diesen Vorgang noch zu beschleunigen, schlug Wittenbeck mit Einverständnis des Regimentskommandeurs vor, die gesamte Abteilung für acht Tage in ein Feldlager zu verlegen, weil außerhalb der Kaserne die Arbeit
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ungestörter und intensiver erledigt werden konnte. Generalmajor Werner stimmte diesem Vorschlag zu und gab den notwendigen Befehl. Alles, was zusätzlich für die Versorgung und Absicherung des Feldlagers organisiert werden mußte, leistete Wittenbecks Stab ganz ohne Hektik an einem einzigen Nachmittag. Jene Offiziere und Berufssoldaten, die lieber in der Kaserne und in der Nähe ihrer Familien geblieben wären, fanden kein Gehör und vergaßen bald ihre ursprüngliche Zurückhaltung. Alle Voraussagen und Hoffnungen Wittenbecks erfüllten sich. Die gesamte Abteilung schloß sich in diesen Tagen fest zusammen und wußte nach der Lehrvorführung, die als ein voller Erfolg gewertet wurde, was sie voneinander zu halten hatte. Der Dezember war verhältnismäßig mild und trocken gewesen, und es lag noch kein Schnee. Außer den geheizten Speisezelten und dem Klubzelt, in denen das Rauchen nicht erlaubt war, ließ Wittenbeck am Rand des Feldlagers noch ein zusätzliches Wärmezelt aufstellen, in dem sich von achtzehn bis zweiundzwanzig Uhr die Raucher versammeln konnten. Es gab dort weder ein Radio noch einen Fernsehapparat, sondern nur ein paar Klapphocker und einige Kugelascher. Schon am zweiten Abend war dieses Zelt der belebteste Punkt im Lager, und zeitweilig befanden sich in ihm über sechzig Männer, die auf Hockern, Planen, Decken oder Kisten saßen und rauchten, die Waffen zwischen den Beinen oder auf den Knien. Auch Wittenbeck war eines Abends ohne bestimmte Absicht ins Zelt gegangen. Er setzte sich in eine Ecke, stopfte sich die Pfeife und lehnte den Kopf gegen den Zeltpfahl. Und an diesem Abend machte der Major eine erstaunliche Beobachtung. Wer hereinkam, grüßte, nicht weil er Vorgesetzte im Zelt wußte, sondern weil es sich gehörte. Er suchte sich einen Platz und begann nach einer Weile ein Gespräch mit seinem Nebenmann. Alles ging sicher und gelassen vor sich. Es war, als ob jeder, der hereinkam, seine Scheu und Unsicherheit vorm Eingang zurückließ. Solange er im Zelt saß, war er wie alle anderen Anwesenden nichts weiter als ein Raucher. Das Zelt, in dessen Mitte ein Kanonenofen, flankiert von zwei Blenden, Hitze ausstrahlte, wurde als eine Art neutraler Ort begriffen, an dem die sons-
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tigen, im militärischen Dienst notwendigen Unterschiede nicht galten oder zumindest nicht erwähnt oder betont wurden. Wer auch immer hereinkam, Soldat, Unteroffizier oder Offizier, trat ins Zelt, wie man einen FKK-Strand oder eine Sauna betritt, wo man für ein paar Stunden nichts anderes ist als ein nackter Mensch. An jenen Dezemberabenden begann sich auch das Pfeiferauchen in Wittenbecks Einheit zu verbreiten, und heute ist das Zelt aus dem Leben der Abteilung nicht mehr wegzudenken. Immer, wenn es aufgebaut wird, strömen die Männer herbei und warten manchmal geduldig vor dem Eingang, bis jemand aufsteht und Platz macht. Auch Wittenbeck zieht es immer wieder dorthin, nicht allein wegen des Rauchens. Rauchen könnte er auch anderswo. Aber ungezwungen und in aller Ruhe miteinander über vieles reden, das ist nur im Raucherzelt möglich. Neben den Zwiegesprächen und den leisen Unterhaltungen gibt es fast immer auch ein großes Thema, zu dem alles hinführt, und zu dem immer alle zurückkehren. Es wird vorher nie bestimmt, sondern ergibt sich stets aus irgendeiner zufälligen Bemerkung. Oft sprechen die Männer über ihre Beziehungen zu Mädchen und Frauen, über die Liebe ganz allgemein und ihre vielen Spielarten. Aber auch um Armee und Krieg drehen sich die Gespräche, oder Bücher, Menschen, Ereignisse und Zukunftsvorstellungen stehen im Mittelpunkt. Und im Zelt verwandeln sich die Leute. Die ewigen Schweiger finden Worte, und die Dauerredner sind zurückhaltend; die Witzbolde spaßen nur, wenn es angebracht ist, und die Nachdenklichen werden heiter. Die Anziehungskraft des Zeltes kommt von der unvoreingenommenen Gleichheit, in die jeder einbezogen ist. Sie wird mitbestimmt vom milden Licht, das die Kerzen verbreiten und die flackernde Glut im Blechofen, deren Schein durch die Türritzen gegen die Zeltwände fällt. Wittenbeck selbst geht zum Zelt, wie er als Junge vor allem während der Herbstwochen in die nahen Wälder gezogen ist, wo er Laubhütten baute, dem menschlichen Urtrieb nach Seßhaftigkeit während der kalten Jahreszeit folgend. Er geht zum Zelt, wie es ihn
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als Halbwüchsigen an den Sommerabenden zur Milchrampe getrieben hat, die am Rand des Dorfplatzes gegenüber der Schenke stand. Dort hockten sie auf den dicken Brettern wie Spatzen auf einer Dachrinne, baumelten mit den Beinen, neckten die, die in die Kneipe gingen, oder planten ihre Raubzüge nach Knubbern und Kornäpfeln. Wittenbeck geht zum Zelt, wie es ihn mit anderen Jungen zum Rosenberger Gutsschlößchen gezogen hat, in dem die Zootechnikerlehrlinge wohnten und wo etwa achtzig Mädchen aufs Hundert kamen. Doch das Zelt wäre nicht geblieben, was es für die Abteilung ist, wenn einer anderswo darüber gesprochen hätte wie über eine Errungenschaft. Das Zelt wird nicht erwähnt, als fürchten alle, es könnte seine Bedeutung verlieren, sobald andere davon wissen oder es nachahmen. Heute steht das Zelt etwa vierhundert Meter hinter den Batteriestellungen in einem schneisenbreiten Waldeinschnitt. Wittenbeck selbst hat diesen Platz bestimmt. Von hier aus sind die Geschütze und Fahrzeuge, die Funkstationen und Stäbe in zwei bis drei Minuten zu erreichen. Die Dachklappe des Zeltes und alle Seitenfenster sind geöffnet. Das Zelt ist fast besetzt, und Wittenbeck nimmt die leisen Geräusche wahr, ohne sie näher zu bestimmen. Von draußen kommt kein Laut. Diese Stille wird die ganze Nacht über herrschen. Bis auf die Posten und die Diensthabenden wird die gesamte Abteilung in tiefem Schlaf verharren. Morgen beginnt die letzte Etappe der Übung. Und erst wenn sie zu Ende ist, wenn die Truppenteile in den Sammelräumen liegen und sich auf den Rücktransport vorbereiten, kann das Zelt noch einmal aufgebaut werden. Jemand schürt die Ofenglut und legt ein paar Briketts nach. Dann fragt einer: «Was haben wir heute eigentlich für ’nen Tag?» Zwei Atemzüge lang ist es still im Zelt. Auch Wittenbeck überlegt eine Weile, bis ihm einfällt, daß Sonnabend ist. Das Wort wird aufgenommen, wiederholt und wandert wie eine Parole durchs Zelt. Der eine spricht es mit Verwunderung aus, der andere ungläubig, der nächste wie etwas Vertrautes und lang Entbehrtes. Dann folgen Vorschläge und Gedanken, die mit dem Sonnabend im allgemeinen und mit dem ersten nach der Übung im besonderen
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zu tun haben. Wittenbeck denkt an seine Sonnabende. Vor zwölf Uhr mittags verläßt er nie die Kaserne. Jedesmal, wenn er im Ledigenheim unter der Dusche steht, nimmt er sich vor, nach Hause zu fahren. Er freut sich auf seinen Sohn und sehnt sich nach seiner Frau. Aber dieses Gefühl lähmt ihn eher, als daß es ihn vorwärtstreibt. Dann überlegt er und rechnet aus, daß er vor Mitternacht nicht zu Hause sein wird und am Sonntag spätestens nach dem Kaffeetrinken wieder aufbrechen muß. Und nie vermag er sich des Eindrucks völlig zu erwehren, daß er immer, wenn er überraschend auftaucht, seiner Frau und Axel den Sonntagsplan durcheinanderbringt. Diese Überlegungen sind jedoch nur ein Vorwand. In Wirklichkeit halten ihn ganz andere Gründe vom Fahren ab. Also bleibt er. Doch wohin er auch geht und was immer er unternimmt, alles tut er mit dem Gefühl, daß ihm etwas fehlt. Lediglich im Restaurant, wenn Friederike Schanz dort ist, verliert er es für eine Weile. Wittenbeck mag diese Sonnabende nicht, und ihm ist der heutige lieber als jeder andere. Hier in der Ruhestellung am Rand eines Schießplatzes, nach drei Seiten von Schonungen und Hochwäldern abgeschirmt, bewegen sich seine Sinne in einem Raum, der zwischen Wachsein und Einschlafen liegt, zwischen Traum und Wirklichkeit. Die Eindrücke des Tages überlagern sich. Nebensächliche Gefühle und Gedanken vermischen sich mit Wichtigem. Wünsche erfüllen sich mühelos. Gegenstände und Gesichter schweben bald in weiche Dämmerung davon, bald stehen sie in nüchterner und rücksichtsloser Schärfe vor ihm. In diesem Zustand, wo Zeit, Gesetz und Pflicht aufgehoben sind, vermag man sogar den eigenen Tod unbeteiligt vorauszuerleben. Und die Phantasie geht frei mit Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft um. Die Unterhaltung im Zelt ist wieder einmal bei den Frauen angelangt. «An jeder Frau ist etwas dran», sagt einer langsam, «an jeder.» Wittenbeck hat anfangs versucht, die Sprecher an der Stimme zu erkennen. Aber im Grunde ist es unwichtig, wer etwas sagt. Meinungen werden geäußert, man stimmt dem einen zu, dem anderen widerspricht man. Geschichten werden erzählt, die sicherlich nicht immer ganz wahr sind. Aber auch das ist nicht wichtig. Im Zelt sitzen keine
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Philosophen zusammen, und wer neunzehn Jahre alt ist oder etwas älter, verfügt nicht über die bedingungslose Aufrichtigkeit eines Weisen. Die Geschichten um Frauen und Mädchen sind grob, mitunter zotig, manchmal rührselig. Nirgendwo werden Männer derber und sentimentaler zugleich als bei den Soldaten, und nirgendwo anders vermag ihre Stimmung so übergangslos von einem zum anderen zu wechseln. «Jede Frau hat was Besonderes», sagt dieselbe Stimme wieder. «Jede hat was Interessantes. Mußt es nur sehn, mußt es bloß suchen. Man kann jede Frau lieben.» «Das hängt von der Lage ab», meint ein anderer. «Wenn du aus so ’nem sexuellen Notstandsgebiet kommst wie wir, ist plötzlich auch ’ne Häßliche schön oder ’ne Dicke oder Steckendürre.» Da steht plötzlich Johanna Dietrich im Zelt, die von den Rosenberger Lehrlingen «Sense» genannt wird, weil sie mager ist und ewig müde, immer hinter den anderen herzottelt und erst lebhaft wird, wenn etwas Eßbares zu sehen ist. Krumm stiefelt sie daher, als schlafe sie im Gehen. Während des zweiten Lehrjahres liest Wittenbeck, wenn er vom Feld kommt, Johanna ein paarmal auf und nimmt sie im Traktor mit. Doch jedesmal schläft sie auf dem zwei Kilometer langen Weg bis zum Gutsschlößchen so tief ein, daß er sie aus dem Fahrzeug heben muß. Jetzt steht sie vor ihm, unbekleidet, nicht krumm und vor Erwartung so wach, wie er sie nie vorher gesehen hat. Johanna ist nicht das erste Mädchen, das Wittenbeck nackt sieht. Aber er ist zum erstenmal mit einem nackten Mädchen allein, und er weiß, daß er alles, was er vor sich sieht, in wenigen Augenblicken berühren wird. Die unvermutet großen Brüste, die unter den hervortretenden Schlüsselbeinen und oberen Rippen stehen, wie reife Äpfel mitunter an den dünnen Zweigen eines noch unentwickelten Baumes hängen. Den festen, gleichmäßig gewölbten Leib mit dem pfauenfleckförmigen Nabel. Das breite Becken und die vielen Haare, die in dem Spalt zwischen den Schenkeln lichthell schimmern. Sie riecht ein wenig nach gestärkter Wäsche und Milch, als hätte sie eben gemolken. Die Lust, die sie an diesem Sonntagnachmittag und an vielen folgenden
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Tagen und Nächten einander bereiten, wird von Johannas kleiner, die Oberlippe spaltenden Hasenscharte nicht beeinträchtigt. «Und häßlich, überhaupt, was ist das?» fragt der mit der langsamen Stimme. «Steht das etwa im Lexikon?» «Sag uns mal, du Verteidiger der Häßlichkeit», spottet ein anderer, «wenn du verheiratet sein solltest, wie sieht denn deine Frau aus?» «Ich heirate nicht», sagt Johanna, die neben Wittenbeck auf der Decke sitzt, das Gesicht über ihren angezogenen Knien ihm zugewandt und die Arme unter den sehnigen Kehlen verschränkt. «Auch wenn ich das nicht hätte», fügt sie hinzu und zeigt auf ihre Oberlippe, «ich heirate nicht. Das gibt mit der Zeit sowieso nur Ärger und Streit. Wenn sogar das Lieben zur Pflicht gemacht wird wie jeden Tag das Abwaschen und Staubwischen.» Was sie sagt, betrifft Wittenbeck nicht. Er hat sie nie gedrängt, hat immer gewartet, bis sie kam. Aber Johanna erscheint ihm in diesem Augenblick nicht wie achtzehn. Sie wirkt zehn Jahre älter, und was sie sagt, klingt, als spreche sie aus eigener Erfahrung. «Aber Kinder will ich», sagt Johanna, «wenigstens zwei. Und die Väter dazu such’ ich mir aus. Vielleicht komm’ ich eines Tages deswegen, zu dir. Hoffentlich bist du dann nicht feige.» «Beantworte mir mal eine Frage, ganz ehrlich», sagt einer, der in der Nähe des Ofens sitzt. «Du triffst eine Frau, die im Rollstuhl sitzt, weil sie keine Beine mehr hat. Du lernst sie kennen, vielleicht arbeitest du mit ihr zusammen, und du gefällst ihr.» Jemand öffnet die Ofentür. Der Feuerschein fällt auf ein rundes Gesicht mit vollen, weichen Lippen. Wittenbeck kennt es. Es gehört dem vierundzwanzigjährigen Unteroffizier Westphal, verheiratet, seit November Geschützführer in der vierten Batterie. Er hält die Augen geschlossen und lehnt mit dem Rücken an den Knien eines Soldaten, der auf einer Kiste sitzt. Der Schatten der Ofentür wandert über Westphals Gesicht und gibt es der Dämmerung zurück. Der Unteroffizier gehört zur Arbeitsgemeinschaft bildnerischen Volksschaffens des Militärbezirks. Einige seiner Grafiken und Linolschnitte hängen im Klub und auf dem Flur der Batterie. Landschaften, Stilleben mit weichen, harmonischen Konturen. Auch ein Mädchenakt ist darunter,
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vor dem Wittenbeck schon ein paarmal stehengeblieben ist. Den Kopf zurückgeworfen, die Hände im Haar, steht ein Mädchen seitlich zum Betrachter vor einem hohen Spiegel, in dem zu sehen ist, was ihr Rücken verbirgt. Wittenbeck mag das Bild, und plötzlich dreht sich das Mädchen um, kommt auf ihn zu und wird von Schritt zu Schritt Friederike Schanz ähnlicher. Friederike setzt sich zu Wittenbeck an den Tisch. Nebenan sitzen andere Frauen aus der Siedlung, starren zu ihnen herüber, und ein Gesicht sieht aus wie das andere. Strenge Falten und schroffe Ablehnung wie vor ein paar Wochen, als Wittenbeck zu Friederike ging und mit ihr aus dem Bannkreis heraustanzte. Die Gesichter der Frauen sind Wittenbeck gleichgültig. Was sie ausdrücken, erreicht ihn nicht. Plötzlich aber taucht zwischen ihnen das Gesicht seiner Frau auf und ist ihnen so ähnlich, daß man es gegen jedes andere austauschen könnte. Da fühlt Wittenbeck eine ratlose Traurigkeit. So deutlich sind ihm die Veränderungen in Reginas Gesicht bisher nicht aufgefallen. Er umschließt es mit seinen Händen, spürt an den Fingerspitzen, wie das Blut in den Schläfen pulst, und meint, daß ihr Gesicht, wenn er es nur lange genug fest zwischen seinen warmen Händen hält, wieder jung und heiter wird. Aber das Gesicht seiner Frau verwandelt sich in das von Friederike. Die Augen geschlossen und die Lippen ein wenig geöffnet, als wolle sie etwas sagen, preßt sie die Lippen gegen seine Hände, und er spürt den Druck ihrer Zähne. «Thea war achtzehn, als das passierte, kurz nach dem Abitur», sagt Westphal. «Der sie heiraten wollte, ließ es bleiben. Wer will schon eine Frau, die im Rollstuhl sitzt? Jetzt ist sie sechsundzwanzig und bis auf die Beine völlig gesund. Seit zwei Jahren ist sie im Zirkel. Wir haben damals vor der neuen Apotheke gesessen, da sind Bänke, Blumenschalen, Springbrunnen und immer viele Kinder und alte Leute, die füttern die Tauben. Und plötzlich war sie da, fuhr von einem zum anderen, guckte, was wir zeichneten, und fragte unseren Maler, ob sie mitmachen dürfe. In der Apotheke arbeitet sie, und neben dem Laden ist ein großes Fenster. Dahinter sitzt sie immer, und du kannst sehen, wie sie Medikamente, irgendwelche Salben und so zurechtmixt. Ich hole Thea meistens ab, weil
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die Apotheke am Weg zum Klubhaus liegt.» «Und wie sieht sie aus?» «Gut. Ihr Gesicht ist…. also viele würden ihr nachlaufen. Einen schönen Mund hat sie, feste Lippen, Zähne, einer wie der andere. Und wenn sie lacht, mußt du einfach mitlachen. Ihre Augen sehen dich an, eine Minute und länger, ohne zu zwinkern, und dann geht was vor in ihrem Gesicht… Reden kannst du mit ihr wie mit dir selber. Das ist wie, ich meine, so ungefähr muß es bei der Beichte sein. Du kannst alles aussprechen und weißt genau, daß es keine Folgen hat.» Wittenbeck sehnt sich plötzlich heftig nach Johanna, die nie wieder aufgetaucht ist. Entweder hat sie doch geheiratet oder inzwischen ihre zwei Kinder bekommen und braucht ihn nicht mehr. Nie hat er bei Johanna das Gefühl gehabt, daß etwas in ihr unbeteiligt war, aufgehoben wurde, unangetastet blieb für später oder irgendeinen anderen. So liebte Johanna nicht nur, so aß sie auch, so arbeitete sie und redete mit ihm. Und jede Unterhaltung mit ihr war ebenso abwechslungsreich, so voller Überraschung und frei von Hemmungen wie das, was ihr vorausgegangen war. Das alles hat Wittenbeck bei Regina nie in gleichem Maße erlebt. Vielleicht sind die Monate mit Johanna in seinen Sinnen so lebendig geblieben, weil sie die erste Frau für ihn gewesen ist. Die frühen Jahre mit Regina, in denen sie beide noch studierten, waren für sie mit zu vielen anderen Dingen ausgefüllt. Sie lebten lange Zeit getrennt, so daß sie vieles auf später verschieben mußten und deswegen einander nie ganz erreichten. Denn auch das «Später» hieß wieder Trennung. Das Versprechen, das sie einander noch während des Studiums gegeben hatten, daß keiner jemals vom anderen verlangt, seine Arbeit aufzugeben, haben sie bis heute gehalten. Aber in den letzten Jahren sind ihre Bindungen an den Beruf immer fester geworden und inzwischen stärker als die Bindung aneinander. Jeder ist in seine Lebenskreise eingeschlossen, die sich unabhängig voneinander bewegen. Reginas Forschungsinstitut und sein Regiment sind Teile eines großen Zusammenhangs, in dem sie sich nicht oder bloß selten berühren. Wie die Gestirne eines Planetensystems, das jeden Stern in vorgeschriebene Bahnen zwingt.
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Alles, was Mann und Frau in jahrelangem Zusammenleben verbindet, gibt es für sie nicht. Gesten, Berührungen und die vielfältigen Gemeinsamkeiten des Alltags, die das Gefühl ständiger geistiger und körperlicher Nähe schaffen, haben sie kaum erlebt. Nie hat Wittenbeck, wenn seine Frau krank war, besorgt seine Hand auf ihre heiße Stirn gelegt und beruhigend auf sie eingesprochen. Er hat ihr nie beim Wäscheaufhängen geholfen und nie mit ihr in der Küche gestanden und Kartoffeln geschält. Das und vieles andere findet in seiner Ehe nicht statt. Manchmal, wenn er heimfährt, nimmt er sich vor, mit Regina über alles zu sprechen, ihr zu sagen, was ihm fehlt. Und solange er unterwegs ist, erscheint es ihm einfach, ruhig und zärtlich zu sein und sofort zu beginnen, das Versäumte nachzuholen. Doch jedesmal, wenn er ankommt, zögert er, spürt, daß Regina ihm für ein solches Gespräch nicht vertraut genug ist und daß er schon zuviel Zeit hat verstreichen lassen. Wittenbeck wirft diesen Zustand niemandem vor außer sich selber. Er entschuldigt sich nicht mit den Umständen, macht weder die Gesellschaft noch die Armee für alles verantwortlich. Er weiß zwar, daß es anders um ihn und Regina stünde, wenn er nicht Offizier geworden wäre. Aber im Grunde liegt es an ihnen selbst. Sie sind mit den Umständen nicht fertig geworden. Andere, viele andere, haben es geschafft und schaffen es immer von neuem. «Thea zeichnet nur Skizzen. Mit Bleistift oder Feder. Nur Skizzen, und alle sind nicht fertig. Sie zeichnet etwas und hört plötzlich damit auf, als ob sie die Lust verliert mitten im Strich. Trotzdem ist alles zu erkennen. Blumen, Tauben oder eine Bank, ein Zweig, ein Apfel oder ein Haus. Vielleicht hört sie deshalb auf. Wenn das Wichtigste da ist, macht alles andere keinen Spaß mehr. Bis auf die Kinder. Kinder sind das einzige, was sie richtig zeichnet, ich meine, ganz zeichnet. Anfassen möchte man sie, diese Kinder. Irgend etwas zu ihnen sagen. Sie sehen sogar lustig aus, wenn sie weinen.» Wittenbeck liegt auf dem Bauch vor der Schaltanlage und führt die Kommandos seines Sohnes aus, der ihm gegenüber kniet. Die neue gelbrote D-Zug-Lok, die Wittenbeck für Axel mitgebracht hat, rollt rückwärts aus dem Schuppen, wird an die Wagen gekoppelt, verläßt
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mit ihnen langsam den Bahnhof und geht dann unter ständiger Beschleunigung auf die weitverzweigte mehrspurige Strecke, an der Wittenbeck zu bauen begann, als Regina schwanger war. Es klingelt an der Wohnungstür. Wittenbeck vernimmt Reginas Stimme, die so leise ist, daß er nicht versteht, was sie sagt. Danach spricht ein Mann. Axel springt auf, rennt aus dem Zimmer und ruft: «Onkel Klaus, Onkel Klaus!» Dann ist nichts mehr zu hören außer den Geräuschen des Zuges, der seine Bahn zieht, die die Gleise ihm vorschreiben. Wittenbeck dreht den Schalter des Trafos bis zum Anschlag. Die helle, schlanke Lok hetzt in ihrer Spur über die Strecke, und vor mancher Kurve erwartet Wittenbeck, daß die Wagen aus den Schienen springen. Wittenbeck schaltet den zweiten Trafo ein und schickt einen Güterzug auf die Reise. Er beschleunigt auch ihn bis zur Höchstgeschwindigkeit, und beide Züge rasen nun in entgegengesetzter Richtung aneinander vorbei, übereinander hinweg, ohne sich zu berühren. Wittenbeck wartet auf einen Zusammenstoß, wünscht ihn sogar herbei, obgleich er weiß, daß dies für die Züge und die ganze Anlage eine Katastrophe wäre. Und dann geschieht es. Der letzte Güterwagen neigt sich in einer Kurve ein wenig nach außen und gerät dabei aus dem Gleichgewicht. Er kippt zur Seite, und die D-Zug-Lok stößt in den Wagen hinein. Die Lokomotive bäumt sich auf, verkeilt sich krachend mit den Wagen. Funken jagen übers Metall. Es riecht nach verbranntem Gummi. Wittenbeck schaltet die Trafos aus. Plötzlich steht Axel neben ihm, blaß und stumm starrt er auf das Durcheinander, und plötzlich schluchzt er. Das Schluchzen löst sich tief innen, und der Junge bebt wie im Schüttelfrost. Erschrocken drückt Wittenbeck ihn an sich, redet leise auf ihn ein. Doch Axel zittert, und plötzlich wehrt er sich gegen die Arme und die Stimme seines Vaters. Er stößt Wittenbeck zurück, reißt die Lok an sich und schreit: «Meine Lok ist kaputt. Onkel Klaus, er hat meine Lok kaputt gemacht.» Aber der Onkel Klaus ist schon gegangen. Regina steht im Zimmer. Axel rennt zu ihr, drückt sich an sie, und sie tröstet ihn. Was sie sagt, ist gleichzeitig für Wittenbeck bestimmt. «Schon gut, Axel, schon gut. Wir fahren am Nachmittag zum Fernsehturm. Onkel Klaus hat
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drei Karten und holt uns ab. Ist ja gut, ist ja gut. Die Lok werden wir wieder reparieren.» «Wißt ihr», sagt Westphal, und seine Stimme klingt jetzt rauh, «so was hab’ ich noch nicht gesehen. Als ob alles, was eine Frau unter den Schenkeln hat, ich meine die Waden, die Beine, als ob das alles… Der Hals und die Schultern, die Brüste, ich sage euch… So etwas ist…» «… eine Nixe», wirft jemand dazwischen. «Besser», meint ein anderer, «besser. Nixen sind kalt, unten haben sie nichts, und…» «Laß ihn weitererzählen!» ruft einer. Nach einer kurzen Pause sagt der Unteroffizier: «Ich wußte schon, daß ich zur Truppe gehe, im Mai. Und sie hat mich eingeladen. Sie sagte an dem Abend zu mir: ‹Ich hab’ mich untersuchen lassen. Alles ist in Ordnung. Ich kann Kinder haben. Ich hab’ auch mit meinen Eltern gesprochen. Ich möchte, das Kind möcht’ ich von dir.›» Eine Weile schweigen alle, dann sagt einer: «Aber da warst du doch schon verheiratet.» Das Telefon klingelt. Wittenbeck wird verlangt und erfährt vom Wachhabenden, daß an der Nordwestgrenze der Stellung ein Offizier und sein Kraftfahrer festgenommen worden sind, weil sie die Parole nicht kennen. Wittenbeck entscheidet rasch. «Sollen warten», befiehlt er. «Wer die Parole nicht kennt, soll eine Weile stehen.» Der Wachhabende spricht leise mit jemandem und erklärt dann dem Major: «Sie sind beide bis an die Oberschenkel klitschnaß. Vom Weg abgekommen und in die Ausläufer des Moores geraten. Und der Offizier, ein Oberstleutnant oder ein Oberst glaub’ ich, hat nach Ihnen gefragt.» «Heißt er etwa Christian?» «Nein, Schanz.» Im Stellungsraum ist es dunkel. Nur im Waldeinschnitt, wo das Zelt steht und einige Feldküchen noch beheizt werden, hängen ein paar Lichtflecke. Dort erzählt Westphal jetzt seine Geschichte zu Ende.
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Eine Geschichte, die nicht ohne weiteres abzuschütteln ist und zu der auch Wittenbeck viele Fragen hat. Denn sie wird plötzlich, je näher er Friederikes Vater kommt, immer mehr zu seiner eigenen Geschichte. Und er hat das Gefühl, daß alles, was er von Westphal nicht mehr gehört hat, dessen Entscheidung und ihre Folgen, ihm selber bevorsteht. Denn schon in jenem Augenblick, als am Telefon der Name Schanz fiel, dachte Wittenbeck zunächst an Friederike und danach erst an den Oberst, dessen großes, ein wenig grob wirkendes Gesicht mit dem seiner Tochter keine Ähnlichkeit hat. In ihrem Gesicht gibt es keine scharfe Linie, nichts Hartes oder Schweres. Und es ist immer noch jenem Bild ähnlich, daß er an der Wandzeitung entdeckt hat. Auf ihm sieht Friederike neugierig und fröhlich aus, noch unberührt von Enttäuschungen und Beleidigungen und ganz ohne Vorsicht. Das, was in den Jahren mit ihr geschehen und in ihr vorgegangen ist, hat sie verändert, reifer gemacht. Wittenbeck hätte ein ganzes Album gebraucht, um Friederike zu begreifen. Aber er mußte sich mit einem halben Foto begnügen, das zerrissen ist, als er es vom Zeichenkarton abtrennen wollte. Hätte er die andere Hälfte auch noch genommen, wäre die ganze Wandzeitung beschädigt worden. Immer, wenn während der Übung Zeit und Gelegenheit gewesen ist, hat Wittenbeck das halbe Foto betrachtet. Im Zelt, in der Stellung, bei der Kolonnenfahrt. Jede Linie, jeden Zug hat er sich eingeprägt. Nichts kann dieses Gesicht in ihm verwischen. Am Nachmittag, nachdem sie die Ruhestellung bezogen hatten, ging Wittenbeck von Batterie zu Batterie. Er vergewisserte sich, daß die Artilleristen ordentlich versorgt und so gut, wie es die Umstände zuließen, untergebracht waren. Mit diesem oder jenem Soldaten sprach er ein paar Sätze. Er lobte und tadelte, beantwortete Fragen und stellte welche. Während dieses Rundgangs traf er Offiziere und Soldaten, die Briefe schrieben, und er begann, sie zu beneiden. Um ihr Hinterland, nach dem sie sich sehnten, das sie erwartete und das ihnen während des Schreibens näher war als alles, was sie in der Stellung umgab. Ein gutes Gefühl, das sie mit den Briefseiten nicht im Umschlag verschlossen haben. Es wird auch noch da sein, wenn der Befehl zum Aufbruch kommt, wenn die schweren Haubitzen
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marschbereit gemacht werden und die Kraft der Soldaten bis zur Leistungsgrenze beansprucht wird. Und bei vielen von ihnen stellt dieses Gefühl eine enge Verbindung zwischen ihren Anstrengungen und ihrem Zuhause her. Die Briefeschreiber haben Wittenbeck klargemacht, was ihm fehlt, was er verloren oder nie besessen hat. Er ist ein Mann ohne Hinterland. Männer wie er sind im Kriege oft tollkühn bis zum Leichtsinn. Ihr ganzer Lebensraum besteht aus einem Stückchen Front. Was sie brauchen, tragen sie bei sich. Liebe und Haß, Freude und Schmerz empfinden sie nur noch in Beziehung zu ihrer Einheit. Die Soldaten neben ihnen sind nicht mehr Teil eines großen Ganzen, sie werden allmählich zum Ganzen selbst. Und mit der Trennung von ihnen setzt die Tragik solcher Männer ein. Sie sind plötzlich heimatlos, sind wie Verjagte, die nirgends lange bleiben können. Sie werden getrieben und lassen sich treiben und finden nirgendwo einen Halt. Wittenbeck ist am Nachmittag durch die Stellung gegangen wie ein Verlassener, wie ein Vergessener. Wem soll er schreiben? Während der acht Urlaubstage, die er kurz vor der Übung beantragt hatte, war es zwischen ihm und seiner Frau nur am ersten Abend zu einer stummen, hastigen Umarmung gekommen. Eine beinahe widerwillige Pflichtübung, mit der Regina ihn beleidigt hatte und für die er sich noch heute schämt. Und danach unterließ er es, mit seiner Frau über die zugesicherte Wohnung und ein mögliches Zusammenleben in der Siedlung zu sprechen. Er unterließ das, weswegen er auf Urlaub gefahren war. Am Sonntag nachmittag fuhr Regina mit Axel und ihrem Kollegen Klaus Gotemann zum Fernsehturm. Vom Fenster aus blickte Wittenbeck dem Wartburg nach. Sie fuhren weg, als ob die Wohnung hinter ihnen leerstünde. Wittenbeck begriff in jenen Augenblicken, daß Regina und Axel gelernt hatten, ohne ihn zu leben. Er packte seine Tasche und machte sich auf den Weg zur Kaserne. Er verließ die Wohnung ohne Vorwurf gegen Regina, hinterließ nichts, sondern fuhr einfach weg. Mit einer Ruhe, die von innerer Leere herrührt. Irgendwann muß Wittenbeck mit seiner Frau über alles reden oder ihr seine Eindrücke, seine Gedanken und Gefühle wenigstens in ei-
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nem Brief mitteilen. Doch so etwas verfaßt man nicht während einer Übung. Da schreibt man zärtliche Briefe und erklärt in ihnen verhalten oder ganz offen, wonach man sich sehnt. Briefe schreibt man, auf die in gleicher Weise geantwortet wird. Und auch um diese Antworten hat Wittenbeck am Nachmittag die Schreiber beneidet. Bis ihm Friederike Schanz eingefallen ist. Und sogar der Anlaß für einen Brief an sie: das halbe Foto. Als Wittenbeck zu schreiben begann und sich bei Friederike wegen des kleinen Diebstahls entschuldigte, begriff er, warum er das Bild überhaupt genommen hatte. Kurz vor Beginn der Übung war er noch einmal zum Restaurant gegangen, weil er nicht ganz leer, ganz ohne Hoffnung losfahren wollte. Aber er hatte Friederike nicht mehr angetroffen. «Na endlich, Major.» Wittenbeck sieht die Umrisse eines Wagens vor sich, und jemand deklamiert: «Gern der Zeiten, ach, gedenk’ ich, da die Glieder noch gelenkig - bis auf eins…» «Oberst Schanz?» «Nee, Wilhelm Busch.» Unter Lachen steigen sie ein. Wittenbeck setzt sich neben den Fahrer. Im Wagen riecht es nach Morast. Schanz schlägt die Füße gegeneinander und berichtet knurrig: «Hat uns nicht mal die Socken wechseln lassen, der Genosse Posten.» «Tut mir leid», sagt Wittenbeck, «aber Waffen kann bei uns keiner klauen.» Schanz zieht sich die Stiefel von den Beinen und meint: «Eigentlich müßte ich den Christian belobigen… Wenn seine Klauerei das ausgelöst hat, in der ganzen Division, diese Wachsamkeit wie hier…» «Dazu brauchen wir nicht Christian.» «Ich weiß. War auch nur so ein Gedanke.» «Zuviel Ehre für Christian», erwidert Wittenbeck. «Im Grunde müßten wir uns von solchen Offizieren trennen. Aber Christian bleibt, dafür geht Keuner.» «War er hier?» fragt Schanz. «Ja.» «Weswegen?» «Überzeugen will er mich», antwortet der Major. «Wenn ich seine Funktion übernehme, geht er ruhiger nach Hause, meint er.» Schanz zieht die Socken von den Füßen und beginnt, die Zehen
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zwischen den Händen zu reiben. «Und», fragt er, «übernehmen Sie sie?» Wittenbeck begreift, daß Schanz dasselbe von ihm will wie Keuner. Dabei hat er gehofft, daß der Oberst nicht aus dienstlichen Gründen zu ihm gekommen ist, nicht nur aus dienstlichen Gründen. Er wünscht sich immer noch, daß Schanz mit ihm auch über persönliche Angelegenheiten spricht, über Friederike zum Beispiel. Und deshalb sagt er jetzt dem Oberst, was er Keuner am Nachmittag verschwiegen hat. «Ehe irgendein Christian Stabschef wird, mach’ ich es lieber selber. Und außerdem… Na ja, es ist komisch, als ob ich’s geahnt hätte. Ich hab’ meine Wohnungszuweisung vor der Übung zurückgegeben.» Schanz bearbeitet weiter seine Zehen und fragt, ob Keuner etwas davon gesagt hat, warum er nicht länger in der Truppe bleiben will. «Das erzähl’ ich Ihnen im Zelt», antwortet Wittenbeck und wendet sich dem Fahrer zu. Die winzigen Lichtstreifen der abgedeckten Scheinwerfer tasten sich über das Gelände. Schon im kommenden Herbst wird man hier keine Stellung mehr beziehen können, weil die Fläche aufgeforstet werden soll. Das bedauert Wittenbeck, denn ein solches Fleckchen Erde ist einem nach mehreren Übungen so vertraut wie etwas, das zu einem gehört. Wie die Kartentasche oder das Koppel zum Beispiel. Aber dieser ständige Wechsel gehört nun einmal zur Armee. Soldaten, Unteroffiziere und Offiziere gehen nach Hause, werden versetzt oder abkommandiert, kaum daß man einander nahegekommen ist. Kasernen, Ortschaften, Häuser und Wohnungen muß man häufig schon wieder verlassen, wenn man gerade erst heimisch geworden ist. Und Landschaften, die man im Frühjahr durchfahren hat, erkennt man im Herbst nicht wieder. Bis auf die Übungs- und Schießplätze. Die bleiben immer grau und zerfurcht und stumm. Diese häufigen Veränderungen, denen Offiziere ausgesetzt sind, haben natürlich ihre Folgen. Die Gewöhnung an viele Dinge kann nicht stattfinden oder entwickelt sich sehr langsam. Routine fällt aus oder sehr schnell auf. Und bestimmend bleibt immer das Wesentliche. Gleichzeitig aber fordert und verbraucht dieser sich oft wieder-
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holende Neubeginn mehr Kraft, führt rascher zur Ermüdung als in anderen Berufen. Darum braucht ein Offizier etwas, das diesen ständigen Wechsel ausgleicht, ihn unbeschadet überstehen läßt. Eine Frau, eine Familie, mit der man unlösbar verbunden ist. Sie bildet den Mittelpunkt weiter Lebenskreise, von dem man ausgeht, zu dem man zurückkehrt und ohne den Tätigkeit und Bewegung zu einem Selbstzweck werden, der anderen verdächtig vorkommt wie alles, das den Anschein des Märtyrerhaften hat. Wittenbeck wird nach der Übung wieder so lange in der Kaserne bleiben, bis er zu spüren beginnt, daß er den Soldaten im Wege ist und sie bei ihren privaten Beschäftigungen stört. Im Ledigenheim wird ihm der Lärm seiner Schritte über den leeren Flur vorauseilen, von den Wänden widerhallen und wenigstens für Augenblicke den Anschein von Belebtheit schaffen. Unter der Dusche wird Wittenbeck sich erneut entschließen, nach Hause zu fahren, und es doch unterlassen. Am Ende wird er ins Restaurant gehen, sich nach Friederike umsehen und hoffen, daß sie ihm eine Antwort auf seinen Brief gibt. Aber was soll sie schon antworten auf allgemeine Mitteilungen und zaghafte Andeutungen, die mehr verschweigen als erklären? Sie fahren dem Waldeinschnitt entgegen. Schanz wickelt eine Decke um die nackten Füße. Wittenbeck überlegt, warum der Oberst hierhergekommen ist. Dienstliche Gründe kann es für den Besuch nicht geben, denn alle Befehle und Weisungen, die am Nachmittag eingetroffen sind, wurden bereits erfüllt. Zu kontrollieren gibt es auch nichts außer der Nachtruhe, und aufbrechen wird das Regiment und Wittenbecks Abteilung erst am anderen Morgen. Der Major wünscht sich von neuem, daß Schanz eine Nachricht von Friederike bringt, einen Brief, einen Zettel, einen Gruß wenigstens. Er wünscht es sich so sehr, daß er Sätze zu formulieren beginnt, die Friederike geschrieben haben könnte, und diese Sätze haben das, was er in seinem Brief nicht aufzuschreiben gewagt hat, aufrichtige, direkte Erklärungen und Geständnisse, die alles entscheiden, nach denen er nicht mehr zögern und wägen würde. Wittenbeck lotst den Wagen bis zum Speisezelt des Stabes, in dem
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sich Schanz und sein Fahrer waschen, umziehen und etwas Heißes trinken. Von der Ungeduld, die ihn befallen hat, läßt der Major nichts spüren. Während der Fahrer schlafen geht, führt Wittenbeck den Oberst zum Raucherzelt. Kein Laut dringt heraus, als wäre es von allen Besuchern schon verlassen. Aber es ist noch immer so dicht besetzt wie vor einer knappen Stunde, als der Major es verließ. Die Soldaten haben das Gesprächsthema gewechselt. Bereitwillig ziehen sie die Beine ein und rücken noch enger zusammen, um ihrem Kommandeur und seinem Gast Platz zu machen. Wittenbecks Hocker ist frei geblieben. Schanz steckt sich eine Zigarre an, und Wittenbeck stopft eine Pfeife. Da sagt einer, der in Westphals Nähe sitzt: «Klar, wir würden trotzdem hier sitzen. Warum auch nicht?» «Weil wir dann überhaupt kein Zelt aufstellen könnten», widerspricht ein anderer. «Aber einen Bunker würden wir haben. Ich sage euch, wir würden trotzdem zusammenhocken. Nur über was anderes reden würden wir, nicht über Ausgang und Liebe und Frauen oder Fußball.» «Vielleicht gerade darüber, weil… Dann wär’ doch alles noch weiter weg, unerreichbar, sozusagen - oder?» «Wir würden bestimmt an was anderes denken», verteidigt der erste seine Meinung. «Vielleicht an die, die schon tot sind. Und wir würden uns fragen, wer von uns den andern Tag nicht mehr überlebt, wer fällt oder verwundet wird, oder vielleicht ist einer sogar getürmt.» Nach diesem Satz schweigen alle.
