Thomas Kastura
Epsteins Nacht
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Während einer Weihnachtsmesse geschieht das Unfa...
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Thomas Kastura
Epsteins Nacht
scanned 10-2006/V1.0 corrected by eboo
Während einer Weihnachtsmesse geschieht das Unfassbare: Epstein und sein Freund Adam Rose glauben den ehemaligen SS-Sturmbannführer Giesser wiederzuerkennen – im Gemeindepriester. 41 Jahre ist es her, dass sie im KZ irgendwie überlebten. Giesser allein entschied damals über Leben und Tod. Adam will nur eines von ihm wissen: Was ist aus Hannah geworden, seiner großen Liebe? Epstein dagegen will Rache. Der Roman zum Film mit Mario Adorf, Bruno Ganz, Otto Tausig und Annie Girardot. Mit einem Nachwort von Mario Adorf. ISBN: 3-548-25274-5 Verlag: Ullstein Erscheinungsjahr: 1. Auflage November 2002 Umschlaggestaltung: Thomas Jarzina, Köln
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1 Epstein setzte sich in Bewegung. Er war in erstaunlich guter Verfassung, hatte wieder zugenommen, die Schritte fest, Nieren, Leber, alles in Ordnung, obwohl er inzwischen schon vierundsiebzig war, sein Gedächtnis intakt wie je. Den schweren Koffer trug er, als ob es nur eine leichte Sporttasche wäre. Kraft hatte Epstein jede Menge, das war schon immer so. Berlin war in den vergangenen fünfzehn Jahren wieder gewachsen. Was auch sonst? Er knöpfte sein Hemd noch ein wenig weiter auf. Ergraute Brusthaare wucherten aus dem Kragen. Sein Kamelhaarmantel war viel zu dick für dieses Wetter, der Borsalino juckte auf seinem Kopf. Aber der Geruch des Frühlings tat ihm gut, schmeichelte ihm. Mit einem Stofftaschentuch tupfte er sich den Schweiß von der Stirn. Zu dem Schrottplatz, der nach wie vor Gewinne einfuhr, war es nicht weit. Als er ihn erreichte, rollte ein Laster im Rückwärtsgang aus der Einfahrt. Der Fahrer lehnte sich aus dem Fenster, bemerkte Epstein, der unschlüssig stehen blieb. »Kann ich Ihnen helfen?«, fragte der Mann. Epstein deutete auf einen verlassenen Teil des Geländes. »Was ist aus dem Haus geworden, das dort stand?« Die Augen des Fahrers folgten Epsteins ausgestrecktem Arm. »Da gibt’s kein Haus.« »Es stand dort. Genau dort.« Epstein deutete auf eine Grube, die mit Schutt und Baumüll angefüllt war. Löwenzahn und Scharbockskraut wuchsen darauf. Die Pflanzen standen in Blüte. »Wo ist es hin?«, beharrte er. »Wo soll es hin sein?«, erwiderte der Fahrer ungeduldig. Der Motor des Lasters wurde lauter. »Es ist weg, das sehen Sie doch.« 2
»Ich sehe nichts, das ist es ja. Es ist nichts mehr da. Keine Mauern, keine Ruine, nur ein Loch voller Unrat. Wer hat das angeordnet?« »Weiß ich nicht, Meister. Und jetzt entschuldigen Sie mich, ich muss weiter.« Der Mann setzte den Laster zurück und reihte sich in den Verkehr ein. Epstein ging ein paar Schritte weiter. Auf dem Schrottplatz herrschte hektische Betriebsamkeit. Laster und Schaufellader umkurvten Berge von Autowracks, Halden voller rostiger Träger, Gerüste, Gestelle, dazwischen Menschen. In der Mitte des Geländes stand ein gelber Container. Epstein betrachtete ihn zweifelnd, hatte keine Ahnung, was er jetzt tun sollte. Sein Blick fiel auf ein kleines Blechschild, Von Efeu überwachsen hing es an einem Pfosten der Einfahrt. Er zerrte die Ranken beiseite. »Alteisenhändler – Autopresse Epstein« stand darauf. Epstein nickte und wandte sich ab.
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2 Es war gar nicht so lange her, dachte er, da hatte er hier mit methodischen Schlägen eine Trommel aus einer ausrangierten Waschmaschine herausgehämmert. Sein Büro, ein Backsteinhäuschen, aus dessen Schornstein im Winter 1985 dicker Rauch quoll, war der Abrissbirne noch nicht gewichen. Und überall lag Schnee. Auf den alten Autos, dem Schrott, den zerfurchten Wegen zwischen dem Schrott. Ja genau, der Schnee. Er streifte seine Arbeitshandschuhe ab, schob seine Schiebermütze in den Nacken und nahm einen langen Schluck aus dem Flachmann, den er stets bei sich trug. Selbst gebrannter Doppelkorn ätzte sich seine Kehle hinunter, erwärmte den Körper für ein paar kurze wohlige Augenblicke. Plötzlich ertönte lautes Hupen, Epstein drehte sich um. Einer seiner Laster fuhr auf den Hof – fast leer, wie er ärgerlich registrierte. »Was soll das denn?«, schimpfte er, noch bevor seine beiden Angestellten ausgestiegen waren. »Ist das alles?« Die Männer kletterten aus der Fahrerkabine. Sie trugen rote Mützen mit weißen Bommeln und Kunstfellbesatz. Dworazik hatte sogar einen weißen Rauschebart um, den er jetzt zurechtrückte. »Mehr war heute nicht drin, Chef.« Dworazik zuckte mit den Schultern. »Die Leute wollen erst sehen, was unter dem Baum liegt, bevor sie was wegwerfen. Das hat –« »Wie seht ihr denn aus?«, unterbrach ihn Epstein. »Was soll das werden?« Verblüfft schauten die beiden ihren Chef an, wechselten Blicke. »Aber –« 4
»Was aber?« »Na ja«, sagte Dworazik, »es ist doch Weihnachten, Chef. Da dachten wir –« »Weihnachten«, konstatierte Epstein, als ob das eine faule Ausrede sei. »Haben Sie das wirklich nicht gewusst? Wir fragten uns schon, warum wir heute antanzen mussten. Ich meine, an Weihnachten, da wird doch normalerweise nicht gearbeitet, und …« Epstein hörte schon nicht mehr hin. Er schaute auf seine Armbanduhr, erschrak. »Verdammt, ich muss weg«, sagte er für sich. Eilig kramte er in seinen Hosentaschen, zog ein zusammengerolltes Bündel Geldscheine hervor. Er reichte den beiden zwei Hundertmarkscheine. Verlegen stießen sie sich an. »Das ist doch nicht nötig, Chef.« Er drückte Dworazik die Scheine in die Hand. »Heute Mittag werden noch die Sicherungen für die Presse geliefert. Die müssen bar bezahlt werden. Lasst euch eine Quittung geben.« Die beiden sahen sich verdutzt an. Epstein ging zu dem Laster, streifte seinen Overall ab, warf ihn auf den Beifahrersitz. Er ging um den Wagen herum und schwang sich hinters Lenkrad. Während seine beiden Angestellten wie angewurzelt stehen blieben und auf die Geldscheine in Dworaziks Hand starrten, wendete er und kurbelte die Scheibe herunter. »Und zieht diese Klamotten aus«, rief er ihnen zu. »Ihr seht aus wie Gartenzwerge.« Er legte einen Gang ein, hielt inne, schaltete wieder in den Leerlauf. »Falls die Sicherungen nicht kommen sollten –«, er machte eine Pause und kniff ein Auge zu. »Versauft nicht alles.« Der Laster rumpelte davon.
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3 »Natürlich können Sie mich nicht ohne Bezahlung vor Gericht vertreten, Herr Rose.« Karl nickte gewichtig. Er beobachtete, wie der Schneematsch an den Schuhen seines Gegenübers schmolz und eine stetig wachsende Pfütze auf dem Parkett der Kanzlei hinterließ. So ging das nicht, dass ihm die Leute hier den Boden ruinierten. Sie nahmen nicht die geringste Rücksicht, dachten nur an sich. An sich und ihre aussichtslosen Fälle. Er würde mit Frau Reimert darüber sprechen müssen. »Es ist nur, Ihr Bruder sagte, dass ich mir deswegen keine Sorgen zu machen bräuchte.« »Hat er das?«, murmelte Karl und hakte die Daumen in seine Anzugweste. Ein weiterer Klumpen graubrauner Berlinschnee löste sich von den Sohlen des Mannes, der auf der anderen Seite des Schreibtisches saß und auf Karls Bemerkung bestätigend nickte. »Einen Moment, Herr –«, Karl warf einen Blick auf seine Unterlagen, »Herr Schmitz.« Er erhob sich, ging zur Tür von Adams Büro und öffnete sie. Natürlich war keiner da. Rose & Rose bestand wieder einmal nur aus ihm, Karl. Er machte die Tür zum Vorzimmer einen Spalt breit auf. »Frau Reimert, wo ist Adam?« Die Sekretärin wies mit den Augen zu einer Polstergruppe. Karl öffnete die Tür ganz. Adam saß auf einem Sessel, mit Mantel, Handschuhen, Wollmütze und Schal bekleidet, und rauchte eine Zigarette. Als er Karl sah, drückte er die Kippe aus und sprang auf. »Bist du fertig?«, sagte er ungeduldig. »Können wir los?« 6
Karl trat in das Vorzimmer, schloss die Tür zu seinem Büro und ging zu seinem Bruder. »Hast du diesen Schmitz angeschleppt?«, zischte er ihn an. Adam trat einen Schritt zurück. »Er hatte kein Geld«, sagte er leise. »Ach was.« »Er brauchte Hilfe.« Alles muss man ihm erklären. Karl wollte etwas erwidern, verkniff es sich aber, als es an der Tür klingelte. Die Sekretärin stöckelte aus dem Raum. »Wo willst du eigentlich hin?« Karl bemerkte erst jetzt, wie sein Bruder angezogen war. »Wir haben noch zu tun.« Adam sah an sich herab. »Oh«, sagte er überrascht, knöpfte seinen Mantel auf, zögerte, knöpfte ihn wieder zu. Die Sekretärin kam zurück. »Herr Epstein«, meldete sie. »Was will der denn hier?«, wunderte sich Karl, als Epstein sich schon an Frau Reimert vorbei in den Raum drängte. »Was will der denn hier? Was will der denn hier?«, äffte er Karl nach und baute sich vor ihm auf. »Habt Ihr vergessen, welchen Tag wir heute haben?« »Es ist Weihnachten!« Adam gewann seine Fassung wieder. »Ich weiß, dass heute Weihnachten ist«, sagte Karl entnervt. »Jeder weiß, dass heute Weihnachten ist. Erlösungsschwindel! Barmherzigkeitsbetrug! Man kommt ja kaum darum herum.« Er blickte von Adam zu Epstein, stutzte. »Ihr wollt diese schwachsinnige Idee doch nicht wirklich in die Tat umsetzen?« »Versprochen ist versprochen«, sagte Epstein weniger zu Karl als zu Adam, der ihn daraufhin dankbar anlächelte. Karl gab sich noch nicht geschlagen. »Da drin sitzt wieder einer von Adams Sozialfällen. Den muss ich erst abwimmeln. Ich hab jetzt keine Zeit für eure Albernheiten.« 7
»Du musst ihn ja nicht abwimmeln«, beharrte Epstein. »Sag ihm doch, er soll nach den Feiertagen wiederkommen. Schließlich heißt diese Kanzlei Rose und Rose.« »Herr Schmitz arbeitet bei der Müllabfuhr«, erklärte Adam. »Wir hätten nie wieder Ärger mit den Tonnen. Er würde dafür sorgen, dass sie nach dem Leeren wieder ins Haus gebracht werden.« Karl wog diesen Einwand ab. Adam hatte Recht, die Mülltonnen waren ein gutes Argument. Wenigstens etwas. Müde rieb er sich die Augen und lenkte ein. »Machen Sie einen Termin.« Er nickte der Sekretärin zu und ging zum Garderobenständer. »Womit hab ich euch zwei nur verdient?«, brummte er müde. Adam lächelte wieder und setzte seinem Bruder den Hut auf den Kopf. »Lass das«, wehrte sich Karl halb im Scherz. »Es ist kalt draußen«, sagte Epstein und tippte an seine Schiebermütze. »Du wirst ihn brauchen.« »Siehst du«, triumphierte Adam und blinzelte Epstein zu.
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4 Epstein setzte seinen Borsalino ab und legte ihn neben sich auf den Rücksitz. Das Taxi fuhr an. Er schaute aus dem Fenster, verfolgte den hauptstädtischen Verkehr, der um ihn herum wogte wie die Brandung des Meeres, das er nie, niemals gesehen hatte. Es hatte sich einfach nicht ergeben. Als der Wagen das Brandenburger Tor passierte, reckte er den Kopf wie ein neugieriger Tourist. Angestrengt spähte er durch die Scheibe, stieß mit der Nase an das Glas, wich zurück. Kurz darauf kam die Glaskuppel des Reichstags in Sicht. Er staunte über die ungewohnte Prachtentfaltung. »Das erste Mal in Berlin?«, fragte der Taxifahrer. Er hatte Epstein durch den Rückspiegel beobachtet. Epstein reagierte nicht, betrachtete das Gebäude mit der längst vergessenen Inschrift, diesen drei Wörtern, die ihm zuerst vertraut, dann verhasst und schließlich gleichgültig gewesen waren. »Was?«, gab er mit Verzögerung zurück. »Schon mal hier gewesen?« Epstein überlegte, antwortete nicht. Mit einer Ausnahme war er eigentlich nie woanders gewesen. Der Taxifahrer hatte einen Akzent, den er nicht sofort zuordnen konnte. Polnisch? Nein, ein bisschen weicher, südländischer. Dann erinnerte er sich. Stimmt, aus Kroatien waren auch welche gekommen. Viele, wenn er es recht bedachte. Er hatte ihnen immer geraten, ihre Sprache aus dem Gedächtnis zu tilgen und so schnell wie möglich Deutsch zu lernen. Wer sich nicht anpasste, starb zuerst, das war nun einmal so. Das hatte er auch Adam immer wieder gepredigt. Er hatte in den letzten Jahren viel übers Lager nachgedacht. Es war so, als ob er die Zeit davor, als er mit Absicht keinen 9
einzigen Gedanken daran zugelassen hatte, aufholen wollte. Er hatte auch viel darüber gelesen, er, der nie ein Buch in die Hand genommen hatte. Eine Hilfe war es ihm nicht gewesen. Kein Trost lag darin und schon gar keine Erkenntnis. Es hatte ein bisschen Ordnung in die Sache gebracht, weiter nichts. Nach einer Weile schaute er wieder nach draußen. Der Taxifahrer stellte das Radio lauter.
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5 Sie hatten eine riesige Nordmanntanne erstanden. Epstein hätte den Preis noch weiter drücken können, aber Adam war unruhig geworden und auch Karl hatte darauf gedrängt, das Monstrum auf dem kürzesten Weg nach Hause zu befördern. Wie vereinbart schleppten sie den Baum zur Wohnung der beiden Brüder. Epstein klemmte sich das harzige Ende des Stammes unter die Achsel. Hinter ihm schulterte Adam die Spitze, die wie der Rest des Baumes in einem Plastiknetz steckte. Sie taten sich schwer. Karl ging vorneweg. »Die Leute glotzen schon«, sagte er, als zwei Passanten sie amüsiert betrachteten. »Drei Juden mit einem Weihnachtsbaum. Wo gibt’s denn so was?« »Sei still.« Epstein verlagerte seinen Griff. »Wozu ein Baum?«, fuhr Karl fort. »Kein Jud hatte je einen Baum.« »Hannah liebte Weihnachtsbäume«, sagte Adam. Wegen des Geruchs. Der Kühle. »Hannah ist tot«, wies ihn Epstein zurecht. »Und wenn dein Bruder so um seinen guten Ruf besorgt ist, braucht er nur zu helfen. Dann geht’s schneller.« »Ihr wolltet den Baum«, erwiderte Karl. »Also schleppt ihr ihn auch.« »Ich pfeif auf den Baum«, sagte Epstein. »Wer ist der größere Idiot? Der, der eine blöde Idee hat, oder der, der sie ausführt?« »Ich wollte einen Baum«, wandte Adam ein. Und Hannah.
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»Na bitte.« Karl wischte eine Schicht Schneeflocken von seinem Mantel. »Und überhaupt: Nordmanntanne. Das klingt ja wie Reichsaufforstungsamt. Falls es so etwas je gegeben hat.« »Es ist ein schöner Baum.« Adam strich über die Zweige, die aus dem Plastiknetz hervorragten. »Die Nadeln sind ganz weich.« »Alles hingezüchtet. Ich wette, das Ding ist voller Kunstdünger und Pestizide. So ein Baum besteht ja nur noch aus Gift.« »Wirklich?«, fragte Adam erschrocken und hätte den Baum fast losgelassen. »Wahrscheinlich seid ihr schon verseucht. Das gibt eine allergische Reaktion. Ausschlag auf der Haut.« »Jetzt halt mal die Luft an«, tadelte ihn Epstein. »Und gegen wen soll ich dann wegen Schmerzensgeld klagen? Hast du dir die Adresse des Händlers notiert?« Epstein blieb stehen und setzte seine Last ab. »Warum bist du überhaupt mitgekommen, Karl?« »Ich bin halt ein netter Mensch. Ich möchte euch Gesellschaft leisten.« Epstein lachte auf. »Auf nette Menschen kann ich momentan verzichten.« Er nahm den Baum wieder auf und schleifte ihn weiter. Damit hatte Adam nicht gerechnet. »Nicht so schnell!« Hilflos stolperte er hinterher, eine Hand an der Spitze der Tanne, wie ein Kind, das von seiner Mutter mitgezerrt wird. Sie hatten den Rüdesheimer Platz überquert, gelangten in die Landauer Straße und kamen an einem Kiosk vorbei. Karl war noch nicht fertig. »Jedes Mal, wenn Adam eine von seinen verrückten Ideen hat, kommst du sofort angesprungen. Natürlich kaufen wir einen Baum, Adam. Natürlich geben wir ein Fest!« »Bin halt auch ein netter Mensch«, gab Epstein zurück. 12
»Ein verfressener, durchtriebener Schrotthändler bist du.« Epstein blieb wieder stehen und wandte sich an Karl. »Es war ja wohl nicht meine Idee, für eure Nachbarn eine Weihnachtsfeier zu veranstalten!« »Das ist wahr, Karl«, berichtigte Adam. »Ich habe sie eingeladen.« Karl deutete auf Epstein. »Und wenn du ihn nett fragst, geht er durchs Haus, tritt ihnen die Türen ein und schleppt sie zwangsweise zu uns in die Wohnung. Meinst du, die haben nichts Besseres zu tun?« »Das wird wohl nicht nötig sein«, sagte Epstein und grinste. Er liebte es, sich mit Karl zu streiten. »Frohe Weihnachten, Herr Rose.« Sie reckten die Köpfe. Eine attraktive Blondine hatte Karl gegrüßt und lächelte ihm im Vorbeigehen zu. Karl lüftete rasch seine Mütze, nickte und sah ihr freundlich nach. Als er sich wieder Adam und Epstein zuwandte, hafteten deren Blicke immer noch an den Hüften der Frau, die in einem eng anliegenden roten Schlauchkleid steckten. »Wiedmann, Scheidung«, sagte Karl und räusperte sich, als er Adams erstaunten Blick bemerkte. »Schon die zweite.« Er versuchte, sachlich zu klingen. »Ich konnte jedes Mal eine hübsche Abfindung rausholen.« »Noch eine, und sie hat dich eingeholt«, sagte Epstein. »Aber ihr Schnitt ist besser. Und ihr Hintern. Ich schätze mal, sie ist halb so alt wie du.« »Nicht jeder hat das Glück, dass ihm die Frau einfach abhaut«, versetzte Karl. Epstein wuchtete den Baumstamm wieder hoch und marschierte lachend weiter. »Das Glück des Tüchtigen, mein Lieber. Spart Alimente. Und den Rechtsanwalt.«
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Adam kicherte. »Spart den Rechtsanwalt« wiederholte er belustigt. Karl stapfte missmutig hinterher.
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6 »Es tut mir so Leid, dass wir Sie am Heiligen Abend belästigen, Fräulein Paula. Mein Bruder wusste offensichtlich nicht, was er von Ihnen verlangt.« Karl legte den Kopf in den Nacken, während ihm Paula die Krawatte band. »Ist schon okay, Herr Rose.« Sie fuhr mit der Zunge über die Oberlippe, konzentrierte sich. »Ich kann die Kohle ganz gut gebrauchen.« Bestimmt besser als die Wiedmann, dachte Karl. Er starrte an die Stukkatur an der Decke und seufzte innerlich. Es traf immer die Falschen. Ein Rempler ließ ihn fast das Gleichgewicht verlieren. Ärgerlich schaute er sich um. »’tschuldigung!«, rief Katharina und rannte weiter durch den Flur, ohne sich umzuschauen. Sie kickte einen Ball in die Küche, ihre fliegenden Zöpfe verschwanden. Karls Miene wurde milder, er beugte sich wieder zurück. »Unser Katrinchen. Wann muss die Kleine denn ins Bett?« Aus den Augenwinkeln sah er, wie der Ball aus dem Wohnzimmer in den Flur zurückflog und die Kristallvase auf der Dielenkommode gefährlich ins Schwanken brachte. Misstrauisch zog er eine Augenbraue hoch. »Später.« Paula ließ sich nicht ablenken. Sie beendete den Knoten und strich behutsam über die weiche Krawattenseide. »Das wär’s. Fertig.« Karl betrachtete sich prüfend im Garderobenspiegel, rückte den Schlips noch ein wenig zurecht. Er nickte anerkennend, obwohl der Knoten ziemlich schief geraten war. »Was Sie alles 15
können«, sagte er und strahlte seine Haushaltshilfe an. »Ohne Sie wäre ich völlig aufgeschmissen. Studieren Sie bloß nicht zu Ende! Sonst traue ich mich gar nicht mehr unter die Leute.« Paula lächelte gequält. Von Karl kannte sie solche Schmeicheleien zur Genüge. Er versuchte es immer wieder mit diesem antiquierten herrschaftlichen Gehabe. Wahrscheinlich hielt er das für Flirten. Dabei ging er hart auf die Rente zu. »Ich kümmer mich dann mal um die Canapés«, sagte sie. »Komm mit, Katharina.« Sie nahm ihrer protestierenden Tochter den Ball ab. »Gut. Und ich werde mal sehen, was mein kleiner Bruder wieder anstellt.« Karl wartete, bis die beiden in der Küche verschwunden waren. Dann löste er den Knoten und band ihn mit geübten Bewegungen neu. Als er perfekt saß, machte er eine kleine Delle in den Stoff und lächelte zufrieden. »Völlig aufgeschmissen«, sagte er und summte dazu eine Weihnachtsmelodie. Es klingelte an der Tür. Paula eilte herbei und wischte sich im Gehen die Hände an einem Tuch ab, doch Karl kam ihr zuvor. »Schlosser. Von der dritten Etage.« Ein junges Ehepaar stand etwas steif im Treppenhaus, flankiert von zwei kleinen Mädchen. Als sie Katharina bemerkten, stürmten sie an Karl vorbei in die Wohnung. »Ihr Bruder war so freundlich«, sagte der Mann und streckte Karl die Hand entgegen. »Rose«, sagte Karl und zwang sich, höflich zu bleiben. »Kommen Sie herein, immer herein.« Als die Gäste eintraten und Paula bemerkten, stellten sie sich ebenfalls vor. »Paula Neuhoff, vom Hinterhaus«, erwiderte sie. Katharina warf einem der Mädchen ihren Ball zu. Karl funkelte sie an.
