Thomas Rentsch Transzendenz und Negativität
Thomas Rentsch
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Thomas Rentsch Transzendenz und Negativität
Thomas Rentsch
Transzendenz und Negativität Religionsphilosophische und ästhetische Studien
De Gruyter
Gefördert mit Mitteln der Deutschen Forschungsgemeinschaft im Rahmen des SFB 804 der Technischen Universität Dresden
ISBN 978-3-11-021496-3 e-ISBN 978-3-11-021497-0 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. 쑔 2011 Walter de Gruyter GmbH & Co. KG, Berlin/New York Druck und Bindung: Hubert & Co. GmbH und Co. KG, Göttingen ⬁ Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com
Alle Dinge sind geschaffen aus nichts; darum ist ihr wahrer Ursprung das Nichts […]. Meister Eckhart „Es ist gut, weil es Gott so befohlen hat“, ist der richtige Ausdruck für die Grundlosigkeit. Ludwig Wittgenstein
Vorwort Der vorliegende Band enthält Beiträge aus den letzten Jahren, in denen ich meine Untersuchungen zur Gottesfrage, zur philosophischen Theologie und Religionsphilosophie (Gott, Berlin/New York 2005) und zur systematischen Verbindung von Negativitt und praktische(r) Vernunft (Frankfurt a.M. 2000) fortgeführt, erläutert, vertieft und konkretisiert habe. Ebenso enthält der Band ästhetische Studien, die Transzendenzund Negativitätsphänomene behandeln. Es bestätigt sich der Befund, dass eine Jahrzehnte die Moderne dominierende Verdrängung und Marginalisierung der Transzendenzthematik insbesondere in der deutschen Philosophie verfehlt und unbegründet war, dass vielmehr weder die Moderne noch die Postmoderne mit geschichtsphilosophischen Konstruktionen vollendeter und abgeschlossener Säkularisierung begreifbar ist. Die weltgeschichtliche Entwicklung seit der Jahrtausendwende zeigt, wie komplex, heterogen und binnendifferenziert das Verhältnis von Wissenschaft, Politik, Religion und Aufklärung im Prozess der Globalisierung und der interkulturellen Kommunikation und Konfrontation tatsächlich ist. In der Philosophie wird deutlich, dass ohne Transzendenzbezug kein wichtiger Ansatz des vergangenen Jahrhunderts – weder Heidegger noch Wittgenstein, weder Adorno noch Derrida – auch nur ansatzweise begreifbar ist. Religiöse und theologische, näherhin mystische und negativ-theologische Tradition prägen – oft verdeckt und indirekt – die Tiefenstruktur der modernen und postmodernen Reflexion und ihre kulturellen Wirkungen und Gestaltungen. Darüber hinaus aber lässt sich zeigen, dass eine Engführung der Transzendenzphänomene und Transzendenzdimensionen auf religiöse (und theologische) Transzendenz eine sowohl historisch wie systematisch weitreichende Reduktion und Unterbestimmung dieser Phänomene und Dimensionen impliziert. Vielmehr muss von komplexen Transzendenzaspekten der Welt (des Seins und jedes Gegenstandes), der Sprache (des logos), von interpersonaler Transzendenz sowie von der Transzendenz der Individuation und der Individuen ausgegangen werden, um nur die wichtigsten dieser Aspekte zu nennen – und dies seit Beginn der philosophischen Reflexion. Erst auf diesem Hintergrund lassen sich dann
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Vorwort
kulturelle – mythische, philosophische, praktische, ethische, ästhetische und religiöse – Paradigmen von Transzendenz analysieren, die auf dem Wege des Reflexivwerdens von Transzendenz ausgebildet werden. Es ist daher unverzichtbar und dringend erforderlich, eine kritischhermeneutische, philosophische Analyse und Rekonstruktion von Transzendenz zu erneuern und explizit auszuführen. Die vorliegenden Beiträge unternehmen dieses Projekt sowohl auf historischer wie auf systematischer Ebene. Historisch wird gezeigt, dass und wie Transzendenzkategorien und -dimensionen die Genesis der okzidentalen Rationalität gerade in ihrer Verklammerung mit fundamentalen Aspekten von Negativität konstituieren und bestimmen. Auf dem Hintergrund der biblischen Überlieferung und der antiken griechischen Philosophie wird dieser Befund in Interpretationen zu Kant und Hegel, Benjamin und Tillich, Gehlen und Bloch, Heidegger, Wittgenstein, Adorno und Derrida herausgearbeitet. Im systematischen Teil des Bandes wird die Transzendenzproblematik erkenntnis- und sprachkritisch, existentialpragmatisch, religionsphilosophisch, negativ-metaphysisch, philosophisch-theologisch und immer wieder in Analysen zu Alltagsprache und Lebenswelt behandelt. Das Verhältnis von Transzendenz und Sprache, Transzendenz und Lebenspraxis sowie das Verhältnis von Transzendenz und Vernunft stehen im Zentrum der Beiträge. Die ästhetischen Untersuchungen vertiefen die Analyse im Blick auf theoretische, metaphysische und anthropologische Aspekte von Transzendenz und Negativität im Bereich der Kunst. Es zeigt sich bei aller Materialität und Konkretion der Untersuchungen, dass die spezifisch systematische Verbindung von Transzendenz und Negativität, die die Philosophie seit Beginn bis zur Gegenwart charakterisiert, erst erkenntnis- und sprachkritisch ganz in die Reflexion eingeholt werden kann. Diese Verbindung methodisch zu rekonstruieren, ist daher zentrale Aufgabe einer kritischen Hermeneutik. Im Jahr 2009 konnte an der TU Dresden der Sonderforschungsbereich 804 „Transzendenz und Gemeinsinn“ eingerichtet werden. Die in diesem Band versammelten Forschungen kann ich nun im Rahmen meines Projektes zu „Transzendenz und Gemeinsinn in Geschichte und Gegenwart der Philosophie“ fortsetzen und mit den Forschungen vieler anderer Disziplinen verbinden. Im Vordergrund meines Projektes steht neben der Transzendenzthematik die neuerliche Auseinandersetzung mit Wittgensteins Philosophie der Alltagssprache sowie mit Husserls und Habermas‘ Philosophie der Lebenswelt. Weitere Projektteile befassen sich mit Säkularisierungstheoremen sowie mit dem Begriffsfeld Ge-
Vorwort
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meinsinn/common sense/sensus communis zwischen theoretischer und praktischer Philosophie in der Aufklärung. Bereits an diesem Band ist der SFB 804 durch den von ihm und seinem Sprecher Hans Vorländer gewährten großzügigen Druckkostenzuschuss und durch die Mitwirkung meiner Projektmitarbeiterin Nele Schneidereit maßgeblich beteiligt. Für ihre Mitarbeit bei der Fertigstellung des Bandes danke ich Sebastian Böhm und Johannes Quade. Sebastian Böhm, Kristin Matthes, Daniel Wenz und Carolin Wiegand danke ich für ihre Korrekturtätigkeit und die Erstellung des Personenregisters, Johannes Quade danke ich insbesondere für die Erstellung des Sachregisters. Dresden, im September 2010
Thomas Rentsch
Inhalt Teil 1. Religionsphilosophie 1. I Historische Untersuchungen Die Entdeckung der Unverfügbarkeit. Zum Zusammenhang von Negativität und Sinnkonstitution im Horizont der biblischen Überlieferung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Rationalität, Negativität, Transkulturalität. Aspekte europäischer Anthropologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14 Theodizee als Hermeneutik der Lebenswelt. Existentialanthropologische und ethische Bemerkungen . . . . . . . . 26 Die Rede von der Sünde – Sinnpotentiale eines religiösen Zentralbegriffs aus philosophischer Sicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 36 Hegels Gott . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 58 Dialektik der Transzendenz bei Benjamin. Eine Alternative zur Substitution des Absoluten in Reflexion und Praxis der Moderne
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Negativität versus Metaphysik – mit Tillich gegen Tillich. Kritische Bemerkungen zu seiner Religions- und Kulturphilosophie der Zwanziger Jahre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Die Macht der Negativität. Kritik und Rekonstruktion philosophischer Anthropologie im Blick auf Gehlen . . . . . . . . . . 97 Das Prinzip Hoffnung – in philosophiehistorisch-systematischer Perspektive . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 117 Gnosis und philosophische Moderne: Heidegger, Wittgenstein, Adorno . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 131 Spuren Gottes? Substitute des Absoluten in der Reflexion der Moderne . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 148 1. II
Systematische Perspektiven
Grenzen und Einheit der Vernunft neu denken . . . . . . . . . . . . . . 161
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Inhalt
Zeit, Sprache, Transzendenz – phänomenologische Analysen zu den Grenzen und zum Sinngrund menschlicher Praxis . . . . . . . . 184 Transzendenz und Sprache. Der Mensch im Verhältnis zu Grenze und Sinngrund der Welt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 201 Unmöglichkeit und lebensweltliche Sinnkonstitution. Aspekte einer negativen Existentialpragmatik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 217 Negativität und Rationalität. Gibt es aus philosophischer Sicht irreduzible Wahrheitsansprüche religiöser Vernunft? . . . . . . . . . . 233 Worin besteht die Irreduzibilität religiöser Wahrheitsansprüche? Religion und negative Metaphysik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 254 Negative Theologie, Transzendenz und Existenz Gottes . . . . . . . 269 Religion und Philosophie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 289 Wieder nach Gott fragen? Thesen und Analysen zur Rehabilitation philosophischer Theologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 309 Der moderne Wissenschaftsbetrieb und die alte Gottesfrage . . . . . 326 Aspekte des Urvertrauens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 341 Teil 2. Ästhetik Der Augenblick des Schönen. Visio beatifica und Geschichte der ästhetischen Idee . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 355 Die Funktion der Einbildungskraft in Ästhetik und Religion . . . . 380 Wie lässt sich Angemessenheit ästhetisch denken? Zum Zusammenhang von Schönheit, Metaphysik und Lebenswelt . . . . 394 Entwurf und Horizontbildung in philosophischer Sicht . . . . . . . . 409 Thesen zur philosophischen Metaphorologie . . . . . . . . . . . . . . . . 423 Strukturen ästhetischer Erfahrung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 438 Nachweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 448 Namenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 451 Sachregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 456
Teil 1. Religionsphilosophie 1.I Historische Untersuchungen
Die Entdeckung der Unverfügbarkeit. Zum Zusammenhang von Negativität und Sinnkonstitution im Horizont der biblischen Überlieferung 1. Oberflächliche und tiefe Aufklärung Meine These ist: Aufklärung und absolute Transzendenz (Gottes) sind unlöslich verklammert; wird diese Verklammerung einseitig aufgelöst und getilgt, dann ergibt sich eine negative Dialektik von Nihilismus und Fundamentalismus. Aufklärung muss mithin die negative Theologie des Absoluten sinnkriterial festhalten und praktisch transformieren, und dies hat sie in ihren besten Kernbestrebungen auch getan. Religion muss diese negative Theologie des Absoluten bildlich indirekt vergegenwärtigen und so meditativ und kongregativ konkret zugänglich und bewusst machen und zugänglich halten und sie ebenfalls praktisch transformieren. Aufklärung und Religion, Philosophie und Christentum machen und halten so – je auf ihre Weise – ein Wissen vom konstitutiven Konnex von Negativität und Sinn bewusst. Das macht ihre tiefe Entsprechung wie auch ihre topische Differenz aus, die es wiederzuentdecken und neu zu beleben gilt. Weder bedeutet dies eine rationalistische Einholung und Verkürzung christlicher Verkündigung und Praxis, die einen autonomen Bereich von Sprache und Leben bildete und bildet, eine Lebensform sui generis. Noch bedeutet es ein Christlichwerden philosophisch-kritischer Reflexion, denn das wäre eine verhängnisvolle kategoriale Vermengung ganz verschiedener Ebenen. Wohl jedoch lassen sich die zentralen Rationalitätspotentiale in der philosophischen Reflexion herausstellen, die in der biblischen und christlichen Tradition – ganz unabhängig von Philosophie – angelegt waren und sind. Philosophie vermag durchaus in anderen religiösen Traditionen – ich denke z. B. an Elemente des Sufismus im Islam oder an Traditionen wie den Zen-Buddhismus – entsprechende Einsichten zum Konnex von Negativität und Sinn angelegt finden. Das gilt m. E. ebenfalls von der genuin philosophischen Tradition des Neuplatonismus, der negativen Theologie bei Proklos und Plotin. Worin bestehen die Rationalitätspotentiale der biblisch-christlichen Tradition? Ich will behelfsmäßig und modellhaft eine oberflchliche Aufklrung von einer Tiefenaufklrung unterscheiden.
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Teil 1. Religionsphilosophie
Eine oberflächliche Aufklärung orientiert sich an Vernunft, v. a. an praktischer Vernunft, als sei sie schlicht machbar, realisierbar, wenn man nur wolle. Die Zugänglichkeit des Guten, seine Erkennbarkeit und Machbarkeit, seine Kommensurabilität, kurz seine Verfügbarkeit scheinen klar zu sein und festzustehen. Ineins damit wird die Selbsttransparenz der Subjekte vorausgesetzt: Prinzipiell können wir uns selbst klar erkennen und vernünftig beurteilen; auch wechselseitig besteht eine Transparenz der Subjekte, ihrer Motive und Handlungsgründe. Auch die geschichtliche Entwicklung ist prinzipiell pragmatisch zugänglich und erkennbar. Wissenschaftlicher, politischer und auch existentiell-ethischer Fortschritt sind prinzipiell sicher erkennbar, sie sind letztlich evident und daher auch mit sicherem Zugriff zu befördern. Die skizzierte naive, oberflächliche Form von Aufklärung gehört sicher zu jeder vernünftigen menschlichen Lebenspraxis. Sie liegt uns nahe. Ohne sie könnten wir unseren Alltag überhaupt nicht bewältigen und doch steckt in ihr auf ganz verdeckte, in ihrer Harmlosigkeit verborgene Weise eine mehrfache Gefahr. In ihr angelegt sind nämlich Illusionen der Machbarkeit, Illusionen der Verfügbarkeit, der Selbsttransparenz und Selbsterkenntnis, die in aller scheinbaren Harmlosigkeit den Keim von Usurpation und Entfremdung, von Totalitarismus und Irrationalismus in sich tragen, sowohl individuell wie sozial. Inwiefern ist das der Fall? Die modellhaft skizzierte oberflächliche Variante von Aufklärung verkennt die vielfältige Begrenztheit und Bedingtheit menschlicher Praxis und Selbsterkenntnis. Eine über sich selbst aufgeklärte Aufklärung muss zunächst dieser vielfältigen Begrenztheit und Bedingtheit innewerden, aber sie muss aus dieser reflexiven Bewusstwerdung auch die richtigen Schlüsse ziehen. Aus der Enttäuschung der oberflächlichen Aufklärung, aus dem Bruch mit der sie ermöglichenden Naivität ergibt sich oft ein Skeptizismus, ein Relativismus, schließlich ein Nihilismus. Diese Resultate der Enttäuschung können wiederum ganz alltägliche Form haben; alltägliche Resignation, alltäglicher Zynismus, stoisches Weitermachen; sie können aber auch zu subtilen und anspruchsvollen Formen der Ratlosigkeit auf hohem Niveau werden. So bei Nietzsche, bei Freud oder auch in der Dialektik der Aufklrung von Horkheimer und Adorno. In diesen Reflexionsbewegungen wird der Befund der durchgängigen Begrenztheit und Bedingtheit unserer Selbsterkenntnis und Praxis zum Ausgangspunkt nihilistischer, pessimistischer, negativistischer Gesamtdeutungen der Menschheit und ihrer Geschichte.
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In der säkularisierten Gegenwart der westlichen Demokratien nimmt die oberflächliche Aufklärung unter Einschluss der in ihr angelegten Enttäuschungspotentiale sehr häufig die Gestalt vermeintlich souveräner Selbstverwirklichung an. Der sich selbst sichernde Individualismus geht mit einem wiederum oberflächlichen, nur allzu gut verstehbaren Freiheitsverständnis einher. Auch diese Resultante von Oberflächlichkeit und Enttäuschung nimmt massenhafte Form an – Fitness, Lifestyle, Hedonismus, Konsumismus, der Eventcharakter medial vermittelter Welt- und Selbstverhältnisse – ebenso wie sie auch in anspruchsvolle, reflexive Formen überführt werden kann. Der erfolgreiche Ansatz einer Neubelebung des Konzepts der Lebenskunst und einer Philosophie der Lebenskunst ist ein Beispiel dafür, die Flut trivialpsychologischer Ratgeber- und Handbücher zum glücklichen, sorgenfreien Leben und zur Selbstverwirklichung bildet den Mainstream dieser Entwicklung. In den grotesken bis abstrusen Formen der Esoterik, der Magie und z. B. in pathologischen bis kriminellen Formen des Satanismus erreicht die oberflächliche Aufklärung, gepaart mit der in ihr angelegten Enttäuschung und gepaart mit dem doch nicht preisgegebenen Selbstverwirklichungsindividualismus prekäre, aufschlussreiche Formen ihres Umschlags in offenen Irrationalismus. Aber auch die mannigfachen Formen des Szientismus und des Technizismus, die unser Alltagsleben bis tief in die Selbstverständnisse hinein prägen, die unsere medizinische Praxis dominieren und die die Prozesse der Globalisierung mit ermöglichen und beschleunigen, lassen sich als reale, konkrete Konsequenzen des Standardmodells der oberflächlichen Aufklärung verstehen. Die oberflächliche Aufklärung verfehlt auf grundsätzliche Weise die Begrenztheit und Bedingtheit des Menschen und seiner Praxis, sie überschätzt die Möglichkeiten der Vernunft und Selbsterkenntnis. Die Aufklrung der Aufklrung, die eigentlich nötig ist, wurde in kritischer Reflexion auf die Grenzen der Vernunft von Kant epochal entwickelt. Auch Marx, Nietzsche und Freud gehören auf ihre Weise zu dieser Vernunftkritik. Im 20. Jahrhundert hat Wittgenstein diese Reflexion durch die Analyse der Grenzen der Sprache radikalisiert und präzisiert. Heidegger hat – u. a. im Anschluss an Kierkegaard – die kritische Grenzreflexion im Blick auf die Grenzen der menschlichen Existenz und ihre Zeitlichkeit und Endlichkeit ebenfalls radikalisiert. Adorno hat die Grenzen des verfügenden, pragmatischen, prädikativen Erkennens und Unterscheidens im Verfehlen und Ausgrenzen des Nichtidentischen in seiner Negativen Dialektik herausgearbeitet. Ich habe
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mir diese philosophische, vernunftkritische Vertiefung der Aufklärung systematisch angeeignet und halte sie für unverzichtbar. Die Tragweite dieser Vernunftkritik halte ich für noch längst nicht hinreichend ermessen.
2. Aspekte biblischer Aufklärung Im Folgenden will ich Aspekte der biblischen Aufklärung auf diesem Hintergrund aus meiner systematischen Sicht in ihrer Eigenart rekonstruieren. Enthält die biblische Überlieferung Elemente dessen, was ich als tiefe Aufklärung der oberflächlichen Vernunft und Aufklärung entgegensetze? Ich meine ja. Im Zentrum dessen, was ich als tiefe Aufklärung bezeichne, steht die Reflexion bzw. das Bewusstsein und die Einsicht noch in die transpragmatischen Sinnbedingungen von Vernunft und aller unserer Praxis. Vernunftkritik und Praxisreflexion, die nur bei der externen Bedingtheit und Begrenztheit von Vernunft, Sprache und Praxis durch Materialität und Endlichkeit stehen bleibt, führen alsbald zur Depotenzierung von Vernunft und Praxis. Sie können auch zu einer formalistischprozeduralen oder fiktionalen Abdrängung und Verkürzung der tatsächlich nur qualitativ, inhaltlich und ganzheitlich verstehbaren Dimension vernünftiger Praxis, und damit der Basis von Aufklärung, führen. Der Gesichtspunkt der transpragmatischen Sinnbedingungen hingegen nimmt die Dimension der Negativität, der pragmatischen Unverfügbarkeit und Entzogenheit, ganz in die Perspektive der humanen Sinnkonstitution mit hinein – und dies scheint mir das proprium dessen zu sein, was wir zu Recht biblische Aufklärung nennen können. An einigen zentralen Beispielen will ich dies verdeutlichen. Ich verzichte dabei auf genauere Exegesen, sondern versuche, die entscheidenden Einsichten möglichst direkt zu reformulieren. Entscheidend scheint mir zu sein, dass die biblische Tradition durchweg ihre praktisch-rationalen Elemente: die Ethik der zehn Gebote schon im Alten Testament, die Ethik der Bergpredigt im Neuen Testament, aber auch bei Paulus, in dauernden Rückbezug auf unverfgbare Sinnbedingungen dieser praktischen Rationalitt durchdenkt und verkündet, religiös gesprochen mit Bezug auf Gott. Ich will diesen expliziten Gottesbezug zunächst methodisch bewusst abblenden, um die negativ-kritischen Rationalitätspotentiale der biblischen Botschaft gleichsam etwas neutraler reformulieren zu können.
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Zu den unverfügbaren, transpragmatischen Sinnbedingungen all unserer Vernunft und Praxis gehört zunächst fundamental das, was die Bibel Geschöpflichkeit, Kreatürlichkeit nennt. Die grundlegende praktische Einsicht, die sich hier philosophisch reformulieren lässt, ist die Einsicht, dass wir uns nicht selbst geschaffen, gemacht, hergestellt haben, sondern dass wir – bei allen wissenschaftlichen Erklärungsmöglichkeiten – auf letztlich unerklärliche Weise da sind. Und dies ist eine untilgbare Differenz. Aber diese Negativität reicht viel weiter. Die Unerklärlichkeit der Sinnbedingungen unserer humanen Existenz, die im Zentrum biblischer Aufklärung steht, erstreckt sich auf alle Menschen aller Zeiten, die in ihrer Kreatürlichkeit verbunden sind. Sie erstreckt sich auf die Existenz des Lebens auf der Erde und das Phänomen der Evolution. In unserer Kreatürlichkeit sind wir mit den Tieren und allen Lebewesen tief verbunden, und zwar materiell, real, leiblich. Und diese kreatürliche Verbundenheit ist selbst etwas uns Vorgegebenes, sie gehört zu den unvordenklichen Sinnbedingungen unserer Existenz. Ich weise nur daraufhin, dass diese holistische und materialistische Sicht der menschlichen Situation über sich selbst aufgeklärter ist, als z. B. die neuzeitliche, cartesische Konstruktion eines atomistisch verengten, zu einem denkenden Punkt reduzierten ego cogito, welches die ganze Welt, die „Außenwelt“, zu einer ausgedehnten Sache, res extensa, verdinglicht, wobei menschliche Mitgeschöpfe mitsamt ihren Leibern zunächst nicht in Sicht sind und die Tiere als aufgezogene Maschinen, als Automaten konzipiert werden. Welche Konzeption ist wohl rationaler – die der Bibel oder die des Descartes? Dreihundert Jahre lang feierte und mythisierte man Descartes zum Gründungsvater von Neuzeit und Aufklärung. Dreihundert Jahre brauchte die Philosophie, um mit Heidegger, Wittgenstein und der Phänomenologie – ich denke an Merleau-Ponty und Hermann Schmitz – aus der epistemologischen Sackgasse der atomistischen Subjekttheorie wieder herauszukommen. Unterdessen sah sich der epistemologische Solipsismus zeitweilig genötigt, einen „Beweis für die Existenz der Außenwelt“ zu leisten und ebenso, die Existenz anderer Subjekte allererst zu deduzieren – in der Tat ein schwieriges Unterfangen. Die gemeinsame Kreatürlichkeit und die mit ihr verbundene negativpraktische Einsicht in die unverfügbaren Sinnbedingungen unserer Existenz erstreckt sich weiter: auf unsere Erde als materielle Lebensbasis für alle Geschöpfe. Wir haben die Erde nicht technisch hergestellt,
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sondern fanden sie mitsamt den materiellen, realen Bedingungen von Wasser, Luft und allen Lebensvoraussetzungen vor. Das Schöpfungsparadigma der Kreatürlichkeit erstreckt sich schließlich universal und unbedingt auf das gesamte Universum. Auch hier gilt: Welche empirischen, wissenschaftlichen, kosmologischen Erkenntnisse auch immer wir noch gewinnen werden, die Existenz des Universums mit seinen Milliarden Galaxien bleibt unerklärliche, unableitbare Sinnbedingung auch unserer Existenz und allen Lebens. Es gibt derzeit wieder viele pseudowissenschaftliche und gleichermaßen pseudoreligiöse Deutungen naturwissenschaftlicher Forschungsergebnisse, das heißt letztlich empirisch gestützter, falsifizierbarer Hypothesen. Urknall und Hubble-Konstante, Rotverschiebung und Hintergrundstrahlung werden mit theologischen oder metaphysischen Begriffen interpretiert. Diese Zugriffe stellen exemplarisch fundamentale Kategorienverwechslungen dar. Denn die unerklärliche Existenz des Universums als unverfügbare Sinnbedingung für alles Leben und Erkennen steht auf einer ganz anderen kategorialen Ebene als empirische Forschungsergebnisse der physikalischen Kosmologie. Dass das Universum mitsamt seiner Entstehungsgeschichte und mitsamt unserer, der Menschheit, Entstehung und Existenz ist, das lässt sich philosophisch negativ in seiner Unableitbarkeit und Unerklärlichkeit explizieren, wie es schon Kant in seiner Rekonstruktion der metaphysica specialis in der transzendentalen Dialektik unternahm. Die biblische Kreatürlichkeitsperspektive einer göttlichen Schöpfung enthält die tiefe Aufklärungsperspektive einer Aufklärung über die letztlich absolute Unverfgbarkeit und Unerklrlichkeit aller natürlichen Sinnbedingungen unserer Existenz, des Universums selbst als Ganzem. Augustinus wie auch Luther haben dies klar und insbesondere auch erkenntniskritisch gesehen. Das wird noch in Luthers Antwort auf die Frage deutlich, was denn Gott vor der Schöpfung getan habe. Er sei an die Elbe gegangen, Ruten zu pflücken, um diejenigen damit zu prügeln, die solche dummen Fragen stellen. Indem die biblische Aufklärung auf praktischen Einsichten in die unverfügbaren, transpragmatischen Sinnbedingungen humaner Existenz hinweist und insistiert, trägt sie zur tiefen Aufklärung und damit indirekt zur Kritik oberflächlicher Vernunft- und Aufklärungskonzeptionen bei. Das gilt für die gesamte menschliche Handlungssituation und ihr Verständnis. Während die oberflächliche Aufklärung durchsichtig über sich selbst verfügende, autonome Einzelsubjekte in diesen Subjekten transparenten Handlungssituationen mit dem berblick über die Folgen ansetzt,
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Subjekte, deren wissenschaftliche und technische Erkenntnisfähigkeiten und Handlungsmöglichkeiten zur pragmatischen Weltbewältigung in der Lage sind, geht die Vernunftkritik biblischer Aufklärung weiter; sie antizipiert schon die mit der naiven Vernunftkonzeption implizierten Enttäuschungen und Desillusionierungen. Welche Züge dieser vertieften Vernunftkritik lassen sich in der biblischen Tradition aus philosophischer Sicht weiter freilegen? Neben der Schöpfungsperspektive ist hier die Sündendimension zu nennen. Ich gebe Habermas recht, wenn er feststellt, dass etwas sehr Wesentliches verlorengeht, wenn die hamartiologische Dimension in die bloße Schuldkategorie transformiert wird.1 Tiefer ist auch hier wieder die praktische Einsicht in die strukturelle Fehlbarkeit der Menschen und ihr katastrophisches Gewaltpotential. Es ließe sich meines Erachtens unter Rekurs auf Kants Analysen zum radikalen Bösen in der menschlichen Natur zeigen, dass die fundamentale Fehlbarkeit, traditionell die Sündhaftigkeit, strukturell und konstitutiv zur menschlichen Freiheit und Moralität gehört, anders gesagt: ebenfalls zu den negativen, unverfügbaren Sinnbedingungen, denen wir unterliegen, wenn wir überhaupt wollen und handeln. So hat z. B. Hermann Cohen in seiner Religionsphilosophie die Erfahrung der Sündhaftigkeit als Konstituens personaler moralischer Identität analysiert. Die Realität des Bösen tritt der Bibel zufolge bereits mit der ursprünglichen Selbstbewusstwerdung des Menschen auf; dieser reflexive Status des radikalen Bösen wird auch in der Botschaft Jesu und in der Theologie des Paulus deutlich und bei Kant als Affektion der obersten Maxime rekonstruiert. So viel scheint mir klar und unverzichtbar zu sein: Ohne die reale Dimension fundamentaler Fehlbarkeit lässt sich die Perspektive der Moralität nicht wirklich angemessen begreifen. Die Verdrängung und Tabuisierung des Bösen und der Sünde ist typisch und bezeichnend für die oberflächliche Aufklärung. Die vernunftkritische Tiefendimension wird erst erreicht, wenn moralisches Scheitern und mit der Freiheit und Selbstreflexivität konstitutiv mitgegebene Fehlbarkeit als irreduzible Sinnbedingung von Moralität mitgedacht werden. Der Realismus biblischer Aufklärung, der die Illusionen oberflächlicher Rationalität hinter sich hat, liegt auch darin begründet, dass die Bibel weder im Alten noch im Neuen Testament in ihrem Zentrum theoretische Konstruktionen, metaphysische Abhandlungen oder dog1
Vgl. Jürgen Habermas, Ansprachen aus Anlass der Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels, Frankfurt a.M. 2001, 48.
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matische Traktate enthält, sondern im Wesentlichen die narrative Vergegenwrtigung von konkreten Lebenssituationen. Diese konkreten Lebenssituationen bilden die Beglaubigungsbasis der Bibel im Alten Testament; aber sie bilden die Basis selbst noch für die theologischen Entwürfe des Paulus und des Johannes im Neuen Testament. Durch diese narrative Vergegenwärtigung praktischer Einsichten wird auf vielfache Weise der unbedingte Ernst der Perspektive religiöser Vernunft vergegenwärtigt, ohne jedoch theoretisch demonstriert werden zu müssen. Denn dies führt bekanntermaßen nicht sehr weit. Der ethische Monotheismus entfaltet so eine Unbedingtheitsperspektive, die meines Erachtens sinnkonstitutiv zur Ethik gehört und die z. B. wiederum von Kant, Kierkegaard und Wittgenstein zu rekonstruieren versucht wurde. Welche Geschichte des Alten Testaments wir auch nehmen, ob wir uns auf Moses oder Hiob, auf Ruth oder Rebekka beziehen – es wird uns fehlbares menschliches Handeln im Horizont unbedingter, nämlich von Gott ausgehenden Geltungsansprüchen gezeigt. Mit dieser Unbedingtheitsperspektive ist in der konkreten geschichtlichen Wirklichkeit der existenziale Sinn der Eschatologie verbunden. Mit dem Bezug auf Gott, auf absolute Transzendenz, ist eine Perspektive der Endgltigkeit und Irreversibilitt präsent, die wiederum zu den unvordenklichen Sinnbedingungen verantwortlichen Handelns und eines menschlichen Selbstverständnisses überhaupt gehört. In der einzigartigen Geschichte Jesu wird dies nochmals auf unüberbietbar radikalisierte Weise bewusst. Zu der erwähnten Dimension tiefer Aufklärung gehört neben der sinnkonstitutiven Fehlbarkeit, der Unbedingtheit und Endgültigkeit auch die Perspektive fundamentaler menschlicher Bedürftigkeit, der Angewiesenheit auf die Mitmenschen, der Abhängigkeit von den Anderen und ihrer Mithilfe, ihrem Wohlwollen. Diese Dimension wird in der Bibel vortheoretisch, lebensweltlich-praktisch in ihrer ganzen Komplexität narrativ vergegenwärtigt. Vergegenwärtigt wird die zeitlich-endliche Augenblicklichkeit des Handelns, vergegenwärtigt wird die unauslotbare Entzogenheit des eigenen Inneren bei aller Selbstmächtigkeit, vergegenwärtigt wird die leibliche Fragilität und Verletzlichkeit des Menschen – vergegenwärtigt wird die alle Menschen einende Kreatürlichkeit. Die lebendige Persönlichkeit eines Menschen konstituiert sich im Medium der Irreversibilität und Unabsehbarkeit seines Handelns. Sinnkonstitutiv für personales Handeln ist gerade, dass es in seinem potentiellen Charakter keine Sicherheit und Konstanz bietet. Es ist theoretisch unmçglich, sich handelnd auf die Handlungen Anderer zu verlassen – ohne Vertrauen aber gibt es schlechterdings keine humane Welt. Ein jeder, der handelt, läuft
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Gefahr, zu scheitern oder Unrecht zu begehen – das alles können wir erst im Nachhinein wissen. Hannah Arendt hat in Vita activa besonders herausgearbeitet, dass deshalb unsere ganze humane Handlungswelt auf Versprechen und Vergeben beruht. Man könnte deshalb pointiert formulieren: Unsere Fähigkeit, wechselseitig zu vergeben, konstituiert und eröffnet allererst unsere praktische Freiheit.2 Die Vergegenwärtigung der unverfügbaren Sinnbedingungen humanen Lebens geschieht in der Bibel narrativ, literarisch, geschichtlich, und auf diese Weise auch hermeneutisch mehrdimensional, tief und komplex. Diese Vergegenwärtigungsweise – unter Einschluss von Widersprüchlichkeit – entspricht dem qualitativen Ganzen, der qualitativen interexistentiellen Totalitt des Menschseins in Geschichte und Augenblick. Hier scheint mir der Ursprung eines grundsätzlichen Verständnisses von personaler Menschenwürde zu liegen. Aber die biblische Aufklärung, deren Grundzüge ich hier nur in aller Kürze zu skizzieren versuche, geht noch weiter, sprengt daher den Rahmen oberflächlicher Rationalitätsvorstellungen, wie sie z. B. szientifischen, formalistischen, funktionalistischen oder utilitaristischen Ansätzen der Gegenwart zugrunde liegen. Die biblische Aufklärung geht in ihren Kernaussagen insofern noch weiter, als durch die Dimension der Kreatürlichkeit als Rationalitätsbedingung die Einsicht vermittelt wird, dass nur so, in dieser Kreatürlichkeit die Sinnbedingungen von Leben und Freiheit, von Gutem und Liebe überhaupt wirklich sind und wirklich sein können. Das heißt: die praktische Anerkennung der unverfügbaren Sinnbedingungen als von uns nicht selbst gemacht: die Existenz des Universums, der Welt, meiner selbst und der Mitmenschen, die unvordenkliche Vorgegebenheit der Dimensionen der Freiheit, des Guten und der grundsätzlichen Fehlbarkeit, die konstitutive Endlichkeit und Unbedingtheit der konkreten menschlichen Handlungssituation, die Begrenztheit unserer Selbsterkenntnis, die Verletzlichkeit und Sterblichkeit, die Angewiesenheit auf die Anderen – ohne Erkenntnis und vor allem: ohne vorgängige Anerkennung dieser unvordenklichen Sinnbedingungen, die mich und jeden Menschen doch ausmachen, gibt es keine tiefergehende Aufklärung 2
Vgl. Hannah Arendt, „Die Unwiderruflichkeit des Getanen und die Macht zu verzeihen“, in: dies., Vita activa oder Vom ttigen Leben, München 1981, § 33, 231 – 238. Ich habe in meiner Untersuchung Die Konstitution der Moralitt. Transzendentale Anthropologie und praktische Philosophie, Frankfurt a.M. 21999, eine negative Interexistentialpragmatik entwickelt, die diese Dimension ins Zentrum rückt. Vgl. auch Th. Rentsch, Negativitt und praktische Vernunft, Frankfurt a.M. 2000.
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unserer Vernunft und Praxis. Insbesondere kann kritische Philosophie die zentralen Aspekte der konstitutiven Verbindung von Negativität und Sinnkonstitution aufnehmen, wie sie in der biblischen Tradition präsent sind. Ich habe dabei das Zentrum der christlichen Botschaft, den Kreuzestod und die Auferstehung Jesu – Menschwerdung und Tod Gottes, bewusst ausgespart. Aber in der Linie meiner Interpretation wurde sicher deutlich, dass hier der Konstitutionszusammenhang von Unverfügbarkeit und Sinn auf unüberbietbar extreme, paradoxe Weise verdeutlicht wird. Eine weitere Bemerkung betrifft das Verhältnis von Philosophie und Religion. Die philosophische Reflexion bezieht sich auf die Struktur und Geltung von Einsichten, die sich in der biblischen Tradition finden. Religion ist eine konkrete Lebensform und Lebenspraxis. Während Philosophie die Unverfügbarkeit, die Entzogenheit der Sinnbedingungen als deren allerdings für sie konstitutive, nicht wegzudenkende Negativität rekonstruiert, spricht an dieser Stelle die christliche Religion von Geheimnis, Wunder und Gnade. Die philosophische Reflexion kann den Ort dieser Rede klären; sie kann auch die Grammatik dieser Rede zu klären versuchen. Aber sie kann auf die lebenspraktische Konkretion dieser Rede in Verkündigung und Existenz, in den meditativen und gemeinschaftlichen Lebensformen nur hinweisen als auf eine Realität sui generis, die für sich selbst sorgen muss. Die durch die Dimensionen der Kreatürlichkeit, der Unverfügbarkeit und der konstitutiven Nichtobjektivierbarkeit eröffneten Perspektiven der transpragmatischen Sinnbedingungen des humanen Lebens, der irreduziblen Personalität und Würde, der Freiheit und Fehlbarkeit gehören zur tiefen Aufklärung. Sie berühren sich mit dem Sokratischen, ebenso sinnkonstitutiven Nichtwissen und mit der Aufklärung der Grenzen der Vernunft bei Kant. Leben in praktischer Anerkennung der Transzendenz der Welt, der Anderen und meiner selbst ist Voraussetzung noch aller vernünftigen gemeinsamen Praxis. Die biblischen Aufklärungspotentiale sind auch darin stark, dass sie die Sprachlichkeit der Eröffnung negativ-praktischer Einsichten akzentuieren: in der Rede Gottes im Alten Testament, in der Rede der Propheten, in der kerygmatischen, absoluten Rede Jesu und der Apostel und Evangelisten im Neuen Testament. Aufklärung als in diesem Sinne vermittelte Einsicht in die unverfügbaren Sinnbedingungen unserer Existenz ist weder ein Epochentitel, noch irgendwo „vorhanden“. Sie muss immer neu authentisch angeeignet werden in lebendigen Kommunikationsprozessen. Wo dies vergessen wird, da werden auch die negativ-praktischen Einsichten biblischer Aufklärung pervertiert, dogmatisiert, funktionalisiert und zu Herrschaft und Unterdrückung miss-
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braucht. Dann müssen Kirche und Religion erneut an der biblischen Aufklärung gemessen und daran erinnert werden, dass auch ihnen die unverfügbaren Sinnbedingungen nicht gehören.
Rationalität, Negativität, Transkulturalität. Aspekte europäischer Anthropologie In konzentrierter Form will ich im Folgenden auf zentrale Aspekte europäischer Anthropologie eingehen, die irreduzibel und konstitutiv für die Genese der okzidentalen Rationalität waren und sind, mit denen die europäische Vernunftgeschichte somit steht und fällt. Ich entwickele diese Aspekte thetisch und dezidiert. Die Grundzüge europäischer Anthropologie speisen sich im Kern aus zwei Quellen: aus der antiken Philosophie und Wissenschaft und aus dem Christentum sowie in den Verbindungen beider großer okzidentaler Paradigmen in den unterschiedlichsten Formen. Die Paradigmen werden gemeinhin vielfach unter den Überschriften Vernunft und Glaube thematisiert. Auf diese Weise erfolgt bereits von Anfang an eine subkomplexe, dualistische, konträre, bzw. oft sogar kontradiktorische Konstruktion der europäischen Großtraditionen, insbesondere, wenn Vernunft mit Wissen und Wissenschaften (vielleicht sogar mit den Naturwissenschaften) und Glauben mit subjektiv-beliebigem Fürwahrhalten von geoffenbarten, höheren Wahrheiten gleichgesetzt wird. Die gesamte diskutable europäische philosophische, theologische und wissenschaftliche Kultur seit der Antike ist aber gegen eine solche prekäre, ihre Seiten wechselweise depotenzierende Kontradiktion gerichtet. Die Stärke der europäischen Philosophie, Anthropologie und Theologie besteht vielmehr darin, die wechselseitige, komplexe Bezogenheit von empirischen Verstandesorientierungen und deren spezifischen Wahrheits- und Geltungsansprüchen einerseits und transempirischen, das normative Lebensverständnis insgesamt betreffenden Vernunftorientierungen andererseits, auf allen Ebenen der Theorie und der Praxis, der Reflexion und der Institutionalisierung durchgearbeitet zu haben. Das wird zunächst daran deutlich, dass die griechische Philosophie in den kurzen goldenen Jahrzehnten Athens von Sokrates bis Aristoteles ständig intensiv an der Fundamentalunterscheidung von Verstand und Vernunft, griechisch von dianoia bzw. episteme und nous lateinisch ratio und intellectus arbeitet, an einer Fundamentalunterscheidung, die für die europäische Vernunft und Aufklärung grundlegend wird, und zwar bis
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heute. Man geht nicht zu weit, wenn man diese Unterscheidung als Zentrum der klassischen antiken Philosophie begreift, denn auf sie lassen sich die systematischen Ausdifferenzierungen sowohl der Sokratik und ihrer Dialogizität und Dialektik als auch die Ausdifferenzierungen der Ideenlehre Platons und ebenso die der Metaphysik und der Kategorienlehre des Aristoteles beziehen. Wie lässt sich die Fundamentalunterscheidung erläutern? Menschen orientieren sich handelnd und sprechend. In erfahrbaren Kontexten der alltäglichen und wissenschaftlichen Praxis gehen sie von verständlichen, empirisch erfahrbaren, relativ stabilen Abläufen in der Wirklichkeit aus. Gegenstände fallen nach unten, Wasser fließt, Vögel fliegen, die Erntezeit kommt, wenn man Hunger hat, muss man etwas essen u.s.f. Wir bewegen uns hier in einer empirischen Wirklichkeit, die kategorial strukturiert ist, d. h. sie ist messbar, wägbar, vorhersagbar, nach Wirklichkeit und Möglichkeit betrachtbar, und diese kategoriale Ebene reicht von der Alltagserfahrung bis zu allen empirischen bzw. formellen Fachwissenschaften. Letztere werden bereits in der Antike vor und vor allem von Aristoteles im Wesentlichen grundgelegt. So die Mathematik, die Geometrie, die Physik, die Zoologie, die Botanik, die Meteorologie, die Kosmologie und Astronomie, die Medizin, die Psychologie u.v.a. Gegenüber dieser Ebene des Verstandes, die zeitlich empirisch und formal kategorial konstituiert ist, ist die Ebene, besser, die Dimension und die Perspektive der Vernunft, des nous, ganzheitlich, transempirisch, transkategorial und reflexiv. Diese Reflexivität zeigt sich bereits in der revolutionären Erkenntniskritik und Methodologie des Sokrates. Die sokratische Methode ist sicher eines der einmaligen Ursprungsereignisse – mit Husserl: Urstiftungen – der europäischen Philosophie und Anthropologie. Sie kratzt nicht nur an dogmatischen Erkenntnis-, Wahrheits- und Geltungsansprüchen, sie destruiert sie in der Konsequenz a primis fundamentis, von den Grundlagen her definitiv und irreversibel. Die Aporetik und Dialektik der frühen und mittleren Dialoge zeigt dies auf einzigartige Weise: Wir gelangen in den orientierungsrelevanten Diskursen jeweils bald auf Grenz- und Grundbegriffe wie „Mensch“, „gut“, „gerecht“, „tugendhaft“, „wertvoll“, „begründet“, „wahr“, „schön“ u.s.f., die nicht einfach und unstrittig definierbar sind, die aber dennoch alle Menschen ständig im Munde führen, vor allem solche in Führungspositionen. Diese Grundbegriffe sind strittige, dialektische, ambivalente, problematische Reflexionsbegriffe, später so genannte Ideen. Diese sind keineswegs etwas Abstraktes, Abgehobenes, so Sokrates, sondern sie sind gerade das uns letztlich Nchste. Gerade im Blick auf die Anthropologie zeigt sich dies. In
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einer Anekdote wird Diogenes beschrieben, wie er am helllichten Tag mit einer Laterne auf den Marktplatz geht, gefragt, was das soll, antwortet er: „Ich suche einen Menschen.“ Gut zweitausend Jahre später benennt noch Kant die Grundfragen der Philosophie: Was kann ich wissen?; Was soll ich tun?; Was darf ich hoffen? und stellt fest: Alle diese Fragen lassen sich zurückführen auf die eine Grundfrage: Was ist der Mensch? Es ist nun entscheidend, dass Sokrates die Aporetik und Dialektik in seiner philosophischen Frageaktivität auf die Spitze und an die Grenze treibt. Mit dieser fragenden Aktivität, mit der das Philosophieren als ein dynamischer Prozess der gemeinsamen Klärung lebensorientierender begrifflicher Perspektiven beginnt, sind die zwei weiteren zentralen Innovationen des Sokrates verbunden: diese fragende Aktivität ist existentielle an den einzelnen Gesprchspartner gerichtete Aufforderung zur Erinnerung (anamnesis), zur Arbeit an der Erinnerung an das Selbstverständliche, aber Vergessene und Verdrängte. Es ist auch eine therapeutische, auf jeden Fall eine kritische Aufgabe, die unauflöslich mit Selbsterkenntnis verklammert ist. Die Vernunfttradition ist auf diese Weise mit der früheren Weisheitstradition verbunden, mit dem Weisheitswort: gnothi seauton – Erkenne dich selbst – nosce te ipsum. Die Weisheitstradition setzte aber hinzu: meden agan – nicht zu sehr, nicht zu viel, und hier beginnt ein weiterer Strang der europäischen, vernunftkritischen Anthropologie, der sich bei Sokrates zu seiner Lehre, besser: zu seiner praktischen Einsicht in das Nichtwissen entfaltet. Klassisch wird das vernunftkritische Diktum des Sokrates: Ich weiß, dass ich nichts weiß. Genau bezieht sich das Diktum ganz existentiell praktisch übrigens erstens auf die ungewisse Stunde des Todes jedes Menschen – lange Zeit weiß niemand, wann er stirbt; und zweitens bezieht sich das Diktum auf die unbeantwortete Frage nach dem Sinn und der Bedeutung des Todes für das Leben. Es steht keine tragfähige Antwort auf diese Frage zur Verfügung. Das Nichtwissen erstreckt sich aber des Weiteren auf alle existentiell relevanten Fragen und Begriffe, die die Grundlagen unserer praktischen, existentiellen, ethischen, moralischen und politischen Orientierungen betreffen. Mit dieser vernunftkritischen Negativittsreflexion 1 ist mit einem Schlag im Ansatz eine irreduzible Freiheitsdimension eröffnet: die Freiheit der Wissenschaften und der Forschung, die Freiheit der praktischen und poetischen Gestaltungsformen, die Freiheit der existentiellen Selbster1
Vgl. dazu: Thomas Rentsch, Negativitt und praktische Vernunft, Frankfurt a.M. 2000.
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kenntnis. Platon und Aristoteles setzen diese sokratische Negativitätsreflexion in ihrer Ideenlehre bzw. in ihrer Tugendlehre fort. Die Ideen Platons sind keineswegs etwas abstrakt Jenseitiges, in diesem Sinne weltfern Transzendentes, sondern die Orientierungen des Wahren, des Guten und des Schönen sind in Wirklichkeit recht verstanden Kern und Zentrum der intersubjektiven humanen Lebenspraxis. Dieser Kern, dieses Zentrum, ist aber nicht dogmatisch vorgegeben und verfügbar, wie noch in mythischen Narrativen und Herrschaftslegitimationsideologien vor der Entstehung der Philosophie. Die Philosophie entsteht in einer tiefgreifenden Krisen- und Umbruchssituation, in der neben der kritischen Vernunft- und Wissenschaftsreflexion nahezu gleichzeitig auch alle paradigmatischen Formen der politischen Rhetorik, der Sophistik, des Materialismus, des Skeptizismus, des Kynismus und des Nihilismus entstehen. Das negativ-kritische Potential wie auch der existentiell-praktische Sinn der verschiedenen von Platon entwickelten Formen der Ideenlehre versuchen, diesen epochalen Umbruch vernünftig zu reflektieren. Diese Intention setzt sich auch in Aristoteles’ Tugendlehre fort. Im Zentrum steht hier die Rückbindung dessen, was Tugenden – Gerechtigkeit, Freundschaft, Beratung, Orientierungen an Selbstzwecken – eigentlich sind, an die einsichtsbezogene, offene, nicht festgelegte Klugheit. Sie, die phronesis, ist an die Vernunft, den nous, zurückgebunden. Für eine kluge Entscheidung lassen sich daher nicht von irgendwoher abstrakt oder schematisch Regeln ableiten, keine äußeren Gesetzmäßigkeiten angeben. Vielmehr gilt es stets, mit sich selbst zu Rate zu gehen (euboulia), um dann eine wohlbegründete, einsichtsbezogene Wahl (prohairesis) im rechten Augenblick (kairos) zu treffen. Alle Tugenden, alle kommunikativen praktischen Lebensformen bilden zusammen die Basis der Klugheit – die Vernunft hat ein praktisches Fundament. Es gilt im Ansatz für Sokrates, Platon und Aristoteles: mit der Vernunftperspektive ist ein Freiheitsraum der kommunikativen Selbsterkenntnis eröffnet, der die differenzierten Bereiche der ethisch zu qualifizierenden Alltagspraxis, die Bereiche der Wissenschaften mit einer komplexen Bandbreite von Sinnkriterien sowie die Bereiche von Recht, Staat und Politik freisetzt. Entscheidend ist, dass die Vernunftperspektive im Ansatz universal und egalitr ist – sie schließt alle Menschen ein. Diese Urstiftung der vernünftigen Selbsterkenntnis enthält das Potential für den technischen, den wissenschaftlichen und den ethisch-praktischen Fortschritt, der sich – bei allen Retardationen und angesichts aller katastrophalen Fehlentwicklungen und Zivilisationsbrüche des letzten Jahrhunderts – dennoch in normativ-rekonstruktiver Perspektive für die
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europäische Geschichte behaupten lässt. Im Zentrum dieser Urstiftung der Vernunft stehen aber keine Allmachtsphantasien des hochpotenten Menschenwesens, sondern im Zentrum stehen negativ-praktische und kritische Einsichten in die Grenzen unserer Erkenntnis, in das Nichtwissen, das stets größer ist als das Wissen, in die technische Unverfgbarkeit der Ideen, die gleichwohl das Fundament unserer Orientierungspraxis bilden, in die schematische Unverfgbarkeit unserer einsichtsbezogenen Orientierungen, an der sich zeigt, dass Klugheit eigentlich an Weisheit zurückgebunden sein müsste, soweit irgend möglich. Dass ein solcher voraussetzungsreicher Ansatz die griechische Urstiftung charakterisiert, wird auch daran deutlich, dass Aristoteles zwei Bereiche aus der theoretisch oder praktisch zu bewältigenden Vernunftdimension ausgrenzt, freilich, ohne sie aus der Vernunftreflexion zu verdrängen: Es ist zum einen der Bereich unlösbarer Konflikte und ethisch inkommensurabler Schuld. Dieser Bereich kann dennoch dem kommunikativen Selbstbewusstsein zugänglich gemacht werden, und zwar durch die ästhetischen Gestaltungspotentiale der Tragçdie. Durch die öffentliche Aufführung der Tragödien werden die unlösbaren Konflikte vergegenwärtigt und dienen so einer gemeinsamen, reinigenden Selbsterkenntnis, der Katharsis. Der zweite Bereich, der besonders ausgegrenzt wird, ist der der Lyrik, in der sich die individuelle Subjektivität zum Beispiel der Liebeserfahrung ästhetisch artikuliert, wie in den Gedichten der Sappho. Die Bereiche der Tragödie und der Lyrik sind somit nicht als irrational ausgegrenzt, sondern durch ihre ästhetischen Vergegenwärtigungsweisen als transrational freigesetzt. Neben diesem antiken, für die europäische Kultur und Anthropologie konstitutiven Paradigma ist das Christentum als zweite Quelle auszuzeichnen. Auch hier will ich nur die Aspekte herausstellen, die nach meinem Urteil systematisch spezifisch und irreduzibel sind für Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft einer tragfähigen Kultur der Vernunft. Auch in der biblisch christlichen Tradition werden Negativitt, Transzendenz, Sinnkonstitution und Universalismus verbunden. Die christliche Botschaft wendet sich an alle Menschen. Das biblische Bilderverbot besagt, dass die Gottesebenbildlichkeit des Menschen darin besteht, dass Gott bildlos und unverfügbar bleibt und begründet so die universale Menschenwürde. Der praktische Sinn der konstitutiven Verbindung von Negativität und Transzendenz artikuliert sich christlich in der Botschaft von der Menschwerdung Gottes, vom Tod Gottes und vom Bleiben der Gemeinde in der Liebe. Mit diesen Urstiftungen ist die definitive Nichtobjektivierbarkeit Gottes und des Menschen religiös artikuliert. Das praktische
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Geltungspotential dieser religiösen Ausdrucksformen, der unendliche Wert des einzelnen Menschen als eines einmaligen Individuums, dieses Potential wirkt weiter in der europäischen Geschichte, auch über die christliche Tradition hinaus. Das Christentum enthält, kurz gesagt, transreligiöse Vernunftpotentiale, die auch über die Religion im engeren Sinn hinauswirken, und die zu Neuzeit und Aufklärung führen – Menschwerdung, Diesseitigkeit, Transzendenz in der Immanenz. Die Geltung des unendlichen Werts des Individuums eröffnet eine transreligiöse, politisch-praktische und ethische Dimension, die letztlich mit zur Abschaffung der Sklaverei und zu den bürgerlichen Revolutionen führt. Ebenso enthält die Botschaft vom Tod Gottes (aus Liebe) ein Element religionstranszendierender Religiosität, das in seiner Wirkung weit in die Wirklichkeit der Profanität, der Immanenz und der Säkularisierung weist. Bilderverbot, Nichtwissen und Tod Gottes aus Liebe lassen sich ebenfalls als Urstiftungen der okzidentalen Rationalität auszeichnen. Sie konstitutieren sinnkriterial die okzidentale Rationalität, die Kompatibilität von Wissenschaft, Ethik und Religion, ihre wechselseitige Verwiesenheit und die Potentiale ihrer Ausdifferenzierung. Von Sokrates, Platon und Aristoteles bis zu Kant und Hegel besteht hier ein klarer faktischer und normativer systematischer Zusammenhang von Wahrheits- und Geltungsansprüchen. Die Orientierung an Gott wird als praktische, universale Lebensform verstanden. Die revolutionäre Entwicklung des Abendlandes ist ohne den philosophischen, wie auch später den religiösen ethischen Monotheismus unmöglich und unverständlich, alle Fehlformen und Instrumentalisierungen eingeschlossen. Drei Beispiele sollen dies noch verdeutlichen. So entfaltet sich im okzidentalen Paradigma eine reiche und radikal sinnkritische negative Theologie, deren große Entwürfe im Verbund mit der rationalen Mystik in Aufklärung und Moderne weisen, ohne den Gedanken absoluter Transzendenz preiszugeben, so bei Meister Eckhart und Cusanus. Bei Cusanus präfiguriert die ars coniecturalis, die Kunst der Vermutung, als diskursive Erkenntnisleistung der wissenschaftlichen Rationalität die transzendentale Analytik Kants, während die docta ignorantia, die gelehrte Unwissenheit, die transzendentale Dialektik antizipiert. Das rationale, erkenntniskritische Potential dieser Tradition besteht in der Einsicht, dass die Sinnbedingungen aller Theorie und Praxis gerade aufgrund ihrer instrumentellen Unverfügbarkeit sinnkonstitutiv fungieren. Der Geltungssinn des Wahren und Guten kann letztlich nur transfunktional, transsubjektiv und transempirisch bestimmt werden. Der Neuplatonismus (Proklos, Plotin) hatte in diesem Zusammenhang bei der
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Vermittlung der antiken mit der christlichen Tradition eine zentrale Bedeutung. Das universalistische und revolutionäre Potential der philosophischtheologischen Tradition wird zweitens auch in der Naturrechtskonzeption deutlich, wie sie in der spanischen Barockscholastik vor allem von de Vitoria und Suárez entwickelt wurde. Sie bereitet der Sache nach die bürgerlichen Revolutionen vor. Suárez bestreitet das göttliche Recht der Könige. Er legitimiert das Widerstandsrecht, den Tyrannenmord und die Volkssouveränität. Das revolutionäre Naturrecht enthält die Kerngehalte, die zu den Transformationsprozessen von Aufklärung und französischer Revolution führen. Die Grundidee des Naturrechts ist ein göttliches Schöpfungsrecht: Gott der Gesetzgeber (deus legislator) verteilt das Recht völlig gleich auf alle Völker und Nationen. Dabei sind ausdrücklich die nichtchristlichen Völker eingeschlossen. Es braucht nicht viel ethische Phantasie, um sich die Aktualität dieses universalistisch-egalitären Schöpfungsdenkens für die gegenwärtige und unsere Zukunft bestimmende ökologische Problematik der Nutzung der endlichen natürlichen Ressourcen auf unserem Planeten klarzumachen – insbesondere im Blick auf die arme Weltbevölkerung. Ein drittes Beispiel für die spezifisch europäische Anthropologie und ihre Verbindung von Negativität und Sinnkonstitution bilden die Philosophien Kants und Hegels. In der Tradition Platons unterscheidet Kant die noumenale Welt, mundus intelligibilis, von der phänomenalen Welt, mundus sensibilis. Unerkennbar ist die intelligible Welt, unbegründbar die ihr entstammende menschliche Freiheit, unbegründbar auch die eben unbedingte Geltung der Moral, der kategorische Imperativ. Kants Grundeinsicht hinsichtlich der Grenzen der Vernunft besagt: Unbedingter Sinn ist nicht weiter erklärbar, sondern selbst – in seiner Terminologie: transzendental-praktisch – Bedingung der Möglichkeit aller weiteren Erklärungen und Zielsetzungen. Die Grenzen der theoretischen Vernunft führen bei Kant zu ihrem Fundament, der praktischen Philosophie der Freiheit. Seine Philosophie mündet in die Konzeption einer Weltrechtsgemeinschaft und eines Weltfriedens (in seiner Schrift Vom ewigen Frieden). Diese Konzeption weist vor bereits 200 Jahren voraus auf die Entwicklungen des Völkerbundes, der UNO und der EU. Auch für Hegel ist entscheidend, dass die Vernunftentwicklung sich zeitlich-geschichtlich, kulturell und institutionell, auch durch Rückschläge und Brüche hindurch, entfalten und entwickeln muss. Er betont am stärksten die geschichtliche, rechtliche und praktische Bedeutung des Prinzips der Individualität für die europäische Entwicklung. Die Basis für Freiheit und
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Recht, Sittlichkeit und Moralität ist der unendliche Wert des einzelnen, einzigartigen Individuums. Die Geschichte des Individuationsprinzips mit dem von Goethe reformulierten Grundsatz individuum est ineffabile – was das Individuum ist, ist unsagbar – zeigt wiederum, wie die europäische Reflexion von Beginn an sowohl in der antiken Philosophie als auch in der christlichen Tradition die praktische Bedeutung dieses Fundamentalprinzips theoretisch-erkenntniskritisch reflektiert hat. Es ist nun meine weiterführende These, dass die aufgewiesene Grenzund Negativitätsreflexion auch die Entwicklung der Moderne noch ermöglichte und bestimmte, dass sie wesentliche Quelle auch der Bewältigung und Klärung der gegenwärtigen und zukünftigen Weltsituation bilden muss. Im Kern der aufgewiesenen Urkonstitution lassen sich Selbsterkenntnis, Selbstbewusstsein, unendlich konkret individuierte Freiheit und ein praktisches Bewusstsein des Nichtwissens, der Grenzen der Vernunft und der Erkenntnis freilegen. Nur mit diesem Bewusstsein der Negativität verklammert, also kritisch, ist der Vernunftbezug tragfähig. Wenn in der klassischen Moderne Theoretiker wie Marx, Nietzsche und Freud Vernunftansprüche und die Perspektive von Ideen als theoretische und praktische Wahrheits- und Geltungsansprüche in Zweifel ziehen und mit weitreichender Ideologiekritik destruktiv zu analysieren beanspruchen, sind sie de facto Gesprächspartner von Sokrates und Platon, Kant und Hegel, Gesprächspartner auch der normativen Ansprüche der christlichen Tradition. Und genau das waren Marx, Nietzsche und Freud. Das bedeutet: Die europäische Tradition ist von Beginn an eine Tradition kritischer Selbstreflexivitt, die sich nicht mit ihren erreichten institutionalisierten Formen begnügt, sondern die produktive Potentiale der Transformation entwickelt. Immer neu kann die Frage gestellt werden: Ist der gegenwärtige Umgang mit den normativen Geltungsansprüchen in der Tat begründet und glaubwürdig? So konnte – nur ein Beispiel – schon Hegel in seiner Rechtsphilosophie in der sich emanzipierenden Wirtschaftsgesellschaft gemeinschaftssprengende Folgen sehen. Hegel sieht schon vor 180 Jahren: Zwar muß Gewerbefreiheit und freie Berufswahl herrschen. Aber die Krisen des Marktes verschärfen den Gegensatz von Armen und Reichen und stürzen den Einzelnen in unverschuldete Katastrophen. Dann gehen die materiellen Bedingungen der Ausübung seiner Rechte verloren. Es schwindet auch seine Loyalität zu Staat und Recht. Daher muß für Hegel der Markt durch
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staatliche und berufsständische Maßnahmen gegen starke Schwankungen stabilisiert und die Einzelnen gegen Notlagen abgesichert werden.2
Man sieht: ein kritisches Krisenbewusstsein prägt bereits den sogenannten Deutschen Idealismus. Diese Kritikpotentiale greift z. B. Marx auf. Die Moralkritik der klassischen Moderne ist ohne die zweieinhalbtausendjährige europäische Vorgeschichte nicht denkbar. Von Nietzsche stammt der Satz, der auch meine Ausführungen bündelt: Das Abendland beginnt mit dem Tod zweier Männer: Sokrates und Jesus. Es wird deutlich: Die kritische Selbstreflexivitt des Okzidents wird in der Moderne fortgesetzt. Das gilt auch für Freud, wenn er in seinen tiefenhermeneutischen Analysen weit zurückgreift und Motive des Alten Testaments und der Gestalt des Mose untersucht, wenn er ferner Konflikte der griechischen Tragödie (Ödipus, Medea) mit seinen Mitteln thematisiert. Die Moderne erscheint so – und zwar unter Einschluss der Literatur, der Kunst und der Musik – als Transfiguration sehr alter europäischer Kernbestände, denken wir an Joyce, Proust, Musil und Kafka, an Schönberg, Berg und Nono, um nur einige zu nennen. Ich kann in diesem kurzen Beitrag nicht auf die Katastrophengeschichte Europas insbesondere im 20. Jahrhundert eingehen. Jedenfalls zeigte sich auf unüberbietbare Weise, dass keine noch so ausdifferenzierte Vernunftkultur vor extremen Fehlentwicklungen und katastrophalen Rückfällen zu schützen vermag. Die humane Kultur der Vernunft ist keine Selbstverständlichkeit, sondern muss immer wieder mit großen Mühen gegen irrationale Kräfte und Tendenzen von allen Seiten erkämpft werden. Dass diese Kultur in hohem Maße gefährdet und bedroht ist, das steht im Zentrum der kritischen Negativitätsreflexionen seit der Antike und prägt sowohl die Analysen von Kant und Hegel als auch, in noch stärkerem Maße, die Analysen von Marx, Nietzsche und Freud. Die kritische Selbstreflexivität der europäischen Vernunftkultur hat seit dem 18. und vor allem 19. Jahrhundert ein historisches Bewusstsein befördert, das ebenfalls dazu geeignet ist, die katastrophalen Zivilisationsbrüche zu analysieren und zu rekonstruieren, es nicht bei Verdrängen, Vergessen und Tabuisierung zu belassen. An zwei Beispielen aus der Gegenwartsdiskussion will ich die Bedeutung der kritischen Vernunftperspektive noch kurz verdeutlichen. Fundamental für die menschliche Weltorientierung ist die praktische Vernunft; von ihr aus werden theoretische Vernunft und pragmatische 2
Ludwig Siep, Hegel und Europa, Paderborn 2003, 14 f.
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Verstandesorientierungen allererst sinnvoll möglich. Keine naturwissenschaftliche Forschungseinrichtung und keine technische Versuchsanordnung sagt von sich aus, wozu sie gut ist. Wie wir Teilchenbeschleuniger, Teleskope, Weltraumstationen, aber auch Autos und Computer benutzen und einsetzen, das gibt uns keines der Geräte und Apparate von sich aus an und vor. Wir müssen es selbst praktisch bestimmen und rechtlich normieren. Das gilt auch für die Wirtschaft und die Börse, es gilt auch für den Umgang mit den ökologischen Ressourcen. Alle diese Bereiche müssen zurückgebunden werden an die politischen und rechtlichen, letztlich die moralischen praktisch-vernünftigen Zwecke und Ziele einer sich selbst aufklärenden Zivilgesellschaft. Das normative Fundament von Wissenschaft, Wirtschaft und Ökologie darf nicht ausgeschaltet, sondern es muss gestärkt werden durch Bildung und Aufklärung. Wenn heutige neurobiologische Forschung im Rahmen bestimmter empirischer Einzelbeobachtungen und Messergebnisse zu dem Schluss gelangt, die menschliche Willensfreiheit zu leugnen, dann muss (abgesehen von der Kritik an den logisch fehlerhaften Argumentationen der Szientisten) darauf hingewiesen werden, dass naturwissenschaftliche Forschung ein Projekt neben vielen anderen gesellschaftlichen Projekten ist. Aufgrund gesamtgesellschaftlicher Zwecke und Ziele werden diese Projekte in der demokratischen Zivilgesellschaft und ihren politischen Institutionen ermöglicht. Ihre Ziele und Zwecke müssen begrndet und gerechtfertigt sein. Bis auf Weiteres ist es unbedingt angeraten, diese Begründungen und Rechtfertigungen als freie Leistungen autonomer, selbstverantwortlicher Individuen zu verstehen und zu beurteilen. Im Kontext der komplex ausdifferenzierten Begründungs- und Rechtfertigungsdiskurse auf allen Ebenen der existentiellen, personalen Selbstverantwortung, der Moralität und Sittlichkeit, des Rechts und der Politik müssen die Zielsetzungen der humanen Kultur bestimmt werden entsprechend der Frage: In welcher Gesellschaft wollen wir heute und morgen leben? Naturwissenschaften sind gesellschaftliche Projekte auf dem normativen Fundament von Moral, Recht und den lebensweltlichen Formen der Sittlichkeit. Ein zweiter Aspekt der gegenwärtigen weltgeschichtlichen Entwicklung erhält ebenfalls aus der Perspektive der europäischen Vernunftgeschichte spezifische Kontur. Die innere, geschichtlich-kulturelle Vielfalt und interne Komplexität Europas seit den antiken Anfängen: sprachlich, religiös, philosophisch, wissenschaftlich, künstlerisch, in den alltäglichen Lebensformen lässt sich in der Perspektive irreduzibler Eigenart und Individualität und auf diese Weise der wechselseitigen Be-
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reicherung, Anregung und produktiven Alteritt begreifen, auch wenn gerade wiederum die destruktiven und kriegerischen Zeiten bis in die jüngste Vergangenheit in Erinnerung bleiben müssen. Die innere Alterität bei engster Nachbarschaft auf relativ kleinem Raum mit ihren reichen Potentialen zeigt sich bereits in der griechischen Geschichte. Wissenschaft, Kunst, Politik, Recht, Medizin und Philosophie konnten sich dort nur so einzigartig entfalten, weil sich die Griechen das Wissen der Anderen aneigneten. Die Bewältigung des Pluralismus mit all seinen problematischen wie produktiven Potentialen ist Kennzeichen der europäischen Geschichte seit Beginn. Wiederum gilt: Nehmen wir die vernunftkritische Tragweite des Nichtwissens, des Bilderverbots, der Menschenwürde, der Reflexion auf die Grenzen der Vernunft und der negativen Theologie praktisch ernst, dann erschließt sich das Potential transkultureller Selbstverständnisse, das Potential einer Kultur der Differenz, die allerdings die wechselseitige Achtung und Anerkennung der Anderen zur unbedingten Voraussetzung hat. Hannah Arendt weist darauf hin, dass das Verzeihen und Vergeben allein in der Botschaft Jesu im Zentrum steht, und in anderen Ethiken übersehen wird. Die antike und die christliche Tradition verbinden sich, wenn die praktische Bedeutung der Personalität, der irreduziblen Individualität als konstituiert gedacht wird durch – mit Hegel formuliert – das „Andere ihrer Selbst“, also durch den und die Anderen. Personen sind „Zwecke an sich selbst“ (so Kant) in ihrer jeweiligen Andersheit. Die Transzendenz des und der Anderen, theoretisch-negativ ihre Unerkennbarkeit, praktisch-negativ ihre Unverfgbarkeit, sie konstituiert erst vernünftige Gemeinsamkeit. Erst die unersetzliche Singularität der Individuen ermöglicht höherstufige kulturelle Praxisformen in Wissenschaft, Politik, Kunst, Religion und Alltagsleben. Diese Perspektive konstituiert letztlich Kern und Zentrum einer demokratischen Zivilgesellschaft und ihrer diskursiven Öffentlichkeit, in der Konflikte offen ausgetragen werden können und müssen. Demgegenüber kann keine Wissenschaft und keine Form von Dogmatismus über das Gemeinwohl und die Zwecke und Ziele von Gesellschaft und Lebenspraxis abschließend befinden. Ich habe bewusst pointiert folgende genuine Aspekte europäischer Anthropologie seit der antiken Philosophie und der christlichen Tradition bis zu Aufklärung und Moderne herausgearbeitet: Es ist erstens die Fundamentalunterscheidung von Verstand und Vernunft, von Rationalität und selbstreflexivem Beurteilen, von kategorialem Bestimmen und dem kritischen Denken und Nachdenken ber solche Bestimmungen. Mit dieser Fundamentalunterscheidung sind Dialogizi-
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tät, Dialektik und die normative Perspektive der Selbsterkenntnis konstitutiv verbunden. Sie bilden das Fundament eines theoretischen wie praktischen Universalismus. Es ist zweitens die fundamentale Einsicht in die Grenzen des Erkennens, die Grenzen der Vernunft, die Grenzen des Wissens – die Einsicht in das Nichtwissen. Mit dieser Einsicht ist die Befreiung von allen Formen des Dogmatismus und die Freisetzung aller theoretischen (wissenschaftlichen) und praktischen (politischen) Gestaltungsmöglichkeiten verbunden. Die Vernunft gehört niemandem – und nur so allen, die prinzipiell an ihr teilnehmen können. Die christliche Tradition akzentuiert den fundamentalanthropologischen Aspekt der Singularität und des unendlichen Werts jedes einzigartigen menschlichen Individuums. Die kritische Tradition setzt sich in ihr mit dem Bilderverbot und der negativen Theologie fort. In Renaissance, Humanismus und Reformation, in Aufklärung und Moderne werden die Perspektiven der Freiheit und Selbstbestimmung wie auch die der Vernunftkritik und Selbstkritik weiter entfaltet und radikalisiert. Was folgt aus meinen Überlegungen für die Gegenwart und Zukunft? Heute muss der Bezug von Anthropologie, Ethik, Politik und Ökonomie neu gedacht werden. Die Potentiale eines von der soziopolitischen und ökonomischen Realität des weltgeschichtlichen Prozesses abgespaltenen bloßen Normativismus sind erschöpft und werden ideologisch. Wir müssen daher die normativen Implikationen unserer eigenen Vernunfttradition erneut begreifen und für unsere Gegenwart neu erschließen. Die Wissenschaften müssen mit ihren Projekten und Zielen noch weit mehr als heute üblich in gesamtgesellschaftlich klar gewordene Zielund Zwecksetzungen eingebunden und auf die demokratischen Willensbildungsprozesse einer sich selbst aufklärenden Zivilgesellschaft bezogen werden. Schulen und Hochschulen müssen mehr denn je in die Lage versetzt werden, mündige Bürger einer aktiv partizipierenden Zivilgesellschaft zu erziehen und zu bilden. Die Rückgewinnung einer solchen Vernunftperspektive muss durch philosophische, anthropologisch-praktische Grundlagenreflexion begleitet werden. Diese Perspektive hat seit ihrem Beginn im antiken Europa eine wissenschafts- und vernunftkritische, und gerade so eine transkulturelle, universale Dimension.
Theodizee als Hermeneutik der Lebenswelt. Existentialanthropologische und ethische Bemerkungen Das ist aber alsdann nicht Auslegung einer vernnftelnden (spekulativen), sondern einer machthabenden praktischen Vernunft […] und diese Auslegung können wir eine authentische Theodicee nennen. Kant
Wie steht es nach Metaphysikkritik, Transzendentalphilosophie, Existentialanthropologie und Sprachkritik mit der philosophischen Theodizee? Die Befunde, an denen sich ihre Reflexionen einst entzündeten, gelten weiterhin: Das menschliche Leben ist geprägt durch das malum metaphysicum: die Endlichkeit. Es ist geprägt durch das malum naturale (malum physicum): das Leiden. Es ist geprägt durch das malum morale: das Böse. Ich möchte im Folgenden klassische Systemgedanken der Theodizee in einem kritischen Rahmen aufgreifen. Es ist – Kants Kritik an der Theodizee und sein Votum für Hiob sind hier einschlägig1 – dazu erforderlich, diese Gedanken aus dem Kontext einer ,doktrinalen‘ Metaphysik und einer ,rationalen‘ Onto-Theologie zu entnehmen und sie im Rahmen der praktischen Philosophie zu reformulieren. Diese existentialpraktische Transformation der Theodizee lässt, so hoffe ich, deren eigentlich transzendental- hermeneutischen Status sichtbar werden: Ihre ,Argumente‘ – oft theoretisch-metaphysisch missverstanden und auch in einem solchen Gewand auftretend – formulieren, so meine ich, praktische Einsichten einer Hermeneutik der Lebenswelt, und diese Einsichten können wir zu den Bedingungen der Mçglichkeit von Ethik zählen, anders gesagt: zu den Voraussetzungen einer moralischen Lebensform. 1
Immanuel Kant, ber das Mißlingen aller philosophischen Versuche in der Theodicee, Akademie-Ausgabe Bd. VIII, 255 – 271.
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Eine praktische Transformation der Theodizee hat zunächst transzendente Rekurse auszuschließen und damit einhergehende ,Erklärungen‘ lebensweltlicher Faktizität aus metaphysischen Prinzipien abzuweisen. Nicht unsere traditionellen und gegenwärtigen theoretischen Konstruktionen ,tragen‘ unsere lebensweltliche Praxis, sondern diese – in ihrer existentialen und sprachlichen Verfassung – ist letztlich auf Dauer Rekurs und Beurteilungsinstanz der sie oft genug verlassenden menschlichen Entwürfe. Das gilt auch für das malum metaphysicum: Angesichts unserer Endlichkeit sind Warum-Fragen und Erklärungsversuche bereits philosophisch-grammatisch betrachtet falsch. Unsere Endlichkeit gehört unumstößlich zur Verfassung unseres Lebens. Sie ist existential konstitutiv und einer wie immer gearteten Erklärung weder fähig noch bedürftig. Auch mythische Erzählungen, die davon handeln, wie z. B. der Tod in die Welt kam, stellen im Kern schlicht narrative Vergegenwrtigungen der hier gemeinten existentiellen Faktizität dar. Das gilt etwa für die biblische Genesis mit ihrer Darstellung des urgeschichtlichen Paradiesverlusts und der Gleichursprünglichkeit von Erkenntnis, Schuld, Scham, Arbeit und Tod. Auch hier handelt es sich um die narrative Vergegenwärtigung von Grundzügen der condition humaine, und gerade der Hinweis auf den Ursprung existentieller Grundgegebenheiten im unerforschlichen Ratschluss Gottes bedeutet den definitiven Abweis hier etwa versuchter ,Erklärungen‘. Die praktische Frage: Wie sollen wir leben? ist systematisch verbunden mit dem Erfordernis, ein vernünftiges Verständnis unserer Lebenssituation zu gewinnen. Insofern sind philosophische Anthropologie und Ethik systematisch verklammert. Die Einsicht in unsere wahre Lage gehört zu einer moralischen Lebensform. Versuchen wir, in einem nächsten Schritt die traditionelle Theodizee-Reflexion angesichts des malum metaphysicum in seiner faktischen Ausprägung als malum naturale durch eine Hermeneutik der Lebenswelt in praktischer Absicht zu reinterpretieren. Leibniz spricht hier auf den ersten Blick sehr konventionell in der Terminologie der metaphysisch gefassten Schöpfungstheologie und in den Ausdrucksweisen einer Vollkommenheitskosmologie. Die ontologische Fassung des Arguments von den abgestuften Vollkommenheitsgraden des kreatürlichen Seins besagt demnach, dass um der – ontologisch prästabiliert gedachten – Harmonie des Ganzen willen gerade die mala, die ,weniger vollkommenen‘, negativen Aspekte der Welt konstitutiv zu deren sinnvoller Einrichtung dazugehören. Leiden und Tod, heißt das, gehören nicht lediglich als lästige Begleiterscheinungen zur Welt und zum Leben des Menschen. Sie sind Kon-
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stituentien der ,Harmonie des Ganzen‘, sie tragen zu dessen ,Vollkommenheit‘ gerade wesentlich bei. Zunächst scheint ein solcher Barockzopf harmonischer Ontologie – die Irreversibilität der Aufklärung einmal unterstellt – unweigerlich unter das Messer zu gehören. Befreien wir Leibnizens Ausführungen jedoch von der rezeptionshinderlichen Diktion barockmetaphysischer Frömmigkeit, dann macht er in seinen – vornehmlich gegen Bayles Skeptizismus gerichteten – Analysen zum malum naturale auf das – so möchte ich reformulieren – Phänomen lebenssinnkonstitutiver Negativitt aufmerksam. Die Reflexion auf diese lebenssinnkonstitutive Negativität nun lässt sich existentialanalytisch nicht nur aufgreifen, sondern präzisieren, und zwar ohne transzendente Rekurse, mithin allein im Blick auf die menschliche Lebenssituation und insofern ,immanent‘. Dazu stimmt, dass Leibniz das malum metaphysicum und das malum naturale keineswegs harmonieontologisch zum Verschwinden zu bringen sucht und ,hinweginterpretiert‘. Vielmehr bleibt es auch in seiner Analyse de facto bei Leiden und Tod, und gerade deren unleugbare Faktizität soll als vernünftig vereinbar mit einer sinnvollen Gesamteinrichtung des menschlichen Lebens einsichtig gemacht werden. Sehe ich recht, dann geht es in diesem Teil der ,Theodizee‘ um die hermeneutische Explikation von bestimmten Voraussetzungen (Möglichkeitsbedingungen) einer humanen Welt, und das heißt hier speziell um die Vermittlung einer praktischen Einsicht in die lebenssinnkonstitutive Bedeutung von Leiden und Tod. Wie können wir das Faktum sinnkonstitutiver Negativität exemplarisch existential reformulieren? Das malum metaphysicum nennt die Endlichkeit des Menschen. Physisch manifest wird es in Schmerzen, Krankheit und Tod. Inwiefern ist – ich wähle dieses Exempel – der Tod sinnkonstitutiv? Am Tod wird unüberbietbar die konstitutive Widerfahrnisstruktur des Lebens endlicher Vernunftwesen evident. Sie müssen sterben, und sie wissen das. Am Sein zum Tode zeigt sich die Kontingenz unserer Existenz: die Unverfügbarkeit der wesentlichen Bedingungen und Möglichkeiten unseres ganzen Lebens. Inwiefern das Sein zum Tode konstitutiv für ein eigentliches und vernünftiges praktisches Selbstverständnis von Menschen ist, dieses Thema steht im Zentrum von Heideggers Thanatologie.2 Der Tod ist authentiekonstitutiv: Er ist stndig 2
Martin Heidegger, Sein und Zeit, Tübingen 111967, v. a. § 62. Vgl. Karl-Otto Apel, „Ist der Tod eine Bedingung der Möglichkeit von Bedeutung? (Existentialismus. Platonismus oder transzendentale Sprachpragmatik?)“, in: Jürgen Mittelstrass/Manfred Riedel (Hg.), Vernnftiges Denken. Studien zur praktischen
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mçglich und erwartbar und bei seinem Eintritt das Ende aller menschlichen Möglichkeiten. Er ist die eigenste Möglichkeit des Menschen und erschließt so die unvertretbare Einmaligkeit (Einzigartigkeit, Jemeinigkeit) der Existenz. Als Sein zum Tode (permanentes Sterben) ist er Form des ganzen Lebens. Als solche Form bezieht er sich nicht auf irgendein Faktum in der Welt (im Leben) und ist insofern unbezüglich. Durch keine unserer Handlungen können wir ,hinter‘ unseren Tod ,zurück‘ oder ,über‘ ihn ,hinaus‘: Er ist schlechthin unhintergehbar, unüberholbar. Er ist schlechthin gewiss, ohne dass die praktische Todesgewissheit eine aus der Erfahrung einzelner ,Todesfalle‘ ,errechenbare‘ Gewissheit wäre. Er ist unbestimmt: Wir wissen nicht, wie er eintritt, und ein angemessenes Todesverständnis kann sich somit nicht lediglich auf diese oder jene empirischen Begleitumstände des Sterbens beziehen. Die unverfügbare Endlichkeit in der Gestalt des Seins zum Tode ist eine wesentliche Form unseres Lebens. Diese Form ist nun sinnkonstitutiv zu nennen, sinnkonstitutiv für unser praktisch-vernünftiges In-der-Welt-sein: Die Endlichkeit in der Gestalt der Sterblichkeit vereinzelt den Menschen auf einmalige Weise und ist so eine existentiale Bedingung von Verantwortlichkeit und Schuld. Verantwortlich und schuldig sind wir als einmalige, unvertretbare personale Individuen, mit Bezug auf unsere Existenz. Die Unwiederbringlichkeit der Vergangenheit, das Schwinden der lebensweltlichen Zeit und die pragmatisch nicht mehr zu tilgende Schuld, die Einzigartigkeit jeden Augenblicks und die ständige Entzogenheit und Unsicherbarkeit der offenen Zukunft bilden als temporale Charaktere der endlichen Existenz den konstitutiven Horizont der Irreversibilitt und Endgltigkeit, ohne den ein ernsthaftes und authentisches Lebensverständnis nicht denkbar und gewinnbar ist. Malum metaphysicum und malum naturale erweisen sich mithin für eine existentialanalytische Hermeneutik der Faktizität als Voraussetzungen einer humanen Welt und als Konstitutiva eines ethischen Selbstverständnisses. Gegen eine allfällige Verdrängung der Endlichkeit und gegen autonomistische Subjekttheorien ist – mit der Theodizee – dafür zu argumentieren, dass Leiden und Tod in ihrer Bedeutung fr das Leben nicht als ,lästige Störungen‘ einer reibungslosen Selbstbehauptung anzusehen sind Philosophie und Wissenschaftstheorie, Berlin 1978 (Festschrift Wilhelm Kamlah), 407 – 419. – Ferner Thomas Rentsch, Heidegger und Wittgenstein. Existential- und Sprachanalysen zu den Grundlagen philosophischer Anthropologie, Stuttgart 22003, 94 – 104, 216 ff., 279 f. sowie Ernst Tugendhat, Selbstbewußtsein und Selbstbestimmung. Sprachanalytische Interpretationen. Frankfurt a.M. 1979, v. a. 235.
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und insofern als das Andere der Vernunft konstitutiv zu dieser gehören. Im Übrigen wäre auch durch eidetische Variationen und Fiktionen eines leidlos und todlos gedachten Lebens die Leibnizsche These zu bestätigen, daß eine Welt, in welcher das Übel einbegriffen ist, besser sein kann als eine Welt ohne Übel […] da das Übel ja von einem größeren Gut begleitet sein kann.3
Mit bestimmten interpretatorischen Mitteln vermag eine Hermeneutik der existentiellen Faktizität in praktischer Absicht möglicherweise auch die Reden von den privativen Modi einer primären ontologischen Positivität angesichts von Endlichkeit und Leiden aufzunehmen. Hierzu müsste – ich deute dies hier nur an – versucht werden, die Grundsätze einer harmonischen Ontologie und das System des metaphysischen Äquilibrismus existentialanthropologisch zu interpretieren. Insbesondere gälte es, das, was Leibniz ,harmonisch‘ oder ,ausgeglichen‘ nennt, zunächst als gleichursprnglich zu verstehen. Eine existentiale (und sprachanalytische) Interpretation der ,Theodizee‘ müsste dabei deren systematischen Zusammenhang mit der ,Monadologie‘ besonders berücksichtigen. Denn diese stellt den (freilich noch metaphysisch überformten) Entwurf eines intersubjektiven existentialen Solipsismus dar, der die Analysen Heideggers zur Jemeinigkeit des In-der-Welt-seins und Wittgensteins zur Gleichursprünglichkeit von Leben (ethischem transzendentalen Ich) und Welt antizipiert. Es ist jedenfalls bemerkenswert, dass sich Leibniz in der ,Theodizee‘ gerade in dem ethisch so relevanten Punkt der Einzigartigkeit des transzendentalperspektivischen Weltbezugs der Personen („Seelen“) auf die ,Monadologie‘ beruft: „Ebenso muß man zugeben, daß jede Seele das Universum nach ihrem Blickpunkt vorstellt und daß sie in einzigartiger Beziehung zu ihm steht; allein immer und immer liegt dem eine vollkommene Harmonie zugrunde.“ (Theodizee § 357) 4 Wie steht es nun mit dem malum morale im Kontext der Theodizee? Die traditionelle theologische Lehre, dass nicht Gott die Ursache des Bösen ist, dass es nicht aus seinem Willen stammt, dass es – scholastisch formuliert – keine wirkende Formalursache hat, Auffassungen, denen 3 4
Gottfried Wilhelm Leibniz, Die Theodizee, übers. von Artur Buchenau, Hamburg 2 1968, 414 und 413. Nach dieser Ausgabe (PhB 71) wird im Folgenden im Text zitiert. Zum existentialen Solipsismus im Allgemeinen und bei Leibniz im Besonderen vgl. Thomas Rentsch, Heidegger und Wittgenstein, a.a.O., 58 f., 127, 189, 232 – 242, 269 ff.
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Leibniz folgt, auch diese Lehre lässt sich, so meine ich, modifiziert verstehen. Böse können nur Menschen sein: Das Böse ist ein Existential des Daseins. Anexistentiale Versuche, das Böse als Natur- oder Weltgesetz (,Weltwille‘), als Eigenschaft oder Wesen ,der Geschichte‘ oder als ,Wille Gottes‘ aufzufassen, sind transzendent, überschwenglich und von vorneherein verfehlt. Das gilt im Übrigen auch für eine in toto ,negative Geschichtsphilosophie‘, wie sie einige Entwürfe der Kritischen Theorie zu kennzeichnen scheint, ebenso für konservative Varianten eines globalen ,Kulturpessimismus‘. Die Tradition und mit ihr Leibniz führen das malum morale nicht auf den unmittelbaren Einfluss Gottes zurück, sondern auf die Freiheit des Menschen. Gott wollte freien Geschöpfen das Leben geben, und – so bereits Augustinus – musste mit dem Faktum der Freiheit dieser Wesen und der Möglichkeit ihres guten Handelns auch die Möglichkeit des bösen Handelns eröffnen. Freiheit ist conditio sine qua non der Ethik und eines guten Lebens endlicher Vernunftwesen. Sie ist Voraussetzung einer moralisch verfassten humanen Lebenswelt. Das Faktum der Freiheit ist ein unerklrliches, auf keine Weise ,ableitbares‘ existentiales Konstituens. Insofern ist sie ,gottgeschaffen‘. Die Hermeneutik der existentialen Faktizität zeigt, dass das Faktum der Freiheit gleichursprünglich mit den Möglichkeiten des guten wie des bösen Handelns und entsprechender Selbstverständnisse verbunden ist: „Spontaneum est, cujus principium est in agente. Auf diese Weise hängen also Handlungen und Willensentschlüsse ganz und gar von uns ab.“ (Theodizee § 301) Diese Prinzipien können moralisch gerechtfertigt, ,gut‘ oder moralisch ungerechtfertigt, ,böse‘, sein. Greifen wir die TheodizeeReflexion in der Gestalt einer eidetischen Variation auf, so können wir fragen: Wie wäre eine ausschließlich moralisch gute Lebenswelt freier Personen denkbar? Sie stellte den Grenzfall des Endes unserer ethischen Unterscheidungsmöglichkeiten dar. Prälapsarische, eschatologische und apokalyptische Fiktionen vergegenwärtigen in der Form der Ur- und Endzeitmythen diese Situation. Solche Fiktionen lassen uns jedoch nur die faktische, ,gemischte‘ Verfassung unserer realen Welt schärfer erkennen. Eine garantiert nur gute Lebenswelt lässt sich kaum anders denn durch einen ,kausalen Determinismus der Moralität‘ vorstellen, und das ist eine contradictio in adiecto. Ich denke, es ist nicht die Vorliebe des Barock für die ,Fülle‘ und die ,Mannigfaltigkeit‘, ihr Votum gegen das ,Einerlei‘, die Leibniz auch hier im Kontext der Ethik dazu führen, die Abstufungen und Differenzierungen für lebensweltlich sinnkonstitutiv zu halten, mit seinen Worten: vereinbar mit der guten Schöpfung Gottes. Denn die Möglichkeit des Bösen, der moralischen Verfehlung, ist der
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,negative‘ Hintergrund, die Folie der Defizienz, auf der sich das vernünftige moralische Leben und Handeln allererst geschichtlich zu bilden und zu entwickeln vermag. Das Faktum der Freiheit schließt dabei einen transzendenten theologischen Determinismus aus. Bestimmte Teile der ,Monadologie‘, der ,Theodizee‘ (z. B. §§ 332 ff.) und insbesondere das Prädestinationsverständnis Leibniz’ können wir dahingehend interpretieren, dass die göttliche Prädestination unter Einschluss des liberum arbitrium von ihm als eine Erçffnung von Handlungsmçglichkeiten gesehen wird. Sie stellt sozusagen die Bedingungen her bzw. dar, unter denen ein Leben endlicher moralischer Wesen überhaupt möglich wird. Deswegen wendet sich Leibniz vehement gegen ein Prädestinationsverständnis im Sinne einer kausalen Determination menschlicher Handlungen: Die Prädestination ist „durchaus keine Nezessitation“ (Theodizee, Anhänge, 418). Die Theodizee erklärt mithin nicht auf metaphysische Weise die Gegebenheiten der Lebenswelt durch eine theologische Kausalordnung, sondern beschreibt sie – im Ansatz hermeneutisch und transzendental – als eine Konditionalordnung. Deswegen tritt das jeweilige malum „als Bedingung“ (Theodizee § 336), als „conditio sine qua non“ (Theodizee § 230) lebensweltlicher Orientierung und Moralität in den Blick. Der sinnkonstitutive Hintergrund der Negativität, den wir angesichts des malum metaphysicum und des malum naturale bereits als lebensweltliches Orientierungskonstituens einsichtig machen konnten, gilt auch für eine moralische Lebensform. Insofern ist die Erörterung des malum morale im Kontext der Theodizee gleichfalls hermeneutisch nachvollziehbar. Das gilt nicht nur für den erörterten Zusammenhang von faktischer Freiheit und Möglichkeit des Bösen. Es gilt auch für die interne Konstitution authentischer personaler Beziehungen, für die innere Verfassung moralischer, ,transsubjektiver‘ Verhältnisse. Diese innere Verfassung ist konstitutiv fragil. Das ,Negative‘ tritt hier in der Gestalt der permanenten Verletzlichkeit einer moralischen Lebensorientierung in Erscheinung. Das malum morale ist als Zerbrechlichkeit authentischer Verhältnisse mit diesen konstitutiv verbunden. Authentische Transsubjektivität, die sich allererst mit der vernünftigen Abkehr von instrumentellen, strategischen Formen intersubjektiven Handelns einstellt, ist ihrer Verfassung nach (im Unterschied zu extern sanktioniertem Recht) schutz- und garantielos. Eine existentiale Analytik z. B. des Vertrauens und der moralischen Liebe kann hier im Übrigen in die Analysen einer philosophischen Grammatik
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überführt werden.5 Der nichtinstrumentelle Status bzw. die technische Unsicherbarkeit der interpersonalen Verhältnisse ,Vertrauen‘ und ,Liebe‘ ist für diese ,wesenskonstitutiv‘. Da „das Wesen in der Grammatik ausgesprochen ist“,6 lässt sich die genuine Bedingungs-, Voraussetzungs- und Garantielosigkeit, die wir mit diesen Existentialen zu Recht verbinden, am angemessenen Verständnis des Gebrauchs aufweisen, den wir von den genannten Worten machen. Mit Blick auf die Reinterpretation der Theodizee können wir von den authentiekonstitutiven Unverfügbarkeiten einer moralischen Lebensform sprechen. Verstehen wir diese als Preisgabe der eigenmächtigen Selbstbefangenheit7, als praktische Autonomie im Sinne der Freiheit von sich selbst8 und positiv als gelassene9 und liebende Hinwendung zu den Mitmenschen, dann ist sie insbesondere auch gekennzeichnet durch die Unmçglichkeit ihrer theoretischen und technischen Sicherung. Anders gesagt: Die moralische Lebensform ist darauf angewiesen, dass die Mitmenschen ebenfalls in sie eintreten, ohne dass dies je irgend technisch bewirkt werden könnte. Die praktische Einsicht in die Enttäuschbarkeit authentischer Verhältnisse bzw. das Leiden daran, dass sie sich nicht einstellen, gehört zu diesen Verhältnissen selbst. Freie Vernunftwesen sind in ihrer moralischen Lebensform dem faktischen Scheitern ihrer Bemühungen, dem Leiden an diesem Scheitern und mithin der Wirklichkeit des Bösen ausgesetzt. Von einer existentiellen, praktisch gewordenen Einstellung der Moralität als Lebensform sollte nicht die Rede sein, schlösse diese qua Lebensform nicht Gelassenheit angesichts des stets möglichen Scheiterns ein. Das malum morale gehört zu einer moralischen Welt und somit findet es in der Gestalt dieses Scheiterns moralrelevant Eingang in die authentischen Selbstverständnisse von Personen und deren Leben. Leibniz sagt: Dieu ne pouvoit pas à la créature donner tout (rien que bien), sans en faire un Dieu; il falloit donc qu’il y eût des différens dégrés dans la perfection des 5 6 7 8 9
Zum Entwurf einer existentialanalytischen philosophischen Grammatik vgl. Thomas Rentsch, Heidegger und Wittgenstein, a.a.O., 254 – 321. Ludwig Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen, Frankfurt a.M. 1971, § 371. Wilhelm Kamlah, Philosophische Anthropologie. Sprachliche Grundlegung und Ethik, Mannheim/Wien/Zürich 1973, 145 – 192. Friedrich Kambartel unterscheidet im Anschluss an die moralphilosophische Tradition drei Stufen der Autonomie: die Freiheit von der Natur, die Freiheit von Herrschaft und die Freiheit von sich selbst. Vgl. Friedrich Kambartel, Gelassenheit, Manuskript. Konstanz 1979, und ders., Art. „Gelassenheit“, in: Jürgen Mittelstrass (Hg.), Enzyklopdie Philosophie und Wissenschaftstheorie I, Mannheim/Wien/Zürich 1980.
