R. L. Stine
Teufelskreis Es gibt kein Entkommen...
Aus dem Amerikanischen übersetzt von Johanna Ellsworth
ISBN 3-78...
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R. L. Stine
Teufelskreis Es gibt kein Entkommen...
Aus dem Amerikanischen übersetzt von Johanna Ellsworth
ISBN 3-7855-3844-8 – 1. Auflage 2001 Titel der Originalausgabe: : Dead End Copyright © 1985 Parachute Press, Inc. Alle Rechte vorbehalten inklusive des Rechts zur vollständigen oder teilweise!! Wiedergabe in jedweder Form. Veröffentlicht mit Genehmigung des Originalverlags, Pocket Books, New York. Fear Street ist ein Warenzeichen von Parachute Press. © für die deutsche Ausgabe 2001 Loewe Verlag GmbH, Bindlach Aus dem Amerikanischen übersetzt von Johanna Ellsworth Umschlagillustration: Arifé Aksoy Umschlaggestaltung: Pro Design, Klaus Kögler Gesamtherstellung: GGP Media , Pößneck
Prolog Mom sagte immer: „Unfälle können passieren", wenn ich beim Abendessen die Milch verschüttete oder mir auf der Straße den großen Zeh verstauchte. Dad war viel strenger mit mir. „Natalie, warum kannst du nicht besser aufpassen?", fuhr er mich an. „Du bist ein richtiger Tollpatsch!" Aus irgendeinem Grund ging er gleich in die Luft, wenn ich wirklich mal die Milch verschüttete. Aber Mom blieb cool. „Unfälle können passieren", sagte sie gelassen. Als ich acht war, fiel ich vom Baum und brach mir den Arm. „Unfälle können passieren. Du bist eben ein Unglücksrabe, Natalie." Zwei Jahre später stürzte ich über die Lenkstange meines Fahrrads, als ich vor ein paar Jungen mit meinen Fahrkünsten angab. Ich landete auf dem Kopf. Eine Gehirnerschütterung brachte mich ins Kreiskrankenhaus von Shadyside. Mom blieb gelassen und tröstete mich. „Unfälle können passieren." In der Nacht, als der schreckliche Unfall in der Sackgasse passierte, fielen mir ihre Worte wieder ein. Und ich hörte ihre Stimme. Mein Herz hämmerte vom Schock des Zusammenpralls immer noch wie wild. Und als wir mit quietschenden Reifen auf der regennassen Straße davonrasten, wurde mir klar, dass das, was wir taten, nicht richtig war. Ich machte die Augen zu und hörte Moms sanfte, tröstliche Stimme: „Unfälle können passieren." Unser Wagen schlitterte quer über den Asphalt. Aber wir fuhren weg.
Wir mussten einfach hier weg. „ Unfälle können passieren." Ich redete mir ein, dass es nur ein Unfall gewesen war. Und jetzt war er vorbei. Ich hatte ja keine Ahnung, dass der wahre Terror jetzt erst anfangen sollte. 9
Kapitel 1 Freitagabend waren Talia Blantons Eltern nicht zu Hause, deswegen fand bei ihr eine Party statt. Dazu lud sie nur die älteren Schüler der Shadyside Highschool ein. Trotzdem tauchten ein paar Jungs aus einer anderen Schule überraschend auf Talias Party auf. Außerdem waren noch ein paar Mädchen da, die ich auch nicht kannte. Als ich die Kellertreppe hinunterging, begrüßte Talia mich überrascht. „Natalie! Ich hätte gar nicht gedacht, dass du auch kommst!", rief sie, um die dröhnende Musik aus dem CD-Spieler zu übertönen. „Warum sollte ich nicht kommen?", rief ich fragend. Sie nahm einen großen Schluck aus ihrer Coladose. „Ich weiß doch, dass du Partys nicht magst." Sie warf einen Blick über meine Schulter. „Wo ist Keith?" Überrascht drehte ich mich um. Keith Parker, mein Freund, war gerade eben noch hinter mir gewesen. Ich sah mich suchend in dem überfüllten Raum um. Dann entdeckte ich ihn hinter dem Pingpongtisch. Er redete mit Corky Corcoran und zwei anderen Cheerleadern. „Die Hälfte der Kids kenne ich gar nicht!", erklärte Talia und seufzte. „Hoffentlich verwüsten sie nicht das ganze Haus. Draußen in der Garage sind ein paar Jungs. Ich glaub, sie haben Bier mitgebracht. Meine Eltern bringen mich um, wenn sie das rauskriegen!" Ich winkte Janie Simpson zu. Sie hockte auf einer Sofalehne und unterhielt sich mit einem fremden Mädchen. Ricky Schorr saß mit einer Tüte Chips auf dem Schoß am anderen Ende der Couch. Er hielt Talias braunem Cockerspaniel einen Kartoffelchip vor die Schnauze und lockte ihn damit. Der Hund sprang hoch und bettelte. „Wo ist Randee?", rief Talia. „Ist sie nicht mit dir gekommen?" Randee Morgenthau ist meine beste Freundin. „Nein, ich bin mit Keith hergefahren", antwortete ich. 10
„Fährt sein Auto überhaupt noch?", fragte Talia und schüttelte den Kopf. „Letzte Woche hat er mich von der Schule nach Hause gefahren. Wir mussten die alte Kiste den ganzen Hügel hochschieben!" Ich lachte und wollte etwas erwidern. Doch Talia lief zur Treppe, um neue Gäste zu begrüßen. Talia und ich sind erst kurz miteinander befreundet – seitdem wir herausfanden, dass wir beide gern schreiben. Talia schreibt Horrorgeschichten. So was ist nicht mein Ding, aber sie ist wirklich begabt. Ich dagegen schreibe Tagebuch. Und viele Gedichte. Im vergangenen Jahr haben Talia und ich viel Zeit miteinander verbracht; wir reden immer über die Zukunft – wie es sein wird, wenn wir Shadyside verlassen und berühmte Schriftsteller werden. Am anderen Ende des Raums entdeckte ich meine Freundin Gillian Rose. Sie schubste gerade Carlo Bennett weg. Er versuchte immer wieder, die Arme um sie zu legen, und immer wieder wich sie ihm aus. Dabei lachten beide. Todd Davis, ein ziemlicher Angeber, der immer den Starken spielt, packte Carlo und hielt ihn fest, damit Gillian flüchten konnte. Aber ich hatte nicht den Eindruck, dass Gillian wirklich flüchten wollte. Sie packte Todd mit beiden Händen am Arm und versuchte, ihn von Carlo wegzuzerren. Ich ging hinüber zu Keith. Er hatte eine Hand voll Salzstangen, die er sich einzeln in den Mund stopfte. „Krieg ich eine?", fragte ich. Er ließ die Salzstangen in meine Hand fallen. „Zu wenig Salz", erklärte er kauend. Keith ist süchtig nach Salz. Er isst alles, solange man Salz darüber streut. Keith ist groß und sehr schlaksig. Ich reiche ihm kaum bis zur Schulter. Er hat kurzes, braunes Haar mit blonden Strähnchen und große, tiefgründige, braune Augen. Er ist ziemlich still und lächelt selten. Oft frage ich mich, was er wohl denkt. Ich werde aus Keith nicht schlau. Aber das kommt schon noch. Schließlich gehen wir erst seit ein paar Monaten miteinander. Gillian hat Keith und mich zusammengebracht. Es war an einem Freitagabend nach einem Footballspiel der Tigers am Anfang des 11
Schuljahrs. Wir waren gerade auf dem Parkplatz hinter dem Stadion. Sie sah Keith, der allein nach Hause gehen wollte. Sie zerrte ihn am Arm zum Auto und zwang ihn richtig, einzusteigen und mit uns Pizza essen zu gehen. An dem Abend hat es zwischen Keith und mir gefunkt. Was mir an ihm gefällt? Ich glaube, seine Schüchternheit. Sein Ernst. Seine tiefgründigen, dunklen Augen. Seitdem gehen wir miteinander. Und Gillian erinnert mich ständig daran, dass sie uns zusammengebracht hat. „Wann findest du einen Typ für mich?", fragt sie mich immer wieder. Aber ich mache mir wegen Gillian keine Sorgen. Sie ist sehr schön. Sie hat langes, rotbraunes Haar, grüne Augen und eine zarte, weiße Haut – dazu noch eine schlanke, zierliche Figur – und da sind ständig irgendwelche Jungs, die ihr wie hungrige, kleine Hunde überallhin folgen. Außerdem hat sie Carlo. Sie behandelt ihn wie einen guten Kumpel. Aber ich weiß, dass Carlo mehr von ihr will. Ich sah, wie Gillian mit Carlo und Todd herumalberte. Irgendjemand drehte die Musik sogar noch lauter auf. Sie dröhnte von den Kellermauern, und der Boden vibrierte. Der Krach war ohrenbetäubend. Ich fragte mich, ob sich Talias Nachbarn nicht bald beschweren würden. Dann sah ich, dass Janie Simpson aufstand, um mit Pete Goodwin zu tanzen. Ein paar andere Paare schlössen sich an. Jemand stieß eine Coladose um. Die Flüssigkeit ergoss sich auf den Boden. „Hey – wohin gehst du?", rief ich und packte Keith am Ärmel seines Sweatshirts. Er beugte sich zu mir und sagte mir ins Ohr, damit ich ihn in dem Lärm verstehen konnte: „Nach oben. Ein paar der Jungs haben Bier dabei." Ich verzog das Gesicht. „Hey, du willst doch heute Abend kein Bier trinken, oder?" Seine dunklen Augen blitzten schelmisch. Er hob den Zeigefinger hoch. „Bloß eins. Ehrlich." Er zog mich zur Treppe. „Komm doch mit. Trink auch eins." „Auf keinen Fall!" Ich riss mich los. „Du weißt, dass ich Bier nicht 12
ausstehen kann. Es schmeckt wie Seife!" Er zuckte die schmalen Schultern. Am liebsten hätte ich ihn an den Haaren gezogen. Er hasst es, wenn ich an seinen Haaren herumzupfe. Er mag es gar nicht, wenn man seine Frisur verstrubbelt. Ich sah ihm hinterher, während er die Treppe hinaufging und verschwand. Er musste einen Bogen um ein Pärchen machen, das knutschend auf der untersten Stufe saß. Ich ging durchs Zimmer und nahm ein Stück Pizza aus einer offenen Schachtel, die auf einem Tisch an der Wand stand. Sie war zwar kalt, schmeckte aber ganz gut. Ich winkte Gillian zu, die mit Carlo tanzte. Doch sie sah mich nicht. Die nächste halbe Stunde verbrachte ich damit, mich mit anderen Mitschülern zu unterhalten und Spaß zu haben. Wir mussten uns anbrüllen, um die Musik zu übertönen. Langsam fing ich an, mich zu wundern, ob Keith je zurückkommen würde – da sah ich Randee die Treppe herunterkommen. Sie stieg über das Pärchen auf der untersten Stufe, entdeckte mich und bahnte sich ihren Weg durch die überfüllte Tanzfläche. Randee ist groß; sie hat ein rundes Gesicht und lockiges, blondes Haar, mit dem sie nichts anfangen kann, wie sie immer wieder behauptet. Sie ist nicht gerade hübsch. Ihre Nase ist ein bisschen krumm, und sie trägt immer noch eine Zahnspange, obwohl sie schon siebzehn ist. Aber sie ist der netteste Mensch auf der ganzen Welt. Und so ziemlich die Klügste in unserer Klasse. Und sie war schon immer meine allerbeste Freundin. „Hey, Gillian und Carlo tanzen aber heiß, was?", fragte Randee und drehte sich um, um die beiden beim Tanzen zu beobachten. „Ich glaube, Todd ist eifersüchtig", bemerkte ich. Randee kicherte. „Glaubst du wirklich, Todd hat Gefühle?" Ich zuckte die Achseln. Todd war ein ziemlicher Macho. Die meisten anderen hielten ihn für einen Blödmann. Aber ich glaube, Randee war insgeheim in ihn verknallt. „Wo warst du denn?", fragte ich. Sie grinste mich an. „Oben. Ich hab mich mit ein paar Typen aus Madison unterhalten." „Ist Keith immer noch oben?" 13
Sie nickte. „Keith hat die Wette gewonnen." „Wie bitte? Welche Wette?", fragte ich. „Die Wette, wer am meisten Bier trinken kann", antwortete Randee. Ich stöhnte. Ein tanzendes Paar, das ich nicht kannte, stieß rückwärts gegen Randee und mich. „Entschuldigung!", rief das Mädchen, und sie tanzten weiter. Der Keller war so voll geworden, dass Randee und ich fast in den Waschkeller abgedrängt wurden. „Ich hasse es, wenn Keith Bier trinkt!", jammerte ich. „Dann wird er so albern und bescheuert und glaubt dabei, er sei witzig." Ich glaube nicht, dass Randee mich verstehen konnte. Die Musik dröhnte noch lauter als zuvor, und ein paar Jungen brüllten begeistert durch den ganzen Raum. Ich zog Randee am Arm in einen kleinen Wäscheraum. Dort war es jedoch kaum leiser. „Ziemlich wilde Party, was?", sagte Randee. Sie grinste und entblößte dabei ihre Zahnspange. „Ich habe Lust zu tanzen oder so. Du auch?" Ich verdrehte die Augen. „Ja, klar. Wenn ich bloß Keith dazu kriegen könnte, wieder runterzukommen. Ich hab ihn nicht mehr gesehen, seit wir gekommen sind." Ich sah Talia, die sich durch die Menge zwängte und auf uns zukam. Ihr Gesicht war gerötet und ihr Haar feucht vom Schweiß. „Hey, ihr beide", rief sie. „Warum versteckt ihr euch hier hinten?" Ich wollte gerade antworten, als ich durch aufgeregte Stimmen unterbrochen wurde. Talia, Randee und ich drängten uns nach vorn, um zu sehen, woher der Lärm kam. Der schrille, angstvolle Schrei eines Mädchens übertönte die laute Musik. Ich betrat gerade noch rechtzeitig den Raum, um mit anzusehen, wie eine Gestalt die Kellertreppe hinunterstürzte.
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Kapitel 2 Die Musik brach ab. Verstörte Rufe wurden laut. „Was ist passiert?" „Wer hat da so geschrien?" „Was ist mit der Musik?" „Ist jemand gestürzt?" Ich sah, wie eine Gruppe Jugendlicher sich um den unteren Treppenabsatz versammelte. Als ich auf sie zuging, überkam mich eine schreckliche Vorahnung. Plötzlich wusste ich es. Ich wusste, es war Keith. Ich fröstelte am ganzen Körper. Meine Kehle war wie zugeschnürt. Als ich mich an einer Gruppe verstörter Kids vorbeidrängte, sah ich Gillian und Carlo in der Menge vor der Treppe. Carlo hatte den Arm um Gillians Schulter gelegt. Gillians rotbraunes Haar hing ihr in feuchten Strähnen ins Gesicht. Sie presste ihre Hände an ihre Wangen. „Es ist Keith. Ich weiß, es ist Keith", dachte ich. Ich zwängte mich in den Kreis der Versammelten und bahnte mir einen Weg nach vorne. Ich keuchte vor Angst und wäre fast über die Gestalt auf dem Boden gestolpert. Es war Keith. Er lag mit gestreckten Beinen flach auf dem Rücken; ein Fuß auf dem Treppenabsatz. Grinsend und mit verschwommenem Blick sah er zu mir auf. „Ich glaube, ich habe die erste Stufe übersehen", sagte er. Ein paar der anderen lachten. Ich war viel zu erleichtert, um zu lachen. Ich starrte ihn mit klopfendem Herzen an. Ich hatte wirklich geglaubt, er sei tot. Er hielt mir die Hand hin, damit ich ihm aufhelfen konnte. Als ich mich hinunterbeugte, um sie zu fassen, roch ich das Bier. Er hatte sich etwas über sein Hemd geschüttet. Sein Atem stank nach Alkohol. Ich stieß seine Hand weg. „Du bist echt zum Kotzen", sagte ich. 15
Er kicherte, als hätte ich etwas wirklich Witziges gesagt. Dann versuchte er sich hochzuziehen. Und rutschte aus. Er versuchte es noch mal. „Keith, wie viele Bier hast du eigentlich getrunken?", forschte ich. Seine Augen waren gerötet. Er blinzelte mich an, als hätte er Schwierigkeiten, mich zu erkennen. „Ist nichts mehr übrig", sagte er und schüttelte betrübt den Kopf. „Keith ...!" Ich stieß ein angewidertes Stöhnen aus. „Nichts mehr übrig", wiederholte er leise. Er hielt sich am Geländer fest und schaffte es schließlich, sich aufzurichten. Er versuchte, klar zu sehen und verdrehte dabei die Augen. Plötzlich wurde er blass. „Mir ist schlecht", murmelte er. Keith stürzte auf die enge Gästetoilette in der Ecke des Raums zu, und die anderen wichen ihm hastig aus. Als die Tür mit einem lauten Knall hinter ihm zuschlug, lachten die meisten Kids. Irgendjemand machte die Musik wieder an. „Den kenne ich nicht!", sagte ich angeekelt zu Gillian. „Den kenne ich echt nicht." Plötzlich tauchte Todd neben Gillian und Carlo auf. „Was für ein Weichei", grinste er verächtlich. Mit seiner fleischigen Faust zeigte er auf die verschlossene Klotür. „Natalie, dein Freund ist wirklich unreif." „Wow – du redest wie ein Erwachsener, Todd!", brüllte hinter uns jemand. Todd ignorierte ihn. Er kam mir sehr nahe. „Eine halbe Dose Bier, und schon muss dein Freund kotzen!", sagte er und verzog verächtlich das Gesicht. „Hör auf, ihn meinen Freund zu nennen", beharrte ich. „Ich kenne ihn überhaupt nicht. Habe ihn noch nie gesehen." Todd packte mich an der Hand. „Willst du tanzen, Natalie?" Er ist groß und breitschultrig und macht dauernd Bodybuilding. Sein Haar ist hellblond, oben lang und an den Seiten abrasiert. Er hat hübsche blaue Augen und ein kindliches, rundes Gesicht. Er könnte ganz gut aussehen, wenn seine Stirn nicht so vorstehen würde. So sieht er ein bisschen aus wie ein Höhlenmensch. Ein paar der Jugendlichen nennen Todd „Neandertaler" – aber nur hinter seinem Rücken. Wenn er es jemals erfahren würde, würde er 16
sie verprügeln. Er ist nämlich sehr eitel. Er hat schon mal einen anderen Jungen zusammengeschlagen, bloß weil der auf seinen Turnschuh getreten ist. „Ich habe echt keine Lust zu tanzen", sagte ich. Das stimmte. Zuzusehen, wie Keith sich vor all unseren Freunden wie ein totaler Idiot benahm, hatte auch mir leichte Übelkeit bereitet. Wahrscheinlich schämte ich mich einfach. Nicht nur für ihn. Auch für mich. Als Keith endlich aus der Toilette kam, war er zwar immer noch blass, aber er wirkte schon viel nüchterner. Er kam zu mir und fing an, mit allen herumzualbern und Witze zu reißen. Seine Augen waren immer noch glasig, aber er schien sich halbwegs erholt zu haben. Wir blieben alle noch ein oder zwei Stunden auf der Party. Talia hatte noch ein Dutzend Pizzen bestellt, die geliefert wurden. Noch mehr Teens tauchten im Keller auf; die meisten von ihnen waren Fremde, keine Schüler von Shadyside. Für eine Weile verlor ich Keith aus den Augen. Ich hoffte bloß, dass er nicht wieder oben in der Garage war und noch mehr Bier in sich hineinschüttete. Ich redete mit Randee, Gillian und einem anderen Mädchen, das ich vom Sommercamp her kannte. Dann tauchte plötzlich Keith neben mir auf und zog mich am Arm. „Fahren wir? Fahren wir nach Hause?" Ich riss mich los. „Auf keinen Fall", fuhr ich ihn an. Erstaunt sah er mich mit großen Augen an. „Was ist? Was redest du da?" „Ich fahr nicht mit dir nach Hause", sagte ich. „Du bist viel zu fertig." „Ich bin okay", erklärte er. „Ehrlich." Er folgte mir die Treppe hinauf. Ich holte meine rote Jacke. „Lauf nicht hinter mir her, Keith", sagte ich in strengem Ton. „Ich fahr auf keinen Fall mit dir nach Hause." Er wischte sich das braune Haar aus der schweißnassen Stirn. Seine dunklen Augen waren entzündet und seine Augenränder gerötet. „Hey, Natalie – mach mal langsam." Er nahm mich an beiden Händen und beugte sich vor, um mich zu küssen. Doch sein Atem roch so säuerlich, dass ich mich aus seinem 17
Griff befreite und abwandte. „Natalie ..." Keith stolperte auf mich zu. „Ich ruf dich morgen an", sagte ich kalt. Dann drehte ich mich um und eilte zur Tür. „Hey, warte! Warte doch!", rief er mir hinterher. Ich ignorierte ihn und trat hinaus in die feuchte, neblige Nacht. Tiefe Wolken verdunkelten den Himmel. Es hatte geregnet. Das Gras war nass und die Auffahrt schlüpfrig und voller Pfützen. Die Musik dröhnte aus dem Keller in den Garten. In der Garage hing immer noch ein Dutzend Jugendlicher herum. Das Tor stand offen, das Licht war an, und ich sah die silbrigen Bierdosen in ihren Händen. Als ich die Auffahrt hinunterging, sah ich Randee. Sie schloss gerade die Fahrertür ihres dunkelgrünen Volvos auf, der auf der Straße geparkt war. Gillian und Carlo standen wartend neben ihr. An dieser Straßenseite des Häuserblocks parkten die Autos der Partygäste. Durch die angelaufene Windschutzscheibe des weißen Wagens hinter Randees Auto sah ich ein fummelndes Pärchen. Ich war überrascht, als Todd hinter dem Volvo auftauchte. Als ich näher kam, grinste er mich an. „Gehst du nach Hause? Wo ist denn Keith?" „Der ist noch drin", murmelte ich. Todd kicherte hämisch. „Hast du ihm endlich den Laufpass gegeben?" Gillian gab Todd einen Schubs. „Du bist unmöglich." „Das gefällt dir ja gerade an mir!", neckte Todd. Carlo, der eng neben Gillian stand, kratzte sich am schwarzen Haarschopf, ihm war das Gespräch merklich unbehaglich. Todd kletterte auf den Beifahrersitz. Gillian und Carlo stiegen hinten ein. Ich warf einen Blick auf die neblige Straße und sah Keiths alte Kiste, die er schief und krumm an der Ecke geparkt hatte. Keith ist nicht gut im Einparken. Das Auto stand halb auf dem Bordstein. Und der viel zu kleine Ersatzreifen, den er schon vor Wochen hätte auswechseln sollen, ließ das Auto noch schiefer wirken. Ich drehte mich zum Haus um und sah Keith die Auffahrt hinunterhasten. „Natalie! Natalie – so warte doch!", rief er und 18
wedelte wild mit den Armen. „Randee – kann ich mit euch mitfahren?", fragte ich. Randee nickte. „Klar. Steig ein." Sie machte die Tür zu und ließ den Motor an. „Natalie – warte! Ich bin nicht betrunken!", brüllte Keith. „Warte auf mich!" Ich zwängte mich neben Gillian und Carlo auf den Rücksitz und schlug die Tür zu. „Fahr los!", drängte ich Randee. „Beeil dich!" Als Randee den Wagen vom Straßenrand wegfuhr, lehnte ich mich erleichtert zurück. „Ich habe es richtig gemacht", dachte ich. Es war klug von mir, mich nicht von Keith nach Hause fahren zu lassen. Ich war froh, dass Randee mich mitnahm. Was sich natürlich als ein schrecklicher Fehler herausstellte. Doch ich konnte ja nicht ahnen, dass ich zehn Minuten später alles darum gegeben hätte, nicht in Randees Auto zu sitzen.
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Kapitel 3 Ich kauerte mich in den Rücksitz und steckte die Hände tief in die Taschen meines Parkas. Draußen legten sich Nebelschleier um die dunklen Bäume. Obwohl es aufgehört hatte zu regnen, tropften große Wassertropfen von den Bäumen auf die Windschutzscheibe. Carlo legte den Arm um Gillians Schulter auf die Rückenlehne. Todd, der auf dem Vordersitz saß, machte sich am Radio zu schaffen. Er drehte von einer Station auf die nächste. Als er keine Musik finden konnte, die ihm gefiel, schaltete er es aus. „Mann, war Keith besoffen!", bemerkte Todd kichernd. „Als er die Kellertreppe runtergefallen ist, hat er es noch nicht mal gemerkt!" „Das ist gar nicht witzig", sagte ich bissig. „Es ist einfach nur ekelhaft. Manchmal benimmt sich Keith wie ein großes Baby." „Oh, jetzt ist aber jemand sauer!", neckte mich Todd. „Halt die Klappe, Todd!", schnappte ich. Er ging mir auf die Nerven. Das, was Keith gemacht hatte, fand ich kein bisschen lustig. Nicht, dass ich eine brave Streberin wäre. Aber es hatte mir nicht gefallen, den ganzen Abend von Keith ignoriert zu werden. Und ich sehe einfach keinen Sinn darin, wenn jemand so viel Bier in sich hineinschüttet, dass er sich übergeben muss. Randee fuhr an einem Stoppschild vorbei und trat plötzlich hart auf die Bremse. „Huch, das habe ich glatt übersehen", murmelte sie. Mir fiel plötzlich wieder ein, dass auch sie eine Weile in der Garage verschwunden war. „Randee – bist du okay?", fragte ich. Sie nickte. „Ja, mir geht's gut. Keine Sorge." Die Scheinwerferstrahlen wurden von den Nebelschwaden verschluckt. Randee gab Gas, und der Wagen kam auf dem nassen Asphalt ins Schleudern. „Hey, du fährst ja so irre wie ich!", stieß Todd lachend aus. Randee kniff vor Konzentration die Augen zusammen und steuerte gegen, um den Wagen wieder unter Kontrolle zu bekommen. „Die Straße ist ziemlich glitschig", murmelte sie. Sie gab Gas, überquerte eine Kreuzung und bog auf die River Road ab. Sie nahm die Kurve zu weit, und der Wagen holperte über den 20
Straßenrand. „Randee ...", begann ich. „Aua! Ich hab mir den Kopf am Dach angeschlagen!", protestierte Todd. „Dafür verklag ich dich, Randee! Ganz im Ernst!" „Lass mich in Ruhe, Todd", erwiderte Randee gereizt, den Blick auf die Windschutzscheibe gerichtet. „Das ist der Nebel. Ich kann kaum was sehen." „Willst du meine Brille?", witzelte Carlo. „Dafür bringe ich dich als Erstes nach Hause", gab Randee zurück. Die Straße schlängelte sich am Fluss entlang. Randee beugte sich über das Lenkrad und konzentrierte sich darauf, das Auto nicht von der Fahrbahn abkommen zu lassen. Wir holperten über ein tiefes Schlagloch. Alle schrien entsetzt auf. „Danke für euer Vertrauen, meine lieben Freunde", sagte Randee ironisch. Ich drückte mich noch tiefer in die Rückbank und zog den Gurt fester. Dann warf ich einen Blick auf den Tacho. Er zeigte über sechzig Meilen an. „Randee, fahr langsamer", bat ich leise. Sie sah auf den Tacho. „Ach, das hab ich gar nicht gemerkt", murmelte sie. Sie nahm den Fuß vom Gaspedal, und die Geschwindigkeit verringerte sich auf fünfzig Meilen. Links und rechts von uns ragten die nackten Äste großer, schwarzer Bäume aus dem Nebel. Dicke Regentropfen fielen von den Bäumen und klatschten auf die Windschutzscheibe. Randee schaltete die Scheibenwischer ein. „Habt ihr das Mädchen von Harding gesehen?", fragte Gillian. „Was für einen Fetzen die angehabt hat!" „Na, viel war nicht dran", witzelte Todd. „Schließlich sind wir nicht am Strand", bemerkte Gillian. „Wer war das überhaupt? Eine Freundin von Talia?" „Es könnte auch eine Freundin von mir sein!", meinte Todd. „Von mir auch", warf Carlo kichernd ein. „Platz, Jungs", sagte ich trocken. „Lass mich zuerst raus", sagte Todd zu Randee. „Ich wohne nicht weit von hier. Du brauchst bloß da vorne auf die Cedar abzubiegen und dann ..." „Ich weiß noch, wo du wohnst", schnitt Randee ihm das Wort ab.
