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Vor zwölftausend Jahren stürzte das Raumschiff über der Erde ab. Sechs Mitglieder der dreihundertköpfigen Besatzung blieben am Leben. Sie durchstreiften die Erde – die Insel im All, auf der sie gelandet waren. Sie wurden Könige und Propheten. Sie halfen mit, Kulturen zu gründen und zu zerstören. Sie wurden als Halbgötter verehrt und als schwarze Magier verfolgt. Schließlich starben auch sie, weil ihnen fehlte, was sie zum Überleben nicht mehr fanden: schweres Wasser. Sie starben bis auf zwei: Carolyn und Gilbert. Sie stammen von derselben Rasse ab und sind doch so verschieden. Carolyn verkörpert das Böse. Sie schreckt vor keinem Verbrechen zurück, um ihre Absicht zu verwirklichen: die Rückkehr zum Planeten ihrer Herkunft. Gilbert dagegen hat sich damit abgefunden, auf der Erde zu bleiben. Er sieht seine Aufgabe darin, die skrupellosen Pläne seiner Artgenossin zu vereiteln.
In der Reihe der Ullstein Bücher: Jeff Sutton: Die tausend Augen des Krado 1 (2812) Sprungbrett ins Weltall (2865) Samuel R. Delaney: Sklaven der Flamme (2828) Cyril Judd: Die Rebellion des Schützen Cade (2839) Eric Frank Russell: Planet der Verbannten (2849) Gedanken-Vampire (2906) Larry Maddock: Gefangener in Raum und Zeit (2857) Bart Somers: Zeitbombe Galaxis (2872) Welten am Abgrund (2893) Manly W. Wellman: Insel der Tyrannen (2876) Invasion von der Eiswelt (2898) Robert Moore Williams: Zukunft in falschen Händen (2882) H. Beam Piper: NULL-ABC (2888) Murray Leinster: Die Irrfahrten der »Spindrift« (2917) Im Reich der Giganten (2937) Fredric Brown: Sternfieber (2925) L. Sprague de Camp: Vorgriff auf die Vergangenheit (2931) Der Turm von Zanid (2952) Richard S. Shaver: Im Zauberbann der Venus (2944) Ferner: Science-Fiction-Stories Band 1 bis Band 24
Ullstein Buch Nr. 2959 im Verlag Ullstein GmbH, Frankfurt/M – Berlin – Wien Titel der amerikanischen Originalausgabe: »The Time Masters« Übersetzung von Otto Kühn Umschlagillustration: Fawcett Umschlaggraphik: Ingrid Roehling Alle Rechte vorbehalten Copyright © 1971 by Wilson Tucker Übersetzung © 1973 by Verlag Ullstein GmbH, Frankfurt/M – Berlin – Wien Printed in Germany 1973 Gesamtherstellung: Augsburger Druck- und Verlagshaus GmbH ISBN 3-548-02959-0
Wilson Tucker
Die letzten der Unsterblichen SCIENCE-FICTION-Roman
Herausgegeben von Walter Spiegl
ein Ullstein Buch Dieses E-Book ist nicht zum Verkauf bestimmt!!
Er sank durch schwarze, farblose Leere, der es noch an ausreichender Substanz mangelte, um sie mit dem Begriff Himmel näher bezeichnen zu können. Wie eine winzige Motte sah er aus, als er sich drehend und langsam überschlagend auf den Planeten zuschwebte. Eine fremde Sonne und ihm unbekannte Sternbilder schienen wie in einem großen Kaleidoskop um ihn zu kreisen. Er hatte die Schiffskatastrophe überlebt. Ein Stück von ihm entfernt trudelte ein weiterer Körper auf den fernen Planeten zu. Aber der Raumanzug war aufgerissen, sein Besitzer tot. Er war zu langsam gewesen, hatte kein Glück gehabt und das zerstörte Schiff nicht rechtzeitig verlassen. Jedesmal, wenn er bei seinen Drehbewegungen den Raumanzug zu Gesicht bekam, sah er im Licht der Sonne, daß der Körper buchstäblich explodiert war. Er kannte den toten Begleiter nicht. Wahrscheinlich war es ein Mitglied der Mannschaft, das im Augenblick der Katastrophe gerade dienstfrei gehabt hatte und davon überrascht worden war. Unfälle dieser Art waren so selten, daß im Schiff keine Schutzanzüge getragen wurden. Schwerelos schwebten beide auf diesen namenlosen Planeten zu, der in einen matten bläulichen Dunst gehüllt zu sein schien. Hatten außer ihm noch andere überlebt? Das Schiff war schon lange nicht mehr vorhanden. Es
war wie eine ausgebrannte Rakete auf den Planeten hinabgestürzt, bei Eintritt in die bläulich grüne Atmosphäre verbrannt. Er hatte nur wenige Sekunden Zeit gehabt, das Schiff verlassen zu können. Das Heulen der Alarmsirenen war untergegangen im knirschenden Dröhnen, als der Meteorit die Hülle des Schiffes getroffen und den Antriebsraum durchschlagen hatte. Bei der ersten Erschütterung des Aufpralls hatte er seinen Raumanzug angezogen und dicht gemacht. Das war eine rein instinktive Reaktion gewesen. An eine ernste Gefahr hatte er in diesem Augenblick allerdings nicht gedacht. Erst als er sich seiner Frau zugewandt hatte, die in einer der Kojen lag, war ihm das Ausmaß der Katastrophe klar geworden. Nach dem ersten Schritt in ihre Richtung hatten die Sirenen zu heulen begonnen, und die Angst hatte ihn gepackt, sie würde ihren Raumanzug nicht schnell genug schließen können. Zwischen dem zweiten und dritten Schritt war das Schiff durch die im Antriebsraum im Heck hervorgerufene Explosion an den Nähten geborsten. Der Meteorit hatte es an seiner verwundbarsten Stelle getroffen. Das große Sternenschiff war verloren. Die meisten Passagiere und Besatzungsmitglieder waren in die Leere des Raumes hinausgeschleudert worden. Dort hatten sie zwischen den Trümmern und der ausgelaufenen Kühlflüssigkeit der Energieaggregate um ihr Leben gekämpft.
Er wußte, daß seine Frau sich hatte retten können, daß sie noch lebte. Sie hatten eine intime Ehe geführt, und jeder kannte die Zukunft des anderen. Sie hatte gebadet und wollte gerade zu Bett gehen, als sich die Katastrophe ereignete. Er hatte sie zuletzt gesehen, als sie in der Koje versuchte, liegend ihren Rettungsanzug dicht zu machen. Der Meteorit hatte das Schiff durchschlagen und seine Bahn durch das All fortgesetzt. Das zerstörte Schiff war weitergeschossen, durch den Zusammenstoß von seinem ursprünglichen Kurs abgelenkt, und in der Atmosphäre des Planeten verglüht. Der grelle Flammenschein war wie ein Lichtblick für ihn gewesen. Der Planet hatte also wenigstens eine Atmosphäre. Er und sein stummer Begleiter näherten sich dem Planeten sehr viel langsamer als das Schiff. Er schloß die Augen, um ihn nicht ständig sehen zu müssen. Wo mochte seine Frau sein? Wo waren die anderen Überlebenden? Als er spürte, daß er in die obersten dünnen Luftschichten des Planeten eindrang, öffnete er die Augen wieder. Schwaches, diffuses Licht umgab ihn. Er merkte, wie sein Anzug auf die veränderte Umgebung reagierte. Der Raumanzug des Toten tauchte in seinem Gesichtskreis auf, und er wandte den Blick nach unten zu dem Planeten, weil er den Anblick nicht mehr er-
tragen konnte. Er streckte die Beine aus und legte die Füße aneinander, damit die Energie in den beiden Metallschuhen konzentriert der Anziehungskraft des Planeten entgegenwirken konnte und sein Sturz gebremst wurde. Die Sonne und dieses Planetensystem kannte er nicht. Als Passagier des Schiffes hatte er sich nicht im einzelnen dafür interessiert, wo sie sich gerade aufhielten. Es war Zufall, daß der Meteorit sie gerade in diesem Teil des Alls getroffen hatte. Die Welt da unten würde also zahllose Geheimnisse bergen. Helle und dunkle Flecken zeichneten sich auf der gewölbten Oberfläche ab. Er schloß daraus, daß es Landgebiete und Meere sein mußten. So sehr er sich auch anstrengte, keine Lichtpunkte auf der Nachtseite des Planeten zeigten an, daß es dort eine Stadt gab oder andere Hinweise auf zivilisierte Lebensformen. Vielleicht befand er sich noch zu weit oben. Möglich war auch, daß die Lichtquellen dort unten relativ schwach waren. Bei dieser Überlegung berührte er instinktiv den Gürtel, der die Notrationen enthielt. Dann blickte er noch einmal zu seinem leblosen Begleiter hinüber. Auf diesem Planeten Nahrung zu finden, würde kein großes Problem sein. Die Beschaffung geeigneten Wassers, fürs Überleben von ungeheurer Wichtigkeit, konnte allerdings wesentlich schwieriger werden. Die Seen, die er von oben erkennen konnte, waren nutz-
los ohne geeignete Aufbereitungsanlagen. Ausreichende Mengen von Regenwasser würden schwer zu sammeln sein, und auch das war unter Umständen kaum genießbar. Es wäre also gut, wenn er sich die Notrationen des Toten besorgte. Als Schiffbrüchiger mußte er versuchen, unter Ausnützung aller Möglichkeiten am Leben zu bleiben. Unter diesen Umständen wäre es durchaus vertretbar, einem Toten etwas wegzunehmen. Die Kühlflüssigkeit aus dem Antriebsraum war leider verloren. Die hätte ausgereicht, ihn für lange Zeit am Leben zu erhalten. Die Atmosphäre wurde dichter. Er wollte in jedem Fall vor der Leiche unten sein, um die Notrationen bergen zu können. Die Landflächen hatten inzwischen Konturen bekommen. Er rechnete sich aus, in welchem Gebiet er ankommen würde. Zur einen Seite hin lag ein weites Meer im Licht der untergehenden Sonne. Er suchte nach der Küste. Seine Gedanken kehrten zu seiner Frau zurück. Wo mochte sie sein? Fiel auch sie auf diesen Planeten unter ihm hinab? Gab es noch weitere Überlebende? Würde er sie auf dem Planeten finden? Er würde sie in der unendlichen Weite des Gebietes suchen müssen. Der Planet wurde immer größer, während er herunterkam. Eine lange Zeit verging, bevor er die Beine grätsch-
te, um die Fallgeschwindigkeit zu bremsen. Sein Anzug blähte sich auf wie ein Ballon, um die Wucht des Aufschlags zu mildern. Er kam über einer sandigen, einsamen Küste herunter.
1 Cummings war aus Washington gekommen. Er verschränkte die Finger seiner Hände über einem dicken Stoß von Berichten, die mit der Schreibmaschine geschrieben waren, und blickte zu dem Lichtfleck hinüber, der durch das Fenster hereinfiel. Es war Sommer, und das Fenster stand offen. Der Verkehrslärm drang nur gedämpft herein. Das Fleckchen Sonnenlicht auf dem Fußboden schien Cummings zu faszinieren. Wie hell es war, und wie langsam es sich bewegte. Der überstürzte Flug von Washington nach Knoxville hatte ihn aufgeregt. Das Fliegen schlug bei ihm immer auf das Herz und den Magen. Von dem Lichtfleck ging etwas Beruhigendes aus, ein Gefühl des Friedens und der Vertrautheit. Der andere Mann in dem kleinen Büro schwieg. Er wartete darauf, daß sein Vorgesetzter das Wort ergriff. Cummings ließ den Lichtfleck nicht aus den Augen, bis sich seine Aufregung etwas gelegt hatte. Dann sagte er: »Es war unnötig, Dikty, mir in diesem Zusammenhang das Urlaubsgesuch vorzulegen. Sie müßten mich eigentlich besser kennen.« Dikty nickte. Es stimmte, was sein Chef sagte. »Ja, ich weiß. Aber ich wollte Ihnen diesen Ausweg
offenlassen, für den Fall, daß Sie jemand anderen auf die Sache ansetzen wollen. Ich gebe es ungern zu, aber das ist das erste Mal, daß ich mit einer Sache nicht fertig werde.« Er zeigte resigniert auf den Stoß Papiere, die auf dem Schreibtisch lagen. »Alles, was darin steht, weiß ich über diesen Fall, und trotzdem weiß ich gar nichts.« »Also ein schwieriger Fall«, sagte Cummings, fast im Selbstgespräch. »Ja, ein schwieriger«, gab Dikty zu. »Ich stehe vor einer Wand. Jeder Mensch ist irgendwann und irgendwo geboren. Aber nicht dieser Mann – wie es scheint.« Der Abteilungschef reagierte mit einem matten, schnellen Lächeln. Es war keine Spur von Freude darin. Eine flüchtige Lippenbewegung nur, sonst nichts. »Ich bin froh, daß Sie ›wie es scheint‹ gesagt haben.« »Eine weitere Möglichkeit, die ich offenlasse.« Dikty wußte, daß er mit dieser Erklärung auch nicht weiterkam. »Ich nehme an, daß er tatsächlich geboren wurde.« Die Stimme des Mannes klang bitter. »Ich habe ihn mit eigenen Augen gesehen, daher weiß ich, daß er existiert. Daß ihn der Klapperstorch gebracht hat, daran glaube ich schon lange nicht mehr. Der Mann muß Vater und Mutter gehabt haben, muß das Kind uns unbekannter Eltern gewesen sein. Irgendwo und irgendwann muß er auf die Welt gekommen
sein.« Er breitete in einer Geste der Ratlosigkeit die Hände aus. »Aber wo? Die fragliche Person war eines Tages ganz plötzlich da, so plötzlich, wie ich mit dem Finger schnippe, und seither gibt es sie.« Cummings starrte auf das Fleckchen Sonnenlicht. Mit den gefalteten Händen strich er über den vor ihm liegenden Bericht. »Und wann war das? Tag und Jahr?« »Am 8. März 1940.« Der Abteilungschef schloß die Augen. Dikty glaubte einen kurzen Augenblick lang, eine Spur von Bewegung in dem sonst ausdruckslosen Gesicht seines Vorgesetzten erkannt zu haben. Nach einer kurzen Pause begann Cummings wieder zu sprechen. »Sagt Ihnen dieses Datum irgend etwas?« »Es ist der Geburtstag meines Enkels. Sonst nichts.« Cummings zögerte die Antwort hinaus. Er schien nachzudenken. »An diesem 8. März feierte die Hölle auf Erden Geburtstag. Möglich, daß es ein paar Tage früher oder später war. Man könnte dieses Datum auch als Geburtstag unserer Organisation bezeichnen. Denn damals machte man die ersten Pläne für den Aufbau eines geheimen Sicherheitsdienstes. Am oder um den 8. März 1940 herum rief der Präsident die Forschungsabteilung für Landesverteidigung ins Leben. Aus ihr ist die Abteilung Manhattan District hervorgegangen und unsere Organisation.«
»Ich hatte immer geglaubt, Manhattan District habe am Anfang gestanden«, bemerkte Dikty. »Nein.« Cummings öffnete die Augen und blickte auf den Lichtfleck, der sich inzwischen ein Stück weiter über den Boden bewegt hatte. »Davor gab es etwas anderes. Seit 1939. Den Namen habe ich vergessen. Ist auch nicht wichtig, denn die Arbeit der Gruppe litt von Anfang an unter Geldknappheit und Mangel an Unterstützung durch die richtigen Instanzen. Aber das war der eigentliche Gründungstag der Hölle auf Erden. 1940 entstand daraus unsere Forschungsabteilung. Aus dieser wiederum, ein Jahr später, das Büro für Forschung und Entwicklung. Alle zusammen gingen dann im Manhattan District auf. Das war 1942.« Er seufzte. »Jetzt haben wir also schon mehr Geburtstage als wir zählen können. Manchmal kann man es der Öffentlichkeit wirklich nicht verübeln, daß sie mit dem Durcheinander, das in Washington herrscht, nicht zurechtkommt.« »Und welches ist Ihrer Meinung nach der Geburtstag, auf den es uns besonders ankommt?« »Ja, welcher?« Cummings zuckte mit den Schultern, aber er hob den Blick nicht von dem Fleckchen Sonnenlicht. »Es hängt alles davon ab, welchen Tag man feiern möchte, wenn man überhaupt einen feiern will. Im Juli 1945 wurde in der Wüste von Nevada die erste Atombombe gezündet. Aber die Leute, die sie
gebaut haben, setzen den eigentlichen Geburtstag drei Jahre früher an.« »Drei?« Cummings nickte. »Im Dezember 1942 fand die erste echte Kettenreaktion statt. Ihrer Meinung nach kam die Hölle an diesem Tag auf die Welt. Ich selbst kann nicht sagen, ob man dieses Datum in Stein meißeln und den Tag feiern soll, oder ob man es lieber vergessen sollte. Ich glaube, es war eine genauso üble Sache wie die Erfindung des Schießpulvers. Nun ja, daran ist nichts mehr zu ändern.« Jetzt erst hob er den Blick und schaute seinen Untergebenen an. »Uns interessiert der 8. März 1940. Die von uns observierte Person tauchte an diesem Tag zum erstenmal auf.« Dikty nickte. »Anscheinend.« »Ja, anscheinend.« »Zwei Jahre später kam er hierher nach Knoxville«, berichtete Dikty nach einer Weile weiter. »Warum gerade zu diesem Zeitpunkt, weiß ich nicht. Als man damit begann, das Gelände für das Kernforschungszentrum von Oak Ridge zu vermessen, war unser Mann bereits auf der Szene erschienen und hatte sein Büro eröffnet.« Und mit einer Spur von Bitterkeit fügte er hinzu: »Jedenfalls nannte er es so. Und es befand sich zufällig nur zwei Querstraßen von unseren Büros entfernt. Wie gefällt Ihnen das?« Cummings lächelte wieder, matt und humorlos, ein
kaum wahrnehmbares Kräuseln der Lippen. »Nicht schlecht. Und Ihnen?« »Daß er sich so dicht in unserer Nähe eingenistet hat?« »Daß er uns wieder einmal zuvorgekommen ist. Wir kamen erst Monate später hierher, als man in Oak Ridge bereits mit dem Bau begonnen hatte. Aber sehen wir uns doch einmal alle Daten und Orte gleichzeitig an. Am oder um den 8. März 1940 herum geschahen drei Dinge – von der Geburt Ihres Enkels einmal ganz abgesehen. Erstens: In Washington beschloß die Regierung den Bau der Atombombe. Viel Geld wurde in die Forschung gesteckt. Zweitens: Die Regierung erkannte die Notwendigkeit eines streng geheimen Sicherheitsdienstes, um die Leute zu bewachen, die die Bombe zu bewachen hatten. Ein verstecktes, geheimes Rädchen im Getriebe. Und schließlich drittens: Unsere Verdachtsperson taucht zum erstenmal in der Öffentlichkeit auf. Drei Dinge, die gleichzeitig geschahen. Ziehe ich daraus meinen Schluß, komme ich zu dem Ergebnis, daß er gewußt haben muß, und zwar schon einige Zeit vorher, was am 8. März 1940 geschehen würde. Sein Auftauchen war darauf abgestimmt.« »Aber an diesem Tag war er in Miami gesehen worden«, wandte Dikty ein. »In diesem Fall hätten sie ›anscheinend‹ sagen
müssen. Genau gesagt, hat man ihn am 8. März 1940 in Miami gefunden. Er kaufte einen Wagen und beantragte eine Fahrerlaubnis. Von diesem Tag an war er sozusagen aktenkundig. Seine Überwachung war schwierig, ich weiß. Typisch für die Bürokraten, alte Akten dreißig Jahre lang aufzubewahren. Aber dieser Tatsache haben wir unseren ersten Erfolg zu verdanken. Wir haben jedoch keinen Hinweis darauf gefunden, was er tat, bevor er diesen Wagen kaufte.« »Richtig, und an diesem Punkt haben alle versagt. Nichts, aber auch gar nichts deutet darauf hin, daß der Mann vor diesem Datum, also vor dreißig Jahren, überhaupt existierte. Ich weiß es, ich habe mich selbst davon überzeugen können.« Wieder klang seine Stimme bitter. »Wir wissen also«, fuhr Cummings fort, »daß er am selben Tag, als in Washington die denkwürdigen Beschlüsse gefaßt wurden, in Florida war. Gut. Und dann kommt dieser Mann ins schöne Tennessee nach Knoxville, kurz bevor die Regierung etwa dreißig Kilometer von der Stadt entfernt den Bau des Kernforschungszentrums beginnt. Zwei Jahre hat er also gebraucht, um von Florida hier heraufzukommen. Zeit scheint ihm also nichts auszumachen. Betrachtet man diese Ereignisse unabhängig voneinander, ist nichts Verdächtiges daran festzustellen. Deshalb sagte ich ja auch vorhin, er ist uns irgendwie wieder zuvorge-
kommen. Er kam vor uns hierher, um jeden Verdacht von vornherein auszuschließen.« Dikty hing mehr in seinem Sessel, als daß er saß, und starrte aus dem offenen Fenster. »Alle diese Überlegungen erscheinen mir ziemlich phantastisch.« »Zugegeben.« Der Abteilungschef nickte bedächtig, aber sein Blick war wieder auf den Fußboden geheftet. »Und aus diesem Grund können Sie Ihr Urlaubsgesuch zerreißen. Ich weiß genau, mit welchen Problemen Sie sich herumzuschlagen haben, und ich erkenne Ihre Leistungen durchaus an. Erzählen Sie mir etwas über ihn.« Dikty zog eine alte Pfeife aus seiner Jackentasche und zeigte mit dem Stiel auf den Bericht auf dem Schreibtisch. »Es steht alles drin –« »Ich möchte es nicht lesen. Ich möchte es aus Ihrem Munde hören, Ihre Eindrücke, Meinungen, einfach alles.« Er schlug mit den verschränkten Händen auf den Bericht. »Dies ist nur ein trockener Bericht, den Sie Ihrer Sekretärin diktiert haben. Ich höre mir viel lieber Ihren mündlichen Bericht an. Erzählen Sie mir also von dem Mann.« Dikty zögerte, bevor er sagte: »Er hat mir das Leben gerettet.« »Ja. Beschreiben Sie ihn ruhig als den Mann, der Ihnen das Leben gerettet hat. So will ich es von Ihnen hören.«
Dikty stopfte seine Pfeife und zündete sie an. Dichte Rauchwolken schwebten zur Decke. »Es ist jetzt etwa anderthalb Jahre her – Sie erinnern sich, wir hatten gerade den Fall McKeown abgeschlossen. Meine Frau und die Enkelkinder kamen mit dem Zug, und ich wollte sie abholen, hatte mich aber verspätet. Ich hatte während des Essens die Zeit ganz aus dem Auge verloren. Ich rannte aus dem Restaurant, als ich den Zug schon kommen hörte.« Dikty machte eine Pause. Die Erinnerung war noch so stark wie damals. »Ein Stück entfernt parkte ein Taxi. Ich rannte darauf zu. Bis zum Bahnhof war es nicht mehr weit. Wenn sich der Taxifahrer beeilte, würde ich es vielleicht noch schaffen. Ich war noch etwa zwanzig Meter vom Taxi entfernt, als mir zum erstenmal die Frau auffiel, eine ganz alltägliche Person, mit vielen Päckchen und Tüten im Arm. Sie lief ebenfalls auf das Taxi zu, fest entschlossen, noch vor mir dort zu sein. Es war nicht der richtige Augenblick, mich als Kavalier zu erweisen. Ich brauchte den Wagen, weil ich rechtzeitig am Bahnhof ankommen wollte. Ich lief also weiter. Und ich hätte es auch geschafft – zum Taxi zu kommen –, wenn er mir nicht in den Weg getreten wäre. Ich hatte ihn gar nicht bemerkt. Plötzlich war er da. Genau vor mir. Ich streckte die Hände aus, um nicht mit dem
Körper gegen ihn zu prallen, und er tat dasselbe. So standen wir eine, zwei Sekunden lang voreinander, er und ich mit ausgestreckten Händen. Ich fand mein Gleichgewicht schnell wieder, er dagegen zeigte sich ziemlich unbeholfen. Als wir uns schließlich aus dem Clinch gelöst hatten, lief ich um ihn herum, aber die Frau bestieg gerade das Taxi. Und gleich darauf fuhr es davon.« »Na und?« fragte der Abteilungschef. »Das Taxi fuhr sehr schnell. Schon an der nächsten Kreuzung stieß es mit einem Benzintankwagen zusammen. Beide Fahrzeuge gingen in Flammen auf.« Schweigen senkte sich über das Büro. Der Flecken Sonnenlicht war über den Fußboden weitergekrochen. Es war früher Nachmittag. Der Verkehrslärm war etwas abgeflaut. Durch die geschlossene Bürotür drang das Klappern einer Schreibmaschine herein. Der gedämpfte Verkehrslärm und das Schreibmaschinenklappern waren für eine ganze Weile die einzigen Geräusche im Raum. »Und was ist aus unserem Mann geworden?« »Keine Ahnung«, entgegnete Dikty. »Als ich nach dem Zusammenstoß meine Fassung wiedererlangt hatte, lief ich zurück in das Restaurant, um die Feuerwehr anzurufen. Nachdem ich auf die Straße zurückgekehrt war, suchte ich nach dem Mann. Er war verschwunden. Eine gute Viertelstunde muß vergan-
gen sein, bevor ich mich wieder an meine Frau erinnerte. Ich nahm ein anderes Taxi – den Fahrer ermahnte ich, langsam zu fahren – und begegnete ihr im Bahnhof, wo sie mich schon erwartete. Sie weinte.« »Weinte?« »Ja. Sie benahm sich sehr seltsam, als sie mich erblickte. Unsere Begrüßung war – nun ja, sehr liebevoll. Erst später erfuhr ich den Grund. Die Nacht zuvor hatte sie geträumt, ich sei ums Leben gekommen. Bei einem Autounfall. Und als ich bei ihrer Ankunft nicht am Bahnhof war, glaubte sie ...« Cummings nickte. »Ja.« »Dies war mein erstes Zusammentreffen mit unserer Verdachtsperson. Erst einige Monate später sah ich ihn wieder, als ich von Ihnen den Auftrag erhielt, Ermittlungen gegen ihn einzuleiten. Sein Name sagte mir nichts, und ich fing routinemäßig ganz von vorn an. Er hat ein kleines Büro in diesem Gebäude dort gemietet«, sagte Dikty und zeigte durchs offene Fenster. »Sein Geschäft ist offensichtlich sehr klein. Er bezeichnet sich auch nicht als Privatdetektiv. Auf der Bürotür stehen lediglich sein Name und das Wort ›Ermittlungen‹. Die Polizei hat ihm eine erforderliche Lizenz ausgestellt, einen Waffenschein hat er nicht beantragt. Seit seinem Auftauchen vor dreißig Jahren war er nicht ein einziges Mal in eine unsaubere Sache
verwickelt. Bei der Polizei weiß man nichts Nachteiliges über ihn zu berichten. Freunde scheint er allerdings auch nicht zu haben. Er scheint ein Einzelgänger zu sein, der sich jedoch peinlich genau an die Spielregeln hält.« Dikty stellte fest, daß seine Pfeife ausgegangen war. Er zündete sie wieder an. »Als ich ihn sah, fiel mir sofort ein, daß dies der Mann war, dem ich es zu verdanken hatte, nicht in dieses Taxi gestiegen zu sein. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte ich dies alles für einen glücklichen Zufall gehalten. Ich hatte angenommen, er sei mir versehentlich und völlig unbeabsichtigt in den Weg getreten – bis ich mit den Ermittlungen gegen ihn etwas weitergekommen war. Da erschien mir die Sache in einem ganz anderen Licht. Den Grund könnte ich Ihnen nicht nennen, aber nachdem ich sein Gesicht eine Weile studiert hatte, erkannte ich, daß er mir an diesem Tag absichtlich in den Weg getreten war, um mir das Leben zu retten.« Dikty legte die Hand gegen die Stirn. »Ich habe keine Erklärung dafür, warum ich das annehme. Aber ich bin fest davon überzeugt.« »Ich will es Ihnen glauben«, sagte Cummings. »Wenn ich ihm unter anderen Umständen begegnet wäre, zufällig auf der Straße oder in einer Bar, dann wäre ich nie auf den Gedanken gekommen. Dann wäre es mir nie eingefallen, daß unsere erste Begegnung
etwas anderes als reiner Zufall gewesen sein könnte. Ich hätte ihn wahrscheinlich zu einem Drink eingeladen, ihm die Hand geschüttelt, mich überschwenglich bedankt und mich lächerlich gemacht. Aber da Sie mich auf den Mann angesetzt hatten, reagierte ich natürlich ganz anders. Das überraschte mich selbst. Da ich Ermittlungen gegen ihn anzustellen hatte, zog ich den vielleicht voreiligen Schluß, daß unser erstes Zusammentreffen gar kein Zufall gewesen war. Und daraus wiederum schloß ich, daß dieses Zusammentreffen beabsichtigt gewesen war. Er hat mir absichtlich das Leben gerettet – und in böser Absicht wird er es wohl kaum getan haben. Er ist sehr groß, mindestens zehn Zentimeter größer als ich. Gut über einsachtzig groß würde ich sagen. Sein Haar trägt er kurz geschnitten. Es ist hellbraun, fast dunkelblond.« Dikty blickte seinen Vorgesetzten an. »Er sieht wie ein Ägypter aus.« »Was?« »Wie ein Ägypter. Gebräunte Haut, als habe er die meiste Zeit seines Lebens im Freien verbracht. Aber keine von der Sonne gegerbte Haut, wie man sie bekommt, wenn man sich lange in der Wüste aufhält oder auf windigen Ebenen. Ich fand seine Augen ungewöhnlich. Die Hornhaut ist gelb. Das findet man nicht selten bei Menschen aus dem fernen oder dem mittleren Osten. Daher meine Annahme, es könne sich um ei-
nen Ägypter handeln. Seine physische Kondition ist ausgezeichnet. Er sieht stattlich aus und wiegt etwa hundertfünfundsiebzig Pfund. Irgendwie hatte ich den Eindruck, daß er immer auf dem Sprung sei, stets kampfbereit, ohne jedoch aggressiv zu wirken. Wahrscheinlich betätigt er sich sportlich. Er erschien mir wachsam und jederzeit auf alles gefaßt zu sein. Trotzdem wirkt er gelassen und ruhig. Verheiratet scheint er nicht zu sein. Er fährt einen zwei Jahre alten Wagen und wohnt in einem gemieteten Haus am Stadtrand, knapp zwei Kilometer vom Campingplatz entfernt. Das Haus ist nicht groß und steht allein. Alles wirkt natürlich und männlich, nur eben ein bißchen anders als bei anderen Leuten. Er hat keinen Garten, keine Haustiere. Er besucht niemand und empfängt auch keinen Besuch. Freundinnen scheint er nicht zu haben. Ich habe mir die Post angesehen, die er bekommt, bevor sie zugestellt wurde. Nichts außer technischen Zeitschriften und Büchern. Seine Abende sind so ereignislos wie die Tage. Manchmal geht er in die Bücherei, ab und zu ins Kino. Bisweilen geht er in der Stadt spazieren. Die meiste Zeit jedoch ist er allein zu Hause. Ganz der Typ eines Bücherwurms. Er hat noch weniger Kontakt zur Stadt als die Leute auf dem Campingplatz.« »Sie haben sein Alter noch nicht erwähnt«, bemerkte Cummings.
»Nein, das habe ich nicht.« Mit gerunzelter Stirn blickte Dikty seinen Vorgesetzten an. »Als er bei der Polizei seine Lizenz beantragte, gab er sein Alter mit einunddreißig Jahren an.« Cummings nickte. »Und heute ist er wie alt?« »Er wirkt wie einunddreißig.« Cummings' Bemerkung war ironisch gemeint: »Wie es scheint.« »Sagen Sie mir eins. Warum ermitteln wir gegen ihn? Womit hat es angefangen?« Cummings konzentrierte sich wieder auf das Fleckchen Sonnenlicht. Er schien fasziniert davon zu sein. »Eine ganz alltägliche Sache«, antwortete er endlich. »Jemandem war aufgefallen, daß er jede Fachzeitschrift, die im freien Teil unserer Welt veröffentlicht wird, abonniert hatte.« Cummings machte mit einer Hand eine weitausholende Geste. »Archäologie, Geologie, Astronomie, Meteorologie, Chemie, Medizin, Nuklearphysik, einfach alles. Das letzte Fachgebiet lenkte unsere Aufmerksamkeit auf ihn. Jemand hatte sich die Abonnentenlisten jener Fachzeitschriften angesehen und war in allen Fällen auf seinen Namen gestoßen. Er hatte sogar eine Zeitschrift abonniert, die nichts weiter brachte als Gesellschaftsklatsch über und für unsere Atomphysiker. Und als man dann noch feststellte, daß er ausgerechnet in
Knoxville wohnte, kam der Stein ins Rollen.« Er klopfte mit den Knöcheln auf den Bericht, der auf Diktys Schreibtisch lag. »Den Rest kennen Sie ja.« Dikty runzelte noch immer die Stirn. »Unsere Verdachtsperson hat offensichtlich ein überaus gesundes Interesse an der Wissenschaft. An allen Fachgebieten.« »Unsere Verdachtsperson könnte allerdings auch ein sehr ungesundes Interesse haben«, bemerkte Cummings in trockenem Tonfall. »Und aus diesem Grunde setzen wir die Ermittlungen fort. Ich möchte wissen, aus welcher Quelle er sein Einkommen bezieht, folglich werden wir uns seine Einkommensteuererklärungen ansehen. Ich möchte wissen, wieso er plötzlich und wie aus dem Nichts in Miami auftauchte. Wir überprüfen also alle Schiffe, die am oder vor dem Tag seines Auftauchens in den Häfen eingelaufen sind. Nicht nur in Miami, sondern in allen anderen Häfen Floridas. Ich möchte mehr über dieses mysteriöse Zusammentreffen der Daten erfahren, folglich behalten wir ihn weiter im Auge. Sie machen weiter wie bisher.« Er hob den Blick von dem Fleckchen Sonnenlicht, richtete sich auf und blickte seinem Gegenüber fest in die Augen. »Ich habe einen zusätzlichen Agenten auf diesen Fall angesetzt. Hier am Ort.« Dikty schwieg, wartete auf eine Klarstellung.