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8.Kapitel Der Pulk der Fahrzeuge ist an Friederike vorübergefahren, und sie blendet die Scheinwerfer wieder auf. Die Lichter schlagen in die Dunkelheit, drängen sie zurück, nehmen ihr das Ungewisse, die bedrohliche Leere. Friederike steigert die Geschwindigkeit. Sie lehnt sich fest im Sitz zurück. Eine Weile liest sie von den Zeichen, die auf dem Mittelstreifen stehen, die Kilometerangaben ab und versucht auszurechnen, wie schnell sie fährt. Aber sie bringt die Formel nicht zusammen. Dann beginnt sie, die Bäume und Büsche neben der Autobahn zu zählen. Und sie denkt an Wittenbeck. Aber nichts vermag sie für längere Zeit abzulenken oder gar zu beruhigen. Seit zwei Stunden ist sie unterwegs. Ein paarmal schon ist sie an den Straßenrand oder auf einen Parkplatz gefahren, und hat in die Nacht hineingelauscht, die völlig dunkel ist. Doch jedesmal ist Friederike nach wenigen Minuten wieder aufgebrochen, unablässig kämpft sie gegen einen inneren Widerstand und gegen die sie umgebende Dunkelheit an. Aber daheim herumsitzen, untätig auf etwas warten, das ruhelose, plötzlich gealterte Gesicht der Mutter vor sich, die ein Foto von Stefan in der Hand hält und damit im Zimmer herumläuft, dauernd etwas fragt und jede Frage selber mit Vorwürfen oder neuen Fragen beantwortet, herumsitzen und nichts tun, das kann Friederike auch nicht. Sie behauptete gegen ihre eigene Ungewißheit, Stefan könne, wenn er nicht bei Krügers sei, nur nach Schönefeld gefahren sein. Wenige Minuten später brach Friederike auf und traf gegen zweiundzwanzig Uhr bei Hannes Mutter ein, von der sie erfuhr, daß ihr Sohn gegen ein Uhr morgens abfliegen werde. Friederike weiß, daß sie bis zum Start der Maschine nicht in Schönefeld sein kann. Sie weiß auch, daß Stefan ebensogut nach Rostock oder in jede andere Himmelsrichtung gefahren sein kann. Er hat keine Nachricht hinterlassen. Wann er losgegangen ist, wußte die Mutter nicht. Irgendwann am Nachmittag. Auf seinem Sparbuch fehlten fünfhundert Mark. 232
Friederike hofft, daß Stefans Verschwinden mit dem Jackentausch zu tun hat, wünscht es sich, weil das der einzige Anhaltspunkt ist, die einzige Ursache für sein Weggehen. Die einzige Hoffnung. Aber wieviel weiß sie eigentlich von ihrem Bruder und was alles weiß sie nicht? Wann in den vergangenen vier Jahren hat sie sich schon für ihn und seine Gedanken interessiert? Vor ein paar Tagen erst, als sie in der Waschküche saßen, erfuhr sie ein wenig mehr über ihn. Sie versucht sich an alles zu erinnern, was Stefan an jenem Abend gesagt hat, wie er es sagte und mit welchem Gesichtsausdruck. Alles betraf den Parka, der triefend zwischen ihnen auf dem Steinboden lag. Und doch ging alles weit über die Kutte hinaus. Jetzt, wo Friederike auf der Suche nach ihrem Bruder ist, begreift sie, daß jener Parka lediglich das ausgelöst und sichtbar gemacht hat, was in Stefan vorgeht. Zufällig war es der Parka gewesen. Jeder andere Gegenstand und jedes Ereignis hätten früher oder später zur gleichen Situation führen können. Die Mutter sieht es nicht so. Friederike bezweifelt, daß sie die ganze Tragweite der Zusammenhänge je begreifen wird. Vielleicht fürchtet sie sich auch davor. Vielleicht vermutet sie, daß sich etwas ganz anderes hinter dem Kleidungsstück verbirgt. Aber den Raum der Vermutungen, des Gegenstandslosen betritt die Mutter nicht gern. Sie erklärt sich alle Zusammenhänge aus greifbaren, sichtbaren Ursachen. Wenn es die nicht gibt, ist sie ratlos, versteht nichts, nicht einmal mehr die eigenen Kinder. Oder sie erfindet Ursachen, um überhaupt welche zu haben. Doch das ist noch schlimmer, denn diese Erfindungen sind fast immer Irrtümer. Friederike hat sie erlebt und zu spüren bekommen. Während der letzten Tage jedoch hat sie begonnen, Zusammenhänge im Leben der Mutter zu entdecken, die manches in ihrem Verhalten erklären. Die hölzernen Zuber zum Beispiel, die in der Waschküche stehen, verkörpern das Gegenständliche, das von Anfang an das Leben der Mutter bestimmt hat. Ein Leben, in dem alles in direkter Verbindung zueinander steht und der Mensch seine Abhängigkeit von der Erde täglich vor Augen hat. Da sind alle Dinge einfach und erklärbar, Vorgänge von Anfang bis zum Ende zu überschauen und zu beeinflussen.
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Den Jackentausch kann sich die Mutter ebensowenig erklären wie Stefans Verschwinden. Sie brachte beide Ereignisse nicht einmal in Verbindung miteinander. Ihre Erklärungen zog sie am Abend schließlich aus dem einzigen Gegenstand, den sie in den Händen hatte, dem Sparbuch. Entweder stecke irgendein Weibsbild dahinter, meinte sie, oder eine Clique, von der Stefan sich ein Wochenende ausnehmen lasse, vor der er angeben wolle. Dann schimpfte sie auf die Mädchen, die, kaum fünfzehn- oder sechzehnjährig, manche sogar schon früher, für jeden Kerl, der es will, die Hosen ausziehen. Und auf die Gruppen, von denen die kriminellen Elemente herkommen, wo gesoffen und gehurt wird. Mit Knüppeln solle man dazwischenschlagen. «Auch wenn Stefan darunter ist?» fragte Friederike. Darauf antwortete die Mutter nicht. Sie ging über den Flur und trat ins Zimmer der Zwillinge. Im Lichtstreifen, der bis zur gegenüberliegenden Wand fiel, sah Friederike, daß sich die Mutter über die Betten beugte. Nach einer Weile kam sie wieder heraus und schob die Haare, die nach vorn geglitten waren, aus dem Gesicht, das wieder ruhig wirkte. «Bloß gut, daß die Kleinen da sind», sagte sie leise. «Sonst wär’s manchmal zum Verzweifeln.» «Sie werden auch mal groß.» «Aber es muß sich doch nicht alles wiederholen», entgegnete die Mutter. «Nicht wahr?» Das Sparbuch hielt sie noch in der Hand. Sie zeigte es Friederike und fragte: «Warum macht er das? Verschwindet einfach. Egal, ob er dem Vater Schwierigkeiten macht. Völlig egal, als wär’ er ein Fremder für ihn. Plötzlich ein Fremder. Was fehlt ihm bloß? Hat er denn nicht alles?» Friederike überholt einen Fernlaster. Vielleicht kommt er aus Polen, wo Stefan ebensogut sein kann. Aber wo in dem großen Land soll sie ihn suchen? Warum macht er das? Was fehlt ihm, hat die Mutter gefragt. Aber sie fragte mit einem Vorwurf in der Stimme, in dem ihre Antwort schon zu hören war: Das hat er doch nicht nötig. Ihm fehlt es doch an
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nichts! Was fehlt ihm denn? Was fehlt mir denn? Was fehlt uns? Oberflächliche Fragen sind das. Wer wirklich auf Antworten aus ist, muß anders fragen: Wonach sehnt ihr euch? Was läßt euch kalt und was erregt euch? Was haltet ihr für wichtig und was erscheint euch schön? Was haßt ihr und was liebt ihr? Wie wollt ihr leben? Viele scheuen sich, so zu fragen. Weil die Antworten Veränderungen fordern, fremde Erfahrungen ablehnen, sich gegen Gewohnheiten und Gewöhnungen richten und Maßstäbe anderer anzweifeln. Friederike passiert die Raststätte. Von hier aus braucht sie ungefähr noch eine Stunde bis zum Flughafen. Der hellerleuchtete Rastplatz mit den parkenden Wagen und der Tankstelle bleibt hinter einer weiten Biegung zurück. Für Augenblicke bereut Friederike, daß sie nicht angehalten hat. Aber vermutlich wäre sie nach einer Pause nicht weitergefahren, sondern umgekehrt. Sie erhöht die Geschwindigkeit noch, als gelte es, einen Verfolger abzuschütteln. Als die Mutter vor ein paar Stunden scheinbar beruhigt aus dem Zimmer der Zwillinge kam, freute sich Friederike. Aber die Erinnerung blickt genauer, sieht tiefer, und Friederike befürchtet plötzlich, daß Stefan der Mutter in dem Augenblick verlorengegangen ist, als die vor den schlafenden Zwillingen stand. Daß der Sohn sich zum zweitenmal seit seiner Geburt von ihr gelöst hat. Und die Mutter hat sich mit dieser Trennung abgefunden. Friederike hätte doch nicht wegfahren dürfen. Bei der Mutter hätte sie bleiben und wenigstens versuchen müssen, ihre eigenen Empfindungen und Gedanken um Stefan auf sie zu übertragen. Wenn Friederike Stefan heute nacht oder morgen finden sollte und im Verlauf des Sonntags mit ihm nach Hause zurückkehrt, wird sich im Gefühl der Mutter Stefan gegenüber nichts geändert haben. Aber gerade auf dieses Gefühl kommt es an. Viel wichtiger als der Zeitpunkt von Stefans Rückkehr ist, wie die Mutter ihn zu Hause empfangen wird. Friederike denkt schon an die Heimkehr und hat Stefan noch gar nicht gefunden. Sie hätte zu ihrem Vater fahren sollen. Im Übungsraum hätte sie schon eine Möglichkeit gefunden, zu ihm zu gelangen. Und was hät-
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te er getan, wenn er zu Hause gewesen wäre? Er wäre bestimmt nicht Hals über Kopf aufgebrochen, hätte nicht dem Drang zur eigenen Bewegung nachgegeben. Vielleicht hätte er Tee oder Kaffee gekocht, die Schatulle mit den Fotos aus dem Schrank geholt, sich neben die Mutter gesetzt und sich mit ihr an viele Geschichten und Ereignisse aus Stefans bisherigem Leben erinnert. Er kennt die Mutter besser, als Friederike sie kennt. Er weiß, was seine Tochter nur ahnt. Friederike hat in den letzten Tagen zweimal erlebt, wie die Mutter in schwierigen Augenblicken zu den Zwillingen geflohen ist. Mit jeder Flucht gab sie etwas auf, verlor sie etwas, und der Raum für ihre Güte und ihre Hoffnungen verengte sich mehr und mehr. Und das ist für keinen in der Familie gut. Wäre es Friederike gelungen, die Mutter heiter zu machen und wirklich ruhig, wenn sie bei ihr geblieben wäre? Friederike weiß keine Antwort, sie weiß nur, daß sie etwas falsch gemacht hat. Vielleicht steht Stefan in diesem Moment schon in der Küche und verschlingt sein Abendbrot. Sie hätte es erfahren können, wenn sie an der Raststätte eine Pause gemacht hätte. Die nächste Möglichkeit zum Telefonieren hat Friederike erst auf dem Flugplatz. Das Scheinwerferlicht fällt auf ein Schild, das Friederike den Berliner Ring ankündigt. Im Zelt sitzen nur noch Schanz und Wittenbeck. Sie sind zum Ofen gerückt. Der Oberst starrt auf das rechteckige Türchen. Durch dessen breite Ritzen ist zu sehen, wie die Glut zusammensinkt, die verbrannten Briketts zerbröckeln oder dunkle Ränder und Flecken kriegen. Mitternacht ist vorüber. Schanz’ ausgewaschene Unterhosen und Wollsocken hängen über den blechernen Ofenblenden. Ab und zu wendet er sie um, und der Major hat, seit sie allein sind, das Feuer unterhalten. Sie haben mehr geschwiegen als geredet, und doch hat Schanz das Gefühl, daß sie einander in den vergangenen zwei Stunden viel gesagt haben. Ihm kommt es fast vor, als ob er den Major schon eine Ewigkeit kennt. Die Gespräche sind jedesmal nur kurz gewesen, so kurz, daß
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Schanz überzeugt ist, er wird sie nie vergessen. Sie gehören zu denen, über die man weiter nachdenken muß. Das alles hängt vermutlich mit seiner ersten Begegnung mit Wittenbeck zusammen. Vieles, wonach sie heute einander hätten fragen können, wissen sie bereits, seit der Gefreite Eisner die Waffen seiner Gruppe aus dem Zelt getragen hat. Und mit dem Vergleich der beiden Zelte begann auch ihr Gespräch. Schanz sagte: «Zwei Zelte, zwei Welten. Eine Wucht, euer Zelt. Wie nennt ihr es?» «Das Zelt.» «Und wem ist es eingefallen?» «Keinem», antwortete Wittenbeck. «Es war Zufall.» «Ich werde es weiterempfehlen. In jedem Bataillon muß eins stehen!» «Und wenn es befohlen wird?» «Aber es ist doch gut, euer Zelt!» «Wenn so etwas erst angeordnet werden muß, ist es nicht mehr gut. Das Zelt kann man nicht einfach überall hinstellen.» «Warum nicht?» «Was sich hier abspielt, jeden Abend, kann man nicht organisieren. Sowie das organisiert wird, kommt keiner mehr. Die Soldaten spüren nämlich genau, ob sie organisiert werden. Und was hier in der Abteilung gut ist, muß nicht anderswo auch gut sein. Mit diesem dauernden Übertragen von guten Beispielen machen wir viele gute Beispiele kaputt.» Schanz schwieg und Wittenbeck fügte noch etwas hinzu: «Sollten Besucher hier auftauchen und das Beispiel studieren wollen, werf ich sie raus.» Später redeten sie über Keuner. Wieder begann Schanz das Gespräch. «Keuner ist also wirklich nicht mehr zu halten?» «Nein.» Wittenbeck schloß in dem fast dunklen Zelt noch die Augen, um sich genau daran zu erinnern, wie sie am Nachmittag durch die Stellung gegangen waren, an die Stimme des Oberstleutnants und an sein Gesicht. Das alles brauchte er, um Keuners Gründe sachlich und gerecht wiederzugeben. Keuner ging langsam, mit stark nach außen gerichteten Füßen, und trat fest mit den Absätzen auf, fast wie Kinder, wenn sie Löcher in zugefrorene Pfützen schlagen. Keuner sah Wittenbeck nicht an. Er blickte entweder auf seine Stiefel oder
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über alles hinweg und durch alles hindurch. Seine Stimme war langsam wie sein Gang. «Nein», wiederholte Wittenbeck, «Keuner geht. Er will noch genug Kraft haben, was anderes anzufangen, was Neues. Er will jetzt gehen, wo noch etwas vor ihm liegt. Er hat auf der Kunstausstellung in Dresden irgendein Bild gesehen, das mir nicht aufgefallen ist. Daran bin ich glatt vorbeigegangen. Seitdem er das Bild gesehen hat, ist er entschlossen. Den Maler weiß er nicht und auch nicht den Titel des Bildes. Ein Offizier ist drauf, sagt Keuner, dem die vielen Dienstjahre im Gesicht geschrieben stehen. Ein Gesicht, sagt Keuner, das alles hinter sich hat und dem nichts geblieben ist. Ein Mann, der nichts aufzuweisen hat, nichts Sichtbares. Der geschuftet hat jeden Tag, Jahr für Jahr, manchmal bis zur Erschöpfung, bis zum Umfallen. Aber vorweisen kann er nichts außer einer Reihe von Orden und Medaillen und dem Lorbeerdolch hinter Folie.» «Ich erinnere mich an das Bild», sagte Schanz. «Es ist anders gemeint, als…» «Sie sehen es anders, das ist der ganze Unterschied», meinte Wittenbeck. «Für Keuner ist es so gemeint. Wie gesagt, ich kenne das Bild nicht. Ich kenne nur Keuner, und der geht.» Schanz schwieg. Ihm fiel auf einmal die nächtliche Stunde am Hang ein, als er im Sand hockte und der Wind den Regen über ihn hinwegtrieb. Als Schanz die steingraue, gesichtlose Kolonne vor sich sah, in der er nach seinem Sohn suchte. In jenen Augenblicken hatte er sich auch gefragt, was ihm bleibe, was er hinterlasse. Aber er ist danach weitergegangen, den Hang hinauf, während Keuner in entgegengesetzter Richtung davongeht. Und die Enttäuschung des Obersten über Keuners Entscheidung war während dieses Gesprächs nicht geringer geworden. «Was hältst du davon?» fragte er den Major. «Schade, daß er geht», antwortete Wittenbeck, «wirklich schade. Aber das muß jeder mit sich selber abmachen. Weiß ich, wie mir zumute ist nach fünfundzwanzig Jahren, oder was mit meinen Kindern ist?» «Wieso?»
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«Keuner hat drei Kinder. Der älteste achtzehn, die jüngste neun. Die sollen endlich etwas von ihm haben. Und endlich will er von ihnen etwas haben. Und er hat Probleme mit ihnen, normale, sagt er, wie es in dem Alter so ist. Aber er möchte, daß sie normal bleiben, die Probleme, und nicht eines Tages was kaputtgeht bei den Kindern und bei ihm. Und auch vom Sozialismus möchte er ein bißchen mehr haben, als er fünfundzwanzig Jahre lang gehabt hat.» Das letzte vergaß Schanz sofort wieder. Aber was Keuner von seinen Kindern gesagt hatte, das traf ihn, das erschreckte ihn, das war in ein oder zwei Stunden nicht zu Ende zu denken, das ließ ihn Keuners Entscheidung plötzlich in einem ganz anderen Licht sehen. Darüber denkt Schanz jetzt immer noch nach. Er greift nach den Socken. Sie sind trocken, und er rollt sie ein. Das hält Wittenbeck für ein Zeichen zum Aufbruch. Er bedauert, daß Friederike in den vergangenen zwei Stunden nicht einmal erwähnt worden ist. Aber was sollte Schanz schon veranlassen, während einer Übung mit ihm über sie zu sprechen? Der Oberst hat in diesen Tagen und Nächten Wichtigeres zu tun. Und von Wittenbecks Begegnungen mit Friederike wird er nicht einmal etwas wissen. Wittenbeck hat am Nachmittag einen Brief an Friederike geschrieben und das plötzliche Eintreffen ihres Vaters in der Stellung für eine Art Antwort gehalten. Schanz legt über seinen Knien die Unterhose zusammen. Rasch hat er sie spindfertig. Handgriffe, die auch Wittenbeck, solange er eine Uniform trägt, Hunderte von Malen ausgeübt hat, die im Verlauf der Jahre zur Gewohnheit geworden sind, zum Instinkt beinahe, der die Hände automatisch bewegt. Das Soldatenleben kennt viele solche Vorgänge. Seit Wittenbeck Offizier ist, hat er damit zu tun und auch mit dem Widerstand der Soldaten gegen sie. Denn sie wehren sich, die einen stärker die anderen schwächer, sie lehnen erst einmal alles ab, was mit Drill zu tun hat, das täglich sich wiederholende Exerzieren und Marschieren, das Waffenreinigen, Stiefelputzen und Flurwischen, auch das Grüßen. Wittenbeck hat sich anfangs ebenso gegen das alles gewehrt und gegen vieles andere. Er hat manches als Schikane empfunden, und seine Vorgesetzten reagierten mit Befehls- und Strafgewalt. Seitdem hat er bei vielen Soldatenjahrgängen diesen
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Widerstand brechen müssen. In einer militärischen Einheit kann niemand warten, bis der letzte Soldat begriffen hat, daß diese oft widersinnig und langweilig, läppisch und überflüssig wirkenden Handgriffe, Bewegungen und Dienstverrichtungen nötig sind. Die Ausbildung der Soldaten beginnt am ersten Tage ihres Dienstes. Übung macht den Meister, auch in der Armee. Und dabei ist der Überdruß ein guter Gehilfe, denn er führt zeitweilig zur Trennung des Geistes vom Körper und zu einem Kontakt zwischen Vorgesetzten und Soldaten, der sich auf die ungestörte Verbindung von Befehl und Ausübung beschränkt. Erst über diese Verbindung prägen sich Reaktionen und Verhaltensweisen so tief in die Psyche der Soldaten ein, daß sie immer rasch und sicher handeln. Wittenbeck weiß, daß an diesem Punkt die Schwierigkeiten beginnen. Hier treffen die Gegensätze aufeinander, kaum als Auffassungen, sondern vor allem als Erfahrungen und Praktiken. Es gibt noch immer Offiziere, die mit dem Hackenknaller zufrieden sind, der seinen Denkapparat während der Dienstzeit einfach abschaltet, der nicht nur Bewegungen ganz nach Vorschrift und Befehl ausführt, sondern je nach Bedarf auch vorschriftsmäßig denkt und fühlt. Aber dann, wenn es auf eigene Entscheidungen ankommt, wenn keiner in der Nähe ist, der befiehlt und kommandiert, handeln sie gar nicht, warten ab, sind hilflos und darum gefährlich. Wittenbeck begnügt sich mit jener zeitweiligen Trennung nicht. Er weiß, daß in jenem Augenblick, wo sie eingesetzt hat, die Verantwortung der Offiziere nicht aufhört, sondern beginnt. Die Trennung muß wieder und für immer aufgehoben werden, im Gefühl ebenso wie im Denken der Soldaten. Das vor allem unterscheidet sie von Söldnern. Schanz hebt seinen Mantel hoch, der neben ihm auf einer Kiste liegt, schiebt in die eine Tasche die Unterhose und in die andere die Socken. Wittenbeck klappt die leere Zigarrenschachtel des Obersten zu, schaut flüchtig auf das exotische Deckelbild und wirft sie in den Kohleneimer. Schanz blickt auf, nimmt die Schachtel wieder heraus und wischt sie am Mantel ab. «Die muß ich alle mit heimbringen», erklärt er, «die kriegt meine Tochter. Sie hat schon um die hundert davon.»
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«So», bemerkt Wittenbeck, «und was macht sie damit?» «Sammeln.» «Nichts weiter?» Der Major steht auf, geht zum Ofen, schürt in der Glut und legt ein paar Kohlen nach. Breit und schwer hockt er vor Schanz, der sich Friederike neben dem Major vorstellt. Sie trägt eine Wattejacke, über der Schulter hängt eine Sanitätertasche. In einem Bunker sieht er seine Tochter sitzen, die Hände um eine hohe, dickwandige Tasse geschlossen, aus der sie heißen Tee schlürft mit geschwollenen, vom Frost zerbissenen Lippen. Wittenbeck gießt Tee nach, läßt Zuckerstücke in die Tasse gleiten und blickt Friederike fortwährend an, die unverändert aussieht bis auf die Frisur. Ihr Haar ist kurz, sehr kurz geschnitten und von der Pelzmütze zerdrückt. Von draußen dringt Gefechtslärm in den Bunker. MPi-Schüsse und Artilleriefeuer. Wittenbeck will erneut Tee nachgießen, da legt Friederike die Hand flach über die Tasse. Sie kniet vor dem Major nieder, umfaßt sein Gesicht mit den Händen. Wittenbeck versucht, ihr das Haar zu ordnen und drückt Friederike schließlich die Mütze auf den Kopf. Er knöpft sie unterm Kinn zu, und Friederike verläßt den Bunker. Schanz ist wieder allein mit Wittenbeck, dem er auf die letzte Frage noch nicht geantwortet hat. Er weiß nicht, was er sagen soll. Die Frage war unerheblich, nur gestellt, um das Gespräch über Friederike nicht gleich wieder abreißen zu lassen. Eben hat sich Schanz beide in einer außergewöhnlichen Situation vorgestellt. An der Front, im Kriege. Da herrschen im Zusammenleben der Menschen andere Gesetze, da wird alles bestimmt von der Nähe des Todes. Aber eine solche Situation herrscht nicht. Darum gelten Prinzipien, Rücksichten und Meinungen, über die sich keiner hinwegsetzen kann und die Schanz etwas anders sagen lassen, als er wirklich möchte. Er möchte Wittenbeck sagen, was er seiner Tochter wünscht. Erzählen möchte er, wie Friederike ihn vor der Abfahrt gebeten hat, den Major zu suchen und von ihr zu grüßen. Sagen möchte er ihm: Nimm sie! Kümmere dich um sie! Sie braucht einen wie dich, sie sucht ihn, sie sucht schon lange einen wie dich. Aber der Oberst schweigt. Wittenbeck setzt sich wieder auf den Hocker und blickt zur Ofentür. Über sein breites Gesicht flackert der
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Widerschein der Flammen. «Irgend etwas hebt sie in den Schachteln auf», antwortet Schanz jetzt, «aber nicht einmal das weiß ich genau. Wenig weiß man von den eigenen Kindern, zu wenig.» «Sie sollten manchmal ins Restaurant kommen, abends, wenn Friederike bedient. Da könnten Sie viel über sie erfahren.» «Wieso?» Schanz winkt ab. «Den ganzen Tratsch, der von dort kommt, kenne ich. Der ist immer schneller in der Siedlung als Rike.» Schanz zieht eine neue Schachtel «Dannemann» aus der vollgestopften Kartentasche. Wittenbeck gibt ihm Feuer und erklärt dabei: «Ich meine, wenn man sieht, wie Friederike arbeitet.» «Ach so.» Das war Frage und Antwort zugleich, und Wittenbeck erzählt. Er beobachtete Friederike schon, als sie ihn noch gar nicht wahrgenommen hatte. Bereits Anfang November fiel sie ihm auf, als er zum zweitenmal abends im Restaurant war. An einem Vierertisch saßen sechs Gefreite, die irgend etwas feierten. Vielleicht ihre Beförderung und den Anbruch des letzten Diensthalbjahres. Je mehr sie tranken, um so lauter wurden sie. Schließlich erhob sich ein Hauptmann, zu dessen Einheit die Gefreiten gehören mochten. Er machte sich auf den Weg zu ihrem Tisch, den er gleichzeitig mit Friederike erreichte. Durch Gesten bat sie ihn, nicht einzugreifen. Er blickte auf ihr Tablett, auf dem sechs Limonaden und sechs Tassen Kaffee standen, und kehrte um. Als Friederike das Tablett auf einer Ecke des Tisches absetzte, trat Schweigen ein, überraschtes, beschämtes, drohendes Schweigen. Friederike stellte freundlich und bestimmt die Gläser und Tassen auf die Tischdecke. Zwei Gefreite griffen zu, drei beobachteten den Vorgang, einer jedoch schob die Tasse von sich weg und stand auf. Er war wesentlich größer als Friederike. Leicht schwankend drang er auf sie ein und sagte: «Das hier, das hab’ ich überhaupt nicht bestellt. Bitte bringen… Ich will… Ich verlange…» Friederike reckte sich auf die Zehenspitzen und küßte ihn auf den Mundwinkel. Er stand still und stumm, und sie griff nach seiner Hand, zog ihn ein Stück hinter sich her und drückte ihn auf den Stuhl.
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«Du trinkst das, was ich dir bringe, oder gar nichts», sagte sie. Der Gefreite wollte wieder aufspringen, aber sie hielt ihn an den Schultern fest. «Willst du mir Ärger machen?» Der Gefreite kniff die Augen zu, rieb sich das Gesicht, dann schüttelte er den Kopf und zog die Tasse Kaffee zu sich heran. Friederike gab ihm einen brüderlichen Klaps auf den Hinterkopf und ging lächelnd weg. Sie gehorchen ihr. Auch Betrunkene befolgen, was sie sagt, verhalten sich ruhig, trinken gehorsam Kaffee oder verlassen das Restaurant. Friederikes Revier ist immer zuerst gefüllt. Zuspätkommende bedauern es, wenn sie keinen Platz mehr an einem ihrer Tische finden, und wird ein Stuhl frei, ist er ein paar Augenblicke später schon wieder besetzt. Dort, wo Friederike bedient, steht nie benutztes Geschirr herum, die Aschenbecher werden ständig gewechselt, die Tischtücher sind immer sauber. Wittenbeck hat Abende erlebt, an denen Friederike bis zu zwei Stunden von keinem ihrer Gäste an den Tisch gerufen werden mußte. Trinkgeld nimmt sie von niemandem, sie gibt auf den Pfennig genau heraus. Und sie zieht keinen dem anderen vor, welchen Dienstgrad und wieviel Geld einer auch haben mag. In ihrem Bereich geht es nicht nach Dienstgrad und äußerlichen Merkmalen. Einladen läßt sie sich, aber erst, wenn ihre Schicht zu Ende ist und längst nicht von jedem. Wenn getanzt wird, sitzt Friederike bei keiner Runde. Aber selten tanzt sie mit einem Soldaten zweimal. Sie richtet sich nicht nach der Regel: Wer zuerst kommt… Sie wählt aus unter denen, die zu ihrem Tisch stürmen. Und sie tut es ruhig und freundlich, fast ein wenig verlegen, und die anderen fühlen sich nie abgewiesen. Sie warten geduldig, bis sie an der Reihe sind. «Ich schätze», sagt Wittenbeck, «viele würden auch dann kommen, wenn es nur Selter und Saft gäbe - als ob sie die Männer an etwas Gutes erinnert. Das gibt ein Gefühl, das man auch am anderen Tag noch nicht vergessen hat. Manchmal träumt man sogar davon. Aber Friederike ist wirklich da. Man geht ins Restaurant, hört sie, sieht sie und kann mit ihr tanzen.» Von draußen sind Schritte zu hören. Sie gehen am Zelt vorbei. Schanz weiß nicht, wann zum letztenmal jemand so von Friederike
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gesprochen hat. Es ist lange her, Jahre, und es tut gut, solchen Worten zu lauschen. Der Major weiß viel über Friederike. Mehr als Schanz selber. Wittenbeck hat sie genau beobachtet, obwohl er sie erst ein halbes Jahr kennt. Wittenbeck hat von Friederike erzählt und über sich selbst Auskunft gegeben. Und wieder fragt sich Schanz, was seine Tochter veranlaßt haben mag, das halbe Foto zurückzuverlangen. Vielleicht will sie wirklich alles allein tun und ihr Geständnis nicht dem Vater überlassen. Vielleicht ist sie unsicher und hat an ihrem Gefühl zu zweifeln begonnen. Möglicherweise ist es auch nur eine Laune gewesen, eine Art Dankbarkeit dafür, daß Wittenbeck sie damals zum Tanz geholt hat, als kein anderer den Mut aufbrachte. Oder Friederike läßt es einfach deswegen, weil er verheiratet ist. Es ist zwecklos, nach Gründen zu suchen. Friederike hat ihm den Mund verschlossen. Und deshalb schweigt Schanz. Friederike legt den Hörer auf die Gabel. Stefan ist nicht zu Hause. Niedergeschlagen und müde setzt sie sich aufs Bett. Sie hat noch nicht einmal den Mantel ausgezogen, denn sie ist erst vor ein paar Minuten ins Hotelzimmer gekommen. Über eine Stunde lang hat sie das Flughafengebäude abgesucht, aber das einzige, was sie erfahren konnte, war, daß die Maschine nach London pünktlich gestartet sei. Im Zimmer ist es warm, und doch friert Friederike. Sie fürchtet sich und weiß nicht wovor. Plötzlich sehnt sie sich wieder nach ihrem Vater, nach seiner ruhigen Sicherheit, nach seinem schützenden: «Nun sag aber mal.» Und auf einmal weiß sie auch, wovor sie sich fürchtet. Sie springt auf, läuft zum Fenster und drückt die Stirn gegen die kühle Scheibe. Niemand vermag im Augenblick zu sagen, was mit Stefan passiert ist. Wenn er nun versucht, über die Grenze… Abenteuerlust oder so was… Dann macht er dem Vater ungeheueren Ärger. Zu aller Enttäuschung auch noch den Ärger… «Du Idiot!» Das hat sie geschrien. Die Scheibe beschlägt. Friederike sieht nichts mehr und wischt das Fenster mit der Hand ab.