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Ein Auto mit Fernlicht kam auf uns zu. Vor die Windschutzscheibe senkte sich ein Vorhang aus grellem Licht. Randee blinzelte und fuhr langsamer. „Idiot!", murmelte sie. „Ich sehe überhaupt nichts mehr." „Im Nebel bringt Fernlicht gar nichts", sagte ich. „Man wird nur selber davon geblendet." Als das Auto an uns vorbeigefahren war, beschleunigte Randee wieder. Carlo und Gillian, die neben mir saßen, lachten über irgendwas. „Ich blicke es nicht", sagte Todd. „Hey, Leute – verratet mir doch, worüber ihr lacht." Ich hatte keine Ahnung, worüber sie redeten. Aber es war sicher nichts furchtbar Wichtiges. Ich starrte geradeaus in den Nebel, der sich vor uns auftürmte. Ich hatte das Gefühl, selbst am Steuer zu sitzen. Als Randee rechts auf die Cedar abbog, spürte ich, wie mein Körper sich in die Kurve legte. Als sie auf die Bremse trat, senkte auch ich meinen rechten Fuß. Selbst von hinten konnte ich erkennen, dass Randee etwas benommen war. Als sie zu gähnen anfing, zog sich vor Nervosität mein Magen zusammen. Ich wünschte, statt ihrer den Wagen zu lenken. Carlo und Gillian kicherten schon wieder. Todd bettelte immer noch, ihm zu erklären, was so lustig sei. Wir holperten über ein zweites Schlagloch. Dann rief Todd plötzlich: „Stop, Randee! Bieg links ab!" Ich hatte die Straße, an der wir gerade vorbeigefahren waren, nicht bemerkt. Es war dunkel und es gab anscheinend kein Straßenschild. Ich konnte nur ein einziges Schild sehen, und darauf stand: SACKGASSE. Randee trat hart auf die Bremse. Wir gerieten ins Schleudern. Die Scheinwerferlichter hüpften wie wild im dichten Nebel. Ich spürte, wie ich gegen Carlo geschleudert wurde. Das Auto schlingerte immer heftiger. Randee riss das Lenkrad herum und versuchte, gegenzulenken. Sie trat die Bremse. Immer und immer wieder. Aber der Wagen reagierte nicht.
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Aus dem Nichts tauchte vor uns ein Auto auf. Es schien einfach aus dem Nebel aufzusteigen. Krachend stießen wir gegen das Heck. Das ohrenbetäubende Bang! werde ich nie vergessen. Ich sah, wie das andere Auto auf und ab wippte. Ich hörte, wie seine Rückleuchten knirschend splitterten und zu Bruch gingen. Während ich nach vorne geschleudert wurde, nahm ich durch die Rückscheibe des Autos vor uns einen Schatten wahr. Ich schrie auf, als mich der Sicherheitsgurt gegen den Sitz presste. Mein Halswirbel knackste. Alle Muskeln in meinem Körper verkrampften sich. Ein Schmerz schoss mir durch den Rücken. Ich machte die Augen zu. Versuchte, meine Muskeln zu entspannen. Den Schmerz zu stoppen. Ich hörte quietschende Reifen. „Hey – was hast du angefahren?", schrie Gillian schrill. „Das Auto ...", stieß Carlo aus. „Todd, warum hast du mir nicht gesagt, dass ich abbiegen muss?", brüllte Randee in Panik. „Du hast doch gesagt, du kennst den Weg!", gab Todd wütend zurück. Als Randee den Rückwärtsgang einlegte, machte ich die Augen wieder auf. Im Rückspiegel konnte ich ihre Augen sehen. Sie wirkten gehetzt und verängstigt. Sie atmete schwer und keuchte leise. Ich sank wieder auf den Rücksitz. Mein Nacken tat zwar immer noch weh, doch der Schmerz ließ langsam nach. Randee riss das Lenkrad herum. Sie gab Vollgas. Der Wagen schoss vorwärts. „Randee – was machst du?", schrie ich. Als wir nach vorne schossen, rutschten die Reifen auf dem nassen Asphalt. „Hey – stop!", rief Carlo. „Randee, halt an!", brüllte ich. „Du musst anhalten! In dem Auto sitzt einer!" „Du hast jemanden angefahren! Du hast jemanden angefahren!", schrie Gillian gellend.
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Randee starrte mit zusammengekniffenen Augen durch die Windschutzscheibe. Ihr Mund stand offen. Ihr Gesicht war angstverzerrt. „Halt an, Randee!", bat ich verzweifelt. „Du hast jemanden angefahren! Du hast jemanden angefahren!", wiederholte Gillian in Panik. Doch Randee wendete den Wagen und bog schnell auf Todds Straße ab. Und dann rasten wir mit quietschenden Reifen in die nebelverhangene Dunkelheit. „Anhalten! Du musst anhalten!", schrie ich. „Ich kann nicht", heulte Randee; sie war über das Lenkrad gebeugt und trat das Gaspedal ganz durch. „Versteht ihr denn nicht? Ich kann nicht anhalten! Ich kann's nicht!"
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Kapitel 4 Ruckartig bewegte sie das Lenkrad und schaffte es in letzter Minute, dass der Wagen nicht aus der Kurve hinausgetragen wurde. „Ich kann nicht anhalten! Ich dürfte gar nicht hier sein!", heulte Randee. „Du dürftest nicht hier sein? Was zum Teufel meinst du damit?", fragte Gillian. Randee stieß einen heiseren Schrei aus. „Ich habe Stubenarrest. Meine Eltern haben mir zwei Wochen Stubenarrest gegeben. Ich darf nicht ausgehen. Und den Wagen darf ich auch nicht nehmen." „Aber der Aufprall war ziemlich hart!", protestierte Carlo. „Vielleicht ist jemand verletzt worden." „Es war so dunkel", sagte Todd. „Warum glaubt ihr, dass jemand in dem Auto war? Es könnte ja auch nur dort geparkt gewesen sein." „Nein. Ich habe gesehen, dass sich jemand darin bewegt hat", sagte ich. „Ich habe jemanden im Auto gesehen. Wenigstens ... wenigstens kam es mir so vor." Es war wirklich dunkel gewesen. Es war alles so schnell gegangen. Hatten meine Augen mir vielleicht einen Streich gespielt? War das andere Auto doch leer gewesen? „Seid ihr alle okay?", erkundigte sich Randee. Sie warf mir einen Blick durch den Rückspiegel zu. „Du hast aufgeschrien." „Mein Halsmuskel hat sich überdehnt oder so was", sagte ich. „Es tut kaum noch weh. Aber wir müssen an den Unfallort zurückfahren, Randee." Sie schüttelte den Kopf und presste die Lippen zusammen. „Das kann ich nicht", murmelte sie. „Auf keinen Fall." „Ich darf eigentlich auch nicht ausgehen", gestand Gillian. „Meine Eltern glauben, ich sei zu Hause und würde für die Chemiearbeit lernen." Sie seufzte. „Wenn meine Eltern herauskriegen, dass ich mich weggeschlichen habe und in einen Unfall verwickelt bin, bringen sie mich um!" „Aber was ist, wenn die Person in dem anderen Auto schwer verletzt ist?", beharrte ich. „Wir können doch nicht einfach –" 25
„Mein Vater würde mir das Fell über die Ohren ziehen!", unterbrach Todd mich. „Jetzt, wo er einen neuen Job gefunden hat, hat er mich gewarnt, ihm auf keinen Fall irgendwelche Schwierigkeiten zu machen. Fahr langsamer, Randee. Unser Haus ist gleich da vorne rechts." „Hm? Einen neuen Job? Was für einen neuen Job?", fragte Gillian. „Bei der Stadt. Öffentlichkeitsarbeit für den Bürgermeister und solches Zeug." Todd schüttelte den Kopf. „Wenn ihr glaubt, ich sei kräftig gebaut, dann müsstet ihr meinen Dad mal sehen! Der sieht aus wie ein Footballspieler. Kann einem richtig Angst machen. Wenn er will, kann er mich fertig machen. Ehrlich wahr." „Hey, wir haben alle Ausreden", sagte ich. „Aber hört mal –" „Genau das ist es, Natalie", sagte Randee in scharfem Ton und näherte sich langsam einem Stoppschild. „Wir haben alle Ausreden. Wir haben alle gute Gründe, nicht mehr dorthin zurückzukehren. Dein Vater liegt im Krankenhaus, nicht wahr, Carlo?" „Ja", antwortete Carlo leise. Carlo war sehr scheu. Er ließ nichts heraus. Ich hatte ihn noch nie über seine Familie sprechen hören. Mir wurde plötzlich klar, dass ich nichts über sie wusste. „Also, dein Vater kann jetzt auch keine schlechten Neuigkeiten brauchen", fuhr Randee fort. „Wenn wir zurückfahren, haben wir alle ein Riesenproblem. Jeder Einzelne von uns." Sie fuhr an den Bordstein und hielt ein paar Häuser vor Todds Elternhaus unter einer Straßenlampe an. „Mein letztes Schuljahr soll echt schön werden", sagte sie mit zitternder Stimme. „Ein Unfall würde alles verderben. Meine Eltern sind sehr streng – die würden mein Leben ruinieren!" „Aber wir haben einen Unfall gebaut!", schrie ich. Randee stieß die Fahrertür auf und stieg aus. „Wohin geht sie?", fragte Gillian. Ich zuckte die Schultern. „Keine Ahnung." Ich beobachtete Randee durch die Windschutzscheibe. Die Hände in die Manteltaschen gesteckt, ging sie vor das Auto. Sie trat in das weiße Scheinwerferlicht, beugte sich vor und begutachtete die Motorhaube und die Stoßstange. Ein paar Sekunden später setzte sie sich wieder hinter das Lenkrad. „Die Stoßstange hat bloß einen Kratzer abgekriegt", berichtete sie. 26
„Deswegen hat Dad das Auto gekauft: weil es so stabil und sicher ist." Sie schauderte. „Wenn er herausfindet, dass ich heute Abend damit gefahren bin, bringt er mich um." Ich rieb mir den Nacken. Der Schmerz war verschwunden, aber meine Muskeln waren verspannt. „Gott sei Dank ist keinem von uns was passiert", murmelte ich. „Ja. Und wenn uns nichts passiert ist, ist der Person in dem anderen Auto auch nichts passiert", beharrte Randee. „Hoffentlich", sagte ich. „Hoffentlich ist ihr nichts passiert." Später in der Nacht versuchte ich einzuschlafen, doch in meinen Gedanken durchlebte ich den Unfall immer wieder. Das ist das Merkwürdige an Autounfällen. Ich hatte schon mal einen mit meiner Mom erlebt. Und nach dem Unfall passierte genau dasselbe. Immer wieder lief alles wie in Zeitlupentempo vor meinen Augen ab. Ich fühlte den harten Aufprall. Spürte, wie das Auto auf und ab federte. Spürte, wie ich gegen den Sicherheitsgurt gepresst wurde. Und ich hörte den Lärm – das laute, metallische Krachen, das Zersplittern des Glases. Egal, ob ich die Augen offen hielt oder zumachte – der Unfall wiederholte sich immer wieder. Ich nehme an, so verarbeitet unsere Seele so traumatische Erlebnisse wie einen Autounfall. Es ist ein solcher Schock, ein Schock für Körper und Seele. Das Erlebnis spielt sich immer wieder vor deinen Augen ab, bis du dich davon überzeugt hast, dass du okay bist, bis du dich langsam besser fühlst. Aber ich fühlte mich kein bisschen besser. Ich fühlte mich vor allem deswegen nicht besser, weil wir einfach feige geflüchtet waren. Doch was hätten wir tun können? Ich drehte mich im Bett herum und schüttelte mein Kopfkissen auf. Dann legte ich mich wieder hin. Es war schon sehr spät. Fast zwei Uhr morgens. „Ich muss einschlafen", flüsterte ich. „Alles wird in Ordnung kommen", versicherte ich mir selbst.
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Keiner hatte uns gesehen. Es war so dunkel in der Sackgasse. Niemand war in der Nähe gewesen. Ich schloss die Augen und versuchte, mir die Dunkelheit vorzustellen. Ich versuchte, mir die Nebelschwaden vorzustellen. Weiche, fließende Nebelschwaden. So weich und grau und ganz still. So weich wie Wolken. Die Nebelwolken lullten mich in einen traumlosen Tiefschlaf. Als das Telefon auf meinem Nachttisch mich weckte, schien draußen vor meinem Fenster schon die Morgensonne. Verwirrt richtete ich mich auf und rieb mir die Augen. Ich hatte so fest geschlafen, dass ich das Klingeln des Telefons erst nicht erkannte. Schließlich nahm ich den Hörer ab. „Hallo?" Meine Stimme klang immer noch schlaftrunken. Ich räusperte mich hörbar. Am anderen Ende der Leitung meldete sich Todd mit „Hallo". Seine nächsten Worte weckten mich unsanft. „Natalie", sagte er. „Ich habe eine schlechte Nachricht."
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Kapitel 5 Ich umklammerte den Hörer, setzte mich auf und stellte die Füße auf den Boden. Mein Mund fühlte sich ausgetrocknet an. „Todd – was ist los?“, forschte ich und stand auf. „Die Frau ist tot", stammelte er. „Was ist los?" Ich dachte, ich hätte mich verhört. „Welche Frau, Todd? Von wem redest du eigentlich?", fragte ich schrill. „Die Frau in dem anderen Auto. Gestern Nacht", antwortete er mit gedämpfter Stimme. „Ich – ich kann jetzt nicht reden, Natalie. Meine Mutter ist in der Nähe. Ich will nicht, dass sie was mitbekommt." Ich räusperte mich wieder. In meinem Kopf drehte sich alles. Die Sonne schien hell in mein Zimmer, aber plötzlich fröstelte ich am ganzen Körper. Zitternd drehte ich mich zur Wand. „In dem Auto war eine Frau? In dem Auto, das wir angefahren haben?", fragte ich. „Ja. Sie ist tot", flüsterte Todd. „Es ist eine schlimme Geschichte, Natalie. Sie haben es im Radio und in der Morgenausgabe des Beacon gebracht. Sie sagen, die Täter hätten Fahrerflucht begangen." „Oh Gott!" Ich keuchte entsetzt und hätte fast den Hörer fallen lassen. „Bist du sicher, dass es sich um dasselbe Auto handelt?", brachte ich mühsam heraus. „Ja, leider", murmelte Todd. „Es ist in der Sackgasse passiert. Die von der River Road abzweigt." Er seufzte. „Mein Dad hat vom Büro aus angerufen und gesagt –" „Wie bitte? Dein Dad?", unterbrach ich ihn. „Was hat der damit zu tun, Todd?" Einen langen Augenblick blieb die Leitung stumm. Dann sagte Todd schließlich: „Mein Dad arbeitet für Coletti, den Bürgermeister. Das hab ich euch doch erzählt. Das ist sein neuer Job." „Und weiter?", bohrte ich. „Die Frau, die wir angefahren haben", erwiderte Todd, „das war die Schwester des Bürgermeisters."
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Ich ließ mich wieder auf mein Bett fallen. Ich machte die Augen zu. Die Nebelschleier tauchten wieder auf. Diesmal schienen sie sich um meinen Körper zu wickeln, meinen Hals einzuschnüren und mich zu ersticken. Ich machte die Augen auf und verdrängte den Nebel. Ich atmete hörbar aus. „Todd, willst du damit sagen, dass dein Vater –" „Der Bürgermeister hat ihn heute früh angerufen und gebeten, früher als sonst ins Büro zu kommen. Um die Zeitungen und das Fernsehen zu informieren. Dad sagt, Coletti wird alles tun, was er kann – wirklich alles –, um den Fahrer zu finden, der seine Schwester getötet hat." Ich starrte die Wand an. Die winzigen Rosen auf der Tapete schienen hinter noch dichteren Nebelschwaden zu verblassen. „Der Nebel kommt immer wieder", dachte ich, „taucht immer wieder auf." Plötzlich wünschte ich mir, davon eingehüllt zu werden. Ich wollte mich darin verstecken. Hinter einer sicheren Nebelwand verschwinden und nie wieder herauskommen. „Wie konnten wir letzte Nacht einfach wegfahren?", fragte ich mich. Wie konnten wir das Auto der Frau anfahren und sie einfach sterben lassen? Wir hatten alle so selbstsüchtig, so verdammt gedankenlos gehandelt. Wir hatten unsere Sorgen und Ängste wichtiger genommen als ein Menschenleben. Ich versuchte zu schlucken. Meine Kehle war trocken und wie ausgedörrt. Als mir die Tränen in die Augen schossen, verschwammen die kleinen Rosen auf der Tapete zu einem rosa Fleck. „Hätten wir ihr Leben retten können, wenn wir geblieben wären?", fragte ich mich. „Hätten wir sie rechtzeitig in ein Krankenhaus bringen können?" Wenn wir geblieben wären ... Wenn wir doch bloß geblieben wären ... Ich wischte mir die Tränen aus den Augen und starrte auf meinen Radiowecker. „Wenn ich doch bloß die Zeit zurückdrehen könnte", dachte ich. „Wenn es doch jetzt gestern Abend wäre." 30
Wenn ich die Zeit zurückdrehen könnte, hätten wir noch eine Chance. Noch eine Chance zu bleiben und der Frau, die wir angefahren hatten, zu helfen. Der Schwester des Bürgermeisters. Ich sah auf meinen Schoß und entdeckte den Telefonhörer. Hatte ich mich von Todd verabschiedet? Hatte ich irgendwas zu ihm gesagt, nachdem er die schreckliche Neuigkeit berichtet hatte? Ich konnte mich nicht daran erinnern. Ich hob den Hörer ans Ohr und hörte das Besetztzeichen. Mit zitternder Hand legte ich auf. Fahrerflucht. „Wir haben Fahrerflucht begangen", realisierte ich ganz langsam. Das war ein Begriff, den ich nur aus den Nachrichten kannte. Ich hätte mir nie vorstellen können, einen Menschen zu kennen, der Fahrerflucht begangen hatte. Ich hätte mir nie vorstellen können, selber so ein Mensch zu sein. Warum sind wir nicht geblieben? Die Frage ließ mir keine Ruhe, wollte einfach nicht verschwinden. „Wenn wir jetzt gefasst werden", sagte ich mir, „sind wir noch mehr in Schwierigkeiten, als wir uns je erträumt hätten." Ohne jede Vorwarnung lachte ich trocken auf. Randee hatte sich solche Sorgen wegen ihres Stubenarrests gemacht. Der schien jetzt völlig unwichtig. „Für Fahrerflucht sind die Strafen viel härter als nur Stubenarrest", dachte ich voller Bitterkeit. „Und jetzt?", fragte ich mich. Ich vergrub meine eiskalten Hände in meinem Schoß und starrte auf die kleinen rosa Rosen. „Was jetzt? Was soll ich jetzt bloß machen? Soll ich mit dieser Angst im Kopf einfach abwarten? Darauf warten, geschnappt zu werden? Werde ich den Rest meines Lebens damit verbringen, Angst davor zu haben, dass die Polizei uns findet? Werde ich den Rest meines Lebens damit verbringen, mich zu fragen: Wann? Wann werde ich erwischt? Wann findet die ganze Welt heraus, was wir getan haben? Wann ist mein normales, durchschnittliches, glückliches Leben zu Ende?" Ein Anruf würde allem ein Ende machen, wie mir klar wurde. Ein einziger Anruf von einem Polizeibeamten, der sagen würde: „Wir 31
wissen, dass ihr es wart. Wir wissen, ihr wart in dem Wagen, der Fahrerflucht begangen hat, nachdem er die Schwester des Bürgermeisters getötet hat." „Was soll ich also tun?", fragte ich mich. Was sollte ich jetzt tun? Musste ich jedes Mal, wenn das Telefon läutete, Angst haben? Musste ich jedes Mal denken: „Dies ist der Anruf, der dein Leben zerstört?" Und während ich mir diese beunruhigende Frage stellte, läutete das Telefon.
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Kapitel 6 Beim ersten Klingeln zuckte ich zusammen und stieß einen Schrei aus. Mein Herz sprengte mir vor Angst fast die Brust. Ich schluckte schwer und starrte das Telefon an. Es läutete noch drei Mal, dann hob ich den Hörer ab. „Hallo?" Meine Stimme war ein heiseres Flüstern. „Natalie? Bist du auf? Hab ich dich geweckt?" „Keith!", rief ich aus. „Nein, ich war schon wach. Ich habe bloß ... hmm ..." Mein Herz klopfte so stark, dass ich kaum sprechen konnte. „Hör zu, wegen gestern Abend ...", fing er an. „Es tut mir Leid, Natalie. Ich –" „Ich kann jetzt nicht darüber reden", unterbrach ich ihn. „Hey – ich weiß, dass du wütend auf mich bist", fuhr er fort. „Ich kann's verstehen. Wirklich. Aber ich muss dir sagen –" „Nein, Keith. Tut mir Leid", gab ich entnervt zurück. „Ich kann jetzt wirklich nicht reden." „Aber ich muss mit dir reden!", jammerte er. „Gestern Abend war ich so fertig, Natalie. Das ganze Bier. Ich hab einfach nicht mehr gewusst –" Wieder schnitt ich ihm den Satz ab. „Keith - tschüss jetzt", sagte ich bestimmt. „Du kannst dich später dafür entschuldigen. Ich ruf dich an. Ich verspreche es dir. Tschüss." Ich knallte den Hörer auf. Ich war viel zu nervös und verängstigt, um mir Keiths Entschuldigung anzuhören. Es war immer dasselbe Lied mit ihm. Er stellte irgendwas Dummes an, irgendwas richtig Verrücktes. Er machte mich so wütend, dass ich nur noch wegrennen oder mit ihm Schluss machen wollte. Dann rief er gleich am nächsten Morgen an und entschuldigte sich artig wie ein kleiner Junge bei mir – bis ich ihm versprach, nicht länger böse auf ihn zu sein. An diesem Morgen war ich dafür nicht in der Stimmung. Am Nachmittag trafen wir fünf uns im Shadyside-Park hinter unserer Schule. Es war ein sonniger, aber kalter Samstag. Unsere Turn33
schuhe versanken im Gras, das immer noch nass vom gestrigen Regen war. Drei Schüler, die ich kannte, joggten auf der Aschenbahn hinter der Schule. Gleich hinter der Aschenbahn war ein Footballspiel auf dem Sportplatz im Gange. Wir verließen das Schulgelände und gingen den Feldweg entlang, der zum Wald und dahinter zum Conononka River führte. Es war zwar nicht gerade ein gemütlicher Treffpunkt, das war uns klar. Doch solange unsere Eltern in der Nähe waren, konnten wir nicht ungestört reden. Und wir hatten Angst, dass in einem Restaurant die Leute an den anderen Tischen etwas von unserer Unterhaltung mitbekommen könnten. Wir blieben an einem Picknicktisch am Waldrand stehen. Die Holzbänke waren noch feucht, doch wir setzten uns trotzdem hin. Ein struppiges graues Eichhörnchen sprang auf uns zu. Es hielt wenige Meter vor dem Tisch inne und hob bettelnd die Vorderpfoten. Todd lachte. „Hey, Kleiner", rief er dem Tier zu. „Kein Betteln! Du hättest dich auf den Winter vorbereiten sollen!" Einen Augenblick lang blieb das Eichhörnchen mit erhobenen Vorderpfoten stehen. Dann, als es merkte, dass wir es nicht füttern würden, drehte es sich um und hüpfte gemächlich zurück in seinen Baum. Ich schauderte. Ich hatte mir zwar über mein langärmeliges T-Shirt ein Sweatshirt gezogen, aber ich fror trotzdem. Ich hätte meinen Mantel anziehen sollen. „Wer von euch hat Spielkarten dabei?", scherzte Todd. Keiner lachte. Todd war der Einzige, den die Neuigkeit über das, was wir getan hatten, offenbar nicht zu schocken schien. Gillian hielt sich eng an Carlo, der an einem Ende des Picknicktischs saß. Ihr langes, rotbraunes Haar fiel ihr in Strähnen ins Gesicht. Als sie es sich aus der Stirn strich, sah ich, dass ihre Augen gerötet und ihre Augenlider geschwollen waren. Ihr Gesicht war noch blasser als sonst. Randee hatte eine ungeöffnete Rolle Pfefferminz dabei, die sie auf der Handfläche rollte und mit der sie jonglierte. Sie hatte den ganzen Nachmittag noch kaum ein Wort zu uns gesagt.
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Ich merkte, dass sie hastig und unregelmäßig atmete. Sie wich meinem Blick aus und hielt die Augen auf ihre Pfefferminzbonbons gerichtet. Ich hatte den Eindruck, als würde sie sich verzweifelt zurückhalten, um bloß nicht in hysterisches Weinen auszubrechen. Nervös schob Carlo immer wieder das schwarze Gestell seiner Brille zurück. Er hatte einen Arm um Gillians Schulter, die in ihrer blauen Daunenjacke steckte, gelegt und beugte sich immer wieder flüsternd zu ihr. Dabei war seine Miene angespannt und seine dunklen Augenbrauen hoben und senkten sich über dem oberen Rand der Brille. Todd stand am anderen Tischende und zerrte an einem Ärmel seiner verwaschenen Jeansjacke. Sein hellblondes Haar wehte in der kalten Brise. „Ich friere!", erklärte Gillian. „Warum konnten wir uns nicht woanders treffen, wo es warm ist?" „Ja, in Florida zum Beispiel!", warf Todd ein. Wieder wollte niemand über seinen Witz lachen. „Ich glaube einfach nicht, dass das wirklich passiert ist", murmelte Randee und schüttelte den Kopf. Sie zupfte an dem roten Stirnband, das sie sich über das blonde Haar gezogen hatte. „Es ist aber passiert", sagte Todd düster. „Hat dein Vater noch irgendwas Neues gehört?", fragte ich ihn. „Hat die Polizei ..." Todd schüttelte den Kopf. „Ich habe keine neuen Informationen", sagte er. „Dad hat nichts mehr gehört. Der Bürgermeister hat eine Belohnung ausgesetzt -" Randee keuchte entsetzt. „Eine Belohnung für jeden, der etwas darüber weiß", brachte Todd den Satz zu Ende und starrte Randee an. „Wir müssen es ihnen sagen", warf Carlo plötzlich ein. Gillian wandte sich um und sah ihn erstaunt an. „Wir müssen –", beharrte Carlo mit hoher, nervöser Stimme. „Wenn wir jetzt zur Polizei gehen und ihnen sagen, was passiert ist, werden sie Verständnis für uns haben. Dann werden sie uns nicht so hart bestrafen." „Moment mal, Carlo! Wovon redest du?", stieß Randee aus. „Das kannst du leicht sagen. Du bist ja auch nicht gefahren!" 35
Ich sah, wie Todd wütend die Augen zusammenkniff. „Die schnappen uns sowieso", erwiderte Carlo in schrillem Ton. „Es ist nur noch eine Frage der Zeit. Also müssen wir es ihnen sagen. Wir müssen es tun. Schließlich war es ein Unfall." Während Carlo redete, beobachtete ich Todd. Zu meinem Erstaunen lief sein Gesicht knallrot an. Mit zusammengebissenen Zähnen fuhr er Carlo an: „Bist du verrückt geworden? Drehst du jetzt total durch, oder was?" Carlo reagierte geschockt auf Todds plötzlichen Wutausbruch. „Ich glaube wirklich, dass wir leichter davonkommen, wenn –", fing er an. Doch Todd ließ ihn nicht ausreden. Er beugte sich über den Tisch und packte Carlo am Mantelkragen. „Wenn du uns verrätst, stirbst du als Nächster!", flüsterte Todd. „Dann bist du der Nächste, der stirbt, Carlo!"
