ROBERT CHILSON
Wo die letzten Menschen hausen AS THE CURTAIN FALLS
Science Fiction-Roman
Deutsche Erstveröffentlichu...
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ROBERT CHILSON
Wo die letzten Menschen hausen AS THE CURTAIN FALLS
Science Fiction-Roman
Deutsche Erstveröffentlichung
Wilhelm Goldmann Verlag 3
Aus dem Amerikanischen übertragen von Tony Westermayr
Gescannt von c0y0te. ―――――――――――――――――――――――――――――――― Dieses e-Buch ist eine Privatkopie und nicht zum Verkauf bestimmt! ――――――――――――――――――――――――――――――――
Made in Germany • 5/79 • 1. Auflage • 1110 © der Originalausgabe 1974 by Robert Chilson der deutschsprachigen Ausgabe 1979 by Wilhelm Goldmann Verlag, München Umschlagfoto: Creativ Shop, A. + A. Bachmann, München Umschlagillustration: Jürgen F. Rogner, München Gesamtherstellung: Mohndruck Reinhard Mohn GmbH, Gütersloh Verlagsnummer 23305 Lektorat: Helmut Putz/Melanie Berens . Herstellung: Lothar Hofmann ISBN 3-442-23305-4
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Friedhof der Träume Abgezeichnet vor der Sonne am fernen Rand der Welt, schwamm die Stadt auf einem Meer aus Gold. Sie leuchtete wie eine riesige Rose, blaßrosa und perfekt. Kuppeln, Säulen und Türme erhoben sich aus der gewölbten Masse wie eingerollte, an den Außenrändern blasse Blütenblätter. Im Herzen der Blume waren sattere Farben, blutrot und rubinrot und rosa-violett, leuchtend von eingefangenem Sonnenlicht. Darüber wölbte sich der violett-blaue Himmel, ein Planet, eisgrell. Eine blaß-gelbe Korona stieg vom Rand der Welt auf, das verblassende Licht hob den goldenen Nebel heraus, in dem die große Stadt schwebte, im zunehmenden Zwielicht um so prächtiger erglühend. Von der Stadt bis zum Beobachter erstreckte sich über die goldene See ein breites Band von Königspurpurschatten, außen mit schwachen Streifen von Rosarot. Trebor zog die Brauen zusammen und blickte hinter sich. Reihe um Reihe stiegen die Berge und Hügel hinter ihm empor, gemeißelter, nackter Fels, von der untergehenden Sonne schroff beleuchtet. Ihm am nächsten waren die sanft abfallenden Hügel. Hinter ihnen erhob sich eine verwitterte Bergkette, gefleckt mit Grün. Er konnte nichts als die Kerbe in den abfallenden Hügeln sehen, durch die er herabgekommen war, und die Gipfel der Berge darüber. Nichts, niemand bewegte sich in all der Öde verwitterten Gesteins. Trebor wandte sich wieder der Stadt unter der sinkenden Sonne zu, und siehe! das Meer von goldenem Nebel war jetzt nur noch von zartestem Gelb, sein Königsband ein lebloses Grau, die Ko5
rona der Stadt nur ein blasses Nachglühen entlang dem Horizont. Nur die Stadt leuchtete noch mit all ihrer gewohnten Pracht, zog an sich das ganze verblassende Licht von Sonne und Himmel. Der Himmel darüber war Purpur, vergehend zu Schwarz, geschmückt mit Dutzenden von Sternjuwelen und einem anderen eisigen, in sich gekehrten Planeten. Trebor drängte sein Schanschid vorwärts. Das Tier schüttelte unwillig den schweren Schädel, stapfte voran, suchte sich stolpernd den letzten steilen Weg hinab zur Ebene. Am Fuß des Abhangs unter der Scharte erstreckte sich ein breites, trockenes Flußbett, das von den hinabgestürzten, vom Wasser geschliffenen Blöcken einer Obsidian-Brücke überspannt war. Dahinter lagen die riesigen, gekippten Pflasterblöcke einer uralten Straße. Dazwischen schlängelte sich ein Weg dahin, gelegentlich über einen dieser Blöcke hinwegführend. Der Nebel war Wasser, nicht Staub; trotz der Öffnung nach Westen hin kühlte die Ebene wegen ihrer Höhe rasch ab. Das Schanschid verfiel in sein stundenverzehrendes Schaukeln, wobei es stets nur zwei von seinen sechs Füßen gleichzeitig schwang. Die abfallenden Hügel blieben hinter ihm zurück, in der zunehmenden Dämmerung waren sie noch undeutlich sichtbar; das leuchtende Juwel einer Stadt zog ihn an. So oft Trebor von ihrer vergehenden Pracht fortsah, war er nahezu blind. Aber die Stadt zeigte kein einziges Licht. All ihr später Glanz war erborgt von der Sonne, starb mit der Sonne. In der Antiken Zunge, die im Tiefland von Iréné gesprochen wurde, hieß die Stadt Rhodrora. Als die Antike Zunge die Alte Zunge gewesen, hatte man sie Rhudaroralle genannt. Als die Alte Zunge nur als die Sprache der wilden Witingas bekannt gewesen, war die Stadt in der Muttersprache von Romplannan Ajassavalle genannt worden. Und davor war sie in der Sprache des Dritten Irenischen Reiches Ingavvalook gewesen. In der Zeit des Zweiten Irenischen Reiches war sie Russevalaja genannt worden. Für die Menschen des legendären Ersten Reiches war sie Tschailiana gewesen, und dort hatten die Goldenen Imperatoren auf ihrem Thron gesessen. Und alle diese Namen in allen diesen Sprachen, zurückreichend bis zum Morgengrauen der Welt, bedeuteten dasselbe: Alte 6
Stadt. Denn Tschailiana, Russevalaja, Ingavvalook, Ajassavalle, Rhudaroralla, Rhodrora ist nicht bloß alt, es war schon alt, als es das erste Mal in die Geschichte eintrat. Die Jahre sind über die Stadt hinweggegangen wie die Sandkörnchen eines mächtigen Staubsturmes. Als Trebor sich der noch immer schwach rosarot leuchtenden Stadt näherte, wurden die Spuren dieser Jahre sogar im kalten Sternenlicht sichtbar. Hier waren Flecken, dort Risse in den Rosenquarzmauern, dahinter Löcher, Gebäude mit eingestürzten Dächern, Kolonnaden, aus denen Säulen fehlten, Zahnlücken gleich. Die Straßen waren begraben unter Tonnen von Erdreich – bis zur Höhe eines berittenen Mannes, obwohl die Stadt auf einem Hügel über der Ebene erbaut war. Trotzdem brachten die Gebäude und der Plan der Stadt einen Architekten jedes geringeren, nachfolgenden Zeitalters dazu, vor Freude zu weinen, daran zu verzweifeln, jemals etwas von Wert schaffen zu können. Denn hier, in der Alten Stadt, war Vollkommenheit erreicht, vor so langer Zeit, daß man sogar das Datum vergessen hatte. Wer konnte sich an die Namen der Männer erinnern – wenn es denn bloße Männer gewesen –, die im prähistorischen Morgengrauen eine solche Stadt sich zuerst vorgestellt und sie dann hervorgebracht hatten? Trebors von der Reise verschmutzte Schuhschnallen waren nun in der rosenbeschatteten Düsternis der gewaltigen Stadt blaßrosa. Rings um ihn und über ihm stellte sie empor, erhaben in der Abenddämmerung, andeutend, was sie gewesen. Hier sprangen schlanke Feenbrücken über die Straße; dort stachen rosarot-frostige Kristalle in den Himmel; hier, dort und überall schnellten gerundete Quarzfassaden empor, blaßrosa, rosig, weinrot, rosa-violett. Die sich verdichtende Düsternis unter überhängenden Gebäuden und in engen Spalten war vom tiefsten Purpur. Als die kleine Anhöhe erstiegen war, auf der man Rhodrora erbaut hatte, hielt Trebor als erstes an und drehte sich, um die beschatteten Hügel hinter sich mit einem magischen Auge zu betrachten. Er sah weder eine Bewegung – wie zu erwarten gewesen – noch ein Anzeichen von Feuer, was er mit einem Stirnrunzeln quittierte, als er das Messingrohr einsteckte. Tiefer in der Schatten7
düsternis der Stadt – ihr erborgtes Leuchten war fast ganz erloschen – hielt er wieder an, um sein Schanschid an einem zugedeckten Auffangtank zu tränken. In der Million Jahre seit dem Ende des Aufbruchs war die Alte Stadt oft von Barbaren bewohnt gewesen, die das alte System der Abzugskanäle angezapft hatten, um Tauwasser in Tanks zu leiten. Die hervorragenden grauen Steinaquädukte der Stadt mit ihren Glasrohren, nun schon lange aufgegeben, zerfielen zu Schutt. Rhodroras zeitlose Mauern träumten achtlos weiter. Dieser Auffangbehälter hatte drei Dutzend Öffnungen, in die Tiere ihre Köpfe zum Trinken hineinsenken konnten; er war vierzig Fuß lang und zehn Fuß breit und abgedeckt, um die Verdunstung zu hemmen. Die Abdeckung bröckelte nun hinein, und aus den Öffnungen sprossen üppig Wasserpflanzen. Auf diesem Platz – ein Oval, quer zur Längsachse fast eine Viertelmeile lang – war der Große Krieg der Halb-Erde gegen den Mond verkündet worden, vor Tausenden schreiender, jubelnder Bürger; auf jenem Balkon dort drüben hatte der größte Mann seiner Zeit gestanden, der in diesem Krieg ums Leben gekommen war, dessen Tod die Schleifung von Gramanaria, der Ewigen, der Mutter der Welten herbeigeführt hatte. Von einem anderen – jetzt verschwundenen – Balkon war ein Herrscher des ganzen Planeten zu Tode gestürzt, während Tausende kreischten. Trebors Schanschid war an einem grauen, fast schon in zwei Hälften verwitterten Steinpfosten festgemacht, den vergessene Nomaden auf dem Sokkel einer längst geplünderten Statue errichtet hatten, der Statue des Retters von Aera, dessen Ruhm zehntausend Generationen überdauerte. Die Alte Stadt war nicht einmal, sondern zu vierzehn verschiedenen Zeiten die Hauptstadt des ganzen Planeten gewesen – ja, und auch von anderen Planeten, mehr als einmal, mehr als zweimal. Eben dieser Platz hier war jener, von dem in den Chroniken der Älteren Enna in der Zeit des Ersten Reiches gesprochen wurde: Das Herz von Aera. Für die Theiks war er Weltende, für Layan, in von den Büchern der Stunden der Tage von Ruhm und Infamie, war er Andannas Thron. Hier waren einmal Gesetze für ganz Aera verkündet, hier waren Kriege eröffnet und beendet, hier waren 8
Herrscher in ihr Amt eingeführt und abgesetzt worden, hier hatte sich – immer und immer wieder – das kulturelle Zentrum der Welt befunden. Nun tränkte ein Mann in verstaubtem, bescheidenen Aufputz sein Schanschid an einem Tank für drei Dutzend und lockerte den Sattel und untersuchte den Rücken des Tieres auf wundgerittene Stellen. Ein Schanschid trank hier durstig und bespritzte das graue Steinpflaster neun Fuß über der alten Pflasterung, wo einst Tausende von Männern und Frauen schwerelos wie Falter durch die Luft geschwebt und die großen, meilenlangen Schiffe lautlos darüber hinweggeglitten waren. Das Prusten und Atmen des Schanschids klang laut in der brütenden Düsternis der Alten Stadt. Trebor ging seinen nächtlichen Tätigkeiten flink und sachlich nach, ohne auch nur über die Schulter zu blicken. Keine Gespenster der ruhmreichen Vergangenheit blickten über seine Schulter; wenn Rhodrora träumte, dann lautlos, blind gegen alles. Trotz seiner Größe war das Schanschid ein anmutiges Tier – das Ergebnis genetischer Manipulation in der Vergangenheit, verstärkt durch eine Million Generationen selektiver Zucht. Aber trotz dieser Größe war es müde. Als es getränkt war, führte Trebor es ungefähr eine Meile weit durch die Promenaden und Boulevards. Obwohl zu einer Zeit erbaut, als Flugbeförderung die Regel war, waren dunkle Zeitalter über die Alte Stadt hinweggegangen, in denen sie auf die Oberfläche beschränkt war; deshalb hatte man durch ihre Vollkommenheit solche Wege gebahnt und sie sogar noch gesteigert. Manche davon waren überdacht und erschienen nun als dunkle Tunnels – einmal waren sie in Zauberlicht erstrahlt – oder waren sogar ganz mit windverwehtem Staub gefüllt. Hier war der Weg breit genug, daß hundert Schanschids nebeneinander gehen konnten; dort war er ein enger, gewundener Einschnitt zwischen gewölbten, hochragenden Fassaden, sogar bei Tag kunstvoll düster. Schließlich gelangten sie in einen alten Friedhof, der noch immer von den alten Abflußrohren und Tanks bewässert wurde, wenngleich diese jetzt hauptsächlich Tau auffingen. Trebor nahm die Emanation von Schanschids wahr, bevor er den Friedhof betrat; dann ihren Geruch. Sie hoben müde Köpfe und lauschten innerlich und äußerlich, aber er entdeckte keinen Arg9
wohn, nichts als ihre Müdigkeit. Sie waren an diesem Tag weit geritten worden. Er band sein eigenes Schanschid an einen ziemlich großen Baum nicht in nächster Nähe der anderen, fing seine Ausströmung von Erleichterung und völliger Erschlaffung auf: In dieser Nacht konnte es nicht weitergehen. Er selbst war müde, unterdrückte das aber streng und erlaubte sich nur ein langes Recken und einige Sekunden Hin- und Hergehen in der Düsternis. Seine langbeinige Gestalt war halb sichtbar unter dürren Bäumen, deren Vorfahren die wunderbarsten blühenden Büsche waren. Dann schritt er wachsam zur nahgelegenen Seite des Parks, von wo schwächste Geräusche in einer Stadt drangen, die sonst so still war wie der Friedhof selbst. Von dort kamen auch schwaches Licht und das Gemurmel von Leuten, mindestens zwanzig an der Zahl. An einem ovalen Eingang blieb er stehen und schaute hinunter, sah ein trübes, flackerndes Licht. Er umfaßte seinen Knauf, trat ein und folgte den Geräuschen und dem Licht eine breite Rampe hinunter, die verunreinigt von Schmutz und Laub und Insektennestern war, aber nicht mit Schutt bedeckt. In der Nähe der Sohle nahm er einen schlafenden Posten wahr. Sein Schwert konnte in seiner Vandamara-Scheide nicht klirren, aber er stieß unbekümmert mit dem Fuß gegen den herumliegenden Abfall, als er die Rampe hinunterschritt, und der Posten bemerkte ihn schließlich. »Ho! Ein Eindringling kommt! Halt, Fremder! Wer seid Ihr, und wo kommt Ihr her?« Der Posten sprach die Antike Zunge in der Hochsprache; ein Adliger – was seine Schläfrigkeit auf Wache erklärte –, und er sprach mit dem Akzent von Gute Laune, dem Haus von Witstanda, was ihn als einen Mann aus Linllallal auswies, dessen Bewässerungsprojekte ihm den Namen »Strommeister des Flusses von Annas Vallanda« verliehen. »Trebor, Kommandeurerbe der Vorbeuger von Amballa, Sohn von Sirrom, Sohn von Leinad dem Buller. Uxg azxgw wuw. Ich suche einen Vion, Prinzberater und Kanzler des Thrones von Witstanda.« Zum Linllallalaner traten andere, alle in Reiseputz von Adligen gekleidet, undeutlich im trüben Licht. Trebor wurde vom Gruß 10
empfangen, dessen Art es war, daß die Speere in den Boden gebohrt wurden, wobei der Schmutz die Wirkung dämpfte; und er wurde ins Licht geführt. Einer der Speerträger hatte hier saubergemacht, und sein Speer war umhüllt von Spinnweben. Alle diese Männer waren offenkundig Edelleute. Es war klug, Untergebenen nicht zu vertrauen. Der nächste Raum war hell erleuchtet von einem Feuer – denn hier war es kühl – und von zwei flachen, quadratischen magischen Leuchten, die über einem Stuhl an der Wand befestigt waren. Eine beachtliche Menge von Adligen stand hier in einer Gruppe beieinander, in erster Linie zwischen Trebor und dem Mädchen auf dem Stuhl. Auch diese Edelleute trugen staubige und von der Reise verschmutzte Gewänder. Trebor blieb stehen, ohne Lust, seine Rangbezeichnungen zu wiederholen. Sie starrten ihn einen Augenblick an, dann drängte sich ein kleiner, vertrockneter alter Mann aus der Menge. »Ich bin Ozzyman, der Wahrsager. Das ist wahrhaftig Trebor, Sohn jenes Sirrom, der von den Pramantinern des Kults vom Aufbruch ermordet worden ist.« Trebor unterdrückte ein Zucken angesichts dieses unerwarteten Wissens. »Und das, guter Herr, ist Viani, Prinzessin-Tochter Vions, des ehemaligen Kanzlers beim Thron von Witstanda.« Die Menge trat auseinander, um den Blick auf ein schlankes, schwarzhaariges Mädchen freizugeben, das nicht unschön war. Trebor warf einen Blick auf sie, dann sah er die Adligen von Linllallal ungeduldig an. »Tochter? Ehemaliger Kanzler? Was bedeutet das? Ich bin hergekommen, um Verbündete zu suchen – und habe Versprechen von Wert anzubieten, so niedergeschlagen ich sein mag. Wo ist Vion?« Es blieb einen Augenblick still, dann ergriff das Mädchen sofort das Kommando. »Ahem. Wißt, o Trebor« – er runzelte über die Unterstellung der Ranggleichheit gereizt die Stirn –, »daß Vion Vater, Kanzler und Prinz, von den Orden unseres wahnsinnigen Königs Witloss des Vierten von Gute Laune grausam niedergemacht worden ist – 11
mögen seine Zähne schmerzen!« »Aus welchem Grund?« knurrte Trebor, in die Mittelsprache verfallend – es war ihm unmöglich, ein Mädchen anzuerkennen, als Gleichgestellte anzuerkennen, noch dazu eines, das, den Verwünschungen nach, gerade erst aus dem Lyzeum gekommen war. »Dafür, daß er den Vorbeugern von Amballa zutiefst verpflichtet war, was Seine Possen-Majestät – oder seine nicht so possenhaften Berater, meines Vaters Feinde, befürchten ließ, seine Treue könne ins Schwanken geraten.« Vianis Stimme klang ruhig, und sie behielt die Hochsprache ohne ein Zucken ihrer Miene bei. Trebors Einschätzung ihrer Person stieg unbewußt. Er lachte bitter und sagte in der Hochsprache: »Vielleicht doch kein so wahnsinniger König.« Einer der Adligen warf einen kurzen Blick auf Viani und sagte: »Laßt das nicht auf die von Vorbeugern gemachten Versprechungen wirken, guter Herr. Denn noch lebt Vions Partei, und seine Versprechungen gelten. Wir unternehmen es, Euch mit Männern und Geld zu unterstützen, und tut Ihr dasselbe, wenn Ihr Euer Erbe angetreten habt.« »Wieviel Geld, wie viele Leute kann eine Partei ohne Kopf aufbringen? Wie lange, bevor Ihr bei Euren Versuchen, beides zu beschaffen, alle ins Exil geschickt seid?« erwiderte Trebor rauh, Enttäuschung wie Messing im Mund. »Ferner, was wird meine Hilfe Euch nützen? Denn in Linllallal kann keine Frau, und sei sie noch so hoch von Rang, Autorität erlangen. Wie könnt Ihr dann hoffen, mich zu entschädigen? Nein, nein, Ihr müßt mit einer anderen Partei um Euren Thron zusammengehen.« »Wir haben diese Dinge bedacht, guter Herr«, sagte der Adlige ungeduldig. Er zögerte und versuchte seine Sprache zu mäßigen. »Die Lösung ist die Einfachheit selbst, wenngleich nur die Macht Eurer Lordschaft sie ermöglicht . . .« Aber seine Entschlossenheit erlahmte, und seine Stimme folgte nach. Er warf einen Seitenblick auf Ozzyman. Der Wahrsager war nicht von Gute Laune. Ein Wanderer, der viele Jahre im Hochland verbracht hatte, hieß es, fastend und meditierend, ein Mann ohne Rasse; er war durch Amballa gekommen und hatte Trebors Vater viele gute Ratschläge erteilt, die alle nutz12
los gewesen waren. Der vertrocknete kleine Mann räusperte sich. »Bedenkt, meine Herren und Meister, die Zustände von Amballa und Linllallal. In dem einen Land haben wir eine Oligarchie hervorragender Kaufleute, in die beiden Parteien der Vorbeuger und Murrtonier gespalten, zu seiner Verwirrung und Unordnung. Im anderen haben wir einen irren König, dessen Launen diese Neigungen zu Parteienbildung und Auflösung, wie sie allen Thronen eigen sind, noch verstärken. Was beide Nationen am dringendsten brauchen, ist eine starke, zentrale Autorität, um Parteien und Cliquen zurechtzuweisen und alle Wege und Straßen neu zu ordnen, innerlich wie äußerlich. Und solche Autorität war in beiden Nationen tatsächlich im Entstehen: Vion und seine Gruppe in Linllallal, und Sirrom der Träger, Panarch von Amballa und Kommandeur der Vorbeuger.« . Trebor bewegte sich unruhig. »Sosehr ich diese Erinnerung auch ehre, mein Vater Sirrom trug den Beinamen zu Recht; gewiß hat er kein Fundament für starke Autorität errichtet, mit seinem Mysteln und Mummen und Erkunden des Unsichtbaren Reiches.« »Ah, er hat weiser gebaut, als Ihr ahnt. Denn ich sage Euch, er hat Verbündete von nicht geringem Gewicht gewonnen, so unsichtbar sie sein mögen.« »Ja, und Feinde von größerem Gewicht und viel größerer Substanz: nämlich die Pramantiner des Morgengrauens, möge Anda sie verrotten lassen. Sie waren es, meine ich, die die Murrtonier auf mich gehetzt haben – dieselben Murrtonier, die mir vom Hungerstein gefolgt waren. Aber seht zu, bevor sie sich auf uns stürzen.« »Ihr glaubt mir also nicht, wenn ich von unsichtbaren Verbündeten spreche«, sagte der Wahrsager trocken, ohne die Unruhe der Adligen von Linllallal zu beachten. »Aber hat Euer Vater nicht die Wache der Behutsamen Meditation beendet – erfolgreich?« Trebors Hand glitt zu seiner Tunika; er unterdrückte die Bewegung sofort, aber das Siegel der Wache lag schwer auf seiner Brust. »Was meint Ihr – erfolgreich ?« fragte er argwöhnisch und starrte den Wahrsager im flackernden Feuerschein an; sein eigenes Gesicht war durch die Leuchten hinter den Edelleuten ganz entblößt. 13
»Er schien ganz derselbe zu sein wie zuvor- intelligent, weise, aber weltfremd wie nur je. Gewiß hat er keine seltsamen Kräfte erworben oder auch nur seinen Geist stärker in den Griff bekommen, wie sein nachmaliger Sturz von seinem Schanschid bewies.« »Ihr begreift die Bedeutung der Wache der Behutsamen Meditationen nicht-nicht jeder kann seine Gedanken drei Tage und zwei Nächte der Schlaflosigkeit von einer Sache fernhalten, sobald diese Sache bewußt vor das Denken geführt wurde.« Die Edelleute von Linllallal starrten ihn jetzt an, selbst Viani, die den Blick abgewendet hatte. Sie wirkten noch unbehaglicher als Trebor, der an jede Art von Mummenschanz und Hokuspokus nur halb glaubte. »Aber zu unseren Herzgängen: Wie ich eben sagte, brauchen beide Nationen, Linllallal und Amballa, eine starke zentrale Herrschaft; beide Nationen waren dabei, sie aufzubauen; in beiden Nationen ist dieses Ziel vernichtet; wir hier vertreten diese enttäuschten Hoffnungen. Obwohl wir nach außen hin von zwei Nationen sind, die sich nicht überfreundlich betrachten, sind wir hier gleich und sehen dieselben Sterne. Was könnte natürlicher sein als ein Bündnis? Liegt es nicht nahe, daß, was gebraucht wird, eine starke Autorität über beide Nationen ist? Denn es sind nur Eure unablässigen Kriege und Rivalitäten, die Euch beide daran hindern, Nord-Iréné zu beherrschen. Gemeinsam könntet Ihr Eure Söhne auf den Weg zur Herrschaft über ganz Aera führen.« Trebor atmete aus und sah die Linllallalaner an. »Die Vision eines Wahnsinnigen oder Mystikers! Mit dem Schicksal plappert man nicht. Selbst die Zusammenführung unserer Nationen ist ein ehrgeiziger Plan. Wenn«, fügte er hinzu, »das überhaupt erreicht werden kann; eine überaus problematische Sache.« Ozzyman lächelte, und Viani blickte betont zur Seite. »Nicht so schwer, gar nicht so schwer. Eine Methode wie Euer Panarch und Anarch wird die Rechte beider wahren. Was die Vereinigung unserer Streitkräfte angeht, so ist das am einfachsten: Eine einzige Hochzeit wird genügen. Wir sprechen daher für Vion an diesem Tag seines Todes und bieten Euch den Körper seiner 14
Tochter, ihre Hand und unser Herz in diesem unserem gemeinsamen Unternehmen. Was meint Ihr?« Trebor hielt wieder den Atem an und starrte auf das Mädchen. Alle Adligen beugten sich vor und betrachteten ihn durchdringend. Viani blickte ins Feuer, ihr Gesicht war halb im Schatten. Trebors Empfindungen waren zunächst die einer schrecklichen Verlegenheit. In Amballa suchten die Männer sich ihre Frauen – oder Frauen ihre Gatten – selbst, aber er wußte, daß bei einer vereinbarten Hochzeit die Betroffenen an den Verhandlungen durchaus nicht teilnehmen sollten, noch sollte einer davon ein Angebot machen oder annehmen, und sei es nur formell. Sein Unbehagen galt in erster Linie dem Mädchen; sie wurde verheiratet, wie man einen Sklaven verkauft. Dann entstand eine Falte zwischen seinen Brauen, als er den Vorschlag überdachte. Anda wußte, daß es für ihn schwer genug werden würde, die Murrtonier niederzukämpfen; sie waren während der Amtszeit seines Vaters als Panarch sehr stark geworden, und nun mußte er mit der unbekannten Macht und dem Gewicht des Kults vom Aufbruch fertig werden. Niemand wußte, was den Kult gegen Sirrom aufgebracht hatte; mutmaßlich hing es mit seiner Mystologie zusammen. Das, verbunden mit dem allgemeinen Nachlassen der Geschäfte in den letzten zehn Jahren, würde die Wahlmänner zu den Murrtoniern überwechseln lassen. Ihre langanhaltende Machtlosigkeit hatte sie grimmig gemacht; es war von Verbannung die Rede, von Hinrichtung. Aus diesem Grund hatte Trebor auf Unterstützung durch Linllallal gerechnet, auf Geld, im Notfall auf Söldner. Da es ihm an Mitteln für Bestechung mangelte, konnte er nicht einmal eine Spaltung in seiner eigenen Partei verhindern. Manche würden sich dem dicken, vorsichtigen alten Yrral anschließen, dem derzeitigen vorläufigen Nachfolger. In einem halben Jahr fand die Wahl statt: Wenn er nicht einmal seine eigene Partei auf sich eingeschworen hatte, mochte das Exil oder sogar Tod für ihn bedeuten. Und die Vorbeuger allein würden im besten Fall stark genug sein, ihm das Amt des Anarchen einzubringen. Ein Leben lang den bedrückenderen Erlassen des Panarchen zu widersprechen und be15
müht zu sein, eine zerfallende Partei zusammenzuhalten, behagte Trebor nicht. Aber es verstand sich von selbst, daß Vions – Vianis – Clique hilflos war. Sie hatte nichts anzubieten und würde ihn nur behindern. »Mit einer leeren Börse zu prahlen, ist soviel, als trinke man auf leeren Magen«, sagte Trebor, ein Sprichwort Amballas zitierend. »Euer Plan sticht ins Auge, aber er muß scheitern. Wir sind zwei geknickte Halme; wir können einander nicht aufrichten. Keiner von uns besitzt ein festes Fundament; unter unseren Füßen schwankt alles. Es betrübt mich sehr« – mit einer höflichen Verbeugung an ihren finsteren Gesichtern vorbei –, »eine so schöne Maid zu enttäuschen, aber ich fürchte, ich kann Euch mit meinen halb zerstörten Hoffnungen nicht belasten.« Dabei erschien sie ihm eher zur schmalen, kalten, mürrischen Art gehörig. »Sprecht nicht so hastig, wir bitten Euch«, sagte Ozzyman, mehreren der finster blickenden Adligen zuvorkommend. »Schlaft darüber; bedenkt es. Vergeßt nicht, daß Euer hoher Vater die Hilfe von Verbündeten gewonnen hat, von denen Ihr nichts wissen könnt.« Trebor sah ihn scharf an, die Lippen zusammengepreßt; warum kam der Wahrsager immer wieder auf dieses Thema zurück? Die Linllallalaner jedenfalls hielten nichts davon. Aber er sagte: »Zur Übereilung besteht gewiß kein Grund. Ich werde lange und gründlich nachdenken, bevor ich endgültig antworte, aber es läßt sich nicht bestreiten, daß einer so glücklichen Vereinigung Hindernisse im Wege stehen.« Die Linllallalaner ließen ihn ohne weiteren Widerspruch gehen. Viani fuhr fort, ins Feuer zu blicken. Im Vorraum sprach Trebor mit einer der Wachen über die Gruppe mutmaßlicher Murrtonier, die ihm den ganzen Tag gefolgt waren. »Wenn sie nicht in der Scharte östlich der Stadt ihr Lager aufgeschlagen haben, müßten sie jeden Augenblick hier sein.« »Wenn sie nicht wußten, wo wir uns treffen wollten, können sie in dem alten Steinhaufen die ganze Nacht suchen«, sagte der andere. »Wir werden jedoch Ohren und Hirne für ein Anzeichen von 16
ihnen offenhalten. Seid versichert.« Trebor war ihrer Wachsamkeit durchaus nicht sicher, erwiderte aber nichts mehr. Man führte ihn in einen Raum, und er entrollte seine Schlafpelze und streckte sich aus, während er sich nach einem Bad sehnte. Sein Schwert legte er griffbereit neben sich. Als er erwachte, geschah das mit einem Gefühl des Erstaunens darüber, daß er fähig gewesen sein sollte, zu schlafen, und der Empfindung, daß viel Zeit vergangen war. Dann nahm er die Emanationen eines Eindringlings wahr. Seine Hand zuckte zum Schwertknauf. Es kam ein scharfes Zischen, und er ließ es sein; seine Nase hatte den Duft von Parfüm aufgefangen, obwohl ihr Denken so abgeschirmt war wie das seine. Hinter seinem verbissenen Gemüt und Mund begann sich grimmiger Humor zu entfalten. »Ihr seid gekommen, um bei mir zu bitten?« fragte er flüsternd. Ihr Atmen und ihre Emanationen verrieten wachsame Spannung, trotz ihrer strengen Beherrschung. »Ich dachte«, antwortete sie schließlich flüsternd, »daß wir uns selbst miteinander verbinden sollten, wie es bei Euch üblich ist, ohne Mittelsmänner, die unsere Worte durcheinanderbringen. Ich halte es sogar für einen Fehler, im voraus über die Einzelheiten zu verhandeln; das führt uns nur auseinander. Wir wollen uns lediglich darauf einigen, zusammenzustehen, Mann und Frau, Clique und Partei, uns dann vereinigen und es damit gut sein lassen. Später können wir über Einzelheiten, Wege und Mittel sprechen. Und Cire wird uns am Morgen trauen.« Trebor behielt die Starrheit bei und sagte: »An welche Einzelheiten, Wege und Mittel denkt ihr? Denn so, wie es steht, kann meine Partei Eurer Clique keine Hilfe bieten, noch Ihr der meinen.« Viani glitt an seinem hingelagerten Körper entlang und beugte sich herab, um ihre Worte in sein Gesicht zu hauchen, neben ihm nicht ganz ausgestreckt. »Zumindest für uns gibt es keine Hoffnung außer der Gewalt. Wir haben unsere unteren leicht aufgereizten und ebenso leicht unterdrückten Klassen. Ihr habt die Euren. Was sagt Ihr?« und sie schob einen Arm um seinen Hals und drückte sich heran. 17
Sie hatte keine Chance. Trebor erwiderte trocken: »Eure einzigartige Methode des Heiratens ist gut, aber sie hängt allein von der Fähigkeit der Beteiligten ab, einander zu ertragen – was Ihr vorschlagt, ist keine bloße Formalverbindung, sondern eine funktionierende Partnerschaft.« »Ach, das bringt keine Schwierigkeiten«, sagte sie. Ihre Lippen streiften sein Ohr, aber sie hielt ihr Denken starr verschlossen. »Als ich Euch das erste Mal sah, wußte ich, daß es für uns keine bloße Formalverbindung geben kann, wenn Ihr mich nur ertragen könntet. Es war lange meine Furcht, daß ich einem meiner eigenen Stadt und Stellung angetraut werde, um die Tage soviel wie eingesperrt zu verbringen. Lieber eines Bauern Frau!« Entweder verriet ihn seine mangelnde Reaktion, oder seine geistige Kontrolle setzte für einen Augenblick aus und ließ sie seine ironische Stimmung erkennen. Wenn sie ihr Gemüt geöffnet und ihn mit ihrem Begehren überflutet hätte, wie bei einer Verführerin das ganz natürlich gewesen wäre, hätte sie durchaus Erfolg haben können – und am Morgen wäre er verheiratet gewesen. Sie hatte viele Zeugen, er keine. Aber sie hielt ihre Gedanken vorsichtig vor ihm verschlossen, bis sie seine Gefühle begriff. Dann durchflutete sie Zorn; er spürte, wie sie erstarrte, spürte das heiße Gewirbel ihres Zornes. Sie verlor für einen Augenblick ihre Beherrschung und schlug sogar zu. In diesem Augenblick verlorener Kontrolle, während er den Kopf von ihrer Faust wegriß, fühlte er ihren Zorn darüber, daß sie sich etwas vorgemacht hatte, ihren Zorn auf ihn, weil er sie getäuscht hatte, und echte Trauer und eine Empfindung des Verlustes, die ihn erstaunten. Es war nicht so sehr das Begehren nach seinem Körper, das sie bewegte, dachte er, als ein mächtiger Wunsch, sich in Gleichheit einem Mann hinzugeben, neben dem sie marschieren und kämpfen konnte. Sie fuhr hoch und verschwand. Sein Kopf dröhnte von ihrer Wut; er konnte sich nicht erinnern, ob sie laut aufgeschrien hatte oder nicht. Er stand vorsichtig auf und zog sein Schwert, aber niemand kam. Nach einer Weile legte er sich angespannt wieder hin. Würden sie bei ihrer frechen Behauptung bleiben und ihn zur Heirat zwingen? Er verfluchte seine Dummheit, sich in ihre Gewalt begeben zu haben. 18
Die Zeit verging. Trebor sprang auf, das Schwert in der Hand, als er Geschrei und Laufschritt hörte. Licht schimmerte, wurde heller; man trug es im Sturmschritt auf ihn zu. Ein Adliger aus Linllallal stürzte um eine Ecke, die magische Leuchte in der Hand, und schrie Trebors Namen. »Was wollt Ihr?« »Eure verfluchten Wie-nennt-Ihr-sie aus Amballa haben die Prinzessin entführt! Kommt schnell!« Zorn und Enttäuschung strömten aus seinem Gemüt. Trebor zog sich hastig an, schlüpfte in die Reitstiefel und lief hinter dem Licht her. Als sie in den Friedhof stürmten, übertönten Gedankenrufe an Schanschids, Schreie und Gebrüll, das Trampeln von Stiefeln fast das ferne Stolpern von Schritten. In der Nähe klangen Rufe auf, Stahl klirrte, und die Linllallalaner rannten hinüber, um auf die Amballaner einzuhauen. Drei Männer hielten eine enge Straßenmündung, geschickte Fechter. Andere hinter ihnen hielten Schanschids fest. Die Linllallalaner trugen ziemlich kurze, breite Schwerter; bei ihnen wurde zumeist mit der Klinge geschlagen. Trebor zwängte sich vorbei, sein eigenes langes, schmales Schwert in der Hand. Dieses Schwert bestand aus einem Metall, das nie verwitterte, das so hart war, daß bei jedem Schleifen ein ganzer Großstein verbraucht wurde, was nicht jede Lebensspanne einmal vorkam. Es besaß einen breiten Knauf und ein breites Stichblatt, aber die Klinge davor war nicht so breit wie Trebors Kleinfinger, obwohl keiner sie zerbrechen konnte. Die Pramantiner des Aufbruchs hatten erklärt, es sei im Stil des Ersten Irenischen Reiches gehalten, was eine Nachahmung der Stile der Überreste aus dem Sonnenreich in den großen, alten Tagen des Aufbruchs, der Älteren Welten, des Zeitalters der Gnade war. Trebor hatte beobachtet, daß es in einem Grad abgenutzt wurde, der ein Alter von mehr als zehntausend Jahren überaus unwahrscheinlich erscheinen ließ, weniger als das seit dem Dritten Imperium; aber die Klinge konnte natürlich zehnmal so lange in irgendeiner alten Ruine gelegen haben. Der sich schnell bewegende Silbermond, im Morgengrauen hervorgebracht, war aufgestiegen und warf jetzt kaltes Licht auf die Alte Stadt. Hier war es gemildert zu Rosenfarbe und blassestem 19
Rosa, im Einschnitt der Gasse vertiefte es sich zu blutrot-schwarzer Düsternis. Trebor zwängte sich an Linllallalanern vorbei und griff mit Sprung und Stoß an, parierte, hieb Funken aus einer feindlichen Klinge. Die Linllallaner sprangen ihm nur zögernd bei, und zwei von den Gegnern taten sich gegen Trebor zusammen und trieben ihn an die Seitenmauer zurück. Das entblößte ihre Flanken jedoch den Kurzschwertern der Linllallalaner, und sie wichen gerade noch zur rechten Zeit. Trebor hätte sie, da ihm Platz für die Beinarbeit fehlte, nicht lange hinhalten können. Nun sprang er wieder zum Angriff vor, als sie vor den Linllallalanern zurückwichen, und durchbohrte beinahe einen von ihnen. Das reichte ihnen. Einer der Reittierhalter drängte vor, während die anderen zurückwichen. Er deutete über ihre Schultern. Trebor warf sich hin, einen Augenblick, bevor die Nacht in der Gasse von einer blau-gelben Flamme und einem Knall zerrissen wurde, als klatsche man an den Ohren eines Mannes die Hände zusammen. Ein schwächerer Knall, und über ihnen ein langgezogenes Heulen. Die Linllallalaner traten den Rückzug an, nicht schreiend, Wachsamkeit, aber keine abergläubische Furcht ausstrahlend. Trebor blieb liegen, Schauer am Rücken, aber unter strenger Kontrolle. Gewiß besaßen sie noch einen Zauberstab, oder einen mit zwei Röhren. Wenn die Murrtonier ihn in der Dunkelheit erkannten, würden sie alles riskieren, um ihn zu töten. Aber der andere Donnerball wurde für den Extremfall aufgespart, und als die Schwertkämpfer ächzend aufstiegen und ihre Tiere brummten, huschte Trebor zur Gasse hinaus. Es gab nichts, was sie tun konnten, außer hilflos dabeizustehen, als ihre Gegner davonritten. Sie versammelten sich im Friedhof unter dem Silbermond. Inmitten der unbekannten Grabstätten vergessener Menschen, die ihre hellen, gehetzten kleinen »Jetzt«-Zeitalter verlebt hatten, bevor dieses »Jetzt« und seine hellen, gehetzten kleinen Menschen geboren worden waren, stritten sie sich. Die Linllallalaner waren wütend und schrien einander Befehle zu Verwünschungen zu. Niemand war verwundet, und das schien sie noch mehr aufzubringen. 20
»Sie sind mit ihr westwärts geflohen«, kam die Meldung. »Nun?« fauchte ein Adliger mit Narben im Gesicht seine Begleiter an. »Was tun wir jetzt?« »Ihnen nach, ihnen nach!« rief einer. »Tötet sie und holt die Prinzessin zurück!« »Und wenn man sie niedermacht?« Ein unbehagliches Schweigen. »Ich sage, mit Gewalt können wir sie nicht befreien«, erklärte der mit dem Narbengesicht. »Was schert diese Amballaner einer von uns? Wir können sie auch nicht auslösen. Vielleicht vermögen wir sie mit List zurückzuholen. Aber am wahrscheinlichsten ist, daß sie unser Bündnis mit den Vorbeugern und unsere Absicht, sie mit dem Kommandeur-Erben zu verheiraten, publik machen.« Wieder Schweigen, und ein paar warfen Seitenblicke auf Trebor. Es war für sie alle ausgesprochen unangenehm. Wenn das verbreitet werden sollte – war das Hochverrat. Sie würden alle zu Tode gefoltert werden. Einer der niedrigeren Adligen räusperte sich. »Diese Murrtonier sind Amballaner. Ihre eigenen Feinde sind ihnen gewiß von größerer Bedeutung. Sie werden die Prinzessin über ihre Genossen in Linllallal nicht zu streng ausfragen. Wenn sie es nicht tun, wer will sagen, wer wir sind? Das heißt, wenn wir sofort nach Hause zurückkehren, damit niemand behaupten kann, wir wären abwesend gewesen, als die Prinzessin entführt wurde.« »Unehrenhaft«, murmelte jemand. »Vion ist tot«, sagte ein dicker Edelmann nervös. »Seine Tochter ist nur ein Mädchen. Welche Ehre bringt der Kampf für ein Mädchen, das uns im Kampf nicht führen, das nicht über uns herrschen kann – das wir trotz all unserer Mühe nicht emporbringen können?« »Was sagt Ihr, Mann von Amballa?« »Reiten wir ihnen nach«, erwiderte Trebor sofort. »Entweder wir holen sie zurück, oder sie stirbt – in beiden Fällen sind wir gesichert.« »Unehrenhaft! Den Tod von ihr herbeizuführen, der zu folgen wir geschworen haben! Nein –« Aber der mit dem Narbengesicht sah Trebor plötzlich an. Er schwieg einen Augenblick, dann sagte 21
er: »Aber wenn dieser Amballaner, der keinen Eid geschworen hat –« Ein eifriger Chor der Zustimmung wurde laut. »Haltet Ihr mich für einen Dummkopf? Ein Mann gegen acht oder neun –« »Ah, aber sie sind Eure Landsleute. Vielleicht könnt Ihr sie betrügen. Außerdem«, fügte er aufgebracht hinzu, »wenn Ihr nur den Witz und das Herz gehabt hättet, unseren Vorschlag von gestern abend anzunehmen, wäre das alles nicht geschehen.« Trebor fuhr wütend auf, die Hand am Schwert. »Ihr kotzbärtigen Bauern, bemüht, mich zu binden, ob ich will oder nicht – das war alles eure Schuld! Denkt ihr, diese verdammten Schinsche haben sie euch unter den schlafenden Nasen weggestohlen ? Nein, sie ist im Zorn über eure heimlichen Methoden hingegangen und hat sich ihnen selbst überantwortet; wie sonst könnten sie gewußt haben, wo wir waren?« Es wurde still, und sie sahen einander an. Sie gaben es stillschweigend zu, wie Trebor es an ihren Mienen und unbeherrschten Emanationen leicht ablesen konnte. Die Prinzessin hatte sich unter den Zügeln schon lange aufgebäumt. Der Dicke begann zu sprechen: »Um Amballa von hier direkt zu erreichen, muß man die Schimmernden Schuns durchqueren. Vielleicht kann der Kommandeur-Erbe die Dunliner dazu überreden, ihn zu unterstützen. Wie Ozzyman sagte, Euer Vater hat Euch Verbündete gewonnen, von denen Ihr nichts wißt.« Trebor verzog verächtlich den Mund, aber der Narbengesichtige sagte scharf: »Wenn wir in Linllallal festgenommen und gefoltert werden, behaupten wir, daß Ihr den Vorschlag angenommen und gestern abend unsere Prinzessin geheiratet habt. Wer würde je einen Mann achten, der nicht einmal in seiner Hochzeitsnacht den Entführern seiner Frau nachreitet?« Diese Drohung traf Trebor tiefer, als er es zugeben wollte; die Männer von Amballa waren auf ihre Männlichkeit tödlich stolz. »Wir geben Euch zwei Ersatz-Schanschids«, sagte der mit dem Narbengesicht, der seine Empfindungen wahrgenommen hatte. »Schickt sie an dieselbe Adresse wie zuvor, aber im Wechselcode, wenn Ihr sie zurückgeholt habt. Und wir schärfen Euch streng ein, 22
nichts zu tun, was das Leben der Prinzessin gefährdet.« Aber das war eine Formalität, um sein Gewissen zu salvieren: Sie arbeitete mit den Murrtoniern zusammen; es mochte sein, daß er sie würde töten müssen. Die kalte Mattheit des Silbermondes erwärmte sich in Rosenwein. Die erste Röte der Morgendämmerung schien an den Kristallwänden auf allen Seiten aufzuglühen. Das Grün des Friedhofs auf der einen Seite war im Gegensatz dazu fast schwarz. Trebor machte seine Reittiere in einer Schale von rosen-violettem Licht unmittelbar neben dem Friedhof bereit. Zwei befestigte er mit Schleppseilen am Sattel hinter sich, er riß wild an den Stricken und murmelte Unnötiges vor sich hin. Auf der anderen Seite dieses Platzes stand eine einstmals riesige Statue, die trotz ihres edelsteinharten Materials jetzt zu nicht mehr als Mannsgröße verwittert war. Sie hatte einmal den größten Krieger, den größten General seiner Zeit dargestellt. Sie funkelte durch den rosen-violetten Nebel zwischen ihnen, als billige sie diese verzweifelte Unternehmung oder mißbillige die weibische Schönheit, die sie umgab. Ein Mann der damaligen Zeit hätte den Mann in der verwitterten Statue augenblicklich erkannt. Nicht umsonst hatten spätere Geschichtsschreiber ihn »Absolutum« getauft. Er hatte einen riesigen gebrochenen Zinken von Nase besessen, auf den er in obskurer Weise stolz gewesen war. Die Statue war jedoch zu einer Zeit errichtet worden, in der die Menschen die nackte Wahrheit für obszön gehalten hatten, sie deshalb lieber verbargen in perlweißem Dunst, so daß sie retuschiert worden war, aber irgendeine Laune der Verwitterung hatte das absurde Ungetüm wieder hervortreten lassen. Weder Mann noch Statue noch Trebor wurden bewegt von der Schönheit der Alten Stadt, die zärtlich herabblickte, oder dem Gedanken, daß diese Stadt von Menschen der legendären Stadt des Wundersamen Lichts selbst entworfen worden war und nur von ihnen stammen konnte. Als Trebor fertig war, ritt er ohne einen Blick nach hinten davon, zu aufgebracht, um die schwimmenden Veränderungen von Farbe und Licht um sich herum wahrzunehmen. Er bewegte sich durch das Herz eines Juwels, einer Blume, jetzt durch die rosen-violette 23
Schale des Platzes, nun eine rauchig-blutrote Promenade entlang, dann durch einen zart-rosa Park, wo die Wirkung bewegten Lichts und seiner Farben unbeeinflußt blieb von der kümmerlichen Vegetation, die hier zwischen unbehauenen Granit-Pflastersteinen, gelegt von Nomaden, hervorguckte oder dort sich durch Sand empormühte, den zahllose Winde und Stürme in alte Parks verweht hatten. Während des Reitens marschierten am Stadtbild Gebäude weiter von ihm davon; zwischen wabernden, schlanken Türmen gleich Bäumen tauchten Kuppeln auf. Nun war er von einem Gleißen rosig-weißen Lichts von irgendeiner breiten, gewölbten Fassade über eine freie Fläche hinweg beleuchtet; dann umschloß und umhüllte ihn kühle, blutrote Düsternis. So viel rotes Licht hätte schmerzende Augen und blau-grüne Nachbilder erzeugen sollen, aber dem war nicht so. Die Schatten und Unterbauten waren im Gegensatz dazu samtig-purpurn; eine beruhigende Zusammenstellung. Und die Oberflächen von Straßen und offenen Flächen waren, wie in der alten Zeit, in kontrastierenden Farben gehalten. Einmal erregte eine umgestürzte Säule Trebors Aufmerksamkeit; er schaute sich um, sah die bekannten Schiefen Türme, die seit dem Morgengrauen Anbruch schief dastanden, aber, so behaupteten die Sennarener des Eldric-Mysteriums, bis zum Ende nicht umstürzen würden. Hier in der Umgebung waren die Mauern milchig von den Spuren der Zeitalter; windverwehter Sand und zahllose Fröste hatten dieses diamantartige Material zerschürft, einen satten Nebel über seine leuchtende Oberfläche gelegt. Trebor brütete nicht über Rhodroras Alter oder Untergang nach, sondern über seine eigenen Fehler, und schwor sich, daß er, sollte er die lockere Prinzessin aus Linllallal einholen, sie als erstes tüchtig verprügeln würde. Am Westrand der Anhöhe, auf der Rhodrora stand, blieb er stehen, um das Feld aus goldenem Nebel mit seinem magischen Auge abzusuchen. Schon verkürzte sich Rhodroras purpurner Schatten, und der goldene Nebel verblaßte zu Silber. Durch ihn sah man Gebüsch, höher, aber nicht von so üppigem Grün wie in der Stadt; hier im Hochland war die Jahreszeit schon zur hohen Trockenheit fortgeschritten. Von Vianis Entführern keine Spur. 24
Grimmig trieb Trebor seine Reittiere an, und die großen, gehorsamen Tiere rollten auf seine lautlosen Befehle hin willig voran. Unter ihren weichen Füßen puffte Staub empor. Wenigstens war es nur Staub. Dreimal tausend tausend Jahre hatte die Alte Stadt das Salz des Schelfs abgebaut, bis es auf Hunderte von Meilen nördlich und südlich geläutert war. Hinter ihm leuchtete Rhodrora brütend in der Sonne, ein Juwel, eine Blume, eine blasse Flamme, eine Königskrone in Rosa und Purpur. Sie achtete auf sein Fortgehen nicht. Welche Lieder hatte er dort gesungen, welche Taten dort getan, um eine Spur an Mauern und Türmen zu hinterlassen, die von den flüchtigen Jahren der Zeit so wenig berührt waren? Wie konnte er hoffen, auf eine Stadt zu wirken, die den unsterblichen Ruhm ihrer Erbauer und jener Großen überlebt hatte, die danach gekommen waren, immer und immer und immer wieder? Sie war viel zu alt, um von einem so kleinen Insekt wie einem Menschen berührt zu werden. Aber mit all ihrem Alter und ihrer Schönheit hatte auch sie ihn nicht verändert.