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Er hat es nicht verdient. Der Vater hat so etwas nicht verdient. Dieser Vater nicht! Sie möchte ihm helfen, alles Schlimme von ihm abwenden und kann doch nichts tun. Es ist wie in manchen Träumen. Jemand befindet sich in Gefahr, man will ihm helfen und kommt nicht von der Stelle. Friederike geht vom Fenster weg, setzt sich wieder aufs Bett und schließt die Augen. Die Fäuste gegen die Schläfen gedrückt, versucht sie, sich zu konzentrieren. Auf irgendeinen Gegenstand, auf einen Gedanken, ein Gefühl oder ein Wort. Es gelingt nicht. Nur die Flasche Weinbrand fällt ihr ein, die sie am Kiosk gekauft hat. Hastig dreht sie den Verschluß ab, dann trinkt sie, bis es im Magen brennt und ihr die Luft knapp wird. Rasch erreicht der Alkohol den Kopf, schlägt schmerzhaft gegen die Schläfen und in den Nacken, als wolle er dort wieder heraus. Friederike wird schwindlig und heiß, und sie zieht den Mantel aus. Sie kann nichts tun. Sie kann ihrem Vater nicht helfen. Und Stefan? Warum denkt sie plötzlich nur mit Zorn an ihren Bruder? Geht es auf einmal nicht mehr um ihn? Geht es nicht um Stefan vor allem? Vor Minuten hat sie die Möglichkeit, daß er irgendwo hinübergehen könnte, für das Schlimmste gehalten, das es gibt. Für schlimmer als seinen Tod? Sie sitzt für eine Weile steif auf dem Bettrand, wiederholt den letzten Gedanken immer wieder. Schließlich setzt sie die Flasche erneut an, um ihn wegzuspülen. Aber sie trinkt nicht. Irgendwann am Vormittag muß sie zurückfahren. Wenn sie ihrem Vater, Stefan, der ganzen Familie helfen will, muß sie von hier so rasch wie möglich wieder aufbrechen. Sie muß versuchen, ein paar Stunden zu schlafen. Friederike zieht sich aus, wirft ihre Wäsche über die Stuhllehne und geht zur Dusche. Das kalte Wasser schlägt heftig auf sie nieder, dringt in die Haut. Für eine Weile vergißt sie alles. Solange sie unter der Dusche steht, ist sie nur Körper, dessen Haut sich strafft, über den Schenkeln, überm Leib und um die Brüste. Dieses Gefühl verstärkt sich noch, als sie das Wasser mit den Händen vom Körper wischt und sich dann mit dem Badetuch trockenreibt. Und in diesem
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Augenblick denkt sie nach Stunden zum erstenmal wieder an Wittenbeck. An seine breiten Hände denkt sie und wünscht sich, daß er sie trockenreiben und dann berühren möge, überall berühren, daß Wittenbeck bei ihr liege, daß sie sich lieben. Doch im Zimmer kehren ihre Gedanken wieder zu Stefan zurück. Er ist verschwunden. Nach wie vielen Stunden muß man das der Polizei melden, fragt sich Friederike und setzt sich aufs Bett. Litosch blinzelt in die Sonne. Er sitzt neben der geöffneten Fahrerluke. Die ganze Nacht hat er geschlafen und fühlt sich dennoch hundemüde. Ein paar Tage wird es noch dauern, bis er völlig ausgeschlafen ist. Das kennt er von der letzten Übung her. Die Sonne am Himmel ist ebenso ungewohnt wie das Nichtstun. Lange Pausen bei Übungen mag Litosch nicht. Man traut dem Frieden nicht, befindet sich dauernd auf dem Sprung, und hat man sich endlich an die Ruhe gewöhnt, kommt bestimmt der Befehl zum Aufbruch. Aber heute scheint es anders zu sein. Es heißt, das Bataillon wird bis zum Mittagessen zu tun haben. Gegen acht Uhr morgens sind Hubschrauber auf einer Waldwiese gelandet, die an der entgegengesetzten Seite des Konzentrierungsraums liegt. Jetzt beschnuppern die mot. Schützen die Hubschrauber, fassen sie an, gewöhnen sich an sie, machen sich vertraut mit den Plätzen, die sie einzunehmen haben, sobald es losgeht, irgendwann morgen oder in der Nacht. Noch zwei bis drei Stunden lang werden sich die Soldaten Hinweise und Belehrungen anhören müssen, werden das Ein- und Aussteigen üben bei laufender und stillstehender Schraube. Immer wieder rein und raus bis zur Verdünnung. Trotzdem beneidet Litosch die anderen. Er darf nicht einmal zuschauen. Alles, was sich jetzt auf der Wiese abspielt, geht gefechtsmäßig vor sich in voller Ausrüstung. Beim Appell ist allen Fahrern und jedem, der nicht am Flug beteiligt ist, verboten worden, auch nur den Rand der Wiese zu betreten. Dorthin hat sich vor kurzem ein Autokorso bewegt. Litosch gab das Zählen auf, als er bei sechzehn angekommen war. In den Wagen hatten bestimmt nicht nur Vorgesetzte gesessen, die mit dem Flug zu tun haben, sondern auch eine Menge Beobachter. Aber Litosch ist
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nur Soldat und SPW-Fahrer. Er hat sich gewünscht, als die Wagen auf der Schneise vorbeigefahren sind, die ungefähr zwölf bis fünfzehn Meter von den getarnten SPWs entfernt liegt, an einem Schlagbaum zu stehen und das Recht zum Sortieren zu haben. Nur drei Offiziere hätte er passieren lassen. Den Regimentskommandeur, Oberst Leichsenring, den Schwiegervater von Fichtner und Generalmajor Werner. Aber der Divisionskommandeur war gar nicht aufgetaucht und wird vermutlich auch nicht kommen. An seiner Stelle ist Bredow hier gewesen. Diesen Mann hätte Litosch auf jeden Fall angehalten. Die anderen aus dem Bataillon werden fliegen. Zum erstenmal bedauert Litosch, daß er Fahrer geworden ist. Vorm Fliegen fürchtet er sich nicht. Zwar ist er noch nie geflogen, aber Höhenluft hat er auf der Baustelle genug geschnuppert. Und höher, als ein Siebzehn- oder Zwanziggeschosser ist, werden die Hubschrauber auch nicht fliegen. Doch die Fahrer bleiben hinterm Lenkrad. Sie sollen sich ausruhen, weil ihnen eine nächtliche Kolonnenfahrt über hundertzwanzig bis hundertfünfzig Kilometer bevorsteht. Auf der Schneise hat sich seit einer halben Stunde kein Fahrzeug mehr gezeigt. Von der Wiese her ist ab und zu der Motorenlärm der Hubschrauber zu hören. Hinterm SPW hervor kommt Fichtner. Der Schäfer und drei weitere Soldaten sind für die Dauer des Luftlandeeinsatzes aus der Kompanie herausgelöst worden. Fichtner setzt sich nicht weit von Litosch auf einen Stubben und zerpflückt einen Kienapfel. Vor dem Angriff im Brückenkopf ist der Schäfer während der Pausen jedesmal von ihnen weggegangen und hat sich abseits hingesetzt. Jetzt bleibt er bei ihnen, sucht ihre Nähe. «Weißt nicht, was du anfangen sollst, wie?» ruft Litosch hinunter. «Hast wohl dein Strickzeug nicht mit.» Fichtner lacht. Auch das ist neu. Er nimmt solche Scherze nicht mehr übel. «Oder kannst du gar nicht stricken?» «Doch.» «Dann bestell’ ich was bei dir», sagt Litosch. «Socken, schöne, dicke Wollsocken für ’n Baustellenwinter. Fünf Paar, Ulli, klar?» «Mach’ ich, aber schaff dir vorher Hornhaut an, sonst kitzeln dich die Socken aus den Schuhen.»
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Der Fahrer im Nachbar-SPW will wissen, ob Fichtner auch Pullover strickt. «Und zwar solche, die gemustert sind, mit Hirschen auf der Brust.» «Meine Mutter macht das.» «Ob die mir einen stricken würde?» Fichtner hebt die Schultern, und Litosch ruft zum anderen SPW hinüber: «Aber nicht mit Hirschen. Das ist Vorspiegelung falscher Tatsachen. Auf deinen Pullover gehören halbe Hähne.» Der Gefreite droht mit der Faust, aber das ist nicht ernst gemeint. Sie kennen einander fast ein Jahr. Litosch hat von dem anderen so viel gelernt, daß der seit einigen Monaten hinter ihm fährt. Fichtner wirft den Kienapfel weg und beginnt mit seinem Messer aus der Rinde eines meterlangen Stocks Muster zu schneiden. Litosch riecht den bitteren Geruch der Faulbäume, die am Rand des Mischwaldes wachsen und nach den Seiten hin die SPWs sicher tarnen. Erste winzige Blätter steifeln sich aus den fast schwarzen Zweigen. Die Ruhe wirkt auf Litosch seltsam, sie macht ihn munter. Während seiner Dienstzeit hat er sich daran gewöhnt, bei allem möglichen Lärm zu schlafen. Aber diese fast unnatürliche Stille ist ihm in den bisherigen elf Soldatenmonaten so selten begegnet, daß er meint, sie müsse irgendein besonderes Ereignis ankündigen. Litosch lauscht und wartet und denkt an die Zeit nach der Übung. Lange wird es nicht mehr dauern, zwei bis drei Tage vielleicht, und sie sind wieder in der Kaserne. Dort trennt sich alles, entfernt sich wieder voneinander. Nicht nur die Offiziere von den Soldaten, auch die Soldaten untereinander. Zwischenräume treten auf, das Gefühl der Nähe geht allmählich verloren, obwohl sie zu acht auf dem Zimmer wohnen. Es ist wie mit dem SPW, denkt Litosch. Wenn der Dreck, die klumpige Erde der Übungsplätze und Flußwiesen abgekratzt ist, wenn das Fahrzeug tropfend von der Waschrampe rollt, hat es etwas Besonderes verloren. Litosch nimmt diesen Vorgang jedesmal wie einen Verlust wahr, und nach der letzten Übung wäre er in der Halle beinahe eingeschlossen worden, weil er zu lange im SPW sitzen geblieben war und versucht hatte, diese Vertrautheit aufrecht-
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zuerhalten. Vieles von dem, was die Übungstage ausfüllt, wird unwiederbringlich zu Ende sein, Bleiben wird vielleicht die neue Beziehung zwischen ihnen und Fichtner, aber vieles andere wird sich wieder lockern, wird reißen und zerbröckeln wie Baukalk, der zu lange in der Sonne liegt. Das war schon nach der letzten Übung so. Und bevor Litosch zur Armee ging, hatte er bereits etwas Ähnliches erlebt. Vor drei Jahren gehörte er zu einer FDJ-Delegation, die zum Festival der Freundschaft nach Halle gefahren war. Nie zuvor hatte Litosch so viele Blauhemden gesehen, und nie zuvor hatte er so oft «Drushba» und «Freundschaft» gerufen und doch jedesmal gewußt, warum er es rief. Erst in Halle war ihm bewußt geworden, daß er dazugehört. Erst in Halle war er Mitglied der FDJ geworden, obwohl er das Dokument schon vier Jahre vorher erhalten hatte. Es war ihm ausgehändigt worden. So hatte man das in der Schule tatsächlich genannt: Aushändigung der Mitgliedsbücher. Er war in der achten Klasse FDJMitglied geworden, wie er voriges Jahr Soldat geworden ist, über eine Art Einberufung. Aber als das Festival zu Ende war, und die Jugendfreunde heimfuhren, wurden sie ständig weniger. Ihr Lachen wurde leiser, ihre Lieder verhaltener, und schließlich wurden sie ganz still. Spätabends betrat Litosch die Straße, in der er wohnt, und plötzlich war er allein. Seine Begeisterung, das Gefühl, etwas Besonderes zu sein, und der Wille, etwas Außergewöhnliches zu tun, waren zusammengeschrumpft wie die Delegation auf dem Weg von Halle nach Berlin. Und es kam nicht wieder. Sosehr Litosch sich auch darum mühte, zu Hause und auf der Baustelle. Allein war er nicht in der Lage, sich dieses Gefühl zu erhalten, geschweige denn es auf andere zu übertragen. Und in der Truppe ist es nicht anders. Übungen sind die Seltenheit. Wenn Litosch die des Bataillons hinzuzählt, hat er in elf Monaten vier mitgemacht. Bei diesen Übungen fühlte er sich als Soldat, wie er sich in Halle als FDJler begriffen hatte. Aber zwischendurch, in den vielen normalen Soldatenwochen, müßte man öfter das Gefühl haben, daß man als Soldat benötigt wird. Aber dazu brauchte man wohl jeden Tag solche Leute um sich wie Schanz oder «Tschapajew» oder
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den Politstellvertreter der Kompanie. Doch der Mann, mit dem sie täglich viele Stunden zusammen sind, heißt Ahnert und ist auf Abstand aus. So leben sie denn in der Kaserne und warten auf die nächste große Übung, aber die wird Litosch schon nicht mehr mitmachen. Am sechsundzwanzigsten Oktober wird er entlassen. Entlassen, wiederholt er in Gedanken, entlassen. Ein blödes Wort, findet er. Entlassen wird man aus dem Kittchen. Auf der Arbeit wurde man früher entlassen, bei uns nicht mehr. Aus der Schule wird man entlassen. Entlassen klingt wie: Geh, verschwinde! Laß dich nicht mehr blicken! So ungefähr. Aber die anderen Worte, die Litosch in Verbindung mit dem 26. Oktober einfallen, sind nicht besser. «Nach Hause gehen» zum Beispiel. Dabei fühlt sich mancher hier wohler als dort, wo er eigentlich zu Hause ist. Und es gibt welche, die haben gar keins. Litosch hat eins. Vater, Mutter, zwei jüngere Schwestern, eine Vierzimmerwohnung im Zentrum Berlins. Jugendklub mit Diskokeller gleich an der Straßenecke, eine 250er ES, Arbeit über Arbeit, ein ganzes Leben lang Häuser bauen. Dorthin fährt Litosch am 26. Oktober. Er versucht sich vorzustellen, wie es sein wird, wenn er geht. Wenn er Jeans anzieht und das steingrau gestrichene Eisentor sich hinter ihm schließt. Sie werden alle gemeinsam wegfahren. Bei der ersten Gelegenheit werden sie feiern, werden trinken, mancher ein paar Glas zuviel. Auch laut werden sie sein und irgendwelche Lieder singen, auf der Straße, in Lokalen, im Zug. Die Leute werden wissen, woher sie kommen, schon am Haarschnitt sind sie zu erkennen. Die einen werden lachen und sie verstehen, andere werden ihnen mit bösen Gesichtern gegenübersitzen oder verärgert nachblicken. Weil sie die anderthalb Jahre nicht kennen, die hinter Litosch und den anderen liegen, sondern nur die roten Gesichter sehen und die grölenden Stimmen hören. Dann denken solche Leute vielleicht, Litosch und die anderen hätten so, wie sie jetzt sind, ihren ganzen Dienst gemacht. Aber Litosch weiß es besser. Außer der Freude, daß die achtzehn Monate herum sind, ahnt er etwas anderes. Tief in ihm und den anderen wird etwas sein, womit sie nicht gleich fertig werden und das sie, solange sie noch zusammen sind, nur mit Lärm und Bier und
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allerhand Sprüchen unterdrücken können. Litosch ist überzeugt davon, daß ihm manches fehlen wird. Der SPW zum Beispiel und Leute, die ihm vertraut geworden sind. Eisner oder der Schäfer vielleicht, aber bestimmt Freier und Puhlmeyer. Die Trennung von ihnen ist in den meisten Fällen eine Trennung für immer. Von Kompanietreffen hat Litosch noch nichts gehört, nur von Klassentreffen. Aber es wär’ doch was, sich in zehn Jahren mal wiederzusehen. Was wird er selber in zehn Jahren sein? Wo wird er Häuser bauen als Brigadier oder Ingenieur? Eisner wird dann bestimmt schon Schichtleiter sein oder Parteisekretär in seinem Stahlwerk und Freier vielleicht schon Oberst und Politchef der Division. Und «Tschapajew»? Ob der in zehn Jahren noch immer Kompaniechef ist? In sieben Monaten ist alles vorbei. Litosch ahnt plötzlich, daß nicht nur die anderthalb Jahre zu Ende sein werden, sondern auch die Zeit davor. So, wie er vor der Einberufung gelebt hat, wird er nie wieder leben. In den Tag hinein, von Kino zu Kino, von Disko zu Disko. Von Mädchen zu Mädchen. Mit der einen bis vor die Haustür, mit der anderen bis in den Treppenflur und mit mancher ins Bett. Und Feten mitunter bis zum Schichtbeginn. Fast ein Leben ohne Bewußtsein, in dem er hin und wieder das Gefühl gehabt hat, im nächsten Augenblick würde etwas geschehen. Ein Gefühl, ähnlich dem, das man empfindet, wenn man mit dem Motorrad eine Kurve zu schnell anfährt, und der gesamte Körper sich schon auf den Sturz vorbereitet. So wird Litosch nicht mehr leben können. Und ein äußeres Zeichen für diese Veränderung wird sein, daß er nicht mehr mit schulterlangem Haar und lockig getrimmter Mähne herumläuft. Mundharmonikatöne sind plötzlich zu hören. Litosch blickt zu Fichtner hinunter, der das winzige Instrument ein paarmal gegen den Schenkel klopft und dann zwischen zwei Fingern wieder an den Mund führt. Beim Spielen schließt der Schäfer die Augen, und man sieht seine dichten, mädchenhaften Wimpern. «Am Brunnen vor dem Tore.» Litosch summt die Melodie mit und stellt fest, daß er sogar noch den Text kennt. Früher hat Litosch immer gestreikt, wenn er vor versammelter Klasse singen sollte. Lieber handelte er sich eine Fünf ein. Nur ein paar Mädchen ließen sich vom
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Gekicher der anderen nicht abhalten, sondern blickten zum Fenster hinaus und sangen, und ein Junge, der in ihren Augen gar keiner war, ein stiller und eifriger Schüler, der später zur EOS hinüberwechselte und jetzt sicherlich schon Musik studiert. Sie hatten damals einen jungen, bärtigen Musiklehrer, der in einer Beatgruppe den Schlagzeuger machte. Das war für die meisten Schüler der Grund, weshalb sie ihn überhaupt anerkannten und während des Unterrichtes verhältnismäßig ruhig blieben. Aber Volkslieder singen, allein und vor der ganzen Klasse, das hielten sie für Kindergarten, so ungefähr. Wortlos trug der Lehrer Fünfen ins Klassenbuch ein, die er auf Zeugnissen nur dann in Vieren oder Dreien verwandelte, wenn ihre Besitzer nachwiesen, daß sie fleißig alles Theoretische und Musikgeschichtliche gelernt hatten. Doch merkwürdig, trotz des Abscheus gegen das Singen haben sich manche Melodie und mancher Text in Litoschs Gedächtnis festgesetzt. Fichtner zieht die Töne nicht ineinander über. Er verzichtet auch auf das Schlagen mit der hohlen Hand, womit andere Spieler die weinerlichen Schwingungen hervorrufen. Der Schäfer bläst die Töne rein und leise, und manchmal klingt es, als ob er Flöte spiele. «Gut», lobt Litosch, als Fichtner das Instrument absetzt. «Gut, Ulli.» «Ist auch ein schönes Lied», erwidert Fichtner. «Und wenn du daran denkst, daß es schon über hundertfünfzig Jahre alt ist… Das sind Lieder.» «Es scheint, du kennst sie alle.» «Viele», verbessert Fichtner, «viele. Und dies gehört zu den Weltliedern.» «Weltlieder?» fragt der Gefreite vom anderen SPW. «Sie sind in der ganzen Welt bekannt», erklärt Fichtner. Er spricht langsam und leise. Von oben sieht es aus, als habe er die Augen immer noch geschlossen. «Brunnen gibt’s überall und Linden und Heimweh auch. Du brauchst es nur in einem anderen Land zu singen, und sofort hören dir die Leute zu.» «Schon ausprobiert?» fragt Litosch. «Leider noch nicht.»
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«Na, bist ja noch jung, Ulli.» Fichtner schiebt die Mundharmonika in eine der Ärmeltaschen. Dann zieht er erneut sein Messer hervor und schnitzt an dem Faulbaumstock weiter. Die Hubschraubermotoren dröhnen auf, laufen eine Weile, dann ist es fast wieder still. Nur von irgendwoher dringt noch leises Maschinengebrumm. Die Richtung, aus der das Geräusch kommt, läßt sich nicht genau ausmachen. Litosch hat den Eindruck, daß sich ein Fahrzeug nähert. Für einen P 3 oder GAZ ist es zu laut und für einen SPW zu leise. Aber es muß ein starker Motor sein, und der Wagen fährt wahrscheinlich mit Allradantrieb. Das Geräusch kommt näher, und jetzt ist auch die Richtung zu bestimmen. Von vorn, aus der Nähe des weiten Kahlschlags dringt es herüber, der auf der anderen Seite der Schneise beginnt und sich einen Hang hinaufzieht. Links wird die Fläche von einer mannshohen Kiefernschonung begrenzt. Es ist ein fremdes Fahrzeug, den gleichmäßig tiefen Dröhnton kennt Litosch nicht. Vielleicht gehört es den Forstarbeitern. Der Soldat holt Ahnerts Doppelfernglas aus dem SPW und sucht die Hangkuppe ab. Nach einer Weile hebt sich vor der Schonung ein Wagendach ab, dann ein Teil der Karosserie bis zu den Türen und Kotflügeln. Das Auto ist von stumpfem Grün, ein wenig heller als die Kiefernzweige. Es ähnelt einem VW-Bus, ist aber niedriger, gedrungener und hat hohe Reifen mit scharfem Profil. Jetzt hat es die Kuppe des Hangs erreicht und fährt langsam abwärts an der Schonung entlang auf die Schneise zu. Litosch blickt nach dem Kennzeichen. Er sieht auf dem Nummernschild ein Sternenbanner und setzt das Glas ab. Seine Hände schwitzen ein wenig, er wischt sie an der Hose trocken. Die weitere Fahrt des Wagens ist jetzt mit bloßem Auge zu verfolgen. Litosch und der Gefreite aus dem Nachbarfahrzeug stehen mit ihren SPWs an der Spitze der getarnten Kolonne, und der Soldat hofft, daß außer ihm noch niemand den fremden Wagen bemerkt hat, daß alle ruhig auf ihren Plätzen bleiben. Dem Gefreiten ruft er zu: «Wir kriegen Besuch, ein Ami. Paß auf, wenn der auf uns zuhält, häng dich an seine Hinterräder. Und sag mir Bescheid, sowie du startest.» Der Gefreite schließt die Luke. Fichtner erhebt sich und geht auf
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die Schneise zu. Litosch ruft: «Setz dich wieder hin und rühr dich nicht!» Er läßt den Wagen nicht aus den Augen. In Berlin hat Litosch schon viele englische, französische und amerikanische Fahrzeuge gesehen, und seitdem er die Uniform trägt, ist er mehrmals über die westlichen Militärmissionen belehrt worden. Deren Mitarbeiter fahren oft verbotene Wege und tauchen immer wieder unangemeldet im Übungsgelände auf, sobald dort etwas los ist. Wenn sie erwischt werden, bleiben sie in ihren Fahrzeugen sitzen, die für längere Aufenthalte ausgerüstet sind und von ihnen als nationales Territorium betrachtet werden. Mit Angehörigen der NVA verhandeln sie nicht. Sie warten, bis Offiziere der Sowjetarmee kommen, von denen sie sich dann zurückführen lassen. Noch etwa zwanzig Meter ist der Wagen von der Schneise entfernt. Ohne Schwierigkeit überwinden die Vorderräder den Graben und erreichen den Schneisenrand. Wenige Sekunden später schiebt sich auch das Hinterteil des Autos auf den Weg. Litosch nimmt seinen Platz ein und stülpt die Haube über. Die Verbindung funktioniert. Er hört den Gefreiten ein- und ausatmen. Litosch konzentriert sich ganz auf dieses Geräusch. Er nimmt wahr, daß es lauter und heftiger wird, und Bruchteile vor dem Kommando des Gefreiten wirft er den Motor an. Der SPW springt vorwärts und erreicht in wenigen Augenblicken die Schneise. Litosch bremst, schließt die Augen und erwartet einen Aufprall. Aber er bleibt aus. Die Motoren verstummen. Völlige Stille herrscht im und um den SPW. Litosch löst das Verbindungskabel zur Haube, stößt die Luke auf und will sich schon hinausschwingen, da läßt er sich noch einmal zurückgleiten und holt seine MPi. Mit ihr springt er in die ausgefahrene Spur auf der Schneise hinunter. Zwei Männer sitzen in dem Wagen. Der Fahrer, die Hände noch ums Lenkrad geschlossen, drückt sich in den Sitz zurück, und sein Nebenmann stützt sich, zur Scheibe vorgebeugt, mit den Händen gegen das Armaturenbrett. Beide starren nach vorn, sitzen unbeweglich, als erwarten sie noch immer den Zusammenstoß. Nur ihre Kiefer bewegen sich. Mit offenem Munde beißen beide heftig auf ihren
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Kaugummis herum. Zwischen der Stoßstange des stumpfgrünen Wagens und den Rädern des SPW besteht ein Abstand von nur zwei bis drei Zentimetern. Von hinten ist der Gefreite bis auf Daumenbreite ans Heck des Fahrzeugs herangerollt. Er steht in der Luke, tippt mit einem Finger gegen die Haube und ruft: «Die hat wohl Fichtners Weltlied hergelockt, wie?» «Das Lied, das die suchen», antwortet Litosch, «heißt BMP.» Alles klingt ein bißchen laut, weil die Erregung noch nicht aus ihnen heraus ist. «Seid ihr noch zu retten?» Litosch wendet sich um. Vom Faulbaum her kommt Fichtner langsam auf den Wagen zu. Der Schäfer sieht blaß aus und wirkt schmal im Gesicht. In der einen Hand hält er den Stock, an dem er herumgeschnitzt hat, und in der anderen sein Messer. «Glück gehabt, großes Glück habt ihr gehabt. Ein Unfall hätte das werden können. Mit Toten. Versteht ihr, mit Toten!» Litosch wird seiner Überraschung nicht gleich Herr. Das erste, was er fühlt, ist Zorn. Zorn auf das blasse Gesicht mit den weitaufgerissenen Augen und dem schmalen Mund, das er über dem Wagendach allmählich näher kommen sieht. Ein Gesicht, das in seiner Blässe, durch die nach unten gezogenen Mundwinkel und das spitze Kinn fast leidend aussieht. Wie Christusdarstellungen auf alten Gemälden, die Litosch auch heute noch beeindrucken, weil er in solchen Gesichtern Sicherheit oder Überzeugung oder Glauben entdeckt, der unerschütterlich ist, und gleichzeitig eine Güte, die ihn an seine Kindheit erinnert, an seine Mutter, an Jahre und Empfindungen, die nie wiederkehren. Litosch spürt, wie sein Zorn verfliegt. Ihm fällt auch ein, daß Fichtner das Manöver ihrer SPWs ganz anders gesehen haben muß. Jetzt erreicht der Schäfer den Schneisenrand, und der Gefreite ruft ihm zu: «Steck mal dein Messer weg! Die denken sonst noch, du willst ihnen an die Gurgel.» Fichtner blickt auf das Messer in seiner Hand, dann schiebt er es rasch in die Seitentasche am Hosenbein. «Und jetzt», sagt der Gefreite ein wenig schärfer, «machst du fix kehrt und verschwindest wieder im Busch.»
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«Warum?» widerspricht Fichtner. «Wieso denn? Was wollt ihr überhaupt mit ihnen machen?» «Wenn’s Schafe wären», entgegnet der Gefreite und lacht, «würde ich sie dir überlassen, für deine Herde.» Dann schickt er den Schäfer zum Hauptfeldwebel, dem einzigen Vorgesetzten, der im Augenblick erreichbar ist. Ohne noch etwas zu sagen, stapft Fichtner in den Wald hinein. Inzwischen sind die anderen Fahrer der SPWs aufmerksam geworden. Sie kommen langsam näher, und Litosch beauftragt den Gefreiten, sie aufzuhalten und zurückzuschicken. Auch jetzt ordnet sich der andere Fahrer widerspruchslos unter. Er springt auf den Weg und geht den Neugierigen entgegen, während Litosch in der Nähe des Wagens bleibt. Die beiden Amerikaner kauen immer noch, haben aber die Hände vom Lenker und von den Armaturen gelöst. Der Fahrer ist blond. Sein Kopf wirkt kantig, weil die Haut über den Ohren fast glatt rasiert ist. Er wendet sich Litosch zu und mustert ihn aufmerksam. Litosch sieht hellblaue, große Augen. Die Brauen und Wimpern sind heller als das Kopfhaar und wirken wie versengt. Der Fahrer ist nicht viel älter als Litosch und lächelt jetzt, ruhig und freundlich, und Litosch weiß nicht, ob er zurücklächeln soll. In Berlin ist er oft Soldaten und Offizieren der amerikanischen, englischen und französischen Armee begegnet, die herumspazierten, einkauften, Museen und Ausstellungen besuchten. Und Litosch hat ihnen geantwortet, wenn sie eine Auskunft von ihm wollten. Aber da trug er Jeans und unterm Arm einen Recorder. Der Blonde wendet sich seinem Begleiter zu, der wesentlich älter ist und eine Zigarettenschachtel in der Hand hält. Sie rauchen. Hinter Litosch bemüht sich der Gefreite, die anderen zurückzudrängen. Er redet auf sie ein, aber sie sind lauter. «Mann, ich hab’ noch nie einen lebendigen Ami gesehen», sagt einer, «nur im Film.» Und ein anderer ruft mit heller Stimme: «Nun laß uns mal unserem Klassengegner in die Pupille starren, Kumpel.» Sie lachen. Der Gefreite gibt auf, und wenige Augenblicke später stehen die anderen neben Litosch. Sie begutachten den Wagen, fin-
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den die Insassen ganz normal und ihre Uniform im Vergleich zu der eigenen wie Zivilkleidung. «Vielleicht sind sie gar nicht bei der Truppe», sagt einer. «Klar, sind sie», erwidert der mit der hellen Stimme. «Siehst doch das US-Army auf der Jacke. Mann, die haben aber gute Schneider.» «Und einen Haarschnitt», fügt ein anderer hinzu, «daran hätten unsere Offiziere ihre helle Freude.» Nun werden Vermutungen angestellt über Herkunft und Absicht der Wagenbesatzung, die sich um alles, was außerhalb des Fahrzeugs geschieht, nicht kümmert. Litosch stellt fest, daß die Neugier der anderen allmählich abflaut und ihre Bemerkungen leiser und bissiger werden. Der blonde Fahrer dreht die Scheibe ein wenig herab. Alle verstummen, weil sie annehmen, daß er etwas sagen will. Aber er wirft nur die Zigarettenkippe heraus. Litosch hört, daß der Ältere etwas zu dem Fahrer sagt, das wie eine Zurechtweisung klingt. Die Scheibe ist schon wieder geschlossen. Litosch geht zum Wagen, hebt die Kippe auf und verlangt durch Gesten von dem Blonden, daß er das Fenster wieder öffnen soll. Der aber setzt sich bequem zurecht. «Klopf mal mit der MPi an», rät hinter Litosch einer. Der Lauf klirrt hart gegen die Scheibe. Darauf reagiert der Blonde. Litosch sagt ruhig: «Noch nichts von Umweltschutz gehört? Schmeißt eure Kippen auf euer eigenes Territorium!» Dann läßt er den Zigarettenrest durch den Spalt ins Innere des Wagens fallen. Der Fahrer lächelt wieder und nickt. Litosch geht zu den anderen zurück. «Schluß jetzt», ruft er. «Haut ab, Leute!» Einige folgen der Aufforderung. Aber sie bleiben gleich wieder stehen und wenden sich um, als der mit der hellen Stimme sagt: «Paß auf, Ungefähr, die gucken dir Löcher in dein Eisenschwein.» Die beiden Amerikaner haben sich vorgebeugt. Der Ältere erklärt dem Blonden etwas und weist dabei mit dem Zeigefinger auf die Räder und auf die Panzerung. Litosch fragt: «Hat jemand von euch ’ne Zeitung da?» «Willst du eine Zeitungsschau mit ihnen machen?» «So ungefähr.»