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»Kennt Ihr Zehnerball?«, fragte Paulas Tochter. »Zehnmal rechte Hand, neunmal linke Hand«, erklärte sie und begann, den Ball auf den Boden zu ditschen. »Sie haben doch nichts dagegen, Herr Rose?«, fragte Frau Schlosser. Karl zwang sich wieder zu einem charmanten Lächeln und machte eine wegwerfende Handbewegung. »Wenn ich Sie einen Moment alleine lassen darf«, setzte er hinzu. »Paula, bringen Sie den Schlossers doch schon einmal ein Gläschen Sekt.« Er entfernte sich in Richtung Wohnzimmer, das er wegen Katharina wohlweislich abgeschlossen hatte. Als er das Zimmer betrat, waren Epstein und Adam gerade dabei, den Baum zu schmücken. Wie die Kinder, dachte Karl. Der hemdsärmelige Epstein brachte eine elektrische Lichterkette an, während Adam in seiner Lieblingsstrickjacke bunte Kugeln auf die Tannenzweige verteilte. Für einen Moment sah ihm Karl kopfschüttelnd zu. Adam hängte eine Kugel an einen Zweig, trat zurück, überlegte es sich anders und nahm sie wieder ab. Kurz darauf hängte er die Kugel wieder an dieselbe Stelle. Genau so. So muss es gewesen sein. Der Baum bildete einen merkwürdigen Kontrast zu den expressionistischen Drucken an den Wänden. Er wirkte laut, aufdringlich, deplatziert, dachte Karl, aber auch irgendwie festlich, wie er zugeben musste. »Seid Ihr bald fertig?«, fragte Karl schließlich. »Deine ersten Gäste sind schon da, Adam!« Er bemerkte einige Tannennadeln auf dem Persianer. »Wie sieht es denn hier aus!« Epstein schaute kurz herüber und drehte die Augen zur Decke. Karls Sauberkeitsfimmel war manchmal wirklich schwer zu ertragen. Adam, ganz in seine Tätigkeit versunken, nahm eine neue Kugel aus einem Karton. Mit einem Handstaubsauger entfernte Karl einige Nadeln von dem Teppich. Adam zuckte zusammen, als das Gerät losheulte. 17
Epsteins Blick verfinsterte sich. Er steckte das Kabel der Lichterkette in eine Steckdose neben der Tür. Das lenkte Adam ab, dessen Lippen ein überraschtes »Oh!« formten. Karl legte den Handstaubsauger weg und unterzog den Baum einer eingehenden Prüfung. Er umkreiste ihn, neigte den Kopf leicht zur Seite. »Der ist ja schief«, sagte er nach einer Weile. »Findest du?« Epsteins Stimme klang gereizt. Er steckte die Lichterkette wieder aus. »Schief, zweifellos.« »Er ist nicht schief. Er ist krumm. Schau genau hin!« »Schief, krumm, das ist doch einerlei«, sagte Karl. »Er ist nur krumm gewachsen«, erklärte Epstein. »Aber das kann man ausgleichen. Er steht nicht schief.« Schweigend hängte Adam eine weitere Kugel an den Baum. Karl peilte den Baum über den Daumen an. »Er ist schief.« »Nicht schief, nur krumm«, beharrte Epstein. »Ich habe einen Keil in den Baumständer gesteckt. Jetzt wirkt er nicht mehr schief.« »Das ist doch Wortklauberei. Du hast den falschen Baum gekauft.« Adam nahm die Kugel wieder ab. »Hab ich nicht«, erwiderte Epstein. »Er ist nur ein wenig krumm, wie die meisten Bäume. Hast du schon einmal einen kerzengeraden Baum gesehen?« »Natürlich. Überall stehen kerzengerade Bäume. Am Kurfürstendamm zum Beispiel. Die werden so gezüchtet.« »Meinst du den vor dem Kranzler?« »Genau.« 18
»Der ist künstlich«, beschied ihm Epstein schadenfroh. »Wirklich?« »Mit Sicherheit.« Adam hängte die Kugel wieder an den Baum. »Na ja, jedenfalls ist er schief. Und dass, obwohl es eine Nordmanntanne ist«, fing Karl wieder an. »Na und?« »Eine schiefe Nordmanntanne. Das ist doch ein Widerspruch in sich!« »Baum ist Baum«, sagte Epstein. »Bei einer Nordmanntanne dürfte das aber nicht passieren. Was hast du dir da andrehen lassen?« »Beim Händler sah er ganz gerade aus. Da steckt man nicht drin.« »Also gibst du zu, dass er schief ist«, stellte Karl fest. »Krumm«, knurrte Epstein. Adam hängte die Kugel wieder ab. Karl ging zu ihm hin, entwand ihm die Kugel und hängte sie wieder an den Baum. »Er ist groß«, sagte Adam verschwörerisch und holte eine neue Kugel aus dem Karton. Geduld, Karl. Ich hänge sie später an ihren Platz. Jede Kugel hat ihren Platz. »Als ob das des Rätsels Lösung wäre!«, spottete Karl. »Das reicht jetzt«, sagte Epstein und legte Adam beschwichtigend eine Hand auf den Arm. Er warf Karl einen drohenden Blick zu und stieg auf einen Stuhl, um eine Engelsfigur an der Spitze des Baumes zu befestigen. Adam nahm eine Packung Lametta und fummelte einzelne Streifen heraus. »Ich glaube –«, begann Karl und peilte wieder mit dem Daumen den Baum an. 19
»Sag nichts!« Epstein stieg herunter und durchwühlte einen Karton. Vom Flur hörte man das Kreischen der Kinder. »Warum hat eure Haushaltshilfe eigentlich ihr Gör mitgebracht?« »Katrinchen stört doch nicht«, sagte Adam. Karl gab ein Brummen von sich. Epstein stieg wieder auf den Stuhl, umwickelte die Baumspitze mit einem Stück Draht, so dass sie ganz gerade war, und steckte den Engel darauf. »Wisst ihr eigentlich, warum Jesus unzweifelhaft Jude war?« »Warum?«, fragte Adam. »Erstens hat er den Beruf seines Vaters ergriffen. Zweitens wohnte er bis zu seinem dreißigsten Geburtstag bei seinen Eltern.« Er grinste Karl zu. »Und drittens dachte seine Mutter, er sei Gott.« Epstein lachte über seinen Witz, Karl verdrehte die Augen. Adam dachte nach. »Aber er war doch Gott«, sagte er unvermittelt. Epstein und Karl sahen ihn ungläubig an und warfen sich vielsagende Blicke zu. Adam nahm eine Hand voll Lametta und schmiss sie in weitem Bogen über die Tannenzweige. »So. Siehst du, Karl? Ich habe mich extra beeilt«, sagte er und rieb sich die Hände. »Na denn mal aufgepasst«, rief Epstein, stieg von dem Stuhl und steckte die Lichterkette ein. Er zog die Vorhänge zu und löschte das Deckenlicht. Die drei alten Männer bauten sich gemeinsam vor dem Baum auf und betrachteten ihn. Ganz feierlich wurde ihnen dabei zumute, als sich die Tür öffnete und Paula mit ihrer Tochter erschien. Katharina hatte Winterzeug an. Beim Anblick des erleuchteten Weihnachtsbaumes bekam sie große Augen. »Sie müssten dann bald los, Herr Rose«, sagte Paula zu Adam und schloss die Tür mit einem Blick auf den Baum. »Ist es schon so spät?«, entgegnete er aufgeregt und machte 20
fahrige Bewegungen wie jemand, der etwas verlegt hat und verzweifelt danach sucht. »Wie viel Uhr ist es?« »Viertel vor sieben«, antwortete Epstein. »Wohin musst du denn noch, Adam?« »Herr Rose bringt Katharina nur schnell zur Kirche«, sagte Paula. »Ich singe im Chor!«, rief Katharina stolz. »Zur Kirche?« Epstein war überrascht. »Warum musst du sie zur Kirche bringen? Ich dachte, die ist gleich um die Ecke.« »Katharinas Chor singt heute in Spandau«, erklärte Paula. »Spandau?«, schaltete sich Karl ein, während Adam immer nervöser wurde. »Wie kannst du jemanden nach Spandau bringen, ohne Führerschein?« »Sie haben keinen Führerschein?«, wunderte sich Paula. »Ich dachte –«, fing Adam an, ließ aber den Satz unvollendet. Er wandte sich seinem Bruder zu. »Ich fahre nicht, das sage ich dir gleich!«, wehrte Karl ab. »Es ist doch nur eine kurze Strecke«, versuchte Adam ihn zu überreden. »Es dauert nicht lange.« »Ich fahre keinen Schritt!«, entrüstete sich Karl. »Jetzt noch den Wagen aus der Tiefgarage holen. Bei dem Wetter!« »Brauchen Sie auch nicht«, sagte Paula zu Karl und musterte ihn abschätzig. Zu Adam gewandt fuhr sie fort. »Das hätten Sie mir sagen müssen. Warum erfinden Sie so etwas?« »Hannah –«, sagte Adam. Warum war sie böse auf ihn? Sie verstand doch sonst immer alles, ohne dass er etwas zu sagen brauchte. »Ich heiße Paula. Das sage ich Ihnen nicht zum ersten Mal.« Ach richtig, Paula. »Sonst wären Sie doch nicht zu unserer Feier gekommen.« Adam wurde ganz kleinlaut. 21
»Stell dich nicht so an, Karl.« Epstein hatte sich das lange genug angehört, mit leichtem Amüsement, weil Karl jetzt in der Bredouille steckte. »Gib deinem Herzen einen Stoß.« Karl sagte nichts und stierte nur verärgert auf den Weihnachtsbaum, diesen lächerlichen Popanz. Wie würde das heute Abend noch weitergehen? Endete es damit, dass er mit allen Anwesenden »O Tannenbaum« intonierte und seinem Bruder dabei die Hand hielt? »Bitte, Karl«, flehte Adam. »Ich habe es Fräulein Nenhoff versprochen, Epstein kann sich so lange um die Gäste kümmern.« Versprochen ist versprochen. Das gab dem Ganzen natürlich eine andere Wendung, dachte Karl. Er stellte sich vor, welche Höllenqualen Epstein auszustehen hätte, wenn er gezwungen war, mit den Hausbewohnern Smalltalk zu machen. Gerade Epstein, der den Charme eines ausrangierten Kühlschranks besaß. Es wäre ja schon für ihn selber eine Plage, sich mit dieser Mischpoke abzugeben. Die Schlossers. Normalerweise grüßte er die nicht einmal. Diese unbedarften Trottel dachten, weil sie erst im Wirtschaftswunder geboren waren, träfe sie keine Schuld. Schlosser, Schlosser – hinter so einem Namen steckte garantiert eine glanzvolle NSVergangenheit, das spürte er. Sollte doch Epstein gute Miene machen. Sollte er doch den weltläufigen Gastgeber spielen. Der verachtete die Menschen wenigstens durch die Bank, ohne einen bestimmten Grund. »Du betreust die Gäste, Jockel?«, fragte er süffisant. Wenn er Epsteins Vornamen Joachim abkürzte, sah er meistens eine Gelegenheit, ihm eins auszuwischen. »Ich fahre«, erwiderte Epstein schroff und holte die Autoschlüssel aus seiner Hosentasche. »Würden Sie das wirklich tun?«, sagte Paula. »Es ist mir ein Vergnügen«, versicherte Epstein einen Tick zu 22
förmlich. »Das heißt, du kümmerst dich um die Gäste«, fügte er listig hinzu. »Nicht wahr, Karl?« Karl bemerkte seinen Fehler, aber es war zu spät, ihn zu korrigieren. Sein Freund schaffte wieder einmal vollendete Tatsachen. Manchmal hasste er ihn dafür. »Na, dann los«, sagte Epstein schnell und unterdrückte ein Grinsen. »Na, dann los, Katrinchen«, wiederholte Adam und nahm das Mädchen bei der Hand. Übermütig tanzte er mit ihr durch das Zimmer. Er wollte schon mit der freien Hand die Türklinke herunterdrücken, als Katharina den Stecker der Lichterkette zog. Auf einen Schlag wurde es dunkel. Stockdunkel. Er bekam Todesangst. Ein Schrei stieg in Adam hoch. Er kam von dort, wo das Leid seines Lebens schlief. Wer hat das Licht gelöscht, Jockel? War es Gott? Hat er genug? Von alledem? Wo bist du? Ich habe solche Angst. Du hast mich wieder verlassen. Ich bin blind ohne dich, traue mich keinen einzigen Schritt zu gehen. Hilf mir! Der Tod kennt mich schon beim Namen. Er sagt: Adam, du hast so oft Glück gehabt. Jetzt kommst du mit. Halt mich! Er schrie, bis die Deckenbeleuchtung anging. Karl stand neben dem Schalter wie ein Wachposten, bleich bis auf die Knochen. Paula sah sich entsetzt um und zog die entgeisterte Katharina an sich. Adam hatte sich in Epsteins Arme geflüchtet. Er umklammerte den bulligen Mann, als ob sein Leben davon abhinge. »Bist du verrückt?«, fuhr Epstein das Mädchen an. Verunsichert schaute Katharina von Adam zu Epstein, setzte sich auf den Boden und begann zu weinen. 23
»Das Kind weiß doch gar nicht, was los ist!«, empörte sich Paula. »Es war keine Absicht, Jockel«, ergänzte Karl. »Kein Grund, sie zu schimpfen.« Epstein drückte Adam fester an sich. Allmählich sah er ein, dass er im Unrecht war. »Ich habe wohl – überreagiert«, sagte er zögerlich. »Das kann man wohl sagen!«, erwiderte Paula. »Alles in Ordnung, Adam?«, fragte Epstein besorgt. Adam fasste sich wieder, ließ Epstein los und spannte den Rücken. »Geht schon wieder.« Als er einen Schritt gehen wollte, taumelte er. Epstein stützte ihn, Karl trat hinzu. Jetzt kommst du mit. »Ich hole Ihnen einen Schluck Wasser, Herr Rose«, sagte Paula. »Komm mit, Katharina!« Sie schickte sich an, ihre Tochter auf den Arm zu nehmen, aber das Mädchen wehrte sich und wollte auf dem Boden sitzen bleiben. Paula ließ ihr ihren Willen. Als sie den Raum verließ, zog sie die Wohnzimmertüre hinter sich zu. Puh! Langsam wird mir das hier zu viel, dachte sie. Eigentlich mochte sie Adam – im Gegensatz zu seinem intriganten Bruder. Aber dass er nach so vielen Jahren immer noch traumatisiert war und ihre Tochter verängstigte, überstieg ihr Mitgefühl. Nach dem Geräuschpegel zu urteilen, waren die Gäste mit sich selber beschäftigt. Offenbar hatte niemand Adams Anfall mitbekommen. Es klingelte wieder. Paula öffnete die Haustür, ging ihren Pflichten nach. Sie dachte an die zweihundert Mark, die ihr Karl in Aussicht gestellt hatte. Dafür konnte sie es mit den dreien schon irgendwie aushalten. Katharina beobachtete, wie die drei alten Männer eng beieinander standen und flüsterten. Sie hörte einzelne Worte, 24
»vorbei«, »alles gut«, »in Sicherheit«. Karl und Epstein strichen Adam dabei beruhigend über den Rücken. Er schluchzte, beteuerte, dass er darüber hinweg sei, dass er dem Mädchen keinen Schreck einjagen wollte. Das wäre das Letzte, was er wollte. Katharina stand auf und nahm Adams Hand. »Ich habe keine Angst vor dir«, sagte sie. »Das kann doch jedem passieren.« Adam schaute sie gerührt an. Sie weiß es. »Manchmal fürchte ich mich auch im Dunkeln«, sagte Katharina. »Aber dann kommt Mama und tröstet mich.« Sie rannte aus dem Zimmer, kam kurz darauf mit ihrem Rucksack wieder und wühlte darin. Schließlich holte sie einen kleinen Gegenstand heraus. »Hier!« Sie gab ihn Adam. Es war ein Weihnachtsmann aus Plastik, mit einem riesigen Kopf und ganz kurzen Beinen. »Weißt du, was der kann?« Adam schaute das Mädchen fragend an. Sie nahm die Figur und knipste einen Schalter an der Rückseite an. Die Augen des Weihnachtsmannes begannen rot zu blinken. »Huch!« Adam lachte. Nach einer Pause fragte sie: »Können wir jetzt fahren?«
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7 Epsteins 300er-Mercedes glitt über die verschneite Lessingbrücke. Adam balancierte einen aufgeschlagenen Stadtplan auf den Knien. Eine brennende Taschenlampe, die er zwischen seine Beine geklemmt hatte, beleuchtete den Plan von unten. Nutzlos, dachte Epstein, sagte aber nichts. Resolut steuerte er den Wagen durch das nächtliche Berlin. Er wollte die Sache so schnell wie möglich hinter sich bringen. Ab und zu drehten die Reifen auf der Schneedecke durch, griffen dann wieder. Epstein gab gerne Gas. Es gab ihm das Gefühl, alles unter Kontrolle zu haben. Seine rechte Hand lag schwer auf dem Schaltknüppel. Gut, dass er einen Sandsack in den Kofferraum gelegt hatte. Auf dem Rücksitz saß Katharina. Ein rotes Samtkleidchen schaute unter ihrem Anorak hervor. Sie schwenkte eine selbst gebastelte Papierlaterne. Immer, wenn der Wagen ins Rutschen kam, kreischte sie vor Vergnügen. »Gefällt dir das?«, fragte Epstein. »Kannst du noch schneller?« »Kann ich schon, aber wenn man zu schnell fährt, kommt die Polizei.« »Schade«, sagte das Mädchen und quietschte, als Epstein in die Kurve ging und der Wagen ein wenig ausbrach. Epstein grinste. Unsere Wettrennen. Epstein gewann immer. Dabei hatte er das schlechteste Fahrrad. »Bist du dir sicher, dass wir hier richtig sind?«, fragte Epstein Adam an der nächsten Kreuzung. Einmal um die Litfasssäule und wieder zurück. An der Wendemarke verlor Epstein etwas an Boden. Er holte auf. 26
»Adam!« Adam schreckte aus seinem Sitz hoch und blickte suchend in die Finsternis. »Es ist alles so weiß«, antwortete er unsicher und drehte den Plan um neunzig Grad. »Der Stadtplan stimmt. Die drucken nicht für jede Jahreszeit einen neuen.« Adam drehte den Plan erneut. »Ich weiß ja nicht mal, wo wir jetzt sind.« Epstein bog ab, verlangsamte das Tempo und suchte nach einem Straßenschild. »Alt-Moabit. Hilft dir das weiter?« Adam blätterte nervös in dem alphabetischen Verzeichnis. »Finde ich nicht.« »Das gibt’s doch nicht. Alt-Moabit, das muss doch verzeichnet sein!« »Alt, alt«, murmelte Adam und fuhr mit dem Finger die Zeilen entlang. »Moabit«, sinnierte Epstein. »Wir sind doch völlig falsch!« »Ich hab’s! L 15. Moment.« Er nahm sich den Stadtplan wieder vor. Dabei entglitt ihm die Taschenlampe und fiel zu Boden. Epstein schaltete sofort die Innenbeleuchtung ein. »Gib mir mal die Karte.« Er streckte die Hand aus. »Nein, nein, ich komm schon zurecht«, sträubte sich Adam und hielt den Stadtplan dicht vor seine Nase. »Ich weiß, wo’s lang geht«, warf Katharina ein. »Warst du denn schon mal hier?« Epstein nahm den Blick nicht von der Straße. »Letztes Jahr«, sagte das Mädchen. Adam drehte sich zu ihr um. »Wirklich?« Epstein bremste an einer Ampel. »Wohin jetzt, Adam? Es wird gleich grün.« 27
Adam schaute wieder auf den Stadtplan. »Links«, sagte er schnell. »Nach links.« »Wenn du meinst.« Epstein bog ab. »Falsch«, sagte Katharina. »Rechts«, korrigierte sich Adam. »Wir müssen nach rechts.« »Dann eben nach rechts.« Epstein wurde ungehalten. Unter dem Hupen der anderen Autos wendete er und fuhr in Gegenrichtung erneut über die Kreuzung. »Wieder falsch«, sagte Katharina gut gelaunt. Es machte ihr Spaß, wenn sich Erwachsene irrten. Epstein bremste, wendete wieder und bog in die Richtung ab, die übrig geblieben war. »Gut, dann soll uns eben das kleine Fräulein den Weg zeigen. Also, wie geht’s weiter?« »Rechts, links, rechts, links, wenn der Lehrer kommt, dann stinkt’s«, sagte Katharina. »Werd bloß nicht frech«, grummelte Epstein. »In welche Klasse gehst du denn?«, fragte Adam. »Erste«, antwortete Katharina stolz. Sie dirigierte Epstein so sicher nach Spandau, als ob sie Taxi fahren würde. Als sie an der Kapelle ankamen, strömten bereits jede Menge Kirchgänger die Treppe hinauf. Glocken läuteten, riefen die Gläubigen zum Gebet. Epstein sah Bretterbuden, an denen Glühwein und Bratwürste verkauft wurden. Der Geruch stieg ihm in die Nase und erinnerte ihn an die Weihnachtsgans, die Paula in der Röhre hatte. Adams Einfall war gar nicht so schlecht gewesen. Besser als das Fernsehprogramm, das er sich sonst immer notgedrungen angesehen hatte. Ben Hur. Die Zehn Gebote. Er kannte den Schwachsinn schon auswendig.
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Er parkte den Mercedes in einer Seitenstraße. Adam und Katharina warteten ungeduldig, bis er den Wagen verriegelt hatte. »Wir müssen uns beeilen! Die anderen warten schon.« Die Kleine sprang aufgeregt herum. »Erst holen wir uns ’nen Glühwein«, erwiderte Epstein. »Wir warten dann hier auf dich.« Katharina zupfte Adam am Ärmel. »Du musst mitkommen! Du hast es versprochen!« »Wir haben es versprochen.« Adam sah Epstein bittend an. »Es ist doch sonst niemand da«, raunte er ihm zu. Epstein hob abwehrend die Hände. »Ich krieg einen Strafzettel. Der Wagen wird abgeschleppt.« »Doch nicht an Weihnachten«, sagte Adam. »Gerade an Weihnachten.« Aus dem Inneren der Kirche ertönte Gesang. »Ich muss rein«, drängte Katharina, lief zum Portal und schaute sich nach Adam und Epstein um. Sie winkte ihnen, damit sie ihr folgten. Adam setzte sich in Bewegung. Epstein seufzte und schloss sich den beiden widerwillig an. War wohl nichts mit dem Glühwein. In der Kirche warf er Adam einen verärgerten Blick zu. Die anderen Kirchgänger bekreuzigten sich mit Weihwasser. Adam wollte es ihnen gleichtun, aber Epstein hielt ihn zurück. Als Adam sein Versehen bemerkte, lächelte er verlegen und schickte sich an, durch den Gang zwischen den Bänken nach vorne zu gehen. Epstein packte ihn von hinten und zog ihm die Wollmütze vom Kopf. Er selbst nahm ebenfalls seinen Hut ab. »Los, setzen wir uns«, sagte er und schob sich in die letzte Bankreihe. Adam schüttelte den Kopf, machte sich los und ging in Richtung Altar. Weiter vorne setzte er sich auf einen freien Platz und 29
winkte Epstein, ihm zu folgen. »Komm«, formten seine Lippen. Epstein gab nach. Gelangweilt sah er sich um. In dem modernen Kirchengebäude bestand der Weihnachtsschmuck aus zwei riesigen Nadelbäumen, die den Altar flankierten – Epstein tippte auf Fichten. Sie waren mit Strohsternen behangen. Nicht besonders einfallsreich, dachte Epstein, der sich beim Schmücken der Nordmanntanne richtig ins Zeug gelegt hatte. Auch die unverputzten Backsteinwände und die von der Decke hängenden weißen Plastiklampen ließen wenig Besinnlichkeit aufkommen. Der Raum sah aus wie eine umgebaute Scheune. Na ja, vielleicht doch ganz passend, dachte Epstein, der noch nie in einer katholischen Kirche gewesen war. Andere Leute nahmen neben ihnen Platz. Die Bankreihen füllten sich. Nach einer Weile öffnete sich eine Seitentür und eine Gruppe von Kindern marschierte herein. Die Jungen trugen einheitlich weiße Hemden, die Mädchen rote Kleidchen. Sie wurden von einer älteren Frau angeführt, offenbar der Chorleiterin, und stellten sich in drei Reihen auf die Stufen vor dem Altarraum. Das Licht wurde gedimmt. Als die Kinder ihre Plätze eingenommen hatten, gab ihnen die Chorleiterin ein Zeichen. Sie fingen an zu singen. »Es ist ein Ros entsprungen«, erklang aus ungefähr zwanzig kleinen Kehlen. Es klingt wie Gold. Hannahs Stimme. »Sieh nur!«, sagte Adam, stupste Epstein an und winkte Katharina zu. Das Mädchen errötete, lächelte aber zwischen zwei Liedzeilen. Ein paar Leute fotografierten und deuteten stolz auf ihre Sprösslinge. Nach der dritten Strophe verstummte der Chor. Die Kinder setzten sich auf die Stufen des Altars. Ein Messdiener trat aus der Seitentür und läutete eine Glocke, worauf sich die Gemeinde erhob. Adam und Epstein blickten sich überrascht um und standen ebenfalls auf. Zwei Ministran-
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ten, gefolgt von einem Priester, gingen gemessenen Schrittes durch den Mittelgang. Als Epstein sie bemerkte, stiegen sie schon die Stufen zum Altarraum empor. Von hinten sah der Priester in seinem bestickten Gewand aus wie ein alter Zauberkünstler. Ein seltsames Brimborium, dachte Epstein, anachronistisch irgendwie. Adam, der wegen seiner geringen Körpergroße den Kopf reckte, schien es zu gefallen. Der Priester kniete vor dem Altar nieder, bekreuzigte sich und verharrte kurz im stummen Gebet. Dann stand er auf, bekreuzigte sich wieder und wandte sich der Gemeinde zu. Ohne den Kopf zu senken, schaltete Adam seine Taschenlampe an. Der Lichtstrahl fiel nach unten auf die Kniebank, erlosch. Nicht bewegen. Mit einem verbindlichen Lächeln trat der Priester an das Mikrophon vor dem Altar. Er klopfte einmal probeweise dagegen. Ein hohles Pochen hallte durch das Kirchenschiff. »Ich bitte Sie, Platz zu nehmen«, begann er. »Bevor ich Sie zum diesjährigen Weihnachtsgottesdienst begrüße, bitte ich nochmals um Aufmerksamkeit für unseren Kinderchor.« Er nickte in die Gemeinde und trat einen Schritt zurück. Epstein setzte sich, verstört, verunsichert. Langsam schüttelte er den Kopf. Adam fingerte an seiner Taschenlampe herum, schaltete sie wieder ein. Sein Banknachbar stupste ihn an. »Würden Sie bitte die Lampe löschen?« Adam zeigte keine Reaktion. Die Kinder sangen das nächste Lied. »Macht hoch die Tür, die Tor macht weit –« »Licht aus!« Adam hielt den Strahl der Taschenlampe weiter nach unten. Der Mann versuchte, nach der Lampe zu greifen, aber Adam zog sie ruckartig weg und funkelte ihn aggressiv an. 31
Wir dürfen nicht reden! »Schalten Sie doch das Ding aus!«, flüsterte der Mann. Adam spannte die Backenmuskeln an, atmete tief durch, umklammerte seine Lampe und schaute wieder nach vorne. Vielleicht merkt er es nicht. Vielleicht übersieht er es. Unmöglich, das kann gar nicht sein, dachte Epstein, verscheuchte das jäh aufsteigende Bild in seinem Kopf. Er löste seinen Blick von dem Priester, um dem Chor zuzuhören. »Gelobet sei mein Gott«, sangen die Kinder, »mein Schöpfer reich an Rat.« Katharina war voll bei der Sache und zwinkerte den beiden alten Männern gelegentlich zu. Adam winkte wieder, wurde aber zunehmend unruhig und rutschte auf seinem Platz hin und her. Hat er es gesehen? Unwillkürlich wanderte Epsteins Blick zurück zu dem Geistlichen, der sich abseits auf einem Stuhl neben dem Altar niedergelassen hatte. Er ist es nicht, wie denn auch? Was spukte da in seinem Kopf herum? Wohlwollend betrachtete der Priester die singenden Kinder. Mit wachsendem Unbehagen beobachtete Epstein jede seiner Regungen. Der Chor hatte die erste Strophe des Liedes beendet, worauf der Priester wieder zum Mikrophon schritt. »Normalerweise ist ein Gotteshaus nicht der Ort für Applaus, aber wie sagt man so schön: Wir wollen nicht päpstlicher sein als der Papst.« Die Gemeinde lachte verhalten. »Dieser herrliche Gesang sollte uns einen Beifall wert sein. Danke schön, Kinder. Ihr habt eure Sache fein gemacht.« Er begann laut und vernehmlich zu klatschen, die Gemeinde fiel ein. Adam legte die Taschenlampe in seinen Schoß und klatschte mit. Applaus, zu Befehl. Nicht reden. 32
Epstein rührte sich nicht. Diese Stimme, dachte er und fühlte, wie seine Glieder plötzlich schlaff und kraftlos wurden, als ob sie nicht mehr zu ihm gehörten. Für einen Moment versagte ihm seine Muskulatur den Dienst. Es hätte nicht viel gefehlt, und er wäre willenlos von der Kirchenbank geglitten. Wie verprügelt und dann liegen gelassen, damals, am Anfang, kurz nach der Ankunft, als er noch dumm war, von nichts eine Ahnung hatte und die Stimme zum ersten Mal hörte. Sie schlich sich in sein Fleisch und seine Knochen hinein, höhlte sie aus. Er straffte den Rücken, schüttelte den Schwächeanfall ab. In diesem Augenblick entriss der Mann Adam die Taschenlampe, knipste sie aus und legte sie neben sich auf die Bank. Adam wollte nach der Lampe greifen, aber der Mann hielt sie fest und drückte ihn weg. Nicht! Adam erstarrte. Er legte seine Arme eng an den Körper. Der Kinderchor ließ sich wieder auf den Stufen nieder. Vergeblich suchte Katharina Adams Blick. Epstein folgte gebannt dem Priester. »Liebe Gemeinde! Ich begrüße Sie jetzt, sozusagen offiziell, sehr herzlich in unserer warmen, gut geheizten Kirche. Natürlich ist es nicht so gemütlich wie bei Ihnen zu Hause, aber wenn wir alle eng zusammenrücken … Zum Glück sind Sie so zahlreich erschienen.« Ein Schmunzeln ging durch die Reihen. Hilfe suchend schaute Epstein zu Adam, der stumm zu Boden blickte und nichts wahrzunehmen schien. »Adam«, sagte er leise. Es war nicht nur die Stimme des Priesters. Es war auch sein Gesicht. Stück für Stück hatte Epstein die Spuren des Alters im Geiste entfernt: die Metallbrille mit dem schwarzen Rand, das zurückgewichene, strähnige Haar, die Hautfalten an den Wangen und am Hals, die zu einem Strich verdorrten Lippen, die Altersflecken. Und immer deutli33
cher kamen die Züge zum Vorschein, die manchmal nur Zentimeter vor den seinen gewesen waren, die er sehr genau zu deuten gelernt hatte, an denen er alles, jede Stimmung, jede Laune, jeden Einfall abzulesen gelernt hatte. Giesser. Epsteins Zweifel schwanden. Sein Entsetzen wuchs. Adam schaute kurz hoch und schlug den Blick sofort wieder zu Boden. Nicht reden. Wenn das Licht gelöscht wird, nicht reden. »Weihnachten ist die Zeit der Liebe und Wärme«, sagte der Priester. »Natürlich auch der Geschenke und einer heißen Stärkung …« »Geht’s dir gut, Adam?«, fragte Epstein und zupfte ihn am Ärmel seines Mantels. Adam schwieg verbissen. Er wagte einen Blick auf seine Taschenlampe. »Es ist aber vor allem die Zeit der Gemeinschaft, der Besinnung und der Lieder«, fuhr der Priester fort. »Deswegen möchte ich Sie jetzt bitten, sich zu erheben und zusammen mit unserem wundervollen Chor die zweite Strophe des eben gehörten Liedes zu singen. Sie finden den Text – sollten Sie ihn seit dem letzten Jahr vergessen haben – in unserem Faltblatt.« Die Gemeinde erhob sich. Adam stand ebenfalls auf. Seine Bewegungen wirkten automatisiert. In Epstein stieg Hass hoch, ein Gefühl, das er fast vermisst hatte in Ermangelung einer Person, auf die er es richten konnte. Der Priester nickte dem Chor zu. Die Kinder warfen sich wieder in Positur und begannen auf ein Zeichen der Chorleiterin, die nächste Strophe anzustimmen. »Er ist gerecht, ein Helfer wert.« Über das Mikrophon sang der Priester mit, die Gemeinde fiel ein. Sprachlos standen Adam und Epstein an ihren Plätzen. Jeder der beiden rang auf seine Weise mit sich. Adam wollte schwei34
gen, musste aber bald irgendetwas sagen, um wieder in den Besitz seiner lebenswichtigen Lampe zu kommen. Epstein wollte etwas sagen und ballte die Fäuste, zwang sich aber vorerst zu schweigen. Als die zweite Liedstrophe endete, forderte der Priester die Anwesenden auf, wieder Platz zu nehmen. Adam gehorchte auf der Stelle. Der Chor setzte sich wieder auf die Stufen. Katharina fragte sich, warum Adam sie nicht mehr beachtete und krampfhaft wegsah. Epstein blieb stehen. Fassungslos starrte er den Priester an. »Bitte nehmen Sie doch Platz«, sagte jener freundlich, als er Epstein bemerkte. Epstein reagierte nicht. Adam warf ihm einen gehetzten Blick zu. »Setz dich! Du musst dich setzen!«, beschwor er ihn und hielt sich sofort die Hand vor den Mund. Schließlich geriet Bewegung in Epstein. Er musste raus, weg von hier, bevor er die Kontrolle verlor. Grob packte er Adam am Arm und versuchte, ihn hochzuzerren. »Komm mit!« Adam riss sich los und deutete stumm mit den Augen nach vorne. »Entschuldigen Sie«, begann der Priester. »Komm schon!«, drängte Epstein. Als sich Adam nicht rührte, wandte sich Epstein von ihm ab und schob sich rüde durch die Bankreihe. »Epstein!«, zischte Adam angsterfüllt. Mit einer schnellen Bewegung griff er nach seiner Taschenlampe, drückte sie an sich und machte Anstalten, Epstein zu folgen. Die Leute protestierten. »Passen Sie doch auf!« – »Unverschämtheit!«
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»Bitte nehmen Sie doch etwas Rücksicht«, mahnte der Priester. Epstein hatte den Mittelgang erreicht und schon einen Schritt Richtung Ausgang gemacht, als er herumfuhr. »Ruhe!«, brüllte er den Priester an. Der Mann hielt erschrocken inne, fing sich dann wieder. »Sie können –« »Halt endlich den Mund!«, schrie Epstein, machte kehrt und marschierte mit riesigen Schritten zum Hauptportal. Aufgeregtes Tuscheln ging durch die Reihen. Adam hatte die Bankreihe verlassen. Die Tür fiel hinter Epstein ins Schloss. Alle Blicke wandten sich jetzt ihm zu. Unschlüssig blieb er stehen. Der Priester schritt vom Altarraum hinab. »Beruhigen Sie sich. Wenn Sie sich wieder setzen, können wir mit dem Gottesdienst fortfahren.« Er kam näher, breitete einladend die Arme aus. Adam wich zurück. Er kennt mich. Das Lächeln des Priesters erstarb. Unsicher drehte sich Adam um und stolperte hinter Epstein her, vorbei an den flüsternden, murmelnden, zischelnden Bankreihen. Aller Augen waren auf ihn gerichtet, folgten ihm bei jedem Schritt. Das hatte er immer vermeiden wollen. Ein Ziel zu sein. Er fixierte das Portal, schaute weder links noch rechts. Die Blicke leckten nach ihm wie Feuerzungen, versengten ihn. Und noch schlimmer: Das Auge des Priesters fraß sich in seinen Rücken, das konnte er spüren. Es hatte ihm im Visier, ließ nicht von ihm ab. Er riss den Türflügel auf und stürzte hinaus in den Schnee. Die Blicke verloschen.
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Als Adam die Kirche verlassen hatte, versuchte der Priester den Zwischenfall zu überspielen. Er trat zurück an das Mikrophon, versicherte sich mit einem Räuspern der Aufmerksamkeit seiner Gemeinde. »Bitte nehmen Sie nochmals das Faltblatt zur Hand.« Vielhändiges Rascheln setzte ein. Plötzlich sprang Katharina auf und rannte hinter Adam her. »Katharina!«, zischt die Chorleiterin. »Bitte komm sofort zurück!« Erneut machte sich Unruhe breit. Bislang waren die Leute überrascht gewesen, manche waren auch belustigt. Jetzt waren sie empört. Was fiel diesem ungezogenen Balg eigentlich ein? Katharina wuchtete die Tür auf und schlüpfte hinaus. Nach einer Pause fand der Priester wieder Worte: »Lassen Sie uns jetzt mit unseren Gedanken zu Gott zurückkehren.« Er bekreuzigte sich und hob die Hände wie zum Segen. »Gott, unser Herr! Nimm dich dieser armen Seele an, die wir Mensch nennen.« »Amen«, sagten ein paar Leute.
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8 Epstein zählte die geforderte Summe sorgfältig ab, zog dann aber einen Schein hervor und sagte: »Stimmt so.« Der Taxifahrer bedankte sich, lud den Koffer aus und wünschte ihm einen schönen Tag. Wenn er doch damals einfach sitzen geblieben wäre, dachte er, als sich der Wagen entfernte. Oft und oft hatte er den Gedanken durchgespielt, täglich. Wie hätte Adam reagiert? Eine Erklärung wäre Epstein schon eingefallen. Adam hätte sie wahrscheinlich dankbar akzeptiert und nicht einmal seinem Bruder etwas erzählt. Er hätte alles auf sich beruhen lassen. Doch Epstein hatte seinen Impulsen nachgegeben. Das war sein großer Fehler, war es immer gewesen. Er blickte an der Häuserwand hoch bis zu den Fenstern seiner Wohnung im zweiten Stock. Alles war von allein weitergelaufen. Die Miete und die Nebenkosten wurden pünktlich überwiesen, dafür hatte er gesorgt. Sogar geputzt wurde regelmäßig in seinen verlassenen Räumen. Es war schon erstaunlich, dass er nach fünfzehn Jahren wieder hier stand, nicht unwesentlich ärmer, was seine Finanzen betraf. Auch an dem alten Gemäuer hatte sich nicht das Geringste verändert. Der Anstrich war so grau wie je, die Simse verwittert, der Taubendreck klebte an der gleichen Stelle dicht unter dem Dach. Selbst sein Schlüssel passte. Als er die Stufen emporstieg, spürte er doch noch das Alter. Der Koffer zog ihn herunter. Er fasste ihn fester, aber das Gewicht blieb das Gleiche. Als ob er eine Tonne Schrott herumschleppen würde, dachte er und hievte das Ungetüm Stufe um Stufe nach oben. Es musste an der Sonne liegen. Draußen hatte er sich noch gesund und kräftig gefühlt. In dem düsteren Treppenhaus, in das durch völlig überflüssige Milchglasschei38
ben kein Lichtstrahl fiel, senkte sich der Altbau schwer auf den Scheitel. Es stimmte nicht, dass sich nichts verändert hatte. Außer seinem Geld, der Wohnung und dem Koffer war er alles los. Fast hätte er den Verlust nicht verwunden, den Verlust des einzigen geliebten Menschen, den es jemals in seinem Leben gegeben hatte. Aber der Verlust war abgemildert worden durch das Geheimnis, dessen er sich ein für alle Mal entledigt hatte. Es war ein schlechter Handel gewesen, das schon. Aber zumindest kein Ruin. Nur ein schlechter Handel. »Es gibt uns noch.« Das hatte er sich immer gesagt. Mehr konnte er sich nicht sagen. Er neigte nicht zu Selbstgesprächen.