2
Alte, vertrocknete Gebeine Das Land fiel vor Trebor ab wie der Rand der Welt. Unter seinen Füßen, so schien es, lag das Tiefland von Iréné eine Meile darunter. Nicht der mächtigste Bogenschütze mit dem stärksten Bogen hätte einen Pfeil in die wirren Vorberge am Grund der Hochland-Steilwand schießen können; so steil war sie und so hoch, daß sie vertikal wirkte. Tiefländer wie Iréné bedecken drei Viertel von Aera. Hinter ihm lag Rhodrora, ein Edelstein von leuchtendem Rose, gerade unter dem Überhang der purpurnen Berge dahinter. Bis auf das Schelf kg nichts als dörrender Tod hinter ihm; die Hochländer waren die trockensten aller Wüsten und brachten nichts hervor als gewaltige Staubstürme. Das Leben existierte allein in den Tiefländern. 25
Iréné schien nicht zu lächeln. Vor ihm lag die glitzernde Salz wüste der Schimmernden Schuns, ein alter Meeresboden; weit draußen auf ihr war ein grellfarbenes Segel zu sehen. Hundert Meilen südlich davon, bei Gamelumes, wichen die Schuns der höheren Sandwüste des Dünenlandes. Im Norden verloren sich die Schuns hinter den Sümpfen von Paish in Wüstenhügeln. Westlich von Trebor, auf der anderen Seite der Schuns, zog sich der Spalt von Darkling Fell dahin; dahinter die Sandwüste der Überberge. Jenseits davon, durch das Tal Shamsund, floß der große Strom Annas Annanda. Auf ihm, halb zwischen dem Zittersumpf im Süden, wo er mündete, und dem Ursprung im Arktischen Marschland im Norden, lag die stolze Handelsstadt Amballa. Südwestlich von Amballa ergoß sich der Fluß Annas Vallanda in den großen Strom, floß durch das stark bewässerte Tal von Lin Llallal, beinahe so fruchtbar wie Shamsund, dieses verrückte Konglomerat winziger Königreiche. Noch weiter südwestlich lag das schöne Land Aetha, letzter Vorposten der Zivilisation, ja, des Lebens selbst, in Iréné. Vor hunderttausend Jahren, nach den zehnmal längeren Dunklen Zeitaltern, hatten die Goldenen Imperatoren die Vereinigung von Iréné erkämpft, Teile eingeschlossen, die jetzt zur Wüste geworden waren. Damals hatten der große Zittersumpf und der Hackmatack-Wald südlich davon unter den Wassern der Stacienndanien von Aera gelegen: dem letzten Salzmeer der Erde. Nun wurde Nord-Iréné nur noch vom Schmelzwasser des arktischen Eislandes bewässert, Süd-Iréné überhaupt nicht mehr. In jener Zeit waren die Händler über das Ferne Faringland nach Süd-Iréné gekommen, und nach Südwesten über das schöne Aetha und das Bitterland zum reichen Tiefland von Favonia. Nach Norden zogen sie über das Eisland ins schmale Tiefland Aléné. Nach dem Untergang des Ersten Irenischen Reiches ging dieser Handel unter, bis auf den nach Norden. Auch dieser ging mit dem Zweiten Reich zugrunde, und als sie im Dritten, vor über fünfzehntausend Jahren, ihn wieder aufzunehmen versuchten, fanden die Händler in Aléné nur eine riesige, leblose Wüste. Nun kamen die Händler nicht weiter nach Norden als bis zu den Schmelzwasser-Sümpfen, wo Ungeheuer vom Stamm der Fursees 26
leben, die auf dem schrumpfenden Eis Fingais einander jagen, als Nahrung, und um Felle zu verkaufen. Iréné lag jetzt in purpurnem Schatten. Trebor brütete eine Weile davor und sah keine Spur von seinen Feinden. Er war von der harten Reise sehr erschöpft. Mit dem Schiff war er den Annas Annanda zum Zittersumpf hinabgefahren, vorgeblich der Wildvögel wegen. Von dort aus hatte er das Schiff über die Südlichen Schuns nach Gemalumes genommen, wo er das Wandland erklettert hatte, über Hungerstein und den Weg der Adler hundert Meilen nach Norden reitend – drei Tage Reiten. Die faulen Linllallalaner, dachte er, waren an den Sümpfen der Wens unter der Wand langsamer nach Norden geritten. Wenn Trebor sich nicht verspätet und diesen Weg genommen hätte, wäre er den Murrtomern dort in die Hände gefallen. Hier stand er in der Sonne, aber Iréné unter ihm lag bereits tief im Schatten. Den ganzen Tag hindurch hatte er die Schanschids abwechselnd geritten, so schnell sie laufen konnten. Seine Gegner hatten noch schnellere oder ausgeruhtere Tiere. Trebor hatte sie den ganzen Tag nicht zu Gesicht bekommen, noch konnte er sie an der Wand hinuntersteigen sehen. Nur zweimal hatte er Staub bemerkt. Es war ohnehin nicht seine Absicht gewesen, sie einzuholen, bevor es dunkel wurde; er wollte ungesehen in ihrer Nähe sein. Er war meist in tief eingeschnittenen Rinnen geritten, um ihren magischen Augen zu entgehen. Er warf die Sättel auf den Boden und sich darauf. Am Morgen kehrten die Schanschids zurück, gerade als Trebor sich mühsam aufraffte, mit Beinen wie aus Holz. Er kaute in der nebligen Vordämmerung ein wenig Salzfleisch, stellte mit schiefem Mund fest, daß sich über dem Schelf Wolken hochtürmten, und schloß daraus sowohl auf Regen als auch auf einen starken, warmen Aufwind am Wandland. Er sattelte schnell die Tiere und ritt an der Wand entlang zur nächsten Rampe. In der Frühsonne gleißten die Schuns; die hügeligen Wens lagen noch tief im Schatten. An der Wand vom Hochland hinunter führten seitwärts Rampen abwärts. Manche waren in den Tagen des Ersten Irenischen Reiches angelegt worden und inzwischen zu trockenen Wasserläufen ausgewaschen. Andere waren Wasserläufe, grob zu Rampen 27
zurechtgemacht von Nomaden, die vor dem Dritten Imperium auf dem damals noch bewässerten Schelf gelebt hatten. Für Trebor sahen sie jetzt alle ungefähr gleich aus. Seine Schanschids schauten über den Rand hinunter und zögerten, stiegen aber auf sein Antreiben hintereinander vorsichtig hinunter, ein Leittier voraus. Unter Trebors rechtem Ellbogen lag Leere. Er saß unverkrampft und tarnte seine eigenen Bedenken, damit seine Schanschids nicht in Panik gerieten. An manchen Stellen war der Weg viel breiter, an vielen U-förmig zu einem Kanal ausgeschnitten, für sie aJle sehr beruhigend. Aber immer wieder kehrten sie an die mitleidslos offene Wand zurück, und der Tod lächelte von unten grün herauf. Trebor fröstelte trotz des warmen Aufwindes im Schatten. Die Schatten der Wolken über ihm lagen, fern im Westen, auf Irénés weißen Dünen. Das Wolkenband am Himmel folgte dem Wandland schlangenartig nach Norden und Süden bis außer Sichtweite. Hier und dort, vor allem auf dem Schelf, fiel schon Regen. Das Wasser lief zumeist ab. Die Aufwinde des Wandlandes und der Regen, den sie brachten, erhielten die Marsch-Wens auf Tausende von Meilen rund um Nord-Iréné am Dasein. Trebor drängte seine Schanschids zur höchsten, noch sicheren Gangart. Ein Wolkenbauch schob sich hinaus und ließ einen Regenvorhang über ihn fallen, kaltes, giftreines Wasser von den Höhen des Hochlandes. Wasser wurde verschwenderisch an ihm vorbei ausgeschüttet, aber zu trinken gab es nichts. Graue Wasservorhänge senkten sich über Trebor; unter ihm blinkte ihm Iréné sein weißes und gelbes Sonnenlicht in die Augen. Ein Blitzstrahl tauchte den Regenvorhang in Blut, und Donners Knall und Grollen murrte vom Wandland. Wasser rauschte um die Füße der Schanschids, so daß sie abrutschten und vor Angst winselten. Dann wurde die Rampe breit, das Gefälle nahm ab, Bäume und Gebüsch und sogar Gras wurden häufig und dann allgemein. Die Rampe führte von der Wand fort, so daß diese in ihrem Rücken lag, und nun war Trebor trotz des Regens warm von der Hitze des vormittäglichen Tieflandes. Trebor wischte sich das Gesicht ab und hob den Kopf. 28
Die Wolken zerstreuten sich schon. Die Wand des Hochlandes war ein riesiges, abstraktes Wandgemälde, ganz in stumpfen Steintönungen. Hier war eine vertikale Wandfläche, dort ein seltsam geformter Absturz, da Linien mit ein, zwei Bäumen, gleich Gebüsch an ihnen aufgepunktet, hier kühne Felsauswüchse – grau, schwarz, nach unten zu grau-blau, weiter oben mehr zu Rot und Gelb neigend –, alles wahllos in sämtliche Richtungen abfallend, aber in sich zurückführend. Die Rampe wurde jetzt zu einem Dammweg, pfeilgerade, genau nach Westen führend, über einen uralten, ausgedehnten Hügel. Die Wens bestanden aus wirren Steinhügeln, die durch die hämmernden Wellen Ozean-Irénés in den hohen und fernen Tagen, als dieses mythische Meer das ganze Tiefland bedeckt hatte, aus der aufragenden Wand gehauen worden waren. Nun waren die Hügel mit bärtigen, uralten Bäumen bestanden, die Täler dazwischen mit heimtückischen Mooren und Sümpfen voll Hummer und Trokkenland-Fisch ausgefüllt. Über den Wrens flogen Gorkrähen, und es hieß sogar, daß noch Gibblins zwischen den knorrigen Bäumen lebten und die Tschurel ihren klagenden Schrei hören ließ. Erscheinungen wurden hier gefürchtet und Gräber gestört. Aber Trebor hörte nichts Tödlicheres als trillernde Frösche. Für Naturgeschichte hatte er auch keine Zeit; seine Feinde waren in der vergangenen Nacht hier vorbeigekommen. Er ließ seine Schanschids in ihrem schnellsten Galopp über den Dammweg eilen. Sie senkten die Köpfe tief, und ihre Beine flogen. Sie waren nach dem steilen Abstieg froh, sich ausarbeiten zu können. Die alte, von den Goldenen Imperatoren als Zugang zu ihrer stolzen Hauptstadt hoch über ihrem Reich erbaute Dammstraße war im Verfall. Sie hatten sie mit Korallen abgegrenzt, um den Wenwold fernzuhalten, aber die riesigen Bäume hatten die Steinmauer inzwischen längst durchbrochen. Jetzt wuchsen Korallen und Bäume zugleich, Pflanze und Tier, an beiden Seiten der Straße und darüber in einem brütenden Tunnel von Dunkelgrün und Braun, grell durchzogen von allen Farben des Regenbogens. Spinnenartige Seesterne huschten über Trebors Kopf und suchten auf Steinästen Muscheln; hundert Arten von Spinnernetzen Netzspinnern legten ihre Fallen aus Seide oder Glas an; Bäume leuchte29
ten schwach im tiefen Schatten. Äste aus Holz und Stein lagen auf der Straße verstreut; die Laubhaufen waren von Schanschidbeinen zerwühlt. Trebor schoß aus dem Wenwold, und der Waldtunnel blieb in einer trockenen Hexenhecke aus toten Korallen zurück. Der Dammweg erstreckte sich vor ihm noch immer meilenweit geradeaus. Immer noch umgaben ihn die durcheinandergewürfelten Hügel der Wens, aber hier waren sie niedriger, und die Täler zwischen ihnen waren tiefe Erde, salzig, aber fruchtbar. Man hatte Felder abgesteckt, die jetzt brachlagen. Mit dem Abflachen der Wens senkte sich das Land neben Trebor, auch die Dammstraße neigte abwärts. Die Schimmernden Schuns fielen hinab zum Horizont. Die Dammstraße endete an einem trockenen Wasserlauf, einer Straße als Kanal für Regenwasser von der Wand; der Wasserlauf seinerseits ging in dürren Busch und hohes, purpurnes Unkraut über. Überall wuchs im Gemisch aus Sand und Salz gelbes Salzgras. Gleich dahinter endete sogar dies in reinem, grau-weißem Salz. Trebor brachte die Tiere zum Stehen und fluchte verzweifelt. Dreizehn Schanschids standen oder lagen in der Umgebung herum. Sie waren halb zu Tode geritten, hatten die Nacht über jedoch rasten können. Das Salzgras war zertrampelt; drei Sandschiffe waren hier gewesen. Trebor starrte ergrimmt in die Schuns. Nichts regte sich. Die Sandschiffe mochten einige Tage gewartet haben. Sein Bauch war kalt. Die Dunlins erlaubten keinem, die Schuns ohne ihre Zustimmung zu durchqueren. Konnten seine Feinde sich die Durchfahrt erkauft haben? Wenn dem so war, mochten die Dunlins auch bestochen worden sein, ihn zu ergreifen oder zu töten. Hinter ihm waren die Wens feierlich still. Nichts regte sich an der Wand. Darüber, wo der Aufwind für Auftrieb sorgte, befand sich ein Flugschiff der verächtlichen Aeroben, eine Fiberglas-Blase, die unter den gegen den Aufwind gekippten Segeln nach Norden unterwegs war. Ganz gewiß wollte man die Handelswege zwischen Paish und Vandamar oder Corflu am Annas Annanda überfallen. Die Linllallalaner traten ohne Zweifel den Rückzug über den Weg der Adler an. Von dort war keine Hilfe zu erwarten. Trebor 30
spürte die Verlockung, aufzugeben. Er blickte nach Süden: Gamelumes war hundert Meilen entfernt. Nach Norden: Paish, früher Paxicum, Hauptstadt des Zweiten Irenischen Reiches, in Ruinen, lag doppelt so weit im Norden. Er konnte, wie so viele, Asyl in Paish oder in den Kleinreichen ringsumher finden, wenn es ihn nicht störte, den barbarischen Dunlins Tribut zu entrichten. Dann stieg seine angeborene Halsstarrigkeit hoch und preßte ihm die Lippen zusammen. Er schickte einen Ruf hinaus, einen gedachten Schrei, der ihm beinahe den Schädel spaltete, und die Schanschids erhoben sich und folgten ihm. Sein Gesicht war entschlossen nach Westen gewandt: Hinaus ging es auf das grobkörnige harte Salz, in einen gleißenden Ofen. Die verkrusteten Dünen unter den Klauenfüßen der Schanschids waren hart. Hier zeigten sie sich von schmutzigem Grau, geädert von Staub, der aus dem Hochland herabgeweht worden war. Zahlreich wuchsen dort Unkraut und Salzgras, was auf beträchtliche Regenfälle deutete. Trebors Kehle wurde von dem starken, scharfen Geruch versengt. Als er auf einer Düne anhielt und sich umschaute, sah er hinter sich ein Schiff, und seine Herzen pochten, ein-en, zwei-ei. Es war nordöstlich von ihm, halste in den Ofenwind, ein bauchiges Wagenschiff mit quadratischen gelben Segeln und sechs Kufen, je drei an Bug und Heck. Gesteuert wurde es durch Drehen der vorderen und hinteren Kufen. Wie bei allen Sandschiffen war der Rumpf sargartig auf Stützen gelagert. Große Luken ragten aus dem Rumpf, der aus windverwittertem Plastikholz bestand. Der Topgast hatte ihn schon gesehen. Trebor trieb die Schanschids an und ritt nach Norden, dem Schiff entgegen. Es lag über Backbordbug und kam auf ihn zu. Mit schwerfälligem Schwanken kreuzte es eine Düne, fegte den Abhang hinab und ächzte neben Trebor heran. Im letzten Augenblick drehte es sich voll in den Wind und kam zum Stillstand. Es war ein beachtliches Schiff, mit drei Masten, vollgetakelt. Der Händler in Trebor schätzte es überrascht ab. Wer hätte gedacht, daß diese Barbaren ein so gutes Schiff bauen konnten? Es stank nach Fisch und Hummer – eben zurück vom Fischen in den Wens. Über der Reling erschienen Köpfe, jeder bedeckt mit einer viereckigen Kappe, umwickelt mit durchsichtigem, grünen Stoff. Dar31
unter zeigte sich schmutzige, eintönige Kleidung in allen Regenbogenfarben, die jedoch angesichts des schneidenden Salzwindes erstaunlich wenig angegraut war. An entblößter Haut glänzte Fett. »Is 'n Amballaner!« – »Macht 'n der hier?« – »Sag was, du!« – »Wer biste und was machste in den Schimmer-Schuns, hm?« Sie sprachen die Untersprache, und selbst die schlecht. »Trebor, ein Häuptling von Amballa!« Er zog es vor, diese Barbaren nicht mit der Innenpolitik von Amballa zu belasten. Er hatte eine Erklärung sorgfältig vorbereitet, gestützt auf das, was er über die Dunlins wußte. »Meine Frau ist von Handlangern der Pramantiner des Kults vom Aufbruch entführt worden.« Ein Fuchsgesicht unter den dunkelhäutigen Habichtgesichtern der Dunlins pfiff durch die Zähne; die anderen blickten finster. »Ich habe diese Schanschids mitgebracht, die ihr seht, und gebe sie gerne, wenn ich mitfahren kann. Aber bringt mich zu meinen Feinden; mehr verlange ich nicht.« Das Fuchsgesicht grinste dazu, aber die anderen wirkten erfreut. »Verkaufen Euch gern Passage, zumindest bis zu den Dünenbrechern. Tiere können wir immer gebrauchen. Was ein Schiff angeht, das Euch Eure Feinde aufspürt – da müßt Ihr mit dem Hauncha sprechen. Ihr müßt ohnehin zum Heiligen, um zu erfahren, wo sie sind«, fügte der Kapitän ermunternd hinzu. Trebor griff hinauf, packte die Reling und sprang aus dem Sattel hinauf, bevor sie hilfreich seine Schulter ausrenken konnten. »Könnt Ihr so viele Tiere unterbringen?« »Verdammt schwere Biester«, murmelte einer der Dunlins. Der Kapitän – Rawar lautete der Dunlin-Ausdruck dafür – befahl einem Mann, sie zum Fischerlager zurückzubringen. Dort wurde noch mehr Fisch und Hummer getrocknet, und zu dieser Jahreszeit kamen und fuhren unablässig Schiffe. Trebor war davon überzeugt, daß das Sandschiff, einmal zum Stillstand gekommen, sich nie mehr in Bewegung setzen würde. Segel um Segel wurde aufgezogen, und das Schiff kippte über den Dünenrand und glitt den Abhang hinunter. Trebor rechnete voll und ganz damit, daß es unten stehenbleiben würde, aber es 32
kroch mühsam auf dem Gegenhang hinauf. Lange, nachdem er aufgehört hatte, über seine Langsamkeit zu stöhnen, nahm es noch an Geschwindigkeit zu. Er war verblüfft, als er ganz deutlich Salz gegen den Rumpf zischen hörte. Als er umschaute, sah er sogar von den Kufen einen bescheidenen Hahnenschwanz von aufgeworfenem Salz hochgerissen. Der fuchsgesichtige Mann mit dem rötlich-braunen Haar und Bart brachte Trebor Fleisch und Wein, also Fisch und Solessig. »Ich werde Sheank genannt, M'lord.« »Was macht Ihr unter den wilden Dunhns, guter Mann?« fragte Trebor; seine Laune war durch dieses »Lord« halb wiederhergestellt. Sheank zwinkerte ihm zu. »Bin auf Kur.« »Salzluft ist gut für die Lunge«, nickte Trebor. »Ich habe aber nie gehört, daß sie Halsleiden kuriert.« »Ah, Ihr vergeßt die Mineralbäder.« Trebor versuchte, den Geschmack des Solessigs mit Fisch zu töten. »Mmmm, ja. Beutel- oder Halsabschneider?« Sheank wirkte verletzt – beide brauchten kein so extremes Exil zu wählen, um einer Hinrichtung zu entgehen. Der Rawar steigerte seine Verlegenheit, indem er vom Heck herüberrief: »Er ist ein verdammt guter – wie sagt man – Levitator. Neun Kugeln auf einmal, von verschiedenem Gewicht! Hat die Hauncha unterhalten – kann gehen, wohin er will!« »Das ist eine große Ehre«, erwiderte Trebor freundlich, die Verwirrung des anderen genießend. »Unsere Gastgeber sind zu Recht stolz und gestatten nur wenigen, sich ihnen anzuschließen.« Der Rotbart warf ihm einen schiefen Blick zu, sagte aber gewandt in perfekter Hochsprache: »'s ist überaus seltsam, Sir Amballaner, daß die frauenfeindlichen Pramantiner eine Frau entführen sollten. Welchen Grund hatten sie – sie bringen sie doch nicht als Opfer zu Tode, nachdem sie die Liebe zu den Frauen schon auf dem Altar ihrer mystischen Ambitionen geopfert haben.« Der Fuchs hatte scharfe Zähne. »Mir haben sie sich nicht anvertraut«, erklärte Trebor kurz. 33
Sheank glaubte ihm nicht, aber Trebor begann sich intensiv für die Fahrt des Schiffes zu interessieren. Die Kufen aller Sandschiffe bestanden, wie Trebor wußte, aus zwei in rechtem Winkel zusammengenagelten Brettern. Ein Stahlreifen, ein V-förmiges Band, bedeckt sie auf ganzer Länge. Hier im Salz verwendeten Wüstenschiffe schmalere Bretter, da Salz selten locker genug ist, um sie einsinken zu lassen. Die Salzdünen halten jeden Tropfen Regen oder Tau fest, aber die Oberfläche ist stets steinhart gebacken. Sie gleicht porösem, weichen Sandstein von schmutzig-grauer Farbe. Sheank brachte ihm ein wenig warmes, trübes Wasser, als der Rawar etwas schrie. Ein Dunlin überreichte eine schmutzige Mütze nebst Tuch, Cranner und Vespi. Trebor schmierte Gesicht und Lippen mit übelriechendem Fischöl gegen den Salzwind ein. Trebor wich Sheanks verschlagenen Nachstellungen den ganzen Tag aus, während sie dem Wind entgegenkrochen. Er unternahm eigene Nachstellungen, geschicktere, bei den Dunlins und forschte sie über Einzelheiten des Lebens an ihrem Hof, ihre Geschichte und Absichten aus. Die Dunlins stammten von Piratenhändlern und meuternden Soldaten aus zwei Dutzend Stadtstaaten der Alten Völker ab – den Einwohnern von Iréné, bevor die Wittingas von den austrocknenden Hügeln des Wildlands im Osten hereingeströmt waren; Hinter dem Wildland lag nur die hohe Kette des Gemarterten Landes, in der Muttersprache von Romplannan Scheiallasonn. Die Wittingas – Trebors Vorfahren – hatten sich nirgendwo anders hinwenden können, als ihr Heimatland ausgetrocknet war. Sie überfluteten den armseligen Versuch der Restaurationsliga, die Einheit des Dritten Imperiums wiederherzustellen. Der viertausend Jahre zurückliegende, darauffolgende Zusammenbruch rief ein kurzes Wiedererstehen des alten Paxicum, der Hauptstadt des Zweiten Reiches, nördlich der Schuns hervor. Dieser rührende Versuch ging an seiner Korruption zugrunde. Lange nach der Endgültigen Zerstörung Paxicums durch Irenaica – früher Hauptstadt des Dritten Imperiums – hielt sich die Flotte des Zweiten Reiches noch in den Schuns, aber selbst dort sprach man die Muttersprache der Restauration. Die Entwicklung der Dunlins aus diesen Flottenresten lag im 34
Dunkeln, aber sie bestanden angriffslustig darauf und behielten noch immer ein paar vereinzelte Fetzen der Muttersprache bei. In Wirklichkeit stammten ihre Vorfahren vermutlich eher von den ausgestoßenen Händlern und Soldaten ab, die nach der Endgültigen Zerstörung im Lauf der Zeit die reichen Wens zu beherrschen begannen. Es dauerte Jahrtausende, bevor sie die Schuns mehr als dem Namen nach meisterten, aber durch das fortgesetzte Austrocknen des fruchtbaren Landes Serenia um Paish blieb als Gegnerschaft allein die ersterbende Macht von Irenaica im Westen. Seit Jahrhunderten waren die Schuns jetzt von »Dunlins« genannten Leuten durchzogen worden, einem stolzen Volk, dem sich oft Flüchtlinge anschlossen, bis alle früheren Abstammungen völlig durcheinandergeraten waren. Selbst der politische Aufbau entsprach dem von barbarischen Stämmen und Clans, die sich der Assimilation bedienten, statt derjenigen der alten Flottenformation. Zur Zeit betonten die Barbaren Exklusivität und ihre angebliche Abstammung von den Erben des Zweiten Irenischen Reiches. Das machte Sheanks Freiheit verdächtig und Trebors Lage prekär, trotz ihrer Sympathie für ihn und den Haß auf die Pramantiner. Im Prinzip waren die Dunlins in Flotten aufgeteilt, die man Halbmonde nannte; jede Flotte besaß ihre eigenen Transport- und Wagenschiffe, und so fort, aber keiner gehörte irgendein Teil der Schuns oder der angrenzenden Wens. Das Land war Gemeinbesitz. Das verhinderte bei ihren endlosen Kriegen gegeneinander Verwüstung und sorgte dafür, daß sie stark blieben. Sie waren aber nie stark gewesen, um Irenaica Sorge zu machen, und ihr Einkommen rührte zum größten Teil von Zollgebühren für Handelsschiffe zwischen Paish und Corflu, Gamelumes und Zittersumpf her. Die Schimmernden Schuns waren nicht viel älter als das Dritte Imperium. In den Tagen des Ersten und Zweiten Reiches hatte es sich um ein Gebiet großer Salzebenen gehandelt, zu salzig selbst für Bäume. Damals war der Name Skrupel oder Sandevillaya gängig gewesen. Die Ebenen waren Salzseen zwischen weiten Flächen klebriger Salzsümpfe und bröckelnder Salzdünen, mit vereinzelten Baumoasen, wo die Wurzeln hoch genug lagen, um das Salz zu meiden. Es strömten noch immer Flüsse hinein, die mehr Salz mitführten. Das Gebiet wurde mit jedem Jahr salziger, bis nichts ge35
blieben war als die grauen Dünen. Als die Dunkelheit sich über sie zog, griff der Schatten der Dünenbrecher bis zum Wagenschiff. Trebor seufzte bei dem Anblick vor Erleichterung. Der Wind hatte sich gegen Mittag gelegt, glich das später aber hinter ihnen wieder aus. Salz lag dreieinhalb Zoll hoch auf dem ganzen Schiff. Die Dünenbrecher, in der Hochsprache Cor Harrow, in den Chroniken der Älteren Enna als Fannonallon erwähnt, waren ein kleiner Berg oder hoher Grat. Sie kreuzten an der fast senkrecht abfallenden Seite davon zu einer kleinen Bucht an der Südostseite. Trebor sah viel Geschichte vor sich und wäre beinahe bewegt gewesen, hätte es nicht Sheanks Seitenblicke gegeben. Hier war in der Zeit des Ersten Reiches eine große Festung vorhanden gewesen, geschützt vom klebrigen Sumpf, die vom großen Helden Ruthra erobert wurde, der das erste Flugschiff baute, um sie zu überwältigen. Hier fand die Erste Revolte der Goldenen Sklavenkrieger des Reiches stastt, als sie vorangepeitscht wurden, um in den vergehenden Tagen des Reiches Fannonallon wiederzuerobern. Dann gab es Verteidigung nur noch durch die verzweifelten, mit zu hohen Abgaben belasteten Algenfarmer, die im fündigen Salzsumpf seinen Mineralreichtum ausbeuteten. Selbst im Zweiten Reich waren viele Kämpfe um diesen hohen, dunklen Steingrat und den geheimnisvollen Reichtum ausgefochten worden, den er noch immer besaß, selbst nachdem der Salzsumpf praktisch den Gorkrähen überlassen worden war. Trebor kehrte mit einem Ruck in die Gegenwart zurück. Das Wagenschiff hatte bei der Annäherung an die Bucht den Wind verloren. Im Rumpf öffnete sich eine Luke, und einige von den Dunlins hasteten über das Salz und kehrten zurück, ein leichtes Seil ziehend. Es wurde aufgespult und zog ein dickeres nach, das festgemacht wurde. Am Ufer stapften große Rhamrans endlos um eine Winde herum und zogen das Schiff auf die Steinplattform hinauf, die als Dock diente. Die ganze Bucht umfaßte mehr als einen Halbkreis, war vermutlich vom Ersten Reich (oder vorher, als der Sumpf ein See gewesen) ausgeschachtet worden und verlief in einer Reihe von Stufen nach hinten. Auf dem Sand in der ganzen Bucht lagen hundert 36
Sandschiffe: bauchige Transportfahrzeuge wie dieses, schlanke, schnelle, Kampfschiffe, elegante Kurierboote und Lastkähne mit Schaufelrädern, angetrieben von Schanschids oder Rhamrans in Tretmühlen. Aber der Eindruck geschäftigen Handelsverkehrs täuschte. Alles bewegte sich nur träge, selbst von den Kampf schiffen waren nur wenige bemannt, und die meisten Wachen auf den Wagenschiffen und Schleppkähnen schliefen. Im tiefen Schatten der Dünenbrecher war es bereits kühl. Die Dunlins sprangen über die Reling und verschwanden, bis auf den Rawar und Sheank. Der Rawar ließ seine Schiffsladung Fische dem Habenkonto seines Halbmondes gutschreiben und erwähnte Trebors Bitte um eine Audienz beim Hauncha. »Die Pramantiner haben seine Frau entführt. Wer ist heute Hauncha?« »Doroteo Argano – er und seine Leute vom Lea-Toilers-Halbmond haben gestern den Heiligen ergriffen«, sagte der Hilfshafenmeister. »Selbst im Trockenen sollte er sich zwei Monate halten.« Sheank erhielt den Auftrag, Trebor zur Halle des Hauncha zu begleiten. Sie stiegen eine riesige Treppe hinauf. Trebor sah sich den Hohen Harrow mit Interesse an. Diese Bucht bot den einzigen praktischen Weg auf den Grat hinauf. Über die Treppe ging nur sehr wenig Fracht; sie wurde von Rhamrans an Winden in Netzen an einer senkrechten Wand hinaufbefördert. Der flache Hang trug in Stufen übereinander hohe Mauern mit Katapulttürmen, Pfeilschlitzen, Feuerschleudern und anderen Abwehrwaffen. Oben auf dem Fels ging die Sonne gerade unter, und ihr Licht schlug Glanz aus einem Stück des Aufbruchs. Cor Harrow war überbaut mit Gebäuden aus dem Aufbruchs-Zeitalter, denen jetzt die Dächer fehlten, deren Mauern aber noch fest waren. Sie waren mit Gold und Grün verputzt, und die Türen in Nachahmungen von Bogengängen aufgerichtet. Es gab, wie von der Älteren Enna aufgezeichnet, Spuren uralter Werften, in eine Zeit zurückreichend, als die See ganz Iréné, das ganze Tiefland bis zum Fuß des Wandlandes bedeckt hatten, und alle Menschen auf dem Hochland gelebt hatten. Vor langer Zeit, wenn überhaupt jemals – Trebor tat einen so unnatürlichen Zustand mit einem Achselzucken ab. Die Ausländer wurden beiläufig durch mehrere barbarische 37
Räume in einen Raum ohne Dach, jetzt Innenhof, geführt. Hier saß der neue Hauncha auf Kissen und kleinen Teppichen und unterhielt sich angeregt mit den Anhängern, die ihn vergangene Nacht zum obersten Rawar seines Volkes gemacht hatten. Er war schlank, dunkelhäutig, mit klaren Augen, glattrasiert wie alle Dunlins; nicht so jung, wie er im ersten Augenblick wirkte. Seine bunte Kleidung war sehr sauber. Doroteo Arango winkte mit der Hand und sagte: »Gruß, Amballaner. Wer seid Ihr?« Trebor trat vor und übte innerlich eine Freundschaftsbeschwörung. Nähere dich höflich, lächle freundlich, keine niedrige Schmeichelei, erweck in dir Gefühle ernsthaften Interesses für den anderen. Denke gut von ihm; lobe ihn im stillen. Er tat das alles und empfand tatsächlich Zuneigung für den gutaussehenden Barbaren. Die Beschwörung wirkte, jedenfalls bei ihm. »Trebor, Sohn Sirroms, guter Herr. Ich habe für Eure Dunlins ein bescheidenes Geschenk mitgebracht, und eine geringe Bitte.« Der Hauncha setzte sich auf. »Kommandeur-Erbe der Vorbeuger?« fragte er in der perfekten Antiken Zunge und in Hochsprache. »Was macht Ihr hier, Erhabener?« Entgeistert sammelte Trebor seine Gedanken. Sheank trat vor, verbeugte sich tief und feixte. »O höchster Häuptling der wissenden Dünen-Leute, wißt, daß dieser mächtige Meister der Händler nach Rache gegen gewisse Pramantiner des Aufbruch-Kultes dürstet und um Eure Hilfe schreit. Aber stellt ihn in Reichweite seiner Feinde, und er wird sie mit seinem Blitzschwert vernichten und sein künftiges Weib befreien.« Trebor funkelte den kleinen Mann an, dann erwiderte er den scharfen Blick des Hauncha. »Er spricht im wesentlichen die Wahrheit, aber etwas zuviel davon«, sagte er, seine Gefühle streng im Zaum haltend. »Der Trupp, den ich verfolge, besteht aus mindestens einem Dutzend Mann, darunter gute Fechter. Sie sind in den Wens an Bord gegangen, drüben vor Rhodrora; drei Schiffe warteten.« »Pramantiner, sagt Ihr? Wir legen keinen Wert darauf, uns mit 38
dem Kult offen anzulegen; er hat zu viele Anhänger. Aber wir fürchten uns auch nicht, ihnen entgegenzutreten, bei ausreichendem Anlaß. Sie haben schon lange ein Auge auf Cor Harrow und den Hallow selbst geworfen, aus irgendeinem gottlosen Grund. Ihr Amballaner verehrt auch Andyman; zumindest hier treffen wir uns. Aber . . .« »Ich bin mir der Identität meiner Gegner nicht sicher«, erwiderte Trebor. »Ich habe lediglich angenommen, daß sie Beauftragte der Pramantiner sind. Wenn sie Murrtonier gewesen wären, hätten sie mich gewiß getötet. Aber vielleicht erkannten sie mich im Dunkeln nicht.« Er öffnete sein Denken, hielt es aber scharf auf den Zwischenfall begrenzt, und Doroteo Arango nickte, als er die aufrichtigen Emanationen fühlte. »Wir Dunlins sind trotzdem nicht daran interessiert, uns zwischen Euch und Euren Feinden auf eine bestimmte Seite zu schlagen. Amballa ist ein wichtiger Markt. Übrigens bestehen Ihre Feinde jetzt streng auf ihrem richtigen Namen: Erben.« Der Hauncha war unterrichtet genug, um zutreffend erraten zu können, wer wohl gewinnen würde. Trebor nickte düster. »Aber es besteht die Möglichkeit, daß diese geheimnisvollen Schiffe ihren Wegzoll nicht entrichtet haben«, sagte der Hauncha knapp. »Es kommt nicht darauf an, wer sie sind; wenn sie sich gegen unsere Durchsuchung wehren, wird man sie zerschlagen und verkaufen, wie bei jedem Schmuggler.« Trebor erwiderte das Lächeln. »Wenn ihr mich zum Heiligen begleitet . . .« Sheank versuchte mit hineinzuschleichen, aber Doroteo Arango hob die Hand, und er wurde zurückgehalten. Das Heilige war ein dunkler Raum, verhängt mit schwarzen Glasseidetüchern, nicht weit vom Innenhof entfernt. Darin, auf einem Altar, lag ein Instrument des Aufbruchs, ein Kasten aus blauem, glasigen Aufbruchs-Material mit Spiegelfront. Ein Beschwörungsmeister nickte ihnen zu und setzte eine ungeschmückte Krone aus Aufbruch-Material auf, ein bloßes Krönchen. Der Spiegel leuchtete auf, und unwirkliche Formen huschten darüber hinweg. Ein Gehilfe des Beschwörungsmeisters setzte eine zweite Krone auf. Einen Augenblick lang wurden die Formen wirrer, 39
dann traten sie scharf hervor, und die Beobachter sahen drei kleine Zweimaster durch die Schuns gleiten. Das Bild war so deutlich wie eine Traumerscheinung. Die Lokalisierung war schwieriger, aber die Beschwörungsmeister kamen schnell zu dem Schluß, daß sie sich südwestlich der Dünenbrecher befanden und nach Nordwesten zur Bergbrücke unterwegs waren. »Das sind Wagen, langsame Schiffe, und obwohl der Wind jetzt für sie gut ist, war er bis nach Mittag ungünstig«, meinte der Hauncha nachdenklich. Er sprach mit schnellen Worten zu einem seiner Leute. Lächelnd erklärte er: »Ich habe befohlen, meine Schiffe bereitzumachen. Sie sind die nächsten, die wir erreichen können. Wir haben Zeit, in Ruhe zu essen.« Die Dunhns hatten an den Dünenbrechern nur zwei Halbmonde von je zehn Kampfschiffen. Die meisten waren schmale, schnelle Schlangenschiffe mit jeweils ungefähr zwanzig Mann. Außerdem gab es fünf Drachodene mit fünfunddreißig Mann, Dreimaster, vollgetakelt. Die Schlangenschiffe hatten zwei Masten mit Stagsegeln. Alle Rümpfe bestanden aus nacktem Plastikholz, das durch das Salz glasglatt geschliffen war, aber ihre Segel waren prachtvoll, bei dem einen Halbmond purpurn, beim anderen blutrot. Sie waren gestreift mit Gold oder Schwarz, manche zeigten Jagdvögel oder Raubkatzen, und bei allen waren an den Lieks buntgefärbte Glasstücke in den Stoff eingewoben, die das Sonnenlicht blitzend zurückwarfen. Die Barbaren waren ein ebenso prächtiger Anblick und ebenso getakelt – manche voll, andere über Stag, und sie setzten von ihren Körpern dem bösartigen Salzwind weit mehr aus, als Trebor hätte ertragen können. Die stapfenden Rhamrans schleppten sie aus dem Hafen, und sie waren in Fahrt, der Purpur-Halbmond auf der linken, Doroteo Arangos blutrot getakelter Halbmond auf der rechten Seite, er und Trebor und Sheank auf seinem Halbmond-Flaggschiff »Raubvogel«. Wie die anderen Drachodene hatte es seinen tief angesetzten Doppelrammsporn hochgeklappt, damit er sich nicht in den Sanddünen verfing. Er ragte vor dem Bug empor. Die Schlangenschiffe besaßen keine Rammsporne. Alle waren mit Scheren ausgerüstet, großen Klingen, die achtern mittschiffs unter der Rumpfwölbung 40
eingeklappt waren. Ausgefahren konnten sie unter ein feindliches Schiff geschoben werden, um die Kufen abzutrennen. Sie fuhren der Sonne nach. Sie hatten die ganze Nacht einen guten Wind hinter sich, und die Dünen flogen vorbei, im Licht des Silbermondes scheinbar flüssig. Trebor unterhielt sich ein wenig mit dem Hauncha und wanderte ruhelos auf Deck hin und her. Salz peitschte sein Gesicht und rann in seine Stiefel, so daß seine Füße brannten und schmerzten. Schließlich ging er schlafen, froh um ihre pfeifende Geschwindigkeit. Aber mit dem Stampfen des Sandschiffs und dem Geruch der Schuns und seinem Durst wurde es Mitternacht, bevor er einschlief. Trebor war früh am Morgen auf den Beinen, als die Sonne aufging. Sie fuhren die meilenlange Schwelle an der Westgrenze der Schimmernden Schuns hinauf. Dahinter lag der Dunkelberg, jenseits von ihm ragten die Überberge auf. Felsen, dunkel in den Dünen, hoben sich aus dem Salz; die Schuns endeten hier in Fetzen, wie ein altes, verdrecktes Laken. Nun erschreckte die kreischende Geschwindigkeit der Kampfschiffe Trebor; Felszacken zischten in ganz geringen Abständen an ihren Kufen vorbei. Auf halber Steigung holten Alarmrufe vom rechten Geschwader den Hauncha aus seiner Kabine. »Segel ho! Drei – fünf – zehn –« Trebor fluchte innerlich. »Achtung, bereithalten zum Beidrehen, alle Schiffe!« brüllte Doroteo Arango. »Sie sind genau nach Norden unterwegs! Jetzt lavieren sie nach Nordost, in den Wind!« Der Hauncha fluchte in verschiedenen Dialekten und brüllte Befehle. Die Flotte wurde langsamer, und Salz spritzte auf, als die Anker durch die ausgedünnten Dünen fetzten. Die vielfarbigen Segel drehten sich, und die Schiffe standen in einer langen, unregelmäßigen Linie, nach Norden weisend, während der Wind salzig über die Steuerbordrelings wimmerte. Sie drehten sich weiter, bis sie den Hang hinabfuhren, in den Wind nach Nordosten. Die Segel wurden neu gestellt, während die Schlangenschiffe auf die vollgetakelten Fahrzeuge warteten. Dann glitten sie mühelos den Abhang hinab. Sie erreichten die Ebene mit guter Geschwindigkeit, 41
wenn auch nicht annähernd mit jener während der Nacht, auf der Flucht vor dem Wind. Etwa eine Stunde lang kämpften sie sich nach Osten gegen den Wind vor, krochen nach Norden, holten aber gegen die Feinde auf. Alle Dunlins waren verbissen mit der Wut von Hunden und Barbaren, deren Gebietsgrenzen verletzt worden sind. Trebor stöhnte; eine Verzögerung um Stunden! Als sie die Rümpfe erblickten, stieg von allen Schiffen ein Schrei voll Wut und Haß empor: »Jondrover!« Die Dunlin-Schiffe hatten ihre höchste Geschwindigkeit schon erreicht. Zum Glück fuhren die Jondrover-Schiffe sehr langsam, so daß die Dunlin-Schiffe luvwärts von ihnen hinausgleiten konnten, während sie gleiche Höhe erreichten. Es waren ungefähr dreißig Schlangenschiffe, keine Drachodene. Trebor konnte keinen wesentlichen Unterschied zwischen Jondrover- und Dunlin-Schiffen erkennen. Die Jondrover waren jedoch eine andere Nation von Nomaden, die hinter dem Dunkelberg lebte, in der hohen Sandwüste der Überberge. Den Wind endlich hinter sich, den Haß zu ihren Feinden hinuntertragend, drehten sich die Schiffe der Dunlin-Flotte. Es war ein großartiger Anblick. Alle Schiffe hatten die Scheren ausgefahren, die Rammsporne gesenkt, so stürmten sie hinunter. Aber dann wurden sie auf einmal unbegreiflich langsamer. Die Dunlins beugten sich über Bord und fluchten. An den Kufen bildeten sich Salzkrusten. Es hatte hier vor nicht langer Zeit geregnet, und während die Dünen das Wasser weiter östlich aufgesogen hatten, war das hier dünnere Salz durch das vom Hang ablaufende Wasser durchtränkt worden. Die Dünen am Fuß des Hanges waren jetzt eine klebrige Masse. Katapultgewichte fielen zwischen ihre Leitschiffe, trafen Kolben, die auf Wassersäulen schwebten. Kleinere Kolben wurden zu den Rümpfen hinausgeschleudert, warfen Steine und Eisenkugeln. Das Antwortfeuer prallte vom Salz ab; verbrauchte Geschosse prallten gelegentlich von einem Rumpf ab. Die Jondrover fuhren fort, sich weiter nach Westen zurückzukämpfen. Sie waren, langsam gegen den Wind ansegelnd, in den Salzbrei geraten und hatten sofort gewendet, waren aber beinahe 42
zum Stillstand gekommen. Die Dunlins, mit voller Geschwindigkeit in den Salzbrei gefahren, hatten ihn halb durchquert, bevor sie einsanken. Kugeln und Steine sprühten Salz in die Luft, knallten an Rümpfe. Trebor hörte Rumpfplanken brechen; an einem anderen Drachoden zerschmetterte eine Kugel einen Teil der Reling. Alle Scheren wurden eingezogen, damit die holpernden Schiffe nicht noch weiter gebremst wurden. Doroteo Arango stampfte wie ein Wahnsinniger auf Deck herum. »Keine Chance zum Rammen!« Seine großen Drachodene hätten die Schlangenschiffe wie Eierschalen eingedrückt. Katapultgeschosse fetzten in Segel, knickten Rumpfplanken, jaulten über Decks. Ein Schlangenschiff verlor einen Mast; ein Katapult auf einem Drachoden platzte, und Männer brüllten auf. Nun begannen Pfeile gegen den Wind auf sie zuzuschwirren. Eines der Jondrover-Schlangenschiffe wurde durch das heftige Feuer der Dunlin-Drachodene von den Kufen gerissen; ein zweites verlor beide Masten, ein drittes die Segel und Rahen. Die Bogenschützen der Dunlins fanden die Schußweite und begannen, den Wind im Rücken, das Jondrover Pfeil- und Katapultfeuer niederzuschlagen. Dann begannen die Jondrover eines nach dem anderen aus dem Brei herauszugleiten. Man warf Schiffen, die noch darin steckten, Seile zu und zog sie schnell heraus. Das Katapultfeuer der Dunlins verdoppelte sich, aber die Jondrovers zogen sich nach Südwesten hangwärts zurück und wendeten wieder. »Sie wollen uns wegscheren, wenn wir hinauskriechen«, sagte Doroteo Arango. Trebor regte sich verzweifelt. Er sah vor seinem inneren Auge die drei Wagenschiffe mit seinem Ruf und Leben über die Bergbrücke in das Übergebirge verschwinden, während sie hier aufgehalten wurden. Gewiß hatten die Murrtomer – die Erben – dieses Ablenkungsmanöver inszeniert. Aber es gab nichts, was er dagegen tun konnte. Gegen siebzehn noch einsatzfähige Dunlin-Schiffe standen vierundzwanzig Schlangenschiffe der Jondrovers, und eines der Drachodene hatte seinen Fockmast verloren, ein anderes sein Bugkata43
pult. Die Dunlins kamen in einer langen Reihe aus dem nassen Salz, und die ersten ankerten sofort und warteten, um nicht einzeln überwältigt zu werden. Sie blieben dem Feind zugewandt, um die Wirkung der Scheren geringzuhalten. Die Jondrovers kamen den Hang herab, gegen den Wind, gerade als die letzten Dunlin-Schiffe den Salzmorast hinter sich ließen. Drei der Drachodene waren ausgefallen, ein viertes fast dazu, bis die Jondrover herangefegt waren, drei Viertel des Weges den Hang herab. Doroteo Arango befahl: »Angreifen und Ruder nach Steuerbord!« Katapulte krachten, Pfeile pfiffen, Salz stob von den Kufen der Feindschiffe. Dunlin-Segel strafften sich dem Wind entgegen, und sie rückten vor. Ein Katapultstein spritzte vom Deck neben Trebor und riß hinter ihm einen Teil der Reling weg; ein zweiter fetzte durch das Segel über ihm; weiter hinten stürzte eine Rah herab. »Raubvogel« erzitterte unter dem Rückstoß der eigenen Katapulte, krängte und richtete sich unter dem Wind wieder auf. Pfeile schwirrten heran, und ein Mann stürzte aus dem Piek und prallte unrettbar auf die Salzdünen. Salz kreischte unter den Jondrover-Kufen hervor, als sie die Ruder herumrissen, von Bord an Bord auf versetzte Reihe wechselnd, quer zum Wind laufend. Ein Schiff wurde durch seinen Schwung seitwärts an einen Drachenzahn-Sporn geschleudert, der Bug des Drachoden halb herumgerissen. Dieses Schiff platzte dadurch wie eine Bohnenschote. Das Drachoden kam in einem Wrackgewirr schlagartig zum Stillstand. Andere Jondrover waren erfolgreicher, fuhren ihre Scheren unter den Bug von Dunlin-Schiffen, ließen sie nach den Kufenstreben schnellen. Sehr oft war es die Schere, die zerstört wurde. Ein Jondrover-Schlangenschiff unternahm den mutigen Versuch, die Stahlstreben von »Raubvogel« abzuschneiden. Das Drachoden wich ruckartig zur Seite aus, und Trebor wurde auf das Deck geschleudert. Er starrte das Schlangenschiff an: Es war unter dem Anprall aufgeplatzt, Männer, Masten, Katapulte wurden vorwärtsgeschleudert, und die Rumpfwände knickten, wo die Scheren angebracht waren, die nun durch das Deck hinaufgedrückt wurden. 44
Während sie alle die Augen aufrissen, flitzte ein Pfeil an Trebor vorbei. Er schaute sich um und sah Sheank hastig einen zweiten Jondrover-Pfeil einspannen, mit geblecktem Gebiß auf ihn starrend. Trebor sprang wutentbrannt hoch und stürzte sich auf den Rotbart, ohne erst sein Schwert zu ziehen. Sheank gab einen verzweifelten Stöhnlaut von sich und kippte rückwärts über die Reling. Trebor hoffte, daß er sich das Genick gebrochen hatte, konnte ihm aber nicht folgen. »Raubvogel« war in Fahrt. In zehn Sekunden war das Getümmel vorbei, und die Schreie und das Krachen und Splittern von Holz erstarb. Entlang dem Fuß des langen Abhangs reihten sich weithin Wracks in Haufen und Stößen. Halb betäubte Männer mühten sich mit den Schwertern hinaus, um den Kampf fortzusetzen. Zehn oder elf Dunlin-Schiffe schoben sich durch die Wrackreihe und wandten sich nach Norden. Die Jondrover, die erfolgreich gewendet hatten, mußten auf dem Hang erneut drehen, um den Wind zu nutzen. Doroteo Arango segelte fast quer zum Wind und mühte sich, ihnen den Weg abzuschneiden. Trebor zählte unter den ihnen verbliebenen Drachodenen nur noch zwei andere Drachodene; die Jondrover schienen ein Dutzend oder mehr zu sein. Manche hatten nicht beidrehen können und waren in den Morast hineingefahren. Der Hauncha gewann gegen die übrigen den Vorteil des Windes, und die Katapulte krachten unaufhörlich. Es war jedoch nur ein minimaler Vorteil; beide Seiten konnten nicht stärker in den Wind segeln, weil der Morast wartete. Als die zwei Flotten aufeinanderstießen, schrumpften die bunten Segel der Jondrover plötzlich. Augenblicklich waren die Dunlins auf gleicher Höhe und begannen zu drehen. Die Jondrover hatten den Wind im Rücken und flogen davon – die Schwelle hinauf, auf der sich schroffe Felsen vor dem Himmel abzeichneten. Jetzt drehten sie wieder, halsten, kehrten zum Kampfplatz zurück. Die Drachodene drehten langsam, aber die Dunlins verfolgten sie unerbittlich; die größere Segelfläche der Schiffe ließ den Abstand schnell schrumpfen. Die Dunlins holten sie ein und begannen sie vor dem Wind gegen die Felsen zu drängen. 45
Doroteo Arango lächelte und zeigte auf die Felsen. »Kergans Kessel«, sagte er. Trebor grinste wie ein Wolf zurück. In manchen Stellen am Dunkelberg war es möglich, über den hohen Gegenhang zu segeln, aber hier wartete ein steiler Abgrund. Sie kamen in Reichweite der Katapulte, die Dunlins mit zusammengebissenen Zähnen – ein Schlangenschiff war an einen Felsen geprallt, war halb herumgerissen worden und hinuntergestürzt. Verzweifelt feuerten die Jondrover Brandgeschosse ab, erzielten keine Treffer, besprühten das Salz aber mit flüssigen Flammen. Rammsporne wurden herabgelassen, Scheren ausgefahren. Die Disziplin bei den Jondrovern war dahin; ein Narr versuchte nach Norden zu drehen, bevor er über den Kesselrand gestürzt wurde. Der Wind packte sein Segel, hob ihn auf den Backbordkufen hoch, und in diesem Augenblick scharrten die Kufen über Gestein. Das Schlangenschiff blieb hängen und kippte hinunter. Andere Jondrover luvten stärker an und versuchten den Hang hinunterzugelangen und gleichzeitig den Dunlins auszuweichen. Auf der linken Seite der Dunlins setzte ein Drachoden das Ruder nach Luv und sauste vor dem Wind dahin. Verzweifelt lavierten die Jondrover-Schlangenschiffe auf dem Hang hin und her. Eines sah sich mit geblähten Segeln auf Kergans Kessel zufliegen; ein anderes wurde von einer Schere gepackt, und bevor es sich drehen konnte, trennte ein Dunlin seine Kufenstrebe backbords achtern ab. Die Steuerbordschere eines Drachodens stieß gegen einen Felsen und wurde abgerissen; einen Augenblick lang glaubten alle, es würde umstürzen, aber die peitschenden Masten beruhigten sich, und alle sechs Kufen kehrten auf den Boden zurück. Und nun waren die Dunlins zwischen den Jondrovern, Pfeile zischten hin und her, Steinhagel überschüttete alles. »Raubvogel« jagte im Wuttaumel einem flüchtenden Schlangenschiff nach und stieß den Doppelrammsporn in den Kastenrumpf. Der Anprall war leicht, das Sandschiff war etwa mit der gleichen Geschwindigkeit unterwegs. Dann drückte das Gewicht des Drachodens das kleine Schiff an einen Felsen. Es platzte wie ein geschleudertes Ei. »Raubvogel« krängte, vom Bug erfaßt, dann riß sich der Rammsporn los. 46
Danach waren sie nicht länger Dunlin und Jondrover, bittere Rivalen und verhaßte Feinde, sondern verzweifelte Männer in zerbrechlichen Körben, kreischend zwischen zusammengedrängten Felsen, die Zähnen glichen – dahinter das klaffende Maul des Dunkelberges. Entlang am ganzen Kergan-Kessel flitzten die klatschenden Dreiecksegel, dazwischen huschte hier und dort ein höheres Quadratsegel zwischen hohen grauen Felsen umher. Schiffe hüpften, wenn sie auf niedrige Felsen gerieten, auf ihren Federn schwankend; Schiffe prallten mit anderen zusammen und von ihnen ab, mit dem Krachen von Hörnern in einer großen Herde; Schiffe knallten mit einem unbeschreiblich hohlen, splitternden Geräusch an Felsen. Anker fetzten durch das dünnere Salz mit einem Laut, als zerreiße man Laken; Salzstaubwolken stiegen auf und trieben den Abgrund hinunter. Ein Drachoden kippte über den Rand, krängte weit über, versuchte unter dem Schreien der Besatzung verzweifelt zu drehen; einen Augenblick sah man Männer von der Reling springen – dann packte der Wind die Segel, und im nächsten Moment war das Schiff verschwunden. »Raubvogel« hatte zuviel Gewicht und Schwung. Trebor glaubte, sie würden nie zum Stillstand kommen, und er blickte verzweifelt auf die Anker, die das Salz zerrissen. Er hoffte, daß sie greifen würden, und wenn es das Schiff auseinanderfetzte. Endlich wurde das Schiff langsamer, die Segel knatterten wie Peitschen. Der Mann am Ruder drehte verzweifelt das Rad, die Bugkufen nach links, die Achterkufen nach rechts. »Raubvogel« legte sich weit auf die Seite, und Trebor schloß die Augen, sah noch einmal, wie die Segel des anderen Drachodens ruckartig verschwunden waren, die Unterseite, die Kufen für einen Augenblick vor dem Himmel – dann nichts als die Männer in der Luft. Er wurde mit Wucht an die Reling geworfen, ein Dunlin auf ihn geschleudert; es preßte ihm den Atem aus dem Leib. Die Welt schwankte, dann kam sie ins Gleichgewicht, und »Raubvogel« stand. Ich weihe Anda vierzig Blumen, war Trebors erster Gedanke, als er zu dem goldgestreiften, blutroten Segel hinaufblickte, das wie Wäsche an der Leine flatterte. »Hol mich der und jener«, tönte Doroteo Arangos Stimme völ47
lig fassungslos von achtern her, »wir leben noch!« Trebor schaute über die Reling. Die Heckkufen ragten ein wenig über den Rand des Abgrunds hinaus. Kergans Kessel dräute einige hundert Meter tief; darunter begann ein flacherer Hang. Nicht ganz eine Meile unter ihnen lag die stumpfe Oberfläche des Dunkelsees in sonnenloser Finsternis.