»Das soll nicht heißen, daß ich mit Ihrer Arbeit nicht zufrieden wäre«, sagte Cummings. »Ich bin davon überzeugt, daß Sie alles getan haben, was getan werden konnte. Aber ich bin auch davon überzeugt, daß unser Mann auf Sie und unsere angeblich geheime Organisation aufmerksam geworden ist. Es gibt einfach keine andere Erklärung für diesen Zwischenfall mit dem Taxi. Wir vergessen dabei nicht, daß er Ihnen und unserer Organisation freundlich gesonnen ist, sonst hätte er es ruhig zugelassen, daß Sie in Ihren Tod liefen. Bedenken Sie, daß er keinen Versuch unternommen hat, die Frau und den Taxifahrer vor dem Tod zu retten – nur Sie. Dennoch ist es Aufgabe unserer Organisation, jeden Außenstehenden daran zu hindern, auch nur das Geringste über unsere geheimen Forschungsarbeiten im atomaren Bereich zu erfahren. Er bleibt also Verdachtsperson und unter Beobachtung. Arbeiten Sie auf dieser Grundlage weiter. Inzwischen habe ich den zweiten Agenten, den er nicht kennt, auf ihn angesetzt. Er wird sich anders als Sie an ihn heranmachen. Ich habe beschlossen, daß Sie und der neue Agent sich nicht kennen sollen. Das Risiko, daß unsere Verdachtsperson Sie beide miteinander in Verbindung bringen könnte, ist mir zu groß. Unsere Arbeit wird sich darauf konzentrieren, festzustellen, wieso unsere Verdachtsperson über mehrere wichtige Daten Bescheid gewußt hat. Unsere Leute in
Washington werden Ermittlungen über Personen anstellen, die in den Jahren 1939 und 1940 über politischen Einfluß und Macht verfügten. Vielleicht finden wir dort das uns fehlende Verbindungsglied. Ich hoffe es jedenfalls.« »Entschuldigung, aber ich kann nicht ganz folgen.« »Im Jahr 1939 und 1940«, begann Cummings zu erklären, »wußten nur der Präsident und ein sehr kleiner Kreis von Wissenschaftlern und politischen Ratgebern, daß die Vereinigten Staaten auf dem Gebiet der Kernphysik Spekulationen anstellten. Sie wissen ja, wie streng das geheimgehalten worden war. Dennoch taucht zu jener Zeit unsere Verdachtsperson zum erstenmal öffentlich auf. 1942 wußten ebenfalls nur der Präsident und eine geringfügig größere Gruppe von Beratern, daß hier, in diesem Gebiet von Tennessee, ein Kernforschungszentrum errichtet werden sollte. Wieder tritt unsere Verdachtsperson auf den Plan und mietet ein Büro – beschäftigt sich mit Nachforschungen. Ausgerechnet mit Nachforschungen. Wenn das kein guter Vorwand ist! Und vor anderthalb Jahren entgeht ein Angestellter unserer streng geheimen Organisation knapp dem Tode. Wieder ist unsere Verdachtsperson zur rechten Zeit an der richtigen Stelle. Weiter haben wir festgestellt, daß er sich für alle Disziplinen der Wissenschaft brennend interessiert, sich stets auf dem neuesten Stand der Entwicklungen hält.«
»Und zu altern scheint er auch nicht«, bemerkte Dikty abwesend. »Woher hat er gewußt, daß im Jahre 1944 in Washington Dinge von historischer Bedeutung geplant wurden?« fragte Cummings. »Woher wußte er, daß man hier im Jahre 1942 mit dem Bau von Oak Ridge beginnen würde? Woher wußte er, daß Sie überhaupt existierten, und auch ich? Glauben Sie mir, Dikty, unsere Organisation ist dicht, noch geheimer als geheim. Für uns gibt es noch nicht einmal eine amtliche Bezeichnung. Es gibt uns einfach. Und noch nicht einmal alle Mitglieder des Kabinetts wissen von unserer Existenz. Nur ein paar enge Vertraute des Präsidenten. Wir sind in keinem Etat berücksichtigt. Das von uns benötigte Geld kommt durch geheime Kanäle. Wir unterstehen keinem Ministerium. Keiner von uns kennt mehr als nur eine kleine Handvoll anderer Agenten. Wir wissen nicht einmal, wer unsere Organisation leitet.« Cummings sprang auf, ging zum Fenster, blickte hinüber zu dem großen weißen Bürogebäude schräg gegenüber, nur zwei Querstraßen entfernt. »Woher kannte er Sie, und warum hat er Ihnen das Leben gerettet? Warum gerade Ihnen?« Dikty schüttelte sorgenvoll den Kopf. »Ich weiß es nicht.« Der Abteilungschef hatte die Hände hinter dem Rücken zu Fäusten geballt. »Ich werde es herausfinden!« sagte er heftig. »Ich werde alles Wis-
senswerte über diesen Mann ans Tageslicht zerren. Alles, bis zur Stunde seiner Geburt. Sofern er geboren wurde! Ich werde erfahren, warum er gelbe Augen hat, warum seine Haut gebräunt ist und warum er nicht altert, warum er keine Vergangenheit hat, warum er Ihr Leben für rettenswert hielt und warum er hier in Knoxville ist. Und damit nicht genug. Ich werde herausfinden, warum er überhaupt lebt. Er stellt eine Bedrohung dar, die ich mir nicht länger gefallen lassen werde. Entweder finden wir heraus, wer und was er ist, oder wir sorgen dafür, daß er zu existieren aufhört. Ich will die ganze Wahrheit über diesen Mann wissen. Ich werde keine Halbheiten mehr dulden!« Cummings bezwang seine Erregung und wandte sich vom Fenster ab. »Hat er Sie gesehen – seit diesem Zwischenfall mit dem Taxi?« »Ich würde darauf gern mit nein antworten«, sagte Dikty, dem die Frage offensichtlich peinlich war. »Ich bin stolz auf meine Ausbildung und auf meine Aufgabe, und unter anderen Voraussetzungen würde ich definitiv mit nein antworten. Ich bin bei meinen Ermittlungen gegen ihn mit größter Vorsicht vorgegangen. Aber unter Berücksichtigung der ungewöhnlichen Fähigkeiten unserer Verdachtsperson muß ich einräumen, daß er mich vermutlich entdeckt hat.« Cummings blickte wieder aus dem Fenster. Sein Zorn schien verraucht zu sein. Als er sprach, war sei-
ne Stimme sanft, fast seidig. Er blickte wieder zu dem Bürogebäude hinüber. »Wie heißt er noch? Nash? Hat er einen Vornamen?« »Gilbert Nash. Vermutlich irgendein Name, den er angenommen hatte!« »Gilbert Nash? Und er lebt hier seit dreißig Jahren. Glauben Sie, er weiß, woran zur Zeit im Forschungszentrum gearbeitet wird?«
2 Gilbert Nash war sich der Existenz des ratlosen Mannes draußen auf dem Gang bewußt. Er spürte das Zögern des Fremden mehrere Minuten lang, bevor dieser vor der Bürotür stehenblieb und die Hand auf den Türknopf legte. Die Bewegungen des Mannes verrieten Verwirrung, Unsicherheit. Es war, als habe der Mann sich gezwungen, hierher zu kommen, und wisse jetzt nicht, was er als nächstes tun solle. Oder als könne er sich nicht entschließen. Gilbert Nash konnte jetzt die Umrisse des ratlosen Mannes durch die Milchglasscheibe der Tür erkennen. Er blieb in seinem Sessel sitzen und beobachtete die Gestalt, wartete ab, was der Mann tun würde. Plötzlich drehte sich der Türknopf, und der Mann kam hereingeschossen. Fast noch unter der Tür blieb er stehen und starrte Nash an. Es wirkte so, als sei er gekommen, um sich einmal anzusehen, wie ein Privatdetektiv aussieht. Dann blickte er sich im Raum um, ohne eigentlich etwas zu sehen. Er war noch immer unentschlossen. Nash stand langsam auf. »Kommen Sie doch herein. Ich beiße nicht.« Er sagte es ruhig und in freundlichem Ton. Es klang so, als sei es ihm gleichgültig, ob der Mann nun
käme oder nicht. Wie der andere sich auch entscheiden mochte, ihm war alles recht. Der Besucher drückte die Tür hinter sich zu. »Ich bin – ich wollte mit Ihnen sprechen. Ich heiße – ist es Ihnen auch recht? Darf ich reden?« Nash nickte freundlich. »Durchaus. Sie sind gekommen, weil Sie etwas auf dem Herzen haben. Zwischen mir und meinem Klienten besteht dasselbe Vertrauensverhältnis wie zwischen einem Arzt und seinen Patienten.« Er schob seinem Besucher einen Stuhl hin. »Kommen Sie und setzen Sie sich.« Daß der Mann Sorgen hatte, stand ihm ins Gesicht geschrieben. Auf den ersten Blick ließ sich feststellen, daß es keine der üblichen Probleme waren. Er steckte bis über die Halskrause in Schwierigkeiten. Das sah man seinem Gang an, als er zu dem angebotenen Stuhl ging und darauf niedersank. Er übersah Nashs ausgestreckte Hand, er schien noch nicht einmal in der Lage zu sein, sein Gegenüber deutlich zu erkennen. Er sank auf dem Stuhl zusammen und wischte sich mit der feuchten Hand über die Stirn. Und es war nicht die sommerliche Wärme in Knoxville, die ihn zum Schwitzen gebracht hatte. »Ich möchte nicht, daß das in die Zeitung kommt«, sagte der Mann. Nash lächelte höflich. »Das wird es auch nicht. Es sei denn, Sie haben jemanden umgebracht.«
»Um Gottes willen, nein!« Entsetzen schien ihn bei Nashs letzten Worten ergriffen zu haben. Er war zusammengefahren, als habe ihm jemand einen Stich versetzt. Dann ließ er die Schultern wieder hängen, schien sich mit Gewalt entspannen zu wollen. »Nein, nein, nichts dergleichen. Es betrifft – ich heiße Gregg Hodgkins. Es geht um meine Frau ...« Nash nickte. »Natürlich.« Hodgkins' Anzug war von guter Qualität, aber offensichtlich schon lange nicht mehr gebügelt worden. Er zerdrückte einen teuren Sommerstrohhut zwischen den Händen, und immer wieder zupfte er nervös an seiner zerknitterten Krawatte. Er machte keinen verweichlichten Eindruck. Sein Blick war intelligent, allerdings jetzt getrübt von den Sorgen, die ihn beschäftigten. Im Aufschlag seines Anzugjacketts steckte eine Anstecknadel. »Nun, was ist mit Ihrer Frau?« fragte Nash. »Ist Sie nicht damit einverstanden, daß Sie drüben im Zentrum arbeiten?« Hodgkins richtete sich kerzengerade auf. Er war argwöhnisch geworden. »Woher wissen Sie, daß ich in Oak Ridge arbeite?« Nash zeigte auf die Anstecknadel. »Die kenne ich. Ich weiß, daß der American Chemical Trust an einem Regierungsauftrag arbeitet, und ich weiß auch, daß nicht alle Angestellten diese Abzeichen tragen dür-
fen. Sie sind Wissenschaftler, und ich frage mich, ob Ihre Frau etwas gegen Ihre Tätigkeit einzuwenden hat.« »Äh ... ja.« Hodgkins berührte die Anstecknadel. »Ich habe ganz vergessen, daß man es daran erkennen kann. Ich fürchte, ich denke in letzter Zeit nicht mehr klar. Nein, es geht nicht um meine Arbeit. Meine Frau ist ... Mr. Nash, Sie müssen meine Frau finden!« »Ist sie vermißt?« »Sie hat mich verlassen.« »Oh. Wann?« »Vor, nun, ich möchte sagen, vor drei Wochen.« »Warum?« Hodgkins' Stimmung schien noch gedrückter zu werden. »Das ist eine lange Geschichte, eine sehr lange.« »Erzählen Sie. Ich höre zu. Wir haben den ganzen Nachmittag Zeit. Sie wollen es mir doch erzählen?« Der Wissenschaftler starrte wie gebannt in Nashs gelbe Augen, während er mit hastigen Worten erklärte: »Aber natürlich, alles. Ich möchte Ihnen alles erzählen, Mr. Nash. Ich wüßte gar nicht, an wen ich mich sonst wenden sollte. Aber Sie werden mir wahrscheinlich nicht glauben. Die anderen haben es auch nicht getan.« Gilbert Nash verschränkte die Finger und lehnte
sich in seinem Schreibtischsessel zurück. »Wer sind diese anderen?« »Mein Hausarzt und der Betriebspsychologe, an den mich der Arzt verwiesen hat.« Er zog ein zerknittertes Taschentuch hervor und wischte sich das Gesicht ab. »Aus reiner Gewohnheit ging ich zuerst zu meinem Hausarzt. Ihm erzählte ich immer alles zuerst. Und er hat mir bisher immer geholfen.« Hodgkins zögerte und warf Nash einen kurzen Blick zu. »Diese Mühe hätte ich mir sparen können«, fügte er mit bitterer Stimme hinzu. Nash saß entspannt in seinem Sessel. Er hatte die Augen geschlossen, und seine Finger bewegten sich nicht. »Könnte der Arzt vielleicht gemeint haben, Sie bildeten sich dies alles nur ein? Daß Sie urlaubsreif wären?« »Ja.« »Und der Psychiater?« »Der war mit dem Arzt einer Meinung«, fuhr Hodgkins genauso verbittert wie vorhin fort. »Er hat mich einfach nach Hause geschickt. Und ich habe seit drei Wochen nicht mehr gearbeitet – es ist nicht gut. Seit sie mich verlassen hat, habe ich nicht mehr gearbeitet.« »Was sagte der Psychiater?« fragte Nash. »Fast genau dasselbe wie mein Hausarzt, nur daß er andere Begriffe verwendete. Es sei eine milde Form
von Neurose, Stress als Folge meiner anstrengenden Arbeit und eines andauernden Leistungsdrucks. O ja, es klang sehr eindrucksvoll, aber es sei im Grunde genommen doch sehr harmlos, meinte er.« Hodgkins machte wieder eine Pause und blickte Nash an. »Ich glaube, ich darf Ihnen ruhig sagen, daß ich auf dem Gebiet der Telemetrie arbeite.« »Das können Sie ruhig«, sagte Nash und nickte leicht. »Und wissen Sie, was dieser alberne Psychiater noch sagte?« fragte Hodgkins aufbegehrend. »Er sagte, in einer matriarchalischen Gesellschaftsordnung würde ich mich wahrscheinlich sehr wohlfühlen, aber dies sei im Augenblick noch kein Grund zur Beunruhigung. Dann hat er mich nach Hause geschickt und mir verboten, meine Arbeit wieder aufzunehmen. Er kommt ein paarmal in der Woche vorbei, um sich nach meinem Befinden zu erkundigen. Er behandelt mich wie ein Kind.« Wieder zögerte er. »Und dann hat er mir noch versichert, daß ich geistig relativ gesund sei, so gesund, wie man es in der heutigen Welt eben sein könne. Ich sage das, weil ich nicht weiß, was Sie von mir denken.« »Über das, was ich denke, brauchen Sie sich keine Sorgen zu machen. Unsere Berufe gleichen sich in einer Beziehung. Ich bilde mir keine Meinung, bevor ich nicht alle Einzelheiten kenne. Und falls es Sie be-
ruhigt: Der Begriff ›geistige Zurechnungsfähigkeit‹ ist ein juristischer Ausdruck. Mit der Medizin hat er eigentlich wenig zu tun.« Nash nickte. »Bitte fahren Sie fort.« »Danke.« Hodgkins wirkte schon etwas gelöster. »Ich brauche jemand, der mir vertraut, der mir das glaubt, was ich zu sagen habe.« Wieder nickte Nash. Er wirkte auf eine unaufdringliche Art amüsiert. »Und deshalb sind Sie zu mir gekommen.« »Ja. Ich lese sehr viel, sowohl Romane als auch Fachliteratur. Und ich halte mich für ziemlich gut unterrichtet über die Arbeitsweise eines Detektivs – äh – wie Ermittlungen angestellt werden. Ich habe Achtung vor Leuten Ihres Berufes. Ich halte Sie für vielseitig und erfindungsreich. Ehrlich gesagt, Mr. Nash, Sie sind der einzige Mensch, an den ich mich wenden kann.« Wieder brach er ab und starrte sein Gegenüber an. »Werden Sie mir einen großen Gefallen tun?« Nash öffnete die Augen und blickte den Wissenschaftler abschätzend an. »Wenn ich dazu in der Lage bin – ja.« »Bitte« – die Worte kamen wieder sehr schnell, hastig gesprochen und unsicher – »lachen Sie mich nicht aus. Lachen Sie nicht über das, was ich Ihnen sagen werde. Ich weiß sehr wohl, daß es dumm und kindisch klingt,
vielleicht sogar phantastisch, und unter anderen Umständen würde ich wahrscheinlich selber darüber lachen. Aber es sind keine Albernheiten, es ist die ungeschminkte Wahrheit, und nur daran klammere ich mich. Ich möchte nicht, daß Sie über mich lachen, gleichgültig, was Sie von mir denken mögen. Ich möchte auch nicht, daß Sie mir auf die Schulter klopfen und mir sagen, ich bilde mir alles nur ein, ich brauche Urlaub, ich wäre der glücklichste Mensch in einer matriarchalischen Gesellschaftsordnung.« Er holte Luft. »Wenn Sie mir nicht glauben können, dann sagen Sie es mir. Ich werde dann gehen. Wenn Sie meinen Fall nicht bearbeiten wollen, dann brauchen wir gar nicht erst weiterzureden. Ich werde durch diese Tür gehen und Sie nicht mehr belästigen. Dies alles könnte ich ertragen, nur nicht, daß Sie über mich lachen.« Nash nickte zustimmend. »Ich verspreche es Ihnen.« Er schloß wieder die Augen und lehnte sich in seinem Sessel zurück. »An welchem Punkt wollen Sie beginnen?« »Ich fange am besten mit meiner Frau an, Carolyn. Alles fängt bei meiner Frau an und hört bei ihr auf. Wie ein Kreis, wie eine große Null. Unsere Ehe, unser Zusammenleben, alles führte zu dem Punkt zurück, wo es angefangen hat.« Er machte eine Pause. Er nahm all seinen Mut zusammen, um fortfahren zu können. »Sie weiß einfach alles!«
Er brach unvermittelt ab, beobachtete Nash, wie dieser darauf reagierte. Nash reagierte überhaupt nicht. Er saß entspannt in seinem Sessel und wartete, daß der andere fortfuhr. »Hatten Sie jemals das Pech, Mr. Nash, mit einer Frau verheiratet zu sein, die intelligenter ist als Sie selbst?« »Nein.« Hodgkins sprach weiter. »Aber Sie können sich sicher vorstellen, wie sich ein Mann die Frau, mit der er verheiratet ist, vorstellt. Sie soll eine phantasiereiche Köchin sein, eine fleißige Hausfrau und –« Als er zögerte, beendete Nash an seiner Stelle den Satz. »– und eine Hure im Bett.« »Äh – ja. Natürlich gehört körperliche Anziehungskraft dazu. Ein Mann wünscht sich eine kluge und intelligente Frau, mit den geistigen Voraussetzungen, ihn, seine Arbeit und seine Welt zu verstehen. Er braucht eine Frau, die neben ihm bestehen kann, die seine Probleme und Sorgen verstehen und ihm bis zu einem gewissen Grad bei ihrer Lösung helfen kann. Und dennoch – es klingt paradox, ich gebe es zu – wünscht er sich eine Frau, die ihm unterlegen ist, nur ein bißchen unterlegen. Es dürfen einfach keine Zweifel am männlichen Selbstverständnis aufkommen. Ein Mann möchte eine Frau haben, die seinen Rat braucht, die auf ihn und seine Fähigkeiten
vertraut, die sein praktisches Können genauso braucht wie seine Fähigkeit, logisch denken zu können. Dies sind die Voraussetzungen, die jeder gesunde Mann in einer Frau sucht. Und ich glaubte, in Carolyn eine solche Frau gefunden zu haben.« Nash nickte wieder, stellte sich die Frau, wie Hodgkins sie sich wünschte, im Geiste vor. Er glaubte zu wissen, was nun kommen würde. »Wie alt ist eigentlich Ihre Frau, Mr. Hodgkins?« fragte er. Stille folgte auf diese Frage, und als die Antwort schließlich kam, klang es so, als ob es Hodgkins peinlich sei, es zu sagen. »Ich – wir wissen es nicht. Sie ist Waise, und ihr Geburtsschein scheint verlorengegangen zu sein. Daraus entstanden gewisse Schwierigkeiten, als ich mich um die Mitarbeit an diesem Forschungsauftrag bewarb. Da wird die Vergangenheit des Bewerbers durchleuchtet, aber ihren Geburtsschein haben sie trotzdem nicht gefunden. Carolyn und ich kamen schließlich überein, daß sie fünf Jahre jünger sei als ich, von wegen der psychologischen Auswirkung auf mein Selbstbewußtsein. Ich glaube, Sie verstehen das.« »Ja. Und Sie sind wie alt?« »Sechsundvierzig. Unserer Abmachung entsprechend müßte sie also einundvierzig sein – glauben wir. Manchmal habe ich aber daran meine Zweifel.
Sie scheint nur geringfügig gealtert zu sein, seit wir verheiratet sind.« Die gelben Augen öffneten sich und starrten Hodgkins an. »Was sagen Sie da?« »Sie hat sich kaum verändert.« Hodgkins lächelte, als er sich an seine Frau erinnerte. »Das finde ich eigentlich sehr schön. Welcher Mann, der seine Frau liebt, wünscht sich nicht, daß sie immer jung und schön bleibt? Sie war eine sehr schöne Frau, als wir heirateten, und sie ist es immer noch. Am Tag unserer Eheschließung hätte man sie gut für Mitte Zwanzig halten können. Heute sieht sie aus, wie Anfang Dreißig. Sie scheint die Jugend gepachtet zu haben.« »Was tat sie, um ihr jugendliches Aussehen zu erhalten?« fragte Nash. »Wie meinen Sie das?« »Verwendete sie Kosmetika? Hatte sie die üblichen Näpfchen und Flaschen in ihrem Schlafzimmer stehen?« Wieder schien Hodgkins peinlich berührt. »Ich weiß es nicht, Mr. Nash. Wir hatten getrennte Schlafzimmer. Das heißt nicht – ich – wir – nun ja, wir schliefen von Anfang an getrennt. Es war ihr Wunsch.« Er zuckte die Achseln. »Aber ich erinnere mich nicht, irgendwelche Verjüngungsmittel gesehen zu haben. Vermutlich hat sie sie nicht offen herumstehen lassen. Carolyn war sehr ordentlich – eine vorbildliche Hausfrau.«
»Ja, das kann ich mir vorstellen.« Nashs Blick ging über den Kopf des Mannes hinweg. Er schien über das nachzudenken, was er gehört hatte. »Sie war also ein vollkommener Lebensgefährte. Und Ihre Arbeit auf Ihrem Fachgebiet war erfolgreich?« Hodgkins tastete wieder nach der Anstecknadel und nickte. Er hatte nicht gemerkt, daß Nashs Blick über ihn hinwegging. Er begann zu erzählen über seine Person, über seine Pläne, Träume und Wünsche, über seine Studienzeit, über die dürren Jahre nach dem Studium, als er feststellen mußte, daß die Industrie gar nicht auf ihn gewartet hatte, daß kein Arbeitsplatz frei war. Er berichtete von seinen fruchtlosen Bemühungen, nicht Soldat werden zu müssen, von seiner Dienstzeit in Übersee, von den verschwendeten Jahren, bis er schließlich entlassen worden war. Er erwähnte den Tag, als ihm unbekannte Männer sich an ihn gewandt und von einem ungewöhnlichen Projekt gesprochen hatten, wie er von einem Tag auf den anderen in einer Betonzelle zu arbeiten begonnen hatte, die zusammen mit unzähligen weiteren solcher Zellen zu dem unter Regierungsaufsicht stehenden Ridgerunner Project gehörte. Von New York war er nach Oak Ridge versetzt worden. Er war dienstlich nach Florida gereist und Zeuge der ersten Raketenstarts geworden. Dort hatte er zum erstenmal die ganze Tragweite seiner Arbeit
erfaßt. Er hatte begriffen, daß er daran mitarbeitete, den ersten Schritt des Menschen ins Weltall zu verwirklichen. Er berichtete Nash von den zunehmenden Belastungen, von Differenzen zwischen ihm und seiner Frau, die nicht beizulegen waren, obwohl er erkannte, was auf ihn zukam. Seine verzweifelten Bemühungen, die Differenzen beizulegen – denn er liebte seine Frau wie am ersten Tag – waren ohne Erfolg geblieben. Hodgkins beendete seinen Bericht, indem er Nash versicherte: »Ich halte mich für einen intelligenten Menschen, Mr. Nash. Das werden Sie zugeben, ohne mich anlügen zu müssen.« »Selbstverständlich«, entgegnete Nash. »Aber sprechen wir jetzt wieder von Ihrer Frau ...« »Ja, Carolyn.« Er verfiel in brütendes Schweigen, während er an die vergangenen Jahre dachte, an die Zeit, als seine Liebe zu ihr erwacht war. »Nach dem Studium ging ich fast jeden Tag abends in die Bücherei, um die Fachbücher und Zeitschriften zu lesen, die ich mir damals nicht kaufen konnte. Damals arbeitete ich als Angestellter in einem Lebensmittelgeschäft, etwas Besseres hatte ich nicht gefunden, aber ich hatte die Hoffnung nicht aufgegeben, es auf meinem Fachgebiet doch noch einmal zu etwas zu bringen. Da ich mein Wissen auf dem neue-
sten Stand der Dinge halten wollte, mir die Fachliteratur jedoch nicht leisten konnte, verbrachte ich einen Großteil meiner freien Zeit in den Büchereien. Manchmal lieh ich mir ein Buch aus der Universitätsbibliothek, hauptsächlich aber bediente ich mich der öffentlichen Büchereien. Ich ließ nicht locker, bildete mich weiter – und dabei traf ich Carolyn. Ich begegnete Carolyn das erste Mal in der Bücherei. Die Begegnung fand unter recht ungewöhnlichen Umständen statt. Sie saß gerade über einem Schaltplan in einer Fachzeitschrift für Elektronik. Sie zog die Linien des Diagramms mit dem Finger nach. Sie werden verstehen, daß ich es erstaunlich fand, eine Frau über einer solchen Zeichnung sitzen zu sehen. Komplizierte technische Einzelheiten wie diese pflegen eine Frau normalerweise nicht zu interessieren. Aber sie interessierten sie ganz offensichtlich. Wissen Sie, wie solche Diagramme aussehen? Wissen Sie, wie man sie liest? Man begreift sie entweder, indem man jedem einzelnen Schaltkreis bis zum Ende folgt, oder man versucht, das Diagramm als Ganzes zu erfassen, sich jeden einzelnen Schaltkreis einzuprägen und ihn zu dem Gesamten in Beziehung zu setzen. Am Ende gewinnt man den Überblick, man hat die Schaltung begriffen. Ich stand hinter ihr und beobachtete ihren Finger. Ich weiß nicht, ob sie das Diagramm als Ganzes zu erfassen versuchte, aber ich glaube es.«
»An ihrer Fingerbewegung konnten Sie das nicht erkennen?« »Nein, natürlich nicht. Der Finger war lediglich eine Art Zeigestab für ihren Geist. Sie kam zunächst sehr gut voran, dann jedoch schien sie Schwierigkeiten zu haben.« Nash nickte. »Ja, das habe ich erwartet.« »So? Nun ja, ich habe inzwischen vergessen, was es war. Jedenfalls schien sie an einem Punkt nicht weiterzukommen, und das warf sie völlig aus dem Konzept. Vielleicht weil ich hinter ihr stand. Und wenn man beim Lesen eines Diagramms den Faden verliert, Mr. Nash, dann ist es besser, man fängt noch einmal ganz von vorn an. Jedenfalls war sie stocksauer.« »Kann ich mir gut vorstellen. Fahren Sie fort.« »Sie schob die Zeitschrift vor sich, sagte etwas, das ich nicht verstand, und stand auf. Und ich Esel fühlte mich berufen, mich einzumischen. Ohne zu überlegen, was ich tat, beugte ich mich über den Tisch und zeigte ihr die Stelle, wo sie ins Stocken geraten war.« »Sie taten genau das, womit zu rechnen gewesen war.« »Tatsächlich?« Hodgkins schien nicht genau zu wissen, ob er erfreut oder betroffen sein sollte. »So geht es weiter, erinnere ich mich impulsiv zu ihr gesagt zu haben. Dann schien ich plötzlich die Sprache verloren zu haben. Sie warf mir einen vernichtenden
Blick über die Schulter zu, und in meiner Verwirrung verließ ich fluchtartig die Bücherei. Sie hatte mich ziemlich durcheinander gebracht.« Nash lächelte. Erst jetzt blickte er Hodgkins wieder an. »Hat sie Theater gespielt?« »Sie meinen, ob sie nur so getan habe, als käme sie nicht mehr weiter? Nein, das glaube ich nicht. Ich hatte sie vor jenem Abend noch nie gesehen. Ich wüßte keinen Grund zu nennen, warum sie das gespielt haben könnte, bloß um meine Aufmerksamkeit zu erregen. Bedenken Sie, Mr. Nash, daß ich damals ein bettelarmer Akademiker war, ein Niemand. Ich hatte noch nicht einmal einen akzeptablen Beruf. Und meine Kleidung war alles andere als eindrucksvoll.« Hodgkins schüttelte den Kopf. »Wie dem auch sei, an den darauffolgenden Abenden ging ich nicht in die Bücherei. Meine Betroffenheit über diesen Zwischenfall hatte sich noch nicht gelegt, aber nachdem eine Woche um war, ging ich wieder hin. Ich wollte meine Studien nicht vernachlässigen – und der Wunsch, sie wiederzusehen, war stärker als die Vorhaltungen, die ich mir machte. Mein Verlangen wurde fast zu einem Zwang. Die Erinnerung an sie verfolgte mich, ließ mich Tag und Nacht nicht ruhen, und ich wußte, daß ich sie wiedersehen mußte.« Nash beobachtete ihn stumm, mit einem abschätzenden Blick. Er erfuhr erstaunliche Dinge über Carolyn Hodgkins.
Der Wissenschaftler fuhr fort: »Schließlich kehrte ich in die Bücherei zurück –« »... und da trafen Sie sie wieder«, beendete Nash den Satz. »Man hätte meinen können, sie habe auf Sie gewartet.« »Ja, genauso war es!« Die Ironie in Nashs Worten war Hodgkins entgangen. »Sie las in einem Buch, das ich erst vor einigen Wochen zurückgegeben hatte. Es behandelte ein dem meinen verwandtes Sachgebiet. Verstehen Sie das? Es war sehr anstrengend für mich gewesen, dieses Buch durchzuarbeiten, und sie saß da und schien mit dem Stoff überhaupt keine Mühe zu haben. Ich war angenehm überrascht! Dennoch ging ich ihr an diesem Abend aus dem Weg, setzte mich in eine abgelegene Ecke des Raumes und beobachtete sie. Sie hatte ein sagenhaft schönes Profil. Nun, ihre körperliche Anziehungskraft, ihre Persönlichkeit überwanden meine Zurückhaltung, und ich – das heißt, wir – ich weiß nicht recht, wie ich es erklären soll«, sagte er hilflos. »Sie brauchen es nicht zu erklären«, versicherte ihm Nash. Er hoffte, daß seine Stimme mitfühlend klang, nicht amüsiert. »So etwas passiert unzählige Male. Gemeinsame Interessen, Sie beide alleinstehend ...« Er beendete den Satz nicht, beobachtete Hodgkins. »Ja, ja, natürlich. Sie verstehen mich. Schließlich brachte ich den Mut auf, zu ihr zu gehen und mich
vorzustellen. Sie war gar nicht ungehalten, sondern ausgesprochen freundlich.« Er schloß die Augen, schien die Bilder aus der Vergangenheit zurückzurufen. »Es dauerte nicht lange, da waren wir gute Freunde. Wir trafen uns noch mehrmals in der Bücherei, dann auch anderswo. Bald fing ich an, Pläne zu machen. Das überraschte mich selbst, Mr. Nash. Es waren kühne Pläne, ganz anders als die, die ich bis dahin hatte. Ich war ein verschlossener Mensch und hatte sogar Angst vor Frauen. Aber Sie würden das begreifen, wenn Sie sich vorstellen könnten, daß Carolyn meine Pläne geradezu herauszufordern schien.« »Kann ich mir gut vorstellen«, sagte Nash leise. »Wie bitte?« »Fahren Sie bitte fort.« »Mir wurde klar«, sagte Hodgkins nach einer kleinen Pause, »daß sie die ideale Lebensgefährtin für einen intelligenten Mann wäre – sein könnte. Die Frau besaß alles, was sich ein Mann nur wünschen konnte, sie war attraktiv und außerordentlich intelligent. Von solch einer Frau hatte ich immer nur geträumt. An den Abenden, die wir miteinander verbrachten, offenbarte sich an ihr eine Fülle von kleinen, sehr angenehmen Eigenheiten. Ich verliebte mich in sie. Ich bin noch immer in sie verliebt. Und um zu einem Abschluß zu kommen, Mr. Nash, wir heirateten.« Hodgkins hatte seinen Bericht beendet. Nun wartete er auf
eine Reaktion. Sie ließ auch nicht lange auf sich warten. Gilbert Nash stand auf, streckte die Arme über den Kopf und ging einmal um den Raum herum. Vor dem Fenster zur Straße blieb er stehen und wandte sich seinem Besucher zu. Seine Stimme klang seltsam, so als versuche er, Gefühle zu unterdrücken oder zumindest zu kaschieren. »Hodgkins, sind Sie stark genug, einen Schlag einzustecken?« »Einen Schlag? Nun – ich hoffe es.« »Gut. Jetzt machen Sie sich auf etwas gefaßt. Ein jeder, der mit beiden Beinen auf dem Boden steht und nicht mit dem Kopf in den Wolken schwebt, wird erkennen, was in Ihrem Fall geschehen ist. Um es frank und frei auszusprechen: Man hat Sie hereingelegt.« »Hereingelegt?« »Man hat Sie sich geangelt. Falls Ihnen dieser Ausdruck nicht geläufig ist: Man hat einen Köder ausgelegt, und Sie sind ins Netz gegangen. Das Netz war die schematische Darstellung des Schaltkreises. Aber beruhigen Sie sich« – Nash machte eine flüchtige Handbewegung – »so etwas passiert immer wieder. Millionen von Frauen verfallen auf genauso viele Tricks, um sich einen Mann zu angeln. In Ihrem Fall benutzte man die Wissenschaft. Nicht ungewöhnlich, Mr. Hodgkins.«
»Ich verstehe«, sagte Hodgkins und stotterte ein bißchen. »Verstehen Sie es wirklich?« Nash hatte die Worte sehr leise gesprochen. Er blieb am Fenster stehen und blickte auf die Straße hinunter. Hodgkins schwieg und dachte an die Zeit mit Carolyn. Er hatte sie geliebt, sie hatte seine Liebe erwidert, und ihre Ehe war glücklich geworden. Bis die Bombe geplatzt war. Das heißt, ganz geplatzt war sie eigentlich nicht. Er liebte sie noch immer. Wenn sie nur seine Liebe erwidern würde. Ja, wenn! Nash drehte sich um. Hodgkins war auf dem Stuhl zusammengesunken, seine Gedanken waren in die Vergangenheit entrückt. »Womit wir beim heutigen Tag angelangt sind«, sagte Nash. »Was?« Hodgkins richtete sich auf. »Ach ja, beim heutigen Tag.« »Sie sind noch mit ihr verheiratet, lieben Sie sie noch?« »Ja!« »Aber Ihre Frau hat Sie verlassen.« »Das fürchte ich.« »Ist das früher schon einmal passiert?« »Nein. So war es noch nie.« »Was soll das heißen: So war es noch nie? Hat sie Sie schon einmal verlassen?« »Nun ja, sie ist allein in Urlaub gefahren. Manch-
mal ziemlich lange. Ohne mich. Sie meinte, das sei besser so.« Dies gestehen zu müssen, schien ihn peinlich zu berühren. »Wenn Carolyn allein verreiste, blieb sie zwei, drei Wochen fort, manchmal zwei oder drei Monate. Ich erinnere mich an einen entsetzlichen Winter, da blieb sie sieben Monate lang fort, und ich machte mir furchtbare Gedanken. Sie – sie meinte, eine längere Trennung sei gut für den Bestand der Ehe.« »Wo verbrachte sie diese langen Urlaube?« »Ich weiß es nicht.« Hodgkins machte eine Pause. »Doch, ich glaube, ich weiß es. Sie kam jedesmal braun gebrannt zurück, deshalb tippe ich auf Florida oder Kalifornien, wo auch im Winter die Sonne scheint. Sie liebt die Sonne und das Meer.« »Sind Sie ihr jemals nachgefahren? Ihr gefolgt?« »Natürlich nicht! Sie hatte es mir verboten.« »Und jetzt ist sie wieder weggegangen, und Sie wollen, daß ich sie suche?« Nash machte eine Pause. »Ist es diesmal keine Urlaubsreise?« »Nein – diesmal nicht.« »Könnten andere Männer im Spiel sein?« Hodgkins schien vor dieser Frage wie vor einer unangenehmen körperlichen Berührung zurückzuweichen. »Ich weiß es nicht. Ich glaube jedenfalls nicht. Ich habe nie jemand gesehen.« Nash wunderte sich flüchtig über die erstaunliche
Naivität des Mannes. Gregg Hodgkins – Akademiker, Wissenschaftler, wertvoller Mitarbeiter am Ridgerunner Project, ein überaus intelligenter Mensch, auf der anderen Seite so naiv, sich von einer Frau zur Ehe verführen zu lassen, die so intelligent oder raffiniert gewesen war, ihn einzufangen, indem sie ihm auf dem Gebiet, in dem er Fachmann war, eine Falle gestellt hatte. »Wenn Ihre Frau auch nur halb so intelligent ist, wie Sie annehmen, dann haben Sie andere Männer auch nie zu Gesicht bekommen können, wenn es welche gab. Kaum ein Ehemann sieht sie, bevor es zu spät ist. Aber da sind noch einige unklare Stellen in Ihrem Bericht, auf die ich zurückkommen möchte. Welches war der Grund Ihrer Trennung?« Hodgkins starrte ihn an, und Schmerz sprach aus seinen Augen. Dies war der wunde Punkt, den er bisher nicht berührt hatte, nicht hatte berühren wollen. Warum hatten er und Carolyn sich auseinandergelebt, oder besser ausgedrückt: Warum war sie ihm davongelaufen? Die Antwort stand ihm ins Gesicht geschrieben, man hatte sie aus dem Bericht, den er Nash gegeben hatte, herauslesen können. Aber Nash wollte, daß Hodgkins sie in seine eigenen Worte kleidete. Wieso die Trennung nach einer jahrelangen glücklichen Ehe? »Weil sie mich überrundet hatte!« Hodgkins schrie es fast und schämte sich, es zugegeben zu haben.
