Einfach richtig leben
Nachdenkenswerte Erzählungen über das Leben und die Liebe von Reiner Vial Einfach richtig leben ©...
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Einfach richtig leben
Nachdenkenswerte Erzählungen über das Leben und die Liebe von Reiner Vial Einfach richtig leben © 2004 – Reiner Vial, Nachrodt-Wiblingwerde – Alle Rechte bleiben vorbehalten WICHTIG! Ich stelle diese Erzählungen auf meiner Homepage http://www.reiner-vial.de zum kostenlosen Download zur Verfügung. Diese dürfen, ausschließlich unverändert und ungekürzt, auf Datenträger oder als Ausdruck beziehungsweise Kopie, grundsätzlich nur kostenlos, weitergegeben werden. Jede kommerzielle Verwendung und Wiedergabe in Publikationen aller Art, auf privaten wie gewerblichen Homepages und in elektronischen Medien ist nur nach meiner vorhergehenden Zustimmung und eventueller Honorarvereinbarung erlaubt. Dieses gilt sowohl für die vollständige wie auszugsweise Wiedergabe. Grundsätzlich muss immer auf meine Urheberschaft und meine Rechte hingewiesen werden! Bei jeder Verwendung oder Wiedergabe entgegen vorstehender Bedingungen, bei Verfälschung oder nur Veränderung der Texte sowie bei jeder Art des Diebstahls meines geistigen Eigentums, ganz oder teilweise, behalte ich mir sowohl straf- wie zivilrechtliche Schritte vor!
Inhaltsverzeichnis Hinweis: Die unterstrichenen Kapitelbezeichnungen (z.B. Kapitel 1 ) sind Hyperlinks. Wenn Sie hier klicken, gelangen Sie direkt auf die Seite, auf der das gewünschte Kapitel beginnt. Einfach nur leben ................................................................................................
Vorwort
Die ausgetauschten Ehefrauen.............................................................................
Kapitel 1
Wolfgang Schmöckel führt eine „gutbürgerliche“ Angestellten-Existenz bis er „plötzlich“ von Arbeitslosigkeit und Scheidung ge- und betroffen wird. Am Tage des Auszuges seiner Ehefrau gibt es eine Wende, die ihn aus der Existenz ins Leben führt.
Die nackten Christinnen....................................................................................... Kapitel 2 Eine junge Dame aus der Siedlung Krähenberg lässt sich nackt ablichten und das Bild ins Internett stellen. Damit löst sie bei den prüden und erzkonservativen Siedlern einen Skandal aus. Da springen ihr unerwartet mehrere Damen im Alter von 25 bis Mitte 50 zur Seite.
Lass doch die Inkassogeier fliegen........................................................................ Kapitel 3 Peter Graf muss sich infolge einer peinlichen Situation an seine Nachbarin wenden und kommt dabei mit ihr erstmals richtig ins Gespräch. Er erfährt, dass beide ein gleiches Schicksal hinter sich haben: Firmenpleite und hohe Schulden. Gemeinsam finden sie den Weg in ein lebenswertes Leben.
Ist meine Tochter eine Mörderin?......................................................................... Kapitel 4 Hermann Lange erzählt uns, dass man seine Tochter verhaftet habe, weil man sie aufgrund vieler Indizien verdächtigt, ihren Gatten umgebracht zu haben. Ihren Vater beschwört sie ihr zu glauben und ihr zu helfen, was objektiv gesehen gar nicht so einfach ist. Doch da gibt es eine Wende.
Das erste Leben war ein einziger Irrtum................................................................ Kapitel 5 Gerhard Schmidt, ein erfolgreicher Regionalpolitiker, liegt nach einem schweren Unfall über einen Monat im Koma. Nur langsam erlangt er sein Gedächtnis zurück. Eben gesundet wird er erstens von einer neuen Liebe in Bann genommen und zweitens hält er sein früheres Leben für einen einzigen Irrtum. Er kann sein eigenes ehemaliges Handeln nicht verstehen.
Stripperin unter dem Kopftuch.............................................................................. Kapitel 6 Nachdem eine Laientheatergruppe nur noch mäßigen Erfolg auf der Bühne hat beschließen die Akteure einen „Spielfilm“ zu drehen. Mit Begeisterung leben sie während der „Dreharbeiten“ ihre aufgestauten sexuellen Fantasien aus. Außer dem Drehbuchautor merkt niemand, dass ein sexistisches und rassistisches Machwerk entsteht.
Sterben ist uns allen vorbestimmt........................................................................... Kapitel 7 Innerhalb eines halben Jahres sterben die Schwester und die Frau von Reimund Köster. Während Reimund das Sterben der atheistisch gesinnten Schwester wie einen Alptraum erlebt kommt ihm das Ableben seiner christlichen Frau wie eine würdige, feierliche Zeremonie vor.
Irrfahrt ins alternative Leben................................................................................... Kapitel 8 1975 reist der Millionenerbe Klaus-Dieter Weber nach Bangkok und verschwindet anschließend spurlos. Sporadisch meldet er sich bei einem Anwalt, der allerdings nicht weis wo Weber lebt, und gibt einen zweifelsfreien „Lebensnachweis“ ab. Webers mögliche Erben glauben nicht daran, dass Weber noch lebt und beauftragen eine Detektei und erfahren dann Erstaunliches über Webers alternatives Leben. Auf einer Pazifik-Insel ist er auch ohne Geld glücklich.
Was ist nun richtiges Leben?..................................................................................... Nachwort Ein längeres aber (hoffentlich) lesenswertes Nachwort
Zum Vorwort
Zum Inhaltsverzeichnis
Einfach richtig leben – Vorwort Zum zehnten Mal habe ich mich daran gesetzt, ein eBook, welches ich wieder kostenlos auf meiner Homepage zum kostenlosen Download anbieten will, in die Tastatur meines PC zu picken. Bis jetzt habe ich sieben Romane und zwei eBooks mit Erzählungen unter die Leute gestreut. Von November 2001 bis Januar 2004 haben über 40.000 internette User diese Werke von meiner Website gesaugt. Mit meinem „Schaffen“ habe ich mir sowohl viel Freunde und viel Feinde – und alle Zwischennuancen – geschaffen. In Schulnoten ausgedrückt habe ich alles von 1 bis 6 erhalten. Diejenigen, die mich von 4 zahlenmäßig aufwärts bewertet haben, dürften sich beim Betrachten des Titels dieses eBooks bestätigt fühlen und die anderen sagen dabei entsetzt: „Meine Güte, jetzt ist der Vial vollkommen durchgeknallt. Schreibt er doch den plumpen Titel ‚Einfach richtig leben’ und setzt darunter das Bild eines griechischen Friedhofes. Wenn man da gelandet ist, dürfte es mit dem Leben, gleichgültig ob richtig oder falsch, vorbei sein.“. Genau, letzteres habe ich mir dabei gedacht; darauf wollte ich anspielen. Der Devise „Richtig leben bevor es nicht mehr geht“ dürften wohl fast alle uneingeschränkt zustimmen. Aber was ist „richtig leben“. Jemand, der die Neigung hat alles zu relativieren, kann jetzt wieder sagen, dass ein Jeder etwas anderes darunter verstehen könne. Der Eine priorisiert den Spaßfaktor. Für ihn ist leben einfach überall dabei sein und Spaß haben. Fußball, Eishockey, Rock- und Nonsensshows, Bier, Wein und high life. Egal was, Hauptsache Spaß. Der Andere hat es mit Geld und Ehre. Beim ihm besteht das Leben aus stetem Einsatz im Dienste des Gottes Mammon. Er will zu einem großen Namen kommen, auf dem Sockel stehen und seinen Nachfahren möglichst viel vererben. Wieder andere glauben – im wahrsten Sinne des Wortes – sich als frömmelnder Betbruder – oder Schwester – mit Gebetgeplapper und Lobgesangjaulerei und einem keusch und züchtigen Entbehrungsdasein sich einen Logenplatz in der Ewigkeit erobern zu müssen. Gleichgültig für was sich der Einzelne entschieden hat ist er der Meinung, dass alle anderen ihr Heil darin suchen müssten, ihm nachzueifern. Da beginnt für mich der Ansatz für meine Gesellschaftskritik. Die Spaßmacher verlieren jede Sicht auf natürliche Grenzen. Sie amüsieren sich auf Kosten anderer und zeigen keinen Respekt mehr vor der Würde des Menschen. Sie sperren Menschen in Container und lassen sie wochenlang von einem voyeuristischem Fernsehpublikum beobachten. Sie erlauben sich plumpe und ehrverletzende Scherze über ihre Mitmenschen. Und das Schlimmste dabei: Ihresgleichen finden noch nicht einmal schlimmes dabei und machen sogar noch aus eigenen Stücken mit und lassen sich vorführen. Empört und voller Unverständnis reagieren die „Spaßmacher“ wenn sich mal ein von ihnen getretenes Würmchen krümmt und sich gegen Spaßattacken, die ihre Ehre und Würde verletzen, wehrt. Schlimmer noch die Geldmenschen, die alles wirtschaftlichen „Zwängen“ unterordnen wollen. Denen der Standort wichtiger wie der Lebensraum ist. Die von anderen verlangen, dass sie leben um zu arbeiten. Diese Leute reden gerne, wenn jemand nicht für Trinkgeld Sklavendienste leisten will, von Faulenzern. Sie messen das Wohlergehen eines Volkes an Börsenkursen und Wirtschaftsindikatoren und nicht, wie es eigentlich sein sollte, an der Lebensqualität für die meisten Menschen. Für sie hat der Mensch der Wirtschaft zu dienen und nicht umgekehrt. Für die Tänzer um das Goldene Kalb zählt nicht der Mensch und seine Werte sondern nur das, was jemand an Geld- und Vermögenswerten zusammen gerafft hat. Menschen sind für sie nur Faktoren; Personaloder Sozialkostenfaktoren. Und das Entsetzliche scheint mir, dass die heutigen Politiker nur wie willfährige Majonetten dieser humanoiden Kaste erscheinen. Aus der Ecke, aus der eigentlich die Signale in die richtige Richtung kommen sollten, hört man nichts. Die Religiösen verkriechen sich lieber in die Kirchen und Gemeindehäuser um egoistischer Weise für ihr eigenes Seelenheil zu beten und lobpreisen. Gleich den Pharisäern preisen sie sich vor dem Herrn was sie doch, im Gegensatz zu den säkularisierten Massen da draußen, für ein gutes Bodenpersonal sind. Dabei vergessen sie ganz, dass sie einen Missionsbefehl haben. Sie haben zwar gehört, dass eher ein Kamel durch ein Nadelöhr als ein Reicher in das Himmelreich geht und dass man das, was man seinem geringsten Bruder tut gleichzeitig unserem Herrn angetan hat, aber sie behalten es für sich weil sie ja für ihr persönliches Seelenheil lauter Taten, wie ellenlange Gebete leiern und unverständlich altsprachliche Lieder tragend absingen, vollbringen müssen. Übrigens vor Gott zählen Taten gar nicht, denn bei ihm zählt, wie schon der Apostel Paulus schrieb, nur der Glaube. Na ja, diese Leute, die so etwas als leben bezeichnen, werden auch immer weniger, denn ein solches Berufsfrömmlertum schreckt andere fürchterlich ab. Der Nachwuchs wird immer rarer. Nun, was ist dann tatsächlich richtiges leben? Soll man etwa auf jeden Spaß verzichten? Beim besten Willen nicht, denn Humor und Lachen sind „gesund“ und gehören zum Leben ... ich möchte darauf nicht verzichten. Und Geld; auch das benötigen wir in einem menschenwürdigen Leben. Sicherlich müssen wir auch vernünftig wirtschaften damit wir unseren Lebensraum erhalten und Lebensqualität vermitteln können. Wir können ja nicht alle als Einsiedler in eine Höhle ziehen. Auch gegen den Glauben will ich nicht wettern, zumal ich mich selbst
für einen Christen halte. Es kommt eben auf die richtige Mischung an. Wenn diese gegeben ist, kann man dann richtig leben oder gehört noch etwas dazu? Jawohl, jetzt hätte ich eigentlich den Einstieg in ein philosophisches Werk gefunden. Aber hatten Sie die Absicht so etwas zu lesen? Wenn ja, dann sind Sie hier falsch, denn ich wollte keines schreiben. Meine Absicht ist es, sie mit ein paar Erzählungen, zum Teil Liebesgeschichten, zu unterhalten. An dem, was meine Hauptfiguren in den jeweiligen Geschichten erfahren und empfinden, möchte ich Denkanstöße zum Thema „Einfach richtig leben“ geben. Mit diesen möchte ich verdeutlichen, das leben vielmehr ist als Geld verdienen und Spaß haben. Ich möchte verdeutlichen was man alles versäumt, wenn man Geld und Spaß zum Lebensinhalt macht. Bei der Gelegenheit will ich mich gar nicht groß über gesellschaftliche Konflikte auslassen sondern ich will im privaten Leben der Einzelnen beziehungsweise des Einzelnen verbleiben. Wenn wir die Gesellschaft reformieren wollen müssen wir beim einzelnen Menschen anfangen. Dabei will ich es an dieser Stelle jedoch belassen, alles andere entnehmen sie auf hoffentlich unterhaltende Art und Weise den nun folgenden Geschichten. Zum Finale dieses Vorortes nur noch ein kurzer Hinweis, den man aus juristischer Vorsicht nicht unterlassen sollte: Alle Personen und Handlungen in den verschiedenen Erzählungen dieses eBooks sind meiner Fantasie entsprungen. Ich erzähle keine wahren Begebenheiten aus dem Leben wirklicher Personen. Da ich mich aber an dem, soeben erwähnten, wahren Leben orientiere und nicht zu sehr in das Reich der Fiktion abschweife, ist es nicht auszuschließen, dass es Ähnlichkeiten zu den Erlebnissen lebender oder verstorbener Personen gibt. So etwas ist halt ein unbeabsichtigter aber nicht ausschließbarer Zufall, jedoch auf keinem Fall mehr. Ganz pauschal kann ich sagen, dass sich die- oder derjenige, der oder die glaubt, dass ich seinen oder ihren Nachbarn kenne und dessen Geschichte erzähle, sich wirklich geirrt hat. Und nun auf in die Geschichten. Dazu wünsche ich Ihnen gute Unterhaltung und viel Denkstoff, mit dem Sie sich auseinander setzen können.
Nachrodt-Wiblingwerde, im Mai 2004
Zur ersten Erzählung
Zum Inhaltsverzeichnis
Die ausgetauschten Ehefrauen Wenn ich meine Memoiren schreiben sollte könnte ich dem gesamten Werk, bis auf das letzte Kapitel, das Prädikat „besonders langweilig“ verpassen. Es gab weder Höhe- noch Tiefpunkte, die selbst besonders geneigte Leserinnen und Leser vom Hocker reißen könnten. Mein Leben verlief eben „stink normal“ und schnurstracks wie Millionen andere auch. Erst vor knapp über einem Jahr gab es dann ein wenig Dramatik und davon will ich hier berichten. Zum besseren Verständnis muss ich aber doch erst einmal ein paar Eckdaten aus meinem Leben zum Besten geben. Also vor bald 58 Jahren, im Jahre 1946, freute man sich im Hause Schmöckel über den kleinen Wolfgang, also man feierte meine Geburt. Die Schmöckels waren eine Schneiderdynastie in der damals noch selbstständigen Kleinstadt Rennberg. Sowohl mein Opa wie mein Vater hatten einen Schneidermeistertitel und auch meine Mutter gehörte diesem Berufsstand, allerdings ohne „Ehrentitel“, an. So sollte dann auch ich, nach Abschluss der Realschule im Jahre 1963, ebenfalls ins schneidernde Handwerk einsteigen. Na ja, Opas Schneiderei, in der mein Vater als Junior fungierte, gab es damals auch noch und sie ernährte auch die Familie offensichtlich noch ganz gut. Aber schon während meiner Lehrzeit – ich lernte bei einem Schulfreund meines Vaters in Kraintal – wurden wohl die Ergebnisse aus dem Geschäft immer dünner. Ich war gerade im dritten Lehrjahr als mein Herr Vater die Konsequenzen zog und in einer Metallwarenfirma als Packer und Versender anfing. Jetzt hatte ich nun mal mein Fuß in das Handwerk, welches offensichtlich keinen goldenen Boden mehr hatte, gestellt und musste das Beste daraus machen. Etwas über ein Jahr blieb ich nach meiner Gehilfenprüfung noch in meinem Lehrbetrieb bis dann auch dort die Luft so dünn wurde, dass mein Lehrmeister erst einmal alleine weiter machen wollte. 1970 machte er aber dann endgültig dicht und wurde Kollege von meinem Vater. Ich konnte aber in etwa in meinem Beruf bleiben. Ich konnte mich im Modehaus Kärner in Kraintal anheuern lassen. Das war mal ein größerer Laden. Im Erdgeschoss gab es „Kleinzeug“, also von den Socken über die Unterhose bis zum Büstenhalter. In der Etage darüber gab es Herrenmoden und noch ein Stockwerk höher waren die feinen Sachen für die Damen zu haben. Natürlich führte dieses Haus auch wie die andere Kaufhäuser „Mode von der Stange“, wie man damals sagte. Aber in der hauseigenen Schneiderei wurden dann diverse Änderungen, wie Hosenbeine, Ärmel oder Röcke kürzen, angeboten. Hängeschulterbesitzer konnten sich dort die Schultern der Anzugsjacken polstern lassen und so weiter. Wenn in der, mit drei Mann besetzten Schneiderei mal Auftragsmangel herrschte dienten wir als fachkundiges Verkaufspersonal. Letztgenanntes wurde dann mit den Jahren unsere Hauptbeschäftigung. Neben Schneidern und Verkaufen gehörte die Qualitätsprüfung im Einkauf zu unseren Aufgaben. Nach acht Jahren im Hause Kärner war ich dann der erste Mann in der Schneiderei und dabei blieb es bis November 2002. Hat da jemand „I, wie langweilig“ gesagt? Was soll’s, es stimmt doch und das habe ich doch eingangs auch ganz eindeutig geschrieben. Genau so langweilig kann man mein Liebes- und Eheleben bezeichnen. Erst war ich so eine Art Schwerenöter und bekam keine mit. Das heißt, dass ich doch ab und zu mal für ein paar Wochen liiert war aber dann hieß es immer wieder „Tschüss, das war’s.“. Das änderte sich erst 1973 als mir Astrid Weller, eine Frisöse, die wie ich aus Rennberg kam, über den Weg lief. Astrid ist ein Jahr jünger als ich. Bei uns hat es sofort gerumst – im wahrsten Sinne des Wortes. Eigentlich kannten wir uns schon von Kindesbeinen an; wir waren zusammen zur Volksschule gegangen. Als ich dann zur Realschule wechselte gingen dann auch unsere Wege auseinander. Bei einer Modenschau, die der Hausfrauenbund zusammen mit meiner Firma, einem Schuhhaus und einem Frisör im Kraintaler Schützensaal veranstaltete trafen wir uns wieder. Astrid war für die Frisuren und ich für die Kleider und Kostüme der Amateur-Mannequins, wie damals die Modells noch genannt wurden, zuständig. Nach Abschluss der Veranstaltung feierten wir unser Wiedersehen in meinem Auto am Waldesrand mit einem kräftigen Hoppehoppe. Daran hatten wir so viel Spaß, dass wir uns häufig und regelmäßig zu einem solchen Vergnügen trafen. Alles drehte sich bei uns um Sex, richtig miteinander kommuniziert haben wir damals eigentlich nie. Nach drei Monaten konnte sich Astrid mit den Worten „Du, ich bin schwanger“ an mich wenden. Unsere konservativ eingestellten Eltern waren der Meinung, dass wir heiraten müssten und wir haben nicht widersprochen. Ironisch könnte ich sagen, dass es dann doch nicht notwendig war, denn Astrid hatte unser Baby verloren. Aus unserem wilden Sexleben wurde schon nach kurzer Ehezeit ein müdes Nebeneinander bei dem es so ab und zu, im Monat ein bis zwei Mal, eine Pflichtübung im Ehebett gab. Meist immer schön in der Missionarsstellung. Nach etwa drei Jahren überlegten wir ernsthaft ob wir uns scheiden lassen sollten. Wir haben es nicht getan und im Jahre 1978 wurde Astrid tatsächlich noch einmal schwanger und im November dieses Jahres wurde dann unsere Tochter Stefanie geboren. Aber an unserem müden Eheleben hat sich bis Weihnachten 2002 auch nichts mehr geändert. Eine dritte Sache ist noch erwähnenswert. Astrid tat nach Außen immer so als wären wir die Größten mit richtig stolzen Einkommen. Ja, wer angibt hat mehr vom Leben. Aber wenn man so gut gestellt ist kann man doch nicht
in einer Mietwohnung „hausen“, da muss man schon ein flottes Häuschen im Grünen haben. Nur gut, dass wir in Wirklichkeit kein so hohes Einkommen, wie es Astrid den Leuten vorprahlten, hatten denn sonst hätten wir 1980 kein selbstgenutztes Eigenheim im Sozialen Wohnungsbau errichten können. Während wir 15 Jahre lang unsere Grundschuld abtrugen bekamen wir dann immer was, erst sogar die Hälfte, zu unseren Tilgungen aus Landesmitteln dazu. Natürlich nicht geschenkt, denn das was wir da bekommen haben muss bis im Jahre 2010 wieder abgestottert werden. Diese Häuschen steht übrigens im Dörfchen Kahlenscheid, was auch schon vor der kommunalen Neuordnung zu Kraintal gehörte und von diesem Ort etwa fünf Kilometer entfernt ist. So, jetzt kennen Sie mein Leben bis Ende 2002. Wirklich nichts groß erwähnenswertes – oder? Aber dann wurde es „heiß“ und durch die Turbulenzen hat sich mein Leben grundlegend geändert. Ich musste erst einmal richtig deftig auf die Nase fallen um anschließend, erstmalig zu meiner Erdenzeit, richtig leben zu können. Ende September 2002 ging es los. Es war just zu der Zeit, als wieder mal ein Wahlkrampf mit dem Pöstchenlotto, sprich Wahltag, zuende ging. Diesmal habe ich gar nicht viel von dem Wahlrummel mitbekommen. Das mag daran liegen, dass ich mich überhaupt nicht für das Geschehen interessierte. Bis 1998 hatte ich keine Wahl ausgelassen und immer und immer wieder SPD gewählt. Was sich dann die Besser-CDU unter Vormann Schröder geleistet hat nahm mir letztlich alle Illusionen. Ist doch gleichgültig wer die Wahl gewinnt, der Sozialraubbau geht weiter und es wird unter dem Vorwand Globalisierung und Wettbewerbsfähigkeit unserer Industrie fleißig von Unten nach Oben umverteilt. Der einzigste Unterschied zwischen rot-grün und schwarzgelb sind die Namen der Leute mit den etwas besser bezahlten Posten. Denken lassen alle bei den Banken und der Industrie. Nun gut, 2002 bin ich überhaupt nicht hingegangen. Dabei wird es wohl in Zukunft auch bleiben. Zu jenem Zeitpunkt stand mir der Kopf auch nach ganz anderen Dingen. Herr Rolf Kärner, der Juniorboss des Modehauses in Kraintal war zum Amtsgericht gegangen und hatte dort einen Insolvenz-Antrag abgegeben. Anstelle unseres Augustgehaltes hatten wir einen Abschlag erhalten, etwa zwei Drittel von dem, was wir hätten kriegen müssen. Hinsichtlich unserer Fixkosten wäre ich, wenn wir nicht Astrids Frisösenlohn gehabt hätten, ganz schön in Schwulitäten gekommen. Auch begann ich mir „langsam“ Gedanken über meine Zukunft zu machen. Immerhin hatte ich bis zu diesem Zeitpunkt bereits ganze 56 Jahre die Erde mit meinem Dasein beglückt und von Beruf war ich Schneider – nichts davor und nichts dahinter. Für diesen Beruf gab es in unserer Gegend so gut wie keinen Job und für einen „Frühsenior“ schon gar nicht. Na ja, erst lief es im Hause so als wenn nichts wäre, außer dass Rolf Kärner praktisch nichts mehr zu sagen hatte sondern ein Insolvenzverwalter hatte das Kommando übernommen. In der zweiten Oktoberwoche hörten wir dann, dass das Modehaus Kärner nicht mehr zu retten sei und das jetzt bis zum Ende der ersten Novemberwoche ein Totalausverkauf vorgenommen werden sollte. Die jüngeren Mitarbeiter wurden sofort freigestellt und für die anderen galt, dass sie, wenn sie woanders sofort anfangen können, ohne großes Theater sofort gehen durften. Entgegen meinen pessimistischen Erwartungen gehörte ich auch zu den Glückspilzen, die woanders unterkamen; aber nicht sofort sondern zum 1. Dezember. Man sagt ja immer so schön: „An der Quelle saß der Knabe“. In diesem Falle war ich dieser Knabe und die Quelle war der Bereich „Einkauf“ des Modehauses. Da werden von Zeit zu Zeit immer diverse Klingenputzer, sorry, Fachberater heißt es ja richtig, vorstellig um die Kollektion ihres Hauses – Hersteller, Grossisten und Importeure – an den Mann oder die Frau zu bringen. Zu diesen Herrschaften zählte auch ein Herr Goldwein von dem Importeur AsiaTex in Düsseldorf. Diese Firma importierte und vertrieb Damenkleidung aus Asien, vornehmlich aus Hongkong, Taiwan und Indonesien. In der Regel keine schlechten Sachen und sehr preiswert. Nur fanatische Bio- und Gesundheitsfreaks hatten dagegen wegen der verwendeten, angeblich schädlichen Farben Einwände. Ehrlich gesagt ich finde diesen modernen Bio- und Gesundheitstick im Großen und Ganzen für reichlich übertrieben. Aber was soll’s? Der gute Herr Goldwein hatte inzwischen die 65-Jahres-Grenze erreicht und wollte in den Ruhestand gehen. Ich konnte es mit ihm ziemlich gut und so vereinbarten wir, dass er mich als seinen Nachfolger vorschlagen würde. Und es klappte; ab 1. Dezember sollte ich seine Nachfolge antreten. Ich hatte das Gefühl mit einem mächtigen blauen Auge davon gekommen zu sein. Ja, ja, das eben erwähnte Hämatom war schon mächtig. Das fehlende Drittel des August-Nettogehaltes blieb in meinem Konto „Außenstände“. Die Gehälter für September und Oktober war nach einer Vereinbarung des Insolvenzverwalters mit uns Mitarbeitern deutlich gekürzt. Für die erste Novemberwoche erhielten wir nur eine fast lächerliche Pauschale und der Rest meines Novembergeldes nannte sich Arbeitslosengeld. Das sind so etwa 60% des Nettogeldes, was einen in einer solchen Zeit zugestanden hätte und das gilt auch nur, wenn man maximal das an der Beitragsbemessungsgrenze gelegene Gehalt bezogen hat, denn das gilt immer als 100%. Großverdiener erhalten so prozentual deutlich weniger als Otto Normalverdiener. Ich möchte mal wissen von welchen beschränkten Typen Politikusse und Stammtischbrüder immer reden, wenn sie behaupten das Arbeitslosengeld sei zu hoch und deshalb wollten die Leute nicht arbeiten. Na ja, wenn es einige Wenige gibt, die dann mit Schwarzarbeit ein Geschäft während der Arbeitslosigkeit machen, kann man doch nicht die über 98% ehrlichen, die durch die Arbeitslosigkeit in Not geraten sind, dafür bestrafen. Die Not entsteht ja dadurch, dass man zuvor seinen Lebensstandard nach seinen Einkommen eingerichtet hat und die Fixkosten dafür, wie Versicherungen,
Kreditraten und so weiter, unbekümmert weiter laufen. Im Extremfall kann es einen passieren, dass man nichts für den laufenden Unterhalt überbehält. Ist wirklich toll diese soziale Hängematte von denen die über dem realen Leben schwebenden Politikusse schwafeln. Zu diesem meinen Glück in 2002 kam dann auch noch, dass mein Weihnachtsgeld, welches ich eigentlich schon eingeplant hatte, auch vom Pleitegeier gefressen worden war. Aber was soll man machen, einen nackten Mann kann man nicht in die Tasche greifen. Schlimmer wäre es ja, wenn ich in eine solche Lage geraten wäre, weil so ein paar Manager die Gewinnerwartung von ein paar Aktionären hätten puschen wollen und deshalb zur Plattmachkeule gegriffen hätten. Das ich mit einem mächtigen blauen Auge davon gekommen sei war aber nur ein Gefühl, denn wenn mal was in die Hose geht kommt auch alles andere mit. Im November saß ich also zuhause und ich hatte mir vorgenommen unser erheblich herunter gefahrenes Eheglück wieder aufzufrischen. Schon seit langem tauschte ich mit Astrid nur wichtige Informationen aus. Dabei handelte es sich fast ausschließlich um die uns betreffenden wirtschaftlichen Dinge. Ab und zu war auch unsere inzwischen 24-jährige Steffi und was die so gebrauchte auf der Tagesordnung. Steffi studierte in Bielefeld Chemie und war dort mit einem Freund zusammen gezogen. Sie war also praktisch aus dem Haus. So kann ich also sagen, dass sich die Gespräche mit meiner Frau sich ausschließlich um Geld drehten – auch beim Thema Steffi ging es eigentlich auch nur um Geld. Der tägliche eheliche Gesprächsstoff war also in jeweils 10 bis 15 Minuten abgehandelt. Ins Bett gingen wir eigentlich nur zum Schlafen. Wenn ich im Bett noch etwas zu Astrid sagen wollte erfuhr ich immer, dass sie sehr müde sei. Das letzte Mal hatten wir im August etwas gemeinsam. Da waren wir im Urlaub in Portugal. Praia da Luz hieß das, zu Lagos gehörende Nest an der Algarve. In der Urlaubslaune war sie heißer als im Alltag und da kam es schon so jeden zweiten Tag auch mal zum intimen Verkehr. Als wir dann aber wieder in den heimischen vier Wänden waren war es damit auch wieder vorbei und seitdem hat es nichts mehr gegeben. Übrigens, in diesem Urlaub war Astrid auch deutlich gesprächiger wie in der Heimat. Aber genau das war es, warum ich mich über sie geärgert habe. Ihre verdammte Prahlerei wer wir sind und was wir alles haben. Da wurde ich zum Manager des größten Kaufhauses bei uns im Ort und sie zur Cheffrisöse, die nur arbeitet damit sie etwas um die Hand hat. Geld spielte für uns, laut ihren Worten, keine Rolle denn davon hatten wir ja in Hülle und Fülle. Warum schwätzen sich die Leute nur gegenseitig immer was in die Tasche, das lässt ja die Phrase, dass wir auf sehr hohen Niveau stöhnen, in der Sozialdebatte glaubhaft erscheinen. Ich sehe zwar keine Veranlassung andere Leute Einsicht in meine wirtschaftlichen Verhältnisse zugeben aber diese verbreitete Sitte der Großprahlerei, die auch von meiner „besseren“ Hälfte gepflegt wurde, finde ich eigentlich ekelhaft. Die anderen Leute glauben einen das sowieso nicht, denn erstens halten sie sich selbst für die Größten und können von sich, die es ja selbst so machen, so auch auf andere schließen. Aber Sie sehen schon, unsere Ehe war ein wenig verkorkst und dieses gedachte ich während meiner NovemberArbeitslosigkeit zu ändern. Daraus wurde aber nichts. Auch während der Zeit wo ich zuhause hockte, lief der Alltag mit gewohnter Routine trocken und müde ab. Ich hatte mir einen Montag, dem freien Tag der Haarkünstler, auserkoren um mit Astrid ein Ehe erfrischendes Gespräch zu führen. Aber just an jedem Novembermontag ging Astrid zur gleichen Zeit wie immer aus dem Haus und kam sogar noch später wie an sonstigen Tagen nach Hause. Eine Begründung bekam ich nicht. Ich weiß nicht, warum ich mich gerade auf den Montag versteift habe, denn ein Sonntag wäre ja auch denkbar gewesen. Und dann war es vorbei. Ab Anfang Dezember ging ich, zunächst in Begleitung eines erfahrenen Kollegen, Klinken putzen. Da ich von Zuhause fast zwei Stunden bis meinem Arbeitsplatz, an dem alle Außeneinsätze starteten und endeten, brauchte war dann auch jeder Tag gelaufen, da konnte ich nichts mehr für den Ehefrühling unternehmen. Eigentlich hatte ich mir die Sache anders vorgestellt aber ich biss mich dadurch weil mir versprochen war, dass ich nach der Einarbeitungszeit meine Einsätze nach eigener Planung von Zuhause fahren sollte. Dann sollte jedoch der absolute Knall erfolgen. Am 22. Dezember 2002, einem Freitag, hatte ich meinen letzten Arbeitstag vor Weihnachten. Danach sollte der „Betrieb“ bis Montag, dem 6. Januar 2003, ruhen. Der Grund dafür war die, in dieser Zeit bei unseren Kunden übliche Inventur. Da machte es sich schlecht wenn man als Klinkenputzer dazwischen funkt. Natürlich sollte auch bei der AsiaTex eine solches Zählen und Katalogisieren stattfinden aber das wollte der Chef mit ein paar Innendienst-Hiwis selbst durchführen – Außendienstleute kann man für so etwas ohnehin schlecht gebrauchen. Ein weiteres Pech für mich in diesem Jahr, denn ich hatte ja noch keinen Urlaubsanspruch, was im Endeffekt bedeutete, dass ich kein Cash für diese Zwangspause erhielt. Als ich kurz vor Sieben des Abends in unserem Häuschen ankam traf ich Astrid nur mit einem Badetuch bekleidet im oberen Stockwerk an. Sie hatte soeben ein Duschbad genommen. Eigentlich bis jetzt nichts besonderes, denn so etwas kam ab und an schon mal vor. Das dann aber ein gepackter Koffer und eine ebenso gefüllte Reisetasche in dem kleinen Flur standen, war allerdings eine noch nie da gewesene Variante. Als ich Astrid darauf ansprach nahm sie das sie umhüllende Badetuch ab und tönte bissig: „Na Wolfgang, dann schau noch einmal genau hin, denn das bekommst du höchst wahrscheinlich nicht mehr zusehen. Zwischen uns beiden ist es vorbei. Morgenfrüh fliege ich mit meinen Chef nach Teneriffa und wenn wir am 4. Januar wieder da sind
packe ich hier alles was mein ist zusammen und ziehe zu ihm ... Wir müssen ja seiner Frau eine Chance geben das Feld zuräumen. Wenn wir Mitte Januar einiger Maßen Klarheit haben, dann können wir uns ja zur Besprechung der Scheidungsformalitäten treffen.“. Au, das haute mich fast um. Eigentlich hatte ich schon lange das Gefühl, dass es, wenn Steffi aus dem Haus ist, mal zu diesem Moment kommen würde. Aber was bedeutet so etwas? Schließlich hatten wir uns unser Eigenheim gemeinsam geschaffen. Astrid würde sicher, wenn ich das Haus behalten will, nicht auf ihren Anteil verzichten; dann will sie bei mir abzocken. Verkaufen? Da wird Astrid mit Hinweis auf Steffi, die es ja mal erben soll, bestimmt nicht zustimmen. Kann ich denn alleine an die Veräußerung gehen? Finanziell, wenn nichts anderes wäre oder dazu kommt, könnte ich das Haus schon halten, denn die meisten Wohnungsmieten sind doch deutlich höher. Aber der ganze Versicherungskram und so weiter dürfte den verfügbaren Teil meines Einkommens unter Taschengeldniveau drücken. Bisher brauchten wir dafür Astrids Einkommen. Kann ich mir dann noch meinen BMW leisten? Das waren also die Gedanken, die durch meinen Kopf schossen – hinsichtlich Astrid verspürte ich kein Verlustgefühl. Ich gab mich nach Astrids Offenbarung recht gelassen obwohl ich innerlich aus den zuvor genannten Gründen fast überkochte. Wie üblich zog ich mich um; ich schlüpfte aus meinen Feiner-Herr-Dress in das lockere Feierabend-Outfit. Auch das ich mir nach dieser Verwandlung erst ein Fläschen vom guten Pilsener reinzog stellte nichts außergewöhnliches dar. Das ich mir dann damit, einsam im Wohnzimmer sitzend, den Abend vertrieb stellte aber etwas bisher noch nicht da gewesenes dar. Als ich begann befanden sich 13 leere und 7 noch gefüllte Flaschen á 0,5 Liter im Kasten und als ich ein paar Minuten nach Mitternacht mich gleich auf der Couch schlafen legte hatte ich einen vollen Kasten Leergut. Wie ich gerade schrieb, hatte ich mich gleich an meiner Trunkstätte in die Horizontale gebracht. Zum einen fühlte ich mich nach dem vielen Bier zu müde um mich hinauf ins Schlafzimmer zu schleppen und andererseits hatte ich auch keine Neigung mich neben der Frau, die mich am nächsten Tage endgültig verlassen wollte, zu betten. Damit hatte ich mir, als Astrid am nächsten Morgen gegen Acht das Haus verließ, einiges an ironischer Häme eingehandelt. Ging die Dame doch davon aus, dass meine Kümmernisse darauf zurück zu führen seien, dass ich einen Trennungsschmerz zu ihr empfinden würde. Nun, wie sollte sie auch darauf kommen, dass nicht sie sondern meine existenzielle Zukunft der Gegenstand meiner Sorgen war. An diesem Morgen kam dann auch noch eine leichte Katerstimmung hinzu. Aber was soll’s, als Astrid entschwunden war gönnte ich mir für noch etwas über eine Stunde eine weitere Runde Schlaf. Dann weckte mich aber der Nachdurst. Gerne hätte ich mir noch ein Pils hinein geschüttet aber es befand sich, wie schon geschrieben, keine gefüllte Flasche mehr in dem einzigsten Kasten, der im Hause war. Kurz entschlossen erhob ich mich, machte mich ein wenig frisch – angezogen war ich bereits, da ich mir nächtens keine Entkleidungsmühen gemacht hatte -, zog Schuhe und meinen Winteranorak an, schnappte mir den Kasten Leergut und ging hinaus zu meinen Wagen um mir in einem Kraintaler Getränkemark neuen Stoff zu besorgen. Die Aktion „Getränkebeschaffung“ stand gerade vor dem Abschluss als mich der nächste Schicksalsblitz traf. Ich wollte in unsere Garageneinfahrt einbiegen und holte deshalb erst einmal ein wenig nach links aus und dann gab es einen Knall. Ich hatte ein entgegen gekommenes Fahrzeug nicht bemerkt und war nun mit diesem kollidiert. Es gab nur geringen Sachschaden. Die Fahrerin, eine junge Dame aus der Nachbarschaft, bestand unbedingt darauf, dass der Unfall von der Polizei aufgenommen werden sollte. Nun, was sollte ich, außer das ich jetzt ein Knöllchen löhnen müsste, dagegen haben; aus meiner Sicht hatte ich nichts zu befürchten. Das war aber ein Fall, den ich unter „Denkste“ abhaken kann, denn einer der beiden Straßensheriffs, die den Unfall aufnahmen, kam auf den Gedanken mich in sein Gerät pusten zu lassen. Ich staunte nicht schlecht, es waren knapp über 0,6 Promille. Das konnte ich mir damals gar nicht erklären, denn ich hatte ja über zehn Stunden nichts getrunken. Später habe ich mal ein entsprechendes Computerprogramm bemüht und kam aus der Verwunderung nicht heraus. Vierzehn 0,2-Liter-Gläser Bier, was etwa sieben Flaschen entspricht, die man in fünf Stunden – von Sieben bis Mitternacht – trinkt ergeben bei einem 80 Kilo schweren Mann zehn Stunden nach Trinkende einen Wert von 0,73 Promille. Hätten Sie das gedacht? In die Garage fahren durfte ich noch aber ansonsten war der Führerschein erst mal futsch. Heute, also nachträglich, weiß ich dass ich drei Monate lang zu Fuß gehen musste. Sie können sich sicherlich vorstellen, was das für mich, einen frisch gebackenen Außendienstmitarbeiter, der noch in der Probezeit war, bedeutete. Richtig, ich war jetzt fast alles los, was man los sein konnte. Meine Frau, meinen Führerschein und meine Arbeit bin ich so praktisch in 24 Stunden auf einen Schlag losgeworden. Na ja, das mit der Arbeit hatte ich an jenem Samstag, der letzte vor Weihnachten, noch nicht amtlich, den offiziellen Rausschmiss bekam ich erst am darauffolgenden Montag, als ich „meinen Chef“ anrief aber ich war mir trotzdem am Tage des Geschehens diesbezüglich sicher. Jetzt kann man sich leicht vorstellen, dass in diesem Jahr die fröhlichste Weihnacht meines Lebens anstand. Meine Sorgen hinsichtlich der Besitzstandswahrung unseres Häuschen, begleitet von der Vorstellung, dass ich
jetzt wohl in absehbarer Zeit keinen Job mehr bekomme, jagten kreuz und quer durch meinen Kopf. Immer mehr gab es in mir so eine Ahnung, dass ich nach einer Langzeitarbeitslosigkeit in die Rente abgeschoben würde. Ja, wie sich so etwas dann auf die Rentenhöhe, von der Astrid dann noch einen Versorgungsausgleich abzweigen würde, auswirken würde ließ mir meinen, noch bevorstehenden Lebensabend, düster und nicht erlebenswert erscheinen. Ich sah meine Existenz am Boden zerstört. Laufend schoss mir der Gedanke, dass ich doch freiwillig von dieser Erde abtreten sollte, in den Kopf. Aber seltsamer Weise wurde ein solcher Gedanke immer von einer Erinnerung begleitet. Ich erinnerte mich daran, dass es einen Gott gab. In meiner Kindheit und Jugendzeit war ich, auch über meine Konfirmation hinaus, eigentlich recht fromm. Aber seit meiner Hochzeit wurde ich immer mehr säkularisiert; Geld und Lebensstandard waren die Dinge, die die Religiosität in meinen Gedanken ersetzten. Aber jetzt erinnerte ich mich wieder und suchte heulender Weise Trost im Gebet. Es funktionierte sogar, auf jeden Fall war dann der Gedanke an einen Suizid erst einmal ausgelöscht. Und so lebte ich dann auch noch am 4. Januar 2003 als Astrid zum endgültigen Auszug anrückte. Vorher hatte ich mir vorgenommen vor ihr auf die Knie zufallen und Mitleid heischend um die Revision ihrer Absicht zu betteln. Dieser Vorsatz bestand sogar noch bis zehn Minuten bevor sie bei mir eintraf. Und dann, als sie tatsächlich da war, übermannte mich mein Stolz. Ich sagte ihr nichts vom Führerschein- und Arbeitsplatz-Verlust sondern sprach mit ihr als sei sie nur eine gute Bekannte und als ob ich persönlich hoch über den Dingen stände. Da trug ich sogar so dick auf, dass Astrid ein Wenig unsicher wurde und „Berührt dich das Ganze denn überhaupt nicht“ fragte. Ich klotzte sogar noch damit, dass auch ich schon seit einiger Zeit eine jüngere Andere hätte und jetzt eigentlich froh wäre, dass sich unser Problem auf diese Weise löse. Das passte Astrid, die zuvor geglaubt hatte einen k.o.-Sieg errungen zu haben, augenscheinlich gar nicht so sehr in den Kram aber geändert hat das an ihrem Vorhaben und Vorgehen nichts. Etwas später sollte meine frei erfundenen Behauptung noch eine interessante Rolle spielen – aber warten wir es ab und lassen Sie mich weiter alles chronologisch erzählen. Es dauerte etwa 2½ Sunden bis Astrid den Kleiderschrank leer geräumt und den Inhalt in ihrem Wägelchen verstaut hatte. Dann kramte sie noch an diversen Stellen persönliche Dokumente und Erinnerungsstücke zusammen, bevor sie, noch etwa eine halbe Stunde später, erklärte, dass alles andere ja später, wenn wir über das Grundsätzliche gesprochen hätten, erledigt werden könnte. Danach brauste sie davon. Auch ich verließ dann das Haus, das mir zu diesem Zeitpunkt auf den Kopf zu fallen schien. Mich zog es in die letzte, im Dorf verbliebene Kneipe, die an fünf von sieben Wochentagen von morgens Zehn bis abends um Neun geöffnet hat. An einem Werktag wäre ich möglicher Weise um diese Zeit der einzigste Gast am Tresen gewesen, aber da es Samstag war standen an diesem Tage schon fünf Leute an der Tränke und diskutierten heiß über die Vorgänge im Irak. Zwei, die mir als CDU-Anhänger bekannt sind, waren für ein Dreinschlagen der Amerikaner und hielten es für eine Treuepflicht der Deutschen sich an diesem Überfall zu beteiligen. Die Drei anderen, denen ich mich anschloss, waren strickt dagegen. So diskutierten wir etwas über zwei Stunden immer im Kreis und während der Zeit habe ich mir fünf Pils reingezogen. So war ich doch eine Weile von meinen Problemen abgelenkt, was ich aber seltsamer Weise gar nicht so entlastend empfand. Daher zog es mich nach den beiden besagten Stunden doch wieder heimwärts. Vor unserem Haus stand ein älterer Kadett-Kombi, der mir ebenso bepackt wie vorher Astrids Auto vorkam. Als ich näher kam stieg eine Frau, schlank aber vollweiblich gerundet mit schwarzem krausen Haar , aus dem Wage aus und kam auf mich zu. Beim Näherkommen schätzte ich die Dame, die einem mediterranen Typ entsprach, als Entvierzigerin ein. Im Stillen dachte ich mir, dass dieses ein Weib sei, was mir gefallen könne. „Guten Tag Herr Schmückel, ich bin Silvia Groll und würde sie sehr gerne sprechen“, sprach sie mich an und es machte bei mir klick. Astrids Chef hatte den Namen Peter Groll und diese Dame hatte den gleichen Nachnamen. Dazu kam dann der mit einem Kleiderschrankinhalt bepackte Kombi. Diese Silvia war offensichtlich von meiner Frau verdrängt worden und wusste jetzt wohl nicht wohin. So sagte ich dann auch: „Lassen sie mich raten, Frau Groll, meine untreue Ehefrau hat sie verdrängt und sie wissen jetzt nicht wo sie ins Warme kommen können.“. Letzteres sagte ich, weil die Frau vor Kälte fürchterlich zitterte und schnatterte. Sie hatte, wie ich später erfuhr, fast zur gleichen Zeit wie Astrid das Haus in Kraintal verlassen. Dann hatte sie aber in einer Seitenstraße geparkt und gewartet bis Astrid wieder da war – schließlich wollte sie ja nicht mit ihr bei mir zusammentreffen. Als sie dann bei mir ankam war ich gerade in die Kneipe gezogen und sie musste noch mal etwas über zwei Stunden in ihrem Auto frieren. Und heute war es nicht gerade warm. Natürlich bat ich die durchgefrorene Frau sofort ins Haus. Ich bot ihr einen Platz auf der Couch an und empfahl ihr sich in meine Wolldecke einzuhüllen während ich ihr erst mal einen heißen Tee machen wollte. Heißer Tee ist in solchen Situation wohl angebrachter als warmer Kaffee. Ich bin sogar der Meinung, dass, wenn man anschließend gleich ins Bett kann, einer steifer Grog das Richtige gewesen wäre aber ihr, die ich gerade erst fünf Minuten kannte, wäre das Angebot von Grog und Bett wohl doch mehr als anzüglich vorgekommen, auch wenn ich es ohne weitergehende Absicht nur ehrlich gemeint hätte. Verlegen und etwas schüchtern wirkend erzählte mir die Frau, dass sie schon seit Mitte Dezember von ihrem bevorstehenden Glück wusste. Sie hatte man also schon etwas eher wie mich informiert und sie hatte auch postwendend eine intensive Suche nach einer Wohnung
aufgenommen. Sie hatte aber leider nichts gefunden. In ihrem Freundeskreis, der ja wie in so vielen anderen gleichartigen Fällen auch identisch mit dem ihres Mannes war, wollte sie nicht um Asyl ersuchen. Um sich in ein Hotel oder in eine Pension einzumieten hatte sie derzeitig schlechte Karten. Bis dato hatte sie ein gemeinsames Konto mit ihrem Mann, welches auch auf seinen Namen lautete. Der Kontenvollmacht für seine Frau hatte Peter Groll aber widersprochen und hatte dazu ihre Kontokarte der Bank zur Entwertung übergeben. Zwischen Weihnachten und Neujahr hatte Frau Groll zwar ein eigenes Konto bei einer anderen Bank eröffnet aber bis zum Zehnten, wo regelmäßig ihr Gehalt eingeht, ist da nichts drauf und eine Dispo gibt es bei einem neuen Konto bekanntlich nicht. Und an Barem hatte die gute Frau nur noch knapp über 50 Euro in der Tasche. Als mir Frau Groll dieses erzählte bekam ich einen kleinen inneren Schock. Auch Astrid und ich hatten ein gemeinsames Konto. Das hatte sich ehemals hinsichtlich der durch Lastschrift abgehenden Fixkosten, die unter anderem auch mit dem Bau unseres Häuschen zusammenhingen, als geeignet erwiesen und letztlich auch bewährt. Im Gegensatz zu den Grolls lief unser Konto aber unter unser beider Namen. Mein Schreck beruhte darauf, dass Astrid ja das Konto, einschließlich des Dispositionsrahmen, leer räumen könnte und dann die eingehenden Lastschriften platzen würden. In dem Fall stünde ich genauso wie Frau Groll ohne die Möglichkeit des Wiederauftankens meiner Geldbörse dar. Ich versuchte den Gedanken sehr schnell zu verdrängen. Ich redete mir ein, dass Astrid sehr wohl wisse, da sie so etwas, was sie wahrscheinlich selbst haben möchte, gefährden würde. Nun, sie hat auch nichts „Böses“ getan. Aber der Grund war, wie ich später erfuhr, dass sie über dieses Thema überhaupt noch nicht nachgedacht hatte. Sie war so Hoppla Hopp von mir zu Peter Groll, ihrem Chef, übergewechselt, dass sie noch keine Zeit gefunden hatte über alle Konsequenzen unserer Trennung nachzudenken. Zu ihrer Ehrenrettung will ich aber mal davon ausgehen, dass sie auch dann, wenn sie sich alles überlegt hätte, mir diesbezüglich keinen bösen Streich gespielt hätte. Nun aber zurück zu Frau Grolls ersten Besuch bei mir. Ein wenig spöttisch kommentierte ich: „Ja, und ihre lieben Verwandten haben jetzt sicherlich alle möglichen Ausreden warum sie nicht bei ihnen unterkommen können.“. „Nein,“, erwiderte sie mit einem netten kindhaften Gesichtsausdruck, „ich habe hier keine Verwandtschaft. Meine Familie lebt in Portugal; ich bin Portugiesin ... Entschuldigung ich war es, jetzt bin ich natürlich auch eine Deutsche.“. In der ersten Verblüffung sagte ich: „Sehen sie, ihr zauberhaftes maritimes Aussehen ist mir doch gleich aufgefallen.“. Über ihr Gesicht huschte ein verlegenes Lächeln und dann sagte sie: „Danke für das ‚zauberhaft’ aber mit ‚maritim’ stimmt etwas nicht; Portugal liegt nicht am Mittelmeer sondern am Atlantik.“. Und jetzt lachte sie ein wenig. „Ach sicher doch,“, verteidigte ich mich, „wir waren ja selbst im August in Portugal. In Luz, das liegt bei Lagos an der Algarve. Kennen sie das?“. Jetzt lachte sie noch einmal und sagte: „Sicher kenne ich meine Heimat. Ich bin in Lagos geboren. Übrigens, im letzten August wollten wir eigentlich auch zu meinen Eltern nach Lagos. Aber da ist meine Schwiegermutter gestorben und wir sind dieses Jahr zuhause geblieben. Ich kann mir vorstellen, dass ihre Frau und mein Mann da vorher was verabredet hatten ... An einen Zufall kann ich nicht mehr glauben. Ja, wäre nicht Peters Mutter gestorben wären unsere Ehen möglicher Weise schon im Urlaub kaputt gegangen. Ich kann mir vorstellen, dass Peter hoffte, dass ich dann in Portugal bleiben würde und er dann ohne Verhandlung und Kampf über unser Ehevermögen verfügen könne. Der hat außer wilden Sex nur Geld im Kopf. Auf den Gedanken, dass man auch einfach richtig leben kann ist der in seinem Leben offensichtlich noch nie gekommen.“. „Aber wieso glauben sie, dass sie ihr Mann praktisch in Portugal absetzen wollte?“, fragte ich jetzt etwas nachdenklich. „Ja,“, begann sie ihre Antwort, „ich sagte doch, weil er hoffte sich die Auseinandersetzung unseres Vermögens ersparen zu können. Peter war bei meinen Eltern nicht gut angesehen und er konnte darauf hoffen, dass die mir einreden würden, dass ich auf alles verzichten solle und dass es die Hauptsache sei, dass ich ihn los sei. Das Meiste, wo er mit angibt, stammt nämlich von mir. Ich komme aus einer etwas besser gestellten Familie und durfte einstmals nach Deutschland um in Münster Pharmazie zu studieren. Ich bin PTA und arbeite in der Adler-Apotheke in Kraintal. Während des Studiums lernte ich Peter, der in Münster in einem großen Frisörgeschäft arbeitete, kennen. Wir haben damals heimlich geheiratet weil meine erzkonservativen Eltern nach meiner damaligen Auffassung bestimmt nicht einer Hochzeit mit einem Protestanten zugestimmt hätten. Aber meine Eltern waren toleranter als ich glaubte. Sie haben mir verziehen und gaben mir das Geld, damit ich mich in eine deutsche Apotheke ‚einkaufen’ könne. Statt einer Apotheke habe ich aber das Haus und das Frisörgeschäft in Kraintal gekauft. Dann durfte ich aber über zehn Jahre nicht mehr nach Hause kommen. Da wurde meine Mutter schwer krank und ich flog sie besuchen. Daraufhin haben meine Eltern ihrer bösen Tochter im Wesentlichen verziehen. Aber immer wieder haben sie mir geraten den Deutschen laufen zu lassen. Ich solle ihm ruhig alles lassen, denn einem schmutzigen Stein, der den Berg hinunter gerollt ist, soll man nach der Ansicht meiner Eltern nicht nachweinen. Und diese Ansichten meiner Eltern waren Peter natürlich bekannt. Aber ich glaube jetzt das meine Eltern recht haben und deshalb soll sich Peter ruhig alles in den Hals stecken ... Geld und Besitz machen nicht glücklich.“. „Aber Geld und Besitz können einem mächtig Sorgen machen“, erwiderte ich auf ihre letzte Aussage und leitete damit auf meine eigenen Probleme über. Inspiriert durch die Offenheit dieser netten Frau begann ich mein Herz
auszuschütten. Das war für mich etwas völlig neues, denn von Astrid hätte ich bestenfalls gehört, dass ich mich zusammenreißen und mich ins Zeug legen solle. Frau Groll aber hörte mir trotz ihrer eigenen Probleme geduldig zu. Ab und an standen mir bei meinen Ausführungen die Tränen in den Augen. Gegenüber Astrid hätte ich mich geschämt und hätte schon bei aufkommender Tränenneigung das Thema abgebrochen und mich unter einem Vorwand entfernt. Was war es, was mir diese Frau, die ich ja gerade erst kennen gelernt hatte, wie eine vertraute Freundin erscheinen ließ? Ich packte ihr gegenüber aus. Sprach von platzenden Versicherungsverträgen, von der Sorge wenn ich zwei Mal hintereinander die Rate für unser Haus nicht aufbringen kann, davon was sein könnte wenn Strom-, Wasser- oder Gasrechnungen offen bleiben. Ich bekannte meine Sorge, dass ich wohl keine Arbeit mehr finde und das dann bei der Arbeitslosenhilfe mein Vermögen, Häuschen und Lebensversicherungen, berücksichtigt werden und ich kein Geld bekomme sondern von der Veräußerung beziehungsweise Auflösung meines Vermögens, natürlich noch mit erheblichen Verlust, leben muss. Was ist wenn Astrid die Hälfte des Vermögens, welches ja zum ehelichen Zugewinn gehört, beansprucht und ich ihr mangels ausreichenden Einkommen nichts zahlen kann? Ich sprach von meiner Sorge, dass meine spätere Rente aufgrund von Arbeitslosigkeit und Versorgungsausgleich mit Astrid nur spartanisch ausfällt. Frau Groll hörte mir aufmerksam und geduldig zu. Zum Schluss sprach sie dann sehr beruhigende Worte zu mir. Sie versuchte mir klar zu machen, dass Geld und Besitz nicht das Leben sind und das man solchen Dingen auch nicht sein Leben opfern dürfe. Sie meinte das man auch ohne Eigenheim leben könne, auch in kleinen Mietwohnungen wäre es schön. Insbesondere brauche man dafür nicht so rackern wie für ein Häuschen, das man auch instand halten muss. Hinsichtlich meiner Arbeitslosigkeit sagte sie mir, dass ich ohne Häuschen nicht so gebunden sei und auch mal dahin wechseln könne, wo es noch eine Arbeit gibt. Und wenn ich keine Arbeit mehr fände sollte ich mir doch daraus nichts machen. Schließlich lebte ich nicht um zu arbeiten sondern ich arbeite um zu leben. Arbeit um jeden Preis müsse nicht sein, wichtig allein wäre das ich soviel hätte das ich leben könnte. Zum Leben brauche man viel weniger als man langläufig glaubt. Alle Dinge die das Leben lebenswert machten, wie die Zuneigung von Mitmenschen, die Freude über die Natur und den Sonnenschein, Gelegenheiten zum Genießen und Seele baumeln lassen, bekommt man, wenn man dafür offen ist, einfach geschenkt. Ja, alles dieses, was mir Frau Groll sagte waren neue Perspektiven für mich, die mir aber im Moment alles leichter erscheinen ließen. Nach ihren Worten und einer kurzen Denkpause fiel mir auf, dass wir nun fast drei Stunden geredet und geredet haben. Dabei hatten wir mit keiner Silbe den Anlass von Frau Grolls Erscheinen bei mir erwähnt. Also kam ich jetzt darauf zurück: „Frau Groll, jetzt habe ich ihnen mein Herz ausgeschüttet und sie haben mich so wunderbar getröstet. Ich habe jetzt mehr über meine Probleme mit ihnen als mit Astrid während unserer ganzen Ehezeit gesprochen und dabei haben wir ganz vergessen warum sie zu mir gekommen sind. Wenn sie keine Angst haben mit mir hier unter einen Dach zu wohnen, dann kann ich ihnen Steffis ehemaliges Zimmer als Bleibe anbieten. Sie können ihr Auto direkt vor der Garage parken und dann auspacken und oben in das Zimmer einziehen. Wenn sie möchten helfe ich ihnen gerne dabei.“. Jetzt kamen ihr die Tränen und nachdem sie sich ein wenig gefangen hatte sagte sie: „Nein, ich habe keine Angst vor ihnen. Wenn sie mir an die Wäsche wollten hätten sie das schon längst getan. Sie hatten ja genug Gelegenheit. Mein Mann wäre schon nach fünf Minuten zur Sache gekommen. Deshalb nehme ich ihr Angebot gerne und dankbar an. Ich will ihnen ja auch nicht dauerhaft zur Last fallen ... Es ist ja nur bis ich etwas gefunden habe. Ich mache mich auch ein wenig nützlich hier im Haus und Miete bezahle ich ihnen auch.“. Das bedurfte dann meiner Erwiderung: „Also, Miete möchte ich von ihnen nicht kassieren und mit dem Suchen einer eigenen Wohnung können sie sich ruhig Zeit lassen, denn ich bin ja froh, das ich derzeitig nicht so allein im Hause bin. Über die Weihnachtszeit bis jetzt war es hier so schwer mich, dass ich schon gar nicht mehr leben wollte. Machen sie mir die Freude, dass sie eine Weile hier im Hause bleiben.“. Sie schaute mich an und erwiderte leise: „Auch ich bin froh in ihnen jemand gefunden zu haben mit dem man sprechen kann. Auch ich werde eine Zeit brauchen bis ich das jetzige Geschehen verarbeitet haben. Daher stimme ich auch in diesem Fall zu. ... Jetzt will ich aber erst einmal in mein neues Zimmer einziehen und dann zeigen sie mir bitte das Haus, damit ich mich nützlich machen kann.“. „Also im Haus ist nicht viel zu zeigen und das können wir auch morgen erledigen. Jetzt ziehen sie erst einmal richtig ein und danach können wir noch eine Runde plaudern. ... Aber nur wenn sie wollen; sie können auch anschließend duschen und ins Bett gehen. Ganz wie sie wollen. ... Wie ist das, soll ich ihnen beim Einzug helfen? Wenn es sich nicht um ihre Wäsche handeln würde machte ich so etwas ganz automatisch.“. Auch dieses Angebot nahm sie an. Nachdem sie alles eingeräumt hatte, saßen wir noch etwa eine Stunde im Wohnzimmer und unterhielten uns. Danach ging sie duschen und ins Bett. Ich blieb bis ich mir sicher war, dass sie nun nicht mehr Steffis Zimmer verlassen würde im Wohnzimmer und ging danach dann selbst ins Schlafzimmer um zu schlafen. Obwohl meine Ehe so gut wie zerbrochen war, ich meinen Arbeitsplatz verloren hatte und dann auch noch mein Führerschein eingezogen war hatte an jenem 4. Januar 2003 eine glückliche Zeit für mich begonnen. Zusammen mit Frau Groll lebte ich in unserem Häuschen im Dorf Kahlenscheid bei Kraintal wie in einer idealen Ehe,
zumindestens so wie ich mir eine solche immer vorgestellt hatte. Frau Groll und ich respektierten einander und wir kommunizierten viel miteinander. Ich war mir sicher, dass sie mich und ich sie verstand. Sie war eben aus der Apotheke zuhause da begannen auch schon unsere Gespräche, die erst dann beendet wurden wenn wir uns in unsere Zimmer verabschiedeten – Sie in Steffis Exzimmer und ich ins Schlafzimmer. Jawohl, an dem Punkt, den viele für des eigentlich eheliche halten, endet unsere Beziehung. Nach wie vor waren wir per Sie und geschlafen haben wir getrennt. Ich vermied sogar peinlich jede körperliche Berührung obwohl ich zu dieser Frau ein starkes Zugehörigkeitsgefühl und sogar mehr als nur Sympathie empfand. Ich hatte einfach Angst, dass sie eine Annäherung falsch verstehen könnte und ich sie dadurch wieder verlieren würde. Ich glaube, dass ich Frau Silvia Groll besser verstand als ich Astrid jemals verstanden habe. Und trotz der kurzen Zeit kam sie mir „unheimlich“ vertraut vor. Noch nie zuvor habe ich jemanden gekannt, für den materielle Dinge eine so geringe aber die Dinge des Lebens und Lebensqualität eine so hohe Bedeutung hatten. Lieber arm aber dafür glücklich schien ihre Devise zu sein. Sehr schnell färbte ihre Lebensauffassung mehr und mehr auf mich ab. Schon nach weniger als eine Woche begann ich zu ahnen, dass das, was ich gerade erlebt hatte, letztlich ein Glücksfall sein könnte. Am darauffolgenden Donnerstag, es war der 9. Januar, hatte ich einen Termin beim Arbeitsamt in Kraintal. Anschließend musste ich noch über eine Stunde auf den nächsten Bus, der mich wieder nach Kahlenscheid bringen würde, warten. So ist das nun mal in ländlichen Gegenden: Da fährt ein Bus werktags vier Mal in beide Richtungen und sonntags nie. Als wir damals bauten waren wir voller Euphorie und dachten keinesfalls an die Widrigkeiten, die ein Leben auf abgeschiedenen Dörfern mit sich bringen kann wenn man nicht auf ein Auto zurückgreifen kann. Sei es weil man sich aus finanziellen Gründen keinen Zweitwagen mehr leisten kann, sei es wegen einer Krankheit, die Auto fahren zu einer Gefahr für sich und andere werden lässt oder sei es deshalb, dass man, wie es mir passiert ist, den Führerschein abgenommen bekommt. Ich muss immer wieder den Kopf schütteln wenn Kommunalpolitiker mit dem Hinweis auf Mobilität immer wieder neue Neubaugebiete in der Abgeschiedenheit ausweisen. Aber es klappt ja offensichtlich, weil es immer wieder Menschen, so wie wir damals, gibt, die jedes natürliche diesbezügliche Lebensrisiko in den Wind schreiben. Ich denke, dass es jetzt, wo es wirtschaftlich nicht mehr so rosig läuft und ein erhöhtes Arbeitsplatzrisiko gibt, auf diesen Gebiet auch langsam Vernunft einkehren wird. Nach diesem Ausflug ins Allgemeine aber wieder zu dem, was ich eigentlich erzählen wollte. Ich nutzte die Zeit, die ich auf meinen Bus warten musste, um einen Getränkemarkt aufzusuchen. Nein, nein, nicht um mich mit Bier oder Sprit einzudecken – wie soll ich das denn im Bus nach Hause schaffen. Mich zog es an die Regale in denen Weine zufinden sind. Ich fand einen portugiesischen Rotwein, nicht sehr teuer aber auch kein Billigwein. Den legte ich in den Einkaufswagen und schaute dann noch bei den Knabberein einmal nach einer Mischung von Chips, Salzstagen und so weiter sowie nach einer Pralinenmischung. Auch diese legte ich in den Einkaufswagen und ging damit zur Kasse. Welcher Gedanke mich dazu verleitet hatte kann sich wohl jede und jeder denken: Ich wollte Frau Groll etwas näher kommen. Am Spätnachmittag, so etwa eine Stunde bevor sie aus der Apotheke zurückkam, begann ich im Wohnzimmer zu decken. Ich stellte die Weinflasche auf den Tisch. Ein Glas positionierte ich gegenüber der Couch, auf der Frau Groll meistens saß, und eines gegenüber dem Sessel, in dem ich immer saß. Die Knabberein und eine Kerze kamen auf dem Tisch und dann ging ich in die Küche um eine Schnittchenplatte zubereiten. Als sie nach Hause kam und erst einmal ins Wohnzimmer reinschaute um mir „Guten Tag“ zu sagen, eröffnete ich ihr gleich, dass ich mich gerne mit ihr gemütlich zusammensetzen möchte. Sie lachte und tönte: „Jetzt sind sie mir zuvor gekommen, denn das hatte ich mir für Morgen, wenn das erste Geld auf meinem eigenen Konto eingegangen ist, vorgenommen. Aber eines müssen wir, wenn wir uns zusammen setzen wollen, ändern.“. Und während sie noch sprach war sie auf den Tisch zugegangen, sie nahm das Glas, welches vor meinen Sessel stand, und positionierte es auch gegenüber der Couch. Damit hatte sie auf eine nette Art signalisiert dass sie neben mir sitzen wollte. Dann sagte sie noch: „Ich will erst mal ganz schnell duschen und mich umziehen ... und dann bin ich für sie da.“. Sie überraschte mich dadurch, dass sie schon eine knappe Viertelstunde später in einen sehr hübschen, kurzen und etwas tiefer dekoltiertem Sommerkleid erschien. Es passte wohl nicht gerade zur Jahreszeit aber für mich war es ein Zeichen, dass sie den von mir gedachten Anlass richtig verstanden hatte und diesem offensichtlich auch zustimmte. Ich saß noch auf meinem Plätzchen im Sessel und sie forderte mich mit freundlicher Stimme auf, doch neben ihr Platz zunehmen. Das tat ich natürlich gerne. Bevor ich mich aber setzte griff ich erst einmal zur Flasche und zum Korkenzieher, damit ich gleich einschütten konnte. Wie es in der alten Schule üblich ist schüttete ich mir zu erst einen Schluck ins Glas, denn diese Mundschenktätigkeit soll man nicht den Gästen oder den Damen überlassen. Es geht nämlich beim Probierschluck nicht darum die Qualität und den Geschmack des Weines zu kosten sondern man trinkt eventuelle Korkreste ab und prüft dabei ob der Wein nicht aus irgendeinem Grund Schaden genommen hat. Nur letzteres ist ein Grund einen Wein in einem Lokal zurück gehen zu lassen, Bestellirrtum, also wenn der Wein nicht so schmeckt wie man gedacht hat, ist kein Grund für eine Reklamationen. Abtrinken des Korks und Test auf eventuelle Schäden ist natürlich auch in heimischer Umgebung ein Grund, warum der Gastgeber zu erst einen Schluck zu sich nehmen sollte. Dann wird aber gleich
dem Gast, der Dame, eingeschüttet. Das ich mich daran hielt, gefiel „meiner“ Dame und sie verriet mir bei der Gelegenheit, dass ihr Mann im Gegensatz zu mir keine Neigung zur Etikette besäße. Als ich dann endlich saß, griff die Frau zum Glas und winkelte ihren Arm an und sagte: „Ich bin Silvia, zum Wohle Wolfgang“ und lächelte mich dabei anmutig an. Ich griff ebenfalls zu meinem Glas und umfuhr mit meinen angewinkelten Arm den ihrigen. Nachdem ich „Zum Wohle Silvia“ gesagt hatte nippten wir an unseren Gläsern und stellten diese danach wieder ab. Ich brauchte nichts zu sagen, denn an Silvias Körper- und insbesondere Kopfhaltung war zu ersehen, dass sie jetzt einen sogenannten Bruderschaftskuss erwartete. Das wurde eine ganz heiße und innige Angelegenheit und dauerte auch etwas länger. Während dieser Zeit durchzog mich ein unheimlich wohliges Gefühl. Wann hatte ich letztmalig oder wann hatte ich überhaupt so etwas verspürt wenn ich mit Astrid zusammen war. So kam bei mir auch die Frage auf, ob ich überhaupt meine Frau jemals geliebt habe oder hatte ich sie erst, in jungen Jahren, nur begehrt und dann war es halt meine Frau, mit der man dann hin und wieder mal Intimitäten wie in so einer Art Pflichtübung aber ohne großes seelisches Mitempfinden austauscht. Als wir unsere Münder wieder von einander getrennt hatten legten wir unsere Stirne gegeneinander und ich flüsterte ihr zu: „Ich liebe dich, Silvia. Fast habe ich das Gefühl, dass du die erste Frau bist, die ich liebe.“. „Ich liebe dich auch und mir geht es ebenso wie dir“, bekam ich ebenfalls flüsternd zur Antwort. Und danach küssten wir uns ein zweites Mal; diesmal genauso innig und heiß und noch ein Weilchen länger zuvor. Während des Kusses griff ich ihr an ihren linken weichen und wohligen Busen. Erst nur auf dem Stoff ihres Kleides und dann griff ich in das Dekolletee auf ihre nackte Haut. Nach Beendigung des Kusses fragte ich sie ob ihr dieses unangenehm wäre und sie antwortete nur: „Was meinst du warum ich gerade dieses Kleid angezogen habe?“. Na ja, liebe Leserin und lieber Leser, lassen sie die nun die beiden Stunden, die dieser gegenseitigen Offenbarung unserer Liebe folgten und bei denen wir beim Wein zusammen saßen, unseren intimen Erinnerungsschatz bleiben. Ab dieser Weinstunde wusste ich, dass Silvia meine Zukunft sein würde, ich wollte sie nie wieder hergeben. Es dürfte wohl jedermann klar sein, dass Silvia an diesem Abend nicht in Steffis Exzimmer sondern mit mir ins Schlafzimmer ging. Als ich sie so nackt neben mir liegen sah dachte ich mir im Stillen: „Silvia, du bist wunderschön. Was hat dein Mann nur für einen schlechten Tausch gemacht. Astrid hat überall schon Speck und auch Falten angesetzt, ihre Busen haben bereits eine Hängeneigung. Und du bist noch frisch und knackig wie ein junges Mädchen, alles noch stramm. Na ja, du bist 49 und Astrid ist sieben Jahre älter aber auch vor sieben Jahren hätte dir Astrid nicht das Wasser reichen können ... Und dein Wesen, da kommt Astrid nicht ran.“. Wir waren an diesem Tag schon recht früh im Bett. Es dürfte wohl erst so gegen Neun gewesen sei als wir hinein stiegen. Nun, die Gründe dürfte wohl jeder nachvollziehen können. Bis Mitternacht haben wir uns beschmust und am ganzen Körper Zärtlichkeiten ausgetauscht. Wir waren im siebten Himmel. An diesem Abend habe ich noch nicht einmal meinen Penis bei ihr eingeführt und trotzdem waren wir beide rundum befriedigt. So etwas hatte ich in meinem Leben noch nicht erlebt. Bei Astrid hieß es immer sehr schnell „drauf und fertig“. Ein Beisammensein mit ihr dauerte immer maximal eine halbe Stunde, meist war es jedoch noch weniger Zeit. Auch das wir uns gegenseitig fragten ob wir etwas bestimmtes auch möchten und später ob es gefallen hat, war eine völlig neue Erfahrung die ich, obwohl ich schon fast dreißig Jahre mit Astrid verheiratet war, erstmalig mit Silvia machen konnte. Bisher ging es in meinem Kopf bei einem Zusammensein in erster Linie um meine eigene Triebbefriedigung und jetzt hat das Anliegen Silvia glücklich zu machen oberste Priorität in meinem Denken. Alles in Allem kann ich mich heute allen Ernstes fragen ob ich Astrid jemals wirklich geliebt habe. Mir ist so als sei Silvia meine erste wahre Liebe. Am Morgen des nächsten Tages, natürlich frühstückten wir ab diesem Zeitpunkt gemeinsam miteinander, bat mich Silvia um eine Unterschrift. Ich sollte ihre Anmeldung, die sie noch an diesem Tage zum Einwohnermeldeamt bringen wollte, als Vermieter unterschreiben. Jetzt war sie, wie sie sagte, sich sicher, dass ihre Unterkunft bei mir keine vorrübergehende Bleibe sein würde. Nach ihren Worten konnte sie sich jetzt vorstellen, dass wir bis zu unserem Lebensabend zusammen sein würden. Sie jedenfalls wollte mit mir durch dick und dünn gehen, sie wollte bei mir bleiben, auch wenn wir mal nicht oben schwimmen würden. Am Abend wollte sie von Steffis Zimmer zu mir ins Schlafzimmer ziehen – was dann auch geschah. Das, was ursprünglich für mich wie der Weltuntergang aussah, hat sich letztlich als erster Schritt in ein neues, richtiges Leben entpuppt. Der nächste Tag, ein Samstag, sollte noch einmal einen Höhepunkt im Übergang vom alten ins neue Leben darstellen. Silvia hatte an diesem Tag noch bis 14 Uhr Dienst in der Apotheke und so war ich des Morgens allein im Haus. Da bekam ich einen Anruf von Astrid. Sie war eigentlich ganz freundlich und fragte sogar recht höfflich an, ob ich auch den Zeitpunkt für gekommen sähe, wo wir mal in Ruhe über die Abwicklung unserer Ehe sprechen könnten. Sie könnte so gegen 15 Uhr bei mir sein. Nun denn, ich fühlte mich tatsächlich jetzt stark genug für ein solches Gespräch. Während des Anrufes dachte ich mir, dass Astrid nun alles sondiert haben
würde was sie haben wollte. Aber die würde staunen, wenn ich dann plötzlich die Regie führen würde. Ich war mir sicher, dass ich durch meine neue Partnerschaft und einer echten Liebe unheimlich gewachsen war. Da Silvia vor Astrid zurück war, konnte ich sie ausreichend informieren und wir konnten unsere Strategie absprechen. Silvia kam auf den Gedanken unsere Autos auszutauschen. Ihren wollte sie in die Garage stellen und meinen, den ich ja jetzt nicht fahren durfte, davor parken. Der Grund war ganz einfach: Astrid kannte Silvias Wagen und wäre dann vor dem Eintritt ins Haus vorgewarnt gewesen. Gesagt und getan und kurze Zeit später kam auch Astrid und ich bat die vollkommen ahnungslose ins Wohnzimmer. Nach dem Austausch von ein paar konventionellen Worten überfiel ich sie gleich mit: „Also Astrid, weshalb sollen wir uns eine lange Schlammschlacht leisten. Ich stimme einer schnellen Scheidung zu ... ich möchte ja selbst schnell wieder heiraten. Aus Kostengründen sollten wir den gleichen Anwalt oder die gleiche Anwältin, eine sogenannte Moderatorin, nehmen. Auch über das Materielle brauchen wir uns nicht zu streiten. Ich trete dir meinen Anteil an diesem Haus ab und möchte im Gegenzug von dir diese Wohnzimmer- und die Schlafzimmereinrichtung sowie deinen Verzicht auf einen Versorgungsausgleich. Das dürfte dir ja nicht schwer fallen, denn wie ich aus verlässlicher Quelle gehört habe habt ihr ja eine höherwertige Einrichtung wie wir und wenn ich dir schon das Haus lasse, dann kannst du mir doch auch meine Rente lassen. Ach und noch was, lass mir aber ein wenig Zeit eine geeignete Wohnung für uns zu finden und dann könnt ihr hier einziehen und die Wohnung über dem Frisörgeschäft vermieten. ... Ist doch ein Angebot.“. Ich glaube ich habe Astrid noch nie so verblüfft wie an diesem Nachmittag erlebt. Nachdenklich sagte sie: „Was du da anbietest ist mehr als ich erwartet und gefordert hätte. Natürlich bin ich einverstanden. .... Aber sage mal, woher weißt du, das Peter Groll eine höherwertige Wohnungseinrichtung hat wie wir? Du bist doch noch nie in der Wohnung gewesen. Und ob wir die so einfach haben können ist noch eine zweite Frage. Da müssen wir erst einmal abwarten was Peters Frau sagt. Die könnte einiges kaputt machen. Das Frisörgeschäft wollen wir verteidigen und dafür wollen wir dann schon lieber auf die Wohnung verzichten“. „Ach,“, konterte ich, „kannst du dir vorstellen, das Silvia über dem Frisörgeschäft, in dem ihr wirkt, wohnen will. So wie ich Silvia kenne, hat die ganz bestimmt andere Pläne.“. „Wieso, ... kennst du Silvia wirklich?“, fragte Astrid verdutzt zurück. Jetzt hatte ich ganz und gar Oberwasser und tönte ganz erhaben: „Oh ja, sehr gut sogar.“. Völlig verunsichert bekannte Astrid: „Weißt du dann auch wo sie steckt. Peter würde ganz gerne auch wie wir jetzt mit ihr sprechen, aber wir wissen gar nicht wo sie steckt.“. „Ich aber.“, gab ich schadensfroh bekannt, „Rufe doch deinen Peter an das er hier herkommen soll, dann kann er das ersehnte Gespräch gleich hier führen. Dann ist der Weg frei für neue Ehen und neues Glück.“. Astrid schaute mich an wie ein Auto und ich rief in Richtung Küche: „Mausi, kannst du bitte mal herkommen.“. Im Nu war Silvia da und Astrid schnappte buchstäblich nach Luft. „Ihr kennt doch euere Vorgängerinnen und zugleich Nachfolgerinnen.“, spottete ich, „Wenn wir die Scheidungen und Hochzeiten hinter uns gebracht haben seid ihr die ausgetauschten Ehefrauen.“. Mit Silvia hatte ich diese Attacke vorher abgesprochen und sie ging auch ganz gelassen an die Sache heran. Aber für Astrid war das ein Überfall und sie wusste zunächst nicht was sie machen sollte. Als sie ihre Gedanken ein bisschen sortiert hatte, sagte sie resignierend: „Als du, Silvia, das Haus verlassen hast, sagtest du, dass du dahin gehen würdest wo du schon seit längerer Zeit hin wolltest. Und du Wolfgang hast mir am gleichen Tag, als ich meine Sachen holte, gesagt das du schon seit längerer Zeit eine andere, jüngere Partnerin hättest. So muss ich annehmen, dass ihr tatsächlich schon länger zusammen seid und ihr nur auf uns gewartet habt, damit wir als die moralisch belämmerten dastehen und ihr die Bedingungen stellen könnt. Silvia stimmt das, was Peter vermutet, dass du die Adler-Apotheke pachten willst und Peter soll dir das Geld dafür geben. ... Übrigens dazu ist Peter sogar bereit, wenn du auf alle Ansprüche auf euer Haus und das Frisörgeschäft verzichtest. Dann will er eine Hypothek aufnehmen und dir deine Apotheke ermöglichen.“. „ So ist es“, erwiderte Silvia blitzartig obwohl dieser Gedanke für sie vollkommen neu war. Es war aber eine Tatsache, dass der inzwischen 68-jährige Apotheker einen Pächter oder Pächterin für seine Apotheke suchte und das ihm dabei seine langjährige Mitarbeiterin Silvia Groll am liebsten gewesen wäre. Jetzt war ich auch ein wenig irritiert, denn über die Apothekengeschichte hatten Silvia und ich auch noch nicht gesprochen. Da wir über alles was uns bewegte miteinander sprachen kann man annehmen, dass Silvia erst durch Astrid überhaupt auf diese, sich jetzt bietende Möglichkeit, aufmerksam gemacht wurde. Nachdem Astrid gegangen war, verriet mir mein Schatz dann auch, dass sie erst ihr Nochehemann tatsächlich auf einen guten Gedanken gebracht hätte, zumal Herr Küster, der alte Apotheker seinen Lebensabend bei seiner Tochter in Ostfriesland verbringen will. Mit der Apotheke will er das ganze Haus verpachten und so hätten wir dann auch gleich eine Wohnung. Aber noch war Astrid nicht gegangen, noch konnte Silvia etwas nachschieben: „Ach so Astrid, noch was: Wenn Peter, ebenso wie ihr beide, einem Verzicht auf Versorgungsausgleich zustimmt ist auch zwischen uns alles gelaufen, dann können wir wegen meiner auch zur gleichen Anwältin gehen wie ihr. Vielleicht bekommen wir da Mengenrabatt.“. Ich hatte mit Silvia vorher keine Details besprochen aber sie hatte von der Küche aus mitgehört und konnte deshalb auf unser vorhergehendes Gespräch zurück greifen. Für Astrid sah es aber so aus, als hätten wir fein säuberlich vorher unsere Strategie ausgehandelt. Aus Astrids Sicht muss es
sogar so ausgesehen haben als hätten wir unseren Vorgehensplan schon vor längerer Zeit ausgemalt und wir hätten dann nur noch darauf gewartet bis sie mit ihrem Peter ins Fettnäpfchen tritt. Na dann, soll sie das auch weiterhin glauben. Etwa eine halbe Stunde nachdem Astrid das Haus wieder verlassen hatte, kam bei uns der erste Anruf in unserem Haus, der für Silvia bestimmt war. Es war ihr Nochehemann, der ihr mitteilen wollte, dass er mit ihren Bedingungen einverstanden sei. Damit waren wir allseitig in unser neues Leben hinüber gewechselt und ich könnte jetzt meinen Bericht von den ausgetauschten Ehefrauen beenden. Nur der Vollständigkeit halber sollte ich noch kurz berichten, was sich in dem Jahr bis zum heutigen Zeitpunkt noch ereignete. Silvia hat tatsächlich die Adler-Apotheke zum 1. April 2003 gepachtet und wir sind glücklich in dieses alte Haus, was aber sehr gemütlich und außerdem zentral gelegen ist, eingezogen. Unsere Liebe ist immer noch so wie am ersten Tag und mindestens zwei Mal wöchentlich versichern wir uns gegenseitig, dass wir gemeinsam alt werden möchten. Im Mai dieses Jahres wollen wir – nur standesamtlich – heiraten. Auch eine Arbeit habe ich inzwischen wieder gefunden – sogar praktisch in dem von mir immer ausgeübten Beruf. Ein paar Häuser weiter wie die Apotheke wurde ein Jeans Shop eröffnet und ich bekam, ganz entgegen meinen Erwartungen, den Job des filialleitenden Verkäufers. Außer mir ist da nur noch eine junge Verkäuferin beschäftigt. Alles in Allem war mein großes Pech in Wirklichkeit unser großes Glück. Unser Gott hat es in seiner Vorsehung gut mit uns gemeint. Aus Dankbarkeit gehen wir auch häufig des Sonntags zum Gottesdienst. Ach so, dass hatte ich ja noch nicht erwähnt: Silvia war schon sehr schnell nachdem sie Peter Groll geheiratet hatte von der katholischen zur evangelischen Kirche übergewechselt und war mittlerweile mit vollster Überzeugung dabei. Das sieht ihre Familie immer noch nicht so gerne aber als Schwiegersohn bin ich dieser wesentlich willkommener als zuvor Peter Groll. Im März letzten Jahres, praktisch direkt vor der Apothekenübernahme durch Silvia, waren wir für zwei Wochen in Lagos und wurden dort von ihrer Familie mit offenen Armen empfangen. Silvias alter Vater, der auch sehr gut Deutsch spricht, sagte mir, dass er froh sei, dass Silvia nun doch einen anständigen Mann gefunden habe und sie, wie es mal vorgesehen war, eine eigene Apotheke habe. Er fand es jedoch schade, dass wir nun zu alt seien um ihn Enkelkinder zu schenken. Das sie mal eine Fehlgeburt hatte und sie danach keine Kinder kriegen konnte wusste ihr Vater nicht. Na ja, vielleicht kann ich ihn ja damit trösten, dass er eine Stiefenkeltochter hat, denn es hat sich inzwischen herausgestellt, dass Steffi mehr zu ihrem Vater als zu ihrer Mutter steht und sie kommt uns auch häufig besuchen. Sie hat ein gutes freundschaftliches Verhältnis zu Silvia aber den Peter ihrer Mutter mag sie nicht leiden und daher hält sie den Kontakt zu ihrer Mutter auf Sparflamme obwohl sie gegen Astrid eigentlich auch nichts hat. Der oder denjenigen die oder der sich jetzt wundert, das unsere erwachsene Tochter nicht in der Geschichte selbst, sondern erst hier, persönlich auftaucht kann ich aufklären, dass sie von ihrer Mutter von dem Untergang unserer Ehe erfahren hatte und sich bewusst raushielt. Das heißt, dass sie in der heißen Phase weder zu Astrid noch zu mir Kontakt pflegte. Als sich die Gewitterwolken ein wenig verzogen hatten tauchte sie aber wieder aus der Versenkung auf. Obwohl sie ja schon erwachsen ist sagte sie uns, dass ihr der Scheidungswunsch ihrer Eltern einen heftigen seelischen Schmerz bereitet hätte aber sie wäre froh, dass wir wenigstens ohne große Schlammschlachten auseinander gegangen seien. Also was soll ich sagen: Rundherum herrscht bei mir wieder herrlicher Sonnenschein und ich bin überzeugt ins richtige Leben gewechselt zu sein. Dagegen sieht es auf der anderen Seite, bei Astrid, nicht so gut aus. Die Sexflamme loderte offensichtlich schon nach kurzer Zeit nicht mehr so heiß wie zu dem Zeitpunkt als sie sich zum Ehebruch entschieden. Auf jeden Fall haben beide, sowohl Peter Groll als auch Astrid, obwohl sie noch gar nicht verheiratet sind, jeweils einen bekannt gewordenen Seitensprung hinter sich. Groll hat ein „Krösken“ mit einer 25-jährigen Frisöse in seinem Salon und wurde beim Sex im Frisörstuhl ausgerechnet von einer erzkonservativen Kundin in Flagranti erwischt. Groll und die Frisöse hatten gegenseitig angenommen, dass der oder die Andere die Tür verschlossen habe, was dann aber nicht der Fall war. Das Geschehen beherrschte einige Tage die Klatschszene in Kraintal. Astrid hatte im Sommer mit einem anderweitig verheirateten Elektromeister, der sein Geschäft in unmittelbarer Nähe des Frisörgeschäftes hat, angebändelt. Mit diesem verbrachte sie ein Wochenende in einem Schrebergartenhaus, welches dem „Strippenzieher“ gehörte. und dort wurden die Beiden von der Ehefrau des Elektrikers aufgespürt. Auch dieser Fall wurde öffentlich bekannt und verursachte einiges Aufsehen. Unsere Steffi sagte mal: „Mutti ist vollkommen aus dem Tritt geraten und vollkommen abgesackt. Als ich sie mal auf ihr Verhalten angesprochen habe sagte sie mir, dass du vor der Hochzeit ein flammender Liebhaber gewesen seiest aber danach wärst du eine schlappe Ziege gewesen. Dadurch habe sie das Meiste vom Leben versäumt. Jetzt wolle sie noch, bevor alles zu spät ist, möglichst viel nachholen.“. Steffi hatte, als sie mir dieses berichtete, wohl erwartet, dass ich mich hinsichtlich der „schlappen Ziege“ verteidigen würde aber ich war der Meinung, dass ich so etwas gegenüber unserer Tochter, und auch gegenüber keinem anderen Menschen, nicht nötig habe.