3
Eine tödliche Krankheit »Raubvogel« lag vor Anker, die Segel gerefft, denn der Wind war stark. Die Nacht kam langsam aus dem Osten heran. Im Westen erhob sich ein Grat, dahinter ein noch höherer, scharf vor dem Himmel abgezeichnet: die Steilhänge des Dunkelberges. Kergans Kessel lag zweihundert Meilen südlich. Sie befanden sich in der Nähe des oberen Endes des tausend Meilen langen Dunkelberges, einer meilenbreiten Wunde quer durch Iréné. Trebor keuchte einen von grobem, gelben Gras spärlich bewachsenen Hang hinauf. Der Boden war hier mehr Sand als Salz. Oben schaute er in ein kleines Tal hinunter, das vielleicht eine Viertelmeile breit und hundert Fuß tief war. Die Länge mochte eine Meile betragen. »Das ist die Zeitschlucht«, sagte Doroteo Arango, halb voll Stolz. »Wo die Echos von Lauten hallen, die noch nicht gehört oder erzeugt sind. So heißt es.« Trebor hatte von dem Ort gehört; die Mystiker und Komödianten, die zusammengeströmt waren, um seinen Vater auszunehmen, hatten bei Gelegenheit davon gesprochen. Er betrachtete ihn ohne Interesse. Der Wind rauschte schwach, und man hörte die Geräusche von Insekten und kleinen Tieren. Das Ganze wirkte selbst in der Abenddämmerung heiß und stumpf, und im Unkraut gab es Kletten. »Sehr interessant.« Der Hauncha der Dunlins lächelte. 48
»Ihr seid nicht sehr beeindruckt; vom Sohn Eures Vaters hätte man mehr erwartet. Ich bin aber nicht mißvergnügt.« Sie drehten dem flammenden Sonnenuntergang den Rücken zu, »Raubvogel« vor ihnen, bereit, die Schwingen auszubreiten und nach Süden zu fliegen. Die Folterer des Hauncha hatten von gefangenen Jondrovern gehört, es gäbe ein Gerücht, wonach Gefangene, die den Dunlins vor der Nase weggeschnappt worden waren, über die Bergbrücke gebracht und mit schnellen Kurierbooten nach Norden befördert worden seien. Wer das Ablenkungsmanöver angeordnet und es so schnell veranlaßt hatte, war nicht zu erfahren gewesen. Nach Norden gebracht... »Vandamar«, hatte Doroteo Arango gesagt. Trebor hatte ihm rechtgeben müssen, aber er war zutiefst verwirrt. Nördlich der Überberge lag nur Vandamar, inmitten des großen Rhomotasonn-Sumpfes. Wenn Vianis Entführer Amballaner oder Linllallalaner waren, wäre sie nach Westen gebracht worden, zum Schamsund, also den Annas Annanda hinauf oder hinunter. Konnte Doroteo Arango nichtsahnend die Wahrheit getroffen haben? Aber was konnte der Kult des Aufbruchs von Viani wollen? Das erzeugte eine weitere Frage. Während sie den Sandhang hinabrutschten und -kletterten, fragte Trebor plötzlich: »Weshalb ist ein frei geborener Dunlin so schnell bereit, einem Stadtmenschen zu helfen?« Doroteo Arangos Zähne blitzten. »Ihr bringt mir einen Krieg? Im Krieg folgen mir die Dunlins ein Jahr. Ich habe bereits viel Ruhm gewonnen. Und er kommt für uns auch zur rechten Zeit«, fügte er in einem anderen Ton hinzu. »Wir hatten mehrere gute Jahre und viel Frieden. Die Dunlins werden unruhig und sprechen davon, die Handelswege vom Süden ins Dünenland zu überfallen. Die Zweite Flotte ist mit dem Dritten Imperium noch immer im Krieg, wißt Ihr. Oder sie könnten Gamelumes belagern. Aber wir würden nur den Handel zerstören und mehr verlieren, als wir gewinnen.« »Ihr könnt jederzeit einen Krieg mit Serenia beginnen.« »Nein, aus demselben Grund nicht. Wir haben zehnjährigen 49
Frieden geschworen, wenn die Paishaner ihre Schiffszölle bezahlen. Und selbst wenn wir Serenia erobern würden, wir verlören auch hier mehr, als wir gewinnen können, auch wenn das wenige meiner stolzen Leute begreifen. Die beste Aussicht auf einen guten Krieg für uns bieten die Jondrover, aber bis jetzt hatten sie ihr Interesse auf Shamsund gerichtet, und jedesmal, wenn sie stark werden, ringt ihr Amballaner sie nieder, weil sie euren Handel schädigen.« Trebor erkannte noch einen Grund: die Möglichkeit, daß die Dunlins die Jondrover besiegen könnten. Das hätte ihnen die Überberge hinab bis zur Obstgrenze der reichen kleinen Stadtstaaten des Shamsund gegeben und sie zu einer der großen Mächte von Iréné gemacht. Während Linllallal und Amballa sich nicht vereinigen konnten, arbeiteten sie im Feld oft zusammen und schickten jeder eine Armee gegen ein anderes Ziel, in einer Zangenbewegung, wobei jeder Staat den Sieg beanspruchte. Sollten die Dunlins die Überberge erobern, würde der Hauncha das Bündnis mit Linllallal oder Amballa brauchen. Es kostete ihn nichts, sich mit Trebor zusammenzutun, und er mochte Shamsund zur Hälfte oder ganz gewinnen. Eine sehr gute Sache für alle beide. Falls er die Jondrover besiegte. Doroteo Arango war voll von den Einzelheiten seines Krieges und ging nicht auf Trebors eigene Sache ein. Der Dunkelberg zwischen Zittersumpf im Süden und seiner Abflachung nördlich der Zeitschlucht, beim Grunderbore-Gipfel, war leicht nur über die Bergbrücke zu überqueren. Diese war über eine Meile lang, vor fast hunderttausend Jahren vom Ersten Reich erbaut. Alle anderen Brücken der gleichen Art waren längst eingestürzt. Es war an manchen Stellen im Trockengebiet möglich, Schiffe hinunter- und hinüberzuwinden. An den meisten Stellen stand schleimiges Wasser, salzdick, in Teichen. »Euer Schiff!« sagte der Hauncha plötzlich und ging voraus über die Salzdünen. Sie waren verkrustet, darunter weich, was anzeigte, daß es vor nicht langer Zeit hier leicht geregnet hatte. Man sah die Spuren,vieler Kufen. Das von Osten kommende Schiff war das größte Sandschiff, das Trebor je gesehen hatte, ein dreimastiges Fahrzeug mit je drei grü50
nen Segeln und schmalem Rumpf. Dazu hatte es goldene Klüver, Stagsegel und einen Besan aufgezogen. Sonderbarerweise waren seine Kufenstreben an der Reling verankert und führten seitlich am Schiff hinunter, bis auf eine Lenkkufe in der Mitte von Bug und Heck. Die Außenkufen trugen riesige Räder, was anzeigte, daß auch fester Boden befahren wurde. Trebor hatte von Triffs gehört, aber noch nie eines gesehen. Auf Rädern waren sie langsam. Und im Gegensatz zum üblichen Sandschiff war der Bug spitz und der Rumpf nicht rechteckig, sondern in V-Form, wie bei einem Flußboot. »Passagier nach Vandamar!« brüllte Doroteo Arango auf den Anruf vom Triff. Trebor verbeugte sich. »Vergeßt unsere Freundschaft nicht, o Trebor, Sohn Sirroms!« sagte der Hauncha und entbot ihm den Gruß. Trebor grüßte das Dunlin-Schiff und schritt auf das Triff zu. Er erwartete, eine offene Luke vorzufinden, aber der Schiffsrumpf wies keine Öffnungen auf; man warf eine Strickleiter herunter. Trebor kletterte hinauf, und die Männer holten die Segel in dem Augenblick an, als seine Füße sich vom Salz hoben; das Triff setzte sich in Bewegung, bevor sein Kopf über der Reling war. Der Kapitän und eine Phalanx von Offizieren empfingen ihn sofort, als seine Füße das salzgeschrubbte Deck betraten. »Gruß, Herr, und willkommen im Namen des Zweiten Irenischen Reiches.« Trebor verbeugte sich, unansehnlich in seinem salzverkrusteten grünen Reiseanzug und den beschmutzten Rüschen. Das erste Schwanken des Schiffes machte seine Verbeugung eher interessant als anmutig, und Trebor mußte sein Temperament zügeln, damit seine Stimme nichts davon verriet. »Gehorsam Euch und den Euren, und meine Dankbarkeit für Euer großzügiges Entgegenkommen«, erwiderte er im knappen Stil Amballas. Über die Gesichter der Serenier huschte Erleichterung. »Ich heiße Knarf vom Salz, und dieses mein Schiff ist die ›Foehn‹ aus Paish in den serenischen Wens.« Trebor verbeugte sich noch einmal. »Trebor, ein Handelskundschafter von Amballa.« 51
»Ah, in der Tat? Vielleicht haben wir viel zu besprechen, sehr viel . . . aber, äh, dürfen wir fragen, war das nicht das Flaggschiff des derzeitigen Hauncha der Dunlins? Wir haben nie gehört, daß die Dunlins sich für den Handel besonders interessieren.« »Bisher nicht, aber der Handel sollte sich jetzt vergrößern. Heute morgen haben die Dunlins eine eingedrungene Flotte von Jondrovern vernichtet, und nun sammeln sie sich von allen Seiten, um in die Uberberge zu ziehen.« Eine Welle der Erleichterung ging über die Serenier hinweg. »Ah, sehr interessant, wahrlich sehr interessant . . . Aber ich vergesse jede Höflichkeit. Habt Ihr getrunken? Hierher, bitte, ein wenig Solessig und Wasser, Eure Kabine . . .« Ein Abdruck des Siegels vom Heiligen war besser als Geld, wenngleich Knarf vielleicht ohnehin für die Fahrt nichts von Tre-bor verlangt hätte. Die ganze Nacht hindurch fuhren sie nach Norden, gegen den Wind, hineingepreßt in einen kleinen Kanal zwischen der Steilböschung des Dunkelberges auf der linken und den hohen Wüstenhügeln des Knorrenlandes, die bedeckt waren von verdorrtem Holz des Nordwaldes und anderen Überresten des heroischen Ersten Reiches. Weit im Osten und Süden lag nun die große, reiche, wohlbewässerte Nische in der Hochland-Wand, in die Paish hineingebaut wurde. Sie besaß viele Ruinen aus der Aufbruch-Zeit und galt bei manchen als der Ort der legendären Stadt des Wundersamen Lichts, aber von der Geschichte jener Tage war nichts mehr geblieben. Eine große Festung dort, Hauptstadt eines mächtigen Königreiches, war vom gewaltigen Ruthra erobert worden, dann erneut von seinem Sohn, während der Gründung des Ersten Irenischen Reiches. Tausend Jahre lang brachte man dort Goldene Sklavenkrieger unter. Hier wurde der Orden der Theiks gegründet, und im Ersten Reich begann die Ausgrabung der Ältesten, der großen Stadt des Aufbruchs, Eoréné, hundertmal so alt wie Rhodrora. Während der dunklen Zeitalter waren die Bemalten Höhlen in den Bergen über dem Wandland wohlbekannt, aber erst, als Frieden nach Iréné kam, konnte man diese herrlichen Wände studieren. 52
Selbst in den dunklen Zeitaltern waren die Wände als Werke aus der Aufbruchs-Zeit erkannt worden, doch der richtige Schluß daraus, daß diese Berge eine riesige Stadt waren, seit vielen Zeitaltern im Gestein begraben, wurde nie gezogen. Offenbar handelte es sich nur um Höhlen, deren Wände Material aus dem Aufbruch zeigten. Fast tausend Jahre lang mühten sich die Theiks, die Steine herauszuhauen. Beinahe jeder Raum und jede Straße war ausgefüllt mit Gestein, und doch war das Material aus dem Aufbruch so heil und unberührt wie bei seiner Entstehung. Zu ihrer großen Enttäuschung entdeckten die Theiks, daß Eoréné langsam gestorben war, so langsam, daß alles von Wert entfernt worden war, bis hinab zu den Statuen und oft bis zur Auskleidung der Räume. Die verbleibenden Wände waren herrlich bemalt und warfen eine Flut von Licht auf die Zauberei der Aufbruchs-Zeit. Die Goldenen Imperatoren förderten die Ausgrabungen, in der Hoffnung, die Magie zu lernen, die windverwehten Staub zu Stein verwandeln konnte. Nicht einmal die Geister des Ersten Irenischen Reiches begriffen je, wie alt die Älteste ist, wie viele hundert Millionen Jahre der »Aufbruch« gedauert hat. Ebenso wenig hätten sie glauben können, daß Aufbruch-Zivilisationen aufgebaut wurden, bis sie die Sterne erreichten, bevor sie zahllose Male stürzten oder zur Erde zurückgeschlagen wurden. Die Menschen der späteren Zeiten verehrten den Aufbruch. Wie ihnen sagen, daß Millionen Jahre bevor Rhodrora erbaut wurde, Menschen wie sie die entblößten Ruinen der Braut der Friedlichen See, Valmiranus, der Königinstadt des Westlandes, betrachtet hatten, die sie in der nebelverhangenen Morgendämmerung von Welt und Zeit errichtet hatten? Seit dem Untergang des Zweiten Reiches war Eoréné wieder voll Sand geweht worden, wie vor dem Aufstieg der Sturmkönige dieses Reiches. Es ging die Rede, man wolle die Älteste als die Hauptstadt besetzen, und Yelgameijan der Träumer versuchte in der Tat, Paxicum hinauf aufs Wandland zu versetzen. Die Theiks entdeckten, bevor sie in der Unheimlichen Rebellion gegen die Alten im Zweiten Reich vernichtet wurden, die gewaltigen, nach oben führenden Bohrlöcher, durch die Ozean-Iréné hinaufgepumpt wurde, 53
um die Hochländer zu bewässern, und Yelgameijan versuchte sie als Hebezeug- und Rampengehäuse zu verwenden. Aber es war zu kostspielig, die Goldenen Imperatoren des Ersten Reiches nachahmen zu wollen; das Schelf bei Paxicum war bedeckt mit den Gebirgsgebäuden von Eoréné, des alten Valmiranus, und der Regen vom Aufstrom lief sofort ab. Nun bewohnten nur noch die unrechtmäßigen Erben der Theiks und die Senarener, die Pramantiner des Kults des Aufbruchs, in der Ältesten. Sie hatten ihr Hauptkloster in den Bemalten Höhlen errichtet, von denen sie einige wieder leergefegt hatten, und es hieß, sie hätten den Schatz der Theiks gefunden, die Bücher, die diese vergraben hatten, bevor die kreischenden Unheimlichen Jugendlichen über sie hergefallen waren. Trebor warf sich bei dem Gedanken an die Pramantiner auf seinem unbequemen Bett hin und her. Wenn wirklich sie es waren, die Viani gefangenhielten, würden sie sie nach Vandamar und wieder zurück nach Paish bringen. Sie mochten auf eben dieses Schiff hier warten. Oder, was wahrscheinlicher war, sie würden sie nach Amballa bringen und sie in Bereitschaft halten, um ihn zu erpressen. Unter der Folter würde sie alles ausplaudern . . . alles. Und Linllallal war zur Zeit in Amballa in höchstem Maße unbeliebt. Er wurde vom wilden Sturm der »Foehn« über den Rand des Dunkelberges aus unruhigem Schlaf, einem Traum von der Schlacht bei Kergans Kessel, geweckt. Trebor schaute hinaus und sah im Süden das hochragende Massiv des Grunderbore. AufbruchRuinen schimmerten auf seinem Gipfel, wo noch nie ein Mensch gewesen. Auf diesem Berg, damals Helgrammon genannt, hatte der Goldene Imperator Suiluj der Menschgott seine magischen Bombarden aufgestellt, Reihe um Reihe, und die Heerscharen von Pompes dem Großen zerschlagen. In jenen Tagen war der Sumpf mit Wasser der Großen und Kleinen Frisch-Seen bedeckt gewesen. Suiluj gewann die Hilfe der Spenster, der Bewohner der Seen und angrenzenden Sümpfe, und zum Ausgleich wurden sie nicht in das Reich gezwungen, obwohl ein wichtiger Handelsweg durch die Seen führte. Hier, nördlich vom Grunderbore, war das Gebirge älter, wie 54
Trebor selbst im schwachen Licht der Sterne sehen konnte, waren die Ränder verwittert, bis es zweimal so breit und nicht einmal halb so tief war wie im Süden. Tief im Süden, knapp nördlich über dem Zittersumpf, wurde die Fortsetzung des Gebirges vermutet, das begraben war unter meilenhohem Salz und Treibsand. Lichter und Stimmen, das Klappern eines Lukendeckels und Knarren von Tauwerk, als Waren aus dem Frachtraum gehievt wurden. Eine Kolonne hoher Rhamrans zog vorbei, deren Beine das Fackellicht zerschnitten. Die »Foehn« mußte Zoll bezahlen, um auf die andere Seite des Gebirges gehoben zu werden. Es roch nach frischgepflügter Erde und Jauche. Hier, an den Sumpfrandgebieten, in fruchtbarem, bewässerten Land, von der Welt aber durch Wüsten und Berge getrennt, gab es verstreute Gemeinschaften, bloße Dörfer, die kaum die vage Souveränität der wenigen großen anerkannten. Bei manchen galten diese Leute als Oger, bei anderen nur als eine andere Menschenrasse, bei wenigen als völlig menschlich. Im allgemeinen ähnelten diese Ortschaften denen von Serenia, nur gab es weniger davon; es existierte keine Stadt wie Paish, und die Bewohner hatten keine Feinde, wenn man von den Ogern um den Grunderbore-Berg absah. Trebor hörte Räder knarren, als das Triff auf den Gegenhang hinaufgewunden wurde. Den Sternen nach war es um Mitternacht. Sie fuhren den Rest der Nacht auf Rädern. Als er aufstand, rollten sie immer noch auf ihnen, aber ringsum umgab sie der Rhomontasonn-Sumpf: trostlose, tangverfilzte Wassertümpel mit vereinzelten Baumgruppen. Die Luft war heiß, feucht und roch sumpfig. Die »Foehn« glitt dankbar in stagnierenden Morast, und die Kufen mit ihren Rädern wurden seitlich hochgeklappt. Mitte des Vormittags weitete sich der sumpfige Nebenarm zu einem See, der seicht war und betupft mit Schlamminseln, die von grün-schwarzen Bäumen gekrönt wurden. Sie teilten sich wie ein Vorhang, als der See breiter wurde. Die Seen und Sümpfe, die Vandamar schützten, ließen sie in Dunst und Nebel schwimmen. Jetzt ragte sie empor, ein nebliger Berg in Form von fünf Treppengängen, die sich oben trafen. Beim Näherkommen sah man, daß der Gipfel flach war. Die Wände wa55
ren durchlöchert von vielen Türen und Fenstern, und auf den Stufen standen kleine Pavillons. Sie verliehen der Stadt Maßstab, und selbst Trebor von Amballa war tief beeindruckt; schlagartig wirkte sie viel höher und viel weiter entfernt. Jede Stufe war zwölf Fuß hoch, und es gab hundert davon. Die Breite am Fuß betrug das Fünffache der Höhe. Wer dieses gigantische Bauwerk errichtet hatte, und wann, wußte niemand. Der Ältere Enna erwähnte es in seiner Chronik des Ersten Reiches nicht – er, der, wie Layan zu Recht bemerkt, jeden Baum Aeras aufgezählt und den Steinen Namen gegeben hat. Layan selbst sprach von einem gewissen »Berg aus Menschenhand«, gab aber in seinem Bericht über Niedergang und Sturz des Ersten Reiches keinen Ort dafür an. Die früheste Erwähnung war das Zeichen auf eine Karte, die mutmaßlich aus dem Zweiten Irenischen Reich stammte, wo der Name Andanasarion auftauchte, was Andannas Säule oder Andannas Halle hieß. Die Sennarenes des Eldric-Mysteriums hatten angesichts von Größe und Alter der Vanda, wie man sie zu nennen begann, Ehrfurcht empfunden. Die Halbgötter des Aufbruchs bauten nicht mit vergänglichen Steinen oder Metallen, sondern mit Stoffen, die ihren degenerierten Nachkommen unbekannt waren; noch war es im Stil des Ersten Reiches, so daß Zweifel an ihrem Alter laut wurden. Die »Foehn« machte an einem bröckelnden, moosbewachsenen Steinkai fest, der offensichtlich viel neuer war als der Rest der Vanda. Trebor sprang über die Reling, funkelnden Blickes, Ausschau nach seinen Feinden hakend. Vor ihm befand sich eine stumpf-blaue, mörtellose Mauer aus behauenen Steinblöcken, von denen manche bis zu hundert Fuß lang und dreißig Fuß hoch waren. Die erste Stufe führte zur alten Oberfläche des Sees, über fünzig Fuß oberhalb des verfallenden Kais. Eine schmale Treppe führte hinauf. An einer Hebemaschine hing ein Seil mit Frachtnetz. Kleine, blasse Männer, die Schwarmlinge von Vandamar, standen herum; ihre Augen mit den goldenen Pupillen waren ausdruckslos. Sie trugen Gewänder aus Seide und Glasseide, die in leuchtenden Farben kunstvoll bestickt waren. Trebor näherte sich 56
einem der Männer, setzte ein Lächeln auf und erkundigte sich nach den Vereinbarungen. Der Schwarmling sah ihn an und wies mit dem Kinn auf einen anderen. Trebor trat zu diesem und wiederholte seine Frage. Diese Person fragte ihn nach seinem Namen und zeigte auf einen dritten Schwarmling. Erbost bleckte Trebor die Zähne und stellte die Frage ein drittes Mal. Der Dritte wies auf die Treppe, und Trebor sprang sie hinauf, jeweils zwei Stufen auf einmal nehmend, die sehr klein waren. Atemlos und ruhiger ging er auf einen prächtig gekleideten, trägen Schwarmling zu und erkundigte sich erneut. Diese erste Treppe der Vanda war hundert Fuß breit, und auf ihr wuchsen Gebüsch und kleine Bäume, aber keine Blumen. Es gab kein Geländer, weder hier noch auf irgendeiner anderen Treppe. Einige leuchtend gekleidete Schwarmlinge waren sichtbar, auf den höheren Treppen zunehmend mehr. Man konnte keinerlei Art von Abwehranlagen erkennen. Der Prächtige betrachtete Trebor ohne jedes Anzeichen von Interesse, fragte ihn, woher er sei, wohin er wolle, was er dort wolle, wann er dort anzukommen hoffe, und ob er beabsichtige, zurückzukehren. Trebor antwortete ungeduldig, sagte aber die Wahrheit – es hieß, daß die Schwarmlinge jede Lüge erkannten, so winzig sie auch sein mochte, obwohl sie nichts ausstrahlten und keine geistigen Emanationen wahrnehmen konnten. Der Schwarmling nickte gemessen und holte einen anderen herbei; Trebor wurde sieben Stufen zur Idtinata oder Besucherrast geführt. Hier ließ man ihn eine Weile allein, während er über das nachdachte, was er von Vandamar wußte. Ihre Bewohner waren eine Schwarm-Gesellschaft, die blassen Männer alle geschlechtslos. Die Frauen hatte noch nie jemand gesehen. Die funktionellen Männer waren für bestimmte Tätigkeiten zuständig, wie Handel, Fertigung, Sumpfbestellung. Wie viele Kasten es gab und was sie alle taten, wußte man nicht. Einmal, so hieß es, hätten die Schwarmlinge eine Kriegerkaste besessen und Rhomontasonn beherrscht – was zweifelhaft war, denn wer lebte dort, um beherrscht zu werden? Vandamar war bekannt für seine Kunst – nur abstrakte, man stellte nie Abbilder her –, seine Kunstfertigkeit in Leder, Holz und 57
Spitzen, Parfüms, geistigen Getränken und so weiter. Außerdem verkaufte man Sumpfprodukte: Elfenbein, Korn, Wurzeln, Kräuter und Gewürze. Der Handel war im besten Fall flau. Es hieß, daß die Schwarmlinge den Großteil ihrer Zeit für verschiedene Künste aufwandten. Poesie, Musik und Tanz waren beinahe zur Vollkommenheit entwickelt worden. Das Bedeutsamste war, daß man sie weithin als Seher und Wahrsager kannte. Trebor tastete nach seiner Börse und dankte seinem Planeten, daß Doroteo Arango seine Fahrt auf der »Foehn« bezahlt hatte. Ein winziger Schwarmling kam herein, dessen Kopf kaum bis zu Trebors Brust reichte. Er war schlank wie eine Schlange. Er trug ein Tablett mit verschiedenem Eis und einer leichten Mahlzeit und verschwand lautlos. Trebor aß und ging ruhelos hin und her. Nach einer Zeit, die nicht halb so lang war, wie sie ihm erschien, kam ein dicker kleiner Mann herein und fragte ihn heiter nach seinen Geschäften. Das war eine Frage, die ihm noch niemand gestellt hatte. »Meine zukünftige Frau, unterwegs mit einer Gesellschaft von den Uberbergen nach Norden, soll mit mir zusammentreffen, entweder hier oder an der Grenze von Shamsund, südwestlich von hier, je nach dem Fortschritt unserer jeweiligen Reisen. Ich suche sie; wenn nicht hier, dann möchte ich, daß Eure Wahrheitssprecher nach ihr suchen.« Das war alles wahr, wenn auch nicht die ganze Wahrheit. Der dicke kleine Mann wollte die Namen, Nationalität und den Rang jeder einzelnen Person in der Reisegesellschaft wissen. Trebor konnte nicht sagen, ob irgend etwas davon ihm etwas bedeutete. Der dicke kleine Schwarmling ließ ihn wieder allein hin und her gehen. Die kantige, nackte Architektur des riesigen Gebäudes mit seinen ovalen Fenstern und Türen besänftigte ihn nicht. Draußen auf der Stufe war es nicht besser, aber der Platz reichte für das Aufund Abgehen; dreißig Fuß betrug die Breite. Nach langer Zeit erschien ein anderer kleiner Mann, der sich im Aussehen von dem ersten unmerklich unterschied und nicht ganz so dick war. Für ihn wiederholte Trebor alles, bemüht, seine Fas58
sung zu wahren. Dieser Mann wollte vor allem Daten wissen, die Zeit des Reiseantritts, den Tag der vorgesehenen Begegnung, und so weiter. Trebor tat sein Bestes, düster davon überzeugt, daß er nichts würde erfahren können. Wenn Viani hier war, wurden die Schwarmlinge dafür bezahlt, sie verborgen zu halten. Seine Aussicht, sie zu finden, war gleich null – die Vanda war am Fuß gut über eine Meile breit, fast eine Viertelmeile hoch und wimmelte von Schwarmlingen wie ein Ameisenhaufen. Anda allein wußte, wie tief die Keller reichten. Wenn sie bestechlich wären . . . Unwahrscheinlich. Sie mußten wissen, daß in Amballa die Erben das Heft in der Hand hatten, und sie würden keinen Wert darauf legen, sich die künftige Regierung zum Feind zu machen; Vandamar existierte nur geduldet. Schließlich kam der kleine Schlanke wieder und zirpte: »Eure Audienz ist bewilligt, o Mann von Amballa.« Er wurde eine halbe Meile durch den Komplex geführt, weitere drei Treppen hinauf. Nach der Düsternis und dem muffigen Geruch der Vanda – es roch nach Millionen von Lebewesen, die Luft selbst erschien verbraucht - war die Seancen-Kammer warm beleuchtet und gut belüftet. Hier empfing ihn einer, der sich als Jitartinto vorstellte – mit gewaltigem Respekt. Trebor begriff, daß der andere ein funktioneller Mann war, und seine Hoffnung wuchs – eine gewöhnliche Seance würde keine Autorität erfordern. Jitartinto trug weite, fallende, mit angenehm geometrischen Mustern bunt bestickte Gewänder, die an jene von Insekten erinnerten. Sie tauschten höfliche Komplimente. Dann wurde ein mißgestaltetes Wesen, verborgen unter einem schlichten Gewand – oder Tuch –, hereingetragen. Sein Gesicht war auf froschähnliche Weise undeutlich menschenähnlich. Seine hervorquellenden Augen, ganz oben am Schädel, blickten in verschiedene Richtungen, aber es erweckte den Eindruck, alles zu wissen, was in seiner Nähe vorging. Trebor standen die Haare zu Berge, und zum erstenmal begann er zu glauben, daß am Unsichtbaren Reich etwas dran sein mochte. Jitartinto las eine präzise Zusammenfassung all dessen vor, was Trebor den Befragern mitgeteilt hatte, und das Wesen schloß ohne Umstände die Augen. Es bewegte sich ein-, zweimal, blieb aber eine Viertelstunde lang stumm. Dann begann es zu sprechen, mit 59
tiefer, heiserer Stimme, ohne die Augen zu öffnen. »Trebor, Kommandeur-Erbe der Vorbeuger von Amballa, durch den Zusammenbruch Eurer Partei praktisch ins Exil geschickt.« Trebor biß die Zähne zusammen, aber die Schwarmlinge mochten das ohnehin gewußt haben. »Ihr flieht das Unsichtbare Reich und tragt es mit Euch. Euer Begehren ist Überleben, eine Frau, Herrschaft über Amballa. Ihr werdet in diesem Streben keinen Erfolg haben, bis Ihr mit einem größeren gescheitert seid. Euer wartet ein großes Erbe. Aber Panarch von Amballa werdet Ihr nie werden.« Trebors Gesicht war wie zu Stein erstarrt. Gefasel; Vermutungen und Geschwätz. Er bezahlte grimmig den Gehilfen und zuckte innerlich bei dem Preis für diesen Unfug. Jitartinto betrachtete ihn ruhig, die Fingerspitzen aneinandergelegt, während die Erscheinung unter sarkastischem Blinzeln hinausgetragen wurde. »Wenn Ihr zufrieden seid und Euer Geschäft abgeschlossen ist, könnte ich Euch dazu bewegen, an einer kleinen Vorführung von Linlilitas Letztem Opus teilzunehmen, unter dem Titel ›Das Ding an der Schwelle‹?« Sprachlos vor Zorn, verbeugte Trebor sich ruckartig. Als er dem Mann durch großartige Galerien hinab- und hinabfolgte, beruhigte er sich. Trebor so freundlich zu behandeln, war gewiß unnötig. Vandamar wagte nicht, sich gegen Amballa zu stellen, aber wenn der Wahrsager meinte, er könne – was hatte er gesagt? im kleineren Streben erfolgreich sein, nachdem er in einem größeren gescheitert war – könne eines Tages Herrscher von Amballa sein, würde Jitartinto auch ihn beschwichtigen wollen. Vielleicht würde man ihm Viani zufällig zeigen, so daß er sie »retten« und die Vandamar damit aus der Zwickmühle gegenüber den Erben befreien konnte. Schließlich betraten sie ein gewölbeartiges, reichgeschmücktes Theater, in dem tausend Personen Platz finden mochten. An diesem Abend waren nur zweihundert Sitze um die Bühne aufgestellt, aber das Theater schien mit prächtigen Schwarmlingen gefüllt zu sein, zumeist Geschlechtslosen. Eine Vielzahl von Düften lag in der Luft, und süße, hohe Stimmen klangen von der schimmernden 60
Decke zurück. Die Vandamaraner umflatterten Trebor und Jitartinto und andere anwesende funktionelle Männer und betrachteten sie gierig. Trebors Kopf dröhnte von dem hell klingenden Gelächter und der weiblichen Konversation. Verstohlen hielt er den Atem an, als Wellen von Blütendüften ihn überfluteten. Es war, als sei man von Kindern umgeben, bewundernden, ungehemmten – fremden. Sie umdrängten sie und lasen jedes kleine Wort von den Lippen ab. Trebor schwitzte vor unbestimmter Angst. Sie waren nicht menschlich. Man drängte ihnen Tabletts mit Erfrischungen auf. Jitartinto reichte ihm mit eigener Hand Eis, was ein vielversprechendes Zeichen war. Auf dem Tablett gab es keine Blumen. Trebor setzte sich widerstrebend. Der Bühnenvorhang war königsgrün, was eine Tragödie ankündigte. Er öffnete sich vor einer schrägen Bühne, die zur Rechten der Zuschauer anstieg. Der rechte Vorhang wurde ganz geöffnet, der linke nur zur Hälfte. An der Rückwand sah man ein Augenpaar, die Augen des Dramatikers; zwei Augen, die eine Dualität des Themas ankündigten. Die Augen waren lang und schmal und bedeuteten die grundlegende Enge beider Betrachtungsweisen. Ihre Innenwinkel standen nah beieinander, was die eigentliche Verwandtschaft beider Ansichten bedeutete. Sie standen in einem Winkel von fünfundvierzig Grad schräg, und das hieß – Trebor konnte sich nicht mehr erinnern. Das Bühnenbild zeigte einen reichgeschmückten Raum, silbern und weiß, mit rotbraunen Wandbehängen, die faltig durch Rubine waren. Ein Podiums-Masnad ohne Baldachin stand am Ehrenplatz, unbesetzt, davor eine königliche Ottomane. Lüster, glitzernd mit Opalen und Amethysten, warfen perlmuttfarbenes Licht auf die prächtige Szene und ließen es auf die Flügelgewänder des Publikums hinausfließen. Trebor seufzte unhörbar. Nun öffneten sich die Augen, grün mit goldenen Pupillen, wie die der Vandamaraner. Sie blickten auf der ganzen Bühne umher, vergewisserten sich, daß alles seine Ordnung hatte, und sahen dann rätselhaft auf die Zuschauer hinunter. Die Schwarmlinge saßen angespannt, bis sie begriffen, daß die Augen nicht zwinkern würden; 61
eine Welle murmelnder Erleichterung ging durch sie, untermalt vom Knirschen aromatischer Eisportionen in exotischen Formen. Die Augen wandten sich nach rechts, zur Bühne hinauf. Auftritt der Ampetarion, in Gestalt eines unförmig dicken Mannes, nackt und eingeölt, scheinbar aus Schleim bestehend. (Der Darsteller war geschlechtslos.) »Steht mir bei, o Götter des Lebens, denn mich hungert mit einem ungeheuren Appetit!« brüllt er mit quietschender Stimme. »Solcherart ist meine Natur, daß ich genährt werden muß, soll nicht alles enden. Duldet jetzt, daß ich mich vom Guten nähre, denn ich will das Beste, das bekannt ist. Das Jüngste, das Zarteste, das Süßeste, all das ist mein Begehren, frisch Entwöhntes, ja Ungeborenes. Die Sauce mache ich mir selbst, rot, gut gerührt, hoch in der Stimmlage. Nichts kommt ihr gleich.« Die Augen rollen wieder nach rechts. Auftritt der Zymanior, ein hochgewachsener, schlanker, nahezu fleischloser Mann mit Leichnamsgesicht, hohlen, dunklen Augen und Totenschädellächeln. Er trägt eine Peitsche. Der Zymanior verbeugt sich, überreicht dem Ampetarion die Peitsche. »Hör auf mit deinem armseligen Gebrüll, Seele der Gefräßigkeit! Fort von hier, geißle dich, betrachte das Gute, das Wahre, das Schöne. Denn allein durch dies kommt Erlösung zustande.« »Fort gehe ich, die Peitsche tragend, aber nicht, um mich zu geißeln«, verkündet der Ampetarion, die Peitsche bedeutungsvoll schwingend. »Ich gehe jetzt, die Sauce für mein Frühstück zu bereiten, und sollte Speise mir nicht gewährt werden, soll die Sauce allein genügen.« Abgang rechts. Der Zymanior geht die Bühne hinauf, hinunter, die Arme verschränkt, den Kopf auf die hohle Brust gesenkt. »O Torheit des eitlen und kurzlebigen Menschen«, deklamiert er, »nur an plumpen und körperlichen Appetit zu denken. Was hilft die Erhebung des Menschen über die Bestien« – Jitartinto warf einen verlegenen Blick auf Trebor, der die Anspielung nicht begriff –, »die von der Freude der Schönheit nicht wissen? Zu welchem Ende die fein unterscheidende Vortrefflichkeit der Empfindung, wenn sie nur dem vulgären Zeug zugewandt wird, das den 62
Appetit nährt? Denn es sind nur jene mit Selbstdisziplin, die den wahren Schmerz solcher Freuden und die wahren Freuden der Schmerzen kennen.« Wieder rollen die Augen nach rechts. Auftritt die Innotend in Gestalt eines süßen, schönen Mädchens. (Ein kleiner, geschlechtsloser Mann oder ein Kind, sehr blaß, mit einer hüftlangen Perücke aus goldenem Haar, einem winzigen Krönchen, einem Silberkleid und einem Gesicht wie Eis.) »O treuer Zyman«, ruft sie mit hoher, süßer Stimme, »steht mir zur Seite! Gewiß habe ich die Erde eben jetzt beben hören. Seht noch einmal zum Tor der Festung.« Die Augen rollen nach links, und der linke Vorhang zieht sich noch ein wenig zurück und gibt den Blick auf einen hohen, schmalen Türschlitz frei, einen Spitzbogen, dreifach vergittert. Der Zymanior verbeugt sich, blickt aber nicht zur Tür. »'s war nur das törichte Geschrei des verfressenen Kerls, des Ampetarion, o Strahlende. Beachtet all dies Beben und Zittern nicht; sie liegen unter der Seele des Reinen.« Auftritt der Ampetarion mit blutiger Peitsche. »Du irrst, o Schmaler, Hungriger! Aus welchem Grund du dich auch geißelst und dir alles vorenthältst, du wirst nur um so hagerer und böser und kannst in der Welt um so weniger bestehen. Denn wisse, daß die Welt eben erbebte. Nicht für immer und ewig können wir hier verweilen, abgeschlossen von der Welt. Bald müssen wir hinaus, auf daß wir genährt werden.« Die Innotend zuckt zurück und setzt sich auf das Masnad, die Hände vor dem Gesicht. »Narr und Fresser! Wie lange, glaubst du, kann unsere strahlende Innotend ohne dieses dreifach vergitterte Tor überleben? Du willst uns alle vernichten!« »Meine treuen Herren und Diener«, ruft die Innotend, »wir wagen nicht, jene Schutzgitter herabzulassen, damit wir nicht unser Unheil auf uns herabschwören. Wißt, daß die Welt dort von eklen Ungeheuern voll ist. Oft habe ich sie im Traum gesehen; das Schleimige, das Runzelige, das Warzige und das Schuppige, kriechend miteinander und getrennt, und das Schrecklichste von allem, der nicht zu beschreibende Vater des Abscheulichen selbst, dessen 63
Bild mich der Sinne beraubt, wenn ich mich an es erinnere . . .« Der Zymanior zeigt respektvoll Widerspruch. »Das sind nur die übel beratenen Launen der Jungen. Selbstdisziplin, Meditation, Fasten werden sie vertreiben; wendet Euch entschlossen Euren Studien zu und unterlaßt Eure spätnächtlichen Imbisse von Käse, ungesundem gebratenen Fleisch, gewürzten Gemüsen und pikanter gelber Sauce.« »Nein, nein, altes Skelett, laßt das zarte Vögelchen nicht hungern. Sie hat nur einen Alptraum, wie sie von leerem Bauch und vollgestopften Köpfen kommen. Eßt lieber mehr, laßt diese langen Sitzungen mit Büchern, spielt und vergnügt Euch –« Einsetzen donnernder Musik und Paukenschlag zu einem deutlichen Schock auf der Bühne. Schreie bebenden Vergnügens von den Zuschauern veranlaßten Trebor, zusammenzuzucken und beinahe sein Eis fallenzulassen. Das dreifach versperrte Tor erzitterte unter einem weichen, aber schweren Schlag, wie von einem Besen; die ganze Kulisse schwankte, die Wandbehänge schaukelten, und das Masnad bebte unter der Innotend. Wankend taumeln der Ampetarion und der Zymanior in gleich ungeschicktem Tanz die Bühne hinauf und hinab, während die Innotend voller Entsetzen auf das Tor starrt. Tür und Bühne erzittern unter wiederholten schweren, dumpf krachenden Schlägen; die Musik stampft wild und laut. Jitartinto wandte sich Trebor behaglich zu. »Linlilita wurde wahrlich zu Recht der größte unserer Dichter genannt. Niemand hat seine Kunst mehr geliebt, niemand mehr Kunst in seine Liebe gelegt, niemand, dessen Kunstliebe, ein so überragendes Verdienst, die seine übertroffen hätte. Wie tragisch sein frühzeitiger Tod mit dreizehn Jahren. So mancher Dichter wurde vor seiner Zeit abberufen, doch mit keinem anderen haben wir soviel verloren. Aber Dichter, der jenseitigen Welt aufgeschlossen, leben nur kurz in dieser.« »Ein höchst gefährlicher Beruf«, meinte Trebor. »Jedenfalls einer von Wert.« Jitartinto sah Trebor höflich an. »Denn so groß ist ihre Liebe, daß die Liebe aller um sie erneuert wird – es kommt nicht darauf an, wem die Liebe gelten mag.« 64
Trebor fragte sich – und er neigte nicht zu müßiger Neugier bei Nebensächlichkeiten —, welche Art von Liebe oder Zuneigung in diesem Schwärm herrschte, wo so wenige männlich oder weiblich waren. »Es ist sogar wie die Liebe von Kavalieren wie Euch«, fuhr Jitartinto fort. »Wer kann bei Eurem Streben nicht tief bewegt sein, hoffnungslos, doch nie verzweifelnd, auf der Suche nach Eurer Frau vom Weltenrand zur Weltenmitte« – Vandamar – »wer wäre nicht aufgestachelt, ebenso zu handeln, bis bin zu den Mids?« Einen Augenblick lang forschte Trebor innerlich. Die Musik erreichte einen wilden Höhepunkt, während die Bühne zu den Schlägen des unsichtbaren Ungeheuers schwankte und die Herren und Diener der Innotend trunken dazu tanzten. Nun wankten sie zur ächzenden Tür und machten sich daran, die brechenden Gitter zu öffnen. »Laßt! O haltet ein!« kreischt die Innotend. »Gebt mich nicht diesem bösen Ungeheuer preis!« »Nein, süße Dame, 's ist Zeit, daß Ihr die Qualen der Freude kennenlernt«, sagt der Ampetarion. »Nein, süße Maid, s' ist Zeit, daß Ihr die Freuden der Qual kennenlernt«, sagte der Zymanior. Die Innotend steht zitternd vor ihrem Thron, die Hände aufs Gesicht gepreßt. Die Tür wird auseinandergerissen, und ihre Herren und Diener taumeln mit wilden Schreien zurück, die Hände vor dem Gesicht. Augenblicklich verstummte die Musik, und der linke Vorhang wurde aufgerissen. Vor dem Tor, auf der Bühne stand ein froschähnliches, armloses, kopfloses Ungeheuer. Es hatte zwei kurze Beine unter sich gefaltet, wie die eines Frosches, hatte ein riesiges, glotzendes Auge anstelle von Hals und Kopf und war mit Schleim überzogen. (Schellack, dachte Trebor.) Das Ding an der Schwelle erhob sich, bis das Auge fast senkrecht blickte, dann krachte es auf die Türfüllung nieder. Das Ungeheuer war doppelt so breit wie die Tür, und als die Musik wieder aufbrandete, krallte und schob das Wesen sich hinein, mit realistisch bewegten Knien. 65
Während die Musik zur höchsten Steigerung schwillt, flüchten der Ampetarion und der Zymanior hinter das Masnad, aber die Innotend starrt das heranwogende Ungeheuer verzückt an. Während es noch die Türfüllung sprengt, kreischt sie: »Hier ist keine Freude im Schmerz, kein Schmerz in der Freude – es gibt keinen Schmerz! Siehe, das ist kein Ungeheuer, sondern ein höchst willkommener Freund!« Sie stürzt vor und umarmt es, während der Vorhang zu brausender Musik fällt.
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Aber die Kunst ist lang Morgen. Trebor betrachtete den undeutlich erkennbaren Horizont. Es war frühestes Licht, aber man konnte nur wenig sehen. Er stand in einem kleinen Flachboot in einem langsam fließenden Strom. Der Rhomontasonn-Sumpf dehnte sich zu allen Horizonten, eine Wüstenei stagnierenden Wassers, Morast, der grünes Unkraut und Gräser üppig hervorschießen ließ. Im Norden gab es ein paar vereinzelte Bäume, Vorläufer des Waldes, der am Rand des Gesichtsfelds nur ein Flecken war, und durch den Trebor die ganze Nacht in gespenstischer Weise geglitten war. Die Vandamaraner gestatteten keinem, über Nacht zu bleiben. Südlich von ihm schien der Sumpf auszulaufen; Trebor sah an jenem Teil des Horizonts Unregelmäßiges, als das Licht stärker wurde. Die Landschaft stieg hier offenkundig an. Die Strömung, gegen die er seit zwei Stunden angekämpft hatte, nachdem er den namenlosen, von Vandamar nach Süden strömenden Fluß verlassen hatte, war fast verschwunden. Er schaute sich noch einmal im Kreis um, richtete sein magisches Auge auf die Hügel im Süden, rieb sich das erhitzte Gesicht, kratzte sich den Kopf, kratzte sich den Nacken, den Rücken, das Bein, rieb sich die Arme, lockerte seinen Rock, bewegte die Zehen in Schweißpfützen in seinen Stiefeln und wandte sich nach Norden. 66
Zum Glück war der eigentliche Sumpf außer Reichweite. Feierlich, aber mit großem Nachdruck, stieß Trebor den längsten, vernichtendsten, beißendsten Fluch aus, den er dem Rhomontasonn-Sumpf widmen konnte; über Land und Wasser und Luft und alles, was darin wuchs. Er verfluchte alle Wesen, die darin lebten, jene, die schwammen, und jene, die liefen, jene, die flogen, und jene, die am Boden krochen. Vor allem verfluchte er all jene, die summten und alle, die stachen. Die Hügel im Süden waren nicht so fern, wie sie im ersten Augenblick erschienen waren. Gleichmäßig paddelnd, ließ Trebor das Boot Mitte des Vormittags am Ufer auflaufen. Er watete eine Viertelmeile durch seichtes Wasser, zupfte siebzehn Egel ab, stapfte eineinhalb Meilen durch Schlamm und Pfützen und stolperte an den Ausläufern des ersten Hügels aus dem Sumpf – es waren keine anderen Berge als die Mids selbst. Trebor setzte sich in den Schatten eines Strauches. »Anda«, krächzte er, kaum fähig, zu glauben, daß er die Middendump-Minen endlich erreicht hatte. Er rastete nur kurze Zeit; er hatte in der Nacht zuvor nur wenig geschlafen und mochte einschlummern. Hunger und Schwäche gleichermaßen unbeachtet lassend, aber Viani verfluchend, raffte er sich auf und ging weiter. Der Mid war ungefähr vierhundert Fuß hoch und früher offenkundig viel höher gewesen. Von oben schaute Trebor sich um. Die Middendump-Minen waren eine Reihe von runden Hügeln, die sich aus flachem Land erhoben. In ihrer Mitte erreichten sie eine Höhe von vielleicht fünfhundert Fuß. Grobes Gras und wucherndes Unkraut wuchsen hier und dort; kleine Bäume, knorrig und verkrümmt, standen vereinzelt da, wo ihre Wurzeln Wasser erreichten. Nichts regte sich. »Und das alles für ein verdammtes, weggelaufenes Mädchen«, sagte Trebor laut. Er stapfte den Mid hinunter, den nächsten hinauf. Nun türmten sich die Mids übereinander, und man nahm zwischen ihnen Gräben wahr; einmal sah er einen Krater, vierhundert Fuß im Durchmesser, hundert Fuß tief: die Minen. Danach kamen Tunnels, aber für jeden Tunnel gab es zehn oder zwölf Stellen, wo offenbar ein67
mal Tunnels gewesen waren. Ohne Zweifel gab es für jeden eingestürzten Tunnel noch ein Dutzend, die man gar nicht mehr sehen konnte. Jahrtausende hindurch waren hier Überreste des Aufbruchs geschürft worden. Von der Spitze dieses Mids besichtigte Trebor die Szenerie, übte widerstrebend ein Mindestmaß an Vorsicht, legte sich auf den heißen Boden und konnte nicht verhindern, daß ihm Unkrautsamen ins Haar geriet. Er sah keine Spuren von Leben, näherte sich aber dem Herz der Mids vorsichtig, kroch den Hang hinauf und stand erst auf, nachdem er mit seinem magischen Auge Umschau gehalten hatte. Rauch. Der dünnste Faden weißen Rauches; von der Zubereitung einer Vormittagsmahlzeit, dachte Trebor mit plötzlich aufbrandendem Hunger. Das Herz der Middendump-Minen war ein gewelltes Plateau, eine Meile breit. Es gab hier Aufragungen und die Spuren von Bergwerksschächten; offene Gruben waren ausgehoben worden und zum größten Teil wieder eingestürzt. Die Minen gaben nichts mehr her. Dunkelgrünes Unkraut und Gras wuchsen hier noch spärlicher, aber Trebor fand genügend Deckung, um sich über das Plateau vorzuarbeiten. Als er sich der anderen Seite näherte, kroch er beinahe auf dem Bauch. Hier, auf einer der unregelmäßigen Wölbungen des MidPlateaus, lag ein Wachtposten und schnarchte. Trebor kroch die Anhöhe hinauf und sah ihn sich an – ein roher Kerl mit schütterem Bart, in schmutziger Kleidung, die einmal – vor einer Generation – eine Livree gewesen sein mochte. Trebor schnitt ihm mit großer Zufriedenheit die Kehle durch. Es blieb die Frage: Wer waren seine Feinde? Trebor konnte nur drei Möglichkeiten aufzählen: die Erben von Amballa, die Pramantiner des Kults vom Aufbruch, und jene Linllallal-Partei, die gegen Vion, Vianis Vater, war. Wenn Vianis Entführer Amballaner waren, wären sie weiter nach Westen gezogen, über das Übergebirge nach Shamsund und den Annas Annanda hinauf; wenn sie Linllallalaner waren, hätten sie sie gewiß zu sich nach Hause gebracht – oder einfach getötet; sie konnten also nur Pramantiner 68
sein, und diese Entführung war ein mehr oder minder glücklicher Zufall. Was hatte der Wahrsager erklärt? »Ihr flieht das Unsichtbare Reich und tragt es doch mit Euch.« Das Siegel seines Vaters, vom Kult des Aufbruchs ermordet- wenngleich das nicht allgemein bekannt war. Trebor legte stirnrunzelnd die Hand darauf, dann tat er das Ganze mit einem Achselzucken ab. Als er von seinem Hügel hinunterblickte, sah er zwischen zwei Hügeln am Rand des Plateaus, vielleicht dreihundert Fuß unter sich, ein kleines, ordentliches Lager. Eine schmale Zunge aus Sand oder Kies schob sich hier zwischen die Mids, Überreste der wenigen aktiven Gruben, die jetzt wenig mehr als Edelsteine erbrachten. Dort lag ein Jondrover-Kurierschiff. Um die Gruben war kein Betrieb zu sehen. Im Süden, wo das Land weithin anstieg zu den Überbergen, entdeckte er auch keine Segel. Im Osten erhob sich eine Kette niedriger Hügel, aus denen um den Dunkelberg Gipfel wurden. Im Westen fiel das Land ab zum Shamsund, durch einen Dickichtwald, wo Sumpf und Wüste zusammentrafen: sein Weg nach Hause, mit oder ohne Mädchen. Im Lager unter ihm lag alles in Zelten, um der Hitze zu entgehen. Das Lager bestand schon mehrere Tage. Die unheimliche Stille der Gruben war endlich erklärt: Trebor erinnerte sich an Doroteo Arangos dunkelhäutiges Gesicht, sein blitzendes Lächeln und die klaren Augen: »Ihr bringt mir einen Krieg!« Trebor stieg vorsichtig hinunter; es war aber nicht möglich, abzusteigen, ohne gesehen zu werden – wenn es jemanden gab, der sah. Trebor tat es offen und kam unbemerkt über den Zelten an. Schnarchlaute hallten von den nackten Mid-Wänden wider. Trebor wischte sich den Schweiß ab und überlegte, dann kletterte er abseits des Weges an dem steilen Mid entlang, bis er sich über dem kleinsten Zelt befand. Unter seinem Fuß rollte gelegentlich irgendein Klumpen davon – der ganze Hang war wieder und wieder aufgegraben worden, bis das Ganze aus lockerem Material bestand. Die Mids bestanden vorwiegend aus Plastik, zerquetscht, zerfallen, von Käfern und Würmern verschlungen, in Knochen, Schalen und Insektenpanzern wieder abgelagert, neu durchgemahlen, bis am 69