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choses, et qu’il y eût aussi des limitations de toute sorte. (Theodizee § 241; vgl. §§ 243 und 31)
Diese Begrenztheit in der Gestalt der Gefährdung und des faktischen Scheiterns gehört konstitutiv zu einer moralischen Lebensführung. Und auch die ein wenig formal-farblose Rede von den Differenzierungen der Vollkommenheit lässt sich etwas emphatischer so reformulieren: Besteht der Reichtum eines moralischen Lebens in dem Maß der liebenden Hinwendung zu den Mitmenschen, dann gehören die derart entstehenden Gefährdungen, die Schmerzen und das Leid, Scheitern und Vergeblichkeit zu diesem Reichtum dazu. Da eine moralische und praktisch-autonome Lebensform die tätige Selbstannahme und die liebende Bejahung der Anderen einschließt, schließt sie die Annahme des Scheiterns und auch die Vergebung des Bösen mit ein. Das gilt, so meine ich, auch für die moralische Enttäuschung durch sich selbst. Die Einsicht in eigenes Versagen ist ebenfalls moralkonstitutiv. Das malum morale tritt hier als eigenes Scheitern auf. Auch hier ist ,das Negative‘, in der Gestalt der Trauer über sich selbst und des moralischen Leidens an sich selbst keineswegs unvernünftig und zu verdrängen. Insbesondere in Fällen tragischen moralischen Leids, in dem unsere besten Intentionen schicksalhaft und ausweglos kollidieren und unsere moralische Identität zu zerbrechen droht, bleibt uns nichts als das bewusste, ernste und illusionslose Leiden. In ihm gerade mag sich hier humane Dignität bewahren. Entgegen den Idealen etwa stoischer Selbstmächtigkeit, den Strategien apathischer Verhärtung und existentieller Ataraxie sollte eine existentialanthropologisch-ethische Reflexion des Leidens gerade im Blick auf die Theodizee-Thematik auch die Rationalität des Weinens und des Schreiens akzentuieren. Denn nicht nur die Freude, das Glück und das Lachen sind die Kennzeichen einer moralischen Lebensform. Die antike griechische Tragödie war keineswegs eine ,irrationale‘ Parallele zur Ausbildung einer rationalen, diskursiven und universalistischen philosophischen Ethik. Sie hielt vielmehr die solchermaßen nicht mehr bewältigbaren Ausweglosigkeiten des menschlichen Lebens in der dichterischen Gestaltung sagbar und gegenwärtig, so dass auch das tragische Zerbrechen des Individuums als ein Teil der gemeinsamen humanen Welt nicht in die Sprachlosigkeit verdrängt wurde. Für unsere christliche Tradition sei nur an den Gekreuzigten erinnert. Nach dem letzten von Markus überlieferten Satz „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“ (Mk 15, 34) heißt es: „Aber Jesus schrie laut und verschied“ (Mk 15, 37). Karg aber treffend ist das Diktum Wittgensteins: „We are
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not here in order to have a good time.“10 Für Kant war das Geschick Hiobs und sein Verhalten das Paradigma einer „authentischen Theodizee“.11 Diese schließt für ihn Theologie- und Metaphysikkritik ein. Zum moralischen Leben gehört gemäß Kant das geduldige Leiden ohne metaphysische Ausflüchte und die getroste Verzweiflung ohne fatalistische Resignation. Es gehört zu ihm ein Mut zur Trauer und das bewusste Durchleiden des Leidens ohne Verdrängung und Beschönigung. Ich versuchte zu zeigen, dass diese existentialpraktische Transformation der Theodizee sich auf die Intentionen von Leibniz teilweise und modifiziert zurückbeziehen lässt. Authentische Theodizee als Hermeneutik der Lebenswelt heißt dann, dass wir – trotz aller erhofften praktischen Melioration unserer Verhältnisse und unserer Selbstverständnisse – als Menschen Sinn, Authentie und moralische Identität nie außerhalb und fern von Endlichkeit, Leiden, Tod und Schuld gewinnen können.
10 Mitgeteilt in: Maurice O’Conner Drury, „Some notes on conversations with Wittgenstein“, in: Rush Rhess (Hg.), Ludwig Wittgenstein. Personal Recollections, Oxford 1984, 88. 11 I. Kant, ber das Mißlingen …, a.a.O., 264.
Die Rede von der Sünde – Sinnpotentiale eines religiösen Zentralbegriffs aus philosophischer Sicht Im Folgenden werde ich in einem ersten Schritt Bemerkungen zum Thema Bçses und Snde heute machen. Um die Thematik aus philosophischer Sicht grundlegend zu analysieren, werde ich im zweiten Schritt den Zusammenhang von Snde und Freiheit in Kants Reflexion rekonstruieren. Im dritten Schritt analysiere ich auf dieser Grundlage die Geltung unbedingten Sinns trotz Fehlbarkeit und Schuld. In einem Fazit fasse ich die Ergebnisse der Analyse der Sinnpotentiale der Rede von der Sünde im Blick auf mein Verständnis von Religion als Tiefenaufklrung zusammen.
1. Böses und Sünde heute Das Thema des Bösen und der Sünde wurde in der Philosophie des vergangenen Jahrhunderts erstaunlicherweise lange Zeit verdrängt und tabuisiert. Erstaunlicherweise, denn nach zwei Weltkriegen, Holocaust und Hiroshima hätte das Thema sich doch eigentlich aufdrängen müssen. Den Gründen für diese auffällige Verdrängung kann ich heute nicht weiter nachgehen. Aber sie scheinen mir bei näherer Betrachtung mit einem oberflächlichen Aufklärungsverständnis und einer subkomplexen Anthropologie zusammenzuhängen. Dazu noch eine Anekdote. Die Verdrängung wurde mir unter anderem bewusst, als ich Mitarbeiter am Historischen Wçrterbuch der Philosophie wurde. Bei der Arbeit an Band 5 Ende der 70er Jahre war den Herausgebern bewusst geworden, dass in Band 1 der Artikel über das Böse vergessen worden war. Der Artikel Malum musste dieses Vergessen kompensieren. In ihm formulierte der humoristisch aktive Odo Marquard, dass der Teufel, der Malus, in der Neuzeit zunehmend entwirklicht wird, so „als genius malignus – zum Argumentationskniff im Kontext des methodischen Zweifels (Descartes)“ oder der Teufel „entkommt ins Detail: dort bekanntlich, steckt er auch noch heute und sorgt dafür, dass – etwa – im ,Historischen Wörterbuch der Philosophie‘ der Artikel ,Böse‘ ,vergessen‘ wird, obwohl doch insgesamt für die modernen Menschen gilt: „den Bösen sind sie los,
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die Bösen sind geblieben“, wie Marquard Goethes Faust (Vers 2509) zitiert.1 Dieses Vergessen des Bösen in dominierenden Strömungen der Gegenwartsphilosophie ist unterdessen weitgehend überwunden. Dazu nur einige Beispiele. So fand im Wintersemester 1989/90 an der Freien Universität Berlin eine Ringvorlesung über das Böse und seine „unfassliche Evidenz“ mit Beteiligten aus vielen Fächern statt.2 Bezeichnend ist die Kehre von Jürgen Habermas in diesem Zusammenhang, die Kehre vom von ihm so genannten postmetaphysischen zum nun von ihm diagnostizierten postskularen Zeitalter. Die Verkündigung einer völlig säkularisierten Welt ist nun selbst überholt. In seiner Friedenspreisrede über Glauben und Wissen 2001 konstatiert Habermas aus Anlass des 11. Septembers 2001: „Wer einen Krieg der Kulturen vermeiden will, muss sich die unabgeschlossene Dialektik des eigenen, abendländischen Säkularisierungsprozesses in Erinnerung rufen“.3 Er erinnert an Kants Versuch, das radikal Böse zu verstehen und stellt fest: Wie der enthemmte Umgang mit diesem biblischen Erbe heute wieder einmal zeigt, verfügen wir noch nicht über einen angemessenen Begriff für die semantische Differenz zwischen dem, was moralisch falsch, und dem, was zutiefst böse ist. Es gibt den Teufel nicht, aber der gefallene Erzengel treibt nach wie vor sein Unwesen – im verkehrten Guten der monströsen Tat, aber auch im ungezügelten Vergeltungsdrang, der ihr auf dem Fuße folgt. Säkulare Sprachen, die das, was einmal gemeint war, bloß eliminieren, hinterlassen Irritationen. Als sich Sünde in Schuld, das Vergehen gegen göttliche Gebote in den Verstoß gegen menschliche Gesetze verwandelte, ging etwas verloren […] Die verlorene Hoffnung auf Resurrektion hinterlässt eine spürbare Leere.4
Habermas setzt diese Reflexion auf die „Dialektik der Säkularisierung“ in seinem Gespräch mit Kardinal Ratzinger 2004 fort.5 Als weiteres Beispiel für die gegenwärtige Wende in der philosophischen Thematisierung von Bösem und Sünde nenne ich das vielbeachtete Buch von 2002: Das Bçse denken. Eine andere Geschichte der Philosophie von Susan
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Odo Marquard, Art. „Malum“, in: Historisches Wçrterbuch der Philosophie, Bd. 5, Basel/Stuttgart 1980, Sp. 654. Carsten Colpe/Wilhelm Schmidt-Biggemann (Hg.), Das Bçse. Eine historische Phnomenologie des Unerklrlichen, Frankfurt a.M. 1993. Jürgen Habermas, Glauben und Wissen, Frankfurt a.M. 2001, 11. Ebd., 24 f. Jürgen Habermas/Joseph Ratzinger, Dialektik der Skularisierung. ber Vernunft und Religion, Freiburg 2005.
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Neiman, der Direktorin des Einstein Forums in Potsdam.6 Umfassend behandelt sie die Geschichte der Reflexion des Bösen von der Philosophie der Aufklärung bis in die Gegenwart. Sie resümiert in meinem Sinne: „Ethik und Metaphysik sind nicht zufllig miteinander verbunden. Jeder Versuch, ein richtiges Leben zu führen, ist ein Versuch, in der Welt zu leben.“7 Mittlerweile erscheinen Diskussionsbände, die Böses und Sünde von vielen disziplinären Seiten aus neu thematisieren, philosophisch, theologisch, ästhetisch, juristisch, kulturwissenschaftlich, sozialpädagogisch, medientheoretisch.8 Es wird sichtbar: die Tabuisierung und Verdrängung des Themas ist zumindest seit Beginn des neuen Jahrhunderts überholt. Aber – wie gehen wir selbst philosophisch-systematisch mit diesem Abgrund der menschlichen Existenz um? Wenn wir die Sinnpotentiale des Begriffs der Sünde philosophisch verstehen wollen, müssen wir zunächst den Begriff des Bösen thematisieren. Meine These lautet, dass wir das Böse angemessen nur begreifen und bewältigen können, wenn wir es einerseits nicht mythisieren oder als etwas Übermenschliches, Fremdes dämonisieren, andererseits, wenn wir es nicht leugnen und wegerklären. Die Mythisierung ist sprachlich schon dadurch angelegt, dass wir ein Substantiv „das Böse“ bilden. Wir neigen dann dazu, hinter einem Komplex von Handlungs- und Verhaltensweisen von Menschen ein „Böses an sich“ als eine irgend geartete Substanz zu denken. Auch die verbreiteten Reden von Weltpolitikern von einem „Reich des Bösen“ (so Reagan über die Sowjetunion) bzw. von einer „Achse des Bösen“ (so Bush jr. über islamische und andere „Schurkenstaaten“) bedienen sich dieser vordergründigen Ontologisierung des Bösen. Ich liebe sehr das Kasperletheater, ebenso Goethes Faust. In diesen Inszenierungen tritt der Teufel, allerdings in spielerischer, kunstvoller Vergegenwärtigung als souveräne und originelle Gestalt auf. Er betrat die Bühne, als im Zuge von Neuzeit und Aufklärung die Abschaffung des realen Teufels im 18. Jahrhundert schon weit vorangeschritten war. Aber in diesen Inszenierungen ist gleichzeitig klar, dass es sich um künstlerische Vergegenwärtigungen handelt, nicht um Realität an sich. Die Politik des Bösen des vergangenen Jahrhunderts aber war (und ist noch) real. So, wie 6 7 8
Susan Neiman, Das Bçse denken. Eine andere Geschichte der Philosophie, Frankfurt a.M. 2004. Susan Neiman, a.a.O., 475. Vgl. z. B. Werner Faulstich (Hg.), Das Bçse heute. Formen und Funktionen, München 2008.
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die amerikanischen Präsidenten ihr Reich des Bösen konkret verorteten, so benennen die islamischen Fundamentalisten ihr extremes Feindbild: es ist „der große Satan“ – die USA. Ich will deutlich machen, dass ein solches Denken sozialethisch, politisch und philosophisch auf jeden Fall in die Irre führt – was nichts besagt über die konkrete Legitimität von pragmatisch-politischen, z. B. auch militärischen Maßnahmen irgendwelcher Art. Wir müssen nämlich die politische, die rechtliche, die moralische und die religiöse Ebene unterscheiden. Die Mythisierung, Dämonisierung und Substanzialisierung, kurz, die Ideologisierung des Bösen ist die eine große Gefahr. Die andere Gefahr ist die, das Böse im Zuge der Aufklärung völlig zu „entbösen“, zu verflüchtigen, es aufzulösen in Bedingungsverhältnisse ökonomischer, politischer, sozialer und psychologischer Natur. Man meint dann, schließen zu können: die ökonomischen Verhältnisse, die politischen Rahmenbedingungen erklären letztlich, wie es zu bösen Handlungen kam. Die Psychopathologie des Triebverbrechers erklärt seine Taten. Hier ist entscheidend, Schreckliches, Schlimmes, Entsetzliches, Grauenhaftes vom Bçsen im eigentlichen Sinne zu unterscheiden. Leiden jeder Art, Krankheit, Schmerzen unter Einschluss des Todes gehören zum endlichen menschlichen Dasein wie das Glück, die Gesundheit, die Freude und alles Schöne. Um das Böse zu begreifen, müssen wir es vom faktischen Negativen und Schrecklichen unterscheiden. Gerade in der Gegenwart unserer globalisierten Medienwelt wird ja durch Fernsehbilder das Schreckliche, das Spektakuläre von Ereignissen tagtäglich, ja stündlich übertragen, ohne dass die komplexen Hintergründe der Ereignisse damit schon irgendwie klar würden. Die Bilder vom 11. September 2001 spielten für das vergangene Jahrzehnt eine solch prekäre Rolle. Um das Wesen des Bösen zu begreifen, müssen wir es mit der menschlichen Freiheit zusammendenken. Wir müssen es ferner einbeziehen in den Gesamtkontext der menschlichen Praxis. Wir müssen gemischte, graduelle Verhältnisse zwischen Gutem und Bösem denken und begreifen – in uns selbst, und auch um uns herum. Aus dem bisher Ausgeführten ergibt sich, dass wir das Böse nur in einem umfassenden praktisch-anthropologischen Kontext begreifen können. In unserer endlichen Existenz gibt es das Gute nur um den Preis möglicher Verfehlung, um den Preis des möglichen Bösen. Das Böse konstituiert uns somit auch, ebenso wie das Gute, dessen wir fähig sind. Nur als freie Personen sind wir moralisch beurteilbar. Aber als freie sind wir selbst auch schon fehlbar. In diesem Zusammenhang zeige ich Ihnen eine Karikatur, die ich in Einführungsvorlesungen zum Thema verwende.
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Auf der Suche nach den Wurzeln des Bösen
Warum ist die Karikatur so gut, auch philosophisch betrachtet? Jemand grbt verbissen nach den Wurzeln des Bçsen, im Schweiße seines Angesichts – und dabei merkt er nicht, dass es seine eigenen Wurzeln sind, die unter ihm sind, und die zu ihm hinaufführen. Politischer Kampf gegen den Terror, politischer Einsatz und Kampf gegen das Verbrechen – dies ist eine Ebene. Aber das Böse erreicht man so nicht. Aus theologischer und philosophischer Sicht müssen wir daher den Missbrauch der Kategorie des Bçsen für politische Zwecke kritisieren und zurückweisen. Gerade weil das existentiell verantwortliche Freiheitshandeln des Einzelnen so tief verflochten ist in den gesamtgesellschaftlichen Kontext einerseits, in den Kontext der naturhaften Abhängigkeiten von unseren Bedürfnissen, Ängsten und Leidenschaften andererseits, ist das Urteil über böses Handeln und böse Menschen so schwierig. Emotionale Aufgebrachtheit und Entrstung, Abscheu und Entsetzen sind leicht, sie stellen sich leicht ein. Schwerer ist es, einzugestehen, dass wir im radikalen Bösen auch uns selbst begegnen, den Abgründen unserer Freiheitsnatur. Erst, wenn wir dies mitbegreifen, gelangen wir auf eine Ebene, die der Humanität und der Moralität eigentlich angemessen ist. Gerade die Ebene des Bösen ist also vor- und außerhalb der Ebene freier praktischer Einsichten nicht erreichbar. Hannah Arendt hat so in ihrem Buch „Eichmann in Jerusalem“ diesen nicht als metaphysisches Monstrum negativ ver-
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herrlicht, sondern sie hat eben deswegen, wegen dieser Kontextbedingtheit bei aller Verantwortlichkeit, von der „Banalität des Bösen“ gesprochen.9 Hier wäre von der Dialektik des Bösen und von der Nichtigkeit des Bösen zu reden. Thomas von Aquin lehrt den engen Zusammenhang des Bösen mit der Dummheit. Das fürchterliche Böse muss als solches, als Menschenwerk erkannt und anerkannt werden, vor allem vom Täter selbst. Das Böse muss in der Selbsterkenntnis angesetzt werden. Auch die das Böse Beurteilenden und Verurteilenden müssen das Menschliche an den Tätern erkennen und anerkennen, so unmöglich das auch scheinen mag. Das fürchterliche Böse muss als solches erkannt, aber darf nicht mythisch aufgeladen werden, sondern es muss – horribile dictu – als normal menschlich erkannt werden. Befreiung, Entgiftung vom Bçsen kann es nur aufgrund solcher Erkenntnis, Anerkenntnis und Selbsterkenntnis geben – alles andere bleibt verdrängt, unbegriffen, im Untergrund weiteres Unheil fortzeugend – wie z. B. im ehemaligen Jugoslawien. Es gibt hier keine Verrechnerei – z. B. zwischen Holocaust und Hiroshima. Primo Levi schreibt in seinen Erinnerungen an das Konzentrationslager über die Täter, dass sie aus dem gleichen Stoff waren wie die Opfer. Jeshajahu Leibowitz berichtet im gleichen Kontext von der Kläglichkeit und Erbärmlichkeit der Täter. Da wir mit dem Bösen an Grund und Grenze unserer moralischen Existenz als Menschen stoßen – und zwar von uns als normalen Menschen – gibt es letztlich nur eine Ebene, die es mit dem Bösen aufnehmen kann: das Verzeihen und das Vergeben auf Seiten der Opfer, auf Seiten der Täter die Anerkennung der Schuld und die Kraft, an der Schuld nicht zu zerbrechen. Insofern gelangen wir von der Grenze der Ethik und der Moralität zur genuin religiösen Dimension von Befreiung, Rechtfertigung und Gnade und zum Wort Jesu: „Richtet nicht, damit ihr nicht gerichtet werdet.“ (Mt 7,1; Lk 6,37). Um diese Sicht zu vertiefen und philosophisch-systematisch zu begründen, gehe ich jetzt auf Kants konstitutive Analyse zu Sünde und Freiheit ein. Ich beziehe mich dabei auf die Religionsschrift.
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Hannah Arendt, Eichmann in Jerusalem, Reinbeck 1978.
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2. Sünde und Freiheit in Kants Reflexion Die Moral ist in ihrer Geltung unableitbar und eigenständig. Dennoch, und das macht Kants Ansatz so aufschlussreich, geht der Mensch nicht in Moralität auf. Seine Angewiesenheit auf ein sinnvolles Verständnis des ganzen Lebens überschreitet deren Geltungsbereich. Die Idee Gottes ist nach Kant verbunden mit der „Idee eines höchsten Guts in der Welt, zu dessen Möglichkeit wir ein höheres, moralisches, heiligstes und allvermögendes Wesen annehmen müssen“ – ein Wesen, das Moral und Glück „vereinigen kann“.10 Kant geht in seiner Grenzreflexion noch weiter. Würde ein moralisches Freiheitswesen das Moralgesetz erkannt haben, aber gleichsam noch „weltlos“ sein, so „würde [es] auch wollen, dass eine Welt überhaupt existiere“ (5), und zwar auch um den Preis der Einbuße der Glckseligkeit und der Gefahr des Scheiterns. Wir können diese kritische Grenzreflexion Kants gleichsam als dialektische Umkehrung der Pascalschen Wette lesen. Während Pascal auf den allmächtigen Gott setzt und diese Wette in ihrer funktionalen Rationalität erläutert, fingiert Kant ein weltloses moralisches Vernunftwesen, das in der Konsequenz der moralischen Geltung auch die Schöpfung im Interesse an der Existenz einer Welt vollzieht, in der Moral – das Gute – allein wirklich werden kann. Es geht Kant keineswegs um eine theologische Begründung der Moral. Es lässt sich zeigen: Indem Kant angesichts der Autonomie der Moral seine theologische Reflexion bei ihr ansetzt, verortet er die Gottesfrage im Zentrum der Frage des Menschen nach sich selbst. Genauer verortet er sie bei der Reflexion auf die transpragmatischen und insbesondere transethischen Sinnbedingungen aller unserer Praxis: „Moral also führt unumgänglich zur Religion, wodurch sie sich zur Idee eines machthabenden moralischen Gesetzgebers außer dem Menschen erweitert, in dessen Willen derjenige Endzweck [der Weltschöpfung] ist, was zugleich der Endzweck des Menschen sein kann und soll“ (6). Hier wird die schöpfungstheologische Dimension in Kants Ansatz sichtbar. Ebenso, wie die sinnkriteriale Reflexion der Gottesfrage Kant zur schöpfungstheologischen Dimension führt, so führt sie ihn auch zur interexistentiell-praktisch gedachten eschatologischen Erfüllungsperspektive. Denn nur so lässt sich seine Rede vom „höchste[n] in der Welt 10 Immanuel Kant, Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft, in: Kants gesammelte Schriften, Akademie-Textausgabe Bd. VI, Berlin 1968, 1 – 202, dort 5. Im Folgenden werden die Seiten im fortlaufenden Text angegeben.
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mögliche[n] Gut“ verstehen, welches „jedermann sich […] zum Endzwecke machen solle“ (7, FN). Wir können dies so reformulieren: In der Grammatik unserer praktischen Orientierungssprache und unserer Sinnentwürfe – ohne die wir uns selbst nicht angemessen verstehen können – ist ein Vorgriff auf Gelingen eingearbeitet. Wenn wir handeln, wenn wir überhaupt etwas anstreben, dann antizipieren und unterstellen wir notwendig dessen Sinn und auch das Gelingen dieses Handelns und Strebens. Alle zum Kernbereich humaner Praxis gehörenden Sinnentwürfe: Freundschaft, wechselseitige Hilfe, Uneigennützigkeit, Aufrichtigkeit, Formen des Teilens und des Abgebens, der offenen Aussprache, aber ebenso bereits der Anspruch, gute Arbeit zu leisten, einen guten Unterricht zu machen, gut zu kochen, gut zu beraten, gut zu heilen – all diese Sinnentwürfe sind, recht verstanden, auf Erfüllung ausgerichtet – bereits bevor sie konkret begonnen werden. Diese immanent-eschatologische Erfüllungsperspektive ist handlungssinnkonstitutiv, weiter gedacht: lebenssinnkonstitutiv. Kant spricht an dieser Stelle von der erhofften Koinzidenz von Moral und Glück (Glückseligkeit). In dieser Dimension – ebenso wie in der der Schöpfung, der Existenz der Welt überhaupt – verortet er den Sinn der Rede von Gott. Dass es Kant gerade um die Verortung eines wahrhaftigen Gottesverhältnisses im Kontext der transpragmatischen und transethischen, transfunktionalen Sinnbedingungen der gemeinsamen humanen Existenz geht, zeigt sich in seiner Analyse des „radikalen Bösen in der menschlichen Natur“. Kants Vernunftkritik ist gerade aufgrund ihres Realismus und ihrer illusionslosen anthropologischen Prämissen allen rationalistischen, idealistischen und in diesem Sinne moralistischen Ansätzen überlegen. Er arbeitet nicht nur auf existentiell-realistische Weise gegen den antiken Eudämonismus die grundlegende Differenz von Moral und Glück heraus, er analysiert in der Religionsschrift die strukturelle Fragilitt, Ambivalenz und Fehlbarkeit auch der besten menschlichen Absichten: die „Schwäche“, die „Gebrechlichkeit“ des menschlichen „Herzens“ (als des Zentrums der menschlichen Person) und dessen „Hang“ zur Pervertierung des Guten in das Böse (29). Ich halte diese Analysen für zutreffend, zumal sie keine dogmatische Sündenontologie übernehmen, sondern für sich genommen die Konstitution eines endlichen, freien, moralischen und eben fragilen, schwachen, fehlbaren Wesens aufweisen. Geschichte, Praxis, Lebenserfahrung und aller Alltag zeigen uns, dass die von Kant analysierten Pervertierungen für die menschliche Wirklichkeit auch dann prägend sind, wenn wir es nicht mit offen verbrecherischen Handlungen zu tun haben,
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sondern mit „ganz normalem“ Verhalten und mit sinnvoller Praxis. Auch das gute Handeln kann ich aus Eitelkeit, aus Eigennutz tun, „und der Mensch ist bei lauter guten Handlungen dennoch böse“ (31). Ebenso antizipiert Kant Befunde der Psychoanalyse, aber auch unserer alltäglichen Erfahrung, wenn er bemerkt, „es sei in dem Unglück unsrer besten Freunde etwas, das uns nicht ganz missfällt“ (33). Die gesamte Perversionsanalyse der Moralität, die Kant hier leistet, bezeugt, dass und wie er die Dimension eines authentischen Gottesverständnisses bei den transpragmatischen und transmoralischen Sinnbedingungen eines gesamten, praktischen, selbstbewussten menschlichen Lebensverständnisses ansetzt. Sie lässt sich wie folgt reformulieren: Wir sind selbst mit unseren besten Intentionen und Sinnentwürfen von definitivem Scheitern bedroht, faktisch und praktisch, und vor allem auch in der Perspektive der Selbstreflexivität. Es ist die erkenntniskritische Stärke Kants, das solchermaßen aufgewiesene Böse weder naturalistisch zu ontifizieren – dies käme in der Konsequenz einer bloßen Animalisierung des Menschen gleich, noch es gänzlich mit dem bewussten Willen gleichzusetzen. Der reine böse Wille würde den Menschen schlechthin zu einem Teufel machen. Vielmehr besteht die für ein tiefergehendes Religions- und Gottesverständnis wesentliche Einsicht darin, dass die freie und reflexive moralische Lebenspraxis von einer tiefgreifenden, strukturellen, konstitutiven Ambivalenz geprgt ist, so dass wir der Authentizität unserer Orientierungen nie ganz gewiss sein können. Anders formuliert: Wir können unser Inneres, unser „Herz“ nicht gänzlich durchschauen – wir sind uns nicht „durchsichtig“. Die Transparenz unserer inneren Natur wie auch der mit ihr verwobenen moralischen, personalen Identität ist erkenntniskritisch begrenzt: endlich, fragil, ambivalent, materiell bedingt und partial verdeckt. Subtil unterscheidet Kant Stufen solcher Verdecktheit bis hin zur bewussten Pervertierung. Seine durchgeführten Analysen zur Unredlichkeit, zur Selbstgerechtigkeit und zur Nichtswürdigkeit zeigen negativ-anthropologisch und tiefenhermeneutisch eine radikale Problematik an der Basis und an den Grenzen aller Moralität und aller authentischen menschlichen Selbstverständnisse auf. Genau an dieser Stelle erläutert Kant, worin ein wahrhaftiger Transzendenzbezug in diesem Kontext radikaler Fragilität und Ambivalenz besteht, und zwar gerade so, dass dieser Transzendenzbezug nicht auf die Rolle einer bloß funktional dem Bedürfnis nach Bewältigung der besagten existentiell-praktischen Problematik entsprechenden Instanz eingeschränkt werden kann. Vielmehr zeigt seine Konstitutions- und Gel-
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tungsanalyse – vorgreifend mit Wittgenstein formuliert – den grammatischen Ort einer Hoffnungslogik, die zu den existenztragenden Sinnbedingungen humaner Praxis gehört. Kant führt erkenntniskritisch aus, warum der „Vernunftursprung“ des Moralisch-Bösen, der die nicht „zeitlich“ zu denkende Freiheit voraussetzt, nicht weiter erklärbar, aus natürlichen Anlagen nicht ableitbar, mithin kein empirisches Phänomen ist: „Diese Unbegreiflichkeit […] drückt die Schrift […] dadurch aus, dass sie das Böse zwar im Weltanfange, doch noch nicht im Menschen, sondern in einem Geiste von ursprünglich erhabnerer Bestimmung voranschickt“ (43 f.). Die Grenzen der Moralität zeigen sich in dieser von Kant herausgearbeiteten, tiefgreifenden Ambivalenz des menschlichen Selbstverständnisses und in der mit der Freiheit auf nicht weiter begreifliche Weise verbundenen Möglichkeit und Wirklichkeit des Bösen. Zu den transpragmatischen und transethischen Bedingungen eines vernünftigen (moralisch-praktischen) menschlichen Selbstverständnisses gehört nun Kant zufolge gerade angesichts der dauernden Fragilität, Ambivalenz und der Radikalität des Bösen eine fundamentale, einsichtsbezogene nderung dieses Verständnisses. Zum Menschen und seinen authentischen Lebensmöglichkeiten gehört, dass er zu tiefgreifendem Wandel der Sicht fähig ist. Ein solcher existentieller Perspektivenwechsel gehört zu einem geklärten Gottesverständnis. Kant weist in diesem Kontext „allmählige Reformen“ des Verhaltens im Sinne einer aristotelischen gewohnheitsmäßigen Einübung des Sittlichen zurück. Es geht angesichts der dauerhaften Fehlbarkeit, die Grenze und auf unbegreifliche, mit der Freiheit verbundene Weise Grund der Moralität ist, um eine „Herzensnderung“: „Dass aber jemand nicht bloß ein gesetzlich, sondern ein moralisch guter (Gott wohlgefälliger) Mensch, d. i. tugendhaft nach dem intelligiblen Charakter (virtus Noumenon), werde, […] das kann nicht durch allmählige Reform, so lange die Grundlage der Maximen unlauter bleibt, sondern muss durch eine Revolution in der Gesinnung im Menschen (einen Übergang zur Maxime der Heiligkeit derselben) bewirkt werden; und er kann ein neuer Mensch nur durch eine Art von Wiedergeburt gleich als durch eine neue Schöpfung (Ev. Joh, III, 5; verglichen mit 1. Mose I, 2) und Änderung des Herzens werden“ (47). Auch hier wieder entwickelt Kant an den Grenzen der menschlichen Lebenswirklichkeit und der menschlichen Mçglichkeiten die Dimension eines Gottesverständnisses, das im Kern schöpfungstheologisch ist. Um ein authentisches humanes Selbstverständnis zu gewinnen, ist eine grundsätzliche „Umwandlung der Denkungsart“ nötig, die kreative, innovative „Gründung eines Charakters“. Kant radikalisiert nun neben der Dimension
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der Neuschçpfung die in diesem Kontext sinnkonstitutive Hoffnungsperspektive. Wir kçnnen uns den bergang und den Eintritt in ein authentisches Selbstverstndnis angesichts unserer Fehlbarkeit, Bedingtheit und Ambivalenz nicht selbst empirisch vorstellen und absichern. Wir können von diesem guten Selbstverständnis weder ein „unmittelbares Bewusstsein“ haben, noch kçnnen wir es durch einzelne Taten beweisen – alle diese pragmatischen Verfgbarkeitsvorstellungen erweisen sich negativ-anthropologisch und erkenntniskritisch als noch zu vordergrndig bzw. illusionr: „Weil die Tiefe des Herzens (der subjective erste Grund seiner Maximen) ihm [sc. dem Menschen, Th. R.] selbst unerforschlich ist“ (51). Mit diesen negativanthropologischen Analysen nimmt Kant tiefenhermeneutische und psychoanalytische Befunde des 20. Jahrhunderts vorweg. Aber er verbindet sie mit der Perspektive eines authentischen Lebensverständnisses und mit einer fundamental religiösen Orientierung. Angesichts seiner Fragilität muss der Mensch „hoffen können“, dennoch eine sinnvolle und gelingende Praxis zu vollbringen. Ein vernünftiges Verständnis der Orientierung an Gott in einem auf Hoffnung gründenden Lebensentwurf bedarf der entschiedenen und entschlossenen existentiellen Aneignung der Hoffnungsperspektive. Diese Aneignung, dieser „Sprung“ lässt sich empirisch nicht beobachten oder von außen feststellen, sondern er muss selbst vollzogen werden. Und weder „Schwrmerei“, noch „Aberglaube“, weder Erleuchtungsphantasien („Illuminatism“) noch magische Ersatzhandlungen („Thaumaturgie“) können diese bewusste Lebensentscheidung ersetzen (53). Den systematischen Konnex von Negativität und Selbsterkenntnis akzentuierend, kann Kant dialektisch pointiert formulieren, „das erste wahre Gute, was der Mensch thun kann, [ist] vom Bçsen auszugehen, welches nicht in den Neigungen, sondern in der verkehrten Maxime und also in der Freiheit selbst zu suchen ist“ (58, FN, hervorgehoben von mir, Th. R.). Auf dieser Grundlage interpretiert Kant die christliche Botschaft von der Menschwerdung Gottes als der „personificirte[n] Idee des guten Princips“; der Sohn Gottes „ist sofern kein erschaffenes Ding, sondern sein eingeborner Sohn, ,das Wort (das Werde!), durch welches alle andre Dinge sind, und ohne das nichts existiert, was gemacht ist‘ (denn um seinet-, d. i. des vernünftigen Wesens in der Welt, willen, so wie es seiner moralischen Bestimmung nach gedacht werden kann, ist alles gemacht.)“ – „,Er ist der Abglanz seiner Herrlichkeit!‘ – ,In ihm hat Gott die Welt geliebt‘, und nur in ihm und durch Annehmung seiner Gesinnung können wir hoffen, ,Kinder Gottes zu werden‘“ (60 f.).
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Es erfolgt bei Kant im Ansatz eine transzendental-praktische Reformulierung des Sinns der Botschaft von der Menschwerdung Gottes, der „Erniedrigung des Sohnes Gottes“ (61) und des Sinns der in diesem Zusammenhang fundamental dualistischen (gnostischen) Unterscheidungen von „Himmel“ und „Hölle“, Gut und Böse, Licht und Finsternis (60, FN). „Im praktischen Glauben an diesen Sohn Gottes […] kann nun der Mensch hoffen, Gott wohlgefällig (dadurch auch selig) zu werden“ (62). Die anthropologische Dimension der Theologie und der Gottesperspektive, wie sie in Kants Deutung der Christologie zum Ausdruck kommt, ist somit kein zufälliges historisches Phänomen der Religionsgeschichte; angesichts der existentiell-praktischen Verortung des Gottesverständnisses lässt sich diese anthropologische Dimension vielmehr als konstitutiv für dessen Sinn explizieren. Bisher ist klar, dass Kant ein authentisches Gottesverstndnis an den Grenzen eines unbedingten moralischen Selbstverstndnisses und an der konstitutiven Begrenztheit der menschlichen Selbsterkenntnis („Unerforschlichkeit“) verortet. Weil diese negativ-kritischen, transzendental-anthropologischen Grenzanalysen für ihn leitend sind, lässt sich Kants Theologie auch keineswegs als rationalistisch oder als funktionales Anhängsel der Moralphilosophie einordnen. Dazu hilfreich und wesentlich ist ein von Kant selbst herausgearbeitetes Konstituens. Es geht beim authentischen religiösen Selbstverständnis und Gottesverhältnis um Verstndnis und Ausrichtung des ganzen Lebens: „Denn das […] Princip der Gesinnung, wonach sein Leben beurteilt werden muss, ist (als etwas Übersinnliches) nicht von der Art, dass sein Dasein in Zeitabschnitte theilbar, sondern nur als absolute Einheit gedacht werden kann, und da wir auf die Gesinnung nur aus den Handlungen (als Erscheinungen derselben) schließen können, so wird das Leben zum Behuf dieser Schätzung nur als Zeiteinheit, d. i. als ein Ganzes, in Betrachtung kommen“ (70, FN). Die Analysen Kants zur Gottesfrage verbinden somit Negativität, Praxis und Freiheit mit der anthropologischen Grundfrage nach einem authentischen existentiellen Selbstverständnis, einem Verstndnis des ganzen Lebens, des Lebens im Ganzen angesichts dessen unverfügbarer Sinnbedingungen. Eine weitere, nicht preiszugebende Einsicht der Kantschen Analyse besteht in der prozessualen, dynamischen und kreativen Charakterisierung der Ausbildung des authentischen Selbstverstndnisses. „Die Sinnesänderung ist nämlich ein Ausgang vom Bçsen und ein Eintritt ins Gute, das Ablegen des alten und das Anziehen des neuen Menschen“, aber in dieser Wandlung
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„sind nicht zwei durch eine Zwischenzeit getrennte moralische Actus enthalten, sondern sie ist nur ein einiger, weil die Verlassung des Bçsen nur durch die gute Gesinnung, welche den Eingang ins Gute bewirkt, mçglich ist, und so umgekehrt“ (74, hervorgehoben von mir, Th. R.; vgl. Röm. 7 und 8). Anders gesagt: Einerseits ist der Schritt (bzw. Sprung) in ein – in einem anspruchsvollen Sinne – existentiell-praktisches, moralisch authentisches Lebensverständnis mit grundlegenden Erfahrungen und Einsichten verbunden, die einmal und definitiv wirken und prägen (sonst hätte noch keine Einsicht stattgefunden). Andererseits ist gerade so die existentielle Aneignung und Praktizierung der Konsequenzen dieser Einsicht ein lebenslanger Prozess mit vielen Aspekten und Facetten. Gerade wenn wir in kritischer Selbsterkenntnis ein auf Hoffnung gegründetes Selbstverständnis im Kantschen Sinne gewonnen haben, sind wir allererst in der Lage, uns auch selbst (wiederum fehlbar) praktisch zu beurteilen und z. B. Verfehlungen einzusehen und zu ihnen bewusst zu stehen. Ein „Gott wohlgefälliger Mensch zu sein“, ist „bei uns im Erdenleben (vielleicht auch in allen künftigen Zeiten und allen Welten) immer nur im bloßen Werden“ (75). In negativ-kritischer Absicht weist Kant die Möglichkeit und Tendenz einer Funktionalisierung der Gnade Gottes zur eigenen Selbstrechtfertigung ab: „Opium fürs Gewissen zu geben, ist Verschuldigung an ihm selbst“ (78, FN). Kants Zugriff gestattet eine existentiell-praktische Interpretation der Botschaft des Neuen Testaments und seiner Christologie. Die Rede von praktischen (moralischen) Ideen hat in dieser Rekonstruktion mithin gerade keinen ,idealistischen‘ Status. Es handelt sich nicht um bloße Worte oder Begriffe, mit denen wir uns prdikativ, unbeteiligt und von einer Beobachterposition aus auf vorhandene empirische Gegebenheiten beziehen. Ein verdinglichtes und objektivistisches Verstndnis von Ideen verkennt, dass diese auf praktische, existentielle Lebensformen nur hinweisen, ihr Leben also in konkreten Lebenssituationen und nur dort haben. Kant interpretiert das Johannes-Evangelium: Da das gute Prinzip „in einem wirklichen Menschen als einem Beispiel für alle anderen erschien, so kam er in sein Eigenthum, und die Seinen nahmen ihn nicht auf, denen aber, die ihn aufnahmen, hat er Macht gegeben, Gottes Kinder zu heißen, die an seinen Namen glauben‘; d. i. durch das Beispiel desselben (in der moralischen Idee) eröffnet er die Pforte der Freiheit für jedermann, die eben so wie er Allem dem absterben wollen, was sie zum Nachtheil der Sittlichkeit an das Erdenleben gefesselt hält“ (82). Der Geltungssinn der „Idee“ ist die existentiell-praktische Freiheitserçffnung. Kant zufolge muss authentischer, unentfremdeter, „seligmachender“ Glaube praktisch, und
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das heißt vor allem „ein freier […] Glaube“ sein. Die Menschwerdung Gottes eröffnet in Kants Sicht die existentiell-praktische Dimension wahrer, authentischer Freiheit. Und diese Dimension impliziert in der Konsequenz eine universale, weltgeschichtliche Hoffnungsperspektive auf wahre Freiheit für alle Menschen. Es ist daher nur konsequent, wenn Kant gegen faktische religiöse Fehlentwicklungen, gegen Aberglaube und Unmündigkeit eine „alle Menschen auf immer vereinigende[n] Kirche“ denkt, „die die sichtbare Vorstellung […] eines unsichtbaren Reiches Gottes auf Erden ausmacht“ (131 f.). „ ,Wenn kommt nun also das Reich Gottes?‘ – ,Das Reich Gottes kommt nicht in sichtbarer Gestalt. Man wird auch nicht sagen: siehe, hier oder da ist es. Denn sehet, das Reich Gottes ist inwendig in euch!‘ (Luc. 17, 21 bis 22)“ (136). Es sei festgehalten: Gerade die existentiell-praktische Interpretation dieser Rede vom Reich Gottes fhrt Kant weiter zu einer weltgeschichtlichen Hoffnungsperspektive der Befreiung der Menschen. Diese Perspektive wird durch die Rede von Gott notwendig erçffnet, ist in ihr geltungslogisch impliziert. Sie wird in ihrer eigentlichen Stärke als radikale Sinngrenzreflexion und Sinngrundreflexion auf die transpragmatischen und transethischen Bedingungen humanen Lebens verstanden. Die Rede von Gott hat in genau diesem Kontext ihren sinnvollen Sitz und Gebrauch. Dass dieser Zugriff berechtigt ist, zeigt sich auch in Kants Thematisierung des Geheimnisbegriffs. Während er eine (bis heute) verbreitete Vorstellung von religiösen Geheimnissen, die mit vagen Intuitionen und diffusen Gefühlen verbunden ist, als irrational zurückweist, kann er sinnkriterial ebenso authentische Geheimnisse aufweisen. Der Ansatz Kants ist hier insofern wegweisend, als der Zugang zum eigentlichen Geheimnis die alltägliche lebensweltliche Praxis ist: „So ist die Freiheit, eine Eigenschaft, die dem Menschen aus der Bestimmtheit seiner Willkür durch das unbedingte moralische Gesetz kund wird, kein Geheimniß, weil ihr Erkenntniß jedermann mitgetheilt werden kann; der uns unerforschliche Grund dieser Eigenschaft aber ist ein Geheimniß, weil er uns zur Erkenntniß nicht gegeben ist. Aber eben diese Freiheit ist auch allein dasjenige, was, wenn sie auf das letzte Objekt der praktischen Vernunft, die Realisierung der Idee des moralischen Endzwecks, angewandt wird, uns unvermeidlich auf heilige Geheimnisse führt“ (138, hervorgehoben von Th. R.). In der Linie Kants können wir demnach irrationale Scheinbzw. Pseudogeheimnisse von wirklichen, transrationalen, absoluten Geheimnissen unterscheiden, die sich als unerklärlich, unableitbar und unerforschlich im Wesentlichen negativ charakterisieren lassen. Sich zu absoluten, transrationalen Geheimnissen noch sinnvoll zu verhalten, das
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lässt sich als authentischer Geltungssinn meditativer, kultischer, ritueller, sakramentaler Praxis erweisen – auch über Kant hinaus. Kant verbindet sein praktisches Gottesverständnis mit einem negativen Geheimnisbegriff. Wenn der Mensch im Entwurf seines authentischen Lebens- und Weltverständnisses in die Hoffnungsperspektive eintritt, so „eröffnet sich vor ihm der Abgrund eines Geheimnisses von dem, was Gott hierbei thue“ (139). Hier gilt erkenntniskritisch, dass wir Gott nicht „an sich“ erkennen können, sondern nur in seiner Bedeutung für unser existentiell-praktisches Selbstverständnis. Eine konstitutive Sinnbedingung unseres authentischen Lebens ist die Unbedingtheit (und Unableitbarkeit) von (insbesondere praktischen) Geltungsansprüchen. Ohne sie gäbe es kein Gewissen, keine Verantwortung, keine ernsthaften und tragfähigen interexistentiellen Verhältnisse, ebenso kein authentisches (wahrhaftiges) Selbstverständnis. Auf der Linie seiner praktischen Rekonstruktion würdigt Kant die radikalisierte Ethik Jesu und setzt sie, wie dieser selbst, kirchen- und kultkritisch ein: „Die enge Pforte und der schmale Weg, der zum Leben führt, ist der des guten Lebenswandels; die weite Pforte und der breite Weg, den viele wandeln, ist die Kirche“ (160, FN). Kant übernimmt die radikalisierte Liebesbotschaft Jesu und richtet sie gegen den „Eigennutz“, den „Gott dieser Welt“. Der Vernunftglaube ist jedermann zugänglich: „Von dem Bösen, was im menschlichen Herzen liegt, und von dem Niemand frei ist, von der Unmöglichkeit, durch seinen Lebenswandel sich jemals vor Gott für gerechtfertigt zu halten, und gleichwohl der Nothwendigkeit einer solchen vor ihm gültigen Gerechtigkeit, von der Untauglichkeit des Ersatzmittels für die ermangelnde Rechtschaffenheit durch kirchliche Observanzen und fromme Frohndienste und dagegen der unerläßlichen Verbindlichkeit, ein neuer Mensch zu werden, kann sich ein jeder durch seine Vernunft überzeugen, und es gehört zur Religion, sich davon zu überzeugen.“ (163). Das innere, existentielle Selbstverständnis und die „Authenticität“ der praktischen Aneignung der Einsichten der Vernunftreligion gehen nach Kant allen statuarischen, doktrinalen, historischen und offenbarungsbezogenen Religionsformen voraus. Systematisch für unsere Gegenwart wieder besonders relevant ist in diesem Kontext seine Kritik des Religionswahns. Eine Usurpation und Funktionalisierung des Gottesglaubens im Sinne eines totalitären Fundamentalismus, im Sinne eines subjektiven Anspruchs und eines Mittels zum Zweck wird „ein praktischer Wahn“ (168 ff.). Die negativ-kritische Theologie einer absoluten Transzendenz
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steht gegen solche irrationalen Phantasien, die sich gewalttätig auswirken und gegen den „Anthropomorphism“, „denn da machen wir uns einen Gott“ (168). Der Ort des bersinnlichen ist unsere authentische Lebenspraxis und unser freiheitliches Selbstverständnis, und wir können diese existentielle Dimension der Transzendenz nicht vergegenständlichen und instrumentalisieren. Im Zentrum von Kants Vernunfttheologie steht der Grundsatz, dass Gott den Menschen zur Freiheit geschaffen hat, und dass somit Religion selbst als existentielle Praxis der Freiheit verstanden werden muss, die allein zur Moral und zur Liebe befähigt.
3. Unbedingter Sinn trotz Fehlbarkeit und Schuld Der gesamte kritische Ansatz Kants ist darauf gerichtet, Religion und Gottesglauben nicht als funktional, instrumentell, nicht als Substitut, Surrogat und Ersatzhandlung für authentische Praxis zu verstehen. Das unbedingte praktische Freiheitsverständnis begründet auch das Gottesverhältnis. Kants Rekonstruktion geht nicht auf in einem vordergründigen moralistischen, rationalistischen Standardmodell. Vielmehr fragt er zurück nach den transpragmatischen Sinnbedingungen aller unserer Praxis. Wir können diese Ebene der Sinnkonstitution über seine Analysen hinaus existential- und sprachanalytisch präzisieren und kritisch-hermeneutisch wie auch kulturphilosophisch weiter entwickeln, ohne hinter seine kritischen Einsichten zurückzufallen. Wir sind als endliche, leid-, schuld- und todbedrohte Wesen auf Sinn angelegt. Dies zeigt sich in aller menschlichen Praxis, somit auch in all ihren uns bekannten früheren Formen. Natürliche Katastrophen wie auch katastrophale moralische Übel prägen Geschichte und Gegenwart. In gebrochener, fragiler, durch Scheitern bedrohter Form sind uns Perspektiven der Vernunft, der Freiheit und des Guten eröffnet. In ihnen zeigt sich der – in Wahrheit unerklärliche – Sinn des Seins und unserer Existenz und ist uns real zugänglich. Dass dies für uns konkret nur in endlicher Form geschieht und geschehen kann, dass die Formen des Verlustes und des Scheiterns uns konkret drohen, gehört unlöslich zu unserer leiblichen Natur und zu unserer Freiheitsgeschichte. Eine eigenmächtige „Indienstnahme“ Gottes ist mit einem verfehlten Transzendenzverständnis verbunden. Es ist vielmehr umgekehrt: Weil ich unbedingten, mir unverfügbaren Sinn bereits erfahre, Sein des Sinns, der mich ermöglicht, darum darf und kann ich auch hoffen, angesichts der
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vielen Formen des Übels, des Bösen und der eigenen Fehlbarkeit, absolut und definitiv betrachtet, zu bestehen. Ich muss aber begreifen, dass diese transzendierende Hoffnung selbst Geschenkcharakter hat. Wir wissen, dass in den konkreten Leidsituationen billiger Trost unredlich ist. Die Formen der Solidarität, die uns möglich sind, eröffnen uns – wiederum endliche und begrenzte, aber gleichwohl unbedingte und unbedingt gebotene – Handlungsperspektiven. Eine „Rechtfertigung Gottes“ im Sinn einer theoretischen Demonstration, die „beweist“, alles Geschehen sei letztlich gut bzw. zu etwas gut, versucht, sich selbst missverstehende, szientistische Metaphysik zu betreiben. Nur eine vernunftkritische, selbstkritische Sinngrenzanalyse kann den Zusammenhang von Negativität und Sinn angemessen einsichtig machen. Dann wird erkennbar: Die ursprüngliche (unerklärliche) Eröffnung von Sinn in der – selbst unerklärlichen – Wirklichkeit der Freiheit in der humanen Welt ermöglicht Leiderfahrung sowie alle Formen des moralischen Bösen. Die Wirklichkeit von Leiden und Schuld lässt sich nicht nur nicht „erklären“ oder gar „wegerklären“ oder auch beschwichtigend schönreden. Es lässt sich erkennen: Wir leben letztlich von ungeschuldetem, unverfügbarem Sinn. Die einzigartige, prozesshafte Existenz des Kosmos, des Universums unter Einschluss der Existenz des Lebens der Menschheit und jedes einzelnen Individuums wird sich in uns selbst bewusst. Dieses einzigartige Wunder wird nicht geringer durch Leiden und Schuld. Nur eine oberflächliche Sicht kann das Böse „relativieren“ und so verharmlosen. Aber eine dstere Sicht der Welt im Sinne eines tragischen Pessimismus – so nahe sie aus verständlichen Gründen vielen Philosophen lag und liegt – ist der Vernunft und der unbedingten Sinndimension humanen Lebens unangemessen. Sie ist theoretisch unbegründbar, praktisch und existentiell irreführend und falsch. Wenn wir die abgründige Fehlbarkeit der Menschen und ihrer Leidensgeschichte – die niemand leugnen kann und darf – bewusst wahrnehmen, ist der Schritt zu Mitleid und Solidarität, wenn auch noch so schwach, schon vollzogen, und mithin eine – bereits implizite – Antizipation von Hilfe, Leidensminderung und auch des Lernens aus Verfehlung. Die urgeschichtliche Abkunft der menschlichen Natur begleitet uns weiter. Die abgründige Boshaftigkeit ist tief in uns angelegt, was immer wir tun und sagen, welche oberflächlichen Selbstbilder wir auch von uns entwerfen. Diese Tiefendimension wird in der Leidensanalyse des Buddhismus und bei Schopenhauer sowie in der christlichen Tradition und bei Kant – lange vor Freud – zu Recht ins Zentrum gerückt und ausgelotet. Noch die formal-strukturelle Analyse des jeweiligen „Verfallens“ in Heideggers Sein und Zeit zeigt etwas von
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der bei allen menschlichen Vollzügen unumgänglichen Vergegenständlichung in zeitlicher Endlichkeit, der wir eben nicht verhaftet bleiben dürfen, wenn wir zu unseren eigentlichen Möglichkeiten des guten Lebens finden und frei werden wollen. In der Bibel und in der Dichtung, vor allem in der Tragödie wird durch Erzählungen und Dramatisierungen vergegenwärtigt, was wir auch philosophisch begreifen müssen: die zeitlich-endliche Augenblicklichkeit unseres Handelns (es ist immer „jetzt“!), die unauslotbare Entzogenheit des eigenen Inneren bei aller Selbstmächtigkeit, die leibliche und seelische Fragilität und Verletzlichkeit des Menschen, die alle Menschen einende Kreatürlichkeit. Die lebendige personale Existenz eines Menschen bildet sich im Medium der Irreversibilität und Unabsehbarkeit seines Handelns. Sinnkonstitutiv fr personales Handeln ist gerade, dass es in seinem potentiellen Charakter keine Sicherheit und Konstanz bietet. Es ist theoretisch unmöglich, sich handelnd auf die Handlungen Anderer zu verlassen – ohne praktisches Vertrauen aber gibt es schlechterdings keine humane Welt. Ein jeder, der handelt, läuft faktisch notwendig Gefahr, zu scheitern oder Unrecht zu begehen. Das Ergebnis können wir erst im Nachhinein wissen. Hannah Arendt hat besonders deutlich herausgearbeitet, dass deshalb unsere ganze humane Handlungswelt im Kern auf Versprechen und Vergeben beruht. Es gilt daher für die Konstitution der Moralität: Unsere Fähigkeit, wechselseitig zu vergeben, ermöglicht und eröffnet allererst unsere praktische Freiheit und das menschliche Zusammenleben. Hannah Arendt weist in ihrem Hauptwerk Vita activa darauf hin, dass das Vergeben kaum je theoretisch untersucht wurde und nur in den Lehren Jesu eine zentrale Rolle einnimmt.11 Die Realitt des Bçsen ist mit der Selbstbewusstwerdung des Menschen ursprnglich verbunden; ohne diesen reflexiven Status des radikalen Bösen, ohne die reale Dimension fundamentaler Fehlbarkeit lässt sich Moralität nicht begreifen. Die Erfahrung von Schuld, Gewissensangst und Zweifel gehört zur Konstitution personaler moralischer Identität. Deswegen ist das böse Handeln, recht verstanden, selbst schon die Strafe, denn wir büßen durch dieses Handeln die uns eröffnete unbedingte Sinnperspektive ein. In dieser Perspektive hat Thomas von Aquin formuliert: „Es ist der Irrtum derer auszuschließen, die aus den Übeln in der Welt folgern, dass Gott nicht ist. […] Sie fragen: Wenn Gott ist, woher dann das Übel? (si deus est, unde malum?). Aber man muss sagen: Wenn es das Übel gibt, dann gibt es Gott (si malum est, deus est). Denn das Übel wäre nicht, 11 Hannah Arendt, Vita activa oder von ttigen Leben, München 1981, §33, 231 – 238.
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wenn die Ordnung des Guten nicht bestünde, dessen Beraubung das Übel ist. Diese Ordnung aber wäre nicht, wenn Gott nicht wäre.“12 Betrachten wir die katastrophischen Ereignisse der Weltgeschichte (nicht nur des 20. Jahrhunderts), so könnten wir auch zu der Einsicht gelangen, dass das böse Tun über kurz oder lang an sich selbst zugrunde geht. Dass es indirekt auch Gutes bewirkt (im Sinne von Hegels „Macht der Negativität“ und „List der Vernunft“), stimmt zwar, sollte aber nicht wie ein Funktionsmechanismus angesehen werden. Die Erfahrungen, die mit Leid und Schuld verbunden sind, sind für uns unverzichtbar, gerade weil das Schreckliche und Fürchterliche weder verkleinert noch relativiert werden kann und darf. Je größer unsere Erkenntnis und Einsicht in die Natur des Bçsen wird, desto unumstößlicher und gewisser wird für uns die Einsicht in den unbedingten, absoluten Wert des Guten werden können. Kant spricht in Bezug auf die Hiob-Geschichte der Bibel von einer „authentischen Theodizee“, gerade weil der leidende Hiob alle gut gemeinten, aber oberflächlich bleibenden „Erklärungen“ seiner Freunde zurückweist.13 Da Gutes und unbedingter Sinn uns in ihrer irreduziblen, lebenstragenden und auch gewissmachenden, bergenden Bedeutung vernnftig zugnglich und erschlossen sind – ebenso wie Freiheit und Wahrheit – ist das Bçse bereits als nur scheinhaft mchtig durchschaubar, so zerstçrerisch-machtvoll es sich auch in der Wirklichkeit der Welt aufspreizt. Es ist somit im Ansatz bereits berwunden und weiter zu berwinden. Es wäre somit auch eine spekulativirreführende und illusionäre Vorstellung von der Allmacht Gottes, als bestünde sie in einem kausalistisch objektivierbaren „Eingreifen“ in konkrete einzelne Geschehnisse und Handlungszusammenhänge. Absolute Transzendenz in ihrer Totalität besagt, dass alles Gottes Sein ausmacht, unter Einschluss unserer Freiheits- und Vernunftgeschichte. Die Allmacht Gottes zeigt sich indirekt gerade im Scheitern des Guten und der Liebe, die dennoch ihren unbedingten, absoluten Wert behalten. Das gilt auch für die weltgeschichtliche Perspektive. Eine Gottesvorstellung, die einen „Determinismus zum Guten“ denkt, würde die humane Welt zerstören. Bezüglich künftiger Entwicklungen ist unser Handeln unüberbietbar auf Hoffnung gestellt. Die Garantielosigkeit des Gelingens betrifft nämlich gemäß klarer Analyse alle unsere Handlungen – in jedem Augenblick. 12 Thomas von Aquin, Summa contra gentiles, Darmstadt 2001, III 71. 13 Immanuel Kant, ber das Mißlingen aller philosophischer Versuche in der Theodizee, in: Kants gesammelte Schriften, Akademie-Textausgabe Bd. VIII, Berlin 1968, 255 – 271.
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Dass es unbedingten Sinn gibt und dass wir von ihm, durch ihn und in ihm leben, besagt eben nicht, dass „alles sinnvoll“, „alles gut“ ist auf eine vordergründig evidente Weise. In den religiösen, jüdischen Weisheitstraditionen wird die authentische Theodizee, der Hinweis auf die irreduzible Einzigartigkeit unbedingten Sinns positiv so artikuliert, dass das göttliche Gericht dadurch noch aufgehalten wird, solange sich noch einige wenige Gerechte in der Stadt bzw. im Volk befinden. Auch auf die Welt wird diese Weisheitslehre bezogen: Sie bleibt noch solange erhalten, wie einige Gerechte in ihr leben. Das Unbedingte ist eben nicht quantifizierbar. Im ganz profanen Blick auf die Gräuel des 20. Jahrhunderts kann die praktisch-vernünftige Urteilskraft nicht umhin, Trost und Bestätigung aus dem Faktum der tätigen Hilfe, Solidarität und Nächstenliebe auch unter den widerwärtigsten Bedingungen der Vernichtungslager zu empfangen. Würde die Welt nicht existieren, so gäbe es diese Wirklichkeit der Liebe nicht – Gott wäre, spekulativ gesprochen, mit sich allein geblieben. Keinesfalls können wir diejenigen leichtfertig verurteilen, die die Kraft zur Liebe nicht hatten – wir wissen nicht, wie wir gehandelt hätten. Auf karge, aber tragfähige Weise haben Kant und Wittgenstein diese Gedanken formuliert. Kant sagt in seinen Vorlesungen zur Religionslehre: „Die Entsagung (Resignation) in Ansehung des göttlichen Willens ist unsere Pflicht. Wir entsagen unserem Willen, und überlassen etwas einem anderen, der es besser versteht und es mit uns gut meint. Folglich haben wir Ursache, Gott alles zu übergeben, und den göttlichen Willen schalten zu lassen; das heißt aber nicht: Wir sollen nichts tun und Gott alles tun lassen, sondern wir sollten das, was nicht in unserer Gewalt steht, Gott abgeben, und das unsrige, was in unserer Gewalt steht, tun. Und dies ist die Ergebung in den göttlichen Willen.“14 Der frühe Wittgenstein schreibt, dass Gott das ist, dass und wie alles geschieht und das, was wir tun sollen – dies zusammengenommen. Zu Drury bemerkt er: „We are not here in order to have a good time.“15 Dass die Sinngrenzanalyse auch bei dieser Thematik wieder zur Sinngrundanalyse führt, kann noch mit einem Argument von Christian Illies verdeutlicht werden. Er legt dar, dass die Erkenntnisgrenze im Blick auf das Gute des Bösen, die Unversöhnlichkeit des Bösen mit seiner 14 Immanuel Kant, Vorlesungen ber Moralphilosophie, in: Kants gesammelte Schriften, Akademie-Textausgabe Bd. 27.1, Berlin 1974, 320. 15 Maurice O’Connor Drury, „Some Notes on Conversations with Wittgenstein“, in: Rush Rhees (Hg.), Ludwig Wittgenstein. Personal Recollections, Oxford 1984,88.
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Vorstellung als notwendiges Mittel zum Guten selbst etwas Positives ist. Denn von uns muss das Böse stets als ein absolut zu Vermeidendes erkannt werden. Es wäre nicht gut für uns, wenn wir – aus einer übergeordneten Perspektive – wüssten, wozu das Böse (letztlich) doch gut sein mag. Das Nichtwissen ist auch hier lebensermöglichend und lebenstragend. Deswegen ist es auch Mephisto, eine diabolische Gestalt, die sagen kann, er sei „[e]in Teil von jener Kraft, Die stets das Böse will und stets das Gute schafft.“16
4. Fazit: Religion als Tiefenaufklärung Folgendes sollte deutlich werden: Erstens: Angesichts der gegenwärtig zu konstatierenden, begrüßenswerten Neubelebung der philosophischen Diskussion um Böses und Sünde gilt es, sowohl ihrer Verdrängung und „Hinwegerklärung“ als auch ihrer ideologischen Mythisierung und Funktionalisierung, ihrer scheinhaften Aufblähung zu wehren. Zweitens: Angesichts Kants kritischer Grenzreflexion lässt sich zeigen, dass Böses und Sünde zu den notwendigen transethischen Möglichkeitsund mithin Sinnbedingungen aller unserer Freiheitspraxis gehören. Ambivalenz, Fragilität, kurz Negativität gehören ebenso sinnkonstitutiv zu diesen Bedingungen wie Glaube, Liebe und Hoffnung. Diese Aspekte müssen bei aller Unbedingtheit auch gradualistisch verstanden werden. Daher muss einerseits ein tiefgreifender, grundlegender definitiver Wandel des Selbstverständnisses erfolgen, der zum praktischen Glauben führt: ein neuer Mensch werden – entsprechend der creatio ex nihilo. Andererseits ist – taoistisch formuliert – der Weg das Ziel. Das heißt: Das Leben als Ganzes muss immer wieder neu werden (creatio continua; Bezug auf Röm. 7; 8). So wird die Freiheitsdimension in der Perspektive des Reiches Gottes „inwendig in euch“ (Lk 17, 21 f.) trotz aller Fehlbarkeit existentiell wie auch weltgeschichtlich eröffnet und erschlossen. Drittens: Wenn die Analyse Kants (in unserer Interpretation) zutrifft, dann ermöglicht unbedingter Sinn (religiös gesagt: Gott) trotz, ja gerade angesichts von Fehlbarkeit und Schuld in Wahrheit all unsere Praxis. Deswegen sind Versprechen, Vertrauen, Verzeihen und Vergeben an den 16 Christian Illies, „Theodizee der Theodizeelosigkeit. Erwiderung auf einen vermeintlichen Einwand gegen jede Verteidigung des Welturhebers angesichts des Bösen in der Welt“, in: Philosophisches Jahrbuch, 2000, Nr. 2, 410 – 428.
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Grenzen unseres Handelns wesentlicher Grund (Ermöglichungsgrund) dieses Handelns. Und ohne das Bewusstsein des stets möglichen praktischen Scheiterns, der Fehlbarkeit, also des Bösen und der Sünde ist Selbsterkenntnis hinsichtlich einer wesentlichen Tiefendimension unserer Existenz nicht möglich. Die religiöse Bewusstmachung des Bösen und der Sünde lässt sich so als existentielle Aufklrung begreifen. Das betrifft einen wesentlichen Kern der Botschaft Jesu und des Apostels Paulus. Genauerhin lässt sich aus philosophischer Sicht Religion, in unserem Kontext: die christliche Rede von der Sünde und Gnade in ihren authentischen, irreduziblen und sowohl säkularisierungsermöglichenden wie säkularisierungsresistenten Kerngehalten als eine radikale Form von Aufklärung, in meiner Terminologie: als Tiefenaufklrung über die unverfügbaren Sinnbedingungen des menschlichen Welt- und Selbstverhältnisses hermeneutisch verstehen und existentiell begreifen. Somit sind auch in meinem Ansatz Verstehen und Glauben eng verbunden.
Hegels Gott Der anthropo-theo-logische Grundgedanke der Hegelschen Reflexion, von dem her die metaphysischen und theologischen Systemelemente der Wissenschaft der Logik verständlich werden, erschließt sich am deutlichsten von der entfalteten Religionsphilosophie und deren konstitutionstheoretischen, anthropologischen und sprachphilosophischen Aspekten aus. Was die Logik begriffsanalytisch als die konstitutive Form vernünftiger Weltorientierung in der Vermitteltheit von Allgemeinem, Besonderem und Einzelnem herausarbeitet, das ist Hegel zufolge auch der wahre Kern der rational verstandenen christlichen Theologie, insbesondere der Trinitätstheologie, der Sündentheologie und der Inkarnationstheologie. Deren anthropologischer Sinn steht im Zentrum der Vorlesungen zur Philosophie der Religion: Mit dem Christentum geschieht die „wahrhafte Aufnahme der Endlichkeit in das Allgemeine“, „die von Seiten des Menschen vollbracht werden musste“. Der jüdische Monotheismus besaß das „orientalische Prinzip der reinen Abstraktion“, „die ganz abstrakte Anschauung des Einen fr sich“. Es ist deshalb „die Religion des abstrakten Schmerzes, des einen Herrn, gegen und in dessen Abstraktion sich deswegen die Wirklichkeit des Lebens als der unendliche Eigensinn des Selbstbewusstseins erhält und zugleich in die Abstraktion zusammengebunden ist“ (17, 183).1 Das „Eine“, das hier als das Prinzip der reinen Abstraktion erscheint, können wir als die Einheit und Gesamtheit der sinnkonstitutiven Voraussetzungen der menschlichen Lebenssituation, als die menschliche Grundsituation verstehen. Die Einsicht in die Binnendifferenziertheit von Sinnkonstitution überhaupt wird mit Hegel religionsgeschichtlich eigentlich erst mit der Trinitätstheologie erreicht: 1
Hegel wird zitiert nach der Theorie-Werkausgabe, 20 Bde., Frankfurt a.M. 1986, hg. v. Eva Moldenhauer/ Karl Markus Michel. Die Zahlen in Klammern beziehen sich auf Bandzahl und Seite. Zitiert wird aus den Bänden 6 (Wissenschaft der Logik II), 10 (Enzyklopdie III), 12 (Philosophie der Geschichte) und 17 (Philosophie der Religion II); vgl. zum Thema auch: Thomas Rentsch, „Negativität und Vermittlung. Hegels Anthropo-Theo-Logik“, in: ders., Negativitt und praktische Vernunft, Frankfurt a.M. 2000, 213 – 251.
Hegels Gott
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Der abstrakte Gott, der Vater, ist das Allgemeine, die ewige, umfangende totale Besonderheit. Wir sind auf der Stufe des Geistes: das Allgemeine schließt hier alles in sich. Das Andere, der Sohn, ist die unendliche Besonderheit, die Erscheinung; das Dritte, der Geist, ist die Einzelheit als solche, aber das Allgemeine als Totalitt ist selbst Geist, – alle drei sind der Geist (17, 234).
Der „Geist“ ist bei Hegel der Titel für die begriffliche Form der vernünftigen Sinnkonstitution für endliche und freie, menschliche Wesen: Der Geist ist […] in den drei Formen […] zu betrachten, in die er sich setzt. Diese drei […] Formen sind: das ewige In- und Bei-sichsein, die Form der Allgemeinheit; die Form der Erscheinung, die der Partikularisation; das Sein für Anderes; die Form der Rückkehr aus der Erscheinung in sich selbst, die absolute Einzelheit. In diesen drei Formen expliziert sich die göttliche Idee. Geist ist die göttliche Geschichte, der Prozess des Sichunterscheidens, Dirimierens und dies Insichzurücknehmens (17, 214).
Hegel analogisiert mithin die logische Struktur der zeitlich-endlich geschehenden prädikativen Synthesis im Urteil mit der internen Differenziertheit der göttlichen Dreieinigkeit. Die interne Komplexität des sprachlichen Handelns ist nach ihm das offenbare Geheimnis der trinitarischen Konstitution des „ewigen Logos“. Es ist daher möglich, der Theologie Hegels einen anthropologisch-sprachpragmatischen Sinn zu geben. Versuchen wir, seinen – in verschiedenen Varianten wiederkehrenden – Grundgedanken zu reformulieren. 1. Gedachte, in der erinnernden, nachträglichen philosophischen Reflexion fingierte Anfangssitutation möglicher menschlicher Orientierung (möglicher Aktivität des „Geistes“) ist die noch unbestimmte Totalitt, die Gesamtheit aller möglichen Unterscheidungen, der Inbegriff alles Existierenden. Diese abstrakte, allgemeine Totalität ist der alles Besondere und alles Einzelne umgreifende, selbst nicht zu vergegenständlichende Horizont, in welchem die Differenzierung stattfindet und der selbst über alle Differenzierung immer schon hinaus ist. Wir können sie auch als die noch ungegliederte Welt verstehen. Als Grundsituation möglicher menschlicher Orientierung können wir die Totalität als die unendliche Gesamtheit möglicher Prädikationshandlungen interpretieren, als den offenen Raum, in dem begriffliche Differenzierungen überhaupt ermöglicht sind. Als Sinnkonstituens möglicher Orientierungen gehört die Totalität zur Ebene des Geistes im Hegelschen Verständnis. 2. Mögliche menschliche Orientierung kann nur erfolgen, wenn diese noch unbestimmte Totalität eine Besonderung ihre Aspekte, eine
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interne Gliederung erfährt. Mit einer solchen Besonderung und Gliederung setzen sich Allgemeines und Besonderes, Subjekt und Objekt. Ich und Nicht-Ich, Gesamtsituation und besondere Situation auseinander. In diesen möglichen Gliederungen, Setzungen, Differenzierungen und Negationen aktualisiert sich begrifflich die menschliche Freiheit. Durch sie vermittelt erfolgt die Welt- und Selbstkonstitution. Sie geschieht vermittels allgemeiner, aber notwendig auch besonderer Prädikate in besonderen Sprach- und Handlungssituationen. „Im Begriffe hat sich daher das Reich der Freiheit eröffnet“ (6, 251). 3. Schließlich beziehen sich die Prädikations- und Gliederungshandlungen mit einzelnen Stzen auf einzelne Individuen in einzelnen Situationen. Indem sie dies tun, beziehen sie sich zugleich wiederum auf das Ganze, das Gesamt möglicher Differenzierungen. Sie beziehen sich holistisch auf die Totalitt der menschlichen Praxis und ihrer Geschichte zurück. Diese selbst ,allgemeine‘, universale Form möglicher Sinnkonstitution ermöglicht Wahrheit: sie ermöglicht Orientierungen durch wahre und falsche Sätze. Die Form möglicher Sinnkonstitution, in Hegels Terminologie der Geist, „ist ein logisches Wesen, ist denkende Tätigkeit“ (17, 201 f.). Auf der logischen Ebene, im Begriff, zeigt sich so die menschliche Freiheit als die Freiheit zu prädikativen Differenzierungen, Negationen und Synthesen. Die logischen Formaspekte sprachlicher Sinnkonstitution, Allgemeinheit, Besonderheit und Einzelheit, die Hegel als „Explikation der göttlichen Idee“ bezeichnet und mit den „Personen“ der Trinität gleichsetzt, werden von ihm ebenso zur Unterscheidung von Formen des Urteils, syllogistischen Formen, aber auch der Formaspekte der Subjektivität, des vernünftigen Selbstbewusstseins und seiner Reflexivität herangezogen. Systematisch bestimmend und rational nachvollziehbar sind an Hegels Interpretationsweise dabei die logisch-formalen Übersetzungen religiöser (biblischer) und theologischer Rede, insbesondere dort, wo sie an die Johanneische Logos-Theologie anknüpft: Gott ist […] der Geist. Dieser Begriff ist nun [sc. im Christentum, Th. R.] realisiert, das Bewußtsein weiß diesen Inhalt, und in diesem Inhalt weiß es sich schlechthin verflochten: in dem Begriff, der der Prozess Gottes ist, ist es selbst Moment. […] Das ist die vollendete Religion, der sich objektiv gewordene Begriff. Hier ist es offenbar, was Gott ist; er ist nicht mehr ein Jenseits, ein Unbekanntes, denn er hat den Menschen kundgetan, was er ist, und nicht bloß in einer äußerlichen Geschichte, sondern im Bewußtsein.
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Wir haben also hier die Religion der Manifestation Gottes, indem Gott sich im endlichen Geiste weiß (17, 187).
Gott ist Logos, Wort; er ist Begriff: das ist der Kern der Hegelschen Anthropo-Theo-Logik. Gott ist insbesondere der sich im Menschen allererst selbst begreifende Begriff. Wenn Hegel sagt: Die Religion ist der Ort, wo ein Volk sich die Definition dessen gibt, was es für das Wahre hält. Definition enthält alles, was zur Wesentlichkeit des Gegenstandes gehört, worin seine Natur auf einfache Grundbestimmtheit zurückgebracht ist als Spiegel für alle Bestimmtheit, die allgemeine Seele alles Besonderen. Die Vorstellung von Gott macht somit die allgemeine Grundlage eines Volkes aus (12, 70).
so impliziert seine Interpretation bereits die späteren linkshegelianischen Projektions- und Depotenzierungstheorien. Allerdings impliziert er sie nicht mit dem ideologiekritischen Pathos der Entlarvung, sondern mit der Emphase der Freilegung authentischer Wahrheit, einer Wahrheit, die partial bereits in den nichtchristlichen Vorgestalten des religiösen Bewusstseins erscheint. Die emphatische Bedeutung und Gewichtung, die die logisch-strukturellen Übersetzungen religiöser oder theologischer Rede gerade als Übersetzungen von Kernbeständen christlicher Rede von Gott erhalten, wird erkenntnis- und sprachanthropologisch dadurch von Hegel gedeckt, dass sie die Struktur des lebendigen Geistes wiedergeben. Was die Tradition als „Gott“ bezeichnete, das genau können wir in der WdL als die vernünftige Grundform möglicher Sinnkonstitution in ihrer begrifflichen Binnenstruktur selbst begreifen. Der so begriffene Geist ist der Ort möglicher Einheit (von Bedeutungen, Sätzen, Urteilen), der Ort möglicher Wahrheit (von Aussagen, Behauptungen, Schlüssen), schließlich die ausgezeichnete Weise freier, d. h. selbstbestimmter und selber bestimmender Praxis. Es bestätigt sich somit in Hegels Anthropo-Theo-Logik der Zusammenhang von existentieller Negativität (Unbestimmtheit, unbestimmter Totalität), Sprache (prädikativer Bestimmtheit) und Freiheit (Möglichkeit von Prädikations- und Negationshandlungen). Der Mensch ist „der existierende Begriff“ (6, 481); die logischen Formen des Begriffs: Allgemeinheit, Besonderheit und Einzelheit sind auch die möglichen Formen seines Selbst- und Weltverständnisses. Die „Form Gottes“ wird als die dreifaltige Form der sprachlichen Weltorientierung verstanden, und so als die Form des lebendigen menschlichen Geistes. Hegel kann deshalb seine Anthropo-Theo-Logik zusammenfassen, indem er sagt, dass der Stoff, welcher den Inhalt des Begriffs von Gott ausmacht, „der Geist“
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ist, „dessen absolute Bestimmung die wirksame Vernunft, d. i. der sich bestimmende und realisierende Begriff selbst, – die Freiheit ist“ (10, 354). Damit bestätigt sich die These Karl Löwiths, „der wesentliche Gedanke Hegels“ in der Religionsphilosophie sei „die Explikation des logischen Wesens Gottes“.2 Diese säkularisierte, entmythisierte Sichtweise des Kerngehaltes der religiösen Überlieferung erstreckt Hegel sowohl auf die gesamte Religionsgeschichte als auch auf die christliche Dogmatik. Der logisch-fundamentalanthropologischen Interpretation der Trinität als der grundlegenden Form der Sinnkonstitution und der Möglichkeitsbedingung der voll entfalteten menschlichen Subjektivität entsprechen auch seine Deutungen des Wunderverständnisses, des Sündenfalles und der Unsterblichkeit. Alle religiçsen Vorstellungen und mythischen Anschauungen sowie die theologisch-transzendenten Aussagen der Dogmatik werden in philosophische Analysen und Feststellungen ber die begriffliche Konstitution des menschlichen Selbst- und Weltverstndnisses berfhrt bzw. selbst als solche gedeutet. Das wahrhafte Wunder kann somit nur die Konstitution des Geistes (das Gesamt der Möglichkeitsbedingungen von Freiheit und Wahrheit) sein: Das wahrhafte Wunder in der Natur ist die Erscheinung des Geistes, und die wahrhafte Erscheinung des Geistes ist in gründlicher Weise der Geist des Menschen und sein Bewußtsein von der Vernunft der Natur, daß in dieser Zerstreuung und zufälligen Mannigfaltigkeit durchaus Gesetzmäßigkeit und Vernunft ist (17, 63).
Dass die Wahrheit des Christentums als der absoluten Religion im Kern die Wahrheit über die grundsätzliche Situation des Menschen ist, zeigt auch Hegels Interpretation der Geschichte vom Sündenfall und seine begriffliche Analyse der Theologie der Snde: „Es ist Adam oder der Mensch überhaupt, der in dieser Geschichte erscheint; es betrifft, was hier erzählt wird, die Natur des Menschen selbst, und es ist nicht ein formelles, kindisches Gebot, das Gott ihm auferlegt, sondern es heißt der Baum, von dem Adam nicht essen soll, der Baum der Erkenntnis des Guten und des Bösen, – da fällt die Äußerlichkeit und die Form eines Baumes hinweg“ (17, 76). 2
Karl Löwith, „Diskussionsbeitrag zu: Reinhart Heede, Hegel-Bilanz: Hegels Religionsphilosophie als Aufgabe und als Problem der Forschung“, in: Reinhart Heede/Joachim Ritter (Hg.), Hegel-Bilanz. Zur Aktualitt und Inaktualitt der Philosophie Hegels, Frankfurt a.M. 1973, 41 – 99, dort 92.
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Der entmythisierte Sinn der Urgeschichte besteht in dem konstitutiven Zusammenhang von Selbstbewusstsein, endlicher Freiheit und Bösem: Der Mensch isst davon, und er kommt zur Erkenntnis des Guten und des Bösen. […] Die Erkenntnis, das Wissen ist dieses doppelseitig, gefährliche Geschenk: der Geist ist frei; dieser Freiheit ist das Gute wie das Böse anheimgestellt: es liegt darin ebenso die Willkür, das Böse zu tun; dies ist die negative Seite an jener affirmativen Seite der Freiheit. Der Mensch, heißt es, sei im Zustande der Unschuld gewesen: dies ist überhaupt der Zustand des natürlichen Bewußtseins: er muss aufgehoben werden, sobald das Bewußtsein des Geistes überhaupt eintritt. Das ist die ewige Geschichte und die Natur des Menschen (17, 76).
Diese Transformation von Mythologie in anthropologische Konstitutionsanalyse nimmt die Methode der existentialen Interpretation und der Entmythologisierung vorweg, wie sie im 20. Jahrhundert von Rudolf Bultmann und seiner Schule entwickelt wurde. Hegel sagt: „In der ganzen bildlichen Darstellung ist das, was innerlich ist, als äußerlich, was notwendig, als zufällig ausgesprochen“ (17,76 f.). Was „innerlich“ ist, was also zu der begrifflichen Konstitution der menschlichen Situation gehört und deshalb „notwendig“ für das Menschsein ist, das wird als „äußerlich“, d. h. narrativ, in Bildern objektiviert und deshalb als „zufällig“ dargestellt. Die kommunikative Selbstkonstitution von Subjektivität durch sprachliche Unterscheidungspraxis auf dem Grund existentieller Negativität (Freiheit) ist zugleich Möglichkeitsbedingung des Guten wie des Bösen. Die mythische Sündenfallgeschichte ist „die auseinandergelegte Geschichte dessen, was der Mensch ist“ (17, 256). Der Mythos muss narrativ veranschaulichen, was als transzendentale Konstitutionsbedingung der menschlichen Selbst- und Weltkonstitution gleichursprünglich miteinander ist: die unableitbare Freiheit zur Selbst- und Weltkonstitution; die Notwendigkeit zu handeln, sich zu entäußern und zu vergegenständlichen; die ständige Möglichkeit der Entfremdung und Selbstverfehlung auf dem Grunde dieser Entzweiung. Damit ist die christliche Hamartiologie philosophisch in die Konstitutionsanalyse von Möglichkeitsbedingungen reflexiver Subjektivität transformiert. Der gesamte Komplex der Reden von der „Menschwerdung Gottes“, vom „Tod Gottes“, von der „Auferstehung“, von der „Unsterblichkeit“ und von der „Versöhnung“ wird von Hegel konsequent in die begrifflichen Analysen seiner Anthropo-Theo-Logik einbezogen. Theologisch gesprochen entfaltet Hegel eine integrale Pneumatologie, wobei der „Geist“ der Titel für die Totalität der Sinnbedingungen menschlicher Orientierung gemäß Hegels
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Analyse in der WdL ist: die absolute Vermittlung von Allgemeinem, Besonderem und Einzelnem, „Vater“, „Sohn“ und (heiligem) „Geist“; „und diese unendliche Vermittlung hat die objective Gestalt – Daseyn Leiden und Sterben, und Erhöhung Christi“. Die entmythologisierte, anthropologische Interpretationsweise Hegels tritt auch hier eindeutig zutage: Christus gehört dem menschlichen Geschlecht an; dieses ist sein Stamm. Christus ist auch der Sohn Gottes; den wahren Sinn dieses Ausdrucks, die Wahrheit der Idee […] kann man auch wegexegesieren, sagen: alle Menschenkinder seien Kinder Gottes oder sollen sich selbst zu Kindern Gottes machen und dgl. (17, 285).
Der etwas harte Ausdruck „wegexegesieren“ artikuliert unmissverständlich Hegels Bestreben, den rationalen, begrifflichen Kern der christlichen Rede herauszuarbeiten. Die Christologie ist so „die Darstellung der göttlichen Idee an seinem Leben und Schicksal; Was […] Gott an und für sich ist, das haben wir [sc. In dieser Darstellung, Th. R.] gesehen: er ist dieser Lebensverlauf, die Dreieinigkeit, worin das Allgemeine sich sich selbst gegenüberstellt und darin identisch mit sich ist“ (17, 287). Der für die philosophisch-begriffliche Analyse allererst zutage tretende, überlegene Wahrheitsgehalt des Christentums besteht für Hegel eben darin, dass „der ganze trinitarische Gott als Mensch da ist“. Der „wirklich Daseiende trinitarische Sohn ist das menschliche Subjekt, weil es als Geist nicht anders ist als die Gegenwärtigkeit jenes Ganzen“.3 Die Christologie ist für Hegel die religionsgeschichtlich radikale Form der Wahrheit, die seine Anthropo-Theo-Logik philosophischbegrifflich zu artikulieren sucht: Das Allgemeine, Universale, das UnEndliche, die ,Idee‘ als ,Form‘ und damit die Totalität – sie können und mssen daher einzig in der Besonderung, partikular, in der Endlichkeit und so inhaltlich konkretisiert erscheinen. Gott ist der Geist; er ist in abstrakter Bestimmung so bestimmt als der allgemeine Geist, der sich besondert; dies ist die absolute Wahrheit, und die Religion ist die Wahre, die diesen Inhalt hat (17, 211). Die Wahrheit ist die Enthüllung dessen, was der Geist an und für sich ist; der Mensch ist selbst Geist (17, 222). 3
So zu Recht Herbert Huber, Idealismus und Trinitt, Pantheon und Gçtterdmmerung. Grundlagen und Grundzge der Lehre von Gott nach dem Manuskript Hegels zur Religionsphilosophie, Weinheim 1984, dort 145.
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Mit drei Thesen will ich meinen Beitrag zu Hegels Gottesverständnis abschließen. Sie sind historisch, systematisch und kritisch ausgerichtet. Zunächst muss klar herausgestellt werden, dass es mir um den Kern des Wahrheits- und Geltungsanspruchs von Hegels philosophischer Theologie geht. Was ist das eigentlich Zukunftsweisende in Hegels Ansatz? Was können wir heute noch bzw. wieder von Hegel lernen? Was Hegel leistet, ist eine begriffliche Rekonstruktion des Gottseins Gottes, eine logische Rekonstruktion des Absoluten und das heißt, eine begrifflich-logische Rekonstruktion des Grundes allen Sinns, des Grundes aller Sinnkonstitution. Diese Rekonstruktion schließt als philosophische (nicht religiöse!) die des Wesens des Absoluten als des Grundes der Vernunft mit ein. Hegel leistet eine begriffliche Rekonstruktion des Seins und des Wesens Gottes als des Grundes der Welt, des menschlichen Geistes und der Vernunft, traditionell gesprochen: des Logos. Mit diesem Ansatz – und das ist die historische These – steht Hegel in der Tradition der (von ihm ja auch rekonstruierten) Genesis der okzidentalen Rationalität von Platon und Aristoteles über Plotin und die mittelalterliche Onto-Theo-Logik bis zu Kant. Sie bildet bei allen Divergenzen und Differenzen eine vorgängige Einheit, einen übergreifenden Geltungskontext. Metaphysik ist in diesem Geltungskontext, modern formuliert, kein theoretisch-einzelwissenschaftliches, gleichsam szientifisches Unternehmen – als ein solches wird sie ja von Kant kritisiert, und ebenso von Hegel (als Verstandesmetaphysik geradezu in Grund und Boden destruiert), und so wurde sie auch weder von Platon noch von z. B. Thomas oder Duns Scotus begriffen. In diesem Geltungskontext ist Metaphysik bzw. Onto-Theo-Logik vielmehr, modern formuliert, Grammatik der humanen Welt und lebensformbezogene, sinnkriteriale Konstitutionsanalyse einer solchen Welt. Diesen Geltungskontext expliziert Hegel mit und in seinen systematischen Hauptwerken. Daher bezieht er sich wie in einem lebendigen Dialog ständig auf Platon und Aristoteles, wie auch auf seine Zeitgenossen und Vorläufer Kant und Fichte. Es ist der systematische Anspruch gerade auch seiner Gottesreflexion, diesen Kern, dieses Zentrum der Geschichte der europäischen Philosophie systematisch zu rekonstruieren, seine Wahrheit zu explizieren. In diesem Zusammenhang ist es wichtig, zu unterstreichen, dass das genuine Denken Gottes in der Philosophie bereits lange vor dem Christentum in der philosophischen, ethisch-monotheistischen Gottesreflexion einsetzt, eben in der antiken griechischen Philosophie. Diese Geltungsreflexion der philosophischen Theologie ist somit zunächst
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einmal unabhängig vom Christentum, vom Judentum und vom Islam, wenn auch diese Weltreligionen grandiose Verbindungen mit ihr eingehen, um ihre Wahrheit begrifflich auf dem Niveau der Vernunft zu erfassen. Das gilt, wenn Hegel auch im Christentum die tiefste Wahrheit über Gott, die Trinitätstheologie, verortet. Drei Aspekte sind für die geschichtliche Dimension des Hegelschen Denkens Gottes noch ganz zentral. Es ist erstens die Bedeutung des Neuplatonismus und hier insbesondere die des exitus-reditus-Schemas von excessus und regressus. Dieses von Proklos und Plotin entwickelte Grundschema von Einheit (moné), Hervorgang (prohodos, prodromos) und Rückgang (epistrophé) ist das Modell der Bewegung des Geistes und mithin der Grundform überhaupt möglicher Sinnkonstitution für Hegel. Es ist auch das Modell der Rekonstruktion der Trinität. (Dazu gleich systematisch mehr.) Historisch-systematisch ist zweitens von zentraler Relevanz die Bedeutung der rationalen Mystik für Hegel. Der vor allem mystische Grundgedanke der in sich differenzierten Einheit von Gott und Mensch ist Hegel aus der großen deutschen Mystiktradition vertraut. Explizit bezieht er sich auf Meister Eckhart, Seuse und Tauler. Baader berichtet, dass Hegel angesichts der Grundgedanken von Meister Eckhart in Berlin ausrief: „Da haben wir es ja, was wir wollen!“4 Aber es ist nicht ein esoterisches Sonderwissen, auf das Hegel rekurriert, schon gar nicht Sondererfahrungen von Entrückung und Verzückung. Vielmehr ist es die augustinische Grundeinsicht aus den Confessiones, dass Gotteserkenntnis und wahre Selbsterkenntnis zusammengehören, sich implizieren. Und wie sollte auch wahre Selbsterkenntnis gelingen, wenn sie nicht praktische Einsicht in den Sinngrund der Welt und des Lebens einschlösse? Eine solche Einsicht und Erkenntnis kann subjektivistisch, nur privat, nicht gelingen, auch, wenn sie die innerste Dimension des Selbst betrifft. Und schließlich ist drittens die ständige systematische Auseinandersetzung mit Kant gerade in Fragen der Metaphysik zentral. Das wird vor allem in der Enzyklopädie und in den Notizen dazu deutlich. Hegel unterstreicht hier, vehement Kantianer, dessen Kritik der transzendenten Verstandesmetaphysik. Allerdings kritisiert er ebenso vehement das Stehenbleiben Kants bei dieser Kritik, während die positive praktische Sinnexplikation der Vernunft bei Kant Hegel zufolge zu schwach bleibt. Das betrifft den Status der Ideen. 4
Zit. nach Vittorio Hösle, Hegels System: der Idealismus der Subjektivitt und das Problem der Intersubjektivitt Bd. 2, Philosophie der Natur und des Geistes, Hamburg 1988, 645, Anm. 116.
