Alfred Hitchcock
Die drei ??? und der höllische Werwolf Erzählt von M. V. Carey nach einer Idee von Robert Arthur
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Alfred Hitchcock
Die drei ??? und der höllische Werwolf Erzählt von M. V. Carey nach einer Idee von Robert Arthur
Franckh’sche Verlagshandlung Stuttgart
Aus dem Amerikanischen übertragen von Leonore Puschert Titel der Originalausgabe: »The Three Investigators in The Mystery of the Creep-Show Crooks« (Random House, Inc., New York/ 1985, ISBN 0-394-87382-3) 1985, Random House, Inc., Text by M. V. Carey. Based on characters created by Robert Arthur. This translation published by arrangement with Random House, Inc. Schutzumschlag von Aiga Rasch
CIP-Titelaufnahme der Deutschen Bibliothek Carey, M. V.: Die drei ??? [Fragezeichen] und der höllische Werwolf / Alfred Hitchcock. Erzählt von M. V. Carey nach e. Idee von Robert Arthur. [Aus d. Amrikan. übertr. von Leonore Puscherf]. – Stuttgart : Franckh, 1988 Einheitssacht.: The three investigators in the mystery of the creep show crooks ‹dt.› ISBN 3-440-05857-3 NE: Hitchcock, Alfred [Angebl. Verf.]
Franckh’sche Verlagshandlung, W. Keller & Co., Stuttgart / 1988 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Für die deutschsprachige Ausgabe: 1988, Franckh’sche Verlagshandlung, W. Keller & Co., Stuttgart ISBN 3-440-05857-3 / L 18 sl H vk Printed in Czechoslovakia / Imprimé en Tehécoslovaquie Satz: G. Müller, Heilbronn Gesamtherstellung durch Artia, Prag
Die drei ??? und der höllische Werwolf Vorwort von Alfred Hitchcock 7 Rätselhafter Fund 9 Die Ausreißerin 14 Ein Werwolf in Hollywood 21 Das Mädchen mit den tausend Gesichtern 28 Eine neue Spur 33 Böse Überraschung 37 Draculas Rückkehr 46 Eine Warnung 53 Verdächtiges Chaos 61 Eine Dame verschwindet 66 Justus hört sich um 70 Überfall! 79 Jagd auf einen Bären 84 Ein Pelzhändler hat Sorgen 90 Der Sammler 96 Inder Schreckenskammer 101 Gefährlicher Absturz 108 Kein rettendes Versteck! 114 Justus folgt einer Ahnung 120 Flucht ins Ungewisse 125 Eine Einladung für fünf 134
Vorwort von Alfred Hitchcock Aufgepaßt, Krimifreunde! Wieder einmal habe ich das Vergnügen, meinen Lesern Neues von den drei ??? zu präsentieren: ein hochkarätiges Abenteuer und die Begegnung mit einer Reihe von Figuren, die der Besetzung eines Horrorfilms made in Hollywood entsprungen sein könnten. Da gibt es einen Werwolf und andere Monster und ein Mädchen, das mit Dracula liebäugelt. Und die drei ??? müssen sich all diesen Typen wohl oder übel stellen. Sie konnten sich das nämlich nicht aussuchen . . . Ehe wir mit unserem Abenteuer beginnen, hier einige erklärende Worte für diejenigen Leser, die unseren Titelhelden bisher nicht begegnet sind. Die drei ??? sind unerschrockene und gewitzte Junior-Privatdetektive, die ihrer Tätigkeit in der kalifornischen Kleinstadt Rocky Beach nachgehen. Ihre Referenzliste umfaßt etliche schwierige, doch glänzend gelöste Fälle, und dies verdanken sie großenteils ihrer Aufgeschlossenheit für Theorien, die aus dem Rahmen des Herkömmlichen fallen, ja manchmal ausgesprochen verwegen sind. Und sie lehnen keine Herausforderung ab! »Wir übernehmen jeden Fall«, lautet ihr Motto, und mir fällt es nach Abschluß dieses jüngsten Falles zu, den Beweis dafür zu erbringen, daß dies keine leeren Worte sind. Justus Jonas, der Erste Detektiv, ist der Anführer des jugendlichen Teams. Er ist nicht gerade überschlank, und Lästermäuler nennen ihn schlichtweg fett. Doch zu dem runden Gesicht gehört ein messerscharfer Verstand. Justus verfügt über die wahrhaft bewundernswerte Fähigkeit, Fakten so zu zergliedern und Informationen so aufeinander zu beziehen, daß sich wie in einem Puzzlespiel allmählich des Rätsels Lösung zeigt. Es folgt Peter Shaw als Zweiter Detektiv. Er ist ein großer, sportlicher Junge, und als Partner ist er mutig, verläßlich und allzeit bereit. Wenn die drei Jungen einen Fall bearbeiten, ist es oft an Peter, in schwierigen Situationen Kraft und Geschicklichkeit zu beweisen. Dem Dritten im Bunde, Bob Andrews, obliegen Recherchen und Archiv. Er ist nicht so kräftig 7
wie Peter und vielleicht nicht so superklug wie Justus, aber dafür ist er immer vorsichtig und erstaunlich ausdauernd. Ohne ihn kämen die drei ??? sicherlich nicht zurecht. So, das sollte fürs erste genügen. Alles weitere bekommt ihr nun aus erster Hand mit: in dem spannenden Abenteuer der drei gegen den Werwolf und anderes Gelichter! Alfred Hitchcock
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Rätselhafter Fund Bob erspähte als erster die Beuteltasche aus Plastik. Sie war zur Hälfte im Sand begraben, knapp oberhalb der Linie, die das Wasser nach der Flut am Strand von Rocky Beach hinterließ. Bob hob die Tasche auf und betrachtete sie amüsiert. Für kleine Mädchen mußte ein solches Behältnis ein heißbegehrtes Objekt sein. Das durchsichtige Plastikmaterial war mit grellrosa Kätzchen bedruckt, und jedes von ihnen trug eine große blaue Schleife am Hals. Der Beutel enthielt eine Menge Krimskrams und einen kleinen Teddybär aus Pelz. Mit schwarzen Perlenaugen starrte er aus seinem Behältnis zu Bob hinaus. »Was bin ich doch für ein glücklicher Finder«, meinte Bob. »Da hat irgendeine Kleine ihren Spielkram verloren.« Peter Shaw schaute sich nach rechts und nach links um. Aber nirgends war ein kleines Mädchen in Sicht. Es war schon spät, und am Strand waren nur noch wenige Leute. Ein einsamer Surfer schleifte sein Brett über den Sand zur Straße vor. Der Mann von der Rettungswache hatte gerade seinen Ausguckturm verlassen und ging weg. »Lassen wir das Zeug doch einfach hier liegen«, schlug Peter vor. »Die Kleine wird schon merken, daß sie ihre Tasche verloren hat, und dann kommt sie noch mal her.« »Wenn sie aber noch zu klein ist, klappt das nicht unbedingt«, hielt Justus Jonas dagegen. »Und im übrigen könnte jemand die Tasche stehlen.« Justus war ein stämmiger Bursche mit ernsthaftem, rundem Gesicht. Er sah die Dinge immer von der konstruktiven Seite her an. »Vielleicht können wir die Besitzerin an einem Merkmal des Inhalts identifizieren«, fügte er noch hinzu. Er setzte sich in den Sand und streckte die Hand nach der Tasche aus. »Dann können wir das kleine Mädchen möglicherweise ausfindig machen.« Bob reichte Justus den Beutel hinüber, und Justus breitete im Sand 9
sein Taschentuch aus und kippte den Inhalt darauf »Hmm!« sagte er. Und dann runzelte er die Stirn. Weder Ausweispapiere noch Geldbeutel waren in den Siebensachen enthalten, dafür jener kleine, flauschige Teddybär, ein Buch mit dem Titel »Deine Phantasie: der Schlüssel zum Erfolg«, eine Illustrierte und ein buntes Sortiment Kosmetika. Justus sortierte das Kleinzeug säuberlich: vier Lippenstifte in verschiedenen Farbnuancen, zwei Plastikdöschen mit Lidschatten, eines mit Rouge und einen Lidstrich- und Augenbrauenstift. Und schließlich noch ein Paar violetter Ohrclips aus Plastik. »So jung ist die Kleine auch wieder nicht«, stellte Justus fest. »Immerhin beherrscht die Dame bereits perfekt die hohe Kunst des Make-ups.« »Aber sie schmust noch mit Teddybären.« Peter grinste. Justus blätterte gerade das Buch durch, das in dem Beutel gewesen war. Es stammte aus einer Leihbibliothek. Am hinteren Einbanddeckel befand sich innen eine Einstecktasche aus Papier mit dem Stempel der Stadtbücherei von Fresno. »Da hätten wir schon mal ein Indiz!« Justus nickte zuversichtlich. Es machte ihm immer Spaß, Geheimnissen auf den Grund zu gehen. Er klappte das Buch zu und grinste seine Freunde an. »In jeder Bibliothek wird über die Benutzer Kartei geführt. Wir müssen nur dort anrufen und uns den Namen geben lassen, dann können wir diese höchst aparte Tasche samt Inhalt der Besitzerin wieder zustellen.« »Was, ein Ferngespräch nach Fresno?« ereiferte sich Bob. Doch dann zuckte er die Achseln. »Na, meinetwegen. Das können wir gerade noch verkraften.« Peter mußte lachen. »Das Mädchen wird vor Freude überschnappen, wenn sie ihr kostbares Eigentum zurückkriegt. Da erstattet sie uns bestimmt die Telefonkosten.« »Vielleicht bekommen wir sogar eine Einladung zur Weinlese in Fresno«, malte sich Justus in der Phantasie die Folgen des Anrufs aus. »Aber jetzt los, Leute, sonst macht die Bücherei in Fresno dicht. Es ist schon acht Uhr durch.« 10
Die Jungen liefen über den Sand zur Straße hinauf, die parallel zum Strand verlief. Sie holten ihre Fahrräder vom Parkplatz, warteten auf eine Lücke im stetig fließenden Verkehr und überquerten die Straße. Dann schlugen sie in wortlosem Einverständnis den Weg zur Firma »Gebrauchtwaren-Center T. Jonas« ein. Dieses Unternehmen war weit über Rocky Beach hinaus bekannt. Es gehörte Titus und Mathilda Jonas, Justus’ Onkel und Tante, bei denen er seit dem Tod seiner Eltern wohnte. Das Schrott- und Trödellager enthielt ein unglaublich reichhaltiges Warenangebot, von alten Wasserleitungen und Waschmaschinen bis hin zu antiken Türschlössern und Karussellpferden. Justus hielt hartnäckig an der Meinung fest, die Bezeichnung »Schrott« sei viel zu banal für die edleren Güter, und er hatte es seinerzeit durchgesetzt, daß die Firma »Gebrauchtwaren-Center T. Jonas« und nicht einfach »Schrotthandel Jonas« heißen sollte. Als die drei Jungen an diesem Abend den Lagerhof erreichten, dämmerte es schon. Das zweiflügelige eiserne Tor war geschlossen und verriegelt, und im Wohnhaus auf der gegenüberliegenden Straßenseite leuchteten die Fenster wie Rechtecke aus warmem Gelb herüber. Doch die Jungen machten nicht beim Haus halt. Sie radelten am Hoftor vorbei bis zur nächsten Ecke des Lagerplatzes, die ein gutes Stück von der Einfahrt entfernt war. Der Holzzaun um das Betriebsgelände war höchst phantasievoll bemalt. Onkel Titus überließ einheimischen Künstlern oft Stücke aus dem Lagerbestand zu Vorzugspreisen, da ihm die Förderung aufstrebender Talente am Herzen lag. Zum Dank dafür hatte das Künstlervolk ein ausgelassenes Kreativ-Wochenende rings um den Zaun veranstaltet und die Plankenfronten mit wunderschönen bunten Bildern bemalt. Die Fläche beim Eingang zeigte einen grünen See mit Schwänen und ein ebenfalls grünes Meer, auf dem ein Segelschiff die Beute eines fürchterlichen Sturms wurde. Mitten in die grünen Wogen war ein großer Fisch gemalt, der den Kopf aus dem Wasser reckte und das sinkende Schiff betrachtete. 11
Das Auge des Fisches war ein Astloch in einer Zaunplanke. Justus drückte mit dem Finger darauf, und zwei Planken ließen sich nach innen schwenken. Das war das Grüne Tor, einer der Geheimzugänge zum Schrottplatz. Justus und seine Freunde hatten sich diese Schleichwege eingerichtet, damit sie jederzeit kommen und gehen konnten, ohne von Tante Mathilda oder Onkel Titus gesehen zu werden. Die Jungen schlüpften durch die Öffnung und standen gleich darauf in Justus’ Freiluftwerkstatt, die mittels hoher Stapel aus Schrott und Trödel vom Hofraum getrennt war. Justus zog ein Eisengitter, das wie zufällig gegen seine Werkbank gelehnt schien, zur Seite. Dann bückte er sich und kroch in die weite Wellblechröhre, deren Öffnung das Gitter verborgen hatte. Das war Tunnel II, wiederum einer der geheimen Zu- und Ausgänge, die von den Jungen eingerichtet worden waren und fleißig benutzt wurden. Peter und Bob folgten Justus in den engen Kriechgang, der unter Schrottbergen hindurchführte und unmittelbar unter einer Luke endete. Nun war nur noch deren Klappe hochzudrücken, und die drei ??? befanden sich in dem alten Campinganhänger, ihrer Zentrale. Der Anhänger war bei einem Verkehrsunfall stark beschädigt worden, und Onkel Titus hatte ihn zum Schrottwert aufgekauft. Als die Monate verstrichen und immer noch kein Kunde das Wrack kaufen wollte, hatte er es Justus und seinen Freunden als Klubheim überlassen. Ein Klubheim war allerdings aus dem Anhänger nicht geworden. Statt dessen hatten Justus, Bob und Peter das Gefährt mit Schreibtisch, Aktenschrank, Mini-Kriminallabor und Dunkelkammer ausgestattet. Auch ein Telefon ließen sie anschließen, und die Gebühren zweigten sie von ihrem Verdienst für gelegentliche Hilfsarbeiten im Schrottlager ab. Während solcher Arbeitseinsätze hatten sie immer wieder neuen Trödelkram rings um den Anhänger gestapelt, so daß er mittlerweile überhaupt nicht mehr zu sehen war und ihnen ungestörten Aufenthalt bot. 12
Als damals die Zentrale fertig war, gründeten die drei Jungen ihr Detektivunternehmen. Sie nannten sich »Die drei ???« und nahmen sich alle möglichen rätselhaften Fälle vor, hochbedeutsame und weniger spektakuläre. Hauptsache, sie waren interessant! Und so hatte nun auch die Fundsache vom Strand für Justus etwas geheimnisvoll Anziehendes, und wie jedesmal brannte er darauf, das Rätsel möglichst bald zu lösen. An seinem Schreibtisch im Anhänger ließ sich Justus von der Telefonauskunft die Nummer der Stadtbücherei von Fresno geben und wählte sie. »Zwanzig vor neun«, bemerkte Peter nach einem Blick zu der Uhr auf dem Aktenschrank. »Ausführliche Auskünfte kannst du jetzt kaum mehr erwarten.« Aber dann ging es doch ganz schnell. Justus wurde sofort mit der Ausleihstelle verbunden. »Hier Justus Jonas.« Wie immer schaffte er es, sein Anliegen als bedeutsam vorzubringen und damit Eindruck zu erwecken. »Unsere Leserkartei ist im Computer gespeichert«, gab die Bibliothekarin zurück. »Ich will mal sehen, was sich machen läßt.« Nach kurzer Zeit kam sie an den Apparat zurück. Plötzlich klang ihre Stimme eigenartig angespannt. »Kann ich Sie zurückrufen?« fragte sie. »Sind Sie dann selbst am Telefon?« »Ja, schon, aber ich . . .« »Bitte! Es ist wichtig!« bedrängte ihn die Frau. Justus gab ihr die Telefonnummer der drei ???. »Alles klar«, sagte sie. »Bleiben Sie bitte beim Telefon, gehen Sie nicht weg.« Sie legte auf. Justus legte den Hörer ebenfalls auf. »Ich möchte nur wissen, was das alles soll«, meinte er verwundert. »Die Frau war ganz aufgeregt. Sie sagte, sie würde zurückrufen.« »0 Himmel«, stöhnte Peter. »Auf was haben wir uns da nur eingelassen?« Wenige Minuten später kam der Rückruf. Die Stimme am anderen 13
Ende der Leitung war fassungslos und im höchsten Grade erregt. »Haben Sie sie gesehen?« Es war eine Frau, jedoch nicht die Bibliothekarin von vorhin. »Ich komme sofort! Wo Sie auch sind, ich komme sofort hin! Ich muß mein kleines Mädchen finden!«
Die Ausreißerin Auf dem Schreibtisch stand ein Lautsprecher, den Justus aus Teilen defekter Elektronikgeräte vom Schrottlager zusammengebaut hatte. Als der Erste Detektiv nun den Telefonhörer an seine sinnreiche Konstruktion anschloß, konnten alle drei Jungen das Gespräch mithören. Vorerst war nur heftiges Schluchzen zu vernehmen. Dann sagte eine Männerstimme: »Judy, um Himmels willen, beruhige dich doch!« Es raschelte im Telefon. Dann meldete sich der Mann selbst. »Justus Jonas?« fragte er. »Ja, am Apparat«, bestätigte Justus. »Sie haben also am Strand ein Leihbuch aus unserer Stadtbücherei gefunden?« »Ja, Sir.« »Diesen Band hat meine Tochter hier in Fresno entliehen, kurz bevor sie verschwunden ist.« »Oh«, sagte Justus. »Sie ist nämlich nach Hollywood durchgebrannt, um beim Film zu landen.« Im Hintergrund sagte die Frau mit tränenerstickter Stimme: »Sag ihm, daß wir hinkommen.« »Mach ich, Judy, schon gut.« Der Mann holte tief Atem. »Ich bin Charles Anderson. Ihr Anruf ist der erste greifbare Hinweis darauf, daß Lucille nicht unbedingt etwas zugestoßen ist. Wir müssen Sie 14
sprechen. Vielleicht läßt sich gemeinsam Licht in die Sache bringen. In dieser Beuteltasche befand sich wohl keine Anschrift?« »Nein, Mr. Anderson«, erklärte Justus. »Keine Anschrift.« »Bei der Polizei konnte man uns leider nicht weiterhelfen«, fuhr Mr. Anderson fort. »Dort sagte man uns nur immer wieder, es gäbe im Raum Los Angeles einfach zu viele junge Leute, die von zu Hause weglaufen. Geben Sie uns bitte Ihre Adresse, dann kommen wir morgen früh zu Ihnen.« »Gern, Sir.« Justus nannte die Anschrift der Firma Jonas. Mr. Anderson bedankte sich und legte auf. »Tochter durchgebrannt!« rief Peter nun voll Eifer. »Das könnte ja ein ganz wichtiger Fall für uns drei werden!« Justus blätterte in dem Buch aus der Bibliothek in Fresno. »Wir wollen nur hoffen, daß das Mädchen bald wieder auftaucht, egal ob wir den Eltern helfen können oder nicht. Wenn ich mich nicht täusche, sind diese Zettel, die Lucille als Lesezeichen benutzt hat, Quittungen von Pfandleihern. Dieser hier stammt von der Firma HiLo Leihhaus und Schmuckhandel, und da ist noch einer von einem Unternehmen namens Schnelles Geld – bar auf die Hand. Sieht mir ganz danach aus, daß das Mädchen total abgebrannt ist.« Justus klappte das Buch zu und betrachtete nachdenklich den Umschlag. »Deine Phantasie: der Schlüssel zum Erfolg«, las er laut den Titel. Dann sagte er: »Ich habe von diesem Buch gehört. Der Verfasser behauptet, man könne ganz nach Wunsch jeglichen persönlichen oder geschäftlichen Erfolg dadurch erzielen, daß man sich diesen in der Phantasie bildhaft vorstellt: also einen hochbezahlten Job oder ein tolles Haus mit allen Schikanen oder . . .« »Oder eine Traumrolle als Filmstar in Hollywood?« Bob war ein Licht aufgegangen. »Schon möglich«, meinte Justus. Er schlug wahllos eine Seite des Buches auf und fing an zu lesen: »Vergiß alles, was man dir über den Einsatz deiner Willenskraft erzählt hat. Willenskraft befaßt sich mit Einzelheiten, und Einzelheiten würden dich auf deinem Weg behindern. Statt zu schuften und zu stöhnen, mußt du dir nur deine Zu15
kunft mit allem Erfolg, den du dir wünschst, ganz bildlich und lebhaft vorstellen. Das ist das große Geheimnis: das Erfolgserlebnis hier und jetzt, nicht als das in ferner Zukunft Erstrebte, sondern als die Realität, mit der du heute schon lebst.« »Danke, es reicht!« fand Peter grinsend. Justus legte das Buch auf den Tisch, und die drei ??? verließen ihre Zentrale. Ihr könnt euch das, was die junge Ausreißerin Lucille Anderson bewegt, sicherlich schon recht gut vorstellen: große Hoffnungen, ja Illusionen und speziell die etwas vage Vorstellung, eine Traumkarriere in der Filmwelt zu schaffen, ohne dafür einen vielleicht langen und arbeitsreichen Weg gehen zu müssen. Es steht zu befürchten, daß Lucille mit dieser doch ziemlich naiven Einstellung in schlechte Gesellschaft, wenn nicht sogar in Gefahr geraten könnte. Sie zu finden und ihr vielleicht zu helfen, wird eine schwierige und risikoreiche Aufgabe für die Jungen werden. Solche ungeahnten Folgen scheint also der Fund einer harmlos scheinenden Plastiktasche nach sich zu ziehen! Doch ihr kennt das Motto der drei ???: »Wir übernehmen jeden Fall.« Und meine Empfehlung: Übernehmt ihn mit! Am nächsten Morgen fanden sich die Jungen bei der Bürobaracke auf dem Lagerhof ein. Kurz darauf kam ein Toyota durchs Hoftor gefahren, und der Fahrer stieg aus und fragte im Büro nach Justus Jonas. Er war ein großer, hagerer Mann mit spärlichem, braunem Haar und intelligentem Gesicht. Die dunkelhaarige Frau, die auf dem Beifahrersitz gesessen hatte und die sehr verstört wirkte, trat hinzu. Die kunstvoll gestaltete, hochmodische Frisur paßte nicht so ganz zu ihrem eher mütterlichen Typus. »Mr. und Mrs. Anderson?« Justus ging auf die Besucher zu. »Ja . . .« Der Mann mußte rasch umschalten, um das Bild, das er sich 16
von dem Anrufer gemacht hatte, mit Justus’ jugendlicher Erscheinung in Einklang zu bringen. »Ja, ich bin Charles Anderson«, sagte er dann. »Und Sie . . . und du hast also Lucilles Tasche gefunden?« »Ja. Ich bin Justus Jonas, und das sind meine Freunde Bob Andrews und Peter Shaw.« Auch Tante Mathilda war nun aufmerksam geworden und kam aus dem Büro. Sie hatte mittlerweile von dem vermißten Mädchen gehört und bat die Andersons zur Besprechung herein. Die Plastiktasche lag auf dem Schreibtisch im Büro. Mr. Anderson erspähte sie und nickte. »Solches Zeug trägt Lucille immer gern mit sich herum«, meinte er. Er leerte den Inhalt der Tasche aus, blickte verdutzt auf die Kosmetika und den Teddy und verzog das Gesicht. »Das hier sagt mir ja nicht gerade viel«, bemerkte er dazu. Mrs. Anderson hatte das Buch zur Hand genommen und die Leihhausquittungen entdeckt. »Charles, das Kind hat nichts zu essen!« rief sie. »Am Ende treibt sie sich mit Kriminellen und Pennern auf der Straße herum! Da könnte ihr ja alles mögliche zustoßen!« Sie gab ihrem Mann eine der Quittungen. Er warf einen raschen, ergrimmten Blick darauf. Dann stieß er energisch hervor: »Manche Leute versetzen ja mal was von ihrem Hab und Gut, ohne daß sie deshalb gleich auf der Straße liegen und es mit Pennern treiben. Du malst ja den Teufel an die Wand.« Aus dem Wagen hatte er einen großen Umschlag aus festem braunem Papier mitgebracht. Diesen schüttete er nun aus, und Dutzende von Fotos ergossen sich auf die Tischplatte. »Das ist Lucille«, sagte Mr. Anderson. Er reichte den Jungen einen Schnappschuß. »Sie ist sechzehn. Wenn ihr öfter am Strand seid, habt ihr sie vielleicht mal gesehen.« Justus und seine Freunde sahen sich das Foto und auch all die anderen genau an. Auf allen Bildern war ein hübsches, dunkelhaariges Mädchen mit braungrünen Augen zu sehen. Auf einem Foto, das wohl bei einem Schul- oder Sportfest entstanden war, trug sie eine Majoretten-Uniform und war stark geschminkt. Andere Aufnah17
men zeigten sie als Laienspielerin im Kostüm einer Ballettänzerin und eines Pilgers. Es gab aber auch Fotos aus der Zeit, als Lucille erst zehn Jahre alt war, und auf wieder anderen war sie dreizehn und Siegerin beim Schönheitswettbewerb »Miss Teen Fresno«. Als die drei ??? sich all die Bilder angeschaut hatten, war ihre Verwirrung noch größer als zuvor. »Sie wirkt so . . . so verschieden, auf jedem Bild wieder anders«, stellte Peter fest. »Man bekommt gar nicht richtig mit, wie sie nun wirklich aussieht.« »Das kommt daher, daß sie ständig mit neuen Frisuren und anderem Make-up experimentiert«, erklärte Mr. Anderson. »Mal langes Haar, dann wieder kurze Stoppeln. Die Lippen mal rosa, dann wieder dunkelrot oder orange. Die einzigen Farben, die sie uns bisher erspart hat, sind vermutlich grün und blau. Nein, blauen Lippenstift hat sie noch nie benutzt. Und solange sie bei uns zu Hause war, hat sie sich wenigstens das Haar nicht gefärbt.« An dieser Stelle begann Mrs. Anderson zu weinen. »Wir sind in ständiger Verbindung mit den Polizeirevieren der Umgebung«, fuhr Mr. Anderson fort, »aber wir bekommen immer dieselben vagen Vertröstungen zu hören, womit sie wahrscheinlich alle besorgten Eltern durchgebrannter Kinder abspeisen. Das ist bestimmt keine böse Absicht, aber wir können doch nicht länger einfach abwarten, bis Lucille vielleicht wieder auftaucht. Sie kann ja auch in Gefahr sein. Irgendwo müssen wir jetzt ansetzen. Ich möchte mir hier am Strand die Stelle ansehen, wo ihr Jungs die Tasche gefunden habt, und ich möchte die Leute von der Rettungswache ansprechen.« Justus nickte, und dann stiegen die drei ??? zu den Andersons ins Auto. Den Rest des Vormittags widmeten Lucilles Eltern dem systematischen Absuchen des Strandes, und sie sprachen mit den Strandwächtern und mit den jungen Leuten, die sich in der Sonne aalten. Gegen ein Uhr gaben die Andersons erschöpft auf. »Niemand hat Lucille auf den Fotos erkannt«, murmelte Mr. Anderson enttäuscht. 18
An Wirklichkeit ist sie ja viel hübscher«, entgegnete Mrs. Anderson. »Eben das macht es so schwierig.« Mr. Anderson warf seiner Frau einen bitterbösen Blick zu. »Hättest du ihr das nicht immer wieder gesagt, dann wäre das alles gar nicht passiert«, knurrte er. Da fing Mrs. Anderson wieder zu weinen an. »Du, es tut mir leid«, lenkte ihr Mann ein. »Ich hab’s nicht so gemeint. Wir werden sie schon finden.« Er wandte sich an die Jungen. »Wie lange würden wir etwa brauchen, um hier in der Stadt gründlich nachzuforschen? Wir könnten systematisch in Häusern nachfragen und in Supermärkten Schilder aufhängen. Wir könnten Handzettel an alle Einwohner der Stadt verteilen lassen. Und in der Lokalzeitung Anzeigen aufgeben!« »Vielleicht sollten Sie mit Hauptkommissar Reynolds reden«, schlug Bob vor. »Er ist hier der Polizeichef und ein wirklich netter Mann.« Daraufhin fuhr Mr. Anderson in die Innenstadt zum Polizeipräsidium. Der Kommissar hörte sich die Geschichte von Lucille an, die mit ihrem als Babysitter ersparten Geld Hollywood erobern wollte. Als Mr. Anderson mit seinem Bericht zu Ende war, seufzte Samuel Reynolds. »Auch bei uns gibt es immer mehr jugendliche Ausreißer.« Er sichtete die Fotos und nickte. »Hübsch ist sie ja wirklich, das muß man sagen. Kann ich eines von den Bildern behalten?« »Aber bitte«, sagte Mr. Anderson. »Wann hatten Sie zum letzten Mal Kontakt mit Lucille?« fragte der Kommissar. »Das ist nun zwei Monate her«, antwortete Judy Anderson. »Es war zwei Tage, nachdem sie weggelaufen war. Sie rief uns an und sagte, wir sollten uns keine Sorgen machen, aber sie legte auf, ehe wir richtig miteinander sprechen konnten.« Hauptkommissar Reynolds nickte. Er notierte sich Anschrift und Telefonnummer der Andersons. Ach gebe die Fahndung gleich durch«, versprach er. »Inzwischen könnten sich ja auch die Jungen einsetzen, falls sie es nicht schon tun.« 19
Mr. Anderson war verblüfft. »Die Jungen? Diese drei Jungen hier? Sicher, sie waren sehr hilfsbereit, aber was . . . ?« »Sie sind Amateurdetektive«, erklärte der Polizeichef. Freilich klang seine Stimme dabei etwas ironisch. »Sie haben eine richtige Detektei, und sie befassen sich mit der Lösung aller möglichen Probleme und ungewöhnlichen Vorfälle. Manchmal sind sie mir dabei im Weg und machen mich fast verrückt, aber es scheint tatsächlich so, als hätten sie ein Gespür für detektivische Ermittlungen. Und sie bleiben an einem Fall dran, bis sie ihn aufgeklärt haben. Am Strand sind sie übrigens oft, und wenn sich Ihre Tochter dort gern aufhält . . .« Hauptkommissar Reynolds kam mit seinem Satz nicht zu Ende. Wohlwollend schaute er zu, wie Justus seine Brieftasche hervorzog und Mr. Anderson eine Karte gab. Es war die Empfehlungskarte der drei ???, und der Aufdruck lautete: Die drei Detektive ??? Wir übernehmen jeden Fall Erster Detektiv Zweiter Detektiv Recherchen und Archiv
Justus Jonas Peter Shaw Bob Andrews
Mr. Anderson sah sich die Karte kurz an, dann meinte er: »Warum nicht? Bisher hat ja noch niemand etwas herausgefunden. Kann ich euch dreien einen Scheck als Vorauszahlung geben?« »Danke, nicht nötig«, erwiderte Justus. »Wenn wir Lucille finden, bekommen Sie anschließend eine Rechnung über unsere Auslagen. Vorerst brauchen wir nur ein Foto Ihrer Tochter.« »Aber gern«, sagte Mr. Anderson und gab Justus gleich den ganzen Umschlag. »Und wenn ihr sonst noch etwas braucht, dann ruft mich an. Könnt ihr als R-Gespräch machen.« 20
»Und wie geht es nun weiter?« fragte Mrs. Anderson bedrückt den Kommissar. »Fahren Sie zurück nach Fresno«, antwortete er. »Und bleiben Sie beim Telefon. Ihre Tochter ruft vielleicht an. Sollten wir etwas erfahren, so verständigen wir Sie sofort.« »Meine arme Kleine«, sagte Mrs. Anderson mit erstickter Stimme. »Und wenn wir sie nun nie mehr wiedersehen?«
Ein Werwolf in Hollywood »Leute, hättet ihr das für möglich gehalten?« Peters Stimme kippte über vor Begeisterung. »Der Kommissar hat uns geradezu empfohlen. Ist ja nicht zu fassen!« Bob musterte mit kritischem Blick die Fotos, die er in der Zentrale auf dem Schreibtisch ausgelegt hatte. In der Stadtbücherei von Rocky Beach, wo er stundenweise aushalf, hatte er an diesem Tag dienstfrei. »Ja, das war schon phantastisch«, stimmte er Peter zu. »Aber wo setzen wir nun an? Es gibt sicher Teenager zu Hunderten, die von zu Hause ausreißen und in Hollywood beim Film Karriere machen wollen.« Justus lächelte eine Spur überheblich. »Wollen wir vielleicht bei den Pfandhäusern anfangen?« Bob blickte auf. »Klar doch!« »Als junger Mann ist Onkel Titus mit einem Wanderzirkus umhergezogen«, sagte Justus, »und da war er auch manchmal knapp bei Kasse. Er weiß, wie es im Pfandleihgewerbe zugeht, und er hat mir davon erzählt. Um in einem Leihhaus Geld zu bekommen, muß man als Sicherheit für das Darlehen ein Wertobjekt hinterlegen und außerdem den Namen mit voller Anschrift angeben.« 21
»Was wollen wir mehr?« triumphierte Peter bereits. »Unser Fall ist gelöst!« »Mit dem Vorbehalt, daß die Quittungen aus dem Buch tatsächlich Lucille Anderson gehören«, dämpfte Justus die Begeisterung des Zweiten Detektivs, »und daß sie bei den Pfandleihern Namen und Anschrift wahrheitsgemäß angegeben hat. Falls es sich anders verhält, sind diese Quittungen lediglich eine Spur für den Beginn unserer Fahndung. Die Belege stammen aus Geschäften im Raum Hollywood. Kenneth macht heute noch eine Fahrt dorthin und kann uns mitnehmen. Dann werden wir sehr rasch feststellen, was uns diese Quittungen als Indizien bringen.« Kenneth war der eine der beiden irischen Brüder, die im Schrottlager die Schwerarbeit erledigten und die Firmenwagen fuhren. Der Lastwagen stand schon startklar in der Ausfahrt neben dem Büro, als die drei ??? hinkamen. Kenneth hatte bereits von der Ausreißerin und den geängstigten Eltern gehört, und er wollte gern helfen. Obwohl er den dienstlichen Auftrag hatte, in einem Ort in der Umgebung von Hollywood eine Ladung gebrauchtes Bauholz abzuholen, kam es ihm auf einen Umweg nicht an, und er steuerte gleich den ersten Pfandleiher in Hollywood an. Justus, Bob und Peter sprangen aus dem Führerhaus und betraten den Laden, eine düstere Bude, in der es muffig roch. Der Pfandleiher warf einen Blick auf die Quittung, die ihm Justus vorgelegt hatte, ging nach hinten und öffnete einen verschlossenen Schrank. Einer Schublade entnahm er eine Medaille aus Silber an einem blauen Band. »Willst du das hier einlösen?« Er reichte Justus die Medaille. Die eine Seite der Medaille zeigte eine Figur, die entfernt an die Freiheitsstatue erinnerte. Die auf der anderen Seite eingravierte Inschrift besagte, daß Lucille Anderson in Klassenstufe zwei die dritte Siegerin in einem Rechtschreibwettbewerb ihrer Schule in Fresno geworden war. »Ich habe eine Frage zu dem Mädchen, das die Medaille verpfändet hat«, erklärte Justus. »Welche Anschrift hat sie Ihnen genannt? Wir sind mit ihren Eltern befreundet.« 22
»Na, dann ist sie wohl ausgerissen?« war die Vermutung des Pfandleihers. »Ja. Sie wird schon seit zwei Monaten vermißt, und . . .« Der Mann unterbrach Justus mit erhobener Hand. »Alles klar«, sagte er. »Die alte Leier. Sie kommen hierher, um ein großer Star zu werden, und statt dessen liegen sie in kürzester Zeit ohne Geld auf der Straße.« Er blätterte in einem Karteikasten auf dem Tresen. »Wie war noch mal der Name?« »Lucille Anderson«, erwiderte Justus. »Hier auf der Medaille steht der Name übrigens auch.« Der Mann schüttelte den Kopf. »Nee. Den Klunker hat eine gewisse Valerie Cargill verpfändet.« »Valerie Cargill?« wiederholte Bob verblüfft. »Machen Sie Witze, oder was?« »Ich bin von Natur aus humorlos«, entgegnete der Mann. »Und Witze mach’ ich schon gar nicht.« »Haben Sie eine Anschrift notiert?« erkundigte sich Justus. Der Pfandleiher nahm sich die Karteikarte nochmals vor. »West Los Angeles«, las er ab. »1648 Riverside Drive.« »Aber in West Los Angeles gibt es gar keine Straße namens Riverside Drive, das weiß ich zufällig genau«, wandte Bob ein. »Hätte ich mir denken können«, meinte der Pfandleiher. Er nahm das Bild entgegen, das ihm Justus hinhielt. Nach eingehender Betrachtung des Fotos war seine Miene nicht mehr so abweisend und kühl wie zuvor. »Die Kleine hier sieht ja süß aus. Ganz anders als das Mädchen, das mir die Medaille brachte. Ich kann mich noch genau erinnern. Sie war blond und ziemlich aufgetakelt. Sie sah genauso aus wie das Mädchen in der Fernsehserie Triumph. Die schaut sich nämlich meine Frau immer montags an.« »Die betreffende Darstellerin heißt Valerie Cargill«, bemerkte Justus dazu. Der Pfandleiher nickte. »Wundert mich nicht. Und man braucht auch keinen besonderen Scharfsinn, um zu merken, daß die junge 23
