Achim Hiltrop präsentiert
Folge 3: Der Werwolf von Westminster Sergeant Archibald Moore rümpfte die Nase. Die Dämpfe, d...
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Achim Hiltrop präsentiert
Folge 3: Der Werwolf von Westminster Sergeant Archibald Moore rümpfte die Nase. Die Dämpfe, die ihm an diesem naßkalten Montagmorgen im Januar des Jahres 1877 aus der Baustelle an der Tottenham Court Road entgegenschlugen, raubten ihm beinahe den Atem. Wieder einmal hatten die Bauarbeiter, welche hier an der Kanalisation arbeiteten, ein Abwasserrohr beschädigt. Der faulige Gestank verpestete die ganze Straße. Moore zupfte ein Taschentuch aus seiner Manteltasche und hielt es sich vor die Nase. Es nützte nichts; die übelkeitserregenden Dunstschwaden hatten sich bereits auf seine Schleimhäute gelegt. Der Sergeant fragte sich besorgt, wie lange er den ekelhaften Geruch in der Nase behalten würde. "Widerwärtig", brummte er und beschleunigte seine Schritte, um möglichst schnell an der Baustelle vorbei zu kommen. An der Ecke zur Grafton Street blieb er vor einem vornehmen Reihenhaus stehen. Er warf einen Blick auf den zerknitterten Zettel in seiner Hand, auf dem die entsprechende Adresse stand, und nickte stumm. Er stieg die Stufen zur Eingangstür hinauf und pochte mit dem Griff seines Regenschirms gegen die Tür. Einige Sekunden lang geschah nichts, dann wurde die Tür geöffnet, und ein hochgewachsener junger Mann mit braunen Haaren und einem breiten Lächeln trat dem Sergeant entgegen. "Guten Morgen, Commander Mirth", sagte Moore höflich. "Ist bei Ihrem Umzug alles gut gegangen?" Colin Mirth, Moores Kollege bei Scotland Yard, reichte Moore die Hand. "Alles bestens, Sergeant, danke der Nachfrage. Entschuldigen Sie bitte, daß ich Ihnen selbst die Tür öffne. Ich hatte noch keine Gelegenheit, einen Diener einzustellen." "Natürlich." Moores Mundwinkel zuckten unter seinem buschigen Schnauzbart nach oben. Colin Mirth hatte zwar sehr wohl einen Diener, und das schon seit Jahren, doch wäre es sicherlich unklug gewesen, ihn die Tür öffnen zu lassen. Abdul war ein arabischer Flaschengeist, in dessen Besitz Colin bei einem Aufenthalt im vorderen Orient gekommen war. Wenn er nicht gerufen wurde, hielt sich Abdul normalerweise in einer kleinen Glasphiole auf, welche Colin an einer silbernen Kette um den Hals trug. "Wenn Sie einen Moment hereinkommen möchten, kann ich Ihnen gerne das Haus zeigen", schlug Colin höflich vor. Moore winkte ab. "Danke für die Einladung, Commander, aber ich fürchte, wir müssen sofort los. Ein anderes Mal?" "Sicher." Colin zuckte mit den Achseln. "Lassen Sie mich nur schnell Hut und Mantel holen, dann können wir los. Wohin gehen wir denn?" Moore seufzte schwer. "Rochester Row, Westminster. Ein Mordfall, wie mir scheint. Es wird Ihnen gefallen, Commander." Colin stutzte. "Wie Sie meinen, Sergeant." *
Colin Mirth Das Messingglöckchen über der Tür der Buchhandlung klingelte fröhlich zur Begrüßung, als Colin und Sergeant Moore eintraten. Durch die großen Fenster fiel milchiges Sonnenlicht. Staubkörner tanzten in der Luft. Das kleine Geschäft bestand fast ausschließlich aus Regalen, in denen Tausende von Büchern säuberlich aufgereiht nebeneinander standen und auf ihren Käufer warteten. "Guten Morgen, Gentlemen!" Ein stämmiger Streifenpolizist, der sich mit dem Buchhändler unterhalten hatte, drehte sich um und kam ihnen entgegen. "Das Geschäft ist heute geschlossen." Colin zückte seine Dienstmarke. "Commander Mirth und Sergeant Moore, Scotland Yard. Sie haben uns rufen lassen, Constable... ?" "Miller, Sir. Ja, richtig. Danke, daß Sie beide so schnell kommen konnten. Passen Sie bitte auf, wo Sie hintreten, Gentlemen!" Miller zeigte auf den Boden, der mit handtellergroßen Blutflecken besudelt war. Colin zog fragend die Augenbrauen hoch. "Messerstecherei?" raunte er Moore zu. Der Sergeant wackelte mit dem Kopf hin und her. "Sicherlich eine verletzte Arterie, Commander." "Ich darf Ihnen Mister Harrington vorstellen, den Inhaber dieser Buchhandlung." Miller trat beiseite und winkte den Mann herbei, mit dem er zuvor gesprochen hatte. Harrington, ein spindeldürrer kleiner Mann von etwa fünfzig Jahren, zuckte bei der Nennung seines Namens nervös zusammen. Er machte einen sehr verstörten Eindruck auf Colin – fast so, als habe er ein Gespenst gesehen. Colin hatte sich in seiner Zeit beim Secret Service ausgiebig mit paranormalen Phänomenen beschäftigt, und er kannte den Blick von Menschen, die dem Tod – oder dem, was danach kam – ins Auge gesehen hatten. "Guten Morgen, Mister Harrington. Ich bin Sergeant Moore", stellte sich der Sergeant vor, "und das ist Commander Mirth. Wir sind vom Scotland Yard." Colin entging nicht, daß Miller fragend die Stirn runzelte, als Moore ihn als Commander vorstellte. Man hatte Colin erst Ende des letzten Jahres zu Scotland Yard versetzt, und da es sich um einen Präzedenzfall gehandelt hatte, konnte ihm noch immer niemand zuverlässig sagen, mit welchem Dienstrang er in den Polizeidienst übernommen werden sollte. "Unter anderen Umständen würde ich Sie herzlich gerne in meinem Laden willkommen heißen, Gentlemen, aber so wie die Dinge liegen..." Harrington schauderte. Colin deutete auf die Blutflecken. "Was genau ist denn hier geschehen, Mister Harrington?" Der Buchhändler schluckte hart. "Ich habe heute morgen um neun mein Geschäft geöffnet, so wie jeden Tag. Nachdem ich aufgeschlossen hatte, bin ich zu meinem Schreibtisch hinten im Laden gegangen. Noch bevor ich dort war, kam Mister Sterling herein... aber vielleicht ist es das Beste, wenn Sie mir kurz folgen. Hier entlang bitte. Aber passen Sie auf, wo Sie hintreten, Gentlemen!" Colin und Sergeant Moore kamen der Aufforderung nach und folgten Harrington, der zwischen den eng beineinander stehenden Regalen in den hinteren Teil des Ladens ging. Colin machte große Schritte und bemühte sich, nicht in die noch feuchten Blutlachen auf dem Boden zu treten. "Hier ist auch überall Blut", bemerkte Moore und deutete auf die Regale. Etwa in Schulterhöhe waren alle paar Schritte die Bücher dort ebenfalls blutbesudelt. "So, da wären wir", sagte Harrington mit zitternder Stimme, "und das hier ist Mister Sterling. Das heißt, er war es." Vor Mister Harringtons kleinem Schreibpult, in dessen Schubladen sich zweifelsohne die Kasse des kleinen Geschäfts befand, lag der Körper eines etwa sechzig Jahre alten Seite 2