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Betrachten wir nun Hegels Rekonstruktion der Idee Gottes noch einmal. Das trinitarische Eine ist Geist, anders gesagt: die Struktur des Selbstbewusstseins. Traditionell gesprochen ist der Mensch Ebenbild Gottes durch seine Vernunft, seinen Geist. Zur Sinnkonstitution vernünftiger Selbsterkenntnis gehören nun auch begrifflich die Momente der Prdikation und der Negation: Ich muss etwas als etwas setzen, erkennen und damit muss ich es von anderem, ja von allem anderen unterscheiden. Diese Fundamentalstruktur von Identifizierung und Differentialisierung, von Identität und Differenz ist die Form der Selbstbewusstwerdung, und logisch betrachtet, ist sie die Grundform des Satzes. Mit dieser Form vermögen wir, die Welt, d. h. seiendes Etwas als etwas zu erkennen. Diese Form ermöglicht auch Selbsterkenntnis. Sie ist unhintergehbar und für Erkenntnis unverzichtbar. Es sind nun zwei weitere Aspekte, die Hegel mit dieser Form der prädikativen Synthesis und der Negation systematisch verbindet: gleichursprünglich mit diesen vom Geist ermöglichten Formen der Sinnkonstitution sind die Urphänomene des freien Handelns und der Vereinzelung, Freiheit und Individuation. Unter Freiheit ist hier das freie, ungesicherte Fortsetzen nicht-festlegender Anfänge in der Form prädikativer Synthesisleistungen zu verstehen, so, wie sie Wittgenstein in seinen Untersuchungen zum Regelfolgen analysiert hat. Es gilt hier, dass es keine Regel der Regel gibt. Dass wir etwas als etwas erkennen und wiedererkennen können, dass wir eine prädikative Synthesis vollziehen und wiederholen können, dadurch etwas als etwas erkennen und wiedererkennen können, das ist, anders gesagt, selbst unerklärlich. Hegel insistiert an dieser Stelle seiner fundamentaltheologischen Geist- und Vernunftanalyse immer wieder darauf, dass mit Prädikation und Negation das freie Handeln eröffnet und ermöglicht wird, und dass gleichursprünglich mit dieser Freisetzung der Freiheit die Perspektive der Individuation, der Erkenntnis des Einzelnen als Einzigartigem erscheint. Die je und je augenblicklich mögliche, ekstatische Sinnkonstitution mit der synthetischen Differenzierung von prädikativem Allgemeinem, prädiziertem einzelnem Individuum und besondernder Synthesis, diese augenblickliche Sinnkonstitution ist horizontale Aktualisierung der Form von Sinn überhaupt. Hegel erkennt das Elementare – den Satz – als das schlechthin für eine humane Welt Fundamentale. Ohne begriffliche, satzförmige Sinnkonstitution keine Selbstkonstitution, keine Freiheit, keine Individuation, keine Individualität. Was dies nun praktisch bedeutet, erschließt die fundamentaltheologische Dimension dieser Analyse auf ganz besondere Weise. Mit der
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prädikativen Synthesis ist die Möglichkeit und Wirklichkeit der Wahrheit eröffnet, die Möglichkeit und Wirklichkeit freier Urteile, die konstitutiv ungesichert sind, die Möglichkeit und Wirklichkeit der Individuation – der Erkenntnis des Einzelnen, des einzelnen Menschen und jedes Menschen selbst als einzigartigem Individuum. Damit ist die Möglichkeit und Wirklichkeit freier, einzigartiger, selbstbewusster und selbstverantwortlicher menschlicher Individuen eröffnet, und zwar eröffnet durch die trinitarische Form der gleichursprünglichen Sinnkonstitution von Welt, menschlichem Leben und Sprache. Gott als Ursprung der Menschwerdung und des trinitarischen Geistes ist als Ursprung, recht begriffen, Mitte und Zentrum der humanen Welt. So sind Theologie, Christologische Anthropologie und Pneumatologie in der Wirklichkeit des ständigen, prozesshaften, dynamischen Schöpfungsgeschehens untrennbar (unseparierbar, aber unterscheidbar) verklammert. Zwei kritische und weiterführende systematische Aspekte können wir noch akzentuieren. Im Kontext der praktischen Dimension der begrifflichen Rekonstruktion der philosophischen Theologie durch Hegel ist – ich folge hier Hösle5 – die Intersubjektivittsperspektive im Zentrum des trinitarisch ermöglichten menschlichen Selbstbewusstwerdungsprozesses noch weit deutlicher hervorzuheben als dies bei Hegel explizit geschieht. Kurz gesagt: Nur, indem wir den und die Anderen als freie Individuen anerkennen, gibt es auch uns als freie Individuen. Ansätze zu dieser Dimension gibt es bei Hegel – so ist die freie Individualität in seiner Analyse Ermöglichungsgrund von Moral, Recht und Staat und er wendet seine Individualitätsanalyse ganz explizit gegen einen indifferenten Pantheismus wie den Spinozas, dem er andererseits viel verdankt. Jedoch haftet der begrifflichen Rekonstruktion des Absoluten – wohl in beabsichtigter Absetzung gegen Kant – auch etwas Monologisches, Theoretizistisches und Transindividuelles an. Wenn wir mit Hegel Gott als Grund des ursprünglichen und gegenwärtigen weltkonstitutiven und lebensermöglichenden kommunikativen Sinnereignisses, Grund der ekstatischen Sinnkonstitution begreifen, dann können wir den intersubjektiven Status von Gottes Wesen und Offenbarung noch viel deutlicher akzentuieren. Er zeigt sich im Vertrauen, im Verzeihen und Vergeben – in der Anerkennung des Anderen auf ausgezeichnete Weise, die Wahrheit und Gutes erst ermöglicht. Neben diesem Kritikpunkt lässt sich noch ein weiterer kritischer wie konstruktiver Aspekt entwickeln. Hegels Ansatz ist auf eindrucksvolle 5
Vgl. Hösle, a.a.O. (Anm. 4), 646 – 666.
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Weise philosophisch und stringent vernunftbezogen. Damit wirkt er aber auch auf viele rationalistisch und reduktionistisch. Einer weiterreichenden Rekonstruktion in seinem Geist könnte, müsste und sollte es gelingen, in diese philosophisch-theologische Ebene die Dimension der genuin religiösen Praxis und ihrer Sprach- und Handlungsformen mit einzubeziehen, unter Einschluss der liturgischen und sakramentalen rituellen Formen. Dies kann gelingen, wenn in die Hegelsche Rekonstruktion eine genuine Transzendenzperspektive wieder einbezogen wird. Wenn wir mit Heidegger die ontologische Differenz in die Reflexion der uns ermöglichenden, vorgängigen Sinnkonstitution einbeziehen, dann können wir das Dass des Seins des Sinns, das Dass der Gleichursprünglichkeit von Welt, Sprache und Leben als vernunftvorgängige, Vernunft (Wahrheit und Gutes) ermöglichende Transzendenz begreifen, Transzendenz freilich, die sich für uns nur in der Immanenz zeigt, aber dennoch Transzendenz. Wir haben es hier in meiner Terminologie mit transrationalen Wundern bzw. Geheimnissen zu tun, mit Wundern (oder mit einem einzigen Wunder), zu denen wir ein genuin religiöses, thaumatischauratisches, meditatives wie betendes, kongregatives, feierndes Verhältnis einnehmen und kultivieren können, aber nicht müssen.6 Es ist (auch im Sinne von Wittgensteins Verständnis des Mystischen im Tractatus) schlechterdings unerklärlich und einzigartig, dass uns in der empirischen Endlichkeit diese Wirklichkeit des Seins des Sinns konkret eröffnet und erschlossen wird, und dies in jedem Augenblick. Gerade weil Hegel auch die rationale Mystik in seine Rekonstruktion einbezieht, ist hier die Brücke zu einer genuinen Transzendenz- und Wunderperspektive zu schlagen, zu einer transrationalen, keineswegs aber irrationalen Dimension. In dieser Dimension erhielte der genuine Sinn des „veni creator spiritus“ wieder sein authentisches Recht, ebenso die mit anderen Diskursformen inkommensurable Verkündigungssprache.
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Vgl. dazu: Thomas Rentsch, Gott, Berlin/New York 2005, 66, 134, 165 f.
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Hegels Gott 1. Es ist möglich, der Theologie Hegels einen anthropologischsprachpragmatischen Sinn zu geben. 2. Die logischen Formaspekte sprachlicher Sinnkonstitution, Allgemeinheit, Besonderheit und Einzelheit, die Hegel als „Explikation der göttlichen Idee“ bezeichnet und mit den „Personen“ der Trinität gleichsetzt, werden von ihm ebenso zur Unterscheidung von Formen des Urteils, syllogistischen Formen, aber auch der Formaspekte der Subjektivität, des vernünftigen Selbstbewusstseins und seiner Reflexivität herangezogen. 3. Der so begriffene Geist ist der Ort möglicher Einheit (von Bedeutungen, Sätzen, Urteilen), der Ort möglicher Wahrheit (von Aussagen, Behauptungen, Schlüssen), schließlich die ausgezeichnete Weise freier, d. h. selbstbestimmter und selber bestimmender Praxis. 4. Alle religiçsen Vorstellungen und mythischen Anschauungen sowie die theologisch-transzendenten Aussagen der Dogmatik werden in philosophische Analysen und Feststellungen ber die begriffliche Konstitution des menschlichen Selbst- und Weltverstndnisses berfhrt bzw. selbst als solche gedeutet. 5. Diese Transformation von Mythologie in anthropologische Konstitutionsanalyse nimmt die Methode der existentialen Interpretation und der Entmythologisierung vorweg, wie sie im 20. Jahrhundert von Rudolf Bultmann und seiner Schule entwickelt wurde. 6. Theologisch gesprochen entfaltet Hegel eine integrale Pneumatologie, wobei der „Geist“ der Titel für die Totalität der Sinnbedingungen menschlicher Orientierung gemäß Hegels Analyse in der WdL ist: die absolute Vermittlung von Allgemeinem, Besonderem und Einzelnem, „Vater“, „Sohn“ und (heiligem) „Geist“; „und diese unendliche Vermittlung hat die objective Gestalt – Daseyn Leiden und Sterben, und Erhöhung Christi“. 7. Die Christologie ist für Hegel die religionsgeschichtlich radikale Form der Wahrheit, die seine Anthropo-Theo-Logik philosophischbegrifflich zu artikulieren sucht: Das Allgemeine, Universale, das Un-Endliche, die ,Idee‘ als ,Form‘ und damit die Totalität – sie können und mssen daher einzig in der Besonderung, partikular, in der Endlichkeit und so inhaltlich konkretisiert erscheinen. 8. Mit diesem Ansatz steht Hegel in der Tradition der (von ihm ja auch rekonstruierten) Genesis der okzidentalen Rationalität von Platon und Aristoteles über Plotin und die mittelalterliche Onto-Theo-
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Logik bis zu Kant. In diesem Geltungskontext ist Metaphysik Grammatik der humanen Welt und lebensformbezogene, sinnkriteriale Konstitutionsanalyse einer solchen Welt. (Gleichursprünglichkeit von Negation, Individuation, Wahrheit und Freiheit). 9. Im Kontext der praktischen Dimension der begrifflichen Rekonstruktion der philosophischen Theologie durch Hegel ist die Intersubjektivittsperspektive im Zentrum des trinitarisch ermöglichten menschlichen Selbstbewusstwerdungsprozesses noch weit deutlicher hervorzuheben als dies bei Hegel explizit geschieht. 10. Einer weiterreichenden Rekonstruktion in Hegels Geist könnte, müsste und sollte es gelingen, in diese philosophisch-theologische Ebene die Dimension der genuin religiösen Praxis und ihrer Sprachund Handlungsformen mit einzubeziehen, unter Einschluss der liturgischen und sakramentalen rituellen Formen. Dies kann gelingen, wenn in die Hegelsche Rekonstruktion eine genuine Transzendenzperspektive wieder einbezogen wird.
Dialektik der Transzendenz bei Benjamin. Eine Alternative zur Substitution des Absoluten in Reflexion und Praxis der Moderne Im ersten Teil meines Aufsatzes werde ich zunächst exemplarisch Substitute und Surrogate des Absoluten in Reflexion und Praxis der Moderne aufweisen. Ich werde mich dazu auf Grundgedanken von Heidegger, Wittgenstein, Adorno, Habermas und Derrida beziehen. Im zweiten Teil werde ich das Denken Benjamins als auch heute noch systematisch diskutables kritisches Gegenmodell gegen solche Substitute interpretieren.
1 Die Moderne ist auf komplexe Weise durch Entzweiungsprozesse charakterisiert, die sich, davon bin ich überzeugt, im Kern auf misslungene Ersatzbildungen für ein wahrhaftes Absolutes zurückführen lassen. Solche falschen Ersatzbildungen waren Rasse und Klasse, Volk und Nation, Machtblöcke, der wissenschaftlich-technische Fortschritt, aber auch das einzelne Individuum. Zu diesen Formen der prekären Moderne gehören insbesondere die Totalitarismen des 20. Jahrhunderts. Ist der Kapitalismus allein der schon von Hobbes so genannte „übrig gebliebene Wolf“, so kommt es zur Ersetzung von Gott durch Geld, wie Falk Wagner es analysiert hat.1 Die Bankhäuser überbieten in ihrer Pracht die Sakralbauten. Den Ersetzungsprozessen entspricht auf der realpolitischen Ebene oft das Totschlagen, auf der ideologischen Ebene vor allem das Totsagen, das in der Moderne und Postmoderne spätestens seit Nietzsche zu einem regelrechten Sport geworden ist: Dem „Tod Gottes“ folgte der Tod des Subjekts, das Ende des Menschen, das Ende der Moderne, das Ende der Postmoderne, das Ende der Geschichte. Ich plädiere daher seit längerem
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Falk Wagner, Geld oder Gott? Zur Geldbestimmtheit der kulturellen und religiçsen Lebenswelt, Stuttgart 1984.
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schon für ein Ende des Endes bzw. für den Tod des Totsagens.2 Dem tatsächlichen Weiterleben religiöser Bestände kommt in den Gesellschaften der Profanität ein eigentümlicher Status zu. Man benötigt keine Psychoanalyse, um von einer variantenreichen Wiederkehr des Verdrängten zu sprechen. Allein der emphatische Gebrauch des mit fraglosen Sinnansprüchen verbundenen Wortes „Kult“ in der Alltagssprache und Jugendkultur, die Phänomene der Idolbildung in Sport- und Unterhaltungsindustrie, der Eventcharakter spektakulärer öffentlicher Inszenierungen zeugen von solchen Prozessen. Substitute des Absoluten haben sich aber allesamt als unzulänglich erwiesen. Die Untauglichkeit der Surrogate zeigt sich auch in pseudo-theologischen und pseudo-metaphysischen Ansprüchen von Wissenschaften auf der einen, von subjektivistisch-irrationalen Strömungen auf der anderen Seite. Vom Urknall bis zur schwarzen Messe, von Esoterik über Exotismen bis zum Ewigen Leben durch Gentechnologie und Klonierung ist alles auf dem Markt. Dem trotzen ein reduktionistischer Szientismus sowie ein religiöser Fundamentalismus, sei er nun jüdisch, christlich oder islamisch. Insbesondere dem kritischen Blick auf die Wissenschaften fallen seit langem pseudo-wissenschaftliche Quasi-Metaphysiken auf. Sie bilden sich um quasi-absolute Grundbegriffe, um Totalitätssurrogate wie „Funktion“, „System“, „Struktur“, „Interpretation“, „Konstruktion“, aber auch „Kontingenz“, „Risiko“ oder „Chaos“ – oder gar „Blase“. Solche alles erklärenden Metaphysiksurrogate gibt es in der Physik, in der Kosmologie, in der Biologie und in der Soziologie ebenso wie in der modischen Kulturphilosophie. Was auf diesem Jahrmarkt herumgeboten wird, trägt sein rasches Verfallsdatum allerdings schon auf der Stirn geschrieben. Für die Gegenwart gilt: Die beiden Seiten einer ausgefransten Entwicklung – hybrider Szientismus und Fundamentalismus, kapitalistische Weltökonomie und irrationaler religiöser Dogmatismus – ergänzen sich derzeit zu einer prekären negativen Dialektik. Ersichtlich führen die geschilderten Prozesse nicht die besten Traditionen der okzidentalen Rationalitätsgeschichte weiter. Die geschilderten Verdinglichungs- und Irrationalisierungsprozesse wurden von der kritischen Philosophie des 20. Jahrhunderts umfassend analysiert und auf ihre Gründe befragt. Meine These ist nun aber darüber hinaus, dass gerade die wichtigsten Autoren, die dies geleistet haben, gleichzeitig auf ihrer Ebene der Reflexion die radikal-kritische Grund2
Vgl. Thomas Rentsch, Martin Heidegger – Das Sein und der Tod. Eine kritische Einfhrung, München 1989.
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lagenreflexion abbrachen und charakteristische Substitutionsbildungen des Absoluten schufen. Dies gilt exemplarisch für Heidegger, Wittgenstein, Adorno, Habermas und Derrida. Systematisch bin ich der Auffassung, dass wir heute in der Philosophie nicht hinter deren negativ-kritische Analysen zurückfallen dürfen, dass aber ein anderer Weg philosophischtheologischer Grundsatzreflexion mit Benjamin über sie hinausführt.3 Die kritischen Leistungen der Autoren will ich hier nicht thematisieren, sondern nur kurz ihre charakteristischen Substitutionsbildungen ins Bewusstsein rufen. 1. Heideggers Ersatzbildung ist das „Sein“. Wie eine göttliche Instanz agiert es geschichts- und sprachschöpferisch, es ist verborgen und entbirgt sich, es schickt Fug und Unfug, es lichtet und wohnt in der Sprache, seinem Haus. Mit diesem Entwurf einer vielfach kritisierten Privatmythologie wird der späte Heidegger aus Gründen seiner radikalen Metaphysik- und Ontologiekritik schließlich zu einem katholischen Hesiod.4 Wichtige Züge dessen, was er im unverfügbaren Sein und mit der ontologischen Differenz andeutet, lassen sich ohne die rationale theologische und mystische Tradition des Abendlandes nicht begreifen. Auch behält er in seinem großen Spiegel-Interview die religiöse Perspektive antizipierend bei: „Nur noch ein Gott kann uns retten.“5 Aber die Wende gegen die gesamte Genesis der okzidentalen Rationalität, gegen die Traditionen der praktischen und politischen Vernunft hindert Heidegger an einer rationalen Rezeption der kritischen Transzendenzreflexion, die in der europäischen Tradition z. B. bei Plotin und Dionysios Areopagita, bei Thomas und Duns Scotus sehr wohl ein Bewusstsein der ontologischen Differenz – bei gleichzeitiger Kritik an der Gnosis – einschloss. Im Grunde mündet die das Kind mit dem Bade ausschüttende Radikalkritik Heideggers wie schon die Nietzsches in eine neuheidnische Remythisierung. Wenn alles nur Wille zur Macht ist, und nichts außerdem, dann hilft wirklich nur noch die Bejahung der Ewigen Wiederkehr des Gleichen. Wenn die Verfehlung der Wahrheit des Seins wirklich bereits vor den Vorsokratikern einsetzte und bei Platon schon gipfelte, dann muss allerdings die Welt- und die Seinsgeschichte insgesamt „verwunden“ und ein „anderer Anfang“ erwartet werden. Denn bisherige Theologie und 3 4 5
Vgl. Thomas Rentsch, Heidegger und Wittgenstein. Existenzial- und Sprachanalysen zu den Grundlagen philosophischer Anthropologie, Stuttgart 22003. Vgl. Thomas Rentsch, Martin Heidegger – Das Sein und der Tod, a.a.O.. Das Interview stammt vom 23. 9. 1966, veröffentlicht in: Der Spiegel (31. Mai 1976), 193 – 219.
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Metaphysik sind an der Verfallsgeschichte wesentlich mit schuld. Sie unterliegen selbst der Seinsvergessenheit, die zur Gottverlassenheit führte. Das „Seyn“ wird als mit Attributen der Personalität versehene wirkende Macht konzipiert; es „spricht an“ und „versagt sich“ den wenigen „Zukünftigen“, „auf die als die rückwegig Er-Wartenden in opfernder Verhaltenheit der Wink und Anfall der Fernung und Nahung des letzten Gottes kommt.“6 Die Schreibung „Seyn“, dann noch die das Geheimnishafte steigernde kreuzweise durchgestrichenen Variante von „Sein“ sind typische Züge dieses Substituts des Absoluten bzw. Gottes.7 Dieser Befund gilt auch dann noch, wenn wir Heidegger darin folgen, dass er mit dem seinsgeschichtlichen Denken bzw. „Andenken“ des Seins nur dem „Fehl“, der Abwesenheit Gottes in der Gegenwart der modernen Welt entspricht.8 2. Beim frühen Wittgenstein wird der alles umfassende Bereich – dass die Welt ist, Gott, der Sinn des Lebens – als „das Mystische“ und „Unsagbare“ von innen her aus der wissenschaftlichen und logischen Rationalität ausgegrenzt. Für den emphatisch ausgezeichneten Bereich des Sinns bleibt nur das „Schweigen“. Wittgensteins Lebenspraxis, sein Rückzug ins Kloster und als Dorfschullehrer, seine langjährige existentielle Beschäftigung mit Kierkegaard – sie zeugen von einer religiösen Ebene, die mit der philosophischen Reflexion nicht mehr explizit und rational vermittelt wird, sondern Tagebüchern und persönlichen Gesprächen vorbehalten bleibt. Auch hier gilt: Während die kritischen, v. a. sprachkritischen Einsichten auch des späten Wittgenstein (wie die Ontologiekritik Heideggers) für eine künftige philosophisch-theologische Reflexion nicht verzichtbar sind, so ist seine eigene Position hier nur indirekt, hinweisend-zeigend. Die Rede von „Gott“, vom „Sinn“ und vom „Mystischen“ im Tractatus zehrt – wie die theologischen Implikationen des Heideggerschen „Seins“ – von den irreduziblen Sinntraditionen v. a. christlicher Theologie, ohne die sie gar nicht erst verständlich wären. Aber sie bleiben gleichsam Leerstellen und Platzhalter eines Gottes, der der Vernunft und der Sprache vollends entzogen scheint. Der
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Martin Heidegger, Beitrge zur Philosophie (Vom Ereignis), GA III/65, Frankfurt a.M. 1989, 395. Martin Heidegger, „Zur Seinsfrage“, in: ders., Wegmarken, Frankfurt a.M. 1967, 238 f. Vgl. Thomas Rentsch, Martin Heidegger – Das Sein und der Tod, a.a.O., v. a. 175 – 221.
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Vergessenheit des Seins bei Heidegger entspricht die Unsagbarkeit des Sinns bei Wittgenstein. 3. Eine weitere Spielart der Substitute des Absoluten neben Wittgensteins mystischem Dass des Weltsinns und Heideggers sich entbergend-verbergendem, abwesend-anwesendem Sein ist das „Nicht-Identische“ bei Adorno. Hier gilt: Da das Absolute nicht mehr positiv gedacht oder gar expliziert werden kann, „wird es“ nach einer treffenden Formulierung Theunissens „immer kleiner“.9 Ebenso wie das Mystische und das Sein ist auch das Nicht-Identische unsagbar bzw. vergessen. Denn alles notwendigerweise identifizierende Denken verfehlt es von vornherein. Eine eschatologische Utopie der Erkenntnis unverkürzter, nichtverdinglichter Individualität freilich leitet Adornos Denken untergründig. Er verschiebt seine Substitute des Absoluten angesichts des in der Dialektik der Aufklärung analysierten universalen Verblendungszusammenhangs in den Bereich avantgardistischer Kunst. Versatzstücke einer neuplatonisch inspirierten Ästhetik von Ekstasis, Pleroma und Plötzlichkeit (exaiphnes) verbinden sich, so scheint es zumindest, mit einer kenotischen Christologie. Schönbergs Musik hat „alle Dunkelheit und Schuld der Welt […] auf sich genommen“.10 Erst der eschatologische Zusammenfall von ästhetischer Erfahrung und begrifflicher Diskursivität ergäbe nach Adorno – er folgt hier Benjamin – die „wahre Sprache“, deren Idee „die Gestalt des göttlichen Namens“ ist.11 Es wird sichtbar: Paradigmen der Transzendenz werden in esoterischen Randbereichen angesiedelt, sie werden marginalisiert bzw. werden in Stilformen rhetorisch aufgehoben. Hier war – dies noch zur Verortung der klassischen kritischen Theorie – der späte Horkheimer wiederum weniger kryptisch, wenn er von der „Sehnsucht nach dem ganz Anderen“ sprach und die Sätze schrieb: „Einen unbedingten Sinn zu retten ohne Gott, ist eitel.“ Und: „Zugleich mit Gott stirbt auch die ewige Wahrheit“.12
9 Michael Theunissen, „Negativität bei Adorno“, in: Ludwig von Friedeburg/ Jürgen Habermas (Hg.), Adorno-Konferenz 1983, Frankfurt a.M. 1983, 41 – 65, dort 65. 10 Theodor W. Adorno, Philosophie der neuen Musik, in: ders., Gesammelte Schriften Bd. 12, Frankfurt/M. 1975, 126. 11 Theodor W. Adorno, Fragment ber Musik und Sprache, in: ders., Gesammelte Schriften Bd. 16, Frankfurt a.M. 1978, 252. 12 Vgl. dazu Jürgen Habermas, „Zu Max Horkheimers Satz ,Einen unbedingten Sinn zu retten ohne Gott, ist eitel‘“, in: ders., Texte und Kontexte, Frankfurt a.M. 1991, 110 – 126.
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4. Auch in Jürgen Habermas’ Theorie des kommunikativen Handelns erfolgt eine sprachliche Anverwandlung des Sakralen. Habermas geht es darum, die Einheit der Vernunft in der kommunikativen Alltagspraxis zurückzugewinnen, nachdem seiner Auffassung nach „alle substantiellen Vernunftbegriffe kritizistisch aufgelöst worden sind“.13 Gegenüber kultisch-rituellen Vergegenwärtigungsformen der emphatisch verstandenen Heilswahrheit stelle die Versprachlichung eine approximative „kommunikative Verflüssigung des religiösen Grundkonsenses“14 dar. Dass die transzendentale bzw. ideale Kommunikationsgemeinschaft sowohl in ihrer Herkunft aus den Grundgedanken von Josiah Royce und Charles S. Peirce als auch in der Konzeption von Karl-Otto Apel von theologischen Modellen und religiösen Vorgestalten perfekter Transparenz und Kommunikation geprägt bleibt, wurde schon früh z. B. in der kritischrationalistischen Kritik an diesen in der Sicht von Hans Albert „transzendentalen Träumereien“ deutlich. Der Untertitel des kritischen Buches von Albert aus dem Jahr 1975 lautet dementsprechend „Karl-Otto Apels Sprachspiele und sein hermeneutischer Gott“.15 Und in der Tat erklärt auch Habermas die Diskursgemeinschaft zum Substitut des Heiligen in der Gegenwart: Allein die zur Diskursethik entfaltete, kommunikativ verflüssigte Moral kann […] die Autorität des Heiligen substituieren. In ihr hat sich der archaische Kern des Normativen aufgelöst, mit ihr entfaltet sich der rationale Sinn von normativer Geltung.16
5. Noch ein letztes Beispiel eines Substituts des Absoluten sei kurz beleuchtet. Es ist der Begriff der „Differenz“, wie er bei Deleuze, Lyotard und v. a. bei Derrida in den letzten dreißig Jahren sehr wirksam entfaltet wurde. Er meint die Instanz sprachlichen Sinns, deren Schwund und Entzug, deren Abwesenheit man nie in Anwesenheit verwandeln kann. Strukturell wiederum der traditionellen Konzeption der Ferne und Nähe, der abwesenden Anwesenheit Gottes konform, entfaltet sich um die Differenz, verfremdet wie das durchgestrichene „Sein“ Heideggers als diffrance, im Frühwerk Derridas eine Gruppe von ehemals metaphysisch 13 Jürgen Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns, Bd. 1, Frankfurt a.M. 1981, 340. 14 Jürgen Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns, Bd. 2, Frankfurt a.M. 1988, 126, vgl. 140. 15 Hans Albert, Transzendentale Trumereien. Karl-Otto Apels Sprachspiele und sein hermeneutischer Gott, Hamburg 1975. 16 Jürgen Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns, Bd. 2, 140.
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aufgeladenen Begriffen, deren wichtigster der der „Spur“ ist. Den metaphysikgeschichtlichen Hintergrund bildet hier Plotins Uwmor-Begriff, der im neuplatonischen Christentum als vestigium aufgenommen wird. Insbesondere, wenn Derrida das allen Unterscheidungen noch vorausliegende Geschehen als archi-trace, als „Ur-Spur“ bezeichnet und es für älter als das Sein erklärt, werden inmitten hermeneutischer Theoriebildung der Postmoderne theologisch hochkomplexe und voraussetzungsreiche Termini in andere Kontexte transferiert, ohne deren ursprüngliche Bedeutung und Herkunft zu explizieren, um ihr suggestives Potential und ihre theologisch-metaphysische Sinndimension durchaus erfolgreich zu beerben. Anders gesagt: Die gesamte Reflexion der Moderne hat einen verschwiegenen, oft verdrängten theologischen Subtext. Den Substituten des Absoluten bzw. Gottes – dem Sein, dem Mystischen, dem Nicht-Identischen, der Kommunikationsgemeinschaft, der Differenz – eignen folgende Strukturmerkmale: Sie sind 1. nicht religiös, metaphysisch oder theologisch im traditionellen Sinne verstehbar. Sie sind 2. allerdings auch ohne den geschichtlichen Hintergrund und kulturellen Kontext von Mystik, Metaphysik, Christentum, Neuplatonismus und Gnosis nicht angemessen verstehbar. Ihnen eignet 3. starke Negativität: Unsagbarkeit, Verborgenheit, Verdecktheit; deswegen werden sie übersprungen, übersehen, vergessen, verkannt, und das hat unheilvolle Folgen, denn ihnen kommt 4. in Wahrheit ein eminenter, erhabener, emphatisch auszuzeichnender Status zu, ein Ausnahmestatus, der in Wirklichkeit von herausragender praktischer Bedeutung für das wahre menschliche Welt- und Selbstverständnis ist. Die mit den aufgezeigten Substituten verbundene Dimension zu begreifen, das ist die eigentlich wahre, rettende Einsicht der Philosophien von Heidegger, Wittgenstein, Adorno, Habermas und Derrida. Welche Konsequenzen verbinde ich mit der skizzierten Analyse? Meinem Urteil nach ist es in der systematischen Gegenwartsphilosophie angesichts der Sonderbildungen und ihrer Wirkungsgeschichte verstärkt erforderlich und angeraten, viel expliziter an Traditionen der Religion, der Theologie, der Metaphysik und (rationalen) Mystik anzuknüpfen und sich bewusst mit ihnen auseinander zu setzen, anstatt diese parasitär zu beerben oder sie bloß indirekt vorauszusetzen, ohne sie zu klären. Im Rahmen einer kritischen philosophischen Theologie und Metaphysik gilt es, sich wieder mit den Originalen, mit den Vor- und Urbildern der genannten Sekundärbildung zu befassen, ihren spezifischen Sinn und genuinen Wahrheitsanspruch erneut freizulegen und ihre praktische Bedeutung für das Welt- und Selbstverständnis des Menschen im Dialog von Philosophie, Theologie und
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Religionen herauszuarbeiten. Ein allgemeines Verdikt über die metaphysische Wahrheit und über die Fehlentwicklung der gesamten okzidentalen Rationalitätsgeschichte – sie tragen dazu ebenso wenig bei wie die Wettbewerbe im Totsagen und Für-Beendet-Erklären von theologischen, metaphysischen und religiösen Inhalten, Themen und ganzen Epochen, die leider zur üblich gewordenen „Logik“ vieler gegenwärtiger Diskurse gehören.
2 Als Kontrastfolie zu dieser Analyse dient mir im zweiten Teil meines Vortrags das Werk Walter Benjamins. Die These von den Ersatzbildungen für das Absolute in der Reflexion und Praxis der Moderne – in der Ökonomie, im gesellschaftlichen Bewusstsein und in der Reflexion – wird ergänzt durch die These, dass Benjamin eine solche Substitutionsbildung konsequent vermeidet. Wie ist das möglich? Die Antwort ist einfach und berührt doch alle zentralen Aspekte des Denkens von Benjamin. Eben weil Benjamin ein irreduzibles Transzendenz- und Eschatologieverstndnis hat, welches sich begrifflich völlig der Funktionalisierung und der reflexiven, ethischen oder politischen Indienstnahme verweigert, geradezu radikal sperrt, eben deswegen kann er unklare Säkularisierungskategorien vermeiden, eben deswegen gelingt es ihm, Profanität anders zu begreifen, und auf diese Weise auch eine andere Perspektive von Materialismus und Praxis zu entwickeln. Zu fragen ist, wie diese genuin theologische Dimension von Benjamin gedacht wird. Entspricht sie strukturell den Entwürfen der Dialektischen Theologie? Es muss gefragt werden, ob dieses radikale Transzendenzverständnis kryptognostische Züge aufweist, ob es somit der Habermas‘schen Kritik ausgesetzt ist: Benjamins Denken sei anti-evolutionistisch und zeige einen manichäischen Blick.17 Meine abschließende These weist diese Kritik zurück und zeigt den Weg einer möglichen systematischen Rekonstruktion für die Gegenwart auf. 1. Zunächst zeichnet sich Benjamins Ansatz durch den konsequent durchgehaltenen historischen Materialismus und die dauernde Bezugnahme auf die konkrete Leidensgeschichte der Menschen aus. Mit dieser 17 Vgl. dazu Jürgen Habermas, „Bewußtmachende oder rettende Kritik. Die Aktualität Walter Benjamins“, in: ders., Politik, Kunst, Religion, Stuttgart 1978, 60 f., 76, 86 f.
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konsequenten Rückbindung der Reflexion in praktischer Absicht ist bereits eine anti-idealistische, ideologiekritische Korrektur quasi-mythischer, nur erkenntniskritischer, in der Reflexion oder in der Subjektivität mystischer Erfahrung verbleibender Surrogate der Transzendenz ganz grundsätzlich verbunden. Ein bloß theoretisches, idealistisches Verständnis des Absoluten bzw. von Transzendenz ist für Benjamin – wie ja auch für Kant – ausgeschlossen. Das Transzendenzverständnis muss sich auf die konkrete Geschichte der wirklichen Menschen beziehen. Gegenüber der „Seinsgeschichte“, dem „Mystischen“, der „Nicht-Identität“, der idealen Kommunikation und der innertextuellen Differenzverkettung ist dieser materialistische Bezug eine deutliche, antiidealistische Alternative, die sich auch kritisch auf die Substitute der Transzendenz im Kapitalismus zurückbeziehen lässt. 2. Mit dieser materialistischen Weichenstellung verbunden ist ferner eine konsequente Kritik der politischen Theologie und mithin aller Versuche, genuin religiöse Kategorien für weltliche, politische Zwecke und Herrschaftsansprüche zu funktionalisieren. Deswegen analysiert Benjamin im Trauerspielbuch die theokratischen Ansprüche der Gegenreformation als Ausfall der Eschatologie und als Wegfall der Transzendenz. Weder politische noch ökonomische innerweltliche Herrschaftsformen können einen solchen Anspruch erheben. Benjamin argumentiert hier auf der Linie der prophetischen, biblischen Götzenkritik und Götzenpolemik, auf der Linie der religiösen Religionskritik, die sich in der Erzählung von der Zerstörung des Goldenen Kalbes verdichtet. Damit sind auch irrige Vorstellungen von der Säkularisierung substantiell religiöser Sinngehalte in eine weltlich-immanente Form der Kritik ausgesetzt. Solche latent substanzontologischen, geschichtsphilosophischen Großmodelle verfehlen nach Benjamin die authentische Transzendenzdimension ebenso wie die Ebene der Weltlichkeit, der Profanität. 3. Es geht Benjamin also darum, aus sinnkriterialen Gründen die Fundamentalunterscheidung von Gott und Welt, Transzendenz und Profanität, Eschatologie und Geschichte, Erlösung und Befreiung konsequent durchzuhalten, und das bedeutet für ihn, der Erfahrung des Eingedenkens gerecht zu werden: […] im Eingedenken machen wir eine Erfahrung, die es uns verbietet, die Geschichte grundsätzlich atheologisch zu begreifen, so wenig wie wir sie in unmittelbar theologischen Begriffen zu schreiben versuchen dürfen.18
18 Walter Benjamin, Das Passagen-Werk, Gesammelte Schriften V (künftig zitiert als
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Die theologische Perspektive ist nicht Medium einer Gesamtinterpretation der Geschichte, sondern kritische Instanz radikaler Infragestellung aller Immanenz. Nur aus dieser Perspektive ist somit nach Benjamin „rettende Kritik“ möglich – im Vergangenen, gerade auch im Gescheiterten und Verlorenen, können wir deshalb eine Hoffnungsdimension verorten. Die genuin religiöse Dimension der Hoffnung auf Erlösung sprengt so alle Üblichkeit und lineare Kontinuität der Geschichte und der Erfahrung. Die genuine Transzendenzperspektive der Erlçsung ist auf einer anderen Ebene der existentiellen Erfahrung zu verorten als die Perspektive innerweltlicher Befreiung und geschichtlicher, emanzipatorischer Praxis. Erlösung bedingt einen existentiellen Weltwandel. Deswegen kann Benjamin gerade radikale Profanität als Widerschein der Transzendenz denken, das Profane als Kategorie des „leisesten Nahens“ des Reichs.19 Radikale Transzendenz und Eschatologie ermöglichen gerade radikale Weltlichkeit und befreiende Praxis. Das besagt ja auch: Menschliche Praxis wird fundamental davon befreit, Heil, Absolutes, selbst zu bewirken. Nur so ist eine unbedingte Transzendenzperspektive zu wahren, die nicht für das Diesseits zu vereinnahmen ist. Diese Konzeption Benjamins scheint einerseits mit radikalen Unterscheidungsintentionen von Kant (und auch Wittgenstein) kompatibel zu sein.20 Andererseits stellt sich die Frage nach einer Abgrenzung zum gnostischen Dualismus. Jedenfalls denkt das Theologisch-politische Fragment absolute Transzendenz in ihrer Bedeutung für Geschichte, Immanenz, und Weltgeschichte, aber gleichzeitig konsequent als absolut und daher inkommensurabel mit dem, was wir können und mit Politik. Profanes und Messianisches, Ziel und Ende, Vorletztes und Letztes sind streng irreduzibel aufeinander. Wohl jedoch hat Transzendenz einen irreduziblen Bezug auf die Existenz des einzelnen Menschen. Nur die Perspektive absoluter Transzendenz entbirgt ein anamnetisches Vernunftpotential, das in keinem linearen Fortschrittsoptimismus aufgehoben ist. Kurz: Die authentische Transzendenzperspektive allein eröffnet die Tiefenstruktur der praktischen Vernunft und solche Dimensionen wie GS V), hg. von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser, Frankfurt a.M. 1991, N 8 1; 588 f. 19 Walter Benjamin, Theologisch-politisches Fragment, in: Gesammelte Schriften II, hg. von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser, Frankfurt a.M. 1977, 203 f. 20 Vgl. dazu Rudolf Langthaler, „Benjamin und Kant oder: über den Versuch, Geschichte philosophisch zu denken“, in: Deutsche Zeitschrift fr Philosophie, 2 (2002), 203 – 225.
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Gedächtnis, Erinnerung und Trauer über das Leiden der Unschuldigen, die „Wahrnehmung des Unrettbaren“.21 4. Betrachten wir die eschatologisch-messianischen Transzendenzkategorien Benjamins in einem letzten Schritt daraufhin, ob sie sich einem quasi manichäischen Blick verdanken und so definitiv antievolutionistisch sind, wie Habermas meint. Zunächst wurde deutlich, dass die Konzeption radikaler Transzendenz bei Benjamin geradezu dadurch definiert ist, dass keine weltlichen Substitute oder Surrogate für sie denkbar und möglich sind. Mythisierungen weltlicher Instanzen, politische Hoffnungen als Hoffnungen auf endgültiges Heil, Herrschaftsformen als göttlich legitimiert – das sind fundamentale Missverständnisse, die sich in der Praxis verheerend auswirken. (Die Probleme des Fundamentalismus der Gegenwart auf islamischer wie christlicher Seite sind von dieser Analyse betroffen.) Im Unterschied zu den vorgestellten Substituten des Absoluten enthält die Transzendenzdimension bei Benjamin einen ständigen Rückbezug auf die materialistische Basis der gesellschaftlichen Praxis einerseits, auf die konkrete, singuläre Existenz der einzelnen Menschen andererseits. Schließlich wird beim Aufweis der anamnetischen Tiefendimension von Vernunft und Aufklärung diese praktische Dimension ins Zentrum gerückt: Die Transzendenzdimension der Hoffnung auf Erlösung wird als Sinnpotential auch vergangener, verlorener Augenblicke konkreter menschlicher Existenz gedacht und entfaltet. In Benjamins rettender Kritik soll für jeden Augenblick dessen ekstatische Potentialität im Horizont von Hoffnung auf Erfüllung mitgedacht werden. Diese Transzendenzperspektive auf Rettung geht nicht auf und kann nie aufgehen in fortschreitender, innergeschichtlicher Emanzipation, auch nicht in Erfahrungen des Glücks einzelner Menschen. Auf diese Weise hält Benjamin einen irreduziblen theologischen und eschatologischen Transzendenzüberschuss fest, der in seinem Denken allererst die anderen Bereiche der menschlichen Geschichte und Praxis freisetzt und angemessen erfahrbar macht. Er denkt Unverfügbarkeit und Negativität der konkreten Geschichte als Ort des Ereignisses von Transzendenz, die inkommensurabel mit den Begebenheiten der Profanität ist und bleibt. Es ist, in anderer systematischer Reformulierung, gerade die „Grenze der Verfügbarkeit über die Bedingungen unseres
21 Langthaler, a.a.O., 222.
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Handelns“22, die die Tiefendimension der praktischen Vernunft eröffnet: das Sinnpotential einer genuinen Transzendenzperspektive, einer nicht säkularisierbaren und nicht substituierbaren Hoffnung auf Rettung. Systematisch bin ich der Auffassung, dass sich Benjamins Denken im Kern auch unabhängig von dessen oft kryptischer, literarischer Form aneignen lässt: Mit Kant und Wittgenstein im Sinne einer Topik sprachlicher Vernunftpotentiale, deren spezifische Verortung sie in ihrem Eigenwesen freisetzt, und die sich doch – auf eine nicht hierarchische, konstellative Weise – sinnvoll ergänzen und erläutern. In dieser Topik nimmt die religiös-eschatologische Transzendenzperspektive einen vertikalen, synchronen, augenblicklichen, ekstatisch-pleromatischen Ort ein, die materialistische Emanzipationsgeschichte einen diachronen, linearen, horizontalen Ort. Aber mit Kant, Wittgenstein und Benjamin gilt: Wir kennen die Grammatiken beider Sprachspiele, und um ihren genuinen Geltungssinn zu bewahren, dürfen wir sie nicht durcheinander bringen und damit die Sinnpotentiale beider verspielen. Benjamins systematische Stärke sehe ich im Kontext einer neu zu findenden Topik der Entbergung (Freisetzung) heterogener Vernunftpotentiale, die nur kritisch-dialektisch aufeinander zu beziehen sind und die anderenfalls der philosophischen Reflexion als Substitute oder Surrogate verloren gingen. So hat Benjamin Materialismus und Messianismus konsequent dialektisch gesehen, in seiner bildlichen Ausdrucksweise: Mein Denken verhält sich zur Theologie wie das Löschblatt zur Tinte. Es ist ganz von ihr vollgesogen. Ginge es aber nach dem Löschblatt, so würde nichts was geschrieben ist, übrig bleiben […].23
Entscheidend ist, dass die Ebene der Transzendenz stets sowohl in ihrer irreduziblen Authentizität als auch, paradoxal, in ihrer Bezogenheit auf die materialistische Verbesserung der menschlichen Lebensverhältnisse gesehen wird. Die Ordnung des Profanen hat sich aufzurichten an der Idee des Glücks. […] Wenn eine Pfeilrichtung das Ziel, in welchem die Dynamis des Profanen wirkt, bezeichnet, eine andere die Richtung der messianischen Intensität, so strebt freilich das Glückssuchen der freien Menschheit von jener messianischen Richtung fort, aber wie eine Kraft durch ihren Weg eine andere auf entgegengesetzt gerichtetem Wege zu befördern vermag, so auch die profane 22 Andreas Arndt, „Dialektik und Hermeneutik. Perspektiven einer frühromantischen Konzeption“, in: Thomas Rentsch (Hg.), Philosophie – Geschichte und Reflexion, Dresden 2003, 65 – 85, dort 85. 23 Benjamin, Passagen-Werk, a.a.O., 588.
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Ordnung des Profanen das Kommen des messianischen Reiches. […] Denn im Glück erstrebt alles Irdische seinen Untergang, nur im Glück aber ist ihm der Untergang zu finden bestimmt […].24
Man könnte reformulieren: Nur im Widerschein absoluter Transzendenz zeigen sich auch die transpragmatischen Sinnbedingungen aller Praxis und Rationalität. Letztere aber müssen für sich stehen, für sich selbst sorgen. Daher kann sich „nichts Historisches […] von sich aus sich auf Messianisches beziehen wollen“.25 Ebenso konsequent unterscheidet Benjamin in der Wahlverwandtschaften-Arbeit „scheinhafte“ von „wahrer Versöhnung“. Wahre Versöhnung gibt es in der Tat nur mit Gott. Während in ihr der Einzelne mit ihm sich versöhnt und nur dadurch mit den Menschen sich aussöhnt, ist es der scheinhaften Versöhnung eigen, jene untereinander aussöhnen und nur dadurch mit Gott versöhnen zu wollen. [Dennoch hat] die Versöhnung, die ganz überweltlich und kaum fürs Kunstwerk gegenständlich ist […], in der Aussöhnung der Mitmenschen ihre weltliche Spiegelung.26
In diesen Passagen wird sehr gut die konsequent dialektische, und d. h.: nicht dualistische, nicht gnostische Weise des Bezuges von profaner Materialität und theologischer Transzendenzperspektive deutlich. Dieser Bezug lässt sich eben weder natural noch supranatural reduzieren und auflösen. Deswegen kann Benjamin im Passagen-Werk schreiben: Das Eingedenken kann das Unabgeschlossene (das Glück) zu einem Abgeschlossenen und das Abgeschlossene (das Leid) zu einem Unabgeschlossenen machen. Das ist Theologie; aber im Eingedenken machen wir eine Erfahrung, die es uns verbietet, die Geschichte grundsätzlich atheologisch zu begreifen, so wenig wie wir sie in unmittelbar theologischen Begriffen zu schreiben versuchen dürfen.27
Nur so ist verstehbar, dass Benjamin im Festhalten eines echten Eschaton schreiben kann: „Es schwingt […] in der Vorstellung des Glücks unveräußerlich die der Erlösung mit“28, sowie: „Die echte Konzeption der historischen Zeit beruht ganz und gar auf dem Bild der Erlösung“.29 Wir berühren mit diesem Gedanken den Kernbereich der philosophischen Reflexion absoluter Transzendenz bei Benjamin. Einerseits 24 25 26 27 28 29
Benjamin, Theologisch-politisches Fragment, a.a.O., 203 f. Ebd. Benjamin, Goethes Wahlverwandtschaften, GS I, 184. Benjamin, Passagen-Werk, a.a.O. (Anm. 18). Benjamin, ber den Begriff der Geschichte, GS I, 693. Benjamin, Passagen-Werk N 13 a, 1; GS V, 600.
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denkt Benjamin Transzendenz als ekstatisch-plötzliches, augenblickliches Erfüllungsgeschehen in seiner Blitzhaftigkeit.30 Die Dimensionen der Apokatastasis und der Wiederbringung aller Dinge bei Origenes und Irenäus bewegen sich auf dieser Ebene.31 Aber andererseits denkt Benjamin die ekstatische Aufsprengung selbst dialektisch: als „dialektisches Bild“, d. h. reflexiv und erkenntnisbezogen, und vor allem sprachkritisch.32 Es wird also nicht unkritisch eine Ebene mystischer Unmittelbarkeit – gleichsam als letzte Lösung aller Probleme – als scheinbar verfügbar angesetzt. Die so eröffnete „Rettung […] lässt immer nur an dem, im nächsten Augenblick schon unrettbar verlorenen sich vollziehen“.33 Die Gegenwart der Erlösung bleibt paradox, das Ineinander von Ekstasis und Transzendenz gestattet gerade keine mystische Vereinigung, sie eröffnet in ihrer Negativität erneut den Blick auf die Praxis der menschlichen Geschichte mit ihren Entstellungen und ihrer Verlorenheit wie auch mit ihrem authentischen, vergänglichen Glück.
30 Vgl. ebd., 570. 31 Vgl. dazu Andreas Pangritz, Vom Kleiner- und Unsichtbarwerden der Theologie, Tübingen 1996, 184 ff. 32 Benjamin, Passagen-Werk: N 10 a, 3; GS V, 595. 33 A.a.O., 591 f.
Negativität versus Metaphysik – mit Tillich gegen Tillich. Kritische Bemerkungen zu seiner Religionsund Kulturphilosophie der Zwanziger Jahre 1. Tillichs Entfremdungsanalysen der Zwanziger Jahre Ich möchte zunächst auf einige grundlegende Voraussetzungen des philosophischen und theologischen Denkens von Paul Tillich eingehen, Voraussetzungen, ohne die die Eigenart seines Zugriffs nicht verständlich ist. Sie lassen sich biographisch seit den Erschütterungen durch die Erlebnisse im Ersten Weltkrieg unter den Titel „Existentialismus“ einordnen. Ich werde dann kritisch die systematischen Konsequenzen skizzieren, die Tillich aus diesen neuartigen Einsichten gezogen und die er lebenslang beibehalten und weiter ausgearbeitet hat. Tillich wurde zum modernen Theoretiker wie so viele andere auch durch das konkrete Erlebnis des Ersten Weltkrieges, in dessen Stahlgewittern die Ideale des alten Europa, die tradierten und garantiert geglaubten Ideale der humanistischen Bildungswelt des Vorkriegsbürgertums zertrümmert worden waren. An die Stelle gesicherter Orientierungen war in Theorie und Politik, in Lebenswelt, Wissenschaft und Kultur eine verwirrende Vielfalt eingekehrt, die als chaotische Unübersichtlichkeit erfahren wurde. Die Sicherheiten der Vorkriegsordnung mitsamt Kaiser und Kirche waren diskreditiert – an ihre Stelle und auch aus ganz konkreten wirtschaftlichen Gründen war das Bewusstsein der Krise, einer tiefgreifenden „Krisis“ aller Orientierungen getreten. Heute wird beobachtet, dass das Klima der 20er Jahre in vielem dem ähnelt, was seit geraumer Zeit als Postmoderne diagnostiziert wurde bzw. noch wird. Auch ich denke, dass in Theorie, Politik und Kunst die avantgardistischen Paradigmen der klassischen Moderne bereits außergewöhnlich viel von dem geradezu kritisch enthalten und antizipieren, was zu den Strukturmomenten postmodernen Denkens, Zeitgeistes und Lebens gezählt wird. Die klassische Moderne arbeitet sich ja gerade an Neuzeit, Aufklärung, Idealismus und ihren Prämissen kritisch ab. Und es sind jene Prämissen, die auch der junge Paul Tillich in Zweifel zieht, um
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eine neue Grundlage zu erreichen. Welches sind diese Prämissen? Wie werden sie kritisiert? Die Prämissen, die Tillich in seinen frühen kritischen Theorieentwürfen – ich gestatte mir hier Reformulierung und Konzentration – negiert, lassen sich konzentriert so benennen: 1. Unhaltbar ist die Vorstellung eines autonomen, machtvoll sich seiner selbst bewussten und die Welt souverän beherrschenden und gestaltenden Subjekts; 2. Unhaltbar ist die Vorstellung einer linearen technisch-wissenschaftlichen Fortschrittsgeschichte – d. h. eines Makrosubjektes solchen Fortschritts; 3. Unhaltbar ist die Vorstellung einer linearen praktisch-politischen Emanzipationsgeschichte – d. h. eines Makrosubjektes solchen Fortschritts; 4. Unhaltbar ist sowohl der Gedanke einer göttlich garantierten Seinsordnung, einer substrathaften Ontologie, als auch der Gedanke eines statischen, rationalistisch-deduktiven Theorieparadigmas. Wie sieht demgegenüber die Situation des Menschen nach Tillich aus? Er hat nicht nur eine Reihe schwerer Katastrophen hinter sich, er lebt auch weiterhin in einer Situation, die mit möglichen Katastrophen geladen ist. Statt von Fortschritt spricht er von Krise. […] Er hat das Nichtsein erlebt, das wie ein drohender Ozean alles Seiende umspült. Er hat sein Schicksal erlebt mit seinen plötzlichen, unberechenbaren Einbrüchen in alles, was sicher schien, in seinem Leben und in dem Leben der Völker. Er hat den Tod erlebt als das Sterben Unzähliger, denen die Natur ein volles Leben versprochen hatte, und er hat den Tod erlebt als stündliche Bedrohung seines eigenen Seins. Er hat Schuld erlebt, unvorstellbar in ihren Ausmaßen für menschliche Phantasie, und er hat erlebt, daß er unentschuldbar ist, wenn er auch nur durch Schweigen schuldig geworden ist. […] Er hat gelernt zu zweifeln, auch an dem, was ihm selbst das Sicherste war. Da ist keine Festung des Glaubens geblieben, in die nicht Elemente des Zweifels eingedrungen sind. Und wenn die Frage in ihm auftaucht, welches der Sinn seines Seins ist, dann tut sich ein Abgrund vor ihm auf, in den zu blicken nur der Mutigste wagt, der Abgrund der Sinnlosigkeit.1
Der moderne Ansatz Paul Tillichs besteht zunächst darin, den glaubenslosen Menschen in der Profanität und ohne transzendenten Rückbezug ins Zentrum seiner Analysen zu rücken. 1
Paul Tillich, Gesammelte Werke, Bd. 3, hg. von Renate Albrecht, Stuttgart 1959, 182 f.
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Zur Kennzeichnung dieses Vorgehens dient philosophiegeschichtlich das allerdings missverständliche Rubrum Existentialismus. Man kann die philosophische Eigenart der so benannten Tradition als eine radikal vorurteilslose Analyse der rein immanenten Weltstellung des Menschen umschreiben; als Analytik eines rein diesseitigen Welt- und Selbstverhältnisses des Menschen. Die Ahnenreihe einer solchen Analytik der anthropologischen Prämissen der Moderne bilden – auch für Tillich – Kierkegaard und Marx, Nietzsche und Freud. Je auf ihre Weise haben diese Autoren – gegen die großen idealistischen Systeme v. a. Kants und Hegels – den Primat existentieller Negativität und materieller Faktizität herausgearbeitet. Es gibt keinen unabhängigen Geist und kein autonomes Selbstbewusstsein, unabhängig von einer durchgängigen Endlichkeit, Gebrochenheit und Gefährdetheit, Selbstverdecktheit und Selbstverfehlung, die Tillich mit Kierkegaard und Marx als strukturelle Selbstentfremdung beschreibt. Da es keine negativitätsfreie Selbsttransparenz gibt, und keine ungebrochene, ungetrübte Erkenntnis der Wirklichkeit, kann es auch keinen unproblematischen Bezug auf Ideale, auf das Gute oder auf Gott geben. Solche Bezüge erscheinen vielmehr bei schonungslos redlicher und genauer Betrachtung als menschlich-allzumenschliche Konstrukte und Projektionen. Sie entspringen letztlich der Todesangst. Der frühe Existentialismus, die negative Anthropologie Tillichs speisen ihre denkerische Energie wie viele Zeitgenossen aus der Existenzdialektik Kierkegaards: allgemeine Wahrheiten, universelle Rationalität, wissenschaftliche Objektivität – sie „gibt“ es nur in konkreten Vollzügen der Aneignung, in geschichtlich begrenzten Konstellationen, materiell bedingt und zufällig. Geschichtliche Bedingtheit denkt Tillich nicht nur im Sinne subjektiver Kontingenz. Gleichermaßen nimmt er die Analysen von Marx auf. Der bürgerliche Idealismus und Humanismus ist auch insofern der Unwahrheit überführt, als er die Dominanz der materiellen Produktions- und Reproduktionsbedingungen für die konkreten Lebensvollzüge der Menschen illusionär missachtet. Der recht verstandene Realismus der konkreten Existenz muss somit an Marx ebenso anknüpfen wie an Kierkegaard (und später an Freud). Diese Reflexion führt Tillich zum (religiös fundierten) Sozialismus. Die Reflexion ist analytisch, sie deckt Endlichkeit, Negativität und Bedingtheiten auf, sie führt nicht in eine idealistische, abgehobene Ebene reinen Geistes, sondern sie führt in die konkrete soziale und politische Notsituation der Gegenwart – hier die der Weimarer Republik.
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Mit Nietzsches Diktum: „Der reine Geist ist die reine Lüge.“2 Tillich wurde Pfarrer im Arbeiterviertel Berlin-Moabit – es macht seine Stärke aus, angesichts seiner Einsichten keinen Zweifel daran zu lassen, dass sich der unterstellte Wahrheitsgehalt von Christentum, Humanismus und bürgerlichem Idealismus hier bewähren muss, sonst nicht viel wert wäre. Dies macht Tillich modern: die nach Karl Löwiths großer Darstellung beiden Seiten des Zerfalls der Hegelschen Synthese – Kierkegaard und Marx – aufeinander zu beziehen, „auf der Grenze“, wie er seine spätere Selbstdeutung programmatisch betitelt. Ein weiterer Schritt: Die Negativitätsanalysen Tillichs im apostrophierten Kontext verbleiben nicht im konstatierenden Aufweis bloßer Defizite menschlicher Existenz und Praxis. Tillich versucht in seinen frühen Jahren und auch in seiner Dresdner Zeit, die innere Feinstruktur existentieller und sozialer Negativität genauer zu erfassen. Menschen sind zur Selbstverwirklichung gezwungen. Die Akte der Selbstverwirklichung vollziehen sich in der Endlichkeit: Sie sind der Fehlbarkeit, Irrtumsanfälligkeit, Ungesichertheit, der ständigen Gefährdetheit ausgesetzt. Negativität ist als Selbstentfremdung untilgbar, weil sie sich notwendig noch auf sich selbst zurückbeziehen muss, um sich zu bewältigen. So steigert sie sich zu scheinhaften Formen der Selbstmächtigkeit und der Selbsttransparenz, die als Mythen, Ideale, undurchschaute Theoriekonstrukte und Objektivitätsfetische und in imaginierten Selbstbildern ein gespenstisches Eigenleben gewinnen, das seine Kraft letztlich nur aus der Angst und der Einsamkeit der existierenden Subjekte bezieht. Existentielle Negativität potenziert sich vielschichtig in der illusionären Verabsolutierung endlicher Konstrukte und Entwürfe. Sie verschränkt sich mit der intersubjektiven Ebene der Negativität, die Tillich in seinen vom Marxismus, der Soziologie Max Webers und den Historismusstudien Ernst Troeltschs inspirierten sozialen Entfremdungsanalysen thematisiert. Hier rückt – unter dem Eindruck der 20er Jahre – das Phänomen der Macht ins Zentrum. Tillich stellt in eindrucksvoller realistischer Klarsicht die Unverzichtbarkeit von Machtstrukturen heraus. Grundbedingungen sozialen Lebens sind Bedrohung, Feindschaft, Ungesichtertheit, die Verstricktheit der Menschen in die unüberwindliche Faktizität und Partikularität ihrer Praxis. Es hat keinen Sinn, diese Bedingungen zu leugnen oder sie illusionär zu beschönigen – politische Ordnungen müssen genau diesen Bedin2
Friedrich Nietzsche, Der Antichrist, in: ders., Smtliche Werke, hg. von Giorgio Colli/Mazzino Montinari, Bd. 6, Berlin/New York 1980, 175.
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gungen gerecht werden. Harmonistische Vorstellungen sind im Bereich der Sozial- und Kulturphilosophie ebenso verfehlt wie im Bereich der von Materialität und Kontingenz bestimmten Existenz des Einzelnen.
2. Neue Metaphysik als Lösung? Um den Hintergrund für die kritischen Negativitäts- und Entfremdungsanalysen des frühen Tillich zu begreifen, aber in weit höherem Maße, um die eigentümlich positive Wendung zu verstehen, die er philosophischtheologisch auf diesem Hintergrund überraschenderweise durchführt, genügt nicht der Hinweis auf seine Anknüpfung an Kierkegaard und Marx, Nietzsche und Freud. Denn: Tillich weicht seine scharfen Negativitätsanalysen wieder auf; er weicht sie auf in einer Weise, die mit den genannten Autoren unmöglich wäre. Untergründig wirkmächtig ist hier das Erbe Schellings in Tillichs Denken, einer Rezeption v. a. auch von dessen später positiver Philosophie der Offenbarung und der Mythologie, die sich mit Systemgedanken des Neuplatonismus und der Gnosis verbindet. Tillich promoviert in Philosophie mit der Arbeit „Die religionsgeschichtliche Konstruktion in Schellings positiver Philosophie, ihre Voraussetzungen und Prinzipien“ (Breslau 1910). Seine theologische Lizentiatendissertation von 1912 behandelt „Mystik und Schuldbewusstsein in Schellings philosophischer Entwicklung“. Die Rezeption Schellings prädestiniert Tillichs Denken kurz gesagt dazu, alle Negativität wieder in die Positivität einer unvermittelten Indifferenz zurückzunehmen – eine gedankliche Operation, die so weder mit Kant, noch mit Hegel, und erst recht nicht mit den genannten Autoren der klassischen Moderne möglich gewesen wäre. In einer Rede zum 100. Todestag Schellings am 26. September 1954 bekennt Tillich: „Niemals in der Entwicklung meines eigenen Denkens habe ich die Abhängigkeit von Schelling vergessen.“3 Das bedeutet, knapp gesagt, die Prämisse einer letztlichen absoluten Identität von Natur und Vernunft. Ohne diese Beziehung philosophiehistorisch zu entfalten, möchte ich ihre eigenartigen Konsequenzen im System Tillichs verdeutlichen. In aller Kürze lässt sich sagen, dass Tillich seine modernen Negativitätsanalysen aufweicht, zurücknimmt, ihrem kritischen Stachel undialektisch zu entgehen sucht. Der philosophischen Analyse der Negativität werden theologische Positivitäten entgegengehalten: Gott, Sein und Heil; den 3
Paul Tillich, Gesammelte Werke, Bd. 4, a.a.O., 133.
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Bedingtheiten der empirischen Kontingenz werden die Modi des Unbedingten entgegengestellt; der mannigfachen sozialen und existentiellen Entfremdung werden in erstaunlicher Wendung die Perspektiven des Ausgleichs, der Mitte, der Vollendung und des Absoluten gegenübergestellt. Charakteristisch für dieses kompensatorische Vorgehen – Tillich nennt es später die Methode der Korrelation – ist z. B. folgende Passage: Es ist wie ein Aufreißen der Finsternis, wenn der Blitz eine blendende Helle über alle Dinge wirft, um sie im nächsten Augenblick in tiefster Dunkelheit zurückzulassen. […] Wir werden in der Glaubenserfahrung durch das entgegengestellt Unzugänglich-Heilige ergriffen, das […] in unsere Existenz einbricht und uns richtet und heilt. Das ist Krisis und Gnade zugleich.4
Betrachten wir diesen charakteristischen Umschlag ins unvermittelt Positive anhand einiger Themenschwerpunkte in Tillichs Werk; zunächst zum Umschlag auf der sozialphilosophisch-gesellschaftstheoretischen Ebene. Ich hatte bereits die Machtanalysen hervorgehoben. In seinem Werk „Masse und Geist“ von 1922 erfolgt der Rekurs auf ein machtvolles Einheitsgefühl, das Entfremdung in Richtung auf das Unbedingte hin überwindet: Die mystische Masse trägt in ihrer Tiefe in unmittelbarer, ungebrochener Weise ein einheitliches ,Prinzip‘, ein fundamentales Weltgefühl, eine Grundstellung des Bewußtseins zu dem Unbedingt-Wirklichen, das selbst unbewußt und ungeformt die Quelle aller Bewußtheit und Formung ist.5
Es gibt hier keine ideologiekritischen Vorbehalte hinsichtlich der Apotheose des – sozialistisch konzipierten – Gemeinschaftserlebnisses mehr. Der Einzelne wird absorbiert – „wenn die Masse sich selbst als Masse erlebt“, dann werden wir mitgerissen in eine Bewegung voll „Wucht und Gewalt“, „die grundsätzlich ins Unendliche geht“.6 Im Erlebnisraum der Masse zergeht die negativitätsbelastete Individualität, denn „Intuitionen einfacher, großer Art, Hellsichtigkeiten […] können die Masse weit über alle subjektive Intelligenz erheben.“ „Ist der Einzelne klüger, so ist die Masse genialer. Ist der Einzelne weiser, so ist die Masse böser und besser“.7 Hier, im sozialphilosophischem Bereich, einem ausgezeichneten Bereich der Bewährung konkreten Denkens menschlicher Existenz und 4 5 6 7
Paul Tillich, a.a.O. (Bd. 4), 101 f. Paul Tillich, Gesammelte Werke, Bd. 2, 52. Ebd., 58. Ebd.
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Praxis haben wir mithin ein erstes Beispiel verhängnisvoller mythischer Kompensation der Negativität vor Augen, einer Kompensation, die flagrant wird an Verherrlichungskategorien, die auf Realitäts- und Faktizitätsphänomene angewandt werden. Steuernd hierbei ist, erst untergründig, dann immer expliziter, die leitende Grundvorstellung einer herrlichen und mächtigen Einheit des Seins, eines wahrhaft gewaltigen unum verum, welches alle Gebrochenheit und Entfremdung hinwegnimmt. Von solchen Hypotheken ist der religiöse Sozialismus Tillichs belastet. Es ist selbstverständlich ein zeitbedingtes Stigma der 20er Jahre, Existenzkategorien zu kollektivieren und zu mythisieren, bei Ernst Jünger und Carl Schmitt, bei Heidegger und Lukács, in Gottfried Benns Essays bis zur „Dorischen Welt“, bei Tillichs Freund Emanuel Hirsch. Das allerdings entlastet nicht Tillichs eigentümlich umstandslose Remythisierungsstrategien. In drei Kategorien spitzt er seine Konzeption des religiösen Sozialismus zu: Dämonie, Kairos, Theonomie. Dmonie lautet die Kategorie für die destruktive Wirtschaftsordnung des Kapitalismus. Dämonisch ist das Prinzip des Egoismus – nicht rein satanisch, weil es gleichzeitig destruktiv und produktiv wirkt. Kairos ist der Titel für die geschichtliche große Stunde, in der der massenhafte „Durchbruch“ zum Unbedingten eines neuen, eigentlichen Seins geschieht, in der das Unbedingte „aufblitzt“. (Das Buch „Kairos und Logos“ entstand in der Dresdner Zeit, erschien 1926). Theonomie meint, dass die ganze bürgerliche Kultur und die praktische Gegenkultur letztlich transparent sind auf das Unbedingte und Göttliche hin – in aller Profanität. Der Sozialismus wird beschrieben mit den theologischen Grundkategorien von Krisis, Gericht und Prophetie. Was hier geschieht, ist eine Mythisierung sozialer und politischer Vorgänge. Gesellschaftlich-geschichtliche Prozesse werden mit metaphysischen Reizworten und Großetiketten versehen. Anders gesagt: Die zutreffende Negativitäts- und Entfremdungsanalyse und Diagnose kippt um in Hohlformen der Gewalt und in „Lösungen“, die bei näherer Betrachtung eine prekäre Nähe zu archaischen Regressionen aufweisen. Und vor allem: Während anfänglich – Faust 1. Teil – ideologiekritisches Bewusstsein gerade angesichts der Gefahr illusionärer Projektionen wach war bei Tillich, er die moderne Religionskritik wahrnahm und produktiv aufnahm, so scheint er nun – Faust 2. Teil – erkennbare Fakten des empirischen Bereichs auf eine inkommensurable Weise symbolisch zu transzendieren und zu theologisieren. Solche Mystifikationen kennen wir auch von Ernst Jünger, von Heidegger. Sie lassen sich allzu leicht als
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Selbstreflexe eines ideologischen Bewusstseins entlarven – ironischerweise mit eben denjenigen Mitteln, die in den anfänglichen kritischen Analysen zum Einsatz kamen. Auf diese Weise erlangt das Tillichsche Denken gnostisch-dualistische Züge, die wohl in einem von Schelling geprägten, in Grund und Abgrund gespaltenen Gottesverständnis präformiert sind und sich auch in die Christologie hinein fortsetzen. Die sozialpolitischen Probleme erfahren „unrealisierbare und sozialpsychologisch unglaubwürdige Überkonstruktionen“.8 In „Masse und Geist“ radikalisiert sich Tillichs Sozialromantik zur erträumten Einheit von Person und Gemeinschaft, Kirche und Gesellschaft – „Dem Wesen nach sind Kirche und Gesellschaft eins“9 – mithin zu einem geradezu mittelalterlichen Einheitsverständnis. Es herrscht ein großes Defizit an pragmatischen und graduellen Kategorien. Verfolgen wir diese Typik einer monistisch-identitätsphilosophischen Absorption von Negativität noch auf den Gebieten der Geschichtsphilosophie und der philosophischen Theologie selbst. Tillichs Geschichtsphilosophie bezieht sich auf die Menschheit insgesamt. Auch hier erfolgt die Kollektivierung der Existenzkategorien.10 Sie wird umgriffen und fundiert von einer Geschichtstheologie, die ebenfalls letztlich alle Negativität und Entfremdung in sich aufsaugt – gemäß einem triadischen Schema von Einheit, notwendiger Selbstentfremdung und Rückkehr, das aus dem Neuplatonismus von Plotin und Proklos bekannt ist und dort mit den Grundbegriffen mon – prohodos – epistroph benannt wurde. Dieses Schema kann von Tillich auch trinitätstheologisch besetzt werden. Es gibt demnach eine gleichsam ontologisch stabile Kontinuität von Offenbarung und Offenbarungsgewissheit in der Geschichte. Es gibt nur dämonische Umwege dieser Kontinuität – um es mit Klaus-Michael Kodalle zu sagen: Es gibt nur „kurzzeitige Black-outs“ des Absoluten.11 Die neuplatonische Ontologie des exeilixen, der Auswickelung, absorbiert alles Negative der Geschichte, ja, man hat 8 So zu Recht Matthias Kroeger, „Paul Tillich als Religiöser Sozialist“, in: Hermann Fischer (Hg.), Paul Tillich. Studien zu einer Theologie der Moderne, Frankfurt a.M. 1989, 93 – 137, dort 106. 9 Paul Tillich, Gesammelte Werke, Bd. 9, a.a.O., 42. 10 Klaus-Michael Kodalle, „Auf der Grenze? Paul Tillichs Verhältnis zum Existentialismus“, in: Hermann Fischer (Hg.), Paul Tillich, a.a.O. (Anm. 8), 301 – 334, dort 321. 11 Ebd., 320.
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den Eindruck, die christliche Dogmatik wird in der späteren systematischen Theologie Tillichs zur Funktion einer solchen Ontologie. Früh wurde diese Problematik gesehen. Kein geringerer als Karl Barth hat Tillich in scharfer Polemik bereits 1923 ein allzu „großzügig geübtes Generalisieren“, einen „allzu billigen Universalismus“ vorgeworfen. Wenn er Tillichs Texte lese, so Barth, sehe er immer eine „breite Glaubens- und Offenbarungswalze“ über alles dahingehen, über die Häuser, die Menschen und die Tiere, als ob sich das alles von selbst verstünde, dass überall Gericht und Gnade walte, als ob alles einfach einbezogen sei in die Paradoxie der Christusoffenbarung. Das sei die „Theologie des babylonischen Turmbaus“. Und noch der alte Karl Barth wendet sich in seiner letzten Vorlesung in Basel gegen die philosophische Theologie Tillichs als einen „reinen Wunschtraum, zu schön, um wahr zu sein“.12 Eine solche universale Synthese sei zwar verhältnismäßig einfach zu vollziehen, aber sie ergebe ein Einerlei, in dem die Differenzen der Welt verschwänden. Und auch der skeptische Philosoph Wilhelm Weischedel fragt in seinem „ehrerbietigen Widerspruch“: „Verschwimmt damit nicht alles ins ungeschiedene Einerlei?“13 Tillich kann diese leichtfertigen Universalisierungen, Totalisierungen und Analogisierungen von Religion und Kultur, Empirie und Transzendenz, Endlichkeit und Ewigkeit, Profanem und Heiligem – und damit die rigorose Konterkarierung und „camouflage“ (Kodalle) von Negativität und Entfremdung – vollziehen, weil er letztlich philosophisch, vermittelt über Schelling, einen vormodernen „metaphysischen Seinspositivismus“14 jenseits geschichtlicher Gebrochenheit zur Verfügung zu haben glaubt. Negativität ist nur das Prolegomenon der wahren Offenbarung der Identität von Gott und Sein, des Unbedingten ohne jedes Spezifikum. Tiefer und durchgreifender als die Rezeption der modernen Entfremdungsanalyse, tiefer und durchgreifender auch als die Rezeption der biblischen Texte, die von einer praktischen kommunikativen Lebensform der Liebe, ich möchte sagen: hilflos inmitten untilgbaren Leidens und Scheiterns zeugen, tiefer und durchgreifender wenigstens für den systematischen Gesamtrahmen der Tillichschen Großsynthese scheint mir daher die Rezeption einer neuplatonischen Stufenontologie zu sein. Sie wird in ihrer vormodernen und auch nicht-antiken Eigenart 12 Karl Barth, Einfhrung in die evangelische Theologie, Zürich 21963, 125. 13 Wilhelm Weischedel, „Paul Tillichs philosophische Theologie. Ein ehrerbietiger Widerspruch“, in: Karl Henning, Der Spannungsbogen, Stuttgart 1961/62, 32 f. 14 So zu Recht Kodalle, a.a.O., 319 ff.
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daran identifizierbar, dass sie die Möglichkeit kennt, das Wort „seiend“ im Komparativ und also als relationales Prädikat in Sätzen wie: „x ist seiender als y“ zu verwenden, bzw., in Tillichs charakteristischer Verbindung von Macht und Sein, in Wendungen wie „x ist seinsmächtiger als y“. Durch eine solche sprachliche Operation kann Tillich eine quasineuplatonische Seinshierarchie etablieren, die so nicht klassisch-antik, sondern – nach dem Vorgang von Plotin und Proklos – christlich-mittelalterlich bzw. eher noch byzantinisch ist. Es ist hier die Rede von „Seinshöhe“ und „Seinsrang“; es handelt sich um die ontologische Substruktion, Substantialisierung und Objektivierung einer Axiologie, die sich – ich komme an den Anfang meiner Überlegungen zurück – von der faktischen, endlichen und negativen Existenzbewegung völlig losgelöst hat und eine positivistische Seinsmetaphysik wiederherstellt. In ihr emaniert der namenlose Grund in unendlicher Fülle – es gibt schließlich keine geschöpfliche Selbständigkeit mehr. Aber wenn alle Entfremdung in letzter Einheit verschwindet – gerät dann nicht Gott in pure Indifferenz? 15 Diese eigentümliche Indifferenz und Kompatibilität aller Ebenen auf dem Hintergrund eines philosophischen Doketismus und Dualismus vertritt auch der amerikanische Tillich. Ich kann diese Kontinuität in der Entwicklung Tillichs hier nicht mehr thematisieren.
3. Negativität, Religion, Metaphysik – Kritische Thesen Abschließend möchte ich einige kritische Thesen als kleinen systematischen Ausblick formulieren. 1. Das Negative und die von Tillich anfänglich akzentuierten Entfremdungsphänomene sind, wie sehr sie auch gemildert und erträglich gestaltet werden mögen, nie gänzlich tilgbar, sondern bleiben auf neuen Niveaus auch in veränderter Gestalt immer erhalten. 2. Nicht eine vorgängige, differenzlose, alles Widersprüchliche integrierende Einheit ist konstitutiv für die europäische Vernunftgeschichte, sondern das Bewusstsein von Differenzen, Gradualitäten und pragmatischen Kategorien zur Bewältigung von Problemen in kom15 So Traugott Koch, „Gott: Die Macht des Seins im Mut zum Sein. Tillichs Gottesverständnis in seiner Systematischen Theologie“, in: Hermann Fischer (Hg.), Paul Tillich, a.a.O., 169 – 206, dort 191.
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plexen Teilbereichen (z. B. der Wissenschaften, der Politik, des Rechts, der Moral und der Religion). 3. Auch das ,Unbedingte‘ der Religion gibt es nicht „rein“ und „unmittelbar“, sondern nur in einem kulturellen, sozialen und geschichtlichen Kontext, vor allem: in sprachlich vermittelter Form. Die Rede vom Absoluten bedarf daher der Kontextualisierung und Relationalisierung. 4. Das genuine ,Christliche‘ ist eine geschichtlich konkrete, bei aller Weltgeltung partikulare, kommunikative Lebensform. Praktische Frömmigkeit im Alltag sowie meditative und kongregative Handlungsweisen im Kontext der Überlieferung gründen nicht in einer Metaphysik des Absoluten. Deren Sinn lässt sich umgekehrt nur im Rückgang auf die Lebenspraxis verständlich machen.
Die Macht der Negativität. Kritik und Rekonstruktion philosophischer Anthropologie im Blick auf Gehlen Dreimal haben die Götter versucht, den Menschen zu schaffen. Zum ersten Mal schufen sie ihn aus Lehm; doch der Mensch aus Lehm war so dumm und ungeschickt, daß die entrüsteten Götter ihn sogleich wieder vernichteten und einen neuen Menschen aus Holz bildeten. Auch dieser Versuch mißlang, denn der Holzmensch war grob und bösartig, so daß man auch ihn wieder vernichtete. Einige der Holzmenschen entgingen jedoch der Vernichtung und flohen in die Wälder; sie bilden dort das Volk der Affen. – Die Götter sagten: Laßt es uns doch noch einmal probieren! Und sie schufen Menschen aus Teig. Die Teigmenschen waren klug, aber auch listig und verschlagen. Die Götter jedoch waren müde geworden und sprachen: „Ach – die lassen wir jetzt so.“ Sie ließen die Menschen trotz ihrer Unvollkommenheit am Leben. Nur vernebelten sie ihnen noch das Hirn, so daß sie trotz ihrer Klugheit zu Irrtümern neigen und die letzten Geheimnisse dieser Welt nicht ergründen können. Inka-Mythos Aber daß das von seinem Umfange getrennte Akzidentelle als solches, das Gebundne und nur in seinem Zusammenhange mit anderm Wirkliche ein eigenes Dasein und abgesonderte Freiheit gewinnt, ist die ungeheure Macht des Negativen; es ist die Energie des Denkens, des reinen Ichs. Hegel
Der folgende Beitrag entwickelt zunächst (1.) Überlegungen zur Tradition negativer Anthropologie. Er thematisiert auf diesem Hintergrund (2.) paradigmatisch und kritisch die philosophische Anthropologie Arnold Gehlens.1 Im letzten Abschnitt werden (3.) systematische Perspektiven einer philosophischen Anthropologie für die Gegenwart und ihr Verhältnis zur praktischen Philosophie entwickelt. Der Beitrag akzentuiert insbesondere die Bedeutung struktureller Negativität für die Anthropologie.
1
Vgl. die Hauptwerke: Arnold Gehlen, Urmensch und Sptkultur, Frankfurt a.M. 1956; ders., Die Seele im technischen Zeitalter. Sozialpsychologische Probleme in der industriellen Gesellschaft, Reinbek 1957; ders., Der Mensch. Seine Natur und seine Stellung in der Welt, Berlin 1940; ders., Moral und Hypermoral. Eine pluralistische Ethik, Frankfurt a.M. 1969.
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1. Zur Tradition negativer Anthropologie: Abwesenheit, Unbestimmtheit und Fragilität des Menschen Die philosophische Reflexion der Gegenwart bietet – mehr denn je – ein unübersichtliches Bild. Nach dem Zerfall der großen Schulen, in einer krisenhaften Phase epochaler Desorientierung, in der die einen in akademischer Sterilität kanonische Autoren der Vergangenheit exegesieren, andere formalistische Glasperlenspiele in kleinen Zirkeln zum Paradigma erheben, noch andere Desorientierung und Sinndestruktion selbst auf esoterische Weise zur letzten Auskunft philosophischer Reflexion erklären, in einer solchen Phase ist eine eindeutige und klare Sinnorientierung der Philosophie an Vernunft und Aufklärung, an der Kooperation mit den Wissenschaften sowie an der gesellschaftlichen und individuellen Lebenspraxis ohne Alternative. Zu dieser Sinnorientierung gehört konstitutiv die Frage danach, wer wir sind – die Frage nach einem angemessenen Selbstverständnis des Menschen. Sie kann aber nicht abstrakt und unmittelbar beantwortet werden, sondern nur im gleichzeitigen Rekurs auf die gesellschaftlichen Bedingungen menschlicher Praxis und Selbsterkenntnis. Insofern ist aus systematischen Gründen eine langfristige und dauerhafte Kooperation von Anthropologie, Soziologie und Philosophie unverzichtbar. Die systemische Vernetzung aller Lebensbereiche, die Globalisierung und die Prozesse der interkulturellen Konfrontation und Kooperation, aber z. B. auch die gegenwärtig drängenden Fragen der Bioethik und der Gentechnologie, der Bildungspolitik und der Altersentwicklung unserer Gesellschaft verschärfen diese Notwendigkeit der Kooperation. Im vergangenen Jahrhundert waren es in Deutschland wirkmächtige Autoren wie Gehlen und Plessner, mit anderer Akzentsetzung auch Adorno und Habermas, die einen in diesem Sinne integrativen, holistischen und auf gelingende Praxis abzielenden Ansatz der Reflexion gründlich und breit entwickelt haben. Dem Paradigma philosophischer Anthropologie kommt dabei besondere Bedeutung zu. Um deren Status auch architektonisch angemessen bestimmen zu können, muss zunächst auf ein befremdliches Phänomen hingewiesen werden: auf die Abwesenheit des Menschen in der philosophischen Reflexion, auf das Phänomen des homo absconditus. 2 Statt vom Menschen ist seit Beginn der philosophischen Traditionsbildung vom zoon logon echon, vom animal rationale – noch recht 2
Vgl. Thomas Rentsch, Artikel „Mensch“, in: Hans Jörg Sandkühler (Hg.), Enzyklopdie Philosophie Bd. 1, Hamburg 1999, 814 – 818.
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sinnvollen Bestimmungen –, dann aber vom „Geist“, von der „Seele“, vom „Subjekt“, vom „Bewusstsein“, vom „Ich“, vom transzendentalen Ego die Rede. Auf vielfältige Weise erfolgt eine systematische Ausklammerung des Menschen und des Menschlichen, ein Überspringen der menschlichen Lebenswelt und Lebenspraxis, eine Verdrängung der konkreten Lebenserfahrung mitsamt der Arbeitswelt, der Sinnlichkeit, der Sexualität, der Triebsphäre, des Weiblichen und des Unbewussten. Weite Teile der philosophischen Tradition marginalisierten diese zentralen Lebensbereiche und überließen sie den Künsten mit ihren ebenfalls ideologieanfälligen Vergegenwärtigungsweisen. Zwar zeigen sich in der Genesis der okzidentalen Rationalität immer wieder Spuren fundamentalanthropologischer Reflexion, aber sie sind ontologisch bzw. kategorientheoretisch betrachtet stark verzerrt z. B. durch einen vorgängigen christlich-theologischen oder einen reduktionistischmaterialistischen Rahmen. Entweder, es erfolgten metaphysische Überbestimmungen des Menschen – exemplarisch im christlichen Platonismus und mit der Kernbestimmung der Unsterblichkeit der Seele; oder es erfolgten z. B. mechanisch-materialistische Unterbestimmungen des Menschen als Maschine. An der Geschichte der Anatomie des Menschen wird dieser prekäre, von Missverständnissen gepflasterte Weg zur Selbsterkenntnis besonders deutlich. Bis auf einige allerdings rare und exzellente Ausnahmen – Pico della Mirandola, Montaigne, die französischen Moralisten – führen fundamentalanthropologische Reflexionen in der Philosophie eher ein Schattendasein. Nach ambivalenten Vorarbeiten durch Kant und im Deutschen Idealismus wandelt sich dies grundlegend erst durch akademische Außenseiter: durch Kierkegaard und Marx, durch Nietzsche und Freud. Erst im vergangenen Jahrhundert erlebt die philosophische Anthropologie als eigenständige Disziplin v. a. im deutschsprachigen Raum durch Scheler, Plessner und Gehlen eine gewisse Blüte. Auch Existenzialismus und westlicher Marxismus, Psychoanalyse und Strukturalismus sowie die damit verbundenen Traditionen der Soziologie führen die explizit-anthropologische Reflexionen in der Tradition der erwähnten akademischen Außenseiter im kontinental- europäischen Raum produktiv weiter. Zwei systematische Probleme sollen im Blick auf die gegenwärtige Aufgabe der Entfaltung einer philosophischen Anthropologie im Allgemeinen und im Blick auf die kritische Auseinandersetzung mit Arnold Gehlen im Besonderen im Folgenden im Zentrum der Betrachtung stehen. Es ist zum einen das Grundproblem der Negativität, zum anderen
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das Problem des ambivalenten Status der philosophischen Anthropologie zwischen Normativität bzw. Sinnexplikation und Faktizität bzw. Deskription, zwischen Naturwissenschaft und Existenzdeutung. Das Grundproblem der Negativität stellt sich sowohl auf der objektsprachlichen, inhaltlichen Ebene der Frage nach einer möglichen Definition und „Wesensbestimmung“ des Menschen, als auch auf der metasprachlichen Ebene der Frage nach dem methodischen Wie, nach dem methodischen Status einer philosophischen Anthropologie. Beide Probleme sind systematisch auf das Engste verklammert, weil Methode und Selbsterkenntnis 3 in diesem Bereich – anders als z. B. in der Mathematik oder der Botanik – untrennbar sind. Hermeneutik und Transzendentalphilosophie, die man auch mit einigem Recht als Vorläufer philosophischer Anthropologie betrachten kann, haben dies immer wieder eingeschärft: Wir sind selbst Gegenstand der Untersuchung und deren Subjekt. Die Probleme der Zirkularität, der transzendentalphilosophischen Zwei-Welten-Ontologie, der Dialektik und der hermeneutischen „Spiralbewegung“ der Selbstauslegung entspringen hier. Schon früh ist diese negative Grundstruktur der menschlichen Selbsterkenntnis eindrücklich artikuliert worden. Sie gehört zum Kernbestand der für die Genesis der okzidentalen Rationalität konstitutiven Sinntraditionen. In der jüdisch-christlich-islamischen Schicht steht das Bilderverbot im Zentrum: der Mensch ist nach dem Bilde Gottes geschaffen, Gott selbst aber ist unsichtbar und bleibt bildlos: „Du sollst dir kein Gottesbild machen noch irgend ein Gleichnis“ (Ex 2, 20). Auf der Ebene der objektiven Wesensbestimmung ist der Mythos vom Sündenfall das Pendant dieser strukturellen Negativität, der erkenntnismäßigen und seine Praxis fundamental prägenden Mangelhaftigkeit und Fehlbarkeit des Menschen. Vertreter der sieben Weisen des antiken Griechenland lehrten zwar den Weisheitsspruch: „Erkenne dich selbst.“ (gnothi seauton, Chilon von Sparta), aber mit dem wesentlichen Zusatz: „Nicht zu sehr!“ (meden agan, Solon von Athen).4 Bei Pindar – vergegenwärtigt unlängst wieder in der beeindruckenden Interpretation Theunissens – ist der Mensch „eines Schattens Traum.“5 Das Sokratische Nichtwissen bezieht 3 4 5
Vgl. Thomas Rentsch, Die Konstitution der Moralitt. Transzendentale Anthropologie und praktische Philosophie, Frankfurt a.M. 21999, I-L. Vgl. Wilhelm Capelle (Hg.), Die Vorsokratiker, Stuttgart 1968. Michael Theunissen, Pindar. Menschenlos und Wende der Zeit, München 2000, 53 ff.
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sich auch auf die Selbsterkenntnis. Die Fehlbarkeit und konstitutive Gestörtheit des menschlichen Welt- und Selbstverhältnisses steht im Zentrum des Höhlengleichnisses Platons. Auch im Kosmosmodell des Aristoteles ist die sublunare Sphäre, der Lebensbereich der Menschen, der Bereich der Wandelbarkeit, der Gefährdung, der Bedrohtheit und der Zeit als der Bewegung zum Entstehen und zum Untergang. Erst zu Beginn der Neuzeit löst sich eine eigenständige anthropologische Reflexion aus dem Verband der Schulphilosophie, der theologischen Metaphysik, heraus. In dieser Zeit, der Renaissance, schwindet die Verbindlichkeit metaphysischer Wesensbestimmungen des Menschen. Andererseits stehen noch nicht, wie dann später – die mathematisch-physikalischen, experimentellen Naturwissenschaften bereit, um ihrerseits an der Stelle und gegen die metaphysische Theologie eine solche Wesensbestimmung des Menschen zu leisten. Anthropologiegeschichtlich erfolgt hier erstmals der explizite Versuch, den Menschen nicht mehr über transhumane Ordnungen, z. B. eine vorgegebene Schöpfungs- und Heilsordnung, aber auch noch nicht über subhumane Ordnungen – Natur, Evolutionsbiologie, Genetik – zu bestimmen. In der berühmten Oratio de dignitate hominis des Giovanni Pico della Mirandola von 1486 erfolgt – rhetorisch noch im Gewand eines theistischen, neuplatonisch strukturierten Schöpfungsmythos – der Entwurf einer negativen Anthropologie der Freiheit. Die oben kurz skizzierten negativistischen Traditionen der Antike werden damit ebenso fortgeführt wie aus vorgegebenen Ordostrukturen emanzipiert. Gott, der Baumeister der Welt (Pater architectus) denkt nach allen schon vollbrachten Schöpfungsaktivitäten zuletzt erst an die Erschaffung der Menschen. Es war aber unter den Archetypen keiner mehr, woraus er ein neues Geschöpf hätte bilden, in seinen Kammern nichts mehr, was er dem neuen Sohn als Erbgut hätte schenken können, und es war in aller Welt kein Ort mehr, den jener Betrachter des Universums hätte einnehmen können. Es war schon alles gefüllt (Iam plena omnia); alles unter die oberen, mittleren und unteren Ordnungen verteilt. Nun konnte aber doch die Macht des Vaters nicht aus sozusagen erlahmender Kraft bei seinem letzten Geschöpf versagen, seine Weisheit konnte nicht bei so notwendiger Tat in Ratlosigkeit sich verlieren, und seine wohltätige Liebe konnte nicht zulassen, dass der, der an den anderen Gottes Freigiebigkeit preisen sollte, sie im Blick auf sich selbst verurteilen müsste. So beschloss der Werkmeister in seiner Güte, dass der, dem er nichts Eigenes mehr geben konnte (nihil proprium), an allem zugleich teilhätte, was den einzelnen sonst je für sich zugeteilt war. Also ließ er sich auf den Entwurf vom Menschen als einem Gebilde ohne unterscheidende Züge ein; er stellte ihn in den Mittelpunkt der Welt und sprach zu ihm: ,Keinen festen Ort habe ich dir zu-
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gewiesen und kein eigenes Aussehen (nec certam sedem, nec propriam faciem), ich habe dir keine dich allein auszeichnende Gabe verliehen, da du, Adam, den Ort, das Aussehen, die Gaben, die du dir wünschst, nach eigenem Willen und Ermessen erhalten und besitzen sollst. Die beschränkte Natur der übrigen Wesen wird von Gesetzen eingegrenzt, die ich gegeben habe (natura intra praescriptas […] leges). Du sollst deine Natur ohne Beschränkung nach deinem freien Ermessen, dem ich dich überlassen habe, selbst bestimmen (tibi illam praefinies). Ich habe dich in die Weltmitte gestellt, damit du umso leichter alles erkennen kannst, was ringsum in der Welt ist. Ich habe dich nicht himmlisch noch irdisch, nicht sterblich noch unsterblich geschaffen, damit du dich frei, aus eigener Macht, selbst modellierend und bearbeitend zu der von dir gewollten Form ausbilden kannst. Du kannst ins Untere, zum Tierischen, entarten; du kannst, wenn du es willst, ins Göttliche wiedergeboren werden.6
Pico fragt dann angesichts der vielfältigen Möglichkeiten und Lebensformen, die der Mensch annehmen kann: „Wer sollte so ein Chamäleon nicht bewundern?“7 Er unternimmt eine strikt negative Bestimmung des Menschen im kritischen Gegenzug zu traditionellen anthropologischen Wesensbestimmungen. Gott hatte keinen Archetypus mehr in seinen Vorräten, kein Wesensbild, kein Grundmuster, kein Paradigma. Das Wesen des Menschen besteht, knapp gesagt, darin, dass er kein Wesen hat. Er ist das Wesen ohne Eigenschaften.8 Die Tradition vor Pico, die scholastische Schulmetaphysik, hatte den Grundsatz: operari sequitur esse, das Handeln folgt dem Sein. Gemäß dem von Gott bereits festgesetzten wesenhaften Sein, der essentia, gestaltet sich dann auch das menschliche Handeln, das operari. Demgegenüber lehrt Pico: Die Besonderheit des Menschen besteht nicht in seiner vorgegebenen Natur, in irgend einem wesenhaften Sein, sondern diese Besonderheit besteht in der Tatsache, dass er über keine Natur, über keine essentia verfügt, die sein Handeln im vorhinein determiniert. Er muss sich selbst schaffen: esse sequitur operari. Das lehrt Pico 500 Jahre vor Heidegger und Sartre. Diese negative Wesensbestimmung erhält zudem eine ethische Wendung: Da der Mensch keine Natur hat, so ist es seine Aufgabe in 6 7 8
Giovanni Pico della Mirandola, De dignitate hominis, lat. und dt., Bad Homburg/ Berlin/Zürich 1968, 26 – 29. Ebd., 30 f. Vgl. zur Kategorie der Eigenschaftslosigkeit in ihrer bleibenden Bedeutung bis zur Genese der Moderne in Literatur und Philosophie: Thomas Rentsch, „Wie ist ein Mann ohne Eigenschaften überhaupt möglich? Philosophische Bemerkungen zu Musil“ in: ders., Negativitt und praktische Vernunft, a.a.O., 292 – 321.