Dame, die mit dieser rührenden kleinen Medaille hier ankam, nicht die echte Valerie Cargill war. Na, wie ist das nun . . . löst ihr das Ding ein? Es macht acht Dollar und siebzig Cent.« Justus bezahlte und nahm die Medaille an sich. Dann gingen die drei Jungen zu dem wartenden Lastwagen. »Ich dachte schon, den Fall lösen wir mit links«, beklagte sich Peter. »Wir müssen eben dranbleiben«, stellte Justus fest. »Der nächste Pfandleiher hat vielleicht schon einen ergiebigeren Hinweis für uns.« Auch im zweiten Leihhaus war der Inhaber recht zuvorkommend, aber er konnte den Jungen keine wirklich nützlichen Auskünfte geben. Ja, ein junges Mädchen war dagewesen und hatte einen schmalen goldenen Ring verpfändet. Sie hatte eine Tunika und kniehohe Stiefel getragen, und sie hatte eine verblüffende Ähnlichkeit mit einer Darstellerin aus dem Science-Fiction-Film Verloren im All aufgewiesen. »Und wie war ihr Name?« fragte Justus. »Allida Cantrell«, antwortete der Pfandleiher. »Aha. Genauso lautete der Name der Hauptdarstellerin in dein Raumfahrt-Abenteuer.« Den goldenen Ring ließen die Jungen zurück, da sie nicht mehr genügend Geld bei sich hatten, um ihn einzulösen. Wieder gingen sie zum wartenden Lastwagen. Kenneth aß gerade einen Apfel und machte sich ernstlich Sorgen wegen des Zeitverlustes. »Ich helfe euch ja immer gern, Justus«, meinte er. »Aber deine Tante Mathilda wäre fuchsteufelswild, wenn sie wüßte, wie ich hier herumtrödle.« »Wir stehlen dir nicht mehr viel Zeit, Kenneth, das verspreche ich dir«, lenkte Justus ein. »Jetzt kommt der letzte Pfandleiher dran. Der ist gleich da drüben am Hollywood Boulevard.« Kenneth verzog das Gesicht, fuhr aber geduldig hin. Eine Bemerkung konnte er sich allerdings nicht verkneifen. »Diese Straße find’ ich absolut fies.« Bald merkten die drei ???, was hier lief. Hollywood Boulevard war 24
eine ziemlich heruntergekommene Gegend. Eine Stadtstreicherin stocherte in einem großen Müllcontainer an einer Ecke, und auf der Straße lungerten durchweg wenig vertrauenerweckende Typen herum. Vom legendären Glanz Hollywoods, der sich für den Unkundigen mit dem Namen dieser Straße verband, war weit und breit nichts zu sehen, wie die Jungen sehr schnell merkten. Einen Häuserblock hinter dem gesuchten Leihhaus fand Kenneth einen Parkplatz an der Straße. Die Jungen stiegen aus dem Wagen und gingen den Weg zu Fuß zurück. Gleich nach einem kleinen Laden, in dem Hollywood-Souvenirs und Fotos von den Villen der großen Stars verkauft wurden, kam das Geschäft des Pfandleihers. Peter übernahm die Führung und schritt darauf zu. »Die reinste Zeitverschwendung!« war sein Kommentar. Da plötzlich drang ein Aufschrei aus dem Laden. Im gleichen Augenblick stürzte jemand aus der Tür und stieß Peter unsanft mit dem Ellbogen zur Seite. »Trottel!« brüllte Peter. »Kannste nicht aufpassen?« Die Gestalt, die aus dem Laden des Pfandleihers gerannt war, drehte sich um und griff nach Peter. Peter war starr vor Entsetzen. Er sah ein Gesicht mit dunkler, lederartiger Haut. Er sah spitze Zähne . . . Reißzähne! Er sah eine breite, stumpfe Nase und große, wie Nüstern geblähte Nasenlöcher. Die Augen konnte er nicht sehen. Sie lagen zu tief im Kopf, sie waren versteckt wie so manches Böse und Lichtscheue. Peter riß den Mund auf und wollte schreien, aber er brachte keinen Laut hervor. Er sah auf die Hände, die ihn gepackt hielten. Es waren dunkle, haarige Klauen. Im Laden des Pfandleihers brüllte jemand unverständliche Worte. Da ließ das Horrorwesen von Peter ab und rannte davon. Noch einen Augenblick lang standen alle wie erstarrt. Dann schrie der Mann in dem Laden: »Haltet ihn auf, den Schuft!« Eine Frau auf dem Gehweg stieß einen schrillen Schrei aus. Das flüchtende Schreckgespenst verschwand in dem Souvenirladen. Und drinnen gellten neue Entsetzensschreie. 25
Mannhaft gab sich Peter einen Ruck und lief dem unheimlichen Geschöpf nach, aber als er in den Laden kam, war es schon zu spät. Der Kerl war durch die Hintertür entwischt und auf der schmalen Gasse davor verschwunden. Die Jungen liefen zum Laden des Pfandleihers zurück und befragten den völlig verstörten Inhaber. »Der wollte mich überfallen und ausrauben!« stieß der Mann hervor. »Aber als er euch drei ankommen sah, bekam er es mit der Angst und setzte sich ab!« Gleich darauf ertönte auf der Straße eine Polizeisirene. Ein Streifenwagen fuhr bei dem Laden vor, dann noch ein zweiter. Rasch sammelte sich eine Zuschauermenge an. Die Jungen traten aus dem Laden, gefolgt von dem Pfandleiher, der ganz aufgeregt umherfuchtelte. Ein Polizist drängte die Schaulustigen zurück. Ein zweiter sprach den Pfandleiher an, der daraufhin auf Peter deutete. Ein dritter Beamter nahm sich den Jungen vor. »Du hast also versucht, den Täter aufzuhalten?« fragte der Polizist. Peter nickte. »Und dann?« Peter zögerte. »Sie werden mich für verrückt halten . . .« setzte er an. »Das können wir hinterher immer noch entscheiden«, meinte der Polizist ungerührt. »Na?« »Der . . . der sah aus wie ein Monster!« Der Beamte nickte verständnisvoll. »So ähnlich wie ein Gorilla?« fragte er gelassen. »Oder war es eher ein anderer Typ von Monster?« »Ja . . . das heißt nein . . . Eigentlich kein Gorilla. Vielmehr so was wie ein . . . ein Werwolf!« »Hm«, machte der Polizist. Er machte sich Notizen in sein Buch. »Und wie groß war der Werwolf?« »Etwa so groß wie ich«, gab Peter Auskunft. »Nur kräftiger.« Nun wandte sich der Beamte an Justus. »Und du, was hast du gesehen?« erkundigte er sich. 26
Justus gab an, auch er habe einen Werwolf gesehen. Dann setzte er hinzu: »Sie nehmen unsere Aussagen ja erstaunlich ruhig auf, Wachtmeister.« Der Ordnungshüter grinste. »Na ja, erst vorige Woche hat einer, der sich als Gorilla maskiert hatte, eine Tankstelle hier überfallen.« »Stimmt, das habe ich in der Zeitung gelesen«, warf der Pfandleiher ein. »Und war da nicht noch so ’n Gangster mit ’nem grünen Gesicht, dem ein Messer aus dem Hals ragte? Der hat doch am Santa Monica Boulevard einen Schnapsladen ausgeräumt!« Einer der Polizisten lachte. »In dieser Stadt ist nichts und niemand normal.« Nachdem die Streifenwagen abgefahren waren, wandte sich der Pfandleiher den Jungen zu. »Ihr wolltet zu mir?« Justus berichtete ihm von Lucille. Der Mann trat in seinen Laden, forderte die Jungen zum Mitkommen auf und begann umständlich in seiner Kartei zu kramen. Dann zog er eine Schublade auf und holte eine zierliche goldene Anstecknadel in Form einer Schleife heraus. »Tut mir immer weh, wenn ich erleben muß, daß jemand etwas so Hübsches versetzen will«, sagte der Pfandleiher dazu. »Solche Nadeln bekommt man meistens als kleines Mädchen geschenkt, wenn man aus der Grundschule auf die höhere Schule kommt.« »Erinnern Sie sich an das Mädchen, das Ihnen die Nadel als Pfand dagelassen hat?« fragte Justus. »War es vielleicht dieses Mädchen?« Er reichte dem Mann ein Foto von Lucille Anderson. Der Pfandleiher nahm es an sich und betrachtete es genau. »Schon möglich. Sie hatte allerdings ihr Make-up so dick aufgetragen wie ein Zirkusclown seine Schminke, und das Haar war rosa gefärbt. Aber sie hätte es sein können.« Er nahm sich nochmals die Karte aus seinem Kasten vor und teilte den Jungen mit, der Name der Kundin sei Juliette Ravenna. »Wieder der Name einer Schauspielerin . . .« Justus stöhnte. »So kommen wir überhaupt nicht weiter!«
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Das Mädchen mit den tausend Gesichtern Am Abend trafen sich die drei Jungen in der Zentrale. Peter ließ sich mit finsterer Miene auf dem Fußboden nieder. »Wie sollen wir ein Mädchen finden, das jeden Tag wieder anders aussieht?« Darauf wußte zunächst keiner eine Antwort. Doch dann rückte Justus mit einem Plan heraus. »Wenn Lucille Anderson ernstlich vorhat, beim Film zu landen, dann hat sie vielleicht inzwischen bei einer ganzen Reihe von Vermittlungsagenturen für Nachwuchsdarsteller vorgesprochen. Das könnten wir doch auch tun!« »Versuchen wir’s eben«, meinte Peter. »Wir haben ja nichts mehr zu verlieren.« Also nahmen die drei ??? am nächsten Morgen in aller Frühe den Bus nach Hollywood. Systematisch klapperten sie die Agenturen ab; die entsprechende Liste hatte Justus noch am Vorabend vorbereitet. Beim ersten Versuch trafen sie auf eine superschlanke junge Empfangsdame, die sich gar nicht erst auf ein Gespräch einlassen wollte. »Wir sprechen grundsätzlich nicht mit Dritten über unsere Klienten«, sagte sie von oben herab. »Aber . . . aber vielleicht gehört sie bei näherem Hinsehen gar nicht zu Ihren Klienten«, platzte Peter impulsiv heraus. »Hört mal, Jungs, ich hab’ jede Menge Arbeit und keine Zeit für solche Mätzchen«, beschied ihn die Empfangsdame und wandte sich wieder ihrer Schreibmaschine zu. Bei der zweiten Agentur ernteten die Jungen auf ihre Frage nach Lucille einen mißbilligenden Blick. »Wenn sie mir bekannt wäre, würde ich es euch nicht auf die Nase binden«, erklärte die Empfangsdame. »Ihr solltet euch was schämen! Ihr seid doch noch zu jung, um attraktiven Schauspielerinnen nachzustellen.« Justus schoß das Blut ins Gesicht. »Tun wir ja gar nicht! Die Eltern 28
der jungen Dame haben uns gebeten, ihnen bei der Suche behilflich zu sein, und . . .« »Ach so, eine Ausreißerin?« unterbrach ihn die Frau. »Dann sollten die Eltern aber zur Polizei gehen. Und durchgebrannte Teenager nehmen wir in unsere Kartei gar nicht erst auf. Sonst würden wir uns viel zu viel Ärger einhandeln.« Im dritten Vermittlungsbüro war die Dame am Empfang zugänglicher, möglicherweise deshalb, weil ihr Justus’ Name etwas sagte. »Du bist doch Baby Fatso!« rief sie. Damit spielte sie auf Justus’ darstellerische Karriere während seiner Kinderjahre an. Jene Epoche als pummeliger Kinderstar beim Fernsehen hätte Justus am liebsten aus seinem Lebenslauf getilgt. Die bloße Erwähnung des Namens Baby Fatso versetzte ihn in Panik und trieb ihn vorübergehend zu wild entschlossener Kalorienreduzierung. Jetzt verzog er nur angewidert das Gesicht und holte ein Foto von Lucille Anderson aus der Tasche. Die Dame sah sich das Bild an und schüttelte den Kopf. »Ein Dutzendgesicht«, meinte sie. »Wer ist sie denn? Deine Schwester? Oder deine Freundin?« Statt einer Antwort gab Justus der jungen Frau eine Karte der drei ???. »Das Mädchen heißt Lucille Anderson«, erklärte er. »Ihre Eltern haben uns gebeten, bei der Suche nach Lucille mitzuhelfen. Sie ist vor zwei Monaten von zu Hause weggegangen.« »Da sind eure Erfolgsaussichten aber gar nicht gut«, war die Meinung der Empfangsdame. »Junge Ausreißer treiben sich hier in der Stadt zu Tausenden herum. Tja, wenn das Mädchen unbedingt ein Star werden will, gibt es immerhin eine Möglichkeit, die man ins Auge fassen sollte. Vielleicht hat sie sich inzwischen um einen Termin zum Vorsprechen oder Vorsingen für einen Auftritt in der Fernsehsendung Griff nach den Sternen bemüht. Das ist so ein Talentschuppen, in dem junge Amateure eine Chance für ihren ersten Auftritt bekommen.« Die Dame nannte den Jungen die Anschrift des Studios, in dem die Probeaufnahmen stattfanden. Die Jungen bedankten sich und mar29
schierten los. Als sie bei dem Fernsehstudio ankamen, standen die entdeckungsbedürftigen jungen Talente vor der Tür geduldig Schlange, bis zum Ende des Häuserblocks und noch um die Ecke in die Nebenstraße hinein. Justus gab einen Laut der Ungeduld von sich und strebte geradewegs dem Eingang zum Studio zu. Lautstarker Protest erhob sich aus der Schlange der Wartenden. Peter nahm Justus beim Arm. »Du, das ist hier nicht das Richtige! Wir könnten glatt den Rest unseres Lebens in dieser Schlange zubringen.« Justus ließ sich auf einer Bank bei einer Bushaltestelle nieder. »Irgendwie müßten wir es schaffen, an die Macher direkt ranzukommen«, stellte er nachdenklich fest. Und plötzlich hellte sich seine Miene auf. »Ich hab’s! Wir versenden unsere Fahndung mit der Post! Ähnlich hatte es sich ja auch Mr. Anderson in Rocky Beach gedacht. Wir werden uns allerdings an die Vermittlungsagenturen für Nachwuchs wenden. Wir lassen Lucilles Personenbeschreibung und ein oder zwei Fotos in einer Schnelldruckerei kopieren, und dieses Blatt erhält dann jeder Agent und jedes Studio hier in der Stadt. Jeder, der Lucille begegnet ist, soll uns in der Zentrale in Rocky Beach anrufen.« Gespannt sah er Bob und Peter an. »Richtig professionell«, meinte er, »und ganz einfach. Und im übrigen diskret.« »Ich find’s gut«, meinte Bob. »Ich find’ alles gut, was uns dieses Herumlatschen in Hollywood erspart«, kommentierte Peter. »Und das ewige Anquatschen von Leuten, die überhaupt nicht mit uns reden wollen.« Während der Rückfahrt nach Rocky Beach im Bus waren die Jungen wieder ganz guter Dinge. Auf dem Schrottplatz stellte sich heraus, daß Kenneths Bruder Patrick vorübergehend Alleinherrscher im Betrieb war. Das Ehepaar Jonas war mit Kenneth nach Ventura gefahren, wo ein ganzer Häuserblock vor dem Abbruch stand. Das war stets eine günstige Bezugsquelle für Altmaterial und Trödel. »Justus, deine Tante hat’s nicht mehr in den Supermarkt geschafft, 30
also der Kühlschrank ist leer«, teilte Patrick mit. »Sie sagte, wenn ihr Hunger habt, könnt ihr Geld aus der Teekanne im Küchenregal nehmen und irgendwohin essen gehen, Pizza oder so.« »Gute Idee«, fand Peter. »Machen wir!« Auch Bob war angetan. »Ich hab’ zu Hause schon vorgebaut, daß es vielleicht später wird.« »Schön«, sagte Justus. »Beim Essen können wir schon mal den Entwurf für unsere Suchmeldung machen. Oder mindestens die Aufmachung besprechen. Gehen wir in den Pizza Shack?« Bob und Peter waren einverstanden. Die Fahrt mit dem Rad dauerte nur wenige Minuten. Das Lokal »Pizza Shack« an der Küstenstraße von Rocky Beach war besonders bei der Jugend beliebt, und hierher kamen überwiegend Teenager, um Pizza zu essen, Videospiele zu machen, Musik zu hören und Freunde zu treffen. Als die drei Jungen an diesem Tag dort ankamen, hatte sich mindestens ein Dutzend Jungen und Mädchen um ein Videogerät geschart. Sie schauten einem Spieler zu und feuerten ihn begeistert an. Dieser stellte sich als ein Mädchen mit dichtem, kunstvoll hochgestecktem dunklem Haar heraus. Fasziniert wippte sie vor und zurück, während sie die Joysticks betätigte. Bob, Peter und Justus bestellten sich am Tresen eine große Pizza mit Peperoni und setzten sich dann an einen Tisch. Gerade brach die Gruppe beim Videospiel wieder in lauten Jubel aus. »Das Mädchen muß wohl ganz gut sein«, bemerkte Bob. Doch gleich darauf war das Spiel zu Ende. Die Zuschauer lachten, und das junge Mädchen verließ das Gerät. Auch sie lachte. Die anderen machten Platz, um sie vorbeizulassen. Sie ging schräg durch den Raum auf die Tür zu, und dabei konnten die drei Jungen sehen, daß ihr langer Rock den Fußboden streifte. Ihre altmodische Rüschenbluse schmückte eine zierliche Ansteckuhr. Außerdem trug sie lange, baumelnde Ohrgehänge. Mit ihrem feinen Gesicht, den anmutigen, etwas gezierten Bewegungen, dem hochgesteckten Haar und der altmodischen Kleidung glich sie einer wohlerzogenen 31
höheren Tochter aus dem vorigen Jahrhundert. Sie lächelte den drei ??? rasch zu und trat dann ins Freie. »Wozu hat die sich denn so aufgetakelt?« Bob schüttelte den Kopf. »Sie sah ja aus, als sei sie geradewegs von der Theaterbühne hierhergekommen.«
Schon wieder eine film- oder bühnenreife Maskerade, zum Glück weder grauenvoll noch grotesk anzusehen. Schwappt die Welle von Hollywood nun nach Rocky Beach über, oder ist diese junge Dame eine Ausnahmeerscheinung?
Eine mollige Frau kam mit einem Tablett aus der Küche. Sie stellte eine große Pizza mitten auf den Tisch der drei Jungen und ging nochmals nach hinten, um die Getränke zu holen. Justus machte sich daran, eine Ecke Pizza für sich herauszuschneiden. Plötzlich hielt er mitten in der Bewegung inne, und das abgeschnittene Stück plumpste zurück in den See aus Tomaten und Käse. »Das war sie ja!« rief er laut. »Sie?« wiederholte Peter. »Sie war das! Lucille Anderson! Bestimmt!« Justus sprang auf, raste zur Tür, riß sie auf und stürzte hinaus auf den Parkplatz vor der Pizzeria. Er blickte sich nach allen Seiten um und spähte auch über die Straße weg. Autos fuhren vorüber, und auf der anderen Straßenseite sah er einige Fußgänger. Aber das Mädchen mit den altmodischen Kleidern war verschwunden.
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Eine neue Spur »Alles mal herhören!« rief Justus laut. »Es geht uni was Wichtiges!« Der Erste Detektiv stand wieder im »Pizza Shack« und versuchte, die Jungen und Mädchen an den Videogeräten auf sich aufmerksam zu machen. Er reckte sich, um größer zu erscheinen, und machte ein sehr ernstes Gesicht. Die Angesprochenen unterbrachen ihre Spiele und drehten sich überrascht zu Justus herum. Selbst die Kellnerin, die gerade in die Küche wollte, blieb stehen. »Wir sind auf der Suche nach dem Mädchen, das gerade weggegangen ist«, erklärte Justus. Die jugendlichen Gäste sahen einander an. Plötzlich war unter ihnen Unbehagen aufgekommen, und sie wurden mißtrauisch. »Was is’n los?« fragte schließlich ein Junge. Justus zog ein paar Fotos von Lucille Anderson aus der Tasche und reichte sie herum. »Diese Fotos bekamen wir von Lucille Andersons Eltern«, sagte er. »Sie haben uns gebeten, bei der Suche nach ihrer Tochter mitzuhelfen. Sie ist aus Fresno, und seit zwei Monaten wird sie zu Hause vermißt.« »Die heißt aber nicht Anderson«, meldete sich ein Junge. »Und auch nicht Lucille.« »Vielleicht benutzt sie hier einen anderen Namen.« »Ihr drei habt euch wohl zu viele Spionagefilme angesehen«, meinte eines der Mädchen. Peter wehrte unwillig ab. »Ach wo! Hört mal, die Mutter macht sich fast verrückt vor Sorge. Wie wäre das denn mit deiner Mutter, wenn du einfach . . . einfach eines Tages nicht mehr nach Hause kämst?« Die anderen sahen betreten drein. Dann stieß ein Mädchen hervor: »Die ist aber nicht ausgerissen. Die wohnt ja hier in der Gegend.« »Weißt du das sicher?« fragte Bob. »Kennst du sie schon lange?« »’ne ganze Weile«, war die Antwort. »Länger als zwei Monate?« Nun hatten Justus und seine Freunde die anderen in die Defensive gedrängt. Es blieb still in der Gruppe. 33
»Sie kommt doch jedesmal in einem anderen abenteuerlichen Aufzug daher, stimmt’s?« Justus ließ nicht locker. »Und die Haare färbt sie auch immer wieder um.« Im »Pizza Shack« herrschte Schweigen. Die Jungen und Mädchen vor den Videospielen wechselten stumme Blicke und hatten sich sichtlich verschworen, nichts mehr zu sagen. Wer waren denn überhaupt diese drei Typen? In diesem Augenblick fuhr draußen ein dunkelroter Audi vor, und ein grauhaariger Mann betrat das Lokal. »Was ist’s denn so ruhig heute?« fragte der Mann. »Irgendwas nicht in Ordnung?« »Alles klar, Mr. Sears«, antwortete die Kellnerin. »Der Junge hier ist auf der Suche nach seiner Freundin.« Mr. Sears knurrte etwas und ging hinter den Tresen. Er war anscheinend der Geschäftsführer des »Pizza Shack«, denn er öffnete die Registrierkasse und machte sich daran, die Einnahmen zu zählen. Schließlich rückte eines der Mädchen doch etwas heraus. »Also die, die vorhin wegging, wohnt da drüben . . .« Sie wies zur Tür und dann nach rechts. »Immer die Küstenstraße lang und dann ab zum Cheshire Square. Das ist die neue Wohnanlage, wo alles auf alt gemacht ist. Sie heißt Arianne.« »Und weiter?« fragte Bob. »Ardis. Arianne Ardis.« Justus stieß verächtlich die Luft durch die Nase aus. »Und das nimmst du ihr ab?« »Warum auch nicht?« stellte ein Junge die Gegenfrage. »Und wenn die Arianne zu Hause ausgerissen ist, warum hat sie das wohl gemacht? Ohne Grund läuft man ja nicht weg. Wahrscheinlich hat ihre alte Dame ständig rumgemotzt, oder . . .« »Sie möchte zum Film und berühmt werden«, unterbrach ihn Peter. »Das war der Grund fürs Weglaufen, Mit Rummotzen und so lief da nichts. Nicht daß wir wüßten.« »Na schön«, lenkte der Junge ein. »Wenn wir sie wieder treffen, sagen wir ihr, daß ihr sie sucht. Recht so?« 34
Justus zögerte. Dann zog er eine Karte der drei ??? heraus und schrieb die Telefonnummer des Anschlusses in der Zentrale darauf. »Sie soll doch bitte anrufen«, sagte er und gab dem Jungen die Karte. Der Junge las den Aufdruck und grinste. »Nachwuchsdetektive, na so was . . .« Er steckte die Karte in die Hosentasche. »Gut, Kleiner, wir werden’s ihr ausrichten.« Justus dankte ihm und machte sich dann endlich über seine Pizza her. Die Kellnerin ging in die Küche, gefolgt vorn Geschäftsführer, und die jungen Stammgäste nahmen wieder die Videogeräte in Beschlag. Bob näherte seinen Mund Justus’ Ohr. »Bildest du dir tatsächlich ein, daß das Mädchen uns irgendwann anruft?« »Nee . . .« Justus mußte erst einmal einen Happen kalter Pizza hinunterschlucken. »Aber wir brauchen ja nicht dazusitzen und Däumchen zu drehen, oder? Wenn sie in dieser Anlage Cheshire Square wohnt, werden wir sie dort auch finden. Nun eßt mal schön eure Teller leer. Der Nachmittag kann lang und anstrengend werden.« Die Wohnanlage Cheshire Square erinnerte äußerlich an die gute alte Zeit, doch die Häuser waren Neubauten und erst knapp ein Jahr alt. Die kleine Siedlung war auf einem Felsmassiv mit Blick auf den Pazifik angelegt. Farbig gestrichene Holzfassaden, blanke Messingbeschläge, saftiges Rasengrün und bunte Blumenrabatten boten einen wohltuenden Anblick. Der Architekt des Projekts Cheshire Square hatte einerseits einen visionären Blick in die Zukunft und andererseits viel Humor bewiesen. In einem Presseinterview hatte er bekannt, er wolle die Archäologen kommender Zeitalter an der Nase herumführen. »Eines fernen Tages graben sie ein Haus aus dem ausgehenden neunzehnten Jahrhundert aus«, hatte er prophezeit, »und finden es vollgepackt mit Einbauten und Installationen moderner Spitzentechnologie, die erst ein Jahrhundert später erfunden wurden. Das dürfte den Herrschaften einige Rätsel aufgeben!« Also schmückten sich die von ihm erbauten Häuser mit Spitzgie35
beln und Türmchen und reich geschnitzten hölzernen Loggien und Balkonbrüstungen, wie sie für die Architektur der viktorianischen Zeit charakteristisch waren, jedoch mit großzügigen Veranden oder Freisitzen, ausgebauten Mansarden und funktionell eingerichteten Untergeschoßräumen. Gepflegte Ziergärten mit geometrisch gestalteten Rabatten und Rasenflächen umgaben die Häuser, und zur Straße hin grenzten verschnörkelte schmiedeeiserne Zäune die Grundstücke ab. Im Zentrum der Anlage gab es einen kleinen Park mit einem altmodischen Musikpavillon. Diesen Pavillon sahen die Jungen von einem kleinen Wachhaus an der Zufahrt aus, wo ein uniformierter Pförtner alle Besucher empfing und befragte. »Hier gibt’s keine Lucille Anderson«, sagte der Mann. »Aber vielleicht eine Arianne Ardis?« hakte Justus nach. Der Pförtner verzog keine Miene. »Eine Bekannte von euch?« »Ja, natürlich«, erwiderte Justus. »Eure Namen?« »Justus Jonas«, sagte Justus, »Bob Andrews und Peter Shaw. Wir sind Freunde von Mr. Charles Anderson und seiner Frau aus Fresno, und wir sollen Arianne eine wichtige Nachricht überbringen.« Der Pförtner griff zögernd nach dem Telefonhörer. »Rufen Sie bitte an und melden Sie uns an«, bat Justus. »Sie wird sich bestimmt freuen. Freunde des Ehepaars Anderson. Bitte richten Sie ihr das aus.« Aber der Mann hörte mittlerweile nicht mehr zu. Auf der Straße vor der Zufahrt zur Wohnanlage war eine Polizeisirene zu hören. Ein Streifenwagen näherte sich in schneller Fahrt. Die Jungen drehten sich um und blickten die Straße entlang, die Cheshire Square mit der Küstenstraße verband. Gerade bog ein Streifenwagen von der Polizeidirektion Rocky Beach so schnell von der Küstenstraße ab, daß er fast ins Schleudern geriet. Dann hielt das Polizeiauto mit hoher Geschwindigkeit auf das Pförtnerhaus zu. Da drang aus einem der Häuser ein Schrei herüber, hoch und schrill, voller Zorn und Furcht. 36
»Vorsicht, da kommt einer!« schrie Bob. Der Pförtner war gerade aus seinem kleinen Haus getreten- Nun stand er einem Mann, der aus einem der viktorianischen Häuser gelaufen kam, unmittelbar im Weg. Mit gesenktem Kopf raste der Mann heran. Die drei ??? sahen nur dunkles Haar und einen dunklen Pullover. Als der Pförtner ihn aufzuhalten versuchte, hob der Flüchtende den Kopf, und die Jungen sahen, daß er sich eine Strumpfmaske übergezogen hatte, die seine Gesichtszüge verzerrte und plattdrückte. Der Pförtner versuchte, den anderen bei den Beinen zu fassen, aber dieser riß sich los und versetzte seinem Angreifer einen heftigen Stoß. Der Pförtner ging zu Boden und krümmte sich auf dem Asphalt vor Schmerzen. Justus und Bob eilten ihm zu Hilfe. Peter hechtete los und versuchte, sich dem maskierten Mann entgegenzustellen und seine Flucht zu vereiteln. Doch wieder holte der Amokläufer mit der Faust aus. Peter spürte seine Zähne gegeneinanderschlagen, als ihn der Hieb mit voller Wucht am Kinn traf. Peter taumelte zurück und wurde hart aufs Gesäß geschleudert. Die dunkle Gestalt lief auf die dichte Hecke zu, die die Wohnanlage von der Straße abschirmte, und sprang geduckt die hohe Böschung hinab. Und im nächsten Augenblick war er verschwunden!
Böse Überraschung Inzwischen war ein Streifenwagen vorgefahren. Zwei Polizisten sprangen heraus und liefen in großen Sprüngen den Abhang hinunter, dem flüchtenden Mann hinterher. Gleich darauf tauchte noch ein zweites Polizeifahrzeug auf, und zwei weitere Beamte stiegen aus. Der eine half dem Pförtner wieder auf die Beine, und der andere 37
beugte sich über Peter, der ebenfalls noch am Boden lag und vorsichtig sein Kinn befühlte. »Geht’s wieder?« fragte der Polizist. »Kannst du aufstehen? Wir bringen dich zur Ambulanz ins Krankenhaus.« »Nicht nötig, ist schon gut«, sagte Peter. »Die Zähne sitzen zum Glück alle noch fest.« Peter stand auf und lehnte sich noch einen Augenblick an das Pförtnerhaus. Dann sah er das altmodisch gekleidete Mädchen mit dem langen Rock und der Rüschenbluse. Sie redete in heller Aufregung mit dem Polizisten, der Peter seine Hilfe angeboten hatte. »Der ist ins Haus eingebrochen!« rief sie. »Bestimmt! Wie hätte er sonst hereinkommen können? Ich kam von draußen und ging die Treppe hinauf und war oben auf dem Flur, und da merkte ich, daß ich nicht allein war.« Das Gesicht des Mädchens war kalkweiß, und sie zitterte. Der Pförtner humpelte zu seinem Haus und stellte ihr seinen Stuhl hin, damit sie sich setzen konnte. »Welches Haus ist es?« erkundigte sich der Beamte. »Wo ist Ihre Wohnung?« Das Mädchen deutete auf die kleine Parkanlage hinter ihr. Dann schüttelte sie den Kopf und brach unvermittelt in Tränen aus. »Es ist das Haus von Mrs. Fowler«, erklärte der Pförtner. »Gleich hinter dem Park. Nummer vierzehn.« Der Polizist nickte, und zusammen mit seinem Kollegen setzte er sich wieder ins Auto und fuhr die schmale Anliegerstraße entlang. Das Mädchen im langen Rock blieb sitzen. Justus und seine Freunde sahen sie sich genau an. Ihr Gesicht war schmaler als jenes auf den Fotos der Andersons, aber die Augen waren braungrün. War das nun Lucille Anderson? Oder sah dieses Mädchen ihr nur ähnlich und hatte eine ähnliche Vorliebe für Maskeraden? Nach kurzer Zeit kehrte der Streifenwagen zur Einfahrt der Wohnanlage zurück, und auch die beiden Polizisten, die am Fuß der Böschung nach dem Einbrecher gesucht hatten, kamen erhitzt und ent38
täuscht wieder an. Der Beamte, der schon zuvor mit dem Mädchen gesprochen hatte, trat nochmals zu ihr hin. »Geht es Ihnen wieder soweit gut, daß Sie uns behilflich sein können?« fragte er. »Können Sie mit uns ins Haus gehen und feststellen, ob irgend etwas fehlt?« Sie nickte und stand auf Doch sie mußte sich ganz schnell wieder hinsetzen. »Sachte«, meinte der Beamte. »Lassen Sie sich Zeit.« »Als ich den Mann hörte«, fing sie an, »war ich auf dem Flur, und er war irgendwo hinter mir, aber nicht auf dem Flur. Er war in einem der Schlafzimmer, und um wieder zur Treppe zu kommen, hätte ich an dieser Tür vorübergehen müssen. Das . . . das packte ich einfach nicht . . .« Sie brach ab, und die Jungen konnten sich ihr Entsetzen vorstellen, als sie erkennen mußte, daß ein Eindringling sich zwischen sie und die Freiheit gedrängt hatte. Sie räusperte sich und fuhr fort: »Ich ging in Mrs. Fowlers Schlafzimmer und zog die Tür hinter mir zu, als hätte ich gar nichts bemerkt. Leise stellte ich einen Stuhl mit der Lehne unter die Türklinke und drehte das Radio an, und dann rief ich vom Telefon beim Bett aus die Polizei an.« »Gut gemacht«, lobte der Polizist. »Sie sind eine mutige und geistesgegenwärtige junge Dame. Und was tat sich dann?« »Gar nichts . . . Das heißt, ich wartete eben auf die Polizei. Aber als ich dann unten auf der Straße die Sirenen hörte und danach mitbekam, wie der Einbrecher die Treppe hinunterpolterte, da war ich mit einem Mal ganz schrecklich wütend! Ich ertrug das nicht, daß er sich nach alledem einfach absetzte, und da lief ich eben auch los, ihm hinterher!« Der Polizist wiegte mißbilligend den Kopf. »Das war ja nun nicht gerade das Vernünftigste. Zum Glück hatte er nur seine Flucht im Kopf.« Das Mädchen stand auf. »So, jetzt ist wieder alles in Ordnung«, sagte sie. »Wir können ins Haus gehen.« 39
Den Pförtner allerdings befriedigte das nicht. »Es sollte aber jemand hier bei Ihnen bleiben«, schlug er vor. »Rufen Sie doch Ihre Freunde an.« Sie schüttelte den Kopf. »Meine Freunde sind . . . die wohnen alle nicht hier in der Stadt.« Da trat Justus vor. »Wir könnten deine Mutter anrufen, Lucille«, regte er behutsam an. Sie zuckte zusammen. Dann wandte sie sich mit eisiger Miene an Justus. »Lucille? Ich heiße nicht Lucille«, entgegnete sie. »Ich bin Arianne.« »Laß sie doch in Ruhe!« fuhr der Pförtner Justus an. »Du siehst doch, daß sie einen Schock abbekommen hat!« Das Mädchen stieg in das Polizeiauto und wurde in die Siedlung gefahren. Inzwischen nahm ein anderer Beamter die Namen und Adressen der drei ??? und ihre Beobachtungen auf. Letztere waren wohl nicht sehr hilfreich. Der flüchtende Mann war dunkelhaarig und von mittlerer Größe gewesen und hatte dunkle Kleidung getragen. Das war auch schon alles, was sie sicher wußten. Schließlich fuhr der zweite Streifenwagen weg. Der Pförtner sah sich die Schwellung an, die sich an Peters Unterkiefer gebildet hatte, und schüttelte den Kopf. »Was sich heutzutage für kriminelles Gelichter herumtreibt . . .« sagte er. »Gar nicht gut für ein so junges Mädchen, in dem großen Haus ganz allein zu wohnen. Jetzt ist es doch prompt zu einem Einbruch gekommen.« »Was ist denn mit den Leuten, denen das Haus gehört?« fragte Bob. »Wer sind die denn?« »Mrs. Fowler ist in Europa«, berichtete der Mann. »Vor ein paar Tagen ist sie abgereist. Arianne wohnt schon seit mehreren Wochen im Haus. Mrs. Fowler ist eine wirklich nette Dame. Sie nimmt hin und wieder junge Leute als Hausgäste auf, wenn es bei denen mit dem selbständigen Wirtschaften noch nicht so klappen will. Sie stellt ihnen ein hübsches Zimmer zur Verfügung und verpflegt sie und sorgt dafür, daß sie irgendwo unter Aufsicht sind. Arianne hat in der Stadt einen Teilzeitjob. Hier in Cheshire Square hilft sie Mrs. Fowler und 40
der Haushälterin beider Hausarbeit. Die Haushälterin mußte allerdings gestern überstürzt zu ihren Angehörigen reisen, wegen eines Notfalls.« Er hielt inne und musterte die Jungen mit prüfendem Blick. »Und ihr meint, ihr habt da eine Bekannte getroffen?« Justus zeigte dem Mann die Fotos von Lucille. »Die Bilder haben wir von Lucille Andersons Eltern. Na, was meinen Sie?« Der Pförtner nahm sich die Fotos einzeln vor. Seiner Miene war nichts anzumerken, aber als er durch war, sagte er nur: »Ich habe selbst eine Tochter in diesem Alter.« »Wenn es um Ihre Tochter ginge«, meinte Justus, »wäre es Ihnen da nicht wichtig zu wissen, daß mit ihr alles in Ordnung ist?« Der Mann nickte. »Ich werd’ mit ihr reden und sie fragen, ob sie euch sprechen will. Vielleicht ist sie ja tatsächlich die vermißte Tochter, die ihr sucht. Nur ist der Zeitpunkt nicht gerade günstig, nach all der Aufregung und wo jetzt die Polizei hier ist.« »Dann schlage ich vor, wir kommen morgen früh nochmals her«, sagte Justus. »Schön. Ich werde inzwischen mit Arianne reden, vielleicht kann ich sie dazu bringen, daß sie morgen im Haus bleibt oder wenigstens erst dann zur Arbeit geht, nachdem ihr hier wart.« Was meint ihr? Ist diese Arianne die gesuchte Lucille Anderson, oder ist sie es nicht? Prüft nochmals die Reaktion des Mädchens auf Justus’ »Testfrage«. Zu Lucille würde es im übrigen gut passen, sich eine Wohnmöglichkeit in einer Siedlung zu suchen, an der auch so vieles Fassade und Vortäuschung ist. Einbruchsicher ist Cheshire Square jedoch trotz des Pförtners nicht . . . Der Täter hätte dein Mädchen gefährlich werden können, auch wenn er, wie wir annehmen können, auf irgendwelche Wertobjekte der verreisten Hauseigentümerin aus war.