Colin Mirth Mannes in seinem Blut. Colin ging nachdenklich um die Leiche herum, auf der Suche nach Indizien. "Sie kannten den Gentleman also?", stellte Moore fest und zückte sein Notizbuch. Harrington nickte. "Mister Sterling war einer meiner Stammkunden. Er kaufte regelmäßig Bücher bei mir." Colin kniete neben dem Toten nieder und klappte mit spitzen Fingern den blutverschmierten Mantelkragen des Mannes auf. "Ah ja", murmelte er, "die Halsschlagader also." "Sie sagten, er war schon verletzt, als er in den Laden kam?", hakte Moore nach. "Das habe ich nicht gesagt." Harrington stutzte. "Aber nein, ich habe ihm die Verletzung natürlich nicht zugefügt! Also muß er ja schon vorher verletzt gewesen sein, Sergeant Moore!" Moore runzelte die Stirn. "Warum, Mister Harrington, gibt es dann auf dem Gehsteig vor Ihrem Geschäft keine Blutspuren, sondern nur hier drinnen?" Harringtons Gesicht wurde fahl. "Großer Gott, Sie denken doch nicht wirklich, ich hätte Mister Sterling das angetan?" Colin gab dem Sergeant ein Zeichen, sich ebenfalls die tödliche Wunde anzusehen. "Sie entschuldigen mich einen Moment, Mister Harrington", sagte Moore und ging neben Sterlings Leiche in die Hocke. "Ja?" Colin deutete auf die klaffende Wunde im Hals des Toten. "Mister Sterling war deutlich größer und schwerer als der Buchhändler", sagte er leise, "ich glaube nicht, daß Mister Harrington in der Lage war, ihm eine solche Wunde zuzufügen." Moore sah angewidert weg. "Das sieht ja aus wie... wie eine Bißwunde!" Colins Mundwinkel zuckten nach oben. "Wenn Mister Harrington seinen Stammkunden wirklich totgebissen hat, müßte auch er blutbefleckt sein." "Er könnte sich vielleicht umgezogen und gewaschen haben, ehe er die Polizei gerufen hat." Moore schürzte die Lippen, als er sich Colins Einwand nochmals durch den Kopf gehen ließ. "Nein, Commander, Sie haben natürlich recht. Ich traue Mister Harrington eine solche Tat natürlich auch nicht zu. Das sieht mehr nach der Tat eines Wahnsinnigen aus, oder wie der Biß eines wilden Tieres. Oder... oder beides." Er schauderte. Colin stand auf und wandte sich wieder an den Buchhändler, der angesichts der entsetzlich zugerichteten Leiche zu seinen Füßen gegen eine aufsteigende Übelkeit anzukämpfen schien. "Wissen Sie, wo Mister Sterling wohnte?" Harrington nickte. "Ich habe seine Anschrift in meiner Kundenkartei. Ich gebe sie Ihnen gleich." Moore winkte den Streifenpolizisten herbei. "Miller, Sie gehen zu dieser Adresse und verständigen die Angehörigen des Mannes." "Das können Sie sich sparen", rief Harrington, während er in einem kleinen Karteikasten herumkramte, "Mister Sterling war alleinstehend. Keine Familie, keine Kinder. Aber seine Angestellten müssen erfahren, was passiert ist." "Er war also wohlhabend?", fragte Colin interessiert. Hier ließ sich vielleicht am ehesten nach einem Motiv suchen. Harrington lachte spöttisch. "Ob Mister Sterling wohlhabend war? Das will ich meinen! Haben Sie noch nie von einem Theater namens The Bard's Corner gehört?" Colin schüttelte irritiert den Kopf. "Ich fürchte nein. Hätte ich sollen?" "Hat es ihm etwa gehört?" fragte Moore. "Ob es ihm gehört hat!" Harringtons meckerndes Lachen ließ den Sergeant zusammenzucken. "Er war der größte Star der Truppe. Der Direktor des Theaters ist Samuel Finch."
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Colin Mirth "Ich verstehe. Danke für den Hinweis." Colin nahm sich vor, später seine Tante Phoebe nach Mister Finch zu fragen. Sie kannte sich in der besseren Gesellschaft von London sehr gut aus und war auch in Sachen Klatsch und Tratsch aus der Unterhaltungsbranche im West End immer auf dem Laufenden. Als er über Mister Sterlings Leichnam hinweg stieg, fiel ihm auf, daß der Tote die linke Hand zur Faust geballt hatte. Zwischen dem Daumen und dem Zeigefinger ragte ein dünner Papierschnipsel hervor. Er beugte sich neugierig vor und griff danach, doch die Umklammerung der starren Finger ließ das Papier nicht locker. Grummelnd ließ er sich wieder auf die Knie nieder, und mit einiger Anstrengung gelang es ihm, die kalte Faust zu öffnen und ihr das Papier zu entreißen. "Was haben Sie denn da?", fragte Moore. "Das weiß ich noch nicht, Sergeant", sagte Colin und strich das Papier auf dem Schreibpult des Buchhändlers glatt. Harrington starrte ihn mit einer Mischung aus Abscheu und Faszination an. "Es scheint eine Seite aus einem Buch zu sein. Die Schrift ist verblaßt und schwer zu entziffern, außerdem fehlt die Hälfte. Ah, es ist von Shakespeare... Love's Labour's W— ... und der Rest fehlt. Seltsam." Harringtons Gesicht schien noch eine Spur blasser zu werden, als Colin und der Sergeant das Geschäft verließen und ihn mit Miller und dem Toten allein ließen. * "Hier draußen ist wirklich kein einziger Blutstropfen zu sehen", brummte Moore und sah sich vor der Buchhandlung ein wenig um. "Der Mörder muß den armen Mister Sterling also direkt auf der Schwelle des Geschäfts erwischt haben." "Oder er wurde in einer Kutsche ermordet und direkt vor dem Laden herausgeworfen", gab Colin zu bedenken. "Aber auch dann müßte hier Blut sein", widersprach Moore energisch. "Wissen Sie, was ich glaube, Commander?" Colin atmete tief durch. Er ahnte, was nun kommen würde. "Ich habe nicht die geringste Idee, Sergeant." "Ich glaube, daß wir es mit einem", Moore senkte theatralisch die Stimme, "mit einem paranormalen Phänomen zu tun haben." Colin verschränkte abwartend die Arme vor der Brust. In Momenten wie diesen dachte er, daß es ein Fehler gewesen war, dem guten Sergeant jemals zu erzählen, daß er früher beim Secret Service so etwas wie ein Geisterjäger gewesen war. Moore war ohnehin ein abergläubischer Mensch, und seitdem er von Colins früherer Karriere wußte, vermutete er hinter jedem ungelösten Kriminalfall das Werk übernatürlicher Mächte. Dabei stand er sich allerdings manchmal selbst im Weg und übersah dabei wichtige Indizien, die auf eine absolut plausible Erklärung hindeuten konnten. "Mit was für einem denn, wenn ich fragen darf?" "Ein Vampir", antwortete der Sergeant wie aus der Pistole geschossen. "Es gibt keine Vampire", sagte Colin lächelnd, "und wenn es sie gäbe, mein lieber Sergeant, dann würden sie bestimmt nicht um neun Uhr morgens ihr Unwesen treiben." Moore überlegte eine Weile. "Dann war es ein Werwolf." Colin rollte mit den Augen. "Haben wir Vollmond?" Der Sergeant stutzte. "Was weiß ich?" "Soweit ich weiß, sind Werwölfe ebenfalls des Nachts aktiv, und zwar in Vollmondnächten. Die Wahrscheinlichkeit, daß sie in den Morgenstunden noch Menschen anfallen, dürfte also eher gering sein." "Aber es gibt sie?" fragte Moore erschrocken. Seite 4
Colin Mirth "Nach meiner Erfahrung, ja. Im Gegensatz zu Vampiren." "Dann muß es einer gewesen sein. Haben Sie sich die Wunde angesehen? Daß war doch eine Bißwunde, oder nicht?" Moore kratzte sich am Kopf. "Durchaus möglich. Davon überzeugt bin ich aber noch nicht." Colin zog das zerknitterte Stück Papier, das er dem Toten abgenommen hatte, wieder aus der Manteltasche. "Das hier beunruhigt mich viel mehr, als Sie vielleicht denken, Sergeant. Ich wollte es da drinnen nicht so zeigen, aber..." "Eine Seite aus einem Buch von Shakespeare", unterbrach ihn Moore mit einem gleichgültigen Achselzucken, "na und? Sie, mein Freund, kennen doch ohnehin alle Werke von dem Mann auswendig." "Das ist es ja gerade", rief Colin. "Love's Labour's Lost ist eine seiner größten Komödien. Aber auf diesem Zettel steht Love's Labour's W—. Verstehen Sie, was das heißt?" "Ein Schreibfehler?" schlug Moore hilfsbereit vor. "Love's Labour's Won", hauchte Colin ehrfürchtig. "Man spekuliert seit Jahrhunderten über dieses verlorene Stück. Die einen sagen, das Werk sei in einem Feuer verbrannt und unwiederbringlich verloren. Andere behaupten, er habe das Stück umgeschrieben und umbenannt. Andere Gelehrte wiederum halten die ganze Sache für ein Gerücht." "Und Sie? Was glauben Sie?" "Ich glaube", sagte Colin und hielt das Papier triumphierend hoch, "ich glaube, mein lieber Sergeant, daß ich ein Stück von dem Manuskript in der Hand halte!" * "Samuel Finch und Roderick Sterling." Phoebe Carmichael lehnte sich in ihrem geblümten Sofa zurück und sah ihren Neffen über den Rand ihrer Teetasse an. "Genau, Tante Phoebe." Colin, der eine starke Abneigung gegen Tee hegte, nippte an seinem Kaffee. "Was kannst du mir über die beiden Gentlemen