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der Welt, Friede durch Einigung und Aussöhnung aller vorfindlichen natürlichen und geschöpflichen Weltbewohner zu stiften. Die negative Anthropologie führt zur Ethik.9 Die Rede des Pico della Mirandola De dignitate hominis ist 500 Jahre alt. Wenn man die anthropologischen Thesen und Themen betrachtet, die im 20. Jahrhundert aufgestellt und diskutiert werden, sieht man, dass die Kernbestimmung dieses Renaissancephilosophen nicht verkehrt gelegen hat. Die anthropologische Reflexion in Aufklärung und Moderne kann in dieser Tradition des Denkens gesehen werden. Ich möchte das an einigen prominenten Beispielen verdeutlichen. Pico trifft negative anthropologische Feststellungen: 1. Kein Archetypus ist mehr vorrätig für den Menschen. 2. Kein Ort ist mehr in der Welt für ihn, alles ist schon besetzt. 3. Der Mensch wird entworfen als Gebilde ohne unterscheidende Züge, ohne positive Eigenschaften. 4. Er ist daher genötigt, sich handelnd selbst ein Wesen zu schaffen. Der Mensch erscheint somit als leere Stelle in der Welt. Heidegger spricht später vom „Platzhalter des Nichts.“10 Nietzsche sieht den Menschen „zwischen zwei Nichtse eingekrümmt, – ein Fragezeichen.“11 Bereits Pascal denkt so. Er sieht den Menschen zwischen Nichts und All – und beidem fremd.12 Bereits an dieser Skizze der Genese der negativen Anthropologie der Freiheit wird deutlich, dass die Tradition eine der Freiheit von substanziellen Wesensbestimmungen ist. Gegner und Kritiker philosophischer Anthropologie wiederholen und kolportieren bis in die Gegenwart das irreführende Gerücht von den in ihr substanzontologisch festgeschriebenen, „ahistorischen“ „anthropologischen Konstanten“. Selbstverständlich gibt es – zum Beispiel in der leiblichen Konstitution, dem aufrechten Gang, der menschlichen Hand, in der Sprach- und Vernunftfähigkeit und im Sozialverhalten des Menschen solche strukturell stabilen Gegebenheiten. Aber sie sind so elementar und fundamental, dass sie ihre spezifisch geschichtlich-kulturellen Überformungen nicht anders als an deren Basisontologie betreffen. „Ableitbar“ aus diesen Konstanten sind konkrete kulturelle und soziale Praxisformen – in Ägypten, Rom, 9 Pico della Mirandola, De dignitate hominis, a.a.O., 38 – 41. 10 Martin Heidegger, Was ist Metaphysik?, Frankfurt a.M. 1975, 38. 11 Friedrich Nietzsche, Dionysios-Dithyramben, Sämtliche Werke, KSA Bd. 6, München 1980, 375 – 410, dort 392. 12 Blaise Pascal, Penses, hg. von Ewald Wasmuth, Heidelberg 1978, 43, Nr. 72.
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oder in der Bundesrepublik Deutschland im Jahre 2010 – mitnichten. Aber mehr noch: Die anthropologische Reflexion in der aufgewiesenen Tradition ist eine Analyse der ständigen Wandelbarkeit und Neukonstitution des Menschen durch seine spezifische, auch kulturelle Entwurfspraxis. „Konstant“ ist in diesem Sinne der negativen Anthropologie nur die Wesenlosigkeit und die Möglichkeit, sich neu zu entwerfen. „Konstant“ sind Endlichkeit und Freiheit. Bereits Picos Bild vom „Chamäleon“ Mensch hat diese Pointe. Ähnlich steht es mit weiteren prominenten Befunden der philosophischen Anthropologie. Nach Johann Gottfried Herder ist der Mensch organisch mittellos, ein Mängelwesen. Jedes Tier hat seine Sphäre, der es von Natur aus zugehört und die es instinktsicher bewohnt. Demgegenüber erscheint der Mensch als konstitutiv orientierungslos. Und wie bei Pico die Kehrseite der Mängel und Unspezialisiertheit des Menschen die Möglichkeit war, sich in Freiheit eine eigene Natur und eine eigene Welt allererst selbst zu modellieren, ohne dabei spezifisch festgelegt zu sein, so nennt auch Herder die Weltoffenheit, die aus der konstitutiven Instinktarmut des Menschen herrührt, „den aus der Mitte seiner Mängel dem Menschen entstehenden Ersatz.“13 Diese Analyse wird in der philosophischen Anthropologie der Moderne fortentwickelt. Dabei wird die Wesenlosigkeit, die Instinktarmut, die Unspezialisiertheit, die konstitutive Orientierungslosigkeit und Bedürftigkeit des Menschen immer deutlicher bereits in seiner biologischen Natur angesetzt. Die Ergebnisse der empirischen Forschung schließen sich so mit bestimmten Deutungsversuchen der philosophischen Anthropologie zusammen; sie widersprechen einander nicht, sondern ergänzen sich. Ich erwähne einige Punkte, die Herders Beobachtung später bestätigt haben: 1. Der Mensch hat keine besonderen Angriffs-, Schutz- oder Fluchtorgane. 2. Seine Sinne sind sämtlich unspezialisiert; jeder Sinn ist im Tierreich jeweils viel besser ausgeprägt. 3. Der Mensch hat kein Haarkleid und ist ohne natürliche Anpassung an die Witterung. 4. Anatomen sprechen von bestimmten menschlichen Organbesonderheiten als von archaischen, primitiven Merkmalen: das lückenlose Gebiss, die fünfgliedrige Hand. Diese Merkmale sind entwicklungs13 Johann Gottfried Herder, Abhandlung ber den Ursprung der Sprache, in: Werke Bd. 5, hg. von Bernhard Suphan, Berlin 1891, 27.
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geschichtlich sehr alt; sie wurden bei allen Weiterentwicklungen im Tierreich Ausgangspunkt von Spezialisierungen (in Gestalt von Eckzähnen, verkürzten Daumen usf.). 5. Neben diesen archaischen Merkmalen stellt man dauerhaft gewordene Fötalzustände am Menschen fest: den nach Bolk sogenannten embryonischen Habitus – die Schädelwölbung mit untergesetztem Gebiss, die Struktur der Beckenregion, die lange Hilflosigkeit der Kleinkindphase, die späte Geschlechtsreife. In all diesen Fällen spricht man zusammenfassend auch von Unspezialisiertheit.
2. Die philosophische Anthropologie Arnold Gehlens – kritische Rekonstruktion Arnold Gehlen knüpft mit seinem Hauptwerk Der Mensch. Seine Natur und seine Stellung in der Welt (1940) an Herder und die aufgewiesene Tradition negativer Anthropologie explizit an. Aus seiner philosophischen Anthropologie, die Ergebnisse der empirischen Anthropologie von vorne herein mit berücksichtigt, entwickelt er eine eigene Kultur- und Institutionentheorie. Nach Nietzsche ist der Mensch „das noch nicht festgestellte Tier.“14 Bereits Kant sieht den Menschen als ein Wesen, das von Natur aus Kultur hat, der Kultur bedürftig ist. Auch für Gehlen und unter dem Eindruck der nicht zu leugnenden, soeben erwähnten biologischen Befunde gilt, dass der Mensch biologisch zur Kultur und zur Naturbeherrschung gezwungen ist. Dem biologischen Invaliden und konstitutiv hilflosen Wesen Mensch dienen die Institutionen und kulturellen Organisationen, seine Mängel zu kompensieren. Das führt zu recht deutlicher konservativer Kulturkritik, denn wer angesichts der Kostbarkeit der Institutionen diese antastet und unbedacht umstürzt, der zerschlägt diejenigen unverzichtbaren Krücken, an denen sich das Mängelwesen überhaupt aufrecht halten kann. Mit Bezug auf die von Karl-Siegbert Rehberg entwickelte These von einem durchgängig das Werk Gehlens prägenden „existentiellen Motiv“15 will ich im Folgenden untersuchen, ob und wie die von mir 14 Friedrich Nietzsche, Jenseits von Gut und Bçse, Sämtliche Werke, KSA Bd. 5, München 1980, 9 – 243, dort 81. 15 Karl-Siegbert Rehberg, „Existentielle Motive im Werk Arnold Gehlens. ,Persönlichkeit‘ als Schlüsselkategorie der Gehlenschen Anthropologie und Sozial-
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skizzierte Tradition konstitutiver Negativität in der Anthropologie material – zur inhaltlichen Bestimmung des Menschen – sowie methodisch – mit Blick auf die Frage nach dem Status philosophisch-anthropologischer Reflexion und Analyse – aufgenommen und weiterentwickelt wird. Es wird sich zeigen, dass die Antwort auf diese Fragen mit der Klärung des Verhältnisses der deskriptiven zur normativen Ebene der anthropologischen Reflexion – mit der Klärung ihrer Konsequenzen für das Verständnis unserer Praxis eng verbunden ist. Rehbergs These sieht „das zentrale Motiv“ aller Arbeiten Gehlens in der Problematik des existentiellen Verhältnisses von „,Personwerdung‘ und ,Ordnung‘“.16 Die Gehlenschen „Schlüssel-Kategorien“ „Mängelwesen“, „Antriebsüberschuss“, „Entlastung“, „Handlung“, „Zucht“ und „Reizüberflutung“ „sind existentielle Problemmetaphern, dramatisierende Merkzeichen für die Bedrohtheit des Menschen.“ Die Basis des existentiellen Zentralmotivs Gehlens bildet in der Rekonstruktion Rehbergs eindeutig ein Komplex von Kategorien einer negativen Anthropologie. Auch Gehlens Ansatz dokumentiert so das Fortwirken der traditionellen Formation negativer Anthropologie in der Moderne. Er steht hier neben Heidegger und Freud, die die Todesangst zum Konstituens der menschlichen Kultur erklären – ebenso wie Adorno und Horkheimer in der Dialektik der Aufklrung, neben Plessner, der in seinem Hauptwerk Die Stufen des Organischen und der Mensch von 1928 die konstitutive „Ortlosigkeit“ des Menschen und dessen Außer-sich-sein, dessen „exzentrische Position“ zur Grundlage seiner Analyse macht. Wie formt sich die Analyse der komplexen anthropologischen Negativität bei Gehlen näherhin aus? Rehberg weist nach, dass existentielle Negativität schon in den frühesten Texten des Studenten Gehlen im Zentrum steht: als Formwerdung „kreativer Potentialität“ im Sinne der Lebensphilosophie.17 Während Georg Simmel den Gegensatz von Leben und Form als „Tragödie der Kultur“ beschreibt, akzentuiert Gehlen im Sinne eines frühen Pragmatismus die aktivische Seite des Prozesses der Formwerdung als konstitutiv für die Identitätsausbildung der Subjekte. In seiner Habilitationsschrift Wirklicher und unwirklicher Geist von 1931 bildet das „problematische Leben“ des Menschen, das „,Ungenügende‘, das theorie“, in: Helmut Klages/Helmut Quaritsch (Hg.), Zur geisteswissenschaftlichen Bedeutung Arnold Gehlens. Vortrge und Diskussionsbeitrge des Sonderseminars 1989 der Hochschule fr Verwaltungswissenschaft Speyer, Berlin 1994, 491 – 530. 16 Ebd., 491. 17 Ebd., 493.
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Negative, das Partielle, Bedrohung und Ohnmacht“ die Grundlage der Analyse. Rehberg weist nach, dass die Zielperspektive der „Feststellung“ des problematischen Lebens bei Gehlen auf Nietzsches negativ-anthropologische Grundbestimmung des Menschen als des „noch nicht festgestellten Tiers“ zurückgeht18, dass ferner „die Grundstimmung einer (allerdings säkularisierten) protestantischen Anthropologie, einer puritanischen Sünden- und Verlorenheits-Selbstgewissheit (ähnlich wie bei Sartre)“ deutlich vernehmbar ist: „essentielle Fraglichkeit“, „Gefährdung und „Einsamkeit“ konstituieren das empirische Dasein. Der konsequent empirische Ansatz Gehlens, der sich zu einer „empirischen Philosophie“ ausformt, führt dazu, die elementare Anthropologie im ontogenetischen Prozess „als Verlaufsschema der grundlegenden Existenzkrise eines jeden jungen Menschen“ zu entwickeln.19 Der ständig gefährdete Selbstwerdungsprozess gelingt nur in der Überwindung schmerzhafter Bedrohungen auf all seinen Stufen. Der Selbstverlust durch Phantasievorstellungen und durch die grundlegende Erfahrung der Fremdheit der Welt und der Anderen, die „Krankheit des Negativen“ bedroht auch in Form von Krankheit und Melancholie alle gelingenden Schritte der ontogenetischen Entwicklung. Dass die „Macht der Negativität“ im Anschluss an Hegel für Gehlens Konzeption grundlegend ist, zeigt auch das Motto des ersten Kapitels der Habilitationsschrift, der Kernstelle aus der Phnomenologie des Geistes: „Aber nicht das Leben, das sich vor dem Tode scheut und vor der Verwüstung rein bewahrt, sondern das ihn erträgt und in ihm sich erhält, ist das Leben des Geistes.“20 Die Freiheit des Willens und die Ermöglichung gelingender Selbstwerdung sieht Gehlen in der Überwindung des „Triebhanges“ und aller Formen der „Unwirklichkeit“, und somit in der Tradition von Kant und Hegel. Freiheit ist nicht „Beliebigkeit, Willkür und Subjektivität“, sondern bildet sich nur im Modus der freiwilligen Unterwerfung unter ein als vernünftig erkanntes Gesetz. Sie ist – mit Spinoza und Marx – erkannte Notwendigkeit. In Rehbergs Analyse wird deutlich, dass die existentielle Grundproblematik des Menschen als „Mängelwesen“, seine „chronische 18 Ebd., 495. 19 Ebd., 497. 20 Georg Friedrich Wilhelm Hegel, Phnomenologie des Geistes, hg. von Johannes Hoffmeister, Hamburg 1952, 39; vgl. Thomas Rentsch, „Negativität und Vermittlung. Hegels Anthropo-Theo-Logik“, in: ders., Negativitt und praktische Vernunft, a.a.O., 213 – 251, dort 228 f.
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Chance, zu verunglücken“ mitsamt der Notwendigkeit, diese existentielle Negativität in Formen objektiver Stabilisierung zu überwinden, auch für die weitere Entwicklung Gehlens leitend bleibt. Gehlen setzt sich zwar seit 1935 explizit von seinem frühen Existentialismus ab. Dennoch bleibt die Bestimmung „Mängelwesen“ „Negativfolie der ,Persönlichkeit‘.“21 Die gesamte Konstruktion Gehlens wirft schwerwiegende systematische Probleme und Rückfragen auf. Und zwar nicht erst, wenn wir auf die politischen Konsequenzen seines Denkens sowohl im Nationalsozialismus wie auch auf seine konservative, aggressive, gelegentlich reaktionäre Kultur- und Intellektuellenkritik in der Bundesrepublik der Nachkriegszeit blicken. Äußerliche Ideologiekritik wäre ebenso wohlfeil wie philosophisch oberflächlich. Darin ähnelt Gehlens Problematik der des Heideggerschen Werkes.22 Diese Problematik reicht viel tiefer: in die Frage nach dem Verhältnis von Genesis und Geltung, von Konstitution und Fundierung, Grund und Ursprung, Empirie und normativer Reflexion. Auf eigentümliche Weise berührt sich die tief sitzende Schwachstelle des Gehlenschen Denkens mit einem seiner Antipoden: mit Adorno. Dass die „rechte“ und die „linke“ Kultur- und auch Gesellschaftskritik lange Zeit eine frappierende Nähe aufwies, ist bekannt. Aber das ist nur eine Konsequenz grundsätzlicher kategorialer Affinitäten, die ich als Ersetzung und Verdrängung von Dialektik durch Dualismus charakterisiere.23 Der Fortschritt von Kant zu Hegel bestand in aller Kürze gesagt darin, dass Hegel Kants statisch-dualistisch angelegte Erkenntniskritik, in der noch zwei Welten, die noumenale und die phänomenale, angesetzt werden, in ein dynamisches Modell transformiert. Dies gelingt ihm, indem er die transzendentale Dialektik und die mit ihr verbundenen Antinomien auf die gesamten Erkenntnismöglichkeiten des Menschen ausweitet, anstatt sie lediglich im Bereich der „großen Themen“ der Metaphysik – Gott, Freiheit und Unsterblichkeit – zu verorten. Damit werden Subjekt und Objekt, Geltung und Genesis, Vernunft und Natur, Vernunft und Geschichte, Natur und Kultur in ein dialektisches Verhältnis gesetzt. 21 Karl-Siegbert Rehberg, „Existentielle Motive im Werk Arnold Gehlens“, a.a.O., 503 f. 22 Vgl. Thomas Rentsch, Martin Heidegger – Das Sein und der Tod. Eine kritische Einfhrung, München/Zürich 1989. 23 Thomas Rentsch, „Vermittlung als permanente Negativität. Der Wahrheitsanspruch der „Negativen Dialektik“ auf der Folie von Adornos Hegelkritik“, in: ders., Negativitt und praktische Vernunft, a.a.O., 252 – 270.
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Gehlens kategoriale Basis wird demgegenüber von dualistisch-dichotomischen Strukturen beherrscht, die kontradiktorisch gegeneinander gesetzt werden. Auf der einen Seite steht das Mängelwesen mit seinem Nicht-festgestellt-sein, seiner „Entartungsbereitschaft“, seiner Selbstverfallenheit und seinem Antriebsüberschuss, auf der anderen Seite stehen alle Medien und Modi der Kompensation des Mangels: Handlung, Bewusstsein, Sprache, Zucht, Charakter und Institution. Diese – wenn auch biologistisch gewendete – fundamentalontologische Weichenstellung, die Negativität als Mangel und die Modi ihrer Kompensation dualistisch auseinanderreißt, ist nicht negativ genug und daher führt sie auch zu einer verzerrten, abgespaltenen Bestimmung des „Positiven“ der menschlichen Praxis. Die biologische, genetische und für die Sinnkonstitution somit fundierend gedachte Negativität wird zunächst abstrakt isoliert. Erst dann erfolgt in einer zweiten Urstiftung die Kompensation. Rehberg diagnostiziert auch hier den „Sündenfall-Mythos in säkularisierter Form“: „Kultur ist der aus der (Ur-) Schuld entstandene Zwang zum Selbstzwang – man findet vergleichbare Motive auch bei Sigmund Freud oder Max Weber.“24 Die Gegenbegriffe werden durch diese Konstruktion tendenziell von Negativität frei und von ihr befreiend gedacht, insbesondere das aktive Handeln, das sich durch Selbstdisziplinierung institutionell verfestigt und die weichen, vagabundierenden, ins Chaos zurückziehenden Trieb-, Phantasie- und Reflexionsmächte bändigt. Demgegenüber muss philosophische Anthropologie, die einen fundamentalontologischen Dualismus zugunsten der Einheit des Menschen und seiner Welt überwinden will, darauf insistieren, dass es in dieser Welt keinen negativitätsfreien Raum oder Bereich gibt; dass vielmehr Negativität auf allen Ebenen des menschlichen Welt- und Selbstverhältnisses, bei allen Transformationsprozessen kultureller Disziplinierung und Institutionalisierung stets erhalten bleibt. So erst erreichen wir systematisch und anthropologisch den normativen Geltungssinn, den Hegel in der Vorrede zur Phnomenologie als „die ungeheure Macht des Negativen“ bezeichnet.25 Sonst bleibt es bei einer funktionalistisch depotenzierten, halbierten, und dann „kompensierten“ Negativität. 24 Karl-Siegbert Rehberg, „Existentielle Motive im Werk Arnold Gehlens“, a.a.O., 504. 25 Hegel, Phnomenologie des Geistes, a.a.O., 29; vgl. Michael Theunissen, Sein und Schein. Die kritische Funktion der Hegelschen Logik, Frankfurt a.M. 1980, 175 ff.; Thomas Rentsch, Negativitt und praktische Vernunft, a.a.O., 213 – 251.
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Die Modi der anthropologischen Negativität – Endlichkeit, Fragilität, Bedrohtheit – treten sowohl faktisch als auch praktisch und begrifflich – in der Reflexion – auf. Die Modi der Kompensation unterliegen den Strukturen der Negativität allesamt ebenfalls. Während aber Gehlen auf seiner dualistischen Basis Reflexion und Praxis (Handeln) fälschlicherweise kompensationsanthropologisch-kontradiktorisch gegeneinandersetzt („Solange ich handle, kann ich nicht reflektieren, und solange ich reflektiere, kann ich nicht handeln.“26), muss einem dialektischen Verhältnis sowohl von Reflexion und Praxis als auch von negativer Anthropologie und praktischer Sinnkonstitution der Vorzug gegeben werden. Denn in die Modi der anthropologischen Negativität ist – von der elementaren Bedürftigkeit über das sexuelle Begehren bis hin zu höheren Orientierungs- und Erkenntniszwecken – die Sinnperspektive immer schon tief und von Anfang an eingearbeitet. Nicht „Mangel“ und darauf folgende „Kompensation“ bieten daher ein angemessenes Modell elementarer Anthropologie, sondern von vornherein eine Sinn- und Erfüllungsperspektive, die den Menschen nicht äußerlich ist und ihnen extern angefügt werden muss, sondern durch die sie sich überhaupt erst wahrnehmen können und die für sie welterschließend und weltkonstitutiv ist.27 Ihre „Natur“ ist ja schon sprachlich und kulturell verfasst, ihre Kultur und ihre Institutionen verlassen nie den Bereich der Endlichkeit und der strukturellen Negativität. Entwickelt man wie Gehlen ein dualistisches Kompensationsmodell der Kultur, dann hat das weitreichende Konsequenzen für die Rekonstruktion der menschlichen Praxis. Es ergibt sich ein funktionalistisches, tendenziell depotenzierendes Ableitungsmodell für alle höherstufigen menschlichen Leistungen. Gerade an Gehlens Sprachtheorie ließe sich das genau zeigen.28 Die „biologische Metaphysik“29 gestattet dabei vermeintlich leichte, unvermittelte Übergänge zwischen Faktizität und Normativität. 26 Karl-Siegbert Rehberg, „Existentielle Motive im Werk Arnold Gehlens“, a.a.O., 507, Fn. 48. 27 Thomas Rentsch, Die Konstitution der Moralitt, a.a.O., 115 ff. 28 Wilhelm Kamlah, „Probleme der Anthropologie. Eine Auseinandersetzung mit Arnold Gehlen“, in: ders., Von der Sprache zur Vernunft. Philosophie und Wissenschaft in der neuzeitlichen Profanitt, Mannheim/Wien/Zürich 1975, 123 – 152.; Achim Lohmar, Anthropologie und Vernunftkritik. Hegels Philosophie der menschlichen Welt, Paderborn/München/Wien/Zürich 1997, 150 ff. 29 Walter Schulz, Philosophie in der vernderten Welt, Pfullingen 1984, 443.
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Die dualistische Konstruktion von existentieller Mangel- und kultureller Kompensationsebene, existentieller Trieb- und kulturell-institutioneller Zuchtebene verfehlt die durchgängig konstitutive Negativität auf allen Ebenen menschlicher Faktizität und Praxis, und sie erklärt durch die strukturell funktionalistisch depotenzierte Frage nach normativen Beurteilungskriterien individueller und institutioneller Praxis faktische Verhältnisse zur Lösung für Probleme, die diese Verhältnisse häufig genug selbst erzeugen. Rehberg bemerkt zu Recht: „Die Schwächen seiner [Gehlens; Anm. Th.R.] Institutionentheorie liegen darin, dass er die Ordnungsbedeutung durch Ordnung, dass er die Dysfunktionalität der Ordnungshypertrophie zu wenig beachtet, ja – aus politischen Wertungen heraus – eher verdeckt hat.“30 Der funktionalistische Dualismus liegt auch der Gehlenschen Kulturkritik insbesondere der Spätwerke Urmensch und Sptkultur (1956) und Moral und Hypermoral (1969) zugrunde, er prägt auch seine Analysen in Die Seele im technischen Zeitalter (1957). Rehberg konstatiert, dass ein „schwerwiegender Mangel“ der Gehlenschen Institutionentheorie „die normative Projektion der Institutionen in eine Frühzeit und deren unvermittelte Konfrontation mit der Moderne“ ist. „Es fehlt jede Verankerung der Entstehung und Veränderung von Institutionen in einer Geschichte hochkultureller ,Lebenswelt‘-Stabilisierungen durch Herrschaft (der Titel Urmensch und Sptkultur steht für diesen Kurzschluss).“31 Der Rehbergsche Kritikpunkt der Unmittelbarkeit und Unvermitteltheit entspricht meinem Dualismusvorwurf – die gesamte anthropologische Konstruktion Gehlens ist undialektisch und anti-dialektisch strukturiert. Dem entspricht es, wenn Rehberg den „neuen Dualismus“ Gehlens zurückweist, der „in sachlich ganz uneinsichtiger Weise“ das Handeln „der Reflexion“ entgegensetzt.32 Das dualistische Modell von Negativität und Kompensation wird unkritisch. Es kann nicht erkennen und rekonstruieren, dass und wie Negativität und Praxis, Reflexion und Praxis, Faktizität und Normativität konkret ineinandergearbeitet sind. Die Projektion der Normativität in die archaische Frühe bestätigt besonders eindrücklich die reflexionsfeindliche, ontologisch-funktionale Abspaltung des Normativen im Sinne einer geradezu neoromantischen Ideologie, mit Rehberg die „Trauer um eine verloren geglaubte Welt“, die 30 Karl-Siegbert Rehberg, „Existentielle Motive im Werk Arnold Gehlens“, a.a.O., 831 [Diskussionsbeitrag]. 31 Ebd., 513. 32 Ebd., 506.
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„Ordo-Sehnsüchte“ Gehlens.33 Bei aller Kritik sei grundsätzlich angemerkt, dass die Werke Gehlens weiterhin mit großem Gewinn studiert werden können. Ihr zupackender Stil ist originell und erfrischend, und aus großen Grundfehlern philosophischer Köpfe lernt man in der Philosophie oft mehr als aus den etablierten, approbierten Korrektheiten des mainstream.
3. Negativität, Reflexion und Praxis. Systematische Perspektiven philosophischer Anthropologie Abschließend sollen auf dem Hintergrund der skizzierten Traditionen negativer Anthropologie sowie der Kritik an Gehlen einige systematische Anforderungen an die philosophisch-anthropologische Arbeit der Gegenwart thesenhaft expliziert werden. Philosophische Anthropologie ist keine Spezialdisziplin der Philosophie. Vielmehr führen mit Kant alle philosophischen Grundfragen letztlich zur Frage: Was ist der Mensch?, das heißt welches menschliche Welt- und Selbstverständnis ist gültig und wahr, gerechtfertigt und begründet? Ohne anthropologische Grundbegriffe kommt keine Wissenschaft, keine Theoriebildung und keine Praxis aus. Es gilt deswegen, den Status derjenigen Grundbegriffe, Sätze und Feststellungen methodisch zu rekonstruieren, mit denen wir uns über uns selbst verständigen. Dabei zeigt sich, dass der Ausgang von einem einzelnen Bedürfnis- und Mängelwesen in der Anthropologie verfehlt und abstrakt ist.34 Vielmehr müssen wir von vornherein von sozialen, kommunikativen Bedingungen der interaktiven Sinnkonstitution ausgehen, ohne die sich weder ein einzelnes Individuum orientieren kann, noch eine philosophische oder „empirische“, theoretische Rekonstruktion menschlicher Praxis zu gelingen vermag. Anders gesagt: Wir können auch die „biologische Natur“ unserer selbst, unsere Leiblichkeit zumal, nicht anders als im Kontext sozialer, kultureller und geschichtlicher Sinntraditionen und Sprachpraxen erfassen. Die primär soziale und sprachliche Sinnkonstitution ist bereits institutionell verfasst. Sie impliziert normative, asymmetrische oder egalitäre Achtungs- und Anerkennungsverhältnisse, ohne die wir zu unseren „Mängeln“ oder „Trieben“ gar keinen Zugang haben – weder theoretisch noch praktisch. 33 Ebd., 515 und 517. 34 Thomas Rentsch, Die Konstitution der Moralitt, a.a.O., I-L.
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Diese primär sprachliche, praktische und normative Ebene der Konstitution der menschlichen Welt schließt für die philosophische Anthropologie einen bloß „empirischen“, nicht reflexiv-sinnkriterialen, vermeintlich „unmittelbaren“, deskriptiven Zugriff methodisch ebenso aus wie die Rekonstruktion der Basis der menschlichen Welt aus der Mangel- und Notsituation des Einzelwesens Mensch. Erst die sinnkriteriale Reflexion auf die holistisch begriffene Gesamtpraxis menschlicher Kulturen und ihre normativen Grundlagen erreicht die Ebene, auf der wir ein angemessenes Verständnis unserer selbst verorten und rekonstruktiv erreichen können. Insbesondere gilt, dass die moralische Semantik für normative personale Identitätskonstitution, für Wahrheits- und Geltungsansprüche, für Rechtfertigungs- und Begründungsverpflichtungen von vornherein tief eingearbeitet ist in die lebensweltliche soziale Praxis und Interaktion.35 Bereits mit der Sprache lernen wir faktisch normative Geltungsansprüche in der Ontogenese. So sind z. B. Dank, Versprechen, Vertrauen, Behaupten, Bestreiten etc. sprachliche, normative Institutionen, ohne die die Konstitution des Menschen nicht denkbar ist. Sinnkriterial sind in diesen Institutionen die negativen Modi ihres Missbrauchs wie ihres Misslingens eingearbeitet. Ohne die normative Grammatik sozialer Interaktion lässt sich bereits faktische Negativität – als Mangel, Leidbedrohtheit oder Angst – nicht begreifen. Erst recht wird gesellschaftliche Praxis als Ort praktischer Negativität von der Lüge bis zum Mord ohne ihre normativen Implikationen, die zur Konstitution einer menschlichen Welt gehören, keiner philosophischen Reflexion zugänglich.36 Neben der Berücksichtigung der universalen faktischen und praktischen Negativität ist es die Einsicht in die begriffliche, sprachliche, kategoriale und reflexive, dritte Stufe der Negativität, die uns in der philosophischen Anthropologie vor biologistischen, naturalistischen, dualistischen und funktionalistischen Irrwegen und Reduktionismen bewahren kann. Wir müssen erkennen, dass ein unmittelbarer methodischer Zugriff auf uns selbst, auf unser „Wesen“, unsere „Natur“ erkenntniskritisch nicht möglich ist, dass unsere Selbsterkenntnis auch bei noch so viel Einbezug interdisziplinärer, auch empirischer, historischer und sozialwissenschaftlicher Ergebnisse partial, perspektivisch, normativ voraussetzungsreich, letztlich diskursiv-endlich und vorläufig bleibt und bleiben muss. Insofern sind wir in einem viel radikaleren Sinne „Män35 Ebd., 195 ff. 36 Thomas Rentsch, Negativitt und praktische Vernunft, a.a.O., 9 – 12.
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gelwesen“, als Gehlen dies methodisch berücksichtigt und gelangen bei hinreichend konsequenter Grundlagenreflexion stärker zurück zur Tradition negativer Anthropologie, zum Sokratischen Nichtwissen und zu Pico della Mirandola als er. Statt der bloßen Kompensation der Negativität ist die angemessene Vergegenwärtigung, Analyse und Reflexion der Tiefenstruktur ihrer Konstitution auf allen Ebenen erforderlich.37 Um die sinnkriterialen Voraussetzungen philosophisch-anthropologischer Analyse zu klären, muss ihr sonst ambivalent bleibender Status zwischen Faktizität und Normativität, zwischen Sein und Sollen, zwischen Naturwissenschaft und Existenzdeutung, zwischen Deskription und Sinnexplikation geklärt werden. Weder eine dualistische Aufspaltung der menschlichen Welt in Fakten und Normen im Sinne einer metaphysischen oder idealistischen Zwei-Welten-Lehre noch ihre naturalistische, empirische Reduktion auf biologische – gegenwärtig neurowissenschaftliche – Forschungsergebnisse erreicht überhaupt die Ebene lebensweltlicher Sinnkonstitution.38 Das gilt auch für Computermodelle des menschlichen Geistes. In der begrifflichen Grammatik unserer gewöhnlichen Alltagssprache ist die normative Dimension bereits fest verankert, so dass ein Verstehen unserer Lebenspraxis ohne die Einsichtsfähigkeit in praktische, ethische Bedeutungen ganz unmöglich ist.39 Unsere Rede von uns selbst, unserem Wollen, unseren Zielen, von dem, was vernünftig, was „menschlich“ oder „unmenschlich“ ist, was es „einzusehen“ gilt, worüber wir uns verständigen müssen, unter Einschluss der damit verbundenen Praxis- und Lebensformen und „ProtoInstitutionen“ eröffnet gleichzeitig die Möglichkeit des „Neinsagens“ (Scheler), der Ablehnung, der Infragestellung einer üblichen Praxis, der Innovation, der Revision, der Reformation und der Revolution institutioneller Praxen. Diese kreativen Potentiale sind in die soziale und kommunikative Handlungswelt so tief eingearbeitet, dass Negativität und Sinnkonstitution – aktive und reflexive Distanznahme von einer Sprachoder Handlungsregel, von „Zucht“- und „Ordnungs“-Konventionen 37 Ebd., 9 – 29. 38 Thomas Rentsch, Die Konstitution der Moralitt, a.a.O.; Theda Rehbock, „Warum und wozu Anthropologie in der Ethik?“, in: Jean-Pierre Wils (Hg.), Anthropologie und Ethik. Biologische, sozialwissenschaftliche und philosophische berlegungen, Tübingen/Basel 1997, 64 – 109.; Reiner Wimmer, „Zum Verhältnis von Anthropologie und Ethik“, in: Adrian Holderegger/Jean-Pierre Wils (Hg.), Interdisziplinre Ethik, Freiburg i.Ue./Freiburg i.B. 2001, 32 – 52. 39 Thomas Rentsch, Die Konstitution der Moralitt, a.a.O., 195 ff., 270 ff.
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und Regulativen – untrennbar zu einander gehören.40 Auch die „Freiheit als erkannte Notwendigkeit“ kann im Kantschen oder Hegelschen Sinne nicht als Unterwerfung unter ein selbstgeschaffenes Zwangssystem begriffen werden. Praktische Einsichten in Pflichten, Normen und reziproke Anerkennungsverhältnisse setzen gleichermaßen Distanznahme, Kritik, Interpretationsspielräume und Fähigkeiten der Urteilskraft voraus und frei. Insofern ist eine kontradiktorische Entgegensetzung des chaotischen, isolierten Trieb- und Mängelwesens Mensch – gleichsam des „nackten Affen“ der Gehlenschen Anthropologie – auf der einen und den formierenden, institutionellen Zuchtanstalten auf der anderen Seite verfehlt. Sie wiederholt die Unterbestimmung des Menschen durch subhumane Bereiche, durch das, was er nicht ist, und ineins seine Überbestimmung durch das, was er auch nicht ist, durch transhumane Ordnungen. Die Entgegensetzung von Handeln und Reflexion ist die Spitze dieser jeden lebensweltlichen Sinn depotenzierenden dualistischen Ontologie. Sie bahnt sich bei Gehlen in der biologistisch-funktionalistischen Theorie der Sprache an, die Genesis und Geltung einebnet. Eine negativ-kritische philosophische Anthropologie richtet sich gegen die immer neuen Versuche, sich das eigene Selbstverständnis auf zirkuläre und dogmatische Weise von den Einzelwissenschaften – z. B. von den Bio-, Verhaltens- oder Kognitionswissenschaften – vorgeben zu lassen. Wissenschaften, auch Naturwissenschaften und Aufklärung sind zweierlei. Auch defiziente Modi menschlichen Lebens – „Mängel“ – lassen sich nur auf der Basis eines normativen Vorverständnisses gelungener menschlicher Praxis theoretisch überhaupt konstatieren. Methodisch ist eine philosophische Anthropologie ohne den Horizont praktischer Philosophie gerade dann unmöglich, wenn sie die anthropologische Negativität wirklich ernst nimmt. Das gilt auch für die kultur- und gesellschaftskritischen Weiterungen einer solchen Anthropologie. Gehlen behandelt die „Kolonialisierung der Lebenswelt“ (Habermas) als „Entsinnlichung“ und konfundiert sie 40 Vgl. dazu Karl-Siegbert Rehberg, „Institutionen als symbolische Ordnungen. Leitfragen und Grundkategorien zur Theorie und Analyse institutioneller Mechanismen“, in: Gerhard Göhler (Hg.), Die Eigenart der Institutionen: Zum Profil politischer Institutionentheorie, Baden-Baden 1994, 47 – 84, dort 63 – 65 („Transzendenzen“) sowie ders., „Weltumspannender Synkretismus? Kulturelle Prozesse und Kommunikative Vernetzungen im Zeitalter der ,Globalisierung‘“, in: Wiss. Zeitschrift der Technischen Universitt Dresden, 50, Heft 5/6 2001, 22 – 28, dort 25.
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mit einer steigenden „Intellektualisierung“.41 Zweifellos sind die sich steigernden Schübe medialer Vermittlung in der Gegenwart zu Recht Anlass für kritische Reflexion. Die existentielle Leiblichkeit ist – trotz aller apparativen Vermittlung – die Mitte der menschlichen Welt, in der deren naturaler Grund und deren kommunikatives Wesen sich vereinen und durchdringen. Wir besitzen ein normatives Vorverständnis der stabilisierten Spannung zwischen kommunikativen Lebensformen und ihren negativen Konstitutionsbedingungen. Wir können daher, ohne neoromantische Larmoyanz und ohne elitäre Ideologie bemühen zu müssen, zum Beispiel Stärken und Vorzüge des Lesens, der lebendigen Diskussionskultur, der aktiven Sinnaneignung und der eigenständigen, kritischen Sinnentwürfe vor Formen der semantischen Nivellierung, der reflexionslosen Eindimensionalität und des Konsums seriellen fast foods argumentativ begründen und präzise darlegen. Es bedarf der Kritik an der medialen Verhinderung kommunikativer Selbsttranszendierung durch hypertrophe Formen enteigneter Vermittlung. Diese Kritik setzt ein normatives, nicht abschließend bestimmbares, offenes, revidierbares Vorverständnis der humanen Welt voraus, ohne das eine philosophische Anthropologie nicht möglich ist. Sie muss daher sinnkriterial, dialektisch und hermeneutisch in praktischer Absicht weiter entwickelt werden. So kann sie die Traditionen der negativen Anthropologie wie die der Gesellschafts- und Kulturkritik methodisch explizit und transformiert aufgreifen und fortführen, die im Werk Gehlens so dezidiert und anregend wie systematisch verzerrt präsent sind.
41 Karl-Siegbert Rehberg, „Existentielle Motive im Werk Arnold Gehlens“, a.a.O., 519.
Das Prinzip Hoffnung – in philosophiehistorisch-systematischer Perspektive Die These meines Vortrags bezieht sich auf die systematischen Grundlagen der lebenslangen Hoffnungs- und Utopieanalysen Ernst Blochs. Ich bin der Auffassung, dass diese Analysen in der Tat ein prinzipientheoretisches Fundament haben, das Bloch schon früh erkennt, das er dann – wie bekannt – äußerst materialreich, literarisch und essayistisch entfaltet, das er aber schließlich in seinem letzten Hauptwerk, Experimentum Mundi, noch einmal systematisch expliziert und präzisiert. Mit dieser im Folgenden zu begründenden These verbinden sich zwei weitere Interpretationsaspekte im Blick auf das Werk und die Wirkung Blochs. Erstens wird sich zeigen, dass die materialen Untersuchungen Blochs zur Hoffnungsperspektive, seien sie religionsphilosophisch, ästhetisch oder marxistisch ausgerichtet, in ihrer Geltung von der zugrundeliegenden prinzipientheoretischen, näherhin fundamentalanthropologischen Systematik abhängig sind, während das breite, konventionelle Verständnis der Philosophie Blochs und ihre Rezeption mit seinem Ansatz einer Immanentisierung der christlichen Transzendenz und Eschatologie sowie mit deren Konkretisierung in einer marxistischen Utopie der befreiten Gesellschaft gleichgesetzt wird. Während aber letztere Perspektive unserer Gegenwartssituation politisch – ich formuliere vorsichtig – wieder etwas ferner gerückt ist als in der Zeit der großen Wirkung Blochs im vorigen Jahrhundert, sind die systematischen Voraussetzungen seiner Hoffnungsanalyse von bestimmten politischen Formationen unabhängig und daher auch in einer veränderten weltgeschichtlichen Situation auf neue Weise zu rezipieren. Zweitens lässt sich zeigen, dass Blochs Voraussetzungen viel stärker in Verbindung zu anderen bedeutenden Ansätzen seiner Zeit stehen, als dies bisher bewusst wurde. Es sind Verbindungen, die sich erst auf der systematisch grundlegenden Ebene zeigen: Verbindungen zur Zeitanalyse Heideggers, Verbindungen zur Sprachanalyse Wittgensteins und zur Konzeption des Nichtidentischen in der Negativen Dialektik Adornos.
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1 Die Hoffnungsanalysen Blochs in seinen Hauptwerken haben ein anthropologisches Fundament: einerseits in einer Reflexion auf die triebhaften, unbewussten Potentiale des Noch-Nicht-Bewussten in der Natur des Menschen, die sich zum Beispiel in Hunger, Begehren und Traum zeigen und aktualisieren; sodann im reflexiv werdenden Bewusstsein des Noch-Nicht-Gewordenen, das Bloch in seiner Ontologie des NochNicht analysiert. Bereits hier wird die zeitanalytische Basis des Prinzips Hoffnung sichtbar: So, wie in Heideggers Sein und Zeit das Sich-vorwegsein als ekstatisch-zukünftige Zeitdimension qualifizierend und sinnkonstitutiv für alle anderen Zeitdimensionen fungiert, so auch bei Bloch alle Modi der Zukünftigkeit: das Erwarten, das Fürchten, die Phantasie. So analysiert Heidegger existential-anthropologisch die Furcht und das Vorlaufen in den Tod als reflexiv-werdendes Bewusstsein der Sterblichkeit und Endlichkeit. Das Sich-vorweg-sein ermöglicht allererst das Zurück-auf, das heißt: Zukunft ermöglicht in eins Vergangenheit und Gegenwart, erschließt diese allererst und ermöglicht ihre Sinngebung und ihr Verstehen. Bereits an dieser Stelle sei bemerkt, dass das große Paradigma solcher spezifisch zeitlichen Sinnkonstitutionsanalysen Kants Analysen der transzendentalen Einbildungskraft und des transzendentalen Schematismus in der Kritik der reinen Vernunft ist. Heidegger bearbeitete diesen Hintergrund seiner Zeitanalyse in gründlicher Form in seinem kurz nach Sein und Zeit veröffentlichten Buch über Kant und das Problem der Metaphysik. Sein systematischer Hintergrund war wesentlich der innovative Neukantianismus vor allem von Heinrich Rickert und Emil Lask, wie er später immer betonte. Er promovierte 1913 bei Rickert mit der Dissertation Die Lehre vom Urteil im Psychologismus. Bereits 1908 hatte Bloch nach sechs Semestern Studium bei Oswald Külpe mit der Dissertation Kritische Erçrterungen ber Rickert und das Problem der modernen Erkenntnistheorie promoviert. Külpe hatte auch Einfluss auf Heidegger. Lask wiederum beeinflusst mit seinen innovativen Ansätzen zur Kategorienlehre, zur Kategorienlehre insbesondere der Philosophie selbst, zur Kategorie der Kategorie und zur Form der Form seine Freunde, Kollegen und Schüler Lukács, Heidegger und Max Weber. Er entwickelte eine sich selbst an der Grenze der Reflexion in materiale Modi transformierende Transzendentalphilosophie, so dass Bloch im Blick auf den Materialismus und
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den Marxismus prägnant von ihm sagte: „Er war der Nikolaus, aber noch nicht der Weihnachtsmann.“1 Neukantianische Transformation der Kategorienlehre und im Zentrum Kants transzendentale Zeitanalytik bilden den systematischen Hintergrund des zum Philosophen werdenden jungen Bloch. Im Zentrum seiner Dissertation steht eine Zeitanalytik. Er versucht näherhin, das Wesen des Augenblicks phänomenologisch zu erfassen und zu begreifen. Diese erkenntniskritische Augenblicksanalyse enthält in nuce alle kategorialen Konstituentien, die später material, kultur- und sozialphilosophisch entfaltet und eingesetzt werden. Einerseits nämlich ist der jeweilige Augenblick, der gerade gelebte Augenblick in seiner Präsenz und vollen Intensität schlechthin unverfügbar, unfassbar, nicht objektivierbar. Dieses Urphänomen bezeichnet Bloch dann auch später als das „Dunkel des gelebten Augenblicks“. Dieses Dunkel stellt nach Blochs Dissertation ein ständig sich Entziehendes, eine Bruchstelle der Erfahrung, ein „Nie“ dar. Denn nie ist der Augenblick fassbar, versuche ich es, habe ich ihn schon als entzogenen objektiviert und reflektiert. Andererseits, und dies ist das Entscheidende, im gelebten Augenblick entspringt und wird aller Sinn ermöglicht bzw. eröffnet, der als Noch-Nicht zukünftig möglich wird. Das Noch-Nicht zukünftigen Sinnes ist die Tendenzkategorie, die dem Augenblick in seiner Unverfügbarkeit und Entzogenheit gerecht wird. In der abschließenden kategorientheoretischen systematischen Summe des Experimentum Mundi werden daher im Zentrum die Modalkategorien, vor allem die der Möglichkeit thematisiert. In der Augenblicksanalyse der Dissertation finden wir somit Blochs Uridee, die zur Grundlage aller seiner materialen Studien wird und die er abschließend noch einmal fundamentalanthropologisch wie kategorientheoretisch expliziert. Diese Uridee ist eine Konzeption der Struktur existentieller Zeitlichkeit und Sinnkonstitution, in der der Negativität, der Entzogenheit und Unverfügbarkeit des gleichwohl sinneröffnenden Augenblicks der Gegenwart zentrale Bedeutung zukommt. Spätere apodiktische Kernformulierungen: „Ich bin. Aber ich habe mich nicht. Darum werden wir erst.“2 weisen immer wieder auf diesen Anfang der Blochschen Systematik zurück. Die Struktur der sich ursprünglich entziehenden Sinneröffnung bildet und formt fundamentalanthropologisch und zeitanalytisch den Konstitutionsgrund aller materialen, kulturellen Modi der offenen Sinnantizipation, seien sie sinnli1 2
Vgl. dazu: Thomas Rentsch, Artikel „Lask, Emil“, in: Metzler Philosophen Lexikon, Stuttgart / Weimar 2 1995, 488 – 491. GA Bd. XIII, Tbinger Einleitung in die Philosophie, 13.
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cher, triebhafter, sozial-kommunikativer, politischer, ästhetischer, moralischer oder religiöser Art in all ihren geschichtlichen Ausprägungen. Und in der Tat bestätigen die kategorientheoretischen Spätstudien des Experimentum Mundi diesen Befund: Die Analysen der Dissertation von 1908 werden der Sache nach aufgegriffen und systematisch reformuliert. Es gibt demnach vor dem praktisch vollzogenen Denken, Handeln und Prädizieren, also vor den Akten der Synthesis, ein suchendes Meinen, das Bloch deshalb vorbegrifflich als „Ergriff“3 bezeichnet. Ontologisch bezeichnet Bloch diese Differenz im Experimentum Mundi als die Differenz zwischen Dass und Was; diese Differenz hat eine große Nähe zu der Heideggerschen ontologischen Differenz. Bloch bezeichnet seinen Denkansatz selbst als „Metaphysik der Nähe“4. In seinen Untersuchungen zur Rezeption des logos spermatikos bei Bloch führt H. H. Holz aus, dass dieser zeugende Logos in Blochs Konzeption des Dass jeden Augenblicks als verdeckter Ursprung künftigen Sinns eingeht.5 Meiner Auffassung nach lässt sich der Ansatz auch mit der der prote¯ ousia bei Aristoteles und mit dem späteren principium individuationis zusammenfügen, insbesondere im Blick auf die Ineffabilität, die Unsagbarkeit des Individuellen. Das dynamisch-prozessuale, auf Möglichkeiten der Erfüllung bezogene Lebens- und Weltverständnis des Prinzips Hoffnung wird im Experimentum Mundi erkennntnistheoretisch als „Brücke“ bezeichnet: „Erst durch gemeinsames Bezogensein, Orientiertsein eines Subjekts und eines Objekts des Erkennens auf die Sache selber […] besteht dieser Art kein Riss zwischen Subjekt und Objekt, sondern eine Brücke“ (XV, 54). Es wird also kein Dualismus konzipiert, sondern ein relationales, dialektisches Verhältnis von Subjekt und Objekt. Sinn entsteht praktisch im Vollzug, im Gebrauch, nicht etwa abbildtheoretisch. Auch dieser Ansatz hat Nähe zu Heideggers Kritik und Destruktion der Subjekt-ObjektDichotomie und seine Transformation dieser Dichotomie in das existentiell-zeitliche, ekstatische In-der-Welt-sein des Daseins; er hat ebenfalls Nähe zu Wittgensteins Destruktion der Abbildtheorie der Bedeutung und zu seinen Sprach-Gebrauchsanalysen. Es lässt sich zeigen, dass die systematischen Grundbegriffe Blochs: Utopie, Noch-Nicht, Experiment strukturell dem Entwurfscharakter des Daseins bei Heidegger 3 4 5
GA Bd. XV, Experimentum Mundi, 39. GA Bd. V, Das Prinzip Hoffnung, 1200. Hans Heinz Holz, Logos spermatikos. Ernst Blochs Philosophie der unfertigen Welt, Darmstadt/Neuwied 1975.
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und der Offenheit der Sprachgebrauchspraxis beim späten Wittgenstein entsprechen. Und entscheidend ist bei dieser Praxisanalyse wiederum der Aspekt der Negativität: zentral ist die Unabgesichertheit, die Offenheit der Praxis. Treffend arbeitet Dietschy diesen Punkt heraus und formuliert ihn prädikationstheoretisch.6 Die Kategorien werden bei Bloch „gruppenweise zu stets substantielleren Prädikationen ihres unerschienen setzenden Dass-Grundes gebracht. Sie sind also keine Bewußtseinsbilder äußerer Objekte, sondern Beziehungen des geschichtlich versuchten Herausgangs der Sache selber. In Bewegung durch den noch nicht ,entsprungenen‘ springenden Punkt, der als innerer Motor zum Subjekt des Prädizierens erst wird, indem er sich noch in der Vor-Geschichte seiner selbst befindet. So hat sich die Kernintensität des Verwirklichens selber noch keineswegs erfasst und verwirklicht, liegt daher noch ,exterritorial‘ zu seinem Weg, den die kategorialen Drehungen/Hebungen beschreiben“ (Dietschy 173 f.). Diese Entwurfspraxis kann dabei „gänzlich entfremdet und verdinglicht werden“ (XV, 14). Das heißt: Der Uneinholbarkeit des Augenblicks der Sinnkonstitution entspricht die Ungarantiertheit der Zukunft. Wie bei Heidegger kommt der Modalkategorie der Möglichkeit daher zentrale Bedeutung zu, und dies gerade auch im existentiellen Verständnis. So sind die Kategorien selbst „noch ungelungene, offen fortlaufende Versuche, die Daseinsweisen und Daseinsformen herauszubringen“ (XV, 242). Das Offene, das Noch-Nicht ist auch mit Bezug auf die Kategorien „das einzig Unveränderliche in der Geschichte“ (V, 1627; vgl. dazu Dietschy 175). Daher kann auch ein philosophisches Kategoriensystem nur ein offenes System sein (ebd. 176): „Das Subjekt ist noch nirgends adäquat prädiziert.“7
2 Ich will nun auf der Basis des bisher Ausgeführten, des seit der Dissertation bis zum Spätwerk systematischen Kerns des Blochschen Denkens, Beziehungen zu anderen philosophischen Ansätzen aufzeigen, die bisher wenig beachtet wurden. Dieser Kern ist die Zeit- und Augenblicksanalyse, verbunden mit den Aspekten der Negativität und der Sinnkonsti6 7
Beat Dietschy, „,Experimentum Mundi‘: Prinzip und System gelingender Praxis“, in: Burghart Schmidt (Hg.), Seminar: Zur Philosophie Ernst Blochs, Frankfurt a.M. 1983, 163 – 183. GA Bd.X, Philosophische Aufstze zur objektiven Phantasie, 155.
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tution. Diese Analyse enthält alle fundamentalen anthropologischen und bedeutungstheoretischen Grundeinsichten, die später im Gesamtwerk Blochs entfaltet werden. Die triebanalytische, die ästhetische, die marxistische, die religiöse Ausformung – sie sind nicht die Grundlage der Analyse, wenn auch die marxistische Perspektive material eine ganz große Bedeutung erhält. Ich will nun eine komparatistische Reflexion in systematischer Absicht skizzieren. Zum Schluss werde ich versuchen, ein hermeneutisches Fazit der systematischen Komparatistik zu ziehen. (1) Den Hintergrund von Kants Zeitanalysen im transzendentalen Schematismus der Kritik der reinen Vernunft und ihre enge Verbindung mit der Funktion der transzendentalen Einbildungskraft habe ich schon erwähnt. Insbesondere Heidegger hat nach Sein und Zeit diesen Ansatz Kants im Zentrum als eine Analyse der Form und Konstitution des menschlichen Transzendierens interpretiert. Wenn diese Interpretation auch oft gewaltsam vorgeht, so lässt sich doch im Blick zum Beispiel auf die Analysen der comprehensio aesthetica in der Kritik der Urteilskraft zeigen, dass Kant diese comprehensio als die Koinzidenz des Mannigfaltigen, der Vielfalt, in der Einheit des Augenblicks und als solche als das Wesen der Schönheit begreift. Die Einbildungskraft fasst in dieser comprehensio das Mannigfaltige nicht in einem Begriff, sondern in ein Bild, das Kant das Urbild, Archetypon oder ästhetische Idee nennt. Diese Idee entspringt, indem die produktive Einbildungskraft die Sukzessivität der reproduktiven Einbildungskraft aufhebt und so Simultaneität anschaulich macht. Somit ermöglicht sie die comprehensio aesthetica: die Einheit des Mannigfaltigen der Anschauung in einem Augenblick. Negativität und Potentialität in dieser Konzeption Kants formuliert Schiller prägnant so: „darin liegt das Anziehende solcher ästhetischen Ideen, daß wir in den Inhalt derselben wie in eine grundlose Tiefe blicken.“ Denn ihr „möglicher Gehalt“ ist „eine unendliche Größe.“8 Durch diese Verschränkung von Augenblick, Negativität und Sinnkonstitution antizipieren die ästhetischen Formqualitäten der Gestaltung (in Musik, Literatur und Malerei) die Sinnbedingungen einer menschlichen Welt: Totalität und Simultaneität, Nichtinstrumentalität, Singularität, kommunikative Selbsttranszendenz der Subjekte, Genuss- und Erfüllungscharakter. Kant spricht hier vom „übersinnlichen Substrat der Menschheit“, das von den ästhetischen Ideen vergegenwärtigt wird.9 Diese 8 9
Friedrich Schiller, ber Matthissons Gedichte, NA Bd. 22, Weimar 1958, 273 f. Immanuel Kant, Kritik der Urteilskraft, Paragraph 57, 5. Absatz.
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Analyse entspricht dem Grundansatz Blochs. Dies ließe sich auch noch an den religionsphilosophischen Hoffnungsanalysen Kants zeigen. In der Geschichte der Metaphysik findet sich ein entsprechender Ansatz bereits bei Plotin. In seiner Schrift Peri Tou Kalou spricht er von Ekstasis und Pleroma der Seele. Die Struktur der Antizipation formuliert er so, dass das Schöne das ist, was der Seele ihr Heimkommen zu sich selbst eröffnet. „Es gibt nämlich etwas Schönes, das schon beim ersten Hinblicken wahrgenommen wird; dessen wird die Seele gewissermaßen inne und spricht es an; indem sie es wiedererkennt, billigt sie es und passt sich ihm sozusagen an […]. Wir behaupten nun, wenn die Seele das ist was ihr wahres Wesen ist, […] so ist es das Verwandte oder auch nur die Spur des Verwandten, dessen Anblick sie erfreut und erschüttert; sie bezieht das auf sich selbst und erinnert sich ihres eigensten Wesen, dessen was sie in sich trägt.“10 Das Innewerden der Spur des Verwandten im Augenblick versammelt bei Plotin schon die systematischen Kernaspekte von Kants und Blochs Analysen. Insbesondere artikuliert der Begriff der Spur die Entzogenheit des Grundes der Sinnkonstitution. (2) Ich gehe jetzt auf eine Betrachtung zu Hegel nicht weiter ein, da dieser Hintergrund von Bloch selbst umfassend dargestellt wurde. So viel sei gesagt: Der Geist in Hegels Verständnis hat eine ekstatisch-antizipierende Form, die Allgemeines, Besonderes und Einzelnes je gegenwärtig im Selbstbewusstsein vermittelt. Die systematische Verklammerung von Negativität und Sinn steht zudem im Zentrum von Hegels Gesamtwerk.11 (3) Eine interessante Parallele in der modernen Philosophie der Zeit Blochs findet sich bei Husserl und seinen Analysen zur Phänomenologie des inneren Zeitbewusstseins, auch in denen zu Phantasie und Bildbewusstsein. Auch hier ist die Analyse im Kern auf die zeitliche Sinnkonstitution bezogen. Der Primat der Sinnkonstitution gebührt ebenfalls der Zukunft. Husserl nennt die bewusstseins- und sinnkonstitutive Gerichtetheit auf die Zukunft Protention, der die Retention, das Bewusstsein von Vergangenem, wie ein Nachklang folgt. Inmitten der Protention und der Retention konstituiert sich die Intention, der auch die Aspekte der Unmittelbarkeit und Entzogenheit eignen. Husserl arbeitet diese eksta10 Plotin, Enne¯ade I. 6 (Über das Schöne), in: Plotins Schriften Bd. 1, hg. von R. Harder, Hamburg 1956, 1 – 25, dort 7. 11 Vgl. dazu: Thomas Rentsch, „Negativität und Vermittlung. Hegels AnthropoTheo-Logik“, in: ders., Negativitt und praktische Vernunft, Frankfurt a.M. 2000, 213 – 251.
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tische Struktur der erkenntniskonstitutiven Sinnantizipation insbesondere in seinen Analysen zur passiven Synthesis im inneren Zeitbewusstsein heraus. Es sei bemerkt, dass dieser frühe phänomenologische Ansatz in Halle unter dem Einfluss der Musikpsychologie von Carl Stumpf entstand. Wenn wir eine Melodie hören, dann antizipieren wir die zukünftigen Töne, das ist die Protention Husserls, – während die vergangenen Töne noch nachhallen wie ein Schweif, das ist die Retention. Und nur so ereignet sich das tatsächliche, gegenwärtige, intentional bewusste, augenblickliche Hören der Melodie. Ich weise nur darauf hin, dass die holistische Sinnkonstitutionstheorie der Gestaltpsychologie Christian von Ehrenfels’ zu dieser Zeit analoge Analysen zur ganzheitlichen Wahrnehmung entwickelt. Husserls Ansatz, der auch in vielen anderen seiner phänomenologischen Studien, so in denen zur Intersubjektivität, fortgeführt wird, wird ausgeformt in seiner zentralen Konzeption der Horizontbildung, näherhin der erkenntniskonstitutiven Horizontvorzeichnung. In jeder Wahrnehmungs- und Erkenntnissituation bilden wir zunächst einen sinnantizipierenden Horizont aus, in dessen Kontext die eben vergangene Wahrnehmung einbezogen wird – und so kommt die sich allerdings je entziehende, unverfügbare augenblickliche Wahrnehmung und Erkenntnis zustande. Husserl spricht von der – horribile dictu – Horizontvorzeichnungsvollzugsnotwendigkeit. Das heißt: wir können gar nicht anders, als in passiver Synthesis die Horizontbildung zu vollziehen. Diese unverfügbare Notwendigkeit eröffnet so aber allererst eigenständige Sinnbildung in Form von so ermöglichten aktiven Synthesen. Somit können wir resümieren: Auch bei Husserl findet sich an der erkenntnistheoretischen Basis der Phänomenologie eine Kernanalyse von Sinnkonstitution, die fundamental die sich entziehende Negativität des Augenblicks und die antizipatorische Horizontbildung mit einander verklammert. Augenblick, Negativität und Sinnkonstitution sind mit Husserls Terminologie äquiprimordial – also gleichursprünglich. (4) Im Folgenden will ich die Komparatistik auf Heidegger, Wittgenstein und Adorno ausdehnen. Im Blick auf Adorno werde ich noch Benjamin einbeziehen. Die Trias Heidegger, Wittgenstein und Adorno hat dabei eine Gemeinsamkeit, die bislang auch wenig bewusst ist. Für alle drei nämlich ist Kierkegaard von besonderer Bedeutung. Für Heidegger ist dies lange schon evident – Kierkegaard ist der eigentliche Begründer der Existenzanalyse. Dass Wittgenstein sich jahrelang intensiv mit Kierkegaard befasste, wurde erst in den letzten Jahren durch die Veröffentlichung seiner bislang unbekannten Tagebücher bekannt. In diesen ringt
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er geradezu mit äußerster Intensität mit Kierkegaards Grundthesen. Adorno verfasste ein wichtiges frühes Buch über Kierkegaard, und ich vertrete die These, dass diese frühe Befassung bis in die systematische Tiefenstruktur der Negativen Dialektik (und ihrer Hegel-Kritik) reicht. Die zentrale Analyse Kierkegaards, die ich in unserem Kontext meine, ist seine Wiederholungs- und Sprunganalyse. Sie führt sowohl zu Heideggers Existentialanalyse der ekstatisch-temporalen Konstitution des Daseins und der Wiederholung (dessen, was er Zurück-auf nennt), als auch zu Wittgensteins Analyse der sprachlichen Wiederholung, des Regelfolgens und des sprachlichen Sprunges. Ich denke, dass auch Adornos negative Dialektik der Nichtidentität hier ihr Vorbild bzw. ihren Ursprung hat. Kierkegaard analysiert: Der erste Ausdruck einer freiheitlichen Tat ist das Abbrechen des Zusammenhangs mit dem Früheren durch einen „Sprung“. In der Wiederholung fängt „das ganze Dasein […] von vorne an, nicht durch eine immanente Kontinuität mit dem Vorhergehenden hindurch, welches ein Widerspruch ist, sondern vermöge einer Transzendenz, welche die Wiederholung durch eine Kluft von dem ersten Dasein scheidet.“12 Zur Wiederholung gehört der Sprung. Auch Heidegger hat später den sprachlichen Satz als Sprung beschrieben – so in dem zentralen Vortrag Der Satz der Identität.13 Wir müssen – auch in der Zeitkonstitution – gliedern und Brüche, Einschnitte machen, sie aber ebenfalls überbrücken, überspringen. Erinnern wir uns des Blochschen Grundbegriffs der Brücke. Der Augenblick – oft auch Moment genannt – des Zäsurvollzuges bleibt dem Transzendieren – wie bei Bloch – immanent und transzendent zugleich. Ebenso können wir das aktuelle Jetzt, den „Urquellpunkt“ im Husserlschen Sinne, nicht direkt erreichen, sondern nur indirekt. „Nur im Sprung auf eine Reflexion höherer Stufe […] können wir dem Urquellpunkt, dem aktuellen Jetzt, näher kommen, aber dann verbirgt er sich wiederum ,hinter‘ dieser Reflexion selbst.“14 Wir sehen: Dies ist genau die Blochsche Kernanalyse. Und sie ist zentral für alle behandelten Autoren, denn sie markiert bei allen den Ursprung von Freiheit und Sinn, Zeitlichkeit und Sprachlichkeit. 12 Søren Kierkegaard, Der Begriff Angst, in: Werkausgabe Bd. 1, Düsseldorf 1971, 195. 13 Martin Heidegger, „Der Satz der Identität“, in: ders., Identitt und Differenz, Pfullingen 51976, 9 – 30. 14 So Thomas M. Seebohm, „Über die vierfache Abwesenheit im Jetzt. Warum ist Husserl bereits dort, wo ihn Derrida nicht vermutet?“, in: Das Rtsel der Zeit: Philosophische Analysen, hg. von Hans M. Baumgartner, München 1993, 75 – 108, dort 91.
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Dies gilt nun auch für Wittgenstein. Kierkegaard lehrt: Der konstitutionsanalytisch stets nötige Sprung ist der freie, nicht vergegenständlichbare Akt, der aus der offenen Unbestimmtheit der Schwebe – Kierkegaard sagt: zwischen entweder-oder – zur innovativ vereindeutigenden Fortsetzung der Praxis führt. Wittgenstein schreibt: „In der Sprache gibt es stets eine Brücke zwischen dem Zeichen und seiner Anwendung. Wir müssen die Kluft selbst überbrücken; das kann uns niemand abnehmen. Keine Erklärung erspart den Sprung, denn jede weitere Erklärung wird ihrerseits einen Sprung benötigen.“15 Strukturell nimmt Wittgenstein Kierkegaards Analyse genau auf. Die Bruch- und Sprung-Kategorie wird, wie bei Bloch, mit der Brückenmetapher verbunden. Sie gilt auch für den Übergang von einem Sprachspiel mit seinen internen Sinn-Kriterien zu einem anderen, so wie bei Kierkegaard für den Übergang von dem einen Stadium auf des Lebens Weg zum anderen: vom ästhetischen zum ethischen und zum religiösen. Bevor ich Adorno thematisiere, will ich mich kurz Benjamin zuwenden. Die Transzendenzdimension der Hoffnung auf Erlösung wird von ihm konsequent als Sinnpotential auch und gerade vergangener, verlorener Augenblicke konkreter menschlicher Existenz gedacht und entfaltet. In seiner rettenden Kritik ist die Verklammerung von Augenblick, in der Vergangenheit verborgener und verdeckter Sinnantizipation und freizulegender Hoffnungspotentiale systematisch konstitutiv. In dieser rettenden Kritik soll für jeden Augenblick dessen ekstatische Potentialität im Horizont der Hoffnung auf Erfüllung mitgedacht werden. Diese Transzendenzperspektive auf Rettung geht nicht auf und kann nicht aufgehen in fortschreitender, innergeschichtlicher Emanzipation, auch nicht in Erfahrungen des Glücks einzelner Menschen. Auf diese Weise hält Benjamin einen irreduziblen theologischen, eschatologischen Transzendenzüberschuss in jedem Augenblick fest. Näherhin konstruiert Benjamin die Form der zeitlichen Sinnkonstitution in Form eines Kreuzes: die religiös-eschatologische Transzendenzperspektive nimmt hier einen vertikalen, synchronen, augenblicklichen, ekstatisch-pleromatischen Ort in der Zeit ein, die materialistische Emanzipationsgeschichte einen diachronen, linearen, horizontalen Zeitort. Einerseits denkt Benjamin Transzendenz als ekstatisch-plötzliches, augenblickliches Erfüllungsgeschehen in seiner Blitzhaftigkeit. Andererseits denkt er dieses Geschehen selbst dialektisch, reflexiv, erkenntnisbezogen und sprach15 Ludwig Wittgenstein, Vorlesungen 1930 – 1935, hg. von Desmond Lee, Frankfurt a.M. 1989, 88.
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kritisch. Das heißt, die so eröffnete „Rettung […] läßt […] immer nur an dem, im nächsten Augenblick schon unrettbar verlorenen sich vollziehen.“16 Diese Kernstelle aus dem Passagen-Werk zeigt: Die Gegenwart der Erlösung bleibt paradox, das Ineinander von Ekstasis und Transzendenz gestattet keine mystische Vereinigung, sie eröffnet in ihrer Negativität erneut den Blick auf die Praxis der menschlichen Geschichte mit ihren Entstellungen und ihrer Verlorenheit wie auch mit ihrem authentischen vergänglichen Glück. Dieser Ansatz ist dem Blochs gerade mit seiner dialektischen Verklammerung von Messianismus und Marxismus besonders nahe; aber eben auch mit der von mir akzentuierten konstitutionsanalytischen Basisanalyse.17 Bei Adorno ist die Basis der unverfügbaren Sinnkonstitution die des Nicht-Identischen in seiner abwesenden Anwesenheit. Da die Sinnperspektive nicht mehr positiv gedacht werden kann, wird sie ständig minimalisiert.18 Das eigentlich sinnkonstitutive Nicht-Identische ist unsagbar bzw. vergessen, verdrängt oder verdinglicht. Denn alles notwendigerweise identifizierende Denken verfehlt es von vorneherein. Aber gleichwohl leitet eine sinnantizipierende, eschatologische Utopie der Erkenntnis unverkürzter, nichtverdinglichter Individualität, also des Nicht-Identischen, Adornos Denken untergründig. Am Paradigma avantgardistischer Kunst versucht er, die Kernanalyse von augenblicklicher Erfahrung, Negativität und Sinnantizipation ästhetisch zu entfalten. In seinen Ansatz gehen dabei aufschlussreich wiederum Elemente des Neuplatonismus von Ekstasis, Pleroma und Plötzlichkeit (exaiphnes) ein. Das Nicht-Identische ist bei Adorno zudem der Ort, den bei Heidegger die ontologische Differenz einnimmt, und bei Bloch der des unverfügbaren Dass des Augenblicks und des daraus erst entspringenden, durch es ermöglichten Was in seinem frühen Denken. Wiederum sei bemerkt, dass diese ontologische Differenz zum Beginn der Philosophie zurückweist: zu Aristoteles’ Konzeption der prote¯ ousia, der unsagbaren Individualität. Mit dem Nicht-Identischen ist die systematische Verklammerung von unsagbar augenblicklicher Individualität, Negativität und Sinnantizipa16 Walter Benjamin, Das Passagen-Werk N 10 a, 3; Gesammelte Schriften V, hg. von Rolf Tiedemann, Frankfurt a.M. 1983, 591 f. 17 Vgl. dazu: Christina Ujma, Ernst Blochs Konstruktion der Moderne aus Messianismus und Marxismus. Erçrterungen mit Bercksichtigungen von Lukcs und Benjamin, Stuttgart 1995. 18 Vgl. dazu Michael Theunissen, „Negativität bei Adorno“, in: Ludwig v. Friedeburg /Jürgen Habermas (Hg.), Adorno-Konferenz 1983, Frankfurt a.M. 1983, 41 – 65, dort 65.
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tion als Basis aller weiteren Analysen Adornos benannt, als Basis sowohl der Minima Moralia als auch der Ästhetischen Theorie. (5) Abschließend will ich die freigelegte Tiefenstruktur noch an einem weiteren Autor der Moderne, an Derrida, aufweisen. Es ist klar, dass er den Grundgedanken der ontologischen Differenz Heideggers aufgreift und sprachphilosophisch modifiziert. Der Grundbegriff der Differenz meint hier in den frühen Arbeiten Derridas die Instanz sich augenblicklich eröffnenden, gleichzeitig sich konstitutiv entziehenden sprachlichen Sinns, deren Schwund und Entzug, deren Abwesenheit man nie in Anwesenheit verwandeln kann.19 Um die Differenz, verfremdet wie das durchgestrichene Sein bei Heidegger als différance, entfaltet sich im Frühwerk Derridas eine Gruppe von traditionell metaphysischen Begriffen, deren wichtigster der der „Spur“ ist. Dieser Begriff ist, wie wir wissen, auch für Bloch zentral. Den metaphysikgeschichtlichen Hintergrund bildet hier Plotins ichnos-Begriff, der im neuplatonischen Christentum als vestigium aufgenommen wird. Insbesondere, wenn Derrida das allen Unterscheidungen noch vorausliegende Geschehen als architrace, als „Ur-Spur“ bezeichnet, erreicht er die von mir gemeinte, zugrundeliegende Konstitutionsanalyse. Wenn wir Sinn lesend aufnehmen, kommen wir immer schon zu spät, denn dieser Sinn entzieht sich auf unfassbare und unverfügbare Weise. Dennoch ist dieser Entzug die Basis allen Bedeutungsverstehens und all unserer Sinnantizipation, was insbesondere die späteren praktisch-philosophischen und politischen Texte Derridas bezeugen.
3 Nach diesem komparatistischen Durchgang möchte ich ein systematisches Fazit ziehen, einmal gegen, und einmal mit Wittgenstein. Wenn die Analyse zutrifft, dann ließe sich eine systematische Komparatistik der Philosophiegeschichte entwickeln, eine kritische Metaphilosophie oder auch Philosophie der Philosophie, die sich auch als kritische Hermeneutik entfalten müsste. Gegen Wittgenstein kann so gezeigt werden, dass die Philosophie eigenständige Sprachspiele ausbildet, die intern insofern autonom sind, als sie in durchaus jahrhundertelanger Kontinuität paradigmatische Kernanalysen bzw. Grundeinsichten artikulieren, die in keinem anderen Sprachspiel auf diese Weise reflexiv gegenwärtig sind – 19 Vgl. v. a. Jacques Derrida, Die Schrift und die Differenz, Frankfurt a.M. 1972.
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so in unserem Beispiel der Blick auf das menschliche Selbsttranszendieren in Sprache und Handeln. Dieses Selbsttranszendieren ist in allen thematisierten Ansätzen sinnkonstitutiv mit Negativität – mit dem „nicht mehr“ und dem „noch nicht“ – verklammert. Ebenso ist allen Ansätzen gemeinsam, dass dieses Transzendieren auf einen nicht-objektivierbaren Grund verweist. Und gerade dieser unverfügbare Grund in Augenblicklichkeit und Individualität birgt die Potentiale neuen, möglichen, zukünftigen Sinns. Wir sind in unserer Praxis nicht-objektivierbarer Grund all unserer ekstatischen Horizontvorzeichnungen und all unserer prädikativen Leistungen. Aus unserer Zukunftsorientierung erwächst unser Verständnis der Gegenwart. Alles menschliche Transzendieren – in lebensweltlicher Praxis, in Ethik und Politik, Kunst und Religion vollzieht sich im Horizont dieser gleichursprünglichen Sinnbedingungen. Wir stellten fest, dass dieser nucleus der philosophischen Reflexion ein Zentrum der Analyse moderner Ansätze ausmacht, keineswegs am Rande steht. Andererseits machen sie unterschiedlichen Gebrauch von diesem Kern. Es gilt auch metaphilosophisch: Die Bedeutung ist oft der Gebrauch, den wir von sprachlichen Unterscheidungen machen. Gerade so lässt sich – auf der Basis eines Kernsprachspiels – die spezifische Differenz der Ansätze bei gleichzeitig sehr ähnlicher bis gleicher Basis herausarbeiten. Wir kommen so auch auf der Ebene der systematischen Komparatistik zum Phänomen der Familienähnlichkeit. Ein erster Schritt zur kritischen Hermeneutik besteht darin, auf der Basis des nucleus zu fragen, was die Autoren jeweils aus ihm machen, um sie aus eigener Perspektive neu zu thematisieren und neu zu verstehen. Die metasprachliche Analyse der genuin philosophischen Sprachspiele bleibt also sprachkritisch. Auf diese Weise können literarische Überakzentuierungen von Konstitutionsaspekten herausgearbeitet werden, die möglicherweise bis ins Ideologische reichen. So sind die Analysen des thematisierten Konstitutionskerns bei Kant, Husserl und Wittgenstein stark formal-strukturell und eben transzendental bzw. phänomenologisch gehalten und bleiben auch so, während sie bei Benjamin einen emphatischen, bei Bloch ebenfalls einen spekulativ-evokativen Duktus erhalten. Heidegger schwankt zwischen diesen beiden Sprachmöglichkeiten. Adornos Duktus wird stark negativistisch, Derrida tendiert ebenfalls zu spekulativen Überhöhungen der grundsätzlichen Einsicht. Das heißt: wir stoßen mit unserer Analyse auf die Fragen nach der Literarizität der Philosophie und nach dem jeweiligen Stil der Philosophierenden, die lange vernachlässigt wurden. Das eine sind Grundeinsichten in die
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Konstitution der menschlichen Praxis, das andere, was man daraus selbst macht bzw. folgert. Somit lässt sich gegen Wittgenstein Philosophie als genuines komplexes Sprachspiel eigenen Rechts betrachten, und dies seit mindestens 2500 Jahren. Zum Schluss will ich aber Wittgenstein gerade aufgrund der vorgestellten Analysen wiederum Recht geben: Die Basis und Rekursinstanz aller behandelten Ansätze ist und bleibt die lebensweltliche Praxis und Sprachpraxis. Es bedarf daher einer kritischen Tiefenhermeneutik, um den Status der Ansätze zu beurteilen. Die ganze humane Praxis und die ganze Alltagssprache, sie bilden den Hintergrund allen philosophischen Denkens. Diese Ganzheiten aber stehen auf keine Weise zur Verfügung. Somit gilt es, im Rekurs auf Paradigmen und Modelle aus der Alltagssprache und -praxis die philosophischen Sprachentwürfe zu beurteilen. Diese sinnkriteriale Tiefenhermeneutik steht selbst keinesfalls in Form einer analytischen Standardmethodologie zur Verfügung, sondern muss immer wieder neu geleistet werden – entsprechend den aufgezeigten Grundeinsichten in Negativität und zeitliche Sinnkonstitution. Und noch in einer zweiten Hinsicht will ich ein letztlich positives Fazit meiner Überlegungen ziehen. Ich denke, es führt gerade zu einer Aufwertung der Philosophie Ernst Blochs, wenn die tiefe systematische Verbundenheit seines Ansatzes mit den wichtigsten anderen Philosophen des 20. Jahrhunderts deutlich wird, nachdem die seinerzeitigen Konfrontationen und Schulbildungen für den intersubjektiven philosophischen Diskurs des 21. Jahrhunderts nicht mehr prägend sind. Wenn wir ferner die Reflexion auf die Literarizität der Philosophie sowie ihren Rückbezug auf die lebensweltliche Praxis auf Bloch beziehen, so lässt sich mit Bezug auf den freigelegten schulunabhängigen systematischen nucleus und mit Blick auf Blochs Gesamtwerk feststellen: Der nucleus bezieht sich auf (transzendentale) Möglichkeitsbedingungen der lebensweltlichen Praxis und Sprachpraxis. Blochs Gesamtwerk zeigt auf seine Weise, dass diese Bedingungen für die menschliche Kultur in all ihren Ausprägungen, materiell, ökonomisch, politisch, ästhetisch und religiös konstitutiv waren und sind und gibt damit der grundlegenden Konstitutionsanalyse recht, die Blochs Werk mit so vielen anderen Ansätzen in der Tiefe verbindet.
Gnosis und philosophische Moderne: Heidegger, Wittgenstein, Adorno 1 Meine Thesen sind, erstens, dass das Gnostische als komplexer Überzeugungszusammenhang systematisch-philosophisch verständlich rekonstruierbar und praktisch-anthropologisch in jeweils veränderte Gestalt bleibend relevant bzw. unverzichtbar ist; zweitens, dass aus diesem Grund das Gnostische auch ein notwendiges Element wichtiger systematischer Entwürfe der Philosophie des 20. Jahrhunderts bildet, so z. B. der Entwürfe von Heidegger, Wittgenstein und Adorno; drittens aber, dass man systematisch bei der Gnosis nicht stehenbleiben darf, man sie überwinden muss, und dass sie auch überwunden wird. Zunächst will ich das gnostische Element möglichst formal und strukturell erfassen, um dann zu erläutern, wie es sich in den modernen Ansätzen jeweils spezifischer ausbildet. In der historischen Gnosis und im Gnostizismus artikulieren sich nach einhelligem Verständnis zumindest folgende Auffassungen von der Stellung des Menschen in der Welt, oder, von der Lebens- und Grundsituation des Menschen – unabhängig von bestimmten geschichtlichen Konstellationen: 1. die absolute Weltfremdheit des Menschen bei gleichzeitiger Weltverfallenheit, 2. die völlige Weltjenseitigkeit des Heils, einer möglichen sinnvollen Ganzheit und Getragenheit des menschlichen Lebens, 3. schließlich die Auffassung davon, dass die Erkenntnis dieser absoluten Inkommensurabilität von Diesseits und Jenseits, Welt und Gott, Leben und Heil, dass diese Erkenntnis selbst die rettende Erlösung nicht nur bringt, sondern diese selber ist. Es handelt sich also um eine Deutung der menschlichen Grundsituation, die Nihilismus, Transzendenz und das Erreichen eines wahren Lebensund Weltverständnisses aufs engste verknüpft. Formal lässt sich dieses absolut-dualistische Welt- und Selbstverständnis mit folgender Formel bzw. Aussage, artikulieren: Wenn du dich richtig verstehen willst – wie du auch seist, – dann musst du alles was du bist, alles was du hast, alles was du warst und werden kannst, alles, was du jemals erreichen kannst, sowohl
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mit deinem Handeln wie in deinen Gedanken und Vorstellungen, dann musst du das alles – die ganze Welt mithin – aufgeben, preisgeben und für nichtig erkennen. Denn das alles ist, richtig gesehen, nichts wert. Und, falsch verstanden, wird dir der Umgang mit diesen Weltbeständen einschließlich der Menschen und deiner selbst, ein richtiges Verständnis – das einzig richtige – immer wieder nur verstellen. Wenn diese Grundformel den Kern der gnostischen Botschaft angemessen wiedergibt, dann wird auch verständlich, dass diese Botschaft aufgenommen werden konnte sowohl in Religionen und Mythologien, als auch in philosophischen Konzeptionen: christlich, jüdisch und islamisch, platonistisch, mystisch und modern. Systematisch tritt mit dieser Grundformel ein Strukturproblem aller Religionen in den Blick, das man als die strukturelle Negativität aller Offenbarung und allen Heils, positiv als die Untilgbarkeit bzw. die Permanenz der Alltäglichkeit beschreiben kann. Religiöse Wahrheitsansprüche auf Transzendenz – welcher Art auch immer – können nur konkret in der weltlichen Wirklichkeit verlautbart und erhoben werden. Was unterscheidet sie dann aber von den üblichen, gewöhnlichen? Die Grundformel artikuliert auch ein Strukturproblem aller Metaphysik bzw. allen faktizitätsüberschreitenden philosophischen Denkens: Denn, was immer wir über das Ganze bzw. über den Grund des Ganzen von Welt und Leben sagen mögen – wir können das nur mittels konkreter Worte in empirischen Kontexten. Die Worte über den Sinn oder Grund des Ganzen (des Seins) oder auch nur unseres eigenen ganzen Lebens, die Rede über diese Totalitäten und ihren Grund scheint unlöslich mit unserer partikularen, jeweiligen Situation verknüpft, sie scheint abhängig vom Endlichen, Relativen und Kontingenten zu sein. Eine alles Partikulare und Kontingente überschreitende Perspektive von Sinn (bzw. des Sinnes von Sein) scheint sich zunächst nur negativ artikulieren zu können: als nicht-bedingt, als ab-solut, als un-verfügbar, als trans-zendent, als unsagbar. Ich bezeichne dieses strukturelle Problem als die absolute Negativität der Sinnganzheitsperspektive bzw. als die absolute Negativität der Sinngrundperspektive. Was ist der Sinn von allem, was soll das Ganze? Was ist der Grund von allem – auch von uns selbst – das lässt sich durch kein Faktum kommensurabler Art artikulieren. Auch Erfahrungen partikularen Sinnes geben zunächst nicht den Sinn des Ganzen an und her. Solche Erfahrungen sind endlich und vergänglich wie alles, was wir haben und sind und sein können. Letzter Sinn kann nicht von dieser Welt sein – aber dann ist er unsagbar. Mit Novalis
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können wir ausrufen: „Wir suchen überall das Absolute, und finden immer nur Dinge.“1 Dieser strukturelle Befund der absoluten Inkommensurabilität unbedingten, nicht-relativierbaren und totalen Sinnes – des Seins, der Welt bzw. auch des einzelnen Lebens im Ganzen – wird in den Zeugnissen der historischen Gnosis reich entfaltet und illustriert. Damit geht eine Entweltlichungskonzeption notwendig einher. Bezeichnend ist, dass bereits die Zeugnisse der historischen Gnosis stark von negativen Phänomenen ausgehen: von der Angst, vom Irren, vom Grauen in endlosen Angstzuständen, von Vertriebenheit und Heimatlosigkeit – allesamt sehr konkrete Schicksale damaliger und auch heutiger Menschen. Die Radikalität strukturell gnostischer „Lösungen“ bzw. Problemvergegenwärtigungen lebt in krisenhaften Epochen erneut auf. Weil die philosophische Spekulation nur einen begrenzten Set wirklich triftiger Gesamtkonzeptionen zur Verfügung hat, die m. E. letztlich anthropologisch fundiert sind, kehren auch gnostische Konzeptionen schlicht wieder – ebenso, wie z. B. der antike Materialismus oder die Skepsis, über deren häufige Wiederkehr sich niemand wundert. (In der Politik gibt es auch nur ca. fünf Grundmodelle von Herrschaft, die sich abwechseln – so endlich ist der Mensch.)
2 Wie sieht nun die Wiederkehr der gnostischen Systemelemente, deren Struktur klar ist, im 20. Jahrhundert bei Heidegger, Wittgenstein und Adorno, aus? Dazu sei vorbemerkt, dass Philosophie keine zeitlose Aktivität im luftleeren Raum der Argumente ist, sondern von konkreten Individuen unter konkreten Lebensbedingungen entwickelt wird. So auch bei den genannten Autoren. Und ich zögere nicht, gleichsam in einer Betrachtung „von außen“, ihre Philosophien auch als Ausdrucksformen radikaler Lebens- und Zeiterfahrungen zu sehen. Kurz: Angesichts der Katastrophen des 20. Jahrhunderts: 1. Weltkrieg, 2. Weltkrieg, 70 Millionen Todesopfer Hitlers und Stalins, Holocaust, Hiroshima – verbot sich ein beruhigtes Denken in akademischer Unberührtheit vom lauten Lärm des Tages. 1
Novalis, „Blütenstaub Nr. 1“, in: ders., Werke und Briefe, München 1968, 340.
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Verbunden mit philosophischen Grundfragen – nach dem Sinn von Sein, nach dem Sinn der Sprache, nach dem Sinn des gesellschaftlichgeschichtlichen Lebens – gelangen alle drei Autoren ganz früh zu sehr negativistischen Antwort-Konzeptionen. Heidegger arbeitet unmittelbar im Kriegsnotsemester für Kriegsfreiwillige von 1918/19 seine grundlegenden Verfallenheitsanalysen aus, die intensive Rezeption von Paulus, Augustinus, Pascal, Luther und Kierkegaard, Dostojewski, Tolstoi und van Gogh tritt hinzu. Wie wird unendliches Leid und wie wird eine Weltkatastrophe philosophisch artikulierbar? Der literarische Stil der Philosophie muss sich hier anpassen, dem Klima gerecht zu werden. Weit davon entfernt, hier etwas „ableiten“ zu wollen, konstatiere ich, dass die Autoren selbst ihr Philosophieren ständig und explizit auf die Katastrophen des Jahrhunderts bezogen und zurückbezogen haben. Philosophie ist ihre Zeit in Gedanken erfasst. Katastrophische Umstände erzwingen – unabhängig von der inneren methodologischen Verfassung einer Philosophie – der Situation angemessene, und das heißt hier: angemessen radikale – philosophische Antworten. Auf diesem Hintergrund zeichnet sich bei den drei Autoren der Moderne der Umriss einer fundamentalontologischen, einer sprachontologischen und einer sozialontologischen bzw. geschichtsontologischen negativen Metaphysik mit gnostischen Strukturelementen ab. Meine These zu Heidegger, Wittgenstein und Adorno ist, dass sie erstens alle ohne gnostische Systemelemente nicht auskommen und nicht verstehbar sind, dass sie aber zweitens alle auch systematische Überwindungen des gnostischen Nihilismus entwickeln. Und diese Überwindungsansätze sind zukunftsweisend. Heideggers Affinität zur Gnosis wurde u. a. bereits von Hans Jonas, Barbara Merker und Wolfgang Baum umfassend herausgearbeitet.2 Auf den geschichtlichen Hintergrund katastrophischer Erfahrungen des Weltkrieges für die Ausarbeitung der Verfallenheitsanalysen im Vorfeld von „Sein und Zeit“ habe ich bereits hingewiesen. Verstehen wir unter Gnosis auch eine Eliminierung der Vermittlungen und einer humanen Mittellage durch Weltnegativierung und Entweltlichung, durch Pneu2
Vgl. Hans Jonas, „Gnosis, Existentialismus und Nihilismus“, in: ders., Zwischen Nichts und Ewigkeit. Drei Aufstze zur Lehre vom Menschen, Göttingen 21987, 5 – 25; Barbara Merker, Selbsttuschung und Selbsterkenntis. Zu Heideggers Transformation der Phnomenologie Husserls, Frankfurt a.M. 1988; Wolfgang Baum, Gnostische Elemente im Denken Martin Heideggers? Eine Studie auf der Grundlage der Religionsphilosophie von Hans Jonas, Neuried 1997.
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matisierung des Wissenden, dann stellen die existenzialistisch verstandenen Dualismen der existenzialen Analytik und insbesondere die Existenzialien der Geworfenheit und des Rufs „aus der Ferne in die Ferne“3 ein Strukturmodell des gnostischen Mythos dar. Mit dem fundamentalen Dualismus von Eigentlichkeit und Uneigentlichkeit ist ein Punkt der Scheidung und Entscheidung, ein Punkt des Alles oder Nichts gegeben, ein Punkt der destruktiven Annihilierung alles verfallenen Bestehenden. Radikale Weltnegativierung als Verfallenheit, radikale Nicht-Weltlichkeit des Heils im Sinne des eigentlichen Selbstverständnisses, Punktualisierung des Umschlags im Sinne eines vulgärzeittranszendenten Augenblicks der Entscheidung auf der schwarzen Folie der Todesangst um das In-der-Welt-sein, der Ruf „aus der Ferne in die Ferne“, um „zurückgeholt“4 zu werden – das gnostische Syndrom scheint strukturell in perfekter Geschlossenheit vorzuliegen. Und doch, so meine These, sprengt Heidegger das gnostische Modell bereits in „Sein und Zeit“ grundsätzlich und systematisch. Zwei Argumente für diese These und gegen Hans Jonas biete ich an. Erstens müssen wir den formal-anzeigenden, strukturellen Status der Analysen von „Sein und Zeit“ methodologisch ernst nehmen: Es handelt sich um begriffliche Konstitutionsanalysen zu den Bedingungen der Möglichkeit bestimmter existentiell-ontischer Selbstverständnisse. Diese Konstitutionsanalysen sind diskutierbar und revidierbar, und mithin keine Gnosis. Und Heidegger hat viele dieser Analysen später ja auch modifiziert und revidiert, z. B. die Analysen der Räumlichkeit im Verhältnis zur Zeitlichkeit. Es geht also nur darum, konstitutionsanalytisch und sinnkriterial zu beurteilen, ob die Gewissensanalyse triftig ist bzw. ohne die genannten ,gnostischen‘ Elemente durchgeführt werden kann. Letzteres wiederum scheint mir sehr schwierig zu sein. Wesentlich an diesem methodologischen Argument aber ist mir folgendes: Eine existenzialistische Lesart der Analysen von „Sein und Zeit“ verkennt deren Status von Grund auf: die Fundamentalontologie ist kein Existenzialismus – auch kein gnostischer. Das zweite Argument besagt, dass eine gnostische Konzeption von Eigentlichkeit in den Einzelanalysen von „Sein und Zeit“ obsiegt hätte, wenn Hans Jonas Recht hätte: Wenn nämlich die Gegenwart strukturell mit dem Verfallen so verklammert wäre, dass nur der zeitsprengende Augenblick in unverfügbarer Plötzlichkeit als Konstituens der Eigentlichkeit übrig bliebe. Die Sorgestruktur wäre die Struktur flächende3 4
Martin Heidegger, Sein und Zeit, Tübingen 111967, 271. Ebd.
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ckender Weltverfallenheit mit ihren vollständigen und unzerreißbaren Ekstasen der Existenz, der Faktizität und des Verfallens. So sieht es Jonas, aber diese Interpretation ist falsch. In Wahrheit, und das bezeugen Heideggers Analysen zu Zeitlichkeit und Alltäglichkeit, führt er zur Sorgestruktur neben den drei Ekstasen ein systemsprengendes viertes Element ein, welches die ekstatischen Vollzugscharaktere sowohl zu distanzieren als auch explizit zu thematisieren gestattet: nämlich die Rede. Mit der Rede als dem Ort expliziter und diskursiver Artikulationsmöglichkeit sowohl von Verfallenheit als auch von Eigentlichkeit ist gleichsam der stumme Kosmos der Angst aufgesprengt worden; ein Bereich humaner Sinnvermittlung ist in der Analyse gewiesen, der die Strukturen der Faktizität natürlich nicht außer Kraft setzt, der sie aber der diskursiven Reflexion zugänglich macht – bis hin zu innerweltlichethischen Konsequenzen. Allerdings führt Heidegger diese Möglichkeiten in „Sein und Zeit“ nicht weiter aus.5 Diese Sprachkehre wirkt sich in noch weit höherem Maße in der Spätphilosophie Heideggers aus. Diese Spätphilosophie ist nicht nur Neognosis strukturell Schellingschen Typs, sondern im Denken der Sprache als Haus des Seins und im Denken der dichtenden Vermittlung wird sie Hermeneutik der Überlieferungsgeschichte. Das Denken geschieht im Spielraum der Überlieferung und kennt eine innerweltliche Sinngeschichte, die bei Hesiod, Parmenides und Heraklit als Sprachgeschehen beginnt und bis zu Hölderlin und Trakl führt – sicher keine Gnosis.
3 Auch für Wittgenstein ist der katastrophische Hintergrund des Weltkrieges zu konstatieren. Zu dieser Zeit wurde er von seinen Kameraden „der Mann mit dem Evangelium“ genannt, weil er immer eine ReclamAusgabe von Tolstois Evangelienbuch bei sich hatte. Die Tagebuchaufzeichnungen, die zum „Tractatus“ führten, hat er an der galizischen Gebirgsfront und teilweise im Schützengraben gemacht, unmittelbar konfrontiert mit dem Schlimmsten. Später noch sagte er in Gesprächen in seiner brüskierenden Art, das Hämmern der schweren Artillerie sei das schönste Geräusch gewesen, das er je in seinem Leben gehört habe. In den 5
Vgl. dazu auch: Andreas Luckner, Martin Heidegger: „Sein und Zeit“, Paderborn/ München/Wien/Zürich 1997,142 – 148.
