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Guy Smith
Werwolf im Mondlicht Originaltitel :WERWOLF BY MOONLIGHT
Aus dem Englischen von Eva Wagner DÄMONEN-KILLE...
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Guy Smith
Werwolf im Mondlicht Originaltitel :WERWOLF BY MOONLIGHT
Aus dem Englischen von Eva Wagner DÄMONEN-KILLER-Buch erscheint vierwöchentlich im Erich Pabel Verlag KG. Copyright © 1974 by Guy N. Smith Deutsche Erstveröffentlichung Germany April 1975
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1. Aus einem tiefen Tannendickicht erschallte der laute Warnruf eines Eichelhähers. Einzelne Strahlen der späten Oktobersonne, die sich durch die Zweige stehlen konnten, ließen sein reiches Gefieder aufleuchten. Er zog sich langsam zurück, wobei er seine gefiederten Kollegen weiter davon unterrichtete, daß da ein Mensch unterwegs war. Das Tier schien sich geradezu ein Vergnügen daraus zu machen, diesen Menschen zu foppen, indem es sich ihm entzog, ihm von Zeit zu Zeit einen winzigen Blick auf sein schönes Federkleid gönnte und dann endgültig im dunklen, ruhigen Wald verschwand. Die Wildenten am Teich hatten die Ankündigung des Eichelhähers zur Kenntnis genommen, daß ein Fremder in ihr Gebiet eingedrungen war. Während sie normalerweise zufrieden vor sich hin glucksend ihre Nahrung einnahmen, suchten sie jetzt mit aufgeregtem Quaken das sichere Schilf des Ufers auf. An sich waren sie seit langem daran gewöhnt, dem lauten Eichelhäher einiges Mißtrauen entgegenzubringen. Allzu oft hatte er sie gewarnt, weil ein Schaf Züchter ein verirrtes Schaf suchte, das 3
durch einen schadhaften Zaun der angrenzenden Weiden gebrochen war, oder weil eine Gruppe harmloser Wanderer vorüberzog, ohne etwas Böses im Sinn zu haben. Die fünf Enten verspürten keine große Lust, sich unnötig beim Fressen stören zu lassen. Trotzdem waren sie lieber auf der Hut und schwammen geräuschlos ins Schilf. Plötzlich tauchte auf einer nicht weit entfernten Sandbank ein großer, gelber Labrador-Hund auf, der offensichtlich ihre Witterung aufgenommen hatte. Da er gegen den Wind näher gekommen war, sahen ihn die Enten erst im letzten Augenblick. Sie hielten es für das Beste, ihr Heil in der Flucht zu suchen. Die bisher herrschende Stille wurde durch lautes Quaken und das wilde Flattern von fünf Flügelpaaren unterbrochen. Alle Enten erhoben sich gleichzeitig in die Luft. Sie versuchten so schnell wie möglich genügend Höhe zu gewinnen, um die Wipfel der um den Teich herumstehenden Bäume überfliegen zu können. Zwei Schüsse fielen so dicht hintereinander, daß sie fast wie ein einziger klangen. Auf der kleinen Lichtung wirkte der Knall fast ohrenbetäubend und hallte als vielfaches 4
Echo über die Hügelketten. Der die Enten anführende Erpel hörte den Gewehrschuß nicht mehr. Er zuckte zusammen und fiel wie ein Stein zur Erde, wo er tot in das brackige Wasser stürzte. Eine zweite Ente folgte mit getroffenem Flügel seiner Spur. Da sie nicht mehr fliegen konnte, war sie auch nicht mehr imstande, dem Hund zu entkommen, der bereits hinter ihr her war. Die anderen Wildenten hatten in der Zwischenzeit die notwendige Höhe gewonnen und flogen in die abgelegene Gegend zurück, aus der sie gekommen waren. Ein Mann trat auf die Lichtung. Zwei Rauchspiralen schlängelten sich langsam aus dem Doppellauf seiner Flinte. Ein zufriedenes Lächeln lag auf dem gut geschnittenen, von einem dunklen Bart umrahmten Gesicht. Er nahm dem Hund die verwundete Ente aus der Schnauze, drehte ihr mit einer kurzen Bewegung den Hals herum und warf sie in den Beutel, der über seinen Rücken hing. Der Hund sprang sofort in den Teich, um den erschossenen Erpel zu holen. Der Mann machte den Eindruck eines Einzelgängers; jede seiner Bewegungen wirkte genau und überlegt. Er trug eine Feldjacke in Tarnfarben, dazu einen breitkrempigen 5
passenden Hut, so daß er sich gegen den Hintergrund des Waldes nicht abhob. Seine Kavalleriehosen waren sorgfältig in die olivgrünen Jagdstiefel gestopft. Ein wohlgefüllter Patronengürtel lag um seine Taille. Seine ganze Erscheinung ließ in keinem Menschen, der ihn zufällig treffen mochte, einen Zweifel am Zweck seines Besuches in den Wäldern aufkommen. Er war Gordon Hall, Journalist, Pächter dieses rund zweieinhalb tausend Hektar großen Jagdreviers, das man die Schwarzen Hügel nannte. Sie lagen an der Grenze zwischen Shropshire und Wales, einem Gebiet, das von Legenden und Sagen umwoben und vom Blut englisch-walisischer Kriege getränkt war. Dies war auch die Gegend, wo sich die sagenhaften Schwarzen Hunde herumtreiben sollten, die Vorboten von Tod und Untergang in Hundegestalt. Wenn man den Chroniken des Mittelalters Glauben schenken durfte, brachten sie allen, denen sie begegneten, den Tod. Gordon Hall war kräftig und entschlossen. Von Natur aus war er der geborene Jäger, sei es auf Wild oder Frauen, beides mit gleicher Leidenschaft. Beide seien die einzigen Beutestücke, auf die sich eine Jagd lohne, 6
hatte er mehr als einmal Freunden und Kollegen klarzumachen versucht. Seine Beschäftigung als freischaffender Journalist bot ihm genügend Gelegenheit, seinen beiden Hobbies zu frönen, da er sich seine Arbeitszeit nach eigenem Gutdünken einteilen konnte. Wenn er auch ungefähr siebzig Meilen entfernt im Herzen des Industriegebietes lebte, suchte er doch in regelmäßigen Abständen diese abgeschiedene ländliche Gegend auf, wo er seine völlige Unabhängigkeit genoß, während er mit dem Gewehr Kaninchen oder Federwild verfolgte. Das verschaffte ihm nach langen, ermüdenden Arbeitsstunden oder ausgedehnten Liebesnächten eine willkommene Abwechslung. Seit seine Frau ihn vor über drei Jahren verlassen hatte, war in ihm die Vorliebe für diese Art Leben gewachsen. Einen Großteil seiner Freizeit verbrachte er in seiner Junggesellenwohnung in der Stadt. Dem stand dieses Leben in der freien Natur gegenüber, wo er herumstromerte, wie es ihm gefiel, und das den notwendigen Ausgleich bot. Trotz allem zeigten sich die bitteren Gefühle und die Skepsis, die er dem Leben im allgemeinen entgegenbrachte, bereits in den unzufriedenen Linien seines Gesichtes. Er sah mit 7
wasserblauen, kalten Augen in die Welt, während er arrogant durch sein Jagdgebiet streifte, wobei er keine irgendwie geartete Störung hinzunehmen gewillt war und jeden, der sich ihm in den Weg zu stellen wagte, rücksichtslos niederrannte. Die Sonne ging gerade hinter der fernen Bergkette unter. Sie hing wie ein glühender roter Ball am klaren Himmel. Das ließ auf frühen Frost schließen. Gordon Hall blieb auf der Spitze eines Hügels stehen und schaute in das zu seinen Füßen liegende Tal hinunter. Sein Labrador-Hund Remus rieb sich zufrieden am Bein seines Herrn. Genau wie dieser liebte er ihre gemeinsame Freiheit über alles. Der Blick des Journalisten blieb auf einer kleinen, sauberen Farm haften, die sich in ein schmales Tal zwischen den Hügeln schmiegte. Aus dem einzigen Schornstein schlängelte sich eine Rauchspirale senkrecht in den Abendhimmel. Halb war Hall schon entschlossen, den mit Heidekraut bewachsenen Abhang hinunterzugehen und an die Tür des gemütlichen, weißgetünchten Hauses zu klopfen. Da änderte er abrupt seine Meinung. Von seinem Standort aus konnte er gerade noch das hintere Ende eines klei8
nen Lieferwagens erspähen, der hinter der Scheune hervorlugte. Vic Gunn war also bereits von seiner Feldarbeit oben auf den Hügeln zurück, und sein Besuch hatte keinen Zweck. Er rief sich in Gedanken das Bild der blonden Margaret Gunn vor Augen, die zwanzig Jahre jünger war als ihr ruhiger, bedächtiger und bedächtig denkender, gutmütiger Ehemann. Ihre blauen Augen schienen Hall Dinge zu verheißen, die ihr schüchterner Mund nicht auszusprechen imstande war. Die zierliche, schlanke, meist in Rollkragenpullover und Jeans gekleidete Frau durfte seiner Ansicht nach mehr vom Leben erwarten, als ihr ein Schafzüchter mittleren Alters bieten konnte, der nach der schweren Tagesarbeit zu müde war, sich ihr im Bett noch zu widmen. Das war eine Herausforderung für Hall, der er sich nicht zu entziehen vermochte. Als Jäger hatte er die heiße Spur aufgenommen. Jetzt wartete er voll Verlangen auf eine Gelegenheit, ihr zu folgen und die willige Beute zu erlegen. Er spürte, wie dieses Gefühl sich in ihm zu rühren begann, und er zwang sich, wegzusehen und an etwas anderes zu denken. Die Gelegenheit würde kommen.
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Sein Blick schweifte zu der nächsten Farm hinüber. Das Haus befand sich in weit schlechterem Zustand als das der Gunns, lieferte aber ebenfalls den Beweis dafür, daß die Menschen, die in den Hügeln lebten, hart arbeiteten und das letzte aus sich herausholten. Die Farm gehörte Gwynne Owen, einem gescheiten älteren Mann, dessen wahres Alter man nicht abschätzen konnte. Er und seine Frau Blodwyn lebten gerne hier und waren zufrieden mit ihrem Los. Nicht anders ging es ihrem Sohn Philip, der es irgendwie fertiggebracht hatte, niemals eine Schule zu besuchen. Dafür mußte man zum Teil den Krieg verantwortlich machen, wo niemand die Zeit gefunden hatte, sich um ihn zu kümmern. Diese ruhigen Tage seiner Kindheit hatten den Grundstein für sein späteres Leben gelegt. Er konnte weder lesen noch schreiben, doch das beeinträchtigte in keiner Weise seine Tüchtigkeit, wenn es um Dinge ging, die mit der Schafzucht zusammenhingen. Das war auch der Grund, warum sich kein Mensch an Philips Unwissenheit störte, am wenigsten er selbst. Er war inzwischen dreißig Jahre alt geworden, von untersetzter Statur und tiefbrauner Hautfarbe, die von Wind und Wetter bestimmt war. 10
Eines irritierte die meisten Menschen, die ihm begegneten – er lächelte ständig vor sich hin, gleichgültig ob sein Leben heiter verlief oder Katastrophen entgegensteuerte. Er war wie Gordon Hall ein absoluter Einzelgänger, wenn auch logischerweise seine Intelligenz im Vergleich zu der des Journalisten zu wünschen übrig ließ. Er war glücklich und zufrieden, wenn er seine Tage mit den Schafen verbringen konnte. Zur Lämmerzeit opferte er auch die Nächte. Eines änderte sich nie, ob es Tag war oder Nacht, ob Sommer oder Winter – er grinste. Gordon Hall faßte den Entschluß, der Familie Owen einen Besuch abzustatten. Er wußte, daß er dort jederzeit willkommen war. Das war eine Versuchung für einen Mann, der für sich allein lebte. Er konnte dort immer auf ein gutes Essen und ein warmes, gemütliches Feuer rechnen, bevor er sich auf den langen, ermüdenden Rückweg in die Stadt machte. Das würde ihm auch die Unbequemlichkeit ersparen, sich etwas zu essen besorgen zu müssen, wenn er zu Hause ankam. Achselzuckend hing er noch einen Moment seinen Vorstellungen nach, daß ihm die Wärme von Margaret Gunns Körper lieber gewesen wäre als das Kaminfeuer der 11
Owens. Die würde ihm aber in nicht allzu ferner Zukunft ebenfalls zuteil werden, daran hatte er keinen Zweifel. In der Vorratsscheune brannte Licht. Gordon Hall und sein Hund bahnten sich etwas mühsam einen Weg über den Hof, wobei sie teilweise zentimetertief durch Fladen liefen, die die sechs Kühe der Owens tagsüber hier hinterlassen hatten. Gordon wandte sich der Scheune zu, um einen Blick hineinzuwerfen und zu sehen, was dort los war. Als er die Schiebetüren so weit geöffnet hatte, daß er und Remus sich hineinzwängen konnten, bot sich ihm ein merkwürdiges Bild. Die sechs Friesenkühe standen friedlich wiederkäuend in ihren Boxen und schauten mit großen Augen mißbilligend auf den Hund. Am anderen Ende der Scheune drehten ihm Gwynne Owen und sein Sohn Philip den Rücken zu und betrachteten fasziniert etwas, was sich in der mit Heu gefüllten Ecke befand. »Ein wirklich schönes Tier«, sagte Philip. »Wenn er auch für einen Schäferhund viel zu viel Geld gekostet hat. Für ein Viertel des Preises hätten wir hier auf dem Markt einen bekommen.«
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»Kann schon sein«, erwiderte sein Vater. »Aber wir haben zur Zeit ungewöhnlich viele Schafe. Vor Weihnachten wird eine ganze Anzahl lammen. Ich mußte also entweder einen wirklich guten Hund kaufen oder mich nach einer zusätzlichen menschlichen Hilfskraft umschauen. In dem Fall weiß ich aber, was mich teurer zu stehen kommt.« Philip schob seine zerlumpte Mütze aus der Stirn und kratzte sich das lange, fettige Haar. »Trotzdem bedeutet das schon eine Stange Geld.« »Haben Sie einen neuen Hund?« fragte Gordon, der sich den beiden Farmern von hinten näherte, so daß sie ihn erst jetzt bemerkten. Der Hund Remus blieb neben der an die Wand gelehnten Flinte sitzen. Philip grinste wie üblich vor sich hin, aber auch Gwynne Owen lächelte – mit einem Mund voller Zahnlücken. »Ja, wir haben einen Hund gekauft«, bestätigte der alte Mann. »Er hat eine lange Reise hinter sich, er kommt aus dem Schwarzwald in Deutschland. Hat uns über zwanzig Pfund gekostet, wozu noch Zoll und Quarantänegebühren kommen. Aber auf lange Sicht dürfte er sich bezahlt machen.«
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»Was hat Sie veranlaßt, einen Hund aus Deutschland kommen zu lassen?« fragte Gordon Hall neugierig. »Einer meiner Neffen hat seinen Urlaub dort verbracht.« An Gwynne Owens Tonfall wurde deutlich, wie sehr er sich darüber wunderte, daß jemand auf die Idee kommen konnte, das eigene Land zu verlassen. »Dort traf er dann den Schäfer, dem das Tier gehörte. Der Hund heißt übrigens Loup. Ist das nicht ein merkwürdiger Name?« Der alte Mann lachte. »Der Deutsche behauptete übrigens, der Hund habe mit einem Wolf gekämpft und ihn verjagt, als er die Schafe hütete. Wenn man sich die große Narbe auf seinem Schulterblatt betrachtet, könnte man’s fast glauben. Sehen Sie mal.« Gordon Hall nahm den Hund genauer in Augenschein. Ein solches Exemplar war ihm noch nie begegnet. Vielleicht war das Tier aus einer Kreuzung zwischen einem Collie und einem deutschen Schäferhund entstanden. Es sah aus, als ob es ziemlich wild werden konnte. Im Augenblick machte er allerdings einen aufmerksamen und gelehrigen Eindruck, wie er da mit dem Kopf auf den Pfoten lag und mit seinen dunklen, großen Augen die Anwesenden beobachtete. Quer 14
über seine rechte Schulter zog sich im Zickzack eine häßliche lange Narbe, die aussah, als hätten starke Zähne einen großen Fetzen Haut und das dazugehörige Fleisch herausgerissen. Durch sein kohlrabenschwarzes Fell wirkte das Tier noch düsterer und gefährlicher. Plötzlich stieß Remus ein lautes Winseln aus. Gordon Hall fuhr herum und wurde Zeuge, wie sein preisgekrönter Labrador-Hund den Schwanz zwischen die Beine klemmte und sich in die äußerste Ecke verkroch. Es schien ihm viel daran zu liegen, soviel Entfernung wie möglich zwischen sich und Loup zu legen. »So ein dummes Vieh!« Der Journalist verurteilte jedes Anzeichen von Schwäche und war mehr als ärgerlich, daß sein Hund sich in Gegenwart der Bauern so furchtsam zeigte. »Was zum Teufel ist in dich gefahren?« fragte er. Mit schnellen Schritten eilte er zu dem Hund hinüber, packte ihn am Halsband und zerrte ihn mit aller Macht in die Nähe des Schäferhundes. »Er ist doch angebunden«, fauchte er Remus an. Der Teil seines Gesichts, der nicht vom Bart bedeckt war, rötete sich vor Zorn. 15
Remus zappelte und versuchte sich loszureißen, aber sein Herr war stärker. Sekunden später lagen die beiden Hunde fast Nase an Nase. Loup musterte sein Gegenüber mit einem Ausdruck, den man nur als Verachtung bezeichnen konnte. Er machte nicht die leiseste Bewegung, sah Remus einen Moment starr an und schloß dann wie als letzte Beleidigung die Augen, um zu schlafen. Mit einem Fluch gab Gordon Hall seinem Hund einen kräftigen Stoß. Remus verlor das Gleichgewicht, rollte einmal herum und rannte winselnd wieder in die entfernte Ecke der Scheune. »Verdammter Feigling«, schimpfte Hall. Sein Stolz war ziemlich angeknackst. »Vielleicht mag er nur keine Ausländer«, sagte Gwynne Owen lachend, aber sein Witz war an den Journalisten verloren, der nicht in Stimmung war. Er faßte sich erst wieder, als alle um das brennende Herdfeuer saßen und ihre Tassen Tee schlürften. Später am Abend, lange nachdem Hall abgefahren war, machte der rastlose Philip einen Rundgang über die Farm. Er teilte nicht die Vorliebe seiner Eltern für den kleinen Fernsehapparat, ein weiteres Geschenk des
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weitgereisten Vetters, dem es anscheinend nie am nötigen Kleingeld fehlte. Wäre die Zeit schon angebrochen, zu der die Schafe lammten, hätte er sich jetzt bestimmt den Weiden zugewandt, um nach dem Rechten zu sehen. Seine scharfen Augen zeigten ihm klar den Weg, ob der Mond schien oder nicht. Heute nacht hatte er einen anderen, besonderen Grund für seinen nächtlichen Ausflug. Er konnte einem Impuls nicht widerstehen, noch einmal einen Blick auf den Hund Loup zu werfen. Als Philip die Scheune betrat und Licht machte, sah er, daß das Tier seine Ecke verlassen hatte. Offensichtlich zog es den kalten Steinboden dem warmen Heu vor. Philip konnte sich des Eindrucks nicht erwehren, daß der Hund dringend eine Erziehung brauchte. Anscheinend war er nicht an die Zivilisation gewöhnt. Mit der Spitze seines Arbeitsstiefels stieß er den schlummernden Hund an. Dieser öffnete nicht einmal die Augen. Er trat wieder zu, diesmal etwas stärker. Leider traf er direkt auf die bösartige Narbe, die angeblich von Wolfszähnen stammte. Im selben Moment verwandelte sich das Tier in ein fauchendes Ungeheuer. Mit kräftigem Biß packte es Phi17
lip am Bein, ohne allerdings bis zum Äußersten zu gehen. Der junge Mann stöhnte vor Überraschung auf und stürzte zu Boden, wobei er beide Hände vor das Gesicht hielt, da er erwartete, daß er sich jetzt gegen den Angriff des mörderischen Tieres wehren müßte. Nichts geschah. Philip sah hoch. Loup lag wieder in der Ecke – lang hingestreckt und mit geschlossenen Augen. Er schien weder aufgewacht zu sein, noch sich gerührt zu haben. Der Bauernsohn schüttelte verwirrt den Kopf. Er verstand die Welt nicht mehr. Hatte er den plötzlichen Überfall vielleicht nur geträumt? Der Schmerz in seinem Bein bewies, daß er sich nicht irrte. Er rollte das Hosenbein hoch. In seiner beharrten Haut waren deutlich Loups tiefe Zahnspuren zu sehen. An zwei oder drei Stellen sickerte bereits Blut heraus. Trotzdem machte sich Philip keine Sorgen. Die Angelegenheit hätte schlimmer ausgehen können. Er wußte nur zu gut, daß das Tier ihn mühelos hätte verwunden oder sogar töten können, wenn es Lust dazu gehabt hätte. Anscheinend hatte ihn der Hund aber nur gewarnt, daß er sich nichts gefallen ließe, weder von ihm noch sonst jemand.
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Während Philip am Brunnen im Hof seine Wunden säuberte, faßte er den Entschluß, seinen Eltern von dem Zwischenfall nichts zu erzählen. Schließlich war er an der ganzen Geschichte mehr oder weniger selbst schuld. Er hatte Loup im Schlaf gestört und ihn, wenn auch nicht gerade hart, angestoßen. Vermutlich war das Tier nach der langen Reise und Quarantäne einfach überreizt. Nein, er wollte ihnen nichts sagen. Vielleicht würden sie sogar schimpfen. Die Blutung hatte inzwischen aufgehört. Wenn sein Bein auch immer noch schmerzte, war doch nichts Ernstliches passiert. Vielleicht würde er einige Tage etwas hinken, aber dafür konnte er immer ein Mißgeschick auf der Farm verantwortlich machen, jedenfalls solange niemand sein nacktes Bein zu Gesicht bekam. Jede Antipathie gegen das Tier, falls er sie je verspürt hatte, war längst verschwunden, als er ins Bett kroch und das Licht ausmachte. Er empfand Loup gegenüber eher das Gefühl einer gewissen Kameradschaft. Es war ihm, als ob sie ein gemeinsames Geheimnis teilten.
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2. Eine Woche war vergangen. An einem Nachmittag, an dem die Wolken tief über den Schwarzen Hügeln hingen, lenkte Gordon Hall seinen Wagen in die Einfahrt zu Vic Gunns Hof. Ihm war beim Vorüberfahren aufgefallen, daß der kleine Lieferwagen nirgends zu sehen war. Also war Vic Gunn nicht da, dachte er. Es lag nicht in Gordon Halls Natur, eine solche Gelegenheit ungenutzt zu lassen. Als er den Motor abstellte, überdachte er im Geist die Situation. Zunächst mußte er herausfinden, wohin Vic gegangen war und wann er zurückerwartet wurde. Dann wollte er dem Zufall überlassen, wie es weiterging. Schon tauchte Margaret aus dem Hühnerstall auf. In einer Hand trug sie einen mit Eiern gefüllten Eimer, in der anderen einen leeren Futterbeutel. »Guten Tag Mr. Hall«, begrüßte sie ihn. »Bitte nennen Sie mich Gordon«, sagte der Journalist mit dem Lächeln, das er gewöhnlich für Zeitungsverleger und begehrenswerte Frauen reservierte. Als ob ihm der Gedanke gerade erst gekommen wäre, setzte er hinzu: »Margaret.« 20
Sie errötete leicht bei dieser ungewohnten Vertraulichkeit. Ihr weiblicher Instinkt veranlaßte sie, den leeren Beutel fallen zu lassen und die ihr bei der Arbeit in die Stirn gefallenen Haarsträhnen zurückzustreichen. Ein seltsames Gefühl der Erregung durchströmte sie. Sie errötete wieder und empfand dabei ein gewisses Schuldgefühl. »Gut denn, also Gordon. Kann ich irgend etwas für Sie tun?« fragte sie mit leise vibrierender Stimme. »Das kann man wohl sagen«, dachte Gordon Hall, äußerte aber nichts dergleichen. Er wußte, daß er das Vertrauen dieses einfachen, hübschen Geschöpfes vom Lande nur auf Umwegen gewinnen konnte. »Vor ein paar Tagen bat ich Vic um etwas Gerste, die ich in den Wäldern für Fasanen ausstreuen wollte«, sagte er mit seiner ruhigen, kultivierten Stimme. Während der letzten Jahre hatte er genügend Erfahrungen mit jedem Typ von Frau gesammelt, um genau zu wissen, wann er eine Eroberung gemacht hatte. »Vermutlich hat Vic Ihnen nichts davon gesagt?« »Leider nicht«, sagte sie halb entschuldigend, halb verlegen. »Er ist auf den Markt
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gefahren. Ich erwarte ihn erst in zwei, drei Stunden zurück.« Gordon Hall spürte seinen Puls bei dieser Nachricht schneller schlagen. Äußerlich blieb er ruhig und gelassen. Noch spielte er den Gentleman. »Zu dumm«, murmelte er. »Dann muß ich wohl ein andermal wiederkommen.« Er wandte sich Margaret zu. »Lassen Sie mich die Eier in den Milchkeller tragen.« »Machen Sie sich doch keine Mühe.« Margarets schwache Proteste wurden von dem Journalisten nicht zur Kenntnis genommen. Er nahm ihr den Eimer mit den Eiern ab. Sie folgte ihm in den Milchkeller, wo er den Eimer auf einen großen steinernen Tisch hob und das Wasser im Hahn über dem Spülbecken andrehte. »Am besten waschen wir die Eier gleich«, schlug er vor. »Ich werde Ihnen dabei helfen. Ich habe ohnedies nichts weiter vor. Ohne die Gerste bin ich für heute arbeitslos.« Gordon Hall war ein Meister der Unterhaltung, sonst wäre jetzt ein unbehagliches Schweigen entstanden. Sein Beruf brachte es mit sich, daß er einige Übung darin hatte,
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auch schüchterne Menschen zum Reden zu bringen. »Sie wissen wahrscheinlich nicht, daß ich geschieden bin«, erzählte er. »Meine Frau hat mich vor drei Jahren verlassen.« Sie senkte die Augen, um seinem Blick auszuweichen. Er fuhr mit der Geschichte über seine mißglückte Ehe fort. »Und jetzt gibt es immer mehr Tage, an denen ich mich sehr einsam fühle. Darum verbringe ich auch soviel Zeit hier draußen«, schloß er. »Vergessen Sie nicht, daß Sie bei uns immer willkommen sind.« Diesmal war das Zittern in ihrer Stimme unüberhörbar. Innerlich bereitete er sich auf den entscheidenden Schlag vor. »Danke schön«, antwortete er dankbar. »Vielleicht nehme ich Sie eines Tages beim Wort. Wissen Sie, was ich mir sehnlich wünsche? Daß wir uns vor zehn Jahren getroffen hätten. Damals war ich dreiundzwanzig, also genau im richtigen Alter für Sie«, fuhr er mit dem Ausdruck jungenhafter Ehrlichkeit fort, der ihr schmeicheln sollte, so daß sie die Freiheiten, die er sich herausnahm, nicht bemerkte. Jetzt wurde Margaret dunkelrot. Ihr Herz klopfte rasend schnell. Wenn sie ihren häus23
lichen Pflichten nachging, hatte sie sich ab und zu in Gedanken mit dem gut aussehenden, einsamen Fremden beschäftigt. Und jetzt stand dieser Mann vor ihr und sagte ihr offen ins Gesicht, daß er sie geheiratet hätte, wenn er ihr zu einer Zeit begegnet wäre, als sie beide noch frei waren. Sie glaubte zu träumen. Vermutlich war sie vor dem Küchenfeuer sitzend eingeschlafen. Plötzlich wurde sie hellwach, als die starken Arme des Mannes um ihre Taille glitten. Das gut geschnittene, bärtige Gesicht war nur noch wenige Zentimeter von dem ihren entfernt. Sie ergab sich ohne Gegenwehr in ihre Lage, sie war nicht fähig dazu. Ihre anfänglich vorhandenen Schuldgefühle schwanden vor dem starken Begehren, das sie für diesen Mann empfand. Ihr erster Kuß war lang und leidenschaftlich. Sie lehnte sich über den Steintisch zurück, während er immer noch ihre Taille umfaßt hielt. Ihr Mund öffnete sich seiner suchenden Zunge. »Glaubst du nicht auch, daß es im Haus bequemer für uns ist?« murmelte Gordon und knabberte an ihrem Ohrläppchen. Er wußte, daß sie jetzt keinen Widerstand mehr leisten würde. 24
»Vic wird in ein paar Stunden zurück sein.« Ihre Entschuldigung klang halbherzig, sie schien nur noch ihr eigenes Gewissen beschwichtigen zu wollen. »Bis dahin bin ich längst wieder weg«, versprach der Journalist. »Kein Mensch wird erfahren, daß ich überhaupt da war.« »Gehen wir also ins Haus«, sagte sie mit bebender Stimme. In Gedanken malte sie sich aus, was er jetzt tun würde und was sie sich selbst sehnlichst wünschte. Sie gingen über den verschlammten Hof zum Haus hinüber, ohne dem Schmutz die geringste Beachtung zu schenken. Im Vorraum schleuderten sie die Schuhe von sich und betraten den Wohnraum mit der Decke aus Eichenbalken. Es war sehr warm. Das Feuer hieß sie mit einem Duft nach harzigem Holz willkommen. Eine solche Atmosphäre war Gordon bisher bei seinen Eroberungen noch nicht begegnet. Gewöhnlich fanden sie in einer einfach möblierten, unpersönlichen Wohnung statt, wo die einzige Wärme nahe dem weiblichen Körper zu finden war, der das Bett mit ihm teilte. Margaret Gunn starrte verwirrt in das flackernde Feuer. Ihre Finger spielten mit dem Ehering, wobei sie ihn vor- und zurückscho25
ben, als ob dieser schmale, goldene Reif sie vor einer Dummheit bewahren konnte. Gordon Hall war nicht der Mann, der einer Frau genügend Zeit zum Nachdenken gab, wenn das möglicherweise dazu führte, daß sie ihre Meinung änderte. »Sollen wir nicht nach oben gehen?« Die Worte kamen mehr wie eine Forderung als eine Frage. Ohne ihre Antwort abzuwarten, legte er wieder den Arm um ihre Taille und schob sie auf die schmale Treppe zu, die in der anderen Ecke des Raumes nach oben führte. Das Schlafzimmer hatte eine niedrige Decke und kleine vergitterte Fenster, von denen aus man bei klarem Wetter einen prächtigen Ausblick auf den südlichen Teil der Schwarzen Hügel hatte. An diesem Nachmittag waren die Hügel durch aufsteigende Nebelschwaden verhängt. Abgesehen von dem breiten Doppelbett unter dem Fenster bestand die Einrichtung aus einer Viktorianischen Garderobe und Schränken, die besser nach draußen in den Schuppen gepaßt hätten. Margaret fühlte, wie eine Woge von Leidenschaft über ihr zusammenschlug. Sie konnte
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nichts anderes tun, als sich davontragen zu lassen. Gordon Hall zog ihr mit kundigen Händen den Pullover aus, öffnete den Verschluß ihres Büstenhalters und betrachtete sein erlegtes Wild fast triumphierend. Dabei empfand er ein aufrichtiges, zärtliches Gefühl gegenüber diesem Mädchen vom Lande. Er legte sich neben sie auf das Bett und küßte sie. Jetzt begehrte sie ihn genauso sehr wie er sie. Nach einer Ewigkeit lösten sich ihre Körper voneinander. Entspannt lagen sie da und ruhten sich aus, wobei sie über das Vergangene nachdachten und das, was ihnen die Zukunft bringen mochte. »Ich war noch nie im Leben so glücklich«, gestand Margaret, wobei sie all ihren Mut zusammennehmen mußte, um diese Worte herauszubringen. Gordon Hall schwieg. Im allgemeinen hielt er sich bei solchen Gelegenheiten zurück. »Ich habe recht mit dem, was ich vorhin sagte«, murmelte er. »Wie schön wäre es gewesen, wenn wir uns schon vor zehn Jahren getroffen hätten.« Plötzlich drangen leise Geräusche an ihre Ohren. Sie hielten den Atem an und lausch27
ten. Da war es wieder. Schwere Arbeitsstiefel schlurften über den matschigen Hof und wurden dann auf dem Boden abgestreift. Mit einem Aufschrei fuhr Margaret in die Höhe. »Das ist Vic. Er ist früher gekommen als erwartet!« Gordon sprang aus dem Bett und zog sich mit schnellen Bewegungen an, ohne die geringste Panik zu verraten. Solche Situationen hatte er mehr als einmal erlebt. Kam es zum Schlimmsten, hatte er sich noch immer herausreden können. Margaret dagegen zitterte so heftig, daß sie zum Anziehen doppelt so lange brauchte wie sonst. »Beruhige dich doch«, fuhr er sie an. »Wirf dir die Sachen über und überlaß den Rest mir.« Eine Frau, die bei ihrem ersten Ehebruch ertappt wird, kann man nicht so leicht beruhigen. Trotzdem hatten Gordons Worte eine gewisse Wirkung auf Margaret. Sie sah in ihm den Eroberer, den Helden, der mit jeder, auch der schwierigsten Lage fertig werden konnte. Endlich war sie angezogen und brachte ihr langes, blondes Haar notdürftig in Ordnung. Da sie nichts mehr hörten, traten sie ans Fenster und blickten in die Düsterkeit des 28
hereinbrechenden Abends hinaus. Gordons Auto stand noch auf dem Hof, aber weit und breit war kein Zeichen von dem kleinen Lieferwagen zu sehen. Jetzt wurde den beiden plötzlich klar, daß sie ihn vorher auch nicht gehört hatten, was unbedingt der Fall gewesen wäre, wenn er auf den Hof gefahren wäre. Alles erweckte den Anschein, als sei der Hof vollkommen verlassen. »Das ist aber verdammt merkwürdig«, sagte Hall. »Draußen ist kein Mensch zu sehen, dabei wissen wir doch, daß wir jemand gehört haben.« Sie standen da und lauschten. Margaret hatte das Gefühl, als müßte man ihre schnellen Herzschläge bis hinauf in die Schwarzen Hügel vernehmen. »Jemand ist im Milchkeller«, sagte der Journalist, der ein schärferes Gehör hatte als die meisten Menschen. Ihm war ein leises Geräusch nicht entgangen. »Jetzt geht der Betreffende in die Scheune«, murmelte er. »Irgendwann wird er sich zeigen müssen.« Sie warteten – wie es ihnen schien, eine Ewigkeit. Endlich hörten sie das schleifende Geräusch, mit dem die Schiebetüren des Vorratsspeichers aufgezogen wurden. Eine Gestalt trat rückwärts heraus und zog die 29
Türen hinter sich zu. Der Mann schien Schwierigkeiten zu haben, die Tür zu schließen. Er zerrte wie verrückt, wobei er rohe Gewalt gebrauchte, anstatt nach der Ursache des Hindernisses zu forschen. »Das ist nicht Vic«, sagte Margaret erleichtert. »Aber wer um alles in der Welt kann es sein? Und was macht der Mensch dort?« Der Eindringling drehte sich um. Jetzt sahen sie sein Gesicht. »Philip Owen«, sagte Gordon Hall ungläubig. Gebannt sahen sie zu, wie er durch den Matsch zum Haus schlurfte. »Er kommt hierher«, keuchte Margaret. »Was will er? Er hat noch niemals allein einen Besuch gemacht, nur einmal zusammen mit seinem Vater.« Philip Owen stand jetzt auf der Küchentreppe. Gleich darauf hörten sie sein lautes Klopfen. Das Geräusch hätte den tiefsten Schläfer aufwecken müssen. »Was sollen wir tun?« fragte Margaret. »Er hat bestimmt deinen Wagen gesehen und weiß, daß wir nicht weit entfernt sein können.« »Wir wollen uns ruhig verhalten und hoffen, daß er bald wieder geht«, antwortete Gordon. »Falls er sich nicht entschließt, solange 30
hier herumzulungern, bis Vic zurückkommt. Wenn er in einer halben Stunde nicht verschwunden ist, müssen wir uns irgend etwas ausdenken, um ihn zu vertreiben. Wir können nicht die Treppe hinuntergehen, solange er draußen steht. Durch die Glasscheibe kann man die Treppe deutlich sehen. Dann wird sogar er zwei und zwei zusammenzählen und sich den Rest denken.« Es hatte den Anschein, als wollte Philip nicht so schnell verschwinden. Er klopfte ununterbrochen weiter. Einmal entfernte er sich ein paar Schritte, wahrscheinlich um sich in den Nebengebäuden umzusehen, dann kam er zurück. Und klopfte weiter ... Aus der Dämmerung wurde Dunkelheit. Irgendwann hörten sie das Geräusch, auf das sie gewartet hatten. Philips Arbeitsstiefel patschten wieder durch den Matsch und entfernten sich. Langsam wurden seine Tritte leiser und waren nach einiger Zeit gar nicht mehr zu hören. Sie wußten, daß er nicht zurückkehren würde, jedenfalls nicht sofort. Margaret stieß einen erleichterten Seufzer aus. Gemeinsam begaben sie sich in die Küche. »Das war ein bißchen sehr gefährlich für meinen Geschmack. Um ein Haar hätte er uns erwischt«, sagte sie. 31
»Reg dich nicht unnötig auf.« Gordon Hall hatte seine alte Selbstsicherheit wiedergefunden. »Es hätte schlimmer ausgehen können. Trotzdem würde ich etwas darum geben, wenn ich wüßte, was der Kerl eigentlich wollte. Selbst in seinen besten Zeiten ist er merkwürdig, wenn er auch harmlos zu sein scheint.« Sie waren sich beide darüber klar, daß Philip unvermeidlich seine Schlüsse aus der Situation gezogen hatte, und konnten nur hoffen, daß er nicht daran denken würde, seinen Eltern zu erzählen, was er gesehen hatte.