erzählen?" Colins Tante lächelte vielsagend. "Die allgemein zugänglichen Informationen oder auch die pikanteren Details, bei denen anständige Damen rot werden und in Ohnmacht fallen?" Colin grinste breit. "Alles, was von Interesse sein könnte." "Tja", Phoebe setzte die Tasse ab und tupfte sich mit einem Spitzentaschentuch die Mundwinkel ab, "Mister Finch ist ein seltsamer Vogel. Trinkt nicht, raucht nicht, spielt nicht, wettet nicht. Keine Weibergeschichten, keine Skandale, nichts. In meiner Gesellschaftskolumne in der Times hatte ich in all den Jahren nur ein- oder zweimal überhaupt Gelegenheit, den Herrn zu erwähnen. Das erste Mal war es anläßlich der Eröffnung seines Theaters. The Bard's Corner, so heißt es, glaube ich." "Ich hörte davon." "Ach ja, er ist ein leidenschaftlicher Verehrer der Werke von William Shakespeare", ergänzte Phoebe, "daher auch der Name seines Theaters." "Das dachte ich mir bereits." Colin nickte ernst. "Und der andere, Mister Sterling?" Phoebe gluckste leise und schüttelte traurig den Kopf. "Ach ja, Roddy... guter alter Roddy! Roderick Sterling war so ziemlich das exakte Gegenteil von Samuel Finch – in allem, was er tat. Ein Partylöwe, ein Säufer, ein Spieler, ein Weiberheld... aber was für ein genialer Schauspieler! Ich kann nicht glauben, daß du ihn wirklich nie auf der Bühne erlebt hast, mein Junge." "Ich habe die letzten Jahre im Ausland gelebt, Tante Phoebe", erinnerte er sie sanft, "aber so, wie du ihn beschreibst, scheine ich einiges verpaßt zu haben." "Das will ich meinen!" Phoebe lächelte still bei der Erinnerung an eine Begebenheit, die sie aber offenbar nicht mit ihrem Neffen zu teilen bereit war. "Er war auf der Seite 5
Colin Mirth Bühne ein echtes Erlebnis. Ich habe mehrere Artikel über ihn geschrieben. Am besten war er in Shakespeare-Stücken, ganz gleich welches. Er war der beste Romeo und der beste Hamlet, den ich jemals erlebt habe. Daß Sterling dann bei Finch unter Vertrag kam, war ein echter Glücksgriff." Colin horchte auf. "Für Finch oder für Sterling?" Phoebe überlegte kurz. "Eigentlich für beide. Beide liebten Shakespeare, aber der eine war Schauspieler und der andere besitzt ein Theater. Die Londoner Schauspielszene ist jedenfalls seit heute um eine Attraktion ärmer. Armer, armer Roddy..." "Was war der andere Anlaß, zu dem du etwas über Mister Finch geschrieben hast?" Phoebe machte eine wegwerfende Handbewegung. "Ach, das war nur ein wenig Klatsch... es ging da um ein Gerücht um ein verschollenes Shakespeare-Manuskript, das Samuel Finch angeblich seiner Sammlung einverleibt haben soll. Der Kurator des Britischen Museums hat jedenfalls getobt, weil er wollte, daß das Manuskript ins Museum kommt, statt in einer Privatsammlung zu verschwinden. Finch tat jedenfalls so, als ginge ihn das alles überhaupt nicht an. Wie gesagt, nur ein albernes Gerücht." * Das Haus von Samuel Finch lag nur wenige Straßen von dem Phoebe Carmichaels entfernt im vornehmen Londoner Stadtteil Belgravia. Als Colin Mirth dort atemlos ankam, wartete Archibald Moore bereits ungeduldig auf ihn. "Da sind Sie ja endlich", brummte der Sergeant, als Colin näherkam. "Ich habe eine wichtige Spur entdeckt", sagte Colin. Warnend hob er den Finger. "Tun Sie mir einen Gefallen – kein Wort über das Manuskriptfragment zu Mister Finch. Einverstanden?" Moore zuckte mit den Achseln. "Wenn es Sie glücklich macht, Commander." "Ich erkläre Ihnen alles hinterher", versprach Colin. "Ich war übrigens auch nicht untätig", verkündete Moore diensteifrig, "ich war beim Waffenschmied und habe mir silberne Kugeln anfertigen lassen." "Silberne Kugeln?" fragte Colin verständnislos. "Patronen", erklärte Moore, "mit silbernen Kugeln. Für meinen Revolver. Oder besser gesagt, für den Werwolf, der in Westminster sein Unwesen treibt. Ich habe gelesen, das sei das einzige Mittel gegen diese Unholde." "Natürlich, Sergeant." Colin mußte unwillkürlich schmunzeln. "Und Sie haben mit Sicherheit auch schon daran gedacht, diese silbernen Kugeln von einem Priester mit Weihwasser besprengen zu lassen?" Moore rang verlegen nach Worten. "Dazu... äh... hatte ich allerdings noch keine Gelegenheit. Aber gleich, nachdem wir mit Mister Finch fertig sind, wollte ich..." Dann verstummte er und kratzte sich verwirrt am Hinterkopf. "Aber sagen Sie mal, Commander, haben Sie nicht immer beteuert, diese religiösen Symbole würden auf übernatürliche Kreaturen überhaupt keinen Eindruck machen?" Colin klopfte seinem Kollegen aufmunternd auf die Schulter. "Ich wollte Sie nur ein wenig auf den Arm nehmen, Sergeant. Glauben Sie mir, eine Bleikugel ist genau so wirksam. Alles andere ist Aberglaube. Gehen wir nun hinein, oder wollen wir Mister Finch weiter warten lassen?" * Samuel Finch empfing die Männer vom Scotland Yard im geschmackvoll eingerichteten Salon seines Hauses. Über dem Sofa, auf das sich der Theaterdirektor setzte, hing ein riesiges Porträtgemälde von William Shakespeare. Seite 6
Colin Mirth "Heute Mittag war bereits ein Polizist hier und hat mir von dem traurigen Vorfall erzählt, Gentlemen." Finch war sichtlich erschüttert über den Tod seines Stars. "Gibt es denn schon eine Spur?" "Wir gehen davon aus, daß es sich um einen Mord handelt", antwortete Moore, "aber was den möglichen Täter und sein Motiv betrifft, tappen wir sozusagen noch im Dunkeln, Sir." Finch lachte spöttisch. "Aber daß es ein Mord war, steht fest?" Dem Sergeant entging die beißende Ironie, die in der Frage steckte. "Nun, Sir, Mister Sterling wird sich die tödlichen Verletzungen wohl kaum selbst beigebracht haben." "Haben Sie eine Vermutung, wer als Täter in Verdacht kommen könnte?", fragte Colin, ehe Finch auf Moores Bemerkung etwas sagen konnte. Der Theaterdirektor zuckte mit den Schultern. "Eine liebestolle Verehrerin? Ein gehörnter Ehemann? Vielleicht auch nur ein neidischer Schauspieler? Ich habe nicht die geringste Ahnung, Gentlemen." "Hatte Mister Sterling etwa viele Affären?", fragte Moore neugierig. Colin nickte wissend. "Andererseits", fuhr Finch fort, "sprach Roderick in letzter Zeit häufig davon, daß ihn Alpträume quälten." "Alpträume?" Moore klappte sein Notizbuch auf. "Unholde, sagte er. Ich vermute mal, er träumte von irgendwelchen Geschöpfen, die ihm nach dem Leben trachteten." Finch kratzte sich ratlos am Kopf. "Meinen Sie, einer seiner Alpträume ist wahr geworden?" Colin schüttelte sanft den Kopf. "Wenn jemand dem Alkohol in hohem Maße zuspricht, wie Mister Sterling das angeblich getan haben soll, kann es schon mal vorkommen, daß man hinterher phantasiert. Das erklärt allerdings nicht die klaffende Wunde an seinem Hals, Mister Finch." Finch lehnte sich entspannt zurück. "Nur so ein Gedanke, Commander Mirth." "Wir werden dem Hinweis nachgehen", brummte Moore. Mit einem finsteren Seitenblick auf Colin ergänzte er: "Denken Sie an meine Theorie, Commander!" Colin fand, daß es höchste Zeit war, das Thema zu wechseln. Er deutete auf das Ölgemälde. "Ich hörte, Sie sind ein großer Verehrer des 'Barden'?" Finch sah über seine Schulter und lächelte. "Shakespeare? Oh ja! Er ist der Größte, wenn Sie mich fragen." "Commander Mirth kennt alle seine Werke auswendig", bemerkte Moore nicht ohne Stolz. "Ist das so?" Finch seufzte schwer. "Nun, ich habe bereits einen Ersatzschauspieler, der Rodericks Rolle in der laufenden Saison übernehmen kann. Aber vielleicht können wir ein anderes Mal über das Thema plauschen, wenn die Umstände erfreulicherer Natur sind." Colin erhob sich. "Wie Sie wünschen." Moore stand ebenfalls auf, klappte sein Notizbuch wieder zu und sah sich noch einmal im Zimmer um. Sein Blick blieb an einer runden hölzernen Trommel hängen, die senkrecht auf einem Tischchen in einer Ecke des Salons stand. An einer Seite ragte eine Handkurbel aus dem Gerät, und an der Oberseite war ein Sehschlitz angebracht. "Entschuldigen Sie bitte, Mister Finch, aber wozu dient diese Apparatur?" "Das?" Finch lächelte breit. "Das ist ein Kinematoskop. Hat ein Amerikaner aus Philadelphia vor ein paar Jahren erfunden. Ich habe mir das Gerät kürzlich auf einer Amerikareise gekauft." Moore runzelte die Stirn. "Und was macht man damit?" "Schauen Sie hier hinein", Finch zeigte auf den Sehschlitz, "die Trommel enthält eine Serie von Photographien, die auf einem Rad aufgereiht sind. Wenn Sie an der Kurbel Seite 7