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Tagebuchaufzeichnungen des „Prototractatus“ besitzen wir ein klares Zeugnis der Gesamtweltsinnkonzeption des jungen Wittgenstein.6 Die „Welt“, das ist diese Welt. „Die Grenzen meiner Sprache bedeuten die Grenzen meiner Welt. […] Schon lange war es mir bewußt, daß ich ein Buch schreiben könnte, ,Was für eine Welt ich vorfand‘“ (23.5. 1915). Diese Welt, die Wittgenstein vorfindet, ist „alles was der Fall ist“. Es ist die Welt aller Tatsachen ohne jeden „höheren“ Sinn, wie er sich traditionell in Ästhetik, Ethik und Religion artikulierte. In dieser Welt ist alles zufällig. „In dem Buch ,Die Welt, welche ich vorfand‘ wäre auch über meinen Leib zu berichten und zu sagen, welche Glieder meinem Willen unterstehen etc. Dies ist nämlich eine Methode, das Subjekt zu isolieren, oder vielmehr zu zeigen, dass es in einem wichtigen Sinne kein Subjekt gibt. Von ihm allein nämlich könnte in diesem Buche nicht die Rede sein“ (23. 5. 1915). Gnostisch ist diese frühe Gesamtweltsinnkonzeption Wittgensteins, wenn er die gesamte Weltwirklichkeit mitsamt seinem Leib und aller Empirie auf die Seite der sinnlosen Faktizität schiebt, einer Faktizität, in der es keinen Wert und nichts Höheres gibt. Ja, wir dürfen noch nicht einmal sagen: auf die Seite – denn es gibt keine andere Seite. 11. 6. 1916: „Gott und den Zweck des Lebens? / Ich weiß, das diese Welt ist. / Daß ich in ihr stehe, wie mein Auge in seinem Gesichtsfeld. / Daß etwas an ihr problematisch ist, was wir ihren Sinn nennen. / Daß dieser Sinn nicht in ihr liegt, sondern außer ihr. […] Ich kann die Geschehnisse der Welt nicht nach meinem Willen lenken, sondern bin vollkommen machtlos. Nur so kann ich mich unabhängig von der Welt machen – und sie also doch in gewissem Sinne beherrschen – indem ich auf einen Einfluß auf die Geschehnisse verzichte.“ Der erste Schritt des Gnostikers Wittgenstein ist die Weltnegativierung im Sinne ihrer durchgängigen und flächendeckenden Faktifizierung ohne jeden höheren Sinn. Diese Welt, von der es unabhängig zu werden gilt, wäre gnostisch das Werk des Demiurgen. Erlösung heißt für den Weltkriegsteilnehmer Wittgenstein Erlösung von dieser Welt, zu einem Gott, der mit dieser Welt nichts zu tun hat. 8.7. 1916: „An einen Gott glauben heißt, die Frage nach dem Sinn des Lebens verstehen. / An einen Gott glauben heißt sehen, daß es mit den Tatsachen der Welt noch nicht abgetan ist.“ Im „Tractatus“ heißt es demgemäß häretisch: 6
Ludwig Wittgenstein, Tagebcher 1914 – 1916, in: ders., Schriften 1, Frankfurt a.M. 1969, 140. Im Folgenden zitiere ich die Eintragungen unter ihrem Datum im laufenden Text.
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„Gott offenbart sich nicht in der Welt“ (T 6.432). Und vorher: „Wie die Welt ist, ist für das Höhere vollkommen gleichgültig“ (ebd.).7 Wittgenstein denkt also eine völlige Vermittlungslosigkeit von „Höherem“ und „Welt“. Auf drei Wegen radikalisiert er diesen Gedanken: durch seine Konzeption des weltjenseitigen einzigen bzw. einzigartigen Ich – das entspricht dem pneumatischen Wesenskern des Gnostikers, – dann durch seine Unsagbarkeitslehre – das Höhere lässt sich überhaupt nicht sagen, weder ethisch noch religiös, es bleibt einzig das Schweigen, – dies ist der klassische Topos des Arreton, das Ineffabile der negativen Theologie, – und schließlich drittens durch den siebenstufigen Aufstieg, den Anhodos des „Tractatus“. Der fertige „Tractatus“ führt in sieben Sätzen und Stufen zur obersten Erkenntnis: zur Erkenntnis der Nichtigkeit der Weltwirklichkeit für das Höhere, das nur im Schweigen nahe ist. Derjenige, der die siebenstufige Leiter mit hinaufgestiegen ist, kann sie dann wegwerfen. Er sieht jetzt die Welt richtig. Der Bezug zu den Styliten ist m. E. bewusst gestaltet, Wittgensteins Leben im Kloster und später in der Einsamkeit „allein nur mit Gott“ wird in seiner Bedeutung für sein Denken durch die kürzlich erschienenen neuen Tagebücher eindrucksvoll bestätigt.8 All dies lässt sich zunächst so zusammenfassen: Das Jenseits bzw. das Höhere ist von der Welt her betrachtet nur das Nichts des Diesseits, und so heißt es auch am 15. 10. 1916: „[…] auf der einen Seite bleibt also nichts übrig, auf der anderen als unik die Welt.“ Einzig, wenn ich dies – und die definitive Unsagbarkeit des Höheren – erkenne, werde ich der Erlösung inne. Diese Erkenntnis ist identisch mit meiner wahren Selbsterkenntnis – nämlich mit der Erkenntnis, dass einzig mein einziges Ich nicht zu dieser verfallenen Welt gehört. Traditionell reformuliert: Der pneumatische Wesenskern meines Selbst erkennt sich in seinem transmundanen, göttlichen Ursprung. Genau dies ist der Sinn der Ausführungen Wittgensteins. Salvator salvandus. Den Höhepunkt gnostisierender Grundgedanken bieten die Tagebuchaufzeichnungen von Juli/August 1916, in denen Wittgenstein explizit die Lehre von den zwei Gottheiten entwickelt. Der eine Gott ist der Gott dieser Welt, bzw. mit ihr und ihrem gesamten Wirklichkeits- und Tatsachenzusammenhang identisch. Der andere Gott ist der absolut 7 8
Ludwig Wittgenstein, Tractatus logico-philosophicus, in: ders., Schriften 1, a.a.O., 81. Ludwig Wittgenstein, Denkbewegungen. Tagebücher 1930 – 1932/1936 – 1937 (MS 183), hg. von Ilse Somavilla, Innsbruck 1997.
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Weltjenseitige; und er ist identisch mit mir selbst in meiner absoluten Einzigkeit. 8. 7. 1916: Wir haben das Gefühl, „daß wir von einem fremden Willen abhängig sind. / Wie dem auch sei, jedenfalls sind wir […] abhängig und das, wovon wir abhängig sind, können wir Gott nennen. Gott wäre in diesem Sinne einfach das Schicksal oder, was dasselbe ist: die – von unserem Willen unabhängige – Welt. / Vom Schicksal kann ich mich unabhängig machen. / Es gibt zwei Gottheiten: die Welt und mein unabhngiges Ich“ ( hervorgehoben von mir, Th. R.). Und Wittgenstein fährt in gnostischen Dualismen fort: „Ich bin entweder glücklich oder unglücklich, das ist alles. Man kann sagen: gut oder böse gibt es nicht.“ Die gnostische Konzeption mündet klassisch in Tautologien, so am 30. 7. 1916: „Immer wieder komme ich darauf zurück, daß einfach das glückliche Leben gut, das unglückliche schlecht ist. Und wenn ich mich jetzt frage: aber warum soll ich gerade glücklich leben, so erscheint mir das von selbst als eine tautologische Fragestellung; es scheint, daß sich das glückliche Leben von selbst rechtfertigt, daß es das einzig richtige Leben ist. [Diese Tautologie ist im Bild der gnostischen Schlange vergegenwärtigt, Th. R.] Alles dies ist […] tief geheimnisvoll! Es ist klar, dass sich die Ethik nicht aussprechen lßt!“ Unter dem 1. und 2. 8. 1916 notiert Wittgenstein dann: „Nur aus dem Bewußtsein der Einzigkeit meines Lebens entspringt Religion […]. Und dieses Bewußtsein ist das Leben selber.“ In beschwörenden Einträgen bezieht sich Wittgenstein auf das pneumatische Ich, eins mit der wahren Gottheit: „Das Ich ist kein Gegenstand.“ (7. 8. 1916), „Das Ich, das Ich ist das tief Geheimnisvolle“ (4. 8. 1916). Und schließlich erfolgt am 13. 8. 1916 das Bekenntnis zur rettenden Erkenntnis. Immer muss man sich dabei bewusst halten, dass Wittgenstein zu dieser Zeit einen ganz emphatischen Glücksbegriff verwendet, synonym mit Erlösung. „Wie kann der Mensch überhaupt glücklich sein, da er doch die Not dieser Welt nicht abwehren kann? / Eben durch das Leben der Erkenntnis. / Das gute Gewissen ist das Glück, welches das Leben der Erkenntnis gewährt. / Das Leben der Erkenntnis ist das Leben, welches glücklich ist, der Not der Welt zum Trotz.“ Diese Erkenntnis ist nur dem weltjenseitigen Ich zugänglich. Demgegenüber gehört das empirische, psychologische Ich, gehört die Seele mitsamt dem Körper zur Welt: Sie ist nur „ein Teil der Welt unter anderen Teilen der Welt, unter Tieren, Pflanzen, Steinen etc. etc.“ (2. 9. 1916).
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Der totale Dualismus dieser gnostischen Konzeption strukturiert den „Tractatus“ und insbesondere die welttranszendente Ebene des Höheren, des Unsagbaren unter Einschluss der paradoxalen Selbstaufhebung des gesamten Textes am Schluss. Wittgensteins Überwindung der Gnosis beginnt im Abschied von der „Tractatus“-Philosophie Ende der 20er, Anfang der 30er Jahre. Sie besteht in der Einsicht in die unendliche Komplexität der tatsächlichen sprachlichen und praktischen Wirklichkeit des Menschen. Man hat hier von einer Rehegelianisierung gesprochen, und dies scheint mir in gewisser Hinsicht angemessen. Insbesondere treten Formen der Vermittlung, v. a. der sprachlichen Vermittlung in vielfältigster Ausprägung ins Zentrum der philosophischen Betrachtung. Vorher hieß es: „Die Worte sind wie die Haut auf einem tiefen Wasser“ (30. 5. 1915). Jetzt gilt: Bestimmte Sprachspiele in konkreten, kulturell vermittelten Lebensformen sind einziger Bezugspunkt der Analysen der Spätphilosophie. Auf diese Weise müssen auch z. B. Reden vom Höheren, von Gott oder vom Unsagbaren konkret situiert werden und können gerade nicht abgehoben vom „rauhen Boden“9 der Wirklichkeit verwendet und verstanden werden. Dass diese Zuwendung zur humanen Wirklichkeit bei Wittgenstein mit einer denkbar intensiven Aufnahme christlicher Theologoumena und Kierkegaards einher geht, belegen noch einmal die neu publizierten Tagebücher.10 Die Überwindung der Gnosis und ihres Fundamentalismus vollzieht sich auf allen Ebenen der Spätphilosophie: die Weltnegativierung ist weder methodisch noch inhaltlich überhaupt möglich, religiöse und ethische Transzendenzansprche sind nur sprachlich vermittelt und kulturell situiert überhaupt zugänglich, und unsere Erkenntnismöglichkeiten sind außergewöhnlich stark begrenzt, viel mehr noch als vormalige kritische Philosophie annahm. Somit ist für eine überschwängliche philosophische oder religiöse Erlçsungserkenntnis kein Raum mehr in der Spätphilosophie Wittgensteins, wohl jedoch für die ganze Bandbreite religiöser Lebensformen. Die tiefste Überwindung der Gnosis aber stellt eindeutig Wittgensteins Privatsprachenargument dar. Durch dieses Argument wird einem pneumatischen, unsagbaren Wesenskern im Inneren des Ich endgültig kritisch der Boden entzogen. Denn ein solches Inneres des Ich kann jenseits der öffentlichen, geschichtlichen und kulturellen, kommunikativen Lebensformen und ihrer 9 Ludwig Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen, Nr. 107, in: ders., Schriften 1, a.a.O., 341. 10 Vgl. Anm. (8).
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intersubjektiv vermittelten Verstehenspraxis privat weder gedacht noch erfahren werden.
4 Die Frage nach Adornos Gnosisverwandtschaft lässt sich so zuspitzen: Lassen sich in seinen beiden Hauptwerken, „Negative Dialektik“ und „sthetische Theorie“, gnostische Elemente freilegen? Antwort: Ja. Bleibt es dabei? Ja und Nein. Ich will dies kurz erläutern. Die beiden Hauptwerke muten heute in vielem wie Werke der 20er Jahre an, was ihre Radikalität, Dezidiertheit und Unduldsamkeit, ja auch, was ihre spekulative Ungeschütztheit anbetrifft. Dies mag sich aus der zeitlichen Verschiebung durch die Emigration erklären. Denn schließlich hatte Adorno ja bereits Ende der 20er Jahre seine Konzeption einer von ihm sogenannten „Logik des Zerfalls“11 entwickelt. Was ist gnostisch an der „Negativen Dialektik“? Erstens das Grundmotiv der Nichtidentität, das jegliche Form von Vermittlung als eine Form von „repressiver Identität“ erscheinen lässt; zweitens die dualistischen Begriffskonstruktionen, schließlich drittens eine erkenntniskritische Festschreibung von Schuld und Verdinglichung.12 Das Motiv bzw. Axiom der Nichtidentität wird von Adorno so forciert, dass alle Formen von Vermittlung als „zwanghafter Schein“ entlarvbar werden. Sie stehen gleichsam auf der Stufe des Scheinleibes des Erlösers in der Gnosis. Dabei wird der verhängnisvolle Zwang zur begrifflichen Identifizierung von Adorno an den Imperativen der Reproduktion und Selbsterhaltung der Gattung Mensch festgemacht. Der den täuschenden Schein bedingende Zwang ist notwendig für die Selbstkonstitution der Subjekte, die sich selbstbehauptend und beharrend ihrer Weltbemächtigung, der Natur- und Selbstbeherrschung vergewissern müssen – in einem universalen Schuld-, Leidens- und Verblendungszusammenhang. Was philosophisch als Apriori erscheint, ist demnach nur scheinhaft einer autonomen Gesetzgebungsebene zugehörig; in Wahrheit enthüllt es sich als Aspekt der Naturgeschichte der Gattung ,Mensch‘. Hier kann Adorno 11 Vgl. zum Thema: Joseph F. Schmucker, Adorno – Logik des Zerfalls, Stuttgart/Bad Cannstatt 1977. 12 Vgl. dazu meinen Aufsatz: „Vermittlung als permanente Negativität. Der Wahrheitsanspruch der „Negativen Dialektik“ auf der Folie von Adornos Hegelkritik“, in: Thomas Rentsch, Negativitt und praktische Vernunft, Frankfurt a.M. 2000, 252 – 270.
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die Marxsche Analyse des Äquivalententausches, des Zur-Ware-Werdens der Menschen und des Warenfetischismus – zugegeben holzschnittartig – einrücken: Die flächendeckende Reproduktionsmaschinerie produziert den Schein einer entqualifizierten Gleichheit, leerer Identität des A=A, der letztlich im Geld seine abstrakte und anschaulich-greifbare Form gewinnt. Die Tendenz Adornos zu einem extremen Dualismus hat bereits Wellmer kritisch so charakterisiert: „Die Perspektive einer negativen Theologie in Adornos Werk ist ebenso wie seine Idee der Philosophie in seiner Kritik des ,identifizierenden Denkens‘ begründet […]. Adorno hat diese Kritik […] so tief angesetzt, dass vom Ansatzpunkt der Kritik her eine andere als eine ,schlechte‘ Vernunft eigentlich nicht mehr sich denken läßt; in dieser Schwierigkeit sind alle Paradoxen und Aporien von Adornos Philosophie beschlossen.“13 „Bei Adorno ist es so, als hätte er ein dreidimensionales System von Grundkategorien auf eine zweidimensionale Fläche projiziert […].“14 In der Tat lebt die flächendeckende Weltnegativierung der „Negativen Dialektik“ von sinnkonstitutiven dualistischen Fundamentalunterscheidungen, die in ihrer Ausschließlichkeit der aporetisch-paradoxalen Konstruktion des „Tractatus“ in nichts nachstehen. So sieht die Grundform der dichotomischen Systematik aus: Subjekt Begriff Allgemeines Identität
Objekt Nichtbegriffliches Besonderes Nichtidentisches
Momente begrifflicher Vermittlung, wie sie Hegel zwischen Allgemeinem, Besonderem und Einzelnem entwirft und durchführt, werden von Adorno auf zwei unvermittelbare Positionen der Negativität zusammengestrichen: auf Allgemeines und Einzelnes. Das Allgemeine kann das Einzelne nie erfassen, nur vergewaltigen; das Nichtbegriffliche ist per se unsagbar, unerreichbar. Eine Mitte aber gibt es nicht. Wohl jedoch gibt es eine erkenntniskritische Festschreibung und mithin Ontologisierung von Negativität bei Adorno. „Dialektik ist das konsequente Bewußtsein von
13 Albrecht Wellmer, Zur Dialektik von Moderne und Postmoderne. Vernunftkritik nach Adorno, Frankfurt a.M. 1985, 156. 14 Ebd., 157.
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Nichtidentität. […] Zu ihr treibt den Gedanken seine unvermeidliche Insuffizienz, seine Schuld an dem, was er denkt.“15 Auch bei Adorno ist der Hintergrund der Erfahrungen des Nationalsozialismus, der Emigration, der Katastrophen des 20. Jahrhunderts in Form eines extremen Krisenbewusstseins in der Philosophie präsent. In diesem Zusammenhang reicht er sogar seinem Erzrivalen Heidegger die Hand, wenn er schreibt: es gibt das, „was man heute Existentialien nennt, nur sind es Herrschaft, Unfreiheit, Leiden, die Allgegenwart der Katastrophe“.16 (Hätten Heidegger oder Gehlen so formuliert, so hätte man ihnen die reaktionäre ontologisierende Festschreibung gesellschaftlicher Unrechtsverhältnisse vorgeworfen.) Der Ursprung der gnostisierenden Weltnegativierung und Erkenntniskritik Adornos liegt in einer nicht zuletzt freudianisch inspirierten Sündentheologie ohne Erlösung, wie sie paradigmatisch gemeinsam mit Horkheimer in der „Dialektik der Aufklrung“ entfaltet wird. Eine Katastrophe in den Anfängen der Menschheitsgeschichte, ein Anfang der Geschichte in namenlosem Grauen und Entsetzen werden unterstellt. Dem Urtrauma der Katastrophentheorie (sozusagen dem Abfall der Sophia am Rand des Pleroma gleich) entsprechen die vielen Modi der Täuschung und Verdeckung der pervertierten Ratio, der Bann, die Verdrängung und das Vergessen; die sprachliche Verfehlung; Herrschaft und Mord auf der instrumentellen Basis des Werkzeuggebrauchs. Dieter Henrich hat in seiner Rezension der „Negativen Dialektik“ vom 10. 10. 1967 bemerkt, in diesem Werk sei es nur noch ein winziger Schritt bis zur „spes pura in purissimum deum“.17 Und so fasst Henrich Adornos Grundgedanken zusammen: „Die Negation bleibt stets die Aufhebung dessen, dem sie gilt, sie wird niemals zum Medium seiner Restitution durch Vermittlung. Dennoch ist solche Negation universal zu vollziehen. Kein Moment, das nicht durch sie zu bestimmen wäre als ein solches, das aufzuheben ist. […] Sie steht dafür, daß nichts ist, auf das als ein Bestehendes zurückzukommen wäre.“18 Die Weltnegatitivierung durch Radikalkritik an allem Bestehenden erfolgt bei Adorno auf der Basis des bereits beschriebenen dualistischen Systems von Fundamen15 Theodor W. Adorno, Negative Dialektik, Frankfurt a.M. 1969, 15. 16 Theodor W. Adorno, Gesammelte Schriften Bd. 8: Soziologische Schriften 1, Frankfurt a.M. 1972, 234. 17 Dieter Henrich, „Diagnose der Gegenwart. Definition der kritischen Theorie – Th.W. Adorno: ,Negative Dialektik‘“, in: Frankfurter Allgemeiner Zeitung, 10. 10. 1967, 7 L. 18 Ebd.
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talunterscheidungen. Das ist keine Dialektik mehr, sondern ein kontradiktorischer Dualismus. Schließlich nimmt Adorno konkrete politische und gesellschaftliche Zukunftsperspektiven auf diesem Hintergrund mit den Worten Theunissens in „Eschatologie“ zurück, „und zwar in eine platonisierte“.19 Vollends bestätigt sich diese Diagnose in der Negativitätsästhetik Adornos. Das moderne Kunstwerk erhält in ihr die Funktion einer kenotischen Christologie. Da das Absolute auch hier nicht positiv gedacht und vergegenständlicht werden darf, wird es „immer kleiner“.20 Über Schönbergs Musik heißt es: „Alle Dunkelheit und Schuld der Welt hat sie auf sich genommen.“21 Nur in Erscheinungen blitzartig wahrnehmbarer und schon vergehender Schönheit – wie Sternschnuppen und Feuerwerke mit ihren bunt verglühenden Sternen sie darbieten – findet Adorno in Anlehnung an Valérys Begriff der „apparition“ ein ästhetisches Paradigma, das hinreichend genug nicht ist, um als dem universalen Trug unverdächtiges Relikt eines ästhetisierten Eschaton in der Immanenz gelten zu können. Allein, dass die Systemstelle der Vermittlung bzw. emphatisch sogar der Versöhnung nur noch in einer dogmatisch als unüberbietbar gesetzten avantgardistischen Negativitätsästhetik besetzt werden darf – auf dem Hintergrund des gesamtgesellschaftlich-geschichtlichen Schuld- und Verblendungszusammenhang – allein diese gedankliche Operation zeigt bereits eine bis zur Schlachtreife gediehene gnostische Häresie. In das ästhetisierte Eschaton wandern zwar christologische Kennzeichnungen ein, aber ebenso neuplatonische, v. a. das exaiphnes, die Plötzlichkeit, sowie Strukturmomente der visio beatifica. 22 Dieses patchwork aus diversen Theologoumena just an dieser Stelle ist eine eigenartige Konstruktion, die man auch als theologischen Kitsch bezeichnen könnte. Gnostisch ist jedenfalls das forciert parusitische Element in der „sthetischen Theorie“ – ich verwende bewusst die Formel Voegelins. Parusitisch ist die Botschaft, nur in wenigen AvantgardeWerken werde der universale Schuld- und Verblendungszusammenhang momenthaft aufgebrochen, um sich sofort wieder zu schließen. Gnostisch 19 Michael Theunissen, „Negativität bei Adorno“, in: Ludwig von Friedeburg/ Jürgen Habermas (Hg.), Adorno-Konferenz 1983, Frankfurt a.M. 1983, 41 – 65, dort 61. 20 Ebd., 65. 21 Theodor W. Adorno, Gesammelte Schriften Bd. 12: Philosophie der neuen Musik, Frankfurt a.M. 1975, 126. 22 Vgl. dazu: Thomas Rentsch, „Der Augenblick des Schönen. Visio beatifica und Geschichte der ästhetischen Idee“ in diesem Band.
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ist auch der mit dieser Botschaft unlösbar gekoppelte Elitarismus einer winzigen Schar von electi, die überhaupt Zugang zur so minimalisierten und solitären, eigentlichen Erkenntnis haben. Die Masse, die Massenkultur, die Kulturindustrie – sie gehören zur unheilvollen Welt, sind Hyliker und Psychiker, massa perditionis. In den Kunstwerken sieht Adorno, wie Wellmer zusammenfasst, den Vorschein von Versöhnung, die „gewaltlose Synthesis des Zerstreuten“, die „gewaltlose Einheit des Vielen in einem versöhnten Zusammenhang alles Lebendigen“, „die gewaltlose Überbrückung der Kluft zwischen Anschauung und Begriff, zwischen Besonderem und Allgemeinen, zwischen Teil und Ganzem. Und nur dieser, den versöhnten Zustand in sich vorbildenden Gestalt kann berhaupt Erkenntnis zufallen; in diesem Sinn ist der Satz aus den Minima Moralia zu verstehen, dass ,Erkenntnis kein Licht (hat), als das von Erlösung her auf die Welt scheint.‘“23 Soweit die gnostische Substruktur des Adornoschen Denkens. Auch er aber überwindet sie von Zeit zu Zeit: erstens in seinen mehr sozialphilosophischen, exoterischen Arbeiten, zweitens, damit verbunden, in seinen materialen Einzelanalysen, auch in den Einzelanalysen zur Musik. Hier siegt oft ein vermittelnderes Denken, die Kategorien werden abgemildert, sie kennen Pragmatik, Übergänge, Kommensurabilität und konkrete Verortung.
5 Auf dem Hintergrund der Katastrophenerfahrungen des 20. Jahrhunderts weisen alle drei Philosophen starke gnostische Systemelemente auf, die im innersten Bereich ihrer Systematiken verankert sind, sei es, dass sie sich auf die Nichtigkeit des Seins (Heidegger), auf das Unsagbare (Wittgenstein) oder auf das Nichtidentische (Adorno) beziehen. Anders formuliert: Hält man nach dem Untergang der neuzeitlichen, szientifischen Metaphysik die Totalitätsperspektive der Metaphysik fragend in der Philosophie aufrecht, so hat man es auch mit systematischen Problemen der radikalen Sinngrundreflexion zu tun, mit Problemen der Transzendenz, des Absoluten und des Nihilismus. Gerade bei einer radikalen Verendlichung und Immanentisierung der philosophischen Sinngrund23 Albrecht Wellmer, „Wahrheit, Schein, Versöhnung. Adornos ästhetische Rettung der Modernität“, in: Adorno-Konferenz 1983 (Anm. 19), 138 – 176, dort 142.
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Reflexion, wie sie für die drei behandelten Philosophen charakteristisch ist, treten strukturell diejenigen Problemstellungen erneut auf, die bereits für gnostisches Denken typisch sind. Ich bin der Überzeugung, dass man diese Problemstellungen auch gegenwärtig systematisch selbständig reformulieren kann und sogar muss: im Kontext einer transzendentalen Anthropologie bzw. Weltkonstitutionsanalyse. Andererseits zeigen uns die drei Autoren je auf ihre Weise auch, dass man bei dem gnostischen Problemsyndrom nicht stehen bleiben darf. Man muss vielmehr vordringen zu den unendlich vielen komplexen und geschichtlichen, sprachlichen und institutionellen Vermittlungen, die eine humane Welt auf all ihren Ebenen ausmachen. Adorno selbst hat in seinem Kierkegaard-Buch dessen Gnosis hellsichtig kritisiert. Das ist für uns von Belang, weil alle drei Autoren von Kierkegaard tief beeinflusst sind: Heidegger wie, ganz tiefgreifend, Wittgenstein, und auch Adorno. Kierkegaard hat ihre Hegel-Rezeption verdorben bzw. verunmöglicht. „Tatsächlich bildet seine Philosophie den Opferkult so beharrlich aus, bis er in eine Gnosis übergeht, der der Protestant Kierkegaard leidenschaftlich sonst opponiert. Im späten Idealismus bricht Gnosis dort hervor, wo durch Spiritualismus mythisches Denken übers christliche Macht gewinnt und trotz aller Rede von Gnade das Christentum in die gnadenlose Geschlossenheit des Naturverlaufs hineinzieht.[…] Im Bilde der Trauer Gottes […] geht der Schöpfer unter und wird ohnmächtig, von Natur im Opfer verschlungen. Das ist als offene und gnostische Heterodoxie gesetzt in Kierkegaards Lehre von der Gefangenschaft Gottes im eigenen ,Inkognito‘ […].“24 Adorno zitiert an dieser Stelle Kierkegaard, der schreibt: „[…] seine [sc. Gottes, Th. R.] Unkenntlichkeit wurde so allmächtig festgehalten, daß er selbst gewissermaßen in der Macht seines Inkognitos ist […].“25 Adorno kritisiert: Der gnostischen Verstrickung „kann Kierkegaards Theologie nicht entgehen, weil die Konzeption der Paradoxie und absoluten Verschiedenheit Gottes selber an den autonomen Geist, als dessen systematische Negation, gebunden ist, der schließlich die göttliche Transzendenz aufhebt, indem er Gott dialektisch aus sich und seiner Notwendigkeit konstruiert. Wie in der Tiefe der Verdammnis die Dialektik bloßen Geistes zur Rettung sich wendet, so stürzt sie auf der Höhe des Opfers ab in Mythologie, die ihren Gott unters abstrakte 24 Theodor W. Adorno, Kierkegaard. Konstruktion des sthetischen, in: ders., Gesammelte Schriften Bd. 2, Frankfurt a.M. 21990, 159 f. 25 Søren Kierkegaard, Einbung im Christentum, Gesammelte Werke, Bd. IX, Jena 1912, 118; Adorno, a.a.O., 161.
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Schicksal zwingt […].“26„Wenn Haecker gegen den Kierkegaardschen Spiritualismus sagt: ,Der Mensch soll Geist werden, als der er angelegt ist, wenn möglich reiner Geist, ein […] gnostischer Irrtum Kierkegaards‘: dann setzt Gnosis von der Bestimmung des Menschen als eines bloß Geistigen sich fort in einer Theologie, die Gott in die Kategorien des reinen Geistes einordnet, als der ihm der Mensch erscheint; damit aber Gott in jene Natur auflöst, welche in Wahrheit gerade die absolute Spiritualität des Menschen ist. Mythische Dialektik verschlingt den Gott Kierkegaards wie Kronos seine Kinder.“27 Oder wie die gnostische Schlange, die sich selbst verschlingt. Hier erkennt Adorno die prätendierte Reinheit des Pneumatischen, die Purifizierung durch Weltnegativierung als die mythische Maskierung der blinden Regression in die bloße Naturhaftigkeit, gegen die die christliche Lehre von der Menschwerdung und die philosophischen Konzeptionen geschichtlicher Vermittlung eigentlich entwickelt wurden, um die Gnosis zu überwinden.
26 Adorno, ebd. 27 Ebd.
Spuren Gottes? Substitute des Absoluten in der Reflexion der Moderne 1 In einem grundsätzlichen Beitrag zur Frage nach Gott in der Gegenwartsphilosophie stellt Klaus-Michael Kodalle fest, dass sich mit der „Epochenschwelle zur Neuzeit“ das „grundsätzliche Einverständnis zwischen Vernunft und Glauben tendenziell aufgelöst [hat]“, dass das religiöse Bedürfnis sich vielfach „in exzentrischen Kostümierungen befriedigt“, dass schließlich die „Philosophie, im Banne der Religionskritik des 19. und 20. Jahrhunderts“ „eine tiefe Scheu ausgebildet [hat], die Thematik aufzugreifen, die einmal ihre Mitte und ihren Ursprung bildete.“1 Ich teile diese Diagnose. Im Folgenden will ich sie im Dialog mit Kodalle weiter entwickeln und dazu eine kurze Analyse von Substituten des Absoluten in der Reflexion der Moderne durchführen. Moderne (und Postmoderne) sind – so meine These – reich an solchen Substituten; vielleicht lassen sie sich mit Hilfe von Ersatzbildungsphänomenen sogar wesentlich charakterisieren. Der Beitrag zu dieser Festschrift gibt mir die Gelegenheit, einmal kurz, tentativ und ungeschützt eine skizzenhafte Analyse von solchen Substituten vorzustellen. Ohne das Eigenrecht und die „Legitimität“ von Neuzeit und Aufklärung zu bezweifeln, wie sie eindrucksvoll von Hans Blumenberg gegen die Säkularisierungsthese Karl Löwiths herausgearbeitet wurde2, so kommt dem tatsächlichen Weiterleben theologischer, religiöser Bestände in den Gesellschaften der Profanität, in ihrer Reflexion und Praxis doch ein eigentümlicher, zu wenig explizit beachteter und analysierter Status zu. Man benötigt keine Psychoanalyse, um von einer variantenreichen Wiederkehr des Verdrängten zu sprechen. Allein der emphatische Gebrauch des mit fraglosen Sinnansprüchen verbundenen Wortes „Kult“ in der Alltagssprache und Ju1 2
Klaus-Michael Kodalle, „Gott“, in: Ekkehard Martens/Herbert Schnädelbach (Hg.), Philosophie. Ein Grundkurs, Reinbek 1985, 395 – 439, dort 369 f. Hans Blumenberg, Skularisierung und Selbstbehauptung, Frankfurt a.M. 1974; vgl. Karl Löwith, Weltgeschichte und Heilsgeschehen. Die theologischen Voraussetzungen der Geschichtsphilosophie, Stuttgart 1953.
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gendkultur, die Phänomene der Idolbildung in Sport und Unterhaltungsindustrie, der Eventcharakter spektakulärer öffentlicher Inszenierungen zeugen von solchen Prozessen. Die Hochkultur und die philosophische Reflexion weisen auf ihrem Ausdrucksniveau ähnliche Substitute des Absoluten auf. Kodalle analysiert in diesem Zusammenhang die existentielle Glückskonzeption von Albert Camus, das Tasten nach Transzendenz in Adornos Negativer Dialektik, die paradoxale Hoffnungskonzeption Walter Benjamins und die desillusionierte Mythoshermeneutik Hans Blumenbergs.3 Auch in Jürgen Habermas’ Theorie des kommunikativen Handelns zeichnet Kodalle die „Versprachlichung des Sakralen“ nach. Habermas zufolge geht es darum, die Einheit der Vernunft in der kommunikativen Alltagspraxis zurückzugewinnen, nachdem „alle substantiellen Vernunftbegriffe kritizistisch aufgelöst worden sind.“4 Gegenüber kultisch-rituellen Vergegenwärtigungsformen der emphatisch verstandenen Wahrheit stelle die Versprachlichung eine approximative „kommunikative Verflüssigung des religiösen Grundkonsenses“ dar.5 Moderne und Postmoderne sind ohne den philosophisch-theologischen und religiösen Rahmen, den sie auf mannigfache Weise beerben, nicht verstehbar. Die Formen der Beerbung, der Transformation, der Umbesetzung, der Substitution, der Surrogatbildung und der versuchten Annihilierung lassen sich in der Geschichtsphilosophie, in der Ästhetik und in der Erkenntniskritik aufweisen. Ein sich überbietendes, in sein Gegenteil umschlagendes Grundmodell stellt sicher die extreme Religionskritik Nietzsches dar, die in Formen der Remythisierung einmündet. Es geht darum, eine Ebene existentieller Authentizität zurückzugewinnen, die – das ist entscheidend – verloren ging. Das Dogma vom Ende substantieller Vernunftansprüche, vom Ende philosophischer Theologie und Metaphysik, der „Tod Gottes“ ist daher die nicht weiter befragte Voraussetzung der kryptotheologischen Neu- und Ersatzbildungen moderner Philosophie. Lassen sich an diesen Bildungen charakteristische Züge phänomenologisch und analytisch feststellen, die zu einer kritischen Aufklärung und Durchbrechung der mit ihnen ver-
3 4 5
Kodalle, „Gott“, a.a.O., 410 – 416. Jürgen Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns, Bd. 1, Frankfurt a.M. 1981, 340. Jürgen Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns, Bd. 2, Frankfurt a.M. 1988, 126; vgl. 140 und Kodalle, a.a.O., 417.
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bundenen Meinungen und Vorurteile beitragen können? Ich meine in der Tat, dass dies möglich ist.
2 Die Substitutionsformen des Absoluten weisen Elemente der Anthropologisierung, der Ästhetisierung und der Formalisierung auf. Die Anthropologisierung in ihrer klassischen Gestalt liegt in der Religionskritik Feuerbachs vor. Sie liefert mit der Projektionsthese eine einfache Erklärung für die Legitimität der Wiederaneignung der entfremdeten Sinngehalte der Transzendenz. Das ebenso einfache Modell einer geschichtsphilosophisch-emanzipationstheoretischen Säkularisierung der Eschatologie lässt sich anschließen. Subtiler sind Formen ästhetischer Transformation und Anverwandlung des Absoluten. So wird die Struktur ästhetischer Erfahrung durch ihre konstitutiven Eigenschaften der Totalität und Simultaneität, der Nichtinstrumentalität, der Singularität, der kommunikativen Selbsttransparenz der Subjekte und des ungeschuldeten Glückscharakters in Kontinuität mit den erkenntnistheoretisch-logischen Bestimmungen der visio beatifica, der seligen Schau Gottes bestimmt, wie sie die hochmittelalterliche Theologie ausgearbeitet hatte.6 Eine analoge formale Kontinuität weist die rationale begriffslogische Reinterpretation der göttlichen Trinität in Hegels Anthropo-Theo-Logik auf: Vater, Sohn und Geist verhalten sich zueinander wie das Allgemeine, das Besondere und das Einzelne, sie repräsentieren die innere Struktur der sich weltgeschichtlich entfaltenden Vernunft.7 Es zeigt sich, dass eine tiefenhermeneutische Erfassung der Entwicklung der okzidentalen Rationalität ohne deren metaphysisch-theologische Substruktur unmöglich ist. Bei den erwähnten Prozessen der Ästhetisierung und Logisierung handelt es sich gleichermaßen um solche der Immanentisierung und Anthropologisierung, die letztlich ihren geschichtlichen Ermöglichungsgrund wohl in der Botschaft von der Menschwerdung Gottes und der Gottebenbildlichkeit des Menschen haben. Mit zunehmender Entfernung und Entfremdung vom christlichen Traditionskontext wandeln sich auch die Rezeptionen und Transfor6 7
Vgl. dazu Thomas Rentsch, „Der Augenblick des Schönen. Visio beatifica und Geschichte der ästhetischen Idee“, in diesem Band. Vgl. dazu Thomas Rentsch, „Negativität und Vermittlung. Hegels AnthropoTheo-Logik“, in: ders., Negativitt und praktische Vernunft, Frankfurt a.M. 2000, 213 – 251.
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mationen des Absoluten auf charakteristische Weise. Ihre strukturelle Eigenart soll im Folgenden erfasst werden. Bereits bei Kant führt die kritische Gesamtarchitektonik zu einer negativen Ausgrenzung des Noumenalen, des Dings an sich, des „Übersinnlichen“ „in uns“ und „außer uns“8 als eines unvordenklichen, unerkennbaren Bereichs. Das Verhältnis dieses Bereichs zur Ebene der rational rekonstruierten Metaphysik der Postulatenlehre bleibt unklar und unvermittelt. Die mannigfachen Restitutionsversuche eines metaphysisch-ontologischen Holismus im Rahmen des Deutschen Idealismus, namentlich bei Schelling und Hegel, konnten hier ebenso anknüpfen wie die Schopenhauersche Identifikation des „Dings an sich“ mit dem Weltwillen im Rahmen seiner Willensmetaphysik und unter Einschluss von deren naturalistischer und darwinistischer Depotenzierung bei Nietzsche. Die Transformation und Umbesetzung des Absoluten in großen Entwürfen der Philosophie des 20. Jahrhunderts lässt sich in konzentrierter Form an Wittgenstein, Heidegger, Adorno und Derrida untersuchen. Beim frühen Wittgenstein wird der allumfassende, ontologische Bereich: dass die Welt (unter Einschluss des Lebens) ist, als „das Mystische“ und Unsagbare von innen her ausgegrenzt. Es ist die Ebene des Sinns der Welt und ineins des Lebens, das „außerhalb“ ihrer liegt und sich nur „zeigt“.9 Es ist bezeichnend, dass der Aufweis dieses emphatisch ausgezeichneten Bereichs bzw. dieser genuinen Sinn-Ebene mit denkbar weitreichenden Verboten, Tabuisierungen und einer Art Arkandisziplin einhergeht, mit denen Wittgenstein auch seine Zeitgenossen irritierte. Dass der gesamte indirekte Aufweis der Sinn-Dimension zwar existentiell, und nicht theoretisch-wissenschaftlich verstanden werden muss, dass er aber mitsamt den geläufigen Wortbedeutungen von „Gott“, „Sinn“ und „Mystischem“ nur im Kontext der metaphysischen und insbesondere christlich-theologischen Überlieferung überhaupt verstehbar ist – diese notwendige Sinnbedingung seines Verstehens expliziert der Tractatus nicht. An die Stelle einer solchen Explikation tritt ein offenbar beredt gemeintes „Schweigen“ ber das Unsagbare.10 Die Lebenspraxis Wittgensteins, sein Rückzug ins Kloster und dann als Dorfschullehrer in die niederösterreichische Provinz gehören ebenso zu dieser Sinnexplikation wie die lebenslange, existentielle Beschäftigung mit dem Werk Kierkegaards, wie sie erst wieder durch die neuerlichen Tagebuch-Veröffent8 Vgl. Immanuel Kant, Kritik der Urteilskraft, § 91. 9 Ludwig Wittgenstein, Tractatus logico-philosophicus, Frankfurt a.M. 1968, 6.41 – 7. 10 Wittgenstein, a.a.O., 6.5 – 7.
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lichungen in ihrer ganzen Komplexität und Intensität unzweifelhaft dokumentiert wird.11 Aber diese religiös-existentielle Ebene des Privatlebens wird mit der philosophischen Reflexion nicht mehr explizit und rational vermittelt. Eine Entsprechung dieser mystischen Tabuzone, um die andererseits alles Denken kreist, findet sich in Heideggers Grund- bzw. Urwort des Seins. Heidegger wie Wittgenstein denken die ontisch-ontologische Differenz: das Dass der Welt bzw. des Seins im Unterschied zu allem Seienden, und damit denken sie, ob bewusst oder nicht, in der Tradition der ontologischen Ursprungsmetaphysik und der von Leibniz und Schelling formulierten Frage: „Warum ist überhaupt etwas und nicht nichts?“ So, wie Wittgenstein statisch-ungeschichtlich die Wissenschaften und alles logisch Sagbare für konstitutiv unfähig erklärt, vom „Sinn“, vom „Mystischen“ bzw. von „Gott“ zu handeln, so erklärt Heidegger seinsgeschichtlich alle bisherige Metaphysik und OntoTheologie für konstitutiv unfähig, von der ontologischen Differenz her zu denken und so das „Sein“ – das Sein des Seienden – zu thematisieren. Beide – Heidegger wie Wittgenstein – liefern mit dem Aufweis des (unsagbaren, unerkannten) Absoluten mithin gleichzeitig den Grund seiner Unsagbarkeit und Unerkennbarkeit. Der Unsagbarkeit bei Wittgenstein entspricht die Vergessenheit bei Heidegger. Beiden gemeinsam ist die Diagnose der konstitutiven Verdecktheit des absoluten Sinns durch die moderne wissenschaftlich-technische Zivilisation und ihre Denkund Lebensweise. Was Habermas gerne als kulturkritische Zutat des Denkens von Heidegger und Wittgenstein abtut, das führt wohl eher ins Zentrum ihrer Reflexion – in ein Zentrum freilich, das Habermas bewusst meidet. Dass das „Sein“ im Heideggerschen Verständnis eine kryptotheologische, mythische, machtvolle und rätselhafte Dimension anzeigt, dokumentiert sein gesamtes späteres Denken.12 Hierzu gehören sowohl die Attribute bzw. Aktivitäten das Sich-Verbergens und des SichEntbergens als auch das Geschickhafte dieses Geschehens, dem der Mensch ausgesetzt ist, ob er will oder nicht, und das die Epochen durchwaltet. In den Beitrgen will Heidegger der Seinsvergessenheit mit einer „Sigetik“ (Schweigelehre) entsprechen, da man „das Seyn selbst […] nie unmittelbar sagen“ kann, da es nur „west“ in der „Erschwei11 Vgl. Ludwig Wittgenstein, Denkbewegungen. Tagebcher 1930 – 1932/1936 – 1937, hg. v. Ilse Somavilla, Innsbruck 1997. 12 Vgl. insbesondere Martin Heidegger, Beitrge zur Philosophie (Vom Ereignis), GA III/65, Frankfurt a.M. 1989.
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gung“.13 Das „Seyn“ wird als mit Attributen der Personalität versehene wirkende Macht konzipiert; es „spricht an“ und „versagt sich“ den wenigen „Zukünftigen“, „auf die als die rückwegig Er-Wartenden in opfernder Verhaltenheit der Wink und Anfall der Fernung und Nahung des letzten Gottes kommt.“14 Die Schreibung „Seyn“, dann noch die das Geheimnishafte steigernde kreuzweise durchgestrichenen Variante von „Sein“ sind typische Züge dieses Substituts des Absoluten bzw. Gottes.15 Dieser Befund gilt auch dann noch, wenn wir Heidegger darin folgen, dass er mit dem seinsgeschichtlichen Denken bzw. „Andenken“ des Seins nur dem „Fehl“, der Abwesenheit Gottes in der Gegenwart der modernen Welt entspricht.16 Heideggers und Wittgensteins Substitutions- und Transformationsstrategien, die an die Stelle konventioneller Auseinandersetzung mit traditionellen Formen der Metaphysik, Theologie und religiösen Praxis treten, sind auch noch in einem weiteren Punkt ähnlich. Wittgenstein hält die Artikulation des Eigentlichen oder Wesentlichen für sehr schwer, sehr missverständlich und zunächst für unmöglich und gebietet daher das Schweigen. Später hält er poetische, dichtende Sprachformen für der Philosophie eigentlich angemessen. Auch Heidegger rückt das eigentliche Denken später in die Nähe des Dichtens. Beiden geht es darum, im sprachlichen Medium bereits eine spezifische Form der Artikulationsweise zu verorten, die das Außergewöhnliche und Besondere, ja Einzigartige des Gemeinten anzeigt. Eine weitere Variante der Substitute des Absoluten neben Wittgensteins mystischem Dass der Welt und seiner Unsagbarkeit und Heideggers sich entbergend-verbergendem Sein und seiner Vergessenheit ist das Nicht-Identische, wie es in Theodor W. Adornos Theorie der Negativen Dialektik eingeführt wird.17 Es ist die Dimension des begrifflich Unfassbaren an allen Dingen, eines Unfassbaren, das dennoch gleichsam den Nerv und das Zentrum aller Wirklichkeit bildet. Auch es ist somit un13 Heidegger, Beitrge zur Philosophie, 78 f. 14 Ebd., 395. 15 Martin Heidegger, „Zur Seinsfrage“, in: ders., Wegmarken, Frankfurt a.M. 1967, 238 f. 16 Vgl. Thomas Rentsch, Martin Heidegger – Das Sein und der Tod. Eine kritische Einfhrung, München 1989, v. a. 175 – 221. 17 Theodor W. Adorno, Negative Dialektik, Frankfurt a.M. 1970, v. a. 135 – 205. Vgl. dazu: Traugott Koch/Klaus-Michael Kodalle/Herrmann Schweppenhäuser Negative Dialektik und die Idee der Versçhnung. Eine Kontroverse ber Theodor W. Adorno, Stuttgart 1973.
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sagbar und wird – notwendig – vergessen. Alles notwendigerweise identifizierende Denken nämlich vergegenständlicht bereits Etwas als etwas und macht gleich, was eigentlich anders wäre und „schneidet das Inkommensurable weg“.18 Der Kantsche Hintergrund der Reflexion Adornos ist fast überall präsent, insbesondere, wenn er die konstitutiv diskursive, endliche, identifizierende Synthesisleistung der Subjekte ins Zentrum rückt. Den negativ ausgegrenzten Bezugsrahmen dieser Erkenntniskritik bildet sowohl ein emphatisches Verständnis von unverkürzter, nichtverdinglichter individueller Identität als auch die Dimension endgültiger, nämlich göttlicher Erkenntnis. Diese würde die Individuen zur Gänze erkennen und lieben. Dass eine solche eschatologische Utopie der Erkenntnis Adornos Denken untergründig leitet, davon zeugen viele seiner, auch ästhetik-theoretischen, Arbeiten. Einerseits entzieht sich das Nicht-Identische per definitionem jeglicher begrifflichen Thematisierung; andererseits soll es der Ort des Eigentlichen und Telos des wahren Lebens sein. Dieser negativen Dialektik entspricht auch Adornos ästhetische Theorie. Sie trägt eschatologische Züge und lebt von hintergründig wirksamen Theologoumena, die ständig dementiert und verboten werden. In der Form der Kunstwerke sieht Adorno die „gewaltlose Synthesis des Zerstreuten“, die „gewaltlose Einheit des Vielen in einem versöhnten Zusammenhang alles Lebendigen“, „die gewaltlose Überbrückung der Kluft zwischen Anschauung und Begriff. Und nur dieser, den versöhnten Zustand in sich vorbildenden Gestalt kann berhaupt Erkenntnis zufallen; in diesem Sinn ist der Satz aus den Minima Moralia zu verstehen, dass ,Erkenntnis kein Licht [hat], als das von Erlösung her auf die Welt scheint‘“.19 Erst der eschatologische Zusammenfall von ästhetischer Erfahrung und begrifflicher Diskursivität ergäbe nach Adorno die „wahre Sprache“, deren Idee ihm
18 So bereits Theodor W. Adorno/Max Horkheimer, Dialektik der Aufklrung. Philosophische Fragmente, Frankfurt a.M. 1969, 19. Vgl. dazu: Thomas Rentsch, „Vermittlung als permanente Negativität. Der Wahrheitsanspruch der „Negativen Dialektik“ auf der Folie von Adornos Hegelkritik“, in: ders., Negativitt und praktische Vernunft (Anm. 7), 252 – 270. 19 So zu Recht Albrecht Wellmer, „Wahrheit, Schein, Versöhnung. Adornos ästhetische Rettung der Modernität“, in: Ludwig v. Friedeburg/Jürgen Habermas (Hg.), Adorno-Konferenz 1983, Frankfurt a.M. 1983, 138 – 176, dort 142; vgl. Theodor W. Adorno, Minima Moralia. Reflexionen aus dem beschdigten Leben, in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. 4, Frankfurt a.M. 1980, 281.
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zufolge „die Gestalt des göttlichen Namens“ ist.20 Nach Michael Theunissen bleibt Adornos ästhetische Eschatologie einer metaphysischen Theologie bei aller Negativität verhaftet. Da das Absolute jedoch nicht positiv gedacht und vergegenständlicht werden darf – welche Tradition hatte dies im Übrigen jemals beansprucht? – „wird es immer kleiner“.21 Es schnurrt zusammen zum blitzartigen Aufscheinen–und–schon–Verlöschen von Sternschnuppen oder Feuerwerken, wie Adorno z. B. in seiner Rezeption des Valeryschen Begriffs der Apparition ausführt.22 Versatzstücke einer neuplatonisch inspirierten Ästhetik von Plötzlichkeit, Ekstasis und Pleroma verbinden sich mit einer kenotischen Christologie: in den Kunstwerken geschieht „das Verdampfen der Transzendenz“, und Schönbergs Musik hat „alle Dunkelheit und Schuld der Welt […] auf sich genommen.“23 Auch Kodalle weist auf die für Adornos Denken unverzichtbare Ebene der Transzendenz, des Absoluten und des „Sinns jenseits allen Machens“ hin.24 Noch eine vierte Variante der von mir gemeinten Substitutionsbildung will ich erläutern. Sie vereint in sich viele Eigenschaften der schon behandelten Formen. Wittgensteins sprachkritische Variante der Unsagbarkeit, Heideggers fundamental-ontologische Differenz und Adornos Nichtidentisches tragen Züge, die auch im numinosen Grundbegriff der französischen Poststrukturalisten und der postmodernen Dekonstruktion, in dem der Differenz, mitschwingen. In den für die genannten Traditionen grundlegenden Arbeiten von Jacques Derrida, Gilles Deleuze und Francois Lyotard fungiert die Differenz als die Instanz sich eröffnenden wie sich entziehenden sprachlichen Sinns, deren Schwund und Entzug, deren Abwesenheit man nie in Anwesenheit verwandeln kann.25 Strukturell wiederum der traditionellen Konzeption der Ferne und Nähe, 20 Theodor W. Adorno, Fragment ber Musik und Sprache, in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. 16, 252. 21 Michael Theunissen, „Negativität bei Adorno“, in: Adorno-Konferenz 1983(Anm. 19), 41 – 65, dort 65. 22 Theodor W. Adorno, sthetische Theorie, Frankfurt a.M. 1973, 131. Vgl. dazu Rentsch, Der Augenblick des Schçnen, in diesem Band. 23 Theodor W. Adorno, Philosophie der neuen Musik, in: Gesammelte Schriften Bd. 12, Frankfurt a.M. 1975, 126; vgl. dazu Theunissen, a.a.O. (Anm. 20), 60. 24 Kodalle, „Gott“, a.a.O., 412 f. 25 Jacques Derrida, , L’criture et la diffrence, Paris 1967 (dt. Die Schrift und die Differenz, Frankfurt a.M. 1972); ders., Marges de la philosophie, Paris 1972 (dt. Randgnge der Philosophie, Frankfurt a.M. 1976; dt. vollständig Wien 1988); Vgl. auch Gilles Deleuze, , Diffrence et rptition, Paris 1968 (dt. München 1992); JeanFrancois Lyotard, Le diffrend, Paris 1983 (dt. Der Widerstreit, München 1987).
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der Abwesenheit und Anwesenheit Gottes konform, entfaltet sich um die Differenz, verfremdet wie das durchgestrichene „Sein“ Heideggers als „différance“, im Frühwerk Derridas eine Gruppe von ehemals metaphysisch aufgeladenen Begriffen, deren wichtigster der der „Spur“ ist. Den metaphysik-geschichtlichen Hintergrund bildet hier Plotins UwmorBegriff, der im neuplatonischen Christentum als vestigium aufgenommen wird. Insbesondere, wenn Derrida das allen Unterscheidungen noch vorausliegende Geschehen als „archi-trace“, als „Ur-spur“, bezeichnet und für die „Differenz“, die noch älter als das Sein ist, die abweichende Schreibung „différance“ einführt, begibt er sich auf den Weg einer Substitution des Absoluten im erörterten Sinne.26 Inmitten sprachphilosophischer Reflexion der Postmoderne werden so theologisch hochkomplexe und voraussetzungsreiche Termini in profane Kontexte der Hermeneutik und Interpretationstheorie transferiert, ohne deren ursprüngliche Bedeutung und Herkunft noch deutlich zu explizieren. Ihr suggestives Potential und ihre theologisch-metaphysische Sinndimension behalten die Grundbegriffe in veränderten Kontexten auf eigentümlich verfremdete Weise. Insbesondere, wenn „Differenz“ und „Spur“ theoretisch verselbständigt werden, ergeben sich Metatheorien bzw. metatheoretische Untersuchungen, die zu eigentümlichen Quasi-Metaphysiken tendieren.
3 Abschließend will ich einige Strukturelemente der vorgestellten Substitute des Absoluten hervorheben und mögliche Konsequenzen meiner kurzen Diagnose formulieren. Sicher ließen sich in modernen Theoriebildungen auch weitere Substitute des Absoluten aufzeigen. Es sind vornehmlich flächendeckend verwendete Grundbegriffe wie „Struktur“ und „System“, aber auch solche wie „Kontingenz“ oder „Chaos“, die so formal und neutral verwendet werden, dass die mit ihnen formulierten Großtheorien zu Quasi- bzw. Ersatzmetaphysiken tendieren. Auch die Rede von „Zeichen“ und „Interpretation“ kann solche Tendenzen befördern. Bei den von mir thematisierten Substitutionsformen lassen sich insbesondere folgende Strukturmerkmale herausstellen.
26 Vgl. Jacques Derrida, „Die différence“, in: ders., Randgnge der Philosophie, Wien 1988, 29 – 52.
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Die Ersatzbildungen (das „Mystische“, das „Sein“, das „Nichtidentische“, die „Differenz“) sind nicht religiös, metaphysisch oder theologisch im traditionellen, üblichen Sinne verstehbar. Sie sind allerdings auch ohne den geschichtlichen Hintergrund und kulturellen Kontext von Mystik, Metaphysik, Religion und Christentum (bzw. Neuplatonismus und Gnosis) nicht angemessen verstehbar. Ihnen eignet starke Negativität: Unsagbarkeit, Verborgenheit, Verdecktheit; deswegen werden sie übersprungen, übersehen, verkannt, und das hat unheilvolle Folgen, denn ihnen kommt in Wahrheit ein eminenter, erhabener, emphatisch auszuzeichnender Status zu; ein Ausnahmestatus, der in Wirklichkeit von herausragender praktischer Bedeutung für das wahre menschliche Selbstverständnis ist. Die mit den genannten Bildungen verbundene Dimension zu begreifen, das ist eigentlich die wahre, rettende Einsicht. Denn von jeweils ihr aus zeigen sich die eigene Existenz, die Welt und die Geschichte ganz anders als üblicherweise in Alltag und Theorie. Welche Konsequenzen verbinde ich mit der skizzierten Analyse? Meinem Urteil nach ist es in der systematischen Gegenwartsphilosophie angesichts der Sonderbildungen und ihrer Wirkungsgeschichte verstärkt erforderlich und angeraten, viel expliziter an Traditionen der Religion, der Theologie, der Metaphysik und (rationalen) Mystik anzuknüpfen und sich bewusst mit ihnen auseinanderzusetzen, anstatt diese parasitär zu beerben oder sie bloß indirekt vorauszusetzen, ohne sie zu klären. Im Rahmen einer kritischen philosophischen Theologie und Metaphysik gilt es, sich wieder mit den Originalen, mit den Vor- und Urbildern der genannten Sekundärbildungen zu befassen, ihren spezifischen Sinn und genuinen Wahrheitsanspruch erneut freizulegen und ihre praktische Bedeutung für das Welt- und Selbstverständnis des Menschen im Dialog von Philosophie, Theologien und Religionen herauszuarbeiten. Ein allgemeines Verdikt über die Unsagbarkeit authentischer absoluter Sinnansprüche, über die Unmöglichkeit metaphysischer Wahrheit und über die Fehlentwicklung der gesamten okzidentalen Rationalitätsgeschichte – sie tragen dazu ebensowenig bei wie die Wettbewerbe im Totsagen und Für-Beendet-Erklären von theologischen, metaphysischen und religiösen Inhalten, Themen und ganzen Epochen, die leider zur üblich gewordenen „Logik“ vieler gegenwärtiger Diskurse gehören. Eine weitere Vermutung sei im Blick auf Untersuchungen Kodalles abschließend angefügt. Bei den Prozessen der Substitution des Absoluten im skizzierten Sinne und für die mit diesen Prozessen verbundenen
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Phänomene der Existenzialisierung, der Formalisierung und der Logisierung (Versprachlichung) ist ein Autor wesentlich, der in Absetzung von Hegel und in der Absicht der ursprünglichen Aneignung der christlichen Botschaft eine eigene, moderne Sprache des Absoluten entwickelt: Kierkegaard. Die weitreichende Bedeutung Kierkegaards sowohl für Wittgenstein, als auch für Heidegger, Adorno und Autoren der Dekonstruktion wird in der Forschung immer deutlicher. Vielleicht, weil er zu Beginn der Moderne am radikalsten die Form eines nichtinstrumentellen, nicht-vergegenständlichenden Denkens und Lebens, die „Eroberung des Nutzlosen“ entwarf, ohne die auch keine Spur Gottes erkennbar werden wird.27 Die explizite Aufklärung des Verhältnisses philosophischer Theologie zur modernen Reflexion hat daher auch die weichenstellende Bedeutung der Kierkegaardschen Analysen erneut in den Blick zu nehmen. Vielleicht lassen sich so Minimalbedingungen einer philosophischen Theologie ohne Surrogatcharakter reformulieren.
27 Vgl. Klaus-Michael Kodalle, Die Eroberung des Nutzlosen. Kritik des Wunschdenkens und der Zweckrationalitt im Anschluß an Kierkegaard, Paderborn u. a. 1988; vgl. Thomas Rentsch, „Anrennen gegen das Paradox: Wittgenstein, Heidegger und Kierkegaard“, in: ders., Negativitt und praktische Vernunft, a.a.O., 322 – 334; sowie ders., „Gnosis und philosophische Moderne: Heidegger, Wittgenstein, Adorno“, in diesem Band; Stephen Mulhall, Inheritance and Originality. Wittgenstein, Heidegger, Kierkegaard, Oxford 2001; Mariele Nientied, Kierkegaard und Wittgenstein. „Hineintuschen in das Wahre“, Berlin/New York 2002.
1.II Systematische Perspektiven
Grenzen und Einheit der Vernunft neu denken 1. Zum Status der Philosophie Um in der Gegenwart die Einheit der Vernunft erneut zu denken, müssen wir – das ist die These dieses Beitrags – ihre Grenzen neu begreifen. Diese Einheit wurde ehemals ontologisch, metaphysisch, bewusstseinsphilosophisch und transzendentalphilosophisch gedacht. Die Geschichte der Philosophie wie auch die der menschlichen Kultur lässt sich auch als ein Prozess des Reflexivwerdens, der Steigerung der Selbstreflexivität begreifen. So können wir heute die ehemals entworfenen Einheitsmodelle im Rückblick kritisch beurteilen und kulturell, gesellschaftlich und geschichtlich hinsichtlich ihrer Voraussetzungen kontextualisieren. Entgegen einem oberflächlichen Eindruck des Fortschritts der wissenschaftlich-technischen Zivilisation im Sinne der Universalisierung allgemeiner Rationalitätsstandards muss Philosophie als kritische Hermeneutik verstärkt auf mit diesem Prozess verbundene Fehlentwicklungen und kategoriale Irrtümer aufmerksam machen. Die Ontologieund Sprachkritik der Philosophie des vergangenen Jahrhunderts hat mit Heidegger und Wittgenstein und auch mit bestimmten Analysen von Adorno und Derrida tiefsitzende Missverständnisse in traditionellen Welt- und Selbstverständnissen freigelegt: ein repräsentationalistisches Verständnis unserer Sprachpraxis wie auch unserer wissenschaftlichen Theoriebildung ist verfehlt. Weder eine vorgängige Vorhandenheitsontologie noch eine technisch-formal bereits verfügbare Vorhandenheitssemantik ermöglicht uns einen genauen Weltzugang und ein glaubwürdiges Wirklichkeitsverständnis. Mit dieser negativ-kritischen Grundeinsicht der modernen Philosophie – darauf hat Friedrich Kambartel immer wieder hingewiesen1 – ist eine Vertiefung und Präzisierung der Kantischen Vernunftkritik verbunden. Das heißt zunächst: Wer die Intentionen Kants teilt, der muss die systematische Weiterentwicklung der Vernunftkritik verarbeiten, die mit den großen Leistungen des 20. Jahrhunderts, vielfach noch unabgegolten, vorliegt. Insbesondere muss 1
Friedrich Kambartel, „Wittgensteins späte Philosophie. Zur Vollendung von Kants Kritik der wissenschaftlichen Aufklärung“, in: ders., Philosophie der humanen Welt. Abhandlungen, Frankfurt a.M. 1989, 146 – 159.
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herausgearbeitet werden, welche Konsequenzen die Sprachkritik und die sowohl von Heidegger wie von Wittgenstein entwickelte Kritik an allen Formen cartesianischer Bewusstseinsphilosophie für die kritische Transzendentalphilosophie Kants hat.2 Der Weg zu dieser erneuten Transformation der Transzendentalphilosophie und Vernunftkritik lässt sich allgemein als ein Rückgang in die (unüberschaubar komplexen) Formen der lebensweltlichen Praxis und der Alltagssprache bezeichnen. Es handelt sich dabei um ein erinnerndes Vergegenwärtigen derjenigen Verstehensbedingungen und Sinnkriterien, die uns bereits im alltäglichen Handeln und Sprechen, oft implizit, leiten und die meist gar nicht bewusst sind. So ist, wie Wittgenstein musterhaft zeigt, die Regelhaftigkeit unserer Verwendung der Alltagssprache, zum Beispiel der Farbwörter, von subtiler interner Komplexität und Differenziertheit. Kein normaler Sprecher könnte diese Regeln explizieren – alle Sprecher jedoch können die Farbsprache gebrauchen. Der Weg zu einer erneuerten Vernunftkritik besteht in einem zu klärenden Rückgang in die lebensweltliche Praxis. Avenarius, der späte Husserl mit seiner Krisis-Arbeit sowie die zentralen Analysen des frühen Heidegger von Sein und Zeit und des späten Wittgenstein der Philosophischen Untersuchungen unternehmen diesen methodischen Rückgang. Auf differenzierte Weise wird dabei deutlich, dass ein selbst wieder theoretisch fixiertes, ontologisch statisches, in diesem Sinne positivistisches Verständnis „der Lebenswelt“ verfehlt ist. Die Lebenswelt ist nicht Gegebenes, sondern diejenige Praxis, an der wir jeweils selbst noch in ihrer Entstehung und Weiterentwicklung tätig beteiligt sind. Bereits hier wird sichtbar, dass der reflexive Rückgang in die Sinnbedingungen der eigenen Praxis als eine freie, auf Gründe, Argumente und Einsichten bezogene Tätigkeit begriffen werden muss. Die lebensweltliche Sinnkonstitution ist in ihrer Struktur verborgen, verdeckt und vielfach unbzw. vorbewusst. Ein klärendes Verständnis ist somit nur durch das Abund Wegarbeiten von Missverständnissen und Verdeckungen möglich. So ist zum Beispiel ein Denken in den Fundamentalunterscheidungen von „Subjekt“ und „Objekt“, „Geist“ und „Materie“, „Seele“ und „Leib“, „Bewusstsein“ und „Sein“, „Innen“ und „Außen“ für unsere Kultur und ihre theoretischen Grundlagen nicht nur auf den ersten Blick 2
Thomas Rentsch, „Heidegger und Wittgenstein. Ein Rückblick auf zwanzig Jahre Forschung“, in: ders., Heidegger und Wittgenstein. Existential- und Sprachanalysen zu den Grundlagen philosophischer Anthropologie, Stuttgart 22003, 9 – 74.
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leitend. Dennoch gibt die Alltagssprachpraxis bei genauerem Hinsehen eine solche dualistische Ontologie nicht her. Nicht eine solche Ontologie ist sinnkonstitutiv, so dass wir schon wüssten, was der Sinn der Rede von einem „Inneren“ des „Bewusstseins“ ist. Bedeutungsverleihend ist nicht ein wahrnehmbarer Bezug solcher Rede auf innere, geistige Entitäten, sondern der gesamte situative Kontext oder Hintergrund des konkreten Gebrauchs der Rede über Geistiges und Inneres. Weder ist dabei das Geistige auf äußerliche Kriterien reduzibel, noch ist es ohne solche Kriterien verstehbar. Es ergibt sich also durch ein solches Vorgehen des Rückgangs nicht noch einmal eine neue Ontologie, die mit anderen metaphysischen, bewusstseinsphilosophischen oder naturwissenschaftlichen Theorien auf gleicher Ebene in Konkurrenz stünde. Vielmehr ergeben sich im Wege des Abbaus falscher, irreführender Vorstellungen befreiende Einsichten in ein tragfähiges und angemessenes Praxisverständnis. Gerade angesichts der gegenwärtigen Debatten im Themenbereich von Neurobiologie und Willensfreiheit lässt sich zeigen, wie weitreichend der hier geschilderte kritische Rückgang ist. Philosophiegeschichtlich ist der kritisch-hermeneutische Rückgang in die vielfach unbewusste lebensweltliche Praxis eine Fortsetzung der sokratisch-platonischen Hebammenkunst der Erinnerung an das lebenstragende, vergessene Selbstverständliche, die Wiedererweckung, die Anamnesis des Sinns. Im Kontext der Alltagssprachanalyse lässt sich der eigentümliche Status philosophischer Entdeckungen im Rahmen einer solchen Erinnerungsarbeit an die eigene Praxis erläutern. Die Grundfrage ließe sich so formulieren: Was tun wir eigentlich, wenn wir auf die Weise x handeln? Was meinen wir eigentlich, wenn wir diese Weise so und so nennen? Wie lässt sie sich von anderen Weisen, zu handeln, unterscheiden? Bei der erläuterten Praxis des Rückgangs ist es immer wieder erforderlich, negativ-kritisch falsche Verständnisse zurückzuweisen, und ebenso wichtig, zu erfassen, was wir eigentlich tun, wenn wir sprechen und handeln. In die kritisch-hermeneutische Methode der Erinnerungsarbeit gehen Elemente der Common-sense-Philosophie ein. Neue Deutungen unserer Praxis aus bestimmten Teilbereichen der Naturwissenschaft haben sich vor normativen Verständnissen unserer Kultur zu legitimieren bzw. einzuordnen, die sich als tragfähig für unser Zusammenleben erwiesen haben. Common sense, begriffen als qualifizierte Lebenserfahrung, hat im Zweifelsfall Vorrang vor einzelnen wissenschaftlichen Hypothesen oder vor technisch-apparativ gewonnenen einzelnen Forschungsergebnissen. Grundsätzlich gilt: Wissenschaftliche
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Forschung hat selbst ein normatives Fundament in der lebensweltlichgesellschaftlichen Praxis und ist von diesem Fundament aus zu beurteilen. Die Aspekte des Common sense und des Pragmatismus, die in die kritische Rekonstruktion der lebensweltlichen Sinnbedingungen eingehen, verbinden sich aufgrund der nötigen Destruktion falscher Verständnisse mit Aufgaben einer Ideologiekritik. Sie wurden in der antiken Philosophie als Notwendigkeit der Überwindung bloßes Meinens, der doxa, gefasst. Von Kant und Hegel wurde diese kritische Aufgabe als Abarbeitung täuschenden Scheins begriffen, der sich immer erneut aufdrängt und einstellen will, wenn wir uns selbst und unser Tun zu begreifen versuchen. Grundformen des Scheins sind Formen der Reduktion und Formen der Verdopplung. Der destruktiv-kritische Teil der hermeneutischen Aufgabe muss auch Elemente der Ideologiekritik des 19. und 20. Jahrhunderts aufnehmen und weiterentwickeln, die exemplarisch in den Analysen von Marx zur Kritik der politischen Ökonomie, von Nietzsche zur vergessenen Lebensbasis des Denkens, von Freud zur leiblich-sinnlichen Verfasstheit des Alltagslebens vorgelegt wurden. Der täuschende Schein von Meinungen kann sich wirksam vor ein angemessenes Verständnis von Phänomenen schieben. Die täuschenden Verständnisse, das sah schon Kant, lassen sich nicht ein für allemal ausräumen, sondern sie treten immer wieder erneut in veränderter Gestalt in Erscheinung. Die Grundstruktur ideologischer Scheinbildungen lässt sich so fassen, dass wir unsere eigene Praxis missverstehen, indem wir deren Erzeugnisse, die wir selbst sprechend und handelnd hervorbringen, als eine Wirklichkeit an sich denken, die uns bestimmt. Eine solche strukturelle Entfremdung und Verdinglichung begleitet alle menschlichen Kulturen. Sie kann in religiöser, in wissenschaftlicher, in alltäglicher, in individuellpathologischer Form auftreten. Ebenso, wie unerkannte, ideologische Scheinbildungen auf die Praxis real zurückwirken und sie verschlechtern, wirkt die Aufklärung über ihre tatsächlichen Sinnbedingungen befreiend auf sie zurück. Mit Bezug auf die Kritik der politischen Ökonomie und mit Bezug auf Grundfragen einer Kritik der religiösen Vernunft werde ich diesen Zusammenhang weiter unter noch exemplarisch verdeutlichen. Um die Einheit der Vernunft neu zu denken, ist es erforderlich, die Idee einer Topik und Architektonik der menschlichen Sprach- und Lebensformen zurückzugewinnen, eine Übersicht zur Orientierung, die wir auch eine Grammatik der lebensweltlichen Praxis nennen können. Wittgenstein benutzt an einschlägiger Stelle das Bild einer Landkarte.
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Auch das Bild von der alten Stadt, das er für die Sprache in ihrer geschichtlichen Entwicklung verwendet, kann hilfreich sein. In der antiken Philosophie wurde der Mensch mit zwei wesentlichen Bestimmungen versehen: Er ist das sprach- bzw. vernunftbegabte und das in der Stadt lebende Wesen. Eine Landkarte der orientierungsrelevanten Grammatiken muss die unterschiedlichen Vernunftpotentiale der theoretischen, der praktischen, der sittlichen, der ästhetischen und der religiösen Rede erschließen und kritisch auf einander beziehen. Eine sprachphilosophische Grundeinsicht kritischer Hermeneutik kann im Blick auf den lebensweltlichen Kontextholismus so formuliert werden: Beachtet werden muss gerade das – gelingende oder misslingende – Zusammenspiel der ausdifferenzierten Grammatiken. Ein sektorieller Ausgrenzungsplan der menschlichen Vernunftvermögen würde deren wechselseitiges Ergänzungs- und Durchdringungsverhältnis verkennen. So sind wir zum Beispiel bei allen Sprach- und Handlungsformen auf bestimmte Techniken angewiesen: Bei der Verfassung von Texten zu bestimmten Zwecken ebenso wie beim Brückenbau, in der Landwirtschaft oder in der chirurgischen Eingriffspraxis. Deswegen gilt in einem Kontextholismus der humanen Vernunft ganz besonders der Grundsatz Heideggers, dass Techniken nichts bloß Technisches sind. Auch Wittgenstein hebt in seinen Analysen die „technischen“ Gebrauchsgrundlagen unseres Sprachhandelns ständig hervor. Es kommt hinzu: Wir müssen lernen, zu denken und zu sprechen. Die dazu nötigen Einübungsformen sind nichts „bloß Didaktisches“, bloße Pädagogik in einem ephemer vermittelnden Sinne, sondern die Formen der Vermittlung sind selbst vernunftkonstitutiv. Wenn Gesellschaften dazu tendieren, Techniken, die ehemals zu Recht als Knste begriffen wurden, an Apparate und Maschinen abzugeben, deren mechanischer Produktion und Reproduktion einstmals autonome menschliche Tätigkeiten überantwortet werden, dann sind Formen der entfremdeten und enteigneten Vermittlung zu kritisieren. Demgegenüber erscheinen zum Beispiel die traditionelle Rhetorik und auch die Stilistik als Versuche, für bestimmte Kontexte angemessene Sprachformen zu finden und Techniken bewusst anzueignen. Ebenso ist es verfehlt, die Wissenschaftssprachen und die Sprachen der Kunst so zu separieren, als seien ästhetische Erfahrung und sinnliche, bildliche Vermittlung und literarische Form der Darstellung nur äußerliche Faktoren. Es gehört zu einer Wiedergewinnung der Komplexität der Vernunftperspektive, deren bildliche, sinnliche Dimension erneut zu erschließen und zu begreifen. Vernunft ist auf sinnliche, bildliche und beispielbezogene Vermittlung bleibend und dauernd angewiesen.
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Kambartel hat dies immer wieder auf sehr grundsätzliche Weise erläutert.3 Das paradigmatische Fundament unseres Erkennens bleibt stets erhalten; theoretische Konstruktionen können es nur zum Schein gänzlich entbehren, weil elementare Beispiele und Gegenbeispiele für unser Verstehen unverzichtbar bleiben. Die Möglichkeit, allgemeine, abstrakte und universale Sätze und Geltungsansprüche auf besondere Situationen und einzelne Individuen zurück zu beziehen, macht einen wesentlichen Teil unseres Denkvermögens schon im Alltag aus und bildet dessen elementare dialektische Struktur. Auf diesem Hintergrund lässt sich der Status der philosophischen Reflexion näher bestimmen. Die Geschichte der Philosophie zeigt uns, dass sie eine große Bandbreite literarischer Formen verwendet und ausgebildet hat. Innerhalb einer komplexen Reflexionssituation, einer Kommunikation, die die ganze Vielfalt sprachlicher Möglichkeiten bei Bedarf nutzen kann, lässt sich die dialektische Struktur unserer Orientierungspraxis am besten vergegenwärtigen. Die Dialoge Platons bilden das klassische Beispiel solcher, ganze Beurteilungsperspektiven in Beziehung setzender Sprachereignisse.4 Deswegen sind auch die schriftlichen Formen der Philosophie seit Platons Schriftkritik als behelfsmäßige Formen bewusst, die das eigene Denken und das gemeinsame Gespräch nie ersetzen können. Im konventionellen Philosophiestudium wurde diese dialogisch-diskursive Grundform philosophischer Reflexion lange Zeit zu wenig beachtet. Stattdessen wurde die Aneignung eines Wissens über die Theorien und Auffassungen von Philosophen an die Stelle lebendigen Philosophierens gesetzt. Philosophiegeschichtsschreibung ersetzte vielfach eigenes Denken. Demgegenüber ist die Einübung in das selbständige Philosophieren und auch in das Schreiben philosophischer Texte vernachlässigt worden. Gerade im Kontext der Ausbildung der Ethik- und Philosophielehrer und -lehrerinnen für das Gymnasium, aber auch für die Mittel- und Grundschule wurde in den letzten Jahren deutlich, dass und wie eine Einübung in das Verfassen von philosophischen Texten verschiedener literarischer Form produktiv eingesetzt werden kann.5 Auf 3
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Friedrich Kambartel, Erfahrung und Struktur. Bausteine zu einer Kritik des Empirismus und Formalismus, Frankfurt a.M. 1968, 21976. Vgl. zum paradigmatischen Fundament auch: Achim Hahn, Erfahrung und Begriff. Zur Konzeption einer soziologischen Erfahrungswissenschaft als Beispielhermeneutik, Frankfurt a.M. 1994. Vgl. dazu grundlegend: Wolfgang Wieland, Platon und die Formen des Wissens, Göttingen 1982. Vgl. dazu Johannes Rohbeck (Hg.), Philosophische Denkrichtungen, Dresden 2001; ders. (Hg.), Denkstile der Philosophie, Dresden 2002, darin: Thomas Rentsch,
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diese Weise erfolgt geradezu eine Bestätigung, aber auch Weiterführung von Grundauffassungen der Spätphilosophie Wittgensteins. Es lässt sich zeigen, dass die philosophischen Methoden z. B. der Phänomenologie, der Sprachanalyse, der Hermeneutik und Dialektik selbst in elementaren Formen der Alltagssprache wurzeln und gründen: im Beschreiben, im Zerlegen, im Interpretieren von Äußerungen und im Streiten und Bestreiten. Philosophische Schulrichtungen, die sich gegeneinander vereinseitigt ausdifferenziert haben, lassen sich somit als partiale Stilisierungen von bestimmten Sprachspielgrundformen der Alltagssprache begreifen. Eine Aufgabe der Rückgewinnung der Einheit der Vernunft besteht in der systematisch zu erneuernden Einsicht in die wechselseitige Bezogenheit und Interkorrelation dieser Formen. Der Status der Philosophie wird dadurch auch im Verhältnis zu den Wissenschaften klarer bestimmbar. Wenn es zutrifft, dass wir bei all unseren wissenschaftlichen und normativen Orientierungen wie auch bei all unseren kritischen Reflexionsbemühungen auf Alltagssprache und konkrete Lebenserfahrung angewiesen sind und bleiben, dann ist das Philosophieren als Einüben in die kritische Beurteilung unserer eigenen (und anderer) Beurteilungsperspektiven zu bestimmen. Auf diese Weise wird auch schon deutlich, dass alle theoretischen Überhöhungen im Sinne einer „Metatheorie“, einer Superwissenschaft, einer Letztbegründungsdisziplin das eigentlich spannende und wesentliche am Philosophieren gerade verfehlen. Denn die negativ-kritische Erkenntnis dessen, was wir nicht wissen und begründen können, reicht unter Umständen viel weiter als die positiv zu sichernde Erkenntnis. Es gilt, die Grenzen der jeweiligen Erkenntnismöglichkeiten selbst kritisch beurteilen zu können. Welche Antworten sind eigentlich auf welche wissenschaftlichen Fragen und Forschungen zu erwarten, und welche nicht? Auf welche Ergebnisse warten wir, wenn wir bestimmte Untersuchungen anstellen? Um die Grenzen von Beurteilungsperspektiven selbst beurteilen zu können, bedarf es der Ausbildung interdisziplinärer und transdisziplinärer Diskurse, die auf gesellschaftliche Fragen und Probleme und so auf die lebensweltliche Praxis bezogen sind. Wie wollen und sollen wir morgen leben? Wie sollen wir Erziehung und Altern planen und organisieren? Wie sollen wir bauen? Zur Beantwortung solcher Fragen „Phänomenologie als methodische Praxis. Didaktische Potentiale der phänomenologischen Methode“, 11 – 28; Johannes Rohbeck (Hg.), Didaktische Transformationen, Dresden 2003, darin: „Thomas Rentsch, Einführung in den Konstruktivismus. Proto-Ethik und didaktische Transformation“, 139 – 149.
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können einzelne Disziplinen und einzelne gesellschaftliche Gruppen, auch Experten und sogenannte Funktionseliten, nur Aspekte beitragen. Um tragfähige Orientierungen und Entscheidungen zu erreichen, gibt es keine verfügbaren Instanzen, die den an der konkreten gesellschaftlichen Praxis beteiligten Menschen ihre eigene Urteilsbildung abnehmen können – weder Wissenschaft noch Philosophie. Die philosophische Reflexionskultur dient daher zunächst der negativ-kritischen Herausarbeitung der Grenzen der menschlichen Erkenntnis und Praxis. Als grundsätzliche Formen der Verfehlung vernünftiger Orientierungen haben sich Formen des Reduktionismus erwiesen, die stets dazu tendieren, komplexe, unterschiedliche Grammatiken und sprachliche Möglichkeiten nach der Formel: x ist nichts anderes als y auf eine solche Möglichkeit zurückzuführen bzw. sie von einer solchen Möglichkeit abzuleiten. Der mechanische Materialismus des 17. und 18. Jahrhunderts erlag dieser Verlockung, alle Erscheinungen – auch die der kulturellen Praxis – als kausal determinierte gesetzliche Abläufe zu interpretieren und zu erklären. Zu Recht kritisierte bereits der skeptische Empirismus die theoretische Uneinlösbarkeit einer solchen reduktionistischen, alles erklärenden Perspektive. Man muss Kant Recht geben, wenn er auf die immer wieder neu zu leistende Aufgabe der Vernunftkritik hinweist. In der Gegenwart sind Formen eines neurobiologischen Reduktionismus der humanen Welt und der uns vertrauten lebensweltlichen Praxis im Schwange. Wenn wir in der alltäglichen Handlungswelt fragen: „Warum bist du nicht gekommen?“, „Warum hast du deinem Freund nicht geholfen?“, dann erwarten wir im Regelfall Grnde, wenn nicht andere Ereignisse Ursachen des fraglichen Verhaltens waren. Die konkrete Welt der Gründe ermöglicht und trägt unsere praktischen, normativen Lebensorientierungen. Nicht diese fordern allererst eine theoretische Begründung im Rahmen einzelner wissenschaftlicher Untersuchungen, sondern es ist umgekehrt: wissenschaftliche Projekte müssen ihre Ziele, ihre normativen Grundlagen und ihre Kosten begründen. Bereits Kant sah, dass ein halbierter Rationalismus die Vernunft ums Ganze bringt, wenn dieser Primat der praktischen Vernunft nicht länger im Blick ist. Wenn wir heute eine Einheitsperspektive der Vernunft kritisch zurückgewinnen wollen, müssen wir die traditionellen Unterscheidungen von Verstand und Vernunft, von ratio und intellectus, von nous und episteme neu verstehen. Keine empirische Untersuchung und keine Computersimulation wird uns eine eigenständige Begründungsleistung jemals abnehmen oder auch „beweisen“, dass es eine solche Leistung auf naturwissenschaftlich-empirisch feststellbare
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Weise „gibt“. Sie wird, worauf auch Kant bereits aufmerksam machte, aber auch niemals beweisen können, dass es sie nicht gibt. Eine analoge Kategorienverwechslung finden wir seit langem im Bereich der Partnerschaft und der Liebe. Populärwissenschaftliche Darstellungen beschreiben kommunikative Lebensformen – mit all ihren kulturellen, sozialen und ethischen Aspekten – als Wirkungen bestimmter chemischer Prozesse, in der die Stoffe „Serotonin“, „Dopamin“ und andere die Rolle von Quasi-Subjekten übernehmen. Entsprechend könnten wir die menschliche Kochkunst in ihrem ganzen Reichtum durch leere Mägen und Hungergefühle zu „erklären“ versuchen. Materielle Lebensbedingungen sind bereits immer schon in unsere kommunikative Lebenspraxis eingebettet und einbezogen und können nur künstlich aus diesem kulturellen Kontext isoliert werden. Ein kausaler Determinismus und ein neurobiologischer Materialismus sind gegenwärtige Formen einer szientistischen Quasi-Metaphysik. Ihr gegenüber sind die traditionellen Ansätze einer Metaphysik der Freiheit, der Personalität und der Menschenwürde im Recht. Sie lassen sich heute undogmatisch als Explikationen der Sinnbedingungen einer menschlichen Welt verstehen und rekonstruieren. Die kritisch-hermeneutische Rekonstruktion einer umfassenden Vernunftperspektive muss von der Grundeinsicht ausgehen, dass wir die konkreten Sinnbedingungen unserer Praxis, unseres Denkens, Sprechens und Handelns nicht erreichen können, wenn wir unterhalb ihrer komplexen, intern begrifflich strukturierten Konstitution mit unseren Analysen ansetzen und von einem subhumanen, subkomplexen oder partialen Bereich aus diese Konstitutionsebene wieder einholen wollen. Diese Grundeinsicht artikuliert Kant mit seiner Rede vom Faktum der Vernunft. Wittgenstein bemerkt einmal: „Ein lächelnder Mund lchelt nur in einem menschlichen Gesicht.“6 Anders formuliert: Wir müssen von der Irreduzibilität authentischer humaner Phänomene ausgehen, deren genuinen Geltungssinn es freizulegen und zu erfassen gilt. Das ist im Blick auf die praktische Seite der Vernunft von besonderer Bedeutung, da Konstitutionsanalysen, Analysen der Grammatik von Sinnbedingungen und Geltungsansprüchen, die diese Irreduzibilität zum Ausgangspunkt nehmen, in der Perspektive falscher, weil illusionärer Begründungs- und Ableitungsvorstellungen immer wieder mit dem Vorwurf des „naturalistischen Fehlschlusses“ bzw. mit dem Vorwurf des logisch falschen Schlusses „vom Sein auf das Sollen“ konfrontiert wer6
Ludwig Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen, Frankfurt a.M.1971, I, 583.
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den.7 Diese Kritiker haben ein theoretizistisches Philosophieverständnis und ein damit oft verbundenes naturalistisches Missverständnis von Feststellungen über die Konstitution der Lebenswelt und die Grammatik von Geltungsansprüchen. „Irreduzibilität“ von Geltungsansprüchen und Sinnbedingungen besagt gerade, dass diese von nichts anderem ableitbar sind. So können wir die interne Konstitution der Lebensform der Freundschaft mitsamt ihren charakteristischen Regeln, mit ihrer Grammatik, gegenwärtig explizieren und so auch Heranwachsende in diese Grammatik einführen. Eine dualistische Aufspaltung des authentischen Freundschaftsphänomens in bloß faktische und bloß normative „Teile“ oder „Ebenen“ ist völlig unangemessen. Wir lernen auch die „idealen“, die besonders anspruchsvollen Aspekte der Freundschaft an und in konkreten Lebensformen. Mit Kant und Hegel, Heidegger und Wittgenstein können wir Platon und Aristoteles Recht geben: Platon ist im Recht, wenn er darauf insistiert, dass ohne normativ-ideative Perspektiven, Paradigmen, „Urbilder“ und Modelle keine Orientierung und Beurteilung faktischer, realer Praxis möglich ist, wir in der Höhle ohne Einsicht und Aufklärung gefangen bleiben müssten. Aristoteles ist im Recht, wenn er herausarbeitet, dass alle „höhere“ Einsicht in die Ideen kraftlos und abstrakt bleiben würde, wenn sie nicht in gelebte, tradierte Formen der Sittlichkeit konstitutiv Eingang fände.8 Es ist daher auch ein tiefgreifendes Missverständnis, wenn wir den kritisch-hermeneutischen Rückgang in die alltagssprachliche Praxis mit einem Rekurs auf Positivität, auf bloßes „Gegebenes“ verwechseln. Der reflexive Rückgang in die Sinnbedingungen, das anamnetische Rekonstruieren von normativen Grundlagen unseres Sprechens und Handelns ist eine nicht abschließbare, offene und nicht schematisierbare Tätigkeit, die für jeden Phänomen- und Problembereich in seiner internen Komplexität auf angemessene Weise durchgeführt werden muss. Zu den Voraussetzungen einer kritisch-hermeneutischen Rekonstruktion der Grenze und der Einheit der Vernunft gehört also der sprach, ontologie- und wissenschaftskritische Rückgang auf die Alltagssprache und die lebensweltliche Praxis. Es gehört dazu die Ideologiekritik an entfremdeten Selbst- und Weltverständnissen. Es gehört dazu die Ge7 8
Vgl. zu solchen Kritikansätzen Thomas Rentsch, „Methode und Selbsterkenntnis“, in: ders., Die Konstitution der Moralitt. Transzendentale Anthropologie und praktische Philosophie, Frankfurt a.M. 21999, I–L. „Rückblick auf Aristoteles und Kant“, in: Rentsch, Die Konstitution der Moralitt, a.a.O., 288 – 338.
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winnung einer übersichtlichen Ordnung (Topik, Architektonik) der Orte unserer Lebenspraxis und ihrer Grammatik. Die philosophische Reflexion kann, um diese Ordnung zu beschreiben, kein besonderes „Metawissen“ in Anspruch nehmen, sondern ist nur ein auf Beispiele angewiesenes, Formen der Vermittlung und Interkorrelation erprobendes Hilfsmittel der Orientierung. Als solches aber ist sie reflexiv auf das Ganze (die Totalität) des menschlichen Selbst- und Weltverhältnisses ausgerichtet. Die sinnkritische Grenzreflexion der Philosophie soll die Beurteilung von Beurteilungsperspektiven ermöglichen. Sie richtet sich gegen Reduktionismus und Dogmatismus auf allen Ebenen und muss versuchen, die Vernunftpotentiale zur retten, zu bewahren, und weiterzudenken, die in der bisherigen kulturellen Entwicklung angelegt sind.