3. Philip Owen hatte eine ziemlich genaue Vorstellung von dem, was auf der Farm der Gunns vor sich gegangen war. Er grinste wie üblich vor sich hin, als er heimwärts wanderte. »Zu komisch, daß die beiden es miteinander treiben«, überlegte er laut. »Von ihm wundert es mich nicht, von ihr hätte ich so etwas nicht gedacht.« 32
Als er über seine Rolle auf der Farm nachdachte, wurde er ärgerlich. Wenn dieser bärtige Tunichtgut nicht gewesen wäre, hätte sich Margaret vielleicht ihn als Partner ausgesucht, dachte er. Er überlegte, woran es wohl liegen mochte, daß ihn bisher noch nie der Drang überkommen hatte, mit einer Frau zusammen zu sein. Er hatte bisher weiter keine Gedanken daran verschwendet. Die dummen Geschöpfe kicherten unaufhörlich und flüsterten miteinander, wenn er seinen Vater auf den Markt begleitete und sie ihn zu Gesicht bekamen. Sobald ihr perlendes Lachen erklang, wußte er, daß sie sich über ihn lustig machten. Trotzdem hatte er ihnen nie auch nur einen zweiten Blick zugeworfen. Jetzt überkam ihn auf einmal das zwingende sexuelle Verlangen nach einer Frau. Er versuchte sie sich nackt vorzustellen. Der Gedanke machte ihm Spaß. Was wäre wohl geschehen, wenn er Margaret Gunn allein zu Hause angetroffen hätte? In letzter Zeit war ihm aufgegangen, daß sie etwas Besonderes für ihn darstellte. Dabei kam er gar nicht auf die Idee, daß sie ihn wahrscheinlich abgewiesen hätte. Seiner Meinung nach mußte
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sie sich nach seinem jungen, muskulösen Körper sehnen. Warum erfüllte ihn bei ihrem Anblick solch brennendes Verlangen? Wann hatte das angefangen? Eines wußte er bestimmt: daß es noch nicht lange dauerte. Zusammen mit seinem Vater hatte er während der Erntezeit bei den Gunns einen Besuch gemacht. Margaret trug eine dünne, durchsichtige Bluse und die kürzesten Shorts, die man sich vorstellen konnte. Ihm wurde fast übel bei dem Gedanken, was ihr Anblick in dieser Art Kleidung jetzt für eine Wirkung auf ihn haben mußte. Etwas Tierisches schien von ihm Besitz zu ergreifen. Am liebsten hätte er sich einfach auf sie gestürzt. Es war Freitagmorgen, eine Woche, nachdem Margaret sich Gordon Hall hingegeben hatte. Wieder ging sie ihren häuslichen Pflichten nach und summte dabei gedankenverloren vor sich hin. Bei dem Gedanken an die Geschehnisse jenes Nachmittags bebte sie noch immer am ganzen Körper. Noch mehr erregte sie die Erwartung, was heute nachmittag passieren sollte. Wenn sie mit ihrer Arbeit fertig war, würde sie ein Bad 34
nehmen und ihren ganzen Körper parfümieren. So wollte sie auf ihren Liebhaber warten. Vic würde vor fünf Uhr nicht zurückkommen. Er war zusammen mit Gwynne Owen nach Knighton gefahren, um Schafe zu kaufen. Hoffentlich hatte dieser Idiot von Philip Owen letzte Woche den Mund gehalten und seinem Vater nichts erzählt. Ein bißchen unbehaglich war ihr doch zumute. Was wäre, wenn er geredet hätte? Während sie darüber nachdachte, wurde ihr plötzlich klar, daß sie Vic ohne Hemmungen verlassen würde, um Gordon Hall zu folgen, wenn er sie darum bäte. Sie zerbrach sich allerdings keinen Moment den Kopf darüber, ob dieser sie auch wirklich wollte, und ob er für sie die ganze unbequeme Prozedur einer Scheidung und alles Unangenehme, was damit zusammenhing, auf sich nehmen würde. Der Morgen verging langsam. Margaret hatte ihre Arbeiten in einer wahren Rekordzeit hinter sich gebracht. Sie ging nach oben, riß sich die Kleider vom Leibe und drehte den Wasserhahn über der Badewanne an. Während sie darauf wartete, daß diese sich füllte, betrachtete sie ihr Bild im Garderobenspiegel. Sie hatte sich noch nie so kritisch 35
betrachtet, die kleinen, festen Brüste, die wohlgeformten Beine, die ganze Figur, die manche Männer so anziehend fanden. Sie fühlte sich durch Gordons Leidenschaft emporgehoben, weit mehr als zu der Zeit, als ihr noch dieser oder jener den Hof machte. Sie probierte das Badewasser mit der Zehenspitze aus und ließ kaltes Wasser nachlaufen, bis sie mit der Temperatur zufrieden war. Dann ließ sie ihren Körper ins Wasser gleiten und legte sich entspannt zurück. Wilde, phantastische Gedanken gingen ihr durch den Kopf. Sie stellte sich alle möglichen Situationen mit ihrem Liebhaber vor, in denen sie die Hauptrolle spielte, sei es sexuell, gesellschaftlich oder auch häuslich. Plötzlich hörte sie, wie die Hintertür geöffnet und vorsichtig wieder geschlossen wurde. Schritte durchquerten die Küche und kamen die Treppe herauf. War das schon Gordon? Oder kam Vic aus irgend einem Grunde von seiner Fahrt mit Gwynne Owen um Stunden früher zurück als erwartet? Sie wagte nicht zu rufen, solange sie nicht wußte, welcher von beiden es war. Ihr Herz schien einen Schlag auszusetzen. Dann dachte sie nach. Es konnte nicht Vic,
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es mußte ihr Liebster sein. Sie legte sich wieder zurück. Die nur angelehnte Tür öffnete sich langsam. Quietschend bewegte sie sich ein paar Zentimeter und wurde dann weit aufgestoßen. Margaret sah mit verführerischem Lächeln hoch, das ihr auf den Lippen gefror. Sie stieß einen erstickten Schreckensschrei aus. Instinktiv schlug sie die Arme über dem Busen zusammen und versuchte ihre Nacktheit zu verbergen so gut es ging. Philip Owen lehnte mit seinem üblichen Grinsen im Türrahmen und starrte sie an. »Was wollen Sie hier?« fuhr Margaret ihn wütend an, als sie sich von ihrem ersten Schock erholt hatte. »Wie können Sie es wagen, einfach ins Haus zu kommen? Machen Sie sofort, daß Sie rauskommen.« »Ich weiß, was letzten Freitag hier passiert ist«, sagte der junge Mann mit ungewöhnlich glitzernden Augen. »Vielleicht hält man mich in der Gegend für einen Idioten, aber man kann mich nicht für dumm verkaufen. Sie haben sich letzte Woche -« er suchte verzweifelt nach einem nicht zu ordinären Wort – »mit Mr. Hall vergnügt, stimmt’s?« fuhr er fort.
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»Das geht Sie überhaupt nichts an, Philip. Und jetzt verschwinden Sie. Dann will ich Ihr Benehmen vergessen und nicht mehr darüber sprechen. Falls Sie das nicht tun, werde ich mich bei Ihrem Vater über Sie beschweren.« »Und ich könnte jederzeit Vic ein paar Wörtchen ins Ohr flüstern, und das hätten Sie doch gar nicht gern ... Margaret?« Er wich und wankte nicht. »Was wollen Sie, Philip?« fragte sie. »Dasselbe wie Mr. Hall.« Er trat ins Badezimmer. »Ich will mit Ihnen ins Bett gehen.« Es dauerte ein paar Sekunden, bis seine Worte in ihr Bewußtsein drangen. Sie wußte, daß er es ernst meinte. Plötzlich hatte sie schreckliche Angst. Sie sprang auf und versuchte über den Badewannenrand zu gleiten und die Tür zu erreichen. Große braune Hände griffen nach ihr und hielten sie fest, bevor sie entkommen konnte. Gegen diesen harten Griff gab es keine Gegenwehr. Philip Owen hob sie wie eine Puppe hoch und taumelte mit ihr ins Schlafzimmer. »Lassen Sie mich los«, strampelte Margaret. Dann begann sie aus Leibeskräften zu schreien. Ihre Angst belustigte Philip. Er fühlte sich ihr zum erstenmal überlegen. 38
Sex würde ihm jetzt leichtfallen. Er hatte das Heft in der Hand. Außerdem hatte sie keine Möglichkeit, sich bei irgend jemand zu beschweren, ohne sich nicht selbst zu gefährden. Ihre Schläge in sein Gesicht störten ihn nicht, sie brachten ihn nur zum Lachen. Er legte sie aufs Bett und hielt sie mit einer Hand fest, während er mit der anderen begann, die Knöpfe seiner Arbeitskleidung zu öffnen. Da wurde die Schlafzimmertür aufgerissen, und Gordon Hall stürmte ins Zimmer. Philip fuhr herum, den Mund vor Erstaunen aufgerissen. Er war schon immer langsam im Denken gewesen, jetzt überstürzten sich die Geschehnisse für ihn. Er vermochte sich nicht einmal gegen den harten Fausthieb zu wehren, der seine Kinnspitze traf und ihn quer durch das Zimmer taumeln ließ, wo er gegen den großen Schrank prallte und dann wie ein Häufchen Unglück liegenblieb. »Du Dreckschwein!« brüllte Gordon. Seine Wut ließ ihn fast die Beherrschung verlieren, so daß er sich zurückhalten mußte, um nicht noch einmal über Philip herzufallen. »Am liebsten würde ich dich zu Brei schlagen, du lausiger Bastard. Wenn du nicht in zwei Mi-
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nuten die Treppe hinunter und aus dem Hause bist, kann ich für nichts garantieren.« Philip kam mühsam auf die Füße. Seine Lippen bluteten. Sein Kopf fühlte sich an, als ob er an der Stelle ein Loch hätte, wo er mit dem Schrank in Berührung gekommen war. Seine Kraft schien ihn mit einen Schlag verlassen zu haben. Dasselbe galt für sein Verlangen nach Sex. Sein Instinkt sagte ihm, daß es das Beste wäre, so schnell wie möglich zu verschwinden. Wütender Haß blitzte dem bärtigen Journalisten aus seinen kleinen, tiefliegenden Augen entgegen. Er packte das Geländer, stolperte nach unten und dort über einen Küchenstuhl. Dann verschwand er schnell durch den Nebel vom Hof. »Hat er dir etwas getan?« fragte Gordon Hall die hilflos schluchzende Margaret. Sie schüttelte den Kopf. »Dazu blieb keine Zeit. Du bist gerade noch rechtzeitig gekommen. Sonst hätte er mich wohl vergewaltigt. Ich verstehe das einfach nicht. Philip war früher immer so zurückhaltend. Und jetzt benahm er sich wie ein vom Sex Besessener.« »Das ist tatsächlich mehr als merkwürdig«, murmelte Gordon. »Das Schlimme ist nur, 40
daß wir nicht das Geringste gegen ihn unternehmen können. Er weiß zuviel. Wir können nur hoffen, daß er sich von jetzt an außer Reichweite hält. Eines kannst du mir glauben. Wenn er sein Glück noch einmal versucht, kommt er mir nicht so leicht davon.« Er betrachtete die nackte junge Frau auf dem Bett. Als er merkte, daß sie sich von ihrem Schock einigermaßen erholt hatte, begann er sich auszuziehen. Die Tage verstrichen, und Philips Gier nach Sex wurde immer stärker. Der Zusammenstoß mit Gordon Hall war noch nicht vergessen. Ständig spiegelte ihm seine Phantasie Situationen vor, in denen sich der Journalist in seiner Gewalt befand. Er hatte vorher noch nie das Bedürfnis gehabt, einen Menschen zu töten. Jetzt wünschte er sich das sehnlichst, aber nicht mit einem schnellen Angriff. Er wollte seinen Widersacher langsam zu Tode quälen. Wenn er mit ihm fertig war, sollte ihn niemand wiedererkennen. Der Bauernsohn wurde immer rastloser. Abends fand er die Gesellschaft seiner Eltern unerträglich und das Fernsehprogramm nicht zum Ansehen. Wieder boten ihm die Geräteschuppen eine abendliche Zuflucht. 41
Auf einem Hof gab es immer Maschinen und Werkzeuge, die man reparieren konnte. Oft besuchte er abends auch Loup in seiner Scheune. Der Schäferhund zeigte ihm gegenüber keine Feindseligkeit mehr, eher das Gegenteil. Er wartete auf die nächtlichen Besuche des jungen Mannes und leckte ihm sogar freundschaftlich die Hand. Die Wunden an Philips Bein waren inzwischen weitgehend verheilt. Einmal fuhr der Hund mit der Zunge über die Narbe, als Philip sein Hosenbein hochzog, um dem Tier seine damalige Tat vor Augen zu halten, von da an bestand eine Art Band zwischen Mensch und Tier. Als der nächste Vollmond nahte, beschloß Philip mit Beginn der Lämmerzeit seine nächtlichen Kontrollgänge über die Weiden, die an die Schwarzen Hügel grenzten, wieder aufzunehmen. Das würde ihm mehr Spaß machen, als seine ewigen Beschäftigungen mit den Geräten im Schuppen. Er spielte mit dem Gedanken, Loup zur Begleitung mitzunehmen, überlegte aber dann, daß der Hund die Schafe nur stören würde. Im silbernen Licht des Mondes mochten sie ihn für einen Fuchs, vielleicht sogar
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für einen Wolf halten, falls Schafe überhaupt soviel Phantasie hatten. In der ersten Nacht, als Philip die Farm verließ, knirschte der gefrorene Boden unter seinen Füßen. Die Uhr in der Küche zeigte elf Uhr, als er die Tür leise hinter sich schloß. Vor Mitternacht würde er wohl kaum zurück sein. Es konnte auch weitaus später werden. Im übrigen war das sowieso gleichgültig. Seine Eltern würden schlafen. Sie waren an sein nächtliches Herumstreifen gewöhnt und warteten nicht, bis er zurückkam. Die Schwarzen Hügel machten einen drohenden Eindruck, als er sich ihnen näherte und über den Stacheldrahtzaun am oberen Ende der Weiden stieg. Am Himmel waren nur ein paar kleine Zirruswolken zu sehen, im übrigen war es sternenklar. Das helle Mondlicht ließ die Nadeln der frostbedeckten Fichten und Tannen erglänzen. In der Ferne schrie eine Eule, und ein Regenpfeifer rief vor sich hin. Philip erinnerte sich an die Sage von den Schwarzen Hunden, über die er seinen Vater und Onkel Reuben hatte reden hören. Hier draußen fiel es ihm leicht, an diese Geisterhunde zu glauben. Einmal hatte ein Schafzüchter sie bei einer ähnlichen Ge43
legenheit gesehen, als er abends nach seinen Schafen sah. Am anderen Morgen fand man den Mann wie von Sinnen durch die Felder streifen. Drei Tage später war er tot. Bei diesem Gedanken packte Philip unwillkürlich ein Schauer. Die Schafe bewegten sich unruhig, als er die weit entfernt liegenden Weiden erreichte. Er warf einen Blick über die Hecke zu den Feldern Victor Gunns hinüber. Dort stand ein Mutterschaf dicht vor dem Lammen, war anscheinend aber noch nicht ganz so weit. Philip ging weiter, stützte sich auf das altersschwache Tor und machte eine kurze Pause, um nachzudenken. Das heißt, seine neuerdings vom Sex beherrschten Gedanken beschäftigten sich mit dem begehrten Objekt, Margaret Gunn. Sie war die erste nackte Frau, die er in seinem Leben gesehen hatte. Wenn sie ihm ihren Anblick auch nur kurze Zeit gegönnt hatte, so war das doch ein Erlebnis für ihn gewesen, wie er es sich in seinen kühnsten Träumen nicht hatte vorstellen können. Er war entschlossen, sie sich bald genauer anzusehen und vielleicht nicht nur anzusehen. Aber dabei würde er Gordon Hall nicht die Gelegenheit bieten, ihn von 44
seinem Vorhaben abzuhalten. Er würde notfalls nicht zögern, den Journalisten umzubringen. Plötzlich war ihm seltsam zumute. Er fand die Aussicht beängstigend, ausgerechnet hier oben krank zu werden, wo er allein war und keine Hilfe finden konnte. Er klammerte sich so fest an die obere Stange des Gatters, daß seine Fingerknöchel weiß hervortraten. In seinem Kopf begann es zu pochen. Ihm wurde übel. Er hatte Angst, ohnmächtig zu werden. Etwas Ähnliches war ihm nie zuvor widerfahren. Aber genausowenig hatte er bis vor kurzem eine nackte Frau gesehen. Er hatte sich nicht einmal vorstellen können, daß ihm so etwas passierte, und doch war es so gewesen. Für alles gab es also ein erstes Mal. Seine Haut fühlte sich seltsam an. Von Kopf bis Fuß überlief ihn ein Kribbeln und Prickeln, das er keineswegs als unangenehm empfand. Als er auf seine Hände heruntersah, die immer noch das Gatter umklammerten, stellte er verwundert fest, daß er anscheinend Handschuhe trug, bis er sich erinnerte, daß er gar keine mitgenommen hatte. Er sah näher hin. Beide Hände waren von kurzen, rauhen Haaren bedeckt, die ihn 45
an ein Stück Kokosmatte in der Küche des Farmhauses erinnerten. Das mußte ein Irrtum sein, etwas, das ihm das Mondlicht vorgaukelte, dachte er. Es war kein Irrtum. Ein Schauder erfaßte ihn. Seine groben Hände waren behaart wie die Pfoten eines wilden Tieres. Was war mit ihm geschehen? Mit der Hand strich er sich über die Wange. Er erschrak. Ihm schien in der Zwischenzeit ein Bart gewachsen zu sein. Er spürte nicht nur die Stoppeln, die zum Vorschein kamen, wenn er sich ein paar Tage nicht rasiert hatte, sondern rauhes, fast drahtiges Haar. Er taumelte, verfing sich mit dem Fuß in einem Grasbüschel und stürzte zu Boden. Dort stellte er zu seinem Erstaunen fest, daß es ihm genauso leichtfiel, sich auf allen vieren vorwärts zu bewegen, wie aufrecht zu stehen. Er versuchte, Klarheit in seine Gedanken zu bekommen. Sein Verstand schien sich zu umwölken, roter Nebel waberte vor seinen Augen. Plötzlich hatte er keine Angst mehr. Völlig andere Instinkte regten sich in ihm. Über allem anderen dominierte aber immer noch seine Sexbesessenheit. In seiner Phantasie sah er Margarets nackten Körper vor sich. Er 46
begehrte sie jetzt womöglich noch stärker, wollte sie besitzen, sie quälen. Bei dieser Vorstellung fletschte er die Zähne. Seine langen, gelblichen Hauer glänzten teuflisch im hellen Mondlicht. Mit einem langen, markerschütternden Heulen gab er seinen Gefühlen Ausdruck. Laut hallte es in den Schwarzen Hügeln wider.
4. Zwanzig Schafe oder mehr hatten sich in der entferntesten Ecke von Vic Gunns Weide zusammengedrängt und blökten kläglich. Wenn ein Hund bellte, ein Fuchs oder eine Füchsin sich hören ließ, suchten sie Schutz beieinander. Ein so entsetzliches Heulen hatten sie allerdings noch nie gehört. Es vibrierte noch geraume Zeit in ihren Ohren nach, nachdem das Echo längst verhallt war. Die Schwarzen Hügel schienen in einer Art Unbeweglichkeit erstarrt. Auch die Eule und der Regenpfeifer waren verstummt. Die Lebewesen des Waldes und der Felder schienen auf irgend etwas zu warten, wenn sie 47
auch nicht wußten, worauf. In längst vergangenen Zeiten hätten ihre Ahnen das Heulen als das eines beutesuchenden Wolfes identifiziert und sich in Sicherheit gebracht. Ihre modernen Nachfahren waren ahnungslos und rührten sich nicht. Philip hatte inzwischen herausgefunden, daß er sich mit größerer Schnelligkeit und Leichtigkeit auf allen vieren fortbewegen konnte. Er fühlte sich stark und kräftig; sein Blut raste ungeachtet der frostigen Nachtluft schnell durch seine Adern. Nur in seinem Inneren schien etwas nicht in Ordnung zu sein. Ein hohles Gefühl erfüllte ihn, eine Leere, die ihn auf die Lösung brachte. Er hatte rasenden Hunger. Er leckte sich mit der Zunge über die Lefzen, als er an Nahrung dachte. Es gab nur etwas, was seinen Hunger stillen konnte: frisches, bluttriefendes Fleisch. Seine Nüstern blähten sich, als er die Witterung der Schafe auf der angrenzenden Weide in die Nase bekam. Vorsichtig schlich er an der Hecke entlang, wobei er sich ständig im Schatten hielt. Plötzlich bewies er eine Geschicklichkeit, die seinen beschränkten Verstand bei weitem übertraf. Tierische Instinkte hatten die
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Funktion des menschlichen Gehirns übernommen. Das Mutterschaf hatte sich trotz des markerschütternden Geheuls den anderen Tieren in der Ecke der Weide nicht angeschlossen. Sein Zustand verbot ihm unnötige Bewegungen, und es vertraute darauf, sich im Notfall gegen einen angreifenden Fuchs wehren zu können. Trotzdem war es unruhig geworden. Einige Sekunden später machte es durch die klare, frostige Luft eine merkwürdige Witterung aus – es roch stärker nach Aas, als das gewöhnlich bei einem Fuchs oder Dachs der Fall war. Ein solcher Gestank war ihm noch nie in die Nase gekommen, es bekam Angst und bewegte sich aus dem Schatten der Hecke heraus, so daß ein unerwarteter Feind es wenigstens nicht aus dem Hinterhalt angreifen konnte. Vielleicht war es doch klüger, sich den anderen Schafen anzuschließen. Langsam wanderte das Tier in die Richtung. In seinem gegenwärtigen Zustand wollte es nicht rennen. Plötzlich sah es aus dem linken Augenwinkel eine Bewegung. Aus dem Schatten tauchte eine massive Gestalt auf. Fast schwerfällig kam etwas Schnaufendes, Grunzendes nä49
her. Der Schreck bannte das Schaf auf den Fleck. Jetzt war eine Flucht unmöglich geworden. Es blieb wie ein hypnotisiertes Kaninchen stehen. Vor Angst konnte es nicht einmal mehr blöken. Mit wenigen Schritten war die Bestie über ihm. Es bedurfte nur eines furchtbaren Schlages der riesigen Vorderpfote, um sein Genick zu brechen. Dann fiel die fürchterliche Kreatur über das so dringend ersehnte Mahl her. Philip erging sich in einer wahren Orgie von Freßlust und Grausamkeit. Seine klauengleichen Hände rissen an dem Opfer. Gierig stopfte er sich das warme, blutige Fleisch ins Maul und schluckte es befriedigt herunter. Das Blut rann triefend von seinen Lefzen auf sein neu gewachsenes Fell und verklebte es. Dadurch sah er noch schrecklicher aus als vorher. Als sein Hunger gestillt war, suchte er mit wildem Blick den Himmel über sich ab. Zum zweitenmal in dieser Nacht erbebten die Schwarzen Hügel vom Geheul dieses fürchterlichen Geschöpfes. Noch nie zuvor war zu mitternächtlicher Stunde die Welt hier so erschüttert worden. Ein Werwolf war aufgestanden.
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Philips Geschlechtstrieb meldete sich nun mit verstärkter Kraft. Während er über die Weiden strich, erschien eine Vision vor seinen verwirrten, blutrünstigen Augen. Er sah wieder Margaret Gunn nackt in ihrem Bad. Jetzt wußte er, was er tun wollte. Er mußte zu ihr und sie sich nehmen, wie es Gordon Hall getan hatte. Wenn sein Verlangen gestillt war, würde er sie quälen. Diese Vorstellung schien ihm weit mehr Befriedigung zu versprechen, als es das Schlagen des Schafes mit sich gebracht hatte. Der Hof der Gunns lag verlassen da, als er vorsichtig durch das offene Tor schlich und neben der Scheune anhielt, um zu lauschen. Er verhielt sich so leise wie möglich. Sein Jägerinstinkt warnte ihn, seine Anwesenheit durch das schreckliche Heulen anzuzeigen. Er wußte, wo sich die junge Frau befinden mußte. Sie würde hinter den Gitterfenstern im ersten Stock neben ihrem Mann im Bett liegen. Das bedeutete, daß er zuerst Vic Gunn töten mußte, aber das sollte kein Problem sein. Genaugenommen bereitete ihm der Gedanke sogar Vergnügen. Der Matsch unter seinen Pfoten war steif gefroren, wodurch es ihm möglich wurde, sich völlig geräuschlos zu bewegen, ohne die ge51
ringste Spur zu hinterlassen. Seine behaarte Vorderpfote packte den Knopf an der Hintertür und drehte ihn langsam herum. Die Tür war verschlossen. Sollte er die Glasscheibe einschlagen? Während er noch hin und her überlegte, wie er ins Haus kommen konnte, erklang von drinnen ein lautes Bellen. Pal, der Schäferhund der Gunns, war durch das Drehen am Türknopf wach geworden. Inzwischen hatte er auch die widerliche Ausdünstung der Bestie in die Nase bekommen. Nur wenige Zentimeter Holz trennten den Collie von dem Ungeheuer, das ihn mit einem einzigen Prankenhieb ins Jenseits befördern konnte. Aber davon hatte Pal keine Ahnung. Mit gesträubtem Fell und gefletschten Zähnen sprang er knurrend und bellend gegen die Holztür. Philip fuhr zurück. Auf einen solchen Ausbruch war er nicht vorbereitet. Unsicher überlegte er sich seinen nächsten Schritt. Oben im Schlafzimmer ging das Licht an. Sein verwirrtes Hirn versuchte einen klaren Gedanken zu fassen, aber im Gegensatz zu seiner hervorragenden körperlichen Verfassung hatte sich an seiner langsamen Denkweise nichts geändert. Sollte er einen Angriff 52
wagen? Vor dem tobenden Hund hatte er keine Angst, aber er erinnerte sich, daß es Dinge wie Gewehre gab. Er verspürte nicht das Bedürfnis nach einer solchen Kostprobe, noch dazu wenn der Schuß mit Sicherheit aus einem Schlafzimmerfenster abgegeben würde und er den Schießenden nicht erreichen konnte. Mit einem lauten, enttäuschten Aufheulen drehte er sich um und verschwand durch das Tor in die Felder. Er war müde; die Nacht hatte ihn angestrengt. Sein Instinkt sagte ihm, daß es jetzt an der Zeit wäre, wieder nach Hause zu laufen. Die Hintertür war unverschlossen, wie er sie gelassen hatte, als er das Haus verließ. Er wußte, daß seine Eltern aller Voraussicht nach seit seinem Weggehen fest geschlafen hatten. Mit einigem Glück würden sie gar nicht herausfinden, wann er zurückgekommen war. Falls sie ihn zufällig hereinkommen hörten und am nächsten Tag fragten, wo er so lange gewesen war, hatte er jederzeit passende Erklärungen parat. Es war nicht das erstemal, daß er sich auf der Suche nach einem verirrten Schaf verspätete, das den Zaun durchbrochen hatte und in den Schwarzen Hügeln herumwanderte. 53
Vorsichtig schloß er die Tür seines Schlafzimmers hinter sich und machte das Licht an. Seine Vernunft schien im Laufe der letzten halben Stunde zurückgekehrt zu sein, und damit erfaßte ihn ein eiskaltes Gefühl der Panik. Was war mit ihm geschehen? Was war das für eine seltsame Verwandlung, die bei Vollmond mit ihm vorgegangen war? Ihm wurde fast körperlich übel, als er sich erinnerte, wie er das Mutterschaf förmlich zerfleischt hatte. Ausgerechnet er, der Schafe liebte und einen Großteil seiner Zeit mit ihnen verbrachte. Da erblickte er plötzlich sein Bild im Garderobenspiegel. Eisige Finger griffen nach seinem Herzen. Seine Glieder schienen sich in Gummi zu verwandeln. Er hatte nur noch den einen dringenden Wunsch, zu sterben. War das wirklich sein Bild, das er da im Spiegel sah? Seine eigentlichen Gesichtszüge waren unter dem starken Haarwuchs fast nicht mehr zu erkennen, zumal das Fell vom Blut verklebt war. Dazwischen ragten statt Zähne lange gelbliche Hauer hervor. Seine Kleidung war zerrissen, die Nähte durch seine Verwandlung in ein riesiges Tier geplatzt und blutgetränkt. Von seinem eigenen Geruch wurde ihm übel. 54
Sein erster Gedanke war Flucht. Am besten zog er sich in die Schwarzen Hügel zurück und lebte dort wie ein Fuchs oder wie ein Wolf in einer Höhle. Als er diesen Gedanken weitersponn, wurde ihm klar, daß das unmöglich war. Man würde ihn von morgens bis abends mit Hunden und Gewehren jagen. Selbst wenn er den Menschen aus dem Wege ging, müßte er den Rest seines Lebens wie ein Ausgestoßener leben. Dem war ein schneller, gnädiger Tod vorzuziehen. Lag hier vielleicht ein Ausweg? Unten in der Küche stand das Gewehr seines Vaters, Patronen fänden sich im Küchenschrank. Er mußte nur laden, die Sicherung lösen und abdrücken. Dann wäre alles vorbei. Es ginge so schnell, daß er keinen Schmerz spüren würde. Um sich, wenn auch schmerzlos, zu töten, mußte man ein mutiger Mensch sein, und davon war Philip Owen weit entfernt. Am Ende seiner Überlegungen riß er sich die Überreste seiner stinkenden Kleidung vom Leibe, rollte sie zu einem unordentlichen Bündel zusammen und stopfte dieses unter das Bett. Das war sein Lieblingsplatz, wenn er unbequeme Sachen loswerden wollte. Morgen wollte er sich ihrer ganz entledigen.
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In seinem Kopf wirbelten die Gedanken durcheinander. Wie konnte er zum Beispiel seinen Eltern das veränderte Aussehen plausibel machen? Wie leicht konnte seine Mutter bei seinem Anblick einen Herzanfall erleiden. Mußte er sich vielleicht für den Rest seines Lebens verstecken und in seinem Zimmer verborgen bleiben, bewacht von Vater und Mutter, voller Angst, auch nur einen einzigen Schritt aus dem Hause zu tun und gesehen zu werden? Würden seine Eltern das überhaupt mitmachen oder würden sie ihn in eine Anstalt schicken? Würde ihn beim nächsten Vollmond wieder der unwiderstehliche Drang nach Vernichtung überkommen? Er fühlte sich schwach und ausgelaugt. Auch der letzte Funke Energie hatte ihn verlassen. Als er das Licht gelöscht hatte, stellte er fest, daß er kaum noch die Kraft aufbrachte, zu seinem Bett zu taumeln und sich auf die Matratze fallen zu lassen, daß die Sprungfedern erbebten. Weder Körper noch Geist konnten mehr ertragen. Die ersten Anzeichen der Morgendämmerung zeigten sich bereits am östlichen Himmel, als er einschlief und die Schrecken der Nacht vergaß. Er erwachte von einem Hämmern an seiner Schlafzimmertür und hörte seine Mutter mit 56
ihrem etwas schrillen walisischen Akzent ausrufen: »Philip, wach auf. Zeit zum Aufstehen. Dein Vater hat schon mit dem Frühstück angefangen.« »Ich komme schon.« Seine schnelle Antwort sollte die Mutter davon abhalten, ihren Kopf durch die Tür zu stecken, um nach ihm zu schauen. Die Ereignisse der vergangenen Nacht nahmen vage in seinem Kopf Gestalt an. Er hörte seine Mutter die Treppe hinuntergehen. Vielleicht hätte er gut daran getan, sie zurückzurufen und durch die verschlossene Tür den Versuch zu machen, ihr eine Erklärung zu geben. Merkwürdigerweise war nicht eine Spur von Müdigkeit zurückgeblieben, obwohl er doch viele Stunden Schlaf versäumt hatte. Statt dessen fühlte er sich regelrecht erfrischt. Allerdings hatte er länger als üblich geschlafen. Er stieg aus dem Bett und wandte sofort den Kopf ab, um sein Bild im Spiegel nicht sehen zu müssen. Davor hatte er Angst. Während er in seinem unordentlichen Schrank nach einem sauberen Arbeitsanzug suchte, stellte er zu seinem Erstaunen fest, daß seine Hände wieder mit normaler Haut bedeckt waren. Er wagte seinen Augen kaum zu trauen und hielt sich die Hände 57
dicht vors Gesicht. Es stimmte – das rauhe Fell war vollständig verschwunden. Etwas Merkwürdiges fiel ihm auf. Der dritte Finger an jeder Hand war über Nacht um über zwei Zentimeter gewachsen und stach weit hervor. Das war ihm unverständlich. Er wagte kaum, seiner neu erwachten Hoffnung zu trauen und drehte sich zum Spiegel um. Tiefe Erleichterung machte der Sorge Platz. Er war wieder normal. Keine Spur von Haar zeigte sich auf seinen Wangen, seine Zähne hatten wieder ihre übliche Form und Länge, und auch der ekelhafte Geruch war verschwunden. War das Ganze vielleicht nur ein langer, schrecklicher Alptraum gewesen, hervorgerufen durch seine wilden Phantasien? Es gab einen Weg, die Wahrheit herauszufinden. Er kniete nieder und griff unter das Bett nach dem Bündel mit der blutverschmierten Kleidung. Seine Finger fanden es und brachten es zum Vorschein. Es war leider real genug. Der Arbeitsanzug war zerrissen und an den Nähten aufgeplatzt. Das ganze Bündel war mit getrocknetem Schafsblut getränkt. Er hatte also nicht geträumt – es war wirklich passiert. Schnell schob er das Bündel 58
wieder unter das Bett. Wie er sich so verändert hatte, war ihm ganz und gar unerklärlich, noch was diese Verwandlung hervorgerufen hatte. Über eines war er froh. Noch war nichts Unwiderrufliches passiert. Vic Gunns totes Mutterschaf würden die Leute auf einen wildernden Hund zurückführen. Zum Glück war er nicht imstande gewesen, seine sexuellen Begierden zu stillen. Niemand hatte ihn in Wolfsgestalt zu Gesicht bekommen, und inzwischen sah er wieder normal aus. Jetzt gab es keinen Grund mehr, seinen Eltern die ganze Gesichte zu gestehen. »Philip«, rief seine Mutter laut von unten aus der Küche. Der Geruch von gebratenem Speck zog durchs Haus. »Wenn du nicht bald kommst, wird dein Frühstück kalt.« »Bin gleich da«, rief er erleichtert und begann hastig die saubere Kleidung anzuziehen. Philip hörte Vic Gunns aufgeregte und wütende Stimme vom Hof. Der Bauernsohn war damit beschäftigt, Heu vom Heuboden hinunter in die Scheune zu schaffen. Jedes Wort, das zwischen seinem Vater und Vic Gunn gesprochen wurde, war von seinem Standpunkt aus deutlich zu verstehen. Er 59
lehnte sich auf die Heugabel, spähte in den Hof hinunter und hörte aufmerksam zu. »Einen solchen Anblick kann man sich gar nicht vorstellen«, berichtete Vic Gunn mit vor Aufregung gerötetem Gesicht. Dann beschrieb er, wie er das zerfleischte Schaf auf seiner Weide gefunden hatte. »Seine Kehle war mit einem Prankenhieb herausgerissen. Ich habe so etwas noch nie gesehen.« Gwynne Owen zog nachdenklich an seiner kurzen Briar-Pfeife. »Klingt nach einem Rudel wildernder Hunde.« »Meinen Sie?« Der andere spuckte aus. »Ich kann mir nicht denken, daß es einen Hund gibt, der zu so etwas fähig ist. Dabei handelte es sich auch noch um ein Mutterschaf. Ich habe die ganze Geschichte sofort Konstabler Winter berichtet. Vermutlich wird er in den nächsten Tagen hier auftauchen und sich Notizen machen. Dann wird er einen Bericht schreiben, ihn weitergeben, und irgend jemand wird einen unwahrscheinlichen Schluß daraus ziehen. Dabei wird es dann bleiben. Ich sage Ihnen, Gwynne, kein gewöhnlicher Hund kann das Genick eines Schafes mit einem Hieb brechen und den Kadaver dreißig Meter weit schleppen.«
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»Und wenn es mehrere Hunde waren?« meinte Gwynne Owen. »Mag sein«, sagte Vic zweifelnd. Er war nicht überzeugt, daß die Erklärung so einfach war. »Und warum haben sie dann die übrigen Tiere der Herde nicht angerührt? Nicht ein einziges anderes Schaf wurde verwundet. Ich nehme sogar an, daß das Ganze gar nicht in Sichtweite der Herde geschah. Was immer das für eine Bestie war, sie schlug das Schaf, um ihren Hunger zu stillen, und zog dann weiter. Können Sie mir ein einzelnes Tier nennen, das zu so etwas fähig wäre?« »Das weiß ich allerdings auch nicht«, sagte der ältere Farmer verwirrt. »Jedenfalls hätte ich nie geglaubt, daß ich den Tag erleben würde, an dem die Schwarzen Hunde hier einen Besuch machen.« »Die Schwarzen Hunde?« fragte Vic Gunn. Der alte Farmer senkte die Stimme. Er schien Angst zu haben, daß die legendären Geisterhunde, deren Erscheinen Tod und Verhängnis für jeden bedeuteten, der sie zu Gesicht bekam, ihn hören konnten. »Ich kann mir nicht vorstellen, wer sonst dahinter stecken könnte, Vic. Nehmen Sie einen gu-
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ten Rat von mir an. Wenn die Hunde ein Schaf haben wollen, lassen Sie es ihnen.«
5. Philip Owen war der festen Überzeugung, daß seine merkwürdige Verwandlung bei Vollmond zu den übernatürlichen Dingen gehörte, gegen die man nichts tun konnte. Während er wie üblich seiner Arbeit nachging, fühlte er sich wieder normal. Genaugenommen war er kräftiger als je zuvor. Merkwürdig blieb die Tatsache, daß die dritten Finger an jeder Hand über Nacht so sichtbar gewachsen waren. Bis jetzt hatte noch niemand Notiz davon genommen. So oft es ihm möglich war, hielt er die Hände ineinander verschlungen. Andererseits waren seine Eltern keine Menschen, die eine besondere Beobachtungsgabe besaßen. Er wartete nach wie vor auf eine passende Gelegenheit, sich des verräterischen Kleidungsbündels unter seinem Bett zu entledigen. Bis jetzt hatte sie sich noch nicht geboten. Er beruhigte sein Gewissen damit, daß
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seine Mutter ziemlich selten unter das Bett schaute. Konstabler Winter, ein schwergewichtiger Mann mit rotem Gesicht, besuchte Ende der Woche die Farm. Er war fast immer gut gelaunt, geriet aber leicht in Panik, wenn die Dinge zu kompliziert für ihn wurden. Er versuchte jedes Problem auf die einfachste Weise zu lösen. Im vorliegenden Falle schien es ihm am leichtesten, einen unbekannten Hund mit einer Vorliebe für Schafe für die Gewalttat verantwortlich zu machen. »Da steckt mehr dahinter«, beharrte Gwynne Owen. »Denken Sie an die Schwarzen Hunde, die man zum letztenmal im Jahre 1773 gesehen haben will...« »Das können Sie halten, wie Sie wollen«, erwiderte der Konstabler, während ihm die Röte ins Gesicht stieg. »Meine Zeit ist knapp bemessen, Mr. Owen. Wenn wirklich diese Hunde das Schaf umgebracht haben, fallen sie sowieso nicht in meine Kompetenz. Man kann wohl kaum von mir verlangen, daß ich Geister einsperre, finden Sie nicht?« Die nächsten Wochen vergingen ohne besondere Vorkommnisse, und Weihnachten rückte näher. Philip Owen war seit jener 63
ereignisreichen Nacht nicht mehr bei Mondlicht unterwegs gewesen. Statt dessen war er zu seiner früheren Gewohnheit zurückgekehrt, sich abends im Schuppen zu beschäftigen. Nach Einbruch der Dunkelheit kümmerte er sich mehr um die Maschinen als um das lebendige Vieh. Der Schäferhund Loup hatte sich inzwischen eingelebt. Er war ein guter Wächter und schien das viele Geld, das man für ihn ausgegeben hatte, zu rechtfertigen. Seit einiger Zeit durfte er im Haus schlafen und war zum Liebling der Familie geworden, wenn er auch immer noch als Anführer der Schäferhunde fungierte. Philip Owens Bein war völlig verheilt. Von Zeit zu Zeit schmerzte es allerdings scheußlich. Er hatte fast das Gefühl, daß bei dem Biß Gift unter die Haut gedrungen war. Das konnte andererseits kaum der Fall sein, sonst wären die Nachwirkungen viel ernstlicher ausgefallen. Typisch für diesen rauhen Menschenschlag beschloß Philipp, sich nicht weiter darum zu kümmern. Der Vollmond im Monat Dezember ging als orangefarbener Ball über einer Landschaft auf, auf die gerade der erste leichte Schnee gefallen war. Als die Scheibe höher stieg und zwischen den Sternen stand, wechselte 64
ihre Farbe von Orange zu Silber. Sie funkelte mit den Sternen um die Wette auf die Kristalle des Schnees hernieder. In dieser Nacht schien es gar nicht ganz dunkel zu werden. Von Gwynne Owens Farm aus konnte man den Pen-y-Wern Steinkreis, einen uralten Druidenopferplatz, deutlich sehen wie bei Tageslicht. Philip ging an diesem Abend früh zu Bett. Gleichzeitig mit seinen Eltern stieg er die enge hölzerne Treppe hinauf. Heute hatte er nicht den Mut, einen Gang über die nächtlichen Weiden zu unternehmen. Das helle Mondlicht hatte die Ereignisse der Nacht, als er sich in einen Werwolf verwandelte, allzu wiederauferstehen lassen. Plötzlich fiel ihm ein, daß er unbedingt so bald wie möglich das stinkende und dreckige Kleiderbündel fortschaffen mußte, wenn es ihn nicht eines Tages doch noch verraten sollte. Als er das Licht löschte, war er davon überzeugt, daß er zumindest in dieser Nacht nichts anstellen würde. Irgendwann nach Mitternacht erwachte er auf. Das war für ihn ungewöhnlich. Wenn er einmal eingeschlafen war, schlief er normalerweise bis zum Morgen durch. In dieser Nacht fuhr er mit einem Ruck in die Höhe, 65
als habe ihn jemand angestoßen. Fluchend warf er die Decke fort. Er stand auf, ging zum Fenster und riß es weit auf. Er hatte früher das Gefühl nicht gekannt, eingeschlossen zu sein. Jetzt glaubte er einen Moment lang, daß er in seinem engen, dumpfen Zimmer ersticken müsse. Die Bettdecke hatte schwer und hart auf ihm gelastet. Da bemerkte er, daß seine Hände wieder groß und behaart waren. Die Arme schienen ihm muskulöser. Er sah an sich herunter. Da er niemals einen Schlafanzug trug, weil er dadurch beengt wurde, sah er auf den ersten Blick, daß sein ganzer Körper sich verändert hatte. Er unterdrückte gerade noch einen Schrei des Entsetzens, der mit Sicherheit seine Eltern dazu gebracht hätte, in sein Zimmer zu stürzen, um nach dem Rechten zu sehen. Dieselbe Verwandlung hatte wieder von ihm Besitz ergriffen. Er wandte sich dem Spiegel zu. Im Licht des ins Zimmer dringenden Mondlichts sah er sein Bild. Nichts an seinen Umrissen erinnerte noch im entferntesten an eine menschliche Gestalt. Er war wieder zu einem wilden Tier geworden. Ein Werwolf stand im Zimmer.