Colin Mirth drehen, dreht sich das Rad, und wenn Sie die Bilder in schneller Folge nacheinander sehen, haben Sie die Illusion einer fortlaufenden Bewegung, Sergeant." Moore schaute zögernd durch die Öffnung, wagte aber nicht, an der Kurbel zu drehen. "Bewegte Bilder? Faszinierend. Vielen Dank für die Erläuterung, Sir." "Oh, nicht der Rede wert", winkte Finch ab, "das ist jedenfalls ein sehr amüsanter Zeitvertreib. Eines Tages werden diese Geräte unserem Theater noch ernsthafte Konkurrenz machen." * Am Abend saßen Colin und Sergeant Moore unter einem Gaslicht an einem Tisch im Red Lion. Der kleine, dunkle Pub in der Nähe von Whitehall Street 4 war in den letzten Monaten das Stammlokal der beiden Polizisten geworden. Beinahe jeden Abend verbrachten sie bei einem Bier an diesem Tisch, ehe sie kurz vor der Sperrstunde nach Hause gingen. Colin kannte inzwischen jeden Kratzer und jeden Fleck auf der abgewetzten Tischplatte. Er seufzte und leerte sein zweites Glas. Die Durchsuchung der Wohnung von Roderick Sterling am Nachmittag hatte nichts ergeben. Es gab nach wie vor keine Hinweise auf den Mörder, die Bediensteten des Schauspielers wußten von nichts, und selbst Colins Hoffnung, vielleicht den Rest des legendären Shakespeare-Manuskripts zu finden, hatte sich zerschlagen. "Und wenn es nun doch ein Werwolf war?" fragte Moore leise. Colin schüttelte den Kopf. "Vergessen Sie's, Sergeant. Es ist kein Vollmond. Und zur Tatzeit war er sowieso schon hell." "Hmm." Der Sergeant nickte, ohne recht überzeugt zu sein. Colin konnte ihm seine Skepsis nicht verdenken. Die klaffende Wunde in der Halsschlagader des Toten sah durchaus wie die Bißwunde eines großen Tieres aus. Aber eben nur auf den ersten Blick. Colin hatte in der Vergangenheit schon einmal mit einem Werwolf zu tun gehabt, und er war sich relativ sicher, daß diese Möglichkeit in diesem Fall ausschied. "Was ich Sie immer schon mal fragen wollte", begann Moore, "was qualifiziert jemanden eigentlich zum Geisterjäger?" Colin lächelte dünn und starrte in sein leeres Glas. "Eigentlich geht es nur darum, die Nerven zu behalten und stehenzubleiben, wenn ein... ein paranormales Phänomen eintritt. Im Prinzip könnte das jeder." "Aha." "Ich habe es Ihnen schon mal gesagt, Sergeant – Geister sind Seelen von sehr starken Persönlichkeiten, die sogar die üblichen Naturgesetze ignorieren. Sie lassen sich in den seltensten Fällen von irgendwelchen Symbolen, die letztlich von Menschen in ihrer Angst erfunden wurden, beeindrucken. Knoblauch, Rosenkränze, Kruzifixe... alles Schabernack, wenn Sie mich fragen." Colin winkte dem Barkeeper, ihnen noch zwei Gläser zu zapfen. "Mit einigen Geistern kann man diskutieren und sie von der Sinnlosigkeit ihrer Wiederkehr überzeugen. Mit anderen nicht. Aber dafür habe ich ja Abdul." Moore schauderte bei dem Gedanken an den orientalischen Flaschengeist, den Colin zu jeder Zeit in einer kleinen Glasphiole bei sich trug. Abdul hatte sich bereits oft als ein nützlicher Gefährte erwiesen, aber noch immer war er dem Sergeant unheimlich. "Was ist mit Zaubersprüchen?" fragte Moore. "Sie hatten da doch neulich dieses Buch..." Colin lachte laut auf. "Sie meinen, diese Beschwörungsformeln, mit denen meine kleine Schwester herumexperimentiert hatte?" "Eben jene." Seite 8
Colin Mirth "Nun, Sergeant, Sie müssen wissen", Colin senkte verschwörerisch die Stimme, "diese Beschwörungsformeln richten sich gar nicht an den Geist per se, sondern an die Natur selbst. Sie sind in einer Sprache geschrieben, die heutzutage kein Mensch mehr versteht; lediglich die Bedeutung der Sprüche ist überliefert. Und was das Verrückteste an der Sache ist: annähernd gleiche Texte werden von den Medizinmännern der Indianer Nordamerikas, keltischen Druiden, polynesischen Schamanen und noch einigen anderen in den Kolonien verbreiteten Naturreligionen verwendet." Moore war sichtlich verwirrt. "Höchst bemerkenswert." "Mein alter Lehrmeister vertrat die Theorie, daß die Sprache dieser Beschwörungsformeln älter als die Menschheit ist." Colin erhob sich mit einem Augenzwinkern und schlenderte zur Bar, um die beiden bestellten Biere in Empfang zu nehmen. Als er mit den Gläsern zurückkam, fand er Moore in einer düsteren Stimmung vor. "Ich frage mich", brummte der Sergeant düster, "ob wir uns da nicht mit Mächten anlegen, die eine Nummer zu groß für uns sind." Colin reichte ihm sein Glas und stieß mit ihm an. "Mitnichten, mein lieber Sergeant. Und überhaupt, diese Sache mit der Geisterjägerei ist Schnee von gestern. Ich bin jetzt Polizist, genau wie Sie." "Haben Sie sich so schnell damit abgefunden?" fragte Moore und nahm einen großen Schluck. Colin zuckte mit den Achseln. "Was bleibt mir denn anderes übrig? Der Inspector hat ja sehr deutlich gesagt, was er von meiner früheren Beschäftigung hält." Moore sah nachdenklich in sein Bier. "Auch, wenn die Umstände so sind wie im Fall Sterling? Wenn es doch eindeutig nach dem Angriff eines Werwolfs aussieht?" Colin verdrehte die Augen. "Davon, lieber Sergeant, bin ich noch lange nicht überzeugt." Der Barkeeper läutete die letzte Runde ein, und Colin warf einen Blick auf seine Taschenuhr. "Ich möchte morgen gerne noch jemanden zu diesem mysteriösen Manuskript befragen. Treffen wir uns um neun Uhr vor dem Britischen Museum?" * Die Fassade des Britischen Museums, die mit ihren Säulen und dem spitzen Giebel wie ein griechischer Tempel anmutete, erhob sich gespenstisch aus dem milchigen Morgennebel, als Colin und Moore sich dort begegneten. Vom Ufer der Themse her drang entfernt das Glockenspiel von Big Ben an ihre Ohren. Es war neun Uhr. "Guten Morgen, Commander." "Guten Morgen, Sergeant." Colin sah einen Moment lang nachdenklich der kleinen weißen Wolke nach, die sein Atem in der kalten Morgenluft hinterließ. "Sagen Sie, war es gestern morgen eigentlich auch so nebelig?" "Gestern um diese Zeit? Ja, ich glaube schon, warum?" Moore fröstelte. "Können wir uns drinnen weiter unterhalten?" "Freilich. Ich soll Sie übrigens von unserem gemeinsamen Freund Abdul grüßen", sagte Colin, während er die Stufen zum Eingang des Museums hinaufging. "Ihr Flaschengeist?" fragte Moore. "Eben jener", bekräftigte Colin, "ich habe mich gestern abend noch mit ihm über Ihre Theorie unterhalten, und zu meiner Überraschung hat er eingeräumt, daß Sie unter Umständen auf der richtigen Fährte sein könnten. Sollte das in der Tat so sein, bitte ich Sie, meine Entschuldigung dafür anzunehmen, daß ich an Ihnen gezweifelt habe."