Ende feiner Sand herauskam. Die Steine hier waren leicht wie Bimsstein. Die Zelte waren wenig mehr als Sonnensegel. Aus dem kleinsten drang ein Geruch nach Schminke. Trebor duckte sich gewandt darunter, das Schwert in der Hand, bereit, jeden Aufpasser niederzustechen – verfing sich mit dem Fuß, taumelte vorwärts, sah keine Wache –, sah Viani schlafen. Ihr Gesicht war von der Hitze gerötet. Er fing sich mit der linken Hand ab, sprang hoch – eine Hand an seiner linken Schulter stieß ihn halb auf den Rücken, er spürte ein Messer an der Kehle. Er glotzte. Sie war nicht viel größer als ein Kind, mit dem ernsthaften Gesicht eines Kindes. »Auf den Rücken legen!« flüsterte sie, mit funkelnden braunen Augen, und stach ihm ein wenig in die Haut, als er fassungslos zögerte. Sie war nackt in der Hitze, hatte eine muntere, runde Figur, die nichtsdestoweniger in ihrer Weiblichkeit wohlgeformt war. Sie atmete ein wenig auf und lächelte schwach, weder kokett noch geziert, über die offene Bewunderung in seinen Augen, aber das Messser schwankte nicht. Sie beugte sich vorsichtig hinüber und zupfte an Vianis Kleid. »Mylady? Wacht auf! Pst, seid still!« »Was ist, Lissa? Ich habe Durst«, sagte Viani mit kleiner, dumpfer Stimme, gereizt und von der Hitze ausgelaugt. Sie rieb sich das gerötete Gesicht, versuchte das klebrige, feuchte Haar zurückzustreichen, dann sah sie Trebor. Ihre Augen weiteten sich und nahmen einen frohen Ausdruck an. Trebors finstere Miene hellte sich um Spuren auf. »Du bist gekommen«, flüsterte sie ungläubig. »Wie viele seid ihr? Hier sind nur acht.« Sie sprach die Mittelsprache der Gleichgestellten. »Ich bin allein. Deine kostbaren Linllallalaner eilten nach Hause, um zu schwören, sie wären nicht einmal fortgewesen, als du weggelaufen bist.« Sie wurde rot und funkelte ihn an. »Ich habe nichts anderes erwartet. Das einzige, was ich nicht verstehe, ist, wie du dazu kommst, mich zu retten. Wenn du nicht 70
gewesen wärst, hätte ich mir nicht einen Mann in der Wildnis suchen müssen.« Trebor erwiderte gefühllos: »Nun, du hast acht gefunden. Das sollte dir genügen.« Tränen der Wut und Enttäuschung sprangen ihr in die Augen; sie ballte die Fäuste, und nur das Würgen in ihrer Kehle verhinderte, daß sie ihn anschrie. »Sie haben mich nicht angerührt«, sagte sie, halb erstickt, gedemütigt. Trebor sah, daß sie ehrlich verletzt war, und bedauerte seine Bemerkung. »Zweifellos haben sie strenge Anweisungen von den Pramantinern«, erklärte er ruhig. Viani hatte sich auch beruhigt. Sie funkelte ihn mit wilder Abneigung an. »Zweifellos. Danke für Eure Güte. Wenn Ihr jetzt gehen wollt, ich möchte schlafen.« Trebor brummte verärgert. »Ich gehe, und du kommst mit. Ich habe nicht Wüste und Kampf und blutsaugerischen Sumpf hinter mich gebracht, um mich wie einen Knecht mit schmutzigen Händen fortschicken zu lassen. Deine edlen Genossen sind entschlossen, zu beschwören, wir hätten in Rhodrora geheiratet, und in. Amballa befehlen wir unseren Frauen.« Sie lächelte ihn ätzend an. »Eine solche Heirat ist nicht vollzogen worden, ich kann es beweisen – und Frauen aus Linllallal werden nicht von rüpelhaften Amballanern herumkommandiert, ob verheiratet oder nicht. Schert Euch fort!« Trebors Silberschlange von Schwert zuckte instinktiv hoch, während er mit den Zähnen knirschte und sie haßerfüllt anfunkelte. Lissa tätschelte das Knie ihrer Herrin. »Hört ihn an, Mylady, hört ihn an. Gewiß ist er doch den frauenverachtenden Pramantinern vorzuziehen, die Euch auf ihrem blutigen Altar nur die Kehle durchschneiden werden. Wer weiß, was sie von Euch wollen?« Das galt es zu bedenken, und während Viani zögerte und ihn 71
immer noch böse anstarrte, stockte einer der Schnarchenden. Je-, mand rang nach Luft, drehte sich herum, schnaubte und lallte und schlief endlich mit schnarrendem Atem wieder ein. Sie saßen stumm und regungslos, nur Trebor hatte die Beine angezogen. Da der Zorn verraucht war, fragte Lissa: »Was sollen wir tun? Ihr seid ganz allein?« »Wir müssen uns davonschleichen. Nehmt mit, was ihr wollt.« Trebor griff nach einem Tuch, sah einen grob gefertigten Plastikteller mit Brot und ein paar Scheiben Speck. Er wickelte den Rest der Mahlzeit in das Tuch und steckte dieses in seinen Packen. Die Mädchen rafften schnell ein paar Habseligkeiten zusammen, und Lissa schlüpfte in ein kurzes Kleid. Während ihre sechs Herzen hämmerten, kletterten sie den Hang hinter dem Zelt hinauf und huschten dann hinüber auf den gestampften Weg. Schnell und leichtfüßig eilten sie hinauf, um hinter dem Rand des Plateaus keuchend stehenzubleiben. Lissa zupfte an Trebors Arm und deutete hinüber. »Da oben ist ein Wachtposten!« »Ist schon tot.« Trebor schaute sich um. Im Südosten bewegte sich etwas. Er schaute hinüber, fühlte, wie seine Herzen zuckten, und hob das magische Auge. Segel, Segel – ein Dutzend vollgetakelter Schiffe fuhr vor der sanften Brise aus dem Sumpf nach Norden. »Jondrover«, stöhnte er. »Sie werden bei dieser Geschwindigkeit in einer Stunde hier sein, aber der Wind wird sich legen, wenn sie von den Höhen der Überberge herunterkommen.« Dann sah er, der Flotte weit voraus, ein Kurierboot mit Dreieckssegeln auf die Mids zufahren. Sein magisches Auge holte es heran – und er sah den roten Schopf und Bart von Sheank. »Los!« Er winkte sie mit der Hand nach Süden und begann zu laufen. Zu seiner Überraschung hielten die Mädchen mühelos Schritt. Vianis Sandalen und Lissas nackte Sohlen stampften so kräftig wie seine eigenen weichen Reitstiefel. Sie hatten das Plateau überquert, als das Boot im Lager eintraf. Sie verloren keine Zeit und stürzten zwischen den Mids auf der anderen Seite das Plateau hinunter, und eine Weile trabten sie stumm dahin, von Trebor nach Norden geführt. 72
Die Hitze war erstickend. Sie rasteten an einer trüben Quelle, aber ihre Angst trieb sie bald wieder weiter. Die Mids erstreckten sich ins Endlose, und Trebor fragte sich düster, was er mit dem verdammten Mädchen eigentlich anfangen sollte, wenn er sie nach Hause brachte. Ein schneller Stoß mit seinem Schwert hätte das Problem gelöst, und Lissa wäre in kühlen Nächten eine trostspendende Maid gewesen. Aber er konnte es nicht tun, so zuwider ihm Viani auch war. Dann bemerkte er, daß er sich verirrt hatte. Die Mids sahen einander alle so ähnlich; ebenso glichen sich alle Schlamm- und Wasserflächen. Er würde am Nordrand einen der Mids ersteigen und mit seinem magischen Auge nach dem Boot suchen müssen. Noch schlimmer war, daß sie warten mußten, bis es Nacht wurde, bevor sie sich ins Freie hinauswagen konnten. Schließlich blieb er widerwillig stehen und sagte den Mädchen Bescheid, wobei er mit einer ätzenden Bemerkung von Viani rechnete und entschlossen war, seinen Jähzorn jetzt im Zaum zu halten und später dafür zu sorgen, daß sie es bereute. Doch sie zog nur die Brauen zusammen, biß sich besorgt auf die Unterlippe und schaute sich um. »Diese verdammten Mids sehen alle gleich aus«, sagte sie. »Kein Wunder, daß die Jondrover die Geister fürchten, die an Vergangenes erinnern. Sind unsere Gedanken verwirrt worden?« »Nur von der Hitze. Ich muß das Boot finden, bevor es dunkel wird, und wenn es möglich ist, sollten wir vorher auf gleicher Höhe sein. Gehen wir weiter nach Norden.« Es dauerte nicht lange, bis sie das Schlickland sich scheinbar unbegrenzt nach Norden ausdehnen sahen. Lissa seufzte, und sie setzten sich auf den Boden, um zu rasten und die bescheidenen Überreste der Morgenmahlzeit der Mädchen und Brot und Käse aus Trebors kärglichem Vorrat zu teilen. Sie befanden sich auf der Nordseite des Mid, aber er warf keinen Schatten. Trebor lag in der Hitze in der rauhen Vegetation, den Kopf knapp unterhalb des Mid-Kammes, und beobachtete erfolglos den Randstreifen des Rhomontasonn. Er sah sich von Unentschlossenheit gequält. Lag das Boot unmittelbar nördlich vor ihnen, nur nicht sichtbar, oder befand es sich östlich oder westlich? Sie konn73
ten nicht hierbleiben und tagelang suchen; sie mußten heute nacht fort oder, so fürchtete er, sie würden es gar nicht mehr können. Sorgenvoll blickte er nach Süden. Eine mißgestaltete Figur auf einem Mid-Kamm erregte seine Aufmerksamkeit, und er richtete sein magisches Auge darauf. Es schien ein riesengroßer Mann mit überlangen Armen und großen Händen und noch größeren Füßen zu sein. Er hatte einen Kopf mit niedriger Stirn, vorstehenden Zähnen und einer wilden Haarmähne, die über den Rücken herabfloß. Zuerst glaubte er ihn in Felle gekleidet, aber dann sah er, daß er nur einen Lendenschurz und seine eigene, zottige Körperbehaarung trug. Während er gebannt hinüberglotzte, drehte sich ihm das Gesicht ganz zu; es blickte herüber, dann beschattete eine Hand die Augen. Einen Moment lang blieb Trebor ruhig, weil er wußte, daß es dem Oger unmöglich war, auf eine halbe Meile Entfernung im Unkraut seinen Kopf zu sehen; dann ließ er mit einem Fluch das magische Auge fallen und starrte hinüber. Der Andathroid drehte sich herum und winkte wild; ein ferner, tiefer Schrei drang schwach zu Trebor. Das Wesen hatte seine Linse aufblitzen sehen. Trebor lief den Mid hinunter und unterrichtete rasch die Mädchen. »Wir müssen in die Mids zurückflüchten; wir können es nicht wagen, hier, vor der freien Landschaft, überrascht zu werden. Wenn wir ihnen nur ausweichen können, bis es dunkel wird –« Sie liefen und trabten und liefen, schlängelten sich zwischen den Minds hindurch, starrten immer wieder zu den Kämmen hinauf. Sie rannten weiter, bis ihre Furcht nachließ und Trebor Bedenken bekam, daß sie auf einen Suchtrupp stoßen könnten. Er erstieg einen Mid und schaute sich um. Zu seiner Betroffenheit entdeckte er, daß sie wieder in die Nähe des Plateaus gelangt waren. Er war jetzt überzeugt davon, daß sie sich zu weit westlich befanden, denn auf dem Plateau gab es eine Wölbung, die weit rechts von ihm gewesen war, als er es das erste Mal erstiegen und den Rauch gesehen hatte. Ein plötzlicher Schrei nahm ihm für einen Augenblick alle Kraft. Er rang nach Atem und brachte seine zitternden Knie unter Kontrolle, als er begriff, daß es kein Schreckensruf gewesen war. Er 74
kroch rückwärts langsam den Hang hinunter und schaute sich überall nach dem Rufer um. Seine Herzen schlugen immer noch heftig, ein-nn, zwei-ei-i. Wieder kam der Ruf: »Jurn! Jurn!« Dann ein tiefes, dröhnendes Gemurmel und noch ein Ruf. Die Echos zwischen den Mids waren zu täuschend, um zu verraten, woher sie kamen. Die Mädchen waren bleich wie alte Statuen. Lissa befeuchtete ihre Lippen und flüsterte: »Hier ist ein Loch – könnten wir uns verstecken?« Ein Grubenschacht. Trebor führte sie vorsichtig hinab. Über ihnen waren bröckelndes Plastikholz und Steinholzbretter, die letzteren noch einigermaßen fest, das erstere aber von Würmern und Käfern zerfressen. Verrottendes Plastik lag am Boden verstreut und erfüllte die Luft mit seinem muffigen Geruch. Muschelschalen und Knochen, zumeist aus Plastik, lagen herum, und Sandkörner des namenlosen Materials aus der Aufbruchs-Zeit, weder Glas noch Stein noch Metall, aber mit den Eigenschaften aller drei Stoffe. So schwer das zu glauben auch fiel, dieser unglaubliche Stoff war zerbrochen und zerschlagen zu Bruchstücken. Selbst diese winzigen Körner zeigten die charakteristisch leuchtende Farbe und Durchsichtigkeit. Größere Stücke, geschliffen und poliert, waren die berühmten Juwelen des Aufbruchs. Der Tunnel verzweigte sich, wo sie im verblassenden Licht stehenblieben, im Kühlen mühelos atmend. Dann hallten gespenstisch dumpfe tiefe Stimmen, so, als befänden die Sprecher sich im Inneren des Tunnels. Ein Stück weit hinein, und die alte Abstützung der Wände fehlte hier, und das lockere Erdreich war herausgestürzt. Dahinter, auf der rechten Seite, befand sich eine Nische. Trebor trieb die Mädchen zu dem Geröll an der linken Seite; sie standen darin bis zu den Knöcheln, und ihre Köpfe streiften die Decke. Das Dröhnen wurde lauter. Der ganze Tunnel hallte von einem Schrei wider. Das tiefe Gemurmel kam näher, wurde verständlich. »Dieser Mistkerl Yngvi . . .« Einer von ihnen spuckte aus. »Hätt' nie zurückkommen sollen. Hatte auch eine prima Stel75
lung. Nackig für einen von den Künstlern in Am-balla stehen. Mit einer kleinen Nackigen auf der Schulter, verstehst du?« »War sie was?« »Nee, eigentlich nicht, zu klein. Aber gut anzupacken. Jedenfalls warf mich das Stück, das den Laden führte, 'raus, weil ich ihn nicht runtertun konnte . . .« Bis die Stimmen und Schritte auf sie zutappten, hatten ihre Augen sich an die Dunkelheit gewöhnt. Zwei riesige Gestalten wankten um die Ecke, mit polternden Geräuschen, im lockeren Geröll rutschend, voran ihr übler Gestank nach säuerlichem Schweiß. Lissas Finger legten sich auf Trebors linken Arm; er spürte ihre Brust und das Zittern ihres kleinen Körpers. Vianis Atem stockte, und sie schob sich näher an ihn heran, aber die Oger bemerkten das Rasseln im Geröll nicht. Sie gingen gebückt unter dem Dach und mußten aufgerichtet acht Fuß groß sein. Sie blieben stehen und starrten blind ins Dunkel, auf gleicher Höhe mit den dreien. Einer beugte sich weit vor, und beide schnupperten mehrmals auffällig. Als ihre Augen sich an die Dunkelheit gewöhnten, grunzte der eine und deutete zur Nische auf der anderen Seite. Als sie vorbeischlurften, beugte sich Trebor vor, ohne die Füße zu bewegen, und stieß die schmale Klinge dem hinteren tief ins Gehirn, zwischen Nacken und Kopf, der so weit vorgebeugt war, daß Trebors Handknöchel die Decke streiften. Tot wankte das Wesen gegen das andere, das grunzte, es mit einer Hand abwehrte und etwas sagte. Trebor sprang zitternd hinaus, im Geröll mit den Knöcheln fast steckenbleibend, aber das Schwert fegte geschickt auf die Kehle des Ogers zu, der erschrokken brummte, als er eine Bewegung wahrnahm und ein Geräusch hörte – dann bohrte sich die funkelnde Klinge in die Kehle des Wesens, das zurücktaumelte. Es schwankte, und verzweifelt vor Angst, daß die anderen es hören könnten, stach Trebor ihm die Klinge immer wieder in den Bauch. Der Oger brach zusammen, gurgelnd und tot, oder so gut wie tot. Einen Augenblick herrschte nur Stille, während Trebor mit gebleckten Zähnen und bloßem Schwert zur Tunnelmündung 76
starrte. Lissa rief bebend vor Erleichterung und Anbetung seinen Namen. Dann in der Ferne tief-grollende Stimmen; im anderen Tunnel befanden sich mindestens noch zwei. Sie sprachen wieder miteinander, schon näherkommend, und er ächzte erschrocken. Er überlegte, ob er erneut auf den Geröllhaufen steigen und sie aus dem Hinterhalt anspringen sollte, aber sie würden wachsamer sein; außerdem fehlte ihm jetzt der Nerv dazu. »Kommt!« Sie hasteten durch den Tunnel. Trebor ließ die Klingenspitze an der einen Wand entlanggleiten, die Fingerspitzen an der anderen. Der Tunnel bestand aus einer Reihe von Halbkreisen. Die Bergarbeiter hatten das Geröll ausgegraben, nach Juwelen und Artifakten durchsiebt und es auf die andere Seite des Tunnels geworfen, bis ein großer Raum voll durchschürft war. Es gab keine Abzweigungen. Immer wieder stolperten sie über Schutthaufen. Wutschreie trieben sie an. Trebor rechnete halb damit, daß die Grube einstürzen und sie begraben würde. Die toten Oger waren gefunden worden. Der Tunnel war dunkel. Es war die tiefste, intensivste Dunkelheit, die Trebor je erlebt hatte, vor allem deshalb, weil er fürchtete, für immer hier eingesperrt zu bleiben. Während er dies noch dachte, sah er einen Lichtschimmer. Vorsichtig führte er die Mädchen darauf zu. Nach zwei Biegungen wurde das Licht heller. Sie erreichten es, nachdem sie über einen letzten Geröllhaufen geklettert waren. Dahinter lag ein kleiner Haufen; hier gab es von der Abstützung noch einzelne Bretter unterhalb der Decke; das Geröll quoll dort heraus. Auf dem Haufen lagen ein schwach leuchtendes Quadrat und eine abgenutzte Schaufel aus papierdünnem Aufbruch-Material und nichts sonst. Dann begriff Trebor. Er sprang auf das Geröll und riß an den Abstützbrettern herum – schweres Steinholz, zu einer Tür zusammengefügt, oben mit Strickschlaufen als Scharnieren. Mit seinem Schwert bedrohte er die Dunkelheit dahinter. Eingerahmt davon war ein starrendes Gesicht, ganz Augäpfel und aufgerissene Mundhöhle, alt und silberhaarig. Es keuchte vor Angst. Bevor Trebor sich überlegen konnte, was er sagen oder tun 77
sollte, tönte wieder ein Schrei durch den Tunnel. »Oger«, sagte Trebor, »laß uns hinein.« Der alte Mann nickte, schluckte krampfhaft und nickte wieder ein paarmal. »Bringt die Leuchte«, sagte Trebor. »Und die Schaufel.« Er folgte dem Alten zurück in seinen Tunnel – ein bloßer Kriechgang –, griff nach hinten und nahm die Schaufel, die er weitergab. Viam kam nach, und er mußte sich an die Wand pressen, um sie vorbeizulassen; dann folgte Lissa mit dem Licht. »Gib das Licht weiter, damit es nicht durch die Ritzen scheint. Schnell, Alter!« »Sie gehen nach der Witterung«, flüsterte Lissa laut. »Fürchtet keine Verfolgung.« Der alte Mann sprach mit trockener, brüchiger, aber überraschend fester Stimme, obschon Trebor die mitschwingende Angst hörte. »Dieser Teil der Middendumps besteht zum Teil aus Stamsilan, dessen Zerfall von empfindlichen Nasen nicht ertragen werden kann, 's ist gefährlich einzuatmen. Ich grabe meine Fluchtwege alle durch diesen Plastikstoff.« Nach kurzer Zeit spürte Trebor, wie seine Füße abrutschten, während ringsumher Licht flammte. Er stand in einem anderen Tunnel, der in weit besserem Zustand war als derjenige, den sie verlassen hatten. Der alte Mann stand mit gefalteten Händen da und lächelte seine Gäste mit schlichter, willkommen heißender Freude an. Viani und Lissa glitten rasch herunter, und Lissa strich ihren Rock glatt. Das Licht hier kam von einer anderen schwachen Leuchte an der Wand. Der alte Mann ergriff sie und ging mit einer Handbewegung durch den Tunnel voran. Trebor hielt sein Schwert bereit. Nach kurzer Zeit erreichten sie eine Steinholztür. Dahinter lagen Wohnräume mit Felswänden, von vielen trüben Lampen erleuchtet. Trebor und den Mädchen stockte bei dem Reichtum, der von allen Tischen und Regalen glitzerte und schimmerte, der Atem. Hier gab es namenloses Aufbruch-Material in allen Farben, durchscheinend und durchsichtig und leuchtend; hier war Gold, Metalle wie Silber, nur härter und nie dem Verfall ausgesetzt, Metalle purpurn und bläulich und kupfern rot; hier gab es Edelsteine, die Diamanten übertrafen, ohne mehr zu sein als zerbrochene Bruchstücke des 78
klaren, reinen Aufbruch-Kristalls. Hier gab es Stoffe, älter als jede bewohnte Stadt auf Aera, zart wie Spinnengewebe, leuchtend wie die Morgendämmerung, weich wie ein Kuß. Die meisten der geborgenen Gegenstände waren Gefäße. Sie waren hoch und schlank wie Vasen; klein und rund; lang und schmal, auf der Seite liegend. Ein Drittel dieser Behälter besaß wahrhaftig Verschlüsse, die ihren Wert mehr als verdoppelten. Tausende von juwelenartigen Verschlüssen lagen zwischen den Gefäßen. Es gab Schüsseln und Schalen und Tabletts wie Blätter oder Blumen; es gab Kochutensilien, durchsichtig wie Luft und federleicht. Der gesamte Reichtum der Stadt Amballa war hier in diesen Räumen vereinigt. Ihr Gastgeber stand dabei, rieb sich die Hände, lächelte besitzfreudig über ihre Blicke großäugigen Staunens, lachte ab und zu mit der reinen Freude des Vorführens in sich hinein. »Eine herrliche Sammlung, nicht wahr, edler Herr, edle Damen? Ein ganzes Leben ist für sie aufgewendet worden.« Er verbeugte sich ruckhaft. Trebor erinnerte sich seiner Manieren und verbeugte sich wie vor einem König. »Wir sind Euer Gnaden zutiefst zu Dank verpflichtet, zuerst und zuletzt für die Rettung unseres unbeachtlichen Lebens, zweitens und vor allem dafür, daß Ihr uns erlaubt habt, einen solchen Reichtum der Schönheit des Aufbruchs zu sehen.« Die Mädchen knicksten der Reihe nach. Lissa sank in die Knie und erhob sich geschmeidig. Der Alte verbeugte sich wieder und lachte erfreut in sich hinein. »Wie? Wie? Eine wunderbare – eine großartige –, nein, eine unvergleichliche Sammlung der heiligen Aufbruchs-Reliquien. Wie? Ein Lebenswerk – das Werk eines langen Lebens. Und nie ein Stück verkauft, um das große Werk zu fördern! Wie? Niemals ein Stück! Welchem größeren Werk könnte man sein Leben widmen, als der Bewahrung solcher Schönheit? Die Kunst ist länger als jedes Leben. Wie? Wie? Wie?« Und wieder verbeugten sie sich alle, so anmutig, als stünden sie im Kristallhof der fabulösen Stadt des Wundersamen Lichtes. 79
Trebors Schwert war, obwohl nicht aus der Zeit des Aufbruchs stammend, viele Menschenleben wert, obschon das nicht auffiel, solange es in der Scheide steckte, denn er hatte den Goldknauf mit schwarzem Samt umwickelt. Abgesehen von seinem Schwert besaß die Gruppe nichts von Wert oder Schönheit. Trebor trug das schlichte Dunkelgrün eines amballanischen Edelmanns auf Reisen, ohne Juwelen oder Federn; seine Kleidung war jetzt verschwitzt und mit Schlamm vom Rhomontasonn-Sumpf und Staub von den Middendump-Minen bedeckt, seine Spitzen waren fast verschlissen. Viana trug eine eher männliche Kleidung aus enger, langer Hose, langer, weiter Chemise, die über ihre Hüften reichte, und Sandalen, die vor Alter auseinanderfielen – eine Jondrover-Tracht, die sie gegen ihr Kleid im Zelt eingetauscht hatte. Wie ein Mann hielt sie den zerknüllten, breitkrempigen Hut beim Knicksen an die Brust. Ihr schwarzes Haar hing schlangengleich herab. Lissa trug nur ein bis zur Mitte der Oberschenkel reichendes Kleid in tristem Braun, das über den Schultern fast vergilbt war. Es klebte feucht an ihr, der Saum war zerfetzt. Ihre Füße waren nackt und schmutzig. Ihr braunes Pagenkopf-Haar behielt in der Hitze seine Form vorzüglich. Der Eremit war so schlicht gekleidet wie Lissa, in ein langes Hemd, das bis zu den Knien reichte. Der Saum war auch zerfetzt. Das Hemd war so grob gewoben wie Sackrupfen und aus demselben Material, nämlich gröberen, ausgeschiedenen Plastikfäden, die von den weniger wertvollen Webspinner-Käfern und – Würmern gesponnen waren. Es war ungebleicht und ungefärbt, um die Hüften mit einem Strick aus den gleichen Fasern festgehalten, und an den Oberarmen in zu weiten, unten zerfetzten Ärmeln endend. Des Eremiten dürre, knochige Beine liefen in riesengroße, nackte Füße mit enormen, wulstigen Zehen aus, die wie Finger wirkten; seine Hände waren knorrig und vom jahrelangen unermüdlichen Graben dick beschwielt. Sein Haar war sehr weiß, mit Schmutzstreifen, und stand wie eine Aureole um seinen Kopf. Sein Gesicht war so mager und knorrig wie der ganze Körper, mit einem breiten Lächeln, das große, gelbe Zähne freigab, einer hochgewölbten Nase und großen, dunklen Augen, die für ihre Höhlen zu groß zu 80
sein schienen. Die Augen glühten mit einem schlichten, gutmütigen Wahn von der Art, den alle rechtdenkenden Menschen achten. Es war der Wahn eines Mannes, der sich einem Werk verschrieben hat, das größer ist als er. Trebor kam nicht einmal auf den Gedanken, sich zu fragen, warum der Alte nichts von dem kostbaren Stoff trug, den er aus der fernsten Vergangenheit geborgen hatte. »Erlaubt mir, mich und meine Begleiter Euch vorzustellen, gnädiger Herr«, sagte Trebor und zog seinen Schwertknauf bedachtsam näher heran. »Ich bin Trebor, Sohn von Sirrom, Sohn von Leinard dem Buller, Kommandeur-Erbe der Vorbeuger von Amballa und Nachkomme von zwei Generationen Panarchen dieser Nation. Dies, meine Lady-Ehefrau, ist Viani, die Tochter Vions, Prinzberater und Kanzler des Throns von Linllallal. Und ihre treue Dienerin Lissa.« Der Eremit erwiderte ihre Höflichkeitsbezeugungen erneut und sagte: »Ich bin Wächtererhalter der Selbsternannte, örtlicher Leiter des Ehrsamen Ordens der Förderer von Fortschritt und Sucher nach dem Neuen Aufbruch« – Trebor und Viani stockte der Atem –, »gewöhnlich als Theiks bekannt.« Mit einer neuen Verbeugung. »Wir sind wahrhaftig tiefer geehrt, als wir uns je hätten träumen lassen. Ich hatte die Theiks ausgerottet und ihr ganzes Werk beim Untergang des Ersten Irenischen Reiches und erneut während des Zweiten vernichtet geglaubt.« Ein Ausdruck tiefster Melancholie erschien auf dem Gesicht des Wächtererhalters mit den eingefallenen Wangen. »Ja, dreimal wurde der Orden zerstört; noch dreimal wird er zerstört werden, bevor seine Arbeit getan ist. Wißt, o Trebor von Amballa, daß ich in den Ehrsamen Orden im Zweiten Reich eintrat« – die Mädchen stöhnten auf –, »während er geheim und versteckt sein Dasein fristete. Ich hatte bis zur dritten Zerstörung, beim Sturz des Zweiten Reiches, ein wenig Ehre und Beförderung erworben. Als ich sah, daß die Zeit nicht reif war, suchte ich Zuflucht in den Hochländern, wo es viele Städte aus dem Aufbruch gibt, die noch gut erhalten sind, bis das Dritte Imperium entstand. Während dieser Zeit wanderte ich über dem Tiefland hin und her 81
und suchte immer nach Reliquien aus dem Aufbruch; sieben Verstecke mit heiligen Reliquien legte ich an. Nach dem Sturz des Dritten Imperiums und der Aufgabe der Minen hier kam ich hierher, um meine Arbeit fortzusetzen. Seither habe ich die oberen Mids dreimal durchforscht. Ich entsinne mich immer noch meiner Freude, als ich während des Dritten Imperiums von der Entdekkung der Middendump-Minen hörte. Ich glaubte an den unmittelbar bevorstehenden Beginn des Neuen Aufbruchs.« Er seufzte. »Aber ich hatte die Prophezeiung des Größeren Theik vergessen, daß der Orden dreimal und dreimal vernichtet werden würde. Sobald das Vierte Reich gegründet wird, muß ich hinauf, um den Ehrsamen Orden erneut entstehen zu lassen. Wißt, o Mann von Amballa und Frauen von Linllallal, daß ich es mir zur Pflicht gemacht habe, die unirdische Schönheit des Aufbruchs in allen seinen heiligen Reliquien zu bewahren; ohne Skrupel stehle ich sie auch den Vulgären, die sie zu niedrigem Gebrauch bestimmen«, sagte er traurig. Trebor dachte schuldbewußt an den mit Aufbruchs-Material geschmückten Brunnen der Vorbeuger. »Betrachtet dieses Gefäß der Impressionisten des Vierten Zyklus. Erinnert es Euch nicht an einen Fisch? Wie? Seht die Wölbung vom Mund zum Sockel, die Flossen hier, wo ein Henkel angebracht gewesen sein mag – zweifellos, um es besser ergreifen zu können. Gewiß kann es nur einen kostbaren Duft enthalten haben, vielleicht gewonnen aus den großen Meeren, die damals, wie Ihr wißt, fast das ganze Tiefland bedeckten. Seht, dieses Tablett. Betrachtet die reine, ungefirniste Schönheit, die Vollkommenheit ohne eine einzige Figur oder Verzierung, sogar ohne Ziselierung, bis auf diese eine begrenzende Linie. Wie? Wie? Kann irgendein Künstler dieser generierten Zeit etwas schaffen, das in sich so rein ist, daß es keinerlei Verzierung braucht? Wie? Nein, und auch im Dritten Imperium nicht. Wie gut es war, daß ich ihnen nicht vom Aufbruch gepredigt habe. Wie? Hier haben wir ein Gefäß unbekannter Bestimmung aus den Stürmischen Jahren, vom Größeren Theik das Wrealldemonium genannt –« »Gnädigster Herr –« »Wie? Wie?« »Wenn ich der Empfindsamkeit einer so verfeinerten und ge82
lehrten Person die plumpen Sorgen der Welt aufdrängen darf – wir werden bedrängt von Feinden, viele davon Oger, acht Fuß hoch und von bestialischem Aussehen . . .« Trebors Stimme verklang unter Stirnrunzeln. »Die Jondrover müssen gewiß vorgehabt haben, dich« – er meinte Viani – »gegen Lösegeld den Pramantinern vorzuenthalten. Nicht, um Geld, sondern um Hilfe gegen ihre Feinde zu erlangen.« »Das würden sie nie tun.« »Nein, aber die Jondrover würden das nicht glauben. Die Oger – sie müssen Grumer sein – hätten dich bestimmt für sie festgehalten. Sie leben über Dunkelberg, wo die Überberge in die Helgram-Berge übergehen und am Grunderbore enden.« Wächtererhalter war dadurch aufs äußerste bestürzt. »Oger in der Tintintorora! Wer hätte das für möglich gehalten? Dieser riesige Hafen, tot, in Ruinen, und Dämonen in Menschengestalt erben seine ganze Pracht. Wie? Das sind dunkle Zeiten, wahrlich dunkle Zeiten. Was wird aus der Welt werden? Wie? Wie? Und Vandamar – ist es auch untergegangen? Ich entsinne mich, als die Schwarmlinge mir freundlich erlaubten, hier zu leben und aus den Middendumps zu holen, was ich wollte; der Aufbruch bedeutete ihnen nichts. Ah, sie waren mächtig, ihre Schiffe durchpflügten den Rhomon-See. Sie waren es, die den Kanal bauten und die mächtigen Schleusen zum Dunkelberg errichteten. Ihre Schiffe segelten nach Süden bis Umbadroon und nach Westen übers Salz bis Paxicum, wo ich auf dem Höhepunkt des Zweiten Reiches meine erste und schönste Liebe freite, vom Wandland auf eine Szene höchster Friedlichkeit hinabblickend.« So sehr Trebor sich Gedanken über diese Erinnerungen an eine fernvergangne Zeit machte – konnten die Vandamaraner je mächtig gewesen sein? Welches Schiff konnte den Dunkelberg befahren? Oder war er damals voll Wasser gewesen? –, das nagende Gefühl, daß jeden Augenblick die Grumer hereinstürzen mochten, ließ ihm keine Ruhe. »Seid Ihr sicher, daß wir nicht in Gefahr sind?« »Nicht sicher – denn wer kann sicher sein ? –, aber in all den Jahren, seitdem ich hier arbeite, bin ich nie gesehen worden, und ins Innere meiner Höhlen ist man nicht öfter als zwei dutzendmal eingedrungen.« 83
Seit dem Untergang des Dritten Irenischen Imperiums waren über zehntausend Jahre vergangen. Wächtererhalter straffte seine knochigen Schultern, seinen von der Arbeit gekrümmten Rücken. »Ich werde weder sterben noch soll meine Arbeit umsonst gewesen sein. Die Zeit ist noch nicht bestimmt. Der Ehrsame Orden muß noch dreimal vernichtet werden – und sollte ich sterben, kann er nie mehr auferstehen. Ich allein überlebe.« Ein Äon von Traurigkeit sprach aus seiner Stimme, seinen großen dunklen Augen. Trebor und die Mädchen stießen Seufzer der Erleichterung aus. Niemand konnte an der Voraussicht eines so heiligen und alten Mannes zweifeln. »Aber kommt! Ich habe mich hier so lange verborgen, unter meinen kostbaren Reliquien verborgen, daß ich die gewohnte Höflichkeit vergessen habe. Ich erkenne, daß Ihr heute weit gereist seid. Wie? Erlaubt, daß ich Euch zum Baderaum führe. Ich lasse Eure Reittiere und Diener unterbringen.« Er verbeugte sich. »Euer Diener. Wie?« Der Baderaum war klein und eng, aus demselben groben Fels wie der Rest des ganzen Baues, aber innen mit Plastik ausgekleidet, das die Würmer stark angenagt hatten. Er war ganz annehmbar beleuchtet. Das Bad selbst war eine große Wanne aus leuchtendem, goldenen Aufbruch-Material, glatt wie Glas. Darüber befand sich ein Wassertank, über Rohre mit dem Regenwasser gespeist, das durch die Mids herabsickerte. Lissa riß sich als erste das Kleid herunter und beschäftigte sich unbekümmert mit Vianis Kleidung, während Trebor grimmig zusah. Offenkundig hatte sie Hochgestellte vorher nie bedient. Wahrscheinlich ein Sklavenmädchen der Jondrover. Trebor mußte sich selbst ausziehen, aber zu seiner Besänftigung widmete sie ihm ebensoviel Zeit wie ihrer Herrin. Sauber, aber in ihrer schmutzigen Kleidung, traten sie heraus und fanden ein sehr frugales Mahl vor. Zuerst bemerkten sie nur das Geschirr; der Wächtererhalter hatte tief in seine Schätze gegriffen und vier Teller gefunden. Keine zwei waren gleich oder auch nur von gleicher Größe, und alle ein wenig beschädigt – aber Trebor, Sohn des Panarchen von Amballa, hatte nie Besseres gesehen. 84
Der seine war meergrün, von einer verwirrend unbestimmbaren Farbe, jetzt graugrün, dann graublau, dann von klarem Hellgrün, dann wieder von wolkigem Blau. Das Besteck war ebenso großartig. Trebors Löffel, der Griff ein, zwei Zoll vom Ende abgebrochen, war von tiefem, leuchtenden Grün, tiefer und reiner als jeder Smaragd, den er je gesehen hatte. Sein Glas war eine schlanke Vase, geformt wie eine sich ausbuchtende Blume. Das Essen bestand aus einem Brei von Pflanzensamen, die nachts am Sumpfrand gesammelt worden waren, einem Eintopf aus Pflanzenwurzeln und Kriechkäfern, grobem Honigtau und zum Trinken Wasser, das fast so rein war wie Regenwasser – giftig rein. Einige Stunden lang bezauberte der Wächtererhalter sie mit persönlichen, wirr durcheinandergewürfelten Erinnerungen, mit der Geschichte der Jahrtausende seines Lebens, und langweilte sie mit noch wirrerer Nicht-Geschichte des Aufbruchs, illustriert durch die beschädigten und doch unerreichten Fragmente, die er den Mids abgetrotzt hatte. »Ich habe alles – alles, was über dem Boden lag –, die letzten und geringsten Reste. Wie? Es bleibt noch die Arbeit eines Lebens zu tun, unter der Oberfläche zu graben – denn wißt, daß die Mids einmal eine Grube gewesen sind, wie meine Grabungen beweisen. Die reichsten und besten Reliquien liegen tiefer als alle anderen. Wie? Wie? Man vermutet, daß in der Nähe, als Ozean-Iréné das Tiefland bedeckte, eine große Stadt des Aufbruchs erbaut wurde. Hier kippte man den Abfall ab und vererbte uns damit diese Schönheit ihrer unschätzbar wertvollen Besitztümer. Wie?« Lissa ergriff abrupt das Wort, zum erstenmal: »Aber was nützt es? Warum ein Leben lang diese alten Gegenstände ausgraben und horten? Sie sind schön, ja. Aber was für eine Vergeudung!« Viani stimmte zu, wie man sehen konnte; Frauen haben kein Gefühl für Geschichte oder das Angemessene. Die dünnen Brauen des Wächtererhalters stiegen empor, und der verträumte Ausdruck in seinen verschwommenen Augen verschwand, verdrängt von fassungsloser Verwunderung. »Wie? Wie? Wie? Das Kind ist nicht bei Trost! Was es nützt? 85
Wie? Wie? Was es nützt? Nützt! Wie? Wie könnte man seine Zeit besser verwenden? Wie? Wie? Schönheit, sagt der Größere Theik, ist ihre eigene Belohnung, ihr eigener Daseinsgrund. Wie? Wie sein Leben besser verbringen als unter Dingen der Schönheit und der fernen Vergangenheit, statt mit nichtigen Belustigungen und müßigem Umgang? Vergeudet? Wie? Wie? Vergeudet, diese Schönheit? Durchaus nicht! Schönheit ist Schönheit, ob von allen betrachtet oder von keinem; von einem oder einer Million; nicht weniger schön, wenn im Dreck begraben, wie hier. Wie? Wie? 's ist ein Vorrecht, danach zu graben, sie ans Licht zu bringen, und wenn nur ich sie jetzt sehe, habe ich mir das Recht nicht erworben? Wie? Wie? Das Leben ist kurz. Aber was außer unserer Kunst können wir der Zukunft vermachen? Wie? Mein Werk wird nicht umsonst, wird nicht vergessen sein. Die Kunst ist lang – lang. Wie? Die Zeit ist flüchtig. Betrachtet diese Werke der Menschen des Aufbruchs. Werden sie je vergessen sein? Nie! Niemals! Wie?« Trebor konnte nicht umhin, ihm rechtzugeben. Aber er konnte nicht wissen, daß er unter den ehemaligen Fundamenten der legendären Stadt des Wundersamen Lichts stand.
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Ein Schicksal, schlimmer als . . . Es war spät, als sie sich zurückzogen, wenn auch nicht zu spät, um Trebor Lissa kennenlernen zu lassen, ein überaus köstliches Mädchen und, wie er sich erinnerte, Dienerin seiner Frau. Viani hatte ihm keine Wärme gezeigt. Seine Ehefrau mochte sie sein, aber seine Frau konnte sie nicht werden. Sie war zu schlank und streng und sarkastisch. Der uralte Theik weckte sie früh am Morgen und sagte: »Sie sind gekommen. Macht Euch bereit. Sie sind im allerletzten Augenblick gekommen. Wie? Wie? 's ist früher Morgen, die Oger schlafen den Schlaf der Ungerechten. Heraus!« 86
Trebor war müder als er erwartet hatte, verärgert darüber, daß Lissa lebhaft und glücklich, daß Viani so kühl und frisch war. Aber er hatte gestern eine lange Reise gemacht, eine längere in der vergangenen Nacht. Sie folgten dem heiligen Mann durch einen Tunnel, dann einen steilen Kriechschacht hinauf. Er führte in eine Senke zwischen drei Mid-Kämmen, eine Senke, die mit Dornengebüsch ausgefüllt war und im Schatten eines knorrigen Baumes lag. Es war frühestes Morgengrauen. Wächtererhalter schaute sich um, drückte Trebor ein Tuch in die Hand und sagte: »Gebt ihnen das – 's ist Bezahlung für ihre Güter und Eure Fahrt. Wie? Sagt ihnen, sie am selben Ort abzuwerfen, und ich werde zum Aufbruch beten, daß diese üblen Oger sie nicht in die Tatzen bekommen. Wie? Wie? Geht jetzt!« Trebor wand sich durch das Gesträuch. Ein Flugschiff schwebte niedrig über einer Wölbung auf dem Plateau der Mids. Die Grumer und Jondrover hatten es auch gesehen und rannten schon über die Hochebene. Die Grumer stießen einen gräßlichen Schrei aus, als sie auftauchten. Trebors lange Beine verschlangen die Distanz, Lissas kurze Beine pumpten heftig, Vianis elegante Beine trugen sie wie die eines Rennpferdes, und sie hatten den kürzesten Weg. Aber die Grumer waren riesig und unermüdlich und legten mit einem Schritt sieben Fuß zurück. Sie wurden alle langsamer, als sie die Wölbung hinaufstürmten, Trebors Atem rasselte in seiner Kehle, und Lissa rang schluchzend nach Luft. Dann waren sie oben, mit zitternden Knien, halb erstickt. Die Grumer hetzten den Hang hinauf. Drei von ihnen stürzten. Die anderen wurden langsamer, noch langsamer, gingen, wankten hinauf. So groß sie waren, ihre Lungen konnten nicht genug Luft herbeischaffen, daß sie eine halbe Meile mit größtem Tempo laufen und am Ende einen steilen Hügel erstürmen konnten. Als der erste mühsam über den Kamm stolperte, sprang Trebor ihm entgegen und durchbohrte seinen Hals. Der zweite hatte seinen Knüppel bereit, führte einen mächtigen Hieb, der Trebors Rippen zerquetscht hätte, und fiel unter einem Stoß ins Auge. Der nächste hielt einen gewaltigen Unterarm vors 87
Gesicht und schwang eine Faust. Trebor tanzte zurück, fintierte und traf ihn zweimal in den Bauch. Der Grumer stürzte fluchend auf die Knie. Der nächste zögerte und wich zurück, wartete auf Atem und Hilfe. Sie sammelten sich in einer kleinen Gruppe, sie keuchten, ihre Gesichter mit den niedrigen Stirnen waren finster. Sheank zwängte sich nach Atem ringend zwischen sie, sein roter Bart war mit Staub und Schweiß verklebt. »Auf sie!« stieß er heiser hervor. »Die Belohnung ist verdoppelt –« Schlagartig sprang er zur Seite. Von oben tönte ein Warnschrei, dann kam ein Schlag, unter dem die Erde erzitterte; Trebor spritzte Staub ins Gesicht. Als er wieder sehen konnte, war dort, wo die Grumer gestanden hatten, ein Fleck am Hang. Sie waren plattgequetscht worden, wie Fliegen unter einer Klatsche. Draußen auf dem Plateau gerieten die Jondrover, die ihren Verbündeten gefolgt waren, ins Schwanken und wichen zurück. Lissa rief, und Trebor drehte sich, um am Ende eines schlanken Seiles Gurte zu finden. Die Mädchen schnallten sich bereits an. Ein Ächzen alarmierte ihn, und er fuhr gerade noch rechtzeitig herum, um Sheanks langes Messer parieren zu können. Dann lag der kleine Mann am Boden, und es blieb keine Zeit, sich an dem Anblick zu weiden. Trebor schob seine Beine durch den Bootsmannsstuhl, schnallte sich den Gürtel um und winkte. Das Schiff befand sich nur fünfhundert Fuß hoch. Das Seil wand sich glatt hinauf, aber Trebor spürte den Ruck des Schiffes. Ein Bündel sauste herunter, im letzten Augenblick von einer dünnen Schnur aufgehalten. Es löste sich, und die Schnur wurde blitzschnell hinaufgezogen. Das Schiff drehte sich schwerfällig und ließ das Seil, an dem sie aufgereiht waren, schwindelnd hin und her schwingen. Trebors Position am unteren Ende des Seiles erlaubte ihm unbehinderten Blick unter Lissas Kleid, aber nicht auf das Schiff. Das Flugschiff setzte seine schwerfällige Drehung fort. Sie wurden von muskulösen, adrett uniformierten Aeroben hinauf- und hineingezogen, die die Kurbel eines großen Rades drehten. Ein merkwürdiges Gefühl verriet Trebor, daß das Schiff immer noch emporstieg. Eine Art Maat, in einer reichgeschmückten Uniform, 88
schmuck wie zu einer Parade, grüßte sie mit einem beiläufigen Winken. Trebor nickte steif, beleidigt, aber ohne es zu zeigen. »Kommt mit auf die Toppen, dann sehen wir uns diese Tiere an«, sagte der andere. Er grinste Lissa breit an und führte sie eine lange Strickleiter hinauf, die zwischen zwei schweren, mit Schellack gestrichenen Stoff wänden schwankte. Es waren die Wände der Auftriebstanks, die durch Holzrahmen voneinander getrennt und durch die darin gezüchteten Höhenpflanzen mit ihrer Hebewirkung luftleer gehalten wurden. Trebor bebte vor schlecht verhohlener Nervosität, als sie das Deck erreichten. Das ganze Schiff war nichts als ein zusammengebundenes Gerüst von Plastikholz und darübergebautes GlasfiberGiemen, überzogen mit Glasfiberstoff. Das Gefüge arbeitete und verschob sich auf eine Weise, daß der Kühnste erbleichte. Vom Bug aus ragten horizontal auf je hundert Fuß zu beiden Seiten große Balken hinaus; die Heckmasten waren kleiner. Das Oberdeck war mit Sonnenkraftschirmen bedeckt. Achtern befanden sich zwei große, primitive Schrauben, von Elektromotoren angetrieben. Als ein Propeller sich zu drehen begann, ächzte die ganze zerbrechliche Konstruktion. Das Schiff drehte sich langsam, das Vorderteil war fast genau auf das Jondrover-Lager gerichtet. Die Jondrover waren halb auf dem Rückweg, und schon setzten einige ihrer Schiffe die Segel. Aber noch gab es in dieser Höhe keinen Wind. Das Aeroben-Schiff begann über das Plateau zu schweben, während die Segel an den Masten hinausglitten. Die Segel besaßen die übliche Form eines rechtwinkligen Dreiecks, die lange Seite führte nach oben am Mast; der gegenüberliegende Winkel war am Schiff befestigt, und die Hypotenuse erstreckte sich vom Rumpf bis zum Mastende. Die keuchenden Männer am Boden liefen so schnell wie das Schiff. Die ganze Jondrover-Flotte hatte die Segel gehißt und wäre unterwegs gewesen, hätte es Wind gegeben. Der Maat sah schnell an seiner Uniform hinunter und führte sie über das Deck zu einem elegant gekleideten Mann, der nur der Kapitän sein konnte. Trebor schämte sich des Zustandes seiner Kleidung in ungewohnter Weise. Der Kapitän verbeugte sich mit verächtlicher Gleichgültigkeit, 89
jedoch höflich; seine Aufmerksamkeit war auf einen Mann im himmelblauen Gewand gerichtet, dessen lange Haare und Bart in alle Richtungen wehten. Dieser Zaubermeister stand neben einem großen Stück schimmernden, glatten Aufbruch-Materials, das man auf einer hölzernen Drehscheibe festgebunden und verschraubt hatte, und war mit einem schönen bronzenen Hebeapparat ausgestattet. Es hatte die Form eines Bündels von Stäben oder Röhren, die zusammengeschmolzen waren; die hinteren Enden waren von einer Kuppel aus demselben Material bedeckt. Die Kuppel zerschmolz zu einem Schwanz, der abgebrochen zu sein schien. An diesem Schwanz war eine Platte aus Bronze, Glas und Porzellan angebracht; diese war mit kleinen Skalen bedeckt, nicht unähnlich denen einer Uhr. Der blaugewandete Zaubermeister stand davor, das Gesicht war mit vielen Fältchen übersät, die Augen waren berechnend halb geschlossen, während alle ringsum aus Respekt stumm blieben. Vorsichtig drehte er an kleinen Bronzerädern, die durch den Gebrauch von Generationen glattgeschliffen waren. Dann zog er ganz beiläufig, so daß bis auf den Kapitän alle überrascht wurden, an einem Taljereep. Die Zeiger an allen Skalen drehten sich auf die andere Seite; sonst geschah nichts. Aber die Aeroben, die über die Strickreling gebeugt waren, stießen Brummlaute aus und hieben einander auf den Rükken. Trebor ging vorsichtig auf die Reling zu und sah große Verwirrung in der Jondrover-Flotte. Dieser Zauberschlag war schräg geführt worden und hatte die Aufbauten von einem halben Dutzend Schiffe zerstört. Menschen und Grumer stoben wie Ameisen in alle Richtungen auseinander. Pfeile wölbten sich hoch und blieben vereinzelt im Stoffrumpf oder in den Segeln stecken. Trebor hoffte, daß sie ihre Katapulte nicht so steil aufrichten konnten. Ein paar Brandgeschosse ... Der Kapitän erteilte halblaut einen Befehl, und ein Segel wurde gerefft, ein anderes am Heck aufgezogen. Ächzend begann sich das Aerobenschiff zu drehen. Die Hilfsschrauben bewirkten nicht viel. Dann waren sie wieder in Position, und der Zauber des magischen Katapults erneuerte sich, wie die Skalen zeigten. Die Jondrover hatten ihre Schiffe aufgegeben. Ein weiterer Angriff ließ vom Rest 90
der Flotte die meisten ohne Masten, mehrere Schiffe wurden zerstört. Rauschend wurde Sand entleert, und das Schiff schoß so schnell empor, daß Trebor fürchtete, die Masten würden brechen, das Schiff in der Mitte auseinandergerissen werden. Aber er starrte eifrig über die Reling, so interessiert wie die Mädchen, sah die hohen, steilen, heißen Mids zu einem bloßen flachen, verfärbten Fleck schrumpfen, den langen Abhang zwischen Rhomontasonn-Sumpf und den Überbergen verblassen und sich abflachen. Die Mädchen schienen seine Ängste nicht zu teilen. Lissa plapperte eifrig und schaute bedauernd hinunter. Sie wand sich behaglich, was Trebor als Kompliment auffaßte, weil er annahm, daß sie an die vergangene Nacht dachte. Sie mochte sich wohl winden; sie und Viani hatten Streifen von dem fabulösen Aufbruch-Stoff gestohlen und sie innen an ihre Kleidung geheftet. Trebor wäre schockiert gewesen. Er hatte lediglich eine Hosentasche voll Kristallbruchstücke mitgenommen, die nur den Bruchteil eines ihrer Stoffe wert waren. Das, und ein Messer von raffinierter Kunstfertigkeit, das in alter Zeit in seinen Griff geklappt und auf Knopfdruck herausgeschnellt war, wenngleich es jetzt klemmte. Es bestand aus einem unzerstörbaren Metall und war ein kleines Vermögen wert. In ihrer neuen Höhe stellten sie fest, daß der tägliche Wind vom Sumpf her schon wehte. Das Schiff drehte sich träge nach Westen und begann hinüberzukarren, als die Schoten achtern gebracht wurden, um die Segel von der Vertikalen schrägzustellen. Die Geschwindigkeit war gering, aber auf Wind brauchte nicht gewartet zu werden. Trebor stellte sich dem Kapitän vor und verbeugte sich achtungsvoll, um ihm die ungeschliffenen Kristalljuwelen zu übergeben, die ihm der Wächtererhalter in die Hand gedrückt hatte. Der Kapitän war ebenso höflich, aber ziemlich kalt. »Zaubermeister Jarrum hat unser Wort gegeben, Euch sicher und höflich nach Hause zu Shealing Hall zu bringen, und das Wort eines Aeroben wird nicht unbedacht gegeben; es ist gewisser als die Farbe des Himmels. Deshalb wird es geschehen. Aber betrachtet Euch nicht als Ehrengast oder zahlenden Gast. Dies ist ein Schiff der 91
Aeroben, die mit allen Nationen im Krieg liegen, und das seit tausend Jahren.« Trebor konnte sich nur verbeugen, seinen Zorn verbergend, aber seine Meinung über die Aeroben stieg bald danach. Hinter ihm ertönte ein Schrei, und drei Aeroben packten Lissa, die auf der Stelle einen von ihnen stach. Ein Aerobe lag an Deck und blutete heftig. Viani stand unbeachtet dabei. Lissa wurde vor den Kapitän geschleppt, ihr ganzer kleiner Körper zitterte vor Empörung. »Er hat meine Herrin beleidigt«, sagte sie mit blitzenden Augen. Der Aerobe verbeugte sich doch wahrhaftig vor ihr, und Trebor kam es vor, als amüsiere er sich – vielleicht hatte er eine Tochter, ein seltsamer Gedanke für einen Feind. Er scheuchte die Aeroben fort. »Ihr vergeßt euch, Kinder. Ihr seid Aeroben. Was würde Sie sagen, wenn Sie wüßte, daß ihr mit den Frauen der niederen Rassen rauft?« Sie schluckten und erbleichten. »Wir sind Aeroben, wir halten stets unser Wort, und wir haben das Wort gegeben. Diese unsere Schützlinge dürfen bei Strafe Ihres Mißvergnügens nicht belästigt werden. Llib, ordne deinen Rock. Jrneh, dein Haar ist zerzaust.« Trebor glotzte, als die elegant uniformierten Männer sich zurechtmachten wie Kinder, verlegen in ihrem Aufputz. Der AerobenKapitän wandte sich ihm zu. »Ihr werdet in einer unserer geräumigeren Suiten am Bug untergebracht und auch nicht weiter belästigt.« Der verletzte Mann war derjenige, der Lissa angelächelt hatte. Zum Glück hatte sie Verstand genug besessen, ihn in einem Zustand zu belassen, der es ihm erlaubte, seine Version zum besten zu geben. Die Suite bestand aus zwei Räumen in düsterem Rot, mit zwei Bullaugen auf der Steuerbordseite und einem am Bug. Die Wände waren aus grobem Glasstoff, bedeckt mit Glasseide. Der Boden bestand aus Plastikholz, auf Hochglanz poliert; an der Decke befand sich Glasseide, darüber die schlanken Stäbe des Gerüsts, das die Sonnenkraftplatten des Oberdecks trug. Das Schiff ritt nun mit dem Auftrieb, wo der Wind vom Sumpf auf die Helgram-Berge 92