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Kapitel 7 Gillian keuchte geschockt. Randee und ich sprangen auf, packten Todd und zerrten ihn von Carlo weg. „Fass mich nicht an!", stieß Carlo wütend aus. „Sag mal, geht's dir nicht mehr gut, oder was?" Die beiden Jungen standen sich am Picknicktisch gegenüber. Sie atmeten schwer und starrten einander mit wütenden Gesichtern an. „Todd – was ist los mit dir?", fragte Gillian forschend. „Warum benimmst du dich so verrückt?" „Wir können nicht zur Polizei gehen!", sagte Todd zornig; sein Blick war immer noch auf Carlo gerichtet. „Ich will nichts mehr davon hören, dass einer von euch zur Polizei gehen will!" „Aber Todd –", fing ich an. Er riss sich von Randee und mir los und drehte sich zu uns um. „Dann verliert mein Dad seinen Job!", stieß er aus. „Wenn einer erfährt, dass ich in dem Auto gesessen habe, durch das die Schwester des Bürgermeisters getötet wurde, verliert mein Dad seine Stelle bei der Stadt. Kapiert ihr denn nicht, was für Schwierigkeiten ich dann zu Hause kriege?" Verärgert wandte er sich wieder Carlo zu. „Weißt du, wie jähzornig mein Alter ist? Hast du ihn schon mal erlebt, wenn er ausgerastet ist? Wenn er herausfindet, dass ich in den Unfall verwickelt bin, verzeiht er mir das nie! Nie im Leben!" Carlo schwieg. Er rückte seinen Mantelkragen zurecht und starrte Todd mit seinen dunklen Augen an. Gillian beugte sich zu Carlo vor und flüsterte ihm etwas ins Ohr. Ich nehme an, um ihn zu beruhigen. Zornig wandte sie sich an Todd. „Wir haben alle eine Menge zu verlieren", schnappte sie. „Wir sind alle fertig. Und verwirrt. Und haben Angst. Aber das ist doch keine Entschuldigung dafür, total die Kontrolle zu verlieren, Todd." Sie sah Todd unverwandt an, bis er den Blick abwandte. „Tut mir Leid", murmelte er. „Du hast Recht. Ich bin einfach ausgerastet." 37
„Ich bin diejenige, die ausrasten sollte", erklärte Randee. Sie steckte ihre Hände in die Taschen ihrer Daunenjacke und ging abwesend vor dem Picknicktisch auf und ab. „Ich bin diejenige, die gefahren ist. Ich bin diejenige, die sie getötet hat. Die sie ge-getötet hat." Eine ganze Weile herrschte Schweigen. „Wie ich schon gesagt habe: Wir alle haben viel zu verlieren", wiederholte Gillian. „Meinem Dad im Krankenhaus geht es nicht sehr gut", verriet Carlo. „Immer wenn ich ihn besuche, versuche ich ihm irgendwas Positives zu erzählen. Ich versuche ihn aufzumuntern. Ich will nicht, dass er erfährt, was wir getan haben. Aber ich glaube immer noch -" „Todd hat Recht", unterbrach Randee ihn. „Wir können nicht zur Polizei gehen. Es ist unmöglich. Wir müssen hoffen und beten, dass keiner uns gesehen hat, dass keiner mein Auto identifizieren kann." „Und wir müssen das Geheimnis für uns behalten", fügte Todd hinzu. Er stützte sich mit den Händen an der Tischkante auf und sein Blick wanderte von einem zum anderen. Ich band mein langes, schwarzes Haar zu einem Pferdeschwanz und strich immer wieder eine Strähne aus dem Gesicht, während ich über das nachdachte, was meine Freunde sagten. Ich konnte mich nicht entscheiden, ob ich Todd oder Carlo zustimmen sollte. Mir war so elend zumute. Ich musste mich zusammenreißen, um nicht vor den anderen in Tränen auszubrechen. Mir war klar, dass es richtig wäre, zur Polizei zu gehen. Wir hatten einen Unfall gebaut und waren dann, so schnell wir konnten, davongerast. Wir hatten unbeabsichtigt eine Frau getötet. Es wäre das Richtige gewesen, alles zu gestehen. Aber ich konnte meine beste Freundin nicht verraten. Randee hatte am Steuer gesessen. Randee hatte am meisten zu verlieren. Ich konnte nicht zur Polizei gehen, solange Randee nicht damit einverstanden war. Und wenn wir hingingen – was brachte das schon? Wenn wir hingingen und ein Geständnis ablegten, würde das die Schwester des Bürgermeisters auch nicht wieder lebendig machen. Unsere Lektion hatten wir schon gelernt. Unsere Angst, unsere Trauer über das, was passiert war, waren Strafe genug. 38
Wenn wir zur Polizei gingen, würde das unser Leben ruinieren. Und es würde niemandem helfen. „Solange wir zusammenhalten, passiert uns nichts", drängte Todd. „Aber jedes Mal, wenn das Telefon läutet, werde ich Angst haben", entgegnete Gillian. „Jedes Mal, wenn es an der Haustür klingelt, werde ich denken: das ist die Polizei. Ich werde glauben, sie haben die Wahrheit rausgefunden und jetzt kommen sie, um mich festzunehmen." „Wir werden in ständiger Angst leben", fügte Carlo hinzu und drängte sich näher an Gillian. „Das brauchen wir nicht", beharrte Todd. „Vergesst nicht, mein Dad arbeitet bei der Stadt. Er sitzt an der Quelle. Er bekommt alle Polizeiberichte zu sehen. Er wird die Neuigkeiten als Erster hören." „Na und?", fragte Carlo. „Deshalb werde ich rausfinden können, ob die Polizei irgendwelche Spuren hat", fuhr Todd fort. „Ich muss bloß meinen Dad fragen, ob sie bei der Fahndung nach dem Fahrer Fortschritte machen. Er wird es mir sagen. Wir werden es brühwarm erfahren." Ich biss mir auf die Unterlippe und dachte angestrengt nach. „Und was hat er dir bisher erzählt?", fragte ich Todd. „Habe ich euch doch gesagt", erwiderte Todd ungeduldig. „Sie haben keine Spur, Natalie. Keine einzige Spur. Uns passiert nichts. Ich bin mir ganz sicher. Solange wir zusammenhalten." „Wir dürfen es niemandem weitererzählen", fügte Randee mit fester Stimme hinzu. „Keiner Menschenseele. Es muss unser Geheimnis bleiben. Es muss unter uns fünf bleiben." Randee wandte sich an mich. „Das bedeutet auch, dass Keith nichts erfahren darf", sagte sie. „Keith ist ein netter Kerl, aber er kann den Mund nicht halten." „Ja, Keith darf nichts davon wissen", stimmte Todd zu. Er starrte mich herausfordernd an. „Hast du damit ein Problem, Natalie?" Ich schüttelte den Kopf. „Nein, kein Problem", murmelte ich. Es war mir gar nicht in den Sinn gekommen, Keith etwas von unserem Unfall zu erzählen. Ich hatte Keith ganz vergessen. Mir fiel ein, dass ich ihn zurückrufen musste. Ich musste ihm die Möglichkeit geben, sich für sein bescheuertes Verhalten am Abend zuvor zu entschuldigen. 39
Ich stellte mir Keith vor. Sein seidenweiches braunes Haar, das ich so gern verstrubbelte. Seine lieben braunen Augen. Konnte ich die schreckliche Geschichte vor ihm geheim halten? Konnte ich, wenn ich mit ihm zusammen war, so tun, als sei alles in Ordnung, als sei ich dieselbe unbeschwerte Highschool-Schülerin, die ich zuvor gewesen war? Ja, das konnte ich, redete ich mir ein. Natalie, du hast keine Wahl. Du musst das Geheimnis für dich behalten. Wir alle müssen das Geheimnis für uns behalten. Dann passiert uns nichts. Todd stieß sich von der Tischkante ab. Ich bemerkte einen kalten, erregten Glanz in seinen blassblauen Augen. „Lasst uns schwören", schlug er feierlich vor. „Was? Wie bitte?", fragte Carlo. „Lasst uns schwören", wiederholte Todd ungeduldig. „Ihr wisst schon – einen geheimen Schwur." Er trat im nassen Gras ein paar Schritte zurück und winkte uns mit beiden Händen heran. „Kommt schon. Stellt euch alle im Kreis auf." Ich hielt mich im Hintergrund und beobachtete die anderen. Ohne zu zögern stand Randee auf und ging zu Todd. Gillian und Carlo zögerten; ihre Mienen wirkten unsicher und angespannt. Ein heftiger Windstoß ließ die Äste der Bäume erzittern und die Blätter rascheln. Kälte erfasste mich. Ich verschränkte die Arme und ging langsam auf Todd zu. Plötzlich hatte ich das Gefühl, als würde ich von einer seltsamen Macht angezogen. Eine Macht, die stärker war als ich, stärker als wir alle, sie zog uns in den Kreis. Zog uns hier auf dieser kalten Lichtung am Waldrand zu einem Kreis zusammen, damit wir unseren geheimen Schwur leisteten. Der Wind blies immer stärker, während Randee, Todd und ich auf Gillian und Carlo warteten. Wir fassten uns an den Händen. Randee drückte kräftig meine Hand. Carlos Hand in meiner Rechten fühlte sich kalt an, eiskalt und feucht. Unsicher bildeten wir einen Kreis und sahen einander mit ernsten Gesichtern an. Keiner sagte ein Wort. Das einzige Geräusch war das Rauschen des Winds in den Bäumen. 40
Todd unterbrach das Schweigen. „Wir alle schwören, das Geheimnis zu bewahren", sagte er mit leiser, feierlicher Stimme. Ein so einfacher Schwur. Ein so einfaches Versprechen. Als ich meine Freunde an den Händen hielt und einen nach dem anderen im Kreis ansah, hatte ich keine Ahnung, welch schreckliche Wirkung der Schwur haben würde. Ich hatte keine Ahnung, wie viele von uns durch ihn sterben würden.
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Kapitel 8 Nach dem Abendessen ging ich hinauf in mein Zimmer. Ich holte meinen dicksten, wärmsten Pullover aus der Kommode und zog ihn über den dünnen Pulli, den ich anhatte. Mir wollte einfach nicht warm werden. Seit ich aus dem ShadysidePark nach Hause gekommen war, fröstelte ich. „Vielleicht brüte ich eine Erkältung aus", dachte ich. Doch als ich meine Temperatur maß, war sie normal. Ich ließ mich auf mein Bett fallen und starrte eine ganze Weile die Wand an. „Ein toller Samstagabend", dachte ich frustriert. „Vielleicht sollte ich Hausaufgaben machen. Das wäre die Krönung des Abends." Keith hatte am Nachmittag, während ich mit den anderen weg war, wieder angerufen. Er hatte eine Nachricht auf dem Anrufbeantworter hinterlassen und mich gebeten, ihn zurückzurufen, sobald ich wieder da war. Er müsste dringend mit mir reden. „Ja, ja, ich weiß", dachte ich und seufzte. „Du willst dich bei mir entschuldigen, damit alles wieder so ist wie vorher." Ich unterdrückte ein Schluchzen. „Es wird nie wieder so sein wie vorher", dachte ich. „Nie wieder." Ich hatte ihn nicht zurückgerufen. Jetzt war es halb acht. Der Himmel vor meinem Fenster war tintenschwarz. „Schwarz wie der Tod", dachte ich grimmig. Ich stand auf und ging durchs Zimmer an meinen kleinen Schreibtisch. Eigentlich ist es ein Kinderschreibtisch. Doch wir hatten keinen anderen finden können, der in mein winziges Zimmer passte. „Ich schreibe ein Gedicht", beschloss ich. „Das lässt mich abschalten, lenkt mich ab." Ich hatte Gedichte über die Monate des Jahres geschrieben. Eine Art ungereimter Eindrücke über die Monate. Ich war bis Mai gekommen. „Frühling", dachte ich. „Grüne Blätter. Weiche, warme Luft."
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Ich stieß einen langen Seufzer aus. Der Mai war noch in weiter Ferne. Der Winter hatte gerade erst begonnen. Und schon fröstelte und fror ich. Ich setzte mich auf den Stuhl und verstaute meine Beine unter dem niedrigen Schreibtisch. Dann holte ich mein Gedichtheft und ein paar Stifte aus der Schublade. Als Mom in mein Zimmer trat, hatte ich gerade „Mai" auf die erste Zeile des leeren Blatts geschrieben. Sie trug einen Stapel sauber zusammengelegter, frisch gewaschener Wäsche auf den Armen. Sie legte die Wäsche auf meinem Bett ab und wandte sich an mich. „Bleibst du heute Abend zu Hause?" Ich nickte. „Ja. Mir ist was eingefallen, was ich für ein Gedicht verwenden kann", sagte ich und drehte den Bleistift zwischen den Fingern. „Räum das weg, okay?" Sie zeigte auf die Wäsche. „Ich meine, wenn du mit deinem Gedicht fertig bist." Mom und ich sehen einander sehr ähnlich. Wir haben beide glattes, schwarzes Haar und eine zarte, weiße Haut. Wir haben beide blaue Augen. Und wir sind beide ziemlich klein und zierlich. Sie kam durch das Zimmer und legte mir liebevoll die Hand auf die Schulter, während sie einen Blick auf mein Heft warf. „Mai", las sie laut. „Was für ein poetischer Anfang." „Ha ha. Sehr witzig", sagte ich und verdrehte die Augen. „Wie war die Party gestern Abend?", fragte sie und fuhr mir mit der Hand durchs Haar. Die Frage überraschte mich. „Nicht gerade umwerfend", antwortete ich ehrlich. „Nicht umwerfend?" Sie wartete darauf, dass ich mehr sagte. „Ein paar Jungs aus einer anderen Schule haben in der Garage mehrere Sixpacks Bier getrunken", erzählte ich ihr. „Es war alles ein bisschen zu eng und zu wild." Sie spielte mit meinem Haar, wie sie es getan hatte, als ich noch klein war. Und plötzlich wurde ich sehr traurig. Am liebsten wäre ich wieder ein kleines Mädchen gewesen. Am liebsten wäre ich ihr auf den Schoß gekrochen und hätte mich eng an sie geschmiegt. Und ihr alles erzählt. Ihr die ganze schreckliche Geschichte erzählt. 43
Glücklicherweise nahm sie die Hand aus meinem Haar und trat einen Schritt zurück. Das Gefühl verschwand. „Was macht Keith heute Abend?", fragte sie und ging zur Tür. „Weiß ich nicht", erwiderte ich und zuckte mit den Schultern. Ich wandte mich wieder meinem Gedicht zu. Im Türrahmen blieb sie stehen. „Er hat dir eine Nachricht auf dem Anrufbeantworter hinterlassen. Hast du ihn schon zurückgerufen?" „Noch nicht", antwortete ich kurz. „Habt ihr euch etwa ..." Ihre Stimme verstummte. Ich hatte sie gut erzogen. Sie wusste, dass sie mir keine persönlichen Fragen stellen durfte. Sie wusste, dass mich das immer aufregte. „Ich ruf ihn nachher zurück", sagte ich und bemühte mich, gelassen zu klingen. Ich spürte ihren nachdenklichen Blick, doch ich drehte mich nicht um. Nach ein paar Sekunden hörte ich, wie sie die Treppe hinunterging. Ich versuchte mich auf das Gedicht zu konzentrieren. Doch ich war einfach nicht in der richtigen Stimmung für Mai. Ich war weit davon entfernt. Ich konnte den Unfall nicht abschütteln. Es war fast vierundzwanzig Stunden her, und immer noch hörte ich das laute Knirschen, als unsere Stoßstange gegen das andere Auto stieß. Ich sah, wie das Auto auf und ab schaukelte. Im grellen Scheinwerferlicht sah ich den Schatten der Frau, der sich hinter der Windschutzscheibe bewegte. Spürte den Aufprall. Spürte das Knacken in meinem Hals. Spürte immer wieder den Schmerz. Fühlte die Todesangst. Die kalte Todesangst. Hörte das Quietschen der Reifen, als unser Wagen über den nassen Asphalt schlitterte und dann davonraste. „Ach, hör doch auf, Natalie!", schrie ich auf. „Hör auf damit!" Ich schob mein Gedichtheft zurück in die Schublade. Es war unmöglich, heute Abend ein hübsches, kleines Frühlingsgedicht zu schreiben. Undenkbar. Ich stand von dem niedrigen Schreibtisch auf, drehte mich um zur Tür – und erstarrte.
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In der Tür, die Hände auf dem Rahmen abgestützt, stand Keith. Seine dunklen Augen sahen mich unverwandt an. „Wie – wie lange stehst du schon da?", stammelte ich. Er trat einen Schritt ins Zimmer. „Ich bin gerade gekommen, Natalie. Deine Mutter hat mich hereingelassen." „Ja, und ... was willst du?", fragte ich mit kalter Stimme und verschränkten Armen. „Wir müssen reden", sagte er. „Ich will -" „Nein – bitte nicht, Keith!", bat ich ihn. „Nicht heute Abend, okay? Mir ist nicht wohl, und ..." „Nein!", beharrte er in scharfem Ton. „Wir müssen jetzt reden." Und dann kniff er die Augen vorwurfsvoll zusammen und fügte mit leiser Stimme hinzu: „Natalie – ich kenne dein Geheimnis."
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Kapitel 9 Ich spürte einen kalten, schmerzhaften Stich in der Brust, als hätte mir jemand einen Eiszapfen ins Herz gestoßen. Ich keuchte hörbar. „Was hast du gesagt?" Keith starrte mich immer noch vorwurfsvoll an. „Ich kenne dein Geheimnis", wiederholte er. „Aber wie ...?", fing ich an. „Du willst mich loswerden – stimmt's?", sagte er anklagend. „Das wünschst du dir doch insgeheim. Du willst mich loswerden und mit Todd gehen." Fast wäre ich in lautes Gelächter ausgebrochen. So erleichtert war ich, dass er unser entsetzliches Geheimnis doch nicht kannte. „Keith ...", stieß ich aus. „Du irrst dich. Du irrst dich gewaltig!" Ich sprang auf und schlang die Arme um ihn. Wir standen mitten im Zimmer und umarmten uns. Ich schmiegte meine Wange fest an seine. Es fühlte sich unheimlich gut an. Ich wollte ihn nie mehr loslassen. Doch als ich schließlich einen Schritt zurücktrat, bemerkte ich die Verwirrung auf seinem Gesicht. „Stimmt irgendwas nicht?", fragte er. Seine dunklen Augen musterten mich nachdenklich. Ich atmete schwer. Mein Herz flatterte wie ein Schmetterling. Plötzlich fühlte ich mich auch so zerbrechlich wie ein Schmetterling. Genauso hauchzart und verwundbar. Das Bild eines zertretenen Schmetterlings mit zerfetzten, abgerissenen Flügeln tauchte vor meinen Augen auf. Ich schüttelte den Gedanken ab. „Nein. Alles in Ordnung", brachte ich mühsam heraus. Ich atmete tief durch. „Und ich habe auch kein Interesse an dem Blödmann Todd", beruhigte ich Keith. „Wie kommst du darauf?" „Du bist gestern Abend mit ihm nach Hause gefahren", erwiderte Keith und wandte den Blick zum Fenster. Ich lachte. „Bin ich nicht!", rief ich aus und gab Keith spielerisch einen Schubs. „Randee hat mich nach Hause gefahren. Und zwar 46
bloß, weil du zu betrunken zum Fahren warst." „Ich habe aber gesehen, wie du dich auf der Party mit Todd unterhalten hast", beharrte Keith. „Und dann habe ich gesehen, wie du mit ihm die Party verlassen hast." „Das ist nicht wahr", sagte ich. „Ich habe nicht mit ihm die Party verlassen. Er hat mit uns die Party verlassen." Keith wollte noch mehr sagen, doch ich drückte meine Hand auf seinen Mund. „Hör zu, Keith, ich habe kein Interesse an Todd okay? Wenn du die Wahrheit wissen willst... er macht mir sogar ein bisschen Angst." „Was?", fragte Keith überrascht. „Angst?" „Er ist so ein Trampel!", sagte ich. „Und ich glaube, er hat was richtig Gemeines." „Ich kenne Todd schon mein ganzes Leben lang", entgegnete Keith. „Ich finde nicht, dass er einem Angst machen kann." Angespannt fuhr er sich mit der Hand durchs lockige, braune Haar. „Hör zu, Natalie, wir müssen reden." „Das haben wir doch gerade getan!", schoss ich zurück. Er runzelte die Stirn. „Ich meine ..." Er hielt inne. Er sah mich mit brennendem Blick an. Ich konnte erkennen, dass er verzweifelt überlegte. Ich verspürte das starke Bedürfnis, ihm zu erzählen, was in der vergangenen Nacht passiert war. Ihm alles zu sagen. Es war so schwer, die Geschichte für mich zu behalten. Ich konnte an nichts anderes mehr denken. Ich war wie besessen. Wie konnte ich es vor Keith geheim halten? Dann fiel mir unser feierlicher Schwur im Park wieder ein. Wie wir uns an den Händen gehalten hatten. Wie wir versprochen hatten, es keiner Menschenseele zu erzählen. Das Geheimnis für uns zu behalten – für immer und ewig. Mir wurde klar, dass ich meinen Schwur brechen würde, wenn Keith noch länger blieb. Wenn er blieb, würde ich ihm alles erzählen. Ich wusste, dass ich mich dann nicht mehr würde stoppen können. Die Eindrücke waren noch zu frisch. Noch zu schmerzhaft und beunruhigend. „Ich – ich kann jetzt nicht reden", stammelte ich. „Ich muss wirklich
meine Hausaufgaben machen." Ich zeigte auf den Schreibtisch. 47
Nachdenklich sah er mich an. Hatte er etwa einen Verdacht, dass etwas nicht stimmte – etwas sehr Ernstes? „Und tschüss. Du bist schon weg", sagte ich und bemühte mich, locker und gelassen zu klingen. Ich schubste ihn in Richtung Tür. „Nicht so schnell." Er packte mich an den Händen und hielt sie einen Augenblick lang fest. Dabei betrachtete er mich prüfend. „Gehst du am nächsten Samstag in die Hütte?" „Wie bitte?" Seine Frage überraschte mich. Ich hatte keine Ahnung, wovon er redete. „Du weißt schon. Die Hütte, die Carlos Onkel gehört", erklärte Keith. „Hat dich Carlo denn noch nicht eingeladen?" Ich nickte. „Doch, natürlich. Ich hatte es bloß vergessen." Carlos Onkel George besaß eine riesengroße alte Jagdhütte am Rande des Vermeer Forest im Norden des Bundesstaats. Sie war ziemlich heruntergekommen und wurde nicht oft von Jägern benutzt. Jeden Winter erlaubte Onkel George Carlo, ein paar Freunde auf ein Wochenende dort einzuladen. Ich erinnerte mich daran, dass es im letzten Jahr geschneit hatte und die ganze Gegend sehr idyllisch gewesen war. Wir hatten einen Riesenspaß gehabt, durch die Wälder zu streifen. Abends hatten wir Hotdogs und Hamburger gegrillt und heißen Apfelsaft mit Zimt getrunken, und die Stimmung war sehr gemütlich gewesen. Kein schlechtes Wochenende. „Fährst du denn nächsten Samstag hin?", fragte ich Keith. Betrübt schüttelte er den Kopf. „Ich kann nicht. Ich muss mit meinen Eltern ein paar Verwandte besuchen." „Dann fahre ich vielleicht auch nicht hin", überlegte ich. „Doch, du solltest trotzdem fahren", beharrte Keith. „Du solltest auf alle Fälle hinfahren." Ich kniff die Augen zusammen und sah ihn fragend an. „Warum? Aus welchem Grund?" „Weil dein süßer, kleiner Teddybär auch da sein wird!", lispelte er in alberner Babysprache. Dann brach er in Gelächter aus. Ich gab ihm noch einen kleinen Schubs und küsste ihn – diesmal war es ein langer, zärtlicher KUSS. Danach schickte ich ihn fort.
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Später am Abend rief ich Todd an. „Gibt's irgendwas Neues?", fragte ich. „Über ... du weißt schon was." Er reagierte verärgert. „Wirst du mich jetzt jede Stunde anrufen, ob es Neuigkeiten gibt?", fragte er bissig. „Hey, halt die Luft an, Todd –", protestierte ich. Er stöhnte. „Natalie, mach mal halblang. Ruf mich nicht an, okay? Ich kann sowieso nicht frei reden. Mein Bruder und meine Schwester sind in der Nähe. Meine Eltern sind im Zimmer nebenan." „Ich wollte bloß wissen, ob du irgendwas Neues gehört hast." „Falls ich irgendwas höre, lasse ich es dich wissen", erwiderte er kühl. Dann legte er auf. Wütend knallte ich den Hörer auf die Gabel. „Was für ein Schwein!", stieß ich aus. Ich schüttelte ungläubig den Kopf. Wie konnte Keith glauben, ich hätte was für Todd übrig? Ich konnte Todd nicht ausstehen. Ein paar Tage später hatte ich sogar noch mehr Grund, Todd nicht zu mögen. Und Angst vor ihm zu haben. Die Tage schienen sich endlos hinzuziehen. Ich hatte zwei wichtige Tests in Chemie und in Mathe. In gewisser Weise waren die Tests gut für mich, weil mir das Lernen half, mich von dem Unfall abzulenken. Am Dienstag holte Todd Randee und mich vor der Turnhalle ein. Nachdem er sich vergewissert hatte, dass kein anderer in der Nähe war, erzählte er uns, dass der Bürgermeister mehr als je zuvor entschlossen war herauszufinden, wer für den Tod seiner Schwester verantwortlich war. Er bot jedem Polizeibeamten, der eine wichtige Spur in dem Fall entdeckte, eine Belohnung. „Mein Dad macht sich Sorgen um den Bürgermeister", sagte Todd. „Er hatte anscheinend ein sehr enges Verhältnis zu seiner Schwester. Coletti redet ständig über sie." Todds Worte jagten mir einen Schauer über den Rücken. „Wenn der Bürgermeister so besessen von dem Unfall ist, gibt er die Suche nach dem Täter nie auf, dachte ich. „Wie lange dauert es, bis er uns auf die Spur kommt?" Wie lange noch?
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Freitagabend nach dem Essen packte ich meine Reisetasche für das Wochenende in der Hütte. Es war draußen bitterkalt geworden und ein starker Frost bedeckte den Boden. Ich packte die wärmsten Pullover und Klamotten ein, die ich besaß. Ich erinnerte mich daran, dass Onkel Georges Jagdhütte nicht gerade ein mollig warmes Haus war. Meine Gefühle schwankten hin und her; ich wusste nicht, ob ich mich auf das kommende Wochenende freute oder nicht. Ich war enttäuscht, dass Keith nicht dabei sein würde. Doch Randee und Gillian würden da sein. Und ich dachte, dass ein Tapetenwechsel unser schreckliches Geheimnis vielleicht in den Hintergrund drängen würde. „Fast eine Woche ist vergangen", sagte ich mir, während ich die kleine Reisetasche mit Mühe zumachte. „Und laut Todds Vater hat die Polizei noch keine Spur." Vielleicht würde uns nichts passieren. Vielleicht konnten wir doch mit unserem Leben weitermachen. Dann läutete das Telefon. Es war Todd. Er hatte schlechte Neuigkeiten.