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Colin Mirth "So, so", machte Moore triumphierend und zwirbelte sich nachdenklich den Schnurrbart. Colin hielt ihm die Tür auf. "Es gibt mindestens zwei mögliche Definitionen für das Werwolf-Phänomen. Eine davon schließe ich eigentlich aus, aber Abdul nicht. Von der anderen Theorie habe ich vor einigen Jahren mal etwas gelesen. Ich hoffe, in der hiesigen Bibliothek etwas über das Thema zu finden. Aber zunächst mal wollen wir uns mit Mister Chalice unterhalten, Sergeant." * Algernon Chalice bat seine Besucher, in eleganten Stühlen aus dem achtzehnten Jahrhundert Platz zu nehmen. Moore und Colin setzten sich sehr behutsam hin, um die kostbaren Möbel nicht versehentlich zu beschädigen. Chalice hingegen ließ sich mit seinem ganzen Gewicht auf seinen Stuhl fallen, so daß das Holz gequält knirschte. Mit einem fleckigen Taschentuch tupfte er sich den Schweiß von der Stirn, ehe er es in der Hosentasche verschwinden ließ. "Scotland Yard also", wiederholte er nachdenklich, nachdem Colin und Moore sich vorgestellt hatten, "was führt Sie her, Gentlemen?" "Wir ermitteln im Mordfall Sterling", sagte Moore, "Sie haben sicherlich davon gehört." Chalice seufzte schwer. "Ich bin noch immer außer mir", sagte er erschüttert, "er war einer der feinsten Schauspieler, die es für Shakespeares Werke je gab. Ich werde ihn vermissen." "Haben Sie ihn oft auf der Bühne gesehen?" fragte Colin. Chalice sah den jungen Mann über den Rand seiner Brille hinweg an. "Sie meinen, ob ich ihn oft auf der Bühne gesehen habe, seitdem er bei Finch unter Vertrag war? Nein, habe ich nicht. Ich vermeide den gesellschaftlichen Umgang mit Elementen wie Mister Finch, wenn ich es kann." Colin gratulierte sich innerlich. Er schien einen Nerv getroffen zu haben. Die Feindschaft zwischen Finch und Chalice schien sehr tief zu sein. Vielleicht ließen sich hier wertvolle Informationen sammeln – vielleicht waren die Aussagen des Museumsmitarbeiters aber auch zu subjektiv gefärbt, um vor Gericht Bestand zu haben. "Woher rührt diese Abneigung, wenn ich fragen darf?" fragte Moore unschuldig. Colin hatte ihm die Geschichte, die ihm seine Tante am Vortag erzählt hatte, zwar berichtet, aber der Sergeant tat nun so, als hörte er zum ersten Mal davon. "Finch", knurrte Chalice und zupfte nervös an seinem langen Backenbart. "Ein Emporkömmling, der lediglich von Shakespeares Ruhm zehrt. Dieser Mann hat in seinem ganzen Leben noch nichts geleistet, das es wert wäre, für die Nachwelt überliefert zu werden." "Nun", sagte Colin langsam, "er führt immerhin ein recht erfolgreiches Theater, wenn ich richtig informiert bin—" "Das ist keine Kunst", schnitt ihm Chalice mürrisch das Wort ab. "Oh, in Zeiten wie diesen ist es das durchaus", bemerkte Moore. "Dieser Mister Finch", giftete Chalice, "gibt sich in der Gesellschaft als ShakespeareExperte aus, gerade so, als habe er den Barden noch persönlich gekannt! Dabei weiß der Mann nichts über ihn, und noch weniger über große Literatur! Er sammelt lediglich alles mögliche über Shakespeare und prahlt dann mit seinen Trophäen." "In der Tat", murmelte Colin. "Was sammelt Mister Finch denn so?" Chalice machte eine hilflose Geste. "Hauptsächlich alte Bücher, Theaterprogramme und Plakate, soweit ich weiß." Seite 10
Colin Mirth Colin griff in die Innentasche seines Jacketts und zog einen zerknittertes Stück Papier hervor, das er auf der Lehne seines Stuhles geradestrich, ehe er es Chalice zeigte. "So etwas auch?" Der Literaturhistoriker erbleichte. "Wo... wo haben Sie das her?" Moore und Colin wechselten einen stummen Blick. "Das tut jetzt nichts zur Sache", sagte Colin dann, "aber wir haben Grund zu der Annahme, daß dieses Manuskript eine Rolle im Mordfall Sterling spielt. Das letzte Mal, daß man von Love's Labour's Won hörte, war es in einer Auseinandersetzung zwischen Ihnen und Mister Finch. Erzählen Sie uns davon." "Also schön." Chalice sah mit aufgerissenen Augen zu, wie Colin das Papier seelenruhig wieder zusammenfaltete und in seinem Jackett verschwinden ließ. "Wir sind uns vor zwei Jahren bei der Jahresfeier der Royal Shakespeare Society begegnet. Damals wußte ich noch nicht, was für ein Mensch Mister Finch ist. Jedenfalls erzählte er allen, daß er einen Buchhändler aus Westminster übertölpelt und ihm eine wertvolle Shakespeare-Handschrift für ein paar Shilling abgeluchst hatte. Ich redete auf ihn ein, er möge das kostbare Manuskript doch dem Museum als Leihgabe zur Verfügung stellen, aber er lehnte ab. Als ich den Fall dann öffentlich machte, konnte er sich plötzlich an nichts erinnern." Moore horchte auf. "Dieser Buchhändler aus Westminster... wissen Sie noch den Namen des Gentlemans?" Chalice nickte. "Selbstverständlich. Joseph Harrington ist ebenfalls Mitglied der Royal Shakespeare Society und ein enger persönlicher Freund von mir. Um so enttäuschter war ich von Mister Finchs Versuch, sowohl Mister Harrington als auch mich der Lächerlichkeit preiszugeben." Colin und Moore sprangen gleichzeitig auf. "Vielen Dank für Ihre Zeit, Mister Chalice", sagte Moore, "ich denke, Sie haben uns sehr weitergeholfen." Der Historiker erhob sich langsam und führte die beiden Polizisten zur Tür seines Büros. Ehe er sie öffnete, wandte er sich nochmals an Colin: "Eine Bitte, Commander Mirth... dürfte ich es... es wenigstens einmal anfassen?" * "Wir sollten Mister Harrington unbedingt noch einmal einen Besuch abstatten", brummte Moore, als er mit Colin durch die Ausstellungsräume des Museums eilte. Für die wertvollen Kunstschätze, die sich hier türmten, hatte der Sergeant keine Augen. Ihn interessierte lediglich die Antwort auf die Frage, warum Harrington am Vortag mit keiner Silbe erwähnt hatte, daß ihm der Manuskriptfetzen in Sterlings Hand bekannt gewesen war. "Wenn Sterling das Buch noch bei sich hatte, als er in die Buchhandlung kam, dann hat Harrington es ihm vielleicht selbst entrissen." "Oder man hat es ihm bei der tödlichen Auseinandersetzung aus den Händen gerissen", wandte Colin ein, "aber dann kann er uns vielleicht sagen, wie das Manuskript zu dem Mord an Mister Sterling paßt." "Oder Harrington hat Sterling doch selbst getötet und sich dann gewaschen und umgezogen, ehe er die Polizei gerufen hat—was ist denn?" Colin war stehengeblieben. "Hier geht es zur Bibliothek", sagte er unschlüssig. Der Sergeant seufzte. "Tun Sie, was Sie nicht lassen können. Sie recherchieren hier, ich verhöre Mister Harrington. Treffen wir uns gegen eins im Büro? Wir können dann unsere Erkenntnisse austauschen und eine Kleinigkeit essen gehen." "Abgemacht", grinste Colin. "Und danke, Sergeant." * Seite 11