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Diesmal entsetzte ihn seine Verwandlung nicht mehr so wie in jener Vollmondnacht. Er erschrak zwar, geriet aber nicht in Panik. Eines wurde ihm augenblicklich klar. Er mußte hinaus, hinaus in die schneebedeckte, vom Mondlicht strahlend hell erleuchtete Landschaft. Er wollte töten, um seinen ungeheuren Hunger zu stillen. Er wollte frisches Blut kosten und sein Opfer mit seinen großen, messerscharfen Krallen zerreißen. Er mußte seinem Ruf folgen, ohne sich um die Konsequenzen zu kümmern. Minuten später hatte Philip vorsichtig auf allen vieren das Haus verlassen. Heute wandte er sich nicht in Richtung Norden, wo die Schwarzen Hügel lagen, sondern nach Westen zum Pen-y-Wern Steinkreis. Der alte Druiden-Opferplatz schien ihn mit magischer Gewalt anzuziehen. Schnaubend und knurrend lief er über die schneebedeckten Weiden. Seine Nüstern bebten und suchten den Geruch von etwas Eßbarem aufzufangen. Diesmal fiel es ihm leichter, sich schnell vorwärts zu bewegen. Die hinderliche Kleidung hatte er weggelassen. Er hatte sich in eine wilde Bestie verwandelt, die an Gefährlichkeit alle anderen Lebewesen weit übertraf. 67
Bald erreichte er die westlichen Weiden seines Vaters und übersprang mit einem gewaltigen Satz den rostigen Stacheldrahtzaun. Die Wiesen, auf denen er jetzt dahinstürmte, gehörten Morris Jones, einem der harten Männer aus der Generation seines Vaters. Jones hatte nur wenige Schafe, die unter einer Hecke auf einem angrenzenden Feld Schutz gesucht hatten. Philip hatte schnell ihre Witterung aufgenommen. Ein lautes, befriedigtes Knurren kam aus seinem Maul, seine Nüstern blähten sich erwartungsvoll. Als er sich den Schafen näherte, sprang ein Hase aus einem Nest von gefrorenen Zweigen. In seiner menschlichen Gestalt liebte Philip Hasenbraten über alles. Als Werwolf empfand er ihn als delikaten Appetitanreger für die Mahlzeit, die folgen sollte. Der Hase hatte einen Vorsprung von fünfzehn Metern und steigerte mit jeder Sekunde seine Geschwindigkeit. Das kam Philip wie eine Herausforderung vor. Er beschleunigte ebenfalls das Tempo, wobei er für seine langen Sätze die mächtigen Hinterbeine anspannte. Unglaublich schnell brachten ihn seine Sprünge auf dieselbe Höhe mit dem Hasen. Es ist unwahrscheinlich, daß das unglückli68
che Tier die Nähe seiner Verfolgers spürte. Jedenfalls sah er sich nicht um und war außerdem nur noch knapp zwanzig Meter von der rettenden Hecke entfernt, wo ihm mit Sicherheit die Flucht geglückt wäre. Da packte ihn eine gewaltige Pranke und warf ihn in die Luft. Sein furchtsames Quietschen hallte weit durch die klare Luft. Ein Funke hellen Entzückens zeigte sich in Philips kleinen, roten Augen. In seinen Ohren klang dieser Ausbruch des Entsetzens fast menschlich und begeisterte ihn. Endlich besaß er das, was ihm sein Leben lang versagt geblieben war, Macht über Leben und Tod. Wenn er jetzt seinen Griff lockerte und den Hasen fallen ließ, gab er ihm die Freiheit zurück. Wenn er dagegen ... Sein riesiges Maul öffnete sich, biß zu; das Tier zuckte und erschlaffte. Gierig trank er das Blut. Bald darauf ertönte vom Pen-y-Wern Steinkreis ein schreckliches Heulen, das bis zu den Schwarzen Hügeln reichte. Das Untier hatte in dieser Nacht das erste Blut geleckt. Aber sein Appetit war eben geweckt. Er dürstete nach mehr. Die Schafe auf der Weide hatten sich bei dem Geheul zusammengedrängt. Sie versuchten verzweifelt durch den Stacheldraht 69
zu entkommen, wobei sie Fell und Fleischfetzen hängen ließen. Philip beobachtete sie einen Moment, wobei er die Lage überdachte. Er stieg über den Zaun und näherte sich langsam den Tieren. Er hatte keinen Grund zur Eile. Sie waren in seiner Macht, er konnte sich sein Opfer in aller Ruhe aussuchen. Die ganze Herde befand sich in wildem Aufruhr, als Philip mit glühenden Augen und dumpfen Knurren langsam und bedächtig auf sie zukam. Ohne Rücksicht auf Verletzungen versuchten die Tiere immer wieder, sich durch den Stacheldraht zu zwängen. Eines fiel plötzlich um und blieb liegen. Sein Herz hatte offensichtlich dem Schock nicht standgehalten. Aber die mörderische Bestie warf keinen Blick darauf. Es wollte sich sein Opfer selbst aussuchen. Philip war nur noch wenige Meter von den Schafen entfernt, als sie blind vor Angst an beiden Seiten an ihm vorbeizupreschen suchten. Er hatte bereits ein Tier ins Auge gefaßt, so daß er nur auszuholen brauchte und ein strampelndes Schaf über seine Schulter hob. Die anderen hatten eine schwache Stelle im Zaun gefunden, ihn niedergetrampelt und rannten jetzt drüben auf die Weiden seines Vaters. Im Unterbewußt70
sein nahm Philip das zur Kenntnis und lächelte innerlich. Wenn er morgen seine menschliche Gestalt wiedergewonnen hatte, würde es ihn einige Mühe kosten, die Tiere auszusortieren. Für jetzt widmete er sich dem Schaf, das er geschlagen hatte. Er bedauerte, daß das Ganze so kurz und schmerzlos vor sich gegangen war. Das Töten hatte ihm kein großes Vergnügen gemacht. Beim nächstenmal wollte er sich geschickter anstellen. Er fraß, bis er nicht mehr konnte, wobei er sich wieder von oben bis unten mit dem Blut des Tieres besudelte. Als er schließlich satt war, verspürte er keine Lust, schon nach Hause zu gehen. Die Nacht war nicht weit fortgeschritten. Halb hatte er sich schon entschlossen, seine Schritte dem sauberen, kleinen Farmhaus zuzuwenden, in dem die Frau schlief, die er so heiß begehrte. Aber dann änderte er seine Ansicht. Es war ihm, als ziehe ihn der Steinkreis mit aller Macht an. Die Geister der alten Druiden riefen jemand aus seiner Generation zu sich. Vom Farmhaus am Fuße des Hügels ertönten Stimmen. Anscheinend war sein nächtliches Wirken nicht unbemerkt geblieben. 71
Jemand kam den Hügel herauf, um Nachforschungen anzustellen. Er konnte das Jaulen und Bellen von Hunden hören und beschleunigte seine Schritte. Bald hatte er die Bannmeile um den Druiden-Kreis erreicht. Die uralten Steine ragten spitz aus dem Schnee. Die Temperatur hielt sich um einiges unter dem Gefrierpunkt, aber Philips Blut strömte heiß durch seine Adern. Vor ihm kreuzte ein rauschender Gebirgsbach seinen Weg. Er lief in Kaskaden zu Tal, wo er die tiefer liegenden Höfe mit Wasser versorgte. Selbst an seiner weitesten Stelle erreichte er kaum anderthalb Meter. Philip sah keine Schwierigkeit darin, ihn mit einem Satz zu überspringen. Ebenso hätte er ihn durchwaten können, hatte aber keine große Lust, sich die Pfoten naß zu machen. Er ging langsam weiter. Kurz bevor er sich zum Sprung anschickte, wollte er das Tempo beschleunigen. Aber als er sich in die Luft schnellen wollte, wurde er abrupt gestoppt. Es kam ihm vor, als sei er gegen eine unsichtbare Barriere gesprungen, eine elektrische Sperre, die schmerzhafte Stöße durch seinen ganzen Körper jagte. Furcht breitete sich plötzlich in ihm aus. Es ging ihm wie jedem wilden Tier, das eine Erfahrung macht, 72
die es nicht verstehen kann. Was hatte ihn daran gehindert, den Bach zu überspringen? fragte er sich verzweifelt. Er fletschte die Zähne und stieß ein dumpfes Knurren aus, das defensiv und ängstlich klang. Irgend etwas warnte ihn, einen zweiten Versuch zu unternehmen. Der rauschende, funkelnde Bach zog seinen Blick auf sich. Da wußte er, daß das Wasser die Barriere darstellte, die er nicht überwinden konnte. Er zog sich einige Schritte zurück. Seit seiner Verwandlung in ein wildes Tier hatte er keine Angst mehr empfunden. Aber dieses glitzernde Wasser barg ungeahnte Schrecken für ihn. Automatisch zog er sich noch weiter zurück. Ganz dicht vor ihm lag der Steinkreis von Pen-y-Wern und war doch unerreichbar. Er schien sich über ihn lustig zu machen. Die toten Druiden hatten ihn nur gerufen, um ihn zurückzustoßen. Sie wollten ihm zeigen, daß er nicht die mächtigste Kreatur der Dunkelheit war. Plötzlich kam er sich verloren vor. Eine kurze Weile hatte er sich für allmächtig gehalten, um jetzt die Erfahrung zu machen, daß er nur ein Nichts darstellte. Eine solche Demütigung erschien ihm fast unerträglich. Eines aber hatte er in dieser 73
Nacht gelernt. Er konnte fließendes Wasser nicht überqueren. Auf dem Rückweg nach Hause machte er einen weiten Bogen um das Gebiet des Farmers Jones. Dort sah er Taschenlampen aufblitzen, hörte Männer rufen und Hunde bellen. Falls man das gerissene Schaf bis jetzt noch nicht gefunden hatte, konnte es jeden Augenblick geschehen. Er beeilte sich, den gefährlichen Ort hinter sich zu lassen. Als er den Abhang zur Farm seines Vaters hinunterlief, sah er plötzlich die vagen Umrisse eines anderen Geschöpfes vor sich. Wenn auch die Schatten der Hecken keine klare Sicht erlaubten, war ihm doch klar, daß es sich weder um einen Fuchs noch einen Hasen handeln konnte, dafür war das Tier zu groß. Philip blieb stehen. Er wollte so lange warten, bis das Geschöpf, was immer es sein mochte, eine beleuchtete Stelle erreichte und er ausmachen konnte, was es war. Das Wesen zeigte keine besondere Eile und bummelte vor sich hin, wenn es auch eine Spur zu verfolgen schien. Endlich konnte er die Umrisse identifizieren. Es handelte sich um einen großen schwarzen Hund, nämlich Loup.
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Während Philip noch dastand und seinen Augen nicht traute, rannte Loup hügelabwärts auf das Haus zu. Gleich darauf war der Hund seinen Blicken entschwunden. Aufs äußerste überrascht folgte er ihm. Seine nächtlichen Ausschweifungen hatten ihn todmüde gemacht. Er hatte nur noch einen Gedanken, sein Bett. Während er sich langsam dem Haus näherte, fragte er sich, auf welche Weise Loup es fertiggebracht hatte, aus dem Haus zu kommen. Vielleicht war er beim Schließen der Tür nachlässig gewesen und hatte sie angelehnt gelassen, als er dem an ihn ergangenen Ruf folgte, dem er gehorchen mußte, ob er wollte oder nicht. Wahrscheinlich bedeutete für einen Hund von Loups Intelligenz ein Türknopf kein besonderes Problem, solange der Schlüssel nicht herumgedreht war. Zu Hause angekommen stellte Philip fest, daß die Hintertür nicht offenstand. Er warf einen Blick in die Küche und fand Loup offensichtlich tief schlafend vor dem niedergebrannten Herdfeuer liegen. Auf allen vieren lief er die Treppe hinauf und ging zu Bett.
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6. Der Farmer Jones hämmerte am nächsten Morgen mit beiden Fäusten an die Tür, bevor die Familie Owen zum Frühstück heruntergekommen war. Philip vergewisserte sich zunächst im Spiegel, daß er sich wieder in sein altes Ich zurückverwandelt hatte, bevor er nach unten ging. Aus dem Zimmer, das unter dem seinen lag, hörte er laute Stimmen. Er war neugierig, welche Schlüsse der Nachbar aus seinen neuen Untaten gezogen hatte. »Haben Sie letzte Nacht denn gar nichts gehört?« fragte Jones. Er war ein kleiner Mann Anfang Sechzig, der sich leicht aufregte. Über den Arbeitsanzug hatte er ein Stück Sackleinwand gebunden. Gwynne Owen schüttelte bedauernd den Kopf. »Leider nein«, stellte er stoisch fest. »Von dem Augenblick an, an dem wir mit den Köpfen die Kissen berührten bis vor zehn Minuten, als wir aufstanden, haben wir fest geschlafen.« »Zuerst hat uns ein schreckliches Geheul geweckt«, sagte der Farmer. Er sah aus, als ob er die Angst noch nicht ganz überwunden 76
hatte. »Ich glaube nicht, daß etwas Natürliches einen solchen Lärm verursachen kann. Es klang wie eine Bestie, die sich aufbäumt. Das Geheul habe ich immer noch im Ohr. Wir liefen hinaus. Draußen auf der Weide fanden wir ein Schaf, das buchstäblich zerfleischt worden war. Daneben lagen drei tote Schafe, die keine Spur von Gewalteinwirkung zeigten. Sie waren vor Angst gestorben.« »Es dürfte also doch den Tatsachen entsprechen, was ich schon Vic Gunn und Konstabler Winter erklärt habe«, sagte Gwynne Owen ernst. »Die Schwarzen Hunde sind auferstanden.« »Glauben Sie das wirklich?« fragte Morris Jones ungläubig. »Allerdings«, bekräftigte der andere. »Schon mein Großvater hat mich zu seiner Zeit vor ihnen gewarnt: ’Wenn die Schwarzen Hunde auftauchen und Schafe reißen wollen, störe sie dabei nicht. Laß sie sich nehmen, was sie haben wollen. Wenn du sie an ihrem Vorhaben zu hindern suchst, endest du auf dem Friedhof, sagte Großvater. Wir können nur eins tun. Wir müssen die Schafe so nahe wie möglich zu unseren Höfen holen. Für einige
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wird es ohnehin Zeit, daß sie ein Dach über den Kopf bekommen.« »Zuerst müssen wir meine Schafe von Ihren trennen.« Jones’ Stimme hörte sich plötzlich sehr müde an. »Sie haben den Zaun niedergetrampelt und sind auf Ihre Weide geraten. Am besten informiere ich auch so bald wie möglich die Polizei.« »Damit verschwenden Sie nur Ihre Zeit«, stellte Gwynne Owen fest. »Aber das ist schließlich Ihre Sache.« Am folgenden Tag schien die Sonne an einem wolkenlosen, blauen Himmel und brachte den größten Teil des Schnees zum Schmelzen, ausgenommen den, der im Schatten lag. An diesem Tag hörte Gordon Hall zum erstenmal von den schrecklichen Dingen, die nachts auf den Schafweiden passierten. Er hatte den Morgen damit verbracht, in den Schwarzen Hügel Fuchsfallen aufzustellen. Dabei bediente er sich des Schnees, in dem sich die Lieblingswege von Meister Fuchs deutlich zeigten. Als er mit seiner Arbeit fertig war, begab er sich zu den tieferliegenden Farmen. Zuerst machte er einen kurzen Höflichkeitsbesuch bei den Gunns. Victor war anwesend 78
und hatte anscheinend auch nicht die Absicht, das Haus zu verlassen. Gordon mußte sich ein paar flüchtige Minuten mit Margaret stehlen, indem er sie in den Milchkeller begleitete, wo sie ihm ein Dutzend Eier zum Mitnehmen holen wollte. Während dieser Zeit beschäftigte sich Vic in der Scheune. »Wann können wir wieder Zusammensein?« fragte er leise und begann Eier aus dem Eimer zu nehmen und in einen Pappbehälter zu stecken. »Hoffentlich bald«, antwortete sie und erwiderte seinen schnellen Kuß und seine leidenschaftliche Umarmung. »Wenn Vic wieder für ein paar Stunden fort ist, stelle ich den alten gelben Plastikeimer ans Tor. Du weißt dann Bescheid. Ich wünschte, wir könnten uns öfter sehen.« Ihre Augen waren feucht geworden. »Es gibt wirklich keinen Grund, warum wir das nicht tun sollten«, antwortete er. Er ließ keinen Trick aus, die Affäre fortzusetzen. Eine Frau wie Margaret würde sich an jeden Strohhalm klammern, und er war schnell bei der Hand, ihr einen zu reichen. Als Hall den Milchkeller verließ, wurde er von Vic Gunn quer über den Hof angerufen. 79
»Haben Sie schon von dem Schaftöter gehört?« »Wovon?« Gordon Hall hatte keine Ahnung. Vic Gunn erzählte ihm in groben Zügen die Einzelheiten, wie man die getöteten Schafe auf seiner und Jones’ Weide gefunden hatte. »Gwynne ist der Meinung, daß man die Schwarzen Hunde dafür verantwortlich machen sollte«, fügte er hinzu. »Er hat auch Jones davon überzeugt. Konstabler Winter weiß wie üblich nicht, was er von der Geschichte halten soll. Was mich betrifft, ich bin Realist. Ich würde das Ganze eher einem großen Hund in die Schuhe schieben, der wild geworden ist. Vielleicht handelt es sich um einen deutschen Schäferhund oder etwas Ähnliches. Möglicherweise lebt er irgendwo in den Schwarzen Hügeln oder tief in einem Dickicht.« »Kann schon sein«, sagte Gordon Hall nachdenklich. Es waren weniger die Schafe, um die er sich Sorgen machte, als seine wilden Fasanen draußen im Wald. Ein wildernder Hund konnte in einem Jagdrevier eine Menge Unheil anrichten. Im Geist überlegte er, wie er der Situation Herr werden sollte. Später am Nachmittag stattete Gordon Hall Gwynne Owen einen Besuch ab. Er wollte 80
gern die Meinung des alten Farmers über die Geschehnisse hören. Nachdem Gwynne Owen ihm in alle Einzelheiten die Geschichte der Schwarzen Hunde erzählt hatte, hatte er das Gefühl, bei seinen Besuch einige neue Erkenntnisse gewonnen zu haben. Wenn er sich vorstellte, daß an der alten Legende vielleicht doch etwas den Tatsachen entsprach, war das die aufregendste Geschichte, die er je geschrieben hatte. Im Geist legte er sich einen Plan zurecht, wie er selbst der Sache nachgehen wollte. Er beschloß, niemand ein Wort davon zu erzählen. Die in den Hügeln lebenden Menschen waren unberechenbar. Sie konnten geheimnisvoll über Nichtigkeiten schweigen und etwas wirklich Bedeutendes ohne jedes Zögern in die Welt hinausposaunen. Jeder erzählte die Geschichte natürlich nur seinem Nachbarn und unter dem Siegel der tiefsten Verschwiegenheit, und in Rekordzeit war die Neuigkeit überall herum. Bei Einbruch der Dunkelheit machte sich Gordon Hall nicht auf den Heimweg. Normalerweise wäre er am Teich geblieben, bis der letzte Streifen Tageslicht am westlichen Himmel verschwunden war. Er hätte geduldig gewartet und auf den Zufall gehofft, daß 81
eine Wildente landen und Futter und einen nächtlichen Ruheplatz suchen wollte. Da der Teich sowieso zugefroren und damit die Chance, daß eine Ente kam, gleich null war, verbannte er den Gedanken daran als Zeitverschwendung. Er verstaute sein Jagdgerät sowie den Hund Remus in seinem Geländewagen und fuhr die sieben Meilen bis Knighton. Hier nahm er im besten Hotel ein luxuriöses, ausgedehntes Mahl ein und ließ sich nach dem Essen viel Zeit für einen Kaffee und Kognak. Der Vollmond würde erst in ein paar Stunden aufgehen, er hatte es also nicht eilig. Gesättigt und zufrieden fühlte er sich jeder Situation gewachsen, die in dieser Nacht in den Schwarzen Hügeln auf ihn warten mochte. In Wirklichkeit hoffte er geradezu, daß etwas passieren würde. Die Wälder und Wiesen lagen ruhig da, als Gordon auf den grasbewachsenen Wegen dahinspazierte. Es war kurz nach elf Uhr. Der Vollmond hing wie ein Lampion am frostklaren Sternenhimmel. Die Luft war bitterkalt. Bevor Gordon eine Meile gegangen war, hatten sich schon kleine Eiszapfen in den Läufen seiner Flinte gebildet. Wieder einmal war er froh über seinen dichten 82
Bartwuchs, der sein Gesicht etwas vor der Kälte schützte. Selbst ein Mann vom Kaliber Gordon Halls spürte eine gewisse Nervosität zu dieser nächtlichen Stunde in den Schwarzen Hügeln. Da er ein Mann war, der praktisch dachte, erwartete er einem großen, halbwilden Hund zu begegnen, der sich mehr vor ihm fürchtete als umgekehrt. Wenn er Glück hatte, konnte er das Tier vielleicht erschießen. Andererseits war ihm inzwischen die Legende von den Schwarzen Geisterhunden bekannt. Seiner Meinung nach gehörte das in die Mythologie. Angeblich mußte man sterben, wenn man einen zu Gesicht bekam. Aber kein Mensch wußte von einem Fall zu berichten, daß jemand wirklich einem solchen Hund begegnet war. All diese Geschichten gingen weit in die Vergangenheit zurück. Stets handelte es sich bei dem Opfer um einen Farmer oder Schaf Züchter, dessen Name niemand bekannt war. »Unsinn«, erklärte er laut, wobei er unbewußt versuchte, sich selbst Mut zuzusprechen. »Alles Unsinn«, wiederholte er. Remus sah mit einem Ausdruck von Verwunderung zu seinem Herrn auf. Was war ihm nur eingefallen, zu nächtlicher Stunde 83
durch die vertrauten Wälder zu streifen und laut mit sich selbst zu sprechen? Gordon war froh, daß er Remus mitgenommen hatte. So konnte sich niemand anschleichen und ihn hinterrücks überfallen. Ein Schauder lief ihm über den Rücken, und er bemühte sich, seine Gelassenheit zurückzugewinnen. Er hatte sich noch nie im Leben vor etwas gefürchtet und wollte nicht ausgerechnet jetzt damit anfangen, nur weil ein alter Farmer sein Garn gesponnen hatte. Endlich erreichte er seinen Bestimmungsort. Nach einiger Überlegung hatte er sich während des Essens für einen Platz entschieden, wo vier Waldwege zusammentrafen, die nach allen vier Himmelsrichtungen hin die Schwarzen Hügel durchquerten. Hier wollte er die Nacht über wachen. Von diesem Punkt aus hatte er einen hervorragenden Ausblick auf die Schafweiden, gab es hier doch einen kleinen Sandhügel, der noch vom Straßenbau vor fünf Jahren herrührte. Ein paar Büsche boten genügend Deckung. Ein Beobachter konnte sehen, ohne selbst gesehen zu werden. Außerdem bedeuteten die Pflanzen zusätzlichen Schutz in einer eiskalten Nacht wie dieser.
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Gordon prüfte, ob sein Gewehr geladen war, und lehnte es vorsichtig neben sich. In jeder Kammer steckte eine der weittragenden Patronen, mit denen er gelegentlich schon einen Fuchs auf fünfzig Meter Entfernung getroffen hatte. Er hoffte sicher, daß sie ihre Wirkung auch bei dem wilden Hund tun würden, auf den er wartete. Auf seine Schießkünste konnte er sich im allgemeinen verlassen. Jetzt mußte er nur das Tier zu Gesicht bekommen. Remus lag an seine Beine gepreßt und suchte offenbar die Wärme des menschlichen Körpers. Er fühlte, wie der Hund zitterte, was er einerseits auf die Aufregung der Jagd, andererseits auf die Kälte zurückführte. Was ihn selbst anbelangte, so war er mehr als froh, daß er daran gedacht hatte, vor dem Verlassen des Hotels in Knighton seine Taschenflasche mit Kognak füllen zu lassen. Unter der Feldjacke trug er zwei Pullover übereinander. Trotzdem spürte er die durchdringende Kälte. In seinen Ohren hatte er schon seit einiger Zeit kein Gefühl mehr. Plötzlich gellte ein Schrei durch die Nachtluft, ein Geräusch, das sein ganzes Nervensystem erschütterte. Remus sprang auf, die Rückenhaare gesträubt, ein dumpfes Grollen 85
in der Kehle. Der Schrei war aus einen Haufen getrockneter Zweige gekommen, kaum fünfzig Meter von Gordon Hall entfernt. Der Laut kam so unerwartet, daß er blitzschnell das Gewehr hochriß und den Sicherheitshebel löste. Das Farnkraut rauschte und bewegte sich. Ein Geschöpf bewegte sich dort. Er legte das Gewehr an und richtete den Lauf auf die Stelle, wo jeden Augenblick das Tier zum Vorschein kommen mußte. Eben trat es aus dem Gebüsch, war aber von den Schatten derRottannen noch halb verdeckt. Gordons Finger lagen am Abzug und lösten sich erst, als er die buschige Rute des Tiers identifizierte. Eigentlich hätte er den Schrei sofort erkennen müssen. Vermutlich hätte er das auch getan, wenn seine Gedanken von dem wilden Hund und den Geschichten über seinen geisterhaften Rivalen nicht so vernebelt gewesen wäre. Vor ihm stand eine Füchsin, die sich offensichtlich nicht darüber klar war, wohin sie sich wenden sollte. Ihr Schrei hatte einem männlichen Fuchs gegolten, der sich möglicherweise in Hörweite befand. Im Dezember begann die Zeit der Paarung. Gordon fühlte sich versucht, auf der Stelle einen Schuß auf sie abzugeben. Er hätte damit vermutlich für 86
sich ein paar Fasanen und den umliegenden Farmern eine ganze Anzahl Hühner gerettet. Andererseits konnte man einen Schuß in den einsamen Hügeln meilenweit hören. Er hätte also seine Wacht sofort aufgeben können. Sie hätte vermutlich keinen Erfolg mehr gehabt. Irgendwo, ungefähr eine halbe Meile entfernt, bellte ein männlicher Fuchs seine Antwort auf das nervtötende Geschrei der Füchsin. Sie stellte die Ohren und schien dann plötzlich mit dem Untergrund zu verschmelzen. Wenigstens ihr nächtliches Vorhaben schien von Erfolg gekrönt. Es war wieder ruhig geworden. Gordon sehnte sich nach einer Zigarette, befürchtete aber, daß der Duft des Tabaks seinen unbekannten Gegner warnen könnte. Anscheinend hatte er noch eine lange Nacht vor sich. Als er das nächstemal auf die Uhr sah, zeigte das erleuchtete Zifferblatt Viertel nach zwei. Er seufzte tief. Auch seine Füße waren inzwischen gefühllos geworden und prickelten. Er begann darüber nachzudenken, ob seine Suche nicht vielleicht wie das Hornberger Schießen ausgehen würde.
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Außerdem konnte er sich eine ganze Menge Arten vorstellen, die nächtlichen Stunden auf angenehmere Art und Weise zu verbringen, zum Beispiel mit einer befriedigt schlafenden Frau neben sich, vielleicht sogar Margaret Gunn. Das erste Anzeichen dafür, daß sich auf der anderen Seite der Lichtung etwas zwischen den Bäumen bewegte, gab Remus. Er hob plötzlich den Kopf und knurrte fast geräuschlos warnend vor sich hin. Aber anstatt sich vorzudrängen, wie er das bei der Füchsin getan hatte, versteckte sich der Labrador-Hund jetzt hinter seinem Herrn, wobei er am ganzen Leibe bebte, diesmal aber offensichtlich vor tödlicher Angst. Gordon legte seine linke Hand dem Hund auf die Nase, um ihn davon abzuhalten, ein Geräusch zu machen. Mit der rechten hob er das Gewehr. Er nahm eine Stellung ein, in der er schießen konnte, und löste zum zweiten Male in dieser Nacht den Sicherungsbügel. Wieder hörte Gordon Hall, daß sich etwas schnaufend durch das Unterholz bewegte. Remus preßte sich mit aller Macht an sein Bein. Gordon bekam Angst, daß der verängstigte Hund winseln könnte.
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Das unbekannte Tier hielt sich etwa dreißig Meter entfernt von ihm auf und stöberte auf einem kleinen Hügel zwischen etlichen Nadelbäumen herum. Langsam bewegte es sich in seine Richtung. An dem Geräusch erkannte er sofort, daß es sich um ein größeres Tier als einen Fuchs handelte. Ein Gedanke schoß ihm plötzlich durch den Kopf. Falls er trotz seines Doppellaufs das Tier verfehlte und nur verwundete, was war dann? Würde es ihn angreifen? Womöglich schoß er bei der Nervosität, die inzwischen auch von ihm Besitz ergriffen hatte, überhaupt daneben. Ein Tier, das mit einem Prankenschlag einem Schaf das Genick brechen konnte, war kein zu unterschätzender Gegner. Remus drängte sich womöglich noch enger an ihn. Die unteren, fast auf dem Boden liegenden Zweige teilten sich, und das Tier kam zum Vorschein. Bis jetzt konnte Hall nur zwei große leuchtende Augen ausmachen, die das Mondlicht reflektierten. Der Körper blieb im Dunkel dahinter verborgen. Gordons Finger lag am Abzug. Plötzlich war er ruhig und gelassen wie immer. Er wußte, daß er nicht danebenschießen würde. Langsam drückte er ab, hörte den Schuß und 89
spürte den harten Rückstoß. Ein zweiter Schuß war nicht mehr nötig. Ein schwerer Körper löste sich aus dem Dickicht, rollte durch Zweige und Gras den Hügel hinab und blieb schließlich leblos auf der unebenen Waldstraße liegen. Das Tier war groß und schwarz. Eine rote Zunge hing aus dem offenen Maul. Eine Lache purpurroten Blutes bildete sich um den Kopf herum auf der Straße. Kaninchenkadaver war dem Tier aus dem Maul gefallen. Gordon Hall sah verwundert auf die gewaltige Masse hinunter, die tot zu seinen Füßen lag. Automatisch warf er die leere Patronenhülse ins Gebüsch. Remus weigerte sich entschieden, näher zu kommen. Er hatte sich von Anfang an vor Loup gefürchtet.