»Sie überflügelt?« bohrte Nash ungerührt. »Sie war mir unvorstellbar weit voraus! Bitte, verstehen Sie mich nicht falsch. Ich bin deswegen nicht verbittert, verärgert. Eifersüchtig – ja, das gebe ich zu. Aber ich bin ihr deshalb nicht böse. Carolyn hat mich überflügelt. Während der Jahre, die wir gemeinsam verbrachten, hat sie alles an Fachwissen aus mir herausgeholt, über das ich verfügte, hat sie mich angezapft wie ein blutsaugender Vampir.« Nash setzte sich mit einer ruckartigen Bewegung in seinen Sessel und starrte den unglücklichen Mann an. »Was?« »Sie wußte alles, was ich in den vergangenen zehn Jahren gelernt hatte«, rief der Mann. »Und was ich mir an einem Tag mühsam erarbeitete, das wußte Carolyn am nächsten Tag. Glauben Sie mir, wenn ich sage, daß sie jedes Fünkchen Wissen, das ich besaß, aus meinem geschundenen Gehirn herausholte, ohne daß ich jemals mit ihr darüber gesprochen hätte.« »Das hat Carolyn Hodgkins getan?« Nash packte die beiden Kanten seines Schreibtischs. »Sie sagten vorhin, Sie hätten einen Zwang gespürt, in die Bücherei zurückzukehren. Sie sagten auch, sie sei seit dem Tag Ihrer Heirat nicht wesentlich älter geworden. Fährt allein auf Urlaub, Sie wissen nicht wohin. Und nun sagen Sie, sie habe sich Ihr gesamtes Wissen angeeignet. Carolyn Hodgkins, Ihre Frau?«
Hodgkins nickte. »Ja.« »Sieh an!« sagte Gilbert Nash, und es klang, als sei er gar nicht so erstaunt über das, was er gehört hatte. »Sieh einer an – nach all den Jahren.«
3 Draußen auf dem Gang des Bürohauses war es ruhig. Nur selten ging jemand vorbei, hörte man Schritte oder das Schließen der Aufzugstür. Im siebten Stock waren nur wenige Büros vermietet, einer der Gründe, warum Nash sein Büro hier oben hatte. Er bevorzugte die Abgeschiedenheit, trotz der Natur seines Berufes. Dieser Raum hier oben war ideal für seine Zwecke. Nash stand wieder am Fenster und blickte auf die Straße hinunter. Die Sonne schien, und es war Nachmittag, aber sein Fenster und ein Teil des Gebäudes lagen im Schatten. Nach einer Weile drehte er sich um. Sein Gesicht war ausdruckslos, seine Stimme klang monoton. »Verweilen wir noch etwas bei diesem letzten Punkt«, schlug er vor. »Bei Carolyn?« Nash nickte. »Ja, bei Carolyn.« »Ich habe Sie eingangs gewarnt – habe Ihnen gesagt, Sie sollen nicht über mich lachen.« »Ich lache nicht«, sagte Nash. »Nun ja. Ich habe in diesem Zusammenhang eine Theorie erfunden.« »Lassen Sie hören«, sagte Nash. »Ich bin ein gewissenhafter Mensch – aus Veranla-
gung, wie auch durch meine Ausbildung. In meinem Beruf muß man gewissenhaft sein. Meine Arbeit stützt sich auf eine Theorie, die jemand anders aufgestellt hat und der ich bis zu ihrem Ende folge, gleichgültig, ob am Ende Erfolg oder Mißerfolg stehen. Es gibt auch Fälle, wo ich aufgrund meiner Erkenntnisse und meines Wissens eine eigene Theorie aufstelle und mit ihr genauso verfahre. Auch im Zusammenhang mit Carolyn habe ich theoretische Überlegungen angestellt.« Er blickte auf. Verwirrung stand in seinen Augen. »Trotzdem liebe ich sie. Ich wiederhole es noch einmal.« »Ja, Sie lieben sie. Aber nun zur Theorie.« »Anfangs merkte ich natürlich nicht, was los war. Es war alles zu neu für mich, die Ehe, Carolyn, mein Beruf. Außerdem fehlten mir wesentliche Daten. Ich habe vergessen, wann ich zum erstenmal die Wahrheit vermutete. Es war, als ich feststellte, daß Carolyn über meine Arbeiten Bescheid wußte, deren Ergebnisse strengster Geheimhaltung unterlagen. Die Vorschriften waren sehr streng und präzise. Noch nicht einmal die engsten Familienangehörigen durften auch nur das Geringste über meine Arbeit erfahren. Während der Jahre unserer Ehe habe ich nicht ein einziges Mal mit meiner Frau über meine Arbeit gesprochen. Ich habe noch nicht einmal die Namen meiner Arbeitskollegen erwähnt, aus Angst, jemand
könnte daraus Schlüsse über die Art unserer Tätigkeit ziehen. In unserem Beruf kann der Name eines Mannes oft sehr viel aussagen, über das Gebiet, an dem gearbeitet wird.« »Ich weiß. Wenn man Newton hört, denkt man automatisch an das Gesetz von der Schwerkraft. Mit dem Namen Heinlein verbindet man die ersten Erzählungen über Menschen auf dem Mond. Fahren Sie fort.« Nash hatte wieder die Augen geschlossen und war in seinem Sessel zusammengesunken. Er hörte aufmerksam zu. »Kein Wort habe ich zu Carolyn jemals über meine Arbeit gesagt, kein einziges Wort! Aber schon bald nach unserer Heirat wußte sie alles, was ich tat, und nicht nur das. Sie wußte auch das, was ich über die Arbeit meiner Kollegen wußte. Ich machte mir Sorgen, rätselte hin und her, versuchte mir einzureden, daß ich mir alles nur einbildete. Aber das alles änderte nichts an der Tatsache, daß sie es doch wußte. Was anfangs nur ein Verdacht gewesen war, wurde zur Gewißheit. Den Beweis erhielt ich, wenn ich bei meiner Arbeit an einem Punkt angelangt war, wo es nicht mehr weiterzugehen schien. Tagelang trat ich auf der Stelle, kam keinen Millimeter voran, und da merkte ich, daß sie immer gereizter wurde. Gereizt ist eigentlich der falsche Ausdruck, ich möchte lieber ungeduldig sagen. Sie wurde ungeduldig mit mir, weil sie
selbst nicht mehr weiterkam. Ihre Ungeduld veranlaßte sie schließlich, während unserer Unterhaltungen die eine oder andere Bemerkung zu machen. Nicht darüber, daß meine Arbeit stockte, das nicht, aber sie besaß die Fähigkeit, eine zunächst unbedeutend erscheinende Bemerkung fallen zu lassen, einen Hinweis zu geben, der sich in meinen Gedanken festsetzte, so daß ich schon am Tage darauf mein Problem unter einem neuen Gesichtspunkt neu zu überdenken begann, und plötzlich hatte ich auch die Lösung gefunden. Der Gordische Knoten war zerschlagen, meine Arbeit konnte weitergehen. Schlagartig wechselte auch Carolyns Stimmung. Diese Tatsache bildet eine der Grundlagen meiner Theorie. Carolyn hat mir also tatsächlich geholfen, mit meiner Arbeit weiterzukommen, und gleichzeitig hat sie am Erfolg meiner Arbeit teilgenommen. Beides gegen meinen Willen. Ich habe lange darüber nachgedacht, wie sie sich mein Wissen angeeignet haben könnte. Mr. Nash, was ich jetzt sagen werde, wird – ist –« »Denken Sie an das Vertrauensverhältnis zwischen Detektiv und Klienten. Sagen Sie ruhig, was Sie auf dem Herzen haben.« »Also gut.« Dennoch schien Hodgkins zu zögern. »Anfangs – anfangs hielt ich es für Gedankenübertragung, Sie haben sicher schon von Dr. Rhines Experimenten auf dem Gebiet der außersinnlichen Wahr-
nehmung gehört. Ich fragte mich, ob Carolyn in der Lage sein könnte, meine Gedanken zu lesen. Ich schäme mich, es zuzugeben, aber eine Weile trug ich mich mit dem Gedanken, mir eine Falle auszudenken, um sie darin zu fangen. Ich beschäftigte mich in Gedanken mit abscheulichen, abstoßenden Dingen – häßlichen kleinen Spekulationen, und ich beobachtete sie, wie sie darauf reagierte. Aber nichts deutete darauf hin, daß sie diese Gedanken wahrnahm, daß sie in meinem Gedächtnis lesen konnte. Ich verwarf also die Überlegung, es könnte sich um Gedankenübertragung handeln. Allerdings nur zum Teil. Mr. Nash, ich kann nicht beweisen, was ich Ihnen jetzt sagen möchte, deshalb bleibt es also meine Theorie, aber ich glaube, ich habe eine Methode entdeckt, wie Gedankenübertragung stattfinden kann – zumindest zwischen Carolyn und mir.« »Eines kann ich jetzt schon sagen«, entgegnete Nash. »Ihr Zögern und Ihre offensichtliche Zurückhaltung haben es mir verraten. Es geschieht auf sehr delikate Weise.« Hodgkins blickte ihn erstaunt an. »Ja, sehr delikat. Ich bin zu dem Schluß gekommen, daß diese Gedankenübertragung zwischen meiner Frau und mir auf dem Wege über körperliche Berührung vor sich geht. Sehr intime körperliche Berührung.« »Ich ahne, was Sie sagen wollen. Aber fahren Sie fort.«
»Ich habe das noch nicht einmal meinem Hausarzt gesagt, aber im Laufe der Jahre und während ich meine Theorie aufzustellen begann, begann ich zu erkennen, daß diese körperliche Vereinigung stattfinden mußte, wenn sie mein Wissen bekommen wollte. Ich habe bereits erwähnt, daß wir getrennte Schlafzimmer hatten.« Er brach ab, rutschte nervös auf dem Stuhl herum, blickte Nash peinlich berührt an. »Ich fürchte, das nun Folgende ist sehr privater Natur. Hoffentlich haben Sie Verständnis dafür. Anfangs waren wir natürlich sehr ineinander verliebt. Wir waren ständig zusammen und konnten uns keine getrennten Schlafzimmer leisten. Sie sind nicht verheiratet, oder? Am Anfang einer Ehe ist der Wunsch nach fast ständigem Zusammensein sehr stark. Man hat den Wunsch, sich geistig und körperlich so nahe wie nur irgend möglich zu sein. Im Laufe der Jahre schleift sich das etwas ab, und das Verlangen, zusammen zu sein, tritt in Intervallen auf. Dies war die Zeit, als meine Theorie über Carolyn Gestalt anzunehmen begann. Wir waren inzwischen nach Oak Ridge gezogen und konnten uns getrennte Schlafzimmer leisten. Bitte, verzeihen Sie, wenn ich über unsere Ehe spreche.« »Aber gern.« »Meine Theorie läuft darauf hinaus, daß Carolyn
meine Gedanken nur auf dem Umweg über körperliche Berührung lesen kann, daß ihre Kräfte auf diesem Gebiet begrenzt sind, daß sie also den körperlichen Kontakt braucht, um sie anwenden zu können. Stellen Sie sich vor, Carolyn und ich halten uns bei den Händen – wenn man verliebt ist, Mr. Nash, ist das Händehalten ungeheuer wichtig. Wenn wir uns also an den Händen hielten, konnte Carolyn meine vordergründigen Gedanken lesen. Sie wußte, wenn auch etwas verschwommen und unklar, was ich gerade dachte. Wenn wir uns küßten, konnte sie schon tiefer in meine Gedanken hineingreifen. Las sie alles, was ich wußte. Ich fühlte es. Ich spürte, wie sie mein Gehirn sozusagen anzapfte. Es war wie ein Eingriff. Ich wußte, was geschah, aber ich war machtlos, es zu verhindern. Ich liebte Carolyn, ich liebe sie noch. Ich war nicht in der Lage, ihr meine Zuneigung zu versagen. Aber jedesmal, wenn ich nach einem erfolgreichen Tag im Forschungslabor nach Hause kam«, – Hodgkins blickte kurz auf. Es war ihm sichtlich unangenehm, es sagen zu müssen. »– jedesmal, wenn ein Problem gelöst war oder kurz vor seiner Lösung stand, dann wurde Carolyn außergewöhnlich zärtlich. Sie schlief dann in meinem Bett.« Nash sagte nichts. Er wartete. Nach einer Weile öffnete er die Augen und setzte sich in seinem Sessel
zurecht. Er blickte Hodgkins durchdringend an. »Wenn Sie auf dem Gebiet der Archäologie tätig wären, dann hätte Sie diese Form der Gedankenübertragung nicht so überrascht. Sie hätten diese Tatsache mit einem Erstaunen und einer gewissen Freude zur Kenntnis genommen – aber Sie würden sie wahrscheinlich wiedererkannt haben.« »Tatsächlich?« »Ja. Obwohl uns nur wenig überliefert wurde, besteht Grund zur Annahme, daß vor fünf- bis siebentausend Jahren diese Art der Gedankenübertragung bei den Sumerern üblich war. Diese Fähigkeit ist inzwischen in Vergessenheit geraten.« »Ist das wahr? Sind Sie Archäologe?« »Nein. Ich bin Laie und interessiere mich nur ein bißchen dafür«, entgegnete Nash. »Aber das Wichtigste bei der ganzen Sache scheinen Sie übersehen zu haben. Was tat Ihre Frau mit dem Wissen, das sie sich von Ihnen holte? Was hat sie mit diesen geheimen Forschungsergebnissen angefangen? Hat sie sie an jemand anders weitergegeben?« »Ich weiß es nicht. Keine Ahnung. Es ist mir nie etwas aufgefallen, was meinen Verdacht in diese Richtung gelenkt hätte. Aber wie Sie vorhin bemerkten, hätte mir ja auch gar nichts auffallen können.« »Nein. Es wäre alles hinter Ihrem Rücken geschehen.«
»Glauben Sie – könnte es vielleicht möglich sein, daß Carolyn mit einem Spion davongelaufen ist?« »Sie haben zu viele Romane gelesen!« fuhr Nash ihn an. »Spione laufen mit niemandem davon – sie arbeiten allein. Nein, mit einem Spion ist sie nicht durchgebrannt.« Hodgkins kauerte niedergeschlagen auf seinem Stuhl. »Erkennen Sie die entsetzliche Lage, in der ich mich befinde? Ich bin von dem, was ich weiß, restlos überzeugt. Aber kann ich damit zur Polizei gehen? Würden sie mir glauben? Kann ich mit meinen Problemen zu den Sicherheitsorganen gehen? Was würde der Psychiater denken, wenn ich ihm all das sagte, was ich Ihnen berichtet habe? Was würde dann mit mir geschehen? Und bedenken Sie, Mann, – würde ich die Frau, die ich liebe, den Behörden ausliefern, vorausgesetzt, man glaubt mir?« Nash schüttelte den Kopf. »Sie haben mein ehrliches Mitgefühl. Sie sind in eine raffinierte Falle gelaufen, die perfekteste, von der ich je gehört habe.« Er verschränkte wieder die Finger und blickte den Wissenschaftler an. »Sie sind absichtlich in diese Ehe gelockt worden, das können Sie mir glauben. Eine schöne Frau war der Köder. Und zu allem Unglück haben Sie sich auch noch in sie verliebt.« Er machte eine Pause, ließ den Blick über die Wände des Zimmers schweifen und richtete ihn dann wieder auf sei-
nen Besucher. »Möglicherweise hat man Sie auch dazu veranlaßt, daß Sie sich verliebten.« »Ich – ich verstehe das nicht.« »Überrascht mich gar nicht. Nur wenige Sterbliche können es verstehen.« Nash machte eine Pause, runzelte die Stirn. »Sie haben mir noch immer nicht gesagt, warum Sie und Carolyn sich getrennt haben.« »Man hat mich von der Arbeit nach Hause geschickt! Dieser alberne Psychiater meinte, ich brauche Urlaub. Und Carolyn hatte keinen Nutzen mehr durch mich, nachdem ich nicht mehr in Oak Ridge arbeitete.« Nash dachte über die Antwort nach. »Das ist noch nicht alles.« Er stand auf und ging zum Fenster hinüber. »Wie meinen Sie das?« »Ich glaube, Sie wissen, was ich meine. Was kam zuerst: Ihre Beurlaubung oder das Verschwinden Ihrer Frau?« »Sie – es passierte alles am selben Tag. Carolyn verließ mich an dem Nachmittag, als ich nach Hause kam.« »Sehr interessant. Nehmen wir an, sie hat Sie verlassen, als sie feststellte, daß aus Ihnen nichts mehr herauszuholen war. Um mit Ihren eigenen Worten zu sprechen, sie konnte Ihnen kein neues Wissen mehr abzapfen, nachdem Sie nicht mehr im Forschungszen-
trum arbeiteten. Aber das ist trotzdem nicht alles. Es muß doch bereits vor dem bewußten Nachmittag zu Ihrer Beurlaubung gekommen sein. Wie kam es, daß Sie in eine Verfassung gerieten, so daß der Psychiater gar nicht anders konnte, als Sie zu beurlauben?« »Das war Carolyns Schuld.« »Carolyns? Was hat Sie getan?« »Nichts Spektakuläres. Aber schon Wochen vorher hatte ich bemerkt, daß sie nichts mehr mit mir zu tun haben wollte. Ich bekam den deutlichen Eindruck, daß sie in Gedanken bereits ihre Sachen packte und sich für die Abreise vorbereitete. Ich machte mir natürlich Sorgen. Ich wollte sie nicht verlieren. Vermutlich habe ich mich so sehr in diese Besorgnis hineingesteigert, daß ich am Ende meiner Nervenkraft anlangte und den Nervenarzt aufsuchte. Den Rest kennen Sie ja.« Nash blickte auf die Straße hinunter. »Ihre Frau hat also erkannt, daß Sie am Ende waren, noch bevor dieser Fall tatsächlich eintrat. Fragt sich nur, womit am Ende? Sie sind körperlich und geistig gesund, Sie können nach wie vor Ihren Beruf ausüben, und die Regierung wird Sie nicht in die Wüste schicken, wenn man Sie nicht mehr braucht. Fragt sich also, wie und warum Sie am Ende waren?« »Das kann ich mir nicht vorstellen«, antwortete Hodgkins ausweichend.
»Vielleicht nicht – vielleicht aber doch. Lassen Sie mich eine Weile darüber nachdenken. Es ist sehr wichtig, daß wir feststellen, warum Ihre Frau zu dem Schluß kam, daß Sie am Ende waren, warum sie sich auf die Trennung vorbereitete.« Er schwieg eine Weile, überlegte. Der Verkehrslärm drang schwach in den siebten Stock herauf. »Was ist mit Ihrer Arbeit in Oak Ridge? Hatten Sie gerade eine wichtige Arbeit abgeschlossen?« »Ja.« Hodgkins schien immer nervöser zu werden. »Keine Angst, ich horche Sie nicht aus.« »Es unterliegt strengster Geheimhaltung«, sagte Hodgkins. Nash drehte sich um und blickte auf Hodgkins herab. Seinem Ausdruck und seiner Stimme merkte man an, wie ungehalten er war. »Hodgkins, jetzt muß ich über Sie lachen. Nicht über das, was Sie mir bis zu diesem Augenblick erzählt haben. Ich habe Ihnen mein Versprechen gegeben, und ich beabsichtige auch, es zu halten. Aber ich muß über das lachen, was Sie zuletzt gesagt haben.« Der Wissenschaftler erwiderte Nashs Blick. Er machte einen sehr unsicheren Eindruck. Nash zeigte mit der Hand auf die Straße hinunter. »Abgesehen von dem vielzitierten Mann auf der Straße, der alles, was in der Zeitung steht akzeptiert und sich keine weiteren Gedanken macht, gibt es in
der ganzen Welt nur zwei Typen von Menschen, die noch glauben, in unserem Zeitalter der modernen Wissenschaft ließen sich noch Geheimnisse bewahren. Die eine Kategorie sind die blinden, umständlichen und im Grunde unfähigen Politiker – über die wir uns keine Gedanken zu machen brauchen, weil sie an ihrer Berufskrankheit leiden. In die zweite Kategorie fällt der eifersüchtige Forscher.« »Aber ich –« »Sie haben Ihrem Geist und Ihrer vorhandenen Fähigkeit logisch zu denken so enge Kreise gezogen, daß Sie zur zweiten Kategorie gehören. Sie erschraken sogar, als ich Ihre Anstecknadel sah und Ihnen sagte, wo Sie arbeiteten. Sie haben durch diese Geheimniskrämerei Scheuklappen bekommen. Es ist ein Witz, wenn behauptet wird, man könne heute überhaupt noch etwas geheimhalten. Sie haben vorhin selbst gesagt, daß Sie sich durch Lesen von Fachliteratur weitergebildet haben. Glauben Sie denn, Sie sind der einzige, der weiß, was in diesen Büchern steht, daß man alle anderen Aufzeichnungen zusammengetragen und auf den Scheiterhaufen geworfen hat? Glauben Sie denn wirklich, daß nur Ihre Forschungsgruppe und Ihre Regierung wissen, wie man Waffen herstellt, und daß die anderen keine Ahnung davon haben?« Nash machte eine heftige Handbewegung, wie um
seine Worte zu unterstreichen. »Sie tun mir leid, Hodgkins, und all die anderen auch, die genauso denken wie Sie. Es gibt keine Geheimnisse.« »Aber unsere Abwehr –« »Die Leute von der Abwehr dienen demselben Götzen, glauben denselben Unsinn. Und die Geheimdienstleute in anderen Ländern tun es genauso. Ich lache deshalb, Hodgkins, weil sie alle denselben Götzen dienen. Die Geheimdienste aller Länder versuchen im Grunde dieselben Geheimnisse zu wahren, bemühen sich, sie nicht nach außen dringen zu lassen.« »Ich habe schon von Diskussionen über diese Theorie gehört«, bemerkte Hodgkins. »Haben Sie? Und Sie halten das für eine Abstraktion? Hören Sie zu, wenn ich jetzt an Ihren Glaubensgrundsätzen rüttele: Vor langer Zeit hat die Regierung dieses Landes einen neuen Zünder für die Atombombe entwickeln lassen. Kurz darauf entwikkelte auch Rußland einen Zünder für die Atombombe. Vor zehn Jahren verwarf England dieses Prinzip als Zünder für Atombomben. Und da reden Sie noch von Geheimhaltung?« Hodgkins schien ihm nicht zu glauben. Nashs Stimme wurde leiser. »Ich bin nicht durch Diebstahl oder Spionage zu diesen Erkenntnissen gekommen. Sie können ruhig Ihrem Geheimdienst von
mir erzählen, wenn Sie wollen. Sollte man zu mir kommen, werde ich zeigen, wo das alles schwarz auf weiß gedruckt steht.« Er ging im Raum auf und ab. »Ich kann Ihnen sogar sagen, wie groß die modernen Atombomben sind. Gar nicht zu vergleichen mit dem Riesending, das sie über Hiroshima abwarfen. Sie werden wissen, damals brauchte man ein ganzes Flugzeug, um diese eine Bombe zu transportieren. Und ich weiß – vielleicht wissen Sie es nicht – daß der Zündmechanismus mit einem so profanen Gegenstand, wie es ein ganz normaler Schlafzimmerwecker ist, gekoppelt war. Heute benützt man dazu elektronische Einrichtungen. Glauben Sie mir jetzt, daß es keine echten Geheimnisse mehr gibt?« »Ich kann nicht – ich darf Ihnen nichts sagen. Ich habe meinen Eid geleistet.« »Also schön«, sagte Nash in resignierendem Tonfall. »Halten Sie sich an Ihren Eid, wenn Sie nicht anders können. Sie brauchen ja nicht zu antworten. Sie brauchen kein einziges Wort zu sagen. Ich sehe es Ihrem Gesicht an, ob ich auf der richtigen oder der falschen Spur bin.« Er ging zum Fenster zurück und blickte hinaus. Hodgkins blickte kurz auf, starrte auf den Hinterkopf des Mannes und senkte den Blick wieder. »Ihre Frau hat Sie aus zwei Gründen verlassen, denke ich«, sagte Nash. »Außerdem wußte sie, daß
Sie in mehr als einer Hinsicht am Ende waren. Zum einen wußte sie, daß Sie Ihren sehr wichtigen Forschungsauftrag abgeschlossen hatten. Was könnte das für ein Auftrag gewesen sein? Im Jahr 1949 wurden die bis dahin streng eingehaltenen Sicherheitsvorkehrungen gelockert. Seither ist die Anlage der Öffentlichkeit genauso zugänglich wie ein Bahnhof. Andere Forschungszentren haben Oak Ridge an Bedeutung überflügelt. Es ist zu einer Art Geisterstadt geworden. Es hat seine führende Rolle ausgespielt.« Der großgewachsene Mann wandte sich vom Fenster ab und blickte Hodgkins an. »Aber Oak Ridge ist nur scheinbar ein alter Hut. Sie arbeiten noch dort, besser gesagt, Sie arbeiteten dort bis vor einigen Wochen, und Ihr Auftrag muß von außerordentlicher Wichtigkeit gewesen sein. Fragt sich, weshalb ist Ihr Fachgebiet Telemetrie so wichtig, daß Sie in Oak Ridge geblieben sind?« Hodgkins blickte nicht auf. »Vielleicht ein neuer Reaktorantrieb?« fragte Nash mit leiser Stimme, während er das Gesicht des anderen beobachtete. »In eines der neuen Riesenfrachtschiffe wird ein Atomreaktor eingebaut, und eine der großen Elektronikfirmen experimentiert schon seit Jahren mit einem Kernantrieb für Flugzeuge.« Wieder machte er eine Pause und wartete auf das Ergebnis seiner Worte. »Das Projekt, an dem Sie gearbeitet ha-
ben, könnte sehr gut ein Atomreaktor für ein Raumschiff sein.« Hodgkins hatte eine fast unmerkliche Bewegung gemacht. Nash ließ ihn nicht aus den Augen. »Es könnte ein robuster Reaktionsmotor sein, für ein speziell dafür konstruiertes Raumschiff, von dem man mehr erwartet, als von den bisherigen.« Der Wissenschaftler war immer nervöser geworden. Nash ließ nicht locker. »Es könnte eine Art Minireaktor sein, der jedoch zur Entwicklung einer ungeheuren Energiemenge fähig ist. Mit dem man, sagen wir einmal, eine Raumsonde in den interstellaren Raum hinausschießen könnte. Und dazu wiederum würde man eine völlig neue Konzeption telemetrischer Mechanik benötigen.« Nash drehte sich ganz plötzlich wieder um und blickte aus dem Fenster. Dieser letzte Schuß hatte gesessen. »Tatsache ist«, fuhr er mit ruhiger Stimme fort, »daß die NASA an einem Programm zur Erforschung des interstellaren Raumes arbeitet. Daran haben Budgetkürzungen oder Betriebsunfälle oder Gerüchte über Sabotage nichts ändern können. Ich glaube, aus den Versuchsanstalten in Kalifornien ist ein atomarer Reaktionsmotor nach Florida geliefert worden. Ich gehe sogar soweit, daß ich annehme, daß die Raumingenieure in Florida diesen Motor bereits in ein
Schiff eingebaut haben. Und ich glaube weiter, daß Sie Ihre Forschungsarbeit abgeschlossen haben. Ihre Forschungsergebnisse sind bereits nach Florida geschickt worden, und sie sollen dazu dienen, das Schiff zu lenken, in Entfernungen von der Erde, wie sie bis heute noch nicht erzielt worden sind. Ihre Arbeit sollte die Grundlage für ein Steuersystem im unendlichen interstellaren Raum sein.« Nash blickte den Wissenschaftler über die Schulter an. »In einer Fachzeitschrift stand vor kurzem ein Diskussionsbeitrag über das Tau Ceti System. Ich glaube, damit haben sie die Katze aus dem Sack gelassen.« Der so sehr geheimhaltungsgläubige Wissenschaftler sagte nichts. Nash fuhr fort: »Ich glaube, in den Forschungszentren in Kalifornien hat man ein völlig neues Antriebssystem entwickelt. Vielleicht ein Reaktionsmotor, der mit schwerem Wasser arbeitet, allerdings unter Verwendung einer völlig neuartigen Methode.« Hodgkins hatte es einen sichtlichen Ruck gegeben. »Tau Ceti als Ziel – man stelle sich das vor! Wird das Schiff bemannt sein?« »Ich – ich weiß nicht«, entgegnete Hodgkins langsam. »Nein, ich glaube auch nicht, daß Sie es wissen. Die Geheimhaltung ließe das auch gar nicht zu.« Dann sagte er nichts mehr. Mehrere Minuten lang hörte man nichts im Raum
außer dem leisen Ticken von Hodgkins' Taschenuhr. Vom Flur drang das Geräusch des Schließens der Fahrstuhltür herein. »Äh – und Carolyn?« »Ja, da ist nach wie vor das Problem Ihrer Frau.« Nash seufzte. Die Spannung, unter der er zuletzt gestanden hatte, löste sich. »Wir können mit Gewißheit annehmen, daß wir einen der Gründe kennen, warum sie sich von Ihnen getrennt hat. Nachdem sie alles über Ihre Forschungsarbeit erfahren hatte, nachdem sie wußte, für was für einen Schiffstyp das Ergebnis verwendet werden sollte, waren Sie für sie kaum noch von großem Nutzen. Ich möchte damit nicht sagen, daß Ihre Frau nun auf gar keinen Fall mehr bei Ihnen hätte bleiben können, daß es ihr unmöglich gewesen wäre, noch weiteres neues Wissenswertes zu erhalten, sie hätte durchaus bei Ihnen bleiben können. Sie hat es nicht getan. Und hier sind wir beim Kern des Problems angelangt. Ich möchte mehr als andere wissen, warum sie nicht bei Ihnen geblieben ist.« »Ich bin froh, daß Sie so verständnisvoll sind«, entgegnete Hodgkins mit müder Stimme. »Ich weiß nicht, an wen ich mich sonst hätte wenden sollen.« Nash blickte mit einem seltsamen Gesichtsausdruck auf ihn hinab. »Gehe ich recht in der Annahme, daß Sie von mir erwarten, ich soll Ihre Frau suchen, und, wenn möglich, eine Aussöhnung herbeiführen?«
»Tun Sie etwas, Mr. Nash. Irgend etwas! Ich möchte Carolyn wiedersehen, sie berühren können, mit ihr sprechen. Ohne sie fühle ich mich elend. Und ich möchte, daß sie das weiß, sofern sie bereit ist, sich nur für kurze Zeit mit mir zu treffen. Ich möchte sie in meiner Nähe haben, möchte versuchen, sie zu überreden, nach Hause zu kommen.« »Woher wollen Sie wissen, daß sie noch in der Stadt ist?« »Ich glaube, sie ist hier – irgendwie spüre ich ihre Anwesenheit. Einmal habe ich sie sogar gesehen, vor etwa einer Woche. Sie betrat gerade ein Hotel. Ich folgte ihr, aber ich fand sie nicht. Der Hotelportier drohte mir sogar mit einer Anzeige wegen Hausfriedensbruch.« Nash ging zum Schreibtisch, nahm einen Block und einen Kugelschreiber und reichte beides Hodgkins. »Geben Sie mir eine Beschreibung von ihr – möglichst vollständig. Schreiben Sie auf, an welchem Tag Sie sie zuletzt gesehen haben, wie sie angezogen war, welche Kleidungsstücke sie mitgenommen hat, als sie wegging. Wieviel Geld hatte sie? Verfügte sie über ein eigenes Bankkonto? Kann sie Autofahren und besitzt sie einen Wagen? Schreiben Sie auch die Namen Ihrer Bekannten und Freunde auf. Zu welchem Friseur ist sie gegangen, in welchen Geschäften hat sie meistens eingekauft? Hatte sie eine Kreditkarte?
Wenn ja, von welchem Institut oder welcher Kreditkartengesellschaft. Schreiben Sie alles auf – alles, was Ihnen in den Sinn kommt.« Hodgkins hielt den Stift in der verkrampften Hand und starrte Nash an. »Was ist los?« fragte Nash. »Jetzt fällt es mir wieder ein ...« »Was denn?« »Ihre Augen sind gelb – wie Ihre.« »Schreiben Sie es auf«, entgegnete Nash. Er beobachtete den Wissenschaftler, während dieser schrieb. Ein Punkt war noch nicht zur Sprache gekommen. Auf eine wichtige Frage fehlte noch die Antwort. Vielleicht wußte Hodgkins gar nichts davon, hätte ihm die Antwort nicht geben können. Er schien ein außerordentlicher fähiger Wissenschaftler zu sein, mit der Einschränkung, daß er an einem Geheimhaltungsfimmel zu leiden schien. Aber sonst wirkte er ausgesprochen naiv. Die Frau – und vielleicht ein noch nicht in Erscheinung getretener Verbündeter – hatte ihn raffiniert zur Heirat verleitet und mehrere Jahre lang geduldig gewartet, bis die Verbindung Früchte getragen hatte. Sie hatte ihn zu einem Zeitpunkt geheiratet, als er beruflich noch am Anfang stand, und sie hatte darauf gesetzt, daß er es, befähigt und ehrgeizig wie er war, zu etwas bringen würde. Es war nicht einmal so abwegig anzunehmen, daß die
Frau von seinen Fähigkeiten gewußt und beschlossen hatte, bei ihm zu sein, wenn sich der Erfolg einstellte. Nicht zuletzt deshalb, weil sie selbst daran teilhaben wollte. Jetzt hatte sie ihn verlassen, nicht nachdem er versagt hatte, sondern als er an der Schwelle seines Erfolges stand. Warum nur? Bestimmt nicht wegen der emotionellen Krise, die er gerade durchmachte. Sie selbst war der Auslöser gewesen, hatte lange Zeit vor seinem Zusammenbruch und seiner Beurlaubung dazu beigetragen, daß er seelisch aus dem Gleichgewicht geriet. Warum hatte Carolyn Hodgkins aus freien Stücken diese wertvolle Quelle von Informationen im Stich gelassen? Seine Karriere als Wissenschaftler war noch lange nicht zu Ende. Außerdem würde es noch eine ganze Weile dauern, bis die Ergebnisse seiner letzten Forschungsarbeit in die Praxis umgesetzt werden konnten. Der Start in den interstellaren Raum würde nicht schon nächste Woche stattfinden. Nash schüttelte den Kopf. Hodgkins legte den Block auf den Schreibtisch. »Ich fürchte, mehr fällt mir nicht ein. Seltsam, wie wenig man weiß, wie sich die eigene Frau gekleidet hat. Besonders dann, wenn man gezwungen wird, sich zu erinnern.« »Das genügt schon.« Nash las, was Hodgkins auf-
geschrieben hatte. »Hatte Ihre Frau irgendwelche Steckenpferde? Sammelte sie etwas – Briefmarken, Münzen, sonst etwas?« »Nein, ich erinnere mich nicht. Doch, sie hatte einen Stier.« Hodgkins schloß die Augen und dachte nach. »Einen Stier?« »Muß ein Spielzeug gewesen sein. Etwa fünfzehn Zentimeter hoch. Erst hielt ich es für eine Figur aus Porzellan, aber sie bestand aus einem unzerbrechlichen Material. Sie hatte sie in ihrem Schlafzimmer stehen. Glauben Sie, daß Sie damit etwas anfangen können?« Nash zuckte mit den Schultern. »Man kann nie wissen. Menschen geben ihre Gewohnheiten und Hobbies nicht auf, wenn sie einen neuen Lebensabschnitt beginnen. Besteht die Möglichkeit, Sie an einem Abend zu Hause zu besuchen? Ich möchte mich umsehen, einen Eindruck bekommen. Vielleicht fällt mir etwas auf, worauf Sie selbst nicht gekommen wären.« »Natürlich. Ich würde mich freuen, wenn Sie kämen. Meine Telefonnummer steht im Telefonbuch.« »Also gut. Ich möchte mich auch gern mit Ihnen in Ihren eigenen vier Wänden unterhalten. In der Ihnen vertrauten Umgebung werden Sie weitaus weniger nervös sein als hier. Und vielleicht habe ich bis dahin auch schon etwas erfahren.«
»So etwas ist mir noch nie widerfahren. Mein Hausarzt – Sie schienen der einzige Mann zu sein, an den ich mich wenden konnte. Ich bin froh, daß Sie mich nicht ausgelacht haben.« Ein Schatten huschte über sein Gesicht, und er stand auf und spielte nervös mit seinem Hut. »Ist das alles, Mr. Nash?« »Ja.« Gilbert Nash streckte die Hand aus und ergriff die seines Besuchers. Es war, als hätte er im Augenblick der Berührung einen Schlag bekommen. »Überlassen Sie nur alles mir. Wenn es möglich ist, sie zu finden, werde ich sie finden. Falls ich sie zu einem Treffen mit Ihnen überreden kann, werde ich dies an einem neutralen Ort veranlassen. Sollte sie sich weigern, Sie zu sehen, werde ich den Grund zu erfahren suchen und Ihnen eine Botschaft überbringen.« Er hatte Mühe, seine Beherrschung nicht zu verlieren, während er die Hand des anderen hielt. »Ich kann Ihnen keine konkreten Ergebnisse versprechen, aber irgend etwas wird schon dabei herauskommen. In der Zwischenzeit gebe ich Ihnen denselben Rat, den Ihnen auch der Psychiater gegeben hat, allerdings ein wenig abgewandelt. Bleiben Sie mit Ihren Sorgen nicht zu Hause. Gehen Sie lieber in eine Bar und betrinken Sie sich. Tun Sie wenigstens einmal etwas in Ihrem Leben, was Ihnen Spaß macht.« Er beendete den Händedruck, und der unglückliche Mann ging zur Tür. Vorsichtig spähte er auf den
Flur hinaus, bevor er den Raum verließ. Er zog die Tür leise hinter sich zu und entfernte sich. Nash konnte hören, wie er zum Aufzug ging. Nach einer Weile hörte er, wie die Fahrstuhltür auf- und zuging. Nash blickte auf seine rechte Hand. Nun wußte er mit tödlicher Sicherheit, warum Carolyn Hodgkins ihren Mann verlassen hatte. Der Schock bei der ersten Berührung der Hand des Mannes hatte es ihm deutlich verraten.
4 Dikty kam mit kalter Pfeife und eisigen Gedanken ins Büro. Er kam sich alt und wie ausgehöhlt vor. Der Himmel war bewölkt, die Luft feucht. Es würde Regen geben. Dieses Wetter machte ihn leicht reizbar. Das Frühstück hatte nicht geschmeckt. Er hatte es automatisch und ohne Freude gegessen. Auch mehrere Tassen Kaffee hatten nicht gegen seine Müdigkeit geholfen. Es wäre sinnlos gewesen, sich etwas vormachen zu wollen. Er war zu alt für seinen Beruf. Es war ihm unmöglich, die ganze Nacht auf den Beinen zu sein und sich am nächsten Morgen noch wie ein Mensch zu fühlen. Diese Arbeit war etwas für jüngere Menschen. Sein Büro bestand aus zwei Räumen am Ende des Ganges im ersten Stock. Auf der metallverkleideten Tür des Vorzimmers stand nur eine Nummer. Sonst nichts. Shirley Hoffman saß untätig hinter ihrer Schreibmaschine. Sie blickte strahlend auf, als er eintrat. »Guten Morgen, Mr. Dikty.« »Seien Sie doch nicht so verdammt fröhlich«, entgegnete er. »Ich bin nicht in der richtigen Stimmung.« Seine Sekretärin blickte ihn mit unschuldigen Augen an. »Haben Sie wieder Prügel von Ihrer Frau bezogen?«
Dikty blieb auf dem Weg zu seinem Büro stehen. »Entschuldigen Sie. Ich habe bereits heute früh meine schlechte Laune an meiner Frau ausgelassen. So etwas sollte nicht vorkommen. Der Tag hat schlecht begonnen. Unfreundlichkeiten liegen mir nicht, aber Nachtarbeit genauso wenig. Die vergangenen sieben, acht Stunden waren alles andere als erfreulich.« Er nahm den Regenmantel, den er über dem Arm hatte, und hängte ihn auf. »Schließen Sie ab, und kommen Sie in mein Büro.« Shirley Hoffman stand von ihrem Schreibmaschinenstuhl auf. »Die Telefonzentrale hat mitgeteilt, daß Washington angerufen hat. Sie rufen um halb zehn zurück.« Sie ließ das Sicherheitsschloß der metallverkleideten Tür einschnappen. Dikty blickte auf die Uhr und dann aufs Telefon. »Offensichtlich hat Cummings mein Telegramm erhalten. Der Wortlaut scheint ihm nicht zu gefallen. Genauso wenig wie mir.« Er ging in sein Büro. Die Sekretärin folgte ihm. Dikty setzte sich und starrte düster durch das Fenster zum wolkenverhangenen grauen Himmel hinauf. Seine Sekretärin wartete mit Stenogrammblock und Bleistift. »Hoffman«, sagte er, immer noch durch das Fenster hinausstarrend, »wenn Sie mal heiraten, dann einen langweiligen, verläßlichen Mann. Einen Maler, einen Klempner oder sonst etwas. Aber versuchen Sie
bloß nicht Karriere zu machen, besonders nicht in unserem schmutzigen Beruf.« »Vielen Dank, Mr. Dikty.« Er wandte ihr das Gesicht zu, runzelte die Stirn. »Aber tun Sie meinetwegen, was Sie nicht lassen können! Ich bin ein Mensch, der aus seiner Meinung kein Geheimnis macht. Das wissen Sie.« »War es schlimm?« »Ja.« Dikty nickte und zog die Pfeife aus der Tasche. »Auf jeden Fall zu viel für einen alten Mann wie mich.« Erst jetzt merkte er, daß er die Pfeife in der Hand hielt, und begann sie zu stopfen. »Diese Aktennotiz ist für Cummings bestimmt«, sagte er nach einer Weile. »Sie betrifft einen Wissenschaftler, der in Oak Ridge arbeitet, und die bewußte Verdachtsperson.« Er zeigte mit dem Pfeifenstiel auf ihren Stenogrammblock. »Gregg Hodgkins, sechsundvierzig Jahre alt, verheiratet, Besitzer des Hauses 2334 North Shasta Drive. Kinderlos, keine nächsten Verwandten. Weiter – Bis vor drei Wochen bestanden keine Zweifel an Hodgkins' Fähigkeiten und Zuverlässigkeit. Er arbeitete an einem wichtigen Forschungsprojekt in Oak Ridge.« Dikty machte eine Pause und dachte nach. »Hodgkins arbeitete an einem Projekt mit der Kennzahl 447, war Projektleiter und voll dafür verantwortlich. Etwa sechs, sieben Wochen vor diesem speziel-
len, drei Wochen zurückliegenden Tag begannen sich bei Hodgkins Zeichen von Nervosität, Ermüdung und vermutlich seelischer Labilität bemerkbar zu machen. Das fiel den zuständigen Organen auf. Die Tatsache wurde zur Kenntnis genommen, man unternahm jedoch nichts dagegen, da Projekt 447 kurz vor dem Abschluß stand und man diese Anzeichen als eine Folge der Arbeitsüberlastung ansah. Hinzu kam, daß Mitarbeiter an diesem Projekt ähnliche Symptome aufwiesen. Die verantwortlichen Instanzen kamen zu dem Schluß, daß alle am Projekt Beteiligten unter Erfolgszwang standen und dies die eigentliche Ursache ihres Verhaltens war. Nach erfolgreichem Abschluß von Projekt 447 normalisierte sich das Leben aller daran beteiligten Personen, bis auf Hodgkins. Man übertrug ihm ein anderes, weniger wichtiges Projekt und hielt ihn unter Beobachtung. Aber bevor die übergeordneten Instanzen etwas unternehmen konnten, handelte er auf eigene Faust. Er suchte zunächst seinen Hausarzt, Charles Barrett, 260 Weinburg Building, auf. Er vertraute dem Arzt an, daß es in seinem Privatleben Schwierigkeiten gäbe, die in den vergangenen Wochen stetig zugenommen hätten. Er versuchte, seine Frau dafür verantwortlich zu machen. Ferner gab er an, seine Frau sei in letzter Zeit intelligenter geworden als er, wor-
über er sehr verbittert sei. Der Arzt versicherte ihm, er sei physisch völlig gesund, und verwies ihn an den Betriebspsychiater.« Dikty steckte die Pfeife in den Mund, bemerkte, daß er sie noch gar nicht angezündet hatte, und riß ein Streichholz an. »Montgomery, der Psychiater, berichtet ähnlich. Hodgkins suchte ihn auf, berichtete ihm von seinen privaten Schwierigkeiten, und wiederholte den Vorwurf, daß seine Frau ihm in geistiger Hinsicht überlegen sei. Der Psychiater schickte ihn zunächst nach Hause, da er die Entwicklung der Dinge abwarten wolle. Er rief jedoch in regelmäßigen Abständen bei Hodgkins an. Aus den nachfolgend aufgeführten Gründen verschlechterte sich Hodgkins' Zustand. Am selben Tage, als er von der Arbeit beurlaubt wurde, verließ ihn seine Frau, bis auf die oben bereits erwähnten Gründe sind keine bekannt, die zu dieser Trennung geführt haben könnten. Nachdem sich der Psychiater zwei Wochen lang mit diesem Fall intensiv beschäftigt hatte, empfahl er, daß Hodgkins für immer von Regierungsaufträgen entbunden werden sollte – was man Hodgkins nicht mitteilte. Darüber hinaus sollte er unter Beobachtung gehalten werden, um zu überprüfen, ob er sich an seine Geheimhaltungspflicht hielt. Seine Frau ist in das May Hotel hier in der Stadt
gezogen. Einige Tage später zog sie wieder aus, nachdem sie festgestellt hatte, daß er sie auf der Straße zufällig erkannt hatte, ihr gefolgt war und in der Hotelhalle eine Szene gemacht hatte. Der gegenwärtige Aufenthalt der Frau ist unbekannt. Sie hinterließ weder eine Adresse, noch eine Spur, der man hätte folgen können. Ich bemühe mich weiter, sie ausfindig zu machen. Erst gestern ereignete sich wieder etwas von Bedeutung. Gestern, am frühen Vormittag, verließ Hodgkins in einem Zustand starker Erregung sein Haus und ging mehrere Stunden lang in der Stadt spazieren. Anschließend suchte er unsere Verdachtsperson auf. Es ist unbekannt, was sich zwischen diesen beiden Personen abgespielt hat. Unser auf Hodgkins angesetzter Beobachter berichtet, daß sich dieser über eine Stunde lang bei der Verdachtsperson aufgehalten habe, habe jedoch über die Unterhaltung zwischen diesen beiden nichts erfahren können. Eingedenk dieser Tatsache habe ich mich entschlossen, Abhörgeräte in das Büro der Verdachtsperson einbauen zu lassen. Ich bedaure, dies nicht schon früher getan zu haben. Ich bin nicht in der Lage zu sagen, aus welchem von zwei Gründen Hodgkins die Verdachtsperson aufgesucht hat. Die Erinnerung an den Fall McKeown ist noch frisch. Hodgkins könnte auf den Gedanken gekommen sein, seine Information zu verkaufen. In
diesem Fall stellt sich jedoch die Frage, wo er unsere Verdachtsperson kennengelernt hat und was ihn zu dem Schluß verleitete, dieser könnte Informationen kaufen wollen. Wie bereits früher berichtet, habe ich keinen Anlaß anzunehmen, daß unsere Verdachtsperson an Regierungsgeheimnissen interessiert ist. Meine persönliche Meinung ist die, daß Hodgkins die Verdachtsperson aus einem ganz anderen, offensichtlichen Grund aufgesucht hat. Da sich die Verdachtsperson mit Ermittlungen beschäftigt, Hodgkins offensichtlich verzweifelt, aber vergebens nach seiner Frau sucht, hindert mich nur eine einzige Überlegung daran, zu dem an und für sich naheliegenden Schluß zu kommen. Die Tatsache nämlich, daß er unsere Verdachtsperson aufgesucht hat und daß die von uns bisher festgestellten Zufälligkeiten allzu zahlreich und ungewöhnlich sind. Dürfen wir daher annehmen, daß es sich hier wiederum nur um einen Zufall handelt?« Dikty drehte sich in seinem Sessel und zeigte mit dem Pfeifenstiel auf die Sekretärin. »Falls Sie inzwischen nicht gemerkt haben, um welche Verdachtsperson es sich hier handelt, dann können Sie Ihre eventuell geplante Karriere beim Geheimdienst an den Nagel hängen.« Er musterte sie eine Weile. Die Müdigkeit stand ihm ins Gesicht geschrieben. »Falls Sie sich jedoch dazu bekennen, neugierig gewesen zu
sein, und so unvorsichtig sind, den Namen laut auszusprechen, wäre das genauso das Ende Ihrer Karriere.« Sein Lächeln wirkte abgespannt. »Verstehen Sie, was ich meine? Wollen Sie nicht doch einen Klempner heiraten?« Das Mädchen erwiderte sein Lächeln fröhlich. »Noch nicht. Ich wollte eigentlich erst später heiraten.« »Das habe ich vor langer Zeit auch gesagt. Ich habe meine Frau beim Tanzen kennengelernt. Und heute früh geschah es zum erstenmal in unserer Ehe, daß ich mich bei ihr entschuldigen mußte.« Sein Blick wanderte zum Fenster und hinaus zum grauen Himmel. »Nun ja, Sie müssen selbst wissen, was Sie zu tun haben. Sie und ich, und alle anderen Mitarbeiter spielen ein Spiel, das abwechselnd langweilig und tödlich ist. Sie müssen Ihre eigenen Entscheidungen treffen. Wo waren wir stehengeblieben? Nachdem Hodgkins das Büro unserer Verdachtsperson offensichtlich wesentlich entspannter verlassen hatte, ging er mehrere Stunden lang ziellos in der Stadt umher. Anschließend betrat er ein Waffengeschäft und versuchte, einen Revolver zu kaufen. Der Geschäftsinhaber weigerte sich, ihm eine Waffe zu verkaufen, mit der Begründung, dazu sei ein Waffenerwerbsschein erforderlich. Hodgkins erwiderte, er wolle sich einen besorgen und suchte sich eine Waffe
aus, die man für ihn zurücklegen solle. Der Geschäftsmann entsprach seinem Wunsch. Hodgkins verließ den Laden und kehrte nicht mehr zurück. Als nächstes suchte er ein großes Sport- und Freizeitartikelgeschäft auf und versuchte wiederum, einen Revolver zu kaufen. Auch hier gab man ihm zu verstehen, daß er einen Waffenerwerbsschein vorlegen müsse. Wie beim erstenmal, suchte sich auch Hodgkins hier eine Waffe aus und ließ sie zurücklegen. Unser Beobachter berichtet, daß in beiden Geschäften Hodgkins keinen Verdacht erweckte, sich widerrechtlich in den Besitz einer Waffe bringen zu wollen. Nach diesen beiden vergeblichen Versuchen, eine Schußwaffe zu erwerben, kaufte Hodgkins an einem Kiosk mehrere Tageszeitungen und ging in ein kleines Restaurant. Er las sie alle ausführlich. Unser Beobachter kam zu dem Schluß, daß Hodgkins etwas ganz Bestimmtes suchte. Hodgkins ließ die Zeitungen liegen und fuhr schließlich mit einem Taxi nach Hause. Dort verbrachte er den Rest des Tages und den Abend.« Dikty machte eine Pause und klopfte die Asche aus seiner Pfeife. »Und ich wünschte, ich könnte es genauso tun.« Die Sekretärin blickte von ihrem Stenoblock auf und beobachtete Dikty nachdenklich. Sie spielte mit dem Bleistift.