Colin Mirth Archibald Moore öffnete die Tür zu Harringtons Buchhandlung mit Schwung, so daß das kleine Glöckchen über dem Eingang wild bimmelte. "Hallo?" Moore sah sich um. Er schien um diese Zeit der einzige Kunde des Buchhändlers zu sein. Aus der Ferne hörte er Big Ben läuten; viertel vor elf also. Er zog seine Taschenuhr hervor und justierte sie, da sie wie immer ein wenig vorging. Dann zwängte er sich zwischen den eng beieinander stehenden Regalen hindurch, auf der Suche nach Joseph Harrington. "Mister Harrington? Ich bin's... Moore, Scotland Yard", rief der Sergeant. "Ich hätte da noch zwei bis drei Fragen, Sir. Hallo?" Keine Antwort. Moore wurde allmählich ungeduldig. "Hallo!" Selbst wenn Harrington viel zu tun hatte – was angesichts der fehlenden Kunden in seinem Laden kurz vor der Mittagszeit sicherlich nicht der Fall war – so zeugte es nicht gerade von gentlemanhaftem Benehmen, einen Besucher nicht einmal zu begrüßen. Schon gar nicht, wenn der Besucher von der Polizei kam. Der Buchhändler war auch nicht an seinem Schreibpult im hinteren Teil des Ladens. Moore stutzte. Gab es noch ein Hinterzimmer, in dem Harrington sein konnte? Vielleicht hatte er ihn ja gar nicht hereinkommen und rufen gehört... Dann bemerkte Moore drei Dinge gleichzeitig. Die schwere Eisenkassette auf dem Pult, welche die Kasse enthielt, war aufgebrochen worden. Es gab eine Tür zum Hinterhof, und die war nur angelehnt. Der Grund dafür, daß die Tür nicht richtig schloß, war Joseph Harringtons regloser Körper, der in seinem Blut auf der Türschwelle lag. * Colin sah auf, als Moore das gemeinsame Büro betrat. "Ah, Sergeant, da sind Sie ja. Haben Sie etwas herausfinden können?" Moore schüttelte matt den Kopf und schlurfte zu seinem Schreibtisch. "Der Fall ist gerade noch verzwickter geworden. Mister Harrington ist tot." "Hmm." Einem plötzlichen Impuls folgend, sprang Colin auf. Er schloß die Zimmertür ab und kramte die kleine Glasphiole hervor, die seinen Flaschengeist Abdul beherbergte. "Wollen Sie ihn etwa herausholen? Hier?" zischte Moore entgeistert. Colin nickte. "Ich denke, wir alle sollten unseren Grips anstrengen, um weiterzukommen. Die Tür ist zu, was soll schon passieren?" "Bitte", seufzte Moore. Colin löste den Korken, und ein wabernder bläulicher Nebel entwich der kleinen Flasche. In Sekundenschnelle hatte sich die Wolke zu der Form eines glatzköpfigen Mannes unbestimmten Alters verfestigt, der von innen heraus blau zu leuchten schien. "Ihr wünscht, Efendi?", fragte Abdul und verbeugte sich. "Wir haben einen Fall zu lösen", eröffnete Colin die Besprechung. "Zwei Fälle, wenn man Harrington mitzählt", korrigierte Moore ihn. "Immer der Reihe nach, lieber Sergeant." Moore zwirbelte seinen Schnurrbart. "Selbstverständlich, Commander." "Also", Colin räusperte sich, "was die Sache mit den Werwölfen angeht, bin ich fündig geworden. Es gibt grundsätzlich zwei Interpretationen für dieses Phänomen, die aber beide miteinander verknüpft zu sein scheinen. Die erste Erklärung ist banal: wenn man
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Colin Mirth die Aufzeichnungen des französischen Mediziners Rougemont genau liest, könnte der Werwolf-Mythos auf die Tollwutkrankheit zurückzuführen sein." "Tatsächlich", brummte Moore. "Die Tollwut, im Mittelalter auch noch als 'Hundswuth' bekannt, ist erstens sehr ansteckend. Zweitens läßt sie den Patienten in Raserei verfallen. Der Patient hat Krämpfe, die Gesichtsmuskulatur verzerrt sich, darüber hinaus tritt eine starke Überempfindlichkeit gegen Licht ein", dozierte Colin. "Übertragen wird die Tollwut oft durch den Biß von Füchsen, Wölfen und Hunden. Und exakt an dieser Stelle haben abergläubische Zeitgenossen offenbar eine Assoziation zu einer anderen Legende hergestellt." Abdul nickte ernst. "Wolflinge." "Richtig", pflichtete Colin ihm bei, "eine Sage von Mischwesen zwischen Menschen und Hunden. Solche Kreaturen kommen faszinierenderweise in fast allen Kulturen der Menschheit vor. Denken Sie nur an den ägyptischen Gott Anubis, der mit dem Kopf eines Schakals dargestellt wird. Charles Darwin hat in seinem Werk bekanntlich eine entwicklungsgeschichtliche Nähe zwischen Menschen und Affen postuliert; es ist nicht auszuschließen, daß ein anderer, weniger erfolgreicher Zweig der Evolution eine andere Gattung Mensch hervorgebracht hat." "Und so einem Wesen sind Sie schon einmal begegnet?" fragte Moore fasziniert. "Bin ich. In Indien", bestätigte Colin. "Aber das tut jetzt nichts zur Sache. Der Mordfall Sterling hat nichts mit einem Werwolf zu tun." "Die tödliche Verletzung, die man Mister Harrington zugefügt hat, sieht übrigens genau so aus wie die von Mister Sterling", sagte Moore. Colin stutzte. "Ist das so?" Moore nickte stumm. Abdul wechselte einen Blick mit seinem Meister. "Vielleicht hat der Sergeant doch recht, Efendi. Wenn es nun ein Hundling war?" "War es nicht." Colin schüttelte energisch den Kopf. "Die Wunde hatte nicht die richtige Form und Größe, um der Biß eines Hundlings gewesen zu sein, Abdul." "Lassen Sie uns den Fall Sterling noch einmal Revue passieren", schlug Moore hoffnungsvoll vor, "als Tatzeit haben wir den gestrigen Morgen definiert. Es war neun Uhr, und Mister Harrington hatte soeben seinen Laden aufgesperrt. Unmittelbar danach muß sich Mister Sterling dem Geschäft genähert haben, und direkt vor dem Geschäft ist er angegriffen worden." "Woraus schließen wir das?" hakte Colin nach. "Draußen gab es keine Blutspuren", erinnerte Moore ihn. "Draußen gab es auch keine Zeugen", gab Colin zu bedenken. "Zumindest hat sich keiner gemeldet. Finden Sie das nicht merkwürdig, auf einer belebten Straße wie der Rochester Row?" Moore zwirbelte seinen Schnurrbart. "Dann muß der Angriff an einem Ort vorgefallen sein, der vor neugierigen Blicken geschützt ist. Eine Seitenstraße, ein Hinterhof..." "In dem Fall hätte Mister Sterling auf dem Weg zum Geschäft aber eine Blutspur hinterlassen", wandte Colin ein. Abduls Gesicht hellte sich auf. "Efendi, Ihr habt recht. Und der Sergeant hat auch recht. Der Angriff ist im Verborgenen geschehen, aber direkt vor dem Geschäft." Colin schnippte mit den Fingern. "Du meinst, in einer Kutsche!" Der Flaschengeist nickte. "In einer Kutsche, die an dem Geschäft vorbeifuhr." Moore legte die Stirn in Falten. "Sterling und der Werwolf sind mit einer Kutsche durch London gefahren? Ich bitte Sie!" "Es war kein Werwolf", sagten Abdul und Colin gleichzeitig.