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Am nächsten Tag ging Justus allein zum Cheshire Square. Die drei ??? hatten beschlossen, daß nur einer von ihnen das Mädchen im Haus von Mrs. Fowler besuchen sollte. »Es soll ja nicht so aussehen, als wollten wir Druck auf sie ausüben«, hatte Bob vorgebracht. »Und drei gegen einen, das würde doch ziemlich nach Einschüchterung aussehen.« Der Pförtner im Wachhaus wartete schon. »Ich hab’ ihr nichts davon erzählt, daß ihre Eltern sie suchen«, klärte er Justus auf. »Das muß sie sich inzwischen schon selbst klargemacht haben. Ich sagte Arianne nur, es ginge euch drei darum, daß mit ihr alles wieder in Ordnung sei. Sie ist mit deinem Besuch einverstanden.« Der Mann zeigte Justus das Fowlersche Haus. »Das große da drüben, hinter dem Park.« Justus bedankte sich und trat durch das Tor ein. Er ging zum Haus Nummer 14, einem zweistöckigen Gebäude mit Türmchen auf dem Dach und verschnörkeltem Schnitzwerk an den Klappläden und Balkonbrüstungen. Noch ehe er ganz heran war, öffnete das Mädchen, das sich Arianne nannte, die Eingangstür und trat auf die Terrasse heraus. »Hallo!« begrüßte sie ihn. »Ich hab’ schon nach dir Ausschau gehalten.« Der Erste Detektiv streckte ihr seine Rechte hin und stellte sich vor. »Justus Jonas.« Sichtlich verlegen drückte ihm das Mädchen kurz die Hand. Dann gingen sie ins Haus. Justus kam sich vor, als sei er mit einem Mal in ein anderes Zeitalter eingetreten. Die Eingangshalle war ungewöhnlich hoch, und eine breite Treppe führte zu einer Galerie im Obergeschoß. Überall standen Palmen und Farne in großen Töpfen, und alle Wände waren dunkel getäfelt und mit Ölgemälden in vergoldeten Rahmen geschmückt. Ein Bodenbelag aus dickem rotem Plüsch dämpfte jeden Schritt. »Schrecklich, was?« meinte das Mädchen zu Justus. »Komm mit in die Küche, da ist es netter.« Justus ging hinter ihr an der breiten Treppe vorbei. Durch einen Vorratsraum kamen sie in eine große, sonnige Küche. Auf einem 42
Herd scheinbar alter Bauart, doch mit allen elektrischen Raffinessen, stand ein Wasserkessel, der gerade zu pfeifen begann. Das Mädchen bot Justus Platz an dem runden Tisch zwischen zwei Fenstern an. Sie goß sich selbst Tee und ihrem Gast Ginger Ale ein, und Justus saß ruhig da und betrachtete sie. Heute trug sie ein Kleid, ebenfalls bodenlang und mit Rüschen besetzt. Das lange Haar hatte sie aus dem hübschen, schmalen Gesicht mit dem eigenwilligen kleinen Kinn gekämmt und im Nacken mit einem Band zusammengefaßt. Wiederum fühlte sich Justus bei ihrem Anblick um ein Jahrhundert zurückversetzt. Er sagte sich, daß sie wohl bewußt ihre Erscheinung der nostalgischen Atmosphäre des Hauses anglich. »Ist doch schön, daß du hier bei Mrs. Fowler wohnen kannst«, fing Justus an. »O ja«, bestätigte das Mädchen. »Mrs. Fowler ist unheimlich nett zu mir.« »Wie hast du sie kennengelernt?« wollte Justus wissen. »Na, ich arbeite in einem Friseur- und Kosmetiksalon in der Innenstadt. Der Job ist simpel, ich muß hauptsächlich nach dem Haareschneiden den Fußboden kehren. Aber andere Schauspielerinnen haben es oft noch schlechter getroffen, ehe der große Durchbruch kam. Mrs. Fowler ist im Salon Stammkundin, und so kamen wir ins Gespräch. Vor einigen Wochen erzählte sie mir, sie wolle eine Reise nach Europa machen, und ihre Haushälterin sei so ungern allein im Haus, und ob ich nicht eine Zeitlang gegen ein wenig Mithilfe im Haushalt bei ihr wohnen wolle. Das kam mir sehr gelegen.« »Klar.« Justus nickte. »Da konntest du die Arbeitszeit im Salon verkürzen und dich dafür mehr um deine Zukunft als Schauspielerin kümmern. Und du hattest ein sicheres Zuhause.« Das Mädchen blickte Justus anerkennend an. Sie kam sich vor, als habe er ihre Gedanken gelesen. »Larry Evans sagte mir, du hättest dich ganz besorgt erkundigt, wie es mir geht«, begann sie ein anderes Thema. »Larry Evans? Ist das der Pförtner vorn an der Einfahrt?« »Ja.« Sie wirkte nun sehr zurückhaltend, als wolle sie sich um keinen Preis 43
Weiteres entlocken lassen, ehe sie über Justus und darüber, was er wußte, Klarheit gewonnen hatte. Justus hatte das Foto eingesteckt, das Lucille als siegreiche »Miss Teen Fresno« präsentierte. Er holte es hervor und legte es vor Lucille hin auf den Tisch. Erst sagte sie gar nichts. Dann wandte sie sich ab und sah zum Fenster hinaus. »Lucille«, fing Justus an. »Das hab’ ich von . . .« »Wieso nennst du mich denn immerzu so?«fiel sie ihm verärgert ins Wort. »Ich heiße Arianne! Arianne Ardis!« »Das hört sich für mich irgendwie unecht an. Wie ein Künstlername«, stellte Justus fest. »Und wenn schon! Was geht denn dich das an?« rief das Mädchen aufgebracht. »Wer bist du überhaupt?« »Deine Eltern haben bei mir und meinen Freunden einen Besuch gemacht«, erklärte Justus. Dann berichtete er Lucille von der Fahndung, die eine verlorengegangene Plastiktasche bei den drei ??? ausgelöst hatte, und von der Spur, die nach Fresno führte. »Deine Eltern sind die Nacht durchgefahren, um mit uns zu reden. Und deine Mutter hat geweint.« »Dabei hab’ ich ihnen deutlich gesagt, daß es mir gutgeht!« verteidigte sich das Mädchen. Vorübergehend war Justus erleichtert. Nun hatte sie es ja endlich zugegeben! Zum ersten Mal bestätigte sie, daß sie tatsächlich Lucille Anderson war. »Vielleicht solltest du dich bei deinen Eltern regelmäßig melden, dann würden sie dir vielleicht sogar glauben, daß mit dir hier alles in Ordnung ist«, versuchte es Justus nochmals. »Die würden mich doch nur löchern, ich soll nach Hause kommen!« hielt ihm Lucille trotzig entgegen. »Mag sein, aber jetzt befürchten sie jedenfalls, daß du in alle möglichen üblen Sachen reingeraten könntest. Ein Anruf von dir . . .« »Ja, ja, nun reg dich wieder ab.« Sie stand so abrupt auf, daß sie ihre Teetasse umstieß. Beim Spül44
becken gab es ein Telefon, einen Wandapparat. Sie ging hin und drückte energisch eine Tastenfolge. Justus lehnte sich auf seinem Stuhl zurück. Er hatte es geschafft! »Hallo?« sagte Lucille nach längerer Wartezeit. »Hallo, Mom . . . Ja, wirklich, mir geht’s gut. Ja. Gerade ist dieser Junge hier bei mir, der Dicke. Und ich . . .« Es gab eine Pause. Dann legte Lucille empört los: »Oh, Mom, verdammt noch mal, ich will aber nicht! Mir geht’s prächtig! Der Junge meinte nur, ich solle . . .« Lucille mußte sich anscheinend eine Standpauke anhören. Plötzlich wurde sie ganz starr vor Zorn und Ärger. »Hab’ ich mich etwa nicht klar ausgedrückt? Ich mach’ das nicht!« schrie sie. »Mit mir ist alles o.k., und ich habe Arbeit und eine schöne Unterkunft. Ich werde jetzt eine Schule besuchen und . . .« Wieder eine Pause. Dann sagte Lucille ironisch: »Natürlich eine Schauspielschule, Mom. Was dachtest du denn? Mit Algebra lasse ich mich nicht mehr vollstopfen!« Nun hörte sogar Justus die hohe, sich überschlagende Stimme aus dem Telefonhörer. »Was soll das heißen, ich ruiniere Dads Leben? Ich laß mir keine Schuldgefühle unterjubeln«, fauchte Lucille böse. »Ich hab’s doch gewußt, ein Anruf bei euch bringt überhaupt nichts. Nichts als Ärger!« Sie knallte den Hörer auf die Gabel. »Hätt’ ich mir ja denken können!« stieß sie wütend hervor. »Aber da höre ich auf einen hergelaufenen Besserwisser . . . Zu Hause bei Mutter? Weißt du, was das bedeuten würde? Noch ein ganzes Jahr Schule, und dann eine Ehe mit irgendeinem Spießer!« Dem hatte selbst Justus Jonas, der Erste Detektiv, nichts entgegenzusetzen.
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Draculas Rückkehr An jenem Abend trafen die Andersons kurz vor Einbruch der Dunkelheit in Rocky Beach ein. Justus, Bob und Peter waren von Tante Mathilda zur Mithilfe auf dem Schrottplatz abkommandiert worden. Sie waren noch mitten in der Arbeit, als der Wagen aus Fresno durchs Tor gefahren kam. Gleich nach seiner Rückkehr hatte Justus von der Zentrale aus Lucilles Eltern angerufen. Er hatte ihnen den Namen, den sich das Mädchen zugelegt hatte, und die neue Adresse genannt, und er hatte ihnen ausführlich von seinem Besuch in Cheshire Square berichtet. Was wollten sie nun eigentlich hier in Rocky Beach? »Verflixt!« Peter stöhnte. »Das hat mir gerade noch gefehlt. Da sollte man sich glatt absetzen . . .« Der Wagen hielt vor dem Büro, und Mrs. Anderson stieg aus. »Ihr habt Lucille gefunden!« rief sie mit einem Lächeln. Ihre Augen waren allerdings rot vom Weinen. »Ja, Madam«, bestätigte Justus. »Wie ich schon am Telefon sagte, ist uns das geglückt.« Mrs. Anderson nahm Peter aufs Korn. Am Unterkiefer hatte der Zweite Detektiv jetzt eine violett verfärbte Schwellung. »Wenn nur dein Bluterguß nichts mit unserem kleinen Mädchen zu tun hat . . .« meinte sie. »Sie hat doch wohl keinen Umgang mit irgendwelchen Schlägertypen?« »Nein, Madam«, beantwortete Peter die Frage. Inzwischen war auch Mr. Anderson aus dem Wagen gestiegen. »Hoffentlich ist Lucille bei uns bald wieder gut aufgehoben, an dem Ort, wo sie hingehört.« Er sah völlig erschöpft aus. »Es überrascht mich, daß Sie nicht direkt zum Cheshire Square gefahren sind«, bemerkte Justus. »Stimmt irgend etwas nicht?« »Ach, weißt du . . .« Mrs. Anderson lächelte krampfhaft. »Wir würden euch Jungen gern mitnehmen. Unser Besuch wird Lucille sicher nicht sehr gelegen kommen, und ihr macht einen so netten Ein 46
druck, und wenn ihr dabei seid, dann hält sie sich vielleicht eher zurück und legt nicht so impulsiv los . . .« Justus erkannte plötzlich, daß das Ehepaar Anderson sich vor der eigenen Tochter fürchtete. Wäre er diesen Leuten doch nie begegnet! Peter versuchte sich unauffällig zu verdrücken. Bob begann demonstrativ an einem Werkstück herumzubasteln. Aber es lief dann doch darauf hinaus, daß alle drei Jungen zu den Andersons ins Auto stiegen. Gemeinsam fuhr man zum Cheshire Square. Als sie hinkamen, war Larry Evans nicht im Pförtnerhaus. Den Wachdienst versah ein anderer Mann. Befriedigt nahm er zur Kenntnis, daß die Eltern des Mädchens im Haus Fowler ihre Tochter besuchen wollten. »Sie können vielleicht drüben eingreifen«, meinte der Pförtner, dann gab er den Besuchern mit einer Handbewegung freie Fahrt durch das Tor. »Eingreifen? Was soll das heißen?« fragte Mrs. Anderson. Verunsichert blickte sie sich nochmals nach dem Mann im Pförtnerhaus um. »Um Himmels willen, was . . .« Weiter kam Mr. Anderson nicht. Starr blickte er auf das Haus auf der anderen Seite des kleinen Parks. Mindestens ein Dutzend Autos parkten davor. Es waren zumeist alte Klapperkisten. Manche waren wirklich nur noch ein Haufen verrostetes Blech, andere schmückten sich mit blinkenden, verchromten Auspuffrohren oder mit greller Bemalung in allen möglichen Farben. Und außer den Autos, die in der stilechten viktorianischen Atmosphäre von Cheshire Square seltsam fehl am Platze wirkten, gab es scharenweise Teenager. Blendendes Scheinwerferlicht erhellte die Szene, die an ein Affenhaus im Zoo erinnerte. Jungen und Mädchen schlenderten, standen und hockten überall herum. Ein Junge hatte das Dach des Fowlerschen Hauses erklommen. Da oben saß er, an einen Schornstein gelehnt, und warf den Tauben Popcorn herunter. Auch auf der Überdachung der Veranda kauerten ein paar Jungen. 47
Begeistert feuerten sie eine Gruppe an, die auf der Zufahrt zum Haus einen Breakdance-Wettstreit improvisiert hatte. Dazu hämmerte in voller Lautstärke pausenlos Musik, die zu einem einzigen Dröhnen, Stampfen und Jaulen verschwamm und den Erdboden erzittern ließ. »Lucille gibt anscheinend eine Party«, stellte Mrs. Anderson fest. »Party?« verwahrte sich Mr. Anderson dagegen. »Wahnsinn ist das!« Ein Parkplatz fand sich erst vier Häuser weiter. Auf dem Weg zum Fowlerschen Haus sahen Mr. und Mrs. Anderson, daß der Vorgarten völlig mit Beschlag belegt war. Auch auf der Terrasse seitlich am Haus wimmelte es von jungen Leuten. Justus, Bob und Peter erkannten einige Gäste aus dem »Pizza Shack« wieder. Die meisten tanzten zur Musik, sangen mit oder unterhielten sich brüllend und aßen matschige Pizza von Papptellern. Einige trugen Schmuck aus grellbunten Neonröhren. Ein Junge, dessen Kostüm überwiegend aus Sicherheitsnadeln zu bestehen schien, hatte sich eine lebende Schlange um den Hals gelegt. Ein anderer tanzte nicht; dafür kippte er mit Bedacht den Inhalt eines Zierfisch-Aquariums in das Schwimmbecken hinter der Terrasse. Mrs. Anderson stieg beherzt die Vortreppe hinauf und klingelte an der Haustür. Nichts rührte sich. Die Musik dröhnte einfach weiter. Ein Junge, der eine Papptonne mit Waschpulver schleppte, kam von hinten um eine Ecke. Er sah die Andersons und rief, zum Haus gewandt: »Hey, Baby, da kommt Besuch für dich!« Und dann kippte er den gesamten Inhalt der Tonne in den kleinen Springbrunnen auf dem Rasen des Vorgartens. Die Musik wummerte ohne Unterbrechung. Im Springbrunnen bildete sich ein gewaltiger Schaumberg, und dann lief die Brühe über und floß ins Gras ringsum. Der Wind riß unzählige große und kleine Flocken hoch und wehte sie durch die Luft. Bald zierten weiße Schaumkrönchen die nahen Hecken und Bäume. »Phantastisch . . .« sagte der Junge begeistert. Mr. Anderson ballte die Hände zu Fäusten und hämmerte gegen die 48
Haustür, wieder und wieder. Endlich ging die Tür auf Ein absonderlich anzuschauendes Geschöpf mit geisterbleichern Makeup und schwarzem Lippenstift zeigte sich. »Lucille!« rief Mrs. Anderson. »Bist du wahnsinnig geworden!« brüllte Mr. Anderson. »Dich sollte man . . .« Blitzschnell wollte Lucille die Tür wieder schließen, doch ihr Vater reagierte ebensoschnell und klemmte einen Fuß zwischen Tür und Rahmen. »Mädchen, wir sind es doch!« Mrs. Anderson breitete die Arme aus. Lucille stand einen Augenblick unschlüssig da, dann brach sie in Tränen aus und ließ es zu, daß ihre Mutter sie in die Arme schloß. Bald wies Mrs. Andersons weiße Bluse unübersehbare Spuren von Lucilles schwarzer Wimperntusche auf, doch die Mutter kümmerte das nicht. Mr. Anderson sagte: »Dem Himmel sei Dank!« und lehnte sich gegen den Türrahmen. Eine volle Minute lang wartete er, während seine Frau seine Tochter in den Armen hielt und Lucille hemmungslos schluchzte. Dann trat er ins Haus, suchte und fand die Stereoanlage und stellte sie ab. Die Stille war überwältigend. Binnen weniger Minuten kam die Party zu einem Ende. Auch die Tanzenden hatten nun mitbekommen, daß irgendwelche Eltern sich eingemischt hatten, und verdrückten sich. Bald darauf standen Lucille und ihre Eltern allein da, und nur noch die Pappteller mit kalten Pizzaresten und die überall am Boden verstreuten Kartoffelchips erinnerten an das wilde Treiben. Justus, Bob und Peter hatten sich bis ans Ende des Gartens zurückgezogen und wünschten sich weit, weit weg . . . Als Lucille erkannte, daß sich ihre Party aufgelöst hatte, hörte sie auf zu weinen und bekam dafür einen Wutanfall. »Ihr habt mir das kaputtgemacht! Genau wie ihr mein ganzes Leben ruiniert habt!« fauchte sie. »Ihr habt meine Party sabotiert, die Craig für mich aufgezogen hat! Wir wollten den Vertrag feiern und . . .« 49
»Vertrag!« rief Mr. Anderson, Böses ahnend. »Was soll das heißen, Vertrag?« »Mein Vertrag für Dracula, mon amour«, schleuderte ihm Lucille selbstbewußt entgegen. »Oh, Mom, Dad! Das wird eine ganz tolle Sache! Ich weiß, daß ihr euch um mich Sorgen gemacht habt und so, aber ihr seht doch jetzt, daß hier alles in Ordnung ist. Ich lerne auch fleißig, und ich kann sogar etwas sparen, aber der Film, das ist schon das Größte! Ich spiele nämlich die Vampir-Prinzessin!« Die Tränen waren versiegt. Lucilles Augen funkelten vor Mitteilungsdrang. »Also komm ich jetzt ganz groß raus, und es ist sehr lieb von euch beiden, daß ihr euch um mich sorgt, aber mir geht es prächtig. Ah, da kommt Mr. McLain! Craig! Craig McLain! Kommen Sie her, ich möchte Sie meinen Eltern vorstellen!« rief sie ins Haus. Zu den Eltern gewandt, fuhr sie fort: »Gleich als er mich zum ersten Mal sah, war ihm klar, daß ich die perfekte Besetzung für die Vampir-Prinzessin bin!«
Aha, die Filmkarriere für ein Nachwuchstalent zeichnet sich ab! Die Größenordnung der Party ließe allerdings eher vermuten, daß Lucille bereits auf einem Höhepunkt ihrer Laufbahn angelangt sein muß. Ist der Riesenrummel nicht ein wenig überzogen? Diesen Craig McLain solltet ihr besser gründlich aufs Korn nehmen.
Mr. McLain war offenbar der Mann, der im Haus gerade die Treppe herunterkam. »Guten Abend«, grüßte er. Rasch setzte er noch ein Lächeln hinzu. Mrs. Anderson war sprachlos, und Mr. Anderson gab ein Knurren von sich. 50
Mr. McLain war etwa dreißig Jahre alt und wirkte aalglatt. Alles an ihm war glatt: sein Gesicht, sein fahlblondes Haar. Letzteres war halblang, modisch geschnitten und bedeckte die Ohren. Die beigefarbene Gabardinehose saß tadellos und hatte scharfe Bügelfalten, und das seidene Jackett wies nicht die geringste Falte auf. »Ariannes Mutter!« sagte er. Auch seine Stimme klang wie glattgebügelt. »Sie sehen fabelhaft aus, gnädige Frau. Wie Ariannes ältere Schwester.« Das war nicht besonders originell, aber Mrs. Anderson schien es zu gefallen. Sie war sichtlich angetan, als McLain ihre Hand nahm und sie wie etwas sehr Wertvolles hielt. »Ich bin sehr froh, daß Sie gekommen sind. Allerdings wird es noch eine kurze Zeit dauern, bis Ariannes Vertrag steht und unterzeichnet werden kann.« Mrs. Anderson murmelte etwas vor sich hin. Mr. Anderson sah aus, als ziehe ihm der Geruch von etwas Angeschimmeltem aus den Tiefen eines Kühlschranks in die Nase. »Dracula?« sagte er. »Dracula, mon amour?« »Eine Weiterführung des klassischen Dracula-Motivs«, erklärte Mr. McLain geschmeidig. »Wir suchten eine Darstellerin, und zwar ein neues Gesicht, für die Rolle der Mina. Ich konnte mir nie vorstellen, daß Mina Harker sich nach dem Erlebnis mit dem Vampir wieder in ihrer langweiligen Ehe einrichten würde. Immerzu würde es sie nach ihrem untoten Liebhaber verlangen. Und in unserem Film entdeckt sie einen Ausweg aus ihrer Situation.« »Das haut doch gar nicht hin!« meinte Mr. Anderson verächtlich. »Wenn ich mich recht erinnere, zerfällt Dracula am Ende des ersten Films zu Staub.« »Für Vampire gelten andere Gesetze als für gewöhnliche Sterbliche«, antwortete McLain ungerührt. »In unserem Film gelingt es Mina auf geheimnisvolle Weise, den Vampir wieder ins Leben zu rufen, und es kommt zu einer schicksalhaften Vereinigung der beiden.« Mr. Anderson stieß mit gepreßter Stimme einen unmutsvollen Laut aus. In diesem Augenblick fiel im Haus jemand die Treppe hinunter. 51
»Aha!« schnurrte Mr. McLain. »Erlauben Sie mir, Ihnen meinen Partner Henry Morell vorzustellen. Er legt großen Wert auf dramatische Auftritte. Henry, komm her, hier sind Ariannes Eltern.« Henry Morell stellte sich als ziemlich stämmiger Bursche mit einem Vollmondgesicht heraus. Er war etwa im gleichen Alter wie McLain, doch so glatt alles an diesem war, so zerknittert und unordentlich wirkte Morell. Das kurzgeschnittene Haar kringelte sich zu einer strähnigen dunklen Krause. Er hatte abstehende Ohren, dunkle Knopfaugen und eine Nase, die für das großflächige Gesicht zu klein war. Nun rappelte er sich am Fuß der Treppe verlegen hoch und grinste dämlich. »Sehr erfreut . . .« murmelte Henry. »Bin mit einem Fuß hängengeblieben . . .« »Bis vor kurzem war Henry bei Twentieth Century Fox«, erklärte Craig McLain. »Erst vor wenigen Wochen wechselte er zu meiner Firma über, also zu McLain Productions. Er hat reiche Erfahrungen in der Horrorfilmbranche, und ich denke, wir sind nun das ideale Team. Unser Film wird die Phantasie der Zuschauer anregen, statt sie mit billigen Gruseltricks zu überschwemmen. Das Grauen wird sich von allein einstellen.« »Wie grauenvoll!« äußerte Mr. Anderson ironisch. »Komm, Lucille, wir setzen uns irgendwohin und besprechen alles in Ruhe«, schlug Mrs. Anderson vor. »Ich denke nicht im Traum daran!« Lucille sah aus, als sei der nächste ’ Wutanfall im Anzug. »Da gibt es überhaupt nichts zu besprechen!« Mr. McLain war leicht verunsichert. »Lucille? Aber Kleines, ich dachte immer, du heißt Arianne.« Daraufhin stellte seine Entdeckung erneut die Stacheln auf, und er lenkte rasch ein: »Aber ja doch, Arianne ist natürlich dein Künstlername. Und nun möchtest du dich mal in Ruhe mit deinen Eltern unterhalten. Ich melde mich morgen oder übermorgen wieder bei dir.« Er wandte sich zu Mr. und Mrs. Anderson. »Das alles kam ja ein wenig plötzlich für Sie und will erst mal verkraftet werden. Wenn Sie noch irgendwelche Fragen haben, 52
dann rufen Sie mich doch bitte an.« Mr. McLain zog eine Visitenkarte aus der Tasche und reichte sie Lucilles Vater. »Zur Zeit führen Henry und ich ein recht ländliches Dasein«, fuhr McLain dann fort. »Wir wohnen in einem abgelegenen Haus in den Bergen. Es hat früher Cecil B. DeMille gehört. Stellen Sie sich vor, heute früh weckte uns das Blöken einer Herde Schafe am Wiesenhang hinter dem Haus. Unglaublich. Telefon haben wir da oben nicht, aber meine Sekretärin kann mich jederzeit verständigen.« Mr. Anderson steckte die Karte ein, ohne sie anzusehen. »Sollte ich feststellen müssen, daß da irgend etwas faul ist, dann bringe ich Sie hinter Gitter«, kündigte er an. »Daddy!« schrie Lucille entsetzt auf. »Oh, dafür habe ich volles Verständnis«, gurrte Mr. McLain. »Als Vater ist man nun mal besorgt.« Mr. McLain machte eine formvollendete Verbeugung und trat mit katzenhafter Anmut ab, gefolgt von seinem Partner, der gleich noch einmal stolperte. »So«, sagte Mr. Anderson, »und jetzt wollen wir mal einiges klarstellen.«
Eine Warnung »Lucille, Kind«, sagte Mrs. Anderson, »du weißt, daß wir dich lieben und Vertrauen zu dir haben . . .« ». . . das du besser nicht enttäuschen solltest«, vollendete Mr. Anderson. »Wenn das hier tatsächlich deine große Chance ist«, fuhr Mrs. Anderson fort, »möchten wir dir gern helfen, aber . . .« »Judy, da mache ich nicht mit!« rief Mr. Anderson. 53
Sie wandte sich ihm zu. »Früher oder später müssen wir unserem Kind die Verantwortung für das eigene Leben übertragen«, sagte sie. »Lucille ist ja nun fast erwachsen. Aber wenn es dir lieber ist, kann ich ja hier bei ihr bleiben.« »Mom, ich brauch’ aber keinen Babysitter!« empörte sich Lucille. »Und hierbleiben kannst du sowieso nicht. Das ist ja nicht mein Haus. Es gehört Mrs. Fowler, und ich halte es in Ordnung, solange sie weg ist. Das ist mein Job hier! Und nehmt außerdem bitte zur Kenntnis, daß ich auch in einem Kosmetiksalon arbeite.« »Du bist noch minderjährige«, erklärte ihr Vater. »Wenn wir entscheiden, daß du mit nach Hause kommen sollst, dann hast du dich zu fügen.« »Charles, setze sie nicht unter Druck!« bat Mrs. Anderson. »Lucille wird dich dafür ihr Leben lang hassen!« »Soll sie doch«, bemerkte Mr. Anderson. »Sie muß mich ja nicht mögen. Aber ich bin immer noch ihr Vater.« Diese letzten Worte kamen allerdings schon nicht mehr so überzeugend heraus. Mr. Anderson schien es nicht wirklich darauf anzulegen, sich den Haß seiner Tochter zuzuziehen. Er brummelte und knurrte noch eine Zeitlang vor sich hin und versuchte Machtworte zu sprechen, aber die Befehlsgewalt seiner Drohungen ließ nach, und schließlich gestattete er Mrs. Anderson, ihn beim Arm zu nehmen und mit ihm zur Tür zu gehen. Auf der Schwelle blieb er noch einmal stehen und zog seine Brieftasche. »Paß immer gut auf dich auf, ja?« sagte er zu Lucille. Er drückte ihr einige Geldscheine in die Hand und ging dann zum Wagen. Die drei ??? hatten die ganze Zeit abseits gestanden. Lucille nun auch mit Bob und Peter bekannt zu machen, war irgendwie verpaßt worden. Es bereitete den Jungen Unbehagen, unfreiwillige Zeugen dieser familiären Auseinandersetzung zu sein. Nun, nach der versöhnlichen Einigung zwischen Eltern und Tochter, zog es sie mit aller Macht zu ihrer Zentrale zurück. Doch dazu sollte es vorerst nicht kommen. 54
Die drei folgten dem Ehepaar Anderson ins Freie und stiegen ins Auto. Ehe Mr. Anderson losfuhr, Mußte er seinem Herzen noch einmal Luft machen. »Filmproduzent, daß ich nicht lache! Wenn dieses Milchgesicht wirklich Filmproduzent ist, freß’ ich einen Besen!« Der Wagen verließ Cheshire Square und rollte hangabwärts auf die Einfahrt zur Stadtautobahn zu. »Da kannst du schon recht haben, Liebster«, meinte Mrs. Anderson gelassen. »Na siehst du!« Mr. Anderson war nun doch verblüfft über die späte Einsicht seiner Ehefrau. »Mr. McLain ist ja ein ganz umgänglicher junger Mann und macht keinen schlechten Eindruck, aber wir sollten wirklich etwas mehr über ihn in Erfahrung bringen.« Sie wandte sich an die drei Jungen. »Wenn ich euch seine Karte gebe, könnt ihr doch Erkundigungen einziehen, nicht?« bat sie. »Vielleicht könnt ihr andere Leute befragen. Ihr habt es so geschickt angestellt, Lucille zu finden, da könnt ihr doch auch herausbekommen, ob Mr. McLain tatsächlich Filme produziert.« Peter stöhnte ganz leise. »Wir könnten höchstens herausfinden, ob er in der Filmbranche einen Namen hat«, sagte Justus. »Zu einer Vereinigung oder einem Verband muß man als Produzent meines Wissens nämlich nicht gehören. Man muß eher Ideen und das nötige Betriebskapital haben.« »Ein Schwindler ist der Bursche!« knurrte Mr. Anderson. »VampirPrinzessin! Hörte sich an, als habe er die gerade frischweg erfunden. Und sein Freund, der erst mal die Treppe herunterpurzelte, der scheint mir nicht ganz klar im Kopf zu sein.« Wir wissen nicht, welchen Beruf Mr. Charles Anderson ausübt, aber ein recht guter Menschenkenner scheint mir Lucilles energischer Vater zu sein. Er verfügt über Spürsinn und Über die Fähigkeit, sich nicht beeindrucken zu lassen und völlig nüchtern zu 55
bleiben. Andererseits gibt er seine Meinung zu impulsiv kund! Doch davon abgesehen: Was haltet ihr nun von den beiden Herren vom Film? Mr. Anderson bog von der Stadtautobahn ab und fuhr durch Rocky Beach zum Schrottplatz. »Judy, wir könnten getrennt weitermachen«, schlug er vor. »Ich fahre nach Hause, und du bleibst vorläufig hier in Rocky Beach, da bist du wenigstens in Lucilles Nähe.« Mrs. Anderson schüttelte den Kopf. »Lucille hat sich das alles nun mal in den Kopf gesetzt. Wir müssen ihr die Möglichkeit geben, sich auf eigene Füße zu stellen.« Da fing Mr. Anderson wieder an zu brummeln und Drohungen zu äußern. Doch als er durch das Hoftor in den Schrottplatz einfuhr, gab er McLains Visitenkarte mit einem Seufzer an den Ersten Detektiv weiter. »Ruf mich dann in Fresno an und sag mir, was ihr herausgefunden habt«, sagte er. »Wenn ihr irgendwelche Ausgaben habt, dann notiert sie. Dieser Sache will ich auf den Grund gehen. Ich kann mir nicht vorstellen, daß ein Produzent mit Verstand unsere Lucille ohne Ausbildung groß herausbringen will, in einem aufwendigen Film, der an Kosten vielleicht Zehntausende verschlingt.« »Eher Millionen!« warf Mrs. Anderson ein, noch immer mehr beeindruckt als besorgt. Am nächsten Morgen trafen sich die drei ??? wieder in der Zentrale. »Als erstes müssen wir mal herausfinden, ob dieser Bursche überhaupt Craig McLain heißt, und ob er wirklich Filmproduzent ist«, sagte Justus. »Lucille scheint mir zwangsläufig immer wieder in problematische Situationen zu geraten«, meinte Bob. »Ob der Einbruch in Mrs. Fowlers Haus irgendwie mit ihr persönlich zu tun hatte?« »Glaub’ ich nicht«, fand Peter. »Einbrüche und Raubüberfälle sind ja geradezu an der Tagesordnung. Erinnert euch bloß an Hollywood, an die Straßenräuber im Gruselkostüm!« »Da muß ich Peter recht geben«, pflichtete Justus bei. »Aber kom56
men wir jetzt zur Sache. Wir haben ja Craig McLains Karte. Kreuzen wir doch einfach mal in seinem Büro auf!« »Willst du etwa die Sekretärin dort fragen?« meinte Bob. »Meines Wissens werden Sekretärinnen dafür bezahlt, daß sie fremde Besucher unverbindlich abwimmeln.« »Ich bin aber überzeugt, daß wir einiges in Erfahrung bringen können, wenn wir uns mal dort im Büro umsehen«, schloß Justus die Debatte. Dann rief er den Mietwagenverleih Rent’n’Ride an. Der schönste und älteste Rolls-Royce der Firma stand den drei ??? dank der Großzügigkeit eines dankbaren Klienten immer dann zur Verfügung, wenn sie für längere Strecken ein Fahrzeug brauchten. Gefahren wurde die Nobelkarosse von Morton, dem tadellos livrierten Chauffeur britischer Abstammung. Morton behandelte die drei stets so, als seien sie Millionäre statt ganz normale Jungen voller Unternehmungslust. Im Laufe der Zeit war er zum Eingeweihten und Verbündeten des Trios geworden und betrachtete sich mittlerweile als inoffizieller Partner der Detektei »Die drei ???«. An diesem Vormittag war Morton mitsamt dem Rolls-Royce frei, und bald darauf fuhr der glänzend schwarze Wagen mit den goldenen Beschlägen am Tor zum Schrottplatz vor. Als Tante Mathilda den Rolls-Royce zu Gesicht bekam, stöhnte sie vernehmlich. »Da ist ja wieder dieser aufgeblasene Schlitten! Und ihr verschwindet nun wohl für den Rest des Tages. Sag mal, Justus, was wird jetzt aus der Arbeit, für die ich euch eingeteilt hatte?« »Machen wir morgen, auf Ehre«, versprach Justus. »Aber heute müssen wir den Andersons noch einmal helfen.« »Immer habt ihr eine gute Ausrede«, brummelte Mrs. Jonas. Dann ging es los zum Sunset Strip in Hollywood, denn dort befand sich gemäß McLains Visitenkarte das Büro. Die Fahrt dauerte fast eine halbe Stunde. Als sie die lange, breite Straße erreicht hatten, fuhr Morton im Schrittempo weiter, bis er die richtige Hausnummer entdeckt hatte. »Vor dem Haus ist ein Parkplatz frei«, sagte der Chauffeur. »Soll ich 57
mich da hinstellen? Der Wagen ist immerhin sehr auffällig. Möchtet ihr lieber Aufsehen vermeiden?« »Am liebsten würde ich mich gleich ganz unsichtbar machen!« platzte Bob heraus. »Wenn Lucille Anderson erfährt, daß wir ihrem verehrten Produzenten hinterherspionieren, bekommt sie womöglich wieder einen Wutanfall.« »So weit sollten wir es tunlichst nicht kommen lassen.« Morton mußte lächeln. Er bog in eine Seitenstraße ab und fand dort einen Parkplatz. »Wollen wir diesen McLain nun tatsächlich vereint überfallen?« erwog Peter. Justus überlegte kurz. »Es bringt uns keinen Vorteil, wenn wir gleich drei Mann hoch ankommen«, meinte er dann. »Ich gehe allein hin.« Er stieg aus dem Wagen und schlenderte vor zum Sunset Strip. McLains Büro befand sich in einem zweistöckigen Gebäude. Ein Stehcafé nahm das Erdgeschoß ein. Das Haus wirkte nicht besonders einladend. Justus ging die Treppe hinauf und stellte fest, daß sich außer dem Unternehmen »McLain Productions, Ltd.« noch eine Steuerberatungsfirma hier niedergelassen hatte. Als Justus die Hand am Türknauf hatte, hörte er, wie jemand drinnen »Verdammter Idiot!« rief. Darauf sagte eine Frauenstimme: »Die Dreharbeiten sind gestoppt, bis wir einen Stuntman hinschicken. Hawkins lehnt es ab, den riskanten Sprung selbst zu machen.« »Na schön, einverstanden«, entgegnete die erste Stimme. McLain war das nicht. Dieser Männerstimme ging jegliche Geschmeidigkeit und Verbindlichkeit ab. »Den ganzen Ärger könnten wir uns sparen, wenn er hier drehen wollte. Ein Berg in Mexiko sieht schließlich auch nicht viel anders aus als einer im Studiogelände im Griffith Park!« Justus drehte den Knauf und öffnete die Tür. Er sah eine Frau mit gelocktem grauem Haar und randloser Brille. Sie saß an einem Schreibtisch und hielt einen Telefonhörer in der Hand. 58
Ein Mann mit schütterem Haar und kalten blauen Augen sah Justus ungehalten an. Dann drehte er sich um, ging in einen angrenzenden Raum und knallte die Tür hinter sich zu. »Was möchtest du, bitte?« wandte die Frau sich an Justus. Den Hörer behielt sie dabei in der Hand. »Ist Mr. McLain zu sprechen?« fragte Justus. »Im Augenblick ist das nicht günstig«, erklärte die Frau. »In welcher Angelegenheit willst du ihn denn sprechen?« »Ich . . . ich bin Mr. McLain gestern abend begegnet«, sagte Justus in einer Augenblickseingebung. »Bei einem gemeinsamen Bekannten. Mir ist inzwischen klargeworden, daß er vielleicht in seinem neuen Film Verwendung für mich haben könnte.« »Verwendung? Für dich?« »Ich habe schon früher in Filmen mitgewirkt«, berichtete Justus. »Wenn es in dem Dracula-Film noch eine Rolle für einen jugendlichen Darsteller zu besetzen gibt . . .« »Mr. McLain!« rief die Frau zum Nebenzimmer hin. Der Mann mit dem schütteren Haar öffnete die Tür und steckte den Kopf hindurch. »Mr. McLain, der Junge hier behauptet, er hätte Sie gestern abend irgendwo kennengelernt. Er faselt da was von einem DraculaFilm.« Der Mann trat aus seinem Büro. »Dracula? Als ob ich nicht schon genug Scherereien hätte mit einem Regisseur, der unbedingt in Mexiko drehen will! Und da kommt man mir mit Dracula?« Justus starrte den Mann sekundenlang an. Dann zog er die Visitenkarte hervor, die ihm Lucilles Vater gegeben hatte. Wortlos händigte er sie dem Mann aus. Dieser sah sich die Karte an und stieß verächtlich die Luft durch die Nase. »Der Mann, der mir gestern abend diese Karte gab, sagte mir, ich könne ihn hier in diesem Büro erreichen«, erklärte Justus. »Er gab seinen Namen mit Craig McLain an. Nun scheint es sich allerdings anders zu verhalten.« 59