»Los«, forderte Dikty sie auf. »Heraus damit.« »Ich würde sagen«, meinte sie, »daß Hodgkins die Verdachtsperson aufsuchte und ihre Dienste in Anspruch nahm. Zu dem ausschließlichen Zweck, seine Frau wiederzufinden. Meine Vermutung reicht sogar soweit, daß Hodgkins beabsichtigte, seine Frau zu erschießen – sofern er ihr überhaupt noch einmal begegnen sollte.« »Richtig.« Es begann zu donnern. »Als er feststellen mußte, daß er ohne Waffenerwerbsschein keinen Revolver bekommen würde, hat er den Mut verloren«, fuhr sie fort. Dann brach sie ab und runzelte die Stirn. »Nein, nicht ganz. Er hat den Mut nicht verloren. Er hat lediglich erkannt, daß er sich eine Schußwaffe auf andere Weise beschaffen müßte.« »Fast richtig«, sagte Dikty und nickte. »Vielleicht hat er aber auch erkannt, daß er gar keine Schußwaffe dazu brauchte. Vergessen Sie nicht, er ist nicht dumm. Ihnen oder mir würde ein ganzes Dutzend von verschiedenen Mitteln einfallen, die er ihr in den Kaffee schütten könnte, nur wird er ihr keinen Kaffee mehr anbieten können. Er wird also nach anderen Möglichkeiten gesucht haben, sie über die Entfernung hinweg zu treffen. Ich würde nur zu gern wissen, was er in den Zeitungen gesucht hat.«
»Etwas im Anzeigenteil – aber nein, er hat die Zeitungen ja vollständig gelesen, nicht wahr?« »So ist es. Er muß nach irgendeiner Nachricht gesucht haben.« »Vielleicht etwas, auf das ihn unsere Verdachtsperson gebracht haben könnte?« Dikty schien ursprünglich die Frage gleich beantworten zu wollen, machte jedoch eine Pause. »Ja«, sagte er nach einer Weile. »So könnte es sein.« Das Telefon läutete. Dikty blickte auf die Uhr. Die Sekretärin nahm den Hörer ab, nickte, reichte ihn ihrem Chef. »Hier Dikty«, Pause. »Ja, hat er. Kurz nach Mitternacht. Nein, noch nicht. Sie suchen noch.« Eine längere Pause. »Bin ich, ständig. Verdachtsperson hat nichts unternommen. Über den Zwischenfall steht noch nichts in der Zeitung. Werde ich tun, heute nacht.« Wieder eine Pause. »Oak Ridge wird der Presse eine Erklärung geben. Ja, wahrscheinlich. Was werden Sie –?« Mehrere Minuten lang herrschte Schweigen in Diktys Büro. »Ich diktiere gerade den Bericht. Sie werden ihn morgen bekommen. Hodgkins und die Verdachtsperson haben einander getroffen, ziemlich unerwartet. Ja, er ist zu ihm gegangen. Ja, glaube ich auch. Gut.« Eine Weile Pause. »Werde ich tun.« Und dann legte Dikty auf. Die Sekretärin wartete gespannt.
Dikty blickte auf das Telefon, dann durchs Fenster zum Gewitterhimmel hinauf und wieder zurück zu dem Mädchen. »Der zweite Beobachter ist bereits im Einsatz, hat sich jedoch nicht bei Cummings gemeldet. Offensichtlich weiß er noch nicht, was gestern nacht passiert ist.« Er zeigte wieder mit dem Pfeifenstiel auf den Stenogrammblock. »Gestern nacht, zehn Minuten nach zwölf Uhr, erhielt die Polizei einen Anruf, im Haus 2336 North Shasta Drive habe es ein Geräusch gegeben, das sich wie ein Schuß angehört habe. Sechzehn Minuten nach Mitternacht traf die Polizei an der angegebenen Adresse ein. Das Haus war verschlossen, es brannte kein Licht. Nach mehreren Minuten entschloß man sich, die Hintertür aufzubrechen, die vom Garten in die Küche führte. Sie fanden Hodgkins im Schlafzimmer seiner Frau auf dem Bett. Er war tot. Der Kopf des Mannes wies zwei Schußwunden auf. Die Ausschußwunde war im Hinterkopf. Der Revolverlauf war vor dem Auslösen des Schusses in den Mund geschoben worden. Es handelt sich um einen Revolver vom Kaliber .32, Fabrikat Smith and Wesson. Er lag auf dem Fußboden in der Nähe des Toten. Die Waffe war noch eingefettet. Fingerabdrücke konnten nicht festgestellt werden. Die Polizei nahm umgehend einen Hauttest an den Fingern des Toten vor, und es wurden Spuren von Waffenfett festge-
stellt, aber keine von verbrannten Pulverrückständen.« »Tot«, sagte das Mädchen leise. »Mausetot«, sagte Dikty. »Durch den Mund geschossen. Wir müssen den Untersuchungsbericht abwarten, aber ich habe gehört, daß Seeleute und Frauen sich häufig dieser Art des Selbstmordes bedienen. Eine sehr unappetitliche Angelegenheit. Sie hätten das Bett sehen sollen.« »Vielen Dank.« Shirley Hoffman schüttelte sich. »Was hat es mit dem Waffenfett und den Pulverrückständen auf sich?« »Auf einer eingefetteten Waffe bleiben keine Fingerabdrücke zurück, auch wenn in Kriminalromanen bisweilen anderes behauptet wird. Die Spuren von Fett an Hodgkins' Fingern weisen darauf hin, daß er mit der Waffe hantiert hat, das Fehlen von verbrannten Pulverrückständen läßt erkennen, daß er die Waffe nicht abgefeuert hat. Aber wir werden auf den Untersuchungsbericht warten müssen. Ich bin kein Fachmann auf diesem Gebiet. Ich glaube, es gibt einen Jodtest, mit dem man unsichtbare Spuren für das Auge sichtbar machen kann. Aber weiter mit dem Bericht. Die Polizei durchsuchte das Haus. An einigen Stücken sauberer Unterwäsche, die Hodgkins gehört hatte, und die in seiner Herrenkommode lagen, fand
man Spuren von Waffenfett. Man glaubte zunächst, er habe die Waffe in dieser Schublade versteckt. Nach allem, was man inzwischen erfahren hat, glaubt die Polizei jedoch inzwischen, daß er selbst keine Waffe besessen hatte und mit der Waffe eines Mörders erschossen wurde. Der Mörder konnte natürlich nicht wissen, daß Hodgkins am Tag vorher zweimal vergeblich versucht hatte, einen Revolver zu kaufen. Der Mörder muß also Hodgkins' Unterwäsche mit seiner Waffe in Berührung gebracht und diese absichtlich am Tatort zurückgelassen haben, um Selbstmord vorzutäuschen. Das ist ihm jedoch nicht gelungen. Der auf Hodgkins angesetzte Beobachter hatte draußen in der Nähe in einem Wagen gewartet. Er berichtete, daß er niemand gesehen habe, der das Haus betrat oder verließ. Er hörte zwar den Schuß, ging aber nicht ins Haus, um sich nicht zu verraten. Außerdem hatte er keine Anweisungen, sich in solch einem Fall einzumischen. Die oberste Leitung von Oak Ridge sah keine Veranlassung, die Polizei davon in Kenntnis zu setzen, daß der Verstorbene unter Beobachtung stand und aus welchem Grunde. Dies wäre für die polizeilichen Ermittlungen ohnehin unerheblich gewesen. Die Polizei sucht jetzt Hodgkins' Witwe. Ich suche sie auch. Morgen gehe ich zum Begräbnis, für den Fall, daß sie dort erscheinen sollte. Ende des Berichts.«
Draußen hatte es endlich zu regnen begonnen. Dikty machte ein finsteres Gesicht. Shirley Hoffman blickte ebenfalls aus dem Fenster. Nach einer Weile fragte sie: »War's die Witwe?« »Darüber steht mir kein Urteil zu.« »Aber es war bestimmt kein Selbstmord.« »Nein.« »Ich frage mich nur ...« »Polizeiliche Ermittlungen in einem Mordfall«, erklärte Dikty, »verfolgen zunächst den Zweck, Vorgehen und Motiv des Täters festzustellen. Ich glaube jedenfalls, daß es so ist. Über das Vorgehen bestehen keine Zweifel. Sehr unappetitlich. In den meisten Fällen führt das Motiv zum Täter.« Dikty schwieg und blickte weiter durch das Fenster hinaus. »Ich sehe es Ihrem Gesicht an, was Sie denken«, sagte Shirley. »Tatsächlich? Können Sie auch seinen Namen lesen?« »Sie haben mich vorhin gewarnt, ihn jemals laut auszusprechen.«
5 Gilbert Nash bewegte sich nicht in der Dunkelheit. Es regnete stark. Niemand sah die einsame, durchnäßte Gestalt. Sein Blick war auf das Haus gerichtet. Die umliegenden Gebäude waren dunkel. Ihre Bewohner hatten sich längst zur Ruhe begeben. Die Aufregung hatte sich gelegt. Die letzten Autos waren weggefahren. Trotzdem wartete Nash. Irgend etwas würde geschehen. Inzwischen dachte er über Hodgkins nach und das Haus, das ihm noch vor vierundzwanzig Stunden gehört hatte. Hodgkins hatte das Haus verlassen. Für immer. Am vergangenen Nachmittag hatte er ihn noch einmal gesehen, seine menschlichen Überreste. Der Leichenbestatter hatte sein Gesicht wieder hergerichtet und dabei ein kleines Wunder vollbracht. Es hatte nur noch entfernt Ähnlichkeit gehabt mit dem des Mannes, der ihm über eine Stunde lang gegenübergesessen hatte. Keine Spur mehr von der Unsicherheit und der bohrenden Angst. Hodgkins hatte seinen Frieden gefunden, gestern, kurz nach Mitternacht. Viele Jahre war er ihm versagt geblieben. Ein ratloser Mensch mit seinen Träumen und unzähligen Plänen für die Zukunft, der sein Leben der Forschung verschrieben hatte und erstaunliche
Entdeckungen gemacht hatte, einschließlich jener in der Bücherei, die dann seine Frau geworden war. In keinem Nachruf würden die Verdienste dieses Mannes um die Wissenschaft und Technik erwähnt werden. Seine größte Tat war die Entwicklung eines Steuersystems, mit dem man ein Raumschiff auf die unglaublich lange Reise nach dem Stern Tau Ceti und darüber hinaus schicken konnte. Mit Hilfe dieser Arbeit und der seiner Mitarbeiter würde man das Schiff sicher und ohne Abweichungen ans Ziel und wieder zurückbringen können, ferngesteuert, ohne daß sich ein Mensch an Bord befand. Hodgkins hätte wenigstens ein kleines Denkmal dafür verdient gehabt, aber er würde es nie bekommen. Ihm würde sogar jede Art von Anerkennung in der Öffentlichkeit versagt bleiben. Gregg Hodgkins hatte noch eine weitere Entdekkung gemacht, die ebenfalls in keinem Nachruf erwähnt werden würde. Ohne es zu wissen und mit Hilfe seiner Frau hatte er die Fähigkeit der Gedankenübertragung praktiziert. Er war zufällig über die einzig anwendbare Methode dieser Art von Kommunikation zwischen Menschen gestolpert, hatte ihr für kurze Zeit zu einem Wiederaufleben in der Geschichte verholfen. Und das hatte ihn aus der Bahn geworfen. Er hatte nicht wissen können, daß man sich vor
undenklichen Zeiten dieser Kunst in Afrika bereits bedient hatte. Das war etwa siebentausend Jahre vor seiner Geburt gewesen. Bei den alten Sumerern hatte diese Art von Telepathie zu den Alltäglichkeiten gehört. Mit dieser Methode war es dem legendären Gilgamesh gelungen, seinen einzigen Todfeind zu überwinden, und diese Kunst war am Ende dieses Zeitalters zum erstenmal in Vergessenheit geraten. Sie war kurz wieder aufgetaucht in der dritten Dynastie von Ur und dann wieder verschwunden. Tausende von Jahren war sie vergessen gewesen, bis er Carolyn geheiratet hatte. Hodgkins würde Mühe gehabt haben, diese Fähigkeit zu erklären, wenn er sich dieser bewußt gewesen wäre. Seiner Frau dagegen würde dies keine Schwierigkeiten machen. Sie hätte ihren Mann aufklären können, wenn sie etwas anderes als nur Verachtung für ihn empfunden hätte. Auch Nash hätte es ihm erklären können, falls er das für richtig gehalten hätte. Aber die Wissenschaftler der konservativen Schule hätten nur mit verächtlichem Lächeln reagiert, wenn man ihnen erklärt hätte, daß in der Vergangenheit Gedankenübertragung zwischen Menschen auf dem Wege einer Berührung, eines Kusses oder geschlechtlicher Vereinigung möglich gewesen war. Auch aufgeschlossenere Wissenschaftler hätten Mühe gehabt, ein mitleidiges Lächeln zu verbergen. Die zwei gro-
ßen Entdeckungen von Gregg Hodgkins würden also unbekannt bleiben, ungewürdigt, und eine alte sumerische Kunst würde auch weiterhin verschollen bleiben. In seinem Nachruf würden sich nur Allgemeinplätze finden, auf seinem kleinen Grabstein würde der Name stehen, ein paar Daten, sonst nichts. Nash verließ die Stelle, wo er vor dem Regen Schutz gesucht hatte, und näherte sich dem Haus. Die Polizei hatte das Oberlicht der Hintertür, durch das man eingebrochen war, mit Sperrholz zugenagelt. Die Tür war verschlossen worden, den Schlüssel hatte man mitgenommen. Nash ging die drei Holzstufen hinauf und lehnte sich mit dem ganzen Gewicht gegen die Tür. Sie gab nicht nach. Er richtete sich auf und drückte mit der Hand gegen eine Ecke der Sperrholztafel. Langsam drückte er die Nägel aus dem Fensterrahmen heraus. Dann langte er durch den Spalt und öffnete das Sicherheitsschloß, wofür man von innen keinen Schlüssel brauchte. Die Tür ging auf. Leise betrat er die finstere Küche und schloß die Tür. Die Sperrholztafel drückte er wieder gegen den Rahmen. Im Haus roch es muffig und nach kaltem Zigarrenrauch. Nash wartete in der Stille, tastete das dunkle Innere des verlassenen Hauses ab, glaubte noch die Gegenwart des Wissenschaftlers zu spüren. Hodgkins' Persönlich-
keit schien sich noch an die Räume zu klammern, schien sich gegen den fremden Zigarrenrauch und den Eindringling zu stemmen. Von seiner Frau schien jedoch nichts im Haus zurückgeblieben zu sein. Sie hatte ihre weibliche Ausstrahlung vor drei Wochen mitgenommen, als sie das Haus verlassen hatte. Nichts, nicht der kleinste Hauch deutete darauf hin, daß sie jemals hier gelebt hatte. Nash hatte seine Zweifel, ob sie jemals richtig in diesem Haus gelebt hatte, obwohl sie zahlreiche Jahre hier verbracht hatte. Konnte man sie mit einem Reisenden vergleichen, der zwar die Nacht in einem Hotelzimmer verbringt, jedoch nicht darin lebt? Nash fragte sich auch, ob sie denselben seltsamen Schlag gespürt hatte wie er, als er Hodgkins die Hand gegeben hatte. Hatte sie diesen Schlag genauso unvermittelt und stark gespürt wie er, oder hatte es über Monate hinweg ganz allmählich an Stärke zugenommen, so daß sie zu ahnen begann, was bevorstand? Der Händedruck mit Gregg Hodgkins hatte ihm letzte Gewißheit gebracht, warum Carolyn ihn verlassen hatte. Sie hatte gewußt, daß sie Witwe werden würde. Und aus irgendeinem Grunde hatte sie nicht zu Hause sein wollen, wenn dieser Zustand eintrat. Nash verließ die Küche, um die anderen Räume des Hauses zu durchforschen. Er hatte eine kleine Taschenlampe mitgebracht und schirmte ihr Licht mit der Hand ab.
Er betrat das Bad, anschließend ein Schlafzimmer. Hodgkins' Schlafzimmer, wie er nach einer Weile feststellte. Die Anzüge des Mannes hingen noch im Wandschrank. Auf dem Nachttisch lagen ein paar Bücher, ein Wecker stand darauf, der nicht mehr tickte. Staub lag über allem. Die Schübe der Kommode standen offen, nachdem die Polizei sie durchsucht hatte. Nash gab die Hoffnung auf, Kleidungsstücke zu finden, an denen sich Fettspuren befinden könnten. In der obersten Schublade waren einige Taschentücher, mehrere Paar Socken, ein ordentlich zusammengelegter Wollschal, ein Schnürsenkel, gebraucht, aber nicht zerrissen, ein Bleistift mit angekautem Ende. Eine Stelle auf der Kommode, weniger staubbedeckt als der Rest, deutete darauf hin, daß man einen Bilderrahmen entfernt hatte. Zweifellos ein Bild von Carolyn, das die Polizei brauchte, wenn sie die Frau finden wollte. Überall waren noch Spuren weißen Staubes zu sehen. Die Polizei machte sich nicht die Mühe, die Spuren ihrer Arbeit zu beseitigen. Nash steckte die Hände in die Taschen und blickte sich in dem dunklen Raum ein letztes Mal um. Dann betrat er das nächste Badezimmer und einen weiteren Raum. Offensichtlich Carolyns Schlafzimmer. Man hatte das Bett in eine Ecke geschoben, damit die Polizeifotografen mehr Platz hatten, den Tatort zu fo-
tografieren. Auf der Matratze lag kein Bettuch mehr. Nash blieb neben dem Bett stehen, um die Matratze zu untersuchen und den großen Blutfleck. Er wollte wissen, in welcher Lage die Leiche sich befunden hatte. Es gelang ihm nicht, zu einer klaren Vorstellung zu kommen. Wenn Hodgkins ermordet worden war, hatte er vermutlich neben dem Bett gestanden. Er würde sich darauf gelegt haben, wenn er sich selbst getötet hatte. Aus dem Blutfleck ließen sich keine Schlüsse ziehen. Nash kehrte ins Bad zurück und ging wieder in Hodgkins' Schlafzimmer. Alles deutete darauf hin, daß es schon lange nicht mehr benützt worden war. Der Mann hatte also, nachdem ihn seine Frau verlassen hatte, in ihrem Bett geschlafen. Aus Rache oder Wehmut? Nash wußte es nicht. Plötzlich fiel ihm etwas ein. Er ging und untersuchte das Türschloß ihres Schlafzimmers. Der Schlüssel steckte von innen. Das bedeutete soviel wie ›draußen bleiben‹. Anders war es sicher gewesen, wenn Hodgkins mit neuem Wissen von der Arbeit zurückgekehrt war. Dann hatte der Schlüssel außen gesteckt. Eine stumme Einladung. Carolyn war ein Luder. Er suchte in ihrem Schlafzimmer nach Spuren, die sie hinterlassen haben könnte. Staub lag überall, auf den Fensterbrettern und unter den Betten. Die Schübe ihrer Frisierkommode standen offen. Sie waren leer. Nur Staub und ein paar Haarnadeln lagen darin. Er
nahm eine und hielt sie in den Lichtstrahl seiner Taschenlampe. Ein bedeutungsloser kleiner Gegenstand, aber er steckte sie trotzdem in die Tasche. Eine kleine weiße Flasche, die Nagellack enthalten hatte, war mit weißem Puder bedeckt. Nash rührte sie nicht an. Carolyn Hodgkins hatte nichts in dem Zimmer zurückgelassen, aber er blieb mehrere Minuten lang in der Dunkelheit stehen, in der Hoffnung, einen Rest ihrer persönlichen Ausstrahlung zu spüren, irgendeinen Hinweis zu bekommen, daß sie bis vor kurzem hier gewohnt hatte. Aber er empfand nichts. Zum dritten Male betrat er das Bad und leuchtete mit der Taschenlampe. Er durchsuchte das Medizinschränkchen über dem Waschbecken, seufzte enttäuscht und ging hinaus, um sich die anderen Räume des Hauses anzusehen. Im Grunde interessierten sie ihn nicht. Sie waren modern, aber behaglich eingerichtet, ganz so, wie er es von dem Besitzer des Hauses erwartet hatte. Mehr war nicht zu erkennen. Von Carolyn Hodgkins war nichts zurückgeblieben. Nash setzte sich in einen Sessel neben dem offenen Kamin, stützte das Kinn auf den Handrücken und dachte in der Dunkelheit nach. Das Rauschen des Regens war das einzige Geräusch. Zu welchem Zweck hatte Hodgkins eine Schußwaffe kaufen wollen? Um Carolyn zu erschießen? Schon möglich. Verliebte
neigten manchmal zu solchen Handlungen, wenn die Person, der ihre Liebe galt, sich zurückzuziehen begann. Um sich selbst zu töten? Auch das war möglich. Enttäuschte Liebe konnte zu Selbstmord führen. Carolyn Hodgkins hatte gewußt, daß sie Witwe werden würde. Das hatte sie in einer jener Nächte erfahren, als ihr Mann zu ihr kommen durfte. Eine furchtbare Entdeckung. Fast obszön zu nennen, wenn man bedachte, wobei und an welchem Ort sie es erfahren hatte. Es war fast so, als habe man eine Leiche im Bett. Aber warum hatte er einen Revolver kaufen wollen? Um jemanden zu töten? Kaum. Wer aus Hodgkins' kleinem Freundeskreis oder welcher Kollege hätte das Opfer sein sollen? Hodgkins hatte den Revolver kaufen wollen, kurz nachdem er mit Nash gesprochen und ihn beauftragt hatte, Carolyn zu suchen. War es möglich, daß der Wissenschaftler vorgehabt hatte, Nash umzubringen? Und aus welchem Grund? Vielleicht weil Nash und Carolyn die gleiche Augenfarbe hatten? Hatte Hodgkins etwas geahnt? Ein Gedanke, den er weiterverfolgen sollte. Der Regen pladderte gegen die Hauswand. Hodgkins war alles andere als geistig krank gewesen. Sein Hausarzt und der Betriebspsychiater würden dies festgestellt haben. Aber der Mann hatte unter starken Depressionen gelitten. Er war verzweifelt gewesen. Es war durchaus möglich, daß er vorgehabt
hatte, eine von den drei Personen zu töten – oder sogar mehr als eine. Die Frau, den Detektiv, sich selbst. Aber wen? Es könnte aber genauso sein, daß er überhaupt niemanden hatte erschießen wollen – es sei denn in Notwehr. Vielleicht hatte er die Waffe zu seiner Verteidigung kaufen wollen, zum Schutz vor irgendeiner unbekannten Gefahr. War es möglich, daß ein Dreiecksverhältnis bestanden hatte? Der zweite Mann, zu dem Carolyn gegangen war? Trieb sich diese Person irgendwo in der Nähe herum? Nash richtete sich im Sessel auf, als er aus der Küche das leise Geräusch vernahm. Jemand drückte sanft gegen die Sperrholztafel, genauso wie er es vorhin getan hatte, und kurz darauf ging die Tür nach innen auf. Der Eindringling blieb kurz in der Küche stehen, genauso wie Nash, um sich mit der Umgebung vertraut zu machen. Nash fragte sich, ob der andere seine Gegenwart spüren konnte. Die Hintertür wurde leise geschlossen, dann hörte man das Geräusch von verstohlenen Schritten. Das Geräusch hörte auf, und kurz darauf wurde eine Taschenlampe eingeschaltet. Der Lichtstrahl richtete sich auf die Schlafzimmertür. Carolyns Zimmertür. Nash ließ sich in den Sessel zurücksinken und lächelte, als das Geräusch der Schritte wieder erklang. Der Eindringling betrat das Schlafzimmer der Frau.
Er gab sich keine Mühe, leise zu sein. Nash hörte deutlich, wie Schubladen geöffnet wurden, wie ein Stuhl zur Seite geschoben wurde und das Nachtkästchen verrückt wurde. Durch die offene Tür sah er, wie der Strahl der Taschenlampe hin- und herwanderte. Zweimal konnte man deutlich hören, wie der Eindringling seine Tätigkeit unterbrach. Einmal, als das Licht der Taschenlampe auf den Blutfleck auf der Matratze fiel, dann wieder, als er vor der Tür zum gemeinsamen Badezimmer stehenblieb. Nash lauschte angespannt. Er hörte, wie ein Schlüssel behutsam aus dem Schloß gezogen wurde. Dann schnappte eine Tasche zu. Der Eindringling begab sich in Hodgkins' Schlafzimmer und suchte auch dort herum. Nach einer langen Pause, während der man nichts hörte, betrat der Eindringling das Wohnzimmer. Der angenehme Duft eines Parfüms kam mit ihm. Nash hob den Kopf, bewegte sich jedoch nicht in dem bequemen Sessel. Bevor sie ihn entdeckte und vielleicht erschrak, sagte er mit leiser Stimme: »Guten Abend.« Sie stieß einen kleinen Schrei aus, unterdrückte ihn jedoch schnell wieder, als ihr einfiel, wo sie sich befand. Der Kegel ihrer Taschenlampe erfaßte den Mann im Sessel. »Schalten Sie lieber das Licht aus«, rief er. »Die Nachbarn brauchen es nicht zu sehen.«
Nach einer kurzen Weile schaltete sie die Taschenlampe aus. In der Dunkelheit konnte er nichts sehen. Er wußte, daß auch sie ihn nur schwach erkennen konnte. »Was tun Sie hier?« fragte sie, ihre Stimme klang ängstlich. »Ich denke nach.« Darauf wußte sie nicht sofort eine Antwort. »Es ist nicht mehr viel da«, fuhr er mit ruhiger Stimme fort, um sie nicht zu erschrecken. »Die Polizei hat wahrscheinlich das meiste mitgenommen.« Sie ließ den angehaltenen Atem entweichen und fing noch einmal von vorn an. »Was suchen Sie eigentlich hier?« Sie brachte es mühsam hervor. Der Schrecken, hier auf ihn gestoßen zu sein, saß ihr noch in den Gliedern. »Sie glauben also nicht, daß ich hierher gekommen bin, um nachzudenken. Im Haus herrschte eine himmlische Ruhe, bis Sie kamen. Sie eignen sich nicht als Einbrecherin – Sie sind viel zu laut.« Er hörte, wie sie in der Dunkelheit heftig atmete. »Also schön, ich bin aus demselben Grund hier wie Sie. Ich suche etwas.« »Was?« fragte sie sofort. »Dies und das«, entgegnete er gelassen. »Alles, was sich als nützlich erweisen könnte.« »Nützlich? Für wen?«
»Für mich.« Sie zögerte. »An was sind Sie interessiert?« »Ich bitte Sie, das ist eine sehr naive Frage.« Sie sagte nichts. Sie stand da und starrte ihn durch die Dunkelheit hindurch an. Nash verschränkte die Hände auf dem Schoß. Seine Augen hatten sich an die Dunkelheit gewöhnt, und er konnte ihre Umrisse gegen den Hintergrund der weißen Wand erkennen. »Mir fällt auf«, sagte er, »daß Sie mich nicht nach meinem Namen gefragt haben. Also müssen Sie mich kennen.« »Ich habe Sie schon gesehen«, gab sie widerstrebend zu. »Wie nett.« Er lächelte. »Und darf ich Sie auch einmal sehen?« »Nein! Bewegen Sie sich nicht!« »Aber warum nicht? Sie sind bestimmt eine schöne Frau. Sie haben eine angenehme Stimme, und Ihr Parfüm gefällt mir.« »Das geht Sie nichts an.« Ihrer Stimme war anzumerken, daß sie ihre Beherrschung wiedergefunden hatte. »O doch, es geht mich etwas an. Ich mag Frauen.« »Sie haben mir immer noch nicht gesagt, was Sie hier tun!« »Aber ich habe Ihnen bereits die Wahrheit gesagt, Ehrenwort. Ich habe das Haus durchsucht, genauso wie Sie.«
»Indem Sie hier im Sessel sitzen?« fragte sie, und es klang etwas schnippisch. »Ich hatte meine Suche schon beendet – erfolglos. Genauso wie Sie. Also setzte ich mich in diesen Sessel, um nachzudenken.« »Über was dachten Sie nach?« Er mußte lachen. »Tut mir leid, mein geheimnisvoller Engel, aber meine Gedanken sind Privateigentum. Sind Sie aber neugierig. Sagen Sie mir bitte, wer Sie sind?« »Nein.« »Auch gut. Ich werde es schon noch herausbekommen.« Sie stockte, bevor sie fragte: »Wie denn?« »Ich werde mich an Ihre Stimme erinnern, an den Duft Ihres Parfüms«, sagte er, und es klang, als rede er zu einem Kind. »Ihr Gang wird mir wieder auffallen, aber vor allem werde ich mich an Ihre Stimme erinnern, auch wenn sie später nicht mehr so ängstlich klingen wird wie jetzt.« Er lachte wieder. »Ich möchte diese Stimme gern öfter hören. Keine Angst, ich werde Sie schon finden.« »Und dann?« fragte sie. Er lächelte in der Dunkelheit. Die wollte tatsächlich die Antwort hören. »Das kommt ganz auf die Zeit und die Umstände an. Vielleicht lade ich Sie zu einem Drink oder zum Essen ein. Vielleicht bitte ich Sie, mit
mir tanzen zu gehen oder meine Schmetterlingssammlung anzuschauen. Wir werden uns schon begegnen«, versprach er. »Haben –«, sie brach ab und begann von neuem: »Sie haben nichts gefunden? Gibt es nichts mehr in diesem Haus?« »Eine Haarnadel habe ich gefunden«, gab er zu. »Sie steckt in meiner Tasche. Falls Sie auch eine haben wollen, es liegen noch mehrere in der Frisierkommode.« Sie konnte ihr Erstaunen nicht verbergen. »Was in aller Welt wollen Sie mit einer Haarnadel?« »Ach – ich behalte sie eine Weile. Vielleicht um sie mit Ihren Haarnadeln zu vergleichen, wenn wir uns wieder begegnen. Vielleicht behalte ich sie auch als Souvenir. Ich weiß noch nicht.« Er strengte die Augen an, konnte jedoch nur die Umrisse ihrer Gestalt erkennen. Er wünschte, er könnte ihr Gesicht sehen. »Vielleicht verbiege ich sie auch – forme daraus die Hörner eines Stiers und halte sie über eine Flamme.« Gespannt wartete er auf ihre Reaktion. Schweigen lag über dem Raum, und die beiden Menschen maßen sich mit den Blicken wie Duellanten, jeder bemüht, den anderen etwas deutlicher erkennen zu können. Der Regen war wie Begleitmusik zu ihrem Duell in der Finsternis. Ihre Stimme klang angestrengt, als sie flüsterte: »Wer sind Sie?«
»Nicht der, für den Sie mich im ersten Augenblick halten könnten«, antwortete er fröhlich, denn die Spannung hatte nachgelassen. »Genauso wenig wie Sie, möchte ich hinzufügen.« »Aber wer sind Sie dann?« bohrte sie weiter. »Gilbert Nash«, sagte Gilbert Nash. »Ich stehe Ihnen in meinem Büro zwischen neun und sechzehn Uhr zur Verfügung.« Er blickte sich in der Dunkelheit des Raumes um. »Stunden gemeinsamen Nachdenkens nach vorheriger Vereinbarung.« »Seien Sie nicht albern. Sie wissen genau, was ich meine, wenn ich Sie frage, wer Sie sind.« Nash zuckte mit den Schultern. Er hatte ganz vergessen, daß sie ihn nicht sehen konnte. »Sie sagen mir ja auch nicht Ihren Namen. Also ...« Sie antwortete mit deutlicher Betonung: »Ich könnte Sie zwingen, es mir zu sagen.« Sein Ausdruck war belustigt. »Das möchte ich bezweifeln.« »Hodgkins war bei Ihnen, nicht wahr? In Ihrem Büro.« »Ja, er war bei mir. Und die nächste Frage brauchen Sie gar nicht erst zu stellen, weil ich Ihnen doch keine Antwort darauf geben werde.« Wieder sagte sie mit Betonung: »Ich könnte Sie zwingen, es mir zu sagen.« Nash verlieh wieder seinem Zweifel Ausdruck und
fügte hinzu: »Ich bin nicht wie Hodgkins.« Eine Weile herrschte angespanntes Schweigen, bevor sie fortfuhr. »Ich dachte nicht daran, Gewalt anzuwenden.« »Ich weiß schon, an was Sie gedacht haben«, erklärte Nash. Er hatte Mühe, ernst zu bleiben. »Und ich sage noch einmal, ich bin nicht Hodgkins.« »An Minderwertigkeitsgefühlen scheinen Sie nicht zu leiden!« »Sie aber auch nicht«, konterte er. »Sie sind wie alle Frauen, und glauben, mit dem Kopf durch die Wand zu müssen.« »Ich glaube, ich brauchte mich gar nicht sehr anzustrengen, um Sie zu hassen.« »Das ist nur der erste Eindruck, mein liebes Kind. Mit der Zeit werden Sie anders über mich denken. Ich bin ein richtig liebenswerter Mensch. Und Sie können es sich gar nicht leisten, mich zu hassen – in der augenblicklichen Situation. Gehen Sie nach Hause und weinen Sie sich aus, falls es Ihnen hilft.« Er richtete sich im Sessel auf und streckte sich. »Ich schlage vor, wir gehen beide nach Hause. Wir sind schon zu lange hier. Die Nachbarn könnten das Licht Ihrer Taschenlampe gesehen haben. Möglicherweise kommt auch ein Streifenwagen der Polizei vorbei, um nachzusehen. Es möchte doch keiner von uns beiden in diesem Haus überrascht werden.« Er tat so, als wolle er aufstehen.
»Keine Bewegung«, warnte sie. »Also schön«, sagte er, »dann gehe ich nach Ihnen. Aber bitte, gehen Sie jetzt endlich. Ich lebe zwar schon sehr lange, möchte aber jetzt trotzdem nicht erschossen werden.« Er streckte die Hand aus. »Wollen wir uns auf Wiedersehen sagen – wieder Freunde sein?« »Nein!« Sie schob sich an der Wand entlang auf die Küchentür zu. Nash blieb sitzen und versuchte, ihr mit den Blicken zu folgen. Das Mädchen hatte den Hinterausgang erreicht. Er hörte, wie sie die Tür öffnete, aber sie zögerte noch etwas, bevor sie hinausging und die Tür schloß. »Ich werde Sie finden«, rief Nash ihr nach. Dann war sie verschwunden. Die Tür hatte sie offengelassen. Nash sprang aus dem Sessel auf und kniete an der Stelle nieder, wo sie gestanden hatte. Er richtete das abgeschirmte Licht der Taschenlampe auf die Stelle. Der Fußboden war feucht, ein bißchen schmutzig. Aber ein deutlicher Schuhabdruck war nicht zu erkennen. Er ging in die Küche und kniete an der Tür nieder, sah sich die Spuren an, die das Mädchen auf dem Linoleum hinterlassen hatte. Sie waren genauso undeutlich wie seine eigenen. Er schaltete die Taschenlampe aus und blickte durch die offene Tür hinaus in den Regen.