Außerdem dachte ich mir, dass Astrid, wenn sie Sex für einen Lebensinhalt hält, doch sehr wenig vom Leben versteht. Aber es gibt ja noch etwas, was nach Astrids Vorstellungen zum Leben gehört: Geld und Besitz. Genau dieses ist es jedoch, was sie derzeitig daran hindert einfach nur richtig zu leben. So wie Silvia und ich aus der Distanz mitbekommen streitet sich das Paar mächtig über das Thema wie sie sich gegenseitig an der „Aktiva und Passiva“ von Mein und Dein beteiligen sollen. Wenn Astrid mal mit Steffi zutun hat, dann hat sie immer ein diesbezügliches Detail über das sie stöhnt und klagt. Sowohl Peter Groll wie auch Astrid haben sich auch schon hinsichtlich bestimmter Auskünfte, die sie in ihren Vermögenskrieg benötigten, an uns gewandt. In der Regel wollten sie aber immer nur Auskünfte haben, die ihnen der jeweils andere nach ihrer Meinung vorenthielt. So wollte Peter Groll immer über eine Umwegausrede etwas zu Astrids Vermögen erfahren und umgekehrt. Na, ist doch klar, dass wir uns daraus gehalten haben und werden. Für Silvia und für mich spielen Geld und Besitz ohnehin nur eine unbedeutende Nebenrolle. Wir konzentrieren uns lieber auf- und zueinander, auf unsere Mitmenschen und diese wunderschöne Welt. Dabei sind wir sehr glücklich. Wir sind davon überzeugt, dass wir jetzt richtig leben.
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Die nackten Christinnen Kennen Sie die Siedlung Krähenberg? Wenn Sie nicht aus der Stadt Romansdorf oder ihrer Umgebung kommen mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht. Da der Flair und das Leben in dieser Siedlung in dem, was ich Ihnen erzählen möchte, eine wichtige Rolle spielt, denke ich, dass ich Ihnen diese einmal kurz vorstellen sollte. Krähenberg gehört zur Stadt Romansdorf und ist vom Kern dieser Kleinstadt, mit knapp unter 20.000 Einwohnern, etwa 3 Kilometer entfernt. Im Stundentakt fährt von Montags bis Freitags und Samstagsmorgens einen Linienbus im Pendelverkehr zwischen dem Stadtkern und der Siedlung hin und her. Des Abends nach 20 Uhr, des Samstagsnachmittags und des Sonntags muss man, wenn man keine Benzin fressende Blechkiste sein eigen nennt, halt die eigenen Füße bemühen um die Strecke zurückzulegen. Natürlich kann man auch ein Taxi bemühen aber bei den Fahrpreisen kann man sich so etwas auch nicht jeden Tag erlauben. Die ersten Siedler schlugen hier kurz nach dem zweiten Weltkrieg zu. Die ersten Häuschen wurden in erster Linie in Eigenleistung und Nachbarschaftshilfe gebaut. Auch meine Eltern waren unter diesen ersten Siedlern, aber ich kann mich an diese Anfangszeit nur mühsam entsinnen, denn schließlich erblickte ich erst im Jahre 1947 das Licht der Welt. In den 50er- und 60er-Jahren ist dann die Siedlung kontinuierlich gewachsen und später kam dann noch mal vereinzelt ein Haus hinzu. Heute hat die Siedlung etwas über 800 Einwohner; in der „besten Zeit“ waren es sogar mal über 900. Na ja, die Älteren sind gestorben und nicht alle Jüngeren sind in Krähenberg geblieben. Was irgendwie seltsam erscheint, ist die Tatsache, dass von den 800 Einwohnern fast 650 in der Mitgliederliste der evangelischen Kirchengemeinde geführt werden. Seltsam ist das deshalb, weil die Gegend hier eigentlich eine konfessionelle Mischgegend ist. Etwa 50% der Romansdorfer Einwohner sind katholisch und zirka 45% evangelisch und in der Siedlung sind zufällig 80% evangelisch obwohl da niemand bewusst am Rädchen gedreht hat. Bei so viel „Evangeliken“ auf einem Fleck ist es nicht verwunderlich, dass die evangelische Kirchengemeinde Romansdorfer Anfang der 60er-Jahre, als in Deutschland noch neue Kirchen gebaut wurden, auf den Gedanken kam ein kleines Kirchlein, die Friedenskapelle, in der Siedlung zu errichten. Unterhalb des eigentlichen Kirchraumes befinden sich noch zwei sogenannte Jugendräume. Dieses bot sich bei der Hanglage einfach so an. Direkt neben der Friedenskapelle baute die Gemeinde noch ein normales Siedlungshaus. Dieses ist vermietet an das sogenannte Küsterehepaar. Im Keller dieses Hauses befindet sich noch ein weiterer Raum der für die Gemeindearbeit genutzt werden kann. Um die Friedenskapelle herum hat sich dann in der zweiten Hälfte der 60er-Jahre eine eigene Minikirchengemeinde entwickelt. Maßgeblich daran beteiligt war die fromme Bauernfamilie Breuer, die gleich mit vier Häusern in Krähenberg vertreten ist. Nun, diese Familie war auch der Großverdiener an der Siedlung. Ihnen gehörte zuvor das Land, auf dem die Siedlung entstand. Die Kapelle war noch nicht fertig als die Breuers schon die ersten Gemeindekreise wie CVJM, Frauen- und Männerkreis ins Leben riefen. Vorher spielte sich das ganze Leben im „Dorfe“ im Siedlerverein ab und jetzt bekamen diese christliche Konkurrenz. Ursprünglich gab es da einige Reibereien aber inzwischen beherrschen Siedler und Kirchler in friedlicher Koexistenz das kleine Krähenberg. Beide Gruppen haben heute gemeinsam, dass sie so eine Art Exklusivität gegen über den anderen Romansdorfer Bürgern entwickelt haben und sich gegen diese so ein wenig abschotten. Die von den Breuers etablierten und immer noch beherrschten Gemeindekreise zeichnen sich durch eine besondere Art von Berufsfrömmlertum aus. Ich war ja früher auch im CVJM Romansdorf, erst in der Jungschar und dann in der Jungenschaft. Es war ja auch ganz toll mit den Gelände- und Kreisspielen, den TischtennisRundlauf-Turnieren, Tageswanderungen, Fahrtenliedern im Klampfenchor und so weiter. Natürlich gab es zu Beginn einer jeden Stunde eine kurze Andacht und in gewissen Abständen auch mal Bibelstunden, sonst wäre es ja kein Christlicher Verein Junger Männer gewesen. Nun, ich habe mich eben nicht vertippt: Ursprünglich stand das M für Männer und nicht, wie es heute üblich ist, für Menschen. Wir gingen damals wegen der Spaß an der Freude zum CVJM und so leistete dieser auch echte Missionsarbeit. Wenn man alles nur in Bibelarbeit, Gebete und Lobpreisungen legt erreicht man viele Menschen, insbesondere die, um die es bei einer Mission geht, nicht. Trotzdem wird in „Breuers Halleluja-Club“, wie ich gerne spöttisch sage, der Spaßfaktor äußerst kleingeschrieben und das frömmeln megagroß. Na ja, es handelt sich auch „nur“ um einen Kreis von 20 bis 30 eingefleischten Getreuen und Zuwachs wird es trotz deren spiritistischen Visionen und Evangelisationen wohl nicht geben. Von einem solchen Bodenpersonal werden heutige Menschen doch eher abgeschreckt. Wir, die Familie Piston, stehen nicht in Kirchenferne. 1975 wurden Marion und ich in der Friedenskapelle getraut, unsere beiden Kinder Jean Pierre, geboren 1977, und Marie, geboren 1979, sind in der gleichen Kirche getauft und in der „großen“ Kirche in Romansdorf konfirmiert worden. In gewisser Regelmäßigkeit gehen wir auch sonntags zum Gottesdienst. Marion hat eine Zeit lang im Kindergottesdienst mitgearbeitet und gehörte bis letztes Jahr auch zu einem christlichen Frauengesprächskreis, der sich alle 14 Tage, im „Küsterhaus“ traf. Aber
eine sonstige, weitergehende Beteiligung am Halleluja-Club geht uns doch ein bisschen zu weit. Nach meiner Meinung machen die Leute so etwas um sich mit allerlei Taten die Seligkeit zu erkaufen. Aber einen solchen „Kuhhandel“ macht Gott nicht mit. Bei ihm zählt der Glaube und nicht unsere Taten. Man kann nicht wie die Breuers im Alltag als eiskalter, ausgewiefter Kaufmann, die überall nur ihren wirtschaftlichen Nutzen sehen, erscheinen und in der Freizeit als Himmelsaktivist seine Seele auf Christenglanz polieren. Vor allen Dingen ist so etwas nackter Egoismus, alles nur fürs eigene Seelenheil. Christlich ist es aber zuerst an den Nächsten zu denken. Wenn ich was fürs Seelenheil tun möchte, dann für das meines Nächsten, was mit anderen Worten „Mission“ bedeutet. Das ich frommes Showdown aber eher für Antimission halte, habe ich im vorangegangenen Absatz ja bereits angedeutet. Vielleicht ist Ihnen soeben etwas französisch vorgekommen: Mit Nachnamen heißen wir Piston und unsere Kinder haben die Vornamen Jean Pierre und Marie. Das liegt daran, dass ich aus einer Hugenotten-Familie – also französische Protestanten – stamme, die in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts nach Hessen einwanderte. Aber seitdem sind die Mitglieder der Familie Piston Deutsche. Ich habe auch den ganz gewöhnlichen deutschen Vornamen Dieter. Aber meine Frau Marion, eine geborene Schulte, fand es schick unseren Kindern wieder „hugenottische“, sprich französische, Vornamen zugeben. Das Wissen von meiner Herkunft begründete eines der beiden großen Hobbys, die ich mir zuschreiben kann: Ich beschäftige mich gerne mit der Geschichte der Hugenotten und mit dem Calvinismus, das heißt mit allem, was mit dem Reformator Johannes Calvin und seiner Lehre zusammenhängt. Das andere Hobby sollte, wenn es nach meinen Kinderträumen gegangen wäre, auch zu meinem Beruf werden: Fotograf. Ja, aber meine Mutter hat sich durchgesetzt und ich wurde stattdessen Beamter bei der Stadt Romansdorf, wo meine Frau als Verwaltungsfachangestellte arbeitet. So ist das Fotografieren, überwiegend Landschafts-, Pflanzen- und Tieraufnahmen, „nur“ meine große Freizeitleidenschaft. Allerdings bin ich damit schon so professionell geworden, dass ich mit meinen Arbeiten auf Ausstellungen feiern lassen konnte. Jetzt habe ich Ihnen schon fast alles, was in meiner Geschichte eine Rolle spielt, vorgestellt. Bevor ich mit dieser aber richtig los lege, muss ich noch von einer zweiten öffentlichen Einrichtung in der Siedlung Krähenberg, die es neben der Friedenskapelle gibt, berichten. Wir haben hier einen kleinen Zwei-Gruppen-Kindergarten, der in einen Pavillon ähnlichen Gebäude am Waldrand untergebracht ist. Er entstand auch Anfang der 60er-Jahre, nachdem sich eine Elterninitiative für einen eigenen Kindergarten in der Siedlung stark gemacht hatte. Die Arbeiter-Wohlfahrt wollte diesen damals errichten aber dagegen haben die Breuers mächtig und letztlich erfolgreich Stunk gemacht. Für die ist alles, was den Namen nach aus der linken Ecke kommt, etwa so etwas wie ein rotes Tuch für einen Stier. Na ja, mit der Farbe Rot hat das ja auch zutun. Als die AWo im Zuge der damaligen Auseinandersetzungen das Handtuch warf sprang dann die Stadt Romansdorf ein. Breuers hätten zwar lieber gesehen wenn die evangelische Kirchengemeinde als Träger aufgetreten wäre aber aus einem Grund, den ich nicht kenne, wollten die Kirchenleute nicht einsteigen. Auch wenn die Einrichtung klein ist gibt es in Krähenberg nicht genug Kinder im entsprechenden Alter um diese auszulasten. Da man sich aber einen guten Namen gemacht hat, finden sich immer wieder genügend Eltern in der Kernstadt, die ihre Kinder mit ihren Autos in die Einrichtung in Krähenberg chauffieren. Letztes Jahr wäre es aber beinahe mit dem guten Ruf vorbei gewesen. Aber damit sind wir auch schon Mitten in der Geschichte. Ich erfuhr von dieser Geschichte, in der wir später aktiv einbezogen sein sollten, erstmalig an einem Donnerstagabend im Juni des Jahres 2003. Marion war an diesem Abend bei dem Frauengesprächskreis im Küsterhaus gewesen. Ich hatte während der Zeit an meinen PC gesessen und an einer Power-Point-Präsentation mit einigen meiner Bilder gearbeitet. Seit etwa zwei Jahren erstelle ich ab und an mal eine solche, die man bei diversen Gelegenheiten mal ablaufen lassen könnte – bis jetzt hat es allerdings noch keine entsprechende Gelegenheit gegeben. Als Marion so gegen halb Elf heimkehrte fragte sie mich nach dem üblichen Begrüßungs-Hallo ob ich im Internet sei. Ich war es nicht und sie schlug mir mit so einer Art Begeisterung vor mal hinein zugehen und eine bestimmte private Seite aufzurufen. Diese gehörte einem jungen Mann aus unserer Nachbarstadt Neustadt. Über die Navigation sollte ich mich nach Marions Wunsch auf die Unterseite „Heike, mein Schatz“ einwählen. Eu, jeu, jeu, da waren doch vier Bilder von Heike Gondel, einer der beiden Kindergärtnerinnen in unserem Krähenberger Kindergarten. Au sorry, jetzt habe ich mal wieder einem Berufsstand, dem auch meine werte Schwester angehört, auf die nicht vorhandene Krawatte getreten. Meine Schwester platzt immer wenn man „Kindergärtnerin“ sagt und weißt dann daraufhin, dass dieser Berufsstand offiziell „Erzieherin“ heißt. Aber gleichgültig ob Kindergärtnerin oder Erzieherin, auf der Webseite konnte ich die junge Heike Gondel, die sich um die Krähenberger Kinder kümmert, auf vier Bildern bewundern und zwar in dem Kostüm, dass ihr unser Gott kostenlos mitgegeben hat, sprich nackt und bloß. Mein erster Kommentar lautete: „Die Maid aus unserem Kindergarten kann sich ja tatsächlich sehen lassen. Ein wirklich schönes Geschöpf und es wäre wirklich Schade, wenn einen so etwas vorenthalten würde.“. „Das finde ich auch.“, kommentierte jetzt Marion, „Ich weiß gar nicht was sich die Frauen aus dem Hause Breuer da so fürchterlich aufregen. Nach dem, was die im Frauenkreis palavert haben, hatte ich jetzt so etwas, was man Hardcore nennt, erwartet. Aber es sind doch ganz nette,
ansehnliche Bilder. ... Nur gut, das es sich bei unserem Kindergarten um einen städtischen handelt. Wäre das ein evangelischer dürfte Heike mit Sicherheit den Arbeitsplatz räumen müssen. Dafür würden die ‚heiligen’ Breuers schon sorgen.“. Unser Kindergarten ist zwar kein evangelischer aber das hinderte die Breuers nicht daran sich für die Kündigung der Sünderin zu engagieren. Zunächst musste aber erst für die richtige Stimmung in der Siedlung gesorgt werden und so wandte sich ein oder gleich mehrere Breuers an den pensionierten Pastor Schubert, der vor Erreichen der Altersgrenze Pfarrer in der Romansdorfer Kirchengemeinde war. Pastor Schubert ließ sich ab und zu dazu überreden trotz seines Ruhestandes auf die Kanzel zu steigen. Obwohl ich inhaltlich nicht voll hinter dem, was dieser sehr erzkonservative Mann predigte, stehen konnte, hörte ich ihm gerne reden. Das lag aber eher an dem väterlichen Ton, mit dem er sprach und der Art, wie er sprach als an dem, was er vermittelte. Das bedeutete für mich, dass ich nicht extra wegen Pastor Schubert in die Kirche ging aber wenn ich mal zufällig in die Kirche geraten war, wenn er predigte, dann genoss ich zumindestens seine Vortragskunst. Auch an jenem Sonntag war ich auch wieder einmal offensichtlich versehentlich in der Kirche gelandet, denn ich hatte eigentlich erwartet, das die junge Pastorin, die erst seit ein paar Wochen in Romansdorf ist, predigen würde. Zunächst glaubte ich natürlich mich vertan zu haben aber heute weiß ich, dass unsere BerufsfrömmlerFamilie Breuer für eine Planänderung beim Prediger und Predigtinhalt gesorgt hatten. Nicht etwa das, was in der Agenda als Predigttext für diesen Sonntag vorgesehen war kam „zur Aufführung“ sondern Pastor Schubert „referierte“ über die Geschichte mit der Ehebrecherin. Was er dazu zum besten zu geben hatte regte mich innerlich doch sehr auf und konnte nicht durch seinen Tonfall und seine Art, die Eigenschaften, ich eben noch gerühmt habe, wett gemacht werden. Nach meiner Auffassung hatte Schubert das Evangelium uminterpretiert. Man hätte seine Worte aufzeichnen und an eine islamische Kultusgemeinde weitergeben sollen, denn die Moslems hätten den Text bequem für eine Kopftuchbegründung mit nur leichten Umarbeitungen hernehmen können. Pastor Schubert stellte die Frage wo ein Ehebruch beginnt. Seiner Meinung nach ist es schon ein Ehebruch wenn man sich an dem Körper einer anderen Frau oder eines anderen Mannes erfreut. Dann gibt es nach den Worten des Pastors im Inneren des Menschen ein Begehren und in den Gedanken spielt sich dann ein Ehebruch, ein Betrügen des Partners, ab. Die Frauen, die ihren unverhüllten Körper zur Schau stellten, wären auf einem gefährlichen Abkehrweg von Gott und würden, wie einst Eva im Paradies, Männer zur Sünde verführen. Unser Herr Jesus habe gesagt, dass derjenige, der ohne Sünde sei, den ersten Stein werfen solle. Nun, für die Leute, die nicht so bibelfest sind, muss ich noch sagen, dass eine Ehebrecherin gesteinigt werden sollte als Jesus hinzu kam. Schubert betonte das wir alle Sünder seien und daher keinen Stein auf die „junge Kindergärtnerin“ werfen dürften. Wer bis zu diesem Punkt nicht wusste um was es ging, wurde nun mit der Nase darauf gestoßen. Weiter führte der Kanzelredner dann aus, dass Jesus aber dann auch „Gehe hin und sündige fortan nicht mehr“ gesagt habe. Dieses müssten wir als Christen an die Dame, die sich da im Internet präsentiere, weitergeben und wir müssten ihr dabei helfen von der Sünde Abkehr zu nehmen. Ich persönlich halte die so gedrehte Geschichte für einen Aufruf an die Gemeinde sich doch mit Steinen zu bewaffnen und auf Heike Gondel zu werfen. Meine Meinung war: „Nicht nur Ehebruch sondern auch eine Steinigung spielt sich zu erst und zum Glück oft ausschließlich im Kopf ab.“. Diese sagte ich auch zu Pastor Schubert, als er uns an der Kirchentür zum Abschied die Hand gab. Vor der Kirche fand dann auch gleiche eine Steinigung mit Worten statt. Die Mitglieder der Familie Breuer informierten alle Leute, gleichgültig ob sie bereits eingeweiht waren oder nicht, mit Nennung von Namen und Internetadresse um wenn und was es sich in der Predigt gehandelt habe. Dabei regten sie an, dass man sich in einem gemeinsamen Brief an den Bürgermeister dafür verwenden sollte, dass er zum Schutz unserer Kinder Abhilfe schaffen solle. So etwas heißt auf Hochdeutsch: Feuern. Nun, mir war zum Ausrasten und ich legte mich dann mit Hans Breuer, den Senior der Familie, noch heftig an. Ich sagte ihm: „Ein wahrer und aufrichtiger Christ hätte nicht erst das ganze Dorf auf die Geschichte aufmerksam gemacht. Ich gehe mal davon aus, dass, wenn diese Sache von euch nicht an die große Glocke gehangen worden wäre, kaum jemand hier im Dorf davon erfahren hätte. Ich wäre, wenn ich an euerer Stelle gewesen wäre, zu dem Mädchen hingegangen und hätte sie gebeten im Hinblick auf die hiesige prüde Bevölkerung und des öffentlichen Friedens halber die Bilder aus dem Internet zu nehmen. So etwas verstehe ich unter christlich aber nicht das, was ihr macht. ... Übrigens, weiß die junge Frau überhaupt schon davon, dass ihr über sie ein Tribunal einberufen habt?“. Mit meiner letzten Vermutung hatte ich so gar recht. Heike Gondel erschien an dem darauf folgenden Montag ahnungslos zum Dienst. Zu ihrer Überraschung wurde sie von einer Berufsfrömmler-Abordnung, zwei Breuers und zwei weitere Gemeindemitglieder, empfangen. Ohne Einleitung hielt man ihr die Bilder aus dem Internet, die die „geile Bande“ ausgedruckt hatte, vor die Nase. Man machte sie darauf aufmerksam, dass so etwas in einem Dorf, in dem christliche Werte noch was gelten würden, nicht hinnehmbar sei. Man müsse zum Schutze der Kinder tätig werden und empfahl ihr, von sich aus die Konsequenzen zu ziehen. Das stärkste Stück, dass sich
diese Abordnung des Halleluja-Clubs leistet, war, dass man die Eltern – bis auf einen Fall die Mütter – abfing um ihnen die Erzieherin als Nackedei zu zeigen. Die Mütter wurden dabei in drei Gruppen gespalteten: Die einen nahmen ihre Kinder aus Empörung und die anderen aus der Verunsicherung, was sie nun machen sollten, spornstreichs wieder mit. Zwei Mütter und der eine Vater mussten jedoch zum Dienst und hatten jetzt keine andere Wahl und ließen ihre Kinder da. Heike Gondel war geschafft und hatte einen Zusammenbruch. Sie konnte ihren Dienst nicht wahrnehmen und fuhr wieder nach Hause. Zum Glück ist bei ihrer Heimfahrt in ihrem Kleinwagen nichts passiert. Bei ihrer derzeitigen seelischen Verfassung hätte sie ja leicht ein Unfall verursachen können. Die „frommen“ Herren sahen bei ihrer Abfahrt, vermutlich noch mit Schadensfreude, zu. Ja, so sind sie die Superchristen. Aber die Abordnung des „göttlichen Gerichts“ gab sich mit dieser schweren Mobbingattacke nicht zufrieden sondern sie begaben sich anschließend in das Romansdorfer Rathaus und verlangte den Bürgermeister zu sprechen. Na ja, so nahmen diese übereifernden Christen dann meinen Chef für fast eine Stunde in Beschlag. Eigentlich war vorgesehen, dass ich mich wegen diverser Bauangelegenheiten, für die ich zuständig bin, mit dem Bürgermeister zusammen setzen sollte. Aber was soll’s, so war ich dann halt eine Stunde später an der Reihe. Wir sprachen aber nicht gleich über die Baugeschichten sondern mein Chef eröffnete mit: „Dieter, du wohnst doch auch in Krähenberg. Was ist da eigentlich los? Die Delegation, die ich eben hier sitzen hatte, haben ja auf mich eingeredet als müsste ich jetzt handeln um Zustände wie in Sodom und Gomorra zu verhindern. Oder weiß du noch gar nichts von den Dingen, die da vorgehen?“. „Zufällig war ich gestern in der Kirche.“, begann ich meine Erwiderung, „Da habe ich von der Attacke, die unsere Heiligen gegen unsere Kindergärtnerin führen wollen, gehört. Irgendwo haben die Breuers und ihre Anhänger einen Schuss im Socken.“. Danach bekam ich dann die Ansicht meines Chefs zu hören: „Meine Güte, was hat diese Frau Gondel denn getan. Da ist doch in der heutigen Zeit nichts dabei. Alle möglichen Stars ziehen sich für den Playboy aus. Nackedeis kannst du mittlerweile schon im Tagesprogramm der Fernsehanstalten sehen. Die gemischte Sauna und FKK-Strände erfreuen sich allgemeiner Beliebtheit. Und an den Stränden, die nicht für FKK freigegeben sind laufen die Damen jeden Alters nur mit einem Strick durch den Po herum ... Dieses sogar in unserem Pfützchen (Kosename für unser kleines Freibad). Selbst meine Frau beteiligt sich im Urlaub gerne an solchen Freizügigkeiten. Da hat doch unsere Frau Gondel gar nichts schlimmes getan. Natürlich, hätte sie sich vor den Kindern entblößt oder hätte sie die Bilder im Kindergarten ausgehangen, dann hätte ich ein Handhabe und müsste etwas tun. Aber so; sie hat doch nichts verbotenes getan. Wäre der Kindergarten eine konfessionelle Einrichtung könnte man unter Hinweis auf einen Tendenzbetrieb etwas im Sinne euerer Moralapostel unternehmen. Aber es handelt sich um einen städtischen Kindergarten ... unserer einzigsten Einrichtung dieser Art. Wenn ich nur wüsste, was ich im allseitigen Interesse tun könnte – einen Elternaufstand kann ich ja auch nicht einfach hinnehmen.“. An dieser Stelle unterbrach er erst einmal spontan und ging an den PC, der neben seinem Schreibtisch stand. Was er wollte war mir, als er mich nach der betreffenden Adresse fragte, klar. Auch er wollte sich die nackte Heike mal zu Gemüte führen. Da ich ja auch noch nicht vom Weltlichen ab bin, stellte ich mich auch prompt hinter ihm. Seinem Kommentar konnte ich mich mit ungeteilter Meinung anschließen: „Donnerwetter, das ist ja wirklich ein schönes Kind. Wäre direkt schade, wenn so etwas vor unseren Augen versteckt würde.“. Darauf fiel mir dann was ein, was ich unseren Frommen mal vorhalten sollte. Jetzt sagte ich es erst einmal zu Horst Krüger, meinem Chef: „Alle schönen Dinge hat doch Gott geschaffen. Wenn wir so etwas betrachten und uns daran erfreuen, ist das doch eine Art Lobpreis für den Schöpfer. Ist es da nicht Gotteslästerung wenn man so etwas verhüllen will, am besten noch in deren Sinne mit Kopftüchern und langen Gewändern? ... Aber auf die Moslems schimpfen. Lediglich die schmutzigen Gedanken, die sich diverse Leute dabei machen, dürften doch für Christen ein Stein des Anstoßes sein. Aber da müssten sich ja unsere Heilligen mit großer Wahrscheinlichkeit selbst an die eigene Nase fassen.“. Nun, eine Amtsstube im Rathaus ist ja nicht für Nackedei-Surfing bestimmt und so klinkte sich Horst Krüger auch nach zwei bis drei Minuten wieder aus dem Internet aus und wir begaben uns wieder zurück an den Konferenztisch, an dem wir auch zuvor schon Platz genommen hatten. „Was willst du den jetzt unternehmen?“, fragte ich neugierig meinen Chef. „Ja, wenn ich das wüsste.“, bekundete Horst, „Ich glaube ich führe mal ein Vieraugengespräch mit unserer Erzieherin und checke dabei mal ab, ob und wo wir die Wogen glätten können. Ich hoffe ja, dass es mit dem Entfernen der Bilder aus dem Internett und einer lieb vorgetragenen Entschuldigung von Frau Gondel getan ist. Streng genommen brauch sie sich nach meinem Empfinden ja nicht entschuldigen aber was tut man nicht alles für den Frieden in unserer Stadt.“ „Vieraugengespräch“, hing ich noch mit ironischer Stimme an. Ebenso ironisch bekam ich die Antwort: „Wofür hältst du mich? Aber du hast mal wieder auffällig recht. Ich werde mir Frau Köster (die Vertrauensfrau in unserer Verwaltung) dazu nehmen, sonst unterstellen mir deine frommen Mitsiedler noch besondere Ambitionen. Wie ich diese Leute einschätze unterstellen die Krähenberger Apostel noch, dass ich Disziplinarmaßnahmen mit Schäferstündchen
verwechsele“. Beide lachten wir noch und gingen dann endlich zu dem über, was wir uns schon in der Vorwoche vorgenommen hatten. Das Vieraugengespräch, sorry Achtaugengespräch, denn neben dem Bürgermeister, Heike Gondel und der Vertrauensfrau nahm auch der Freund von Heike an diesem teil, fand schon am nächsten Nachmittag im Rathaus statt. Der junge Mann nahm als Kavalier alles auf sich und behauptete, die Bilder zunächst nur für sich gemacht zu haben. Weil er aber so stolz auf seine Heike wäre habe er diese, ohne ihr Wissen ins Internet gestellt. Er gab den reuigen Sünder vor und gelobt so etwas nicht wieder machen zu wollen. Später erfuhr ich dann jedoch, dass es so nicht abgelaufen war sondern Heike hatte schon ihr Einverständnis zur Veröffentlichung ihrer Schönheit gegeben. Im Vertrauen hat sie zu Marion, meiner Frau, gesagt, dass sie der Gedanke, dass sie von anderen Männern und Frauen bewundert würde, ursprünglich ganz schön angespitzt habe. Sie hat also doch eine exhibitionistische Ader – aber die haben andere auch; da kommen wir noch drauf. Auf jeden Fall ließ Horst Krüger den Kindergarteneltern und den Beschwerdeführern aus Jesus Krähenberger Kolonne wissen, dass es bisher keine Einwände gegen die junge Erzieherin, die ja selbst nichts für die Veröffentlichung ihrer intim gedachten Bilder könne, gegeben habe und sie bisher gute Arbeit geleistet habe. Die Bilder des Anstoßes seien aus dem Internet verschwunden – das waren sie schon am Nachmittag des Montags – und der Akteur, so wie Heike Gondel selbst, würden den Vorfall bedauern und sich dafür entschuldigen. Er sähe jetzt keine Hindernisgründe für eine weitere vertrauensvolle Zusammenarbeit, um die er auch die Eltern bat, mehr. Mein gesunder Menschenverstand sagt mir, dass man es dabei hätte belassen und nun wieder zur Normalität hätte zurückkehren können. Das sahen aber die Angehörigen der Familie Breuer und ihr Gefolge in der Gemeinde anders. Die informierten zunächst mal die Lokalpresse von den „skandalösen Vorfällen im Kindergarten der Siedlung Krähenberg“ und warfen dem Bürgermeister Horst Krüger vor, sich über die „berechtigten Sorgen“ der Eltern hinwegzusetzen. Na ja, da Horst bei der letzten Wahl für die SPD kandidiert hatte, war er für die Breuers und Freunde ohnehin ein rotes Tuch. Ein Sozi im Rathaus ist für die ohnehin so etwas wie der Teufel im Pfarrhaus. Diesmal schienen die Vollstrecker der göttlichen Rache aber erfolgreicher zu sein. Die Mobilisierung der Elternschaft schien ihnen gelungen zu sein. Diese streikten und brachten ihre Kinder nicht in den Kindergarten. Sie wollten den Streik so lange fortsetzen, bis die sündige Erzieherin ihren Dienst quittiert hätte. So etwas ist schon aus den eigenen Interessen der Eltern in der Regel zum scheitern verurteilt. Irgendwohin müssen sie ja ihre Kinder bringen, wenn sie in dieser Zeit arbeiten wollen. Aber die gehässige Breuer-Familie hatte da Vorsorge getroffen und eine Kinderbetreuung in den Jugendräumen unterhalb der Friedenskapelle angeboten. Selbst die katholischen Eltern protestierten nicht gegen diese Veranstaltung, die Insidern wie eine Art Dauer-Kinder-Gottesdienst vorkam. Ich würde sagen, dass die Kleinstadtposse inzwischen perfekt inszeniert war. Damit saß jetzt unser Bürgermeister vollendens in der Patsche. Er konnte keinen Grund erkennen weshalb er Heike Gondel entlassen sollte. Diese Maßnahme schien ihm Angesichts der Tatsache, dass die junge Erzieherin gegen kein Gesetz verstoßen hatte, im Grunde für ungerechtfertigt. Anders schienen aber auch die Eltern nicht zu besänftigen zu sein; zu stark waren sie von den Heiligtuern eingeheizt worden. Vielleicht sollte ich erwähnen, dass zu dieser Zeit kein Kind aus der Breuerfamilie diesen Kindergarten besuchte. Auch vor dem Vorfall war dieses nie der Fall, denn ein städtischer Kindergarten ist für diese Familie indiskutabel. Die fuhren lieber ihre Kinder und Enkel nach Romansdorf in eine evangelische Einrichtung; was anderes kam für sie ohnehin nicht in Frage. Ich glaube, dass diese Berufsfrömmler es gerne gesehen hätten, wenn dieser „weltliche“ Kindergarten in unserer Siedlung geschlossen werden würde. Das so etwas notwendig werden könnte, wenn der Eltern-Trouble nicht beigelegt werden könnte, war die größte Sorge unseres Bürgermeisters Horst Krüger. Laut KindergartenBedarfsplan brauchte die Stadt Romansdorf diese 20 bis 30 Betreuungsplätze noch. Die drei anderen Kindergärten in Romansdorf lagen in der Trägerschaft der Kirchen – zwei katholisch und einer evangelisch – und die Kirchenvorstände beziehungsweise das Presbyterium sahen unter Hinweis auf rückläufige Kirchensteuer keine Möglichkeit ihr Angebot auszuweiten. Allerdings waren nicht alle Krähenberger Siedler auf der Seite der Breuers. Ganz im Gegenteil, die meisten sahen die Geschichte durch eine ganz andere Brille. Es hatten zwar nicht alle eine tolerante und liberale Haltung zur Nacktheit und zu Aktfotos aber die Breuersche Heiligtuerei war vielen schon lange ein Dorn im Auge. Im Gegenzug zu ihrer Aktion gerieten jetzt die Angehörigen der Familie in den Mittelpunkt des Dorfklatsches. Jeder der etwas über einen Fehltritt eines oder einer Breuer wusste, gab dieses jetzt weiter. Och, da waren einige nette Dönkes bei. So ganz ohne waren diese Leute nun beim besten Willen nicht. Da rächte sich offensichtlich, dass sie gegen das Jesuswort „Wer von euch ohne Sünde ist, der werfe den ersten Stein“ verstießen. Ja liebe Leser, wenn wir uns an die eigene Nase fassen, kommt doch mancher Dreck, den wir gerne für uns behalten hätten, heraus. Aus christlicher Sicht möchte ich sagen, dass, wenn es unter uns eine Menge Englein gäbe hätte unser Herr für uns nicht am Kreuz sterben müssen. Wir sind alle Sünder und fast täglich kommen neue hinzu. Nicht immer sind es ganz große Sünden aber ab und zu doch. Eigentlich beten wir nicht umsonst im Vater unser: „Vergib uns unsere Schuld, wie wir vergeben unseren Schuldigern.“.
So wurden eine ganze Menge heikle Dinge, die zum Teil auch in der Kategorie „Ehebruch“ einzuordnen sind, von den Mitgliedern der „ersten“ Krähenberger Familie bekannt. Seltsamer Weise unternahm keiner der Bloßgestellten etwas gegen die Gerüchteküche. Sie führten lieber ihren Krieg gegen den städtischen Kindergarten und unseren Bürgermeister. Für mich verwunderlich war, dass Heike Gondel, um die sich anfänglich alles drehte, mehr und mehr zu einer Randfigur geworden war. Nicht nur ich sondern viele Leute in Romansdorf, auch außerhalb der Siedlung Krähenberg, hatten den Eindruck, dass es den Breuers eigentlich nur um die Ausübung von Macht ging. Die Familie Breuer, auf deren Besitz mal die Siedlung Krähenberg entstand, wollte offensichtlich die Herrschaft über die Stadt Romansdorf übernehmen. Die Beseitigung des bei ihnen ungeliebten Sozi-Bürgermeister war ganz offensichtlich ihr erstes Kriegsziel. Die Breuerschen Absichten waren auch daraus ersichtlich, dass mächtig auf die Leute von der Unabhängigen Wählergemeinschaft einwirkten, weil diese dem rot-grünen Lager im Stadtrat in der Regel zur Mehrheit verhalf. Der CDU-Fraktions-Vorsitzende im Rat, ein gewisser Hans Breuer, wäre wohl selber gerne Bürgermeister geworden und konnte augenscheinlich nicht bis zur nächsten Kommunalwahl abwarten. Der Vorfall um Heike Gondel war für ihn wohl der Anlass, um Horst Krüger, den er schon immer Haushaltsdilettantismus vorgeworfen hatte, auch noch als Förderer des Sittenund Werteverfalls in Romansdorf anzuprangern. Ich persönlich gehöre keiner Partei an und glaube mit jedem Bürgermeister, unabhängig von seinem Parteibuch, loyal zusammen arbeiten zu können, aber ein Hans Breuer wäre für mich ein Grund über einen vorzeitigen Ruhestand nachzudenken. Obwohl es jetzt im Großen und Ganzen gegen den Bürgermeister ging war Heike die Leidtragende in dieser Geschichte. Sie war letztlich so angeschlagen, dass sie am Mittwochabend der darauffolgenden Woche einen Selbstmordversuch unternahm. Sie war mit ihren Wagen in die Garage ihres Vaters gefahren und ließ bei geschlossenem Garagentor und herunter gedrehten Seitenfenster den Motor laufen. Statt eines Abschiedsbriefes wollte sie offensichtlich eine Demonstration über den Grund ihres Suizids hinterlassen. Sie hat sich nämlich vollkommen nackt ausgezogen und sich in ihr Auto gesetzt. Einem Nachbarn waren die Motorgeräusche in der geschlossenen Garage aufgefallen und er hatte daraufhin nachgesehen. Als er das Garagentor geöffnet hatte war Heike schon buchstäblich benebelt und abgetreten. Er zog sie sofort aus den Wagen und brachte sie hinaus ins Freie. Seine herbeigerufene Frau beschäftigte sich sofort damit die Bewusstlose wieder anzukleiden und er bemühte in der Zwischenzeit die Ziffern 1 - 1 - 2 auf seinem Telefon. Nun, die Sache ist glücklicher Weise gut gegangen. Ich fand es auch gut, dass die Nachbarin Heike wieder angezogen hatte und dieses nicht an die große Glocke gehangen hat. Nur ihrem Cousin Horst Krüger hatte sie davon erzählt und von dem habe ich es erfahren. Wer weiß, was die Breuers wieder daraus gemacht hätten. Das sie beinahe mit ihrer Hexenjagd den Tod einer jungen Frau mitverschuldet hätten ließ diese Familie jedoch offenbar ungerührt. Einen Tag nach diesem Selbstmordversuch fand wieder turnusmäßig der Frauengesprächskreis, an dem auch meine Frau Marion immer teilnahm, statt. Natürlich stand schon gleich beim Eintreffen der Frauen Heikes Versuch aus dem Leben zu fliehen auf der Tagesordnung. Dabei kam es dann auch gleich zu einem Eklat. Marion war der Meinung, dass man endlich etwas unternehmen müsse um dem „armen Mädchen“, gemeint war damit Heike, zu helfen. Der Krähenberger Inquisition müsse ein Ende bereitet werden. Das brachte naturgemäß die drei älteren Damen mit Nachnamen Breuer auf die höchste Palme. Aber sieben andere Damen, darunter – für mich erstaunlicher Weise – auch Hans Breuers jüngste Tochter Johanna, gingen in Front mit Marion. Etwa fünf Minuten lief ein handfester Streit ab und dann zogen die acht oppositionellen Frauen aus. Ich staunte nicht schlecht, als eine halbe Stunde nach Marions Weggang dieser Krähenberger Damenachter bei uns vor der Tür stand. Der Gesprächskreis hatte sich in zwei Gruppen geteilt. Die drei älteren Breuer-Damen und eine weitere Anhängerin des Clans verblieben im Küsterhaus. Sie haben sich nach diesem Donnerstag noch einmal getroffen und bei der Gelegenheit den Frauengesprächskreis offiziell für aufgelöst erklärt. Ein neuer etablierte sich bei uns im Haus und die Mitglieder dieses Kreises treffen sich noch heute regelmäßig. Aber es geht da heute doch weltlicher, das heißt lebensnäher, zu. An diesem besagten Donnerstagabend nahmen die Acht bei uns im Wohnzimmer platz um darüber zu beraten, wie sie Heike beistehen könnten und wie sie den Blindeifer der Breuers bremsen könnten. Ich räumte freiwillig das Feld und verzog mich in mein Arbeitszimmer, was ich mir im ehemaligen Zimmer unsere Sohnes Jean Pierre eingerichtet habe. So bekam ich dann zunächst auch nicht mit, was da in unserem Wohnzimmer besprochen wurde. Ich wunderte mich sehr, als ich eine Dreiviertelstunde später zu den Damen ins Wohnzimmer gebeten wurde. Es sollte noch dicker kommen; die Damen ließen mich aus dem Staunen nicht mehr heraus kommen. Als ich im Kreis der erlauchten Damen Platz genommen hatte eröffneten diese mir ihren Plan. Sie wollten eine großangelegte Solidaritätsaktion für Heike starten und dadurch, dass sie die Aufmerksamkeit auf sich lenkten, die junge Erzieherin aus der Schusslinie bringen. Außerdem wollten sie die Diskussion ob Nacktheit Sünde ist anheizen. Man kann schon ahnen was die Damen vorhatten: Sie wollten sich selbst als Nackedei im Internet präsentieren und darauf auch noch über die Lokalpresse aufmerksam machen. Nur eine Dame aus dem Kreis wollte zu diesem Zweck ihr Geheimnisse nicht preisgeben aber sie stand voll hinter der Aktion. Wer Frau Grömmer kennt
hat bestimmt Verständnis für ihre Zurückhaltung, denn sie ist etwa einen Kopf kleiner als ich, bringt aber fast das doppelte Lebendgewicht auf die Waage. Mich wollten die Damen dazu als Fotograf anheuern. Einmal schätzten sie mich als guten Fotografen und zum anderen solle ich auch einen Kennerblick bei Frauen besitzen – jedenfalls hatte Marion dieses behauptet. Hans Grömmer, der Ehemann der Dicken, hatte ein wenig Erfahrungen in der Einrichtung von Homepages und sollte eine Webseite mit Namen „www.nackte-christinnen.xx“, also auch noch unter einem provozierender Titel, einrichten. Das war natürlich eine reizvolle Aufgabe für mich, die zum Zeitpunkt, wo sie mir angetragen wurde, einiges in mir, was man durchaus im Bereich Ehebruch ansiedeln könnte, auslöste. Immerhin sind die Damen zwar unterschiedlichen Alters, von 25 (Johanna Breuer) bis 52 (meine eigene Frau Marion) aber alle haben ein Format, das sowohl bei jüngeren wie auch älteren Männern etwas auslösen kann. Aber sündige, flotte Gedanken konnte ich mir gleich aus dem Kopf schlagen, denn meine bessere Hälfte sowie die Gatten der „Modells“ sollten bei den einzelnen Aufnahmen als Sittenwächter mit dabei sein. Nur meine Marion sollte mir bei meiner Arbeit alleine gehören und bei Johanna sollte, mangels Vorhandensein, kein ihr zugehöriger Mann anwesend sein. Das Johanna überhaupt dabei war, war mir schon als die Damen bei uns im Haus erschienen höchst verwunderlich vorgekommen. So fragte ich auch, als das Gespräch auf sie kam, mit spontaner erstaunter Stimme: „Du auch?“. Recht energisch klingend bekam ich die Antwort: „Ja sicher. Ich bin ja das schwarze Schaf in der Familie. Wie es bei uns zuhause zugeht kannst du dir sicher denken: Beten beim Aufstehen, vor und nach jeder Mahlzeit und abends eine Andacht. Mein ‚Alter’ kommandiert alle rum. Mutti hat nichts zu sagen und wir Kinder erst recht nicht. Der wollte mich durchs Abi dreschen – ‚dreschen’ im wahrsten Sinne des Wortes. Selbst als ich schon Achtzehn war bekam ich noch seinen Rohrstock zu spüren. Wie alle wissen habe ich ja beim Abitur gefloppt und dann sollte ich auf väterliche Anordnung Krankenschwester werden – und auch da habe ich wieder gepatzt. Dann durfte ich endlich das lernen, was ich selber wollte: Reiseverkehrskauffrau. In diesem Beruf fühle ich mich auch wohl. Aber irgendwo habe ich jetzt auch Panik eine alte Jungfer zu werden. Erst hat der ‚Alte’ die Männer für mich ausgesucht, aber die wollte ich nicht und wenn ich mal selbst eingefunden habe, war der, nachdem er meine Familie kennen gelernt hatte, von dannen. ... Ich will jetzt endgültig aussteigen. Drei mal hatte ich schon eine eigene Wohnung gefunden und immer wieder habe ich mich von Mutti belatschern lassen und bin zuhause geblieben. Bei der nächsten Gelegenheit kommt das aber nicht mehr in Frage – dann gehe ich wirklich.“. Während sie dieses erzählte standen der jungen Frau die Tränen in den Augen und alle anderen schwiegen betroffen. Nachdem ich in die Pläne der Frauen eingeweiht war und, nicht ohne Bedenken, zugestimmt hatte, wurde ich erst mal wieder des Raumes verwiesen. Zum Einen sollte ich meine Digitalkamera holen und zum Anderen wollten sich die Damen ausziehen, was sie nun doch nicht vor meinen Augen machen wollten. Es sollte als erstes eine Gruppenaufnahme mit allen sieben Akteurinnen entstehen. Das hatte Marion, nicht ohne Hintergedanken, angeregt. Wie sie mir später, als wir wieder unter uns waren, sagte, wollte sie mit dieser gemeinsamen Aufnahme so eine Art Gruppendruck erzeugen. Sie befürchtete, dass doch diese oder jene später „Ach, lieber doch nicht“ sagen würde. Mit diesem gemeinsamen Foto sollte nach Marions Meinung das Eis ein wenig gebrochen werden. Dadurch, dass man da schon zugestimmt hat, würde eine Barriere gegen späteres Kneifen aufgebaut. Eine Hürde gab es dann, wie sich später, als ich die Einzelaufnahmen in den jeweiligen Häusern machte, herausstellte, doch noch zu überwinden: Nicht alle Ehemänner waren auf Anhieb begeistert. Aber die Frauen hatten sich in allen Fällen mit ihrer Absicht durchgesetzt. Das Gruppenfoto und die Einzelaufnahmen von Marion und Johanna machte ich noch am gleichen Abend und die anderen Bilder entstanden an dem darauffolgenden Wochenende. Das war eine ganz schöne Arbeit, die ich mir gar nicht so vorgestellt hatte. Meine Güte, was war das für ein Aufwand bis ich die einzelnen Frauen mal in einer Pose hatte, dass man sie guten Gewissens für ein ästhetisches Foto aufnehmen konnten. Die Einen wirkten vollkommen verklemmt und die Anderen schmissen sich in Posen, die sie schon irgendwo gesehen hatten. Letzteres wirkte dann nach meinen Geschmack immer etwas pornografisch. Die Bilder sollten aber ästhetisch schön wirken, wie Kunst, und nicht eindeutig in eine Richtung. Zwischen nackt und nackt gibt es nämlich gravierende Unterschiede. Ein Aktfoto voller Ästhetik ist etwas was die schönen Sinne anregt. Bei so etwas kann man sich über die wundervolle Schöpfung erfreuen. Eindeutige Fotos hingegen wecken doch nur die Begierden. Die Frauen sind da nicht mehr ein schönes Geschöpf das man bewundern kann sondern nur noch ein Objekt, dass man sich zur Befriedigung der eigen Lust wünscht. Zwischen einem gekonnten Aktfoto und einer Wichsvorlage liegen doch Welten. Und das Betrachten von Frauen nur als Lustobjekte widerstrebt auch meinem moralischen Empfinden. Eine weitere Schwierigkeit bildete für mich die Natur. Die Frauen hatten hier und da Pölsterchen, Muttermale oder sonstige „kleine Makel“, die später auf dem Bild doch den Gesamteindruck stören könnten. Jetzt verbot mir mein Taktgefühl die Frauen da direkt drauf anzusprechen und ich musste aber trotzdem zusehen, dass ich diese Kleinigkeiten mit der Kunst des Fotografen übertünchte. Auf meinen Vorschlag hin wurden die Bilder übrigens alle in Schwarz-Weiß aufgenommen. Dadurch hatte ich erstens die Möglichkeit bei den Aufnahmen mit dem
Licht zu spielen und zweitens werden sexuelle Gedanken durch die Wirkung der Farbe verstärkt – und so etwas lag ja nicht in unserer Absicht. Die Bilder sind aber alle sehr schön geworden und allesamt, die Frauen und auch ihre Männer, waren von den Ergebnissen begeistert. Auch ich – und ich war zudem noch mächtig stolz auf meine Künste. Am Sonntagabend erschien ich dann bei Hans Grömmer, unseren Webmaster. Der hatte schon alles vorbereitet. Die Domain war angemeldet und bereits freigeschaltet. Es musste jetzt nur noch die Bilderstrecke in die bereits vorerstellten Html-Seiten eingearbeitet werden. Einen erklärenden Text hatte Hans mit seiner „Dicken“ auch schon erstellt. Er lautete: „Ist das was Gott gemacht hat Sünde und ist der Mensch dazu berufen Gottes Sünde wieder wettzumachen? Gott schuf uns als Mann und Frau. Er erschuf uns nackt und bloß. Der Mensch schuf die Kleidung und konnte sich unabhängig vom Klima auf der ganzen Erde ausweiten. Dürfen wir denn jetzt das Menschenwerk nicht mehr ablegen, dürfen wir denn nicht mehr zeigen was Gott alles wunderschönes geschaffen hat. Christinnen aus Romansdorf-Krähenberg sagen: ‚Nein, Nacktheit ist keine Sünde und sie kann, wenn wir reinen Geistes sind, ein Lob Gottes sein.’ und zogen sich für die Kamera aus. Die Frauen sind alle treue Ehegattinnen und beabsichtigen kein Ehebruch; nicht als kleines Abenteuer und auch nicht für länger. Damit demonstrieren sie gegen eine Hexenjagd, die Krähenberger Bürger gegen eine schöne junge Dame, die sich auf ästhetischen Bilder in ihrem vom Gott gegebenen Schöpfungsgewand zeigte, veranstalten. Die ‚Hexenjäger’ glauben wohl in seinem Namen urteilen zu müssen. Haben diese Leute denn noch nicht ‚Urteilt nicht, auf das ihr nicht verurteilt werdet’ gehört?“. Ich empfand den Text als ein starkes Stück Tobak aber doch irgendwo nahe der Wahrheit. Auf jeden Fall war mir die Grömmersche Ansicht aus christlicher Sicht wesentlich begründeter als alles das, was vom Breuerschen Halleluja-Club bisher vorgetragen wurde. Frau Grömmer hatte auch schon eine längere Pressemitteilung, die sie via eMail versenden wollte, ausgearbeitet. Während wir um den Grömmerschen PC zusammen saßen kam Frau Grömmer auch noch auf die Idee, dass Gemeinschaftsfoto mit den sieben nackten Frauen der Presseerklärung beizufügen. Natürlich hatte sie gut reden, denn sie war ja selbst nicht dabei vertreten. Bei Marion war es mit der Begeisterung dann nicht gleich so weit her. Sie wies dann darauf hin, dass dazu erst mal alle befragt werden müssen. Sie selbst bekannte, dass sie dabei kein gutes Gefühl habe aber wenn die anderen mitmachen, wollte sie sich nicht ausschließen. Na ja, Marion begab sich dann ans Telefon und telefonierte erst einmal herum. Sie hatte alle, außer Johanna Breuer, erreicht. Alle hatten sich im gleichen Sinne wie Marion geäußert. Somit kann man eigentlich sagen, dass die Weitergabe des Sammelaktfotos praktisch unter so einer Art Gruppendruck erfolgte. Frau Grömmer und Marion hatten Johannas Zustimmung vorausgesetzt, da die schon am Donnerstag bedauerte hatte, dass nicht jeder einen Internetzugang habe und hatte angeregt, ob man nicht einen Flyer, den man im Dorf verteilt, drucken sollte. Diese Anregung war aber mit dem Kommentar „Wer soll das bezahlen?“ erledigt worden. So ging dann die Presseerklärung mit besagtem Foto raus. Am drauffolgenden Dienstag erschien dann der Artikel ungekürzt und auch unter Verwendung des Bildes. Etwas verkleinert und ein wenig eingedunkelt schien es dem Redakteur wohl jugendfrei und würdig zur Veröffentlichung zu sein. Das gab in ganz Romansdorf ein Hallo. Die nackten Weiber von Krähenberg waren für den Rest der Woche das Thema Nummer Eins in unserem Städtchen. Es gab auch uns gegenüber reichlich Reaktion. Marion musste doch einiges an eindeutigen Zweideutigkeiten einstecken. Sie hatte auch den Eindruck, dass sie von vielen Männern mit ausziehendem Blick angesehen wurde. Einige ältere Damen gaben ihr auch zu verstehen, dass man sie für eine unverschämte Person hielt. So lässig, wie sich die Damen dieses gedacht hatten, scheinen Aktfotos heutzutage wohl doch noch nicht angesehen zu werden. Es ist halt ein Unterschied ob sich eine prominente Frau, wie zum Beispiel Katharina Witt, für den Playboy auszieht oder eine normale Bürgerin für eine Webseite beziehungsweise für die Lokalpresse. Nun, die deutsche Damen-Volleyball-Nationalmannschaft hat sich ausgezogen und das Magazin „Stern“ brachte eine ganze Bildstrecke. Die meisten Romansdorfer Bürger, die zuvor unsere nackten Frauen empörend fanden, sahen dieses aber ganz normal an. War das nun die Folge unserer Sommeraktion oder war es der Unterschied von Promis und Normalbürgerinnen. Übrigens, die sechs anderen Damen konnten die gleichen Erfahrungen wie Marion machen. Mir gegenüber, dessen Namen aus dem Copyright im Internet zu entnehmen war, waren die Reaktionen recht seltsam. Diverse Männer waren wohl der Meinung, dass anlässlich der Aufnahmen mehr passiert sei und wollten mich dazu verleiten, aus der Schule zu plaudern. Einige Damen hatten bei der Gelegenheit ihre exhibitionistische Ader entdeckt und fragten an, ob ich sie auch mal ablichten könnte. Bei den meisten hätte ich, ehrlich gesagt, auch ganz gerne angebissen aber ich konnte davon ausgehen, dass Marion da nicht mitspielen würde. Die Leute, die man zur Kirche zuzählen oder ihnen nahestehend bezeichnen kann, sahen in mir den Initiator der ganzen Geschichte. Einer ging in seinen Vermutungen sogar soweit, dass er mich der Urheberschaft für Heike Gondels Internetauftritt sah. Aber, für mich erstaunlicher Weise, standen die meisten von ihnen der ganzen Angelegenheit positiv gegenüber. Sie waren der Meinung, dass die Kirche in ihrer gesellschaftlichen Entwicklung in den 50erJahren des vergangenen Jahrhunderts stecken geblieben wäre und eine solche Aktion, wie die unserige, unabhängig von deren theologischen und/oder moralischen Wertung, längst überfällig gewesen wäre. Allerdings
vermochte ich mich selbst nicht als ein Reformator im 21. Jahrhundert zu sehen. Die paar „Kirchenleute“ die gegen mich standen sahen in mir mehr oder weniger einen Gehilfen des Teufels, der die Sünde auch unter Christen hoffähig machen wolle. Die heftigste Reaktion auf die „nackten Christinnen“ erlebte wohl die jüngste Akteurin, Johanna Breuer. Die bekam ihren Stuhl vor die Tür gesetzt. Mit anderen Worten: Ihre Eltern, oder präziser ausgedrückt ihr Vater, hat sie rausgeschmissen. Das löste zweierlei Gefühle bei der jungen Frau aus. Sie kannte ihren Vater und wusste, dass dieser Rauswurf langfristig oder sogar niemals widerrufen werden würde. Weder ihre Mutter noch ihre eventuellen Gewissensbisse konnten daran was ändern. Somit stand jetzt für sie fest, dass sie es endgültig geschafft hatte. Nun konnte sie ihren eigenen Weg ins Leben, ins richtige, wie sie überzeugt glaubt, antreten. Das zweite, nicht so erfreuliche Gefühl war, dass sie zunächst nicht wusste wohin. Sie hatte für diesen Fall keine Vorsorge getroffen. Das Letzte, was ihr dazu noch einfiel, war bei uns um Rat und Hilfe zu ersuchen. Da unsere Kinder zu ihren Partnern ausgezogen waren aber Maries Jugendzimmer noch nicht demontiert war, konnten wir ihr darin erst einmal Asyl bieten. Das sollte sogar dann noch zu einem Glücksfall für sie werden. Wir werden es gleich erfahren. Auch die andere, ursprüngliche Hauptakteurin, nämlich Heike Gondel, sollte einen Tag nach Erscheinen des Artikels, der der Homepage mit den nackten Christinnen eine Menge Traffic verschaffte, bei uns vorstellig werden. Natürlich hatte sich die Lage für sie sich nicht von Heute auf Morgen geändert aber die Solidarität, die ihr dadurch bekundet worden war, hatten ihr „unheimlich“ gut getan und sie schaute jetzt wieder mit hoffnungsvolleren Augen in die Zukunft. Das wollte sie, mit der wir persönlich zuvor noch nie zutun hatten, uns nun bekunden. Sie war also gekommen um uns ihren Dank auszusprechen. Bei dieser Gelegenheit lernten sich dann die beiden jungen Frauen, Johanna Breuer und Heike Gondel, bei uns im Wohnzimmer kennen. Die Zwei hatten auch gleich einen Draht zueinander. Johanna bekam dadurch eine Wohnung, und zwar eine Einliegerwohnung in Heikes elterlichen Haus. Dafür bekam Heike dann zum 1. August 2003 einen Ausbildungsplatz als Reiseverkehrskauffrau in dem Reisebüro, in dem auch Johanna arbeitete. Der Reisebürobesitzer, übrigens ein Herr in meinem Alter, betrachtete Nacktbilder von seinen Angestellten im Internet gelassen. Sie waren für ihn kein Grund jemand zu entlassen oder nicht einzustellen. Damit haben wir jetzt erfahren, dass Heike ihren Beruf, den sie zuvor mit Begeisterung ausübte, geschmissen hat. Als ich sie jetzt vor Kurzem mal durch Zufall traf, sagte sie mir dass sie jetzt doch recht froh darüber sei, dass sie den Absprung von ihrem ursprünglichen Beruf gefunden habe, da sie in diesem immer wieder von wildfremden Menschen mit ihren teilweise recht überholten Moralvorstellungen in ihrem Leben eingeengt worden wäre. Darauf erwiderte ich ihr, dass ich persönlich keine Anlässe sähe, weshalb man die alte Geschichte immer wieder aufwärmen sollte. Mit der Zeit würde diese erfahrungsgemäß mehr und mehr in Vergessenheit geraten und dann würde kein Mensch daraus noch mal eine große Geschichte machen. Im Tenor sagte ich ihr, dass ich also nicht befürchtete, dass sie weitere Einengungen in ihrem Leben zu erwarten hätte. „Ja, wenn es nur diese Geschichte mit meinen Aktbildern wäre, würde ich ihnen zustimmen.“, erwiderte sie ein wenig lachend, „Aber mein Exhibitionismus ist nicht mein einzigster Makel. Was meinen sie, was es in Krähenberg für ein Theater gegeben hätte, wenn die Leute erfahren hätten, dass ich eine lesbische Exhibitionistin bin, die eine exhibitionistische Lesbe liebt.“. Und an dieser Stelle musste sie erst einmal richtig lachen und dann fragte sie: „Ahnen sie, wer die exhibitionistische Lesbe ist? ... Sie haben sie selbst im Evaskostüm abgelichtet.“. Ich war etwas verdutzt und ein erstauntes „Johanna“ rutschte mir heraus. „Ja, Hanna und ich lieben uns und wir werden wahrscheinlich dieses Jahr noch unsere Partnerschaft eintragen lassen.“, outete sie mir mit etwas verklärter Stimme. „Au weia,“, kommentierte ich darauf, „wenn das die Familie Breuer erfährt halten die bestimmt die Apokalypse für gekommen.“. Heike schaute mich spitzbübisch an und erzählte mir: „Ja, Hannas Familie und Verwandtschaft hat bereits von unserem Glück erfahren. Darauf wurde doch tatsächlich ihr Onkel bei uns vorstellig und erklärte ihr, dass es um ihr Leben ginge ... wahrscheinlich meinte er das jenseitige – und sie der Sünde abschwören müsste. Hanna bestätigte ihm, dass es um ihr Leben ginge aber um das richtige, nämlich das irdische. Sie könne nicht sehen, das gleichgeschlechtliche Liebe eine Sünde sei. Ihrem Onkel hat sie eingestanden, dass es im christlichen Sinne bei der Geschlechtlichkeit um die Fortpflanzung, der Mehrung des Lebens, ginge. Deshalb würde aber gleichgeschlechtliche Liebe nicht automatisch zur Sünde. Schließlich sei sie ja auch ein Geschöpf Gottes und der habe sie halt mit dieser Neigung erschaffen. Daher ginge sie davon aus, dass ihre Liebe zu mir auch im Sinne Gottes sei.“. Ich konnte Heike aus ehrlicher Überzeugung sagen, dass ich dieses in etwa genau so wie Johanna sähe und nicht nachvollziehen könne, warum diverse Leute einen solchen Trouble um die Homoehe machen. Nun denn, dann wollen wir es jetzt mal bei diesem Bericht von meiner kürzlichen Begegnung mit Heike Gondel belassen. Ich wollte damit auch nur berichten, dass die Geschichte von den nackten Christinnen einen, letztendlich doch glücklichen Ausgang für die beiden jungen Frauen hatte. Wozu alles gut war, weiß man halt immer erst hinterher. Was das Leben in der Siedlung Krähenberg angeht, kann man aber auch im Nachhinein
nicht sagen, ob es gut oder schlecht geworden ist. Es hat sich halt kaum etwas geändert. Ein paar Tage waren die Geschichten um Heike Gondel und den nackten Christinnen noch das Toppthema, in das nur von Angehörigen der Familie Breuer etwas Schärfe reingebracht wurde. Aber nach dem Mitwirken von Johanna auf der „anderen Seite“ waren die Breuers lange nicht mehr so laut wie vorher. Die sind überhaupt etwas ruhiger geworden. Offensichtlich haben sie gemerkt, dass es in der Siedlung nur sehr wenig Leute gibt, die ihren flatternden Fahnen bedingungslos folgen. Als bekannt wurde, das Heike Gondel aus dem Kindergartendienst ausschied, war der dortige Tumult auch von Heute auf Morgen beendet. Die Eltern brachten nach wie vor ihre Kinder in unsere Einrichtung und die Plätze, die durch den Wechsel von Kindern zur Grundschule frei wurden, konnten problemlos durch neuangemeldete Kinder wieder belegt werden. Es hat halt alles wieder seinen normalen Lauf genommen. Das gilt praktisch für das ganze Leben in der Siedlung, auch für die frommen Kreise rund um die Friedenskapelle. Na ja, in den einzelnen Kreisen sind halt ein paar Leute weniger – aber auch nur ein paar. Alle können nach wie vor bestehen. Stopp, da muss ich doch eine Einschränkung machen: Der Frauengesprächskreis, aus dem die nackten Christinnen hervorgingen existiert als Gemeindekreis nicht mehr. Aber etwas verweltlicht existiert dieser nach wie vor weiter. Immer noch treffen sich die Frauen jeden zweiten Donnerstag, jetzt allerdings in den Privatwohnungen; unter anderen bei uns. Nur die Damen aus dem Hause Breuer sind nun nicht mehr dabei. Wie mir Marion jetzt sagte, beabsichtigen die Frauen künftig auch Heike und Johanna einzuladen – schließlich gehörten die Beiden ja zu ihnen.