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Kapitel 10 Todd sprach ziemlich leise. „Wir müssen wegen Carlo etwas unternehmen." „Wie bitte?" Ich war nicht sicher, ob ich ihn richtig verstanden hatte. Seine Worte ergaben keinen Sinn. „Kannst du nicht lauter sprechen?", fragte ich. „Nein", flüsterte er. „Halt die Klappe und hör zu, Natalie." Der gute, alte Todd. Nett und höflich wie immer. „Wir müssen wegen Carlo etwas unternehmen", wiederholte Todd. Er klang aufgeregt. Nervös. Mir wurde klar, dass er noch nie so geklungen hatte. „Was ist los?", fragte ich und presste den Hörer fest an mein Ohr. „Carlo hat mich nach dem Abendessen angerufen", fuhr Todd in dem beängstigenden, atemlosen Flüsterton fort. „Er sagt, er packt es nicht mehr." „Du meinst – wegen ...?" Ich verstummte und biss mir auf die Lippen. „Ja", erwiderte Todd rasch. „Er sagt, es würde ihn innerlich zerreißen. Er kann nichts mehr essen. Er kann nicht mehr schlafen." Todd stöhnte sarkastisch. „Carlo war schon immer ein Weichei", murmelte er. „Wa-was will er denn machen?", stammelte ich. „Zur Polizei gehen." Eine ganze Weile sagte ich nichts und ließ die Neuigkeit auf mich wirken. „Vielleicht ist es das Beste", sagte ich schließlich. „Aber Randee wird nicht sehr glücklich darüber sein." „Das brauchst du mir nicht zu sagen", murmelte Todd bissig. „Hör zu, Natalie - wir treffen uns in fünfzehn Minuten in Pete 's Pizzeria, okay?" „Was? Warum, Todd?" Er ignorierte meine Frage. „Ich rufe die anderen an", fuhr er im Flüsterton fort. Ich hörte, wie seine kleine Schwester ihm aus dem Hintergrund etwas zurief. „In fünfzehn Minuten, okay?"
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Ich sagte, ich würde versuchen, pünktlich zu kommen, und legte auf. Ich zitterte am ganzen Körper. Gerade hatte ich angefangen, mich wieder ein wenig zu fangen, und jetzt... „Es bringt nicht viel, wenn wir uns treffen", dachte ich, während ich mir nervös das Haar bürstete. Ich holte meinen roten Parka aus dem Schrank und zog ihn an. „Wenn Carlo meint, er müsste zur Polizei gehen, können wir ihn kaum davon abhalten", dachte ich und stieß einen langen Seufzer aus. „Vielleicht sollten wir alle zusammen hingehen." Ich ging die Treppe hinunter. Dad blickte von seiner Computerzeitschrift auf und blinzelte mich von seinem Sessel aus an. „Wohin gehst du?" „Ach ... ich treffe mich bloß mit Randee", sagte ich. Das war noch nicht mal gelogen. Er warf einen Blick auf seine Uhr und runzelte die Stirn. „Ich dachte, du wolltest morgen früh zu der Jagdhütte fahren." „Es dauert nicht lange", sagte ich. „Randee will bloß noch ein paar Sachen für den Trip einkaufen." Er nickte und widmete sich wieder seiner Zeitschrift. Ich hörte Mum vor sich hin summen. Ich sah sie am Esstisch sitzen, wo sie Bilder ins Familienalbum einklebte. Sie müsste mindestens zwei Jahre im Rückstand sein. Der ganze Tisch war voller Schnappschüsse. „Was für eine schöne, friedliche Szene", dachte ich bitter, als ich mich hinaus in die Kälte wagte. Wenn meine Eltern wüssten ... Ich war die Letzte. Ich entdeckte Randee, Gillian und Todd in der länglichen roten Nische im hinteren Teil der Pizzeria und lief eilig zu ihnen. Randee hatte ihren Mantel anbehalten. Gillian trug einen fliederfarbenen Pullover, der wunderbar zu ihrem rotbraunen Haar passte. Ich sah ihren angespannten, unglücklichen Mienen an, dass die Besprechung schon angefangen hatte. „Wir können nicht zulassen, dass Carlo alles kaputtmacht", sagte Randee gerade, als ich mich neben sie setzte.
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„Aber was können wir dagegen tun?", fragte Gillian in schrillem Ton. „Ich habe nach der Schule mit ihm geredet. Ich habe ihn angefleht, nichts zu sagen. Ehrlich." Wenn jemand Carlo zum Schweigen überreden konnte, dann war es Gillian. „Und? Was hat er darauf geantwortet?", fragte ich ungeduldig. Gillian senkte den Blick. „Carlo hat gesagt, dass sein Entschluss feststeht. Er sagt, sein schlechtes Gewissen bringt ihn um. Er kann unseren Schwur nicht halten. Er muss zur Polizei gehen." Ich sah Todd an. Seit ich gekommen war, hatte er noch kein Wort gesagt. Er saß mir gegenüber und drehte die Pfeffermühle zwischen den Handflächen. Schließlich sah er auf. Seine blauen Augen waren leer. Sein Gesicht war völlig ausdruckslos. „Vielleicht muss Carlo auch einen Unfall haben", sagte er gelassen. Wir drei Mädchen fuhren erschrocken zusammen. Ich starrte Todd an und versuchte, seine Gedanken zu lesen. Seine Augen waren plötzlich ganz kalt und sein Gesicht verhärtet. Randee lachte schrill und nervös auf. Gillian machte vor Schreck den Mund nicht mehr zu. „Das war bloß ein Scherz, stimmt's?", fragte ich herausfordernd. „Todd – das war doch bloß ein Scherz, oder?" „Genau", sagte Todd und verzog endlich den Mund zu einem feinen Lächeln. „Das war bloß ein Scherz. Was denn sonst?"
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Kapitel 11 Am Samstagmorgen fuhren wir in aller Frühe mit Todds Jeep zur Jagdhütte. Die Sonne stand als roter Ball tief am morgendlichen Himmel. Sie schien auf den gefrorenen Boden und ließ die Felder silbern glitzern. „Es wird ein schöner Tag", sagte Randee und gähnte. Sie saß vorne neben Todd. Gillian und ich kauerten hinten auf dem Rücksitz. „Zu schade, dass Keith nicht mitkommen konnte", meinte Gillian und betrachtete durch das Seitenfenster die Bauernhöfe, an denen wir vorbeifuhren. Ich nickte. „Ja, schade." Todd kicherte. „Wisst ihr noch, wie Onkel George uns letztes Jahr zum Jagen mitgenommen hat? Damals hätte Keith sich fast selber in den Fuß geschossen. Das muss man sich mal vorstellen!" „Was ist daran so amüsant?", fragte ich heftiger, als ich vorhatte. Grinsend schüttelte Todd den Kopf. „Du hättest dabei sein sollen. Es war wirklich witzig." „Nicht halb so witzig wie du, als du dem Eichhörnchen hinterhergerannt bist", warf Gillian ein. Ihr rotbraunes Haar glühte wie Feuer in dem Sonnenlicht, das den Jeep durchflutete. „Du bist ihm hinterhergejagt, als sei es ein Preishirsch!" „Woher weißt du das?", forschte Todd. „Ach, das hat mir ein kleiner Vogel namens Carlo zugeflüstert", erwiderte Gillian listig. „Carlo erzählt mir alles." „Ich habe bloß herumgealbert", sagte Todd und verzog das Gesicht. „Ich habe nicht ernsthaft versucht, darauf zu schießen. Ich habe bloß Spaß gemacht." „Ein toller Spaß – auf ein süßes, kleines Eichhörnchen zu schießen", murmelte ich. „Das Eichhörnchen war bösartig", witzelte Todd. „Einer von uns musste dran glauben." Randee runzelte die Stirn. „Geht ihr Jungs diesmal wieder jagen?" „Und lasst uns Mädels allein in der Hütte herumhängen", beschwerte sich Gillian. 54
„Mädchen jagen doch nicht", erklärte Todd. „Mädchen bleiben daheim und warten darauf, dass die Männer das Essen nach Hause bringen." Was für ein Neandertaler! Ich glaube, er meinte es sogar ernst. „Vielleicht bin ich ja eine bessere Jägerin als du", sagte Randee herausfordernd. Todd lachte heiser und schüttelte den Kopf. „Klar doch", murmelte er sarkastisch. „Randee, meinst du das im Ernst? Könntest du wirklich auf einen unschuldigen Fasan schießen?", fragte Gillian sie erstaunt. „Wahrscheinlich schon", antwortete Randee nachdenklich. „Wir waren letztes Jahr auf einem Jahrmarkt und dort gab es einen Schießstand. Kennt ihr ja. Man schießt auf bewegliche Ziele. Ich war richtig gut. Meine Eltern haben mich noch tagelang damit aufgezogen. Sie sagten, ich hätte einen echten Killerinstinkt." Ich hatte an dem Morgen nicht mehr an den Unfall gedacht, bis Randee diese Worte aussprach. Jetzt lehnte ich mich zurück, schloss die Augen und versuchte, die schlimmen Bilder aus meinen Gedanken zu verscheuchen. „Dieses Jahr wird nicht gejagt", murmelte ich. „Wir wollen uns einfach ein schönes Wochenende machen." Für den Rest der Fahrt wurde kaum ein Wort gesprochen. Kurz vor zehn Uhr bog Todd mit dem Jeep auf die lange Kiesauffahrt zur Jagdhütte. Wir stiegen aus und streckten uns, während wir den Wald ringsum bewunderten. Die winterlich nackten Bäume warfen überall lange, blaue Schatten. „Es ist wirklich ein wunderschöner Morgen", sagte Gillian. „Und gar nicht mal so kalt." „Ich finde, wir sollten alle einen langen Spaziergang durch den Wald machen", schlug ich vor. Ich drehte mich zur Hütte, einem niedrigen, langen Gebäude aus dunklem Holz. Aus einem der beiden Schornsteine kräuselte sich weißer Rauch. Ein verrosteter Schubkarren, auf dem sich Holzscheite türmten, stand neben der niedrigen Veranda vor dem Haus, die sich über die ganze Front erstreckte. Auf dem Holzgeländer, das die Veranda umgab, kauerte ein Eichhörnchen auf den Hinterbeinen. Es sprang hinunter und 55
verschwand behände im Wald, als die Tür aufschwang und Carlo und sein Onkel George hinauseilten, um uns zu begrüßen. Onkel George war ein großer Mann mit einem roten Gesicht und einem borstigen, weißen Schnauzbart. Er trug eine Jägerjacke aus rotem Flanell und eine jener Kappen mit pelzigen Ohrenklappen, wie sie die Jäger in den Comics immer aufhaben. Carlo hatte eine verwaschene Bluejeans und eine Jeansjacke an. Er lächelte zur Begrüßung. Doch er kam mir blass und angespannt vor. Sein schwarzes Haar war ungekämmt. Von der Sonne geblendet, blinzelte er hinter seinen Brillengläsern. Carlo und Gillian tauschten bedeutungsvolle Blicke aus. Ich hatte keine Ahnung, was sie damit ausdrücken wollten. Onkel George hatte eine laute, dröhnende Stimme. Er begrüßte jeden von uns herzlich und ging voraus zur Hütte. „Carlo und ich haben den ganzen Morgen am warmen Herd verbracht, um Frühstück zu machen", kündigte er an. „Was gibt's denn zum Frühstück?", fragte ich. „Müsli", erwiderte Carlo. Wir lachten. Alle schienen ziemlich gute Laune zu haben. „Vielleicht wird es heute doch ein netter Tag", dachte ich hoffnungsvoll. Die Hütte war noch genauso staubig und heruntergekommen, wie ich sie in Erinnerung hatte. Onkel George war nicht gerade ein perfekter Hausmann. Doch ich nahm an, dass das den Jägern ziemlich schnuppe war, wenn sie ein oder zwei Nächte dort blieben, um in den Wäldern zu jagen. Wir hatten ein angenehmes Frühstück – es gab Corn-flakes, warme Blaubeermuffins und große Becher voll Kaffee. Dazu erzählte Onkel George lustige Geschichten über ein paar der Jäger, die in der Hütte übernachtet hatten. Das Feuer in dem groben Steinkamin knisterte gemütlich. Als ich mitten im Esszimmer an dem großen Eichentisch saß, spürte ich die Wärme der Flammen auf meinem Rücken. Nach dem Frühstück zeigte uns Onkel George unsere Zimmer, damit wir auspacken konnten. Während ich die paar Sachen, die ich mitgebracht hatte, aus meiner Reisetasche in die kleine Holzkommode räumte, dachte ich über Carlo nach. Er hatte während 56
des Frühstücks weder an der Unterhaltung noch an dem Gelächter der anderen teilgenommen. Er war zwar schon immer ein ziemlich ruhiger Typ gewesen, doch heute kam er mir nicht nur still vor – sondern als würde er über etwas brüten. Carlo hatte Gillian immer wieder Blicke zugeworfen, als wollte er versuchen, ihr etwas mitzuteilen. Hatten die beiden seinen Beschluss, zur Polizei zu gehen und ein Geständnis abzulegen, durchgesprochen? Hatte Gillian Carlo überredet, es nicht zu tun? Oder versuchte sie etwa immer noch, ihn davon abzuhalten? Ihre heimlichen Blicke hatten mir nichts verraten. Und ich hatte nicht viel Zeit, darüber nachzudenken. Onkel George rief mit dröhnender Stimme alle zu sich. Ich fand ihn im Gewehrzimmer. Er hatte die Glastür des Schranks aufgemacht und gab den Jungen Jagdgewehre, als ich eintrat. „Oh nein", dachte ich unglücklich. „Müssen sie schon wieder jagen gehen? Wie öde!" „Natalie, möchtest du dieses Jahr dabei sein?" Onkel George sah mich fragend an. Ich schüttelte den Kopf. Beim Anblick echter Gewehre bekam ich ein komisches Gefühl in der Magengegend. „Vielleicht komme ich auf einen Spaziergang mit", antwortete ich. „Ich auch", erklärte Gillian. „Natalie und ich sind halt Weicheier." „Wir sind keine Weicheier. Wir sind gegen Gewalt", widersprach ich ihr. „Ihr seid doch Weicheier", beharrte Todd grinsend. „Randee kommt mit zum Jagen." „Ehrlich?" Gillian und ich starrten Randee überrascht an. Sie wich unseren Blicken aus. Todd fing an, Randee die Funktionen des Gewehrs zu erklären, das sie mit beiden Händen festhielt. Während er ihr zeigte, wie man zielt, hatte er die Arme um ihre Schultern gelegt. Für mich sah es so aus, als brauchte er bloß eine Ausrede, um sie zu umarmen. Und an Randees Gesichtsausdruck merkte ich, dass sie nichts dagegen hatte. „Tut Randee das nur, um Todd zu beeindrucken?", fragte ich mich im Stillen. „Wie kann sie diesen großen Blödmann bloß mögen?" Seit ich denken konnte, waren Randee und ich Freundinnen gewesen. 57
Und wir hatten immer unsere tiefsten und geheimsten Gedanken und Gefühle miteinander geteilt. Aber mir wurde klar, dass man trotzdem nie wirklich weiß, warum jemand sich zu einem anderen hingezogen fühlt. Carlo hatte sich unbekümmert ein Gewehr um die Schulter gehängt. Er stand an der Tür und redete leise mit Gillian. Onkel George beschäftigte sich mit der Sicherung eines kurzen, elegant wirkenden Gewehrs, das neuer als die anderen aussah. Er hielt es Randee hin. „Vielleicht willst du das ausprobieren. Es ist etwas leichter als die anderen", sagte er. „Ach, nein danke. Das hier ist schon in Ordnung", erwiderte Randee und hielt ihr Gewehr mit einer Hand am Lauf hoch. „Willst du mit dem Ding wirklich schießen?", fragte Gillian sie. Randee zuckte mit den Schultern. „Vielleicht. Vielleicht renne ich auch vor Angst weg, wenn ich einen lebendigen Fasan sehe." „Wenn wir uns nicht langsam aufmachen, wird keiner von uns einen lebendigen Fasan zu sehen bekommen", sagte Onkel George. Er ging mit raschen Schritten zur Tür und verstaute sein Gewehr im Ärmel seiner Jägerjacke. „Ihr wisst doch, die meisten Jäger sind vor Tagesanbruch im Wald." Wir folgten ihm nach draußen. Beim Hinausgehen zeigte Todd Randee, wie man ein Gewehr richtig hält. Ich knöpfte meinen Daunenparka zu und blieb mitten auf der Vorderterrasse stehen. „Ich brauche Handschuhe", stellte ich fest. „Bin gleich wieder da." Ich friere immer gleich an den Händen. Sobald der September kommt, ziehe ich Handschuhe an. Randee neckt mich immer deswegen. „Was ist denn so schlimm daran, kalte Hände zu haben?", fragt sie immer. Darauf habe ich nie eine passende Antwort. Ich mag einfach keine kalten Hände. Ich rannte in die Hütte zurück und lief eilig in mein Zimmer, um meine Handschuhe zu holen. Einen Augenblick später trat ich wieder auf die Terrasse und hörte einen lauten Knall. Und gleich darauf einen schrecklichen Schrei.
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Kapitel 12 Dann hörte ich Todd schreien. „Oh Gott! Es tut mir Leid!" Blitzschnell wanderte mein Blick von einem zum anderen. Mir wurde klar, dass es Gillian gewesen war, die geschrien hatte. Todd starrte mit offenem Mund auf das Gewehr, das er in seiner zitternden Hand hielt. „Es – es ist einfach losgegangen!", stammelte er. „Ich wusste nicht, dass –" „Lass mich mal sehen", sagte Onkel George streng und runzelte die Stirn. Er legte sein Gewehr auf den Boden und griff nach Todds. „Vielleicht hat sich die Sicherung gelöst", murmelte er und betrachtete es prüfend. „Es hat mich fast umgerissen", sagte Todd und schüttelte den Kopf. „Ich hätte nie gedacht, dass es einfach losgehen könnte." Er presste sich die Hand an die Brust. „Mein Herz hämmert wie verrückt." „Gott sei Dank hat keiner vor dir gestanden", sagte Onkel George. Er untersuchte das Gewehr noch eine Weile und gab es dann Todd zurück. „Sei aber vorsichtig, okay?" „Vielleicht ist es besser, wenn Todd vorausgeht", schlug Randee scherzhaft vor. „Mir gefällt die Vorstellung gar nicht, ihn in meinem Rücken zu haben." „Mach keine Witze", sagte Carlo angespannt und warf Gillian einen raschen Blick zu. „Schließlich war es nicht gerade lustig, als das Gewehr losgegangen ist." „Carlo hat Recht", stimmte Todd ihm hastig zu. „Von jetzt an werde ich viel vorsichtiger sein", versprach er. „Ehrlich." Onkel George ging auf dem Weg durch den Wald voraus. „Da vorne ist eine Lichtung, die von niedrigen Büschen und Wildpflanzen umgeben ist", kündigte er mit leiser Stimme an. „Wir hocken uns hinter die Büsche und warten ab." „Hey – schaut euch die Abdrücke an! Von welchem wilden Tier stammen die denn?", fragte Todd und zeigte auf ein paar Spuren im Waldboden. „War das ein Reh?" Onkel George warf einen kurzen Blick darauf. „Die stammen von einem Hund", sagte er grinsend. „Versuche heute keine Hunde zu 59
schießen, okay, Todd?" Wir lachten alle. Sogar Carlo musste lächeln. Ich glaube, es war das erste Mal an dem Morgen, dass er das tat. Die nasse, braune Laubdecke gab unter unseren Füßen nach, während wir hinter Onkel George tiefer in den Wald vordrangen. Die Luft war kalt und windstill. Keine Brise war zu spüren. Mit großen Schritten hielt ich mich dicht hinter Gillian. Wir schoben niedrige Büsche und Äste aus dem Weg, als wir den anderen auf einem schmalen, verschlungenen Pfad folgten. Ich hatte einmal eine ziemlich traumatische Erfahrung im Wald gemacht. Seitdem war mir immer unbehaglich zu Mute bei der Vorstellung, allein im Wald zu sein. Es war während eines Ausflugs in der dritten Klasse. Wir waren einen Waldweg in einem Naturpark ungefähr zwanzig Meilen außerhalb von Shadyside entlanggegangen. Ich hatte angehalten, um eine Pflanze näher zu betrachten, die giftig sein sollte. Ich weiß nicht warum, aber Brennesseln und andere für Menschen schädliche Pflanzen haben mich schon immer fasziniert. Als ich wieder aufschaute, war der Rest meiner Klasse verschwunden. Ich rief nach ihnen. Und ich rannte den Weg entlang, um sie einzuholen. Doch anscheinend hatte ich die falsche Abbiegung genommen. Plötzlich fand ich mich inmitten einer Wildnis von Bäumen und stacheligen Büschen wieder. Ich rief verzweifelt nach meinen Klassenkameraden. Doch es gab kein Lebenszeichen der anderen Schüler oder der beiden Lehrer, die mit uns hergekommen waren. Meine Arme und Beine waren total zerkratzt. Und in meiner verzweifelten Hektik, meine Freunde wieder zu finden, rannte ich mit dem Kopf in einen herunterhängenden Ast und riss mir die Stirn auf. Das warme Blut rann mir die Stirn herunter und in die Augen. Blind rannte ich weiter und rief nach meinen Lehrern. Als ich eine kleine Lichtung erreichte, blieb ich stehen, rang keuchend nach Luft und wischte mir das Blut aus der Stirn. Und lauschte. Ich lauschte auf die Stimmen meiner Freunde. Ich lauschte auf die Rufe meiner Lehrer. 60
Doch ich vernahm nur ein Rascheln in den Büschen. Und das leise Knurren eines Tiers. War es ein Bär? Oder ein Wolf? Meine achtjährige Vorstellungskraft überschlug sich. Vor Angst erstarrt lauschte ich auf das gefährlich klingende Knurren und Grunzen. Hörte am Rascheln im Gebüsch, dass das Tier sich näherte. Dann fing ich wieder an zu rennen. Tiefer in den Wald hinein. Immer tiefer. Ich rannte um mein Leben. Die ganze Nacht kauerte ich auf einem flachen Stein; mir war elend zu Mute und ich weinte, bis ich Seitenstechen bekam. Und ich lauschte ängstlich. Ich lauschte auf die Geräusche sich nähernder wilder Tiere. Es war die schrecklichste Nacht meines Lebens. Die Nacht der tausend Albträume. Am nächsten Morgen, als es langsam hell wurde, fanden mich die Förster. Ich fror, und ich war verdreckt und zerkratzt und zitterte vor Angst am ganzen Körper. Seitdem hatte sich der Wald für mich verändert. Ich hatte an jenem Tag und in jener Nacht gelernt, dass der Wald ein Ort war, an dem wilde Kreaturen lebten. Ein Ort, der sich der menschlichen Kontrolle entzog. Deshalb war es in gewisser Weise eine mutige Tat für mich, an diesem Vormittag Onkel George und meinen Freunden in den Wald zu folgen. Ich bemühe mich immer, meine Ängste zu überwinden. Ich glaube, das ist sehr wichtig. Aber trotzdem lief ich dicht hinter Gillian her und ließ sie nicht aus den Augen, während ich den verschlungenen Pfad entlangging. Und als wir uns alle hinter das Gebüsch kauerten, das die Lichtung umgab, um nach Fasanen Ausschau zu halten, hielt ich mich dicht an Gillian. Ich habe keine Ahnung, wie ich sie aus den Augen verloren habe. Und die anderen. Irgendwann wurde es mir zu dumm, darauf zu warten, dass ein Fasan auftauchte. Ich fing an, vor mich hin zu träumen. Und mich an jene furchtbare Nacht damals in der dritten Klasse zu erinnern. 61
Ein Schuss in der Ferne brachte mich jäh in die Gegenwart zurück. Ich hatte im Schneidersitz hinter einem trockenen Gebüsch gesessen. Der krachende Gewehrschuss ließ mich aufspringen. Ich sah mich um und spürte einen Angststich in der Magengrube, als ich von Gillian keine Spur entdeckte. Oder von den anderen. Mir wurde klar, dass sie sich an eine andere Stelle verzogen haben mussten. Ich unterdrückte meine Panik und fing an zu laufen. Ich machte den Mund auf, um nach ihnen zu rufen. Doch dann holte ich tief Luft. Mir fiel ein, dass die anderen keinen Lärm brauchen konnten. Wenn ich mir nach ihnen die Lunge aus dem Leib schrie, würde ihnen nie ein Fasan über den Weg laufen. „Ganz ruhig, Natalie", befahl ich mir. „Du bist nicht mehr in der dritten Klasse. Keine Bären oder Wölfe haben sich in den Bäumen versteckt, um dich anzuspringen. Und du findest auf jeden Fall den Weg zurück zur Jagdhütte." „Ja", entschied ich, „genau das werde ich jetzt tun. Ich gehe einfach zur Hütte zurück und warte dort auf die anderen." Ich stolperte und blieb in einer Erdfurche hängen. Ich streckte den Arm aus und hielt mich an einem Baumstamm fest, um nicht hinzufallen. Ich holte tief Luft, drehte um und ging in Richtung Hütte, diesmal vorsichtiger. Ich war ungefähr zehn Minuten gelaufen, als vor mir noch ein Schuss abgefeuert wurde. Ich blieb stehen. Die Sonne flutete durch eine Öffnung in den Baumkronen. Mir wurde klar, dass ich in die falsche Richtung ging. Mein Orientierungssinn war noch nie sehr gut. Ich murmelte etwas vor mich hin und drehte wieder um. An einem großen Klumpen brauner Büsche vorbei. Ein schmaler Pfad führte durch die Bäume. Ich ging ihn ungeduldig entlang. „Das ist der richtige Weg", murmelte ich laut. „Im Handumdrehen bin ich wieder an der Hütte." Ich folgte der Biegung des Pfades an einer Reihe schlanker Kiefern vorbei. Das einzige Grün in diesem Wald der tristen Winterfarben Braun und Grau. Als ich die Beine sah, die quer über den Pfad ausgestreckt waren, blieb ich stehen und schlug die Hände vors Gesicht. Die Füße in den braunen Stiefeln waren merkwürdig verdreht. 62
Eine Welle der Verwirrung überwältigte mich und zog mich an. Zog mich in den Bann dieses seltsamen, beängstigenden Anblicks. Ich schluckte schwer und starrte mit zusammengekniffenen Augen auf die unbewegliche Gestalt. Versuchte, mir einen Reim daraus zu machen. Versuchte herauszufinden, was ich vor mir sah. Und dann setzte sich das entsetzliche Bild Stück für Stück zusammen. Wurde immer klarer. Ich sah Carlos Brille auf der Erde liegen. Die Gläser waren zerbrochen. Ich sah das Gewehr, das neben ihm auf dem Boden lag. Ich sah eine ausgestreckte Hand, eine blasse, zierliche, ausgestreckte Hand. Dann erkannte ich Carlos Jeansjacke. Sie war voller dunkelroter Blutspritzer. Und der Kragen ... der Kragen war dunkelrot gefärbt. Und darüber der Hals ... der Hals war blutüberströmt... Carlos Gesichtsausdruck war erstaunt. Seine Augen waren weit aufgerissen. Sein Blick war leer. Wie tot. Tot. Sein Haar war mit Blut getränkt. Der Schuss musste ihn am Hinterkopf erwischt haben, denn sein Kopf lag in einer Blutlache ... Und ohne dass ich es merkte, stieg ein schriller Schrei aus meiner Kehle. Ich fing an zu schreien: „Carlo! Oh Gott! Carlo ist tot!"