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9 »Sei nicht traurig, Katharina.« Adam hatte sich zu dem Mädchen auf den Rücksitz gesetzt und versuchte es zu trösten. »Aber ich hätte noch dreimal singen müssen.« Sie wischte sich eine Träne von der Wange. »Der Gottesdienst hat doch erst angefangen!« Adam suchte nach einem Taschentuch. »Da vorn geht es links!«, rief er plötzlich. Er fuchtelte mit dem Arm in die entsprechende Richtung. »Ich weiß!«, erwiderte Epstein unwillig und setzte den Blinker. Adam hatte eine Packung Papiertaschentücher hervorgekramt, riss sie auf und hielt sie Katharina hin. Das Mädchen schniefte und drehte sich weg. »Sie hat wunderschön gesungen. Nicht wahr, Epstein?« Epstein starrte auf die Straße. Er war so aufgeregt, dass er das Lenkrad etwas zu spät einschlug und den Wagen nur mit Mühe auf der Straße halten konnte. »Der Priester, Adam. Du hast ihn doch gesehen.« Adam lächelte gezwungen, ignorierte die Frage. Oder war es eine Feststellung? »Wie ein Engel hast du gesungen, kleine Katharina.« Er schaute sie liebevoll an und legte einen Finger auf seinen Mund. »Gott, sag doch etwas, Adam!« Adam zwängte sich zwischen den Sitzen hindurch, streckte den Arm aus und schaltete das Radio ein. »Santa Claus is coming to town« ertönte es aus den Lautsprechern. Epstein drehte sich um, sah Adam erst prüfend, dann sorgenvoll an. »Wunderschön« Adam lehnte sich zurück und wiegte den 40
Kopf im Takt. Es war viel fröhlicher als die deutschen Weihnachtslieder, schneller, lustiger, obwohl er von dem Text nicht viel verstand. Schweigend fuhren sie weiter. Katharina schniefte beleidigt und wollte nicht getröstet werden. Epstein hielt sich am Lenkrad fest. Es brodelte in ihm. Kurz kam ihm der Gedanke, zu wenden und zur Kirche zurückzufahren. Zu warten, bis die Messe vorüber war, und den Priester abzufangen. Ihm ohne eine weitere Erklärung eins über den Schädel zu ziehen. Doch dann dachte er an Karl. Zuerst musste er mit ihm sprechen, sehen, was er dazu sagte. Außerdem brauchte er unbedingt etwas zu trinken. Adam versuchte, an gar nichts zu denken. Er holte seine Taschenlampe wieder hervor, schaltete sie ein und legte die Handfläche darauf. Seine Finger schimmerten rötlich, erwärmten sich. Das Radio dudelte vor sich hin. Fast wäre er eingenickt. Als Epstein den Wagen abstellte, sprang Katharina ungeduldig hinaus. Sie klingelte, bis der Türöffner summte, und rannte die Treppe hoch, ohne auf ihre Begleiter zu warten. Die beiden Männer folgten ihr, so schnell sie konnten. Im Flur waren überall Gäste. Sie hielten Sektgläsern in den Händen, schoben sich Canapés in den Mund und nickten Adam zu, als er mit Epstein die Wohnung betrat. An der Wohnzimmertür stand Paula und hielt Katharina auf dem Arm. »Sie sind einfach weggegangen! Sie wollten ohne mich fahren!«, jammerte das Mädchen und schmiegte sich an die Schulter ihrer Mutter. Paula tätschelte ihr beruhigend den Kopf. »Da seid ihr ja schon«, wunderte sich Karl. Epstein warf ihm einen bedeutungsvollen Blick zu, ging an ihm vorbei, öffnete die Tür zu Karls Bibliothek und knallte sie hinter sich zu. Einige Gäste reckten die Köpfe. 41
Karl folgte Epstein und hob entschuldigend die Hände. »Bin gleich wieder da.« »Machen Sie sich keine Sorgen«, redete Adam währenddessen auf Paula ein. »Es ist nichts passiert.« »Sie wollten mich dalassen«, schluchzte Katharina mit tränenerstickter Stimme. Argwöhnisch musterte Paula Adam. »Wären Sie so freundlich und –« »Herr Rose«, unterbrach sie ein Gast. »Wo haben Sie sich denn herumgetrieben? Vielen Dank für die nette Einladung.« Adam schüttelte die ausgestreckte Hand. Er hatte keine Ahnung, wer der Mann war. »Wir sind in die Kirche gegangen«, sagte er lahm. »Herr Rose!« Paula wurde ärgerlich. »Erklären Sie mir sofort, was da passiert ist!« Adam zögerte. »Katharina hat gesungen«, sagte er. Seine Miene hellte sich plötzlich auf. »Und sie hat so schön gesungen, dass sie jetzt ein Geschenk dafür bekommt.« Das Mädchen schaute ihn groß an. Dann huschte ein erwartungsvolles Lächeln über ihr Gesicht. Adam war ganz stolz auf seinen Einfall. Er streckte seine Arme aus, nahm Katharina auf den Arm und trug sie ins Wohnzimmer. Paula gab sie ihm halb widerstrebend, halb dankbar. Eigentlich war sie ganz froh, dass sich Adam um ihre Tochter kümmerte. Nachdenklich blickte sie zu der Tür, hinter der Karl und Epstein verschwunden waren. Wenn sie schon aus Adam nichts herauskriegte, dann sollte ihr wenigstens der Schrotthändler Rede und Antwort stehen. Epstein klappte einen Sekretär auf, der eine kleine Bar enthielt, und schenkte sich einen Cognac ein. Er wollte sich schon
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auf einem der schweren Clubsessel niederlassen, als Karl die Bibliothek betrat und die Tür hinter sich schloss. »Was ist hier eigentlich los?« Epstein antwortete nicht, füllte einen zweiten Cognacschwenker und hielt ihn Karl hin. »Nein danke.« Epstein schüttete den Inhalt des Glases in sein eigenes, nahm daraus einen tiefen Schluck und stellte es auf die Platte des Sekretärs. Sofort nahm es Karl weg und wischte mit einem Taschentuch über die entstandenen Ränder. »Er ist es«, sagte Epstein tonlos. »Wer? Wer ist was?« Die Tür ging auf und Paula kam herein. Die beiden Männer schauten zur Seite, schwiegen. Sie spürte, dass sie nicht willkommen war, noch dazu in diesem Raum, in dem Karl normalerweise nicht gestört werden wollte. Selbst die Lederrücken der Bücher blickten abweisend von den Regalwänden. Aber das war ihr jetzt egal. »Herr Epstein«, raffte sie sich auf, »ich würde gerne wissen, warum Sie so früh zurück sind.« Keine Reaktion. Epstein ließ sich in einen Sessel sinken und schlug die Beine übereinander. »Katharina sagt, dass Sie fast ohne sie gefahren wären.« Epstein streckte die Hand aus. Karl verstand. Er füllte das Cognacglas nach. »Hat Katharina Schwierigkeiten gemacht?« Epstein kippte den Cognac hinunter. »Herr Epstein!«, beharrte Paula. »Jockel.« Karl legte ihm eine Hand auf den Arm. Epstein atmete tief durch, ließ den Kopf in den Nacken fallen und wandte sich schließlich an Paula. »Das Kind war nicht das 43
Problem. Ich – ich habe mich einfach nicht wohl gefühlt. Der Kreislauf …« Er machte eine Pause. Warum konnte diese Paula nicht einfach verschwinden? »Wir hätten sie bestimmt nicht allein gelassen«, sagte er fest und drehte sich wieder weg. Gedankenverloren schaute er in das leere Cognacglas, beobachtete, wie ein paar ölige Tropfen an den Seiten herunterliefen und sich am Boden sammelten. Paula trat von einem Fuß auf den anderen. Das hörte sich verdächtig nach einer Ausrede an. Doch schließlich gab sie sich mit der Erklärung zufrieden. »Geht es Ihnen jetzt besser?« Stumm fuhr Epstein mit dem Finger den Rand des Glases entlang. Karl lächelte Paula aufmunternd zu. Sie wandte sich zum Gehen. »Fräulein Paula«, sagte Epstein. Sie blieb stehen und schaute ihn fragend an. »Der Pfarrer. Oder Priester. In der Kirche, in der wir heute waren. Wissen Sie vielleicht, wie der heißt?« »Sie meinen Pfarrer Groll?« »Groll«, wiederholte Epstein abwesend. »Danke«, fügte er hinzu. »Vielen Dank.« Paula verließ die Bibliothek. Als sie die Tür geschlossen hatte, legte Karl los. »Und? Was war denn nun?« »Er ist es, Karl. Der Priester in der Kirche. Er ist Giesser.« Verblüfft wich Karl zurück. Er fummelte an dem Sekretär, zog einige Schubladen heraus, bis er eine Packung Zigaretten fand. »Du bist verrückt.« Er zündete sich eine an und blies den Rauch zur Decke. »Giesser ist tot.« »Hauptsturmführer Giesser«, sagte Epstein im Kommandoton. »Er war’s! Er stand direkt vor mir!« Karl brauchte einige Sekunden, bis er seine Gedanken geordnet hatte. »Aber der Pfarrer heißt Groll«, wandte er ein. 44
»Lass ihn doch heißen, wie er will! Er war’s, Karl! Ich hab ihn gesehen! Glaubst du, ich verwechsle ihn?« »Wenn das ein Witz sein soll, Jockel –« »Ein Witz?« Epstein sprang auf. »Was für ein Scheißwitz soll das sein? Mir ist nicht zum Späßen zumute, das kannst du mir glauben.« Mit hochrotem Kopf pflanzte er sich vor Karl auf. »Schon gut, schon gut.« Karl drückte die Zigarette aus. »Es ist nur –, ich meine, du warst in einem Weihnachtsgottesdienst. Da kommt man schon einmal auf Gedanken.« »Was soll das heißen?« Epstein stieß Karl vor die Brust. »Verminderte Zurechnungsfähigkeit? Heißt das so, du Winkeladvokat?« »Lass uns sachlich bleiben. Hat doch keinen Sinn, wenn wir uns Schimpfwörter an den Kopf werfen.« Karl setzte sich in einen Sessel und forderte Epstein auf, wieder Platz zu nehmen. »Immer ruhig Blut. Du warst doch dabei, als man uns damals die Gefallenenlisten vorgelegt hat. Er stand drauf. Giessers Name stand auf der Liste.« »Na und?« Karl hatte keine Ahnung, was er von Epsteins Ausbrüchen halten sollte. Also ging er so vor wie immer, methodisch und emotionslos, wie bei einer gerichtlichen Anhörung. »Hat Adam ihn erkannt?« »Du kennst doch Adam«, erwiderte Epstein. »Ich kenne dich.« Epstein bekam sich nur schwer unter Kontrolle. Offenbar behandelte ihn Karl wie einen Volltrottel. Oder wie einen seiner Klienten, was aus Karls Sicht keinen großen Unterschied ausmachte. Warum glaubte er ihm nicht einfach? »Gut«, fuhr Karl ruhig fort. »Denken wir einmal gemeinsam darüber nach, wie hoch die Wahrscheinlichkeit ist, dass es sich bei diesem Mann um Giesser handelt.« 45
Epstein blieb störrisch. »Er ist es. Ich habe doch Augen im Kopf.« »Sagen wir mal, nur hypothetisch, dass der Mann, der unser aller Leben zerstört hat, der unsere Familien und Freunde umgebracht hat«, er machte eine bedeutungsschwere Pause, »dass dieser Mann es irgendwie geschafft hat, den Alliierten zu entschlüpfen, zum Beispiel über die Rattenlinie nach Südamerika –« »Karl!«, protestierte Epstein. »Hör mir zu! Also, diesem Mann gelang die Flucht. Er überlebte. Tropische Krankheiten, andere Gefahren, vielleicht ein Militärputsch, aber auch ganz normale Todesursachen, das alles konnte ihm nichts anhaben. Er wurde jahrelang gesucht, vermutlich bis heute, aber niemand hat ihn erkannt. Der israelische Geheimdienst Mossad lief x-mal an ihm vorbei –« »Was soll das?« »Dann, eines schönen Tages, beschloss er, in die Heimat zurückzukehren. Er flog, sagen wir mit falschem Pass, nach Deutschland. Und dort angekommen legte er sich eine neue Identität zu. Er wurde nicht Rechtsanwalt, nein, oder vielleicht Schrotthändler. Er wurde Priester! Und das nicht irgendwo in der Provinz, wo man nicht so genau hinschaut, sondern mitten in Berlin. Wie wahrscheinlich, Jockel, wie wahrscheinlich hört sich diese Geschichte an?« »Deine Geschichte ist mir scheißegal!«, brüllte Epstein. »Ich weiß, was ich gesehen habe!« Ein Klopfen an der Tür ließ beide herumfahren. Schüchtern steckte Adam den Kopf herein. »Die Gäste fragen nach euch.« Einen Moment lang hing Karls Beweisführung in der Luft, schirmte die beiden Männer von allem anderen ab, was um sie herum geschah. Epstein brach den Bann, indem er zu Adam hinüberging. Er führte ihn in die Bibliothek und warf die Tür hinter ihm zu. 46
»Erzähl ihm, was du gesehen hast«, sagte er. Adam stand in der Mitte des Raumes. Als er die erregten Blicke der beiden auf sich spürte, die angespannte Atmosphäre, drehte er den Kopf weg und sah zu einem der beiden hohen Fenster. Er kennt mich. Was weiß er noch? »Na los, erzähl ihm, wen du in der Kirche gesehen hast!«, drängte Epstein. Adam trat zum Fenster und öffnete es. Er schöpfte Atem, sog die Winterluft tief in sich ein. »Seht ihr? Es schneit wieder.« »Adam!«, herrschte ihn Epstein an und bekam sofort ein schlechtes Gewissen. »Tut mir Leid.« Er zwang sich, ruhiger zu werden, stellte sich hinter Adam und fasste ihn an der Schulter. »Komm vom Fenster weg«, sagte er sanft. »Du holst dir noch den Tod.« »Hannah und ich wollten uns in Paris treffen.« Adam schaute weiter hinaus in die Nacht. Ein paar Schneeflocken wehten herein. Mit einem Ruck wandte er sich den beiden Freunden zu. »Vielleicht weiß er, wo sie ist. Vielleicht weiß er, wo Hannah ist.« »Sie ist tot, Adam. Hannah ist tot.« Epstein hatte diese Worte schon oft gesagt, stets in dem gleichen, unbeteiligten Tonfall. Er dachte immer, das würde Adam zur Vernunft bringen. Jetzt musste er sich sagen, dass es das offenbar nicht tat. Vielleicht musste er Adam noch stärker mit der Wahrheit konfrontieren. Er schlug einen anderen Ton an: »Glaubst du, er weiß noch, durch welchen Schornstein er deine Hannah geschickt hat?!«, blaffte er. Adam erschrak. »Wie kannst du dir so sicher sein, Jockel?« »Da, wo wir waren, wurden keine Gnadengesuche angenommen. Es gab nur einen Weg.« 47
»Und warum haben wir überlebt?« Adams Stimme zitterte nicht mehr. Er war jetzt ganz gefasst. »Wie kannst du dir sicher sein, dass Hannah nicht überlebt hat? Hast du gesehen, wie sie umgebracht wurde?« »Nein, natürlich nicht. Sonst –« »Dann könnte sie überall sein. An jedem Ort der Welt. Vielleicht in Paris. Vielleicht hier in Berlin.« »Adam, wir haben das doch schon tausendmal durchexerziert. Ich habe sie sogar suchen lassen, wie du weißt, alles ohne Ergebnis. Sie ist tot, verdammt noch mal! Sie hatte keine Chance. Die SS-Leute haben sie mitgenommen, das habe ich gesehen damals im Lager.« »Dann hast du dich eben getäuscht. Was man sieht, ist nicht immer das, was man zu sehen glaubt.« Adam merkte, dass er mit dieser Floskel nicht weiterkam. »Vielleicht wurde sie verlegt?«, probierte er es. »In ein anderes Lager?« Epstein schloss das Fenster, verschränkte die Arme und blieb davor stehen. Er schenkte Adam keine Beachtung mehr, schaute nach draußen. »Was meinst du, Jockel? Das wäre zumindest eine Möglichkeit«, flehte Adam. Epstein schwieg. »Es gibt so viele Möglichkeiten«, sagte Adam. Diesmal klang es resigniert. Ohne sich umzudrehen, schüttelte Epstein den Kopf. »Bei Giesser war Endstation«, erwiderte er barsch. »Ich wünschte, du würdest das endlich begreifen.« Adam horchte auf. Wenn es jemand weiß, dann er. Karl hatte den Wortwechsel mit wachsendem Unverständnis verfolgt. Adams Uneinsichtigkeit, mit der er noch nie umgehen
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konnte. Und jetzt diese Geschichte mit Giesser. »Ihr seid doch verrückt. Ihr seht Gespenster.« Epstein stand immer noch an dem geschlossenen Fenster, eine Hand an dem Drehgriff. Er begann leise zu sprechen. »Erinnert ihr euch? Karl? Adam? Die Nacht, in der sie uns an den Handgelenken von der Decke baumeln ließen? Voll gestopft mit salzigem Hering, dass wir kotzen mussten vor Durst. Wir und acht andere.« Karl und Adam schauten betreten zu Boden. »Erinnert ihr euch nicht?«, flüsterte Epstein.
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10 Ein Dachboden irgendwo im Lager. An einem Querbalken: schattenhafte Körper, die Hände nach oben gebunden, von Krämpfen geschüttelt, aufgereiht wie Getreidesäcke in einer Mühle. Sie hängen so hoch, dass ihre Fußspitzen gerade den Boden berühren. Nur ihr Keuchen ist zu hören und ab und zu ein paar Schritte, wie sie Stiefel auf Holzbohlen erzeugen. Epstein sprach weiter. »Sie nannten es Pfahlhängen. Was wollten sie von uns wissen? Wer Brot ins Lager geschmuggelt hat?« »Es war dunkel«, sagte Adam. Er war den Tränen nahe. »Alle zwei Stunden nahmen sie einen von uns runter. Setzten ihn vor ein Glas Wasser und fragten ihn aus.« Adam schaute hoch. Entschuldigend rang er die Hände. »Ich habe Brot geschmuggelt«, bekannte er, »ja, ich habe es getan.« Seine Augen richteten sich bittend auf Epstein. »Aber ich hatte solche Angst. Ich wollte ja alles zugeben. Aber ich konnte es einfach nicht.« »Er hätte dich getötet«, konstatierte Epstein. »Er hat uns alle abgeschnitten«, sagte Adam. »Dann hat er uns in zwei Reihen antreten lassen.« »Und den dreien neben dir in den Kopf geschossen. Die zweite Kugel durchschlug den Schädel von Albert. Albert Messen.« Das Wasserglas auf dem Holztisch vibriert. »Sie durchschlug Alberts Schädel und verletzte seinen Hintermann.« »Im Gesicht«, ergänzte Adam. »Er blutete über sein ganzes Gesicht.«
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»August«, schaltete sich Karl ein, der sich eine neue Zigarette angezündet hatte. »Sein Name war August.« »Giesser sah ihn kurz an –« »August Savatsky«, sagte Karl. »Und schoss auch ihm in den Kopf.« Adam atmete schwer. »Dann steckte er seine Waffe zurück ins Koppel. Er sagte –« »Wenn ich jemanden erschieße«, zitierte Karl und veränderte seine Stimme. »Dann möchte ich nicht, dass ihr euch direkt dahinter stellt. Wenn ich jemanden erschieße, dann ist es dem Hintermann erlaubt, unaufgefordert zur Seite zu treten.« Drei Menschen liegen am Boden. Acht stehen stramm. Der Dachbalken knarrt. Die Erinnerung hatte die drei Männer eingeholt, überholt, gänzlich von ihnen Besitz ergriffen. Keiner sagte ein Wort. Sie hatten sich schon oft in diese Stunden auf dem Dachboden zurückversetzt, waren in sie hineingegangen wie in ein vertrautes Verlies. Sie gingen täglich hinein, immer wieder, seitdem sie das Lager verlassen hatten. Manchmal dachte Epstein, dass sein richtiges Leben nur aus ein paar Stunden Freigang bestand. Er drehte seine Runden, um sich etwas Bewegung zu verschaffen, um die Sonne auf der Haut zu spüren, ein paar Takte mit irgendwelchen Leuten zu reden. Und dann kehrte er jedes Mal wieder in sein Verlies zurück. Ließ sich in Eisen schlagen. Wartete auf den nächsten Tag. Halb offener Vollzug, in gewisser Weise. Der Dachboden war für Epstein ein diffuser Ort. Er gehörte zum Lager und doch wieder nicht. Sicher, der Tod hatte sich überall im Lager ereignen können. An manchen Stellen war er besonders nahe gewesen. An der Rampe wurde er zugeteilt. In den Gaskammern und an vielen anderen Orten wurde er vollstreckt. An den Öfen wurde er besiegelt. Dagegen hatte man ihn an anderen Stellen fast ignorieren können. In den Wachstuben, 51
unter den Barackenbetten, in den paar unentdeckten Verstecken. Auch das war möglich gewesen. Aber der Dachboden, das war der Ort, wo das Messer auf der Schneide stand. Natürlich, und da machte er sich nichts vor, wurde das Messer von Giesser geführt. Er war es, der richtete, meist nach Gutdünken. Doch auf dem Dachboden hatte Epstein wie nirgendwo sonst das Gefühl gehabt: Der, den es hier nicht erwischte, war von der Vorsehung begünstigt. Es war ein Ort, an dem man der fortwährenden Selektion etwas Schicksalhaftes zuschreiben konnte. Wer den Dachboden lebend verließ, trug ein Mal auf der Stirn. Daran glaubte er bis zum heutigen Tag. Obwohl er genug Menschen gesehen hatte, die trotz dieses Mals auf der Stirn ermordet worden waren, obwohl dieses Mal schon am nächsten Tag ausgelöscht sein konnte – er glaubte daran, unverdrossen. Weiter kam er nicht in seinen Gedanken, niemals. Nicht über den Dachboden hinaus. Denn bis dahin hatte er immer genügend Schnaps getrunken, um ihn eine Zeit lang zu vergessen. Es funktionierte anstandslos. Epstein schenkte sich Cognac nach. Das liegt an dem Hering, mit dem sie uns damals gefüttert haben, dachte Karl. Bei Jockel lief die Erinnerung über körperliche Bedürfnisse. Er trank, weil ihm Wasser vorenthalten worden war. So einfach. Epstein war ein einfacher Fall. Bei ihm selber war das anders. Karls Dachboden lag ganz konkret in der Gegenwart. Es war der Gerichtssaal. Er verabscheute es, wenn er als Anwalt Schuldige verteidigen musste. Entsprechende Fälle gab er an Kollegen ab, redete sich auf sein Expertentum hinaus. Er brauchte den Schuldigen auf der anderen Seite, dann lief er zu Höchstform auf. Eigentlich hatte er Staatsanwalt werden wollen, aber das war ihm zu unsicher. Er musste sich selber ein Urteil bilden können und den Fall dann für sich vorentscheiden. Das ging als Anwalt besser. Mit der Zeit hatte er die Kunst der Anklage perfektioniert, in gewisser Weise auch schematisiert, aber das brachte die Routine 52
so mit sich. Er wandte einen Trick an: Im Geiste vertauschte er die Rollen. Die zappelnden Körper unter dem Dachfirst, das waren die Täter, die Schuldigen auf der Anklagebank. Sollten sie doch am eigenen Leibe zu spüren bekommen, wie das war. Er saß an dem Platz, der für den Anwalt vorgesehen war, und er stellte die Fragen. So musste es sein und nicht anders. Für Adam war der Dachboden nur eine von vielen Sektionen eines Schattenreichs, das er vor über vierzig Jahren betreten und seither nie wieder verlassen hatte. Er dachte es nicht, sondern spürte es. Auf dem Dachboden waren die schlechten Menschen so schlecht, wie sie sein wollten. Du hast so oft Glück gehabt. »Groll«, sinnierte Karl. Schließlich dämmerte es ihm. »Natürlich!« Adam und Epstein sahen ihn überrascht an. »Erinnert ihr euch nicht an diesen jungen Priester aus dem Lager? Er war aus Schlesien. Aus Oppeln, glaube ich. Der hieß Groll!« »Er hat bei Giesser in der Schreibstube gearbeitet«, sagte Adam. »Ein Politischer.« Karl nickte bestätigend. »Weißt du das nicht mehr?«, fragte er Epstein. »Er hielt heimlich Gottesdienste ab, wollte dafür immer Kerzen ins Lager schmuggeln lassen. Groll.« »Und Giesser?«, wunderte sich Adam. »Das ist doch eine plausible Erklärung«, sagte Karl. »Groll hat das Lager überlebt und steht jetzt in Spandau hinter dem Altar. Giesser ist gefallen. In Berlin, wenn ich mich richtig an die Liste erinnere. Im Endkampf.« Epstein platzte fast vor Wut. »Warum glaubst du uns nicht, Karl? Überzeug dich doch selbst! Fahr nach Spandau!« »Weil es keine Frage des Glaubens ist!«, brüllte Karl zurück. »Oder des Augenscheins. Die Fakten lassen keinen Zweifel zu, 53
sieh das doch ein!« Er ging in die Offensive. »Beantworte mir eine Frage. Nur eine Frage.« Epstein hielt inne, riss sich zusammen. »Was machst du, wenn es wirklich Giesser ist?«, fragte Karl. »Dann–« Er stockte, merkte, dass er sich diese Frage noch gar nicht gestellt hatte. »Was dann?« »Du bist doch hier der Scheißanwalt!«, brach es aus Epstein hervor. »Bring ihn in den Knast! Sperr ihn ein! Lass ihn bezahlen für das, was er uns angetan hat!« »Das ist wahr, Karl«, warf Adam ein. »Wir bringen ihn vor Gericht.« »Natürlich. Und ihr tretet als Zeugen auf. Ein Neurotiker und ein Säufer. Und was alles noch schlimmer macht: zwei Juden. Ihr macht mir Spaß.« Epstein trank seinen Cognac aus. Er presste die Lippen zusammen. »Ich will Gerechtigkeit!« Karl betrachtete ihn lange. Sollte das sein Endkampf sein, ein Kampf gegen ein Gespenst? Für einen Moment spielte er den Fall durch. Wenn es nun doch Giesser war? Gegen alle Gesetze der Logik und des gesunden Menschenverstands? Wenn der Neurotiker und der Säufer Recht hatten? Er fasste einen Entschluss. Recht haben war leicht, Recht sprechen eine ganz andere Sache. Zielstrebig ging er an den Sekretär, zog eine Schublade heraus und griff in das leere Fach. Er tastete eine Weile darin herum. Epstein und Adam traten neugierig näher. Als Karls Hand wieder zum Vorschein kam, umklammerte sie eine Pistole. »Du willst Gerechtigkeit?« Er legte die Waffe auf die heruntergeklappte Platte des Sekretärs.
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Entsetzt starrte Epstein auf die Pistole. Der mattschwarze Stahl hob sich nur unmerklich von dem dunklen Holz des Möbelstücks ab. »Aber wahrscheinlich«, sagte Karl und betonte jedes Wort, »bist du genauso feige, wie ich es wäre.« Er bemerkte, wie Epsteins und Adams Blicke zwischen ihm und der Waffe hinund herwanderten. »Hab ich mir während der Berlinblockade besorgt. Ich dachte, die Russen kommen«, griente er. Als es an der Tür klopfte, fuhren sie herum wie Verbrecher, die auf frischer Tat ertappt wurden. Katharina hatte ihre neuen Rollschuhe angeschnallt. Sie fuhr etwas unsicher über das Parkett und blieb dann an einem schweren Teppich hängen. »Mama sagt, die Gäste fragen nach euch.« »Danke schön«, erwiderte Adam. »Sag deiner Mama, wir kommen gleich.« Katharina rollte unsicher hinaus und zog die Tür hinter sich zu. Als sie weg war, versteckte Karl die Pistole wieder in dem Geheimfach. »Wir sollten rübergehen«, schlug Adam vor. Er ging zur Tür, hielt inne. »Kommt ihr?« Epstein brummte etwas Unverständliches und wandte sich zum Gehen. Karl hielt ihn an der Schulter fest. »Jockel –« Epstein drehte sich um und sah ihn stoisch an. »Glaub mir, es ist dieser Groll. Lass es einfach Groll sein.« Ohne noch etwas zu sagen, verließ Epstein die Bibliothek. Karl schaltete das Licht aus und folgte ihm.
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11 Was für eine beschissene Idee, dachte Epstein. Das erste Mal feierte er Weihnachten, und dann das. Fest der Liebe, Fest der Gnade. Wahrscheinlich lag Karl mit seinem Zynismus richtig. Wie hatte er es ausgedrückt? Erlösungsschwindel. Wahrscheinlich lag er auch bei Giesser richtig. Die Feier war noch im Gange. Epstein stand am kalten Büfett und knabberte gedankenverloren an einem übrig gebliebenen Lachshäppchen. Er fühlte sich um seine Rache gebracht, hatte sie sich schon ausgemalt. Ein großer Prozess. Karl in seiner Gerichtsrobe. Wie er Giesser fertig machte. Nüchtern und sachlich, wie es seine Art war, aber mit schneidender, unnachgiebiger Stimme. ›Wie spielten sich Ihre so genannten Vernehmungen ab?‹ – ›Kennen Sie einen der Anwesenden?‹ – ›Wie viele Exekutionen haben Sie angeordnet?‹ – ›Wie viele wurden ausgeführt?‹ Die Medien würden sich auf ihn, Epstein, stürzen. Er würde ihnen mehr erzählen, als er im Zeugenstand sagen durfte, mit allen Details. Aus dem Ausland würden KZ-Überlebende anreisen. Die ausländische Presse würde Giesser lynchen. Er würde öffentlich zur Unperson erklärt werden. Dass er sich als Priester getarnt hatte, machte die Sache noch widerwärtiger. In solchen Dingen waren die Leute sensibel. Die Kirche würde eine Stellungnahme abgeben, ihrer Betroffenheit Ausdruck verleihen. Und dann würde Giesser verurteilt werden. Kein Richter würde es wagen, einem Antrag auf Haftunfähigkeit stattzugeben. Die Rede des Bundespräsidenten anlässlich der Kapitulation war noch in aller Munde, die breite Öffentlichkeit war wieder hellhörig geworden. Giesser würde seine gerechte Strafe ereilen. Und Epstein würde frohlocken. Es würde ihn befreien.