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«Hier», ein rothaariger Soldat hebt eines der Kampfblätter hoch, «der Steppenkurier.» «Zu klein, ein Neues Deutschland brauch’ ich.» «Meinst du, die lesen das?» fragt der Rothaarige. «Verstehe ich ja kaum.» Litosch winkt ab und steigt in den SPW. Auf Eisners Platz liegt das gestrige ND. Er nimmt es mit nach draußen. Dicht neben dem Vorderrad des amerikanischen Wagens springt er auf die Erde. Die anderen verfolgen stumm seine Bewegungen. Langsam blättert er die Zeitung auseinander, sieht sie durch, kippt schließlich die Scheibenwischer zurück und klemmt mit jedem eine Doppelseite des ND gegen die Scheibe. Bis auf schmale Streifen unten und oben bleibt von ihr nichts mehr frei. «Jetzt weiß ich endlich», sagt einer, «warum das ND so groß ist.» «Was hast du ihnen denn zu lesen gegeben?» will ein anderer wissen. «Sport?» «Den Leitartikel», antwortet Litosch, «und die Außenpolitik. Sollen wissen, wie wir die Lage einschätzen.» Wenig später treffen Fichtner und der Hauptfeldwebel ein. Während Kilian sich umsieht, steigt Fichtner auf den SPW und hockt sich auf die sonnenwarme Panzerung. «Gut gemacht», lobt Kilian und teilt Litosch mit, daß die sowjetische Garnisonskommandantur benachrichtigt worden sei. Dann folgt er den anderen Kraftfahrern, die an der Kolonne entlang zu einem Raucherplatz gehen. Fichtner blickt dem Hauptfeldwebel nach, der seine Meldung vorhin völlig ruhig aufgenommen hat, als handele es sich nicht um amerikanische Soldaten, sondern um Kaninchen, die in die Falle gegangen sind. Der Schäfer nimmt dem Hauptfeldwebel diese Sicherheit nicht ab. Litosch steigt wieder auf den Schützenpanzerwagen. Er setzt sich neben Fichtner und legt die MPi griffbereit über seine Oberschenkel. Der Lauf, dessen Breunierung an den Mündungskanten abgenutzt ist, richtet sich gegen den olivgrünen Wagen. Die Insassen sind nicht mehr zu sehen. Zwischen ihren Gesichtern und den beiden Soldaten klebt vor der Scheibe eine große Zeitung. Eine Zeitung trennt sie
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voneinander, Papier von der Stärke eines Zehntelmillimeters. Aber bedrucktes Papier. Einzelheiten sind vom SPW aus nicht zu erkennen. Nicht einmal die Bilder. Nur ein paar Schlagzeilen heben sich deutlich vom übrigen Text ab. Die schwarzen Striche zwischen den Spalten wirken von hier oben wie ganze Kolonnen von Ausrufungszeichen. Ausrufungszeichen stehen immer am Ende von Warnungen, Befehlen und Verboten. Litosch schließt die Augen und richtet sein Gesicht der Sonne zu. Das Jungenhafte, das dieses Gesicht so auffällig macht, ist einer strengen Anspannung gewichen. Fichtner hat in der Miene des Fahrers nie so deutliche Abweisung entdeckt wie heute. Er tastet nach seiner Mundharmonika, die in der linken Ärmeltasche steckt. Es gibt ein Lied, das ihn schon als Kind auf eine besondere Art traurig gestimmt hat und das ihm jedesmal dann einfällt, wenn er Wünsche und Sehnsüchte hat, von denen er weiß, daß sie sich nicht erfüllen lassen. Aber er zieht die Mundharmonika nicht heraus, zum Spielen ist er im Augenblick nicht allein genug. Er denkt an Text und Melodie. «Wenn ich ein Vöglein wär und auch zwei Flügel hätt, flog ich zu dir, weil’s aber nicht kann sein, weil’s aber nicht kann sein, bleib ich allhier.» Die naive Logik macht das Lied schmerzlich und tröstlich zugleich. Fichtner blickt auf die MPi, deren Lauf nach wie vor gegen die verdeckte Scheibe gerichtet ist, und fragt: «Würdest du schießen?» Litosch antwortet nicht, und der Schäfer wiederholt seine Frage. Litosch sieht ihn, ohne seine Kopfhaltung zu verändern, von der Seite her an. Sein Blick wirkt streng. «Du stellst vielleicht Fragen.» «Stellst du sie dir nicht?» Litosch schüttelt den Kopf und antwortet: «Nicht mir. Mir nicht mehr.» Fichtner sagt nichts dazu. Er möchte weg von hier. Alles möchte er weit hinter sich lassen, zur Herde gehen und nur einen einzigen Menschen mitnehmen: Rike. Litosch sagt plötzlich: «Mich fragst du das? Mich? Die da unten mußt du das fragen.» Fichtner zieht seine Mundharmonika aus der Tasche und betrachtet
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sie, dreht sie im Sonnenlicht, daß das Metall aufblitzt und den Fahrer blendet. Litosch schließt für einen Moment die Augen und fragt: «Oder würdest du dich von denen abknallen lassen?» Motorenlärm enthebt den Schäfer einer Antwort. Von links nähert sich ein Krad, dem ein Wagen des Kommandantendienstes und ein GAZ mit sowjetischem Kennzeichen folgen. Litosch schiebt Fichtner beiseite und stellt sich ganz vorn auf den Schützenpanzerwagen. Aus dem KD-Auto springt ein kleiner Leutnant, dessen weißes Koppelzeug vor Sauberkeit strahlt und dessen Helm in der Sonne glänzt, als hätte ihn der Offizier mit einer Speckschwarte eingerieben. Der Leutnant bleibt ein paar Schritte vom amerikanischen Wagen entfernt stehen. Seine Hände liegen auf dem Rücken übereinander, und er wippt ein wenig mit den Füßen. «Gut gemacht», sagt er. Die Stimme kennt Litosch, diese trockene, harte Stimme vergißt er nie mehr. Und als der Leutnant zu ihm hochblickt, lacht Litosch laut über das Wiedersehen und über die Überraschung im Gesicht des anderen. Er springt hinunter, dem Leutnant direkt vor die Füße, und sagt: «‹Ami›, Mensch ‹Ami›! Sei gegrüßt!» «Der Litosch!» entgegnet der Leutnant. Er lacht ebenfalls und stößt dem Soldaten eine Faust gegen den Oberarm. «Mann, Ungefähr!» Dann zeigt er auf den amerikanischen Wagen und fragt: «Ihr Werk?» Litosch nickt. «Maßarbeit», lobt «Ami», und Litosch erklärt mit einem Kopfnicken zum Blonden hin, der hinter dem Lenkrad sitzt: «Ist ein guter Fahrer. Muß ich ihm lassen. Hat gut reagiert, sonst…» «Ami» nickt, doch er wiederholt das Lob für Litosch und fügt hinzu: «Sie haben damals doch was gelernt bei mir, scheint’s.» «Und Sie bei mir hoffentlich auch.» Wieder lacht der Leutnant. Er holt etwas aus der Tasche und hält Litosch die Hand hin. Kaugummis liegen auf ihr. «Na?» sagt er, und Litosch greift zu. Fast gleichzeitig beginnen sie zu kauen. Litosch sagt: «Du Ami.» «Selber Ami», erwidert der Leutnant. Zwei sowjetische Offiziere treten zu ihnen, ein Major und ein Ober-
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leutnant. Sie sprechen leise miteinander. Danach tritt der Oberleutnant zu den Amerikanern, grüßt und wartet, bis die Scheibe herabgedreht wird. Dann spricht er mit dem älteren der beiden. Neben Litosch steht der Major, der dem Wortwechsel aufmerksam folgt. Er riecht nach Papyrossi, nach Knoblauch und einem schweren russischen Parfüm. Düfte, die mitunter tagelang an den eigenen Uniformen haften, wenn die mot. Schützen mit den Soldaten ihrer Partnereinheit Volleyball oder Fußball gespielt haben oder in voller Montur über die Sturmbahn gegangen sind. Wenn sie nebeneinander hinter dem schweren Maschinengewehr gelegen, Granatwerfer zerlegt und mit den Bodenplatten und Rohren Stellungswechsel geübt haben. Wenn sie in den Leninzimmern der Komsomolzen gewesen sind, wo sie vor lauter Bildern, Dokumenten und Tafeln meistens die Übersicht verlieren, oder wenn sie miteinander getanzt haben. Das hat Litosch vorher noch nie erlebt. Sie saßen im Klub, rauchten und radebrechten, sangen und lachten. Die Band der Pateneinheit begann zu spielen, anfangs ein wenig durcheinander, und plötzlich standen einige sowjetische Soldaten auf, zogen ihre Uniformen glatt und forderten die Soldaten der NVA zum Tanzen auf. Litosch blieb zunächst sprachlos sitzen wie die meisten anderen auch. Nur ein paar aus der Kompanie, die ähnliches schon erlebt hatten, gingen bereitwillig mit aufs Parkett. Alles sah so ulkig, so plump, so ungewohnt aus, daß Litosch in ein lautes Lachen ausbrach, in das viele einfielen. Danach erst folgten sie der Aufforderung und lockerten sich ein wenig bei jenem für Litosch ersten Männertanz, dem später weitere gefolgt sind. Der Oberleutnant am Wagen macht kehrt und meldet dem Major etwas, das auch «Ami» verstanden hat, denn er ruft dem Gefreiten, der in der Luke steht, zu: «Zurückstoßen!» Der Motor dröhnt auf, und erst als der Gefreite «Amis» Befehl ausgeführt hat, ist eine Verständigung wieder möglich. Der Major wendet sich an Litosch. Er hat schmale, strenge Lippen und eine tiefe Kinnfalte, die wie eine Narbe wirkt. Eine Weile mustert er den Soldaten, als wolle er sich dessen Gesicht einprägen, dann lächelt er, und die Lippen öffnen sich, sind jetzt weich und lebhaft. «Ami» übersetzt, was der Major
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sagt, und zum drittenmal an diesem Vormittag hört Litosch ein Lob: «Das hast du gut gemacht. So müssen wir sie bremsen, überall, wo wir mit ihnen zu tun kriegen. Ihnen klarmachen, wo ihre Macht aufhört.» Litosch nickt. Er sagt nichts, denn der Major salutiert vor ihm und geht danach zu seinem Wagen. Der Amerikaner stößt zurück und wendet. Sie nehmen ihn in die Mitte. «Mach’s gut, Ungefähr!» ruft «Ami» und winkt, ehe er einsteigt. Litosch winkt zurück, und ihm fällt ein, daß er den Namen seines ersten Vorgesetzten vergessen hat. Das Krad und die drei Wagen entfernen sich. Oben auf dem SPW steht Fichtner, der alles beobachtet und auf einmal das Gefühl hat, vergessen zu sein, ausgeschlossen von irgend etwas Besonderem, das alle, die unten auf der Schneise stehen und den sich entfernenden Fahrzeugen nachblicken, miteinander verbindet. Woher kommt dieses Gefühl? Von den anderen rührt es nicht her, denn nicht einmal Litosch hat sich in dieser Vormittagsstunde ihm gegenüber anders benommen als in der Nacht vor dem Angriff. Als Fichtner das Essen verteilt hat, in der er gebraucht wurde, und die anderen beim Tarnen seinen Hinweisen folgten. Dieses Gefühl, von den anderen wieder getrennt zu sein, kommt aus ihm selber. Er bereut, daß er am Morgen, als das Bataillon zum Appell angetreten war und der Kommandeur fragte, wer genau wisse, daß er fluguntauglich sei, die Hand gehoben hat. Keiner spottete, als Fichtner und drei weitere Soldaten weggeschickt wurden. Fichtner ist noch nie geflogen. Noch nie hat er sich von der Erde gelöst. Nur auf Bäume ist er geklettert, aber die halten sich mit zahllosen Wurzeln an der Erde fest. Fichtner weiß nicht genau, ob er im Hubschrauber Höhenangst bekommen würde. Er weiß nur, daß er, wäre er jetzt bei den anderen auf der Wiese, vielleicht niemals erfahren hätte, was sich hier in der Schneise zugetragen hat. Dort bei den Hubschraubern wäre seine Bindung an die Gruppe nicht wieder verlorengegangen. Litosch klettert auf den SPW, klopft dem Schäfer auf die Schulter und sagt: «Ach, du Hirte, du.» Dann verschwindet er im Inneren des
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Fahrzeugs. Fichtner entschließt sich, während der Mittagspause zu versuchen, wieder ins Bataillon eingegliedert zu werden.
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9. Kapitel Friederike schaut sich in der geräumigen Halle um. Dann geht sie langsam zur Rolltreppe und fährt hinauf. Noch einmal will sie alles absuchen, will Schönefeld mit der Gewißheit verlassen, daß Stefan nicht hier ist. Und wenn er dann auch nicht zu Hause sein sollte, werden sie den Vater und die Polizei benachrichtigen müssen. Friederike geht an der verglasten Außenwand entlang. Sie hat gut geschlafen, ist jetzt ruhiger und wird nicht mehr zwischen Hoffnung und Furcht umhergetrieben. Sie weiß, was in den nächsten Stunden zu tun ist. Sie hat von Wittenbeck geträumt. Sie stand vor der Birke, und es regnete. Friederike spürte die Tropfen auf der Haut, fühlte sie an ihrem Körper herabrinnen und richtete das Gesicht dem stillen Regen zu. Auf einmal spürte sie eine breite, rauhe Hand auf ihrer Schulter, und jemand hängte ihr einen Uniformmantel um, der warm und schwer war und nach Eisen und Kraftstoff roch. Dann drückte er sich an sie. Friederike spürte sein Gesicht an ihrem Ohr. Es war hart und kalt, und scharfe Bartstoppeln kratzten ihre Haut. Unmittelbar danach erwachte Friederike. Regungslos und mit geschlossenen Augen blieb sie liegen. Das Traumgefühl uneingeschränkter Nähe füllte sie auch im Wachsein völlig aus. Und sie hat es bis jetzt nicht verloren. Ruhiger als am Abend ist sie, weil es plötzlich außer der Sorge um ihren Bruder noch etwas gibt, das für sie wichtig ist. Sie hat die Halle fast umrundet und kehrt um. Sie möchte heimfahren, will so rasch wie möglich dorthin zurückkehren, wo Wittenbeck sich täglich aufhält und vieles sie an ihn erinnert. Noch einmal tritt sie auf die Terrasse hinaus. Stefan ist nicht unter den Leuten, die an der Brüstung stehen und stumm oder lärmend die startenden und landenden Maschinen beobachten. Dann kehrt sie in die Halle zurück, gerät in eine Gruppe Reisender, die eilig am Flugplan vorbeigehen, an dem nur einer stehenbleibt und die hohe Tafel 264
mit den angekündigten Flügen mustert. Er trägt Jeans und einen Parka, und Friederike erstarrt mitten im Schritt. Die ganze Nacht hat sie nach einer dunkelgrauen Pelzjacke gesucht und ist vielleicht schon mehr als einmal an Stefan vorbeigegangen, ohne daß sie einander bemerkt haben. Der Bruder starrt auf die Spalten der Anzeigetafel. Tief stecken seine Hände in den Taschen des offenstehenden Parkas. Nichts bewegt sich an Stefan. Nur die herabhängenden Enden der Zugschnur pendeln gleichmäßig hin und her. Von hinten tritt Friederike an ihren Bruder heran. «Tag, Stefan», sagt sie. Er blickt sie an, lächelt und wendet sich sofort wieder der Tafel zu, wobei er ihren Gruß erwidert. Auf der Anzeige erscheint jetzt unter der Flugnummer eine weitere Zahl, und neben ihr leuchtet das Flugziel auf: Paris. Friederike steht neben Stefan, der seinen Arm um ihre Schulter legt. «Na, Schwesterchen», sagt er und zieht sie an sich, als wäre er der Ältere von ihnen. «Wohin wollen wir fliegen? Nach Rom, Tokio, nach Havanna oder Paris?» Er lacht unbeschwert und hebt mit weitem Schwung die freie Hand zur Tafel. «Ich lade dich ein. Also wohin?» «Nach Hause», antwortet Friederike leise und blickt ihn an. Das Lächeln in seinem Gesicht verlischt sehr langsam. Es ist ein weiter Weg von solchen Träumen zurück zur Wirklichkeit, und Friederike bereut, daß sie nicht Delhi oder Wien gesagt und damit das Spiel um ein paar Minuten verlängert hat. «Nach Hause», wiederholt Stefan und blickt über sie hinweg durch die Scheiben ins Weite. «Nach Hause, wo liegt das?» Friederike schweigt. Sie freut sich, daß sie ihren Bruder gefunden hat, und bedauert gleichzeitig, daß sie ihn zurückholen muß. Sein Gesicht ist blaß, es wirkt übernächtig. Wahrscheinlich hat er gar nicht geschlafen, sondern sich die ganze Nacht im Gebäude aufgehalten und auf der Terrasse. Sie spürt, daß ihr Bruder sich verändert hat. Nicht äußerlich, aber in vierundzwanzig Stunden kann sich in einem jungen Menschen so
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viel abspielen, daß er zum Erwachsenen wird. Stefan blickt Friederike an. Sein Lächeln fällt ein wenig traurig aus. Noch einmal wendet er sich der Tafel zu. «Einmal, lange dauert es bestimmt nicht mehr, werde ich auch von hier aus starten, irgendwohin in die Welt.» Er hat weder laut gesprochen noch trotzig oder schwärmerisch. So bestimmt wie eben teilt man nur einen unumstößlichen Entschluß mit, eine Entscheidung fürs Leben. «Komm», sagt er, «ich lade dich zum Essen ein. Wenigstens dazu. Ich habe einen ungeheuren Hunger.» Friederike widerspricht nicht. Zwei Stunden später verlassen sie den Berliner Ring und fahren in nördlicher Richtung weiter. Bisher haben sie wenig miteinander geredet. Friederike hat keinen Grund, Stefan auszufragen, und Vorwürfe macht sie ihm schon gar nicht. Sie ist froh, daß sie ihn gefunden hat. Am Telefon hat sie versucht, der Mutter mit wenigen Sätzen zu erklären, was geschehen ist, um sie auf Stefans Veränderung vorzubereiten. Doch sie bezweifelt, daß die Mutter in ihrer Freude verstanden hat, worauf es ankommt. Friederike hofft, daß überschwengliche Gefühlsausbrüche ebenso ausbleiben wie zornige Vorhaltungen. Das eine wie das andere würde Stefan nur noch verschlossener machen. Er sitzt neben ihr, den Parka hat er nicht ausgezogen, und er wird ihn nicht wieder hergeben. Doch um die Kutte geht es längst nicht mehr. Während dieser Fahrt hat Stefan etwas viel Wichtigeres gefunden, ein Ziel, auf das er hinleben will. Und wenn er es von heute an mit der gleichen Hartnäckigkeit verfolgt, wie er dem Parka nachgejagt ist, wird er es auch erreichen. Möglicherweise ist er sich dieser Zusammenhänge noch gar nicht bewußt. Er beginnt zu erzählen, beschreibt verschiedene Flugzeugtypen, die er hat landen und starten sehen, spricht mit fast geschlossenen Augen von Städten und Ländern, die ihm nun, nachdem er stundenlang auf der Terrasse des Flughafengebäudes gestanden hat, greifbar nahe gekommen sind. Am Ende dieser Schilderung wiederholt er seinen Schwur: «Lange dauert’s nicht mehr. Ein paar Jahre, du wirst sehen, und ich starte wie
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Hanne. Von Schönefeld aus irgendwohin in die Welt. «Bist du nicht Offiziersbewerber?» fragt sie. Er antwortet nicht sofort. Stefan hat die Frage erwartet, aber nicht von Friederike, sondern von der Mutter oder vom Vater. Und nun sucht er nach einer Antwort, die Friederike überzeugen und auch die Eltern zufriedenstellen kann. Vieles fällt ihm ein, fast zuviel, und er ist nicht in der Lage, mit wenigen Sätzen zu sagen, was er empfindet. Aber er will Friederike auch nicht zu lange auf Antwort warten lassen. Sie soll nicht denken, daß er unsicher ist. Darum antwortet er mit dem, was er im Augenblick besitzt, mit seiner Entschiedenheit. «Das war ich», sagt er, «bis heute war ich das, Offiziersbewerber. Drei Jahre werde ich machen, höchstens. Dann bewerbe ich mich wie Hanne bei der Handelsflotte.» «Und Vater?» «Was hat das mit ihm zu tun? Es ist mein Leben. Und ich werde auch das Abitur nicht machen. Ich geh’ ab, jetzt nach der zehnten Klasse. Wenn ich zur See will, brauch’ ich einen Beruf, und zwei Jahre verlier’ ich nicht erst noch an der Schule.» «Und du meinst, das geht so einfach, wie du es sagst? Nimmst einem den Abiturplatz weg, und dann steigst du auf halber Strecke aus. Du bist noch nicht volljährig.» «Aber es ist mein Leben! Und ich will leben, wie ich will, nicht wie andere es sich denken. Wenn ich etwas werde, ich meine beruflich, werd’ ich das meinetwegen, nicht für Vater oder andere.» Er beugt sich vor, starrt durch die Scheibe auf das graue Land. Seine plötzliche Heftigkeit verrät, daß er unsicher ist und sich vor der Auseinandersetzung mit dem Vater, vor allem mit ihm, fürchtet. «Damit wirst du wohl niemanden überzeugen», sagt Friederike, «am allerwenigsten Vater.» «Na und? Hauptsache, ich weiß, was ich will. Hauptsache, ich bin überzeugt.» Jetzt ist er auf einmal wieder der Sechzehnjährige, einer der sich um so heftiger gegen Einsichten wehrt, je mehr er begreift, daß die anderen auch Recht haben könnten. Einer, der aus den eigenen Fehlern Vorwürfe gegen andere macht.
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Und die ersten, die von diesen Vorwürfen getroffen werden, sind meistens die Eltern. Friederike verringert die Geschwindigkeit ein wenig. Sie ist plötzlich traurig, daß Stefan so abweisend auf das Wort «Vater» reagiert hat. Dabei weiß sie, wie sehr der Vater an Stefan hängt. Aus Gesprächen weiß sie es und von vielen seiner Gesten und Blicke, die sie an ihm bemerkt hat. Und sie hält es für natürlich, daß die Bindung der Väter an die Söhne besondere Nuancen besitzt. Sie hat sich deswegen nie vernachlässigt gefühlt. Väter wünschen häufig, daß sie sich in ihren Söhnen wiederholen. Sie möchten sie vor Irrtümern bewahren und wollen, daß sie das verwirklichen, was sie selber aus verschiedenen Gründen nicht erreicht haben. Doch es ist wohl ebenso natürlich, daß die Söhne eigene Wege gehen und selber Räume ausschreiten möchten, wobei sie sogar Umwege in Kauf nehmen. Auch ihr Vater muß damit fertig werden, selbst wenn es schmerzlich für ihn ist. Stefan lehnt sich zurück, spricht leiser und wieder ruhiger. «Weißt du», sagt er, und Friederike spürt, daß er sie ansieht. Sie lächelt und steigert die Geschwindigkeit wieder. Sie will nach Hause und möchte, bevor sie am Abend ins Restaurant geht, noch Zeit für sich selber haben. In ihren Sessel will sie sich setzen und an lauter schöne Dinge denken. «Weißt du, Rike, ich möchte ein Leben führen, wo was los ist, und man nicht schon alles vorher weiß. Bestimmt gibt es welche, die das können, aber ich kann es nicht, mich auf eine Strecke machen, wo schon alles klar ist bis vielleicht auf das letzte Ende. Schließlich weiß ja keiner, wann er stirbt und wie. Aber ich glaub’, da arbeiten auch schon welche dran, die das noch rauskriegen wollen, und dann hat das ganze Leben überhaupt kein Geheimnis mehr. Wenn ich an die Berufsberatung denke, krieg’ ich Krämpfe. Da stellen sich erwachsene Menschen hin und erklären das langweiligste Leben zum besten, das es überhaupt gibt.» «Wie denn das?» «Na, hör mal! Findest du es etwa spannend, wenn du genau weißt, was du bis zu deiner Rente machst? Schule, Berufsausbildung, Armee, Betrieb, Studium, Betrieb.» Und du weißt auch schon genau den Tag und den Monat, wann du die erste Rente kriegst. Ich be-
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komm’ im Jahr Zweitausendfünfundzwanzig welche, im Oktober, meistens ist es der zweite oder dritte. Und das nennen die Leute Abenteuer. Abenteuerlicher Alltag. Ein Quatsch ist das! Und bei der Armee? Genau dasselbe. Da liegt sogar schon fest, wann du befördert wirst, wann du zur Akademie gehst und welche Funktion du wie lange hast. Da lebst du doch… Das ist ja…. als zieht dich jemand auf, mit dem Schlüssel, stellt dich hin, und wenn er einen bestimmten Hebel löst, marschierst du los, bis die Feder abgelaufen ist.» Friederike schweigt. Stefan spricht erst nach einer Pause weiter. «Und sagst du was, werden sie böse. Lehrer, Eltern tun beleidigt. Und warum? Weil’s stimmt! Weil’s stimmt, das sag’ ich dir. Und was für Argumente sie sich ausdenken! Kosmonaut kann man bei uns werden, sogar Kosmonaut. Und die Trasse, das ist wohl kein Abenteuer? Auf siebzehn Millionen kommt mal ein Kosmonaut oder zwei, und an der Trasse? Das Glück haben doch bloß ein paar Hundert. Nee, Rike, das Leben ist durchprogrammiert bis zur Langeweile.» Er schüttelt den Kopf, langsam und entschieden. Friederike sagt kein Wort. Stefan hat nicht solange gesprochen, um jetzt ihre Meinung zu hören, sondern er will ihr seine mitteilen. Es ist eine für einen Sechzehnjährigen ganz erstaunliche Meinung. Manchem stimmt Friederike zu, anderem könnte sie widersprechen. Sie tut es nicht, weil sie annimmt, daß Stefan im Augenblick für die Erfahrungen anderer nicht zugänglich ist, und weil sie ahnt, daß vielen Älteren manches von dem, was er zu begreifen beginnt, noch gar nicht bewußt geworden ist. Wie viele suchen Abenteuer oder Lebensersatz in den Betten, bei allen möglichen Anlässen und beim Alkohol? Bei wie vielen liegen die Ursachen dafür in dem, was Stefan eben gesagt hat? Und trifft das eine und andere nicht auch auf ihr eigenes Leben zu? Sie selbst ist zu einer solchen Entscheidung, wie Stefan sie heute für sich gefunden hat, nicht fähig gewesen. Sie hat abgewartet, sich treiben lassen. Alles, was Stefan erklärt hat, berührt auch Friederikes augenblickliche Hoffnungen und Sehnsüchte um Wittenbeck. Sie gibt Gas. Der Motor heult auf, und der Wagen vibriert, bis die plötzliche Beschleunigung sich nach und nach auf alle Teile des Skoda überträgt.
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Und Friederike begreift noch etwas. Die Probleme und Auseinandersetzungen mit Stefan werden, sobald sie wieder zu Hause sind, nicht abgeschlossen sein, sondern erst beginnen. Das Bataillon hat Mittag gegessen. Danach soll das Training an den Hubschraubern fortgesetzt werden. Doch niemand treibt die Kompanien an, obgleich die Pausenzeit bereits überschritten ist. Fichtner hat sich bei Puhlmeyer gemeldet und ist gegen einen Soldaten ausgetauscht worden, der sich am Morgen beim Sprung aus dem stehenden Hubschrauber den Knöchel verstaucht hat. Die Offiziere des Bataillons befinden sich beim Kommandeur in einer Besprechung. Je ein Zugführer hat den Auftrag, die Kompanien zur Wiese zu führen. Dort steht, mit dem Rücken gegen eine Kiefer gelehnt, Oberst Bredow. Er ist schon vor einer halben Stunde aus der Stellung weggegangen und blickt zu den Hubschraubern hinüber, die sauber ausgerichtet im hinteren Drittel der Wiese abgestellt sind. Von den Piloten ist keiner zu sehen. Entweder schlafen sie in den Kabinen, oder sie sitzen noch immer mit Schanz im Speisezelt, trinken Kaffee und erzählen Erlebnisse oder erinnern sich an diesen und jenen, der aus dem aktiven Dienst ausgeschieden ist und die Verbindung zu seiner Einheit verloren hat. In solchen Runden denkt man an manchen wie an einen Gefallenen. Und der eine oder andere ist tatsächlich nicht mehr am Leben, ist eines natürlichen Todes gestorben, wenn man zum Beispiel einen Herzinfarkt noch dazu zählen kann. Oberst Bredow hat seit geraumer Zeit das Interesse an solchen Gesprächen verloren und weicht ihnen aus. Auch heute hat er Schanz’ Einladung zu einer Tasse Kaffee abgelehnt, was ihm jetzt ein wenig leid tut. Denn in der Nähe anderer lassen sich trübe Gedanken und Ahnungen leichter ertragen, die Bredow in den letzten Monaten öfter beschäftigen als früher und ihn mitunter beunruhigen wie die Erwartung von etwas Unangenehmen. Solche Stimmungen machen Bredow häufig verletzlich. Dann ist er immer besonders streng und würde am liebsten allen anderen aus dem Wege gehen. Aber sein Dienstgrad und seine Dienststellung lassen das nicht zu. Generalmajor Werner hat ihm persönlich den Befehl erteilt, das Ba-
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taillon bei der Luftlandung zu begleiten. Vom Gelingen dieser Aktion, von der Schnelligkeit und vom Geschick der Soldaten, Unteroffiziere und Offiziere hängt das Ergebnis des letzten Teils der Übung ab und damit die Gesamteinschätzung der Division, die am Ende nur lauten kann: Gefechtsbereit oder nicht gefechtsbereit. Es geht nicht um Bredow, um seine Wünsche und Ahnungen. Er wird alles tun, was notwendig ist, um den Erfolg des Bataillons schon hier auf dieser Waldwiese zu sichern. Den Nachmittag will er bis zur letzten Minute zum Training nutzen. Jenen Stimmen, die beim Mittagessen laut wurden und meinten, das Vormittagstraining genüge, wird er keine Beachtung schenken. Das Bataillon nähert sich. Oberst Bredow vernimmt Stimmen. Er löst sich von der Kiefer und überquert die immer noch ein wenig feuchte Wiese. Weit auseinandergezogen bewegen sich die Kompanien quer durch den Wald. Es wird gelacht, Kienäpfel und Äste werden geworfen und schlagen dumpf gegen die Helme. Was sich Bredow da nähert, ähnelt eher einer Schulklasse bei einer Exkursion als einer militärischen Einheit. Bei den Soldaten sind nur ein paar Unteroffiziere und zwei oder drei Zugführer, die neben den Kompanien herschlendern, als gehörten sie nicht dazu. Die ersten Gruppen erreichen die Wiese. Auf der ebenen Fläche, die jetzt vor ihnen liegt, bewegen sich die Soldaten nicht geordneter als zwischen den Bäumen. Bredow, der schon zahllose Übungen mitgemacht hat, kennt die Stimmung genau, die zum Ende hin ganze Truppenteile erfaßt und sich verheerend auf die Disziplin auswirken kann, weil Anspannung und Erschöpfung die körperlichen und moralischen Kräfte der Männer geschwächt und manchmal völlig aufgebraucht haben. Auch die Offiziere sind gegen diese Stimmung nicht gefeit. Anfangs äußert sie sich nur in harmlos wirkender Heiterkeit, später in erstaunlicher Annäherungssucht zwischen Unterstellten und Vorgesetzten, und schließlich löst sich die Kontrolle und Ordnung völlig auf. Ein gefährlicher Zustand, der bis zur Aufsässigkeit führen kann. Der erfolgreiche Verlauf der bisherigen Übung ist für die Einheiten kein Geheimnis geblieben, obwohl Bredow und andere Offiziere
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nicht die geringste Ahnung haben, woher die Soldaten diese Ergebnisse, Wertungen und Einschätzungen erfahren, die sich in der gesamten Division mitunter rascher verbreiten als mancher Befehl. In diesem Erfolgsgefühl befindet sich augenblicklich das Bataillon. Bredow weiß aus jenen Jahren, in denen er selbst Zugführer, Kompaniechef oder Bataillonskommandeur gewesen ist, daß man in solcher Stimmung leicht nachlässig und oberflächlich wird und beginnt, Situationen falsch einzuschätzen. Und er weiß auch, was zu tun ist, um das Bataillon aus dieser Lethargie zu reißen. Man muß es aufrütteln. Nicht durch Reden oder Appelle, die in solchen Situationen zu nichts führen. Gegen diese unbeschwerte Heiterkeit helfen nur Kommandos und klare Befehle. Bredow holt tief Luft, atmet kräftig aus, und beim zweiten Einatmen, ehe die Lungen ganz gefüllt sind, kommandiert er: «Bataillon Achtung!» Alle reagieren sofort. Von den vorderen Soldaten bis zu den letzten, die noch am Waldrand sind, geht ein Ruck durchs gesamte Bataillon, der wie ein Aufrichten wirkt, wie ein plötzliches Besinnen. Und schon folgt das nächste Kommando. Bredow befiehlt, in seiner Höhe kompanieweise anzutreten. Die Soldaten, Unteroffiziere und die drei Offiziere nähern sich im Laufschritt. Bredow beobachtet ihre Bewegungen genau. Sie sind nur anfangs schnell, dann setzt sich wieder eine schlaksige Kraftlosigkeit durch, die nicht Müdigkeit, sondern Widerwillen verrät. Erneut greift die Heiterkeit um sich, rascher und stärker als vorher. Lachend quirlen die Soldaten beim Antreten durcheinander, schubsen und stoßen sich herum. Ein paar Unteroffiziere und die Zugführer versuchen, ordnend einzugreifen. Bredow ruft zum zweitenmal, jetzt lauter und schärfer: «Achtung!» Wieder reagieren alle sofort. Nun befiehlt ihnen der Oberst kehrtzumachen, und dann schickt er sie im Laufschritt bis zum Waldrand. Nur einige setzen sich sofort in Bewegung. Die Masse der Soldaten kommt schwer in Gang. Die Offiziere warten ab. Bredow hat einen Fehler gemacht, indem er sie nicht vorher aus dem Bataillon herausgelöst hat. Aber zur Korrektur ist es jetzt zu spät, und er treibt alle an. «Vorwärts!» kommandiert er mit lauter Stimme.
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Bevor die ersten Soldaten den Waldrand erreichen, ruft der Oberst abermals: «Achtung!» und wiederholt danach den Befehl zum Antreten. Die Soldaten befolgen den zweiten Befehl nicht leiser und rascher als den ersten. Einer tritt dem vor ihm Laufenden in die Hacken. Der stolpert, fällt hin, und die anderen stürzen über ihn zu einem Haufen wimmelnder Soldatenleiber. Bredow kommandiert zum viertenmal: «Achtung!» Der Befehl wird nicht befolgt. Er wird überhört, gar nicht wahrgenommen, oder das Bataillon befindet sich bereits in einem Zustand, wo Disziplin und Ordnung verlorengegangen sind. Dagegen hilft nur energisches Durchgreifen. Bredow zögert nicht einen Augenblick. Er schreit in die Menge: «Ruhe!» Der Oberst ist entschlossen, den ersten, der das Spiel weitertreibt, auf der Stelle zu bestrafen, an ihm ein Exempel zu statuieren, das allen anderen eine Warnung ist und sie zur Besinnung bringt. Bredow spürt plötzlich eine angstvolle Unruhe in sich, so etwas wie Furcht vor dieser Menge, die er noch nicht unter Kontrolle hat. Und einen Augenblick denkt er daran, die Soldaten sich selbst zu überlassen, nicht mehr einzugreifen, sondern so lange zu warten, bis sie sich beruhigt haben oder die anderen Offiziere des Bataillons hier sind. Doch er kann nicht mehr zurück. Jetzt aufgeben bedeutet für ihn, seine Niederlage einzugestehen. Immer hat er sich durchzusetzen vermocht. Außerdem befinden sie sich nicht in der Kaserne oder in einer Gaststätte. Es herrscht eine außergewöhnliche Situation, und die gibt ihm auch außergewöhnliche Mittel in die Hand. Vor dem sich allmählich formierenden ersten Glied der dritten Kompanie steht ein breitschultriger, großer Soldat. Er redet auf die anderen ein und bewegt dabei heftig beide Arme, fast wie ein Chorleiter, der die Einsätze und das Tempo bestimmt. Der organisiert etwas, denkt Bredow und ruft ihn an. Erst beim zweitenmal dreht sich der Soldat um. Es ist der Gefreite, der hinter Schanz das Zelt betreten, sich die Maschinenpistolen umgehängt hat und dann sagte: «Entschuldigen Sie, Genosse Oberst, ich richte mich nach den Befehlen von Oberst Schanz.» Und mit derselben respektlosen, fast gleichgültigen Ruhe in der
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Stimme fragt der Gefreite jetzt: «Meinen Sie mich?» Dabei tippt er mit einem Finger gegen seine Brust. «Kommen Sie her!» ruft Bredow nicht allzu laut. «Gleich», erwidert der Gefreite und sagt etwas zu den Soldaten. Aber die anderen blicken ihn nicht an, sondern Bredow, der jetzt auf sie zukommt. Je mehr sich der Abstand zwischen Eisner und dem Oberst verringert, um so ruhiger werden die Soldaten. Nur wenige Schritte trennen die beiden noch, da wendet sich der Gefreite um, Bredow hat ihn erreicht, hebt beide Arme, ergreift die Schulterklappen des Gefreiten und reißt sie ab. Einer der kleinen mattgrauen Knöpfe springt nach oben weg und schlägt gegen Eisners Helm. Das ist der einzige Laut, der im Augenblick zu hören ist. Wenig später vernimmt Eisner ein leises Klatschen. Das müssen seine Schulterklappen gewesen sein. Der Oberst wird sie vor ihm auf die Erde geworfen haben, wie es bei Degradierungen üblich ist. Eisner hat das oft in Filmen gesehen. Er nimmt auch die Stille wahr, eine beinahe unheimliche Stille, als wäre er allein auf dieser Wiese und alles um ihn herum zur Leblosigkeit erstarrt, selbst die gelbgrauen und grünen Grashalme. Und vor Eisners geschlossenen Augen wogt Glut, wie er sie während der zahllosen Abstiche gesehen hat, gelbrot und weißblau und heiß. Mit weher Sehnsucht denkt er an die Ofenbühne. Die Geräusche, Gerüche und Bewegungen an den Siemens-Martin-Öfen werden für ihn auf einmal so deutlich, wie sie ihm nur während der ersten Wochen seiner Dienstzeit, unmittelbar nach der Trennung von ihnen, erschienen sind oder wenn er während des Urlaubs zum Stahlwerk gegangen ist oder hin und wieder von seiner Arbeit geträumt hat. Aber das hier ist kein Traum. Alles ist Wirklichkeit, die Schulterklappen, die irgendwo vor seinen Füßen liegen, Oberst Bredow, der immer noch in Reichweite vor ihm steht, und die Stille, die nicht mehr lange andauern kann. Eisner spürt, daß sie sich in den nächsten Augenblicken entladen wird, wenn nicht irgend etwas geschieht, wenn nicht irgend jemand etwas unternimmt, das die Aufmerksamkeit der schweigenden Menge von ihm und Bredow ablenkt. Der Gefreite bückt sich, geht in die Knie, dann öffnet er die Augen. Er sieht seine Schulterklappen im Gras liegen, flache mit grauem
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Stoff überzogene Pappen, unscheinbar mit den schon stumpf gewordenen Gefreitenlitzen. Äußere Zeichen, die Eisner nichts bedeuten, auf die er verzichten kann. Aber mit ihnen hat Bredow ihm viel mehr, viel Wichtigeres von der Uniform gerissen. Eisner greift nach den Schulterklappen, nimmt sie in die linke Hand, in der sie fast verschwinden, und blickt auf die Stiefel des Obersten. Bredow muß sie in der Mittagspause geputzt haben. Fleckenlos blank stehen sie vor Eisner, als wäre der Oberst nicht hierher gelaufen, sondern von einem der Hubschrauber abgesetzt worden. Stiefel-Heinrich, denkt Eisner, Stiefel-Heinrich, und er richtet sich auf, zieht sein Gurtkoppel zurecht, tut alles langsam und ruhig, denn er weiß, daß die anderen hinter ihm nichts unternehmen werden, solange er sich bewegt. Und er ahnt, daß möglicherweise etwas Schlimmes geschieht, wenn der Oberst jetzt irgendein Kommando gibt. Die Soldaten würden nicht gehorchen. Die meisten würden Bredow nicht mehr folgen, dessen Gesicht vor Erregung grau ist. Nur in den Augen steht noch Helligkeit. Eisner mustert empfindungslos das Gesicht vor sich, in dem es nichts gibt, das ihn berühren könnte. Nicht einmal, daß es trotz der Erregung schlaff wirkt und das linke Auge zu zucken beginnt. «Treten Sie weg!» befiehlt der Oberst. Aber Eisner rührt sich nicht. Was kann ihm jetzt noch geschehen? Er will alles auf sich nehmen, er möchte nicht, daß sich hier etwas ereignet, das später alle Beteiligten bis zur Scham bereuen würden und das Folgen haben muß. Befragungen, Versammlungen, Strafen, bittere Erinnerungen und das Gefühl, ungerecht behandelt worden zu sein. Um Bredow geht es Eisner dabei nicht, sondern um die, die hinter ihm stehen und schweigend abwarten. Sie würden am meisten verlieren, auch das, was ihnen während der Übung gelungen ist, wofür sie gelobt worden sind. Das alles und die Empfindungen und Gedanken der Soldaten würden verschwinden hinter zwei Wörtern: Besonderes Vorkommnis, wie es eine Befehlsverweigerung ist. Vor all dem möchte Eisner das Bataillon bewahren. Darum bleibt er stehen, starrt dem Oberst ins Gesicht und fragt ihn schließlich: «Warum machen Sie das?» Bredow antwortet nicht. Plötzlich wird hinter Eisner ein Komman-
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do gerufen. Es ist Ahnerts Stimme, die zu hören ist. «Bataillon stillgestanden!» Stiefelhacken schlagen zusammen, Helme berühren sich. «Rechts um!» Hinter Eisner führt das Bataillon den Befehl aus. Mehr als dreihundert Soldaten vollführen eine einzige Bewegung, kommen den Befehlen des Leutnants nach, so wie Bredow es vor Minuten erreichen wollte. «Im Gleichschritt - marsch!» Auf dem Wiesenboden klingt der Schritt des Bataillons gedämpft. Bredow und Eisner stehen einander noch immer gegenüber. Der Oberst unternimmt nichts. Er blickt dem Bataillon nach. Eisner hat den Eindruck, daß Bredow aufatmet. Dann sagt der Offizier leise zu ihm: «Gehen Sie!» Eisner macht kehrt, und der Oberst fügt hinzu: «Genosse Gefreiter!» Eisner rennt dem marschierenden Bataillon hinterher. Bredow bleibt noch eine Weile stehen. Er schwitzt. Er begreift jetzt erst, daß die Situation Sekundenbruchteile vor einem folgenschweren Zusammenprall durch einen Leutnant gerettet worden ist. Fürs Bataillon gerettet. Für Bredow nicht. Hätte der Leutnant nicht das Kommando übernommen, Bredow selbst wäre nicht mehr in der Lage gewesen, den Zusammenstoß zu verhindern. Er macht kehrt, geht ein paar Schritte und steht plötzlich vor Schanz, der inzwischen herangekommen ist. Bredow weiß nicht, wie lange Schanz schon hinter ihm gestanden und was er alles miterlebt hat. Doch das ist unwichtig. Bredow hat in den letzten Minuten etwas durchgemacht, was er in den quälendsten Träumen seiner Offizierslaufbahn nicht erlebt hat. Er geht an Schanz vorbei und in Richtung Konzentrierungsraum weiter. Schanz blickt ihm nach. Bredow geht mit kurzen, raschen Schritten davon, er hat es eilig, von der Wiese wegzukommen. Schanz hat, als er den Wald verließ, das Durcheinander beim Bataillon gesehen, Bredows Stimme gehört und alles, was dann folgte, miterlebt. Aber er war zu weit entfernt, um eingreifen zu können. Und er hat, als Ahnert das Kommando übernahm, ebenso aufgeatmet wie Bredow. Schanz stellt eine halbe Stunde später eine Verbindung zu Gene-
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ralmajor Werner her, unterrichtet ihn über das Vorgefallene und teilt ihm mit, daß Bredow bereits zu ihm unterwegs sei. Außerdem schlägt er vor, daß er selbst an Bredows Stelle beim Bataillon bleibt und die Aufgabe des Obersten übernimmt. Der Divisionskommandeur unterbricht ihn nicht, fragt nichts. Ereignisse dieser Tragweite erörtert man nicht am Funkgerät. Doch Schanz’ Vorschlag lehnt Werner ab. Er brauche als Divisionskommandeur keinen zusätzlichen Stellvertreter, Schanz habe andere Aufgaben zu erfüllen. Dann entschließt sich der Generalmajor, Oberst Seiffert, seinen Stellvertreter für Technik und Ausrüstung, zum Bataillon zu schicken. Er bittet Schanz, auf den Oberst zu warten und ihn über alle Einzelheiten, die in Verbindung mit dem Flug des Bataillons stehen, zu unterrichten. Schanz sitzt eine Weile stumm auf dem Hocker, während der Funker das Gespräch in die Kladde einträgt. Der Oberst empfindet keine Genugtuung. Er ist betroffen, beinahe traurig, weil Bredows stummes Weggehen eine Konsequenz offenbart, die Schanz dem Oberst nicht zugetraut hat. Erst vor ein paar Tagen hat Schanz zu Generalmajor Werner gesagt, Bredow dürfe nie Divisionskommandeur werden. Seine Meinung hat auf eine schlimme Weise Bestätigung gefunden. Es ist das Gefühl eines Verlustes, das Schanz empfindet, und er fühlt sich mitschuldig an dem Ereignis, obwohl Bredow für alles, was auf der Waldwiese geschehen ist, selbst die Verantwortung trägt. Schanz sieht Bredows Gesicht vor sich, ein farbloses, kraftloses Gesicht, den Mund ein wenig geöffnet, als wolle er etwas sagen. Doch dann ging Bredow wortlos von ihm weg, schien zu ahnen, daß er sich nicht nur von diesem Bataillon entfernt. Er verließ etwas, das fast dreißig Jahre sein Leben bestimmt hat. Eine Stunde später trifft Oberst Seiffert ein. Das Bataillon befindet sich auf dem Rückmarsch von den Hubschraubern zum Konzentrierungsraum. Dort findet noch vor dem Abendessen eine weitere Besprechung statt. Major Siegel, der Bataillonskommandeur, informiert alle Stabsoffiziere und die Kompaniechefs über die Aufgaben, die in der Nacht und am Morgen vom Bataillon zu lösen sind. Für den Nachtmarsch befiehlt er Puhlmeyers Kompanie an die Spitze des
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Bataillons, und er verlangt, daß der Major ihm einen Zugführer vorschlägt, der im Spitzen-SPW fahren und damit den Marsch anführen soll. Puhlmeyer sagt ohne zu zögern: «Leutnant Ahnert.» «Und wer begleitet ihn?» «Außer seinen Soldaten niemand.» Alle schweigen und blicken den Kompaniechef an. Major Siegel schüttelt den Kopf. «Mir scheint, Sie wissen nicht, was von diesem Marsch, von der Pünktlichkeit und Geschlossenheit unseres Bataillons für die gesamte Division abhängt.» «Doch, das weiß ich.» Siegel sieht Puhlmeyer wieder eine Weile schweigend an. Er ist überzeugt, daß der Major seinen Vorschlag gut überlegt hat. Trotzdem will er Puhlmeyers Gründe wissen. Ahnert sei, so meint er, weder vor noch während der Übung durch besondere Leistungen aufgefallen. «Ebendeshalb», sagt Puhlmeyer ruhig. «Wann hat er sonst die Gelegenheit zu zeigen, was er kann?» «Oder was er nicht kann», erwidert Siegel. «Wir sind keine Prüfungskommission, wir haben Gefechtsbefehle auszuführen.» «Jedes Gefecht ist eine Prüfung», entgegnet Puhlmeyer, «und ich will wissen, wes Geistes Kind die Offiziere meiner Einheit sind. Und von Ahnert weiß ich das noch nicht.» «Ebendeshalb», sagt jetzt auch Siegel und preßt die Lippen aufeinander. «Das ist mir ein zu großes Risiko.» «Dieser Marsch ist für uns alle ein Risiko», meint Puhlmeyer. «Weil der Weg nur teilweise aufgeklärt und uns allen kaum bekannt ist. Aber für Ahnert wäre es eine Bewährung, auf die er schon lange wartet.» «Nur ein einziger Fehler, Genosse Major», Siegel blickt auf die Karte, die vor ihm liegt, «und wir handeln dem Bataillon eine Fünf ein und der Division ein schlechtes Gesamtergebnis.» «Lieber heute bei einer Übung eine Fünf und Klarheit über die Fähigkeiten oder Mängel eines Offiziers als morgen in einem Gefecht ein vernichtetes Bataillon.» Siegel schweigt. Alle warten auf eine Entscheidung. Er muß sie allein treffen. Weder Schanz noch Seiffert werden sie ihm abnehmen.