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Colin Mirth "Selbst, wenn es so gewesen ist, wie Sie sagen... ein paar Schritte muß Sterling doch bis zu dem Laden gemacht haben", folgerte Moore, "aber wir haben auf der Straße kein Blut gefunden." "Versetzen Sie sich in seine Lage", rief Colin. "Sie haben eine klaffende Wunde an der Halsschlagader. Was tun Sie instinktiv?" Moore dachte nicht lange nach. "Ich presse meine Hand gegen die Verletzung, um die Blutung zu stoppen." "Genau. Ihnen rinnt in dem Moment vielleicht Blut durch die Finger, aber es kommen keine Unmengen davon heraus. Dann aber legen Sie die Hand auf die Türklinke, um die Tür zu der Buchhandlung zu öffnen. Der Druck auf die Wunde ist für ein paar Augenblicke weg, und voilà!" Colin klatschte in die Hände. "In kürzester Zeit verlieren Sie viel Blut, geraten ins Taumeln und verlieren das Bewußtsein. Exitus." "Durchaus denkbar, Commander. Warum nehme ich aber nicht die andere Hand, um die Tür zu öffnen?" fragte Moore skeptisch. "Weil Sie in der anderen Hand ein kostbares Manuskript halten, das sie auf keinen Fall auf den Boden fallen lassen möchten", soufflierte Abdul hilfsbereit. "Ja, das Manuskript." Moore trommelte mit den Fingerspitzen auf den Schreibtisch und sah nachdenklich von Abdul zu Colin. "Das Shakespeare-Manuskript, das Harrington damals an Finch verkauft hat. Und nun bringt Sterling das kostbare Stück zurück zu Harrington in den Laden. Wenn wir den Grund dafür wissen, haben wir vielleicht ein Motiv." "Interessant ist die Frage, wo das Manuskript jetzt ist", grübelte Colin. Moore lachte plötzlich auf. "Beim Mörder von Mister Harrington natürlich. Sterling hat das Manuskript noch in der Hand gehabt, als er in der Buchhandlung starb. Harrington hat es ihm abgenommen, und dabei ist ein Fetzen vom Deckblatt in Sterlings verkrampfter Faust stecken geblieben. Haben Sie Harringtons Gesichtsausdruck bemerkt, als Sie den Zettel gefunden haben?" Colin schüttelte stumm den Kopf. "Harrington hat das Manuskript vermutlich an dem sichersten Ort im Laden versteckt, und das dürfte die schwere Eisenkassette in seinem Schreibpult gewesen sein, in dem er auch sein Geld aufbewahrte. Heute war die Kasse aufgebrochen, aber es war noch Geld darin. Harringtons Mörder hat nur das Manuskript entwendet", rief Moore triumphierend. "Wenn das Manuskript wirklich der Schlüssel für den Fall ist, dann hat es beide Männer das Leben gekostet. Und der Mörder ist auch der gleiche." Colin stand auf und gab Abdul mit einer Geste zu verstehen, daß er sich wieder in seine Flasche zurückziehen sollte. "Sie sagten, die Wunden sehen identisch aus? Gehen wir doch einmal ins Leichenschauhaus, ich möchte mich davon überzeugen." * Doktor Ebenezer MacKinnon führte Colin Mirth und Archibald Moore in ein kaltes Gewölbe, dessen steinerne Mauern mit einem dünnen Film Kondenswasser bedeckt waren. Auf zwei hölzernen Tischen lagen die nackten Körper von Roderick Sterling und Joseph Harrington aufgebahrt. MacKinnons Mitarbeiter hatten die Leichen bereits gewaschen und den Toten die Augen geschlossen. "Ich habe so etwas lange nicht mehr gesehen, Gentlemen", sagte der Pathologe im Plauderton, als er neben die beiden Leichen trat. Colin zog die Augenbrauen hoch. "Sie haben solche Wunden schon einmal gesehen, Doktor?"
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Colin Mirth "Ich könnte mich natürlich täuschen", MacKinnon kratzte sich am Kopf, "aber ich will verdammt sein, Sir, wenn das nicht die gleiche Todesursache ist wie bei einem Dockarbeiter, den ich vor ein paar Monaten auf meinem Tisch hatte." "Sehen Sie", raunte Moore Colin zu, "vielleicht treibt doch ein Werwolf in London sein Unwesen." Der Doktor, der die Bemerkung des Sergeants gehört hatte, lachte schallend. Das Gelächter hallte furchteinflößend in dem niedrigen Gewölbe wider. "Ein Werwolf! Gütiger Himmel, Sergeant, Sie kommen vielleicht auf Ideen! Schauen Sie doch mal, was ich in den beiden Gentlemen hier gefunden habe." Er reichte Colin und Moore einen kleinen Zinnteller, auf dem einige winzige gebogene Splitter lagen. "Glas?" "Splitter?" Die beiden Polizisten sahen den Pathologen verblüfft an. "Michael O'Malley, so hieß der Gentleman damals, glaube ich", fuhr MacKinnon ungerührt fort. "Seine Spießgesellen hatten ihm eine Weinflasche über den Schädel gegeben, ihm anschließend die halb durchgebrochene Flasche in die Kehle gerammt und ein paar Mal umgedreht. Häßliche Sache, kann ich Ihnen sagen. Sah genau so aus wie diese Wunden da. Regelrecht ausgestanzt, was?" * "Und was ist mit Mister Sterlings Alpträumen, von denen Finch spach?", fragte Moore verunsichert, als er mit Colin im Schutze der Dunkelheit vor dem Haus von Samuel Finch wartete. "Ein Ablenkungsmanöver", mutmaßte Colin gleichgültig, "das uns auf eine falsche Fährte locken sollte. Was Mister Finch ja auch fast gelungen wäre. Und mich bestärkt dieser Umstand in meinem Verdacht, daß wir unserem Mörder nun dicht auf der Spur sind." Moore ging eine Weile schweigsam auf und ab. "Und was ist mit Ihrem Gerede vom Vollmond?" Colin grinste. "Verzeihen Sie mir. Ich habe Sie nur auf den Arm nehmen wollen. Die Versuchung war einfach zu groß." "Schon gut, schon gut", seufzte Moore. "Das heißt dann wohl, daß ich meine silbernen Kugeln meinem Waffenhändler wieder zurückgeben kann, was?" "Wie ich schon sagte", sagte Colin achselzuckend, "purer Aberglauben." "Wie Sie schon sagten", echote Moore kleinlaut. Er trat ungeduldig von einem Fuß auf den anderen und zog seine Taschenuhr. "Wir müssen das nicht tun, Commander. Das wissen Sie ja. Wir können uns einen Durchsuchungsbefehl holen, und morgen –" "Das dauert zu lange", unterbrach Colin seinen Kollegen gereizt. "Wir müssen jetzt wissen, was Sache ist." "Schon gut, schon gut", winkte Moore beschwichtigend ab. Er warf einen Blick auf die Uhr und bemühte sich, im Licht der Straßenlaterne das Zifferblatt zu erkennen. Er unterdrückte ein Gähnen. "Gute Güte! Ist das wirklich schon drei Uhr morgens?" Colin antwortete nicht. Nach einer Weile versuchte der Sergeant erneut, die ins Stocken geratene Konversation wiederzubeleben. "Wissen Sie, was ich gedacht habe, Commander? Wir könnten zurück in die Buchhandlung gehen und nachsehen, ob dort jetzt vielleicht die Geister von Sterling und Harrington herumspuken. Wir könnten sie dann einfach fragen, wer ihr Mörder war."