7. Als Philip Owen am nächsten Morgen zum Frühstück herunterkam, war er mehr als erstaunt, Gordon Hall bei seinen Eltern am Tisch sitzen zu sehen. Was zum Teufel will der hier so früh am Morgen? fragte er sich insgeheim. 90
»Guten Morgen, Philip«, begrüßte ihn sein Vater mit halb erschüttertem, halb beschämten Gesicht. Er sah wie ein Professor aus, dessen Lieblingstheorie soeben widerlegt worden war. »Mr. Hall hat die Nacht in den Schwarzen Hügeln verbracht. Er hat dort das Tier erschossen, das hinter unseren Schafen her war.« Was ist er doch für ein Lügner, dachte Philip. Was will der Schuft damit eigentlich erreichen? Eher hat er die Nacht im Bett eines Mädchens verbracht. Das dürfte die Jagd sein, der er sich heute nacht gewidmet hat. Laut fragte er: »Wirklich?« »Es war Loup«, klärte ihn sein Vater auf. Philip brauchte geraume Zeit, bis er die Bedeutung dieser Worte erfaßte. »Loup war das Tier, das die Schafe umgebracht hat«, fuhr Gwynne Owen fort. »Deshalb wollte ihn wohl auch der deutsche Schäfer loswerden. Vermutlich konnte er ihm seine Schafe nicht mehr anvertrauen. Dann suchte und fand er einen Dummen, dem er den Hund verkaufen konnte und der ihm viel Geld für ihn bezahlte, nämlich mich. Wenigstens haben wir noch Glück gehabt. Es hätte noch schlimmer kommen können. Das Tier hätte noch weit mehr Unheil anrichten 91
können, bevor jemand herausfand, wer der Täter war. Wir müssen uns bei Mr. Hall bedanken, daß er sich in den Schwarzen Hügeln auf die Lauer legte und Loup erschoß.« Rote Nebel tanzten vor Philips Augen. Am liebsten hätte er laut geschrien wie ein Kind. Er hatte die größte Lust, diesem bärtigen Frauenverführer mit beiden Fäusten ins Gesicht zu schlagen. Wie konnte er ihm so ruhig gegenübersitzen und Tee trinken? »Das kann nicht sein«, sagte Philip mit erstickter Stimme. Tränen der Trauer und der Wut traten in seine Augen. »Loup hätte keinem Lamm etwas zuleide getan. Das einzige, was er jagte, waren Kaninchen.« Philip Owen und Gordon Hall sahen sich starr in die Augen. Der Haß zwischen ihnen beruhte auf Gegenseitigkeit. Philip war von dem Wunsch besessen, diesen Mann zu töten. Er wollte ihm an die Kehle fahren, ihn verstümmeln und dann seinen zerschundenen Körper Margaret zeigen, bevor er sie vergewaltigte. Er glaubte fest, daß sie sich ihm dann hingeben würde. Minutenlanges Schweigen entstand. Philip ignorierte seinen Platz am gedeckten Frühstückstisch, packte seinen Overall und ging hinaus in den Schuppen. Seit jener Nacht, 92
als er den Hund draußen auf den Feldern getroffen hatte, wußte er, daß das Tier die Kaninchenjagd liebte. Er konnte sich sein Leben ohne Loup nicht mehr vorstellen. Gordon Hall hatte auch nicht den leisesten Zweifel an der Schuld Loups gelten lassen. Philip verbrachte den größten Teil des Tages mit Arbeit, so weit wie möglich von seinem Vater und der Farm entfernt. Seine Eltern sollten nicht sehen, daß die Angelegenheit schmerzlich für ihn war, daß er weinte. Dann dachte er wieder an sein eigenes Schicksal. Warum verwandelte er sich bei Vollmond in einen Werwolf und mußte töten? Gab es keinen Weg für ihn, dem Zwang zu entgehen? Wenn es ihm doch gelänge, jetzt sofort Schluß zu machen! Dann wären die Farmer leicht davon zu überzeugen, daß die wilde Bestie, die die Schafe geschlagen hatte, Loup gewesen war, den Gordon Hall erschossen hatte. Die Jagd würde abgeblasen. Wenn er jetzt aufhörte, würde die Wahrheit nie ans Tageslicht kommen. Aber wie war das möglich? Es dauerte nicht lange, bis wieder Vollmond war. Dann wußten die Leute nur allzu schnell, daß der Killer noch unterwegs war,
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daß Gordon Hall den Falschen erschossen hatte. Wo sollte das alles enden? Immer wieder ging ihm die Frage durch den Kopf, warum ausgerechnet er verflucht war. Klares Denken machte ihm wie immer Mühe. Er konnte zwar nicht lesen, erinnerte sich aber vage in seinen armen, verwirrten Hirn an ein Horror-Comic-Heft, das einer seiner Vettern letztes Jahr zu Weihnachten mitgebracht hatte. Da es nur aus Bildern bestand, hatte er dem Fortgang der Geschichte ohne Mühe folgen können. Sie handelte von einem Werwolf, einem Burschen, der bei Vollmond herumstromerte, Leute überfiel und ermordete und schließlich sein Ende gefunden hatte, als jemand ihn mit einer silbernen Kugel niederschoß. Er versuchte sich daran zu erinnern, wie es dazu gekommen war, daß der Betreffende zu einem Werwolf wurde. Plötzlich fiel es ihm wieder ein. Er war von einem anderen Werwolf gebissen worden, hatte sich sozusagen mit einer Krankheit angesteckt. Das konnte doch aber bei ihm nicht der Fall sein. Das einzige Tier, das ihn im Laufe der letzten Wochen gebissen hatte war Loup, und der war harmlos ...
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Peter Pike war ein gutaussehender junger Mann mit rotblondem, lockigem Haar. Er hatte weitaus erfreulichere Dinge im Kopf, als der arme Bauernsohn Philip Owen, der sich vor dem nächsten Vollmond fürchtete. Einige Tage nach Weihnachten nahm Pike bei der Familie Jones Quartier. Seine eigentliche Heimat war Portsmouth, doch hatte er dort keine Gelegenheit gefunden, den Beruf des Farmers und Schafzüchters zu erlernen. Also gab er in einer Fachzeitung ein Inserat mit folgendem Text auf: »Kräftiger und arbeitswilliger junger Mann sucht Arbeit auf einem Hof gegen freie Wohnung, Kost und geringes Entgelt.« Morris Jones hatte sich gemeldet, da er Hilfe brauchen konnte. So erschien Peter Pike auf seiner 500 ccm schweren Maschine wie ein Orkan in Llanadevy. >Pikey< war da ! Außer für seinen Beruf als Bauer interessierte sich Pike nur für zwei Dinge im Leben. Das eine war sein Motorrad, das andere »Vögel«, wobei er von den echten gefiederten Gesellen und ihrer Vielfalt nur eine geringe Ahnung hatte. Im abgelegenen Shropshire fand er allerdings nur begrenzte Möglichkeiten, seinem Interesse zu frönen. Optimistischerweise hatte er bisher stets 95
geglaubt, daß es überall Mädchen gäbe und daß man sich nur nach ihnen umsehen müßte. Seine Vorstellungen in dieser Beziehung lagen auf einer ähnlichen Linie wie die Gordon Halls, wenn er sie auch nicht so rücksichtslos verfolgte. Das Schicksal hatte es bestimmt, daß sich ihre Wege kreuzen sollten. Pike war auf der Farm ein sehr tüchtiger Arbeiter. Morris Jones hatte keinen Grund, sich über ihn zu beklagen. Er rackerte sich von früh bis spät ab, beschwerte sich niemals, suchte nach jeder Arbeit, die er fertiggestellt hatte, sofort die nächste und führte jede ihm übertragene Aufgabe mit der größtmöglichen Genauigkeit und Schnelligkeit aus. Nach der Teestunde allerdings war er der Meinung – die ihm niemand bestritt -, daß ihm die restliche Zeit des Tages zur freien Verfügung stand. Er half noch Mrs. Jones das Geschirr in die Küche zu tragen. Dann ging er in sein Zimmer, um sich in seine »Ausgehkluft« zu werfen. Diese bestand aus einer schwarzen Lederjacke, die er mit einem breiten Gürtel zusammenhielt, dunkelblauen Jeans und knielangen, schwarzen Lederstiefeln. So angezogen war Peter Pike
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seiner Meinung nach für die Jagd bestens gerüstet. Mrs. Jones schüttelte verwirrt den Kopf, als sie das erstemal sein Motorrad im Hof anspringen und dann mit ohrenbetäubendem Aufheulen in der Dunkelheit verschwinden hörte. Meist war die Familie Jones schon lange im Bett, wenn er zurückkam. Immer aber stellte er oben am Hügel bereits den Motor ab und ließ die Maschine im Leerlauf den Berg hinunterrollen. Dann schob er sie fast geräuschlos in den Hof, stellte sie in die Scheune und stahl sich die Treppe zu seinem Zimmer hinauf. »Als ob wir keinen Fernsehapparat hätten«, meckerte Mrs. Jones eines Abends ihren Mann an, nachdem Peter wieder einmal mit Donnergetöse verschwunden war. »An sich sollte man annehmen, daß jemand, der den ganzen Tag draußen in der frischen Luft arbeitet, am Abend froh über ein warmes Haus ist. Wo fährt er eigentlich immer hin? Wenn er so weitermacht, wird er noch eines Tages in irgendeinen Schlamassel geraten.« Mr. Jones knurrte etwas Unverständliches vor sich hin und gab keine Antwort. Er erin97
nerte sich mit großem Vergnügen an die Tage seiner eigenen Jugend. Er hatte seinerzeit allerdings leider nur ein altes, rostiges Fahrrad zur Verfügung gehabt, um seine Eroberungen zu machen. Der Junge hatte verdammtes Glück, dachte er, ohne es auszusprechen. Im großen und ganzen fand Peter es in dieser abgelegenen Gegend weit schwerer als in Portsmouth, eine entsprechende Beute zu erjagen. Das hatte er sich nicht so vorgestellt. In Portsmouth hatte das Donnern des Motorrades und ein anerkennendes Pfeifen meist genügt, um die Aufmerksamkeit des einen oder anderen Mädchens auf sich zu ziehen. Inzwischen hatte er die meisten Orte in dem Umkreis, den man mit einem Motorrad leicht erreichen konnte, abgeklappert. Er war in Clun, Knighton und Bishop’s Castle gewesen, hatte aber nur in einem einzigen Fall Erfolg gehabt. Und das war an letzterem Ort an einem Samstagabend. Als er am anderen Morgen aufwachte und die Situation überdachte, hatte er beschlossen, sich an diesem Ort lieber so schnell nicht wieder sehen zu lassen. Das Mädchen war zwar das Beste, was er nach einer langen, ermüdenden Suche auftreiben konnte, aber er war 98
schon ziemlich verzweifelt gewesen, und das Resultat war dementsprechend. Trotzdem ließ er die Hoffnung nicht sinken, daß er irgendwann das finden würde, was er wirklich suchte. Als der Januar herannahte, wurden die Temperaturen draußen wieder milder, und während der Zeit des Vollmonds war die Luft fast frühlingsmäßig warm. Die Sonne schien fast heiß vom Himmel, und eine Woche lang genossen die Hügelbewohner einen Aufschub von den Tücken des Winters. Die Lammzeit war in vollem Gange, und es gab verhältnismäßig wenig Verluste. Jedermann mit Ausnahme von Philip Owen machte dafür die Schießkünste von Gordon Hall verantwortlich. Er hatte die Bestie zur Strecke gebracht, die zu dieser Zeit im Jahr großes Unheil unter den Herden anrichten konnte. Dem einen oder anderen war inzwischen aufgefallen, daß Gordon Halls Wagen immer dann im Hof parkte, wenn sich Victor Gunn auf dem Markt befand. Die Leute hatten diese Tatsache zwar zur Kenntnis genommen, aber Vic nichts davon gesagt. Gordon Hall war ihr Held der Stunde. Genau zu diesem Zeitpunkt erschien ein Gast auf der Farm der Familie Jones, um 99
nachträgliche Weihnachtsferien zu verleben. Jennifer Hughes, die Nichte, war achtzehn Jahre alt, dunkelhaarig, zierlich und alles in allem ein gewinnendes, vitales Persönchen. Ihre Eltern hatten den Entschluß gefaßt, daß ihrer Tochter ein paar Wochen auf dem Lande gut täten. Und so traf sie an einem Freitagnachmittag von Cardiff kommend in Llanadevy ein. Schon während der Teestunde am ersten Abend ihrer Ankunft änderte Peter Pike seine Pläne für die nächste Zeit. Er wollte mehr zu Hause bleiben. Falls es in der Umgebung noch irgendwelche erstrebenswerten Mädchen gab, die er nicht zu Gesicht bekommen hatte, konnten die ruhig warten. Mrs. Jones ließ vor Erstaunen fast eine Schüssel mit Ragout fallen, als er ihr sein Vorhaben betont gleichmütig mitteilte. Ihr Mann lächelte in sich hinein und schwieg. Das versprach eine interessante Zeit zu werden. Nachdem man den Tee eingenommen hatte, setzte sich Peter neben Jennifer auf das Sofa. Er versuchte vor dem verschwommenen Bild des Fernsehers, der in dieser abgelegenen Gegend keinen besseren Empfang lieferte, wenigstens einen einigermaßen inter100
essierten Eindruck zu erwecken. Es war ihm nicht unlieb, daß das Bild nicht besser war. Dadurch erlosch Jennifers Interesse bald, und er fand Gelegenheit, sich mit ihr zu unterhalten. Irgendwann kam zwangsläufig sein Lieblingsthema zur Sprache, das Motorrad. Er beschrieb ihr alle Einzelheiten in den leuchtendsten Farben, wobei es ihm nichts ausmachte, seine Eigenschaften doch etwas zu übertreiben. Als er einen Funken Interesse in ihren großen, dunklen Augen aufblitzen sah, ermutigte ihn diese Entdeckung. »Das ist ja toll«, sagte sie lächelnd. »Ich liebe Motorräder. Vor einiger Zeit hatte ich einen Freund, der eines besaß. Ich bin oft mit ihm gefahren. Das fand ich aufregender als die alten, stickigen Autos.« Eine halbe Stunde später stand sie neben ihm in der Scheune und sah zu, wie er die Maschine vorführte und dabei ununterbrochen redete. »Ich würde mich gar nicht wundern, wenn Sie zu den berüchtigten Hell’s Angels gehörten«, spottete sie schließlich. »Wir haben eine Menge solcher Typen in Südwales, besonders an den Sommerwochenenden.«
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»Wundern Sie sich nur«, sagte er. Dann fuhr er fort: »Warum machen wir nicht morgen abend zusammen eine kleine Spritztour? Das Wetter sieht so aus, als ob es sich noch ein paar Tage hält. Wir könnten nach Shrewsbury fahren. Dort gibt es gerade einen Horrorfilm.« »O ja, gern.« Sie kicherte vor Entzücken bei der Vorstellung, daß ihr anscheinend während der nächsten Tage ihres eintönigen Lebens auf der Farm einige Abwechslung bevorstand. »Ich liebe Horrorfilme, vor allem, wenn sie von Vampiren, Werwölfen und ähnlichem Gelichter handeln. Ich glaube, sie gefallen mir so gut, weil sie so unwirklich sind.« »Also fahren wir morgen abend nach Shrewsbury«, sagte Peter bestimmt, um ihr jede Möglichkeit zu verbauen, ihren Entschluß noch einmal zu ändern. Er drehte das Licht in der Scheune aus, und sie begaben sich zum Haus zurück. Lachend und Witze reißend gab er Jennifer einen kleinen Klaps auf den Popo, wo er seine Hand ein oder zwei Sekunden länger ruhen ließ, als schicklich war. Das fühlte sich wirklich sehr hübsch an. Sie lachte und schlug seine Hand spielerisch zur Seite. Er wagte 102
fast nicht an sein Glück zu glauben, hier im Haus gefunden zu haben, wonach er schon so lange suchte. »Ihr seid wohl total verrückt geworden«, sagte Mrs. Jones am nächsten Tag zur Teezeit, knallte die Teller ärgerlich auf den Tisch und sah Jennifer mißbilligend an. »Du willst dich auf den Rücken dieses -« sie suchte nach einem passenden Wort – »Apparates setzen. Was würden deine Eltern dazu sagen?« »Sie würden es vermutlich für eine gute Idee halten«, antwortete Jennifer mit einem mutwilligen Glitzern in den Augen. »Weißt du, Tante Evelyn, ich habe nämlich schon öfter auf einem Motorrad gesessen.« Es wurde kein weiteres Wort darüber verloren, und die Mahlzeit ging in verlegenem Schweigen zu Ende. Als das Geschirr abgewaschen war, warf sich Peter in seine Motorradkleidung, während Jennifer einen dicken, warmen Rollkragenpullover und purpurrote lange Hosen anzog. Als er die Kleidung wechselte, lugte Peter aus seinem Zimmer. Die Tür zu Jennifers Raum stand eine Handbreit offen. Er sah einen großen Spiegel an der Wand. Peter fielen fast die Augen aus dem Kopf. Er sah im 103
Spiegel in voller Lebensgröße das Mädchen, das sich gerade auszog. Nichts blieb ihm verborgen, weder ihre bezaubernd geformten Brüste, noch die perfekten Kurven ihrer Hüften. Als sie jetzt auch noch die Hosen wechselte, kannte seine Begeisterung keine Grenzen. Leise schloß er die Tür. Die Fahrt über dreißig Meilen bis Shrewsbury führte über schmale, gewundene Sträßchen und dauerte ungefähr eine Dreiviertelstunde. Jennifer saß mit einer Sicherheit hinter ihm auf dem Motorrad, die einige Erfahrung auf diesem Gebiet verriet. Entzücken erfüllte ihn, als sie ihm die Arme um die Taille legte und ihr Gesicht gegen seinen Rücken preßte. Der Film war ziemlich spannend und endete mit der üblichen Jagd über Leben und Tod, wobei der Werwolf die Heldin fast erwischte, bis der Held ihn im allerletzten Moment mit seinem für diesen Zweck extra mit einer Silberkugel geladenen Revolver niederstreckte. Jennifer schien die Angelegenheit Spaß zu machen. Sie wehrte sich nicht, als Peters Hand die ganze Vorstellung über auf ihrem Oberschenkel liegen blieb. Gelegentliche heiße Küsse erwiderte sie ohne Hemmun104
gen. Irgendwann fuhr ihm der Gedanke durch den Kopf, ob sie wohl noch Jungfrau war. Das würde er wissen, bevor die Nacht endete und er zu Bett ging, dachte er. Falls sie es wirklich jetzt noch sein sollte, sprachen alle Anzeichen dafür, daß sich dieser Zustand geändert hatte, wenn sie Llanadevy erreichten. Er grinste über das ganze Gesicht, als sie das Kino verließen.
8. Ohne jede Eile tranken sie in einem kleinen Lokal in der Nähe des Kinos eine Tasse Kaffee. Peter sah auf die Uhr. Es war halb zwölf. Vermutlich mußten sie morgen früh ein wenig lügen, wenn man sie fragen sollte, wann sie zurückgekommen waren. Bereits seit einiger Zeit dachte er über einen geeigneten Platz nach, wo sie auf dem Rückweg einen kleinen Halt einlegen konnten. Da kam ihm die Erleuchtung. Der Farmer Jones besaß oben am Hügel eine alte Scheune. Sie war mit Heu und Stroh gefüllt, das als Schafsfutter diente, wenn der 105
Schnee zu hoch lag, um mit Traktor und Anhänger den Hügel hinaufzukommen. Dort würde es warm sein, fast so warm wie im Bett. Auch auf der Rückfahrt beeilte sich Peter nicht besonders. Er war in Gedanken bereits bei den Dingen, die ihm bevorstanden. Endlich tauchte im Scheinwerferlicht des Motorrads die Scheune auf, die alt und verwittert oben auf dem Hügel stand. Das helle Mondlicht gab ihr ein geisterhaftes, mysteriöses Aussehen. Unwillkürlich wanderten seine Gedanken zu dem Film zurück, den sie gerade gesehen hatten. Er hielt sich nicht lange damit auf. Schließlich hatte er an schönere Dinge zu denken, als sich mit den wüsten Phantasien eines Filmproduzenten zu beschäftigen. Er nahm die Geschwindigkeit zurück und fuhr ganz langsam an die Scheune heran. Dort stellte er Motor und Scheinwerfer ab und wandte sich Jenny zu. Im hellen Licht des Mondes konnte er sie klar und deutlich sehen. Sie stand mit vom Wind zerzausten Haar vor ihm, lächelte und sah ihn fragend an. »Was hältst du davon, wenn wir hier einen Moment haltmachen?« fragte er, wobei er
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seine Stimme so gleichgültig wie möglich klingen ließ. »Wir sollten wirklich nicht so spät nach Hause kommen«, sagte sie. »Du kennst ja Tante Evelyn und kannst dir vorstellen, was sie für ein Theater macht. Womöglich schreibt sie an meine Eltern.« Er lenkte das Motorrad von der Straße und lehnte es gegen die Scheunenwand. Ihren Einwand hatte er nicht ernstgenommen. Dann stieß er die verwitterte Tür auf, die jeden Moment aus den Angeln zu fallen drohte. Mit seiner großen Taschenlampe leuchtete er in den Innenraum. Große Strohballen lagen an allen vier Wänden. Nur in der Mitte war ein freier Platz ausgespart, der wie eine Art Korridor wirkte. Im Hintergrund waren ein paar Strohballen entfernt worden, wodurch sich eine Art Alkoven gebildet hatte. Dorthin führte Peter jetzt Jennifer. »Hier gefällt es mir nicht besonders«, sagte sie sichtlich nervös. »Ich tue es überall gleich gern«, dachte Peter. Laut sagte er. »Das ist aber weit besser als ein feuchter Graben oder eine zugige Hecke.«
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»Meinst du nicht, daß wir besser sofort nach Hause fahren sollten?« Diese Art Frage hatte er von einem so entgegenkommenden Mädchen wie ihr nicht erwartet. Deshalb gab er keine Antwort, setzte sich wortlos ins Heu und zog sie zu sich hinunter. Ihr Körper war steif und verkrampft, ihre Küsse bei weitem nicht mehr so zärtlich wie im Kino. Er wußte, daß er jetzt schnell vorgehen mußte, sonst würde sich die Nacht als Reinfall erweisen. Schon war seine Hand vorne in ihrem Pullover und bedeckte eine ihrer hübschen Brüste. »Laß das, Peter«, sagte sie abwehrend. »Was ist los?« fragte er unschuldig. »Was hast du mit mir vor?« Wenn sie das immer noch nicht wußte, hatte er nicht vor, es ihr mit vielen Worten zu erklären. Er würde es ihr zeigen. Seine freie Hand griff nach der ihren und zog sie langsam nach unten. Sie wich zurück und zerrte ihre Hand weg, wobei sie so weit wie möglich von ihm abrückte. »Du bist also noch Jungfrau«, zischte er ihr anklagend ins Gesicht. »Und du hast sogar Angst vor einem Mann.«
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»Na und? Ist das in deinen Augen ein Verbrechen? Bring mich jetzt sofort nach Hause.« Er gab keine Antwort. Jetzt wollte er sie um jeden Preis besitzen, selbst um den, sie vergewaltigen zu müssen. Seine Kumpel in Portsmouth pflegten auch ein »Nein« niemals hinzunehmen. Plötzlich packte er sie und stieß sie nach hinten auf den Boden. Sie begann aus Leibeskräften zu schreien. Als er sich auf sie warf, fuhr sie mit den Händen hoch, packte ihn an seiner empfindlichsten Stelle und drehte so fest sie konnte. Jetzt war es an ihm, laut zu schreien. Als er einen Moment locker ließ, ergriff sie die Gelegenheit, sich unter ihm fortzuwinden. Sie taumelte auf die Füße und lief zur Tür. Er krümmte sich vor Schmerzen und war so nicht fähig, ihr sofort zu folgen. Inzwischen hatte sie genügend Vorsprung, um die Tür zu erreichen. Als sie sich öffnete und gleich darauf wieder schloß, erhaschte er einen kurzen Blick auf die mondhelle Landschaft. Dann war Jennifer verschwunden. »Komm zurück, Jenny«, rief er. »Ich habe es doch nicht so gemeint.« Jennifer stieß einen Seufzer der Erleichterung aus, als sie wieder den harten Boden 109
der Landstraße unter den Füßen spürte. In der Ferne sah sie die Farm ihres Onkels. Sie mußte unmittelbar am Fuße des Hügels liegen, wo die Straße aufhörte. Sie bedauerte, sich nicht besser in der Gegend auszukennen. Falls sie sich auf der Straße hielt, würde Peter sie in Kürze einholen. Vielleicht konnte sie ihm kein zweites Mal entkommen. Zu ihrer Linken führte ein Tor auf die Felder, das weit offenstand. Einen Augenblick lang zögerte sie. Bei stockdunkler Nacht hätte sie es ohne weiteres riskiert, die Straße zu benutzen. Nachdem aber die ganze Gegend in silbernes Mondlicht getaucht war, entschloß sie sich, den Weg abzukürzen und über die Felder zu laufen. Wenn sie einmal die Anhöhe des nächsten Hügels erreicht hatte, bot sich ihr ein guter Ausblick auf alle Farmen zu ihren Füßen. Dann würde es ihr nicht mehr schwerfallen, den Hof ihres Onkels auszumachen. Einerseits war sie wütend, andererseits aber auch ziemlich verängstigt. Eines nahm sie sich innerlich fest vor. Morgen um diese Zeit würde sich Peter Pike mit all seinen Sachen auf dem Rückweg nach Portsmouth befinden.
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Sie lief weiter und hielt nur ab und zu an, um Atem zu schöpfen. Irgendwann stolperte sie und fiel Hals über Kopf in einen Heuhaufen. Der Hügel war weiter entfernt, als sie gedacht hatte. Weit und breit war kein Abkürzungsweg zu sehen. Plötzlich fiel ihr auf, daß sie Peter das Motorrad nicht hatte starten hören. Der Gedanke beunruhigte sie. Sie konnte sich das nicht erklären, weil sie nicht wußte, daß er die Straße gewöhnlich im Leerlauf hinunterfuhr. Der Mond war außerdem hell genug, daß er keine Scheinwerfer benötigte. Also konnte er, ohne daß sie es bemerkte, auf die Farm zurückkehren. Jennifer hatte endlich das Gefühl, Fortschritte zu machen. Der Hügel schien näher zu rücken. Wenn sie ein kleines Gehölz durchquert hatte, mußte sie eigentlich am Ziel sein. Sie atmete in tiefen Zügen die klare Nachtluft ein und ging in normalem Tempo weiter. Ringsum war es ruhig, kein Windhauch bewegte die Blätter, nicht einmal eine Eule schrie. Die Welt lag leblos da. Sie schien als einzige auf einem seltsamen, düsteren Planeten zurückgeblieben zu sein.
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Das Gehölz, das sie durchqueren mußte, sah dunkel und ungemütlich aus. Fast war sie geneigt, ein Stück zurückzugehen und einen Umweg zu machen. Andererseits war sie so erschöpft und müde, daß sie keine Lust hatte, ihren unfreiwilligen Spaziergang noch weiter auszudehnen. Wenn sie es sich recht überlegte, hatte sie keinen Grund sich zu fürchten. Wovor auch? Vor Füchsen und Hasen vielleicht? Sie zwang sich zu einem Lächeln und zwängte sich in das Gehölz. Der kleine Hain aus Lärchen und Tannen, eingerahmt von niedrigeren Rhododendron, war nur ein paar Quadratmeter groß. Ursprünglich hatte man ihn als Wetterschutz für die Schafe angepflanzt. Heute abend hatten sie sich allerdings in einer anderen Ecke der Weide zusammengedrängt und den nicht existenten Schutz von Stacheldraht vorgezogen. Jennifer nahm an, daß sie das taten, weil die Nacht so warm war. Ein Zweig knackte laut, und sie erschrak. Dann nahm sie sich zusammen. Vermutlich war ein Kaninchen bei ihrem Nahen mehr erschrocken als sie. Sie blieb stehen und lauschte einen Augenblick. Aus der Ferne schien sich ein Zug zu nähern. Der Gedanke kam ihr reichlich verrückt vor. Sie wußte 112
schließlich, daß die Eisenbahnlinie gar nicht so weit reichte. Da knackte es wieder. Außerdem glaubte sie ein schweres, angestrengtes Schnaufen zu hören. Auch das konnte sie sich nicht erklären. So laut konnte doch weder ein menschliches Wesen noch ein Schaf atmen. Irgend etwas hielt sich zwischen den Büschen und Bäumen verborgen. Es bewegte sich langsam und schwerfällig durch das Unterholz. Am liebsten wäre sie fortgerannt, konnte es aber nicht. Ihre Füße waren wie am Boden festgenagelt. Sie starrte in die Dunkelheit des Gehölzes. Was versteckte sich dort? Am Boden liegende Zweige zerbrachen unter den Füßen der Kreatur. Vage konnte sie sehen, daß sich eine formlose, unkenntliche Masse im Schatten bewegte. Ein Paar rote Augen glühten. Da trat das Tier auf die Lichtung. Ihr schwanden die Sinne, als sie das entsetzlichste Biest zu Gesicht bekam, das menschliche Phantasie sich vorstellen konnte. Es war ein Werwolf, daran hatte sie keinen Zweifel. Er glich entfernt dem Wesen, das sie vor wenigen Stunden im Kino gesehen hatte. Nur war das im Vergleich ein liebes, nettes, harmloses Tier gewesen.
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Sie lachte wie von Sinnen. Der Wahnsinn hatte sie gepackt. Das war ja Peter, den sein gutes Aussehen im Stich gelassen hatte, dachte sie. Bisher war ihr gar nicht klargeworden, wie häßlich und furchterregend er eigentlich aussah. Wenn sie das vorher gewußt hätte, wäre sie doch nicht mit ihm ausgegangen! Warum hatte sie vorher nicht gemerkt, was er für ein Untier war? Sie kicherte wie eine Verrückte. Vielleicht war es besser, ihn gewähren zu lassen und ihm freiwillig das zu geben, was er wollte. Sie riß sich die Kleider vom Leibe und verstreute sie um sich herum. Das Biest aber stand nur da und starrte sie an. Offensichtlich war es zu verwirrt, um eine weitere Bewegung in ihre Richtung zu machen. Dann war sie nackt, ihre Kleider lagen auf dem Boden. Sie legte sich, noch immer lachend, hin. »Komm doch, Peter!« kreischte sie. »Ich renne auch nicht mehr weg. Ich gehöre ganz dir. Und ich werde Onkel und Tante nichts erzählen. Worauf wartest du noch?« Philip Owen war starr. Sein vernebelter Verstand weigerte sich zu begreifen, was da geschah. Warum rannte das Mädchen nicht schreiend vor ihm davon? Warum zog sie 114
sich aus und bot ihm aus freien Stücken, worum er sich schon so lange und erfolglos bemühte. War er vielleicht in eine Falle geraten? Er erkannte nicht, daß sie den Verstand verloren hatte und wie ein kleines Kind gar nicht mehr wußte, was sie tat. Ein einzelner Mondstrahl fiel auf ihren nackten Körper. Falle hin oder her, dachte Philip. Für ihn gab es keinen Weg zurück. Vorsichtig näherte er sich dem Mädchen. Ihr Kopf zuckte hin und her und fiel schließlich zurück. Das gütige Geschick, das sie in dieser letzten halben Stunde ihres Verstandes beraubt hatte, nahm ihr jetzt auch noch das Bewußtsein, um ihr jeden Schmerz zu ersparen. Stinkender Atem kam aus seinen Nüstern, als er sich jetzt über sie beugte. Sie wehrte sich nicht. Voll Verwunderung betastete er sie. Dann nahm er sie, wie er das schon lange gewollt hatte. Als er diese Art von Hunger gestillt hatte, erinnerte er sich an einen anderen. Zum erstenmal aß er Menschenfleisch und trank ihr Blut. Er wunderte sich selbst, daß er sich bisher mit Schafen und Hasen zufriedengegeben hatte. Das Blut schmeckte ihm 115
wie auserlesener Wein. Als er fertig war, wandte er dem entseelten Leib von Jennifer Hughes den Rücken zu. Sein Blick wurde vom Mond angezogen. Er bezeugte dem silber-goldenen Gott dort oben seinen Respekt auf die einzige Weise, die er kannte. Sein lautes, langgezogenes Heulen drang über Berge und Täler und ließ das Blut jedes Lebewesens, das es vernahm, in den Adern erstarren. Das Geheul klang diesmal anders als sonst. Es war erfüllt. Nichts fehlte mehr. Es bekundete die Freude dieses Untiers, das sich in dieser Nacht nichts mehr wünschte, weil alle Sehnsüchte bereits in Erfüllung gegangen waren. Als Philip Owen sein Schlafzimmer erreichte, hatte seine Rückwandlung in einen Menschen noch nicht wieder begonnen. Trotzdem war ihm die Tragweite dessen bewußt, was er getan hatte. Keiner brauchte ihm zu sagen, daß er ein Mörder war. Er hatte das grausamste Verbrechen begangen, das es überhaupt gab. Es gab keinen Weg mehr für ihn zurück. In seinem Kopf tobte ein wilder Aufruhr. Jetzt gierte er nicht mehr mit aller Macht nach Sex und Blut, jetzt war er verrückt vor Angst, was die Zukunft ihm noch bringen mochte. Er hatte menschliches Blut 116
und Fleisch gekostet und wußte, daß ihn nichts davor zurückhalten konnte, sich dasselbe wieder zu verschaffen. Er lag auf seinem Bett und verfluchte den silbernen Himmelskörper dort oben, der seine Geschicke lenkte. Philip war in dieser Nacht nicht der einzige, der Todesängste ausstand. Kaum eine Viertelmeile entfernt saß Peter Pike auf der Bettkante, das Gesicht in den Händen vergraben. Er trug immer noch seine Motorradkluft. Angst und Verzweiflung hatten von seiner sonst so sorglosen Natur Besitz ergriffen. Er verfluchte sich selbst. Wo um alles in der Welt war das dumme, kleine Mädchen hingeraten? Sie hätte seit Stunden zurück sein müssen. Warum war er ihr nicht über die Felder nachgelaufen, sondern hatte den einfachen Weg die Straße hinunter gewählt? Eigentlich wußte er sehr wohl, warum er ihr nicht gefolgt war. Seine Wut war so groß gewesen, daß er sie nicht mehr sehen wollte. Er hatte gehofft, daß es ihr eine Lehre sein würde, wenn sie entdecken mußte, daß er ihr nicht wie einem kleinen Hund hinterherlief. Vielleicht würde sie sich sogar bei ihm entschuldigen, wenn sie zurückkam. Sie 117
war doch nur ein kleines Biest, das einen Mann auf Touren brachte, um sich ihm dann zu verweigern. Peter hatte keine Lust, sich am folgenden Morgen allein dem Zorn von Mr. und Mrs. Jones auszusetzen und eine Erklärung für das Verschwinden ihrer Nichte vorbringen zu müssen. Er entschloß sich, lieber noch einmal auszugehen und Jennifer zu suchen. Vielleicht konnte er sie wieder zur Vernunft bringen, wenn er etwas Einfühlungsvermögen bewies. Mit sich selbst zufrieden stand er auf, schlich nach unten und verließ das Haus. Schon brach die Morgendämmerung herein. Am östlichen Himmel zeigte sich der erste helle Streifen. Peter machte sich auf den Weg in Richtung Scheune. Er fand es reichlich ungewohnt, einen Fuß vor den anderen zu setzen, wo er sonst gewohnt war, auch die kleinste Entfernung mit dem Motorrad zurückzulegen. Schließlich kam er zu dem Tor, wo er Jennifer zum letztenmal gesehen hatte, als sie Hals über Kopf von ihm davonlief. Es wurde schnell heller. Der Mondschein wurde langsam vom grauen, eintönigen Licht des Morgens verdrängt. Peter suchte in 118
seiner Tasche, fand eine zerdrückte Packung Zigaretten und ein Briefchen Streichhölzer und zündete sich eine Zigarette an. Dabei mußte er feststellen, daß seine Hände zitterten. Er hatte Angst. Zum erstenmal wünschte er sich, daß er nie das hektische Getriebe von Portsmouth verlassen hätte. Vor ihm tauchte das Gehölz auf. Genau wie Jennifer beschloß er, den Hügel zu besteigen und sich von dort aus die nähere und weitere Umgebung anzusehen. Hoch am Himmel zog ein Bussard seine Kreise. Er schwebte ohne die geringste Anstrengung dahin und bewegte seine graubraunen Schwingen kaum. Dabei stieß er ständig Lockrufe aus, als ob er andere seiner Art, die zufällig in der Nähe weilten, auf ein Festmahl aufmerksam machen wollte. Vor Peter flog ein Krähenpaar hoch, das er offensichtlich aufgestört hatte, und gab seiner Mißbilligung darüber beredten Ausdruck. Anscheinend hatte es im hohen Gras etwas gefressen. Vielleicht lag dort irgendwo ein totes Schaf. Jetzt bemerkte Peter einen Fuchs, der über den Hügelkamm entschwand. Hier scheint heute früh so mancher sein Frühstück einzunehmen, dachte Peter. 119
Er sah die verstümmelte Leiche des Mädchens erst, als er unmittelbar davorstand. Beinahe wäre es sogar darüber gestolpert. Im ersten Augenblick erkannte er gar nicht, was da im Grase lag. Der Bussard und die Krähen hatten sich bereits ihr Teil geholt. Auch der Fuchs war nicht untätig geblieben. Die Tiere hatten sich um die Beute gestritten, als sie ihn kommen hörten. Da hatten sie es vorgezogen, ihr Frühstück zu unterbrechen. Langsam kam ihm die schreckliche Wirklichkeit zu Bewußtsein. Peter drehte sich der Magen um; er mußte sich übergeben. Seine Knie gaben nach, die Welt wurde schwarz vor seinen Augen. Bewußtlos fiel er neben den sterblichen Überresten von Jennifer Hughes zu Boden.