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Lass doch die Inkassogeier fliegen Kennen Sie den „uralten“ Schlager „Es war in Schöneberg im Monat Mai“? Dazu kann ich Ihnen meine eigene Story erzählen. Es war an einem Samstag in Schöneberg, zwar nicht in dem Bezirk von Berlin sondern in der nordrhein-westfälischen Kleinstadt gleichen Namens, aber auch im Monat Mai als sich mein damaliges Leben schlagartig änderte. Als ich mich kurz nach Acht von meiner Schlafcouch erhob konnte ich beim besten Willen nicht ahnen welche „Turbulenzen“ an diesem Tag auf mich warten sollten. Ganz im Gegenteil ging ich davon aus, dass dieser Samstag so eintönig sein würde wie alle anderen in der letzten Zeit, denn es lief bei mir in eintöniger Weise immer gleich ab. Erst setzte ich mir einen Kaffee auf und räumte, während dieser durchlief, erst einmal mein Bettzeug von auf der Couch in den Bettkasten. Nachdem ich die erste Tasse Kaffee getrunken hatte war immer eine große Runde Duschen angesagt. Anschließend war dann gleich die zweite Tasse angesagt, wonach ich mich ausgehfähig machte um mit meinem inzwischen schon klapprigen Golf zu ALDI zum Großeinkauf zu fahren. Danach war dann das Vergammeln des Tages in meiner kleinen Anderthalb-ZimmerWohnung angesagt. Für mich, einen verarmten und geschiedenen Mitfünfziger waren die Sams- und Sonntage die Tage, deren besten Seiten sich immer dann zeigten, wenn ich mich wieder zum Schlafe auf die Couch legen konnte. Die Werktage waren mir viel lieber, weil ich da doch so ein bisschen unter andere Menschen kam. Allerdings verband mich mit diesen Menschen nichts anderes als das wir dem gleichen Herrn, von dem wir das Geld für unsere Brötchen haben wollten, dienten oder es waren Kunden dieses Hauses. Irgendwelche anderen Kontakte von Mensch zu Mensch, wenn wir mal von meinem Sohn und seiner Zukünftigen absehen, hatte ich zur damaligen Zeit nicht. An diesem Samstag ging es los als ich gerade mit den Duschen fertig war und mich abtrocknete. Just in diesem unpassenden Moment schellte es bei mir Sturm. Ich ging zum Hörer der Gegensprechanlage und wollte wie üblich „Ja bitte“ fragen. Diesmal kam ich nur bis zum „Ja“, denn da tönte mein 23-jähriger Sohn Sascha, der ganz in meiner Nähe zusammen mit seiner gleichaltrigen Partnerin eine Wohnung hat, auch schon: „Ach Paps, du musst mir unbedingt helfen. Ich muss doch schon um Zehn in Köln auf einer Wochenendschulung unserer Firma sein und meine Karre will nicht anspringen. Kannst du mir ausnahmsweise heute mal deinen ‚Schlitten’ leihen?“. Na ja, damit würde wohl meiner heutiger Einkauf ausfallen, aber ich würde schon durchkommen. Ich konnte ja meinen Jungen nicht im Regen stehen lassen. Also band ich mein Badetuch um meine Lenden, packte den Autoschlüssel nebst Kraftfahrzeugschein in ein Abwischtuch – schließlich wollte ich diesen fliegend über dreieinhalbe Stockwerke nach unten werfen – und begab mich auf dem Flur ein halbes Stockwerk tiefer um aus dem dortigen Fenster meinem Sohn das Erwünschte zuzuwerfen. Und dann, als ich wieder auf den Weg nach oben war, gab es einen Bums, ... und meine Wohnungstür war zugeschlagen. Schnell eilte ich wieder ans Fenster um noch schnell meinen Sohn um Hilfe zu ersuchen. Im Kofferraum des Wagens befand sich ja ein Kreuzschlitzschraubendreher und eine Zange. Dieses ist das Werkzeug mit dem man, falls nicht abgeschlossen worden ist, Wohnungstüren öffnen kann. Aber ich war zu spät am Fenster; ich konnte gerade noch meinen Golf davon fahren sehen. Was nun? Im Grunde würde mir nichts anderes übrig bleiben als bei meiner attraktiven, etwa 10 Jahren jüngeren Nachbarin anzuschellen. Schwer belastete mich der Gedanke: „Hoffentlich hält die mich nicht für einen Sittenstrolch, der etwas von ihr will. Schließlich bin ich ja nur mit einem Badetuch und Latschen an den Füßen bekleidet – und das Badetuch ist zudem noch sehr knapp bemessen. Wenn ich das Tuch nicht mit einer Hand an der Seite zusammenhalte stehe ich gänzlich blank da.“. Ich nahm aber allen meinen Mut zusammen und schellte an. Ich positionierte mich so, dass sie mich durch den Türspion erkennen konnte. Sie öffnete gleich und sagte lachend: „Na, Herr Graf, da haben sie ja noch mal Glück im Unglück. Stellen sie sich vor sie hätten auch noch ihr Handtuch in der Wohnung gelassen bevor sie sich ausgesperrt haben.“. Sie hatte also gleich richtig verstanden aber ich musste ihr dann doch noch etwas erklären: „Erst mal Guten Morgen, Frau Koch. Mein Sohn brauchte dringend mein Auto und ich stand gerade unter Dusche. Da wollte ich ihm nur eben kurz den Autoschlüssel runter werfen und jetzt stehe ich da mit meinem kurzen Badetuch. Ich hatte schon Angst, sie könnten das Ganze falsch verstehen. Haben sie vielleicht einen Kreuzschlitzschraubenzieher und eine Flachzange. Damit kann ich mir wieder Zugang zur eigenen Wohnung verschaffen ... Einen Schlüsseldienst kann ich mir leider nicht leisten und der ist im Übrigen auch bei solchen Kleinigkeiten überflüssig.“. Frau Koch zeigte sich verständnisvoll und sagte mir freundlich: „Mit Werkzeug bin ich leider nicht ausgestattet. Ich habe diesbezüglich sowieso nur zwei linke Hände und mache damit meistens nur Unfug. Aber ich rufe meinen Schwiegersohn an. Der kommt bestimmt sofort und wird ihnen dann auch noch Türöffnerdienste leisten, das hat er vor drei Wochen auch für mich gemacht. ... Aber kommen sie erst einmal rein, sie wollen doch wohl nicht so im Flur Wurzeln schlagen.“. Als ich in ihre Wohnung, ebenfalls ein Anderthalb-Zimmer-Apartment, eingetreten war bot sie mir zunächst einen Platz in einem Sessel an und ging dann zum Telefon. Sie erreichte
ihre Tochter und trug ihr meine Bitte vor. Auch Frau Kochs Tochter war der Meinung, dass ihr Angetrauter mir bestimmt helfen würde. Aber der gute Mann war unterwegs und würde erst etwa in einer Stunde wieder zurück sein. Für Frau Koch stand außer Frage, dass ich bei ihr auf den Schwiegersohn warten sollte. Nun, so wohl fühlte ich mich dabei nicht. Saß ich doch mit nur einem Tuch über meine entscheidenden Körperteile in der kleinen Wohnung einer attraktiven Frau, die mich in der Vergangenheit schon öfters in meiner wilden Fantasie beschäftigt hatte. Den Versuch mich an sie ranzumachen habe ich allerdings noch nicht unternommen, denn erstens war sie ja ein Jahrzehnt jünger als ich und in meiner Situation, ein Pleitier mit etwas über einer Million Euro Schulden, stelle ich wohl für keine Frau eine gute Partie da. Frau Koch fragte mich ob ich schon gefrühstückt hätte und als ich dieses verneinte machte sie sich gleich daran ein solches für uns zuzubereiten. Ich sah ihr dabei zu und konnte mich ihrer anmutigen Bewegungen erfreuen. Bisher hatte ich mit ihr nur auf dem Flur oder auf der Straße zutun. Länger als nur mal eben im Vorbeigehen war ich noch nie mit ihr zusammen. Wie sie so durch ihre Wohnung „schwebte“ löste sie doch einiges an erotischen Gefühlen bei mir aus. Dass ich bei ihr, insbesondere auch durch meine „Bekleidungsordnung“, ebenfalls solche Gefühle ausgelöst hatte und sie mir deshalb noch nichts zur besseren Abdeckung meiner Blöße angeboten hatte, konnte ich zu diesem Zeitpunkt noch nicht ahnen. Das wurde erst während des Frühstücksgespräch etwas deutlicher. Sie meinte: „Seitdem sich mein Mann vor fünf Jahren erhängt hat habe ich noch nie mit einem nackten ... sorry fast nackten Mann am Frühstückstisch gesessen. Ich glaube ich muss mir den heutigen Tag rot im Kalender anstreichen.“. Darauf lachte sie dann, teils ein wenig verlegen und teils echt vergnügt. Ich hatte überhaupt den Eindruck, dass sie gerne lachte. „Sie sind doch eine junge, attraktive Frau.“, führte ich das Gespräch fort, „Wollten oder wollen sie denn keinen Mann mehr?“. „Och, ich hätte schon gerne einen Mann.“, bekannte sie mir mit schüchtern klingender Stimme, „Es wäre doch ganz schön, wenn ich jemand hätte mit dem ich mich unterhalten könnte, mit dem ich meine Sorgen und Freuden teilen könnte. ... Und ganz ehrlich gesagt: Ein bisschen Sex täte mir auch ganz gut; bei mir ist ja noch nichts zugewachsen. Aber würden sie eine Frau nehmen, die bis ins Seniorenalter von Gerichtsvollziehern und Inkassogeiern verfolgt wird? Mein Mann und ich, wir hatten eine Werbeagentur. Als uns die Banken den Hahn zudrehten hatten wir Schulden von weit über eine Million Mark – inzwischen dürfte sich der Betrag auch in Euro auf diese Höhe aufgezinst haben. Ich glaube, dass kein Mann, wenn er nicht nur ein Abenteuer sucht, sich mit mir abgeben würde. Oder sind sie die Ausnahme? – Aber um jetzt keinen falschen Eindruck zu hinterlassen, muss ich noch ergänzen, dass ich mir für Abenteuer zuschade bin und stehe auch nicht dafür zur Verfügung.“. Letzteres hat sie wohl gesagt, damit ich nicht aufgrund ihrer Worte auf krumme Gedanken kommen sollte. Irgendwie glaubte ich in diesem Moment jedoch, dass nun wie ein Wunder meine große Stunde gekommen sei, denn ich konnte ihr antworten: „Mit Sicherheit bin ich die Ausnahme von der sie eben sprachen. Aber nicht weil ich als Charakterwundern geboren bin sondern ich war mal Bauunternehmer und der Bauträger, für den ich gearbeitet habe, verspekulierte eines Tages das Geld der Fertighäuselbauer ohne einen Pfennig für meine Dienste abgezweigt zu haben. Jetzt habe ich eben so viel Schulden wie sie. Meine Frau hat sich nicht damit abgefunden und ist mit einem Metallwarenfabrikanten durchgebrannt. Mir geht es also genau wie ihnen. Hinter mir sind die gleichen unangenehmen Leute her wie hinter ihnen. Auch ich hätte gerne wieder eine Frau, aber welche Perspektive könnte ich der bieten? Also, wenn sie mir vorschlagen würden, dass wir unser gleichartiges Schicksal zusammen schmeißen, dann würde ich nicht nein sagen. Aber ich schätze, dass ich mit meinen 55 Jahren zu alt für sie bin ... Meines Wissens sind sie 10 Jahre jünger als ich.“. Sie schaute mich mit ernster Mine an: „Ganz ohne Spaß, Herr Graf. Sie sind mir nicht zu alt, als Mann haben sie mir schon immer gefallen und ich habe den Eindruck, dass sie ein ganz anständiger Kerl sind. Ich würde gerne eine Partnerschaft mit ihnen eingehen.“. „Ich auch mit ihnen“, hing ich jetzt kleinlaut an. Darauf stand sie von ihrem, mir gegenüberliegenden Sitz auf und kam herüber zu mir. Sie setzte sich auf die Lehne und legte ihre Arme um meinen Hals: „Ich heiße Monika und will es mit dir versuchen.“. „Ich heiße Peter“, antworte ich und umarmte sie ebenfalls um sie zu küssen. Dabei vergaß ich jede Vorsicht hinsichtlich meiner Schambedeckung und folglich geriet ein gewisses Detail bei mir ins Freie. Als wir uns nach dem Kuss lösten schaute sie auf das soeben bloßgelegte Teil und sagte: „Sei mir nicht böse aber darauf habe ich die ganze Zeit gewartet und deshalb habe ich dir noch keine bessere Bedeckung angeboten. Ich bin halt auch ein wenig spitz. Wenn du mich aber jetzt im Gegenzug auch bloß sehen willst, dann schlage ich dir allerdings vor, bis nach Günters (ihr Schwiegersohn) Besuch zu warten. Ich weiß nicht, wie es dir geht aber nach einer so langen Durststrecke würde ich schon ganz gerne mal wieder richtigen Körperkontakt haben. ... Sei mir bitte wegen meiner draufgängerischen Offenheit bitte nicht böse; ich bin halt nur ein Mensch.“. Jetzt bekam ich erst mal etwas, was ich mir vorher sehnlichst gewünscht habe: einen Bademantel. Nun, in der typisch weiblichen Version dieses Kleidungsstück kam ich mir doch ein wenig komisch vor aber es war auf jeden Fall besser als das Badetuch, bei dem ich jede Sekunde darauf achten musste, dass ich nicht als
Sittenstrolch da stand. So war ich jetzt ein kleines Stück von meinen Problemen befreit aber dafür hatte jetzt Monika einige Probleme. Ihr forsches Vorpreschen hatte bei ihr einen Katzenjammer ausgelöst und sie befürchtete jetzt, dass ich nach einer Nachdenkphase schlecht über sie denken und daraufhin von ihr ablassen könnte. Wem in einer solchen Art das Herz voll ist, dem geht in der Regel der Mund über und so redete sie eine ganze Menge. Ich brauchte nur zuzuhören und ihr ab zu vergewissern, dass ich sie verstehen könnte und ihr nicht böse sei. Unter anderem sagte sie: „Ach Peter, halte mich, weil ich so direkt zur Sache kam, nicht für ein ‚leichtes Mädchen’. Das ist nur passiert, weil sich in mir so viel aufgestaut hat. Ich stand, als sich mein Mann aufgehangen hatte, auf einmal alleine mit den Schulden da. Ich musste immer davon ausgehen, dass sich kein Mann einen solchen Klotz, wie mich, ans Bein binden würde. Mein Leben schien zuende und wenn Steffi (ihre Tochter) nicht gewesen wäre, wäre ich mit Sicherheit meinem Mann gefolgt. Immer wieder kam mir der Gedanke, dass es das nicht gewesen sein kann. Sehnlichst habe ich mir gewünscht, dass es doch noch mal einen netten Mann, der mir auch als solcher gefällt, gibt, der mich verstehen könnte und für den ich kein Klotz am Bein bin. Und jetzt warst du plötzlich da ... und da ist es einfach über mich gekommen. Da ist es einfach passiert und nun habe ich Angst, dass du, wenn du es dir überlegt hast eine schlechte Meinung von mir hast und dann wieder alles vorbei ist.“. Dann bekannte sie mir auch: „Ich habe dich schon eine ganze Weile beobachtet und mir gedacht du könntest der Mann für mich sein. Irgendwo habe ich geahnt, dass es dir genauso geht wie mir. Aber so eine Lebensweise kann ja auch andere Gründe haben. Vor etwa einen Monat habe ich dann gehört, dass du mal Bauunternehmer warst. Da war ich mir fast sicher, dass du in der gleichen oder ähnlichen Situation steckst wie ich. Ab dem Zeitpunkt habe ich häufig darüber nachgedacht, wie ich auf unauffällige und anständige Art und Weise an dich herankomme. Aber jede Idee habe ich immer genau so schnell wieder verworfen wie sie gekommen war. ... Und dann standst du heute auf einmal nur mit Badetuch bekleidet vor meiner Tür. Da nahmen die Dinge einfach ihren Lauf ... Und hoffentlich habe ich jetzt im Überschwang meiner Gefühle keinen Fehler gemacht.“. Im Gegenzug gestand ich ihr, dass sie auch schon längere Zeit, praktisch schon seit meinem Einzug in dieses Haus, meine einschlägige Aufmerksamkeit gefunden hätte. Abgesehen vom Alter hätte ich immer daran gedacht, dass es in meiner wirtschaftlichen Situation unverantwortlich sei, um sie zu werben. Schließlich habe nach meiner Ansicht die Frau in einer Partnerschaft das Recht auf eine Absicherung. An dieser Stelle unterbrach mich Monika und sagte: „Nicht nur Frauen sondern auch Männer haben ein Anrecht auf wirtschaftliche und soziale Sicherheit. Wäre ich nicht dieser Ansicht gewesen, hätte ich ja keinen Grund für meine Zurückhaltung gehabt und hätte mir über ein Eheinstitut oder einer Heiratsanzeige einen Mann suchen können. Wir beide haben jedoch das gleiche Schicksal und wenn wir das gemeinsam meistern wollen, dann ist es erstens für uns beide leichter ... das Leben bekommt wieder einen Sinn – und zum anderen sichern wir uns praktisch gegenseitig, wenn auch nicht wirtschaftlich dann ideell. Eine Pleite ist ja, wenn man sie alleine durchstehen muss, etwas schreckliches. Man verliert ja auch sein Umfeld und zieht sich aus der Gesellschaft zurück. Einmal, weil man bei vielen Dingen nicht mithalten kann, und zum anderen, weil man das Renommieren der anderen nicht ertragen kann. Gemeinsam steht man so etwas viel besser durch, dann wagt man sich auch wieder nach außen zu öffnen.“. Das Fazit unseres Gesprächs, dass sich bald zwei Stunden hinzog, war, dass wir aneinander gefallen fanden und es miteinander versuchen wollten. „Versuchen“ ist sogar der falsche Ausdruck, denn wir waren uns beide sicher, dass wir füreinander bestimmt seien. Aus der Zeitangabe, die ich soeben gemacht habe, kann man ersehen, dass Steffis Einschätzung, dass ihr Günter in einer Stunde wieder da sein würde, offensichtlich zu optimistisch war. Also ging Monika nochmals ans Telefon um ihre Tochter an mein Anliegen zu erinnern. Das war auch gut, denn Steffi hatte, wie es nicht nur bei jungen Leuten öfters vorkommt, total vergessen ihren Günter von meinen Malheur und Anliegen zu unterrichten und jetzt war er schon wieder von dannen. Bei dieser Gelegenheit fiel Monika dann ein, dass sie in ihrem Polo eine Werkzeugtasche hatte, in der etwas was wir brauchen könnten drin sein könnte. Sie sputete nach Unten und holte die Tasche herauf und tatsächlich, darin befanden sich die beiden Werkzeuge, mit denen ich selbst in die eigene Wohnung einbrechen konnte. Monika kommentierte entsetzt: „Sorry, das ist meine Schuld. Ich hätte ja gleich auf die Idee kommen können.“. Darauf konnte ich ihr nur erwidern: „Mach dir keine Gedanken. Wärst du gleich auf die Idee gekommen hätten wir mit Sicherheit unser Glück verpasst. Eigentlich muss ich dir dankbar sein, dass du nicht an das Werkzeug in deinem Auto gedacht hast. Dieses gilt sogar, wenn du vorsätzlich das Vergessen vorgetäuscht hättest.“. „Das habe ich aber nicht“, entschuldigte sie sich gleich darauf aber gab mir ansonsten Recht. Nun konnte ich mein Badetuch in meiner Wohnung deponieren und dort auch meine Schlüssel einstecken. Ansonsten sollte ich gleich wieder in Monikas Wohnung zurückkommen, und zwar in ihrem Bademantel. Mehr benötigte ich wohl vorerst nicht, denn sie hatte mir ja etwas versprochen – und da war ich ja auch selbst ganz geil drauf. Ich hatte eben ihre Wohnungstür geschlossen als Monika mir ihren Bademantel abstreifte. Als ich dann im Adamskostüm dastand hatte es Monika sehr eilig sich ihrer Textilien zu entledigen. Da stand sie nun vollkommen nackt vor mir und ich bewunderte wie schön sie war: Sehr schlank aber mit allen weiblichen
Rundungen und vollem Busen. Aber zu mehr als zu diesem ersten Eindruck kam es nicht, denn just in diesem Moment schellte es bei ihr. Durch die Gegensprechanlage erfuhr sie, dass ihre Tochter Steffi unten vor der Tür stand. Sie hatte mit ihrem Günter via Handy gesprochen und der hatte ihr verraten, wo sie das benötigte Werkzeug finden konnte. Mit diesem war sie dann gleich hergeeilt. Was nun tun, sprach Zeus. Guter Rat schien uns teuer. Monika hatte blitzartig entschieden, dass wir Steffi vorspielen sollten, dass sie nicht umsonst gekommen sei. Monika hatte den Türdrücker betätigt, damit ihre Tochter eintreten und raufkommen konnte. Wenn sie da ist, sollte ich noch einmal in meine Wohnung einbrechen. Warum nicht, so bekommt man Übung. Schnell, während Steffi bereits im Treppenhaus war, bedeckten wir unsere Blößen. Ich schlüpfte in Monikas Bademantel und die Besitzerin dieses zog nur schnell ihre Jeans und ihren T-Shirt über. Na ja, das konnte nicht gut gehen. Steffi war eben mit einem herzlichen „Hallo Mutti“ in die Wohnung eingetreten, als sie sich mit einem verwundertem Auge umsah. Ich stand da im Bademantel ihrer Mutter und nirgendwo war ein Indiz zusehen, das ich zuvor was anderes angehabt haben konnte. Der T-Shirt ihrer Mutter war zwar nicht durchsichtig aber man konnte deutlich sehen, dass sich zwischen diesem und Monikas Busen kein weiteres Detail befand. Dafür lagen ihr Unterhemd, BH und Slipper noch da, wo sie wenige Augenblicke zuvor hingeworfen worden waren. „Hier stimmt doch was nicht.“, stellte Steffi fest, „Das sieht so aus, als wenn ihr beiden etwas miteinander hättet. Ich spiele mal Sherlock Holmes und stelle fest, dass sie Herr Graf kampfbereit zu einem Schäferstündchen mit meiner Mutter geeilt sind. Da sie an blanker Haut keine Taschen haben ist ihr Schlüssel allein in ihrer Wohnung zurück geblieben. Aber Mutti, du hättest dich aber inzwischen richtig anziehen können – oder konntet ihr kein Ende finden?“. Jetzt wurde mir auch bewusst, dass der Anschein eine deutliche Sprache sprach. Ansonsten hätte Steffi bestimmt nicht so keck und gelassen große Dinge ausgesprochen; sie hätte sich ja gefährlich den Mund verbrennen können. Auch Monika war klar, dass wir uns verraten hatten. Sie maßregelte zwar ihre Tochter ob ihrer großen Klappe aber versuchte nichts klar oder richtig zu stellen. Ganz im Gegenteil, sie ließ daran, dass wir ein Paar sind keinen Zweifel aber sie sorgte dafür, dass Steffi nicht in Erfahrung bringen konnte, dass alles erst an diesem Morgen geschehen war. Sie erzählte ihrer Tochter, dass es zwischen uns vor drei Wochen „geknallt“ habe. Die 21-Jährige war daraufhin sogar über das neue Glück ihrer Mutter erfreut. Sie kam auf mich zu, gab mir die Hand und sagte freundlich lächelnd: „Dann kann ich sie ja praktisch als meinen Schwiegervater betrachten. Soll ich jetzt auch „Vati“ zu ihnen sagen ... ihr Vorname wäre mir allerdings lieber. Immerhin bin ja schon 21 und verheiratet. Ich bin übrigens Stefanie; aber sagen sie auch wie Mutti und alle anderen Steffi zu mir.“. Da konnte ich natürlich nur wie folgt antworten: „Na, dann sage mal Peter und natürlich ‚du’ zu mir. Vati käme mir auch ein wenig komisch vor.“. Es klang fast wie Jubel als aus der jungen Frau „Prima, dann sind wir wieder eine richtige Familie und du Mutti, wirst jetzt hoffentlich auch wieder aufleben“ heraussprudelte. Offensichtlich hatte unsere Beziehung ihre volle Zustimmung gefunden. Ich habe mal gehört, dass so etwas bei, auch bereits erwachsenen, Töchtern nicht selbst verständlich sei. Später erzählte mir Steffi mal, dass ich sehr viel mit ihrem Vater, so wie sie ihn in Erinnerung hatte, an mir haben sollte. Deshalb hätte sie schon zu einem früheren Zeitpunkt gedacht, dass ich möglicher Weise der richtige Mann für ihre Mutter sein könnte. Darauf habe ich mir dann überlegt, ob es meine Ähnlichkeit zu dem verstorbenen Mann und Vater war, der mich die Herzen der Frauen gewinnen ließ. Aber wer weiß das schon? Während Steffi mich als ihren neuen Stiefvater begrüßte hatte Monika sich um ihre auf den Boden geworfenen Dessous bemüht. Da konnte sie mir einen zweiten Einbruch ersparen. Das war just an der Stelle wo sie mir zuvor ihren Bademantel abgestreift hatte. Dabei war mein Schlüssel augenscheinlich aus der Tasche dieses Kleidungsstück und zu Boden gefallen. „Ach schau mal was hier liegt,“, tönte Monika, „es sieht aus wie dein Schlüssel.“. Steffi schien wirklich ein keckes Mundwerk zu haben, denn sie kommentierte jetzt ganz frech: „Man, was müsst ihr für einen Druck gehabt haben.“. Wenn die wüsste, dass wir noch nichts gegen diesen haben unternehmen können. Und meine neue Stieftochter sorgte dafür, dass momentan nichts aus unseren Begierden werden konnte. Sie erzählte, dass ihre 2-jährige Tochter Petra mit Günter zu seinen Eltern gefahren sei. Dort wollte er dann zum Mittagessen bleiben und anschließend ohne Petra zurückkommen, da Oma und Opa die Kleine gerne übers Wochenende mal da haben wollten. Günter und Steffi wollten am Abend zu einer Fete. Sie selbst war nicht mit zu Günters Eltern gefahren, weil sie auf eine Nachnahmesendung, die an diesem Morgen ankommen sollte, gewartet habe. Als Günter eben weg war, ist diese Sendung auch angekommen. Da sie im Gegensatz zu Mann und Tochter nicht versorgt war, lud sich Steffi dann eben selbst zum Mittagessen bei ihrer Mutter ein. Damit waren dann unsere lustvollen Pläne erst einmal bis auf weiteres durchkreuzt. Ich ging dann erst einmal hinüber in meine eigene Wohnung um mich jetzt tatsächlich in einen „gesitteten“ Outfit zu schmeißen, sprich um mich anzuziehen. Dabei hatte ich mit einem, für mich großen Problem zu kämpfen: Ich wusste jetzt nicht, wie ich mich weiter verhalten sollte. Das ich an dem Mittagessen – Erbsensuppen-Eintopf aus der Dose mit Würstchen – teilnehmen sollte, stand sowohl für mich also auch für die
Frauen ganz offensichtlich fest. Nicht umsonst hatte Monika ja gesagt, dass die drei Dosen, die sie noch in Vorrat hatte, für uns Drei reichen würden. Des weiteren hatte sie deutlich betont, dass sie aber nur noch eine Dose mit fünf Würstchen hätte. Da sie selbst nur eines essen wollte hätten wir dann jeder zwei. So etwas ist doch eindeutig. Aber alles andere wusste ich nicht. Sollte ich nach dem Anziehen gleich wieder rüberkommen? Mit dem Essen hatte es ja noch ein wenig Zeit und das Dosenessen ist ja in zehn Minuten in der Mikrowelle ausreichend fertig aufgewärmt. Oder sollte ich in meiner Wohnung warten, bis sie mich herüber bittet? Eingespielte Verhaltensweisen gab es zwischen uns beiden ja noch nicht und absprechen konnten wir uns nicht; damit hätten wir uns verraten. Diese Gedanken gingen auch Monika durch den Kopf. Mit dem Vorwand mir noch schnell was sagen zu müssen, bevor sie es vergessen habe, kam sie, als ich noch gar nicht richtig angezogen war, zu mir herüber und „verklickerte“ mir in Stichworten was ich beachten müsse, um bei ihrer Tochter kein Indiz dafür zu hinterlassen, dass wir ja noch nicht so miteinander vertraut seien. Monika glaubte, dass es in unser aller Interesse läge, wenn Steffi weiterhin annimmt, dass wir schon ein paar Tage länger es miteinander haben. Das war ganz in meinem Sinne. Ich hatte fast den Eindruck, dass sich Monika und ich, obwohl wir uns praktisch gerade erst ein paar Stunden richtig kannten, uns blind verstanden. Bei dieser Gelegenheit bat mich Monika noch etwa eine halbe Stunde abzuwarten, um dann wie selbstverständlich zu ihr herüber zu kommen. Für Steffi sollte es so aussehen als hätte sich ein solches Vorgehen bei uns inzwischen schon eingespielt. Als ich dann letztendlich wie verabredet hinüber ging, sorgte Steffi für einen weiteren „Fortschritt“ in meiner Beziehungen zu Monika. Ihr war unser Wohnungswechsel mit Anschellen aufgefallen und fragte: „Findet ihr das mit den beiden nebeneinander liegenden Wohnungen nicht ein bisschen komisch? Gerade in eurer Lage wäre doch eine gemeinsame Wohnung angebracht. Statt für zwei Wohnungen á 45 Quadratmeter zahlt ihr nur für eine in der Größe von 60 bis 70 Quadratmeter. Nur einmal Telefon, nur einmal Rundfunkgebühr, nur einmal Heizung und Strom. Neben der rationelleren Nutzung der Energie spart ihr auf jeden Fall einmal die Anschlussgebühr. Wie ich sehe verpflegt ihr euch auf jeden Fall schon gemeinsam aber in allen anderen Dingen werft ihr das Geld zum Fenster raus. Und wo ihr beide ... Entschuldige Peter, Mutti hat mir eben erzählt dass es dir genau wie ihr geht – Also, was ich sagen wollte: Wo ihr beide mit dem, was unter der Pfändungsfreigrenze überbleibt, leben müsst nehmt ihr euch mit euerer doppelten Haushaltsführung viel von dem, was ihr besser zum Leben verwenden würdet.“. Damit hatte sie ja auffällig recht. Weder Monika noch ich konnten ihr dahingehend widersprechen. Wenn wir nicht erst seit der Morgenstunde des gleichen Tages zusammen wären, hätten wir sicher von uns aus auch eine solche Überlegung angestellt. Jetzt wurde es aber für uns heiß. Die Eltern einer ehemaligen Schulfreundin von Steffi hatten eine preiswerte aber, laut Steffi, sehr schöne 65-Quadratmeter-Wohnung für sofort zu vermieten. Aus unseren derzeitigen Mietverträgen kämen wir ja gut heraus, da unser Vermieter schon vor ein paar Monaten die Absicht geäußert hatte, die beiden kleinen Dachwohnungen zu einer großen für seinen Neffen umzubauen. Darauf hatte er uns, allerdings jedem gesondert, angeboten, dass er, wenn wir was anderes hätten, auf keine Kündigungsfrist bestehen würde. Davon hatte Monika ihrer Tochter erzählt. Jetzt fragte Steffi ob sie nicht gleich mal bei den Eltern ihrer Schulfreundin anrufen sollte. Monika brachte noch den Einwand, dass es vielleicht nicht gut sei am Wochenende die Leute zu stören aber wagte es nicht konkret „Nein“ zu sagen – und ich wagte überhaupt nichts zu sagen. So kam es, dass wir um Zwei am Nachmittag einen Besichtigungstermin in unserer neuen Wohnung hatten obwohl wir beim Aufstehen noch keine Ahnung davon hatten, dass aus uns ein Paar werden sollte. Da kann man wirklich von einer superschnellen Vereinigung reden. Das so etwas in einem solchen Blitztempo abläuft habe ich noch nie zuvor gehört. So gegen Eins wurde gegessen und um halb Zwei machte sich auch Steffi wieder davon. Da mussten wir uns dann auch fertig machen, um mit Monikas Polo zum Wohnungsbesichtungstermin zu fahren. Als Monika den Wagen starten wollte bekam sie plötzlich einen Lachanfall. Sie lachte so herzlich, dass ich mitlachen musste, obwohl ich gar nicht wusste warum. Als sie sich von ihrer Lache erholt hatte, sagte sie zu mir: „Ich habe mal Schriftsetzerin gelernt. Als mein Mann sein Werbestudio eröffnete habe ich mich bei ihm als Werbegrafikerin beworben. Ich habe meine Bewerbung nicht schriftlich eingereicht sondern ich bin gleich hingegangen. Ich sah ihn bei der Gelegenheit zum allerersten Mal im Leben. Die Stelle bekam ich nicht aber nur vier Wochen später war ich seine Frau. Da hat mich Karl-Heinz zur ‚Weltrekordlerin im Partnerfangen’ erklärt. Ich glaube heute habe ich den Rekord gebrochen. In nur sechs Stunden zur Lebenspartnerin. Ich glaube, der Rekord wird nicht mehr zu brechen sein. ... Aber was soll’s, lange Anlauf- und Probezeiten sind kein Garant für eine glückliche Partnerschaft. Meine Cousine war vier Jahre mit einem Mann verlobt. Beide wohnten während dieser Zeit bei ihren jeweiligen Eltern. Als sie dann heiraten und eine gemeinsame Wohnung bezogen hatten konnten sie sich nicht mehr verstehen. Nach nur vier Wochen haben sie schon die Scheidung eingereicht. Ich dagegen bin nach meinen Weltrekord bis zum Schluss glücklich gewesen. Und jetzt habe ich das Gefühl, ... was heißt Gefühl, ich habe die Gewissheit, dass jetzt für uns wieder eine glückliche Zeit beginnt. Und das alles obwohl wir uns noch
gar nicht richtig kennen – nur als Nachbarn.“ Ihr Lachanfall ist übrigens, wie sie anschließend noch sagte, durch den Gedanken an den „uneinstellbaren Weltrekord im Partnerfangen“ ausgelöst worden. Na ja, es sah nicht so aus als würde Monika jetzt noch einen Rückzug in Erwägung ziehen. Das merkte man auch bei der Wohnungsbesichtigung. Sie trat so auf als seien wir schon ein „altes Paar“ und ließ von vornherein keinen Zweifel daran, dass sie die Wohnung tatsächlich mit mir gemeinsam anmieten wollte. Es war – sorry: es ist auch eine wirklich schöne, gemütliche Wohnung in dem Haus, welches in der zweiten Hälfte der 50er-Jahre des vergangenen Jahrhunderts erbaut und erst vor kurzem grundlegend modernisiert wurde. Und die Miete von 250 Euro plus Nebenkosten ist doch wohl ein Anreiz zum Zuschlagen. Bezahlten wir doch in unseren bisherigen kleinen Wohnungen jeder schon 225 Euro – fünf Euro pro Quadratmeter. Unsere Mietaufwendungen würden sich praktisch halbieren. Da würde für uns beiden Pleitiers eine Menge fürs Leben über bleiben. Wenn Monat für Monat reichlich zu Gunsten von Inkassogeiern, die die Schuldtitel von den Banken aufgekauft haben, abgepfändet wird, stellt ein Betrag von knapp über 200 Euro schon eine „Menge Moos“ dar. Aber da bin ich schon bei einen Punkt, der uns nach der Unterzeichnung des Mietvertrages dann doch ernsthaft beschäftigen sollte. Alles Geld, was man uns unterhalb der Pfändungsfreigrenze gelassen hatte, haben wir auch für unsere bescheidene Lebensführung gebraucht. Rücklagen konnten wir nicht bilden und Kredit gibt uns keine Bank. Wie sollen wir jetzt Umzug und Einrichtung der Wohnung bewältigen? Ein Sozialhilfeempfänger kann in einen solchen Fall das Sozialamt zum Sponsor erwählen aber ein Schuldner, den man den Lohn abpfändet, blitzt bei der Behörde diesbezüglich ab. Das Einkommen, was man uns trotz Pfändung belässt, liegt halt über dem Satz, bei dem man Anspruchs berechtigt wäre. Somit sind im Falle eines Umzuges die Sozialhilfeempfänger tatsächlich besser gestellt wie wir. Darüber wollten wir dann nach unserer Rückkehr in Monikas Wohnung beraten. Sie war der Meinung, dass es zu allen Problemen eine Lösung gibt. Aber vor der Problemerörterung gedachte sie erst doch noch etwas anderes zu erledigen und teilte mir dieses mit zitternder Stimme mit: „Jetzt bist du inzwischen schon Steffis anerkannter Stiefvater und wir haben auch schon eine gemeinsame Wohnung angemietet aber bis jetzt haben wir noch nicht miteinander geschlafen. Seit fünf Jahren bin ich nicht mehr in den Genuss eines solchen Vergnügens gekommen. Im Moment bin ich schon richtig heiß gelaufen. Komm, gönnen wir uns jetzt erst einmal ein sogenanntes Schäferstündchen.“. Mit diesen Vorschlag kam sie in der Tat auch meinen Wünschen entgegen und ich zögerte keinen Augenblick und griff zu ihrem T-Shirt um ihn über ihren Kopf auszuziehen. Sie nutzte die nahe Distanz um meine Hose zu öffnen und diese zusammen mit der Unterhose in einem Rutsch herunterziehen. Und so ging es weiter bis wir beide splitternackt waren. Das ging alles sehr schnell. Ich schätze, dass unsere gegenseitige Entkleidung in weniger als einer Minute erledigt war. Genau gemessen wurde die Zeit bei dieser begierlichen Tätigkeit allerdings nicht. Unsere Bekleidungsstücke ließen wir so auf dem Boden liegen, wie sie dort hingefallen waren. Dann begann eine wunderschöne Zeit. Wir schmusten und tauschten Zärtlichkeiten am ganzen Körper aus. Nun, lassen sie mich Kavalier bleiben und mich zu den Details schweigen. Dieses Glücksbeisammensein dauerte wohl etwas über eine Stunde und dann fragte Monika: „Hast du jetzt noch Lust über unseren Umzug und unsere Wohnung zu sprechen? Ich eigentlich nicht mehr. Die Sache läuft uns ja nicht weg und wir können sie morgen gestärkt in Angriff nehmen.“. Ich hatte gerade ihrer Ansicht zugestimmt als ihr Telefon schellte. So wie sie momentan war ging sie zu dem Apparat und ich bekam folgendes zuhören: „Guten Tag Herr Graf“ und nach einer kurzen Pause ging es weiter: „Nein, nein, sie brauchen sich keine Sorgen zu machen. Der ist hier und ich reiche sie jetzt mal an ihren Vater weiter.“. Kein Zweifel, am anderen Ende war mein Sohn Sascha. Er war schon unten an der Tür gewesen und hatte vergeblich bei mir angeklingelt. Daraufhin war er abgezogen und hatte es telefonisch versucht. Aber auch da gab ich kein Lebenszeichen von mir. Da er von mir nicht gewohnt war, dass ich an einem Samstagnachmittag ausging, befürchtete er, mir könne etwas passiert sein. Jetzt rief er bei meiner Nachbarin, mit der er zuvor eigentlich auch noch nichts zutun gehabt an, um sich zu erkundigen, ob sie mich weggehen bemerkt habe. Falls nein, wollte er bei mir einbrechen und damit er das machen konnte, wollte er Monika fragen, ob sie ihm die Tür öffnen würde. Nicht nur zu seiner Erleichterung sondern auch zu seiner Verwunderung konnte ich jetzt höchst persönlich ans Telefon gehen und ihm sagen: „Hallo Sascha, danke dafür, dass du dir Sorgen um mich machst. Es ist aber nicht nur alles in Ordnung sondern es ist sogar alles bestens. Komm doch bitte her und schelle bei Frau Koch an. Wir müssen dir was sagen.“. „Du hast dir doch wohl nicht deine ...“, erwiderte er, „Ach Quatsch, ich komme gleich und werde ja sehen was Amba ist.“. Dann legte er auf und für Monika und mich hieß jetzt erneut die Devise „Anziehen“. Dem abgebrochenem Satz meines Sohnes kann man wohl entnehmen, dass er in die richtige Richtung kombiniert hatte und aus dem Tempo, mit dem er das Gespräch beendet hat, lässt sich folgern, dass er schnellstmöglich seine diesbezügliche Spannung auflösen wollte. Es dauerte auch nur ein paar Minuten, bis Sascha vor unserer Haustür stand und auf die Schelle, auf der „Koch“ stand, drückte. Ruckzuck war er auch oben im vierten Stock und seine Begrüßung fiel ähnlich keck wie die von
Steffi am Morgen aus: „Ich habe das Gefühl, dass ich jetzt als erstes zu einer Verlobung gratulieren müsste. Habe ich da richtig analysiert?“. Monika lachte und nickte bejahend mit dem Kopf. Darauf tönte mein Sohnemann weiter: „Donnerwetter Paps, du hast dir aber eine tolle Frau ausgesucht. Die könnte selbst mir jungen Hüpfer noch gefallen. Aber ich habe mir schon immer gedacht, dass sie Frau Koch die richtige Frau für meinen alten Herrn wären.“. Daraus konnte man schließen, dass unsere Partnerschaft auch bei meinem Sohn auf Zustimmung traf. Aber jetzt übernahm Monika erst einmal die Regie: „Herr Graf, meiner Tochter haben wir heute morgen unser Glück offenbart. Steffi hat ihrem ‚Stiefvater’ gleich das Du vorgeschlagen. Wollen wir es auch so halten? Ich heiße Monika.“ und mein Sohn tönte darauf gleich: „Aber klar doch, ich bin Sascha. Übrigens, deine Tochter heißt genau wie meine Beste Steffi. – Aber wie ist das mit dem Bruderschaftskuss?.“ Da mischte ich aber ein: „Seit wann sind zwischen Stiefmüttern und –söhnen Bruderschaftsküsse üblich. Das küssen meiner Partnerin überlasse doch bitte mir. .. Aber sage mal, wie so bist du schon wieder da? Ich dachte du hättest eine Wochenendschulung.“. „Hatte ich auch,“, bekräftigte der Befragte, „aber die hat nur schlappe vier Stunden gedauert.“. Ja, da praktisch alle offenen Fragen bereits während der Begrüßung abgehandelt worden waren, konnten wir uns in der Hauptsache auch kurz und knapp halten. Auch gegenüber Sascha blieben wir bei unserer kleinen „Lüge“, dass wir uns schon einige Wochen kennen würden. Ganz ehrlich gesagt, war das Eingestehen der Wahrheit, also das wir innerhalb von ein paar Stunden aufs Ganze gegangen sind, sowohl Monika wie auch mir gegenüber Dritten, einschließlich unserer Kinder, peinlich. Unter diesen Voraussetzungen hätten wir Sascha auch verklickern können, dass wir uns bereits eine gemeinsame Wohnung gesucht und auch gefunden hatten. Aber das erledigte sich schon durch einen Telefonanruf, den Monika jetzt entgegen entnehmen musste. Ihre Steffi erkundigte sich ob wir die Wohnung genommen hätte. Obwohl ich mich, während Monika telefonierte, anderweitig mit meinem Sohn unterhielt, schnappte er doch einige Worthülsen Monikas auf, woraus er dann auch auf diese Sache schließen konnte. Er fragte mich leise, ob er da was Richtiges, in Richtung von einer neuen Wohnung für das frische Paar, aufgeschnappt habe und bekam dieses von mir bestätigt. In diesem Augenblick schlug das Glück für mich noch einmal ganz kräftig zu. Ich kann nur feststellen, dass dieser Samstag mein Mega-Super-Glückstag war. Ich glaube, dass ich, wenn ich an diesem Wochenende Lotto gespielt hätte, bestimmt bei der Ziehung am Abend dieses Tages sechs Richtige gehabt hätte. Aber jetzt doch weiter mit dem konkreten Fall. Sascha nahm als Monika vom Telefon zu uns zurückgekehrt war das Wort: „Och, das ist ja ein Zufall. Ihr braucht doch sicherlich Möbel und wie ich dich, Paps, kenne, hast du dafür kein Geld. Vielleicht kommst du dann noch auch auf die fixe Idee, dir die Möbel in den Altmöbellager von Caritas, AWo und anderen zusammen zu sammeln.. Aber ich glaube, dass ich was besseres für euch habe. Steffens (seine Schwiegereltern in spe) haben sich ein neues Schlafzimmer und eine neue Küche gekauft, obwohl die alten Sachen eigentlich noch gut sind; sehr gut sogar. Donnerstag werden die neuen Möbel geliefert werden. Ich habe mir jetzt schon unseren Firmenkombi geordert, denn ich soll die Klamotten zur Sperrmüllannahme kutschen. Aber statt zum Sperrmüll kann ich die ja auch in euere Wohnung kutschen. Darf ich gleich mal bei Steffens anrufen und fragen ob die da was dagegen haben. Ich kann mir nicht vorstellen, dass sie Einwände vortragen aber du hast mich ja so erzogen, dass man fragen muss. ... Ach noch was, wenn ich schon die Firmenkarre habe, kann ich ja auch gleich euere sieben Sachen von hier in euere neue Wohnung fahren.“. Sagen Sie mal, kann man an einem Tag mehr Glück, als ich an diesem Tag hatte, haben? Es konnte tatsächlich alles so ablaufen wie Sascha es vorgeschlagen hatte. Wir nahmen dann noch meine Couchgarnitur, Monikas Wohnzimmerschrank und ihr Sideboard mit in die neue Wohnung und waren komplett eingerichtet. Na ja, ihr Fernseher und mein Radio kamen auch noch mit in unser neues Reich und dann musste Sascha doch noch zur Sperrgutannahme - und zwar um unsere Reste dort abzuliefern. Die Telekom war ja auch ausnahmsweise mal prompt und hat in der neuen Wohnung das Telefon mit meiner bisherigen Nummer bereits am nächsten Freitag freigeschaltet. Unser alter Vermieter hatte sich übrigens an seine Zusage gehalten und unsere Kündigung zum Monatsende Mai akzeptiert. Der neue Vermieter wollte erst ab dem darauffolgenden Ersten Miete haben und so war alles mehr als glatt gelaufen. Ich hatte also innerhalb einer Woche eine neue Partnerin gefunden, mit ihr eine Wohnung gemietet und eingerichtet. Ich weiß beim besten Willen nicht, womit ich soviel Glück verdient habe, aber es gab meinem Leben einen neuen Schwung. Und Monika ging es genauso wie mir. Jetzt begann für uns die Phase, wo wir uns erst richtig kennen lernten. Nach und nach tauschten wir unsere Lebensläufe, Interessen, Neigungen aber auch Informationen über unsere Macken aus. Was mir auch heute noch erstaunlich vorkommt, ist die große Übereinstimmung bei unseren Interessen und Neigungen. So etwas ist immer ein guter Garant für eine gute Partnerschaft. Dazu kam ja auch noch, wie ich ja bereits berichtet habe, dass es auch bei unseren Schicksal der letzten fünf Jahre eine Übereinstimmung gab. Bereits in der ersten Woche konnten wir uns gegenseitig bekunden, dass wir das Gefühl hatten, dass wir uns wirklich liebten. Monika, die damals deutlich frömmer als ich war, meinte, dass Gott in seiner Vorbestimmung uns beide erwählt habe, damit wir gemeinsam das richtige Leben genießen könnten. Er habe unser Leiden, das Pleitiersschicksal, aus Liebe zu uns vorbestimmt, damit wir auch das wirkliche Glück und die wahre Liebe erkennen können. Glück und Liebe
soll unsere Seele erfüllen, damit diese ewig leben kann. Ich schrieb eben, dass Monika ‚damals’ frömmer als ich gewesen sei. Das kann man heute gar nicht mehr so sagen, denn sie hat mich tatsächlich mitgerissen. Eben schrieb ich, dass es in unserem Schicksal der letzten fünf Jahre eine Übereinstimmung gab. Eigentlich könnte man sagen, dass unsere Lebensläufe große Ähnlichkeiten aufwiesen und unser Denken in den jeweiligen Lebensabschnitten in die gleiche Richtung liefen. Sowohl Monikas wie meine Mutter gehörten der berühmten „Garde der Nurhausfrauen“ an, obwohl wir beide jeweils nur Einzelkinder waren. Beide sollten wir, wenn wir mal ins Berufsleben einsteigen, in die Fußstampfen unserer Väter treten, was wir ursprünglich gar nicht wollten. Monika sollte Beamtin und ich Baumeister werden. Jetzt gehen unsere Lebensläufe mal auseinander: Monika setzte sich durch und wurde Schriftsetzerin während ich dagegen doch letztlich nachgab um später das Bauunternehmen meines Vaters zu übernehmen. Was uns aus dieser Zeit von unserem Denken in jener Zeit in Erinnerung geblieben ist, ist ausschließlich die Tatsache, dass wir es besser machen wollten wie unsere Eltern und das wir höher hinauf steigen wollten. Ich denke jedoch, dass so etwas normal ist. Gibt es überhaupt Jugendliche, die nicht die gleichen Vorsätze haben wie wir sie hatten. Das gilt auch für unsere Kinder Steffi und Sascha, woraus sich dann, trotz ansonsten harmonischen Mutter-Tochter- beziehungsweise Vater-SohnVerhältnisse, die Reibungspunkte und Konflikte ergaben. Seit dem die Kinder aus dem Haus sind, kann weder Monika noch ich diesbezüglich etwas klagend vortragen. Auch bei unserer ursprünglichen Partnerwahl unterscheiden wir uns prinzipiell. Wie ich ja schon einmal schrieb, wählte sich Monika in einer Blitzaktion einen Unternehmensgründer aus dem Werbebereich. Sie wurde nicht nur seine Frau sondern auch schon sehr bald seine Geschäftspartnerin und Mitgesellschafterin. Dagegen habe ich lange um meine Frau geworben. Sie war, beziehungsweise sie ist immer noch, eine sehr schöne Frau, die viel wert auf ihr Äußeres legt. So hatte sie damals nicht nur mich, sondern eine Reihe anderer Verehrer. Offensichtlich spielte bei ihrem Zuschlag für mich, das gutgehende Bauunternehmen, das zu übernehmen ich im Begriff war, den größten Ausschlag. Alle anderen Bewerber waren etwas oder deutlicher „schlechter“ gestellt. Ja, Luxus und Konsum spielten und spielen die erste Geige in Anitas Leben. Als Partnerin und Mitgesellschafterin schien sie mir zu allen Zeiten ungeeignet. Sie spielte halt nur die Chefin und gab auf offiziellen Formularen den Beruf „Hausfrau“ an. Monikas und mein Unternehmerleben war dann wieder hundertprozentig miteinander vergleichbar. Beide träumten wir, wie wir heutzutage ohne Ausreden gestehen, davon die Größten, Besten und Schönsten auf unseren Gebiet zu sein. Beide waren wir, wie man es langläufig sagt, sehr ehrgeizig. Unsere Firmen kamen vor allem Anderen. Die Menschen um uns herum spielten mehr oder weniger nur die zweite oder dritte Geige und die Menschen allgemein nur kleine Nebenrollen. Wir sahen nur uns und unsere Unternehmen. Dabei mutierten wir mehr und mehr zu lebenden Rechenmaschinen. Werte waren für uns nur solche, die man in Mark und Pfennig beziffern konnte. Mit Euro und Cent hatten wir zu unserer aktiven Zeit ja noch nichts zutun. Geistige Interessen, also aus den Bereichen Kultur und Religion, hatten wir nur, wenn sich diese für Repräsentationszwecke, sprich für Eigenwerbung, verwerten ließen. Das macht natürlich menschlich kalt und so galten wir bei unseren Angestellten als sehr befähigt aber leider nicht sehr sozial. Heutzutage bin ich diesbezüglich der Meinung auch einen wirtschaftlichen Fehler gemacht zu haben. Wäre ich sozialer eingestellt gewesen, hätten sich meine Mitarbeiter mit großer Wahrscheinlichkeit auch mehr mental engagiert, was sich mit Sicherheit auch positiv auf mein Konto ausgewirkt hätte. Weniger Murks und zügigere Auftragsabwicklung sind eine Folge einer höheren Arbeitsbereitschaft der Mitarbeiter und somit Gold wert. Was unsere Kinder anbelangt hat Monika ein ebenso schlechtes Gewissen wie ich. Für diese hatten wir immer nur wenig Zeit. Ihre Sorgen und Probleme haben wir menschlich nie ernst genommen und meist mit kurzen rationalen Ratschlägen abgetan. Ausgesprochen haben wir uns mit ihnen nie. Das, was wir an Liebe nicht geben wollten, haben wir durch finanzielle Zuwendungen auszugleichen versucht. Was wir da angerichtet haben, bekamen wir bei unseren Absturz zu spüren. Jetzt verstanden unsere Kinder unsere Sorgen und Nöte nicht und sie erklärten uns zu totalen Looser. Das jetzt keine finanziellen Zuwendungen mehr fließen konnten und wollten Steffi und Sascha nicht verstehen. Pausenlos gab es herbe Auseinandersetzungen, sowohl zwischen Mutter und Tochter wie zwischen Vater und Sohn. In jener Zeit sagten mir verschiedene Leute, dass ich einen missratenen Sohn hätte. Aber zum Glück kamen wir in unserem dritten Pleitiersjahr doch näher an unsere Kinder heran und die Verhältnisse normalisierten sich. Ich glaube sogar, dass man heute sogar von einer Art Harmonie sprechen kann. In beiden Fällen spielt da aber eine Rolle, dass die Kinder bei ihrer Partnerwahl eine glückliche Hand hatten. Monikas Schwiegersohn und meine Schwiegertochter in spe sind aus unserer Sicht wirklich tolle Menschen, die unsere Kinder ihren Eltern mit zunehmenden räumlichen Abstand menschlich näher gebracht haben. Zu unseren Partnern hatten Monika und ich jedoch jeweils ein unterschiedliches Verhältnis. Monika war Eheund Geschäftspartnerin ihres Mannes; ihre Denkweisen waren miteinander identisch. Meine schöne Frau war ein Luxusweibchen, die anstelle des Lebens den Konsum genoss. Sie brachte gegenüber unserem Sascha sogar noch
weniger Zuwendung wie ich auf. Unsere Gespräche drehten sich meistens um das gleiche Thema: Ich warf ihr vor zu ausschweifend zu leben und mein Geld zu vergeuden. Wenn wir mal davon absehen, dass wir es regelmäßig im Bett miteinander hatten und das Anita mich zu allen offiziellen Anlässen begleitete, wobei sie immer eine glückliche Ehefrau spielte, haben wir eigentlich ziemlich aneinander vorbei gelebt. Meine Probleme waren nicht ihre und ihre nicht meine. Nachdem es in meinem Unternehmen gekracht hatte, orientierte sich Anita auch gleich in eine neue Richtung und angelte sich einen geschiedenen Metallwarenfabrikanten. Mir sagte sie frech und forsch: „Meinst du, ich würde an so einem Versager wie dich kleben bleiben. Ich bin doch noch jung und möchte noch was vom Leben haben. In einem Sozialbunker sitzen und Händchen halten ist nicht mein Ding.“. Sowohl sie wie auch ihr neuer Gatte wollten nichts mit ihren Kindern zutun haben, dafür waren dann die verlassenen Partner für zuständig. Na ja, Sascha stand gerade vor der Volljährigkeit und da ist so etwas ohnehin kein Anlass mehr für eine gerichtliche Auseinandersetzung. Er teilte zwar mit seiner Mutter die Ansicht, dass ich ein Versager sei aber in der Beurteilung von Anitas „fieser Art“ lag er ganz auf meiner Wellenlänge. Das Ende der Ehe gestaltete sich für Monika, wie ich bereits berichtet habe, deutlich anders als bei mir. Ihr Mann konnte sich nicht vorstellen, dass man nach einer Pleite noch weiterleben kann. Er sah, dass die „guten Freunde“, sowohl im Privat- wie im Geschäftsbereich, nichts mehr mit ihm zutun haben wollten. Er schämte sich von der Gesellschaft als Versager und Verlierer angesehen zu werden. Wie mir Monika erzählte hat er in seinem Abschiedsbrief davon geschrieben, dass er die Schmach, für seine Familie nicht richtig sorgen zu können, nicht weiter ertragen wollen. Einen breiten Raum in seinem letzten Brief nahm seine Entschuldigung ein. Er entschuldigte sich dafür, dass er, in dem er Monika zur Partnerin im Geschäft gemacht habe, sie mit reingerissen hätte. Nachdem er diesen Brief geschrieben hatte, ist er dann auf den Dachboden gegangen, wo er sich dann letztlich stranguliert hatte. Es war bisher nur zwei Mal, dass Monika mit mir über diesen Abschiedsbrief gesprochen hat und bei beiden Malen brach sie in Tränen aus und sagte: „Ach, der blöde Kerl. Ich hätte ihm doch nie Vorwürfe gemacht und wir hätten es doch gemeinsam schaffen können ordentlich weiterzuleben. Wenn ich es genau so wie er gemacht hätte, was wäre dann aus Steffi geworden ... sie war doch damals erst 16 und brauchte uns.“. Ja, da war jetzt viel von Versager, Verlierer, Schmach und Scham die Rede. Das sind die Dinge, die man in einem solchen Fall empfindet obwohl es sich um etwas handelt, was objektiv gesehen dem Besten passieren kann. Das, was damals bei Monika und bei mir passierte, waren wieder mal absolut vergleichbare Fälle. Monika und ihr Mann hatten einen vermeintlichen Superauftrag an Land gezogen. Ein junges, aufstrebendes Unternehmen aus der High-Tech-Branche – eine große Bank stellte ihnen beste Referenzen aus – plante eine große, bundesweite Werbung mit ganzseitigen Farbanzeigen, Rundfunk- und Fernsehspotts. Konzeption, Anzeigen und die Koordination der ganzen Aktion hatten Karl-Heinz und Monika Koch übernommen. Eu jeu, da war eine ganze Menge vorzufinanzieren. Aber alles kein Problem, denn die Bank hatte ihnen ihren Kunden auf indirekte Weise ja selbst empfohlen. Die Banker witterten ein großes Geschäft. Aber dann löste sich das Ganze von Heute auf Morgen in Wohlgefallen auf. Die jungen Unternehmensgründer hatten mit gefälschten Bilanzen und vorgetäuschten Geschäftsbeziehungen Kredite in traumhafter Höhe erschwindelt. Das Ganze war aufgeflogen und alle Träume zerplatzten wie eine Seifenblase. Die Kochs saßen jetzt auf den Schulden, die sie im Zuge der Vorfinanzierung gemacht hatten, in der Patsche. Was nützt es, dass die Täter verhaftet und verurteilt wurden, wenn sie auch anschließend als nackte Männer, den man nicht in die Tasche greifen kann, dastehen. Mein Fall sah fast genau so wie der von Monika aus. Ein offensichtlich potenter Bauträger kreuzte mit den besten Empfehlung seiner Bank, die auch gleichzeitig die meinige war, bei mir auf und wollte mir den Auftrag über sechs Einfamilienhäuser geben. Unsere Bank hat mich ihm empfohlen. Dann kann doch nichts schief gehen und ich nahm den Auftrag an. Die ersten Abschlagszahlungen kamen auch prompt wie vereinbart auf meinem Konto an. Aber dann kam überhaupt nichts mehr. Die Kosten für meine Vorleistungen, wie Baumaterialen, Lohnkosten und so weiter, summierten sich und die Bank hatte keine Bedenken mir diese zu kreditieren. Aus der Zeitung konnte ich dann erfahren, dass mein Auftraggeber verhaftet worden sei. Er hatte das Geld von seinen Kunden, also den Eigenheimkäufern, genommen und diese Beträge erst einmal für windige Spekulationsgeschäfte eingesetzt. Diese waren geplatzt und die, für diesen Zweck veruntreuten Gelder, waren futsch. Na, wie es so ist: Die Bank drehte mir den Hahn zu und das Bauunternehmen, was schon mein Großvater gegründet hatte, war pleite. Nun, die Leute, die uns geschädigt haben sind oder waren im Knast und wir haben auch rechtsgültige Titel gegen sie. Aber wie sollen wir die eintreiben. Unsere Schuldner haben genauso viel wie wir und jede Maßnahme, die wir gegen die anstrengen würden, würden uns mehr kosten als sie einbringen. Schließlich muss man ja für jede Maßnahme, die man gegen seine Schuldner einleitet, erst mal im Voraus zücken. Sollen wir da noch gutes Geld, was wir für unseren Lebensunterhalt dringend benötigen, hinter dem schlechten herwerfen? Da sind unsere Gläubiger, die Banken und ihre Inkassounternehmen, besser dran. Sie können aus dem vollen schöpfen und uns regelmäßig und häufig mit unverschämten Briefen und sogar Telefonanrufen oder Hausbesuchen belästigen. Es geht immer nach der Devise: „Sie wissen doch, dass sie ungeheuerliche Schulden haben. Wir haben viel Geduld
mit ihnen gehabt und wollten ihnen helfen. Jetzt kommen sie doch zur Vernunft und zahlen endlich. Glauben sie nicht, dass sie mit ihrer Haltung durchkommen. Wenn sie jetzt nicht endlich mitspielen, werden wir gegen sie teuere Unangenehmlichkeiten wie Rechtsanwälte, Gerichtsvollzieher und Eidesstattliche Versicherung einsetzen. Dadurch werden ihre Schulden, die sie eines Tages doch bezahlen müssen, nur noch höher.“. Nun, mit den angedrohten bösen Dingen hatten wir zu genüge zu tun. In den nächsten Tagen muss ich jetzt schon meine dritte Eidesstattliche Versicherung abliefern. Neuerdings nicht mehr beim Gericht sondern im Büro des Gerichtsvollziehers. Aber was nützt es, ich habe nichts und kann nichts bezahlen und von meinem Lohn wird ja ohnehin abgepfändet. Monika geht es nicht anders wie mir. Selbst wenn wir versuchen würden, von unseren Schulden herunter zu kommen, wäre es der Versuch etwas Unmögliches zu bewerkstelligen. Man überlege nur, dass, wenn man auf 1 Million Euro 5 Prozent Zinsen zahlen muss, im ersten Jahr runde 50.000 Euro auf den Tisch legen muss ohne das nur 1 Euro getilgt wird. Jeder Euro der an den Fünfzigtausend fehlt erhöht die Schuld obwohl man was zahlt. Wenn man die Schuld in 20 Jahren, jawohl in zwei Jahrzehnten, tilgen will, dann muss man jedes Jahr zusätzlich noch 50.000 Euro für Tilgung aufbringen. Rechnen wir das Geld, was man zum Leben und für Steuern aufbringen muss, zum Einkommensbedarf hinzu, sind wir bald bei 200.000 Euro, die man in einem Jahr verdienen müsste. Haben Sie einen Job für mich, den sie so honorieren möchten? Jeder Versuch mit weniger Geld an seine Schulden heranzugehen bereichert nur die Inkassogeier während der Schuldenberg weiter wächst. Dann halte ich es lieber mit Monika, die immer wieder sagt: „Lass doch die Inkassogeier fliegen.“. Diese Einstellung hat sie natürlich nicht von Anfang an gehabt; die ist erst allmählich gewachsen. Das ging mir aber ebenso. Am Anfang war es ganz schlimm. Da trafen Mahnbescheide ein. Laufend schellte der Gerichtsvollzieher an. Dann waren da die Verfahren mit den Zwangsversteigerungen unserer Wohnhäuser, Betriebsgelände und –einrichtungen und so weiter. Unsere Arbeitnehmer machten uns zum Vorwurf ihre Arbeitsplätze durch Unfähigkeit vernichtet zu haben und für die Allgemeinheit waren wir die unfähigen Verlierer. Träume von einer sicheren Zukunft oder nur von einem netten Jahresurlaub konnten wir für immer abschreiben. Ja, Leute, so etwas ist schwer und nimmt die Menschen mit. Außer unseren Kindern, die uns ja auch nicht verstanden, hatten wir niemand dem wir unsere Sorgen mitteilen konnten und die uns, vielleicht nur durch verständnisvolles Zuhören trösteten. Erlösung fanden Monika und ich eigentlich erst, als wir an jenem Samstag in Mai 2003 „zusammenknallten“. Jetzt sagen wir gemeinsam „Lass doch die Inkassogeier fliegen“ und widmen uns unserem gemeinsamen Leben. Und stellen Sie sich vor, wir glauben sogar, dass wir glücklich sind. Glücklicher sogar als je zuvor. Unser Glück war jedoch nicht folgenlos. Seit dem Freitod ihres Mannes hatte Monika es mit keinem anderen Mann gehabt. Ich war nach langer Zeit der Erste und das kam eigentlich für sie genauso überraschend wie für mich. Warum sollte sie in der Zeit, wo sie noch nicht einmal mit mir als Partner gerechnet hat, die Pille nehmen? Sie war zwar immerhin schon 45 Lenze auf dieser Welt aber sie ist immer noch ein Stück von den Wechseljahren, der Menopause, entfernt. Also ist sie immer noch im gebärfähigen Alter und ich bin nach wie vor zeugungsfähig. Beim Mann ist es ja bekanntlich nicht mit den Wechseljahren vorbei. Trotzdem haben wir bei unseren „Übungen“ keine Verhüterli irgendwelcher Art benutzt. Na, dann passierte das, was passieren muss: Monika teilte mir Anfang Juli mit, dass sie schwanger sei. Ganz augenscheinlich hatte es schon in der ersten Woche, möglicher Weise sogar am ersten Tag, geklappt. Wären wir zwanzig Jahre jünger gewesen, hätten wir uns trotz allem mächtig gefreut. Aber jetzt? Geht das bei einer Frau in ihrem Alter gut? Was ist, wenn das Kind zur Schule kommt? Ich bin dann über Sechzig und auch Monika hat dann ihren Fünfzigsten schon hinter sich gebracht. Kaum auszudenken, dass unser Kind dann erwachsen wird, wenn ich das 74. Lebensjahr vollendet habe und Monika kurz vor dem Erreichen des offiziellen Rentenalters steht. Und dann kommen noch unsere wirtschaftlichen Verhältnisse hinzu. Da haben wir lange und ernsthaft diskutiert. Hinsichtlich einer Abtreibung spielte auch unsere religiöse Überzeugung, nach der so etwas nicht gutzuheißen ist, eine Rolle. Aber letztlich entschieden wir uns doch dafür, dass Monika abtreiben ließ. Begeistert über diese Entscheidung sind wir allerdings nicht – das gilt auch heute noch. Mit dieser Geschichte kam für Monika und mich auch das Thema „Heiraten“ auf den Tisch. Es ist ja heute, auch aus gesellschaftlicher und moralischer Sicht, nicht mehr unbedingt nötig, dass ein Paar, dass sich zueinander gezogen fühlt, auch den Bund der Ehe schließt. Das böse Wort von der „Onkelehe“, was man bis Anfang der 80er-Jahre des vergangenen Jahrhunderts gerne diffamierend für solche Verhältnisse anwendete, ist den meisten jüngeren Leuten sogar gänzlich unbekannt. Also, von daher wurde und wird natürlich kein Druck auf uns ausgeübt. Auch von unseren Kindern nicht. Unser Sascha lebt mit seiner Steffi ja selbst in einem solchen Verhältnis. Da sind unsere ureigenen Wünsche schon eine wesentlich stärkere Triebfeder. Irgendwie sehnen wir uns beide nach einem äußeren Zeichen der Zusammengehörigkeit. Für uns ist es schon was wert, wenn wir wahrheitsgemäß und stolz von „meinem Mann“ beziehungsweise „meiner Frau“ sprechen könnten. Monika spricht immer davon, dass mal einer oder eine von uns beiden auf einer Intensivstation oder in einem Sterbezimmer liegen könnte und der oder die Andere dann nicht zu ihm darf, weil wir ja nicht verheiratet sind. Wir empfinden beide übereinstimmend die Ehe als ein emotionales Band, welches uns nach Innen zusammen-
bindet und nach Außen stärkt. Also kurz: Monika möchte gerne meine Frau werden und ich möchte sie ganz gerne als meine Ehefrau haben. Aber in unserer Situation sollte man jedoch auch das wirtschaftliche Für und Wider einer Ehe beleuchten. Dabei geht es uns dann aber selbstverständlich nicht um Mein und Dein und das, was es mal zu erben beziehungsweise zu vererben gibt. Mit so etwas haben wir beim besten Willen nichts mehr zu tun. Die vorteilhaftere Besteuerung nach der Splittingtabelle ist aber auch für Pleitiers ein Thema. Dadurch erhöht sich ja das Nettoeinkommen und damit auch der Betrag, den sich die Inkassogeier von dem sauer verdienten Geld einstreichen können. Irgendwie tut das Geld, was vom Lohn in diese Richtung abgezweigt wird immer besonders weh. In diesem Zusammenhang überlegten wir, wie es wäre, wenn nur einer von uns arbeitet. Die Lohnsteuerklasse Drei und die Tatsache, dass in der Tabelle zur Berechnung der Pfändungsfreigrenze eine unterhaltsberechtigte Person berücksichtigt werden müsste, ließ uns dann darauf kommen, dass wir dann nur etwas weniger haben als wenn wir beide arbeiten und zusammenschmeißen würden. Dadurch, dass wir dann nur ein Auto benötigten – In ländlichen Regionen ist man ja mit dem ÖPNV aufgeschmissen, wenn man außer Haus arbeiten muss – kamen wir darauf, dass wir, auch unter Berücksichtigung von Aufwendungen, die man benötigt wenn man täglich außer Haus geht, tatsächlich letztendlich mehr für uns beide haben würden. Wenn nur einer oder eine arbeitet schauen übrigens die Gläubiger des oder der Anderen natürlich in die Röhre. Für die Schulden des Ehepartners brauch niemand aufzukommen. Der Blick in die Zukunft, auf unseren Lebensabend, lässt das Ganze aber wieder trübe erscheinen. Da wir beide selbstständig waren, hatten wir nur während unserer Ausbildungszeit und in den ersten Berufsjahren Gelegenheit einen Anspruch in der gesetzlichen Rentenversicherung aufzubauen. Dabei dürfte es sich deshalb nur um Ansprüche, die sich maximal in Trinkgeldhöhe bewegen, handeln. Den maßgeblichen Anteil unserer späteren Rente müssen wir jetzt nach unserer Pleite bis zum Erreichen des Rentenalters aufbauen. Nun, viel kommt da aber auch so oder so bei unseren unteren Einkommen nicht heraus. Aus privaten Kapitalversicherungen, auf die wir während unserer Selbstständigkeit unsere Altersvorsorge aufgebaut hatten, konnten wir nicht setzen, denn die hatten die Geier bei unseren Pleiten gefressen. Das heißt, dass diese damals zwangsweise aufgelöst wurden und die Rückkaufwerte mit unseren Schulden verrechnet wurden. Bei den Überlegungen in Richtung Rente war mir immer unwohl, wenn Monika dann feststellte, dass es günstiger sei, wenn sie alleine weiter arbeite, da sie 10 Jahre mehr Zeit als ich habe eine Almosenrente aufzubauen. Es ist ja tatsächlich kein schönes Gefühl zuhause zu sitzen während die Frau arbeitet; so nach den Devise: „Gott erhalte mir die Gesundheit und die Arbeitskraft meiner Frau.“. Aber was sollen diese Ausblicke in die Zukunft. Wie schnell Zukunftspläne Makulatur sein können, hatten wir ja recht massiv erleben können. Wir waren doch nicht so bescheuert, dass wir uns geplant und gezielt in eine solche Situation gebracht hätten. Nun, und wie sieht es mit der Zukunft der Renten aus? Führen uns die Politiker mit ihrem Geschwätz und mit den als Reform deklarierten Einnahmen- und Ausgabenkorrekturen zu Lasten der Schwachen nicht vor, was man von Zukunftsplanungen halten kann. Warum soll das, was uns jetzt die Spitzenpolitikusse vorgaukeln zutreffender sein als das, was ihre Vorgänger vor zwanzig oder mehr Jahren uns unterjubelten? Gerade heutige Politiker bestärken einen darin, wenn man sagt: „Ach lass mal, wir werden ja sehen was dabei heraus kommt. Deren Nachfolger werden es auch nicht vertreten können, uns verhungern zu lassen. Oder doch? Jetzt leben wir erst mal.“. Halten wir es doch mit der Bibel. In der Bergpredigt steht: „Darum sollt ihr euch nicht sorgen um den andern Morgen; denn der morgende Tag wird für das Seine sorgen. Jedem Tage genügt seine eigene Plage! (Matthäus 6,34).“ Aber was sollten die ganzen Überlegungen? Wir beide liebten und lieben uns und zum Zeichen unserer Verbundenheit möchten wir gerne miteinander verheiratet sein. Bei Monika geht dieses Gefühl sogar so weit, dass sie es nicht mehr erwarten kann, dass auch sie meinen Nachnamen tragen kann. Scherzhaft sage ich ihr öfter, dass sie wohl nicht mehr abwarten könne, eine Gräfin zu sein. Dann erwidert sie mir in der Regel, dass sie noch „perverser“ sei und dem Namen nach auch ihr Geschlecht wechseln wolle; sie wolle nicht Gräfin sondern Graf sein. Die ganzen wirtschaftlichen Überlegungen hatten wir zwar angestellt aber haben an keiner Stelle daraus irgendwelche konkreten Schlüsse gezogen. Auch nach unserer Hochzeit wird jeder seiner Arbeit nachgehen. Dadurch haben wir nicht weniger und nicht mehr als zuvor, als unverheiratetes Paar. Nur ein Auto hätten wir, wenn es möglich gewesen wäre, natürlich auch als Lebensabschnittspartner umsetzen können. Wir arbeiten zwar in der Regel in etwa der gleichen Zeit, nur an vollkommen entgegengesetzten Ecken. Wenn wir unsere Arbeitsplätze mit Bussen hätten erreichen wollen, dann hätten wir bei den „hervorragenden“ ÖPNVMöglichkeiten in unserer Gegend für den Weg zur Arbeit zirka zwei Stunden einrechnen müssen – und zurück natürlich das Gleiche. Dabei hätten wir natürlich zuviel Zeit fürs richtige Leben verloren und deshalb blieb alles beim Alten. Unter richtigem Leben verstehen wir das Beisammensein und mit- wie füreinander da zu sein. Gemeinsam spazieren zu gehen und dabei Natur sowie das Wetter – auch bei Regen kann es schön sein – zu genießen. Auch
nur einfach im Wohnzimmer, vielleicht bei einem Gesellschaftsspiel mit und ohne einem Glas Wein, zusammensitzen ist was herrliches. Das Gefühl, zu wissen, dass Monika in meiner Nähe ist löst bei mir Zufriedenheit und Glück aus. Wir legen uns immer ein paar Euro beiseite, um uns einen preiswerten Urlaub – 14 Tage irgendwo in Deutschland wo es preiswert ist – im Sommer zu ermöglichen. Wenn einer von uns beiden mal traurig ist, ist es für die oder den Anderen immer ein Erleben trösten zu dürfen und zu können. Natürlich ist es auch immer wieder schön gemeinsamen lachen zu können und sei es nur über eine missglückte Formulierung oder eine kleine Tollpatschigkeit. Ja Leute, das ist richtiges Leben und es kostet meistens nichts und wenn es was kostet, dann nur sehr wenig. Geben zu können macht glücklich und dann darf man auch nehmen. Die Inkassogeier lassen wir jetzt gemeinsam fliegen; sie stören uns nicht, denn wir leben. Da fällt mir auf, dass ich sehr viel von Inkassogeiern geredet habe und nicht geschrieben habe, was oder wen ich damit meine. Ganz einfach, das sind die Inkassounternehmen, die die Schuldtitel von Banken aber auch Versandhäusern und so weiter kaufen und dann den Schuldner 30 Jahre und länger verfolgen und dabei in der Regel im Umgang mit ihren Klienten das kleine Quäntchen Menschlichkeit vermissen lassen. Von einer anderen Sache habe ich jetzt auch viel geschrieben ohne etwas konkretes zu sagen: Unsere Hochzeit. Bevor ich jetzt zum Schluss komme möchte ich aber auch da noch eine Aufklärung liefern. Morgen, Dienstag, dem 2. März 2004, ist es soweit. Dann sind wir um 10:00 Uhr mit dem Standesbeamten verabredet. 02.03.04 ist ein schönes Datum, nicht wahr? Das fanden wir auch und deshalb haben wir diesen Tag auch gewählt. Deshalb sage ich auch jetzt ganz schnell „Tschüss“, denn ich möchte den Vorabend noch ein Wenig mit meiner Monika feiern. Morgen Abend haben wir sogar eine richtige Familienfete. Sascha, Günter, zwei Mal Steffi und die kleine Petra werden dann aus Anlass der Hochzeit ihrer Eltern, beziehungsweise für Petra von Opa und Oma, unsere Gäste sein. Trotz hoher Schulden schauen also wir in eine glückliche Zukunft, denn wir haben gelernt zu leben.