»Carolyn Hodgkins war das nicht«, sagte er mit zufriedener Stimme. Zu Gregg Hodgkins' Begräbnis am darauffolgenden Nachmittag kamen nur wenige Leute. Kein würdiger Abschied für einen Mann, der so viel wie Hodgkins geleistet hatte. In einer Ecke der Leichenhalle standen einige Männer: Bekannte und Arbeitskollegen von Gregg Hodgkins. Der Psychiater und noch ein, zwei Leute von der Verwaltung, die gekommen waren, weil sie es für ihre Pflicht hielten – nicht weil sie den Verstorbenen näher gekannt hatten. Insgesamt kaum ein Dutzend Menschen. Ein wahrhaftig trauriger Abschied. Etwas abseits von der Gruppe saß ein Mann auf einem Stuhl, der in kurzen Abständen auf seine Armbanduhr blickte – Hodgkins' Hausarzt, vermutete Nash. Und noch zwei Männer waren da, die sich betont im Hintergrund hielten. Sie beobachteten alle, die zum Begräbnis gekommen waren. Nash musterten sie besonders eingehend. Sie hätten genauso gut die blaue Uniform der Polizei tragen können. Und da war die junge Frau. Sie saß auf ihrem Stuhl, den Blick zu Boden gerichtet, und hörte dem Geistlichen zu. Nash setzte sich absichtlich in ihre Nähe. Er wählte einen Stuhl schräg hinter dem ihren, so daß er sie stän-
dig im Auge behalten konnte. Genauso wie ihn die beiden Leute vom Geheimdienst im Auge behielten. Auf sie paßte nicht die Beschreibung, die Hodgkins ihm von seiner Frau gegeben hatte. Und sie war auch nicht einundvierzig Jahre alt, denn so alt sollte Carolyn Hodgkins gemäß der Übereinkunft, die sie mit ihrem Mann getroffen hatte, jetzt sein. Diese Frau war noch keine dreißig Jahre alt. Sie unterschied sich von Carolyns Beschreibung außerdem durch ihre Größe, durch die Haarfarbe und das Gewicht. Ihr Gesicht konnte er nur schräg von der Seite sehen, die Augen überhaupt nicht. Sie hatte sich nicht umgedreht, als er sich hinter sie gesetzt hatte. Aber sie war sich seiner Gegenwart bewußt. Ihr Körper hatte sich versteift, und er hatte es auch daran gemerkt, daß sie so tat, als konzentriere sie sich völlig auf die Worte des Geistlichen. Aber das war nicht Carolyn Hodgkins. Wer dann? Welche andere Frau interessierte sich für Gregg Hodgkins, den Lebenden oder den Toten. Nach einer Weile spürte und hörte Nash wie noch jemand den Raum betrat. Er oder sie setzte sich auf einen Stuhl in der Nähe der Tür. Es schien ein Mann zu sein, nach den Geräuschen zu urteilen, die entstanden, als die Person sich setzte. Nash ließ eine Minute verstreichen, dann wandte er den Kopf. Es war Dikty. Er blickte Nash unverwandt an. Nash nickte leicht, kaum merklich mit dem Kopf.
Dikty reagierte mit der gleichen Bewegung. Dann konzentrierten beide sich wieder auf die Bestattungszeremonie. Nash starrte den Hinterkopf des Mädchens an und wartete auf das Ende der Ansprache. Eine Weile später stand er draußen vor der Leichenhalle und wartete im dunstigen Sonnenschein, daß das Mädchen herauskäme. Erst kam die Gruppe der Männer aus Oak Ridge. Schweigend gingen sie den Gehsteig hinunter. Es folgten die beiden Kriminalpolizisten in Zivil, die ihn mit den Blicken fixierten und zielstrebig auf ihn zukamen. Nash vermutete, daß sie in Diktys Auftrag handelten. Wenige Augenblicke später kam auch Dikty heraus, blieb aber unter der Tür stehen, wobei er so tat, als sehe er weder Nash noch die beiden Kriminalpolizisten. »Nash?« fragte der erste der beiden Männer. »Ja.« »Wir würden gern wissen wollen, warum Sie hierhergekommen sind.« »Zu Hodgkins' Begräbnis? Nun ja – er war mein Klient, bis vor kurzem.« »Wie lange haben Sie für ihn gearbeitet?« »Etwa zehn oder zwölf Stunden.« Nash musterte die Gesichter der beiden Männer. Er versuchte herauszufinden, was sie von ihm wollten. »Was haben Sie für ihn tun sollen?« »Er bat mich, seine Frau zu suchen.«
»Ist das alles?« fragte der eine Beamte mit unverhohlenem Mißtrauen. »Das ist alles.« »Mit seinem Beruf hatte es nichts zu tun?« »Absolut nichts«, entgegnete Nash mit Nachdruck. »Wir könnten Sie bitten mitzukommen, um Sie im Präsidium zu verhören.« Nash nickte. »Ja, das könnten Sie.« »Und wir könnten auch Ihre Lizenz einziehen lassen.« »Ja, auch das könnten Sie.« Die beiden Kriminalbeamten studierten ihn eingehend. »Das scheint Sie aber nicht im geringsten zu stören.« »Kein bißchen, wenn Sie's wissen wollen. Ich habe mir nichts zuschulden kommen lassen, und zwischen mir und Hodgkins ist nichts vorgefallen, woraus Sie mir einen Strick drehen könnten. Trotzdem weiß ich, daß Sie unter einem Vorwand meine Lizenz einziehen könnten. Falls Sie das wollen. Aber mir ist das ziemlich gleichgültig.« »Was soll diese Bemerkung? Ohne Lizenz sind Sie am Ende.« »Ich hatte im vergangenen Jahr ohnehin so wenig zu tun, daß ich nicht hätte davon existieren können. Tun Sie ruhig mit meiner Lizenz, was Sie nicht lassen können. Ich brauche sie ohnehin nicht mehr.«
Der zweite Beamte schien neuen Verdacht zu schöpfen. »Tragen Sie sich mit dem Gedanken wegzuziehen?« »Ich hatte daran gedacht – ja.« »Wohin?« »Ich weiß noch nicht. Nach Norden, Süden, Osten, Westen – ich weiß es nicht.« Er lächelte die beiden unverfänglich an. »In Knoxville ist für mich ohnehin nicht mehr viel zu tun.« Die beiden Beamten schwiegen. Nashs gleichgültige Reaktion schien sie aus dem Konzept gebracht zu haben. Nash blickte an ihnen vorbei zur Tür der Leichenhalle. Sie hatte sich wieder geöffnet, und das Mädchen trat heraus. Sie blickte Dikty flüchtig an, dann kam sie den Gehsteig herunter. Als sie ihn und die beiden Kriminalbeamten erkannte, weiteten sich ihre Augen. Ihm fiel auf, daß sie von einer warmen, dunkelbraunen Farbe waren, fast genauso tiefbraun wie ihr Haar. Dikty hatte den Kopf gewandt, und es schien, als habe er eine Bemerkung gemacht. Das Mädchen verhielt kurz im Schritt, dann ging sie weiter. Nash war jetzt davon überzeugt, daß Dikty ihr etwas zugeflüstert hatte, ihr aufgetragen hatte, sich schnell von ihm zu entfernen. Sie kam an den drei schweigenden Männern vorbei und ging weiter zur Straße. Nash lächelte hinter ihr her.
Das mußte Diktys neue Sekretärin sein, Shirley Hoffman. Und Shirley Hoffman hatte auch ein neues Parfüm. Das war offensichtlich auch ihrem Chef aufgefallen, als sie an ihm vorbeigegangen war. Deshalb hatte er sich also zu ihr umgewandt. Shirley Hoffman hatte Nash sofort wiedererkannt. Und obwohl sie jetzt ein anderes Parfüm benützte, ihre Stimme würde sie nicht verändern können. Nash hatte recht behalten, als er ihr in Hodgkins' Haus gesagt hatte, es würde ihm nicht schwerfallen, sie wiederzufinden.
6 Die Hotels in der Stadt abzuklappern, würde sinnlos sein. Die Polizei hatte längst Nachforschungen angestellt, und vielleicht hatte Dikty persönlich alle Hotels aufgesucht, auf der Suche nach Carolyn Hodgkins. Selbst wenn sie ihr Haar gefärbt und ihren Namen verändert haben würde, es hätte ihr alles nichts genützt. Denn die Polizei hätte sich jede Person genau angesehen, die seit dem Tag von Carolyn Hodgkins' Verschwinden eingezogen war. Die Polizei hatte bestimmt auch bei sämtlichen Omnibusunternehmen und in den Bahnhöfen Nachforschungen angestellt. Trotzdem war nicht auszuschließen, daß Carolyn Hodgkins die Stadt unbemerkt verlassen hatte. Sie war alles andere als eine Anfängerin. Nash legte die Handrücken unter das Kinn, stützte die Ellbogen auf die Schreibtischplatte und dachte nach. Es gab nur wenige Orte, wo sie etwas erfahren könnte, was für sie nützlich war. Oak Ridge schied aus. Dann waren da noch Hanford, vielleicht Brookhaven, und Savannah River. In Savannah River wurde schweres Wasser hergestellt. Es war möglich, daß sich Carolyn Hodgkins dorthin begeben hatte. Los
Alamos kam allerdings auch in Frage. Voraussetzung, dorthin zu ziehen, war allerdings, daß sie ihre wahren Absichten geschickt tarnte und einen einleuchtenden Grund, warum sie sich dort aufzuhalten gedachte, angeben konnte. Dort würde es nicht schwer sein, einen anderen Wissenschaftler zu finden, von dem sie profitieren könnte. Die Chancen, ihn zu heiraten, waren jedoch gering. Denn sie war Witwe. Vor einer beabsichtigten Eheschließung mit einem Wissenschaftler würden die Sicherheitsbehörden ganz bestimmt ihre Vergangenheit durchleuchten und feststellen, daß sie mit Gregg Hodgkins verheiratet gewesen war. An Heirat konnte Carolyn also nicht denken. Der Wissenschaftler, den sie sich aussuchte, würde also ohne die Bande der Ehe in den Genuß diverser Vorteile kommen. Er würde sich für den glücklichsten Menschen halten. Nash mußte lächeln. Eine Bekanntschaft mit Carolyn hatte durchaus ihre Vorteile. Sie würde eines von zwei möglichen Zielen verfolgen. Je nachdem, wie ihre Pläne aussahen. Der Startplatz des Sternenschiffes würde entweder in Florida oder in Vandenberg in Kalifornien liegen. Sie würde also an beiden Orten feststellen, ob etwas Außergewöhnliches im Gange war. Wenn sie von ihrem verstorbenen Mann erfahren hatte, daß das Schiff in diesem Jahr noch nicht starten würde, konnte sie sich auf
eine der beiden Anlagen konzentrieren, wo schweres Wasser hergestellt wurde. Nash fragte sich, ob sie jemals versucht hatte, schweres Wasser zu stehlen – oder ob sie das plante. Sie war an einem Punkt angelangt, wo sie das Risiko auf sich nehmen mußte. Denn sie wollte nicht sterben – sie hatte Angst vor dem Tod. Und das war einer der Unterschiede zwischen ihm und der Frau. Sie war entschlossen, am Leben zu bleiben, in ihre Heimat zurückzukehren, und sie war bereit, jedes Risiko auf sich zu nehmen, um Erfolg zu haben. Er selbst hatte sich längst damit abgefunden, auf der Erde zu sterben, gleichgültig, wann der Tag kommen würde. Er war davon überzeugt, daß die Rückkehr auf den Heimatplaneten für immer versperrt war. Plötzlich mußte Nash daran denken, an wie vielen verschiedenen Forschungsprojekten Carolyn in irgendeiner Form beteiligt gewesen war, seit sie in den Vereinigten Staaten lebte. Hatte sie, direkt oder indirekt, mitgeholfen, die Atombombe zu bauen? War sie, um die Sache weiter zurückzuverfolgen, sogar schon bei der Entwicklung beteiligt gewesen? Sie wußte sehr genau, daß nur ein Schiff mit Atomantrieb in der Lage war, das Planetensystem, zu dem der Planet Erde gehörte, zu verlassen. Die normalen Antriebsmittel reichten dazu
nicht aus. Mit ihrer Hilfe würde man lediglich zu den Nachbarplaneten und wieder zurückkommen können. Aber wenn man eine Energiequelle wie den Atomantrieb für ein Schiff haben wollte, mußte man den Umweg über die strategische Bedeutung in kriegerischen Auseinandersetzungen nehmen. Carolyn wußte, daß für Rüstungsprojekte Geldmittel zur Verfügung standen, die die Wirtschaft, und sei sie noch so stark, allein nie würde aufbringen können. Und wenn eine Erfindung im militärischen Bereich einmal ihren Zweck erfüllt hatte, waren die Militärs bereit, auch die Industrie an den neuen Erfindungen teilhaben zu lassen. Atomenergie als Mittel zur Zerstörung hatte also an erster Stelle stehen müssen, darauf bestand jede primitive Regierung, die noch immer den Krieg als letzten Ausweg ansah. An zweiter Stelle kam die industrielle Nutzung, denn nur eine fortschrittliche Industrie konnte konkurrenzfähig bleiben. Danach kamen wieder die Wissenschaftler und die Forscher zum Zuge, um die ersten Ergebnisse und Erfindungen abzurunden. Die Wissenschaft um der Forschung willen kam also an letzter Stelle, weil sie das schwächste Glied in der Kette war. In diesen Bahnen verliefen die Gedanken der Menschen, und Carolyn wußte das. Nash entschloß sich, etwas länger in Knoxville zu bleiben, als er ursprünglich vorgehabt hatte. Falls er
Carolyn in den nächsten vierzehn Tagen nicht fand, war sie auf ihrem Weg nach Hause einen weiteren Schritt vorangekommen. Wenn sie sich noch in Knoxville aufhielt, würde sie eine Wohnung brauchen. Die Hotels kamen nach dem Tod ihres Mannes für sie nicht mehr in Frage. Sie wußte auch, daß man nach und nach in allen Immobilienbüros Nachforschungen anstellen und herausfinden würde, ob sie nach dem Verlassen des Hotels eine Wohnung oder ein Haus gemietet hatte. Knoxville erfreute sich keines starken Zuzugs von außen, so daß dies festzustellen nicht allzu schwer oder zeitraubend sein würde. Wie hatte ihr Mann sich ausgedrückt – sie hatte geistig bereits die Koffer gepackt und sich darauf vorbereitet, ihn zu verlassen, schon einige Wochen bevor sie es tatsächlich getan hatte. Aber sie hatte nicht nur in geistiger Hinsicht die Koffer gepackt. Sie hatte den Umzug bereits eingeleitet, was gar nicht einmal so schwierig war, wenn man überlegte, daß sie eigentlich nur das mitgenommen hatte, was sich in ihrem Schlafzimmer befunden hatte. Die Wandschränke waren leer gewesen, ebenso die Schubladen ihrer Frisierkommode. Alles, was sie mitnehmen wollte, hatte in zwei große Koffer gepaßt. Und sie hatte sich lange vor der tatsächlichen Trennung von ihrem Mann eine Unterkunft ausgesucht.
Das lag schon so weit zurück, daß man bei routinemäßigen Nachforschungen jetzt nicht mehr darauf stoßen würde. Konnte sich diese Unterkunft im Haus des unbekannten Dritten befinden? Um die großen Koffer zu transportieren, würde sie ein Taxi gebraucht haben. Den unbekannten Dritten würde sie nicht bemüht haben, da die Gefahr zu groß gewesen wäre, falls jemand aus der Nachbarschaft ihn hätte gesehen und sich an ihn erinnerte. Wenn der unbekannte Dritte also existieren sollte, dann würden sowohl er als auch Carolyn alle Anstrengungen unternommen haben, sein Vorhandensein geheimzuhalten. Nash hob die Hände über den Kopf und streckte sich. Es war schon spät am Nachmittag. Die Dunkelheit würde nicht mehr lange auf sich warten lassen. Erst vor wenigen Stunden hatte Hodgkins seine letzte Vorstellung auf Erden gegeben. Gleich nach dem Begräbnis war Nash in sein Büro gegangen und hatte nichts anderes getan als nachgedacht. Er zog den Mantel an, schloß die Fenster, stellte das Sicherheitsschloß ein und ging hinaus auf den Flur. Unten auf der Straße geriet er in das Gedränge der Menschen, die nach Büroschluß nach Hause eilten. Nash suchte ein Restaurant in der Nähe auf, weil er keine Lust hatte, schon jetzt nach Hause zu fahren,
und weil es noch zu früh war, sich in die Einsamkeit zu begeben. Das Restaurant war voll besetzt. Er mußte eine Weile warten, bevor ein Tisch in einer kleinen Nische frei wurde. Er bestellte aus England importiertes Bier, um etwas zu tun zu haben, bis das Essen kam. Dabei beobachtete er die Leute, die gingen und kamen. Shirley Hoffman betrat das Restaurant. Sie verzog das Gesicht, als sie die vielen Leute sah, die auf einen freien Tisch warteten. Dann entdeckte sie Nash, ihre Augen wurden groß, genauso groß wie wenige Stunden vorher vor der Leichenhalle. Sie schien sich nicht entschließen zu können, ob sie gehen oder bleiben sollte. Nash stand auf, lächelte freundlich, winkte ihr, sie solle doch an seinen Tisch kommen. Sie trat aus der Schlange der Wartenden, runzelte die Stirn, doch dann kam sie an seinen Tisch. Ihr Ausdruck verriet noch immer ihre Unentschlossenheit. Sein Lächeln wurde zu einem breiten Lachen. »Wenn es so schlimm ist, dann gehen Sie ruhig wieder. Ich nehme meine Einladung zurück.« »Nein, bitte.« Sie entschuldigte sich und setzte sich ihm gegenüber. »Es ist bestimmt nicht so, wie Sie glauben, aber –« »Was aber? Heraus damit.« »Sie müssen doch annehmen, daß ich Ihnen hierher
gefolgt bin. Ich habe Sie zwar vorhin kurz auf der Straße gesehen, bin Ihnen aber nicht gefolgt. Ich komme häufig hierher, um zu essen.« »Gut zu wissen«, sagte Nash. »Das werde ich von heute ab auch öfter tun.« Er lächelte ihr über den Tisch hinweg zu. »Haben Sie mich am Nachmittag gleich erkannt?« »Ja«, antwortete sie. »Habe ich mir gedacht. Ich freue mich, Sie kennenzulernen. Ich heiße Gilbert Nash. Und Sie Shirley Hoffman.« »Woher ...?« Sie brach ab, errötete, weil sie nicht mehr weiter wußte und wandte den Blick ab. »Ich glaube, es wäre wirklich albern, wenn wir so täten, als kennten wir uns nicht.« »Das wäre es. Und davon einmal ganz abgesehen: Mir gefällt der Klang Ihrer Stimme.« Nash lachte noch immer. Fast sah es so aus, als lache er sie aus. »Dikty hat Sie heute vor der Leichenhalle verraten. Ihr neues Parfüm hat ihn gestört. Mir gefällt es.« Er machte eine kleine Pause. »Ich habe Ihnen doch gesagt, daß ich Sie wiederfinden würde.« Ihre Antwort klang heftig. »Und jetzt werden Sie von mir wissen wollen, was ich in dem Haus gesucht habe!« »Nein, das will ich nicht wissen. Ich weiß, daß wir beide aus demselben Grund dort waren: Um Informa-
tionen zu bekommen. Und ich weiß auch, daß wir beide dasselbe erreicht haben: Nämlich nichts. Jeder von uns hat einen kleinen Gegenstand mitgenommen, allerdings jeder einen anderen, den der andere nicht hat.« Sie hörte ihm zu, unterbrach ihn nicht. Er deutete mit dem Finger auf ihre Handtasche, die sie auf den Tisch gestellt hatte. »Sie haben den Schlüssel, ich eine Haarnadel.« Und plötzlich lächelte er wieder. »Sie hatten letzte Nacht gar keine Pistole dabei. Ich tat nur so, als glaube ich, Sie hätten eine.« Shirley Hoffman biß sich auf die Lippe, beobachtete ihn und dann lachte sie. »Ja, ich habe geblufft.« Eine Kellnerin kam an ihren Tisch. »Ich nehme ein Steak. Wollen Sie ein Glas Bier trinken, während wir auf das Essen warten?« »Ja, und ich nehme auch ein Steak«, antwortete sie. »Gilbert Nash, Sie sind ein sehr eigenartiger Mensch. Ich bin noch niemandem begegnet, der so war wie Sie.« »Danke für das Kompliment«, entgegnete er. »Aber steckt nicht doch ein bißchen mehr dahinter? Zum Beispiel die Tatsache, daß Dikty mich beobachtet wie ein Schießhund?« »Ich bitte Sie, ich hatte nicht die Absicht ...« »Das weiß ich, also entschuldigen Sie sich nicht. Und es macht mir auch gar nichts aus. Dikty und ich
beschnüffeln uns schon eine ganze Weile. Lustig, nicht wahr.« »Ich möchte eher sagen, unangenehm. Aber ich glaube, wir sollten offen darüber reden.« »Finde ich auch. Es wäre sinnlos, vorzugeben, daß er mich nicht beobachtet, daß er jede meiner Bewegungen verfolgt. Noch heute wird er einen Bericht bekommen, daß wir zusammen gegessen haben.« Nash lachte. »Ich glaube nicht, daß er in der Lage wäre, sich mit mir an einen Tisch zu setzen, um zu essen. Er ist einfach durch und durch Geheimdienstmann.« Er blickte sie über den Tisch hinweg an, und seine Stimme klang belustigt. »Aber Sie können es.« »Das glaube ich auch. Und wie geht es Ihnen, Mr. Nash?« »Ausgezeichnet, Miss Hoffman.« »Auf Ihre Veranlassung hin bin ich heute morgen in die Bücherei gegangen.« »Auf meine Veranlassung hin? Komisch – da muß ich wohl etwas in diesem Sinne gesagt haben. Wahrscheinlich gestern nacht.« Sie nickte. »Ja. Sie sprachen von Haarnadeln. Sie sagten sinngemäß: Man könne die Haarnadel zur Form von Stierhörnern zurechtbiegen und über eine Flamme halten. Das ließ mir keine Ruhe. Ich wollte wissen, was Sie damit andeuten wollten.« »Ja. Ich erinnere mich. Die Bemerkung war sozusa-
gen als Zündfunke gedacht. Wenn Sie die Person gewesen wären, die ich gestern nacht eigentlich erwartet hatte, dann hätte dieser Funke die Explosion ausgelöst.« »Wirklich?« Sie blickte ihn mit großen Augen an. »Sie müssen also Mrs. Hodgkins erwartet haben.« Er nickte und trank von seinem Bier. »Aber wieso sollte diese Bemerkung eine Explosion ausgelöst haben? Ich meine – was bedeutet sie eigentlich? Ich habe in der Bücherei keine Erklärung finden können. Wahrscheinlich habe ich die Bibliothekarin mit meinen Fragen fast an den Rand des Wahnsinns getrieben. Wir haben uns alle Bücher über Schwarze Magie angesehen. Ich hielt Sie nämlich anfangs für einen Hexer. Aber nirgends stand etwas über Stierhörner.« Nash lachte laut heraus. Die Gäste an den benachbarten Tischen drehten sich erstaunt um. »Da haben Sie in der falschen Abteilung gesucht. Suchen Sie das nächste Mal unter der Rubrik Archäologie. Besonders Archäologie im Mittleren Osten und in den Mittelmeerländern. Stiere dienten als Opfer, als Ornamente, und sie waren in erheblichem Maße an erotischen Riten im alten Kreta beteiligt. Die Sitten und Gebräuche griffen gelegentlich auch auf die benachbarten Länder über.« Er lachte wieder laut. »Ich – ein Hexer!« »Und Sie wissen das alles, weil Sie dabei waren!« entgegnete sie schnippisch.
»Ja, war ich«, entgegnete Nash. »So? Sind Sie Lehrer, Archäologe?« »Sagen wir lieber interessierter Laie. Ich hatte nie die Gelegenheit, an Ausgrabungen teilzunehmen, obwohl ich es gern getan hätte. Eines meiner zahlreichen Steckenpferde ist die Beschäftigung mit allem, was mit Menschen zu tun hat. Ich besitze eine ziemlich umfassende Bibliothek über diesen Fachbereich. Und auch einige Kunstgegenstände. Es macht mir Spaß, die Arbeiten der einzelnen Autoren miteinander zu vergleichen. Nehmen wir zum Beispiel diese kretischen Stiere. In einem Buch wird uns erklärt, daß die Tiere irgendeinem Gott geopfert wurden und Jünglinge Ritualtänze um die Tiere veranstalteten, während sie zur Opferbank geführt wurden – sozusagen eine Abschiedsfeier. Ein anderer Autor wiederum behauptet, daß die Jünglinge das Opfer waren, das den Stieren dargebracht wurde. Sie tanzten und tollten herum, bevor sie in den Tod gingen. Können Sie sich vorstellen, daß jemand auf seinem eigenen Begräbnis tanzt und herumtollt? Und ein dritter Historiker behauptet, daß alles nur akrobatische Spiele waren, die zum Vergnügen der Zuschauer veranstaltet wurden – sozusagen ein antiker Stierkampf. Man kann den Autoren dieser Bücher eigentlich keinen Vorwurf machen. Es fehlen einfach die Quellen. Diese drei Versionen, von denen ich Ihnen gerade
erzählte, kamen aufgrund einiger weniger Zeichnungen und gravierter Ringe zustande, die man bei Ausgrabungen gefunden hatte. Und da die Archäologen Engländer waren, und die Zeit in die Viktorianische Epoche fiel, konnte man von den Autoren auch nichts anderes erwarten als eine Interpretation im Sinne der Moral und Gegebenheiten der Zeit, in der sie lebten. Sie begingen den Fehler anzunehmen, daß man im Altertum genauso gedacht hatte wie sie es taten.« »Aber welche Auslegung ist nun die richtige?« fragte Shirley Hoffman neugierig. »Gar keine. Jedenfalls gab keine das wieder, was im antiken Kreta tatsächlich geschehen ist. Unsere Wissenschaftler haben gleich erkannt, daß die Tänzer beiderlei Geschlechts waren. Es waren durchweg junge, gutaussehende Menschen. Aber unsere Wissenschaftler sind mit modernem Gedankengut belastet. Sie erkannten nicht – oder gaben es zumindest nicht zu – daß es sich um rein erotische Darstellungen handelte. Vor einem Publikum. Das paßt einfach nicht in unsere heutigen Denkschablonen. Folglich kam man auf die Erklärung, es handle sich um Opfer. Später fanden diese Tänze auch auf anderen Inseln der Ägäis statt. Ihr ursprünglicher Sinn ging verloren; sie arteten aus in Orgien und sinnlose Menschenschlächtereien.« Er bemerkte ihren entsetzten Blick. »Sie glauben jetzt wahrscheinlich, ich habe mich in
der Wahl meiner Worte vergriffen oder aber, daß ich seltsame Ansichten über Moral habe. Sie könnten in beiden Fällen recht haben. Aber es gelingt mir nicht immer, den Wandel von Begriffen mitzumachen. Ich halte den ursprünglichen Sinn dieser Tänze für edel, verglichen mit den blutigen Veranstaltungen, in die sie später ausarteten. Die Moral eines Zeitalters unterscheidet sich von der des nächsten.« Sie schwieg und dachte über alles nach, was er gesagt hatte. Sie hoffte, daß ihre Gedanken nicht allzu deutlich von ihrem Gesicht abzulesen wären. Dann schloß sie das eine Auge und blickte ihn halb belustigt, halb neugierig an. »Sie reden, als ob Sie tatsächlich dabeigewesen seien.« »Dazu bedarf es nur einer gesunden Phantasie«, antwortete er mit trockener Stimme. »Verbunden mit einem nicht endenden Interesse an allem, was Menschen getan haben, seit der Zeit ihrer paläolithischen Ahnen, als diese damit begannen, Steine aufeinanderzulegen und so eine Mauer zu bauen. Ein weiter Weg bis in die Gegenwart, ins Zeitalter des Atoms und des Raumflugs. Mich interessiert, woher der Mensch gekommen ist, was er seither getan hat und wie seine Zukunft aussehen wird. Besonders seine Zukunft.« »Meine Großmutter«, sagte sie, »die ich sehr gern hatte, pflegte immer zu sagen, daß wir eines Tages alle zur Hölle fahren werden.«
»Das behauptet man in den verschiedensten Sprachen schon seit fünftausend Jahren. Aber glauben Sie es nicht.« »Ich kenne jemand«, fuhr sie fort, »der sich für dieselben Dinge interessiert wie Sie.« »Ausgezeichnet! Schicken Sie ihn einmal zu mir, dann werden wir uns über Rindvieh unterhalten. Ich werde mein Bestes geben, ihn zu amüsieren. Interessiert er sich für Archäologie? Ist er ein religiöser Mensch? Vielleicht sollte ich ihm etwas über die religiösen Erschütterungen erzählen, die es in England gab, als ein Engländer feststellte, es müsse eine riesige Sintflut gegeben haben.« »Das möchte ich bezweifeln«, sagte Shirley Hoffman und schüttelte den Kopf. »Sein Interesse erstreckt sich auf ein anderes Gebiet. Aber ich werde Ihnen zuhören.« »Es bleibt Ihnen auch gar nichts anderes übrig«, sagte Nash und spielte mit der Bierflasche. »Die Steaks sind noch nicht fertig, und Sie müssen warten. Noch ein Bier? Sie haben doch nichts dagegen, wenn ich mir noch eins bestelle. Danke. Nun, der Engländer, von dem ich vorhin sprach, war mit Ausgrabungen in Mesopotamien beschäftigt. Er suchte in der assyrischen und babylonischen Geschichte nach Spuren eines noch älteren Volkes, von dem es hieß, es habe Schriftzeichen hinterlassen. Wissen Sie, daß man noch
immer nicht weiß, wie die ersten Schriftzeichen der Menschheit ausgesehen haben?« »Nein, so gebildet bin ich nicht. Aber was war mit diesem Engländer?« »Nun, der grub und grub – und fand Dinge von unendlichem wissenschaftlichen Wert, und natürlich viel Gold. Es ist seltsam, aber euch Menschen bedeutet Gold mehr als Wissen. Es gab keinen Archäologen, der bei seinen Ausgrabungen nicht auch Gold gefunden hätte. Und das hielt man für genauso bedeutend oder für noch bedeutender als das andere, was man ebenfalls fand. Wenn Sie einen dieser Berichte lesen, dann werden als erstes die goldenen Fundgegenstände beschrieben. Blätter aus Gold, Kopfschmuck, dieses und jenes, alles aus Gold. Schon seltsam, nicht wahr?« Er machte eine Pause, um zu sehen, ob sie ein kleines bißchen so dachte wie er. »Und was ist mit der Sintflut?« erinnerte ihn Shirley Hoffman. »Ach ja – die Sintflut. Nun, unser Engländer gräbt immer weiter, findet einen Haufen Dinge, und schließlich stößt er auf ein Massengrab. Das Grab eines Herrschers und seiner Diener. Man hat sie alle am Grab umgebracht, die Hofdamen, Soldaten, Sklaven, und sie zu ihrem Herrscher gelegt. Etwas völlig Neues und Unbekanntes für diese spezielle Geschichts-
epoche. Der Engländer grub also noch tiefer. Unter dem Massengrab stieß er auf eine etwa drei Meter dicke Schicht aus gelbem Lehm. Und darunter wiederum fand man Reste von Menschen und Gebäuden. Sehen Sie?« »Gar nichts sehe ich«, wiedersprach sie. »Warum erzählen Sie das?« Nash schien etwas überrascht zu sein. »Die etwa drei Meter dicke Lehmschicht deutete auf ausgedehnte Überschwemmungen hin, die von heftigen Stürmen begleitet waren. Die Flüsse traten über ihre Ufer. Vierzig Tage und vierzig Nächte lang regnete es ununterbrochen. Erst nach einhundertfünfzig Tagen ging die Überschwemmung zurück. Zurück blieben drei Meter hohe Ablagerungen im Tal zwischen dem Tigris und dem Euphrat. Das war die Überschwemmung, die in der Bibel als Sintflut bezeichnet wird. Unser englischer Archäologe hat also die religiöse Welt in helle Aufregung versetzt. Die Entdeckung schien gewissen Leuten gar nicht ins Konzept zu passen.« »Sie bringen ja immer mehr Engländer ins Spiel«, beschwerte sie sich. »Das ist nicht fair.« »Haben Sie denn noch nichts vom Gilgamesh-Epos gehört?« »Gilgamesh?« wiederholte sie. »Nein.« Nash schüttelte mit gespielter Enttäuschung den
Kopf. »Und so etwas nennt sich eine moderne Frau«, sagte er. »Ich verstehe nicht, was eine moderne Frau mit Gilgamesh zu tun haben sollte. Aber erzählen Sie schon von den beiden anderen Engländern und dem Gilgamesh-Epos. Wird es eine lange Geschichte?« »Ich werde mich kurz fassen. Diese beiden Engländer waren noch vor jenem, von dem ich Ihnen eben erzählt habe, an der Arbeit gewesen. Der eine von ihnen hatte einige Tontafeln in einem Palast gefunden, den sie ausgegraben hatten, und die Tafeln mit dem Schiff nach England transportieren lassen. Der zweite Engländer opferte mehrere Jahre seines Lebens und seine Gesundheit der Übersetzung dieser Tontafeln, weil er damit einige Theorien beweisen wollte, die er bereits früher aufgestellt hatte. Diese Übersetzung erregte die Viktorianischen Zeitgenossen und löste heftige Diskussionen aus. Dem armen Übersetzer widerfuhr erst Gerechtigkeit, als unser dritter englischer Freund auftauchte und Jahre später auf die dicke Tonschicht unter dem Massengrab stieß.« Shirley Hoffman nickte heftig. »Ich beginne zu begreifen«, sagte sie. »Der Übersetzer hat auf den Tontafeln ein Stück biblische Geschichte entdeckt.« Nash blickte sie nachdenklich an. »Nein. Er hatte etwas übersetzt, von dem man angenommen hatte, daß es epische Dichtung sei – nicht Geschichte.«
»Das hatte man angenommen?« Er nickte, lächelte schwach. »Ein Gedicht von epischen Ausmaßen. Die Tontafeln stammten aus der Palastbibliothek des Assyrerkönigs Asurpanipal. Sie hatten sich bei anderen befunden, auf denen Geschehnisse des Alltags verzeichnet gewesen waren. Zum Beispiel Aufzeichnungen über Ereignisse, Ahnentafeln, Kriegsberichte, primitive Landkarten, alles Dinge, die ein König aufgezeichnet wissen möchte, damit ein Hort des Wissens entstehe und Zeugnis abgelegt werde von seiner Größe. Doch nun zum wichtigsten Punkt. In dieser Sammlung von wissenswerten Dingen befand sich auch dieses epische Gedicht, und das zu einer Zeit, in der die Kunst des Fabulierens unbekannt war oder nicht ausgeübt wurde. Das Gedicht erzählte von einem tapferen Helden, einem gottähnlichen Menschen, namens Gilgamesh.« »Oh«, machte Shirley und wollte etwas sagen, schloß dann aber den Mund und schwieg. Sie beobachtete ihn. »Geburt und Herkunft dieses Mannes waren unbekannt. Er zog durch die Lande und vollbrachte große Taten. Gilgamesh war so etwas wie ein Abenteurer. Er durchstreifte die damals bekannte Welt und suchte Erkenntnisse und das ewige Leben. Er tauchte an allen möglichen Orten auf. Und wohin er auch kam, da stürzten die Tyrannen, da gingen Königreiche unter.
Schließlich begegnete er einem prähistorischen Menschen mit einem unaussprechlichen Namen, und –« »Sprechen Sie ihn trotzdem einmal aus«, unterbrach sie ihn. »Ut-napishtim.« Shirley Hoffman nickte. »Tatsächlich unaussprechlich.« »– und dieser erzählte Gilgamesh seine Lebensgeschichte«, fuhr Nash fort. Shirley Hoffman stützte das Kinn in die Hand. »Gilgamesh ...« »Ja, gleich. Die Geschichte, die dieser prähistorische Unbekannte Gilgamesh erzählte, stellte alles, was Gilgamesh erlebt hatte, in den Schatten. Er wußte von einer furchtbaren Überschwemmung zu berichten, die über die Welt hereingebrochen war, daß er ein Schiff gebaut und es mit Proviant und allen Tieren beladen habe, die er hatte einfangen können. Er habe auch alle Verwandten, die sich in Reichweite befunden hatten, an Bord gerufen. Den wilden Fluten und stürmischen Winden war es nicht gelungen, das kleine Schiff zu vernichten. Nach vielen Tagen und Nächten habe er erst eine Taube, dann einen Raben ausgesandt, Land zu suchen. Und so hatte Ut-napishtim und seine Sippe die Überschwemmung überlebt, während alle anderen darin ertranken.« Nash musterte das Mädchen über den Rand seines Bierglases hinweg. »Schon mal gehört?«
»Und das soll auf diesen Tontafeln gestanden haben?« fragte sie. »Ja. Nicht als Tatsachenbericht, sondern als Dichtung.« »Und die Tontafeln sollen wie alt sein?« »Drei- bis viertausend Jahre. Verstehen Sie jetzt, warum die Viktorianischen Zeitgenossen plötzlich einen so hohen Blutdruck bekamen?« »Allerdings! Auch ich würde dazu neigen, die Echtheit des Beweises anzuzweifeln. Aber an dieser Stelle kommt wahrscheinlich unser dritter Engländer ins Bild, nicht wahr?« »Genau. Er wies durch seine Ausgrabungen auf, daß das, was auf den Tontafeln stand, tatsächlich Dichtung war. Es war die assyrische Auslegung einer babylonischen Überlieferung, die allerdings vermutlich auf Tatsachen beruhte. Es war der Fall eingetreten, wie er nicht selten ist, daß ein Volk aus der Geschichte des Nachbarvolkes ein Märchen macht. Der dritte Engländer machte mehrere Entdeckungen, die an der Echtheit der Tafeln nicht mehr zweifeln ließen, und zu diesen Entdeckungen gehörte auch die Lehmschicht, die nach der Überschwemmung zurückgeblieben war. Sie sehen also, schon vor viertausend Jahren gab es Erzählungen über Helden, in Ton geritzt und der Nachwelt überliefert. Ein Skeptiker mag das lediglich für das Werk eines unbekannten Dich-
ters halten, der es für seinen Herrscher geschrieben hat. Für weniger skeptisch eingestellte Menschen ist es die erste Aufzeichnung der Geschichte Noahs.« Er klopfte mit den Fingern auf die Tischplatte. »Falls Sie also den Entdeckungen der Archäologie Glauben schenken, werden Sie feststellen, daß bei den Ausgrabungen nicht nur Hinweise und Zeitangaben auf die Sintflut zutage gefördert wurden, sondern daß man Spuren eines Volkes gefunden hat, das noch früher dort gelebt haben muß, zur Zeit der Genesis. Inzwischen hat man auch auf den Gebieten der Anthropologie und Geologie entsprechende Entdeckungen gemacht.« »Die Zeitangaben interessieren mich«, sagte Shirley Hoffman und beobachtete Nash. »Sie meinen, wann die Sintflut stattgefunden hat? Das Massengrab, auf das der Engländer stieß, muß vor etwa sechstausend Jahren angelegt worden sein. Die Lehmschicht darunter muß also älter sein. Acht-, zehntausend Jahre? Das muß sich herausstellen. Die Gattung, die Sie als Mensch bezeichnen, existiert auf der Erde seit einer Million Jahren. Der Ursprung des primitiven Vorfahren des Menschen reicht eine weitere Million Jahre in die Vergangenheit zurück. Also eine ziemlich große Zeitspanne, wenn man den Zeitpunkt eines bestimmten Ereignisses genau festlegen möchte. Aber die Ausgrabungen gehen weiter. Eine
Gruppe von Archäologen sucht nach dem Schiff des alten Ut-napishtims. Wenn und falls sie es finden, werden sie ziemlich genau feststellen können, wie alt es ist. Das heißt, sie werden feststellen können, wie alt die Bäume sind, aus deren Planken das Schiff gezimmert wurde.« Er lächelte. »Ich bin gespannt, ob man in Fachkreisen wieder kopfstehen wird, wenn dieses Datum einmal feststeht.« »Noch eine Frage«, sagte sie nach einer Weile. »Sie haben das Thema gestreift, es aber dann nicht mehr aufgegriffen.« »Welches Thema meinen Sie?« »Hat dieser Abenteurer, dieser Gilgamesh, das ewige Leben gefunden, das er gesucht hat?« Nash zögerte einige Sekunden und blickte das Mädchen fest an. »Er hat gefunden, was er suchte. Aber zu spät. Er konnte sein Leben nicht mehr verlängern.«
7 Cummings ging in seinem Büro auf und ab, suchte Bilder an der Wand, die es nie gegeben hatte, suchte das Fleckchen Sonnenlicht auf dem Fußboden, das erst später kommen würde. Denn es war noch früh am Morgen. Am Fenster blieb er stehen, zog Kreise in den Staub auf dem Fensterbrett und beugte sich dann hinaus in die warme Luft und blickte zum Himmel hinauf. Die Sonne stand noch hinter dem Gebäude. Auf einem Sims an der Außenwand saß eine Taube und schaute ihn an. Er starrte zurück, trat weg vom Fenster, weil ihm plötzlich eingefallen war, daß es in den Stockwerken über ihm noch andere gab, die ebenfalls aus dem Fenster schauen könnten. »Er unterhält sich also mit Pferden«, sagte Cummings mißmutig zu dem Mann, der vor dem Schreibtisch saß. Dikty nickte. »So scheint es.« »Wahrscheinlich muß er sich mit den Pferden unterhalten. Sie sind seine Freunde. Sie verraten ihm wahrscheinlich, auf welches Pferd er beim Rennen setzen muß. Als ob sie wüßten, welches Tier gewinnt. Der Kerl macht mir wirklich Angst. Das Finanzamt hat mitgeteilt, daß er so etwas wie ein einmaliger Fall ist. Er gibt alle seine Gewinne an, Verluste erscheinen
überhaupt nicht. Bei allen anderen Einkommensteuererklärungen ist genau das Gegenteil der Fall. Die Leute geben ihre Verluste an, verschweigen jedoch, wenn und wieviel sie gewonnen haben. Sofern Wettgewinne überhaupt angegeben werden. Im Finanzamt gelten seine Einkommensteuererklärungen als vorbildlich. Sein Einkommen als Privatdetektiv liegt im Jahr unter tausend Dollar. Eigentlich müßte der Kerl am Hungertuch nagen.« »Was er offensichtlich nicht tut«, murmelte Dikty. »Was er ganz bestimmt nicht tut!« In seiner Verbitterung gab Cummings dem Stuhl einen heftigen Tritt. »Und das hat er seinen Freunden zu verdanken, den Pferden. So etwas wie seine Einkommensteuererklärung habe ich mein ganzes Leben lang noch nicht gesehen. Er fügt jedesmal ein Blatt mit Erklärungen bei, auf dem der Rennplatz, die Pferde, die Daten, die Quoten und seine Gewinne verzeichnet sind. Über zwanzigtausend Dollar Einnahmen aus Wettgewinnen im letzten Jahr. Wer's glaubt! Das Finanzamt glaubt ihm jedenfalls. Sie prüfen seine Angaben gar nicht erst nach. Sie wissen, daß sie stimmen. Als er seine erste Steuererklärung einreichte, hat man seine Angaben überprüfen lassen. Zwei, drei Jahre lang ging das so. Jetzt hat man sich dran gewöhnt, daß bei ihm alles stimmt. Sie sind mit allem zufrieden und sogar glücklich, daß er seine Verluste nicht absetzt.