9. An diesem Sonntagmorgen streifte Gordon Hall schon beim ersten Licht des Tages in den Schwarzen Hügeln herum. Dringende Arbeit hatte ihn die ganze Woche über in der Stadt festgehalten, so daß er sich nicht um 120
seine aufgestellten Fuchsfallen kümmern konnte. Deshalb war er heute besonders früh aufgebrochen. Innerhalb einer Stunde nahm er zwei tote Füchse aus den Fallen. Sie hatten die Drahtschlingen direkt um den Hals und waren auf der Stelle gestorben. Normalerweise schätzte er es nicht, wenn er die Fallen mehrere Tage unbeaufsichtigt lassen mußte. Trotz seiner sonst an den Tag gelegten Rücksichtslosigkeit schreckte er davor zurück, Tiere unnötig leiden zu lassen, gleichgültig wie weit oben sie auf seiner Liste der Schädlinge standen. Während er geruhsam durch den Wald bummelte, fiel ihm auf, daß nicht weniger als drei Bussarde über den Weiden des Farmers Jones kreisten und ihre Lockrufe ausstießen. Normalerweise sah man von diesen großen, scheuen Vögeln selten mehr als einen auf einmal. Also nahm er an, daß für ihre Anwesenheit ein wichtiger Grund bestehen mußte. Vielleicht hatte ein Mutterschaf beim Lammen Schwierigkeiten, und die Raubvögel warteten ihre Zeit ab, bis sowohl das Schaf wie das Neugeborene hilflos und somit eine leichte Beute waren. An sich hatte Gordon Hall nicht das Recht, auf dem Land von Morris Jones mit geladener Büchse 121
herumzulaufen. Trotzdem entschloß er sich, einmal nach dem Rechten zu sehen. Vielleicht handelte es sich wirklich nur um ein verendetes Schaf, von dem sich die Vögel ein leichtes Frühstück versprachen, aber man konnte nie wissen. Mit Remus auf den Fersen öffnete er das Tor im Zaun und ging über die Weide. Ein Rabe glitt geräuschlos aus den Zweigen einer einzeln stehenden Kiefer und schimpfte beim Anblick des Fremden laut vor sich hin. Langsam war Gordon irritiert. Was war da los? Drei Bussarde kreisten am Himmel, und ein Rabe wartete in einiger Entfernung offensichtlich ab. Warum ließen sich die Tiere nicht nieder und fraßen, was sie im Auge hatten? Er verstand das Ganze nicht. Da sah er, wie sich im hohen Gras, etwa zwanzig Meter vor ihm, etwas Schwarzes bewegte. Seine Erinnerung an den wildernden Schäferhund Loup kehrte zurück. Automatisch entsicherte er sein Gewehr. Remus gab keinen Laut von sich, er winselte und knurrte nicht. Da Loup tot war, mußte es eine andere, logische Erklärung geben. Er legte ungefähr zehn Meter zurück und blieb dann abrupt stehen, entsetzt über den sich ihm bietenden Anblick. Gerade versuch122
te sich Peter Pike, der Lehrling der Jones, vom Boden zu erheben. Er wirkte völlig verstört, ein geradezu irrer Ausdruck stand in seinen Augen. Sowohl seine Motorradkluft als auch seine Hände waren mit halbgetrocknetem Blut verschmiert. Das lange Haar hing ihm strähnig in die Stirn. Er machte einen Versuch zu reden, stammelte aber nur unverständliche Worte. »Jennifer ... tot... helfen Sie mir.« Gordon Hall warf einen Blick auf das Häufchen Unglück zu Füßen des jungen Mannes, das vor nicht allzu langer Zeit ein blühendes junges Mädchen gewesen war. Er erstarrte und vermochte kaum zu glauben, was er sah. Sein Mund stand offen. Dies war einer der wenigen Augenblicke in seinem Leben, wo er kein Wort herausbrachte. Peter taumelte mit ausgestreckten Händen auf ihn zu. Gordon trat einen Schritt zurück. Er wollte mit diesen blutigen, beschmutzten Fingern nicht in Berührung kommen. »Helfen Sie mir doch«, schluchzte der Junge. »Um Himmels willen, helfen Sie mir.« Gordons Hand fuhr hoch. Er knallte dem jungen Burschen einen Schlag ins Gesicht, der fast wie ein Pistolenschuß klang. Peter
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Pike vermochte sich danach nur mit Mühe auf den Beinen zu halten. »Nehmen Sie sich zusammen«, brüllte Gordon ihn an. In ihm bildete sich langsam eine Abneigung gegen Peter, der ihm fast Brechreiz verursachte. Andererseits wußte er, daß der junge Mann unter einer Schockeinwirkung stand, die man nur rigoros behandeln konnte. Ungläubig sah Pike Gordon an. Mit blutbefleckter Hand hielt er sich die Seite des Gesichts, auf der der Hieb gelandet war. Er hatte Mühe, die Fassung wiederzugewinnen. »Haben Sie das getan?« Gordon hatte inzwischen den voreiligen Schluß gezogen, daß Peter für die schreckliche Tat verantwortlich war. Die Leiche konnte er nicht identifizieren. Er hatte Jennifer Hughes nie gesehen. »Nein... nein!« Der Junge schrie es fast. »Ich war es nicht! Das müssen Sie mir glauben, Mr. Hall. Ich habe sie nicht angerührt.« Gordon Hall glaubte ihm nicht. Es schien ihm unwahrscheinlich, daß ein junger Mann von Pikes Kaliber eine zerstückelte Leiche auf der Weide finden sollte und sich dann so intensiv mit ihr beschäftigte, daß Hände und Kleidung blutbefleckt waren. Er nahm an, daß er den anderen überrascht hatte, als er 124
gerade völlig von Sinnen ein Sexualverbrechen begangen hatte. Er packte sein Gewehr fester und paßte auf, daß Peter ihm nicht zu nahe kam. Der Gedanke, sich in nächster Nähe eines irren Sexualmörders, sozusagen eines ländlichen Jack the Ripper aufzuhalten, behagte ihm nicht besonders. Fast automatisch richtete er den Lauf seiner Waffe auf den vor ihm stehenden Landarbeiter mit den wilden Augen. »Ich glaube, es ist am besten, wenn wir jetzt Hilfe holen.« Gordon Halls Stimme zitterte leicht. Als ihm der Geruch der Leiche in die Nase stieg, mußte er sich zusammennehmen, um sich nicht zu übergeben. »Wir gehen jetzt zusammen zur Farm von Victor Gunn. Dort gibt es ein Telefon. Laufen Sie vor mir her und versuchen Sie keine Tricks. Die öffentliche Meinung dürfte auf meiner Seite stehen, wenn ich gezwungen sein sollte, Sie auf der Flucht zu erschießen.« Gefühle wie Angst, Trauer und Entsetzen mischten sich in Peters Gesichtsausdruck. »Mein Gott, Mr. Hall! Sie denken doch nicht etwa, daß ich das getan habe. Ich schwöre Ihnen, ich habe das Mädchen nicht umgebracht.«
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»Was ich denke, spielt im Moment keine Rolle.« Halls Selbstbeherrschung kehrte langsam zurück. Er schüttelte das schreckliche Bild ab, das er gesehen hatte. Ein Gedanke schoß ihm durch den Kopf. Sobald er die Polizei verständigt hatte, würde er eine der großen Londoner Tageszeitungen anrufen und einen Augenzeugenbericht versprechen. Er hatte die aufregendste Sensation aus erster Hand anzubieten, die man sich vorstellen konnte. Eine Reportage darüber konnte seinen Namen überall bekannt machen. Er lachte leise in sich hinein. Das Schicksal hatte es an diesem Morgen gut mit ihm gemeint. »Los, bewegen Sie sich ein bißchen schneller«, sagte er. »Ich habe nicht den ganzen Tag Zeit !« Victor Gunn blickte verblüfft aus dem Küchenfenster. Draußen bot sich ihm ein merkwürdiges Bild. Gerade taumelte Peter Pike blutbedeckt in den Hof. Gordon Hall folgte ihm mit dem Gewehr in der Hand. Vic riß die Haustür auf. »Was hat das zu bedeuten?« Margaret kam eben die Treppe herunter. Sie fühlte ihren Herzschlag stocken. Das ging ihr jedesmal so, wenn sie den bärtigen Journalisten unerwartet zu Gesicht bekam. 126
Unbewußt fuhr sie sich übers Haar. Selbst zu dieser frühen Morgenstunde wollte sie so gut wie möglich aussehen. »Da ist ja Gordon, Mr. Hall«, verbesserte sie sich schnell. Victor war schon halb über den Hof gelaufen und befand sich bereits außer Hörweite. »Oben auf den Weiden ist ein schlimmer Mord passiert«, rief Gordon Hall und sonnte sich förmlich in dem geschockten Gesichtsausdruck des Schafzüchters. Bei dem jetzigen Stand der Dinge verspürte er nicht die geringste Lust, weitläufig Erklärungen abzugeben. »Ich möchte gern Ihr Telefon benutzen. Zuerst werde ich die Polizei verständigen, dann will ich London anrufen.« »Ist Peter der Täter?« Der wie betäubt dastehende Victor Gunn fand es fast unmöglich, einen zusammenhängenden Satz herauszubringen. »Er hat es getan«, erklärte Hall. Dann gab er dem Farmer sein geladenes Gewehr in die Hand. »Bewachen Sie ihn und lassen Sie ihn nicht eine Sekunde aus den Augen. Wenn Sie gesehen hätten, was ich auf Jones Schafweide zu Gesicht bekommen habe, würden Sie nicht zögern, ihn notfalls auf der Stelle niederzuknallen.« 127
»Ich habe es nicht getan«, schrie Peter hysterisch hinter der sich entfernenden Gestalt des Journalisten her. »Ich habe Ihnen doch schon gesagt, daß ich sie nicht angerührt habe.« Als Margaret aus dem Hause treten wollte, um sich zu erkundigen, was eigentlich los war, stieß Gordon sie fast zurück. »Was geht hier eigentlich vor?« fragte sie schwer atmend und mit gerötetem Gesicht. »Du solltest dich da raushalten«, sagte er und gab ihr einen flüchtigen Kuß. »Der junge Mann hat oben am Rande der Schwarzen Hügel ein Mädchen bestialisch umgebracht. Ich kam gerade dazu, als er mit ihr fertig war. Um wen es sich handelt, weiß ich nicht. Ich hielt es nicht für sinnvoll, mich danach zu erkundigen.« Margaret fühlte, wie die Beine unter ihr nachgaben. Sie setzte sich auf den nächsten Stuhl. Ihr Liebhaber hatte den Hörer abgenommen und wählte bereits eine Nummer. Konstabler Winter war es normalerweise nicht gewöhnt, an einem Sonntagmorgen vor neun Uhr aufzustehen, gleichgültig ob er Dienst hatte oder nicht. Als Folge davon stieg ein mehr als schlecht gelaunter Polizist aus seinem bequemen Bett und begab sich 128
im Pyjama, laut vor sich hin fluchend, die Treppe hinunter ans Telefon. »Polizeistation Llanadevy«, meldete er sich mit soviel Autorität in der Stimme, wie er zu dieser frühen Morgenstunde aufbringen konnte. Er hatte die löbliche Absicht, dem Anrufer das Wort abzuschneiden und ihm einen Vortrag darüber zu halten, wie unnötig eine Störung um diese Stunde war. Vermutlich hatte irgend jemand ausgerechnet heute morgen einen Fall von Schafdiebstahl entdeckt. Dann erübrigte sich der Anruf schon aus dem Grunde, weil die Diebe jetzt sowieso bereits meilenweit entfernt waren. »Ein Mord?« fragte er. Seine Stimmlage hob sich vor Überraschung. Geschockt und zitternd wiederholte er die Frage. »Haben Sie wirklich Mord gesagt?« Gleichzeitig streifte er mit der freien Hand bereits seine Nachtkleidung ab, während er weiter zuhörte. Warum mußte das ausgerechnet an einem Sonntagmorgen in seinem Bezirk passieren? Als der Konstabler in seinem grünen Wagen, auf dem seitlich in großen Buchstaben das Wort »Polizei« stand, auf der Gunnschen Farm eintraf, hatte sich dort bereits eine Anzahl Menschen versammelt. Jeder wurde 129
beim Eintreffen in das Wohnzimmer geführt, aus dem schon lauter Stimmenwirrwarr ertönte. In einer Ecke des Raumes saß Peter Pike mit in den Händen vergrabenem Gesicht in einem Sessel. Er trug immer noch seine blutbefleckte, dreckige Motorradkleidung. Von Gordon Halls Gewehr war nichts mehr zu sehen. Vermutlich hatte er es vorsichtshalber vor der Ankunft der Polizisten verschwinden lassen. »Guten Morgen allerseits !« Der untersetzte Konstabler zupfte an seinem Rock und nahm den Helm ab, als er über die Schwelle des Wohnzimmers trat. Plötzlich überkam ihn das Gefühl, der wichtigste Mensch unter der Sonne zu sein. Er konnte sich nicht erinnern, daß es je einen Mord in Llanadevy gegeben hatte, und während seiner Amtszeit würde vermutlich auch kein zweiter geschehen. Also kam es jetzt darauf an, seine Aufgabe mit besonderer Tüchtigkeit und Schnelligkeit zu lösen. Winter sah sich um, zählte in Gedanken die im Raum befindlichen Menschen und stellte dann im einzelnen fest, wer alles da war. Da saßen die Gunns und natürlich Gordon Hall, daneben das ziemlich verstörte Ehe130
paar Jones, Gwynne Owen ohne Philip und natürlich der junge Peter Pike. »Es handelt sich bei der Leiche um unsere Jennifer, Mr. Winter«, sagte Mrs. Jones. Sie war der Hysterie nahe. »Sie ist nicht nach Hause gekommen, weil sie die ganze Nacht mit dem da weg war.« Ihr Finger zeigte anklagend auf die stille, zusammengesunkene Gestalt von Peter Pike. »So ein Mörderschwein.« »Ruhig, ruhig«, begütigte der Konstabler. »Lassen Sie mich erst mal die Tatsachen hören, bevor wir endgültige Schlüsse ziehen.« Er sah nicht ohne Befriedigung auf das Blut, das Peters Kleidung bedeckte. Er hatte das Gefühl, daß der Fall nicht allzu schwierig zu lösen war. »Mr. Hall! Wenn ich Sie richtig verstanden habe, dann haben Sie die Leiche gefunden. Ich würde gern zuerst von Ihnen hören, was Sie wissen. Wenn Sie Ihre Aussage gemacht haben, möchte ich Sie bitten, mit mir zu kommen und mir den Fundort zu zeigen. Vielleicht ist Mr. Jones in der Lage, uns zu begleiten. Irgend jemand muß die Leiche identifizieren.« Immer wieder vom Schluchzen von Mrs. Jones und den geflüsterten Worten unterbro131
chen, mit denen ihr Mann sie zu beruhigen versuchte, erzählte Gordon Hall langsam und genau seine Geschichte. Er empfand es als ziemlich störend, daß der Polizist sich nach Kräften bemühte, mit dem Füllfederhalter jedes Wort deutlich niederzuschreiben. Eine halbe Stunde später blieb Hall einige Schritte zurück, als Winter und Mr. Jones die sterblichen Überreste von Jennifer Hughes näher untersuchten. Mit einem Schlag verlor der Konstabler sein übertrieben majestätisches Gehabe. Mr. Jones wurde schlecht, man mußte ihn stützen, sonst wäre er zusammengebrochen. Gordon drehte der Gruppe den Rücken zu und blickte in die andere Richtung. Er sah keinen Sinn darin, den Anblick noch einmal zu ertragen. Genaugenommen hatte er nur eines im Sinn. Er wollte so schnell wie möglich hier weg. Dafür hatte er einen gewichtigen Grund. Er mußte nach Hause und seinen Bericht von tausend Worten auf der Schreibmaschine herunterhämmern, den er dem Chefredakteur der Londoner Zeitung am Telefon zugesagt hatte. Je eher er sich auf den Weg nach Hause machen konnte, desto schneller wurde er fertig. Die Zeitung hatte 132
versprochen, jemand vorbeizuschicken, um seinen Bericht abzuholen und ihn gleichzeitig zu interviewen. Dieser gräßliche Mord versprach ihm beträchtlichen finanziellen Gewinn zu bringen. Als die Gesellschaft wieder auf Victor Gunns Hof angekommen war, beschloß der Konstabler, Peter Pike mit zur Polizeistation Llanadevy zu nehmen, sobald der Junge seine Aussage gemacht hatte. Die versammelten Schafzüchter und Bauern hatten den Jungen in Gedanken bereits des Mordes überführt und verurteilt. Um einer etwaigen Lynchjustiz vorzubeugen, war es besser, Peter in Polizeigewahrsam zu nehmen. Die Versammlung löste sich langsam auf. Morris Jones benutzte Victor Gunns Telefon, um Jennifers Eltern die schreckliche Nachricht beizubringen. Konstabler Winter nahm Peter Pike in seinem Polizeiauto mit. Gordon Hall raste so schnell es ihm die engen Landstraßen gestatteten nach Hause. Er war besessen von dem Gedanken, bis sechs Uhr abends einen Artikel über den grausamsten Sexualmord des Jahrzehnts zu schreiben. Es gab in Llanadevy anscheinend nur eine einzige Person, die nicht das leiseste Interesse für die Untat bezeugte. Das war Philip 133
Owen. Er ging wie immer seiner Arbeit nach, was sich auch nicht änderte, nachdem sein Vater von den Gunns zurückkehrte und ihm und seiner Mutter die entsetzliche Neuigkeit bis in alle Einzelheiten mitteilte. Innerlich aber befand er sich in hellem Aufruhr. Es war schon schlimm genug, daß er einen Mord begangen und das Mädchen so schrecklich verstümmelt hatte. Jetzt sah es zu allem Unglück noch so aus, als ob man Peter Pike dafür zur Verantwortung ziehen wollte. Als Philip sich außer Sichtweite seines Vaters befand, verlor er die Beherrschung und weinte bittere Tränen. Wie konnte er weiterleben und sich damit abfinden, als Werwolf herumzulaufen und friedliche Menschen umzubringen?
10. Als es an jenem fatalen Tag Mittag wurde, zeigte Scotland Yard die Absicht, sich für den Mordfall in Llanadevy zu interessieren. Kriminalinspektor Ford, ein freundlicher, oft ziemlich sarkastischer Mann, und sein unzertrennlicher Assistent, Sergeant Bayley, 134
trafen ein und begannen sofort mit den Untersuchungen. Sie schlugen ihr vorläufiges Hauptquartier in der Polizeistation von Llanadevy auf. Gleich nach ihrer Ankunft bat Inspektor Ford Konstabler Winter, sie zu der Stelle zu führen, wo die Leiche des Mädchens immer noch lag. Dort hielt seit den frühen Morgenstunden Konstabler Wain aus Craven Arms Wache und verscheuchte die Neugierigen. »Wir müssen diesen Peter Pike innerhalb der nächsten Stunden unter Anklage stellen oder ihn laufenlassen«, sagte Inspektor Ford. Sie gingen zu Fuß den Hügel hinauf. Ein Spezialistenteam von sechs Mann folgte ihnen, von denen jeder seine bestimmte Aufgabe hatte, vom Fotografieren der Leiche und des Tatortes bis zum Vorbereiten einer Autopsie. »Nach allem was Sie mir erzählt haben, Konstabler, nehme ich an, daß wir ihn zur Teestunde überführt haben.« Man merkte, daß der Inspektor gewöhnt war, Befehle zu erteilen und sie auf der Stelle ausgeführt zu sehen. Winter konnte nicht umhin, das festzustellen, als er sah, mit welcher Eile Sergeant Bayley seinem leisesten Wink nachkam.
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Allerdings ging bei der Polizei das Gerücht um, daß ein Großteil der Fälle, für deren Lösung man Inspektor Ford verantwortlich machte, in Wirklichkeit von seinem Sergeanten gelöst worden waren, dessen Genauigkeit bis ins kleinste Detail, dessen Beharrlichkeit, mit der er jede Spur verfolgte, geradezu sprichwörtlich waren. Konstabler Winter nahm sich vor, in seinem Verhalten Inspektor Ford gegenüber sehr vorsichtig zu sein. »Dort drüben am Gehölz ist der Tatort, Sir«, informierte er ihn, als sie die Hügelkuppe erreicht hatten. »Das ist Konstabler Wain, der dort bei den Büschen steht.« »Ich habe selbst Augen im Kopf. Trotzdem, danke für den Hinweis«, antwortete Inspektor Ford kühl. Der Polizist aus Llanadevy schwieg düster. Sergeant Bayley mit dem raubvogelähnlichen Profil und den hervorstechenden, buschigen Augenbrauen grinste in sich hinein. So benahm sich sein Chef immer, wenn er an einem großen Fall arbeitete. Er neigte dann dazu, seine Laune an irgend jemand auszulassen, wenn er es auch im Grunde gar nicht böse meinte. Das war einfach seine Art, seinen gemischten
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Gefühlen Ausdruck zu verleihen und Dampf abzulassen. »Scheußlich. Das ist ja einfach scheußlich«, murmelte der Inspektor. Niemand widersprach. Die Assistenten waren bereits eifrig bei der Arbeit. Sie fotografierten und maßen die Stelle von allen Seiten ab. Konstabler Winter fühlte sich einigermaßen überflüssig, weil er sich nicht beteiligen konnte. Er stand da und lamentierte darüber, daß der Täter nichts Besseres zu tun gehabt hatte, als ausgerechnet in seinem Bezirk einen Mord zu begehen. Eine Viertelmeile weiter nördlich – und ein Beamter, dem die Stadt Clun unterstand, hätte die volle Verantwortung getragen. Das Leben erschien ihm ungerecht. Inspektor Ford betrachtete gerade mit gespannter Aufmerksamkeit die Leiche. »Sagen Sie mal, Winter«, begann der Mann von Scotland Yard mit erstauntem Gesichtsausdruck, »gibt es hier in der Nähe so etwas wie einen Safari-Park?« »Nein, Sir.« »Dann vielleicht einen Zoo oder einen privaten Tiergarten?« »Nichts dergleichen, Sir.«
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»Merkwürdig.« Der Inspektor stand auf und sah nachdenklich ins Tal hinunter, wo die Schornsteine auf den Häusern der Schafzüchter und Bauern rauchten und Schafe friedlich grasten. Dann trat er einen Schritt vor und sagte ernst: »Das Mädchen wurde von einem wilden Tier angefallen und getötet.« Sergeant Bayley war gewitzt genug, zunächst keinen eigenen Kommentar abzugeben. Er kniete nieder und untersuchte seinerseits die Wunden an der Mädchenleiche, die sein Chef so genau in Augenschein genommen hatte. Mit aschgrauem Gesicht stand er auf und wandte sich an Ford. »Sie haben recht, Sir. So etwas ist mir in meiner ganzen beruflichen Laufbahn noch nicht vorgekommen. Die Wunden müssen von gewaltigen Pranken stammen.« Mit seinem Chef zusammen untersuchte er noch einmal genau die Reste des verstümmelten Körpers. »Sehen Sie sich einmal die Kehle an. Sie muß von großen Zähnen buchstäblich herausgerissen worden sein.« Peter Pike saß inzwischen regungslos in der Polizeistation von Llanadevy und malte sich bis in alle Einzelheiten aus, wie es in einem 138
Zuchthaus zuging. Auf alle Fälle würde man ihn sofort in eine Einzelzelle stecken. Das tat man seiner Ansicht nach mit Sexualmördern immer, schon aus Sicherheitsgründen. Sonst würden ihm die Mithäftlinge schnell eine Kostprobe von Gerechtigkeit geben, wie sie sie verstanden. Immer wieder zerbrach er sich den Kopf darüber, was er noch zu seiner Entlastung vorbringen konnte. Er hatte seine Geschichte bis in alle Einzelheiten ehrlich erzählt, wobei er selbst seinen Verführungsversuch nicht ausgelassen hatte. Er sah zu dem jungen Polizisten hinüber, der an seinem Schreibtisch saß und geschäftig an einem Bericht schrieb. Wie er diesen Mann beneidete. Wenn sein Dienst beendet war, konnte er ungehindert zu seiner Familie zurückkehren. Peter schluchzte. Vermutlich sah er sein Heim niemals wieder. Er wünschte sich zum wiederholten Male, Portsmouth nicht verlassen und diesen verfluchten Ort nie gesehen zu haben. Das Wort »verflucht« brachte ihn auf einen Gedanken. Ihm fiel ein, daß Gwynne Owen mit ihm einmal über die Schwarzen Geisterhunde gesprochen hatte. War das vielleicht die Lösung? Hatten diese gespenstischen Hunde 139
Jennifer erwischt? Das mußte er dem Polizisten sofort mitteilen. Er öffnete schon den Mund, um zu sprechen und schloß ihn dann abrupt. Das würde man ihm nie abnehmen. Die zwei Londoner Meisterdetektive dürften kaum geneigt sein, ihm eine solche phantastische Geschichte zu glauben. Noch ein Gedanke ging ihm durch den Kopf. Waren vielleicht die Geister der alten Druiden am Peny-Wern Steinkreis zurückgekehrt, um ihren Gott beim ersten Strahl der aufgehenden Sonne ein Opfer darzubringen? Das war allerdings auch kaum möglich, da am Morgen keine Sonne geschienen hatte. Der Himmel war grau und wolkenverhangen. Also kam doch niemand anderes als die Schwarzen Hunde in Frage. Er hörte die anderen zurückkommen. Inspektor Fords Stimme unterschied sich deutlich von denen seiner Untergebenen. Jetzt würde man ihn ohne Frage wegen Mordes anklagen. Die Männer traten in den Nachbarraum. Jemand begann eine Telefonnummer zu wählen. Nach kurzer Wartezeit hörte er gedämpft durch die geschlossene Tür Inspektor Ford sprechen.
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»Die merkwürdigste Geschichte, die mir seit Jahren vorgekommen ist.« Der Mann von Scotland Yard gab offensichtlich seinen Bericht nach London durch. »Der Körper des Mädchens zeigt alle Anzeichen, daß es von einem wilden Tier angegriffen wurde.« Offensichtlich war der Mann am anderen Ende nicht leicht zu überzeugen. »Nein, kein Hund. Es muß etwas Größeres gewesen sein. Wir haben nicht weit entfernt Spuren am Boden gefunden. Mallinson ist überzeugt, daß sie von einem Wolf stammen. Nein, ich kann keine Safari-Parks und Tiergärten nachprüfen. So etwas gibt es hier in der Gegend weit und breit nicht. Der nächste Zoo ist in Chester. Geht in Ordnung, ich rufe Sie morgen wieder an.« Mit einem Klicken wurde der Hörer aufgelegt. Die Tür öffnete sich, und Inspektor Ford und Sergeant Bayley traten ein. Peter Pike blickte ihnen verwirrt entgegen. »Alles in Ordnung, mein Junge.« Inspektor Ford lächelte, was er selten tat. »Sie können nach Hause gehen. Aber halten Sie sich auf Abruf bereit. Vermutlich müssen wir noch einmal mit Ihnen sprechen, bevor die Angelegenheit abgeschlossen ist.«
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»Nach Hause?« Pike konnte es kaum fassen. Die Worte blieben ihm fast in der Kehle stecken. »Das habe ich doch gesagt«, sagte Ford. Er hielt den Burschen für ziemlich dumm, da er dachte, dieser hätte ihn nicht verstanden. »Wollen Sie das etwa nicht? Wäre es Ihnen lieber, hier eingesperrt zu bleiben?« »Nein, Sir.« Peters Erleichterung zeigte sich jetzt deutlich. Tränen stiegen in seine Augen. »Es ist nur ... Ich habe nicht geglaubt, daß ich aus dieser Geschichte heil rauskäme.« »Sie stehen nicht mehr unter Verdacht«, sagte der Inspektor. »Dagegen haben wir jetzt ein Problem auf dem Hals, das fast nicht zu lösen ist. Wenn Sie zufällig einen großen, grauen Wolf über die Wiesen spazieren sehen, geben Sie uns sofort Bescheid.« »Hier hast du nichts mehr zu suchen, mein Junge.« Evelyn Jones ließ keinen Zweifel daran aufkommen, daß sie ihre Worte ernst meinte. Sie war in den Flur gekommen, als Peter das Haus betrat. Vorsichtshalber hatte er seine blutverschmierte Jacke auf dem Weg von Llanadevy über eine Hecke geworfen. Er war zwar auf einen ablehnenden 142
Empfang vorbereitet, hatte aber keine Ahnung, wo er sonst hingehen sollte. Am liebsten wäre er mit Siebenmeilenstiefeln zum nächsten Bahnhof gelaufen und hätte den ersten Zug nach Portsmouth bestiegen, wenn ihm die Polizei nicht verboten hätte, die Gegend zu verlassen. »Du glaubst doch nicht etwa, daß du unter diesem Dach noch eine Stunde bleiben kannst, nachdem was du Jennifer angetan hast.« Mrs. Jones steigerte sich in ihre Wut geradezu hinein. »Aber ich habe Jenny doch gar nicht umgebracht«, sagte Peter laut. »Kann sein, kann auch nicht sein. Das werden die Leute von der Polizei schon herausfinden. Eines steht aber fest. Wenn du nicht mit ihr herumgespielt hättest, säße sie jetzt hier und tränke ihren Tee. Du bist für ihren Tod verantwortlich – und das ist für mich dasselbe, als ob du sie mit eigenen Händen umgebracht hättest. Im übrigen kommen Jennifers Eltern in ein paar Stunden. Ich kann mir nicht vorstellen, daß sie dich sehen wollen. Deinen Koffer habe ich schon gepackt. Dein Motorrad steht noch draußen in der Scheune. Es hindert dich also nichts
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daran, sofort zu verschwinden. Wir wollen dich hier nie wiedersehen.« Gwynne Owen lehnte im Hauseingang und blickte auf den verstörten, jungen Mann hinunter, der am Fuß der Treppe stand. Mit einem Blick erfaßte er das Motorrad und den darauf befestigten Koffer. »Ich habe schon gehört, daß man dich entlassen hat. An sich habe ich keinen Augenblick geglaubt, daß du Jennifer umgebracht hast. Wenn du natürlich für ihren Tod auch mehr oder weniger verantwortlich bist, Peter. Ich habe versucht, den Beamten etwas über die Schwarzen Hunde zu erzählen. Aber die glauben einfach nicht daran. Deshalb kommen sie auch zu keiner vernünftigen Lösung. Als Gordon Hall Loup erschoß, habe ich nicht angenommen, daß damit die Angelegenheit erledigt wäre. Und die Familie Jones hat dich also rausgeworfen. Ich kann es den Leuten nicht verdenken. An ihrer Stelle hätte ich wahrscheinlich genauso gehandelt.« »Ich wollte Sie nur fragen, ob Sie vielleicht auf dem Hof eine Hilfe brauchen«, sagte Peter verzweifelt. »Wenigstens für ein oder zwei Wochen. Die Polizei verlangt, daß ich in der Gegend bleibe.« 144
Gwynne Owen kratzte sich das zerzauste graue Haar und dachte nach. Dann kam er zu einem Entschluß. »Nachdem Loup nicht mehr lebt, nimmt bei uns die Arbeit überhand. Vermutlich mache ich mich bei den Leuten hier ziemlich unbeliebt, wenn ich dich aufnehme. Aber das kann ich ertragen. Schieb dein Motorrad in die Scheune und bring deinen Koffer nach oben. Allerdings mußt du dir mit Philip ein Zimmer teilen, wir haben nicht genügend Platz.« Gordon Halls Artikel machte am nächsten Morgen in der Londoner Zeitung Schlagzeilen. »Verstümmelte Mädchenleiche nach Mondscheinspaziergang gefunden.« Der Bericht schilderte alle Einzelheiten über die entsetzliche Entdeckung und endete mit der üblichen Feststellung, daß zur Stunde bereits ein Verdächtiger von der Polizei festgehalten und befragt werde. Die nächste Ausgabe mußte einräumen, daß die Polizei den Betreffenden bereits wieder freigelassen hatte. Ein Polizeisprecher gab bekannt, daß der Mord vermutlich auf den Angriff eines wilden Tieres, möglicherweise eines Wolfes zurückzuführen sei. Er wunderte sich lediglich darüber, daß nirgends ein solches Tier als vermißt gemeldet sei. Die Bewohner der 145
dortigen Gegend wurden aufgefordert, ihre Häuser nach Einbruch der Dunkelheit möglichst nicht zu verlassen. Chefinspektor Ford sah von seinem Schreibtisch hoch, den er vorübergehend im Hauptquartier der für den Fall zuständigen Polizeistation Llanadevy belegt hatte. Er warf Sergeant Bayley einen fragenden Blick zu. Beide Männer machten durch den Mangel an Schlaf und greifbaren Ereignissen, auf die sie gehofft hatten, einen ziemlich erschöpften Eindruck. Es war inzwischen Dienstag abend. Die Dämmerung brach gerade herein. Das Wetter schien wieder winterlich kalt werden zu wollen. Ford seufzte, schob einen Berg Berichte und Akten zur Seite, in denen er gelesen hatte, lehnte sich in seinem Stuhl zurück und stopfte sorgfältig seine Pfeife. »Jetzt haben wir uns zweieinhalb Tage mit ausgedehnten Recherchen herumgeschlagen, haben Berge von Berichten geschrieben und Zeugen gehört. Und was haben wir aufzuweisen? Absolut nichts.« »Wir haben wenigstens die Bestätigung, daß das Mädchen tatsächlich von einem Tier zerrissen wurde.« Sergeant Bayley gab sich wie immer die größte Mühe seinen Chef aufzu146
heitern. »Und es handelt sich aller Voraussicht nach wirklich um einen Wolf. Wenn das der Fall ist, muß sich das Tier noch irgendwo in der Gegend verstecken, vermutlich um die Schwarzen Hügel herum. Irgendwann wird ihm gar nichts anderes übrigbleiben, als zum Vorschein zu kommen. Es muß sich Nahrung suchen. Also kann es sich höchstens um ein paar Tage handeln, bis wir es haben.« »Hoffentlich haben Sie recht«, sagte der Inspektor resigniert. »Wer weiß, wie lange das noch dauert.« »Was wir hier tun, ist ja alles ganz schön und gut.« Der Sergeant setzte sich auf die Tischkante. »Ich habe mir etwas überlegt. Wenn der Wolf nicht zu uns kommt, könnten wir doch eigentlich ihn aufsuchen. Wir sollten jeden Bauern, Schafzüchter und sonstigen Waffenkenner zusammentrommeln und das ganze Gebiet umstellen. Wenn dann diese Gruppe mit einer Meute Hunde den Wald durchstreift, müßte es doch mit dem Teufel zugehen, wenn wir das Tier nicht aufspürten. Zum Wochenende könnten wir leicht so etwas organisieren, wie wäre es mit Freitag oder Samstag?«
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»Das wäre einen Versuch wert«, sagte Inspektor Ford und schüttelte bei der Aussicht, etwas tun zu können, seine Resignation ab. »Alles ist besser, als hier auf dem Hintern herumzusitzen und sich mit Theorien herumzuschlagen, die am Ende zu nichts führen.« Philip Owen war von der Aussicht nicht begeistert, sein Zimmer mit Pike teilen zu müssen. Ganz abgesehen von der Tatsache, daß er den Jungen aus Portsmouth nie gemocht hatte, fragte er sich entsetzt, was beim nächsten Vollmond passieren würde. Einerseits war er froh, daß Peter nicht für ein Verbrechen büßen mußte, das er, Philip, als Werwolf begangen hatte, andererseits war es mehr als unbequem, wenn jemand bei ihm im Zimmer schlief, während die unvermeidliche Verwandlung stattfand. Er konnte nur hoffen, daß Peter ein Schläfer war, der nicht so leicht wach wurde. Wenn er sich vor Augen hielt, was er in den letzten Wochen getrieben hatte, wurde ihm schwarz vor den Augen. Am liebsten hätte er geschrien und getobt, wäre weggerannt und hätte sich versteckt. Noch lieber aber wäre er gestorben. Das schien ihm überhaupt der einzige sichere Weg zu sein, sich 148
von seinen Qualen zu befreien. Dann wären auch die Menschen, die am Fuße des Hügels lebten, endlich ihres Lebens wieder sicher. Leider war das unmöglich. Er fragte sich außerdem, ob Werwölfe überhaupt sterben konnten, oder ob sie bis zum Ende aller Tage umgehen mußten. Wieder dachte er über Peter nach. Der junge Bursche wußte gar nicht, in welch tödlicher Gefahr er schwebte. Wenn er ein einziges Mal in das Gesicht des Werwolfes sah, genügte das, um ihn Jennifers Schicksal erleiden zu lassen. Und es gab nichts, was Philip Owen dagegen tun konnte.
11. Ein klarer Freitagmorgen brach an. Die Sonne stieg an einem wolkenlosen blauen Himmel auf. Als ihre Strahlen wärmer wurden, schmolz der dicke, alles bedeckende Reif. Die Luft war angenehm frisch. Sie wirkte geradezu anregend auf die Menschen, die ihre Arbeit im Freien verrichteten. Gordon Hall parkte seinen Wagen im Hof hinter Gwynne Owens Haus. Er trat zu der 149
Gruppe von über zwanzig Männern, die neben der Scheune standen und angeregt aufeinander einredeten. Den Abhang hinunter kam ein Trupp berittener Jäger in traditionellen purpurroten Röcken und weißen Reithosen. Eine Meute aufgeregter Jagdhunde folgte ihnen bellend. Sie ließen sich nur mühsam vom Pikör zusammenhalten, einem schlanken, wettergegerbten Mann, der offensichtlich seine Autorität genoß, auch wenn sie sich nur über Hunde erstreckte. Der Anführer der Jäger war ein großer, schlanker Reiter. Er saß sehr aufrecht im Sattel und machte einen ziemlich militärischen Eindruck, den er offensichtlich beabsichtigte und genoß. Sein Gesicht drückte eine gewisse Nachsicht mit den Anwesenden aus. Er war zwar ihretwegen gekommen, wußte aber ganz genau, wie dumm sie eigentlich im Vergleich zu ihm waren. Während all der Jagden, die er in den vergangenen Jahren geritten war, hatte er niemals etwas anderes als Füchse gejagt. Und diesmal sollte es ausgerechnet auf einen Wolf gehen. Allerdings war er ziemlich sicher, daß der Tag mit einer zünftigen Fuchsjagd enden würde, sobald die Hunde einmal die Witterung aufgenommen hatte. Dann würden sie 150
auch keine Herren von Scotland Yard aufhalten können. Gordon Hall begrüßte die Versammlung. Der Anblick der beiden Kriminalbeamten in dicken Rollkragenpullovern und schweren Lederstiefeln belustigte ihn. Gwynne Owen und Morris standen auf lange, feste Stöcke gelehnt und betrachteten neugierig jeden Neuankömmling. Ein Großteil der männlichen Bevölkerung aus der Gegend und auch von dem einen oder anderen weiter entfernt liegenden Hof hatte sich eingefunden. Die Waffen, die mitgeführt wurden, reichten vom alten Hinterlader bis zur modernsten Doppelflinte. Jeder Jäger trug eine Anzahl schwerer Patronen in der Tasche, mit denen er gewöhnlich auf wildernde Füchse schoß, die sich seinen Feldern und Weiden zu sehr näherten. Es gab keinen einzigen, der nicht mit der festen Absicht gekommen war, den Wolf zur Strecke zu bringen. Jeder hatte seit dem gestrigen Tage, als die große Jagd aufgeboten worden war, immer wieder dieselbe Szene vor seinem inneren Auge ablaufen lassen – eine Szene, bei der er die Hauptrolle spielte. Gordon Hall hatte weder Zeit noch Lust, sich solchen Tagträumen hinzugeben. Er küm151
merte sich um realere Dinge. Er war insgeheim erbost darüber, daß sich da irgendwo in den Wäldern ein Tier herumtrieb, das ihm durch seine pure Anwesenheit den Ruhm, den er durch den Abschuß von Loup erlangt hatte, streitig machen konnte. Irgend etwas an der Geschichte kam ihm merkwürdig vor. Zwei männliche Mitglieder der Dorfgemeinschaft hatten sich als einzige der Wolfsjagd nicht angeschlossen. Philip Owen und Peter Pike. Philip war zurückgeblieben, um sich um den Betrieb auf dem Hof zu kümmern, Pike war nach seinen kürzlichen Erfahrungen noch nicht wieder in der Verfassung, die Weiden an den Schwarzen Hügeln zu betreten. Als sich endlich alle versammelt hatten, setzte sich die Gruppe unter Führung von Gordon Hall und den Polizeioffizieren hügelaufwärts in Bewegung. Man ging zu Fuß. Der Journalist hatte die Aufgabe übernommen, an allen strategisch wichtigen Stellen Leute mit Gewehren zu postieren. Ungefähr eine Stunde später sollten sich auf der entgegengesetzten Seite des Waldes die Hunde in Bewegung setzen. Die rotgekleideten Reiter würden folgen.