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Das wäre zu einfach. Siegel blickt zu Schanz hinüber, der fast die Luft anhält, um nicht mit der kleinsten Andeutung einer Bewegung dem Major die Entscheidung zu erleichtern. Siegel wendet sich abermals der Karte zu. Er mustert sie lange, als könne er dort eine Lösung finden. Puhlmeyer räuspert sich. Der Bataillonskommandeur fährt bei diesem Laut zusammen und richtet sich auf. Aber er schweigt immer noch. Nur seine Lippen bewegen sich lebhaft, schieben sich übereinander, spitzen sich, verschwinden fast zwischen den Zähnen. Schanz ahnt, was jetzt in Siegel vorgeht, wahrscheinlich ärgert er sich, daß er einen Vorschlag verlangt hat, statt von sich aus zu befehlen, wer an der Spitze des Bataillons fahren soll. So wäre er jeder Diskussion aus dem Wege gegangen. «Gut», sagt er schließlich. «Ahnert. Ich werde dabeisein, wenn er eingewiesen wird.» Leutnant Ahnert hat die Karte über den Knien liegen. Mit den Augen ist er die mehr als hundert Kilometer lange Strecke viele Male abgefahren, hat sich die wichtigsten Orientierungspunkte eingeprägt und versucht sich vorzustellen, wie sie im Dunkeln aussehen und ob sie überhaupt zu erkennen sein würden. Brücken, Wegeinmündungen, einzelstehende Gehöfte, Hochspannungsleitungen, trigonometrische Punkte. Hin und wieder schaltet er die Taschenlampe ein, vor deren Birne er die blaue Scheibe geschoben hat. Im Augenblick ist es einfach, auf der Karte zu bestimmen, wo sie sich befinden. Das Bataillon rollt auf asphaltierter Landstraße und bei normaler Beleuchtung vorwärts. Zehn Kilometer weiter wird es schon schwieriger werden. Kurz vor dem Dorf Hageleben müssen sie nach links in einen Kiefernhochwald einbiegen und das Dorf in weitem Bogen umgehen, um dann auf dem ganzen Marsch keine Siedlung mehr zu berühren. Ahnert war zunächst erschrocken gewesen, als Puhlmeyer ihm den Auftrag gegeben hatte, im Spitzen-SPW zu fahren. Tagelang hatte er auf eine solche Aufgabe gewartet, und dann, als er schon gar nicht mehr damit rechnete, schickte ihn der Kompaniechef ganz nach vorn.
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Der Leutnant ist aufgeregt, aber nicht aus Unsicherheit, sondern vor Freude. Er ist froh, daß er allein mit seinen Soldaten ist. Jeder Vorgesetzte, der jetzt hinter ihm säße, würde ihn nur unsicher machen, ihn dazu zwingen, sich nach jeder Entscheidung umzuwenden und an den Reaktionen seines Begleiters ablesen zu wollen, ob er richtig oder falsch gehandelt hat. So ist es ihm bei mancher Prüfung an der Hochschule gegangen. Und Ahnert ist überzeugt, daß er ohne den Lehrer neben sich die Prüfung zur Fahrerlaubnis nicht hätte wiederholen müssen. Aber hier ist keine Schule, sondern die Truppe. Hier wird nicht geprüft, sondern gearbeitet. Und es gibt noch einen weiteren entscheidenden Unterschied: Hier geht es nicht mehr um Noten für Zeugnisse, sondern um militärische Leistungen großer Kollektive, hier geht es um viel mehr. Erst nach Beginn dieser Übung hat der Leutnant angefangen, sein Zensurendenken allmählich aufzugeben. Seit sie im Gelände sind, trifft er überall auf Menschen, die nicht an sich selbst denken, die keine persönlichen Ziele und schon gar nicht ihre eigenen Vorteile im Auge haben, wenn sie sich anstrengen bis zur Erschöpfung. Selbst von den Soldaten, die jetzt hinter ihm sitzen, kann er mehrere nennen, auf die das zutrifft. Litosch zum Beispiel oder Eisner, dem sie am Nachmittag, noch bevor die Ausbildung an den Hubschraubern weiterging, die Schulterklappen wieder festgeknüpft haben. Fichtner die rechte, Ahnert die linke. Dabei zitterten dem Leutnant noch immer die Hände. Denn in jenem Augenblick, als Oberst Bredow dem Gefreiten die Schulterklappen herunterriß, vergaß Ahnert plötzlich wieder den Rat von Schanz, er solle über sich selber hinausdenken. In jenen Minuten auf der Wiese stürzte der Leutnant wieder zurück in den zitternden Zustand der Furcht, er würde als Zugführer durch diese Degradierung für immer gezeichnet sein. Ein Zustand, der wie Taubheit und Lähmung zugleich ist, der zur Willenlosigkeit führt und zur Automation. Das alles hatte Ahnert schon überwunden geglaubt. Doch nun weiß er, wie zäh sich solche Fühlarten und Denkweisen erhalten. Er fand am Nachmittag erst zu sich zurück, als Eisner zu Bredow sagte: «Warum machen Sie das?» Ahnert handelte spontan. Er spürte, daß das Bataillon wegmußte,
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und er mußte es in Bewegung setzen, bevor sich die Situation weiter zuspitzte. Da gab er seinen ersten Befehl, auf den alle geschlossen reagierten. Erst bei den Hubschraubern begriff Ahnert, daß er richtig gehandelt hatte. Die anderen Offiziere, einige Unteroffiziere und sogar eine ganze Reihe von Soldaten dankten ihm stumm, indem sie ihm zunickten oder ihm hier und da im Vorübergehen die Hand auf den Arm oder auf die Schulter legten. Doch bei keinem hatte der Leutnant Genugtuung bemerkt. Auch Ahnert denkt mit einem gewissen Schuldgefühl an Bredow. Er hatte sich zwar genau wie die anderen Zugführer um Ordnung in der Kompanie bemüht, aber sie nicht erreicht, weil er von der allgemeinen Heiterkeit angesteckt war und für Minuten die Kontrolle über sich verlor. Ahnert ist überzeugt, daß alles nicht geschehen wäre, wenn die Zugführer und Unteroffiziere ein paar Minuten früher die Gruppen und Züge in die Hand gekriegt hätten. Der SPW nähert sich einer Kurve, hinter der die Kolonne abbiegen wird. Litosch verringert die Geschwindigkeit und schaltet zurück, als Ahnert mit der Hand nach links weist. Nach Hageleben zu sperrt ein Kradfahrer die Straße. Es ist der letzte Soldat einer anderen Einheit, den Ahnert für die nächsten Stunden zu sehen bekommt. Rechts und links des Weges stehen hohe Kiefern. Nur hin und wieder erkennt der Leutnant Einzelheiten, den Stamm eines Baumes, der sehr nahe am Weg steht, Kienäpfel in den Wegspuren oder einen heruntergebrochenen Ast. Ahnert öffnet die Luke. Über sich sieht er einen Streifen hellen Himmel, der etwas breiter als die Schneise ist. Von hier aus ist es leichter, sich zu orientieren. Der Leutnant blickt zurück. Weit hinter sich, der Abstand beträgt etwa achthundert bis tausend Meter, erkennt er ein paar winzige Lichtpunkte. Dort befindet sich Puhlmeyer, der ihm vor der Abfahrt eingeschärft hat, ununterbrochen Verbindung zu ihm zu halten und ihn bei der geringsten Unregelmäßigkeit um Rat zu fragen. Ahnert hatte innerlich über «Tschapajews» Unruhe gelächelt. Trotzdem hatte er zu allen Forderungen genickt, obwohl er schon in diesem Augenblick wußte, daß er sie nicht erfüllen würde. Denn wenn er dauernd um Hilfe rief und sich jede Entscheidung von Puhlmeyer bestätigen ließ, konnte er
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auch am Ende der Kolonne fahren. Während das Bataillon seinem Bestimmungsort zurollt und die Hubschrauber mit dem gleichen Ziel starten, verläßt Schanz den Führungspunkt des Divisionskommandeurs. Der Oberst war nach dem Abendessen vom Bataillon weggefahren und direkt zu Werner gegangen, aber er mußte fast zwei Stunden warten, weil der Divisionskommandeur Gäste hatte. Die Vertreter des Hauptstabes und des Vereinten Oberkommandos waren bei ihm. Schanz treibt den Fahrer an. Irgendeine Unruhe bewegt ihn, über die er nicht hinwegkommt. Seit er abgefahren ist, fragt er sich immer wieder, ob diese Unruhe mit einer ganz persönlichen Überlegung zu tun hat, die ihn seit dem nächtlichen Gespräch mit Wittenbeck beschäftigt. Sie betrifft seine Familie, betrifft Friederike und hängt mit der Frage zusammen, ob er bleiben soll, wenn er fünfundzwanzig Dienstjahre hinter sich hat, oder ob er’s wie Keuner macht. Schanz überlegt. Vielleicht hat seine Unruhe auch mit der bevorstehenden Aktion des Bataillons zu tun, zu dem er wieder unterwegs ist, oder sie rührt von dem Gespräch her, das er vor der Abfahrt mit Generalmajor Werner geführt hat. Werner ließ sich den Vorfall auf der Wiese ausführlich schildern. Weder er noch Oberst Hempel, der dabei war, unterbrachen Schanz. Nachdem er zu Ende gesprochen hatte, schwiegen sie lange. Werner stand schließlich auf, ging ein paar Schritte und fragte dann: «Und der Zusammenstoß war nicht zu verhindern?» «Nein.» «Wie weit warst du von Bredow entfernt?» «So weit, daß ich nicht mal verstehen konnte, was er kommandierte. Und als er den Gefreiten degradierte, war es für mich zu spät, überhaupt noch…» Werner winkte ab. Er setzte sich wieder und rieb sich mit den Händen lange das Gesicht. Alle drei wußten, daß dieses Ereignis bei der Entscheidung über Bredows weiteren Einsatz eine wichtige Rolle spielen würde. Sie empfanden das Ereignis wie einen Verlust. Bredow, so entschied Werner, würde nun im Divisionsstab weiterarbeiten. Alles Folgende mußte nach der Übung beraten werden. Dieser Entscheidung hatten auch die Vorgesetzten des Divisionskommandeurs zugestimmt.
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Oder hängt Schanz’ Unruhe mit Ahnert zusammen, mit der Möglichkeit, daß der Leutnant auf dem Marsch einen folgenschweren Fehler begeht? Aber was hätte das schon für Folgen? Es würde keine Verluste geben auf einer Übung. Eine schlechte Bewertung gäbe es vielleicht, neben vielen guten und ausgezeichneten Noten auch eine schlechte. Nein, Ahnert beunruhigt den Oberst nicht. Also doch die Familie? Was Rike ihm vor Tagen über Stefan erzählt hat, hat er nicht vergessen. Und alles, was nach der Sache mit dem Parka noch geschehen sein kann, weiß Schanz nicht. Denn Briefe kommen hier nicht an, und telefonieren kann er mit seiner Frau auch nicht. Kinzel bremst und fragt: «Wohin, Genosse Oberst?» Schanz blickt auf die Karte und befiehlt, nach links abzubiegen. Sie fahren auf einem leicht gewölbten, gepflasterten Weg weiter, der höchstens drei Meter breit ist. Zwischen den Steinen wächst Moos und Gras. Diese Straße stößt mitten in einem ausgedehnten Waldgebiet auf den Marschweg des Bataillons. Der Zeit nach müßte die Kolonne diesen Punkt schon passiert haben, wenn Schanz ihn erreicht. Er hat richtig gerechnet. Die Spuren der vierachsigen SPWs sind auf dem weichen Waldweg nicht zu übersehen. Der P 3 folgt ihnen. Schanz lehnt sich zurück, schiebt die Hände in die Manteltaschen und entspannt sich. Er hat Appetit auf eine Zigarre, aber er ist im Augenblick zu faul, sich zu bewegen. Die unbestimmbare Unruhe beschäftigt ihn immer noch. Dem Zeitüberschlag nach hat das Bataillon bis hier keine Minute verloren, aber noch nicht einmal die Hälfte des Weges zurückgelegt. Schanz hat das Gefühl, daß irgend etwas mit der Kolonne geschehen ist oder ihr noch bevorsteht. Kiefernwälder und Mischgehölze lösen einander ab. Kahlschläge sind zu erkennen, vor denen am Wegrand Meterholz gestapelt ist, das nach Kien riecht. Schonungen folgen, die von hohen Drahtzäunen gegen Wild geschützt sind. «Hier war ich schon mal», sagt Kinzel plötzlich. «Ein paar Kilometer weiter ist die Bezirksgrenze. Dort liegt ein Moorgebiet. Wir haben vor zwei Jahren den Boden untersucht und einen Plan entwickelt, der…»
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«Moor?» fragt Schanz und wendet sich dem Fahrer zu. «In dem Schützenpanzer absaufen können?» «Absaufen nicht», erwidert Kinzel. «Ist nur achtzig bis neunzig Zentimeter tief. Höchstens steckenbleiben.» «Das reicht», meint Schanz. «Los!» Kinzel gibt Gas, der Motor heult auf, und der Wagen beschleunigt allmählich die Fahrt. Schanz beugt sich vor und versucht weiterzublicken, als das Licht der Scheinwerfer reicht. Die Augen beginnen ihm zu tränen. Seine Phantasie zeigt ihm eine dicht aufgefahrene Kolonne von SPWs, eingezwängt vom Wald, der nicht zu durchbrechen ist, und die Schneise ist zum Wenden viel zu schmal. Der Oberst vernimmt den gequälten Motorenlärm jener hilflosen Fahrzeuge, die festsitzen, deren Räder durchdrehen, tiefer sinken und stinkenden, breiigen Morast hochschleudern. Das Durcheinander von Kommandos ist zu hören, hastig und aufgeregt geschrieene Befehle, Flüche, Vorwürfe. Doch das ändert die Situation nicht, bis sich jemand durchsetzt, die durch Lärm und Hektik zersplitterten Kräfte konzentriert, durchdachte Befehle gibt und die Lage wiederherstellt. Aber dabei wird Zeit vergehen, viel Zeit, so viel, daß Siegels Bataillon um Stunden zu spät kommt. Und wenn es erst hell ist, ist es für alles andere auch zu spät. Die Landung auf der gegenüberliegenden Seite des Flusses fällt aus und wahrscheinlich auch die anderen Aktionen, die der Landung folgen sollten. Sie fallen aus, oder alles verschiebt sich. So geht eine Schlacht verloren. Werner muß seine Kräfte umgruppieren, neue Entscheidungen treffen und Befehle ausarbeiten. Der Fluß muß aus der Bewegung heraus überwunden werden. Und alles hat in kürzester Zeit zu geschehen. Aber das kann Werner doch! Dazu ist der Generalmajor mit seinem Stab ohne weiteres in der Lage. Sie müssen ja auf solche Veränderungen jederzeit vorbereitet sein. Als wäre Krieg! Im Kriege treten dauernd Veränderungen ein, es gibt Verluste, die weit über die Stärke eines Bataillons hinausgehen, und der Gegner richtet sich nicht nach ausgedachten und vorbereiteten Lagen, sondern zwingt sie einem auf. Nichts läuft glatt und reibungslos. Und die Kunst der Truppenführung besteht gerade darin, auf diese ständigen Veränderungen
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und Bewegungen so rasch und wirkungsvoll zu reagieren, daß der Gegner die Initiative verliert und die eigenen Truppen siegreich sind. Schanz jedoch ist beunruhigt über ein steckengebliebenes Bataillon, anstatt solche Zwischenfälle ruhig hinzunehmen, sie sogar herbeizuwünschen oder zu organisieren, damit sich die Kommandeure, die Stäbe und Truppenteile an alle nur denkbaren Ereignisse gewöhnen, solange sie sie noch üben können. Der Oberst lehnt sich zurück. Er fühlt sich ertappt, von sich selbst beim Zensurendenken erwischt. Wie rasch man mitunter solchem Schema verfällt, ohne es zu bemerken. Daran mag die Müdigkeit schuld sein, die einem manchmal die Selbstkontrolle nimmt. Schanz ist plötzlich wieder hellwach und erwartet das Moorgebiet. Endlich tritt der Wald zurück. Kinzel bringt den Wagen zum Stehen. Vor ihnen liegt eine offene Fläche, auf der Dunkelheit und völlige Stille herrschen. In diese Weite hinein führen SPW-Spuren. «Scheinwerfer!» befiehlt Schanz. Das Licht schlägt in die Dunkelheit, flimmert dunstig auf. Für Augenblicke hat Schanz das Gefühl, die Scheinwerferkegel prallten zurück, dann haben sich die Augen an die plötzliche Helligkeit gewöhnt. Vor ihnen liegt kein Moor, sondern ein Feld mit dichtstehenden handhohen Halmen, jedenfalls dort, wo keine Radspuren sind. Kinzel steigt aus, rennt zum Feld, kniet nieder und greift mit beiden Händen in die Halme. Es sieht aus, als streichele er sie. Plötzlich winkt er dem Oberst und ruft ihm zu: «Sie haben es gemacht, haben es tatsächlich geschafft!» «Was?» Schanz geht zu ihm und hockt sich ebenfalls hin. Er reißt einen Halm aus der Erde. «Das Moor kultiviert», ruft Kinzel aufgeregt. «Sie haben es kultiviert.» «Sind Sie sicher?» «So sicher, wie ich Kinzel heiße. Moor war hier mal.» «Irren Sie sich wirklich nicht?» Kinzel schüttelt den Kopf. Die Hände hat er immer noch an den steifen Halmen. «Sie haben es geschafft», wiederholt er und fügt hinzu: «Während ich bei der Truppe bin. Verdammt!» Er schlägt die
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Hände flach auf die Erde, und dann erklärt er Schanz, was hier vorgegangen ist. Vor zwei Jahren untersuchten sie den Boden und hoben an vielen Stellen Gräben aus. Überall stießen sie unter dem Moor nach etwa achtzig bis neunzig Zentimetern auf Sand, der ungefähr zwanzig Zentimeter dick war. Unter dem Sand entdeckten sie eine Schicht feinen, fruchtbaren Muschelkalk, Ablagerungen früherer Erdzeitalter. Darunter war Lehm, der das Absickern des Wassers verhinderte. «Von dieser Art Moor», berichtet Kinzel, «gibt’s in der Republik hundertfünfzigtausend Hektar. Davon in unserem Bezirk allein fünfzigtausend. Viel Land ist das für gutes Getreide. Hier!» Er deutet wie zum Beweis auf die Halme. Dann erzählt er, daß sie damals einen besonderen Pflug entwickelt haben, der hundertsechzig Zentimeter Tiefgang hatte. Im Frühjahr des vergangenen Jahres waren sie damit fertig und hatten beschlossen, im Sommer, bei trockenem Wetter, die Moorfläche umzubrechen, das Unterste nach oben zu kehren und vor allem den Boden durchlässig zu machen und sich dadurch die aufwendige Melioration zu ersparen. Aber als das geschah, war Kinzel schon Soldat. Jetzt sieht er das Ergebnis jener Überlegungen, Untersuchungen und Proben vor sich, an denen er beteiligt gewesen ist, «Weizen», sagt er, «kräftiger Weizen ist das.» «War es», meint Schanz und deutet auf eine der tiefen Spuren, in die sich ein Reifenprofil eingedrückt hat. «War es.» Er spürt zwischen den Fingern feuchtkalte, lockere Erde und hält die Hand ins Licht. Hellbraun sind die Krumen, und zwischen den Fingern kleben zerwalzte Halmreste. Kinzel läuft zum Wagen, schwenkt den Außenscheinwerfer, und beide sehen eine zerrissene, von breiten Narben zerfurchte Fläche vor sich. Feld kann man sie nur noch rechts und links der vielen SPW-Spuren nennen, die sich über eine Breite von vierzig bis fünfzig Metern ausdehnen. Kinzel schwenkt den Scheinwerfer nach links zum Waldrand, der das ehemalige Moor begrenzt und angehäuft ist mit herausgezogenen Stubben, an denen Sand und Lehm hängen. Erlen und Birken stehen dazwischen, Steine, Stämme und Asthaufen liegen herum. Auch die Strecke rechts am Waldrand ist unpassierbar. Höchstens Panzer
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könnten sie vielleicht überwinden. Kinzel kehrt zu Schanz zurück und sagt: «Viel ist nicht übriggeblieben. Das Moor war viel länger als breit, so wie ein Fluß. Und die Kolonne ist in der ganzen Länge quer durchgefahren.» Wenig später läßt Schanz den Wagen wenden. Auf Umwegen und mit höchstmöglicher Geschwindigkeit fahrend, erreichen sie das Ziel des Bataillons kurz vor dem Start der Hubschrauber. Die Tragschrauben drehen sich bereits. Schanz fährt an den SPWs entlang, die am Waldrand stehen. Zu erkennen ist im Morgengrauen nicht viel. Er kommt zu spät. Die ersten Maschinen heben schon vom Boden ab. Für Augenblicke sieht es aus, als würden sie auf die Erde zurückfallen, doch dann schwingen sie sich mit plötzlicher Leichtigkeit auf und fliegen dem Hochwald entgegen, der sich als dunkle Wand im dunstigen Morgenlicht abzeichnet. Das Bataillon fliegt ohne Schanz. Die Hubschrauber sind nur noch schwach zu hören, da vernimmt der Oberst einen heftigen Schlag, der den Boden unter seinen Füßen erzittern läßt. Es ist die erste Salve, die Wittenbecks Abteilung schießt. Der Artilleriebeschuß des Raumes beginnt, in dem das Bataillon abgesetzt werden soll. Das alles wird Schanz nicht miterleben, denn bis zu jenem Hügel, von dem aus Werner und seine Gäste die letzten Übungshandlungen verfolgen, braucht Schanz wenigstens zwei Stunden. Dann ist das Bataillon längst aus den Hubschraubern gesprungen, hat sich eingegraben und hält den Raum, in den hinein die Panzer stoßen werden, um von dort aus in zwei Angriffskeilen weiter vorzudringen. Es wird alles gelingen. Nichts kann mehr schiefgehen, denkt Schanz. Dieser letzte Übungstag wird den Erfolg der Division vollständig machen. Der Oberst steigt aus, geht ein paar Schritte und reckt sich. Es ist geschafft, und ihn überkommt eine heitere Leichtigkeit, in der ihm alles lösbar erscheint, das Persönliche ebenso wie das Dienstliche. Sogar das verwüstete Feld, das für die Division noch Folgen haben wird, vergißt er in diesen Minuten. Schanz’ Stimmung ist der Vorbote einer unaufhaltbaren Müdigkeit. Schwer und langsam geht der Oberst zum Wagen zurück und läßt sich von Kinzel ein paar Decken geben. Auf der hinteren Bank setzt
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er sich zurecht, wird für Sekunden von irgendeinem Geräusch noch einmal hellwach, dann trägt ihn lautlose Schwerelosigkeit über ein weizengelbes Feld, das von einer breiten steingrauen Kolonne durchquert wird, hinter der sich alle Halme wieder aufrichten. Die Soldaten blicken zu Schanz und winken und lachen ihm zu, und der Oberst erkennt Gesichter, die ihm während der Übung begegnet sind. Wieder sucht er nach seinem Sohn, und wieder entdeckt er ihn nicht.