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Aber es hatte keinen Sinn, die Sache durchzuspielen. Seine Rache war ihm entwunden worden, durch Karls Argumente, durch seine Zweifel. Durch die Waffe. Das hätte er ihm nicht zugetraut, dem umsichtigen, auf seinen Ruf bedachten, achtbaren Karl, der gerade an Epstein vorbeischlenderte und jeden Gast einnehmend anlächelte, obwohl er bestimmt über jeden Einzelnen dunkle Vermutungen hegte, so weit kannte er ihn. »Wie lange bleiben die denn noch?«, raunte Epstein ihm zu. »Wenn sie dein Gesicht sehen, nicht mehr lange«, versetzte Karl. Ein älterer Mann schlug mit einer Gabel mehrmals gegen ein Weinglas, um sich Gehör zu verschaffen. Die Gespräche der Anwesenden erstarben. »Meine Damen und Herren, liebe Nachbarn, verehrte Gebrüder Rose«, begann er. Alle Blicken wandten sich ihm zu. Er schaute suchend umher, entdeckte aber nur Karl, dem die Rede offenbar ein wenig peinlich war. »Ich rede im Plural, auch wenn es scheinbar unmöglich ist, Sie beide gemeinsam zu erwischen.« Die Gäste lachten höflich. »Nichtsdestotrotz möchte ich Ihnen im Namen aller Hausbewohner für diesen schönen Abend danken.« Er hob sein Glas in Karls Richtung. »Vielen Dank für dieses gelungene Fest.« Alle Anwesenden prosteten Karl zu, der einen Schritt nach vorne trat. Er räusperte sich, warf sich in Pose. »Danken Sie nicht mir, meine lieben Freunde. Danken Sie meinem kleinen Bruder, wo auch immer er sich herumtreiben mag.« Erneutes Gelächter. »An mich können Sie sich wenden, wenn Sie Adam verklagen wollen, sollte Ihnen das Büfett oder der Wein nicht schmecken.« Er schwenkte sein Glas in die Runde. »Frohe Weihnachten!«
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Die Gäste prosteten sich gegenseitig zu und wiederholten die Weihnachtswünsche. Karl nickte freundlich. Paula kam mit einem vollen Tablett an ihm vorbei. »Wo steckt denn mein Bruder schon wieder?«, flüsterte er. »Keine Ahnung. Ich glaube, er ist Zigaretten holen gegangen.« »Ach so.« Karl mischte sich wieder unter die Gäste. Er hatte schon geahnt, dass alles wieder an ihm hängen bleiben würde. Epstein betrank sich und Adam ging stumm seiner Wege, wie immer an Weihnachten. Warum war er der Einzige von ihnen, der so etwas wie ein Pflichtbewusstsein hatte? Ein paar Stunden später hatten sie die Küche für sich allein. Im Flur verabschiedete Karl die letzten Gäste. Epstein saß an dem leeren Büfett, hielt eine Flasche Bier in der Hand und schwankte im Sitzen leicht hin und her. Auf der Eckbank hatte sich die schlafende Katharina zusammengerollt, während sich Paula gerade an den Abwasch machte. »Geschafft!« Karl tauchte im Türrahmen auf. »Das hat doch Zeit«, sagte er tadelnd, als er Paula immer noch arbeiten sah. Mit einem langen Schritt ging er zu ihr, nahm ihr den Spülschwamm ab und dirigierte sie zum Küchentisch. Erschöpft ließ sie sich nieder und begann, Katharina zu streicheln. »Jetzt gönnen wir uns in Ruhe einen guten Tropfen.« Karl nahm zwei Gläser aus dem Schrank und hielt sie gegen das Licht. Mit einem Tuch wischte er sie sauber, stellte sie auf den Tisch und entkorkte eine Flasche Wein, die unter einem Putzlumpen verborgen gewesen war. »Der ist ein bisschen besser als das Zeug für die Gäste.« Er schenkte den Wein ein. Als er Paula ein Glas anbot, ergriff sie es dankbar. Sie stießen an. Epstein fuhr aus seiner Lethargie hoch. »Wo bleibt Adam?« »Der wird schon noch kommen«, antwortete Karl. »Lass ihn.« Einen Augenblick dachte Epstein nach. »Zum Wohl«, sagte er dann und prostete den beiden mit seiner Bierflasche zu. 58
Die Treppen zur S-Bahn sind steil und rutschig. Warum ist niemand außer ihm unterwegs? Keiner zu sehen. Braucht er eine Fahrkarte? Wo bekommt man die? »Wer ist eigentlich diese Hannah, Herr Rose?«, fing Paula unvermittelt an. »Ihr Bruder hat mich heute wieder so genannt. War das seine Frau?« Epstein horchte auf. Er tauschte mit Karl einen glasigen Blick. »Hannah war Adams – Jugendfreundin«, erklärte Karl schließlich. »Seine Liebe.« Epstein nahm einen großen Schluck Bier. »Hannah war seine Liebe.« Adam fährt mit einem Fahrrad, an dessen Pedale er gerade so heranreicht, durch die Greifenhagener Straße. Pferdefuhrwerke, Autos, Passanten huschen an ihm vorbei. Er legt sich gefährlich in die Kurve und biegt in eine Hofeinfahrt ein. Als er den geräumigen Hinterhof erreicht, betätigt er den Rücktritt. Der Hinterreifen schlittert mit einem Quietschen über das Pflaster, kommt zum Stehen. »Hannah wohnte bei uns gegenüber«, sagte Karl gedankenversunken. »Sie war die Tochter eines Zahnarztes. Liebermann, ein kleiner unscheinbarer Kerl.« Er griff sich in den Mund. »Machte mir meine erste Füllung.« »Hannah Liebermann«, sagte Epstein. »Sie war sehr schön.« Hannah beobachtet, wie Adam das Rad an eine Häuserwand lehnt. Sie sitzt still auf einer Schaukel und wartet, bis er zu ihr herüberkommt. In einem Fenster im zweiten Stock sieht sie, wie zwei Jungen zu ihr herunterschauen. Sie kennt die beiden, verkneift sich ein Lächeln. »Lange dunkle Zöpfe. Sie flogen ihr immer um die Ohren.« Epstein lachte. »Adam schrieb ihr Gedichte. Scheußlich lange Gedichte. Er schrieb ihr Briefe, die längsten Briefe der Welt. Aber in ihrer Gegenwart brachte er kein Wort heraus.« 59
Wortlos übergibt Adam dem Mädchen auf der Schaukel einen Umschlag. Er dreht sich weg, wartet bis Hannah den Brief geöffnet hat und zu lesen beginnt. Schließlich setzt er sich auf die Schaukel neben ihr. Eine Blume klemmt hinter seinem Ohr. Er nimmt sie in die Hand, wartet. »Er saß nur da«, sagte Karl und schüttelte den Kopf. »Er saß neben ihr und hatte eine Kornblume in der Hand, drehte sie hin und her.« Epstein lehnte sich zurück. »Er hatte sie vorher unter tausend anderen Blumen für sie ausgewählt.« Die Schaukel, die Blume, Hannah, alles verblasst. Draußen fliegen viele Fenster vorbei, ohne Ende. In den hellen feiern die Menschen Weihnachten, in den dunklen schlafen sie schon. So ist das, klick-klick. Die Taschenlampe braucht wieder neue Batterien. Er wird Karl darum bitten müssen. »Bevor ich sentimental werde, gehe ich lieber.« Epstein musste aufstoßen, erhob sich und schwankte aus der Küche. »Wir begleiten Sie«, sagte Paula. Sie zog ihre Jacke an und nahm Katharina behutsam auf den Arm, damit sie nicht aufwachte. Karl half Epstein in den Mantel, führte ihn zur Haustür und machte im Treppenhaus Licht. »Gute Nacht, Fräulein Paula«, verabschiedete sich Karl. »Danke für den schönen Abend, Jockel.« Epstein grunzte etwas, stützte sich schwer auf das Geländer und torkelte hinter Paula die Stufen hinab. Karl schloss die Tür. »Sind Sie sicher, dass ich Sie nicht nach Hause bringen soll?«, bot Paula an. Epstein winkte ab. »Ach, die paar Meter.« Als sie im Parterre ankamen, öffnete Paula eine kleine Tür, die zum hinteren Haus und ihrer Wohnung führte. Sie drehte sich noch einmal zu Epstein um. »Was ist aus ihr geworden?« »Aus Hannah?« Er schürzte die Lippen. »Vergast. Vergast und verbrannt.« 60
Paula blickte zu Boden. Sie hatte sich schon so etwas gedacht. Sachte fuhr sie Katharina über den Kopf. Epstein begab sich zur Vordertür. »Wenn irgendjemand Katharina so etwas antun würde«, sagte Paula streng, »bring ich ihn um, egal, was dann mit mir passiert.« Leise schloss sie die Tür hinter sich. Als Epstein in seinem Wagen saß, ließ er den Motor an und drehte die Heizung auf. Er fuhr Schrittgeschwindigkeit, damit er keinen Unfall baute. Alle Ampeln waren auf gelbes Blinklicht geschaltet. Er hielt den Mercedes in der Mitte der Straße. Kein Wagen kam ihm entgegen. Üben. Er muss üben. »Könnten Sie mir sagen –«, »Ich möchte wissen -.« Es ist schwierig, die richtigen Worte zu finden. Hannah wüsste sie. Direkt vor dem Haus fand Epstein eine große Parklücke. Er fuhr vorwärts hinein, die Reifenfelgen rumpelten über den Bordstein, aber er hatte zu viel Schwung. Mit einem hässlichen Knacken prallte der Mercedes gegen einen parkenden Lieferwagen. Epstein stieg aus, verriegelte sein Auto und bückte sich, um den Schaden im Schein der Straßenlampe zu besehen. Einer der Blinker des Lieferwagens war hinüber. Er zuckte mit den Schultern und suchte seinen Hausschlüssel heraus. Ein Geräusch ließ ihn aufschrecken. Auf dem nahe gelegenen Bahndamm rauschte eine S-Bahn vorbei. »Fahrt lieber Auto!«, lallte er und schob sich mühsam ins Treppenhaus. Er wankte in den ersten Stock hoch, verfing sich ab und zu mit dem Mantel in den Pfosten des Geländers. Gerade als er seine Wohnungstür erreichte, ging das Licht aus. »Geizhals«, murmelte er und meinte damit den Hausbesitzer. Er ließ sich zur Seite kippen und kam mit dem Ellenbogen genau auf den Schalter. Es wurde wieder hell. Nach einer kleinen Ewigkeit gelang es ihm, den Schlüssel ins Schloss zu stecken. 61
Adams Beine stecken in kurzen Hosen. Er sitzt auf einer Mauer, Hannah neben sich. Sie hat sein Gedicht gelesen und die Blume angenommen, dreht sie hin und her, beobachtet ihn aus den Augenwinkeln. Er gibt sich einen Ruck und hebt die Hand, um ihr Haar zu berühren. Sie blickt auf seinen Arm, dann in seine Augen. Er streicht über ihre Zöpfe, die flaumigen Haare in ihrem Nacken. Behutsam nimmt sie seine Hand und küsst sie. Erschrocken zieht er sie zurück. Hannah lacht. Sie zieht die Hand wieder zu sich heran und hält sie fest. Sie fragt ihn, was der Abendstern sei. Er erklärt ihr, dass das in Wirklichkeit kein Stern, sondern ein Planet ist, die Venus. Er sagt ihr nicht, dass er ihn noch nie gesehen, sondern nur davon gelesen hat. Das braucht er auch nicht. Das Wort in seinem Gedicht klingt genau nach ihr. Siehst du den Abendstern, bevor er untergeht? Kurz ruht er, hell und fern, und schwindet –
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12 Der Koffer blieb im Türstock hängen. Epstein versetzte ihm einen Stoß und wuchtete ihn nach drinnen. Er kippte auf die Seite. Die Beschläge an den Ecken klapperten auf dem Boden. Als Epstein selber in die Wohnung gehen wollte, zögerte er, weil der Koffer den Zugang blockierte, unverrückbar, wie es schien. Er verharrte auf der Schwelle. In der Diele sah er unzählige Staubpartikel im Frühlingslicht schweben. Die Türen zu den angrenzenden Räumen waren geöffnet und ließen die Sonne hereinfallen. Eine kahle Behausung, unantastbar, aber auch schön in ihrer Ausgeräumtheit und Unversehrtheit, dachte er. Weiße Laken verhüllten die wenigen Möbel, die er nicht verkauft hatte, damals in der schwierigen Phase, als der Betrieb ohne ihn weiterlaufen musste. Aber das war nur belangloser Hausrat, zu dem er keinen Bezug hatte, er vermisste ihn nicht. Ein paar Einrichtungsgegenstände waren übrig geblieben, stumme Gesellschafter eines Lebens auf Abruf. Sie hatten auf ihn gewartet unter den schützenden Tüchern, wo die Zeit nur tropfenweise verrann. Wie ein Museum kam es ihm vor, als er da so stand, sich nicht von der Stelle rührte und schaute und schaute. Es schien so, als ob über die Schwelle eine unsichtbare Kordel gespannt sei. Epstein lehnte sich ein Stück weit hinein. Es roch nach Stille, Verlassenheit. Niemand hatte sich hier in den letzten Jahren länger aufgehalten. Wenn er jetzt da hineinginge, könnte er sich in einen Sessel setzen und das Laken gleich wieder darüber breiten. Niemand würde ihn vermissen, niemand erkennen. Er wollte den Koffer mit dem Fuß beiseite schieben, als er Schritte hörte. »Was machen Sie denn da?« 63
Epstein drehte sich um. Eine ältere Frau kam die Treppe hochgetrampelt. Sie trug eine Plastikwanne mit Wäsche und musterte ihn misstrauisch. Plötzlich erkannte sie ihn. »Ach, Herr Epstein, Sie sind’s!«, rief sie. Ihr Argwohn schien ihr peinlich zu sein. »Ich konnte es nicht verhindern, Frau Prengel«, antwortete er. »Meine Zeit war um.« »Willkommen zu Hause!«, sagte sie schnell. Sie nickte verbindlich. Als Epstein nichts entgegnete, setzte sie ihren Weg nach oben fort. Mehrmals blickte sie sich dabei um, reckte den Hals. Irgendwann hörte er, wie eine Tür geöffnet wurde und kurz darauf zuschlug. Die Prengel. Was die sich wohl damals gedacht hatte, fragte er sich. Bestimmt nichts Gutes. Wahrscheinlich wusste sie gar nicht, was wirklich passiert war. Wahrscheinlich hatte sie schon immer geahnt, dass an ihm etwas faul war. Nun, sie hatte wohl Recht behalten. Er stieg über den Koffer und betrat seine Wohnung. Die Dielenbretter knarrten unter seinem Gewicht. Ohne die Tür zu schließen – vielleicht würde er gleich wieder kehrtmachen, in ein Hotel ziehen, sich ein Zimmer nehmen? – ging er durch die Diele in den großen Wohnraum. Der Kamin war mit einer Blende versehen, Teppiche lagen aufgerollt an einer Wand. Jetzt kam es ihm seltsam vor, dass der Boden auf seinen Wunsch während all der Jahre regelmäßig gesäubert und gebohnert worden war. Er sollte eigentlich von einer dicken Staubschicht bedeckt sein, auf der Epstein eine sichtbare Spur hinterlassen konnte. Doch der Staub war nur in der Luft, ein bisschen davon. Er verschwand, wenn Epstein näher trat, wurde unsichtbar. Eine Polstergruppe stand aufgereiht an der Wand, eine geisterhafte Erscheinung, offenbar hatte jemand die Möbel dahin geschoben. Häftlinge vor dem Erschießungskommando, durchfuhr es Epstein. Sie warteten auf Schüsse, die nicht fielen. 64
Die SS-Offiziere, die die Erschießungskommandos befehligten, hatten sich einen Spaß daraus gemacht, wollten ihren Soldaten etwas Unterhaltung bieten. Dann wurde angelegt, gezielt und gewartet, mit dem Finger am Abzug und den Augen auf schlotternden Gestalten, die dabei waren, mit dem Leben abzuschließen. Am Ende schossen sie dann doch, mit dem Unterschied, dass es im Lager nicht üblich war, Delinquenten ein Laken über den Kopf zu stülpen oder eine Augenbinde. Wozu denn auch? Er schlug eines der Laken beiseite. Auf dem Sessel lag allerlei Krimskrams, Kerzenleuchter, Bilderrahmen, alte Zeitschriften, ein Schuhkarton. Epstein öffnete ihn. Er enthielt einen ungeordneten Haufen Fotografien. Achtlos nahm Epstein sie heraus, sah sie sich an wie jemand, dem lästige Papiere zur Unterschrift vorgelegt wurden. Die erste Aufnahme zeigte ihn als Bräutigam. Er rechnete nach, benutzte die Finger, wie er es sich im Lager angewöhnt hatte, obwohl er im Kopfrechnen immer stark gewesen war. Um die vierzig musste er damals gewesen sein. Sein Schnurrbart war noch nicht ergraut, sein Haar nur an den Seiten etwas zurückgewichen. Er war ziemlich füllig, hatte sich eine regelrechte Wampe angefressen, das Fett der Überlebenden. Marianne, seine Braut, war dagegen ganz schlank. Um einiges jünger als er lachte sie glücklich in die Kamera, legte ihren Kopf an seine feiste Wange. Das war ihm schon damals unangenehm gewesen, dieses Anschmiegen und Herumzärteln. Sie wollte unbedingt Kinder, er nicht. Sie wollte ein eigenes Haus, während ihm eine Mietwohnung reichte. Sie wollte Liebe, er gab ihr Sicherheit, was er als weitaus sinnvoller erachtete. Deswegen hatte sie ihn auch verlassen, von einem Tag auf den anderen, ungewöhnlich für die damalige Zeit. »Du änderst dich nie!«, hatte sie gesagt. »Mit dir kann man nicht alt werden, du bist es ja schon!« Er zerriss das Foto in kleine Teile und ließ die Schnipsel in seiner Manteltasche verschwinden. 65
Auf dem nächsten Bild stand Adam in der Mitte, eingerahmt von Karl und Epstein, die beide ihre Ehefrauen im Arm hielten und Sonnenbrillen trugen. Adam hatte ein albernes Strohhütchen auf dem Kopf, wie ein Komiker, den Epstein früher einmal im Fernsehen gesehen hatte. Das Foto war am Genfer See aufgenommen, während eines gemeinsamen Urlaubs, bei dem sie sich andauernd wegen Nichtigkeiten in den Haaren gelegen hatten, angestachelt von ihren bis aufs Blut verfeindeten Ehefrauen. Irgendwann hatte Adam eine Panikattacke, wegen einer Folge von Schüssen, die sie während einer Bootsfahrt vom Seeufer her gehört hatten. Sie reisten vorzeitig ab, froh, in die Heimat zurückzukehren, mit der sie sich trotz allem verbunden fühlten, vielleicht wie Maulwürfe, die nur ihren Bau kennen und sich an der Erdoberfläche einmal blind im Kreis drehen, um schnell wieder zurückzukriechen in die vertraute, lieb gewonnene Dunkelheit. Dann kam eine Schwarzweißaufnahme von Karl und Adam, als sie fast noch Kinder waren. Sie trugen gedeckte Anzüge, blickten ernst in die Kamera, ein Gymnasiastenbild, das davon zeugte, welche Art Bildung ihre Eltern für sie noch vorgesehen hatten kurz nach der Machtergreifung durch die Nazis. Karl, der zwei Jahre älter als sein Bruder und damals einen ganzen Kopf größer war, hatte beide Arme an die Hosennaht gelegt und das Kinn ein wenig vorgereckt. Adam saß neben ihm auf einem Stuhl, die Hände auf den Knien, als ob er sich gleich erheben und das Atelier wieder verlassen wollte. Sein Blick war gelangweilt, fast ein bisschen blasiert, während Karl das Objektiv regelrecht fixierte, ganz Verantwortung und Willenskraft. Epstein stellte sich vor, wie Karl seinen Bruder dazu anhielt, stillzusitzen, doch Adam hatte keine Geduld, hatte ganz andere Gedanken im Kopf, als eine gute Figur zu machen für die elterliche Familiengalerie. Vielleicht dachte er sich gerade ein Spiel aus, das er nach dem Fototermin sofort ausprobieren würde, auf der Straße oder im Hinterhof, ohne sich die Mühe zu 66
machen, seinen Anzug gegen weniger feine Kleidung zu vertauschen. Epstein ging die Bilder der Reihe nach durch und steckte sie schließlich in seine Manteltasche. Er stellte den leeren Schuhkarton zurück, deckte den Sessel wieder ab, durchquerte den Raum, in dem seine Schritte einen ungewohnten Hall erzeugten, und öffnete die Tür zum Schlafzimmer. Der Raum lag im Dunkeln. Das Bett war frisch gemacht, wie er es der Reinemachefrau aufgetragen hatte, ein heller Schemen im Dämmerlicht. Durch die Ritzen der Rollläden fiel etwas Licht. Er überlegte, ob er sie hochziehen sollte, winkte dann aber kraftlos ab und ließ sich auf dem Rand des Bettes nieder. Zurück im Verlies, dachte er, nur diesmal ohne Wärter.
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13 Im Hinterhof gleich neben dem Fahrradschuppen hat Karl ein Thermometer angebracht. Sie fiebern den Minusgraden entgegen, vor allem Adam, der unbedingt die Schlittschuhe ausprobieren will, in die er im Herbst endlich hineingewachsen ist. Jeden Tag lesen sie früh morgens die Temperatur ab, überlegen, ob es schon kalt genug ist, damit der Wannsee zufriert und das Eis dick genug ist, um sie zu tragen. Ein Vollidiot klingelte Sturm. Epstein war es, als ob er sich eben erst hingelegt hätte. Mit einem Grunzen wälzte er sich herum und schaltete die Nachttischlampe ein. Der Wecker zeigte Viertel nach sechs. »Verdammt!« Er schlug die Bettdecke zurück. Eine leere Schnapsflasche fiel mit einem dumpfen Geräusch zu Boden und rollte über den Teppich. Umständlich setzte er sich auf, gähnte ausgiebig, betrachtete seine verkrüppelten Zehen, die wie Klauen auseinander standen, seitdem sie mit einem Gewehrkolben bearbeitet worden waren. Er strich sich zärtlich über den Bauch, versuchte mit den Zehen zu wackeln. Manchmal klappte es. Die Türklingel ertönte erneut. »Is ja gut!«, brüllte er und richtete sich auf. »Is ja schon gut«, wiederholte er an sich selbst gewandt. Er stolperte durch die Wohnung, stieß mit dem großen Zeh gegen einen Türrahmen, fluchte, humpelte weiter und riss schließlich die Tür auf. Karl nahm den Finger vom Klingelknopf. »Bist du wahnsinnig?«, fuhr Epstein ihn an. »Weißt du, wie viel Uhr es ist?« Karl wirkte beunruhigt. Ungewöhnlich, dachte Epstein durch seinen Alkoholdunst hindurch. »Adam ist gestern nicht nach Hause gekommen.« 68
»Na und? Das fällt dir morgens um sechs ein?« Er kratzte sich am Kopf. »Wenn du jeden Morgen um fünf aufwachen würdest, fiele dir das auch auf«, gab Karl zurück. Epstein machte eine wegwerfende Handbewegung. »Wahrscheinlich steht er wieder unter irgendeiner Laterne und wartet, bis es hell wird.« »Er hat die Pistole mitgenommen.« Nach langem Suchen haben sie eine abgelegene Stelle gefunden, wo sie trotz ihrer Judensterne unbehelligt Eis laufen können. Der Wannsee ist erst seit einer knappen Woche zugefroren. Epstein wagt sich als Erster aufs Eis. Es sieht aus, als wäre es mit Puderzucker überzogen. Seine ersten Schritte sind wacklig, aber die Schlittschuhe, die er sich aus dem Gitter eines alten Bettgestells gemacht hat, sind gar nicht so schlecht. Adam folgt ihm, zusammen mit Hannah. Sie halten sich aneinander fest, damit sie nicht hinfallen, stolpern unbeholfen umher. Karl schaut ihnen vom Ufer aus zu. Er sagt, sie sollen vorsichtig sein. »Blödsinn!« Epstein landet prompt auf dem Hintern. Adam und Hannah lachen in die Wintersonne hinein. »In fünf Minuten bin ich dran«, ruft Karl ungeduldig. »Heh, Sie da!« Eine derbe Stimme drängte sich in seine Gedanken. Adam blinzelte unter seiner Wollmütze hervor. Das Licht einer Straßenlaterne blendete ihn. Er hob die Hand, um die Augen zu schützen. »Was soll das hier werden?« Jemand schüttelte ihn an der Schulter. Adam versuchte sich zu orientieren. Sein Rücken schmerzte. Er tastete um sich, merkte, dass er sich auf einer Parkbank befand. Im Schein der Laterne 69
parkte ein Polizeiwagen, dessen Scheibe halb heruntergedreht war. Eine Polizistin saß auf dem Beifahrersitz, hielt einen Becher in den Händen und nippte daran. Dahinter ragte ein Kirchturm in den Himmel. Er wurde von bläulichen Scheinwerfern angestrahlt. Ein Mann stand vor ihm, schwere Schuhe, wattierte grüne Jacke. Er wedelte mit der Hand vor Adams Augen. »Hal-lo!«, rief der Polizist ungeduldig. »Sie können hier doch nicht schlafen, Mann! Stehn Sie mal auf.« Adam lächelte, zog seine Mütze zurecht. »O nein«, sagte er höflich. »Ich warte hier. Auf den Gottesdienst.« Er deutete auf die Kirche. Mitleidig schaute der Polizist ihn an, musterte Adams Kleidung. Er wandte sich seiner Kollegin zu, die nur die Achseln zuckte. Schließlich nickte er, blickte auf seine Armbanduhr. »Kann ja nicht mehr lange dauern«, versicherte er Adam. »Aber passen Sie auf, dass sie sich hier im Freien nicht erkälten! Da sind schon welche erfroren.« »Ich passe auf, natürlich«, sagte Adam gehorsam. Sein Blick blieb an einem laublosen Baum auf der gegenüberliegenden Straßenseite hängen. Irgendeine gutmütige Seele hatte ein Vogelhäuschen in den Zweigen angebracht und mit Futter versehen. Trotz der frühen Stunde war schon ein Schwarm Blaumeisen damit beschäftigt, die Körner aufzupicken. Adam betrachtete die kleinen Vögel und nickte versonnen, als ob er sich an eine besondere Begebenheit erinnerte. Als er wieder zur Kirche blickte, sah er eine Gestalt darin verschwinden. Der Türflügel schlug zu. Er erhob sich, klopfte den Schnee von seinem Mantel. Dabei spürte er einen harten Gegenstand. Die Pistole steckte schwer in seiner Tasche. Gewissheit. Der Polizist trat beiseite, wog ab, ob Adam nicht doch ein betrunkener Penner war. »Alles in Ordnung?« 70
»Machen Sie sich um mich keine Sorgen, Herr Wachtmeister.« Er ging quer über den Platz in Richtung Kirche. Immer, wenn er den Schein einer Straßenlaterne verließ, beschleunigte er seine Schritte, um kurz darauf wieder in normales Spaziergängertempo zu verfallen. Ein Frühaufsteher, der sich nicht entscheiden kann, ob er es nun eilig hat oder nicht, dachte der Polizist. An Weihnachten neigten die Leute zu absonderlichen Handlungen. Plötzlich zog sie das schlechte Gewissen in die Kirchen. Sie konnten nicht einmal warten, bis sie aufmachten. »Harmlos«, befand seine Kollegin. Der Polizist stieg in den Streifenwagen und schenkte sich aus der Thermoskanne heißen Kaffee ein. Er sah, wie Adam die Kirche betrat. Na bitte. Als die schwere Tür hinter ihm zufiel, umfing Adam Finsternis. Das Gefühl eines großen, kalten Raumes, der sich vor ihm ausdehnte. Er erschrak. Sofort griff er in seinen Mantel und zog seine Taschenlampe heraus. Er weiß, dass ich ihn suche. Er wartet. Die Beleuchtung war ausgeschaltet. Weit vorne brannte ein rötliches Licht. Durch die schmalen, schießschartenartigen Fenster fiel der Widerschein der Außenscheinwerfer. Sie tauchten den Altarraum in einen graublauen Dämmerschein. Adam dachte an den Dachboden. Sie machten kein Licht, damit es niemand sah. Sie wollten es selbst nicht sehen. Nicht so genau. Die Glühbirne der Taschenlampe leuchtete ihm schwach ins Gesicht. Er lief los, zwang sich, nicht zu rennen, hastete mit kleinen nervösen Trippelschritten durch den Mittelgang. Ab und zu schaute er ängstlich zur Seite, aber die Bankreihen waren leer, ausgestorben. Als er die Stufen vor dem Altar erreichte, atmete er erleichtert auf. 71
Besser hier als bei den Schatten. In diesem Moment ertönte das Gurgeln einer Toilettenspülung. Adam zuckte zusammen. Es kam von einem Nebenraum, vermutlich der Sakristei. Jetzt hörte er Schritte auf dem Steinfußboden. Sie kamen stetig näher. Er trat hinter einen der spärlich geschmückten Weihnachtsbäume, die den Altarraum einrahmten, und schaltete die Taschenlampe aus. Seine Hand glitt in die Manteltasche. Er umfasste den Griff der Pistole. Ich habe eine Waffe. Der Priester trat durch die Seitentür ein. Er trug kein Messgewand, sondern schwarze Zivilkleidung und ein weißes Hemd mit Krawatte. Als er zum Altarraum kam, kniete er nieder und schlug beiläufig das Kreuzzeichen. Ohne Adam zu bemerken, ging er die Stufen empor zu einer Art Schrein, der mit reliefartigen Verzierungen versehen war. Er entnahm ihm einen goldenen Kelch, betrachtete ihn ehrfurchtsvoll und fing an, ihn mit einem Tuch zu polieren. Adam ging um eine Säule herum und näherte sich dem Mann von hinten. »Herr Hauptsturmführer?«, sagte er leise und blieb ein paar Schritte von ihm entfernt stehen. »Was –?« Der Priester fuhr herum. Als er Adam erkannte, hielt er kurz inne und lachte dann erleichtert auf. »Mein Gott, haben Sie mich erschreckt.« Ein Kirchgänger, dachte er, alles in Ordnung. »Was machen Sie denn schon hier? Die Frühmesse beginnt erst in einer guten Stunde.« Geschäftig fuhr er mit dem Polieren des Kelches fort. Adam fühlte sich ertappt. Verlegen schaute er sich um. Einer plötzlichen Eingebung folgend riss er sich die Wollmütze vom Kopf. »Hannah. Hannah Liebermann. Wissen Sie, wo sie ist, Herr Hauptsturmführer?« 72
Überrascht hielt der Priester inne. Behutsam stellte er den Kelch ab. Er ging rasch zur Seitentür, betätigte einen Lichtschalter, worauf der Altarraum hell erleuchtet wurde. Dann kam er zurück, trat auf Adam zu, doch dieser wich zurück und klammerte sich an die Waffe in seiner Manteltasche. »Wie haben Sie mich genannt?« Sie sahen sich eine Weile an, warteten auf eine Reaktion des anderen, bis Adam nervös zur Seite blickte. »Ich weiß, es ist schon so lange her.« Seine Stimme flatterte. »Es waren so viele. Und Sie hatten so viel zu tun.« Als er sich reden hörte, wurde er mutiger. »Ich möchte nur wissen, wo sie jetzt ist.« Der Priester sah ihn erstaunt an. Er dachte nach und schwieg. »Sie kennen sie doch, Hannah Liebermann.« Adams Tonfall wurde flehend. »Sie haben uns getrennt, damals. Sie haben Hannah an ihren Zöpfen gepackt und hinüber zu den Mädchen gezerrt.« Er hob die Hände. »Sie mussten es tun, natürlich«, versicherte er und nickte bestätigend dazu. »Es war ja Ihre Pflicht. Sie hatten Ihre Befehle.« Er muss sich erinnern. Wenn er sich erinnert, wird sich alles klären. Der Priester machte einen Schritt in Adams Richtung, doch dieser wich weiter zurück. Er stieß gegen eine Säule. Angst stieg in ihm hoch. »Herr –?«, versuchte es der Priester. Er klang freundlich. »Rose«, antwortete Adam geflissentlich. »Adam Rose.« Der Mann nickte langsam. »Sie haben mich ›Hauptsturmführer‹ genannt, Herr Rose?« »Ich wollte Sie nicht–« stammelte Adam. »Ich meine, ich –« »Mein Name ist Groll«, sagte der Priester. Er sprach jedes 73
Wort mit Nachdruck aus, als redete er mit einem Kind, das erst lernte, wie man einen ganzen Satz zu bilden hat. »Ich bin der Pfarrer dieser Gemeinde, Herr Rose.« Adam biss sich auf die Lippe. Er hatte seine Entschlusskraft verloren. Die Formulierungen, die er sich in der S-Bahn zurechtgelegt hatte, waren aufgebraucht, wirkungslos verpufft. Lag es daran, dass er sich nicht deutlich ausdrückte? Epstein wusste immer ganz genau, was Adam sagen wollte. Er erriet es sofort. »Kann ich Ihnen helfen?« Der Priester kam wieder näher. »Sie sind ja vollkommen verfroren. Soll ich einen Arzt rufen? Oder wenigstens ein Taxi?« Adam blieb stehen. Diese Fürsorge irritierte ihn. Er brauchte keinen Arzt. Das hatte er auch Karl schon oft gesagt. Er war doch nicht krank. »Sie sind Jude, nicht wahr?« Mitleid schwang in dieser Frage mit, der Versuch, an einem schweren Schicksal Anteilnahme zu zeigen. Adam presste sich gegen die Säule. Er war kerngesund, das wusste er. Epstein versicherte es ihm immer wieder. »Ich weiß nicht, was Sie erlebt haben, Herr Rose. Aber es kann sich hier nur um einen bedauerlichen Irrtum handeln. Ich bin nicht dieser – Sturmführer, für den Sie mich halten. Ich bin Pfarrer. Mein Name ist Groll.« Adam kämpfte mit den Tränen. Seine Verwirrung steigerte sich. »Wo ist sie?«, beharrte er. »Bitte –« Er schwankte etwas, als ob er sich nicht mehr auf den Beinen halten könnte. »Ich werde jetzt einen Arzt rufen«, sagte der Priester entschieden und schickte sich an, in die Sakristei zu gehen. Adam zog die Pistole, betrachtete sie einen Moment, wog sie in der Hand. Er zitterte am ganzen Körper. Also gut. Es wird nicht lange dauern. Es geht ganz schnell. 74