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Colin Mirth Colin gähnte herzhaft. "Brilliant, Sergeant. Ihr Plan krankt leider an zwei entscheidenden Punkten." "Und die wären?" "Erstens kann es Jahre oder Jahrzehnte dauern, bis ein Geist an dem Ort erscheint, wo er als Mensch zu Tode gekommen ist. Es ist eher unwahrscheinlich, daß die beiden bereits heute Nacht dort auftauchen", erklärte Colin. "Könnten Sie sie nicht herbeizaubern?" fragte Moore. "Sie kennen doch die entsprechenden Beschwörungsformeln..." "So etwas tue ich grundsätzlich nicht", Colin schüttelte entschieden den Kopf, "und zweitens: einmal angenommen, die beiden wären dort und wir könnten ihnen Fragen über ihren Mörder stellen – wie machen wir Inspector Pryce klar, wie wir zu den Zeugenaussagen gekommen sind?" "Hmm." Moore zwirbelte nachdenklich seinen Schnurrbart. "Da ist etwas Wahres dran, Commander." Ein bläuliches Licht, welches von der Haustür des Theaterdirektors auszugehen schien, lenkte die beiden Männer von ihrem Gespräch ab. Im nächsten Augenblick quoll eine blaue, leuchtende Paste in einem endlosen Strang aus dem Schlüsselloch des Hauses hervor. Auf dem Trottoir verfestigte sich die Substanz mit einem schmatzenden Geräusch, und nach wenigen Sekunden stand Abdul in seiner normalen Gestalt vor Moore und Colin. "Und?" fragte Colin gespannt. "Hast du etwas gefunden, Abdul?" "Es ist, wie Ihr gesagt habt, Efendi", der Flaschengeist nickte. "Mister Finch besitzt in der Tat eine Kutsche. Sie steht im Innenhof, und es scheint so, als wäre sie erst vor Kurzem gründlich gereinigt worden." "Das beweist noch nichts", brummte Moore. "Oh, ich habe noch mehr gefunden", beeilte sich Abdul zu sagen. "Blutbefleckte Kleidung im Keller, Efendi. Und neben der Kutsche stand ein Eimer mit einer Bürste darin, und an beiden waren Reste von Blut. Und das hier steckte zwischen den Sitzpolstern des Gefährts." Mit diesen Worten reichte er dem Sergeant einen Glassplitter, der eine verdächtige Ähnlichkeit mit denen aufwies, welche Doktor MacKinnon ihnen am Nachmittag gezeigt hatte. * Am Morgen des 17. Januars 1877 betraten Colin Mirth und Archibald Moore in Begleitung von drei Polizisten des Polizeireviers King Street das Haus von Samuel Finch. Sie trafen Finch beim Frühstück an. Der Theaterdirektor sah von der Lektüre der Times auf, als die Polizisten in den Salon drängten. "Gentlemen", sagte er überrascht, "welchem Umstand verdanke ich Ihren unangemeldeten Besuch?" Moore baute sich vor Finch auf. "Sind Sie Mister Samuel Finch?" Finch legte die Zeitung beiseite und langte ungerührt nach der Marmelade. "Seien Sie nicht töricht, Sergeant. Ich habe mich Ihnen erst vorgestern vorgestellt." "Im Namen Ihrer Majestät, Königin Victoria, verhafte ich Sie hiermit", fuhr Moore unbeirrt fort. "Sie stehen im Verdacht, der Mörder von Roderick Sterling und Joseph Harrington zu sein. Möchten Sie zu der Beschuldigung Stellung nehmen?" Finch stellte das Marmeladenglas zurück an seinen Platz. "Das wird nicht nötig sein, Sergeant. Ich fürchte, Sie haben mich erwischt. Warten Sie bitte einen Moment, ich komme dann gleich mit." Seite 16
Colin Mirth Moore und Colin wechselten einen überraschten Blick. Sie hatten mit mehr Widerstand gerechnet und daher auch Verstärkung mitgebracht. Colin räusperte sich. "Mister Finch... dieses ominöse Manuskript... Sie wissen schon, Sir, 'Love's Labour's Won'..." Finch schnaubte verächtlich. "Hören Sie mir bloß auf damit. Das verdammte Ding hat mir nichts als Scherereien eingebracht!" "Was Sie nicht sagen", bemerkte Moore in einem sarkastischen Tonfall, "das Manuskript hat immerhin zwei Gentlemen das Leben gekostet!" "Joseph und Roddy waren nicht das, was Sie und ich unter einem Gentleman verstehen", rief Finch wütend. "Harrington hat mir ein völlig wertloses Schriftstück verkauft! Und Roddy, dieser jämmerliche Dieb, hat es mir gestohlen!" "Moment", Colin hob beschwichtigend die Hand, "sagten Sie gerade wertlos, Sir?" "Wertlos", echote Finch. "Harrington hat mich übers Ohr gehauen. Er hat mir eine elende Fälschung als kostbares Shakespeare-Manuskript angedreht. Und ich Trottel habe auch noch bei den Gentlemen der Royal Shakespeare Society damit angegeben, was ich für ein unglaubliches Schnäppchen gemacht habe. Nach meinem Streit mit diesem Historiker vom Britischen Museum bin ich dann aber vorsichtiger geworden. Also habe ich im letzten Jahr zwei unabhängige Gutachter damit beauftragt, das Manuskript zu untersuchen. Beide kamen zu dem gleichen Ergebnis." "Wie befremdlich", murmelte Moore. "Wenn das bekannt geworden wäre..." Finch schüttelte fassungslos den Kopf. "Ich wäre zum Gespött von ganz London geworden. Niemand wäre mehr in The Bard's Corner gekommen." "Wie ist Mister Sterling in den Besitz des Manuskripts gekommen?", fragte Colin. Finch zuckte mit den Schultern. "Er war der Kurier, der mit dem Manuskript bei dem Gutachter gewesen ist. Ich hatte ihn mit meiner Kutsche vom Bahnhof abgeholt. Und auf dem Weg durch Westminster drohte er damit, mich zu erpressen. Ich war wütend und habe ihn mit einer Flasche geschlagen. Die ist dabei zerbrochen. Und dann... dann habe ich mit dem abgebrochenen Flaschenhals zugestochen, um ihn zum Schweigen zu bringen." "Was Ihnen zweifelsohne gelungen ist", stellte Colin nüchtern fest. "Und gestern gingen Sie zu Harrington, um nach dem Manuskript zu suchen?" Finch nickte langsam. "Er hatte es an sich genommen. Aber er wollte mein Eigentum nicht herausgeben. Er wollte es mir noch einmal verkaufen, zu einem Wucherpreis..." "Ich denke, das genügt", winkte Moore ab. "Den Rest können Sie bei Ihrer Abschiedsvorstellung in Old Bailey zu Protokoll geben, Mister Finch." * Colin und Moore sahen den Polizisten, die Finch abführten, zufrieden und erleichtert hinterher. "Was für ein verrückter Kerl", brummte Moore und zwirbelte seinen Schnurrbart. Colin warf einen Blick zurück in die Wohnung des Theaterdirektors. "Was wohl jetzt aus seiner Sammlung wird?" Moore zuckte mit den Achseln. "Wenn er keine Verwandten hat... Asservatenkammer, schätze ich. Und irgendwann wird die Sammlung sicherlich versteigert. Warum fragen Sie?" "Ach, nichts. Nur so ein Gedanke", seufzte Colin. "Eigentlich hätte ich schon viel früher darauf kommen müssen, daß der gute Mister Finch nicht ganz richtig im Kopf ist." "So?", staunte Moore. Seite 17
Colin Mirth "Ja", Colin nickte, "wegen seiner Äußerung über das Kinematoskop. Wie kann er nur ernsthaft glauben, daß so ein Gerät eine Zukunft hat? Völlig absurd, Sergeant!" Moore klopfte Colin auf die Schulter. "Ganz Ihrer Meinung, Commander." Demnächst: "Terror im Tower"
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