Zur nächsten Erzählung
Zum Inhaltsverzeichnis
Ist meine Tochter eine Mörderin? Kennen Sie auch den Ausspruch: „Ich kenne meine Tochter, die würde so etwas nie machen.“? Natürlich können Sie die Worte „meine Tochter“ auch gegen „mein Sohn“ austauschen, denn das Geschlecht spielt ja in diesem Zusammenhang nur eine untergeordnete Rolle. Aber haben Sie auch schon mal erlebt, dass Sie an diesen, Ihren eigenen Worten zweifelten obwohl Ihnen Ihre Tochter verzweifelt und unter Tränen ihre Unschuld beteuerte. Sagen Sie jetzt bloß nicht, dass Ihnen so etwas nie passieren könnte, weil Sie stets wie ein Fels zu Ihren Kindern stehen würden. Sehen wir mal davon ab, dass laut Wissenschaftler – also Kriminologen, Soziologen und Psychologen – ein jeder Mensch von Geburt an eine Veranlagung zum Verbrechen, auch solche wie Mord und Todschlag, mitbringt und die überwältigende Mehrheit der Menschheit nur das Glück hat, nicht in eine verbrechensauslösende Situation geraten zu sein. Aber Verbrecher kann jeder werden, sogar der härteste Recht- und Ordnungs-Mensch. Man hat festgestellt, das Letztere, also die Kämpfer für Recht und Ordnung, sogar noch eine höhere Anfälligkeit für selbstbegangene Verbrechen haben als andere Menschen. Also davon wollten wir ja, wie ich bereits den vorletzten Satz einleitete, absehen. Ich wollte vielmehr darauf zu sprechen kommen, dass ein jeder, wenn verschiedene Indizien vermeintlich eine eindeutige Sprache sprechen, den Glauben an die Unschuld seiner Tochter verlieren kann. So ging es zum Beispiel mir und trotzdem ... . Halt stopp, lassen Sie mich die ganze Story von Anfang an erzählen. Eu, was war ich damals anno 1973 stolz als unsere Andrea das Licht der Welt erblickte. Sie war das schönste Geburtstagsgeschenk was ich je in meinem Leben erhalten habe. Dieses kann ich so scherzhaft immer sagen, weil Andrea am 10. September, etwa 10 Minuten vor Mitternacht, geboren ist und ich an dem darauffolgenden Tag, also am 11. September 1973, meinen 27. Geburtstag feiern konnte. Aber aus meinen Worten ist auch offensichtlich heraus zu hören, dass Andrea mein Ein und Alles ist; ich habe unsere Tochter vergöttert. Gisela, meine Frau, hat mich öfters mal zur Rede gestellt, weil ich nach ihrer Ansicht unsere Andrea zu sehr verwöhnen würde. Meistens hört man ja umgekehrt, dass Mütter diejenigen sind, die ihre Töchter verhätscheln. Daher kommt ja auch der Ausdruck vom „beglucken“ – die Glucke lässt nicht vom Küken. Im Falle Andrea Lange war ich es, der Vater Hermann Lange aber, der seine Tochter „be...“. Ja, da ich männlich bin kann man wohl nicht vom „beglucken“ sprechen und unter „behahnen“ stellt man sich sicherlich ganz etwas anderes vor – oder? Selten oder fast nie laufen solche Empfindungen in nur eine Richtung. Die Regel bei Empfindungen ist die Wechselseitigkeit. Auch für Andrea war ihr Papi und später ihr Paps der ganze große Star und ihr strahlendes Idol. Gisela war stets sehr eifersüchtig auf das herzliche Vater-Tochter-Verhältnis aber andererseits war sie auch ganz glücklich darüber, dass es so war. Ist doch tatsächlich besser als wenn sich Vater und Tochter wie Hund und Katze verhielten. Da war es für mich dann auch vor zirka 11 Jahren, also in dem Jahr, wo Andrea Zwanzig wurde, ein doch schwererer Schlag, als unsere Tochter erstmals mit Konstantinidos Papadopulos, einem jungen Mann, der in Griechenland geboren worden war, auf der Matte stand und uns erklärte, dass es der Mann sei, mit dem sie ihr Leben teilen wollte. Obwohl ich Konstantinidos als netten, aufgeschlossenen und hilfsbereiten jungen Mann kennen lernte, hatte ich erst immer das Gefühl als wäre es jemand, der mir etwas weg nehmen wollte. Na, ist doch klar, dass ich meine Gefühle versteckte und mich nicht zu ihnen bekannte. So wurde Andrea dann 1995 auch Frau Papadopulos. Natürlich habe ich mich dann von meiner Tochter zurückgezogen, denn Eltern haben kein Recht in die Ehen ihrer Kinder hinein zu wirken. Nur ein einziges Mal habe ich während der Ehe meiner Tochter mit Konstantinidos Papadopulos ihr als Beichtvater und Tröster beigestanden. Andrea kam vom Frauenarzt, der ihr das Ergebnis einer speziellen Untersuchung mitgeteilt hatte, direkt zu mir in mein Büro und heulte schon, bevor sie die Tür hinter sich geschlossen hatte, los wie ein Schlosshund. Sie hatte erfahren, dass sie keine eigenen Kinder bekommen kann. Das war für sie auch deshalb ein harter Schlag, weil ihr Konstantinidos ein sehr kinderlieber Mann war und sich mindestens drei Kinder wünschte. Ja, was hätten Sie Ihrer Tochter in einem solchen Fall empfohlen? Ich jedenfalls riet ihr ehrlich zu ihrem Mann zu sein und mit ihm zu besprechen, wie es weiter gehen solle. Es lag mir auf der Zunge, dass ich ihr darüber hinaus noch sagen wollte, dass sie gegebenenfalls, wenn sie diesbezüglich mit Konstantinidos nicht klar käme, wieder nach Hause kommen könne. Das wäre aus meiner Sicht jedoch der absolut falsche Weg gewesen, denn ich hätte eine Konsequenz vorgegeben, für die es möglicher Weise keine Notwendigkeit geben würde. Was nun in der ersten Zeit zwischen Andrea und Konstantinidos abgelaufen ist weiß ich beim besten Willen nicht. Auf jeden Fall sind die Beiden zusammen geblieben. Ich habe bis vor Kurzem nie gehört, dass von Trennung oder Scheidung die Rede war. Andrea hat weder bei mir noch bei Gisela jemals nachgefragt ob sie gegebenenfalls „nach Hause“ zurückkommen könnte. Aber geändert hat sich in Andreas Ehe eine ganze Menge, was wir sogar als Außenstehende feststellen konnten. Mit der ehelichen Treue hielten es jetzt beide Seiten wohl nicht mehr so genau. Also, da will ich meine Tochter auf keinen Fall in Schutz nehmen. Für mich standen die Seitensprünge unserer Tochter auf dem gleichen Blatt wie die unseres Schwiegersohnes. Gisela und ich konnten
aus eigener Beobachtung nicht sagen, wer von den beiden jungen Leuten zuerst fremd gegangen ist. Das konnte unsere Andrea genauso wie unser Schwiegersohn gewesen sein. Aber eigentlich spielt es ja keine Rolle, wer mit dem Fehlverhalten begonnen hat; wichtig ist ja nur dass sie sich beide nicht so ganz nach den moralischen beziehungsweise religiösen Spielregeln verhielten. Ich denke jedoch, dass es richtig war, dass wir uns in dieser Angelegenheit neutral verhalten haben. Einmischende Eltern beziehungsweise Schwiegereltern richten in den Ehen beziehungsweise Partnerschaften ihrer Kinder nie etwas gutes an sondern in sehr vielen Fällen nur ordentliche Scherbenhaufen. Mit so etwas habe ich nämlich schon als 12-Jähriger schlechte Erfahrungen gemacht. Da wurde nämlich die Ehe meiner Eltern durch gutgemeinte Einmischungen beider Omas zerstört, obwohl meine Eltern unabhängig voneinander der Meinung waren, dass, wenn die Mütter nicht gewesen wären, die Familie wieder zueinander gefunden und Bestand gehabt hätte. Dann kam jener schreckliche Juli im Jahre 2003. Ich hatte mein Büro, ich bin ein selbstständiger Steuerberater, für diesen betreffenden Tag abgeschlossen und wechselt hinüber in unsere Wohnung, als mir meine Frau Gisela schon ganz aufgeregt entgegenkam. Am Morgen hatten wir ausgemacht, dass wir an dem darauf folgenden Wochenende mal einen „kulturellen Trip“ in eine Großstadt unternehmen sollten – ob Berlin, Hamburg, Düsseldorf oder Frankfurt stand noch nicht fest. Das wäre aber nur gegangen, wenn wir unsere beiden alten Katzen – Peggy, 18 Jahre, und ihr 1 Jahr jüngerer Sohn, der einfach nur Tiger heißt – bei Andrea hätten in Pflege geben dürfen. Das kam ab und an schon mal vor und sowohl Gisela wie auch Andrea hatten es sehr gerne, wenn sie aufgrund dieser Sache mal wieder einen „ausführlichen“ Kontakt miteinander hatten. Ansonsten gingen sowohl die jungen Leute wie auch wir unsere eigenen Wege und es gab dann sporadisch immer nur mal kurze Telefonkontakte miteinander. Heute ging es also mal wieder um ein Wochenendasyl für Peggy und ihrem Katersohn Tiger. Mehrfach hatte Gisela schon versucht unsere Tochter zu erreichen, sowohl über den Festnetzanschluss wie auf dem Handy, aber kein Versuch war vom Erfolg gekrönt. Dieses ist aber kein Grund zur Aufregung, denn unsere Tochter arbeitet als Krankenschwester hier im Städtischen Krankenhaus und je nachdem was sie für einen Dienst hat ist sie dann ja auch nicht zu erreichen, denn in dem Haus müssen ja Handys bekanntlich ausgeschaltet werden. Auf der Station haben wir Andrea noch nie angerufen, das würden wir auch nur bei einem echten Notfall machen. Jetzt kann man fragen, warum denn Gisela so aufgeregt war. Ja, sie hatte gerade erfahren warum Andrea sich nicht melden konnte. Und das nicht auf Grund irgendeines privaten Kontaktes, zum Beispiel mit Konstantinidos, sondern aus dem Radio. Der Lokalfunk brachte die Meldung, dass der Betreiber der Grillstube „Great Alexander“ am Vorabend ermordet in seiner Wohnung aufgefunden worden sei. Unter dringendem Tatverdacht habe man die Ehefrau des Ermordeten festgenommen. Unsere Tochter eine Mörderin – das kann nicht sein, so etwas macht sie nicht. Postwendend nachdem mir Gisela die Kunde überbracht hatte rief ich bei der Polizei an um mich zu erkundigen. Mein erster Gesprächspartner war offensichtlich so ein stieseliger Polizist, den man wohl mit Fug und Recht zu den Bullen – dumm und kraftstrotzend – zählen kann. Solche patzigen und zusätzlich von Oben herab platzierten Redensarten, so wie sie sich dieser „Bulle“ leistete, kann ich mir in meinem Alltag nicht leisten. Letztlich gelang es mir doch diesen Beamten, der mit Sicherheit nicht für höhere Dienste geeignet ist, davon zu überzeugen, dass er mich mit der zuständigen Stelle verbinden könne. Dann bekam ich Verbindung mit einer Dame von der Kripo. Frau Husseck leitete die Ermittlungen im Fall Papadopulos und daher nehme ich an, dass sie Kommissarin ist. Zumindestens handelt es sich im Fernsehen, zum Beispiel im Tatort, bei den Ermittlungsleitern immer um Kommissare. Bei Frau Gabriele Husseck wusste ich das nicht so genau, denn sie hat sich mir gegenüber freundlich mit vollen Namen aber ohne Titel vorgestellt. Als sie mir später persönlich gegenüber stand, hat sie mir zwar ihren Ausweis, aus dem sicherlich auch der Titel hervorging gezeigt, aber da habe ich nicht darauf geachtet. Was soll es auch, Titel sind ja Schall und Rauch. Ich glaube, dass es heute auch nicht mehr üblich ist, eine Kripofrau mit „Frau Kommissarin“ anzureden. Ich habe jedenfalls immer nur mit bekommen, dass man sie entweder mit Frau Husseck oder mit Gaby angesprochen hat. Ich selber sprach sie mit Frau Husseck an und das schien ihr voll und ganz zu genügen. Auch von Frau Husseck bekam ich am Telefon keine weitergehenden Auskünfte. Sie sagte nur: „Herr Lange, es muss eine Gedankenübertragung gewesen sein, dass sie gerade jetzt, wo ich mich mit ihnen verbinden lassen wollte, anrufen. Bitte haben sie Verständnis dafür, dass ich ihnen am Telefon nichts sagen darf und dieses auch nicht möchte. Aber ich würde sie, gegebenenfalls gemeinsam mit ihrer Gattin, gerne persönlich sprechen. Da wollte ich sie gerade anrufen und fragen ob ich in einer halben Stunde bei ihnen vorsprechen kann.“. Dieses Vorgehen überraschte mich, der diesbezüglich nur Fernseh-Krimi-Erfahrung hat, doch ein wenig. Im Fernsehen tauchen die Kripomitarbeiter bei den Leuten immer überraschend und ohne Voranmeldung auf. Nun, Fiktion und Realität sind scheinbar doch zwei Paar Schuhe. Frau Husseck war auch pünktlich eine halbe Stunde später bei uns. Freundlich und auf Takt wie Pietät bedacht klärte sie uns erst einmal pauschal und ohne Details zu nennen über das Geschehene auf. Das entsprach auch
ungefähr dem, was wir aus dem Lokalradio wussten. Höflich bat sie um Verständnis, dass sie uns, bevor sie Einzelheiten nennen könne, uns erst einmal ein paar Fragen stellen möchte. Sie wollte von uns wissen, welches Verhältnis wir zu unserer Tochter und unserem Schwiegersohn gehabt hätten und was wir über deren internes Verhältnis wüssten. Sie wollte auch noch wissen, wann wir in etwa zu den Beiden den letzten Kontakt gehabt hätten. Es ging ihr insbesondere um den letzten Kontakt, den beide gemeinsam mit uns hatten und wann wir unsere Tochter letztmalig vor Augen hatten. Beide angefragten Termine deckten sich miteinander und waren noch gar nicht so lange her. Konstantinidos überlegte, ob er seinen Grill dran geben sollte und anstelle dessen eine Speiserestaurant pachten sollte. Dazu wollte er aber die Meinung seiner Frau und auch seiner Schwiegereltern einholen und hatte uns deshalb in dieses eingeladen. Das war, als Frau Husseck uns besuchte, gerade mal vierzehn Tage her. Nachdem wir bereitwillig alle Auskünfte gegeben hatten, erfuhren wir dann die Details zu dem Fall Papadopulos. Konstantinidos war von einer sehr jungen Dame, die im Grill „Great Alexander“ arbeitet, gefunden worden. Sie hatte wie immer, wenn der Chef selbst nicht da war, des Abends um Neun zugemacht. Dann hat sie erst mal sauber gemacht und dabei auf ihren Chef gewartet. Konstantinidos holte bei solchen Anlässen dann so gegen halb Zehn erst immer die Tageseinnahmen, die er dann zunächst mit nach Hause nahm, ab. Als er an diesem Abend bis kurz nach Zehn nicht aufgetaucht war und er sich auch nicht am Telefon meldet, nahm die Dame die Tageseinnahmen und fuhr mit einem Taxi zu dem Haus „unserer Kinder“. Es ist ein am Stadtrand gelegenes kleines Fachwerkhaus, welches die Beiden vor drei Jahren gekauft und hergerichtet haben. Die Grillmitarbeiterin hatte gesehen, dass hinter dem kleinen Seitenfenster auf der linken Seite Licht brannte aber an der Tür wurde ihr nicht geöffnet. Da ging sie zu diesem Seitenfenster, es gehört zum Schlafzimmer von Andrea und Konstantinidos, und konnte, weil die Vorhänge nicht zugezogen waren, hineinsehen. Da sah sie ihren Chef nackt und mit einem „komisch verzerrten“ Gesicht, wie sie später sagte, auf dem Bett liegen. Mittels ihres Handys verständigte die aufmerksame Dame sofort die Polizei. Die Untersuchungen ergaben, dass man Konstantinidos erst ein mit einem Betäubungsmittel getränktes Tuch vors Gesicht gehalten hat. Er muss zusammen mit dem Täter oder der Täterin in diesem Outfit, also nackt, im Schlafzimmer gestanden haben. Für Frau Husseck war es jetzt noch ein Rätsel, warum nicht vor dem Einschalten des Lichts die Vorhänge zugezogen worden sind, zumal ja das Schlafzimmer auch noch ebenerdig im Untergeschoss liegt. Warum wurde überhaupt das Licht angemacht? Laut den Ermittlungen wurde Konstantinidos gegen Acht ermordet und da ist es im Monat Juli bekanntlich noch taghell. Wurde das Licht etwa nachträglich angemacht, damit man ihn eventuell in der darauf folgenden Nacht finden sollte? Nun das Opfer ist nach seiner Betäubung einfach nach hinten umgefallen. Da muss der Täter oder die Täterin leicht nachgeholfen haben, denn ein Sturz nach vorne wäre laut Frau Husseck im Sinne der Physik logischer gewesen. Auf jeden Fall bekam Konstantinidos, als er auf dem Bett lag, eine Giftspritze verpasst. Das mit der Giftspritze hört sich so an, als sei er in den USA hingerichtet worden. Jetzt erfuhren wir von der Kriminalbeamtin die Indizien, die gegen unsere Tochter Andrea sprachen: Der Täter oder die Täterin muss auf natürlichen Wege ins Haus gelangt sein. Das heißt, entweder konnte er oder sie selbst, zum Beispiel mit eigenen Schlüsseln, hinein gelangen oder er oder sie wurde nichtsahnend von dem Opfer eingelassen. Sorry, an dieser Stelle unterbreche ich erst mal meine Wiedergabe, um erst mal etwas zu erklären und um dann vereinfacht fortzufahren. Ich habe jetzt schon ein paar mal die Formulierung „der Täter oder die Täterin“ beziehungsweise „er oder sie“ gebraucht. Dieses war auch damals die vorsichtige Formulierung von Frau Husseck. Da aber meine Tochter zu jenem Zeitpunkt die einzigste Verdächtige war, kann ich jetzt wohl ganz einfach in diesem Fall von ihr sprechen. Also, jetzt noch einmal zum Indiz Nummer Eins: Es gab keine Einbruchsspuren und nirgendwo ein Hinweis, dass Gewalt angewendet worden war. Da kommt natürlich Andrea, die Schlüssel besitzt und auch aus der Sicht des Ermordeten ins Haus gehört, als erstes in Frage. Schließlich gehörte sie ja als Hausherrin in dieses Gebäude. Auch im Schlafzimmer, wo Konstantinidos nackt und tot gefunden wurde, gab es keinen einzigen Hinweis darauf, dass Gewalt angewendet worden wäre. Konstantinidos muss also schon, bevor er das Tuch mit dem Betäubungsmittel ins Gesicht gehalten bekommen hat, nackt gewesen sein und dabei nichts schlimmes empfunden haben. Von dem Betäubungsmittel wurde er dann überrascht und bei der Dosis war er dann auch im Nu hinübergetreten. So etwas gelingt nur, wenn dem Opfer die Täterin sehr vertraut ist, also wenn es sich um Mann und Frau sowie bei Konstantinidos und Andrea handelt. An das Betäubungsmittel und auch an das Gift, das gespritzt wurde, kommt man in der Regel nicht so einfach heran. Ich habe später von Andrea erfahren, das man das Gift im Krankenhaus nur im Labor benötigt – wozu habe ich trotz Erklärung nicht verstanden. Es hat irgendetwas mit Gewebeproben zu tun. Aber genau aus dem Labor des Städtischen Krankenhauses war eine größere Dosis dieses Giftes entwendet worden. Die „Portion“ hätte bestimmt noch für drei bis vier weitere Morde gereicht. So verhielt es sich auch mit dem Betäubungsmittel, welches just an dem Morgen des Mordtages aus dem OP-Bereich des Krankenhauses verschwunden war. Andrea hatte freien Zugang, sowohl zum Labor wie
zum OP-Bereich. Das Rätsel, was nach wie vor bei Frau Husseck ungelöst stand, war die Frage wo die überschüssige Menge von den Mitteln verblieben ist. Ein Motiv hatte Andrea nach Ansicht der Ermittler auch. Man hatte in dem Schlafzimmer, in dem man Konstantinidos gefunden hatte auch einen Vertragsentwurf entdeckt, in dem sich Andrea verpflichten sollte aus dem Haus auszuziehen. Konstantinidos wollte dann als Ausgleich für Andreas Anteil an dem Haus die Miete, die sie dann zahlen müsste, bis zu einer gewissen Höhe übernehmen. Auf weitere Ansprüche sollte Andrea verzichten, damit nicht seine Absichten mit der Restauration durchkreuzt würden. Frau Husseck und ihre Mitarbeiter wollten Andrea nicht abnehmen, dass sie diesen Vertrag mit ihrem Mann freiwillig und ohne Druck ausgehandelt habe. Es habe nur noch die Frage nach der Möbelteilung offen gestanden. Laut Andrea war die Initiative von ihr ausgegangen. Konstantinidos und sie hätten sich schon lange nicht mehr geliebt aber sie wären sehr, sehr gute Freunde gewesen, was sie auch bleiben wollten. Andrea hatte nun einen Freund gefunden, der bei ihr bleiben wollte und ihr auch eheliche Treue gelobt hatte. Da wollte sie „klar Schiff“ haben. Die Kripo hielt dieses dann aber umgekehrt, also das Konstantinidos die treibende Kraft war, für wahrscheinlich. Belastend war für Andrea auch, dass sie zu diesem Zeitpunkt für die Tatzeit kein Alibi hatte und darüber hinaus, dass es Zeugen gibt, die angeblich ihr Auto parkend zur Tatzeit vor ihrem Haus gesehen haben wollen. Unsere Tochter gibt an, dass sie bis 18:00 Uhr Dienst gehabt habe und anschließend sei sie, weil sie das schöne Wetter an diesem Sommerabend gereizt habe, nach Schlüchten an den Waldsee gefahren. Geparkt hat sie laut ihren Worten auf einem Wanderparkplatz am See. Dort hat sie die Wolldecke aus ihrem Wagen genommen und diese hinter einem Gebüsch direkt am See ausgebreitet. Darauf liegend wollte sie sich dann noch ein wenig streifenlose Bräune unter der Abendsonne verschaffen. Gesehen hat sie dabei ihres Wissens niemand. So gegen halb Neun hatte sie sich angezogen und war zu ihrem Freund, bei dem sie auch übernachtet hat, gefahren. Schlimm für Andrea war nur, das gleich drei ihrer Nachbarn aussagten, ihr Auto habe etwa von halb Acht bis um halb Neun vor deren Wohnhaus gestanden. Für Außenstehende sieht die ganze Angelegenheit eindeutig aus: Andrea muss die Täterin sein. Für Gisela und mich, für die Eltern der angeblichen Mörderin, sieht die Welt aber ganz anders aus. Wir glaubten doch unsere Tochter zu kennen und somit sagten wir uns immer wieder: „Andrea ist doch keine Lügnerin und eine Mörderin erst recht nicht. Dazu bringt sie ja kein Talent und keine kriminelle Energie mit.“. Wenn ich dann aber nüchtern über die Fakten nachdachte, musste ich doch ernsthaft fragen: „Ist meine Tochter eine Mörderin?“ und leider konnte ich mich des Fazits, dass sie tatsächlich eine sein könnte, nicht erwehren. Dabei bekam ich aber dann sofort eine schlechtes Gewissen; wie kann ich nur meiner innigst geliebten Tochter so in den Rücken fallen. Wie wenig Vertrauen bringe ich ihr denn nur entgegen. Was wäre wenn es umgekehrt wäre? Andrea würde bestimmt bis zuletzt an ihren Vater glauben und selbst dann, wenn ich schon gestanden hätte, mir immer noch vertrauen. Bei diesen Gedanken schämte ich mich auch immer ein Wenig vor Gisela. Sie hält im Gegensatz zu mir auch innerlich zu unserer Tochter. Später als wir uns mal aussprachen, erfuhr ich, dass in Gisela, der Mutter, in etwa das gleiche wie in mir, dem Vater, abgelaufen ist. Bereits einen Tag, nach dem uns Frau Husseck besuchte hatte, also an dem übernächsten Tag nach dem Mord bekamen Gisela und ich die Genehmigung unsere Tochter in der U-Haft zu besuchen. Andrea hatte darum gebeten, dass sie mit ihren Eltern sprechen könne und seitens Kripo und Staatsanwaltschaft gab es dagegen keine Einwände. Es war ein recht komisches Gefühl, als man uns von der Pforte, wo wir uns angemeldet hatten, zum Besuchszimmer führte. Optisch entsprach der Gang typischen Behördenfluren, wie man sie zum Beispiel auch in den Finanz- oder Arbeitsämtern findet. Einzig, dass die Zwischentüren, die auch bei uns im Finanzamt von Glasbausteinwänden eingefasst sind, während der „Dienstzeit“ nicht weit aufstanden sondern für uns auf- und hinter uns abgeschlossen wurden, gaben einem auch visuell den Eindruck nicht in einem „öffentlichen“ Gebäude zu sein. Natürlich wirkte diese Sache bei unserem komischen Gefühl mit, aber der Hauptgrund für dieses war wohl das Wissen darüber im Knast zu sein. Mir tobte auch immer wieder der Gedanke, was ich vielleicht empfinden würde wenn ich da bleiben müsste, durch den Kopf. In meinen Vorstellungen stellt eine Haftstrafe so eine Art Ende des Lebens dar. Für mich ist die Vorstellung vom wahren Leben immer mit den Gedanken an Freizügigkeit und der alleinigen Entscheidung über mein Handeln verbunden. Ich habe doch tatsächlich schon mal überlegt, ob dahingehend nicht die Todesstrafe humaner als die lebenslängliche Strafe sei. Wenn ich über Jahre einsitzen müsste, möchte ich eigentlich nicht weiterleben. Aus meiner inneren Einstellung kann ich gut nachvollziehen, wenn sich Häftlinge in ihren Zellen erhängen. Ich glaube, dass sich meine Auffassung auf Andrea übertragen hat, auch ohne das wir groß darüber gesprochen haben. Als wir im Besuchszimmer beieinander saßen, brach Andrea in Heulen und Schluchzen aus. Sie war schwer zu verstehen als sie das folgende sagte: „Ach Paps, liebe Mami, bitte, bitte, glaubt mir, ich habe Tinos nicht umgebracht. Das hätte ich nie getan, denn er war trotz allem ein feiner und lieber Kerl. Wir waren sehr gute Freunde. Das er auf der Suche nach einer Frau, die ihm Kinder schenken kann, war habe ich ihm ja gar nicht übel genommen. Ich hatte mich ja damit abgefunden und habe mir meinerseits einen Freund gesucht, der mich
auch ohne, dass ich ihm Kinder gebäre, liebt. Ich weiß noch nicht, ob Roger, mein derzeitiger Freund, der Richtige ist aber zu 80 Prozent bin ich mir da schon sicher. Tinos hatte eine anderweitig verheiratete Frau, die ein Baby von ihm erwartete. Er hoffte sie würde sich scheiden lassen und ihn heiraten. Darauf haben wir beschlossen, dass wir in aller Freundschaft auseinander gehen sollten. Ich wollte nicht, dass dadurch seine Träume von dem Restaurant zerbrechen aber ich wollte auch nicht mit leeren Händen da stehen und deshalb haben wir uns in Freundschaft zusammengesetzt und schon mal begonnen einen ‚Auflösungsvertrag’ auszuhandeln. Da habe ich doch überhaupt keinen Grund Tinos umzubringen. ... Bitte, bitte glaubt ihr mir doch zumindestens. Und Paps, helf’ mir doch. Mein Leben ist doch vorbei wenn ich im Knast bleiben muss. Eingeschlossen zu sein ist doch die Hölle. Wenn ich tatsächlich verurteilt werde, lasse ich nicht eher Ruhe bis mir ein Selbstmord gelungen ist. Lieber tot als eingeschlossen.“. Während sie sprach hatte sie Gisela und mich mit angeregt und auch bei uns kullerten die Tränen. Wie sollte ich Andrea helfen. Aus meiner Sicht gab es da nur beten. Aber offensichtlich hat das genutzt. Zunächst meldete sich ein Zeuge, der Andreas Angaben zu ihrem Aufenthalt am See bestätigt. Er gestand ein Spanner zu sein und Andrea heimlich beobachtet zu haben. Er wollte sogar beeiden, das Andrea zum Zeitpunkt des Mordes nackt am Waldsee in Schlüchten gelegen habe. Natürlich reichte die Aussage eines Spanners nicht aus um unsere Tochter von allen Verdächten zu entlasten. Da war dann auch noch eine 13-jährige Rollstuhlfahrerin aus der Nachbarschaft von Andrea und Konstantinidos, die eine für Andrea wichtige Aussage machen konnte. Das Kind glich ihre Bewegungsunfähigkeit durch erhöhte Aufmerksamkeit aus. Sie konnte etwas ganz wichtiges zu dem Auto, was angeblich Andreas Wagen gewesen sein soll, sagen. Der 13-Jährigen war aufgefallen, dass öfters ein zum Verwechseln ähnliches Fahrzeug bei den Papadopulos vor der Tür stand. Gleicher Typ, gleiches Baujahr und gleiche Farbe. Sogar die Zulassungsnummer könnte zum Verwechseln veranlassen. Andrea hatte das Wunschkennzeichen „AP 109“, also Andrea Papadopulos, 10. September (1973). Der andere Wagen wurde durch die Nummer „AB 1109“ identifiziert. Laut Aussage der Rollstuhlfahrerin stand der letztgenannte Wagen zum „Mordzeitpunkt“ vor der besagten Tür. Es ist für eine Behörde, und für die Polizei erst recht, eine einfache Kiste anhand einer Nummer den Halter zu ermitteln. Eine Kontrollanfrage beim Straßenverkehrsamt oder zur Not bei der Flensburger Bundesanstalt reicht aus. So ist es also nicht verwunderlich, dass man unmittelbar nach der Aussage des Mädchens wusste, dass der von ihr beobachtete Wagen einem Dr. Gerald Beisheim gehört. Allerdings fährt der Chirurge, der auch, wie Andrea, im Städtischen Krankenhaus arbeitet, den Wagen nicht selbst, sondern der wird von Anastasia, seiner Frau, gesteuert. Also auch bei „AB 1109“ kann es sich durchaus um ein Wunschkennzeichen handeln und zwar für Anastasia Beisheim, die vielleicht auch wie ich am 11. September Geburtstag hat. Aber das ist nur eine Vermutung, wissen tue ich natürlich nichts. Das erste Gespräch zwischen Frau Husseck und der Frau Beisheim ergab, dass die Ehefrau des Chirurgen schwanger war und Konstantinidos Papadopulos durchaus der Vater des Kindes sein könnte. Aber auch ihr Ehemann kam für eine Vaterschaft genau so in Frage, da die gute Anastasia Beisheim es zur gleichen Zeit mit beiden Herrn gleichermaßen trieb. Nicht nur an den fraglichen Tagen hatte sie in einem Abstand von nur zwei oder drei Stunden Verkehr sowohl mit ihrem Ehegatten wie mit ihrem Liebhaber. Ja, ja es gibt Leute, die es halt heftiger und häufiger nötig haben. Das gestand also Anastasia Beisheim ohne den Versuch des Heuchelns und ohne Scham ein. Allerdings wollte sie zum Zeitpunkt des Mordes nicht bei ihrem Liebhaber gewesen sein. Sie war der Meinung, dass sich die junge Rollstuhlfahrerin getäuscht haben muss. Sie wollte mit ihrem Wagen den ganzen Nachmittag bis kurz vor Zehn am Abend bei ihrer, an der Alzheimerkrankheit leidenden Mutter in Ohlheim gewesen sein, da ihre ältere Schwester, die ihre Mutter ansonsten pflegt, einen Termin in Essen hatte. Die Schwester konnte bestätigen, dass Anastasia zum verabredeten Termin in Ohlheim ankam und dort auch bei ihrer Rückkehr kurz nach Neun anzutreffen war. Das bedeutet natürlich, dass Anastasia Beisheim theoretisch auch zwischendurch ihre Mutter hätte allein lassen können und tatsächlich bei Konstantinidos gewesen sein könnte. Das wäre aber im Hinblick auf die Krankheit der Mutter gefährlich und unverantwortlich gewesen und ist daher nicht sehr wahrscheinlich. Und dann gibt es diesbezüglich die Frage, warum Anastasia ihren Liebhaber umbringen sollte. Jetzt gab es also zwei Frauen, die den Mord begangen haben konnten, auf die die Indizienkette deckungsgleich gepasst hat, und beide Frauen hatten ein Alibi, für das niemand die Hände ins Feuer legen kann. Für unsere Tochter Andrea bedeutete dieses aber dass man eine U-Haft nur gegen sie genauso wenig rechtfertigen konnte wie eine solche gegen Frau Beisheim. So kam sie, obwohl ihre Unschuld nicht 100%-ig bewiesen war, wieder auf freien Fuß. Nach dem Rechtsstaatprinzip soll man ja so lange von der Unschuldsbehauptung ausgehen bis sich Richter von der Schuld der oder des Beklagten überzeugt haben. Das hat sich aber in der Öffentlichkeit noch nicht herum gesprochen. Für viele war Andrea eine Mörderin und das ließ man ihr auch merken. Schließlich hatte die Lokalpresse auch schon in einem solchen Tonfall berichtet als sei Andrea bereits überführt und von dieser Vorabverurteilung hat die Presse auch zum Zeitpunkt von Andreas Entlassung aus der U-Haft nichts zurück genommen. Auch im Krankenhaus wollte man sie, so lange der Verdacht des Gattenmordes nicht ausgeräumt sei, nicht beschäftigen und drängte sie zunächst ihren Jahresurlaub zunehmen. Dieses hielt die
Geschäftsleitung des Hauses auch hinsichtlich des unaufgeklärten Gift- und Betäubungsmitteldiebstahles für richtig. Irgendwo kann man es aber verstehen, wenn Andrea nicht alleine in ihrem Fachwerkhaus leben wollte obwohl Kripo und Staatsanwaltschaft dagegen keine Einwände hatten. Die Spurensicherung war offensichtlich schon während Andrea noch in U-Haft war abgeschlossen worden. Nun, unsere Tochter packte sich ein paar Sachen ein und zog erst mal zu uns. Als sei sie auf einmal ein scheues Reh geworden, schanzte sie sich innerhalb unserer heimischen vier Wände von der Außenwelt ab. Ich habe meine Tochter in ihrem 30-jährigen Leben insgesamt nicht so oft weinen gesehen, wie in diesen Tagen nach dem Mord an ihren Mann. Sehr oft schloss sie sich auch in unserem Gästezimmer, was vor einem Jahrzehnt noch ihr Zimmer war, ein. Da sie sich, als wir sie in der UHaft besuchten, in einer stark depressiven Weise geäußert hatte, machte ich mir diesbezüglich Sorgen und sprach Andrea auch offen darauf an. Erst wollte sie nicht raus mit der Sprache aber dann erklärte sie recht schüchtern: „Bitte Paps, jetzt lach mich nicht aus, aber in der Bergpredigt steht, das man zum Beten in sein stilles Kämmerlein gehen soll und die Türe schließen soll. Unser himmlischer Vater, der in das Verborgene sieht, würde uns vergelten öffentlich. – Und genau das mache ich: Ich gehe in mein Kämmerlein, schließe die Türe ab und bete.“. „Ach Mädchen,“, antwortete ich ihr, „warum soll ich denn darüber lachen, wenn du das Richtige tust. Ich glaube nicht, dass man nur zu beten brauch um dann Wunder geschehen zusehen. Aber wenn du betest, wird’s dir wohler und du kannst alles leichter ertragen. Und schon dadurch, dass man dann wieder Zutrauen zu sich und der Welt hat, geschehen dann nicht selten Dinge, die uns dann wie ein Wunder vorkommen.“ Aber zunächst geschah kein Wunder sondern unsere Andrea musste noch einmal ein Rückschlag einstecken. Die Leute vom Straßenverkehrsamt fanden bei der sogenannten Knipskistenauswertung ein Raserportrait von Andreas Auto mit Insassen. Sie wissen doch, was eine Knipskiste ist? Das sind diese stationären Vorrichtungen, die als Falle für Leute, die sich nicht an Geschwindigkeitsbegrenzungen halten können, gedacht sind. Wenn man zu schnell ist, wird ein Raserportrait mit gefahrener Geschwindigkeit, Datum und Uhrzeit erstellt. Ja, und so wurde von der Knipskiste in der Nähe von Andreas Wohnhaus, dort wo sich eine Schule, Kindergarten und ein Altersheim praktisch in unmittelbarer Nachbarschaft befinden, am Mordtag, um 20:20 Uhr, vom besagten Auto meiner Tochter ein Foto erstellt. Statt der erlaubten dreißig Stundenkilometer war der Fahrer von Andreas Wagen etwas über Sechzig gefahren. Normalerweise dauert es immer ein Weilchen bis man dann vom Straßenverkehrsamt einen Brief mit der Bitte, einen bestimmten Betrag an die Kreiskasse zu überweisen, erhält. Aber in diesem Fall ging es mit einer bei Behörden unglaublichen Geschwindigkeit. Es war auch kein Brief, in dem ein Betrag genannt wurde, sondern nur das Foto mit Daten. Außerdem brachte dieses nicht der Postbote sondern dieses wurde von Frau Husseck von der Kripo überbracht. Eine aufmerksame, Presse lesende Mitarbeiterin hatte von der Gattenmörderin mit dem griechischen Namen gelesen und erkannte irgendwo ein Zusammenhang mit dem Knipskistenfoto und dem Mord. Statt das Raserportrait seinen Weg laufen zu lassen wandte sich die StVA-Mitarbeiterin an die Kripo. Mit dem Bild konnte man jetzt „beweisen“, dass sich Andreas Auto zum Zeitpunkt des Mordes nicht wie Andrea behauptete am Waldsee in Schlüchten sondern in unmittelbarer Nähe des Tatortes befand. Allerdings war Andrea nicht die Fahrerin des Wagens sondern es handelte sich um einen Herrn, den unsere Tochter selbst nicht kannte. Andrea zweifelte auch daran, dass es sich um ihr Auto handelte aber auf dem Foto, auf dem ja nicht viel mehr als die Heckscheibe zu sehen ist, waren keine eindeutigen Identifizierungsmerkmale zu erkennen und zudem war das Wunschkennzeichen unserer Tochter „AP 109“ eindeutig und unbestreitbar. Jetzt wurde es mysteriös. Das Auto trug die Kennzeichen-Nummer von Andreas Auto, sie behauptet aber zum gleichen Zeitpunkt mit diesem Wagen einige Kilometer weiter zum Nacktbaden gewesen zu sein und bekommt dieses von einem Spanner, der ihr nachgestiegen ist, bestätigt. Das Auftauchen des Knipskistenfotos hellte die Stimmung unserer Tochter natürlich nicht auf. Einen Tag nach dem Bekannt werden des Raserportraits stand ein kleiner 1-zeiliger Artikel in der Lokalzeitung und die Leute, die das Auto unserer Tochter gesehen hätten wurden gebeten sich bei der Polizei zu melden. Da gab es dann tatsächlich ein paar Leute, die sich als Zeuge meldeten. Es wurde für die Kripo immer geheimnisvoller aber für Andrea schien die Hoffnungssonne wieder aufzugehen. Neben dem Spanner hatten noch zwei weitere Zeugen unsere Tochter in Schlüchten gesehen. Der eine Zeuge hatte Andreas Auto gegen Acht am Abend auf dem Wanderparkplatz am Waldsee gesehen. Dort wollte er selbst parken und hat sich über Andreas „unsoziale Parkweise“ geärgert. Er hätte gerne auf dem Platz neben Andreas Auto geparkt, was aber aus dem Grunde, das Andrea etwas schräg geparkt hatte, nicht möglich war. Es gab zwar eine Reihe freier Plätze auf dem besagten Parkgelände aber die lagen alle im Einstrahlbereich der Abendsonne, was dann in der Regel bedeutet, dass sich der Tageshitzestau im Inneren des Wagens nur schwerlich oder noch überhaupt nicht abbaut. Der zweite Zeuge, ein junger Mann, berichtete, dass er sich mit seiner Freundin am Waldsee befunden habe. Als die beiden gegen halb Neun auf dem Wanderparkplatz ankamen wollen sie Andreas auf „Frauenart“ geparktes Auto gesehen haben. Der Ausdruck Frauenart ist Original von dem jungen Mann, der sich als Zeuge gemeldet
hatte. Damit bestätigte er den Zeugen, den ich gerade zuvor erwähnt habe. Aber auch die Aussage des Spanners wurde von dem jungen Mann bestätigt. Er wollte mit seiner Freundin auch selbst hinter den gleichen Büschen, die sich zuvor Andrea bereits ausgesucht hatte, Sichtschutz suchen. Als sie heran kamen sahen sie dann unsere nackte Tochter. Die Kripo-Frau, also Frau Husseck, wollte dann von dem Zeugen wissen, ob sie von Andrea bemerkt worden wären oder ob es einen Grund gäbe, warum das Pärchen nicht aufgefallen sei. Der junge Mann hat dann darauf erklärt, dass sie nicht leise auf den Platz zugepirscht seien aber die nackte Frau sei damit beschäftigt gewesen, sich selbst eine Freude zu machen und habe offensichtlich unmittelbar bei deren Eintreffen kurz vor dem Höhepunkt gestanden; an Andreas Masturbation und Orgasmus wollte sich das junge Pärchen selbst noch mehr „angespitzt“ haben. Die Masturbation war auch schon zuvor von dem Spanner erwähnt worden und Andrea gestand dieses sehr verlegen und verschämt der Frau Husseck auf Befragung, bevor sie von den entsprechenden Zeugenaussagen erfahren hatte, ein. Diese Sache war unserer Tochter zwar höchst peinlich aber sie hat die Kripofrau nicht gefragt warum sie dieses wissen wollte und hat die Geschichte auch in der Hoffnung, dass es ihr helfen könnte, zugegeben. Dieses konnte ihr ja auch, genau wie eine weitere Zeugenaussage, helfen. Der dritte Zeuge, der sich auf die Zeitungsnotiz meldete, war in Ohlheim zuhause. Also dort, wo Konstantinidos „Geliebte“ an diesen Nachmittag „Dienst“ bei ihrer an Alzheimer erkrankten Mutter versah. Dieser Zeuge hatte gesehen, wie am frühen Abend des Mordtages ein Auto vom fraglichen Typ auf der Landstraße von Ohlheim nach Neustadt – hier unser Nest – fuhr. Von diesem Wagen sei hinten ein weißes Papier, dass im ersten Moment so wie ein Nummernschild ausgesehen hätte, abgefallen. Der Zeuge hatte dem Papier aber keine weitere Beachtung geschenkt und ist weiter hinter dem Wagen hergefahren. Kurz hinter dem Ortsausgang Ohlheim befindet sich rechts eine ehemalige Gaststätte, an der Außen ein Zigarettenautomat angebracht ist. Dort fuhr der Wagen, der mit Andreas Auto verwechselt werden konnte, rechts heran. Offensichtlich wollte sich der Fahrer – es soll laut dem Zeugen ein Mann gewesen sein – eine Packung Zigaretten ziehen. Als der Zeuge mit seinem Auto an dem Wagen vorbei gefahren sei, hatte er das „Gefühl“, dass der Wagen zwei verschiedene Kennzeichen hatte; hinten eine 4-stellige und vorne eine 3-stellige Nummer, die sich aber sehr ähnlich gewesen seien. Die Ähnlichkeit war laut diesem Zeugen so groß, dass der gute Mann glaubte sich getäuscht zu haben. Nun schien auch für Frau Husseck und ihre Mitarbeiter von der Kripo festzustehen, dass unsere Tochter Andrea keine Gattenmörderin ist. Ganz offiziell wurden die Ermittlungen gegen Andrea Papadopulos eingestellt. Sie wurde nur lediglich gebeten, eventuell als Zeugin zur Verfügung zu stehen. Ich muss sagen, dass ich mich nun, wo offiziell feststeht, dass unsere Tochter zum Tatzeitpunkt Kilometer weit vom Tatort entfernt war, auch meiner stillen Gedanken schämen muss, denn ich hatte es doch oft nicht ausschließen können, dass meine Tochter eine Mörderin ist. Aber trotz der Verfahrenseinstellung gegen sie schien Andrea in den Augen der Öffentlichkeit so eine Art Mörderin geblieben zu sein. Man vermied weitgehend mit ihr Kontakt aufzunehmen, man schaute ihr nach und steckte, wenn sie vorbei gegangen war, die Köpfe zum Tuscheln zusammen. Auch im Städtischen Krankenhaus war man nicht beglückt, dass man sie ja eigentlich wieder beschäftigen müsse. Man redete sich damit heraus, dass ja der Diebstahl von Gift und Betäubungsmittel trotz allem nicht aufgeklärt sei und aus dieser Sicht Andrea immer noch für eine Mittäterschaft in Frage käme. Auch Roger, Andreas derzeitiger Freund, bei dem sie die Nacht, nach dem Mord geschehen war, nächtigte, machte sich ihr gegenüber auch sehr rar. Andrea musste erfahren, dass Roger offensichtlich doch nicht der Richtige war. Aber diese Erkenntnis haute sie jetzt aber nicht um. Sie war momentan auch gar nicht versessen darauf einen Mann zu finden und um sich zu haben. Auch eine Wiederöffnung nach Außen fand nicht statt und sie blieb noch ein Weilchen bei uns, ihren Eltern, wohnen. Aber bevor ich jetzt von der weiteren Entwicklung unserer Tochter berichte, will ich erst einmal für die Leute, die noch nicht von dem Mordfall Konstantinidos Papadopulos gehört haben, die Sache auflösen und beantworten wer der Mörder beziehungsweise die Mörderin war. Als man Frau Anastasia Beisheim, die Besitzerin des anderen Wagens und Geliebte von Konstantinidos Papadopulos, noch einmal befragte ob ihr Wagen wirklich den ganzen Nachmittag und am Abend vor dem Haus ihrer kranken Mutter in Ohlheim gestanden hätte, räumte sie ein, dass sich ihr jüngerer Bruder Hendrik den Wagen geliehen habe um eine kleine „Übungsfahrt“ zu unternehmen. Der Grund für die Übungsfahrt war die Tatsache, dass Hendrik gerade mal 18½-jährig und erst seit zirka 4 Wochen im Besitze eines Führerscheins aber noch keines Auto ist. Der junge Mann fuhr nach Neustadt zu seinem Schwager, dem Chirurgen Dr. Gerald Beisheim. Hendrik und Dr. Beisheim hatten einen gemeinsamen Feind, den sie so hassten, dass sie seinen Mord beschlossen hatten. Was Dr. Beisheim gegen Konstantinidos hatte, wissen wir: Seine Frau erwartete ein Kind und wusste nicht, ob ihr Mann oder unser Schwiegersohn der Vater war. Aber Konstantinidos hatte angeblich auch mit der 17jährigen „Dame“, die im Grill „Great Alexander“ arbeitete – Ja, genau die, die Konstantinidos später angeblich fand – angebändelt. Aber genau diese ist, wie es der Zufall will, die Freundin von Hendrik. Als Dr. Beisheim von dem Termin seiner Schwägerin in Essen und davon, dass seine Frau ihre Mutter anstelle der Schwester an
diesem Tag die Mutter pflegen wollte, erfuhr schaute er auf dem Schwestern-Dienstplan im Städtischen und stellte fest, dass Andrea am besagten Tag einen dienstfreien Tag haben würde. So durch die Hintertüre horchte der Arzt dann unsere Tochter aus und erfuhr, dass Andrea in einer privaten Angelegenheit in eine Stadt in Thüringen wollte und wahrscheinlich erst am späten Abend zurück sein würde. Den Namen schreibe ich hier besser nicht; warum, das erfahren wir gleich. Andrea hatte sich in dem Krankenhaus der Stadt beworben, denn sie wollte endlich mal raus aus Neustadt. Dabei hat sicherlich auch die bevorstehende Trennung von Konstantinidos eine Rolle gespielt. Dr. Beisheim und sein junger Schwager Hendrik schmiedeten einen Mordplan, der aus ihrer Sicht ein Muster an Perfektion sein sollte. Aber dann, als alles soweit war, ging eins nach dem anderen schief. Dr. Beisheim hatte Betäubungsmittel und Gift gestohlen. Um von sich, der in Konstantinidos Fall auch noch ein Motiv gehabt hätte, abzulenken plante er den Verdacht auf Andrea zu führen, was ihm beinahe sogar geglückt wäre. Daher fertigte Hendrik mit einem Programm, mit dem man Bannerdruck machen kann, auf dem PC zwei Papierstreifen, die wie ein Autokennzeichen aussahen – natürlich mit Andreas Nummer. Damit diese wie glänzendes Metall aussahen und auch bei Regen geschützt waren, schweißte Hendrik die Streifen in einer Klarsichtfolie ein. Nachdem er sich das Auto bei seiner Schwester geliehen hatte, klebte er die falschen Nummern auf und fuhr nach Neustadt. Dummerweise klebte die hintere Attrappe nicht richtig und ging schon, als Hendrik nach Neustadt fahren wollte, innerhalb von Ohlheim verloren, was Hendrik nicht bemerkte. Vorne war es also Andreas und hinten Frau Beisheims Auto. Wäre Andrea nicht zu ihrem Nacktbad nach Schlüchten sondern nach Hause gefahren, wäre die, für die Mörder peinliche Situation, das – zumindestens nach dem Nummernschild vorne – Andreas Auto gleich in doppelter Ausführung zur gleichen Zeit vor der Tür gestanden hätte. Unsere Tochter war nicht wie ursprünglich vorgesehen in Thüringen, denn sie hatte inzwischen von dem schlechten Ruf des Thüringer Krankenhauses erfahren und hat darauf ihr Bewerbungsgespräch abgesagt. So ging sie dann im Gegensatz zu ihrer ursprünglichen Planung doch zum Dienst. Dr. Beisheim hatte davon an diesem Tag nichts gemerkt und hat deshalb die Aktion auch nicht abgeblasen. Irgendwo bin ich persönlich recht froh darüber, dass Andrea zu ihrem Sonnenbad an den Waldsee gefahren ist, denn was hätte passieren können, wenn sie diesen Hendrik bei seiner Tat überrascht hätte. Für diesen kräftigen jungen Mann, dem Andrea auf keinem Fall gewachsen gewesen wäre, war es offensichtlich auch keine Tragödie, dass er wider Erwarten Konstantinidos, der auch nicht gerade ein Kerlchen aus Samt und Seide war, im Hause antraf. Geplant war, dass Hendrik mit dem Schlüssel seiner Schwester in das Haus eindringen sollte. Im Inneren wollte er dann unserem Schwiegersohn auflauern und wenn das Betäubungsmittel wirkt, sollte das Gift in Konstantinidos Venen gespritzt werden. Dr. Beisheim hatte seinen Schwager diesbezüglich genau instruiert. Aber es kam alles anders. Erst passte der Nachschlüssel noch nicht einmal in das Schloss. Der Schlüssel, den Dr. Beisheim als Konstantinidos Hausschlüssel gedacht hatte, muss einem ganz anderem Zweck gedient haben, denn Anastasia Bergmann besaß überhaupt keinen Schlüssel zu dem Haus unserer Kinder. Nun schlich sich Hendrik ums Haus um nach einer günstigen Einstiegsmöglichkeiten zu suchen. Hinter dem Haus stieß er unerwartet auf Konstantinidos persönlich. Er lag, nur mit meiner Badehose bekleidet, auf einer Liege im Garten. Seinen Mörder hatte er nicht bemerkt und dieser hatte Schwierigkeit hinter unseren Schwiegersohn zu gelangen. Von hinten wollte der Mörder sein Opfer mit dem Betäubungsmittel überraschen. Der Grund war eindeutig: Es sollten Kämpfe und Lärm auf jeden Fall vermieden werden. So musste Hendrik jetzt ein Weilchen warten, bis Konstantinidos aufstand, sich seine Liege schnappte und ins Haus ging. Der Mörder schlich leise hinter her. Er blieb immer ein Zimmer oder Flur hinter dem Hausherrn zurück. Sobald Konstantinidos den Raum wieder verlassen würde, sollte er mit dem Betäubungsmittel überrascht werden. Hendrik war aber mit dem Folgen zu eilig. Er hörte immer an der Tür ob Konstantinidos eine weitere Tür öffnen und hinter sich schließen würde; erst dann folgte er seinem Opfer. Als Konstantinidos im Schlafzimmer angekommen war, saß Hendrik einen Irrtum auf. Er hat das Öffnen des Eichenkleiderschrankes, dem unser Schwiegersohn seine Sachen, die er anschließend anziehen wollte, entnahm, für eine Tür gehalten und trat ein, als Hendrik gerade seine Badehose ausgezogen hatte. Jetzt musste der Täter handeln. Er drückte seinem Opfer das mit Betäubungsmittel getränkte Tuch mit kräftigen Druck ins Gesicht. Deshalb fiel Konstantinidos auch nach hinten aufs Bett und nicht der Schwerkraft folgend nach Vorne. Die Sachen, die Konstantinidos zuvor aus dem Schrank geholt hatte, räumte Hendrik mitsamt der Badehose des Ermordeten wieder in den Schrank. Dr. Beisheim hatte ihm eingeschärft beim Verlassen des Tatortes möglichst alles so zu hinterlassen, dass man ziemlich eindeutig auf Andrea als Täterin schließen könne. Da hatte der junge Mörder richtiger Weise kombiniert, dass praktisch jeder jedem beim Umziehen erwischen könne. Aber nackt ohne später erkennbaren Grund, ist man in der Regel nur wenn man Ehefrau oder Geliebten was bieten will. Zum Einräumen der Sachen in den Schrank hatte sich Hendrik Licht angemacht, was er dann beim Verlassen des Schlafzimmers vergessen hatte. Dafür vergaß er aber nicht die Tür an der Rückseite, durch die er gekommen war, abzuschließen. Danach entfernte er sich ordnungsgemäß durch die Haustüre.