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Kapitel 13 Das Gras daneben war mit Blut besprenkelt. Ich schrie immer wieder: „Carlo ist tot! Oh, mein Gott, er ist tot! Carlo ist tot!" Ich weiß nicht, wie oft ich mit schriller Stimme diese Worte ausstieß – bis ich mich schließlich an meinem eigenen Atem verschluckte und anfing zu würgen. Ich beugte mich über die Büsche und spürte, wie zwei starke Hände mich an den Schultern packten. Ich drehte mich um und sah Todd, der mich festhielt. Blitzschnell riss ich mich los. Er hatte sein Gewehr auf den Boden geworfen. Seine blauen Augen wirkten gehetzt. Sein Mund stand vor Schreck offen. Er keuchte, sein Atem ging stoßweise. „Natalie ...", flüsterte er atemlos. „Natalie ... Natalie ..." Immer wieder sagte er meinen Namen. Seine Augen waren weit aufgerissen und wie die eines wilden Tiers. Sein ganzes Gesicht war verzerrt; unter seiner Stirn sah man ganz deutlich die Konturen der Schädeldecke. Seine bleichen Lippen zitterten. „Natalie ... Natalie ..." Und dann fing er an, am ganzen Körper zu zittern. Wir standen beide wie erstarrt da. Beugten uns über den Waldweg. Zitterten. Keuchten. Starrten einander an. Wir beide. Neben der Leiche unseres Freundes. Und dann sah Todd mir fest in die Augen. „Sag bloß nichts", befahl er mir mit leiser, drohender Stimme.
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Kapitel 14 Ich schluckte schwer. Ich war nicht sicher, ob ich ihn richtig verstanden hatte, „Was?" „Sag bloß nichts", wiederholte er mit zusammengebissenen Zähnen. „Von dem, was vorher passiert ist." Ich starrte ihn verwirrt an. Mein Magen rebellierte immer noch und meine Beine zitterten. „Halte unseren Schwur ein, Natalie", sagte Todd mit drängender Stimme. „Behalte unser Geheimnis für dich. Es hat nichts mit... mit dem hier zu tun. Es hat nichts mit heute zu tun." Ich schüttelte heftig den Kopf. Todds Worte ergaben für mich keinen Sinn. Nichts ergab einen Sinn. Gar nichts. Sein Blick war so seltsam, so intensiv. Als wollte er versuchen, mich zu durchdringen. „Sag nichts ... über das, was letzte Woche passiert ist", wiederholte er. „Natalie, sag bloß nichts über den Unfall." Noch ein Unfall. Die Polizei am Ort nannte Carlos Tod einen Jagdunfall. Als ich am nächsten Tag den Bericht in der Zeitung las, war ich wieder zu Hause. Mom und Dad waren sehr lieb zu mir gewesen. Liebevoll und verständnisvoll. Wenn ich weinte, ließen sie mich in Ruhe. Wenn ich das Bedürfnis hatte zu reden, waren sie für mich da. Der Anblick seines Neffen hatte Carlos Onkel George zutiefst erschüttert. Er war sprachlos und sagte kein Wort. Ich glaube, er erlitt einen Schock. Die Sanitäter in ihren weißen Uniformen legten Onkel George auf eine Tragbahre. Er wehrte sich nicht dagegen. Sie wickelten ihn in Decken ein und brachten ihn im Krankenwagen weg. Ich fragte mich, ob ich ihn je wiedersehen würde. Der Rest unserer kleinen Gruppe konnte kaum sprechen, konnte kaum Worte finden, um die ruhigen, doch beharrlichen Fragen der 65
ernsten Polizeibeamten zu beantworten. Und dann, am nächsten Tag, las ich die Zeitung. Ich musste sie mit beiden Händen festhalten, damit sie nicht zu sehr zitterte. Ich las die offizielle Todesursache: Ein Unfall. Carlo war über eine Baumwurzel gestolpert, die aus der Erde ragte. Sein Gewehr war gegen den Baumstamm geschlagen und losgegangen. Die Kugel hatte ihn am Hinterkopf erwischt. Es gab noch mehr Wörter. Sie verschwammen vor meinen Augen. Wörter über die Richtung der Kugel. Über die Wucht des Geschosses. Wörter. Schwarze Wörter auf grauem Papier. Wörter – so schwarz wie der Tod. Ich konnte sie nicht lesen. Ich musste sie nicht lesen, um zu wissen, dass Carlo tot war. Der freundliche, schüchterne Carlo. Der besorgte Carlo. Carlo, der sich entschlossen hatte, zur Polizei zu gehen und unseren geheimen Schwur zu brechen. Carlo war tot. Und die Zeitung sagte, es sei ein Unfall gewesen. Die örtliche Polizei sagte, es sei ein Unfall gewesen. Alle wollten daran glauben, dass es ein Unfall gewesen war. Doch ich hatte Todds Drohung gehört. Ich hatte Todds Worte gehört. Worte, die so eiskalt waren, dass sie mir einen Schauer über den Rücken gejagt hatten. „Vielleicht sollte Carlo einen Unfall haben." Das waren Todds Worte gewesen. Und kurz danach hatte Carlo einen Unfall. Was sollte ich also glauben? Sollte ich dem offiziellen Polizeibericht glauben? Oder sollte ich dem verzweifelten, wilden Blick in Todds Augen glauben, als er die Zähne zusammenbiss und mit leiser, drohender Stimme murmelte: „Sag nichts. Natalie, sag bloß nichts." Was sollte ich bloß glauben? Was? Hatte Carlo sich wirklich selbst erschossen? Konnte er so ein wahnsinniges Pech haben? 66
„Die Polizei weiß, was sie tut", sagte ich mir. „Sie ermittelt in solchen Fällen sehr sorgfältig. Die Polizei lügt nicht." Und dann dachte ich: „Die Polizei will, dass es ein Unfall war. Das ist das Einfachste. Das ist einfach und sauber. Dann muss sie keinen Fall lösen. Dann muss sie keinen Mörder finden." Mörder. In Gedanken wiederholte ich immer wieder das hässliche Wort. Und hatte Todd vor Augen. Gestern im Wald. Sein verzerrtes Gesicht. Sein offener Mund, der keuchend Luft holte. „Sag nichts. Natalie, sag bloß nichts." Hatte Todd seine Drohung wahr gemacht? Hatte Todd Carlo einen Unfall „geschickt", wie er vorher angedeutet hatte? Nein. Nein, das wollte ich nicht glauben. Ich wollte überhaupt nichts glauben. Ich wollte nichts wissen. Plötzlich hatte ich das Gefühl, als würde mein Kopf gleich platzen. Ich wusste schon viel zu viel. Ich wusste zu viel über die Schwester des Bürgermeisters. Über Carlo. Und über Todd. Meine Eltern waren weg. Das erste Mal, dass sie mich allein ließen, seit ich aus dem Wald zurückgekommen war. Plötzlich wünschte ich mir, sie wären zu Hause geblieben. Ich musste mit ihnen reden. Ich musste ihnen alles sagen. Ich konnte es nicht länger für mich behalten. Ich konnte all das, was ich wusste, nicht länger ertragen. „Sag nichts. Sag bloß nichts." Todds hässliche Worte hallten in meinen Ohren. Mein Zimmer verschwamm vor meinen Augen. Ich rieb meine müden Augen. Als ich sie wieder aufmachte, konnte ich immer noch keine klaren Umrisse erkennen. Doch ich erblickte Todd, der die Tür aufgerissen hatte und auf mich zukam. „Wie bist du reingekommen?", wollte ich ihn fragen. „Todd, wer hat dich in mein Haus gelassen?" Doch ich hatte keine Gelegenheit dazu. Er packte mich, und ich fing an zu schreien.
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Kapitel 15 Erst nach ein paar Sekunden konnte ich sprechen. „Lass mich los!" „Natalie – was hast du denn?" Ich blinzelte ihn an und versuchte, ihn zu erkennen. „Keith?" Mir wurde klar, dass ich Keith anstarrte, nicht Todd. „Ich – ich habe gedacht..." Sein dunkler Blick drang in mich. „Natalie - bist du okay?" „Nein!", schrie ich. „Nein. Ich bin nicht okay!" Und ich zog ihn spontan zu mir heran und presste mein brennend heißes Gesicht gegen seine Wange. Wir standen da und umarmten uns. Wir hielten uns ganz fest. Unsere Herzen klopften im selben Takt. Wir sagten nichts. Wir bewegten uns nicht. Ich wollte mich an ihm festhalten und nie mehr loslassen. Schließlich gingen wir auseinander. „Ich bin so froh, dass du hier bist", murmelte ich und hielt ihn an den Händen. Er sah mich mit festem, prüfendem Blick an. „Ich habe geklingelt. Keiner hat aufgemacht. Aber ich habe das Licht in deinem Zimmer gesehen und die Haustür war offen. Da bin ich hereingekommen." „Ich – ich habe nichts gehört", stammelte ich und zog ihn neben mich aufs Bett. Wir setzten uns und hielten uns immer noch an den Händen. „Ich habe nachgedacht. Ich meine ... ich ... ich weiß nicht, was ich meine." Ein Schluchzen stieg in mir hoch. „Ach Keith, ich bin am Boden zerstört!" „Ich habe gehört, was Carlo zugestoßen ist", erwiderte er leise. „Ich bin sofort hergekommen. Ich wusste, dass es dich fertig machen würde. Es – es muss schrecklich gewesen sein, Natalie." Ich nickte. Eine einzelne Träne rollte mir die Wange hinunter. Mein Gesicht brannte. „Wie ist es passiert?", fragte Keith und wischte mir die Träne sanft mit dem Zeigefinger aus dem Gesicht. „Kannst du darüber reden? Wenn du nicht reden willst, musst du nichts sagen." Ich küsste ihn auf die Wange. Er war so lieb, so verständnisvoll. Diese Seite von ihm hatte ich noch nie kennen gelernt. Gewöhnlich 68
wollte er unbedingt cool wirken und hatte seine Gefühle noch nie richtig gezeigt. Doch Carlo war auch Keiths Freund - sogar ein sehr guter Freund – gewesen. Und ich merkte, dass Keith beinahe genauso geschockt war wie ich. Als ich in Keiths traurige, dunkle Augen sah, zerbrach etwas in mir. Wie ein Damm brachen die Worte aus mir heraus. „Todd hat ihn umgebracht!", schrie ich. Keith schluckte schwer. Seine Miene veränderte sich nicht. Ich glaube, er war zu schockiert, um meine Worte zu verstehen. „Todd hat es getan!", wiederholte ich und drückte Keiths Hände. Meine eigenen Hände waren plötzlich eiskalt. „Am Abend davor hat Todd gesagt, Carlo würde einen Unfall haben. Und dann hat er einen Unfall gehabt!" Keith ließ meine Hände los und sprang auf die Beine. Er schüttelte heftig den Kopf; sein Gesichtsausdruck war verwirrt. „Natalie – wovon redest du?", fragte er. „Was du sagst, ergibt überhaupt keinen Sinn. Warum sollte Todd Carlo umbringen?" Ich holte tief Luft. Und dann sprudelte die ganze Geschichte in einem Wortschwall aus mir heraus. Ich konnte sie nicht länger unterdrücken. Ich vergaß unseren Schwur. Ich erzählte Keith alles. Sein Mund stand vor Staunen offen. Während ich redete, ließ er sich zurück aufs Bett fallen. Ich fing ganz am Anfang an und ließ nichts aus. Ich erzählte ihm, wie ich mit Randee und den anderen die Party verlassen hatte. Wie wir in die Sackgasse abgebogen waren. Wie wir das Auto der Schwester des Bürgermeisters angefahren hatten. Wie wir Fahrerflucht begangen hatten. Ich erzählte ihm von dem Schwur, den wir fünf im Shadyside-Park geleistet hatten. Und wie Carlo beschlossen hatte, dass er den Schwur nicht länger befolgen konnte. Außerdem erzählte ich ihm von Todds Drohung, als er erfahren hatte, dass Carlo zur Polizei gehen wollte. „Und jetzt ist Carlo tot", schluchzte ich schließlich. „Und die Polizei sagt, es sei ein Unfall gewesen. Aber ich weiß, dass es keiner war, Keith. Und Randee, Gillian und Todd wissen es auch. Wir wissen, dass es kein Unfall war. Wir wissen, dass Carlo umgebracht 69
worden ist. Wir wissen ..." Meine Stimme versagte. „Das ist ja schrecklich!", meinte Keith entsetzt. „Ich – ich kann es einfach nicht glauben!" „Ich habe den Schwur gehalten – bis jetzt", sagte ich mit zitternder Stimme. „Aber ich konnte einfach nicht länger schweigen. Ich musste es jemandem erzählen, Keith. Ich musste es dir sagen. Ich fühle mich jetzt viel besser. Ich ..." Ich hielt inne, als ich es an der Tür klingeln hörte. Ein langer Klingelton. Dann noch einmal. Der Besucher klang sehr ungeduldig. „Wer kann das sein?", rief ich und sprang vom Bett auf. Ich wischte mir die heißen Tränen von den Wangen und lief zur Treppe. „Ich gehe mit dir runter", sagte Keith. Wir eilten die Treppe hinunter. Ich machte die Haustür auf. Todd starrte uns an. Seine Jacke stand offen; darunter hatte er ein fleckiges Sweatshirt an. Selbst in dem schwachen Licht auf der Terrasse konnte ich erkennen, dass seine Augen entzündet und gerötet waren. Als er Keith sah, wirkte er überrascht. „Todd – was willst du hier?", fragte ich. Er antwortete mit leiser Stimme und sah mir dabei nicht in die Augen. „Ich ... na ja ... ich wollte bloß sehen, ob du okay bist, Natalie." „Nein. Ich bin nicht okay", erwiderte ich und spürte, dass mir wieder eine Träne die Wange herunterrollte. Todd wandte sich an Keith. „Hast du es mitgekriegt? Das mit Carlo?" Keith nickte kalt. „Ich kann es immer noch nicht glauben", sagte Todd schaudernd. Er machte einen Schritt auf die Tür zu. „Natalie, kann ich reinkommen?" Ich wollte ihn nicht in meinem Haus. Ich wollte ihn nie wieder sehen. Ich starrte sein blasses Gesicht, sein ungekämmtes Haar, seine rot umrandeten Augen an und mir wurde klar, dass ich jetzt Angst vor Todd hatte. Schreckliche Angst. „Es ist schon ziemlich spät", sagte ich. Ich merkte, dass ich ihn damit gekränkt hatte. „Ich bleibe nicht lange. Ich habe bloß gedacht, es könnte gut tun, mit jemandem darüber zu reden." Er stieß einen langen Seufzer aus. „Tut mir Leid. 70
Ich weiß nicht, was in mich gefahren ist. Ich weiß nicht, warum ich hier angehalten habe. Ich bin die ganze Zeit nur herumgefahren. Einfach so in der Gegend herumgefahren, ohne anzuhalten oder irgendwas wahrzunehmen. Ich glaube, ich bin total durcheinander." Er schüttelte den Kopf. „Was für ein Schauspieler er doch ist", dachte ich. „Was für ein schamloser Lügner." Glaubte er wirklich, ich würde seine Mitleidstour nicht durchschauen? Und dann brachen die Worte aus mir heraus, als würden sie von einer Fremden kommen, als hätte ich keine Kontrolle mehr über das, was ich sagte. „Todd – hast du Carlo umgebracht?", sprudelte ich heraus. Seine Augen quollen hervor und er keuchte überrascht. „Was?" Ich spürte Keiths warnende Hand auf meiner Schulter, mit der er mir zu verstehen geben wollte, ich sollte still sein. Doch ich konnte Todd nicht einfach laufen lassen. „Hast du ihn umgebracht?", schrie ich. „Hast du Carlo umgebracht?" Todd kniff die Augen zusammen und sah mich eiskalt an. „Ja", antwortete er.
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Kapitel 16 Keiths Hand umklammerte meine Schulter noch fester. Ich stieß einen leisen Schrei aus. „Klar, Natalie. Klar habe ich ihn umgebracht", sagte Todd wütend. „Weißt du, ich bringe jede Woche einen Kumpel von mir um. Ist ein Hobby von mir." Sarkastisch verdrehte er die Augen. Ich machte den Mund auf, um etwas zu sagen, doch es wollte nichts herauskommen. „Wie kannst du mich so etwas fragen?", fragte Todd bissig. „Du kennst mich schon seit unserer Kindheit. Glaubst du wirklich, ich könnte so etwas tun?" „Todd, ich –", fing ich an. Doch er war so wütend, dass seine Stimme immer lauter wurde: „Glaubst du wirklich, ich könnte zu einem meiner Freunde gehen, ihm mein Gewehr an den Schädel halten und abdrücken? Wofür hältst du mich eigentlich?" „Todd, am Abend davor –", stammelte ich und hielt mich an der Windtür fest, „am Abend davor hast du gesagt ..." „Das war ein Witz!", schrie Todd erbost. „Ich habe dir gesagt, dass es ein Witz war. Du kennst mich doch, Natalie. Du kennst meinen schwarzen Humor." Nachdenklich starrte ich Todd an. Ich versuchte zu entscheiden, ob seine wütende Rede geschauspielert war. Ob es Todds schlauer Versuch war, mein Misstrauen gegen ihn zu beruhigen. „Todd, du kannst schreien und protestieren, so laut du willst", dachte ich bitter. „Aber mich überzeugst du nicht, dass du nicht doch deine Drohung ausgeführt und Carlo umgebracht hast." Ich sah, dass auf der Vorderterrasse der Nachbarn das Licht anging. Wir hatten Zuhörer für unsere erhitzte Unterhaltung bekommen. Ich beschloss, sie zu beenden. „Tut mir wirklich Leid", sagte ich zu Todd. „Ich bin einfach zu durcheinander. Ich weiß gar nicht mehr, was ich sage." „Wir sind alle mit den Nerven fertig", fügte Keith hinzu. „Ich kann's einfach nicht glauben, dass ich Montagmorgen ins 72
Klassenzimmer gehen werde und Carlo nicht auf seinem Platz in der letzten Reihe sitzt - die dreckigen Turnschuhe auf den Stuhl vor ihm gelegt." „Ja. Ich auch nicht", murmelte Todd. Er sah Keith prüfend an. „Todd fragt sich gerade, wie viel Keith weiß", schoss es mir durch den Kopf. „Todd fragt sich, ob ich Keith etwas von dem Unfall erzählt habe." Er starrte Keith eine ganze Weile an. Dann wandte er sich zur Auffahrt. „Also, ich gehe jetzt besser wieder. Bis Montag, ihr beide." Keith und ich murmelten ein „Tschüss". Todd ging zu seinem Jeep. Bevor er die Fahrertür aufmachte, drehte er sich noch einmal zu uns um. „Ach übrigens, Natalie!", rief er mit verletzter, angespannter Stimme. „Weißt du was? Ich war gestern Morgen nicht der Einzige, der ein Gewehr dabeihatte." „Wollt ihr eine Cola oder irgendwas anderes?" Gillian machte den Kühlschrank auf und bückte sich, um den Inhalt des untersten Fachs zu untersuchen. „Hier sind ein paar Äpfel." „Ich nehme einen", sagte Randee, die am Tisch saß. Gillian warf ihr quer durch die Küche einen Apfel zu. Randee reckte sich und fing ihn auf. „Wir haben auch noch ein paar Stücke Käsekuchen hier drin", bot Gillian an. „Bring doch einfach alles her", schlug ich vor. „Dann können wir uns beim Mathelernen den Bauch vollschlagen." Gillian seufzte. „Ich war die ganze Woche so fertig, dass ich kaum etwas essen konnte." „Ja, ich auch", erwiderte ich und blätterte in meinem Mathematikbuch. „Nach Carlos Beerdigung am Dienstag habe ich noch nicht mal weinen können. Es war so, als wäre ich völlig ausgeweint." Einen Augenblick lang schwiegen wir alle. Es war ein stürmischer, regnerischer Donnerstagabend. Randee und ich waren zu Gillian gegangen, um für den Mathetest zu lernen und um Gillian aufzuheitern. Schließlich war sie Carlos beste Freundin gewesen.
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Doch bisher hatten Randee und ich in Sachen Aufmunterung nicht viel erreichen können. Wir waren beide immer noch viel zu bedrückt, um auf fröhlich zu machen. Der Regen trommelte laut gegen das Küchenfenster über unseren Köpfen. Der Wind heulte, während er um die Hausecke fuhr. Das Licht flackerte einmal und dann noch einmal, doch es ging nicht aus. Gillian brachte drei Äpfel und die Schachtel mit dem Käsekuchen an den Tisch. Ich holte tief Luft und versuchte, von Carlo und unserer traurigen Stimmung abzulenken. „Habt ihr gesehen, wie Gina Marks nach der Schule vor der Bücherei mit Bobby Newkirk herumgeknutscht hat?", fragte ich. „Was sollte das Schauspiel? Die ganze Halle war voller Leute. Alle sind stehen geblieben und haben zugeschaut. Als sie endlich mit Küssen fertig waren, hat alles geklatscht und gejohlt." „Ich habe schon gedacht, Miss Dunwick müsste die beiden mit Gewalt auseinander bringen!", erklärte Randee und verdrehte die Augen. „Das ist Gina egal. Sie fährt total auf Bobby ab", fügte Gillian hinzu und stellte drei Coladosen auf den Tisch. Dann setzte sie sich an die Stirnseite. „Ich verstehe es gar nicht. Ich finde, er ist total hirnverbrannt." „Irgendwie ist er süß", sagte Randee und biss in ihren Apfel. „Ja, frag ihn doch, was er von sich hält!", warf ich ein. Randee zuckte die Schultern. Sie fuhr sich mit der Hand durchs kurze, blonde Haar. „Irgendwie mag ich eingebildete Typen." „Das ist wohl der Grund, warum du Todd so magst!", entschlüpfte es mir. Ich sah, dass Randees Wangen erröteten. „Na ja, also ..." Sie nahm noch einen Bissen von dem Apfel und pulte ein Stück Schale aus ihrer Zahnspange. „Samstagabend gehen Todd und ich miteinander aus", verkündete sie. „Wohin?", fragte Gillian und machte eine Coladose auf. „Ach, bloß ins Kino oder so was", antwortete Randee. Sie wandte sich an mich. „Weißt du, Todd ist gar nicht so schlecht, Natalie. Die Tatsache, dass er ein Angeber und kräftig wie ein Bär gebaut ist und manchmal den Starken mimt, heißt noch lange nicht -"
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„Hey – nun mal langsam!", rief ich empört. „Habe ich etwas gegen Todd gesagt? Hm, habe ich das?" Randee sah mich mit gerunzelter Stirn an. Doch ihr Ärger war bald verraucht. „Sorry", murmelte sie. Mir fiel plötzlich wieder ein, was Todd am Sonntagabend in unserer Auffahrt gesagt hatte: „Ich war nicht der Einzige, der ein Gewehr dabeihatte." An diesen Worten hatte ich die ganze Woche herumgekaut. Was wollte Todd damit sagen? Dass jemand anderes Carlo umgebracht hatte? Wer? Gillian hatte kein Gewehr gehabt. Randee? Randee war die Einzige von uns, die auch ein Gewehr dabeigehabt hatte. Hatte Todd mir damit etwa sagen wollen, dass Randee Carlo umgebracht hatte? Das war totaler Unsinn. Randee war meine beste Freundin. Ich kenne sie fast so gut wie mich selbst. Und Randee hätte Carlo nie im Leben erschossen. Nie im Leben. Ich hatte ein schlechtes Gewissen, weil ich auch nur eine Sekunde so etwas in Erwägung gezogen hatte. Doch ich hatte die ganze Woche darüber nachgedacht. Ich hatte Randee und Todd beobachtet, wie sie bei Carlos Beerdigung am Dienstag eng nebeneinander gestanden hatten. Ich hatte sie von der anderen Seite der Kapelle aus beobachtet und dabei war mir ganz schlecht im Magen geworden. Hatten sie etwa gemeinsam Carlo umgebracht? Sie wollten beide auf keinen Fall erwischt werden. Sie hatten beide immer wieder darauf gedrängt, dass keiner wegen des tödlichen Autounfalls zur Polizei gehen sollte. Schließlich war Randee die Fahrerin gewesen. Ohne dass ihre Eltern überhaupt wussten, dass sie das Auto genommen hatte. Und Todd hatte wahnsinnige Angst, sein Vater könnte seine neue Stelle im Rathaus verlieren. Als ich sie während der Beerdigung beobachtete, war ich überzeugt, dass sie gemeinsam Carlos „Unfall" geplant hatten.
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Gleich darauf wurde ich von meinem schlechten Gewissen überwältigt. Randee und Todd waren keine Mörder. Beide kannte ich von klein auf. Sie waren immer nette, normale Kinder gewesen. Aus normalen Kindern werden keine Mörder – oder? Ich versuchte den Rest der Woche, mir einzureden, dass Carlos Tod doch ein Unfall gewesen war. Die Schwester des Bürgermeisters war bei einem schrecklichen Unfall gestorben. Carlos Tod musste also auch ein Unfall sein. Könnte ich es mir nur einreden. Könnte ich es nur glauben. „Der Käsekuchen schmeckt ganz gut. Probier einen Bissen, Natalie." Randee hatte ihren Apfel weggelegt und aß den Kuchen mit der Gabel direkt aus der Schachtel. Sie hielt mir die Gabel hin und ich probierte ein Stück. „Wollten wir nicht lernen?", fragte Gillian und schaute zum Fenster hinaus. Der Regen prasselte weiter gegen die Glasscheibe. „Ja. Lasst uns endlich anfangen", sagte ich. „Ich brauche in fast allem eure Hilfe." Mathe ist mein schwächstes Fach. Ich habe keine Ahnung, wie ich es überhaupt in den Aufbaukurs geschafft habe. „Ich hole meinen Rucksack." Gillian nahm einen raschen Schluck aus ihrer Coladose und verschwand. Ein paar Sekunden später kam sie mit ihrem prallen schwarzen Rucksack wieder. Sie legte ihn auf dem Küchentisch ab und machte den Reißverschluss auf. Ich roch etwas. Ich schnüffelte. Und stöhnte leise auf. „Igitt. Was stinkt da so?", stieß ich aus und hielt mir Nase und Mund zu. Ein ekelhafter säuerlicher Geruch stieg aus dem Rucksack hoch. Gillian schluckte schwer. Randee verzog angeekelt das Gesicht. „Iiih. Wie widerlich!", rief Gillian aus. Als sie den Rucksack geöffnet hatte, fiel ein großes verwestes Fleischstück, das schon grün und lila verfärbt war, auf den Tisch. Es war auf beiden Seiten mit lausenden von weißen Maden übersät. Ich presste mir die Hand fest auf den Mund und bemühte mich, meinen Brechreiz zu unterdrücken. Doch der faule Gestank war so mächtig, dass ich anfing zu würgen. 76
„Wer hat das in meinen Rucksack getan?", stammelte Gillian. Die winzigen weißen Maden schlüpften von dem Fleisch auf den Küchentisch. „Mir – mir wird schlecht", murmelte ich und wich vom Tisch zurück. Randee schluckte und schluckte. Sie hielt sich die Nase zu. Sie starrte entsetzt auf die Maden, die über die Tischplatte krochen. Gillian steckte mutig die Hand in den Rucksack und holte einen Umschlag heraus. Auch er war mit Maden übersät. Sie nahm ein Stück liniertes Papier heraus. „Es – es ist eine Botschaft", brachte sie mühsam heraus. Randee und ich stellten uns hinter sie und sahen ihr über die Schulter, während sie den Zettel auseinander faltete. Ich hielt den Atem an. Doch ich konnte immer noch den widerlichen Gestank des verfaulten Fleischs riechen. Es schien so, als hätte der Geruch sich in mir festgesetzt! Wir lasen die handschriftliche Nachricht alle gleichzeitig – und keuchten ungläubig über die rohe Botschaft.