Falls er welche hat, Dikty! Er muß also tatsächlich Tips von den Pferden bekommen.« »Raffiniert eingefädelt«, bemerkte Dikty. »Sehr raffiniert, denn von tausend Dollar im Jahr Einkünften aus seiner Detektivarbeit kann er nicht leben, und ob er beim Pferderennen tatsächlich gewonnen hat, läßt sich nicht nachweisen. Irgendwoher muß das Geld kommen; er behauptet, er gewinne es auf den Rennplätzen. Das Haus, in dem er zur Miete wohnt, kann auch nicht billig sein. Wann gab er eigentlich zum erstenmal eine Einkommensteuererklärung ab?« »Im März 1941. Für das Jahr 1940. Das war in Georgia.« Cummings ging wieder auf und ab. »Ich habe das Finanzamt veranlaßt, Nachforschungen anzustellen. Seine Bankguthaben werden überprüft, an den Kassen der Rennplätze werden Nachforschungen angestellt. Da er immer nur Glück zu haben scheint, muß sich jemand an ihn erinnern. Wir werden sehen.« Er blickte ungeduldig auf die Uhr. »Ich möchte am Mittag nach Louisville fliegen. Es gibt die üblichen Anfangsschwierigkeiten im Werk am Fluß.« Er blieb vor der Tür zum Vorzimmer stehen. Nachdem er in den leeren Raum hinausgeschaut hatte, wandte er den Blick wieder Dikty zu. »Ihre Sekretärin ist noch nicht da.« »Sie scheint durch irgend etwas aufgehalten worden zu sein, vermute ich.«
»Ist sie krank?« »Die Frau, bei der sie zur Untermiete wohnt, sagt nein.« Dikty nahm die Pfeife aus der Innentasche seines Jacketts. »Die Frau sagt, sie sei vor einer Stunde aus dem Haus gegangen. Habe es sehr eilig gehabt. Sie wird schon kommen.« Cummings ging wieder zum Fenster. »Sie hat also gestern mit ihm zu Abend gegessen, wie? Vielleicht hat er ihr einen Tip gegeben, auf welches Pferd sie setzen sollte.« »Ich habe ihr einen Hinweis gegeben, und jetzt bedaure ich es«, entgegnete Dikty säuerlich, während er den Pfeifenkopf anstarrte. »Unsere Verdachtsperson hat sie mit mir in Verbindung gebracht, als er bemerkte, daß mir ihr neues Parfüm auffiel. Gestern abend ist sie rein zufällig in das Restaurant gegangen, und er hat sie an seinen Tisch gebeten. Diese Gelegenheit hat sie sich nicht entgehen lassen wollen. Ihrem Bericht zufolge hat er keinen Versuch unternommen, sie auszufragen. Es war eher umgekehrt.« »Also schön«, sagte Cummings, nickte und blickte wieder zum Himmel hinauf. Dann starrte er die Taube an, die immer noch draußen saß und ihn beobachtete. Cummings schien zur Taube zu sprechen, als er sagte: »Haben die Mikrophone etwas aufgefangen?« Dikty verneinte. »Kein Wort. Nach Hodgkins' Begräbnis ist er in sein Büro zurückgekehrt und hat den
Nachmittag anscheinend mit Lesen verbracht. Die einzigen Geräusche, die wir aufzeichnen konnten, stammten von seinem Sessel, dem Schreibtisch, seinen Schuhen, von Papier und ähnlichen Dingen. Er redet noch nicht einmal laut mit sich selbst.« Dikty griff in die Westentasche und zog einen kleinen Zettel heraus. »Heute morgen ist er in eine Buchhandlung gegangen und hat ein Buch bestellt. Etwas über Thermodynamik im Gleichgewichtszustand. Nichts Politisches. Ich habe mich erkundigt. Betrifft Chemie im täglichen Anwendungsbereich.« »Sein Interesse an der Wissenschaft ist also noch immer vorhanden.« Dikty stopfte schweigend seine Pfeife. Dann holte er ein Streichholz heraus, zündete es aber nicht an. »Ich frage mich, ob das nicht etwas mit unserem Code 447 zu tun haben könnte. Aber ich glaube, ich sehe inzwischen schon überall Gespenster.« »Ich weiß nicht, ich bezweifle es. Aber ich werde mich der Sache annehmen.« Cummings schüttelte den Kopf. »Erst wenn man alles nachgeprüft hat, weiß man es mit Gewißheit. Letzte Woche mußten wir die Druckmaschinen eines Verlages anhalten, der ein neues Lexikon herausbringt. Die Idioten waren drauf und dran, Zahlenangaben über die kritische Masse von U 235 zu veröffentlichen. Wir konfiszierten die Druckplatten und mehrere tausend bereits
gedruckte Exemplare. Wie lange wird das noch weitergehen?« Dikty gab keine Antwort, denn Shirley Hoffman kam gerade ins Vorzimmer getaumelt. Sie schleppte einen Stoß verstaubter Bücher auf beiden Armen. Sie machte einen sehr aufgeregten Eindruck. »Guten Morgen«, sagte sie fröhlich und blickte die beiden Männer an. »Ich war in der Bücherei. Eine wahre Fundgrube.« Sie gab der Tür zum Flur einen Tritt und ließ die Bücher auf den Schreibtisch fallen. »Schwerarbeit.« Cummings sah sich die Titel der Bücher an, dann wandte er sich an Dikty. »Sie vertreibt sich also die Zeit mit Lesen. Haben Sie denn keine Arbeit für sie?« »Unsinn!« sagte Shirley Hoffman, bevor Dikty eine Antwort geben konnte. »Ich habe eine heiße Spur.« »Und wohin führt die?« »Zu Mumien, Königsgräbern, zur Sintflut und Gilgamesh.« Sie brach ab, runzelte die Stirn, überlegte. »Gilgamesh finde ich nicht. Jedenfalls nicht in unserer Bücherei.« »Den kann ich Ihnen aus Washington mitbringen«, sagte Cummings und fuhr gleich fort: »Warum?« »Ich sagte Ihnen doch, daß ich eine heiße Spur entdeckt habe. Unsere Verdachtsperson weiß alles über Gilgamesh, also möchte auch ich alles über Gilgamesh wissen.« Sie hielt es für angebracht, den Vorge-
setzten ihres Chefs aufzuklären. »Gilgamesh ist ein prähistorischer Mensch, der im Altertum die Mittelmeerländer durchstreifte. Er wird in der Archäologie erwähnt. Können Sie mir wirklich etwas über ihn besorgen?« »Ich glaube, es gibt etwa neun Millionen Bücher in der Kongreßbücherei«, sagte Cummings und schnippte mit den Fingern. »Sagen Sie mir, was Sie haben wollen, und Sie bekommen es. Gar kein Problem.« »Sie machen sich über mich lustig!« Cummings las wieder die Titel der Bücher auf dem Schreibtisch. »Jetzt ist es also die Archäologie.« »Ja. Den ganzen Abend hat er gestern darüber gesprochen, und nicht nur, um mich zu beeindrucken. Er weiß genau Bescheid. Ich würde mich nicht wundern, wenn ich feststellte, daß er Dinge kennt, von denen nichts in diesen Büchern steht.« Dikty brummte nur. Dann sagte er: »Er weiß jedenfalls, welche Pferde gewinnen.« Man hörte gedämpft, wie eine Tür geschlossen wurde. Die drei Menschen hörten auf, sich zu unterhalten. Dikty ging an seinen Schreibtisch und drehte am Lautstärkenknopf der Verstärkeranlage. Das Brummen des Lautsprechers wurde lauter, sonst hörte man nichts. Mehrere Minuten vergingen. Keiner der drei sagte etwas.
»Die Verdachtsperson hat ihr Büro betreten«, sagte Dikty nach einer Weile. »Er muß ja etwas tun, um die tausend Dollar pro Jahr zu verdienen.« Aus dem Lautsprecher drangen jetzt die Geräusche, die die versteckten Mikrophone in Nashs Büro übermittelten. Schritte auf dem Fußboden, ein Fenster wurde geöffnet, ein Stuhl über den Fußboden geschoben. Dann knarrte der Stuhl unter dem Gewicht eines Menschen. Danach hörten sie nichts mehr. »Ein großer Denker«, sagte Cummings mit trockener Stimme. »Das ist er wirklich«, sagte Shirley Hoffman. »Er redet wie ein Wissenschaftler, der über den Dingen steht, der die Geschichte vorüberziehen läßt und sich seine Gedanken darüber macht. Immer sprach er von ›meinen Ahnen‹, ›meinen Menschen‹, als ob er sich selbst nicht mit einbeziehe.« »Irgendwo muß er aber geboren sein«, wiederholte Dikty seine alte Feststellung. »Bestimmt nicht in Miami am 8. März 1940. Schließlich ist er jetzt sechzig Jahre alt.« »Wie es scheint«, ergänzte Cummings. Er stand wieder am Fenster und beobachtete wieder die Taube. Dikty blickte mißtrauisch zu ihm hinüber. »Er gefällt mir«, sagte Shirley Hoffman. »Er ist ein komischer Mensch. Komisch im Sinne von seltsam. Die
seltsamen Augen, die seltsame Haut, seltsame Gedankengänge. Manchmal glaubte ich die Gedanken hinter seinen Worten erkennen zu können – sehr seltsame Gedanken. Vielleicht sind seine Gedankengänge anders als die unseren. Aber ich mag ihn trotzdem.« »Lieber nicht«, warnte Cummings unvermittelt, wandte sich vom Fenster ab. »Und sehen Sie sich vor! Kennen Sie die Berichte – natürlich, Sie haben sie ja abgeschrieben. Die lesen Sie sich noch einmal genau durch, und sehen Sie sich vor ihm vor. Bis wir oder die Polizei nachweisen können, daß er ein Mörder ist, bleibt er unter Verdacht – weil er sich in der Nähe des Forschungszentrums herumtreibt.« Er wandte sich an Dikty. »Was hat er gestern zur Polizei gesagt? Nach dem Begräbnis?« »Daß er sich mit dem Gedanken trage, wegzuziehen, weil es für ihn in Knoxville jetzt nichts mehr zu tun gebe.« »Wenn ich nur einen Augenblick glauben könnte, daß er sich damit auf Hodgkins bezieht, würde ich ihn sofort festnehmen lassen. Aber er scheint andere Absichten zu verfolgen – er sucht Hodgkins' Witwe.« »Wer sucht die nicht?« Cummings' Aufmerksamkeit konzentrierte sich wieder auf die Bücher auf dem Schreibtisch der Sekretärin. »Was steckt dahinter?« fragte er. »Und was ist mit diesem – wie heißt er noch –«
»Gilgamesh. Ich möchte bloß meine Neugier befriedigen«, sagte Shirley Hoffman hastig. »Und weil ich ihm gern einen Irrtum nachweisen möchte. Falls das überhaupt möglich ist. Er hat mir gestern abend Dinge aus der Geschichte – vielmehr der Vorgeschichte – erzählt, von denen ich nie geträumt habe, daß es sie geben könnte. Nun möchte ich sehr gern mehr darüber erfahren. Er hat mir Dinge erzählt, die vielleicht gar nicht in den Büchern stehen, und wenn das der Fall ist ...« Sie führte nicht weiter aus, was dann eintreten würde. »Und wissen Sie, was er noch erzählt hat: Wenn man Reste von der Arche Noah fände, würde es möglich sein, den Zeitpunkt ihrer Erbauung festzustellen.« »Das stimmt.« Dikty lachte laut und häßlich. »Das bringt mich auf einen Gedanken! Schneiden wir ihm doch einen Finger ab und bestimmen damit sein Alter.« »Widerlich«, sagte Shirley Hoffman. Cummings wandte sich um und blickte Dikty an. »Dikty ...« sagte er und seine Faust landete auf dem obersten der Bücher. »Dikty ...« »Jetzt hören sie aber beide auf«, protestierte das Mädchen. »Das geht entschieden zu weit!« Cummings brachte sie mit einem strafenden Blick zum Schweigen. »Dikty«, wiederholte er, »falls unsere Verdachtsperson ums Leben kommen sollte, falls
ihr irgendein Unglück zustoßen sollte, dann besorgen Sie unter allen Umständen die Leiche so schnell wie möglich!« Dikty nickte. Jetzt war er selbst erstaunt darüber, was aus seinem schlechten Witz geworden war. Shirley Hoffman schwieg betroffen. Einmal, weil Cummings sie zurechtgewiesen hatte, zum anderen aber auch, weil sein brutaler Vorschlag sie erschüttert hatte. »Ich werde jede Möglichkeit nutzen, um zu erfahren, was ich wissen will«, fuhr Cummings fort. »Und mag sie auf den ersten Blick noch so unbedeutend oder abwegig erscheinen. Dieser Arbeitsweise haben wir den Erfolg unseres Dienstes zu verdanken. Und da wir nicht feststellen können, wo und wann er geboren wurde, müssen wir – ach, du meine Güte!« »Was ist denn?« Dikty war aufgesprungen. »Da fällt mir gerade Hodgkins' Frau – Witwe ein. Auch in ihrem Fall konnte der Geburtsort oder das Geburtsdatum nicht festgestellt werden. Als sie Hodgkins heiratete, war sie eine Frau ohne Vergangenheit.« Dikty hatte den Sinn der Worte sogleich begriffen und setzte sich wieder. Er suchte hastig in den Papieren in seiner Schreibtischschublade. Als er das Blatt gefunden hatte, das er suchte, las er es schnell durch. Zwei besonders lange Absätze schienen ihm interes-
sant. Er las sie ein zweites Mal, dann blickte er seinen Vorgesetzten an. »Aus den Aussagen der Nachbarn und den Ermittlungen der Polizei geht hervor, daß zwischen beiden Personen Ähnlichkeiten bestehen: Die ungewöhnliche Augenfarbe, das jugendliche Aussehen ...« Cummings zögerte nur kurz. Er riß seinen Hut vom Haken. »Mein Flugzeug!« rief er. Dann rannte er zur Tür. »Vergessen Sie Gilgamesh nicht«, rief Shirley Hoffman ihm nach. »Wen?« Cummings blieb stehen. »Gilgamesh, meinen prähistorischen Menschen.« Er warf ihr noch einen seltsamen Blick zu, dann schloß er die Tür. »Ich glaube«, sagte Dikty mit ruhiger Stimme, »Ihr Freund wird keine ruhige Minute mehr haben.«
8 Nash hatte zu spüren begonnen, daß ihm jemand folgte. Der Schatten, der sich irgendwo im Hintergrund verbarg, war nicht der Geheimagent Dikty. Die Tatsache, daß Dikty ihm in den letzten Wochen nachspioniert hatte, war ihm schon zur Gewohnheit geworden, eine berechenbare Größe, vertraute Gegenwart. Dikty pflegte von Zeit zu Zeit einen Fehler zu machen. Man konnte ihn zum Beispiel in der spiegelnden Scheibe eines Schaufensters sehen. Er ließ sich überraschen, wenn man sich plötzlich umdrehte. Dikty wußte, daß seine Anwesenheit Nash bekannt war, und er nahm diese Tatsache hin; die Geheimnistuerei war nur eine Geste, an der man festhielt, weil sie zur Rolle gehörte, doch von Geheimhaltung war keine Rede mehr, da jeder wußte, daß der andere die Situation durchschaut hatte. Und jetzt ein neuer Verfolger. Das war nicht Dikty, der ihm folgte; Dikty war vor ihm. Heute hatte Nash heimlich und mit einigem Vergnügen den Spieß umgedreht und war dabei, Dikty zu folgen; denn er hatte bemerkt, daß der Geheimagent hinter Hodgkins' Witwe her war. Nash ging hinter Dikty her, folgte ihm auf seiner Besuchsrunde
bei verschiedenen Banken, in mehreren Geschäften, zu zahllosen Immobilienmaklern und einigen Autovermietern. Zweifellos hatte die Polizei bereits einen Teil oder sämtliche dieser Möglichkeiten wahrgenommen, doch Dikty durfte nichts außer acht lassen, und Nash folgte ihm. Stunde um Stunde verstrich der heiße Nachmittag, und immer noch setzte Dikty seine erfolglose Suche fort, immer noch blieb ihm Nash auf den Fersen, und immer noch wurden beide von dem neuen Schatten verfolgt. Nash betrat einen Drugstore, bestellte gemischtes Eis und setzte sich auf einen Hocker, von dem aus er den Eingang des Immobilienbüros auf der anderen Straßenseite im Auge behalten konnte. Dikty und Shirley Hoffman, jeder auf seine Art. Sie hatten weiß Gott großes Interesse an ihm. Er lächelte. Sie bereiteten den großen Schlag vor, das war nicht zu übersehen. Und nun der neue Verfolger. Nash aß seine Eiscreme auf und ging hinaus. Er ließ Dikty einen Vorsprung von mindestens einem Häuserblock. Sobald er den Drugstore verlassen hatte, spürte er wieder, wie sich hinter ihm Blicke auf ihn richteten. Die unsichtbaren Augen störten ihn, brachten ihn aus der Fassung. Er fühlte sich nicht ganz wohl in seiner Haut und gereizt, weil er nicht feststellen konnte, wer ihn da beobachtete. Ständig bohrten sich
die Blicke in seinen Rücken. Wieder und wieder versuchte er, den Verfolger zu entdecken, ohne seine Absicht deutlich werden zu lassen. Doch er hatte keinen Erfolg. Der Mann war gerissen – wer es auch sein mochte. Er dachte kurz an Diktys Vorgesetzten, Cummings. Ja, es konnte Cummings sein. Oder es war ein neuer Mann, den Cummings in die Stadt geschickt hatte. Spät am Nachmittag führte Diktys Weg an der Stadtbücherei vorbei, und Nash hatte das plötzliche Gefühl, daß Shirley Hoffman in der Nähe sei. Er ließ Dikty laufen und ging hinein. Sie hatte sich ein paar Bücher ausgesucht und ließ sie gerade eintragen. Nash trat neben sie. Er sah zu, wie die Bibliothekarin Shirleys Benutzerkarte lochte. Er streckte die Hand aus und nahm die Bücher. »Die älteste Zivilisation Griechenlands«, las er vor, was auf dem Rücken des ersten Schmökers stand. »Reichlich überholt; mindestens fünfzig Jahre alt.« Die Bibliothekarin funkelte ihn mißbilligend an. »Guten Tag!« Shirley Hoffman lächelte ihm zu. »Sie haben wohl neuere Bücher, wie?« »Ja. Wollen Sie zu mir kommen und sie ansehen?« »Ich hätte nichts dagegen. Ich vermute allerdings, um meinen guten Leumund zu behalten hätte ich das nicht so schnell zugeben dürfen.« Nash lachte nur.
Shirley Hoffman wandte sich zur Tür. Draußen blieb sie stehen. »Heute habe ich wirklich etwas Interessantes erwischt.« Sie suchte zwischen den Büchern, die sie auf dem Arm trug, und zog dann eins heraus. »Man hat es mir empfohlen, nachdem ich meine Wünsche vorgebracht habe: Huxleys Nach vielen Sommern stirbt der Schwan.« »Warum das?« »Ich fragte nach einem Buch über Unsterblichkeit.« Nash blieb stehen und drehte sich zu ihr um. Die Leute auf der Straße gingen ungeduldig um das Hindernis herum, das die beiden bildeten. »Immer noch an Gilgamesh interessiert?« Shirley nickte nachdrücklich. »Immer noch Gilgamesh. Mr. Cummings will mir aus Washington etwas über ihn schicken.« »Aber das hier ist nicht dasselbe«, wandte er ein und deutete auf das Buch in ihrer Hand. »Diese Geschichte handelt von einem sterbenden alten Mann, der nicht sterben will; er ist bereit, alle seine Millionen herzugeben, wenn er für immer am Leben bleiben kann.« »Wirklich?« Sie betrachtete den abgenutzten Einband. »Das ist die Pointe der Geschichte; lesen Sie nur und überzeugen Sie sich. Sie müssen sich zwar durch
langatmige Passagen kämpfen, aber überzeugen Sie sich ruhig selbst.« Er ging weiter. »Aber er und Gilgamesh waren doch hinter derselben Sache her«, wandte sie ein. »Ja – in gewissem Sinne schon. Dieser alte Mann bei Huxley war fünfzig oder sechzig Jahre alt und fürchtete sich vor dem Sterben, weil er auch noch Angst davor hatte, eurem Gott gegenüberzutreten. Gilgamesh war – nun, er war viel viel älter, und er wollte nur seine natürliche Lebensspanne erhalten. Er wollte die ihm bestimmte Zeit ausleben. Er hatte keine Angst vor dem Sterben, er fürchtete sich auch nicht vor seinem Gott; als ihm klar wurde, daß seine Suche nach dem ewigen Leben sinnlos war, gab er es auf. Er fand sich damit ab, jung zu sterben.« Nash sah sie von der Seite an. »Das ist eine relative Aussage; ich meine nicht jung in dem Sinn, in dem Sie jung sind.« Shirley wandte den Kopf und blickte ihm in die Augen. »Und wie alt sind Sie?« fragte sie unvermittelt. »Über einundzwanzig«, antwortete er sofort und lachte. »Das habe ich von den Frauen gelernt.« »Sie weichen aus!« erklärte sie. »Und Sie sind neugierig«, erwiderte er. Sie gingen langsam weiter, ohne sich der Geschwindigkeit des Passantenstromes anzupassen.
Plötzlich blieb er stehen. Er stand da, als lauschte er angestrengt. Der Verkehr flutete in stetigem Strom an ihnen vorbei. Shirley sah ihn an, folgte dann seinem Blick. Er schien in das Schaufenster eines Blumenladens zu blicken, das bereits erleuchtet war. »Blumen?« fragte sie überrascht. »Wollen Sie etwa Ernst machen?« »Was?« erwiderte er zerstreut. Er schien immer noch auf etwas Unsichtbares, Unbekanntes zu lauschen. Gerade eben war es ihm zum Bewußtsein gekommen, daß er die Blicke nicht mehr in seinem Nacken spürte. Er wußte so sicher, daß er nicht mehr beobachtet wurde, als hätte er jemand stehenbleiben, sich umdrehen und nach Hause gehen sehen. Er dachte nach, und ihm fiel ein, daß er die bohrenden Blicke nicht mehr gespürt hatte, seit er die Bibliothek betreten hatte. Als er mit dem Mädchen wieder auf die Straße getreten war, war der unsichtbare Beobachter nicht mehr dagewesen. Was hatte das zu bedeuten? Daß der Verfolger wußte, daß Shirley in der Bibliothek wartete, auf ihn, Gilbert Nash, wartete, und daß das Mädchen für den Rest des Abends die Überwachung übernehmen würde? Oder interessierten sich jene Unbekannte überhaupt nicht für ihn, sondern folgte er in Wirklichkeit Dikty? Hatte er nur deshalb solange
den Blick gespürt, weil er sich zufällig zwischen Dikty und dem unbekannten Verfolger bewegt hatte? Aber warum sollte sich jemand für Dikty interessieren? »Gilbert Nash!« rief das Mädchen. Das riß ihn aus seinen Gedanken. »Was?« »Ich sagte, das Blumengeschäft ist geschlossen.« Ein oder zwei Sekunden lang kam er nicht dahinter, bis sein Blick auf das erleuchtete Schaufenster fiel und er ihre Gedanken erriet. »Oh, schade«, antwortete er. »Und ich wollte Ihnen doch einen Kaktus kaufen. Kommen Sie, wir holen den Wagen. Ich bin wirklich neugierig, wie gut Sie kochen können.« Nash lehnte sich zurück und klopfte sich auf den Bauch. Zufrieden und gesättigt schmatzte er mit den Lippen. Er zwinkerte Shirley über den Tisch hinweg zu und schloß die Augen. »Schau an!« sagte Shirley Hoffman. »Ein satter Mann!« Sie stützte die Ellenbogen auf den Tisch und legte das Kinn auf die Hände. »Und wenn Sie sich jetzt noch weiter typisch männlich benehmen wollen, dann werden Sie jetzt ein Schläfchen halten.« »Negra consentida: Sie sprechen aus Erfahrung?« »Ich hatte meine Erfahrungen mit meinem Chef und mit männlichen Verwandten. Und was haben Sie da eben gesagt?«
»Meine liebste Brünette! Nach heute abend sind Sie das. Jede Frau, die so gut kochen kann, ist mir die liebste.« »Jede Frau«, wiederholte sie. »Ich bin bloß die letzte in der langen Reihe.« »Die letzte und die erste, zumindest in diesem Haus. Es würde Sie überraschen, wenn Sie wüßten, wie lange es schon her ist, seit ich mich das letzte Mal in weiblicher Gesellschaft befunden habe.« Er lachte leise. »Meine lieben Nachbarn werden morgen genug Gesprächsstoff für eine ganze Woche haben.« Er stand auf. »Überlassen Sie das Abräumen dem Dienstmädchen.« »Haben Sie eins?« fragte sie rasch, in schärferem Ton, als sie gewollt hatte. Seine beiläufige Bemerkung war für sie unerwartet gekommen. »Ja, das bin ich«, antwortete er. »Ich werde später abspülen.« Der Ton ihrer Stimme veranlaßte ihn, sie neugierig zu mustern. »Zehn Schritte gerade aus, dann an der Tür rechts.« Er ging voran und öffnete eine Tür zu einem anderen Raum, den sie bei ihrer ersten Besichtigung des Hauses nicht gesehen hatte. Nash betrat das dunkle Zimmer und schaltete das Licht ein. Durch die Tür sah sie einen Raum voll Bücher – vier Wände voller Bücher, die vom Boden bis zur Decke reichten, ohne daß irgendwo ein Fenster ausgespart war, einen
Raum, der sonst nichts enthielt bis auf zwei Sessel, dazwischen eine Stehlampe und eine Stereoanlage. »Ah!« sagte sie angenehm überrascht. »Fördert das Denken«, erklärte er. »Ob es sich um tief schürfende oder oberflächliche Gedanken handelt, hängt von der Einstellung des Betreffenden ab. Außerdem läßt es sich hier angenehm träumen, möchte ich hinzufügen. Ein Paradies ungestörter Ruhe.« Er ging in ein anderes Zimmer des Hauses und kehrte mit einem Arm voll Mappen in das Bücherzimmer zurück. Während seiner Abwesenheit hatte sie die Stereoanlage angestellt und saß nun erwartungsvoll und entspannt in einem der beiden Sessel. Er legte alles auf ihren Schoß, und sie betrachtete den Stapel. Er bestand aus zwei großen Umschlägen voll loser Blätter und aus sieben Mappen und Folianten, die alle in widerstandsfähiges Material, das den größtmöglichen Schutz bot, eingeschlagen oder eingebunden waren. Ehe sie sich das erste der Bilder anschaute, bemerkte sie, daß sämtliche Blätter von einer dünnen, widerstandsfähigen Plastikhaut überzogen waren, um sie vor Staub und zerstörenden Umwelteinflüssen zu schützen; trotzdem war das Papier mancher Zeichnungen vergilbt und mit dem Alter spröde geworden, und hin und wieder zog sich ein Riß quer durch ein Bild und verriet dessen Herkunft aus längst vergangenen Zeiten.
Mit jedem Blatt, mit jeder sorgfältig geschützten Zeichnung, die sie aus den Mappen holten, in allen Einzelheiten studierte und schließlich gegen die nächste austauschte, verstand sie ein wenig mehr von Gilbert Nashs Schätzen. Sie versuchte, sich die Denkweise und die Persönlichkeit der Künstler vorzustellen, die diese Illustrationen geschaffen hatten; sie machte sich Gedanken darüber, wie ihre Werke von den Zeitgenossen aufgenommen worden waren. Sie überlegte sich, was sie in jenen fernen Ländern gesehen hatten, woran sich dann ihre Phantasie entzündet hatte. Hatte Napoleon selbst dieses Blatt gesehen, jene Radierung – und was hatte er sich dabei gedacht? Als sie mit der Durchsicht fast fertig war, erkannte sie noch etwas anderes. Die Männer, die diese Werke hervorgebracht hatten, dachten nicht konventionell, nicht im üblichen Sinn. Sie dachten auch nicht, wie hier bewiesen wurde, so wie sie dachte, wie Dikty dachte; auch nicht, wie Cummings dachte. Folgten ihre Gedanken anderen Wegen, wandten sie sich Abstraktionen oder Symbolen zu, oder waren sie völlig unfaßbar, fremdartig – so wie Nashs Gedanken? Wer konnte das heute noch sagen? Die Leute waren tot, begraben, wahrscheinlich waren selbst ihre Grabstätten in Vergessenheit geraten. Aus dem, was sie hinterlassen hatten, konnte man heute nur ein unzureichendes Urteil über sie fällen, und
welcher Mensch der Gegenwart war in der Lage, diese Zeugnisse einer anderen Gedankenwelt unbefangen und ohne Vorurteil zu betrachten? Denn damit wurde man diesen Künstlern nicht gerecht. Sie erwachte aus ihren Betrachtungen, und die Umwelt nahm Gestalt an. Ihre Hände waren über den Blättern auf ihrem Schoß gefaltet, der Plattenteller drehte sich noch. Sie konzentrierte sich auf den Namen des Musikstücks, und als er ihr eingefallen war, hatten Zeit und Umwelt in ihrem Bewußtsein wieder ihren Platz eingenommen. Sie brauchte sich nicht umzudrehen; sie wußte, daß Nash in dem anderen Sessel hinter ihr saß. Er machte kein Geräusch, bewegte sich nicht, doch sie wußte, daß er da war. Shirley Hoffman stand auf, nahm die Mappen und legte sie auf den Sitz des Sessels. Dann ging sie um die Stehlampe herum und trat hinter den anderen Sessel. Nash las in einem Buch. Kühn beugte sie sich über ihn und nahm seinen Kopf in ihre Arme. Dann küßte sie ihn.
9 »Du schuldest mir viel«, sagte Shirley unerwartet, »sehr viel!« Nash war überrascht. Er überlegte sich, ob er sie vielleicht falsch eingeschätzt hatte. Er kniete vor dem Kamin im Wohnzimmer und versuchte, das kleine Feuer wieder anzufachen. Die Nacht war frisch. Sie stellte ihre Kaffeetasse auf die Untertasse. »Du schuldest mir eine Erklärung. Viele Erklärungen.« Er spürte die Enttäuschung, die in ihm erwachte. »So?« Sie nickte. »Wie kam es, daß jemand nach dem ewigen Leben suchte? Und warum stellte es sich schließlich heraus, daß es zu spät war, das Leben zu retten. Was hatte er zu spät gefunden?« Ein erdrückendes Gewicht war ihm plötzlich von den Schultern genommen worden. Nash lachte fast laut heraus, dann fragte er: »Wer will das wissen? Du – oder jemand, den du kennst?« »Ich will's wissen«, erwiderte sie fest, »doch ich nehme an, daß es dieser Jemand irgendwann auch erfahren wird.« Er drehte sich langsam um und setzte sich auf den Boden. Er streckte eine Hand aus und klopfte neben sich auf den Teppich vor dem Kamin. »Komm her!«
Shirley ließ sich neben ihm nieder. »Bekomme ich jetzt einen Vortrag zu hören?« fragte sie schnippisch. »Nein, natürlich nicht.« »Ich habe bloß Spaß gemacht. Komm, erzähle!« »Ist dir nie der Gedanke gekommen, daß irgendein anderes Geschöpf ungezählte Jahrtausende länger als ihr leben könnte, daß es – nach euren Maßstäben – eine geradezu unendliche Lebenserwartung hat? Allerdings sind eure Maßstäbe nicht anwendbar, wenn dieses andere Geschöpf ein völlig anderes Zeitgefühl hat und sein Leben in ganz anderen Einheiten mißt. Genauso wenig würde der Maßstab der Eintagsfliege ausreichen, wenn dieses Insekt eure Lebenserwartung mit seinem eigenen Zeitbegriff zu begreifen versuchte. Ihr schaut von der Höhe eures längeren Lebens auf das Insekt herab. Ihr wißt, daß es binnen wenigen Stunden aufhört zu existieren. Gibt es aber nicht vielleicht eine andere Lebensform, die auf euch herabblickt und euch im Verlauf weniger ›Stunden‹ von Säuglingen zu Greisen werden sieht?« »Was du da sagst«, meinte Shirley kleinlaut, »läuft doch auf irgend etwas hinaus. Ich kann es fast spüren.« »All das läuft auf Gilgamesh und seine angebliche Unsterblichkeit hinaus. Ich wiederhole: angebliche Unsterblichkeit. Gemäß der allgemeinen Definition ist
ein Unsterblicher eine Person, die nie stirbt, ein Geschöpf mit endloser Existenz. Gilgamesh war kein Unsterblicher, man hielt ihn nur dafür, weil er schon war, noch ehe die alten Dichter geboren wurden, und weil er noch lebte, lange nachdem sie gestorben waren. Er schien ihnen unsterblich, weil er nicht wie sie von Alter und Tod ereilt wurde, weil er ihrem Zeitplan von der Wiege bis zur Bahre nicht folgte. Daher waren sie geneigt, ihn mit einer Vielzahl geheimnisvoller Legenden zu umgeben, aus ihm etwas zu machen, das er nicht war.« Shirley fragte schließlich: »Wonach hat nun Gilgamesh eigentlich gesucht?« »Wasser! Wasser, um sein Leben zu verlängern.« »Du sagtest doch –« Sie brach ab, um sich seine Worte ins Gedächtnis zurückzurufen. »Du sagtest, er fand es zu spät, um sein Leben noch retten zu können. Er fand das ewige Leben zu spät. Was hast du damit gemeint? Ich möchte alles über Gilgamesh wissen.« »Um es einem Menschen zu erzählen, den du kennst?« »Um meine Neugier zu befriedigen.« »Gilgamesh wurde auf einer Insel geboren«, begann er nach kurzer Pause. Er wählte seine Worte sorgfältig. »Auf einer Insel, die er für das Universum, für die ganze Schöpfung hielt, bis er älter wurde und
lernte, daß seine Insel nur eine unter vielen war. Als er entdeckte, daß es noch viele andere Inseln gab und Schiffe, die zwischen ihnen verkehrten, entschloß er sich, die anderen Inseln aufzusuchen. Er wollte sein Leben mit diesen Reisen verbringen. Er begann, sich das Wissen anzueignen, das man braucht, um auf Schiffen arbeiten zu können. Er fing an, sich über die anderen Inseln zu informieren. Und gleichzeitig lernte er auch einiges über sich selbst. Er stellte fest – und das versetzte ihm einen Schock –, daß es eigentlich nicht sehr viele Leute auf seiner Insel gab, lange nicht so viele wie auf den anderen Inseln. In dieser Hinsicht war seine Heimat in der Tat einzigartig. Die zahlenmäßig geringe Bevölkerung war auffallend. Schließlich entdeckte er auch den Grund. Die Antwort lag in der Genetik. Das Leben auf seiner Welt stand unter dem Fluch einer tödlichen Erbschaft: Er, seine Eltern, seine Verwandten und Freunde waren die Opfer einer Chromosomenaberration; diese tödliche Erbschaft drückte die Rate der Geburten auf ein Minimum herunter, und nur eine phantastisch geringe Zahl von Kindern kam mit normalen Körpern zur Welt. Die Fehlgeburten waren in der Überzahl oder mutierte Ungeheuer, die nicht lebensfähig waren. Diese Strukturveränderungen an den Chromosomen lag wie ein Fluch auf der Insel und ihren Bewohnern, und niemand blieb verschont.