traf. Trebor seufzte. »Lebendig, tot oder unbeachtet – es gibt keinen anderen Weg. Ich wäre froh, wenn man uns ein paar Wochen unbeachtet ließe.« »Was . . . werden sie mit uns machen?« fragte Viani sorgenvoll. »Wer weiß? Wer weiß wirklich etwas über die Aeroben?« Lissa: »Führen sie tatsächlich seit tausend Jahren Krieg gegen alle?« Trebor lachte verächtlich. »Vor tausend Jahren wurden ihr Vorfahren von Irenaica in den Zittersumpf getrieben. Sie hatten sich an seinem Rand versteckt und Schiffe, die ins Dünenland fuhren, überfallen. Andere Banditen wurden durch Vallatia im Osten in den Zittersumpf getrieben; sie hatten die Fluß- und Kanalroute zwischen Aetha und Lin Llallal überfallen. Auf irgendeine Weise durchquerten sie den Sumpf und schlossen sich zusammen, jedenfalls behaupten das ihre Nachkommen. Seitdem überfallen sie den Schiffsverkehr aller Nationen. Ein Ärgernis, mehr nicht.« »Aber sie haben Flugschiffe. Selbst das Dritte Imperium hatte nicht viele«, sagte Viani, »und alle anderen haben vergessen, wie man sie herstellt.« »Das ist seltsam«, gab Trebor zu. Er zuckte die Achseln. »Vielleicht haben sie ein Versteck mit Büchern oder dergleichen gefunden. Das magische Katapult muß aus irgendeiner Ruine der Aufbruchs-Zeit tief im Sumpf stammen. Vielleicht sind auch die Bücher von dort.« Lissa fröstelte. »Sie sind so ... fremdartig. Und böse. Werden sie uns irgendeinem grauenhaften Gott opfern?« Trebor spürte einen innerlichen Stich. »Ich . . . glaube nicht. Selbst die gemeinen Matrosen sprechen die Antike Zunge in der Hochsprache, und zwar sehr gut. Sie wirken sehr zivilisiert. Wahrscheinlich verehren sie Anda, wie alle anderen.« »Wer ist dann diese Sie, auf die sie schwören? Dem Ton nach eine Göttin.« Trebor konnte es nicht bestreiten und spürte einen kalten 93
Hauch. Heidnische Göttinnen waren in jeder Hinsicht die schlimmsten. Ein Klappern an der leichten Plastikholztür kündigte einen Aeroben an mit Nahrung und einem Sack, der mit Kleidung vollgestopft war – Abgelegtes aus der Kleiderkiste, alles sehr geschmackvoll und von hoher Qualität, nichts übermäßig abgetragen. Trebor war verblüfft von der Sauberkeit und dem völligen Fehlen von Ungeziefer. Mit ein bißchen Zusammenflicken hier und dort gelang es ihnen, sich in gedämpftem, gutem Geschmack anzuziehen. Der Grunderbore-Berg ragte im Nordwesten nun hoch vor ihnen empor. Das Flugschiff flog direkt nach Westen, über die Helgrams; nun segelte es aus ihnen schräg hinab, die Segel waren für Auftrieb horizontal ausgelegt, als es die Aufwinde von den Bergen hinter sich ließ. Unter ihnen gähnte der Dunkelberg mit seinen Schluchten. Trebor und die Mädchen starrten hinunter und seufzten erleichtert, als der Sinkflug in tausend Fuß Höhe aufhörte. Dahinter sahen sie das Knorrland. Das Schiff wurde von den Aufwinden dieser nackten Berge hochgehoben, und es wurde schneller. Die Nacht fand sie am Nordrand der Schimmernden Schuns, auf deren nächtlichem Wind gleitend, wo die Hügel ihn hochleiteten. Es gab nichts zu tun, als zu den Bullaugen hinauszuschauen und zu streiten. »Wie gefällt es dir?« fragte Trebor mürrisch Viani. »Du wolltest doch immer Abenteuer erleben?« Man sah, wie ihr das Blut ins Gesicht schoß. »Die Händler wollen alle die Welt kennenlernen. Genug gesehen?« »Jedenfalls nichts, was so schön wäre wie Amballa.« »Ah, aber dann habt Ihr den Shamsund nicht gesehen!« rief Lissa. »Es gibt nichts, was ebenso schön wäre! Die Felder sind das ganze Jahr grün und liegen glatt zwischen baumgezackten Flüssen bis zum Annas Annanda hinunter. Die Hügel sind weich von Humus, und kein windgeschliffener Stein beleidigt das Auge.« Ein Durcheinander von Zitaten der vielen Dichter, die den Shamsund besungen hatten. »Und die kleinen Marktdörfer und die Steuer94
Städte sind die schönsten auf der Welt! Die Häuser sind aus Schachbrett-Ziegelsteinen erbaut, die Steine sind rot, gelb, weiß und blau, und ganz mit Blumen bedeckt. In Chinion schätzen wir blaue und schwarze Blumen am meisten – Peris –, aber wir haben viele hohe Blumenbäume, meist Karnalien und Lebimmer. Für Schatten, wißt Ihr. Wenn Ihr das nur sehen könntet, Herrin! Temblay-Purpur im Norden und all die weißen und gelben Dächer unter ihren grünen, mit Blumen durchsetzten Blättern. Der Shamsund ist der schönste Teil der Welt, und Chinion ist das schönste Land des Shamsunds, und UnterTemblay-Tal ist der schönste Kanton von Chinion. Wir sagen: Lieber ein Bauer in Chinion als ein Edelmann in Schambloh oder Dem Roten.« Viani nickte. »Klingt sehr hübsch. Sehr ähnlich wie das Tal von Lin Lllallal. Unser Fluß, der Annas Vallanda, ist nicht so groß wie der Annas Annanda, und wir müssen bewässern, aber Lin Lllallal muß dem Shamsund sehr ähnlich sein. Natürlich haben wir keine Berge wie Temblay, doch es gibt Hügel bei uns. Und in den Bewässerungskanälen wachsen fruchttragende und blühende Bäume, zum Teil als Windschutz, zum Teil, damit das Wasser verdunstet und zu Tau wird.« Ein verträumter Ausdruck ließ ihre dunklen Augen weicher erscheinen. »Ich erinnere mich, als ich klein war, daß wir einen Ausflug in die Sonderungs-Berge im Süden zwischen uns und Aetha unternahmen. Wir machten Rast in einem wunderschönen, kleinen Dorf, in einem uralten Gasthof, der im Ersten Reich erbaut worden sein muß – ganz aus eisblauen Glasziegeln, abgesehen von der Rückwand; die war eingestürzt. Es war kühl und roch nach Brot darin. Es gab ein kleines Mädchen dort, das nackt herumlief, die Tochter des Gastwirts. Sie war ganz braun und überall verkratzt und frei. Sie konnte hingehen, wohin sie wollte, und niemand kümmerte sich darum. Ich mußte in mein Zimmer und Lady Jram kam und las mir aus einem langen, eintönigen Buch über die Geschichte des tapferen Linllalal vor. Ich war von der Wagenreise sehr müde, saß da, beobachtete das kleine Mädchen und lauschte. Sie hatte einen kleinen Vogel und spielte damit im Hof, jagte ihn und ließ ihn von 95
hinten heranfliegen und an ihren Haaren zupfen. Ich wollte hinaus und auch mit diesem Vogel spielen, nur das wollte ich.« »Warum hast du es nicht getan?« fragte Trebor. Sie sah ihn mit bitterer Miene an. »Weil ich die Tochter eines Edelmannes war und in Linllallal alle Frauen wie Gold oder Tempelgeheimnisse verwahrt werden. Jedenfalls adlige Frauen.« »Aber du warst doch noch ein kleines Mädchen.« »Trotzdem.« Lissas braune Augen schwammen in Tränen. »O meine arme Herrin! Wenn Ihr nur nach Unter-Templay hättet kommen können!« Selbst Trebor war betroffen. »Ich dachte, ich wäre streng erzogen worden, aber ich konnte wenigstens spielen.« Das überraschte Viani. »Streng? Ein Mann – ein Amballaner?« Trebors Mund verzog sich. »Nicht ein gewöhnlicher Adliger – der Sohn des Panarchen. Ich mußte abgesondert werden, damit man mich nicht entführte oder ermordete. Und studieren mußte ich auch, und als ich älter wurde, mußte ich Entscheidungen treffen, mit denen sich zu befassen mein Vater keine Zeit hatte. Meist Entscheidungen, die die Partei betrafen.« Er seufzte, als er sich an die vielen Stunden des Sitzens erinnerte – es quälte ihn, wenn er daran dachte. »Meine Vettern hatten viel Zeit zum Herumlaufen und Spielen, die ich nicht hatte, und sie unternahmen Handelsexpeditionen, während ich zurückbleiben mußte. Weiter als jetzt bin ich von Amballa nie fortgewesen, abgesehen von Vogeljagdausflügen in den Zittersumpf.« »Jetzt siehst du mehr von der Welt, als dir lieb ist«, sagte Viani. »Wir wären nicht hier, wenn du nicht zu uns nach Rhodrora gekommen wärst. Ich hoffe, es gefällt dir.« Und damit nahm sie Lissa mit zu Bett. Trebor lag im anderen Raum lange wach, ballte die Fäuste und biß die Zähne zusammen bei dem Geflüster und Gekicher, das über dem Knarren und Ächzen des Flugschiffes zu hören war. Am nächsten Morgen lächelte Viani ihn zuckersüß an. 96
Mitte des Vormittages wurde ihre Langeweile vom Anblick der Hochland-Wand unterbrochen. Links im Norden lag Serenia. Die Schimmernden Schuns erstreckten sich unter ihnen im Süden. Serenia war ein Ausläufer der Wens. Es glich sehr dem Shamsund: dunkelgrüne, satte Felder und verstreute Baumhaine. Die Hügel waren aber höher und steiler, und es gab mehr von ihnen. Man sah keine großen Städte, doch eine Reihe von Dörfern und Kleinstädten. Die Dörfer drängten sich um die kleinen Städte, die alle hinter Mauern lagen. Der Aeroben-Kapitän näherte sich dem Wand-Land vorsichtig, mit den Hilfsschrauben im Gegenlauf. Der Aufwind packte sie, und bald danach schwebten sie darüber im Wind; die Segel waren in einem Winkel von fünfundvierzig Grad gefiert, um sie zu tragen und anzutreiben. Ein kristallenes Schimmern fiel Trebor auf, und er zeigte es Viani. Vor dem Zweiten Reich war dieser Teil des Schelfs gut bewässert und die Heimat eines starken Königreiches gewesen: Parveniu. Auf diesem Gipfel hatte Retep der Einsiedler gestanden, um den Prunk der Heiden zu verdammen. Er peitschte die Parvenier zu einem Kreuzzug auf, und sie holten die Schätze und behielten sie. Retep baute auf dem Gipfel einen riesigen Tempel aus Kristall und Glas und wurde mit einem goldenen Gewand in einem silbernen Sarg bestattet. Lissa bat Trebor, Amballa zu beschreiben, und Viani hörte mit Interesse zu, während sie zum Bullauge hinausschaute. Trebor berichtete : »Amballa liegt am Fuß des Wildlands, aus dem unsere Vorfahren kamen, und ist die einzige Stadt, die von Grund auf von den Wittingas erbaut wurde. Der Große Markt ist ein Kreis. Wenn man dort steht, ist man halb umringt von den Masten der Flußboote, die Fracht entladen und aufnehmen. Unter seinen Füßen hat man einen Wald von Säulen, der den Boden des Marktes über den riesigen Lagerhäusern trägt. Kein Schiff darf an den Marktkais liegen; dort wird keine Ausrüstung und keine Besatzung an Bord genommen; die Schiffe müssen abfahren, sobald sie be- oder entladen sind. 97
Die andere Hälfte des Marktrunds, ein, zwei Reihen entfernt, wird umgeben von den noblen Gebäuden Amballas: den Banken, Stadtbürogebäuden, Tempeln, Zirkussen, Theatern, Schulen, den Palästen der Adligen, den noch großartigeren Stadthäusern der reichen Kaufleute und schließlich den Hallen der Vorbeuger und der Erben. Hinter ihnen kann man die Türme und Kuppeln des Panarchats und des Anarchats sehen, die Regierungsgebäude. Nicht einmal Vallatia ist schöner als Amballa.« Sie flogen gegen Mittag vorbei an Rhodrora, einem leuchtenden Juwel zu ihrer Linken, und stampften am Nachmittag durch einen Sandsturm. Die Last drückte sie nieder, aber die Winde peitschten sie vorwärts. Als es Nacht wurde, waren sie über Gamelumes, nachdem die Restwinde des Sturmes den Sand von ihrem Oberdeck gefegt hatten. Gamelumes war von hier aus nur ein Schimmern weißer Dächer, am Fuß des Wand-Landes und in einer Einbuchtung. Trebor zeigte ihnen die berühmten Azayax-Fälle dahinter. Die Fälle waren schon seit zwanzigtausend Jahren trocken. Jetzt waren sie ein Weg die Wand hinauf, jener, den er auf seiner Reise nach Rhodrora genommen hatte. Zu ihrer Rechten in Iréné lag unter ihnen der Sand des Dünenlands südlich der Schimmernden Schuns; Gamelumes befand sich an der alten Grenze zwischen Meer und Land. Viele Reliquien aus dem Aufbruch hatte man an dieser Grenze gefunden. Der Zittersumpf war von dieser Höhe aus nicht einmal sichtbar, aber das Dünenland wurde weiter südlich schmaler und endete schließlich vor Irenaica. Die Nacht brach herein. Trebor und die Mädchen blieben auf und warteten auf den ersten Anblick des Sumpfes. Schließlich schoß das Schiff vom Wand-Land hinab, mit flatternden Segeln, aber sie sahen bald, daß es hinter einer Kolonne von Wagenschiffen her war, die im Licht des Silbermondes nach Süden über den Sand knarrten. Vor einem stäubte plötzlich Staub hoch. Der Zaubermeister war mit seinem Schuß zu voreilig gewesen. Nun zeigte sich die überlegene Geschwindigkeit der Sandschiffe; sie begannen den Aeroben davonzuziehen. Dann wurde ein großes Schiff plötzlich plattge98
drückt, wie von einem unsichtbaren Riesenfuß zertrampelt. Mehrere Männer krochen aus dem Wrack und liefen über den Sand, wobei zwei einen dritten stützten. So wenige! Trebors Magen drehte sich bei dem Gedanken an die anderen um, die aus heiterem Himmel und ohne jede Vorwarnung in den Tod gerissen worden waren. Alle rechtdenkenden Menschen haßten die Zauberei. Der Aerobe drehte bei und wartete träge, bis der Konvoi außer Katapultweite war. Dann ließ man ein Seil mit einem Netz und mehreren Männern hinab. Trebor und die Mädchen konnten das nicht sehen, aber das Stampfen auf dem Deck und die Stimmen der Aeroben waren deutlich zu hören. Die Unteroffiziere bellten die geduldigen Aeroben an und verbesserten gereizt ihre Grammatik. Schlagartig schwollen die Stimmen fast zum Geschrei an, und Füße trampelten übers Deck. Fluchworte gellten – die ersten, die sie an Bord des Flugschiffes gehört hatten, wie Trebor plötzlich klarwurde. Ein wütender Offizier unterdrückte den Lärm: »Wie ein Haufen Gründlinge! Müssen wir euch alle bei Ihr melden?« Das Schiff stieg plötzlich unter ihnen hoch, lange bevor die Männer wieder an Bord gehievt sein konnten. Trebor grinste schief. »Köderschiff. Enthält nichts von Wert.« Die Kolonne war schon außer Reichweite, aber Lissa entdeckte in mittlerer Entfernung ein kleines Dreieckssegel. Ein Kurier, der darauf wartete, die Männer und alles von Wert aufzunehmen, was sie aus dem zerstörten Schiff gerettet haben mochten. Zu ihrer Verwunderung flogen die Aeroben wieder zum WandLand. Trebor wurde geweckt, als das Schiff wieder hinabfegte, aber inzwischen war der Silbermond untergegangen. Der Morgen fand sie über dem Zittersumpf. Vor Angst und Ehrfurcht konnten sie kaum essen. Man erzählte gewaltige und grauenhafte Geschichten vom Zittersumpf. Düstere, dunkelgrüne Bäume reihten sich an drei Seiten bis zum Horizont, dazwischen sah man hier und dort das Schimmern von Korallen. Krächzende Laute stiegen herauf und ließen sie frösteln. Der scharfe Geruch des Salzsumpfes stieg auf, stärker und schwerer als der Geruch des Rhodomontasonn-Sumpfes, stinkend nach Angst. 99
Stehende Wasserläufe wanden sich wie Schlangen zwischen den bärtigen Bäumen, und Wasserpfützen klafften herauf wie wartende Mäuler. Zu ihrer Linken, im Süden, standen die hohen, nackten Hügel des Fernen Fahrlandes, in der Muttersprache von Romplannan Incavvalonne geheißen. Sie befanden sich also am Südrand des Sumpfes, nicht weit von Irenaica. Das Ferne Fahrland war eine Wüste aus windgeschliffenem Gestein und hageren Hügeln, mit hier und dort einem grünen Tal, wo Schäfer ein paar Schischafe weideten. Nicht einmal das Erste Reich hatte dort gebaut, aber es gab Ruinen aus der Zeit vor dem Ersten Reich und einige Überbleibsel von Aufbruch-Städten. Die größte befand sich am Nordende des Plateaus von Incavallonne. Sie hieß Reyana Réné, die Königin-Stadt von Iréné, im Ersten Reich. Jetzt trug sie den Namen Ireniana. Die Menschen des modernen Irenaica behaupteten gern lückenlose Abstammung vom Aufbruch, weil ihre Ahnen, wie sie sagten, unter oder nahe bei den Ruinen von Reyana Réné gelebt hätten, so weit Mythos und Legende in die Dunklen Zeitalter zurückreichten – zurück zum ersten Aufbruch. Die Bewohner des Dunklen Zeitalters hinterließen Ruinen an drei großen Plätzen, beginnend im uralten Ireniana und den abflachenden Wellen der Stacienndanies das Gefälle des Plateaus hinabfolgend. Zu einer Zeit hatten sie das Letzte Salzmeer und einen Großteil Irénés beherrscht. Legenden und Märchen aus dem großen Reich der Dreifachstadt des Aufbruchs im Dunklen Zeitalter wurden weitergereicht ins Erste Reich und vom Älteren Enna erwähnt. Das moderne Irenaica behauptete, die vierte Stadt von Reyana Réné zu sein. Nach dem endgültigen Austrocknen der Stacienndanies verließen sie die Ufer und erbauten auf dem Sand am Fuß des Plateaus eine neue Stadt, noch immer in Sichtweite der AufbruchsStadt. Sie florierte nicht bis lang nach dem Sturz des Hauses der Sturmkönige vom Zweiten Reich. Während dieser schlimmen Zeiten schwang sich Irenaica vor allem deshalb zur Bedeutung auf, weil es auf drei Seiten geschützt war. Eine Wachstation bei Gamelumes und ein .Spiegelrelais-System 100
am Wand-Land machten überraschende Angriffe unmöglich. Als die Stadt sich zur Hauptstadt des Dritten Imperiums emporschwang (eigentlich begründet in Knob Knoster im Shamsund), hörte sie auf, sich »Die Vierte Stadt von Reyana Réné« zu nennen. Aber jetzt klammerte sie sich, wie Trebor fröhlich berichtete, grimmig an den Titel Herrin von Iréné gegen die Traditionalisten, die den älteren Namen, der seit zwanzigtausend Jahren unbenutzt gewesen war, wiederbeleben wollten. Selbst während des Dritten Imperiums gingen sie zurück auf die angeblich ruhmreichen Dunklen Zeitalter und versuchten es das Zweite Reyanische Reich zu nennen. Sie wurden behindert durch einen Aufstand Serenais, aber noch mehr durch völlige Unwissenheit über das Reich des Dunkeln Zeitalters. Man kannte nicht einmal mehr seinen Namen ... Nachdem die Hügel des Fernen Fahrlandes verschwunden waren, wurde das verfilzte Sumpfland unter ihnen zu einem tiefen, gleichmäßigen Grün ohne freie Flächen oder sichtbares Wasser. Trebor vermutete, daß sie sich über dem halb-mythischen Hackmatack-Wald befanden, der direkt östlich vom schönen Aetha, südlich des Zittersumpfes, lag. Sie flogen spät in der Nacht noch immer darüber hinweg. Die Mädchen wollten nicht zu Bett gehen, Lissa aus Angst, Viani aus rätselhaften Gründen. Sie warf Trebor immer wieder Seitenblicke zu. Er griff schließlich nach Lissas Hand und sagte: »Ich möchte –« »Nein, das tust du nicht!« fuhr Viani sofort dazwischen. »Was du willst, zählt bei Lissa nicht. Sie tut, was ich will!« »Du verdammte säuerliche Jungfrau! Du weißt nicht, was du willst, und wenn du es wüßtest, hättest du keine Ahnung, was du damit anfangen solltest!« Viani lächelte gehässig, als sie zu Bett gingen. Am nächsten Morgen stand Angst in ihren Augen, und sie und Lissa hielten sich fest an den Händen, als sie vom Schiff getrieben wurden. Trebor folgte mit verdeckten Bedenken, das Schwert an seiner Seite. Sein Magen verkrampfte sich vor Angst, daß sie es sehen könnten – ein derart wertvolles Schwert würde sofort gestohlen werden. 101
Sie standen auf dem hohen Gipfel von Agonie, um den, so sagten die Aeroben, die Winde von Par volle tausend Jahre vergeblich gepeitscht hätten, ohne daß er nur einmal wankte. Er erinnerte Trebor stark an Cor Harrow – die gleichen fast senkrecht abfallenden Wände, die Oberseite mit Aufbruch-Ruinen bedeckt. Jede Felswand, an deren Fuß lange Zeit das Meer gehämmert hatte, mußte vertikal sein. Die Spitze von Agonie war ungefähr auf gleicher Höhe mit dem Wand-Land, aber der Fuß lag drei Meilen tiefer. Es war ein heidnischer Festungstempel während des Ersten Reiches, aus den Wassern der Stacienndanies emporragend. Zuvor hatten die Menschen der Aufbruchs-Zeit hier eine großartige Einrichtung besessen, offenbar eine Pumpstation. Große Bohrschächte reichten ein Drittel der Strecke hinunter, wie um die Wasser von Ozean-Iréné hinaufzupumpen, zu Zwecken, die man jetzt nicht einmal mehr zu erraten vermochte. Die Gebäude des Aufbruchs besaßen die übliche schlichte, ungeschmückte Schönheit. Sie waren grün und blau, mit Gold eingesäumt, und hatten ursprünglich die Form leuchtender Kuppeln besessen. Inmitten der Kuppeln erhob sich ein kathedralenähnlicher Turm, eine reine Form wie eine runde Messerklinge, ganz in stumpfem Purpur-Grau, was eine einmalige beruhigende Farbe war. Es war dieses Bauwerk, auf das man sie zustieß. Die Vollkommenheit seines Stiles war so groß, daß es viel kleiner wirkte, als es war. Im Inneren – die Tür wurde von Zeremonienaufsehern in den Trachten des Dritten Imperiums bewacht – hingen perlgraue Glasseiden-Wandbehänge mit Fransen in königlichem Violett. Eine höchst zivilisierte Verschmelzung des alltäglichen Modernen mit dem romantischen Aufbruch, gut zu dem Gebäude passend. Es war sogar ein wenig zu perfekt. Es wirkte übertrieben ordentlich und unbewohnt. Die Aeroben wischten sich sorgfältig die Füße ab, bevor sie eintraten. Ein Lakai empfing sie und teilte ihnen mit, daß sie kurz nach der Morgenmahlzeit, bei der sie sich beeilen müßten, zur Königin gerufen werden würden. Die Mahlzeit servierte man in einem reich eingerichteten Morgenraum, und sie war so zivilisiert wie das Beste, was Amballa zu bieten hatte, wenngleich sehr altmodisch. Trebor 102
machte sich aber zu große Sorgen, um darauf zu achten. Sofort, als sie fertig waren, und keiner von ihnen konnte viel essen, wurden sie in Ankleideräume geführt. Ein Kammerdiener betrachtete Trebor und begann prächtige Kleidung aus Schränken und Truhen herauszuziehen: Seide und Glasseide, Pelze und Silberketten und Spitzen ... Es sprach manches dafür, daß man ihnen eine Audienz bei der Königin gewähren würde. War sie die Sie, von der die Aeroben sprachen? Der Kammerdiener war bei jeder Einzelheit der Garderobe ärgerlich pedantisch. Trebors größte Sorge war die um sein Schwert, das in einer Kampfkultur unschätzbaren Wert besaß. Wenn Sie es begehren sollte ... Schließlich war er angekleidet. Er trug einen goldenen Glasseide-Anzug mit einem violetten Cape um die Schultern. Dann eine blaue Schärpe um die Hüften und kontrastierende grüne Stiefel mit sternförmig vergoldeten Schuhspitzen. Der Thronsaal war klein, aber elegant, im Stil des dritten Imperiums gehalten, bis hinunter zu den Wachen. Viani sah in herrlicher Hofkleidung wunderschön aus – das erste Mal, daß sie Trebor schön erschien. Lissa wirkte in Bedienstetenkleidung anziehend niedlich. Viani war mürrisch, Lissa wütend. Es mußte etwas geschehen sein . . . »Lyantha die Alterslose, Königin der Luft und Herrin von Scheildininda.« Trebor warf ihr einen argwöhnischen Blick zu. Lyantha war schön, von einer reifen Schönheit, die Trebor eher abstieß. Sie war sich ihrer Wirkung auf Männer durchaus bewußt, erfahren genug, um sich gründlich zu amüsieren, und zu erfahren, um von irgendeinem Mann Besonderes zu erwarten. »Grüße, Trebor von Amballa, und Gruß für seine edle Frau« – das mit einem Heben der ausgezupften und hochgewölbten Brauen – »Viani von Linllallal. Von Amballa, das muß ich leider sagen, weiß ich wenig, wenngleich vieles von unseren Handelsgütern letztlich von dort stammt; es muß sich um eine reiche und florierende Nation handeln. Von Linllallal wissen wir wenig mehr; das Farmland den Annas Vallanda hinauf bietet wenig Geschäfte. Ich bin sicher, Ihr macht beide Euren Ländern Ehre.« 103
Trebor verbeugte sich und drechselte im üblichen Stil ein paar höfliche Bemerkungen. »Spart Eure übertriebenen Höflichkeiten, guter Trebor. Ihr bedauert Sie vielleicht später. Ich bin mir unschlüssig, was Euch angeht . . .« Sie zog die Brauen zusammen und spitzte nachdenklich die Lippen. »Euer Angebot gestohlener Juwelen vom guten Wächtererhalter wird angenommen. Das Geschenk Eurer edlen Frau, eine Länge Aufbruch-Stoff, ist eher nach meinem Geschmack.« Sie hielt ein Stück rauchig-grünen Nebel hoch, durchzogen von einem subtilen Regenbogen. Sie schenkte ihnen ein kleines Lächeln. »Ich bezweifle, daß der gute Theik unmutig über irgendeine Art sein wird, von der er hört, daß wir danach mit Euch verfahren seien. Oder notfalls kann sich ein Zaubermeister mit ihm in Verbindung setzen, der des Glaubens ist, daß Ihr mit allen Ehren weitergeschickt worden seid.« Es war nicht möglich, bei der Verständigung durch Gedanken zu lügen. Nur die Adepten konnten mehr als Emotionen oder simple Wörter übertragen. »Was Eure edle Frau betrifft, so fürchte ich, auch wenn es mir leid tut, Familien auseinanderreißen zu müssen, daß es für sie nicht gut wäre, sie hier unter meinen braven Aeroben zu lassen. Deshalb werde ich sie in Vallatia verkaufen.« Ein Ausdruck des Entsetzens huschte über Vianis Gesicht. Sie sah Trebor kurz an, und er hatte seine Rache für alle Kränkungen und Beleidigungen. Es freute ihn nicht im mindesten. Er spürte einen echten Stich und hätte seine Hoffnungen, Panarch von Amballa zu werden, aufgegeben, um sie zu retten. Er wünschte sich sehr, sie freundlicher behandelt zu haben – Dies alles in einem Augenblick. Bevor irgend jemand etwas sagen konnte, war Lissa zum Thron gestürzt, ein gefährliches, kleines Messer in der Hand. Augenblicks-Tumult, und nur Lyanthas schnelles Ausweichen rettete sie. Dann hatten ein halbes Dutzend Gardisten in antiken Brustharnischen Lissa gepackt und zurückgerissen. Lyantha lächelte, ordnete ihre Frisur, öffnete ihre Jacke, um eine üppige Brust zu zeigen. »Tut dem armen Kind nichts. Ich wünsche mir nur, eine halb so 104
treue Dienerin zu haben.« Sie verstummte und sah Trebor schelmisch an. Trebor wurde von furienhaftem Haß überwältigt, der vor allem ihm selbst galt. Wenn er schneller reagiert hätte – die Wachen waren seinetwegen hier, und ihre Aufmerksamkeit hatte ihm gegolten, bis Lissa sie abgelenkt hatte. In diesem Augenblick hätte er sie durchbohren können wie Butter. Ihre plumpen Zierhellebarden hätten vor seiner tödlichen Klinge nichts bedeutet. Lyantha wenigstens wäre tot... Sie lächelte süß vor seinem bösen Blick. »Ich halte es für das Beste, des Mannes Frauen zu entfernen, bevor ich dem edlen Trebor sein Unheil verkünde; wir wünschen keine solchen Szenen mehr. Fürchtet nichts, er wird nicht sterben, es soll ihm beschieden sein, was er sich am meisten wünscht.« Sie saß da und lächelte vor sich hin, den Blick gesenkt, verschleiert von ihren dichten Wimpern. Als Viani und Lissa fort waren – vielleicht werde ich sie nie wiedersehen, dachte Trebor voller Qual –, betrachtete sie ihn. Ihre Augen waren von so dunklem Violett, daß sie schwarz wirkten. »Ich habe viel von der Männlichkeit der Männer in Amballa gehört«, sagte sie lächelnd. Ausdruck und Tonfall wirkten ganz wie Komplimente, aber Trebor spannte die Muskeln an. »Ich habe mir lange gewünscht, einen kennenzulernen.« Ihr Lächeln wurde breiter. »Wir werden es mit der Probe der Tausend Hiebe bei ihm versuchen.« Trebor taumelte zurück, und seine Lenden verkrampften sich schmerzhaft. »Nein!« stieß er heiser hervor. Sie konnte es nicht wirklich ernst gemeint haben . . . Lyantha lächelte freundlich auf ihn herab, so höflich, so schmeichelnd ... Er schaute sich wild um, sogar sein Schwert vergessend.
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Ein Lebensstil »Ahem.« Ein kleiner, vertrockneter Mann trat aus der spärlichen Gruppe von Höflingen. Trebors Gehirn hatte wieder zu arbeiten begonnen. Er beachtete Lyanthas hellklingendes Lachen nicht und berechnete fieberhaft die Aussichten, sich in die Freiheit zu fechten oder dabei zugrundezugehen. Hier im Thronsaal befanden sich weniger als ein Dutzend Aeroben, und der Raum war ziemlich klein, nicht größer als dreißig mal fünfzig Fuß. Wände und Boden waren mit dem unvergänglichen Aufbruch-Material ausgelegt, und es gab, zählte man den hinter dem Thron mit, drei Ausgänge. Die meisten der hier anwesenden Aeroben waren Wachen mit Brustharnischen des Dritten Imperiums. Zwei von ihnen wogen vielsagend faustgroße Sandsäcke in den Händen und lächelten ihn an. »Wenn ich so kühn sein darf, einer so mächtigen und großartigen Monarchin einen Vorschlag zu machen . . .« Unterwürfiger Tonfall. »Ja, mein guter Ozzyman?« Alle Nerven Trebors zuckten. Er riß die Augen auf. Es war wahrhaftig Ozzyman der Wahrsager, der Viani nach Rhodrora begleitet hatte. »Vielleicht ist die Probe, die Ihr erwähnt, einem von der – äh – Potenz Trebors aus Amballa nicht ganz . . . angemessen. Er ist, wie Euch vielleicht nicht bewußt ist, der Sohn eines Sirrom des Trägers, des Panarchen von Amballa. Aus diesem Grund führt er nichts Geringeres bei sich als das Siegel der Wache der Behutsamen Meditation.« Die Stille im Thronsaal schien zu dröhnen. Die Aeroben und Trebor starrten ihn verständnislos an. Ozzyman zeigte einen geduldigen, hilfsbereiten Ausdruck. Lyantha blickte auf Trebor hinunter, erstarrt, eine kleine Falte steilte zwischen den Brauen, die Miene war wachsam. 106
»Wahrhaftig?« sagte sie schließlich mit kühler Vorsicht. Trebors Erleichterung wurde straff gezügelt von einer überwältigenden Behutsamkeit, gegründet auf seine eigene Unwissenheit über die wahren oder eingebildeten Kräfte des Siegels. Er wagte nicht zu bluffen, um nicht ertappt zu werden. Wortlos öffnete er seine rüschenbesetzte Jacke und zeigte es vor. Das Siegel der Wache war ein scheibenförmiges Medaillon, ein silbernes Etui, oben mit einem Scharnier, und zu öffnen auf ein kompliziertes Werk von Glaskörnern, Splittern aus buntem Stein, Silber- und Kupferdrähten, dünn wie Haare, Splittern aus Plastikknochen und Glasfasern, in einem Muster angeordnet, das Trebor nichts sagte. Er vermutete, daß es in erster Linie die Gedanken beschäftigen sollte, die während der Wache nicht abirren durften. Bestenfalls konnte es Meditationen aufzeichnen. Aber Lyantha biß sich auf die Unterlippe und warf einen Blick auf Ozzyman. Der Wahrsager sagte ausdruckslos: »Vielleicht – äh – ist eine andere Methode, ihn zu erproben, angemessen?« Lyantha runzelte entschieden jetzt die Stirn, und ein mißmutiger Ausdruck huschte über ihr Gesicht. Sie klatschte laut in die Hände, das Gesicht wieder ohne Ausdruck. Die Wachen zögerten, den Raum zu verlassen, und bekundeten pantomimisch Zweifel. Trebor verkrampfte sich in Angst um sein Schwert. Gereizt hob sie eine goldene Pfeife an ihrer Kette und blies hinein. Eine tiefe Stimme sprach verwaschen hinter ihr, eine Stimme, die von einem Oger oder einem Riesen stammen mochte. »Hier bin ich. Ich komme, Herrin.« Ein riesiges Tier tauchte an der Tür hinter ihr auf. Es reichte Trebor bis an die Schulter und hatte einen massiven Katzenschädel. Das halboffene Maul ließ große Fangzänge erkennen. Es trug einen weichen, plüschartigen Pelz von grellroter Farbe mit tiefschwarzen Streifen und Kreisen. Seine Augen waren von unschuldigem Kinderblau, mit vertikalen, schwarz-grünen Pupillenschlitzen, die sogar im gut beleuchteten Thronsaal glühten. »Ich brauche keinen Bewacher außer Randire«, sagte Lyantha und lächelte erneut über Trebors angespannte, berechnende Miene. 107
Trebor glaubte es. Die große Bestie tappte lautlos um den Thron herum und auf ihn zu, beschnupperte sein Gesicht – Trebor bog sich zurück – und seinen ganzen Körper bis zu den eleganten grünen Stiefeln mit ihren Goldsternspitzen. Dann setzte sie sich, legte den gewaltigen Schädel auf die Seite und sagte mit dieser tiefen, undeutlichen Stimme: »Ein bißchen alt – ein bißchen mager. Dürr. Zäh. Aber ich bin hungrig. Ich bin sehr hungrig.« Die Bestie begann ein wenig zu sabbern, und Trebor schluckte, bemüht, seine Fassung zu bewahren. »Herrin«, flehte das Tier, »darf ich ihn fressen, wenn ich ihn töte? Ich habe solchen Hunger!« Lyantha lächelte Trebor mit echtem Vergnügen an. »Ich erlaube dir, ihn zu fressen, Randire, wenn du ihn töten mußt. Aber töte ihn nicht, wenn er mich nicht überfällt oder nicht zu entfliehen versucht.« Damit legte sich Randire begierig hin und beobachtete Trebor aus einer Entfernung von vielleicht neun Zoll. Lyantha sagte kühl zu ihren Aeroben: »Ihr könnt gehen. Säubert eure Rüstung, bevor ihr sie aufhängt. Vergeßt eure Waffenübungen nicht. Mas, komm nie wieder unzugeknöpft zum Dienst.« Mas schluckte. »Nein, Herrin.« Sie warf einen Blick auf die Männer. »Das ist alles.« Sie gingen. Lyantha lächelte durch den Schleier ihrer Wimpern. »Ich konnte Euch die alte Klinge, die Ihr tragt, nicht wegnehmen – Ihr legt einen so absurd hohen Wert darauf –, und hätten Euch meine guten Aeroben entwaffnet, Ihr hättet sie nie wiedergesehen. Sie sind so kindisch wie Ihr.« Trebor verbeugte sich mit einem verächtlichen Ruck, unfähig, zu sprechen. Sie stichelte erneut. »Ihr seid wirklich ein sehr nachsichtiger Mann, mein guter Trebor, so beherrscht, so aufopferungsvoll. Ich bin Euch wirklich allen Dank schuldig. Euer edles Weib wird einen viel höheren Preis bringen, als wenn Ihr ein gewöhnlicher lustgetriebener Mann ge108
wesen wäret –« Ozzyman hüstelte vielsagend, und sie schien zusammenzuzukken und warf einen schnellen Blick auf das Siegel. Trebor, seine Gedanken unter strenger Kontrolle, ließ sie sich fast entgleiten, als er begriff, was Ozzyman andeuten wollte: Lyantha sollte glauben, daß er es war, der das Siegel gemacht, er, der die Wache gehalten hatte. Bevor sie sich erholen konnte, verbeugte Trebor sich erneut und sagte: »Vielleicht wäre es, statt von Proben zu sprechen, besser, von Belohnungen zu reden. Ich bin nun ein einflußreicher Amballaner – mag eines Tages Panarch sein wie mein Vater und Großvater vor mir – und werde in der Zukunft in der Lage sein, Euch für meine Freilassung und die meiner edlen Frau und ihrer Dienerin reich zu belohnen. Und wenn das Versprechen künftiger Belohnung Euch nicht rührt, kann ich Euch zeigen, wie Ihr binnen eines Monats mit der Entsendung eines einzigen Schiffes unschätzbare Reichtümer erlangen könnt.« Sie lächelte freundlich und schaute sich schnell um. Noch immer lächelnd, sagte sie: »Laßt davon nie etwas bei meinen Aeroben fallen, oder Ihr lernt den qualvollsten Tod kennen, den meine Folterer sich auszudenken vermögen. Ich will nicht, daß der gute Wächtererhalter beraubt und erschlagen wird. Was für ein Gedanke! Ich habe eine sentimentale Zuneigung zu ihm; er und Randire sind die einzigen lebenden Wesen, von denen ich weiß, daß sie älter sind als ich.« Trebors Lider zuckten, und sie nickte. »Das war einer der Gründe, weshalb ich Euch für die Probe der Tausend Hiebe haben wollte . . . solche Aufmerksamkeiten erfrischen mich auf unklare Weise . . . und wirklich, so unerfreulich ist sie gar nicht, oder? Selbst wenn das Opfer stirbt? Was nicht so oft vorkommt, wie Ihr vielleicht meint. . . Ja, ich, Herrin von Scheildininda, Shealing Hall, war schon da, bevor die Aeroben aus Irenaica vertrieben wurden, so wie es mit mir geschah, in den letzten Jahren des Dritten Imperiums. Die Frage bleibt bestehen: Was soll ich mit Euch tun?« Trebor blickte nicht auf Randire. Sie lachte gewinnend, und ein kalter Hauch des Entsetzens 109
durchwehte ihn bei dem Gedanken, daß solch ein Wesen ganz so wie eine Frau lachen konnte, eine warme, schöne, kokette . . . hingabebereite Frau. Dieses Ungeheuer! Er behielt seine Gedanken mit Mühe unter Kontrolle und ließ nicht zu, daß eine verräterische Emanation hinausdrang, aber sie lächelte ihn an, als brauche sie keine Zauberei, um seine Gedanken zu lesen. Er kam sich vor wie ein kleiner Junge; an der Nase herumgeführt von . . . von einer anziehenden jungen Frau. »Ich muß ihn haben«, sagte sie schließlich zu Ozzyman. »Vielleicht läßt sich Schutz wie der seine umgehen. Ich muß nachdenken – selbst die größte Entschlossenheit kann mit der Zeit zermürbt werden, und ich beherrsche eine Reihe von Zaubersprüchen . . . ich werde sehen, was ich tun kann.« Sie erhob sich, eine großartige Frau, ihr Rock fiel in Streifen von den Hüften, so daß man ihre langen, vollkommenen Beine sehen konnte. »Kommt, ich zeige Euch Euer Quartier. Randire begleitet uns.« Sie führte sie in eine behagliche Wohnung, wo mehrere Steinwände einen großen Raum im ursprünglichen Bau des Aufbruchs aufteilten. Lyantha die Alterslose stand nah bei Trebor, betrachtete ihn mit halbgeschlossenen Katzenaugen und klatschte mit der Hand nachdenklich auf ihre Oberschenkel. Er atmete schneller und unterdrückte sein Schaudern. Sie nickte schließlich und sagte: »Ich habe eine Reihe von Maiden, die beruhigenden Einfluß benötigen; auch wird die Pflege von Säuglingen sie nicht stark beanspruchen . . . Ich denke an verschiedene Mittel, aber körperliche Nähe ist vielleicht am besten. Es erscheint bald eine von ihnen, um Euch zu dienen.« Sie wandte sich abrupt Ozzyman zu: »Er ist wahrhaftig erschienen, o Wahrsager, und er ist alles, was Ihr gesagt habt. Ihr könnt Eure Belohnung morgen fordern. Bis dahin – denn Ihr habt versucht, meine Pläne zu durchkreuzen und müßt bestraft werden, wißt Ihr – seid Ihr für ihn verantwortlich. Ich lasse euch beide jetzt in der Obhut von Randire zurück.« Sie warf Trebor einen letzten schelmischen Blick zu und schwenkte die Hüften, dann war sie verschwunden. Trebor sah Ozzyman an, der Randire ansah, der sie beide betrachtete, mit unschuldigem Lächeln. 110
»Ahem«, sagte der Wahrsager. »Ich halte es für angebracht, in – äh – Umschreibungen zu reden. Unsere Gastgeberin ist eine höchst scharfsinnige Frau, und, wie ich gestehen muß, eine – äh –viel erfahrenere, als ich angenommen hatte.« »Erfahren!« sagte Trebor bitter. »Ich danke Anda für den Anblick eines freundlichen Gesichtes, und ich danke Ozzyman dem Wahrsager dafür, daß er mich vor einem furchtbaren Schicksal bewahrt hat, wenn auch nur vorübergehend.« Er schauderte. »Wie oft verlangt sie, fragt man sich, das Opfer eines Mannes für ihre Jugend? Einmal in einer Generation? Königin der Luft, nennt man sie. Königin der Dunkelheit wäre angemessen. Habt Ihr je von solcher Zauberei gehört?« Bedrückt erwiderte Ozzyman: »Ich kann mir nicht denken, daß ihr – äh – fortwährendes Überleben von einem solchen Opfer abhängt, und gewiß nicht so oft, wie Ihr meint. Ich bin sicher, daß sie natürlich geboren ist. Äh – ich halte es für mehr als wahrscheinlich, daß andere Beschwörungen sie erhalten; sie begehrt von Euch nur, daß Ihr – äh – ihr Gefühl der – der Teilnahme am Leben der Welt erneuert.« Trebor entdeckte, daß der bloße Gedanke an sie Schauer über seinen Rücken jagte, wie schleimige oder vielbeinige Käfer es taten, so daß es ihm schwerfiel, sein Denken zu sperren. Mit einem Seitenblick sagte er: »Man fragt sich, wie ihr am meisten geschätzter Besitz konserviert worden ist.« »Ach, das ist keine- äh – Zauberei. Jedenfalls wurde der Zauber vor Äonen erarbeitet, vielleicht von den Göttern des Aufbruchs. Unser – äh – Bekannter mag zu dieser Zeit schon existiert haben, wenngleich das zweifelhaft ist. Eher wurde er zur Zeit des Ersten Irenischen Reiches geboren. Layan erwähnt solche – äh – Exemplare, die schon damals als langlebig bekannt waren. Hunderttausend Jahre ist natürlich ein hohes Alter«, fügte er respektvoll hinzu und verbeugte sich vor dem großen Tier. Randires Ohren stellten sich auf, und seine halbgeschlossenen Augen öffneten sich fragend, aber er sagte nichts. Selbst Trebor mußte ihn bewundern. Auch er verbeugte sich. »Du bist gewiß das großartigste Wesen, dem ich je begegnet bin«, sagte er. »Bist du immer schon so gewesen?« 111
»Ich bin immer Randire gewesen«, entgegnete er mit seinem tiefen Grollen. Aber seine Worte hätten mit der lispelnden, schrillen Stimme der Kindheit gesprochen werden müssen, begriff Trebor plötzlich; das Tier war nicht so intelligent, wie seine teilweise Beherrschung der Sprache andeutete. »Was bedeutet ›großartig‹?« »Es bedeutet groß, prächtig. Bist du immer noch hungrig?« Der riesige Schädel hob sich. Er sabberte ein wenig. »Sehr hungrig. Ich bin immer sehr hungrig. Ich möchte ein Baby essen. Oder zwei oder drei Babies. Sie sind viel besser als Männer. Aber ich kann nicht.« Er seufzte schwer und ließ den Kopf herabsinken. »Warum nicht? Deine Herrin hat doch gewiß keine – äh – Skrupel in diesem Kopf?« Der große Kopf legte sich in Falten. Randire sagte: »Meine Herrin hat keine Säuglinge – nein, und in ihrem Kopf habe ich nie Skrupel bemerkt. Aber ich kann kein Baby essen, selbst wenn eines da ist. Ich bin konditioniert worden« – ein unbekanntes Wort in einer unbekannten Sprache –, »unter keinen Umständen ein Baby zu essen. Ich bin auch konditioniert worden, keine Männer zu essen oder sie auch nur zu töten, aber der Zauber ist verflogen. Eines Tages kann ich vielleicht ein Baby essen.« Er leckte sich die Lippen. Trebor war bezaubert. »Ich wünschte mir, daß du mir gehörst. Ich würde dir Babies geben, wenn welche übrig wären. Was für ein herrlicher Begleiter für den Panarchen von Amballa.« »Ah, aber, wie ich Euch erinnern muß«, sagte Ozzyman, »Ihr – äh – Ihr seid nicht und habt im Augenblick auch wenig Aussicht, in der nächsten Zeit Panarch zu werden. Äh – gewisse Schwierigkeiten müssen überwunden werden. Es wäre gut, darüber zu schlafen.« Mit einem Zwinkern fuhr er fort. »Vielleicht kann die Frau – äh – überredet werden. Viele Argumente sind noch nicht vorgebracht. Wir können es nur versuchen.« Trebor verstand nicht ganz, was er meinte, begriff aber aus diesen Worten und anderen Reden, daß bis zum Einbruch der Nacht nichts unternommen werden konnte. Er hätte den anderen im Beisein Randires nicht näher über seine Interessen befragen können – 112
das Tier mochte intelligenter sein, als es aussah, und auf jeden Fall speicherte es jedes Wort, das sie sprachen, in einem unfehlbaren Gedächtnis. Trebor hatte von solchen Zaubertieren gehört. Er kam nicht auf den Gedanken, sich zu fragen, welches Interesse Ozzyman nun eigentlich an ihm hatte; das war in Rhodrora klargeworden. Drei Dinge beschäftigten sein Gemüt: das Wissen, daß Viani und Lissa schon jetzt auf dem Weg nach Vallatia waren; das Wissen, daß jeder Tag, der verging, seine Position in Amballa schwächte; und die Angst um sein Schwert. Es war ein langer Tag. Randires Konversation war anregend, aber eingeschränkt. Lyantha schickte eine hübsche Dienerin mit Wein und Kuchen, ein nacktes Mädchen, dessen Vibrationen Randire noch stärker sabbern ließen. Sie verbeugte sich frech vor Trebor mit dem Tablett — aus Aufbruch-Material; sie wurden geehrt – und lachte amüsiert, als er den Wein argwöhnisch ansah und ablehnte. »Die Königin beginnt ihre Zauberei erst am Morgen«, sagte sie, stellte das Tablett aber ab. Dann trippelte sie hin und her, zumeist ganz nah vor ihm, und machte es ihnen »bequem«, schob die Möbel herum, legte ein Tuch unter Randires Kinn, öffnete eine Lüftungsklappe. Trebor gab grimmig vor, nicht darauf zu achten, und fragte sich, wie lange Lyantha vom Mythos seiner Unverwundbarkeit getäuscht werden konnte. Eine schlichte Probe hätte es erwiesen . . . aber in Todesangst sind Männer nicht leicht zu erregen . . . er versuchte, seine Gedanken auf das Schreckliche seiner Lage zu richten. Dabei war er so erfolgreich, daß er, als Lyantha kurz vorbeikam, um sie mit Nachrichten über ihre Fortschritte aufzumuntern, von ihrer Schönheit und Anmut, Anziehungskraft und Verlockung verblüfft war. Sie sah jedenfalls nicht wie ein Ungeheuer aus. Aber als sie zu ihm trat, um seine Wange zu tätscheln, krochen pures Entsetzen und Abscheu über seinen Rücken und schwächten seine Knie; er hatte alle Mühe, zu verhindern, daß er sich verriet. Die Dienerin rollte sich zuversichtlich in dem einen großen Bett zusammen und erklärte Ozzyman liebenswürdig, er könne im Wohnraum auf dem Teppich schlafen. Die Männer blieben auf. Durch verschiedene Andeutungen untertags hatte der Wahrsager 113
erkennen lassen, daß er einen Schlafzauber kenne. Trebor zog Randires Aufmerksamkeit auf sich. Die Riesenkatze war geschmeichelt. Trebor kauerte sich vor Randire nieder und begann mit einer langen Erzählung. Er sprach monoton und hielt seine Gedanken unter strenger Kontrolle, damit Randire nicht merke, was Ozzyman halb hinter ihm trieb. Der Wahrsager hatte ein farbiges Tuch herausgezogen, das er hin und her, auf- und abschwenkte, eine langatmige Beschwörungsformel dazu murmelnd. Es dauerte lange, aber Randires Augen begannen sich zu schließen, seine Ohren sich zurückzulegen, entweder vom Zauberspruch oder aus Langeweile. Dann legte Ozzyman das Tuch zu Trebors Erstaunen weg und ergriff einen Stuhl. Trebor weckte die Katze beinahe wieder mit seinen entgeisterten Emanationen. Der Stuhl sauste auf Randires riesigen Schädel hinunter und wurde losgelassen; Trebor hörte das Gebiß zusammenkrachen. Bis der Stuhl auf den Teppich fiel, war Trebor sechs Fuß entfernt, geduckt. Das schlanke Schwert in seiner Hand zitterte. Ozzyman preßte sich zehn Fuß entfernt an die Wand. Das große Tier stand langsam auf, während seine Augen sich nach außen drehten. Randire tat einen zögernden Schritt, beugte sich weit nach rechts, versuchte die Neigung auszugleichen, fiel mit einem dumpfen Schlag und aus der Lunge gepreßter Luft um. Trebor wurde unerwartet von einem Stich des Mitleids durchzuckt. Randire war bewußtlos, wenngleich nicht für lang, fürchtete Trebor. Aber er konnte sich nicht dazu überwinden, das große Tier zu töten. Ozzyman wankte auf ihn zu, mit schwankenden Knien und zitternden Händen. Trebor fühlte sich ähnlich. »Nicht – töten. Es ist besser – äh –, nicht Lyanthas Zorn herauszufordern, wenn wir gefangen werden – ich wage nicht daran zu denken.« Trebor nickte und versuchte die Tür zu öffnen. Eigentlich hätte man das Mädchen fesseln und knebeln müssen, aber er war nicht in der Verfassung, das zu tun – er wollte hinaus, und das sofort! Die Tür war abgesperrt. Ozzyman zwängte sich vorbei und tastete dann herum. 114
»Der Schlüssel steckt noch.« »Wirklich ? Geht weg.« Trebor hatte einmal als Richter und Jury des Hohen Gerichts einen Einbrecher verurteilt. Er zog das kleine Aufbruch-Messer heraus, das er Wächtererhalter gestohlen hatte; er hatte es mit einem Taschentuch an den linken Unterarm gebunden, und es war, als ihn die Lakaien angekleidet hatten, für einen Verband gehalten worden. Die Klinge war so dünn wie Papier und nicht viel breiter als ein dicker Zahnstocher. Er schob sie in das Schloß neben dem Schlüssel und drehte sie herum. Die Klinge bewegte den Schlüssel, der die Zuhaltungen drehte; das Schloß schnappte. Sie sperrten hinter sich wieder ab und nahmen den Schlüssel mit.