2. Aufgaben gegenwärtiger Vernunftkritik An drei Bereichen philosophischer Reflexion will ich Aufgaben einer kritischen Hermeneutik in vernünftiger Absicht im Folgenden noch verdeutlichen: 1. theoretisch – im Blick auf unser Sprachverständnis, 2. praktisch – mit Bezug auf das Verhältnis von Anthropologie, Ethik, Politik und Ökonomie, 3. religionsphilosophisch – bezogen auf das Ganze unseres Welt- und Selbstverständnisses. 1. Da ein Vernunftverständnis nicht auf einen Teilbereich der Praxis eingeschränkt werden kann – etwa auf Formen wissenschaftlicher Rationalität –, muss ein solches Verständnis sich der ganzen intrakulturellen und interkulturellen Komplexität und Ausdifferenziertheit menschlicher Sprachmöglichkeiten öffnen und stellen. Aus der negativ-kritischen Einsicht, dass es keinen archimedischen Punkt der Konstitution vernünftiger Verhältnisse „an sich“ gibt, folgern in der Gegenwart viele Philosophen, Soziologen und zum Beispiel auch Medientheoretiker einen Relativismus der Beliebigkeit unserer Orientierungen – anything goes. Diese Folgerung ist gerade die falsche Konsequenz aus einer nicht begriffenen sprachphilosophischen Reflexion im Anschluss an Wittgenstein. Dass es – um es in der Terminologie Wittgensteins zu sagen – kein „Sprachspiel aller Sprachspiele“ gibt, keine „transzendentale“
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Sprache, keine „Metasprache“ die der Sinnexplikation aller übrigen Sprachen mächtig wäre – dies ist gerade die sprachkritische Reformulierung der Einsicht Kants in die Grenzen der menschlichen Vernunft. Die Einsicht in die Grenzen der sprachlichen Möglichkeiten ist verbunden mit der Freisetzung der unüberschaubar komplexen sprachlichen Weltbezüge und Sinnentwürfe, die in ihrem jeweils eigenen Recht begriffen werden müssen. So, wie kein Spiel – Halma, Schach, Hockey, Fußball – von einem anderen ableitbar oder auf ein anderes Spiel reduzierbar ist, so lassen sich die vielen Sprachpraxen zunächst nur aus sich selbst und ihrer internen Grammatik, ihrer genuinen Konstitution, erfassen und verstehen. In der antiken Philosophie wurde erstmals bewusst, dass die logischwissenschaftliche Diskursivität nur einen Aspekt des sinnvollen menschlichen Weltbezuges bildet. Neben diesem selbst intern ausdifferenzierten Formenbereich werden als genuine sprachliche Sinnentwürfe z. B. Tragödie und Lyrik freigesetzt. In der Tragödie werden unlösbare Konflikte in ihrer Abgründigkeit vergegenwärtigt, die sich einer rationalen, diskursiven Lösung oder Auflösung aufgrund ihres Wesens widersetzen. Auch diese Konflikte gilt es zu begreifen, es gilt, sie gestaltend einsichtig zu machen und so sozial kommunizierbar zu halten. Die Katharsis ist die soziale Kategorie der Identitätsstiftung, die Aristoteles für diese Dimension der menschlichen Sprachpraxis herausarbeitet. Die Dimension tragisch-kathartischer Vergegenwärtigung ist ein bleibend unverzichtbares Konstituens umfassender vernünftiger Weltorientierung. Entgegen mancher geschichtsphilosophischen Spekulationen vom „Ende des Tragischen“ prägen tragische Konflikte in vielen Formen weiter unser Leben. Eine entsprechende Vergegenwärtigungskultur ist daher unersetzlich, welche moderne künstlerische und mediale Form sie auch immer annehmen mag. Ebenso wurde in der Antike der logisch-argumentativen Grundform der Diskursivität neben der Tragödie die Lyrik zur Seite gestellt. In den Gedichten des Archilochos und der Sappho wird auf für lange Zeit kaum überbietbare Weise die existentiell-emotionale Dimension sprachlicher Vergegenwärtigung des Lebens gestaltet. Ersichtlich ist bereits an der antiken Selbstreflexion des Reichtums der sprachlichen Formen, dass diese sich keineswegs in dualistische Entgegensetzungen z. B. von „Intersubjektivität“ und „Subjektivismus“ bzw. von wissenschaftlicher Objektivität und bloß dichterischem Ausdruck bringen lassen. Rhetorische Formen und Stilmittel, der Einsatz bildlicher, metaphorischer und paradigmatischer Sprache gehören vielmehr konstitutiv auch zur wissenschaftlichen Rede und Kommunikation. Für die praktische Vernunft sind sie unverzichtbar, um konkrete Lebenssitua-
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tionen zu vergegenwärtigen, auf die sich unsere normativen Sätze und Begriffe stets müssen zurückbeziehen lassen. Das gilt auch für die gesamte rechtliche Sphäre, deren paradigmatisches Fundament im Bezug auf zu beurteilende „Fälle“ unzweifelhaft ist. Andererseits sind die literarischen Formen der Subjektivität wie die Lyrik und spätere narrative Formen in hohem Maße intersubjektiv, besser noch: transsubjektiv zu nennen. Ebenso wie die Stilmittel der Rhetorik und auch Kompositionstechniken in der Musik haben wir es gerade in diesem Bereich menschlicher Sinnentwürfe mit objektiven, einsichtig zu machenden, anspruchsvollen Gestaltungsformen gemäß intersubjektiven Regeln zu tun. Sie gehören so zur Vernunft in ihrer internen Komplexität und dürfen nicht unbegriffen als irrational oder subjektiv, beliebig oder ornamental ausgegrenzt werden. Um ein ganzheitliches Vernunftverständnis kritisch zurückzugewinnen, muss daher die ganze Komplexität der Sprache in Geschichte und Gegenwart in die Reflexion eingeholt werden. Das Historische Wçrterbuch der Philosophie bietet mittlerweile einen gründlichen Einblick in die Geschichtlichkeit der Sprache der Philosophie selbst. Sie erscheint als ein lebendiger Prozess der Sinnbildung, an dem jede Epoche auf ihre Weise beteiligt war und die nicht statisch zu fixieren ist. Immer deutlicher wird in dieser Forschung, dass schematische Oppositionen von „historischen“ und „systematischen“ Fragen wie auch von theoretischer Diskursivität und ästhetischer Form viel zu kurz greifen. Weitreichender in kritisch-hermeneutischer Perspektive sind gerade Fragen nach dem Wie der konstruktiven Aneignungsweise der klassischen Texte der Philosophie von Platon und Aristoteles, Kant und Hegel sowie Fragen nach der Bedeutung und Funktion literarischer Formen in Wissenschaft und Philosophie.9 Weil Philosophie kritische Sinngrenzreflexion war und ist, weil sie die kritische Analyse der Grenzen der Vernunft immer neu zu leisten hat, muss sie sich über wissenschaftliche Diskursivität hinaus literarischer Formen und genuiner Bildlichkeit bedienen.10 Denn die denkende
9 Vgl. dazu Gottfried Gabriel/Christiane Schildknecht (Hg.), Literarische Formen der Philosophie, Stuttgart 1990; Gottfried Gabriel, Zwischen Logik und Literatur. Erkenntnisformen von Dichtung, Philosophie und Wissenschaft, Stuttgart 1991; Christiane Schildknecht/Dieter Teichert (Hg.), Philosophie in Literatur, Frankfurt a.M. 1996. 10 Ich betreute ein Forschungsprojekt der Thyssen-Stiftung zum Thema „Sprache und Bildlichkeit. An den Grenzen der Sprache. Zur Aktualität von Bildlichkeit in Philosophie, Theologie und Kulturwissenschaft“. In diesem Projekt wurden Ansätze einer philosophischen Metaphorologie, wie sie u. a. von Hans Blu-
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Sinnvermittlung und Sinnerschließung durch Philosophie ist verwandt mit Formen der Dichtung, obwohl sie etwas anderes ist. Kritische Reflexion auf Grenze und Problematik der vernünftigen Selbsterkenntnis des Menschen muss diese sprachphilosophische Dimension explizit und umfassend thematisieren. Zwei Irrwege sind dabei zu vermeiden. Erstens kann die Sprachgrenzproblematik nicht durch Rekurs auf Einzelwissenschaften oder durch bloß formale Satzanalysen vermieden oder eliminiert werden. Das gelingt nur scheinhaft, wie schon der frühe Wittgenstein sah. Zweitens führt aber auch der Weg bloßer Hermeneutik oder, in „postmodernem“ Gewand, der „Dekonstruktion“ nicht weiter, wenn die Texthermeneutik immanent und, wie subtil auch immer, philologisch bleibt. Die Interpretationen müssen vielmehr in praktischer Absicht auf konkrete Lebensfragen und gesellschaftliche Probleme der Gegenwart und der Zukunft bezogen bleiben. Im Blick auf die innere Komplexität der Sprachpraxis geht es nicht darum, Grenzen und Differenzen von argumentativer und vergegenwärtigender, sagender und zeigender Rede11 zu verwischen und einzuebnen, sondern im Gegenteil: diese gerade deutlich zu machen und auf diese Weise die Sprachpraxis durchlässig und transparent zu gestalten. Das gilt für analytische und hermeneutische Methoden, die nicht gegeneinander zu vereinseitigen sind.12 Auch hier ist die Übersicht, sind Topik und Architektonik der in sich differenzierten Entwürfe ein unverzichtbares Desiderat. Erst so werden sich auch die interkulturellen Formen eines hermeneutischen Differentialismus kritisch weiterentwickeln lassen. 2. Es wurde bereits deutlich, dass die kritisch-hermeneutische Sprachgrenzreflexion auf ihre praktische, lebensweltliche Fundierung dauerhaft angewiesen bleibt. Um Grenze und Einheit der Vernunft philosophisch zurückzugewinnen, muss im Bereich ihrer praktischen Dimension der Bezug von Anthropologie, Ethik, Politik und Ökonomie neu gedacht werden. Die Potentiale eines von der soziopolitischen und ökonomischen Realität des weltgeschichtlichen Prozesses abgespaltenen bloßen Normativismus scheinen erschöpft zu sein und tendieren dazu, ideolomenberg vorgelegt wurden, systematisch und praktisch-philosophisch weiterentwickelt. 11 Vgl. Thomas Rentsch/Morris Vollmann, Artikel „Zeigen“ in: Joachim Ritter/ Karlfried Gründer/Gottfried Gabriel (Hg.), Historisches Wçrterbuch der Philosophie, Bd. 12, Basel 2005, 1182 – 1186. 12 Vgl. dazu Christoph Demmerling, Sinn, Bedeutung, Verstehen. Untersuchungen zu Sprachphilosophie und Hermeneutik, Paderborn 2002.
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gisch zu werden. Demgegenüber werden Marx’ klassische Analysen der Verdinglichungs- und Quantifizierungsprozesse der kapitalistischen Ökonomie erneut bestätigt. Der vage Titel der „Globalisierung“ überschreibt einen planetarischen Vorgang, dessen politische Bedeutung und Konsequenzen noch wenig begriffen wird und der einstweilen durch prekäre Konfrontationen nur scheinbar religiös-kultureller Art und durch den spektakulären Terrorismus überdeckt wird. Um die normative Perspektive der praktischen Vernunft in ihrer universalen und ebenso konkreten, auf materiale Probleme bezogenen Bedeutung zurückzugewinnen, muss die Kontextualität der ethischen Fragen neu begriffen werden. Die alten Fragen nach der menschlichen Selbsterkenntnis und nach dem Sinn des Lebens stellen sich angesichts der Entwicklungen der Gentechnologie, angesichts der technischen Möglichkeiten der Lebensverlängerung und angesichts der Entwicklung des menschlichen Alterungsprozesses neu. In diesen Kontexten gilt es, die ethischen und praktischen Grundbegriffe und Grundsätze neu zu reflektieren und neu zu begreifen. Die Kontexte weisen einerseits zurück auf das unverzichtbare Erfordernis, ein tragfähiges, verbindliches, normatives Verständnis humanen Lebens zu explizieren. Sie weisen darauf hin, dass anspruchsvolle Formen lebenstragender Selbsterkenntnis, die einmal im Zentrum von Philosophie, Religion und humanistischer Kultur standen, durch keine neue naturwissenschaftliche Entwicklung und durch keine neue technisch-apparative Erfindung ersetzt oder abgelöst werden können. Wir müssen daher die normativen Implikationen unserer eigenen Vernunfttradition erneut begreifen und für unsere Gegenwart angemessen verdeutlichen. Die Kontexte weisen andererseits auf die grundsätzliche Tatsache der Vernetzung und Verflochtenheit der ethischen mit politischen und ökonomischen Fragen auf der lokalen wie auf der internationalen Ebene. Kambartel weist in seinen Bemerkungen zur Kultur der humanen Welt bereits prägnant darauf hin, dass das gute Leben mittlerweile ein Menschheitsprojekt geworden sei.13 Wählen wir zur Veranschaulichung zunächst einen konkreten Beispielbereich. Angesichts solcher Grundfragen wie der nach dem humanen Umgang der Menschen mit Alter, Pflege, Sterben und Tod wird mittlerweile deutlich, dass nur ein gesamtwissenschaftlicher Diskurs unter Einbezug aller damit befassten Disziplinen Aufklärung und Orientierung liefern kann. Die Wissenschaften müssen mit ihren Projekten und Zielen noch weit mehr als heute üblich in gesamtgesellschaftlich klar gewordene 13 Kambartel, Philosophie der humanen Welt, a.a.O., 24.
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Ziel- und Zwecksetzungen eingebunden und auf die demokratischen Willensbildungsprozesse einer sich selbst aufklärenden Zivilgesellschaft bezogen werden.14 Schulen und Hochschulen müssen dazu mehr denn je in die Lage versetzt werden, mündige Bürger einer aktiv partizipierenden Zivilgesellschaft zu erziehen und zu bilden. So besteht ein Aufklärungsbedarf elementarer Art im Blick auf die menschliche Lebenswirklichkeit des Alterns. Während es allgemein akzeptiert und vertraut ist, dass Menschen bis zum Erwachsensein der Erziehung und Bildung bedürfen, wird erst gegenwärtig deutlicher bewusst, dass die Aufgabe der Vorbereitung und der sinnvollen Gestaltung einer langen späteren Lebenszeit eine ebenso große, für die Individuen wie für die Gesamtgesellschaft zentrale Erziehungs- und Bildungsaufgabe ist. Insbesondere, weil die ungenutzten Potentiale dieser späteren Lebenszeit mittlerweile bewusst werden, muss eine erneuerte philosophische Vernunftperspektive diese Dimension von Grund auf einbeziehen.15 An diesem Beispiel wird bereits deutlich, dass die Rückgewinnung einer Vernunftperspektive durch anthropologisch-praktische Grundlagenreflexion begleitet werden muss. In vielen Diskussionen der Gegenwart rücken Fragen einer philosophischen Anthropologie wieder ins Zentrum, nachdem solche Fragen während langer Zeit an den Rand gedrängt wurden. In der Wahrnehmung einer durchschnittlich-oberflächlichen Variante von Aufklärung und Moderne wurde die Frage nach dem Menschen als überholt abgetan. Philosophischer Anthropologie wurde pauschal unterstellt, sie schreibe auf ontologisch-unkritische Weise „anthropologische Konstanten“ fest. Zur Unterstellung einer naiven Substanzontologie des menschlichen Wesens trat der stereotype Vorwurf, aus einem „Sein“ ein „Sollen“ ebenso unkritisch abzuleiten und so den „naturalistischen Fehlschluss“ zu begehen. Diese schematischen 14 Vgl. dazu den instruktiven Band von Helga Nowotny/Peter Scott/Michael Gibbons, Wissenschaft neu denken. Wissen und ffentlichkeit in einem Zeitalter der Ungewissheit, Weilerswist 2004. 15 Vgl. Thomas Rentsch, „Philosophische Anthropologie und Ethik der späten Lebenszeit“, in: Paul B. Baltes/Jürgen Mittelstraß (Hg.), Zukunft des Alterns und gesellschaftliche Entwicklung (Akademie der Wissenschaften zu Berlin, Forschungsbericht 5), 283 – 304, Berlin/New York 1992; ders. „Altern als Werden zu sich selbst,“ in: Peter Borscheid (Hg.), Alter und Gesellschaft, Stuttgart 1995,53 – 62; ders. „Aging as Becoming Oneself: A Philosophical Ethics of Late Life“, in: Journal of Aging Studies Vol 11, Nr. 4, 1997, 263 – 271; ders./ Eva Birkenstock, „Ethische Herausforderungen des Alters“, in: Andreas Kruse/Mike Martin (Hg.), Enzyklopdie der Gerontologie, Bern 2004, 613 – 626.
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Einwände, die gegen bestimmte Traditionen philosophischer Anthropologie berechtigt waren, wurden auch gegen kritische Ansätze wiederholt. Sie konnten durch diese selbst unkritische Kritik das Defizit philosophisch-anthropologischer, sprachkritischer Grundlagenreflexion nicht auf Dauer verdrängen. Es wurde klar: In kritischer Reflexion auf die bereits alltägliche anthropologische Grundbegrifflichkeit – wie reden wir im Alltag von uns selbst, vom Menschen, vom Menschlichen? – werden schon basale, fundamentale normative Implikationen und Geltungsansprüche erkennbar, die konstitutiv für die Grammatik dieser Rede fungieren. Ein bloß „naturalistisches“, objektivierend-naturwissenschaftliches Reden von uns selbst ist daher eine voraussetzungsreiche methodische Reduktion. Demgegenüber ist die kritisch-hermeneutische Sinnexplikation der normativen Implikationen unserer alltäglichen Rede von uns selbst, vom Menschen, von Achtung und Würde, Freiheit und Sinn des Lebens – auch im unbedingten, absoluten Verständnis – der unserer Lebenserfahrung und der Komplexität unserer Praxis entsprechende und angemessene Weg.16 Im Blick auf die erforderliche normative, selbstreflexive Kontextualisierung der Ethik, der Anthropologie und aller Wissenschaftspraxen kommt der Kritik der politischen Ökonomie erneut großes Gewicht zu. Fern von vergangenen ideologischen Vorurteilen, nach der Ost-WestBlockbildung können wir auf unbefangene Weise kapitalismuskritische Argumente prüfen. Die marktwirtschaftliche Ordnung und ihre weltweite Dominanz macht unter demokratischen Bedingungen gründliche Selbstkritik dieser Ordnung mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln erforderlich. Inwieweit ist diese Ordnung politisch und normativ in der Lage, ihre inhumanen Effekte und ihre irrationalen Seiten zu bekämpfen und zu zähmen? Auf welche Weise lassen sich wirtschaftsethische Ge16 Vgl. dazu Thomas Rentsch, Die Konstitution der Moralitt, a.a.O.; ders.; „Wie ist eine menschliche Welt überhaupt möglich? Philosophische Anthropologie als Konstitutionsanalyse der humanen Welt“, in: Christoph Demmerling/Gottfried Gabriel/ders. (Hg.), Vernunft und Lebenspraxis. Philosophische Studien zu den Bedingungen einer rationalen Kultur. Fr Friedrich Kambartel, Frankfurt a.M. 1995, 192 – 214; Reiner Wimmer, „Anthropologie und Ethik. Erkundungen in unübersichtlichem Gelände“, in: Demmerling u. a. (Hg.), Vernunft und Lebenspraxis, a.a.O., 215 – 245; Theda Rehbock, „Warum und wozu Anthropologie in der Ethik?“, in: Jean-Pierre Wils (Hg.), Anthropologie und Ethik. Biologische, sozialwissenschaftliche und philosophische berlegungen, Tübingen/Basel 1997, 64 – 109; dies., Personsein in Grenzsituationen. Zur Kritik der Ethik medizinischen Handelns, Paderborn 2005; Christoph Demmerling, Gefhle und Moral. Eine philosophische Analyse, Bonn 2004 (Bonner Philosophische Vorträge und Studien 22).
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sichtspunkte wirksam institutionalisieren? Lassen sich neue gesellschaftliche Organisations- und Lebensformen z. B. intergenerationeller Solidarität denken, die genügend Tragfähigkeit und Überzeugungskraft besitzen, um vernünftige Identitätskonstitution über Marktmechanismen und formal-juristische Prozeduralität hinaus zu ermöglichen? Friedrich Kambartel hat die Perspektive der Kritik der politischen Ökonomie nicht aus den Augen verloren.17 Er hat begriffliche Klärungen zu den Termini „Eigentum“, „Kapital“ und „Kapitalismus“ vorgeschlagen, die die kapitalistische Organisation von Märkten als nicht notwendig erscheinen lässt. Spekulative Verwertung und gesellschaftliche Umverteilung zugunsten weniger, eine Systemrente für Kapitaleigner sind deutlich negative Auswirkungen des Kapitalismus, ebenso die Schuldenprobleme der armen Länder und der rücksichtslose Umgang mit deren Ressourcen und Lebensbedingungen. Kambartel unterscheidet mit Aristoteles qualitative von quantitativer Produktivität. Die quantitative Denkweise der Ökonomie verdeckt ihre normativen Grundlagen und die sie leitenden Werturteile. So ist die normative Beurteilung von Märkten nicht an die Kapitalverwertung gebunden. In dieser Perspektive könnte auch die öffentliche Funktion des Bankensystems neu konzipiert werden. Allerdings – und das weist wiederum auf die planetarische Dimension der Vernunftthematik in unserer Gegenwart – wäre eine wirklich soziale Marktwirtschaft nur in Form einer anderen Weltwirtschaft möglich. Die vernünftige Kritik der kapitalistischen politischen Ökonomie bleibt eine zentrale Aufgabe der Philosophie der Gegenwart. „Nach dem linguistic turn der Philosophie ist der economic turn der Philosophie noch zu leisten; durchherrschen doch die çkonomischen Verhältnisse unser Leben in der gleichen allgegenwärtigen Weise wie die sprachlichen Verhältnisse.“18 3. Neben den sich neu stellenden Aufgaben im Bezug auf die theoretische und die praktische Seite der philosophischen Vernunftkritik ist in der 17 Friedrich Kambartel, „Bemerkungen zur Politischen Ökonomie“, in: ders.; Philosophie und politische konomie, Essen 1998 (Essener Kulturwissenschaftliche Vorträge 1), 11 – 39; auch in: Thomas Rentsch (Hg.), Anthropologie, Ethik, Politik. Grundfragen der praktischen Philosophie der Gegenwart, Dresden 2004, 166 – 185. 18 Kambartel a.a.O., 185. Eine umfassende Untersuchung zur Marx-Rezeption und zur Kritik der politischen Ökonomie in der Gegenwartsphilosophie hat Christoph Henning vorgelegt: Philosophie nach Marx. 100 Jahre Marxrezeption und die normative Sozialphilosophie der Gegenwart in der Kritik, Bielefeld 2005.
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Gegenwart die Aufgabe einer erneuerten Religionsphilosophie und philosophischen Theologie nicht länger abzuweisen. Ebenso, wie philosophisch-anthropologische Grundlagenreflexion eine Zeit lang als eine Art Randbereich der Philosophie angesehen werden konnte, wurden die Fragen nach Religion und Gott als für Aufklärung und modernes Selbstbewusstsein ephemer angesehen. Seit längerem wird nun – auch unter dem Eindruck weltgeschichtlicher Prozesse – zweierlei deutlich: Erstens ist weder der Tod Gottes noch das Ende (das „Absterben“) der Religionen eingetreten, die beide von Vertretern bestimmter Traditionen der Aufklärung und Moderne prognostiziert wurden. Vielmehr kam es auf weltgeschichtlicher Ebene zu einem Erstarken der Bedeutung von Religion sowohl im Westen, v. a. in den USA, als auch im Bereich der islamischen Welt. Ebenso wurde die Bedeutung des Papstamtes in weltkirchlicher wie auch weltpolitischer Hinsicht eindeutig stärker. Als Terminus a quo dieser Prozesse können die Jahre 1978 (Wahl Karol Woytilas zum Papst), 1979 (Machtübernahme Ajatollah Chomeinis im Iran) und 1980 (Wahl Ronald Reagans zum Präsidenten der USA) gelten. Dieser weltgeschichtliche Prozess wurde durch den Zusammenbruch des Ostblocks und des Sowjetimperiums noch verstärkt. Mittlerweile ist aus philosophischer Sicht eine durch die genannten Entwicklungen initiierte mehrfache Gefährdung und Bedrohung vernünftiger – auch religiöser – Perspektiven zu diagnostizieren. Im christlichen wie im islamischen Bereich bildeten sich dogmatisch-fundamentalistische Positionen heraus, die sich beide auf denkbar unkritische und im wahren Sinne des Wortes voraufgeklärte Weise mit machtpolitischen Herrschaftsansprüchen imperialer Art verbanden. Angriffskriege wie auch weltweiter Terrorismus mit religiöser „Begründung“ sind das bisherige Fazit dieses weltgeschichtlichen Rückfalls hinter den erreichten Stand auch nur im Ansatz vernünftiger Selbst- und Weltverständnisse. Diesen tiefgreifend irrationalen Tendenzen der weltgeschichtlichen Entwicklung entspricht auf der Seite der westlich-säkularisierten Moderne (und „Postmoderne“) eine unbefriedigende Mischung von oberflächlicher Religionskritik und Szientismus einerseits, von Ersatzformen authentischer Religiosität in zum Beispiel esoterischen und fantastischen Spielarten andererseits. Das Paradigma eines – betrachten wir allein die wirtschaftliche Effektivität – erfolgreichen Modells dieser unbefriedigenden Mischung ist die Scientology-Sekte. Die skizzierten Entwicklungen bedeuten eine mehrfache Verfehlung und Unterbestimmung der Formen religiöser Vernunft und Aufklärung, die in den besten Traditionen Europas in der Antike, in der kritischen Synthese von Philosophie und Theologie, während des Mit-
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telalters, in Renaissance, Humanismus und Reformation, in der katholischen Aufklärung und auch in zentralen Ansätzen der Moderne angelegt sind und konkret ausgearbeitet wurden. Noch bis in die Mitte der 20. Jahrhunderts war die Diskussion zwischen Philosophie und Theologie international wie auch in Deutschland lebendig und intensiv. Philosophen und Theologen wie Karl Jaspers und Rudolf Bultmann, Ernst Bloch, Paul Tillich und Karl Rahner haben diesen Diskurs auf hohem Niveau geführt. Religionsphilosophische Gespräche wurden im Kreis um Friedrich Kambartel auch an der Universität Konstanz unter Beteiligung von Hermann Lübbe, Robert Spaemann und vielen Interessierten regelmäßig während der 70er und 80er Jahre organisiert („Meersburger Gespräche“). Kambartel formulierte eigene theologische und religionsphilosophische Kernthesen.19 Mittlerweile wird durch einen geklärten Rückblick auch auf die innerphilosophische Entwicklung des 20. Jahrhunderts immer deutlicher, dass es an diese Diskussionskultur verstärkt anzuknüpfen gilt. Fergus Kerr hat in einer sehr instruktiven Untersuchung herausgearbeitet, dass die moderne Philosophie entgegen weit verbreiteter Meinung in säkularisierter Form tief von religiösen Motiven geprägt ist. Er analysiert die theologische Tiefendimension der Philosophien von Martha Nussbaum, Iris Murdoch, Luce Irigaray, Stanley Cavell und Charles Taylor. Es lässt sich zeigen, dass in allen diesen Ansätzen Wege des Transzendierens des Menschlichen um des Menschen Willen leitend sind. Theologische Vorbegriffe spielen in der modernen Philosophie selbst eine viel größere Rolle als bisher angenommen.20 Auch in eigenen Untersuchungen zur Gottesfrage und zur Wiederbelebung des philosophisch-theologischen Gesprächs habe ich die theologischen und religiösen Hintergründe und Kontexte einiger wichtiger Philosophien des 20. Jahrhunderts: Heidegger, Wittgenstein, Benjamin, Adorno und Horkheimer, Habermas und Derrida herausgearbeitet. Ohne diese Hintergründe und Kontexte ist die moderne Philosophie und sind ihre Grundbegriffe – das Sein, das
19 Friedrich Kambartel, „Theo-logisches. Definitorische Vorschläge zu einigen Grundtermini im Zusammenhang christlicher Rede von Gott“, in: Zeitschrift fr Evangelische Ethik 151971, 32 – 35; ders., „Bemerkungen zu Verständnis und Wahrheit religiöser Rede und Praxis, in: ders., Philosophie der humanen Welt, a.a.O., 100 – 102. 20 Fergus Kerr, Immortal Longings. Versions of Transcending Humanity, Notre Dame (Indiana) 1997.
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Ereignis, das Mystische, das ganz Andere, das Nichtidentische, die ideale Kommunikationsgemeinschaft, die Differenz – nicht verstehbar.21 Es gibt also nicht nur drängende weltgeschichtliche, sondern auch triftige innerphilosophische Gründe, die Fragen nach Gott, nach unbedingtem Sinn, nach dem Absoluten und nach dem Verhältnis von Immanenz und Transzendenz neu zu reflektieren. Systematisch bin ich der Überzeugung, dass ein vertieftes Verständnis von Vernunft und ihren Grenzen die religiöse Perspektive und ein geklärtes Gottesverständnis nicht aus- sondern notwendig einschließt. Ohne diese Perspektive der Transzendenz lässt sich die europäische Vernunftgeschichte weder in ihrer theoretischen noch in ihrer praktischen Dimension begreifen. Das biblische Bilderverbot und die sich im christlichen Platonismus entfaltende negative Theologie führen ebenso zu kritischen Grenzbestimmungen der menschlichen Vernunft wie das Sokratische Nichtwissen und die Erkenntniskritik Kants. Und sie sind praktisch konstitutiv mit der Perspektive der nichtobjektivierbaren Personalität und Würde des Menschen verbunden.22 Insofern lässt sich von einer religiösen Aufklärung als einer Aufklärung über praktisch lebenssinnkonstitutive Unverfügbarkeit sprechen.23 Über Genesis und Geltung der Konzeptionen der Einheit und der Grenzen der Vernunft lässt sich daher nur unter Einbeziehung der religiösen und theologischen Perspektive begründet reflektieren. Angesichts der aufgewiesenen irrationalen Entwicklungen ist dieser Befund insbesondere auch für den interkulturellen und interreligiösen Dialog zu berücksichtigen.
3. Fazit und Ausblick Um die Arbeit an einer geklärten Vernunftperspektive fortzusetzen, ließen sich näherhin drei selbst umfassende Problembereiche und Aufgabenfelder vorstellen. Erstens: Es geht (weiterhin) darum, falsche und reduktionistische Sprachverständnisse und die damit verbundenen Dogmatismen, Funda21 Thomas Rentsch, Gott, Berlin/New York 2005. 22 Vgl. dazu Thomas Rentsch, Negativitt und praktische Vernunft, Frankfurt a.M. 2000. 23 Thomas Rentsch, „Die Entdeckung der Unverfügbarkeit. Zum Zusammenhang von Negativität und Sinnkonstitution im Horizont der biblischen Überlieferung“, in diesem Band.
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mentalismen und Formalismen begründet aufzubrechen und in kritischer Selbstreflexion die ganze innere Komplexität und Binnendifferenziertheit der sprachlichen Kultur bewusst zu machen und ihre kreativen Potentiale zu erschließen. In der sprachkritischen Wende wurde mit Recht eine nach Ontologie und Bewusstseinsphilosophie dritte große philosophische Wende gesehen. Aber was sie genau und im Einzelnen bedeutet, das ist noch nicht hinreichend bewusst und noch unabgegolten. Die Erträge und die Tragweite dieser Wende stehen uns in Wahrheit noch bevor.24 Zweitens: Wir benötigen ein anthropologisches, Ethik, Politik und Ökonomie kritisch aufeinander beziehendes Normativitätsverständnis. Theoretischer Kontextualismus und theoretischer Holismus im Rahmen der Vernunftkritik müssen praktisch verstanden und ausbuchstabiert werden. Wir müssen fragen, ob und wie unter gegenwärtigen Bedingungen Vernunft existentiell und politisch, sozial und ökonomisch praktisch zu werden vermag. Gesellschaft, Wissenschaft und Philosophie müssen ihr normatives Fundament weiter aufklären und verbinden im Sinne einer demokratischen Vernunftkultur: „Wo wie derzeit alles nur noch am wirtschaftlichen Nutzen gemessen wird, selbst Wissen zur Ware wird, verliert auch dieser Nutzen seinen Sinn, zumindest seine Basis in einem Orientierungssystem, das selbst kein primär wirtschaftliches ist und sein kann.“25 Drittens: Eine erneuerte, vertiefte Vernunftperspektive muss auch die Fragen nach dem Verhältnis von Vernunft und Religion, Aufklärung und Gottesverständnis, säkularisierter Moderne und Transzendenz auf neue Weise thematisieren und kritisch reflektieren – innerphilosophisch, im Dialog zwischen Philosophie, Theologie und Religion und auch interkulturell. Mit diesen drei Problembereichen werden auch die Grenzen der Vernunft neu thematisiert: als Grenzen der Sprache, als Grenzen der menschlichen Praxis – der wissenschaftlichen wie der Lebenspraxis –, schließlich als Grenzen des Welt- und Selbstverständnisses im Ganzen.
24 Das bedeutet auch, neu zu bestimmen, was philosophisches Denken eigentlich ist; vgl. dazu Pirmin Stekeler-Weithofer, Was heißt Denken? Von Heidegger ber Hçlderlin zu Derrida (Bonner Philosophische Vorträge und Studien 21), Bonn 2004. 25 Jürgen Mittelstraß, „Europa erfinden. Über die europäische Idee, die europäische Kultur und die Geisteswissenschaften“, in: Merkur 1 (2005) 28 – 37.
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Ersichtlich weisen alle drei Aufgabenkomplexe auch in die Richtung der durch die Globalisierung eröffneten weltgeschichtlichen Perspektive. Vielleicht gelingt es in Europa zunächst auf einer „mittleren“ Ebene, tragfähige Modelle einer lebbaren demokratischen Kultur der Aufklärung sprachlichen, praktischen und religiösen Sinns weiterzuentwickeln, die die von Platon und Aristoteles, Kant und Hegel der Moderne vermachte Perspektive der Vernunft, sie erneuernd, retten – gegen den Verlust ihrer Orientierungsfunktion und gegen die Monopolisierung fundamentalistischer wie reduktionistischer Denk- und Lebensformen.
Zeit, Sprache, Transzendenz – phänomenologische Analysen zu den Grenzen und zum Sinngrund menschlicher Praxis Im Folgenden will ich in drei Abschnitten phänomenologische Analysen zu Zeit, Sprache und Transzendenz durchführen. Meine Leitfrage lautet: Wer sind wir?, in etwas anderer Formulierung: Wie ist eine menschliche Welt berhaupt mçglich? 1 Philosophische Reflexion muss sich solchen Grundfragen stellen oder gelangt nach wenigen Schritten wieder zu ihnen. In einem kurzen einleitenden Abschnitt will ich den Status der Phänomenologie aus meiner Sicht erläutern. Im zweiten Abschnitt werde ich Konstitutionsanalysen zum Zusammenhang von Zeit, Sprache und Transzendenz entwickeln. Diese Analysen werde ich im dritten Abschnitt in Richtung auf den Sinngrund menschlicher Praxis zu vertiefen versuchen. Dabei wird die Beziehung von Negativität und Sinn wichtig.2
1 Zunächst zum Status phänomenologischer Analysen. Ihr Ziel war und ist die „Rettung der Phänomene“ gegen szientistische, naturalistische Reduktionen einerseits, gegen scheinhafte, theoretische Verdopplungen andererseits. Aber das Wegarbeiten dieser Reduktionen und Verdopplungen allein genügt nicht. Da die Phänomene in ihrer Nähe und Alltäglichkeit verdeckt und verborgen sind – wir sehen sie nicht, weil sie uns zu nahe sind – gilt es, sie aus den mannigfachen Verdeckungstendenzen freizulegen und in ihrer genuinen Konstitution zu durchleuchten. Insofern ist Phänomenologie sinnexplikative Tiefenhermeneutik: Klärende Freilegung und Auslegung der Phänomene der menschlichen Welt gegen deren Verzerrung und Verdeckung. Wenn Phänomenologie sich in einem solchen methodischen Sinn als Aufklärung versteht, wird auch ihre 1 2
Vgl. Thomas Rentsch, Die Konstitution der Moralitt. Transzendentale Anthropologie und praktische Philosophie, Frankfurt a.M. 21999, 60 – 65. Vgl. Thomas Rentsch, Negativitt und praktische Vernunft, Frankfurt a.M. 2000.
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praktische Zielrichtung und ihr emanzipatorisches Erkenntnisinteresse von vornherein klar.3 Drei systematische Grundeinsichten sind es, die eine innovative, moderne Phänomenologie (oder sagen wir einfach: Philosophie) gegenüber deren traditionellen Gestalten nach meiner Auffassung nicht mehr preisgeben darf: 1. Gegenüber allen ontologischen, bewusstseinsphilosophischen und transzendentalphilosophischen Prämissen gilt noch verstärkt, dass in Konstitutionsanalysen keine solchen philosophischen Vormeinungen eingehen dürfen. Das gilt vor allem für Vorstellungen von einer Fundierungsordnung, für die ein Bewusstsein und seine „innere“ Ausstattung selbst als konstitutiv gedacht bzw. als der transzendentale „Weltmittelpunkt“ betrachtet wird. Die Tradition hatte fast insgesamt – insbesondere seit Descartes – den Menschen vergessen und verdrängt oder durch Konstruktionen übersprungen. Statt vom Menschen war vom Subjekt, vom Bewusstsein, vom transzendentalen Subjekt, vom Ich, vom Ego die Rede. Stattdessen müssen wir von uns als leiblichen, sozialen und kommunikativen Lebewesen handeln, die in einer konkreten Orientierungspraxis – und nur so – zu sich selbst werden. 2. Damit einher geht die Transformation der Bewusstseinsphilosophie in eine Philosophie primärer Intersubjektivität, oder, wie ich auch sage, der Interexistenzialität. Apriori und konstitutiv für unsere Praxis, für Methode und Selbsterkenntnis, sind nicht und können nicht sein private, subjektive Orientierungen. Sondern wir werden zu uns selbst in einem Netzwerk sozialer und kommunikativer Akte, die vorgängig intersubjektiv konstituiert und erschlossen sind. Die Regeln dieser Akte – seien es Handlungen oder Sprachhandlungen – sind öffentlich; sie erst konstituieren und ermöglichen auch alle Privatheit und Subjektivität, Intimität und Individualität. (Dies wollte auch Kant artikulieren; und die Phänomenologie tastete seit Halle und Göttingen immer in diese Richtung; aber erst Heidegger und Wittgenstein haben diese Analyse grundsätzlich ins Ziel gebracht.4)
3 4
Vgl. Thomas Rentsch, „Phänomenologie als methodische Praxis. Didaktische Potentiale der phänomenologischen Methode“, in: Johannes Rohbeck (Hg.), Denkstile der Philosophie, Dresden 2002, 11 – 28. Vgl. Thomas Rentsch, Die Konstitution der Moralitt, a.a.O. 155 ff. und 218 ff.; sowie ders., Heidegger und Wittgenstein. Existential- und Sprachanalysen zu den Grundlagen philosophischer Anthropologie, Stuttgart 22003.
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3. Angesichts des soeben erläuterten Primats kommunikativer Lebensformen ist ein weiterer systematischer Schritt erforderlich. Die Aufspaltung der Philosophie in Phnomenologie und (bzw. sogar: versus) Sprachanalyse ist methodisch unmöglich und zu überwinden. Die Sprache gehört zu unserer alltäglichen Lebenspraxis, ist sinnkonstitutiv für lebensweltliche Orientierung und für alles, was darauf aufbaut oder davon abweicht. Methodisch ist sie Ort und Medium philosophischer Reflexion. Deswegen muss die moderne Sprachanalyse und Sprachkritik seit Frege und Wittgenstein ungeschmälert in die Konstitutionsanalyse integriert werden, soweit sie sinnkriterial greift. Der späte Wittgenstein ist Phänomenologe, der die Konstitution nicht nur in der Grammatik der Sprachspiele aufzeigt – auch dies wäre schon viel – sondern dies ebenfalls anhand der spezifischen Struktur von Lebensformen tut. Phänomenologie nach Heidegger und Wittgenstein lässt sich somit als sinnkriteriale Tiefenhermeneutik von Lebensformen bestimmen. Ich spreche im Anschluss an Heideggers Existentiale Analytik auch von Existentialer Grammatik. 5
2 Ich will mit einem einfachen, allen noch gegenwärtigen Beispiel beginnen. In meiner zweiten Heimat, Dresden, stehe ich im Regen am Ufer der Elbe und beobachte die steigende Flut. Der gesamte Kontext mit seinen pragmatischen Implikationen wird durch die Wahrnehmung bereits evoziert: die zukünftige Bedrohung, die Möglichkeit der Überflutung und Vernichtung, die Ungewissheit der Entwicklung, die sozialen Konsequenzen. Betrachten wir auf diesem Hintergrund die Konstitution unserer alltäglichen Praxis. Wer sind wir? Leiblich und sprachlich orientieren wir uns konkret in Raum und Zeit. Die primäre Weltkonstitution ist irreduzibel holistisch, ganzheitlich, auf ganze Gestalten bezogen. Ein holistisches Situationsverständnis geht allen individuierenden Akten schon voraus. Würde ich auch nur den sinnkonstitutiven und unthematischen Hintergrund einer solchen konkreten Lebenssituation vollständig zu explizieren versuchen, ich würde nie an ein Ende kommen. Auch Gegenstände und Vorgänge der alltäglichen Wahrnehmung weisen eine innere, interne Unendlichkeit von Aspekten und Implikationen auf. Ich 5
Vgl. Thomas Rentsch, Heidegger und Wittgenstein, a.a.O.
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weise bereits hier auf die Entsprechung dieses situativen, sinnkonstitutiven Hintergrundes in der Sprachpraxis hin: So, wie die ganze Lebenssituation einen verborgenen, verdeckten, gleichwohl für sie sinnkonstitutiven, unendlich komplexen Hintergrund hat, so gehört der Hintergrund der gesamten Sprache und ihrer Geschichte zum konkreten Gebrauch einzelner Sätze in einer bestimmten Verwendungssituation. Einzelne Sätze im konkreten Gebrauch sind nur zusammen mit ihrem nicht-expliziten Hintergrund verständlich – z.B. „Das Wasser steigt.“ Der Hintergrund lässt sich mit einer Kette von Implikationen freilegen, die unabschließbar offen ist. Diese offene Fortsetzbarkeit ermöglicht Rückfragen. Somit ist die soziale und kommunikative Konstitution der Praxis mit dem unthematischen Hintergrund mitgegeben. Die irreduziblen Füllequalitäten der Alltäglichkeit lassen sich somit sinnlich-leibbezogen, in der Wahrnehmung, wie auch sprachlich und begrifflich aufweisen. Um die Struktur der Konstitution unserer Welt genauer herauszuarbeiten, können wir (wie z. B. Husserl und Frege, Heidegger, Wittgenstein und Merleau-Ponty) sinnkriteriale Analysen durchführen, die sich vor allem der Methode der Variation, der Umfiktion bzw. des Gedankenexperiments bedienen, im Falle der Sprachphänomenologie der Methode der Ersetzung eines Wortes oder Satzes oder des gesamten Kontexts durch andere Worte, Sätze oder Kontexte. Wir gelangen so zu Grundformen der Horizontbildung, die für unsere Lebenspraxis sinnkonstitutiv sind. Zum einen ist eine menschliche Welt unmöglich ohne die leiblich-zeitlich-räumliche, sinnliche Horizontbildung, die einen gleichursprünglich-ekstatischen Charakter besitzt. Zum anderen ist die konkrete Orientierungspraxis unmöglich ohne ganze Stze, mit denen wir Gedanken im Fregeschen Sinne artikulieren können. Diese Sätze haben die elementare Struktur der prädikativen Synthesis und der Referenz auf Individuen. Erst beide Aspekte der Horizontbildung, ich nenne sie abgekürzt Ekstasis und Prdikation, ermöglichen elementare Weltorientierung, weil sie Gegenständlichkeit und Freiheit zu verbinden und zu differenzieren gestatten. Betrachten wir zunächst die ekstatische Horizontbildung in zeitlicher und räumlicher Hinsicht. Entscheidend ist, dass wir die leibapriorische Basis der lebensweltlichen Räumlichkeit sowie die öffentliche, intersubjektive Konstitution unserer raumzeitlichen Orientierungspraxis herausarbeiten, ohne die eine menschliche Welt nicht möglich ist. Husserl hat in diesem Kontext sehr berechtigt auf die Passivitt des Konstitutionsgeschehens hingewiesen. Es ist eben nicht so, dass ich als aktiv handelndes, intendierendes Einzelsubjekt meine Wahrnehmungen
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ins Werk setze. Die sinnlich-wahrnehmende Weltkonstitution vollzieht sich vielmehr in vorgezeichneten Wegen, Verläufen und Gleisen, die sich viel eher als „automatisch“, besser als „passiv“ charakterisieren lassen. Nicht „ich“ konstituiere alles und Gegenstände überhaupt, sondern es gilt viel eher, dass die Konstitution mich ermöglicht. Und das gilt auch hinsichtlich der grammatischen Konstitution der Sprachspiele beim späten Wittgenstein. Ich sehe hier Verbindungen sowohl zur Seinsgeschichte Heideggers als auch zur Hermeneutik Gadamers – übrigens ohne traditionalistische, historistische, „konservative“ Konsequenzen oder gar den Gedanken an mythische Quasi-Subjekte. Alle kritischen, innovativen und revolutionären Entwurfsmöglichkeiten entspringen ebenfalls der faktischen Konstitution, naturphilosophisch: der faktischen Evolution, und nicht einer idealen Kommunikation. Es lässt sich somit zu Recht von einer schon vorkonstituierten Notwendigkeit der Horizontbildung sprechen, die sich paradigmatisch an der ekstatischen Zeitlichkeit aufzeigen lässt.6 Immer, wenn wir uns orientieren, etwas wahrnehmen oder gedanklich erfassen, bildet sich ein Horizont zukünftiger Möglichkeiten der Fortsetzung, der inhaltlich seine Bedeutung aus der Vergangenheit empfängt. Beide, zukünftige Möglichkeit und vergangene faktische Erfahrung, bilden die Wirklichkeit der Gegenwart. Drei Aspekte dieses Konstitutionsgeschehens sind mir wichtig. Erstens müssen wir mit Husserl die Passivität der Horizontvorzeichnung akzentuieren. Nur so, in diskursiv-ekstatischer zeitlicher Form, können wir überhaupt etwas erfahren, wahrnehmen, etwas tun und uns orientieren. Die Ekstasen sind unableitbar von einander, irreduzibel auf einander, nur wechselseitig durch und mit einander verstehbar, und sie sind nicht noch einmal von etwas anderem ableitbar, in etwas anderem fundiert. Das ist der systematische Sinn von Gleichursprnglichkeit. So fundiert auch nicht etwa – gegen Heidegger – die ekstatische Zeitlichkeit andere Bereiche der Konstitution, wie z. B. die ekstatische Räumlichkeit, oder gar die Rede. 6
Ich beziehe mich dabei auf die einschlägigen Analysen von Husserl zur Zeiterfahrung und zur passiven Synthesis und von Heidegger in Sein und Zeit (Edmund Husserl, Zur Phnomenologie des inneren Zeitbewusstseins (1893 – 1917), hg. von Rudolf Boehm, Den Haag 1966 (Husserliana X); ders., Analysen zur passiven Synthesis. Aus Vorlesungs- und Forschungsmanuskripten 1818 – 1926, hg. von Margot Fleischer, Den Haag 1966 (Husserliana XI), Martin Heidegger, Sein und Zeit, Tübingen 141977; vgl. Thomas Rentsch (Hg.), Martin Heidegger, Sein und Zeit, Reihe Klassiker Auslegen Bd. 25, Berlin 2001.
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Sie stehen nebeneinander.7 (Die ekstatische Gleichursprünglichkeit der Zeitaspekte zeigt sich in unserer konkreten Orientierungspraxis in der Notwendigkeit, die Horizontvorzeichnung ihr gemäß zu vollziehen.) Zweitens gebe ich Heidegger im Blick auf den Primat der futurischen Ekstase Recht. Nur, indem wir uns bereits uns-vorweg zukünftig orientieren müssen, können wir, im Rückgang auf die Erfahrungen der Vergangenheit, unsere konkrete Gegenwart erkennen, qualifizieren und uns in ihr orientieren. Dieses strukturelle Sich-Vorweg-sein bezeichne ich (mit Husserl und Heidegger) als strukturelles Transzendieren bzw. als strukturelle Transzendenz in der Immanenz. Drittens dürfen wir uns die ekstatische Konstitution natürlich nicht linear-sukzessiv vorstellen. Vielmehr ist die ekstatische, komprehensive, traditionell zu Recht als bewusstseins- und selbstbewusstseinskonstitutiv angesetzte Zeitlichkeit auch Bedingung der Möglichkeit anderer, z. B. sukzessiver, linearer Konzeptionen und Modelle von Zeit. Insofern ist die lebensweltliche Zeit, die interexistentielle Zeit unhintergehbares Fundament aller Messungen und Quantifizierungen. Insbesondere ergibt sich daraus für die Ekstase der Gegenwart, dass sie isoliert nicht betrachtet und thematisiert werden kann, dass es sie so nicht gibt, dass sie als Punkt oder selbst als für sich isoliertes „Zwischen“ undenkbar und unvorstellbar ist, dass ein Isolationismus der Ekstasen zu einem temporalontologischen Nihilismus führen muss. Anders gesagt: Unterhalb der irreduziblen, gleichursprünglichen Minimalkomplexität der Ekstasen kann die lebensweltliche Sinnkonstitution nicht angesetzt werden. (Denken wir zurück an die Wahrnehmungssituation des steigenden Elbewassers.) In meinen Analysen zur Existentialen Grammatik habe ich gezeigt, dass eine entsprechende Gleichursprünglichkeit die Raumkonstitution, die modale Konstitution sowie die interpersonale Konstitution kennzeichnet. Dies zeigt sich auch an den grammatischen Gruppen der lokalen, modalen und personalen Indikatoren: hier – dort, oben – unten, hinten – vorne, fern – nah, möglich – wirklich – notwendig, ich – du – er – sie – es, wir – ihr – sie – allesamt intersubjektiv – öffentlich im Gebrauch.8 Wer sind wir? Wir können nicht isoliert nach der Gegenwart fragen, ohne dass sie sich uns ins Nichts entzieht. Ebenso können wir nicht isoliert nach uns selbst als vorhandenen Subjekten, als besonderen Entitäten fragen, ohne dass sich ein solches Subjekt wie ein Loch der Welt ins Nichts entzieht oder zu etwas Nicht-Menschlichem wird. Und ebenso 7 8
Vgl. Thomas Rentsch (Hg.), Martin Heidegger, Sein und Zeit, a.a.O., 199 – 228. Vgl. Thomas Rentsch, Heidegger und Wittgenstein, a.a.O., Kapitel 5.
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können wir nicht isoliert nach Sinn und Bedeutung fragen, ohne dass sich diese in einen semantischen Nihilismus oder technischen Formalismus entziehen. Zu all diesen Nihilismen gab und gibt es prominente Beispiele der Philosophie in Geschichte und Gegenwart. Wenn wir aber die orientierungsermöglichende lebensweltliche Sinnkonstitution, die existentiale Grammatik nicht überspringen oder durch Reduktionismen und Isolationismen verzerren, dann erkennen wir im Kontext eines primären interexistentialen und grammatischen Holismus: Wir sind es, die – auf der Basis der gesamten Orientierungs- und Sprachpraxis – dann auch von jeweiliger „Gegenwart“ bzw. von einem „Ich“, einem einzelnen Subjekt sprechen können. Aber diese abstrakten Begriffe verdanken sich unserer komplexen Unterscheidungspraxis – ihnen entsprechen keine „Dinge an sich“. Und diese erkenntniskritische Bemerkung lässt sich auch auf andere theoretische Verzerrungen und Verstellungen lebensweltlicher Sinnkonstitution ausweiten; so, wenn bei bestimmten ungeklärten Grundbegriffen wie „Natur“, „Nutzen“ oder „Funktion“, „System“, „Chaos“ oder „Kontingenz“ haltgemacht und von diesen her die humane Welt rekonstruiert werden soll – ein sinnkriterialer Kategorienfehler, der eine verkehrte Welt und verkehrte Weltsichten hervorbringt. Entweder wir fragen radikal zurück in die lebensweltliche Sinnkonstitution, oder wir machen theoretisch halt bei solchen ungeklärten Grundbegriffen – gegenwärtig z. B. der Neurophysiologie oder der Computertechnologie – um uns von defizitären Konstrukten her auszulegen, wer wir eigentlich sind. Ich verweise auf die ideologiekritischen Potentiale der Phänomenologie, die keineswegs abgegolten sind, sondern sich auf gegenwärtige Forschungspolitik, die Stellung der Philosophie und der Geisteswissenschaften in der Gesellschaft, auf kulturelle Identität und das Selbstverständnis unserer Zivilisation beziehen lassen. Im Folgenden will ich die systematische Verbindung der Zeit- mit der Sprachanalyse vertiefen und die Struktur des lebensweltlichen Transzendierens genauer herausarbeiten. Die gesamte menschliche Orientierungspraxis ist ekstatisch-zeitlich konstituiert, ebenso die Sprachpraxis. Die Diskursivität unserer Erkenntnis bleibt somit für die Rede so gültig, wie sie schon für die nichtsprachliche sinnliche Wahrnehmung und Erfahrung gültig ist. Es war der späte Wittgenstein, der in seiner Analyse des Regelfolgens in den Philosophischen Untersuchungen 9 die apriorische 9
Ludwig Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen, in: Schriften 1, Frankfurt a.M.1969, 279 – 544.
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zeitliche Struktur der Sprachpraxis besonders deutlich erfasst hat. Bedeutungskonstitution gibt es nur durch Wiederholung, indem ich ein Wort, einen Satz mehrfach verwenden und sie so in verschiedenen Situationen gebrauchen lerne. Dass wir sprachliche Unterscheidungen und Sätze wiederholen können, das ist ein unhintergehbares Können, dessen versuchte „Erklärungen“ allesamt in Paradoxien und Antinomien führen. Es ist deswegen ein tiefgreifendes Missverständnis bestimmter Deutungen der Regelfolgenanalyse im Anschluss an Kripke, sie als Dokument eines Skeptizismus, Relativismus oder Subjektivismus zu sehen.10 Das genaue Gegenteil trifft zu. Wie schon Kant in der Kritik der reinen Vernunft sah, gibt es keine Regel der Regel. Anders gesagt: Lebensweltliches, lebenspraktisches Basiskçnnen ist unableitbar von weiteren ontischen oder ontologischen Bereichen oder Instanzen. Weder kann ich die jeweilig verwendete Regel von der vorherigen Praxis, diese verdoppelnd, ablesen, noch kann ich sie im Blick auf innere, subjektive Evidenzen monologisch kontrollieren, ohne sie selbst bereits zu verwenden. Weder Bedeutungssubjektivismus noch objektivistischer Bedeutungsplatonismus können die lebensweltliche Sinnkonstitution klären oder gar erklären. Sie wollen beide etwas theoretisch gründen und explanatorisch sagen, was sich in der lebensweltlichen Praxis nur zeigt und an ihr zeigen lässt. Das scheint mir im Übrigen auch die systematische Zielrichtung der These von Waldenfels zu sein, die er im Rahmen einer Interpretation der Sprachphilosophie Merleau-Pontys formuliert: „Das Wunder der Sprache liegt darin, dass die Sprache selbst mehr ist als die bestehende Sprache“.11 Er entwickelt vier Kategorien, um Merleau-Pontys Charakterisierung des sprachlichen Ausdrucksgeschehens zu charakterisieren: die Kategorien der Abweichung, der Übersetzung (ohne „Urtext“), der Nachträglichkeit und des Überschusses.12 An dieser Stelle kann ich eine weitere Erläuterung zur Methode der Phänomenologie einfügen. Heideggers Formulierung, „das was sich zeigt, so wie es sich von ihm selbst her zeigt, von ihm selbst her sehen lassen“13 wurde vielfach als nichtssagend kritisiert. Entsprechend wurde Wittgensteins phänomenologische Grammatik des Deskriptivismus bezichtigt: „Die Philosophie stellt eben alles bloß hin, und erklärt und 10 Vgl. Saul Kripke, Wittgenstein on Rules and Private Language, Oxford 1982. 11 Bernhard Waldenfels, Deutsch-Franzçsische Gedankengnge, Frankfurt a.M. 1995, 117. 12 Ebd., 114 – 117. 13 Martin Heidegger, Sein und Zeit, a.a.O., 34.
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folgert nichts“;14 „Sie läßt alles, wie es ist“.15 Aber diese methodischen Zugriffe sind der Sache nach völlig berechtigt. Sinnkriteriale Konstitutionsanalysen untersuchen noch die normativen Grundlagen unserer Praxis und unseres Sprachhandelns, die Bedingungen der Möglichkeit unserer Beschreibungs- und Urteilspraxis. Diese Analysen müssen daher selbst deskriptiv sein; sie haben den Status „formaler Anzeigen“, den Status eines aufweisenden, hinweisenden Denkens. Die dazu geeignete Sprache ist eine erläuternde Parasprache, keine Metasprache, die eine Metatheorie oder Ontologie neben der humanen Welt und der lebensweltlichen Praxis errichtet. Die formal-anzeigende Parasprache arbeitet mit erhellenden Beispielen, sie benötigt ein paradigmatisches Fundament aus Lebenssituationen und Sprachgebräuchen. Zurück zum Konnex von ekstatischer Zeitlichkeit und prädikativem Sprachhandeln. Die Basisfähigkeit des Wiederholenkönnens sprachlicher Gebilde, insbesondere ganzer Sätze erst konstituiert mögliche menschliche Orientierung. Auch hier ist durch die Struktur möglicher Fortsetzbarkeit prädikativer Praxis in anderen Situationen und mit Bezug auf andere Fälle ganz elementar eine Offenheit und Unbestimmtheit sinnkonstitutiv, die formal bereits die ekstatische Zeitlichkeit aufweist. Durch den Primat der Zukünftigkeit in der zeitlichen Horizontbildung, durch das Sich-vorweg-Sein werden Vergangenheit und Gegenwart erst qualifizierbar. Beim sprachlichen Regelfolgen ist es die mçgliche, auch abweichende Wiederholbarkeit prädikativer Praxis mit Bezug auf unterschiedliche Individuen, die für diese Praxis sinnkonstitutiv ist. Das sprachliche Handeln lässt sich somit als freies Fortsetzen nicht-festlegender Anfnge beschreiben.16 Nur so ist schon an der Basis die Möglichkeit des Verstehens und Missverstehens, des Interpretierens, des Abweichens oder des Konventionellen, des Wahren oder Falschen strukturell in der Konstitution der Praxis angelegt. Wer sind wir? Eine menschliche Welt ist nur möglich in der situativen Erschlossenheit ekstatischer Zeitlichkeit sowie der zeitlichen Wiederholbarkeit prädikativen Sprachhandelns. Horizontbildung wie auch Wahrnehmung einzelner Phänomene sind nur möglich in einem zur Zukunft offenen, nicht vollständig bestimmten sprachlich-zeitlichen Raum. Dieser Raum eröffnet die sinnhafte Lebenswelt. Die existentielle 14 Ludwig Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen, a.a.O., § 126. 15 Ebd., § 124. 16 Vgl. Thomas Rentsch, Negativitt und praktische Vernunft, Frankfurt a.M. 2000, 351 – 364.
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Leiblichkeit zentriert die Lebenswelt, weil sich in ihr deren naturaler Grund und deren kommunikatives Wesen vereinen und durchdringen. Nur in einem holistischen Modell der irreduziblen Möglichkeitsbedingungen der menschlichen Welt können wir methodisch einen sinnkriterial zuverlässigen Weg zur Selbsterkenntnis finden. Zu ihr gehören bereits normative interexistentielle Möglichkeitsbedingungen – die Konstitution der Moralität ist in sie mit eingearbeitet.17 Bereits in Ekstasis und Prädikation als Modi der Horizontverzeichnung und Horizontbildung wird sichtbar, dass wir uns als uns je und je überschreitende, transzendierende Wesen begreifen müssen. Die NichtFestgelegtheit der Wiederholungsmöglichkeit, unsere Handlungsfähigkeit in einem Spielraum offener Möglichkeiten, das ekstatische Sichvorweg-sein – diese Basisphänomene unserer Praxis lassen sich im Sinne einer negativen Anthropologie der Freiheit analysieren. Bereits leiblichsinnlich, inkorporiert im aufrechten Gang und in der greifend-gestaltendformenden Hand kann und muss der Mensch stets über seine augenblickliche Gegenwart hinaus sein. Er muss voranschreiten, um vorwärtszukommen, sich, seine Gegenwart wie auch die jeweilige Orientierungssituation bereits transzendieren. Dabei ist der Gang des Menschen bei genauerer Analyse der Motorik nach Erwin Straus eigentlich ein aufgehaltener Absturz. Während Vierbeiner immer mit zwei Beinen fest auf dem Boden stehen, muss der Mensch stets in einem Moment schwebend fallen und sich fangen, um voranzukommen. Und so wurde auch der menschliche Gesang, das Urphänomen der Musikalität, als aufgehaltener Absturz ins Weinen oder aufgehaltener Aufschwung ins Lachen analysiert. Das ekstatische temporale und prädikative Transzendieren haben wir schon analysiert. Das Transzendieren im Raum und im Zeitbewusstsein wird durch die menschliche Sprachfähigkeit noch einmal auf einzigartige Weise selbst transzendiert und gesteigert. Sprache ist Ort und Medium des spezifisch humanen Transzendierens. Sie gestattet es nicht nur, durch Referentialisierung und prädikative Synthesis Wirklichkeit gedanklich festzuhalten und zu überschreiten, abstrakt zu fixieren und sozial zu kommunizieren. Sie gestattet die intersubjektive Fortsetzung der Bedeutungsbildung und ermöglicht so die Kontinuität von Sinn, die Rückfrage und die innovative Sinnstiftung. Das handelnde und sprachliche Überschreiten des Gegebenen, einzelner Kontexte und Situationen, ihr Verneinen und Negieren ist für unsere Welt- und Selbstverständnis konstitutiv. Hier gründen die genuin 17 Vgl. Thomas Rentsch, Die Konstitution der Moralitt. a.a.O.
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menschlichen Möglichkeiten des Behauptens von Wahrheitsansprüchen, der Technik und Wissenschaft, der Ethik, Ästhetik und Religion, die alle ohne die sinnkonstitutive, kommunikative Selbsttranszendenz der Menschen unmöglich wären. Wie beim Gehen ein Moment schwebenden Fallens zu konstatieren ist, so ist auch beim Regelfolgen, beim sprachlichen Wiederholen ein regelfreier Moment sinnkonstitutiv, den wir nicht mehr sprachlich oder gedanklich erfassen können. Strukturell gibt es bei aller humanen Sinnkonstitution im innersten Kernbereich einen blinden Fleck, der weder dem vergangenen Sinn, noch dem als neu, als innovativ verstehbaren Sinn zugehört. Bei der – mit Kleist formuliert – allmählichen Verfertigung der Gedanken beim Reden18 praktizieren wir ständig Brche und Sprnge, die wir selbst mit den verwendeten sprachlichen Mitteln aber nicht mehr thematisieren oder erfassen können. Kierkegaards Wiederholungs- und Sprunganalyse19 führt sowohl zu Heideggers Existentialanalytik der ekstatischen Konstitution und der Wiederholung, als auch zu Wittgensteins Analyse der sprachlichen Wiederholung, des Regelfolgens und des sprachlichen Sprunges. Der formal-strukturell stets nötige Sprung ist der freie, d. h. nicht vergegenständlichbare Akt, der aus der offenen Unbestimmtheit der Schwebe – mit Kierkegaard: zwischen entweder-oder – zur innovativ-vereindeutigenden Fortsetzung der Praxis führt. Wittgenstein schreibt: „In der Sprache gibt es stets eine Brücke zwischen dem Zeichen und seiner Anwendung. Wir müssen die Kluft selbst überbrücken; das kann uns niemand abnehmen. Keine Erklärung erspart den Sprung, denn jede weitere Erklärung wird ihrerseits einen Sprung benötigen“.20 Strukturell nimmt Wittgenstein Kierkegaards Analyse genau auf. Die Bruch- und Sprung-Kategorie gilt auch für den Übergang von einem Sprachspiel zu einem anderen, so wie bei Kierkegaard für den Übergang von dem einen Stadium auf des Lebens Weg zum anderen: vom ästhetischen zum ethischen und zum religiösen. Kierkegaard analysiert: Der erste Ausdruck einer freiheitlichen Tat ist das Abbrechen des Zusammenhangs mit dem Früheren durch einen „Sprung“. In der Wiederholung fängt „das ganze Dasein[..] von vorne an, nicht durch eine immanente Kontinuität mit 18 Heinrich von Kleist, ber die allmhliche Verfertigung der Gedanken beim Reden, in: Werke, hg. H. Sembdner, München 1966, 810 – 814. 19 Vgl. Christa Kühnhold, Der Begriff des Sprunges und der Weg des Sprachdenkens. Eine Einfhrung in Kierkegaard, Berlin/New York 1975. 20 Ludwig Wittgenstein, Vorlesungen 1930 – 1935, hg. v. Desmond Lee, Frankfurt a.M. 1989, 88.
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dem Vorhergehenden hindurch, welches ein Widerspruch ist, sondern vermöge einer Transzendenz, welche die Wiederholung durch eine Kluft von dem ersten Dasein scheidet“.21 Zur Wiederholung gehört der Sprung. Auch Heidegger hat später den sprachlichen Satz als Sprung beschrieben – so in dem Vortrag: „Der Satz der Identität“.22 Wir müssen – auch in der Zeitkonstitution – gliedern und Brüche, Einschnitte machen, um uns überhaupt selbst zu konstituieren und zu orientieren. Mit Erwin Straus: „Die Zäsur ist das erste Problem“.23 Und der Moment des Zäsurvollzuges bleibt dem Transzendieren immanent und transzendent zugleich. Ebenso können wir das aktuale Jetzt, den „Urquellpunkt“ im Husserlschen Sinne, nicht direkt erreichen, sondern nur formal und indirekt. „Nur im Sprung auf eine Reflexion höherer Stufe […] können wir dem Urquellpunkt, dem aktuellen Jetzt, näher kommen, aber dann verbirgt er sich wiederum ,hinter‘ dieser Reflexion selbst“.24 Wir erreichen mit diesen Analysen den Ursprung von Freiheit und Sinn, Zeitlichkeit, Sprache und Vernunft. Und es ist bezeichnend, dass Autoren aus heterogenen Ansätzen und Kontexten – Kant und Kierkegaard, Husserl, Heidegger und Wittgenstein – in diesen Bereich vorgestoßen sind. Ich komme zum dritten und letzten Abschnitt. Wer sind wir?
3 Um die Analyse der Konstitution der menschlichen Welt in Richtung auf Grenze und Sinngrund menschlicher Praxis zu vertiefen, müssen wir die Reflexion der strukturellen Endlichkeit dieser Praxis noch ausweiten. Das menschliche Selbsttranszendieren in Sprache und Handeln kann sich nur zeitlich und endlich, leiblich-räumlich situiert und diskursiv vollziehen. All unser Erkennen, Handeln und Sprechen ist begrenzt. Diese End21 Søren Kierkegaard, Der Begriff Angst, in: Werkausgabe Bd. 1, Düsseldorf 1971, 175 – 382, 195. 22 Martin Heidegger, Identitt und Differenz, Pfullingen 51976, 9 – 30. 23 Erwin Straus, Vom Sinn der Sinne, Berlin/New York/Heidelberg 21956., 21; vgl. Bernhard Waldenfels, Das leibliche Selbst. Vorlesungen zur Phnomenologie des Leibes, Frankfurt a.M. 2000, 131. 24 Thomas M. Seebohm, „Über die vierfache Abwesenheit im Jetzt. Warum ist Husserl bereits dort, wo ihn Derrida nicht vermutet?“, in: Hans Michael Baumgartner (Hg.), Das Rtsel der Zeit. Philosophische Analysen, München 1993, 75 – 108, 91.
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lichkeit und Begrenztheit allen Transzendierens ist der Praxis nicht äußerlich, sondern konstituiert deren Sinn intern und durchgängig. Das menschliche Transzendieren ist sinnkonstitutiv mit Negativitt – mit „nicht mehr“ und „noch nicht“ – verklammert. Nur partiale Aspekte jeder Situation und jedes Gegenstandes sind uns, selbst nur diskursivzeitlich, perspektivisch-räumlich, durch und durch endlich und zeitlich begrenzt zugänglich. In allem Denken, Erkennen und Handeln zeigt und entzieht sich uns die Welt zugleich auf uns unverfügbare Weise. Diese Begrenztheit unseres Transzendierens verweist auf einen nicht-objektivierbaren Grund. Wir können uns selbst, unser Wesen, ebenso wie das Wesen unserer Mitmenschen nicht wie etwas Vorhandenes vergegenständlichen, objektivieren und zur Gänze erkennen. Diese negative Einsicht gehört notwendig zu Methode wie Selbsterkenntnis. Auf diese Weise werden Kantische Grundeinsichten in der radikalisierten Sinnkritik nach Heidegger und Wittgenstein bewahrt.25 Wir sind nämlich, anders gesagt, nicht-objektivierbarer Grund aller unserer ekstatischen Horizontvorzeichnungen und all unserer prädikativen Leistungen. Weder uns selbst und unsere Individualität noch die der Anderen können wir anders als partial und gebrochen transparent machen. Phänomenologisch betrachtet gilt dies, recht verstanden, schon von jedem noch so einfachen Gegenstand in seiner inneren Unendlichkeit. Sprachphänomenologisch gilt es von jeder Wortbedeutung, von jedem Satz im konkreten Sprachgebrauch. Sie sind unabschließbar offen und in ihren möglichen innovativen Verwendungen sinnkonstitutiv unbestimmt. Das Ganze der Gebräuche können wir nicht überschauen. Jedes Wort ist in gewisser Hinsicht eine eigene Wortart. Mit dieser strukturellen Negativitätsanalyse schließt die Phänomenologie als sinnkriteriale Tiefenhermeneutik an Kants Erkenntniskritik an. Es gibt aber nicht zwei Welten – eine noumenale und eine phänomenale – falls Kant dies gemeint haben sollte – sondern nur eine Welt, in der im Modus der Negativität und internen Unendlichkeit die „andere“, die noumenale Welt konkret und sinnkonstitutiv gegenwärtig ist. Mit Paul Eluard: „Es gibt eine andere Welt, aber sie ist in dieser.“ Ich bin der Überzeugung, dass gerade die nochmalige Radikalisierung der Sinnkritik über Kants transzendentale Kritik hinaus, wie sie durch Husserl und Frege, Heidegger, Wittgenstein und Merleau-Ponty als Leistung des 20. Jahrhunderts erreicht wurde, diese neuerliche Vertiefung unserer Einsicht in die Weltkonstitution (und in die Einheit der Welt) begründet. 25 Vgl. Thomas Rentsch, Negativitt und praktische Vernunft, a.a.O.
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Die negativen Sinnbedingungen der Weltkonstitution, der eigenen und fremden Existenz sowie der Sprache treten in der zeitlichen Endlichkeit unserer Lebenspraxis stets in einem Zusammenspiel auf. Sie verweisen auf einander, sind gleichursprünglich und ermöglichen so in ihrer irreduziblen Unhintergehbarkeit und Unableitbarkeit endliches Leben und Erkennen sowie die eigenen endlichen und freien Sinnentwürfe der Menschen. Es sind also die unhintergehbaren Sinnbedingungen unserer endlichen, zeitlichen und sprachlichen Praxis, die Grenze und Grund der menschlichen Welt bilden. Alles menschliche Transzendieren vollzieht sich im Horizont dieser gleichursprünglichen Sinnbedingungen. Auf der Basis unvordenklicher leiblicher Getragenheit und im Medium bereits geschichtlich sedimentierten sprachlichen Sinns eröffnet sich uns die Möglichkeit, ein Welt- und Selbstverständnis zu entwickeln und praktisch zu gestalten. Entscheidend für die philosophische Reflexion der Sinnbedingungen der humanen Welt ist die Gleichursprünglichkeit der faktischen, der praktischen und der sprachlichen Grenzen der Welt und des Lebens in ihrem Zusammenspiel. Grenzen sind sinnkonstitutiv, weil gerade Negativitt und Entzogenheit, Unverfgbarkeit und Unbestimmtheit auf allen Ebenen berhaupt erst den endlichen Freiheitsspielraum menschlicher Praxis bilden und erçffnen. An dieser Stelle der Sinnkonstitutionsanalyse enden bestimmte aufweisende philosophische Sprachmöglichkeiten. Jede weitere Sinnexplikation erfolgt bereits im Horizont der aufgewiesenen Sinnbedingungen. Wir stoßen hier, bildlich gesprochen, auf eine unvordenkliche Schicht in der Konstitution, in der wir auch keine vorgegebenen Fundierungsverhältnisse ausmachen können. Die negative und formale Charakterisierung dieser Ursprungsebene der Sinnkonstitution als Unbestimmtheit, Offenheit, Sinneröffnung, Ungesichertheit und Fortsetzungsmöglichkeit weist auf die Dimension, die Kant mit seinen Grundbegriffen Spontaneitt und Freiheit beschrieben hat. Nach den bisherigen Analysen zur Weltkonstitution müssen wir auch das transzendentalphilosophische Freiheitsverständnis aus dem Paradigma des isolierten Orientierungssubjekts und einer noumenalen Ursprungswelt lösen, um die genuinen Intentionen Kants zu bewahren und zu retten. Inmitten der einen Welt, in der wir als leibliche Lebewesen materiell bedingt existieren und in der die passiven ekstatischen Konstitutionsbedingungen unsere Horizontbildung vorstrukturieren, sind wir in der Lage, selbst Sätze zu bilden, zu referentialisieren und zu prädizieren, und so Wirklichkeit zu erkennen, zu denken und zu beurteilen. Damit eröffnet sich die gemeinsame Welt im Modus interexistentieller Kom-
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munikation. Wir sind in der Lage, die leiblichen, zeitlichen und räumlichen, die interexistentiellen und existentiellen, die modalen und die sprachlich-grammatischen Sinnbedingungen unserer Praxis und unseres Transzendierens selbst zu erkennen und zu thematisieren. Weder Sprache noch räumlich-zeitlich-leibliche, interexistentielle Horizonteröffnung lassen sich einseitig als ontologisches bzw. apriorisches Fundament der humanen Welt auszeichnen. Vielmehr müssen wir die Gleichursprnglichkeit der Sinnbedingungen mit ihrer Unerklrlichkeit zusammendenken. Das ist in vielen philosophischen Ansätzen aufgrund ihrer quasi-szientifischen, verzerrten oder ungeklärten Methodologie leider gerade nicht möglich. Innerhalb der ekstatischen und prädikativen Weltkonstitution lassen sich keine vorgegebenen Ableitungs- oder Fundierungsverhältnisse darstellen. Daher ist ein sprachanalytischer linguistischer Idealismus so verfehlt wie empiristische oder auch bewusstseinsphilosophische Vorstellungen von der Unmittelbarkeit eines Weltzugangs. Auch die Auszeichnung bestimmter Sinnbedingungen zu Ursprungsereignissen lebt bereits von der in Wahrheit irreduzibel komplexen, holistischen Konstitution der humanen Welt. In der philosophischen Rekonstruktion kann es so zu theoretischen Stilisierungen und Hypostasierungen kommen. Der Heidegger von Sein und Zeit hat in dieser Linie die Zeitigung der Zeitlichkeit geradezu in ein quasi-mythisches Großsubjekt transformiert. Der späte Heidegger denkt die Sprache gleichermaßen als solch eine sinnstiftende Mega-Instanz. Die Husserlsche bewusstseinsphilosophische Engführung der Konstitutionsanalyse habe ich bereits kritisiert. Eine andere Variante dieser theoretischen Verzerrung der Konstitution stellt der Existenzialismus dar, insoweit er die isolierte Existenz des Einzelnen zum Mittelpunkt der Welt macht und die Negativität der Sinnkonstitution als Nichtigkeit und Sinnlosigkeit theoretisch fixiert. Eine theoretisch verzerrte Sicht der Weltkonstitution wird auch in Derridas Husserl-Kritik und im Paradigma des Dekonstruktivismus mit Bezug auf die Sprache entwickelt. Anstatt die – selbst unerklärlichen – Sinnbedingungen in ihrer praktischen Bedeutung für die Konstitution einer humanen Welt zu analysieren, verharrt der Zugriff in einem schlecht-idealistischen Sinne in der Sprache und konstruiert einen semantischen Verkettungsimmanentismus, der nicht mehr zur Welt und zur Praxis hinausfindet. Und auch die Analyse der Weltsinnkonstitution durch den Anderen und sein „Antlitz“ bei Lévinas stellt die einseitige Überakzentuierung einer wenn auch zentralen interexistentiellen Sinnbedingung der menschlichen Welt dar.
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Die aufgezeigten Sinnbedingungen der humanen Welt sind unerklärlich, weil sie notwendige Möglichkeitsbedingungen auch aller Erklärungen sind. Ekstasis und Prädikation ermöglichen gleichzeitig, dass wir uns zu den Sinnbedingungen selbst noch einmal praktisch einstellen und handelnd verhalten können. Sie sind gleichzeitig Bedingungen der Möglichkeit sinnvoller Weltgestaltung und eines authentischen Selbstverständnisses. Der Fehler bestimmter naturalistischer, szientistischer Weltverständnisse besteht im Überspringen oder Wegerklären dieser unerklärlichen Bedingungen. Der Fehler vieler philosophischer Theorien besteht in der partialen Auszeichnung eines Konstitutionsaspekts. In Wahrheit ist das Unerklrliche, die Grundlosigkeit der Sinnbedingungen durchgängig und flächendeckend zu beachten.26 Deswegen ist es so wichtig, zu wissen, wann man in der Analyse halt machen muss. (Wittgenstein ist hier oft vorbildlich.) Vielleicht ist es der grundlegende Kategorienfehler unserer westlichen Kultur und Zivilisation, für diese Unerklärlichkeit und Unableitbarkeit kein Bewusstsein mehr zu haben – das Wunderbare des Selbstverständlichen lediglich noch als das Banale wahrzunehmen. Für die Praxis, für Ethik, Ästhetik und Religion ist allerdings das Bewusstsein der Zurückbezogenheit auf die unverfügbaren Sinnbedingungen unseres zeitlich-endlichen Transzendierens gerade das Spezifikum – Voraussetzung authentischer Selbsterkenntnis wie Praxis. Wenn Phänomenologie zur Einsicht in diese Bedingungen beitragen kann, ist ihre Renaissance an der Zeit, denn wir sind darauf angewiesen, zu wissen, wer wir sind. Ich fasse zusammen. Phänomenologie ist sinnexplikative Tiefenhermeneutik der in der Alltäglichkeit und Nähe verborgenen und verdeckten menschlichen Welt. Sie geht nicht vom transzendentalen Bewusstsein, sondern vom leiblichen, sozialen und kommunikativen Lebewesen Mensch und seiner Orientierungspraxis aus und thematisiert die primär intersubjektive und sprachliche Ebene der Sinnkonstitution. Diese Ebene der lebensweltlichen Sinnkonstitution kann nur in einem holistischen Modell angemessen thematisiert werden. Dann zeigt sich: die ekstatische, weitgehend passive Horizontvorzeichnung und die prädikative Horizontbildung sind gleichursprünglich. Für die menschliche Welt ist sinnkonstitutiv, dass wir uns und unsere jeweilige Situation ständig transzendieren. Sprachlich zeigt sich dieses Transzendieren im innovativen Wiederholenkönnen von Sätzen in der alltäglichen Rede, im freien Fortsetzen nicht festlegender Anfänge des Sprachhandelns und 26 Vgl. Thomas Rentsch, Heidegger und Wittgenstein, a.a.O., Kapitel 6.
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Regelfolgens. In der Tiefenstruktur des zeitlich-sprachlichen Transzendierens zeigt sich ein regelfreier Moment, ein Bruch, der jeweils mit einem Sprung überwunden werden muss. Alles Transzendieren ist endlich. Die negativen Sinnbedingungen der Weltkonstitution – die Ferne und unsagbare Nhe der Welt, die Entzogenheit und Fremdheit der Anderen, die Begrenztheit der Selbsterkenntnis, die Unerkennbarkeit der Gegenwart und die Unbestimmtheit und Offenheit des sprachlichen Sinns – diese negativen Sinnbedingungen sind Grenze und Grund unserer Praxis, deren endlichen Freiheitsspielraum sie eröffnen. Wir müssen die Gleichursprünglichkeit der Sinnbedingungen mit ihrer Unerklärlichkeit zusammendenken, um sie als Bedingungen authentischer Selbsterkenntnis und Praxis zu begreifen.
Transzendenz und Sprache. Der Mensch im Verhältnis zu Grenze und Sinngrund der Welt Für über 2000 Jahre bildete das Fragen nach der Transzendenz mitsamt den verschiedenen Antworten den gemeinsamen Bezugsrahmen der europäischen Religions- und Vernunftgeschichte. Dieser Bezugsrahmen ist von Beginn an nicht der theoretischer Wissenschaft im modernen Verständnis, sondern der Kontext eines emphatischen Wahrheitsanspruchs; eines Wahrheitsanspruchs, der primär praktisch auf das lebensermöglichende und lebenstragende Gute und seine wahre Erkenntnis sowie auf die gerechte Ordnung des Miteinanderlebens gerichtet ist. Es geht um die Lebenspraxis und deren Sinn, und in diesem Zusammenhang um das rettende Göttliche. Zu dieser Lebenspraxis führt nach Sokrates wahre Erkenntnis, auf sie zielt die Verklammerung von Metaphysik und Politik bei Platon, auf sie zielt die systematische Verbindung von Metaphysik, Ethik, Politik und Ökonomie bei Aristoteles. Wahre Erkenntnis zielt auf den praktischen Sinn des guten und gerechten Lebens. Das gilt auch für die religiösen, z. B. christlichen Traditionen. Aber welchen Status hat diese Erkenntnis? Wie ist sie sprachlich zugänglich? Wie lässt sie sich vermitteln? Ich will diesen Fragen im Folgenden in vier Schritten nachgehen. Zunächst will ich erläutern, warum ich Transzendenz als mehrfache Schnittstelle von Reflexion und Praxis ansehe. Dann werde ich einen strukturellen Transzendenzbegriff herausarbeiten. Drittens werde ich die Dialektik der Transzendenz sowie ihre sprachkritische Radikalisierung durch die Entwicklung der modernen Philosophie betrachten. Auf diesem Hintergrund werde ich viertens Kernthesen zum Verhältnis von Transzendenz und Sprache im Kontext der gegenwrtigen Religionsphilosophie entwickeln.
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1. Transzendenz – Schnittstelle von Reflexion und Praxis Die Thematik des Verhältnisses von Transzendenz und Sprache bewegt sich in mehrfacher Hinsicht auf einer Grenze, auf einer Schnittstelle unseres gegenwärtigen Denkens und unserer gegenwärtigen Praxis zu Beginn des 21. Jahrhunderts. Zum einen bewegen wir uns mit dieser Thematik philosophieintern an der Grenze zwischen einer modernen Philosophie auf der einen Seite, die bewusst und in der Tradition von Aufklärung und Kritik von den Traditionen der Transzendenz, von Gott, Sinn von Sein und Absolutem Abschied genommen hat, die konsequent mit den Naturwissenschaften kooperiert und das „Höhere“ ironisch und kontingenzbejahend privaten Vorlieben sowie der Kunst und der Literaturkritik überlässt, und andererseits einer Philosophie, die, wie modern und kritisch auch immer, sich in der Kontinuitt von Grundfragen begreift, die seit Platon und Aristoteles in der Metaphysik verhandelt werden. Auf der einen Seite stehen Philosophierende in der Tradition Carnaps und Quines, aber auch Rorty, auf der anderen Seite der späte Heidegger. Auf der Grenze denken der frühe Wittgenstein und z. B. auch der späte Adorno. Paradigma der philosophieinternen Grenzziehung ist der Tractatus Wittgensteins. Die zivilen und noblen Hermeneutiker und Rationalisten, allen voran Gadamer und Habermas, lassen uns auf kultivierte Art und Weise mit der Frage nach der Transzendenz allein, nicht ohne freilich ihren unersetzlichen Rang zu unterstreichen, aber ohne explizite Konzeptualisierung von Transzendenz. Wir bewegen uns somit auch diachron, im Blick auf die gesamte Geschichte der okzidentalen Philosophie, auf einer Grenze zwischen Herkunft und Zukunft. Es gilt aber: Ohne Metaphysik der Transzendenz keine okzidentale Rationalitt – weder im Abschied, in der Destruktion und Metaphysikkritik, noch in der Kontinuität und Transformation von Transzendenz in immanente Formen des Überschreitens – vernunftkritisch, geschichtsphilosophisch, politisch und existentiell. Und auch nicht in den vielen surrogathaften Formen von Transzendenz, die eine oberflächliche Spaß- und Konsumgesellschaft mit schneller Bildersequenz zum Kauf anbietet. Mit der Thematik bewegen wir uns ebenfalls auf der Schnittstelle zwischen Philosophie und Theologie. Gibt es heute wieder und in erneuerter Verantwortung einen gemeinsamen Bezugspunkt für philosophische Reflexion und ihrer Herkunft verpflichtete Theologie? Kommt die Genesis der okzidentalen Rationalität auch mit ihren Transzendenzbezügen erneut auf uns zu? Ich erinnere nur an Habermas‘ Thesen zur postsäkularen Gesellschaft und an die gegenwärtigen religi-
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ˇ izˇek und Taylor, onsphilosophischen Ansätze von Derrida, Vattimo, Z um nur einige zu nennen. Diese Ansätze zeigen zumindest eines: Dass die Frage nach der Transzendenz wieder eine offene Frage ist. Das hat mit einem weiteren zentralen Gesichtspunkt zu tun: Wir bewegen uns mit der Thematik nämlich zudem im Zentrum interkultureller Konflikte und Differenzen: Wie verhalten sich Kulturen und Gesellschaften der westlichen Profanität und Säkularisierung zu stark theistisch orientierten Kulturen? Wir bewegen uns im Spannungsfeld der Gleichzeitigkeit sehr heterogener Lebensformen, im Konfliktbereich kultureller Alteritt, deren Modelle vom „clash of civilisations“ bis zum „Projekt Weltethos“ reichen. Schließlich steigert sich die Bündelung der dialektischen Spannungsund Konfliktpotentiale unserer Thematik noch durch die Bezugnahme auf die Relation von Transzendenz und Sprache. Warum? Die philosophische Reflexion selbst durchlief seit ihrem Beginn eine zunehmende sinnkritische Radikalisierung. Sie wurde seit der antiken Entstehung der Philosophie bis zum Beginn der Neuzeit im Wesentlichen ontologisch, im Rekurs auf Strukturen des Seins also, beantwortet. Die Neuzeit beginnt, wo ein ontologisches „Schema der garantierten Realität“ 1, wie es die Ordo-Metaphysik im Paradigma der klassischen Transzendentalienlehre entfaltet hatte, zerbricht und die Möglichkeitsbedingungen einer menschlichen Welt bewusstseinsphilosophisch bestimmt werden – gipfelnd in der Transzendentalphilosophie Kants. In einer dritten Radikalisierung werden noch die Voraussetzungen von Ontologie wie Transzendentalphilosophie selbst auf innovative Weise reflexiv thematisiert: nämlich in der Sprache selbst. Es war Ludwig Wittgenstein, der schrieb, „dass jede Art des Verständlichmachens einer Sprache schon eine Sprache voraussetzt. Und die Benützung der Sprache in einem gewissen Sinne nicht zu lehren ist. D.h. nicht durch die Sprache zu lehren, wie man etwa Klavierspielen durch die Sprache lernen kann. – D.h. ja nichts anderes als: Ich kann mit der Sprache nicht aus der Sprache heraus.“2 Und Wittgenstein präzisiert mit explizitem Kant-Bezug: „Die Grenze der Sprache zeigt sich in der Unmöglichkeit, die Tatsache zu beschreiben, die einem Satz korrespondiert (seine Übersetzung ist), ohne eben den Satz zu
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Hans Blumenberg, „Wirklichkeitsbegriff und Möglichkeit des Romans“, in: Poetik und Hermeneutik 1. Nachahmung und Illusion, hg. von Hans Robert Jauß, München 1983, 9 – 27. Ludwig Wittgenstein, Philosophische Bemerkungen, Frankfurt a.M. 1981, 54.
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wiederholen. (Wir haben es hier mit der Kantischen Lösung des Problems der Philosophie zu tun.)“3 Die Problemstellung von Transzendenz und Sprache führt uns somit auf mehrfache Weise an die Grenze und Schnittstelle von Herkunft und Zukunft, von Moderne und Metaphysik, von Philosophie und Theologie, von westlicher Profanität und religiöser Lebensform, schließlich zur Sprache als dem Ort und zugleich dem Medium von Transzendenz. An diesem Problemaufriss wird deutlich, dass die Frage nach der Transzendenz in der Moderne sowie gerade in unserer gegenwärtigen geschichtlichen Situation faktisch unvermeidlich ist, dass diese Frage ferner praktisch und auch politisch außergewöhnlich bedrängend ist, dass ihr ferner auch methodisch-systematisch für das Selbstverständnis der modernen Philosophie weiterhin zentrale Bedeutung zukommt.
2. Die Struktur der Transzendenz Um in dieses Problembündel von Transzendenz und Sprache Übersicht und ein wenig Klarheit zu bringen, möchte ich zunächst ein formalstrukturelles Transzendenzverständnis entwickeln. Es soll uns ermöglichen, ohne direkten Rekurs auf religiöse oder philosophische Traditionen und ihre Sprache ein rationales, intersubjektiv nachvollziehbares Vorverstndnis von Transzendenz zu explizieren. Der Terminus „Transzendenz“ gehört selbst zu einem solchen philosophischen, erläuternden Vorverständnis. Er hat die Funktion eines sinnexplikativen Reflexionsbegriffs, eines erläuternden Hilfsmittels. Den strukturellen Transzendenzbegriff können wir zunächst im Rahmen einer (nicht nur) von mir vertretenen negativen Anthropologie der Freiheit entwickeln. In ihr lässt sich das Wesen des Menschen über seine natürliche Bedürftigkeit hinaus als Nicht-Festgelegtheit, als Handlungsfähigkeit im Rahmen eines Spielraums offener Möglichkeiten, zeitlich als Sich-vorweg-sein bestimmen. Leiblich-sinnlich schon, inkorporiert im aufrechten Gang und in der greifend-gestaltend-formenden Hand, kann und muss der Mensch stets über seine augenblickliche Gegenwart hinaus sein. Er muss voranschreiten, um vorwärtszukommen. Er muss sich, seine Gegenwart und die jeweilige Situation überschreiten. Der Mensch muss transzendieren. Dabei ist sein Gang bei genauerer Analyse der Motorik nach Erwin Straus eigentlich ein aufgehaltener Absturz. Während 3
Ludwig Wittgenstein, Vermischte Bemerkungen, Frankfurt a.M. 1977, 27.
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Vierbeiner immer mit zwei Beinen fest auf dem Boden stehen, muss der Mensch stets in einem Moment schwebend fallen und sich fangen, um voranzukommen. Die Phänomenologie des inneren Zeitbewusstseins Husserls analysiert die Struktur des Transzendierens als passive, notwendige Horizontbildung durch das transzendentale Bewusstsein, als passive Aktivität der zeitlichen Horizontvorzeichnung, als Horizontvorzeichnungsvollzugsnotwendigkeit. Dieses Transzendieren im Raum und im Zeitbewusstsein wird durch die menschliche Sprachfähigkeit auf einzigartige Weise noch einmal transzendiert und qualitativ gesteigert. Wir können nun durch Referentialisierung und prädikative Synthesis Wirklichkeit nicht nur konkret, sondern auch gedanklich festhalten und überschreiten, abstrakt fixieren und sozial kommunizieren. Denken heißt überschreiten. Die Sprache ist sowohl Ort als auch Medium des spezifisch humanen Transzendierens. Sie gestattet die Fortsetzung der Bedeutungspraxis und ermöglicht so die Kontinuität von Sinn, ebenso gestattet sie die Rückfrage und ermöglicht innovative Sinnstiftung. Mit der Frage nach dem Verhltnis von Transzendenz und Sprache ist die Philosophie somit im Zentrum der Frage nach der menschlichen Selbsterkenntnis angelangt. Das handelnde und sprachliche Überschreiten des Gegebenen, einzelner Kontexte und Situationen, ihr Verneinen und Negieren ist für unser Welt- und Selbstverständnis konstitutiv. Es gründet die genuin menschlichen Möglichkeiten der Wissenschaft und Technik, der Ethik, der Ästhetik und der Religion, die alle ohne sprachliche Selbsttranszendenz unmöglich wären. Insofern ist weder ein Sinn von Sein noch eine menschliche Welt ohne kommunikative Selbsttranszendenz auch nur denkbar. Die Frage nach dem Verhältnis von Transzendenz und Sprache ist daher ersichtlich fundamental: Sie berührt die Möglichkeitsbedingungen einer menschlichen Welt. Damit bildet die Frage auch einen zentralen Bezugspunkt von Religion und Philosophie in Geschichte und Gegenwart. Das menschliche Selbsttranszendieren in Sprache und Praxis kann sich nur zeitlich und endlich, diskursiv vollziehen. Alles Erkennen, Handeln und Sprechen ist begrenzt. Diese Endlichkeit und Begrenztheit allen Transzendierens können wir selbst erfahren, erkennen und thematisieren. Die menschliche Selbstreflexion führte und führt nach wenigen Schritten zur Frage nach der Eigenart der Grenze und des Grundes bzw. des Sinns dieses endlichen Seins – man denke z. B. an die klassischen Gottesbeweise. Wir können diesen Zusammenhang von Transzendenz bzw. Transzendieren und Endlichkeit, von Grenze und Grund unseres Seins, unseres Bewusstseins und unserer Sprache strukturell mit folgenden
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im Wesentlichen negativ-praktischen Einsichten fassen. Es ist erstens die Einsicht, dass wir das Ganze der Welt und ihre Wirklichkeit, ihren Anfang und ihr Ende nicht erkennen können, und dennoch in ihr sind. Nur partiale Aspekte der Welt sind uns, selbst nur diskursiv-zeitlich, perspektivisch-räumlich, durch und durch endlich und zeitlich begrenzt zugänglich. In allem Denken, Erkennen und Handeln zeigt und entzieht sich die Welt zugleich auf uns unverfügbare Weise. Unser Transzendieren findet seine Grenze und seinen Grund darin, dass die Welt überhaupt ist. Bereits hier wird sichtbar, dass Negativität – als Unerkennbarkeit und Unverfügbarkeit – und Sinn konstitutiv verbunden sind. Die Welt ist handelnd und sprachlich nicht-objektivierbarer Grund unseres Transzendierens. Ich nenne dies die mundane Transzendenz. Es ist ferner die Einsicht, dass wir uns selbst, unser Wesen, ebenso wie das Wesen unserer Mitmenschen nicht erkennen und nicht zur Gänze objektivieren können. Wenn wir dies, zeitlich-endlich, sprachlich und handelnd versuchen, so sind es doch wieder wir selbst, die handelnd nichtobjektivierbarer Grund dieser Objektivationsleistungen sind. Weder uns selbst und unsere Individualität noch die der anderen können wir anders denn partial und gebrochen transparent machen. Dass wir und die Anderen sind, und so sind wie sie sind, bleibt unvordenklicher Grund unserer gesamten Lebenspraxis. Ich nenne dies die existentiell-interexistentielle Transzendenz. Es ist schließlich die negativ-praktische Einsicht, dass wir auch über die sprachlichen Sinnbedingungen unserer Praxis nicht pragmatisch und technisch verfügen, sondern dass sie uns geschichtlich, sozial und kulturell überkommen sind. Wir werden zu uns selbst im Medium sozialer und kommunikativer Praxis, die uns entzogen und vorgängig ist. Das ist die Transzendenz der Sprache. Unser Transzendieren gründet somit in unhintergehbaren Sinnbedingungen, die ihrerseits uns transzendieren. Diese Sinnbedingungen der Welt, der eigenen Existenz und der Sprache treten in der zeitlichen Endlichkeit unserer Lebenspraxis stets in einem Zusammenspiel auf, sie verweisen aufeinander. Sie sind gleichursprnglich und ermöglichen so in ihrer irreduziblen Unhintergehbarkeit und Unableitbarkeit endliches Leben und Erkennen sowie die eigenen endlichen und freien Sinnentwürfe der Menschen. Die unhintergehbaren Sinnbedingungen, die Grenze und Grund unserer endlichen Orientierungspraxis bilden, will ich als strukturelle Transzendenz bezeichnen. Alles menschliche Transzendieren vollzieht sich im Horizont dieser gleich-ursprünglichen, weltlichen, existentiellen und sprachlichen, strukturellen Transzendenz.
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Diese kurz umrissene strukturelle Transzendenz der Sinnbedingungen der humanen Welt bildet einen zentralen gemeinsamen Bezugspunkt von Religion und Philosophie. Ich will dies im Blick auf die Genesis der okzidentalen Rationalität kurz verdeutlichen. Dabei ist mir die systematische Verbindung von Negativität und Sinn besonders wichtig. Die Grenzen unseres Erkennens, Denkens und Handelns sind es, die in unserer Vernunftgeschichte ihrerseits als konstitutiv für Sinn erkannt werden.