Das Leben war fast ausgelöscht, es wäre völlig von der Insel verschwunden, hätte nicht die Natur in ihrem Bestreben auszugleichen eine Rettung gefunden. Diese Rettung war die lange Lebensdauer. Er lernte rasch, daß das Leben – sein Leben – immer in der Schwebe hing. Die Schiffe seiner Rasse waren die stärksten, die stabilsten, und doch widerfuhr ihnen immer wieder Unheil, das sie zerstörte. Fortwährend stießen sie auf Hindernisse, die zwar auf den Karten verzeichnet waren, die aber seither ihre Lage verändert hatten. Ein Schiff war in jedem Augenblick gefährdet, und wenn das Schiff zerstört war, wurde auch das Leben auf ihm vernichtet, weil die Inseln unvorstellbar weit auseinanderlagen. Außerdem waren nicht auf jeder Insel Wasser und Nahrung geeignet, ihn am Leben zu erhalten. Das Wasser stellte sich dabei als das größte Problem heraus, weil seine Zusammensetzung in Gilgameshs Heimat anders war als auf den übrigen Inseln. Es war ein ganz eigenartiges Wasser; wenn man sein Leben lang auf der Insel blieb, war es das natürlichste von der Welt, doch wenn man die anderen Inseln besuchte und feststellte, wie selten es vorkam, war seine Zusammensetzung doch recht ungewöhnlich. Dieses Wasser hatte besondere Eigenschaften, die das Wasser der meisten anderen Inseln, die von den Schiffen angelaufen wurden, nicht aufwies. Daher mußten die Schif-
fe große Vorräte mitnehmen, die für die ganze Hin- und Rückreise auszureichen hatten – man konnte die Fässer unterwegs nicht auffüllen. Das Wasser der anderen Welt war im Notfall auch trinkbar – das schon, doch war seine Zusammensetzung grundlegend anders, und es hatte nicht die Eigenschaften, die jene verlängerte Lebensdauer ermöglichten. Dieses Wasser der anderen Inseln war ein schlechter Ersatz, und wenn man gezwungen war, seinen Durst nur damit zu stillen, so wurde die natürliche Lebenserwartung verkürzt. Dieses normale Wasser war nichts anderes als eine dünne Flüssigkeit, die für eine begrenzte Dauer die Lebensvorgänge aufrechterhielt – nicht mehr. Das natürliche Wasser auf der Insel, auf der Gilgamesh geboren und aufgewachsen war, war für ein gesundes und unverkürztes Leben unbedingt erforderlich.« Das Mädchen hatte ganz ruhig dagesessen. Sie hatte seiner Stimme zugehört und sein Profil betrachtet, das sich gegen das flackernde Kaminfeuer abhob. Jetzt sagte sie: »Gilgamesh gehörte also zu einer Schiffsbesatzung. Trotz der Gefahren, die den Seefahrern drohten, und obwohl er ohne dieses besondere Wasser seiner Heimatwelt nicht auskam, wurde er Seemann. Und dann erlitt er Schiffbruch.« Nash nickte langsam. Seine Augen folgten den Schattenbewegungen auf der gegenüberliegenden Wand. »Es war einer jener dunklen Körper, die sich
in einem noch schwärzeren Meer bewegen, ein Felsstück, das aus dem Nichts geflogen kam; es passierte alles in einem Augenblick. Er befand sich bei seiner Frau – sie unterhielten sich in ihrer Kabine über alltägliche Dinge, als der Alarm kam. Und im nächsten Moment wurde er durch einen Riß in der Schiffswand hinausgeschleudert, ohne zu wissen, ob seine Frau Zeit genug gefunden hatte, sich zu retten.« »Hat er – hat er es jemals erfahren?« »Ja, das hat er. In einer vom Erdbeben zerstörten Stadt.« Shirley schloß die Augen. Ihre Lippen formten die Worte: »Das tut mir leid.« Sie schwieg und wartete, bis er fortfuhr. »Also – Gilgamesh suchte nach Wasser, nach dem Wasser, das er für sein Leben brauchte. Er hatte seine eigene eiserne Ration an Wasser. Er trank es sparsam, während er sich an das neue, schwächere Wasser auf der fremden Insel gewöhnte. Seine Vorräte hielten natürlich nicht ewig, und bald gingen sie zur Neige. Doch er setzte seine Suche über die ganze bekannte Welt fort, über die ganze Welt, die ihm damals erreichbar war – immer in der Hoffnung, daß er irgendwo sein Wasser finden würde. Du siehst jetzt, es war unvermeidlich, daß jene alten babylonischen Dichter Geschichten über ihn schreiben würden, daß sie aus ihm einen Halbgott machten.«
»Aber er fand es doch irgendwo – zu spät.« »Das stimmt, ja. Es gab zwar keinerlei natürliche Vorkommen, und folglich fing sein Körper an zu sterben. Seine Kräfte schwanden einfach, so wie auch eure Körper verfallen würden, wenn man ihnen das Wasser entzieht und irgendeine andere Flüssigkeit aufzwingt. Gilgamesh hatte so lange ohne es auskommen müssen, daß eine vollständige Verjüngung unmöglich wurde, selbst nachdem ein fast gleichwertiger Ersatz künstlich hergestellt worden war. Wenn du willst, kannst du seine Lage mit der eines Patienten vergleichen, dessen Arzt das rettende Serum zu spät bekommen hat: Das Serum wird das Leben des Patienten ein wenig verlängern – mehr nicht.« »Dieses Wasser wird künstlich ... Oh!« »Ja«, erwiderte Nash trocken. »Oh.« »Schweres Wasser?« fragte sie. »Das ist die populäre Bezeichnung. Deuteriumoxyd. Im Laufe ihrer Entwicklung begannen die Menschen schließlich zu Kriegszwecken wissenschaftliche Experimente in größerem Umfang anzustellen, und dabei erzeugten sie auch schweres Wasser.« »Aber das war doch erst vor kurzer Zeit. Vor dreißig Jahren«, wandte sie ein. »Ich sagte dir doch, daß es für Gilgamesh inzwischen viel zu spät war, sein Leben damit zu retten.« Sie schwieg lange, und er sagte nichts, um das
Schweigen nicht zu brechen, um ihre Gedankengänge nicht zu stören. Er saß mit dem Rücken dem Feuer zugekehrt und lauschte auf die Stille des Hauses, lauschte auf das Schweigen der Nacht vor den Fenstern. Gedankenverloren richtete sie sich auf und ließ sich dann wieder mit untergeschlagenen Beinen auf dem Teppich nieder. »Mich interessiert das Alter von Gilgamesh, der Zeitpunkt, zu dem er zuerst auf dieser – neuen Insel erschienen ist. Die Tontafeln geben darüber natürlich keinen Aufschluß. Wie lange liegt der Schiffbruch schon zurück? Vor wie langer Zeit wurde Gilgamesh an die Küste gespült?« Nash runzelte die Stirn. »Das ist allerdings schwierig zu beantworten. Wie will man die Zeit bestimmen, wenn der Kalender noch nicht erfunden ist? Ich kann höchstens schätzen, wenn ich von den Menschen und den Lebensformen ausgehe, die er zuerst auf der Insel antraf. Und wenn ich dann diese Leute nach den heutigen anthropologischen Erkenntnissen einstufe.« »Das genügt mir. Welche Leute?« »Die Menschen Aziliens, eine Kulturgruppe der Mittleren Steinzeit.« »Azilien? Tut mir leid, aber das sagt mir gar nichts. Ich habe davon noch nichts gehört.« »Das war ungefähr im zehnten Jahrtausend vor Christus.«
Sie saß still, ihre Augen waren geschlossen. »Der Schiffbruch«, sagte sie, »dieser Schiffbruch vor zwölftausend Jahren ... Du sagtest, daß der Leichnam seiner Frau an Land gespült wurde.« Sie zögerte einen Augenblick, als ein leiser Schatten über sein Gesicht zog. »Gab es noch irgendwelche andere Überlebende außer Gilgamesh?« »Die gab es, ja. Diese neue Insel war groß, und weite Gebiete waren wie ein unerforschlicher Dschungel. Das mußt du verstehen. Eine Reise war fast unmöglich, wenn es natürliche Hindernisse gab und keinerlei Hilfsmittel, mit denen sie überwunden werden konnten. Während Gilgamesh nach Wasser suchte, suchte er selbstverständlich auch nach seinen Gefährten, die das Unglück überlebt hatten. Ein paar von ihnen fand er mit der Zeit. Der Rest war entweder mit dem Schiff untergegangen oder saß an irgendeinem unzugänglichen Ort fest. Doch nach und nach tauchten jene wenigen Überlebenden auf.« »Sind sie – sind sie heute noch ...« »... am Leben? Nein. Mit einer einzigen Ausnahme haben sie einen frühen Tod gefunden. Einige starben an den Folgen ihrer Verletzungen, andere waren alt und konnten von dem Wasser nicht leben, das sie hier vorfanden, wieder andere wurden Opfer von Unfällen. Einer beging in einer römischen Arena Selbstmord.« Shirley fragte: »Mit einer Ausnahme?«
Nash sah sie neugierig von der Seite an. »Hast du Zugang zu den Kriegsgeheimnissen eurer Regierung? In diesem Fall kannst du es, wenn du willst, nachprüfen. Im Jahre 1940 flohen zwei Wissenschaftler aus Frankreich, um dem anrückenden Feind zu entgehen; dabei nahmen sie nach England 240 Liter schweres Wasser mit – oder, um genauer zu sein, sie verließen Frankreich mit 240 Litern; die vorrückenden Deutschen waren ihnen dicht auf den Fersen. Die Wissenschaftler flohen über den Kanal mit ihrem Deuteriumoxyd, das damals so ziemlich den ganzen Weltvorrat darstellte und daher unglaublich kostbar war. Die beiden Flüchtlinge kamen wohlbehalten in England an, mit 190 Litern schweren Wassers. Und jetzt paß auf: Sie konnten über die Fehlmenge keine Rechenschaft ablegen, sie fanden keine vernünftige Erklärung dafür, was mit den fehlenden 50 Litern geschehen war. Es wurde allgemein angenommen, daß sie auf der Flucht verlorengegangen waren.« »Aber das war nicht der Fall?« fragte sie. Er antwortete nicht direkt. »Der Verlust jener 50 Liter war der erste Hinweis auf die Existenz eines anderen Überlebenden – eines Überlebenden, der selbst nach so langer Zeit aktiv war.« Wieder wandte er sich ihr zu, beobachtete ihre Augen und ihre gespannten Gesichtszüge. Er überlegte sich, ob sie ihm folgen konnte. »Gilgamesh nahm die Suche nach jenem anderen Überle-
benden auf, getrieben von dem natürlichen Wunsch, ihn zu treffen. Und schließlich fand er eine Spur.« »Nur eine Spur?« »Eine Spur. In Peenemünde.« Shirley runzelte die Stirn. »Der Name sollte mir bekannt sein.« »Das deutsche Versuchszentrum für Raketenwaffen, wo unter anderem die V2 gebaut wurde.« »Oh – natürlich.« Ihr nachdenklicher Ausdruck war nicht ganz verschwunden. »Und dort hat man eine Spur von ihm gefunden?« »Eine Spur von ihr wurde dort gefunden«, berichtigte er. »Von ihr? Eine Frau!« »Das geduldige Warten zahlte sich schließlich für sie aus. Eines Tages arbeitete ihr Mann für den Manhattan District, dann arbeitete er in Oak Ridge; und – vermutlich zu seinem großen Erstaunen – half er schließlich mit, einen nuklearen Reaktionsmotor zu konstruieren und zu bauen, der ein Schiff durch das weite Weltall treiben konnte. Endlich lag der lang erwartete Sieg in greifbarer Nähe, und es schien nur noch kurze Zeit zu dauern, bis sie wieder ›in See stechen‹ und die Insel verlassen konnte. Ihr Mann, der nun nutzlos geworden war und in gewisser Hinsicht sogar eine gefährliche Belastung für sie bildete, wurde ermordet.«
»Carolyn Hodgkins!« rief das Mädchen aus. »Carolyn!« nickte er. »Sie ist entschlossen, die Erde zu verlassen, und solange sie lebt, wird nichts sie aufhalten können.« Nash verfiel in Schweigen. Er lauschte wieder ins Haus und in die Nacht hinaus. »Carolyn Hodgkins ist eine – eine Überlebende?« »Das ist sie, ja.« »Die einzige außer Gilgamesh? Nicht mehr als – zwei?« »Nicht mehr als zwei.« »Ist ...« Sie zögerte. »Ist sie die einzige, die entschlossen ist, zu leben – und die Erde zu verlassen?« »Die einzige. Der andere hat sich schon vor langem damit abgefunden, hierzubleiben und einen für ihn vorzeitigen Tod zu sterben. Ohne Drama, ohne falsches Heldentum. Er fand sich mit der Lage ab und ist nun völlig zufrieden, zu bleiben, sein weiteres Schicksal zu erwarten.« Nash bewegte sich ein wenig auf dem Teppich. Er wandte sich ihr zu und erhob seine Hand, um ihren Arm zu berühren. »Du darfst nicht vergessen, daß das einzige, das ich je liebte, hier auf der Erde irgendwo begraben ist. Ich will einfach bleiben.« Irgendwo draußen in der Nacht erklang ein leises Geräusch, und Nash hob den Blick und starrte durch das Fenster zum Himmel hinauf. »Ich glaube, das kann ich verstehen«, sagte Shirley zögernd und immer noch etwas befangen. »Und ich
möchte fragen – verzeih, das ist ein wenig persönlich, aber ...« »Frag nur.« Er lauschte angestrengt in die Dunkelheit hinaus. »Hat er, hast du je wieder geheiratet?« »Geheiratet? Nein, nicht in diesem Sinn. Ich habe Partnerinnen gehabt – gewiß, oft, aber ich habe nie wieder geheiratet.« »Gab es, ich meine, gibt es irgendwelche Nachkommen?« »Ja, wenige.« Er schüttelte den Kopf. »Sehr, sehr wenige. Mein genetischer Fluch verfolgt mich noch immer, und das wird sich nicht ändern. Aber es gibt ein paar Nachkommen.« Shirley schaute auf, sah seinen Blick aufs Fenster gerichtet und sah ebenfalls in diese Richtung. »Die Nachkommen würden natürlich nichts wissen. Sie können nichts wissen.« Nash holte die Wagenschlüssel aus der Tasche. »Bis zur Stadt ist es ein ziemlich langer Weg.« Sie gingen zur Haustür. Er schaltete die Außenbeleuchtung ein, öffnete die Tür und trat beiseite, um sie vorzulassen. »Wenn ich jetzt nicht gehe, käme ich heute hie nach Hause. Und ich weiß jetzt schon, daß ich morgen zu spät zur Arbeit ... Gilbert!« Shirley schrie seinen Namen und zuckte zurück.
10 Die lange, anstrengende, schlaflose Nacht spiegelte sich auf ihrem Gesicht wider. Shirley Hoffman saß niedergeschlagen vor Diktys Schreibtisch. Sie bemühte sich, die Augen offenzuhalten, und sie stützte ihren Kopf in beide Hände. Ihr Kopf schmerzte, und weder Aspirin noch schwarzer Kaffee hatten helfen können. »Erzählen Sie mir das noch einmal!« sagte Cummings. »Immer wieder!« Er packte die Schreibtischkanten mit beiden Händen und schien Lust zu haben, ihn umzuwerfen. »Wo ist er hingegangen?« »Ich weiß nicht! Ich habe doch gesagt, ich weiß es nicht.« Sie preßte die Hände gegen ihre Schläfen, als könne sie den Schmerz und Cummings zornige Stimme nicht mehr ertragen. »Er verschwand einfach.« »Wohin?« »Weiß ich nicht.« »Wann?« »Ich weiß es nicht. Ehe die Polizei kam.« »Sie wußten nicht, daß Dikty draußen war, daß er Nashs Spur gefolgt war?« »Nein, ich hatte Mr. Dikty den ganzen Tag über nicht gesehen.« »Wo haben Sie Nash getroffen?«
»In der Bibliothek. Er lud mich zum Essen ein – oder vielleicht lud ich ihn ein. Ich kann mich jetzt nicht mehr erinnern!« »Was passierte, nachdem Sie die Bibliothek verlassen hatten?« »Wir gingen die Straße entlang bis zu seinem Wagen, dann fuhr er mich zu seinem Haus.« »Sonst nichts? Haben Sie nicht unterwegs irgendwo angehalten – irgend etwas getan?« »Nein – halt, doch. Er blieb auf dem Weg zum Wagen einmal stehen, um in das Schaufenster eines Blumengeschäftes zu blicken.« »Wollte er Blumen kaufen?« »Nein, der Laden war geschlossen.« »Er stand bloß da und schaute ins Fenster? Schien er in sich versunken zu sein? Dachte er über irgend etwas nach?« »Ja – so schien es. Ich mußte ihn zwei- oder dreimal ansprechen, bis er es merkte. Er muß geträumt haben oder so etwas. Er gab mir irgendeine Antwort, daß er mir keine Blumen kaufen könnte oder so etwas.« Sie legte die Fingerspitzen an die geschlossenen Augenlider und drückte; ein vergebliches Bemühen, den Schmerz zu vertreiben. »Und dann fuhr er mit Ihnen zu seinem Haus? Unterwegs wurde nicht angehalten?« »Nein, wir hielten nicht an. Ich machte das Essen.«
»Und wie war es nach dem Essen? Was geschah dann?« »Er zeigte mir seine Bibliothek. Er hat ein großes Zimmer voller Bücher.« »Das sah ich vor ein paar Stunden«, sagte Cummings. »Und dann, was geschah weiter?« »Wir spielten Schallplatten, und ich sah mir die Bücher an.« Ihr Vorgesetzter beugte sich weit über den Tisch. »Sie lügen! Sie haben nicht in seine Bücher geschaut.« »Oh, na schön! Ich habe mir Bilder angesehen.« »Bilder ...?« »Er hat sehr viele. Alte Drucke und Radierungen ägyptischer und babylonischer Darstellungen – alles mögliche.« Cummings richtete sich auf und sah sie prüfend an. »Bilder«, wiederholte er leise. »Was machte er während der ganzen Zeit?« »Er las. In dem Sessel hinter mir.« »Die ganze Zeit? Er ist nie aufgestanden?« »Nein. Ja, doch. Manchmal, wenn ich aufsah, war er nicht da.« »Meinen Sie, er ist aus dem Zimmer gegangen?« »Ja«, antwortete sie. »Wie lange war er fort?« »Ich weiß nicht. Ich fürchte, ich habe nicht aufgepaßt. Die Stunden glitten vorüber – manchmal war er
da, manchmal nicht. Ich kann Ihnen nicht sagen, wie lange er jedesmal weg war.« Cummings brummte mißmutig. »Fort. Niemand weiß, seit wann; niemand weiß, wohin.« »Ich konnte nichts dagegen machen. Ich sage es Ihnen doch! Ich war in die Betrachtung der Bilder vertieft. Ein Trupp Soldaten hätte durch das Zimmer marschieren können.« »Bilder«, sagte er noch einmal skeptisch. »Nun gut, was kam nach den Bildern?« »Er ging hinaus in die Küche und machte Kaffee. Er zündete ein Feuer im Kamin im Wohnzimmer an, und dann saßen wir da und unterhielten uns.« »Worüber?« »Geschichte – ich meine Vorgeschichte. Alles über Gilgamesh und Noah, und die Eiszeit, und die Azilier ...« »Was ist das?« »Vorgeschichtliche Menschen, die in Europa lebten. Vor vielen tausend Jahren.« »Und es wurde nur geredet? Die ganze Zeit?« »Ja, wir unterhielten uns nur, bis ich merkte, wie spät es war. Er wollte mich in die Stadt zurückfahren.« »Und dann?« »Und dann öffnete er die Tür, und ich sah – ich sah ...« Die unauslöschliche Erinnerung kam ihr wieder
ins Bewußtsein. Die Haut ihrer Arme prickelte. Sie versuchte vergeblich, sich gegen die Gänsehaut zu wehren, die ihr über den Rücken lief. »Mr. Dikty – ist tot.« »Was machte Nash?« »Er lief zu Dikty und drehte ihn um.« »Haben Sie die Lippenstiftspuren gesehen?« »Nein. Ein Polizist machte mich später darauf aufmerksam. Dann habe ich sie gesehen.« »Sie wissen nicht, ob die Lippenstiftspuren schon vorhanden waren, als Nash den Körper herumdrehte?« »Nein. Ich sah nur, daß ... daß –« »Haben Sie jemals Dikty in Gesellschaft einer anderen Frau gesehen?« »Nein, nie.« »Irgendeine Frau hat Lippenstiftspuren auf seinem Mund hinterlassen«, sagte Cummings bitter. »Und irgend jemand hat ihn erwürgt.« Shirley Hoffman machte sich nicht die Mühe, zu antworten. Ihr Kopf war fast auf die Schreibtischplatte gesunken. »Was tat Nash dann?« »Er befahl mir, ins Haus zurückzugehen und die Polizei zu rufen.« »Und das taten Sie. Ohne vorher mich zu verständigen.«
»Ja. Ich dachte nicht an Sie.« Sie massierte ihr Gesicht mit den Fingern. »Nachdem ich die Polizei gerufen hatte, setzte ich mich hin. Ich glaube, ich ging ins Badezimmer; ich war sehr aufgeregt. Alles war so – so verrückt und durcheinander.« »Was machte Nash?« »Ich weiß nicht. Ich kann mich nicht erinnern, ihn wiedergesehen zu haben.« »Sie blieben im Haus, bis die Polizei kam?« Shirley Hoffman nickte. »Und die Polizei nahm Sie in die Mangel.« Er ließ seinen Blick kurz über sie hinwegwandern. »Man kann es den Leuten wirklich nicht übelnehmen. Sie wurden allein bei der Leiche gefunden; die Polizei zieht gern voreilige Schlüsse.« Sie legte den Kopf auf die Tischplatte und weinte. Unentschlossen beugte sich Cummings über sie. Er wußte nicht, was er tun konnte. Ein wenig ärgerlich ging er dann im Zimmer auf und ab und vermied es, sie anzusehen. Als er es nicht länger mit anhören konnte, ging er hinaus ins Vorzimmer und zog die Tür hinter sich zu. Er setzte sich hinter Shirley Hoffmans Schreibtisch und legte die Füße auf die Tischplatte. Nervös fuhr er mit der Hand durch sein dünner werdendes Haar. Er legte die Fingerspitzen der Zeigefinger an die Nase und schaute darüber hinweg die Tür an.
Das hatte noch gefehlt – Dikty tot! Nash war es nicht gewesen. Es war nicht Nash gewesen, obwohl der Mord vor seinem Haus geschehen war. Nein – es war nicht Nash. Es war eine Frau. Eine Frau, die zuerst geküßt hatte – aus irgendeinem unerklärlichen Grund! – und die dann Dikty erwürgt hatte. Eine Frau. Welche Frau? Es gab nur eine Frau, die in dieses Durcheinander verwickelt war. Hodgkins' Witwe. Er schickte Shirley Hoffman nach Hause. Gedankenverloren suchte Cummings nach dem alten, vertrauten Flecken Sonnenlicht auf dem Fußboden. Er lauschte auf die Schritte des Mädchens, die sich draußen im Flur entfernten. Als sie gegangen war, setzte er sich auf die Schreibtischecke und griff nach dem Telefon. Er wählte. Minuten vergingen. Das Sonnenlicht berührte seinen Schuh. Am anderen Ende der Leitung wurde der Hörer abgenommen. »Grove?« fragte er in den Apparat. »Hier Cummings. Ich bin in Knoxville. Können Sie mir zwei Leute schicken? Gut. Ja, die werden genügen. Und, Grove, schicken Sie ungefähr fünfundzwanzigtausend Dollar in bar mit. Ich muß für eine Witwe sorgen. Was? Ja – Dikty. Letzte Nacht. Das können Sie dem Chef melden. Okay.« Er legte auf und studierte nachdenklich den Sonnenfleck. Nach einem Augenblick zog er den Apparat wieder zu sich heran und
wählte dieselbe Nummer. »Grove? Noch mal Cummings. Können Sie mir mit demselben Flugzeug eine neue Sekretärin schicken? Die alte ist nicht mehr zu gebrauchen; wir müssen sie ersetzen.« Cummings betrachtete seine in Licht getauchten Schuhe.
11 Komm heraus, Carolyn! Du versteckst dich hier irgendwo! Irgendwo in diesem verschlungenen Wirrwarr von Lichtern und Straßenkreuzungen, irgendwo in dieser Stadt, die sich über Hügel und Täler ausdehnt, irgendwo in diesem Dschungel der großen und kleinen Häuser, irgendwo hier in dieser lauen, lichterfüllten Nacht, irgendwo versteckst du dich! Oder du hast dich versteckt, bis vor einer Stunde. Nash kauerte auf einer Anhöhe. Er blickte auf die Lichter der schlafenden Stadt hinab, die sich unter ihm ausbreitete. Wenn er den Kopf ein wenig drehte, konnte er das dunkle Band der Straße sehen, die aus der Stadt herausführte. Er konnte auch die tanzenden Lichter sehen, wo die Polizei sein Haus und seinen Garten durchsuchte. Da unten war die Polizei, waren Diktys Leiche und das fast hysterische Mädchen. Carolyn war – irgendwo in der Stadt. Sie hatte wieder getötet, schnell und zielbewußt – es war kein zufälliger Mord, den sie begangen hatte, weil der Mann nun gerade dastand und das Haus beobachtete. Sie hatte ihn geküßt, um sich aus seinen Gedanken Informationen zu besorgen, und dann hatte sie ihn getötet. Carolyn hatte sich während der
letzten Wochen in der Nähe aufgehalten, obwohl die Fahndung nach ihr auf vollen Touren lief. Sie war es gewesen, die ihm gefolgt war, als er seinerseits Dikty verfolgt hatte. Ihre Blicke hatten sich mit jener spürbaren Boshaftigkeit in seinen Nacken gebohrt. Sie hatte Dikty verfolgt – und Nash war bloß zufällig in die Schußlinie geraten. Dann mußte Dikty ihr ziemlich nahegekommen sein, gefährlich nahe. Nash duckte sich ins Unterholz. Mit zusammengekniffenen Augen spähte er in die Dunkelheit. Dikty hatte ihr Versteck entdeckt und dafür mit dem Leben bezahlt. Du bist da unten, Carolyn, irgendwo da unten, in diesem Geflecht erleuchteter Straßen. Aber wo, verdammt noch mal, wo bist du? Im ersten Licht der Dämmerung verließ Nash sein Versteck auf dem Hügel. Nach einem vorsichtigen Fußmarsch von fünfzehn Minuten kam er an den steilen Abgrund, in den er seinen Wagen gestürzt hatte. Mit leisem Bedauern sah er hinunter, aber es hatte sich nicht vermeiden lassen, weil jeder Polizist im ganzen Land hinter diesem Wagen her war. Irgendwann in den nächsten Stunden würde jemand die Straße entlangkommen, den Wagen finden und die Entdeckung melden, und dann war es bekannt, daß er zu Fuß geflohen war. Nash drehte dem zertrümmerten Wagen den
Rücken zu und setzte seinen Weg fort. In ihm erwachte die Erinnerung an die hundert oder gar tausend Male, da er in der Vergangenheit das gleiche getan hatte: geflohen vor irgend etwas oder vor irgend jemand. Das erste Mal war er überrascht und entsetzt vor den wilden Kriegern geflohen, die ihn mit halbgezähmten Hunden jagten; sie waren hinter Wildschweinen hergewesen und hatten ihn aufgestöbert. Die Feuersteinspitze eines Speeres hatte auf seinem Arm die erste Wunde hinterlassen. Sie verhalf ihm zu der raschen Erkenntnis, daß das Leben nicht auf allen Welten und nicht von allen Leuten so geachtet wurde, wie er es von seiner Heimat her kannte. Doch die azilischen Jäger waren nur eine Warnung gewesen, ein Vorgeschmack auf das, was ihm bevorstand. Sie waren die letzte große Jägerrasse, doch nicht die letzten, denen das Töten im Blut lag. Der plötzliche Ruf eines Jungen schreckte ihn aus seinen Gedanken auf. »He – wo wollen Sie denn hin?« Nash blickte auf und sah den Jungen an einem Zaun stehen. Er hatte eine kleine Rinderherde getrieben und war stehengeblieben, als er Nash den Hügel herabkommen sah. »Hallo!« rief Nash. »Ich habe dich gar nicht gesehen. Ich suche eine Werkstatt. Mein Wagen liegt da oben im Straßengraben.« Er deutete mit dem Daumen hinter sich.
»Wo?« fragte der Junge neugierig. »Du kennst doch die schlechte Straße da oben, die sich windet wie ein Korkenzieher? Da gibt es eine Stelle mit 'ner Menge schwarzroter Felsstücke. Da bin ich in den Graben gefahren.« »Klar, die Stelle kenne ich. Sie haben sich nicht verletzt?« »Nein, ich bin ganz in Ordnung. Jetzt suche ich den kürzesten Weg zur Stadt.« »In der Richtung dürfen Sie nicht gehen«, erklärte der Junge. »Nein?« Nash hielt inne und betrachtete das Gelände. Er hoffte, der Bengel würde seinen Eltern nichts von dieser Begegnung berichten. »Kennst du eine Abkürzung?« »Klar«, erwiderte der Junge überlegen, »Klettern Sie nur hier über den Zaun, dann gehen Sie dort hinüber und dann weiter zu den Bäumen da hinten«, er drehte sich um und zeigte auf das Gehölz, »und dann kommen Sie auf einen Weg. Den gehen Sie einfach weiter, am alten Norwood vorbei – nehmen Sie sich aber vor seinen Hunden in acht. Und dann dauert's nicht lange, bis Sie ganz in der Nähe vom Campingplatz auf die Straße kommen. Dort ist ein Telefon.« »Vielen Dank!« »Passen Sie aber auf die Hunde auf!« »Tu ich. Und nochmals vielen Dank.« Nash stieg
über den Zaun und überquerte die Weide. Er befand sich schon zwischen den Bäumen, als ihm die Bedeutung der Erklärung des Jungen aufging. Der Campingplatz hatte ein Telefon. Dort gab es sicher auch Stromanschluß, fließendes Wasser, womöglich Gasflaschen für die Wohnwagen. Die Wohnwagenbesitzer schlossen ihre Wohnwagen einfach an die Versorgungsleitungen an. Dafür bezahlten sie dem Platzverwalter Miete. Der Campingplatz lag ziemlich weit außerhalb der Stadt; die Benutzungsgebühren wurden täglich oder für eine Woche an Ort und Stelle entrichtet. Jeder, der dort seinen Wohnwagen stehen hatte, brauchte bloß aus dem Fenster zu schauen, um den Verkehr auf der Straße zu beobachten. Wenn er sich für irgend jemanden näher interessierte, der in dieser Richtung außerhalb der Stadt wohnte, so war es einfach, sein Kommen und Gehen von hier aus zu verfolgen. Carolyn – war sie vielleicht dort? Lebte sie in einem Wohnwagen? Nash ging schneller. Er folgte dem abschüssigen Pfad, der an den letzten Bäumen vorbei ins Freie führte. Ein Haus wuchs schließlich aus der werdenden Dämmerung. Er hielt vorsichtig nach den Hunden Ausschau. Im Haus begann ein wütendes Gebell, doch nichts stellte sich ihm in den Weg. Er folgte dem schmalen Pfad weiter, manchmal kam er im Unter-
holz davon ab und mußte einen Bogen schlagen, um den Weg wiederzufinden. Die Sonne ging auf, ehe er den Campingplatz erblickte. Nash blieb auf der Anhöhe stehen, um sich die Anlage des Platzes einzuprägen. Er war geräumig und modern eingerichtet, die Straßen waren mit Split bestreut, und zu jedem Wohnwagenplatz führte ein Weg. Das Gelände war auf den beiden der Stadt abgewandten Seiten, hinter denen sich die hügelige Landschaft ausbreitete, von kopfhohem Gesträuch und jungen Bäumen eingefaßt. Die dritte Seite mit der Aussicht auf die Stadt war frei, während vorn neben der Straßenzufahrt die Autos parkten. Nash setzte sich mit dem Rücken an einen Baum und beobachtete den Platz und die Wohnwagen. Am späten Morgen waren es nur noch ein halbes Dutzend Wagen, deren Bewohner noch kein Lebenszeichen von sich gegeben hatten. Gegen Mittag war es wieder einer weniger. Ein Mann öffnete die Tür und trat in die Sonne hinaus, um sich zu strecken und den Schlaf aus den Augen zu reiben. Es blieben fünf. Diese Zahl änderte sich auch während des Nachmittags nicht, und Nash streckte sich auf dem Rücken aus. Die lange Wache hatte ihn ermüdet, und mit jeder Stunde verstärkte sich sein Hunger. Am Abend vollzog sich der mor-
gendliche Auszug in umgekehrter Richtung. Die Männer kehrten aus der Stadt zurück, die Kinder verschwanden von den Spielplätzen. Alle suchten ihre Nomadenwohnungen auf. Einer nach dem anderen kamen sie an, und Nash verfolgte, wie sie die Wohnwagen betraten, die sie am Morgen verlassen hatten – und Nash konnte zwei weitere Fragezeichen als erledigt ansehen: Ein Ehepaar kam von einem Ausflug zurück und öffnete die Tür zu einem der Wohnwagen, in dem sich nichts geregt hatte. In einem zweiten verschwand kurz darauf ein einzelner Mann. Nash vermutete, daß diese drei Personen den Platz verlassen hatten, bevor er am Morgen seine Wache begonnen hatte. Drei Wagen blieben noch übrig, drei stumme Unbekannte. Zwei standen in der Nähe des Gebüsches, und ein dritter dichter an der Straße. Es war dunkel geworden. Müde, mit schmerzenden Beinen und knurrendem Magen, stand Nash auf und bewegte sich langsam den Hügel hinab. Um ihn herum war die Nacht mit leisen, raschelnden und zirpenden Geräuschen erfüllt, irgendwo in der Nähe sandte ein Vogel seinen Lockruf aus. An der hinteren Begrenzung des Campingplatzes war eine Wasserstelle. Nachdem Nash sich durch das Gebüsch und die Bäume hindurchgearbeitet hatte, blieb er hier stehen und trank Wasser.
Das half ein wenig, doch der Hunger ließ sich damit nicht vertreiben. Nash verließ das Gebäude und schlich auf den nächstgelegenen Wohnwagen zu, der ihm verdächtig vorgekommen war. Um ihn herum ertönten die Geräusche des Campingplatzes. Der Duft von Essen und Tabak erfüllte die warme Luft. Wasser plätscherte, Radios plärrten. Auf dem Weg knirschten Schritte, und jemand näherte sich der Wasserstelle. Nash verschmolz mit der ihn umgebenden Dunkelheit. Als seine Finger den ersten der drei scheinbar unbewohnten Wohnwagen berührten, war dieser noch warm von der Tagessonne. Es handelte sich um ein langes, niedriges, stromlinienförmiges Modell – im Tageslicht hatte es silbrig und weinrot geblitzt. Er berührte eine abgerundete Kante, dann schob er sich langsam auf die Tür zu. Er lauschte angespannt, doch es drang kein Geräusch aus dem Innern. Er kam an einem Fenster vorbei und las, was dort angeschlagen war. Zu verkaufen. Nash zögerte nur einen Augenblick, dann ging er kühn auf die Tür zu und drückte die Klinke nieder. Der Wagen war nicht verschlossen. Die Tür schwang auf, innen war alles leer. Wenige Sekunden später befand er sich neben dem zweiten Wohnwagen. So vorsichtig wie beim erstenmal schlich er sich um den Wagen herum bis an die Tür. Dort klopfte er leise an. Keine Antwort. Er klopf-
te wieder und drückte gleichzeitig die Klinke nieder. Die Tür war verschlossen. Nash zog sich in das Gebüsch zurück und schlich an den dritten und letzten Wohnwagen heran, der ihm aufgefallen war – der Wagen in der Nähe der Straße. Auch hier war alles still und dunkel – so unbewohnt, wie es den Tag über ausgesehen hatte. Innen ließ sich keine Bewegung feststellen, kein Geräusch drang heraus. Nash wußte, diese schweigende Dunkelheit war Lüge. Die Tür des Wohnwagens stand offen, wie um ihn zu begrüßen, und nur ein Fliegengitter schützte das Innere des Wagens vor Insekten. Obwohl sich kein Geräusch und keine Bewegung feststellen ließen, war diese Stille eine Falle; denn Nash bemerkte den verführerischen Geruch von Essen. Er schnupperte und machte einen Schritt auf die Tür zu. Plötzlich kam ein zischendes Geräusch. Eine Kaffeemaschine! Einen Augenblick später drang der Duft von frischem Kaffee durch den engmaschigen Draht zu ihm heraus. Nash lächelte mit angespannten Lippen, dann trat er an die Maschentür heran. In dem verdunkelten Wagen konnte er nichts erkennen. Er sagte: »Ich bin es, Carolyn.« Ihre Antwort kam sofort. Eine leise, dunkle Frauenstimme drang aus dem Wohnwageninnern: »Ich habe auf dich gewartet, Gilbert. Schon den ganzen Tag.«
Nash nickte. Immer noch lag das harte, wissende Lächeln auf seinen Lippen. »Den ganzen Tag gewartet.« Der Klang ihrer Stimme wischte die Jahrhunderte fort, als ob die Zeit stillgestanden hätte. »Den ganzen Tag.« »Ich habe dich entdeckt, wie du da oben gesessen und mich beobachtet hast. Du bist geduldig wie ein Esel, Gilbert. Und auch ebenso intelligent.« Er griff nach der Tür.