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Graben müssen wir »Wenn wir gefaßt werden, nimmt sie mir mein Schwert sofort weg«, sagte Trebor nervös. Das beschäftigte ihn schon den ganzen Tag. Er würde ohne die Waffe wehrlos gegen sie sein. »Es ist seit drei Generationen in meiner Familie. Zum Glück ist sie eine Frau und hat nicht viel Sinn für Waffen.« »Sie ist eine Hexe und hält nicht viel von Waffen. Wenn wir gefaßt werden, verlieren wir mehr als – äh – Euer Schwert.« Der kleine Mann kannte sich in Lyanthas alterslosem Palast gut aus. Trebor lief hinter ihm her, mit pochendem Herzen. Jede Stimme, jeder Schritt ließ ihn vibrieren. Zweimal huschten sie in leere Zimmer, um vorbeieilende Dienerinnen zu meiden; dann hatten sie die Privatgemächer der Hexe und die Räume ihrer Dienerinnen hinter sich. Eine Tür, unbewacht. Trebor schob Ozzyman weg und drückte sie auf. Niemand zu sehen. Dahinter ein Flur. Es roch nach Essen, und man hörte Stimmen und Geklapper von Küchengerät. Der Korridor endete nur wenige Fuß vor Trebor in einer Tür nach draußen. 115
Niemand zu sehen. »Los, schnell! Schnell!« Den Korridor hinunter nach links. Auf der rechten Seite befand sich ein Raum voller Beute, zumeist Kleidung. Ein Aerobe – ein Junge – schlief darin. Er hatte die Sachen sortiert. Trebor wunderte sich darüber, daß der Raum nicht bewacht wurde. Dann wunderte ihn das Fehlen einer Wache an der Außentür noch mehr. Wo waren die Aeroben alle? Dahinter kamen sie in einen Hof unter einem flammenden Sonnenuntergangshimmel. Der Hof war umgeben von schimmernden grünen und blauen Kuppeln. Ihre Farben wirkten zunächst verblaßt, dann gedämpft. Ozzyman wartete, bis eine dicke weibliche Gestalt verschwunden war, und führte ihn in schnellem Trab zu einer Gasse zwischen den Kuppeln. In ihrer Hast zertrampelten sie Lyanthas Blumen. Sie liefen um eine Kuppel herum und gelangten auf eine unregelmäßig begrenzte freie Fläche, wo ein rätselhaftes AufbruchGefüge entfernt worden war. Im Humus sprossen nun Gemüsepflanzen. Ozzyman hetzte darüber hinweg, gefolgt von Trebor. Er hielt jetzt Vorsicht für unnötig; es war unzweifelhaft die Stunde der Abendmahlzeit, und niemand begegnete ihnen. Auf der anderen Seite des Gemüsegartens befand sich ein aufgeblähtes, keulenförmiges Gebäude ohne Eingang. Hier und dort standen andere Bauten, keine zwei waren von gleicher Art. Etliche waren verschwunden und hatten nur ihre Sockel hinterlassen. Riesige Röhren, groß genug, ein kleines Häuschen hinabzuwerfen, erhoben sich aus dem Boden, zogen sich unter die Keulenformen und endeten in Kuppeln oder ineinander, oder einfach mitten in der Luft. Der hohe Gipfel von Agonie lag vielleicht eine halbe Meile entfernt. Er war ganz flach, von ovaler Form und bedeckt von den Ruinen einer großen Installation des Aufbruchs. In jenen fernen, großen Tagen hatte es dort vor Leben vibriert, aber nun war alles tot. Mächtige Maschinen von zauberischer und unbekannter Wirkung standen noch dort, riesige Gehäuse, die ihre uralten Geheimnisse verbargen. Keine jetzt bekannte Beschwörung würde sie in Bewegung setzen. 116
In den Tagen des Ersten Reiches war oft behauptet worden, es handle sich um eine große Pumpstation, aber der Irrtum war offenkundig: Es gab keinen Verwendungszweck für Wasser, sobald es auf den Gipfel von Agonie gepumpt war, im Gegensatz zum Fall von Eoréné bei Paxicum auf dem Hochland. Es gab jedoch Anwendungsmöglichkeiten für Wasser, wenn sie es nur geahnt hätten. Das war ihre und der Erde Tragödie. Keine der Hochzivilisationen, die die Meere leergetrunken hatten, wäre im Traum darauf gekommen, einmal könnte alles verbraucht sein, da jede haushälterisch mit Wasser umging und nicht mehr verbrauchte, als entbehrt werden konnte. Aber in der einen Milliarde Jahren seit der ersten Entwicklung der Atomenergie hatten Zivilisationen Zeit gehabt, zu den Sternen zu gelangen und immer wieder, unzählige Male, zurückzustürzen oder zur Erde zurückgeworfen zu werden. Jede begann mit einer bestimmten Menge Wasser, verteilte es in vollem Ausmaß auf den Hochländern und stellte fest, daß ein Verlust von drei oder vier Prozent an ihre durstigen Atommaschinen und riesigen Sternschiffe keinen nennenswerten Unterschied ausmachen würde. Und es gab so viele, viele von ihnen. Daher die Geschichte von Iréné und den anderen Tiefländern, Süd-Iréné und Aléné und Favonia — ein stetiger Niedergang zur Auslöschung, als die letzten Rinnsale Feuchtigkeit der Erde gleichmäßig über die Welt verweht wurden, überall unter den Pegel sinkend, der zur Erhaltung des Lebens nötig war. Trebor war sich des Trends so sehr bewußt wie jeder gebildete Mensch seiner Zeit. Aber das lag alles Tausende und Abertausende von Jahren zurück, und das Ende der Welt – gewohnheitsmäßig für mehr als eine Milliarde Jahre angesetzt – hob sich selbst jetzt noch nicht über den Horizont. Aera und Iréné würden dieselben bleiben, noch lange, nachdem er tot war. Nicht einmal der Anblick dieser riesenhaften Aufbruch-Pumpstation erinnerte ihn an die Misere der Welt über seiner eigenen. Ein Zug von Aeroben, die noch geckenhafter gekleidet waren als jene auf dem Schiff, kam, wankend unter schweren Lasten, um eine Kuppel herum. Sie waren vor Anstrengung halb blind, aber Ozzyman zog Trebor in eine niedrige Glaskuppel, die deutlich nicht aus 117
dem Aufbruch stammen konnte. Sie mochte ein Treibhaus oder eine Kaserne gewesen sein – im Inneren fanden sie sie voll von Kästen mit Webspinnerkäfern und Würmern. Bei dem unaufhörlichen Kauen der Webspinner konnte man nichts hören. Das Geräusch glich dem lauten Summen vor einem Bienenkorb. Trebor ging auf Zehenspitzen durch den großen Raum und hielt nach Arbeitern Ausschau, aber die Käfer und Würmer mußten nicht ständig beobachtet werden. Jeder Kasten war mit einem besonderen Nährpapier ausgekleidet und gefüllt mit mehlfeinem Glaspulver. In regelmäßigen Abständen tränkte man das Papier mit dem Saft grüner Blätter, der Vitamine wegen. Die Webspinner mußten das Glas zusammen mit dem Papier fressen und schieden es in Form von dünnen Fäden — der Glasseide – aus. Die Fasern konnten versponnen werden – sie waren kräftig und sehr biegsam. Sie konnten zwischen von Sonnenenergie erhitzten Rollen auch zu feinem Filz gepreßt werden. An der Tür auf der anderen Seite zögerte Ozzyman und führte Trebor zurück zu einer Tür am Ende zwischen der Tür, durch die sie hereinkamen, und der Tür auf der anderen Seite. Trebor bebte vor Nervenanspannung und zog immer wieder sein Schwert halb heraus und wieder hinein. Draußen schlängelten sie sich zwischen Aufbruch-Maschinen hindurch und blieben einmal mit stockendem Atem stehen, als ein Aerobe und eine Frau vorbeigingen. Der Aerobe sagte gerade: »Nein, nein, das dürfen wir nicht. Wenn Sie es erfährt –« Dann führte Ozzyman ihn an einer Steinbrüstung hinauf. Hinter der Brüstung war nichts. Sie schauten hinüber, und Trebor bekam sofort das Gefühl, daß Agonie mit ihm hinabstürze. Er wankte zurück, beinahe von Übelkeit übermannt. Ozzyman bemerkte nichts. »Das Schiff dort! Seht Ihr? Wir müssen es haben.« Trebor schaute noch einmal hin und sah ein Flugschiff, das eine gute Meile unter ihnen scheinbar am Berg klebte. Das war die Westseite, und das Licht in dieser Höhe war noch ausreichend. Aufbruch-Material schien zu schimmern, dazu ein Gewirr von Lichtflecken, die Gebäude sein mochten. Trebor konnte sie aber nicht unterscheiden. 118
»Da ist es!« Ozzymans Stimme klang erleichtert. Es war ein weiteres dieser Keulengebäude über Riesenrohren. Dieses Rohr ragte in die Luft, und eine Rampe führte hinauf. »Die Aeroben mit Beute sind hier heraufgekommen«, sagte Ozzyman. »Es wird sie – äh – ein bißchen Zeit kosten, ihre Lasten zu sortieren und zu stapeln, aber –« Trebor beeilte sich. An dem Rohr angekommen, riß er jedoch das Schwert heraus und den Kopf zurück. Über ihm drangen unheimliche Laute heraus. Ihnen nachspürend, die Augen zu gefährlichen Schlitzen verengt, erkletterte Trebor eine Leiter und stand plötzlich im Pumpengehäuse. Die riesigen Maschinen, die einmal hier in der verhüllenden Dunkelheit monströs gekauert hatten, waren lange verschwunden. Ein Steinholzboden bedeckte die Unterseite des Gehäuses. Zwei stämmige, behaarte Aeroben saßen nebeneinander auf einer Bank und pfiffen grimmig auf Pfropfflöten. Ein halbes Dutzend Leuchtgläser voll Fuchsfeuer beleuchtete schwach die Szene. Trebor faßte die Aeroben scharf ins Auge. Es gab hier sonst keine anderen. Der Titel des Liedes, das sie zu spielen versuchten, hätte lauten können »Der Hohe Gipfel von Agonie«. Mit der Zeit riefen die düstere Verdrossenheit ihrer Mienen und der methodische Grimm, mit dem sie ihr grauenhaftes Gedudel angingen, in Trebor eine Erinnerung wach. Er sah sich selbst als Junge vor einer Doppelharfe sitzen und grimmig deren Saiten zupfen, während die furchterregende Schwester seines Vaters mit verschränkten Armen vor ihm stand. Sie brachte ihm bei, die Doppelharfe vor allen anderen Instrumenten zu hassen. Eine Minute lang fühlte er sich den Aeroben beinahe brüderlich verwandt, aber ein Rasseln und Scharren hinter ihm machte ihn darauf aufmerksam, daß der Vorteil der Überraschung jeden Augenblick vertan sein konnte. Mit einem Sprung stürzte er sich auf sie. Als er aus der riesenhaften Düsternis des Pumpengehäuses auftauchte, hoben die Aeroben mit schuldbewußtem Zucken die Köpfe. Sie brauchten einen verlängerten Augenblick, um zu begreifen, daß er ein äußerer Feind war. Trebor sah die Freude auf 119
ihren Gesichtern ausbrechen; sie warfen die Pfropfflöten blitzschnell weg. Der erste starb glücklich. Trebor durchbohrte ihn mit solcher Heftigkeit, daß seine Klinge steckenblieb. Seine hartnäckige Weigerung, das Schwert loszulassen, kostete ihn beinahe das Leben, als der zweite Aerobe ein Messer aus seiner Jacke riß und von unten her auf ihn einstach. Im letzten Augenblick sprang er zurück, in einer momentanen Agonie der Angst um sein Schwert. Er prallte mit dem Rücken an einen kleinen Tisch, sein rechter Arm fiel darüber; er spürte etwas Glattes, Hartes. Trebor packte es auf der Stelle und wirbelte es um den Kopf, um es zu schleudern. Schatten sprangen hoch und auseinander, als das Leuchtglas durch die Luft flog, beide zugleich erschreckend. Sie sprangen einander an, um die Überraschung des jeweils anderen zu nutzen. Sie stürzten zu Boden, Trebor obenauf, wild nach dem Messer tastend. In einer blitzschnellen Entscheidung bäumte Trebor sich auf, stemmte ein Knie auf das Handgelenk des Aeroben und packte ihn bei den Schultern seiner Jacke. Er stieß den Kopf des anderen auf den Boden, daß das Steinholz dröhnte, wild, mit aller Kraft. Jeden Augenblick rechnete er mit dem Stich des Aeroben-Messers im Rücken oder in der Seite; sein ganzer schlanker Körper prickelte, und er hieb den Kopf des anderen wie ein Wahnsinniger auf den Boden. Das Messer klirrte auf den Boden. Der Aerobe war halb betäubt, wenngleich noch lange nicht ungefährlich. Trebor packte das Messer und schnitt ihm die Kehle mit einer geschickten Drehung durch, die verhinderte, daß das Blut herausspritzte. Dann warf er sich auf den ersten Aeroben. Sein Atem fauchte fast in einem Schluchzen der Erleichterung hinaus, als seine Hand den Schwertknauf umfaßte. Es war noch da! »Ah – seid Ihr, äh, äh –« Er stand mit dem Rücken zum Licht, als er sich Ozzyman zuwandte. »Was tun wir jetzt?« »Trebor! Ihr seid es! Äh – wir gehen hinunter. Kommt! Wir müssen uns – äh – beeilen.« Der erkahlende kleine Mann führte ihn halb im Laufschritt über 120
das Steinholzdeck. Sie kamen an dem Leuchtglas vorbei, das Trebor geschleudert hatte; es leuchtete jetzt durch das Schütteln doppelt so hell. Ozzyman bückte sich und hob es auf, um es über einem Geländer um ein dunkles Loch im Boden zu schwenken. Trebor ergriff das Glas und hob es über den Kopf, während er sich über den Schacht beugte. Er ließ es beinahe fallen. Er hatte sich der Führung des kleinen Mannes anvertraut, und obwohl er wußte, daß sie hinunter mußten, und daß sie in ein Rohr gestiegen waren, war er doch nicht vorbereitet auf diesen riesigen Bohrschacht, der in schimmernder Glätte zum Mittelpunkt der Erde hinabfiel. Trebor stürzte fast über das brusthohe Geländer, dann sprang er beinahe davon: Der Bohrschacht war viel größer als das Loch im Boden. Ozzyman griff nach dem Glas und hielt es hoch, um hinaufzublicken. »Ah, da ist er«, murmelte er. An der Decke hing ein Käfig an einem dicken Glaskabel. Zu den Dingen, die Trebor im Gehäuse nicht beachtet hatte – zum Teil, weil sie nicht von Bedeutung waren, zum Teil, weil er sie nicht deutlich hatte sehen können – gehörte ein dünnes Gerüst mit einem riesigen Rad. Ozzyman prüfte die Sperrklinke, trat zur Seite und drehte das Rad. Trebor ergriff das Rad auf der anderen Seite – es hatte einen Durchmesser von sechs Fuß –, und sie holten den Käfig herunter. Ozzyman lächelte zufrieden. »Das Gegengewicht haben sie schon entleert.« Das erforderte eine Erklärung. Eine Meile unter ihnen befand sich ein Glasfaser-Behälter, den man mit mehr als dem Gewicht des Käfigs voll Wasser füllen konnte. Es brauchte nur hinunterzufallen, um den Käfig schnell und gleichmäßig hinaufzubefördern. Dann brauchte das Gegengewicht nur noch entleert zu werden, damit der Käfig ebenso glatt und schnell hinuntersauste. Das Wasser wurde mit Sonnenkraft- oder Windmühlenpumpen wieder hinaufgepumpt. Für Leerfahrten gab es an der Rolle eine Hemmbremse. Ozzyman stellte sie locker ein und gab Erläuterungen dazu. Trebor nahm das Leuchtglas und schaute sich nach der Schmierkanne um, 121
die hier irgendwo stehen mußte, während er an den meilentiefen Fall dachte. Er entleerte die Schmiere auf die Bremse. Zunächst würde sie rutschen, aber die überschüssige Menge würde schnell abgebrannt werden, denn anders hätte die Bremse – weil hier oben niemand stand und aufpaßte – durchbrennen müssen. Es erforderte den größten Mut, den er je hatte aufbringen müssen, um in den Käfig zu steigen, und er umklammerte das Leuchtglas mit einem — Todesgriff. Aber bei diesem Gedanken faßte er es lockerer. Zuerst ging es so langsam hinab, daß sie erschraken. Die Aeroben mochten jeden Augenblick zurückkommen und bemerken, was sich im Schacht befand. Ozzyman zappelte, während Trebor die Zähne zusammenbiß, um den Kopf des Wahrsagers nicht an die Steinholzgitterstäbe zu hämmern. Aber es wurde langsam schneller, ganz langsam, als das Gewicht des Glaskabels an ihrer Seite der Rolle sich langsam dem auf der anderen Seite anpaßte. Endlich kam ein weißer Blitz in der schimmernden Dunkelheit des Schachtes, und Trebor ließ das Leuchtglas beinahe fallen. Er begriff, was es war, bevor Ozzyman stammeln konnte: »Das – äh – Gegengewicht—« Sie hatten die Hälfte des Weges hinter sich. Nun wurde das Gewicht auf ihrer Seite größer und größer und steigerte die Beschleunigung, die der Bremse entgegenwirkte. Es endete schlagartig, gerade als Trebor glaubte, es würde nie mehr aufhören. Ein blasser Blitz von unten, ein abgerissener Aufschrei Ozzymans, und der Käfig prallte hart auf seine Auflage. Alles darin flog in die Luft, das Leuchtglas wurde Trebor aus der Hand gerissen, und seine Zähne knallten zusammen, als sie wieder hochprallten. Dann setzte der Käfig mit einem sanften Ruck auf. Sie waren auf einer federnden Plattform aus Glasfaserstäben gelandet. Das Leuchtglas war aus dem Käfig gefallen, aber von unten drang das Licht herauf. Trebor half Ozzyman und hob ihn von der Stoßdämpfer-Plattform hinunter. »Nicht in das Licht treten!« Das Leuchtglas war nun endlich zerbrochen. Hier knickte das Rohr in rechtem Winkel ab und war mit Stein gepflastert, so daß sie flachen Boden vor sich hatten. Sie folgten ihm 122
hinaus und stellten fest, daß das Rohr auf einem großen Balkon im Berg endete. Zu Trebors Überraschung schimmerten noch Spuren des Sonnenuntergangs im Westen in einer unerkennbaren Entfernung über unbekanntem Land. Am Fuß des Berges blinkten in einer ziemlich großen Stadt Lichter. Hier auf dem Sims gab es ein Gewirr von Gebäuden, in einer Breite von vielleicht hundert Metern. Am Rand des Simses verlief ein Steinholzkai. Ein kleines Flugschiff war am Kai verankert, und an einem Ende ragten die massiven Steinholzbalken der Winde empor, die in Stufen zum Boden hinunterführte. Aber Ozzyman zog Trebor von der Winde fort. »Nein. Das endet mitten in der Aerobenstadt. Lyantha ist Herrin von Shealing Hall und erlaubt ihren – äh – Nachkommen nicht, ihr zu nahe zu kommen, außer bei einer Belagerung. Wir müssen warten, bis es ganz dunkel wird.« Er wies auf das kleine Flugschiff. »Es wird bemannt sein, für den Fall eines Sturmes.« »Ja.« Als es ganz finster geworden war, führte Trebor den Wahrsager auf den bauchigen, dunklen Umriß des Schiffes zu. Die Laufplanke im hochragenden Schatten des riesengroßen »kleinen« Schiffes knarrte unter ihren Füßen. Das Flugschiff war an Bug und Heck verankert. Trebor durchtrennte zuerst das Hecktau, dann hastete er mit Ozzyman am Kai entlang zum Bug. Schon schwebte das Heck hinaus. Trebor tastete am unsichtbaren Riegel des Bugportals herum. Sofort, als es sich öffnete, stieß er Ozzyman ins Unterdeck und durchschnitt das vordere Haltetau. Das Schiff vollführte einen heftigen Ruck, als die Spannung am Tau aufhörte; das durchschnittene Seil pfiff durch die Luft, und das Schiff rollte. Agonie blieb hinter ihnen zurück. Einen panikartigen Augenblick lang spürte Trebor den irren Drang, auf den Sims zurückzuspringen, dann sandte ihn die sich verbreiternde schwarze Kluft taumelnd ins Schiff zurück. Über dem Schnarchen ertönte ein Chor von Knarrlauten. Trebor schaute sich um. Das Unterdeck, unter dem Schiff aufgehängt, war von einem Leuchtglas erhellt und leer. Offenbar befand sich die Nachtwache auf dem Oberdeck, wo man das Schiff im Notfall steuern konnte. 123
Der Laufgang war ein schwarzer Spalt zwischen massiven Stoffklippen. Die Strickleiter schwankte so stark, daß Trebor befürchtete, sie würde das ganze Schiff auseinanderreißen. Dann erschienen sie vorsichtig auf dem mit Sonnenkraftplatten belegten Deck. Es waren nur vier Männer, nicht genug, um das Schiff in Betrieb zu nehmen, aber mehr, als Trebor sich zu Gegnern wünschte. Das schwankende Schiff, das sich jetzt leicht drehte, war ungefähr fünfhundert Fuß vom Berg entfernt und begann langsam zu sinken. Trebor wartete, bis sie vom Gipfel entfernt waren. Dann trat er katzenartig vor, durchschnitt eine Kehle, bückte sich über die nächste und stach geschickt zu. Was er für einen dichten Bart gehalten, entpuppte sich jedoch als eine Deckenfalte, und das Opfer krächzte, halb im Schlaf. Trebor fluchte lautlos und durchbohrte seine Brust, so daß der Mann noch einmal krächzte, grunzte, stöhnte und mit den Fersen auf das Deck trommelte, im ganzen so einen Heidenlärm vollführte, der seine beiden überlebenden Genossen aus ihren Decken trieb. Sie fanden kaum Gelegenheit, sich die Augen zu reiben und zu sagen: »Aye, aye, an Deck, an Deck.« Trebor hieb einen davon in ziemlich blutiger Weise nieder – das Schiff krängte und brachte ihn, aber nicht sie ins Taumeln. Das verschaffte dem Überlebenden Zeit, die wahre Natur des Notfalles zu erkennen. Zu Trebors üblichem Pech erwies er sich auch noch als Schnelldenker. Er riß eine Deckenrolle hoch, ließ sie auf Trebor niedersausen und fing dessen Schwert damit ab. Trebor tanzte zurück und riß das Schwert hinter sich, um die Decke von der Klinge zu schütteln. Der Aerobe stürzte sich auf ihn, die Fäuste wild, aber unerfahren schwingend. Trebor ächzte von einem Hieb in den Magen, konnte jedoch die Decke abschütteln und bohrte die Klinge im nächsten Augenblick bis zum Heft in den Bauch des Aeroben. Dieser kreischte, und Trebor konnte ihm nur mit der Linken eins über den Schädel geben und fauchen: »Halt's Maul, Andammt – willst du alle aufwecken?« Mit Mühe riß er die Klinge heraus, vor sich hinzischend, und vermochte den Schrei an der Kehle abzuschneiden. Einen Augenblick stand er da, rieb sich das angeschwollene linke Auge, betastete seine geplatzte Lippe und starrte 124
den Aeroben am Boden böse an. Geschah ihm recht, dachte er wild, als er an die unnötige Wucht dachte, mit der er ihm das Schwert hineingerammt hatte. Ozzyman hörte mit seinen gemurmelten Beschwörungsformeln und dem Händefuchteln auf und sank aufs Deck. »Bis jetzt wären wir davongekommen – und ihr Sonnenzauberantrieb funktioniert bei Nacht nicht. Jetzt brauchen wir nur noch zu warten, bis wir – äh – hinuntergesunken sind.« »Dann warten wir lange – wir steigen wieder.« Ozzyman gestikulierte unsichtbar in die Dunkelheit hinein. »Macht nichts. Wir müssen weit weg sein, bevor wir das Schiff hinunterlenken, damit wir nicht mitten zwischen den – äh – Aeroben landen.« Trebor sah am Sims des Berges Licht, aber die sanften Nachtlüfte hatten sie zu weit fortgetragen, als daß er die Schreie hätte verstehen können. »Wir müssen hinunter, bevor es Morgen wird«, sagte er und setzte sich ebenfalls. Der Morgen fand sie in niedriger Höhe über dem riesigen Hackmatack-Wald. Sie hatten Luft in die Auftriebtanks gelassen. Nun schwebten sie noch fünf- oder sechshundert Fuß über den Baumwipfeln, in schnellerer Bewegung, als es Trebor lieb war. »Der Wind wird bald stärker werden; wir müssen vorher aussteigen. Außerdem kann man das Schiff meilenweit sehen; wir können nicht damit landen und es liegen lassen, damit sie es finden.« Mit Ozzymans ungeschickter Hilfe warf er in den undeutlich erkennbaren Wald einen Anker und verlor bei dem Ächzen und Beben im dünnen Stoff unter seinen Füßen fast seinen Magen, als das Tau sich spannte. Sie standen auf dem Unterdeck. Es war nur die Mühe eines Augenblicks, Ozzyman in einen der Gurte zu schnallen, ohne seine schwachen Proteste zu beachten, und ihn durch die Luke zu stoßen. Trebor trat ans Rad und kurbelte ihn hinunter, so langsam er konnte, wobei er ein paarmal rasten mußte. Endlich wurde schwach am Seil gezupft, und ein magisches Auge, das er fand, zeigte das erkahlende Haupt des anderen, das aus einem Baumwipfel zu wachsen schien. 125
Trebor überlegte einige Zeit, dann band er schließlich an einer Rolle dicken Ankertauwerks eine Leine fest und knüpfte einen Spezialknoten. Ein heftiger Ruck an der dünnen Leine würde den Knoten lösen, den Anker freigeben, und die ganze Rolle Ankertau würde, wie Trebor hoffte, durch die Luke gezogen werden. Nun hinunterklettern. Er befestigte die dünne Leine um seine Hüften, schnitt zwei kurze Längen Leine ab und knotete sie um Leib und Knie, legte sie um das sechs Zoll dicke Ankertau und sagte sich nervös, daß er wohl bereit sei. Er schaute nicht ein einziges Mal hinunter. Nach der ersten halben Stunde, als die Verkrampfung in seinen Händen sich nicht mehr verschlimmern konnte, begann er ein wenig aufzuatmen und erschrak nicht mehr bei jedem Ruck des Flugschiffes. Nach einer weiteren halben Stunde war das dünne Leder seiner HofkleidungsStiefel durchgewetzt und die Haut seiner Schienbeine hielt nicht mehr lange. Er wünschte sich das verdammte Seil dünner. Oder dicker. Dann rief Ozzymans Stimme schwankend: »Beeilt Euch, o Trebor; mir wird schlecht, ich bin erschöpft!« Pure Wut führte Trebor den Rest des Weges hinunter. Als er endlich durch eine Wand von Laub brach und seine Füße auf einen festen Ast stellte, wünschte er sich nur, einen Feind vor die Augen zu bekommen, vor allem Lyantha – sein Mut war mit der Zunahme der Entfernung zwischen ihnen gewachsen. Eine Zeitlang konnte er Ozzymans Fragen, wie es ihm ergehe, nicht einmal krächzend beantworten, aber schließlich entspannten sich seine Muskeln, und er richtete sich auf. Es war nichts als Grün zu sehen, das durchschossen war von riesigen, grau-braunen Astbohlen, mit hier und dort vereinzelten schwarzen Löchern. Der Anker war ein Fischhaken mit vier Zacken, von denen einer sich unter einem massiven Ast verfangen hatte. Er ließ sich nicht lösen, und das Sechs-Zoll-Tau durchzuschneiden, hätte einen den Kopf gekostet. Trebor gratulierte sich zu seiner Voraussicht, postierte Ozzyman dorthin, wo der Anker nicht auf ihn stürzen konnte, und riß an der dünnen Leine. Er löste den Knoten mit einiger Anstrengung, umfaßte den Ast mit seinen Beinen und stemmte sich mit dem Rücken dagegen. Dann erschlaffte das 126
schwere Tau, und der Anker krachte hinunter zum Boden. Trebor wurde vom Sturz des Sechs-Zoll-Taues fast vom Baum gerissen, sah aber das Flugschiff schwanken und taumeln, als die Spannung aufgehoben war. Es stieg hinauf und begann in den Vordämmerungshimmel zu entschweben. Die Aeroben würden nicht wissen, wann oder wo Trebor und Ozzyman es verlassen hatten. Der Baum erwies sich als über zweihundert Fuß hoch, und sie brauchten die dünne Leine, um hinunterzugelangen. Dann standen sie auf dem Waldboden von Hackmatack, in tiefer nächtlicher Dunkelheit. »Laßt uns rasten«, sagte Ozzyman, und Trebor war mehr als einverstanden. Sie streckten sich im Farn zwischen den Wurzeln eines riesigen Baumes aus und waren bald eingeschlafen. Nie hatte Trebor Schlaf dringender gebraucht. Er stürzte in einen Abgrund, der so tief und dunkel war wie jener, den die Menschen des Aufbruchs in der Ebene von Requalaminel für das Begräbnis des Riesen Guanbalomm ausgegraben hatten. Er sank, er schwebte, er verlor jedes Bewußtsein von sich selbst. Er war ein Funke Bewußtsein, verirrt in einer Leere der Dunkelheit. Unbehagen überkam ihn. Es wuchs. Der Funke Bewußtsein wand sich ruhelos, drehte sich, nahm wieder die leere Weite wahr, die Dunkelheit – ohne sich ganz zu erinnern, wie die Welt, wie das Licht aussah. Das Unbehagen nahm zu, und der Funke zappelte, nahm wahr, daß er eine Person war, wenngleich der letzte Zuwachs an Identität – das, woran der Name hängt — nicht gewonnen wurde. Er nahm wahr, daß er sich in einem Zustand befand, und daß es andere Zustände gab – vor allem einen, in den er zurückzukehren wünschte. Eine qualvoll lange Zeit mühte er sich, erzielte Fortschritte, wurde aber immer unruhiger. Die Unruhe nahm das Ausmaß von Angst an, Angst vor einem namenlosen Unheil. Und soviel war die gewöhnliche Mühe zu erwachen. Aber nun wurde die Angst viel ausdrücklicher – nicht unähnlich der Angst, daß man einen Weckruf verschlafen hat und sich verspäten wird. Und der Kampf war halb entschieden. Er mußte erwachen - und mit einem geistigen Ruck weckte er sich. Aber er erwachte nicht. Wieder versuchte er es, und noch einmal. 127
Die Angst wurde niedergekämpft – Wut rettete ihn. Mit einer gigantischen Anstrengung, geeignet, die Welt aus den Angeln zu heben – Zeit, Zeit, würde er es in der Zeit erreichen ? – war er wach. Augenblicklich riß er die Arme hoch, stieß mit dem Fuß zu. Das Gesicht über ihm verschwand; das Siegel der Wache fiel auf seine Brust zurück. Immer noch mehr als halb betäubt von seinem Erwachen, war er mit einem behenden Überschlag auf den Beinen, hielt das Schwert in der Hand. Ozzymans kleines, runzliges Gesicht funkelte ihn für Augenblicke hinter einem breiten Baumstamm böse an. Trebor riß die Augen auf. Endlich schoß Begreifen durch sein Gemüt. Dumpf betastete er seinen Rock . . . offen, aufgeschnürt, das Siegel freigelegt. »Wer seid Ihr?« fragte er ruhig. Das Gesicht des anderen entkrampfte sich ein wenig. Er verbeugte sich sogar. »Ozziwun der Göttliche, Aäon-Pramantiner für Iréné.« Dann blickte er streng und richtete sich zu einer Würde auf, die Ozzyman nie besessen hatte. Er deutete apokalyptisch mit dem Finger. »Jenes Siegel, von Eurem würdigen Vater unter großen Mühen hergestellt, gehört in Wahrheit uns. Es wurde nur auf Ersuchen des Kults erzeugt und uns versprochen – für reiche Belohnung.« »Welchen Nutzen hat das Siegel eines Mannes für einen anderen? Und welche Belohnung meint Ihr?« »Er wird für immer im Aufbruch leben. Was das Siegel betrifft – es hat einen bestimmten Nutzen.« Trebor zog die Brauen zusammen, warf sein Schwert gefährlich in die Höhe und fing es wieder auf. »Ihr verlangt von mir zu glauben, Ihr geistigen Adepten des Kultes könnt die Wache der – wie nennt Ihr das? – Behutsamen Meditation nicht halten?« Ozziwun starrte ihn böse an. »Euer ehrwürdiger Vater hat sein Leben diesem einen Problem gewidmet; zweimal versuchte er es und scheiterte. Das Siegel nützt Euch nichts; es gehört von Rechts wegen uns. Gebt es mir auf der Stelle oder zieht Euch den Zorn der Pramantiner des Aufbruchs 128
zu.« »'s hat den Anschein, daß Euer prahlerischer Zorn mich durch halb Iréné verfolgt hat, ohne mir viel Schaden anzutun. Ich verlange zu erfahren, welchem Zweck Ihr diesen Tand zuführen wollt.« »Wenn Ihr es wissen müßt – das Siegel ist der Schlüssel zur Stammwelt-Erbschaft, von Interesse nur für den Kult. Wir hängen dem Aberglauben an, daß die Erbschaft dem Kult Glück bringen wird. Die Götter des Aufbruchs lächeln für alle, die den Kult ihrer Anbeter unterstützen. Die Götter des Aufbruchs blicken finster auf alle, die den Kult ihrer Anbeter behindern.« Trebor hatte von der Stammwelt-Erbschaft nie gehört, aber Ozziwun öffnete sein Gemüt weit genug, um ihn zu beruhigen; er strahlte Wahrheit und Glauben aus. »Das größte Glück, das sich der Kult vorstellen kann, ist wohl Macht«, sagte Trebor. »Wenn es für Euch Macht bedeutet, dann gewiß auch für mich.« »Nein. Ihr könnt es nicht gebrauchen.« Aber er hielt seine Gedanken streng abgeschirmt. »Jedenfalls gehört es mir, der ich der Erbe meines Vaters bin«, sagte Trebor mit Überlegung. »Da Ihr ihn ermordet habt, ist Euer Anspruch nichtig. Oder wollt Ihr das bestreiten?« »Er wollte sich seinem Versprechen entziehen.« »Und es mir geben? In der Tat. Außerdem bin ich durch seine Versprechungen in keiner Weise gebunden. Ich werde es behalten und gebrauchen . . . oder vielleicht verhandle ich mit Euch. Eure Unterstützung für mich als Panarch –« »Unmöglich! Wir haben unsere eigenen Pläne. Wir müssen das Siegel haben und werden es bekommen. Ihr werdet es mir auf der Stelle aushändigen. Ich bin Ozziwun der Göttliche; meinem Willen kann kein Widerstand geleistet werden . . .« Er bewegte rhythmisch die linke Hand und murmelte etwas vor sich hin. Trebor zuckte die Achseln und trat auf ihn zu, das Schwert vielsagend in Bewegung. Ozziwuns rechte Hand explodierte in einem Rauchwölkchen, und eine Donnerkugel pfiff an Trebors Ohr vorbei. Ein kalter Hauch ließ seinen Magen verkrampfen, aber er sprang vorwärts. 129
Der Zauberer verschwand. Trebor blieb im Rauch stehen und schnupperte – dasselbe Zaubergemisch wie in Rhodrora. Der Wald war eine tiefe, stille Düsternis. Dunkle Säulen sprangen aus dem Schatten einem stumpfen Himmel entgegen, Hier und dort ließ ein Strahl frühen Morgenlichtes die Dunkelheit um so schwärzer erscheinen, so undurchdringlich wie schwarzverschattete Höhlen. Es war nichts zu hören als Hummer, die durch die Bäume geisterten. 8
Der Nachtwald Viele haben den Hackmatack-Wald betreten, nur wenige sind zurückgekommen. Er reichte vom Zittersumpf im Norden bis zur Bittersalz-Wüste im Süden; im Osten wurde er vom Fernen Fahrland, Incavallonne, begrenzt, im Westen ging er schließlich ins schöne Land Aetha über. In dieser ganzen riesigen Ausdehnung war er überall gleich, eine endlose düstere Ödnis ungeheuer dicker Bäume, die verwurzelt waren in feuchtem Boden und den Tag darüber fernhielten. Mit der stufenweisen Verdunstung des Wassers und dem noch langsameren Ansteigen des Bodens kroch der Wald nach Norden immer weiter auf seinen Erzeuger zu, den großen Sumpf. Zu einer Zeit, als Catramaijian der Morbide die Fundamente von Paxicum und das Zweite Irenische Reich zerstörte, bedeckte der Große Zittersumpf dieses ganze Gebiet und reichte nach Aetha hinein. In der Zeit noch davor hieß er in der Sprache des Ersten Irenischen Reiches Stacienndanies von Aera: das Letzte Salzmeer der Erde. Und noch einmal lange vorher war er nur ein Teil von OzeanIréné in den ruhmreichen Tagen des Aufbruchs, und niemand anderer als die anmutige Gramanaria die Ewige, Mutter der Welten, herrschte von ihrem Sitz in den Hackmatack-Hügeln – damals Inseln – aus, an den Grenzen des jetzigen Aetha. 130
Aber das Land stieg empor und das Wasser floß ab, und die Ozeane schrumpften zu seichten Seen wie Pfützen am Boden des Tieflandes. Der Regen kam und spülte das Übermaß an Salz in die verbleibenden Seen, das Land reinigend. Noch immer aber zog das Wasser sich zurück, und das Land kam herauf, bis die seichten Seen einer nach dem anderen verschwanden und nur ihre Betten aus konzentriertem Salz zurückließen, die anzeigten, daß es diese Seen je gegeben hatte. Dann blieb nur das Letzte Salzmeer. Die Goldenen Imperatoren des Ersten Irenischen Reiches besetzten die gefallene AufbruchStadt, die sie Chailiana nannten und jetzt Rhodrora hieß, erhoben sie zu ihrer Hauptstadt und brüteten über den Stacienndanies und ihren Inseln, dem Ewigen Archipel und Agonie, wo das Erste Reich sich übernahm und in der Schlacht von Agonie zusammenbrach, wie Layan es im Vierten Buch der Stunden, der Tage von Ruhm und Infamie schilderte. Nun erinnerte sich nur der bärtige und feierliche Wald an das Geräusch von Wasser, wenn es durchpflügt wurde von den Kriegsund Handelsmarinen des Ersten Reiches. Nur die alten Bäume erbten die Erinnerungen an den Großen Sumpf, der die Armeen des Zweiten Reiches verschlang, die ausgeschickt worden waren, die ogerartigen Sumpfkinder, die Grallatore, zu vernichten. So ging das Zweite Reich unter, dezimiert, geteilt. Und es war der Hackmatack-Wald selbst, der die Heerscharen des Dritten Imperiums verschlang, die entsandt worden waren von Noronion, der von der Hauptstadt Irenaica nach dem schönen Aetha eine Straße bauen wollte. Das Dritte Imperium wäre gewiß vor seiner Zeit untergegangen, wie das Erste und Zweite Reich, hätte es nicht die Warnung vom Behaarten Eremiten von Hagstein, dem Ersten Pramantiner des Kults des Aufbruchs, gegeben. So viele Gespenster aus so vielen Zeitaltern suchten den riesigen Wald heim, daß weder die stärksten Winde noch die mächtigsten Reiche gegen seine brüllende Stille aufkamen. Wenn die Winde oder die Menschen fort waren, blieb der Wald, unverändert, unberührt. Trebor, kein abergläubischer Mann – er wußte sehr wohl, daß kein Geist der Großen Exorzisten-Beschwörung des Eldric131
Rätsels widerstehen konnte –, blieb trotzdem nervös wachsam, als er nach Nordwesten marschierte. Der Wald glich einer brütenden Kathedrale der Dämonenanbetung. Trebor konnte auch nicht die vagen, geflüsterten Erzählungen von Ungeheuern vergessen . . . Oger und Riesen und jener bebende Berg glänzender Gallerte, der Schnecke . . . die Großen Würmer, die bis auf ihre Köpfe völlig eingegraben waren, bereit, die Mäuler zu öffnen und mit einem Schluck einen Menschen zu verschlingen – man sagte von ihnen, daß sie auch im Rhomontasonn-Sumpf zu finden seien . . . die Riesen-Webspinner . . . der Jagd-Sechsfuß, der seinen Schwanz schleudert. . . Aber er sah nichts als das schlängelnde Huschen von Leben an der Oberfläche, das Springen und Laubrascheln von Baumwesen. Mit der Zeit überfiel ihn Hunger und rückte seine Ängste in den Hintergrund. In seinem Gehirn stand stets das Wissen im Vordergrund, daß zumindest ein Feind sich im Wald herumtrieb: Ozziwun der Göttliche. Trebor hatte wild unter den großen Stämmen gesucht, war über Wurzeln gestolpert und durch Schlamm gewatet, ohne jeden Erfolg. Ozziwun war nicht der stammelnde Tölpel, der Ozzyman gewesen zu sein schien; während der ganzen Suche hatte Trebor eine zweite Donnerkugel gefürchtet. Er gab die Suche auf und eilte nach kurzer Überlegung nach Nordwesten. Ozziwun war alt. Trebor schlug eine Gangart ein, die darauf abzielte, Ozziwun umzubringen, und hielt sie trotz Erschöpfung, Hunger und Sturm den ganzen Tag durch. Der Sturm erfrischte Trebor erheblich, indem er ihn in Wut versetzte. Trebor stampfte, Flüche murmelnd, durch ihn weiter, und zuckte ungeduldig mit dem Kopf gegen die schwärmenden Käfer. Er verfluchte alle Hofmoden-Erfinder, Ozziwun, die Aeroben, Lyantha – vor allem diese Hexe –, die Adligen von Linllallal, den toten Vion und jeden anderen, der Mitschuld an seiner Lage trug, mit Ausnahme von Lissa, Viani und sich selbst. Trebor gehörte nicht zu den beeindruckbaren Dichtern oder Schlimmeren, die Stürme lieben. Zuerst rauschte der Regen dermaßen herunter, daß Trebor kaum mehr etwas sehen konnte. Äste schlugen ihm trotz seines Hutes in sein Gesicht. Donner grollte und 132
ließ ihn sich angstvoll nach dem Riesen umblicken. Der Wind pfiff wie Schwerter, und Zauberei ließ jedes Blatt emporstehen und zahllose blaßäugige Unterseiten ihm entgegenblitzen. Frostschauer schüttelten sein Rückgrat, machten ihn mit einem Prickeln bekannt, das nicht von Kälte, Wind oder Wasser stammte. Aber er stapfte beharrlich weiter, geleitet von seinem Richtungssinn. Nach dem Sturm wurde das blaßgraue Licht eine Weile heller, um wieder nachzulassen, und dankbar suchte er sich eine harte, aber trockene Wurzel. Wäre nicht seine Erschöpfung gewesen, er hätte nicht schlafen können; er hatte nun seit einem Tag und einer Nacht nichts mehr gegessen. Der dunkle Wald wurde noch dunkler, noch höher, noch feierlicher. Er blickte aus mächtigen Wipfeln auf diesen schmutzverkrusteten, erschöpften Mann in abgetragener Höflingskleidung herab, der auf einer krummen Wurzel lag. Alt, sehr alt war er, beschäftigt mit seinen alten Gedanken und nun streng auf diesen Mann des frechen, unehrerbietigen modernen Zeitalters herabblickend, der seine düsteren Wege durchstapfte und seine alte Stille störte. Etwas mußte geschehen ... Angst stieg in Trebor hoch; die Bäume schienen aus jeder Richtung in düsterem Schweigen etwas zu erwarten. Sein Instinkt brachte ihn mit hämmernden Herzen auf die Beine, als zwischen zwei mächtigen Stämmen ein Gesicht erschien. Es war das Gesicht Randires, das jetzt im Fauchen schrecklich verrunzelt war. Die Augen glühten vor Haß. Aufstöhnend riß Trebor das Schwert heraus – schmal wie ein Strohhalm war es, gegen diese Riesenmasse Mord in Rot und Schwarz. Bevor die große Bestie springen konnte, fuhr Trebor herum und hetzte hinter den nächsten Baum, angstvoll hervorlugend, um zu sehen, von welcher Seite sie angreifen würde. Randire stürzte heran, in der Düsternis so groß wie ein Schlangenschiff. Mit schwachen Knien begann Trebor zu laufen, er duckte sich hinter einen anderen Baum, raste verzweifelt weiter. Er schaute um und sah Randire riesenhaft und fauchend hinter sich. Der Boden unter seinen Füßen war vom Regen aufgeweicht. Vor ihm senkte sich der Wald zum Sumpf hinab, die Bäume ragten zum 133
Himmel, umgeben von Wasserpfützen und Schlick. Verzweifelnd hetzte Trebor dahin, mit vor Angst schmerzenden Beinen. Die große Bestie blieb in der verschwommenen Ferne zurück, aber seine Angst nahm zu; schlich sie sich nicht heimlich an? Er stolperte ein Stück in den Sumpf, dann blieb er keuchend stehen und starrte wachsam in alle Richtungen. Der Boden stürzte aus seiner Welt, und für einen Augenblick überkam ihn Dunkelheit; sein Magen wurde aus ihm herausgeschöpft; wenn ihm noch Atem geblieben wäre, er hätte geschrien. Dann begriff er, daß ein Großer Wurm das Maul geöffnet hatte, und wie ein Tobsüchtiger stieß er mit den Füßen, stach zu, Angst und Ekel in sich, die eine Berserkerwut anstachelten. Der Wurm brach zusammen, und er wankte hinaus, knietief im Schlamm, keuchend und zitternd vor Angst. Der Baum, an den er sich lehnte, quoll über seinen Kragen, kalt, schleimig ... er sprang mit einem zuckenden Ruck davon. Die Schnecke erbebte in ihrer ganzen Masse – er sah an den ungeheuren Seiten, wo sie sich vor den Sternen wölbten, Bäume weggebogen – und floß schwabbelnd auf ihn zu. Floß ohne Laut, glitt sanft über den Sumpf, quetschte Bäume mühelos zur Seite. Einen Augenblick danach schwappte sie um seine zerfetzten Stiefel, tastete nach den Löchern vom Ankertau. Er taumelte davon, stach wild um sich, spürte aber das Schwert nicht. Die Klinge drang ein, riß Schleim heraus, rief jedoch keine Verletzung hervor. Hirnlos floß die Gallertmasse auf ihn zu. Von Übelkeit geschüttelt, fuhr er herum und stolperte davon. Das Riesentier strömte ihm hinterher, langsam, aber unbeirrt. Nach einiger Zeit wurde er müde, blieb jedoch nicht stehen. Es war nicht weit hinter ihm ... er wurde noch erschöpfter, rastete, bis es auf Steinwurfweite herangekrochen war, eilte weiter, um wieder Abstand zu gewinnen, rastete erneut . . . dann wartete er einmal zu lang, und es beschleunigte plötzlich seinen Kriechfuß, sprang ihn beinahe an. Verzweifelt riß er sich los, floh blindlings weiter . . . Irgend etwas ragte vor ihm auf, und er schlug entsetzt einen Haken – es war ein Riesen-Webspinner –, nein, es war Randire – Er erwachte. 134
Nicht wagend, sich zu bewegen, lag er zusammengerollt auf seiner harten Wurzel und atmete schwer. In der Dunkelheit des Schlafes wartete der Tod. Menschen sterben in ihren Träumen, wenn solche Träume von einem Meister geschickt wurden. Er wagte nicht, hier liegenzubleiben, um nicht wieder einzuschlafen. Mit äußerster Anstrengung stand er auf, fühlte sich matt, so, als läge ein Teil von ihm noch auf der harten Wurzel; er spürte noch immer ihren scharfen Druck an seiner Seite. Weiter; er mußte weitergehen. Er befragte seinen Richtungssinn, der ungewiß schwankte, und machte sich entschlossen und getrieben auf den Weg, nach Nordwesten eilend. Es war tiefste Nacht, aber schwaches Licht durchdrang die Szenerie. Die riesigen Baumstämme selbst leuchteten hell genug, um sichtbar zu sein, wenn auch zu schwach, um irgend etwas anderes hervortreten zu lassen; jeder stand in einem Kreis von Dunkelheit. Er beobachtete diese schwach schimmernden Lichtstreifen scharf danach, ob irgend etwas sie kreuzte. Wer mochte wissen, welche Ungeheuer nach Einbruch der Dunkelheit den Wald durchstreiften? Aber er zwang sich, nicht in Panik zu geraten. Er kannte mindestens einen, dessen Gedanken ihn fortwährend suchen würden, wo immer er auch in dieser Nacht rasten mochte. Er stapfte weiter. Die Dunkelheit war ein Ort ohne Form, ein Nebel, in dem langsam blasse Lichtstrahlen auftauchten, heller wurden, zurückblieben. Er war gefangen in der Mitte des Nebels. Dieser wurde stärker, weit, ganz weit von der sicheren und heimeligen Wurzel entfernt, auf der er eingeschlafen war. Aus der Entfernung sah er, spürte er, wie sein zusammengerollter, schlafender Körper den Halt verlor und in den Schlick stürzte. Die ganze Welt löste sich vor seinen hinausgreifenden Händen auf, vor seinen stapfenden Füßen. Verzweifelt fühlte er, wie sein Körper aufhörte, sich zu wehren. Die Enge in seiner Lunge wurde zu einem schwarzen Loch der Qual. Er hieb in einem letzten Krampf um sich, um die Schmerzen zu lindern – – und erwachte. Er setzte sich langsam auf, rieb sich die schmerzende Seite, starrte dumpf in die Dunkelheit. Es nützte nichts, daß ein Gefühl 135
belustigten Staunens über seinen Alptraum in ihm aufstieg; er wußte, daß das kein Alptraum war. Es war ein Zauberangriff, der ihn beinahe das Leben gekostet hätte. Selbst jetzt hämmerten seine Herzen noch in versetztem Rhythmus gegeneinander. Er rieb sich wieder die Seite. Der nächtliche Wald war eine dunkle Leere ringsumher, in der Bäume standen. Hinter ihnen und hinter der Dunkelheit lag Er und webte seine tödlichen Träume, seine Mordbeschwörungen. Tod, lautlos, gedämpfter Tod kroch ihn wie das Dunkel an. Was tun? Sollte er fliehen? Es war undurchdringlich finster. Und wer wußte, welche Scheußlichkeiten im nächtlichen Wald noch warteten? Am besten hierbleiben, wach. Vielleicht sich sogar wehren . . . Seine Beschwörungen auf ihn zurückwenden . . . Trebors Gedanken gingen zurück zu den dämonischen Träumen. Er stellte sich vor, wie Er zwischen den Wurzeln eines Riesenbaumes, einer Klippe gleich, kauerte, seine Beschwörungen webend und hinausschickend . . . Trebor fing den dünnen Nebelfühler des Gedankens auf und zog ihn vorsichtig heran, spürte, wie der andere ihn freudig nachschob. Er zog dünne Gedankenfetzen heran, festere dann, als Er seinen Traum verstärkte, noch festere Gedanken . . . nun strömten die Gedanken, Bilder, Stimmungen aus Ihm wie Wasser aus einem Krug . . . nun nahm Er seinen Verlust wahr, nun mühte Er sich verzweifelt, den Strom zu hemmen, nun fühlte Er sich aus sich selbst herausgezogen . . . schwarzer Tod der Gedankenleere gähnte . . . Dann war Er ihm an der Kehle. Trebor hatte seinen Feind über die Distanz zwischen ihnen zu sich herangezogen . . . nicht seinen festen Körper, sondern die böse Gemeinheit seiner Gedanken. Die schwarze Leere schwamm vor ihm, umwirbelte ihn. Er spürte, wie die Welt gegen ihn aufstand, die Bäume selbst, Wurzeln und Steine sich belebten, um seinen Untergang herbeizuführen. Er kauerte körperlos im Dunst, wartete angespannt auf die Annäherung des Todes. Licht schwoll an, zeigte eine Gestalt, eine Person . . . eine Frau . . . Nein . . . es war Lyantha, endlich herbeigerufen, um ihn zu holen. Verzweifelt kämpfte er seine Erregung nieder, tastete 136
nach seinem Schwert. Es war fort! Sie näherte sich aus den Nebeln, der schwarze Umhang, das schwarze Haar umflatterten sie, wild, frei, entrückt. Sie schwebte, ohne zu gehen, ihre Augen waren gesenkt... er konnte sich nicht bewegen, konnte sein überwältigendes Begehren nicht unterdrükken . . . der Umhang klaffte auf, wehte davon. Sie trug ihren Körper wie eine Königin. Dann begann sie zu ihm hinaufzusteigen ... Er spürte einen aus der Not geborenen Drang, sich zu erleichtern . . . als sie zu ihm aufsah ... er steigerte sein Bedürfnis verzweifelt, überzeugte sich, daß es dringend war . . . spürte schon die vorbereitenden Schmerzen qualvollen Todes durch sich strömen . . . halt, nicht, nicht das Bett benässen ... Verzweifelt konzentrierte er sich auf diesen mächtigen Drang, beachtete die Gefahr nicht, in der er sich befand, verschloß sein Denken vor der bedrohlichen Annäherung, hörte auf, sich zu wehren. Nun mühte er sich allein noch zu erwachen. Scham und Notwendigkeit lagen im Streit mit dem Schlaf. Er steigerte beides, so daß die Frau vor ihm zu einer streng blickenden Mutter wurde. Dieses Bild schwankte, und wieder war sie ganz Frau, unendlich begehrenswert. . . aber er mußte gehen, mußte jetzt fort, wenn er sich nicht in der Öffentlichkeit schandbar benehmen wollte . . . Dann ein heftiger Kampf in warm-beleuchteter Dunkelheit, ein bauchverkrampfender Kampf gegen Muskel, die nicht reagieren wollten, mit einem Gehirn, das nicht länger fähig war, einen Kurs zum Wachzustand zu halten . . . Mit einem ungeheuren Ruck erwachte Trebor. Und noch immer war es Nacht.
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Die Yens von Yang Die Hummer fiepten zu ihm herab. Trebor gab es auf. Er hatte Steine nach ihnen geworfen, in der Hoffnung, einen herunterzuholen. Nun schmerzte sein Arm, und Steine waren nicht leicht zu finden. Es war noch immer früher Morgen, kein übermäßig heißer Morgen, obschon er nicht mehr so kühl war wie vorher. Trebors Hunger war ein dumpfes Gewicht in ihm, nicht so schwer wie gestern. Aber Trebor begann eine unheimliche Trägheit zu spüren, die nicht nur von Erschöpfung oder unterbrochenem Schlaf kam. Ozziwuns Traumangriff auf ihn hatte ihn schwer erschüttert. Er war einige Stunden vor dem Morgengrauen wachgeworden und langsam nach Nordwesten gegangen, ab und zu rastend, einmal in einen leichten Schlummer verfallend. Sein Richtungssinn leitete ihn sogar in der dunklen Nacht, aber nach ein, zwei Tagen würde er ihn im Stich lassen, wenn er nicht aß ... und schlief. Rasten genügte nicht; er mußte schlafen. Mit einem Seufzer stemmte er sich hoch und machte sich wieder auf den Weg. Trotzdem war seine Gangart so schnell wie zuvor; er schätzte, daß Ozziwun Meilen hinter ihm sein mußte; der alte Mann konnte auch nach dem Dunkelwerden nicht viel herumstolpern. Aber wie viele Tage würde es dauern, aus der Reichweite des anderen zu gelangen? In einer Stadt, unter vielen Menschen, würde er vor Mordträumen einigermaßen sicher sein. Traumbeschwörungen waren nicht leicht zu dirigieren. Plötzlich kam er an einen Fluß. Betroffen schaute er hinauf und hinunter. Der Fluß war breit und schien tief zu sein, wenngleich er träge floß. Die Flüsse, die aus dem Zittersumpf kamen, genossen einen Ruf . . . Dann wurde ihm klar, welcher Fluß das sein mußte: Yang. Er entstand im Innersten des Sumpfes und floß nach Südwesten durch die Hackmatack-Berge, durch Aetha, und verlor sich zuletzt im Sand des Bitterlandes. Aber Yang strömte an Vallatia vorbei . . . sein Richtungssinn hatte ihn nicht in die Irre geführt. Agonie lag 138
freilich nicht so weit im Süden, wie er angenommen hatte. Er hätte genau nach Westen oder sogar nach Südwesten gehen sollen. Jedenfalls war der Fluß schneller – und er mochte auch sicherer sein als der Wald. Trebor wandte sich nach links und lief eifrig am Ufer dahin. Der Yang stieg oft genug über seine Ufer, um Bäume niederzureißen, und andere waren untergraben. Er sah mehrere, die zu groß waren, als daß er sie bewegen konnte, dann einen, halb im Wasser, der sich herauslösen ließ. Sein Schwert durchtrennte mühelos die verfilzten Wurzeln, die ihn am Ufer festgehalten hatten. Einen der Äste schnitt er zurecht und stakte damit den Baumstamm mit einiger Mühe in den Strom hinaus. Der Stamm drehte sich langsam herum, dann blieb er im Gleichgewicht. Er war ungefähr zwei Fuß dick, und das Gewirr der Äste würde verhindern, daß Trebor herunterfiel, wenn er einschlafen sollte. Draußen in der ungewohnten, gleißenden Sonne war die Stange nicht mehr erforderlich. Trebor trank aus dem Fluß, trank noch einmal. Er war nicht besonders durstig, aber Yang trug vom Zittersumpf Salz mit. (Das meiste Salz der Stacienndanies wurde ins untere Ende des Dunkelberges gespült.) Die Pfützen, aus denen er getrunken hatte, waren gefährlich rein gewesen. Er erschlaffte im Geäst, sein erschöpfter Körper saugte Ruhe auf, der Hunger ließ nach. Er schlief beinahe, als das Flugschiff heranschwebte. Es befand sich nicht direkt über ihm, war aber keine halbe Meile entfernt. Trebor erstarrte, dann glitt er aalgleich am Stamm ins Wasser und wünschte sich verzweifelt, seine eigene, dunkelgetönte Reisekleidung zu tragen. Das Flugschiff hatte seine Segel gerefft. Ein runder Ballon am Bug war von einem Höhenwind erfaßt und zerrte es langsam mit. Ohne Zweifel suchten magische Augen aufmerksam den Fluß ab. Er konnte es kaum glauben, als das Schiff weiter über den Fluß glitt und hinter den Wipfeln auf der anderen Seite verschwand. Trebor zog sich langsam wieder hinauf. Er dachte nach. Wenn Lyantha ihre Leute ausgeschickt hatte, ihn zu suchen, wären sie naturgemäß direkt nach Vallatia geflogen. Natürlich moch139
ten sie in der Umgebung des gestohlenen Schiffes suchen, aber niemand konnte genau sagen, wo er und Ozziwun es verlassen hatten. Es konnte nur eine einzige Antwort geben: Sie war in Gedankenkontakt mit Ozziwun. Er hatte nicht nur einen, sondern zwei Adepten auf seiner Fährte. Schlimmer noch: Er hatte sich mit dem Gedanken beruhigt, daß der alte Mann durch diesen weglosen Wald stapfte. Aber er mußte in diesem oder in einem anderen Flugschiff sein. Es war Trebor allein, der sich den Gefahren des Hackmatack-Waldes gegenübersah. Und er wußte, wer ihn in Vallatia erwarten würde. Als er wieder in Ufernähe kam, lenkte er den Stamm an Land und schnitt graues, abgestorbenes Unkraut ab, um einen Sonnenschutz zu errichten, der ihn auch von der Luft aus tarnte. Das Flugschiff überflog den Fluß erneut, weiter unten. Aber er sah den ganzen Tag über nur ein zweites Schiff, aus weiter Entfernung. Seine Anspannung konnte nicht dauern. Fische umschwärmten den Stamm, und es gelang ihm, einen zu durchspießen, ohne sein Schwert zu verlieren. Gesättigt, rastend in der angenehmen Wärme der Sonne – sogar die Insekten waren fort –, atmete er auf. Er hatte in den vergangenen Wochen in zu schnellem Tempo gelebt; jetzt entrichtete er den Preis in geistiger Erschlaffung. Ein- oder zweimal versuchte er sich auf die Gefahren seiner Lage aufmerksam zu machen; er sollte nach Aeroben oder Flußpferden Ausschau halten. Aber weder die einen noch die anderen vermochten ihn zu beunruhigen. Seine Gedanken flossen träge dahin. Es war angenehm, seine Sorgen davongleiten zu lassen – oder von ihnen davonzuschweben, er wußte nicht, was. Er schlief nie ganz ein, war aber an diesem Nachmittag auch nie ganz wach. Einmal blickte er dumpf auf einen Drachen, der keine dreißig Fuß entfernt auftauchte, laut schnob und wieder untertauchte. Er dachte undeutlich an seine Jugend, an die seltenen Gelegenheiten, auf diese Weise zu sinnen; an Eremiten, die nichts anderes taten, als zu meditieren; an träge weidendes Vieh. Er dachte an das Leben, das gemächlich zu den Wüsten hinabströmte wie der Fluß. 140
Er dachte an Pflanzen, die im Trockenen starben und im Nassen wieder lebendig wurden. Er dachte an die Menschen, die starben und wieder geboren wurden. Jede Nässe war ein neuer, geschlossener Kreislauf der Erfahrung. Aber waren alle Erinnerungen an frühere Zyklen verlorengegangen? Die Sennarener des Eldric-Rätsels glaubten das nicht. Ein richtig geübter Geist, so meinten sie, könne sich an Dinge erinnern, die gewöhnlich vergessen seien. Er hatte keine solche Übung, aber nun begann er zu begreifen, was die Geist-Adepten gemeint hatten. Bilder tauchten vor seinem inneren Auge auf, hohe Städte des Aufbruchs, die Zauberschiffe schwebten darüber, die großen Karawanen zogen durch die angenehmen Länder, wo jetzt nur Wüstensand wehte. Mächtige Könige saßen auf prächtigen Thronen inmitten strahlenden Glanzes; weise alte Weißbärte berieten sie, prophezeiten die Zukunft; auf riesigen Schanschids oder sogar Rhamrans saßen gepanzerte Männer und schlugen große Schlachten. Zauberer bekriegten einander oder jagten ganze Städte in die Luft und handelten mit Mädchen, vor allem mit Prinzessinnen, um ihr dunkles Wissen von ihren Dämonenherren zu erkaufen. Helden schritten auf der Erde, mächtige Schwerter und unverderblichen Geist führend, die alle Beschwörungen der Zauberer überwanden. Ungeheuer verwüsteten wehrlose Länder . . . Nach einiger Zeit erhoben sich die Hackmatack-Hügel über ihm, warfen ihre Schatten über den breiten, langsam fließenden Yang. Der Fluß kam durch ein enges, gewundenes Tal. Verträumt blickte Trebor auf die singenden Kristallwasser des schönen Selbun, wo sie den hohen Mian Hin hinabstürzten, um sich im trägen, braunen Yang aufzulösen. Und er blickte auf die funkelnden, klingenden Kaskaden der kleinen Nebenflüsse Dul und Dars, wo sie auf beiden Seiten herabrauschten. Nun trieb er zwischen den Beinen von Shepperalk dahin, die schwarz und zernarbt zum purpurnen, bestirnten Himmel des späten Abends hinaufragten, und die Nebel stiegen auf vom Yang und schwankten cremig in trägem, phantastischen Tanz zu.Erinnerung des Mannes oder Gottes, der einst über dem Fluß gestanden hatte und dessen Beine noch geblieben waren. Dann glitt die Stadt 141
Perdurdamen an ihm vorüber, die vor urdenklichen Zeiten von irgendeinem Zauberer zerstört, an einem einzigen kurzen Tag zu Ruinen zerschmettert, mit Gebeinen bestreut wurde. Nun kannten nur die Echsen die Rätsel Perdurdamens. Im trüben Restlicht des Abends stieg ein Fisch schwerfällig auf den Stamm, um Insekten zu fangen, keuchend und immer wieder wachsam ein Auge auf Trebor werfend. Aber der schwarze Schatten von Irillion auf dem Westufer trieb den Fisch zurück in seinen Fluß. Nun erhob sich über dem Fluß dieser mächtige Hügel, dieser kleinere Berg, dessen Hänge einst das Hämmern der Wellen von Stacienndanies gekannt hatten. Auf diesem Hügel, als er ein Berg und eine Insel in Ozean-Iréné gewesen, stand die große Granmanaria, die Ewige, die Mutter der Welten, im Krieg der Halb-Erde gegen den Mond wegen Hochverrats geschleift, zerstört bis auf das Gesicht und das Denkmal für die Welt-die-erst-sein-soll. Jetzt war dieses großartige und berühmte Denkmal verschwunden, von der Verwitterung der vorbeihuschenden Jahrhunderte zu Staub zermahlen. Auf dem Kliff hier an der Südseite, wo der Stamm zum Stillstand kam, war einmal das Gesicht des Mannes, der die Worte gesprochen hatte, eingemeißelt gewesen, Die Worte, die hinaustönten zu den Sternen, alle verändernd, die sie hörten, bis die Menschen wie Götter wurden und die Menschenrasse die Höhen erreichte, die zu erklimmen sie stets versucht hatte. Eine zeitlose Ewigkeit lang beherrschten Die Worte den Menschen, wie der Mensch Die Worte, und der Himmel reichte von der Erde bis zum fernsten Stern. Siebzigmal auf diesem gewaltigen Kliff war das Gesicht neu gemeißelt worden, das stets hinausblickte nach Süden über die enge, ruhige Wasserstraße zur Insel Freyinnis, während die Menschen diese Worte vergaßen und behaupteten, sie wären über sie hinausgewachsen. In Wirklichkeit aber stürzten sie steil die Höhen hinab, die sie erstiegen hatten, und hörten in ihrer Scham auf, zu den Sternen hinaufzublicken. Und das letzte Gesicht verwitterte langsam, ohne seinen Ausdruck je zu ändern. Viel später fragten die Menschen sich, wie dieser Ausdruck gewesen sein mochte. Und dann war das Gesicht verschwunden und vergessen und das halbe Kliff zernagt, und Ozean-Iréné starb, und das Letzte Salzmeer starb auch, 142
und Yang wurde geboren und strömte langsam aus dem verbleibenden Zittersumpf ab, und am Fuß der Klippe kam ein Baumstamm zum Stillstand. Trebor war froh, daß sein Stamm zur Ruhe gekommen war, denn er fand sich im Griff der Yens, der geheimen Beschwörung Yangs, und der wollte nicht, daß diese Verzauberung so bald aufhörte, wie sie es mußte, wenn der Yang ihn hinabtrug zum schönen Athea. Nun drehte er dem alten, rätselhaften Kliff, das tausend Jahrhunderte vergessener Geschichte gesehen hatte, den Rücken und betrachtete einen Baum. Das letzte blasse Glühen des Sonnenuntergangs schien vorbei vom Fuß von Irillion und zeigte einen riesigen, knorrigen Stamm mit mächtigen, verkrümmten Ästen, knotigen Gelenken, der seinen bewundernden Blick ernsthaft erwiderte. Was für ein alter, alter Baum! dachte Trebor. Der Baum war ganze dreihundert Jahre alt. Der träge Yang rollte langsam in den purpurnen und schwarzen Schatten dahin, als der letzte Anhauch von Licht aus dem Himmel verschwand und der Nebel heraufkam, um die klaren Sterne oben zu bedrängen. Der Yang rollte und drehte sich und löste ein Ende des Stammes vom Ufer und trug diesen gegen einen Felsen unter Wasser, mit hallendem Krachen, so daß Trebor kopfüber in den undeutlich sichtbaren Fluß geschleudert wurde. Schnaubend kletterte Trebor wieder auf den Stamm, während warmes, braunes Wasser von seiner schäbigen Kleidung floß. In der feierlichen Stille der Nacht erhob sich seine Stimme.