3. Die Dialektik der Transzendenz und ihre sprachkritische Radikalisierung in der Moderne Auf dem erläuterten Hintergrund entfaltet sich das strukturelle Problem der Transzendenz als Dialektik der Transzendenz. Diese Dialektik ist es bei näherer Betrachtung, die die systematische Schnittstelle von Religion, Theologie und Philosophie bildet. Das gilt für die Antike, für die 1000jährige Geschichte der christlichen Metaphysik, für die Philosophie bis zu Kant und Hegel, aber gleichfalls für die dezidierten Entwürfe der Transzendenzleugner- und Kritiker Marx, Nietzsche und Freud, die Transzendenzverlagerer sind, wenn sie nur den Ort der Transzendenz anders besetzen: in die Geschichte der Emanzipation, in den Übermenschen und die Ewige Wiederkehr, in das Unbewusste – Bereiche, denen das Stigma ihrer Herkunft oft nur allzu deutlich anhaftet. Es gilt auch noch für große Entwürfe des vergangenen Jahrhunderts, die ohne Transzendenzbezug undenkbar sind: für das spätere Denken Heideggers, für den Tractatus Wittgensteins wie auch für dessen spätere Religionsphilosophie, für Adornos Negative Dialektik, die sich „solidarisch mit Metaphysik im Augenblick ihres Sturzes“4 erklärt, für Derridas Anleihen bei Neuplatonismus und negativer Theologie. Aber auch alle Absetzbewegungen von der okzidentalen Transzendenzgeschichte arbeiten sich explizit oder implizit an dieser Geschichte ab: Im Paradigma des Materialismus, des Positivismus, des Szientismus, des Atheismus, des Existenzialismus, des Historismus. Kurz: Die Depotenzierung der Transzendenz zehrt noch von dieser, entfaltet ihre innerweltlich-immanente Energie aus der Negation der Transzendenz und nur radikalisierte Transzendenzreflexion setzt, so scheint es mir, Immanenz wirklich frei.
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Theodor W. Adorno, Negative Dialektik, Frankfurt a.M. 51988, 399 f.
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In diesem Kontext tritt ein Strukturproblem aller Religionen in den Blick, das man als die strukturelle Negativität aller Offenbarung und allen Heils, aller Transzendenz, positiv aber als die Untilgbarkeit bzw. die Permanenz der Endlichkeit und Alltäglichkeit beschreiben kann. Menschen sprechen und hören, auch wenn Büsche brennen, wenn Gott spricht; ein Licht leuchtet, aber je nur kata to dynaton, wie Sokrates und Platon sagen – so wie es eben den Menschen möglich ist. Religiöse Wahrheitsansprüche auf Transzendenz – welcher Art auch immer – können nur konkret in der weltlichen Wirklichkeit verlautbart und erhoben werden. Was unterscheidet sie dann aber von den üblichen, gewöhnlichen? Diese Negativität artikuliert auch ein Strukturproblem aller Metaphysik bzw. allen faktizitätsüberschreitenden philosophischen Denkens: Denn, was immer wir über das Ganze bzw. über Grenze, Grund und Sinn des Ganzen von Welt und Leben sagen mögen – wir können das nur mittels konkreter Worte in empirischen Kontexten. Die Worte über den Sinn oder Grund des Ganzen (des Seins) oder auch nur unseres eigenen ganzen Lebens, die Rede über diese Totalitäten und ihren Grund, sie sind unlöslich mit einer partikularen, jeweiligen Situation verknüpft, sie sind und bleiben damit abhngig vom Endlichen, Relativen und Kontingenten. Eine alles Partikulare und Kontingente überschreitende Perspektive von Sinn (bzw. des Sinnes von Sein) scheint sich daher nur negativ artikulieren zu können: als nicht-bedingt, als ab-solut, als unverfügbar, als un-sagbar. Ich bezeichne dieses strukturelle Problem als die absolute Negativität der Sinnganzheitsperspektive bzw. als die absolute Negativität der Sinngrundperspektive. Auch Erfahrungen partikularen Sinns geben zunächst nicht den Sinn des Ganzen an und her. Solche Erfahrungen sind endlich und vergänglich wie alles, was wir haben und sind und sein können. Mit Novalis können wir ausrufen: „Wir suchen überall das Absolute, und finden immer nur Dinge.“5 Dieser strukturelle Befund der absoluten Inkommensurabilität unbedingten, nicht-relativierbaren Sinnes – des Seins, der Welt bzw. auch des einzelnen Lebens im Ganzen eint in gewisser Hinsicht die Geschichte der okzidentalen Rationalität von Platon bis Wittgenstein. So ist der Transzendenzbezug in Emphase wie Negation der explizite oder implizite Horizont der Genesis der okzidentalen Rationalität. Wichtig ist mir systematisch dabei dreierlei. Erstens, dass das Funda5
Novalis, „Blütenstaub Nr. 1“, in: ders., Werke und Briefe, München 1968, 340.
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mentalproblem des emphatischen Sinnes, betrachten wir es theoretisch, wissenschaftlich, verständig oder aus der Beobachterperspektive, prinzipiell unlçsbar ist. Zweitens, dass dieses Problem existentiell und praktisch unabweisbar und irreduzibel ist. Das meinte Kant mit der Rede von Fragen, die einerseits unbeantwortbar sind, die sich andererseits nicht abstellen lassen. Er hat damit die Struktur genau erfasst. Noch die paradoxe Selbstaufhebung des Tractatus vollzieht diese Bewegung, die Wittgenstein explizit mit Kierkegaards „Anrennen gegen das Paradoxon“ analogisiert. In genau diesem Kontext äußert Wittgenstein völlig passend sein tiefes Verständnis von Heideggers Sein und Zeit, und er bezieht sein eigenes Denken und Anrennen gegen die Grenze der Sprache und das Heideggers nicht nur auf den gemeinsamen Ahnherrn Kierkegaard, sondern noch weiter zurück auf Augustinus, der schrieb: Wehe denen die von Dir – von Gott – schweigen, wo schon die Redenden wie Stumme sind. Bei Wittgenstein heißt das: „Was du Mistviech du willst keinen Unsinn reden? Rede nur einen Unsinn, es macht nichts!“6 Drittens, neben der Unlösbarkeit des Transzendenzproblems und seiner praktischen Unabweisbarkeit ist wichtig, dass mit den Fundamentalunterscheidungen im Kontext des Transzendenzproblems seine Konstanz und Permanenz konstitutiv verklammert ist und bleibt. Je rigoroser wir den Dualismus von Transzendenz und Immanenz fassen, antithetisch, kontradiktorisch, desto unlöslicher wird der wechselseitige Bezug der unterschiedenen Ebenen. Hegel hat dies so formuliert: Eine Grenze denken heißt, sie überschreiten. Heidegger spricht vom Walten der Differenz. Wir können sagen: Auch bei Negation des Transzendenzbezugs bleibt der Bezug erhalten; formal-strukturell betrachtet bewegt sich die Leugnung absoluten Sinns, z. B. als emphatischer Nihilismus, auf derselben Ebene wie dessen emphatische Affirmation. Ja noch das Konstatieren der völlig profanen, säkularen Alltäglichkeit und Banalität der Spaß- und Konsumgesellschaft setzt untergründig etwas Anderes, das Andere, als heimlichen Bezug voraus, und wenn auch nur in der Negation, in der Abwesenheit. Die Spuren des Anderen sind überall – das Auslangen nach Transzendenz – in der Kindheit, in den Augen der Tiere, in der Natur, im Urlaub, in der Liebe, in der Kunst, in unfassbaren 6
Ludwig Wittgenstein, „Zu Heidegger“, in: Ludwig Wittgenstein und der Wiener Kreis: Gesprche, hg. v. Brian F. Mc Guinness, Frankfurt a.M. 1967, 68 f. Vgl. dazu: Thomas Rentsch, Heidegger und Wittgenstein. Existenzial- und Sprachanalysen zu den Grundlagen philosophischer Anthropologie, Stuttgart 1985, 22002 sowie ders., Negativitt und praktische Vernunft, Frankfurt a.M. 2000, v. a. 322 – 334.
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Augenblicken plötzlicher Sinneröffnung, aber vielfach in Langeweile, Resignation, stummer Melancholie oder Aggressivität. Wir werden also angesichts des Transzendenzbezugs vom Dualismus unweigerlich zur Dialektik der Transzendenz weitergetrieben. Ferner, durch die empirische, innerweltliche Kontextualität allen Transzendenzbezugs, sind wir mit den Kulturen der Transzendenz konfrontiert. Ohne diese kulturelle Kontextualität gibt es keinen solchen Bezug, und sei er noch so absolut und strukturell unmittelbar gedacht oder erfahren. Menschliche Kulturen bilden Paradigmen der Transzendenz aus, in denen sich die Dialektik der Transzendenz – mit Heidegger: das Walten der Differenz – geschichtlich entfaltet. Die Dialektik der Transzendenz führt mithin zur Hermeneutik dieser kulturellen Paradigmen. Bedeutende Paradigmen der Transzendenz sind z. B.: der ethische Monotheismus, der platonische Chorismos, der gnostische Dualismus, die christliche Tradition unter Einschluss der negativen Theologie und Mystik, ebenso Islam und Buddhismus. An diesen Paradigmen wird die konstitutive Verbindung von Negativität und Sinn auf mannigfache Weise deutlich. Ich sehe eine tiefgreifende Verbindung der Genese der okzidentalen Rationalität insbesondere mit den großen Traditionen der Negativität, die bei der Negation eines falschen Transzendenzverständnisses ja nicht stehen bleiben, sondern diese Negation unlöslich mit einer universalen, alle Menschen einschließenden praktischen, ethischen Sinneröffnung verklammern. Das Bilderverbot des ethischen Monotheismus erschließt auf erstmalige und einmalige Weise einen alles Innerweltliche transzendierenden Standpunkt. Die Rationalitätspotentiale dieses Transzendenzparadigmas erstrecken sich bis in die Moderne und unsere eigene Zukunft: angelegt ist hier die Perspektive der Einheit der Natur wie auch die der Einheit der theoretischen und praktischen Vernunft unter universalistischem Einschluss der gesamten Menschheit. Der egalitäre Universalismus ist Konsequenz eines radikalen und ineins praktisch verstandenen Transzendenzmodells. Ihm zur Seite steht auch das nach meinem Urteil religiös begründete Nichtwissen des Sokrates, des sowohl zur Freisetzung wissenschaftlicher Rationalität und Diskursivität als auch zur uneingeschränkten ethischen Achtung des Mitmenschen führt. Das Transzendenzmodell des Christentums mit Menschwerdung und Tod Gottes aus Liebe lehrt, die negativen Einsichten nicht resignativ oder nihilistisch zu verstehen, sondern in ihnen selbst Rettung und Befreiung konkret und definitiv gemeinsam zu erfahren und zu leben. Es sind diese Traditionen, die an der Basis der produktiven, längst nicht ausgeschöpften und im Übrigen auch nicht ausschöpfbaren Potentiale des ethischen Universa-
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lismus, der universellen Personalität und Menschenwürde, eines vertieften Freiheitsverständnisses und auch eines freigesetzten Verständnisses wissenschaftlicher Rationalität und humaner Weltgestaltung liegen. Warum, das lässt sich genau sagen: weil diese Traditionen recht verstanden, alle dogmatischen Wahrheitsansprüche unterminieren; weil sie es nicht gestatten, etwas anderes an die Stelle des kritisch-negativen Transzendenzmodells zu setzen, weil sie so kritisches Bewusstsein und Selbstbewusstsein allererst ermöglichen und geschichtlich – als Gestalten objektiven Geistes – erst ermöglicht haben. Die sprachkritische Reflexion auf Transzendenz führt zunächst zu negativen Sinnkriterien. Wir können und dürfen die Perspektive der Transzendenz, des Sinngrundes, nicht auf der Ebene üblicher Erfahrungen in der Welt, im Leben oder in der Sprache ansetzen. Entscheidend für das Verständnis des Bezuges von Transzendenz und Sprache ist daher die praktische Einsicht darin, dass das Missverstndnis und das Missverstndliche zum sprachlichen Vergegenwärtigen von Transzendenzaspekten unseres Welt- und Selbstverständnisses sinnkonstitutiv dazugehört. Zum authentischen sprachlichen Transzendenzbezug gehört also das Mitvergegenwärtigen der Missverständnisse. Derjenige sieht, um es mit Wittgenstein zu formulieren, die ,Welt‘ richtig, der ihren Sinn nicht auf einzelne Erfahrungen oder Eigenschaften bezieht, sondern sie als Einstellung, als Haltung zum Leben im Ganzen versteht, als Einstellung zur Welt im Ganzen, als Lebensform. Diese Wirklichkeit der existentiellen Gesamtorientierung ist eine Haltung zur Unverfügbarkeit der Welt, zur personalen Integrität, zum ganzen Leben der Anderen, zur eigenen und zur fremden individuellen Transzendenz. An den Paradigmen der Transzendenz wird deren Dialektik sichtbar. Sie sind umgeben von falschen Verständnissen, in gewisser Weise unsagbar, und die Sprachpraxis ist untrennbar und bedeutungskonstitutiv verbunden mit der gesamten Lebenspraxis. Das Irreduzible im emphatischen Wahrheitsanspruch religiöser Rede kann daher als praktischer Wahrheitsanspruch im Verbund mit einem transpragmatischen Lebensbezug bestimmt werden. Das heißt: die Sprache mit Transzendenzbezug bezieht sich so auf das ganze Leben der sie Sprechenden zurück, dass ihr Verständnis sich nicht auf theoretische Erkenntnis eingrenzen lässt. Ihr Verständnis ist konstitutiv mit der Lebenspraxis verbunden. Dieser holistische Bezug auf das Gesamtverständnis des Lebens und der Praxis, auf Grenze, Grund und Sinn der Welt ist andererseits dadurch gekennzeichnet, dass er noch die transpragmatischen Sinnbedingungen des Lebens in das Lebensverständnis einbezieht.
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Entscheidend für die philosophische Reflexion der strukturellen Transzendenz ist die Gleichursprünglichkeit der faktischen, der praktischen und der sprachlichen Grenzen der Welt und des Lebens in ihrem Zusammenspiel. Die Grenzen sind in ihrer faktischen Gegebenheit wie auch in ihrer Negativität und Entzogenheit sinnkonstitutiv – ohne sie gibt es kein menschliches Leben und ohne ihr Verständnis keine humane Welt. Der Ort der religiösen Praxis wie auch der philosophischen Sinngrenzreflexion lässt sich mithin als die gleichursprngliche Transzendenz der Welt, der Anderen, unserer Selbst und des eigenen Lebenssinnes sowie als die Transzendenz der Wahrheit und des Guten im emphatischen Sinn bezeichnen. Dass wir in diesen Transzendenzbezügen leben, ist uns einerseits völlig unverfügbar und entzogen, andererseits ist es auf unvordenkliche Weise für unser gesamtes Sein sinnkonstitutiv. Die Schnittstelle der Transzendenz für Religion, Theologie und Philosophie bildet sich aufgrund des systematischen Konnexes, der unlösbaren Verklammerung von Negativität und Sinnkonstitution. Was uns entzogen ist, bildet und eröffnet – das ist nämlich die negativ-praktische Grundeinsicht – allererst den endlichen Freiheitsspielraum praktischer Anerkennungsvollzüge der Transzendenz-Aspekte in der Immanenz einer humanen Welt.
4. Transzendenz und Sprache in der Religion Diejenige religiöse Sprache wird der Dialektik der Transzendenz gerecht, die die Einsicht in die unvordenkliche Gleichursprünglichkeit von Negativität und Sinn eröffnet. Religiöse Vernunft lässt sich somit bestimmen als ekstatische Vernunft angesichts der gleichursprünglichen Transzendenz-Aspekte. Die religiöse Lebenspraxis transformiert Transzendenz meditativ und kongregativ in bestimmte Formen praktischer Anerkennung. Die religiöse Sprache artikuliert paradigmatisch die unverfügbaren Sinnbedingungen unseres Lebens z. B. als Gnade und Heil. Sie will die unbestimmte Negativität der Sinnbedingungen kreativ in lebbare Praxis transformieren, z. B. in Glaube, Liebe, Hoffnung und Dankbarkeit. Religion, als ekstatische Vernunft begriffen, eröffnet so ein Leben im Bewusstsein der Unerklärlichkeit der Welt, der Unerkennbarkeit des Grundes unserer Erkenntnis- und Handlungsmöglichkeiten, im Bewusstsein der unableitbaren Sinnbedingungen von Ethik, endlicher Freiheit und Autonomie und im Bewusstsein der kommunikativen Transzendenz von Sprache als Möglichkeitsbedingung von Sinn. Ein
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solches Leben ist sich nicht entfremdet, sondern im Medium ekstatischer Vernunft vertraut mit den Sinnbedingungen seiner selbst. Aber: Die Dialektik der Transzendenz, ihre Negativität, bleibt stets erhalten. Hier eröffnet sich die ganze Dramatik des Bezuges von Transzendenz und Sprache. Wenn die Dialektik strukturell gegeben ist, dann besteht nicht nur die ständige Möglichkeit des Missverstndnisses religiöser Sprache, sondern es besteht die noch viel gefährlichere ständige Möglichkeit des pervertierenden Missbrauchs einer Rede, die eigentlich der Eröffnung des Sinns eines authentischen Transzendenzbezugs wie auch entsprechender Praxis dienen soll. („Gott hat es mir befohlen.“ – gesprochen von einem fundamentalistischen Terroristen nach einem Anschlag.) An dieser Stelle will ich auf meine These von der Sprache als Ort und Medium der Transzendenz zurückkommen. Ich will sie mit einem, so hoffe ich, erhellenden Gedankenexperiment verbinden, das die Philosophie Wittgensteins betrifft und letztlich auch auf ihn selbst zurückgeht. Wittgenstein hat in seiner frühen Sinnkritik eine radikale Grenzziehung vollzogen zwischen dem Sagbaren und dem Unsagbaren, zwischen dem, was sich sagen lässt – v. a. empirische Tatsachenbehauptungen – und dem, was sich nur zeigt. Aber der Tractatus vollzieht eine paradoxe Selbstaufhebung – seine eigene sprachkritische Grenzziehung ist nach den eigenen Sinnkriterien selbst unmöglich. Auf diese Weise aber – gleichsam mit einem mentalen Stockschlag – soll das Werk die richtige Sicht der Welt eröffnen. Hier, im Modell des Tractatus, ist in gewisser Hinsicht die Dialektik der Transzendenz auf eine letzte Spitze getrieben. Dadurch kommt sie, so scheint es, gewissermaßen „rein“, pur, kathartisch, in den Blick. So dachte der Verfasser. Wenden wir nun – und darin besteht mein Gedankenexperiment – die sinnkriteriale Betrachtung der Sptphilosophie Wittgensteins auf den Tractatus und einige seiner Kernsätze an. Im Tractatus heißt es: „Die Grenzen meiner Sprache bedeuten die Grenzen meiner Welt.“ (5.6) „Dass die Welt meine Welt ist, das zeigt sich darin, dass die Grenzen der Sprache […] die Grenzen meiner Welt bedeuten. Die Welt und das Leben sind eins.“ (5.62 f.) „Der Sinn der Welt muß außerhalb ihrer liegen.“ (6.41) „Gott offenbart sich nicht in der Welt.“ „Nicht wie die Welt ist, ist das Mystische, sondern dass sie ist.“ (6.44) „Es gibt allerdings Unaussprechliches. Dies zeigt sich, es ist das Mystische.“ (6.522) In diesen Sätzen spricht Wittgenstein von dem, was wir als strukturelle Transzendenz bezeichnet haben. Diese Sätze waren und sind – entgegen dem Sinnkriterium des Tractatus – verständlich. Wittgenstein
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kann über Gott, den Sinn der Welt und die Grenzen des Lebens sowie über das Mystische und Unaussprechliche selbst sprechen und wurde verstanden, gerade mit diesen Passagen seines frühen Hauptwerkes. Denn: Diese Sätze haben und hatten einen Gebrauch. Sie haben ihre Kontexte, ihre – selbst voraussetzungsreichen, komplexen – Sinnbedingungen und Verwendungsregeln. Diese sind geschichtlich situiert und auf Lebensformen und Lebenspraxis bezogen. Das ist es also, wohin uns ein durch Sprachkritik nochmals radikalisiertes Transzendenzverständnis führt. Zurück auf den rauhen Boden der religiösen Praxis, in die alte Stadt der religiösen Traditionen mit einigen neu angebauten Stadtteilen und Gebäuden.7 Letztlich führt uns gerade die nochmalige Radikalisierung der Sinnkritik, das ist meine Abschlussthese, recht verstanden, zur berwindung eines transzendenten Transzendenzverstndnisses: Die sprachkritisch radikalisierte Dialektik der Transzendenz lenkt unseren Blick gerade auf die Formen der sprachlichen Vermittlung religiöser Einsichten mit ihrer irreduziblen Grammatik, damit auf die Formen der mit ihnen verbundenen intersubjektiven Vermittlung, die pragmatisch und lebenspraktisch eingebettet sein muss, und damit auch auf die zeitliche, geschichtliche und kulturelle Vermittlung. Die Radikalisierung Kants gibt mit Wittgenstein Hegel recht. Mit dieser sinnkritischen Bewegung beginnt für die Philosophie erneut die hermeneutisch-reflexive Aneignung der Rationalitätspotentiale der gesamten religiösen Tradition. Die These lautet also: Gerade die sprachkritisch radikalisierte Dialektik der Transzendenz führt religionsphilosophisch zu einer kritischen Hermeneutik religiöser Rede und Praxis. Sie führt zur Rückbindung an und Einbettung dieser Rede und Praxis in kommunikative Lebensformen. Eine analoge, spätwittgensteinsche Transformation radikalisierter Dialektik der Transzendenz betrifft nach dem Gesagten im Übrigen auch Kierkegaards Existenzdialektik und die Dialektische Theologie: Selbst die radikalisierteste Artikulation des Transzendenzbezuges und seiner gleichzeitigen Unmöglichkeit und unbedingten Notwendigkeit führt zurück in die sozialen, kommunikativen und lebenspraktischen Kontexte, in denen dieser Bezug seinen Sitz hat. Kurz: Auch das Unsagbare, das Paradoxon, hat seinen spezifischen Praxiskontext und seine unverzichtbaren Sinnbedingungen. Das gilt im Übrigen auch für die großen neuplatonischen, mystischen und negativ-theologischen Paradigmen der Unsagbarkeit z. B. von Plotin und Pseudo-Dionysios. Und es ist sehr bezeichnend, dass für Proklos gerade aus der Unsagbarkeit des Einen die 7
Vgl. Ludwig Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen §§ 18 und 107.
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Notwendigkeit von Sprache folgt: dass nämlich Sprache im Schweigen, in der Unsagbarkeit des Einen, gründet. Aufgrund dieser Einsicht können wir heute sprachkritisch die intrinsische Authentizität religiöser Sprache deutlicher erfassen und so erkennen, dass und wie sie die transpragmatischen Sinnbedingungen unserer Praxis artikuliert. Wir können erkennen, dass und wie die religiöse Rede gerade durch ihre Form, durch ihre Grammatik und ihren Sitz in der Praxis direkt oder indirekt die Dialektik der Transzendenz wie auch ihr eigenes „Anrennen gegen die Grenzen“ mit artikuliert. Dies geschieht christlich z. B. liturgisch, sakramental, meditativ oder kongregativ in der Praxis von Bekenntnis und Gebet. Der authentische Gebrauch der Sprache im Kernbereich von Religionen ist daher durch einen genuinen, irreduziblen Wahrheits- und Geltungsanspruch konstituiert. Sätze wie „Jesus lebt“, „Christus ist für uns gestorben“ – ich nehme mir vertraute Beispiele – setzen einerseits ein komplexes, geschichtliches Überlieferungsgeschehen voraus. Andererseits ist ihre ernsthafte, einsichtige Verwendung mit praktischen Einsichten dessen verwoben, der die Sätze verwendet, mit Einsichten, die sich letztlich auf seine Lebensform insgesamt beziehen. Eine Verwechslung des Status solcher Sätze wie „Jesus lebt“ oder „Christus ist auferstanden“ mit Sätzen der Art: „Herr Schulze lebt“ oder „Herr Meier ist gerade aufgestanden“ wäre naiv; ebenso, wie wenn auf den Satz „Gottes Auge sieht alles“ die Frage käme, ob Gott auch Augenbrauen hat (Wittgenstein). Ein simples empirisches Verständnis im Sinn von trivialen Tatsachenfeststellungen ist hier völlig verfehlt. Dennoch bleibt der Wahrheitsanspruch solcher Sätze zweifellos erhalten. Man hat ihn deshalb subjektiv, psychologisch, emotiv, einstellungsbezogen, zu rekonstruieren versucht. Auch diese Rekonstruktion bleibt zutiefst unbefriedigend. Der sie Äußernde artikuliert zwar seine existentielle Einstellung, seine religiöse Überzeugung mit solchen Sätzen, aber er würde nicht der Analyse zustimmen, dass ihre Wahrheit auf die Wahrhaftigkeit seiner Einstellung reduzierbar oder auf sie zurückführbar sei. Die Lebensbedeutung der Sätze, die Tatsache, dass sie zur Lebensorientierung dienen, gründet in ihrer von subjektiven Existenzhaltungen unabhngigen und so objektiven Wahrheit. Ebenso sind fiktional-bildhafte, hypothetische bzw. postulatorische Rekonstruktionen in ihren vielerlei Gestalten seit Kant m. E. unangemessen. Wenn Christen vom Rettungs- und Erlösungswerk Gottes durch Jesus Christus sprechen, wenn sie von Gott als dem Schöpfer sprechen, dann tun sie nicht so, als ob es Gott gäbe, und sie stellen sich nicht ein Erlösungsmodell bloß vor. Eher trifft auf den Status solcher Rede der Terminus ens realissimum zu, und die Glaubenssprache
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und -praxis geht von der Wirklichkeit des Heils, von dem wirklichen Heilshandeln aus. Bezogen auf geläufige funktionale Rekonstruktionen der religiösen Lebensformen etwa im Bereich der Soziologie heißt das: Für die Glaubenden sind ihre religiösen Orientierungen nicht wahr, weil sie funktionieren, sondern sie funktionieren, weil sie wahr sind. Die kritisch-hermeneutische, philosophische Rekonstruktion der intrinsischen Authentizität religiöser Sprache konfrontiert uns daher erneut mit dem, was ich die Dialektik der Transzendenz genannt habe, und zwar auf zweierlei Weise: Einerseits so, dass sich die Frage nach der Angemessenheit der philosophischen Metasprache zur Rekonstruktion der religiösen Sprache stellt. Wie steht der geschichtliche religiöse Diskurs mit seinen Wahrheitsansprüchen zu allgemeinen Wahrheitsansprüchen philosophischer Rationalität? Und ferner, da es viele Religionen gibt – wie verhalten sich deren divergierende Wahrheitsansprche ihrerseits zueinander? Lässt sich philosophisch eine ekstatische Vernunft konzipieren, die die religiösen Sinntraditionen in ihrem authentischen Wahrheitsanspruch ernstnimmt, ohne sie von außen zu usurpieren, ohne sie aber auch einem ratlosen postmodernen Relativismus zu überlassen? Das eine große Modell ist das Hegels, das weltgeschichtlich euro- und christozentrisch, auf grandiose Weise monologisch bleibt. Das andere Modell ist das eines verschärften Sprachspielrelativismus, einer Dogmatisierung kultureller Differenzen – Modell eines Subjektivismus und Monologismus mit eben mehreren Groß-Subjekten und Monologen – das des sogenannten Fideismus. Beide Wege sind falsch, weil sie die Offenheit der Sprache, die Offenheit der Religionsgeschichte und die Offenheit der Vernunftgeschichte verkennen und verfehlen. Wenn aber Sprache Ort und Medium von Transzendenz ist, Ort unseres Transzendierens, dann ist sie konstitutiv verklammert mit Freiheit, mit der befreienden Überwindung der Monologe und Subjektivismen. Es gilt daher für die Philosophie des 21. Jahrhunderts, sich die Rationalitätspotentiale der religiösen Sinntraditionen aktiv neu zu erschließen und anzueignen, ebenso für die Religionen, sich der philosophischen Sinngrenzreflexion mit ihrer Dialektik und Aporetik zu stellen. Ziel muss eine umfassende Neubestimmung von Transzendenz sein. In der Perspektive eines solchen Projekts läge die Freilegung der Tiefenstruktur religiöser, ekstatischer Vernunft und der für sie unverzichtbaren Sprache. Auf diese Weise können wir uns selbst besser erkennen als Ort und Medium der Transzendenz und vielleicht besser heimisch werden in der Dialektik der Transzendenz – philosophisch, religiös und in aller Alltäglichkeit.
Unmöglichkeit und lebensweltliche Sinnkonstitution. Aspekte einer negativen Existentialpragmatik 1 Um das Urphänomen der lebensweltlichen Sinnkonstitution zu erreichen und zu erhellen und um die mit ihm verbundenen Einzelphänomene in ihrer inneren Komplexität genau zu erfassen, ist der Blick auf das Unmögliche zentral und unverzichtbar – das ist die These. Kant fragt: Was kann ich wissen? Was soll ich tun? Was darf ich hoffen? Was ist der Mensch? Betrachtet man die kritische Transzendentalphilosophie näher, so lässt sie sich viel besser als Versuch der Beantwortung der folgenden Fragen verstehen: Was kann ich definitiv nicht wissen? Was kann und soll ich nicht tun? Was kann ich nicht hoffen? Was ist der Mensch jedenfalls nicht? Denn die kritische Philosophie Kants ist das Unternehmen einer Grenzziehung. Das Hauptwerk heißt nicht „Die reine Vernunft“, sondern bekanntlich „Kritik der reinen Vernunft“. Es enthält Sinngrenzanalysen, die in der transzendentalen Dialektik gipfeln. Die Struktur der Negativität, die die transzendentale Dialektik konstituiert, weist auf die Einsicht Hegels, eine Grenze zu denken, heiße, diese zu überschreiten. Sie weist auf die Einsicht, die Heidegger dem griechischen Ursprung der Philosophie zuschreibt: Eine Grenze sei nicht das, wobei etwas aufhört, sondern das, von woher etwas sein Wesen beginnt. Im Zentrum der okzidentalen Rationalität lässt sich die Einsicht in uns, endlich-freien Vernunft- und Naturwesen, Unmögliches, verorten. Das Sokratische Nichtwissen, das Bilderverbot des ethischen Monotheismus und die negative Theologie des Neuplatonismus sind die Urstiftungen der europäischen Vernunftgeschichte, die nous und episteme, intellectus und ratio, Vernunft und Verstand unterscheiden und nur so zusammen denken können. Auf diese Weise lässt sich das Verhältnis von Metaphysik und Wissenschaft, von Transzendenz und Immanenz kritisch und dialektisch denken. Die je eine Perspektive ist undenkbar und unerkennbar ohne die andere; ohne die andere ihrer selbst. Mit Cusanus formuliert: Die horizontale Gerichtetheit der diskursiven Rationalität wird sichtbar von der intellektuellen docta ignorantia aus; die vertikale Gerichtetheit des gelehrten Nichtwissens wird sichtbar von der Dis-
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kursivität her. Der Mensch ist die ekstatische Schnittstelle dieser Richtungen. Der Fortschritt in der Philosophie der Moderne sieht genau deswegen größer aus als er eigentlich ist, wie Wittgenstein Nestroy zitiert, als er in keiner quantitativen oder iterativen Größe, in keiner Zunahme an empirischem Wissen welcher Art auch immer bestehen kann. Er kann, recht verstanden, nur in einer Vertiefung kritischer Sinngrenzanalysen und der mit ihnen verbundenen, vor allem negativ-praktischen Einsichten bestehen. Darum sagt Wittgenstein, der Geist seiner Texte sei ein anderer als der der heute herrschenden westlichen Zivilisation: Während diese immer größere äußerliche und letztlich oberflächliche Strukturen auf allen Ebenen errichtet, will dieser immer nur dableiben und immer dasselbe – immer tiefer – erkennen. Es wäre auf diesem Hintergrund daher gänzlich verfehlt, die geschichtliche Entwicklung der Aufklärung und der Moderne in der Philosophie einseitig, eindimensional und undialektisch in einer Linie von Marx, Nietzsche und Freud allein anzusetzen. In der Konsequenz der okzidentalen Rationalitätsgeschichte vertiefen und radikalisieren diese die – für die humane Vernunftkultur unverzichtbare – kritische Einsicht in die menschliche Naturabhängigkeit und die mannigfache Bedingtheit der menschlichen Praxis. Politische Ökonomie, Anthropologie der Leiblichkeit und Psychoanalyse entwickeln als kritische Tiefenhermeneutik negativ-praktische Einsichten weiter, die nur zu Unrecht als Kränkungen bezeichnet werden. Vielmehr sind Einsichten in konstitutive Abhängigkeiten, in Entfremdungsprozesse von Menschen als leiblich-endlichen Naturwesen, die mit Liebe, Angst und Tod konfrontiert sind, in ihrem Kern befreiend. Desillusionierung ist keine Kränkung, sondern lebenssinnkonstitutiv. Erst der Umschlag der Ansätze von Marx, Nietzsche und Freud in positivistische, quasi-szientifische Theorien machte und macht sie selbst zu zerstörenden Ideologien. Gleichwohl ist diese Aufklärungstradition der Moderne für sich genommen einseitig, wenn wir nicht die Linie mit- und weiterdenken, die durch die Namen Heidegger, Wittgenstein, Benjamin, Adorno, Horkheimer und Derrida angezeigt werden kann. Denn hier vollzieht sich eine Radikalisierung der philosophischen Sinngrenzanalysen, die ganz eng mit der Erkenntnis von Unmöglichkeit verbunden ist, mit der Erfahrung der Grenzen des endlichen, sterblichen Lebens, der Grenzen der gesellschaftlich vermittelten Form der Erkenntnis sowie der Grenzen der Sprache und des Verstehens. Dieser Prozess der Moderne lässt sich als Vertiefung und Radikalisierung der Vernunftkritik begreifen. Diese
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Vertiefung vollzieht sich als Ontologiekritik und Sprachkritik bei Heidegger, als Gesellschafts- und Ideologiekritik in der klassischen kritischen Theorie, als Sprachkritik bei Wittgenstein und Derrida. Die Vertiefung vollzieht sich als immer genauere Freilegung von Irrtümern, Verdeckungen und Verstellungen, in die uns das Verkennen dessen, was wir nicht können, im Denken und Handeln, theoretisch wie praktisch, ideologisch, theoriegeschichtlich wie politisch führt.
2 Ich möchte im Folgenden zeigen, wie sich die genannten Ansätze heute in der Form einer negativen Existentialpragmatik bzw. Interexistentialpragmatik sowie einer negativ-sprachkritischen Hermeneutik fortführen lassen, in einer negativen Anthropologie und Sprachphilosophie.1 Bei dieser methodischen Zugangsweise wird erneut sichtbar, dass Strukturen der Negativität, der Nichtigkeit für die lebensweltliche Sinnkonstitution viel wichtiger sind, als vielfach bislang angenommen. (Das gilt nicht für die Traditionen der negativen Philosophie, die ich anfangs erwähnte. Daher ergibt sich für die späte, vertiefte Moderne, die man auch Ultramoderne nennen könnte, weil sie über ihre eigenen Grenzen und Bedingungen aufgeklärt ist, eine erneute Verbindungsmöglichkeit mit Paradigmen der Metaphysik, der Theologie, der Mystik und der kritischen Transzendenzreflexion.) Wesentliche Formen der menschlichen Selbstverfehlung entspringen dem Verkennen der Grenzen des Lebens und der Praxis. Sie entspringen dem Verkennen des Unmöglichen. Das Unmögliche, das hier gemeint ist, ist prinzipieller Natur. Es betrifft und konstituiert (ex negativo) alle menschlichen Handlungsmöglichkeiten. Wir müssen unterscheiden zwischen relativen pragmatischen Unmöglichkeiten (Ich kann nicht Japanisch; Ich kann kein Flugzeug steuern) und unbedingten, absoluten Handlungsunmöglichkeiten, die gleichzeitig, als Bedingungen der Unmöglichkeit, auch Sinnkonstitutionsbedingungen einer menschlichen Welt sind.
1
Vgl. dazu: Thomas Rentsch, Die Konstitution der Moralitt. Transzendentale Anthropologie und praktische Philosophie, Frankfurt a.M. 21999; ders.: Negativitt und praktische Vernunft, Frankfurt a.M. 2000.
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Ich kann nicht an zwei Orten zugleich sein. Ich kann in der Zeit nicht zurückgehen. Ich muss immer in der Gegenwart sein. Ich muss immer in einer räumlich-konkreten Wirklichkeit sein. Die Wirklichkeit ist unumstößlich. Ich kann meinen Leib nicht verlassen. Ich kann nicht in der Zukunft leben. Ich muss schließlich (unbegründet) handeln. Ich muss immer etwas tun. Ich bin ich. Ich bin nicht du. Ich kann nicht an der Stelle des Anderen sein. Diese Beispielsätze einer von mir so genannten Existentialen Grammatik sind zum einen grammatische Sätze im Sinne Wittgensteins. Sie artikulieren Bedingungen der Möglichkeit unserer Sprach- und Lebenspraxis. Sie beziehen sich somit zum anderen auf die Form unseres Lebens, mit Heidegger, auf die existentiale Konstitution. Es sind synthetisch-apriorische Sätze einer transzendentalen Anthropologie. Man hat meine Untersuchungen zur transzendentalen Anthropologie auf eine oberflächliche Weise kritisiert, denn sie würden ja die befürchteten „anthropologischen Konstanten“ zugrunde legen. Das Gegenteil ist der Fall. Diese existentiale Grammatik ist in hohem Maße kulturabhängig und sprachgebunden und dennoch in höchstem Maße kulturinvariant. (Man könnte sagen: Es bedurfte vieler Jahrtausende, zu begreifen, was es heißt, dass ich ich bin.) Kulturen, die magische Bilokationen annehmen, folgen z. B. einer anderen Grammatik, ebenso solche, die eine Verwandlung von Menschen in Tiergestalt denken und praktizieren. Die synthetischapriorische Konstitution hat weder eine naturalistische noch eine idealistische Basis, sondern ist eine Kulturleistung, die aus der Dialektik von sprachlichem und nicht-sprachlichem Handeln in unserer konkreten geschichtlichen Praxis erwächst. Eine vorhandenheitsontologische oder vorhandenheitssemantische Vorstellung von der synthetisch-apriorischen bzw. existential-grammatischen Konstitution der humanen Welt ist daher hochgradig verfehlt. (Historisch bin ich der Auffassung, dass Hegel Kant in diesem Punkt am besten verstanden und die transzendentale Dialektik deswegen von der statischen Vertikale in die genetisch-horizontale Prozessualität transformiert und genau deswegen auch als Fortschritt im Bewusstsein der Freiheit begriffen hat.)
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Wenn wir diese Analyse einer negativen Interexistentialpragmatik zum Ausgangspunkt nehmen, so lassen sich weitere Konstitutionsfeststellungen treffen, die die Unmçglichkeitsbedingungen lebensweltlicher Sinnkonstitution aufzeigen. Sie betreffen die Form bzw. die Grammatik unseres Lebens (unserer Praxis). Die erste Unmöglichkeitsbedingung ist durch den Satz von der Grundlosigkeit unseres Handelns formulierbar. Dieser Satz besagt keineswegs etwas Irrationales, Subjektivistisches oder Beliebiges. Im Gegenteil! Er besagt, dass wir letztlich hinter unser Handeln nicht zurückgehen können. Dass wir handeln, sprechen und denken können, das können wir nicht noch einmal erklären oder begründen – weder naturalistisch noch idealistisch. Denn alles Erklären und Begründen setzt bereits voraus, dass wir sinnvoll und verständig handeln können. Es lässt sich kein vorhandener, vergegenständlichbarer „Grund“ unseres Handelns feststellen, keine positivierbare Basis, auch kein „Kern des Ich“. Hinter unser Handeln können wir weder pragmatisch noch reflexiv zurückgehen in einen ontologisch separaten Bereich. Diese Unmöglichkeit weist auf das, was Kant als Spontaneität bezeichnet. Sie weist auch auf das, was Pothast die Unzulänglichkeit der Freiheitsbeweise genannt hat.2 Im Rahmen einer negativen Anthropologie der Freiheit können wir sagen, dass wir uns nicht noch einmal gegenständlich-prädikativ einholen können. Diese Uneinholbarkeit unserer selbst analysiert Heidegger formal-temporal als ekstatisches Sich-vor-weg-sein, Ryle spricht von der „systematic elusiveness of I“.3 Die Analyse des Regelfolgens bei Wittgenstein zeigt ebenfalls diese sinnkonstitutive Uneinholbarkeit auf, die schon Kant meint, wenn er bemerkt, es gäbe keine Regel der Regel. Diese Einsicht – eine negativ-praktische Einsicht – ist in Wahrheit befreiend: Wir stehen unter dem Schutz der Negativitt, den aus prinzipiellen Gründen kein Modell der Neurobiologie und kein Computermodell des Geistes durchbrechen kann. Die zweite Unmöglichkeitsbedingung nennt der Satz von der Unmçglichkeit, die einzigartige Ganzheit unseres Lebens zu vergegenstndlichen. Dies schließt die traditionelle negativ-praktische Einsicht von der Unsagbarkeit des Individuellen ein: Individuum est ineffabile. Unser Leben ist eine einzigartige Ganzheit. Aber worin diese besteht, lässt sich durch keine weitere Eigenschaft oder eine Summe von Eigenschaften positiv bestimmen. Wir selbst sind keine gegenständliche Realität. Identifizieren 2 3
Vgl. Ulrich Pothast, Die Unzulnglichkeit der Freiheitsbeweise, Frankfurt a.M. 1980. Gilbert Ryle, Der Begriff des Geistes, Stuttgart 1969, 264 – 269.
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wir uns mit etwas in der Welt ganz und gar, so haben wir es mit pathologischen Phänomenen zu tun. Die Tradition isolierte substanz-ontologisch ein Ich als separate Entität, different von aller Welt. Die negativkritische Analyse muss es vermeiden, ein Ich als welttranszendentales Quasi-Ding vorzustellen. Sprachkritisch können wir sagen: Hinter die Möglichkeit, in einzigartigen Lebenssituationen zu sprechen und zu handeln, das Wort „ich“ verständlich zu gebrauchen, können wir nicht zurückgehen. Die einzigartige Ganzheit jedes Augenblicks der Gegenwart ist unfassbar, unvorstellbar. Dass die Welt meine Welt ist – in jedem unsagbaren Augenblick – gehört zum Sinn unseres Menschseins. Aber diese Dimension ist durch nichts in der Welt charakterisierbar, und auch durch nichts außerhalb der Welt. Die Entzogenheit und Eigenschaftslosigkeit unserer selbst erscheint von der empirischen, vergegenständlichten Realität aus, die prädikativ erfassbar ist, wie nichts. Wir berühren mit diesem zweiten Grundsatz eine Thematik, die ebenso unter dem Titel der transzendentalen Subjektivitt, als auch unter den Titeln Personalitt und Individualitt behandelt wurde. Die Negativität des Grundes im Bewusstsein zu begreifen, hat ebenso Anschluss an Traditionen der rationalen Mystik. Die Negativität dieser Dimension, die Unmöglichkeit, sie positiv zu erfassen, war stets mehr oder weniger bewusst. Sie hat Anschluss an die Thematik der Freiheit und der Würde, deren positive Explikation stets problematisch blieb. In einem dritten Grundsatz können wir die sinnkonstitutive Entzogenheit der Mitmenschen bzw. die interexistentielle Unverfgbarkeit feststellen. Die Uneinholbarkeit darf nicht subjektivistisch enggeführt werden, sondern konstituiert allererst in Sprache und Praxis unser gemeinsames Leben. Der Schutz der Negativität ermöglicht wechselseitige normale und authentische Verhältnisse. Wenn wir uns etwas versprechen, so wird dies dadurch ermöglicht, dass keine instrumentelle Beherrschbarkeit des Verhältnisses besteht. Ohne sich auf Andere verlassen zu können, ohne ein Sich-Einlassen auf garantielose Praxis kommt auf Dauer keine gemeinsame Praxis zustande. Die Tradition unterschied die securitas im Sinne technisch-instrumenteller Gesichertheit von der für kommunikative Verhältnisse zentralen certitudo, der gewissmachenden Gewissheit. Sie ist konstitutiv für Glaube, Liebe und Hoffnung, für konstitutive Interexistentiale der menschlichen Welt. Der Grundsatz von der interexistentiellen Unverfügbarkeit lässt sich auch als Satz von der Unmöglichkeit der technischen Sicherung interpersonaler Verhältnisse formulieren. Wieder zeigt sich: Was wir nicht kçnnen, ermçglicht gerade lebensweltlichen Sinn – auch und gerade in aller Alltglichkeit. Hannah Arendt hat in ihrem Hauptwerk
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„Vita activa“ (§33) darauf hingewiesen, dass unsere ganze moralische Welt auf Verzeihen und Vergeben beruhe und dass diese Einsicht einzig in den Lehren Jesu eine zentrale Stellung einnehme, in der Philosophie hingegen kaum bewusst sei. In der Gegenwart und unter dem Eindruck des interkulturellen Globalisierungsprozesses wird die interexistentielle Unverfügbarkeit oft auf oberflächliche Weise im Blick auf fremde Kulturen und andersartige Lebensformen festgestellt und lediglich im Sinne eines kulturellen Relativismus behauptet. Alterität wird positiv als sozialpsychologisches Phänomen gefasst. Auf diese Weise begeht man, recht verstanden, einen zweifachen Kategorienfehler. Erstens entwickelt man nur einen verfehlten Subjektivismus großen Stils, einen Makrosubjektivismus der Kulturen, die dann wie Käfige erscheinen, was sie nicht sind. Sie sind durchlässig – in jeder Hinsicht. Zweitens verfehlt man die interexistentielle Ferne, Fremdheit und Entzogenheit, die in Wirklichkeit bereits unsere nächsten Verhältnisse in ihrer Tiefe konstituiert, ermöglicht und prägt, ja sogar unser eigenes Selbstverhältnis. Denn: Wer war ich als Dreijähriger, wer als Zehnjähriger, wer als Abiturient? Wenige Spuren können mir ein wenig von der damaligen Zeit indirekt erschließen – aber die unendlich konkrete Erfahrung der Gegenwart ist als solche unverfügbar und unwiederbringlich und gerade so gegenwärtig. Mehr noch: Interexistentiell gilt die negativ praktische Einsicht: Die Meisten sind immer abwesend. Entweder sind sie nicht da, oder schon gestorben, oder noch nicht geboren. Die Existenzform der meisten Menschen ist daher nicht das Da-Sein, wie Heidegger sagt, sondern das Weg-Sein. Dieses Weg-Sein hat die Form der Abwesenheit. Die Toten und die noch nicht Geborenen können nichts mehr bzw. noch nichts sagen. Sie können sich nicht wehren. Sie gehören als Horizont der Unmöglichkeit auf eminente Weise zur Sinnkonstitution: denn in diesem Horizont konstituiert sich die Menschheit. Die drei bisher entwickelten Grundsätze von der Grundlosigkeit des Handelns, von der Unmöglichkeit der Vergegenständlichung des einzigartigen Lebens sowie von der interexistentiellen Unverfügbarkeit und der Abwesenheit der Meisten nennen in einem ersten Schritt Unmöglichkeitsbedingungen lebensweltlicher Sinnkonstitution, wie sie eine negative Interexistentialpragmatik aufweisen kann.
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3 In einem zweiten Schritt will ich die Unmöglichkeitsanalyse phänomenologisch, dialektisch, hermeneutisch und sprachkritisch vertiefen und radikalisieren. Strukturell entspricht dieser Schritt dem von Kant zu Hegel. Wir wiederholen diese systematische Prozessualisierung der statisch-synchronen Konstitutionsanalyse und ihre Transformation in eine dynamisch-diachrone Perspektive nach den Leistungen der Philosophie des 20. Jahrhunderts. Eine umfassende Unmöglichkeitsanalyse muss neben der Naturabhängigkeit der menschlichen Kultur die Grundzüge der Unwiederbringlichkeit in der Interexistenz, der Unumkehrbarkeit der sterblichen Lebensbewegung, der Unvermeidlichkeit der zukünftigen Situationen, der Endgltigkeit, der Irreversibilitt des Geschehens der Wirklichkeit, der Unvordenklichkeit der Anfänge sinnhaften und bewussten Lebens und der Unvorhersehbarkeit seines Endens einbeziehen und interkorrelieren. Diese Interkorrelation ist nötig, weil die genannten Grundzüge alle gleichursprünglich sind, so, wie auch die drei Grundsätze gleichermaßen gelten. Gleichursprünglichkeit besagt methodisch: Die lebensweltlich sinnkonstitutiven Grundzüge, Aspekte sind unableitbar von einander, sie sind irreduzibel auf einander, und sie sind nur gemeinsam mit einander und durcheinander verstehbar. Die Analysen weisen daher in die Richtung eines qualitativen Holismus der kulturellen Lebenswelt, den wir paradigmatisch ebenso wie strukturell-modellhaft entfalten können. Als Sinngrenzanalyse hat diese Betrachtungsweise den Status traditioneller Philosophie und Metaphysik, weil sie ihre Grenzen negativ-kritisch in die Reflexion einbezieht. Um die Perspektive des qualitativen Holismus in unserer Analyse zu erreichen, genügt ein Blick auf unsere räumlich-zeitliche, leiblich-soziale und kommunikative Lebenssituation, auf unsere konkrete Gegenwart. Ich verstehe diese Situation als ganze, als Vortragssituation hier in Zürich. Dieses Verstehen ist irreduzibel ganzheitlich, holistisch, konstituiert durch einen unthematischen Hintergrund, der meine Erfahrung mit Hilfe passiver Synthesen gleichsam stiftet, lenkt und trägt. Der Hintergrund, wie ihn Husserl und gegenwärtig z. B. Taylor analysieren, ist unthematisch wie sinnkonstitutiv und auch kulturell, sozial, geschichtlich vorkonstituiert, im Übrigen auch individuell: da ich z. B. von 1979 bis 1982 in Zürich und auch hier in diesem Raum studiert habe, gehen in die Verstehenssituation auch persönliche Aspekte auf besondere Weise ein. Entscheidend ist nun für unsere Frage nach der lebensweltlichen Sinnkonstitution: Es erfolgt eine Horizontbildung, so Husserl, im Medium vorgängiger Erschlossenheit, so
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Heidegger, und diese Horizontbildung ist passiv und unthematisch, sie hat die Struktur einer Vollzugsnotwendigkeit. Ich komme nicht umhin – anders gesagt: Es ist mir unmçglich – die Horizontbildung nicht gemäß dem mir Bekannten und von mir Gelernten zu vollziehen. Die Horizontvorzeichnungsvollzugsnotwendigkeit ist passiv, hat mithin viele unbewusste Aspekte. (Mir scheint es von Bedeutung, dass Husserl und Freud zur selben Zeit in Wien die Vorlesungen Franz Brentanos hörten, der solche Analysen als erster exemplarisch subtil durchführte.) 4 Wir brauchen nicht bei der bewusstseinsphilosophischen Fassung der Analyse von der passiven Horizontvorzeichnung stehen zu bleiben; es ist klar, dass diese mit der sprachlichen Erschlossenheit lebensweltlicher Situationen aufs Engste verwoben ist – übrigens auch mit der leiblichen Erschlossenheit, auf die ich aus Zeitgründen nicht eingehen kann. Bereits, wenn ich einen Gegenstand thematisiere, bildet sich unweigerlich ein unthematisches Feld von Bedeutungen, ein Hof, würde Husserl sagen, eine Umgebung, die praktisch vorgängig erschlossen ist. Für unsere Analyse ist wichtig, dass die situative Horizontvorzeichnung einen unabschließbaren, offenen Charakter hat. Würde ich auch nur versuchen, den sinnkonstitutiven und unthematischen Hintergrund einer konkreten Lebenssituation zu explizieren, ich würde nie an ein Ende kommen. Es ist unmçglich, auch nur einen Aspekt der Wirklichkeit, nur einen Apfel, nur einen Augenblick, zur Gänze zu erfassen, zu beschreiben, zu erkennen. Individuum est ineffabile. (Inwieweit dies schon für die ousia-Konzeption der Aristotelischen Metaphysik gilt, wäre spannend zu erforschen und zu diskutieren.) Die Wirklichkeit ist, mit Hegel gesprochen, intern unendlich, sie gibt sich in jedem Augenblick in unendlicher Konkretion. Die Unmöglichkeit, diese innere, wahre Unendlichkeit zu objektivieren, zu erfassen, zu erschöpfen, ist im Übrigen Anschlussbedingung für ästhetische, ethische, religiöse und mystische Erfahrung und Gestaltung. Das Unmögliche hat auch hier wieder sinnkonstitutive, sinneröffnende Bedeutung. Seine Kehrseite ist die freie Eröffnung von Sinnpotentialen, von Fortsetzungsmöglichkeiten, von Perspektiven. Denken wir an die vielen Möglichkeiten, einen Apfel zu malen; an den vielen Weisen, auf die Monet Seerosen malte, an die Weisen, auf die Vermeer das Licht malte. 4
Vgl. zum Folgenden: Thomas Rentsch, „Zeit, Sprache, Transzendenz – phänomenologische Analysen zu den Grenzen und zum Sinngrund menschlicher Praxis“, in diesem Band.
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Die Unerschöpflichkeit des unthematischen Hintergrunds der passiven Horizonteröffnung – die sich im Übrigen im Traum und in Gedankenbewegungen, in Einfällen und Anamnesen fortsetzt – ist die irreduzible Füllequalität der konkreten Alltäglichkeit der Lebenswelt. Zentral ist nun für die passive Horizontbildung ihre ekstatisch-temporale Form, über deren Vorzeichnungsvollzugsnotwendigkeit wir nicht verfügen. Ohne die passive, ekstatische Horizonteröffnung wäre Erfahrung nicht möglich. Es ist uns unmöglich, etwas zu erfahren, ohne dass die Zeitekstasen der Zukünftigkeit, der Gewesenheit und des Gegenwärtigen gleichursprünglich horizontkonstitutiv fungierten. Ebenso ist konkrete Erfahrung unmöglich ohne futurische Sinnantizipation, ohne die vorgängige passive Intentionalität. Ferner ist die ganze, ekstatisch-gleichursprüngliche Zeitform der lebensweltlichen Zeitigung der Zeitlichkeit für uns unhintergehbar – im Übrigen gleichursprünglich mit der leiblichen Verräumlichung und der interexistentiellen Vergemeinschaftung, die sprechend und handelnd erfolgt. Wenn wir die Zeitanalyse mit der Sprachanalyse (und mit der Leibanalyse) verbinden, dann lässt sich die Struktur lebensweltlicher Sinnkonstitution noch genauer herausarbeiten. Die gesamte menschliche Orientierungspraxis ist ekstatisch-zeitlich konstituiert, ebenso die Sprachpraxis. Der späte Wittgenstein hat in seinen Analysen zum Regelfolgen die zeitliche Struktur der Sprachpraxis besonders deutlich erfasst.5 Bedeutungskonstitution gibt es nur durch Wiederholung: Indem ich ein Wort, einen Satz mehrfach verwenden und sie so in verschiedenen Situationen gebrauchen lerne. Dass wir sprachliche Unterscheidungen und Sätze gebrauchen und wiederholen können, ist ein unhintergehbares Können, dessen versuchte „Erklärungen“ in Paradoxien und Antinomien führen. Es ist ein tiefgreifendes Missverständnis, die Regelfolgenanalyse als Dokument eines Skeptizismus, Relativismus oder Subjektivismus zu sehen. Das Gegenteil trifft zu: Lebensweltliches Basiskönnen ist unableitbar von weiteren ontischen oder ontologischen Bereichen. Ferner gilt: Weder kann ich die jeweils verwendete Regel von der vorherigen Praxis, diese verdoppelnd, ablesen, noch kann ich sie im Blick auf innere, subjektive Evidenzen monologisch kontrollieren, ohne sie selbst bereits zu verwenden. Wir können die lebensweltliche Sinnkonstitution weder 5
Vgl. zum Folgenden: Thomas Rentsch, „Praktische Gewissheit jenseits von Dogmatismus und Relativismus. Bemerkungen zu Negativität und Autonomie der Sprache bei Wittgenstein“, in: ders.: Negativitt und Praktische Vernunft, s. Anm. 1, 351 – 364.
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durch einen Bedeutungssubjektivismus noch durch einen objektivistischen Bedeutungsplatonismus klären oder gar erklären. In unserem Kontext einer negativen Hermeneutik können wir sagen: Es ist unmöglich, zu erklären, was sich nur zeigt. Für die Fortsetzbarkeit prädikativer Praxis in neuen Situationen ist eine Offenheit und Unbestimmtheit, eine Unerwartbarkeit sinnkonstitutiv, die als Abweichung vom bisher Üblichen, als abweichende Wiederholbarkeit gefasst werden kann. Es ist, anders formuliert, unmçglich, die künftigen Verwendungen zu antizipieren, zu überschauen oder von irgendetwas abzuleiten. Das gilt für Worte wie „Tisch“ oder „rot“ wie für solche wie „Liebe“ oder „Gott“. (An dieser Stelle scheitert jedes Computermodell des Geistes.) Die Nicht-Festgelegtheit der Wiederholungsmöglichkeit weist als Basisphänomen auf eine negative Anthropologie der Freiheit, die letztlich von der Unbestimmtheit unseres Wesens handelt: von der Unmöglichkeit einer positiven Wesensbestimmung des Menschen. Wir sahen bereits im Blick auf Ektasis und Prädikation: Wir müssen uns immer schon voraus, uns-vorweg sein, um uns zu orientieren. Wir sind noch nicht da und immer schon weg. Wenn wir nun das menschliche Sprechen und Handeln genauer analysieren, dann können wir den konstitutiven Zusammenhang von Unmöglichkeit, Negativität und lebensweltlicher Orientierung und Sinnbildung noch genauer fassen. Mit einer einprägsamen Formulierung können wir sagen: Denn sie wissen nicht was sie tun. Mit dieser allerdings missverständlichen Formel meine ich ein Phänomen, das wir als den regelfreien Moment bezeichnen können. Das handelnde und sprachliche Überschreiten des Gegebenen, einzelner Kontexte und Situationen, ihr Verneinen und Negieren, Nicht-Mehr und Noch-Nicht, ist für unser Welt- und Selbstverständnis konstitutiv. Bei dieser jeweils transzendierenden Bewegung ist stets ein regelfreier Moment sinnkonstitutiv, den wir weder sprachlich noch handelnd erfassen können, den wir aber philosophisch denken können. Das Denken dieses nur negativ, in eins mit der Unmöglichkeiten seiner empirischen Objektivierbarkeit fassbaren blinden Flecks im innersten Kernbereich der lebensweltlichen Sinnkonstitution, dieses Denken führt uns an die Grenze des Sinns, und dies im ekstatischen Prozess der Sinnbildung. Der blinde Fleck gehört weder dem vergangenen Sinn, noch dem als neu verstehbaren Sinn zu. Die Unmöglichkeit, den blinden Fleck bzw. den regelfreien Moment zu fassen, führt in der Tradition dazu, an dieser Stelle eine – mit Blumenberg gesprochen – absolute Metaphorik der Brche und Sprnge, des
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chorismos, des hiatus zu entwickeln. Der Urstifter dieser Analyse ist für die Moderne Kierkegaard, der gleichermaßen auf Heidegger, Wittgenstein und – was noch wenig bewusst und erforscht ist – auf Adorno wirkte. Die zentrale Einsicht findet sich aber auch in dem wunderbaren Aufsatz von Heinrich von Kleist „Über die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden“, der philosophisch zu wenig beachtet wird. Bei der allmählichen Verfertigung der Gedanken beim Reden praktizieren wir ständig Brüche und Sprünge, die wir selbst mit den verwendeten sprachlichen Mitteln aber nicht mehr thematisieren können. Kleist schreibt: „Denn nicht wir wissen, es ist allererst ein gewisser Zustand unsrer, welcher weiß.“6 Kierkegaard unterscheidet in seiner Wiederholungsanalyse einen Schritt, einen Satz und einen Sprung.7 Diese Analyse denkt Dialektik als Ineinander von Vermittlung und Unmittelbarkeit. Der formal, strukturell stets nötige Sprung ist der freie, d. h. nicht vergegenständlichbare Akt, der aus der offenen Unbestimmtheit der Schwebe – mit Kierkegaard: zwischen entweder-oder – zur innovativ-vereindeutigenden Fortsetzung der Praxis führt. Wittgenstein schreibt: „In der Sprache gibt es stets eine Brücke zwischen dem Zeichen und seiner Anwendung. Wir müssen die Kluft selbst überbrücken; das kann uns niemand abnehmen, keine Erklärung erspart den Sprung, denn jede weitere Erklärung wird ihrerseits einen Sprung benötigen.“8 Der Übergang von einer (auch nur scheinbar) bloßen Wiederholung zu einer neuen, selbständigen Anwendung der Regel ist selbst nicht regelhaft fassbar. Auch beim Übergang vom Reden zum Handeln gibt es diesen regelfreien Punkt. So heißt es in den „Philosophischen Untersuchungen“: „Muß ich einen Befehl verstehen, ehe ich nach ihm handeln kann? – Gewiß! Sonst wüßtest du ja nicht, was du zu tun hast. – Aber vom Wissen zum Tun ist ja wieder ein Sprung! –“.9 Die Analysen, die Wittgenstein in diesem Kontext in seiner Spätphilosophie entfaltet – vor allem in den Texten „Über Gewissheit“ – konzentrieren sich auf die Grundlosigkeit unseres Glaubens, auf die Unerklrlichkeit der Sprache (der Sprachspiele) und auf die Unableitbarkeit unseres Sprachhandelns und der
6 7 8 9
Heinrich v.Kleist, Werke, hg. v. Helmut Sembdner, München 1966, 813. Vgl. dazu: Christa Kühnhold, Der Begriff des Sprunges und der Weg des Sprachdenkens. Eine Einfhrung in Kierkegaard, Berlin/New York 1975. Ludwig Wittgenstein, Vorlesungen 1930 – 1935, hg. v. Desmond Lee/ Alice Ambrose, Frankfurt a.M. 1984, 88. Ludwig Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen, § 505.
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damit verbundenen Lebensform.10 Recht verstanden, handelt es sich bei dieser negativ-kritischen Sprachphilosophie um eine Radikalisierung des Existentialismus und der Dialektik. Diese unternehmen es noch – wie die Transzendentalphilosophie – im Rahmen eines theoretischen, metasprachlichen Modells, die endliche, freie lebensweltliche Sinnbildung zu erfassen. Selbst dies ist nach Wittgenstein nicht möglich. Vielmehr können wir nur in deskriptiven, genauen Einzelanalysen paradigmatisch den intern unendlich komplexen Sprachgebrauch begreifen. Viele philosophisch-systematisch als geltend gesetzte Überzeugungen werden auf diese Weise noch einmal einer methodisch-systematischen Kritik unterzogen. Das Ergebnis dieser Analysen lässt sich negativ mit folgenden Befunden zusammenfassen. 1. der Befund der Unentscheidbarkeit der Differenz „empirisch/ begrifflich“ bzw. „Erfahrung“ und „Regel“; 2. der Befund der Unbestimmtheit der Referenz; 3. der Befund der Wahrheitsindefinitheit von Wissen; 4. der Befund der Internalitt von Existenzsätzen; 5. der Befund der theoretischen, wissenschaftlichen, „transzendenten“ Unsicherbarkeit unseres Wissens; 6. der Befund der Unvordenklichkeit bzw. Grundlosigkeit, der Nichtletztbegrndbarkeit von Gewissheit; 7. der Befund der Unvorhersehbarkeit von Sprachhandlungen; 8. der Befund der Angewiesenheit auf gewisse kontingente, empirische wie auch grammatische Basisstze (hinge propositions) als Fundament aller unserer sprachlichen Orientierungen. Dieses Bndel von Unmçglichkeiten, wie es uns in der Spätphilosophie Wittgensteins begegnet, wird allerdings völlig missverstanden, wenn wir es als theoretische Fundierung eines Skeptizismus, Relativismus, Dezisionismus und Irrationalismus interpretieren, wie vielfach geschehen. Es handelt sich bei den Unmöglichkeitsanalysen vielmehr um einen befreienden Abbau von falschen, uns tief verwirrenden und verunsichernden Bildern und Objektivitätsvorstellungen, die unserem angemessenen Welt- und Selbstverständnis gerade im Wege stehen. Transzendenter Szientismus und theoretischer Dogmatismus sind unmöglich. Ein big picture – welches uns unser Inneres abbildet, das Innere des Anderen, welches uns das Verhältnis von Bewusstsein und Sein bzw. das Abbild10 Vgl. dazu: Thomas Rentsch, „Praktische Gewissheit jenseits von Dogmatismus und Relativismus“, s. Anm. 5.
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verhältnis von Sprache und an sich seiender Wirklichkeit liefern könnte – ist unmçglich. God’s eyes point of view können wir nicht einnehmen. Jeglicher Skeptizismus und Relativismus geht noch von falschen metaphysischen Abbildvorstellungen aus, die dann bedauernd, als „leider“ nicht erreichbar, verabschiedet werden. Sie aber wären, diese Illusion bleibt so erhalten, das eigentlich Wünschbare. Die Bilder einer falschen Metaphysik halten uns, auch und gerade in aller Alltäglichkeit, auf prekäre Weise gefangen. Vorhandenheitssemantik – so Wittgenstein –, Vorhandenheitsontologie – so Heidegger – Verdinglichung des NichtIdentischen – so Adorno, verstellen uns auf tiefgreifende Weise die authentischen Dimensionen eines wahrhaft humanen Welt-, Selbst- und Sprachverständnisses. Es sind drei Thesen, die ich abschließend im Blick auf die systematisch freigelegte Verklammerung von Unmöglichkeit und lebensweltlicher Sinnkonstitution noch ausblickhaft aufstellen will. 1. Die Entwicklung der negativ-kritischen Philosophie im 20. Jahrhundert weist wissenschaftskritisch, metaphysikkritisch wie auch praktisch vor auf ein verändertes Welt- und Selbstverständnis, das die sinnkonstitutiven Grenzen der menschlichen Vernunft wieder viel deutlicher erkennt und ernstnimmt, als dies in bestimmten Standardmodellen von Neuzeit, Aufklärung und Moderne geschah. Diese Erneuerung einer Tiefenaufklrung – einer Aufklärung, die noch ihre eigene Begrenztheit und Endlichkeit mitzudenken versucht, ihre eigenen unverfügbaren Bedingungen – weist eine religiöse und theologische Dimension auf, die weit mehr als bisher gesehen, das moderne Denken bestimmt und untergründig leitet. Und es ist, wenn einmal begriffen, klar: Eine radikalisierte Sinngrenzreflexion gelangt an die Grenzen der Vernunft, an die Grenzen der Welt und des Lebens, an die Grenzen der Sprache, und damit zum Ort des niemals als vorhanden denkbaren Absoluten. Im Zentrum der modernen Philosophie stehen mit dem sich entziehenden Sein bei Heidegger, mit dem sich zeigenden Unsagbaren, Mystischen bei Wittgenstein, mit dem ebenso jeder Vereinnahmung unverfügbaren NichtIdentischen bei Adorno, mit der Entzogenheit der Spur der Schrift bei Derrida – im Zentrum der modernen Philosophie stehen Paradigmen eines negativen Absoluten, die auf einen religiösen, oft mystischen Glutkern verweisen. Kurz: Am Fundament der modernen Philosophie ist ein heiliger Rest in der Reflexion zu erkennen. Er weist zurück – das könnte
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ausführlich gezeigt werden – auf die von mir so genannte negativitätstheoretische Tiefenstruktur der okzidentalen Rationalität.11 2. Das führt mich zur zweiten ausblickhaften These. Die radikalisierte negativ-kritische Sinngrenzreflexion der modernen Philosophie mit ihrem zentralen Akzent auf Unsagbarkeit, Unverfügbarkeit, Entzogenheit und Unmöglichkeit bietet auf erstaunliche und überraschende Weise Anschlüsse an die in der Tiefenstruktur der Genesis der okzidentalen Rationalität angelegte Reflexion von Negativität und Unmöglichkeit: Das Sokratische Nichtwissen, das biblische Bilderverbot, Menschwerdung und Tod Gottes, die negative Theologie des Neuplatonismus sowie die rationale Mystik von Proklos und Plotin über Dionysios Areopagita bis zu Meister Eckhart und Cusanus – diese Paradigmen weisen bei näherer Betrachtung in ihrer Radikalität in die Moderne. Die genannten Paradigmen waren in gewisser Hinsicht bisher immer randständig. Sie waren teilweise häretisch, sie waren untergründig und latent wirksam, sie liefen als Subtexte und Kontexte mit, sie konnten zu Zeiten aktualisiert werden. (Parallelentwicklungen in der jüdischen und islamischen Reflexion, z. B. Maimonides und Al Ghazali, bezeugen die universalistische Tendenz der negativ-kritischen Sinngrenzreflexion.) Die Paradigmen sind mit dem Mainstream indirekt verflochten. Das ließe sich z. B. sehr gut an der frühen Kritik der Kausalitätskategorie zeigen, die von Al Ghazali über Hume und Kant bis zu Wittgensteins „Tractatus“ reicht. Erst durch die Entwicklung der modernen Negativitätsanalysen, die Unmöglichkeit und Sinnkonstitution auf neuartige Weise systematisch zusammendenken, können wir auch die negative Theologie des Dionysios, die Reflexionen zum Nichts bei Meister Eckhart und die docta ignorantia des Cusanus wieder neu und besser verstehen. 3. Diese kreative Neuerschließung der negativ-kritischen Tiefendimension der europäischen Vernunftgeschichte erhält nun – das ist die dritte Ausblicksthese – auch weltgeschichtliche Anschlussmöglichkeiten an außereuropäische Denktraditionen. Wir können hier von der verdeckten asianischen Tiefenstruktur der okzidentalen Rationalität sprechen. Das Denken Heideggers findet aufgrund dieser innovativen Anschlussmöglichkeit z. B. in Japan unerhörte Rezeption. Buddhistische und taoistische Denkweisen und Selbstverständnisse treten von Heidegger aus neu in den Blick, weil sein Denken die Grenzen der europäischen Geschichte des Seins zu thematisieren versucht und somit auch überschreitet. Das gilt auch für Wittgenstein und sein Denken der 11 Vgl. dazu: Thomas Rentsch, Gott, Berlin/New York 2005, insb. 119 – 211.
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Grenzen der Sprache. Beide, Heidegger wie Wittgenstein, denken jenseits bzw. diesseits von Objektivismus und Subjektivismus. Sie denken daher etwas, das von der Vorhandenheitsontologie aus nur als Nichts bzw. als bloße Negativität erscheint, von der Vorhandenheitssemantik her als bloße Bedeutungslosigkeit. Untersuchungen zu Wittgenstein und Nagarjuna zeigen z. B., dass das Unsagbare nicht ist (das wäre aristotelisch), noch nicht ist (das wäre skeptisch), noch sowohl ist als auch nicht ist (das wäre im Sinne Hegels), noch weder ist noch nicht ist (das wäre im Sinne Plotins).12 Dies Unsagbare selbst aber ist die Wirklichkeit unseres alltäglichen Lebens. Nur, wenn wir die Unmöglichkeit der Vergegenständlichung oder prädikativen Erfassung unserer Selbst, der konkreten Mitmenschen, jedes Individuums und jedes Augenblicks denkend begreifen, geraten wir auf eine Weise in die Dimension der lebensweltlichen Sinneröffnung, die nicht selbst schon verfallen und verstellend ist. Weit entfernt davon, diese Sinneröffnung nur in spekulativer Ferne anzusiedeln geht es darum, neu zu begreifen, dass sie, unbemerkt, in jeder lebendigen Gegenwart geschieht.
12 Vgl. dazu: Chris Gudmunsen, Wittgenstein and Buddhism, New York 1977; Tyson Anderson, „Wittgenstein and Nagarjuna’s paradox“, in: Philosophy East and West 2/1985, 157 – 169.
Negativität und Rationalität. Gibt es aus philosophischer Sicht irreduzible Wahrheitsansprüche religiöser Vernunft? Meine Antwort ist: ja, es gibt solche irreduziblen Wahrheitsansprüche. Um diese Wahrheitsansprüche zu klären, werde ich in einem ersten Schritt ex negativo erläutern, wie sich diese Ansprüche nicht verstehen lassen. In einem zweiten Schritt werde ich versuchen, zu präzisieren, wie sich die Eigenart dieser Wahrheitsansprüche näherhin verstehen lässt. Eine besondere Bedeutung kommt dabei nach Neuzeit, Aufklärung und Moderne meines Erachtens einem konstitutiven Zusammenhang von Negativität und Vernunft zu. Es ist dieser Zusammenhang, der mich auch im Blick auf unabgegoltene Rationalitätspotentiale von Religion beschäftigen wird.
l Beginnen wir mit einer negativen Ausgrenzung religiöser Wahrheitsansprüche. Meine erste These betrifft eine vermeintliche Konkurrenz von religiösen und theoretischen oder empirischen wissenschaftlichen Wahrheitsansprüchen. Genuin religiöse Geltungsansprüche stehen, recht verstanden, nicht in Konkurrenz zu naturwissenschaftlichen, empirischen Theorien welcher Art auch immer. Sie bewegen sich überhaupt nicht auf der Ebene empirischer Sätze über etwas, das in der Welt naturwissenschaftlicher Tatsachen verifiziert oder falsifiziert werden könnte. Sie sind keine theoretischen Orientierungen und sie sind in ihrer Geltung nicht von bestimmten empirischen Behauptungen über die Welt abhängig. Analysieren wir Sprachgebräuche im Kernbereich religiöser Praxis, so wird sichtbar: Die Sätze „Jesus lebt“, „Christus ist für uns gestorben“ sind keine schlichten Tatsachenmitteilungen wie „Herr Schulze lebt“ oder „Herr Müller ist gestern gestorben“. Mit den religiösen Bekenntnissätzen wird eine auf das ganze Leben bezogene Orientierung, eine grundsätzliche Lebenseinstellung artikuliert. Was der Satz „Gott ist der Schöpfer“, „Jesus lebt“ oder „Allah ist groß“ für die Glaubenden bedeutet, das lässt
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sich nur durch deren Lebensverständnis erläutern, nicht jedoch durch den Blick auf empirische Tatsachen außerhalb dieser Lebenszusammenhänge beweisen oder widerlegen. Es gibt also außerhalb der komplexen Glaubens- und Bekenntnispraxis zunächst einmal keine externen wissenschaftlichen Überprüfungsinstanzen für solche religiösen Wahrheitsansprüche. Vorkopernikanische Lebensformen artikulierten ihre religiösen Überzeugungen im Rahmen von mythischen Bildern vom „Aufbau der Welt“. Nachdem diese Weltbilder kosmologisch zerfielen, konnte und musste die neuzeitliche Religionskritik dogmatische Ansprüche verwerfen, die Gott und Welt, Himmel und Hölle, Diesseits und Jenseits objektivistisch auf verschiedene kosmologisch verortbare „Räume“ projizierte, etwa: Raum I – diese Welt, Raum II – das Jenseits. Wären religiöse Wahrheitsansprüche von solchen Modellen fehlgeleiteter Spekulation abhängig, dann wäre es schlecht um sie bestellt. So beruht z. B. der anti-evolutionäre Kreationismus in manchen christlich-fundamentalistisch beeinflussten schulischen Lehrplänen Nordamerikas auf einer Konfusion des genuinen Wahrheitsanspruches des religiösen Satzes „Alle Menschen sind Geschöpfe Gottes“ mit evolutionsbiologischen empirischen Forschungen zur Menschheitsentwicklung. Von solchen Forschungen handeln Religionen nicht. Deswegen reproduzieren auch gegenwärtig neu eröffnete Diskussionsrunden hinsichtlich der möglichen Bedeutung der theoretischen Erkenntnisse der Quantenmechanik oder der gegenwärtigen Kosmologie für religiöse Wahrheit auf immer neue Weise und im großen Maßstab alte Missverständnisse. Würde man die Ebenendifferenz von Religion und Naturwissenschaft selbst kriterial vernünftig begreifen, so hätte eine aufgeklärte Gesellschaft es nicht nötig, diffuse Grauzonen aus unbegriffener Physik und Esoterik zu kultivieren – zum Schaden beider: der wissenschaftlichen wie der religiösen Vernunft. Für die Beurteilung der Wahrheitsansprüche von Religionen gilt aber umgekehrt auch: dass ihre Entfaltung mit vormodernen Weltbildern verbunden war, das allein genügt nicht, sie für falsch oder illusionär zu erklären. Es genügt dann nicht, wenn es gelingt, die tatsächlich haltbare religiöse Wahrheit, von wissenschaftlichen Wahrheitsansprüchen unabhängig, zu entwickeln und anzueignen und letztlich von schlechter Metaphysik zu befreien. Kurz: kein Galilei oder Darwin bedroht irgendeine relevante religiöse Wahrheit. Das gilt auch für die vermeintliche Abhängigkeit religiöser Wahrheit, von empirischen historischen Tatsachen, z. B. über das Leben Jesu, Buddhas oder über die Entstehungsgeschichte des Korans. Die Wahrheitsansprüche der Lehren der Religi-
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onsstifter sind das Entscheidende. Diese Lehren betreffen ein sinnvolles menschliches Welt- und Selbstverständnis, das weder durch eine Physik noch durch historische Forschung allein begründet oder auch als unwahr erwiesen werden kann. Dass religiöse Wahrheitsansprüche mit diesen Lehren verbunden waren und sind, zeigt sich im Übrigen an den vielen religionsinternen Kontroversen und Argumentationstraditionen. Missverständnisse und falsche Verständnisse zu kritisieren und auszuräumen, war und ist ein wesentlicher Bestandteil religiöser Sprach- und Lebenspraxis selbst. Ein Beispiel ist die Frage nach der Lokalisierung der Hölle. Während noch in der spanischen Barockscholastik von Suárez die These vertreten wurde: „Veritas certa est infernum esse sub terra“1, hatte bereits etwa 1200 Jahre vor ihm Johannes Chrysostomus auf diese Frage geantwortet: „Ne ergo quaeramus ubinam sit, sed quomodo eam fugiamus.“2 Mit Wittgenstein können wir die traditionellen Reden von der Hölle als bildlichen Ausdruck für die praktische Einsicht in die reale Möglichkeit definitiven moralischen Scheiterns verstehen. So hat Wittgenstein auch die Rede vom Jüngsten Gericht als Ausdruck einer ethisch unbedingt ernsthaften Lebensform interpretiert. Religiöse Wahrheitsansprüche hängen hier nicht an einer Kosmologie oder an bestimmten Bildern, sondern an der Wahrheit praktischer Einsichten in die Wirklichkeit der Tiefe der möglichen menschlichen Fehlbarkeit und Selbstverfehlung. Der Sinn der Bilder hängt an diesen Einsichten, nicht die Einsichten an den Bildern. Auch eine isolierbare, theoretisch verstandene Existenzbehauptung der Form „Gott existiert“ ohne kontextuelle und lebensbezogene, praxisbezogene Kriterien hat keinen Sinn – ebenso wenig wie die Behauptung „Gott ist tot“ bzw. „Gott existiert nicht“ außerhalb solcher Kontexte und Kriterien. Demgegenüber stellen naturwissenschaftliche und historische Aufklärung keine „Kränkungen“ und „Depotenzierungen“ religiöser Wahrheit dar, wie vielfach fälschlich angenommen wird. Sie sind im Gegenteil als Befreiung von Unkenntnis und Aberglaube zu begrüßen und können ernsthaften religiösen Wahrheitsansprüchen daher nur Recht sein. Eine zweite sinnkriteriale These weist die Auffassung von religiösen Wahrheitsansprüchen als Vermutungen und als Hypothesen ab. So hat man wiederum szientistisch-verifikationistische Deutungen religiöser Sätze gegeben bzw. von der „Nichterwiesenheit des Gegenteils“ z. B. 1 2
Francisco Suárez, De ang. 1.8, c. 16, n. 17. Johannes Chrysostomus, In Rom. Hom. 31, n. 5 (Migne PG 60, S. 674).
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eines eschatologischen Satzes auf die zu erhoffende künftige „Verifikation“ solcher vermeintlichen religiösen Annahmen geschlossen. Religiöse Sätze sind jedoch auch als schwache Annahmen über Tatsachen, die der Fall sein könnten bzw. deren prognostische Kraft derzeit noch in Frage steht, missverstanden. Wiederum wäre es eine transzendente Objektivität, die letztlich Garant für die Wahrheit der religiösen Ansprüche wäre. Damit wird ihr Geltungssinn gerade verfehlt. „Möglicherweise ist Gott ja die Liebe“ – „Vielleicht hat Gott ja die Welt erschaffen“ sind kategoriale Irrtümer. Insofern vertragen religiöse Orientierungen auch keinen augenzwinkernden Agnostizismus nach dem Motto „Schaden kann es ja nicht“. Demgegenüber ist die Verlässlichkeit religiöser Wahrheitsansprüche zu Recht in Analogie und Entsprechung zu interpersonalen Gewissheits-, Vertrauens- und Verlässlichkeitsverhältnissen gedeutet worden, nach der Form der ernsthaften Zusicherung: „Du kannst dich auf mich verlassen.“ Dementsprechend lassen sich Verheißungen und Versprechungen religiöser Wahrheit auf folgende Grundform bringen: „Wenn du dich auf die Lebensorientierung x ernsthaft verlässt, dann wird dein Leben gelingen.“ bzw. „Wenn du auf diese Weise lebst und dein Leben so verstehst, dann wirst du letztlich nicht verzweifeln müssen.“ Praktische Einsichten in sinnvolle Lebensorientierungen sind konkret; sie haben den Status der Wahrhaftigkeit, nicht den der Wahrscheinlichkeit. Drittens möchte ich den religiösen Wahrheitsansprüchen bei all ihrer existentiellen Ernsthaftigkeit keinen emotiven Status zuerkennen. Sie gründen nicht in Gefühlen, unterliegen einer Psychologismuskritik wie andere Wahrheitsansprüche auch. So können mathematische Entdeckungen wie z. B. der Beweis von Fermats letztem Satz oder auch naturwissenschaftliche Theorieentwicklungen von großen Leidenschaften und Erregungen begleitet sein – aber sinnkriterial fällt die subjektive Befindlichkeit für die Beurteilung der Wahrheit der Beweise und Entdeckungen nicht ins Gewicht. Der lebensbezogene Wahrheitsanspruch von Religion ist nicht abhängig von den Gefühlen, die diesen Anspruch begleiten können. Im Übrigen: Wie für den transzendenten Objektivismus, so gilt auch für den religiösen Subjektivismus: Die Missverstndnisse kçnnen auf der Ebene religiçser Praxis ebenso auftreten wie auf der Ebene ihrer theoretischen Reflexion. Auf der Ebene theoretischer Reflexion wiederum kçnnen die Missverstndnisse sowohl in theologischen Theorien wie auch in Form von Religionskritiken auftreten. Der Subjektivismus und Emotivismus kann sich auf der Ebene religiöser Praxis z. B. als extremer Pietismus und Mystizismus, als Beanspruchung eines besonderen esoterischen Wissens
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oder jeglicher Kritik und Reflexion entzogener Offenbarungsquellen ausprägen – in der Annahme von „Medien“ z. B. Ebenso kann der Subjektivismus sich theologisch in einem irrationalen Dogmatismus und Offenbarungspositivismus, in Vorstellungen von Inspiration und Erleuchtung artikulieren – irrational aber eben nur dann, wenn unwichtig ist, worin sachlich und geltungsbezogen die Erleuchtung oder Inspiriertheit denn genau besteht. Entsprechend können psychologische und psychoanalytische Theorien diese subjektive Ebene zum Gegenstand von Pathogenesen machen. Aber die religiösen Grundaussagen haben nicht die Form „Ich habe das Gefühl, dass Christus auferstanden ist“, oder „Ich spüre, dass die Lehre Buddhas wahr ist.“ In der Religionsgeschichte nicht nur des Westens können wir eine deutliche Rationalisierung, Verbalisierung, Individualisierung und Ethisierung feststellen. Mit Kant, Hegel (und anderen) sehe ich darin eine klare Tendenz, die authentischen Wahrheitsgehalte von Religion hinter den vielen Verdeckungen und Missverständnissen hervorzuholen und zu retten, von denen jede menschliche Vernunftorientierung ständig umgeben ist – in besonderem Maße aber die Religionen mit ihren weitreichenden Ansprüchen. So schreibt Luther: „Die da den Geist rühmen und suchen sonderliche Offenbarung und Träume, die sind ungläubig und Verächter Gottes, denn sie lassen sich an Gottes Wort nicht begnügen, wollen damit nicht zufrieden seyn. In geistlichen Sachen suche noch begehre ich keine Offenbarung noch Träume. Ich hab ein klar Wort, dabey allein bleib ich. Wie auch S. Paulus vermahnet, dass wir uns dran sollen halten und hängen, wenn gleich auch ein Engel vom Himmel anders lehrete.“3 Subjektivismus und Psychologismus wurde und wird in vielen Traditionen religiöser Vernunft als die Kehrseite eines (transzendenten) Dogmatismus und Fundamentalismus erkannt und abgelehnt. Die Schuldifferenzen des Buddhismus haben hier einen Ursprung, und im Islam lehrt eine Tradition: „Sprich zu uns nicht von Visionen und Mirakeln, denn solche Dinge haben wir lange hinter uns. Wir erkannten sie alle als Illusionen und Träume, und tapfer gingen wir an ihnen vorbei.“4 Ich fasse die anti-emotivistische These zusammen. Sinnvoll verstehbare und ernsthaft diskutable religiöse Haltungen und Grundaussagen sind (1.) keine Gefühle und auch nicht Ausdruck von 3 4
Martin Luther, „Tischreden aus Anton Lauterbachs Sammlung B“, in: ders., Weimarer Ausgabe, Bd V, Köln/Wien 2002, 6211. Javed Nurbakhsh, In the Tavern of Ruin. Seven Essays on Sufism, New York 1978, 96 (übersetzt von Thomas Rentsch).
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Gefühlen; (2.) handeln sie auch nicht von Gefühlen (gegen die These von einem emotiven Gehalt); (3.) sind sie auch nicht durch Gefühle beweisbar (nicht emotiv verifizierbar). Viertens kommt religiösen Wahrheitsansprüchen auch nicht der Status von Fiktionen zu. Es schien sinnvoll, angesichts einer „entzauberten“ Außenwelt die spezifisch religiösen Reden von „Schöpfung“, „Gericht“ und „Erlösung“, „tao“ oder „Dharma“ als praktische, lebensdienliche Illusionen zu betrachten. Bereits Kants Metasprache zur Rekonstruktion religiöser Wahrheit, die Postulatenlehre, baut auf der Rekonstruktionsebene authentischer religiöser (bzw. schlicht humaner) Praxis ein unangemessenes sprachliches Element ein, welches bei falschem Verständnis subjektiv, beliebig oder voluntaristisch interpretiert werden kann – nämlich die Rede vom Postulat. Unter dem Einfluss von Nietzsche und dem Positivismus konnte z. B. Vaihinger im Neukantianismus eine solche fiktionalistische Rekonstruktion vertreten. Solche Rekonstruktionen verfehlen das Rationalitätspotential religiöser Orientierungen gleich mehrfach. Die praktischen Einsichten, die sich in diesen Orientierungen artikulieren, haben ihren Sitz in kulturellen Lebensformen, die sich nicht in eine pure Faktizität einerseits, in subjektive Sinnkonstruktionen andererseits, aufspalten lassen. Ähnlich wie in der normativ und sozial konstituierten Praxis der Moralität und Ethik wissen wir in der Regel bereits viel über lebenstragende Einsichten und ihre institutionelle und kulturelle Vermittlung. Eine Tabula-rasa-Situation, deren sinnfreier Faktizität noch eine subjektiv projizierte Sinn-Fiktion wie eine illusionäre Sahnehaube hinzugefügt wird, ist daher eine irreführende, abstrakte Vorstellung. Dementsprechend wird man folgende Formulierungen ablehnen müssen: „Ich lebe als Buddhist so, als ob es eine Befreiung aus Weltbefangenheit gäbe.“ Oder „Ich lebe als Christ so, als gäbe es Gott, Gnade und Vergebung.“ Oder „Muslime tun so, als ob Mohammed der Prophet sei.“ Religiöse Sprechakte im Kernbereich der Bekenntnisse und Lehren sind konstitutive Akte, mit denen unbedingte normative Verpflichtungen und grundlegende Sichtweisen hinsichtlich des eigenen Lebensverständnisses artikuliert werden, z. B. Glaube, Hoffnung und Liebe. Fnftens werden religiöse Wahrheitsansprüche im Kern nicht angemessen begriffen, wenn wir sie auf ihre sozialen oder auch individual psychologischen Funktionen reduzieren, z. B. auf die sogenannte „Kontingenzbewältigungspraxis“. Religiöse Sprache und Praxis folgt nicht der Logik von Erklärungen, sie bewegt sich nicht auf der Ebene instrumenteller Rationalität. Natürlich sind religiöse Orientierungen als
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sinnvolle menschliche Handlungen zu etwas gut. Aber die Geltungs- und Sinnebene der religiösen Praxis kann durch eine objektivierende, z. B. religionssoziologische Analyse allein nicht in den Blick treten. Anders gesagt: Dass eine religiöse Praxis bestimmte erfreuliche Folgen hat, bedeutet nicht, dass diese Folgen der Zweck und die Praxis das Mittel dazu ist. Religiöse Vernunft ist unterschieden von magischen Praktiken, Aberglaube und Zauberei. Solche Orientierungen sind in modernen Gesellschaften leider weit verbreitet, gehören nicht nur zu vergangenen archaischen Kulturen. Aber auch Religionen selbst können sich magisch, quasi-technisch, missverstehen. Drei Beispiele. In den ätiologischen Interpretationen der Riten südamerikanischer Völker vor Sonnenaufgang konnten diese Riten als instrumentelle Versuche der magischen Herbeiführung des Tages gedeutet werden. In der Sichtweise westlicher Religionsethnologen freuen sich die „Primitiven“ schließlich, dass sie es wieder einmal geschafft haben, den Sonnenaufgang durch Gebet, Gesang und Zeremonien zu bewirken. Wenn ein Religionsethnologe unsere Neujahrsbräuche auf diese Weise beobachtete, so könnte er sagen: Diese Primitiven veranstalten alljährlich große Riten, gießen Blei, führen sonderbare Tänze auf und setzen den Himmel mit großem Lärm in bunte Flammen, damit das Neue Jahr auch kommt. Dabei wird ein Millionenvermögen in die Luft gejagt, und es sterben immer auch Menschen dabei. Wenn die Zeit bzw. die Welt dann tatsächlich weitergeht, bricht unbeschreiblicher Jubel aus. Kurz – eine rituelle Freudenfeier braucht mit magischem Instrumentalismus nichts zu tun zu haben.5 Ein zweites Beispiel. Die Bestattung der Sioux-Indianer versieht den Verstorbenen mit Speise und Trank. Sie wurden von den weißen Einwanderern gefragt: Bildet ihr euch ein, dass der Tote heraufkommt und das Essen verzehrt? Die Indianer antworteten: Ebenso wie ihr euch einbildet, dass ein Toter an den Blumen riecht, die ihr auf sein Grab pflanzt! So kann auch – ein drittes Beispiel – das Beten als magische Herbeiführungstechnik missverstanden, aber ebenso auch als bewusste meditative Praxis sui generis begriffen werden. Das heißt auch: Die Doppelseitigkeit von Authentizität und missverstandenem, defizientem, instrumentellem 5
Vgl. Hubertus Halbfas, Das Welthaus, Stuttgart 1983, 214. (Die authentischen Beschreibungen des Sonnenfestes der Inka, die wir besitzen, bestätigen die nichtinstrumentelle Deutung: Garcilaso de la Vega – seine Mutter war InkaPrinzessin – schreibt, dieses höchste Fest glich „einem Bankett, dass die Sonne ihren Kindern gab.“) (Im Übrigen wissen wir ja auch nach Hume nicht, ob die Sonne aufgehen wird.)
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Modus beherrscht alle religiösen Praxisformen, Kulte, Riten, Sakramente und Sprachhandlungen. Aber auch dies ist in den Religionen selbst bewusst, und die Abwehr instrumenteller Verständnisse ist selbst einer ihrer wesentlichen Züge. So heißt es im Islam: „O Lord! If I worship you from fear of hell, cast me into hell. If I worship you from desire for paradise, deny me paradise.“6 Diese sinnkonstitutive Ambivalenz von authentischem und instrumentellem Modus beherrscht ja auch alle ethisch-moralischen personalen Verhältnisse. Sechstens wende ich mich gegen ein generell entfremdungstheoretisches und insofern reduktionistisches Verständnis von Religion als Reflex ökonomischer Verhältnisse (Marx), als Inversion von Hass und Grausamkeit seitens ressentimentgeleiteter zu kurz Gekommener (Nietzsche), als Wunschbildung und Projektion auf der Basis einer Triebgeschichte des Unbewussten (Freud), als Machtdispositiv (Foucault) bzw. als kollektive, mimetische Gewalttätigkeit nach René Girard. Die entfremdungstheoretischen Genealogien akzentuieren zunächst etwas sehr Wichtiges, Positives: Religionen hatten und haben es stets auch mit den letzten und tiefsten menschlichen Ängsten und Kümmernissen zu tun. Aber ihre depotenzierende Erklärung als deren bloß illusionäre Kompensation greift zu kurz. Gerade weil sie Ort der Artikulation von Angst und Hoffnung, Leid und Freude waren und sind, konnten Religionen Normen institutionalisieren, die emanzipatorisch und befreiend über die faktische gesellschaftliche Situation hinauswiesen und dauernd hinausweisen. Die reduktionistischen Deutungen verkennen dieses Potential und brechen ihr so die Sinnspitze ab – wie im Übrigen auch reaktionäre Theologen dies tun. Damit verkennen sie auch das, was Ricoeur als Epigenesis bezeichnet hat: nämlich die authentische, oft mehrtausendjährige Nachgeschichte derjenigen Orientierungen, die möglicherweise entfremdungstheoretisch oder triebgeschichtlich so entstanden sind – aus und inmitten von Angst, Gewalt und Schrecken. In der Nachgeschichte wurden religiöse Orientierungen in die gesellschaftliche Konstruktion des kulturellen und zivilisatorischen, rechtlichen und normativ urteilenden Bewusstseins reflexiv aufgenommen und unabhängig von ihrer Entstehungsgeschichte produktiv weiterentwickelt. Eine flächendeckende religionstheoretische Reduktion von Geltung auf Genesis unterbestimmt daher bereits die faktischen Rationalitätspotentiale von Religionen. 6
Rabia, zit. nach Idries Shah, The Way of the Sufi, Harmondsworth/New York 1982, 239.