Er spannte den Hahn. Das Klicken ließ den Priester erstarren. Er drehte sich um. Seine Augen weiteten sich. Adam hielt die Pistole mit beiden Händen, verkrampft, aber mit dem Finger am Abzug. Der Lauf senkte sich ein wenig nach unten, hob sich, senkte sich wieder. Der Priester starrte auf die Waffe. »Sagen Sie mir, wo sie ist!« Adam sprach mit Absicht ganz deutlich. »Wo ist Hannah? Wo haben Sie sie hingebracht?«
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14 Der Priester sah Adam unverwandt an. Nach dem ersten Schreck schien er sich gefangen zu haben. Adam bemerkte, wie er die Entfernung zwischen ihnen abschätzte. Dann streckte er den Arm aus. Er griff langsam nach der Waffe – und entwand sie Adam, der sich nicht dagegen wehren konnte, es einfach geschehen ließ. Erschrocken zog er seine Hände zurück. Jetzt durchlief den Priester ein Zittern. Vorwurfsvoll blickte er Adam an, dessen Augen feucht wurden und der sich die Handgelenke rieb wie jemand, dessen Fesseln gelöst worden sind. Plötzlich fiel Adam vor dem Priester auf die Knie. Es war mehr ein erschöpftes Zusammenklappen als eine Demutsbezeugung. Er beugte sich nach vorne und bot stumm seinen Nacken dar. Die Bedrohung durch die Waffe hatte den Priester nicht so fassungslos gemacht wie dieser Kniefall, ohne Zweifel die Haltung eines Verurteilten, der seiner Hinrichtung entgegensah. Er war sichtlich geschockt, hielt die Waffe hilflos in seiner Hand. Schließlich drehte er sich weg, ging mit großen Schritten zum Altar, legte die Pistole dort ab, kam zurück und griff Adam unter die Arme, »Stehen Sie auf!«, beschwor er ihn. »Bitte, Herr Rose. Stehen Sie doch auf, um Gottes willen!« Adam rührte sich nicht. Sein Körper war ganz schlaff, jeder Wille war daraus gewichen. Selbst seine Gedanken schwiegen, es gab ja auch nichts mehr zu denken. Er spürte, wie der Priester an ihm zerrte, hörte, wie er auf ihn einredete. Aber er hielt den Blick weiter zu Boden gerichtet, auf die Fuge der steinernen Platte, die er dort sah, eine ebenmäßige Vertiefung, die Stein von Stein trennte. In dieser Vertiefung wollte er jetzt am liebsten verschwinden, hineinsickern und hinabgleiten für immer. Eine 76
Träne fiel von seiner Wange auf den Boden und hinterließ einen dunklen Fleck direkt neben der Fuge. Dann hörte er Schritte, verstärkt durch den Hall in der Kirche. Eine vertraute Stimme. »Adam!« Es war Karl. Er legte einen Arm um die Schulter seines Bruders. »Was tust du mir an? Was machst du da auf dem Boden? Na, komm schon, hoch mit dir!« Er half Adam auf die Beine, der es mit sich geschehen ließ. »Ich wollte gerade einen Arzt rufen«, schaltete sich der Priester ein, offenbar erleichtert darüber, dass die Situation entschärft wurde. »Danke, aber das ist nicht nötig«, erwiderte Karl freundlich. »Geht es dir gut?«, fuhr er zu Adam gewandt fort. Wie wird es jemandem wohl gehen, der gerade seinem Henker gegenübergetreten ist?, dachte Epstein, der zusammen mit Karl in die Kirche gekommen war. Schluss mit dem Gequatsche! Er packte den Priester am Kragen. »Was ging hier vor, Adam?« Der Mann protestierte wütend, aber Epstein würdigte ihn keines Blickes. »Was hat er mit dir gemacht?« »Bist du verrückt, Jockel?«, rief Karl. »Hör auf!« »Lassen Sie mich los!« Der Priester versuchte sich zu befreien, aber Epstein ließ nicht locker. »Nichts«, sagte Adam. »Er hat nichts getan, Epstein.« »Warum bist du auf dem Boden gelegen? Vor ihm!« »Ich weiß nicht«, brachte Adam nach einer kurzen Pause hervor. »Da haben Sie es, Sie Grobian!«, wehrte sich der Priester aufgebracht. »Was bilden Sie sich überhaupt ein? Das hier ist eine Kirche!« 77
Widerstrebend ließ Epstein ihn los. Er schaute den Mann immer noch nicht an. »Was hast du dir dabei gedacht?«, sagte er zu Adam. »Weißt du, was für eine Angst du uns eingejagt hast? Einfach so zu verschwinden.« »Ich wollte ihn nach Hannah fragen.« »Sie ist tot!«, brüllte Epstein. »Begreif das doch endlich, Adam! Sie ist tot!« Erst jetzt drehte er sich zu dem Priester, kreuzte den Blick mit seinem, eine Kampfansage. »Sagen Sie’s ihm! Na los!« Der Mann schüttelte den Kopf. Beschwichtigend hob er die Arme. »Sag’s ihm!«, befahl Epstein. War es das? Lief darauf alles hinaus? Dass Adam erst Ruhe gab, wenn er aus dem Munde des Feindes die Bestätigung gehört hatte? Traute er Giesser mehr als ihm? »Hast du nicht gehört?«, herrschte er den Priester an. Karl legte seine Hand auf Epsteins Schulter. »Jockel –« Das war zu viel. Karl und sein ewiges Abwiegeln. Hatte er denn keine Augen im Kopf? Epstein stieß seine Hand weg, packte ihn am Oberarm und schob ihn in Giessers Richtung. »Und? Ist er’s oder ist er’s nicht?« Karl dachte gar nicht daran, diese Farce mitzuspielen. Er sah Epstein drohend an, aber der machte keine Anstalten, ihn loszulassen. »Los! Da steht er. Schau ihn dir genau an!« Widerwillig ging Karl darauf ein. Eine Gegenüberstellung nach Epsteins Regeln, nun gut. Er wandte sich dem Priester zu, um sein Gesicht zu studieren, möglichst ohne eine Emotion, wie er es gelernt hatte. »Was soll das?«, regte sich dieser auf. »Ich bitte Sie!« 78
»Und?«, wollte Epstein wissen. Karl betrachtete den Mann eingehend. Mehr noch als Epstein hatten sich ihm Giessers Gesichtszüge ins Gedächtnis gebrannt. Oft hatte er sich diese Situation vorgestellt: Wenn er Giesser irgendwo treffen würde – solche Zufälle gab es, er hatte davon gehört –, wenn er Giesser also einfach so über den Weg laufen würde, obwohl alles dagegen sprach, dann wollte er ihn zweifelsfrei identifizieren können. Er wollte auf ihn deuten können und sagen: Dieser hier ist es, und zwar mit letzter Sicherheit. Er hegte eine tiefe Abneigung gegen Gerüchte und Mutmaßungen. Aber dieser Priester – er wusste nicht recht. Giesser mochte sich verändert haben. Vielleicht hatte er so etwas wie Reue empfunden. Oder Scham. So etwas wirkt sich auch auf das Äußere aus, frisst sich einen Weg ins Gesicht. Nicht zu vergessen die altersbedingte Wandlung, die Spuren des Lebens nach dem Lager, denn das hatte es ja auch gegeben, auch für die Leute wie Giesser, ja gerade für solche. Würde er Karl heute wieder erkennen, gesetzt den Fall, Karl hätte für Giesser die gleiche Bedeutung gehabt wie Giesser einst für Karl? Er bemerkte, dass er sich in Gedankenspielen verlor, und nahm sich den Mann erneut vor. Wenn er nur ein besonderes Kennzeichen gehabt hätte, eine Narbe, ein vorspringendes Kinn, eine markante Nase, irgendetwas! Blieben nur die Augen. Es waren offene Augen, Augen, die anscheinend nichts zu verbergen hatten. Ihm schauderte. Dieser Blick, dem nichts Verschlagenes anhaftete, sondern die reine Unschuld, Adams Blick, den sein Bruder widersinniger Weise mit einem anderen teilte, dieser Blick war ihm damals im Lager als Erstes an Giesser aufgefallen. Er schaute die Häftlinge an, als ob das KZ Ausdruck der natürlichen Ordnung der Dinge sei, ein wahrhaftiger Ort, an den er, Giesser, gestellt worden war, um dieser natürlichen Ordnung Geltung zu verschaffen. Giesser, das Werkzeug des Weltenplans, ein Gerechter aus seiner Sicht. Das 79
hatte Karl nie verstanden. Den Blick und die ungetrübte Überzeugung dahinter, die Naivität des Bösen. »Er könnte es sein«, sagte er schließlich. Jetzt wurde der Priester nervös. »Was erlauben Sie sich! Stellen Sie mich hier vor ein Tribunal?« Doch die Entrüstung war nur ein Reflex. Seine Augen veränderten sich, wurden gehetzt. Karl kamen Bedenken. Nein, überlegte er, diesen Blick hatte er an Giesser niemals gesehen, der gehörte zu einem völlig anderen Menschen. Für einen Augenblick war die Ähnlichkeit wirklich beängstigend gewesen. Aber jetzt – Vielleicht überinterpretierte er die Fassungslosigkeit eines ehrlichen Mannes? Ging es ihm wie Epstein? Das dürfte er nicht zulassen, keine Vorverurteilung auf einen Blick hin! Schnell das Urteil zurücknehmen, bevor es sich verfestigte. »Nein, ich habe mich getäuscht«, sagte er. »Hast du nicht!«, rief Epstein. »Es gibt eine gewisse Ähnlichkeit, das schon, aber mehr auch nicht.« »Fall jetzt nicht um, Karl! Er ist es!« »Nur weil du es dir in den Kopf gesetzt hast, Jockel. Das genügt nicht.« Im Gegenteil, fügte er in Gedanken hinzu, es nährt nur meine Zweifel. Der Priester trat einen Schritt vor. »Es tut mir so Leid«, hub er an. Epstein stieß ein höhnisches Zischen aus. »Es muss sich um ein schreckliches Missverständnis handeln«, beteuerte der Mann. Missverständnis, dachte Epstein. Die Sehnen an seinem Nacken traten hervor. Der Kerl ist ein einziges Missverständnis. Aber das klären wir auf, das kriegen wir geregelt, warte nur. Er
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wollte sich wieder auf ihn stürzen, doch diesmal ging Karl energisch dazwischen. »Gewalt bringt uns hier nicht weiter.« Schützend schob er sich vor den Priester. »Wenn ich auch einmal etwas sagen dürfte«, begann dieser. Epstein verbot ihm lautstark den Mund, aber der Priester ignorierte ihn. Den Grobian werde ich nicht umstimmen können, dachte er. Der riecht nach Alkohol, ist ja nicht zurechnungsfähig. Dagegen war der Besonnene offenbar schon fast auf seiner Seite. »Mein Name ist Groll«, erklärte er mit nüchterner Stimme. »Paul Groll. Ich bin seit mehr als drei Jahren Pfarrer dieser Gemeinde. Davor war ich vierzehn Jahre in Tansania, Daressalam, in einer Mission. Ich kann Ihnen Urkunden zeigen, die das belegen, meinen Ausweis, meinen Reisepass. Ich bin Paul Groll.« Er wandte sich Adam zu. »Und ich habe nie etwas von dieser Dame, dieser – Hannah gehört. Ich kenne sie nicht.« Für Epstein schlug er einen strengeren Tonfall an. »Und was Sie betrifft, bin ich mir sicher, dass es für Ihr Verhalten eine Begründung gibt. Entschuldigen kann ich solch ein rüdes Benehmen aber nicht.« »Giesser«, sagte Epstein drohend. »Groll. Mein Name ist Groll.« »Du feiger Lügner!« Der Priester drehte sich brüsk weg, ging zu den Lichtreglern und schaltete in der ganzen Kirche die Beleuchtung ein. »Sie tun mir Leid. Und jetzt verlassen Sie bitte meine Kirche. Ich kann nichts für Sie tun.« »Was bildest du dir ein!« Epstein geriet außer sich, doch Karl verstellte ihm den Weg. »Raus!«, rief der Priester. »Oder ich hole die Polizei.« »Er hat vollkommen Recht, Jockel«, räumte Karl ein. »Ich 81
würde wahrscheinlich auch so reagieren. Wir kommen in seine Kirche, überschütten ihn mit Vorwürfen. Und du wirst auch noch handgreiflich.« Vermittelnd schaute er zu dem Priester. »Da ist es nur Ihr gutes Recht, wenn Sie eine Erklärung verlangen.« Der Mann rang sichtlich mit sich, ob er sich auf diese Wendung einlassen sollte. Epstein blieb abwartend stehen und verschränkte die Arme vor seiner Brust. Karl hatte die Lage etwas beruhigt. Er fuhr fort. »Es ist nur – Sie sehen einem Hauptsturmführer aus dem Konzentrationslager sehr ähnlich, in dem wir«, er deutete von Epstein zu Adam und sich, »in dem wir während des Krieges interniert waren. Ihre Stimme, ihr – Äußeres. Sie ähneln diesem – Herrn ein wenig. Sein Name war Giesser. Anton Giesser.« »Giesser«, sinnierte der Priester. Er nickte bedächtig. »Das KZ Majdanek.« Verblüfft sahen sich Epstein, Karl und Adam an. Mit diesem Umschwung hatte keiner von ihnen gerechnet. Er gibt es zu?, fragte sich Epstein. Also doch! Er stieß Karl zur Seite, holte aus und schlug dem Priester mit aller Wucht die Faust ins Gesicht. Der Mann stürzte schwer zu Boden. Epstein wollte nachsetzen, doch Karl ging wieder dazwischen. »Reiß dich zusammen, Jockel!« »Er ist es doch, Karl! Er ist es! Du hast es doch gerade selbst gehört!« Epstein deutete aufgeregt auf dem am Boden liegenden Priester, der sich die blutende Lippe hielt und seine Zähne befühlte. »Sind Sie in Ordnung?«, sorgte sich Karl. »Kann ich Ihnen helfen?« Der Geistliche beachtete ihn nicht. Er versuchte sich aufzurichten.
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»Woher wissen Sie, dass wir in Majdanek waren?«, wollte Karl von ihm wissen. Entkräftet sank der Mann wieder zu Boden. »Was nützt es, Ihnen das zu erklären? Sie hören mir ja nicht einmal zu.« Sein Blick heftete sich auf Epstein. Dort stand sein Gegner, ein Bulle, voller alter Wut und junger Erregung. »Was haben Sie vor? Wollen Sie die Wahrheit aus mir herausprügeln?« Er spuckte Blut auf die steinernen Bodenplatten. »Sie haben im KZ viel gelernt, Herr Epstein.« Epstein taumelte zurück. Auch Karl und Adam waren wie vom Donner gerührt. »Woher kennen Sie seinen Namen?«, fragte Adam. Der Priester zog sein Jackett aus, knöpfte den Manschettenknopf seines Hemdes auf und krempelte den Ärmel bis zum Ellenbogen hoch. Er hielt Epstein den Unterarm entgegen. Deutlich zeichnete sich auf der Haut eine Häftlingsnummer ab. »Und warum haben Sie meinen Namen vergessen?«
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15 Begriffsstutzig starrte Epstein auf den Arm des Priesters. Bläuliche Zahlen auf verwelkter Haut, ein Anblick, der für ihn so selbstverständlich geworden war, dass er zuerst gar nicht reagierte. Was war das schon? Eine Nummer, wie sie jeder von ihnen hatte, im Voraus abgezählt für den großen Abtritt. Adam biss sich nur auf die Lippe. »Ich wusste es«, sagte Karl. Da war es, das besondere Kennzeichen, das ihm gefehlt hatte. Er drehte sich zu Epstein, streckte bestätigend die Hände aus. »Siehst du, Jockel, ich hatte Recht!« Verdammt, das änderte alles! Bebend fuhr er sich mit der Hand über die Stirn, schüttelte den Kopf. Der Priester hielt ihm seinen Arm immer noch hin, wortlos, was naturgemäß die größte Wirkung erzielte. Ein Taschenspielertrick?, dachte Epstein. Wohl kaum, aber so etwas konnte man sich überall machen lassen, das bewies noch gar nichts. »Aber Sie sind es«, sagte Adam verzweifelt. »Sie müssen es sein! Warum –« Karl brachte ihn mit einem strengen Blick zum Schweigen. Als der Priester Anstalten machte, sich zu erheben, kam ihm Karl zu Hilfe und richtete ihn auf. »Ich muss mich bei Ihnen entschuldigen, Herr Groll. Ich habe versucht, Jockel – ich meine, Herrn Epstein davon zu überzeugen, dass Sie unmöglich Giesser sein können. Aber er wollte nicht hören. Er ist verstockt, hat sich in eine fixe Idee verrannt. Ich nehme an, es ist das Gedächtnis, die Erinnerung. Sie spielt ihm einen Streich. Man wirft Dinge zusammen, die –« »Ich bin nicht der, den Sie suchen«, schnitt ihm der Priester das Wort ab, »ein für alle Mal!« 84
»Ich weiß«, lenkte Karl ein. »Sie können sich nicht vorstellen, wie peinlich mir das ist. Was soll ich sagen? Wenn Sie uns nur schon früher die Nummer –« »Was glauben Sie wohl?«, brach es aus dem Priester hervor. »Denken Sie, ich spaziere durch die Weltgeschichte und halte das jedem unter die Nase?« Er streifte seinen Ärmel nach unten. »Soll ich damit hausieren gehen? Oder wie einen Orden vor mir hertragen? Offenbar erwarten Sie das, aber es ist nicht meine Art.« »Nein, natürlich nicht« Der Mann brachte seine Kleidung in Ordnung. Er tastete wieder an seinem Mund herum. »Sie haben einen ganz schönen Schlag«, sagte er anerkennend zu Epstein, der sich trotzig abwandte. Lächelnd blickte der Priester von einem zu anderen. Aber für einen flotten Spruch war die Stimmung noch zu gedrückt. Ernster, vertraulicher fuhr er fort. »Es kommt selten vor, dass ich jemanden aus dieser – schlimmen Zeit treffe. Wie haben Sie – wenn ich fragen darf, wie sind Sie durchgekommen?« Karl zögerte. Er wollte die Sache bereinigen und diesen Ort verlassen. Warum musste der Priester jetzt auf einmal in der Vergangenheit wühlen? Vor Gericht würde er einfach die Anklage fallen lassen und das war’s. Die Kosten des Verfahrens gingen zu Lasten des Klägers, Ende der Vorstellung. Aber da sie schon so weit gegangen waren, konnte er ihm schlecht eine Antwort schuldig bleiben. »Mein Name ist übrigens Rose, Karl Rose.« Er deutete auf Adam. »Wir sind Brüder.« Er hatte vergessen, die Formen zu wahren. »Um auf Ihre Frage zu antworten«, fuhr er nach einer Pause fort. »Die Sowjets kamen näher. Das Lager wurde aufgelöst –«
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Der Priester nickte verständnisvoll, wie ein Beichtvater, der um die Verfehlungen seiner Schäflein weiß. »Ein furchtbarer Tag«, sagte er beklommen. Die Erinnerung war für Karl wie eine ansteckende Krankheit. Wenn sich die ersten Symptome zeigten, bekämpfte er sie mit den Verpflichtungen seines Berufs, vertiefte sich in Gesetzeskommentare, unmissverständliche Texte, die sich auf das Nötigste beschränkten. Seine Auffassung von Gerichtsmedizin. Das hatte immer geholfen. »Wir mussten die Nacht durchmarschieren«, erzählte er sachlich. »Richtung Westen. Jockel –, Jockel hat einen der Begleitposten bestochen. Wir konnten uns in die Büsche schlagen und fliehen.« »Ich habe von diesen Märschen gehört«, sagte der Priester. »Sie folgten einer seltsamen Logik. Aber was war damals schon logisch?« Er hob die Hände. »Bei mir war es anders. Ich bin im Lager geblieben. Wie Sie wissen, arbeitete ich in der Schreibstube, zusammen mit Giesser. Es war mir gelungen, ein paar Bodenbretter zu lockern. Bevor er seinen letzten Kontrollgang machte, verbarg ich mich in meinem Versteck. Gerade noch rechtzeitig konnte ich eine Latte über mich ziehen. Wahrscheinlich hätte er mich erschossen, so kurz vor dem Ende.« Er stieß ein hohles Lachen aus. »Mein Gott, hatte ich ein Glück.« Aufmunternd klopfte er Karl auf die Schulter. »Mann, hatten wir Glück! Unglaubliches Glück. So viele mussten ihr Leben lassen. Aber wir haben überlebt.« Karl war die Berührung unangenehm. Der Priester wandte sich Adam zu. »Glauben Sie das nicht auch, Herr Rose?« »Wie?«, fragte Adam verwirrt.
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»Meinen Sie nicht auch, dass das Glück auf unserer Seite war?« »Doch, doch, natürlich«, pflichtete ihm Adam beflissen bei, aber er schien gar nicht bei der Sache zu sein. »Herr Epstein?« Epstein murmelte etwas, das wie »Schicksal« klang. Er dachte an die Geschichte mit den Bodenbrettern. Ein verbreitetes Versteck im Lager. Er hatte sich für diesen und andere Fälle selbst eines angelegt. Seine Gedanken schweiften ab. Wie lange hatte er diese Angewohnheit nach dem Lager beibehalten? Seine Wohnung, sein Büro – überall gab es verborgene Hohlräume, in denen er Konserven deponiert hatte. Taschenmesser, Bindfaden, Draht, Wertgegenstände. Man konnte ja nie wissen. »Glück?«, wandte Karl ein, dem diese Erklärung stets zu blauäugig vorgekommen war. »Na, ich weiß nicht. Es ist auch das Gefühl, schuldig zu sein. Warum habe ich überlebt? Warum nicht die anderen? Glück?« Er wiegte den Kopf. »Nennen Sie es Zufall. Oder einen schlechten Witz.« »Aber nein.« Der Priester wedelte mit dem Zeigefinger hin und her, warf sich in Predigerpose. »Wenn man Gott vertraut, sich an die Regeln hält und sie im richtigen Moment auch einmal umgeht«, er lachte über seine Bemerkung, »dann kann man viel bewegen, Herr Rose. Vielleicht habe ich mich falsch ausgedrückt. Glück, ja, das hatten wir schon, das brauchte man zu einem gewissen Grad. Aber jeder ist auch seines Glückes Schmied, wie ich immer sage. Jeder ist seines Glückes Schmied.« Ein bitterer Geschmack stieg in Karls Kehle hoch und breitete sich in seinem Mund aus. Er verzog das Gesicht, schluckte die aufwallende Übelkeit herunter. »Das haben Sie schon im Lager immer gesagt.« Überrascht sah ihn der Priester an. 87
»Nicht wahr, Jockel?« Karls Augen verengten sich. Eine Routine kam in Gang, ausgelöst durch jahrzehntelang eingeübte Anwaltsinstinkte. Er versuchte, die Aufmerksamkeit seines Freundes zu erregen. »Stimmt’s, Jockel? Das hat er schon im Lager immer gesagt, damals, als du ihm Kerzen für seine heimlichen Gottesdienste beschafft hast.« Epstein riss sich von seiner Grübelei los und schaute Karl fragend an. »Erinnerst du dich nicht, Jockel? Du hast es mir doch erzählt. Jeder ist seines Glückes Schmied, das waren seine Worte.« Karl wandte sich wieder dem Priester zu. »Wir haben Sie alle bewundert. Für Ihre Zuversicht an einem Ort, wo wir anderen längst alle Hoffnung aufgegeben hatten. Bewundert – und für komplett verrückt gehalten. Unbedingt wollten sie diese Kerzen für Ihre Gottesdienste. Was musstest du alles anstellen, nur um diese Kerzen aufzutreiben, Jockel.« Er schüttelte lachend den Kopf. Die anfängliche Skepsis des Priesters hatte sich in Eitelkeit verwandelt. Er lächelte selbstzufrieden und schlug sich vor die Stirn. »Natürlich! Deshalb ist mir Ihr Name so gut in Erinnerung geblieben! Sie haben mir immer die Kerzen besorgt, Epstein! Sie waren das!« Epstein und Karl wechselten einen langen eisigen Blick. Sie sprachen kein Wort. »Das wird Ihnen dermaleinst hoch angerechnet werden, mein Lieber!« Wieder Schweigen. Als der Priester merkte, dass etwas Unausgesprochenes in der Luft hing, wurde er misstrauisch. »Aber er hat die Kerzen doch nie bekommen«, sagte Adam verständnislos. Er konnte dem Gespräch nicht mehr folgen. »Wir haben immer nur davon geredet. Es war zu gefährlich.« Der Priester wurde bleich. Eine Fangfrage. Der Besonnene hatte ihn in eine Falle gelockt. Dieser durchtriebene Itzig! 88
Warum hatte er nicht die Polizei gerufen? Er wich einen Schritt zurück, fing sich dann wieder. »Was wollen Sie mir da unterstellen? Was ist das für ein billiges Spiel? Dann habe ich mir die Kerzen eben von jemand anderem besorgt. Meinen Sie, ich war auf Sie angewiesen?« Er schaute auf seine Uhr. »Ich habe keine Zeit mehr, meine Herren, der Gottesdienst fängt bald an. Es hat offensichtlich überhaupt keinen Sinn, gegen Ihre vorgefasste Meinung irgendein Argument vorzubringen. Jede Äußerung biegen Sie sich zurecht, wie es Ihnen passt. Sie stellen meine Integrität in Frage. Sie verspotten mich. Sie meinen wohl, als Juden hätten Sie das Recht dazu? Da kann ich Ihnen nur sagen: Sie sind nicht die Einzigen, deren Leben zerstört wurde. Ich muss Sie also bitten, die Kirche zu verlassen.« Epstein war wieder kurz davor, Amok zu laufen. Doch Karl gebot ihm Einhalt und ergriff erneut das Wort. »Würde es Ihnen etwas ausmachen, uns Ihre rechte Achselhöhle zu zeigen?« Gereizt schaute sich der Priester um und warf Karl dabei einen vernichtenden Blick zu. Mühsam beherrschte er sich. »Sie möchten wissen, ob meine Blutgruppe unter der Schulter eingebrannt ist«, schnaufte er. »Sie möchten wissen, ob ich Mitglied der SS war. Sie verdächtigen mich, ein Mörder zu sein, obwohl ich ein Opfer bin.« Er richtete sich zu voller Größe auf. »Ja, es macht mir etwas aus. Gehen Sie jetzt.« »Oder was?« Epstein versetzte ihm einen Stoß vor die Brust. »Was hast du mit dem echten Groll gemacht? Hast du ihn erschossen, bevor er sich verstecken konnte? Oder einfach totgeprügelt?« Gehässig funkelte der Priester ihn an. »Glauben Sie doch, was Sie wollen. Und jetzt verlassen Sie meine Kirche.« Karl hatte jetzt keinen Zweifel mehr, dass der Priester in Wahrheit Giesser war – und stünde er auch im Messgewand vor
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ihm. Er hatte ihn überführt. Aber brächte er auch ein Geständnis aus ihm heraus? War das überhaupt seine Aufgabe? Plötzlich schob sich Adam nach vorne. Er hatte wieder Mut gefasst, begann nach und nach zu begreifen. »Es tut mir Leid, dass Epstein Sie geschlagen hat«, sagte er mit aufrichtigem Bedauern. Der Priester schaute kurz zu ihm hoch. Er nickte abfällig. »Aber Sie sind es«, fuhr Adam fort. »Sie müssen es einfach sein.« Er stockte. »Sie brauchen keine Angst vor uns haben. Wir tun Ihnen nichts. Wir wollen nur wissen, wo Hannah ist.« Unsicher suchte er nach Zustimmung bei Epstein und Karl. »Es beruhigt mich, dass Sie sich so um mich sorgen, Herr Rose«, sagte der Priester hohntriefend. »Ich kann Ihnen aber versichern, dass ich zu keiner Zeit, nicht einen einzigen Moment lang, Angst vor Ihnen hatte.« Damit wollte er sich von den drei Männern wegdrehen, aber Epstein riss ihn herum. »Das lässt sich ändern.« Er packte den Priester am Hals und drückte zu. »Na, was ist? Was kannst du uns jetzt versichern?« »Lass ihn, Epstein«, protestierte Karl. »Ich mach dich fertig!« Epsteins Finger gruben sich in die Kehle des Priesters, tasteten nach Adern und Sehnen. Der Mann gab ein ersticktes Gurgeln von sich. »Lass ihn, er hat keine Chance«, redete Karl auf Epstein ein. »Irgendwo lagern seine Krankenakten, Blutgruppe, Röntgenbilder, Fotos. Die SS war in dieser Beziehung sehr gewissenhaft. Mit Sicherheit gibt es genügend Beweismaterial für einen ordentlichen Prozess. Keine Sorge, du bekommst deine Rache.« Allmählich lockerte Epstein seinen Griff, ließ schließlich los. Der Priester fiel zu Boden und schnappte röchelnd nach Luft. »Für die Presse ist die ganze Geschichte sowieso ein gefundenes Fressen«, sagte Karl. 90
»Nach Weihnachten wird sein Gesicht an jedem Kiosk hängen.« Widerstrebend ließ sich Epstein von Karl wegzerren, hielt aber den Blick unentwegt auf den Priester gerichtet, als ob er ihn mit den Augen auf den Steinplatten festketten könnte. »Aber wenn ich es doch nicht bin!«, wehrte sich der Mann. Epstein schüttelte Karl ab und machte unvermittelt kehrt. Er schickte sich an, die Kirche zu verlassen, stampfte durch den Mittelgang. »Was ist?«, rief ihm Karl hinterher. »Ich werde mich vor die Tür stellen und jedem, der den Gottesdienst besuchen will, erzählen, was für ein Mensch der da ist. Kommst du mit, Adam?« Er winkte seinem Freund zu, der ihm ohne zu zögern folgte. »Wenn er nichts sagt, sagen wir es allen.« Adams Stimme war hart. Es gefiel ihm, sie zu hören. »Wenn er nichts sagt, sagen wir es allen«, wiederholte er mit Nachdruck. Karl zuckte mit den Schultern und schloss sich den beiden an. Gut, dass Epstein von dem Kerl abließ, dachte er. Wer weiß, was sonst noch passieren würde. »Warum wollen Sie mir das antun? Was habe ich Ihnen getan?«, flehte der Priester, der immer noch im Altarraum kniete. Die drei gingen weiter. »Ich war da. Ich behaupte ja nicht, dass ich nicht da war.« Keine Reaktion. »Sie suchen ja nur einen Sündenbock! Irgendeinen! Sie hören mir ja nicht einmal zu! Für Sie bin ich schuldig, seit Sie mich zum ersten Mal hier gesehen haben!« »Du warst schuldig, als ich dich zum ersten Mal auf der Rampe gesehen habe!«, rief ihm Epstein über die Schulter zu. 91
»Also gut«, bellte der Priester. »Und wenn ich es wäre? Was wäre dann?« Die drei alten Männer blieben stehen und drehten sich um. »Sie sind es!«, brüllte Karl. »Sie sind es und ich weiß es! Und bei Gott, ich wünschte, Sie wären es nicht!« »Ich bin es nicht!« Die Stimme des Priesters überschlug sich. Es klang wie ein irres Kichern. »Verklagen Sie uns wegen Verleumdung! Oder übler Nachrede!« Karl war froh, dass sie die Kirchtür fast erreicht hatten. Inzwischen war selbst er nahe daran, die Beherrschung zu verlieren. »Aber eines kann ich Ihnen sagen: Das ist erst der Anfang!« Epstein legte Karl die Hand auf die Schulter und zog ihn weiter. »Und wer von Ihnen wirft den ersten Stein?«, schrie der Priester. »Etwa Sie, Epstein? Der Mann mit der eisernen Faust?« Er lachte verächtlich. Epstein ging voran und stemmte einen Türflügel auf. »Sie haben nie gelogen? Nie jemanden verraten? Sie haben sich nie versündigt? Damals im Lager?« Fast wäre Epstein die Tür entglitten. Er fasste mit der anderen Hand nach und lehnte sich mit seinem Gewicht dagegen. »Gegenüber Freunden?«, schrie der Priester. Die ersten Sonnenstrahlen des Tages fielen herein. »Oder Mitgefangenen?« Epstein blieb an der Schwelle stehen. Der Platz vor der Kirche war völlig eingeschneit, eine geschlossene, weiß glänzende, friedliche Decke, in der nur die Spuren der vier Männer sichtbar waren, die vor einiger Zeit die Kirche betreten hatten, aus verschiedenen Richtungen, wie zu erkennen war. »Gegenüber dieser – Hannah.« Mit einem schweren Seufzer neigte Epstein den Kopf. Seine Nasenflügel bebten, ein Schauder ergriff seinen Körper. Achtlos 92
ließ er die Tür zufallen und drehte sich um. Karl und Adam schauten ihn entgeistert an. Epstein ging zurück.