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Kapitel 17 Die Worte waren in großen Druckbuchstaben schief und krumm auf das Blatt geschrieben: DU KANNST CARLO WIEDER GANZ NAHE SEIN. NÄMLICH IM GRAB. DAS WIRST DU SEIN: TOTES FLEISCH. WENN DU REDEST. Gillian hielt sich den Zettel mit beiden Händen ganz nahe vors Gesicht und las ihn immer wieder durch. Randee schlug sich die Hände an den Kopf. Ihr Kinn zitterte. Sie wich zurück zur Küchentür. Langsam wurde ich von dem faulen Gestank des verwesten Fleischs überwältigt. Ich starrte auf die tausenden von kriechenden Maden, die das Fleischstück überzogen. Als mein Magen sich meldete, folgte ich eilig Randee aus der Küche. Ich wandte noch einmal den Kopf und sah, wie Gillian den Zettel zusammenknüllte und ärgerlich gegen die Wand schmiss. Ihre Miene zeigte keine Angst. Nur Wut. Sie stieß einen frustrierten Schrei aus. Mit geballten Fäusten kam sie hinter uns her ins Wohnzimmer. Der säuerliche Geruch schien mich zu verfolgen. „Er steckt in meinen Kleidern", dachte ich und schauderte vor Ekel. „Er hat sich unter meiner Haut festgesetzt." Plötzlich juckte es mich überall. Ich stellte mir vor, wie die weißen Maden mir über die Schultern krochen, mir über den Nacken und den Rücken hinunterkrochen. Ich konnte es kaum erwarten, nach Hause zu kommen und ein langes, heißes Bad zu nehmen. Doch mir war klar, dass ich vorher versuchen musste, Gillian zu trösten. „Es ist bloß ein blöder Witz", sagte Randee und ließ sich neben Gillian auf die grüne Ledercouch fallen. Ich kauerte mich ihnen gegenüber auf die Armlehne des Ledersessels. 78
„Es ist kein Witz", murmelte Gillian mit mehr Bitterkeit als Angst in der Stimme. „Was Carlo zugestoßen ist, war kein Witz. Das hier ist auch kein Witz. Es ist eine echte Drohung." „Wer kann das getan haben'?", fragte Randee und warf mir einen Blick zu. „Wo hast du heute deinen Rucksack gelassen, Gillian?" „Jeder hätte die Gelegenheit dazu gehabt." Gillian seufzte. „Heute Vormittag habe ich meinen Rucksack im Musikraum gelassen, als der Chor zum Üben runter in die Aula ging. Und in der letzten Stunde habe ich ihn im Turnsaal gelassen, damit ich nach der Bibliothek nicht den ganzen Weg zurück zu meinem Schließfach gehen musste." „Du hast also niemanden gesehen, der sich an deinem Rucksack zu schaffen gemacht hat?", wollte ich wissen. Gillian schüttelte den Kopf, wobei ihr rotbraunes Haar hin und her schwang. „Wer sollte so was Schreckliches tun?", fragte sie in klagendem Ton und ballte hilflos die Hände zu Fäusten. „Jetzt muss ich den Rucksack wegwerfen. Und was ist mit meinen Büchern und Heften? Die stinken fürchterlich und überall kriechen Maden herum!" „Es muss jemand sein, der von unserem geheimen Schwur weiß", dachte ich laut. „Wie viele Leute wissen von dem Schwur?" „Bloß wir", erwiderte Gillian und runzelte die Stirn. Dann fügte sie hinzu: „Und Todd." „Todd war es nicht", sagte Randee rasch. „Woher willst du das wissen?", fragte ich. Randee sah mich mit böse funkelnden Augen an. „So was würde Todd nie machen", schnappte sie. Eine lange Zeit starrte sie mich unverwandt an. „Natalie, du glaubst doch, dass Todd Carlo umgebracht hat – stimmt's?", beschuldigte sie mich. „Ich – ich – ich weiß es einfach nicht", stotterte ich. „Todd ist kein Mörder", sagte Randee überzeugt. „Er ist genauso entsetzt über das, was passiert ist, wie wir. Das weiß ich. Und er ist sogar noch entsetzter, dass du ihn verdächtigst, Natalie." „Ich hatte gerade angefangen zu glauben, Carlos Tod sei wirklich ein Unfall gewesen", erklärte Gillian und schüttelte traurig den Kopf. „Und jetzt... das hier."
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„Es war ein Unfall", sagte Randee bestimmt. „Es muss ein Unfall gewesen sein." Randee schien unbedingt glauben zu wollen, dass Carlos Tod nur ein Unfall war. Während sie Gillian davon überzeugen wollte, sah ich sie prüfend an. Verbarg sie etwas vor uns? Schützte sie Todd? Oder schützte sie sich selbst? „Das hier war bloß ein übler Streich, den dir jemand gespielt hat", beharrte Randee. „Ich bin sicher, dass ..." „Keith weiß auch von dem Schwur", unterbrach ich Randee. Beide starrten mich verblüfft an. Randee sah mich mit zusammengekniffenen Augen an. „Du hast den Schwur gebrochen? Du hast Keith von dem Unfall erzählt? Alles?" Ich nickte. „Ich musste es ihm erzählen", versuchte ich zu erklären. „Ich war so fertig mit den Nerven. So total durcheinander. Ich musste es jemandem sagen. Und außerdem vertraue ich Keith." Gillian nickte. „Keith ist okay. Er hat mit der Sache nichts zu tun. Er war nicht im Auto mit uns. Und am letzten Samstag war er auch nicht in der Hütte." „Aber kann er ein Geheimnis wahren?", wollte Randee wissen. Sie sah mich immer noch missbilligend an. „Vielleicht hat Keith ein paar anderen Jungs von dem Unfall und so erzählt. Vielleicht weiß es jetzt schon die ganze Schule. Wenn das passiert, erwischen sie uns mit Sicherheit." Sie sprang auf und kam wütend auf mich zu. „Ich kann einfach nicht glauben, dass du es ihm gesagt hast, Natalie." „Keith wird unser Geheimnis für sich behalten", sagte ich und bemühte mich, ruhig und gelassen zu klingen. „Keine Sorge." Warum benahm Randee sich so seltsam? Warum griff sie plötzlich Keith an? Ich hatte oft das Gefühl gehabt, dass sie ihn genauso gern mochte wie ich. Ich war sicher gewesen, dass sie heimlich auch in ihn verknallt war. Als Keith ein paar Minuten später kam, um mich abzuholen, war ich dankbar und erleichtert. Wir boten Randee an, sie nach Hause zu fahren, doch sie wollte noch eine Weile bei Gillian bleiben.
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Daher folgte ich Keith zu seinem Auto. Ich war froh, endlich wegzukommen. Ich konnte die Vorstellung, dass plötzlich zwischen Randee, Gillian und mir so viel Spannung herrschte, nicht ertragen. Wir waren immer enge Freundinnen gewesen. Wir hatten einander immer unsere tiefsten, dunkelsten Geheimnisse beichten können. Aber jetzt war das Vertrauen weg. Stattdessen herrschte Misstrauen. Und Angst. Der heftige Regenschauer war einem kalten Nieselregen gewichen. Ich zog meinen Parka zu, um mich vor dem unangenehmen, stürmischen Wind besser zu schützen. Keith zog am Türgriff auf der Fahrerseite. Er stieß einen leisen Fluch aus, als sie nicht aufging. „Steig auf deiner Seite ein und mach mir die Tür von innen auf, wies er mich an. „Die blöde Tür klemmt immer." Eiskalte Regentropfen fielen aus den Bäumen und klatschten mir ins Gesicht. Ich zog den Kopf ein und beugte mich hinüber, um von innen seine Tür zu entriegeln. „Dein Auto sollte zum Tode verurteilt werden", sagte ich, als Keith einstieg und sich hinters Steuer setzte. „Du solltest es erschießen und von seinem Leid befreien!" Er wandte sich mir zu und starrte mich mit einem seltsam schockierten Gesichtsausdruck an. Mir wurde klar, was ich gerade gesagt hatte. „Tut mir Leid", murmelte ich und packte ihn am Arm. „Ich kann wohl nur noch ans Schießen denken." Ich stellte mir vor, wie der arme Carlo im blutbesprenkelten Gras gelegen hatte. „Ach Keith ...!" Ich presste meine Stirn an seinen Jackenärmel. „Werden wir je wieder normal reden können? Ohne ständig daran denken zu müssen, dass wir aus Versehen irgendwas Schreckliches sagen könnten?" Er legte den Arm um meine Schulter. Ich hob den Kopf und küsste ihn voller Sehnsucht und Verlangen. Ein beunruhigender Gedanke ließ mich mitten im Kuss innehalten. Abrupt zog ich den Kopf zurück. „Du hast doch keinem etwas gesagt von dem, was ich dir erzählt habe, oder? Ich meine den Unfall."
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Er schüttelte den Kopf. Seine dunklen Augen blickten tief in meine. „Nein. Natürlich nicht", flüsterte er. „Das würde ich nie jemandem weitererzählen." „Ich – ich halte das nicht mehr länger aus", stammelte ich. „Heute Abend werde ich ..." „Es ist fast vorbei", sagte er und bemühte sich, das Auto anzulassen. Der Motor stöhnte und hustete und sprang beim dritten Versuch endlich an. „Fast vorbei? Wie meinst du das?" Er wandte sich um und sah durch das Rückfenster, während er rückwärts aus Gillians Auffahrt fuhr. „Es ist schon fast zwei Wochen her", erklärte er. „Die Polizei hat keine Spur von dem Fahrer, der die Schwester des Bürgermeisters getötet hat. Das haben sie heute Abend in den Nachrichten gebracht." Ich lehnte mich zurück und stieß einen langen Seufzer der Erleichterung aus. Während Keith aufs Gas trat und das Auto die Straße entlangratterte, starrte ich hinaus in die Dunkelheit. Zwei Wochen. Waren wirklich erst zwei Wochen seit dem Unfall vergangen? Mir kam es vor wie zwei Jahre! „Sie werden ihre Ermittlungen bald einstellen", fuhr Keith fort. Die Fensterheizung war kaputt, deshalb musste er die beschlagene Windschutzscheibe dauernd mit der Hand abwischen. „Meinst du –?" „Ich meine, dass ihr es bald geschafft habt, Natalie", erwiderte er. „Sie werden euch nicht erwischen. Euch wird nichts passieren." „Glaubst du das wirklich?", fragte ich hoffnungsvoll und betrachtete sein ernstes Gesicht, das kurz vom Lichtschein einer Straßenlampe erhellt wurde. Er nickte. „Der Terror ist vorbei. Es ist alles vorbei." Ich schloss die Augen und betete im Stillen, er möge sich nicht irren. Leider irrte er sich gewaltig.
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Kapitel 18 Der Mathetest am Freitag war so schwer wie ich erwartet hatte. Ich brauchte so viel Zeit für die ersten beiden Aufgaben, dass ich die restlichen Aufgaben in aller Eile erledigen musste. Als die Pausenklingel ertönte, hatte ich die letzten drei Aufgaben noch nicht einmal durchgelesen. Ich kritzelte ein paar Lösungen hin, die ich geraten hatte, und gab meine Arbeit unzufrieden bei Mr Caldwell ab. Als ich meine Sachen einpackte und dabei war, den Raum zu verlassen, hörte ich ein paar Mitschüler leise über den schweren Test schimpfen. Randee ging mit einem zufriedenen Lächeln zur Tür hinaus. Anscheinend hatte sie keine Probleme gehabt. Der Test war die letzte Schulstunde des Tages gewesen. Ich hatte vor, schnell nach Hause zu gehen, ein paar Stunden lang Hausaufgaben zu machen und dann auf die Eisbahn zu gehen. Ich brauchte sportliche Betätigung. Ich musste den Kopf klar kriegen. Ich musste mich bewegen, mir die Beine vertreten und mein Herz ankurbeln – ohne zu grübeln. Doch als ich um die Ecke bog und auf mein Schließfach zuging, wartete Gillian dort auf mich. Sie trug einen hellgrünen Pullover über weiten, verwaschenen Jeans. Als sie sich die Haare aus dem Gesicht strich, sah ich, dass sie weinte. „Gillian – was ist los?“, fragte ich und sah mich prüfend um, ob uns jemand beobachtete. Die Türen von Schließfächern wurden krachend zugeschmissen. Auf dem langen Flur hallten laute Stimmen und Gelächter wider. Alle packten ihre Büchertaschen und machten sich auf den Weg ins Wochenende. Sie lehnte sich an die Wand und wischte sich mit beiden Händen die Tränen aus dem Gesicht. Sie atmete schwer und ihre schmalen Schultern bebten. „Ich habe den Test auch verhauen", sagte ich und schüttelte den Kopf. „Er war echt unfair. Die ersten Aufgaben waren am schwersten. " 83
„Ich rege mich nicht über den Test auf, murmelte Gillian und strich sich eine nasse Strähne aus dem Gesicht. Dann fügte sie heftig hinzu: „Der blöde Mathetest ist mir scheißegal." Ich stellte meinen Rucksack neben ihrem ab. „Gillian – willst du irgendwohin gehen und reden?", schlug ich leise vor. Sie schüttelte den Kopf. „Es gibt nichts zu bereden", murmelte sie. Ihr Kinn zitterte. „Natalie, ich werde zur Polizei gehen." „Wie bitte?" Ich wich dem Hausmeister aus, der eine breite Karre voller Stühle in Richtung Aula rollte. Die Karre klapperte so laut auf dem Boden, dass ich nicht sicher war, ob ich Gillian richtig verstanden hatte. Doch ich hatte sie richtig verstanden. „Ich muss es einfach tun", beharrte Gillian mit schriller Stimme. „Ich kann nicht mehr schlafen. Ich habe keinen Appetit mehr. Es macht mich wahnsinnig." Ich schwieg. Ich betrachtete ihr verstörtes Gesicht. Tausend Gedanken schossen mir durch den Kopf: Sie hat Recht. Wir sollten alle zusammen zur Polizei gehen und ein Geständnis ablegen. Es ist das Richtige. Wenn sie der Polizei alles sagt, wird das Leben von uns allen zerstört. Wenn wir das Geheimnis für uns behalten, wird uns nichts passieren. Schließlich gibt es keine Zeugen. Keine Spuren. Ich muss Gillian überreden, nicht hinzugehen. Ich habe nicht das Recht, Gillian von dem abzuhalten, was sie für das Beste hält. Tausend Gedanken, die sich alle widersprachen. „Ich habe das Gefühl, als würde Carlo mich drängen hinzugehen", fuhr Gillian fort und wischte sich eine Träne von der blassen Wange. „Carlo? Was meinst du damit?", fragte ich. „Ich kann seine Stimme hören, Natalie", antwortete Gillian. „Ich höre Carlo. Ich höre ihn jetzt, in diesem Augenblick. Er sagt mir, ich soll das tun, was er vorhatte. Zur Polizei gehen und die Wahrheit sagen." „Aber – Gillian" Ich legte meine Hand auf ihre Schulter. Sie schob sie weg. „Es gibt so viel, was du nicht weißt, Natalie", sagte sie und sah mich eindringlich an. „Am Abend, bevor wir auf 84
die Hütte gefahren sind, haben Carlo und ich lange miteinander geredet. Er hat mir alles erzählt. Alles. Es ist nicht so, wie du glaubst. Es –" „Was?", fragte ich verständnislos. „Gillian, wovon redest du? Was hat Carlo dir erzählt?" Gillian beantwortete meine Frage nicht. Sie stieß einen Schluchzer aus. „Es ist besser für uns alle, wenn die Polizei alles erfährt", sagte sie. „Für uns alle." „Aber was hat Carlo dir erzählt?", wiederholte ich. Gillian schwieg. Wir hörten, wie jemand hustete. Jemand, der hinter der Ecke stand. Ich lief rasch hin, um zu sehen, wer es war. Randee und Todd. Beide hatten einen angespannten, nachdenklichen Gesichtsausdruck. „Ach ... hallo, Natalie", stammelte Todd. „Wie geht's so?" Hatten sie etwa gelauscht? Hatten sie uns nachspioniert? Hatten sie gehört, was Gillian vorhatte?
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Kapitel 19 Keith schüttelte den Kopf und sagte: „Verdammt schade." „Sie wird es für euch alle ruinieren." Ich glitt auf meinen Schlittschuhen neben ihm her und hielt mich am Ärmel seines Pullovers fest. Ich war viel besser im Eislaufen als Keith und musste meine normale Geschwindigkeit verlangsamen, um mich seinem Schneckentempo anzupassen. „Meinst du wirklich, wir sollten versuchen, sie zu überreden, nicht zur Polizei zu gehen?", fragte ich und packte ihn am Arm. Wie immer hatte ich Handschuhe an. Keith nickte langsam. Wir drehten eine langsame, gemächliche Runde. Die Eisbahn in Shadyside war ziemlich voll. Die meisten Schlittschuhläufer sausten an uns vorbei. Ich wünschte mir, Keith könnte ein bisschen schneller laufen. Sein Schneckentempo war wirklich frustrierend. Ich wollte über das Eis fliegen, vor meinen düsteren Gedanken wegfliegen, unserer unangenehmen Unterhaltung entfliehen. „Ihr solltet versuchen, es Gillian auszureden", drängte Keith. Er beugte sich vor und konzentrierte sich auf sein Gleichgewicht. „Ihr seid beinahe aus dem Schneider. Es wird für euch alle glimpflich verlaufen – wenn sie den Mund halten kann." „Aber das, was sie vorhat, ist das Richtige", argumentierte ich. Ich war so durcheinander, dass ich mir selbst ständig widersprach. „Was geschehen ist, ist geschehen", sagte Keith; seine dunklen Augen wirkten sogar noch ernster als sonst. „Ein Geständnis macht die Schwester des Bürgermeisters auch nicht wieder lebendig." „Und Carlo auch nicht", dachte ich bitter. „Du musst mit ihr reden", beharrte Keith. „Warum sollten wegen eines einzigen Unfalls so viele Leben zerstört werden?" „Gillian hat gesagt, dass Carlo ihr Dinge erzählt hat", verriet ich ihm. „Am Abend, bevor er starb, hat Carlo ihr gesagt, er wolle zur Polizei gehen." Keith machte eine erstaunte Miene. „Er hat Gillian Dinge erzählt? Was für Dinge?" 86
Ich zuckte mit den Schultern. Wir stießen fast mit zwei kleinen Kindern zusammen, die – in dicke Daunenmäntel und Wollmützen eingepackt - ungeübt versuchten, rückwärts zu laufen. „Du und Carlo – ihr wart doch so gute Freunde", sagte ich. „Hat er auch mit dir geredet? Hat er dir von dem Unfall erzählt?" Keith schüttelte den Kopf. „Er hat ihn mir gegenüber mit keinem Wort erwähnt, Natalie. Carlo hat den Schwur eingehalten." Wir liefen eine Weile schweigend Schlittschuh. Ich merkte, dass Keith sehr bedrückt war. Seine Gesichtszüge wirkten angespannt, seine Augen nachdenklich. „Ich wünschte, er hätte mit mir geredet", murmelte er. „Ich wünschte, ich hätte mit Carlo darüber reden können. Vielleicht hätte ich ihm dann helfen können. Vielleicht hätte er sich dann wegen der Sache besser gefühlt." Keith wandte den Kopf ab. Ich glaube, er weinte und wollte nicht, dass ich es sah. Zwei Mädchen aus der Schule winkten vom Erfrischungsstand zu mir herüber. Ich winkte halbherzig zurück und lief weiter neben Keith her. „Natalie, ich – ich muss jetzt gehen", stammelte Keith und wich immer noch meinem Blick aus. Ich packte ihn am Arm. „Nein. Bleib hier", sagte ich bestimmt. „Lauf weiter Schlittschuh. Dann geht es dir bald wieder besser." Er riss sich los. „Nein, ehrlich." Schließlich wandte er sich mir zu. Seine Augen wirkten traurig und beunruhigt. Er kaute auf seiner Unterlippe herum. „Lass uns gehen. Ich fahr dich nach Hause." Ich zögerte. „Ich glaube, ich will lieber noch eine Weile Schlittschuh laufen", sagte ich. Dabei hatte ich ein schlechtes Gewissen. Wurde ich ihm jetzt, wo er mich brauchte, nicht gerecht? „Bleib doch noch ein bisschen", bat ich ihn. „Etwas sportliche Betätigung wird dir gut tun." Er schüttelte den Kopf. „Ich kann nicht. Ich habe sowieso meinem Vater versprochen, früh nach Hause zu kommen. Ich bin einfach nicht in der Stimmung. Tut mir Leid. Ist es okay, wenn ich dich hier lasse?" „Ja. Ich finde schon jemanden, der mich nach Hause fährt." Unbeholfen wandte er sich um und lief auf seinen Schlittschuhen 87
langsam zum Ausgang. „Rufst du mich nachher an?", rief ich ihm hinterher. Er schien mich nicht gehört zu haben. Ohne sich noch einmal umzudrehen, verließ er die Eisbahn. Ich sah zu, wie er sich auf eine Bank setzte, um seine Schlittschuhe auszuziehen. Dann wandte ich mich um und fing wieder an, Schlittschuh zu laufen. Schneller. Immer schneller. Bis die anderen Schlittschuhläufer, die Schilder, der Erfrischungsstand und die Zuschauer am Rand alle in einem Reigen von Licht und Farben verschwammen. Schneller. Immer schneller. Die frische, kalte Luft auf der Eisfläche fühlte sich unendlich gut an. So beruhigend. Ich verdrängte alle Gedanken aus meinem Kopf. Die laute Musik, die aus den Lautsprechern kam, durchdrang jede Faser meines Körpers. Ich beugte mich vor und drehte meine Runden, ohne einen anderen wahrzunehmen. Ich hörte nur die dröhnenden Bässe aus den Lautsprechern. In meine eigene Welt versunken, verlor ich jedes Zeitgefühl. Als ich schließlich anhielt und einen Blick auf die große Wanduhr über dem Erfrischungsstand warf, war es zu meinem Erstaunen schon nach zehn. Ich sah mich suchend nach Bekannten um, die mich mitnehmen könnten. Doch ich entdeckte niemanden, den ich kannte. „Kein Problem", dachte ich. „Es ist heute Abend nicht sehr kalt. Ich kann laufen." Meine Knöchel und Unterschenkel fühlten sich nach dem langen Eislauf ganz kribbelig an. Ich verließ die Eisfläche, setzte mich an den Rand und zog meine Schlittschuhe aus. Mein Herz arbeitete auf Hochtouren. Schweiß tropfte mir von der Stirn. Doch ich fühlte mich gut. Ich war zwar müde, aber entspannt. Ich steckte die Schlittschuhe in die Tragetasche, hängte sie mir über die Schulter und ging zum Ausgang der Eisbahn hinaus. Es war eine klare, windstille Nacht. Es rührte sich keine Brise. Ein blasser Halbmond hing hoch über den kahlen Baumwipfeln. Ein grüner Van fuhr langsam vorbei. Er bog um die Kurve und die Straße breitete sich menschenleer vor mir aus. Leer und still. 88
Ich schauderte. „Ich bin ja total überhitzt", wurde mir klar. „Wahrscheinlich hole ich mir hier draußen eine Lungenentzündung." Ich zog meinen roten Parka bis unters Kinn zu und joggte die Straße entlang. Meine Beinmuskeln taten mir immer noch weh. Ich verfluchte mich dafür, dass ich so aus der Übung war. Auf dem Bürgersteig waren immer noch Pfützen von dem starken Regen am Abend davor. Ich lief vorsichtig um sie herum, während ich nach Hause rannte. Die schwere Schlittschuhtasche schlug mir beim Laufen gegen die Schulter. Ich blieb stehen und hängte sie mir um die andere Schulter. In diesem Augenblick hörte ich Schritte hinter mir. Und merkte, dass ich verfolgt wurde. Vor Schreck setzte mein Herz aus. Ich blinzelte in die Dunkelheit. „Wer – wer ist da?", rief ich. Stille. Dann wieder ein Schritt. Ein dumpfer Ton auf dem Asphalt. Und noch einer. „Sind es etwa mehr als einer?", fragte ich mich in Panik. Ich keuchte vor Angst. Ich zwang mich, nach vorne zu sehen. Weiterzurennen. Plötzlich waren meine Schuhe bleischwer. Die raschen Schritte hinter mir übertönten sogar mein laut klopfendes Herz. „Sie verfolgen mich", dachte ich. „Sie holen immer mehr auf. Bald haben sie mich eingeholt." Ich konnte nicht mehr lange durchhalten. Ich konnte nicht entkommen. Die Schlittschuhtasche schlug mir hart gegen den Rücken, als ich stehenblieb. Und mich blitzschnell umdrehte, um meinen Verfolgern entgegenzutreten. Als ich sie im Schein einer Straßenlampe erkannte, zuckte ich erschrocken zusammen. „Was macht ihr denn hier?", schrie ich.