12 »Mach die Tür zu«, befahl ihm die Stimme, »und schalte das Licht an! Ich will dich sehen, du Esel.« Sanft schloß Nash die Tür hinter sich. Dann tasteten seine Finger die Wand ab, bis sie den Lichtschalter gefunden hatten. »Steck die Pistole weg, Carolyn!« sagte er. Dann schaltete er das Licht ein. In der plötzlichen Helligkeit mußte er blinzeln. Sie saß auf einer langen Couch, die sich am anderen Ende des Wohnwagens von einer Seite zur anderen erstreckte. Ihre Haltung war entspannt. Sie lächelte selbstsicher. Sie trug einen hellgrünen Hausanzug, der wie eine zweite Haut war und ihre körperlichen Reize betonte. Carolyn hielt eine Pistole in der Hand. Nash stand da und schaute sie an. Er blickte auf die goldene Fülle ihres langen Haares, das ihm heute etwas heller vorkam als er es in Erinnerung hatte. Er blickte in die leuchtenden gelben Augen, die nichts von ihrer Wildheit verloren hatten. Die zarte Haut ihres Gesichts zeigte – wenn man wußte, worauf man zu achten hatte – nur die allerersten Anzeichen des Alterns, doch die winzigen Fältchen hatten bisher weder ihren Hals noch ihre Hände erreicht. Sie war begehrenswert, verwirrend, aufreizend schön. Diese
Szene war für ihn gestellt. Carolyn hatte sich sorgfältig vorbereitet – auf eine neue Eroberung. Nash lehnte sich gegen die Wand. »Es ist schon lange her, Carolyn.« »Werde bloß nicht dramatisch, Gilbert! Weder die Ironie noch die Untertreibung in diesen Worten beeindrucken mich. Und steh nicht einfach so herum. Setz dich her!« Ihre Stimme war leise und schmeichelnd. Sie deutete neben sich auf das Sofa. »Hierher!« Er blickte sie einen Augenblick lang prüfend an. Er blickte in ihre Augen und auf die Pistole in ihrer Hand. Er schaute auf die Kulisse, die sie für ihn vorbereitet hatte. Schließlich wandte er sich von ihr ab und setzte sich auf einen Stuhl neben einem Tischchen. Eine Mahlzeit wartete dort auf ihn; ein braungebratenes Steak, das auf dem Teller dampfte, fast ein halbes Dutzend Beilagen, und die Kaffeemaschine hatte aufgehört zu kochen und sich abgeschaltet. Nash blickte von einem Teller zum anderen, dann drehte er sich um und schaute Carolyn an. »Wie gemütlich!« sagte er. »Hast du keinen Hunger, Gilbert?« »Und wie! Das weißt du nur zu gut!« Das harte Lächeln erschien wieder. »Ich habe es für dich vorbereitet, als ich dich den Hügel herunterkommen sah. Wir können uns unterhalten, während du ißt, Gilbert.«
»Ich bin davon überzeugt, daß du es richtig – vorbereitet hast!« Sie erstarrte und blickte ihn stirnrunzelnd an. »Ach, mach dich doch nicht lächerlich! Warum sollte ich dich umbringen wollen?« Nash warf einen Blick auf die Pistole. »Ja, warum wohl?« Carolyn zog die Augenbrauen zusammen. Sie merkte, daß ihr Blick an dem unberührten Essen auf dem Tischchen hängengeblieben war und wandte ihre Aufmerksamkeit rasch wieder ihm zu. »Willst du das nicht essen? Nachdem ich mir die Mühe gemacht habe? Gilbert, du mußt doch am Verhungern sein.« »Was hast du vorhin über Ironie gesagt?« »Bitte!« erwiderte sie scharf. »Wir wollen nicht streiten. Es ist schon so lange her, Gilbert, und wir sind die einzigen, die übriggeblieben sind. Wir wollen Freunde sein – ja?« Nash schob den Teller mit dem Steak zur Seite und stützte einen Ellenbogen auf die Tischplatte. »Nun gut; seien wir Freunde – für eine kleine Weile jedenfalls!« Er warf wieder einen Blick auf die Pistole. »Wie geht es dir, Carolyn?« »Gut, danke. Und dir?« »Prima.« Danach herrschte Schweigen. Nash behielt die Frau
im Auge, ihre Hände und ihren Körper. Er wartete. Fast lässig stützte er das Kinn in die Hand. »Wollen wir uns nicht unterhalten?« fragte Carolyn. »Aber sicher«, stimmte Nash zu. »Worüber?« »Über uns – und die anderen. Gilbert, weißt du eigentlich, wie lange es schon her ist? Wir sind die einzigen, die noch leben. Nicht wahr? Ich hatte solche Angst. Ich bin so froh, daß ich dich gefunden habe; manchmal wollte ich mich schon selbst töten, weil ich mich so einsam fühlte! Gilbert, es war furchtbar!« Ihre Hände waren rastlos, sie ließ sie auf die Knie fallen. Doch die Pistole blieb irgendwie immer auf ihn gerichtet. »Ich bin froh, daß du es unverletzt durchgestanden hast.« »Ebenfalls.« Er nickte. »Ein paar wilde kleine Männer wollten mich an Stelle eines Schweines schlachten. Ich habe sie enttäuscht.« »Was ist aus deiner Frau geworden?« »Starb bei einem Erdbeben«, antwortete er. »1755 in Lissabon. Wir hatten uns erst kurz vorher wieder gefunden.« »Oh!« Einen Augenblick nachdenkliches Schweigen. »Und die anderen?« Nash schloß die Augen und öffnete sie wieder langsam. Er atmete das Aroma des Kaffees ein. »Da war noch Raul – erinnerst du dich an Raul? Den
Schiffsarzt? Er starb vor kurzem in Ägypten, ein alter, alter Mann. Er starb glücklich, kann man sagen. Nebenbei bemerkt war Raul der erste, der mir von dir erzählt hat.« Sie antwortete nicht. »Und Santun, der zweite Offizier, hatte sich auch retten können«, fuhr Nash fort. »Santun war ein Narr – er beging Selbstmord in einer römischen Arena. Dann Leef, der Geologe – auch er konnte sich aus dem Wrack befreien. Anfangs war Leef nicht so glücklich wie wir anderen. Er erfror fast, als er in einer verschneiten Gegend weit im Norden landete. Sein erster Winter war fast der letzte für ihn. Doch ich vermute, daß es ihm mit der Zeit gefiel, denn er blieb dort. Nach einiger Zeit rüstete er eine Expedition aus und segelte über den Atlantik, um diesen Kontinent hier zu suchen. Ich sah ihn nie wieder.« Nash drehte sich plötzlich auf dem Stuhl um, so daß das Tischchen und der Kaffee hinter ihm waren. Carolyn lächelte ein wenig, als sie es sah. Die Pistole lag auf ihrem Schoß. »Außerdem entdeckte ich ein Mädchen namens Brunna. Kanntest du sie?« Er schloß die Augen, um Carolyns Anblick eine Sekunde lang auszusperren. »Brunna war Schiffsmechaniker, doch ihr eigentliches Interesse war die Anthropologie. Kannst du dir vorstellen, wo ich sie gefunden habe? In den Bergen hin-
ter Afghanistan, wo sie die Herkunft dieser Leute erforschte.« Mit der Hand beschrieb er einen Halbkreis, der den Campingplatz und die Stadt umfaßte. »Sie war offenbar der Meinung, sie hätte das Problem gelöst und die Leute stammten aus einer Gegend namens Tibet. Interessiert dich das alles?« Er machte sich nicht die Mühe, die Augen zu öffnen, und er wartete auch nicht auf ihre Antwort. »Brunna und ich fanden Gefallen aneinander; wir überlegten uns ernsthaft, ob wir heiraten sollten, als sie von den Soldaten irgendeines minoischen Königs gefangengenommen wurde. Brunna wurde lebend einem Löwen vorgeworfen, um irgendeine legendäre Löwengöttin günstig zu stimmen.« Er öffnete rasch die Augen und fuhr herum, um Carolyn anzusehen. »Diese Göttin war ein blutrünstiges Luder!« Das Schweigen kehrte zurück. »Gab es sonst niemanden?« fragte Carolyn schließlich. »Nur deine Frau, Raul, Santun, Leef und Brunna, du und ich? Ist das alles?« In ihrer dunklen Stimme lag keine Andeutung von Gefühl. »Sechs Leute von dreihundert! Ich hätte sie gern wiedergesehen.« »Du warst zu sehr damit beschäftigt, die weiße Göttin zu spielen«, antwortete er kurz. Als sie darauf nichts sagte, fuhr er mit einem Ausbruch von Begeisterung plötzlich fort: »Doch, es muß noch jemanden gegeben haben. Vielleicht mehr als einen. Irgend je-
mand führte in einer der älteren Kulturen eine Art Schrift ein; Reste dieser Kunst existierten immer noch, als ich in der Gegend auftauchte. Die Zeichen waren zwar verändert und abgewandelt, doch immer noch relativ lesbar. Den Urheber dieser Schrift fand ich nie. Er gehörte nicht zu uns sechsen, dessen habe ich mich vergewissert. Doch irgend jemand war eine Zeitlang dort gewesen.« »Ich nicht«, sagte sie. »Nein – du nicht. Ich habe mich sehr für dich interessiert, Carolyn. Wenn ich konnte, folgte ich dir über fast die ganze Welt, obwohl ich nicht immer wußte, wer du nun eigentlich warst. In Deutschland habe ich dich dann fast erwischt, Carolyn. Es kann sich nur um Wochen, vielleicht um Tage gehandelt haben, daß ich zu spät kam. Und als ich dann vom Diebstahl der fünfzig Liter schweren Wassers hörte, wußte ich, daß du wieder unterwegs warst, und ich vermutete, wohin du gehen wolltest. Also folgte ich dir hierher und bereitete mich darauf vor, dir zu begegnen. Und jetzt ist es so weit.« Er blickte sie an. »Ja, mein Esel, jetzt ist es so weit. Ich habe mich schon gewundert, wie lange du brauchen würdest.« Sie streckte sich, ihre langen, schlanken Beine bewegten sich aufreizend. »Hier sind wir, du und ich, die letzten Überlebenden in einer Welt von Wilden. Und ...«
Er hob den Kopf und starrte auf einen Punkt über ihr. Er schaute in die Vergangenheit. »Raul sagte, du wärst verdorben.« »Und du, mein Esel, willst du den Richter spielen?« Er schüttelte den Kopf. »Du hast mir nicht zugehört, Carolyn. Ich sagte, daß Raul älter und weiser war, als ich je zu sein hoffen kann. Raul war vor langer Zeit dein Richter, und der sagte, du seist böse. Ich habe sein Urteil nur übernommen.« »Also dann willst du Vollstrecker sein? Du willst Rauls Henker spielen?« »Nein, in unserem Leben gibt es keine Henker; und selbst wenn, dann wäre ich nicht der geeignete Mann. Ich könnte dich nicht der hiesigen Gerichtsbarkeit ausliefern, weil ich weiß, was dich dann erwartet – das wäre dasselbe, als würde ich dich selbst umbringen. Ich könnte dich nicht hängen oder sonst an dir irgendeine Strafe vollziehen, die hier in diesem Staat auf Mord steht. Damit will ich nichts zu tun haben.« »Das ist sehr rücksichtsvoll von dir, treuer Esel!« Sie lachte ihn fast aus, in der Gewißheit, ihm überlegen zu sein. »Rücksichtsvoll und sehr edel. Du mußt ja schier platzen vor edler Bescheidenheit, aber du bist mir doch aus einem guten Grund hierher gefolgt! Das hast du zugegeben. Oder?« »Ja, ich hatte einen Grund. Ich wollte dich wählen lassen.«
»Immer noch edelmütig«, erwiderte sie höhnisch. »Zwischen was könnte ich denn wählen?« »Nun, mit mir hier in dieser Welt zu bleiben und deine üblen Machenschaften aufzugeben.« »Das ist der eine Weg!« sagte sie hart. Der Spott war plötzlich verschwunden. »Wie lautet die Alternative?« »Das ist doch einfach«, sagte er, »entweder du bleibst hier, oder du setzt deinen bisherigen Weg fort – wohin der auch führen mag.« Sie richtete sich erstaunt auf. »Du nennst das eine Wahl?« »Du wirst feststellen, daß es eine ist, wenn du deinen Plan weiter verfolgst.« Er schloß die Augen und rieb sich mit der Hand die Schläfen; er überlegte sich, wieviel sie wohl wissen mochte. »Wenn du auf dem Weg zu deinem vermeintlichen Ziel weitergehst«, wiederholte er. »Was glaubst du denn, Carolyn, wohin dich dieser Weg führen wird? Hodgkins kannte weder den Zweck noch den Bestimmungsort dieses Schiffes. Und ich glaube nicht, daß Dikty mehr wußte.« Plötzlich lächelte er sie an. »Es wäre klug von dir, mein Angebot anzunehmen.« »O du Narr, du riesengroßer Narr! Du hast so lange unter den Wilden hier gelebt, daß ihre Dummheit auf dich abgefärbt hat. Dein Angebot ist purer Unsinn!« »Ich biete dir an, zwischen Leben und Tod zu wählen«, widersprach er ihr ruhig.
»Du hast mir nichts zu bieten.« »Carolyn«, sagte Nash sanft, »ich kann dich nicht richten; du weißt, daß ich dir nur in Notwehr Schaden zufügen kann. Trotz allem, was du Brunna und den anderen angetan hast – ich kann dich deshalb nicht töten, das weißt du, und du lachst mich aus.« Er senkte die Stimme. »Carolyn, aber eines kann ich machen: Ich kann dich Selbstmord begehen lassen, wenn du darauf so versessen bist.« Nun lachte sie ihn wirklich aus, ein tiefes Gelächter, das den Wohnwagen erfüllte. »Und du glaubst, mein edler Esel, daß ich Selbstmord begehen würde? Vielleicht wie dein guter Freund Santun? Glaubst du das wirklich?« Ihr Gelächter brach nicht ab. Nash wartete geduldig, bis sie sich gefaßt hatte. »Ja«, sagte er dann. »Aber die Tage der alten Römer sind vorbei!« rief sie. »Dafür gibt es ein Schiff.« Carolyn wurde ernst. Sie starrte ihn durchdringend an. »Hast du so rasch meinen Beruf vergessen? Hast du vergessen, daß ich auf unserem Schiff Navigator war?« »Nein, das habe ich nicht vergessen.« »Hör mich an, Gilbert Nash: draußen in der Wüste steht ein Schiff, und ich habe geholfen, es zu bauen, es zu konstruieren und ihm seine Antriebskraft zu
geben! Ein Schiff, das mich nach Hause tragen kann. Ich mußte mich über zehn Jahre lang an einen dummen, stinkenden Wilden verkaufen, damit dieses Schiff entstehen konnte. Ich habe mir dieses Schiff teuer genug erkauft! Ich habe mir Hodgkins erzogen, ich habe ihn gezwungen, dieses Steuersystem zu bauen. Ich wollte heim! Und ich gehe – allein!« »Allein, ja.« Nash nickte. »Das habe ich erwartet.« »Dachtest du vielleicht auch nur eine Sekunde lang, daß ich dich mitnehmen würde?« »Das könntest du dir nicht leisten, Carolyn. Ich würde reden – wenn wir zurückkommen.« Die gelben Augen waren unverwandt und ernsthaft auf sie gerichtet. »Du hättest bestimmt etwas dagegen, wenn man sich zu Hause Geschichten über dich erzählt.« »Sie werden uns aufgegeben haben, Gilbert. Und sie werden froh sein, wenigstens einen Überlebenden wiederzusehen.« »Dich!« Sie nickte. »Mich!« »Ich kann mir deine Ankunft vorstellen. Es wird ein Freudenfest werden«, sagte er trocken. »Du wirst aus deiner Rolle alles herausholen.« »Ich werde dafür sorgen, daß man dir immer ein warmes Angedenken bewahrt, mein lieber Esel.« Sie streckte sich auf dem Diwan wie eine Katze und lächelte ihn an. »Du und die arme kleine Brunna – San-
tun – Leef – ja sogar Raul – ihr alle werdet Helden sein, tote Helden, die auf einem elenden, unbedeutenden und lebensgefährlichen Drecksplaneten begraben sind. Man wird nicht nach dir suchen, nicht wenn ich über diesen Planeten berichtet habe. Man wird wissen wollen, wie ich mein Schiff gebaut habe, und ich werde es erzählen – natürlich mit einigen Auslassungen. Und nachdem ich erzählt habe, wie es hier aussieht, wird niemand mehr sich der Erde auch nur nähern wollen, bis sich das barbarische Leben hier selbst vernichtet hat. Ja, das wird ein großer Tag sein, wenn ich nach Hause komme, mein Esel!« »Falls du nach Hause kommst«, sagte er bedeutsam. »Zweifelst du immer noch an mir, an meinen Fähigkeiten, du Narr? Ich kann das Schiff steuern, wohin ich will!« Nash zuckte die Achseln. »Du bist offenbar davon überzeugt, alles einkalkuliert zu haben.« »Ich hatte zwölftausend Jahre Zeit dazu«, erwiderte sie sarkastisch. »Und die letzten zehn, um meine Pläne zu vervollständigen. Mein lieber dahingegangener Ehemann wäre überrascht, wenn er wüßte – wirklich wüßte –, was für ein Schiff er seiner Meinung nach entworfen hat. Der Antrieb ist überstark, überstark und abgeschirmt; das ist ein Motor für ein richtiges Sternenschiff, nicht für eine dieser primiti-
ven Raketen. Der Motor wurde absichtlich stärker geplant, als nötig war, weil er auch mich befördern soll. Und hör gut zu: In völlig sinnlosen Tanks enthält der Motor schweres Wasser, das angeblich als Moderator wirken soll – Wasser, von dem ich leben werde. Das einzige, was ich nicht hineinstecken konnte, waren Nahrungsmittel. Das mußte ich riskieren.« »Klingt ganz hübsch«, sagte Nash lakonisch. »Hast du auch ein Notsignal hineinkonstruiert?« Carolyn lachte fröhlich. »Den Krach, den dieser Motor schlägt, kann man im ganzen Universum hören! Mach dir nur keine Sorgen, daß man mich nicht finden würde.« »Fast bekomme ich Lust, mitzugehen«, sagte Gilbert zu. »Fast. Es fehlt nicht viel.« Die Frau schüttelte den Kopf. »Du gehst nicht mit. Sicherlich wirst du mir sehr fehlen.« »Sicherlich«, wiederholte er. »Und du willst also ein schwer bewachtes Schiff stehlen und starten?« »Gilbert!« Sie erstarrte und versuchte, in seinem Gesicht zu lesen. »Gilbert, mir gefällt die Art nicht, wie du das gesagt hast. Dachtest du daran, mich davon abzuhalten? Willst du die Leute warnen?« Unmißverständlich hob sie die Pistole. »Ich?« fragte er unschuldig und lächelte humorlos. »Natürlich nicht.« Er lehnte sich auf dem Stuhl zurück, schob die Daumen unter den Gürtel und blickte sie ab-
schätzend an. »Ich finde deine Handlungsweise widerlich; ich werde dir nie vergeben, daß du Brunna ermordet hast. Aber ich werde dich nicht zurückhalten, und ich werde auch niemanden warnen.« Er sah ihr in die Augen. »Vor ein paar Minuten habe ich dich vor eine Entscheidung gestellt. Du hast immer noch die Wahl: Du kannst Selbstmord begehen, falls du das möchtest.« Wieder Schweigen. »Ich glaube, ich gehe jetzt«, meinte Nash. »Es sieht nicht so aus, als könnten wir uns verständigen.« »Gilbert.« Sie saß steif auf dem Sofa. »Du wirst sie nicht warnen?« »Ich habe dir schon zweimal gesagt, Carolyn, ich will deinen Selbstmord nicht verhindern. Nein, ich werde sie nicht warnen, das ist gar nicht nötig. Weißt du überhaupt etwas über White Sands? Weißt du, wie gut die Anlage bewacht wird? Die Radarschirme werden dich erfassen und die motorisierten Streifen alarmieren. Oder der Zaun wird deine Anwesenheit melden; das ganze Gelände ist von einem elektronischen Zaun umgeben, Carolyn. Meine Warnungen wären völlig überflüssig. Nein, ich werde dich nicht zurückhalten.« Carolyn betrachtete ihn voller Verachtung. »Deine Gedankengänge haben sich denen dieser Wilden hier aber sehr angeglichen. Wir beide sind keine Menschen, hast du das vergessen? Ich werde weder diesen Zaun berühren, noch vom Radar in der Wüste
entdeckt werden. Du darfst mir schon einiges mehr zutrauen, Gilbert.« Er sagte ironisch: »Du gehst also einfach hin und sagst: ›Guten Tag‹, nehme ich an?« »Das stimmt«, meinte sie trotzig. »Jedenfalls etwas Ähnliches. Schließlich hatte ich zehn Jahre Zeit, um mir eine zweite Identität zuzulegen.« Nash versuchte nicht, seine Bestürzung zu verbergen. Er richtete sich auf seinem Stuhl auf und starrte sie an. Es wurde ihm reichlich spät klar, daß er Carolyn Hodgkins unterschätzt hatte. Es war ihm nie in den Sinn gekommen, daß sie womöglich in White Sands sich mit der gleichen Sorgfalt eine Existenz verschafft haben könnte, mit der sie ihr Schiff für die erwartete Reise vorbereitet hatte. Er dachte tatsächlich schon wie ein Mensch! »Deshalb also hast du deine Ferien immer ohne deinen Mann verbracht«, sagte er nachdenklich. »Und deshalb wußte er auch nie, wohin du gingst oder wie lange du fortbliebst.« Natürlich. Sie hatte schon rechtzeitig dafür gesorgt, daß sie freien und ungehemmten Zutritt zu dem Ort hatte, noch ehe jemand an das Schiff und den Motor denken konnte, noch ehe man möglicherweise Verdacht hätte schöpfen können. »Du warst dort und hast eine andere Rolle gespielt.« »Gilbert«, sagte sie ehrlich überrascht aus, »das hattest du nicht bedacht?«
»Nein«, gab er zu. »Ich verstehe nicht ...« »Oh, du armer, sturer Esel!« höhnte sie. »Du bist wirklich einer von diesen Wilden geworden. Es ist schon richtig, daß ich dich nicht mit mir zurückfliegen lasse – du gehörst weiß Gott hierher!« Dieser zweite Schock folgte dem ersten. Sie hatte Beziehungen zum inneren Kreis von White Sands. »Aber – Carolyn!« rief er in unwillkürlichem Erstaunen aus. Und dann mußte er plötzlich lachen. Mit plötzlicher Gewißheit wurde ihm klar, was das für eine zweite Identität war. Weiß Gott, Carolyn hatte den Fetisch der Geheimhaltung ausgenutzt, sie hatte sich in eine Position manövriert, in der nur wenige sie als Hodgkins' Frau erkennen würden. Welch ein rauhes Erwachen war einem von Cummings' Kollegen bestimmt! Er stand auf. »Carolyn, du bist ein Wunder – du bist mir haushoch überlegen!« Er ging auf die Tür zu. »Ich gehe.« Carolyn hob die Pistole und zielte zwischen seine Augen. »Du gehst nicht!« Langsam stand sie von der Couch auf, ohne ihn aus der Schußlinie zu lassen. »Ich gehe«, wiederholte er. »Ich habe nichts mehr damit zu tun.« »Du kannst nicht gehen! Du würdest reden, Gilbert. Du würdest meine Fluchtmöglichkeit ruinieren. Du bleibst hier.«
»Ich habe dir versprochen ...« »Ich kann es mir nicht leisten, deinen Versprechungen zu glauben«, fiel sie ihm hart ins Wort. »Nicht jetzt, nachdem die Sache so weit gediehen ist.« »Durch den Mund?« fragte er ruhig. »Wie bei deinem dahingeschiedenen Ehegatten?« »Bleib stehen!« Sie standen sich gegenüber, gespannt und abwartend. Nash senkte den Blick, er konzentrierte sich auf die Muskeln der Hand, die die Pistole hielt. Als er sprach, schaute er sie nicht an. »Ich kann dich töten, wenn ich in Notwehr handle, Carolyn.« »Du kannst dich nicht schneller bewegen als eine Kugel.« Er wußte das, er wußte, daß sie ihn reizen wollte. »Nur noch wir beide sind übrig von einer dreihundertköpfigen Mannschaft«, warnte er sie. »Ich möchte nicht der letzte Überlebende werden.« »Das wirst du auch nicht, Esel!« Ihre Stimme verriet sie. Er spürte, daß sie den Zeigefinger krümmte. Nash sprang. Nicht auf sie zu, wie sie erwartet hatte, sondern zur Seite, gegen die Tür. Sein Körper prallte gegen die Türfüllung, und der laute Knall der Pistole war wie ein Echo. Nash stolperte durch die Tür und fiel draußen auf den mit Split bestreuten Weg. Irgend jemand schrie.
13 Äthergeruch und Blumen. Die Blumen waren rote Rosen, ein großer Strauß in einer gelben Vase. Die Vase stand auf einem Fensterbrett, und durch das Fenster sah man Bäume und das Blau des Sommerhimmels. Ein Gesicht schwamm irgendwo in der Nähe der Rosen und des Fensters, es hing über einer Stuhllehne – ein Gesicht, das nach Äther und roten Rosen roch. Nash blinzelte, schloß die Augen und sah noch einmal hin. Cummings sagte: »Es wird auch allmählich Zeit.« Er saß rittlings auf einem Stuhl und starrte auf das Bett. Er hatte die Arme auf die Stuhllehne gelegt, und sein Kinn ruhte auf den Armen. »Guten Morgen«, sagte Nash zu dem Gesicht. Er sah hinaus zu dem blauen Himmel draußen vor dem Fenster. »Oder ist es Nachmittag?« »Nachmittag«, bestätigte Cummings. »Sie haben sich weiß Gott Zeit gelassen.« »Tut mir leid, daß ich Ihnen Schwierigkeiten bereitet habe«, sagte Nash schwach. »Die Leute hier sind ein bißchen in Sorge.« »Meinetwegen?« wollte Nash wissen. »Ihretwegen. Sie sind etwas außergewöhnlich, weichen von der Norm ab.«
»Das habe ich befürchtet«, gestand Nash. »Mich interessiert das sehr.« Ein wenig Bitterkeit klang aus seiner Stimme. »Aber ich muß warten; die verdammten Ärzte führen hier das Regiment. Man hat mir großzügigerweise fünfzehn Minuten erlaubt, wenn Sie aufwachen.« Nash versuchte zu nicken. »Wenn ich überhaupt aufwache.« »Im Augenblick sind Sie noch nicht ganz wach. Meine fünfzehn Minuten haben noch nicht angefangen. Hier im Krankenhaus ist man recht verstört, weil Sie ein doppeltes Herz, ein doppeltes Kreislaufsystem haben. Außerdem steht man verständnislos der Tatsache gegenüber, daß Sie einen Blinddarm weder haben noch hatten. Ein oder zwei Ärzte regen sich besonders über die Tätigkeit oder Untätigkeit bestimmter Drüsen auf.« Cummings kräuselte die Lippen. »Was mich betrifft, mich stören solche Einzelheiten weniger, weil sie für mich nicht viel bedeuten. Mich interessiert vielmehr das Außergewöhnliche des ganzen Falles.« Der Kopf bewegte sich auf den Armen. »Ich muß Sie wahrscheinlich enttäuschen«, erwiderte Nash, »aber ich kann nichts dafür, und ich kann es auch nicht erklären. So ist das eben.« »Was ist eben so?« »Das, wovon Sie reden, was es auch sein mag.« Cummings schwieg einen Augenblick lang, dann
versuchte er es andersherum. »Von der Frau angeschossen worden, wie?« »Nicht meine Frau.« »Nein. Verzeihung. Vielleicht – die Schwester?« »Nein, keinerlei verwandtschaftliche Beziehungen – das tröstet mich.« »Wohin ist sie gegangen?« fragte Cummings schließlich. »Ich hatte nicht viel Zeit, mich darum zu kümmern«, gab Nash trocken zurück. »Gestern nacht ging alles ein bißchen hastig.« »Letzte Nacht?« Das Gesicht über dem Stuhlrücken leuchtete amüsiert auf. »Gestern nacht – das war vor achtzehn Tagen.« »Wie bitte?« »Vor achtzehn Tagen. Sie scheinen die Verbindung mit der Welt verloren zu haben. Vielleicht teile ich Ihnen lieber den Stand der Dinge mit. Es fehlt Ihnen ein Ohr und ein Stück von der Schädeldecke. Dafür sind Sie jetzt um eine Silberplatte reicher – hier hinten.« Er tippte mit dem Finger auf eine Stelle hinter dem Ohr. »Ach ja – und Sie hatten den ganzen Mund voll Splitt. Das muß ja eine tolle Abschiedsfeier gewesen sein. Achtzehn Tage haben Sie gebraucht, um sich davon zu erholen.« Nash platzte heraus mit: »Ist die ...« »Ist die Frau uns wieder entwischt? Ja, das ist sie.
Wir sind offenbar nicht ganz auf Draht, wie? Ist die Geschichte auf dem Campingplatz bekanntgeworden? Ja, und wie! Ist die Sache mit Ihrem in den Graben gefahrenen Wagen herausgekommen? Ja, der Junge ging hin, um sich das Auto anzusehen, dann kam er zu uns.« »Ist die Frau mit ihrem Wohnwagen geflohen?« »Die Dame nahm nichts mit außer den Kleidern, die sie am Leibe trug.« Nash schaute aus dem Fenster. »Rosen?« »Von Hoffman.« »Nettes Mädchen.« »Nutzlos für uns, Ihre Schuld.« »Das tut mir leid – wirklich.« »Sie hat sich Hals über Kopf verliebt.« »Den Verdacht hatte ich auch, und ich wollte es verhindern.« »Warum?« fragte Cummings. »Zum Teufel«, sagte Nash, »ich könnte ihr Großvater sein!« »Ach, ich weiß nicht«, sagte der Mann vom Geheimdienst leise. »Sie sind doch nicht älter als Anfang sechzig, wenn man Ihren Personalpapieren glauben will.« »Na, gut denn; dann eben ihr Vater.« »Wenn ich Sie ansehe, würde ich Sie auf etwa dreißig schätzen.«
»Ich komme mir vor wie ein alter Mann.« »Mein Freund«, vertraute ihm der Geheimagent an und beugte sich vor, »Sie werden sich noch verteufelt älter vorkommen, wenn ich erst mit Ihnen fertig bin! Wenn Sie aus diesem Krankenhaus erst einmal entlassen sind. Ein ganzes verdammtes Stück älter!« »Reizende Aussichten«, versicherte ihm Nash. »Da möchte ich am liebsten jetzt schon aus dem Bett steigen.« »Oh, lassen Sie sich Zeit, lassen Sie sich Zeit! Ruhen Sie sich aus und lassen Sie sich's gut gehen. Lassen Sie sich von den hübschen Schwestern bedienen. Es wird für eine lange Zeit das letzte Mal gewesen sein, daß Sie sich ausruhen können, mein Freund! Ich werde Sie durch die Mühle drehen, das verspreche ich Ihnen!« Der Kopf lag bewegungslos auf den über der Stuhllehne gekreuzten Armen, doch ein Lächeln erschien auf dem Gesicht, ein hohles, gespenstisches Lächeln. »Ich werde Fragen stellen, und Sie werden sie beantworten – glauben Sie mir, Sie werden antworten! Zuerst werden Sie mir erzählen, wo Sie hergekommen sind, und warum. Sie werden mir erzählen, wie und an welcher Stelle Sie dieses Land betreten haben, und wann. Sie werden mir jede kleinste Einzelheit aus jeder Stunde Ihres Lebens berichten, vom Zeitpunkt Ihrer Geburt angefangen bis zu ›gestern nacht‹
vor achtzehn Tagen. Sie werden den genauen Grund angeben, warum Sie hier sind und warum Sie sich gerade diese Stadt ausgesucht haben. Sie werden mir alles erzählen, was Sie von der Frau wissen, die Gregg Hodgkins geheiratet hat; warum sie ihn geheiratet hat, in welchem Verhältnis sie zu Ihnen steht, und warum Sie beide das Komplott geschmiedet haben, ihn zu ermorden. Sie werden mir erzählen, warum Sie beide Dikty ermordet haben, warum Sie beide sich schließlich zerstritten haben, so daß die Frau Sie töten wollte. Sie werden mir erzählen, warum Sie beide sich für die Kernforschung interessieren, warum Hodgkins zu Ihnen kam, was er Ihnen gesagt hat. Mein Freund«, versprach Cummings, »Sie werden reden!« Nash schaute zu ihm auf. »Ich glaube fast, Sie meinen's ernst.« Durch die Tür hörte man das Geräusch rascher Schritte, und vor der Mattglasscheibe bewegte sich etwas Weißes. Eine junge Schwester steckte den Kopf herein und sah, daß Nash wach war. »Hallo! Wie geht es denn unserem Patienten?« Sie schaute auf die Uhr. »Mein Gott, Sie haben aber geschlafen!« Sie warf Cummings einen bösen Blick zu. »Warum haben Sie mich nicht gerufen?« Und wieder zu Nash: »Wünschen Sie irgend etwas? Fühlen Sie sich wohl?« Wieder zu Cummings: »Ich glaube, Sie gehen jetzt lieber.
Sie hätten mich rufen sollen.« Und schließlich zu Nash: »Wie fühlen Sie sich?« Er antwortete: »Hallo!« und ließ es dabei bewenden. Cummings wollte erklären. »Er ist gerade vor einer Minute aufgewacht. Er sagte mir ...« »Ich dachte mir doch, daß ich Stimmen gehört habe«, unterbrach ihn die Schwester. »Ich werde den Arzt rufen. Der wird sich freuen, wenn er davon hört.« Noch ein böser Blick durchs Zimmer. »Es ist besser, Sie gehen jetzt, mein Herr.« Dann wandte sich ihre berufsmäßige Aufmerksamkeit wieder dem Mann im Bett zu. »Haben Sie irgendeinen Wunsch?« »Nein.« Er drehte den Kopf und grinste Cummings an. »Bis später, Freund! Sicherlich sehen wir uns am Morgen wieder.« »Und am Nachmittag, und am Abend, und am nächsten Morgen. Immer und immer wieder. Vergessen Sie nicht, was ich gesagt habe – ich meine es wirklich ernst!« Cummings stand auf. »Ich komme wieder.« Er ging zur Tür und blieb stehen. Er drehte sich nochmals zu Nash um. »Falls Sie auf irgendwelche dumme Gedanken kommen, dann vergessen Sie's lieber. Sie würden feststellen, daß wir hier im Gang und um das Gebäude herum verteilt sind.« Er beschrieb mit der Hand einen Kreis.
Nash lauschte auf seine Schritte, die im Gang draußen verklangen. »Schwester – ich habe wirklich einen Wunsch.« »Hab' ich mir's doch gedacht!« lächelte sie. Dann öffnete sie einen Wandschrank und holte eine Bettpfanne hervor. »So ein Besuch kann manchmal wirklich stören.« Sie ging auf ihn zu. »Nein, nein, das nicht!« sagte er abwehrend. »Kann ich etwas Milch haben? Und die Zeitungen?« »Ja, gern.« Sie trat näher ans Bett heran und senkte die Stimme. »Der Bursche ist ziemlich sauer auf Sie. Seit Tagen stürmt er schon den Korridor auf und ab, nur um zu warten, bis Sie aufwachten. Ich hoffe, Sie haben nichts Schlimmes angestellt.« »Dieser Bursche«, sagte Nash, »will die Antworten auf ein paar tausend Fragen wissen – deswegen ist er auf mich böse. Und wissen Sie was, wenn ich keinen Ausweg finde, keinen Weg, mich ihm und seinen Leuten draußen zu entziehen, dann muß ich eben dableiben und seine Fragen beantworten.« Er grinste das Mädchen an. »Und glauben Sie ja nicht, daß es ihm dann besser gehen wird.«
14 Von einem Gerüst in der Nähe stiegen rote Rauchsignalwolken in die Höhe. Ein automatischer Zeitgeber in einem der unterirdischen Kontrollbunker ließ alle fünf Minuten ein warnendes Hornsignal ertönen. Auf der Erde sah man keine Bewegung, kein Lebenszeichen. Ferngesteuerte Kameras, die senkrecht in den Himmel hineinfotografieren konnten, richteten ihre Objektive auf den Gegenstand; zwischen ihnen befanden sich Mikrophone, die bereits alle Geräusche an die unterirdischen Tonbandgeräte weiterleiteten. Die langen Teleobjektive der Fernsehkameras starrten aus Schlitzen in den Betonbunkern. Der Gegenstand ähnelte einer Zweistufen-Rakete mit einer Instrumentenkapsel. Die untere Stufe war eine Trägerrakete. Die Rakete ruhte auf vier Flossen, deren Enden auf Beton standen; ihr massiger Körper war nichts als ein gewaltiger Treibstofftank, der nach unten hin in die Brennkammer und die Düsen auslief. Sie hatte nur einen Zweck, und wenn sie ihre Schuldigkeit getan hatte, konnte man auf sie verzichten. Die Aufgabe der Rakete war, ihre Nutzlast bis zu einer bestimmten Höhe zu transportieren, sich dann zu lösen und zurückzufallen.
Das letzte Fünfminutensignal erklang, und sein Echo verlor sich in den Hügeln. Nun erscholl eine menschliche Stimme in blecherner Übertragung aus einem der unterirdischen Bunker und rief die verbliebenen Minuten aus. Die Mikrophone nahmen das Surren und Klicken der Kameras auf und gaben es weiter, als diese Robotaugen herumschwenkten und sich einstellten. Ein seufzender Wind huschte über die Wüste. Die Minuten waren verstrichen, und die Stimme zählte die Sekunden aus. Start! Rot-gelb-blaue Furien stürzten sich sengend in den Wüstensand, und die Betonblöcke schwärzten sich, als die Rakete ihr Feuer ausspie. Ein wütender Miniatursandsturm erhob sich am Ende der Trägerrakete und erschwerte die Sicht, und dann war die ganze Fläche eine einzige Flamme. Die Stahlarme der Stützkrane lösten sich und ließen das Ungeheuer allein zwischen Sand und Flammen. Es zitterte und stieg langsam in die Höhe. Dreißig Meter. Das unschöne Monstrum stieg höher. Feurige Zungen leckten nach dem Sand und dem Stahlgerüst, bohrten sich in die Erde. Die automatischen Kameras richteten sich auf und verfolgten das Ungeheuer, und die Mikrophone übertrugen den tobenden Donner. Die Rakete schwankte, man hatte den Eindruck, als
zögerte sie. Dann schoß sie hinauf zu den Sternen, und ihre automatischen Steuerorgane übernahmen das Kommando. Dreihundert Meter. Schneller und schneller stieg die Rakete; die brüllenden Flammen erreichten den Boden nicht mehr, und das ohrenbetäubende Inferno brauchte eine Sekunde bis zu den mechanischen Ohren. Die Luft kochte vor Hitze, doch immer noch stieg die häßliche Rakete und trug ihre Last in den Himmel. Die Wüste unten schwieg in erschreckter Stille. Dreitausend Meter. Hoch, immer höher! Die Kameras spähten senkrecht hinauf und konnten doch nur noch den weiten Himmel sehen und den zurückgebliebenen Rauchstreifen und den bleichen Mond. Die dünnen Kondensstreifen verzerrten sich, als die Luftströmungen sie davontrugen, verzerrten sich und verloren jede Ähnlichkeit mit ihrer ursprünglichen Form. Das letzte Donnern war vergrollt, eingefangen auf den Magnetophonbändern, und nichts mehr war zu hören. Nun flog ein Düsenjäger seine weiten Kreise über der Wüste, um den Aufstieg der Rakete weiter zu verfolgen. Siebzig Kilometer. Der Treibstofftank leerte sich, und die Düsen verstummten plötzlich. Die Flammen verlöschten. Der Strom von Feuer, Rauch und Donner riß ab, und die
Trägerrakete hatte ihre Schubkräfte verbraucht. Ihre Aufgabe war vollendet; sie neigte sich nach Osten, während ihr Schwung sie höher hinaufriß, doch ihr Leben hatte sie verströmt. In ihrer Hülle griff ein elektronischer Impuls nach einer Relaisbatterie, und plötzlich fand sich die tote Rakete allein am Himmel, zurückgelassen. Das massive Geschoß schien in der Mitte auseinanderzubrechen, als das schlanke Oberteil sich aus dem nutzlos gewordenen Schoß befreite und weiterraste, höher und höher in den östlichen Himmel hinein. Die leere, tote Hülle, die zurückgelassen wurde, setzte ihre Bahn fort, solange noch ihr Schwung ausreichte; dann zögerte sie, stand einen Augenblick lang still und schickte sich darauf müde an, zur Erde zurückzufallen. Es war ein langer Weg, und ihre Geschwindigkeit steigerte sich von Sekunde zu Sekunde. Doch der harte Aufprall würde nur ihr Schicksal besiegeln, das sich schon erfüllt hatte. Der schlanke, nadelförmige Zylinder, für den sie ihre Kraft verströmt hatte, verschwand bereits in den Strahlen der aufsteigenden Sonne. Achthundert Kilometer. Das große Schiff schwang sich auf unsichtbaren Flügeln durch den Raum, die bezwungene Kraft der Atome trieb es voran. An unzähligen Stellen wurden seine langen, fließenden Linien von gläsernen Augen
durchbrochen, die hinunter zur Erde und hinaus in den Raum spähten und denen nichts entging; seine Nase lief spitz aus und trug eine gertenschlanke Antenne. Das Schiff kämpfte sich seinen Weg durch das farblose Vakuum. Da registrierten die Instrumente eine leichte Kursabweichung. Im Kontrollbunker starrten die Ingenieure verblüfft auf die Sichtschirme, auf denen die Daten erschienen. Der Atomantrieb hatte sich früher als vorgesehen eingeschaltet und trieb das Schiff weit über seine vorausberechnete Bahn hinaus. Irgend etwas war mit dem Schiff los! Einer der Computer meldete einen geringen Verlust von schwerem Wasser aus einem der Tanks. Hatte das Schiff ein Leck bekommen? Der Sicherheitsoffizier verständigte sich mit dem Projektleiter. Ein kurzes Nicken. Die Entscheidung war gefallen. Die Hand des Sicherheitsoffiziers näherte sich dem roten Knopf. Ein Stöhnen der Enttäuschung entrang sich den Ingenieuren. Und nun wiederholte sich ein Ereignis, wie es schon einmal in ähnlicher Form vor zwölftausend Jahren stattgefunden hatte, im leeren Raum über dem Planeten Erde. Gilbert Nash war wirklich der einzige Überlebende. Für Carolyn Hodgkins war die Zeit endgültig abgelaufen.