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10.Kapitel Schanz schläft fast acht Stunden tief und ohne Unterbrechung. Und er wacht auf, wie er eingeschlafen ist, übergangslos. Er ist allein im Wagen. Draußen ist es still und sehr hell. Die Sonne scheint. Irgendwo plätschert Wasser, und dann prustet jemand los. Es ist Kinzel, der halbnackt am Ufer des langgestreckten, nierenförmigen Sees steht, der in der Mitte etwa einen Kilometer breit ist. Die Bewohner der drei Dörfer, deren Flurgemarkung er berührt, haben ihn zu einem Naherholungszentrum ausgebaut und die langen Uferseiten mit Sand aufgefüllt. Schwäne und Bleßhühner schwimmen auf dem Wasser. Vom Fluß her, der zwei Kilometer entfernt ist, tauchen hin und wieder ein paar Möwen auf. Das Besondere dieses Sees besteht darin, daß die Ufer frei geblieben sind von Bungalows und Wochenendhäusern. Die Räte der drei Gemeinden verpachten an niemanden auch nur einen Quadratmeter Boden. Ruth Drewen, der Barsekower Bürgermeisterin, war es gelungen, ihre Entschiedenheit auf die zwei Amtskollegen zu übertragen. Schanz zieht sich bis auf die Unterhosen aus, schiebt die Hosenbeine hoch und geht ein paar Schritte ins Wasser. Nach dem Waschen läßt er sich von Kinzel den Rücken frottieren. Dabei erklärt ihm der Fahrer, daß er sich am Morgen der SPW-Kolonne angeschlossen habe, die jetzt ein paar hundert Meter von hier entfernt im Wald liege und auf die Rückkehr des Bataillons warte. «Ist da ’ne Feldküche?» fragt Schanz. «Mehrere, und alle stehen unter Dampf.» «Nichts wie hin!» Schanz nimmt sich Zeit. Die ersten Auswertungen finden frühestens am Abend statt, denn die Stäbe und Truppenteile sind zum Ende einer solchen Übung mit der Arbeit noch nicht fertig. Sie beziehen Sammelräume, reinigen die Waffen und die Technik, Reparaturen und Kontrollen werden gemacht. Im Duschzelt, an Bächen und Wasserstellen herrscht Hochbetrieb. Die Hauptfeldwebel öffnen ihre Ver289
sorgungskisten und setzen die letzten noch zurückgehaltenen Schätze um: Schokolade, Bonbons, Kekse… Appelle finden statt, die ersten Belobigungen und Auszeichnungen werden vorgenommen. Die Fotografen haben eine Menge zu tun. Im Gegensatz zum letzten Jahr. Damals stand im Konzentrierungsraum vor einem Zelt ein Fahnenkommando mit einer Truppenfahne. Der Stabsfeldwebel und die beiden Offiziere warteten auf jene Soldaten, die vor der Fahne fotografiert werden sollten und deren Aufnahmen man mit einem Lob- und Dankesbrief an den jeweiligen Betrieb und an die Eltern schicken wollte. Aber nur wenige kamen, und von ihnen zeigten sich die meisten noch lustlos und von dieser Art Auszeichnung kaum beeindruckt. Die Aktion wurde abgebrochen. Innerhalb der Politabteilung kam es zu einer Auseinandersetzung. Die einen fühlten sich vom Verhalten der Soldaten betroffen, als wären sie persönlich beleidigt worden. Andere meinten, moralisches Lob sei nicht mehr gefragt, wie im ganzen Lande eben. Gäbe es aber Geldprämien oder Sonderurlaub, würden die Soldaten noch ein paar Kilometer weitermarschieren. Oberst Hempel, der sich mit Vermutungen und Behauptungen nicht begnügen wollte, brach die Diskussion ab. Er schickte einige Offiziere der Abteilung in die Regimenter, um dort die Gründe für die Ablehnung der Soldaten zu erfahren. Und es stellte sich heraus, daß die Soldaten gegen das Fotografieren gar nichts hatten. Aber sie wollten an ihrem Geschütz, vor dem SPW oder der Rakete, auf dem Panzer oder auf einem Ponton zu sehen sein, allein oder gemeinsam mit ihrer Gruppe, ihrem Kollektiv. Sie wollten zu Hause das vorweisen, womit sie während des Dienstes am meisten zu tun hatten und was sie beherrschten. Die Truppenfahne kriegen die Soldaten bloß zweioder dreimal im Jahr zu sehen, zur Vereidigung und bei großen Appellen. Wie ein Heiligtum wird sie verschlossen und nur zu symbolischen Zeremonien aus dem versiegelten Schrank geholt. Die Truppenfahnen der NVA sind nicht von Schlachten gezeichnet, von Kugeln zerfetzt und vom Blut derer bespritzt, die sie getragen haben. Keine von ihnen brauchte bisher, um den Leib eines Soldaten gewickelt, durch die gegnerischen Linien gebracht zu werden. Nicht eine wehte auf einem eroberten Hügel oder über den Dächern einer ein-
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genommenen Ortschaft. Sie sind um so wertvoller, je weniger sie gebraucht werden, je unberührter vom Krieg sie bleiben. Die meisten Soldaten sind mit ihrer Truppenfahne noch nicht umgegangen, haben zu ihr keine innere Beziehung. Mit Symbolen und Heiligtümern wissen sie nichts anzufangen. Und wenn heute in der Division ausgezeichnete Soldaten fotografiert werden, ist außer der Truppenfahne auch immer die Kampftechnik dabei. Wie nach jeder Divisionsübung sollen heute auch jene Soldaten, Unteroffiziere und Offiziere ausgewählt werden, die als Auszeichnung eine Einladung zum morgigen Manöverball in Barsekow erhalten. Die Kommandeure und Politoffiziere sind über diese Pflicht nicht gerade erfreut. Aus Erfahrung wissen sie, daß ihre Entscheidungen nicht nur Begeisterung, sondern immer auch Enttäuschung hervorrufen, vor allem deshalb, weil sich längst herumgesprochen hat, daß Barsekow mehr Mädchen auf einmal bieten kann, als während eines Monats im Restaurant ihres Dienstortes gezählt werden. Das Barsekower Lehrlingswohnheim beherbergt zweihundert zukünftige Zootechnikerinnen, und im ehemaligen Gutsschloß arbeitet schon über zwanzig Jahre ein pädagogisches Institut. Der Manöverball müßte fünfmal wiederholt werden, um alle daran teilnehmen zu lassen, die es nach dieser Übung verdient hätten. Schanz befindet sich bei Stabsfeldwebel Kilian an der Feldküche, als das Bataillon zurückkehrt. Die Kompanien und Züge marschieren ruhig heran. Alle Bewegungen sind gleichmäßig und von einer Ordnung, die nichts Steifes hat, von der ein Zusammengehörigkeitsgefühl ausgeht und die nur durch große Belastungen und Leistungen zustande kommt. Erfolge verändern das Gesicht ganzer Einheiten. Die meisten aus Siegels Bataillon sind heute zum erstenmal in ihrem Leben geflogen. Wieder bedauert Schanz, daß er am Morgen zu spät gekommen ist. Die Kompanien treten weg. Langsam gehen die Soldaten zu ihren Fahrzeugen, wo sie von den wenigen Zurückgebliebenen ausgefragt werden. «Na, Schäfer», ruft Litosch, «sind deine Hosen trocken geblieben?» Fichtner winkt dem Fahrer lachend zu. Wenig später haben sich kleine Gruppen gebildet, die an den SPWs stehen oder um Raucher-
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inseln sitzen. Die Soldaten erinnern sich gegenseitig an den Flug und die Landung, sie schildern ihre Gefühle und Gedanken, antworten geduldig auf Fragen und verschweigen nicht, daß sie eine ganze Weile steif und blaß vor Unsicherheit gewesen sind. Ahnert sitzt zwischen Litosch und Eisner und bietet ihnen Zigaretten an, und Puhlmeyer, der Schanz entdeckt hat, kommt mit langen Schritten heran. Der Kompaniechef reibt sich mit den Handballen die Augen, die davon aber nicht munterer werden. Pausenlos senken und heben sich die Lider, bleiben mitunter ein paar Sekunden unten, und Schanz befürchtet jedesmal, Puhlmeyer könne im Stehen einschlafen und vor ihm umkippen. «Mann», sagt der Major leise, «hast du nicht ’n paar frische Augen für mich?» Schanz fragt: «Darf ich gratulieren?» Puhlmeyer nickt und antwortet: «Der Divisioner hat uns gleich an Ort und Stelle, das gesamte Bataillon…» Schanz entschließt sich, nichts vom Feld zu erzählen, obwohl er eigentlich hiergeblieben ist, um Puhlmeyer zu warnen. Aber er möchte die Freude des Kompaniechefs und aller anderen so rasch nicht mit Hiobsbotschaften zerfurchen. Sollen sie sich erst mal freuen! Sie haben es verdient, und sie haben das Recht dazu. Alles andere erfahren sie noch früh genug. Wie es aufgenommen, behandelt und bewertet wird, ist ungewiß. Eine halbe Stunde später bricht Schanz auf. Bei Kinzel steht Fichtner, der zum Fahrer sagt. «Ich hoffe, daß ich dabei bin. Ich wünsch’ mir’s. Dann sehen wir uns in Barsekow, morgen. Ahoi!» Lore Werner steht am Zaun des Kindergartens. Das Holz ist trocken und harzt noch. Ein sommerlicher Geruch nach warmem Kien geht von den Latten aus. Seit jenem Abend, an dem Lore Werner die Lehrerin heimbegleitet hat, geht sie wenigstens einmal am Tage hierher und beobachtet stumm die Kinder. Ihr ausgelassener Lärm, die Hingabe, mit der sie spielen und lachen, singen oder weinen, schmerzen Frau Werner nicht mehr. Aber sie beneidet jede Mutter, die das Recht hat, durch
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das Tor zu gehen, und drinnen mit lauter Freude oder stummer Innigkeit von ihrem Kind begrüßt wird. Und erst hier an diesem Zaun hat das Wort «Adoptieren» die Kälte und Fremdheit für Lore Werner verloren, hat es Gesicht und Stimme bekommen. Sie steht da, die Hände auf die scharfen, splittrigen Holzkanten gelegt und stellt sich vor, wie sie hineingeht, auf irgendeines der Kinder zu, das auf sie wartet, die Arme um ihren Hals schließt, sich hochheben läßt und zu ihr «Mutti» sagt. Doch in diesem Augenblick hat das Kind Katrins Gesicht und Stimme. Das nimmt Lore Werner wie einen Vorwurf auf, und sie spürt, daß im Moment die Erinnerung an Katrin noch stärker ist als die Gegenwart anderer Kinder. Und sie ahnt, daß es so bleiben wird, solange jedenfalls, wie sie nur ganz allgemein an die Möglichkeit denkt, ein fremdes Kind als eigenes anzunehmen, solange sie nicht weiß, ob sie dazu überhaupt fähig ist. Das alles sind Gedanken und Empfindungen, an die man sich gewöhnen, die man gründlich prüfen muß. Doch damit hat Frau Werner erst vor kurzem begonnen. In der Nähe des Sandkastens steht Friederike Schanz, geht in die Hocke und breitet gleichzeitig die Arme aus. Und im nächsten Augenblick wird sie von den Zwillingen umgerissen. Lachend balgen sich die drei eine Weile herum, dann klopfen sie einander die Mäntel ab und brechen auf. Friederikes Gesicht hat sich gerötet. Auf ihrem Nasenrücken zeigen sich ein paar Sommersprossen. Einander ins Wort fallend und sich gegenseitig überschreiend, erzählen die Zwillinge ihre neuesten Erlebnisse. Geduldig bringt Friederike sie zur Ruhe, und dann erteilt sie bald ihrem Bruder, bald ihrer Schwester das Wort. Nahe an Lore Werner gehen sie vorüber. Friederike bleibt plötzlich stehen, grüßt, will etwas sagen, doch dann zögert sie. Frau Werner nickt ihr zu, wartet ab und wünscht sich, daß Friederike nicht einfach davongehe. «Nun?» fragt Lore Werner auffordernd, und Friederike lächelt. Sie hebt die Schultern und sagt: «Wissen Sie… Ich fahre morgen… Ich nehme Sie mit. Wenn Sie wollen. Ich nehme sie im Wagen mit nach
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Barsekow.» «Wann fahren Sie los?» «Nach der Schicht», antwortet Friederike, «um halb drei etwa.» «Ich komme, natürlich fahre ich mit.» «Ich hole Sie ab. Und zu keinem ein Wort. Es soll eine Überraschung werden.» Lore Werner nickt heftig. Warum das Mädchen nach Barsekow fährt, weiß sie nicht. Und es interessiert sie auch nicht, wen Friederike überraschen will. Frau Werner ist froh, daß sie nicht zu warten braucht, bis ihr Mann zurückkehrt. Sie wird ihn wenigstens vierundzwanzig Stunden früher sehen, als sie gedacht hat. «Danke», sagt sie, «ich freue mich.» «Ich auch.» Friederike geht weiter, und ihre Geschwister reden im selben Augenblick wieder auf sie ein. Friederikes Vertrautheit rührt Lore Werner. Oft ist sie diesem Gefühl während ihres jetzigen Aufenthaltes in der Siedlung nicht begegnet. Die meisten der hier wohnenden Frauen kennt sie nicht. Und bei einigen Älteren ist sie auf Zurückhaltung gestoßen, sogar auf Scheu. Das hängt sicherlich mit Katrins Tod zusammen und auch ein wenig mit der Dienststellung ihres Mannes. Und jener Kreis von Frauen, der regelmäßig bei ihrer Schwester zusammenkommt, ist ihr fremd geworden. Die Empfindungen, Gedanken und Sorgen, die dort geäußert werden, kann sie nicht mehr teilen. Hinter ihr bremst ein Fahrrad, dann schrillt eine Klingel. Lore Werner schrickt zusammen. Es ist Marlies. Ihre Schwester kommt von der Kaufhalle und steigt vom Rad. «Da geht sie», sagt Marlies Leichsenring, blickt Friederike nach und fügt hinzu: «Stell dir vor, Lore, sie hat heute einen Brief von Wittenbeck gekriegt.» «Ja, und?» «Sagt dir der Name nichts, Wittenbeck?» Lore Werner zuckt mit den Schultern, und Marlies erklärt eifrig: «Wittenbeck ist doch der Major, der am achtundzwanzigsten Februar als erster mit ihr getanzt hat, verstehst du? Kurz vor der Übung hat er seine Wohnungszuweisung zurückgegeben, und heute kommt ein Brief von ihm hier an.» Lore Werner mustert das Gesicht ihrer Schwester, das vom Fahrt-
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wind gerötet ist. Die schwarzen, ungezupften Brauen geben ihm etwas Mädchenhaftes, das durch die hohe, gewölbte Stirn noch verstärkt wird. Marlies blickt immer noch den drei Schanz-Kindern nach. Was in der Schwester vorgeht, weiß Lore nicht. Marlies’ Gesicht verrät nichts, hat noch nie etwas verraten, auch früher nicht, und Lore muß immer auf eine Überraschung gefaßt sein. «Nach diesem Brief», sagt Marlies jetzt, «sieht doch ein Blinder mit ’nem Krückstock, was läuft bei den beiden.» «Du meinst…?» fragt Frau Werner und schaut nun ebenfalls Friederike nach, die mit ihren Geschwistern eben von der Straße abbiegt. «Genau das mein’ ich», antwortet Marlies. Sie schiebt mit einem Ruck ihr Rad an und erklärt im Gehen: «Bis jetzt hat sie nur Ledige gehabt. Nun macht sie sich an verheiratete Offiziere heran. Aber da hat sie nicht mit uns gerechnet.» «Uns? Wer ist das?» «Frau Christian zum Beispiel, ich, Frau Kunze.» Marlies hat es eilig und auf einmal zwei Schritte Vorsprung. «Und ihr seid euch ganz sicher?» «Da geh’ ich jede Wette ein.» Marlies sagt das so überzeugt, daß Lore schweigt und noch weiter hinter ihrer Schwester zurückbleibt. Sie ist zu lange von der Siedlung weg, und kennt Friederike viel zuwenig, um für das Mädchen Partei ergreifen oder es gar verteidigen zu können. Sich hier einzumischen, führt zu nichts. Lore hat sich auch an jenem Abend, als es um den Entwurf des Wandteppichs ging, aus allem herausgehalten und wird es weiterhin tun. Um Menschen wie Friederike Schanz, um Vorfälle und Ereignisse, die mit ihnen zusammenhängen, wuchert in der Regel ein Gestrüpp aus Klatsch und Dummheit, von dem alle möglichen Leute für eine Weile gefangen werden wie die drei habgierigen Schwestern etwa, die an der goldenen Gans klebenblieben. Lore Werner wird nicht daran rühren. Sie erreichen den Weg, in den Friederike mit ihren Geschwistern eingebogen ist. Marlies bleibt stehen, und Lore Werner schließt wieder zu ihr auf. Friederike ist noch zu sehen. Sie hat sich hinter einem Trafohäuschen versteckt und die Zwillinge suchen sie. Als sie sie schließlich gefunden haben, fallen sie über sie her. Das Lachen ist zu hören und manches laute Wort zu verstehen. Lore Werner wünscht
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sich an Friederikes Platz, die jetzt rückwärts vor den Zwillingen herhüpft. Plötzlich stolpert sie, greift nach dem Zaun und kann sich doch nicht halten. Sie rutscht an den Latten abwärts, und die Kleinen werfen sich auf sie. Wieder lachen sie laut und ausgelassen. «Immer muß sie auffallen», bemerkt Marlies. «Was ihr über sie denkt, läßt sie kalt», sagt Lore Werner, «und das ist gut so.» «Wir werden ja sehen.» Marlies schiebt das Rad weiter. «Wie meinst du das?» fragt Lore, aber ihre Schwester antwortet nicht. Da folgt sie ihr rasch. Greift in den Lenker und wiederholt ihre Frage. Ohne Übergang wird Marlies rot. Wie früher, als sie noch zu Hause waren, vor Verlegenheit oder Scham, oder wenn sie sehr zornig war. Meistens lief sie dann stumm und schnell weg. Aber sie ist nicht mehr fünfzehn Jahre alt, und es geht auch nicht um unerfüllte Mädchenträume oder um nichtige Mißverständnisse. Sie läuft nicht mehr weg, und während sie spricht, anfangs heftig wie gegen ihren Willen, dann wieder ruhiger werdend, geht die Röte im Gesicht allmählich zurück. Das wollen sie nicht dulden, erklärt Marlies. Sie werden nicht erlauben, daß Friederike Schanz eine Ehe kaputtmacht oder sich auf Kosten anständiger Frauen, die weit von hier arbeiten und nicht eingreifen können, amüsiert. Viel früher schon hätten sie etwas dagegen unternehmen sollen, viel energischer von Schanz und seiner Frau verlangen, endlich Ordnung zu schaffen. Aber nun dürfen sie nicht länger schweigen, und auch mit dem Major müsse man reden in der Parteiorganisation seines Regiments. Lore Werner schweigt betroffen und blickt ihrer Schwester ins Gesicht, das freundlich und mütterlich aussieht. Nur in den Mundwinkeln sitzen kurze, scharfe Falten und ziehen die Lippen zornig nach unten. Frau Werner begreift ihre Schwester nicht, sie hat ihr diese unzugängliche Heftigkeit nicht zugetraut. Und sie erkennt, daß es hier nicht nur um Klatsch und Gerüchte geht. Die Frauen haben etwas vor, wollen irgend etwas unternehmen. Kann Lore Werner sich da noch raushalten? Langsam und sehr ruhig sagt sie: «Entweder, Marlies, hat eine von euch den Brief gelesen, oder eure Phantasie treibt Blüten.» «Ich nenne es Verantwortung.» Marlies preßt die Lippen aufeinan-
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der. Sie will weiter, kommt aber nicht vom Fleck, weil ihre Schwester auf die Handbremse drückt und den Lenker des Fahrrades nicht losläßt. Lore Werners Gesicht ist blaß. Marlies kennt es nicht anders. Schon immer wirkte ihre Schwester kränklich, war sie gefügig und leise. Nie stritt sie mit jemandem, und nie versuchte sie, ihre Meinung durchzusetzen. Sie sagte, was sie dachte, und überließ es den anderen, sich danach zu richten oder nicht. Aber immer beschäftigte man sich eine Weile mit dem, was sie meinte. Schon immer ging Überlegenheit von ihr aus, durch die sich Marlies besonders während der Mädchenjahre bevormundet fühlte und gegen die sie sich wehrte. Aber das liegt alles lange zurück. Inzwischen hat Marlies eigene Kinder, und auch sie haben ständig etwas miteinander auszufechten, die größeren ebenso wie die kleinen. «Lore», sagt Marlies, «Lore, bitte. Wir können doch nicht so tun, als ginge uns das alles nichts an. Wie die heiligen drei Affen. Nichts sehen, nichts hören, nichts sagen. Den Dingen ihren Lauf lassen, sich um nichts kümmern.» «Du erklärst das Symbol mit den drei Affen falsch, liebe Schwester. Es heißt: Nichts Schlechtes sehen, nichts Schlechtes hören und nichts Schlechtes sagen.» Lore Werner läßt die Lenkstange los. Langsam gehen die beiden Schwestern weiter. Marlies denkt eine Weile nach, dann meint sie: «Da fehlt ein vierter Affe. Und auf den kommt es am meisten an: Nichts Schlechtes tun.» «Und was wollt ihr machen?» «Wir gehen heute abend zu Friederike Schanz.» Lore Werner bleibt wieder stehen. Sie blickt ihre Schwester freundlich an, mit Nachsicht, so daß Marlies Leichsenring sich plötzlich um viele Jahre zurückversetzt fühlt. In jene Zeit, da sie Vorhaben und Pläne oft zuerst mit ihrer großen Schwester besprach. Und wenn Lore sie dabei so ansah wie jetzt, wußte sie, daß ihre Einfälle nichts taugten. Sie ärgert sich über diese Erinnerung und fragt: «Sag mal, warum verteidigst du eigentlich Friederike?» «Die braucht meine Hilfe nicht, sie verteidigt sich alleine. Nur, Marlies», Lore Werner spricht eindringlich weiter, «ihr könnt doch nicht auf bloße Vermutungen hin jemandem das Haus einrennen. Ihr
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könnt doch nicht…» «Willst du uns davon abhalten?» «Ich…», sagt Frau Werner, dann schüttelt sie den Kopf. «Nein, im Gegenteil. Geht nur hin zu ihr. Immer geht und führt eure Mission zu Ende.» Marlies besteigt das Rad, stößt sich ab und fährt voraus, ohne noch ein Wort zu sagen. Lore Werner schlendert langsam hinterher. Einmal denkt sie daran, Friederike Schanz zu warnen. Aber sie unterläßt es. Wozu Unruhe verbreiten? Vielleicht ist es gut, wenn sie zusammentreffen. Möglicherweise begreifen die Frauen bei Friederike Schanz etwas, was sie bisher nicht wahrhaben wollten… Kurz vor halb acht kommen Frau Kunze und Frau Christian, um Marlies Leichsenring abzuholen. Die Ernsthaftigkeit, mit der sie sprechen und sich bewegen, macht sie ein wenig steif und hat etwas Rührendes und Komisches zugleich. Frau Werner sagt kein Wort. Sie zupft ihrer Schwester das Seidentuch zurecht, das sie unter die Kostümjacke gebunden hat. Don Quichote hat viele Nachkommen und ihnen wie einen Fluch die Pflicht hinterlassen, einmal im Leben auch gegen Windmühlenflügel zu kämpfen. Gudrun Schanz ist beim Abwaschen, als es klingelt. Sie wischt die Hände an der Schürze ab und geht in den verandaartigen Vorbau hinaus. Auf der kleinen Treppe vor der Tür steht Marlies Leichsenring, und hinter ihr sind im Licht der Verandalampe ihre zwei Begleiterinnen zu erkennen. Während sie einander begrüßen, überlegt Frau Schanz, ob sie einen Versammlungs- oder Sitzungstermin vergessen hat. Aber dazu ist sie von den Frauen bisher nie abgeholt worden. Sie schweigen und warten, daß jemand was sagt. Die Briefträgerin steigt ein paar Stufen herauf und bleibt neben der viel kleineren Frau Leichsenring stehen. Gudrun Schanz entdeckt im Gesicht der Postfrau den gleichen abweisenden Ausdruck wie am Nachmittag, als sie den Brief für Friederike gebracht hat. Am Gartentor befindet sich zwar ein Briefkasten, aber Frau Kunze hielt ihr den Umschlag zwischen zwei Fingern
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über den Zaun entgegen und sagte mit eigenartiger Betonung: «Hier, Post für ihre Tochter!» Und auf einmal weiß Gudrun Schanz auch, weswegen die Frauen gekommen sind. Sie wollen nicht zu ihr, sondern zu Friederike. «Meine Tochter ist nicht zu Hause», erklärt sie. Die Frauen mustern einander, und Frau Kunze fragt: «Dürfen wir auf sie warten?» Gudrun Schanz schüttelt den Kopf, nicht sehr bestimmt, aber sie weicht keinen Schritt von der Tür. Die Frauen mustern einander erneut. Was sie von Friederike wollen, weiß Gudrun Schanz nicht. Doch sie erinnert sich daran, daß Frau Kunze und Frau Christian zu den Bewohnern der Siedlung gehören, die sie plötzlich nicht mehr grüßten, die im Konsum oder auf der Straße manchmal etwas so laut über Friederike sagten, daß Frau Schanz es nicht überhören konnte. Aber sie weiß auch, daß die Frauen sich bisher nichts aus den Fingern saugen mußten. Friederike sorgt von Zeit zu Zeit für Gesprächsstoff, und sie macht sich nichts daraus. Ihre Mutter jedoch schämte sich, wich den Frauen aus und wünschte sich, daß Friederike auszog oder die Siedlung ganz verließ. Und ihr Mann ist ihr wegen dieser Wünsche nie böse gewesen. Doch wenn sie mit ihm über Friederike sprach, fühlte sie, daß er steif und stumm wurde. Sie stritten miteinander nie um Friederike. Aber er schwieg, sobald sie ihm etwas Neues über die Tochter erzählte. Und Schweigen ist für sie schlimmer als der schärfste Streit. Schweigen heißt für sie: Man hat sich nichts mehr zu sagen, oder man hält es nicht für nötig, sich noch etwas mitzuteilen. Beides beleidigt. Noch immer steht Gudrun Schanz unschlüssig an der Tür, und sie weicht auch nicht, als die Frauen ihren Wunsch wiederholen. Wären sie fünf oder sechs Tage früher gekommen, säßen sie jetzt schon im Wohnzimmer. Aber in den letzten Tagen hat sich zwischen Mutter und Tochter etwas verändert, was Gudrun Schanz froh stimmt, das sie aber nicht erklären kann. Im Gesicht der kinderlosen Frau Christian machen sich Ungeduld und Vorwurf bemerkbar. Die vollen, mädchenhaften Lippen der Kassiererin gehen bald in die Breite, bald pressen sie sich aufeinander
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oder öffnen sich ein wenig. Es sieht aus, als rede Frau Christian mit sich selber, als schimpfe sie leise vor sich hin. «Wir haben allen Grund anzunehmen», sagt Frau Kunze ein wenig lauter als vorher, «daß Ihre Tochter dabei ist, eine Ehe auseinanderzubringen.» Dieser Satz dringt auf Gudrun Schanz ein, und sie hat das Gefühl, daß er sie von der Tür wegschiebt, in die Veranda hinein, und den Weg für die Frauen frei macht. Aber zwischen diesem Gedanken und seiner Verwirklichung liegt eine winzige Zeitspanne, die genügt, um alles wieder zurückzunehmen. Gudrun Schanz erinnert sich an den gestrigen Nachmittag. Stefan trat langsam ins Zimmer. Friederike folgte ihm und schob ihn mit sanftem Druck der Mutter entgegen. Friederike hatte Stefan zurückgebracht, und ihre Mutter verzieh ihr in diesem Augenblick alles. «Nein», sagt sie zu den Frauen, «ich weiß nicht, wo Friederike ist und wann sie kommt. Nein.» Die Lippen von Frau Christian verlieren ihre Lebendigkeit. «Dieser Brief», sagt Frau Kunze, «ist doch wohl sehr wichtig. Sie als Mutter müßten sich jetzt, ich meine, könnten wir nicht gemeinsam auf Ihre Tochter warten?» «Nein», wiederholt Gudrun Schanz, «bitte, verstehen Sie doch, ich…» Sie hebt die Schultern, weil sie den Frauen die Ablehnung nicht erklären kann, weil sie nicht auszusprechen vermag, was sie empfindet. Dabei versteht sie die Frauen, hat sie immer verstanden. Und nie hat sie ihnen einen Vorwurf gemacht, denn tatsächlich ging ja alles von Friederike aus. Sie schien es geradezu darauf angelegt zu haben, manche Frauen in der Siedlung auf diese Weise zu beschäftigen. Gudrun Schanz empfindet auch jetzt noch wie diese Frauen, aber sie kann Friederike nicht länger wie eine Fremde behandeln. In den letzten Tagen, seit die Übung begann, hat sie stumm und schmerzhaft vieles in sich ausgetragen, das wie eine Erlösung auf sie wirkte. Doch nun ahnt sie, daß die Frauen das alles nicht verstehen können. Denn Friederike ist nicht deren Tochter. Und Friederike wiederum wird den Standpunkt dieser Frauen nie teilen. Zwanzig bis dreißig Jahre trennen sie voneinander, das ist nicht allein eine Gene-
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ration, sondern in dieser Zeit eine ganze Welt. Gudrun Schanz möchte den drei Besucherinnen etwas Freundliches sagen, etwas Verständnisvolles, das sie während des Heimwegs nicht gleich wieder vergessen. «Wissen Sie, bitte», sagt sie, «ich meine, überlassen Sie das mir. Meiner Tochter und mir. Uns geht es ja am meisten an.» «Was hab’ ich gesagt?» ruft Frau Christian. «Wir stoßen hier auf taube Ohren. Wer diesen Lebenswandel jahrelang duldet, findet sich schließlich auch damit ab!» «Aber das ist…. das stimmt doch gar nicht!» erwidert Gudrun Schanz. Doch die Kassiererin hat sich bereits abgewandt und geht auf das Gartentor zu. Nach ein paar Schritten dreht sie sich noch einmal um und erklärt: «Dann werden wir halt andere Stellen einschalten müssen. Offizielle!» «Lassen Sie das doch, bitte», ruft Frau Schanz ihr nach. «Was wissen Sie überhaupt von meiner Tochter?» «Und Sie selber?» fragt Frau Leichsenring. «Was wissen Sie denn von ihr?» «Eben», antwortet Gudrun Schanz, «eben, was weiß ich schon von ihr?» Nun gehen auch die anderen beiden Frauen die Stufen hinab, und Gudrun Schanz sagt noch einmal: «Bitte, lassen Sie uns in Frieden!» Unten bleibt Frau Kunze stehen. «Sie wollen in Frieden gelassen werden, aber Ihre Tochter läßt andere nicht in Frieden. Major Wittenbeck ist nicht nur verheiratet, er hat auch einen Sohn.» Frau Leichsenring nickt dazu. Gudrun Schanz schweigt. Die Frauen gehen davon, verlassen das Grundstück. Das Gartentor fällt ins Schloß. Gudrun Schanz blickt ihnen nach und wünscht sich, daß wenigstens eine von ihnen noch einmal herüberschaut. Frau Leichsenring tut es, bleibt sogar stehen, und ein paar Augenblicke lang sieht es aus, als wolle sie umkehren. Doch nach einem unschlüssigen Schulterzucken folgt sie den beiden anderen und tritt aus dem Lichtkegel der Straßenlaterne ins Dunkel. Gudrun Schanz lehnt sich mit der Schulter gegen den Türpfosten. Leer und still liegt die Straße. Die Schritte der drei sind nicht mehr
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zu hören. Frau Schanz fühlt sich mißachtet. Eine Stunde später kehrt Friederike vom Spaziergang zurück. Sie ist bei ihrer Birke gewesen. Die Rinde, die in der Dämmerung sehr hell wirkte, war an einigen Stellen gerissen. Dünne, trockene Streifen standen vom Stamm ab. Die Knospen waren geschwollen, und der Baum sah aus, als wäre er in den letzten Tagen um ein ganzes Stück gewachsen. Noch immer hat Friederike den Geruch von feuchter Walderde in der Nase. Jetzt freut sie sich auf ihr Zimmer. Sie wird eine Kerze anzünden, eine Platte auflegen, sich in den Sessel setzen und den Brief wieder in die Hand nehmen. An morgen abend wird sie denken und sich ausmalen, wie sie unauffällig hinter Wittenbeck tritt, sich auf irgendeine Weise bemerkbar macht und dann beobachtet, wie er sich verhält. Viele Reaktionen sind möglich. Von der heftigen Überraschung, bei der sich nichts verbergen läßt, über die höfliche Zurückhaltung bis zur völligen Ablehnung. Im Haus ist es still. In der Tür zum Wohnzimmer steht plötzlich die Mutter und fragt: «Trinkst du ’ne Tasse Tee mit mir?» «Mach’ ich!» Friederike kämmt sich die Haare. Dann geht sie zur Mutter und bindet ihr die Schürze ab. Frau Schanz lächelt. «Daß ich das immer vergesse», sagt sie. «Die reinste Schürzenfrau.» Sie gehen zum Tisch, und Friederike überlegt, wann sie mit ihrer Mutter zum letztenmal allein gewesen ist. Wochen, Monate, Jahre mögen es her sein. Sie weiß es nicht, weil die Trennung, die zwischen ihnen war, nicht von der Zeit, sondern durch andere Maße bestimmt wurde. Friederikes Zimmer war von allen anderen im Haus getrennt, war Zufluchtsort, eine Art Insel. Gudrun Schanz gießt die Tassen voll und bleibt hinter Friederike stehen. Es ist ein seltsames Gefühl, die Mutter hinter sich zu haben, ihre Nähe zu spüren und auf eine Berührung zu warten, ein leise gesprochenes Wort. Und als die Mutter ihr die Hände von hinten auf die Oberarme legt und sie mit sanftem Druck reibt, schließt Friederike die Augen. Wenn sie als Kind im Winter halb erfroren nach Hause kam, rieb ihr die Mutter auch immer mit warmen, festen Händen die Arme und Beine. Lang-
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sam, fast scheu bewegen sich die Finger der Mutter. Friederike greift nach ihnen, drückt sie fest gegen ihre Oberarme und spürt die rauhe Haut. Schon immer fühlten sich die Hände der Mutter fest und rauh an, und sie roch stets nach vertrauten Dingen, nach Brot und Milch, nach Ofenrauch oder Waschhaus und manchmal wie frischgewaschenes Haar. Und gestern nachmittag sah Friederike diese Hände lachen! Sie schob Stefan ins Zimmer, der Mutter entgegen, die aus dem Sessel aufgestanden war. Keiner sagte ein Wort. Die Mutter und Stefan gingen aufeinander zu. Sie riß ihn an sich. Er drückte seinen Kopf gegen ihre Schulter, und Friederike sah nur die Hände ihrer Mutter, die auf dem graugrünen Parka in Höhe von Stefans Schulterblättern auf- und niederglitten. Helle, lachende Hände, denen Friederike ansah, daß sie Stefan schon alles verziehen hatten. Niemand verzeiht so rasch und so viel wie eine Mutter. Es war genau das eingetreten, was Friederike erwartet hatte. Stefan war zurückgekehrt, und alles war wieder gut. Aber sie warf es der Mutter nicht vor. Plötzlich verschwanden die Hände von Stefans Rücken und flogen auf. Eine drückte Stefans Kopf hoch, die andere holte weit aus und verabreichte ihm eine Ohrfeige. Friederike zuckte bei dem Schlag zusammen, doch Stefan nahm ihn widerspruchslos hin wie etwas Gerechtes, etwas Verdientes. Und von dem Augenblick an verlor keiner mehr ein Wort über Stefans Ausflug. Die Mutter fragte nicht einmal nach dem abgehobenen Geld, von dem Stefan später vierhundert Mark ins Sparbuch zurücklegte. Friederike fühlt sich wohl in dieser heimischen Stille. Das Teelicht flackert ein wenig, und in der Kanne beginnt es zu knacken. Geborgenheit empfindet Friederike, nachdem sie lange Zeit wie eine Fremde in diesem Haus gelebt hat. Sie hat etwas wiedergefunden, von dem sie glaubte, sie brauche es nicht mehr. Und jetzt gesteht sie sich ein, daß es ihr fehlte. «Rike», sagt die Mutter, «wer ist Wittenbeck?» Ihre Hände bewegen sich gleichmäßig und ruhig weiter. Friederike zögert. Die Mutter hat gefragt, wer Wittenbeck ist, doch sie wird etwas ganz anderes wissen wollen. Aber diese Frage kann Friederike nicht einmal sich
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selber beantworten. Vielleicht wird sie es morgen abend können. Aber sie zögert auch aus einem anderen Grund. Jahrelang machte sie Hoffnungen und Sehnsüchte, Enttäuschungen und Irrtümer fast ausschließlich mit sich allein ab. Sie weiß nicht, ob die Verbindung und Vertrautheit mit der Mutter in den wenigen Tagen so fest geworden sind, daß die Mutter alles, was mit Wittenbeck zusammenhängt, verstehen kann. Friederike fürchtet, die Hände auf ihren Armen, diese abendliche Stille und alles, was für sie wieder begonnen hat, gleich von neuem zu verlieren. Aber sie muß etwas sagen. Warum das Wesentliche nicht sofort? Erneut hält sie die Hände der Mutter fest, schließt die Augen und sagt: «Er ist Offizier, und er ist…» «… verheiratet.» Friederike fährt herum. Das Gesicht der Mutter ist ruhig. Durch die starken Backenknochen wirkt es breit, und die kräftige, schärfer gewordene Nase macht es ein wenig grob. Das Besondere in diesem Gesicht sind die Augen und der Mund. Die Mutter hat volle, gleichmäßig geschwungene Lippen und ein klein wenig schräg stehende Augen, die hellblau sind wie der Himmel an heißen Julitagen zwischen Sonnenuntergang und Dämmerung. Ein Gesicht, in dem sich noch immer die Herbheit der Prignitz abzeichnet, jener Landschaft, die ihre Schönheit nicht jedem offenbart, aber den nicht mehr losläßt, der sie entdeckt hat. Eine Landschaft, deren Ruhe aus der Weite kommt, die eine ununterbrochene, seltsame Erwartung weckt. Friederike kennt die Prignitz. Sie hat sie schon als Kind kennengelernt und später die Beziehung zwischen der Landschaft und der Mutter entdeckt. «Woher weißt du das?» fragt Friederike, und die Mutter berichtet in wenigen Sätzen von dem Besuch der Frauen, nach deren Urteil und Meinung sie sich lange gerichtet hat, und heute ließ sie sie nicht ins Haus. Diese Entscheidung hätte Friederike nicht für möglich gehalten. Die Mutter setzt sich ihr gegenüber in den Sessel und fragt, wie alles werden soll. Wie Friederike und Wittenbeck sich das vorstellen, und was er denn überhaupt schreibt? Da zögert Friederike keinen Augenblick mehr, zieht den Brief aus
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der Handtasche und legt ihn zwischen die Tassen auf den Tisch. Gudrun Schanz hat ihn heute schon einmal in den Händen gehabt. Jetzt wirkt er abgegriffen. Die Ecken des Umschlags sind abgestoßen, und grau ist er geworden vom vielen Anfassen. Die Anschrift ist brüchig. Der Umschlag ist noch verschlossen. Und nun freut sich die Mutter, daß sie die Frauen nicht ins Haus gelassen hat. Doch im nächsten Augenblick bereut sie es schon wieder. Die beste Antwort auf ihre Vermutungen und auf das Urteil, das sie schon vorher gefällt hatten, ist dieser noch immer verschlossene Brief. Friederike hat Angst, ihn zu lesen. Seit Stunden trägt sie ihn mit sich herum und wagt nicht, ihn zu öffnen. Immer wieder hat sie ihn in die Hand genommen, tastete ihn ab und hob ihn gegen das Licht, als könnte sie so erfahren, ob es ein guter oder ein schlechter Brief für sie wäre. Ob er eine Erklärung enthielt oder eine Absage bedeutete. Anfang oder Ende, Ende all dessen, was noch gar nicht stattgefunden hatte und bisher nur Wunsch und Sehnsucht gewesen war. Doch sich davon zu trennen, ist meistens qualvoller, als etwas aufzugeben, das einem gehört. Friederike starrt auf den Brief und redet. Zum erstenmal spricht sie ausführlich mit der Mutter über ihre Gefühle, ihre Befürchtungen und Erwartungen. Langsam und leise redet sie, in halben Sätzen, die die Zusammenhänge nur andeuten. Aber in Friederike spielt sich viel mehr ab, als sie zu sagen weiß. Die Mutter hört zu, unterbricht ihre Tochter nicht. Das ist gut, und Friederike spürt, daß alles Unausgesprochene wie ein Druck von ihr weicht. Schon am Nachmittag hat sie etwas herausgefunden: Die Umrisse einer Fotografie sind unter den tastenden Fingern deutlich hervorgetreten, und sie stimmen mit der Hälfte ihres eigenen Bildes überein, die sie vor Tagen von ihrem Vater zurückverlangt hat. Wittenbeck schickt das Foto an sie zurück. Er hatte es abgerissen, aber nun schickt er es zurück. Und er wird Gründe dafür haben. Er gehört zu den Anständigen, die um Verständnis bitten, die wenigstens schreiben und damit zugeben, daß sie einem Gespräch ausweichen. Vielleicht weicht er ihm auch aus, weil er befürchtet, daß in der Gegenwart des anderen alle erklärbaren und verständlichen Gründe nichtig
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und nebensächlich erscheinen. Friederike ist zur Birke gegangen, weil sie diesen Brief an einem Ort lesen wollte, wo sie ganz mit sich allein sein konnte, wo es ihr vielleicht leichter fiel, alles zu ertragen. Nicht weit von der Birke setzte sie sich auf einen Stubben, erinnerte sich noch einmal aller Begegnungen mit Wittenbeck und wunderte sich, daß es so wenige waren. Kein anderer Mann hatte sie jemals vorher so beschäftigt wie Wittenbeck. Noch nie hatte sie Freude und Schmerz in einem gefühlt, hatten Zuversicht und Zweifel einander so rasch abgewechselt. Immer waren in ihr diese Gefühle klar voneinander getrennt gewesen, immer war eins dem anderen gefolgt, nie aus dem Vorhergegangenen entstanden. Und nie vorher hatte Friederike soviel abgewogen und so lange gezögert. Schließlich schob sie die Kugelschreiberspitze unter die Klebestelle und hielt doch inne. Wenn der Brief wirklich das Ende bedeutete, war in dem Augenblick, wo sie ihn las, alles aus. Sie würde nicht einmal mehr nach Barsekow fahren. Las sie ihn aber nicht, würde sie fahren können. Sie würde Wittenbeck wiedersehen, mit ihm sprechen und an seiner Reaktion ablesen, wie es wirklich um ihn stand. Wenn schon Verzicht, dann bedingungslosen, dann Trennung ohne den kleinsten Rest an Hoffnung. «Ich fahre morgen und nehme den Brief mit. Was meinst du?» Gudrun Schanz nickt und denkt dabei: Die Frauen haben recht. Friederike mischt sich in eine Ehe ein. Aber alles andere stimmt nicht, denn sie wissen nicht, daß Friederike Wittenbeck liebt. «Weißt du was», sagt sie zur Tochter, «fahr hin. Damit du Bescheid weißt. Fahr hin, Rike!» Friederike steht auf, hockt sich auf den Boden und legt den Kopf in den Schoß der Mutter. Sie muß fahren, denkt Gudrun Schanz, sie muß. Aber was sie ihrer Tochter wünschen soll, weiß sie nicht. Puhlmeyer steht vor Ahnert, der ihm trotz der Mütze nicht einmal bis zur Schulter reicht. Der Major möchte sich setzen, um nicht von oben auf den Leutnant hinunterblicken zu müssen. In diesem Augenblick möchte der Kompaniechef alles tun, was seinen Zugführer be-