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16 »Monsieur Epstein?« Epstein hob er erstaunt den Kopf. Er saß immer noch auf dem Rand des Bettes, wie lange schon? Zwischendurch hatte er sich vorgestellt, wie es wäre, den Mantel auszuziehen, die Schuhe abzustreifen und in einen langen erholsamen Schlaf zu fallen. Er hatte ihn sich verdient nach diesen fünfzehn Jahren, zum ersten Mal wieder im eigenen Bett. Aber er konnte sich nicht rühren, als ob seine Füße im Boden verschraubt wären, konnte nur dasitzen und die Lichtstriche beobachten, die durch die Rollläden auf die Bettwäsche fielen, wie ein Morsecode, der nur aus lang-langlang bestand. Was hatte er hier noch zu suchen? »Allô?« Er beugte sich ein Stück weit vor und schaute in den Wohnraum. In der Tür zum Flur stand eine ältere Dame. Sie trug ein elegantes, dunkelrotes Kostüm, darüber einen leichten, taubenblauen Satinmantel. Handtasche und Schuhe waren perfekt auf das Kostüm abgestimmt. Als sie Epstein bemerkte, kam sie vorsichtig näher. »Bonjour …«, sagte sie unsicher. »C’est bien vous, Monsieur Epstein? Joachim Epstein? J’espère que je ne vous dérange pas.« Ihr Französisch war flüssig, aber ein leichter Akzent verriet, dass es nicht ihre Muttersprache war. Epsteins Namen sprach sie deutsch aus. »Ich verstehe Sie nicht«, antwortete Epstein. »Ich spreche kein Französisch.« Die Frau reagierte nicht. »Sind Sie von der Kanzlei?«, fragte er, erhob sich und ging zu ihr ins Wohnzimmer. »Haben Sie die Unterlagen dabei?« 94
Umständlich kramte er in der Innentasche seines Jacketts, zog eine Lesebrille hervor und setzte sie auf. Mit ausgestreckter Hand kam er der Frau entgegen. »Geben Sie mir die Papiere. Ich habe nicht viel Zeit.« Sie schaute ihn fragend an. »Donnez les – docu –«, versuchte er es unbeholfen, fuhr dann auf Deutsch fort. »Dokument. Dokument!« Er ließ die Hand wieder sinken und fügte mürrisch hinzu, mehr für sich: »Wenn ich denen die Wohnung schon für einen Spottpreis verkaufe, könnten sie wenigstens jemanden schicken, mit dem man sich verständigen kann.« Die Frau runzelte die Stirn. Dann schüttelte sie lächelnd den Kopf. Irgendwie wissend, dachte er, was ihn noch ungehaltener werden ließ. »Signe, signe!« Er machte eine fahrige Schreibbewegung. »Ich bin nicht gekommen, um Ihre Wohnung zu kaufen«, sagte die Frau auf Deutsch und betrachtete ihn amüsiert. »Sie sind gar keine Französin!«, sagte er überrascht. »Na ja, Deutsch ist nicht gerade meine Lieblingssprache, aber die einzige, die ich verstehe. Und die einzige, die ich spreche.« Neugierig sah sich die Frau um, reckte den Kopf, warf einen Blick ins Schlafzimmer. »Was wollen Sie hier?«, fragte Epstein argwöhnisch. »Wer sind Sie?« Von der Eingangstür hörte man ein Klopfen. »Hallo?«, ertönte eine Stimme. »Jemand zu Hause?« Als Epstein die Diele betrat, kam ihm ein junger Mann in einem grauen Anzug entgegen. In der einen Hand trug er einen Aktenkoffer, die andere streckte er zum Gruß aus. »Guten Tag, Herr Epstein. Kubitzki, von der Kanzlei Marbach und Schmidt. Ich komme wegen des Wohnungsverkaufs.«
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Epstein verweigerte den Handschlag. Ihm war nicht nach guten Umgangsformen, er hatte sie verlernt, sich abgewöhnt. Der junge Mann wandte sich der Frau zu, die Epstein gefolgt war, und schüttelte ihr die Hand. »Frau Lamy, schön, dass Sie schon hier sind. Wie war Ihr Flug?« »Danke, alles in Ordnung.« Jetzt wandte sich Kubitzki wieder Epstein zu, der die beiden verwirrt anstarrte. Der junge Mann lächelte nachsichtig. »Am besten, wir bringen das schnell hinter uns. Sie haben sich bestimmt viel zu erzählen.« Er nestelte an seinem Aktenkoffer herum, klappte ihn auf und zog einen Umschlag heraus. »Ich habe den Vertrag dabei. Sie können ihn gleich –« »Jetzt nicht«, wehrte Epstein ab und hob die Hand. »Wer sind Sie?«, fragte er die Frau. »Oh, entschuldigen Sie«, sagte Kubitzki, dem die Szene offenbar peinlich wurde. »Ich dachte, Sie hätten sich schon miteinander bekannt gemacht.« »Haben wir nicht«, versetzte Epstein schroff und wiederholte seine Frage. »Wer sind Sie?« Er glaubte, die Frau zu kennen, aber ihm wollte nicht einfallen, woher. »Kein Wunder, dass Sie so überrascht sind, Herr Epstein.« Der junge Mann versuchte ein Lachen. »Ehrlich gesagt, ging es uns genauso. Erinnern Sie sich an den Auftrag, den Sie unserer Kanzlei –« Er brach verlegen ab, räusperte sich. »Na ja, das ist jetzt bestimmt vierzig Jahre her. Damals waren wir noch auf einem anderen Gebiet tätig, wie Sie wohl wissen.« Die Frau kam ihm zu Hilfe. »Du hast nach mir suchen lassen, Jockel.« Epstein erstarrte. Unmöglich, dachte er. Wahrscheinlich träumte er. Wahrscheinlich war er tatsächlich auf dem Bett eingeschlafen und durchlebte jetzt etwas, das von der Rückkehr 96
in seine alte Wohnung ausgelöst wurde, von den Fotos, die er betrachtet hatte. »Sie haben den Auftrag nie zurückgezogen«, redete Kubitzki weiter. »Deshalb haben wir natürlich weiter geforscht. Schließlich gehen wir in solchen Fällen sehr gründlich vor –« Es hatte keinen Sinn, sagte sich Epstein, er wachte nicht auf. Dies alles schien wirklich zu passieren. Er schlug die Hände vors Gesicht, wagte nicht, sie fortzunehmen. »Hannah?«, sagte er leise. »Ja, Jockel« antwortete die Frau ganz ruhig. »Ich bin es.«
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17 Mit Genugtuung registrierte der Priester, dass die drei alten Juden umkehrten. Die Tür schloss sich hinter ihnen. O nein, so einfach kamen sie ihm nicht davon. Sie sollten bekommen, wonach sie suchten, er würde es ihnen geben. Adam drängte sich nach vorne. Epstein versuchte ihn festzuhalten, aber er riss sich los. »Was wissen Sie von ihr? Was wissen Sie von Hannah?« Er stürmte auf den Mann zu. Kurz vor dem Altarraum holte Karl seinen Bruder ein und fasste ihn bei der Hand. Sie blieben stehen. Epstein nahm hinter den beiden Aufstellung. »Adam –« »Er weiß etwas, Karl. Er hat es gerade gesagt.« »Ich war ein einfacher Gefangener wie Sie.« Der Priester lächelte fein. Die Reaktionen des Naivlings waren einfach vorherzusagen. Er durfte ihn nicht reizen, das natürlich nicht. Aber er konnte sein Interesse wecken. Vielleicht war dieser schüchterne Einfaltspinsel sein bester Verbündeter. Den Namen dieser Hannah hatte er aufs Geratewohl ins Spiel gebracht. Offenbar genau zum richtigen Zeitpunkt. »Was sollen diese Anspielungen?«, polterte Karl. »Was wollen Sie damit sagen?« »Ich spreche nur allgemein«, erwiderte der Priester. »Theoretisch, mit historischem Abstand. Objektiv gewissermaßen.« In umgänglichem Ton fuhr er fort. »Mensch, Sie waren doch dabei! Wir alle wissen, dass sich die Häftlinge untereinander nichts geschenkt haben.«
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Fassungslos starrte Karl ihn an. »Wir sind durch die Hölle gegangen.« »Man kann auch über Leichen durch die Hölle gehen«, versetzte der Priester. Karl wog jedes einzelne Wort ab. »Ich weiß.« Irritiert zog der Mann die Stirn in Falten. »Man muss nur genau zwischen die Schulterblätter treten«, setzte Karl hinzu. »Dann kann man die Leichen bis zur Mitte eines Massengrabes schleppen, ohne auf den nackten Körpern auszurutschen.« Er schaute den Priester herausfordernd an. »So geht man über Leichen, Herr Hauptsturmführer.« Der Priester schwieg. Adam schluckte. »Aber wenn er ein politischer Gefangener war, hatte er damit gar nichts zu tun«, gab er zu bedenken. »Ich habe es doch selbst erlebt, Herr Rose«, sagte der Priester zu Karl. »Sie doch auch! Häftlinge, die sich gegenseitig Decken stahlen, Brot, Schuhe, einen Löffel. Häftlinge, die sich gegenseitig verrieten. Um einen winzigen Vorteil willen.« »Ich hoffe nur, wir haben Ihr Moralgefüge damit nicht durcheinander gebracht«, blaffte Karl. »Haben Sie sich schon einmal in die deutschen Soldaten hineinversetzt, die im Lager Dienst taten?«, fragte der Priester. »Um gerecht urteilen zu können, muss man alle Perspektiven berücksichtigen.« »Ich habe es versucht«, sagte Karl, »mehr als einmal. Es war mir unmöglich.« »Meinen Sie, das waren alles Mörder?« »Kommen Sie mir nicht mit Befehlsnotstand oder so etwas. Soweit ich weiß, wurden Sie nicht dazu gezwungen. Wenn jemand aus freien Stücken einen Menschen umbringt, keinen gegnerischen Soldaten, sondern einen Häftling, dann ist das Mord. Da spielt es nicht einmal eine Rolle, ob der so genannte 99
Häftling schuldig ist oder nicht. Mord bleibt Mord. Um das zu erkennen, brauche ich mich nicht in die deutschen Soldaten hineinzuversetzen. Selbst wenn ich es wollte oder könnte. Die Motive dieser Leute sind mir vollkommen gleichgültig. Die Fakten sprechen für sich.« Kopfschüttelnd drehte sich der Priester weg. »Sie denken, dass Sie alles wissen.« Jetzt schaute er Epstein an. »Aber meinen Sie nicht auch, dass Ihnen das eine oder andere entgangen sein muss? Dieser Hauptsturmführer, mit dem Sie mich so hartnäckig verwechseln, Giesser. Er hatte das Bedürfnis, sein Gewissen zu erleichtern. Eines Tages kam er zu mir in meiner Eigenschaft als Priester. Er war sehr offen, redete sich so einiges von der Seele.« Seine Stimme bekam einen drohenden Unterton. »Dadurch habe ich Dinge erfahren, die sonst keiner der Häftlinge wusste.« Er ließ die Worte wirken und wandte sich Adam zu. »Rose, der kleine Rose. Das sind Sie, nicht wahr?« »Der kleine Rose«, sagte Adam überrascht und nickte. »So nannten mich alle.« »Giesser hat mir von Ihnen im Zusammenhang mit einer Strafaktion erzählt. Ich glaube, es ging um drei Schmuggler, die hingerichtet werden sollten.« »Auf dem Dachboden!«, rief Adam entsetzt. »Da war ich dabei. Das war ich mit dem Brot, ich habe es getan.« »Ist schon gut«, beruhigte ihn Karl. »Das ist lange vorbei. Du brauchst dich nicht rechtfertigen.« »Er hat mir gesagt, dass die drei von einem Häftling verraten wurden«, erzählte der Priester weiter. »Was meinen Sie dazu, Herr Epstein?« Er will uns gegeneinander ausspielen, dachte Epstein. Er will den Spieß umdrehen und damit von seinen Taten ablenken. Er will mich immer noch vernichten. Ein Schleier legte sich vor seine Augen, dunkel und dick, fast undurchsichtig. Er trat einen 100
Schritt vor. »Jetzt bist du fällig, du Drecksack.« Der Priester flüchtete hinter den Altar und duckte sich. Karl hielt Epstein am Kragen fest. »Was ist los, Jockel? Wovon redet der Kerl?« Adam blickte ins Leere. Das Brot. Er hatte es von einem polnischen Handwerker bekommen, als sie zu einem Arbeitseinsatz ausgerückt waren. Nicht viel, nur ein Viertel oder so. Es hatte wunderbar geschmeckt, ohne Sägespäne und Körner, einfach nur Brot. Auf dem Dachboden hatten dann andere dafür büßen müssen. Aus Zufall, wie er bisher gedacht hatte. Weil kein Schuldiger zu ermitteln war. Das war oft so: Die Schuldigen ließen sich einfach nicht ermitteln. Etwa, wenn eine leere Konserve gefunden worden war. Morgenappell. Die Häftlinge von Block sechs eilen im Laufschritt auf den Platz, stellen sich auf, richten ihre Körper an dem jeweiligen Vordermann aus, jeder, so gut er kann – wenn er noch kann. Vor Adam steht Epstein, breit, fest, in der sicheren Mitte des Zuges. Kapos überprüfen die Reihen, verteilen Hiebe an diejenigen, die das Pech haben, außen zu stehen. Ein Schäferhund bellt. Adam erschrickt. Epstein blieb stehen. Neben ihm hielt sich Karl bereit, notfalls einzuschreiten. »Wir reden doch nur«, sagte der Priester und trat wieder hinter dem Altar hervor. »Wir reden von alten Zeiten. Gemeinsamen Erlebnissen. Ich will Ihnen nur klar machen, dass auf beiden Seiten des Zauns Menschen standen, mit all ihren Fehlern und Unzulänglichkeiten.« »Und was soll unser Fehler gewesen sein?«, schrie Epstein. »Dass wir Juden sind? Dann war wohl euer Fehler, dass ihr uns nicht alle umgebracht habt?« Der Priester tippte sich mit den Fingern an die Brust. »Aber ich war einer von euch!«, beteuerte er. 101
»Sie haben etwas von drei Schmugglern gesagt«, warf Adam ein. Ohne ihn zu beachten, fuhr der Priester fort. »Tun Sie doch nicht so scheinheilig. Jeder wusste es. Das ganze Lager. Der große Epstein hielt seine Hand über die Gebrüder Rose, das war ein offenes Geheimnis.« Die Häftlinge setzen all ihre Hoffnung darauf, dass sich der Wurstdieb meldet. Aus welchem Grund auch immer, und so unwahrscheinlich das auch ist. Manchmal passiert es. Weil der letzte Wille erloschen ist. Oder weil er noch einmal aufflackert. Epstein blickt stur nach vorn. Adam schaut auf seinen Hinterkopf. Er kämpft mit seinem Willen. Epstein und Karl verharrten regungslos. Der Priester gewann seine Sicherheit zurück. »Für jede Dummheit des kleinen Rose musste ein anderer bezahlen. Dann waren Sie sofort zur Stelle.« Die Entscheidung fällt: Ein Kapo zerrt Epsteins Nebenmann aus der Reihe und schleppt ihn unter Schlägen zu Giesser nach vorne, am ganzen Zug entlang. Erleichterte Blicke, obwohl klar ist, dass die Brotration an diesem Tag trotzdem gestrichen wird. Besser, als bis Sonnenuntergang auf dem Appellplatz strammzustehen. Besser, als die Brotration auch am nächsten Tag zu verlieren. Und am folgenden. »Lass den kleinen Rose leben und ich sage dir, wer die Konserve geklaut hat.« Der Priester ahmte Epsteins Tonfall nach. »Lass ihn leben und ich sage dir, wer Briefe schmuggelt. Wer Vorräte anlegt. Wer mit Margarine handelt.« »Woher –«, fing Karl an. »Giesser hat mir doch alles erzählt! Haarklein hat er mir jeden Fall dargelegt. Nicht unbedingt eine Beichte, das nicht. Eher eine Verteidigung. Er konnte nicht anders, als auf diesen – Handel einzugehen. Um die Ordnung aufrechtzuerhalten. Jeder Informant verlangt einen Preis.« 102
Ich muss ihn zum Schweigen bringen, dachte Epstein, aber er war unfähig, sich zu bewegen oder etwas zu erwidern. Der Schmerz war wieder da, ein Schmerz, der sich immer dann eingestellt hatte, wenn er sich schon im Voraus sicher gewesen war, wen es diesmal traf. »Erinnern Sie sich an den Brotdieb, der sterben musste, weil der kleine Rose im Steinbruch plötzlich anfing zu singen?« Der Priester wandte sich an Adam. »Sie haben einfach gesungen, das muss man sich einmal vorstellen!« »Hufschmied«, sagte Karl. »Paul Hufschmied.« »Aber ich habe gesungen«, erklärte Adam und klopfte sich an die Brust. »Es hat einen Menschen das Leben gekostet, Herr Rose! Ihre dämliche Laune hat einen, der geschickter war als Sie, der das Lager vielleicht überlebt hätte, in den Tod geschickt. So waren die Geschäftsbedingungen zwischen Giesser und seinem – Partner!« Bestürzt wich Adam zurück. »Drei auf dem Dachboden«, sagte der Priester ungerührt und hielt drei Finger hoch. »Zwei, als der kleine Rose beim Appell den Zugvögeln nachgesehen hat.« Zwei Finger kamen hinzu. »Es waren Kraniche«, sagte Adam. »Einer für Ihr Lied.« Er hielt den Daumen der anderen Hand hoch. »Lassen Sie mich überlegen –« Epstein warf Adam einen furchtsamen Blick zu. Jedes Wort des Priesters versetzte ihm einen Stich, riss eine weitere Narbe von den Rändern her auf. »Stimmt das, Epstein?«, fragte Adam betreten. »Mussten sie alle für mich sterben?« Epstein schwieg. Etwas entglitt ihm. Er konnte es nicht verhindern. Es driftete von ihm weg, wie ein Boot, dessen 103
Vertäuung sich gelöst hatte und auf den See hinaustrieb, bis es außer Sicht war. »Andere haben für Sie bezahlt«, sagte der Priester. »Unser Leben war die einzige Währung, die Sie uns gelassen hatten«, schritt Karl ein. »Und es herrschte Inflation.« »Es war Verrat, nichts sonst.« Der Priester wirkte jetzt unnahbar, eine schwarze Richtergestalt, die keinen Widerspruch mehr duldete. Adam wandte sich von ihm ab und schlurfte mit hängendem Kopf zur ersten Bankreihe. Er setzte sich, holte die Taschenlampe aus seiner Manteltasche hervor und knipste sie an. Nichts geschah, die Batterien waren leer. Er versuchte es erneut, wieder und wieder. Schließlich ließ er die Lampe kraftlos in seinen Schoß sinken. Drei auf dem Dachboden. Zwei für die Kraniche. Einer für das Lied. »Ich habe nur gesungen«, murmelte er. »Es gibt Grenzen. Wo Menschen sind, muss auch eine gewisse Disziplin herrschen«, wies ihn der Priester zurecht. »Warum haben Sie sich kein Beispiel an Ihrem Bruder genommen? Im Gegensatz zu Ihnen hat er tadellos funktioniert.« Wohlwollend nickte er Karl zu. »Sie haben im Fuhrpark gearbeitet, nicht wahr? Ich erinnere mich.« Nachdenklich legte er einen Finger an den Mundwinkel. »Die Fahrzeuge waren blitzblank. Das Blech, die Scheiben, die Scheinwerfer. Sogar die Reifen. Man konnte sich darin spiegeln.« »Ich war äußerst motiviert«, gab Karl zurück, der langsam geneigt war, dem Mann doch zu glauben. »Schließlich habe ich um mein Leben geputzt.« Der Priester, der jetzt unzweifelhaft die Oberhand hatte, wandte sich wieder an Epstein. »Ich will Ihnen keine Vorwürfe machen, Herr Epstein«, sagte 104
er versöhnlich. »Dazu habe ich kein Recht. Ich möchte nur, dass Sie sich der Wahrheit stellen. Auch Sie haben dazu beigetragen, den Betrieb im Lager aufrechtzuerhalten. Die Ordnung lässt sich nur bewahren, wenn alle mithelfen, das ist nun mal so. Sie hätten Ihr Herz nicht an jemanden hängen dürfen, der die Regeln permanent gebrochen hat, und zwar ohne Sinn und Verstand.« »Hätte ich ihn opfern sollen?«, sagte Epstein tonlos. Wer den Dachboden lebend verließ, das wusste er jetzt, trug kein Mal auf der Stirn. Das hatte er sich vorgemacht. Nein, nein, wer den Dachboden lebend verließ, hatte nur Glück gehabt. Glück oder einen Schutzengel wie ihn, Epstein, einen schachernden, diplomatischen, alle Schliche kennenden Schutzengel, der zwar auch in Gefahr gewesen war, denn wer war das nicht im Lager, selbst den Lagerältesten konnte ein Missgeschick passieren, das sie ins Verderben stürzte. Aber im Vergleich mit Adam oder auch Karl war seine Gefahr schon fast berechenbar gewesen. Er hatte stets gewusst, was zu tun gewesen war. Das Bündnis mit Giesser hatte ihn auf gewisse Weise unentbehrlich gemacht. Es hatte ihn herausgehoben und damit eine Verantwortung aufgebürdet. Es hatte ihn immer wieder vor eine schreckliche Wahl gestellt. Wie viele ließ er sterben, um den einen zu retten? Er hatte sich bemüht, diejenigen auszuwählen, die schon todgeweiht waren, die es aus dem einen oder anderen Grund nicht mehr lange machten. Dafür hatte er einen Blick entwickelt. Und es hatte ihm ein Gefühl der Macht verliehen: Er war in der Lage gewesen, einen durchzubringen. Das war etwas anderes, als Mildtätigkeit und Fürsorge auf viele zu verteilen. Was brachte es schon, einen Extraliter Suppe für jemanden zu organisieren, der am nächsten Tag ins Gas geschickt wurde? Wenn er seine Bemühungen dagegen auf einen Einzigen konzentrierte, einen, den er liebte wie einen Bruder, dann bestand Hoffnung, wie er sich immer sagte. Es bedeutete, dass es doch möglich war, den Hohepriestern des Todes ein Schnippchen zu schlagen. Und natürlich rettete es Adam, auf unbestimmte Zeit. Aber was hatte 105
es aus ihm, Epstein, gemacht? Einen Selektierer. Einen, der noch vor der SS seine Wahl traf. Adam schaute hoch. Drei auf dem Dachboden. Zwei für die Kraniche. Einer für das Lied. »Und Hannah?«, fragte er Giesser. »Gegen welche Regel hat sie verstoßen?« Karl ging zu der Kirchenbank hinüber und legte seinen Arm um die Schultern seines Bruders. »Hör nicht auf ihn. Dieses Gerede von Ordnung und Regeln! Als ob es eine Wahl gegeben hätte. Für Giesser war Hannah nur eine Nummer, keine Person, die über einen eigenen Willen verfügte.« »Das ist es doch!«, ereiferte sich der Priester. »Das ist doch genau der Punkt, Herr Rose! Natürlich, wir waren alle Nummern! Vor dem Zaun und hinter dem Zaun! Auch diese Hannah. Welche Nummer letztendlich von der Liste gestrichen wurde, war denen da oben doch gleich. Aber es lag in unserer Hand, das zu entscheiden. Und dafür mussten Kriterien angewandt werden, ein Regelwerk, wie ich schon sagte. Epstein hat das ganz schnell begriffen. Und er hat es angewandt. Er hat es benutzt – nicht um selber zu überleben, wie man annehmen könnte, sondern um das Überleben eines anderen zu erschleichen. Damit hat er die Regeln auf den Kopf gestellt. Und wozu? Um jemanden zu retten, der es von allen Schwachköpfen im Lager am wenigsten verdient hatte.« »Ach wirklich? Und auf welcher Seite des Zauns standen Sie?«, fragte Karl. Er wurde wieder wütend, ließ Epstein einen Moment lang aus den Augen. Das waren doch nicht die Worte eines Priesters, dachte er, schon gar nicht eines Priesters, der ins KZ eingeliefert worden war. Plötzlich stürzte Epstein nach vorne und versuchte den Priester wieder an der Kehle zu packen. Der Mann wich aus, griff blitzschnell nach der Pistole, die immer noch auf dem Altar lag, 106
und schlug seinem Widersacher den Griff ins Gesicht. Epstein taumelte zurück, ging in die Knie. Der Priester nahm die Waffe in die andere Hand und zielte auf ihn. »Bleiben Sie, wo Sie sind! Zwingen Sie mich nicht abzudrücken!« Epstein rappelte sich hoch und war schon im Begriff, erneut auf den Priester einzudringen, als dieser den Lauf der Pistole wegschwenkte und auf Adams Kopf richtete. »Stehen bleiben!« Mitten in der Bewegung hielt Epstein inne. »Diesmal töte ich ihn!« Die Worte des Priesters hallten ein paar Sekunden in der Kirche nach. Giesser stutzte kurz, bemerkte, dass er sich verraten hatte, diesmal unwiderruflich. Er fasste den Griff der Waffe fester. »Wissen Sie, wie viele Kinder ich getauft habe? Wie viele Paare ich getraut habe? Wie vielen Sterbenden ich Beistand geleistet habe? Was auch immer früher war, ich habe es tausendmal wieder gutgemacht!« »Dem langen Yilmaz bist du so lange auf die volle Blase gesprungen, bis ihm die Pisse zwischen den Gedärmen herumgeschwappt ist!«, schrie Epstein. »Steckmann hast du den Kehlkopf mit einem Besenstiel gebrochen!« Giesser hielt die Waffe auf Adam gerichtet. »Ausgerechnet du willst mich beschuldigen? Du hast sie mir doch ausgeliefert! Diebe, Schmuggler, jeden, der gegen Regeln verstieß!« »Juden mussten sterben! Hauptsache Juden! Und du wolltest sie höchstpersönlich abknallen. Du wolltest es selbst tun, mit deinen eigenen Händen! Aber das war dir nicht genug.« Epstein schlug sich mehrmals gegen die Brust. 107
»Mich wolltest du sterben sehen, und zwar immer wieder. Du hast mich zum Richter über meine eigenen Leute gemacht. Damit hast du mich Dutzende Male getötet!« »Es war Krieg! Krieg!«, beteuerte Giesser. »Ich habe Befehle befolgt. Ich war Soldat. Krieg ist keine schöne Sache, o nein. Aber ich bin anständig geblieben.« »Du Drecksstück sprichst von Anstand!« »Halt dein verdammtes Judenmaul!«, brüllte Giesser und spannte den Hahn der Pistole. Adam war während des Wortwechsels erstarrt auf der Bank sitzen geblieben. Als Giesser ihn zu bedrohen begann, hatte er es anfangs gar nicht richtig wahrgenommen. Dann erfasste er die Situation langsam. Wer hat das Licht gelöscht? Karl fasste Epstein an der Schulter. »Lass ihn, ich bitte dich!« Giessers Hand zitterte inzwischen vor Erregung, mit ihr der Pistolenlauf. »Nenne mir eine, eine einzige Situation, in der ich nicht auf Befehl gehandelt habe«, sagte er mit bebender Stimme. Er steht vor einem Haufen Schuhe. Aufgrund seiner Zuverlässigkeit hat ihn Giesser mit hinüber zu den Frauen genommen. Er ist unruhig, weiß, dass Adam ohne Schutz ist. Auch Giesser weiß das, weidet sich daran. Er schaut zur Seite und erkennt jemanden, von dessen Existenz Giesser noch nichts weiß. Hannah kniet auf dem Boden und sortiert Schuhe aus. Die meisten sind paarweise an den Schnürsenkeln zusammengebunden, entsprechend der Anweisung, die den Häftlingen vor dem Duschen gegeben worden ist. Um Verwechslungen vorzubeugen, hat es geheißen. Ihre Blicke treffen sich, ein 18-jähriger und eine 16-Jährige, die beide mindestens doppelt so alt aussehen und einen Augenblick erschrocken darüber sind, wie hässlich und nahezu unkenntlich der jeweils andere geworden ist. 108
Die Kiste, in die Hannah intakte Schuhpaare schichtet, ist voll. Epstein und ein anderer Häftling schleppen sie von dem Schuppen, in dem die Schuhe gelagert werden, zu einem Lastwagen und hieven sie auf die Ladefläche. »Deutsches Winterhilfswerk« steht in großen Lettern darauf. Giessers Brust hob und senkte sich unter seinen heftigen Atemzügen. Er zielte immer noch auf den erstarrten Adam, bemerkte den Widerstand in Epsteins Augen. »Los! Sag es oder ich bring ihn um! Diesmal bringe ich ihn um!« Wieder im Schuppen. Epstein und Hannah sortieren Schuhe aus. Es sind vorwiegend robuste Modelle, wie man sie für einen längeren Marsch trägt, vielleicht für einen Ausflug in die Berge oder an die Küste, in die Abruzzen etwa, zum Olymp oder in den Harz, an das Ijsselmeer, die Danziger Bucht oder den Plattensee, je nachdem, welchem Transport die ehemaligen Trägerinnen der Schuhe angehört haben. Aus welchem Grund auch immer, aus Zufall oder Absicht, sind auch elegante darunter, mit hohen Absätzen und dünnen Kiemchen. Außerdem sind da Pantoffeln, Stiefel, Sandaletten in allen Größen und unterschiedlichem Zustand das meiste auch in kleinerer Ausführung bis hin zu rosafarbenen Strickschühchen mit Bommeln. Als Giesser nach draußen geht, um mit zwei Wachmännern eine Zigarette zu rauchen, wähnen sie sich für wenige Minuten unbeobachtet. Leise, ohne Hannah anzusehen, erzählt ihr Epstein, dass sie wie durch ein Wunder noch alle am Leben sind. Sie nickt gewissenhaft und sagt, dass es ihr nach einer Schwächeperiode wieder besser gehe, den Umständen entsprechend. Plötzlich nimmt Epstein einen Schuh, den er gerade in der Hand hält, und wirft ihn nach Hannah, nicht fest, sondern nur schwach, spielerisch. Ängstlich schaut sie ihn an. Er nimmt
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einen weiteren, trifft das Mädchen leicht an der Schulter. Sie beginnt unsicher zu lächeln. »Hannah –«, sagte Epstein ganz in Gedanken. Bei der Erwähnung des Namens fuhr Adam zusammen. »Wie?«, fragte Giesser und fuchtelte mit der Pistole umher. »Ich hab dich was gefragt! Kannst du nicht antworten?« »Hannah Liebermann«, fügte Epstein hinzu. Sie bückt sich, sucht nach einem einzelnen Schuh und wirft ihn in Richtung Epstein. Während er noch in der Luft ist, fliegt aus seiner Ecke schon der nächste zurück. Hannah duckt sich und antwortet mit einem Schnürstiefel. Epstein wehrt ihn mit dem Unterarm ab und tastet nach neuen Wurfgeschossen. Sie denken nicht darüber nach, was sie da tun oder warum. In einem Schuppen in Majdanek, an einem Ort, der dafür auf irrwitzige und nicht begreifbare Weise ungeeignet ist, machen sie so etwas wie eine Schuhschlacht. Sie können gar nicht wissen, was sie da tun. Schließlich späht Epstein, der sich der Tür am nächsten befindet, nach draußen. Die Luft scheint immer noch rein zu sein. Giesser unterhält sich mit den Wachmännern, erzählt irgendetwas, macht entsprechende Gesten dazu. Epstein, dem Vorsicht, Umsicht, Wachsamkeit zur zweiten Natur geworden sind, streift einmal, nur dieses eine Mal, alles ab, was ihn schon nach den ersten Wochen im Lager unzerstörbar gemacht hat. Er macht das nicht bewusst, sondern lässt es einfach geschehen. Er ist 18, verdammt noch mal! Sie haben ihm seine Jugend genommen. Einen winzigen Teil davon holt er sich jetzt wieder. Übermütig stürmt er auf Hannah zu und wirft sie auf den Rücken. Sie fällt auf den Schuhhaufen, kichert. Epstein sinkt neben ihr nieder, sucht nach ihrer Hand, ergreift sie. Er schaut sie an, sieht für einen Augenblick das Gesicht eines unbeschwerten Mädchens unter dem kahl rasierten Schädel, den einst Zöpfe 110
zierten. Sie genießt es genau so wie er, spielt den Backfisch, der in einem Heuhaufen liegt. Dann wird ihr Blick intensiver, tiefer. Es könnte Verliebtheit sein, wenn sie – was völlig undenkbar ist – tatsächlich vollständig vergessen hätte, wo sie sich befindet. Doch dieser Blick, und das weiß Epstein nur zu gut, gilt nicht allein ihm. »Also gut.« Giesser ließ die Waffe sinken. Seine Erregung legte sich etwas. »Dann erzähl doch von dieser Hannah«, sagte er. »Mir will gerade nicht einfallen, wer das gewesen sein soll.« Epstein schaute zu Adam, der die Augen weit aufgerissen hatte. Er steht jetzt auf dem Appellplatz. Dieser Blick. Sie hatte ihn nicht fortwischen können, als Giesser mit den Wachmännern zurückkam. Ihnen war nichts passiert, das nicht, Epstein hatte die sich nähernden Schritte rechtzeitig gehört. Aber nachdem sie in den Schuppen zurückgekehrt waren, hatte Hannah immer noch einen Abglanz dieses Blicks auf dem Gesicht gehabt, ein schwaches Leuchten, wie der Draht in einer Glühbirne, kurz nachdem sie abgeschaltet worden war, eine Ahnung von Glück. Giesser hatte nichts gesagt, vielleicht hatte er es nur beiläufig registriert, ohne weiter darauf einzugehen. Aber jetzt, auf dem Appellplatz, allein mit Epstein, will er plötzlich ihren Namen wissen. Er scheint eine gewisse Absicht zu verfolgen, erwähnt einen Brief, der in den Frauenblock geschmuggelt wurde. Epstein beißt sich auf die Zunge. Er hätte Adam nicht nachgeben dürfen, Adam, der kurz davor stand, wieder eine Dummheit zu begehen, nachdem ihm Epstein erzählt hatte, dass Hannah noch lebte. Sie einigten sich auf einen Brief, ohne Adressaten, versteht sich – was nichts daran änderte, dass ein Brief einer der schwersten Fehler war, die man im Lager begehen konnte. Epstein ist diesmal hartnäckig. Er versucht alles, ist bereit, das halbe Lager ans Messer zu liefern. Doch Giesser lehnt ab. Er hat bereits eine Vermutung. Epstein hält eine Menge aus, 111
Reitgerte, Knüppel, Gewehrkolben. Es dauert eine Weile, bis seine Lippen ihren Namen formen. Nicht wegen der Schläge, die steckt er weg, mehr oder weniger, sondern wegen Adam, einzig und allein wegen Adam. »Hörst du nicht?« Giesser verlor wieder die Geduld. Mit hochrotem Kopf brüllte er Epstein an. »Muss man dir alles dreimal sagen?« Der Lauf der Pistole richtete sich erneut auf Adam, der wie gebannt Epstein anstarrte und dabei unentwegt an die Finger dachte, die Giesser hochgehalten hatte. Drei auf dem Dachboden. Zwei für die Kraniche. Einer für das Lied. »Herzlichen Glückwunsch zum 25. Geburtstag, Herr Hauptsturmführer«, sagte Epstein schließlich. Giesser sah ihn überrascht an. Langsam stellte sich die Erinnerung ein. Richtig, die kleine Jüdin. Das Mädchen mit dem Glück in den Augen, diesem obszönen, unverschämten Glück, das sie wie ihr Privateigentum mit sich herumgetragen hatte, gut versteckt, aber Giesser hatte es sofort bemerkt. Es war nahezu unmöglich gewesen, dass ihm irgendetwas entging, dafür war er bekannt. Als ihm schließlich der Brief zugespielt wurde, war ihm die Adressatin sofort klar gewesen. Epstein hatte das Stichwort getroffen. Zum letzten Mal. Er legte an und drückte ab. Der Knall zerriss das Schweigen in der Kirche wie einen fadenscheinig gewordenen Vorhang.