Ja, das war jetzt die Story von dem Mord an meinem Schwiegersohn Konstantinidos Papadopulos. Aus der Sicht des Mörders war er selbst der am meisten Angeschmierte, denn seine Freundin hatte nichts mit unserem Schwiegersohn. So etwas hatte nur Hendriks Schwager, Dr. Beisheim, erfunden um jemanden zu haben, der für ihn die Drecksarbeit macht. Ja, und dafür darf der Hendrik dann möglicher Weise für die nächsten 15 Jahre hinter Schloss und Riegel sitzen. Das heißt, dass wir – Gisela, Andrea und ich – davon ausgehen, dass Hendrik wohl Lebenslänglich bekommen wird. Da aber auch aus unserer Sicht keine besondere schwere der Schuld zu erkennen ist und es auch wohl kein Grund für eine Sicherungsverwahrung geben dürfte, bekommt Hendrik in 15 Jahren wohl noch einmal eine Chance. In dem Moment, wo ich jetzt diese Zeilen schreibe, läuft zwar der Prozess gegen Hendrik und seinem Schwager Dr. Gerald Beisheim aber ein Urteil ist noch nicht gesprochen. Aber was soll’s, bei uns in der Familie interessiert sich niemand mehr groß für den Ausgang der Geschichte. Uns ist jedes Urteil, gleichgültig ob milde oder hart, recht. So etwas ist ja in der heutigen Zeit wohl recht selten. Die meisten Opfer von Verbrechen – und das war Andrea, die Frau des Ermordeten und ursprünglich fälschlich Beschuldigte, doch wohl – sehnen sich heutzutage nach sadistischer Rache, die angeblich Genugtuung bringen soll, und vor allen Dingen nach enormen Schadenersatzsummen, die aber hier, weil wir ja nicht in den USA sind, meistens immer angemessen ausfallen. Aber was bringt’s, wenn man sowieso nur nackten Männern in die Tasche greift. Einen Schadensersatz oder Schmerzensgeld zugesprochen zu bekommen, heißt ja noch lange nicht, dieses auch zu bekommen. Denn wenn der Gläubiger, in diesem Fall gleichbedeutend mit Täter, nichts hat, können einen selbst Gerichtsvollzieher und Inkassogeier nicht helfen. Da gab es schon eine Reihe Leute, die unserer Tochter zur Nebenklage geraten haben. Man sah in Andrea jetzt ein armes Opfer, dass nach dem, was man ihr angetan hat, einen unbedingten Genugtuungsanspruch habe. Die Leute in der Nachbarschaft hatten praktisch über Nacht im Hinblick auf Andreas Ansehen das Lager gewechselt. An dem einen Tag war sie nur die Person, die den armen Nachbarn schon immer nicht geheuer vorkam und der man durchaus einen Gattenmord zutrauen könne. Am nächsten Morgen, wo die Auflösung des Krimis in der Zeitung stand, hatten alle Mitleid mit der armen Frau. Da hatten die Leute auch schon immer die Gewissheit, dass Andrea es nicht gewesen sein konnte, schließlich habe sie ja für Kriminalität nicht die geringste Veranlagung. Jetzt wollten alle dem „armen Ding“ mit dem richtigen Tipp helfen und der hieß: Nebenklage. Andrea hatte diese Leute aber durchschaut und sagte zu mir: „Von denen macht sich keiner ernsthaft Gedanken um mich. Die lüsterts nur nach Sensationen und danach in ihren Klatschrunden sagen zu können, dass sie an dem Geschehen einen eigenen Anteil haben. Diese Leute würden mir und der Gesellschaft bestimmt einen besseren Dienst leisten, wenn sie mich in Ruhe lassen würden.“. Nachdem der Mord inklusive Giftdiebstahl aufgeklärt und Andreas Unschuld durchgängig bewiesen war gab es auch keine Argumente gegen ihren Dienst im Städtischen Krankenhaus mehr. Aber auch hier wäre Andrea bestimmt froh gewesen, wenn man sie erst einmal eine Weile in Ruhe gelassen hätte. Während der Zeit, als sie noch die Hauptverdächtige war, ist doch einiges, für unsere Tochter höchst peinliches, durch Indiskretion an die Öffentlichkeit gelangt. So war ihren Kollegen und Kolleginnen und auch vielen Patienten bekannt, dass sie zum Zeitpunkt des Mordes zum Nacktbaden am Waldsee in Schlüchten war und dort auch bei der Masturbation erwischt worden war. Außerdem war bekannt, dass sie in der Nacht bei einem anderen Mann, der jetzt aber nichts mehr von ihr wissen wollte, genächtigt habe. Gerne spielten die Leute Andrea gegenüber jetzt mit zweideutigen Bemerkungen auf diese Dinge an. Von unserer Tochter wurde das ganze Spiel als echtes, hartes Mobbing empfunden. Durch all die Dinge, die sich nach dem Mord ereignet und ergeben haben, hat sich unsere Tochter grundlegend geändert. Wirkte sie früher oft wie ein oberflächlicher Wirbelwind erscheint sie nun stiller und deutlich ernsthafter. Trotz allem hat sie ihre Fröhlichkeit, die ich so sehr an ihr liebte, nicht gänzlich verloren. Immer noch macht sie gerne zwischendurch einen kleinen Scherz und wenn andere darüber lachen sieht man ihre Augen richtig vor Glück funkeln. Aber früher waren oft reine oberflächliche Albernheiten dabei, da von spürt man heute nichts mehr. Ich würde ihre heutigen Scherze so als „freundliche Wahrheiten mit einem Tick zur Satire“ klassifizieren. Sie merken schon, dass sich diese liebenswerte Eigenart unserer Andrea nur schwer beschreiben lässt. Ich hoffe, Sie verstehen es so, wie ich es gemeint habe. Als Kind war unsere Andrea ein ganz frommes Mädchen. Ihr kindlicher Berufswunsch war, dass sie Pastorin werden wollte. Nach der Konfirmation machte sie noch eine Zeit als Helferin im Kindergottesdienst in der Gemeindearbeit mit. Ich glaube, dass sie noch zirka anderthalb Jahre nach ihrer Konfirmation so aktiv war. Dann trat aber die Religion bei ihr mehr und mehr in den Hintergrund ohne aber richtig „unfromm“ zu werden. Zwei bis drei Mal im Jahr ging sie auch als Erwachsene zur Kirche; auch wenn Ostern oder Weihnachten nicht der Anlass waren. Wie sie mir sagte, hat sie auch ab und an, wenn ihr mal das Herz danach stand, gebetet. Aber ihre Religiosität war doch eine kleine Sparflamme, die man im Alltag gar nicht so wahr nahm. Jetzt nach dem fürchterlichen Geschehen war offensichtlich ihr kindlicher eifernde Glaube in sie zurückgehrt. Sehr oft sprach
sie vom dreieinigen Gott, diskutierte gerne unter anderem mit mir über die Bergpredigt und die Briefe des Apostel Paulus und bekannte offen, dass sie jetzt sehr häufig bete. Auf diesen beiden Eigenschaften, also die Ernsthaftigkeit und die Religiosität, beruhten jetzt auch Andreas Entscheidungen. Eine Nebenklage lehnte sie strickt ab und wenn sie dazu eine kurze Begründung liefern sollte, sagte sie immer, dass sie nicht aus Spaß im Vater unser „Vergib uns unsere Schuld wie wir vergeben unseren Schuldigern“ beten würde. Wenn sie dass dann weiter ausführte, erklärte sie das damit, dass man das Vater unser wie ein Gebot unseres Herrn Jesus ansehen könnte. Alle Gebote, gleichgültig ob vom Vater, Sohn oder Heiligem Geist, wären aber keine Verbote und Zwänge sondern es seien Hinweise, wie man richtig leben kann. Wer seinen Schuldigern nicht vergeben kann, verzerrt sich in Rachegedanken. Er findet kein Abstand zu dem üblen Geschehen und glaubt selbst mit der psychischen Belastung nicht fertig werden zu können. Wer aber vergibt bringt es hinter sich und gewinnt Abstand zum Geschehen. Wer vergibt kann also nach Vorne in die Zukunft schauen. Übrigens, Vergeben sollte man nicht mit Verzeihen verwechseln. Sicherlich hat Andrea diesem Dr. Beisheim und seinem jungen Schwager die Dinge, die sie ihr angetan haben, nicht verziehen. Aber sie hat den beiden Herren vergeben, das heißt, dass sie keine Rechnung mit diesen begleichen will. Andrea will ganz einfach leben. Die sogenannte Genugtuung kann man ja ohnehin nicht vor Gericht erlangen. Man puscht sich während des Verfahrens ja immer so auf, dass es für einen Nebenkläger immer nur ein gerechtes Urteil geben kann: „Rübe ab“. Und da es solche menscherverachtende Urteile in Deutschland nicht gibt, hat kaum ein Nebenkläger ein Gefühl von Genugtuung – und dafür hat er sich dann eine solche Verhandlung angetan. An einem Abend, etwa drei Wochen nach dem der Fall Papadopulos aufgeklärt worden war, saßen wir mal zu Dritt im Familienkreis, also vollständig, bei einem Glas Wein beieinander. Gisela fragte Andrea vorsichtig was sie jetzt hinsichtlich Konstantinidos empfinde. Aber meine Frau hätte gar nicht so vorsichtig vorgehen zu brauchen, denn Andrea gab uns offen Antwort und wir hatten nicht das Gefühl als würde ihr dabei etwas schmerzen. Sie sagte: „Sicher habe ich Tinos geliebt. Er war meine große Liebe und wir waren sehr glücklich miteinander. Als wir dann erfuhren, dass ich keine Kinder kriegen könnte, brach für Tinos die Welt zusammen. Er war vollkommen fertig und da ist er vollkommen außer Tritt geraten. Ich glaube, dass er die damaligen Seitensprünge nur aus einem bestimmten Frust begangen hat. Ich hätte ihm Einhalt gebieten müssen aber stattdessen habe ich aus einem Schuldbewusstsein – was wohl in einem solchen Fall vollkommen unbegründet ist - ... Also, aus diesem Schuldgefühl habe ich sein Fremdgehen toleriert. Da ist bei Tinos, wie er mir später mal sagte, der Eindruck entstanden er habe kein Wert mehr für mich. Dieses habe ich ihm dann auch noch dadurch bestätigt, dass ich auch mal fremdging. Wir führten eine offene Ehe aber die Liebe war dahin. ... Zumindest glaubte ich das zuletzt selbst, aber erst jetzt weiß ich, dass ich Tinos tatsächlich bis zuletzt, ja sogar noch über den Tod hinaus, geliebt habe. Er fehlt mir doch sehr.“. Schon als Kind besaß Andrea zu unserer großen Freude sehr viel soziale Kompetenz. Sie konnte sich anderen Kindern zuwenden, mit ihnen mitfühlen und sie trösten. In einem solchen Fall kann man tatsächlich sagen, dass man nichts auf dieser Welt umsonst macht, denn sie war als Freundin sehr begehrt. Das führte allerdings nie dazu, dass sie wie eine Bienenkönigin umschwärmt wurde. Sie sonderte sich sehr gern ab und ging bewusst ihre eigenen Wege. Cliquen schloss sie sich so gut wie nie an. Diesen kleinen aber feinen Tick hat sie offensichtlich von mir geerbt. Auch ich fühle mich als Individualist, der seiner eigenen Fuchsfährte folgt, am wohlsten. Diese Eigenart heißt also nicht, wie wir eben lesen konnten, dass ein Einzelgänger gegenüber seinen Mitmenschen nicht aufgeschlossen sein könnte sondern eher das Gegenteil. Diese Charaktereigenschaft änderte sich während Andreas Jugendzeit in keiner Weise. Ihre Einzelgängerschaft brachte ihr da den Nachteil, dass alle ihre Freundinnen sich mit Partnern schmückten und sie noch ein echter Single war. Ihr Vermögen mitzufühlen und trösten zu können, ließ sie für ihre Freundinnen zu begehrten Beraterin, auch in Fällen von Liebeskummer werden. Das ergab das Paradoxem, dass die Unerfahrenste gleichzeitig die meist beschäftigte Beraterin war. Andreas extremes Einzelgängertum legte sich bei der jungen Erwachsenen aber ihre sozialen Eigenschaften, auf die auch ihre Berufswahl zurückzuführen war, blieb ihr erhalten. So war es bis zu dem Zeitpunkt wo ihr Mann ermordet wurde. Ihre Einzelgängereigenschaft erschien jetzt in einer enorm gesteigerten Form wieder. Sie nutzte jede Chance um sich in eine Art Schneckenhaus abzukapseln. Ausschließlich gegenüber Gisela und mir, ihren Eltern, war sie noch zugänglich. Dieses war mit der Aufklärung des Falles nicht erledigt. Sie wohnte weiter bei uns und hielt sich da meist in ihrem Zimmer auf. Auch ihre wunderbaren sozialen Eigenschaften schienen gelitten zu haben. Ich hatte den Eindruck, dass sie die Schicksale anderer Leute nun ziemlich kalt ließen. Aber die Gründe für diese Verhaltensänderung dürften für jeden, der diese Geschichte aufmerksam verfolgt hat, klar und nachvollziehbar sein. Wir ließen unsere Tochter auch dahingehend in Ruhe und hofften, in ihrem Interesse, dass sie bald wieder die alte sein würde. Schließlich geht das Leben weiter und der Mensch ist nicht zum Alleinsein geschaffen. Während der Herbst-Schulferien des letzten Jahres geschah dann so eine Art Wunder in Andreas Leben. Sie hatte vorher endgültig ihr Häuschen verkauft und sich den Roherlös für den Fall eines Falles beiseite gelegt. Ich
konnte sie aber dann doch überreden, einen kleinen Teil der Rücklage zu entnehmen und damit ein paar Tage Urlaub zu machen. Einfach mal raus und auf andere Gedanken kommen. Na ja, dann nahm sie ein SchnäppchenAngebot war und flog für ein paar Tage nach Leptokaria an der Olympischen Riviera in Griechenland, direkt am Fuße des Mitikas, dem höchsten Berg des Olymp-Massives auf dem laut der Mythen Zeus und seine Götterfamilie gethront haben. Das sie ausgerechnet in diese südlich von Thessaloniki gelegene Gegend flog wundert mich auf der einen Seite und freute mich auf der anderen, denn aus Katarini, nicht sehr weit von Leptokaria, kam Konstantindios. Ganz offensichtlich hat unsere Tochter trotz allem keine Berührungsängste mit der Vergangenheit. Als Andrea dann wieder nach Hause kam glaubte ich unsere Tochter nicht wieder erkennen zu können. Von ihrem Drang sich in ihr Zimmer zurückzuziehen war nichts mehr zu spüren. Sie hielt sich jetzt, wenn sie zu Hause war, überwiegend in unserer Gesellschaft auf und war während der Zeit sehr mitteilsam. Aus dem was sie erzählte, konnten wir entnehmen, dass sie sich nun wieder für das Schicksal ihrer Mitmenschen interessiert. Zu der Sinneswandlung hat, davon bin ich überzeugt, eine Bekanntschaft während des Urlaubes geführt. In dem Hotel, in dem sie sich eingebucht hatte, war auch das Ferienquartier eines jungen Witwers, der tatsächlich den Mut aufgebracht hatte alleine mit seinen drei Kindern, zwei Jungens, 4 und 7 Jahre, und ein Mädchen, 6 Jahre, in den Urlaub zu fliegen. Unserer Andrea gefiel es dem geplagten Vater, der ihr auch als Mann ganz gut gefiel, bei dem Hüten seiner „Bande“ behilflich zu sein. Die Mutter der drei Racker war etwas über ein Jahr davor nach einer Operation an einer Lungenembolie gestorben. Der Vater hat sich danach rührend um seine drei Kinder gekümmert. Im Oktober 2003 machte er dann zum ersten Mal seit dem Tode seiner Frau Urlaub. Wie Andrea uns erzählte hat sie diese mutterlose Familie bereits am ersten Tag kennen gelernt und während sie sich um die Kinder kümmerte, kümmerte sich der Vater um Andrea. Na ja, da sprang irgendwo ein Flämmchen über. Der 37-jährige Pastor Dirk Schröder „verknallte“ sich in unsere Andrea und die umgekehrt in die ganze mutterlose Familie. Schon am 10. Februar dieses Jahres, es war ein Dienstag, gaben die beiden sich das Ja-Wort. Zum erneuten Abschied von ihren Eltern sagte Andrea: „Ich glaube, ich war immer zur Frau und Mutter vorbestimmt. Nach meiner Meinung sollte das mein Leben, mein richtiges Leben sein. Warum nur war es dann mein Schicksal, dass ich keine eigenen Kinder bekommen konnte? Mein Leben mit Tinos wäre sicher anders verlaufen. Wir wären nicht fremd gegangen und miteinander glücklich gewesen. So wäre es niemals zu den Mord gekommen. Dann frage ich mich auch, warum musste Dirks Frau sterben und ihn mit den Kleinen, die mir jetzt schon wie meine eignen Kinder vorkommen, allein lassen. Aber ich werde mich jetzt bemühen nicht mehr an so etwas zu denken, denn das führt nur dazu, dass ich mit Gott hadere. Aber alles was Gott gemacht hat ist gut und hat seinen Sinn, den wir in unserer kleinen bescheidenen Sichtweise nur nicht erkennen können. Ich lasse es jetzt mich grämend mit meiner Vergangenheit zu beschäftigen, ich suche nicht nach Schuld und weise diese niemanden zu. Ich konzentriere mich auf das Heute ... und das sind Dirk und die Kinder – und vertraue darauf, dass das, was die Zukunft bringt, gut für uns sein wird. Das ist Leben und wir sollten nur einfach richtig leben“. Sicherlich stehen ihr als jetzige Pastorenfrau solche Worte zu. Aber sie hat diese bestimmt nicht wegen ihres neuen Status sondern aus innerer Überzeugung ausgesprochen. Ich finde das, was meine Tochter ausdrückte ein gutes Schlusswort für diese meine kleine Geschichte ist und setzte deshalb auch nichts mehr hinzu.
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Das erste Leben war ein einziger Irrtum Haben Sie schon einmal jemand, der zum zweiten Mal lebt, kennen gelernt. Falls nein, dann erleben Sie jetzt eine Premiere, denn ich, Gerhard Schmidt, bin der Mann, der zum wiederholten Male auf dieser Erde lebt. Mein erstes Leben endete vor etwas über zwei Jahren auf der Autobahn A 45, der Sauerlandlinie, als mir zwischen den Ausfahrten Lüdenscheid-Nord und Hagen-Süd ein Geisterfahrer entgegen kam. Der Geisterfahrer, meine zweite Frau Elke und Sabrina, unsere Tochter konnten nicht mehr zum Leben erweckt werden. Nur mein Körper konnte zusammen geflickt und in diesem meine Seele zurück in diese Welt geholt werden. Das schreckliche Geschehen am Karnevalssamstag des Jahres 2002 und die erste Zeit danach kenne ich auch nur aus Berichten; selbst habe ich daran keine Erinnerung, was wahrscheinlich auch gut so sein dürfte. Es muss ja schrecklich gewesen sein. So berichtete man mir, dass ich in der Unfallnacht mit überhöhter Geschwindigkeit auf der äußerst linken Fahrspur gefahren sei. Ich soll eine Geschwindigkeit, die auf 150 bis 180 Stundenkilometer geschätzt wurde, mit meinem Daimler gefahren sein, obwohl hier die Geschwindigkeit auf Hundert begrenzt ist. Ich saß am Steuer und neben mir, auf dem Beifahrersitz saß Elke, meine Frau, und auf dem Rücksitz unsere 17-jährige Tochter Sabrina. Da kam uns dann ein junger, offensichtlich lebensmüder junger Mann – er war erst 23 Jahre – mit seinem „uralten“ Golf entgegen. Seine Lebensmüdigkeit konnte man daraus schließen, dass er gut eine Stunde zuvor von seiner gleichaltrigen Lebensgefährtin verlassen worden sein soll. Ein Fehlverhalten wegen Alkohols ist bei dem Geisterfahrer auszuschließen, da man bei ihm, im Gegensatz zu mir, keinen Tropfen Alkohol im Blut fand. Ich hatte dagegen 1,0 Promille im Blut, was zur damaligen Zeit keine Ausnahme bei mir war. Zu manchen politischen Gespräch oder zu diversen gesellschaftlichen Zusammenkünften gehörte ein sogenannter „guter Schluck“ einfach dazu, so was macht man halt als Mann von Welt. Aber was soll’s, selbst wenn ich den Wert von 0,0 Promille aufzuweisen gehabt hätte, wäre der Unfall nicht zu verhindern gewesen. Denn besagter Golf fuhr unbeleuchtet, ebenfalls mit einer Geschwindigkeit von über Hundert, meinem Daimler frontal entgegen. Obwohl es Karnevalssamstag war, spielte also der Teufel „Ackerhohl“ keine Rolle bei diesem schrecklichen Unfall. Elke und der Geisterfahrer waren sofort tot und Sabrina starb im Hubschrauber während des Transportes in eine Unfallklinik. Nur ich kam mit nur noch einem kleinen Fünkchen Leben im Krankenhaus an und wurde dort für eine weitere Runde Leben zusammen geflickt. Es fehlte nur noch ein Tag, dann hätte ich jetzt sagen können, dass ich genau fünf Wochen im Koma gelegen hätte. Aber das Augenaufschlagen genügt wohl nicht, das Gedächtnis muss seinen Betrieb ebenfalls wieder aufnehmen. Als ich aus dem Koma erwachte wusste ich nicht ob ich Männlein oder Weiblein war, nicht wie ich heiße, nicht wie alt ich zu diesem Zeitpunkt war und nicht was mein Tun auf dieser Welt war. Ich wusste also so gut wie nichts. Ich kam noch einmal, vollkommen unbefleckt wie ein Neugeborener auf die Welt. Ich musste alles noch einmal lernen. Alles, das heißt Sprechen, Verstehen, Laufen und so weiter und so fort. Ich hatte jetzt in meinem zweiten Leben allerdings den Vorteil, dass zuvor schon mal etwas, ein erstes Leben, gewesen war. So kamen mir dann nach und nach Erinnerungen an etwas schon mal da gewesenes, so dass ich dann neun Monate später hätte, wenn ich gewollt hätte, tatsächlich an mein vorangegangenes Leben anknüpfen konnte. Ich wusste nach neun Monaten also wieder, dass ich im Jahre 1946 das Licht der Welt erblickt habe. Zum Zeitpunkt des Unfalls war ich also bereits im 56. Lebensjahr. Dann gehörte ich zu den Leuten, die nicht genug von der Schule kriegen konnten. Erst besuchte ich diese 13 Jahre lang als Schüler und nach dem Abitur befleißigte ich mich als Student, ja schnell wieder in die Schule zu kommen. Mit anderen Worten heißt das, dass ich Lehrer wurde. Als Junglehrer lernte ich auch meine erste Frau kennen. Beate ging also zunächst der gleichen Profession nach wie ich. Nach der Geburt unserer Zwillinge Arnika und Alina im Jahre 1976 zog sie sich, erst nur in einer vorübergehenden Absicht, in unseren Haushalt zurück. Als sie dann 1980 zurück in den Beruf wollte war sie, in diesem Fall etwas unbeabsichtigt, wieder schwanger und nach der Geburt unseres Kevins gab sie ihre beruflichen Pläne dann vorerst gründlich auf. Heute muss ich gestehen, dass ich mich sehr wenig um meine Familie gekümmert habe. Ich ging einer Passion, der ja viele Lehrer verfallen sind, nach. Sie kennen doch sicherlich den Ausspruch: Ein Parlament ist mal voller und mal leerer aber meistens voller Lehrer. Na, wissen Sie jetzt auf welchem Feld ich mich ausgetobt habe? Richtig, ich wurde zum Politikus. Als Karriereverein hatte ich mir die Sozialdemokraten ausgesucht. Ja, von dem demokratischen Sozialismus war ich damals, als ich zu Zeiten Willy Brandts in die Partei eintrat, mal richtig überzeugt. Und heute? Na ja, lassen wir das mal; Sie werden ja merken wo heute in meinem zweiten Leben mein Sinn steht. Also zu Gunsten des politischen Wirbels habe ich meine Familie vernachlässigt. Beate war jedoch eine treue Seele und sie wäre bestimmt bei mir geblieben, auch wo sie bei mir absolut zu kurz kam. Als dann aber Elke Grünfeld, die Sekretärin bei uns im Unterbezirksbüro, von mir geschwängert worden war, war es vorbei mit Beates hausmütterlicher Geduld. Sie ließ sich scheiden und heiratete zwei Jahre später einen Witwer mit zwei Kindern. Auch er war von Beruf Lehrer. Mit meinen Kindern aus erster Ehe hatte ich zunächst noch
gelegentlichen Kontakt aber dann habe ich mich um sie so gut wie überhaupt nicht um sie gekümmert. Ich habe lediglich meine Unterhaltsleistungen ordnungsgemäß getätigt und ihnen zum Geburtstag und zu Weihnachten geschrieben. Daher ist es auch kein Wunder, dass diese sich als Erwachsene im Gegenzug nicht um mich kümmern. Keines meiner drei Kinder aus der ersten Ehe hat mich nach meinem Unfall besucht. Jetzt merke ich, wie weh so etwas tut. Gerade in dieser bösen Zeit waren sie mir wichtiger als die ganze Sch...politik. Von meinen ehemaligen „sozialdemokratischen“ Mitstreitern hat sich nach meinem Unfall niemand um mich gekümmert. Sie werden es gemerkt haben, diese Elke Grünfeld, die ich geschwängert habe, wurde meine zweite Frau. Drei Monate nach dem unsere Sabrina 1985 geboren war haben Elke und ich geheiratet. Die zweite Ehe war auch nicht besser wie die erste. Ganz im Gegenteil: Elke und ich lebten im Großen und Ganzen aneinander vorbei. Ich glaube, dass wir nie richtig aufeinander eingegangen sind. Erst hatten wir ja die Politik gemeinsam aber später wandte sich Elke anderen gesellschaftlichen Schickimickikreisen zu, denn in der Politik hatte sie, die gerne alles geradeaus sagte, kaum eine Chance; sie konnte mir nur einiges mit ihrer „Klappe“ vermasseln. Dahingehend hatten wir auch ab und zu Streit, den wir teilweise recht heftig austrugen. Als Elke sich dann aus der Politik zurück zog haben wir nie mehr Streit gehabt aber wir hatten auch keine gemeinsamen positive Erlebnisse – wir gingen halt getrennte Wege. Ausschließlich in Sachen Sex gab es bei uns auf kleiner Flamme noch Gemeinsamkeiten. So ein Mal in der Woche oder aller spätestens ein Mal in 14 Tagen hatten wir es miteinander. Eigentlich war das nichts Großes. Wenn ich den Ablauf unserer Intimitäten beschreiben würde könnte ich mir bei den Leuten, die Pornografie besessen sind, bestenfalls ein „puh“ oder „na und“ einhandeln. Meist handelte es sich nach einem kleinen Vorspiel nur um ein sogenanntes Nümmerchen in Missionarsstellung. Na ja, sexhungrig waren wir beide nicht so sehr. Das, was ich eben beschrieb, genügte uns auch. Mir auf jeden Fall und Elke offensichtlich auch, denn keiner von uns war bis zu dem Zeitpunkt, wo uns der Tod schied, mal fremd gegangen. Von mir selbst kann ich das ja hundertprozentig behaupten und was Elke anbelangt weiß ich von keiner Situation, wo sie einen Seitensprung hätte unternehmen können. Diesbezüglich habe ich nirgendwo das Gefühl etwas vermisst zu haben. Ich hatte halt die Politik, in der ich voll und ganz aufgegangen war. An dem Tag, wo das Unglück, welches mein erstes Leben beenden sollte, geschah war ich innerhalb der SPD der Vorsitzende des Ortsvereins und auf Unterbezirksebene war ich stellvertretender Vorsitzender. Auf allen Parteitagen vom Unterbezirk bis zum Bundesparteitag war ich Delegierter. Bei uns im Örtchen mimte ich den stellvertretenden Bürgermeister und gedachte in diesem Jahr 2004 eine Station höher zu rücken, also noch einmal zum Bürgermeister zu kandidieren. Ich war ja bereits 1999 diesbezüglich angetreten aber nachdem ein gewisser Herr Schröder den letzten Sozialdemokraten Oskar Lafontaine weggemobbt hatte, war auch der Trend auf Ortebene nicht gerade auf unserer Seite. Als Landtagsabgeordneter stand ich seit der letzten Landtagswahl in den Startlöchern, das heißt, dass ich bei der Direktwahl im Wahlkreis, also bei den Erststimmen, nur ganz knapp dem CDU-Kandidaten unterlegen war. Vor der Wahl hatten wir allerdings mit einem Sieg gerechnet und deshalb fand man mich nicht gerade auf den aussichtsreichsten Plätzen auf der Landesliste. Anfang 2002 war allerdings der Punkt gekommen, wo ich als nächster in das Parlament nachgerückt wäre. Das war also die Situation zum Ende meines ersten Lebens. Im Jahr 2002 hat sich dann vieles automatisch geändert. Man ging davon aus, dass ich aus gesundheitlichen Gründen meine Parteiämter vorläufig nicht wahrnehmen könnte und besetzte die Posten schon mal mit anderen Parteisoldaten. Offiziell war ich bis Mitte 2002 noch Ratsmitglied und stellvertretender Bürgermeister aber das erste was man, als man hörte ich könne wieder eigenverantwortlich entscheiden, unternahm war es mir den Rücktritt nahe zulegen. So kam ich zu der Ehre eines einmaligen Besuches eines Genossen. Horst Granke, der SPD-Fraktionsvorsitzende im Rat, kam mit Blumen und vorgefertigten Rücktrittserklärungen zu mir ins Krankenhaus. Ansonsten habe ich, wie ich ja vorhin schon schrieb, von meinen politischen Mitstreitern niemand zu sehen und zu hören bekommen. Am meisten Kontakt in jener Zeit hatte ich mit dem Rechtsanwalt Dr. Siegfried Bergmann. Siegfried war früher auch mal ein Genosse, der aber aus Protest gegen den von Helmut Schmidt vorangetriebenen Nachrüstungsbeschluss wieder aus der Partei austrat. Seit dem verhält er sich politisch bedeckt. Wir sind so ein bisschen befreundet geblieben und wenn ich mal einen Gesetzesausleger benötigte habe, wandte ich mich an ihm. Während ich im Krankenhaus lag war er für mich so eine Art „Junge für alles“. Er kümmerte sich, sogar schon zu dem Zeitpunkt wo ich noch nicht wieder klar in der Welt war, um alle Dinge, die mit dem Unfall zusammenhingen. Er gab sich als mein ständiger Hausjurist aus, was ja in gewisser Weise auch stimmt, und berief sich auf ältere Vollmachten. Auf diese Weise hatte er sich auch zum Verwalter meines Hauses erklärt. Als ich dann in der zweiten Jahreshälfte nach und nach wieder zu „vollen Verstand“ kam, konnte Siegfried gleich zusehen, wie er das Haus an einen anderen Eigentümer bringen konnte. Ich war ja nun alleine und zudem gesundheitlich mehr als angeschlagen. Da ist ein solches Haus, es hatte alleine 165 Quadratmeter Wohnfläche
und die umgebende Grünfläche maß knapp über 600 Quadratmeter, natürlich ein paar Kragenweiten zu groß. Wenn man sein Haus verkauft, dann muss man es auch räumen und, wenn man nicht unter Brücken schlafen will, auch eine Wohnung haben. Siegfried kümmerte sich perfekt um alles. Meine Möbel kamen erst einmal in ein Lager und ich hatte die Option, kurz vor meiner Entlassung zu entscheiden ob die einzelnen Stücke in meine Wohnung oder auf ein AWo-Möbellager sollten. Kostete zwar ein wenig aber so kam dann auch nichts, was mir hinterher leid getan hätte, unter die Räder. Wenn man vorher immer wüsste was dabei heraus kommt könnte man sich so manches sparen. Ich entdeckte, als ich eine Woche vor meiner endgültigen Krankenhausentlassung mit Siegfried im Möbellager war, nichts was ich gerne behalten hätte. So bekam die AWo alle alten Möbel und ich bekam in meiner Wohnung neue. Die neuen Möbel waren alles sogenannte Mitnahmestücke sonst hätte ich tatsächlich ein paar Tage in leeren Räumen leben müssen. In dieser Sicht war es auch gut, dass Siegfried mir zwei kräftige Herren, die mir beim Möbelkauf und bei der Wohnungseinrichtung „halfen“, organisiert hatte. „Halfen“ habe ich deshalb in Anführungsstrichen gesetzt, weil mein Beitrag ausschließlich aus Anweisungen bestand; zu mehr war ich nach dem langen Krankenhausaufenthalt nicht in der Lage. Aus meinen letzten Worten kann man entnehmen, dass ich nach der Geschichte körperlich eine halbe Portion war. Da ist natürlich auch nichts mit der Ausübung des Lehrerberufes. Somit war Siegfried auch in Richtung Pensionierung für mich tätig gewesen. So, jetzt habe ich alles beschrieben, was für meinen Status zu Beginn meines zweiten Lebens wichtig ist. Ich fasse noch einmal zusammen: Ich war jetzt ein Witwer ohne weiteren Familienanhang. Für meine erste Familie schien ich praktisch schon viel früher gestorben zu sein. Mittelpunkt meines ersten Lebens war die Politik und nun war ich alle politischen Ämter los. Vor meinem Unfall war ich Lehrer und jetzt Frühpensionär mit einem deutlich geringerem Einkommen. Zum Ende meines ersten Lebens wohnte ich in einem großen Eigenheim und jetzt in einer kleinen Mietwohnung. Im ersten Leben hatte ich noch eine Frau, mit der ich zumindestens ein Mal wöchentlich oder 14-tägig ein eheliches Vergnügen hatte, und jetzt saß ich allein mit meinen Gedanken und zwei gesunden Händen innerhalb der vier Wände, die ich meine Wohnung nannte. Zuerst habe ich da beim besten Willen meine Hände nicht zum Beifall erhoben sondern ich fühlte mich mächtig abgestürzt. War es doch früher immer hektisch um mich herum zugegangen herrschte jetzt eine ungewohnte, mir zunächst Angst machende Ruhe. Aber so nach und nach begann sich mein Horizont zu erweitern und ich entdeckte die riesigen Vorzüge, die die Ruhe mit sich bringt. Ich konnte unter anderem über einige Dinge intensiv nachdenken. Dabei stellte ich fest, wie sehr man geneigt ist, schon aus reinen Zeitgründen vorgefertigte Meinungen zu übernehmen. In meinem ersten Leben verließ ich mich in sehr, sehr vielen Fällen darauf, dass eine Meinung aus dem gleichen Lager, für welches ich mich mal bewusst entschieden habe, kam und dass diese von einem Mann oder ab und zu auch mal einer Frau, dessen Fähigkeiten ich hoch einschätzte, vorgetragen wurde. Diese Meinung konnte dann aus meiner Sicht nicht falsch sein und deshalb habe ich sie auch vertreten, in der Regel sogar als meine eigene Meinung. Jetzt wo ich Zeit und Muse hatte über alles selber und gründlich nachzudenken, stellte ich fest, was für einen „geistigen Dünnschiss“ doch Leute, die glauben die Weisheit für sich gepachtet zu haben, von sich geben können. Eigentlich müsste man es doch bei genauen Hinsehen und ein wenig überlegen merken, dass beispielsweise Spitzenpolitiker immer nur den „Senf“, den sich andere ausgedacht haben, weiter geben können. Beobachten Sie doch nur mal in den Medien, auf wie viele unterschiedliche Hochzeiten die Spitzenpolitiker tanzen, über welche andersgeartete Themen die sich auslassen und welchen Medienvertretern sie Rede und Antwort stehen. Nicht selten ist jedes Thema für und in sich sehr komplex. Da ergibt sich doch ganz einfach die Frage, wann die Herrschaften Gelegenheit hatten sich sachkundig zu machen. Wo nehmen die Leute denn nur die Zeit her um die komplette Sache zu überdenken, diverse Möglichkeiten abzuwägen? Da kann man ja wirklich glauben, dass es die Leute, die den Unfug, dass es keine Alternative gäbe, plappern, es tatsächlich ernst meinen. Es gibt immer eine Alternative und wer das Gegenteil behauptet ist schlicht und einfach nur ein Dummkopf. Daraus ist zu folgern, dass Spitzenpolitiker ausschließlich medienwirksame Handpuppen von irgendwelchen Leuten, die man jedoch nicht zu fassen kriegt, sind. In meinem ersten Leben erfuhr ich auch, wie man sich „Stallgeruch“, den man so schnell nicht los wird, zulegen kann. Da umgibt man sich mit Leuten, die augenscheinlich das gleiche Ziel wie man diese sich selber vorstellt, haben. Alle anderen werden zu Feinden oder zur belanglosen Masse. Ersteres sind die Leute, die eine entgegengesetzte Zielrichtung vorgeben. „Vorgeben“ ist das richtige Wort, denn sehr oft sind die Ziele, wenn man der Sache auf den Grund geht, miteinander identisch, man bezeichnet die Wege nur unterschiedlich oder man ist nur für eine Sache weil die andere Seite dagegen ist. Vielfach geht es überhaupt nicht mehr um die Sache sondern nur noch um die Macht; man will selber immer nur oben sitzen. Schauen wir uns doch nur einmal die neoliberalen Ziele der großen Parteien an. Nun, der eine gibt vor, dass er links herum und der andere rechts herum zu dem deckungsgleichen Ziel will. Das „herum“ bedeutet immer Sozialraubbau und links beziehungsweise rechts ist der Wortschwall, mit dem man das „herum“ begründet. Für den Bürger bleibt's gleich. Demjenigen, der schon im Überfluss hat, dem wird gegeben und von demjenigen, der es nötig hat, wird
es genommen. Die wirtschaftlichen Eckdaten und Börsenkurse haben heute halt Vorrang vor dem Wohlergehen der Menschen. Längst wurde die Aussage, dass die Wirtschaft dem Menschen zu dienen habe ins direkte Gegenteil umgekehrt. Heute sollen die Leute nicht arbeiten um zu leben sondern man macht ihnen weiß, dass sie lebten um zu arbeiten. Aber zurück zum Stallgeruch. Man hält also die Leute, die einen umgeben für gut und weise und die andere Seite für dumm und schlecht. Was von den eigenen Leuten kommt, wird mit freundlichen Wohlwollen entgegengenommen und alles was von der anderen Seite kommt wird ohne weitergehende Prüfung in der Luft zerrissen. Aufpassen muss man nur dann, wenn die „belanglose Masse“, sprich die Bürger, die nicht im Parteigleichschritt marschieren, etwas, was von der anderen Seite kommt, gut findet. Dann muss man eine gut gesülzte Formulierung finden, mit der man den Leuten glaubhaft machen will, dass man schon viel früher eine bessere Idee gehabt habe aber mit dem Schritt in die Öffentlichkeit erst warten wollte, bis die Sache ausgereift ist. Ja Leute, wenn man in einem bestimmten Stall ist, fällt einen so etwas, was ich eben beschrieb, selber gar nicht auf. Diese Erkenntnisse kamen mir zu Beginn meines zweiten Lebens Ende 2002/Anfang 2003. Die „neuen“ Erkenntnisse, die Erweiterung meines Horizontes, erfüllte mich mit einer innerlichen Freude aber trotzdem war ich in dieser Zeit nicht glücklich. Öfters sehnte ich mich doch in mein erstes Leben, in dem ich jetzt aber alles besser als zuvor machen wollte, zurück. Dieses aber nicht aus dem Grunde, weil ich unbedingt wieder in einen Stall wollte sondern weil ich mich einsam und verlassen fühlte. Ich war vollkommen frei. Wenn ich mittags um Zwölf ins Bett gehen wollte, konnte ich das genau so gut wie um Mitternacht aufstehen. Wenn mir nach Ausgang war konnte ich lossputen. Es gab kein Terminkalender, der meine Freiheit einengte, und es gab keinen Menschen, den ich über meine spontanen Entscheidungen informieren musste. Eigentlich hatte ich nach dem Unfall meine absolute Freiheit erhalten. Ich hatte zwar ein deutlich geringes Einkommen aber dafür hatte ich keine Verpflichtungen, auch keine mit wirtschaftlicher Natur, mehr und ich brauchte weder für Familie noch Haus sorgen. Ich war vollkommen frei und unabhängig und trotzdem unglücklich. Gerne hätte ich mich in meiner Freiheit und Unabhängigkeit einschränken lassen. Dieses am liebsten von einer Frau, die mir auch noch auf anderem Gebiet etwas hätte geben können. In jener Zeit ging ich zirka alle drei Wochen zum Frisör. Na, ich hatte in dieser Periode keinen besonderen Haarwuchs und meine Eitelkeit hatte sich auch noch nicht in eine Eitelkeit gesteigert. Ich habe ein paar graue Haare und bin darauf sogar ein bisschen stolz, denn ich glaube, dass mich diese grauen Strähnen irgendwie seriös und gut aussehen lassen. Ich gehöre also nicht zu den Leuten die die Justiz bemühen, wenn ihnen ein paar altersgemäße graue Härchen nachgesagt werden. Also ich ging nicht ausschließlich wegen der Gründe, weshalb auch andere Leute in meinem Alter zum Frisör gehen, in dieses Geschäft. Ich ging insbesondere auch wegen eines Grundes, der eher einem jungen Mann so bis Mitte Zwanzig nachvollziehbar angestanden hätte. Ich ging wegen der jungen, blonden Frisöse Bianca Stockmann in den Salon Anita. Neben Anita Neuhaus, der Chefin, und Bianca gab es in diesem gemischten Damen- und Herrensalon noch zwei weitere Mitarbeiter aber Bianca war die Spezialistin für Herrenköpfe und die Männerwelt vertraute ihr nicht ungern ihr Haupt an. Ich gebe jetzt mal ehrlich zu, dass mich diese kurvenreiche Dame sexuell anregte und ich von erotischen Gefühlen durchzogen wurde, wenn sie mich berührte. Aber das war nicht einmal die Hauptsache, warum ich zu ihr ging. Im Gegensatz zu dem Vorurteil gegen den Berufsstand Frisöse ist Bianca eine intelligente und sehr verständige junge Frau. Mit ihr konnte ich, während sie meinen Kopf bearbeitete, über die Dinge sprechen, die mir so durch den Kopf gegangen waren. Bianca ist ein Typ, der mir nicht aus dem Grunde weil ich Kunde war recht gab, aber auf der anderen Seite auch nicht aus reinen Opportunismus widersprach. Mit ihr kann man wirklich gut und sachlich reden. Schade, dass ein solcher Frisörservice immer nur so schnell vorbei geht. An einem Tag Anfang März 2003 hatte ich mir etwas ganz besonderes vorgenommen, als ich mal wieder zum Salon Anita ging: Ich wollte Bianca meine Einsamkeit gestehen und ihr das Kompliment, dass sie eine gute Gesprächspartnerin sei, unterbreiten. Sie können sich sicherlich denken, worauf ich hoffte: Ich wollte mich mit der jungen Dame verabreden. Nun gut, sie schmunzeln weil da ein mittelalterlicher Herr im zweiten Frühling durch die Gegend gockelt. Das Bianca meine Tochter hätte sein können, war mir, als ich mich ins Frisörgeschäft begab, auch selber klar. Wie so oft im Leben nahm dann dieses Gespräch einen überraschenden Verlauf. Geduldig hörte sich Bianca meine Einsamkeitsklage an. Dann fragte sie mich ganz direkt, ob es mir nicht auch an so ein wenig Zärtlichkeit und auch an ein Quäntchen Sex mangeln würde. Das wir darüber sprachen, hatte ich allerdings nicht einkalkuliert, denn so ein Realist war ich auch, dass ich mich der jungen Frau nicht als der Mann fürs Leben empfehlen konnte. Ich wollte sie ja zunächst nur mal zu einem Essen, in dessen Mittelpunkt das Gequassel liegt, einladen. Dass sich Bianca protestuieren würde, konnte ich nicht glauben und daher hatte ich auch ein wenig Angst, ihr zu gestehen, dass ich doch gerne was in Richtung des anderen Geschlechts anbandeln würde. Ich glaubte, dass, wenn ich ihr auch diese Wahrheit bekenne, alles mit einem guten Rat erledigt sein könnte. Trotz- und alledem rang ich mich zu Ehrlichkeit durch und hatte mich damit selbst in ein Verhör „geschaukelt“. Bianca fragte nach: „Sind sie so ein Typ, der der Meinung ist, dass der Haushalt von der Frau gemanagt wird
und die Männer da bestenfalls mithelfen brauchen? Oder können sie sich vorstellen, den Haushalt zu schmeißen, weil die Frau aus irgendeinen Grund daran gehindert ist?“. Im ersten Leben hätte ich mich, wenn ich ehrlich gewesen wäre, zu dem Typ, von dem Bianca ursprünglich sprach, bekennen müssen aber jetzt, im zweiten Leben, hatte ich darüber noch gar nicht nachgedacht und das bekannte ich der jungen Frisöse dann auch und ergänzte: „Ich gehe aber mal davon aus, dass ich auch im Haushalt eine lohnenswerte Aufgabe sehen würde. So macht mir ja das Wirken in meinem Einmannhaushalt sogar spaß.“. Da setzte Bianca mit einer zweiten Frage nach: „Was hätten sie denn für Ansprüche an ihre Frau?“. „Ach, gar nichts Großes.“, erwiderte ich, „Sie müsste in etwa eine so gute Gesprächspartnerin wie sie, Bianca, sein und Bereitschaft mitbringen, mit mir zu lachen und zu weinen. Sie muss mich trösten können und auch Trost von mir annehmen.“. Bianca bohrte weiter und es sah mir schon recht eindeutig aus: „Was ist denn vom Äußerlichen eine Frau, die ihnen gefallen würde?“. Jetzt antwortete ich ihr: „Ja, wenn sie etwa 30 Jahre älter wären, dann wären sie genau meine Idealfrau. Ehrlich gesagt, sind sie das auch in ihrem Alter aber ich dürfte wohl nicht der Idealmann für sie sein ... schließlich wäre es theoretisch möglich, dass ich ihr Vater wäre.“. Bianca lachte nur ganz kurz und fuhr dann sehr ernst weiter: „Herr Schmidt, wenn es jetzt die ideale Frau für sie wirklich gäbe. Eine Frau, die so aussieht wie ich, die sogar die gleiche Figur wie ich hätte, die so spricht und vielleicht sogar so denkt wie ich. Nehmen wir einmal an, diese Frau wäre genau so einsam wie sie und suchte nach einem geeigneten Partner. Aber jetzt kommt die Einschränkung: Die Frau ist blind, ihre Augen sind tot. Sie hat bei einem schweren Unfall vor sieben Jahren, bei dem ihr Mann gestorben ist, ihr Augenlicht verloren ... aber ansonsten ist es eine vollwertige, sehr liebe Frau. Können sie sich vorstellen, es mal mit ihr zu versuchen und wären sie dann ehrlich zu ihr, würden sie ihre Blindheit nicht missbrauchen?“. „Das hört sich an, als würden sie an eine bestimmte Frau denken.“, erwiderte ich, „Wie ich mit der Blindheit umgehen würde weiß ich allerdings nicht. Darüber habe ich natürlich noch nie nachgedacht und ich will mich jetzt auch nicht aus dem Stehgreif als edler Ritter darstellen. Ich kann mir allerdings vorstellen, dass ich eine Aufgabe darin sehen könnte, für diese Frau da zu sein.“. Sie machte jetzt erst einmal eine Pause beim Frisieren und wischte sich durch die Augen als müsse sie Tränen beseitigen und sie sagte dann: „Diese Frau ist meine Mutter und ich glaube, dass sie ganz gut zu ihr passen. Daran, dass ich ihnen dieses sage, können sie sich vorstellen, dass ich sie auch als mein Stiefvater akzeptieren würde. Darf ich sie denn mal mit meiner Mutter bekannt machen?“. Natürlich stimmte ich zu und Bianca ging dann auch zwischendurch in das Hinterstübchen des Salons, um von dort mittels ihres Handys einen Termin mit ihrer Mutter auszumachen. Gleich am nächsten Freitagabend sollte die erste Begegnung stattfinden. Die Stockmanns, also Bianca und Mutter, wohnten in dem etwa acht Kilometer von hier entfernten Rollmeck und deshalb wollte Bianca mich zu dem Treffen abholen. Ich hatte zu dieser Zeit ja weder Führerschein noch Auto. Was heißt hier „zu dieser Zeit“ auch heute habe ich so etwas, was ich früher für unentbehrlich hielt, nicht wieder in meinem Besitz. Na ja, so gegen halb Acht trafen wir bei der blinden Frau Stockmann in Rollmeck ein. Ich muss sagen, dass Bianca mir mit sehr wenigen Worten ihre Mutter perfekt beschrieben hatte. Die Tochter war ein perfektes Abbild ihrer Mutter. Ich habe schon große Ähnlichkeiten zwischen Eltern und ihren Kindern erlebt aber so eine Übereinstimmung wie in diesem Fall war mir noch nicht untergekommen. Ich hatte den Eindruck, dass die Sonnenbrille, die Frau Stockmann ständig trug und trägt, sie noch um einige Jahre jünger macht. Aber die Brille wurde nicht aus diesem Grunde getragen sondern sie sollte die toten Augen, die im ersten Moment tatsächlich kein schöner Anblick sind, „verstecken“. Ich muss sagen, dass Frau Stockmann abgesehen von den Augen eine sehr schöne Frau ist. Wenn man sich allerdings an das Aussehen der Augen gewöhnt hat – ich glaube das war bei mir sogar schon innerhalb der ersten Stunde der Fall – dann handelt es sich bei Biancas Mutter um eine Traumfrau; zumindestens aus meiner Sicht. An diesem Abend stellte ich fest, dass ich doch irgendwie schüchtern bin. Diese konnte man nicht nur bei mir feststellen sondern bei Frau Stockmann gab es genau so viel Hemmungen wie bei mir. Dadurch kam unser Gespräch gar nicht so richtig in Fahrt. Da musste Bianca doch erst einmal nachhelfen. Sie erklärte, dass sie für uns beide vollstes Verständnis habe. In unserem Alter und nach dem Schicksal was hinter uns liegt, könnten wir nicht so einfach auf Brautschau gehen. Da wäre es sogar fraglich, ob wir auf diesem Wege einen richtigen Partner beziehungsweise richtige Partnerin gefunden hätten. Da wäre es doch am empfehlenswertesten sich an eine seriöse Partnervermittlung zu wenden. Sie schloss ihre Rede mit: „Darauf, dass ich ausnahmsweise eine seriöse Vermittlung betrieben habe, könnt ihr euch hundertprozentig verlassen. Das lag doch in meinem ureigenen Interesse oder meint ihr ich kupple Leute, die nicht zueinander und unmöglich zusammen passen, unter der Voraussetzung, dass ich selbst mit ihnen ein Leben lang aushalten muss, zusammen. Schließlich sitze ich als euere Tochter doch mit im Boot.“. Irgendwo rührte es mich doch wundersam komisch an, das Bianca „euere Tochter“ gesagt hatte. Das hörte sich so an, als sei für sie schon einmal alles klar. Darüber hinaus hatte ich, genau so wie ihre Mutter, die letzten Worte erheiternd und eisbrechend empfunden und unsere Zungen lösten sich dann doch deutlich. Diese Gelegenheit nutzte dann Bianca um sich davon zu machen. Sie erklärte, dass sie nicht als Anstandswauwau störend zwischen uns sitzen wollte und sie sich mal in der Disco umsehen wolle, ob nicht zufällig heute der Richtige für sie auftauchen würde. Und husch, da war sie schon
davon. Ich saß da jetzt alleine mit Frau Stockmann und wir erzählten uns gegenseitig etwas von uns selbst. Das ging so etwas über eine Stunde. Dabei bedienten wir uns von den Schnittchen, die schon bei unserer Ankunft bereit gestellt waren und wir tranken einen trockenen griechischen Weißwein. Ich bewunderte immer wieder, wie zielsicher Frau Stockmann zu dem, vor ihr auf dem Tisch stehenden Glas griff. Zwischendurch fragte sie mich mal, ob ich noch Schnittchen oder Knabberein wie Salzstangen möchte. Als ich mich für Salzstangen entschied, stand sie auf und ging sicher und ohne anzuecken zum Schrank und holte diese. Das kommentierte ich dann bewunderten, worauf ich die Auskunft erhielt: „Ja, wenn sich alles an seinem gewohnten Platz befindet hilft mir mein Gedächtnis bei der Orientierung. Das ist alles nur eine Übungsangelegenheit. Das ist eine Angelegenheit, mit der sie sich auf Dauer abfinden müssen: Ohne es mit mir abgesprochen zu haben, dürfen sie nichts verändern sonst finde ich mich nicht mehr zu recht oder ich falle gegebenenfalls noch auf die Nase.“. Letzteres hörte sich für mich tatsächlich so an, als stünde für Frau Stockmann fest, als wolle sie es mit mir versuchen. Ich hörte in mich hinein und vernahm, dass mich dieses sogar richtig freute. Bianca hatte wohl recht gehabt, als sie vermutete, ihre Mutter wäre die Richtige für mich. Daraufhin beschloss ich jetzt, in Richtung einer Beziehung weiter vorzustoßen: „Frau Stockmann, irgendwo bin ich mir sicher, dass sie die Frau sind, die mir der Himmel schickt. Gerade deshalb finde ich die förmliche Anrede mit „Sie“ unpassend und störend. Ich heiße Gerhard – oder besser gesagt Gerd, wie fast alle zu mir sagen.“. Erröten hat nichts damit zutun ob man selbst sehen kann oder nicht, sonst hätte sie nicht so herrlich wie in diesem Augenblick erröten können. Darauf tönte sie schüchtern klingend: „Auch ich habe das Gefühl du könntest der Richtige sein, Gerd. Ich bin Heidi. ... Und zum Zwecke des Bruderschaftskusses muss du hier neben mir auf der Couch Platz nehmen.“. Das ließ ich mir nicht zwei Mal sagen und danach gab es dann erst mal eine „wilde Knutscherei“. Die nächste Stunde war dann die Fortsetzung des ersten Abendteils, nämlich des gegenseitigens Einführen in die eigene Person, aber nun stark kombiniert mit zärtlicher Schmuserei. Langsam taste ich mich an ihre Brüste heran. Erst oberhalb ihres T-Shirts und dann darunter auf der blanken Haut. Heidi schien die Sache zu genießen. Während ich dann mit meinen Fingern an ihren Brustwarzen spielte, hauchte sie mit zitternder Stimme: „Seit unserem Unfall habe ich es noch nicht wieder mit einem Mann gehabt. Zum ersten Mal erfahre ich so etwas als blinde Frau. Mir ist es so als wäre ich ein ganz junges Mädchen, dass gerade erst die Liebe neu erfährt. Sei mir bitte nicht böse, wenn ich so schnell zur Sache komme, aber ich möchte jetzt mit dir schlafen. Ich möchte mal wieder richtig einen Mann spüren.“. Natürlich war ich ihr nicht böse sondern eher im Gegenteil selbst darauf spitz möglichst schnell mit ihr ins Bett zu kommen. Und so verschwanden wir auch postwendend im Schlafzimmer und was da geschah, muss ich ja nicht hier an die große Glocke hängen. Ich weiß nicht, wann Bianca an diesem Abend nach Hause kam; wir haben sie nicht gehört. Aus dem „Wann“ hätte man eigentlich schließen können ob sie mit dem, was geschah gerechnet hat, oder nicht. Schließlich hätte sie mich im Falle eines Falles ja wieder nach Hause bringen müssen, denn zu später Stunde ist man in einer ländlichen Gegend, wie hier, mit öffentlichen Verkehrsmitteln wirklich aufgeschmissen. Wir haben aber erst, als es praktisch schon für vieles zu spät war, Bianca wieder bemerkt. Das war am nächsten Morgen kurz vor Acht, als Bianca laut und vernehmlich an der Schlafzimmertür klopfte. Nachdem sich Heidi gemeldet hatte, fragte Bianca von draußen, ob sie eintreten dürfte. Heidi gab ihr grünes Licht obwohl wir beide nackt im Bett lagen – allerdings unter der Decke. Bianca kam aber auch nicht gerade gesellschaftsfähig gekleidet herein. Sie hatte lediglich ein doch etwas durchsichtiges Nachthemd an. Zu meinem, und auch zu Biancas Erstaunen wurde die Tochter von Heidi angeranzt: „Konntest du dir nicht etwas drüber ziehen bevor du hier herein kommst.“. Sollte die blinde Frau doch etwas sehen können? Nein, später als wir wieder alleine waren verriet mir Heidi, dass sie meine körperlichen Reaktionen gespürt habe und von diesen konnten sie dann darauf schließen, was ich zusehen bekam. Bei der Gelegenheit klärte mich Heidi auch darüber auf, dass sie Bianca offen und tolerant erzogen habe. Sie warnte mich, wie bei anderer Gelegenheit auch ihre Tochter, davor, aus dieser Tatsache und ihrer Blindheit „Kapital zu schlagen“. Für sie wäre es sofort aus, wenn sie mitkriegen würde, wenn ich mir mit Bianca Abenteuer am Rande leisten würde. Heidi konnte mir nicht sagen, ob sie das bei dritten, fremden Frauen vielleicht lockerer sehen würde aber im Bezug auf ihre Tochter war sie sich sicher, dass sie das Ganze sehr streng und kompromisslos sehen würde. An diesem Morgen hatte Bianca allerdings keine erotische Attacke auf mich vor. Sie hatte schlicht und einfach nur verschlafen und war, als sie das merkte, gleich in das Schlafzimmer ihrer Mutter los gestürmt. Sie war, wie sie sagte, schon im Begriff ohne anzuklopfen hineinzustürmen, als ihr im letzten Moment meine Anwesenheit einfiel. Bei den beiden Frauen war es stets üblich, dass Bianca den Wecker in ihrem Zimmer läuten ließ. Wenn dieses der Fall war stand sie auf und ging hinüber in das Schlafzimmer ihrer Mutter um diese zu wecken. Dann ging normalerweise erst die Mutter und dann die Tochter zur Toilette. Bei der Tochter schloss sich dann der Vorgang aus dem Hygienebereich, den man Morgentoilette nennt, an. Gleich anschließend war dann die Mutter an der Reihe und während dessen setzte Bianca schon einmal die Kaffeemaschine in Gang bevor sie sich ankleidete. Danach stand Bianca dann ihrer Mutter als Beraterin bei der Kleiderauswahl zur Verfügung. Bei der Frage, was sie anziehen soll, war und ist Heidi immer noch sehr unbeholfen. Dieses kann wohl ein Jeder und
eine Jede nachvollziehen. Jede(r) hat sich wohl schon einmal durch den Kopf gehen lassen, was er/sie anschließend anziehen will und dann, wenn er/sie sich im Spiegel betrachtet, festgestellt, dass er/sie in dem Aufzug unmöglich erscheint. Sorry, ich habe jetzt bei den letzten beiden Sätzen eine künstliche geschlechtliche Neutralität hergestellt. Ich wollte damit nur dokumentieren, dass so etwas sowohl bei Frauen wie auch Männern vorkommt, obwohl man die Anzieheitelkeit, mit der das Ganze aber nichts zutun hat, den Frauen zuschreibt. Nachdem klar war, was Heidi anziehen konnte, deckte Bianca den Frühstückstisch, an dem sich beide anschließend zusammensetzten um abzusprechen, was an diesem Tag anstand. Dieses „Ritual“ sollte sich an jenem Samstag nach Biancas ursprünglicher Absicht auch abspielen. Da Bianca aber eigentlich schon um 8:30 Uhr anfangen sollte und jetzt der Uhrzeiger der Acht-Uhr-Anzeige gefährlich nahe rückte, wäre Bianca bei Beihaltung der täglichen Prozedur nichts anderes übrig geblieben als durch einen Anruf ihre Verspätung zu entschuldigen und sich trotzdem zu beeilen. Jetzt war ich aber da und nun gab es erstmalig, seit dem Mutter und Tochter alleine waren, eine radikale Änderung im Tagesablauf. Bianca entschuldigte sich erst einmal begründet für ihr „luftiges“ Auftreten. Dann erkundigte sie sich bei ihrer Mutter, ob ich, zumindestens über das Wochenende, da bleiben wolle. Ohne Rücksprache mit mir gehalten zu haben, wurde diese Frage von Heidi bejaht. Darauf konterte die Tochter, dass ich ja jetzt an ihrer Stelle in den morgendlichen Ablauf einsteigen könnte. Nachdem Heidi auch hier zugestimmt hatte, sputete sich Bianca ihre Verspätung soweit wie möglich aufzuholen. Dieser spontane Einstieg hört sich so leicht an aber es war tatsächlich ein größerer Aufwand. Ich meine hier speziell die Einkleidung von Heidi. Bianca wusste ja mit der Zeit was ihrer Mutter gut stand und konnte ihr immer schnell raten, was sie an diesem Tage anziehen sollte. Auch ich wurde bei der Auswahl der Kleidung nicht eingeengt. Ich sollte ruhig aussuchen was mir an ihr gefiele und sie wollte es zu meinem Gefallen anziehen. Allerdings konnte ich sie, obwohl sie nichts sehen konnte, nicht „leimen“, denn sie wusste sehr wohl was sie für Anziehsachen hatte und was zueinander passte. So bekam ich dann von ihr zur Erleichterung einige Hinweise und Vorschläge. Aber trotzdem gab es eine kleine Modenschau bei der sich Heidi einige Male ausund wieder ankleiden musste. Hatte ich doch bisher angezogene Frauen nur aus zwei Blickwinkel betrachtet: Entweder gefiel mir das, was sie anhatten oder ich machte mich in meinem Inneren darüber lustig. Seltsamer Weise konnte mich sowohl das eine wie das andere sexuell anregen und auch nicht. Es kam durchaus vor, dass ich von dem Outfit einer Frau absolut begeistert war und dabei keine erotischen Schwingungen empfand. Und auf der anderen Seite liefen Frauen in einem aus meiner Sicht fürchterlichen Räuberkostüm durch die Gegend und Graf Porno ließ meine Fantasie mit der Frau durchbrennen. Nun, jetzt habe ich den berühmten Graf Porno nicht umsonst bemüht, denn das Äußere eines Menschen lässt den Denkapparat der anderen in eine bestimmte Richtung marschieren. Ist eine Frau schön und elegant angezogen, stelle ich mir zum Beispiel vor, wie es wäre, wenn ich sie in einer netten Gesellschaft als meine Begleiterin vorstellen könnte. Ist die Dame aber als Britney Spears verkleidet, wartete ich immer darauf, dass auch noch die letzten Fetzen fallen und die Dame dann wie eine heiße Hündin dasteht. Allerdings war mir dieses bis zu diesem Tag nicht bewusst. Erst jetzt wo mir die Verantwortung für das Aussehen dieser Frau, die mir aufgrund ihrer Blindheit ausgeliefert war, übertragen war ließ mich mein Denkapparat tiefer in diese Angelegenheit einsteigen. So, jetzt muss ich mich ein wenig bremsen, denn wenn ich weiter so ausführlich in der Chronologie fortfahre, muss ich bestimmt über tausend Seiten beschreiben. Aber bis hier war mir die Ausführlichkeit tatsächlich wichtig. Einmal wollte ich klar machen, dass diesmal mein Wunsch nach einer echten Partnerschaft der Auslöser für meine Brautschau war. Ich wollte nicht mehr allein sein und dafür jemand bei mir haben, mit denen ich meine Ansichten und Meinungen tauschen und mit dem ich mir Freud und Leid teilen kann. Das Sexuelle gehörte nach meiner Ansicht zwar dazu aber es war nicht die Hauptsache. In meinem ersten Leben sah ich das alles ganz anders. Da hielt ich Frauen für den Fall wichtig, wenn ich mal was einschlägiges gebrauchte. Im Übrigen waren die Frauen aus meiner Sicht für die Kindererziehung und den Haushalt zuständig. Letzteres hat wohl meine beiden Ehen im ersten Leben länger als drei Jahre zusammengehalten, denn das sexuelle Erleben war so wohl bei Beate wie bei Elke schnell auf der Schiene des Gewöhnlichen. Nach ein oder zwei Jahren erfährt man nicht mehr das Kribbeln der ersten Begegnungen. Ich gehe mal davon aus, dass dieses mit Heidi nicht anders sein wird aber all das andere, auf dass ich gleich noch zu schreiben komme, wird aus meiner Sicht mit Sicherheit Bestand haben. Diesmal war es auch kein beliebiger Zufall, der uns zusammenbrachte sondern wir können sagen, dass wir dreiseitig bewusst gesucht und gefunden haben. Es waren also nicht Emotionen und Launen, die Heidi und mich zusammenbrachten sondern es waren konkrete, vom Bewusstsein gesteuerte Wünsche. Meine habe ich im vorhergehenden Absatz ja noch mal aufgeschrieben. Diese sind im Übrigen deckungsgleich mit Heidis Wünschen, was ja an und für sich eine gute Voraussetzung ist. Für Heidi kam aber noch etwas hinzu: Sie benötigte nach ihrer Erblindung eine Bestätigung, dass sie nach wie vor eine vollwertige Frau ist. Für sie war es wichtig, dass sie mich verführen konnte. Das war ihr ja auch hundertprozentig gelungen. Als Kavalier habe ich
ja nicht alles berichtet, was da zwischen dem ersten Abend und dem ersten Morgen ablief. Ich sage jetzt nur, dass es wirklich toll war. Heidi ist eine echte Vollblutfrau über die ich heute sogar recht eifersüchtig wache. Die Dritte im Kreis der Suchenden und Findenden war Bianca. Diese nette junge Frau hat ihre Mutter wirklich sehr, sehr lieb. Bianca hatte wirklich die feste Absicht in dem Fall, wenn sich kein richtiger Partner für ihre Mutter fände, auf ihr eigenes zukünftiges Eheglück zu verzichten. Dann wollte sie bei ihrer Mutter bleiben. Um selbst eigene Wege zugehen und sich aufs andere Geschlecht konzentrieren zu können, musste sie also einen Partner für ihre Mutter finden. Dabei ging Bianca aber ganz uneigennützig vor, sie hätte nie einen x-beliebigen Mann, von dem sie selbst nicht überzeugt gewesen wäre, für ihre Mutter ausgewählt. Ihre Gespräche, die sie während des Frisierens gerne mit mir führte, hatten also den Sinn vorzutesten, inwieweit ich auf der gleichen Wellenlänge wie ihre Mutter läge. Total entgegengesetzte Meinungen und/oder Intoleranz verhindern jede Partnerschaft. Wer sich nur streitet, kann sich auch nicht lieben. Als Mann gefiel ich Bianca so sehr, dass sie annahm, dass ihre Mutter, wenn sie hätte sehen können, mit Sicherheit auf mich geflogen wäre. So war es also möglich, dass dreiseitige Wünsche übereinander zur Deckung gebracht werden konnten. Es gibt jetzt wohl keine Zweifel auf Seiten der Leserschaft, dass aus Heidi und mir eine feste Verbindung wurde. Schon an dem, nach dem ersten Besuch folgenden Montag sind Heidi und ich zusammengezogen. Der Montag bot sich an, weil Bianca an diesem Wochentag regelmäßig ihren arbeitsfreien Tag hat und sie mit ihren Wagen zwischen meiner alten Wohnung und der Wohnung Stockmann in Rollmeck hin und her fahren konnte. Jawohl, ich bin zu Heidi gezogen. Das bot sich doch wohl so an, weil Heidi ja bei einer selbstständigen Orientierung auf ein gewohntes Umfeld angewiesen ist. Für meine alte Wohnung konnte ich meinem Vermieter auch gleich eine Nachmieterin vorschlagen. Bianca konnte sich ja jetzt „selbstständig machen“ und aus der mütterlichen Wohnung ausziehen. Da mein Vermieter die junge Frau auch akzeptierte, konnte ich mich ja gleich mit einem Möbelgeschenk bei meiner „Stieftochter“ bedanken. Das heißt, dass ich alle noch fast neuen Möbel für Bianca zurückließ und nur mit meiner sonstigen persönlichen Habe in Heidis Wohnung einzog. Für mich hatte das Leben ganz neue Züge bekommen. Obwohl ich eine Partnerin, mit der ich zusammen lebe, habe, bin ich für den Haushalt alleine zuständig. Oft sind es nur kleine Details, die es Blinden verwehren bestimmte Tätigkeiten auszuüben. Heidi konnte sich so gut orientieren, dass sie ohne zu sehen putzen könnte. Das hat sie mir auch ein paar mal, wenn ich daneben stand, demonstriert. Aber mein Danebenstehen war wichtig, denn sie hätte nicht mitbekommen wenn sie etwas unerwartetes, zum Beispiel Farbe, aufgenommen hätte. Normalerweise nimmt man in einem solchen Fall den Aufnehmer um ihn auszuwaschen und auszuwringen, bevor man weiter putzt. Eine Blinde sieht aber die unerwartete Farbe nicht und würde diese mit gleichmäßigen Wischbewegungen im Raum verteilen. So etwas gibt es bei allen Tätigkeiten. Woran soll eine Blinde erkennen, dass beim Spülen hartnäckige Speisereste am Geschirr geblieben sind? Ja, so war ich halt für den Haushalt zuständig. Das hätte es in meinem ersten Leben nicht gegeben, selbst wenn eine meiner beiden damaligen Frauen erblindet wäre nicht. Dann hätte ich eben die Notwendigkeit einer Haushaltshilfe, am Besten auf Kosten der Versicherung, gesehen aber auf den Gedanken, den Haushalt selbst zu führen wäre ich beim besten Willen nicht gekommen. Seitdem ich mit Heidi zusammen war lebte ich viel bewusster. Ich bekam vielmehr mit, was alles auf dieser Welt geschah. Das hing in erster Linie damit zusammen, dass ich sehr viel mit Heidi spazieren ging. Dann war sie immer ganz glücklich, denn sie konnte was anderes als nur die ständig gleichen, sie umgebenden vier Wände empfinden. Sie spürte wie der Wind ihr um die Nase wehte und wie das Sonnenlicht Wärme auf ihrer Haut auslöste. Selbst wenn Regen aufzog fand Heidi etwas, woran sie Freude hatte und das waren die ersten Regentropfen, die sie zum Beispiel auf der Gesichtshaut empfand. Sie freute sich über Vogelstimmen, das Gekläffe von Hunden, dem Lachen oder Weinen von Kindern oder über das Geseusele des Windes. In diese Empfindungen führte sie mich sehr schnell ein und ich empfinde heute eine große Freude an Dingen, die ich in meinem ersten Leben bestenfalls am Rande wahrgenommen habe. Ich muss sagen, das Leben ist wirklich wunderbar. Aber dieses war nur ein kleiner Teil der Dinge, die mich bewusster leben ließen. Sehr viel spielte auch Heidis „Neugierde“ eine Rolle. Sie wollte immer wieder beschrieben haben was ich sehen konnte. Sehr oft hinterfragte sie zwischendurch kleine Details, die ich, wenn mich Heidi nicht danach gefragt hätte, als unwesentlich überflogen hätte. Auf diese Weise erlebte ich selbst diese Welt viel deutlicher. Dinge, die ich im ersten Leben nur oberflächlich wahrgenommen hätte, nahm ich jetzt erlebend zur Kenntnis und so gingen diese deutlich in mein reproduzierbares Gedächtnis ein. Was ist es doch für ein Glück, auf dieser Erde leben zu dürfen. An der Seite Heidis bekam ich auch eine ganz neue Betrachtungsweise über die Dinge des Lebens. Sachen, die mir in meinem ersten Leben als die wichtigsten Dinge der Welt vorkamen betrachtete ich jetzt von oben herab als nebensächlich, während jetzt Angelegenheiten, die ich früher lediglich nur zur Kenntnis nahm, ganz besondere Berücksichtigung fanden. Um es genau zu definieren kann ich sagen, dass alles was mit Wirtschaft
und Geld zusammenhängt absolut unwichtig geworden ist. Geld wird in einer bestimmten Menge gebraucht damit man im Leben mitspielen darf aber ansonsten ist es nichts vom besonderen Wert, nur ein Tauschhilfsmittel. Dafür haben die Dinge, die früher hinter den Sachthemen zurückstehen mussten, höchste Bedeutung für mich. Dabei handelt es sich grundsätzlich um menschliche Einzelschicksale. Während ich mich früher für Asylbewerber nur aus der Sicht der gleichmäßigen und gerechten Verteilung auf die Kommunen, natürlich nur aus der Sicht der Finanzierung, interessierte, ist es heute für mich interessant aus welchen Gründen diese hierher kommen und dass auch diese Anspruch auf menschenwürdige Behandlung haben. In meinem ersten Leben ging es immer nur darum ob etwas finanzierbar sei oder nicht, nach einem mehr oder weniger an Lebensqualität habe ich nie gefragt. Ich war ja Lehrer und Politiker, der für den Standort zuständig ist, und für die Lebensqualität sind andere, nämlich Philosophen und Pastöre, zuständig. In meinem zweiten Leben hatte ich mich also den Menschen zugewandt. Dieses war die Folge von intensiven Nachdenken und vielen, vielen Gesprächen, die ich mit Heidi führte. Das Miteinandersprechen war zu unserem Lebensmittelpunkt geworden und das dürfte der Grund dafür sein, dass wir offensichtlich fortwährend glücklich und zufrieden sind. Mit der Besinnung auf die Menschen wuchs in mir auch ein seltsames sentimentales Gefühl. Immer öfter musste ich an meine drei Kinder aus der ersten Ehe, um die ich mich bisher kaum kümmerte, denken. Die Zwillinge Arnika und Alina sind inzwischen 27 Jahre, schon ein Weilchen verheiratet und haben selbst schon Kinder. Arnika hat ein inzwischen 3-jähriges Mädchen und Alina einen Jungen im Alter von 1½ Jahren. Auch Kevin ist inzwischen schon 23 und ich weiß nicht, was er so im Leben treibt. Jetzt hätte ich doch ganz gerne Kontakt zu ihnen. Natürlich erwarte ich nicht, dass sie ihrem „lieben Papa“ um den Hals fallen würden aber es wäre doch ganz schön, wenn die Drei mich als ihren leiblichen Vater anerkennen und nett zu mir sein könnten. Was geschehen ist, kann man selbstverständlich nicht rückgängig und/oder ungeschehen machen aber weshalb sollte man dann in Zukunft nicht mal gelegentlich harmonisch miteinander verkehren. Wie gerne würde ich mich bei ihnen für meine menschliche Interesselosigkeit entschuldigen und ihnen bekennen, dass mein erstes Leben ein einziger Irrtum war. Ab und an sprach ich auch mit Heidi über diese Gedanken. Sie versuchte mich dann auch immer zu trösten und empfahl mir doch einfach mal meine Kinder anzuschreiben. Mich unbeholfen und abwehrend gebend fragte ich dann immer, was ich denen denn schreiben sollte. Heidi antwortete dann stets, dass ich den Kindern das schreiben sollte, was ich ihr vorher gesagt hätte, nämlich das es mir jetzt, wo ich alt und vernünftig geworden wäre, leid täte sie vernachlässigt zu haben und das ich dafür, ohne eine besondere Leistungen von ihnen zu erwarten, bei ihnen um Entschuldigung ersuche. Ehrlich gestand ich danach Heidi gegenüber, dass ich doch eine kleine Gegenleistung erhoffte. Ich dachte daran, dass sie mir wieder schreiben würden oder mich vielleicht mal anrufen könnten. Das allergrößte Glück für mich wäre es, wenn ich die Kinder besuchen könnte oder die mich umgekehrt mal besuchen würden. Aber das konnte ich, so wie ich mich ihnen gegenüber benommen hatte, wohl kaum erwarten. Letztlich ließ ich mich doch überreden und schrieb meinen Kindern. Jedem „Kind“ gesondert und handschriftlich. Allen Dreien widmete ich mehrere DIN-A-4-Seiten und die Inhalte waren nur sinngemäß miteinander vergleichbar. Ich hatte mich bemüht, für alle eine eigene Formulierung zu finden. In jedem Brief erwähnte ich, dass ich zwischen dem ersten und dem zweiten Leben unterscheiden würde. Mein erstes Leben wäre ein einziger Irrtum gewesen und ich hätte in diesem am Leben vorbei existiert. Damals hätten für mich Beruf und Berufung, womit ich meine politischen Ambitionen meinte, sowie der daraus resultierende materielle Segen, zum Beispiel Haus, Auto und Reisen, eine ausschließliche Rolle gespielt. Nach meinem Unfall wüsste ich, dass dieses alles nur Nebensächlichkeiten sind. Wichtig sei es Augen, Ohren und ein Herz für andere Menschen zu haben. Jetzt sei mir bewusst, dass ich sie, meine eigenen Kinder, sträflich vernachlässigt hätte. Das täte mir jetzt leid und ich würde sie jetzt, ohne irgendetwas zu erwarten, um Entschuldigung bitten. Als ich die Briefe dann versandt hatte, war mir wieder um einiges wohler. Es war so, als hätte ich in meinem Inneren einen gründlichen Hausputz gemacht und gut durchgelüftet. Allen Ernstes erwartete ich jetzt keine Reaktion von meinen Kindern. Daher war ich auch nicht enttäuscht, als ich bald vier Wochen nichts von ihnen hörte. Ich wäre jetzt wahrscheinlich auch damit zufrieden gewesen, wenn ich überhaupt nichts mehr von ihnen gehört hätte. Dann gab es aber ein Ereignis, dass ich fast für ein Wunder halte. Heidi und ich wollten einen schönen Herbsttag nutzen, um einen ausgedehnten Spaziergang, so eine Art kleiner Wanderung, in einem nahegelegenen Wald zu unternehmen. Wir standen schon draußen auf der Straße als Heidi mich fragte ob ich auch für alle Fälle unser Handy eingesteckt hätte. Nun, für Leute wie uns ist ein Handy nicht von überragender Bedeutung. Wir sind ja beim besten Willen nicht so wichtig, dass wir überall und zu jeder Zeit erreichbar sein müssen. Wer ist das schon? Die meisten Leute nehmen sich selbst nur zu wichtig. So haben Heidi und ich auch nur ein Handy mit einer Prepaint-Card, dessen Nummer nur Bianca bekannt war. Aber auch die pflegte nicht anzurufen, da dieses Instrument in der Regel ausgeschaltet auf dem Board bei uns in der Diele lag und wir grundsätzlich nie die Mailbox abfragten. Wir benutzten das Handy ausschließlich wenn wir unterwegs waren als
Telefonzellenersatz. Und bei einem so häufig Gebrauch kann es dann natürlich häufiger dazu kommen, dass man das Gerät beim Ausgang einfach vergisst. So war es auch an jenem Tag und ich musste dann noch einmal hinauf in die Wohnung um das Ding einzustecken. Heidi blieb an dem Zaun vor unserem Haus stehen um auf mich zu warten. Als ich wieder unten war, ging zur gleichen Zeit wie ich eine Frau, die ich aus früheren Zeiten sehr gut kannte, auf Heidi zu. Kurz bevor ich neben meiner Heidi eintraf hörte ich wie die Dame sagte: „Heidi Krieger, kennst du mich noch?“. Krieger ist Heidis Geburtsname. Als ich schon neben ihr stand antwortet sie nett aber selbstbewusst klingend: „Entschuldige, deine Stimme kann ich im Moment niemanden zuordnen und sehen kann ich dich nicht. Ich bin blind. Da ich mich in Begleitung meines Schatzes befinde habe ich jetzt keine Binde um und keinen weißen Stock bei mir.“. „Oh, Heidi, das habe ich nicht gewusst und auch nicht gemerkt.“, erwiderte die Dame, „Bitte verzeih, wenn ich dich vielleicht unbewusst getroffen habe. Ich bin Beate Piefke geschiedene Schmidt und geborene Schöller. Eigentlich wollte ich zu deinem Schatz, meinem Exmann.“. Jetzt wurde es Zeit, dass ich mich einschaltete: „Hallo Beate, mit dir hätte ich beim besten Willen nicht gerechnet. Seit kurz nach der Scheidung habe ich dich nicht mehr gesehen. Aber was mich jetzt überrascht, ist dass ihr beiden euch kennt.“. Heidi war unschwer anzumerken, dass ihr diese Begegnung gar nicht beharrte. Dieses merkte Beate genau so wie ich und deshalb gab meine Ex erst einmal eine Erklärung ab: „Heidi, hab mal keine Angst, ich will mir beim besten Willen den Gerd nicht zurückholen. Ich bin ja nun schon bald 16 Jahre anderweitig glücklich verheiratet. Außerdem hätte ich gegen dich überhaupt keine Chance. Ich kenne ja Gerds Geschmack, dem du hundertprozentig entsprichst aber ich bin doch im letzten Jahrzehnt ein bisschen in die Breite gegangen. Ich bin jetzt auch nicht im eigenen Interesse hier sondern ich bin eine Abgesandte unserer Kinder oder besser gesagt unserer Zwillinge. Aus Anlass des 92. Geburtstages meines Vaters bin ich mit den Zwillingen und unseren Enkelkindern in Weißbach (ein Nachbarort, aus dem Beate stammte), damit der Uropa seine Urenkel mal kennen lernt. Arnika und Alina möchten ihren Kindern aber nicht nur ihren Uropa sondern auch ihren Opa vorstellen. Da haben sie mich vorgeschickt und dieses auch mit einem Hintergedanken. Ich soll ihnen beweisen, dass ich, wie ich immer behaupte, die Vergangenheit ruhen lassen kann und auch mit dir normal umgehen kann. So muss du dich auch mal in einen Brief an Arnika ausgedrückt haben. Ja, jetzt wollen die Mädchen es halt bewiesen haben. Ich bin zwar der Meinung, dass wir es nicht nötig haben uns zu beweisen aber wenn es der Sache dient und sich dadurch Vater und Kinder wieder näher kommen, will ich dieses schon in Kauf nehmen. Insbesondere deshalb weil Arnika und Alina fürchterlich unter unserer Scheidung gelitten haben. ... Die waren damals ja schon 10 Jahre alt.“. Jetzt sollte Beate bei mir vorchecken, ob ich als Gast zum Geburtstag meines ehemaligen Schwiegervaters kommen wollte oder ob unsere Zwillinge mich mit ihren Kindern besuchen könnten. Ehrlich gesagt war mir ersteres, der Geburtstag, etwas komisch und ich hatte auch den Eindruck, dass dieses weder Beate noch Heidi recht gewesen wäre. Also bat ich um den Besuch meiner Töchter und als Termin handelten wir gleich den gleichen Nachmittag aus. Beate war erleichtert, die Mission, die ihr bestimmt nicht leicht gefallen war, mit Erfolg beendet zu haben und fuhr in ihrem großen Wagen davon. Jetzt kam Heidi an die Reihe. Erst ermahnte sie mich und dann bat sie mich flehentlich nicht wieder mit Beate anzubändeln. Ich konnte ihr versichern, dass meine Liebe zu Beate längst erloschen sei. Ich wüsste noch nicht einmal ob ich sie jemals geliebt habe oder ob das auch zu den Irrtümern meines ersten Lebens gehört. Ich erklärte Heidi, dass ich wahrscheinlich zum ersten Mal in meinem Leben echte Liebe empfinden würde. Noch nie zuvor hätte ich so empfunden als sei die Frau ein Stück von mir und umgekehrt ich ein Stück von ihr. Heidi klang sehr traurig als sie sagte, dass sie durch ihre Blindheit mächtig benachteiligt sei, wenn es darum ginge um mich zu kämpfen. Ich sagte ihr darauf, dass ich mich irgendwo im Inneren doch darüber freuen würde, dass sie auf mich eifersüchtig sei und daran denken würde, dass sie eventuell um mich kämpfen müsste. Ich könne sie aber beruhigen, da es mein allergrößter Wunsch sei, mit ihr – und nur mit ihr – alt zu werden. Und das ist sogar ehrlich; für mich gibt es nur eine Frau: Heidi. Bevor man jetzt über Heidis Misstrauen lästert, sollte man erst darüber nachdenken, dass sie blind ist. Sie ist es nicht von Kindesbeinen an sondern sie ist erst vor sieben Jahren nach einem Unfall erblindet. Wer sich ein wenig in sie hinein versetzen kann wird feststellen, wie sehr sie auf die Nähe, Liebe und auch Hilfe eines Partners angewiesen ist. Da ist es schon bedrohlich, wenn da plötzlich Frauen aus der Vergangenheit auftauchen, die an dem Partner genau so viel Tolles wie man selber empfindet finden. Hätte Heidi mein Gesicht und meine Körpersprache gesehen, dann wäre sie sicher gewesen, dass ich mich nur ihr zugewendet habe – aber das konnte sie ja nicht. Nachdem ich meinen Schatz also wieder beruhigt hatte, konnte ich sie auch fragen, woher sie Beate kannte. Darauf verriet sie mir dann: „Ich bin mir sogar sicher, dass ich dich auch als jungen Mann gekannt und ganz toll gefunden habe. In der Zeit, wo ihr jung verheiratet ward und dann wo Beate mit den Zwillingen schwanger war seid ihr doch öfters bei Beates Tante Herta gewesen. Stimmt's?“. Als ich ihr dieses bestätigt hatte fuhr sie fort:
„Ich glaube das war Beates Patentante und die beiden hatten sich wohl sehr gerne. Auf jeden Fall war Beate, schon als Kind und auch als Jugendliche, oft bei ihrer Tante. Das Haus, in dem diese Tante Herta wohnte gehörte meinem Opa und wir wohnten auch in dem Haus. Du weist, dass ich sechs Jahre jünger wie Beate bin und da hat man natürlich keinen ständigen Kontakt miteinander aber trotzdem haben wir uns gut gekannt. Wenn ich gewusst hätte, wie Beate als Frau hieß, wäre ich vielleicht schon eher auf den Zusammenhang gestoßen. Ja, als Beate dann verheiratet war haben wir uns immer nur freundlich begrüßt und ein paar nette Worte miteinander gewechselt. Da kann ich mir vorstellen, dass ich keinen Einzug in dein Gedächtnis gehalten habe. Das ist umgekehrt aber anders. Ich habe Beates tollen Mann bewundert und er spielte eine ganz große Rolle in meinen pubertären Fantasien. Damals habe ich gebetet, dass ich auch mal so einen Kerl wie dich kriegen wollte. Leider hatte ich erst Pech, denn mein Mann war ein ganz anderer Typ. Aber dafür habe ich jetzt das Superglück: Ich habe keine Kopie sondern das Original bekommen.“. Und jetzt freute sich Heidi wie ein kleines Kind und ergänzte noch: „Ja, Bianca wird Augen machen, wenn ich dich ihr beschreibe.“. „Mache es lieber nicht,“, widersprach ich ihr, „du wirst mich dann bestimmt als den jungen Mann, der in deinem Gedächtnis hängen geblieben ist, beschreiben. Hinzu kommen dann noch die Dinge, die du in deinen Traumvorstellungen selbst noch hinzu gebracht hast. Ich bin aber älter geworden und das Leben hat auch an meinem Äußeren gewirkt. Vielleicht wärst du sogar mächtig enttäuscht wenn du plötzlich wieder sehen könntest.“. „Du hast recht,“, ergänzte Heidi noch, „aber da siehst du mal, dass alles im Leben sowohl gute wie schlechte Seiten hat. Dadurch dass ich blind bin, bleibst du der Held meiner Jugendtage ... und das lasse ich mir nicht nehmen.“. Den ausgedehnten Spaziergang, den wir uns vorgenommen hatten, unternahmen wir an diesem Tag natürlich nicht mehr. Wir bummelten nur ein wenig durchs Örtchen, was ich noch ein bisschen zum Einkauf von Gebäck, Fruchtsaft, Wein und so weiter nutzte. Ich wollte ja schließlich meinen Töchtern etwas anbieten und wusste doch so wenig von ihnen, dass ich keinen diesbezüglichen zielgerichteten Einkauf vornehmen konnte. Als Alina und Arnika dann am Nachmittag da waren beherrschte mich insgesamt ein komisches Gefühl. Auf der einen Seite waren mir meine eigenen Töchter sehr fern und fremd. Mir kam es so vor als stünde mir Bianca deutlich näher als Alina und Arnika. Aber auf der anderen Seite war mir jedoch bewusst, dass es meine eigenen Kinder, die bis zur Scheidung unheimlich an mir hingen, waren. Ich denke, dass es den beiden jungen Frauen genau so ging wie mir. Alle Drei waren wir irgendwie glücklich uns wieder getroffen zu haben – aber das war es auch schon. Das, was wir in 20 Jahren versäumt hatten, lässt sich natürlich nicht mehr nachholen. Eine Familie mit starken emotionalen Bindungen ist aus uns nicht mehr geworden und das wird es wohl auch nicht mehr werden. Als wir auseinander gingen versprachen wir uns gelegentlich, das heißt zu Weihnachten und zu den Geburtstagen, gegenseitig mal wieder etwas von uns hören zu lassen und uns auch bei Gelegenheit mal wieder zu treffen. An ersteres Versprechen haben wir uns bis jetzt auch gehalten und eine Gelegenheit zu einem Besuch hat es beidseitig noch nicht gegeben. Dadurch, dass ich mit den Zwillingen wie auch mit Beate gesprochen hatte, fand mein erstes Leben aus meiner Sicht einen versöhnlichen Abschluss. Schön wäre es gewesen, wenn sich auch Kevin noch mal gemeldet hätte, aber das war leider bis heute noch nicht der Fall. Man kann ja nicht alles haben. Weshalb nur hatte in meinem ersten Leben die SPD einen deutlich höheren Stellenwert als meine Frauen und Kinder? Warum musste ich mich auch um allen möglichen Blödsinn, wie ausgeglichene Haushalte und anderen nachrangigen Polit-Kram statt um die Dinge, die einem Leben Glück und Zufriedenheit verleihen, kümmern. Ja, das erste Leben war ein einziger Irrtum und das soll mir im zweiten, das ich mir mit Heidi teilen möchte, nicht wieder vorkommen. Dieses zweite Leben hat übrigens inzwischen auch eine formal feste Form gefunden: Am Freitag, dem 13. Februar 2004, haben Heidi und ich geheiratet. Wir waren das einzigste Paar, welches an diesem Tage beim hiesigen Standesamt getraut wurde. Na ja, das dürfte eindeutig am berühmten „Freitag, dem Dreizehnten“, über dem wir vorher gar nicht nachgedacht hatten, gelegen haben. Was soll es aber, wir sind beim besten Willen nicht abergläubig. Wenn ich Ihnen verehrte Leserin und geehrter Leser noch verrate, dass Bianca mit ihrem Partner, mit dem sie inzwischen zusammen gezogen ist, die einzigsten Gäste auf unserer Hochzeit waren, wissen Sie auch was der aktuelle Stand bei der Mittlerin unseres Glückes ist. Ab und an lässt sich Bianca ja noch bei uns blicken. Bei dieser Gelegenheit bekommen Heidi und ich dann den Kopf gewaschen; nicht nur gewaschen sondern auch die Haare geschnitten und so weiter. Kurz und bündig: Heidis Tochter, die demnächst einen Meisterkurs besuchen will, um mal einen Frisörladen zu übernehmen und fachgerecht zu führen, ließ uns ihre beruflichen Künste zuteil werden. Ansonsten hat sich die junge Frau ein bisschen rar gemacht. Aber das kann sie ja auch, denn sie weiß, dass ihre Mutter bei mir in guten Händen ist. So, das war die kleine Geschichte, die ich Ihnen zu erzählen hatte. Vielleicht nicht sehr spannend aber ich denke, dass ein Bericht, den ich auch mit „Einfach richtig leben“ hätte überschreiben können, immer interessant und erzählenswert ist, aber jetzt ist wirklich Schluss.