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ruhigt, was ihn sicherer zur Aussprache über den Flurschaden fahren läßt. Die Meldung über den Schaden, den das Bataillon angerichtet hatte, traf gestern abend im Stab ein. Siegel und Puhlmeyer saßen einander gegenüber. Beide wußten, was folgen würde, und beide wußten auch, daß sie mindestens ebensoviel Schuld traf wie den Leutnant. Ausreden suchten sie nicht. Der Bataillonskommandeur ordnete an: «Ahnert wird erst morgen früh informiert. Soll er noch eine ruhige Nacht haben.» Dann fragte er Puhlmeyer: «Was hättest du an seiner Stelle gemacht?» Puhlmeyer hob die Schultern und schüttelte den Kopf. «Frag mich was Leichteres», antwortete er schließlich. «Hätten wir gewendet und andere Wege gesucht, wären wir zu spät gekommen, viel zu spät.» Major Siegel winkte ab und stand auf. Er lief im Zelt hin und her, zündete sich eine Zigarette an, und nach ein paar tiefen Zügen sagte er: «Wieg das mal gegeneinander auf, Zeit und Tonnen.» Puhlmeyer bat den Bataillonskommandeur, ihn an Ahnerts Stelle zur Verhandlung mitzunehmen. Doch Generalmajor Werner hatte befohlen, daß Major Siegel und Leutnant Ahnert nach Barsekow fahren sollten. «Gehen Sie, Genosse Leutnant», sagt Puhlmeyer jetzt leise. «Major Siegel wartet auf Sie.» «Zu Befehl!» Ahnert nimmt Haltung an, hebt die Hand zur Mütze und vollführt eine schulmäßige Kehrtwendung. «Toi, toi, toi!» ruft Puhlmeyer ihm nach. Der Leutnant scheint es nicht mehr zu hören. Er marschiert davon, wie auf dem Exerzierplatz ein Soldat von seinem Vorgesetzten weggeht, zurück an seinen Platz in der angetretenen Einheit. Immer noch meint der Major, daß er jetzt an Ahnerts Stelle gehen müßte. Er hatte dem Zugführer die Aufgabe übertragen und sich gegen alle Zweifel und Bedenken durchgesetzt. Während der nächtlichen Fahrt wurde er von Kilometer zu Kilometer ruhiger, mehr und mehr festigte sich seine Überzeugung, daß der Leutnant die Kolonne sicher und pünktlich ans Ziel bringen würde. Als sie bei den Hub-
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schraubern eintrafen, war nicht nur Puhlmeyer überrascht, mit welcher Sicherheit Ahnert den Weg gefunden hatte. Und Puhlmeyer wußte, daß der Leutnant völlig selbständig gehandelt hatte, denn Ahnert hatte während des Marsches nicht ein einziges Mal um Hilfe gerufen oder um Rat gefragt. Er hatte nur dann Verbindung mit seinem Kompaniechef aufgenommen, wenn es galt, ihn vor Hindernissen zu warnen, besonders schlechte Wegabschnitte anzukündigen oder auf besondere Orientierungspunkte hinzuweisen. Spurbalken über einem Bach meldete er an, Markierungspunkte fürs Abbiegen auf einer verzweigten Schneisenkreuzung und eine Furt, die er suchen und erkunden mußte. Der Aufenthalt an diesem etwa dreißig Meter breiten toten Nebenarm des Flusses dauerte nicht einmal fünfzehn Minuten. Der Leutnant zeigte Puhlmeyer während dieses Nachtmarsches sein Gesicht, bewährte sich, und das blieb als Ergebnis unter dem Strich stehen, welche Folgen die Fahrt über das Feld auch für ihn haben würde. Wahrscheinlich hatte es der Leutnant gar nicht wahrgenommen, es für eine Wiese gehalten, und Puhlmeyer selbst und nach ihm alle anderen Fahrzeuge des Bataillons folgten einfach der Spur des Leutnants. Ahnert bewies, wozu er als Offizier fähig ist. Nicht nur während des Marsches, auch danach, während der Landung im späteren Brückenkopf. Ahnerts Zug sprang am raschesten aus den noch über dem Boden schwebenden Maschinen, näherte sich gruppenweise in hohem Tempo der Straße, und die Soldaten gingen im Graben, der knöcheltief voll Wasser stand, in Stellung. Der erste, der den Hubschrauber verließ, war der Schäfer. Er sprang auf den weichen Wiesenboden, federte nach, wobei er die Arme weit zur Seite streckte und sie wie Flügel bewegte. Dann ließ er sich auf die Knie nieder, beugte sich vor, und es sah aus, als sei ihm übel geworden. Doch der Schäfer griff mit der freien Hand ins Gras, krallte sich fest und riß ein Büschel Halme heraus, an dem schwere dunkle Erde klebte. Danach sprang er wieder auf, jagte in langen Sätzen allen anderen voraus, hielt dabei das Gras mit der Erde in der rechten Hand fest und ließ es erst fallen, als er sich gegen die Grabenwand warf und seine Waffe in Anschlag brachte. Der Leutnant erreicht die Schneisenkreuzung und steigt zu Siegel in
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den Wagen. Während Puhlmeyer den beiden nachblickt, sagt plötzlich hinter ihm jemand: «Ich bin schuld.» Ahnerts SPW-Fahrer bearbeitet seine Unterlippe mit den Zähnen und wiederholt: «Ich bin schuld.» «Quatsch», sagt Puhlmeyer. «Sie sind bloß gefahren.» «Ich bin nicht gefahren, Genosse Major», erklärt Litosch. «Wieso?» «Ich hab’ mich geweigert. Über das Feld fahren, wollt’ ich nicht.» «Und wer…?» «Leutnant Ahnert.» Puhlmeyer mustert den Soldaten, der elf Monate in seiner Kompanie ist und den er zu kennen meinte. Gestern hat er den amerikanischen Wagen gestellt und heute gesteht er ihm eine Befehlsverweigerung. Aber das interessiert den Major im Augenblick nicht. «Junge», versucht er den Fahrer zu beruhigen, «Leutnant Ahnert war verantwortlich. Sie wären nicht mal schuld, wenn Sie tatsächlich gefahren wären - oder?» «Es ist…. weil ich mich gedrückt habe, und da hat er sich selber ans Lenkrad gesetzt. Ich dachte, er wollte sich unbedingt seine Sporen verdienen. Und dann ist er gefahren. Das kommt jetzt auch noch auf ihn zu, verschärft doch noch alles, so ungefähr.» «Den Kopf werden sie ihm schon nicht abreißen.» «Aber vielleicht das hier.» Litosch tippt mit einem Finger auf seine Schulterklappe und mustert Puhlmeyer. «Warten wir’s ab», sagt der Major und schickt den Fahrer zum SPW. Er selbst geht zur Schneisenkreuzung, von wo Ahnert und Siegel vor wenigen Minuten losgefahren sind. Nun weiß er, daß es kein Versehen gewesen ist. Ahnert wußte, was er unter den Rädern hatte, und ist trotzdem über das Feld gefahren. Der durch Litoschs Weigerung verursachte Aufenthalt kann nur wenige Sekunden gedauert haben, denn Puhlmeyer, der einige hundert Meter hinter Ahnert an der Spitze der Kolonne fuhr, hatte nichts Ungewöhnliches festgestellt und auch das Feld nicht bemerkt. Er hatte nur gespürt, daß der Boden weich war und unter den Rädern nachgab, aber das geschieht oft auch auf Wiesen oder im Wald. Der Schaden muß groß sein, sonst würde diese Beratung nicht stattfinden, sondern alles über den Stabskommandanten und die Flurschadenkommission abgewickelt wer-
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den. Nachlässigkeit hätte man dem noch unerfahrenen Ahnert eher verziehen als diese Entscheidung. Es kann sogar zur Klage und zu einer Verhandlung kommen. Und Puhlmeyer hat dann einen Offizier weniger in der Kompanie, für eine Weile jedenfalls. Vielleicht auch für immer. Denn es ist möglich, daß Ahnert, wenn er später wieder Übungen mitmacht, für besondere Aufgaben nicht mehr geeignet ist. Weil er nicht mehr wagt, Entscheidungen zu treffen, weil er sich absichert, weil er abwägt und zögert und schließlich zum Befehlsempfänger und gedankenlosen Ausführenden wird. Und wie werden die anderen Offiziere reagieren? Das zieht doch Kreise! Wer einen Stein ins Wasser wirft, verursacht Wellen. Dabei ist Ahnert erst ein halbes Jahr Zugführer, und die erste große Truppenübung, an der er teilnimmt, beendet schon so oder so seine Laufbahn. Puhlmeyer weiß nicht, wohin er gehen soll. Er möchte mit jemandem über seine Gedanken und Befürchtungen reden. Aber der einzige, der im Augenblick zu erreichen ist, ist Oberleutnant Freier. Doch der hat anderes zu tun. Außerdem erscheint er ihm für ein solches Gespräch zu jung. Puhlmeyer möchte mit einem erfahrenen Offizier reden, mit Schanz oder Seiffert oder Bredow. Dem Major geht es nicht nur um Ahnert, sondern auch um sich selber. Er weiß nicht, wie er gehandelt hätte, wenn er an Ahnerts Stelle gewesen wäre. Was er für wichtiger gehalten hätte, das Feld oder die militärische Aufgabe. Und daß er das nicht weiß, beunruhigt ihn. Zur selben Zeit, als Siegel und Ahnert den Sammelraum verlassen, fahren zwei Wagen vom Versuchsfeld weg. Im ersten sitzt Oberst Bredow, den Generalmajor Werner beauftragt hat, an dem Gespräch teilzunehmen. Bei Bredow befinden sich zwei Offiziere der Flurschadenkommission. Im zweiten Wagen, einem dunkelgrünen Shiguli, sitzt Klaus Neitzmann, der Sekretär für Landwirtschaft der Bezirksleitung der SED. Neitzmann und Bredow sind beim Feld aufeinandergetroffen. Bredow ist ein wenig später gekommen als Neitzmann, der am Feldrand hockte und auf einem Halm kaute. Von unten blickte er zu Bredow hoch, spuckte den Halm aus und sagte: «Das ist eine schöne
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Bescherung, mein Lieber.» Dann richtete er sich auf, wischte seine breiten Hände an der Hose ab und begrüßte den Oberst. Die beiden kennen sich seit vielen Jahren, als sie noch im Bezirk Schwerin Kreis-Sekretäre der FDJ waren. Nach den dritten Weltfestspielen hatten sie sich aus den Augen verloren und waren sich später nur hin und wieder zufällig begegnet. Erst seit Bredow Werners Stellvertreter ist, haben er und Neitzmann sich öfter getroffen. Neitzmann hat ein kurzes, fast viereckiges Kinn, über dem schmale Lippen sitzen, die beim Lachen auseinanderplatzen. Aber heute lachte er nicht, und seine grauen Augen blickten streng. «Na, kuck dich um, Heinrich», sagte Neitzmann, und Bredow befolgte diesen Rat gründlich. Jetzt treffen sie mit ihren Autos kurz nach Siegel und Ahnert auf dem Parkplatz beim Kulturhaus ein. Der Leutnant steht zwischen dem Dienstwagen und einem beigefarbenen Wartburg, der ein knallrotes Dach hat und einen roten Doppelstreifen an den Seiten sowie über Kofferraum und Motorhaube. Ein schlanker Mann in schwarzer Lacklederjacke, dessen Oberlippe ein unternehmungslustiges Bärtchen ziert, nimmt ein paar Rollen Papier und einige Mappen aus dem Kofferraum. Dabei sagt er zu Ahnert. «Wissen Sie was? Einen Spaten müßte man Ihnen in die Hand drücken und das ganze Feld umgraben lassen.» Das klingt nicht böse, eher wie ein Spaß. Trotzdem ruft Neitzmann zu ihm hinüber: «Kollege Meyer, warten Sie ab, bitte!» Meyer geht auf der anderen Seite um seinen Wagen herum, um nicht an Ahnert vorbei zu müssen. In seinem Wartburg gibt es viel weißes Fell, über den Sitzen, um den Lenker, auf der Ablage. Ahnert steht zwischen den Autos wie ein gescholtener Schuljunge. Mit keiner Geste und keinem Wort hat er auf Meyers Anwurf reagiert. Dennoch hat Bredow einen Augenblick lang den Eindruck, daß der Leutnant gleich davonlaufen wird, quer über den Sportplatz, der dem Kulturhaus und dem Parkplatz gegenüberliegt. Der Oberst ahnt, was in Ahnert vorgeht. Dem Jungen muß ähnlich zumute sein wie ihm selber, als er am Sonntag nach dem Mittagessen die Waldwiese verließ und alles hinter ihm zurückblieb, die Hubschrauber, das Batail-
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lon, Oberst Schanz… Aber es ist ein Unterschied, ob einem etwas Derartiges widerfährt, wenn man Leutnant und gerade dreiundzwanzig Jahre alt ist oder als Oberst, der bald die Fünfzig erreicht hat. Das ist etwas anderes, und wegen dieses Unterschieds beneidet der Oberst den Leutnant, und er gäbe viel darum, an seiner Stelle hier zu stehen. Denn alles, was Ahnert heute gesagt bekommt, wird er in ein paar Monaten verdrängt haben. Bredow weiß, daß er Ahnert viel verdankt, mehr als der Leutnant und viele andere ahnen. Bredow wäre auf der Wiese nicht mehr in der Lage gewesen, die Situation aufzulösen. Er hatte gespürt, daß ein weiterer Befehl nicht mehr befolgt worden wäre. Nie vorher hatte Bredow eine solche gedankenlose Leere empfunden, nie eine so dröhnende Hilflosigkeit, in der er genau wußte, was kommen würde, und doch nicht in der Lage war, es aufzuhalten. Ahnert aber hatte es aufgehalten, hatte Bredow und das Bataillon vor Schlimmerem bewahrt. Das wird der Oberst diesem jungen Mann niemals vergessen. Und plötzlich denkt er an seinen eigenen Sohn, der noch in diesem Jahr zum Leutnant ernannt wird und der im August oder September ebenfalls Zugführer eines mot. Schützenzuges sein wird. Und Bredow wünscht sich, daß sein Sohn wie Ahnert werden möge, daß er wie dieser Leutnant außer dem umfangreichen militärischen Wissen und Können auch das Gespür für Situationen besitzt und die Fähigkeit, sich in seinem Verhalten auf sie einzustellen. Er selbst hat diese Fähigkeit offenbar verloren oder sie vielleicht nie besessen. Ahnert friert plötzlich. Wie nahe beieinander liegen doch oft Erfolg und Niederlage. Wie rasch folgt mitunter das eine auf das andere. Wofür Leutnant Ahnert noch gestern während der ersten Auswertungen in der gesamten Division gelobt worden ist, daß er nämlich zielstrebig und ohne Zwischenfall das Bataillon durch die Nacht geführt hat, dafür hat er jetzt wer weiß welche Strafe zu erwarten. Und wenn es dabei allein um ihn ginge, wäre alles halb so schlimm. Aber in der Division gibt es Hunderte von jungen Zugführern und Kompaniechefs, die schon bei der nächsten Übung vor einer ähnlichen Entscheidung stehen können. Und dann, in Erinnerung an Ahnerts Mißgeschick vorgewarnt, werden sie zögern, nicht mehr selbständig ent-
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scheiden, sondern abwarten. Die Diskussionen und Auseinandersetzungen um dieses Ereignis haben bereits in der Division begonnen und werden alle Offiziere noch eine Weile beschäftigen. «Gehen wir», sagt Neitzmann. Ahnert versteht den Aufwand nicht, der hier betrieben wird. An Uförmig zusammengerückten Tischen sitzen fast zwanzig Leute einigen Kartenständern gegenüber, an denen Tabellen und Skizzen hängen, die an topographische Karten und Verteidigungsschemas erinnern, von denen Ahnert während der Übung einige angefertigt hat. Vor ihnen steht der Mann mit dem Bärtchen, einen Zeigestock in der Hand. Unter den Anwesenden befindet sich der Vorsitzende der KAP, der Parteisekretär, ein Agrarwissenschaftler, zwei Agronomen und die Barsekower Bürgermeisterin. Sie ist die einzige Frau in der Runde, raucht ununterbrochen und blickt oft zu Ahnert herüber. Neugierig und freundlich, und der Leutnant nimmt sich vor zu schweigen, zuzuhören und sich an der Freundlichkeit der Bürgermeisterin ein wenig festzuhalten. Meyer beginnt mit seinem Vortrag. Er spricht ruhig, wie ein Lehrer, der seinen Schülern etwas Wichtiges erklärt. Aber Ahnert, der ihn nicht ansieht, hört aus Meyers Stimme Genugtuung heraus, empfindet manchen Ton wie Schadenfreude. Meyer berichtet von einem Sand-Moor-Kippverfahren, mit dem das ehemalige Moor kultiviert worden ist, nennt Hektarzahlen und Saatgutarten und spricht von einem Pflug mit hundertsechzig Zentimetern Tiefgang. Ahnert hätte es genügt zu erfahren, daß er mit seinen SPWs ein Versuchsfeld zerstört hat. Ein Feld, das im Auftrag des Ministeriums angelegt worden war und auf dessen Ertrag überall in der DDR mit Spannung gewartet wird, wo es ähnliche Moorflächen gibt. Das zu sagen hätte genügt, und dieser Mitteilung hätten dann die Konsequenzen folgen müssen. Aber Meyer hat alles genau ausgerechnet und scheint sich ein Vergnügen daraus zu machen, die Schadensumme genau aufzuschlüsseln, sie von Satz zu Satz zu vergrößern. Daran ändern auch die freundlichen Blicke der Bürgermeisterin nichts, die den Mund spitzt und mit dem Mittelfinger einen Tabakkrümel von der Unterlippe wischt. Sie hat braungrüne Augen, von denen viele haarfeine
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Fältchen ausgehen und sich in den Schläfen verlieren. Am Ende beträgt die Summe fast zwanzigtausend Mark. Zum Schluß sagt Meyer, wobei er den Zeigestock weglegt und sich die Finger einzeln an einem Kreidelappen abwischt: «Der moralische Verlust ist in dieser Rechnung nicht enthalten, weil er sich nicht in Zahlen ausdrücken läßt. Aber ich bin für den Versuch mitverantwortlich und weiß, was geleistet worden ist. Und ich wollte deutlich machen», jetzt hebt Meyer den Arm und die Stimme und deutet auf Ahnert, «wie unverantwortlich dieser Offizier gehandelt hat, der nicht einmal ein Feld von einer Wiese unterscheiden kann, der drauflosfährt ohne Rücksicht auf alles, was ihm unter die Räder gerät.» Meyer setzt sich, und der Leutnant spürt, daß ihn alle anblicken. Offenbar warten sie darauf, daß er etwas sagt. Aber er weiß nicht, was er entgegnen soll, starrt reglos auf seine Hände, die vor ihm übereinanderliegen. Die Härchen auf den unteren Fingergliedern sind kurz und dünn und erinnern ihn an das spärliche Gras jener Hänge, in die hinein sie die Stellungen gegraben haben. Dorthin sehnt Ahnert sich jetzt zurück. Dort weiß er, was er zu tun hat. Und dort begann sein Erfolg während dieser Übung, von dem nun nichts mehr übriggeblieben ist, weil er ihn selbst auf diesem Feld zerfahren hat. Er weiß nicht, was er sagen soll. Aber er hat das Gefühl, daß er sagen kann, was er will, es würde seine Lage nicht verbessern. Niemand wird ihn verteidigen, nicht einmal Major Siegel, der ihm gestern nach dem Ende der letzten Übungsaktion beide Hände auf die Schultern geschlagen hat, ihn freundschaftlich schüttelte und dann auf einmal an sich riß, daß dem Leutnant Freude bis in die Kehle schoß. Und Bredow hat am wenigsten Grund, ihm zu helfen. Jedesmal wenn der Oberst im Verlauf der Übung mit Soldaten aus Ahnerts Zug zu tun bekam, kriegte er Ärger. Nein, niemand wird dem Leutnant helfen, weil ihm niemand helfen kann. Man braucht für solch ein Vorkommnis einen Schuldigen, und der ist eindeutig Ahnert. Plötzlich fordert Neitzmann: «Sag uns mal, Genosse Oberst, was das für eine Übung war und wie sie ausgegangen ist.» Bredow teilt, ohne jemanden anzusehen, mit, daß es eine Inspekti-
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onsübung im Rahmen militärischer Ausbildungsvorgänge des Warschauer Vertrages gewesen ist, die von den Vertretern des Vereinten Oberkommandos ebenso wie von den Inspektoren des Ministeriums für Nationale Verteidigung mit «gut» bis «ausgezeichnet» bewertet wurde. Bisher. Alle Resultate liegen noch nicht vor, aber das Ergebnis kann nur noch besser werden, nicht schlechter. «Ich gratuliere euch!» ruft Ruth Drewen. «Das schafft aber das verwüstete Feld nicht aus der Welt.» «Stimmt», bemerkt Neitzmann. Er lehnt sich zurück und drückt seine Hände gegen die Tischkante, was aussieht, als wolle er mit dem Stuhl kippeln. Dann fügt er hinzu: «Mich interessiert, wie Leutnant Ahnert während der Übung gearbeitet hat.» Siegel sagt: «Ausgezeichnet. Der Zug, den er führt, gehört zu den besten der gesamten Division.» «Das wollt’ ich wissen», meint Neitzmann. «Wir sollten nämlich die Übung im weiteren Gespräch vor lauter Feld nicht ganz vergessen.» Ahnert horcht auf. Er versucht, sich diesen Satz einzuprägen, denn er spürt, daß Neitzmanns Worte etwas haben, was er noch nicht besitzt, einen Punkt, von dem aus er sich orientieren kann, etwa wie das Fadenkreuz im Doppelfernrohr, das Richtung und Entfernung und Beziehung der Gegenstände zueinander bestimmbar macht. Aber er kommt nicht dazu, diesem Satz von Neitzmann auf den Grund zu gehen, denn der Vorsitzende der KAP, ein Mann mit Stiefeln an den Beinen und ebenso lang und dünn wie Puhlmeyer, bemerkt: «Aber um das Feld geht es hier. Und vielleicht äußert sich der Genosse Leutnant mal. Mit Schweigen kommt er nicht über die Runden.» «Richtig», ruft Meyer, «völlig richtig!» Wieder starrt Ahnert auf die Hände. Eine der Sehnen, die über die Knöchel laufen, beginnt zu zucken. Ihm scheint, daß alle Anwesenden dieses heftige, hilflose Zucken bemerken, und er nimmt sich vor, erst zu sprechen, wenn das Zucken aufgehört hat. Mit diesen Händen schob er Litosch vom Fahrersitz. «Nein», sagte der Fahrer, «nein, ich kann nicht.» Ahnert wußte, das war kein Widerspruch. Das war eine Bitte. «Über ’n Feld fahren, das ist wie Häuser kaputtmachen, so unge-
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fähr.» Ahnert wollte den Befehl wiederholen, laut und scharf, doch dann begriff er, daß Litosch im Augenblick durch kein noch so energisches Kommando zu bewegen war. «Es gibt keine andere Möglichkeit», sagte Ahnert und schob Litosch vom Sitz. Widerstandslos ließ es der Fahrer geschehen. Von hinten, wo die anderen saßen, von denen niemand schlief, kam keine Regung. Litosch nahm seinen Platz erst wieder ein, nachdem das Feld hinter ihnen lag. Er wandte sich sogar um, als könnte er durch die Eisenplatte erkennen, wie die grüne Saat nun aussah. Diesen Vorfall wird Ahnert für sich behalten, damit keiner auf den Gedanken kommt, Litosch wegen Befehlsverweigerung zu belangen. Für Ahnert war es keine Befehlsverweigerung. Jemand räuspert sich scharf und auffordernd. Der Leutnant deckt die immer noch zuckende Sehne mit der anderen Hand zu. Er muß etwas sagen, sonst halten sie ihn für einen dummen, bockigen Jungen. Auf eine Bewährung hatte er gewartet und von allerlei Möglichkeiten geträumt, die sich ihm danach eröffnen würden. Das alles erscheint ihm jetzt albern, verliert angesichts dieser Runde jede Bedeutung. Und es kommt ihm beinahe vor, als hätte dies alles ein anderer geträumt. Wieder räuspert sich jemand ungeduldig, und da spricht Ahnert. Er sucht dabei die Gesichter ab, die auf ihn gerichtet sind, sucht nach ein wenig freundlicher Aufmerksamkeit, findet aber alle unzugänglich, auch die von Siegel und Bredow. Nur die braungrünen Augen der Bürgermeisterin sind noch immer von mütterlicher Freundlichkeit. Sie blickt er beim Reden an. Ruth Drewen ist die einzige Mutter in diesem Zimmer. Sie sitzt sechzehn strengen Vätern gegenüber und hat als Bürgermeisterin über die KAP nicht zu befinden. Und plötzlich begreift Ahnert, daß die Rolle des Bittstellers, des zerknirschten Selbstanklägers ebenso schlecht ist wie die des Schweigers. Sie ist schlecht, weil sie nicht wahr ist. Sie trifft seine Entscheidung, die er gestern nacht gefällt hat, nicht, sondern redet von ihr weg. Er hat versucht, alles mit einer Dummheit, mit einem Versehen zu erklären. Doch wenn er oder ein anderer Offizier morgen in eine ähnliche Si-
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tuation gerät? Da hört er auf zu sprechen, blickt noch einmal in die Runde und lehnt sich zurück. «Das ganze Gerede ist Unsinn», sag er, «das können Sie vergessen. Die Sache ist ganz klar: Ich hatte einen Befehl…» «Befehle!» ruft Meyer dazwischen, «wollen Sie uns etwa weismachen, man hätte Sie gezwungen?» «Warten Sie bitte ab», weist Neitzmann ihn zurecht. «Und da war plötzlich das Feld. Aber auf der Karte nicht. Da war mooriger Boden eingezeichnet», berichtet Ahnert. «Links und rechts Wald, wo bei morastigem Untergrund am Rande immer eine Spur zu finden ist. Aber jetzt - nichts von allem. Da gab es nur zwei Möglichkeiten, jede mit Folgen. Feld oder Befehl. Ich habe mich für den Befehl entschieden.» Es ist so still im Raum, als ob alle den Atem anhielten. Im Augenblick bewegt sich nur der Rauch, der von Ruth Drewens Zigarette aufsteigt. Bredow ist der erste, der sich rührt. Er lehnt sich zurück, blickt Ahnert dabei an, und seine Bewegung hat etwas von Erleichterung. «Und ich habe angenommen», sagt der KAP-Vorsitzende langsam, «ich dachte, es war Unkenntnis, Oberflächlichkeit…» «Ehrgeiz», stellt Meyer fest. «Und dabei macht er die Arbeit anderer kaputt.» Ahnert schüttelt den Kopf. «Nein, das stimmt nicht. Vorher, ja, wenn das alles ein paar Tage früher geschehen wäre, dann könnten Sie sagen, es hätte damit zu tun, aber inzwischen…» Er hört auf zu sprechen. Was er sagen wollte, wird von denen, die hier sitzen, außer vielleicht den Offizieren, keiner verstehen, und es ist auch schwer zu erklären, wie sich in Ahnert innerhalb weniger Tage etwas Wichtiges abgespielt hat. Der Wunsch, aus der Kompanie schnell hinaufzusteigen in irgendeinen Stab, bestimmt seine Gedanken nicht mehr. Seit der Nacht vor dem Angriff will er aus der Kompanie und von seinem Zug gar nicht mehr weg. «Nichts als Ehrgeiz», wiederholt Meyer böse. «Sie waren noch nicht bei der Armee, nehme ich an», sagt Siegel und bemüht sich, ruhig zu sprechen. «Sonst würden Sie so etwas
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nicht sagen.» «Das steht doch hier nicht zur Debatte!» ruft der KAP-Vorsitzende. Er schlägt mit beiden Händen auf die Tischplatte, und seine Nasenflügel weiten sich. «Um diesen Leutnant geht es. Um ihn ganz allein!» «Nein», ruft Bredow dazwischen, «nein, um viel mehr!» «Um diesen Leutnant», beharrt der Vorsitzende mit lauter Stimme auf seiner Meinung, «der sich das Recht herausnimmt, über ein Feld zu fahren, gleich welcher Art es ist. Eine Stunde Übungszeit ist ihm wichtiger und Ihnen, Genosse Oberst, wie’s scheint, auch. Lernt ihr das an euern Hochschulen? Oder hätten Sie, Genosse Oberst, etwa ebenso entschieden?» Ahnert sieht Bredow an, der ruhig auf seinem Platz sitzt. Die Aufmerksamkeit aller richtet sich plötzlich auf den Oberst. Auch Ahnert erwartet mit Spannung eine Antwort, und er ahnt, daß das Zögern des Offiziers keine Unentschlossenheit ist, sondern etwas mit Verantwortung zu tun hat, die über Barsekow, über diese Verhandlung und das Feld weit hinausgeht. «Auf dem Weg hierher…», erklärt Bredow ruhig und langsam, so wie er vor Tagen im ersten Konzentrierungsraum mit Ahnerts Soldaten gesprochen hat, ehe aus unerfindlichen Gründen von einem Augenblick zum anderen seine Wärme verlosch. «Auf dem Weg hierher», wiederholt der Oberst, «habe ich mir an Ort und Stelle alles genau angesehen. Das Feld sieht böse aus, ich weiß. Aber Leutnant Ahnert hat auch recht. Es gab für ihn nur die Wahl zwischen zwei Möglichkeiten.» Unruhe kommt auf. Sie geht von Meyer aus, der aufsteht und vor den Kartenständern hin- und herläuft, die Hände in den Taschen seiner Lederjacke. Bredow läßt sich jedoch nicht beirren, er spricht auch nicht lauter als bisher, und die Unruhe legt sich wieder. «Es ist für Sie vielleicht nicht leicht», fährt der Oberst fort, «wenn ich Sie darum bitte, diese Sache auch einmal von der militärischen Seite zu sehen. Aber es ist berechtigt, genau wie Sie das Recht haben, von uns zu verlangen, das Ereignis mit Ihren Augen zu sehen.» Alle hören zu. Noch nie hat Ahnert Bredows Stimme so ruhig und
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warm empfunden wie heute. «Sie haben mich gefragt», sagt Bredow, «wie ich anstelle von Leutnant Ahnert gehandelt hätte. Ich hätte entschieden wie er.» Ahnert erschrickt, schluckt ein paarmal und holt tief Luft. Das ist das einzige Geräusch im Zimmer. Vom Saal herüber, der für den abendlichen Manöverball vorbereitet wird, dringen gleich darauf Hammerschläge. Meyer steht starr vor den Tabellen. Das Schweigen hält an, und je länger es dauert, um so deutlicher zeichnen sich die Fronten ab. «Volksarmee», ruft Meyer, und er ist zum erstenmal haltlos, «Wege unpassierbar machen! Kreuzungen blockieren! Felder verwüsten…» «…ein Feld», unterbricht ihn Major Siegel, «ein Feld! Auf dem der Versuch im nächsten Jahr wiederholt werden kann.» Meyer winkt ab. «Ist ja alles sinnlos.» Er tritt zum Kartenständer und beginnt, die Tabellen einzurollen. Dabei spricht er, mal lauter, mal leiser, wie einer, der mit sich selber redet, um Ärger und Zorn loszuwerden. Aber die Wut nimmt nicht ab, sondern zu. Plötzlich dreht er sich um und stützt die Hände auf den Tisch. «Was hätte sich an dieser Übung geändert, was, frage ich, wenn er einen Umweg gemacht hätte? Was wär’ dann schon passiert? Ein oder zwei Stunden länger hätte sie gedauert, das ist alles. Und dafür wird ein Feld geopfert.» Siegel will etwas sagen, doch Bredow legt ihm die Hand auf den Arm. Jetzt reden auch die anderen, die Diskussion wird immer lauter und unübersichtlicher. Ahnert nimmt Meyer nichts übel. Meyer ist für das Feld verantwortlich. Sicherlich hat er auf einen Erfolg gewartet, auf einen landwirtschaftlichen, wie Ahnert auf einen militärischen. Der Leutnant hat ihn auf Meyers Kosten erreicht, aber er freut sich längst nicht mehr darüber. Zur Zeit schweigen nur die Offiziere und Neitzmann. Alle anderen reden aufeinander ein. Ruth Drewen drückt ihre Zigarette im Aschenbecher aus und ruft plötzlich: «Schluß jetzt!» Sie steht auf, und allmählich wird es wieder ruhig. Neitzmann hat ein Lächeln um die Lippen. Ruth Drewen sagt: «So ein Palaver!» Ihre Augen sind jetzt schmal und die vielen Fältchen zu den Schläfen
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hin tiefer. Diesen Fältchen nach ist sie wenigstens fünfzig Jahre alt. Doch die Augen, über denen kräftige, dunkle Wimpern stehen, und die geschwungenen Lippen lassen sie zehn oder zwölf Jahre jünger erscheinen. Sie ist eine jener schlanken Frauen, die schwere Brüste haben. Die Bürgermeisterin erinnert den Leutnant ein wenig an Friederike Schanz, an eine der schönen, für ihn unerreichbaren Frauen. «Vielleicht erklärt ihr mir mal, wo wir hier sind. Und vielleicht trennen wir mal zwei Dinge, die dauernd in einen Topf gehauen werden, aber noch lange keine Suppe ergeben. Vielleicht fragen wir mal, welche Rolle die Armee in unserem Land überhaupt spielt, sonst verstehen wir das eine genausowenig wie das andere.» Allmählich spricht sie ruhiger und dadurch eindringlicher, und die Männer hören ihr zu. «Ich will euch nur daran erinnern, daß ich seit über zwanzig Jahren in Barsekow bin. Es hat kaputte Zäune gegeben, einmal fuhr ein Panzer quer durch eine leere Scheune, weil der Fahrer geschlafen hatte, und ein paar Bäume und Hühner mußten dran glauben. Aber ihr tut so, als würde unsere Armee seit Jahren nichts anderes machen, als unsere Felder und Wiesen vernichten. Und das, was die Soldaten für uns getan haben, ist völlig vergessen. Wenn wir hier schon wie die Krämer bis auf den Pfennig genau rechnen, Kollege Meyer, dann bitte ich die vielleicht Hunderttausende von Mark, die uns die Soldaten eingebracht haben, mit auf die Liste zu setzen. Wer hat uns denn die zwei Brücken gebaut, durch die wir bei jeder Bestellung und Ernte mindestens fünfhundert Kilometer und manchmal ganze Wochen an Zeit einsparen? Das ist, solange ich hier Bürgermeister bin, das erste zerfahrene Feld und wird hoffentlich das letzte bleiben. Und wenn ich sage, hoffentlich, meine ich weder den Leutnant noch den Oberst. Da meine ich die Frage, um die sich alles dreht, die nach Krieg und Frieden. Und, Genossen von der Armee, so einfach aufs nächste Jahr vertrösten, ist auch keine Haltung, denn die Verluste haben wir, das ist nun mal Tatsache.» Sie blickt nun zum Vorsitzenden und zu Meyer. «Mir tut’s genauso leid ums Feld wie euch. Aber ich mach’ daraus keine prinzipielle Haltung gegen unsere Armee. Ich möchte nämlich nicht, daß da irgendwelche anderen Leute alles kaputtmachen, nicht nur die Felder,
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sondern ganz Barsekow und uns dazu. Die hier in der Uniform sitzen, die spielen doch nicht Räuber und Gendarm, aber das wißt ihr besser als ich, wart doch selber mal dabei. Es geht wirklich um Krieg oder Frieden und nur in diesem Zusammenhang auch um das Feld.» Meyer legt achselzuckend die Rollen auf den Tisch und steht unschlüssig davor. «Übermorgen findet eine Sekretariatssitzung statt», sagt Neitzmann, «daran nehmen von der Division Generalmajor Werner und von der KAP der Vorsitzende teil. Dort fällt die endgültige Entscheidung. Aber eins sag’ ich euch jetzt schon. Pflügt das Feld nicht etwa um, ich hab’ mir’s angesehen. Ein Teilergebnis ist immer noch besser als gar keins. Und ihr», er wendet sich Bredow zu, «nehmt euch inzwischen mal eure Aufklärer vor. In der Landwirtschaft verändert sich jetzt dauernd etwas. Wo vor ein paar Wochen noch eine Wiese war, liegt jetzt ein Feld, und wo vor einem Jahr alles offen war für eine ganze Abteilung Artillerie, da steht heute eine Milchviehanlage. Das geht mitunter schneller als das Kartendrucken. Man muß sich vorher im Gelände genau umsehen, ehe man Marschrichtung und Räume festlegt. Und man muß von unseren Offizieren auch verlangen können, daß sie manches mit den Augen der Landwirtschaft betrachten.» Bredow nickt. Vom Saal herüber sind erneut Hammerschläge zu hören. Jemand zählt vor einem Mikrofon bis zehn. Hier im Zimmer schweigen alle. Es ist, als dächten sie darüber nach, ob sie noch etwas Wichtiges vergessen hätten. Oder sie warten darauf, daß einer das Gespräch offiziell beendet. Neitzmann tut es. «Na ja», sagt er und schaut sich in der Runde um, «heute abend sehen wir uns wieder. Nebenan im großen Saal. Also dann, bis heute abend.» Er steht auf und geht zu Ruth Drewen. Ahnert blickt zu den Offizieren hinüber. Bredow spricht leise mit Major Siegel. Sie nicken ein paarmal, dann kommen sie auf Ahnert zu. Bredows Gesicht wirkt aus der Nähe schlaff. Er nickt Ahnert zu, wobei er die Augen schließt und der rechte Mundwinkel sich ein wenig hebt. Ohne ein Wort zu sagen, geht der Oberst an ihm vorüber. Ahnert folgt. Bredows Stiefel
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sind schmutzig. An den Absätzen klebt eine dunkelbraune Kruste, und die Ränder sind voller getrockneter Erde, die vom Feld herrührt. Ahnert und Siegel fahren vor Bredow vom Kulturhaus weg. Der Oberst blickt dem Wagen nach, bis er an der Kirche nach links abbiegt. Eine ungeheure Müdigkeit überkommt Bredow, die wie Gleichgültigkeit ist. Wieder beneidet er den Leutnant. Und wieder denkt er an seinen Sohn. In einigen Monaten wird er auch Leutnant sein, und Bredow meint plötzlich, daß er ihm etwas für sein Leben Wichtiges nicht mitgeteilt hat. Wenn sein Sohn das nächstemal Urlaub hat, muß Bredow das Versäumte nachholen, er wird ihm viel zu sagen haben, mehr als bisher. Erkenntnisse, Überlegungen, die den zukünftigen Leutnant Bredow mehr betreffen als den Oberst Bredow. Da schwingt sich die Müdigkeit von Bredow weg. Seine Lebhaftigkeit kehrt zurück, und er steigt ein, fährt los, um den Divisionskommandeur über das Gespräch zu unterrichten. Ulrich Fichtner erreicht den Hochwald. Hinter einer Buche bleibt er stehen, lauscht und blickt zurück. Nur die sandhellen Fahrspuren der Schneise sind in der Dunkelheit zu erkennen. Sie führen an einem schon ausgeholzten Kiefernjagen entlang, den der Soldat vor wenigen Minuten durchquert hat. Nichts ist zu hören. Also folgt ihm niemand. Keiner wird sein Verschwinden bemerkt haben, und er wird nicht vermißt. Fichtner zwingt sich, bis dreißig zu zählen, ehe er weitergeht, hügelan und nordwärts. Der Himmel ist wolkenlos, und der Schäfer kann sich auf seinem Weg nach den Sternen richten. Der Wald endet an der Fernverkehrsstraße, die das Land von Südosten nach Nordwesten zerschneidet. Hinter der Straße liegen ein paar Kilometer Weideland, das schon zur Barsekower Flur gehört. Seit der Fahrer von Oberst Schanz dem Schäfer erzählt hatte, daß Friederike beabsichtige, nach Barsekow zu fahren, wünschte sich Fichtner, unter den Ausgewählten zu sein. Aber als sich herumsprach, daß nur vier Mann aus jeder Kompanie am Manöverball teilnehmen könnten, gab er seine Hoffnungen auf. Eisner, Litosch, ein
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Panzerbüchsenschütze aus dem zweiten Zug und Ahnert wurden bestimmt. Fichtner wirft niemandem vor, daß er nicht dazu gehört. Die vier haben es eher verdient als er. Sein heimliches Verschwinden aus dem Ruheraum des Regiments hat mit der Kompanie nichts zu tun. Das ist Fichtners eigene Angelegenheit, das geht nur ihn und Friederike etwas an. Er muß sie sehen. Er muß etwas zu Ende bringen, so oder so, sonst kann er nicht weiterleben. Ein unwiderstehlicher Zwang drängt ihn, ähnlich dem, der ihn vor Tagen zu jenem Hügel getrieben hat, wo er festgenommen wurde. Heute wird er sein Ziel erreichen, heute läuft er nicht gedankenlos vorwärts. Es ist dunkel, und die Nacht ist ihm vertraut wie die Erde, wie Wald und Felder, die gleichsam ein Teil seiner selbst sind. Heute nutzte er geschickt alle seine Fähigkeiten, um unbemerkt von der Einheit wegzukommen. Er hat sich mit diesem Plan von dem Augenblick an beschäftigt, als die vier Barsekow-Fahrer vor der angetretenen Kompanie verabschiedet worden sind und als für ihn ganz sicher war, daß er Friederike auf offiziellem Weg im Kulturhaus nicht begegnen konnte. Ihm schien die günstigste und vielleicht einzige Möglichkeit, Friederike zurückzugewinnen, in Barsekow zu sein, unter anderen Umständen und veränderten Bedingungen. Diese Möglichkeit wollte er nutzen. Während der Übung war um Fichtner herum so viel geschehen, war er selbst an so vielen Aktionen beteiligt gewesen, daß die acht Tage ihm wie Wochen vorkamen. Dieser Eindruck rückte alles, was vor der Übung geschehen war, weit von ihm weg, machte es nichtig, weckte den Anschein bedeutender Veränderungen in ihm, und er empfand, daß er das Recht auf Friederike wiedergewonnen hatte. Doch später waren die Zweifel wiederaufgetaucht. Mit rücksichtsloser Offenheit gestand er sich ein, daß Friederike nicht seinetwegen nach Barsekow kommen wollte, sondern um jenen Major zu treffen, von dessen Tisch er vor der Übung, durch Friederike abgewiesen, weggegangen war, dem gleichgültigen Auslachen der anderen Soldaten zu, das ihm noch erträglicher erschien als Friederikes Zurückweisung. Diesem Eingeständnis folgte wenig später die Eifersucht, die
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ihn mit deutlichen Bildern quälte. Ein anderer beugt sich über Friederike, berührt ihren Leib, mit den Händen, den Lippen, drückt seinen Kopf gegen ihren Schoß, dringt in sie ein und spürt ihre willige Hingabe bei jeder Bewegung. Einem anderen gehört alles, was Ulrich Fichtner eine halbe Nacht besessen hat. Ein anderer erlebt, was Friederike ihm nicht ermöglichte, den Genuß der Wiederholung. Diese Gedanken und Bilder brachten Fichtner nicht etwa von seinem Vorhaben ab, sondern trieben ihn noch stärker an. Er dachte weder an die Folgen noch darüber nach, was er, wenn er erst in Barsekow war, unternehmen wollte. Fichtners Verstand richtet sich nur auf den Weg, den er geht. Ursachen und Ziel sind wie alles, was mit Friederike zusammenhängt, im Gedanklichen nicht mehr zu fassen. Fichtner folgt einem inneren Gesetz wie Vögel dem triebhaften Drang nach Süden oder Fischschwärme dem Weg zu den Laichplätzen. Er muß nach Barsekow, koste es, was es wolle. Fichtner erreicht die Straße, versteckt sich in der Nähe des Grabens hinter einem Stapel aus Schneezäunen, wartet bis keine Wagenlichter mehr zu sehen sind, dann überquert er die Fahrbahn und läuft an einem schmalen, von Buschwerk bewachsenen Wassergraben weiter auf Barsekow zu. Im großen Saal des Kulturhauses, der fast achthundert Gästen Platz bietet, ist kein Stuhl mehr frei. Vor der Tanzkapelle des Artillerieregiments steht Generalmajor Werner. Er hat ein Glas Wein in der Hand und schnipst den Zeigefinger zweimal vorsichtig gegen das Mikrofon. Im Saal kommen diese Geräusche wie Abschüsse an, und allmählich wird es still. Alle Gesichter richten sich auf den Divisionskommandeur, die der Mädchen und Frauen ebenso wie die der Soldaten, Unteroffiziere und Offiziere. Werner räuspert sich und zögert. Eine Begrüßungsrede hat er nicht vorbereitet, sich nicht einmal überlegt. Das überläßt er immer dem Augenblick, der jeweiligen Stimmung, in der ihm meistens etwas einfällt. Manchmal sogar zuviel, so daß er nicht weiß, womit er beginnen soll. So ergeht es ihm auch heute. Viele Ereignisse der letzten Tage, viele Eindrücke und Erlebnisse könnte er erwähnen. Aber über das eine etwas sagen hieße, alles andere weniger wert zu machen.