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Scheinen nicht zu wissen . . . An einem klaren Tag sieht man den Aufbruch – Sesom, der Anblick Vallatias von den Hackmatack-Hügeln aus. Morgen. Die Türme Vallatias, berühmt in Lied und Märchen, leuchteten vor ihm. Der Yang rollte mühelos zwischen den Hackmatack-Hügeln heraus und trug den Baumstamm, auf dem Trebor schläfrig grinste. Nach Vallatia ging es nicht weit hinunter, aber die Stadt lag unter ihm. Die zusammengedrängten Türme aus abgeschliffenem, verblaßten Ziegel- und Mauerwerk boten kaum einen überwältigend schönen Anblick. Trebor hatte die ganze Nacht nicht geschlafen. Sein Untertauchen hatte ihn gerade noch rechtzeitig geweckt, und danach hatte er sich grimmig wachgehalten. Nun stieg er betäubt an Land und streckte sich auf dem Ufer aus. Nach etwa drei Stunden weckte ihn die Hitze. Er setzte sich auf, starrte Vallatia finster an und betrachtete das ganze schöne, grüne, üppige, bis zum Horizont vom Yang durchschlängelte Land Aetha. Boote wurden den Fluß hinaufgerudert, beladen mit Nahrungsmitteln, um mit Fertiggütern zurückzukehren. Ein Rad von Straßen führte in das flache Land rund um die Stadt, jede Straße war voll von Bauernkarren oder Viehherden für den Verkauf. Zwei große Fernstraßen reichten westlich und südwestlich nach Aetha; beide waren in schlechtem Zustand, dunstig von Staub. Eine dritte Fernstraße führte parallel zu den Hackmatack-Hügeln und jenseits davon nach Norden, zu den Sunder-Hügeln zwischen Aetha und Lin Llallal. Dort waren Händler unterwegs, aber der Verkehr war vorwiegend örtlicher Art. Aetha war das größte Land in Iréné und beinahe autark, wenn auch nicht so reich wie ehemals. Es exportierte vor allem Kunstgegenstände, feines Kunsthandwerk, Korn und Sklavenmädchen, im Austausch für Stahlgerät und mechanische Anlagen wie Pumpen und Sonnenkraft-Motoren. Trebor wusch sich das Gesicht, um seine betäubten Gedanken anzuregen, aber es kam ihm kein glänzender Plan in den Sinn. Immerhin, zuerst würde er in die Stadt gelangen müssen . . . und 144
zweifellos besaßen Lyantha oder Ozziwun Einfluß genug, ihn ergreifen zu lassen. Die Behörden von Vallatia würden über seinen Steckbrief verfügen. Er riß zuerst die vergoldeten Schuhkappen ab – sie hätten ihn sofort verraten. Dann schnitt er mit seinem Aufbruch-Messer die Oberteile ab und verwandelte sie in billige, grellfarbene Schuhe. Der violette Umhang und die blaue Schärpe mußten weg . . . und Trebor zog auch das goldene Hemd aus Glasseide aus. Es war gerüscht mit Spitzen. Nach kurzer Überlegung riß er die Spitzen vorsichtig ab und rollte sie zusammen. Ohne Hemd, aber mit gold-gelber Glasseidenhose war er eine nicht allzu ungereimte Gestalt. Mit seinen Narben und dem Schwert hätte er ein ins Unglück geratener Söldner sein können. Die abgelegte Kleidung wickelte er zu einem festen Bündel zusammen, das er über die Schultern hängte. Nachdem er sich eine Meile weit durch das Buschwerk der kleineren Hügel gezwängt hatte, kam er zur nördlichen Fernstraße. Zur Stadt war es eine Stunde Fußweg. Am Tor spannte er die Muskeln an, eine Mär auf der Zunge, aber Wachen waren nirgends zu sehen. Aus einem kühlen Raum am Tor drangen Schnarchtöne. Die Mauer selbst bröckelte. Aethea hatte vor fünfzig Jahren die Linllallalaner zurückgeschlagen, aber Vallatias Mauer hatte seit zweihundert Jahren keinen Feind gesehen. Aetha war einst eine mächtige Militärmacht gewesen, und Vallatia war nicht die HauptStadt, sondern die größte Festung. Jetzt war Aetha bekannt für die Geckenhaftigkeit seiner Adligen, die Überlegenheit seiner Kunst, die Schönheit seiner Sklavenmädchen und die Trägheit seines Handels. Es war zu Recht Cocaigne genannt worden, das Land des Aufschubs. Schwärme abgerissener Bettler lungerten auf einem Platz vor dem Tempel des Schwarzen Lotus herum. Trebor war praktisch selbst der Bettlerklasse zugehörig, da die Aeroben ihm sein Geld und fast alles andere dazu abgenommen hatten. Ein Griff nach seinem Schwert schreckte sie von ihm ab. An diesem einst blühenden Platz gab es einen Brunnen, einen ovalen Behälter rosenfarbenen Aufbruch-Materials, der geformt war wie ein hohler Hocker ohne Oberteil. Er verjüngte sich zum Sockel hin und enthielt ein Was145
serbecken über dem Boden. Das ganze Ding war klein genug, daß man es umgreifen konnte, und hatte genau die richtige Höhe zum Sitzen. Trebor holte seine Rüschenspitzen heraus und wusch sie, ohne auf die schreienden Scharen abgerissener Kinder zu achten; nur einmal gab er einem kleinen Mädchen eins auf die Finger, als es ein Stück davon stehlen wollte. Sie waren schmutzig, aber nicht zerfetzt; im Hackmatack-Wald gab es kaum Dickicht. Vallatia war berühmt als die Inamorata der Kunst. Man behauptete, zehn Prozent der Einwohner seien Künstler. Vielleicht traf das zu; ganz gewiß war es eine einzigartig häßliche, schmutzige, schlechtgeplante Stadt. Sie hätte von einem Alten Meister entworfen sein können. Trebor kämpfte sich durch ein pittoreskes Gewirr von verfallenden Stadthäusern, bröckelnden Palästen und schmucken Tempeln. Zwischen diesen Geschäftsgebäuden- die meisten Stadthäuser und Paläste wurden gewerblich genutzt, als Hotels oder sogar als Märkte – gab es Wohngebäude. Manche waren Kasernen aus der Festungszeit Vallatias, noch immer in recht gutem Zustand; andere waren vom Vater des derzeitigen Pandamons im Zuge seines berühmten Renovierungsplanes errichtet worden. Sie sahen den Kasernen sehr ähnlich, waren aber mit billigem Material gebaut worden und verfielen nun. In vielen Fällen war das zu begrüßen, da die Gebäude von Künstlern entworfen worden waren, die man besser hätte verhungern lassen. Selbst in ihrem Verfallszustand waren sie die scheußlichsten Bauwerke, die Trebor je gesehen hatte. Um einen Tempel drängte sich eine größere Menge von Zuschauern. Aethas Niedergang, zum Teil eine Folge der nachlassenden Regenfälle, zum Teil eine des Alters, hatte ein pilzartiges Wachstum verschiedenartigster Kulte entstehen lassen. Dies war ein Tempel von Aeras Bräutigamen. Jeden Frühling, gleich nach dem ersten Regen der Nässe, schwärmten ihre Priester durch Aetha aus, um für die bevorstehenden Ernten die Fruchtbarkeitsriten des Bodens zu vollführen. Sie machten Löcher in den Boden und legten sich darauf, um mit Aera Verkehr zu haben. Aethas Niedergang hatte nicht die Gehirne seiner Witzbolde 146
betroffen, von denen manche so scharf und zynisch waren wie jene von Amballa. Einer berichtete von einem Priester von Aeras Bräutigamen, dem seine Frau einen hungrigen und wachsenden Hügel geschenkt habe. Trebor zwängte sich durch die neugierige Menge – die Trockenzeremonien beinhalteten das Schlagen von bronzenen Gongs, die ein Geräusch hervorriefen, ähnlich dem Pochen eines Pulses bei starkem Kopfschmerz – und gelangte durch die Innere Mauer. Das war die Vorhangmauer des Castle d'Or, des berühmten Wächters über den Yang. Aber von der alten Burg war wenig übriggeblieben; die berühmte Festung war verbessert worden, bis es sie nicht mehr gab. Trebor rutschte auf Aufbruch-Pflaster, Platten des Materials, das man den Mauern von Aufbruch-Ruinen entnommen hatte. Es mochte aus den Hackmatack-Hügeln stammen – oder von irgendwoher in Iréné. Überreste und Ruinen aus der Aufbruchs-Zeit gab es auf der ganzen Welt, und sie waren in der letzten Million Jahre immerfort hin und her transportiert worden. Auf oder an diesen Platten mochte man in tausend Städten der Dunklen Zeitalter geschritten sein oder gelehnt haben – und sie mochten hundertmal verlorengegangen und wiederentdeckt worden sein. Alle die kleineren Stücke fehlten und waren durch Kopfsteine ersetzt worden; gestohlen. Es gab auch nicht genug, um mehr als einen Streifen in der Mitte der vornehmeren Straßen zu pflastern. Trebor suchte sich seinen Weg durch die Pfützen vor Brunnen, wo Kopfsteine fehlten. Seine Schuhe waren, bis er die Zentralbazare erreichte, dick mit Schmutz und Schanschiddung bedeckt. Die südlichen Städte von Aetha und Lin Llallal standen noch immer vor der Aufgabe, ihren Handel auf eine logische Grundlage zu stellen. Alle Händler in Stoffen waren auf einem Platz versammelt, so daß Adlige sich durch die Schwärme um die Lumpensammlerbuden zwängen mußten, um zu ihren Schneidern zu gelangen. Trebor suchte sich ein einigermaßen florierendes Geschäft für Gebrauchtkleidung aus, nicht einen bloßen Stand, und trug sein Bündel hinein. Nachdem er den Händler dazu gebracht hatte, sein Angebot für Umhang, Hemd und Schärpe zu verdoppeln, fand Trebor einen 147
zweiten Händler, dem er seine Spitzen verkaufte. Er ging mit dem Gefühl, betrogen worden zu sein. Aetha produzierte selbst feine Spitzen. Sie brachten ihm immerhin soviel wie die anderen Kleidungsstücke zusammen. Sein nächster Gedanke galt dem Essen. Trebor suchte den Platz der Nahrungsmittelhändler auf. Er bezahlte überhöhte Preise für gehacktes Fleisch – bestand darauf, daß es vor seinen Augen durchgedreht wurde – und mußte zum Platz der Bäcker, um Brot zu kaufen. Dann zurück zum Platz der Köche. Er suchte sich den Stand aus, der am saubersten aussah, warf seine Sachen hin und befahl dem Besitzer, sich die Hände zu waschen. Der Koch riß die Augen auf, gehorchte aber, als er Trebors Geld sah. Dann zwang Trebor ihn zu einer zweiten Waschung, als er sich in die Hände spuckte, bevor er nach dem Gehackten griff, um es zu kneten. Diesmal war der Mann störrisch, und Trebor blickte bedrohlich – bei seinem leeren Magen kein Problem – und legte die Hand auf den Schwertknauf. Er beging beinahe den Fehler, das Schwert zu ziehen. Es hätte keine bessere Methode gegeben, sich die Gurgel durchschneiden zu lassen, als eine wertvolle Waffe zu zeigen. Mit vollem Magen, wenn auch beunruhigt über die Begleitumstände der Mahlzeit, stapfte Trebor müde durch die Innere Stadt. Er war erschöpft vom Stehen und Gehen und Mangel an Schlaf, aber zu nervös, um sich auszuruhen. Der Platz der Sklavenhändler wäre für ihn ein gefährlicher Ort gewesen, das wußte er. Die Vallatier würden vermutlich dort zuerst auf ihn lauern. Aber sie würden ihn nicht erkennen. Nur Ozziwun oder Lyantha konnten ihn mit Gewißheit identifizieren, und sie vermochten nicht überall zu sein. Der »Blumengarten«, wie der Platz der Sklavenhändler genannt wurde, war unverwechselbar. Umgeben war er vom Harmonium, einem Kreis von Gebäuden aus leuchtenden Aufbruch-Rohren, die in ganz Iréné berühmt waren. Jedes Gebäude hatte einen Durchmesser von etwa dreißig bis vierzig Fuß und eine Höhe von hundert Fuß. Die schlankeren Bauwerke waren am höchsten. Ihre Farben reichten von Weiß über Stumpf grau zu Rehfarben. Die meisten weißen besaßen jene zarte violette Tönung, die Auf148
bruch-Material nach einigen Millionen Jahren in der Sonne annahm. Das Harmonium war errichtet worden vom Pantokrator Deziff dem Großen, dessen Vater die Letzte Rache Irenaicas niedergeschlagen hatte – den letzten Versuch, das Dritte Irenische Imperium wiederaufzurichten. Deziff selbst herrschte über Aetha, als dieses reiche Land der Brotkorb von Iréné gewesen war und die Hälfte der Bevölkerung ernährt hatte. Auf diese Weise war er zu dem Geld gekommen, mit dem er alle Aufbruch-Rohre in seinem ganzen Land hatte aufkaufen können. Manche waren aus Burgen herausgerissen worden, wo man sie als Ecktürme verwendet hatte; manche aus großen Getreideplantagen, wo sie als Silos gedient hatten; andere aus Bewässerungsanlagen, wo man sie als Leitungen gebrauchte. Jedes Rohr war in ein Fundamentloch von solcher Tiefe gesteckt worden, daß man darüber die gewünschte Höhe erreichte. Direkt unter der Oberfläche des Platzes befand sich ein Kreis von Strebebogen um jedes einzelne Bauwerk, der sie seitlich stützte. Bei den meisten trat man durch einen imponierenden steinernen Eingang an einer Seite des Gebäudes ein und stieg auf einer Kreistreppe im Inneren hinab, bis man sich darunter befand. Dann stieg man eine Treppe zu der innen gewünschten Höhe hinauf. Das Harmonium war deshalb eher eine Attraktion als praktisch. Ein Gebäude war in einem Rohr errichtet, das durch eine unvorstellbare Kraft schwer beschädigt und an einem Ende an der Seite aufgerissen worden war. Dieser Schaden wurde aber hinter einer raffiniert entworfenen Fassade verborgen, die nur durchbrochen wurde von einem imposanten Glasziegel-Eingang. Alle Gebäude trugen Glasziegel-Kuppeln über einem Balkon. Polruss II der Geizkragen hatte den Versuch unternommen, Fenster hineinzuschneiden. In dem Bau mit dem ebenerdigen Eingang (genannt Clangent) konnte man eine Stelle sehen, die nicht unähnlich einem aus Mauerwerk gesprengten Splitter war, verursacht durch einen Pfeiltreffer. Zehn Jahre Bohren, Tag für Tag, mit Instrumenten, die Aufbruch-Juwelen trugen, hatten diese Vertiefung hervorgerufen. Die Bewässerungssysteme des Aufbruchs waren für die Ewigkeit gebaut. 149
Diese türlosen, fensterlosen Röhren eigneten sich offenkundig besser für Gefängnisse als für Paläste, aber nur die Sklavenhändler konnten mit derart teuren und vornehmen Gefängnissen etwas anfangen. Zweifellos waren Viani und Lissa hier, wenige hundert Meter von ihm entfernt. Trebor überkam ein Gefühl der Hoffnungslosigkeit. Er wagte nicht, bei den Händlern Fragen zu stellen, um seine Feinde nicht auf seine Spur zu bringen; und selbst wenn er erfuhr, wem sie gehörten und in welchem Turm sie eingesperrt waren, konnte er sie nicht sehen oder an sie herankommen. Gut gekleidet, mit einem sichtlichen Überfluß an Geld, konnte er eine Vorführung befehlen. Aber der »Blumengarten« war wohlbewacht von den Andathroiden-Sklaven der Stadt, den Gogues. Mit Gewalt konnte er sie niemals befreien. Wenn er nur das Geld besessen hätte, sie zu kaufen! Trebor ging ruhelos auf dem Platz herum. Selbst in der ruhigen Jahreszeit hielten sich hier Händler aus ganz Iréné auf; er stach also kaum heraus. Jede Stunde wurden monoton Marktberichte verlesen, und gelegentlich führte man zartgliedrige, schöne Mädchen über den Platz; aber das Geschäft ging zögernd. Zur Zeit waren die Preise hoch; die letzte Ernte war gut gewesen, und die Verkäufer traten nicht so bereitwillig auf wie in Perioden, in denen der Regen zu gering blieb. Trebor lauschte einem Ausrufer mit Stentorstimme, der den gültigen Marktbericht verkündete, die Liste der verkauften Mädchen, ihre Herkunft, Alter, Haarfarbe und Preise mitteilte. Keine davon war Viani oder Lissa – ihre Aussprache hätte sie als von Linllallal und dem Shamsund stammend verraten. Trebor ging weiter, bemüht, nicht zu argwöhnisch zu blicken, damit er nicht die Aufmerksamkeit der patrouillierenden Gogues erregte. Keiner von diesen Submenschen reichte ihm über die Schulter, aber alle waren um die Brust und Achseln von enormer Breite, und die meisten hatten auch Bierfaßbäuche, was andeutete, daß es ein schlechteres Leben gab, als Sklave der Stadt Vallatia zu sein. Gogues waren nicht so häßlich oder behaart wie die Grumer, aber deshalb sahen sie noch lange nicht gut aus. Trebor blieb außerhalb des Harmoniums stehen. Hier befanden sich die Häuser, in denen weniger hübsche Sklavenfrauen gegen 150
Gebühr vorgeführt wurden. Verkauft wurden hier nur wenige, aber sie verbrachten ihr Leben damit, zum Verkauf »ausgestellt« zu werden. Trebor spürte bei dem Gedanken, Viani oder Lissa könnten dabeisein, einen Stich. Doch sie waren zu wertvoll. Wenn er nur die Befugnis besessen hätte, ihre Freilassung zu verfügen – Der Gedanke war wie ein Blitzstrahl. Seine Kühnheit erschütterte ihn. Der Mann mit derart weitreichender Macht würde der Kämmerer sein. Oder der Pandamon. Aber Sidiun IV zeigte kein Interesse an der Regierung von Vallatia. Andererseits wäre er am leichtesten dazu zu überreden, etwas zu unternehmen. Wenn man ihm einen Schrecken einzujagen vermochte – schließlich war Viani eine Prinzessin –, würde er sie ins Leibhaus bringen lassen, bis der Fall untersucht werden konnte. Das Leibhaus war das Gefängnis für die Adligen, gewöhnlich leer und ohne Zweifel schlecht bewacht. Sie würden nicht lange brauchen, um dahinterzukommen, daß König Witloss der Vierte von Linllallal sich nicht darum scherte, was aus Vions Tochter wurde. Aber das würde Trebor Zeit verschaffen, sie zu retten. Es war verwegen, aber Trebors Temperament flammte auf und schwemmte alle Bedenken fort. Er war müde, hatte es satt, hilflos herumzustehen. Vallatias undurchdringliche Gleichgültigkeit gegen ihn versetzte ihn in Raserei. Sidiun IV folgte den Spuren von Trebors Vater, Sirrom dem Träger, befaßte sich mit Kultischem, dem Ergründen des »Unsichtbaren Reiches«. Trebor kehrte zum Platz der Kleidermacher zurück. Nach langem Suchen fand er das Gewünschte, ein langes Stück schwarzen Stoff, das vermutlich von einem Sarg des Mittelstandes gestohlen worden war, nachdem die Wachen geschlafen hatten. In Vallatia wurden Leichen noch den Sternen und einem letzten Morgengrauen dargeboten. Der Stoff war brüchig, nicht allzu sauber, und neigte zum Zerfasern an den Rändern, aber er kostete Trebor fast sein ganzes Geld. Die marmorne Schanschid-Tränke vor dem Palast des Pandamons hatte die Bemerkung ausgelöst, sie sei für diejenigen gedacht, denen beim Anblick des Gebäudes übel werde; es war im Rahmen des »Ermunterung-der-Künste«-Programms gebaut worden. 151
Trebor wurde kommentarlos in einen niedrigen, schäbigen und unauffälligen Raum vorgelassen. Sidiun war kein vielbeschäftigter Mann; er stand gewöhnlich gegen Mittag auf und frühstückte jetzt. Trebor kauerte sich in seiner improvisierten Robe hin – einen Hocker verschmähend. Er war hochgewachsen und im Gesicht schmal genug, um angemessen asketisch zu wirken. Sein Schwert hatte ihm einige Probleme bereitet; er hatte es sich auf den Rücken geschnallt, aber sobald er sich hinzusetzen versuchte, stieß die Scheidenspitze gegen den Boden. Nach einer Stunde fragte ihn ein zwergenhafter Lakai nach seinem Namen: Nodrog der Nivier, ein demütiger Student der EldricRätsel. Nive war eine einst große Stadt, die Amballa keinen Tribut entrichtete und demzufolge raschen Niedergang erlebte. Seine Bewohner hatten sich einen Ruf als Philosophen erworben, der Apathie wegen, mit der sie diesen Niedergang betrachteten. Nach kurzer Zeit kam der Lakai zurück und bat ihn höflich herein. Trebor konnte sich seine entschuldigende Meldung beim Pandamon vorstellen – ein geringer Fang, nur ein Hokuspokusmacher im Vorraum, während Sidiun erwidert haben dürfte: Herein damit, laßt uns unterhalten sein! Der private Audienzsaal des Pandamons von Vallatia war kaum eindrucksvoll. Überall hingen schwarze Samtvorhänge, die Decke war mit blauem Samt beschlagen. Das Plappern der vielen Frauen und Konkubinen Sidiuns drang mit den gewohnten Fliegen Vallatias zu den Fenstern herein; das Geschrei von Kindern schwoll in größerer Ferne an und ab. Es gab keine Einrichtung außer Sitzmatten und kleinen niedrigen Tischen – Anda wußte, wozu sie ursprünglich gedient hatten. Eine Art Musiker schnob in eine Nasenflöte oder Obö und brachte eine Reihe kurzer, schriller Töne offenbar aufs Geratewohl hervor, Töne, die dem Hörer den Eindruck vermittelten, man stoße ihm Eispickel ins Ohr. Zwei, die als Künstler gelten mochten, stützten sich auf ihre Ellbogen und unterhielten sich träge miteinander. Einer hatte das Ende seiner Matte ohne Rücksicht auf die Anwesenheit des Pandamon zu einem Kissen zusammengerollt. Ein traurig aussehender Mann, mit dem Rücken zum Raum, starrte an die Wand. Er konnte nur ein Dichter sein, und zwar der mo152
dernste aller modernen Poeten. Sidiun der Vieldenkende war ein ehemals fett gewesener mürrischer Mann mit glattrasiertem Gesicht, rosig und babyhaft. Seine Lippen schmollten, seine Lider waren schwer. Er war viel zu dick, um als Mystiker zu gelten, aber er hatte offensichtlich versucht abzuspecken; sein zweites Kinn hing als Hautfalte herab, seine Arme waren schlaff vor lockerer Haut, sein ganzer Körper wirkte wie ein halbleerer Sack. »Willkommen, guter Nodrog«, sagte er mit hoher Stimme. »Weit seid Ihr von Eurer illustren Heimat; im schönen Aetha sind seit je nur wenige Nivier gesehen worden. Der Ruhm der Philosophen von Nive eilt Euch voraus. Ihr sagt, Ihr seid ein Student der EldricRätsel?« Trebor verbeugte sich höflich. »Nur ein Student – ein armer Student. Da ich von Eurer Meisterschaft im Unsichtbaren Reich hörte, kam ich hierher, um mich unter Eure Förderung zu stellen, im Vertrauen darauf, daß mein geringes Wissen Eures Schutzes wert sei. Amballa ist kein Ort für mystische Meditation, sondern ein derber, wimmelnder, kommerzieller Bienenkorb, jeder feineren Empfindungen bar.« »Ja, ja, wir kennen Amballas Derbheit alle gut. Sie verlangen sogar Zoll für Kunsteinfuhren.« Die dicken Lippen schmollten, »'s ist ein Vergnügen, Euch in unserem armseligen Schutz willkommen zu heißen, guter Nodrog. Aynos wird Euch jetzt ein Lager in einem alten Stall zeigen, wo andere der mystischen Bruderschaft schlafen.« Er sah Trebor besorgt an. »Ich weiß, daß der Augenblick nicht günstig ist, aber – der gute Aynos ist ein Skeptiker – ich muß ihn ertragen – könntet Ihr uns ein Zeichen Eurer Meisterschaft geben?« »Aber gerne, Meister. Doch fürchte ich, mein armes Wissen ist weniger denn eindrucksvoll für einen so erfahrenen Mann wie Euch.« Trebor setzte sich auf den nackten Boden und konnte im letzten Augenblick verhindern, daß seine Scheidenspitze auf den Boden klopfte. Er lüftete seine asketische Robe und schlug die nackten, behaarten Beine übereinander, in der Hoffnung, die Narben des Fechtunterrichts würden unbemerkt bleiben. »Ich bin einer von denen, die, den Fußstapfen der Sennarener folgend, den 153
Clan destign suchen, der im Vierten Buch der Geheimnisse der Theiks erwähnt wird. Wenn es Euch beliebt, werde ich jetzt einen neuen Versuch unternehmen, obwohl ich nichts versprechen kann; die Zeit ist nicht günstig.« Sidiuns Augen funkelten bei der Erwähnung des Clan destign interessiert, aber er spitzte die Lippen und runzelte die Stirn. Einer der Künstler begann träge das Wort zu ergreifen. Sie hatten Trebor mit geringem Interesse betrachtet und weiterhin in gedämpftem Tonfall alle Künstler außer sich heruntergemacht. Ganz offensichtlich waren auch sie Skeptiker. Sidiun hatte jedoch auch künstlerische Neigungen, wie überhaupt kein Pandamon es sich leisten konnte, die Kunst zum Feind zu haben; ein großer Teil des Einkommens von Vallatia beruhte auf dem Export von Kunst. Die anmaßenderen und weniger beschäftigten Künstler verbrachten viel Zeit bei Hofe. »Gebt uns eine Prophezeiung oder beschwört wenigstens einen Geist«, sagte er. »Nichts von Euren Welterforschungen in Trance, von wo Ihr Geheimnisse mitbringt, die auf Eure Einbildung beschränkt sind.« »Die meisten Mystiker besitzen eine entsetzlich armselige Phantasie«, meinte der andere gedehnt. Er hatte ein messerscharf geschnittenes Gesicht und klare, scharfe, dunkle Augen. »Die meisten ihrer Trancevisionen sind jämmerlich schwach.« »Wenn Eurer Meisterschaft beliebt. . .?« Es beliebte. Trebor war vorbereitet. Er lehnte sich mit geschlossenen Augen zurück, bis er direkt an die Decke starrte und das Gefühl hatte, sich den Hals zu brechen. Er schwankte vor und zurück und begann vor sich hinzumurmeln. Er drehte sich herum und senkte den Kopf, dann zuckte er plötzlich mit einem Aufschrei hoch. Er hörte, wie die Künstler auch hochfuhren, und der verdammte Musikant beendete endlich seine Quälerei. »Ich sehe Pracht!« rief Trebor und riß die Arme auseinander. »Mächtige Städte, beherrscht von großen Königen . . . Flotten großer Schiffe im Kampf . . . eine gewaltige Armee marschiert, marschiert, Schanschids, Rhamrans, Männer in schimmerndem Panzer . . . Zauberboote kreisen, kreisen in der Luft. Sie beschießen einander mit Zauber, noch einmal — eines stürzt herab!« 154
Sein Sinnen auf dem Yang kam ihm zugute. Er hatte solche Szenen mehrmals miterlebt, wenn sein Vater durch wandernde Beutelschneider fast ebenso leicht zu täuschen gewesen war. Trebors private Meinung über sie entsprach jener des zweiten Künstlers; sie verrieten wenig Phantasie und bewiesen noch weniger Kunstfertigkeit. Er beschrieb eine grauenhafte Hexenkönigin, die in der Wüstenödnis aus einem Berggipfel herausfuhr, um ihren schwarzen Schatten über die halbe Welt zu werfen. Und er beschrieb eine in die Sklaverei verkaufte Prinzessin, die gerettet wurde von einem der Mystik verschriebenen Prinzen, der die Hexe mit Hilfe der Stammwelt-Erbschaft vernichtete. Dann wurde er ohnmächtig. Als er eine halbe Minute später zu sich kam, hatten die Künstler sich aufgesetzt und betrachteten ihn bewundernd. Der Nasenflötist hatte sein Folterinstrument vergessen, und selbst der Poet hatte sich halb herumgedreht, wenngleich er sich nicht so weit vergaß, daß er irgendeine Person direkt angesehen hätte. Sidiun war bezaubert und beeindruckt. »Solch eine große Vision! So lebendig, so wahr! Gewiß eine Vision des Aufbruchs selbst! Ah, wäre nur ich so tief ins Unsichtbare Reich eingedrungen. Guter Nodrog, Ihr müßt hierbleiben und mich lehren, was meine armen Kräfte vermögen.« Der zwergenhafte Lakai, der im Raum herumgestanden hatte, brachte Trebor ein Kissen und verbeugte sich vor dem Meister. »O großer Pandamon, es war wahrhaftig eine eindrucksvolle Vision. Sie erinnerte mich stark an die Beschreibungen des Aufbruchs, wie sie von den Theiks stammen.« Sidiun zog verärgert die Brauen zusammen. »Ihr könnt doch gewiß nicht bezweifeln, was Ihr gesehen und gehört habt, guter Aynor.« Er schmollte nachdenklich und sagte mit seiner hohen Stimme versonnen: »Ich entsinne mich an eine Erwähnung der Stammwelt-Erbschaft. Bei den Theiks? Ich weiß nicht mehr . . .« Trebor räusperte sich. »Wißt Ihr auch von der Stammwelt-Erbschaft?« fragte er begierig, bei dem Gedanken, sie könnte unter Kultanhängern wohlbe155
kannt sein, von einem Eishauch angeweht. »Ich habe sie erwähnt? Was sagte ich zum Clan destign?« »Ihr habt nur von den Kenntnissen einer gewissen Hexenkönigin gesprochen, die darin erwähnt werden«, schrillte Sidiun, nicht im geringsten darüber verwundert, daß Trebor sich des Gesehenen nicht erinnerte. »Die Stammwelt-Erbschaft, sagtet Ihr, sei dazu benützt worden, sie zu vernichten. Bedeutet das etwas?« Trebor zog bedächtig die Brauen zusammen. »Nie habe ich den Namen der Stammwelt-Erbschaft in einem Kultband gesehen, außer im Nigromonicon, von dem ich ein Exemplar in Vandamar zu Rate zog. Der Name blieb mir im Gedächtnis und taucht immer wieder auf, sobald ich geistig nach dem Clan destign forsche. Seine Bedeutung entzieht sich mir, ich weiß nur, daß ich danach suchen muß.« Aynos unterbrach ihn: »Zweifellos könnte einer, der sich im Unsichtbaren Reich so gut auskennt, uns armseligere Sterbliche mit einer Vision der Zukunft unterhalten.« Dies mit einem Seitenblick. Mit schmerzenden Beinen benützte Trebor diese Gelegenheit, aufzustehen und sich zu verbeugen, steif, seines Schwertes wegen. »Es wäre ein Vergnügen für mich; ich bin gewiß, daß ich für Euch nichts anderes voraussehe als Glück.« Er kauerte sich wieder nieder und begann erneut mit seiner Vorführung, diesmal etwas weniger theatralisch. »Ich sehe die schöne Stadt Vallatia«, sagte er durch die Nase, mit geschlossenen Augen emporblickend. »Ich sehe eine Schlange. Ich sehe eine Schlange unter der Oberfläche der schönen Stadt kriechen. Eine Schlange in Gestalt eines Mannes, eines Zauberers, kriecht durch das schöne Vallatia. Ich sehe eine Schlange im Dienste ... im Dienste einer Frau. Einer Hexe, einer gewaltigen und grauenhaften Hexe, die gierig auf Vallatia blickt, gierig und eifersüchtig. Eine Frau, die Vallatia seiner berühmten Schönheit wegen haßt, und auch deshalb haßt, weil die Unsichtbaren Mächte der Stadt ihr Lächeln schenken. Ich sehe einen Plan, das schöne Vallatia in Ruinen zu legen . . . einen Plan, gefördert von einer Schlange ... ich sehe eine edle Prinzessin aus einem fernen Land – ich sehe eine Prinzessin, im 156
›Blumengarten‹ in Sklaverei verkauft, wie eine Bauernmagd von den Grenzen Aethas . . . Ich sehe rächende Armeen sich auf Vallatia stürzen und Feuer durch das schöne Land Aetha tragen . . . Ich sehe eine schöne, aber hassenswerte Frau auf einem fernen Gipfel gellend lachen –« Er streckte die Hände aus, als könne er das Ganze nicht mehr ertragen. »Ich sehe Ruinen, Flammen, Tod!« Dann schlug er die Hände vors Gesicht. Selbst Aynos war beeindruckt; die Künstler zeigten sich verängstigt. Sidiuns Miene war keiner großen Wandlungen fähig; er runzelte schmollend die Stirn. Trebor schaute sich fassungslos um und bat demütig um Vergebung. »Gewiß habe ich in die Vergangenheit geblickt und den Untergang einer Stadt gesehen, die Vallatia ähnelte. . .« »Nein, guter Nodrog«, sagte der Pandamon mit schwankender Stimme. »Ich fürchte, Ihr habt nur allzu recht. Denn wißt, daß es wahrhaftig eine mächtige Hexenkönigin gibt, die voll Neid auf dieses herrliche Reich blickt. Aynos, geht sofort zum Haushofmeister. Es müssen Maßnahmen ergriffen werden. In der letzten Zeit habe ich die Hexenkönigin der Aeroben im Traum oft gesehen.« Der Pandamon stand auf und ging ruhelos hin und her. »Wir können nicht zulassen, daß diese Himmelsschurken auf uns herabsinken. Diese Prinzessin muß befreit werden. Guter Nodrog, wir sind Euch sehr zu Dank verpflichtet.« Er sank erschöpft auf sein Lager. Aynos blieb skeptisch. »Schlimmes Unheil vorauszusagen ist leicht genug, aber was haben wir für Beweise?« Sidiun winkte ungeduldig ab. »Meine eigenen Träume sind Beweis genug. Dies bestätigt alle meine Befürchtungen.« Über das Gesicht des zwergenhaften Lakaien huschte ein Ausdruck von Angst und Sorge, und Trebor erkannte verblüfft echten Glauben und Furcht vor den mystischen Kräften des Pandamons in seinen Emanationen. Aber Trebor sah der Lakai mißtrauisch an. Trebor nahm die Haltung des gleichgültigen Propheten an, eine Hand auf der Brust. 157
»Es betrifft mich nicht, da mein Interesse allein dem Unsichtbaren Reich gilt, das ich nach der Stammwelt-Erbschaft durchforsche.« Mit dieser Geste berührte er das Siegel der Wache, mit dem er Sidiun hätte täuschen wollen, wenn er sich als allzu nüchtern erwiesen hätte. Als er an den Ausdruck »Stammwelt-Erbschaft« dachte, erwachte das Siegel plötzlich zum Leben. Eine stumme Geistesemanation zuckte durch den Raum und brachte einen Eindruck von erdrückendem Alter, ungeheurer Entfernung und unfaßbarer Macht mit sich. Es war ein Blitzstrahl von allerkürzester Dauer. Eine Aura der Kälte und Angst erfüllte den Raum; alle starrten Trebor ehrfürchtig-angstvoll an. Selbst das schrille Streiten der Frauen draußen verstummte. Nur die Fliegen summten laut. Aynos verbeugte sich mit höchster Achtung tief und schob sich hinaus. Trebor stand auf, verbeugte sich und teilte mit, daß seine Trancen ihn ermüdet hätten. Sidiun verabschiedete ihn und sagte eifrig: »Kommt bald wieder, guter Nodrog, ganz nach Eurem Belieben.« Als Sidiun ging, herrschte tiefe Stille im Saal; alle starrten ihm nach. Alle, bis auf den Dichter. Der kritzelte eifrig. Trebor hatte keine Schwierigkeiten, den Stall zu finden, den der Pandamon mit Mystikern jeder Couleur gefüllt hatte. Diese Leute brauchten viel Ruhe, und er nicht minder. Ein geräumiges Abteil stand ihm zur Verfügung, in dem es immer noch stark nach Schanschid und Stroh roch. Die dünne Decke war sauber und frei von Ungeziefer. Trebor saß mit überkreuzten Beinen in der anerkannten Weise auf dem Boden, spürte bereits Schmerzen nach seiner Vorstellung bei Hofe und legte eine Hand auf das Siegel. Nichts geschah. Er konzentrierte sich auf Viani, dann auf Lissa und schließlich mit einigem Unbehagen auf Lyantha. Er rieb sich das Gesicht und dachte nach. Diesmal dachte er wieder an die Stammwelt-Erbschaft. Erneut hatte er den Eindruck von enormem Alter und ungeheurer Macht. Als er sich auf die Erbschaft konzentrierte, tauchte eine Vision vor ihm auf. Er war so 158
überrascht, daß sie ihm wieder entglitt. Ehrfürchtig zog er sie wieder heran; zum erstenmal begann er die Macht des Unsichtbaren Reiches zu begreifen. Die Szene wurde langsam und mühevoll deutlich. Eine gemarterte, erodierte, verwüstete Landschaft, eine ehemals geschmolzene Felsebene, ausgewaschen zu stehenden Säulen, wo nichts lebte. Das konnte nur in den Hochländern sein. Er dachte nach und erinnerte sich an Bruchstücke überlieferten mystischen Wissens, die er am Hof seines Vaters aufgefangen hatte. Die Wache der Behutsamen Meditation verlangte, daß man eine bestimmte Zeit wach und geistig aktiv blieb, ohne ein einziges Mal an einen Gegenstand zu denken, der zuvor festgelegt worden war. Das während der Wache hergestellte Siegel, um die Gedanken zu beschäftigen, gewann somit Macht über das Objekt, an das nicht gedacht wurde. Wenn man jetzt daran dachte; wurde das Siegel aktiviert. Er vermutete, daß die Erbschaft selbst ein machtvoller Talisman war. Aber wie soll ich im Hochland hingelangen? Die Szene verschwand. Erstaunt ließ Trebor beinahe die Hand vom Siegel sinken, dann wiederholte er hoffend die Frage. Es gab eine Empfindung schwebenden Denkens, dann bildete sich eine neue Szene. Sie war weit entfernt und nicht sehr deutlich, wie eine Szene in einem verschwommenen magischen Auge. Ein Talisman, entschied er schließlich. Ein Talisman in Form eines Fisches mit rundem Kopf aus blauschimmerndem Aufbruch-Material. Es ist alles so vage, dachte er gereizt. Konnte dieser Talisman ihn zum Hochland befördern? Trebor spürte sehr stark, daß der Talisman dazu imstande war. Als er ihn sah, hatte er ein ganz starkes Gefühl des »Wort-auf-der-Zunge-liegen«, so, als könne ein einziger geistiger Befehl ihn dort hinbefördern – wenn er das Wort nur gekannt hätte. Ein lautes Klopfen an die Tür des Abteils ließ ihn zusammenschrecken. Ein Gogue starrte über die Tür. »Komm!« knurrte er und riß die Tür auf. Er griff hinein, packte ihn mit der lässigen Kraft des Submenschen und trieb ihn hinaus. Trebor duckte sich vor Abscheu, verbarg den Ekel aber hinter ausdrucksloser Miene und abgeschlossenem Denken. 159
Der Gogue trug die Livree des Haushofmeisters und führte ihn zum geräumigeren und prächtigen Vorderteil des Palastes. Trebla, Haushofmeister von Vallatia und Generalgouverneur von Aetha, war ein kleiner, lebhafter, angespannter Mann in einem weißen Gewand aus Glasseide. »Ihr seid Nogood, der Mystiker aus Amballa?« fuhr er Trebor an. Trebor nickte beinahe. »Nodrog«, verbesserte er und bewegte den gequetschten Arm unauffällig in seiner provisorischen Robe. »Aus Nive, nicht Amballa.« »Dasselbe. Was in Andas Namen denkt Ihr Euch, den Pandamon aufzuregen? Der Pandamon ist ein sehr empfindsamer Mensch, sehr empfindsam, hört Ihr? Er darf nicht beunruhigt werden. In keiner Weise beunruhigt. Es wird keine Prophezeiungen über die Vernichtung von Vallatia mehr geben, hört Ihr?« Trebor hörte und begriff ganz gut. Er verbeugte sich und sagte: »Alle Mystiker wissen, daß Prophezeiungen über die Zukunft durchaus nicht zuverlässig sind, denn durch Vorauswissen kann man den Eintritt des Ereignisses verhindern. Der Meister war intensiv mit dieser Verhinderung beschäftigt, als ich ihn verließ. Was mich angeht, so bin ich nicht überzeugt, daß es wirklich Vallatia gewesen ist, dessen Vernichtung ich gesehen habe.« Trebla wurde daraufhin ein wenig ruhiger. »Nun, schon besser. Schade, daß Ihr das dem Meister nicht klargemacht habt. Er ist tief beunruhigt. Tief. Schlecht für seine Gesundheit ist das, sehr schlecht. Stört seine Verdauung. Und noch etwas: Es wird keine Versuche mehr geben, Vallatia gegen Linllalal aufzuwiegeln, hört Ihr? Keine mehr!« Trebor konnte ein Zucken nicht unterdrücken, das der wachsame Haushofmeister sofort bemerkte. »Ah, Ihr denkt, ich hätte das nicht erfahren? Ich habe mich persönlich darum gekümmert und alle Händler kommen lassen. In der letzten Zeit ist nur eine Ausländerin verkauft worden, nur eine von den Aeroben: aus Linllallal. Aber sie ist im Exil, hört Ihr? Dem Haus Gute Laune nicht von Interesse. Sie wird zurückgegeben. Also findet kein Krieg statt, hört Ihr?« 160
Trebor verbeugte sich wieder und spürte, wie sein Schwert sich auf dem Rücken spannte. »Ich bin überrascht, daß Ihr meine Vision so ernst genommen habt«, sagte er. »Ich hatte sie als Blick in die Vergangenheit abgetan, wenngleich das beim Meister offenkundig nicht der Fall war. Es schien Wissen über das Unsichtbare Reich zu bestätigen, das er besaß.« Im Gesicht des kleinen Mannes spiegelte sich qualvoller Zweifel wider, und abermals las Trebor dieses Gemisch von Glauben und Furcht vor den Kräften des Pandamon. Der Haushofmeister straffte die Schultern und sah Trebor an. »Wißt, daß ein Teil Eurer Vision die unbezweifelbare Wahrheit ist; es gibt eine große Hexenkönigin auf einem Berggipfel, nicht weit von Vallatia, deren Absichten umstritten sind. Meine ganze Diplomatie zielt darauf ab, sie zu beschwichtigen. Hört Ihr? Vallatia wünscht nichts so sehr wie ihren guten Willen. Sie ist die Königin der Aeroben.« »Sie werden von einer Frau beherrscht?« »Ja. Laßt mich versichern, daß wir mit dem Plan des Triemeperatos von Irenaica, Agonie von Osten und Westen her zu überfallen, nichts zu schaffen hatten. Wir haben ihn verworfen. Absolut verworfen. Hört Ihr?« Trebor nickte. »Aber laßt Euch versichern, daß ich kein Spion oder Beauftragter der Aeroben oder irgendeiner Königin bin.« Trebla sah ihn scharf an. »Nein? Nein?« Trebor ließ seine geistige Abwehr sinken und strahlte Wahrheit aus. »Mein Hauptbestreben ist, die Stammwelt-Erbschaft zu finden, von der Eure Spione Euch berichtet haben müssen. Ich muß sie haben; ohne sie ist ein Vorankommen nicht möglich. Die Angelegenheiten Vallatias betreffen mich nicht.« Das entsprach alles der Wahrheit, und der Haushofmeister atmete deutlich auf. »So? Ich kann nicht anders, als Euch glauben. Wären nur alle Menschen so offen. Meine Pflichten, Anda weiß es, sind schwierig genug.« Er betrachtete Trebor scharf. »Aber Eure Prophezeiung war wirklich sehr gut. Ihr sagt, Visionen der Zukunft wären nicht unabänderlich? Glaubt Ihr, wir haben eine Vernichtung, wie Ihr 161
sie saht, verhindert? Was ist mit den künftigen Plänen der Hexenkönigin?« Trebor nahm die Hände auf den Rücken und senkte den Kopf, um nachzudenken. Es war eine Frage, wie weit Trebla ihm vertraute, selbst jetzt, aber ... Er entschied sich für Kühnheit. Er sagte: »Habt Ihr diese Prinzessin aus Linllallal über die Haltung der Aerobenkönigin befragt?« »Sie ist noch nicht ins Leibhaus gebracht worden.« Dabei handelte es sich um die ehemaligen Haremsanlagen der Pandamons, die jetzt als Gefängnis für die Edelleute benützt wurden. Viani würde zweifellos vor Einbruch der Nacht hingebracht werden. Trebla mußte nach Erhalt des Berichtes sofort eingeschritten sein- nachdem der Pandamon zum erstenmal seit Monaten einen direkten Befehl erteilt hatte. »Es ist möglich, daß sie etwas von Bedeutung weiß; sie könnte die Königin selbst gesehen haben. Und was das Wichtigste ist, sie könnte etwas besitzen, das der Königin gehört; ein Tuch, irgendein Kleidungsstück, selbst etwas so Simples wie einen Weinkorken, der zerstreut eingesteckt wurde. Das würde einen Punkt geistigen Kontakts ergeben, mit dem ich meine Gedanken auf die Königin konzentrieren könnte.« Der Haushofmeister nickte kurz. »Ich werde nachforschen und Euch dergleichen zukommen lassen. Könnt Ihr bis morgen eine Antwort auf meine Frage bringen?« Trebor atmete auf. »Wenn nichts hindert, nehme ich es an. Aber die Macht der Hexe mag größer sein als meine eigene.« Und für alle Fälle fügte er hinzu: »Ich brauche vielleicht die Hilfe des Meisters.« Trebla sah ihn scharf an. »'s ist wahr, daß der Pandamon einen Geist von hoher Macht besitzt – aber dem Euren vergleichbar? Das kann nicht sein!« Trebor verbeugte sich und fühlte erneut sein Schwert. Wenn es entdeckt wurde, befand er sich binnen Minuten in den Foltergewölben. »Der Meister besitzt einen Geist von hoher, wenn auch ungeübter Macht«, sagte er. »Aber selbst die Hilfe eines ungeübten Geistes 162
mag in einem schweren Kampf von Nutzen sein.« Der Haushofmeister verdaute diese Andeutung, daß der Pandamon unter den Einfluß Nodrogs geraten und beginnen mochte, das Reich »selbst« zu regieren. Dann dachte er wieder an die Hexenkönigin und nickte. Trebor brauchte keine Emanationen, um seine Absichten zu erkennen: Zuerst würde er diesen Nodrpg dazu benützen, Lyantha abzuwehren, und dann . . .