»Der hat dir eine faustdicke Lüge aufgetischt«, knurrte der Mann. »Hat der Bursche dir etwa eine Filmrolle versprochen?« »Eigentlich ging es um ein junges Mädchen, das einen Vertrag bekommen sollte«, stellte Justus klar. Dann berichtete er mit knappen Worten von Lucille Anderson und ihren großen Hoffnungen auf eine Filmkarriere. »Und der verteilt da so einfach meine Visitenkarten . . .« Der echte Mr. McLain schüttelte den Kopf »Tut mir leid, Junge, aber einen Dracula-Film werde ich ganz bestimmt nicht machen. Das ist nicht meine Richtung. Ich produziere Dokumentarfilme, hin und wieder auch einen Werbefilm. Für Jugendliche habe ich zur Zeit keine Rollen. Diesem Mädchen mit dem Star-Fimmel rate ich dringend, das alles etwas nüchterner zu betrachten. Richte ihr aus, sie soll sich den Dracula abschminken und sich einen anständigen Job suchen, Bedienung in einem Restaurant meinetwegen. Hat sie übrigens Geld?« Justus schüttelte den Kopf »Nein, Geld hat die nicht.« »’ne Freundin von dir?« »Ich hab’ sie erst vor kurzem kennengelernt.« »Sag ihr, sie soll künftig nicht mehr so gutgläubig sein, wenn ein Mann behauptet, er sei Filmproduzent. Und sie soll nicht auf jede Visitenkarte hereinfallen.« »Mach’ ich«, antwortete Justus. »Aber haben Sie zufällig eine Idee, wer dieser Mann in Wahrheit sein könnte? Haben Sie etwas Derartiges schon einmal erlebt?« Der Produzent zuckte die Achseln. »Das zwar nicht. Aber ich teile massenhaft Visitenkarten aus, dazu sind die schließlich da. Ich gebe meine Karte her und sage, lassen Sie gelegentlich von sich hören, vielleicht habe ich mal eine Rolle für Sie. Manchmal kommt dann ein Anruf, manchmal auch nicht. Noch mal zu dem Mann da: Wie sah der denn aus?« »Er war etwa dreißig«, gab Justus an. »Fahlblondes Haar. Sehr gepflegtes Äußeres, gewinnendes Auftreten. Wie er sagte, wohnt er in einem Haus in den Bergen, das vorher Cecil B. DeMille gehört haben soll.« 60
»Daß ich nicht lache«, sagte McLain trocken. »DeMille ist seit vielen Jahren tot!« Dann wurde seine Miene wieder nachdenklich. »Wenn dir das Mädchen wichtig ist, dann mußt du sie überzeugen, daß sie schleunigst aus der Sache aussteigt. Den Burschen, die einen solchen Schwindel aufziehen, geht es oft um Geld, und das ist schon schlimm genug. Aber manchmal sind das auch ganz fiese Typen, und dann kann es für die Opfer lebensgefährlich werden!«
Verdächtiges Chaos Am Cheshire Square hatte wieder Larry Evans Pfortendienst, als der Rolls-Royce die Zufahrt zur Wohnanlage heraufgefahren kam. Er trat aus seinem Wachhaus und riß Mund und Augen auf »Das ist ja phantastisch!« rief er. »Eine tolle Kiste! Kennt Arianne die schon? Oder soll das eine ganz spezielle Überraschung für sie werden?« »Eine Überraschung gibt das sicher«, meinte Peter. »Besonders wenn sie hört, was wir ihr zu sagen haben.« »Ist sie zu Hause?« erkundigte sich Justus. »Ja, ja!« sagte der Pförtner. »Der langhaarige, aalglatte Bursche war heute schon bei ihr, zusammen mit seinem Freund, aber die beiden sind schon wieder weggefahren. Ich rufe sie an.« Er ging in das Wachhaus zurück. Durchs Fenster sahen die Jungen, wie er am Telefon eine Nummer wählte und dann wartete. Er wartete eine ganze Zeitlang. Schließlich legte er mit zusammengezogenen Brauen wieder auf »Bei Fowler meldet sich niemand«, sagte er. »Vielleicht ist sie eben mal weggegangen?« vermutete Bob. 61
Larry Evans schüttelte den Kopf »Dann hätte ich sie doch sehen Müssen.« Justus spürte ein jähes Unbehagen. »Als McLain wieder wegfuhr, war sie doch nicht dabei, oder?« »Nein«, entgegnete der Pförtner. »Nur sein Satellit war bei ihm, der kleine Dicke mit dem krausen Haar. Arianne nicht.« Inzwischen wirkte Evans auch besorgt. Aber sein Dienstauftrag schrieb ihm vor, niemanden zum Tor einzulassen, ohne von einem Anwohner dazu ermächtigt zu sein. »Ich versuch’s noch einmal«, meinte er. Er ging hinein zum Telefon, wählte und wartete wieder. Als er keine Verbindung bekam, gab er Morton schließlich doch das Zeichen zur Weiterfahrt. »Energisch klingeln«, rief er noch aus dem Fenster. »Und auch beim Schwimmbecken nachsehen. Wenn ihr sie nicht findet, dann holt mich.« Morton fuhr durchs Tor und langsam um den kleinen Park herum. Bei Mrs. Fowlers Haus war jetzt alles ganz ruhig. Von der Party am Vorabend lag allerdings noch Unrat herum. Papierteller waren unter Büsche geschoben, und auf dem Plattenweg zum Haus knirschte Popcorn unter den Füßen der drei ???. Justus drückte auf die Klingel. Im Haus ertönte melodisches, mehrstimmiges Geläute, doch es kam niemand an die Tür. »Sie ist nicht da«, stellte Bob fest. »Hier stimmt etwas nicht«, sagte Justus. »Da bin ich ganz sicher.« »Ich geh’ mal zum Tor zurück«, erbot sich Peter. »Der Pförtner hat bestimmt einen Zentralschlüssel.« Schon lief er los, vorbei an dem Rolls-Royce, in dem Morton wartete. Inzwischen machten Justus und Bob eine Inspektionsrunde um das Haus. Von Lucille war nichts zu sehen. Als die beiden wieder an der Haustür ankamen, war Peter mit dem Pförtner eingetroffen. Auch Morton hatte sich mit besorgter Miene hinzugesellt. Der Pförtner öffnete die Haustür mit seinem Zentralschlüssel, und alle traten in die Halle. Auch hier lagen noch klägliche Überbleibsel von Lucilles Party herum. 62
»Lucille!« rief Justus laut. Keine Antwort. Nun suchten die Jungen kurz entschlossen das Haus ab. Mit dem Erdgeschoß waren sie schnell fertig. Als sie dann die Treppe hinauf gingen, schloß sich Larry Evans an. Morton blieb unten in der Halle, um Wache zu halten. Die Türen im Obergeschoß waren geschlossen, und Evans öffnete eine nach der anderen. Die Jungen spähten in unbenutzte Schlafzimmer, in denen bei zugezogenen Vorhängen Dämmerlicht herrschte. Doch am Ende des Flurs lag ein Raum, der allem Anschein nach bewohnt war. Es gab darin ein breites Bett, dessen rosafarbener Überwurf zurückgeschlagen war. Ein Paar Pantoffeln, deren Spitzen Kaninchenköpfe aus weißem Fell waren, lag unordentlich unter einem Stuhl. Ein Morgenmantel aus gestepptem Satin war achtlos über das Fußende des Bettes geworfen. Larry Evans zog einen Vorhang zurück, und Sonnenlicht flutete in den Raum. »Das muß also Lucilles Schlafzimmer sein«, bemerkte Justus. »Es ist wohl eher Mrs. Fowlers Zimmer«, widersprach Evans. Er warf einen Blick auf den eleganten Toilettentisch mit den Parfümflakons aus Kristall, die auf einem Tablett angeordnet waren. »Arianne ist sonst ein nettes Mädchen, aber dieses Zimmer und Mrs. Fowlers Privateigentum sollte sie nicht einfach benutzen.« Peter schlenderte durch den Raum. Er öffnete die Tür zu einem Nebengelaß. Darin befand sich ein Einbauschrank, der so geräumig war wie das Schlafzimmer einer durchschnittlichen Mietwohnung. In dem Schrank hingen Unmengen von Kleidern. »Hieß es nicht, Mrs. Fowler sei nach Europa gereist?« fragte Peter. »Was hat sie denn dann an Gepäck mitgenommen, wenn all ihre Klamotten noch hier sind?« Darauf wußte niemand eine Antwort. Justus starrte mit düsterem Blick auf den Teppichboden und knetete seine Unterlippe zwischen den Fingern. Dies war das Zeichen dafür, daß sein Denkapparat auf Hochtouren lief. Er wandte sich an den Pförtner. »Gibt es nicht noch 63
einen zweiten Zugang zu der Wohnanlage? Vielleicht ist sie dort hinausgegangen, ohne daß sie an Ihnen vorbeikam.« »Natürlich, es gibt einen Hintereingang«, sagte Evans. »Der ist für die Müllabfuhr und für Lieferanten und Handwerker. Aber dieses Tor ist immer abgesperrt.« »Und wer hat den Schlüssel?« fragte Justus. »Da gibt es keinen Schlüssel. Wenn jemand durch will, muß man erst mich verständigen. Dann öffne ich die Sperre mit einem Schalter in meinem Wachhaus.« »Vielleicht ist Lucille in einem Nachbarhaus zu Besuch«, fiel es Bob ein. »Kann ich mir nicht vorstellen«, erwiderte Larry Evans. »Arianne ist gegenüber den anderen Bewohnern sehr zurückhaltend.« Peter öffnete noch eine Tür. Er war auf einen weiteren Einbauschrank gefaßt, doch hinter dieser Tür lag ein Badezimmer. Bis über den Rand einer gefüllten Marmorwanne ragten Berge stark duftenden Schaums. Auf der marmornen Platte mit den beiden eingelassenen Waschbecken standen Cremetöpfe und Parfümflaschen. Eine Masche war umgefallen, und eine bernsteinfarbene Pfütze hatte sich über den Marmor und den Fußboden ergossen. »Das ist vielleicht eine Schlampe«, sagte Bob. »Nicht unbedingt«, wandte Justus ein. Von der Tür her sah er sich das Chaos im Badezimmer an. »Angenommen, sie saß gerade in der Badewanne, als das Telefon klingelte. Sie hörte, daß McLain am Tor war, und forderte den Pförtner auf, ihn einzulassen. Dann zog sie sich etwas über und ging hinunter, um die Haustür zu öffnen . . . und da muß etwas passiert sein. Und das war etwas so Aufregendes oder so Wichtiges, daß sie einfach nicht dazu kam, wieder hinaufzugehen und im Badezimmer Ordnung zu machen.« »Das leuchtet mir ein: etwas richtig Aufregendes. Aber es könnte auch eine Gewalttat gewesen sein«, meinte Bob. »Jemand war hinter ihr her, und sie versuchte sich ins Bad zu flüchten, und hier kam es zum Kampf, und dabei ist die Parfümflasche umgefallen.« »Jungs, eure Phantasie geht ja mit euch durch«, sagte Evans. Aber er 64
war sichtlich verstört. »Sie ist eben doch schlampig. Denkt sich nichts dabei, wenn sie das Badewasser in der Wanne läßt. Es erinnert sie ja keiner dran. Und zu Hause räumt die liebe Mutti hinter ihr her. Sie verschüttet Parfüm, na ja, das wird irgendwann aufgewischt, wenn sie Zeit hat. Sie geht runter und läßt McLain ins Haus und . . . und . . .« »Und was weiter?« hakte Justus ein. »Wo ist sie geblieben? Wenn sie nicht mit McLain weggefahren ist und auch nicht in einem Nachbarhaus ist, was ist dann aus ihr geworden?« Bob hatte im Schlafzimmer ein kleines Gästehandtuch gefunden. Er stand gerade beim Toilettentisch und hatte eher zufällig einen Blick in den Papierkorb geworfen. »Da, seht euch das an!« Er bückte sich und fischte das Tuch aus dem Papierkorb. Es war weiß, und an einem Ende war ein bunter Schmetterling aufgestickt. Der Frottierstoff wies dunkelrote Flecken auf. »Ist das etwa . . . das darf doch nicht wahr sein . . .« stammelte Bob. Larry Evans schaute hin und zuckte zusammen. »Blut«, stellte er fest. Er nahm das Tuch und befühlte es. »Noch ganz feucht. Ihr habt recht. Hier ist also doch etwas passiert. Ich rufe die Polizei an!« Ja, wo ist Lucille geblieben, wenn sie nicht mit McLain weggefahren ist? Ein schwieriges Problem. Der Pförtner Evans, sicherlich ein zuverlässiger Mann, sah immerhin, wie McLain und sein Partner Cheshire Square mit ihrem Auto wieder verließen. Das Mädchen sah Evans in diesem Fahrzeug nicht. Also . . .?
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Eine Dame verschwindet Kriminalhauptkommissar Reynolds kam höchstpersönlich. Er warf einen Blick auf das Chaos im Badezimmer. Einen sehr düsteren Blick. Dann wandte er sich barsch an Larry Evans. »Sie sagten, das Mädchen habe heute vormittag Besuch gehabt. Haben Sie sich das amtliche Kennzeichen des Wagens gemerkt?« »Ja, Herr Kommissar«, antwortete Evans. »In meinem Notizbuch im Wachhaus habe ich die Nummer notiert. Aber ich kann beschwören, daß das Mädchen nicht in diesem Wagen weggefahren ist.« »Auf irgendeine Weise ist sie aber doch verschwunden«, sagte der Polizeichef. Dann ging er die Treppe wieder hinunter. »Ich werde mit den Nachbarn reden«, nahm er sich unten vor. »Vielleicht hat jemand irgend etwas beobachtet. Und ihr drei, ihr geht jetzt schön brav nach Hause. Ich wünsche nicht, daß ihr euch hier herumdrückt und alles noch komplizierter macht, verstanden?« »Herr Kommissar . . .« fing Justus an. »Ab mit euch!« Der Polizeichef blieb unerbittlich. »Hier ist ab sofort die Polizei zuständig!« Also chauffierte Morton die drei ??? zurück zum Schrottplatz. Im Wagen herrschte zunächst trübsinniges Schweigen. Dann mußte Peter seinem Herzen Luft machen. »Also, dieser Fall ist doch eine total verrückte Angelegenheit!« »Wie meinst du denn das?« fragte Bob. »Na, wir finden am Strand eine verlorene Tasche«, fuhr Peter fort, »und bemühen uns, den Eigentümer zu ermitteln. Läßt sich ganz einfach an, Anruf bei der Bibliothek genügt. Aber da stellt sich heraus, daß beide verlorengegangen waren, Tasche und Eigentümerin. Letztere finden wir schließlich auch. Aber damit sind die Eltern immer noch nicht zufrieden. Nun sollen wir auch noch den Typen 66
suchen, der dem Mädchen einen Job versprochen hat. Nur ist der nicht auffindbar . . . und ein Schwindler scheint er auch zu sein. Und als wir Lucille vor ihm warnen wollen, geht sie uns wieder durch die Lappen und verschwindet ihrerseits.« »Und ausgerechnet in dem Augenblick, als der Fall richtig spannend wird«, setzte Justus hinzu, »läßt uns die Polizei nicht mehr mitmachen und schickt uns einfach weg.« »Ich sag’ ja: Verrückt, das Ganze, und wir werden dabei auch noch verrückt!« Beim Schrottplatz ließ Morton die Jungen aussteigen und fuhr weg. Justus sah verdutzt auf das große Hoftor. Es war geschlossen. Und das mitten am Tag! Das gab es doch gar nicht! »Wo können Onkel Titus und Tante Mathilda nur sein?« fragte der Erste Detektiv laut. »Kann ich dir genau sagen«, erklärte Bob mit einem Augenzwinkern. »Sie haben erfahren, daß ein altes Gebäude in Nome in Alaska abgerissen werden soll, und da sind sie losgefahren, um sich die verrosteten Leitungsrohre und das zerbeulte Spülbecken zu sichern.« Das sollte ein Witz sein, aber so weit vom Schuß war es gar nicht. Kenneth kam über den Hofgelaufen und berichtete Justus, sein Onkel sei nach Los Angeles gefahren, um aus einem Abbruchhaus alles noch Brauchbare der Verwertung zuzuführen. »Deine Tante ist drüben im Haus und macht das Essen«, sagte Kenneth noch. »Ich habe das Tor zugemacht, weil ich ganz hinten im Lager beschäftigt bin. Sonst kann ja jeder hier reinlatschen und sich bedienen.« Kenneth holte im Büro den Schlüssel. Als er aufgeschlossen hatte und die schweren Torflügel auseinanderzog, meinte er noch: »Wenn du jetzt dableibst und dich um Kunden kümmern kannst, dann muß ich ja nicht wieder abschließen.« Justus sagte, er werde in der Nähe des Tores bleiben, und Peter und Bob machten sich auf den Nachhauseweg. Dann setzte sich Justus auf die Vortreppe zum Büro und zerbrach sich den Kopf über Lucille Anderson. Er rief sich nochmals das Chaos im Badezimmer 67
vor Augen. Was war hier vorgefallen? Der Pförtner hatte nicht beobachtet, daß das Mädchen die Wohnanlage verlassen hatte. Ob McLain sie etwa im Kofferraum seines Wagens transportiert hatte? Oder war sie einfach wieder mal durchgebrannt? Aber was hatte das Handtuch mit den Blutflecken zu bedeuten? Nach einiger Zeit verschaffte ein anderer Gedanke Justus neues Unbehagen. Was machte eigentlich Tante Mathilda so lange? Gewiß, sie ging manchmal vom Hof zum Wohnhaus hinüber, um in der Küche etwas vorzubereiten oder einen Topf mit Essen auf den Herd zu setzen, aber länger als eine Viertelstunde dauerte das meist nicht. »Kenneth!« rief Justus laut. Kenneth kam an, ganz verschwitzt von seiner Schufterei. »Ich geh’ mal kurz rüber ins Haus«, teilte ihm Justus mit. »Ich will da was nachsehen.« »Alles klar«, sagte Kenneth. »Ich bleib’ solange beim Tor.« Justus ging über die Straße zum Wohnhaus und fand hinten die ins Freie führende Küchentür angelehnt. In der Küche war niemand. Auf dem Herd stand kein Kochtopf. Hingegen lag ein leerer Topf auf dem Fußboden, offenbar hatte ihn jemand fallen lassen. Der zugehörige Deckel war in eine Ecke gerollt. Justus überlief es plötzlich eiskalt. Er horchte. Im Haus war alles still. Sollte er rufen? War Tante Mathilda überhaupt da? Oder war jemand anders im Haus? Jemand, der Tante Mathilda erschreckt hatte, so daß sie den Topf fallen ließ und . . . und was war dann gewesen? Wo war sie nun? Er ging zur Tür ins Eßzimmer. Hier bot sich seinen Blicken ein Chaos aus Porzellan und Gläsern, Silberbesteck und Tischwäsche. Aus der Anrichte waren sämtliche Schubladen herausgerissen. In wüstem Durcheinander lagen Tante Mathildas kostbare Besitztümer auf dem Fußboden. Justus hatte einen ganz trockenen Mund bekommen. Instinktiv wollte er rufen, unterließ es dann aber wohlweislich. Der Eindring68
ling war vielleicht noch im Haus, und vielleicht hatte er Tante Mathilda in seiner Gewalt! Vorsichtig durchquerte Justus das Eßzimmer. Drüben im Wohnzimmer sah es nicht viel besser aus. Bücher und Tante Mathildas geliebte Sammelobjekte lagen überall herum. Sämtliche Schubladen waren herausgerissen und ihr Inhalt auf den Fußboden gekippt worden. Nun kam noch die Diele vorn beim Eingang. Hier stand der Garderobenschrank weit offen. Mäntel, Jacken und Schuhe waren achtlos herausgerissen und zu Boden geworfen worden. Und nirgends ein Zeichen von Tante Mathilda! Onkel Titus’ Zimmer war ebenfalls verwüstet worden. Kassettendeck und Plattenspieler waren verschwunden. Auch der Verstärker fehlte. Die Lautsprecherboxen hingegen waren noch da. Die waren dem Dieb vermutlich für den Abtransport zu unhandlich gewesen. Oder war er gestört worden, ehe er sie auch noch mitnehmen konnte? Gestört! So mußte es gewesen sein! Tante Mathilda war vom Schrottplatz herübergekommen und hatte in der Küche die Geldkassette abgestellt, die sie aus dem Büro mitgebracht hatte, und dabei hatte der Dieb sie gehört. Justus wußte genau, daß er die Kassette gesehen hatte. Als er durch die Küche kam, hatte sie auf der Frühstückstheke neben dem kleinen Fernseher gestanden. Rasch ging Justus wieder in die Küche. Da stand die Kassette. Er öffnete sie und fand darin Geld. Und gar nicht wenig! Tante Mathilda hatte fast hundert Dollar mit in die Küche gebracht. Und der Einbrecher hatte das Geld nicht angerührt. Was war hier los? Wo war Tante Mathilda? »Tante Mathilda!« rief Justus. Seine Stimme klang ziemlich verzagt. Da hörte er es. »Hrwrruff! Hrruff uhmm! Trsss!« Dumpfe Schläge und heftiges Gerüttel untermalten die unverständlichen Ausrufe. Justus stürzte auf den kleinen Hausarbeitsraum neben der Küche los. Hier hatten Waschmaschine und Trockner ihren Platz, und in ei69
ner Ecke war ein Besenschrank. Aus diesem Schrank kamen die seltsamen Geräusche. Die Schranktür war geschlossen, und außerdem war ein Besen schräg zwischen Schrank und Waschmaschine verkeilt, so daß sich die Tür von innen nicht öffnen ließ. »Tante Mathilda!« rief Justus. »Ist alles in Ordnung? Ich bin’s, Justus!« Aus dem Schrank drangen weitere wutentbrannte, verstümmelte Laute. Justus zog mit aller Kraft an dem Besen. Bald gab dieser nach, und die Schranktür flog auf. Tante Mathilda entstieg mit hastigen Schritten dem Schrank. Staubtücher und Kanister mit Reinigungsmittel wurden in der Eile mit herausgeschleudert. »Justus! Endlich!« Mrs. Jonas’ Gesicht war puterrot, und ihr Haar war zerwühlt. Sie setzte sich auf einen Hocker und starrte mit wildem Blick vor sich hin. »Wenn ich den in die Finger kriege . . . diesen hundsgemeinen Schuft!« kündigte sie mit zornbebender Stimme an. »Der wird sich selber nicht wiedererkennen!«
Justus hört sich um Nach wenigen Minuten erschien die Polizei. Tante Mathilda saß inzwischen mit düsterer Miene am Küchentisch, vor sich eine Tasse Kaffee, die Justus für sie gemacht hatte. »Können Sie uns jetzt berichten, was passiert ist, Madam?« fragte sie einer der Beamten. 70
Das konnte Tante Mathilda sehr wohl, und sie berichtete voll Eifer. Sie war ins Haus gekommen, weil sie Suppenfleisch aufsetzen wollte. Sie hatte gerade den Kochtopf aus dem Schrank geholt, als sie im Eßzimmer ein Geräusch hörte. Da sie dachte, es sei vielleicht Justus, hatte sie ihn gerufen. Im nächsten Augenblick fühlte sie sich von hinten gepackt, und jemand drückte ihr etwas Weiches ins Gesicht, so daß sie kaum mehr atmen konnte. Sie wehrte sich noch kurz, und dabei fiel der Kochtopf zu Boden. Dann wurde sie in den Nebenraum geschubst und unter Gewaltanwendung in den Besenschrank verfrachtet, der hinter ihr abgeschlossen wurde. Den Eindringling hatte sie überhaupt nicht gesehen, denn er war die ganze Zeit hinter ihr gewesen. Sie hatte jedoch den Eindruck gehabt, daß es sich nur um eine Person gehandelt hatte. Der Polizist, der das Protokoll aufgenommen hatte, fand hinterher ein Sofakissen am Boden des Besenschrankes. »Das hat der Bursche vermutlich bei seinem Manöver benutzt«, stellte er fest. »Was meinen Sie, hat sich der Einbrecher noch lange im Haus aufgehalten, nachdem er Sie in den Schrank gesperrt hatte? Oder haben Sie bemerkt, daß er gleich danach wieder wegging? Er hat die Geldkassette nicht angerührt, und auch das Silber hat er nicht mitgenommen, als sei er in Panik davongelaufen.« »Panik! Dem würd’ ich jetzt am liebsten noch eine tüchtige Panik einjagen!« stieß Tante Mathilda hervor. »Ich bin mir nicht so sicher, aber ich glaube, allzu lange war er nicht da. Jedenfalls hörte ich schon längere Zeit, ehe Justus auftauchte, nichts mehr von ihm. Aber als Justus dann kam, da dachte ich, der Dieb sei vielleicht noch in der Küche, und deshalb verhielt ich mich ruhig.«
Die Indizien deuten darauf hin, daß dieser Einbrecher ganz gezielt nach etwas suchte. Kombinieren wir ein wenig: Onkel Titus’ Stereoanlage ließ er mitgehen, um nicht mit leeren Händen wieder abziehen 71
zu müssen. (Am hellichten Tag wegen einer Stereoanlage in ein Haus einzubrechen, wäre ja ein unverhältnismäßiges Risiko.) Was er wirklich suchte, fand der Täter demzufolge nicht. Eine ähnliche Situation wie für den Eindringling in Mrs. Fowlers Haus, auffällig kurz nach diesem Einbruch und (vielleicht wichtiger?) nach der Szene, die sich zwischen Lucille und ihren Besuchern abgespielt haben könnte und die im Chaos endete. Die beiden Polizisten gingen durchs Haus und entdeckten, daß an einem der Fenster im Eßzimmer das Mückengitter abgenommen war. »Vermutlich ist er hier eingestiegen«, sagte einer der Beamten zu Justus. »Deine Tante muß dann ins Haus gekommen sein, ehe er seine Beute hinausschaffen konnte, und obwohl er sie einsperrte, verlor er wohl den Kopf und flüchtete. Einbruchdiebstahl ist eben nichts für schwache Nerven. Mancher Einbrecher dreht buchstäblich durch und flüchtet, auch ohne zwingenden Grund.« Schließlich gingen die Polizisten wieder weg; vorher teilten sie Tante Mathilda noch mit, es gebe wenig Hoffnung, die gestohlene Stereoanlage wiederzubeschaffen. Als kurz darauf Onkel Titus nach Hause kam, hatte Justus die gröbste Unordnung beseitigt. Kenneth brachte das Mückengitter wieder an. Dann lief Justus zu seiner Werkstatt auf dem Schrottplatz zurück. Peter war mittlerweile eingetroffen. Er saß an der Werkbank und bastelte an seinem Fahrrad herum. »Ich hab’ vorn an der Straße ein Polizeiauto gesehen«, sagte Peter. »Waren die etwa bei euch? Ich wollte schauen, was es gibt, aber die Burschen wollten wie üblich davon nichts wissen. Sie sagten, es käme abends in den Lokalnachrichten. Aber da wird man ja immer enttäuscht« »Dieser Bagatellfall wird bestimmt nicht gesendet«, meinte Justus. Er berichtete Peter kurz von dem Einbrecher bei Tante Mathilda. »In Rocky Beach gibt es zur Zeit mehr als genug Kriminalfälle. Vor 72
zwei Tagen der Einbruch bei Lucille, und heute hier bei uns.« Peter fragte: »Sollen wir den Fall eures Einbrechers aufgreifen? Oder überlassen wir die Sache lieber der Polizei?« »Ich wäre für das Letztere«, entschied Justus. »Das sieht doch ganz nach einem gewöhnlichen Routineeinbruch aus.« »Also bleiben wir an dem Fall Lucille Anderson.« Doch Justus schien seine Zweifel zu haben. »Damit dürfte es ein Ende haben, wenn Hauptkommissar Reynolds auf seinem Beschluß besteht. Er hat uns klar und deutlich aufgetragen, uns ab sofort aus der Sache herauszuhalten.« Dann hellte sich seine Miene auf. »Immerhin sind wir durch unsere Beteiligung mitverantwortlich und haben die Pflicht, die Andersons anzurufen und ihnen zu berichten, was wir bis jetzt erfahren konnten.« »Was soll das heißen, wir?« gab Peter zurück. »Das überlasse ich ganz gern dir allein. Nicht etwa, daß mir die Andersons unsympathisch wären, aber sie erinnern mich zu sehr an die Fernsehserie, die sich meine Mutter mit besonderer Vorliebe anschaut. Die fürchterliche Familie.« Justus schnitt eine Grimasse. Dann zog er das Eisengitter zurück, das den Eingang zu Tunnel II verbarg. Gefolgt von Peter, kroch er durch den Gang zwischen den Schrottbergen bis zur Zentrale vor. Im Anhänger wählte Justus die Nummer der Familie Anderson in Fresno. Nach dem zehnten Klingelzeichen gab er es auf. »Niemand da«, stellte er fest. »Vielleicht hat auch der Kommissar die Andersons schon angerufen«, sagte Peter. »Vielleicht sind die beiden schon auf der Fahrt hierher.« »Durchaus vorstellbar«, meinte Justus. »So, nun wollen wir mal sehen, welche Indizien wir selbst haben. McLains Visitenkarte stellte sich als Schwindel heraus. Und sein Partner, dieser . . . dieser . . .« Justus verstummte plötzlich, die Hand noch am Telefonhörer. »Was ist?« fragte Peter ungeduldig. »Hast du eine Eingebung?« »Henry Morell«, sagte Justus. »Der Mann, der sich McLain nannte, sagte doch, Morell sei bis vor kurzem bei der Filmgesellschaft 73
Twentieth Century Fox gewesen. Wäre doch ganz lustig, wenn das zufällig stimmte, nicht?« Peter zog schon das Telefonbuch aus dem Regal. Er schlug die Nummer nach und nannte die Ziffern einzeln Justus, der emsig wählte. Justus erkundigte sich nach Henry Morell, doch die Dame in der Telefonzentrale war äußerst gleichgültig und teilte kurz angebunden mit, einen Mitarbeiter dieses Namens gebe es nicht. Danach bat Justus, ihn mit der Personalabteilung zu verbinden. Dort gab er an, er sei ein Vetter von Henry Morell und sei zufällig auf der Durchreise in Los Angeles. Ob es möglich sei, Morell zu sprechen? »Daß du doch unweigerlich eine hochdramatische Oper aufführen mußt«, murmelte Peter nur. Justus legte die Hand über die Sprechmuschel. »Was hätte ich sonst sagen sollen? Daß ich ein Filmschauspieler bin, der eine Empfehlung braucht? Das hätten mir die Leute doch nie abgenommen.« Aber als dann die Dame vom Personalbüro bei Twentieth Century Fox wieder an den Apparat kam, meldete sie lediglich, bei ihnen sei kein Henry Morell beschäftigt. Justus bedankte sich und legte auf. »Das war’s dann«, sagte er. »Keine Fährte, die wir aufnehmen könnten. Zwei dubiose Burschen, die von irgendwoher auftauchen, Lucille Anderson hereinzulegen versuchen und dann spurlos verschwinden.« »Wie wär’s mit dem Pizza Shack?« schlug Peter vor. »Vielleicht wissen die Jungs und Mädchen dort irgendwas. Sie waren ja auch auf Lucilles Party, und vielleicht ist ihnen an dem vorgeblichen McLain und seinem seltsamen Freund etwas aufgefallen. Vielleicht kennt sogar jemand von denen einen der beiden.« Das Unternehmen gab vermutlich nicht viel her, aber es war eine Chance. Justus und Peter krabbelten wieder durch Tunnel II, und Justus holte sein Fahrrad. Bob anzurufen, hatte keinen Zweck, denn er arbeitete an diesem Nachmittag in der Bibliothek. Also radelten Justus und Peter schleunigst in die Stadt und zum »Pizza Shack«. 74
Die Musik stampfte und dröhnte wie üblich, und auf den Bildschirmen mit den Videospielen flackerte und piepte es. Junge Leute hatten sich um die kleinen Tische gedrängt, wo sie aßen und plauderten. Einer der Jungen, der bei der Party gewesen war, erkannte Justus und Peter, als die beiden ins Lokal kamen. »Hey!« rief er. Er grinste und winkte die Neuankömmlinge zu sich heran. »Da sind ja unsere kleinen Brüder! Na, wie läuft’s denn so?« »Nicht gerade bestens«, erklärte ihm Justus. »Und wir sind nicht jemandes Brüder. Wir sind Freunde von Lucille, und wir sind auf der Suche nach ihr.« »Ach, nicht ihre kleinen Brüder?« Der ältere Junge war verblüfft. »Da hab’ ich mich ja glatt getäuscht. Als Arianne, oder Lucille, oder wie sie sonst heißt, na ja, als sie euch überhaupt nicht beachtete, da dachte ich, ihr könnt nur ihre jüngeren Brüder sein. Mir geht es nämlich immer so mit meiner großen Schwester.« Er rückte auf der Sitzbank zur Seite, um Justus Platz zu machen. Peter holte sich einen Stuhl an den Tisch. »Lucille Anderson ist in Cheshire Square nicht mehr aufzufinden«, berichtete Justus. »Wir könnten uns denken, daß sie entführt wurde.« Der ältere Junge war völlig verdutzt. »Du, das ist aber’n schlechter Witz.« Justus schüttelte den Kopf. »Heute früh war sie noch im Haus von Mrs. Fowler. Der Pförtner hat mit ihr gesprochen. Und dann kam der Mann, der sich McLain nennt, zusammen mit Henry Morell zu ihr, und seither ist sie spurlos verschwunden.« Der andere Junge saß einen Augenblick lang ganz starr da. Dann brüllte er durch den Raum: »Hey, Jungs, kommt mal rüber! Hört euch an, was der Kleine da weiß.« Die Videogeräte hörten auf zu blinken und zu piepen, und die anderen Gäste kamen heran, um sich Justus’ Bericht anzuhören. Auch die mollige Frau hinter dem Tresen beugte sich neugierig vor. Justus erzählte die Geschichte von Lucilles Verschwinden mit allen Einzelheiten. Er erwähnte auch die gefüllte Badewanne, das ver75
schüttete Parfüm und das Handtuch mit den roten Flecken im Papierkorb. »Vielleicht kam es zu einem Kampf«, sagte er, »und McLain und Morell haben Lucille mitgenommen. Einige von euch haben McLain ja gesehen. Es ist übrigens ein falscher Name. Wie er wirklich heißt, wissen wir nicht, und zur Zeit sieht es nicht danach aus, als könnten wir das demnächst ermitteln. Es sei denn, jemand von euch hier weiß etwas dazu zu sagen.« Im »Pizza Shack« war es ganz still. Da ging die Tür auf, und der grauhaarige Mann, der anscheinend der Geschäftsführer des Lokals war, kam herein. Er sah die dichtgedrängte Gruppe um Justus und Peter. »Was ist denn hier los?« wollte er von der Kellnerin wissen. »Die beiden Jüngeren suchen ein Mädchen, mit dem sie befreundet sind, Mr. Sears«, antwortete die Frau. »Ein so bildhübsches Mädchen. Sie war oft hier, meistens an den Videogeräten, und jetzt wird sie vermißt. Die Jungen vermuten, sie ist entführt worden.« »Entführt?« wiederholte der Mann. Verwundert hob er die Augenbrauen. »Ja, es hat ganz den Anschein«, bestätigte die Frau. Da wandte sich Justus an die Frau hinter dem Tresen. »Können Sie sich an den Mann erinnern, der gestern abend die Party in Cheshire Square gab? Zum Essen gab es massenhaft Pizza. Hat er die hier besorgt?« Sie nickte. »So ’n aalglatter Typ«, sagte sie. »Ich dachte mir noch, was hat denn der mit diesem niedlichen jungen Mädchen zu schaffen? Der ist doch viel zu alt, verglichen mit ihr und ihren Freunden.« »Er ist ein bedeutender Filmproduzent aus Hollywood«, warf der Junge neben Justus ein. »So ähnlich drückte er sich jedenfalls aus. Aber ganz sicher bin ich da nicht. Wie man das eben so dahinsagt: Du bist großartig, Baby, und ich bring’ dich beim Film unter. Na ja, als der Bursche gestern hier hereinkam und Arianne entdeckte . . .« »Sie sind hier zusammengetroffen?« fragte Justus rasch. »Ja. Sie machte ein Spiel, und als er mit dem anderen, diesem schmuddeligen kleinen Kerl, reinkam, da hatten sie es gleich auf 76
Arianne abgesehen. Sie redeten kurz miteinander und beobachteten Arianne dabei, und dann steht McLain auf und stellt sich ihr vor. Das war ein Getue, als ob er grade einen riesigen Goldklumpen gefunden hätte oder so was. Und er sagt, sie ist genau der Typ, den er sucht.« Eines der Mädchen, das bei der Party gewesen war, kam an den Tisch geschlendert und setzte sich. »Arianne schwebt immer so ein bißchen in den Wolken, weißt du«, erklärte sie Justus. »Die glaubt allen Ernstes, daß sie im Film groß rauskommt, wenn sie ein paar niedliche Faxen machen kann, und wenn der Bursche behauptet, er ist Produzent und will ihr eine Rolle geben, dann ist der für sie glatt der Weihnachtsmann. Also gleich nach dem Gespräch sitzt sie mit den beiden zusammen, und sie futtern Pizza. Und dann laden sie uns alle hier ein, wir sollen zu dieser Party zum Cheshire Square kommen und Ariannes neuen Job feiern.« »Versteh’ ich nicht«, sagte Peter. »Wieso denn all die Leute hier zu einer Party einladen?« »Er wollte eben nicht, daß sie glaubt, er sei irgendein Hallodri, und er meinte, mit all ihren Freunden würde sie sich wohler fühlen«, antwortete das Mädchen. »Jedenfalls sagte er das.« Plötzlich wurde sie ernst. »Es hörte sich wirklich so an, als sei der ganz in Ordnung, als er uns alle einlud. Wir müssen uns ja immer sagen lassen, wir sollen nicht allein mit einem Fremden irgendwohin gehen oder zu einem ins Auto steigen, und in der Gruppe sei man sicherer. Die Sache gestern abend war wirklich eine Wucht! Es waren bestimmt an die fünfzig Leute da. Und jetzt . . . jetzt ist Arianne tatsächlich verschwunden?« Justus nickte. Bekümmert fuhr das Mädchen mit ihrem Bericht fort: »Ich hab’ heute schon versucht, sie in dem Kosmetiksalon anzurufen, wo sie arbeitet. Aber sie war gar nicht erschienen, das sagten sie mir kurz angebunden. Ich konnte dort auch nicht erfahren, was mit ihren Eltern ist.« »Die Eltern reisten zurück nach Fresno«, sagte Justus. »Zur Zeit 77
sind sie möglicherweise aber wieder hier, falls Kommissar Reynolds sie erreicht hat.« »Wieso meinst du eigentlich, daß dieser Bursche gar nicht McLain heißt?« fragte einer der Jungen. »Weißt du das ganz sicher?« »Wir haben heute früh den echten Craig McLain kennengelernt«, erklärte Justus. »Und der ist ganz bestimmt nicht der Mann, der die Party gab.« »Craig?« fragte der Junge zurück. »Sagte er, daß er Craig McLain heißt? Sein Freund nannte ihn nämlich anders, es war irgend so’n komischer Name.« »Iggy«, erinnerte sich eines der Mädchen. »So nannte ihn sein Freund.« »Iggy?« meldete sich da plötzlich der Mann hinter dem Tresen. Alle sahen zu ihm hin, und da wurde er verlegen. »Ist doch gar kein Name, Iggy«, meinte er kopfschüttelnd. »Ein Halunke, der mit einem jungen Mädchen abhaut! Wir leben schon in einer üblen Zeit . . .« Niemand widersprach ihm. Justus und Peter blieben noch eine Zeitlang da, um zu hören, ob sich irgendjemand an weitere Einzelheiten zu dem falschen Filmproduzenten erinnern konnte. Aber das war nicht der Fall. Dieser Mann war wirklich eine höchst zwielichtige Existenz!