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Stripperin unter dem Kopftuch Eigentlich sollte man annehmen, dass die Entscheidungen eines Betriebsleiters einer Verpackungsmittel- und Kartonagenfabrik aus dem Kopf kommen und nicht mit dem Schw..z getroffen werden. Nun denn, es kommt ja auch immer darauf an, welche Art von Entscheidungen anstehen. Wenn es beruflich-fachliche Dinge sind, setze ich, also ich bin der vorgenannte Betriebsleiter, natürlich den Kopf vor allen anderen Dingen ein aber bewährte berufliche Praktiken muss man ja nicht unbedingt im Privatleben anwenden. Ach, ich sollte aufhören mich selbst auf einen Sockel zu heben. Auch beruflich konnte bisher ein Hauch Erotik meine Entscheidungen beeinflussen. So hatten und haben es die Herren genau wie jene Damen, die nicht meiner Kragenweite entsprechen, bei mir immer schwerer als diejenigen weiblichen Geschöpfe, die meine erotische Fantasie durchbrennen lassen. Aber trotz- und alledem kann man mir diesbezüglich nichts konkretes vorwerfen. Letzteres würde aber nicht zutreffen, wenn die heute 31-jährige Christiane Gellert nicht vor 5 Jahren von unserem Unternehmen in den öffentlichen Dienst gewechselt wäre. Bei uns war sie als Schreibkraft beschäftigt und dank ihres Vaters, dem Bauamtsleiter und gleichzeitig stellvertretenden HVB (= Hauptverwaltungsbeamter, also der Stellvertreter des Bürgermeisters im Amt) in unserer kleinen Gemeinde Steinheim, erhielt sie den Job einer „springenden Verwaltungshilfskraft“. Überall, wo keine Qualifikation von Nöten ist, zum Beispiel als Knöllchen verteilende Politesse oder als Oberpostverteilerin, wird Christiane auch heute noch eingesetzt. Der Job wird nach BAT VII bezahlt, was ja nicht sehr viel ist. Dieser Job entstand aufgrund einer vorangegangenen übertriebenen Sparmaßnahme. Man hat hier in der Verwaltung so lange Personal abgebaut bis ohne springende Dauerhilfe praktisch nichts mehr lief. Als Mitglied unseres Rates, ich gehörte damals der SPD-Fraktion an, habe ich das seiner Zeit mitgekriegt. Das ist aber alles eine andere Geschichte. Ich wollte eigentlich etwas von Christiane Gellert – und in diesem Zusammenhang von mir – erzählen. Obwohl ich vor 5 Jahren genau doppelt so alt wie Christiane war – sie war 26 und ich 52 – sagte mir so ein innerer Schweinehund, dass ich diese junge Frau flach legen müsse. Und das Luder deutete mir durch Körpersprache und Flirtmimik an, dass sie so etwas nicht ungern sehen würde. Allerdings muss ich nachträglich eingestehen, dass ihre Art wohl mehr ein Spitzmachen wie ein echtes sexuelles Interesse war. Aber damals hätte sie bald das Ziel eines Aufstieges durch mein Bett erreicht. Damals wurde nämlich die Position einer Sekretärin für die technische Betriebsleitung, also einer Sekretärin für mich, neu vergeben. Meine „alte“ Sekretärin war nämlich wegen Umzuges nach Süddeutschland ausgeschieden. Ich wollte diesen Job schon Christiane als Gegenleistung für ein Schäferwochenende anbieten. Na ja, es kam nicht dazu, denn die Dame meiner Begierde kündigt schon vorher um in den öffentlichen Dienst zu wechseln. Dadurch ließ ich alter Hahn, der gerade zum zweiten Frühling erwacht war, mich nicht von der Brautwerbung ablassen. In einem Gespräch hatte sie mir verraten, dass sie Mitglied einer Laientheatergruppe war. Ich kannte zwar den Steinheimer Theaterkreis, ich war auch vorher schon zwei mal bei deren Sommertheater zu gast aber ansonsten hatte ich keine Bindung an die Bretter, die für viele Leute die Welt bedeuten. Das sollte sich, nachdem ich Christiane kennen gelernt hatte, dann aber schlagartig ändern. Zum Erstaunen meiner Familie, das heißt meiner Frau Karin und meines Sohnes Hendrik, entdeckte ich jetzt meine „Berufung“ zur Bühne. In meiner Fantasie sah ich mich schon als den strahlenden älteren Helden, der Frauen, die seine Töchter sein könnten, betörte. In meinen „wilden“ Vorstellungen malte ich mir aus, wie ich mit Christiane ein Liebespaar mit großem Realismus darstellte. Ich hatte also den Tick, dass ich kommen, gesehen würde und schon gewonnen hätte. Ist doch klar, dass alles etwas anders kam. Erstens war ich in der Gruppe der große Neuling, der sich erst einmal seine Sporen verdienen musste. Erst musste ich doch mal zeigen, was ich konnte und dieses nicht nur auf einer Probenbühne in einem fast leeren Saal. Zum Zweiten fehlte es mir doch erheblich an Zeit, um mächtig Texte auswendig zu lernen und um die Rolle ordentlich einzustudieren. Da war ja einerseits mein Beruf, dem gegenüber es schon eine Sünde war, dass ich da in der Kommunalpolitik mitmischte. So etwas ist doch heute nur etwas für Verwaltungs-Sessel-Pupser und Lehrer. Einfache Arbeitnehmer zittern im Falle einer Wahl, dass sie von ihrem Vorgesetzten ganz oben auf die Abschussliste gesetzt werden. Leitende Angestellte, Freiberufler und Selbstständige geraten bei amateurpolitischer Tätigkeit überall in Konflikt mit ihren beruflichen Angelegenheiten und Manager sowie Unternehmer halten es für unter ihrer Würde für das Trinkgeld ihres Nachwuchses im öffentlichen Interesse tätig zu werden. Da bleiben für die Politspielereien eigentlich nur die Beamten und die ihnen Artverwandten. Vielleicht ist gerade deshalb die Politik im großen Stiele so schlecht. Lange Rede kurzer Sinn: Im ersten Jahr bekam ich nur eine kleine Nebenrolle. Ich spielte ein etwas schusseligen Butler, der zwar mit seiner Schusseligkeit die ganze Handlung ins Rollen brachte aber dafür nur für drei kurze Szenen auf der Bühne stehen musste. In keiner der Szenen kam ich überhaupt mit Christiane, wegen der ich der Gruppe überhaupt beigetreten war, in Berührung. Eigentlich wäre dieses für mich ja ein Grund für einen sofortigen Wiederaustritt gewesen. Aber ich fand die Leute in diesem Verein durch die Bank nett und war gern
mit ihnen in geselliger Runde zusammen. Statt auszutreten brachte ich dann auch noch meine Frau als zusätzliche Akteurin mit. Daran, dass ich Karin mit in unsere Theatergruppe genommen habe kann man auch erkennen, dass der „heiße Dampf“ im Hinblick auf Christiane ohne Schaden zu hinterlassen abgezogen war. Ich konnte mich in meinem zweiten Mitgliedsjahr, also im runden Jahr 2000, auch um eine gewichtigere Rolle beim Theaterspiel kümmern, denn die Kommunalwahlen 1999 hatten mir Freiraum verschafft. Das heißt mit anderen Worten, dass die SPD hier in Steinheim recht deutlich verloren hatte und das Ergebnis für mich persönlich nicht reichte; ich war zu weit unten auf der Liste. Meine politischen Ambitionen sind inzwischen ganz in Frustwolken zerflogen. Diesen neoliberalen Mist, der uns von Schröder und seinen Freunden vorgesetzt wird, kann ich beim letzten Willen nicht mittragen. Dazu kommt aus meiner Sicht auch noch, dass Gerhard Schröder und sein Münte genannter Spezi sich als die Superantidemokraten entpuppten und die Gewissensfreiheit aus der Sozialdemokratie rausrationalisierten. Da koppelte doch der Machtmensch Schröder die Gewissensfrage eines Kriegseinsatzes in Afghanistan mit der Vertrauensfrage. Und Müntefering drohte indirekt den Mitgliedern der SPD-Bundestagsfraktion damit, dass man sie, wenn sie sich für ihr Gewissen – Du sollst nicht töten – entscheiden würden, beim nächsten Kandidatenkarussell nicht berücksichtigen könnte. Für mich war das Maß voll und ich trat aus dem Verein, den ich bald dreißig Jahre angehörte, aus. Letztlich habe ich daran auch gut getan, denn was die da jetzt an Sozialraubbau, den sie fälschlicher Weise mit dem Wort Reform schmücken, betreiben darf von mir nicht indirekt durch Beitragszahlung an die Besser-CDU – was anderes ist die derzeitige SPD in meinen Augen nicht mehr – mitgetragen werden. Aber jetzt Schluss mit der Politik und weiter mit meiner Geschichte. Meine sexuellen Untriebe waren verflogen und ich fühlte mich im Steinheimer Theaterkreis wohl. Zwei mal im Jahr traten wir mit einer BoulevardKomödie in die Öffentlichkeit. Einmal war der Karneval und einmal der Sommer der Anlass für unsere Aufführungen. Bis im Sommer 2001 fanden diese Aufführung im großen Saal des alten Gasthofes „Zur Grünen Linde“ statt. Dieser Gasthof lag zentral im Steinheimer Hauptdorf, direkt neben dem Amtshaus. Im Herbst 2001 wurde die Grüne Linde, nachdem der letzte Wirt in den Ruhestand getreten war, endgültig abgerissen. Sie musste einem neuen Wohnhaus weichen. In Steinheim, einer Gemeinde mit zirka 7.300 Einwohnern, haben wir zwar noch fünf Gaststätten beziehungsweise Restaurants aber keines dieser Häuser hat einen Saal. Wir mussten in die alte Turnhalle an der ehemaligen Volksschule Obersteinheim ausweichen. Diese Halle, die als sogenannte Mehrzweckhalle dient, liegt etwas am Rande des Gemeindegebietes und kann bei weitem nicht die Atmosphäre der guten alten Linde aufweisen. So gingen die Zuschauerzahlen bei unseren Aufführungen in 2002 und zu Karneval 2003 dramatisch nach unten. Maximal zwanzig Leute schauten den einzelnen Aufführungen zu. Frustriert setzten wir uns nach der letzten Karnevalsvorstellung 2003 in unserem „neuen“ Stammlokal „Steinheimer Schänke“ zusammen. Sollten wir uns auflösen? Aber das Theater spielen machte uns doch soviel Spaß. Nun, von unseren Empfindungen her hätte es uns zwar etwas ausgemacht vor nur einer Hand voll Zuschauern zu spielen aber als Weltuntergang hätten wir dieses nicht betrachtet. Schließlich spielten wir für uns, zu unserer Freude. Des weiteren waren wir eine eigentlich ganz tolle Clique geworden. Wir waren häufig und gerne gesellig beieinander und nicht immer ging es dabei um unser Theaterhobby. Problematisch waren für uns jedoch die Kosten, die durch die Aufführungen entstanden. Da sind die Gebühren für die Aufführungsrechte, Kosten für Kulissen und Kostüme und, und, und, ... Wir bekamen zwar von der Gemeinde Steinheim jährlich ein „Zuschuss“, der aber natürlich hinten und vorne nicht ausreichte. Im Grunde diente er nur den Verwaltungsmenschen und den Mitgliedern des Gemeinderates um stolz zu verkünden was sie doch als kleine Gemeinde alles für Kultur tun. Insgesamt 2.000 Euro wurden im Haushalt für Kulturarbeit vorgesehen. Die Hälfte kassierte schon einmal der Heimat- und Verkehrsverein, der sich, aus meiner Sicht ungerechtfertigt, so eine privilegierte Stellung mit den Ellenbogen ihrer Vorsitzenden erkämpft hatte. Den Rest teilten sich drei Männergesangvereine, ein Kinderchor und wir, der Steinheimer Theaterkreis. Also mehr als so schlappe 200 Euro war für uns nicht drin. Die Kosten summierten sich aber auf 2½ bis 4 Tausender – und was wir da nicht über Eintrittsgeld reinbrachten mussten wir Akteure selber halt aus unserer Privatschatulle mitbringen. Nun, zusammen mit Karl-Heinz Pieper, einem Gymnasiallehrer, dürfte ich wohl das beste Einkommen in unserer Truppe haben und selbst mir war das, was ich zu unserem Hobby dazu schießen musste, ein wenig zu hoch. So diskutierten wir in unserem Krisengespräch zu erst darüber, wie wir zu mehr Zuschauern, die eventuell sogar noch höhere Eintrittspreise bezahlen wollen, kommen könnten. Jetzt war es ausgerechnet Christiane Gellert die den Vorschlag, wir müssten erotische Elemente in unsere Stücke einbauen, vortrug. Unser Studienrat, also KarlHeinz Pieper, erlaubte sich mal nachzuforschen, was unsere Christiane unter erotische Elemente verstehen würde und sie legte darauf ganz locker los: „Ja, zum Beispiel wenn wir Frauen Oben ohne auf der Bühne rumspringen, dann kriegt ihr Männer doch richtig Stielaugen. So wie ich das einschätze haben wir Frauen doch alle etwas unter dem T-Shirt anzubieten. Ich für meine Person hätte auch nichts dagegen für eine kurze Szene mal ganz nackt aufzutreten. Besser noch: In einem String-Tanga, der nichts mehr als ein Hauch von nix ist. Und die
Männer aus unserer Truppe lassen doch auch ganz gerne mal die Hosen runter und zeigen dem Publikum ihren Knackarsch. Von vorne ist das ja bei den Kerlen immer etwas schlecht. Da gibt es ja die berühmten steigenden Tendenzen und alle Welt schreit entsetzt ‚Porno’. Jetzt das Ganze noch in geilen Reden verpackt und wir bekommen, sogar auf regionaler Ebene in allen Medien kostenlose Propaganda. Anschließend rennen uns die Leute die Bude ein ... und dieses sogar wenn wir den doppelten oder dreifachen Eintritt nehmen.“. Susanne Becker, eine an und für sich supergebaute Mitvierzigerin dafür aber etwas prüde Konservative fragte distanzierend tuend: „Das hast du doch nicht ernst gemeint“ und schaute Christiane dabei ungläubig an. „Nöh, wieso sollte ich dieses nicht ernst meinen?“, tönte Christiane weiter, „da ist doch heutzutage gar nichts dabei. Schau mal die Eiskunstläuferin Katharina Witt oder die ehemalige Tagesschausprecherin Susan Stahnke haben sich doch auch vor Fotografen ausgepackt und sind noch ganz stolz darauf. Das können sie ja auch, so wie die gebaut sind. Och, da gibt es reihenweise Promis, die Nacktheit für ganz normal halten. Der Meinung bin ich übrigens auch. Schaut mal her.“. Dabei griff Christiane in ihre Handtasche und holte ein paar Bilder heraus, die sie jetzt herum zeigte. Diese waren im letzten Sommer im Nudistencamp Koversada bei der Stadt Vrsar auf der kroatischen Halbinsel Istrien entstanden. Natürlich war auf diesen Bildern immer Christiane, auch mal mit anderen Damen und Herren, aber immer alles ausführlich und völlig ohne jedes Stück Textil. Lediglich Susanne Becker gab sich ziemlich empört. Alle anderen Frauen schauten zunächst bei den Bildern kurz aber ausführlich hin und gaben diese dann kommentarlos weiter. Wir Männer waren da beim ausführlichen Hinschauen doch deutlich ehrlicher und wir gaben auch unsere Kommentare zu Christianes Vorzüge ab. Ich weiß jetzt nicht mehr genau, was ich bei dieser Angelegenheit von mir gegeben habe – ich weiß nur noch, dass es sich um die Schamhaarrasur handelte – aber es muss ein wenig deftiger gewesen sein, denn Karin, die mir gegenüber saß, trat mir kräftig vors Schienenbein. Meine größtes Problem im Anschluss an die Tätlichkeit meiner Frau war es mir den Wehschrei „Aua“ zu verkneifen, da ich ja niemanden verraten wollte, was sich da unter dem Tisch abspielte. Ganz unbemerkt schien die Sache jedoch nicht abgelaufen zu sein, denn die neben mir sitzende Jutta Lemmer flüsterte mir leise zu: „Wärst du mein Mann, hätte ich dir nicht vors Schienbein sondern in die Eier getreten.“. Während mir meine Nachbarin zu flüsterte zogen wir uns böse Blicke meiner Ehefrau zu. Später, als wir nach Hause gingen, gestand mir Karin, dass das Flüstern im ersten Moment auf sie so gewirkt habe, als wolle mir Jutta jetzt auch ihre Rasur zur Begutachtung anbieten. Na ja, jetzt habe ich doch wohl genügend Einblick in die erotisch aufgeheizte Stimmung bei dieser Runde gewährt. Nach und nach verschwand unser eigentliches Thema von der Tagesordnung und machte Platz für eine Plauderei darüber wie prüde oder wie unprüde wir persönlich wären. Dabei teilten wir uns in drei Lager. Das kleinste bestand nur aus Susanne Becker. Sie war der Meinung, dass wir kulturell ziemlich herunter gekommen seien. Sie wollte sich weiter an den alten Werten orientieren und da nicht mitziehen. Mit anderen Worten: Sie stellte oder zeigte sich prüde. Das größte Lager bestand aus den Leuten, die mit dem Mund überhaupt nicht prüde waren und an geeigneter Stelle, zum Beispiel in der Sauna oder am Strand, keine Probleme sahen ihre Vorzüge zu zeigen was sie an normaler Weise versteckten körperlichen Vorzügen hätten. Aber auf der Bühne oder bei Privatpartys und so weiter waren sie dann doch für „Sittlichkeit“. Zu dieser Gruppe outete sich auch meine Frau Karin. Die dritte Gruppe, zu der ich mich neben Christiane und Jutta auch selbst zählte, plädierte doch für „Lockerheit und Freude“. Es klingt seltsam, aber Tatsache ist, dass mich gerade Susannes Prüderie enorm antörnte. In meinem Inneren entstand eine heiße Begierde auf Susanne im Evas-Kostüm. Das ging ganz offensichtlich nicht nur mir so sondern dieses traf auf unseren Gymnasiallehrer Karl-Heinz Pieper, der es offen zur Sprache brachte, auch zu. Karin äußerte später, als wir zuhause waren, den Verdacht, dass Susanne das Gegenteil von dem, was sie spielt, sei und mit den Worten möglicherweise nur ein ganz raffiniertes Spiel triebe. Erst zum Schluss, als wir bereits den Wirt mit der Bitte um Abrechnung an unseren Tisch gerufen hatten, bekannten wir uns dazu, dass wir uns an scharfen Sachen angespitzt aber nichts zum eigentlichen Thema gebracht hätten. Kurzerhand beschlossen wir uns eine Woche darauf wieder zu treffen. Da kam Bernhard Becker, Susannes Ehemann, der sich bei der abendlichen Diskussion etwas zurück gehalten hatte, auf den Gedanken uns in seinen großen Partykeller einzuladen. Die Beckers hatten sich vor vier oder fünf Jahren ein Haus, welches um die Wende vom 19. ins 20. Jahrhundert gebaut worden war, gekauft. Dieses lag an einer kleinen Straße, die vom Siedlungsrand Obersteinheim in den Steinheimer Forst führt. Bis zum Wasserwerk, das etwa einen halben Kilometer außerhalb des Ortes liegt, ist diese Straße asphaltiert und ab dem Wasserwerk ist es halt nur ein Waldwirtschaftsweg. Das Haus der Beckers liegt in der Miete zwischen Ortsrand und Wasserwerk und daher hatten sie bei uns den Ruf „Waldmenschen“ zu sein. Nachdem sie das Haus gekauft hatten haben sie dieses renoviert und „leicht“ ausgebaut. Wenn etwas außerhalb der Siedlungsgrenze in einem Gebiet, das ansonsten unter Landschaftsschutz fällt, liegt, dann existiert dieses Haus nur aufgrund des sogenannten Bestandschutzes. Wenn man ein solches Haus ausbaut, muss man peinlichst darauf achten, dass sich am ursprünglichen Grundriss und an der Firsthöhe nichts ändert, da ansonsten der Bestandsschutz hin sein kann. Ich habe allerdings schon gehört, dass es Geldmenschen gibt, die diesbezüglich ganze Verwaltungen zur Erblindung gebracht haben. Zu diesen Typen zählten die Beckers leider nicht; bei ihnen bezog sich daher der Ausbau des
Hauses in erster Linie auf das Innenleben. Zuletzt war der Keller an der Reihe. Hier waren ein großer Partyraum und – wie wir erst erfuhren als wir in dem Haus zu Gast waren – ein richtiger Fitness- und Wellness-Bereich mit Sauna, Solarium, kleiner Innenpool und ebenfalls kleinem Gymnastikraum entstanden. Das wollte uns Bernhard vorführen und dabei gleich so eine kleine Einweihung feiern. Wieder in der Absicht eine Krisensitzung abzuhalten trafen wir allesamt im Beckerschen Partyraum ein. Man kann sich denken, dass bei dem Kellerausbau, den ich eben beschrieben habe, und der „Lage im Wald“ praktisch die Sinne wieder sehr schnell auf Abwegen waren. Das sich ausgerechnet die Hausherrin in der letzten „Sitzung“ als das Supermuster für ein prüdes und treues „Hausmütterchen“ herausstellte machte die Sache für uns dann kompliziert. Dieses schien insbesondere der Fall zu sein, dass es ausgerechnet Susanne war, die mit ihren Worten die Gedanken auf Abwege brachte. Noch bevor wir in unser Thema eingestiegen waren berichtete uns unsere Gastgeberin wie intensiv sie ihren „Keller“ insbesondere am Samstagmorgen nutzen. Ich mache es mal kurz mit Stichworten: Raus aus dem Bett – laut Susanne schlafen die Beckers immer nackt –, unter die Dusche, rein in die Sauna, noch mal von lauwarm nach kalt duschen und dann mit dem nackten Popo in den Garten. Auf die erstaunte Frage, dass man in deren Garten ja fast von allen Seiten einsehen kann, bekamen wir die Antwort, dass sich am Samstagmorgen so gut wie niemand in der Gegend aufhält; erst am Nachmittag und bei schönen Wetter zögen die Spaziergänger, dann sogar etwas reichlich, an deren Haus vorbei. Jetzt kann man sich sicherlich denken welcher Gedanke mir – und mit Sicherheit auch allen anderen durch den Kopf schoss: Am kommenden Samstag sollte das mit dem Andrang anders aussehen. Da kam also der kleine Spanner in mir durch. Bei Christiane Gellert kam dann auch prompt nicht die Spannerin sondern die Exhibitionistin durch. Sie schlug vor, dass sie zusammen mit Karin, Jutta und Susanne doch zur Einweihung mal einen Saunagang, so wie ihn die Beckers an des Samstagmorgens durchzögen, unternehmen sollten. In der Zwischenzeit könnten wir Männer ja schon mal andenken, wie es mit unserem Theaterkreis weitergehen solle; ihr Vorschlag stände ja im Raum. Hier nur zwischendurch eine Anmerkung: Zu unserer Truppe gehörten sieben Frauen, von denen vier anwesend waren, und sechs Männer, von denen alle anwesend waren. Von den Männern war einer Junggeselle und einer frisch geschieden und der Rest der Männlichkeit, also die vier zu denen ich auch gehörte, waren zusammen mit ihren Frauen in der Clique. Die vier Damen, die an diesem Abend anwesend waren, gehörten also jeweils zu einem ebenfalls anwesenden Herrn. Die drei Solodamen waren auch unsere Küken: Hanna Neumann, 19 Jahre, Jeanine Goldstein, 22 Jahre und Claudine Graf, 23 Jahre. Bei unserer ersten Unterredung waren es gerade diese drei, die bei Christianes Vorschlag begeistert mitzogen. Bei den Männern war es der frischgeschiedene KarlHeinz Pieper und ich, die mit Begeisterung mitzogen. Die andere Teilnehmer waren diejenigen, die nichts gegen Nacktheit am passenden Orten hatten. Was mich dann total wunderte war, dass unsere Gastgeberin, die sich ja auf der ersten Sitzung prüde zeigte, gleich auf Christianes Vorschlag eingehen wollte. Die Enttäuschung folgte aber auf dem Fuß: Sie machte zur Bedingung, dass wir Männer im Partyraum verweilen sollten bis die Damen ihren Saunagang beendet hätten. Da äußerte Karin dann, allerdings nur aus Jux, eine tolle Idee: „Wie wäre es, wenn wir eine Videokamera mitnehmen würden und damit einen Film, in dem zwar alles angedeutet aber nichts richtig gezeigt wird, drehen würden. Dieses jugendfreie Werk könnten wir dann unseren Männern zeigen. Das hat mehrere Vorteile: Wir haben uns nicht protestuiert, die Männer holen sich mächtig Appetit und wir können sie zum Essen mit nach Hause nehmen, was uns dann auch noch eine weitere Freude beschert.“. Karin lachte und Peter Lemmer verkündete: „Ich hab’s, wir drehen einen Spielfilm. Das ist eine moderne Fortführung unseres Hobbys, der Schauspielerei, und wir können da ein paar richtige erotische Elemente reinpacken und bleiben dabei, wenn wir so wie es Karin gerade sagte vorgehen, sogar sauber. Statt Eintrittskarten verkaufen wir dann Videos und mit dem Erlös finanzieren wir das nächst größere Objekt. Wir bleiben der Schauspielerei treu und wechseln nur von der Bühne zum Film.“. Etwas abrupt waren wir so doch zum Hauptgrund unseres Treffens gekommen. Jetzt stand die Frage wie es weitergehen soll wieder im Mittelpunkt und ein erster Vorschlag lag auf dem Tisch. Die Gespräche über textillose Freuden waren erst einmal vertagt. Zunächst gab jetzt Karl-Heinz Pieper zu bedenken, dass Schauspielerei nicht gleich Schauspielerei sei. Er, der sich als Gymnasiallehrer für das kulturelle Niveau verantwortlich fühlte, versuchte uns jetzt durch die Brille eines Kulturpapstes die gravierenden Unterschiede zwischen der Schauspielerei auf der Bühne und der Darstellung in Film und Fernsehen aufzuzeigen. Seiner Meinung nach ist ein Schauspieler ein Künstler, der entsprechendes Talent mitbringen muss. Dagegen könnte jeder, der passende äußere Voraussetzungen mitbringt, zum Darsteller werden. Karl-Heinz ließ keinen Zweifel daran, dass er die Arbeit von Filmdarstellern im Gegensatz zu Schauspielern nicht sehr hoch einschätzt. Unter anderem tönte er: „Ja, wenn sich ein echter Schauspieler auf der Bühne verhaspelt – was bei der Unmenge von Text, die er auswendig lernen muss, durchaus möglich ist – hat er Pech gehabt. Er steht immer live vor einem aufmerksamen Publikum. Ein Darsteller kann sich verhaspeln so oft er will, die Szene wird so lange wiederholt, bis sie endlich so scheint, dass man sie anderen Leuten vorführen kann.“. Damit hatte Karl-Heinz eine Diskussion darüber eröffnet wie hoch man in seinen Ansprüchen steigen kann ohne hochnäsig zu sein. Jutta
Lemmer gab zu bedenken, dass auch Schauspielerei nicht gleich Schauspielerei sei. Da gäbe es begnadete Shakespeare-Darsteller und Komödianten, die laut polternd Heimat- oder Boulevardstücke, so wie wir vortrügen. Wir wären ja weder Kulturapostel noch Profis auf dem Gebiet der darstellenden Kunst sondern wir wären Hobbyisten, die zunächst etwas zu ihrem eigenen Vergnügen machen. Für uns wäre jetzt die Frage aufgetan, können wir uns die Boulevard-Stück-Spielerei noch leisten oder sollen wir uns ein anderes, artverwandtes Hobby, an welchen wir alle Spaß haben, suchen. Damit war das Gespräch auf den Punkt gebracht. Es ging uns, wenn wir ehrlich sind, nur als Vorwand oder als Grund um das Theater spielen. Viel wichtiger war uns ja der eigene Spaß an der Freude. War ich nicht selbst nur weil ich einer „jungen Biene“ – Christiane Gellert – nachstieg zum Theaterkreis gestoßen. Wenn es jetzt nicht mehr so läuft wie es sollte, könnte man sich doch sinnvoller Weise umorientieren – Hauptsache es macht Spaß. Außer unserem guten Karl-Heinz waren wir dann letztlich alle dieser Meinung. Aber unser Pauker ließ letztendlich auch zu Gunsten der Gemeinschaft, in der er sich wohl fühlte, seine kulturellen Bedenken fallen. Karins Vorschlag, dass wir uns von Steinheimer Theaterkreis in Steinheimer Spielkreis umbenennen sollten, weil dann sowohl Theater wie „Film“ im Namen etabliert sei, wurde dankbar aufgegriffen und als Antrag auf eine Satzänderung für die nächste ordentliche Hauptversammlung vorgesehen. Dieser Formalismus ist im Grunde überflüssig aber wenn wir von den Trinkgeldern, die Rat und Verwaltung als vermeintliche Kulturförderung ausschütten, auch etwas abhaben wollen, dann müssen wir wohl oder übel bei solchen beamtokratischen Spielchen mitagieren. Nach dem dieses jetzt abgeklärt war trumpfte Bernhard Becker, der Hausherr, mit einer ganz bedeutenden Frage auf: „Es ist ja alles gut und schön aber was drehen wir denn jetzt für einen Film? Kann man denn genauso wie für die Bühne auch für den Film Drehbücher einschließlich der Aufführungs- beziehungsweise Drehrechte bei Verlagen kaufen? Meines Wissens geht das nicht. Und dann wichtig: Was für eine Art Film wollen wir denn überhaupt drehen? Soll es eine Klamotte sein, so wie wir solche bisher auf der Bühne gebracht haben oder soll es ein Porno, wie man aus unseren letzten Gesprächen schließen könnte, werden?“. So wie Sascha diese Aussage vorgetragen hatte, musste man sich überlegen ob man jetzt lachen solle oder auf der Stirne Grübelfalten entwickeln sollte. Es konnte ein Spaß aber auch eine ernsthafte Frage sein. In solchen Fällen empfiehlt sich immer eine Rückfrage, die ich dann auch gleich startete: „In welcher Art von Filmen würdest du denn mitwirken wollen?“. Sascha gab uns darauf die Auskunft, dass er ganz gerne in Komödien mit etwas Sex und Pepp mitwirken würde. Allerdings müssten diese nicht so „klamottig“ wie die Boulevardkomödien, die wir bisher gespielt haben, zu sein. Dieser Meinung schlossen sich nun alle Teilnehmer der Runde an, auch Susanne Becker, die sich ja bei der ersten Runde erheblich prüde gezeigt hatte. Nun war klar was wir machen wollten aber das Problem hieß jetzt: Wer liefert uns das Drehbuch. Karl-Heinz Pieper unterbreitete den ersten, gangbaren Vorschlag. Er meinte, wir sollten ein für die Bühne bestimmtes Stück für das Medium Film modifizieren. Er konkretisierte dahingehend, dass wir Szenen, die im Bühnenoriginal nur „erzählt“ oder angedeutet werden vor der Kamera ausspielen sollten. Das Klamottige käme schon alleine raus, wenn wir unsere Lautstärke nicht auf „Saallautstärke“ einstellen müssten. Verschiedene Gesprächsteilnehmer, darunter auch Karin und ich, waren doch der Meinung das in einem solchen Falle alle Dialoge überarbeitet werden müssten und an verschiedenen Stellen auch die Handlung umgebaut werden muss. Dieses brachte dann auch unseren Pauker wieder aufs Trapez: „Wofür bezahlen wir dann denn noch Urheberlizenz an den Verlag und riskieren dadurch auch noch, dass man uns letztlich die Aufführung noch untersagt. Warum auf fremder Leute geistiges Eigentum zurückgreifen. Wer Modifizieren kann, kann auch, wenn er sich nur ein Bisschen mehr anstrengt, eine Neuschöpfung auf den Tisch legen.“. Unserem Karl-Heinz Pieper war bei seiner letzten Rede anzumerken, dass er gerne seinen Namen hinter dem Wort „Drehbuch“ im Nachspann sehen würde und deshalb schlug ich ihn gleich als unseren Autor vor. „Das würde ich schon machen, wenn mir noch einer oder eine dabei assistieren würde“, bekundete darauf der sich geehrt fühlende Studienrat. Die Frage nach einer Assistenz sollte auch prompt positiv beantwortet werden. Da war, wie hätte es anders sein können, zuerst mal Christiane, die ihre sexuellen Fantasien beisteuern wollte. Auch Peter Lemmer, der als erster auf die Filmidee kam, wollte im Autorenteam tätig werden. Das Dreierteam versprach uns eine schnelle Arbeit. Schon vier Wochen später wollten sie uns ihr Werk vorstellen. Es lief sogar noch schneller wie ursprünglich geplant ab. Nach gerade mal drei Wochen telefonierte das Autorenteam mit den anderen Spielkreismitgliedern, um einen Termin für die Vorstellung zu vereinbaren. Wieder waren es die Beckers die uns ihren Partyraum für unser Meeting zur Verfügung stellten. Diesmal waren wir dann vollzählig erschienen, das heißt, dass diesmal auch die drei jungen Frauen – Hanna Neumann, Jeanine Goldstein und Claudine Graf – erschienen waren. Voller Stolz trug uns dann Karl-Heinz Pieper das Werk unter dem Namen „Stripperin unter dem Kopftuch“ vor. Die Handlung schien bei der Vorstellung recht simpel: In einem Mietshaus wohnt ein türkisches Ehepaar mit drei jugendlichen Töchter. Die Töchter sollten von Hanna, Jeanine und Claudine gespielt werden. Da liegt natürlich die Frage auf der Hand, warum diese dann nicht junge
erwachsene Frauen, wie sie in Wirklichkeit sind, spielen sollten. Darauf hatte Karl-Heinz eine recht plausible Antwort: „Habt ihr schon mal jungerwachsene Muslima, die nicht verheiratet sind, gesehen?“. Na ja, da mussten wir zugeben, dass wir so etwas noch nicht gehört und erst recht noch nie erlebt hatten. Dieses Ehepaar sollte ein absolut konservatives muslimisches Paar sein. Karl-Heinz erläuterte uns dieses mit den Worten: „Also echtes Mittelalter. Kopftuch und Bodenwischermantel beziehungsweise –rock und dann immer fein säuberlich drei Schritte hinter dem Mann herschleichend.“. Mit diesem Vorurteil tut Karl-Heinz zwar den meisten bei uns lebenden Türkinnen Unrecht aber es gibt tatsächlich eine größere Zahl von Leuten dieses Typs. Wenn man sich mit diesen Leuten mal beschäftigt, stellt man fest, dass es sich um religiöse Eiferer handelt, die hier im Lande eine separate Parallelgesellschaft anstreben. Ich persönlich gehöre weder zu den „rechten Vögeln“ noch zu christlichen Fanatikern aber ich bin der Meinung das wir solcherlei Moslems im Auge behalten sollten. Diese sind zumindestens zur Integration nicht willig und in einigen schlimmen Fällen stellen sie das Gleiche wie unsere Skindeppen, nur mit umgekehrten Vorzeichen, dar. Aber jetzt weiter mit der von unserem Autorenteam ausgeheckten Geschichte. Das türkische Paar sollte nach dem Willen unserer Autoren ein Doppelleben führen. Er, der von Bernhard Becker (schon einigermaßen grauhaarig und Anfang 50) gespielt werden sollte, soll reichlich Beziehungen zu verheirateten deutschen Frauen, gespielt von Jutta Lemmer und meiner Frau Karin, unterhalten. Seine Frau, aus gutem Grund von unserer Christiane gespielt, sollte als Stripperin in einem Privatclub arbeiten. Also man hatte sich echte Scheinheilige ausgedacht. In dem gleichen Haus, in dem die türkische Familie, die unsere Autoren Özdemir getauft hatten, sollte ein echter Tagedieb wohnen. Also so eine Type, der nichts vom Arbeiten aber sehr viel vom Saufen hält. Seinen Lebensunterhalt sollte er laut Drehbuch vom Arbeitsamt in Form von Arbeitslosenhilfe beziehen. Sozialraubbauer stellen uns dieses Klischee von den Soziale-Hängematten-Schaucklern als einen überwiegenden Standard dar um von dem Mangel an Arbeitsplätzen abzulenken und um dann den Arbeitslosen die Schuld für die eigene Misere zuzuweisen. Dieser Kerl sollte aber nicht nur ein Säufer sondern auch ein Exhibitionist sein und von mir gespielt werden. Eines Tages wird unser exhibitionierende Trinker von einem reichen Quartalssäufer, gespielt von Karl-Heinz Pieper persönlich, mit in den Privatclub, in dem die Stripperin unter dem Kopftuch arbeitet, genommen. Nachdem unser Trinker seine türkische Nachbarin erkannt hat, wächst in ihm der Wunsch, seinen Trieb vor den Töchtern der Einwandererfamilie auszuleben. Kurz drauf setzt unser Exhibitionist seinen Wunsch in die Tat um. Über den Balkon der Erdgeschosswohnung dringt er in die Wohnung der türkischen Familie ein und zieht dort, den Töchtern gegenüberstehend, seinen knielangen T-Shirt über den Kopf aus und steht dann vollkommen blank und onanierend den Kopftuch tragenden jungen Damen gegenüber. Im Gegensatz zu seinen Erwartungen finden aber die jungen Türkinnen Spaß an der Fleischbeschau und vereiteln die Flucht des Eindringlings. So kommt es, dass der Übeltäter vom Familienoberhaupt erwischt wird und es kommt zu einer Schlägerei. An dieser Stelle soll ausgeblendet werden und in der nächsten Szene sieht man dann die türkische Ehefrau und den Tagedieb nackt nebeneinander auf dem Waldboden liegen. Sie sollen ermordet worden sein. Eine Kommissarin, gespielt von der etwas prüde wirkenden Susanne Becker, nimmt ihre Ermittlungen auf. Von diesen soll dann im Film recht wenig zusehen sein. Unser Autorenteam springt nun sehr schnell zur Aufklärung des Falles. Der Onkel der Getöteten, der noch immer in der Türkei wohnt und seinen angeheirateten Neffen nicht kennt, hatte von dem Treiben seiner Nichte gehört und war angereist um die Familienehre wiederherzustellen. Dabei hat er den Exhibitionisten, der der Stripperin mal seine Künste zeigen wollte, mit dem zugehörigen Ehemann verwechselt und umgebracht. So, jetzt habe ich die komplette Filmstory kurz dargestellt. Ich würde aus meiner Warte dem Drehbuch keinen Oscar verleihen, da die ganze Geschichte mehr als unwahrscheinlich ist. Darüber haben wir dann auch eine ganze Weile diskutiert. Natürlich gibt es auch unter Türken, die von der Herkunft Muslime sind, manch lockere Vögel, die sich an Striptease, Prostitution und pornografische Werke beteiligen aber diese Minderheit ist nicht identisch mit den Mitgliedern der Kopftuch-Truppen. Und das mordende Retter der Familienehre aus der Türkei angereist kommen dürfte auch nur noch in fremdenfeindlichen Horrorstorys vorkommen. Die aufmerksame Leserschaft wird jetzt sicherlich erstaunt danach fragen, was das Ganze mit einer Komödie, wie es im Vorgespräch angedacht war, zutun hat. Das war für mich auf dem ersten Blick auch nicht so ganz durchsichtig. Laut Autorenteam sollten die Dialoge echte Schenkelklopfer sein. Na ja, das haben wir alle so hingenommen wie es gesagt worden ist. Die Kostenproben die uns geliefert wurden klangen aber eher nach Schotendrescherei statt nach Dialogen. Heute muss ich sagen, dass, wenn wir alle ein komplettes Drehbuch erhalten hätten, es wahrscheinlich gar nicht zu dem Film gekommen wäre. Wir erhielten aus praktischen Erwägungen immer nur einzelne Szenenausschnitte, in denen wir selbst aktiv waren. Es war ja nicht so wie auf der Bühne, wo die ganze Handlung chronologisch ablaufen musste. Beim Film kann man mittels Schnitt beliebige Einzelszenen zu einer kompletten Story zusammen puzzeln. Unser Drehbuch enthielt doch eine Reihe von Ungereimtheiten und alles ergab streng
genommen eigentlich keinen Sinn. Aber wir hatten alle irgendeinen persönlichen Grund, weshalb wir auf eine Verwirklichung der Filmgeschichte brannten. Ich muss allerdings gestehen, dass diese Gründe nicht rational und nicht vernünftig waren. Was mich anbelangt, muss ich gestehen, dass meine Gründe sogar pervers waren. Ich hatte in mir den echten „Sittenstrolch“ entdeckt. Gedanklich geilte ich mich schon im Vorfeld daran auf, nackt und zumindestens eine Selbstbefriedigung vortäuschend vor den drei jüngsten weiblichen Mitgliedern unserer Truppe zu stehen. Gefilmt werden sollte die Szene von hinten. Das heißt das die Zuschauer von meinem intimsten Zonen im Film nur meinen Allerwertesten zu sehen bekommen sollten. Wie weit jedoch Fantasien und Praxis auseinander gehen zeigte sich als die Szene dann wirklich gedreht wurde. Auf einmal hatte ich das Gefühl mich zu schämen und hoffte darauf, dass nur schnell alles über die „Bühne“ ginge. Irgendwo hatte ich das Gefühl, dass sich die drei jungen Frauen, denen gegenüber ich mich postieren musste, über mich und/oder über mein besonderes Stück lustig machten. Laut Drehbuch mussten sie das sogar. Ich kam aber mehr und mehr zu der Überzeugung, dass sie den Text ernst meinen könnten. Jetzt kamen mir Karl-Heinz Pieper und Susanne Becker, die bei dieser Aufnahme Kamera und Regie führten, richtig sadistisch vor, denn während ich mich danach sehnte, dass dieser Kelch sehr schnell an mir vorüberginge, passte den beiden mal dieses und mal jenes nicht und sie ließen uns unsere Sache mehrfach wiederholen. Insbesondere regte ich mich im Stillen über die bisher prüde erscheinende Susanne auf, denn sie schien so ein Typ, der niemanden an sich selbst heranlässt aber bei anderen nicht genug kriegen kann zu sein. Nachdem dann anschließend die Schlägerei-Szene, in der auch zwei Mal kurz mein „Schnippel“ für die Zuschauer sichtbar sein sollte, abgedreht war stand für mich fest, dass ich mich wohl jetzt nicht mehr aus der Geschichte rauswinden könnte aber das alles jetzt das erste und zugleich letzte Mal für mich sein sollte. Christiane Gellert schien dagegen ganz anders wie ich veranlagt zu sein. Man merkte ihr richtig an, wie sie es genoss die Augen der Anderen auf ihrer nackten Haut zu spüren. Auf ihrem Wunsch sollten wir alle, wo die Stripteaseszene gedreht wurde, als Komparsen anwesend sein. Susanne Becker, die die Kamera führte, musste sehr darauf achten, dass keiner von diesen Privatclubbesucher-Komparsen erkannt werden konnte. Hätte ja komisch ausgesehen, wenn, zum Beispiel der Ehemann der Stripperin in dieser Szene dem geilen Fremdling an Tisch 3 zugeschrieben werden könnte. Nun ich war ja ohnehin in dieser Szene eingeplant. Ich sollte dieses fiktive Lokal ja mit dem, von Karl-Heinz gemimten, reichen Freund des Gottes Bacchus, sprich mit dem Quartalssäufer, aufsuchen. Eu, jetzt gefiel mir die Sache jedoch wieder super und die einzelne Szene konnte auch nach meinem Geschmack nicht oft genug wiederholt werden. Da gab es ja dann noch meinen großen „Auftritt“ gemeinsam mit Christiane Gellert, die für mich überhaupt dafür der Anlass war, dass ich zu dieser Truppe gehörte. Jetzt sollte ich mit dieser 25 Jahre jüngeren Dame, die ich mal gerne „vernascht“ hätte, je eine nackte Leiche nebeneinander auf dem Waldboden liegend mimen. Als wir diese Szene drehten führte meine eigene Frau die Kamera, denn Susanne Becker, die in der meisten Zeit die Videokamera bediente, spielte an dieser Stelle als Kommissarin mit. Unser Autor und Regisseur Karl-Heinz Pieper trat in dieser Szene ebenfalls mit auf. Im „Film“ konnte man später im Grunde nur seinen Schatten sehen und seine Stimme hören. Das hatte seinen Grund darin, dass es ein wenig komisch gewesen wäre, wenn die „Kommissarin“ über den Leichen Selbstgespräche geführt hätte. Also brauchte sie einen Mitarbeiter. Da aber alle Herren irgendwo in dem Werk eingeplant waren, mussten wir auf eine Doppelbesetzung zurückgreifen. Jetzt wäre es ja schlecht gewesen, wenn man in dem Mitarbeiter der Kripo den reichen Quartalssäufer aus dem Stripteaseclub erkannt hätte. Ein Kripobeamter kann zwar ein Säufer aber niemals reich sein; er übt ja seinen Beruf nicht als Hobby aus. Als diese Szene aufgenommen wurde erlebte ich ein echtes Wechselbad aus Lust und Scham. Nackt neben der ebenfalls nackten Christiane rührte mich ja doch recht lustvoll an, zumal wir auch noch so nah aneinander lagen, dass ich Christianes warmfeuchte Haut deutlich auf der meinigen spürte. Hätten wir beide die Szene mal zu einer Zeit, in der wir alleine waren, geprobt hätte ich für nichts garantieren können. Wenn Christiane nicht mitgespielt hätte, wäre es vielleicht möglich gewesen, dass ich ... Na, lassen wir lieber diese dunklen Gedanken in Richtung Sexualkriminalität. Jetzt waren wir aber nicht alleine. Zwei weitere Frauen, davon eine meine eigene, und ein Mann waren noch mit von der Partie. So seltsam wie es klingt: Ich habe mich in dieser Situation tatsächlich vor meiner eigenen Frau, die mich sicherlich zu genüge kennt, am meisten geschämt. Auch schon beim Abdrehen der Sittenstrolchszene hatte ich im Hinblick auf die Anwesenheit angezogener Männer ein seltsamkomisches Gefühl; es war mir nicht so ganz recht. So waren Karl-Heinz und Karin die „Leute“, die mir den Spaß reichlich verdarben. Dagegen erlebte ich hinsichtlich der Anwesenheit von Susanne Becker, in deren Garten die Geschichte übrigens gedreht wurde, Exhibitionisten-Wolllüste. Während wir diese Szene drehten wirkte sie beim besten Willen nicht mehr so prüde, wie sie sich bis jetzt gegeben hatte. Ich hatte das Gefühl als würde sie mein bestes Stück mit ihren Augen detailweise abtasten, was bei mir dazu führte, dass ich eine bestimmte erhebende Erregung nicht mehr unterdrücken und vertuschen konnte. Zu meiner Verzweifelung und Karins großen Ärger ließen sich
Susanne und Christiane darüber auch noch „anerkennend“ aus. Überhaupt hielt ich dann für eine gewisse Zeit die so fein tuende Susanne seit den Dreharbeiten für einen falschen Fuffziger. Sie stand immer direkt neben meinen Kopf, so dass ich bei den vielen längeren Drehpausen unter ihren Rock bis zwischen die Schenkel sehen konnte. Allerdings versperrte mir der rote Stoff ihres Slippers einen vollpornografischen Zublick. Auch wenn es diesmal heiße, von mir wollüstig empfundene Momente gab war ich doch froh als es hieß die „Szene wäre im Kasten“ und ich dürfte mich wieder anziehen. Bei den Dreharbeiten wurde ich nachhaltig von meinen triebhaften Fantasien befreit. Heute hege ich in allen sexuellen Angelegenheiten nur nach Absichten hinsichtlich der eigenen Frau. Ich sehe mir zwar immer noch ganz gerne gut gemachte ästhetische Nackedei-Bildchen an, aber dieses stellt schon die Spitze aller Gelüste dar. Ich habe halt keine Veranlagung zur Pornoszene. Probleme habe ich auch immer, wenn ich den ehemaligen Mitakteuren begegne. Dann möchte ich am liebsten unsichtbar sein oder auf der Stelle im Boden versinken. Aber mir geht es nicht alleine so. Auch Susanne Becker schämt sich im Nachhinein für ihr Mitwirken bei diesem Schinken – wie sie sagt, obwohl sie eigentlich ja so gut wie nix von sich gezeigt hat. Wie sie Karin und mir, als wir mit den Beckers zusammen saßen, mal sagte führt sie ein innerliches Doppelleben. Dort wo sie nur mit fremden Menschen, die sie wahrscheinlich nicht wiedersehen wird, zusammen sei – wie so etwas schon mal im Urlaub der Fall ist – könnte sie so freizügig wie Christiane und sogar noch versauter sein. Wenn sie aber mit Bekannten oder Freunden zusammen sei, würde sie sich schon nach einen vermeintlich zu tiefen Blick ins Dekollete schämen. Als sie die Kommissarin gespielt habe, sei etwas schizophrenes in ihr abgelaufen: Einerseits habe sie es zum Beispiel genossen, dass ich ihr unter den Rock sehen konnte und im gleichen Moment habe sie sich fürchterlich darüber geschämt. So habe sie auch ganz gerne bei den Anderen hingesehen und sich im unmittelbaren Anschluss daran für „gefährlich versaut“ gehalten. Aber was soll’s, irgendwo haben wir alle ein Tick und ich kann schlecht ergründen, was normal ist. Die Beckers sind übrigens die einzigsten aus dem Kreis, mit denen wir heute noch freundschaftlichen Kontakt haben. Mit allen anderen haben wir uns, als der Film fertig gestellt war zerstritten. Aber auch die anderen haben sich untereinander zerstritten. Grund war der „Film“, von dem alle Kopien vernichtet beziehungsweise gelöscht worden sind. Es waren auch nicht die sexuellen beziehungsweise pornografischen Szenen, die unseren Kreis sprengten sondern der stark rechtslastige Inhalt, der uns und den Beckers erst bewusst wurde, als wir das ganze Werk im Zusammenhang sehen konnten. Außerdem entdeckten die Frauen, nicht nur Karin und Susanne, dass in diesem Film Machos glorifiziert würden, das heißt, dass er sexistisch sei. Auch letzteres wird erst richtig deutlich, wenn man das Video im Zusammenhang sieht. Ich war der erste der nach der Uraufführung auf die Barrikaden stieg. Was heißt hier „nach“; das Ende war noch nicht in Sicht, da musste ich aus einem inneren Zwang heraus mächtig protestieren. Was da alles über Türken, die mehrfach auch Kanaken genannt wurden, und kopftuchtragende Muslima gesagt wurde lag aus meiner Sicht weit außerhalb von Gut und Böse. Seltsamer Weise wurden in den Szenen, in denen ich mitspielte nicht so dick wie in den anderen aufgetragen. Ganz eindeutig zeichnete für diese Dialoge Karl-Heinz Pieper, mit dem ich mich schon ganz im Anfang meiner Hobbyschauspielerkünste wegen seiner rechten Dummphrasen in der Wolle hatte, verantwortlich. Ganz offensichtlich wusste Pieper, dass ich schon während der Dreharbeiten ausgeflippt wäre wenn ich den rassistischen Müll spitz gekriegt hätte. Deshalb hat er mir wohl das komplette Drehbuch stets vorenthalten und deshalb waren wohl „meine Szenen“ etwas sauberer als die anderen. Aber man soll nicht immer nur die Fehler bei anderen Leuten suchen. Ich habe bei der Filmgeschichte einen ganz großen Fehler gemacht. Ich kannte doch den äußerst rechten CDU-Mann Pieper schon lange. Früher habe ich die Steinheimer Ortsunion mächtig dafür kritisiert, dass sie ihre Außenflügel-Leute wie diesen Pieper nicht hinsichtlich ihrer braunen Parolen mehr auf die Füße tritt. Den Studienrat Pieper habe ich immer als den Schlimmsten der rechten Vögel, die sich mit dem schwarzen Parteibuch tarnen, gehalten. Ich hätte auch sehen müssen, das Christiane Gellert, die von ihrer Geilheit besessen war, im Autorenteam keine Garantin für Freiheit vom rechten Gedankengut sein konnte. Auch von dem Dritten im Bunde, von Peter Lemmer, hatte ich schon reichlich üble Schoten, die er Witze nannte, über Minderheiten und Ausländer gehört. Da musste man einfach mit einem solchen Ergebnis rechnen. Wie konnte ich mich, wo doch so etwas zu erwarten war, da nur hinreißen lassen mich ohne Kenntnis des Drehbuches mit ans Werk zu machen. Jetzt könnte ich mich damit entschuldigen, dass ich nicht alleine gewesen sei und die anderen den gleichen Fehler wie ich gemacht hätten. Im Grunde habe ich aber eine ganze Menge gegen solche Kollektiventschuldigungen. Jeder ist immer und überall, unabhängig von dem was andere tun und lassen, verantwortlich für seine eigenen Taten. Nicht immer kommt es darauf an, was man getan hat sondern die meiste Schuld lädt man mit dem, was man nicht getan hat auf sich. Der größte Übeltäter ist immer derjenige, der sich aus allem rausgehalten hat. Die „Raushälter“ in großer Zahl machen Untaten erst möglich und dabei machen sie sich noch mitschuldig an den Verbrechen, die an den Leuten, die sich nicht raushalten, geschehen. Also, was unser Drehbuch anbelangte bekenne ich mich voll schuldig, weil ich mich bis zu einem gewissen Zeitpunkt aus der Sache raus
gehalten habe. Und das alles nur, weil die Empfindungen im Schwänzchen die Denkfähigkeit meines Gehirnes total beeinträchtigt haben. Ich schrieb eben, dass die Szenen, in denen ich selbst auftrat, am wenigsten rechtslastig waren. Dafür waren diese dann aber, wie Susanne Becker feststellte, der Gipfel an Sexismus. Jetzt, wo Susanne es sagte, wurde mir auch bewusst, was für unangebrachte Macho-Sprüche selbst ich von mir gegeben habe. Gemeinsam mit Karin und Susanne musste ich eingestehen, dass ich bei den „Dreharbeiten“ an alles mögliche, nur nicht über das, was ich da an vorgegebenen Texten nachplapperte, nachgedacht habe. Außerdem entfalten diese Sprüche erst richtig durch die gehäufte Aneinanderreihung ihre volle Wirkung. Jeden Spruch einzeln hätte man irgendwo noch wegkneifen können. Was Karin und insbesondere auch Susanne „umhaute“ war die Tatsache, dass diese Texte überwiegend von der geilen Christiane stammten. Uns wurde jetzt klar, in welchen lockeren Kreisen Christiane ihre Freizeit, wenn sie nicht Theater spielte, verbrachte. Christiane schien die eigene Würde und die ihres Geschlechtes wenig wert zu sein und die war sie wohl gerne bereit zu opfern wenn sie dafür ein sexuelles Späßchen erhält. Ich hatte sie bis zu diesem Zeitpunkt intelligenter eingeschätzt. Nun teilte sich unser Spielkreis in drei verschiedene Lager. Das erste Lager bestand aus dem Autorenteam mit Anhang, also aus Karl-Heinz Pieper und den Ehepaaren Gellert und Lemmer, die ihre Arbeit sogar noch als Spitzenleistung lobten. Ihre erbitterte Gegenpartei bestand aus den Ehepaaren Becker und Löffler, also aus Karin und meine Wenigkeit. Wir sahen durch den Film die Menschenwürde verletzt und diese sogar schon in einem Maße, welches den Staatsanwalt interessieren könnten. Die dritte Gruppe, der Rest der Leute, darunter auch die drei jüngsten Frauen, distanzierten sich dann in beide Richtungen gleichzeitig. Sie waren strickt dagegen, dass noch weitere Leute den Film zusehen bekämen. Nach ihrer Ansicht war der auch technisch schlecht gemacht. An einigen Stellen wäre dieser nicht richtig ausgeleuchtet und teilweise verwackelt gewesen. Ja, Filmkünstler fallen halt nicht vom Himmel. Auf der anderen Seite warfen sie uns vor zu übertreiben und zu stänkern. Schließlich wären wir, und da insbesondere ich, richtig heiß darauf gewesen unsere geilen Fantasien mal auszuleben. Wenn ich ehrlich bin, hatten sie mit letzterem ja auch recht. Jetzt ging es reihum mit den Argumenten. Diese wurden auf der einen Seite immer unsachlicher und auf der anderen ging es immer tiefer ins Persönliche. Das ging dann soweit, dass Christiane und ich uns gegenseitig das, was wir für unsere körperlichen Vorzüge hielten, herabwürdigten. Christiane, die mit dieser Sache angefangen war, beurteilte bei mir etwas als zu kurz geraten aber dafür zu schnell an der Spritze. Zu meinem Erstaunen war es gerade Susanne Becker, die mich verteidigte. Der Dialog zwischen Susanne und Christiane erheiterte vor allen Dingen die drei jüngeren Frauen während ich mich zunehmendst an schmerzhafter Stelle getroffen fühlten. Karin, meine Frau, hielt sich während des Streites vollkommen aus dem Geschehen heraus. Sie nahm nur meine rechte Hand fest in ihre linke und signalisierte mir damit, dass sie, auch wenn sie mir nicht beistehen kann, mich nicht allein lässt. Später auf dem Heimweg sagte sie mir, dass es ihr im Grunde recht wäre, dass ich einen kräftigen Denkzettel erhalten hätte, das es aber so dick gekommen wäre hätte ich aber dann doch wirklich nicht verdient. Was soll ich da noch lange erzählen: Es war aus und vorbei mit dem Theaterkreis aus dem nie ein Spielkreis geworden war. Im Laufe des letzten Abends, den wir zusammen waren, haben wir uns mächtig zerstritten, und zwar so mächtig, das wohl in absehbarer Zeit nicht mit Versöhnungen zurechnen ist. Alles was von unserem Film vorhanden war wurde vernichtet. Das heißt, dass alle Videobänder zunächst in kleine Schnipsel gerissen und dann in die Behältnisse, die für die Müllabfuhr bestimmt sind, geschmissen wurden. Das was in digitaler Form auf den PC lauerte wurde in den Datenhimmel geschickt. Zumindestens weiß ich, dass die Aufzeichnungen auf dem PC der Beckers gelöscht sind – das geschah noch während unserer Sitzung. Auf Karl-Heinz Piepers PC war, laut seiner eigenen Bekundung, der ganze Film aufgespielt und er hat an dem besagten Abend verbindlich erklärt, dass er alles löschen will. Ob er es wirklich getan hat kann ich natürlich nicht beeiden; wir müssen es ihm halt glauben. Damit sind dann vermutlich die materiellen Spuren, die von unserer Filmproduzententätigkeit gelegt worden sind beseitigt – die Spuren, die wir in unseren Seelen hinterlassen haben, dürften sich nicht so schnell beseitigen lassen. Wie ich schon schrieb haben Karin und ich heute nur noch eine freundschaftliche Beziehung zu Susanne und Bernhard Becker. Susanne rief am Tag nach der strittigen „Galavorführung“ bei Karin an. Die beiden Frauen hatten sich in der Zeit, in der wir im Theaterkreis dabei waren, immer ganz ausgezeichnet verstanden. Es war wohl so wie es im Sprichwort heißt, dass sich die Beiden gesucht und gefunden hatten. Nun lud Susanne nur uns zu einem geselligen Abend ein. Uns wurde sogar etwas angeboten, was zuvor die anderen auch gerne gemacht hätten: Eine Runde in der privaten Sauna. Aber jetzt nicht gleich denken, dass es gleich von einem „Abenteuer“ ins nächste gehen sollte. Karin und ich haben jetzt ja schon öfter die Beckersche Sauna genutzt, aber immer war es eine spezielle Damen- oder Herrensauna. Einen „gemischten“ Saunagang gab es ausschließlich nur für Karin und für mich. Ich bin bis heute noch nicht wieder Susanne im ausgekleideten Zustand begegnet und umgekehrt
hatte ich bei Susanne noch nie das Vergnügen. Und was für uns gilt, gilt entsprechend auch für Bernhard und Karin. Die Wahrung von Distanzen erhält offensichtlich Freundschaften. Wir haben uns natürlich auch mal groß darüber unterhalten, wieso diese ganze Geschichte, die ich Ihnen jetzt erzählt habe, überhaupt geschehen konnte. Da waren dann Susanne und Karin der Meinung, dass wir Männer, also speziell Bernhard und ich, offensichtlich nicht mit dem, was uns unsere Frauen auf sexuellen Gebiet hätten bieten können, zufrieden gewesen wären. Da widersprachen wir beiden Männer aber energisch – und dieses mit recht. Das Einzigste, was wir zugeben wollten, ist die Tatsache, dass in unserem geistigen Hinterstübchen immer der Wunsch nach einer Abwechselung, nach einem Abenteuer, gegenwärtig war. So war der Bernhard Becker der Jutta Lemmer und ich Christina Gellert in den Theaterkreis „nachgestiegen“. Aber irgendwie gehören Bernhard und ich nicht zur Garde der Abenteurern. Den Objekten unserer Begierde nahe, steckten wir nicht nur auf sondern holten noch unsere Frauen hinzu. Und das wäre es normalerweise auch schon gewesen. Es ist sehr wahrscheinlich, dass ich, wenn ich nicht zur gleichen Zeit meinen Rückzug aus der Kommunalpolitik vollzogen hätte, schon längst dem Theaterkreis den Rücken zugewandt hätte. So bin ich nach der Devise, dass man so ein Bisschen im Leben, um das man sich kümmert, um die Hand haben muss, vorgegangen. Einfach nur richtig leben konnte ich mir nicht als des Lebens Sinn vorstellen. Bernhard hatte einen ähnlichen Grund zum Durchhalten im Theaterkreis. Nur, was bei mir die Politik war stellte bei ihm der Sport da. Er hatte sich zuvor, weil er die Nachahmung der Profivereine im unteren Amateurbereich nicht mittragen konnte, von der Trainerund Vorstandsarbeit seines Fußballvereines zurückgezogen. Mit dem Abgesang des Theaterkreises hätte sich das Problem auch für uns mit Wohlgefallen erledigt. „Abgesang“ ist das richtige Wort, denn der rückläufige Trend bei den Zuschauerzahlen und den Aktiven hatte bereits vor dem Zwangsumzug der Spielstätte, ja sogar schon vor unserem Vereinseintritt, begonnen. Nun, es ist halt heute so, dass die Leute gerne passiv und weitgehenst unverbindlich ihre Freizeit verkonsumieren. Sich selbst irgendwo einzubringen ist nicht mehr gefragt. Man sitzt lieber für teueres Geld auf der Tribüne einer FußballFremdenlegion, sprich eines Bundesligavereines, statt in irgendeinem kleinen Verein selbst zu kicken. Statt selbst „schmutzige Lieder zur Laute“ zu singen lässt man sich lieber von sogenannten Stars mit heiserer Stimme Gejaule im überwiegend unverständlichen Englisch vortragen. Na ja, man konnte sich ja von uns was vorspielen lassen, nur für uns Aktive konnte der Passivkonsum nicht gelten. Aber was konnten wir schon bringen. Zumindestens für die jungen Leute brachten wir doch zu wenig Action. Also unser Theaterkreis war eigentlich schon vorher ein sterbender Schwan. Na, dann steuerte letztendlich bei fast allen der sexte Sinn das Geschehen. So wie ich es sehe haben nur Karin und insbesondere Susanne einen halbwegs kühlen Kopf behalten. Aber spürbar gegengesteuert haben die beiden Frauen jedoch auch nicht. Ich weiß nicht ob es, wenn es nur bei der Amateurpornografie geblieben wäre, noch zu einem weiteren Film gekommen wäre, denn so wohl hatte sich bei der öffentlichen Entblößerei eigentlich nur Christiane gefühlt. Sie ist offensichtlich die einzigste, die für so etwas eine genügende Portion Exhibitionismus ihr eigen nennen konnte. Na ja, den Rassismus und Sexismus, den das Autorenteam der Angelegenheit beigemengt hatte, hat die Sache dann doch noch zuende gebracht. Über eins sind wir uns sicher: Bisher haben wir immer geglaubt, dass man nur richtig lebe, wenn man alles, auch auf dem Gebiet von Sexus Luxus, mitnähme. Irgendwie hatten wir Angst etwas zu versäumen, was sich in diesem kurzen Leben nicht mehr nachholen lässt. Aber diesbezüglich trügt aber der Schein. Spaß hat das alles nicht gemacht. Susanne, Karin, Bernhard und ich hätte gut und gerne auf dieses alles verzichten können ohne das uns was entgangen wäre. Jetzt, wo wir oft in gemütlicher Runde beisammen sitzen und sehr häufig am Wochenende gemeinsam Ausflüge ins Grüne unternehmen aber auch wenn ich es mir mit Karin alleine gemütlich mache, merken wir was wir alles hätten haben können, wenn wir nicht ... , wenn wir nur einfach richtig gelebt hätten.