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18 Zwei weiße Rosen. Epstein legte sie behutsam auf die Grabstätte. »Karl Rose« verkündete die Inschrift in lateinischen Lettern, darunter der Name seiner verstorbenen Frau Helene. Daneben: »Adam Rose«, ohne weiteren Zusatz. Der restliche Text war in hebräischer Schrift verfasst, ein Sinnspruch, den die Gemeinde von sich aus hinzugefügt hatte. Ein Sonnenstrahl fiel auf den Grabstein, tauchte ihn in das nachlassende Licht des Frühlingsabends. Hannah stand direkt hinter Epstein. Sie waren mit dem Taxi zum israelitischen Friedhof in Weißensee gefahren. Er hatte ihr von der Konfrontation in der Kirche erzählt und wie Giesser auf ihn geschossen hatte, stockend, obwohl er die Szene doch schon tausende Male für sich durchgespielt hatte. Durchgespielt, aber nie in Worte gefasst. »Adam wurde schwer krank«, sagte er schleppend. »Sein Herz hat nicht mehr mitgemacht. Die Ärzte sagten, es liege am Alter. Dabei war er der jüngste von uns!« Er lachte hohl. »Ich habe ihn nie wiedergesehen.« Als er sich bücken wollte, stach ihn ein Schmerz in die Seite. Schwerfällig ließ er sich auf ein Knie nieder, suchte sich zwei ungefähr gleich große Steine und legte sie auf den Grabstein, gemäß der jüdischen Sitte, von der er des Öfteren gelesen hatte. Er wusste nicht mehr, was sie bedeutete, aber es musste wohl ein Symbol für das Fortleben in der Erinnerung sein. »Karl hat sich um mich gekümmert. Hat mich einmal im Monat besucht und mir Kleidung, Bücher und Zeitungsausschnitte gebracht. Bis auch er starb. Lungenkrebs.« Er bekam feuchte Augen, ballte die Fäuste. »Mein ganzes Leben lang habe ich auf die beiden aufgepasst! Mein ganzes Leben!« 113
Sie blieben stumm stehen. Epstein war nicht zum ersten Mal hier. Er hatte das Grab schon einmal besucht, als er Freigang hatte. Doch schon nach kurzer Zeit war er dem Ansturm der Gefühle nicht gewachsen gewesen. Er hatte sich davongemacht wie ein Verbrecher auf der Flucht, war froh, wieder in seiner Zelle zu sein. Bevor die fünfzehn Jahre nicht verstrichen waren, so schien es, hatte er kein Recht, hier zu sein. Hannah heftete den Blick auf Epsteins Schultern. »Danke«, sagte sie. Epstein drehte sich um. Mühselig richtete er sich auf. »Danke, dass du die Hoffnung nie aufgegeben hast, Jockel. Ich wusste nicht, dass –« »Ich habe es nur für Adam getan«, unterbrach er sie. »Er hat immer fest daran geglaubt, dass du überlebt hast. Es war nur wegen Adam.« Er trat neben Hannah, deutete auf den Grabstein. »Wenn ich an sein ständiges Gejammere denke. Ab und zu ist er mitten in der Nacht ausgerissen, um dich zu suchen. Ich schätze, sein Instinkt hat ihn umgetrieben, wie ein Tier. Karl und ich durchstreiften dann ganz Berlin, bis wir ihn in der Nähe einer Fabrik oder einer Schule gefunden haben, unter einer brennenden Laterne. Das war einer seiner Ticks. Er hatte immer eine Taschenlampe dabei, damit er im Dunkeln Licht hatte.« Nachdenklich schüttelte er den Kopf. »Eigentlich wollte ich diesem Anwalt sagen, dass er sich die Mühe sparen soll. Dass er aufhören soll, dich zu suchen, nach all der Zeit. Aber Anwälten muss man immer alles schriftlich geben. Ich hab’s einfach vergessen.« Epstein wandte sich wieder dem granitenen Grabstein zu. Er berührte den eingemeißelten Schriftzug mit Adams Namen, fuhr die Buchstaben mit den Fingerspitzen nach. Ein Zittern lief durch seinen Körper. Hannah beobachtete ihn mitleidig. »Du hättest es nicht verhindern können, Jockel.« 114
»Niemand« entgegnete Epstein heftig, »niemand hätte es verhindern können!« »Ich weiß.« »Niemand«, wiederholte er und schlug die Augen wieder, stocherte mit der Spitze seines Schuhs im Kies. Nach einer Weile blickte er hoch. »Warum hast du ihn eigentlich nicht gesucht? Niemand hat dich zurückgehalten. Wenn es dir wirklich so wichtig war, hättest du es einfach nur tun müssen. Mittlerweile gibt es doch jede Menge Organisationen, die –« »Ich dachte, er wäre tot.« Sie klang verletzt, rang nach Worten. »Ich dachte, ihr alle seid tot. Es war – so ein verrückter Zufall, dass ich damals rausgekommen bin. Wir wurden verlegt. Erst nach Majdanek verschleppt und dann verlegt, stell dir das mal vor! Nach Buchenwald, was für ein Glück! Ich hätte niemals geglaubt, dass einer von euch überlebt hat. Niemals!« Sie zögerte. »Vielleicht –, vielleicht wollte ich es auch gar nicht. Ich habe niemals mit jemandem Verbindung aufgenommen, den ich vom Lager kannte, ganz bewusst nicht. Ich wollte dieses Band zerreißen, die Stimmen und Gesichter in meinen Träumen zum Schweigen bringen.« Ihr Blick wurde leer. »Ein neues Leben«, fügte sie hinzu und betrachtete den Grabstein, diese Buchstaben, in denen nichts zu erkennen war, die nichts verrieten. »Aber, mein Gott, was hätte ich darum gegeben, wenn eines Tages die Tür aufgegangen und Adam hereingekommen wäre.« Sie lachte dem uneingelösten Wunsch hinterher. »Er wusste, was für Menschen wir vor dem Lager gewesen waren. Bevor sie uns zu etwas anderem gemacht haben. Wenn es jemand wusste, dann er.« Epstein nickte. »Aber ich dachte, er wäre tot.« Tränen liefen ihr über die Wange, perlten über ihr dick aufgetragenes Make-up. »Und ich dachte, du bist tot.« Er wandte sich von dem Grab115
stein ab. »Lassen wir es dabei«, sagte er hart. Das hatte er im Lager gelernt. Niemals diese Was-wäre-wenn-Gedanken denken. Das machte einen verletzlich. Es lieferte einen ans, brachte einen ganz schnell zu den Öfen. Ohne sie zu beachten, begab er sich von dem Grab zu der Allee, die den Friedhof der Länge nach durchschnitt. Er rückte seinen Borsalino zurecht und schlurfte los. »Warte, Jockel!«, rief Hannah. Nachdem sie einen kurzen Blick zurückgeworfen hatte, folgte sie ihm. »Ich möchte doch nur mit dir reden.« Epstein antwortete nicht. Unter seinen Schuhen knirschte der von Birken gesäumte Kiesweg. Auf dem Weg nach Majdanek gab es viele solcher Alleen. Wenn sie mit dem Auto und nicht in überfüllten Viehwaggons gereist wären, hätten sie den Eindruck gehabt, durch einen nicht enden wollenden Park zu fahren. Generationen vor ihnen hatten diese Baumreihen gepflanzt. Damit die Straßen geschützt waren vor Wind und Wetter. Und damit sich ihre Nachfahren in ferner Zukunft daran erbauen konnten. Hannah holte ihn ein, hielt mit ihm Schritt. »Weißt du, eigentlich bin ich froh, dass er nie gekommen ist.« Er reagierte nicht. »So glücklich ich auch gewesen wäre, wenn ich ihn noch einmal gesehen hätte – manchmal habe ich mir regelrecht gewünscht, dass er wegbliebe.« Epstein schwankte zwischen Entrüstung und Unverständnis. »Wahrscheinlich hätte ich mich nur in der Vergangenheit verkrochen. Wenn er mich gefunden hätte.« Epstein verlangsamte seine Schritte. »Ich hätte mein Leben lang Zöpfe getragen. Und Adam hätte mir ein Leben lang Blumen geschenkt.«
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Hannah wartete auf eine Erwiderung, irgendein Zeichen, dass Epstein verstand, was sie da sagte. Aber er stierte nur auf einen fernen Punkt am Ende der Allee. »Ich wünschte, er wäre dich suchen gegangen«, sagte er unvermittelt. »Es gab Momente, da stand er kurz davor. Dann habe ich es ihm ausgeredet, mit allerlei schrecklich vernünftigen Argumenten. Ich wünschte, er hätte mich ausgelacht und wäre einfach losgezogen.« Nach einer Pause fuhr er fort. »Es gibt etwas, was dieses Leben wertvoll macht. Aber ich kann es nicht sehen. Ich weiß nur, dass es existiert, weil Adam es sehen konnte.« Er blieb stehen, machte eine lange Pause. »Wenn er dich gesucht und tatsächlich gefunden hätte – Vielleicht hätte ich dann das Gefühl bekommen, dass es sich lohnt, selber danach zu suchen.« Er betrachtete Hannah, die Faltenlandschaft in ihrem Gesicht, um ihre Mundwinkel herum, Spuren eines Lebens, das sich ohne sein Wissen abgespielt hatte, entgegen den Gesetzen der Logik und des Überlebens. Eigentlich dürfte es dieses Leben gar nicht geben, dachte er. Alle Zeichen hatten auf Tod gestanden, als er sie zum letzten Mal im Lager gesehen hatte. Und jetzt waren die Untergegangenen erwacht, gemeinsam mit den Geretteten. »Aber was, wenn er dich nicht gefunden hätte? Was dann?« Die beiden Alten standen sich stumm gegenüber. Sie fühlten sich einander wieder näher, spürten den Anhauch einer lange, o wie lange, zurückliegenden Vertrautheit, einer Zeit, als die Welt für sie noch offen und unverstellt gewesen war, voller Versprechungen, die sich allesamt als Illusionen erwiesen hatten. Plötzlich begann Epstein leise zu lachen. Hannah sah ihn verwundert an. Er versuchte, es zu unterdrücken, aber es gelang ihm nicht. Lachend trat er durch das Friedhofstor. »Was ist so komisch?«, fragte Hannah und hakte sich bei ihm unter.
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»Er war ein Stümper, oder? Er hat unser aller Leben zerstört, aber er war ein Stümper.« Er bemerkte ihren verständnislosen Gesichtsausdruck. »Giesser«, erläuterte er. »Wie oft wollte er uns umbringen? Wie viele Male hat er es ernsthaft versucht?« Nebeneinander gingen sie die Bernkasteler Straße hinunter Richtung Weißenseepark. »Er hätte uns vergasen können, totprügeln, erhängen, erschießen –« »Jockel! Nicht!« Erschrocken ließ Hannah ihn los. »Er hatte sechs Patronen.« Epstein zeigte die Zahl mit den Fingern an. »Karl hat die Pistole immer tadellos in Schuss gehalten. Immer wieder geputzt und geladen, geputzt und geladen. Wie ein Soldat. Und Karl konnte putzen!« Er schüttelte den Kopf, stieß die Luft abfällig durch die Zähne aus. »Drei Meter! Lächerliche drei Meter.« »Und?«, fragte Hannah und sah ihn erwartungsvoll an. Seine Heiterkeit wich bitterem Ernst. »Und der Stümper trifft nicht mal richtig.«
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19 Epstein blutete aus einer Wunde am Oberarm. Er befühlte die Stelle. Es tat höllisch weh, aber der Knochen schien nicht getroffen worden zu sein. Im Krankenbau hatte er einige solcher Wunden gesehen. Sie waren schmerzhaft, aber weitgehend ungefährlich. Er versuchte die Zähne zusammenzubeißen. Ihm wurde ein bisschen schwindelig. Karl trat hinzu und führte ihn vorsichtig zu der vordersten Kirchenbank, wo sie sich ein paar Meter neben Adam niederließen. Das Blut verschmierte das glatt polierte Holz. Nachdem er seinen Mantel ausgezogen hatte, machte Karl sich an seinem Arm zu schaffen. Er zog ein Taschentuch hervor, presste es auf die Wunde und legte Epstein mit seiner Krawatte einen provisorischen Verband an. Adam sah den beiden apathisch zu. Giesser starrte auf die Pistole in seiner Hand. Er konnte nicht fassen, dass er wirklich abgedrückt hatte. Wenigstens hatte er nicht genau gezielt. Plötzlich geriet er wieder in Wut. Epstein. Ei hatte ihn gereizt, wollte es ja so haben. »Das hast du davon!«, brüllte er. »Warum hältst du nicht einfach die Klappe!« Als Karl mit dem Verband fertig war, wollte Epstein aufstehen, aber er sackte zurück auf die Kirchenbank. Hilflos suchte er nach Worten. »Es ist alles wahr«, stammelte er. »Alles ist wahr –« »Jetzt hören Sie doch auf!«, fuhr Giesser ihn an. »Haben Sie nicht schon genug Unheil angerichtet?« Heute ist der Tag, dachte Epstein. Es musste heraus, jetzt war die Stunde gekommen. Dass Giesser ihn verfehlt hatte, bestärkte ihn noch darin. Er wandte sich Adam zu. »Er hatte es schnell 119
raus, dass ich dich nicht sterben lassen würde. Er kam immer wieder, wie ein Hund, der Witterung aufgenommen hat.« Adam warf ihm einen angsterfüllten Blick zu. »Ich habe dein Leben gegen das irgendeines armen Schweines getauscht«, sagte Epstein. Giesser hob resignierend die Arme. »Es war der 8. August 1944«, fing Epstein an. »Sein 25. Geburtstag.« Er wies mit den Augen auf Giesser, der ein paar Schritte näher kam. »Das will doch keiner hören!« »Du bist ins Materiallager gekommen –« Epstein wirft einen Arm voll Schuhe auf einen riesigen Haufen. Er schreckt hoch, als jemand seinen Namen ruft. Giesser steht hinter ihm. Seine Reitgerte tippt ein paar Mal gegen den Schaft seines Stiefels. Dann schlägt er ohne Ankündigung zu. Er weiß, dass Epstein deswegen nicht gesprächiger sein wird – ganz im Gegenteil. Aber ab und zu muss er klarstellen, wer hier das Sagen hat. Nur, damit keine Missverständnisse aufkommen. Als Epstein fragt, was er von ihm will, verabreicht er ihm zur Sicherheit noch ein paar gezielte Hiebe auf den Nacken. Er registriert, wie die bleiche Haut eine dunkle Färbung annimmt. Dann befiehlt er ihm mitzukommen. Giesser holte aus und landete einen Fausthieb auf der frischen Schusswunde. Epstein schrie auf. Vor Schmerz war er einige Augenblicke benommen. »Hör auf damit!«, befahl ihm Giesser. Er hob die Waffe und zielte erneut auf Epstein, diesmal aus nächster Nähe. Karl ging mit ausgebreiteten Armen dazwischen. »Was wollen Sie? Uns alle umbringen?« Verunsichert ließ Giesser die Pistole sinken. Epstein stöhnte, fasste sich an den Oberarm und fuhr dann zu Adam gewandt fort. »Der 8. August 1944«, wiederholte er und 120
atmete dabei schwer. »Du hattest einen Brief geschrieben. Einen Brief an Hannah.« »Ist er nicht angekommen?«, fragte Adam erstaunt. Er schaute zu Giesser. »Ist mein Brief nicht angekommen?« Er überlegte, schlug sich dann vor den Kopf. »Aber es stand ja kein Name darauf. Ich habe nie den Namen darauf geschrieben. Niemand konnte wissen, dass er für Hannah war!« Siehst du den Abendstern, bevor er untergeht? »Er ließ mich antreten«, sagte Epstein. »Auf dem Appellplatz. Er schlug einen Handel vor. Dein Leben gegen das der Empfängerin.« Verzweifelt rutschte er auf der Kirchenbank hin und her. Mit schmerzverzerrtem Gesicht fügte er hinzu: »Ich wollte es nicht verraten! Ich wollte es nicht tun, Adam! Aber er hätte dich erschossen!« Epstein sieht, wie Hannah von einem Kapo in Giessers Schreibstube geführt wird. Sie wirkt unsicher, weiß offenbar nicht, was sie erwartet. Plötzlich setzt sie sich zur Wehr. Der Kapo zerrt sie am Arm weiter, versetzt ihr aber keine Prügel. Sie lässt von ihm ab, redet auf ihn ein. Schließlich verschwindet sie im Inneren der Baracke. »Ich habe ihn angefleht«, sagte Epstein. »Ich bot ihm den Namen eines Gefangenen an, der Schmuck versteckt hatte. Er ging nicht darauf ein. Ich wollte es nicht tun!« Adam zeigte keine Reaktion. Gebannt hörte er Epstein zu, nahm jedes Wort in sich auf wie das Opfer einer Katastrophe, dem nach und nach das wahre Ausmaß des Unglücks verkündet wird. »Er hat zu mir gesagt: Ich habe Geburtstag, Epstein –« »Warum erzählen Sie das?«, unterbrach ihn Giesser. »Es ändert nichts, wenn Sie es erzählen!«
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Epstein beachtete ihn nicht. »Er hat gesagt, er hätte Geburtstag. Ich sollte mich beruhigen. Niemand müsste wegen dieser Sache sterben.« Aufgebracht raufte sich Giesser die Haare. »Dann hat er sie zu sich bringen lassen. Er hat Hannah zu sich bestellt.« Angewidert fügte er hinzu: »Er hat gesagt, er will ein Geschenk.« Adam schaute verwirrt von Epstein zu Giesser. »Was bedeutet das? Ein Geschenk? Was für ein Geschenk?« »Na, was glauben Sie wohl?«, blaffte Giesser entnervt. »Was wünscht sich ein gesunder junger Mann zum 25. Geburtstag? Was würden Sie sich wünschen in dieser Einöde, umgeben von wandelnden Toten? Ich habe mir gewünscht, was sich alle im Lager wünschten: Leben.« Adam verstand langsam. »Sie wollten Ihr – Vergnügen?« Er wusste nicht, wie er es ausdrücken sollte. »Das war doch ganz normal«, winkte Giesser ab. »Dafür konnte sie sich danach einmal richtig satt essen. Ein Handel.« Adams Blick wanderte von Giesser zu Epstein. »Ein Handel«, wiederholte er. »Hannahs Leben gegen meines.« Er starrte eine Weile vor sich hin. All die Jahre des Hoffens und Bangens verdichteten sich in diesen Sekunden. Epstein hatte alles gewusst. Er hatte es sogar herbeigeführt und dann für sich behalten. Er hatte Hannah an den Tod verkauft. Etwas in ihm zerbrach in tausend Stücke. Mit einem Aufschrei warf er sich auf Epstein, der von dem Ausfall völlig überrumpelt war und zur Seite auf die Kirchenbank kippte. Adam kniete sich halb auf ihn und prügelte unbeholfen auf ihn ein. Er stieß unverständliche Laute hervor, schäumte und rang nach Luft. Epstein wehrte sich nicht, hob nur die Hände zum Schutz. »Adam!«, rief Karl. »Adam, hör auf!« Er packte seinen Bruder an den Armen. »Bitte, hör auf!« Er zerrte ihn von Epstein weg. 122
»Lass mich!«, sagte Adam, riss sich von Karl los und ging auf Giesser zu. Etwas wie Hoffnung keimte in ihm auf. »Aber sie hat noch gelebt? Nachdem Sie Ihr Vergnügen mit ihr gehabt haben?« Er schluchzte, wischte sich die Tränen aus dem Gesicht. »Sie hat doch noch gelebt, Herr Hauptsturmführer!« Giesser wusste nicht, was er antworten sollte. Er wich einen Schritt zurück. »Adam«, sagte Karl in beruhigendem Tonfall. »Alle Frauen – alle Jüdinnen, die mit Offizieren Rassen-« Er brach ab, fasste all seinen Mut zusammen. »Sie wurden umgebracht, Adam. Die meisten wurden sofort umgebracht.« Epstein gehört jetzt einem Baukommando an. Er schleppt einen Karren, der randvoll mit Ziegeln beladen ist, rutscht im knietiefen Schlamm weg, klatscht zu Boden. Als er für einen Moment hochschaut, um Atem zu schöpfen, sieht er Hannah in Begleitung eines SS-Mannes um die Ecke einer Wachstube biegen. Er bekommt einen Stockhieb ab, springt auf, legt sich wieder ins Zeug, kann aber den Blick nicht von Hannah wenden. Sie wartet kurz, völlig verängstigt, während der Soldat an die Tür klopft, eintritt und Meldung macht. Dann dreht sich der SSMann um, packt Hannah am Arm und stößt sie in die Wachstube. Die Tür schließt sich. Vor etwa einer Stunde, kurz nach der Suppenausgabe, hat Epstein gesehen, wie ein schlaffer Körper in Häftlingskleidung von zwei Hilfskräften aus der Wachstube getragen wurde. Sie scheinen dort Bestrafungen vorzunehmen. Er schleppt seinen Karren weiter, ohne viel Hoffnung, Hannah jemals wieder zu sehen. Er bekommt viele Schläge ab an diesem Tag, Fußtritte und Peitschenhiebe, zehrt von seinen letzten Reserven. Manchmal ist er kurz davor, in den Schlamm zu sinken und alles Weitere mit sich geschehen zu lassen. Aber dann denkt er an das, was er sich seit dem ersten Tag im Lager vorgenommen hat. Er wird es zu Ende bringen, irgendwie. 123
Epstein schüttelte die Erinnerung ab. »Die meisten?«, sagte Adam zu Karl. »Aber nicht alle, Karl! Nicht alle!« Er drehte sich zu Epstein. »Du hast gesagt, sie wäre tot«, schrie er wutentbrannt. »Hannah ist tot, hast du gesagt!« »Adam, ich –« »Das hast du gesagt!«, beharrte er und wandte sich an Giesser. »Was ist mit Hannah passiert? Stimmt es, was mein Bruder sagt?« Alle Blicke richteten sich auf Giesser. »Ich kann mich nicht erinnern, so etwas angeordnet zu haben!« Er sah erstaunt in die Runde. »Aber sie muss tot sein. Alles andere wäre extrem unwahrscheinlich.« Adam sah ihn lange an, kalt und ohne eine Regung. Dann betrachtete er Epstein, und die Kälte in seinen Augen wich grenzenlosem Abscheu. Schließlich wandte er sich ab. Von allem. Dem Schattenreich, das noch undurchdringlicher geworden war und seinen besten Freund in sich aufgesogen hatte. Zielstrebig ging er zum Hauptportal. »Adam!«, rief Epstein. Adam antwortete nicht, beschleunigte aber seine Schritte. Warum hast du mich verlassen? Epstein stemmte sich hoch und schickte sich an, ihm zu folgen. »Bleib bei mir, Adam!« Aber Adam schaute sich nicht um. Ich gehe. Die Tür fiel ins Schloss. Epstein sank zu Boden. Mit einer letzten verzweifelten Geste streckte er den Arm aus. Nach einer Weile ließ er ihn ermattet sinken.
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»Lass gut sein, Jockel.« Karl legte ihm eine Hand auf die Schulter. »Gib ihm Zeit.« Vereinzeltes Händeklatschen unterbrach die Stille, die sich nach dem Zuschlagen der Tür wie eine modrige Gruft aufgetan hatte. Giesser spendete Beifall. Die beiden alten Männer drehten sich verblüfft um. »Bravo! Bravo, Epstein! Das haben Sie fabelhaft hingekriegt.« Entsetzt starrten sie ihn an. »War es das wert? Ist es jetzt endlich vorbei?« Gelassen ging Giesser zu dem Altar und legte die Waffe darauf ab. Er griff nach dem goldenen Kelch und fuhr fort, ihn mit routinierten Bewegungen zu polieren. Ohne sich umzudrehen, sagte er: »Das eigentlich Tragische an der Sache ist, dass Sie mich verletzen wollten, aber letzten Endes nur sich selbst verletzt haben. Sonst nichts. Sie haben sich selbst verletzt, sich und Ihre Freunde. Wie immer. Wie damals im Lager.« Theatralisch drehte er sich um. »Ihr Problem ist, dass Sie einfach nicht verstanden haben, worauf es ankommt. Egal, ob man hundert Leichen auf einem Haufen liegen sieht, fünfhundert oder tausend – es ist kein schöner Anblick. Die Frage ist nur, ob man dabei anständig bleibt.« Er ließ die Worte wirken, wandte sich dann ab und ging in eine Ecke des Altarraumes, wo er zwei Kerzenständer ergriff. Er drehte sich wieder um. »Ich bin anständig geblieben. Trotz der Leichen. Trotz der vielen Toten, dem Gestank und dem Geschrei.« Nach einer Pause fügte er hinzu: »Und daran wird auch Ihre Hannah nichts mehr ändern.« Epstein stürzte zum Altar und ergriff die Waffe. »Tu’s nicht, Jockel!«, versuchte Karl, ihn aufzuhalten, aber Epstein stieß ihn brutal weg. Erschrocken ließ Giesser die Kerzenständer fallen. »Was -?« Die Kugel durchschlug seinen Bauch, die Wucht des Aufpralls 125
schleuderte ihn zu Boden. Epstein kam taumelnd näher. Er sah zu, wie sich Giessers Körper krümmte, hörte seine Schreie, die von den Wänden der Kirche vervielfacht wurden. Er zögerte einen Moment, als Karl ihm in den Arm fallen wollte. Dann feuerte er das ganze Magazin leer.