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»Wenn sich hier wirklich ein Wolf versteckt hält, werden wir das bald wissen«, stellte Inspektor Ford fest und zog gemächlich an seiner Pfeife. Auf dem Hof gingen inzwischen Philip und Peter wie üblich ihrer Arbeit nach. Gwynne Owen betraute seinen Sohn selten mit speziellen Aufgaben, da dieser genau wußte, was getan werden mußte, damit die Arbeit reibungslos weiterlief. Was ihm an Erziehung und Verstand fehlte, machte er auf diesem Gebiet mehr als wett. Seit kurzem hatte Philip aber Peter als Mitarbeiter zugeteilt bekommen und mußte sich jetzt bemühen, genügend Arbeit für ihn zu finden, um ihn den Tag über zu beschäftigen. Als die Gesellschaft von Jägern verschwunden war, machte er sich darüber seine Gedanken. Er verspürte nicht die geringste Lust, den Jungen den ganzen Tag in seiner Nähe zu haben, und zog es außerdem vor, sich selbst um die Schafe zu kümmern. Was konnte Peter Pike in der Zwischenzeit tun? Der Anblick des schon stark dahingeschwundenen Holzstapels neben der Küchentür brachte ihn auf einen Gedanken. »Eigentlich könntest du Holz sägen«, sagte er mißmutig zu dem jungen Burschen. »Es 153
geht ziemlich zur Neige. Hinter der langen Scheune am Ende des Hofes steht eine Kreissäge. Dort liegt auch ein Haufen Baumstämme, die wir vor ein paar Wochen die Hügel heruntergeschleppt haben. Ich komme mit und zeige dir, wie du die Sache anpacken mußt.« Pike wurde beim Anblick der uralten Kreissäge etwas seltsam zumute. »Das Ding sollte eigentlich eine Sicherheitsvorkehrung haben«, deutete er an. Was er da sah, gefiel ihm keineswegs. »Wenn man nicht ständig aufpaßt, kann man sich ja ohne weiteres den eigenen Hals absägen.« »Vater hat schon gesagt, daß wir die Sicherheitsvorkehrung einbauen lassen müssen, wenn wir jemand als Hilfe einstellen.« An Philips Ton war deutlich zu hören, daß er den anderen nicht mochte. »Ihr seid doch jetzt meine Arbeitgeber.« »Das sind wir keineswegs. Du erledigst für uns nur ein paar Gelegenheitsarbeiten, bis du die Gegend verlassen kannst.« Peter ballte die Fäuste. Die Fingerknöchel traten weiß hervor. Er mußte sich Mühe geben, dem anderen keinen Schlag ins Gesicht zu verpassen. Er wußte, daß er für die nächsten Wochen in bezug auf Kost und Unter154
kunft auf Philip angewiesen war, bis die Polizei ihn gehen ließ. Mit einem unterdrückten Fluch drehte er sich um und setzte die Säge in Gang. Ihr lautes Kreischen machte jede weiter Unterhaltung unmöglich. Philip kehrte zum Haus zurück, um sich seine belegten Brote zu holen, die er immer mitnahm, wenn er auf den oberen Weiden arbeitete. Das ersparte ihm Zeit und Mühe, zum Mittagessen nach Hause zu kommen. Als er das Paket in seiner Tasche verstaute, hatte er plötzlich einen Geistesblitz. Auf einen Schlag sah er eine Möglichkeit, wie er den unbequemen Peter Pike aus dem Wege räumen konnte. Er wunderte sich, warum ihm das nicht schon früher eingefallen war. Vor sich hin pfeifend ging er um die Scheune herum. Er sah keinen Grund, sich leise zu bewegen, denn die Säge machte einen solchen Krach, daß Peter ihn auch nicht gehört hätte, wenn er mit eisenbeschlagenen Schuhen näher gekommen wäre. Vorsichtig spähte er um die Ecke des Schuppens. Pike wandte ihm den Rücken zu und setzte eifrig die alte Säge in Betrieb. Er stand nur wenige Meter entfernt. Philip war sich darüber im klaren, daß jetzt der richtige Zeitpunkt war, um seinen Plan auszuführen, und daß eine 155
solche Gelegenheit vielleicht nie wieder käme. Eben beendete Peter einen Längsschnitt durch einen Baumstamm. Einen Augenblick lang drehte sich das Sägeblatt frei in der Luft. Philip nahm alle Kraft zusammen und sprang. Seine ausgestreckten Hände packten Peter im Nacken und drückten seinen Kopf nach unten. Ob der andere schrie oder nicht, bemerkte Philip nicht. Das Kreischen der Säge übertönte alles übrige. Blut spritzte, und Kopf und Rumpf fielen voneinander getrennt zu Boden. Philip sah faszinierend zu, wie Pikes Kopf liegenblieb. Auf dem Gesicht lag noch immer der Ausdruck von Schmerz und Entsetzen. Philip vermochte sich nicht sofort von dem erfolgreichen Werk seiner Hände zu trennen. Befriedigt stand er da. Seiner Meinung nach hätte er das gar nicht besser anstellen können. Der Boden war hart und trocken, also würde auch das intensivste Suchen nach Fußspuren kein Ergebnis bringen. Andererseits hätte er die jederzeit erklären können. Er hatte Pike gezeigt, wie man die Säge bedienen mußte. Daß dieser Dummkopf dann nichts besseres zu tun gewußt hatte, als seinen eigenen Kopf darunter zu stecken, 156
war allein Pikes Schuld. Dafür konnte man Philip nicht verantwortlich machen. Es war ein Unglücksfall, wenn auch einer von den vermeidbaren. Philip wandte sich um und wanderte langsam den Hügel hinauf. Er hatte das Gleichgewicht wiedergefunden. Die massive Drohung, die Peter Pikes Anwesenheit für ihn bedeutete, war beseitigt, ohne eine Spur zu hinterlassen. Er hörte von ferne noch immer das Geräusch der Kreissäge, die monoton vor sich hin surrte. In seinen Ohren klang es wie Musik. Gordon Hall lehnte an einem verkrüppelten Eichenstamm und sah auf die Uhr. Es war fünf Minuten nach zwölf. Alle Leute mit Gewehren waren auf ihren Posten. Von der anderen Seite der Hügel hörte er eifrig die Jagdhunde bellen. Da es windstill war, konnten die Hunde jede Witterung im trockenen Dickicht leicht aufnehmen. Wenn er auch nicht erwartete, wirklich einen Wolf vor die Flinte zu bekommen, so war Gordon Hall doch mit dem Verlauf des Tages sehr zufrieden. Fünfzig Meter zu seiner Linken sah er Inspektor Ford mit einer geliehenen Schrotflin157
te. Er hatte sich hinter einem Gebüsch versteckt. Der Journalist lachte still in sich hinein. Plötzlich fiel ihm etwas ein. Gesetzt den Fall, die Hunde spürten wirklich einen Wolf auf und die Gewehrschüsse verfehlten ihn! Oder es bekäme einer der Männer den Wolf zu Gesicht, der im Umgang mit Waffen nicht besonders vertraut war! Gordons Selbstbewußtsein stieg ins Ungemessene, wenn er daran dachte, daß er dann den »Retter aus der Not« spielen konnte. In einiger Entfernung gaben die Hunde Laut. Die Luft war von ihrem Bellen und Jaulen erfüllt. Jetzt hatten sie ihre höchste Lautstärke erreicht und kamen näher. Für alle Fälle brachte er sein Gewehr in Schußposition, wenn es auch noch einige Zeit dauern mochte, bis zwischen den Bäumen etwas zum Vorschein kam. Jetzt war es still. Offensichtlich hatten die Hunde die Witterung verloren und zogen Kreise in dem Bemühen, die Spur wieder aufzufinden. Ein paar Minuten später erklang ihr Bellen von neuem. Sie waren jetzt ziemlich nahe heran. Es gibt kaum ein malerischeres Bild, als einen männlichen Fuchs mit wehender Rute, der in voller Flucht von einer Meute Hunde verfolgt wird. Die rotberockten Reiter, die 158
den Tieren nachsetzten, vervollständigten das farbenprächtige Bild. Gordon bedauerte, daß er seine Kamera nicht dabei hatte. Er hätte gern die drei Gruppen, die da nacheinander aus dem Wald stürzten, in Farbe festgehalten. Fuchs, Hunde und Reiter hatten den Wald hinter sich gelassen und passierten jetzt die lange Reihe der mit Gewehren Wache stehenden Männer. Dann wandten sie sich ins Tal. Gordon setzte die Pfeife an die Lippen und gab ein Zeichen, daß die Jagd ihr Ende gefunden hatte. Er war seiner Sache sicher, daß die Hunde einen Wolf, der sich im Wald herumtrieb, nicht übersehen hätten. Soweit es die Wolfsjagd betraf, hatte sich der Tag als Mißerfolg erwiesen. Die Enttäuschung war den Männern anzusehen, die von weit her gekommen waren. Sie hatten zumindest gehofft, etwas Aufregendes zu erleben. Als sich die Gesellschaft auf den Rückweg machte, kamen sie auf der oberen Weide an Philip vorbei, der am Waldrand saß und mit Genuß seine belegten Brote verzehrte. »Wo ist Peter?« fragte Gwynne. »Als ich ging, sägte er Holz.« Philip grinste seinen Vater an. »Du kannst die Säge bis 159
hierher hören. Er muß inzwischen einen ganz schönen Haufen zusammen haben. Ist schon seit über zwei Stunden an der Arbeit.« »Das war eine gute Idee. Da stellt er wenigstens nichts an«, lobte ihn sein Vater und beeilte sich, die anderen einzuholen, die weitergegangen waren. »Ihren Wolf haben wir ja leider nicht zu Gesicht bekommen«, frotzelte Gordon Hall mit so lauter Stimme, daß jeder ihn hören konnte, die beiden Detektive an. Sie gingen müde den Abhang hinunter. Inspektor Ford warf ihm einen giftigen Blick zu, sagte aber nichts. Sergeant Bayley tat, als habe er nichts gehört. »Das war ja auch kaum anzunehmen.« Gwynne Owen hatte sich zur Spitzengruppe vorgeschoben und mischte sich ein. »Daß Sie immer noch an einen Wolf glauben! Ich hab’s Ihnen doch mehr als einmal gesagt und ich bin gern bereit, es zu wiederholen. Es gibt hier weit und breit keinen Wolf, höchstens im Zoo von Chester. Je eher Sie aber merken, daß es die Schwarzen Hunde sind, hinter denen wir her sind, desto besser.« Er machte eine Pause, um Atem zu schöpfen. »Wir haben bis jetzt eine Menge 160
Schwierigkeiten gehabt. Aber glauben Sie mir, das ist noch gar nichts gegen das, was noch kommt«, prophezeite er. »Die Schwarzen Hunde haben es auf uns abgesehen. Wenn ich könnte, würde ich meinen Hof verkaufen und abhauen. Dann bekäme man mich in der Nähe der Schwarzen Hügel nicht mehr zu sehen. Unheil braut sich zusammen. Ich war mir noch nie im Leben einer Sache so sicher.« Beim Betreten des Hofes fiel Gwynne auf, daß sich das Geräusch der Kreissäge nicht verändert hatte, seit sie den Hügel herunterkamen. »Der Junge hat die Säge einfach weiterlaufen lassen und ist abgehauen«, brummte er und verließ eilenden Schrittes die Gesellschaft. »Das ist der Ärger mit der heutigen Jugend. Man kann sich einfach nicht auf sie verlassen.« Gleich darauf verschwand er hinter der Scheune am Ende des Hofes. Als er mit aschgrauem Gesicht wieder auftauchte, zitterte er am ganzen Körper und stützte sich haltsuchend gegen die Wand. Mehr als ein Flüstern brachte er nicht heraus – was schrecklicher klang, als wenn er geschrien hätte. Sein ganzes Verhalten zeigte 161
deutlich, daß er hinter der Scheune etwas Furchtbares erlebt hatte. »Der Junge. Er ist mit dem Kopf in die Kreissäge geraten.« Dann gaben seine Knie unter ihm nach, und Gordon Hall konnte ihn gerade noch auffangen, bevorer zu Boden sank. Der Journalist bettete den alten Mann sanft auf die Erde. Inspektor Ford und Sergeant Bayley rannten zu der Stelle, wo die Kreissäge noch ihr gräßliches Lied von gewaltsamem Tod sang. Die anderen folgten hastig den Detektiven, um nur ja keine grauenvolle Einzelheit zu versäumen. Aber da gab es nichts mehr zu tun. Der abgetrennte Kopf von Peter Pike sah sie mit starren, blinden Augen an. Selbst die Leute von Scotland Yard, die an einiges gewöhnt waren, erbleichten. Das war der zweite gewaltsame Tod innerhalb von fünf Tagen.
12. In Llanadevy hatte es seit fünf Jahren keine Totenschau mehr gegeben. Damals erhäng162
te sich Walter Parsons, als er nach dem Tode seiner Frau die Einsamkeit nicht mehr ertragen konnte. Jetzt sollten am selben Tage gleich zwei Verhandlungen stattfinden, damit Richter und Leichenbeschauer die Reise in das abgelegene Dorf nicht zweimal antreten mußten. Die Schule war bei dieser Gelegenheit bis auf den letzten Platz gefüllt. Wenn die Leute, die an diesem Montagmorgen in so großer Anzahl erschienen waren, allerdings eine Sensation erwarteten, wurden sie enttäuscht. Die Verhandlung im Falle Peter Pike dauerte ganze zehn Minuten, dann lautete der Spruch »Tod durch Fahrlässigkeit«. Gwynne Owen wurde hart ins Gebet genommen, daß er es zugelassen hatte, daß der Junge eine Kreissäge ohne Sicherheitsvorkehrungen bediente. Von gerichtlichen Schritten gegen den alten Mann sah man ab, da der junge Bursche nicht fest bei ihm angestellt gewesen war. Er hatte Pike lediglich erlaubt, auf dem Hof zu arbeiten, solange ihn die Polizei nicht ab- reisen ließ. Der Fall Jennifer Hughes war schwieriger. Chefinspektor Ford und Sergeant Bayley legten dem Gericht genügend Beweise vor, die 163
zeigten, daß das Mädchen in der Tat in den Klauen und Fängen eines wilden Tieres sein Ende gefunden hatte. Man nahm auch an, daß es sich um einen Wolf handelte. Wo sich dieser Wolf allerdings zur Stunde aufhielt, vermochte keiner zu sagen. Genausowenig wußte man, wie dieser Wolf in die Schwarzen Hügel gelangt war. Weder in einem Zoo noch in einem Tiergarten wurde ein solches Tier vermißt. Seit dem Unglücksfall hatte man auch nichts mehr von ihm gehört. Schließlich erging zögernd der Urteilsspruch »Tod durch unglückliche Umstände«, ein Spruch, der niemand befriedigte, weder den Leichenbeschauer, noch das Gericht, noch die Einwohner von Llanadevy. Aber was konnte man sonst tun? Ende der Woche reisten die beiden Beamten von Scotland Yard mit ihren Helfern ab. Es hatte für sie wenig Sinn, in Shropshire zu bleiben, selbst wenn tatsächlich irgendwo ein wildes Biest herumstrolchte. Der ortsansässige Konstabler war im Notfall vermutlich genauso kompetent, seine Gefangennahme zu veranlassen, wie die zwei Leute von Scotland Yard, die anderweitig dringender gebraucht wurden.
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Zwei Wochen später lief das Leben in Llanadevy wieder mehr oder weniger in gewohnten Bahnen. Immer noch fürchteten sich die Leute abends ihre Häuser zu verlassen und verbarrikadierten Türen und Fenster. Einige waren inzwischen davon überzeugt, daß die Schwarzen Hunde aus grauer Vorzeit in ihr altes Revier zurückgekehrt waren. Andere fürchteten sich vor den Geistern der alten Druiden. Die meisten jedoch hatten einfach Angst, ohne zu wissen wovor. Einer war mehr als überglücklich, als die Polizisten endlich abreisten – Philip Owen. Auf merkwürdige Weise fühlte er sich plötzlich fast allmächtig. Er hatte zwei Menschen getötet, und das auf eine Art, die zwei der bekanntesten Kriminalbeamten des Landes nicht ermittelt hatten. Die Leistung erschien ihm nicht schlecht für einen Schafzüchter, der weder lesen noch schreiben konnte und sein ganzes Leben in den Schwarzen Hügeln verbracht hatte. Natürlich wurde er immer wieder von dem Wissen gepeinigt, daß der Fluch nach wie vor auf ihm lastete. Als sich die Februarwoche näherte, in der der volle Mond am Himmel stehen sollte, wurde er unruhig. Er wuß-
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te, daß er dem Ruf nicht widerstehen konnte, selbst wenn er sich dagegen wehrte. Eines Abends, ungefähr zwei Tage vor Beginn des Vollmonds, kehrte er von den Weiden zurück und ging sofort hinauf in sein Zimmer, um sich zu waschen und umzuziehen. Beim Betreten des Hauses war ihm nicht aufgefallen, daß seine Eltern miteinander flüsterten. Ihre ernsten Gesichter hatte er nicht beachtet. Also war die Atmosphäre einigermaßen gespannt, als er sich zu Tisch setzte. Er machte sich über einen großen Teller Kartoffelbrei mit Ragout her, ein Essen, das er besonders schätzte. Endlich waren schweigend die Teller geleert, das Geschirr abgewaschen. Mrs. Owen kehrte ins Zimmer zurück und hielt etwas hinter ihrem Rücken verborgen. Sie schloß die Tür und kam näher. »Wir hätten gern eine Erklärung von dir, Philip«, begann sie mit einer Stimme, in der sich Verwunderung und Ärger mischten. »Was hast du angestellt?« Der junge Mann sah von dem verschwommenen Bild des Fernsehers hoch. »Was meinst du, Mutter?« »Das hier!« Mrs. Owen schrie ihm die Worte fast ins Gesicht. Sie warf ihm ein Bündel 166
Kleidungsstücke zu, das auf seinem Schoß landete. Gwynne Owen lehnte an der Tür, als ob er seinen Sohn von einer Flucht abhalten wollte. Er machte ein ernstes Gesicht. Seine Hautfarbe unter den zwei Tage alten Bartstoppeln war grau. »Sag endlich etwas, Philip«, bekräftigte er. »Erkläre uns, was da passiert ist.« Philip sah die zerfetzten, dreckigen Kleidungsstücke an, die seine Mutter ihm entgegengeschleudert hatte. Jetzt wurde ihm schwarz vor Augen. Einen Moment lang glaubte er, sein Herz würde stocken. Es waren die Überreste seines ersten Auftretens als Werwolf. Er hatte sich ihrer seit Wochen entledigen wollen und es immer wieder hinausgeschoben, wie das so seine Art war. Morgen ist auch ein Tag, hatte er gedacht, und die Sache dann wieder vergessen. Zuerst wurde er blaß, dann rot vor Wut. »Wer hat dich geheißen, in meinem Zimmer herumzustöbern, Mutter?« fauchte er sie an. »Beantworte du zuerst meine Frage, bevor du selber Fragen stellst«, schimpfte seine Mutter. »An diesen stinkenden Lumpen befindet sich Blut und auch sonst noch einiges, was nicht dorthin gehört.«
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Philip zögerte und suchte nach Ausflüchten. Jetzt hätte er etwas darum gegeben, einen schnellen Verstand wie Gordon Hall zu haben, damit ihm eine Ausrede einfiel. Er fühlte sich in die Enge getrieben. Sollte er seinen Eltern alles erzählen? Er bedeckte das Gesicht mit den Händen, um Zeit zu gewinnen. Vielleicht wußten sie eine Möglichkeit, ihm zu helfen, wenn er sich auch nicht vorstellen konnte, auf welche Weise. Andererseits wurde sein gepeinigtes Gehirn von dem Wissen um sein furchtbares Geheimnis fast in den Wahnsinn getrieben. Er faßte einen Entschluß. »Also gut«, seufzte er. »Vielleicht ist es wirklich besser, wenn ihr endlich Bescheid wißt. Viel länger kann ich mein Geheimnis nicht für mich behalten. Ich bin .. .«, er zögerte und gab sich einen Ruck, »ein Werwolf.« »Jetzt ist keine Zeit für dumme Witze!« Mrs. Owen war außer sich vor Wut und Entrüstung. »Sag etwas, das einen vernünftigen Sinn ergibt.« »Moment mal«, unterbrach sie Gwynne. »Was hast du da eben gesagt, Junge?« »Ich sagte, daß ich ein Werwolf bin«, wiederholte Philip. »Ihr wißt ja gar nicht, wie 168
schrecklich das ist. Bitte helft mir doch, anstatt zu schimpfen«, flehte er. »Was für ein Unsinn.’» Seine Mutter war womöglich noch mehr in Rage geraten. »Erzähl mir keine Ammenmärchen! Ich will eine vernünftige Erklärung dafür, wie es möglich ist, daß deine Kleider so aussehen.« Gwynne hob die Hand und bedeutete ihr, endlich den Mund zu halten. »Tu nicht so leicht als Unsinn ab, was du nicht verstehst, Blodwyn. Über solche Sachen weiß ich besser Bescheid als du. Laß den Jungen endlich seine Geschichte erzählen.« Langsam und stockend berichtete Philip, wie er sich zum erstenmal in ein Ding, halb Mensch, halb Wolf verwandelt hatte. Er erzählte, wie er das Mutterschaf zerrissen hatte. Dann kam er darauf zu sprechen, welche Erfahrungen er mit menschlichem Fleisch und Blut gemacht hatte. »Oh, mein Gott!« stieß Gwynne Owen entsetzt aus. Er kam seiner Frau zu Hilfe, die vor Entsetzen in den nächsten Sessel gefallen war. Sie war am Rande einer Ohnmacht und konnte sich nur mit Mühe aufrecht halten.
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»Du hast also Jennifer Hughes umgebracht«, sagte sie mit erstickter Stimme. »Mein eigener Sohn ist ein Mörder!« Philip nickte. Bei dem Gedanken, daß er die Last, die die vergangenen Monate über so schwer auf seinen Schultern geruht hatte, nicht mehr allein tragen mußte, fühlte er sich etwas erleichtert. »Nicht nur das. Ich bin ein Doppelmörder. Ich habe Peter Pikes Kopf unter die Kreissäge gehalten. Mir blieb gar nichts anderes übrig. Ich mußte es einfach tun. Er hätte sonst beim nächsten Vollmond unweigerlich mein Geheimnis entdeckt.« Jetzt herrschte Grabesstille im Zimmer. Philip sah fragend seine Eltern an und wandte dann den Blick zum lodernden Holzfeuer im Herd, wobei er sich fragte, ob es wohl in der Hölle so oder ähnlich aussah. »Streck die Hände aus, Junge«, rief Gwynne Owen und beugte sich gespannt nach vorn. Philip tat, wie ihm geheißen war. Der alte Mann starrte geraume Zeit darauf. Als er sich gefaßt hatte, bebte seine Stimme. »Der Junge spricht die Wahrheit, Blodwyn«, sagte er. »Wirf einen Blick auf seine Hände. Betrachte dir genau die dritten Finger an jeder Hand. Sie sind ein Stück länger als die 170
anderen. Das ist ein sicheres Zeichen, daß Philip ein Werwolf ist. Jetzt gibt es gar keinen Zweifel mehr.« »Mein Junge, mein armer Junge!« Mrs. Owen barg schluchzend das Gesicht in ihre Schürze. Dann war sie still. Alle drei saßen schweigend da, starrten ins Feuer und hingen denselben Gedanken nach. Konnten sie irgend etwas tun, um Philip zu helfen, und wenn ja, was? Gab es überhaupt einen Ausweg? »Gibt es keine Heilmethode?« Mrs. Owen wagte die Frage kaum zu stellen. Sie hatte selbst das Gefühl, daß es keine befriedigende Antwort gab. Gwynne Owen schüttelte langsam und bestimmt den Kopf. Es fiel ihm unendlich schwer, alles zu sagen, was er über Werwölfe wußte. Andererseits war ihm nur zu klar, daß es keinen Sinn hatte, wenn er falsche Hoffnungen zu wecken versuchte. »Nein«, murmelte er fast tonlos. »Jedenfalls habe ich noch nie von einer gelungenen Heilung gehört.« Wieder herrschte Schweigen. Die drei sahen sich verzweifelt an und starrten dann wieder in die Flammen, die knisterten und züngelten, als ob sie ihnen die einzige Zukunft 171
weisen wollten, die einem Werwolf beschieden war. »Übergebt mich der Polizei.« Philip hatte einen Entschluß gefaßt und unterbrach das Schweigen. »Sie soll mich irgendwo einsperren, wo ich nicht hinaus kann. Wenigstens bringe ich dann keine unschuldigen Menschen mehr in Gefahr.« Der alte Schafzüchter schien plötzlich um zehn Jahre gealtert. »Nein. Das ist keine Lösung. Außerdem wird man uns die Geschichte niemals glauben, wenn man Philip nicht gerade in dem Augenblick zu Gesicht bekommt, wo er sich verwandelt. Laßt uns die ganze Geschichte einmal vom Standpunkt der Logik aus betrachten. Die Verwandlung zum Werwolf tritt jedesmal bei Vollmond ein und dauert nur wenige Stunden. Wenn ein Werwolf schon zu Beginn seines Ausgangs seine Gelüste stillt, wird er vermutlich dem Ruf vor dem nächsten Vollmond nicht wieder folgen müssen. In der Zwischenzeit kann er also ein durchaus normales Leben führen. Wenn wir also Philip jedesmal fest in seinem Zimmer verbarrikadieren, Gitter und Riegel an Fenstern und Türen anbringen, die er nicht zerbrechen kann, dann besteht eine gewisse Chance. Er wird dann zwar ein 172
paar Stunden lang wie ein Irrer toben, sich dann aber in einen Menschen zurückverwandeln, als ob nichts geschehen wäre. Wenn wir so verfahren, braucht niemand von der Geschichte zu erfahren.« Das schien die Lösung zu sein. Fast glaubten sie schon gewonnen zu haben. Mrs. Owen hatte sich bemerkenswert schnell gefaßt. Sie füllte den Kessel mit Wasser und stellte ihn auf die rußgeschwärzte Herdplatte. »Etwas geht mir ständig im Kopf herum, Philip«, sagte Gwynne Owen nachdenklich. Er füllte seine kurze Pfeife und beugte sich vor, um sie mit einem brennenden Span aus dem Herd anzuzünden. »Wieso bist du eigentlich so geworden? Du bist doch von keinem Werwolf angefallen worden. Das ist nämlich normalerweise die Art, wie der Fluch weitergegeben wird. Ich kann mir einfach nicht vorstellen, wie das passiert sein soll.« »Weiß ich auch nicht«, sagte Philip, der sich weit besser fühlte, seit er die Krise überstanden glaubte. »Das einzige Tier, das mich in den letzten Wochen gebissen hat, war Loup.« Er rollte das Hosenbein hoch und zeigte die Narben vor. »Die Wunde ist inzwischen völlig verheilt.« 173
Da blitzte es in den Augen seines Vaters auf. Mit offenem Mund saß er da und starrte Philip an. »Loup!« rief er aus. »Warum habe ich nicht sofort an ihn gedacht. Natürlich, das erklärt alles. Der Hund kam aus dem Schwarzwald. Das ist der Überlieferung nach die Heimat der Werwölfe. Erinnerst du dich an die Geschichte, daß Loup angeblich von einem Wolf gebissen wurde, als er Schafe hütete? Das hat sein früherer Besitzer ja offen erzählt. Tiere können durch einen Biß den Fluch weitergeben, ohne selbst davon befallen zu sein. Sie übertragen den Fluch nur. Und nichts anderes hat Loup getan.« »Wie kommt es eigentlich, daß du soviel über Werwölfe weißt, Vater?« fragte Philip. »Dein Großvater besaß ein dickes Buch über Sagen, Legenden und Überlieferungen«, antwortete Gwynne. »Darin stand alles über Werwölfe. Daher habe ich übrigens auch mein Wissen über die Schwarzen Hunde. Als ich vor vielen Jahren mit einem gebrochenen Bein längere Zeit das Bett hüten mußte, habe ich das Buch sorgfältig studiert. Wenn ich nur wüßte, wo das verdammte Ding geblieben ist. Ich habe es neulich gesucht. Vielleicht könnte man noch mehr Wissenswertes 174
daraus erfahren, zum Beispiel, ob es eine Heilung von dem Fluch gibt. Das Buch ist aber völlig verschwunden. Vermutlich hat es irgend jemand zusammen mit einem Haufen anderer alter Schmöker weggeworfen, ohne zu ahnen, wie wichtig es eines Tages sein könnte.« »Jedenfalls sind wir uns darüber einig, was wir tun wollen. Sobald wieder Vollmond ist, werden wir dich in deinem Zimmer einschließen und dafür sorgen, daß du es um keinen Preis verlassen kannst, bis die gefährliche Zeit vorüber ist. Die beiden Beamten haben den Fall zu den Akten gelegt und sind nach London zurückgekehrt. Wenn wir die Sache richtig anpacken, braucht kein Mensch davon zu erfahren.« An einem warmen Februartag schien die Sonne strahlend am Himmel. Gordon Hall wanderte mit dem Gewehr unter dem Arm, Remus neben sich, langsam durch sein Revier. Ein kleiner Waldsee schimmerte wie ein funkelnder Diamant durch das hohe Uferschilf. An einem solchen Tag schien die ganze Welt in Frieden leben zu wollen. Die Schrecken der vergangenen Monate waren in weite Ferne gerückt. 175
Remus hob den Kopf und schnüffelte mit gespitzten Ohren. Er hatte einen vertrauten Geruch in die Nase bekommen. Vorsichtig schlüpfte er durchs Schilf. Sekunden später erwachte der See zum Leben. Die Sonne ließ das blaugrüne Gefieder von drei Wildenten aufleuchten, die laut schnatternd in die Luft schössen. Für einen Mann vom Kaliber Gordon Halls wären sie eine allzu leichte Beute gewesen. Er hätte Zeit genug gehabt, das Gewehr zu heben und zwei Enten auf einmal herunterzuholen. Aber er machte keine Bewegung. Sein Gewehr mit dem Doppellauf blieb unberührt unter dem Arm. Er sah den Enten nach, die über die Hügel verschwanden. Dabei lächelte er und wünschte ihnen viel Glück. Vielleicht handelte es sich sogar um die frei Überlebenden der Gruppe, die er im Oktober letzten Jahres aufgestöbert hatte. Sie hatten sich ihre Schonzeit, die am 1. Februar begonnen hatte, teuer verdient. Remus plätscherte spielerisch im flachen Uferwasser herum. Während Gordon darauf wartete, daß sein Hund zu ihm zurückkehrte, entdeckten seine scharfen Augen Spuren. Sie stammten aller Wahrscheinlichkeit nach von Füchsen, die hier hatten trinken wollen und dabei vielleicht unerwartet auf 176
eine unaufmerksame Ente gestoßen waren. Anscheinend erwiesen sich die fünfzig Fuchsfallen, die er ständig an verschiedenen strategisch wichtigen Stellen um die Hügel herum aufgestellt hatte, als nicht so wirksam, wie er gedacht hatte. Plötzlich fiel ihm ein, daß heute Vollmond war. Was für eine schöne Nacht und was für ein prachtvoller Ort, um Füchsen aufzulauern. Was für ein Unterschied zu der eiskalten, ungemütlichen Zeit, als er Loup erschossen hatte. Sein Plan war schnell gefaßt. Er würde nach Einbruch der Dunkelheit zurückkehren und sich auf die Lauer legen. Seine Gedanken wanderten zu Margaret. Es war noch zu früh am Tag. Er hätte gern gewußt, ob durch einen glücklichen Zufall der gelbe Plastikeimer neben der Einfahrt lag, um ihm einen Wink zu geben, daß die Bahn frei war. Er pfiff nach Remus. Der Hund kehrte vom Teich zurück, schüttelte sich und folgte wieder seinen Schritten. Gordon ging schnell zu seinem Wagen zurück, den er am Waldrand geparkt hatte. Er war heute mit sich und der Welt in Einklang. Wenn der Frühling auch noch gar nicht ausgebrochen war, verspürte er doch bereits die Gefühle, die diese Jahreszeit in einem Mann wachrie177
fen. Er sehnte sich nach einer Frau. Vor allem aber sehnte er sich nach Margaret. Zum erstenmal im Leben empfand er einem anderen Mann gegenüber Eifersucht, Victor Gunn. Als er die schmale Straße entlangfuhr, sah er in der Ferne etwas Gelbes aufblitzen. Die Sonne spiegelte sich in etwas Hellem. Ein gelber Plastikeimer lag neben der Einfahrt.