Fiel euch das nicht auch auf, wie der Mann im Hintergrund auf einen Namen reagierte? Ob dieser Name ihm etwas bedeutet? Der Geräuschpegel in einer von jugendlichen heimgesuchten Pizzeria läßt ja das an einem Tisch Gesprochene leicht in undefinierbarem Gemurmel untergehen. Doch der Mann hinten hörte »Iggy«.
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Überfall! Im Laufe der Nacht trafen die Andersons in Rocky Beach ein. Kurz nach acht Uhr früh tauchten sie völlig erschöpft und übermüdet im Jonasschen Haus auf Mit Hauptkommissar Reynolds hatten sie bereits gesprochen. Tante Mathilda hatte sich von ihrem beängstigenden Erlebnis am Vortag wieder erholt und tat ihr Bestes für das verzweifelte Ehepaar aus Fresno. Dies bestand bei Tante Mathilda üblicherweise aus einem herzhaften Essen, aber die Andersons brachten trotz guten Zuredens keinen Bissen hinunter. »Ich kann mir nicht vorstellen, daß kein Mensch etwas gesehen hat«, meinte Mr. Anderson. »Zum Beispiel die Nachbarn. Der Kommissar sprach mit den Leuten, und nicht ein einziger hat gesehen, wie Lucille mit den beiden Burschen das Haus verließ. Der Wagen, den dieser vorgebliche McLain fuhr, ist auf einen gewissen Henry Vance zugelassen. Vance hat ihn vor einiger Zeit an einen anderen namens Smith verkauft, und Smith hatte ihn noch nicht wieder neu zugelassen, also brachte das amtliche Kennzeichen überhaupt nichts. Wir wissen nur, daß es ein grauer Wagen ist. Dann riefen wir an Lucilles Arbeitsplatz an, diesem Kosmetiksalon. Der alten Schachtel, die ans Telefon kam, war aber die Sache völlig gleichgültig«, schloß er verbittert. »Mr. Anderson, Sie sind müde, und Ihre Frau ist mit den Nerven völlig fertig«, stellte Tante Mathilda fest. »Ruhen Sie sich doch lieber hier bei uns ein paar Stunden aus. Wir haben ein schönes Gästezimmer. Wir benachrichtigen Sie sofort, wenn sich etwas ergeben sollte.« »Nein.« Mr. Anderson sah störrisch zum Fenster des Wohnzimmers hinaus. »Wir haben uns im Rocky Beach Inn ein Zimmer genommen. Das dürfte mittlerweile bereit sein. Wir werden dort im Hotel auf Nachricht warten, von Kommissar Reynolds oder . . . oder sonst jemand, der uns etwas mitzuteilen hat. Bei unserem Telefon zu 79
Hause ist ein Nachbar, falls ein Anruf von den Entführern kommen sollte. Vielleicht ist es ja das übliche Schema«, meinte er mit einer Spur von Zuversicht. »Eine Lösegeldforderung.« Mrs. Anderson stand auf und ging ein paar Schritte durchs Zimmer. Sie sah aus wie eine Schlafwandlerin. »Ich weiß, daß du dein Bestes getan hast«, wandte sich Mr. Anderson an Justus. »Ich möchte dir und deinen beiden Freunden dafür danken.« Dann nahm er seine Frau beim Arm, und die beiden verließen das Haus. Justus ging in seine Werkstatt und kroch durch Tunnel II in die Zentrale. Peter und Bob waren schon da. »Morgen«, sagte Peter. Er saß auf dem Fußboden, mit dem Rücken an den Aktenschrank gelehnt, und sah ganz verschlafen aus. »Ich hab’ vor eurem Haus den Wagen der Andersons gesehen, und da rief ich Bob an, er solle gleich rüberkommen. Gibt’s was Neues?« »Nein.« Justus nahm seinen angestammten Platz hinter dem Schreibtisch ein. »Die Andersons haben sich im Rocky Beach Inn ein Zimmer genommen. Dort bleiben sie wahrscheinlich, bis etwas zu erfahren ist.« »Das wollen wir doch hoffen«, sagte Bob. Er war gerade dabei, die Einträge in seinem kleinen Notizbuch zu überprüfen. »Jeder Anlauf scheint uns nur in eine Sackgasse zu führen. Die beiden Burschen, die für Lucille die Party gaben, sind praktisch aus dem Nichts aufgetaucht und wieder dorthin verschwunden. Zumindest der eine hatte sich einen falschen Namen zugelegt. Für den anderen gilt das vermutlich auch. Ein Henry Morell war ja bei Twentieth Century Fox überhaupt nicht bekannt.« Auch Justus machte ein langes Gesicht. »Aber so vieles paßt einfach nicht zusammen. Die beiden können sehr wohl gewöhnliche Entführer sein ’ die sich Lucille kurz entschlossen schnappten. Aber falls sie es wirklich auf eine Entführung angelegt hatten, gingen sie jede Menge unnötige Risiken ein. Sie zeigten sich offen vor Lucilles Freunden, sie gaben eine Riesenparty, und dann trafen sie auch 80
noch mit ihren Eltern zusammen. Das ist kein typisches Verhalten für Entführer.« Justus legte die Fingerspitzen wie zu einem kleinen Käfig gegeneinander. »Und dazu kommt noch der ungeklärte Fall des Einbrechers, der ins Haus von Mrs. Fowler eindrang, noch ehe Lucille McLain und Morell begegnet war. Ob das einer der beiden war, entweder McLain oder Morell? Und falls dies zutrifft, warum verschaffte er sich heimlich Zutritt zum Haus? Um Lucille mitzunehmen? Oder um etwas aus dem Haus zu stehlen?« »Vielleicht war das auch ein Zufall«, äußerte Bob. »Wie unser Zusammentreffen mit dem verkleideten Werwolf bei dem Leihhaus, wo Lucille ihre Anstecknadel versetzt hatte. Mir scheint das eine zufällige Parallele zu sein, ohne Zusammenhang mit unserem Fall. Straßenräuber in Horrormasken haben an allen möglichen Orten Überfälle begangen, und dem Anschein nach hat keiner dieser Tatorte etwas mit Lucille zu tun.« Peter seufzte. »Und wenn wir jetzt den ganzen Tag lang alles noch mal durchkauen, bringt es uns nicht weiter. Lucille ist verschwunden, gleichzeitig mit zwei Männern, von denen wir so gut wie nichts wissen, und solange wir die nicht finden, haben wir versagt.« Die kleine Beuteltasche aus Plastik, die die Jungen am Strand gefunden hatten, war noch immer in der Zentrale. Die Jungen hatten vergessen, sie zu dem Besuch bei Lucille in Cheshire Square mitzunehmen. Bob nahm die Tasche vom Aktenschrank herunter und schüttete den Inhalt auf der Schreibtischplatte aus. Er blickte starr auf die Kosmetika, das Buch aus der Leihbibliothek und den Teddybären, als könne einer dieser Gegenstände einen Hinweis auf Lucilles Aufenthaltsort geben. Der dunkelbraune Bär mit dem seidenweichen Fell starrte mit seinen Knopfaugen zurück. Justus nahm das Buch zur Hand und blätterte darin. Auf manchen Seiten waren Abschnitte angestrichen. Justus las vor: »Jeden Abend, wenn du aufs Einschlafen wartest, mußt du die Worte ERFOLG, LIEBE, REICHTUM wiederholen. Male dir richtig aus, welche Freude du daran hast. Und so sicher am 81
nächsten Morgen die Sonne aufgehen wird, so sicher werden dir Erfolg, Liebe und Reichtum zufallen!« Da prusteten die drei ??? trotz der bedrückenden Situation vor Lachen. Peter holte sich den kleinen Teddy und sprach ihn ernsthaft an: »Male dir aus, wie dich im Wald mit seinem jungen Grün der kühle Sommerwind erfrischt. Und morgen erwachst du vielleicht als ausgewachsener, lebendiger Braunbär!« Noch einmal gab es ein großes Gelächter. Dann gingen Peter und Bob nach Hause. Justus blieb in der Zentrale sitzen und grübelte weiter. Ratlos starrte er den Teddy an, den Peter auf dem Schreibtisch abgelegt hatte, und er ahnte, daß es irgendwo ein Indiz geben mußte, das ihm bisher entgangen war. Möglicherweise gab es Zusammenhänge zwischen den verschiedenen ungewöhnlichen Vorfällen, und wenn er diese ergründen konnte, führten sie ihn vielleicht auf Lucilles Spur. Justus steckte alles wieder in die Tasche: den Bären, das Buch und zuletzt die bunte Sammlung der Töpfchen und Stifte. Und in diesem Augenblick hörte er, wie sich vor dem Campingwagen etwas regte. Er hielt den Atem an und lauschte. Was war das? Stöberte irgendein kleines Tier in dem Schrott herum, der rings um den Wagen aufgehäuft war? Wieder hörte er das schwache Geräusch, das kaum lauter war als der Wind, der draußen wehte. Es war ein ganz leises Seufzen, als habe jemand schon sehr lange und ungeduldig da draußen gewartet. Auf Justus! Der Erste Detektiv machte sich klar, daß er draußen nach dem Rechten sehen mußte. Dort war jemand, oder etwas, und er würde keine Ruhe finden, ehe er nicht wußte, was sich da tat. Er stand auf und setzte seinen Stuhl geräuschlos zurück. Er ging um den Schreibtisch herum, blieb dann stehen und horchte. Nun war alles wieder still. Es war doch nur ein Tier gewesen, sagte sich Justus energisch. Ein Erdhörnchen hatte in dem Schrottberg Unterschlupf gesucht. Oder eine streunende Katze hatte da gestöbert. Oder etwa eine Ratte? 82
Keine angenehme Vorstellung, aber auch mit Ratten würde Justus Jonas fertig werden. Der kürzeste Weg aus der Zentrale war der Dicke Bauch, und diesen Ausgang wählte Justus. Eine Tür führte unmittelbar vom Anhänger in einen riesigen ausgedienten Dampfkessel, in dem selbst ein Erwachsener Platz gehabt hätte. Vom Innern des Kessels gelangte Justus in einen kurzen Durchgang zwischen aufgestapelten Granitsteinen, und an dessen Ende kam er zu einer massiven Eichentür samt Rahmen. Justus öffnete die Tür spaltbreit und spähte vorsichtig auf den Schrottplatz hinaus. Doch es war nichts Ungewöhnliches zu sehen. Einige Minuten lang schlenderte der Erste Detektiv auf dem Lagerplatz herum, ohne jedoch ein Tier oder sonst einen Eindringling zu entdecken. Dann ging er zu seiner Werkstatt. Auf dem mühseligen Weg durch Tunnel II betrat er die Zentrale wieder. Mit raschem Blick sah er sich im Innern um. Die Plastiktasche lag wie zuvor auf dem Schreibtisch. Aber eines fiel ihm doch auf. Ein Notizblock hatte neben dem Telefon gelegen. Und während Justus draußen das Gelände abgesucht hatte, war jemand hinter seinem Rücken in die Zentrale eingedrungen und hatte diesen Notizblock umgedreht, um zu lesen, was darauf geschrieben war. Ein kalter Schauer rieselte Justus den Rücken hinunter. Auf dem Block stand übrigens nichts Wichtiges. Justus hatte beim Nachdenken nur müßig daraufherumgekritzelt. Aber nun wußte er, daß jemand hier drinnen gewesen war. Und mit einem Mal war ihm auch klar, daß der Eindringling noch dasein mußte! Justus erstarrte in der Bewegung. Er spürte, daß jemand hinter ihm war. Gerade stand Justus mit dem Rücken zu dem Vorhang, der den Büroraum von der kleinen Dunkelkammer trennte. Und er wußte, daß jemand, der sich heimlich und geschickt in die Zentrale eingeschlichen hatte, dicht hinter diesem Vorhang stand und wartete. Nun hörte Justus auch Atemzüge. Erst waren sie so leise, daß er sich nicht sicher war. Doch dann wur83
den sie lauter. Es war furchtbar. Ein rauhes, rasselndes Geräusch drang an Justus’ Ohren. Dann widerhallte der Raum von dämonischem Gelächter! Justus machte einen Satz, weg vom Vorhang, und drehte sich blitzschnell um. Er mußte dem Eindringling ins Auge sehen! Der Vorhang wurde zur Seite gerissen. Schreck erfüllt starrte Justus auf ein grauenvolles Wesen, mit schuppiger Haut und spitzen Zähnen in einem grotesk deformierten Gesicht. Wieder lachte das Wesen. Eine dunkle Klaue streckte sich gegen Justus vor. Justus fuhr zurück, prallte gegen den Schreibtisch, versuchte seitlich auszuweichen. Die lachende Schreckgestalt schlug zu! Justus spürte einen heftigen Stoß und sah noch, wie der stählerne Aktenschrank auf ihn zuzurasen schien. Er schlug mit dem Kopf an dem Stahlschrank auf, und dann wurde es dunkel um ihn.
Jagd auf einen Bären »Dem ging es um irgendwas aus der Tasche!« sagte Justus. »Gleich als ich wieder zu mir kam, sah ich, daß die Tasche nicht mehr da war, und da wurde mir alles klar. Diese Plastiktasche hatte schon der Einbrecher gesucht, der Tante Mathilda in die Besenkammer sperrte. Um die Tasche ging es auch bei Lucilles Entführung. Und nun hat sich dieses scheußliche Unding hier eingeschlichen und sie gefunden!« Justus hatte Bob und Peter angerufen, sobald er wieder klar denken konnte. Die beiden waren schnellstens zur Zentrale gekommen, 84
und nun saßen sie uni den Schreibtisch beisammen. Justus war noch immer blaß und geschockt, und auch Bob und Peter waren ganz verstört. Da hatte jemand ihre so sorgfältig errichtete Bastion überwunden, und Justus war mitten in ihrer Geheimzentrale niedergeschlagen worden! »Und ich mache es ihm auch noch so leicht«, fuhr Justus reuig fort. »Da höre ich draußen ein Geraschel und flitze zum Dicken Bauch raus und zeige ihm klar und deutlich, wo’s reingeht! Und bis ich endlich durch Tunnel II wiederkomme, wartet er schon auf mich!« Justus schüttelte sich vor Abscheu bei der Erinnerung an das gräßliche Gesicht und die ausgreifenden, klauenartigen Hände. Peter hatte ja angesichts des maskierten Wesens, das aus dem Pfandhaus geflüchtet war, einen ähnlichen Schock erlitten. »War das dieselbe Maske?« fragte er. »Der Werwolf, als der sich dieser Kerl gestern vermummt hatte?« »Das nicht, aber derselbe Mann hätte es natürlich sein können.« Justus hatte sich mittlerweile beruhigt und war auch nicht mehr so bleich. »McLain und Morell befassen sich beruflich mit Horrorfilmen. Zumindest gaben sie das vor. Vielleicht gehört es für sie zur künstlerischen Erfahrung, Straftaten zu begehen und sich dazu als Schreckgestalten zu verkleiden.« »Dagegen nimmt sich der Bursche, der in das Haus in Cheshire Square einbrach, richtig fade aus«, fand Bob. »Die gute alte Strumpfmaske über den Kopf gezogen, wie sie’s alle seit eh und je machen.« »Von einem mal abgesehen«, entgegnete Justus. »Davon war nämlich Lucille Anderson betroffen. Also war es vielleicht doch derselbe Mann.« »Da gebe ich dir recht«, sagte Peter. »Aber was wollte denn dieses Monster nun aus dem Inhalt der Tasche haben? Die Quittungen von den Pfandhäusern?« »Ach, die Zettel, die Lucille in das Buch eingelegt hatte?« Justus zog die Brauen zusammen. »Das glaube ich nicht. Die Sachen, die Lucille versetzt hatte, waren doch ganz gewöhnliches Zeug. Und viel 85
wert waren sie auch nicht. Ein dünner Ring, eine Medaille von der Schule und eine kleine goldene Anstecknadel. Für alles zusammen hat sie nur ein paar Dollars bekommen. Wir sollten auch beachten, daß der Pfandleiher, der Lucilles Nadel vereinnahmt hatte, nur einer von mehreren Leuten war, die von maskierten Horrorgestalten überfallen und beraubt worden waren. Nein, ich glaube nicht, daß die Anstecknadel und die anderen Schmuckstücke in der Sache eine Rolle spielen.« »Davon kriegt man ja Kopfschmerzen«, äußerte sich Peter ganz frustriert. »Wenn das Monster nicht die Pfandquittungen haben wollte, was denn dann? Etwa das Buch?« »Ein Buch aus einer öffentlichen Bücherei?« Bob lachte. »Niemals. Es sei denn, etwas Wichtiges war hineingeschrieben worden, eine geheime Mitteilung oder so was. Lucille hat vielleicht Notizen in das Buch gemacht, und sie hatte ja auch den einen oder anderen Abschnitt angestrichen. Aber was soll das Spezielles bedeuten? Sie machte bestimmt nicht den Eindruck, als sei sie in eine ungesetzliche Sache verwickelt. Sie wollte sich nur lange genug von ihren Eltern absetzen, um eine Filmrolle zu bekommen.« »Der Teddybär!« warf Justus plötzlich ein. Bob und Peter sahen ihn verständnislos an. »Was soll denn mit dem Teddy sein?« wollte Peter wissen. »Wenn es dem Monster nun um eben diesen Bären ging?« erörterte Justus. »Ein billiges Spielzeug war das nicht. Die meisten Teddybären haben einen Kunstpelz. Der Bär in der Tasche war mit echtem Fell bezogen.« »Na und?« Peter begriff nicht. »Auch wenn der kleine Bär aus dem kostbarsten Nerzfell der Welt hergestellt wäre, hätte sich der ganze Wirbel doch nicht gelohnt.« »Angenommen, es war etwas in dem Bären versteckt . . .« meinte Justus nachdenklich. »Mann, du hast recht!« rief Bob. »Das ist es! Schmuck. Oder Rauschgift. McLain und Morell wissen, daß Lucille einen Spielzeugteddy hat, in dessen Bauch etwas Wertvolles versteckt ist. Einer 86
bricht in Mrs. Fowlers Haus ein, um danach zu suchen, und Lucille überrascht ihn. Als sie dann noch mal zu zweit kommen und wieder nichts finden, entführen sie das Mädchen, um von ihr unter Gewaltandrohung zu erfahren, wo der Teddybär ist. Lucille gibt wahrheitsgemäß an, er müsse hier bei uns sein. Daraufhin durchsucht einer der Burschen euer Haus, Justus, findet den Teddy aber immer noch nicht, und schließlich verfolgen sie unsere Spur bis hierher.« »Und die ganze Zeit über behalten sie Lucille in ihrer Gewalt, damit sie nicht zur Polizei gehen kann«, schloß Peter. »Eine äußerst attraktive Theorie«, fand Justus. »Alle Fakten, die uns bis jetzt bekannt sind, passen dazu. Es erklärt auch, warum Tante Mathildas Geldkassette nicht angerührt wurde. Und warum sich in Mrs. Fowlers Schlafzimmer ein blutbeflecktes Handtuch fand.« »Eben«, bestätigte Peter. »Weil es nämlich zu einem Kampf kam und dabei jemand verletzt wurde!« Justus war in voller Fahrt. Mit blitzenden Augen griff er zum Telefonhörer. »Als erstes müssen wir herausfinden, wie Lucille zu diesem Teddy kam«, verkündete er. »Er ist für uns das einzige Indiz, das auf den rätselhaften Einbrecher hindeutet. Der einzige Hinweis auf den Ort, wo sich Lucille zur Zeit befindet!« Mit der freien Hand schlug Justus die Seiten des Telefonbuchs um. »Da ist es«, sagte er. »Das Hotel Rocky Beach Inn.« Er wählte eine Nummer und fragte nach Mr. Anderson. Als dieser an den Apparat kam, meldete sich der Erste Detektiv: »Hier Justus Jonas. Wir haben jetzt möglicherweise einen Fingerzeig, dem wir nachgehen können. Erinnern Sie sich an den kleinen Teddybären in Lucilles Beuteltasche? Hatte sie den schon bei sich, als sie von Fresno wegging? Es ist ein Bär mit echtem Pelz.« »Ein Teddybär?« wiederholte Mr. Anderson. »Augenblick mal, da muß ich meine Frau fragen.« Justus konnte einen gedämpften Wortwechsel hören. Gleich darauf kam Mr. Anderson wieder ans Telefon. »Judy sagt, bei den Spieltieren, die Lucille auf ihrem Bett hatte, sei kein solcher Teddy mit Fell gewesen«, berichtete er. »Soviel wir wissen, hat Lucille nur Kleider 87
und Kosmetiksachen mitgenommen, sonst nichts. Warum fragst du?« »Wir sind uns nicht sicher, Mr. Anderson, aber wenn Lucille diesen Bären erst hier gekauft hat, dann könnte das eine ganz wichtige Spur sein. Wir melden uns wieder bei Ihnen. Inzwischen vielen Dank.« Justus legte auf. »Sie hat also den Teddy hier gekauft. Aber wo? Und wie sollen wir das nur herausfinden?« »Im Pizza Shack vielleicht?« schlug Bob vor. »Es könnte ja sein, daß dort jemand etwas davon weiß.« »Versuchen könnten wir’s«, meinte Justus. Muß Lucille den Teddy unbedingt gekauft haben? Er kann ja auch ein Geschenk gewesen sein. Gestohlen hat Lucille ihn ganz bestimmt nicht. Ja, und was gäbe es da noch?