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Kapitel 20 Schwer atmend holten Randee und Todd mich ein. Ich wich zurück und wäre fast gestolpert. Verstohlen sah ich mich suchend auf der menschenleeren Straße um. War ich in Gefahr? Waren die beiden, die ich für meine Freunde hielt, eine Gefahr für mich? „Warum bist du weggerannt?", fragte Todd außer Atem. „Hast du nicht gehört, dass wir dich gerufen haben?", wollte Randee wissen. „Ich – ich habe gedacht –", stotterte ich. Aber ich war nicht sicher, was ich gedacht hatte. „Wo ist Keith?", fragte Todd. „Ich dachte, ihr seid heute Abend zusammen?" „Er musste früh nach Hause gehen", erklärte ich. „Und ich wollte noch Schlittschuh laufen. Deshalb ..." Ich verstummte. Todd fixierte mich mit seinen blauen Augen. Er trug einen grauen Pullover und darüber eine dicke blaue Daunenweste. In dem trüben Licht wirkte er sogar noch größer und einschüchternder als sonst. Randees Skijacke stand offen; darunter hatte sie ein schwarzes Sweatshirt und enge Jeans an. Auch sie sah sich auf der dunklen, verlassenen Straße um, als würde sie jemanden erwarten. „Was macht ihr beide hier?", fragte ich. Langsam beruhigte ich mich wieder. „Warum seid ihr hinter mir hergerannt?" „Wir sind hinter dir hergerannt, weil du weggerannt bist, Natalie", erwiderte Randee und verdrehte die Augen. „Ich kann nicht glauben, dass du uns nicht gehört hast." „Du bist nicht gerade sehr schnell", sagte Todd und kicherte. „Du rennst wie ein Mädchen." Wieder verdrehte Randee die Augen und gab ihm einen Schubs. „Idiot." „Es ist nicht so einfach, mit den schweren Schlittschuhen zu rennen", erklärte ich Todd und hielt ihm die Tasche unter die Nase. „Ihr habt mir immer noch nicht gesagt, warum ihr mich abgepasst habt." 90
„Wir müssen zu Gillian gehen", sagte Randee und warf Todd einen Blick zu. „Wie bitte?", rief ich aus. „Was müssen wir?" „Wir müssen mit Gillian reden", sagte Todd. „Wir müssen sie überzeugen, dass sie nicht zur Polizei geht." „Ihr habt also gehört, was sie vorhat?", fragte ich. Sie nickten. Eine dunkle Wolke zog am Mond vorbei. Die Schatten im Licht der Straßenlampe zogen sich in die Länge und verschwanden dann ganz. Es wurde dunkel um uns herum. „Sie hört auf dich, Natalie", sagte Randee mit flehendem Blick. „Gillian vertraut dir voll. Wenn du ihr sagst, sie soll nicht zur Polizei gehen, wird sie es nicht tun." „Aber ich finde nicht, wir sollten Gillian vorschreiben, was sie zu tun hat", erwiderte ich und zog meine Kapuze hoch. „Ich finde, Gillian soll das tun, was ihr Gewissen ihr sagt." „Das darf sie aber nicht!", beharrte Todd hitzig. Randee legte ihre Hand auf seinen Arm, wie um ihn zu beruhigen. „Wir müssen entscheiden, was wir als Gruppe tun wollen", sagte sie. „Das betrifft uns alle." „Wir können nicht zulassen, dass sie unser Leben ruiniert", fügte Todd wütend hinzu. „Ich habe heute Abend nach dem Essen mit meinem Vater geredet. Er hat gesagt, dass der Bürgermeister die Suche nach dem Täter aufgeben will. Die Polizei hat keine Spur. Warum also sollte Gillian ihnen jetzt alles erzählen?" „Weil sie es nicht mehr aushält", erwiderte ich mit brüchiger Stimme. „Weil es sie verrückt macht." „Lasst uns mit ihr reden", bat Randee. „Wir können es doch wenigstens versuchen. Wenn wir sie nicht überzeugen können, na ja, dann ..." Sie verstummte. „Wenn wir sie nicht überzeugen können, die Klappe zu halten, dann sollten wir alle gemeinsam zur Polizei gehen", sagte Todd. Ich beobachtete seine Miene, um zu sehen, ob er es ernst meinte. Ich konnte es nicht erkennen. Sein Blick war leer. Seine Miene verriet nichts. „Okay", sagte ich und seufzte. „Gehen wir zu ihr. Aber ich glaube nicht, dass es was bringt." 91
Ich folgte ihnen zu Randees Auto, dem dunkelgrünen Volvo. Dem Auto, das den Unfall gehabt hatte. Dem Auto, das die Schwester des Bürgermeisters umgebracht hatte. Ich schauderte, als es in der Dunkelheit auftauchte. Es parkte am Straßenrand unterhalb der Eisbahn. Wollte ich mich wirklich wieder in dieses Auto setzen? „Das Auto hat den Unfall nicht verursacht", sagte ich mir. „Das Auto ist nur ein Auto." Wir fuhren schweigend zu Gillians Haus. Randee ließ leise den Countrysender spielen, doch keiner von uns hörte zu. Gillian wohnt in einem großen, weißen Haus auf dem Canyon Drive. In der Auffahrt stand kein Auto, doch im Wohnzimmer brannte Licht. Randee fuhr bis vors Haus; dann schaltete sie die Scheinwerfer aus und stellte den Motor ab. Während wir zur Haustür gingen, fragte ich mich, wie Gillian wohl auf unseren Besuch reagieren würde. Würde sie wütend sein? Würde sie uns überhaupt zuhören? Ich sah Randee und Todd von der Seite an. Auch sie wirkten nervös. Der Halbmond tauchte langsam hinter den Wolken auf. Die Vorderterrasse wurde in ein blasses Licht getaucht, das wie ein schwacher Scheinwerfer auf uns gerichtet war. Todd drückte auf die Klingel. Wir starrten auf die weiße Holztür und warteten. „Es ist schon ziemlich spät", murmelte ich. „Vielleicht schlafen schon alle." Todd warf einen Blick auf seine Uhr. „Es ist erst halb elf, sagte er. „Das Licht ist noch an." „Gillian bleibt immer lange auf, fügte Randee hinzu. „Aber ich glaube, sie hat gesagt, ihre Eltern seien weg." Todd drückte noch einmal auf die Klingel, diesmal ziemlich lange. Ich hörte, wie es im Haus läutete. Doch ich hörte keine Stimmen und auch keine Schritte, die sich näherten, um die Tür aufzumachen. „Gehen wir wieder", drängte ich. „Es kommt keiner zur Tür." „Vielleicht ist sie oben", meinte Randee. Sie trat von der Türschwelle zurück und sah hinauf zu den Fenstern im zweiten Stock. „Da oben ist alles dunkel." 92
„Kommt endlich. Wir können morgen mit ihr reden", sagte ich ungeduldig. Ich sprang von der niedrigen Türschwelle und ging die Auffahrt entlang zum Auto zurück. Auf halber Strecke überlegte ich es mir anders. Aus dem Wohnzimmer drang Licht. Ich ging zum Fenster, stellte mich auf Zehenspitzen und warf einen Blick hinein. Zuerst sah ich nur das leere Zimmer. Die Couch und darüber das Blumenbild. Den Couchtisch, auf dem sich Modezeitschriften stapelten. Das antike Zirkusposter. Nichts Außergewöhnliches. Doch dann wanderte mein Blick zur Treppe, die nach oben führte. „Oh Gott." Mir entfuhr ein erschrockenes Stöhnen, als ich die Gestalt sah, die ausgestreckt auf dem Treppenabsatz lag.
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Kapitel 21 Ich konnte kaum sprechen. „Da liegt - Gillian!" Im Nu waren Randee und Todd neben mir. Auf ihren Gesichtern breitete sich Schrecken aus, als sie meinem Blick folgten. Mein Herz hämmerte mir bis zum Hals. Ich raste zur Haustür. Die beiden anderen rannten hinter mir her. „Gillian, bitte sei nicht tot!", flehte ich im Stillen. „Bitte sei am Leben!" In Gedanken wiederholte ich meine verzweifelte Bitte, als ich den Türknopf packte und dagegen drückte. Zu meiner Überraschung war die Tür nicht verschlossen. Sie ging ganz leicht auf. Zu dritt rannten wir ins Haus. Und blieben vor der Treppe stehen. „Bitte sei nicht tot. Bitte sei am Leben. " Nein. Ich blieb wie angewurzelt stehen. Gillian starrte uns aus leeren, leblosen Augen an. Ich schrie entsetzt auf. „Ihr Genick –!", schrie ich schrill. Sie war anscheinend die Treppe hinuntergefallen. Sie war auf dem Bauch gelandet. Doch ihr Genick war gebrochen – sodass ihr Kopf auf ihr rotbraunes Haar gebettet und leicht verdreht war. Ihre Arme und Beine waren auf der untersten Stufe und dem Fußboden ausgebreitet. Doch ihr Kopf lag in einem unnatürlichen Winkel, und ihr Gesicht starrte uns von der Seite an. Ihr Mund war wie zu einem lautlosen Schrei geöffnet. Die Augen. Kalte, tote Augen. Vorwurfsvoll sahen sie mich an. Der Schock und die Angst in den Augen. Ich wusste, ich würde diese Augen nie mehr aus meinem Gedächtnis löschen können. „Ich – ich rufe die Polizei", stammelte Randee. Sie ging zur Küche. Ohne es zu merken, umklammerte ich mit beiden Händen Todds Arm. Jetzt wandte er sich zu mir um und schaute mir ins Gesicht. „Noch ein Unfall", flüsterte er. „Noch ein schrecklicher Unfall."
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Die Polizei kam und verschwand wieder. Irgendwie hatte ich es geschafft, ihre Fragen zu beantworten. Wir drei hatten unsere Geschichte immer wieder erzählen müssen. „Noch ein Unfall", hatte Todd mir zugeflüstert. „Es war ein Unfall." Auch die Polizei war zu diesem Schluss gekommen. Bald nach Eintreffen der Polizei kamen auch unsere Eltern. Ich war zu benommen, um auf ihre Fragen antworten zu können. Zu benommen, um irgendwas erklären zu können. Zu benommen und zu verängstigt. Erst Carlo. Jetzt Gillian. Ich konnte nicht schlafen. In meinem Kopf wüteten meine Gedanken. Erst Carlo. Dann Gillian. Beide hatten beschlossen, zur Polizei zu gehen und alles zu erzählen. Doch bevor sie die Gelegenheit dazu hatten, mussten sie sterben. Unfälle? Ich glaubte nicht daran. Fiebernd warf ich mich im Bett hin und her. Trotz der kalten Nacht war ich schweißgebadet. Ich machte mir bittere Selbstvorwürfe. „Natalie, warum bist du nicht eher zur Polizei gegangen? Warum bist du nicht sofort hingegangen? Hätten zwei Leben gerettet werden können, wenn du zur Polizei gegangen wärst? Wenn du die Wahrheit über den Unfall gesagt hättest, in dem die Schwester des Bürgermeisters getötet worden ist? Wären Carlo und Gillian dann heute noch am Leben?" Ein entsetzlicher Gedanke. „Meine Freunde", dachte ich. „Randee und Todd. Sie sind meine Freunde. Wir sind so gute Freunde." Aber meine Freunde müssen Mörder sein. Sie müssen zusammengearbeitet haben. Sie wollen auf keinen Fall erwischt werden. Sie wollen unbedingt, dass das Geheimnis gewahrt wird. Randee und Todd. Ja. Sie haben es gemeinsam getan. Sie haben heute Abend Gillian die Treppe hinuntergestoßen. Und dann haben sie vor der Eisbahn auf mich gewartet. 95
Sie haben mich zu Gillian gebracht. Sie haben längst gewusst, dass sie tot ist. Sie haben so getan, als seien sie geschockt. Sie haben bloß so getan. Sie haben gelogen. Sie haben gemordet. Mit einem Ruck richtete ich mich auf. Mir war, als würde ich ertrinken, in meinem eigenen Bett ertrinken. Meine Brust hob und senkte sich. In meinen Schläfen hämmerte das Blut. „Als Erstes gehe ich morgen früh zur Polizei", beschloss ich. „Ich werde die ganze Geschichte erzählen. Von Anfang an. Nichts wird mich davon abhalten. Nichts." Mom und Dad waren früh zu einem Geschäftstreffen in Waynesbridge gefahren. Sie hatten mir eine kurze Notiz neben meine leere Schüssel auf den Frühstückstisch gelegt. Ich warf einen Blick darauf und legte den Zettel wieder hin. Ich füllte die Schüssel mit Cornflakes und Milch. Doch ich war zu nervös, um sie herunterwürgen zu können. Ich ließ die halb volle Schüssel auf dem Tisch stehen und eilte zurück in mein Zimmer. Dort zog ich die Jeans vom Vortag und ein riesiges gelbes T-Shirt mit langen Ärmeln über einem kurzärmeligen T-Shirt an. Packte meinen roten Parka. Warf einen Blick auf den stürmischen, grauen Vormittag draußen. Machte den Parka zu. Und rannte zum Auto. Meine Eltern hatten den großen Wagen genommen, aber der alte Civic stand in der Garage. Während ich das Garagentor öffnete, wiederholte ich in Gedanken noch einmal, was ich der Polizei sagen wollte. Ich war es schon hundertmal in Gedanken durchgegangen. Doch ich wollte es richtig machen. Ich wollte es genau so erzählen, wie es passiert war. Ich hatte das Garagentor halb aufgemacht, als ich ein Auto die Auffahrt entlangfahren hörte. Überrascht drehte ich mich um und sah Randees grünen Volvo. Ich ließ das Tor los und ging zu ihr hinüber. Sie kurbelte das Fenster herunter. Ihr Gesicht war blass und ihre Augen hatten rote
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Ränder. Ich konnte mir denken, dass sie auch nicht viel geschlafen hatte. „Schlechtes Gewissen?", fragte ich mich. „Randee – was willst du hier?", fragte ich. „Ich will mit dir reden, Natalie", sagte sie in strengem Ton. „Nein", stieß ich aus und schüttelte den Kopf. Sie sah mich erstaunt an. Sie wollte etwas sagen, doch ich schnitt ihr das Wort ab. „Ich gehe zur Polizei", murmelte ich leise, aber entschlossen. „Und zwar gleich." Sie starrte mich an, ohne etwas zu erwidern. „Ich werde ihnen alles erzählen", sagte ich. „Ich habe mich fest dazu entschlossen, Randee. Fährst du bitte von der Auffahrt herunter, okay? Damit ich rausfahren kann?" Sie schluckte schwer. Sie sah mich unverwandt an. Ich merkte, dass sie nachdachte. Krampfhaft nachdachte. „Okay", sagte sie schließlich. „Ich komme mit." Sie zeigte auf die Beifahrertür. „Steig ein, Natalie. Wir nehmen mein Auto." Ich zögerte. „Du willst zur Polizeiwache mitkommen?" Sie nickte. „Deswegen bin ich hergefahren. Ich habe mich auch entschlossen, zur Polizei zu gehen." Prüfend betrachtete ich ihr Gesicht. Log sie? Todd und sie hatten vielleicht zwei unserer gemeinsamen Freunde umgebracht. Meinte sie es ernst, wenn sie sagte, sie wollte zur Polizei gehen? Oder war das nur ein Trick? „Ich – ich nehme lieber mein eigenes Auto", stammelte ich. Der Wind riss eine Mülltonne auf dem nachbarlichen Grundstück um. Der Krach ließ mich nervös zusammenzucken. Ich hörte, wie der Blechdeckel laut klappernd die Auffahrt entlangrollte. Der Himmel verdunkelte sich. Die Luft fühlte sich feucht und schwer an. „Die Polizei will sicher mein Auto untersuchen", entgegnete Randee. „Schließlich war es in den Unfall verwickelt. Sie wollen es sehen. Steig schon ein, Natalie." Ich wollte nicht mit Randee mitfahren. Ich merkte, dass ich Angst vor ihr hatte. Angst vor meiner besten Freundin hatte.
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Doch mir fiel keine Ausrede ein. Mir schwirrte der Kopf und mir wollte nichts einfallen. Ich schauderte. „Natürlich wird die Polizei Randees Auto untersuchen wollen", dachte ich. „Sie hat Recht." Ich holte tief Luft. Dann ging ich zur Beifahrerseite, machte die Tür auf und stieg ein. Es war warm im Auto. Randee hatte die Heizung voll aufgedreht. Sobald ich die Beifahrertür zumachte, fuhr sie rückwärts die Auffahrt hinunter. „Wir hätten es gleich melden sollen. Noch am Abend des Unfalls", sagte sie. „Letzte Nacht habe ich kein Auge zugemacht, Natalie. Ich musste dauernd an Carlo denken. Und an Gillian. Meine zwei Freunde. Zwei tote Freunde. Wofür?" Sie stieß einen bitteren Schluchzer aus. Ich sah sie prüfend an. Ich versuchte herauszufinden, ob das Ganze nur ein Schauspiel war. „Glaubst du, dass Todd es getan hat?", fragte ich spontan. Bevor ich es verhindern konnte, waren die Worte mir herausgerutscht. „Ich weiß nicht, was ich glauben soll", antwortete Randee mit bebender Stimme. „Ich weiß es einfach nicht." „Vielleicht tue ich Randee Unrecht", dachte ich plötzlich. „Vielleicht ist sie ehrlich zu mir. Vielleicht ist sie genauso traurig und fürchtet sich genauso wie ich." Doch als wir die Old Mill Road erreichten, wurde ich von Angst gepackt. Statt links bog Randee rechts ab. Sie fuhr aus der Stadt hinaus. Sie fuhr in Richtung Fear Street. „Randee – das ist nicht der Weg zur Polizeiwache!", rief ich verzweifelt. „Wohin fahren wir? Wohin bringst du mich?"
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Kapitel 22 Mein Magen krampfte sich vor Angst zusammen. Ich verspürte den plötzlichen Impuls, das Lenkrad zu packen und das Auto zu wenden. Randee riss erstaunt die Augen auf. „Ach, stimmt ja", murmelte sie und blickte auf ein Straßenschild, das von herunterhängenden Ästen halb verdeckt wurde. Sie trat auf die Bremse und hielt an. „Randee – was ...?", brachte ich mühsam heraus. „Ich bin so durcheinander, dass ich falsch abgebogen bin", erklärte sie und schüttelte den Kopf. „Tut mir Leid, Natalie. Ich habe es gar nicht gemerkt." Sie wartete, bis ein grauer Van vorbeigerollt war. Dann drehte sie auf der Straße und wir fuhren auf der Old Mill Street in die andere Richtung – die richtige Richtung. „Ich werde mich bemühen, uns heil und ganz hinzubringen", sagte Randee und umklammerte mit beiden Händen das Lenkrad. Sie beugte sich vor und starrte geradeaus in den grauen Morgen, den kalten grauen Morgen. Sogar die heiße Luft, die aus dem Gebläse strömte, konnte mich nicht wärmen, konnte die Schauer, die meinen Körper ergriffen, nicht abhalten. „Wenn wir unsere Geschichte erzählt haben, werde ich mich besser fühlen", dachte ich. Aber würde ich mich je wieder normal fühlen? Wir parkten auf einem kleinen, leeren Parkplatz neben der Polizeiwache. Als wir aus dem Auto stiegen, setzte ein kalter Eisregen ein. Auf der Wache brannte Licht. Ich war noch nie dort gewesen. Es war ein kleines, zweistöckiges, weiß verputztes Gebäude. Die Eingangstür ging schwerer auf, als ich gedacht hatte. Ich machte zwei Anläufe, bis ich sie geöffnet hatte. Ich hielt sie für Randee auf. Dann schüttelte ich die kalten Regentropfen aus meinem Haar und ging hinter ihr hinein.
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Im Warteraum standen zwei leere, lange Holzbänke an den gegenüberliegenden Wänden. Auf einer Tafel war mit Kreide eine Meldung über ein Basketballturnier der Polizei geschrieben. Ein junger Beamter in blauer Uniform saß am Wachtisch und las Zeitung. Vor ihm standen zwei weiße Styroporbecher, aus denen Kaffeedampf aufstieg. Als Randee und ich zögernd näher traten, ließ er die Zeitung sinken und nahm einen großen Schluck. „Kann ich euch helfen?" Wir nickten. „Wir müssen mit jemandem reden", würgte ich mühsam heraus. All die Worte, die ich geübt hatte, waren total aus meinem Gedächtnis verschwunden. Der Beamte hatte strahlend blaue Augen. Er kratzte sich am blondgelockten Kopf. Dann nahm er noch einen Schluck Kaffee. „Worüber?" „Über die Schwester des Bürgermeisters. Über den Unfall", sagte Randee zu ihm. Ihre Stimme klang nervös und schrill. Die blauen Augen des Beamten sahen erst mich, dann Randee an. „Habt ihr Informationen zu dem Unfall?" „Wir – wir wollen ein Geständnis ablegen", platzte ich heraus. Als er das hörte, sprang er auf. Fast hätte er dabei einen der Kaffeebecher umgeschmissen. Er war kleiner, als ich gedacht hatte, doch kräftig gebaut. Misstrauisch musterte er uns. „Kommt mit." Wir gingen hinter ihm einen kurzen Flur mit dunklen Büros entlang. Dann bogen wir um eine Ecke. Dahinter lag ein Büro, aus dem Licht drang. Auf einem Schild an der Tür stand: Lieutenant Frazer. Ich hörte einen Mann hinter der Bürotür husten. Randee warf mir einen nervösen Blick zu. „Zu spät für einen Rückzieher", dachte ich. Mir war ganz flau im Magen. Meine Knie waren weich. „Zu spät. Es ist zu spät. Bring es hinter dich, Natalie. Und nimm tapfer deine Strafe an." Lieutenant Frazer stand hinter seinem Schreibtisch und stützte sich mit beiden Händen auf der Schreibtischplatte ab. Er starrte auf eine Straßenkarte. Er war ein großer, athletisch wirkender Schwarzer mit sehr kurzem Haar. Er trug einen dunkelblauen Anzug und dazu einen locker gebundenen roten Schlips. Ich sah, dass aus dem braunen Lederetui, das er an der Taille trug, ein Pistolengriff herausragte. 100
Als wir eintraten, richtete er sich auf und musterte Randee und mich. „Das ist Lieutenant Frazer", stellte der junge Beamte ihn vor. „Er hat die Leitung im Fall Coletti übernommen." Frazer nickte. „Wollt ihr Mädels mit mir reden?" Er zeigte auf zwei Klappstühle an der Wand. Gehorsam setzten Randee und ich uns hin. „Wir – na ja – wir hätten eigentlich schon früher herkommen sollen", begann ich. Das Herz klopfte mir bis zum Halse. Ich brachte kaum ein Wort heraus. „Wir waren an dem Abend dort", warf Randee ein. „Ich meine, wir waren diejenigen, die ... na ja, die ..." Sie verstummte und kaute auf ihrer Unterlippe herum. Frazer zog seinen Schreibtischstuhl aus grauem Leder heraus und setzte sich. Er beugte sich über den Schreibtisch und sah uns prüfend an. „Ihr wart also an dem Abend, an dem Ellen Coletti getötet wurde, in der betreffenden Sackgasse?" Randee und ich sahen einander an. Ich atmete tief durch. „Wir haben es getan", würgte ich heraus. Der Lieutenant rührte sich nicht. Er blinzelte noch nicht einmal. „Wir haben ihr Auto angefahren. Wir haben sie getötet", fuhr ich mühsam fort. Er hob warnend die Hand. „Sagt jetzt kein Wort mehr", unterbrach er uns. „Ihr braucht hier eure Eltern und auf jeden Fall einen Anwalt." „Nein", erwiderte ich. „Wir wollen bloß unsere Geschichte erzählen. Wir müssen sie einfach jemandem erzählen." „Dann wartet wenigstens, bis ich euch über eure Rechte aufgeklärt habe", murmelte er mit ernster Miene. Er las uns die Rechte vor, die ich schon in so vielen Krimiserien im Fernsehen gehört hatte. „Okay. Was wollt ihr Mädels mir unbedingt erzählen?" „Es war ein Unfall", sagte Randee schrill. „Es war bloß ein schrecklicher Unfall. Der Wagen ist ins Schleudern gekommen. Ich bin gefahren. Ich habe versucht, ihn wieder unter Kontrolle zu bekommen. Aber dann haben wir sie angefahren. Von hinten." „Wir haben nicht gewusst, dass jemand in dem anderen Auto saß", fuhr ich mit zitternder Stimme fort. Ich hatte meine Hände total verkrampft in meinen Schoß gelegt. Sie waren eiskalt. „Der
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Zusammenprall war gar nicht so stark. Wir - wir haben nicht gewusst..." Lieutenant Frazer machte eine Geste, wie um zu sagen: „Bleib ganz ruhig." „Dann sind wir weggefahren", sagte Randee mit brüchiger Stimme. Sie hatte entsetzliche Angst und wippte nervös mit einem Fuß auf und ab. „Wir haben es mit der Angst gekriegt. Wir wollten keine Schwierigkeiten. Deshalb sind wir weggefahren. Ich meine ... na ja ... ich bin weggefahren." Ich machte den Mund auf, um noch mehr zu sagen. Aber ich brachte keine Worte heraus. Frazer machte sich auf einem großen gelben Block ein paar Notizen. Er runzelte die Stirn und kritzelte noch ein paar Notizen hin. Dann hob er den Blick und sah uns an. „Wie viel Uhr war es, als ihr Ms Colettis Auto angefahren habt?" „Ich bin nicht sicher", erwiderte Randee. „Es muss gegen Mitternacht gewesen sein. Wir kamen von einer Party zurück, wissen Sie – na ja, und dann ..." „Gegen Mitternacht?" Der Lieutenant notierte es. „Und wessen Auto hast du gefahren?", fragte er Randee. Ich merkte, dass sie rot wurde. „Das Auto meiner Eltern", antwortete sie und senkte den Blick. „Könnte ich mal deinen Führerschein sehen?", fragte der Polizeibeamte und streckte die Hand aus. Randee kramte in ihrer Tasche. „Hier, bitte." Als sie ihm den Führerschein reichen wollte, ließ sie ihn nervös fallen. Der Führerschein flatterte auf seinen Schreibtisch. Er sah ihn einen langen Augenblick prüfend an und schrieb etwas auf seinen Notizblock. „Was für einen Wagen hast du an jenem Abend gefahren, Randee?", fragte er dann, den Blick immer noch auf den Führerschein gerichtet, den er in der Hand hielt. „Einen Volvo", antwortete Randee. „Er – er steht draußen auf dem kleinen Parkplatz. Ich habe gedacht, Sie wollen ihn wahrscheinlich sehen." Frazer nickte ernst. „Ja, ich möchte ihn sehen." Er stand auf und warf einen Blick aus dem Fenster. „Es nieselt nur." 102
Er nahm eine schwarze Lederjacke vom Mantelständer, der in der Ecke stand, und zog sie an. „Folgt mir, Mädels." Er führte uns aus dem Gebäude zum Parkplatz neben der Wache. Der Himmel hatte sich verdunkelt und war nun schwarz wie die Nacht. Der Nieselregen hatte sich in schwere Regentropfen verwandelt, die laut auf den Asphalt platschten. Ich zog die Kapuze meines Parkas auf. Ich versuchte, Randees Blick aufzufangen, doch sie lief mit gesenktem Kopf durch den Regen. Frazer ging mit so raschen Schritten voraus, dass Randee und ich hinter ihm herrennen mussten. Irgendwo hinter uns bellte wütend ein Hund. Die vorbeifahrenden Autos hatten die Scheinwerfer an, obwohl es mitten am Vormittag war. Frazer blieb neben Randees Wagen stehen; es war das einzige Auto auf dem Parkplatz. „Ist das deines?", fragte er und betrachtete das Auto. „Ja", erwiderte Randee. „Ich meine, es gehört meinen Eltern." Frazer rieb sich das Kinn. „Ein Volvo, wie? Hübsches Auto." Er ging vor zur Motorhaube des grünen Volvo und bückte sich, um die Stoßstange zu untersuchen. „Unser Auto hat kaum einen Kratzer abbekommen", erklärte Randee. „Deswegen haben wir auch nicht gewusst, dass jemand verletzt wurde. Ich meine –" „Ist einer der Reifen ausgewechselt worden?", unterbrach Frazer Randee und sah sie fragend an. „Ich meine, seit dem Unfall." Randee zeigte sich erstaunt. „Nein. Die Reifen sind dieselben wie vorher." Lieutenant Frazer richtete sich auf. Er wandte sich von dem Wagen ab und kam zu uns herüber. „Soll das Ganze ein Witz sein? Habt ihr vielleicht eine Wette abgeschlossen?", fragte er verärgert. „Wie – ein Witz?", rief ich verwirrt aus. Randee fuhr erschrocken zusammen. „Was meinen Sie damit?" Lieutenant Frazer blinzelte uns durch den Regen an. „Warum gesteht ihr ein Verbrechen, das ihr gar nicht begangen habt?"