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Noch einmal räuspert er sich. Lore Werner spürt das Zögern ihres Mannes. Sie wünscht, daß er nicht mehr zu lange wartet, damit die augenblickliche Aufmerksamkeit der vielen hundert Menschen nicht zusammenfällt. Sie steht mit Friederike an dem der Bühne gegenüberliegenden Ende des Saales zwischen den Serviererinnen und Köchinnen, die vom Tresen und aus der Küche zusammengelaufen sind. «Ich freue mich», sagt Werner jetzt, und seine Frau schrickt zusammen, weil die Stimme ganz nah ist. «Ich freue mich, daß wir die Übung so gut, mit soviel Erfolg beendet haben.» Lore Werner lauscht der Stimme ihres Mannes. Ruhig und freundlich spricht er. Er hat nicht den lauten Ton von Versammlungsrednern, der vom zwanghaften Ehrgeiz kommt, alle erreichen zu wollen, und der in Wirklichkeit gerade deswegen über viele hinweggeht. Es ist, als rede Werner mit einem einzelnen, als erzähle er einem vertrauten Menschen etwas Gutes und Wichtiges. Und als dieser Vertraute empfindet sich im Augenblick jeder der über achthundert Menschen im Saal. Lore Werner kennt jede Nuance in der Stimme ihres Mannes. Sie weiß, in welchem Augenblick Ergriffenheit sie dunkler macht, Freude sie leicht und schnell werden läßt. Wann Zorn sie verschärft oder Traurigkeit plötzlich schwer auf ihr liegt, so daß sie sich nur unter Pausen bewegen kann. Sie wünscht sich, er möge das Gedicht von Simonow sprechen, nichts anderes mehr sagen als jene Zeilen noch einmal so, daß jeder sie wie sein Eigenes versteht. Für die Freiheit meines Lands, rings umdröhnt, umblitzt, kämpfend, fühl ich, wie im Kampf mich dein Warten schützt. Was am Leben mich erhält, weißt nur du und ich: Daß du, so wie niemand sonst, warten kannst auf mich.
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Lore Werner freut sich auf den Augenblick, wo sie ihrem Mann gegenüberstehen, sein Gesicht berühren, die grau werdenden Haare über den Ohren mit den Fingern festdrücken wird. Eine Geste, die so alt ist wie ihre Liebe und die sie ihm noch heute erweist, bevor er die Mütze aufsetzt. Mit Friederike hat sie sich unter die Serviererinnen gemischt, sich Schürze und Haube ausgeliehen, und sie haben den Barsekower Frauen die Tische gezeigt, zu denen sie die Broiler tragen wollen. Erst in diesem Augenblick ahnte Lore Werner, warum Friederike nach Barsekow gefahren war und weshalb sie, je näher sie dem Ort kamen, immer schweigsamer und unruhiger wurde. Jetzt steht sie neben ihr, atmet kurz und heftig und läßt kein Auge von dem Tisch, an dem Wittenbeck mit drei Soldaten seiner Abteilung sitzt. Sie starrt dorthin, als könne sie ihn nur dadurch auf seinem Stuhl festhalten. Lore Werner greift nach Friederikes Arm und drückt ihn. Das Mädchen wendet sich ihr zu. Ihr Gesicht ist seltsam schmal und kantig, es wirkt mädchenjung und im nächsten Augenblick um Jahre gealtert. Für Friederike hängt mit dem Gang zu jenem Tisch etwas Lebenswichtiges zusammen, und Lore Werner läßt den Arm des Mädchens nicht los, sondern drückt ihn fest gegen ihre Seite. Noch immer blicken alle Anwesenden zur Bühne und lauschen den Worten von Generalmajor Werner. «Irgendwann, im sechsten oder siebenten Jahrhundert», sagt er, «ist ein germanisches Heer auseinandergelaufen, wie es heißt, weil es nichts mehr zu trinken hatte. Die mexikanische Armee in Stärke von zweihundertfünfzigtausend Mann hat vor etwa dreihundert Gegnern kapituliert, weil keiner den Befehl zum Angriff gab. Und die Soldaten des Fürstentums Liechtenstein sind um die Mitte des vergangenen Jahrhunderts wegen Mangels an Feinden entlassen worden. Ich möchte mit euch allen auf unsere Armee trinken.» Er hebt das Glas und streckt es über das Mikrofon dem Saal entgegen. «Trinken wir darauf, daß es für unsere Armee immer etwas zu trinken gibt. Darauf, daß immer einer da ist, der zur rechten Zeit die richtigen Befehle gibt, und daß zwischen ihm und allen anderen, die sie ausführen,
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immer solche Einmütigkeit herrscht, wie unsere Übung sie neuerlich bewiesen hat, denn wir leiden noch keinen Mangel an Feinden. Auf unsere Division!» Er trinkt das Glas in einem Zug leer, geht von der Bühne zum Tisch, und ans Mikrofon tritt Ruth Drewen. Vorsichtig und stets in der Nähe von irgendwelchen Deckungen bleibend, umkreist Fichtner das Kulturhaus. Von seinem Heimatdorf her weiß er, daß bei Tanzabenden die Saalfenster immer von denen belagert werden, die noch keinen Zutritt haben. Auch er hat vor Jahren auf Fahrradsätteln, auf Kisten und sonstigem Kram gestanden oder ist mit anderen Halbwüchsigen auf die Kastanien an der Straße geklettert. Sie beobachteten, was im Saal geschah, kommentierten es und benutzten es mitunter auch zu kleinen Erpressungen. Vor allem aber prägten sie sich die Bewegungen und Gesten der Anwesenden ein und bewahrten alles in sich auf für den Tag, an dem die Türen des Saales sich auch für sie öffneten. Das ist auf dem Lande bis heute so geblieben, und es ist in Barsekow nicht anders als in Fichtners Dorf. Rechts neben dem Kulturhaus, wo die Wagen stehen, sind all Fenster umlagert wie im «Weißen Bär» zur Kirmes. Links neben dem Kulturhaus liegt ein parkähnliches Gelände, Buschwerk und Blumenrabatten lösen einander ab. Im Hintergrund flankieren Fahnenmasten einen hohen Findling. Die schmalen Wege sind mit Kies bestreut. Zwischen den Saalfenstern und dem ersten Längsweg liegt eine vier bis fünf Meter breite Fläche, auf der Blumen und Stauden wachsen. An dieser Seite des Saales befindet sich niemand. Auf Zehenspitzen steigt Fichtner über die Pflanzen und geht bis zum ersten Fenster, von dem aus er den Saal überschauen kann. Am Mikrofon steht eine Frau, was sie sagt, versteht er nicht. Auf den Gesichtern der Leute im Saal, die alle zur Bühne gerichtet sind, erkennt er Heiterkeit. Er schaut sich um und sucht Tisch für Tisch ab. Nach kurzer Zeit entdeckt er in der zweiten Reihe die vier Delegierten der Kompanie. In der Reihe daneben, an einem der nächsten Tische, sitzt Wittenbeck. In der Mitte des Saales an einer langen Tafel erkennt Fichtner den Divisionskommandeur. Bei ihm sind sowjetische Offiziere und einige Zivilisten. Auch Bredow und Schanz
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Schanz sitzen an der Tafel. Friederike ist nirgends zu sehen; jedenfalls dort, wo Fichtner sie vermutet, befindet sie sich nicht. Weder bei ihrem Vater noch an Wittenbecks Tisch. Vielleicht ist sie doch nicht gekommen, oder Kinzel hat sich verhört. Trotzdem wartet der Schäfer. Nun, da er einmal hier ist, wartet er und will sich Gewißheit verschaffen. Er braucht nur den Major und Schanz nicht aus den Augen zu lassen. Sollte Friederike irgendwo im Saal sein oder noch eintreffen, wird sie bei einem von beiden auftauchen. Jetzt klatschen alle. Sie klatschen lange, und die Frau verläßt die Bühne, geht zur Tafel in der Saalmitte. Von hinten tragen die Serviererinnen das Essen zu den Tischen. Fichtners Blicke wechseln, zwischen Schanz und Wittenbeck hin und her. Plötzlich entdeckt er Friederike. Sie ist nur noch wenige Meter von Wittenbecks Tisch entfernt, trägt einen einzigen Teller und wird von Schritt zu Schritt langsamer. Es sieht aus, als müsse sie all ihre Kraft aufwenden, um einen inneren Widerstand zu überwinden. Ihr Gesicht ist vor Anspannung verkrampft und der Hals kürzer als sonst. Fichtner wünscht sich, irgend etwas möge geschehen, damit Friederike stehenbleibt, die letzten Schritte nicht mehr geht, den Tisch nicht erreicht. Aber wer und was soll sie zurückhalten, wenn nicht Fichtner selbst? Er schreit: «Rike! Rike!» Aber niemand hört ihn. Friederike wird auf ihrem Weg von den Soldaten, die sie erkennen, verwundert gemustert. Sie spürt die Blicke, ahnt die Wünsche, und ihr scheint, daß sie an jedem Tisch, den sie passiert, ein wenig Enttäuschung hinterläßt. Alle starren ihr erwartungsvoll nach, alle wollen wissen, wohin sie geht. Rechts von ihr erreicht Lore Werner die Tafel. Sie stellt den Teller ab und legt ihre Hände über die Augen ihres Mannes. Konrad Werner steift sich auf, tastet die Hände ab, den Ring an der Rechten, die Gelenke und erhebt sich langsam. Das Gesicht von Lore Werner hat sich in diesen wenigen Augenblicken erstaunlich verjüngt, und Konrad umfaßt es mit beiden Händen, drückt es ein wenig, so daß sich die Lippen seiner Frau lustig spitzen. Er küßt sie und drückt Lore an sich.
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Sie stehen mitten im Saal, umgeben vom Stimmengewirr Hunderter von heiteren Menschen, die, auf das Paar aufmerksam geworden, allmählich leiser werden. Eine rührende Stille breitet sich von der Tafel her immer weiter im Saal aus. Diese allgemeine Anteilnahme ergreift auch Friederike, und gleichzeitig beneidet sie Frau Werner, für die alles einfach ist, die gewußt hat, wie ihr Mann reagieren wird, die geborgen steht in seiner stummen, sicheren Nähe. Friederike trennen immer noch ein paar Schritte von Wittenbeck. Er sitzt vorgebeugt, die Unterarme auf die Tischplatte gestützt. Die Uniformjacke spannt sich über seinem Rücken, so daß in der Mittelnaht die grauen Fäden zu erkennen sind. Noch einmal schwemmen Furcht und Erregung in Friederike hoch, scheinen sie im letzten Augenblick aufhalten zu wollen. Die anderen Soldaten an Wittenbecks Tisch sind längst auf sie aufmerksam geworden, verfolgen schweigend jede ihrer Bewegungen. Da stellt sie Wittenbeck den Teller hin und sagt: «Guten Appetit!» Er nickt, bedankt sich, ohne aufzusehen. Der Unteroffizier, der neben ihm sitzt, stößt mit der Hand gegen seinen Oberarm und weist mit dem Kopf auf Friederike. Der Major wendet sich um, blickt zu ihr hoch, und auf einmal weiß sie, wovor sie sich die ganze Zeit gefürchtet hat. Vor der Ernüchterung in ihr selbst, die das erste ist, was sie empfindet, denn das Gesicht Wittenbecks bleibt ausdruckslos. Da sind die Augen, graublau, aber leer, über ihnen knochige Jochbögen, der Wirbel in der rechten Braue, eine gerade Nase und trockene, blasse Lippen, ein kantiges Kinn. Einzelheiten, ohne Zusammenhang, Teile eines Gesichts, die nichts, kein Gefühl, keine innere Bewegung miteinander verbindet. Langsam erhebt sich Wittenbeck, sein Gesicht nähert sich ihr, und es wirkt aus der Nähe sehr grob. Leise und mit heiserer Stimme sagt er: «Westphal, kneif mich mal!» Der Unteroffizier tut, wie ihm befohlen. Wittenbecks Gesicht zuckt zusammen, und dieses Zucken zerreißt die Starre, die wie eine Maske vor seinem Gesicht gestanden hat. Friederike beobachtet die Verwandlung wie vor vielen Tagen schon einmal, als Wittenbeck nach langer Abwesenheit plötzlich wieder im Restaurant saß und sie zu
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ihm ging. Die Freude macht aus den Einzelheiten wieder ein Ganzes, ein lebendiges, lachendes Gesicht. «Rike», sagt er leise, fast flüsternd, «Rike, daß Sie hier sind!» Sie nickt, nimmt die gestärkte, weiße Spitze vom Haar. Er sagt, auf die Schürze zeigend: «Und ich dachte, Sie…» «Tarnung», erklärt Friederike, um überhaupt etwas zu sagen, «nur Tarnung.» Sie läßt sein Gesicht nicht aus den Augen, will es sich für immer einprägen, wie es jetzt ist, um nie wieder diese erschreckende Ernüchterung zu erleben. Er freut sich. Er hat auf sie gewartet. Er zieht sie zu seinem Stuhl, drückt sie auf den Sitz. Seine Hände bleiben auf ihren Schultern, und die Daumen liegen über dem Blusenkragen an ihrem Hals. Breite, rauhe Daumen, die ein wenig zittern. Westphal gibt ihm seinen Stuhl und geht, einen neuen zu besorgen. Wittenbeck setzt sich neben Friederike, sehr nah, und sein linker Arm bleibt über ihrer Stuhllehne, die Hand an ihrem Oberarm. Fichtner starrt in den Saal, obgleich ihm jede Geste der beiden unerträglich erscheint. Er weiß, was diesen ersten, verhaltenen Berührungen folgen wird. Irgendwann, in irgendeiner Nacht, vielleicht schon heute oder morgen, wird Wittenbeck haben, was einmal ihm gehört hat. Aber er hat es verloren, und damit ist auch alles andere für ihn sinnlos geworden. Er kann gehen, warum ist er überhaupt noch hergekommen? Er hat doch alles vorausgeahnt. Jetzt erst begreift Fichtner, wie sehr sein ganzes Sein wochenlang auf Friederike konzentriert gewesen ist. Nun umgibt ihn hoffnungslose Leere, in der auch jene Ereignisse und Veränderungen, die während der Übung für ihn wichtig geworden sind, verschwimmen. Und seine Herde ist weit von ihm weg. Ist es überhaupt noch seine Herde? Ein anderer geht mit ihr. Auch seine Herde wird, wenn er ins Dorf zurückkehrt, nicht mehr das sein, was sie vorher für ihn war. Das ist das Schlimmste. Das ist der schmerzlichste Verlust, der ihm zugefügt worden ist. Aber Fichtner verläßt seinen Platz am Fenster nicht. Er starrt weiter in den Saal hinein, verfolgt jede Bewegung, jede Geste Friederikes und Wittenbecks, jedes Lächeln, jeden Blick und jede Berührung, die
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sie füreinander haben. Beim Essen sieht er ihnen zu, beobachtet, wie sie anstoßen und sich über die Gläser hinweg beim Trinken ansehen. Er blickt zu ihnen, als eine Singegruppe des Pädagogischen Instituts auf der Bühne singt, als sowjetische Offiziere russische Volkslieder vortragen. Fichtners Enttäuschung weicht der Eifersucht, und mit ihr kommen Zorn und Haß. Er wartet. Auf irgend etwas wartet er. Irgendwann werden Wittenbeck und Friederike allein sein wollen und den Saal verlassen. Dann wird er ihnen folgen. Die Tanzfläche füllt sich mehr und mehr. Bei einem der folgenden Tänze verliert Fichtner die zwei aus den Augen und entdeckt sie auch nicht wieder, als die Paare zu ihren Plätzen zurückkehren. Er reckt sich am Fenster hoch. Die Stirn an die Scheibe gepreßt, blickt er sich im Saal um. Und dabei trifft sich plötzlich sein Blick mit dem von Litosch, der nahe beim Fenster steht und seiner Tänzerin den Stuhl hinschiebt. Sekundenlang starren Fichtner und Litosch einander an, dann reißt sich der Schäfer vom Fenster los, bückt sich und bleibt in der Hocke sitzen. Er fühlt sich plötzlich eingesperrt, wie in der Blechtonne, die sich mit ihm hangabwärts bewegt. Eine Bewegung, gegen die er machtlos ist. Mit ihm geschieht etwas Bedrohliches, Gefährliches, und er muß es geschehen lassen. Er greift nach seinem Messer. Litosch ruft, als Fichtners Gesicht vom Fenster verschwunden ist, Eisner zu: «Der Schäfer! Draußen! Der Schäfer!» Sie rennen aus dem Saal. Litosch schickt Eisner nach links über den Parkplatz. Er selbst läuft nach rechts. Am Fenster steht der Schäfer nicht mehr. Litosch hört links von sich Schritte auf dem Kies und läuft quer durch den Park dem Geräusch nach. Im Licht der Saalfenster, das bis hierher dringt, erkennt er nach einer Weile den Schäfer, der gebückt und schnell wie beim Angriff vor ihm herläuft. Irgend etwas hält er in der rechten Hand, nach unten gerichtet, etwas Glänzendes. Aber Fichtner bleibt auf den Kieswegen, tritt nicht auf die weiche Erde der Beete und Rabatten. Dadurch kommt Litosch immer näher und erreicht gleichzeitig mit ihm das Halbrund vor dem Findling. «Bleib stehen!» ruft er. Von links stampft Eisner heran. Der Schäfer
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verhält am Findling, lehnt sich mit dem Rücken gegen den Stein. In der Rechten hält er sein Herdenmesser. Fichtners Hand krampft sich um den Holzgriff, als müsse er sich an ihm festhalten. Litosch und Eisner keuchen, während Fichtner ruhig atmet, als wäre er nicht eben erst dreihundert Meter gerannt. Alle drei schweigen. Von zwei Seiten her gehen Litosch und Eisner auf den Schäfer zu. Der Gefreite spricht ruhig auf ihn ein. «Steck das Messer weg, Ulli, bleib ’n Mensch und sag uns, was du hier willst.» Fichtner reagiert nicht, mit keinem Wort und keiner Bewegung. Er mustert Eisner, der ihm einen halben Schritt näher ist als Litosch. Der Fahrer nutzt das aus, springt nach vorn und reißt den rechten Arm des Schäfers zur Seite. Das Messer schlägt gegen den Stein, fällt zu Boden. Jetzt wirft Eisner sich gegen Fichtner und drückt ihn an den Findling. Litosch nimmt das Messer auf und stößt es mit aller Kraft gegen den Stein. Die Klinge zerbricht. Sie reißt ihm unter dem Daumen den Ballen auf und schlägt tonlos auf den Kies. Fichtner wirft sich hoch, kommt aber nicht von Eisner los und schreit: «Rike! Rike!» Dann ist er still, wird widerstandslos und leicht, und Eisner tritt zur Seite. Fichtner rutscht am Stein herab, und die beiden anderen setzen sich neben ihn. «Scheiß Weiber!» flucht Litosch, und dann schimpft er los: «Und du bist ein Idiot, ein kollriger! Wenn sie dich nicht will, kannst du sie nicht zwingen.» Eisner sagt kopfschüttelnd: «Ulli, Ulli, was sollen wir bloß machen mit dir?» Sie schweigen. Schließlich erkundigt sich Litosch: «Hast du einen von deinen Schnauzenhobeln mit?» Fichtner nickt. «Also paß auf», erklärt Litosch, «du kommst mit in den Saal. Sozusagen als kulturelle Überraschung, als Höhepunkt des Abends, so ungefähr. Du gehst auf die Bühne und spielst ein paar von deinen Weltliedern, klar? Das ist die einzige Möglichkeit, deine werte Anwesenheit hier wenigstens einigermaßen zu erklären.» Eisner nickt und fügt hinzu: «Ich red’ mit Ahnert.»
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«Und laß dir nicht einfallen, auf dem Saal wilde Sau zu spielen», warnt Litosch den Schäfer. «Sonst hau’ ich dich zusammen vor allen Leuten, und die Übung hat ein schlechtes Ende für dich.» Litosch steht auf, und reicht dem Schäfer die Hand, um ihn hochzuziehen. Fichtner tastet den Boden ab. Er sucht nach dem Messer und findet beide Teile, aber er steckt nur den Griff in die Tasche, den letzten faßbaren Gegenstand von Zuhause. Dann geht er mit den anderen zum Saal. Die Tanzfläche ist überfüllt. Viele Paare tanzen in den Gängen zwischen den Tischen. Werner sitzt allein an der Tafel. Seine Frau ist von Schanz aufgefordert worden. Bredow tanzt mit Ruth Drewen. Werner fühlt sich gut in der ausgelassenen Freude, die alle im Saal beherrscht. Sie verbindet die unterschiedlichsten Charaktere, ohne ihre Ansichten zu verändern. Aber sie bringt die Menschen einander näher. Zusammenstöße und Auseinandersetzungen während der Übung werden hier gegenstandslos. Vorfälle, die ganze Einheiten und viele Offiziere einschließlich des Divisionskommandeurs beschäftigt haben und sie zu Entscheidungen zwangen, wie beispielsweise die Degradierung des Gefreiten Eisner durch Oberst Bredow, verlieren hier ihr Gewicht, werden Wichtigerem untergeordnet. Von Generalmajor Werner angefangen bis zu Eisner und anderen Soldaten sind alle am Erfolg der Division beteiligt, und auch Bredows Anteil kann ebensowenig bestritten werden, wie der von Schanz oder Wittenbeck, von Ahnert oder Litosch. Und von all diesen Gefühlen und Gedanken wird jeder etwas in die Kasernen mitnehmen, das manches, was dem Rückmarsch folgt, erleichtern und beschleunigen wird. Der Alltag bricht bereits morgen früh für die gesamte Division wieder an. Und bei diesem Gedanken empfindet Werner wie jedesmal ein wenig Traurigkeit. Schon als Leutnant wünschte er sich, nach Abschluß einer Übung alle Handlungsorte noch einmal aufsuchen zu können und sie allein und bei völliger Ruhe wiederzusehen. Es ist ihm nie gelungen. Nach jeder Übung mußte er zu den Kasernen zurück. Immer hatte er Verantwortung für andere getragen. Und jedesmal hatte er die Schwelle vom Besonderen zum
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Alltäglichen überschreiten müssen, ohne sich aufhalten zu dürfen. Auch morgen wird er sich diesen Wunsch nicht erfüllen können. Wieder muß er zurückfahren mit dem Gefühl, etwas versäumt, etwas Wichtiges nicht zu Ende geführt zu haben. Aber Werner wird diesen Wunsch in sich erhalten. Nur gleichgültige und oberflächliche Menschen leben über alles hinweg und sind innerlich an nichts ganz beteiligt, auch an den Abläufen und Leistungen einer solchen Übung nicht. Vielleicht hat er morgen soviel Zeit wenigstens noch einmal zum Hügel am Fluß zu fahren, wo das Schlehengebüsch steht. Dort lief eine für die gesamte Übung wichtige Aktion beispielhaft ab. Dort möchte er noch einmal stehen, den Fluß als das sehen, was er seit Jahrtausenden ist und noch Jahrtausende bleiben wird: als Fluß und nicht als Wasserhindernis. Erst dadurch wäre in seinem Inneren das Gleichgewicht völlig wiederhergestellt, alles an den ihm gehörenden Platz gerückt und jedem natürlichen Gegenstand sein ursprünglicher Charakter, seine Bestimmung zurückgegeben. Werners Wunsch hat mit der Zukunft zu tun, mit seiner eigenen ebenso wie mit der von Bredow. Alles Vergangene hat mit der Zukunft zu tun, denn die Gegenwart ist immer nur einen Augenblick lang. «So nachdenklich?» Schanz setzt sich neben ihn. «Weißt du», sagt Werner, «wenn etwas Gutes und Großes zu Ende geht, bin ich immer ein bißchen traurig.» «Wem sagst du das?» «Wo ist Lore?» will Werner wissen. «Neitzmann hat sie mir weggeklatscht.» «Meine Frau einzuladen war eine gute Idee von deiner Tochter, eine großartige Idee.» «Sag ihr das», meint Schanz. «Später», entgegnet Werner, «heut stör’ ich nur.» «Übrigens», sagt Schanz, «Wittenbeck macht’s.» «Was?» «Keuners Arbeit.» «Fein, ich danke dir, Karl.» «Er war von selber soweit», erklärt Schanz und fügt nach einer kurzen Pause hinzu: «Ich verschwinde dann, heimlich. Nach Hause. Mit meinem Großen… Irgendwas ist da im Gange.» Werner nickt. Wenig später geht die Tanzrunde zu Ende. Alle kehren zu ihren Tischen zurück, und ans Mikrofon tritt der Kulturhausleiter. Er bittet um Ruhe und Aufmerksamkeit für ein junges Talent aus den Reihen
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der Soldaten. Er winkt zur rechten Bühnenseite hinüber. Langsam, mit schweren Schritten, geht Fichtner zum Mikrofon. Er blickt nicht in den Saal, sondern auf seine Füße, als fürchte er, über irgend etwas zu stolpern. Scharf treten seine Schulterblätter hervor, und sie werden noch deutlicher sichtbar, als der Soldat die Arme hebt und eine winzige Mundharmonika an den Mund führt. Die Augen geschlossen, steht er eine Weile unbeweglich, als warte er, bis es im Saal völlig still ist. Doch die Ruhe tritt erst ein, nachdem er zu spielen begonnen hat. Klar kommen die Töne, fast wie Flötenspiel klingt Fichtners Mundharmonika wieder. «Wenn ich ein Vöglein wär und auch zwei Flügel hätt, flög ich zu dir, weil’s aber nicht kann sein, weil’s aber nicht kann sein, bleib ich allhier.» Alle wenden sich nach und nach der Bühne zu. Die Serviererinnen bleiben am Saalende stehen. Die Melodie zieht wie eine Erinnerung durch den Raum, Erinnerung an etwas, das nie wiederkommt. Etwas Verlorenes, zur Kindheit Gehörendes rührt die Männer und Frauen an, die jungen ebenso wie die älteren. Gleichzeitig weckt das Lied eine wehe Sehnsucht nach Geborgenheit, nach der Nähe eines geliebten Menschen, die im Augenblick unerfüllbar ist. So hat das Lied etwas von Glück und Verzicht zugleich, schmerzt und tröstet in einem. Und etwas seltsames geschieht: Irgendwo in der Mitte des Saales beginnen einige die Melodie zu summen. Männerstimmen sind es, und immer mehr fallen ein. Die Mädchen und Frauen schweigen, überlassen das Lied ganz den Männern. Es gehört denen, die aus den Wäldern und von den Plätzen kommen, wohin außer ihnen keiner darf. Noch in der Nacht werden sie dorthin zurückkehren. Es ist ihr Lied. Für die meisten von ihnen werden Wünsche und Sehnsüchte aus diesem Lied für lange Zeit noch unerfüllbar bleiben. Und immer sind die in den Uniformen die ersten, die hinausmüssen. Vier Strophen hat das Lied, und ebensooft spielt Fichtner die Melodie. Als er die Mundharmonika absetzt, rührt sich keiner im Saal, und es bleibt eine Weile still. Die ersten Laute sind Fichtners Schritte, die das Mikrofon überträgt. Und mit diesen Schritten entfernen sich auch alle, die im Saal sitzen, ein Stück von dem Lied, ohne es
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jedoch zu vergessen. Friederike und Wittenbeck haben es nicht gehört. Sie haben den Saal vorher verlassen, und sie betrifft dieses Lied auch nicht. Ihre Wünsche und Sehnsüchte beginnen sich heute zu erfüllen. Daß sie zusammen sind, empfinden sie wie eine Gesetzmäßigkeit, der sie sich nur allzugern unterwerfen, die kein Wort und keine Erklärung braucht. Später wird es Stunden geben, in denen sie von ihren Zweifeln und Ängsten sprechen werden und wie oft einer den anderen in diesen Wochen verloren und wiedergefunden hat. An einem Koppelgatter bleiben sie stehen. Von den Wiesen her riecht es nach Erde. Friederike greift nach Wittenbecks Händen und hebt sie an ihr Gesicht. Hart und warm sind sie, und die Daumenkuppen kratzen über ihre Brauen. Dann reißt er sie an sich, schlägt den offenen Mantel um sie und hüllt sie mit seinen Armen ein. Friederike spürt seinen Mund auf ihrem Haar und seinen Atem, der ruhig und lang ist und unter dem sich sein Oberkörper weitet und wieder verengt, was die Umarmung fest und lebendig macht. Sie schweigen, und Friederike hält sich fest und empfindet mit zweifelloser Sicherheit, daß er sie nicht mehr loslassen wird. Und um dieses Gefühl nie wieder zu verlieren, wird sie ihm folgen, wohin er auch geschickt, wo immer er auch eingesetzt wird. Und mit der gleichen Sicherheit fühlt sie, daß ihr Leben weiterhin mit Kasernen zu tun haben wird, mit dem ewigen Kommen und Gehen von Soldaten, mit ihren Nöten und Freuden, ihren Niederlagen und Erfolgen. Der Wechsel vieler Dinge wird ihr Leben weiter bestimmen, aber er wird nicht mehr in ihr, sondern außerhalb von ihr stattfinden. Immer wird ihr Leben von Uniformen und Waffen umgeben, oft von Befehlen und höheren Notwendigkeiten bestimmt sein. Kein bequemes Leben, sondern eins mit Entbehrungen und mit manchem Verzicht, das oft mehr vom Krieg weiß und ihm immer näher ist als viele andere. Zu all dem fühlt Friederike sich bereit und fähig. Nur nicht mehr zum Verzicht auf Frank Wittenbeck. Von nun an gehen sie ihren Weg gemeinsam. Allen Widerständen und Schwierigkeiten, allen Vorbehalten und Nachreden werden sie gemeinsam begegnen. Vom Kulturhaus her trägt ihnen der Wind Musik und Lachen zu.
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Beide horchen auf. Wittenbeck greift nach Friederikes Hand. «Komm», sagt er, «zu den anderen.» Glück zieht sich nicht zurück, Glück sucht die Nähe anderer, denn es ist ein geselliges Gefühl, ein übertragbarer Zustand. Sie laufen los.
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