Wenige Minuten später überquerten die drei Jungen die Küstenstraße am Pazifik. Beim Eintritt in die Pizzeria wurden sie von einigen Stammgästen gleich wiedererkannt und mit Winken begrüßt. Die Frau hinter dem Tresen lächelte ihnen zu. »Mit ihrer Bestellung sind sie immer sehr sparsam«, sagte sie zu dem grauhaarigen Mr. Sears, der an der Registrierkasse stand. »Aber es sind sehr nette Jungen. Immer höflich.« Mr. Sears äußerte sich nicht dazu, aber er sah und hörte aufmerksam zu, wie Justus die anderen Jungen und Mädchen fragte, ob jemand sich an den Teddy erinnerte, den Arianne Ardis in ihrer Beuteltasche bei sich gehabt hatte. »Ein Teddy?« fragte einer der Jungen. »Das soll wohl ein Witz sein! Einen Teddy soll sie mit sich rumgetragen haben?« »Das tun doch viele«, wandte ein Mädchen mit blutrotem Lippenstift und rostfarbenem Lidschatten ein. »So verrückt ist das gar nicht. Ariannes Teddy war ganz süß. Aus Nerz! Ich fragte sie, woher sie den hatte, aber sie wollte es mir nicht sagen.« 88
»Als du danach fragtest, hatte sie da den Teddy schon längere Zeit?« forschte Justus. Das Mädchen zuckte die Achseln. »Einen Tag, zwei Tage, schätze ich.« Aber niemand sonst im »Pizza Shack« wußte irgend etwas über den Teddy. Also bedankten sich die drei ??? und gingen wieder. »So«, meinte Peter. »Und an wen wenden wir uns jetzt?« »An Spielzeugläden. Logisch«, erklärte Justus. Peter stöhnte laut. »Ist dir klar, wieviele Läden hier in der Gegend Teddybären verkaufen?« »Ein erfolgreicher Detektiv darf keine Einzelheiten vernachlässigen«, gab Justus zurück. Wenige hundert Meter von der Pizzeria entfernt war schon der nächste Spielzeugladen, und dort begannen die Jungen mit ihren Ermittlungen. Peter stöhnte erneut, als er die Regale voller Teddybären sah. »Wie sollen wir jemals herauskriegen, wo Lucille ihren Teddy gekauft hat?« »Hier jedenfalls nicht«, stellte Justus fest. »Die sind alle nicht aus Fell.« Die Bären waren tatsächlich nur aus Plüsch oder Filz. Die Ladeninhaberin war ziemlich verblüfft, als Justus ihr seinen Wunsch nach einem Teddybären mit echtem Pelz vortrug. »Richtiges Fell muß es sein«, sagte er. »Am besten Nerz.« »Das wäre was ganz Besonderes«, entgegnete die Frau. »Aber muß es unbedingt Nerz sein?« »Ganz dunkel jedenfalls. Eine Freundin von uns hat einen solchen Teddy, und da interessierte es mich, ob sie ihn bei Ihnen gekauft hat.« »Nein. Ihr könntet es mal in Santa Monica versuchen, in dem Laden gegenüber dem Pier. Die führen so richtig teure Spielsachen. Und wenn sie dort keinen Teddy aus Nerz haben, dann können sie euch vielleicht sagen, wo ihr so einen bekommt.« Die Jungen nahmen den Bus nach Santa Monica und fanden ohne Mühe das Geschäft beim Pier. Es hieß »Das Ende des Regenbo89
gens«, und außer Bären und anderen Spieltieren in allen Größen und aus allen möglichen Materialien gab es dort Hunderte unnützer Dinge mit aufgedruckten Herzen oder Regenbogen, manchmal auch mit Herzen und Regenbogen. Aber es gab keine Teddybären aus Nerz. Die junge Frau im Laden empfahl den Jungen, es in den Geschäften in Beverly Hills zu versuchen. »In Beverly Hills gilt Nerz als ganz schick«, sagte sie. Sie gab den Jungen die Namen und Anschriften einiger Spielzeugläden in den großen Einkaufsstraßen von Beverly Hills. Die drei ??? bedankten "ich und schleppten sich, schon ziemlich müde, auf die Straße hin aus. Nachdem sie kurz warten mußten, um einen dunkelroten Audi vorüberzulassen, gingen sie über die Fahrbahn zur Bushaltestelle. Dort ließ sich Peter völlig erschöpft auf eine Bank fallen. »Ist euch eigentlich klar, daß wir mit diesen aufwendigen Ermittlungen glatt den Rest unseres Lebens zubringen können?« wandte er sich vorwurfsvoll an die anderen. »Ganz so schlimm wird’s nicht werden«, tröstete ihn Justus. »Ich blicke in unsere Zukunft und sehe einen Rolls-Royce mit goldenen Beschlägen.«
Ein Pelzhändler hat Sorgen Ein Glück: Morton war nicht vergeben. Er kam mit dem Rolls-Royce an, und im Nu erreichten sie Beverly Hills. Morton stellte den Wagen auf einem Lieferantenparkplatz hinter der großen Geschäftsstraße Beverly Drive ab. »Ich bleibe im Wagen«, sagte er. »Wenn mich jemand wegschickt, fahre ich eben ein paarmal um den Block.« 90
Zwei Frauen gingen gerade an dem Auto vorüber. Die eine las in einem Stadtführer. »Hör dir das an«, wandte sie sich an ihre Begleiterin. »Hier steht: Beverly Hills ist eine der teuersten Städte in dieser Region. In dem hügeligen Vorortbezirk liegen die luxuriösen Anwesen hochbezahlter Stars der Film- und Fernsehindustrie. Die Einkaufsstraßen . . .« Sie sah sich nach ihrer Freundin um und brach mitten im Satz ab. »Thelma!« rief sie schrill. »Sieh dir diesen supertollen Wagen an!« Rasch zog sie ihre Kamera aus der Handtasche und schoß ein Bild. Morton tat so, als habe er das alles gar nicht bemerkt. Die beiden Frauen standen noch immer da und bewunderten den Rolls-Royce, während die Jungen davonschlenderten. In der näheren Umgebung fanden sich zwei Spielzeugläden. Im ersten hatten die Jungen kein Glück. Im zweiten allerdings wußte ein schlanker Verkäufer in einer schicken Hose aus Nappaleder zu berichten, daß er einen solchen Nerz-Teddy gesehen hatte. »Der Bär war aber keine normale Handelsware«, erklärte er. »Eine unserer Kundinnen bekam ihn geschenkt, als Zugabe. Sie hatte sich eine Pelzjacke gekauft, in dem Geschäft an der Ecke Wilshire Boulevard und Olympic Avenue. Als ihr die Jacke zugeschickt wurde, war dieser Bär dabei. Ein extra Dankeschön als kleine Aufmerksamkeit des Geschäftsführers.« »Ach, interessant«, sagte Justus. »Wenn ihr unbedingt einen solchen Teddy haben wollt, nehme ich doch an, daß der Pelzhändler euch einen verkaufen wird.« »Oh, vielen Dank«, sagte Justus. »Bitte sehr. Schaut mal wieder rein, wenn ihr etwas Besonderes sucht. Zum Beispiel ein Häuschen für eine Maus. Ich habe sehr hübsche Ausführungen hier.« »Wirklich, für eine Maus?« fragte Peter. »Natürlich für eine Spielzeugmaus«, klärte ihn der Mann auf. »In Beverly Hills dürfen keine lebenden Mäuse verkauft werden. Das ist leider Vorschrift.« Peter mußte ein Lachen unterdrücken. 91
Die Jungen gingen zum Wagen zurück. Morton mußte gerade einem Passanten mit viel Mühe erklären, daß der Rolls-Royce keineswegs zum Zwecke von Filmaufnahmen hier stand. Erleichtert sah er die drei ??? ankommen. Während sie zu der bezeichneten Straßenecke weiterführen, bemerkte er, dieser Bezirk sei ja fest in Touristenhand. »Solange ihr weg wart, wurde ich mehrmals fotografiert«, berichtete er. »Man schien mich allgemein für einen Schauspieler zu halten.« »Na ja, Sie müssen schon zugeben, daß das Auto und Ihre Uniform sogar hier in Beverly Hills recht auffällig sind«, meinte Bob, woraufhin Morton leise lachte, möglicherweise sogar etwas geschmeichelt. Das Pelzgeschäft an der Ecke Wilshire Boulevard und Olympic Avenue hieß »Vronsky Frères«. Die Wände im Laden waren perlgrau tapeziert, und in dem grauen Bodenteppich sanken die drei ??? buchstäblich ein. Ein offenbar vielbeschäftigter Mann mit einem Maßband um den Hals hatte gerade an einem gelangweilten jüngeren Mann, der einen Staubsauger bediente, etwas auszusetzen. »Teddybären?« meinte der ältere Mann, als Justus sich nach Lucille Andersons Spieltier erkundigte. »Ja, ich hatte sonst immer einige da. Zur Zeit ist allerdings keiner mehr am Lager. Sie sind ja weggekommen.« »Weggekommen?« fragte Justus. »Ja, bei dem Einbruch«, erwiderte der Mann. »Nichts davon gehört? Aber klar, wieso solltet ihr das wissen? Auf zwei Einbrüche mehr oder weniger kommt es ja heutzutage nicht an.« Justus hatte Blut geleckt. »Einbrüche? Wann waren denn die?« »Beim ersten Mal räumten sie mir mein Pelzlager aus. Das ist jetzt eine Woche her. Und vor vier Tagen kamen sie nachts noch mal her und nahmen Geschäftsakten und Korrespondenz mit. Ach, lassen wir diese üble Geschichte. Wenn ihr einen Teddy sucht, dann geht doch in einen Spielzeugladen.« »Aber unsere Freundin hatte einen solchen besonderen Teddy aus echtem Pelz.« So leicht ließ sich Justus nicht abwimmeln. »Ich glau92
be, der war aus Nerz. Das Mädchen hatte ihn uns zum Aufbewahren gegeben, und da ist jemand bei uns eingebrochen und hat ihn gestohlen.« Der Pelzhändler nickte. »Tja. Auch hier nahmen sie die Teddys mit, gleich bei ihrem ersten Raubzug. Aber dann noch mal zu erscheinen und mein Büro zu verwüsten, das war doch die Höhe! Alle Papiere lagen auf dem Fußboden herum. Manches habe ich gar nicht mehr gefunden. Es war schon schlimm genug, daß mir die Pelze gestohlen wurden, aber die waren wenigstens versichert. Nur daß die Gangster dann auch noch mein Büro auf den Kopf stellen mußten . . . das war reiner Vandalismus. Neid und Mißgunst auf Geschäftsleute, die hart arbeiten und es zu etwas gebracht haben!« »Bestimmt, Sir«, bestätigte Justus. Der junge Mann mit dem Staubsauger zog den Stecker heraus und verschwand in einem Hinterzimmer. »Nehmt nur den da!« Der Pelzhändler sandte dem Jüngeren einen verächtlichen Blick nach. »Vielleicht aufrichtig, vielleicht auch nicht. Man kann nur das Beste hoffen. Immerhin macht er seine Arbeit. Sein Vorgänger war ein hoffnungsloser Fall. Dem konnte ich etwas auftragen, aber ebensogut hätte ich eine Wachspuppe ansprechen können. Der Bursche wußte alles über Filme und hatte keinen Dunst vom Arbeiten!« Justus war wie elektrisiert. Er spürte, wie auch Peter hinter ihm den Atem anhielt. Bob schaffte es am besten, ganz ruhig zu bleiben. Er trat ein wenig vor, um alles genau mitzubekommen, was der Pelzhändler vielleicht noch zu berichten hatte. »Ach, Ihr letzter Mitarbeiter war ein Filmfan?« erkundigte sich Justus. »Interessierten ihn vielleicht speziell Horrorfilme?« »Wie kommst du ausgerechnet darauf? Stimmt . . . Dracula! Der Wolfsmann! Leichen, die aus ihren Gräbern steigen und Morde begehen. All das ekelhafte Zeug!« Doch plötzlich wurde der Geschäftsmann mißtrauisch. »Ihr kennt wohl den Burschen! Was soll eigentlich das Gerede hier? Wer seid ihr, und was habt ihr vor?« »Wir . . . wir sind bemüht, unserer Freundin zu helfen«, rückte Ju93
stus entschlossen, aber vorsichtig mit der Wahrheit heraus. »Das Mädchen mit dem Nerz-Teddy. Es geht um sie selbst. Sie ist nämlich verschwunden. Die Sache ist äußerst wichtig. Bitte sagen Sie uns, wie Sie zu diesem früheren Mitarbeiter kamen. Wurde er Ihnen über eine Agentur vermittelt?« Der Mann runzelte die Stirn. »Der Bursche spazierte einfach eines Tages hier herein. Er sagte, er sucht Arbeit und er würde alles machen.« »War das vor den Einbrüchen oder erst hinterher?« wollte Justus wissen. »Und wann ging er wieder hier weg? Wie lange war er bei Ihnen beschäftigt?« »Nicht mal ganz zwei Tage. Ich hatte keinerlei Interesse, ihn zu behalten. Vor über zwei Wochen warf ich ihn wieder raus. Aber was geht denn euch das an?« »Und seine Adresse?« Justus ließ nicht locker. »Wo wohnt er? Und welchen Namen gab er bei Ihnen an? Es gibt da eine Mrs. Fowler, eine Dame aus Rocky Beach, genauer gesagt Cheshire Square. Ist sie Kundin bei Ihnen?« »Ach, nun wollt ihr mich auch noch über meine Kunden aushorchen?« Der Mann war sehr mißtrauisch geworden. »Hört mal, das gefällt mir gar nicht. Ich werde gleich die Polizei rufen!« »Bitte, es ist doch so ungeheuer wichtig!« Und Justus berichtete alles ganz genau, von der jugendlichen Ausreißerin, die dann bei Mrs. Fowler gewohnt hatte, und von der Tasche, die die Jungen am Strand gefunden hatten. Er erzählte von den verzweifelten Eltern. »Wir müssen annehmen, daß das Mädchen entführt wurde, und daß das etwas mit diesem Pelz-Teddy zu tun hat.« Doch auch als der Pelzhändler sich die Geschichte angehört hatte, war sein Mißtrauen noch nicht beseitigt. Er bestätigte zwar, er kenne eine Mrs. Fowler, äußerte sich jedoch nicht dazu, ob sie zu seinen Kundinnen gehörte. Als Justus nochmals wegen des kurzfristig beschäftigten Mitarbeiters nachhakte, ging der Mann sichtlich unwillig in das Hinterzimmer und holte dort einige Unterlagen. Einer der Belege war ein Durchschlag des Formulars, mit dem ein 94
Arbeitgeber den Namen und die Sozialversicherungsdaten eines neu eingestellten Mitarbeiters an die Staatsbehörden melden muß. Die Meldung bezog sich auf einen gewissen Frank Jessup. Dann zeigte der Pelzhändler Justus noch einen Bogen Papier, auf dem Jessup seinen Namen und seine Anschrift von Hand geschrieben hatte. »Den Scheck für die zwei Tage Lohn schickte ich dem Taugenichts mit der Post«, erwähnte der Pelzhändler noch. »Und kam der als unzustellbar zurück?« fragte Justus. »Nein.« »Wie sah Jessup aus? War er mager, mit glattem hellem Haar, ziemlich lang, bis über die Ohren?« »Nein. Klein, ziemlich stämmig, dunkles Haar. Krauses dunkles Haar. Aber jetzt reicht mir’s wirklich, und . . .« »Nur noch eine Sache«, bat Justus inständig. »Woher stammten die Teddybären? Die haben Sie doch in Ihrem Atelier nicht selbst angefertigt, oder?« »Nein. Die kaufe ich bei einem Händler. R.J. Importers.« »Und davon schenkten Sie Mrs. Fowler ein Exemplar, stimmt’s?« wagte Justus noch einen Vorstoß. »Raus!« gebot der Mann energisch. Noch während die Jungen auf dem Weg zur Ladentür waren, konnten sie hören, wie der Pelzhändler eine Telefonnummer wählte. »Der ruft jetzt die Polizei an«, war Peters Vermutung. Das bekümmerte Justus nicht. Er trat vor zum Bordstein, wo ein dunkelroter Audi gerade weggefahren war, und überquerte zielstrebig die Fahrbahn, um wieder zu Morton und zum Wagen zu stoßen. »Meiner Schätzung nach können wir als sicher annehmen«, verkündete er befriedigt, »daß Mrs. Fowler irgendwann bei Vronsky Frères einen Pelz kaufte und dazu einen Nerz-Teddy bekam, und daß Lucille sich diesen Teddy . . . sagen wir ausborgte, nachdem Mrs. Fowler nach Europa abgereist war. Und nun müssen wir diesem arbeitsscheuen Horrorfilm-Fan auf den Leib rücken.« »Du hast dir doch die Adresse dieses Jessup notiert?« fragte Bob. »Ja, es ist eine Nebenstraße in Santa Monica. Außer Straße und 95
Hausnummerwar eine Appartement-Nummer vermerkt, also muß es ein Appartment-Haus sein.« »Wahrscheinlich genauso erfunden wie der Name.« Peter war mißtrauisch. Justus lächelte. »Nicht unbedingt. Der Pelzhändler schickte dem Mann ja den Scheck, und der Brief kam nicht zurück. Also hat ihn jemand in Santa Monica erhalten.« »Na, dann los und ermitteln, wer das ist! Vielleicht hängt Lucilles Leben davon ab!«
Der Sammler »Es sollten nicht gerade sämtliche Einwohner von Santa Monica mitbekommen, daß wir hier eingetroffen sind«, äußerte Justus. »Sehr richtig, Justus. Wir sind heute schon recht häufig aufgefallen«, bestätigte Morton. Er bog um die nächste Ecke in eine Seitenstraße ein. »Jetzt sind wir ungefähr drei Straßen von der Adresse entfernt, die ihr beim Pelzhändler bekommen habt. Wenn es euch recht ist, warte ich hier, und ihr geht zu Fuß hin. Ihr braucht euch aber meinetwegen nicht sonderlich zu beeilen. Ich habe die heutige Ausgabe der Londoner Times und werde mich damit eingehend beschäftigen.« Die Jungen gingen los, die Straße vor und um die Ecke. Sie kamen an kleineren Wohnblocks und bescheidenen Einfamilienhäusern vorüber, bis sie ihr Ziel erreichten: ein großes, in U-Form angelegtes Appartement-Haus mit einer Rasenfläche zwischen den beiden Seitenflügeln. Appartement 15 befand sich im Erdgeschoß des Mitteltraktes. Peter war unsicher. »Was machen wir jetzt?« 96
»Wir klingeln«, beschloß Justus. Nachdem sich nichts rührte, trat Bob an ein Fenster und spähte in den Raum. Er sah abgewetzte Rattanmöbel, und über das ganze Zimmer waren Bücher und Papierblätter verstreut. Auf einem Bücherregal standen mehrere Filmspulen in Blechdosen und ein Totenschädel. An der Wand über dem Schädel hing ein Poster: ein abscheuliches Wesen, schwarzgekleidet und mit grünem Gesicht, das gerade einem offenen Grab entstieg. »Drittes Jahrestreffen« stand in großen Buchstaben über dem Abbild des Schreckgespenstes. »Horror Fan Club von Nordamerika. 14. und 15. August, Stadthalle Santa Monica.« »Na, das ist doch wohl die richtige Adresse«, meinte Bob. »Hallo, Jungs!« rief eine Stimme von einem Seitenflügel des Gebäudes herüber. Die drei ??? drehten sich um. Eine große, rothaarige Frau kam auf sie zu. »Ihr wollt wohl zu Mr. Morell?« fragte sie. Anscheinend war sie die Hausmeisterin. »Ja, oder zu seinem Freund, Frank Jessup«, gab Justus Auskunft. Er fühlte sich ebenso elektrisiert wie in jenem Augenblick, als der Pelzhändler Horrorfilme erwähnt hatte. »Jessup? Hin, den kenn’ ich gar nicht . . . Allerdings hatte Mr. Morell ein paar Tage lang ein Schildchen mit diesem Namen an seinem Briefkasten angeklebt. Seit einiger Zeit ist Mr. Morell aber verreist. Ist wohl in Urlaub gefahren. Wollt ihr ihm eine Mitteilung hinterlassen? Ich werd’ sie ihm dann geben. Oder ich geb’ sie dem anderen, diesem Jessup, falls ich ihn treffen sollte.« »Ach ja, danke«, sagte Justus. Er zog sein Notizbuch aus der Tasche. Die Frau schüttelte den Kopf. »Diesem Jessup bin ich tatsächlich nie begegnet. Aber er muß ein paar Tage bei Mr. Morell gewohnt haben. Wie es Mr. Pelucci hin und wieder macht.« »Mr. Pelucci?« Justus spürte, wie er vor Eifer zu zittern begann. Es sah ganz so aus, als bekämen sie den falschen Craig McLain nun doch noch zu fassen. »Ist das der Mann mit dem glatten, hellen Haar? Ziemlich lang, bis über die Ohren?« 97
»Genau der. Iggy Pelucci.« »Iggy?« fragte Justus. »Das könnte eine Kurzform von Ignatius sein, ja?« »Schon möglich.« Die Frau wurde allmählich ungeduldig. »Wollt ihr nun auch noch Mr. Pelucci eine Nachricht hinterlassen, oder was?« Justus kritzelte hastig auf eine Seite seines Notizbuches: Bitte Edward Hyde anrufen, Tel. 555-6359. Er riß das Blatt heraus und gab es der Frau. Ach habe nämlich eine Serie alter Filmplakate, die ich zu Hause beim Aufräumen in der Garage gefunden habe«, sagte er. »Es könnte ja sein, daß Mr. Morell daran interessiert ist. Eigentlich könnte ich ihn auch selbst an seinem Arbeitsplatz anrufen, falls Ihnen die Telefonnummer bekannt ist.« »Zur Zeit hat er keinen festen Arbeitsplatz«, teilte die Frau mit. »Bis vor einigen Wochen arbeitete er irgendwo in einem Filmstudio, aber da ist er anscheinend ausgeschieden.« Sie sah Justus neugierig an. »Dann gehört ihr also auch zu denen?« »Was meinen Sie? Zu wem?« »Zu denen, die sich für all den Horror- und Gruselkram begeistern. Henry Morell hat eine tolle Sammlung von einschlägigem Zeug. Seine ganze Wohnung ist damit vollgestopft, und ebenso die Garage, und kürzlich hat er bei mir noch eine zusätzliche Garage gemietet, um noch mehr von den Sachen unterzubringen. Sein Auto stellt er an der Straße ab. Manchmal denke ich mir, er spart am Essen, nur damit er sich immer noch mehr schauerliche Bilder und Gerippe und all so was kaufen kann. Vergeudet euer Leben bloß nicht mit solchem Unsinn. Ihr seid noch so jung.« Irgendwo im Haus klingelte ein Telefon. Da brach die Frau die Unterhaltung ab und ging hinein, um abzunehmen. »Also ein Sammler ist Morell«, stellte Justus fest. »Wir hätten es uns denken können. Und sein Freund Iggy Pelucci wohnt zeitweise bei ihm. Wenn Pelucci der Mann ist, der unter dem Namen McLain auftrat, machen wir beachtliche Fortschritte!« »Dann rufen wir jetzt die Polizei an?« wollte Peter wissen. »Oder ob 98
servieren wir die Wohnung selbst? Wenn Morell Sammler ist, kommt er früher oder später wieder her. Sammler trennen sich nie lange Zeit von ihren Objekten, stimmt’s?« »Ich glaube schon«, sagte Justus. Er ging hinter das U-förmige Gebäude, wo sich längs einer schmalen Zufahrt ein niedriger, langgestreckter Bau befand, der innen offenbar in Garagenplätze unterteilt war. Das Ganze war nicht sehr modern, denn die einzelnen Tore waren mit Vorhängeschlössern gesichert. Justus wurde von seiner Neugier überwältigt und strebte auf die Garagenreihe zu. Gerade wollte er durch eine Ritze in einem der Tore spähen. Da kam ein untersetzter, dunkelhaariger Mann den Zufahrtsweg entlang! Justus bekam einen tüchtigen Schrecken. Peter konnte nur entsetzt hervorstoßen: »Ausgerechnet Morell!« Es war tatsächlich der Mann mit dem dunklen, krausen Haar, der mit dem falschen Craig McLain auf Lucilles Party gewesen war. Natürlich erkannte er die Jungen. Einen Augenblick lang blieb er verdutzt stehen. Dann faßte er sich und kam heran. »So trifft man sich wieder«, sagte er. »Was führt euch hierher?« »Lucille Anderson«, entgegnete Justus gelassen. »Oder Arianne Ardis, wenn Ihnen dieser Name lieber ist.« »Ja . . . ja, und was soll mit ihr sein?« »Sie ist verschwunden«, erklärte Justus, »wie Sie selbst sehr wohl wissen. Der Mann, der sich Craig McLain nannte . . .« »Der gute alte Craig?« Morell versuchte ein unbekümmertes Grinsen aufzusetzen, aber es funktionierte nicht. »Was ist denn mit Craig?« »Craig McLain heißt dieser Herr jedenfalls nicht«, sagte Justus. »Könnten Sie uns freundlicherweise mitteilen, wo er sich zur Zeit aufhält? Wir würden uns nämlich gern mit ihm unterhalten. Andernfalls . . .« Da konnte Peter nicht länger an sich halten. Er packte Morell beim Arm. »Jetzt bloß keine faulen Ausreden!« warnte er den Mann. »Wo steckt der Kerl? Und wo ist Lucille Anderson?« »Ich weiß gar nicht, wovon ihr redet«, tat Morell de Angriff ab. 99
Aber der Schweiß war ihm ausgebrochen. »Du, laß mich gefälligst los, oder ich rufe die Polizei.« »Ja, los doch!« ermunterte Peter ihn sarkastisch. »Das wäre echt Spitze!« »Hmm . . . also, das ist so . . .«, stotterte Morell. Aus den kleinen Augen blickte er fahrig um sich. »Hört mal, McLain ist . . . er hat ja hier in der Stadt die besten Beziehungen. Und sobald die letzten Einzelheiten geklärt sind, ist Drehbeginn. Lucille . . . hmm . . . Arianne hat Talent, aber keine Ausbildung. Sie muß noch etwas geformt, gewissermaßen modelliert werden. Also wird sie von uns zur Zeit geschult. Stimme, Gestik, all das. Wir werden ihrem Naturtalent Brillanz verleihen, wir werden ihr wie einem kostbaren Juwel den krönenden Schliff geben.« Nun war Morell schon wieder obenauf. »Kommt mal mit«, forderte er die Jungen auf. »Ich zeige euch was Phantastisches.« Die drei Jungen sahen einander ratlos an. Was war davon zu halten? Ich frage sehr vorsichtig bei euch an: Würdet ihr mitkommen, um das »Phantastische« zu sehen? Morell zog ein Schlüsselbund aus der Tasche und schloß eine der Garagen auf. »All die alten Kulissen und Requisiten!« sagte er. Es klang, als rede er von Heiligtümern. »So was habt ihr noch nicht gesehen! Erinnert ihr euch an die Szene in Blutige Ernte, in der ein Zombie ins Schloß eindringt? Hier! Die Tür, die von selbst aufging, als auf der Orgel bestimmte Töne erklangen. Und dort drüben ist der Sarg aus Dorf der Verfluchten. Und dann hatte ich das Glück, einige echte Wachsfiguren aus der Ausstattung des ersten Films über das Wachsfigurenkabinett zu bekommen. Und die Originalmaske, die Lon Chaney in Das Phantom der Oper trug! Ganz zu schweigen von den Kopien all der alten Filme, und einem ganzen Stapel Drehbücher!« »Das ist ja wie ein Museum!« Bob war beeindruckt. Wider besseres Wissen waren die drei ??? mit Morell in die Garage getreten, und da 100
standen sie nun und bestaunten mit großen Augen die Ansammlung von Kultobjekten aus Horrorfilmen. Justus war ganz fasziniert von einem gerahmten, bestens erhaltenen Plakat für den Film Frankenstein mit Boris Karloff. Offenbar war es von Sammlern seit mindestens einem halben Jahrhundert sorgfältig gehegt worden, als sei es ein kostbares Gemälde. Justus drehte sich um, weil er Morell etwas fragen wollte. Aber Morell war verschwunden. Die drei Jungen standen mitten zwischen den ringsum angehäuften und gestapelten Versatzstücken aus uralten Filmen. »Morell?« rief Justus. Es kam keine Antwort. Nur das Garagentor klappte plötzlich zu, und die Jungen standen in völliger Finsternis. »Was soll denn das?« schrie Peter. Die Jungen hörten, wie es außen am Tor klickte. Das Vorhängeschloß! »Hey, Morell!« Peter tappte in der Düsternis zum Tor vor. Aus einigen Ritzen drang spärliches Licht ein. »Mann, machen Sie das Tor auf!« Er hämmerte mit den Fäusten gegen das Metall und brüllte. Doch vor der Garage war alles still. Henry Morell war weggegangen, und die Jungen waren eingesperrt!
In der Schreckenskammer »Irgendwer muß uns doch hören!« Bobs Stimme war hoch und schrill vor Aufregung. Auch er schlug wie besessen gegen das Garagentor. »Hallo! Hallo! Wir brauchen Hilfe!« Niemand antwortete. 101
Einige Minuten lang versuchten die drei es weiter mit Rufen und Pochen, dann gaben sie es auf. »Wenn nur Morton mit dem Rolls-Royce nicht so weit weg wäre«, meinte Peter, der Verzweiflung nahe. »Wie lange mag das dauern, bis Morton auf die Idee kommt, uns zu suchen? Und ob es ihm einfällt, hierher zu den Garagen zu kommen?« »Auf Morton können wir nicht warten«, hielt ihm Justus entgegen. »Es ist keineswegs ausgeschlossen, daß Morell zusammen mit seinem Freund wieder herkommt! Und dann sind sie vielleicht bewaffnet!« Peter stöhnte laut. »Das hättest du ruhig für dich behalten können«, fand er. »Wir müssen uns einfach überlegen, wie wir hier rauskommen«, entschied der Erste Detektiv. »Vielleicht gibt es in diesem Bau ein Fenster. Solche Kästen mit Reihengaragen haben meistens Fenster an den seitlichen Außenwänden. Ich glaube, wir sind hier im zweiten Stellplatz von links. Wenn die Trennwände nicht gemauert sind, müßten wir dorthin durchkommen können.« »Und sonst . . .« Bob war ganz mutlos. »Was dann?« »Dann hämmern wir eben wieder gegen das Tor.« Doch Justus hielt schon zielstrebig in der Dämmerung Umschau und forschte nach einem Durchgang zwischen den Stapeln alter Requisiten. Er stieß mit der Hand an eine Ansammlung eiserner Folterinstrumente und erschauerte unwillkürlich. Er versuchte vom Tor nach hinten zu gelangen. Tastend spürte er kaltes Metall, Leder, eine gummiartige Substanz und Gewebe, anscheinend Kostüme. Im Halbdunkel nahm er undeutlich Horrormasken wahr, Perücken, allerlei Behältnisse, Krüge und Flaschen. Aus dem Zwielicht bedrohten die schattenhaften Umrisse mißgestalteter Wesen die drei Jungen. Noch schlimmer freilich waren jene kaum deutbaren Formen, unter denen sie sich lediglich Grauenvolles vorstellen konnten. Ein widerlicher, muffiger Geruch ging von all dem uralten Kram aus, der hier vermutlich schon sehr lange in drangvoller Enge vor sich hin moderte. Bob und Peter schlurften 102
hinter Justus her. Es wurde noch finsterer, und dann hörten die beiden, wie Justus stehenblieb und entsetzt die Luft einzog. »Was ist?« flüsterte Bob. »Hier ist irgendwas«, flüsterte Justus zurück. »Etwas ganz Schreckliches!« Justus betastete das Ding, das sich ihm entgegenstellte. Er berührte eine harte, glatte Fläche, dann Pelz oder Fell, und dann einen Mund. Mit Zähnen. Reißzähnen! Justus beugte sich vor und untersuchte mit tastenden Händen das gräßliche Etwas. Allmählich gewöhnten sich seine Augen an die Dunkelheit. Das Ding, das gebückt vor ihm stand, war halb Affe, halb Mensch. Und bald darauf war sich Justus ziemlich sicher, womit er es zu tun hatte. »Habt ihr jemals den Film Insel der Nachtmahre gesehen? Mit den Ungeheuern, die aus Höhlen kommen?« fragte er die anderen. »Ich glaube, das hier ist ein Exemplar davon.« »Wie kommt Morell nur an solche Sachen ran?« wunderte sich Bob, der mühsam seine Furcht unterdrückte. »Soviel ich weiß, verkaufen die Filmstudios dieses Zeug doch überhaupt nicht.« »Ist doch egal«, wehrte Peter ab. »Nur schnell raus hier!« Er versuchte an der Schreckgestalt vorbeizukommen, blieb aber jäh stehen. Sie bewegte sich! Ein ächzendes Quietschen war zu hören. Das Unwesen richtete sich auf, hob die langen Arme und kam staksend und unter Gerassel auf sie zu. Der Mund öffnete und schloß sich, als kauten die Zähne auf etwas herum. In einer entfernten Ecke des Gebäudes quiekte und raschelte etwas. Angstvoll klammerten sich die Jungen aneinander. »Ratten!« stieß Peter mit einem Schauder hervor. Justus mußte sich räuspern, um normal sprechen zu können. »Die tun uns nichts«, erklärte er beherzt. »Ratten sind nur gefährlich, wenn man sie in die Enge treibt, und das haben wir nicht vor.« »Wundert mich nur, warum mir das keine Beruhigung ist«, meinte Bob sarkastisch. 103
Das mechanische Monster hatte aufgehört zu quietschen und zu rasseln. Nun stand es ihnen erst recht im Weg, die langen Arme noch immer hochgereckt, und die drei wußten, daß sie es nicht wegschaffen konnten. Es gab nur eine Möglichkeit: Sie mußten an ihm vorbei. »Wir könnten doch die Kartons hier umsetzen«, schlug Peter vor. Schon machte er sich ans Werk. Bob und Justus packten mit an. Bald keuchten und schwitzten alle drei. Aber dann hatten sie immerhin einen Zugang zu der Pfostenreihe freigeräumt, die jeweils die Abgrenzung zwischen zwei Stellplätzen bildete. Peter betrat als erster die wohltuend leere Fläche der nächsten Garage. Doch gleich darauf bückte er sich unter ersticktem Keuchen und ruderte hektisch mit den Armen durch die Luft. »Was ist jetzt los?« wisperte Bob. »Spinnweben! Igitt!« Peter wedelte noch immer wild mit den Händen vor seinem Gesicht herum. Plötzlich spürte er etwas Handfesteres als Spinnweben. Er bekam einen dicken Strick zu fassen, der quer über den freien Raum gespannt war. Er griff zu und zog vorsichtig. Ein schriller Schrei brach los, markerschütternd und grauenvoll. Aus dem Dunkel flog etwas hervor, streifte Peters Gesicht und verschwand irgendwohin. Peter schrie auch und machte einen Satz. »Mannomann!« stieß er hervor. »Hier sind ja Fallen eingebaut! Mir scheint, das war eine mechanische Fledermaus.« Bob zwang sich zu einem Lachen. »Vielleicht hat Morell auch eine Geisterbahn ausgeräumt.« Jetzt konnten die Jungen undeutlich vor sich eine weitere Barriere sehen. Es waren lauter Särge, die vor der Seitenwand des Garagengebäudes dicht an dicht hochkant aufgestellt waren. Und dahinter war schwaches Licht auszumachen. »Na also!« rief Justus. »Da drüben ist ein Fenster!« Über den Köpfen der Jungen regte es sich raschelnd, und weit hinten im Bau hörten sie hurtiges Getrippel. Doch sie achteten nicht mehr darauf. Bald hatten sie es geschafft, hinaus in die Freiheit! 104