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Sterben ist uns allen vorbestimmt Die Zukunft übt auf uns Menschen eine mystische Faszination aus. Wie gerne möchten wir wissen was sich mal ereignen wird. Aber das geht zum Glück nicht, auch wenn uns diverse Gaukler und Geldschneider das Gegenteil erzählen. Ist Ihnen aufgefallen, dass ich nicht das Wörtchen „leider“ bemüht habe sondern ganz bestimmt und bewusst vom Glück, das so etwas nicht geht, geschrieben habe. Ja Leute, was wäre wenn. Was wäre beispielsweise wenn wir von vornherein wüssten, dass sich eine bestimmte, von uns angestrebte Aktion zu einem Fehlschlag entwickeln würde? Starten wir dann trotzdem, weil wir glauben das Schicksal austricksen zu können? Baut sich bei uns eine psychischer Zwang etwas wider besseres Wissen zu tun auf oder gibt es irgendeine innere oder äußere Kraft, die uns zwingt gegen unsere Überzeugung das Falsche zu tun? Was ist, wenn wir wissen, dass wir in wenigen Jahren zu den Superreichen zählen – sind wir dann noch bereit heute das Notwendigste zu tun? Irgendwo wirkt sich das Wissen um die Zukunft immer auf das derzeitige Handeln aus und ist dann das, was uns vermeintlich vorbestimmt ist, durch das beeinflusste Handeln überhaupt noch möglich? Oder sind wir tatsächlich nur hilf- und wehrlose Majonetten, die das erleben müssen, was ihnen vorbestimmt ist – gleichgültig ob die Vorbestimmung Glück oder Leid ist? Ich glaube, dass wir, wenn wir die Zukunft kennen und keine Majonetten sind, so viel Einfluss auf unser Schicksal nehmen würden, dass wir das Vorhergesagte ad absurdum führen. Sind wir aber Majonetten, treibt uns das Wissen um die Zukunft in die Depression, da wir so klein und wehrlos sind. Also es ist wirklich ein Glück, dass wir nicht in die Zukunft sehen können ... Das können Sie mir ohne Wenn und Aber zugestehen. Ich persönlich behaupte trotzdem in einem bestimmten Punkt die Zukunft vorhersehen zu können. Ich kann Ihnen liebe Leserin, lieber Leser prophezeien, dass Sie sterben müssen. Ich weiß nicht wann, ich weiß nicht wo und ich weiß nicht wie, aber dem Sterben und dem Tod können Sie nicht entkommen; sie müssen sterben. Das hört sich hart an, so wie ich Ihnen diese schreibe. Aber trösten Sie sich: Sterben ist auch meine Zukunft; Sterben ist uns allen vorbestimmt. Wir wissen nur nicht Zeit, Ort und Stunde unseres Ablebens. Das kann schon heute, im nächsten Augenblick sein. Ein umfallender oder herabstürzender Gegenstand trifft Sie so unglücklich, dass Sie auf der Stelle tot sind. Vielleicht öffnet sich gleich die Tür und Sie sehen sich ihrem Mörder gegenüber gestellt. Vielleicht begeben Sie sich nichts ahnend an einen Ort, an dem Terroristen just in dem Moment wo Sie eingetroffen sind, eine Bombe, die Sie zerreißt, hoch gehen lassen. Andererseits können noch viele Jahre und Jahrzehnte ins Land ziehen und Sie überstehen dann auf einmal eine harmlose Erkältung aufgrund ihrer Altersschwäche nicht. Es gibt auch immer wieder Menschen, die vor einem Weiterleben fliehen, das heißt, dass sie sich selbst umbringen. So kann ich noch einmal wiederholen: Sterben müssen wir alle; offen ist nur die Frage nach dem Wie, Wann und Wo. Haben Sie davor Angst? Wo vor haben Sie eigentlich Angst: vor dem Sterben, dem endgültigen Abschied nehmen, oder vor dem Tod, je nach Weltanschauung dem absoluten Nichts oder dem Leben nach dem Tode? Sind Sie vielleicht einem religiösen Fanatiker begegnet, der Ihnen in schaurigsten Bildern einen Höllenhorror vorgegaukelt hat und haben davor jetzt Angst? Nun, niemand von uns hatte bisher eine Gelegenheit hinter die Barriere, die das Sterben aufbaut, zu blicken und diese Gelegenheit werden wir erst bekommen, wenn wir uns selbst hinter der Barriere befinden und es für uns keine Umkehrmöglichkeit mehr gibt. Ich stand mal, als ich gerade Zwanzig war, an dieser Barriere. Es geschah an dem Tag als ich meinen Einberufungsbescheid zu den Panzern nach Hildesheim bekam. Schon im Vorfeld war ich nicht begeistert aber ich wollte, entgegen den Beteuerungen, die ich noch ein Jahr früher im CVJM immer abgegeben hatte, hingehen. Als der Einberufungsbescheid mit Niederlegungsurkunde bei mir Zuhause eintrudelte war ich, so wie es werktags üblich war, nicht Daheim sondern auf meiner Arbeitsstelle, einer kleinen Druckerei in Wehnheim. Der Postbote hatte ein entsprechendes Zettelchen hinterlassen, dass ich mir das Schreiben nach 15 Uhr im Postamt abholen könne. Da aus dem weißen Zettel nicht ersichtlich war, um was es sich bei der Niederlegung handelte, trieb mich doch die Neugierde umgehend und ohne jeden weiteren Verzug zum Postamt. Allerdings rechnete ich mit einem solchen Bescheid, da man mir schon vorher mitgeteilt hatte, dass ich eventuell noch kurzfristig einberufen werden könnte. Alle anderen, die ich kannte und die auch zum Bund mussten, hatten schon ihre definitive Einberufung in den Händen. Ich fuhr mit meinen Opel Kadett zu dem Amt und bekam auch – was äußerst selten ist – direkt vor dem Haupteingang einen Parkplatz. Auch im Inneren des Amtes erlebte ich etwas seltenes: Ich war sofort dran, niemand stand vor mir am Schalter. Wann kommt so etwas schon mal vor? Immerhin war es vor 37 Jahren – von diesem Zeitpunkt erzähle ich gerade – tatsächlich noch ein richtiges Amt der Behörde „Deutsche Bundespost“. Bei Behörden läuft es bekanntlich immer etwas beschaulicher wie anders wo, dafür aber mit erbsenzählerischer Akribie, ab. Na, lassen wir jetzt mal den Beamtentrott beiseite und erzählen mal meine Geschichte weiter. Dass ich den besten Parkplatz vor dem Amtsgebäude ergattern konnte und dass ich ausnahmsweise sofort dran war ist aber das letzte, was sich tief in meine Erinnerung eingefressen hat. Danach erinnere ich mich nur daran, dass ich
mich sehr sehr wohl und leicht fühlte und über mich selber schwebte. Schwebender Weise sah ich, dass ich auf der Straße neben meinem Auto und vor einem LKW lag. Ich schwebte immer höher und dann sah ich nicht mehr zu Boden sondern ich schwebte in einer dunklen Röhre an dessen oberen Ende sich ein wohltuendes weißes sehr helles Licht, welches vom Mittelpunkt aus strahlte, immer höher. Plötzlich reißt der Faden an diese außergewöhnliche Erinnerung ab und der Rest meiner Erinnerungen an das damalige Geschehen ist im Dunkel von 37 Jahren abgetaucht. Irgendwo, ganz weit weg, als wäre es nie so richtig geschehen, weiß ich noch etwas von Schmerzen und Leiden. Was da geschah, habe ich scheinbar verdrängt. Lassen Sie mich jetzt erst einmal Fakten, zu denen diese Bilder in meinem Erinnerungsspeicher gehören, berichten. Ich hatte den Umschlag mit dem Einberufungsbescheid erhalten und habe diesen, während ich wieder nach draußen eilte geöffnet. Gelesen habe ich das Schreiben wahrscheinlich erst als ich um mein Auto zur Fahrertür herumgehen wollte. Dabei muss ich wohl zu weit auf die Straße getreten sein, so dass ich von einem vorbeifahrenden LKW erfasst wurde. Ich erlitt „lebensgefährliche“ Verletzungen und habe danach drei Wochen im Koma gelegen. Danach habe ich noch ein halbes Jahr im Krankenhaus verbracht; es soll mir da gar nicht gut gegangen sein. Zum Bund konnte und musste ich dann natürlich zunächst einmal nicht. Ob ich zu einem späteren Zeitpunkt gezogen worden wäre, kann ich im Nachhinein nicht beurteilen. Im Krankenhaus hatte ich sehr viel Zeit über Gott und die Welt sowie über das Leben nachzudenken. Nun, wie konnte es anders sein: Nachdenken macht vernünftig und so erklärt es sich, dass ich meinen Antrag auf Anerkennung als Kriegsdienstverweigerer stellte. Damals musste man sich noch einer Gewissensprüfung stellen. Aber die Hürde habe ich genommen und wurde anerkannt. Ich hätte auch meinen Zivildienst geleistet, denn ein Drückeberger bin ich beim besten Willen nicht, aber zu dem bin ich nie gezogen worden. Was mich von alle dem am meisten beschäftigt hat, ist das Schweben in das Licht. Hatte ich bereits die Schwelle vom Diesseits ins Jenseits überschritten? Was viele Leute, genau wie mich, am meisten ins Staunen versetzte war die Tatsache, dass ich die Szene nach dem Unfall, wie ich auf der Straße lag und wie der LKW, der mich angefahren hatte, in diesem Augenblick stand konnte und kann ich immer noch genau beschreiben obwohl ich nie ein Foto oder eine Zeichnung zu dieser Situation gesehen hatte. Mein Gedächtnis sagt mir immer wieder, auch heute noch, dass ich dieses tatsächlich selbst schwebender Weise gesehen habe. Von diesem Schweben in der Röhre dem Licht entgegen haben schon viele Menschen, die schwer verunglückt waren oder von denen man annahm, dass sie klinisch tot seien, berichtet. Einige wissenschaftliche Realisten erklären dieses Phänomen mit einem Bild, was sich schon vorher ins Unterbewusstsein eingeprägt hat und dann, eventuell beim Aufwachen aus dem Koma, ins Bewusstsein projiziert würde. Wie aber soll das Bild vom tatsächlichen Unfallgeschehen in mein Unterbewusstsein gelangt sein? Ja, diese Geschichte mit der Röhre ins Licht, könnte so in der Fantasie entstanden sein. Aber wie, wenn man sich zuvor noch nicht mit solchen Sachen beschäftigt hat. Für welchen Menschen, der noch nicht das 21. Lebensjahr vollendet hat – so wie ich damals – macht sich schon Gedanken über das Sterben und dem Tod oder einem eventuellen Leben danach. In dem Alter dreht sich doch alles um das blühende irdische Leben in dem man steht und was man noch vor sich hat. Wie sollte ich dann auf ein Klischee, von dem ich noch nicht gehört hatte, gekommen sein? Ein Traum war es offensichtlich auch nicht, denn Traumbilder verflüchtigen sich bei mir immer sehr schnell. In der Regel kann ich schon am Tage nach der Traumnacht nichts mehr von dem Erträumten berichten. Das Bild vom „Leben danach“ ist aber bis heute, 37 Jahre später, in mir haften geblieben, fast mehr als andere Ereignisse, die noch nicht so lange zurück liegen. Für mich handelt es sich um eine vorzeitige Stippvisite im Jenseits ... anders kann ich mir das Geschehen nicht erklären. Diese Erinnerung ist wohl maßgeblich dafür, dass ich mich im späteren Leben bis heute als überzeugter Christ fühle. Ich bin felsenfest davon überzeugt, dass mein Körper eines Tages seine Funktion aufgibt. Ich werde sterben und mein Fleisch und die Knochen werden zu Staub und Asche verfallen. Aber meine Seele wird weiterleben und zu dem heimkehren, von dem sie gekommen ist: Gott das helle weiße Licht, was warm aus der Mitte strahlt. Das einzigste, was wir dafür machen und leisten müssen ist einfach nur an ihm, dem dreieinigen Gott, glauben – mehr nicht. Unsere Taten werden nicht angerechnet, weder die guten noch die schlechten, denn die hat er alle, wie uns der Apostel Paulus und später der Reformator Johannes Calvin bestätigt, selbst vorbestimmt. Unsere Aufgabe ist einfach nur zu leben und an Gott glauben und ihn zu lieben. Jetzt komm mir keiner mit dem Spruch, dass wir, wenn unsere Taten nicht zählen, ja munter draufzuleben und sündigen könnten. Wer Gott liebt, der sündigt nicht vorsätzlich. Dass er nicht sündigt, kann aber auch niemand behaupten, denn erstens hat uns Gott auch das Böse vorbestimmt und wir sind viel zu schwach, um dem zu widerstehen. Weil Gott auch das Böse vorbestimmt hat, beten wir im Vater unser: Und führe uns nicht in Versuchung sondern erlöse uns von dem Bösen. Weshalb sollten wir denn sonst unseren Vater bitten, dass er uns nicht in Versuchung führt. Aber demjenigen, der glaubt, sind seine Sünden vergeben, denn dafür hat Jesus Christus mit seinem Tod am Kreuz gebüßt. Soweit mein „Glaubensbekenntnis“. Dabei möchte ich es jetzt auch erst einmal belassen, denn ich will ja eine Geschichte, eine sehr traurige, die mich derzeitig immer noch sehr bedrückt, erzählen und keine theologische
Abhandlung niederschreiben. Aber unser Glaube, also neben dem meinigen der meiner Frau Veronika, spielen dabei eine große Rolle. Ich habe Veronika, mit der ich über 25 Jahre verheiratet war und die die Mutter unserer drei Kinder ist sehr, sehr geliebt. Sie war der Mittelpunkt meines Lebens. Letztes Jahr im September verstarb sie erst 52 Jahre alt. Sie starb ruhig und sehr würdig obwohl sie in den vorangegangenen vier Monaten schwer gelitten hat. Das sie sterben müsse wusste sie schon längere Zeit; sie weihte mich schon im Februar letzten Jahres, als meine Schwester Cornelia starb, in ihr baldiges Ableben ein. Auch unsere Conny war noch nicht sehr alt: Sie starb zwei Monate vor ihrem 56 Geburtstag. Meine Schwester war genau 1½ Jahre jünger als ich und ich wurde einen Monat nach Veronikas Tod 57 Jahre alt. So unterschiedlich wie die beiden Frauen im Wesen und Charakter waren so unterschiedlich sind sie gestorben. Connys Tod wird mir als ein entsetzliches, markerschütterndes Erlebnis im Gedächtnis bleiben. Als sie „endlich“ gestorben war atmeten wir alle erleichtert auf. Anders der Tod von Veronika. Da herrschte eine fast feierliche Trauerstimmungen vor. Wir empfanden ihr gegenüber sehr viel Dankbarkeit und Liebe. Selbst in ihrer letzten Stunde hatte sie insbesondere mir noch einiges zugeben. Während Conny wohl schon bald nur noch eine Erinnerung ist wird Veronika mit Sicherheit in unseren Herzen bis auch an unser Ende weiterleben. Und jetzt komme ich zu dem zuvor gesagten, zum Glauben, zurück. Ich bin davon überzeugt, dass Veronikas starker Glaube den Abschied, den ich wie unsere Kinder, als traurig und doch irgendwo schön empfunden haben, erst ermöglicht hat. Ich denke, dass ich einmal alles der Reihe nach berichten sollte. Conny war die erste, die zu mir kam um mir weinend zu berichten, dass sie vom Krebs aufgefressen würde. Nur noch ein halbes, maximal ein dreiviertel Jahr habe sie zu leben. Nun, Cornelia war zwar meine Schwester aber ein besonderes Verhältnis hat es zwischen uns in unserem bisherigen Leben nicht gegeben. Sie war immer so anders wie ich und dazu kam noch eine in vielen Familien übliche geschwisterliche Rivalität. Seit dem wir beide unser Elternhaus verlassen hatten lagen immer Monate zwischen den Gelegenheiten, zu denen wir uns mal wieder trafen und miteinander sprachen. Bei diesen Gelegenheiten haben wir uns nie gestritten und wir haben uns zur Begrüßung und zum Abschied auch immer umarmt aber mehr war zwischen uns nie. Nie haben wir zwischendurch mal miteinander telefoniert und geschrieben haben wir uns auch nicht. So wusste ich immer sehr wenig davon, was im Leben meiner Schwester lief und umgekehrt wusste sie sehr wenig von mir. Nur von ihrer ersten Hochzeit habe ich offiziell im Vorfeld gehört, von den beiden anderen erfuhr ich, wie von den drei Scheidungen, immer im Nachhinein. Zur ersten Hochzeit war ich ja noch eingeladen, ich war sogar der Trauzeuge, aber später ... Na ja, lassen wir es, es bringt nichts. Unsere Lebensauffassung stammten aus zwei verschiedenen Welten. Ich selbst bin immer ein sehr familiärer Mensch gewesen und ich habe nie ein Hehl daraus gemacht, dass für mich Kinder zum richtigen Leben gehören. Zu meinem großen Glück habe ich in Veronika eine Partnerin gehabt, die eine fast deckungsgleiche Lebensauffassung hatte, gefunden. Conny dagegen hielt nie viel von verbindlichen Bindungen. Ich frage mich warum sie überhaupt geheiratet hat – und das sogar drei Mal. Für Kinder hatte sie nie ein Herz und sie wollte auch keine haben. Als sie starb hatte sie tatsächlich keine Kinder. Veronika, meine Frau, erzählte mir mal, dass ihr Conny mal in einem leicht alkoholisiertem Zustand gestanden habe, dass sie schon zwei Mal abgetrieben habe; das erste mal sogar zu einem Zeitpunkt als die Abtreibung noch durch den Paragraphen 218 des Strafgesetzbuches kriminalisiert wurde. Also zu einem Zeitpunkt in den 70er-Jahren als noch die Feministinnen mit dem Ruf „Mein Bauch gehört mir“ durch die Lande zogen. Für mich und insbesondere für Veronika kam eine Abtreibung nur aus medizinischen Gründen oder aus ganz großer Not in Frage. Aber wer weiß ... glücklicherweise sind wir zu keinem Zeitpunkt vor eine entsprechende Frage gestellt worden. Man soll ja nie so groß prahlen und sich über andere Menschen stellen, wenn man nicht in entsprechenden Situationen gewesen ist. Da gibt es doch viele Leute, die in der Nachkriegszeit geboren sind und laut tönen, wie sie sich gegen die Nazis gestellt hätten und dabei handelt es sich um Typen, die gerne mit Gejohle jedem populistischen Mist folgen, woraus sich schließen lässt, dass sie wohl Supernazis gewesen wären. Ähnlich kann man die Besser-Wessis, die den Ossis erzählen wollen, was sie an deren Stelle getan hätten, sehen – ich nehme an das Besser-Wessi die idealen Typen für einen Hyper-Ossi sind, die Stasi hätte sich bestimmt über deren informelle Mitarbeit gefreut . Aber jetzt schnell zurück zu meiner Schwester und meiner Person. Die Einstellung zum Leben unterschied sich bei Cornelia und mir wie Tag und Nacht. Für mich war es Glück und ein ausgefülltes Leben, wenn wir unser Auskommen hatten und wenn wir im Kreise der Familie zusammen waren und so gemeinsam etwas erleben konnten. Reichtum und Karriere standen bei mir nie auf der Tagesordnung und dieses deckte sich auch hundertprozentig mit den Vorstellungen meiner Frau Veronika. Dagegen waren Renommieren und Geldzugewinn für meine Schwester Cornelia offensichtlich die wichtigsten Dinge des Lebens. Während Veronika und ich überwiegend mit dem was wir waren und hatten zufrieden waren konnte man Connys ständigen Neid durch alle ihre Auftritte und Erscheinungen wahrnehmen. Dabei entwickelte sie eine besondere Art von sozialer Kälte. Sie fühlte sich von den Ärmsten der Armen um ihren Anteil betrogen. Stets und ständig palaverte sie von Sozialhilfeempfänger, die auf der einen Seite zu faul zum Arbeiten wären und auf der anderen Seite den Staat bis zum geht nicht mehr ausbeuteten würden. Immer wenn wir mal ausnahmsweise zusammen saßen gerieten wir uns wegen dieses Themas in die Wolle, da ich die Ansicht vertrat, dass wir gar nicht so viel Versager in der
öffentlichen Verwaltung beschäftigten, die so etwas, was über das Bundes-Sozialhilfe-Gesetz hinausginge bewilligten. Wenn nämlich ein Stützeempfänger die Sachen kassierte, wie sie Conny behauptet hatte, musste mindestens ein Verwaltungsangestellter oder Beamte fast im sträflichen Ausmaß gepennt haben. Jeder Sozialhilfemissbrauch muss zuvor amtlich genehmigt worden sein. Im Übrigen steht fest, dass einige wenige superreiche Steuerhinterzieher die Gemeinschaft um ein mehrfaches mehr als alle Sozialleistungs-Missbraucher zusammen schädigen. Und das sagte ich Conny auch, wenn sie gegen die Ärmsten in unserer Gesellschaft zu Felde zog. Noch eine ganz wichtige Angelegenheit unterschied Veronika und mich von meiner Schwester Cornelia: Der Glaube. Während wir, wie ich schon weiter oben ausführte, uns doch wohl zu den Christen zählen durften betonte Conny immer wieder, dass sie nicht an die, wie sie wörtlich sagte, „Ammenmärchen aus Tausend und einem Bibel-Kapitel“ glaubte. Sie erwähnte sehr oft die Geschichte von der jungfräulichen Geburt, die ja ursprünglich aus den indischen Veden (hinduistischen Weisheiten) stammt – was sich allerdings auch mit meinem Wissen deckt aber bei mir keinen Abbruch am Glauben bewirkt – und belegte damit, dass wir modernen, naturwissenschaftlich aufgeklärten Menschen über den antiken Wunderglauben stehen müssten. Hinsichtlich der Wundergeschichten aus den Evangelien machte sie sich immer lustig über den vermeintlichen Gott, der sich den Menschen als Magier und Wunderheiler beweisen müsse. Kurz gesagt: Cornelia gab sich immer wie eine fanatisch kämpferische Atheistin. Ob sie das wirklich war weiß ich nicht, das weiß nur Gott allein. Es soll viele Leute geben, die sich als Berufsfrömmler ausgeben und mit wahren Christen wenig zutun haben und andersherum soll es Menschen geben, die sich als große Atheisten darstellen und in Wirklichkeit, in ihrem tiefen Inneren zu tiefst gläubig sind. Was nun der einzelne Mensch in Wahrheit ist kann nur Gott beurteilen; nur Er kann in die Tiefen unserer Seelen blicken. Aus meiner heutigen Sicht dürfte der große Unterschied, den ich beim Sterben der beiden Frauen miterlebte, eben in deren Glauben gelegen haben. Ob es so wahr, das weiß ich aus dem vorhergenannten Grunde allerdings nicht. Wo wir doch so unterschiedlich waren, wunderte es mich sehr, dass Cornelia im Oktober 2002, kurz nach meinem 56. Geburtstag, zu mir kam um sich bei mir auszuweinen. Sie hatte erfahren, dass ihr nur noch sehr wenig Zeit auf dieser Erde zur Verfügung stand und brauchte nun jemand mit dem sie sich aussprechen konnte. Ein Ehemann und/oder Kinder waren bei ihr nicht beziehungsweise nicht mehr vorhanden. Und Freunde, ja die hatte sich unsere Cornelia nach eigenen Bekundungen nicht geschaffen. Unsere Eltern sind auch beide im letzten Jahrzehnt des vergangenen Jahrhunderts verstorben. Sie waren schon als wir geboren wurden nicht mehr die Jüngsten. Bei meiner Geburt im Jahre 1946 war unsere Mutter immerhin schon bald 34 Jahre alt und unser Vater war ganze sechs Jahre älter als Mutti. So hatte Conny letztendlich nur noch einen Menschen, bei dem sie hoffen konnte, dass er ihr nahe stehen könnte: Mich, ihren Bruder. Allerdings dürfte sich derjenige, der annimmt, dass Conny jetzt kleinlaut geworden sei und jetzt mit den Einsichten beginne, gründlich getäuscht haben. Sie war ganz die Alte geblieben; sie war immer noch so wie ich sie beschrieben habe. Nur an die Stelle ihres hoffährtigen Von-Oben-Herab-Getue war jetzt ein, nur aus Selbstmitleid bestehendes Gejammer gerückt. Wäre es nicht meine Schwester gewesen hätte ich mit Sicherheit nach Möglichkeiten mich ihrer Gesellschaft zu entledigen gesucht. Dieses ist zwar nicht christlich, denn wir sollen uns ja gegenseitig annehmen und uns helfen, aber es ist die Wahrheit darüber wie ich mich in solchen Fällen verhalten würde. Ich musste sogar gegen den inneren Schweinehund kämpfen, der mir sagte, dass ich meine Schwester, die in „besseren Zeiten“ keinen besonderen Hang zu mir hatte, auch in dieser Situation laufen lassen sollte. Zwei Dinge waren es dann, die mich dann doch zu Connys „Nächsten“, im wahrsten Sinne des Wortes, werden ließen. Einmal war es so ein hergebrachter moralischer Tick, der mir sagte, dass ich die eigene Schwester in diesem Falle nicht allein lassen dürfe. Zum anderen war es doch eine gehörige Portion Mitleid zu dieser total am Boden zerstörten Frau. Von ihrem ehemaligen stolzen Bild war nur ein Wrack geblieben. In den ersten beiden Monate fiel von ihrem Zustand nach Außen im Grunde recht wenig auf. Das heißt, dass dieses stimmt, wenn wir von dem Kopftuch, dass sie schon wenige Tage nach ihrem Wiedererscheinen aufsetzte und ständig trug, absehen. Sie bekam eine Chemotherapie in deren Folge ihr die Haare ausfielen. Mehrfach bat sie mich sie bei ihren Recherchen zu unterstützen, ob es nicht irgendwo, zum Beispiel in den USA, Heilmethoden für die Art Krebs, die sie habe, gäbe und was eventuelle Behandlungen kosten würden. Ständig sagte sie: „Mensch Reinmund, es gibt doch heute so gut wie für alles Heilmethoden. Ich habe gehört, dass man auch AIDS heute heilen kann. Es ist doch immer nur die Frage ob man die Angelegenheit bezahlen kann oder nicht. Meine Güte, ich habe doch einiges an Kapital ansammeln können. Meine Männer waren doch keine Luftikusse und bei den Scheidungen habe ich mich nicht beim Bock tun lassen. Jetzt kann das Kapital mir doch mal dienlich sein ... wenn ich nur wüsste, wo es entsprechendes gäbe.“. Natürlich kann man solche Hoffnungen von Betroffenen sehr gut verstehen aber sie sind leider nicht sehr real. Wenn die Wissenschaft „Medizin“ auch auf ungeheuere Erfolge verweisen kann aber bis heute haben die Mediziner noch keinen totalen Erfolg über Krankheiten, Leiden und Tod errungen. Letzteres, den Tod werden
sie wohl nie besiegen können, was auch jeder Naturwissenschaftler, zu denen bekanntlich auch die Mediziner gehören, ohne jeglichen Versuch einer Ausrede bestätigt. Was die Krankheiten anbelangt gestehen uns unsere Weisen, dass es auch heute noch mehr unbekannte als erforschte gibt und das auch die erforschten Krankheiten in den meisten Fällen noch nicht heilbar sind. Was aus meiner Sicht das Wichtigste ist, um was sich die Mediziner kümmern müssten, ist die Bekämpfung des Leidens. Den Kampf gegen die Schmerzen halte ich für die wichtigste Aufgabe der Medizin. Unter Schmerzen hatte auch Conny zunehmendst zu leiden. Sie bekam da immer stärkere Mittel, die sie dann im Laufe der Zeit wie andere Süßigkeiten zu sich nahmen, verschrieben. Wenn man sich mit ihr unterhielt sprach man häufig an ihr vorbei weil sie sich mit ihren Gedanken auf ihre momentanen Schmerzen konzentrierte. Ich habe mal von Befürwortern der aktiven Sterbehilfe gehört, dass in einer solchen Situation bei den meisten Menschen der Wunsch nach einem „würdevollen Sterben“, sprich nach Tötung auf Verlangen oder Selbstmord, vorrangig würde. Das konnte ich aber weder bei Conny noch später bei Veronika feststellen. Für meine Schwester war da doch irgendwo die Hoffnung weiterleben zu können. Wie sehr wünschte sie sich ein Wunder und machte daraus keinen Hehl. Von ihrer Hoffnung auf ein Wunder sprach sie mir gegenüber genau so offen wie von ihrer panischen Angst vor dem Tod. Sehr oft sagte sie: „Ach Reimund, es ist doch schrecklich auf einmal im absoluten Nichts zu sein: nichts mehr fühlen, nichts mehr sehen, nichts mehr hören, nichts mehr wissen, einfach nichts und wieder nichts. Was ich vom Leben hatte war doch viel zu wenig, ich habe doch kaum was davon gehabt. Und jetzt, ... jetzt soll auf einmal nichts sein, kein Erwachen mehr. Schluss, Aus und alles vorbei. Das ist doch schrecklich. Auf einmal ist man weg und im Winde verweht.“. Immer wenn wir auf diesen Punkt gestoßen waren, versuchte ich mein Glück als christlicher Missionar. Meistens war auch Veronika anwesend und auch sie bekundete dann immer gleich ihre Bereitschaft zu missionieren. Aber religiöse Worte ließ Cornelia nicht an sich heran kommen. Auch mit dem Tod vor Augen blieb sie ihren atheistischen Grundsätzen treu. Ganz im Gegenteil, immer wenn wir nur andeutungsweise in Richtung christlicher Themen lenkten übernahm Conny die Gesprächsführung und ritt zur Ablenkung auf ihrem Lieblingsthema „Die bösen Stützeempfänger“ herum. Sie führte dann praktisch immer einen längeren Monolog, damit wir ja nicht auf unser gerade angerissenes Thema zurück kommen konnten. Ausgerechnet ein paar Tage vor Weihnachten kam Conny dann ins Krankenhaus. Zu diesem Zeitpunkt nahm sie meines Wissens überhaupt keine Speisen mehr zu sich und wenn, konnte sie das Gegessene nicht bei sich behalten. Meine Schwester war keine kleine Frau sondern sie maß, wenn ich mich nicht täusche, für eine Frau stolze 1,70 Meter und wog zu diesem Zeitpunkt schon deutlich weniger als fünfzig Kilo. Zu dieser Situation kam das sie vor Schmerzen fast wahnsinnig wurde und der Arzt nun auch nicht mehr wusste, was er ihr bei ambulanter Behandlung verordnen konnte und durfte. So kann man sowohl unsere, wie auch Cornelias Frage, ob es mit der Einlieferung nicht doch bis nach Weihnachten Zeit hätte, nur als obligatorisch bezeichnen. Aus einem moralischen Zwang heraus sahen wir uns gezwungen an den Weihnachtstagen täglich mehr als zwei Stunden im Krankenhaus auf der Intensivstation bei meiner Schwester zu verbringen – schließlich waren wir die einzigsten Menschen, die ihr geblieben waren. Aber das war uns lieber als hätten wir Conny bei uns zu Hause gehabt, denn dann wäre das Weihnachtsfest wirklich gelaufen gewesen. Auch Conny empfand den Krankenhausaufenthalt besser als ein Weihnachten daheim. Hier bekam sie per Infusion einmal Schmerzmittel, die ihr das Leben doch erträglich erscheinen ließen und zum anderen Nährstoffe, die sie bei sich behielt und zunächst den weiteren Verfall ihres Körpers aufhielten. Auch ihr Wunschdenken, dass sie in absehbarer Zeit wieder gesund und normal Leben könnte, wurde in der ersten Zeit ihres Krankenhausaufenthaltes wieder neu belebt. In den Gesprächen berichtete sie uns über eine Menge Dinge, die sie nach ihrer Entlassung alles erledigen wollte. Sie machte sich Gedanken darüber, wo sie am Liebsten eine Reha machen möchte. Ihren bevorstehenden Tod verdrängte sie in eine fast nicht erreichbare Zukunft. Sie berichtete uns von Menschen, denen sie nach ihrer Gesundung die Quittung dafür, dass man sie in Stich gelassen habe, geben wolle. Und alle, ich nehme mal an auch sie selbst, wussten, dass sie das Krankenhaus wohl nie mehr verlassen würde. Es war auch sehr schwierig sie in die Realität zu holen und ihr zu empfehlen sich auf das Abschiednehmen zu konzentrieren. Wir konnten das so wie so nicht und außerdem trauten wir uns dieses bei meiner Schwester nicht. Aber dieses versuchte der für dieses Krankenhaus zuständige Pfarrer. Letztlich ist dieser ja auch von Berufs wegen dafür zuständig. Conny jedoch rastete vollkommen aus. Sie beschimpfte den armen Kerl als verschreckenden Pfaffen, Märchenerzähler und Jenseitskomiker und anschließend beschäftigte sie das Pflegepersonal sowie uns, die wir etwa zwei Stunden später zu Besuch kamen, mit ihrer Angst vor dem Nichts und dem endgültigen Aus. Ich glaube, dass Veronika an diesem Tage schon wusste, dass sie schon sehr bald ihrer Schwägerin auf diesem Weg folgen würde, denn sie sagte zu mir: „Na, hoffentlich läuft das bei mir anders sonst wirst du mir noch letztendlich verrückt.“. Heute weiß ich genau, dass Veronika diese Aussage tätigte. Ich glaube
sogar, dass sie mir auf sonderbare Weise sogar wörtlich in Erinnerung geblieben ist. Aber damals, als sie in Gegenwart meiner Schwester fiel, habe ich diese so weiter gar nicht beachtet. Nach Cornelias Tod hat mir Veronika auch gestanden, dass sie schon wesentlich früher davon wusste, dass ihr genau das gleiche Schicksal wie meiner Schwester bevorsteht. Sie hat es anfänglich nur zurück gehalten und hoffte, dass sich, so lange Conny lebt, ihr Zustand nicht so verschlechtern würde, dass sie es nicht mehr vor mir und den Kindern geheim halten könnte. Sie hatte Angst, dass insbesondere ich der Doppelbelastung bei Frau und Schwester nicht gewachsen gewesen wäre. Mit Conny muss sie aber mal darüber gesprochen haben. Ab und an besuchte Veronika ihre Schwägerin alleine zu einer Zeit wo ich noch arbeiten war. Bei einer solchen Gelegenheit muss es dann geschehen sein. Ich kann mir vorstellen, dass „meine bessere Hälfte“ Conny diese Angelegenheit in missionarischer Absicht anvertraute. Vieles ist im Leben ja leichter, wenn man weiß, dass man in bestimmten Dingen nicht alleine steht; wenn man erkennt, dass es anderen genau so schlecht oder noch schlechter als einem selbst geht. Von einem Leidensgenossen lässt man sich leichter bekehren als von jemand, der alles nur aus distanzierter oder gar höherer Warte sieht. Veronika war dabei offensichtlich nicht sehr erfolgreich, denn Conny blieb bei ihrer atheistischen Grundposition und zitterte weiter vor dem, für sie unbegreiflichen Nichts. Was sich da genau zwischen den Frauen abgespielt hat weiß ich nicht. Veronika hat mir damals nichts davon berichtet und später, als auch ich wusste, dass meine Frau sterben müsse, sind wir nie auf das Sterbemartyrium meiner Schwester zu sprechen gekommen. Ich wollte, wo ich doch noch einmal durch ein solches Erleben musste, diesmal mir persönlich so gar noch deutlich näher gehend wie zuvor bei meiner Schwester, weder atmosphärisch noch erinnerungsmäßig an Connys Sterben erinnert werden. Dass sich so etwas, wie ich vermute, zwischen den Frauen gelaufen sein muss konnte ich einer, damals für mich unverständlichen, Beschimpfung von Veronika durch meine Schwester entnehmen. Conny warf meiner Frau vor, sie hätte, um Punkte im Himmel zusammeln, eine Lüge, mit der sie sich auf ihre Stufe schleichen wolle, ersonnen um sie zu betören. Conny behauptete, Veronika wolle mit ihren „christlichen Spinnereien“ sie nur dazu bringen ihren Lebenskampf aufzugeben und freiwillig, im Glauben irgendwo im Weltraum wieder aufzuwachen, zu sterben. Dafür wäre sie, also Conny, nicht zu haben und sie würde weiter um das wertvollste was es für sie gäbe, ihr Leben, kämpfen. Ich konnte mir damals keinen Reim darauf machen und Veronika nahm das Ganze mit dem Kommentar „Langsam fängt sie an zu spinnen“ gelassen hin und tat es somit mir gegenüber ab. Anfang Februar 2003 muss dann doch ein kleiner Funke von der Einsicht in das Unabwendbare bei Cornelia angesprungen sein. Sie war als ich sie besuchte zunächst für ihre Verhältnisse relativ ruhig und stellte mir Fragen, aus denen ich eigentlich schließen konnte, dass sie sich nun endlich mit ihrem baldigen Ableben abgefunden habe. Unter anderem wollte sie wissen, was mit ihrem Vermögen geschähe, wenn sie ohne ein Testament aufzustellen ableben würde. „Dann müsstest du doch eigentlich alles erhalten,“, sinnierte sie, „denn da ich keine Kinder habe, ich derzeitig nicht verheiratet bin und auch unsere Eltern nicht mehr leben bist du doch mein nächster Verwandter. Was ist aber mit meinen Exmännern; kriegen die auch was? Wenn du das kriegst geht die Sache in Ordnung; schließlich hast du dich um mich gekümmert als kein anderer mehr etwas von mir wissen wollte. Aber wenn meine ehemaligen Kerle was abkriegen finde ich das echt Scheiße. Weißt du wie das ist?“. „Och, Schwesterchen, da triffst du mich auf dem falschen Fuß.“, antwortete ich ihr, „Um solche Dinge wie Erbschaften habe ich mich echt nicht gekümmert. Da müsstest du doch viel besser informiert sein als ich. Sowohl bei Vatis wie hinterher bei Muttis Tod war doch das Thema ‚Erben’ das erste, was du mit mir besprechen wolltest.“. „Du hast mit der Behauptung, dass ich damit angefangen sei, zwar recht“, unterbrach mich Conny, „aber es ist ja nicht aktuell geworden. Bei Vatis Tod haben wir auf deinen Vorschlag Mutti alles gelassen und als diese dann starb haben wir beide uns die letzten Habseligkeiten nach Abzug der Verbindlichkeiten geteilt ohne das wir da groß nach Gesetz und Recht gefragt hätten. Ist mir eigentlich in meinem Fall auch Wurst. Ich wollte es ja eigentlich für mich selbst aufbrauchen und wenn du es kriegst ist es mir sogar recht. Aber meine ehemaligen Männer ... da sträuben sich bei mir die Haare, sogar die Schamhaare und die auf den Zähnen. Also könntest du dich bitte sachkundig machen und eventuell fragen was man gegen den Zugriff der Exmänner tun kann.“. Nur so zwischendurch: Bei den Scheidungen hatte es Vermögensausgleiche, mit denen alle späteren beidseitigen Ansprüche abgegolten waren, gegeben. So war ich dann als der einzigste nahe Verwandte tatsächlich der Generalerbe. Wie schön könnten wir es uns jetzt machen, wenn Veronika noch leben würde. Was soll ich denn mit dem ganzen Geld außer es später selbst weiter vererben? Das Gespräch mit meiner Schwester klang also so, als wolle sie jetzt doch noch alles regeln bevor sie endgültig Abschied nehmen wollte. Aber für das „alles regeln“ war es nun zu spät. Zwei Tage nach dem soeben beschriebenen Gespräch war Cornelia nicht mehr ansprechbar. Sie schrie irre und markerschütternd unverständlich wirres Zeug. Das Pflegepersonal hatte sehr viele Mühe die anderen Patientinnen vor Schäden durch Connys Geschrei zu schützen. Der diensthabende Arzt erklärte mir, dass es nicht viel Sinn habe wenn ich meine Schwester besuchen würde und bat mich förmlich doch wieder nach Hause zu gehen – es sei besser für mich. Am nächsten Tag musste ich noch einmal das gleiche wie am Vortag erleben. Nun schlug mir der Arzt
noch zusätzlich vor nicht mehr ohne vorherigen Anruf zu kommen. Dazu kam es aber nicht mehr. Am nächsten Morgen rief mich Veronika auf meiner Arbeitsstelle an und teilte mir mit, dass Krankenhaus habe sich gerade telefonisch gemeldet und mitgeteilt, dass Conny sei gestorben. Natürlich ließ ich mir gleich freigeben und fuhr zunächst einmal nach Hause um Veronika abzuholen. Im Wagen, auf der Fahrt ins Krankenhaus, sagte ich meiner Frau: „Ich glaube, dass es, wie es heute gekommen ist, gut so ist. Conny ist von ihrem Leiden erlöst und wir können uns nun wieder voll aufs Leben konzentrieren.“. Mit Tränen in den Augen aber sehr ruhig antwortete mir Veronika: „Aus Letzterem, also das wir uns nun wieder voll aufs Leben konzentrieren, wird wohl nichts werden. Wir werden wohl noch ein Weilchen mit dem Sterben und den Gedanken an den Tod leben müssen. ... Frag mich bitte jetzt nicht, wie ich das meine; ich muss dir heute Abend etwas sagen.“. So begriffsstutzig, dass ich diese Andeutung nicht verstanden hätte, bin ich auch nicht und deshalb musste ich erst einmal rechts ranfahren und Veronika fragen: „Das ist doch wohl nicht wahr, dass auch du Krebs hast und du jetzt den Weg, den Conny gerade hinter sich gebracht hat, antreten musst?“. „Doch.“, sagte Veronika leise, „Bitte entschuldige, es war dumm von mir dass ich dir das gerade jetzt sage. Es ist mir auch einfach so rausgerutscht.“. Jetzt konnte ich nicht mehr. Ich legte meinen Arm quer auf das Lenkrad um meinen Kopf draufzulegen und wie ein kleiner Junge loszuheulen. Sicher, Veronikas Mitteilungen hatte wie eine Keule auf mich eingewirkt. Das wäre natürlich auch der Fall gewesen, wenn ich nicht gerade meinen Wagen in Richtung des Krankenhauses, in dem meine Schwester gerade verstorben war, gelenkt hätte. Jetzt wirkte sich die Angelegenheit nur so aus, dass ich mich nicht mehr im Stande fühlte mein Auto weiterzufahren. Veronika musste einspringen, aber bevor ich sie fahren ließ habe ich mir erst drei Mal von ihr versichern lassen, dass sie dieses auch wirklich könne. Natürlich konnte sie, denn sie stand ja erst am Anfang des Prozesses, den Conny an diesem Tag hinter sich gebrachte hatte. Veronika hatte sich ja inzwischen auch seelisch auf ihren Leidensweg einstellen können, denn sie wusste ja schon ein Weilchen davon. Nur angesichts der Probleme, die sich mir durch das Leiden meiner Schwester auftaten, hatte mir meine Frau zunächst ihre Sache verheimlicht. So musste sie diese schwere Angelegenheit erst einmal alleine mit sich herumtragen und so ist es auch nachvollziehbar, dass sie mit der Schreckenskunde im denkbar ungünstigsten Moment heraus kam. Die heuchlerische Nebenwirkung die dadurch erzielt wurde war, dass ich für Dritte so aussah, als wäre mir der Tod meiner Schwester sehr nahe gegangen. Der Eindruck war nun wirklich falsch, denn ich habe an diesem Tag immer nur so nebenbei an meine Schwester gedacht. Die neue Tragödie, die Krankheit meiner Frau, bewegte mich mehr als alles anderes. So wirkte ich auch den ganzen Tag irgendwo verstört und abwesend. Von dem, was den Tag über gelaufen ist, kann ich nichts mehr wiedergeben. Das konnte ich schon einen Tag später nicht mehr, so ge- und betroffen war ich. Am Abend von Cornelias Todestag saß ich, mich nicht besonders wohl fühlend, in dem Sessel, in dem ich normalerweise auch beim fernsehen platz nehme. Natürlich war heute die „bunte Kiste“ nicht eingeschaltet. Es war allerdings nicht der Tod meiner Schwester warum der audiovisuelle Berieselungsautomat nicht lief sondern es war das, was ich an diesem Morgen von meiner Frau über deren Zustand erfahren habe. Noch immer konnte ich mich nicht so konzentrieren, wie es für ein Gespräch notwendig gewesen wäre. Veronika setzte sich schwungvoll, so als wenn nichts wäre, auf die Sessellehne und vollzog mit ihren Lippen Knabberbewegungen an meinem rechten Ohr. Mit erotisch zitternder Stimme flüsterte sie mir zu: „Du Mausi, komm lass uns ins Bett gehen und ... na, du weißt schon. Ich bin auf einmal supergeil und wer weiß schon, wie lange es uns noch vergönnt ist, so zusammen zusein.“. Natürlich war ich nicht von jetzt auf gleich in der von Veronika gewünschten Stimmungslage und deshalb bearbeitete mich meine Frau schmusend, zärtlich fummelnd und mit spitzer Zunge bis die Erotik auch bei mir die apokalyptische Stimmung übertünchte. Nun, in den folgenden zwei oder drei Wochen kamen so etwas bei uns recht häufig vor. Veronika probierte fast alle sexuellen Spielchen, die uns Freude machten, aus. Selbst wo sie früher eher zurückhaltend war, zum Beispiel beim sogenannten Blasen, ging sie nun in die Vollen. Sie wollte noch einmal alles mitnehmen, was uns das Leben auf diesem Gebiet bieten konnte. Veronika, die sich inzwischen auch einer Chemotherapie mit der Folge, dass ihr die Haare ausfielen, unterzog, rechnete damit, dass sie schon in sehr kurzer Zeit auf Grund von Schmerzen nicht mehr für so etwas bereit sein könnte. Außerdem rechnete sie damit, dass ich sie infolge ihres Verfallprozesse nicht mehr so begehrenswert finden könnte, was sich ja dann negativ auf meine Erregung bei unserem Beisammensein auswirken könnte. Das habe ich zwar immer bestritten aber ob Veronika nicht doch recht hatte, kann ich beim besten Willen nicht sagen, denn mein Mitfühlen hinsichtlich ihrer Schmerzen und Leiden ließen mich keinen Gedanken daran verschwenden ob ich meine Frau noch begehrte oder nicht – geliebt habe ich sie auf jeden Fall über ihren Tod hinaus; ich liebe sie noch heute. Ursprünglich hatte ich ja reichlich Angst, die Zustände aus der Zeit von Cornelias Sterben könnten sich wiederholen. Dieses wäre für mich ungleich schwerer gewesen, denn bei Veronika handelt es sich nicht um meine Schwester, mit der ich, weil sie ihr eigenes Leben lebte, nur wenig zutun hatte sondern es handelte sich um die Frau, die ich über alles liebte. Nie zuvor habe ich das deutlicher gespürt als in der Zeit, wo ich von ihrem
baldigen Tod wusste. Obwohl die Krankheit etwa gleich wie bei Conny ablief war es eine ganz andere Zeit. Sicherlich hatte Veronika auch ein bisschen Angst hinsichtlich des Unbekannten, was nun auf sie zukommt aber so wild verzweifelt wie meine Schwester war meine Frau beim besten Willen nicht. Ganz im Gegenteil man merkte bei ihr nichts von Verzweifelung sondern sie strahlte so etwas wie Hoffnung aus. Veronika war sich sicher, dass sie nur vom irdischen Leben ins richtige wechseln müsse. Sie glaubte an Gott und setzte alle Zuversicht auf Ihn. Im Gegensatz zu Conny ging Veronika dazu über alle Dinge, die sie gerne erledigt sehen wollte, aufzugreifen und zu regeln. Bis heute bin ich mir noch nicht sicher ob wirklich alle Dinge die meine Schwester betrafen erledigt sind. Veronikas Angelegenheit waren bis auf wenige Ausnahmen eine Woche nach ihrem Ableben erledigt. Die Ausnahmen ergaben sich praktisch nur da, wo der Formalismus die Wege erheblich verlängerte oder an bestimmten Frist, die man abzuwarten gezwungen ist. An meiner Frau, die alles gründlich erledigt und vorbereitet hatte lag es nicht. Ich brauchte und durfte mich in diese Angelegenheiten nicht einmischen, denn Veronika hatte alles zu ihrem letzten irdischen Kompetenzbereich erklärt und in ihre Kompetenzen ließ sie sich nicht reinreden. Sie hielt die Erledigung ihrer Angelegenheit für ihre Aufgabe, die sie selbst ein Wenig vom körperlichen Leiden ablenken sollte. Veronika blickte nun auch gerne auf unser gemeinsames Leben zurück und sprach sehr häufig mit mir über unsere gemeinsame Erinnerungen. So sprachen wir über die Zeit wo wir uns kennen und lieben gelernt hatten. Veronika hatte in ihren Erinnerungen auch gespeichert wie wir erstmalig Sex miteinander hatten. Sie entsann sich an die Zeit und die Umstände wo wir unsere drei Kinder, die inzwischen alle schon das Haus verlassen haben, zeugten. Plastisch konnte sie ihr Erleben bei allen drei Geburten schildern. Sehr viele Erlebnisse aus unseren gemeinsamen Urlauben lebten in ihren Erzählungen auf. Aber auch an eine Reihe nicht so leichter Dinge, die wir gemeinsam durchgestanden haben, konnte sich Veronika erinnern. Ihr Fazit machte mich glücklich: Sie stellte fest, dass sie eine schöne Zeit mit mir gehabt habe. Sie würde nichts aus unserer Ehezeit missen mögen und sie hätte nichts im Leben versäumt. Immer wieder sagte sie: „Ich bin Gott dankbar für mein Leben und dass ich mir dieses mit dir teilen durfte.“. Dieser Aussage folgte dann in der Regel immer eine Ansprache an meine Person: „Lieber Reimund, sicher finde ich es schön, dass du mich liebst und mich, wie du immer sagst, im Herzen behalten willst. Aber schließe du dein Leben nicht ab nur weil ich von dir gegangen sein werde. Ich werde abberufen aber du musst noch ein Weilchen auf dieser Erde wandeln. Du bist nicht zum Alleinsein geboren. Wenn ich nicht mehr bei dir bin, dann sehe dich ruhig nach einer netten Frau, die zu dir passt, um. Mir kannst du damit nicht mehr wehtun, denn ich bin dann dort, wo ich von alledem nichts mehr mitkriege. Mir ist wohler, wenn ich weiß, dass du weiter vorwärts schreiten willst und auch eine neue Partnerschaft begründen willst. Bitte verspreche mir das bitte.“. Ihr dieses Versprechen zugeben fiel mir gar nicht so leicht. Mir wäre es ja lieber gewesen plötzlich von einer wundersamen Heilung meiner Frau zu hören. Gerne wäre ich mit und neben Veronika alt geworden und am Besten wäre es gewesen, wenn ich eines Tages vor ihr gestorben wäre. Statt auf dieses zu hoffen und es sich zu wünschen sollte ich Veronika versprechen, dass ich mich nach ihrem Ableben nach einer anderen umsehe – ja, das war wirklich nicht leicht. Natürlich verlief das Krankheitsbild bei Veronika etwa genau so wie zuvor bei Conny. Auch bei ihr nahmen die Schmerzen von Tag zu Tag zu und zur gleichen Zeit verlor sie immer mehr an Körpergewicht. Ihr war vollkommen klar, dass ihr letzter und endgültiger Krankenhausaufenthalt unmittelbar bevorstand. Da lud sie unsere Kinder und Schwiegerkinder in spe ein. In diesem Zusammenhang hier nur die Zwischenbemerkung, dass noch keines unserer Kinder verheiratet ist aber alle haben Partner, die sie auch in absehbarer Zeit heiraten wollen. Zusammenleben tun sie ja schon mal, dieses gilt auch für unser Nesthäkchen Anja, die jedoch auch schon 20 Jahre alt ist. Also, Veronika hatte alle sechs zu sich bestellt. Sie war an diesem Tag sehr schlecht dran und empfing unsere Kinder im Bett liegend. Richtig feierlich hat sie sich von allen verabschiedet. Natürlich war insbesondere unseren drei eigenen Kindern zum Heulen zu Mute aber Veronika tröste sie in einer nicht nachahmlichen Form. Mich erinnerte es an die Zeit wo unsere Kinder noch klein waren. Da liefen unsere Kinder auch immer mit ihren kleinen und großen Kummer zu ihrer Mutter, die sie dann auf den Schoß nahm um ihnen ein paar tröstende Worte zu sagen. Im Nu sprangen sie damals wieder mit fröhlichen Gesichtern durch die Welt. Fröhliche Gesichter gab es nun zwar nicht aber ein jedes „Kind“ fühlte sich wie einst getröstet. So hatte Veronika praktisch ein Abschied von ihren Kindern zelebriert. Anschließend sagte sie zu mir, dass sie nun beruhigt ins Krankenhaus gehen könne. Sie bat darum, dass sie dort nicht mehr von den Kindern besucht würde. Diese sollten ihre Mutter so in Erinnerung behalten, wie sie sie im Leben bis zu dem Zeitpunkt wo sie von ihnen Abschied nahm kannten. Ihren endgültigen Verfall wollte sie ihren Kindern vorenthalten. Das galt aber nicht für mich. Mich bat sie, dass ich sie so lange besuchen solle, bis sie mir sage, das ich nun nicht mehr kommen solle. Im Krankenhaus sagte sie mir dann sehr oft: „Reimund, ich genieße jeden Augenblick des Abschiedes von dir. Nur aus diesem Grunde freue ich mich über jeden Tag, den mir Gott noch zusätzlich auf
dieser Erde gibt ... auch wenn ich es von Schmerzen kaum noch aushalten kann. Ich liebe dich und mit diesem Gefühl werde ich sterben. Dann ist meine Seele mit dem ausgefüllt, mit der sie eine Ewigkeit leben kann: mit Liebe. Aber denke, wenn ich gegangen bin, bitte daran, dass du loslassen und weitergehen musst. Dir ist es vorbestimmt, dass du noch eine Weile auf dieser Erde verweilen muss. Vergesse nie, dass du mir versprochen hast, dich um eine neue Partnerin zu kümmern.“. Da Veronika das Sprechen immer schwerer fiel kam es zunehmendst dazu, dass ich schweigend neben ihrem Bett saß und ihre mittlerweile nur noch knochige Hand hielt. Sie schaute mich dann immer schweigend an und ich hatte den Eindruck, dass sie lächelte. So genau konnte ich so etwas allerdings nicht ausmachen, da ihre inzwischen total verfallenen Gesichtszüge keine Mimik mehr verraten wollten. Ab und an fragte ich sie ob sie ein Wunsch, den ich ihr erfüllen könnte, habe. Darauf sagte sie mir, dass ich ihren Wunsch, dass ich bei ihr sein möge, ja ohnehin schon erfülle. Ansonsten sei sie nun „wunschlos glücklich“. Alle ihre Wünsche würden nur mich und die Kinder anbelangen und wenn sie mal „besonders gut drauf war“, gab sie mir dann auch immer Beispiele. Man kann diese Dinge unter Glück, Frieden und Gesundheit zusammenfassen. Dann verriet sie mir auch immer, dass sie in ihren stillen Gebeten Gott darum bäte, dass ihre diesbezüglichen Wünsche in Erfüllung gehen sollten. Veronikas ganzes Denken bezog sich also in keinster Weise auf sich oder auf das Ungewisse was ihr bevorstand. Sie dachte also nur an ihre Familie, die ohne sie weiter leben musste. Sie hielt sich zwar nicht für unentbehrlich und wusste genau, dass wir auch ohne sie auskommen konnte, aber wir waren, da sie für sich nichts mehr erwarten konnte, der zentrale Punkt ihrer Wünsche und Hoffnungen. Damit war es bei ihr genau umgekehrt wie kurze Zeit vorher bei meiner Schwester. Aber auch Veronika machte sich auf diese Art die letzten Tage schwer. Insgesamt war ihr Sterben jedoch eine ruhige, würdevolle Zeit. Drei Tage vor ihrem Tod hatte ich den Eindruck als wäre sie jetzt soweit aufgezerrt, dass es besser für sie wäre, wenn sie ihre Augen für immer schlösse. Aber immer wieder brachte sie mit schmerzvoll verzerrter Stimme heraus, worauf ich bei den Kindern und mir achten sollte, dass ich mir auch ja eine neue Partnerin suchen sollte und so weiter, und so fort. Es schien so, als wäre sie es, die nicht loslassen könne. Aber gerade jetzt hatte ich irgendwo das Gefühl, dass ich sie brauchte. Gesagt habe ich davon nichts aber ich glaube, dass die sterbende Veronika dieses gefühlt hat. Am letzten Tag, praktisch in ihrer letzten Stunde bekam sie noch Besuch von unserem Gemeindepfarrer. Veronika strengte sich sehr an um zu sprechen aber ihre Formulierung waren so, als sei sie kerngesund und es hörte sich so an, als würde sie den Pastor zu einer offiziellen Familienangelegenheit empfangen. Sie vertraute dem Geistlichen an, dass ihr Glaube und Vertrauen auf Gott unerschütterlich sei und sie sich sogar darauf freue, bald zu unserem himmlischen Vater zurück kehren zu dürfen. Dann kamen jedoch eine Reihe von aber, zum Beispiel: „Aber ich mache mir doch noch Sorgen, dass Reimund aufgrund meines Todes das Weiterleben vergisst. Na ja, sicher darf er um mich trauern, schließlich haben wir uns ja sehr, sehr lieb. Aber dann muss er aufstehen und weitergehen.“. Und so ging es noch mit einer Reihe von „abers“ weiter. Pastor Weiß fragte mich, ob er mal einen Moment alleine mit Veronika sprechen könne. Natürlich, das war mir sogar recht und ich ging ein Wenig vor die Tür. Nach nur wenigen Minuten öffnete Pastor Weiß die Tür und sagte: „Herr Köster, kommen sie bitte, ihre Frau möchte ihnen etwas sagen.“. Als ich wieder vor ihrem Bett stand bewegte sie ihre Lippen und ich glaube von diesen „Lebe wohl“ abgelesen zu haben. Ihre Augen waren dabei weit aufgerissen und diese schloss sie jetzt im Anschluss daran für immer. Pastor Weiß klärte mich dann darüber auf, dass er mit Veronika darüber gesprochen habe, dass wir einander loslassen müssten. Da habe sie plötzlich darum gebeten, dass er mich wieder reinhole, denn sie könne jetzt loslassen und wolle sich nun endgültig von mir verabschieden. Ich glaube, dass ich nicht groß betonen muss, dass mich eine große Trauer überkam. Aber trotzdem fühlte ich mich irgendwo befriedigt. Zum einen wusste ich, dass Veronika nun nicht mehr Leiden musste. Ihre fast unerträglichen Schmerzen, die sie mit großer Geduld ertragen hatte, waren nun für immer von ihr genommen. Sie hatte ausreichend Zeit sich zu verabschieden gehabt und hat diese in einer sehr würdevollen Weise genutzt. Ich habe mir oft nach diesem Tage gesagt, dass Schmerzen nicht sein müssen aber ansonsten hätte Veronika doch ein schönes Sterben gehabt. Dadurch, dass ich in unmittelbarer Folge aus der Nähe miterleben konnte wie zwei Frauen an der gleichen Krankheit langsam starben, wurde mir bewusst wie unterschiedlich das Sterben sein kann. Für Cornelia war es ein Ritt in die Hölle und für Veronika war es die abschließende Erfüllung des Lebens. Wenn ich das Leben und Sterben meiner Schwester mit dem meiner Frau vergleiche komme ich zu dem Schluss, dass Veronika um ein vielfaches bewusster gelebt hat als die im Grunde oberflächliche Cornelia. Während wohl an Connys Grab deren ungelebtes Leben am meisten getrauert hat standen an Veronikas Grab ein Mann und seine Kinder, die dankbar dafür waren, dass Veronika gelebt hat Natürlich habe ich mich nicht gleich nach der Beisetzung daran gemacht, mein Versprechen hinsichtlich einer neuen Partnerin einzulösen. Bis vor etwa drei Wochen hat sich auf diesem Gebiet auch nichts getan. Aber dann lernte ich Andrea kennen – Aber sorry, das wäre jetzt eine neue Geschichte. Diese, die ich schrieb um meine Gedanken über das Sterben, das uns allen vorbestimmt ist, niederzulegen, will ich hiermit beenden. Es sei mir
erlaubt, diese der Liebe meines Lebens, meiner Veronika, zu widmen. Veronika, ich bin sehr dankbar dafür, dass ich dein Mann sein durfte. Auch wenn ich mich jetzt, so wie du es wünschtest, einer anderen Frau zuwende, werde ich dich in meinem Herzen weiter tragen. Noch einmal vielen Dank.