13. Margaret Gunn hätte am liebsten immer neben diesem starken, gutaussehenden Mann gelegen, sich an seine breite, behaarte Brust geschmiegt, seine Beine an den ihren gespürt. Das Bett war warm und gemütlich. Nachdem die erste Leidenschaft gestillt war, empfand sie das Bedürfnis, sich auszuruhen, zu schlafen. Sie hatte dieses Gefühl der vollkommenen Zufriedenheit bisher nicht gekannt. Gordon Hall sah auf die Uhr. Es war fünf Uhr nachmittags. Noch eine Stunde, dann war es dunkel. 178
»Um welche Zeit erwartest du Vic zurück?« murmelte er nahe ihrem Ohr. »Er will erst spät zurückkommen«, antwortete sie. »Er ist nach Heresford gefahren, um Vieh zu kaufen. Gwynne Owen begleitet ihn. Sie haben die Absicht, auf dem Rückweg einen Verwandten von Gwynne zu besuchen, der dort in der Gegend wohnt. Also kann es ziemlich spät werden, Mitternacht oder sogar früher Morgen.« Sie schwiegen wieder, jeder mit seinen Gedanken beschäftigt. Margaret versuchte ihren ganzen Mut zusammenzuraffen, um ihm etwas zu sagen. Zuerst wollte sie aber vorsichtig seine Reaktion testen. Schließlich gab sie einen Laut von sich, der kaum mehr als ein Flüstern war. »Gordon, ich muß dir etwas sagen. Ich erwarte ein Kind.« Ihre Worte durchfuhren ihn wie ein elektrischer Schlag. In seinem Kopf ging alles durcheinander. Er wußte nicht, was er denken sollte. War das ihre Art, ihm mitzuteilen, daß alles zwischen ihnen aus war, daß sie sich mit der langweiligen Ehe mit einem Schafzüchter abgefunden hatte, daß sie es zufrieden war, für ihn zu kochen, zu putzen und die Hühner zu füttern? Trotz des Tumul179
tes von Empfindungen, den ihre Worte in ihm auslösten, blieb sein Gesicht ausdruckslos. Er wagte keine Antwort. Schließlich fand sie den Mut, ihre Bombe platzen zu lassen. »Das Kind ist von dir.« »Von mir?« Er konnte einen Ausruf des Erstaunens nicht unterdrücken. »Woher kannst du das so sicher wissen? Du schläfst sieben Nächte in der Woche mit deinem Mann, während ich das Vergnügen nur alle Jubeljahre einmal habe. Was in aller Welt macht dich so sicher?« »Ganz einfach, weil Vic und ich schon seit längerer Zeit nichts miteinander hatten«, sagte sie mit einem schwachen Lächeln. »Er ist gewöhnlich zu müde dazu, wenn er abends nach Hause kommt. Und ich hatte seit unserem ersten Nachmittag zusammen auch kein Verlangen mehr danach, jedenfalls nicht mit ihm.« Gordon Hall war wie betäubt. Da ihm die Worte fehlten und er seine Unsicherheit verbergen wollte, preßte er seine Lippen auf ihren Mund zu einem langen, heißen Kuß, der ihm Zeit zum Nachdenken gab. »Gordon!« Sie versuchte sich von ihm zu lösen. Zuerst wollte sie die Situation klarstellen. »Würdest du mich hier wegholen?« 180
fragte sie. Nach kurzem Zögern fuhr sie fort: »Bitte nimm mich mit. Ich möchte dahin, wo es keine schrecklichen Dinge wie Wölfe und Schwarze Hunde gibt, und keine Menschen, die ihren Kopf mit einer Säge abtrennen.« Er sah sie geraume Zeit forschend an. Plötzlich fühlte er sich in eine Strömung gerissen, deren Strudel ihn nach unten zu ziehen drohten. Vielleicht ersparten sie ihm aber auch die Mühe, sich noch tiefer in gefährliches Wasser treiben zu lassen. »In Ordnung«, sagte er endlich. Er war nicht der Mensch, eine lebenswichtige Entscheidung unnötig hinauszuzögern. »Am besten reden wir so schnell wie möglich mit Vic. Ich werde morgen abend herkommen und ihn um eine Aussprache bitten.« Ein Gefühl der Erleichterung ergriff von ihr Besitz. Er wollte sie also wirklich haben und hatte nicht nur mit ihr gespielt, wie sie manchmal gefürchtet hatte. Gordon schwang die Beine über die Bettkante und raffte seine Kleidungsstücke zusammen. »Ich gehe noch einmal hinauf in die Schwarzen Hügel. Mal sehen, ob ich später im Mondlicht nicht einen Fuchs erwische. Wenn du mir etwas zu essen richten kannst, 181
wäre ich dir dankbar. Dann brauche ich damit keine Zeit verlieren.« Stolz auf ihre Nacktheit lächelte sie ihn an. »Gern. Vielleicht ziehen wir uns aber zuerst an.« Blodwyn Owen bestand darauf, daß Philip sich in dieser Nacht früh zur Ruhe begab. Gwynne war mit Vic Gunn zusammen nach Heresford gefahren, um Vieh zu kaufen. Sie nahm nicht an, ihn vor den frühen Morgenstunden wiederzusehen. Nachdem heute die erste Vollmondnacht anbrach, wäre ihr lieber gewesen, wenn er geblieben wäre. Das hatte sie ihm auch gesagt. Gwynne beruhigte sie. Nicht einmal ein Grislybär könne aus Philips Raum ausbrechen, nachdem er stählerne Riegel an der Tür angebracht und das Fenster mit Stahlgittern versehen hatte. Da sei nichts, worüber sie sich Sorgen machen müsse, versicherte er immer wieder, bis Vies kleiner Lieferwagen in den Hof fuhr. Da zog er schnell seinen besten Wintermantel an und verschwand. Es war mehr als wahrscheinlich, daß heute nacht gar nichts passierte. Falls das nicht den Tatsachen entsprach, durfte sie um keinen Preis die Tür öffnen, hatte Gwynne ihr 182
eingeschärft. Voll trüber Vorahnungen stand sie am Fenster und sah dem Wagen nach. Sie konnte sich des Gefühls nicht erwehren, daß man sie mit einem fürchterlichen Untier allein gelassen hatte, ihrem eigenen Sohn. Blodwyn folgte Philip die Treppe hinauf bis zum Eingang seines Zimmers. Er drehte sich noch einmal um und lächelte sie beruhigend an. Dabei traten Tränen in ihre Augen. Sie hatte noch niemals ihren Sohn einschließen müssen. Jetzt kam sie sich wie ein Gefängniswärter vor. »Hast du auch alles, was du brauchst?« Ihre Stimme war weit davon entfernt, ruhig und sicher zu klingen. Er nickte ihr beruhigend zu. »Du kannst mich jetzt ohne Sorge allein lassen. Wir sehen uns morgen beim Frühstück gesund wieder.« Sie zog die schwere Eichentür zu und schloß die mächtigen Stahlriegel. Dann stieß sie einen erleichterten Seufzer aus. Nicht einmal ihrem Mann gegenüber hätte sie zugeben mögen, daß sie sich in diesem Augenblick zum erstenmal nach seinem Fortgehen wirklich sicher fühlte. Der Gedanke versteinerte sie geradezu. Langsam tastete sie sich die Stufen hinunter. 183
Der Fernsehempfang war an diesem Abend besonders dürftig. Trotzdem saß sie da und starrte in den Flimmerkasten, obwohl sie der komplizierten und verwickelten Liebesgeschichte nicht einen Moment zu folgen vermochte. Wenigstens gab der Apparat Geräusche von sich, und das war alles, was an diesem Abend für sie zählte. Am liebsten hätte sie die Welt um sich her ausgeschlossen. Sie hatte entsetzliche Angst. Auf keinen Fall wollte sie Geräusche hören, die aus dem Zimmer über ihr drangen. Der Abend schleppte sich mühsam dahin. Die alte Standuhr in der Ecke, die in Gwynnes Familie schon seit über drei Generationen vom Vater auf den Sohn vererbt wurde, schlug mit vertrauten Klang alle halbe Stunde die Zeit : Zehn Uhr, halb elf, elf Uhr. Philip zog sich aus, drehte das Licht ab und legte sich nackt aufs Bett. Er zog die Bettdecke nicht über sich, sie war ihm zu schwer. Sie würde ihm wieder das Gefühl des Eingeschlossenseins vermitteln, das er nur zu gut kannte. Auch die Vorhänge hatte er nicht zugezogen. Es tat ihm leid, eine so schöne Nacht auszuschließen. Mehrmals tippte er sich vorsichtig mit dem Zeigefinger an und war beruhigt. Seine Haut war nach wie vor 184
glatt und weich. Vielleicht hatte er Glück, und es würde heute nacht nichts passieren. Am liebsten hätte er geschlafen, fühlte sich aber noch zu wach dazu. Langsam erschien der Mond hinter den Schwarzen Hügeln. Der orangefarbene Ball glich fast der untergehenden Sonne. Als er höher stieg, wurde es heller, das Gelb wandelte sich zu Silber und überflutete die Landschaft mit himmlischem Licht. Dieses Strahlen war schöner als das Tageslicht. Irgendwo im Dickicht des Waldes schrie eine Füchsin. Dann war es einen Moment still. Ein Fuchsrüde bellte zur Antwort. Wieder Ruhe. Plötzlich peitschte ein Schuß durch die Nacht. Sein Echo hallte durch die Täler von den Schwarzen Hügeln bis Llanadevy und erstarb dann langsam. Philip saß mit einem Ruck aufrecht im Bett. Tödlicher Haß packte ihn. Er klammerte sich mit beiden Händen an dem eisernen Bettgestell fest. Es gab nur einen Mann, der rücksichtslos genug war, in einer klaren Vollmondnacht mit dem Gewehr herumzustreifen. Nur einen Mann, der auf alles schoß, was sich bewegte, und sich erst hinterher darum kümmerte, was er getroffen hatte. Dieser Mann war Gordon Hall, der alles be185
saß, was er sich wünschte, den er mehr haßte als alles andere auf der Welt. Gordon Hall, der Mörder seines Bruders Loup. Unbändige Wut ballte sich in Philip zusammen. Sein ganzer Körper schmerzte von oben bis unten, als ob seine Haut von Millionen Nadeln zerstochen würde. Er hämmerte sich mit den geballten Fäusten gegen die Brust, wobei er einem Gorilla glich, der einen Nebenbuhler in seinem Revier aufgespürt hatte. Das Mondlicht durchflutete jetzt das ganze Zimmer. Plötzlich sah Philip sein Bild im Spiegel. Diesmal blieb der Schock aus, er war vernünftigen Gedanken gar nicht mehr zugänglich. Sein Körper hatte sich in den eines Wolfes verwandelt. Er war mit kurzem, grauem Fell bedeckt. Seine Augen erglühten in rotem Licht. Die gefletschten Hauer waren scharf und gelblich. Sein Atem stank nach Fäulnis und Exkrementen. In dem engen Schlafzimmer klang sein langgezogenes Heulen geradezu ohrenbetäubend. Normalerweise hatte ihn sein Instinkt davon abgehalten, Laut zu geben, ehe er das Haus verlassen hatte. Aber in dieser Nacht ähnelte er noch mehr als sonst dem Biest, in das er sich verwandelt hatte. Er war sich nicht mehr darüber klar, daß seine 186
Mutter im Zimmer unten bei seinem Geheul erbebte. Ihm war kein Zusammenhang zwischen sich und der menschlichen Rasse mehr bewußt. Seine wirkliche Mutter war eine große graue Wölfin aus den dunklen Forsten des Schwarzwaldes. Seine Familie lebte überall auf dem Kontinent und darüber hinaus verstreut, wo immer sich jemand durch einen Biß in einen Werwolf verwandelt hatte. Er wußte auch nicht mehr, daß man die Tür zu seinem Zimmer von außen verriegelt hatte. Sein Instinkt sagte ihm, daß dies der Ausgang war, den er benutzen mußte, wenn er hinauswollte. Er packte mit seiner Pranke den Türknopf und zerrte daran. Die feste Eichentür zitterte mitsamt dem Rahmen, hätte aber leicht einem Dutzend von seiner Sorte widerstanden. Er benutzte seinen Fuß als eine Art Hebel und zog noch einmal. Sein rasselnder Atem klang lauter als das Knurren eines Hundes. Mit einem Schlag brach der Türknopf ab und sauste quer durchs Zimmer. Sein gewaltiger Körper fiel von dem Schwung auf den Stuhl neben seinem Bett und zerschmetterte ihn zu Kleinholz. Mit wütendem Fauchen versuchte er es noch einmal, wieder vergebens. Knurrend blieb er 187
stehen, um nachzudenken. Zwar war der Türknopf abgebrochen, aber das Schloß selbst hatte sich nicht gerührt, genausowenig wie die stählernen Riegel außen an der Tür. Er fuhr mit seinen Pranken am Holz herunter, wie ein Dachs, der an der Borke eines Baumstammes seine Krallen wetzt. Einige Minuten lang blieb er auf den Hinterbeinen sitzen. Er überdachte seine Situation. Sein animalisches Gehirn wurde mit etwas Unerwartetem nicht ohne weiteres fertig. Das Mondlicht sandte seine hellen Strahlen quer durchs Zimmer und ließ die kürzlich angebrachten Stahlgitter vor den Fenstern aufblitzen. Auch dieses Hindernis erschien ihm unüberwindlich und quälend. Diesmal erklang sein klagendes Geheul noch lauter und bewirkte, daß eine Porzellanfigur von einem Regal herunterfiel und in tausend Stücke zerbrach. Seine Vorderpfoten griffen jetzt nach den Fenstergittern und rüttelten mit äußerster Kraft daran. Die Stahlverstrebungen bewegten sich zwar, da sie aber gebogen waren, lösten sie sich nicht. Seine wölfische Wut steigerte sich von Minute zu Minute. Eine Serie von bösartigen Knurrlauten begleiteten 188
seine verzweifelten Versuche, dem Ruf des Februarvollmondes Folge zu leisten. Die Gitter vor den Fenstern würden auch in hundert Jahren seinen Prankenhieben nicht nachgeben. Höchstens konnte er sich daran verletzen. Da entdeckte er, daß der Rahmen, in den das Fenster eingelassen war, nicht dieselbe Widerstandskraft besaß. Holzwürmer hatten sich seit vielen Jahren an dem Material gütlich getan. Philip durfte jetzt die Früchte ihrer Arbeit genießen. Ein ohrenzerreißender Krach, ein Splittern von Holz, und Philip wurde zum zweitenmal an diesem Abend durchs Zimmer geschleudert. Er flog mit voller Wucht in den Garderobenspiegel und zerschmetterte ihn, wodurch es im ganzen Zimmer silberne Glasscherben regnete. Seine Wut war gewichen, als er sich vorsichtig aufrappelte und dem silbernen Gestirn, deutlich zu erkennen durch das Loch, wo sich vor kurzem noch ein vergittertes Fenster befunden hatte, heulend seinen Respekt bezeugte. Der Weg in die Freiheit stand offen. Die Nacht gehörte ihm. Er kletterte durch die leere Fensterhöhle. Der Boden lag einige Meter unter ihm. Er zögerte keinen Augenblick, sich mit einem 189
einzigen Satz in die Luft zu werfen. Sein Urteilsvermögen hatte ihn nicht getrogen. Er landete weich auf einem Stück gras- und laubbedecktem Boden neben einer Scheune. Als er sich erhob, warf er noch einen letzten Blick auf das Haus, in dem er geboren und aufgewachsen war. Dann wandte er sich den Hügeln zu und verschwand in der Nacht. Blodwyn Owen saß seit dem ersten ohrenbetäubenden Geheul, das aus dem Zimmer über ihr erklang, wie festgebannt in ihrem Sessel. Sie konnte sich nur zu gut vorstellen, was dort vor sich ging. Andererseits gab es nichts, was sie dagegen unternehmen konnte. Sie hörte den Türknopf abbrechen und den Krach, mit dem der Stuhl neben dem Bett zerbrach. Aber noch war Philip ein Gefangener. Als das Geräusch von zersplitterndem Holz, der Krach, mit dem der Fensterrahmen herausgerissen wurde, und das Klirren des Spiegels an ihr Ohr drangen, klopfte ihr Herz wie rasend. Jeden Fortschritt, den ihr Sohn machte, konnte sie an seinen Bewegungen und Lauten verfolgen, die aus seinem Zimmer drangen. Jetzt wußte sie auch, daß er frei war. Der so sorgsam ausgedachte Plan, Philip während der Zeit seiner Verwandlung 190
unter Verschluß zu halten, war gescheitert. Oben war alles ruhig geworden. Das Ticken der alten Großvateruhr war das lauteste Geräusch im Zimmer. Sie zeigte unbekümmert die verstreichende Zeit an. Blodwyn hatte nur den einen Wunsch, daß Gwynne bald zurückkäme. Aber nichts deutete darauf hin. Sie erhob sich mühsam aus ihrem Sessel, ging zum Fenster und zog die Vorhänge zurück. Auf diese Weise konnte sie schon von weitem die Scheinwerfer des kleinen Lieferwagens sehen. Ihr Herz klopfte schneller und schneller. Plötzlich wurde sie sich eines scharfen Schmerzes in ihrer Brust bewußt, den sie sich nicht erklären konnte. Langsam hatte sie das Gefühl, das hilfloseste Geschöpf auf der Welt zu sein. Da wiederholte sich der schneidende Schmerz, noch heftiger und länger diesmal. Sie stöhnte auf und hielt sich am Fensterkreuz fest. Alles um sie herum färbte sich schwarz. In ihrer Brust schien jemand ein Messer herumzudrehen. Da wurde ihr klar, daß sie gut daran täte, sich zu setzen. Der Sessel, den sie vor wenigen Minuten erst verlassen hatte, war plötzlich meilenweit entfernt. In ihren Adern rauschte es. Ihre 191
Brust schien zu explodieren, sie taumelte vorwärts. Vor unerträglichen Schmerzen schrie sie auf und schlug dann der Länge nach auf den Teppich. Der Werwolf aus den Schwarzen Hügeln hatte sich ein neues Opfer geholt, wenn er auch zur Stunde keine Ahnung davon hatte. Philip lief mit gleichmäßigen, schnellen Schritten dahin. Sein Geruchssinn und sein Gehör arbeiteten an diesem Abend besser denn je zuvor. Er witterte ein Kaninchen bereits auf dreißig Meter, lange bevor es die Sicherheit seines Baus aufsuchen konnte. Auf der Weide oben am Hügel hatten sich gut dreißig Schafe zusammengedrängt. Er lief an ihnen vorbei, ohne ihnen einen zweiten Blick zu gönnen. In dieser Nacht wollte er seine Zeit nicht damit verschwenden, unschuldiges Vieh umzubringen. Ihr Blut reizte ihn nicht, er hatte anderes im Sinn. Wenn auch sein Verstand inzwischen völlig ausgeschaltet war, so führte ihn doch sein Instinkt geradewegs seinem Ziel entgegen. Er war sich darüber klar, daß es nur etwas auf der Welt gab, was ihn befriedigen würde. Vor seinem geistigen Auge sah er das Bild des bärtigen Journalisten vor sich, seines geschworenen Feindes, des Mannes, der 192
seinen Bruder Loup erschossen hatte. Diesen Mann mußte er finden und ihn auf die grausamste Art umbringen, die er sich ausdenken konnte. Wenn er das hinter sich hatte, wollte er sich das Vergnügen gönnen, das schlanke, blonde Mädchen zu besuchen, das in den Hügeln lebte und zu dieser Stunde friedlich schlief.
14. Gordon Hall bezog Posten auf der Spitze eines grasbewachsenen Hügels, von wo aus er den Waldsee überblicken konnte. Das geladene Gewehr lag quer über seinen Knien. Remus hatte sich zu seinen Füßen niedergelassen. Tausend Gedanken wirbelten Gordon durch den Kopf, mit denen er fertig zu werden versuchte. Die Nacht war lau und ruhig. Ein riesengroßer, orangefarbener Mond hing wie ein gewaltiger Lampion am Himmel. Der Teil der Lichtung, der bis jetzt noch im Schatten lag, würde in weniger als einer Stunde so hell sein, daß Gordon auch die leiseste Bewegung einer Feldmaus erkennen konnte. 193
Vorsichtig füllte er seine Pfeife und zündete sie an. Er nahm das Risiko in Kauf, daß ein vorbeikommender Fuchs vielleicht den Geruch des Tabaks in die Nase bekam und verschwand. Gordon hatte so viel Stoff zum Nachdenken, daß ihm die Frage, ob er wirklich einen Fuchs vor die Flinte bekam, einigermaßen zweitrangig erschien. Im Grunde seines Herzens hatte er nichts dagegen, Margaret mit sich in die Stadt zu nehmen und in seiner Wohnung mit ihr zu leben. Noch weniger störte ihn die Ankunft des Babys, wenn er sich auch an den Gedanken erst gewöhnen mußte. Es machte ihm auch nichts aus, daß es am nächsten Tag zwischen Victor Gunn und ihm bei der unvermeidlichen Aussprache mit Sicherheit zu einem Krach kommen mußte. Wenn er es recht bedachte, bedeuteten diese auf ihn zukommenden Dinge für ihn kein Problem, mit dem er nicht fertig werden konnte. Im Gegenteil, er freute sich darauf. Er hatte schon zu lange allein gelebt. Trotzdem bedrückte ihn etwas. Er konnte es weder definieren noch einfach wegschieben. Als wäre ihm durch den aufgehenden Mond eine Inspiration gekommen, stand ihm plötzlich klar vor Augen, was er sich nicht 194
aus dem Sinn zu schlagen vermochte. Es ging um das ungelöste Rätsel, wer die Gewalttaten begangen hatte. Er hatte geglaubt, sich alle Gedanken daran mit dem Weggang von Inspektor Ford und Sergeant Bayley aus dem Kopf geschlagen zu haben. Jetzt blieb die Tatsache bestehen, daß das Geheimnis keineswegs geklärt war. Loup, der deutsche Schäferhund, hatte zwar die Schuld für das zerrissene Schaf auf sich nehmen müssen, aber Loup war längst tot, als Jennifer Hughes umkam. In ihrem Fall hatten alle Experten die Meinung vertreten, daß das Mädchen von einem Wolf umgebracht worden war. Wo aber befand sich der Wolf seit damals? Er konnte sich doch nicht für alle Zeiten zurückgezogen haben. Dann gab es da noch ein zweites Problem. Bei dem Gedanken daran zog er eine Grimasse. Peter Pike war kein Mensch, der so nachlässig war, seinen Kopf einfach unter eine Säge zu stecken. Er verstand von mechanischen Dingen viel, was er ja bei seinem Motorrad bewiesen hatte. Hätte er einen Finger verloren, vielleicht sogar eine Hand, wäre Gordon eine solche Fahrlässigkeit noch möglich erschienen. Unachtsam den eigenen Kopf zu riskieren, sah Pike nicht ähnlich. Daran 195
konnte Gordon Hall einfach nicht glauben. Irgend etwas stimmte an der Geschichte nicht. Irgendwo hatten sie eine Spur übersehen, die sie jetzt nicht mehr aufnehmen konnten. Als auf der anderen Seite der Lichtung eine Füchsin schrie, fuhr Gordon zusammen. An dem Ursprung des Geräuschs hatte er keinen Zweifel. Sein Finger entsicherte das Gewehr. Remus horchte auf. Der gelbe Labrador-Hund gab keinen Laut von sich. Er hatte den Schrei des Fuchses erkannt. Gordon machte drüben im Schatten eine schwache Bewegung aus. Da er die Umrisse des Tiers noch nicht deutlich erkennen konnte, hielt er sich mit dem Schuß noch zurück. Er wußte, daß er seine Chance bekommen würde. Schon tauchte die Füchsin aus dem Unterholz auf und trat auf die Lichtung. Irgendwo hinter ihr im Gebüsch bellte ein Fuchsrüde. Falls er mit seinem Schuß noch wartete, bekam er vielleicht Gelegenheit, Fuchs und Füchsin zu erlegen. Andererseits war es leicht möglich, daß die Füchsin in der Zwischenzeit wieder im Wald verschwand. Er überlegte nicht lange und drückte ab. Der Knall, der über die kleine Lichtung dröhnte, 196
zersprengte ihm fast das Trommelfell. Sein Finger lag am Abzug, bereit, den zweiten Lauf abzufeuern. Dann sah er, daß dafür keine Notwendigkeit bestand. Der Fuchs lag ausgestreckt auf dem Boden, halb im Schatten, halb außerhalb. Gordon Hall blieb an seinem Platz. Er lud lediglich den ersten Lauf nach. Der tote Fuchs konnte vorerst bleiben, wo er war. Er hatte solche Köder schon öfter liegen lassen. Wenn wieder ein Fuchs zufällig des Weges kam, würde er nicht widerstehen können, eine Nase voll Duft mitzunehmen. Füchse schienen eine morbide Art von Neugier zu haben. Bald war wieder Ruhe eingekehrt. Der Fuchsrüde, offensichtlich durch den Schuß aufgeschreckt, hatte sich verzogen. Gordon Hall machte es sich wieder gemütlich. Seine Gedanken wanderten zu Margaret und dem zu erwartenden Baby. Dann dachte er wieder über die ungelösten Todesfälle in den Schwarzen Hügeln nach. Das Knacken eines trockenen Zweiges brachte ihn in die Wirklichkeit zurück. Vielleicht war es der Fuchs von vorhin, der dachte, daß alles vorüber war. Vielleicht handelte es sich auch um einen Rivalen. Da 197
hörte er das Geräusch wieder, es klang wie verstohlene Schritte. Er versuchte mit dem Gehör den Standpunkt des Tieres auszumachen. Grob geschätzt mußte es etwa fünfzig Meter weit entfernt im Gebüsch stehen, etwas zu seiner Linken, am anderen Ufer des Sees. Anscheinend näherte es sich. Da erfolgte ein lautes Krachen. Das Tier, was immer es sein mochte, war auf einen dürren Ast getreten. Gordon war ehrlich verblüfft. Dem Geräusch nach war das ein ziemlich dicker Ast gewesen. Also handelte es sich vermutlich auch um einen ziemlich großen Fuchs. Ein Gefühl der Unsicherheit beschlich ihn. Da vernahm er ein lautes, rasselndes Schnaufen. Das konnte von keinem Fuchs stammen. Remus erhob sich mit gesträubten Nackenhaaren und knurrte. Das hatte er vorhin nicht getan, als die Füchsin ihr Erscheinen ankündigte. Die Spitzen der niedrigen Tannen schwankten. Es hatte den Anschein, als zwängte sich eine gewaltige Kreatur zwischen ihnen hindurch, wobei sie die Stämme auseinanderbog. Das Knacken und Krachen wurde noch lauter, da es ringsum im Walde sonst still war. Gordon merkte, daß sich das Tier in 198
seine Richtung bewegte. Er war zwar neugierig, aber durchaus nicht ängstlich. Das Tier, das den schweren Patronen seiner Flinte widerstehen konnte, mußte ihm erst noch vor den Lauf kommen. Es befand sich jetzt unter den Bäumen am Rande der Lichtung, aber immer noch völlig im Schatten. Einmal blieb es stehen, als ob es Atem schöpfen müßte oder Beobachtungen anstellen wollte. Gordon duckte sich noch tiefer hinter die Büsche, hinter denen er sich versteckt hatte. Ein merkwürdiges Kribbeln lief seinen Rücken hinunter. Es war ihm lieber, wenn er zuerst sah, was da auf ihn zukam, bevor er gesehen wurde. Jetzt trampelte das Geschöpf rücksichtslos über Silberpappelschößlinge und niedrige Rhododendronbüsche. Dann trat es aus dem Schatten ins helle Mondlicht. Zum ersten Mal in seinem Leben bekam Gordon Hall einen lebendigen Werwolf zu Gesicht. Er war groß und zottig und bewegte sich auf allen vieren, wenn es auch den Anschein hatte, daß es ihm leichter gefallen wäre, auf zwei Beinen zu gehen. Seine Nüstern blähten sich, seine Fänge glänzten, seine Augen glühten rot. Mit Philip Owen hatte das Wesen nichts gemein. Selbst wenn Gordon Hall 199
Bescheid gewußt hätte, wäre ihm nicht die geringste Ähnlichkeit mit dem jungen Mann aufgefallen. Entsetzt wurde er Zeuge, wie das Biest den Kopf zurückwarf und ein schreckliches Geheul ausstieß, in dem sich seine gesamte Wut, seine Enttäuschung und vor allem seine Verachtung für alles Menschliche ausdrückte. »Lieber Gott im Himmel«, stöhnte Gordon Hall, jetzt unfähig, seinen Blick von dem gräßlichen Untier zu wenden. »Das ist ja tatsächlich ein Werwolf.« Mit einem Schlag hatte sich der Schleier des Geheimnisses über den unerklärlichen Geschehnissen der vergangenen Tage gelüftet. Jetzt war ihm klar, was mit dem Schaf und Jennifer Hughes passiert war. Noch hatte ihn das Tier nicht gesehen, wußte aber offensichtlich, daß er hier war. Er erkannte das an der Art, wie die gewaltigen Nüstern sich blähten, bis sie seinen Geruch aufgenommen hatten. Remus krümmte sich vor Entsetzen, knurrte und winselte aber merkwürdigerweise nicht. Der Werwolf trat einen Schritt vorwärts. Er hatte Gordons Standort inzwischen ausgemacht. Zuversicht erfüllte ihn, daß sich der Mensch jetzt in seiner Gewalt befand. Gor200
don kam langsam hoch. Die Läufe seines Gewehres hoben sich, bis sie direkt auf den Kopf des Tieres gerichtet waren, das anscheinend einem grauenvollen Alptraum entstiegen war. Der Finger lag am Abzug. Er wollte gerade den notwendigen Druck ausüben, als ihm eine Gedanke durch den Kopf ging. Was wäre, wenn seine Schüsse die Bestie nicht töteten, sondern nur noch mehr aufbrachten? In Horrorgeschichten und entsprechenden Filmen benützte der Held immer eine Silberkugel, um einen Werwolf zur Strecke zu bringen. Das waren dumme Phantasiegeschichten. Dies Tier hier aber war real, man konnte es nicht damit vergleichen. Er konnte immer noch nicht fassen, was er mit eigenen Augen sah. Vielleicht träumte er auch nur, vielleicht war er am Teich eingedöst. Doch er täuschte sich nicht. Alles war nur zu wirklich. Es geschah in diesem Augenblick mitten in den Schwarzen Hügeln. Das Schlimmste war, daß er nicht lange genug leben würde, um diese Geschichte zu erzählen, wenn er sich jetzt nicht sehr schnell bewegte. »Lauf, Bursche, lauf!« Er kickte Remus in die Rippen, um sicherzugehen, daß sein Be201
fehl sowohl verstanden als auch befolgt wurde. »Wir hauen ab, und zwar schnell.« Ein wütendes, fast schon triumphierendes Geheul folgte Gordon, als er sich auf den Weg machte. Eine gnadenlose Jagd hatte begonnen. Gordon war stets sehr stolz auf seine körperliche Fitness gewesen. Jetzt würde er sie bis zum äußersten beanspruchen müssen. Er hatte nur einen Vorsprung von ungefähr fünfundzwanzig Metern. Das war nicht viel einem Geschöpf gegenüber, dem der Ruf vorausging, daß es ein Reh ohne die geringste Mühe zu Tode hetzen konnte. Genausogut hätten sie von derselben Stelle aus starten können. Der Werwolf hatte jetzt die unmittelbare Umgebung des Sees verlassen und lief hinter ihm her. Gordon gestattete sich einen kurzen Blick über die Schulter, kam aber zu dem Schluß, daß es ihm lieber sei, nicht so genau zu wissen, wie weit sein Verfolger inzwischen aufgeholt hatte. Remus lief direkt neben seinem Herrn. Seine Nackenhaare standen wie eine Bürste nach oben. Er hätte seinen Herrn weit hinter sich lassen können, machte aber keinen derartigen Versuch. Gordon hörte das laute Schnaufen des Ungeheuers hinter sich. Er rannte um sein Le202
ben. Dem Tier machte das Laufen keine Mühe. Es schien jede Sekunde dieser erbarmungslosen Hetzjagd zu genießen. Das Rennen ging weiter. Irgendwo mußte sich der Weg gabeln, das wußte Gordon. Er konnte sich allerdings des Eindrucks nicht erwehren, daß es gleichgültig war, ob er die linke oder rechte Abzweigung ins Tal einschlug. Das Ende mochte in jedem Fall dasselbe sein. Als er die Wegkreuzung erreichte, erlaubte er sich wieder einen Blick nach hinten. Der Werwolf hatte eine kleine Pause eingelegt, als ob er die Jagd nicht so schnell beenden wollte. Offensichtlich hatte er nichts dagegen, seinem Opfer die Wahl des Weges freizustellen. »So ein verdammtes Biest«, knurrte Gordon und drückte beide Läufe seines Gewehrs auf einmal ab. Der harte Rückstoß warf ihn fast um. Er wartete nicht ab, ob die Schüsse getroffen hatten, sondern rannte auf dem linken Weg weiter. Gleich darauf hörte er hinter sich wieder die schwerfälligen und doch raschen Schritte sowie das rasselnde Schnaufen. Er glaubte, den widerlichen Atem des Wesens beinahe körperlich im Nacken zu spüren. 203
Etwas Funkelndes, Plätscherndes kreuzte seinen Pfad und reflektierte das Licht des Mondes. Er kannte den kleinen Bach, dessen Wasser in den eben verlassenen Teich mündete, und wußte, daß er ihn ohne Schwierigkeiten durchwaten konnte. Das Wasser war höchstens ein paar Zentimeter tief und bedeutete kein ernsthaftes Hindernis. Der Bach war lediglich zu breit, um mühelos übersprungen zu werden. Er beschloß, durch das Wasser zu laufen. Das ihn verfolgende Biest stieß ein lautes Gebrüll aus, als es die Natur des Hindernisses erkannte. Es befand sich nur noch wenige Schritte hinter Gordon, der den eiskalten Bergbach fast erreicht hatte. Remus sprang mit lauten Platschen ins Wasser. Gordon spürte noch, wie etwas seine Jacke berührte. Der Werwolf hatte mit der Pfote einen letzten verzweifelten Versuch gemacht, ihn zu erreichen. Aber er hatte es nicht ganz geschafft. Gordon machte einen gewaltigen Satz in das aufspritzende Wasser. Als das Naß in seine Stiefel lief, achtete er nicht darauf. Ihn kümmerte nichts außer seinem Verfolger. Er wußte, daß er durch den Bach an Tempo
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verloren hatte. Was für eine Todesart für einen aufgeklärten Journalisten! dachte er. Als er auf der anderen Seite die Uferböschung hinaufkletterte, wunderte er sich, daß ihn der Werwolf immer noch nicht eingeholt hatte. Erschöpft und ausgepumpt konnte er dem Wesen gar nicht mehr entkommen und befand sich in seiner Gewalt. Er hörte wieder das ohrenbetäubende Heulen, das ihn während der letzten Minuten – oder waren es Stunden – fast in den Wahnsinn getrieben hatte. Jetzt machte er sich auf sein Ende gefaßt. Er hatte nur die Hoffnung, daß es so schnell wie möglich gehen möge, da er sich nur zu gut vorstellen konnte, was Jennifer Hughes gelitten hatte. Wieder erklang das Geheul, hörte sich jetzt aber anders an. Diesmal war dem Werwolf die Enttäuschung über das Entkommen seines Opfers anzumerken. Eigentlich hatte sich Gordon nicht noch einmal umdrehen wollen. Er wollte lieber nicht sehen, wann der endgültige Angriff erfolgte. Er hoffte, daß schon der erste Prankenhieb ihm den Schädel spalten oder das Genick brechen würde. Zu seinem Erstaunen lebte er immer noch, merkwürdigerweise sogar unverletzt.