Gemeinsam machten sie sich daran, einen Sarg nach dem anderen vorzurücken, damit der Weg zum Fenster frei würde. Dennoch drang nur ein wenig mehr Licht in den Raum. Endlich kam das Fenster in Sicht. Morell hatte es von innen mit Brettern vernagelt, wobei er allerdings nicht sehr sorgfältig vorgegangen war. Die Jungen konnten zwischen den Brettern ins Freie schauen und eine Grünfläche mit Oleanderbüschen erkennen. Peter zerrte kräftig an einem Brett, doch allein konnte er es nicht wegreißen. Erst als Bob und Justus mit anpackten und alle drei gleichzeitig zogen, lösten sich die Nägel ächzend aus dem Fensterrahmen. Nun war es schon heller in der Garage. Das zweite Brett, das sich Peter vornahm, zerbrach ihm beim Losreißen unter den Händen, und er schob die Bruchstücke beiseite. Das dritte und das vierte Brett waren zum Glück ebenfalls kein Problem. Peter schob die untere Fensterhälfte nach oben und steckte den Kopf zu der Öffnung hinaus. Sogleich hatte er das Gefühl, daß draußen jemand sein mußte. Er sah sich um. Da stand ein bewaffneter Polizist. »Junge, Junge!« entfuhr es Peter. »Alle rauskommen, und kein Widerstand«, befahl der Polizist. Ein Kollege hatte sich an der anderen Seite des Fensters postiert. Mit unterdrücktem Grinsen sah er zu, wie Peter aus dem Fenster kletterte. Hinter ihm kam Bob und zuletzt Justus, der bemüht war, sich nicht der Lächerlichkeit auszusetzen. Die rothaarige Hausmeisterin stand auch in der Nähe. »Genau, das sind die Jungen«, bestätigte sie. »Sie fragten mich über Mr. Morell aus. Als ich später Geschrei aus seiner Garage hörte, da dachte ich mir schon, daß sie das sein könnten. Aber wie seid ihr nur da reingekommen?« wollte sie von Justus wissen. Justus würdigte die Frau keiner Antwort, sondern wandte sich an die Polizisten. »Ich möchte Anzeige gegen Henry Morell erstatten. Wegen Freiheitsberaubung.« 105
»Sonst noch was?« fragte der eine Beamte. Er verzog keine Miene. »Mr. Morell ist seit Tagen verreist«, erklärte die Hausmeisterin. Da stellte sich Justus hochaufgerichtet hin und fing mit ruhiger, gemessener Stimme zu sprechen an. »Ein Mädchen ist verschwunden. Sie heißt Lucille Anderson. Soviel uns bekannt ist, waren Henry Morell und ein Bekannter höchstwahrscheinlich die letzten, die sie gesehen haben. Das war gestern in Rocky Beach, in der Wohnanlage Cheshire Square. Wir verdächtigen Morell und seinen Bekannten, das Mädchen irgendwie raffiniert dort am Pförtner vorbeigeschafft zu haben, entweder im Kofferraum ihres Wagens oder auf dem Rücksitz versteckt. Vielleicht hatten sie sie mit einer Decke oder einem Mantel zugedeckt, damit der Pförtner sie nicht sehen sollte.« »Ihr verbringt wohl ziemlich viel Zeit vor dem Fernseher?« meinte einer der Polizisten. »Sie können meine Angaben überprüfen«, sagte Justus. »Rufen Sie Hauptkommissar Reynolds in Rocky Beach an. Dort läuft bereits die Fahndung nach Lucille Anderson, und den Kommissar kennen wir persönlich.« Ein älterer Mann mit müdem, resigniertem Blick und ein jüngerer Begleiter kamen um die Ecke des Gebäudes. Die beiden trugen keine Uniform, doch sie waren zweifellos mit den Beamten bekannt. Letztere machten den Neuankömmlingen achtungsvoll Platz, damit sie Justus ansprechen konnten. Justus erkannte sofort, daß das Polizeidetektive in Zivil waren. Vermutlich gingen sie der Anzeige des bestohlenen Pelzhändlers nach. Die beiden Detektive ließen sich von Justus den Sachverhalt nochmals berichten. Als ihnen dabei klar wurde, daß es möglicherweise einen Zusammenhang zwischen den gestohlenen Pelzen und dem vermißten jungen Mädchen gab, hörten sie noch aufmerksamer zu. Der ältere Mann wies die Jungen an, hier zu warten, und ging dann weg. Die Polizisten in Uniform liefen mit der Hausmeisterin los, um festzustellen, ob Henry Morell auch bestimmt nicht in seiner Wohnung war. Nach einiger Zeit kamen sie alle wieder. Die drei ??? wurden verwarnt; sie sollten künftig nicht mehr die Nase in Dinge 106
stecken, die sie nichts angingen, und nicht mehr versuchen, beim Ergreifen flüchtiger Straftäter die Polizei auszustechen. Der ältere Detektiv notierte sich Namen und Anschrift der Jungen, und dann durften sie gehen. Bei dem Streifenwagen, der vor dem Gebäude parkte, hatte sich eine Schar neugieriger Nachbarn versammelt. »Hey, Sie!« sagte ein kleiner Junge auf einem Dreirad. »Ha’m die Bullen da ’n Einbrecher geschnappt?« »Eigentlich nicht«, gab Justus zurück. Die drei Jungen liefen rasch an der Gruppe vorbei und weiter zu der Stelle, an der Morton mit dem Wagen wartete. Auf halber Strecke bemerkte Justus einen dunkelroten Audi, der am Straßenrand parkte. Während die Jungen näherkamen, drehte der im Wagen sitzende Fahrer Kopf und Oberkörper zur Seite und beugte sich vor, als wolle er nach etwas suchen, das ihm bei der Beifahrertür auf den Wagenboden gefallen war. »Oh!« sagte Justus. Er zögerte kurz, dann ging er weiter und sah ganz normal nach vorn. »Was gibt’s?« fragte Bob. »Ist dir irgendwas aufgefallen?« »Nicht zurückschauen«, gebot Justus. »In dem geparkten Auto, an dem wir eben vorbeikamen, saß ein Mann. Und der konnte von dort aus das Haus beobachten, in dem Morell wohnt.« »Na und?« meinte Bob. »Die halbe Nachbarschaft ist auf den Beinen und beobachtet dieses Haus. Was soll’s also?« »Ich könnte schwören, daß ich diesen dunkelroten Audi heute schon mehrmals gesehen habe. Und ich bin fast hundertprozentig sicher, daß der Fahrer Mr. Sears vom Pizza Shack in Rocky Beach ist. Jetzt eben tat er so, als habe er uns nicht bemerkt. Und er tat alles, damit auch wir ihn nicht erkennen sollten. Was der wohl hier in dieser Gegend treibt?«
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Gefährlicher Absturz Die Jungen entdeckten Morton neben dem Rolls-Royce, umringt von einer Schar Kinder aus der Nachbarschaft, die der luxuriöse Wagen angelockt hatte. Beim Anblick der drei ??? hellte sich Mortons Miene merklich auf. Er lief zur hinteren Wagentür, damit die Freunde einsteigen konnten. »Und wohin nun, Herrschaften?« erkundigte sich Morton. »Zur nächsten Telefonzelle«, bat Justus. »Wir müssen einige Teddybären in ihrer Höhle aufstöbern.« Justus hatte vor, den Händler zu befragen, der das Pelzgeschäft mit den Nerz-Teddys belieferte. Bei einer Tankstelle ließ Justus Morton anhalten und nahm sich am Münzfernsprecher sofort das Telefonbuch vor. Die Firma R.J. Importers befand sich in Long Beach. Die Fahrt nach Süden würde mit dem Wagen etwa fünfundvierzig Minuten dauern. »Da wir mittlerweile Zusammenhänge zwischen Morell und dem Pelzhändler, zwischen dem Pelzhändler und den Teddys, und zwischen den Teddys und Lucille aufgespürt haben, liegt es nahe, daß wir nun noch dort Ermittlungen anstellen, wo der Pelzhändler die Teddybären kauft«, erklärte Justus. »Euer Ziel liegt nicht mehr in unserem normalen Erkundungsgebiet«, stellte Morton fest. »Aber ich habe eine Straßenkarte von Long Beach, und wir werden diese Firma schon finden.« Er fuhr los, und die Jungen auf dem Rücksitz starteten eine heftige Diskussion über den Teddybären, der sich in Lucilles Tasche gefunden hatte, und über die anderen Nerz-Teddys, die zusammen mit den Pelzen aus dem Geschäft in Beverly Hills gestohlen worden waren. »Rauschgift!« brachte Bob vor. »Was könnte es auch sonst sein? Der Bursche in Long Beach ist Importeur, und auf Grund seiner Verbindungen und Möglichkeiten bezieht er Rauschgift aus Südamerika oder Asien. Der Stoff wird gleich im Ursprungsland in den Teddybären versteckt und darin durch den Zoll geschmuggelt. Und 108
durch einen Irrtum wurde eine Partie Bären, die Kokain oder Heroin oder sonstwas enthalten, an den bedauernswerten Pelzhändler in Beverly Hills geliefert. Also mußten Morell und sein Freund diese Bären so schnell wie möglich aus dem Verkehr ziehen!« »Aber wenn die Teddys tatsächlich aus NerzfelI sind, paßt das nicht ganz zu deiner Geschichte«, wandte Peter ein. »Eine Tante von mir hat einen Nerzmantel. Von ihr weiß ich, daß fast alle Nerzfelle aus Kanada stammen. Aber aus Kanada kommt ja wohl kein Heroin, oder? Und auch kein Kokain.« »Eines steht jedenfalls fest«, erklärte Justus. »Harmlose Spieltiere sind diese Teddys nicht!« »Aber was steckt dann darin, Justus?« wollte Peter wissen. Der Erste Detektiv blickte geheimnisvoll und wissend drein, schwieg aber still. Der Sitz der Firma R.J. Importers in Long Beach war ein langes, niedriges Gebäude in einer nicht gerade feinen Gegend in Hafennähe. Das schmutzige, düstere Haus wirkte verlassen; in keinem der Räume brannte Licht, und kein Fahrzeug stand auf dem Firmenparkplatz. Die drei ??? beschlossen wiederum, Morton solle mit dem RollsRoyce nicht in Sichtweite parken. Also wurde verabredet, daß Morton bei einem kleinen Restaurant ein paar Straßen weiter, in der Nähe der Stadtautobahn, auf die Jungen warten würde. Er tippte sich an die Mütze und fuhr weg. Bob stand mit mißtrauischem Blick vor dem Gebäude. Nach Westen zu konnte man vom Firmengelände aus das Meer sehen. »Was machen wir jetzt? Es ist doch gar keiner da, so wie es aussieht.« »Wir klopfen einfach mal an, dann tut sich vielleicht was«, beschloß Justus. »Und wenn jemand an die Tür kommt, was dann?« Auch Peter war nicht sehr angetan von dem Plan. »Willst du etwa sagen, wir möchten einen Teddybären kaufen?« »Warum nicht?« war Justus’ Antwort. »Wir können ja sagen, Mrs. Fowler hat so einen, und da haben wir uns die Adresse der Lieferfir109
ma beschafft, weil wir einen als Geschenk brauchen. Für . . . für Tante Mathilda.« »Daß ich nicht lache! Deine Tante Mathilda und ein Nerz-Teddy!« platzte Bob heraus. »Solange der Importeur Tante Mathilda nicht kennt, kann das prächtig funktionieren«, erwiderte Justus. Er ging die zwei Stufen zur Eingangstür hinauf und klopfte. Niemand kam an die Tür, und nichts rührte sich im Innern des Gebäudes. Durch die Glasscheibe im oberen Teil der Tür konnte Justus einen tristen, karg möblierten kleinen Büroraum sehen. Aber es war niemand darin. »Das wär’s dann wohl.« Justus kam die Stufen wieder herunter, und die Jungen sahen sich auf dem Gelände um. An die Nordseite des Hauses grenzte ein leerer Parkplatz. Die Jungen schlenderten hin und sahen zu den Fenstern des Gebäudes hinauf Eisengitter waren davor angebracht. Peter erspähte weiter hinten am Haus eine Holzkiste. Die holte er sich, stellte sie unter ein Fenster und bestieg sie, um hineinsehen zu können. »Na?« fragte Bob. »Sieht wie ein großer Lagerraum aus«, meldete Peter. »Jede Menge Stahlregale mit allem möglichem Zeug drauf. Bären! Ich seh’ hier Bären! Und Puppen.. und andere Sachen, die in Kartons verpackt sind. Ein langer Tisch ist auch drin, mit einer Rolle Packpapier und sonstigem Verpackungsmaterial und Etikettenrollen. Anscheinend nimmt dieser große Lagerraum die ganze Innenfläche des Gebäudes ein, bis auf das Büro, das vorn abgeteilt ist. Ah, und in einer der hinteren Ecken ist auch ein kleinerer Raum abgetrennt, ziemlich quadratisch. Das könnte Toilette und Waschraum sein. Nein, doch nicht. Die Toilette ist vorn, gleich neben dem Büro, es steht nämlich auf einem Schild an der Tür.« »Vielleicht verwahren sie dann in dem kleinen Raum hinten das Rauschgift oder die Edelsteine oder was sie sonst in den Bauch der Teddybären stopfen«, war Bobs Vermutung. Peter stieg von der Kiste herunter und hob sie auf. »Vielleicht kön110
nen wir an einem Fenster auf der anderen Seite auch noch was feststellen.« Die drei Jungen gingen um das Gebäude herum zur Südseite, doch hier gab es kein Fenster, das ihnen Einblick in den von Peter entdeckten kleinen Raum gewährte. Er mußte in einer fensterlosen Ecke liegen. »Da drin muß es ja stockdunkel sein«, meinte Bob. »Ich sag’ ja: Edelsteine! Rauschgift!« entgegnete Peter. »Da drin ist alles unter Verschluß!« »Psst! Hört doch!« unterbrach Justus die beiden. Ein Wagen, den sie jetzt freilich nicht sehen konnten, hatte vor dem Haus angehalten. Die Jungen hörten, wie der Motor abgestellt wurde. Dann wurde eine Autotür zugeschlagen, und jemand ging die Stufen zur Eingangstür hinauf. »Aha!« flüsterte Bob. »Dann können wir unsere Nummer vielleicht doch noch vorführen. Reingehen und versuchen, ob man uns hier einen Teddy für Tante Mathilda verkauft.« Als sie jedoch vorsichtig um die Ecke lugten, sank ihnen allen der Mut. Ein dunkelroter Audi stand am Fahrbahnrand. Das konnte doch nur der Wagen sein, der an der Straße bei Morells Wohnung geparkt hatte. Die drei ??? zogen sich wieder zurück. »Das ist ja eine unverhoffte Wendung«, stellte Justus fest. »Ob das der Mann ist, der heute nachmittag Morells Wohnung beobachtete? Oder sollten etwa wir beobachtet werden? Und ist es wirklich Mr. Sears, der Geschäftsführer vom Pizza Shack? Oder habe ich mich getäuscht?« »Wir bleiben da, bis er wieder herauskommt«, schlug Bob vor. »Übernachten wird er ja nicht da drin.« Also warteten sie im Schutze eines Kastenwagens, der unweit vom Haus an der Straße abgestellt war. Fünfzehn Minuten verstrichen, dann zwanzig. Und dann öffnete sich die Tür der Firma R.J. Importers. Ein Mann mit einer leinenen Reisetasche kam heraus. Er legte 111
die Tasche in den Kofferraum des Audi, stieg in den Wagen und fuhr weg. »Das ist ja unglaublich!« rief Peter. »Das war tatsächlich dieser Sears! Am Ende ist er der große Boß in dem ganzen Geschäft. Und da hocken wir noch in seiner Pizzeria und plaudern haarklein alles aus, über Lucille und den Teddy und . . . Kein Wunder, daß der hinter uns her ist!« »Wir müssen in das Haus rein!« rief Bob eifrig. »Da drin muß es Indizien geben! Oder . . . oder vielleicht ist sogar Lucille in der kleinen Kammer eingesperrt!« »Nur mit der Polizei«, bremste Peter seinen Freund. »Wir müssen die Polizei anrufen, damit Lucille ordnungsgemäß mit einem Haussuchungsbefehl befreit werden kann.« »Das wird nicht funktionieren«, gab Justus ganz entmutigt zu bedenken. »Für einen Haussuchungsbefehl muß ein triftiger Anlaß vorliegen, zum Beispiel der Verdacht auf eine Straftat. Was sollen wir bei der Polizei vorbringen? Daß dieser Mann eine Pizzeria betreibt, und daß wir dort über Lucille redeten? Und daß ihm die Firma hier anscheinend gehört oder daß er zumindest Zugang zum Haus hat? Das ist alles nicht beweiskräftig. Das erweckt nicht einmal einen berechtigten Verdacht!« »Augenblick mal!« Peter schnippte aufgeregt mit den Fingern. »Die Oberlichter! Als ich zu dem Fenster reinschaute, sah ich, daß im Dach verglaste Luken sind. Wenn eine davon über dem kleinen Raum in der Ecke angebracht ist, könnten wir von oben hineinsehen.« Schon lief Peter los, zur Rückseite des Gebäudes, und Justus und Bob folgten rasch. An der Außenmauer gab es in der Nähe der bewußten Ecke eine Laderampe. Peter stieg hinauf, ergriff ein Regenrohr, das an der Hausecke angebracht war, und arbeitete sich daran bis zum Dach hoch. »Aber nicht ins Haus runtersteigen!« rief ihm Justus zu. »Vielleicht gibt es eine Alarmanlage. Und dann kommst du nicht mehr raus!« »Und mach schnell!« drängte Bob. »Wenn uns hier einer sieht, kön112
nen wir uns den Anruf bei der Polizei sparen. Die kommen dann auch so!« »Alles klar«, bestätigte Peter. Dann stieg er auf das Flachdach. Die Oberlichter waren in regelmäßigen Abständen eingelassen. Es waren insgesamt sechs, und Peter sah gleich, daß er Glück hatte: Eine der Luken mußte über dem kleinen Raum in der hinteren Ecke des Gebäudes sein. Er ging darauf zu, kniete nieder und spähte durch die Glasscheibe. Erst sah er gar nichts. In dem Raum unter der Luke gab es ja sonst kein Fenster, und Licht fiel nur von oben ein. Und die Scheibe war völlig verdreckt. Peter rubbelte mit der Faust über das schmutzige Glas. Dann sah er, daß innen vor der Scheibe Eisenstangen anmontiert waren. Er beugte sich ganz dicht über das Glas und schirmte die Augen mit den Händen ab. Nachdem er noch die Augen zukniff, konnte er glatte Wände und einen kahlen Betonboden sehen. Und etliche dunkle Gegenstände, die wie prall gefüllte Säcke aussahen! »Was gibt’s denn da drin?« Justus tauchte plötzlich neben Peter auf. Der Erste Detektiv hatte es trotz seines Übergewichts geschafft, zu seinem Freund hinaufzuklettern. Peter antwortete nicht. Er trat nur zur Seite, damit Justus selbst nachsehen konnte. »Was meinst denn du, was das für Zeug ist?« fragte Justus dann. »Keine Ahnung.« Justus ging in die Hocke. »Immerhin wissen wir jetzt, daß Lucille nicht dort unten eingesperrt ist. Das heißt allerdings nicht, daß uns das der Lösung unseres Falles näherbringt. Spielzeug . . . Mr. Sears importiert Spielzeug. Oder ist er nur der Verbindungsmann für diesen Importeur? Arbeiten Morell und McLain für ihn? Hatte Lucille etwa ein gefährliches Geheimnis im Zusammenhang mit dem Teddy in ihrer Tasche entdeckt?« Die beiden blieben noch einige Minuten auf dem Flachdach. Justus zermarterte sich den Kopf nach irgendeiner Spur, die ihm möglicherweise entgangen war. Was war die Lösung dieses vertrackten Rätsels? 113
»Hey, ihr da oben!« rief Bob herauf »Alles in Ordnung?« »Wir kommen«, antwortete Justus. Er stand auf, um über das Dach zur Regenrinne vorzugehen. Schon nach wenigen Schritten ächzte es unheildrohend in den alten Tragebalken des Daches. Justus blieb sofort. stehen. »Vorsicht!« stieß Peter hervor. »Keinen Schritt weiter!« Er ließ sich auf Hände und Knie nieder, um sein Gewicht günstiger zu verteilen, und kroch so zum Rand des Daches vor. »Ich besorge ein Brett oder . . . oder sonstwas, das du vor dir aufs Dach legen kannst, und dann . . .« Justus nieste. »Laß das, Mann!« Peter war schon mit einem Bein über der Dachkante. Justus mußte noch einmal niesen, so heftig, daß er dabei das Gleichgewicht verlor. Instinktiv setzte er ein Bein zurück. Im Dach ächzte es wieder, und dann gab ein Balken nach. Hilflos, erfolglos suchten Justus’ Hände nach einem Halt. Sein Gesicht war starr vor Entsetzen. Er stürzte durch das Loch im verrotteten Gebälk in die Tiefe!
Kein rettendes Versteck! Justus lag im Dunkeln und versuchte zu atmen. Erst ging das gar nicht. Er wälzte sich mit größter Mühe auf die Seite. Nun war sein Mund frei, und er sog tief den Atem ein. »Justus! Justus, was ist mit dir?« Das war Peter. Er hatte sich noch einmal auf die Dachfläche gewagt und sich auf dem Bauch so nahe wie möglich an die Einbruchstelle herangeschoben. Nun spähte er über den Rand des Loches. »Justus?« rief er noch einmal. 114
»Ja, ich bin hier unten. Nicht verletzt.« Justus erhob sich auf die Knie. Dann stand er auf und lehnte sich an die nächste Wand. Es war eine der Wände, die die verborgene Kammer von der übrigen Fläche abteilten. Er war in den großen Raum hinuntergefallen, gleich neben die Tür zu dem kleinen! »Justus, sei bloß vorsichtig!« mahnte Peter. »Klar doch.« Justus griff nach dem Türknauf, aber er ließ sich nicht drehen. Die Tür war ungewöhnlich massiv und bestens verschlossen. Justus sah sich auf den Stahlregalen um, die in dem großen Raum die Wände säumten. Da waren Teddybären mit Pelz, kleine Pferde, Puppen mit immer gleichem Lächeln. Daneben standen Kästen mit Bauklötzen und Kartons voller Jojos. Ein Lager mit lauter Spielwaren. Justus trat an eines der Regale und nahm einen Teddy heraus. Der Bär sah ganz genauso aus wie der, den Lucille gehabt hatte. Den Teddy in der Hand, machte er sich auf den Weg zum vorderen Teil des Gebäudes, wo gleich hinter dem Eingang der Büroraum von der übrigen Fläche abgetrennt war. Die Tür zum Büro ließ sich leicht öffnen. Justus warf einen Blick in den kleinen Raum und sah zwei Schreibtische. Dann ging er zum Ausgang und wollte gerade die Tür öffnen, als er draußen auf der Straße ein Auto kommen hörte. Justus spähte durch den Glaseinsatz der Tür. Das war schon wieder der dunkelrote Audi, und gerade hielt er an! Justus machte kehrt und flüchtete in den Lagerraum zurück. Vorher schloß er noch schnell die Tür zum Büro. Auf dem Dach rutschte Peter ein Stück weiter. »Justus, wo steckst du denn?« Er wagte nur zu flüstern. Justus lief durch den Raum und sah zu dem Loch im Dach hinauf »Komm da runter!« rief er Peter leise zu. »Der Bursche ist wieder da!« Justus hörte, wie Peter von dem Loch weg und zur Dachkante robbte und wie er gleich darauf am Regenrohr hinunterrutschte. Dann 115
ein weicher Aufsprung in Turnschuhen auf die Laderampe, und Justus atmete erleichtert auf. Peter war in Sicherheit. Justus kauerte sich hinter einen Stapel Kartons. Schon wurde in der Eingangstür ein Schlüssel umgedreht, und jemand betrat das Büro. Justus hörte, wie ein Stuhl mit Rollen über den Linoleumboden gezogen wurde, und wie der Stuhl knarrte, als sich jemand darauf niederließ. Dann wurden Schubladen aufgezogen, Papier raschelte, und ein Mann räusperte sich. Was machte Sears denn hier? War er etwa nochmals gekommen, um liegengebliebene Büroarbeit zu erledigen? Ob das wohl länger dauerte? Justus sah zur Rückwand des großen Lagerraums hin. Dort war der Ausgang zur Laderampe, ein Schiebetor. Das wäre der Ausweg für ihn . . . falls er das Tor öffnen konnte. Sonst konnte er nur ein riskantes Unternehmen wagen. Er konnte in seinem Versteck warten, bis Sears wieder weggehen würde, und wenn er Glück hatte, würde der Mann den Lagerraum nicht betreten. In diesem Fall würde er auch das Loch im Dach nicht bemerken. Und dann hätte der Erste Detektiv weiterhin die Chance, das Geheimnis des abgeschlossenen Raumes zu ergründen. Justus trat in den Schatten zwischen zwei Regalen und wartete. Doch gleich darauf wurde vorn im Büro der Stuhl zurückgerollt. Schritte waren zu hören. Der Mann war im Anmarsch! Im nächsten Augenblick würde er aus dem Büro ins Lager kommen. Und dann würde er sich umsehen! Er würde das Loch im Dach und das Kleinholz auf dem Fußboden sehen. Und sich seinen Reim daraufmachen! Justus sah zu dem Tor hin, das zu der Laderampe führte. Ob er es noch schaffen würde? Es klappte nicht. Plötzlich ging die Bürotür auf, und Justus mußte sich hinter den Reihen von Teddybären und lächelnden Puppen ducken, so gut es ging. Durch eine Lücke zwischen den Regalen erspähte er Mr. Sears’ Bauch. Und er hörte die Tritte auf dem staubigen Fußboden. 116
Sears blieb schon nach wenigen Schritten stehen und beugte sich vor. Er hatte am Boden die Holzsplitter und die Fetzen der Dachpappe entdeckt. Justus sah, wie Sears’ Hand unter seinem Jackett verschwand. Dann sah er die Pistole. Der grauhaarige Mann mußte die Waffe in einem Holster bei sich getragen haben. Er hielt sie im Anschlag, während er rasch auf das Chaos am Fußboden zutrat. Justus machte sich noch kleiner. Wenn Sears doch nur ein wenig weiterginge, weg von seinem Versteck! Dann wäre der Weg für Justus frei. In einer Sekunde könnte er hinter den Regalen hervor zum Ausgang flitzen. Und wenn er erst ins Freie gelangte, wäre es schon sicherer für ihn. Draußen würde es Sears nicht wagen, einen Schuß abzugeben. Justus würde einfach losrennen, so lange, bis er Morton und den rettenden Wagen gefunden hätte. Da hörte er eine Polizeisirene, gar nicht weit weg. Auch der Mann im Lagerraum hörte sie und ließ Unbehagen erkennen. Mit schußbereiter Waffe stand er regungslos da. Dann verhallte der Sirenenton in der Ferne, und Sears ging weiter. Jetzt oder nie! Sollte Justus es wagen? Und da geschah ein Wunder. Jemand klopfte an die Eingangstür. Der Mann mit der Pistole schrak zusammen. Er blieb zögernd stehen. Wieder klopfte es. »Hallo, ist da jemand?« rief eine muntere Stimme. »Hallo! Ich brauche Hilfe!« Sears drehte sich um und ging vor ins Büro. »Wer sind Sie, und was ist los?« rief er. »Ich bedaure außerordentlich, Sie zu stören, aber ich habe mich verirrt!« drang die Stimme von draußen herein. »Bitte sehr, können Sie mir sagen, wie ich zur Firma Carters Maschinenteile komme?« »Über die Straße, dann links bis zur nächsten Ecke«, gab der Mann im Büro barsch Auskunft. »Aber da war ich doch, und da ist gar kein Firmenschild«, meldete sich der Ratsuchende an der Vortreppe nochmals beharrlich. Es hörte sich ganz so an, als wolle er hier seelenruhig eine längere Diskussion über den Standort der Firma Carters führen. Nun war Ju117
stus nicht mehr zu halten. Er schlüpfte zwischen den Regalen mit den Spielsachen vor und lief los, zum hinteren Tor. Und er hatte Glück! Das Tor war nur verriegelt, und der Riegel ließ sich leicht und geräuschlos zurückziehen. Endlich frei! Während Justus das Tor Zoll für Zoll aufschob, hörte er noch immer am Eingang Mortons Stimme. Der Brite ließ sich weiterhin wortreich über die Probleme eines Ortsfremden beim Aufsuchen eines Betriebes mit unzulänglicher Beschilderung aus. Justus konnte wieder fröhlich grinsen, während er auf die Laderampe hinausschlüpfte und das Tor lautlos hinter sich zuschob. Der Rolls-Royce fuhr zügig nach Norden los. »Morton, Sie waren ganz groß in Form!« lobte Justus. Morton nickte nur. »Ich bin stolz darauf, meinen geschätzten Fahrgästen einen kleinen Dienst erwiesen zu haben.« »Wir waren in großer Sorge um dich«, wandte sich Peter an Justus. »Wir sahen ja auch, daß Sears nochmals herkam. Und wir dachten uns, wenn wir an die Tür klopfen, würde er uns vielleicht erkennen. Morton hingegen kennt er nicht. Nun sag schon: Was war da drin? Hast du etwas herausgefunden?« »Eigentlich nicht«, mußte Justus bekennen. »Der Mann hatte eine Waffe und hätte vielleicht auch geschossen. Aber im Grunde sagt das wenig aus. Viele Leute sind bewaffnet.« Den Teddy hatte Justus noch in der Hand. Nun untersuchte er ihn und versuchte die Nähte aufzureißen. »Eigenartig«, meinte er. »Der Bär ist gar nicht so weich wie die üblichen Spieltiere. Er fühlt sich an, als sei Holz oder Plastik unter dem Fell.« Er zog am Kopf des Bären, um festzustellen, ob dieser wohl abging. »Es ist ein kleiner Safe, Justus«, meinte Morton dazu. »Einer meiner Kunden hat ein fast gleichartiges Spieltier. Seine Ehefrau verwahrt ihren Schmuck in dem Bären und setzt ihn ganz offen auf ihr Bett. Viele Leute haben Kuscheltiere auf dem Bett, und deshalb fällt das gar nicht auf Ein Einbrecher denkt sich beim Anblick eines solchen Teddys natürlich nichts und muß unverrichteter Dinge abziehen.« 118
Peter schlug sich an die Stirn. »Ist ja nicht zu fassen!« stöhnte er. »Wir hätten Sie eben gleich fragen sollen!« »Der Kopf läßt sich abschrauben«, setzte Morton noch hinzu. Das ging tatsächlich. Aber als Justus in den Bauch des kleinen Teddys schaute, fand er nur eine leere, plastikummantelte Höhlung. »Also kein Rauschgift«, sagte er zu Bob. »Und keine geschmuggelten Edelsteine. Gar nichts. Schade.« Bob lehnte sich enttäuscht auf dem Sitz zurück, und Peter verzog das Gesicht. »Soll das etwa heißen, daß wir noch mal von vorn anfangen müssen?« beklagte sich der Zweite Detektiv. »Ein Kerl, der sich als Draculas Lieblingsmonster maskiert hat, bricht in unsere Zentrale ein, zieht dir eins über und macht sich mit dem Teddy davon. Wahrscheinlich war das Morell, der Monster- und Horror-Experte. Aber was sollte das Ganze? Irgend etwas war in Lucilles Teddy. Da mußte einfach was drin sein, sonst hätte sich der ganze Aufwand nicht gelohnt. Und es muß auch einen Zusammenhang mit den Bären geben, die bei dem Pelzhändler gestohlen wurden. Auch hier hatte Morell die Finger drin, da mach’ ich jede Wette!« Morton meldete sich von vorn. »Justus, möchtest du nicht jetzt die Polizei einschalten?« Justus zögerte. »Was sollten wir eigentlich vorbringen?« meinte er dann. »Wir wissen wirklich nicht viel mehr als heute nachmittag, bei dem Gespräch mit den Polizeidetektiven vor Morells Wohnung. Nur eines haben wir mittlerweile noch herausgefunden: daß der Mann, der in Rocky Beach den Pizza Shack führt, gleichzeitig auch der Inhaber der Spielwarengroßhandlung ist, aus der Lucilles Bär stammt. Das ist doch alles ganz legal, nicht? Alles könnte reiner Zufall sein.« Morton nickte. »Sehr richtig.« Darauf sagte er gar nichts mehr, bis sie in Rocky Beach ankamen. Die Sonne ging gerade unter, als der Rolls-Royce beim Schrottplatz vorfuhr. Das eiserne Eingangstor zum Betrieb war bereits geschlossen. Doch Onkel Titus war noch im Gelände. Er trat den drei Jungen, auf die er offensichtlich gewartet hatte, entgegen und schalt: 119
»Ihr hättet zumindest anrufen sollen. Deine Tante macht sich solche Sorgen, Justus.« »Es tut mir wirklich leid, Onkel Titus«, erwiderte Justus. »Wir waren . . . wir waren an einem Ort, wo es kein Telefon gab. Ja, und wir haben einfach die Zeit vergessen.« »Hauptsache, es ist euch nichts passiert«, meinte Onkel Titus. »Aber das gibt es kein zweites Mal: den ganzen Tag weggehen, ohne daß wir Bescheid wissen. Und dann wollte ich dich noch etwas fragen. Ich bin da immer noch am Überlegen . . . Meinst du, der Einbruch bei uns hatte irgend etwas mit dem Mädchen in Cheshire Square zu tun?« »Das ist durchaus möglich, Onkel Titus«, sagte Justus. »Ich hoffe nur, daß der Bursche nicht wieder hier aufkreuzt und Tante Mathilda belästigt. Wenn man nicht mal mehr in seiner eigenen Küche sicher ist . . .« »Jetzt ist doch nichts mehr zu befürchten«, meinte Justus zuversichtlich. »Der Dieb hat das bekommen, was er haben wollte, und hierher wird er nicht wieder kommen.« »Na schön.« Onkel Titus musterte Justus mit spitzbübischem Lächeln. »Dann trennt euch mal für heute, Jungs. Und du, Justus, gehst unter die Dusche und ziehst dich um, ehe du deiner Tante unter die Augen trittst.«
Justus folgt einer Ahnung In der Nacht wachte Justus auf. Er hörte Schritte auf der Straße, und da draußen sang jemand ein melancholisches altes Lied. Die kleinen Lämmer haben sich verlaufen, mäh, mäh, die schwarzen Schäfchen suchen ihren Weg . . . 120
Justus lag im Bett und ärgerte sich über die Nachtruhestörung. Er fragte sich, ob er wohl auch Schäfchen zählen mußte, bis er noch einmal einschlafen konnte. Schon wieder begannen seine Gedanken zu kreisen . . . Plötzlich fuhr er hoch. Schafe! Lämmer! Genau das! Das war der Fingerzeig, der ihm helfen konnte, Lucilles Entführer zu finden! Seid ihr wirklich aufmerksame Leser? Dann müßtet ihr an dieser Stelle ebenfalls klarsehen. O ja, irgendwann war von Schafen die Rede. Wie bitte? Bedaure, nein. Es waren keine Spielzeuglämmer.