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Irrfahrt ins alternative Leben Jetzt könnte ich wie in einem billigen amerikanischen Schmöker beginnen. Ich könnte zum Beispiel schreiben, dass mein Name Peter Schneider und ich von Beruf Privatdetektiv sei. Dass mein Büro in einer ehemaligen Fabrik läge und dass ich, als ich mal wieder ziemlich unrasiert in meinem Büro saß von einer attraktiven Blondine, etwa Mitte Dreißig, den wohl merkwürdigsten Auftrag meiner Schnüffler-Laufbahn erhalten hätte. Hätte ich so begonnen hätte ich nicht die Unwahrheit gesprochen und hätte Ihre Fantasie in eine ganz falsche Richtung gelenkt. Ich heiße tatsächlich Peter Schneider und bin wirklich Mitglied in dem Berufsverband der Privatdetektive aber aus Kriminalfällen halte mich raus. Mit Mord und Totschlag habe ich nichts zu tun und damit will ich auch nichts zu tun haben. Suchdienst wäre für meine kleine freiberufliche Unternehmung ein treffenderer Name als Detektei. Ich beschäftige mich mit dem Auffinden von Personen. Da sind zum Beispiel Väter, die sich beim Zeugen der Kinder nicht oder falsch vorgestellt haben und anschließend in einer anonymen Masse verschwanden. Am meisten suche ich nach Schuldnern, insbesondere solchen die ihren Kindern Unterhalt schulden. Da gibt es Verwandte, die sich aus den Augen verloren haben und sich jetzt, zum Beispiel wegen Erbschaften suchen. Und so weiter und so fort. In die letzte Kategorie, also in den Bereich Erbschaften, könnte man auch den Fall, von dem ich an dieser Stelle berichten möchte, einordnen. Bevor es aber richtig los geht, möchte ich doch meine Einleitung ins rechte Licht rücken. Als ich von der ehemaligen Fabrik in der mein Büro liegt schrieb haben Sie doch sicherlich gleich dunkle Hinterhofszenen vor Augen gehabt. Dem ist aber beim besten Willen nicht so. Dieses helle, fast auf Neubau gestylte Gebäude liegt in einem Mischgebiet im Kern der Kleinstadt Neuhaus. Es beheimatete früher einmal eine Drahtzieherei, die bei der Sanierung der „Innenstadt Neuhaus“ in ein Gewerbegebiet, wo der Laden auch noch wachsen kann, ausgelagert wurde. Dieses geschah Ende der 70er-/Anfang der 80er-Jahre des vergangenen Jahrhunderts. Die Fabrik wurde zu einem, für seine Zeit modernen Bürogebäude umgebaut. Im Hause befindet sich noch eine Anwaltssozietät, eine kleine Versicherungsagentur, ein Wohnungsmakler und meine Detektei. Also hier gibt es keine dunkle Atmosphäre, wie wir diese aus US-Krimis kennen. Ich habe dann davon berichtet, dass ich mal wieder ziemlich unrasiert gewesen sei. Na ja, das war natürlich auch wieder harmloser als es sich anhörte. Ich war über das Wochenende, von Freitagabend bis Sonntagnachmittag mit meiner Freundin, die verheiratet ist aber nicht mit mir, auf der Nordseeinsel Borkum. Schon bei unserer Ankunft merkte ich, dass ich meinen Rasierapparat vergessen hatte. Zumindestens nahm ich an, dass ich diesen vergessen habe aber er war ganz einfach „futsch“ ... verloren, geklaut – alles ist möglich. Aber letzteres merkte ich erst als ich am Sonntag wieder zuhause war. Da musste ich mir etwas einfallen lassen, denn ich wollte noch zum Abschluss des Wochenendes mit meiner Freundin in ein etwas feineres Restaurant und ich kam mir dazu mit meinem starken Bartwuchs ziemlich schäbig vor. Nun, im Büro habe ich immer einen Ersatzrasierer. Es kann ja immer mal sein, dass ich mich während der Bürozeit verabrede und habe so die Möglichkeit für eine schnelle Auffrischung meines Outfits. Da man sonntags natürlich auch keinen neuen Apparat kaufen kann fuhr ich ins Büro um mich von meinen Stoppeln zu befreien. So jetzt fehlt uns nur noch die Aufklärung über die Mitdreißigerin, blond und attraktiv, bevor ich auf meinen Auftrag, um den es ja eigentlich hier geht, zu schreiben komme. Jetzt muss ich gestehen, dass ich von alle diesem zum Zeitpunkt, als ich mich im Büro rasierte, überhaupt noch nichts wusste. Ich konnte nur am Tage darauf, als ich meine eMails abrief, feststellen, dass eine gewisse Anastasia Weber um diese Zeit eine Mail, in der sie um eine Verabredung mit mir bittet, abgesandt hatte. Wenn man mit mir Kontakt aufnehmen will ist man aber in keiner Weise auf so etwas wie eMails oder Anrufbeantworter angewiesen, denn im Gegensatz zu den Klischees, die die meisten Leute, dank Fernsehkrimis, von Privatdetektiven haben, übe ich meinen Beruf zu mehr als 80 Prozent in meinem Büro aus. Wenn ich mal wirklich dienstlich aber auch privat unterwegs bin ist deshalb mein Büro nicht verwaist, denn eine hübsche junge Dame mit langen mittelblonden Haaren verdingt sich hier als meine „Mitschnüfflerin“ und Schreibkraft. Ich habe vor, der 27-jährigen Rita Wrobitzky mal zusammen mit meinem übrigen Vermögen die Detektei zu schenken oder zu vererben. Keine Angst, ich habe nicht an jeder Ecke ein anderes Weib, Rita ist meine Tochter. Brigitte ihre Mutter und meine Frau ist vor zwei Jahren bei einem Unglücksfall ums Leben gekommen. Jetzt will ich aber nicht noch weiter ausschweifen, denn ich wollte eigentlich nur sagen, dass man mich während der Dienstzeit in der Regel im Büro antreffen kann – und wenn dieses mal ausnahmsweise nicht der Fall ist, ist meine verheiratete Tochter anwesend. Es hätte also keiner Mail bedurft um mich zu erreichen. Warum Frau Weber es auf diese Art versuchte weiß ich nicht, einen besonderen Grund gab es dafür nicht. Diese Dame gehört wohl zu den Zeitgenossinnen beziehungsweise –genossen, die erst eine Mail versenden und dann gleich darauf anrufen um zu fragen ob diese angekommen sei. Aber ehrlich gesagt sind mir diese Leute lieber als diejenigen die alles, auch Terminabsagen, eilige Angelegenheiten oder ähnliches, auf dem eMail-Weg erledigen, ungerührt davon ob man die Mail erhalten haben kann oder nicht. Es ist mir schon ein paar Mal passiert, dass ich zu einer Verabredung erschien und dann
alleine auf der Bildfläche stand oder saß. Als ich dann später im Büro die eMails abrief erreichten mich dann die Absagen. In solchen Fällen sollte man doch die beidseitig sichere Kommunikation, das Telefon, nutzen. Frau Weber hatte zwar nicht gleich hinter ihrer Mail hertelefoniert, es war ja auch Sonntag, aber als Rita am Montagmorgen ins Büro kam war die Bitte um Rückruf bereits auf unserem Anrufbeantworter. Rita rief auch gleich zurück und bot der Dame an, dass sie doch gleich in unser Büro kommen könne. Unter dem Hinweis darauf, dass sie im etwa 40 Kilometer entfernten Romanstal wohne und sie eine Menge Unterlagen zu transportieren habe bat sie doch umgekehrt darum, dass ich sie besuchen sollte. Nun denn, am Nachmittag des Tages fand ich mich dann doch in Romanstal bei dieser Frau Weber ein. Jetzt konnte ich also erstmals feststellen wie attraktiv diese Blondine ist. Oder war die Attraktivität nur ein Bild welches sie mit Hilfe von Make up erzeugt hatte, denn die Dame glänzte überall cremeartig, an diversen Stellen, zum Beispiel an den Augenbrauen, hatten Farbstifte ihre Dienste getan und sie war umgeben von einer süßlichen Duftwolke. Wenn ich ehrlich bin, stehe ich nicht auf solcherlei Frauen, da ihre Putzsucht immer für mangelndes Selbstvertrauen spricht. Weil sie sich in ihrem Körper nicht wohlfühlen schlüpfen sie in das Gemälde einer oder eines Anderen und glauben dann was besseres zu sein. Immer wenn ich mit Frau Weber sprach hatte ich das Gefühl, dass sie mich von Oben herab behandeln wolle. Aber mir macht es nichts, ich kenne meinen Eigenwert. Daher hatte ich auch keine Schwierigkeit sie im Gegenzug doch so zu behandeln, wie man Kundinnen behandeln sollte. Das Ansinnen dieser Kundin widerstrebt auf der einen Seite meinem persönlichen Moralempfindungen aber auf der anderen Seite habe ich auch erkannt, dass ich gerade im Dienste von Leuten mit einem solchen Ansinnen einen größeren Teil meines Geldes verdiene. Es ging um das berühmte Thema „Erbschaft“. Da hatte ein gewisser Klaus-Dieter Weber vor bald 30 Jahren mal das große Los gezogen. Na sorry, ich muss mich berichtigen, denn bei einer großen Erbschaft, der der Tod der Eltern vorangegangen ist, von einem großen Los zu sprechen ist doch wohl ein bisschen pietätlos. Doch Anastasia Weber, also die Dame, die mir einen Auftrag geben wollte, hatte aber keine Hemmungen von dem großen Los, bei dem sie zusehen musste, zu sprechen. Sie war eine Cousine dieses Klaus-Dieter Webers. Die Dame ist – also auch heute noch – verheiratet und trägt immer noch ihren Geburtsnamen. Nach dem heutigen Namensrecht ist dieses ja nichts außergewöhnliches aber meine „Klientin“ hatte damit keine Probleme, da ihr Auserwählter auch von Geburt an Weber hieß. Als mich Frau Weber hierüber aufklärte fügte sie lachend an: „Zum Glück sind wir nicht verwandt und verschwägert sind wir auch nicht. Keine Inzucht, kein uralter europäischer Adel; keine 1.000 Jahre Inzucht. Mein ‚Männe’ ist ein Weber, der mit uns Webers nichts zutun hat.“. Also dieser Klaus-Dieter Weber hatte dahingehend das große Los gezogen, dass er von seinen Eltern, die bei einem Flugzeugabsturz ums Leben kamen, so ein paar Milliönchen geerbt hat. Allerdings kann sich Frau Anastasia Weber nicht beschweren, denn sie ist als Erbin ihres Vaters, dem Bruder von Klaus-Dieters Vater, vorgesehen. Und dieser hat auch nicht gerade wenig, denn Großvater Weber hatte bei seinem Ableben alles was er zusammen gerafft hat je zur Hälfte auf seine beiden Söhne aufgeteilt. Aber die Hälfte, die jetzt in den Händen dieses Klaus-Dieters ruhte, war wohl den anderen Webers ein Dorn im Auge. Der Millionenerbe war nämlich 1975 nach Bangkok gereist und ist dann von der Bildfläche verschwunden. Ob er sich anschließend um seine Millionen gekümmert hat weiß angeblich von den hier verbliebenden Webers niemand. Auf jeden Fall ist das Vermögen immer noch vorhanden und aus bestimmten Gewinnanteilen fließt diesen auch immer noch regelmäßig etwas zu. Klaus-Dieter Weber, der mir als ein Lebemann geschildert wurde, hatte vor seinem Verschwinden eine Anwaltskanzlei mit der Wahrnehmung seiner Interessen beauftragt. Laut Frau Weber will die Kanzlei angeblich nicht wissen wo sich ihr Mandat derzeitig aufhält. Aber immer wenn etwas hinsichtlich des Vermögens von Klaus-Dieter Weber läuft steht die Kanzlei auf der Matte und kann aktuelle Dokumente vorlegen, die einerseits beweisen, dass Weber noch lebt und von allen Kenntnis hat und anderseits wird stetig die Vollmacht der Kanzlei bestätigt. Meine Klientin würde ja gerne auf das Vermögen ihres Cousins zugreifen und bezweifelt, dass KlausDieter noch lebt. Sie geht von Betrügereien der, an und für sich als renommiert bekannten, Anwaltskanzlei aus. Ich erhielt also den Auftrag nach diesem Klaus-Dieter Weber zu suchen. Das Wunschergebnis wäre für seine Cousine gewesen, wenn ich sein Grab gefunden hätte. Dieses gab Frau Weber zu meinem Entsetzen sogar offen zu. Ja, wenn’s ums große Geld geht setzt der Verstand aus und die Moral gilt als abgeschafft. Man kann schon sagen, dass mein Gedanke „Du meine Güte, wo fange ich da nur an“ zum Standard bei jedem neuen Fall gehört. Bei dieser Geschichte kam jetzt erschwerend hinzu, dass der „Knabe“, den ich suchen sollte, 28 Jahre früher, also im Jahre 1975, nach Bangkok flog und verschwand. Eine Anwaltskanzlei hat Kontakt zu ihm und liefert immer wieder Beweise dafür, dass er noch irgendwo auf dieser Welt lebt. Jetzt läge es nahe, die Kanzlei aufzusuchen und sich schlau zu machen. Aber bisher haben die Anwälte in dieser Kanzlei auf Wunsch ihres Mandaten jede Auskunft über dessen Aufenthaltsort verweigert. Warum sollten sie mir, einem „Privatschnüffler“ gegenüber auf einmal anders reagieren, wo doch laut Frau Weber schon Behörden mit
ausreichender juristischer Begründung von der Kanzlei abgewiesen wurden? Hinzu kam nun auch noch, dass meine Auftraggeberin böse Verdächte gegen diese Anwaltskanzlei ausgesprochen hat. Diese halte ich zwar zu über 99 Prozent für unbegründet aber wie verträgt sich das im Bezug auf das Vertrauensverhältnis zwischen Frau Weber und mir, wenn ich jetzt nichts besseres zu tun habe als gleich zu dieser Kanzlei zu laufen? Aber wo sollte ich denn sonst ansetzen? Sicher ich könnte nach seinen ehemaligen Freunden und Bekannten suchen und da mal in Interviews vorchecken, was diese möglicher Weise wissen. Aber auf diesen „Trichter“ dürften schon einige Leute vor mir gekommen sein und die Ergebnisse dürften inzwischen auch bei der Familie Weber angekommen sein. Aber was soll’s, irgendwo muss ich ja einen Einstieg in die Geschichte finden und deshalb meldete ich mich auch in der Romanstaler Anwaltskanzlei Dr. Bergmann und Dr. König an. Dr. Bergmann, dessen Vater für Webers Eltern und in Folge auch für ihn tätig war, war sofort bereit mich zu empfangen und sah darin noch nicht mal eine honorarpflichtige Tätigkeit. Diese Sache hätte ich ohnehin aus meiner eigenen Tasche zahlen müssen, denn ich hätte Frau Weber ja unmöglich ein Honorar für Dr. Bergmann über meine Spesenrechnung abverlangen können. Der Anwalt selbst war zu jung um seinen Mandaten persönlich zu kennen. Er war damals, wie er mir sagte, gerade mal 15 Jahre. Auch sein Partner Dr. König ist nicht viel älter als er. Da der Senioranwalt inzwischen auch verstorben ist, konnte ich nur Auskünfte über die Dinge, wie sie sich aus den Akten ergeben, erhalten. Nach Auskunft von Dr. Bergmann verhielt sich die ganze Angelegenheit wie folgt: Die Familie Weber gehört zu jenen Leuten, die nicht zu arbeiten brauchen sondern ihr Geld zum Erwirtschaften ihres Einkommens schicken können. Opa Weber hatte bereits einiges an Aktien zusammen gesammelt und seine Söhne setzten das, was ihr Vater begonnen hatte, munter fort. Im April und Mai 1974 unternahmen die Eltern von Klaus-Dieter Weber einen Trip durch Kanada und den USA. Mit einem Privatflugzeug unternahmen die Webers einen Ausflug von Chicago rund um den Michigansee. Die Maschine stürzte ab und die Webers kamen dabei ums Leben und ihr damals 25-jähriger Sohn Klaus-Dieter erbte den ganzen „Aktienberg“. Klaus-Dieter fühlte sich aber gar nicht zum Spekulanten geboren und wollte sich nur von den Erlösen aus den Aktien ein schönes Leben machen. Er wollte, wie es in einem Brief, der bei den Akten ist, heißt, um die Welt reisen und nette Frauen glücklich machen. Er beauftragte einen Börsenmakler sein Depot so umzugestalten, dass es nur aus konservativen Werten bestand. Laut seinen schriftlichen Äußerungen war es ihm wichtig, dass die Papiere kontinuierlich Eier namens Dividende legen; der Kurswert interessierte ihm sehr wenig. Letztendlich wollte er sich um diese Dinge selbst überhaupt nicht mehr kümmern und beauftragte den alten Anwalt Bergmann – im Gegensatz zu seinem Sohn hatte dieser keinen Doktortitel – als Verwalter seines Vermögens. In seinem schriftlichen Auftrag hat Weber seine privaten Ansichten, die ich eben wieder gegeben habe, niedergelegt. Damals gab es dann noch eine Auseinandersetzung mit Klaus-Dieters Onkel, dem Vater meiner Auftraggeberin, weil er glaubte er sei der geborene Verwalter des Vermögens seines Neffens. Als nächstes befand sich in der Akte, die der Anwalt Bergmann (senior) angelegt hatte, ein Schreiben vom November 1975 an das Auswärtige Amt in Bonn, in dem Bergmann im Auftrage von Klaus-Dieters Onkel um Nachforschungen nach dem Vermissten bittet. Klaus-Dieter Weber war zu einer Reise nach Bangkok gestartet. Damals starteten viele Sexsuchende in das südostasiatische Königreich Thailand. Es gab zu jener Zeit den flotten Spruch „Mit Neckermann im Bumsbomber nach Bangkok. Ich glaube, dass dieses buddhistische Land damals das Fernreiseziel Nummer Eins war. Von Bangkok aus unternahm Klaus-Dieter Weber einen Ausflug nach Hongkong und da verlor sich dann zunächst seine Spur. Die nächsten Aktenstücke bestanden aus einem Schriftverkehr mit einer Bank hier in Neuhaus. Von Klaus-Dieters Konto waren größere Beträge abgehoben worden. Die Bank berief sich darauf, dass ihnen schriftliche Anweisungen von Herrn Klaus-Dieter Weber per Luftpost zugegangen seien, in der er um telegrafische Überweisung auf ein Konto bei einer Bank in Victor Harbour/Australien – einem kleinen Ort, etwa 50 Kilometer südlich von Adelaide, bittet. Man habe die Unterschrift des Kunden genau geprüft und keine Zweifel an der Echtheit der Schreiben. Laut Dr. Bergmann gehen auch heute noch Zahlungen für Klaus-Dieter Weber an diese Bank. Bis 1995 waren es relativ kleine Beträge die angefordert wurden. Im Jahr waren es umgerechnet maximal 30.000 Euro die bewegt wurden. Ab 1995 waren die angeforderten Summen mehr als drei Mal so hoch wie bis dahin. Aber im Jahre 2001 fiel der Bedarf dann wieder auf die bescheidene Summe von vor 1995 zurück. Im Februar 1976 meldete sich auch ein Rechtsanwalt aus Victor Harbour bei Bergmann und teilte diesem mit, dass sie ab sofort einen gemeinsamen Mandaten hätten. Der australische Anwalt konnte eine Vollmacht, dessen Echtheit von Bergmann nicht bezweifelt wurde, vorlegen. Von australischer Seite wurde mitgeteilt, dass Weber vorläufig keine feste Anschrift haben würde und man sich deshalb in allen Angelegenheiten an den dortigen Anwalt wenden sollte. Zugleich bat man darum, dass man ihnen im Falle eines Falles eine ausreichende Frist einräumen solle, da sich Klaus-Dieter Weber nicht ständig in Australien aufhalten wolle. Der Rechtsanwalt Bergmann wurde bevollmächtigt, Herrn Weber bei der Meldebehörde nach Australien abzumelden. Danach gibt es immer nur noch einzelne Akten, die immer dann entstanden, wenn man etwas von diesem Emigranten wissen
oder haben wollte. Dabei ging es immer um Dinge, die mit dem Aktienpaket oder mit der Villa Webers, die auf seinen Wunsch vermietet worden war, zu schaffen hatten. Umgekehrten Schriftverkehr, also dass der Auswanderer etwas haben wollte, gab es in den ganzen 25 Jahren nur ganze drei Mal. Dabei ging es immer um Urkunden, zum Beispiel um eine Geburtsurkunde. Ebenfalls insgesamt drei Mal wurde Zweifel an der noch vorhandenen Existenz von Klaus-Dieter Weber geäußert. Zwei Mal kam der Zweifel von seinem Onkel und ein Mal von seiner Cousine. In allen drei Fällen kamen daraufhin aktuelle eigenhändige Schreiben von dem Gesuchten, denen immer notarielle Beglaubigungen, dass der Unterzeichner Klaus-Dieter Weber sei, beigefügt waren. Dr. Bergmann sah keine juristischen Gründe irgendetwas weitergehendes zu unternehmen, zumal das Vermögen im Wesentlichen nicht angegriffen worden sei. Der Wertzuwachs durch Dividenden, Kursgewinnen und so weiter war seit 1975 deutlich höher als die Entnahmen. Daran änderten auch die höheren Entnahmen in den Jahren 1995 bis 2000 nichts. So, jetzt könnte ich mich in mein Büro begeben um einen Abschlussbericht und eine Rechnung schreiben. Für mich gab es keine Gründe an dem, was mir Dr. Bergmann offenbarte zu zweifeln. Natürlich kann ein freier Bürger dahinreisen wo er will, er kann sich dort so lange aufhalten wie er will und letztlich kann auch jeder sein Vermögen einsetzen oder nicht einsetzen wie er will. Alles kann und darf nur dann eingeschränkt werden, wenn dadurch die eventuellen legitimen Rechte Anderer verletzt werden könnten. Warum sollte dieser Klaus-Dieter Weber nicht in oder um Australien abtauchen? Wäre da nicht sein Vermögen und eine Cousine, die über dieses gerne verfügen würde, wäre die ganze Angelegenheit kein Fall mit dem ich mich beschäftigen könnte. Im Sinne dieser Betrachtungsweise könnte ich jetzt den Fall als abgeschlossen betrachten ... womit meine Auftraggeberin bestimmt nicht einverstanden wäre. Ich gehe mal davon aus, dass sie das, was ich von Dr. Bergmann erfahren habe schon länger genauso wusste und mich in der Hoffnung beauftragte, dass Gegenteil – also, das Weber nicht mehr lebt – beweisen könnte. Mir blieb also nichts anderes als noch einen Schritt weiter zu forschen. Aber wie? Wir Menschen haben unsere Träume, die im Laufe des Lebens entweder in Erfüllung gehen oder uns im Alter den Stoßseufzer „Schön wäre es gewesen“ abverlangen. So habe ich immer davon geträumt, mal einen richtig langen Urlaub auf einer Südseeinsel zu verbringen. Einmal bauten sich in meinem Gehirn immer wieder Bilder von weißen Stränden zwischen hohen Kokospalmen und der pazifischen Brandung auf. Auf dem weißen Sand dann für mich das Wichtigste: Braune, gut gebaute Mädchen mit blauschwarzen Haaren in denen eine Orchidee steckt. Bekleidet sind sie nur mit einem Baströckchen und auf ihren wohlgeformten Brüsten liegen bunte Blumenkränze. Die Mädchen tanzen nur mir zu ehren Hula-Hula oder Tamuree. Aber wie geschrieben alles nur ein Traum, der mir vielleicht schon in absehbarer Zeit den Stoßseufzer, den ich zu Beginn dieses Absatzes erwähnte, abverlangt. Dabei hätte mir der Fall Weber beinahe eine Erfüllung beschert. Aber alles schön der Reihe nach. Rita meine Tochter hat natürlich auch ihren Traum, in dem unter anderem Kängurus und Koala-Bären vorkommen. Richtig, sie träumt von einem Trip nach Australien. Dieses brachte mich auf die Idee, dass die Erfüllung von Ritas Traum uns in unserem Ermittlungsauftrag weiterbringen könnte. Sie könnte laut meinen Überlegungen mal nach Adelaide reisen und sich mal in der Gegend, wo Klaus-Dieter Weber zuletzt nachweisbar war, umsehen. Sie könnte sich die Bank und die Anwaltskanzlei in Victor Harbour ansehen. Vielleicht lässt sich der Fall nach einem Gespräch mit der Anwaltskanzlei für mich auch die Akte Weber nach erfolgreichem Abschluss schließen. Leider sind alle meine Klienten auch nicht so versessen darauf ihr Geld so loszuwerden, dass sie freimütig Detektiv-Reisen nach Australien oder in andere ferne Länder sponsern – auch Frau Anastasia Weber war nicht so großzügig. Aber die Übernahme eines gewissen Teils des Preises von Ritas Reise erhoffte ich mir dann doch von ihr. Immerhin kann man für den Flug um die halbe Welt schon so viel Geld, wie man sie sonst in zwei Jahresurlauben nicht los wird, hinblättern. Und so trat ich mit meiner Kundin in Spesenverhandlungen ein. Dabei konnte ich mal wieder feststellen wie geizig die Leute, die den Hals nicht voll genug mit Geld kriegen können, in Wirklichkeit sind. Na ja, Reichtum muss doch schon irgendwo her kommen. Neben einer harten Gangart gegenüber anderen Menschen ist die andere Grundbedingung, dass man immer deutlich mehr Geld einnimmt als man ausgibt. Zum Beispiel muss man bei den Preisen zusehen, dass man nimmt was man kriegen kann und bei den Löhnen muss man soweit drücken, dass der Kuli sich mit dem, was er an Lohn erhält gerade mal so viel beschaffen kann, dass er sich gerade mal auf den Beinen halten kann. Man möchte diesen ja noch ein Weilchen weiter ausbeuten. Alles was bei einem Geschäft übrig bleibt steht natürlich gerechter Weise dem zu, der die Leistung erbracht hat einen „dicken Haufen“ zu erben. „Meine“ Frau Weber ist natürlich auch nicht besser wie die meisten anderen reichen Leute auch. Sie wollte zwar durch meine Arbeit an das Millionenvermögen ihres Cousins kommen aber mich im Gegenzug nur mit einem besseren Trinkgeld entlohnen. Ich möchte es mal so gut wie die Romanbeziehungsweise Fernsehdetektive haben, deren Auftraggeber locker alles bezahlen und unter Spesen abhaken und wenn der Detektiv drei Mal um die Welt reist. Nun denn, ein Zuschuss von 1.000 Euro zu Ritas Reise ist immerhin besser wie gar nichts. Und es ging ja auch nicht nur um die Ermittlungen in Victor Harbour sondern
auch – und das war mir besonders wichtig – um die Erfüllung eines Traumes meiner Tochter. Vielleicht geht es ja nächstes Mal in die Südsee – und dann bin ich dran. Ich muss sagen, dass meine Frau Tochter ihren Auftrag recht flott nach ihrer Ankunft erledigt hatte und sich dann mit ihrem „Göttergatten“, meinem Schwiegersohn, eine schöne Zeit im Lande der Kängurus machen konnte. Ihr Besuch in Victor Harbour hatte uns ein ganzes Stück weiter gebracht aber einen Klaus-Dieter Weber hatten wir immer noch nicht gefunden. Die Anwaltskanzlei, von der ich von Dr. Bergmann erfahren hatte, wurde von Leuten, die man ethnisch den Polynesiern zuordnen kann, betrieben. Mit Polynesien, also mit der Südsee, hatte deren Kanzlei eine ganze Menge zu schaffen. Sie vertraten die Interessen von Australiern, die sich irgendwo auf einer Südseeinsel niedergelassen hatten, zum Beispiel um dort Hotels, kleine Airlines oder Schifffahrtsunternehmen und so weiter zu betreiben. Aber auch Polynesier, die zum Beispiel mit Australien Handel treiben, gehören zu deren Mandaten. Auf Ritas persönliche Anfrage wurde bestätigt, dass Klaus-Dieter Weber ein Mandant der Kanzlei ist und sich auf einer Insel in Ozeanien aufhält. Gelegentlich, so alle zwei oder drei Jahre erschiene deren Mandat auch mal persönlich im Victor Harbour aber immer nur für ein paar Tage. Mehr wollte man Rita nicht sagen, da man dazu nicht bevollmächtigt sei. Als ich den töchterlichen Bericht am Telefon entgegen nahm träumte ich schon davon, dass jetzt bald mein Südseetraum in Erfüllung gehen könnte. Aber jetzt war erst einmal Rita in Australien und unternahm von ihrem Standort Adelaide einige Exkursionen in die Gegend. Den Standort wechselte sie jedoch nicht. Sie hatte ja schon von Deutschland aus ein Hotel in Adelaide für drei Wochen gebucht. Sie wusste ja nicht, wie schnell sich ihr Auftrag erledigen könnte und außerdem gehört Rita, so wie ich auch, zu den Leuten, die nicht alles auf einmal sehen wollen sondern dafür etwas ausgewähltes recht gründlich erleben möchten. Was nützt es, wenn man über den gesamten australischen Kontinent jumpt und anschließend sortieren muss, was man überhaupt gesehen hat. Diese Einstellung hat uns bei unseren „Ermittlungen“ noch zu einem weiteren Erfolg geführt. Drei Tage vor ihrer Abreise erschien ein Pärchen, offensichtlich ethnisch Mischlinge zwischen einem Europäer oder einer Europäerin und einem Polynesier beziehungsweise einer Polynesierin, im Hotel, in dem meine Tochter und Assistentin ihr Domizil bezogen hatte. Rita beschrieb mir diese beiden jungen Menschenkinder als wunderschön. Die beiden stellten sich als ein Zwillingspärchen aus Tuvalu vor. Haben Sie den Namen Tuvalu schon einmal gehört? Ehrlich gesagt, ich habe davon bis zu diesem Tage noch nichts gehört und hielt den Namen Tuvalu für eine wohlklingende Fantasiebezeichnung. Aber was soll ich Ihnen sagen: Den Staat, eine parlamentarische Monarchie im Commonwealth, gibt es tatsächlich. Das Staatsoberhaupt ist eine gewisse Königin Elisabeth II. Richtig, die Königin von England aber der Staat ist seit dem 1. Oktober 1978 unabhängig. Dieser Südseestaat ist 26 Quadratkilometer groß und beheimatet etwa 10.800 Einwohner. Hätte sich Rita auf eine Australien-Rundfahrt begeben, wäre es zu dieser Begegnung nie gekommen, denn die Zwillinge, die sich für zwei oder drei Tage in Victor Harbour aufhielten, wären ihr natürlich nicht nachgereist und zum „Hinterhertelefonieren“ hatten die Geschwister auch keinen Grund. Wie mir Rita berichtet hatten die beiden meine Tochter darauf angesprochen, dass sie sich bei deren Anwalt nach deren Vater erkundigt habe. Sie werden es sicherlich ahnen, dass die Zwillinge vorgaben die Kinder des von uns gesuchten Klaus-Dieter Webers zu sein. Sie gaben dieses nicht nur vor sondern sie waren tatsächlich die direkten Nachfahren des deutschen Multimillionärs, der 1975 über Bangkok aus dem Sichtfeld seiner Familie verschwand. Von seinen Kindern erfuhr Rita, dass Weber den Südseestaat Tuvalu nie mehr verlassen wollte. Er sei dort sehr, sehr glücklich und ihn würde an der restlichen Welt nichts mehr reizen. In den letzten 25 Jahren hat er immer nur einmal im Jahr seine Wahlheimat verlassen, um diverse Dinge in Victor Harbour bei seinem Anwalt und seiner Bank zu erledigen. Jetzt wo seine Kinder groß seien, würde er es aber denen überlassen die Kontakte zur restlichen Welt zu pflegen. Die Zwillinge waren auch der Grund für den erhöhten Kapitalbedarf in den Jahren 1995 bis 2001. Weber hatte zwei Privatlehrer für seine Kinder beschäftigt, damit diese einen Bildungsgrad, der über dem Standard in seiner Wahlheimat liegt, erreichen. Hier zeigte sich auch, dass Weber kein Egoist ist, denn er hatte auch andere Kinder aus seinem Dorf an dem von ihm bezahlten Unterricht teilnehmen lassen. Wie dieser Bildungsgrad aussieht wissen wir natürlich nicht aber Rita berichtete mir, dass die beiden ein fließendes, gepflegtes Englisch und sehr oft auch Deutsch, wenn auch ein Wenig gebrochen, gesprochen haben. Überhaupt wären Webers Kinder adrett gekleidet und sehr gekonnt aufgetreten. Rita brauchte ihnen gar nichts zu erklären, denn sie wussten woher der Wind wehte. Sie wussten, dass ihr Vater nach unseren Vorstellungen als ein reicher Mann gilt und Verwandte, die sogar derzeitig noch mehr als ihr Vater haben müssten, ihnen das Vermögen eigentlich missgönnen. Ihrem Vater läge an diesen sogenannten Werten nur sehr wenig aber er würde es nicht den Leuten, für die dieses Geld so wie ein Gott sei, überlassen. Bis zum heutigen Tage habe Klaus-Dieter Weber nicht darüber entschieden wie dieses Geld mal verwendet werden soll. Sicher scheint nur, dass sich in Europa niemand darauf Hoffnung machen kann. Schließlich gibt es in Ozeanien Erben mit einen ganzen legalen Anspruch. Rita konnte erfahren, dass Weber jemand beauftragen wolle, der für ihn die Anlagen in Europa auflösen solle und er wolle dann bestimmen wie das Ganze in Australien angelegt
werden solle. An der Art der Anlage, also Geld, was sich auch ohne Pflege vermehrt, sollte sich jedoch nichts ändern. Das war also die Botschaft, die Rita von ihrem Australientrip mitbrachte: Weber lebt glücklich auf einer Südseeinsel und hat auch Kinder. Wer sich, wie unsere Klientin Anastasia Weber Hoffnung auf Klaus-Dieter Webers Vermögen gemacht hat, kann sich diese jetzt ruhig abschminken. Die Zwillinge sagten Rita zu, dass sie ihr einige Dinge zu schicken wollten, mit der sie die Weberische Verwandtschaft endgültig zufrieden stellen könne. Dieses sollten Fotos von Klaus-Dieter Weber sein; einige ältere und ein paar mehr aktuelle Fotos. Die älteren sollten den Zweck erfüllen, dass man sieht, dass es sich um ein und die selbe Person handelt, die sich im Laufe der Zeit natürlich etwas verändert hat. Dann sollten wir ein Umschlag mit einem Schreiben erhalten, den wir verschlossen unserer Auftraggeberin übergeben sollten. Der Inhalt sollten Angelegenheiten, die nur KlausDieter und Anastasia Weber kennen könnten, sein. In einem weiteren Schreiben, dass wir erhalten sollten, wollte Weber etwas zu seiner Person und der Jetztzeit schreiben, damit kein Zweifel an der Aktualität besteht. Im Übrigen sei es jedermann freigestellt, Weber auf Tuvalu zu besuchen – einen umgekehrten Besuch würde es allerdings nicht geben. Nachdem mir Rita dieses alles fernmündlich unmittelbar nach dem Besuch der Zwillinge mitteilte, dachte ich, dass ich gleich nach der Rückkehr meiner Tochter einen Schlussbericht und die Rechnung schreiben konnte. Für mich schien der Auftrag erledigt. Klaus-Dieter Weber war gefunden. Er lebte im ozeanischen Kleinstaat Tuvalu und war dort offensichtlich glücklich. Er hatte mindestens zwei wohlerzogene Kinder, die meine Tochter in einem Hotel in Adelaide besucht hatten. Ich habe soeben „mindestens“ geschrieben, weil Rita bei den Beiden nicht hinterfragt hat ob noch weitere Geschwister vorhanden sind. Dazu erfahren wir aber gleich noch mehr. Ja, dieses müsste doch eigentlich reichen ... aber nicht bei meiner Kundin Anastasia Weber. Sie sprach es zwar nicht direkt aus aber wenn man bei ihrem Gerede auch zwischen den Zeilen hörte, war einem klar, dass sie die „Story“, die ich ihr berichten konnte, für frei erfunden hielt. Ohne Beweise wollte sie nichts bezahlen. Ich hatte das Gefühl, dass Frau Weber mich für einen Aufschneider, der nur abkassieren wolle, hielt. Nun, die Beweise waren Rita ja von den Zwillingen zugesagt worden. Sie wollten uns doch etwas zuschicken. Aber ganze drei Monate haben wir vergeblich darauf gewartet. Dann rief mich plötzlich Dr. Bergmann von der Anwaltskanzlei Dr. Bergmann und Dr. König an. Er hatte von seinen Korrespondenzkollegen in Victor Harbour die Sendung, die Rita zugesagt worden war, erhalten. Richtig, die Zwillinge hatten Wort gehalten. Jetzt erfuhren wir auch, dass die Zwillinge nicht die einzigsten Kinder des Klaus-Dieter Webers sind. Neben dem Zwillingspaar, ein junger Mann und eine junge Dame, welches Rita kennen gelernt hatte gab es noch eine weiteres Zwillingspaar. Die beiden Mädchen waren Webers Nesthäkchen. Zwischen den Zwillingspaaren gab es dann noch drei weitere Geschwisterkinder; diese jedoch alle mit abweichenden Geburtsdaten. Alle Unterlagen waren so eindeutig, dass sich Anastasia Weber, nach dem ich ihr alles übergeben hatte, tatsächlich geschlagen geben musste. Wieder einmal war ich, obwohl es ursprünglich gar nicht so aus sah, erfolgreich. Damit könnte ich diesen Bericht eigentlich jetzt beenden. Dieses will ich aber nicht ohne von den Memoiren des Klaus-Dieter Webers, die er für seine Cousine Anastasia beigelegt hatte, zu erzählen. Er hatte sie „Irrfahrt ins richtige, alternative Leben“ genannt und sie waren es, die mich auf den Gedanken zu dieser Niederschrift gebracht haben. Webers Memoiren beginnen wie ein philosophisches Werk. Er fragt nach dem Sinn des Lebens. Er will wissen ob arbeiten, Geld verdienen und Vermögenswerte anlegen der Lebenszweck seien und bedauert im Gegenzug, dass man durch eine solche Einstellung sehr, sehr viel vom wahren Leben verpasst. Nach Webers Ansicht lebt nur derjenige, der die Seele baumeln lassen kann, wirklich. Wer alles Schöne was er sieht besitzen muss, verzerrt sich in Begierde und wird deshalb niemals glücklich. Das Schöne auf dieser Welt bekommen wir alle laut Weber von unserem Schöpfer geschenkt und wir müssen es nur annehmen können ohne es gleich zu begehren. Er habe nie so leben wollen wie sein Vater und deshalb habe er die Freiheit und das Glück gewählt und gesucht. Das Vermögen seines Vaters betrachte Klaus-Dieter Weber nicht wie die meisten anderen Menschen als einen Auftrag und nicht als eine Verpflichtung sondern er sah darin eine Chance. Es ging ihm nicht darum das Vermögen zu erhalten und auszubauen sondern es sollte ihm dienen, das heißt, dass es ihm ein sorgenfreies alternatives Leben ermöglichen sollte. Laut seinen Worten war es Weber egal ob am Ende seines Lebens das Vermögen aufgebraucht sei oder ob er was zu vererben hätte – beides wäre ihm recht. Dann berichtet Weber wie er sich auf die Suche nach Freiheit und Glück gemacht hat. In seinen jungen Jahren begab er sich in heimatlichen Gefilden auf die Pirsch nach einem schönen weiblichen Menschenskind was bereit war sein Leben mit ihm nach seiner Philosophie mit ihm zuteilen. Schöne Frauen hat er, wie er berichtet, jede Menge gefunden und es habe ihm auch Spaß gemacht mit diesen jungen Frauen zusammen gewesen zu sein. Nur ein Mädchen, mit dem er geistig auf einer Wellenlänge lag, hat er nicht getroffen. Alle Mädchen, die ihm begegnet waren, träumten vom eigenen Haus, schicken Autos, modische Kleider und so weiter und so fort; aussteigen wollte keine.
Da gab es in den 70er-Jahren einen flotten Sex-Tourismus nach Thailand. In den Medien berichtete man damals von den Bumsbombern, die Neckermänner nach Bangkok und Pattaya brachten. Klaus-Dieter Weber, der einige Bilder von den thailändischen Schönen gesehen hatte, beschloss daraufhin auch in die Stadt der Engel zu fliegen und sich dort umzuschauen. Schon unmittelbar nach seiner Ankunft wusste Weber, dass er dort nicht das, was er suchte, finden würde. Er wäre kaum im Hotel gewesen als eine junge Dame anklopfte und „Hi Honey, you like me“ fragte. Ganz Bangkok kam ihm wie ein Riesenbordell und Animierbetrieb vor. Er zog es vor Tempel zu besichtigen oder Rundfahrten zu machen. Unter anderem buchte er einen 3-Tage-Trip nach Hongkong. Diese Reise trat er, wie wir ja bereits wissen, auch an. An dieser Stelle war dann der Faden gerissen. Hier tauchte Weber dann ab. So wie er schreibt war dieses gar nicht beabsichtigt gewesen. Im Flugzeug der Air Singapur, mit der er von Bangkok nach Hongkong flog saß er neben einem jungen Australier, mit dem sich Weber im gleichen Lager fühlte. Auch der Australier war von Hause her gut mit Geldmittel, für die er nichts zutun brauchte, ausgestattet. Auch dieser hatte das zivilisierte Einerlei satt. Die beiden jungen Männer träumten jetzt von einer Kreuzfahrt auf eigene Faust, die sie mit einer Yacht in dem Bereich, den man zu Australien und Ozeanien zählt, unternehmen wollten. Der Australier konnte auch damit aufwarten, dass er eine solche Yacht besaß und er ein paar Freunde hatte, die damit aus „seemännischer Sicht“ perfekt umgehen konnten. Weber blieb dann aber drei Tage in Hongkong, während sein neuer Bekannter weiter nach Australien reiste. Die Tage in Hongkong hatte Weber dazu benutzt, um sich noch mit ausreichend Bargeld zu bestücken und sich bei den Reiseleitungen abzumelden, damit man nicht unnütz nach ihm suchte. Dann reiste Klaus-Dieter Weber weiter nach Australien. Genauer gesagt begab er sich in einem Ort in der Nähe von Melbourne. Dort war der junge Mann, den er im Flugzeug kennen gelernt hatte zuhause. Zwei Wochen nach seiner Ankunft stachen die jungen Abenteurer wie verabredet in See. Sie fuhren aber nur entlang der australischen Küste und Weber stellte dabei fest, dass man doch nicht auf der gleichen Frequenz angesiedelt war. Der Australier war so eine Art Playboy, der das süße aber nicht das alternative Leben suchte. So stieg Klaus-Dieter Weber wieder aus und ging von Bord. Das war in Victor Harbour, also in dem Ort, wo Rita 28 Jahre später seine Spur wieder gefunden hatte. Dort lernte Weber dann eine Gruppe von Polynesier, die diesen Ort zu ihrer Wahlheimat gemacht hatten, kennen. Darunter auch der Anwalt, der ihn heute noch vertritt. Irgendwie gefiel ihm die Lebensart der Leute und er hätte sich auch gerne in Victor Harbour niedergelassen. Nun, aufhalten durfte er sich dort nach australischen Recht schon aber dass er sich in diesem Land niederlässt ohne zuvor einen entsprechenden Antrag gestellt zu haben wurde nicht geduldet. Tourist ja, aber Einwanderer nein. Um Ärger zu vermeiden heuerte er auf einem Frachtschiff, welches durch Ozeanien kreuzte, an. Auf diesem Schiff war er dann nicht lange. Die zweite Station auf Webers erste Reise, die ihn eigentlich nach Fidschi und Samoa führen sollte, war Funafuti, die größte und Hauptstadt von Tuvalu. Na ja, bei „größte Stadt“ denken wir meist an was anderes als an ein größeres Dorf mit zirka 3.200 Einwohner. In Funafuti traf Weber dann sein Traumgirl. Eine Polynesierin, die so gebaut war, wie wir Europäer uns halt eine Südsee-Schönheiten vorstellen. Wie er schreibt haben fast alle Leute in Tuvalu eine Lebensauffassung, wie sie seinen Träumen entsprach. Besitz, Reichtum, Machtausübung und so weiter spielen bei den Leuten von Tuvalu so gut wie keine Rolle. Sie lieben und genießen ihr Leben. Die beliebteste Beschäftigung der Mensch von Tuvalu ist das Tanzen. Sie nutzen jede Gelegenheit für ein Tanzvergnügen. So wie Weber schreibt versäumen und vermissen die Leute von Tuvalu im Gegensatz zu uns Europäern nichts. Hier wollte er leben, alt werden und sterben. Die Südsee-Schönheit, die er damals kennen gelernt hatte, hatte er sich zur Frau genommen und mit ihr hat er die sieben Kinder, die ich ja bereits erwähnt habe. Webers Irrfahrt ins richtige, alternative Leben hatte also in Funafuti/Tuvalu ihr glückliches Ende gefunden. Und ich dachte mir beim Lesen von Webers Unterlagen: „Ach, der Glückliche, sein Leben wäre doch eigentlich auch was für mich ... aber leider bin ich wohl jetzt zu alt für einen solchen Weg. An so etwas hätte ich in meinen jungen Jahren denken müssen“.
Zum Nachwort
Zum Inhaltsverzeichnis
Was ist nun richtiges Leben? – Nachwort In einem Schlager des sauerländer Sängers Tom Astor bekommt ein junger Adler den Rat nur nach Vorne und nie zurück zu sehen. Das hat sich wohl ein älterer Autofahrer, von dem ich neulich in der Zeitung las, all zu sehr zu Herzen genommen. Er hatte irgendetwas angestellt was hinter seinem Fahrzeug zu einem Unfall führte. Ohne sich um das angerichtete Malheur zu kümmern fuhr der Herr munter weiter. Als er wenig später von der Polizei gestellt wurde tönte der unfallflüchtige Fahrer: „Ich weiß nichts von dem Unfall, das war hinter mir. Ich fahre immer nur vorwärts und schaue deshalb ständig nur nach Vorne. Was hinter mir liegt, geht mich nichts an.“. Sicherlich dürfte dieser Herr später von einem Richter darüber belehrt worden sein, dass ein Autofahrer ständig auch nach Hinten, also zurück blicken muss. Damit dieses ohne Vernachlässigung der Vorwärtsrichtung geschehen kann, gibt es an den Fahrzeugen Rückspiegel. So frage ich nun, was ist denn generell richtig: Der Rat, den Tom Astor dem jungen Adler gibt oder die Belehrung, die der Unfallflüchtling vom Richter erhält? Dann probieren wir des Richters Rat mal bei unserer nächsten Wanderung aus. Um Missverständnisse zu vermeiden schreibe ich hier erst einmal eindeutig, dass vom ständigen Zurückschauen natürlich nicht die Rede ist. Nicht das jetzt einer scherzt, wie wir schon an der ersten Biegung gegen einen Baumstamm oder eine Mauer laufen beziehungsweise wie wir beim ersten Stolperstein eine glatte Landung vorwärts ausführen. Natürlich müssen wir uns wie jeder Autofahrer, wenn wir vorwärts kommen wollen, zu erst dafür interessieren, was uns in der Richtung, in die wir uns begeben wollen, erwartet. Hätten wir jetzt am Körper Vorrichtungen wie Rückspiegel könnten wir getrost, wie es beim Autofahren sein sollte, kontrollieren was hinter uns läuft ohne unsere Aufmerksamkeit von der Vorwärtsrichtung abzulenken. Ja, aber so ... müssen wir wohl an jeder Biegung oder alle 50 bis 100 Meter unseren Schritt enorm verlangsamen oder gar stehen bleiben um zurückblicken zu können. Dummer Weise wird dann aus einer Wanderung, für die man drei oder vier Stunden kalkuliert hat, eine tagesfüllende Angelegenheit. So gesehen scheint doch der Rat an den jungen Adler, nur nach Vorne und nie zurückzuschauen der treffendere zu sein. Wer immer nur zurückschaut, kommt nicht vorwärts und wer nie zurückschaut, wird auch nie gewahr welche großen Fehler er gemacht hat und neigt dazu, diesen immer und immer wieder zu begehen. Allerdings lassen sich einmal begangene Fehler nicht wieder gutmachen, auch nicht wenn man diesen in einer Rückschau genau und objektiv analysiert hat. Ein Federkissen, dass man aufgeschnitten und im Wind ausgeschüttelt hat, kann man nicht wieder mit den gleichen Federn füllen. Aber leben heißt auch ganz einfach Fehler machen. Wir alle machen regelmäßig kleinere oder größere Fehler. Davon kann sich keiner freisprechen, denn schließlich sind wir keine Maschinen. Nur Maschinen machen keine Fehler, denn dafür sind sie zu dumm. Dieses führt bei einer Rückschau auf unser Leben standardmäßig dazu, dass wir sagen, dass wir, wenn wir noch einmal leben könnten, verschiedenes oder alles anders machen würden. Dieses „anders“ bezieht sich immer darauf, dass man begangene Fehler nicht mehr begehen will oder das man Schritte, die später zu Fehlern geführt hätten, nicht mehr unternehmen will. Eines dürfte nur sicher sein: Wenn wir eine Zeitreise in unsere Vergangenheit unternehmen könnten, um begangene Fehler auszumerzen, könnten wir dann später feststellen, dass wir nur neue Fehler gemacht haben. Das Leben ist halt eine Kette von Zufällen und Fehlern. Aber wer ist denn schon mal auf den Gedanken gekommen, dass er das Meiste, was er im Leben unternommen hat, nicht noch einmal machen würde; weder so wie er es gemacht hat noch anders? Wer hat schon mal darüber nachgedacht, dass er an der Stelle dieser oder jener Unternehmung lieber gelebt hätte. In der Regel führte eine solche Erkenntnis bei den Leuten, die von ihr getroffen wurden, zu einem Ausstieg. Na, jetzt nicht gleich an Extreme denken. Leute, die von einer Vorstandsetage eines großen Industrieunternehmens, nach dem sie ihr Vermögen an Bedürftige verteilt haben, in die Eremitage in totaler Einsamkeit aussteigen gibt es wohl nicht – auf jeden Fall ist mir keine entsprechende Persönlichkeit bekannt. Das sich aber jemand, der stets und ständig im Rampenlicht gestanden hat zu einem bestimmten Zeitpunkt in seine kleine private Welt zurückzieht kommt schon öfters vor. Und wenn man diese Leute dann später befragt, hört man von ihnen, dass sie glücklich, viel glücklicher wie zuvor, seien und auf keinem Fall noch mal zurück möchten. Man darf diese Leute nur nicht mit denjenigen, die den gleichen Weg zwangsweise gehen mussten, also die vom Toppmanager zum Privatier abgestiegen wurden, verwechseln. Letztere sind in der Regel auf der Suche nach den Menschen, die ihnen Unrecht getan haben – eigenes Versagen ist bei den Leuten von heute ziemlich unbekannt. Aber glauben sie mir: Jeder ungewollte Abstieg ist zu zwei Dritteln auf eigenes Versagen und zu einem Drittel auf das Verschulden von Leuten, die genau so wie man selbst ist, zurückzuführen. Die Anderen waren dann letztlich mal die Sieger in der Hackordnung. Es gibt natürlich auch Fälle, wo jemand abgestiegen wurde und später, nach dem er zur Besinnung gekommen ist, genau so denkt, wie diejenigen, die freiwillig in das Privatleben ausgestiegen sind. Diese sagen dann zu sich selbst: „Wie dumm bin ich nur gewesen, dass ich so auf das Leben verzichtet habe. Was habe ich denn davon gehabt, dass ich stets so gerackert habe, dass ich an sieben Tagen der Woche von Morgens bis Spätabends nur
meine vermeintliche Pflicht gekannt habe und davon, dass ich den Leister gemimt habe?“. Dieses Gefühl und diese Denkweise kann ich persönlich sehr gut nachvollziehen, denn auch ich bin mal abgestiegen worden und bin heute froh und glücklich darüber, dass ich aus einer humanitären Existenz in ein menschliches Leben „stürzen“ durfte. Aber sorry Leute, ich erzähle ja bekanntlich keine Geschichten, die sich tatsächlich ereignet haben – auch die eigene nicht. Dieses nicht deshalb, weil ich mich, wenn’s um die eigene Person geht, ins Schneckenhaus zurückziehe sondern weil andere Personen, die um mich herum gehandelt haben, ein Recht auf den Schutz ihrer Privatsphäre haben. Wenn ich meine eigene wahre Geschichte lüften würde, plauderte ich zwangsweise auch von allen anderen Leuten, die im Umgang mit mir eine positive oder negative Rolle gespielt haben. Ich wollte jetzt also mit dieser Bemerkung nicht in meine eigene Geschichte einsteigen sondern ich wollte nur deutlich machen, dass ich so etwas aus meinem eigenen Erfahrungen leicht nachvollziehen kann. Also ich gehöre selbst zu den Leuten, die bei einer Rückschau nicht „Wenn ich noch mal auf die Welt komme mache ich fast alles anders“ sagen sondern ich gebe keck vor, dass ich vieles was ich angestrebt und getan habe nicht noch einmal machen würde. Das „fast“ vor „alles“ war in diesem Fall nicht nur eine langläufig gebräuchliche Redewendung, denn es gibt natürlich einige Dinge, die ich wieder machen würde. So würde ich mir wieder meine Frau, mit der ich nun bald 29 Jahre verheiratet bin, auserwählen. Ich würde wieder den Wunsch nach zwei Kindern haben – wenn’s nach mir ginge könnte es sogar noch ein drittes sein – und wieder würde ich an der Verwirklichung dieses Wunsches wirken wollen. Und so weiter und so fort. In diesen Fällen will ich es noch nicht einmal anders sondern genau so wie ich es schon gemacht habe machen. Ich könnte sagen, dass alles, was zu meinem kleinen privaten Glück beigetragen hat, für mich eine Wiederholung wert ist. Ganz anders sehe ich die Dinge, die für viele den Sinn des Seins darstellen. So zum Beispiel das Streben nach einer beruflichen Karriere, nach Besitz und Vermögen, nach Ruhm und so weiter. Ja, ja, damit habe auch ich viel kostbare Lebenszeit vergeudet. Was sollte es denn, dass ich von Morgens bis Abends oder gar Nachts im Büro saß und mir den Kopf über unwichtige geschäftliche Dinge zerbrach. Hätte ich es nicht getan wäre da bestimmt jemand gewesen, der dieses an meiner Stelle getan hätte. Das wäre auch gut gewesen, denn dann hätte ich mich stattdessen mit meiner Familie beschäftigen können, ich hätte die Seele baumeln lassen können oder mich über wunderschöne Naturerlebnisse freuen dürfen. Anstelle von Frust und Ärger hätte ich Glücksgefühle und Freude tanken können. Statt Stress hätte ich Erholung empfunden. Statt mir Sorgen zu machen hätte ich meine Zufriedenheit ausleben können. Selbstverständlich gehöre ich nicht zu den Leuten, die Fell gekleidet, in Höhlen wohnend, mit einer Keule über die Felder streifen möchten. Gerne bin ich ein Kind der modernen Zivilisation, welches in einer schönen gemütlichen Wohnung wohnt. Nicht nur, dass ich gerne zu Hause ausreichend und abwechslungsreich esse, nein, ich gehe auch gerne aus und lasse mich gerne in kultivierter Atmosphäre bedienen. An verschiedenen technischen Dingen wie zum Beispiel PCs, Digitalkameras und so weiter habe ich, wie andere auch, meine Freude. Gerne unternehme ich auch Reisen. So war ich in meinem Leben bereits in Thailand, Sri Lanka, Barbados, Grenada, Martinique, Venezuela, New York, Chikago, Portugal, Spanien, Italien, Kroatien, Bosnien, Griechenland, Österreich, Dänemark, Belgien und in den Niederlanden sowie in Schwaben, Bayern, Ostfriesland, im Rheinland, auf Fehmarn, Sylt und an noch manch anderen Orten. Ja, ich bin kein Kostverächter und alles hat mein Leben bereichert. Meine Reisen möchte ich auch nicht missen sondern im Gegenteil es gibt noch einige Wünsche und Träume wie Japan, China, Fidschi, Schweden, Finnland, die Masuren und, und, wo ich auch noch gerne hinmöchte. Das kostet natürlich Geld und daher blieb mir natürlich nichts anderes als zu arbeiten. Aber warum habe ich Tölpel eigentlich immer mehr getan, als zur Befriedigung meiner Bedürfnisse und der darüber hinausgehende Wünsche notwendig war und ist. So teuer ist das ja alles gar nicht. Ich muss ja nicht als VIP durch die Welt reisen sondern es genügt doch wenn ich einer unter vielen bei einer normalen Touristentour, bestehend aus Charterflug und Pauschal-Hotel-Arrangement, bin. Innerhalb Deutschland muss es doch nicht gerade ein Hotel mit ein paar Sternen sein, eine Ferienwohnung in der wir uns selbst verpflegen tut es doch auch. Ich muss doch nicht mit einem neuen Daimler oder BMW durch die Gegend gondeln, mit meinem alten Polo komme ich doch auch dahin wo ich will. Was soll ich mit einer Digitalkamera für 800 Euro wenn ich bei ALDI schon für etwas über 200 Euro eine ganz tolle Sache kriege. Warum muss mein Handy Bilder verschicken und Musik spielen können, wenn ich es doch nur als Telefonzellenersatz benutze, da reicht doch ein einfaches simples Dingen mit einer Prepaintkarte. Ja, es gibt so viele Möglichkeiten mit weniger Geld weiterzukommen. Natürlich kann man mir jetzt entgegen halten, das exklusive Erlebnisse und erlesene Markenartikel ihren Preis haben. Aber was bringen mir die mehr an Lebensqualität außer dass ich besser protzen, das heißt mich über die Anderen erheben, kann? Nun gibt es immer dieses berühmte Qualitätsargument. Bei vielen Dingen ist es ja widerlegt, dass ein Markenartikel gegenüber einem Noname-Produkt eine höhere Qualität aufweist. Das können wir nicht selten auch aus den Testberichten der Stiftung Warentest ersehen. Da gibt es preiswerte und sauteuere Produkte, die beide gleich mit
gut oder auch mit mangelhaft bewertet wurden. Nicht selten versuchen Produkthersteller die gesamte Marktpalette abzudecken. Da bekommt ein Produkt einmal einen Markennamen verpasst und einmal ist es ein Noname-Produkt. Das Einzigste was sich geändert hat ist das Etikett oder das aufgedruckte beziehungsweise aufgeprägte Logo. Für den Markenartikel muss man richtig zücken und das Noname-Produkt bekommt man zum Mitnamepreis aber Herstellung und Qualität sind bei beiden gleich. Na ja, bei dem „weißen Produkt“ habe ich jedenfalls kein Problem damit, dass ich versehentlich das Logo für andere verdecke. Markenartikel machen sich nur durch oder bei der Angeberei bezahlt. Na ja, wer die Leistung ohne eigenes Zutun einen dicken Haufen zu erben erbracht hat, brauch sich ja in einem solchen Fall keine Gedanken zu machen. Der kann ja das, was sein Vorfahre zusammen gerafft hat, dann auch renommierender Weise unter die Leute bringen. Durch eine Luxuskarosse, einem Designer-Anzug und allererste Hoteladressen wird man bekanntlich kein besserer Mensch, denn auf den Charakter hat ja der Luxus keinen Einfluss. Für denjenigen, der aber für das was er hat und sich leisten kann, richtig rackern muss spielt es schon ein Rolle ob sein Fernseher 299 oder 3.099 Euro kostet. Für zweiteren Fernseher muss er - nehmen wir mal an, dass er stundenweise entlohnt wird – zehn Mal so lange arbeiten wie für ersteren. In dieser Zeit kann er nicht mit seinen Kindern spielen, nicht mit seiner Frau schmusen und nicht am Waldrand die Seele baumeln lassen. Mit Arbeit versaut er sich das ganze Leben. Wir leben doch nicht um zu arbeiten sondern wir arbeiten um zu leben. Daher ist das Anpreisen von Arbeit, mit der man nur dürftig oder noch nicht mal sein Einkommen erzielt, auch nur eine Frechheit von sattgefressenen Managern, Mittelständlern und Politikern. Auch Arbeit muss sich lohnen und nicht nur Investitionen. Ja, eine solche Einstellung würde mein Leben, wenn ich es noch einmal durchlaufen müsste, prägen. Natürlich würde ich mich auch beim zweiten Mal nicht vor der Arbeit drücken aber ich würde sie auf ein notwendiges Maß beschränken. Ich wollte nur so viel verdienen, dass ich auf preiswerte Weise meine Wünschen erfüllen könnte. Lieber mit ALDI, Lidl, Plus oder anderen satt und zufrieden als mit Markenartikel nur mein inneres Renommiermännchen befriedigen. Natürlich wäre mir eine gerechte Entlohnung wichtig, denn sonst würde ich meine Aussage ad absurdum führen. Ich will ja mehr leben und anstelle dessen weniger arbeiten. Das Recht auf Arbeit ist kein Menschenrecht und die Pflicht zu arbeiten erst recht nicht. Aber das Recht zu leben ist das höchste Gut das es gibt. Da wir nicht in einem Schlaraffenland leben müssen wir zwangsläufig, wenn wir leben wollen, auch arbeiten. Dabei wollen wir es dann aber auch belassen – oder? Auf meine Frage „oder“ bekomme ich jetzt wohl reichlich Antworten. Da wird man mir vorwerfen, dass ich dem Leben keinen höheren Sinn abgewinnen wolle, dass es mir an Ehrgeiz zur Wertschöpfung fehle. Mit diesen Leuten könnte ich jetzt ein Streit entfachen, wer von uns ein Egoist ist. Diejenigen, die sich da gerne auf einen Sockel hieven möchten während sie sich die Taschen bis zum Überlauf voll stopfen oder ich, der die Anderen walten und schalten lässt und sich stattdessen den eigenen Glücksgefühlen hingibt. Da haben wir also schon zwei gegensätzliche Denkansätze zu der Frage „Was ist nun richtiges Leben“. Wer sagt denn, dass ich dem Leben keinen höheren Sinn geben will? Dieser liegt aber darin, dass ich alles das annehme was mir der Schöpfer geschenkt hat und dass ich dieses alles achte. Ich möchte für meine nächsten Mitmenschen, beginnend bei meiner Familie, da sein und im Gegenzug erwarte ich, dass diese für mich da sind. Ich will geben aber auch nehmen. Auf jeden Fall möchte ich nicht, dass an meinem Grab mein ungelebtes Leben am meisten trauert während die letzten Geschäfte doch unerledigt liegen bleiben. Wie ich eben dargestellt habe gibt es verschiedene, teilweise gegensätzliche Denkansätze darüber was richtiges Leben ist. Können wir es uns deshalb jetzt leicht machen und sagen, dass dann jeder nach seiner Fasson selig werden kann? Ich schätze, dass jetzt die Mehrheit in der verehrten Leserschaft diese These bejaht und dabei glaubt tolerant zu sein. Man sollte aber bedenken, dass sich die Lebensauffassungen der Einzelnen sich auch mehr oder weniger auf andere Menschen auswirkt. Wenn jemand den höchsten Lebenszweck in der Förderung des Standortes und der Mehrung von materiellen Gütern, zu denen ich an dieser Stelle insbesondere das Geld zähle, sieht dann gibt es, je nach seinem derzeitigen Stand, seiner Macht und seines Einkommens, zwei Möglichkeiten eines Wirkens auf Andere: Gehört der Freund der Wirtschaft und des Gottes Mammon zu den unteren Einkommensschichten, dann ist er willkommener „Konsumidiot“ und Stimmvieh für wirtschaftstreue Politikusse. Steht dieser Mammonist oben auf der Gehaltsleiter ist er mit Sicherheit ein Eiferer, der den Lebensraum zugunsten des Standortes zu opfern bereit ist. Beim Materialismus bleibt die Menschlichkeit auf der Strecke und daher sind die Anhänger des Gottes Mammons selbst sehr, sehr selten glückliche Menschen. Das hörte sich gerade alles oberflächlich und schlagzeilenhaft an. Das kann ich natürlich nicht so stehen lassen und deshalb gehen wir jetzt ein wenig in die Tiefe. Dann müssen wir erst einmal abklären was ein Mammonist ist. Dieses sind Leute, die dem Irrglauben unterliegen, dass Fortschritt etwas mit wirtschaftlichem Wachstum zu tun hätte. Sie sehen den Lebenssinn in der Mehrung von Vermögen, dass es eines Tages an die nächste Generation zu vererben gilt. Müßiggang und Entspannung sind für sie Untugende, die man Faulenzer und Tagedieben überlässt. Über die Interessen des Einzelnen stellen sie die der Wirtschaft. Sie bewerten die Politik
nicht nach den Kriterien wie viel im Interesse der Menschen getan wird sondern daran, was sie zum Florieren der Wirtschaft unternimmt. Wenn sie fordern, die Politik müsse etwas zum Abbau der Arbeitslosigkeit tun, dann geht es ihnen nicht darum, dass alle Menschen ein Einkommen, mit dem sie auch auskommen können, erzielen können sondern dass sie von den Kosten der Arbeitslosigkeit entlastet werden. Sie wollen ihre Gewinne und ihre Einkommen nicht mit Beiträgen zur Solidarität belastet sehen. Sie haben den Wahn überall zu den Ersten gehören zu müssen. Das gilt nicht nur für sie persönlich sondern sie sind auch der Meinung das Deutschland nur in der ersten Liga oben spielen dürfe. Warum eigentlich; wäre es nicht viel besser, wenn stattdessen mehr Gerechtigkeit und Zufriedenheit herrschten? Wieso findet man es richtig, dass Einzelne superreich sind, wo es doch besser wäre, wenn alle ein zufriedenstellendes Einkommen erzielen könnten. Ich schrieb zuvor, dass es Mammonisten sowohl in unteren wie obersten Einkommensschichten gibt. Mit „unteren“ meinte ich jetzt natürlich keine Sozial- oder Arbeitslosenhilfeempfänger, keine Mindestlohnsklaven und auch keine 400-Euro-Jobber. Aber Facharbeiter wie Angestellte auf den unteren Ebene, also dort wo die Sachbearbeiter angesiedelt sind. Das sind die Leute, die ein Leben lang davon träumen auch einmal ganz oben zu sein. In ihrem Umfeld renommieren sie gerne mit dem, was sie (nur) in ihrer Fantasie haben. Oben ankommen werden sie wahrscheinlich nie, denn durch ihren Konsum, mit den sie optisch renommieren obwohl es von den Mitmenschen nur sehr wenig beachtet wird, zersägen sie die ersten Stufen der Leiter, die sie nach Oben in den Wohlstandshimmel bringt. Diese Leute lassen sich von der Werbung verführen und sie fallen auf die Propagandaphrasen der Politiker, die selber gar nicht merken, dass sie willfährige Majonetten der Wirtschaft sind, herein. Sie glauben den Schwachsinn, dass der Neoliberalismus mit Freiheit und Demokratie identisch sei und das es dazu keine Alternative gäbe. Diesen Massenmenschen, die im Strom des Populismus mitschwimmen, haben wir es zu verdanken, dass die soziale Gerechtigkeit und wahrer Fortschritt auf der Strecke bleiben. Die Politik hat längst ihr Primat aufgegeben und sich der nimmersatten Wirtschaft, der auch die Medien treu untertan sind, untergeordnet und ihre Wählerstimmen bekommen sie von den Mammonisten aus den unteren Einkommensschichten. Es ist also keine missionarische Besserwisserei wenn ich möglichst viele Leute von einer Rückbesinnung auf wahres Leben, das heißt abseits vom ausschließlichen gesellschaftlichen Funktionieren, abseits von der Gier nach Ruhm, Macht und Geld, überzeugen will. Ich sehe auch ein, dass diese Welt bunt und vielfältig ist und es daher viele Möglichkeiten zum glücklichen ausgefüllten Leben gibt. Da kann man schon jedem überlassen welchen Weg er wählt. Es darf ja jeder nach seiner eigenen Fasson glücklich werden. Wo ich mich allerdings gegen wehre sind die Auffassungen, die nicht nur die Reichen und Mächtigen den anderen überstülpen möchten. Warum habe ich zu funktionieren, wenn es da eine Clique gibt, die es angeblich nicht ertragen kann, wenn Deutschland in der europäischen Wirtschaft nicht auf dem obersten Treppchen steht. Wenn wir unseren Platz als führende Industrienation mit der Zerstörung des Lebensraumes und Abstrichen an der Lebensqualität erkaufen müssen, dann will ich gerne auf den ersten Platz unter den mamonistischen Religionsgemeinschaften pfeifen. Ich glaube, dass ich jetzt meine Theorie, dass wir, wenn wir die Gesellschaft im positiven Sinne ändern wollen, beim ganz privaten Denken des Einzelnen anfangen müssen, ein Wenig klar gemacht habe. So lange wir an und in unserer kleinen Welt keine Änderungen vornehmen wollen wird es auch im Großen kein Fortschritt geben. Wenn ich mit der Umgestaltung meines eigenen Lebens beginne werde ich feststellen, dass sich bereits schon dann eine ganze Reihe von Problemen, die mir Sorgen und Mühen machen, von alleine lösen; da brauche ich gar nicht auf den großen gesellschaftlichen Wandel zu warten. Es lohnt sich also immer, mit einem neuen, richtigen und wahren Leben zu beginnen. Jetzt sind wir wieder bei der Frage, was denn nun richtiges Leben sei. Darauf will ich jetzt mal ganz locker eine Antwort geben: Wenn wir uns frei von Zwängen fühlen und unabhängig von materiellen Besitz und wirtschaftlichen Erfolg uns glücklich glauben, dann sind wir im wahren Leben angekommen. Der Weg dahin ist ganz einfach: Wir müssen uns nur frei von Zwängen und den Wünschen nach Ruhm, Macht und Reichtum machen. Dann beginnen wir wie von selbst zu leben. Und damit mache ich jetzt endgültig Schluss, zumindestens mit diesem eBook. Also, meine lieben Leserinnen und Leser denken Sie ein Wenig über das, was Sie hier lesen konnten nach. Vielleicht hilft es Ihnen dabei für sich selbst den richtigen Schluss zu ziehen. Ansonsten wünsche ich Ihnen alles Gute und sage jetzt nur noch ganz einfach Tschüss und ... Schluss.
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