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20 Hannah und Epstein ließen sich auf einer Parkbank am Weißensee nieder. Ihren Augen bot sich ein Frühlingsidyll. Eine Gruppe Schwäne hatte sich unter einer Trauerweide versammelt. Spaziergänger schlenderten über die geschotterten Wege, wiesen sich gegenseitig auf phantasievoll angelegte Blumenbeete hin. Herumtollende Kinder spielten Ball. Als Epstein den Hut vom Kopf nahm und neben sich auf die Parkbank legte, traf ihn der Ball prompt am Kopf. Er fuhr herum, suchte nach dem Schuldigen, aber die Kinder ließen sich nicht einschüchtern und spielten einfach weiter. Er warf ihnen einen drohenden Blick zu und knöpfte seinen Mantel auf, weil ihm heiß war. Mit einem Seufzer lehnte er sich zurück. »Zwanzig Jahre Knast«, sagte er. »Mit guter Führung fünfzehn. Ich konnte vor Gericht nicht nachweisen, dass Groll in Wirklichkeit Giesser, Hauptsturmführer der SS, war. Sie haben uns nicht geglaubt. Ich hatte einen katholischen Geistlichen in seiner eigenen Kirche erschossen, musste mich sogar einer psychologischen Behandlung unterziehen. Von dem echten Groll fehlte jede Spur. Es gab keine Verwandten, nichts. Giesser hatte sich den Richtigen ausgesucht.« Hannah nickte stumm. Nachdem Epstein ihr auf dem Weg in den Park von den letzten, alles entscheidenden Ereignissen in der Kirche erzählt hatte, war sie schweigsam geworden. Sie hatte eine Sonnenbrille aufgesetzt. Ihren Rücken hielt sie kerzengerade, während Epstein gebeugt und erschöpft wirkte. »Verstehst du, was ich damals getan habe? Dass ich dich ausgeliefert habe?«, flehte er. »Du brauchst es nicht zu verzeihen, Hannah. Aber kannst du es verstehen, zumindest ein bisschen?« 127
»Giesser hätte mich so oder so gefunden. Das Lager war ein Dorf.« Sie lachte schief. »Was blieb dir schon für eine Wahl? Giesser wollte mich. Er wäre so oder so an sein Ziel gelangt. Dafür hätte er erst Adam umgebracht. Und dann dich.« Sie machte eine Pause, ihr Gesicht wurde wächsern. »Ich habe es nicht an mich herangelassen. Ich ließ es langsam verblassen wie all die anderen Lagererlebnisse auch. Vielleicht wundert es dich, aber Giesser war sogar, sagen wir – rücksichtsvoll. Eine sentimentale Anwandlung, nehme ich an.« Sarkastisch fügte sie hinzu: »Weil er doch Geburtstag hatte.« »Wie hast du –« »Überlebt?« Sie zuckte mit den Schultern. »Ganz einfach. Er ist sofort eingeschlafen. Er war schon betrunken, als ich zu ihm kam, auf eine angenehme, gar nicht aggressive Weise. Er wirkte richtig anlehnungsbedürftig, wenn ich heute so darüber nachdenke, schwach und verletzlich. Aber damals war ich gerade mal sechzehn und wusste noch nichts von derlei Dingen.« Sie räusperte sich, klang etwas heiser. »Jedenfalls ist er danach sofort eingeschlafen. Ich ließ mich von einer der Wachen zurück ins Frauenlager führen. Lange Zeit hatte ich Angst, dass er nach mir suchen würde. Vielleicht hatte er meinen Namen vergessen. Vielleicht kamen ihm Skrupel. Oder etwas Ähnliches.« »In der Kirche hatte ich nicht den Eindruck, dass er Skrupel hatte. Er fühlte sich im Recht, selbst aus der Rückschau. Wahrscheinlich war er einfach verärgert darüber, dass seine Tarnung aufgeflogen war.« »Und Adam?« Epstein stützte die Ellenbogen auf den Knien auf und vergrub die Hände im Gesicht. »Das war das Ende«, stieß er zwischen seinen Fingern hervor. »Als er die Kirche verlassen hatte, war es aus.« Er schaute hoch, betrachtete die Oberfläche des Sees, die von einem Windstoß in Bewegung versetzt wurde und sich sanft 128
kräuselte. Sorgfältig wählte er die Worte, die er für einen solchen Anlass im Gefängnis geformt hatte. »Trotz Majdanek, trotz all der Schrecken, die wir gesehen und erlebt haben, hat mein Verrat die Unschuld unserer Freundschaft nicht angetastet. Es mag dir seltsam vorkommen, dass gerade ich von Unschuld spreche. Aber solange Adam nichts wusste von dem Handel um sein Leben, konnte nichts unsere Freundschaft gefährden. Natürlich drückte mich mein Gewissen, das schon, doch es war ein geringer Preis. Unser Verhältnis blieb bis zu diesem Tag in der Kirche so, genauso unschuldig wie damals in der Schule, wie in dem Augenblick, als mir klar geworden war, was Adam für mich bedeutete. Was er mir gab und was ich ihm zu geben verpflichtet war. Dass ich meinen Menschen gefunden hatte.« »Lässt sich Freundschaft daran bemessen, wie lange sie hält?« »Für mich schon. Ohne Adam hätte ich nicht mehr neu anfangen können. Ich hätte die Brocken, die von meinem Leben übrig geblieben waren, einfach hingeworfen. Ohne diesen Antrieb, ihn zu beschützen, wäre alles sinnlos geworden.« »Was hast du jetzt vor?« »Ich verreise«, sagte er und sog die Luft ein, als ob er mit einem Mal befreiter atmen konnte. »Nach Frankreich, habe ich mir gedacht. Da war ich noch nie.« Hannah nahm die Sonnenbrille ab und sah ihn forschend an. »Du willst alles hinter dir lassen, wie? Dann lass dir eines sagen, Jockel. Es wird dir nicht helfen, kein bisschen. Ich habe es versucht, ich weiß, wovon ich spreche. Glaub mir, es wird dir nicht helfen.« »Frankreich ist ja auch nicht das Gelobte Land«, erwiderte Epstein. »Egal, was man sich darüber erzählt.« »Du sprichst doch nur Deutsch. Wie willst du dich dort verständigen? Die Franzosen sind in dieser Beziehung etwas heikel.«
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»Es gibt dort sicher noch eine ganze Menge Leute, die auch nichts anderes verstehen.« Er klopfte sich an die Brusttasche. »Genug Geld habe ich. Man kann ganz gut von dem Schrott anderer Leute leben.« Beiläufig schnippte er ein Blütenblatt von seinem Borsalino, nahm den Hut in die Hand und erhob sich. Er deutete auf den Uferweg. »Lass uns noch ein paar Schritte gehen.« Die Ball spielenden Kinder waren ein Stück weitergezogen. Doch plötzlich flog der Ball wieder in Epsteins Richtung und blieb einige Meter von ihm entfernt liegen, eine winzige Insel der Unschuld auf dem hellen Grün des gepflegten Rasens. Er dachte nicht lange nach, nahm Anlauf und drosch den Ball in hohem Bogen zurück. Die Kinder riefen ihm etwas Anerkennendes zu. Na bitte, dachte er. Er war doch noch nicht das Wrack, für das er sich in seiner Wohnung und auf dem Friedhof gehalten hatte. »Ich werde mir ein kleines Haus mit Blick aufs Meer kaufen und mir die Sonne auf den Bauch scheinen lassen«, sagte er, »irgendwo im Süden. Adam hat immer von französischen Romanen geschwärmt. Vielleicht versuche ich es damit.« Zufrieden nickte er vor sich hin, nach der Art alter Leute, die ein lange für unwahrscheinlich gehaltenes Ereignis auf sich zukommen sehen. Hannah betrachtete ihn zweifelnd. »Am Meer ist die Einsamkeit am größten, Jockel. An deiner Stelle würde ich lieber in einer Stadt wie Berlin bleiben, in einer vertrauten Umgebung. Das Meer verwischt die letzten Spuren der Vergangenheit, die man noch in sich trägt. Die guten wie die schlechten. Es flutet darüber hinweg, und wenn es sich zurückzieht, hinterlässt es nur eine glatte, abgewaschene Fläche.« »Du sagst es, Hannah. Aus diesem Grund will ich da hin. An eine neue Stadt gewöhne ich mich nicht mehr. Die vielen Leute, der Verkehr, die ganze Aufgeregtheit. Deshalb war der Knast 130
gar nicht so verkehrt. Du hast alles, was du brauchst, kannst dich jederzeit zurückziehen. Sie haben mich dort mit Respekt behandelt. Kannst du dir das vorstellen? Sonst musste ich mir immer erst Respekt verschaffen, mit der Stimme oder der Faust oder einer entschlossenen Tat. Aber wegen meines Alters waren sie sehr rücksichtsvoll, die Wärter wie die Häftlinge. Vermutlich dachten sie, dass ich im Knast sterbe, ohne noch mal rauszukommen. Der Alptraum jedes Gefangenen. Mich hat eine solche Aussicht nicht gestört. Es gab in dieser Zeit ja nichts, was ich noch erleben wollte. Oder was ich auf freiem Fuß wieder gutmachen konnte.« Er senkte den Blick. »Schließlich wusste ich nicht, dass du noch lebst.« »Es gab nichts gutzumachen«, sagte sie bestimmt und stand ebenfalls auf, um sich ihm anzuschließen. »Schließlich wusste ich die ganze Zeit über nicht, was damals wirklich vorgefallen war. Und selbst wenn ich es gewusst hätte –« Sie ließ den Satz unvollendet. Gemeinsam spazierten sie am Wasser entlang. Epstein zog seinen Mantel aus und legte ihn sich über die Schulter. Im Gehen krempelte er die Ärmel hoch, wobei ihm sein Hut fast entglitten wäre. Er setzte ihn wieder auf und schob ihn in den Nacken. Draußen, in einiger Entfernung vom Ufer, schwamm ein Segelboot. Es war ungewöhnlich klein, ferngesteuert, dämmerte es Epstein, als er einen Halbwüchsigen entdeckte, der einen schwarzen Kasten mit langer Antenne vor die Brust geschnallt hatte und mit beiden Händen an ein paar Hebeln hantierte. Die Boote, die Epstein zusammen mit Adam und Karl gebaut hatte, waren nur mit Wind gefahren. Wenn man nicht aufpasste, waren sie im Handumdrehen verschwunden, in einer Flussbiegung oder im dichten Röhricht, unwiederbringlich. »Ich war zehn Jahre alt«, begann er unvermittelt. »Kam als Neuer in die Klasse, weil ich sitzen geblieben bin.« Er lächelte nachsichtig. 131
»Der Einzige, den ich kannte, war ein kleiner pickliger Bengel von Gegenüber.« Er kratzte sich an der Stirn, versuchte sich zu erinnern. »Abraham Sonnenfeld. Genau, so hieß er. Ich glaube, er wollte Bäcker werden. Sein Vater war Pilot bei einem Flugzirkus, das fand ich damals ungeheuer aufregend. Aber Abraham, dieser Langweiler, wollte einfach nur Bäcker werden.« Epstein verzog das Gesicht. »Und er stank. Niemand wollte neben ihm sitzen, weil er so entsetzlich stank. Wir nannten ihn den ›Knollenblätterpilz‹. Er stank so, wie es in der Propaganda immer behauptet wurde – nach Knoblauch. Aber auch nach sauer gewordener Milch und Ziegenstall. Außer ihm habe ich niemanden mehr getroffen, der so einen Geruch an sich hatte, nicht einmal im Lager.« Er hing eine Weile einem fernen Gedanken nach, wischte ihn dann beiseite. »Egal. Abraham verriet mir etwas sehr Wichtiges. Er wusste, wer Klassenbester in Mathematik war.« »Adam«, ergänzte Hannah. »Natürlich. Adam war der Beste in allen Fächern, der Klassenprimus. Also, setzte ich mich neben ihn. Ein begehrter Platz war das, das kann ich dir sagen. Aber ich hatte Glück. Sein Banknachbar war an jenem Tag krank. Ein paar Wichtigtuer protestierten, aber ich scherte mich einen Teufel drum. Günstige Gelegenheiten muss man beim Schopf packen, das war schon in der Schule so. Wer weiß, was geschehen wäre, wenn der andere Junge damals nicht Mumps oder was weiß ich was gehabt hätte.« Er lachte. »Also, es dauerte gerade mal fünf Minuten, da wurden schon die Hefte ausgeteilt. Extemporale.« »In Mathe«, vermutete Hannah. Epstein bückte sich nach einem Kieselstein und warf ihn schwungvoll ins Wasser. Er titschte ein paarmal auf und versank. »Zwölf Fragen Algebra, der blanke Horror. Ich dankte 132
meinem Schöpfer, dass mir Abraham diesen Tipp gegeben hatte.« »Du hast von Adam abgeschrieben, stimmt’s?« »Von wegen –« Adam sitzt in einer altmodischen Schulbank mit aufklappbarem Tisch und einer Vertiefung für das Tintenfass. Vor ihm liegt ein aufgeschlagenes Heft. Er würdigt es keines Blickes, schaut direkt in das strahlende Sonnenlicht, das durch die offenen Fenster hereinfällt. Ein Schwarm Vögel flattert draußen vorbei und lässt sich auf den Ästen einer großen Linde im Schulhof nieder. Adam verfolgt ihn mit den Augen, geistesabwesend, als ob es in diesem Augenblick nichts anderes gäbe. Im Klassenzimmer kann man eine Stecknadel fallen hören. Die gespannte Stille wird ab und zu unterbrochen von dem Kratzen einer Füllerfeder auf Papier. Alle Schüler sind in die Algebraaufgaben vertieft. Einige von ihnen werfen verstohlene Blicke in die Hefte ihrer Banknachbarn, schauen schnell wieder weg. Epstein ist kurz davor zu verzweifeln. Er wartet ab, bis der Lehrer an seinem Platz vorbeigegangen ist und ihm den Rücken zukehrt. Dann schielt er zu Adam hinüber. Fehlanzeige, er träumt immer noch vor sich hin. Epstein kaut auf seinen Lippen, der Schweiß bricht ihm aus. Zum wiederholten Mal wischt er die Hände an seinen Hosenbeinen ab. Er stupst Adam mit dem Ellenbogen an. Keine Reaktion. »Der kleine Rose, wie ihn alle nannten, der kleine Rose hat während der ganzen Zeit nur aus dem Fenster gesehen. Er saß da, spielte mit seinem Füller und starrte Löcher in die Luft. Ich hatte perfekte Sicht auf ein leeres Blatt Papier.« »Aber es hat doch noch geklappt, oder?« »Keine Chance. Ich bin ganz alleine den Bach runtergegangen, wie man so sagt. Als ich merkte, dass unser Primus nicht in Stimmung war, habe ich mich selber an die Aufgaben gemacht. 133
Mit dem verheerenden Ergebnis, das zu erwarten gewesen war.« Er kickte einen Stein ins Wasser. »Und weißt du was? Adam hat alle Aufgaben in den letzten paar Minuten gelöst. So schnell konntest du gar nicht gucken, wie er das hingekritzelt hat, noch dazu ziemlich unleserlich. Ich habe mich gar nicht mehr bemüht, es zu entziffern, hätte ja nichts mehr gebracht. Außerdem war mein Vertrauen in dieses Genie auf den absoluten Nullpunkt gesunken.« Hannah lächelte wissend. »Nachdem wir unsere Hefte abgegeben hatten, sah er mich ganz harmlos an und sagte mir ins Gesicht, dass meine Lösungen alle falsch wären.« Belustigt hielt sie sich die Hand vor den Mund und unterdrückte ein Kichern. »Na ja, da hat er mir nichts Neues erzählt. Das wusste ich ja selber. Dann meinte er noch, wenn ich mich auf die Aufgaben konzentriert hätte, wäre das nicht passiert. Sehr witzig.« Epstein hielt für einen Moment inne. »Aber dann hat er noch etwas gesagt. Ich habe es zuerst nicht verstanden, wie das so ist, wenn sich einem unvermittelt etwas offenbart, woran man davor nicht im Traum gedacht hätte. Er sagte wortwörtlich, ich weiß es noch, als ob es gestern gewesen wäre: Hast du die Vögel nicht gesehen?« Sie sah ihn verständnislos an. »Fragt mich dieser kleine dürre Kerl doch tatsächlich, ob ich die Vögel nicht gesehen hätte? Natürlich hatte ich die verdammten Viecher gesehen«, fuhr er mit gespielter Entrüstung fort und warf die Hände in die Luft. »Die saßen ja immer da! Den ganzen Sommer über!« Er überlegte kurz. »Um genau zu sein, waren es Spatzen. Keine Schwalben oder Störche, das wäre ja noch angegangen, sondern stinknormale Spatzen. Klein und dürr wie unser Adam.« 134
Hannah stieß ein ausgelassenes Lachen hervor. Epsteins Geschichte traf Adam so genau, dass sie den Eindruck hatte, er befände sich neben ihr. Nicht in einem Schulzimmer, sondern auf einer Mauer in einem Berliner Hinterhof, ihrem Platz, an dem er vom Abendstern erzählt hatte, vom Lauf der Planeten, von Dingen und Erscheinungen, die ihr einst die Welt aufgeschlossen hatten, eine unabänderliche Welt, wie sie jenseits des Hinterhofes, der großen Stadt, ja ganz Deutschlands existierte. Kurz ruht er, hell und fern, und schwindet – »Kannst du mir bitte schön sagen, was Vögel mit Mathematik zu tun haben?«, fragte Epstein. Sie schüttelte nur den Kopf und hörte ihm weiter zu, voller kindlicher Neugier, wie die Geschichte weiterging. »Sie sind schön«, ahmte er Adams Tonfall nach. »Sie ergeben einen Sinn, weil sie so wunderschön sind. Und alles, was einen Sinn ergibt, ist auch irgendwie Mathematik.« Epstein starrt Adam entgeistert an. Ihm ist nicht klar, ob er gerade verzaubert oder veralbert wurde. Adam setzt sich wieder gerade auf seinen Stuhl und blickt nach vorne zum Lehrer, der die eingesammelten Hefte in seiner Tasche verstaut und an die Tafel tritt. Er scheint sich wieder auf den Unterricht zu konzentrieren. Epstein versucht es ihm gleichzutun, aber sein Blick schweift von der Tafel ab. Die Spatzen schwirren geschäftig in der großen Linde herum. Ihr Zwitschern erfüllt das Schulzimmer, der Lehrer spricht lauter. Plötzlich, wie auf Kommando, erhebt sich der ganze Schwarm in die Lüfte und wird unsichtbar vor der blendenden Sonne. »Von da an wusste ich, dass ich ihn liebe, dass ich ihn brauche für mein Leben und alles Weitere. Ich beschloss, meine Hand über ihn zu halten. Menschen wie Adam sind die Ersten, die niedergetrampelt werden, wenn die Giessers unter uns einmal loslegen. Solange ich ihn beschützt habe, konnte er weiter dem 135
Flug der Vögel zusehen und die schwierigsten Denkaufgaben lösen, als wäre es ein Kinderspiel.« Er atmete schwer aus. »Aber mehr auch nicht. Ich konnte ihn vor dem Tod bewahren, aber vor Majdanek nicht. Egoistisch wie ich war, dachte ich, dass das genügen würde. Und eine Zeit lang genügte es auch – zumindest mir. Schließlich hatte ich ihn ja noch, sein Wesen schien unberührt. Aber er blieb auf dieser Stufe stehen, bei Vögeln und abstrakten Gleichungen. Er verschloss sich gegen alles, was seine heile Welt aus dem Gleichgewicht bringen konnte. Was wäre aus ihm geworden, wenn er die andere Seite nicht gesehen hätte, wenn er nicht am Abgrund gestanden hätte, wo Giesser regierte? Viele KZ-Überlebende haben das verdrängt, haben irgendwie weitergemacht, neu angefangen wie auch ich. Doch Adam war verloren, ein für alle Mal. Ich konnte ihn nicht mehr zurückholen, habe es vielleicht nicht einmal ernsthaft versucht. Karl übernahm diesen Part, er machte Karriere, holte sein Abitur nach, studierte, gründete eine Anwaltskanzlei, in die er Adam pro forma hineinnahm. In ein Messingschild kannst du vieles gravieren lassen. Rose und Rose. Niemand wusste, was sich dahinter verbarg.« Epstein blieb stehen und bückte sich. Als er sich wieder erhob, hatte er eine Kornblume gepflückt, hellblau, an den Rändern violett, wie ein Stern, der unversehens am Himmel steht, an einem Ort, wo vorher nur dunkle Nacht gewesen war. Mit einer feierlichen Geste überreichte er die Blume Hannah, die sie zögernd entgegennahm. Sie betrachtete sie eine Weile, drehte sie hin und her. Dann trat sie ans Seeufer und warf sie ins Wasser.
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21 »Es kann sein, dass er in Wahrheit gar nicht so war«, sagte Hannah. »Ich habe mein Bild von ihm und du hast deines. Die Bilder sind sich ähnlich, aber können wir sagen, was wirklich in ihm vorgegangen ist? Hinter dem, was er uns gezeigt hat? Adam war intelligent, beängstigend intelligent. Und er war jung, wie wir alle. Da verarbeitet man vieles leichter. Möglich, dass er in seinem eigenen Reich, auf seine Weise den Dingen den richtigen Platz zugewiesen hat.« »Möglich, aber unwahrscheinlich. Nicht mein Adam.« »Eines Abends«, sie beobachtete, wie die Kornblume auf dem Wasser schaukelte und allmählich von den Wellen weggetragen wurde, »eines Abends kam er mit einem riesigen länglichen Gegenstand in unsere Wohnung. Es sah aus wie ein Musikinstrument, vielleicht ein Fagott in dem dazugehörigen Kasten. Er sprach zuerst mit meinem Vater, auf diese ruhige, erwachsene Art, die er manchmal an sich hatte. Es dauerte einige Minuten, sie verhandelten. Dann wurde mir erlaubt, noch einmal nach draußen zu gehen. Ich wusste gar nicht, was los war, aber Adam nahm mich einfach mit und sagte mir, ich würde schon sehen. Wir gingen in den Hof hinunter zu unserem Platz an der Mauer. Er öffnete den Kasten. Es war ein Teleskop, das ihm Karl besorgt hatte. ›Heute sieht man den Abendstern‹, sagte er. Kennst du den Abendstern, Jockel? Das ist die Venus. Sie kommt in einem Gedicht vor, das Adam für mich geschrieben hat«, erklärte Hannah und fuhr fort. »Wir haben das Teleskop aufgebaut und Adam hat es ausgerichtet. Bevor wir dann anfingen, den Sternenhimmel und die Planeten zu betrachten, hat er mir etwas gestanden. Er sagte, dass er sich den Abendstern immer nur vorgestellt, aber nie wirklich gesehen hatte. Verstehst du? Er hatte Gewissensbisse, weil er mir in den 137
Worten der Poesie, mit einer Metapher, etwas geschildert hatte, das er nicht aus eigener Anschauung kannte. Das passt nicht zu einem Tagträumer, oder? Es passt mehr zu einem Menschen, der in allem, was er anstellt, sehr gründlich vorgeht, gründlich und aufrichtig, sich selbst und allen anderen gegenüber. Es zeigt aber auch, dass er bei aller Aufrichtigkeit nicht gedankenlos oder zerstreut war. Er wusste genau, was er tat, er kannte sein Verhältnis zu anderen Menschen und war sich dessen genau bewusst. Und deshalb frage ich mich, ob es nach dem Lager, also nachdem er augenscheinlich mit der Welt abgeschlossen hatte, nicht doch noch einen geheimen, einen inwendigen Adam gegeben hatte, von dem nichts nach außen drang. Vögel und abstrakte Gleichungen«, sagte sie nachdenklich. »Vielleicht war das nur der Anfang eines verborgenen Lebens, eines auf wundersame Weise verzauberten und zugleich unendlich einsamen Lebens, eines Lebens, dessen Fülle und Schönheit uns nie zugänglich sein wird.« Epstein schwieg. Sie hatte etwas angesprochen, was er manchmal dunkel vermutet, aber immer gleich wieder verworfen hatte. Es war ein Weg, auf dem er Adam nie hätte folgen können, selbst wenn er es gewollt hätte. Nicht er, Epstein, aber vielleicht Hannah. Dafür war es jetzt zu spät. »Ich muss langsam los«, sagte sie bedauernd. »Zum Flughafen. Ich kehre noch heute nach Paris zurück.« »Aber es gibt noch so vieles –«, wollte er protestieren. »Jetzt nicht«, wehrte sie ab. »Ich stehe das nicht lange durch, solche – Eingriffe. Das ist wie bei einer Operation. Ab einem gewissen Alter weiß man nie, ob man nach der Narkose wieder aufwacht. Eigentlich wollte ich gar nicht kommen.« Er nickte entmutigt. »Viel Glück«, wünschte sie ihm, drehte sich um und entfernte sich mit raschen Schritten über den Rasen. Epstein sah ihr kurz nach, wandte sich dann ab und blickte auf 138
den See hinaus. War es das gewesen, ein paar Stunden für ein halbes Jahrhundert? Hatte er seine letzte Gelegenheit verpasst? Gelegenheit wozu? »Hannah!« Sie war schon ein gutes Stück weit entfernt, hatte im Gehen ein Taschentuch hervorgezogen, um sich die Augenwinkel zu tupfen. Als sie ihren Namen hörte, blieb sie stehen. Epstein kam ihr entgegengelaufen. Mit starrem Gesichtsausdruck verfolgte sie, wie er schnaufend herankam. Sein Hut und sein Mantel waren hinter ihm aufs Gras gefallen. »Hannah.« Er rang um Worte. »Ich – das alles –« »Ja?«, sagte sie. Und ihre Maske fiel. Sie hob einen Finger und legte ihn auf Epsteins Mund. »Kein Weg zu überleben war einfach, Jockel.« Er ergriff ihre Hand, zog sie zu sich heran und beugte den Kopf vor wie zum Handkuss. Tränen liefen über seine Wangen. Gebückt lehnte er sich an sie. »Ich weiß. Ich weiß! Es tut mir so Leid –« Sie strich ihm zärtlich über den Kopf. »Ich lebe.« Er schaute zu ihr hoch, richtete sich auf. Sie nahm ihn zärtlich in die Arme. Die Steifheit ihrer Körper gab nach. Er umklammerte sie, als ob er sie nie mehr loslassen wollte, wiegte sie wie ein Kind, weinte hemmungslos. »Lieber Jockel«, sagte sie leise. »Alles ist gut.« Er vergrub seinen Kopf an ihrer Schulter. Hannah ließ es eine Weile geschehen. Dann machte sie sich los. »Ich muss weiter«, erklärte sie. »Danke, Jockel. Wenn es etwas zu verzeihen gibt – ich verzeihe dir.« Sie gab ihm einen Kuss auf die Wange. Damit verließ sie ihn. Als sie eine Wegbiegung erreichte, drehte sie sich noch einmal 139
um und winkte zum Abschied. Er hob die Hand und sah, wie sie hinter einer Baumgruppe verschwand.
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22 Wohin jetzt? Ein anderes Land? Eine andere Zeit? Epstein setzte sich einfach in Bewegung. Er las seinen Hut vom Boden auf. Als er zu den spielenden Kindern kam, ging er langsamer und beobachtete sie aus einigem Abstand. Sie kreischten und hüpften wild durcheinander. Manchmal warfen, manchmal schossen sie sich den Ball zu. Ein kleiner Junge fuhr lachend auf einem Rad neben ihnen her. Ein Mädchen mit Zöpfen saß auf dem Gepäckträger und hielt sich an ihm fest. Ein anderer, etwas größerer Junge, saß ebenfalls auf einem Rad, folgte ihnen, rief ihnen etwas zu. Epstein hatte das Gefühl, dass sie immer ein paar Schritte vor ihm herflatterten, wie Sommervögel, kurz vor dem Zug in ihr Winterquartier.
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Mario Adorf: Nachwort zu EPSTEINS NACHT Dieses Buch erzählt die Filmgeschichte von »Epsteins Nacht« für die Leser, die den Film schon gesehen haben, oder die sich vorher über ihn informieren wollen, oder auch alle, die durch das Thema ganz allgemein angezogen werden. Die ernsthafte Beschäftigung mit dem Thema Holocaust im Großen und Ganzen ist für uns eine Pflicht, der wir uns nicht entziehen dürfen. Ein Film zu diesem Thema kann nun für den Zuschauer stärker wirken, birgt allerdings die Gefahr des nicht so Authentischen, des Romanzierten zugunsten der filmischen Spannung. Ein Buch zu dem gleichen Thema verlangt und bietet die direkte Auseinandersetzung des einzelnen Lesers mit dem für uns so heiklem Stoff. Als ich den ersten Drehbuchentwurf zu »Epsteins Nacht« las, hatte ich einen kleinen Zweifel, was die Wahrscheinlichkeit der Geschichte betraf. Dass sich ein ehemaliger SS-Scherge ausgerechnet in die Identität eines katholischen Priesters flüchtet, schien mir eine gewagte Vorstellung, die nicht nur Katholiken zutiefst erschrecken und beleidigen muss. Dennoch fand ich die Geschichte spannend und meine Mitwirkung an dem Film grundsätzlich notwendig. Als wir dann an die Verfilmung der Geschichte gingen, lag nach vier, fünf Fassungen des Drehbuchs ein weiter und ernsthafter Weg der eigenen Information und der Glaubhaftmachung hinter uns; uns, das heißt des Regisseurs, des Produzenten und der Darsteller. Meine letzten Befürchtungen, dem Publikum nicht überzeugend genug die Wahrheit einer solchen Geschichte zu vermitteln, schwand schließlich durch eine Begegnung, die ich in Wien hatte. Ein bekannter Bildhauer erzählte mir die wahre 142
Geschichte eines Wiener Emailfabrikanten mit dem Namen Adler, der, zusammen mit zwei Freunden, eines Tages, etwa zwei Jahre nach Kriegsende, an einer Straßenbahnhaltestelle in einem als Priester gewandeten Mann seinen Henkersknecht aus dem KZ wieder erkannte. Es gelang ihnen, den Mann solange festzuhalten, bis eine Streife der britischen Besatzungsmacht ihn verhaften konnte. Damals machte das Gericht der Alliierten kurzen Prozess mit dem vielfachen Mörder und ließ ihn aufhängen. Ein besonderes Thema des Films und dieses Buches ist die innere Auseinandersetzung Joachim Epsteins mit seinen Problemen und Schuldgefühlen, die ihn über vierzig Jahre lang gequält haben. Hier stehen sich die uneinsichtige Haltung des falschen Priesters, der in seiner Rolle als Wolf im Schafspelz für seine Verbrechen, die er als Befehle verharmlost, gebüßt zu haben glaubt, dem Leiden Epsteins gegenüber, der seiner Rettung der Freunde, besonders des von ihm geliebten Adam Rose, als echte Schuld empfindet, nämlich als den »Verrat« an Mithäftlingen, die er für die Rettung opfern musste. Hier liegt der Akzent auf dem »musste«, denn Epstein hatte eben nicht die Wahl, die ihn schuldig werden oder unschuldig bleiben ließ. Dass er aber die Schuld dennoch akzeptiert und die Buße auf sich nimmt, weil er die Freundschaft seines Schützlings Adam verloren hat, macht ihn zum Täter, dann zum Opfer, und schließlich zum Helden dieser Geschichte.
Mario Adorf
Rom, August 2001
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