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Kapitel 23 Wir liefen zurück in die Wache, doch die grauen Wolken schienen mir ins Gebäude zu folgen. Ich hatte das Gefühl, von dichtem Nebel umhüllt und getragen zu werden. Ich fühlte mich total hilflos, verwirrt und außer Kontrolle. Als wir wieder in seinem Büro waren, erklärte Lieutenant Frazer, warum wir nicht die Täter sein konnten, die für den Tod der Schwester des Bürgermeisters verantwortlich waren. Doch seine Stimme klang so weit weg, als käme sie aus einer dichten Nebelwand. Und die Schwarzweißfotos, die er aus einer Akte zog und hochhielt, sahen aus wie graue Flecken, Nebelschwaden vor einem trüben schwarzen Hintergrund. Satzfetzen blieben in meinem Gedächtnis hängen. Der Rest verschwamm in den Hintergrund. „Wir suchen einen kleineren Wagen", hörte ich ihn sagen. „... blaue Lackspuren auf Ms Colettis Stoßstange ... Ein blauer Wagen, kein grüner ... Ein Ersatzreifen ... Vermutlich ein älteres Baujahr." Ich versuchte mich auf das Foto zu konzentrieren, das er uns gerade zeigte. Es dauerte eine ganze Weile, bis mir klar wurde, dass auf dem Bild Reifenspuren abgebildet waren. Eine Reifenspur war breiter als die andere. „Was hat das zu bedeuten?", überlegte ich im Stillen. „Warum ist eine Spur breit und die andere so schmal?" „Wir konnten diese ganz klare Aufnahme machen", sagte Frazer. „Durch den Regen lag auf der Straße eine nasse Schmutzschicht. Die Reifenspuren sind darauf deutlich sichtbar." Aber warum zeigte er uns das alles? Endlich hörte das Schwirren in meinem Kopf auf und mir wurde alles klar. Na ja ... fast alles. Durch unser Auto war Ellen Coletti nicht getötet worden. Diese Tatsache brannte sich schließlich durch den grauen Nebel in meinen Kopf. Es war nicht der grüne Volvo gewesen. Es war ein anderes Auto gewesen. Ein anderes Auto, durch das die 104
Schwester des Bürgermeisters getötet wurde. Bevor unser Wagen auf ihren prallte? War sie etwa schon tot gewesen, als wir in der Sackgasse ins Schleudern kamen? Ich wusste es nicht. Ich warf Randee einen Blick zu. Sie wirkte genauso verwirrt wie ich. Verwirrt, aber erleichtert. Sie lächelte mich nervös an. „Uns wird nichts passieren", dachte ich. „Unser Leben wird wieder normal werden. Wir haben die Frau nicht auf dem Gewissen. Wir haben die Frau nicht getötet und Fahrerflucht begangen." Plötzlich fühlte ich mich unheimlich wohl. Am liebsten wäre ich von dem Klappstuhl in Lieutenant Frazers Büro aufgesprungen. Am liebsten wäre ich aufgesprungen, hätte meine Arme wie Flügel ausgebreitet und wäre im Büro herumgeflogen. „Ich kann fliegen!", dachte ich. „Jetzt kann ich fliegen!" Verrückte Gedanken. Sie hielten nicht lange an. Denn plötzlich fielen mir Carlo und Gillian ein. Warum waren sie tot? Warum waren meine Freunde tot? Sie waren umsonst gestorben. Es gab gar kein Geheimnis, das wir wahren mussten. Wir hatten nichts verbrochen. Wir waren nicht verantwortlich. Und jetzt waren zwei der fünf Jugendlichen, die an jenem Abend in dem Auto gesessen hatten, tot. „Es gibt noch mehr, was wir Ihnen sagen müssen", begann ich. Anscheinend hatte Frazer mich nicht gehört. Er legte die Fotografien zurück in die Schublade. „Ihr Mädels seid immer noch nicht aus dem Schneider", sagte er freundlich. „Es ist ein ernstes Vergehen, einen Unfallort zu verlassen." „Unsere Freunde –", sagte ich. Mir war klar, dass ich ihm von Carlo und Gillian erzählen musste, und davon, dass ihr Tod möglicherweise kein Unfall gewesen war. Doch ich fing Randees warnenden Blick auf. Wir haben für heute genug ausgepackt, sagte ihr Gesichtsausdruck. „Ich werde veranlassen, dass meine Beamten sich mit euren Eltern in Verbindung setzen", sagte Lieutenant Frazer. „Wir werden uns noch einmal alle zusammensetzen und über die Sache reden müssen. Doch lasst mich euch noch ein paar Dinge fragen." 105
Er fragte uns, ob wir in der Sackgasse irgendwelche anderen Autos gesehen hätte. Ob wir irgendetwas bemerkt hätten, das ihm weiterhelfen könnte. Natürlich konnten Randee und ich ihm nicht weiterhelfen. Wir waren an jenem Abend so geschockt gewesen, so darauf bedacht, schnell umzudrehen und die schreckliche Sackgasse zu verlassen, dass wir nichts bemerkt hatten. Schließlich brachte er uns zurück an den Wachtisch. Der junge Beamte telefonierte gerade. Jetzt stand nur noch ein Becher Kaffee auf seinem Schreibtisch. Frazer dankte uns dafür, dass wir zu ihm gekommen waren. „Ihr könnt jetzt aufatmen, weil ihr Ms Coletti nicht getötet habt", sagte er mit ernster Miene. „Aber wir müssen mit euren Eltern über euer Verhalten an dem Abend sprechen." Randee und ich verließen eilig das Gebäude. Der Regen hatte nachgelassen, doch der Himmel war immer noch dunkel wie die Nacht. Wir betraten den Bürgersteig und hatten das Auto halb erreicht, als eine Gestalt um die Ecke bog. Todd! „Oh nein", flüsterte Randee. „Ich habe ihm heute Morgen gesagt, dass ich herkommen würde." Todd stürmte, so schnell er konnte, auf uns zu; er wurde von dem Gewicht seines übergroßen schwarzen Mantels behindert. Als er näher kam, erkannte ich seine wütende Miene. „Hey –!", schrie er und verstellte uns den Weg. „Ich hab euch doch gesagt, ihr sollt nicht zur Polizei gehen!"
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Kapitel 24 „Ich habe euch gewarnt..." Drohend sah Todd uns an. „Todd, hör auf damit!", rief Randee und versetzte ihm mit beiden Händen einen Stoß vor die Brust. „Hör auf. Ich meine es ernst! Ich habe dir heute früh gesagt, dass ich es tun werde – und ich habe es getan. Und ich will kein Wort mehr darüber hören." Überrascht trat er einen Schritt zurück. „Wir haben sie gar nicht getötet!", rief ich aus. „Todd – das ist die gute Nachricht! Wir waren es nicht." „Was?" Sein Mund stand vor Staunen offen. Seine blauen Augen quollen verwirrt aus ihren Höhlen. Randee umarmte ihn und drückte ihn an sich. In dem riesigen Mantel war er so groß, dass ihre Arme ihn kaum umspannen konnten. „Wir haben sie nicht umgebracht!", rief sie glücklich aus. „Es war nicht unser Auto, durch das sie getötet wurde!" „Wir hätten sofort herkommen sollen", sagte ich und wischte mir einen kalten Regentropfen von der Wange. „Dann hätten wir gleich gewusst, dass wir unschuldig sind." „Aber – aber –", stotterte Todd. Ich konnte erkennen, dass er angestrengt nachdachte, sich krampfhaft bemühte zu verstehen. Randee trat neben mich. „Lasst uns alle zu mir gehen. Dann können wir darüber reden." Sie holte die Autoschlüssel aus der Manteltasche. „Kommt jetzt. Lasst uns nicht länger im Regen herumstehen." „Nein", sagte ich lauter als geplant. „Nein, ich will eine Weile allein sein, Randee. Ehrlich." Sie packte mich am Arm. „Komm schon, Natalie. Es regnet. Es ist ein trüber, kalter Tag. Steig ein." „Nein, wirklich", beharrte ich. „Fahr du mit Todd." „Dann will ich dich wenigstens nach Hause bringen", bat Randee und sah Todd an. Ich warf einen Blick über ihre Schulter auf den grünen Volvo, der immer noch allein auf dem Parkplatz stand. Warum war Randee so darauf bedacht, dass ich mich wieder in ihr Auto setzte? Die Frage 107
ließ mich nicht los. War sie nur nett und hilfsbereit? War sie so froh über die überraschende Neuigkeit des Lieutenants, dass sie wirklich nur darüber reden wollte? Oder hatte sie einen anderen Grund? Hatten Todd und sie dies hier etwa geplant? Plötzlich war meine Freude über Frazers gute Nachricht wie weggeblasen. „Ich werde meinen Freunden nie mehr trauen können", wurde mir mit einem Schauder klar. „Ich werde sie immer im Verdacht haben, Carlos und Gillians Tod verursacht zu haben." „Danke", sagte ich zu Randee, „aber ich gehe lieber zu Fuß. Allein." Todd und sie protestierten zwar, doch ich wandte mich entschlossen um und fing an, rasch in die andere Richtung zu gehen. Die Ampel war Grün, daher überquerte ich die Kreuzung und ging weiter, ohne mich umzudrehen. Ich befand mich in einem Straßenblock voller kleiner Läden. In der Bäckerei an der Ecke stand eine Reihe von Kunden. Doch die meisten anderen Geschäfte waren leer, wahrscheinlich, weil es so ein bedrohlicher, düsterer Vormittag war. Ziellos ging ich die Division Street entlang. Der Regen setzte wieder ein; ein Nieselregen, dessen Kälte bis in die Knochen drang. Doch ich machte mir nicht die Mühe, meine Kapuze aufzusetzen. Die Kälte tat mir gut; sie strich mir durchs Haar und kühlte meine heißen Wangen. So erfrischend, als würde sie alles, was geschehen war, einfach wegwaschen. Beim Spazierengehen versuchte ich meine Gedanken zu ordnen. Doch ich war noch genauso durcheinander wie vorher. Eigentlich hätte ich überglücklich sein müssen, jetzt, da ich erfahren hatte, dass die Schwester des Bürgermeisters nicht durch unser Auto getötet worden war. Doch ich konnte Carlo und Gillian nicht vergessen. Ich spürte keine Freude. Noch nicht einmal Erleichterung. Ich spürte überhaupt nichts mehr. Als ich die Straße überquerte, rannte eine struppige schwarze Katze vor mir her. Sie strich so nahe an mir vorbei, dass ich fast über sie
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gestolpert wäre. Ich sah zu, wie sie über die regennasse Strasse huschte, und lachte laut auf. „Hey, du kommst zu spät!", rief ich ihr verbittert hinterher. „Ich habe schon alles Pech der Welt hinter mir!" Wie auf Kommando regnete es plötzlich noch heftiger. Der Eisregen ergoss sich in Strömen. Ich zog die Kapuze auf, kämpfte mich durch den starken Wind und verkroch mich unter das gläserne Dach einer Bushaltestelle an der Ecke. Der Regen trommelte wie tausend Schlagzeuger einen erbarmungslosen Rhythmus gegen das Schutzdach. Der Bus nach North Shadyside tauchte ungefähr fünf Minuten später auf. Er brachte mich an eine Ecke, die einen Block von meinem Haus entfernt war. Der Regen war wieder in einen leichten Nieselschauer übergegangen. Die nackten Bäume schüttelten sich im scharfen Wind. Beim Abfahren ließen die Reifen des Busses eine Wasserwelle über den Bordstein schwappen. Ich zog den Kopf ein und fing an, mit großen Schritten nach Hause zu laufen. „Endlich kann ich Mom und Dad von dem entsetzlichen Abend erzählen", dachte ich. „Vielleicht geht es mir dann wieder ein bisschen besser." Meine Familie geht gewöhnlich sehr offen miteinander um. Wir sind nicht die Art von Menschen, die ihre Gefühle voreinander verstecken. Wir drei sagen gern, was wir wirklich denken. Das Geheimnis vor Mom und Dad verstecken zu müssen – da hatte ich mich noch mehr wie eine Verbrecherin gefühlt. Jedes Mal, wenn ich mich an den Esstisch gesetzt hatte oder mit ihnen allein war, wurde ich von dem starken Verlangen ergriffen, ihnen von dem Abend und dem Unfall zu erzählen. Jetzt konnte ich es endlich tun. Als ich um die Ecke bog, wurde mein Haus sichtbar. Ich lief schneller. Ich blieb stehen, als ich das Auto in der Auffahrt sah. Keiths Auto. Als ich anfing zu rennen und meine Schuhe Regenwasser verspritzten, sah ich Keith, der unter dem Terrassendach hervortrat. Er ging rasch die Auffahrt entlang, um mir entgegenzukommen.
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„Keith! Du bist da!", rief ich. Er trug ausgebleichte Jeans und eine verwaschene Jeansjacke, deren Kragen er hochgeschlagen hatte. Sein braunes Haar klebte nass an seinem Kopf. „Bin ich froh, dich zu sehen!", sagte ich glücklich. Ich schlang die Arme um ihn. Wir standen vor seinem Auto und umarmten uns. Eine lange Weile hielten wir einander ganz fest. „Wo warst du?", fragte er, als wir uns schließlich losließen. „Ich habe mir schon Sorgen gemacht." „Ich – ich ...", stotterte ich. Ich holte tief Luft. „Randee und ich – wir sind zur Polizei gegangen. Keith, du wirst es nicht glauben, aber –" Ich warf einen Blick auf sein Auto und hielt abrupt inne. Ich hatte sein Auto natürlich schon hundertmal gesehen. Aber jetzt, als ich es über seine Schulter hinweg anschaute, sah ich es in einem ganz anderen Licht. Ich erschrak zutiefst. Das Auto war blau. Himmelblau. Ich starrte auf die verbeulte Stoßstange aus rostigem Chrom. Und dann auf die Reifen. Ich keuchte leise, als ich sah, dass der kleine Ersatzreifen immer noch am rechten Vorderrad saß. Ein breiter Reifen und ein schmaler Reifen. Mir fiel Lieutenant Frazers Schwarzweißfoto wieder ein. Ich hatte die Reifenspuren auf der schlammigen Straße wieder vor Augen. Ein breiter Reifen und ein schmaler Reifen. Ein blaues Auto ... „Oh Gott, Keith –!", schrie ich auf. Als ich den Blick hob und ihn ansah, war seine Miene verändert. Seine dunklen Augen funkelten mich wie kalte Murmeln an. Sein Mund war wutverzerrt. „Keith – dein Auto ...", begann ich. Doch er packte mich am Arm. Und gab mir einen Stoß. „Natalie, steig ein", befahl er mit einer kalten, harten Stimme, die ich an ihm noch nie gehört hatte. „Steig schon ein."
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Kapitel 25 Ich versuchte mich loszureißen, doch er war stärker als ich. „Lass mich los!", schrie ich schrill. „Du tust mir ja weh!" Er lockerte seinen Griff, ließ meinen Arm jedoch nicht los. „Tut mir Leid", sagte er sanft. Er zerrte mich zur Beifahrertür. „Steig ein, Natalie. Ich werde dir nicht wehtun." „Du tust mir jetzt schon weh", sagte ich. „Steig ein", wiederholte er ungeduldig. „Ich will dir bloß alles erklären. Mehr nicht." Mit klopfendem Herzen leistete ich Widerstand. „Wohin fahren wir?" „Nirgendwo hin. Ich will bloß ein bisschen herumfahren. Damit ich dir alles erklären kann." Er machte die Autotür auf. Ich wurde zwischen ihn und die Tür gezwängt. „Steig ein, Natalie. Und schau doch nicht so ängstlich." „Aber Keith –" Ich ließ mich auf den Beifahrersitz sinken. „Mach die Fahrertür auf, ordnete er an. Er schlug meine Tür von außen zu. Das ganze Auto bebte. Ich wollte wegrennen. Ich spürte, dass ich plötzlich Todesangst vor ihm hatte. Aber wie weit konnte ich rennen? Wenn ich die Tür aufstieß und versuchte, die Straße entlangzurennen, würde er mich erwischen, noch bevor ich einen halben Block gerannt wäre. Außerdem wollte ich seine Erklärung hören. Ich musste unbedingt die Wahrheit erfahren. „Ich muss ihm zuhören", sagte ich mir. „Keith und ich sind uns schon so nahe gewesen. Ich schulde es ihm, ihm zuzuhören." Wir fuhren an mehreren Häuserblocks vorbei, bevor einer von uns etwas sagte. Der Regen prasselte stetig herab. Die Scheibenwischer klickten in einem langsamen Rhythmus und verschmierten beim Wischen die Windschutzscheibe. „Keith, am Abend, als die Party war –", begann ich zögernd. „Hast du da –?" Die Worte blieben mir im Hals stecken. Er näherte sich langsam einem Stoppschild und bog dann auf die River Road ab. Mit zusammengekniffenen Augen starrte er durch die 111
Windschutzscheibe. Doch sein Blick schien weit weg zu sein. „Keith?" Anscheinend hörte er mich gar nicht. Die Reifen rutschten über den glatten Asphalt. Sein Gesichtsausdruck blieb unverändert. „Keith, du hast doch gesagt, du willst alles erklären", drängte ich ihn sanft. Sein Schweigen machte mir mehr Angst als seine kalte Miene. Endlich fing er an, mit angespannter, heiserer Stimme zu reden: „Ich bin euch an dem Abend hinterhergefahren. An dem Abend der Party", sagte er. „Ich habe gesehen, wie du mit Todd weggefahren bist. Ich – ich muss wohl die Kontrolle verloren haben." „Du meinst, du bist Auto gefahren?", fragte ich. Ich ahnte wohl, was Keith sagen würde. Aber ich wollte es nicht glauben. Ich wollte es von ihm nicht hören. „Ich weiß, dass ich an dem Abend nicht hätte fahren sollen", erwiderte Keith. Er unterdrückte ein Schluchzen. „Glaub mir, Natalie. Ich weiß es. Aber ich bin euch nachgefahren. Ich glaube, ich war ziemlich betrunken. Ich fuhr zu schnell. Ich habe mich verfahren. Ich habe eine Abbiegung verpasst und bin in die Sackgasse geschlittert. Und dann bin ich gegen das geparkte Auto geknallt." Keith umklammerte mit beiden Händen das Lenkrad. Er sah mich nicht an. Er hielt den Blick starr auf die Windschutzscheibe vor ihm gerichtet. „Ich habe sie getötet, Natalie. Ich habe die Schwester des Bürgermeisters umgebracht", fuhr er fort; seine Stimme war brüchig vor Emotionen. Bei seinen nächsten Worten blieb mir das Herz stehen. Er brachte sie im Flüsterton heraus. Aber ich hörte sie trotzdem ganz deutlich. Und ich wusste, ich würde sie für den Rest meines Lebens hören. „Natalie", flüsterte Keith und starrte geradeaus. „Ich habe auch Carlo und Gillian umgebracht. Natalie - ich habe sie alle umgebracht."
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Kapitel 26 Ich zitterte am ganzen Körper. Ich atmete tief durch und hielt die Luft an. Ich versuchte mit aller Gewalt, mit dem Zittern aufzuhören, einen klaren Gedanken zu fassen. „Aber warum, Keith?", fragte ich und starrte ihn entsetzt an. Er antwortete nicht auf meine Frage. Sein Blick schien auf einen Punkt ganz in der Ferne gerichtet zu sein. Ich wusste noch nicht einmal, ob er meine Frage gehört hatte. „Ich bin total in Panik geraten", sagte er schließlich. „Erst saß ich nur da, aber dann bin ich aus dem Auto gestiegen. Ich sah, dass die Frau tot war. Der Aufprall war ziemlich heftig gewesen. Es war kein schöner Anblick. Überall war Blut. Überall." Ich schloss die Augen. Mein Magen rebellierte. Ich bekämpfte den Brechreiz, der mich überkam. „Die Straße war menschenleer. Keine Seele weit und breit", erzählte Keith weiter. „Ich stieg wieder in mein Auto. Ich hatte solche Angst. Und ich war so durcheinander. Ich konnte keinen klaren Gedanken fassen. Deshalb bin ich einfach weggefahren." Er fuhr langsamer und bog um eine Kurve. Ich sah, dass wir auf der River Road immer höher hinauf zu den Kliffs fuhren, die den Fluss säumten. Die Scheibenwischer kratzten auf der Windschutzscheibe. Das Gebläse blies warme Luft auf meine zitternden Beine. „Am nächsten Morgen habe ich dich angerufen", fuhr Keith fort. „Ich wollte dir sagen, was ich angestellt hatte. Ich brauchte deine Hilfe. Aber du hast mich kurz abgefertigt. Du wolltest nicht mit mir reden." „Ich – ich hatte ja keine Ahnung", stammelte ich. „Ich habe gedacht, du wolltest nur anrufen, um dich zu entschuldigen. Deswegen habe ich –" „Ich musste mit jemandem reden", unterbrach Keith mich. „Also bin ich an dem Abend zu Carlo gegangen. Ich habe Carlo die ganze Geschichte erzählt. Alles. Ich musste es loswerden." 113
Verzweifelt schüttelte er den Kopf. „Ich habe Carlo angefleht, niemandem etwas zu sagen. Ich habe ihn angefleht, es geheim zu halten. Aber er ist damit nicht fertig geworden. Er hat es einfach nicht gepackt. Ein paar Tage später hat er mich angerufen. Er hat gesagt, ich sollte zur Polizei gehen. Er hat gesagt, er würde mitkommen. Aber ich habe mich geweigert. Dann hat Carlo gesagt, er könnte es nicht länger aushallen. Dann würde er eben allein zur Polizei gehen. Ich war total durcheinander. Ich hatte solche Angst. Ich wollte nicht, dass mein ganzes Leben zerstört würde. Und dann bin ich durchgedreht. Ich war bereit, alles zu tun. Egal was. Und dann habe ich mit dir geredet, Natalie." „Mit mir?", rief ich überrascht. „Darüber, dass du Carlo umbringen wolltest?" „Nein." Keith schüttelte den Kopf. „Du hast mir von Todd erzählt. Du hast mir gesagt, dass Todd damit gedroht hatte, Carlo umzubringen. Dass Todd fand, Carlo sollte einen Unfall haben. So wusste ich, dass ich Carlo für immer zum Schweigen bringen konnte. Und dass alle Todd dafür verantwortlich machen würden." Ich keuchte vor Entsetzen. „Du warst also bei der Jagdhütte", sagte ich anklagend. „Du hast Carlo erschossen. Du hast ihn mit seinem eigenen Gewehr erschossen." „Als er mich auftauchen sah, war er so überrascht, dass er das Gewehr fallen ließ", verriet Keith. „Als er sich umdrehte, schoss ich ihm in den Kopf. Ich habe meinem eigenen Freund in den Kopf geschossen. Und ihm dann das Gewehr wieder in die Hand gedrückt." Wir fuhren durch eine scharfe Kurve. Das Auto zögerte am Fuße des Hügels, ächzte und fuhr dann tapfer weiter. Plötzlich wandte Keith sich mir zu. „Hast du eine Ahnung, wie viel Angst ich hatte, Natalie? Weißt du, welche Panik ich gehabt haben muss, um meinen eigenen Freund umzulegen?" Ich schluckte schwer. Es war mir unmöglich zu antworten. „Und dann war da noch Gillian", fuhr er fort. „Sie rief mich an. Sie sagte mir, dass Carlo ihr die ganze Geschichte erzählt hatte." „Gillian", murmelte ich. Als ich nur ihren Namen aussprach, wäre ich am liebsten in Tränen ausgebrochen. 114
„Gillian", wiederholte Keith düster. „Ich habe sie gewarnt, kein Sterbenswörtchen zu sagen. Ich habe ihr das verweste Fleisch mit der Botschaft geschickt. Ich habe versucht, ihr Angst einzujagen, ihr zu zeigen, dass es mir ernst war. Aber sie hatte trotzdem vor, der Polizei von mir zu erzählen." „Du – du hast sie also auch umgebracht", stammelte ich. „Ich musste es tun", murmelte Keith. Plötzlich verzerrten sich seine Gesichtszüge schmerzlich. Seine Augen waren eiskalt und weit, weit weg. „Ich musste es. Musste es. Musste es." Er wiederholte die Worte in einem Singsang, der wie ein bitterböses Kinderlied klang. „Musste es. Musste es. Musste es." Er trat aufs Gas. Das Auto stöhnte, machte einen Sprung nach vorne und wurde schneller. „Jetzt habe ich noch ein letztes Problem", sagte Keith mit sanfter Stimme. „Und das bist du." Ich spürte einen Angststich, der mich zusammenfahren ließ. Trotz der heißen Luft, die aus dem Gebläse kam, fror ich plötzlich am ganzen Körper. „Keith – was willst du jetzt tun?", brachte ich mühsam heraus. „Dich auch noch umbringen", antwortete er.
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Kapitel 27 Ich brüllte ihn an: „Keith - fahr langsamer!" In voller Absicht trat er das Gaspedal durch. Das Auto schleuderte um eine Kurve. Die Reifen schlitterten quietschend über die nasse Fahrbahn. Wie ich wusste, hörte die River Road am Rande des Kliffs einfach auf. Wenn Keith nicht bald die Geschwindigkeit drosselte, würden wir beide über das Kliff fliegen. „Keith – bitte!", schrie ich in Panik. Er schien mich nicht zu hören. Die Bäume flogen in einem bedrohlichen, verschwommenen, dunklen Schatten rechts an mir vorbei. Auf Keiths Seite konnte ich nichts außer einem schwarzen Himmel erkennen. Die Straße verengte sich in ihrem kurvigen Aufstieg. Der Regen trommelte auf die Windschutzscheibe. Die Wischblätter kratzten ihren eintönigen Rhythmus auf die Scheibe. „Keith – wir müssen reden!", stieß ich aus. „Es gibt nichts mehr, worüber wir reden müssen", murmelte er mit leiser, fester Stimme. Er kniff die Augen zusammen und starrte geradeaus. „Du weißt jetzt alles, Natalie. Alles." „Keith – die Straße endet gleich da vorne!", schrie ich mit schriller Stimme und packte den Türgriff. „Es ist eine Sackgasse! Fahr langsamer! Bitte!" Er ignorierte mein schrilles Flehen. „Tschüss, Natalie", sagte er sanft. „Ich werde aus dem Auto springen. Du wirst über das Kliff rasen. Ich werde ihnen erzählen, die Bremsen hätten plötzlich nicht mehr funktioniert. Noch ein schrecklicher Unfall." „Nein!", schluchzte ich. „Bitte nicht, Keith - bitte nicht!" Das Schild „Sackgasse" tauchte zu meiner Rechten auf. „Keith – das Schild!", flehte ich. „Die Straße hört auf -genau hier oben!" Ein lauter Knall überraschte uns beide. Es klang wie ein Schuss. Mitten im Auto. Ich sah, wie Keith die Augen weit aufriss. 116
Er trat auf die Bremse. Das Auto schlitterte. Die Reifen quietschten. Das Auto geriet ins Schleudern, brach aus. Es war der Reifen gewesen, wie mir in diesem Augenblick klar wurde. Der kleine Ersatzreifen war geplatzt. Keith trat noch härter auf die Bremse. Wir rutschten auf das Kliff zu. Als das Auto langsamer wurde, stieß ich die Beifahrertür auf. Ich holte tief Luft. Dann sprang ich hinaus. Ich schlug hart auf dem Boden auf. Ich landete auf meinen Ellbogen und Knien. Der Schmerz schoss mir durch den Körper. Eine rote Schmerzspirale. Sie nahm mir den Atem. Ich bekam keine Luft mehr. Dann merkte ich, dass ich in weichem Schlamm gelandet war. Der Schlamm hatte meinen Sturz etwas abgefangen. Noch immer nach Luft ringend hob ich den Kopf. Ich sah das Auto. Es schlitterte auf das niedrige Geländer am Rande des Kliffs zu. „Spring, Keith!", betete ich wortlos. „Spring schon!" „ Verdammt noch mal, warum springt er denn nicht raus?", fragte ich mich. Ich hielt mich an einem Pfahl fest und zog mich aus dem Schlamm. „ Spring! So spring doch endlich!" Und dann erinnerte ich mich. Die Fahrertür. Sie klemmte immer. Er kriegte sie nie auf. Das Auto schlug gegen das Schutzgeländer. Der Zusammenprall war erstaunlich leise. Das Geländer verbog sich und gab nach. Ich sah, wie die Räder sich im Leerlauf drehten, als das Auto über den Rand des Kliffs schoss und aus meiner Sicht verschwand. Eine Sekunde später hörte ich das Krachen. Metall und splitterndes Glas. Und dann die Explosion.
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Ein großer, greller Feuerball stieg vor dem schwarzen Hintergrund des düsteren Himmels auf. Durch das beständige Trommeln des Regens hindurch hörte ich das Knacken des Feuers tief unten. Ein letzter Unfall. Diese entsetzlichen Worte brannten sich in mein Gedächtnis ein. Ein letzter Unfall. Über und über mit kaltem, nassem Schlamm bedeckt klammerte ich mich heulend an den Pfahl fest und rang nach Luft. Der Regen durchnässte mich von Kopf bis Fuß. Ich hielt mich an dem Pfahl fest und zitterte am ganzen Körper. Dann drehte ich mich um und sah, dass ich mich an einem Straßenschild festhielt. Es war das Schild, auf dem „Sackgasse" stand. Sackgasse. „Das hier ist das Ende der Sackgasse", dachte ich. „Keiths Ende. Das Ende des ganzen Schreckens, den er verursacht hat." Randee, Todd und ich hatten noch eine harte Strecke vor uns. Wir mussten noch für das, was wir an jenem Abend getan hatten, bezahlen. Doch wir hatten endlich das Ende des Schreckens erreicht. Das Ende der tödlichen Sackgasse. Ich wandte mich um und ließ das Schild los. Dann begann ich den langen Abstieg zurück in die Stadt.
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