Justus blinzelte zum Wecker auf dem Nachttisch hinüber. Es war drei Uhr früh. Um diese Zeit konnte er unmöglich Morton anrufen. Und auch nicht Bob und Peter. Und schon gar nicht, um eine neue Theorie zu diskutieren. Im übrigen ließ sich ja gar nichts unternehmen, ehe es hell war. Justus legte sich wieder hin und ließ die stillen, dunklen Stunden verstreichen. Ab und zu döste er ein. Als es endlich hell wurde, stand er auf, zog sich an und frühstückte. Um halb acht rief er Bob an. »Weißt du noch, was McLain sagte, als er mit Lucilles Eltern zusammentraf’?« fragte er. »Natürlich. Daß er Lucille zum Film bringen will«, antwortete Bob. »Das meine ich nicht. Er redete von dem Haus, in dem er jetzt wohnt, daß es einmal Cecil B. DeMille gehört hatte und daß in der Nähe Schafe weiden.« Bob gähnte nur. »Die Bemerkung über Cecil B. DeMille ist typisch für einen solchen Aufschneider, damit wollte er nur Eindruck schinden«, fuhr Justus fort. »Die Andersons sollten ihn für wohlhabend und einflußreich halten. Aber Schafe? Ich nehme nicht an, daß er so etwas erfinden würde. Also, Bob, wo McLain . . . das heißt, Pelucci wohnt, dort gibt 121
es Schafe auf einer Weide. Und wo findet man in der Umgebung von Los Angeles Schafe?« »Keine Ahnung«, bekannte Bob. »Im Frühjahr sieht man manchmal welche an den Hängen entlang der Küste, aber später werden sie mit Lastwagen auf höhergelegene Weideplätze gefahren, in die Sierras oder sonstwohin.« »Stimmt genau«, bestätigte Justus. »Sie kommen in kühlere Gegenden, dann geben sie bessere Wolle. Aber hier in der näheren Umgebung müssen trotzdem noch irgendwo Schafe sein. Ich meine, da müßte es im Bergland ein altes Haus oder eine Scheune geben, wo sich zwei solche Burschen versteckthalten können. Und auf den Wiesen ringsum weiden Schafe. Es ist erst drei Tage her, seit Pelucci davon redete, also haben wir vielleicht Glück, und die Schafe sind noch da.« »Na gut«, sagte Bob. »Worauf warten wir noch?« Auch er hatte Feuer gefangen. »Auf Morton. Wenn er heute nicht anderweitig beschäftigt ist, wird er bestimmt gern mitmachen.« Morton kam noch vor neun Uhr auf dem Schrottplatz an. Den Rolls-Royce fuhr er allerdings nicht. Statt dessen saß er am Lenkrad eines schicken Geländewagens mit großen Rädern und breiten Reifen. »Der Rolls-Royce wäre für eine Expedition dieser Art nicht geeignet«, erklärte Morton fachkundig. »Dieses Vehikel gehört einem Freund, dessen Freizeitvergnügen Geländefahrten sind. Ich begreife nicht, wieso man eine gute Fahrstraße freiwillig verläßt, um querfeldein zu holpern, aber ihm scheint es Spaß zu machen. Immerhin verfügt das Gefährt über ganz praktische Einrichtungen, beispielsweise einen Allradantrieb.« »Morton, Sie sind Spitze!« rief Bob. »Ich versuche nur, mein Bestes zu geben«, erwiderte der Chauffeur. Die Jungen stiegen ein. Morton fuhr an, schaltete in den nächsten Gang, und dann ging es los, so schnell der robuste, schwere Wagen es erlaubte. Sie fuhren zuerst auf der Küstenstraße am Pazifik und 122
bogen dann auf eine schmale Landstraße ab, die sich Cottonwood Creek Road nannte. Wieder legte Morton einen anderen Gang ein, und das geborgte Fahrzeug erklomm die starke Steigung ganz mühelos. Die Jungen schauten emsig rechts und links zum Fenster hinaus. Nach knapp einer Viertelstunde gelangten sie wieder auf eine Schnellstraße, Mulholland Highway. Diese Route verlief weit oben im Bergland und verband die Städte Hollywood und Ventura. Zunächst wählte Morton die Richtung, die nach Hollywood zurückführte, denn diese Gegend war mehr bebaut. Justus hatte einen Feldstecher bei sich und ließ den Blick über die Berghänge auf der einen Straßenseite und über die Weideflächen oberhalb der Canyons auf der anderen Seite schweifen. Einmal erspähten die Jungen einen Radfahrer, der schwitzend und mit stur geradeaus gerichtetem Blick ankam. Morton zog nach rechts, und Justus winkte dem Radfahrer zu. Dieser bremste und stieg ab, obwohl er sichtlich keine Lust dazu hatte. »Wir suchen hier einen Freund«, sprach Justus den Radfahrer an. »Einen Mann, der irgendwo in den Bergen Schafe züchtet. In der Stadt, bei seiner Familie, ist etwas passiert, und wir müssen ihn dringend verständigen.« »Tut mir leid«, keuchte der Radfahrer. »So einem bin ich nicht begegnet.« Weiter ging die Fahrt. Nach zwei, drei Kilometern sah Justus graue Klumpen am Hang neben der Straße. Erst dachte er, es seien Felsblöcke. Dann bewegte sich eines der grauen Dinger, und da wußte er Bescheid. Das waren Schafe. Und nun sah er auch einen zerbeulten Transporter und einen Mann, der daneben auf einem Faltstuhl saß und Akkordeon spielte. »Da sind sie!« stellte Justus fest. Er zeigte auf die Schafe. Nach einem raschen Blick lenkte Morton seinen Wagen auf den steinigen Randstreifen. Die Jungen stiegen aus und kletterten den Hang hinauf zu dem Mann bei der Schafweide. 123
»Wir suchen hier Bekannte«, rief Justus, als sie in Hörweite angekommen waren. »Zwei Männer und ein junges Mädchen. Sie wohnen zur Zeit in einem Haus hier irgendwo in den Bergen, aber die genaue Adresse wissen Wir nicht.« Bob sah sich um. So weit sein Blick reichte, stand hier nirgends ein Haus. Kein Dach war zu sehen, kein Schornstein, kein Zufahrtsweg von der Autostraße. Der Schafhirte starrte nur stumm herüber. Justus fuhr fort: »Der eine von unseren Freunden sagte nämlich, er könne von dort aus Schafe hören. Aber ich sehe hier nirgends ein Haus. Gibt es um diese Zeit in den Bergen noch andere Schafherden?« Der Hirte zuckte die Achseln. »Ich hab’ keine gesehen«, sagte er. Er sprach mit leichtem europäischem Akzent. »Vielleicht habt ihr mehr Glück, wenn ihr weiter nach Westen fahrt. Bis gestern abend war ich mit meiner Herde in der Gegend dort, zwei oder drei Kilometer von hier, unterhalb der Straße.« Justus bedankte sich, und die Jungen gingen zu Morton zurück. »Also nach Westen«, gebot Justus. »Er war mit seinen Schafen auf einer Weide westlich von hier, am Hang unterhalb der Straße. Da müssen wir dann vielleicht ins Gelände, Morton.« »Kein Problem, Justus. Das schaffen wir schon.« Sie wendeten und fuhren zurück. Bald hatten sie die Abzweigung zur Cottonwood Creek Road hinter sich gelassen. Nun fuhr Morton langsamer. Auch hier gab es nur Berge und Wiesen. Von Rocky Beach waren sie nur einige Fahrminuten entfernt, doch die Gegend wirkte wie eine unwirtliche, menschenleere Wildnis. Einige hundert Meter nach der Abzweigung kam allerdings unterhalb der Straße ein grauer, steinerner Turm ins Blickfeld, der sich hinter einem kleinen Gehölz erhob. Als der Wagen näherkam, waren etwas weiter unten am Hang Steinmauern zu sehen, die mit Zinnen bewehrt waren. »Das ist ja eine Burg!« rief Peter. Morton hielt kurz vor einem von tiefen Furchen durchzogenen Feldweg an, der von der Straße zu dem Gemäuer hinunterführte. 124
»Seht mal, da ist auch noch ein Fort!« Bob zeigte zu einer Seite der Burg. Das Fort bestand aus mehreren Blockhütten, die von einem Zaun aus zugespitzten Pfählen umgeben waren. »Und sogar eine alte Stadt aus dem Wilden Westen«, ergänzte Peter. Verblüfft blickte er auf das Gelände bei der anderen Seite der Burg. Dort waren einige Holzbuden mit getürkten Fassaden erstellt, die eine schmale, staubige Straße säumten. »Das ist es!« rief Justus mit blitzenden Augen. »Da wohnen sie!« Er war seiner Ahnung gefolgt, und sie hatte ihn nicht getrogen. »Aber . . . aber hier kann man doch nicht wohnen«, wandte Peter ein. »Das sind doch alles nur alte Filmkulissen!« »Eben!« erwiderte Justus. »Ein Angeber und Schwindler wie Pelucci würde nie zugeben, daß er kein elegantes Haus hat. Erst recht nicht, nachdem er sich nach einem Einbruch in ein Pelzgeschäft in einer Ansammlung ausgedienter Filmkulissen verstecken muß. Statt dessen sagt dann so einer ganz flott, daß er zur Zeit in einem Haus wohnt, das früher Cecil B. DeMille gehörte. Wir wollen nur hoffen, daß unser vorgeblicher Produzent und sein Freund, der Horror-Fan, noch hier sind. Und daß wir Lucille finden!«
Flucht ins Ungewisse »Morton, Sie warten hier«, entschied Justus. »Wenn es für uns Probleme gibt und wenn es so aussieht, daß wir nicht allein mit der Situation zu Rande kommen, dann holen Sie Verstärkung.« »Auf mich ist immer Verlaß, Justus«, versicherte Morton. Die drei ??? stiegen den mit Steinbrocken übersäten Hang hinunter, allerdings ein Stück neben dem Feldweg, um Morell und Pelucci 125
nicht aufmerksam zu machen. Sie näherten sich den alten Filmkulissen von der Seite her, wo vereinzelt Sträucher wuchsen. Die Anlage war aus heruntergekommenen Bauten mit unbefestigten Wegen dazwischen bunt zusammengewürfelt. Außer der Burg, dem Fort und der Wildwest-Stadt gab es noch Häuser aus verschiedenen Stilepochen und eine Kirche aus der Zeit der ersten Siedler in Amerika mit einem Glockenturm. Die Gebäude waren im Schnellverfahren zusammengezimmerte Attrappen; sie hatten zumeist nur zwei oder drei Außenwände, und der Innenraum war den Witterungseinflüssen schutzlos ausgesetzt. Wie üblich hatte man auch an dieser Kulissenanlage immer wieder Änderungen vorgenommen. Neue Aufbauten waren hinzugefügt, Bestehendes war umgestaltet worden. Häuser waren versetzt oder teilweise abgebaut worden. Die Anlage der Stadt aus dem Wilden Westen war noch am ehesten intakt. In den beiden Häuserreihen fanden die Jungen all die typischen, beschilderten Gebäude vor: den Gemischtwarenladen, den Saloon, den Amtssitz des Sheriffs und das Gefängnis. Nirgends war ein Laut zu hören. »Wo fangen wir mit unserer Suche an?« flüsterte Bob. Das war nicht leicht zu entscheiden. Justus ließ den Blick über die öde kleine Anlage schweifen. Falls Morell und Pelucci hier draußen nächtigten, brauchten sie einen einigermaßen wetterfesten Unterschlupf, also einen Bau mit einem Dach, vier Wänden und einem massiven Fußboden. Das Haus, das als Gefängnis gekennzeichnet war, sah ziemlich fest und vollständig aus, und ebenso der Laden. Auch das Fort, die Burg und die Kirche wirkten solide. Justus entschied sich dafür, mit der Burg anzufangen. Dieses Bauwerk sah ganz so aus, als sei es aus Steinen gemauert, und in den grauen Mauern waren vergitterte Fensterluken. Wenn Morell und Pelucci nicht selbst hier hausten, so hielten sie vielleicht Lucille hinter diesen Gittern eingesperrt. Justus zeigte auf die Burg und schritt los. Die beiden anderen folgten. Beim Näherkommen sahen sie, daß an einer Pforte in einer der 126
Wände ein glänzendes neues Vorhängeschloß angebracht worden war. »Hier ist es!« flüsterte Bob. Justus gebot mit einer Handbewegung Stille. Die drei Späher schlichen sich an und lugten durch ein vergittertes Fenster. Dahinter lag ein sehr großer, dämmriger Raum. Der Fußboden bestand aus breiten Holzbrettern, und nahe beim Fenster lag ein formloses Bündel. Es sah aus, als habe jemand einen Ballen dunklen Stoffs achtlos hingeworfen, der nun hier vergammelte. »Lucille!« rief Justus ganz leise. »Lucille, bist du da?« Das Stoffbündel regte sich. Lucille Anderson setzte sich aufrecht hin. Ihr Gesicht war im Dämmerlicht sehr blaß, und die Augen stachen dunkel daraus hervor. »Lucille, ich bin’s, Justus Jonas«, fuhr Justus fort. »Meine Freunde Bob und Peter sind auch dabei. Wo sind Morell und Pel. . . McLain?« Das Mädchen schälte sich aus einer Decke und einem Schlafsack, stand auf und kam mit taumelndem Gang ans Fenster. Sie hatte den dunklen Rock und die weiße Rüschenbluse an wie beim ersten Zusammentreffen mit den Jungen. Nun war die Bluse verschmutzt und das lange Haar strähnig und verfilzt. Schuhe trug sie nicht. »Wir holen dich hier raus«, versprach Justus, noch immer im Flüsterton. Sie flüsterte zurück: »Seid vorsichtig. Ich glaube, die beiden sind verrückt.« »Wo sind sie?« fragte Justus. »Drüben, im Gemischtwarenladen.« Justus nickte, und dann machte er sich mit Peters Hilfe daran, die Gitterstäbe am Fenster loszureißen. Bob rannte den Hang hinauf zur Straße, um Morton zur Polizei zu schicken. Wie fast alles in dieser künstlich geschaffenen Anlage waren die Gitter vor Lucilles Gefängnis eher Attrappe als handfestes Material. Die Stäbe waren aus Holz statt aus Eisen oder Stahl. Als Bob wieder herunterkam, zogen Peter und Justus die Nägel her127
aus, mit denen die Stäbe am Fensterrahmen befestigt waren- Drinnen im Raum hatte Lucille angefangen zu weinen. »Verrückt sind die!« stieß sie immer wiederhervor- »Total verrückt? Wirklich! Und bei alledem ging es nur um ein simples Spielzeug!« »Den Teddy?« meinte Justus. »Den wollten sie an sich bringen, stimmt’s? Und am Ende bekamen sie ihn. Aber was soll’s?« »Weiß ich nicht. Ich war gerade aus der Badewanne gestiegen, und da kamen sie zu Mrs. Fowlers Haus und sagten, sie wollten mit mir über den Dracula-Film reden. Aber das war gelogen. Ich unterhielt mich unten im Wohnzimmer mit Henry, und Craig ging nach oben. Mir sagte er, er wolle sich aus der Küche ein Glas Wasser holen, aber statt dessen ging er hinauf ins Obergeschoß. Ich konnte ihn oben ja hören, und da wurde ich mißtrauisch und ging selbst rauf. Henry wollte mich noch zurückhalten, aber ich riß mich los. Und da sah ich Craig in Mrs. Fowlers Zimmer, wie er gerade die Schubladen der Kommode aufzog. Er wollte wissen, wo der Teddybär sei . . . und er packte mich am Arm und verhörte mich richtig.« Wieder brach sie in heftiges Schluchzen aus. »Er verlangte von mir, ich müßte es ihm sagen, sonst . . . Er drohte mir ganz brutal. Ich lief ins Bad und versuchte mich einzuschließen, aber er stieß die Tür auf und . . . und dann schlug er mich. Ich bekam Nasenbluten, aber das war ihm egal. Er verdrehte mir den Arm, und das tat so weh, und da sagte ich ihm, der Teddybär sei in meiner verlorengegangenen Tasche, und die sei zur Zeit vermutlich bei . . . bei euch, und . . .« »Schon gut«, unterbrach Justus das Mädchen. Die Nägel hatten erst gar nicht nachgeben wollen, aber mittels des Schraubenziehers an Justus’ Schweizer Offiziersmesser ließen sie sich nun doch entfernen. »Ich dachte mir, wenn die beiden über den Teddy Bescheid wissen, gehen sie wieder weg und lassen mich in Ruhe, aber das taten sie eben nicht.« »Sie mußten befürchten, daß du die Polizei verständigst«, sagte Justus. »Der Rest läßt sich erraten. Sie versteckten dich in ihrem Wagen und brachten dich hierher.« 128
»Ja, im Kofferraum«, bestätigte Lucille. »Henry hatte eine Pistole. Er sagte, wenn ich mich nicht still verhalte, erschießt er mich.« Da ging der letzte Nagel heraus. Peter packte das aus Holzstäben gezimmerte Gitter mit beiden Händen und zerrte kräftig daran. Mit leisem, schabendem Geräusch ließ sich die ganze Konstruktion aus dem Rahmen ziehen. Lucille stemmte sich auf den Fenstersims hoch, und die Jungen halfen ihr beim Heraussteigen. Der lange Rock verfing sich irgendwo, aber kurz entschlossen riß sie den Stoff los. Und dann rannten sie alle davon, weg von der Burg und zum Hang hin, über dem die Straße lag. Auf ihre nackten Füße nahm Lucille keine Rücksicht. Tapfer trat sie im Laufen auf Kieselsteine und rauhes Gestrüpp am Boden. Doch plötzlich wurde in der Wildwest-Stadt die Tür des Gemischtwarenladens aufgerissen, und Henry Morell trat in die Sonne hinaus. Er hatte einen Pappteller mit Essen in der Hand. Als er die Jungen und Lucille sah, stand er einen Augenblick starr da. Dann brüllte er: »Iggy! Iggy!« Die Jungen liefen schneller. Peter hatte Lucille bei einem Ellbogen gefaßt, Bob beim anderen, und so ging es ganz flott. Einmal stieß sie sich an der großen Zehe und wäre fast gestürzt. Sie unterdrückte einen Schmerzenslaut, hielt aber nicht im Laufen inne. Mitten im Weg der Flüchtenden tauchte die Nachbildung eines alten englischen Bauernhauses auf. Die Eingangstür stand offen, und die Jungen samt Lucille, die ein wenig humpeln mußte, sausten blitzschnell hinein. Sie schlugen die Tür zu, rannten durch das Haus und zu der ebenfalls offenen Hintertür wieder hinaus. Von dort aus liefen sie geduckt hinter einer aufgereihten Sammlung von Kulissen zu der Kirche und stiegen durch ein Fenster ein. Sie knieten am Fußboden. Bob spähte vorsichtig durch eine Ritze in der vorderen Wand. Morell und Pelucci waren inzwischen beide im Gelände zu sehen, und beide hatten Pistolen. Den zwei falschen Filmspezialisten war sichtlich klar, daß sie in fast hoffnungsloser Lage waren. Sie mußten Lucille wieder einfangen, sonst würden sie wegen Entführung ange129
klagt werden. Doch um an Lucille herankommen und sie erneut einsperren zu können, müßten sie auch die drei Jungen in ihre Gewalt bringen. Und was dann? Etwa in auswegloser Verzweiflung alle vier . . . beseitigen? Bob sah Morell und Pelucci die Straße der Kulissenstadt entlanggehen. Dabei schauten die Männer in alle Türen. Dann schritten sie auf der anderen Seite zurück und suchten noch gründlicher. »Verflixt!« sagte Bob. »Jetzt kommen sie auf uns zu. Die finden uns doch bestimmt!« Die Jungen sahen sich nach einem Fluchtweg um, doch es gab keinen. Sobald sie die Kirche verließen, um zur Autostraße vorzulaufen, würden die beiden Männer sie sehen und schießen. Nein, sie mußten sich weiter versteckthalten. Da erspähte Peter den kleinen Glockenturm. Eine Treppe gab es in seinem Inneren nicht, aber die zwischen den Eckpfosten festgenagelten Bretter waren in Abständen angebracht, so daß sie eine notdürftige Leiter bildeten. Lucille und die Jungen konnten darauf in den Turm hochsteigen. Und vielleicht würden die beiden Männer sie auf ihrer Suche dort oben nicht finden. Nun hörten sie die gegenseitigen Zurufe der beiden, die sich manchmal trennten, um da und dort in den alten Kulissen genauer nachzuforschen. Immer wieder wurden Türen aufgerissen. Einmal stieß Iggy Pelucci einen lauten Schrei aus; er hatte wohl eine Schlange gesehen. Lucille zitterte, verhielt sich aber ganz still. Bob nahm sie bei der Hand und zog sie sacht zu der wenig vertrauenerweckenden Leiter an der Wand. Sie raffte mit einer Hand ihren langen Rock und begann ohne Zögern den Aufstieg. Bald hatte sie die Plattform erklettert, die auf halber Höhe in den Glockenturm eingebaut war. Die Jungen folgten. Auf der Plattform fanden sie zu viert kaum Platz, doch irgendwie ging es schon. Sie legten sich platt auf den Bretterboden, damit sie von unten oder durch die Fenster im Turm nicht gesehen werden konnten. 130
Nun waren die Männer im Fort gegenüber . . . gleich darauf in dem amerikanischen Landhaus aus der Kolonialzeit nebenan . . . und jetzt wurde die Tür zur Kirche geöffnet. Schritte hallten laut auf dem Holzfußboden. Plötzlich drang ein Rascheln und Quieken in das Versteck der vier. Ganz oben mußte etwas sein, verborgen im Dunkeln unter dem Dach! Sie hörten leise Flügelschläge. Fledermäuse! Lucille schaute nach oben. Ihr Blick wurde starr, und sie sah aus, als wolle sie gleich losschreien. Justus wollte ihr schon die Hand über den Mund legen. Lucille schrie nicht. Aber sie stieß ein unterdrücktes Wimmern aus. Das genügte schon. Der Mann unten im Kirchenschiff hielt einen Augenblick inne, dann ging er weiter, mit energischen, schnellen Schritten. Nun stand er mitten unter dem Glockenturm und sah hinauf. Henry Morells Stimme war ruhig und gelassen. »Los, kommt runter«, sagte er, »sonst pumpe ich euch voll mit Blei.« Justus hätte am liebsten gelacht. Das hörte sich an wie aus einem uralten Wildwestfilm. Aber Morell hatte wirklich eine Waffe. Da blieb Justus lieber still. »Runterkommen, ihr da oben!« brüllte Morell jetzt los. »Ich weiß doch, daß ihr hier seid!« Nun mußte wohl oder übel gehandelt werden. Doch in diesem Augenblick hörten die vier etwas Neues. Erst war das Geräusch ganz leise, dann schwoll es an und wurde immer lauter. Motorengeräusch war das, von mehreren Autos, und dazu heftiges Gehupe. Und schließlich kamen noch laute Rufe dazu. Morell trat vom Glockenturm zurück. Erschrocken und verunsichert ging er an ein Fenster. Peter richtete sich auf die Knie auf und spähte zu einem der Turmfenster hinaus. »Das gibt’s doch nicht«, stieß er verdutzt hervor. »Was?« flüsterte Bob. »Was ist denn?« Ehe Peter antworten konnte, hörten sie Morell aus dem Kirchen131
raum laufen. Draußen auf der Straße hatte ihn Pelucci schon mehrmals angerufen, er solle schnell herkommen. Peter sah, wie Pelucci über die staubbedeckte Straße auf das Fort zulief. Der Mann zog das schwere Tor aus starken Pfählen auf und rannte zu dem alten, grauen Auto, das hinter der Umzäunung geparkt war. Morell hatte es inzwischen auch geschafft. Sekunden später fuhr der Wagen zum Tor des Forts hinaus. Da kletterten die drei ??? und Lucille schleunigst von ihrem Turm hinunter und liefen ins Freie. Das graue Auto war schon fast am Ende der Kulissenstraße angelangt und hielt auf den Feldweg zu, der zur Autostraße hinaufführte. Doch da hielt der Wagen an: Eine Karawane höchst seltsamer Automobile, die einen mit allen möglichen Schikanen aufgeputzt und grellbunt lackiert, die anderen ungepflegt und zerschrammt, hielt mit ohrenbetäubendem Lärm auf die Kulissenanlage zu. Ganz vorn fuhr ein einstmals normaler Ford. Nun war er allerdings lilafarben umgespritzt, und an allen Seiten waren grüne Flammen aufgemalt. Es röhrte aus zwei Auspuffrohren, und die Breitreifen ließen Staub und Schotter aufspritzen. Hinter dem lila Monster kam ein völlig verrosteter, zerbeulter Wagen ohne Dach. Eine ganze Schar Teenager hatte sich hineingequetscht. Darunter waren vier Jungen, die ihrem Äußeren zufolge viel von Bodybuilding hielten. Sie brüllten lauthals los, als sie den grauen Wagen zu Gesicht bekamen, und fuchtelten wild um sich. »Yippiiiiie!« schrie ein Mädchen, das einen orangefarben lackierten VW-Käfer fuhr. Drei Jungen saßen noch darin, die nur darauf zu warten schienen, bis sie losgelassen wurden. Der Toyota hinter dem Käfer war ebenfalls mit jungen Leuten vollgepfropft, die dem grauen Auto laute Drohungen entgegenschleuderten. Der letzte in der Prozession war Morton mit seinem Geländewagen. Neben ihm saß die Kellnerin vom »Pizza Shack«, die sich vorsorglich mit einem Nudelholz bewaffnet hatte. Pelucci am Lenkrad des grauen Wagens erkannte, daß er es nicht bis zur Straße oben schaffen würde. Gleich würde die rollende Armee 132
aufgebrachter Teenager den Feldweg erreicht haben. Aber dem Mann ging es nur noch ums Entkommen. Er gab Gas. Der Wagen wendete um hundertachtzig Grad, so daß die Hinterräder Staubwolken aufsprühen ließen. Er raste in der Gegenrichtung davon und hielt auf die Geröllhalde unterhalb der alten Filmkulissen zu. Unterwegs kurvte er wild um eine Fahnenstange, nahm um ein Haar das offenstehende Tor des Forts mit und fuhr gefährlich dicht an den drei ??? und Lucille vor der Kirchentür vorbei. Dann holperte er über Gestrüpp und Gestein. Pelucci wollte tatsächlich über diesen unwegsamen Hang flüchten! Kurze Zeit ging es recht gut. Doch dann stellte sich ein massiver Felsbrocken Pelucci in den Weg. Er riß das Lenkrad herum, um den Stein zu umfahren. Dabei rollte ein Vorderrad an dem großen Brocken hinauf, das andere drehte sich im Leerlauf auf dem losen Staub. Der Motor heulte auf, und der Wagen legte sich gefährlich schräg. Dann rutschte er noch ein Stück vorwärts, es knirschte und krachte, und nun hing das graue Auto hilflos auf dem Felsen. Nur die Räder, die nun alle in der Luft hingen, drehten noch durch. Der Rahmen war gebrochen. Pelucci und Morell krochen aus dem Schrotthaufen und versuchten, zu Fuß hangabwärts weiterzufliehen. Mittlerweile waren auch die empörten Ankömmlinge aus ihren Autos gesprungen und liefen hinterher. Einmal drehte sich Morell um und hob seine Pistole. In diesem Augenblick erreichte ihn der Anführer des wilden Heers, ein muskelbepackter junger Mann. Er hechtete nach Morells Beinen, und dieser ging zu Boden. Die Pistole flog ihm in weitem Bogen aus der Hand. Pelucci hockte sich einfach auf den Boden und setzte dem Angriff wütender Teenager keinen Widerstand entgegen. Nun war also alles zu Ende, und das wußte er.
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Eine Einladung für fünf Alfred Hitchcock war auf Reisen, doch eine Woche nach Lucille Andersons Rettung konnte Justus ihn am Telefon erreichen. »Wir haben wieder einen Fall gelöst«, teilte der Erste Detektiv dein großen Regisseur mit. »Sollen wir Ihnen davon berichten?« »Hat die Angelegenheit zufällig etwas mit einem jungen Mädchen aus Fresno zu tun?« erkundigte sich Mr. Hitchcock. »Darf ich fragen, woher Sie das wissen?« »Nun, ich lese viele Zeitungen, und da gab es recht interessante Schlagzeilen. Ich dachte mir schon, daß ihr mit dahintersteckt«, erklärte Alfred Hitchcock. »Wie wäre es morgen nachmittag um vier?« Justus zögerte einen Augenblick. Dann wagte er es. »Dürfen wir ausnahmsweise einmal zwei Freunde mitbringen?« »Aha. Und der eine davon wäre wohl jenes minderjährige Mädchen mit darstellerischen Ambitionen?« »Lucille hat schon hoch und heilig versprochen, daß sie Sie auf keinen Fall wegen einer Filmrolle ansprechen wird«, versuchte Justus die Situation zu klären. »Sie möchte Sie nur kennenlernen, Mr. Hitchcock. Und Morton ist von Ihnen ja auch begeistert. Er hat jeden Ihrer Filme mindestens zweimal gesehen.« »Ach, das freut mich aber! Morton wollte auch ich immer schon kennenlernen. Bringt ihn nur mit. Vielmehr, laßt euch von ihm herbringen.« Erleichtert legte Justus auf. Dann rief er Mrs. Fowler in Cheshire Square und Morton bei Rent’n’Ride an. Pünktlich um halb vier erschien Morton am folgenden Nachmittag. Er fuhr den luxuriösen Rolls-Royce mit den Goldbeschlägen, doch die dazugehörende Livree hatte er diesmal nicht angelegt. Er trug eine hellgraue Hose und einen blauen Blazer. »Heute bin ich in erster Linie Gast und nicht Chauffeur«, verkündete er. »Und da gehört es sich, die dem Anlaß angemessene Kleidung zu wählen.« 134
»Sie sehen großartig aus, Morton«, stellte Peter fest. »Jetzt möchte ich nur wissen, wie sich Lucille wieder zurechtgemacht hat.« »Bestimmt ganz toll«, prophezeite Bob. »Lucille will den berühmten Alfred Hitchcock sicher auf den ersten Blick beeindrucken.« Doch da hatte er sich getäuscht. Als Lucille aus Mrs. Fowlers Haus kam, hatte sie eine schlichte dunkle Hose und eine Hemdbluse an. »Lucille!« rief Peter. »So kenne ich dich ja gar nicht!« »Wirklich nicht?« fragte sie mit dramatischer Betonung. »Das bin ich! Ich! Die Maskeraden habe ich satt.« Sie fuhren nach Hollywood und mußten nicht lange warten, bis Alfred Hitchcock sie im Universal-Studio empfing. Der Regisseur hatte die Besprechung in einem Konferenzzimmer vorgesehen, da man diesmal immerhin zu sechst war. Nachdem Mr. Hitchcock einige liebenswürdige Worte mit Lucille und mit Morton gewechselt hatte, gab er Bob das Startzeichen für seinen Bericht. »So, und nun weiht mich in eure Unternehmungen ein«, sagte er mit einem Blick auf Bobs dickes Protokoll. Bob räusperte sich und berichtete. Allzuoft brauchte er seine Notizen nicht zu Rate zu ziehen; es war alles noch frisch im Gedächtnis. Als er zu dem grandiosen Finale kam und Mortons Sondereinsatz mit den motorisierten Teenagern schilderte, mußte Alfred Hitchcock lauthals lachen. »Warum in aller Welt schleppten Sie diese Jungen und Mädchen an statt der Polizei, Morton?« fragte er. Morton gestattete sich ein leises Lachen. »Ich mußte bis zur Küstenstraße zurückfahren, bis ich endlich eine Telefonzelle fand«, erklärte er, »und die funktionierte nicht 1 Also mußte ich weiterfahren, bis ich das nächste Telefon entdeckte, und das war zufällig im Pizza Shack. Die dort anwesenden Freunde von Miss Anderson hörten mit, was ich der Polizei mitteilte, und da boten sie ihre Hilfe an. Und wir kamen bei der Kulissenstadt ganz knapp vor der Polizei an. Ich muß gestehen, daß ich diese geglückte Befreiungsaktion aus vollem Herzen genossen habe.« Da lachten alle. 135
»Und nun zu dem Teddybären«, fuhr der große Regisseur begierig fort. »Dem Exemplar, das der Anlaß für Lucilles Entführung war. Was war denn nun so bedeutsam an diesem niedlichen Tier?« »Das kommt jetzt!« rief Lucille eifrig. »Justus fand den Teddy, während die Polizisten gerade Morell und Pelucci festnahmen«, sprach Bob weiter. »Ihm war nämlich gerade aufgegangen, daß er diese Burg schon einmal gesehen hatte.« »Ja, und zwar in einem alten Horrorfilm, Der Gefangene auf dem verwunschenen Berg«, fiel Justus ein. »Und mir fiel eine Szene wieder ein, in der der Burgherr ein Geheimfach in der Mauer öffnet und darin die Krone eines Zauberers findet. Ich durfte wohl annehmen, daß Morell und Pelucci diese Filmszene ebenfalls kannten.« »Justus geht also in die Burg, sucht und findet eine kleine Kammer, drückt mit der Hand gegen einen Teil der Holztäfelung, und schon geht die Tür zu einer verborgenen Öffnung auf!« erzählte Peter. »Und darin sitzt Lucilles Teddy!« »Gut gemacht, Justus«, lobte Alfred Hitchcock. »Und was steckte denn nun in dem Bären? Rauschgift? Diamanten? Jetzt bin ich aber mächtig gespannt!« »Es tut mir leid, wenn ich Sie enttäuschen muß«, sagte Justus lächelnd, »aber in dem Teddy war nur Geld. Bargeld.« »Geld?« wiederholte Mr. Hitchcock verblüfft. »Falschgeld?« »0 nein«, widersprach Justus. »Das war alles echt, in großen Scheinen. Morell und Pelucci hatten es Sears gestohlen.« »Soll das etwa heißen, daß die Herren nicht zusammenarbeiteten?« »Keineswegs«, erläuterte Justus. »Morell und Pelucci waren zwei Spinner, die einen regelrechten Film-Tick hatten. Aber sie schafften es einfach nicht, in der Branche Fuß zu fassen. Morell war Bürobote beim Globus-Studio gewesen, aber er wurde entlassen. Pelucci arbeitete hin und wieder als Statist bei Dreharbeiten, aber das genügte ihm nicht. Da beschlossen die beiden, sich als Filmproduzenten selbständig zu machen. Sie glaubten allen Ernstes, dazu brauche man nur eine Idee und etwas Geld, und die Idee hatte Morell: eine Fortsetzung zu Dracula drehen.« 136
»Das hat es aber schon mehrmals gegeben«, wandte der Filmemacher nüchtern ein. Peter grinste. »Vielleicht ist das der Grund, warum niemand Geld in dieses Projekt investieren wollte.« Justus fuhr fort: »Da fand Pelucci zufällig Arbeit im Büro, und zwar im Versand von Mr. Sears’ Spielwaren-Importfirma. Überwiegend wurde nach Katalog bestellt und geliefert. Mit der Zeit beschäftigte der abgeschlossene Raum hinten beim Lager seine Neugier. Wir waren ja auch wißbegierig, konnten uns aber keinen Zugang verschaffen. Eines Tages kam Pelucci an Sears’ Schlüssel heran, ging in den Raum und fand Säcke voller Geld. Wirklich, Säcke. Er klaute einen Sack, aber es war ihm klar, daß er damit nicht einfach zur Tür hinausspazieren konnte. Also stopfte er dicke Bündel Banknoten in eine Partie Teddybären, die als Miniatur-Safe gefertigt waren und an einen Pelzhändler geliefert werden sollten. Der Versandkarton wurde vom Paketdienst abgeholt, und von da an ließ sich Pelucci in der Importfirma nicht mehr blicken. Morell beschaffte sich eine Aushilfsarbeit bei dem Pelzhändler, damit er das Geld aus den Teddybären sicherstellen konnte. Aber er stellte sich so ungeschickt an, daß ihn der Inhaber wieder hinauswarf, noch ehe die Bären überhaupt geliefert worden waren. Daraufhin brachen Morell und Pelucci in den Laden ein und stahlen Pelze sowie die Bären. Die Pelze verhökerten sie an einen Hehler, die Bären nahmen sie aus. Allerdings fehlte ein Bär. Das war natürlich der Teddy, den Mrs. Fowler inzwischen bekommen hatte. Um diesem Teddy auf die Spur zu kommen, mußten die beiden nun nochmals in das Pelzgeschäft einbrechen, weil sie die Unterlagen über die Kunden brauchten. Und danach wußten sie, wer diesen Teddy hatte.« »Hätten sie auf diesen einen Bären wirklich nicht verzichten kön nen?« wollte Mr. Hitchcock wissen. »Auf keinen Fall, es waren immerhin zehntausend Dollar drin!« er widerte Peter. »Und sie brauchten jeden Cent, den sie kriegen konnten, um ihren Dracula-Film zu finanzieren.« 137
»Jetzt kommt endlich der Teil der Geschichte, in dem wir aktiv werden«, kündigte Justus an. »Morell brach in Mrs. Fowlers Haus ein und suchte den Teddy. Statt dessen fand er Lucille. Da machten sich die beiden in Rocky Beach an sie heran. Sie war ja in ihren viktorianischen Kleidern leicht wiederzuerkennen. Pelucci und Morell traten ihr gegenüber als Filmproduzenten auf, und sie arrangierten die großzügige Party, um bei dieser Gelegenheit nochmals in das Haus zu kommen und nach dem Teddy suchen zu können. Der war freilich nicht dort, sondern bei uns in der Zentrale. Am nächsten Tag rückten Pelucci und Morell wieder bei Lucille an. Sie zwangen sie dazu, ihnen zu sagen, wo der Teddy war, und nahmen sie kurzerhand mit. Und Morell brach dann erst in unser Wohnhaus und später in die Zentrale ein.« »Wobei er dieses idiotische Monster-Kostüm trug«, setzte Peter angewidert hinzu. »Aber war das denn bei den beiden nicht durchaus üblich?« fragte der Regisseur. »Einer tauchte in Horrormaske doch auch bei dem Pfandleiher und in dem Spirituosengeschäft auf?« »Nein«, entgegnete Bob. »Das war ein anderer Ganove! Seit Pelucci und Morell in Haft sind, hat er die Masche noch ein paarmal abgezogen. Jedenfalls gab er Morell die Idee ein, sich für seinen geplanten Einbruch als Schreckgespenst zu maskieren. Nicht einmal das war also ein eigener Einfall der beiden.« Alfred Hitchcock lachte. »Und nun zu einem Nebenstrang der Geschichte. Was fing Sears nur mit all dem Geld an? Und warum beschattete er euch ständig mit seinem Wagen?« »Er hatte ja im Pizza Shack gehört, wie wir über Iggy und über Teddybären sprachen«, erklärte Bob. »Da dachte er, wenn er uns auf den Fersen bleibt, kommt er vielleicht wieder an Iggy Pelucci heran, der ihm Geld gestohlen hatte und dann untergetaucht war.« »Warum hat Sears nicht einfach die Polizei eingeschaltet?« »Diesen Diebstahl anzuzeigen, konnte er sich nicht leisten«, antwortete Justus, »weil er sich zu intensiv mit Geldwäsche befaßte.« Der Filmemacher lächelte. »Aha. Hatte ich mir gedacht.« 138
»Ich versteh’ kein Wort«, meldete sich da Lucille. »Geldwäsche? Was soll das sein?« »Nun, einer nimmt sogenanntes schmutziges Geld, zum Beispiel die Bareinnahmen aus ungesetzlichen Geschäften wie Drogenhandel und verbotenen Glücksspielen, und läßt sich etwas einfallen, um das Geld sauberzubekommen, also es als rechtmäßige Einkünfte verbuchen zu können«, klärte Alfred Hitchcock das Mädchen auf »Warum denn nicht das Geld ganz normal bei der Bank einzahlen?« fragte Lucille weiter. »Wenn das so einfach wäre . . .«, meinte der Regisseur. »Ich erkläre es Ihnen. Banken sind verpflichtet, Bareinzahlungen und -auszahlungen, die zehntausend Dollar übersteigen, dem Finanzministerium zu melden. Diese Behörde überprüft solche Transaktionen nach ihrem Dafürhalten, unter anderem um Rauschgifthändler zu fassen. Bei Einkünften aus legalen Unternehmen, die ihrer Art nach viel Bargeld einnehmen, also zum Beispiel Restaurants oder Supermärkte, ist die Finanzbehörde hingegen nicht von vornherein mißtrauisch.« »Eben, genau das hatte Sears gut vorgeplant«, schaltete sich Bob ein. »Er war Besitzer einer Reihe kleinerer Firmen, in die Bargeld fließt: der Pizza Shack, eine chemische Reinigung, eine Kegelbahn. Bei der Polizei hält man Sears nicht selbst für einen Rauschgifthändler. Er war der Geldwäscher für solche Händler. Dazu mußte er nur die illegalen Gewinne seiner Partner mit den alltäglichen Bareinnahmen seiner Betriebe mischen, alles zusammen auf seine eigenen Bankkonten einzahlen, selbstverständlich dafür auch Steuern abführen, und schließlich eine Möglichkeit finden, das Geld seiner Partner an diese zurückzuzahlen. Abzüglich seines Anteils jedenfalls.« »Bei den Ermittlungen hat sich auch ergeben, daß Sears auf seinen vielen Auslandsreisen im Spielwarengeschäft große Geldbeträge seiner Partner über die Grenze schaffte«, wußte Justus noch zu berichten. »Vermutlich hat er sie auf geheimen Bankkonten in der Schweiz deponiert.« 139
»Und wie äußert sich Sears selbst zu alledem?« wollte Alfred Hitchcock wissen. »Überhaupt nicht. Er ist nämlich verschwunden!« erklärte Peter. »Wahrscheinlich hat er sich ins Ausland abgesetzt.« »Aber Morell und Pelucci sind in Untersuchungshaft wegen Einbruchs und Entführung«, fügte Justus hinzu. »Sie packten alles aus, was sie über Sears wußten, weil sie auf mildernde Umstände hoffen. Aber viel wußten sie im Grunde nicht. Die Drahtzieher aus der organisierten Kriminalität, die mit Sears zusammenarbeiteten, konnten sie nicht benennen. Im übrigen sieht es für Pelucci und Morell nicht gut aus. Lucille wird natürlich als Zeugin der Anklage gegen sie aussagen, und einige der gestohlenen Firmenakten des Pelzhändlers fanden sich in Peluccis Wagen, das wird ihn schwer belasten.« »Die beiden Experten haben also letzten Endes doch ein beängstigendes Horror-Drama ausgeheckt und produziert, zwar nicht als Film, aber für ihr eigenes Leben und Fortkommen!« kommentierte Mr. Hitchcock. Lucille hatte allen Anwesenden auch noch etwas mitzuteilen. »Ich werde wieder zur Schule gehen!« verkündete sie. »Ich war zwei Tage in Fresno bei Mom und Daddy, und wir redeten fast die ganze Zeit und überlegten uns das gemeinsam. Ich kann weiterhin bei Mrs. Fowler wohnen und werde ihr dafür helfen, so wie wir es zur Zeit machen. Aber meinen Job im Kosmetiksalon werde ich aufgeben und dafür in Rocky Beach meinen Schulabschluß machen. Danach will ich versuchen, an eine der wirklich guten Schauspielschulen zu kommen. Und eines habe ich mir vorgenommen: Nie wieder werde ich mir einen Teddybären ausleihen!« »Das hört sich ganz vernünftig an junge Dame«, meinte der Filmemacher. »Und längst nicht so riskant wie Ihre jüngsten Abenteuer«, setzte er augenzwinkernd hinzu. Morton sah auf seine Uhr. Es war Zeit zur Rückfahrt. Der Brite ging schon mit Lucille zum Wagen, während die drei ??? noch einige Minuten bei Alfred Hitchcock blieben. 140
»Lucille gefällt mir als ganz normales Wesen viel besser als in ihren hundert Rollen als Möchtegern-Filmstar«, gab Peter zu. Alfred Hitchcock lachte. »Hoffentlich bleibt das auch so. Doch ich weiß nicht recht . . . Eine echte Schauspielerin ändert sich nicht. Nächste Woche ist sie vielleicht Lady Macbeth oder Frankensteins Braut.« »Bitte nicht so schnell!« protestierte Peter. »Von Horror-Dramen habe ich vorerst genug. Und zwar von allen Spielarten!«
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