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Eine Nase drehen Ein Gogue brachte Trebor, als es dunkel wurde, einen Schal. Ay-nos hatte Trebor vorher in einen vornehmeren Raum im eigentlichen Palast geführt, unter Bezeugungen hohen Respekts, und ihm persönlich eine schlichte, aber große Mahlzeit serviert, der er volle Gerechtigkeit widerfahren ließ. Aber er lehnte den Raum im Palast zugunsten seines Abteils im Stall ab, von dessen Fenstern aus man eine Gasse außerhalb des Palastbereiches überblicken konnte. Er verwies darauf, daß zu große Bequemlichkeit ihn ablenke. Er erklärte kurz, daß der Haushofmeister ihn beauftragt habe, Gegenwart und Zukunft nach den Absichten der Hexenkönigin zu erforschen, und verlangte, daß der Pandamon davon unterrichtet werde. Der kleine Lakai verbeugte sich – offenbar hatte er schon davon gehört – und versprach, daß man ihn nicht stören werde. Trebor brachte einige Zeit damit zu, nach dem Talisman zu suchen, den das Siegel ihm vorgeführt hatte – den blauen Fisch, der ihn zur Stammwelt-Erbschaft führen würde, aber das innere Bild blieb unscharf. Er war allein im Stall; die anderen Mystiker gingen zum nächtlichen Empfang im Palast und würden vor Mitternacht nicht zurückkommen. So wurde er auf schleichende Schritte aufmerksam. Eine Tür wurde leise geschlossen; eine Abteiltür fiel zu, und ein ungeduldiger Ausruf wurde mühsam unterdrückt. Trebor kon163
zentrierte sich und fühlte die schweratmenden, angespannten Emanationen vieler Männer, die bewußt ihre Gedanken im Zaum hielten. Er hörte leise Stahl klirren. Einen Augenblick lang war er gelähmt. Dann riß er die Robe herunter und gürtete sich das Schwert um. Es blieb keine Zeit, seine Hose anzuziehen. Er wagte nicht die Tür zu öffnen. Statt dessen kletterte er in der Dunkelheit an der Seitenwand der Box hinauf und schaute blitzschnell über die Schulter, als er in die nächste Box hinabsprang. Der Stall war groß, und die Männer befanden sich am anderen Ende; im ganzen Gebäude gab es nur vier Laternen. Sie sahen ihn nicht. Er überkletterte noch dreimal Zwischenwände und sprang in die Nachbarboxen. Beim drittenmal gab es einen Aufschrei, und einer der Männer begann durch den Stall zu laufen. Die übrigen folgten. Trebor fing die raubtierhaften Ausstrahlungen der Jagd auf. Er sprang hoch, hechtete über die nächste Wand und befand sich an der Außenmauer. Er kletterte an den Stützen hinauf, beugte sich hinüber und stieß mit dem Schwert gegen den halb sichtbaren Fensterriegel. Das Fenster öffnete sich knarrend, die Flügel gingen nach innen auf. Er zog den nächsten heran, packte ihn fest und stieß sich von den Stützen ab. Er prallte an die Mauer unter dem Fenster und kletterte mit verzweifelter Hast hinauf. Der Flügel des Fensterladens schwang zurück, aber dann stand Trebor auf der Brüstung. Seine Gegner erreichten die Box und fluchten erbärmlich, während er hinunterstarrte. Draußen war es dunkel, selbst nach dem nur schwach erhellten Stall, aber er wußte, daß sich unter ihm eine Mauer befand; die Mauer des Palastbereiches. Er drehte sich herum und ließ sich unter Nachhilfe seines Schwertes so schnell fallen, daß er zu springen schien. Dann hielt ihn sein verzweifelter Griff am Fensterbrett auf, bevor seine Füße auf die Mauerkrone prallten. Diese bestand hier aus bröckelnden Lehmziegeln. Er stürzte beinahe und geriet ein zweites Mal in Gefahr, als er das Fenster losließ. Er schaute hinunter, aber die Gasse war ein schwarzer Spalt. Seine Nase verriet ihm, daß er sich nicht weit darüber befand, aber ins Dunkle wagte er nicht zu springen. Dann führte ihn seine 164
seitwärts tastende Bewegung zu einer Fontäne starken, scharfen Geruchs, der nach den Abwässern und dem Müll der Gasse selbst beinahe angenehm war. Ais man den Stall für die Mystiker geräumt hatte, waren Stroh und Dung einfach zum nächsten Fenster hinausgeworfen worden. Trebor sprang leichtfüßig auf den Haufen und rutschte zur Gasse hinunter. An der düsteren Einmündung blieb er stehen, um die Hose anzuziehen, die Robe zusammenzurollen und wie einen Umhang um den Hals zu knoten. Durch die Gasse tönten Verwünschungen, und er bleckte grimmig die Zähne. Der Lärm wurde beendet durch eine herrische Stimme, die wichtigtuerisch drohte, bei Ihr Meldung zu erstatten. Aeroben. Ein großer Umweg führte ihn zur hell beleuchteten Fassade der Canicasa, der Residenz des Haushofmeisters. Unter den magischen Leuchten, die an der imposanten Fassade hingen, lungerte eine Anzahl von Künstlern herum, die von ihren letzten Werken prahlten und auf die Passanten blickten. »In der Bildhauerei wird der Abstrakte Repräsentationalismus über die Werke der Nominatorialisten gestellt, aber mein ›Stuhl auf einem Mann‹ ist vom Meister gepriesen worden.« »Pah, die kritische Fähigkeit des Meisters könnte nicht zwischen Inverser und Reverser Kunst unterscheiden, und von Bouleverser Kunst hat er nie gehört.« »Habt Ihr gehört, daß der Haushofmeister die Subversive Kunst getadelt hat?« warf ein dritter kopfschüttelnd ein. »Wie selten ist wahres Erkennen des Schönen.« Sie stimmten alle zu, und die Vorbeigehenden blickten schuldbewußt. Trebor gab sich Mühe, nicht mürrisch zu wirken, als sie sich über das Thema näher ausließen; es schien sie sehr zu ermutigen, mißverstanden und mißbraucht zu werden; sie waren ganz fröhlich, als sie das Canicasa schließlich betraten. Der Haushofmeister erfüllte die Pflicht des Pandamon gegenüber Vallatia, indem er die Künstler förderte. Kein Wunder, daß der kleine Mann gereizt gewesen war, beim Ausblick auf einen solchen Abend. Es kamen noch mehr Künstler und begaben sich in das Haus, aber schließlich war der Platz leer. Trebor hatte sich in 165
den Schatten des Monuments, des berühmten Aufbruch-Bootes, vor dem Haus zurückgezogen, um nicht von den patrouillierenden Gogues weitergeschickt zu werden. Nun ging er auf das Gebäude zu und huschte in einen schmalen Durchgang neben ihm. Zu früheren Zeiten war das Palastgelände größer gewesen und hatte die Canicasa, das Leibhaus und ein halbes Dutzend anderer Gebäude mit umfaßt. Hinter der Canicasa gab es einen Bereich, der einst ein großer Innenhof gewesen war, auf dem jetzt aber Büros und kleine Wohngebäude untergebracht waren. In der Nähe der Residenz des Haushofmeisters gab es keine Wachhäuser. Hinter dem früheren Innenhof ragte die ehemals nackte Mauer der alten Zenana, des Leibhauses, empor. Man hatte Türen hineingebrochen, und die alten Eingänge, der Rückseite des eigentlichen Palastes gegenüber, waren zugemauert worden; die neue Grenzmauer verlief dazwischen. Gleich im Eingang lag ein Gogue und schlief. Das Büro war dunkel und leer. Trebor zögerte. Das Leibhaus war groß; er hatte keine Zeit zum Suchen. Als er hineintrat, fing er jedoch eine schwache Emanation auf. Er legte den Kopf auf die Seite, schloß halb die Augen und konnte sie erkennen: Lissa, flehend. Eine unterschwellige Strömung von Traurigkeit und Verzweiflung mochte Viani sein. Er trat zurück an die Tür, schnitt dem Gogue die Kehle durch und sprang zurück, während ihm die Haare zu Berge ständen. Der Andathroid hüpfte hoch und klatschte gurgelnd auf entsetzliche Weise im Eingang herum. Dann lag er still, und niemand hatte etwas bemerkt. Mit klopfendem Herzen tastete Trebor sich in das dunkle Gebäude. Sie zu finden, dauerte länger, als er erwartet hatte, obwohl sie die einzigen Gefangenen hier waren. Geistige Emanationen konnten täuschen. »Viani? Lissa?« rief er leise. Die Emanationen waren abgeschnitten; er hörte zwei Stöhnlaute, dann war eine Flut von Hoffnung und Erleichterung zu spüren. »Trebor? Bist du es wirklich?« fragte Lissa atemlos. »Ja, wirklich. Ich muß das Schloß finden . . .« »Oh, du lebst! Du bist entkommen! O Trebor!« Viani sagte nichts, aber er spürte die Erleichterung, Bewunde166
rung und Schuldgefühle darüber, wie sie ihn vorher behandelt hatte. Er tastete lange Zeit am Schloß herum und versuchte vergeblich, es mit der Zunge seiner Gürtelschnalle zu öffnen, während Lissa hinter der Tür stand und Worte der Hoffnung und Liebe flüsterte. Dann überflutete sie ein Schwall von Verwünschungen, geistige Emanationen von Zorn und Furcht; im Korridor ging ein schwaches Licht an. Trebor hetzte leichtfüßig durch den Gang und verschwand in einer leeren Zelle. Drei Gogues kamen herangestürmt, einer davon mit einer Fakkel in der Hand. Sie liefen sofort zur Zelle der Mädchen, prüften das Schloß und knurrten und brummten miteinander. Einer ergriff die Tür und rüttelte daran, die Mädchen anschreiend, aber ihr Zorn und die Form ihrer Münder machte die Worte unverständlich. Trebors Schwert durchbohrte den Fackelträger im Rücken und zuckte wie ein Eisblitz in das Großherz. Der Gogue brach mit nur einem leisen Seufzer zusammen und fiel nach hinten, als Trebor das Schwert herausriß. Der zweite Gogue fuhr ungeschickt herum und wurde in die Brust getroffen. Er sank auf die Knie, von Qualen gepeinigt, aber am Leben. Der dritte sprang Trebor im plötzlichen Halbdunkel an, da die Fackel am Boden lag. Trebor wehrte den Gogue mit mehreren kurzen Stößen ab und wedelte mit dem Umhang, um ihn zu verwirren. Dann ging die Fackel aus und hinterließ nur mehr ein schwaches Glimmen. Der Gogue bückte sich, um sie aufzuheben, und Trebor traf ihn, eher durch Glück, in der Kehle. Sein –Schwert wurde ihm beinahe aus der Hand gerissen. Der Gogue sprang gurgelnd und Blut verspritzend hoch und warf sich in der Dunkelheit hin und her. Trebor wurde weggeschleudert, und ein Streif schlag von einer Tatze zerkratzte ihm das halbe Gesicht und trieb ihm Tränen aus den Augen. Nachdem es schließlich still geworden war, trat er vorsichtig zurück und suchte nach der Fackel. Als sein Bein gepackt wurde, schrie er beinahe auf, dann fiel ihm der zweite Gogue ein, den er niedergestoßen hatte. Der Oger knurrte, ohne den Schmerz zu beachten, als er Trebors Klinge packte. Augenblicke lang kämpften sie lautlos um das Schwert. Trebor 167
stieß es einmal in diese, einmal in jene Richtung, in der Hoffnung, den Submenschen zu treffen, aber dessen Kräfte erlahmten schließlich von selbst. Trebor hörte ihn hinstürzen, beugte sich vor und fand die Herzen – sie schlugen immer noch. Er durchbohrte sie der Reihe nach, der mächtige Brustkorb bäumte sich auf und lag still. Trebors Knie zitterten, seine Beine waren schwach von der Reaktion. Schließlich fand er die Fackel, halb unter einer der schweren Leichen, und wie durch ein Wunder noch glühend. Das andere Ende war blutbedeckt. Er blies die Glut zur Flamme an und sprach beruhigend auf die Mädchen ein. Die Gogues hatten die Schlüssel mitgebracht. Lissa sprang auf einen der Submänner und versuchte, den Blutpfützen ausweichend, Viani vorsichtig herauszuheben. Die Prinzessin trat unbekümmert über ein ausgestrecktes Bein und in eine Pfütze und ging geradewegs auf Trebor zu. Sie packte seinen Arm. In ihren Augen standen Tränen. Er berührte ungeschickt ihr Haar, tätschelte Lissa und führte die beiden hinaus. An der Tür, als er die Fackel in einem Sandeimer löschte, fing er die Emanationen Ozziwuns auf. Augenblicklich war er hellwach, das Schwert in der Hand. Die Mädchen drängten sich an ihn, als er lauschte, und ihre halb zurückgehaltenen Emanationen lenkten ihn ab, aber er gewann den Eindruck eines Gespräches: eine lange Rede von einem, der nur der Pramantiner sein konnte, eine kurze Antwort einer anderen Person – eines zweiten Pramantiners ? Sie kam ihm bekannt vor – dann begriff er: Lyantha. Furcht durchzuckte ihn. Er war nicht erfahren genug, das Gespräch zu verstehen. Lissa löste sich von seiner Seite und kam mit einem langen gefährlichen Messer zurück. Sie drückte Viani ein Beil für das Kürzen von Fackeln in die Hand. Beide folgten Trebor katzengleich zum Ausgang. Aeroben- zur Stelle, um einen Hinterhalt zu legen. Ozziwuns abschließender Bericht an Lyantha kam gerade rechtzeitig, um zu verhindern, daß sie das Leibhaus betraten und den toten Gogue fanden. Trebor sprang durch die Tür und stürzte sich mitten in dessen Wort auf Ozziwun. Der kleine Mann flitzte davon, aber er stol168
perte und stürzte hin. Trebors Schwertspitze fegte dadurch über ihn knapp hinweg. Nach einem Augenblick völliger Verblüffung griffen die Aeroben an, und er seinerseits rettete sein Leben, indem er über Ozziwun stolperte. Er fing sich mit der linken Hand ab, zog die Beine wie zum Salto an, fuhr herum und schaute nach hinten. Er sah Viani mit einem wilden Hieb einen Schädel spalten, dann prallte die kleine Axt auf das Granitpflaster, daß die Funken stoben, und flog davon. Während die Aeroben sich noch umdrehten, stürzte die kleine Lissa sich wild ins Getümmel, schwang das große Messer wie eine Axt, stach in Rücken und Beine, brachte Blut und Schreie hervor, richtete aber wenig echten Schaden an. Mehrere Aeroben wichen allerdings zurück, die Hände aufs Gesäß gepreßt. Dann stürzte Trebor sich wieder auf sie, mit größerem Erfolg, und bis man sich umsah, waren die Aeroben auf dem Rückzug, knapp hinter Ozziwuns flatterndem Gewand. Trebor und die Mädchen folgten ihnen bis zur Rückwand der Canicasa, wo sie in den Durchgang huschten. Sie gingen keuchend weiter, und Trebor gratulierte Lissa zu ihrem Kampf. »Meine Herrin hat mehr erreicht – sie hat einen getötet.« »Ich habe es gesehen. Auch das war gut.« Viani sagte nichts. Vor dem Gebäude stießen sie auf eine Szene des Wirrwarrs. Gogues und Vallatianer starrten durch Fackelschein und das Licht vieler Leuchten hinauf. Trebor hatte sich nicht daran erinnert, daß es am Haus einen Balkon gab, vermutete aber, daß der Haushofmeister betrunken genug war, eine Rede zu halten, und verfluchte ihn für seine Rücksichtslosigkeit, es jetzt zu tun. »Hinter uns!« zischte Viani. »Die sollen auch verdammt sein!« Das Schlimmste war, daß sie sich nicht unter die Menge mischen konnten; Trebor war praktisch von oben bis unten mit Blut bespritzt, und das Licht hier war hell. Aber besser, es zu versuchen, denn als Silhouetten einen Kampf zu entfesseln, wo der Pöbel sie von hinten überfallen konnte. Er trat aus der Gasse, das Schwert bloß unter seinem blutigen schwarzen Umhang haltend, drehte den Kopf hin und her und glitt vor dem Haus neben der Canicasa davon. Zuerst glaubte er, sie 169
würden es schaffen, aber dann öffnete sich die Residenz, und Aeroben und Gogues drängten heraus, gefolgt von einem Aeroben-Kapitän mit Cape, Juwelen und Federhut. Den Schluß bildete der kleine Haushofmeister, der vor sich hinplapperte und eifrig nickte. Der Aerobe blieb stehen, schaute sich um, und sein Blick fiel auf Trebors kleine Gruppe. Nun ja, nichts, was wir hätten tun können, wäre erfolgreich gewesen, dachte Trebor und hetzte auf das Denkmal in der Mitte des Platzes zu. Atemlos krochen sie darunter. Noch während er sich umdrehte und hinausstarrte, hatte Trebor ein intensives Gefühl »Ich-binschon-einmal-hiergewesen«, und er dachte an die StammweltErbschaft. Die Erinnerung an den undeutlichen blauen Talisman, den ihm das Siegel der Wache gezeigt hatte, kehrte mit der Wucht eines Hiebes in den Magen zurück; sein Blick auf das blaue Monument über ihm hatte das déjà-vu-Gefühl ausgelöst. Das legendäre Aufbruch-Boot von Vallatia – das war es; es war der Talisman, der ihn zur Stammwelt-Erbschaft bringen würde. Ächzend vor plötzlich sengender Hoffnung, daß sie vielleicht doch überleben konnten, schaute er im Halbdunkel hinauf. Wie er sich von seinem Herumlungern im Schatten erinnerte, waren an die diamantharten Rumpfseiten schwere Eisenplatten geschweißt, sowie riesige Ringe und Ketten, die das Boot verankerten. Wenn er es befreien konnte – wenn er den Spruch gekannt hätte, der es in Betrieb setzte . . . Er stieß zu und erwischte einen Aeroben im Gesicht, als dieser sich bückte, um unter das Denkmal zu blicken. Mit einem Zucken seiner Herzen sah er, daß die schweren Ketten, seitdem das Aufbruch-Boot bei der Aufbruch-Parade das letzte Mal durch die Straßen gezogen worden war, nicht mehr verankert worden waren. Offenbar hatte man kaum Befürchtungen, es könnte gestohlen werden, obschon es nicht zu groß war, um aus der Stadt geschmuggelt zu werden. »Lissa! Viani! Zieht die Bolzen heraus! Diese Bolzen, seht ihr? Schnell!« Sekundenlang war er im Übermaß beschäftigt, hetzte hin und 170
her und parierte ungeschickte Stöße breiter Klingen. Dann war das Aufbruch-Boot gelöst. Er hörte den Kapitän nach Bogenschützen rufen, hörte den Haushofmeister eifrig die Hilfe von Gogues anbieten, damit man sie unter dem Denkmal hervorhole, hörte Ozziwun sprechen und erinnerte sich mit einem krampfhaften Schlucken an den Zauberstab des anderen. Aber seine Aufmerksamkeit wurde nicht auf entscheidende Weise abgelenkt. Die Hand auf dem Siegel, die Gedanken bei der Stammwelt-Erbschaft, suchte er verzweifelt nach dem Befehlswort. Dann hatte er es plötzlich, mit dem Gefühl von »Aber natürlich«! »Folgt mir!« sagte er und sprang plötzlich hinaus, als die Aeroben auseinanderstoben, um sich nach den Bogenschützen umzusehen. Es gab ein kurzes Getümmel, bei dem niemand ernsthaft verletzt wurde, dann öffnete sich auf Trebors geistiges Kommando im schimmernd-glatten Rumpf des Bootes eine Luke. Er gab Anweisungen, als handle es sich nur um ein Schanschid, immer mit der Hand auf dem Siegel. Er stieß die Mädchen hinein, folgte ihnen und befahl die Schließung. Sie hielten in der Dunkelheit den Atem an. Sie lagen auf einem weich gepolsterten Boden zwischen vier Viertelkreis-Liegen. Zwei Lücken in diesem Kreis, auf gegenüberliegenden Seiten, befanden sich vor den Luken; durch eine davon waren sie hereingekommen. Eine Lücke vor dem horizontalen Fischschwanz des Bootes erlaubte Zugang zu einem niedrigen, engen Raum, der dem Kielraum eines Sandschiffes nicht unähnlich war. Eine andere wies nach vorne, woher das schwache Licht kam. Unmittelbar vor der Kreisliege befanden sich zwei gerade Liegen, zwischen denen man hindurchgehen konnte. Und dann standen drei dick gepolsterte Sessel da, unmittelbar vor dem Zauberbrett des Bootes. Die schimmernd-silbernen Flächen, die von außen wie Augen ausgesehen hatten, waren jetzt durchsichtig geworden und erwiesen sich als Fenster. Draußen wirbelte lautlose Verwirrung. Zögernd ging Trebor auf Zehenspitzen zum Zauberbrett und schaute zu den Fenstern hinaus. Niemand bemerkte ihn. Achtern hämmerte man an den Rumpf, rief aber nur schwächste Geräusche hervor. Er 171
bemerkte, daß die Gogues zurückwichen und der Haushofmeister im Gesicht vor Angst grau wurde. Dann sah er Ozziwun. Der Pramantiner blickte nach oben, einen entrückten Ausdruck im Gesicht, die Augen halb geschlossen. Instinktiv legte Trebor die Hand auf das Siegel, und er fühlte Lyantha rings um sich, ihre Stimme, den Duft ihres Parfüms, die Wärme ihres Atems – und die Stimme klang hart und herrisch. Es tauchte ein Bild auf: Das Aufbruch-Boot wurde plötzlich plattgequetscht, und es brach auseinander wie ein zerdrücktes Ei. Ein magisches Katapult leuchtete für einen Augenblick in ihren Gehirnen auf, an dem ein Zaubermeister in blauem Gewand stand. Es war das erste Mal, daß Trebor im Gehirn eines anderen ein Bild aufgefangen hatte. »Hoch!« befahl er, die Hand auf dem Siegel, und der runde Bug des Bootes erhob sich in einem Winkel von fünfundvierzig Grad. Trebor und die Mädchen lagen auf den Sofas und im Mittelgang, er beinahe so angstvoll wie die beiden. Das Befehlswort genügte nicht; er mußte sich seine Befehle bildlich vorstellen, und die Zeit hatte nur dazu gereicht, daran zu denken, wie der Bug in die Höhe ging. Nun betrachtete er betroffen das Zauberbrett; es war mit magischen Lichtern protestierend zum Leben erwacht. Aber im übrigen leistete das Boot keinen Widerstand. Ein Gefühl des Drängens erfaßte ihn, und er stellte sich vor, wie das Boot sich in einem Winkel von fünfundvierzig Grad aufwärts bewegte. Die Reaktion war lautlos, augenblicklich und glatt. Hocherfreut setzte Trebor sich auf und ließ es schneller werden. Dann sah er hinauf und entdeckte über sich einen dunklen Umriß, der durch die Stadt darunter schwach beleuchtet wurde. Als sie auf gleiche Höhe kamen, befahl er dem Boot, stillzustehen und in die Waagrechte zu sinken. Sie drehten die Köpfe und blickten hinüber zu Lyantha. Sie funkelte sie ohne Furcht an, obwohl die Besatzung zurückschreckte. Nur der Zaubermeister im blauen Gewand stand neben ihr. Das Flugschiff, auf dem sie sich befanden, verwunderte Trebor. Es besaß kurze, jetzt umgeklappte Masten, jedoch keine Hilfs-Sonnenkraftplatten. Es war sehr lang und schmal, sozusagen 172
ein riesiger Baumstamm, und sein Umfang konnte kaum mehr als dreimal so groß sein wie der des Bootes. Am Heck schimmerte Aufbruch-Material. Trebor hatte davon gehört, daß man Sandschiffe mit Aufbruch-Antrieb ausstattete; der Held Ruthra des Ersten Reiches hatte ein solches verwendet. Bevor jemand sich rechtzeitig erholen und das magische Katapult herumreißen konnte, drehte Trebor ihnen eine lange Nase und befahl, daß das Boot Fahrt aufnahm. Es setzte sich in Bewegung, wurde schneller und begann wie ein Fisch durch die Luft über dem schönen Land Aetha zu gleiten. Der Lichtfleck von Vallatia blieb zurück, und die dunkle Landschaft verschwamm mit ihrer Geschwindigkeit. Viani räusperte sich und flüsterte: »Wohin fliegen wir?« Trebor konzentrierte sich angespannt auf Amballa. Der glatte Bug des Bootes schwankte ein wenig, dann ging er fest auf Nordwestkurs. Trebor befahl, langsamer zu fliegen, und das Boot gehorchte sofort. Er befahl die Landung, und es sank aus dem Himmel herab. Er befahl es nach Norden, und es zuckte mit den Flossen. Er steuerte es mit dem Siegel, das nur ein Ziel kannte. »Wir fliegen zur Stammwelt-Erbschaft.«
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Dies unser Erbe Über ihnen, im Licht des Zauberbrettes schwach sichtbar, befanden sich Quadrate wie erloschene magische Leuchten. Trebor erinnerte sich, daß das Zauberbrett bei ihrem Eintreten nicht hell gewesen war, und befahl versuchsweise: »Licht!« Es flammte so hell auf, daß sie minutenlang die Augen bedecken mußten. Als sie wieder sehen konnten, war der Blick durch die Fenster seltsamerweise heller denn je. Die Welt draußen, unter ihnen vorbeiwischend, war von einem kalten, schattenlosen Leuchten schwach, aber ausreichend erhellt. 173
Mächtiger Zauber – am Himmel stand kein Mond. Der Flug des Bootes war völlig ruhig und lautlos; durch den Rumpf hörte man nicht einmal das Fauchen zerteilter Luft. Aetha rollte vorbei wie ein reichverzierter grüner Teppich. Das Land schien fast völlig flach zu sein; die langen Hänge waren nur durch die gewundenen Baumreihen, die ihnen folgten, erkennbar. Riesige Felder, von ganzen Bauerndörfern für ihre Herren bestellt, die sonderbar geformten Schachbrettmuster privater Felder waren unterbrochen von dunklen Flecken kleiner Wälder. Jeder Fluß und Bach war gezwungen worden, sich möglichst oft zu winden und zu schlängeln, und an jedem Wasserlauf standen Bäume dicht beieinander. Obwohl Trebor schon so lange nicht geschlafen hatte, spürte er keine Müdigkeit. Alles war so aufregend und zauberisch. Die Mädchen starrten hinaus, so entzückt wie er. Vor ihnen tauchte ein großer Hügel auf, nicht weit von einem hinausgereckten Arm des Flusses entfernt, und Trebor kam plötzlich auf einen Gedanken: Die Stammwelt-Erbschaft befand sich im Hochland. Sie würden Nahrung und Wasser brauchen – und zwar viel davon. Vianis Atem stockte, und sie wies auf den baumbewachsenen Hügel. »Das ist die Fontanelle von Tagesende. Mein Onkel hat mich einmal hierhergebracht.« Trebor hatte davon gehört; ein Erholungsort. Jetzt, im Trockenen, würde er leerstehen. Hier war das Grabmal von Draleba, dem Symbol des Dritten Imperiums für die Liebe, der seine Frau geheiratet und seine Schwiegermutter verzehrt hatte. Trebor befahl dem Boot zu landen. Als es hinuntersank, kam ihm plötzlich ein Einfall, und er lenkte es zu einem großen Steinholzbaum. Es huschte gehorsam darauf zu und hielt, einen Ast gerade noch berührend. Er stellte fest, daß es nicht auf den Boden prallen wollte. »Wir brauchen Gläser oder Kanister für Wasser«, sagte er. »Wenn jemand wach ist, ich habe etwas Geld –« Aber als er auf dem Platz an einem Hügelhang landete, fanden sie den Ort verlassen. Gongs dröhnten, um Dämonen abzuwehren, und sie rochen Exorzistenrauch. Als Trebor heruntersprang, 174
entfuhr ihm ein Laut. Das Aufbruch-Boot schimmerte an Bug und Heck mit goldenen Lichtern. Er zuckte die Achseln, fand Steinkrüge und füllte sie mit Wasser aus dem Brunnen. Viani brachte Nahrung und, ein guter Gedanke, Decken – später wunderte er sich darüber. Als sie wieder flogen, befahl Trebor das Boot so hoch hinauf und zur höchsten Geschwindigkeit, die es erzielen konnte. Er war plötzlich von ungeduldigem Eifer erfaßt. Es würde nirgends anprallen. Sie konnten sich unbesorgt zu Bett legen. Als er den Arm um Lissa legte, bekam Viani einen Wutanfall. Sie ergriff das lange Messer und durchbohrte ihn beinahe damit. Trebor schlug ihr den Arm hoch und sagte: »Fürchte nichts – ich hege keine bösen Absichten gegen deine Person.« Zu seiner völligen Verblüffung stürzte sich Lissa wutentbrannt auf ihn, und sie warfen ihn zu Boden. Viani würgte ihn begeistert, und Lissa stieß seinen Kopf auf den gepolsterten Boden. Er zog das Knie an, schubste Viani weg, setzte sich auf, schob auch Lissa fort und versuchte zu erklären; dann warfen sie sich wieder auf ihn und rissen an seiner Kleidung herum. Wütend gab er Viani eine Ohrfeige, schüttelte Lissa. Schließlich rollten sie im schmalen Mittelgang herum, stießen sich die Köpfe an den Sesseln an und kämpften verzweifelt, um einander festzunageln, ohne daß einer von ihnen gewußt hätte, worum es ging. Aber in der Hitze der Rauferei fielen alle geistigen Barrieren, und endlich begann Trebor Vianis glühende, eifersüchtige Wut, Lissas wilde Treue und Unterstützung für ihre geliebte Herrin zu begreifen. Als der Kampf aufhörte, rieb er sich den Kopf und dachte, seinen Geist fest abgeschlossen, betroffen über Lissas wahre Meinung nach: Sie mochte ihn, aber viel mehr war es nicht, während sie ihrer Herrin leidenschaftlich zugetan war. Und Viani betrachtete ihn, obwohl sie widerwillig dazu gelangt war, ihn zu bewundern, als einen armseligen Kerl von Mann — aber als den ihren. Nun funkelte sie ihn an, mürrischen Triumph in den Augen. »Komm, Lissa, legen wir uns schlafen!« Trebor packte sie am Kragen. Bring es hinter dich. 175
»Hast du vergessen, Prinzessin, wessen Gattin du bist? Lissa, du kannst dir im Kielraum ein Lager bereiten. Weck uns, wenn es hell wird.« Einen Augenblick lang starrten sie ihn angespannt an, dann tauschten sie einen schnellen Blick und ein kurzes Lächeln. Nun ja, besser als Lyantha. Und es gibt keine Zeugen. Nichtsdestoweniger war es demütigend. Der Morgen fand sie noch immer über Iréné, aber weit im Westen, über dem Gemarterten Land, das in der Muttersprache Shayalasonn hieß. Noch während sie kalten Speck und Schwarzbrot aßen, wich es einem weiteren Land grüner Täler und runder Hügel. Trebor und Viani starrten ehrfürchtig hinaus; seit dem Ersten Reich war dieses Land der Geschichte nicht mehr bekannt gewesen. Jetzt war es das halb legendäre Verlorene Land. Es war ein bevorzugter Ort für Geschichten von mächtigen Helden und gewaltigen Reichen, auf schwarze Magie gegründet, von denen sogar Lissa gehört hatte. Sie sahen keine Anzeichen für Reiche oder Magie oder auch nur Helden. Sie sahen keine Städte und sehr wenige Dörfer. Obwohl das Land grün war, sah es schlecht bewässert aus, das Grün war dünn und gelblich, und die meisten Hügel waren gelb-kahl. Es gab in losen Zusammenschlüssen verstreute Dörfer, keines war größer, keines besaß Mauern. Die Straßen waren selten und schmal. Am häufigsten waren über die Landschaft verstreute Häuser – Gebäude von kleinen Landbesitzern. »Keine Steuern«, urteilte Trebor, dem keine Einzelheit entging. »Keine Könige oder Adligen, keine Armeen oder Krieg, keine Nationen. Aber vermutlich eine Vielzahl regionaler Streitigkeiten. Wie der Shamsund, nur weniger gut organisiert. Ein unaufgeklärtes, rückständiges Gebiet.« »Woher weißt du, daß sie keine Steuern haben?« fragte Lissa. »Keine Fernstraßen – keine schiffbaren Flüsse – keine Möglichkeit, größere Strecken zurückzulegen.« Lissa nickte, aber ihre Miene nahm einen sonderbaren Ausdruck an; sie schien seine Verachtung nicht zu teilen. Hinter dem Verlorenen Land stieg die Landschaft zu den westlichen Wens, einem hügeligen Morast, empor – und die ungeheure 176
Mauer der Hochland-Wand fegte auf sie zu, von hier aus wie ein breites, im frühen Morgenlicht kupfern glänzendes Band wirkend. Es schob sich zusammen, kippte ihnen entgegen, schrumpfte zu einer dünnen, grellen Linie und war verschwunden; das Aufbruch-Boot zischte durch die dünne Luft des Hochlandes. Sie schluckten, weil sie plötzlich begriffen, welch verzweifeltes Abenteuer sie unternahmen. Als sie zurückblickten, sahen sie das Tiefland als eine Riesenschüssel unter der Oberfläche der Erde – obschon die Hochländer eigentlich nur riesige Hochebenen über Aera waren. Das Boot stieg wieder eine Meile über die Oberfläche hinauf. Unter ihnen lag jetzt ein ausgemergeltes, steiniges Land, zu abstoßend, um auch nur eine Wüste genannt zu werden. Trebor hatte die gewaltigen Staubstürme gesehen, die von den Hochländern herabfegten, und nun, da er ihren grauenhaften Ursprung sah, wunderte er sich nicht mehr darüber. Das Land lag schutzlos vor den peitschenden Winden, es zeigte ein verzerrtes Schmerzensgesicht. Hier gab es Steinflüsse, Jochbeine aus geschliffenem Gestein, einen qualvollen Canyonschlitz gleich einem Mund, windbenetzte Hügel wie die Fangzähne eines alten Wolfes. Sand- und Staubhügel lagen auf der windabgewandten Seite der Hügel oder in Talgründen. Seit dem letzten Scheitern der Bewässerungsprojekte, während des Krieges der Halb-Erde gegen den Mond, vor einer Million Jahren, war die ganze Erosion in den Hochländern Winderosion gewesen. Fast überall reihten sich unter ihnen Aufbruch-Ruinen. Selbst wenn man die unvergänglichen Eigenschaften der Aufbruch-Stoffe und das Alter der Aufbruch-Zivilisationen berücksichtigte, war es unfaßbar, wie dicht die Ruinen beieinanderlagen. Auf diesem trostlosen Grabstein mußten einst die Menschen dichter zusammengedrängt gewesen sein als in jeder beliebigen Region des vom Glück begünstigten Iréné. Ihre Höhe und Geschwindigkeit verstärkte den Eindruck, daß überall Städte lagen, aber man konnte nicht bestreiten, daß es sehr viele davon gab. Trebor hatte nie wirklich geglaubt, daß in den 177
Hochländern Menschen lebten. Aber die Hinweise waren vorhanden, wenn er darauf geachtet hätte – die dünnen Linien uralter Bewässerungsleitungen, riesige Rohre, Abgründe überspannend, durch Ebenen kriechend, Berge durchbohrend. Hier waren sie verkrümmt und zerbrochen, dort klafften Lücken, gelegentlich lagen sie unter Sandverwehungen begraben oder waren von gewaltigen Winden weggepustet. Zusammengenommen bildeten sie ein riesiges umfassendes Netz, das die Hochländer überspannte. Gegen Mittag merkten sie, daß ihr Boot langsamer wurde. Es senkte sich deutlich hinab. Nun bot sich ihnen ein noch schrecklicherer Anblick als der der ausgemergelten nackten Hochländer: eine Hochebene, über Meilen hinweg eine Reihe einzeln stehender Säulen, die schwarz-grün glänzten wie geschmolzenes Glas. Als sie näher kamen, sahen sie, daß die ganze Oberseite einst in der Tat geschmolzen gewesen und zu überhartem Stein abgekühlt war, den die mahlenden Jahre und Winde kaum berührt hatten. Aber das Gestein darunter war fortgeschliffen worden, so daß das verwüstete Gebiet über der neuen Oberfläche stand. Viele der freistehenden Säulen waren in der Mitte fast durchgewetzt, viele lagen umgestürzt. Überall zwischen den Säulen und den vom Wind in die Hochebene gegrabenen Schluchten befanden sich Steinblöcke. Sie blickten auf das Grab von Trantoria, der einstigen Hauptstadt der Hälfte der Menschlichen Galaxis. Die fernste Geschichte dieser Stadt und dieses Landes reichte zurück zum Ruhmvollen Reich von vor hundert Millionen Jahren, als der Mond (zum letztenmal) eine Atmosphäre und Ozeane erhalten hatte. Das Trantorische Reich von vor zehn Millionen Jahren war beinahe eine Wiederbelebung des älteren Reiches gewesen – es hatte sich das Große Reich genannt. Trantoria war es gewesen, in dem zum letztenmal sich die menschliche Regierung zentralisierte und versuchte, der chaotischsten Rasse im bekannten All Ordnung aufzuerlegen. Das war ihr verhängnisvoller Fehler. Ihre Anmaßung, den hochstrebenden Geist des Menschen zu repräsentieren, wurde zunichte gemacht vom Widerstand des Tribblation-Korridors und von der Kleinen Meuterei der Astralkräfte im Korridor. Zu spät begriff Trantoria, daß die Menschheit keine höheren Bestrebungen 178
hatte. Die Flamme des Aufstandes fegte vor dem Wind über die Sterne, und der darauffolgende Krieg, wenngleich nicht so zerstörerisch wie jener, der das Ruhmvolle Reich vernichtet hatte, war bitter und wild genug. Nur der Ewige Vertrag rettete Erde und Trantoria vor der Vernichtung. Geläutert zerbrach das verbleibende Trantorische Reich, bis hinunter zu dieser Stadt und einem Kontinent Aeras. Bis zur Zeit der Halb-Erde gab es keinen Flug zu den Sternen mehr, und Trantoria blieb in diesem Krieg stumm neutral. Weshalb man es verwüstet hatte, wußte niemand. Das Boot kam herab und schwebte tausend Fuß über der Oberfläche. Sie starrten hinunter, warteten schaudernd. Nach langer Zeit berührte Trebor das Siegel und konzentrierte sich auf die Frage: »Ziel?« Wen oder was er befragte, konnte er nicht sagen. Nach kurzer Zeit entstand in seinem Gehirn eine undeutliche Antwort: Bestätigung. Der Eindruck brachte die Andeutung einer deutlichen Route mit sich. »Wir warten«, sagte er achselzuckend, und sie gingen in den Aufenthaltsraum zurück, aßen und unterhielten sich mit gedämpften Stimmen. Die Nahrung reichte besser aus, als er angenommen hatte; sie konnten in einem halben Tag in Iréné sein. Gewiß war es möglich, dieses Hochland in einem Tag zu überqueren und zu einem fernen Tiefland zu fliegen, wenn sie das wollten. Seit dem Ersten Reich hatte niemand mehr Iréné verlassen. Die Zeit verging, und sie sprachen begeistert über ihre neuentdeckten Wahlmöglichkeiten. Dann wurde es dunkel, und sie gingen zu Bett. Der Morgen kam, und sie hingen immer noch über dem verwüsteten Land. Trebor geriet bei dem Gedanken, daß die Zerstörung von der Stammwelt-Erbschaft verübt worden sein konnte, in heftige Erregung. Gegen Mittag begannen sie sich wieder zu langweilen – sie hatten lustvolle Stunden verbracht, um sich kennenzulernen –, und Trebor begann sich erneut wegen Nahrung und Wasser Sorgen zu machen. Ungeduldig berührte er das Siegel und konzentrierte sich: »Warum der Aufenthalt?« »Warten auf Landeerlaubnis«, kam es undeutlich zurück, be179
gleitet von einer verschwommenen Szene, einem riesigen Feld, auf dem sich große, schimmernde Gebäude erhoben, auf das gewaltige Aufbruch-Schiffe und kleineres Fluggerät herabsanken. Jedem war von Zauberern, die den ganzen Hafen überwachten, ein Platz zugeteilt. Trebor war einige Minuten lang davon sehr beeindruckt. Es war sein erster authentischer Blick auf die Aufbruchs-Zeit... so verschieden von allem, was er sich vorgestellt hatte, und doch alles bestätigend. Dann begriff er, daß es keine Erlaubnis geben würde; diese Aufbruch-Stadt war vor Äonen untergegangen. »Sofort landen!« befahl er, und die Welt schien unter ihnen wegzustürzen. Als sie aufgesetzt hatten, wußte er nicht weiter. Dann konzentrierte er sich auf die Stammwelt-Erbschaft, und das Boot hob sich gehorsam und schlängelte sich zwischen Bauten dahin, an die allein es sich noch erinnerte, in Beachtung von Verkehrsgesetzen, die alle anderen lange vergessen hatten. Dadurch wurde seine Geschwindigkeit stark herabgesetzt. Schließlich blieb die zerklüftete Hochebene hinter ihnen zurück. Sie flogen langsam über den Gefilden der Hochländer, bis es dunkel wurde, und kamen zwischen niedrigen Bergen mit Blick auf die Hochebene zum Stillstand. Irregeführt von dem hellen, schattenlosen Mondlicht in den Fenstern des Bootes, befahl Trebor der Luke, sich zu öffnen. Rauhe, dünne, trockene Luft drang herein; sie blickten hinaus auf eine dunkle, geätzte Ödnis, die sich schwach abzeichnete vor einem Himmel flammender kalter Sterne. Das Licht an der Tür fächerte hinaus und verlor sich. »Zu!« Am frühen Morgen stiegen sie begierig aus und sofort wieder ein, um Decken zu holen. Es war entsetzlich kalt. Auf den Nadeln der Steinflechten, die allein in dieser grauenhaften Gegend wuchsen, saßen Frostkristalle. Der völlig unmenschliche Anblick deprimierte sie, aber sie machten sich hastig an die Arbeit. Ihre Suche wurde dadurch behindert, daß sie nicht wußten, wonach sie suchten. Sie fanden nicht das Geringste, das mit dem Aufbruch zusammenhing, aber trotzdem bestand das Siegel darauf, daß sie den richtigen Ort erreicht hatten. 180
»Es muß unter der Erde liegen«, sagte Trebor schließlich und wischte sich über das Gesicht. Sie kehrten zum Boot zurück und tranken unvernünftig viel von ihrem Wasser. Insgeheim begann Trebor sich zu fragen, ob das Boot sie ohne die Erbschaft nach Hause befördern würde. Die Konzentration auf das Siegel verschaffte ihm schließlich eine verschwommene Vorstellung von der Örtlichkeit, und er befahl dem Boot, sich an diese Stelle zu verfügen, so nah über der Erbschaft, wie es möglich war. Es wollte nicht. Weitere Konzentration verriet ihm, daß es dem Boot verboten war, sich dorthin zu begeben. Das Beste, was es tun konnte – und auch tat –, war, die verbotene Zone zu umfliegen und auf einem Grat dahinter zu landen. Sie stiegen den Grat hinunter und betrachteten ernst den Boden. Er bestand aus einer dicken Schicht Sandstein, die in den Megajahren seit der Verwüstung der namenlosen Stadt entstanden war. Das einzige Werkzeug, das ihnen zur Verfügung stand, war Trebors Schwert. Sie wechselten sich dabei ab, am Gestein zu bohren, und gruben ein kopfgroßes Loch. Als kalte Dunkelheit sie an den Kehlen packte, gaben sie auf und gingen zum Boot zurück. Während sie noch auf seine blauschimmernde Wölbung blickten, spritzten vom Grat Staub und Sand, ein lautes Krachen peitschte durch die dünne, kalte Luft, und das Boot sprang vom Grat und verschwand augenblicklich. Sie rissen entsetzt die Augen auf, dann fuhr Trebor verspätet herum. Lyanthas langes, schmales Flugschiff sank auf sie herab. An Heck und Bug funkelte Aufbruch-Antrieb, nach unten und hinten gerichtet. Beide Quellen schienen dem magischen Katapult zu entsprechen, das eben das Boot vernichtet hatte. Waren magische Katapulte defekte Antriebe? Fliehen war sinnlos. Da die Antriebe keine Unterstützung mehr lieferten, besaß das Flugschiff nicht genug Auftrieb, um in dieser Höhe zu schweben. Es kam schnell herunter, und seine Kufen scharrten über den Sandstein. Das magische Katapult drehte sich und zielte auf sie. Lyantha lachte höhnisch, aber Ozziwun packte ihren Arm. Sie schüttelte ihn ab und zeigte auf Trebor und die Mädchen, er181
teilte ihren Männern klare, kalte Befehle. Aeroben sprangen vom Flugschiff und liefen über die dunkelnde Ebene schwerfällig auf die drei zu. Nach einem Augenblick der Verwirrung, in dem er sein Schwert herausziehen wollte, packte Trebor das Siegel und befahl: »Komm!« Er tat es in der verzweifelten Hoffnung, daß das Aufbruch-Boot gehorchen könne.
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Die ganze Welt eins Lyantha und Ozziwun kreischten. Trebor keuchte: »Lauft!« und stürzte auf die Knie. Ein dröhnendes Wramm! hallte durch die Nacht. Das Gestein unter ihren Füßen erzitterte unter dem Schlag, brach knirschend auseinander, türmte sich in der Dunkelheit unter kalten Sternen zu enormen Höhen. Riesige Blöcke stiegen hoch und zerbarsten zu einem Regen von Steintrümmern, als gehe die Welt unter. Die geistige Warnung der Stammwelt-Erbschaft, nicht im verbotenen Gebiet zu landen, war kaum erstorben, als das Gestein in der Nähe des Flugschiffbugs zu einem großen Loch auseinanderbarst. Nun kreischten jene, die ihre Kehlen öffnen konnten. Ein Riese stemmte sich so vehement aus diesem Loch, daß die Steinblöcke flogen. Er war wirklich riesenhaft, hundert Fuß hoch oder höher, halb so groß wie die gigantischen Steinplatten, die er vor sich hinaufgesprengt hatte. Er stand titanenhaft auf der geborstenen Ebene. Im Licht der Sterne konnte man ihn und das Loch und den Flugschiffbug deutlich sehen. Lederharnisch, Bronzenieten, riesige Holzkeule, gestiefelte Füße, ogerartiger Schädel mit plumpen Zügen. Die schwarzen Pupillen in den glotzenden grauen Augen waren rund. Er stieß Worte in irgendeiner uralten Sprache hervor. Trebors Haare standen zu Berge, als er begriff, daß es die Aufbruch-Sprache war. Das Siegel übersetzte die Worte in einen scharfen, gereizten Befehl, nicht auf den Landeplatz der (Herrschaftsfigur) vorzu182
dringen. Der Riese unterstrich den Befehl, indem er mit seinem verformten Fuß ausholte und den Bug des Flugschiffes zerschmetterte. Es gab einen donnernden Knall, als Luft in die geplatzten Auftriebstanks fauchte. Eine Berührung hinter ihm veranlaßte Trebor beinahe dazu, zu dem Riesen hinüberzuspringen. Doch es war nur das Boot. Es wich zurück, als die geistige Warnung wiederholt wurde und der Riese sich ihm drohend zuwandte. Trebor rannte hinterher, zerrte Viani mit, die ihrerseits Lissas Handgelenk umklammerte. Am Fuß des Grates wartete das Boot auf sie, und sie stürzten dankbar hinein. Der Riese murrte wieder und trat noch einmal nach dem Wrack des Flugschiffes. Inzwischen hatten die Überlebenden es verlassen und stolperten auf das Boot zu, geführt von Lyantha, hinter der Ozziwuns Gewand flatterte. Der Riese beachtete sie nicht, funkelte das Boot grimmig an und erteilte erneut grollend den Befehl: »Entfernt euch sofort!« Das Boot schien vom Katapult der Aeroben unbeschädigt zu sein. Trebor trat mit gebleckten Zähnen Lyantha an der Tür entgegen und zückte das Schwert. Sie blieb stehen, die Augen im hinausströmenden Licht weit geöffnet. »Kannst du mir einen Grund nennen, warum ich dich nicht hierlassen sollte?« fragte Trebor sie düster. Die Kälte begann bereits zu schneiden. Eine Nacht und einen Tag waren sie über diese nackte Ödnis geflogen. Lyanthas Brust hob sich, zweimal, dreimal, als sie die Vollständigkeit ihrer Niederlage einsah. Trebors erschreckendes Grinsen wurde breiter. Sie war nicht so unvernünftig, zu fordern. Sie sank sofort auf die Knie und senkte den Kopf. »Ich tue alles, was Ihr wollt. Ihr seid mein Herr.« Trebor spürte eine ganz unangemessene Befriedigung, als er auf sie hinabsah; seine Gefühle überwältigten ihn beinahe. Nur die grollende Stimme des vor der schwarzen, nackten Ebene deutlich sichtbaren Riesen brachte ihn wieder zu sich. Eine dünne Stimme klang durch sein Gehirn: die Stimme seines Großvaters, Leinad des Bullers, der gesagt hatte: Versklave nie einen, der klüger ist als du. Daß sie ihn ihren Herrn genannt hatte, verlieh ihm das Recht, sie zu seiner Sklavin zu machen. Aber er berührte ihren Kopf mit sei183
nem Schwert und sagte: »Steh auf und schwöre mir Ergebenheit.« Sie tat es, die Hand erhoben; ihre Stimme und Emanationen waren klar und hallend und ehrlich. Hinter ihr stand schaudernd und angstvoll gaffend Ozziwun mit einer kauernden Gruppe von Aeroben. Trebor sah den Pramantiner an. »Du auch!« Ozziwun richtete sich widerstrebend auf, und Trebor wurde schon von Kampfeslust erfaßt, aber beim Anblick der nackten Stahlzunge des Todes verlor der Pramantiner die Nerven und sank auf die Knie. Enttäuscht zog Trebor vor ihm eine Linie am Boden und sagte: »Du bist mein, zu haben und zu behalten, zu beherrschen und zu kontrollieren!« »Ich bezeuge es.« Lyanthas klare, kühle, amüsierte Stimme. »Ich auch!« Viani, mit wilder Befriedigung. Wenn die anderen Pramantiner davon erfuhren, war Ozziwuns Karriere beendet. Trebor ließ sie ins Boot und trat mit den Mädchen ans Zauberbrett zurück. Schon machte er sich Sorgen. Hier waren zwei Geistadepten von beträchtlicher Macht, und das Aufbruch-Boot wurde vom Geist gesteuert. Ihm fehlte diese Kraft. Er konnte es nur durch das Siegel der Wache steuern, das einzig auf die StammweltErbschaft ausgerichtet war. Man konnte ihm das Boot vielleicht entreißen. Aber die Erbschaft konnte, so vermutete er, nur mit Hilfe des Siegels erlangt werden. Er warf wieder einen Blick auf den Riesen. Dieser hatte das Flugschiff noch ein paarmal mit dem Fuß getreten und nur noch ein komplettes Wrack hinterlassen. Es war seltsam, daß er seine Keule nicht gebraucht hatte. Auch hatte er seinen Platz über dem riesigen Loch nicht verlassen. Lyantha betrachtete Trebor und ignorierte die feindseligen Blicke von Viani und Lissa. Letztere drängte sich schützend vor Trebor. »Nun, wie sind Eure Befehle?« fragte Lyantha Trebor. »Überzeugt mich zuerst, daß ihr keine Waffen habt.« Sie ließ sofort ihre Denkschranken herunter. Ozziwun zögerte, überreichte ein Zauberrohr und ließ seine Schranken auch fallen. Die Aeroben hatten in ihrer Angst die Kontrolle über ihre Gedanken längst verloren. Sie übergaben stumm breite Schwerter und 184
Messer. Weder Lyanthas Kapitän noch ihr Zaubermeister waren unter den Überlebenden. »Die Männer können sich achtern in den Kielraum legen; dort sind Decken. Das Wasser wird streng rationiert. Wir halten kurze Wachen.« Trebor reichte Viani den Zauberstab. Sie nahm ihn vorsichtig in die Hand, schien aber zu wissen, wie man damit umgehen mußte. »Wenn das Boot sich bewegt, mach Ozziwun nieder, dann Lyantha.« Viani nickte, und Lissa lächelte Lyantha an. Lyantha erwiderte das Lächeln freundlich. »Ihr scheint für alles vorgesorgt zu haben. Macht Ihr Euch jetzt auf den Weg zur Stammwelt-Erbschaft? Darf ich fragen, was Ihr damit tun wollt?« »Ich mache mich zum König – nicht bloß zum Panarchen von Amballa«, sagte Trebor ungeduldig. »Ich gebe meine Heirat mit Viani von Linllallal öffentlich bekannt und ergreife mit dieser Begründung den Thron von Witstanda. Dann übernehme ich das ganze Land dazwischen – vor allem den Shamsund. Danach beginne ich mich auszudehnen – ich habe für den Anfang vor, ganz Iréné unter-meine Herrschaft zu bringen.« Er sah Lyantha an. »Deine Aeroben werden sehr nützlich sein.« Sie nickte. »Und habt Ihr vor, mich Euren Eroberungen hinzuzufügen?« »Nein.« Sie war zu gefährlich und wußte, daß er es wußte, wie ihr Lächeln verriet. »Aber ich behalte dich in meiner Nähe, zur Sicherheit.« Lyantha nickte und sagte: »Ihr habt meine völlige Ergebenheit – wenn Ihr mir Souveränität über Irenaica gewährt.« Die Stadt, von der sie vor zehn Jahrtausenden verstoßen worden war. Das würde peinlich sein für Irenaica, aber Trebor scherte das nicht; die Hauptstadt des Vierten Irenischen Reiches würde Amballa sein – die Hauptstadt des Neuen Aufbruchs. Bei dem Gedanken durchströmte ihn Erregung. Er wickelte sich in eine Decke und trat hinaus auf die dunkle Ebene. Über ihm flammten die kalten, harten Sterne; alles wurde von der Gestalt des Riesen beherrscht. Als Trebor sich ihm näherte, ihn nicht beachtete, fiel ihm auf, wie still es war. Er hörte kein Atmen, kein Stiefelscharren auf Stein. Seine wiederholten 185
Warnungen und Befehle wirkten eigenartig automatenhaft. Er blieb in sicherer Entfernung stehen und legte die Hand auf das Siegel. Die Ebene wurde ganz kalt und fern, und ein Gefühl des déjà vu überkam ihn; das war der Ort, den er bei seinen ersten Visionen mit dem Siegel gesehen hatte. Nun fühlte er die StammweltErbschaft. Kein Zutritt für jene, die nicht hierhergehören. »Aber ich habe das Siegel der Wache der Behutsamen Meditation.« Frage? Er beschwor ein Bild des Siegels herauf, dann erzeugte er ein Gefühl von sich öffnenden Türen. Darauf kam sofort die Reaktion: Kein Zutritt für jene, die nicht hierhergehören. Erlaubnis (der Herrschaftsfigur) erforderlich. Ungewohnte Bitte. »Aber du mußt dem Siegel gehorchen.« Er spürte die Kälte immer stärker, und auch die Zweifel ließen ihn frösteln. Frage? (Herrschaftsfigur?) Weise dich aus. »Trebor, der Sohn Sirroms . . . Herrscher des Siegels, dem du gehorchen mußt.« Dieses letzte Wort befehlend, begleitet von einer Vision seines eigenen Herrschaftssymbols. (Herrschaftsfigur?) Du bist erkannt. Bedaure Verzögerung und Warnung. Was befiehlst du? Von Trebors Gemüt rollte ein riesiges Gewicht. Er richtete sich auf und wischte sich mit zitternder Hand das kalte Gesicht. Die Gedankenkommunikation war selbst für Adepten eine Belastung, und er hatte zuviel mitgemacht... »Schaff diesen Riesen von hier fort.« Frage? Ohne Sinn . . . »Andammt, laß mich hinein!« Geöffnet. Tritt ein. Trebor ächzte. Finger kalter Panik in seiner Magengrube. Der Riese war blitzartig völlig verschwunden, und die Ebene war dunkel, dunkel . . . ein wenig Licht drang zwischen den aufgetürmten Blöcken am Loch hervor. Ein knarrendes Geräusch dort erregte Trebors Aufmerksamkeit, und er erblickte etwas, das aussah wie ein magisches Katapult und sich zwischen den Steinen langsam zurückzog. Mit schwachen Knien begriff er, daß der Riese nur eine 186
Illusion gewesen war. Ein ehrfurchterregender Zauber . . . kein Wunder, daß er mit dem Fuß zugestoßen hatte, statt seine Keule zu schwingen. War er ihnen allen in gleicher Form erschienen? Trebor nahm seinen Mut zusammen, ging vorbei an dem zerfetzten Wrack und stieg hinunter zwischen die Steinblöcke. Es war kalt, aber aus einer geöffneten Luke in schimmerndem AufbruchMaterial, Gold und Blau, drang Licht. Um die Luke befand sich ein Ring der kleinen Katapulte. Sie waren es gewesen, die das Gestein darüber geknickt und hochgetürmt hatten. Eines zog sich langsam zurück, nachdem es das Flugschiff zerstört hatte. Schließlich kletterte Trebor durch die Luke in ein großartiges Gewölbe, wie es in der Alten Stadt kein prächtigeres gab. Es war nicht groß, hätte aber als Thronsaal für den Ersten Imperator des Vierten Irenischen Reiches dienen können. »Wo ist die Stammwelt-Erbschaft?« Es gab hier Sessel vor Geräten, die wie gekippte Fenster aussahen. Alles war vollkommen erhalten, keine Spur von Staub, nichts, was nach einer Waffe aussah. Eine Stimme von nirgends antwortete, so daß er erschrak. Das Siegel dolmetschte. Hier. Waffe? Schau unter . . . Eines der Fenster vor einem Sitz flammte auf, und Symbole tauchten dort auf, als der Geist sprach, Symbole – Buchstaben? – und Worte vermutlich gleichen Sinnes. Trebor seufzte, legte die Decke auf den herrlichen Teppich aus Blau und Gold, setzte sich. Der Sitz war erstaunlich bequem. »Was ist die Stammwelt-Erbschaft?« Die Antwort hatte erkennen lassen, daß Waffen nur ein kleiner Teil davon waren. Geistige Kommunikation verschwommen. Ziehe Stimme vor. Ich (dies) (Symbol für ein Gefäß voll . . . etwas) Lagerhaus (Symbol für Scheune) (Symbol für Lagerhaus) (Symbol für Frucht oder Gemüse voll Samen). Trebor geriet in Erregung. Die Geisterstimme fuhr fort: Voll. . . (rechteckiger Gegenstand). Trebor war kein großer Leser. Aber nach kurzem Besinnen erkannte er ihn als Buch. Der Geist vermittelte ihm auch das Bild einer Schriftrolle. Er spürte Niedergeschlagenheit. Ein Fenster in seiner Nähe war schon geraume Zeit hell. Er konzentrierte sich nicht mehr auf geistige Verständigung und sah Bücher und Rollen auf der anderen 187
Seite auftauchen, in der Luft schwebend. Die Bücher öffneten sich, und vor ihnen, wie auf der anderen Seite der Glasscheibe, waren Bilder, Buchstabenzeilen, Skizzen, Diagramme, Karten, Tabellen, Statistiken, andere Karten mit Wellenlinien, Pläne für unbekannte Geräte, einmal eine Brücke . . . Trebor seufzte, stöhnte beinahe, und versuchte es ein letztes Mal: »Waffen?« Eine Blende, und das Fenster zeigte Bilder von Aufbruch-Waffen, manche klein genug für eine Hand, manche so groß, daß Männer darin fuhren; es folgten Diagramme und Pläne, und er spürte Hoffnung. Dann fiel ihm ein, daß niemand die Aufbruch-Sprache lesen noch die Stoffe herstellen konnte, aus denen die Waffen bestanden . . . »Hast du keine, die schon fertig sind?« Nein. »Aber – die Katapulte, die –« Er stellte sich den Ring von Katapulten um die Luke vor. Verkehrskontrolle. Das Fenster öffnete sich plötzlich und gab den Blick über die Oberfläche frei. Trebor stockte der Atem, als er Dutzende von Booten in vielen Farben schimmern sah. Sie schwärmten insektenartig über eine flache Ebene, waren grell gekennzeichnet, ihre Lichter blinkten. Hier und dort ragten aus der Ebene Ansammlungen von magischen Katapulten empor, in deren Nähe niemand stand. Sie drehten sich schnell, zuerst einem schwebenden Boot zu, dann einem anderen. Von einem Boot zu einer Gruppe von Katapulten wurden Pfeile gezogen, und das Boot folgte ihnen. Pfeilbündel bewegten sich von einer anderen Katapultgruppe zu einem zweiten Boot und schoben es fort . . . Trebor begriff schließlich, daß die Pfeile nicht wirklich vorhanden waren, sondern nur vorführten. Dann erkannte er zusammenzuckend, daß diese Boote in Wirklichkeit Schiffe waren, viel größer als das größte Dreimast-Triff; so groß wie das größte Flugschiff, aber von Aufbruch-Antrieb getragen. Die magischen Katapulte hier abmontieren und sie gebrauchen, um ein Reich zu erlangen? Sie genügen nicht, selbst mit dem Boot nicht. Bedrückt saß er inmitten der zusammengebrochenen Hoff188
nungen. Die Zukunft sah düster aus, selbst wenn er Ozziwun tötete und Lyantha einschüchterte, bis sie zu Hause oder irgendwo anders in Sicherheit waren . . . immer vorausgesetzt, daß er nach Hause gelangen konnte. Das Schlimmste war, Viani und Lissa gegenübertreten zu müssen. Er saß eine Weile und dachte an seine Träume, mit einem mächtigen Talisman zurückzukehren, der alles vor sich niederwerfen würde, jeden Gegner, alle Gedanken auf ihn zuführend . . . Dann sprangen eine wilde Vorstellung und noch wildere Hoffnung in ihm empor. »Deine Bilder deuten an, daß du dich geistig mit einem Talisman verständigst.« Bestätigt. »Zeig ihn mir.« Einer an jedem Tisch, an große Zaubersprecher draußen angeschlossen. Das magische Fenster stellte das klar und zeigte eine einfache Skizze. Auf seinen Befehl öffnete sich der Deckel des Tisches vor ihm, und er hob ihn hoch. Als sein Blick auf einen der zahlreichen stumpf schimmernden Klumpen aus Glas oder Kristall fiel, vermittelte ihm der Geist ein Gefühl der Gewißheit. Das Fenster zeigte ihm genau, wie er die Kabel lösen und es herausheben mußte. Aber es war tot, wenn man es herausnahm, und er mußte einen besonderen Zaubersprecher herausziehen und an den Kommunikator anschließen. Er blieb immer noch tot; er verlangte Kraft von außen und konnte sie nicht vom Halter beziehen. Der Geist der Erbschaft teilte Trebor mit, daß in jedem Tisch ein Krafttalisman für Notfälle lag. Trebor zog ihn heraus, einen kleinen Zylinder, der leicht in seine Hand paßte, aber tausend Jahre Kraft haben würde, und schloß ihn an, wie ihm gezeigt wurde. Als er hineindachte, wurde sein Befehl hinausgestrahlt, unglaublich verstärkt, streng, eisern. Geistige Befehle übten keinen Zwang aus, aber sie erweckten maßlose Ehrfurcht. Dies und das Boot, mehr würde er nicht brauchen . . . und ein magisches Katapult aus Lyanthas Flugschiff. Aber sein Talisman war nur eine merkwürdig aussehende Ansammlung von stumpfen Klumpen. Er suchte, bis er eine schöne, schimmernde Schachtel voll Karten 189
fand, im Blau und Gold der Erbschaft. Sie war ein wenig größer als das Siegel, etwa faustgroß, und konnte alle Teile leicht aufnehmen. Eine goldene Kette konnte er später anbringen lassen. Als er wieder hinsah, war er verblüfft. . . das abstrakte Symbol darauf war das Spiegelbild desjenigen auf dem Siegel. Bevor er sich auf den Weg der Eroberung begab, setzte er sich und überlegte noch einmal alles. Zuerst Lyantha und Ozziwun mit der Stammwelt-Erbschaft einschüchtern (schon betrachtete er sie als die wahre Erbschaft), das Boot damit steuern, mit dem Katapult auf Amballa niederstoßen und die Halle der Erben zerstören, auf dem Tor des Irdischen Paradieses landen und sich als Trebor, Sohn Sirroms, Erbe der Stammwelt, proklamieren und zum König ausrufen. Die Erbschaft sollte sein Volk davon überzeugen, daß man ihm nicht widerstehen konnte, und die Hoffnung auf Beute sollte die Vorbeuger hinter ihm sammeln. Auch die Erben würde er an sich ziehen, soweit sie nicht zu den Anführern gehörten. Dann weiter nach Linllallal, zuerst eine geheime Besprechung mit Vions Anhängern, wenn sie noch lebten. Anschließend ein ebenso spektakulärer Sturz von König Witloss dem Vierten von Gute Laune – seine Hinrichtung. Die Krönung Vianis, der Königin von Linllallal. Er würde sein Lyantha gegebenes Versprechen halten und die Aeroben einsetzen, um Irenaice zu erobern . . . Vallatia sollte kein Problem darstellen; sowohl der Pandamon als auch sein Gouverneur fürchteten sich vor echter geistiger Macht. Er rieb sich in seiner Vorfreude die Hände, sah das Zusammenwachsen einer Armee aus Truppen von Amballa, Linllallal und Aeroben-Truppen, sah sich die ganz Iréné erobern, unter dem Banner des Stammwelt-Erben, sah gegnerische Flotten sich dem Aufbruch-Boot ergeben. Der Widerstand war zu Ende, bevor er begann. Das Vierte Irenische Reich nahm Gestalt an, wuchs vor seinen Augen; Amballa wurde eine mächtige, große Stadt; zuletzt kam ganz Aera unter sein Banner, das Vierte Reich wurde zum Ersten AeraReich . . . nein, zum Aera-Reich schlechthin; der Neue Aufbruch leuchtete über der Welt. Ohne einen weiteren Gedanken drehte er der Stammwelt-Erbschaft den Rücken zu und marschierte hinaus, voller Pläne für seine 190
Stadt. Rhodrora, Paxicum, Irenaica . . . und nun Amballa. Die neue große Stadt seiner Herrschaft nahm Form an, sie sollte eine angemessene Fassung für die Paraden seiner siegreichen Armeen werden, und während er einen Grabstein mehr für den »Friedhof Erde« plante, machte es ihm großes Vergnügen, in seiner Phantasie die Töne rauschender Musik zu hören.
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