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Jetzt riskierte er doch einen Blick nach hinten, um zu sehen, was da geschehen war. Ihm blieb vor Verwunderung der Mund offenstehen. Den sich ihm bietenden Anblick hatte er nicht erwartet. Natürlich war die Bestie nicht verschwunden. Es wäre auch zu schön gewesen, wenn sie sich einfach in Luft aufgelöst hätte. Sie kauerte am anderen Ufer und hatte die Pfoten hoch über den Kopf gehoben, als ob sie sich bei einem unbekannten Gott beschweren wollte, daß sie aufgehalten wurde und nicht weiterkam. Die Zähne waren gefletscht. Das Gefühl der Niederlage, des Geschlagenseins – nicht Siegesgewißheit – sprach aus den kleinen rotglühenden Augen. »Das Tier kann nicht mehr weiter«, schrie Gordon Remus und seiner Umgebung zu, ob sie es hören wollten oder nicht. Er war fast hysterisch vor Erleichterung. »Das Biest kann nicht weiter«, wiederholte er. »Wir sind noch einmal davongekommen.« Die Erleuchtung kam ihm beim Weiterlaufen. »Natürlich. Die Bücher haben also recht gehabt. Ein Werwolf kann nicht durch oder über fließendes Wasser.« Triumphierend schwenkte er sein Gewehr. Die Erleichterung über sein unerwartetes 206
Entkommen war noch zu frisch, als daß er daran gedacht hätte, die Waffe neu zu laden und noch einen Schuß zu versuchen. Philip Owen wußte nur zu genau, daß er den Bach unmöglich durchqueren konnte. Das war der Grund, warum er am Ufer haltgemacht hatte. Er hatte keine Lust, wieder kopfüber gegen die unsichtbare, schmerzhafte Schranke zu rennen, wie bei seinem ersten derartigen Versuch, an den er sich noch gut erinnern konnte. Statt dessen blieb er auf den Hinterpfoten sitzen und heulte seine Enttäuschung zu seinem Gott hinauf, der seine Bahnen lenkte und ihn mit dem silbernen Licht versorgte, das er zum Jagen seiner Opfer brauchte. Der Mann aber, von dem er sich so sehnlichst gewünscht hatte, ihn bestialisch umzubringen, war entkommen, weil er zufällig die linke Abzweigung gewählt hatte. Wenn er ihm nicht die Wahl gelassen, sondern ihn gleich gepackt und zerrissen hätte, lägen seine Überreste jetzt überall verstreut und böten bei Tagesanbruch ein Mahl für Krähen und Bussarde. Als Gordon Hall sein Auto erreichte, hatte er seine Fassung wiedergefunden. Aber erst als Remus auf dem Rücksitz saß und die Räder 207
die Straße entlangrollten, hatte er das Gefühl, wirklich in Sicherheit zu sein. »Remus«, sprach er seinen Hund an und spürte eine gewisse Befriedigung beim Klang seiner eigenen Stimme. »Wir haben Glück gehabt. Fast hätte es uns heute nacht erwischt. So haben wir wenigstens eine Menge dazugelernt. Da lebt also seit einigen Monaten ein Werwolf unter uns, und niemand hat das bisher herausgefunden. Man hat entweder die sagenhaften Schwarzen Hunde oder die Geister der alten Druiden für das verantwortlich gemacht, was hier Gräßliches geschehen ist. Der Inspektor aus London kam der Sache noch am nächsten, als er die Meinung vertrat, daß ein Wolf am Werk gewesen sei. Ich würde etwas darum geben, sein Gesicht sehen zu können, wenn er erfährt, was das für ein Wolf ist. Es dürfte vermutlich einige Mühe kosten, ihn von der Wahrheit zu überzeugen. Aber ein Mysterium bleibt weiterhin ungelöst. Wer ist nun eigentlich der Werwolf?«
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15. Als Gordon Hall in die Hofeinfahrt fuhr, war von Vies Lieferwagen noch keine Spur zu sehen. Die beiden Schaf Züchter schienen sich einmal richtig die Nacht um die Ohren schlagen zu wollen. Er drückte auf die Hupe und brachte den Wagen zum Stehen. Eine Minute später ging das Licht hinter dem Schlafzimmerfenster an, und Margaret erschien in einem hellgrünen, durchsichtigen Nachtgewand hinter der Scheibe. »Gordon«, rief sie erstaunt. Sie wirkte leicht erschrocken. »Ist etwas nicht in Ordnung?« »Mach die Tür auf«, antwortete er kurz angebunden. Als er in der Küche neben dem niedergebrannten Herdfeuer auf einen Stuhl gefallen war, berichtete er, was ihm in der letzten halben Stunde in den Hügeln passiert war. »Das ist ja entsetzlich«, keuchte sie. Wie um sich abzulenken, begann sie am Herd zu stochern und das Feuer in Gang zu bringen. Dann setzte sie einen Teekessel auf. Mit zitternder Stimme sagte sie halb schluchzend: »Verstehst du jetzt, daß ich diesen verdammten Ort hasse. Man ist meilenweit von der Zivilisation entfernt, nachts passieren 209
grauenvolle Morde, und jetzt gehen auch noch Werwölfe um. Wer weiß, was sonst noch alles passiert. Gordon, bitte nimm mich mit!« flehte sie. »Erspar mir, noch eine einzige Nacht an diesem verfluchten Ort bleiben zu müssen.« Sie barg ihr Gesicht an seiner Schulter. Dort fand sie den Trost, der ihr helfen konnte. »Ich werde alles tun, was du willst«, versprach er. »Wir sollten aber trotzdem warten, bis Vic zurückkommt. Inzwischen kannst du ja schon deine Sachen packen.« »Das habe ich bereits getan, als du heute nachmittag fort warst«, murmelte sie an seiner Schulter. Ihre Lippen trafen sich zu einem heißen Kuß. Die Welt ringsum war für sie verloren. Sie hörten weder das Singen des Teekessels, noch bemerkten sie zwei kleine, rotglühende Augen, die voller Bösartigkeit und Gier durch die Scheibe starrten. Vic Gunn trat wütend auf den Gashebel, nachdem er Gwynne Owen abgesetzt hatte. Normalerweise wäre er auf diesen engen und gefährlichen Landstraßen nicht mehr als 25 Stundenkilometer gefahren. Jetzt zeigte der Tachometer auf über fünfzig, als er mit 210
kreischenden Rädern um die Kurven preschte. Seine Hand umklammerte das Steuerrad so fest, als hätte er es am liebsten aus der Verankerung gerissen. Seine Lippen preßten sich zu einer schmalen, blutleeren Linie zusammen. »Dieser Schuft!« sagte er bösartig. »Dieser verdammte Schuft! Er soll sehen, was ich mit ihm mache, wenn ich ihn erwische.« In Gedanken wiederholte Vic, was Gwynne Owen ihm auf dem Rückweg von Heresford erzählt hatte. Der reichlich eingenommene Whisky hatte die Zunge des alten Mannes gelöst. So ging es einem, wenn man das ganze Jahr über nur Tee trank und plötzlich einen Schnaps nach dem anderen kippte. Vic war sich darüber klar, daß ihm der alte Farmer das, was außer ihm offensichtlich jeder wußte, niemals erzählt hätte, wenn er nüchtern gewesen wäre. Seine Frau hatte also anscheinend eine Affäre mit Gordon Hall angefangen. Daß er den Kerl nie hatte leiden können, wunderte ihn jetzt nicht mehr. Das verbindliche und überlegene Getue des Journalisten ihm gegenüber war ihm schon immer auf die Nerven gefallen. Jetzt sollte der Kerl erst einmal beweisen, was er wirklich konnte. 211
Vic Gunn sah Gordon Halls Wagen im Hof stehen, bevor er in die Einfahrt einbog. Der verdammte Kerl hatte offensichtlich diesmal seinen nächtlichen Besuch etwas zu lange ausgedehnt. Er löschte die Scheinwerfer und stoppte den Motor. Der Mond schien so hell, daß er ohne Schwierigkeiten in den Hof rollen konnte und seinen Wagen ungesehen hinter der Scheune parkte. Der Schafzüchter kochte vor Wut. Er hatte sich einen Plan ausgedacht, wie er vorgehen wollte. Die Angeln des Scheunentors quietschten ausnahmsweise nicht, als er es öffnete und geräuschlos eintrat. Drinnen war es stockdunkel. Da er sich auskannte, brauchte er nicht einmal das Licht eines Streichholzes, um seinen Weg zu finden. Er wußte auf Anhieb, wo sein altes, rostiges Gewehr auf einem Haufen leerer Hafersäcke lag. Auf einem Regal darüber stand eine Schachtel mit Munition. Er lud das Gewehr und verließ dann vorsichtig wieder die Scheune. Sich ständig im Schatten der Gebäude haltend, schlich er sich zum erleuchteten Küchenfenster. Er war so mit seinem Vorhaben beschäftigt, daß er gar nicht merkte, daß sich auf der anderen Seite des Hofes ein großes, haari212
ges Biest im Dunkeln versteckte. Nur zwei kleine, rote Augen, die wie Kohlenstücke glühten, hätten seine Anwesenheit verraten können. Vic sah sie nicht. Er wollte wissen, was in der hellerleuchteten Küche vor sich ging. Der auf der Lauer liegende Werwolf wollte dasselbe. Vic Gunn spähte durch die Scheibe. Aus seinem Blickwinkel konnte er den Journalisten nur von hinten sehen. Margaret lag in seinen Armen. Also hatte Gwynne Owen die Wahrheit gesagt. Jeder Zweifel war ausgeschlossen. Er wollte wissen, worüber die beiden sprachen. Seine Wut steigerte sich von Minute zu Minute. Langsam verlor er die Kontrolle über sich. Er wollte diesen Mann umbringen, der ihm seine Frau weggenommen hatte. Was Margaret anbetraf, darum wollte er sich später kümmern. Leise und vorsichtig öffnete er mit der linken Hand die Küchentür. Seine Rechte entsicherte das Gewehr. Philip Owen schlich näher heran, wobei er sich im Schatten hielt. Schließlich befand er sich nur noch knapp fünf Meter hinter Vic Gunn. Von hier aus hätte es ihn nicht die geringste Mühe gekostet, den Schaf Züchter mit einem Prankenhieb zu erledigen. Aber er 213
war mehr daran interessiert, mitzubekommen, was in der Küche passieren würde. Gordon Hall hatte ihm im Wald in letzter Minute entkommen können, indem er unbewußt den Bergbach ausnutzte, der für Philip ein unüberwindliches Hindernis darstellte. Hier gab es für ihn keinen Ausweg mehr. Am meisten freute sich Philip darüber, daß sich auch die Frau, die er so sehr begehrte, in seiner Reichweite befand. Die Dinge hätten gar nicht besser zusammenpassen können. Er fragte sich jetzt einigermaßen verwundert, was eigentlich der Schafzüchter vorhatte. Gleich mußte etwas passieren, und sein Instinkt sagte ihm, daß er besser daran täte, noch eine Zeitlang abzuwarten. »Wenn Vic zurückkommt, werde ich mit ihm sprechen«, sagte Gordon Hall gerade. »Nachdem du deine Koffer bereits gepackt hast, können wir uns bei Tagesanbruch auf den Weg machen.« Plötzlich spürte der bärtige Mann, daß er und Margaret nicht mehr allein im Raum waren. Vielleicht war es die Zugluft, die von der offenen Tür kam, vielleicht warnte ihn auch ein sechster Sinn. Er fuhr herum und sah sich dem Gewehrlauf Vic Gunns gegenüber. 214
»Das trifft sich gut«, sagte Vic und versuchte, nicht die Beherrschung zu verlieren. »Worüber wollten Sie mit mir sprechen, wenn ich zurück bin, Mr. Hall? Heraus damit. Jetzt haben Sie ja Gelegenheit dazu.« »Es besteht überhaupt kein Grund, mir mit dem Gewehr vor der Nase herumzufuchteln«, fuhr ihm Gordon über den Mund. »Wir können die Angelegenheit wie zivilisierte Menschen bereden, ohne gleich wüste Drohungen auszustoßen.« »Darüber möchte ich lieber selbst entscheiden.« Vic Gunn war mehr als wütend. »Heraus mit der Sprache! Was wollten Sie mir sagen? Reden Sie endlich! Wenn Sie es nicht tun, sag du etwas, Margaret.« »Gut also, wenn Sie so wollen.« Der Journalist sprach mit gleichmütiger Stimme und versuchte die im Raum herrschende Spannung etwas zu lösen. »Ich kann es Ihnen genausogut jetzt mitteilen. Margaret will Sie verlassen. Sie geht mit mir in die Stadt.« »So? Tut sie das? Da habe ich wohl auch noch ein Wörtchen mitzureden.« Vic lachte so hohl und höhnisch, daß Margaret ein Schauder über den Rücken lief. Sie hatte bisher nicht
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gewußt, daß ihr Mann zu solchen Temperamentsausbrüchen fähig war. »Ich will Ihnen mal was sagen, mein Herr.« Vies Stimme kam wie der Knall einer Peitsche. »Sie wird schon deshalb nicht mitfahren, weil Sie gar nicht lebendig hier wieder herauskommen.« Gordon sah, daß in den Augen des Mannes, der ihm gegenüberstand, sein Tod eine beschlossene Sache war. Zum zweitenmal in dieser Nacht waren die Würfel gegen ihn gefallen. Nur hatte er, als er den Werwolf traf, wenigstens die Chance gehabt, wegzulaufen. Hier schien sich ihm kein Ausweg zu bieten. Eine doppelte Ladung Schrot aus Vic Gunns Gewehr mußte ihn in Stücke zerreißen, bevor er Zeit hatte, sich auch nur einen Zentimeter zu bewegen. »Lassen Sie uns die Sache vernünftig besprechen«, versuchte er es noch einmal verzweifelt. Jetzt warf sich Margaret dazwischen und brachte sich in die Schußlinie. »Halt du dich da heraus!« schrie Vic sie an. »Oder ich blase dir und dem sauberen Herrn das Hirn aus dem Kopf.« »Nein Vic, bitte nicht!« Margaret suchte seine Hand festzuhalten, als sie sah, daß er die Absicht hatte, abzudrücken. 216
Plötzlich erfüllte ein ohrenbetäubendes Geheul die Küche, und die Tür wurde fast aus den Angeln gerissen. Im Eingang stand auf allen vieren die fürchterliche Bestie, zum Sprung bereit, die Fänge geöffnet, die Krallen ausgestreckt, um sich in menschliches Fleisch zu verbeißen. Margaret kreischte. Gordon gab ihr einen Stoß und stellte sich vor sie. Vic fuhr herum. Er war so außer sich vor Wut, daß er sich zunächst nur wunderte, wie es jemand wagen konnte, ihn auf solche Art bei seinem Vorhaben zu stören. Sein Finger lag noch am Abzug. Der Schafzüchter war auf den Anblick, der sich ihm bot, nicht vorbereitet. Er war nie auf die Idee gekommen, daß es solche Geschöpfe außerhalb von Comic-Heften und Horrorfilmen geben konnte. Der Schock, einer solchen Erscheinung plötzlich Auge in Auge gegenüberzustehen, erschreckte ihn so, daß sich jeder Muskel in seinem Körper spannte. Instinktiv zuckte auch der Finger am Abzug. Eine fast das Trommelfell zerreißende Explosion erfüllte den Raum. Zum Glück war der Lauf des Gewehrs nicht mehr auf Gordon und Margaret gerichtet, so daß der Schuß in der Decke landete. Einen Mo217
ment lang konnte keiner etwas sehen. Mörtel und Steine fielen herunter, Staub mischte sich mit dem grauen Rauch aus dem Gewehrlauf. Vic ließ erschrocken die Flinte fallen. Sie polterte auf den Boden und rutschte über die Fliesen. Der Aufprall hatte die Ladung im zweiten Lauf ausgelöst, und ein neuer furchtbarer Krach verstärkte das in der Küche herrschende Chaos. Der Werwolf, seit dem ersten Schuß wie erstarrt dastehend, bekam die zweite Ladung Schrot in alle vier Läufe. Das jetzt erklingende Geheul entsprang den Schmerzen, mit denen sich seine tiefe Enttäuschung paarte. Seine Augen tränten vor Staub und Rauch. Seine Füße fühlten sich an, als ob er auf ein genageltes Brett getreten wäre. Der alles dominierende Instinkt eines Tieres ist der Selbsterhaltungstrieb. Darüber wird jederzeit sogar Hunger und Sex vergessen. So erging es Philip, dessen Zugehörigkeit zur menschlichen Rasse sich von Minute zu Minute mehr verflüchtigte. Er war nur noch ein Geschöpf der Wildnis, von dem einzigen Gedanken besessen: Sicherheit. Er wollte so schnell wie möglich von diesen Menschen weg und sich verstecken.
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Als sich Rauch und Staub einigermaßen gelegt hatten, war von dem Werwolf keine Spur mehr zu sehen. Margaret kauerte schluchzend in einem Sessel. Ihr Körper schüttelte sich förmlich. Sie ließ ihren Gefühlen freien Lauf. Vic kniete auf allen vieren am Boden. Blut sickerte aus einem Schnitt an seiner Wange, wo ihn ein herunterfallender Stein getroffen hatte. Seine Hand tastete nach dem Gewehr. Bevor er es ergreifen konnte, stieß Gordon Hall es mit dem Fuß in eine Ecke. »Ich glaube, wir kommen jetzt ohne das Ding aus«, sagte er. »Was war das?« stammelte Vic Gunn und begann sich mühsam am Tisch in die Höhe zu ziehen. »Ein Werwolf«, stellte der Journalist trocken fest. Dann durchquerte er schnellen Schrittes die Küche, schlug die Tür zu und verriegelte sie von innen. »Das ist heute nacht schon das zweite Mal, daß ich ihm mit knapper Not entkommen bin.« »Das kann doch gar nicht sein«, protestierte der Schafzüchter. Sein Haß auf den Nebenbuhler war vorübergehend in den Hinter-
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grund getreten. »Werwölfe gibt’s doch nur in Büchern und Filmen.« »Sie haben doch gerade mit eigenen Augen einen gesehen. Das war übrigens dieselbe Bestie, die Ihr Schaf zerrissen und Jennifer Hughes umgebracht hat.« Ein unbehagliches Schweigen trat ein. Keiner wußte etwas zu sagen. Margaret hatte sich gefaßt und stellte den gefüllten Teekessel auf den Herd. Sie hatte das Gefühl, daß sie jetzt eine Tasse heißen Tee dringend gebrauchen konnten. Vielleicht würde das auch helfen, die Dinge in sachlicherem Licht zu sehen. Plötzlich wurde ihr nachdenkliches Schweigen von einem wahnsinnigen Hämmern gegen die Tür unterbrochen. Jemand schlug wie wild mit den Fäusten gegen das Holz. Die in die Tür eingelassene Glasscheibe vibrierte. »Lassen Sie mich rein! Bitte machen Sie doch die Tür auf und helfen Sie mir.« Jemand begehrte verzweifelt schluchzend Einlaß. »Da ist das Vieh wieder.« Mit einem Satz war Vic auf den Beinen und versuchte sich des Gewehrs zu bemächtigen. Gordon Hall verstellte ihm den Weg. 220
»Das brauchen Sie jetzt wirklich nicht«, fuhr er ihn an. »Hören Sie denn nicht, daß das Gwynne Owen ist? Machen Sie lieber auf und lassen Sie ihn rein.« Es war nicht mehr der Gwynne Owen, den sie alle kannten, der da in die Küche taumelte und buchstäblich wie ein Häufchen Unglück auf das Sofa fiel. Vic fürchtete einen Augenblick, er bekäme da möglicherweise die Nachwirkungen der ungewohnten Zechtour zu sehen. Aber ein Blick in das aschgraue Gesicht genügte, um zu sehen, daß der Alkohol nicht für den Zustand verantwortlich war. Der alte Mann war noch nie im Leben so nüchtern gewesen. »Blodwyn«, schluchzte er. »Sie ist tot, liegt ausgestreckt auf dem Boden, Philip ist entkommen.« »Blodwyn tot?« fragte Vic ungläubig. »Und was meinen Sie damit, Philip ist entkommen? Er war doch nicht etwa ein Gefangener bei Ihnen, oder?« Der alte Mann nickte. Zuerst sah man ihn nur den Mund bewegen, dann kehrte seine Sprache zurück. Stammelnd, während Tränen über seine eingefallenen Wangen rannen, brachte er endlich seine Geschichte heraus. 221
»Wir hatten vor kurzem entdeckt, daß Philip ein Werwolf geworden ist. Daran war Loup, unser früherer Schäferhund schuld. Er hat ihn gebissen. Als es Vollmond wurde, verbarrikadierte ich Philip in seinem Zimmer. Anscheinend waren die stählernen Riegel an der Tür und die Gitter an den Fenstern nicht stark genug, um ihn festzuhalten. Blodwyn ist vermutlich an Herzversagen gestorben. Sie zeigt keine äußeren Verletzungen. Wäre ich doch nur zu Hause geblieben und nicht nach Heresford gefahren! Vielleicht hätte ich Blodwyn helfen können.« »Wenn Sie zu Hause geblieben wären, wären Sie jetzt vermutlich ebenfalls tot«, warf Gordon Hall ein. »Ich bin dem Werwolf heute nacht nur mit knapper Not zweimal entkommen. Inzwischen ist er verwundet, Vic hat ihn mit einer Ladung Schrot in die Pfoten erwischt, und befindet sich auf der Flucht. Er dürfte in die Schwarzen Hügel gerannt sein, um sich zu verstecken.« Nachdem das Licht des Mondes längst von der grauen Morgendämmerung verdrängt worden war, saßen sie noch immer um den schweren Eichentisch und tranken Tee. Kein Wort fiel mehr über den Werwolf oder Gordon Halls Affäre mit Margaret. Es war, als ob 222
eine Wolke über ihr Leben gefallen wäre, sie fühlten sich erschöpft und deprimiert. Endlich erhob sich Gordon. »Ich glaube, es ist am besten, wenn ich jetzt jemand suche, der sich um Blodwyns Leiche kümmert.« Seiner Stimme war deutlich anzuhören, wie müde und zerschlagen er sich fühlte. »Dann werde ich die Behörden verständigen, daß sich ein verwundeter Werwolf hier herumtreibt. Das verdammte Biest muß vernichtet werden, bevor der nächste Vollmond kommt.« 16. Polizeikonstabler Winter hatte es langsam satt, ständig vom klingelnden Telefon aus dem Bett geholt zu werden. Früher war das nur ziemlich selten passiert, in letzter Zeit schien es sich zu einer üblen Gewohnheit zu entwickeln. »Llanadevy, Polizeistation«, meldete er sich schlecht gelaunt. Er wartete auf die passende Gelegenheit, dem Teilnehmer auf der anderen Seite klarzumachen, was er von ihm dachte. Er lauschte. Während er das tat, wurde er abwechselnd rot und blaß. 223
»Wenn dies ein Scherz sein soll, kann ich Ihnen versichern, daß meine Vorgesetzten ihn gar nicht komisch finden werden«, schimpfte er. »Sie können mir glauben, daß mir jegliche Lust zum Scherzen vergangen ist.« Gordon Halls Stimme klang ziemlich gereizt aus dem Hörer. »Ich kann Ihnen ein halbes Dutzend Zeugen nennen, die meine Geschichte bestätigen können, wenn Sie mir nicht glauben wollen.« Damit hängte er ein. Als Philip Owen taumelnd die Gunnsche Farm verließ, litt er entsetzliche Qualen. Seine Schmerzen waren sowohl körperlicher wie geistiger Natur. Sein Gehirn glich dem eines in die Enge getriebenen wilden Tieres. Einerseits hatte man ihm seine Rache nicht gegönnt, andererseits waren auch seine sexuellen Begierden nicht gestillt. Dabei hatte er sich in Reichweite des Mannes befunden, in den er am liebsten seine Krallen und Fänge geschlagen hätte. Damit hätte ihm auch automatisch die Frau gehört. So etwas war ihm bisher nur ein einziges Mal geglückt, als ihm Jennifer Hughes über den Weg gelaufen war. Er hatte nicht vergessen, wie sehr er nach der Tat mit sich und der Welt im Ein224
klang gewesen war. Und jetzt, nachdem er einem ähnlichen Erlebnis entgegenfieberte, hatte man ihm in letzter Minute sein Opfer entrissen. Die unerträglichen Schmerzen in seinen Füßen ließen ihn für einen Augenblick alles andere vergessen. Sie brannten wie Höllenfeuer. Bei jedem Schritt verlor er tropfenweise Blut und hinterließ so eine fortlaufende Spur, der man leicht folgen konnte. Dann machte er einen Satz durch ein offenstehendes Tor und lief auf den Feldern weiter. Plötzlich hörte er Schritte. Füße bewegten sich schwerfällig, stolperten und liefen dann weiter. Ein Mensch atmete stoßweise. Seine Lungen schienen dem Bersten nahe. Philip spähte durch eine Lücke in der Dornenhecke, die er gerade passierte. Auf dem Weg, auf dem er gerade gekommen war, bewegte sich Gwynne Owen mit letzter Kraft vorwärts. Irgendwie hatte er das Gefühl, diesen Mann schon einmal gesehen zu haben. Daß er sein Vater war, der da von Schmerzen übermannt dahinwankte, wußte er nicht mehr. Philip spürte, wie sich in dieser Nacht seine menschlichen Züge immer mehr verloren. Das erklärte auch, warum er seinen Vater 225
nicht einmal mehr erkannte. Unter normalen Umständen hätte er ihn vielleicht sogar angefallen und umgebracht. Er wäre eine leichte Beute gewesen. Nicht so in dieser Nacht. Sein Instinkt riet ihm, so schnell wie möglich ein Versteck zu finden, bevor der Tag anbrach. Er kam im Abstand von hundert Metern an seinem früheren Heim vorbei, machte sich aber keine Gedanken darüber. Für ihn war es nur noch ein Gefängnis, wo Menschen ihn festgehalten hatten, und wo er nur unter Anwendung roher Gewalt hatte fliehen können. Er sah auch das Loch im Mauerwerk, wo sich vor kurzem noch ein Fenster befunden hatte, und knurrte bösartig. Von der Leiche der alten Frau auf dem Wohnzimmerboden wußte er nichts. Aber selbst wenn er davon gewußt hätte, wäre es ihm gleichgültig gewesen. Dabei sehnte er sich in dieser dunkelsten Stunde seines Lebens nach der trostspendenden Gegenwart seiner Mutter. Für ihn verband sich mit diesem Begriff nicht die grauhaarige Tote auf dem Boden des Wohnhauses, in dem er aufgewachsen war. Er hätte etwas darum gegeben, wenn die große graue Wölfin aus den Tiefen des Schwarzwaldes in diesem Moment an seiner 226
Seite gewesen wäre. Sie war die Mutter aller Werwölfe. Vor ihm ragten in einiger Entfernung die Umrisse des Pen-y-Wern-Steinkreises auf und schienen ihn locken zu wollen. Er wehrte sich gegen ihren fast übermächtigen Ruf. In seiner jetzigen Verfassung wollte er einen Marsch über weite, offene Strecken auf alle Fälle vermeiden. Vom Blutverlust ziemlich geschwächt, war er ohne Gnade den Menschen ausgeliefert, falls es ihm nicht gelang, vor Anbruch des Tages ein ausreichend sicheres Versteck zu finden. Die Schwarzen Hügel empfingen ihn warm und freundlich, sie versprachen den Schutz, den er so dringend benötigte. Darum lief er ihnen entgegen. Sie hatten große Ähnlichkeit mit den Bergen des Schwarzwaldes. Er konnte sich zwar nicht erinnern, jemals dort gewesen zu sein, wußte aber merkwürdigerweise ganz genau, wie sie aussahen. Die Bäume waren dunkel und riesenhaft, der Wald unendlich groß und weitläufig. Trotzdem zog er die Schwarzen Hügel vor – sie waren seine ureigenste Domäne. Er passierte den kleinen Waldteich, wo vor wenigen Stunden Gordon Hall die Flucht vor ihm ergriffen hatte. Dort machte er eine 227
kurze Pause und stillte in dem braunen Brackwasser seinen brennenden Durst. Es brachte auch seinem vom Fieber glühenden Leib die ersehnte Kühlung. Am östlichen Himmel war der erste helle Streifen zu sehen. Er wußte, daß er sich jetzt beeilen mußte, wenn er sein Ziel erreichen wollte, bevor der Tag kam. Was ihm bevorstand, wenn ihn die Menschen im Hellen erwischten, konnte er sich gut vorstellen. Auf jeden Fall war höchste Eile geboten. Er mußte noch einen ziemlich weiten Umweg machen, am Ufer des Baches entlang, an der Stelle vorbei, wo der bärtige Journalist durch das Wasser gesprungen war, bis er die moosbewachsene Höhle fand, wo er einigermaßen sicher war. Chefinspektor Ford und Sergeant Bayley erreichten kurz nach Mittag Llanadevy. Als sie die Polizeistation betraten, unterhielt sich dort gerade Gordon Hall mit Konstabler Winter über die Ereignisse der vergangenen Nacht. Ford warf sich in einen Stuhl. »Wenn sich Ihre Erzählung als Ammenmärchen entpuppt, wird sich ganz Scotland Yard über uns totlachen. Sie können sich vielleicht 228
vorstellen, was der Kommissar sagte, als ich ihm mitteilte, daß ich nach Llanadevy fahren würde, um einem Werwolf Handschellen anzulegen.« »Es ist kein Märchen«, versicherte Gordon Hall. »Dessen können Sie sicher sein.« »Na gut, ich will Ihnen glauben«, sagte der Inspektor. »Da Sie anscheinend mehr über die Angelegenheit wissen, als sonst jemand, frage ich Sie. Was sollen wir tun? Haben Sie irgendwelche Vorstellungen?« »Die eine oder andere schon«, erwiderte der Journalist. »Wenn wir den Werwolf zum Beispiel bei Tage lokalisieren, würde das unsere Arbeit erleichtern. Dann stünden ihm seine übernatürlichen Kräfte nämlich nicht zur Verfügung. Er könnte sich also nicht wehren. Eines kann ich Ihnen sagen. Ich verspüre nicht den geringsten Wunsch, diesem Untier noch einmal bei Mondschein zu begegnen. Tagsüber ist er nur ein ganz normaler Schafzüchter. Erinnern Sie sich noch an Philip Owen, den Burschen, den wir am Tag vor unserer großen Treibjagd getroffen haben? Er ist der Werwolf. Sein Vater, Gwynne Owen, hält sich zur Zeit bei Vic Gunn auf, nachdem seine Frau letzte Nacht vor Schreck gestorben ist. Sein Hof ist also ver229
lassen. Vielleicht haben wir eine Chance, Philip dort zu finden, wie er in seinem alten Haus und Hof herumspaziert. Ich schlage vor, daß wir dort zuerst nachsehen.« »Das ist keine schlechte Idee.« Wenn Inspektor Ford einmal ein Lob aussprach, meinte er es ehrlich. Dankbar machten sich die beiden Männer aus London über Kaffee und belegte Brote her. Mrs. Winter hatte es sich nicht nehmen lassen, ihnen eine kleine Mahlzeit zu servieren, bevor sie sich auf den Weg machten. Nachdem die kurze Verschnaufpause vorüber war, zogen sie lange Stiefel und dicke Mäntel an. Beide Männer trugen Revolver bei sich, die sie vor dem Weggehen noch einmal überprüften und in die Tasche steckten. Gordon Hall hatte sein Gewehr im Wagen gelassen. Er wußte, daß er keinen Gebrauch davon machen mußte, zumindest nicht am Tage. Sie fuhren in Gordons Auto zum Owenschen Hof hinüber und stellten es dort ab. Systematisch suchten sie zunächst die äußeren Gebäude ab. Keine Spur von menschlichem Leben war zu sehen. »Vielleicht sollten wir im Wohnhaus nachsehen.« Inspektor Fords Vorschlag war genau230
genommen ein Befehl. Als sie die unverschlossene Hintertür aufstießen und über die Schwelle in die Küche traten, bemerkte Gordon, daß beide Polizisten die Revolver in ihren Taschen fester packten. Im Untergeschoß war nichts zu finden, also ging Inspektor Ford, gefolgt von Sergeant Bayley und Konstabler Winter und Gordon Hall, die schmale Holztreppe hinauf. Die schwere Tür zu Philip Owens Schlafzimmer stand offen. Gwynne Owen hatte vermutlich die Riegel zurückgeschoben, als er aus Heresford zurückkehrte und seine schreckliche Entdeckung machte. Alle vier betraten das Zimmer. In der Wand klaffte das gähnende Loch, das einmal ein vergittertes Fenster enthalten hatte. »Hier stinkt es ja wie in einem nie gesäuberten Stall«, bemerkte Ford und rümpfte die Nase. Die durch die Fensterhöhle hereindringende frische Luft hatte den faulen, widerwärtigen Geruch nicht vertreiben können. »Was für ein schrecklicher Ort!« Der Boden war mit Holzstücken und Glassplittern übersät, die Zeugnis davon ablegten, wie sehr sich der Werwolf bemüht hatte, hinauszukommen.
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»Auf der Farm ist er offensichtlich nicht«, bemerkte Sergeant Bayley nachdenklich. »Was schlagen Sie jetzt vor, Mr. Hall?« »Dann kann er sich nur in den Schwarzen Hügeln aufhalten. Vermutlich hat er sich in einen Fuchsbau gezwängt und wartet ab, bis heute abend der Vollmond aufgeht. Vergessen wir nicht, daß er verwundet und deshalb doppelt gefährlich ist. Für ihn gibt es keinen Rückweg mehr. Sobald der Mond aufgeht, verwandelt er sich in eine mordsüchtige Bestie. Solange er in der Gegend umgeht, ist weder Mensch noch Tier vor ihm sicher. Sehen wir mal, ob Remus seine Fährte aufnehmen kann. Das müßte zumindest an der Stelle möglich sein, wo seine Blutspur in die Felder führt.« Wenige Minuten später folgten die vier Männer dem gelben Labrador-Hund, der mit der Nase auf dem Boden die Fährte des Werwolf es aufgenommen hatte. Alle paar Schritte hatte er einen Tropfen Blut verloren. Der starke Geruch eines solchen Tieres mußte sich ziemlich lange halten. Gordon setzte sein ganzes Vertrauen auf seinen treuen Hund. Es wurde ein weiter Weg – über Gwynne Owens Weiden und dann durch das dichte 232
Unterholz, mit dem die Hügel bewachsen waren. Einige wilde Tauben flogen mit bis zum Rand gefüllten Kröpfen in die Höhe und beeilten sich, in den Bäumen des Waldes Schutz zu suchen. Remus führte die Gesellschaft zuerst zum Teich zu der Stelle, wo das Biest haltgemacht hatte, um seinen Durst zu löschen. Hier waren im Ufermatsch klar und deutlich Spuren zu erkennen. Inspektor Ford stieß einen lauten Pfiff aus. »Das scheint ja wirklich ein Riesenbiest zu sein«, murmelte er überrascht. Sie folgten jetzt dem Weg, den Gordon Hall letzte Nacht auf seiner rasenden Flucht eingeschlagen hatte. Der Journalist war ziemlich erstaunt, als Remus an einer Föhre vorbei ohne jedes Zögern auf den rauschenden Bergbach zulief. »Merkwürdig. Er ist zum Wasser gelaufen«, stellte er fest. »Dabei kann er doch fließendes Wasser gar nicht durchqueren, soviel steht fest. Ich kann mir nicht vorstellen, was er vorhat.« Nach hundert Metern standen sie oben auf der Uferböschung des Baches. Reines und klares Wasser plätscherte über Felsen und Steine. Der Bach machte in Richtung Llana233
devy einen Bogen. Gordon deutete auf die Stelle, wo er dem Untier mit knapper Not entkommen war. Als sie bemerkten, daß Remus vorwärtsdrängte, folgten sie ihm hastig. Der Labrador-Hund stürmte mit der Nase am Boden vorwärts. Wenn auch Gordon einen Pfiff nach dem anderen ausstieß, so schien ihn das doch nicht zu stören. Er hatte ständig einen Vorsprung von fünfzig Metern und mehr vor den Männern. Plötzlich blieb er mit gesträubtem Haar stehen. Er knurrte aus tiefster Kehle und schaute auf etwas hinunter, das im Bach lag und ihren Blicken noch verborgen war. Dann verzog er sich bellend und jaulend ins Gebüsch. Offensichtlich hatte er Angst vor seiner Entdeckung. »Er hat etwas entdeckt«, sagte Inspektor Ford. »Beeilen wir uns.« Kurz darauf hatten sie den Hund eingeholt. Sie standen nebeneinander auf der Uferböschung. Jeder versuchte einen Blick auf das zu erhaschen, was den Hund geängstigt hatte. An dieser Stelle war das Ufer ziemlich dicht und hoch bewachsen. Wenn man den Wasserspiegel sehen wollte, mußte man sich über eine Art Hecke beugen.
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Mitten auf dem parallel zum Bach verlaufenden Graspfad war ein dicker Holzpfosten tief in den Boden gerammt. An ihm hing eine Drahtschlinge, die gespannt war und deren Ende man nicht sehen konnte. »Eine meiner Fuchsfallen«, erklärte Gordon und warf einen forschenden Blick darauf. »In letzter Zeit habe ich hier eine ganze Anzahl aufgestellt. Es ist zu häufig passiert, daß Füchse hier aufgetaucht sind und eine unvorsichtige Wildente oder ein Wasserhuhn erwischt haben. Da der Draht so gespannt ist, muß sich etwas in der Schlinge gefangen haben. Was immer es sein mag, es ist über den Uferrand ins Wasser gefallen.« Sie standen oben auf der Böschung und verrenkten sich fast die Hälse. Hier fiel das klare Wasser in kleinen Kaskaden zu Tal. Es mochte ungefähr einen Meter tief sein. Der Draht war bis zum Äußersten gespannt und reichte bis zu einer Bachbiegung. Dort endete die Schlinge. Sie umspannte fest das Fußgelenk eines nackten Mannes. Nur der linke Fuß ragte aus dem Wasser. Der ganze restliche Körper schwamm mit dem Gesicht nach unten im Bach. Es bestand nicht der geringste Zweifel, daß der Mann tot war. Remus bellte und jaulte immer noch wie ein 235
Verrückter, bis ihn ein Klaps seines Herrn verstummen ließ. »Es ist tatsächlich Philip Owen«, unterbrach Gordon das entsetzte Schweigen. »Ziehen wir ihn aufs Trockene und sehen wir uns ihn genauer an.« Mit einiger Mühe brachten die Männer es schließlich fertig, den Körper auf den grasbewachsenen Weg zu legen. Die Leiche bot keinen schönen Anblick. Hände und Füße waren eine einzige Wunde. Daran trug vermutlich die Schrotladung aus Vic Gunns Gewehr die Schuld. Der starke Draht der Fuchsfalle hatte die Haut am Fußgelenk bis auf den Knochen durchgeschnitten. Gordon sah sich Philips Gesicht aus der Nähe an. Er konnte es fast nicht glauben, daß dieses friedliche, entspannte Gesicht zu dem Menschen gehörte, der ihn als fauchendes, grausames Untier vor wenigen Stunden fast umgebracht hatte. »Sind Sie sich Ihrer Sache sicher, Mr. Hall?« fragte Inspektor Ford. »Ganz sicher«, sagte Hall. Er untersuchte die Hände des toten Mannes. Besondere Aufmerksamkeit schenkte er den dritten Fingern an jeder Hand. Sie waren fast genausolang wie die Mittelfinger. Ein tiefer 236
Seufzer der Befriedigung kam über seine Lippen. Der Fluch des Werwolf s der Schwarzen Hügel war für immer vorbei. Eine Kombination von fließendem Wasser und einer Fuchsfalle hatten das zustande gebracht. Er stand auf, um den Männern von Scotland Yard Gelegenheit zu geben, ihre Untersuchungen abzuschließen. 17. Die Dämmerung war bereits hereingebrochen, als die vier Männer die Einfahrt zu Vic Gunns Hof passierten. Die beiden Beamten wollten sich von Gwynne Owen eine schriftliche Aussage holen. Gordon Hall sah ihnen nach, wie sie, gefolgt von Konstabler Winter, das hellerleuchtete Haus betraten. Der Journalist konnte durch das Fenster die im Haus befindlichen Menschen beobachten. Gwynne Owen kauerte in einem Lehnstuhl. Die Leute von Scotland Yard brachten ihm offensichtlich gerade die Neuigkeit von Philips Tod. Margaret verteilte geschäftig Becher mit Tee. Vic legte eine Hand auf ihre Hüfte, als 237
er sich vorbeugte, um irgend etwas vom Tisch zu nehmen. Er flüsterte ihr etwas zu, und sie lächelte zurück. Gordon blieb im Wagen sitzen. Er füllte sorgfältig seine Pfeife, zündete sie an und sah nachdenklich dem blauen Rauch nach, der sich langsam durch das offene Fenster nach draußen kräuselte. Plötzlich wußte er, daß er Llanadevy satt hatte. Vermutlich ging ihm das schon seit längerer Zeit so, nur hatte er es bisher nicht gemerkt. Er dachte über Philip Owen und seine Verwandlung zum Werwolf nach. So etwas konnte nur geschehen, wenn man sich allzu lange in einem so von Gott und aller Welt verlassenen Kaff aufhielt. Allerdings hatte sich der junge Sohn des SchafZüchters nichts anderes vom Leben gewünscht. Selbst wenn man ihm die Chance geboten hätte, wegzugehen und etwas anderes zu tun, hätte er das nicht gewollt. Mit Margaret Gunn verhielt es sich nicht anders. Gelangweilt wie sie war, hatte sie sich ein Leben erträumt, von dem sie glaubte, daß es ihr besser gefiel. Kurz bevor sie alle Brücken hinter sich abgebrochen hatte, war ihr aufgegangen, daß sie lediglich einem Traum folgen wollte. Da hatte sie ihre Mei238
nung geändert. Wenn der Werwolf nicht auf der Farm erschienen wäre, hätte sie ihn vielleicht in die Stadt begleitet und wäre auch dort unglücklich geworden. Andererseits war Gordon froh, daß der Werwolf so plötzlich in ihre unerquickliche Aussprache hineingeplatzt war. Vielleicht hätte ihn sonst Vic Gunn ohne weiteres ins Jenseits befördert. Um ein paar Ecken herum hatte ihm also der Werwolf das Leben gerettet. Das Ganze hatte auch sein Gutes, dachte er. In nicht allzu ferner Zeit dürfte Vic Gunn erfahren, daß er Vater wurde. Vermutlich würde er vorziehen, daran zu glauben. Damit kam seine Ehe wieder in Ordnung. Gordon Hall fing an, über sich selbst nachzudenken. Vielleicht war er gar nicht so weit von dem Werwolf Philip Owen entfernt. Er hatte sich auch jederzeit ohne die geringsten Skrupel über die Wünsche anderer Leute hinweggesetzt. Er war auf die Jagd gegangen und hatte zum Spaß seine Beute erlegt. Genaugenommen lag das ständige Verführen aller Frauen, die ihm in den Weg liefen, auf derselben Linie. Die Grundeinstellung war die eines Werwolf es: Sex und Beutemachen. 239
Er sah zu den Schwarzen Hügeln hinüber, die jetzt dunkel vor dem schwindenden Licht des westlichen Himmels aufragten. Dort war heute ein gefährliches Tier zur Strecke gebracht worden. Vielleicht war es für ihn selbst das beste gewesen. Der Motor seines Wagens sprang beim leisesten Druck auf den Anlasser an. Die Scheinwerfer warfen ihr Licht voraus. Er fuhr durch das offene Tor über dunkle, enge Straßen dorthin, wo er hergekommen war. Neben dem Tor lag ein Haufen Abfall, der auf die Müllabfuhr wartete. Ein heller Fleck zog seinen Blick auf sich. Mitten auf dem Abfall lag ein gelber, verbeulter Plastikeimer, für den kein Mensch mehr Verwendung hatte.
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