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Ebenso wende ich mich siebtens gegen einen religionsphilosophischen Relativismus der Wahrheitsansprüche. Gerade, wenn man mit Wittgenstein, Winch, Phillips und anderen zunächst die intrinsische Authentizität religiöser Lebensformen angemessen rekonstruieren will, tendieren solche Zugriffe scheinbar zu einem „Subjektivismus“ im großen Stil – nämlich bezogen auf ganze Kulturen. Methodologisch muss aber bereits bei der angemessenen Rekonstruktion der internen Wahrheitsansprüche religiöser Praxis ein theoretischer Relativismus als unmçglich behauptbar und nicht begründbar ausgeschlossen werden. Bereits die Thematisierung entwickelter fremder religiöser Praxen kann diese nicht als hermetische Systeme, gleichsam als geschlossene Veranstaltungen, begreifen – als seien wir Touristen der sittlichen Welt. Denn auch jedes ernsthafte Verständnis der tiefgreifenden Differenzen im Selbst- und Weltverständnis fremder kultureller Praxen setzt bereits ein Stück Teilnahme, Nachvollzug und grundbegriffliche Gemeinsamkeiten voraus. Der allzu schnelle Verweis religiöser Riten in ein geschlossenes System irrationaler Handlungsregeln verkennt deren interne Authentizität und Bedeutung. So erscheint die indische Witwenselbstverbrennung Suttee (Sati) als horribler, barbarischer Akt, in dem sich hinduistische Vorstellungen von der Frau des Gottes Schiwa mit der Unterdrückung von Frauen in grausam ritualisierter Form verbinden. Und so erschien Suttee auch der englischen Kolonialregierung, die den Ritus 1829 verbot. Allerdings wurde und wird er weiter praktiziert. Je mehr man sich mit dem sozio-kulturellen Kontext des Ritus befasst, desto deutlicher wird aber seine interne Authentizität.7 Entstanden in der Kriegerkaste, wurde er praktiziert, wenn der Mann im Kampf gefallen war. Es ist also eine letzte Bestätigung von ehelicher Treue als Nachfolge in den Tod. Die administrative Verhinderung der Nachfolge stellt also unter Umständen eine gewaltsame Verhinderung menschlicher Sinnerfüllung dar. In der Tat schildern Berichte die große psychische Not von Frauen, die am Ritual gehindert wurden. Der vollzogene Akt der Selbstverbrennung führt auch zur Errichtung eines Lokalheiligtums, das für ein kleines Dorf Ehre, Ansehen und Pilgerscharen bedeutete. Denken wir an unsere eigene Kultur, erinnern daran, dass der Opfer- und Kreuzestod Jesu und die Nachfolge Jesu, das Martyrium der Heiligen für sie mit prägend war, so wird sichtbar: Wer vorschnell die Barbarei verurteilt, versteht nicht nur die fremde Kultur, sondern auch die eigene nicht. Aber auch praktisch ist ein 7
Vgl. dazu: Jörg Fisch, „Jenseitsglaube, Ungleichheit und Tod. Zu einigen Aspekten der Totenfolge“, in: Saeculum Bd. 44 (1993), 265 – 299.
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oberflächlicher Kulturrelativismus zu kurz gedacht. Denn wollten wir die Verhältnisse in den indischen Dörfern nach unseren westlich-aufgeklärten Maßstäben verändern, so müssten wir zu allererst die Überzeugungen und Gründe explizit machen und ernst nehmen, die ihnen zugrunde liegen. Nur so nämlich können wir die Menschen aus unserer Perspektive als Personen in ihrer Würde achten, und brauchen dennoch nicht einen bequemen Fetischismus der Differenz zu vertreten, wie er postmodernem Irrationalismus nahe lag. In einem achten Schritt weise ich die Auffassung zurück, dass Religion Moral sei und ihre Wahrheitsansprüche sich im Kern auf ethische Geltungsansprüche reduzieren lassen. Das entspricht in gewisser Hinsicht der ersten These, dass sie keine theoretischen Geltungsansprüche im wissenschaftlichen Sinne erhebt. Denn mit den Grenzen unserer theoretischen und praktischen Erkenntnis, mit den Grenzen unserer Theorie und Praxis hat Religion gerade zu tun. Der Kern religiöser Einstellungen, Sprachspiele und Rituale ist jedoch nicht-ethischer Art, und nicht etwa ethische Ideale, Imperative, Präskriptionen und Sollenssätze sind ihre Konstituentien, sondern z. B. Berichte von außergewöhnlicher Bedeutung, Bekenntnisse, Verheißungen, Weisheitslehren und Heilszusagen. Sie betreffen im Kern praktische Einsichten über unser Leben und diese sind dann allerdings mit ethischen Konsequenzen sehr eng verbunden. Religionen fragen: Wie gehen wir mit den Grenzen unseres Lebens und unserer Welt um, wenn wissenschaftliche Fragen geklärt und ethische Einsichten schon gewonnen sind. In Theorie und Praxis geraten wir an Grenzen unserer Vernunft, mit denen wir es gleichwohl ständig zu tun haben. Nachdem ich wissenschaftliche, hypothetische, emotivistische, fiktionalistische, funktionalistische, entfremdungstheoretische, relativistische und ethische Verständnisse des irreduziblen Kerns religiöser Wahrheitsansprüche kritisch ausgeschlossen habe, möchte ich in einem zweiten Abschnitt die Eigenart dieser Wahrheitsansprüche näher explizieren.
2 Diese Explikation erfolgt aus philosophischer Sicht. Da nur Philosophie eine explizite Theorie der Vernunft entwickelt hat, kann gerade sie auch ein spezifisches Verständnis religiöser Wahrheitsansprüche zu rekonstruieren versuchen, und zwar mit Blick auf eines ihrer Dauerthemen: die Grenzen der Vernunft. In der Linie von Kant und Wittgenstein können
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wir sagen: Wenn alle wissenschaftlichen und praktischen Fragen beantwortet sind, d. h. philosophisch-sinnkriterial v. a.: Wenn die Grenzen und die Reichweite von Wissenschaft und Praxis bestimmt sind, dann bleiben irreduzible Fragen, die das Ganze unseres Welt- und Selbstverständnisses betreffen. Solche Fragen und ihre theoretische Reflexion wurden im europäischen Kontext klassisch der Metaphysik zugewiesen. Solchen Fragen und ihrer möglichen Beantwortung einen angemessenen Ort im System unserer Vernunftorientierungen zuzuweisen, das kann philosophisch gesehen also auch bedeuten, mögliche Rationalitätspotentiale der Metaphysik bzw. der metaphysischen Grundfragen zurückzugewinnen. In der Tat ist meine These, dass die Suche nach einer Bestimmung genuiner, irreduzibler Wahrheitsansprüche von Religionen mit einem strukturellen Problem philosophischer Vernunftkritik systematisch verwandt ist. Dieses strukturelle Problem fasse ich als den systematischen Zusammenhang von Negativität und Rationalität. Meine These ist die folgende: Rationalität und Moralität konstituieren sich in der Tiefe nicht gegen die und neben der Negativität, sondern im Kern in, mit und durch sie. Negativität lässt sich dabei auf allen Ebenen der Faktizität, der Praxis und der Reflexion differenziert verorten: als Natur, als Tod, als Unbedingtheit und Endlichkeit, als Grenze unserer Sprache, als Grenze unserer Begründungs- und Reflexionsmöglichkeiten. Deswegen der formale, an Hegel orientierte Titel. Philosophisch gesprochen: Wir dürfen die Grenzen unserer Vernunft nicht ausgrenzen, sondern müssen sie begreifen und in unser Vernunftverständnis konstitutiv und produktiv mit einbeziehen. Das geht nicht in einem selbstzufriedenen Rationalismus, dessen Vernunftbegriff daher auch als zu eng kritisiert werden muss. Dazu ist nämlich eine dauernde Erinnerung an die Grenzen und das heißt an die Endlichkeit unserer Vernunft nötig. Konstitutiv für unsere vernünftige Lebenspraxis ist, anders gesagt, der bewusste Einbezug der transpragmatischen Sinnbedingungen unserer Vernunft. Eben darin, an den lebenssinnkonstitutiven Zusammenhang von Negativität und Vernunft nicht nur zu erinnern, sondern diesen Zusammenhang in kulturelle Lebensformen aktiv zu transformieren, normativ zu institutionalisieren und so bewusst zu gestalten, bestehen im Kern die irreduziblen Wahrheitsansprüche von Religion. Ich möchte diese These im Blick auf einige transpragmatische Sinnbedingungen unseres Denkens und Handelns paradigmatisch kurz erläutern. Dann wird auch noch einmal deutlich, dass und wie die kritische Abwehr der falschen bzw. reduktionistischen Verständnisse von
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Religion mit dem Konnex von Negativität und vernünftig einsehbarem Sinn zusammenhängt. Negativ-kritische, praktische Einsichten, die nach meiner Auffassung für Vernunft konstitutiv sind, sind im alteuropäisch-abendländischen kulturellen Kontext z. B. zentral vorgeprägt im biblischen Bilderverbot, im Sokratischen Nichtwissen und in der christlichen Theologie der Menschwerdung und des Todes Gottes. Diese Traditionen beruhen im Kern gerade auf der Einsicht in die dauerhafte Entzogenheit absoluter Wahrheitsansprüche. Wir können über die Grenzen unserer endlichen Vernunft hinaus theoretisch weder die Welt, noch uns selbst, noch die Wahrheit an sich oder Gott erkennen. Weit entfernt aber davon, diese negativen praktischen Einsichten resignativ und nihilistisch zu verstehen, werden sie in den religiösen Traditionen zu produktiven, befreienden, ja sogar revolutionären Potentialen des ethischen Universalismus, der universellen Personalität und Menschenwürde, eines vertieften Freiheitsverständnisses, eines Verständnisses wissenschaftlicher Rationalität und humaner Weltgestaltung transformiert. Und zwar deshalb, weil gerade die praktische Einsicht in die Grenzen unserer Erkenntnis dogmatische Wahrheitsansprüche ausschließt und in eins damit prinzipiell keinen Menschen mehr zu bevorrechtigen gestattet, andererseits diese Begrenztheit aber für alle Menschen gilt. Negative, kritische Metaphysik und negative Theologie haben diesen Zusammenhang je auf ihre Weise herausgestellt. Sie entfalten die Einsicht, dass wir das Ganze der Welt, uns selbst sowie die idealen Sinnbedingungen unserer Praxis: theoretische und praktische Vernunftansprüche nicht abschließend erkennen, objektivieren und bestimmen können. Religiöse Vernunft setzt da ein, wo diese Negativität bewusst und in universale Achtungs- und Anerkennungsverhältnisse unserer Begrenztheit transformiert wird, in Formen des bewussten Umgangs mit der eigenen Begrenztheit und der daraus sich ergebenden interpersonalen Angewiesenheit und wechselseitigen Achtung. Ein wesentliches Beispiel ist die praktische Anerkennung der lebensermöglichenden Sinnbedingungen unserer Existenz im Verständnis der Welt als Schçpfung unter Einschluss der eigenen Existenz als Mitgeschöpflichkeit. Das Prinzip Verantwortung hat hier einen Ursprung. Ebenso entzieht sich unser Leben als Ganzes einer Vergegenständlichung und Instrumentalisierung. Die praktische Einsicht in diese intrapersonale und interpersonale Negativität der Selbsterkenntnis, die praktische Bedeutung des Bilderverbots für die menschliche Lebenspraxis ist es, die in diesem Zusammenhang genuin religiöse Rationalität artikuliert – als Achtung der irreduziblen Ferne und Fremdheit des Anderen – noch
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jenseits der unaufhörlichen philosophischen und wissenschaftlichen Selbstvergewisserungsversuche der Subjekte in Neuzeit und Moderne. Ebenso können und müssen wir uns zu unseren Vernunftansprchen selbst noch einmal verhalten, zu ihrer Endlichkeit, zu ihrer Begrenztheit, zu ihrem nur allzu oft katastrophalem Scheitern in Geschichte und Gegenwart, zur Offenheit, Fragilität und Verletzlichkeit dieser Ansprüche in einer unsicherbaren Zukunft. Eine vernünftige religiöse Kultur ist eine Kultur des bewussten Umgangs mit diesen transpragmatischen Aspekten unseres – im Übrigen bereits beliebig weit aufgeklärten, autonomen und säkularisierten – Lebens. Dieser Umgang kann viele – nicht vorab festgelegte – ästhetische, symbolische, sprachliche Formen haben. Angesichts der hier nur angedeuteten, vernünftige Praxis selbst erst noch ermöglichenden Aspekte unseres Lebens: dass unser Leben mit seinen Sinnansprüchen berhaupt wirklich ist, dass wir inmitten unserer naturhaften Endlichkeit, materiellen Begrenztheit und Kontingenz die Freiheit zu autonomer Weltgestaltung haben und verantwortlich übernehmen können, dass wir trotz eigener Sterblichkeit an einer Perspektive humanen Sinns festhalten können, die durch die Vergänglichkeit nicht entwertet oder vergleichgültigt wird, – angesichts dieser Aspekte lassen sich religiöse Wahrheitsansprüche als solche Ansprüche auf eine irreduzible Sinnhaftigkeit unserer endlichen Praxis begreifen – christlich z. B. als Glaube, Liebe und Hoffnung. Diese religiösen Ansprüche auf praktische Wahrheit angesichts unserer Endlichkeit und Begrenztheit sind also, recht verstanden, im Kern eine Erweiterung und Vertiefung unseres vernünftigen Welt- und Selbstverständnisses im Bewusstsein unserer naturhaften Endlichkeit und nicht die Eröffnung eines Spielplatzes des Irrationalen. Auch die Praxis der Erinnerung des Leidens und des Opfers in der Geschichte ist Erweiterung humaner Vernunftansprüche ebenso wie die gemeinsame Antizipation gelingender humaner Praxis in der für alle ungesicherten, offenen Zukunft. So hat z. B. Hegel die Bestattungspraxis als ehrende Fürsorge der Lebenden gegenüber den Toten interpretiert. Diese kulturelle Praxis entzieht den Toten der unvernünftigen Macht der bloßen Natur und der ihn entehrenden Verwesung, damit auch sein letztes Sein nicht allein der Natur angehöre und etwas Unvernünftiges bleibe, sondern dass es ein Getanes, und das Recht des Bewusstseins im Toten behauptet sei.8 Die Bestattungspraxis und die ehrende Fürsorge sind ersichtlich nichts Irrationales, sondern sie sind gerade die Ausdeh8
Vgl. dazu: Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Phnomenologie des Geistes, Hamburg 1952, 322 f..
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nung praktischer Vernunft im Sinne der Achtung und Anerkennung der personalen Würde des Toten über seine physische Vernichtung hinaus. Was religiös und theologisch nun über Unbedingtheit, Ewigkeit, Allmacht, Gnade und Rettung gesagt wird, das hat in solchen praktischen Kontexten seine Basis. Im praktischen Verständnis ist humaner Lebenssinn unbedingt und daher auf nichts reduzierbar und von nichts deduzierbar. Wir können also von einer Glaubens- und Vertrauensbasis der Vernunft sprechen, die wir selbst nicht mehr garantieren können. Die praktische Einsicht in diese Garantielosigkeit können wir aus philosophischer Sicht als religiöse Grundeinsicht bezeichnen. Sie hat sich in den geschichtlichen Religionen kulturell ausgeformt, institutionalisiert und stabilisiert, unter Einschluss aller misslungenen oder verzerrten Formen. Ich halte es für angeraten, die philosophische Metasprache hier bewusst möglichst karg zu halten, denn sie würde andernfalls authentische Sinntraditionen sprachlich unangemessen wiedergeben und usurpieren. Ich weise aber darauf hin, dass mein Verständnis der authentischen Wahrheitsansprüche von Religionen: dieser Anspruch bestehe in der Vergegenwärtigung des konstitutiven Konnexes von Negativität und Sinn, Negativität und Vernunft, Negativität und Moralität, dass dieses Verständnis z. B. auch alle sogenannten Naturreligionen einschließt, insofern sie eine kultische und rituelle Vergegenwärtigung der Naturphänomene eben als Grundlage ihrer spezifischen humanen kulturellen Praxis und Vernunftorientierung unternehmen. Keinesfalls darf also der Eindruck entstehen, als würde ich eine enge, wiederum reduktionistische, rationalistische Unterbestimmung von Religion anstreben. Vernunft und Unvernunft sind in der Geschichte nicht nach einem primitiven Schema verteilt. Wie vernünftig eine Praxis jeweils war oder ist, das lässt sich nicht leicht von außen oder von oben beurteilen. Auf die erörterte Weise und im Blick auf die Grenzen der Vernunft lässt sich religiöse Praxis jenseits von Irrationalismus, Dogmatismus und Fundamentalismus als Vergegenwärtigungspraxis humanen Sinns angesichts und inmitten seiner konstitutiven, strukturellen Naturhaftigkeit, Endlichkeit, Begrenztheit und Fragilität verstehen, unter Einschluss der praktischen Einsicht in seine ständige Gefährdetheit und dauerhafte Entzogenheit und angesichts faktischen Scheiterns. Das Bilderverbot, der bildlose ethische Monotheismus, die Rede vom Tod Gottes, die Rede vom deus absconditus, die negative Theologie – sie sind in der griechischchristlichen Tradition große Ausprägungen dieser Vernunfteinsicht, die noch deren strukturelle Negativität mit einbegreift. (In diesem Sinne
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sagte Luther, Glauben heiße auf dem Nichts stehen.) Aber auch wenn wir den Buddhismus betrachten, begegnen wir diesem konstitutiven Zusammenhang von Negativität und Sinn. Die Intensität der Vergegenwärtigungspraxis dieses Zusammenhangs lässt westliche Interpreten rasch mit dem missverständlichen Etikett des „Nihilismus“ operieren, wo es in Wirklichkeit um vernünftige praktische Einsichten geht. Wir können angesichts der Vernunftansprüche der Religionen von einer Kultur praktischer Einsichten z. B. in die unvordenkliche Existenz der Welt und der Natur, in die Transzendenz, d. h. die erkenntnismäßige Unerreichbarkeit unseres eigenen Wesens und in unsere sowohl ungarantierbare als auch lebenssinnkonstitutive Orientierung an Vernunft, Wahrheit und Moral sprechen. Eine grundlegende systematische Religionsphilosophie kann zeigen, dass die Verbundenheit der religiösen Wahrheit mit negativen praktischen Einsichten gerade in klassischen Ansätzen prägnant herausgearbeitet wurde: z. B. in der Analyse des „Anrennens gegen das Paradoxon“ bei Kierkegaard und Wittgenstein oder, anders, in der Praxis des Zen-Koans im Buddhismus. Bei näherer Betrachtung ließe sich zeigen, dass das credo quia absurdum auf der gleichen Ebene wie das credo ut intelligam liegt, wenn es um die negative Einsicht in die sinnkonstitutiven Grenzen unserer Vernunft geht und um das befreiende Selbstverständnis, das eine solche Grundeinsicht bewirken kann. Befreiend deswegen, weil diese Einsicht von illusionären Selbstmissverständnissen der Vernunft befreit. Die kulturellen Modi der Vergegenwärtigung und lebenspraktischen Transformation dieser Einsicht sind so komplex, weil alle Phänomene und Probleme im Leben zum Paradigma ihrer Bedeutung und ihrer Vergegenwärtigung werden können – auf der faktischen, auf der praktischen und auf der begrifflich-sprachlichen Ebene. Als spezifisch religiöse Praxisformen lassen sich auszeichnen: die meditative Vergegenwärtigung des Konnexes von Negativität und Sinn im Blick auf die Totalität unseres Lebens, die kongregativen Modi der Vergegenwärtigung im kultischen, rituellen Rahmen, aber auch in der konkreten Lebenspraxis, schließlich auch spekulative, theoretisch-reflexive und didaktische Modi wie die theologische Sinnexplikation und die religiösen Lehr- und Lerntraditionen in den großen Weltreligionen. Der ästhetische, sprachliche, künstlerische und sinnliche Vergegenwärtigungsreichtum religiöser Vernunft braucht nicht als überflüssiger Zierrat abgetan zu werden, denn die angemessene Form der Vermittlung praktischer Einsichten gehört konstitutiv zu ihrer Rationalität. Da sich ferner praktische Einsichten auf unsere gesamte Praxis beziehen, kann religiöse Rationalität nicht allein im
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Blick auf spezifisch religionsinterne Praxen (religiöse Sprache, Kulte, Riten, Sakramente) thematisiert und beurteilt werden, sondern ebenso in ihrer Bedeutung für den Alltag, die Sittlichkeit, für die moralische, soziale und politische Entwicklung vernünftiger Lebensformen. Nach dem Gesagten gibt es keine falschen Konkurrenzverhältnisse zwischen philosophischen, wissenschaftlichen und religiösen Vernunftansprüchen, sondern recht verstanden ein produktives Ergänzungs-, Erweiterungs- und Vertiefungsverhältnis. Ich meine, dass sich dieses produktive Ergänzungsverhältnis gerade im Paradigma einer Vernunftkritik und Negativitätsreflexion im Anschluss an Kant und Hegel, Heidegger und Wittgenstein entwickeln lässt. Glaubwürdige religiöse Wahrheitsansprüche stehen nicht zuletzt für einen humanen Sinn, der sich nicht in Geldwert ausdrücken lässt. Sie sind daher bleibend unverzichtbar. Entwickelt sich religiöse Vernunft nicht weiter, so stellen sich jedenfalls bald schlechte Surrogate ein. Deswegen sollte Philosophie am religiös-theologischen Diskurs produktiv teilnehmen. Sie muss sich dann aber auch kritisch gegen repressive und dogmatische Formen von Religion wenden und die im ersten Teil des Vortrages erläuterten Missverständnisse aufklären helfen. Postskriptum: Einige Bemerkungen im Anschluss an die Diskussion meines Beitrags auf der Frankfurter Konferenz: Im Folgenden möchte ich einige weiterführende Anschlussüberlegungen kurz skizzieren, die sich aus den Diskussionen auf der Frankfurter Konferenz für mich ergeben haben. Die Rückfragen und Anregungen waren so vielfältig, dass eine gründliche und umfassende Ausführung meiner Antworten eine neue, größere Abhandlung erforderlich machte.9 1. Um den von mehreren trotz meiner Abgrenzung religiöser Wahrheitsansprüche von Ansprüchen der Ethik und Moral erhobenen Vorwurf der Reduktion von Religion auf Ethik/Moral bzw. des „Kulturprotestantismus“ (Habermas) zurückzuweisen, unterstreiche ich zunächst noch einmal meine grundsätzliche Unterscheidung von (1) theoretischer Intersubjektivitt (in Alltag und Wissenschaft), (2) praktischer Transsubjektivitt (in Alltag, Moral, Recht und Politik) und 9
Vgl. Thomas Rentsch, Gott, Berlin/New York 2005.
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(3) religiöser und ästhetischer Konsubjektivitt (in Alltag, Kunst und Religion). In der Konsubjektivität ( jüdisch, christlich und moslemisch z. B. in der Gemeinde) bleiben wir die konkreten, bedürftigen Individuen, die wir sind, als Ganze und können diese konkrete Individualität dennoch in einen Raum gemeinsamer Sinnorientierung einbeziehen, der anders und umfassender ist als der durch theoretische Begründungen und praktische Rechtfertigungen eröffnete Raum. Geburt und Tod, Scheitern und Sinn, Liebe und Vergeblichkeit sind hier einbegriffen in kommunikativer Praxis. In rational-rekonstruktiver Perspektive können wir mit Hegel von einer Aufhebung der Moralitt in der Religion sprechen: (I) im Sinne einer Überwindung und Befreiung von Moral, von Normen, von Ge- und Verboten, von Schuld und schlechtem Gewissen; (2) im Sinne eines durch diese Befreiung erst eröffneten und ermöglichten auch moralisch gelingenden Lebens; (3) im Sinne eines auf diese Weise eröffneten besseren, umfassenderen Verständnisses der Moral und damit des ganzen Lebens, das die „correctness“ hinter sich lässt und die gesamte Kritik der philosophischen Moralanalysen (Marx, Nietzsche, Freud) integrieren kann. 2. Eine zweite weitreichende Rückfrage ( Jürgen Habermas, Otto Kallscheuer, Ludwig Nagl, Thomas M. Schmidt) betrifft das Verhältnis meiner rationalen philosophischen Rekonstruktion religiöser Wahrheitsund Geltungsansprüche zu den faktischen Religionen und den Selbstverständnissen religiöser Menschen, die in der Regel ja nicht philosophieren, und sie betrifft somit auch den Status von Religionsphilosophie. So fragte J. Habermas: „Soll sich ein Christ darin wiederfinden können?“ Auf meine bejahende Antwort bemerkte O. Kallscheuer: „Dann ist es unvollständig.“ In der Tat! Meine Analyse ist im Wesentlichen negativkritisch und, was die „positiven“ Inhalte von Religion anbetrifft, zunächst formal-strukturell angelegt. Das negativ-kritische Verfahren grenzt die falschen und irrationalen Verständnisse aus, und lässt damit den Platz für die richtigen Verständnisse frei bzw. eröffnet ihn. Das „Positive“ der richtigen Verständnisse kann so zunächst nur formal-strukturell aufgewiesen werden. Es kann demgegenüber in der Philosophie keine allgemeine Theorie der Religion in Analogie zu empirischen und explanatorischen religionswissenschaftlichen, religionstheologischen oder religionssoziologischen Theorien geben. (Zu einer möglichen ,positiven‘ Metaphysik s. unter 3.) Es geht vielmehr zunächst darum, die Konsti-
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tution (bzw. die Grammatik) spezifisch religiöser Vernunft mitsamt deren genuinen Praxisformen paradigmatisch zu verdeutlichen. Die Praxis selbst ist konkret und wird immer geschichtlich-kulturell, existentiell und interexistentiell ausgeformt und situiert sein. Es ist nicht sinnvoll, deduktiv und von außen an solche Praxis heranzugehen, auch nicht schematisch mit einem geschichtsphilosophischen Modell „vom Mythos zum Logos“, vom Aberglauben zur Aufklärung, von Entfremdung zu Säkularisierung, ohne genau die Kontexte zu erfassen. Durch europäische Rationalisierungsprozesse und westliche Aufklärung, der im Wesentlichen auch religionsphilosophische Reflexion entstammt, kann eine die Authentizität fremder und alter Praxisformen verzerrende oder verfehlende metasprachliche Thematisierung konkreter Religionen nahegelegt werden. Sinnkriterial und in hermeneutischer Selbstreflexivität gilt es, solche falschen metasprachlichen Zugriffe zu vermeiden. Die angemessenen Formen, religiöse Verständnisse und Selbstverständnisse zu klären (einschließlich des eigenen religiösen Selbstverständnisses), sind konkrete Kommunikation und, soweit möglich, sogar aktive Partizipation an der religiösen Praxis. Diese konsubjektive kommunikative Praxis kann kaum, schwer oder gar nicht durch theoretische, objektivierende Zugangsweisen allein ersetzt werden. Man könnte sagen: Wie der Glaubende sich zu philosophischen Rekonstruktionen seiner Religion stellt, das kann nicht vorab antizipiert werden. Jedenfalls ist die philosophische Reflexion nicht selbst eine – nur besonders vernünftige – Form von Religion, sondern eine kritische Klärungsbemühung. Religiöse, aber auch areligiöse Menschen sollten sich mit dem, was an ihrer Sprach- und Lebenspraxis sinnvoll und vernünftig ist, in der philosophischen Rekonstruktion wiederfinden können – bei hinreichender Einübung und Vertrautheit mit Philosophie. Ansonsten aber gilt: Philosophie ist zwar auch eine existentielle Sonderpraxis, aber die Religionen sind jahrtausendealte kulturelle Lebensformen, an denen Milliarden Menschen in konkreten Vollzügen partizipieren. Ohne diese praktische Realitt gäbe es kein Material religionsphilosophischer Reflexion. Das Verhältnis Religionsphilosophie – Religionen darf man sich daher nicht zu einfach, zu schematisch vorstellen. Behelfsmäßig können folgende Ebenen unterschieden werden: (1) Faktische religiöse Sprachspiele und Lebensformen in Geschichte und Gegenwart (einschließlich ihrer eigenen Reflexionskultur, ihrer Theologien, Erläuterungstraditionen);
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(2) ,Interne‘ hermeneutische Rekonstruktion der intrinsischen Authentizität dieser Praxen unter Berücksichtigung aller konkreten Kontexte; damit verbunden (3) Religionsphilosophische rational-sinnkriteriale, ,externe‘ Beurteilung der Rationalität der jeweiligen religiösen Praxis. Ich gebe allen Kritikern Recht, die das Desiderat einer weitergehenden Klärung des Verhältnisses dieser Ebenen einklagten. Auf diesem Hintergrund ist aber die vorgängige Zielbestimmung von Religionsphilosophie als Religionskritik einerseits, als hermeneutischer Rekonstruktion des vernünftigen Wahrheits- und Geltungssinnes von Religion andererseits zu unterscheiden. Religionsphilosophie soll Sinn wie Unsinn der Religion klären helfen – so, wie politische Philosophie zu Politik, Rechtsphilosophie zum Recht, Wissenschaftsphilosophie zur Theorie und Praxis der Wissenschaften steht. Deswegen bedarf es hier wie dort der gründlichen Kenntnis der internen Verfasstheit der thematischen Sinntraditionen. Gerade angesichts der religionsphilosophischen Thematik und ihrer fundamentalen und universalen Problematik kündigt sich im Hintergrund im Übrigen ein dringliches weiteres Desiderat an: das einer erneuerten Architektonik bzw. Topologie der Vernunft. 3. Dies führt auf einen dritten Fokus der Diskussion; in ihm bündeln sich Fragen (v. a. von Nagl, Kaufmann, Honnefelder) nach einer möglichen positiven Sinnexplikation genuin religiçser Vernunft insbesondere in ihrer transethischen Dimension. Mein Vortrag akzentuiert die Differenz von Religion und Moral bei deren gleichzeitiger enger Verklammerung. Ludwig Nagl macht in seinem Kommentar auf die Linie Kant – Peirce – James – Putnam aufmerksam und kritisiert meine Distanzierung von Kants Metasprache der Postulatenlehre. Ich stimme mit ihm darin überein, dass eine „Hoffnungslogik“ im Kontext der unverfügbaren, unsicherbaren Sinnbedingungen unseres praktisch-vernünftigen gemeinsamen Lebens zum Kernbereich religiöser Vernunft gehört. Ob im Messianismus, ob in den Eschatologien und Soteriologien, ob in der Befreiungstheologie oder auch in den Konzeptionen anamnetischer Solidarität – die Unverzichtbarkeit der Hoffnungsdimension ist einer der „harten“ Gründe und Fundamente der Religionen. Deswegen ist die These, an der „Schnittstelle von Praxisende und Hoffnung“ zeige sich so etwas wie religiöse Tiefe, ganz in meinem Sinne. Die Nachfrage nach der positiven Explikation der Grundzüge der emphatischen, ekstatischen Vernunft reicht aber noch weiter. „Wie verhalten sich metaphysikkritische Negativität und emphatische Vernunft („ekstatisches Denken“) zueinander?“ – so
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fragt Nagl zu Recht. Und ich stimme ihm auch darin zu, dass meine Prätention, über Kant hinauszudenken, „erst dann stimmig (würde), wenn wir im Optionenkatalog diversifizierter Analysen humaner Geltungsansprüche ein differenzierteres Instrumentarium besäßen als das einer – nicht nur theoretizismuskritischen, sondern auch transethisch verfassten – Kantischen Hoffnungslogik“. Hier berührt sich die Aufgabe der Religionsphilosophie mit einer systematischen Rekonstruktion, Rehabilitierung und Fehlentwicklung der Metaphysik bzw. näherhin der philosophischen Theologie. Von der traditionellen metaphysica specialis scheint ja vielerorts nur noch der Freiheitstraktat in modernen Varianten ,detranszendentalisiert‘ zu überleben. In der religionsphilosophischen Reflexion auf die transpragmatischen Sinnbedingungen unserer Praxis stoßen wir allenthalben auf Transzendenzbezüge, die den Rahmen der Immanenz überschreiten, durchbrechen und sprengen. Gerade die genuin religiösen Praxen: Z.B. supererogatorische Opfer, Riten, Kulte, Gebet, Gesang, Meditation, Vergebung, Beichte – eröffnen der Vernunft einen Bereich, der ohne sie tendenziell der Sprachlosigkeit, der Trostlosigkeit und Sinnlosigkeit, der bloßen Negativität, der Banalität oder kruder Faktizität anheimfiele und überantwortet bliebe. Insofern wird Vernunft hier ekstatisch. Wird sie damit im Kantischen Sinne „überschwänglich“ und „entfremdet“ sie sich ihrem eigenen Bereich – oder kommt sie so zu sich selbst? Über eine Hoffnungslogik hinaus setzen hier Fragen ein, die zum Projekt einer Rehabilitation der Metaphysik und auch philosophischer Theologie nach Kant und Hegel, nach Marx, Nietzsche und Freud sowie (in meiner Sicht) nicht ohne Heidegger, Wittgenstein und Adorno führen müssen. Im Gegensatz zu vielen Gegenwartsphilosophen, die wie Rorty und Habermas im Konsensus mit Reduktionisten, Positivisten und Szientisten vom „Ende der Metaphysik“, vom „nachmetaphysischen Denken“, vom „Abschied vom Prinzipiellen“ (O. Marquard) bzw. Absoluten sprechen, halte ich eine kritische Rezeption der solchermaßen flächendeckend allzu leichtfertig abgetanen Traditionen für philosophisch viel wichtiger und interessanter als die zu Gemeinplätzen gewordenen Formeln des Totsagens (Tod Gottes, Tod des Subjekts, Ende der Geschichte, usw.). Es gilt demgegenüber, die Rationalitätspotentiale der metaphysischen Sinngrenzreflexion und Sinngrundreflexion wieder neu zu erschließen und weiterzuentwickeln, ohne deren Vorarbeit ja auch die Kantische Revolution gar nicht erst verstehbar wäre. Eine kritische Rehabilitation der metaphysischen und philosophisch-theologischen Reflexion hätte eine umfassende Neubestimmung von Transzendenz wie auch des Verhält-
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nisses von Transzendenz und Immanenz zu unternehmen. In der Perspektive einer solchen philosophischen Grenz- und Grundreflexion läge dann auch die Freilegung der Tiefenstruktur religiöser Vernunft an der Basis aller kulturellen und geschichtlichen Ausformungen von Religion einschließlich areligiöser, völlig säkularisierter oder ,nihilistischer‘ Lebensformen. Erst, wenn diese Grundfragen zumindest im Ansatz einer systematischen Lösung zugeführt werden: die präzise Verhältnisbestimmung der religionsphilosophischen Rekonstruktion zu den konkreten historischen Religionen (unter Einschluss der Relativismus-Universalismus-Problematik) einerseits, die ,positive‘ sinnkritische Explikation des genuinen Kerngehaltes religiöser Sinn- und Wahrheitsansprüche im Kontext einer Bestimmung des möglichen vernünftigen Sinns der Rede von Transzendenz, vom Absoluten und von Gott andererseits, erst dann wird auch das genuin transethische Potential religiöser Vernunft voll erfasst werden können. Die Fragestellung meines Beitrages nach den spezifischen, irreduziblen Wahrheitsansprüchen religiöser Vernunft führte somit in der Diskussion auf zwei weitreichende Anschlussprobleme: auf die Frage nach dem Verhältnis von Philosophie und Religionen einerseits, auf die Frage nach dem Verhältnis gegenwärtiger kritischer Philosophie zu ihrer eigenen Herkunft und Geschichte, zu Metaphysik und philosophischer Theologie andererseits. Diese Fragen, davon bin ich überzeugt, kommen neu auf uns zu.10
10 Vgl. Thomas Rentsch, „Religiöse Vernunft. Kritik und Rekonstruktion. Systematische Religionsphilosophie als kritische Hermeneutik“, in: ders., Negativitt und praktische Vernunft. Frankfurt a.M. 2000, 180 – 209; ders., „Worin besteht die Irreduzibilität religiöser Wahrheitsansprüche? Religion und negative Metaphysik“, in diesem Band; ders., „Transzendenz und Sprache. Der Mensch in Verhältnis zu Grenze und Sinngrund der Welt“, in diesem Band; ders., „Wieder nach Gott fragen?, Thesen und Analysen zur Rehabilitation philosophischer Theologie“, in diesem Band; ders., Gott, A.a.O.
Worin besteht die Irreduzibilität religiöser Wahrheitsansprüche? Religion und negative Metaphysik 1. Die hermeneutische Irreduzibilität Religion ist die Tiefendimension von Rationalität. Diese Behauptung möchte ich im Folgenden begründen. Wahr sind Sätze, die sich im Zweifelsfall oder bei Nachfrage argumentativ begründen lassen. Sinnvoll sind praktische Orientierungen, die sich einsichtig machen und rechtfertigen lassen. Solche Sätze und Orientierungen beziehen sich auf die im Prinzip allen vernünftigen Menschen vertraute Wirklichkeit einer gemeinsamen, sprachlich erschlossenen Welt. Die allen gemeinsame Welt, die im Prinzip vernünftig zugänglich ist, ist nichts Statisches, sondern ständig im Wandel begriffen und sehr unterschiedlichen Perspektiven und Interpretationen zugänglich. Alle Dissense und Relativismen, so spannungsvoll sie auch sein mögen, haben nur auf dem Hintergrund dieser gemeinsamen WeltWirklichkeit einen Sinn, lassen sich nur auf diesem Hintergrund verstehen. Auch religiöse Wahrheitsansprüche und Orientierungen beziehen sich auf diese gemeinsame menschliche Welt und bewahrheiten sich in ihr oder sie stellen sich als letztlich falsch, als illusionär oder autoritär heraus. Bereits innerhalb der Fülle und Komplexität geschichtlicher Religionsformen lassen sich deshalb im Prinzip authentische und mit anderen Formen von Rationalität vereinbare von defizienten Formen unterscheiden: so steht Glaube neben Irrglaube und Aberglaube, Fundamentalismus und Dogmatismus stehen neben befreienden und deshalb humanen Formen religiöser Praxis, Gott stand und steht gegen viele Götzen, authentische Wunder stehen neben spektakulären Mirakeln, politisch funktionalisierter religiöser Fanatismus steht gegen eine Religion, die in den Anderen in universaler Perspektive Freunde, Brüder und Schwestern sieht. Die Kriterien vernünftiger Religiosität und ihrer Wahrheits- und Geltungsansprüche sind dabei zunächst einmal keine anderen als diejenigen sonstiger Lebensorientierung in der Wirklichkeit einer gemein-
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samen Welt. Kurz: Es ging und es geht überall mit rechten Dingen zu, auch wenn z. B. alte Traditionen andere sprachliche Weisen der Vergegenwärtigung ihres Welt- und Selbstverständnisses und andere kultische und rituelle Übungen praktizierten. Dass es mit rechten Dingen zuging, ist auch der Grund dafür, dass wir ferne wie auch fremde religiöse Zeugnisse in ihrem internen Wahrheits- und Authentizitätsanspruch verstehen können, ohne diesen Anspruch noch selbst in ihrer Form zu übernehmen und zu vertreten. Wir leben weiß Gott nicht mehr unter dem altgriechischen Götterhimmel. Dennoch wissen wir, je nach Bildungshorizont, etwas anzufangen mit Zeus, Apollon und Dionysos, mit Aphrodite, mit Pan und Poseidon. Diese Götter beziehen sich auf intensive Lebenserfahrung und Lebenswirklichkeit, und wir verstehen den Sinn dieser Gestalten, ihre existentielle Bedeutung, die ganz unabhängig ist von ihrer nur vermeintlich von dieser Bedeutung separierbaren, bloßen „Existenz“. Wir können sagen: Die alten Griechen haben sich so ausgedrückt, um das ihnen Wichtige im Leben auf anspruchsvolle Weise zu artikulieren. Auch der scheinbar oft bizarre Götterhimmel des alten Ägypten besetzt ganz verständlich die Stellen existentieller Lebenswirklichkeit; so steht Bastet mit dem Katzenkopf für Fröhlichkeit, Festlichkeit, Liebe und Freude; die Göttin Maat ist die Inkarnation der Wahrheit und Gerechtigkeit – mit ihr wird das Herz der Verstorbenen gewogen; selbst Toeris, dargestellt als aufrecht stehendes trächtiges Nilpferd mit gehörntem Krokodilskopf und Sonnenscheibe, Schwanz und Löwenbeinen, sie ist die Göttin der Frauen, der Wochenstube und der Wöchnerinnen. Als gutmütige Beschützerin hält sie das Lebenszeichen in der Hand und stützt sich auf das Zeichen für Schutz und Beistand. All dies ist eminent vernünftig, verstehbar und sinnvoll als intensiver Ausdruck letzter, grundlegender Lebenswirklichkeiten: Liebe und Freude, Wahrheit und Gerechtigkeit, Fruchtbarkeit und schutzbedürftiges Menschenleben. Die religiöse Sprache bildet somit keine noch über oder unter der normalen Welt I vorhandene Welt II repräsentationalistisch ab. Dies wäre eine vorhandenheitsontologische bzw. vorhandenheitssemantische, metasprachliche Fehldeutung religiöser Rede und Praxis, die leider sehr verbreitet ist. Vernünftig ließe sich sagen: die Rede und die Darstellungsformen von Toeris artikulieren auf emphatische Weise die Wahrheit über die Schwangerschaft, das Wochenbett und die Geburt im alten Ägypten, und damit eingeschlossen die Wahrheit über den angemessenen praktischen Umgang mit diesen Lebenswirklichkeiten par excellence. Auf emphatische Weise; das heißt auch: es wird eine hçhere Wahrheit artikuliert, die in ihrem ganzheitlichen Anspruch Faktizität, Normativität
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und Praxis auf sinnvolle Weise umgreift. Gerade deswegen wird dieser höheren Wahrheit ja auch eine ganz besondere Ausdrucksform und rituelle Sonderpraxis zugeordnet. Denn die Schutzgöttin verdichtet die menschliche Lebenswirklichkeit von Schwangerschaft, Empfängnis und Geburt, in der das Faktische, das Normative und das Praktische, kurz: das, was geschieht und das, was wir tun können und tun müssen, untrennbar verbunden sind. Die Ebene der hçheren Wahrheit ist deshalb nicht unvernünftig oder gar widervernünftig. Sie übersteigt zunächst einmal die bloß verstandesmäßig objektivierbare Ebene. Es wäre ein Fall von hermeneutischer Blindheit, würde man der Rede und der Praxis, die diese Lebensschutzgöttin Toeris konstituiert und umgibt, vorwerfen, sie stimme ja nicht mit unseren zoologischen Kenntnissen über Krokodile und Nilpferde überein. Das wäre eine grundsätzliche Ebenenverwechslung, denn Wahrheitsansprüche über das konkrete Tierleben im Nil der damaligen Zeit werden mit dieser Rede und Praxis nicht erhoben, wohl jedoch lebenspraktische Wahrheitsansprüche hinsichtlich dessen, was gut ist im Hinblick auf Schwangerschaft, werdende Mütter, Empfängnis und des Berufsethos der altägyptischen Hebammen. Ich nenne diesen Aspekt des Wahrheitsanspruches religiöser Rede mitsamt ihrer sinnkonstitutiven Praxisverwobenheit ihre hermeneutische Irreduzibilitt. Das heißt auch: wenn wir diese Rede und Praxis berhaupt verstehen wollen, so müssen wir zunächst einmal ihre interne Logik, mit Wittgenstein, das Sprachspiel begreifen. Gerade deswegen habe ich ein so entlegenes Beispiel gewählt. Ersichtlich ist das Verstehen und Begreifen der internen Logik hier nicht notwendig mit der Übernahme der konkreten kultischen und rituellen Verehrungspraxis einer solchen Gottheit verbunden. Hier ist es anders als mit geläufigen z. B. arithmetischen oder empirischen, z. B. medizinischen Wahrheitsansprüchen, die viel stärker, wenn auch nicht gänzlich kulturunabhängig sind. Es gilt: Je mehr Wahrheitsansprüche mit der gesamten inneren Komplexität einer kulturellen menschlichen Lebensform verbunden sind, desto voraussetzungsreicher ist ihr Verständnis, desto unverzichtbarer ist die Kenntnis ihres praktischen Kontexts. In unserer westlichen Zivilisation werden viele ältere religiöse Lebensformen durch modische, industriell vermarktbare Kulte und Praxen ersetzt. Eine große Gottheit heißt hier „Leben“: Leben, life, fitness, wellness, fun, Spaß. Diese Gottheit des unbeschwerten Lebensgenusses, mit den kleineren Göttern der Jugend, des Konsums, der Freizeit, des Urlaubs, der Reisen und der sportlichen Aktivitäten ist zwar sehr mächtig. Sie bestimmt das Lebenssinnverständnis vieler Menschen, und wer würde
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sich über einen solchen faktischen Polytheismus bzw. Hedonismus ernstlich wundern. (Woran jemand sein Herz hängt, das ist sein Gott, sagt Luther.) Trotzdem vermag die Hedone¯ letztlich leider nichts gegen Alter, Krankheit und Tod. Dementsprechend erhalten sich auch bei den sehr diesseitig polytheistischen Menschen traditionelle Formen der Totenbestattung und der Grabpflege. Deren praktischer Wahrheitsanspruch ist evident. Er wird an folgender Anekdote indirekt greifbar. Bei den SiouxIndianern wird der Verstorbene mit Speise und Trank versehen, als ob er noch lebte. Ein weißer Amerikaner, vermeintlich besonders aufgeklärt, fragte einmal einen Sioux, den er bei solch frommem Tun beobachtete: „Bildest du dir ein, dass der Tote heraufkommt und dein Essen verzehrt?“ Antwort des Indianers: „Ebenso wie du dir einbildest, dass dein Toter an den Blumen riecht, die du auf sein Grab pflanzt!“ Der aufgeklärte Amerikaner hatte das religiöse Tun schlicht nicht verstanden. Schlimmer noch: Er sah nicht die Nhe seiner eigenen Praxis zu der von ihm als illusionär missverstandenen Handlungsweise des Indianers. Angesichts der Totenbestattung und der Grabpflege lässt sich etwas vom irreduziblen Sinn religiöser Einstellungen verdeutlichen. Wo wir, wie man so sagt, eigentlich nichts mehr machen können, handelt es sich (mit Hegel gesprochen) um eine ehrende Fürsorge der Lebenden gegenüber den Toten. Diese ehrende Fürsorge als kulturelle Praxis – Hegel spricht von ihr als der „Bewegung des Bewusstseins“ der Familie – diese Fürsorge entzieht den Toten der unvernnftigen Macht der bloßen Natur und der ihn entehrenden Verwesung, damit auch sein letztes Sein, dies allgemeine Sein, nicht allein der Natur angehöre und etwas Unvernnftiges bleibe, sondern dass es ein getanes, und das Recht des Bewusstseins im Toten behauptet sei: Die Blutsverwandtschaft ergänzt also die abstrakte natürliche Bewegung dadurch, daß sie die Bewegung des Bewusstseins hinzufügt, das Werk der Natur unterbricht, und den Blutsverwandten der Zerstörung entreißt, oder besser, weil die Zerstörung, sein Werden zum reinen Sein, notwendig ist, selbst die Tat der Zerstörung über sich nimmt. – Es kommt hierdurch zu Stande, daß auch das tote, das allgemeine Sein ein in sich zurückgekehrtes, ein Frsichsein, oder die kraftlose reine einzelne Einzelheit zur allgemeinen Individualitt erhoben wird. Der Tote, da er sein Sein von seinem Tun oder negativen Eins freigelassen, ist die leere Einzelheit, nur ein passives Sein fr anderes, aller niedrigen vernunftlosen Individualität und den Kräften abstrakter Stoffe preisgegeben, wovon jene um des Lebens willen, das sie hat, diese um ihrer negativen Natur willen jetzt mächtiger sind als er. Dies ihn entehrende Tun bewußtloser Begierde und abstrakter Wesen hält die Familie von ihm ab, setzt das Ihrige an die Stelle, und vermählt den Verwandten dem
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Schoße der Erde, der elementarischen unvergänglichen Individualität; sie macht ihn hierdurch zum Genossen eines Gemeinwesens, welches vielmehr die Kräfte der einzelnen Stoffe und die niedrigen Lebendigkeiten, die gegen ihn frei werden und ihn zerstören wollten, überwältigt und gebunden hält. Diese letzte Pflicht macht also das vollkommene gçttliche Gesetz, oder die positive sittliche Handlung gegen den Einzelnen aus.1
Die Praxis der Bestattung und der ehrenden Fürsorge ist ersichtlich nichts Irrationales, sondern gerade die Ausdehnung praktischer Vernunft im Sinne der Achtung und Anerkennung der personalen Würde des Toten über seine physische Vernichtung hinaus. Wir könnten die Reste ja auch schlicht „entsorgen“, uns viel Arbeit ersparen! So, wie der irreduzible Sinn der Schutzgöttin Toeris im Blick auf die jedem Menschen unverfügbare Geburt und die sie umgebende Praxis verständlich wird, so erhalten Bestattung und Grabpflege mit ihren vielen praktischen Weiterungen des ehrenden Gedenkens und der liebevollen Erinnerung ihren Sinn mit Bezug auf unsere Sterblichkeit. Das Irreduzible im emphatischen Wahrheitsanspruch religiöser Rede und Praxis kann philosophisch zunächst als ihr praktischer Wahrheitsanspruch im Verbund mit einem transpragmatischen Lebensbezug bestimmt werden. Das verbindet sie, wie wir noch sehen werden, mit Traditionen europäischer Metaphysik. Es handelt sich darum, dass Vernunftansprüche über unsere technisch-pragmatischen und instrumentellen Handlungsmöglichkeiten hinaus vertieft und erweitert werden. Eine solche ekstatische Vernunft bezieht auch noch ihre eigenen transpragmatischen Sinnbedingungen in das Selbstbewusstsein ihrer kulturellen Praxis mit ein. Die transpragmatischen, unsere Handlungsmöglichkeiten nicht nur übersteigenden, sondern auch ermöglichenden und bestimmenden Aspekte unseres Lebens, z. B. Geburt und Tod – noch formaler: die zeitliche Endlichkeit unseres Daseins – sind kulturinvariant, die Art und Weise des Umgangs mit ihnen ist in hohem Maße kulturkovariant. In diesem kulturkovarianten Umgang mit den transpragmatischen Sinnbedingungen vernünftigen Lebens zeigt sich der kreative Entwurfscharakter ekstatischer Vernunft. Dieser kreative Entwurfscharakter verbindet die ekstatische religiöse Vernunft seit den Zeiten des Mythos mit Dichtung, Poesie, mit ästhetischen Ausdrucksund Vergegenwärtigungsformen, von den altägyptischen Sonnenhymnen bis zur islamischen, bildlosen Architektur und bis zur Gestaltungspraxis der Zen-Gärten, um nur einige Beispiele zu nennen. In diesen 1
Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Phnomenologie des Geistes, Hamburg 61952, 322 f.
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kulturkovarianten Vergegenwärtigungsformen der transpragmatischen Sinnbedingungen einer menschlichen Welt zeigen sich der ganze Reichtum und die komplexe Binnendifferenziertheit ekstatischer Vernunft. So gliedert sich die endliche Zeitlichkeit des Lebens in die weichenstellenden Phasen der Geburt, der Namengebung, der Reife, der Ehe und Empfängnis, des Umgangs mit dem Altern und den Alten, in Sterben und Tod. Diese weitgehend invarianten Lebensbedingungen verlangen gleichwohl einen Umgang mit ihnen, einen praktisch vernünftigen Umgang, um es mit Hegel zu sagen. Denn: Verhalten müssen wir uns zu diesen unverfügbaren Bedingungen unseres Lebens, es fragt sich nur, wie. Zu diesen Bedingungen gehören nicht nur die faktischen, sondern auch die praktischen Bedingungen, die z. B. in unserer Tradition als Individualität, moralische Verantwortung und personale Würde bezeichnet werden. Auch zu ihnen können und müssen wir uns noch einmal verhalten: zu unserer Schuld, zu unserer Vergangenheit, zu dem, was wir in unserer endlichen Zeit als unseren Lebenssinn entwerfen. Geburt und Tod, Tag und Nacht, die Sexualität sind „natürliche“ Phänomene unseres Lebens. Aber auch sie gibt es nicht „an sich“, sondern nur so, wie wir uns, kulturell und sprachlich vermittelt, zu ihnen verhalten. In traditionellen Kulturen war dieses Verhalten in hohem Maße verbindlich institutionalisiert. So verehrten die Kelten spezifische Übergangsphänomene und Doppelaspekte der Wirklichkeit: die blutige Placenta, Morgen- und Abenddämmerung, zweigeschlechtliche, janusköpfige Gottheiten. Ein staunendes, meditatives, verehrendes Verhältnis zu grundlegenden Lebenswirklichkeiten zu kultivieren, zu Wirklichkeiten, die unserem vernünftigen Handeln ermöglichend vorausliegen: Sensibilität für das Unerklärliche unseres Lebens wachzurufen: dass wir geboren wurden, als Frau oder Mann, in eine Welt hinein, in der es Morgen und Abend gibt – auch darin besteht die irreduzible Authentizität vieler religiöser Traditionen und Zeugnisse. Ihre auf solche Wirklichkeiten bezogenen internen Wahrheitsansprüche machen sie hermeneutisch irreduzibel als Zeugnisse ekstatischer Vernunft. Die hermeneutische Irreduzibilität gilt auch dann, wenn die Zeugnisse aus alten oder aus uns ferneren Kulturen stammen und nicht unsere eigenen sind. Ihrer humanen Dignität tut dies keinen Abbruch, wo sie Ausdruck des nicht weiter Erklärlichen, religiös: des Wunders der Existenz sind. Die kulturelle Variabilität religiöser Sprach- und Lebensformen ist groß; die Form und das Gewicht, die jeweilige geschichtliche Lebensformen dem Umgang mit lebenssinnkonstitutiver Wirklichkeit
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geben, kann sehr unterschiedlich sein. Das hängt von sehr vielen sonstigen Faktoren ab, tangiert aber nicht den Wahrheitsanspruch sich vielfach wandelnder religiöser, ekstatischer, sich für ihre eigenen transpragmatischen Sinnbedingungen öffnender Vernunft. Die bisherige Analyse führte zu folgendem Ergebnis. In religiöser Praxis, in religiösen Sprach- und Lebensformen bekundet sich die Einsicht in transpragmatische Sinnbedingungen menschlichen Lebens und auch menschlicher Vernunft. Ihr Wahrheitsanspruch besteht also, recht verstanden, nicht in etwas Irrationalem, Nichtvernünftigem oder Unvernünftigem oder gar Widervernünftigem, sondern – in der Perspektive der Sinnbedingungen von Vernunft selbst – in etwas Transrationalem, Übervernünftigem, das keineswegs unvernünftig ist. Wenn die religiöse Rede und Praxis bekennend, bezeugend und betend, rituell und sakramental, meditativ und kongregativ den ungeschuldeten Geschenkcharakter aller Wirklichkeit artikuliert und kultiviert – und zwar unter Einschluss der ethischen und moralischen Wirklichkeit – dann lässt sich solche Praxis als kulturell gestaltete, gelebte Einsicht in die transpragmatischen Sinnbedingungen einer humanen Welt verstehen. Wo sie dies nicht ist – in Fanatismus, Dogmatismus und den vielen Irrationalismen, von denen alle menschliche Praxis durchsetzt ist, wo sie politisch funktionalisiert oder zur Aufrechterhaltung ethisch und politisch verurteilenswerter Verhältnisse instrumentalisiert wird –, da kommt es zu Perversionsformen, die der Kritik um willen des genuinen Wahrheitsanspruchs von Religion zu unterziehen sind.
2. Negative Metaphysik: Die anthropologisch-praktische Irreduzibilität Wir können uns diesem Wahrheitsanspruch auch von einer nicht-religiösen Perspektive aus annähern, nämlich aus der Perspektive der Philosophie. Diese lässt sich seit ihrer antiken Entstehung im Kern und im Wesen durch die Jahrhunderte hindurch als kritische Sinngrenzreflexion und damit als Sinngrundreflexion verstehen. Theologisch redet die Philosophie bei Platon und Aristoteles bekanntlich lange vor der Entfaltung einer spezifisch christlichen Metaphysik; und weder Kants transzendentale Kritik noch Hegels Dialektik, weder Heideggers Fundamentalontologie noch Wittgensteins sprachkritisch-mystische Grenzziehung sind ohne theologische Kontexte und religiöse Quellen, Hintergründe und Bezüge
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verstehbar. Philosophie und Religion, Metaphysik und Theologie gehören zusammen zur Einheit der europäischen Vernunftgeschichte. Worin besteht diese Einheit und wie lässt sie sich – möglichst kurz – charakterisieren? Ich sehe diese Einheit zentral in negativen praktischen Einsichten angelegt, deren praktische, ethische Bedeutung für unser vernünftiges Welt- und Selbstverständnis, insbesondere auch für unser Freiheitsverständnis entscheidend ist. Dramatisch ließe sich für diesen Zusammenhang an das Diktum Nietzsches anknüpfen, am Beginn des Abendlandes stehe der Tod zweier Männer: Sokrates und Jesus. Die negativ-kritischen praktischen Einsichten, die nach meiner Auffassung für die europäische Vernunftgeschichte konstitutiv sind, sind zentral vorgeprägt im biblischen Bilderverbot, im sokratischen Nichtwissen und in der Verkündigung des Kreuzestodes des menschgewordenen Gottes. Das Bilderverbot entfaltet eine insbesondere im Verbund mit der Ethik ungeheure rationalitätskonstitutive, freisetzende und kritische Dynamik. Das sokratische Nichtwissen erst setzt den freien, gemeinsamen und dialogischen Entwurf kommunikativer Rationalitätsformen in Wissenschaft, Recht, Technik und Politik frei. Der Zusammenhang von Metaphysik und Politik bildet sich hier aus. Der Kreuzestod Jesu und das Bleiben der Gemeinde in der Liebe stellt ein einzigartiges religions- und kulturgründendes Ereignis (auch der Befreiung) dar. Auch ohne direkten Religionsbezug geht es in der Philosophie mit Kant um die „Selbsterkenntnis des Verstandes und der Vernunft“, die er als anthropologia transcendentalis2 bezeichnet: das heißt, es geht um die selbstreflexiv-kritische Analyse der Sinnbedingungen und Grenzen unseres Denkens, Erkennens und Handelns. Diese Reflexion auf die sinnkonstitutiven Grenzen der menschlichen Welt berührt sich aber immer wieder mit religiösen Erfahrungen und Einsichten. Solche Berührungspunkte lassen sich nach meiner Auffassung systematisch neutral zunächst in Form folgender negativ-praktischer Einsichten fassen: (1.) Es ist zunächst die Einsicht, dass wir das Ganze der Welt nicht erkennen können. Erst recht steht uns das Ganze der Welt handelnd nicht zur Verfügung. Nur partiale Aspekte der Welt sind uns, selbst wiederum nur sehr partial, diskursiv-zeitlich, perspektivisch-räumlich, kurz: durch und durch endlich und zeitlich begrenzt zugänglich. Kantisch und als 2
Immanuel Kant, Kants Opus Postumum, hg. von Artur Buchenau, Berlin 1936, Nr. 9132.
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negative Metaphysik formuliert: Die Welt ist kein Objekt möglicher Erfahrung. (2.) Es ist ferner die Einsicht, dass wir auch uns selbst, unser Wesen, nicht erkennen und nicht zur Gänze objektivieren können. Würden wir es versuchen – und wir tun es auf diskursiv-endliche Weise immer wieder –, so wären es doch wieder wir selbst, die handelnd unobjektivierbarer Grund dieser Objektivationsleistungen sind. Weder uns selbst, noch die Anderen können wir anders denn gebrochen kommunikativ transparent machen. Kantisch und als negative Metaphysik bzw. negative Anthropologie formuliert: Wir selbst und auch unser moralisch-praktisches Wesen sind keine Gegenstände möglicher Erfahrung. (3.) Es ist schließlich die negativ-praktische Einsicht, dass wir auch die praktischen Sinnbedingungen unserer Orientierungspraxis, und das ist insbesondere die Sprache, mit der wir „Höheres“ (Wittgenstein), die Ideen bzw. die Transzendentalien, das „Wahre“, das „Gute“ zumal, zu artikulieren suchen, dass wir über diese idealen Sinnbedingungen unserer Weltorientierung nicht pragmatisch und technisch verfügen, obwohl wir sie ständig in Anspruch nehmen und auch in Anspruch nehmen müssen. Wir sind auf vorbildlose Sinnentwürfe angewiesen, obwohl unsere Mittel dazu durch und durch endlich, begrenzt, empirisch und geschichtlich bedingt sind. Diese Negativitt der menschlichen Selbst- und Welterkenntnis, ihrer faktischen wie praktischen Sinnbedingungen ist ein zentrales systematisches Verbindungsglied von philosophischer und religiöser Vernunft. Aber erst dann, wenn wir den Zusammenhang von Endlichkeit und Ethik, von Negativitt und praktischer Vernunft noch deutlicher herausstellen, erst dann können wir auch die praktisch-vernünftige Irreduzibilität religiöser Wahrheitsansprüche noch präziser fassen, ihr den Anschein von Relativität und Beliebigkeit nehmen.3 Was wir theoretisch nicht erkennen können und worüber wir pragmatisch nicht verfügen, dazu können und müssen wir uns dennoch praktisch, in freien Entwrfen, verhalten. Das gilt insbesondere angesichts der genannten drei Bereiche negativ-praktischer Einsichten. In einer negativen Metaphysik können wir die hier ganz formal aufgewiesenen Aspekte auch als die Transzendenz der Welt, die Transzendenz der Anderen, die Transzendenz unserer selbst und des eigenen Lebenssinnes sowie als die Transzendenz des Guten und des Wahren im emphatischen 3
Vgl. Thomas Rentsch, Negativitt und praktische Vernunft, Frankfurt a.M. 2000.
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Sinne bezeichnen. Diese Transzendenzen, die eine negative Metaphysik (bzw. anthropologia transcendentalis) formal auszeichnen kann, sind gleichzeitig Möglichkeitsbedingungen einer menschlichen Welt und Praxis. Dass sich historisch gerade die europäische Philosophie- und Theologiegeschichte im Bereich einer negativen bzw. transzendentalen Metaphysik und negativen Theologie tiefgreifend berührt haben und in den großen Entwürfen dieses Jahrhunderts weiter berühren, hat systematisch seinen entscheidenden Grund in diesem Zusammenhang von Negativität und Sinnkonstitution. (Ausführlich wäre dies im europäischen Kontext an der Rezeption der Platonischen Ideenlehre, an der Geschichte der negativen Theologie und der Trinitätstheologie sowie an der Herausbildung der Transzendentalienlehre zu zeigen. Ein früher exemplarischer Autor ist in diesem Zusammenhang z. B. Pseudo-Dionysios Areopagita, weil bei ihm die philosophische, die ontologische und die theologische Thematisierung der Transzendenz-Aspekte bereits charakteristisch aufeinander bezogen wird.) Bringen wir diese Überlegungen auf den Punkt: Gerade das, was erkenntnismäßig theoretisch unerkennbar, pragmatisch entzogen und unverfügbar ist, was wir nicht können und nicht wissen, bildet und erçffnet den endlichen Freiheitsspielraum praktischer Anerkennungsvollzge der Transzendenz-Aspekte in der Immanenz einer humanen Welt. Dieser Freiheitsspielraum praktischer Anerkennung von Transzendenz (inmitten der Immanenz – wo sonst?) ist der Spielraum, in dem sich religiöse Vernunft (und auch Unvernunft) entfalten kann. Sie setzt, recht verstanden, die negativ-praktischen Einsichten in die sinnkonstitutive Endlichkeit unseres Denkens, Erkennens und Handelns voraus. Trotzdem ist es sinnvoll, religiöse Vernunft auch nach-Kantisch über Kant hinaus als ekstatische zu bestimmen. Denn sie eröffnet sich in praktischer Anerkennung den unverfügbaren Sinnbedingungen unserer Existenz, erweitert und vertieft ein vernünftiges Welt- und Selbstverständnis. Keineswegs ist mit der Erweiterung und Vertiefung der Vernunftperspektive im praktischen Anerkennen des Unerklärlichen ein ,Überschwänglichwerden‘ im Sinne von Aberglaube und Irrationalismus, Dogmatismus und Fundamentalismus notwendigerweise verbunden. Kants Rekonstruktion scheint mir hier zu restriktiv, zu moralistisch enggeführt zu sein. Entscheidend ist, dass die mit den negativ-praktischen Einsichten aufgezeigten Transzendenz-Aspekte im Sinne einer negativen Metaphysik durch religiöse Traditionen meditativ und kongregativ in bestimmte Formen praktischer Anerkennung transformiert werden. Das heißt, sie bilden sich kulturell als kommunikative Lebensformen aus. In
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diesen kommunikativen Lebensformen werden z. B. in allen Weltreligionen Einstellungen zum Ganzen der Welt als Schöpfung, als nicht weiter erklärbares Wunder aller Wunder, dass überhaupt etwas ist, kultiviert. In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts wurde das ökologische Bewusstsein unserer dauerhaften Angewiesenheit auf die natürlichen Lebensgrundlagen auf einem kleinen Planeten als Errungenschaft moderner Wissenschaft gefeiert. Mit Erstaunen nimmt man aber wahr, dass die religiöse Vernunft dieses Wissen schon seit mythischen Zeiten artikuliert, dass sie eine praktische Anerkennung der Erde als großem Lebewesen einschließlich ihrer Achtung und Schonung eben ekstatisch einschließt und als Weisheitstradition überliefert hat. Die Kultur der praktischen Anerkennung der Transzendenz der Welt, wie sie in den Schöpfungslehren ihren Ausdruck fand, steht dabei, recht verstanden nicht in Konkurrenz zu naturwissenschaftlichen, verstandesmäßigen und technischen Weltzugängen des Menschen. Es geht dieser Kultur nicht um die theoretische Welterklärung einzelner innerweltlicher Phänomene – um das, was Verstand und Empirie sinnvoll zu erreichen vermögen. Es geht darum, dass das Ganze der Wirklichkeit – auch in ihrer unumstößlichen Faktizität und mitsamt allen Erklärungen unerklärlich und ein einziges Wunder bleibt. Als Luther gefragt wurde, was Gott vor der Schöpfung getan habe, antwortete er deshalb, Gott sei an die Elbe gegangen, Ruten zu pflücken, um diejenigen damit zu verprügeln, die solche Fragen stellen. Jedenfalls ermöglicht und eröffnet der Aspekt der Transzendenz der Welt und der Unumstößlichkeit der Wirklichkeit sowie der Angewiesenheit allen Lebens auf seine natürlichen Grundlagen ekstatisch vernünftige Formen des Schöpfungsverständnisses, des Pantheismus, der Naturmystik und der Weltfrömmigkeit. Als authentische Haltung unterliegt vernünftige Liebe zur Natur keinen entfremdungstheoretischen oder funktionalistischen Depotenzierungen. Ebenso steht es mit der praktischen Anerkennung der unverfügbaren Sinnbedingungen unserer Existenz im Bereich der Mitmenschlichkeit und in unserem Verhältnis zu uns selbst, zur vernünftigen Selbsterkenntnis. Recht verstanden, sind uns die Mitmenschen in ihrer Freundlichkeit und Hilfe, in ihrer Solidarität, Treue, Liebe und Freundschaft pragmatisch nicht verfügbar. Und das macht gerade den transfunktionalen Sinn humaner Gemeinschaft aus. In existentiellen Notsituationen, in Schmerz und Schuld, in Leiden, Sterben und Tod wird dieser interpersonale Transzendenz-Aspekt trotz aller Verrechtlichungen und sozialen Sicherungssysteme auch in den reichsten Gesellschaften des Westens andau-
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ernd neu und unüberbietbar evident. Kern ekstatischer Vernunft war und ist hier die Kategorie des Opfers, ihre negativ-praktische Grundeinsicht die, dass ungeschuldete Opfer die humane Welt wesentlich ausmachen – und tragen. Die Opfer mitsamt ihrer Leidensgeschichte tragen mithin das, was trotz der heillosen Menschengeschichte der Weltkriege, von Holocaust und Hiroshima, trotz Kosovo und Ost-Timor im vernünftigen Bewusstsein zu behalten ist. Dass es Opfer, Solidarität und die Achtung und Rettung des Anderen als des einzelnen, konkreten Mitmenschen doch inmitten unvorstellbarer Verhältnisse gab und gibt, davon leben auch alle sinnvollen Weiterentwicklungen einer humanen Welt. Dass es solche Weiterentwicklungen geben wird, das ist nicht garantiert und das können wir nicht wissen, sondern das ist unüberbietbar auf Hoffnung gestellt. Ekstatische Vernunft entfaltet sich zeitlich und endlich somit in den Formen des Eingedenkens und der Hoffnung inmitten einer praktisch begriffenen Gegenwart. Ein Leben in der gemeinsamen Hoffnung auf Frieden gehört zu ihrem Kernbereich. Hier wird auch sichtbar, dass angesichts der Negativität der Transzendenz-Aspekte auch Haltungen des Nihilismus, der Resignation und der Verzweiflung verständlich und verbreitet sind. Sie gehören zur Freiheitsdimension religiöser Vernunft. Die einmalige, endliche Ganzheit menschlichen Lebens ist irreduzibel auf technisch herstellbare Verhältnisse und instrumentell erreichbare Formen von Wissen. Die Unwiederbringlichkeit und Irreversibilität der Vergangenheit, der schwindende Augenblick und die Offenheit und Unbestimmtheit der Zukunft ermöglichen Verantwortung und Schuld, Verfehlung und moralisches Scheitern, das nicht zu tilgen ist. Diese Verschränktheit von Endlichkeit, Unbedingtheit und (moralischem) Sinn bewusst zu machen und kulturell in Formen gelebter kommunikativer Praxis meditativ und kongregativ bewusst zu halten, ist eine spezifische Leistung religiöser Vernunft. Sie vermag für die ethischen Aspekte sozialer Transzendenz zu sensibilisieren. Die Traditionen des ethischen Monotheismus in Judentum, Christentum und Islam stehen auch für diese Kultivierungsleistung, die eine Daueraufgabe der werdenden multikulturellen Weltgesellschaft ist und bleiben wird. Dazu braucht es mehr denn je ein Bewusstsein von der Ferne, der Entzogenheit und der Würde des Anderen und der Achtung des Fremden in seiner Alterität. Die universalistischen Potentiale der religiösen, ekstatischen Vernunft sprechen von den Anderen als Geschöpfen Gottes, als Brüder und Schwestern. Der praktische Wahrheitsanspruch dieser Sprache ist funktionalistischen Depotenzierungen vollends inkommensurabel.
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Ekstatische religiöse Vernunft öffnet sich schließlich und macht sensibel für die Transzendenz des Augenblicks und für gegenwärtige Tiefe und Fülle der Wirklichkeit, für die Unerschöpflichkeit aller Gegenwart, wie sie in den mystischen Traditionen artikuliert und meditativ kultiviert wurde und wird. Hier hat die religiöse, vernehmende Vernunft auch Verbindung mit ästhetischer Erfahrung. Die meditative religiöse Vernunft öffnet sich ekstatisch der Tiefe und Ferne, der Nähe und der Fülle der unendlichen Gegenwart, wie sie in der Stille und im Innehalten erfahrbar wird, in einer Stille, in der wir davon befreit werden, noch etwas machen zu müssen, und in der trotzdem alles da ist. Ekstatische religiöse Vernunft öffnet der diskursiven Vernunft eine Tiefendimension, die sie nicht zerstört, sondern, recht verstanden, intensiviert, und ohne die sie auf Dauer arm und formal bliebe. Sie macht nämlich empfänglich für die zeitliche Endlichkeit und Fragilität allen Lebens, für die Ferne und Fremdheit der Anderen als Voraussetzung jeder Nähe, für die uneinholbare Tiefe jedes Individuums und für die Fülle des Augenblicks. Sie hält damit ein Bewusstsein von Unendlichkeit und Ewigkeit inmitten der Zeit fest, das zur Vernunftperspektive dazugehört und zur Kritik am Verfehlen humanen Sinns befähigt.
3. Vernunft und Zukunft der Religion Ich fasse zusammen. Religiöse Wahrheitsansprüche lassen sich im Kern als praktische Einsichten in die transpragmatischen Sinnbedingungen einer humanen Welt verstehen. Diese Einsichten betreffen die kosmologischen, die natürlichen, die existentiellen und die ethischen Möglichkeitsbedingungen einer humanen Lebenspraxis. Ein Verhalten zu diesen Bedingungen, zu diesen Transzendenz-Aspekten kann kulturell vor allem meditativ und kongregativ entwickelt werden, in einer eigenen Sprache zumal. Die unbestimmte Negativität der Sinnbedingungen wird auf diese Weise kreativ in eine lebbare Praxis transformiert. Insofern ist Religion auch nicht nur ein Beispiel kultureller Sinngebung, sondern deren ausgezeichnetes Paradigma. Der Entwurf von Sprachen und Bildern für die unverfügbaren Sinnbedingungen entspringt letztlich der endlichen Freiheit des Menschen. Die Formen religiöser Vernunft, die sich so kulturell entfalten konnten, stehen nicht in einem Konkurrenz und Depotenzierungsverhältnis zu anderen Modi einer komplex binnendifferenzierten Vernunft, sondern in einem Ergänzungs-, Vertiefungs- und ekstatischen Erweiterungsverhältnis. Religion ist die Tiefendimension von
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Rationalitt, einer Tiefendimension, die von funktionalistischen oder entfremdungstheoretischen Depotenzierungen ebenso wenig eingeholt wird wie, auf anderer Ebene, große Kunst, Metaphysik und Philosophie. Ein Leben im Bewusstsein der Unerklärlichkeit der Welt, der Unerklärlichkeit des Grundes unserer Erkenntnis- und Handlungsmöglichkeiten, im Bewusstsein der unableitbaren Sinnbedingungen von Ethik, endlicher Freiheit und Autonomie und im Bewusstsein der kommunikativen Transzendenz von Sprache als Möglichkeitsbedingung von Sinn – ein solches Leben ist nicht seiner selbst entfremdet, sondern im Gegenteil noch vertraut mit den Sinnbedingungen seiner selbst. Zwei abschließende Fragen: Wie steht es mit argumentativen Verhältnissen innerhalb religiöser Vernunft und mit Blick auf andere Vernunftformen? Und, zweitens, wie steht es, wenn das Gesagte zutrifft, mit der Zukunft der Religion? Zum ersten. Es gibt sowohl vernünftige Kriterien für die religionsinterne, z. B. christliche Verständigung über Wahrheitsansprüche, als auch für die interreligiöse Diskussion. Um dies nur anzudeuten: Zum Beispiel müssen sich vermeintlich privilegierte Zugänge zu dieser Wahrheit, Autoritätsansprüche, kritisieren lassen. Auch der Appell an eine Gefühlsbasis oder die Beanspruchung einer besonderen Eingebung sowie Auslegungsmonopole sind kritikbedürftig. Interreligiçse Diskussionen können z. B. die Gewichtung meditativ-kontemplativer Kultivierung von Transzendenz-Aspekten (Wege der Selbstbefreiung) im Vergleich mit den ethischen Aspekten der Transzendenz (Wege der Liebe) betreffen. Um es interreligiös zu sagen: Es gibt mehrere Wege, der Weg ist das Ziel und alles hat seine Zeit. Schließlich können und müssen sich die religiösen Vernunftaspekte gegen Formen einer Verabsolutierung des Vorläufigen wenden, gegen totalitäre Ideologien, gegen Politik als Religionsersatz. Die negativen praktischen Einsichten setzen, recht verstanden, Politik in der säkularisierten Welt frei; aber sie verbieten grundsätzlich, etwas Innerweltliches, Empirisches als ein Absolutes zu setzen. Verschiedentlich wurde deswegen neuerlich zu Recht auf den Zusammenhang von negativer Theologie und Politik hingewiesen (im Sinne einer „leeren Stelle des Sakralen“ bei Claude Lefort, bei M. Gauchet und Agnes Heller).4 Religiöse Sinnkritik kann und muss sich
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Vgl. dazu Agnes Heller, „Politik nach dem Tode Gottes“, in: Jörg Huber/Alois M. Müller (Hg.), Instanzen/Perspektiven/Imaginationen, Frankfurt a.M./Basel 1995, 75 – 94; und Thomas Rentsch, Art. „Theologie, negative“, in: Joachim
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gegen überzogene Ansprüche an die begrenzten Möglichkeiten von Politik, Ethik, Recht und Kunst wenden. Sie kann lehren, mit Enttäuschung, Schuld und Leiden, mit unserer unüberwindbaren Begrenztheit zu leben, ohne Zynismus, Resignation oder Verzweiflung das letzte Wort zu lassen. Auch das ist vernünftig. Wie steht es nun, wenn meine These zutrifft, mit der Zukunft der Religion? Nach dem Gesagten gilt, dass der irreduzible Wahrheitsanspruch religiöser Rede und Praxis auch und gerade angesichts von Neuzeit, Aufklärung und Moderne bestehen bleibt. Religiöse Einsichten folgen einer anderen Entwicklungslogik als die Prozesse quantitativer Steigerung; ebenso wird keine Wissenschaft und keine Technik jemals die aufgezeigten transpragmatischen Sinnbedingungen einer humanen Welt ersetzen können. Vor allem gilt es, primitive Bilder von der Weltgeschichte ebenso wie auch zu simple Vernunftkonzeptionen hinter sich zu lassen. Epochen sind keine Großbehälter, in die eine geschichtliche Menschheit auf einer Zeitgeraden hinein- und dann wieder heraustritt. „Vernunft“ und „Aufklärung“ auch „Fortschritt“ sind ja keine Eigennamen von Epochen, sondern Reflexionsbegriffe, die mit unserer Freiheitsgeschichte zu tun haben. Ein Titel wie „Religion nach der Aufklärung“ ist daher irreführend. Hier ist nichts „zu Ende“, sondern immer alles, was authentische Geltung beanspruchen kann, von jeder Generation und auch von jedem Einzelnen in seiner konkreten Lebenssituation neu zu entdecken und zu gewinnen oder zu verlieren, und zwar weltweit. Die Vertiefung der Vernunft durch Religion gehört sicher dazu. Sie lässt sich nicht vorwegnehmen, denn die Geschichte unserer vernünftigen Orientierungen ist, Gott sei Dank, nicht abgeschlossen und unabschließbar.
Ritter/Karlfried Gründer (Hg.), Hist. Wçrterbuch der Philosophie, Bd. 10, Basel 1998, Sp. 1102 – 1105.
Negative Theologie, Transzendenz und Existenz Gottes 1. Philosophische Theologie I: Negative Theologie 2. Philosophische Theologie II: Transzendenz 2.1. Die Transzendenz des Seins (der Welt) (Die ontologisch-kosmologische Transzendenz) 2.2. Die Transzendenz der Sprache (des Logos) 2.3. Die anthropologisch-praktische Transzendenz (Existentiell-interexistentielle Transzendenz) 3. Philosophische Theologie III: Die absolute Transzendenz und die Existenz Gottes und der Status des Wortes „Gott“.
Lange Zeit schien die Frage nach Gott aus dem Zentrum des philosophischen Diskurses an den Rand gewichen zu sein. Religionsphilosophie und das Gespräch zwischen Philosophie und Theologie waren bis in die Mitte des vergangenen Jahrhunderts intensiv entwickelt. Dafür stehen Namen wie Karl Barth, Rudolf Bultmann, Karl Rahner, Ernst Bloch, Paul Tillich und Karl Jaspers. Nachdem aus vielen Gründen seit Mitte der 60er Jahre andere Themen in den Vordergrund rückten, ist mittlerweile die Wiederholung der expliziten systematischen Reflexion auf die Frage nach Gott in der Philosophie und im Blick auf gesellschaftliche und interkulturelle Diskurse nötig, ja unverzichtbar geworden.1 Die Gründe für diese Unverzichtbarkeit sind, ganz kurz gefasst: Erstens das immense weltpolitisch bedeutsame Erstarken religiöser Fundamentalismen auf christlicher wie islamischer Seite, zweitens das von Habermas so genannte Phänomen des Postsäkularismus. Bei letzterem Phänomen handelt es sich um ein treffendes Schlagwort für die Tatsache, dass sich auf Dauer die existentiellen, ehemals metaphysischen Grundfragen nach dem Sinn des Lebens und nach Gott nicht abweisen und verdrängen lassen. Vor wenigen Jahren noch hatte derselbe Habermas das „nachmetaphysische“ Zeitalter angekündigt, verkennend, dass es von den metaphysischen Grundfragen und ihrer Bedeutung für die Praxis keinen Abschied in der Reflexion geben kann, werden sie nun ontologisch, bewusstseinsphilo1
Die im Folgenden entwickelten Grundgedanken finden sich umfassend ausgeführt in: Thomas Rentsch, Gott, Berlin/New York 2005.
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sophisch oder sprachanalytisch behandelt, versuchsweise gelöst oder theoretisch für unsinnig erklärt. Für die Beantwortung unserer Frage muss in Erinnerung gerufen werden, dass philosophische Theologie seit weit über 2000 Jahren im Zentrum philosophischen Denkens steht: von Platon und Aristoteles bis zu Kant und Hegel. Und: weder weltgeschichtlich noch ideologiepolitisch haben sich säkulare Gesamtdeutungssysteme im 20. Jahrhundert dauerhaft an die Stelle von Weltreligionen setzen können, obwohl sie dies mit allen Mitteln versucht haben. Aber auch in befriedeten rechtsstaatlichen Demokratien blieb bei vielen Menschen ein Bewusstsein davon erhalten, dass über letzte Fragen des Sinns und des Lebensverständnisses auch nach wissenschaftlicher und politischer Aufklärung noch eigener Klärungsbedarf besteht. Aus verdinglichungskritischer und entfremdungstheoretischer Perspektive ist viel eher zu konstatieren, dass die säkulare Moderne mannigfaltige Formen von Ersatzreligionen, von Kulten und quasi-mythischen Projektionen auf alle Ebenen: der Kulturindustrie, des Konsums, des Sports und der Lebensführung hervorgebracht hat, deren irrationale Tendenz religiösen Fetischismen und Entfremdungsphänomenen nicht nachsteht. Auf dem blühenden Markt der Esoterik und Magie berühren sich diese postsäkularen Phänomene denkbar konkret. Zu den Prolegomena einer Erneuerung kritischer philosophischtheologischer Reflexion zähle ich auch Substitute und Surrogate des Absoluten, wie sie in der Philosophie an entscheidenden Orten der Systematik bei den wichtigsten Philosophen der Moderne auftreten. Im Rückblick ist dies nicht weiter überraschend, wenn man sich die Struktur genuin philosophischer Sinngrenz- und Sinngrundreflexion vergegenwärtigt. Man könnte nach dem – mit Heidegger formuliert – modernen „Schwund“ und „Fehl“ Gottes, nach den prominenten Anti-Theologien von Feuerbach, Marx, Nietzsche und Freud von einem latenten Systemzwang sprechen, den Ort des Absoluten, Gottes, dennoch zu besetzen. Solche Substitute des Absoluten in der modernen Reflexion sind das „Sein“ Heideggers, das „Mystische“ und Unsagbare Wittgensteins, das „Nichtidentische“ Adornos, die „ideale Kommunikationsgemeinschaft“ bei Apel und Habermas, die „Differenz“ und die „Spur“ bei Derrida. Es lässt sich an diesen je eigentümlichen Basisbegriffen der philosophischen Reflexion bei näherer Betrachtung genau zeigen, dass und wie sie theologische, metaphysische Traditionen beerben und produktiv weiterdenken, oft, ohne diese Kontinuität selbst kritisch in ihre Reflexion einzuholen. Das gilt im Kern für drei von mir transrational genannte
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unhintergehbare Aspekte der Sinnkonstitution einer menschlichen Welt, die ich auch als Transzendenz-Aspekte bezeichne: Dass überhaupt etwas ist, dass wir sprachlich Sinn artikulieren können, dass wir in Strukturen der Einmaligkeit existieren und selbst einmalige Individuen sind. Die Substitute des Absoluten in der Reflexion der Moderne artikulieren jeweils bestimmte Phänomene der Sinnkonstitution, die mit diesen Transzendenz-Aspekten verbunden sind. Sie gelangen jedoch nicht zu einer Perspektive, die die vorgängige Einheit und Ganzheit der Transzendenz (ihre Gleichursprünglichkeit) und die damit ermöglichte Einheit und Ganzheit einer menschlichen Welt denkt. Entweder wird die ontologische Differenz isoliert gedacht, oder die Transzendenz des Logos, oder die begrifflich unerfassbare Individualität. Aber: die Sinnkonstitution einer menschlichen Welt lässt sich nur dann begreifen und begrifflich erfassen, wenn die irreduzible Einheit und Gleichursprünglichkeit der genannten Transzendenz-Aspekte begriffen wird. Das bedeutet für die Philosophie auch: Grenzen und Einheit der Vernunft neu, in einer Transzendenz-Perspektive zu denken.
1. Philosophische Theologie I: Negative Theologie Auf diesem Hintergrund kann die Erneuerung philosophischer Theologie in einem ersten grundlegenden Teil, einem pars destruens, als ein kritisches Unternehmen systematisch präzisiert werden. In diesem kritischen Teil werden alle sinnvollen religionskritischen Potentiale systematisch konzentriert und rekonstruiert, um eine neue negative Theologie zu entwickeln. Diese negative Theologie bereitet eine vernünftig erneuerte philosophische Theologie vor und enthält sie indirekt bereits. Denn wenn wir falsche, partiale und irreführende Formen, Gott zu denken, abweisen, dann erschließt sich im Ansatz bereits ein sinnvolles Gottesverständnis. Negative Theologie ist philosophisch „mehr als die halbe Miete“. Die in der Tradition und Moderne verbreiteten Missverständnisse lassen sich auf der Ebene der religiösen Praxis, auf der Ebene der Theologien wie auf der philosophischen Ebene ausmachen. Sie gehören so in gewisser Weise zum Verständnis der Gottesfrage hinzu. Ein erstes Missverständnis ist das theoretisch-wissenschaftliche Verständnis der Rede von Gott z. B. auf der Ebene der Physik und der physikalischen Kosmologie. Die Rede von Gott und die Orientierung an Gott lassen sich nicht als fundiert in empirisch verifizierbarem oder falsifizierbarem
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wissenschaftlichem Tatsachenwissen verstehen. Die gegenwärtigen Bemühungen, die jüdisch-christliche Schöpfungstheologie wieder mit den Ergebnissen der physikalischen Kosmologie zu verbinden, sind irreführend und beruhen auf begrifflichen Konfusionen. Kurz: Jede Engführung Gottes und der Rede von Gott auf naturwissenschaftlich messbare Fakten in der Welt ist kategorial verfehlt. Ebenso verfehlt ist daher z. B. die biblizistisch-fundamentalistische Meinung, es sei religiös geboten, gegen die Ergebnisse der Evolutionstheorien zu Felde zu ziehen. Die philosophisch sinnvolle Orientierung an Gott steht gleichermaßen gegen bloß mythisch „fundierten“ Aberglauben als auch gegen Pseudo-Naturwissenschaften, die als Mythenersatz auftreten. Naive und primitive Gottesbilder bestimmen allerdings vielfach die Vorstellungen von Theisten wie Atheisten. Eine neue religiöse Aufklärung wäre erforderlich, um sie zu überwinden. Dabei muss bewusst sein, dass der Zustand der religiösen Kultur und Bildung vielfach aus verschiedenen Gründen (kulturelle Brüche, Traditionsverlust) sehr rückständig ist. Daher überrascht es auch nicht, dass neben den oberflächlich-theoretischen, objektivistischen Gottesvorstellungen ebenso subjektivistische Vorstellungen verbreitet sind. Während die einen Gott für wissenschaftlich beweisbar halten, pochen die anderen auf Wunder, Mirakel, Visionen, besondere Eingebungen und exzeptionelle Erfahrungen. Die Gotteserkenntnis hat es in der Tat, so lehrt die Tradition, z. B. Augustinus, mit vertiefter menschlicher Selbsterkenntnis zu tun. Ferner bewegen sich religiöse Orientierungen in der Tat auf der Ebene von Einsichten von denkbar fundamentaler Tragweite und Lebensbedeutsamkeit. Aber existentielle Ernsthaftigkeit und persönliche Glaubensgewissheit lassen sich gerade nicht auf der Ebene des Subjektiven begreifen. „Ich glaube an Gott.“ – Religiöser Subjektivismus ist außerstande, den Wahrheitsanspruch, den Wahrhaftigkeitsanspruch und den Geltungsanspruch solcher Sätze und ihres Lebensbezugs verständlich zu machen. „Ich habe das Gefühl, dass Gott die Welt erschaffen hat.“ „Ich spüre, dass es Gott gibt.“ – solche Sätze artikulieren nicht den in religiösen Bekenntnissen gemeinten Sinn. In modernen westlichen Demokratien ist die Meinung verbreitet, Religion sei Privatsache. Die damit verbundenen Konnotationen der Beliebigkeit verfehlen die eigentlich gemeinte Sache, die eine Sache existentieller, persönlicher Ernsthaftigkeit, eine Sache freier Wahl der Lebens- und Sinnorientierung ist. Es geht um höchst anspruchsvolle Lebensorientierungen, die nicht in subjektiven Gefühlen und privaten Vorlieben oder Gleichgültigkeiten gründen können, sondern nur in
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transsubjektiven Wahrheitsansprüchen, die recht verstanden eine tiefe Subjektivität erst ermöglichen. Dieser Punkt lässt sich religionskritisch ebenfalls gegen Formen eines Offenbarungspositivismus oder die Beanspruchung privater Zugänge zu Gott durch besondere Erkenntniskräfte wenden. Vernunftkritisch betrachtet ist es genau umgekehrt: Um bestimmte Erfahrungen und Gefühle als relevant im Blick auf die Gottesfrage und die Erkenntnis Gottes überhaupt einschätzen, artikulieren und beurteilen zu können, sind bereits Gedanken über Gott mit Wahrheitsanspruch unbedingt nötig, die sich nur in ganzen Sätzen artikulieren können. Diese Sätze müssen allgemein verständlich und selbst beurteilbar sein. Die großen monotheistischen Buchreligionen bestätigen dies auf die denkbar eindrücklichste Weise. In den Texten der Propheten Israels, in den Predigten Jesu, in den Theologien des Paulus und Johannes, in den Suren des Koran wird eine komplexe Rede von Gott mit Wahrheits- und Geltungsanspruch auf höchstem kulturellem Niveau entwickelt. Diese Rede und der mit ihr praktisch und grammatisch verbundene Sinn ist die Basis für mit ihr verbundene religiöse Erfahrungen, und nicht etwa die Besonderheit oder die bloß subjektive Evidenz dieser Erfahrungen. Die intersubjektiv verständliche und mit der Alltagserfahrung verbundene religiöse Rede von Gott beansprucht intersubjektive Wahrheit und Gewissheit. Es ist in diesem Zusammenhang besonders bezeichnend, dass gerade in Traditionen der Mystik, in denen außergewöhnliche Einsichten und Durchbruchserfahrungen zentral sind, eine öffentlich zugängliche, intersubjektive Sprache der Vermittlung solcher Einsichten verwendet wird – sogar, um den Sinn des Schweigens begreiflich zu machen. Das gilt für einen christlichen Mystiker wie Meister Eckhart, es gilt aber z. B. auch für islamische Mystiker der Sufi-Tradition. Sie lehren: „Sprich zu uns nicht von Visionen und Mirakeln, Denn solche Dinge haben wir lange hinter uns. Wir erkannten sie alle als Illusionen und Träume, Und tapfer, unentwegt, gingen wir an ihnen vorbei.“2 Bedenken wir, was eine solche inmitten einer großen Religion formulierte Religionskritik im Blick auf heute auch im Westen verbreitetes modisches Verlangen nach spirituellen, esoterischen, ekstatischen Sondererfahrungen bedeutet. Um den Gottesgedanken auf glaubwürdige Weise zurückzugewinnen, muss es aus philosophischer Sicht möglich sein, Aberglauben und Scharlatanerie der Sinnvermittlung von einem authentischen Gottesverhältnis zu unter2
Vgl. dazu: Thomas Rentsch, Gott, a.a.O., 25 ff.
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scheiden. Das aber ist auf einer bloßen Gefühlsebene, im Medium des Subjektivismus, unmöglich. Ein weiteres Missverständnis im Blick auf die Gottesfrage besteht in einem kulturellen Relativismus. Dieser liegt einem aufgeklärten und liberalen Selbstverständnis mit geschichtlicher Bildung und in einer Welt der Globalisierung natürlich besonders nahe. Und ist es nicht gerade zu von überwältigender Evidenz, dass die Gottesvorstellungen der Religionen einer diachronen wie synchronen Relativität unterliegen, dass sie Produkt und Teil geschichtlicher Gesellschaftssysteme sind, ebenso wie aufgeklärter Atheismus oder profane Gleichgültigkeit in religiösen Dingen im modernen säkularen Staat? Aber diese Perspektive ist aus philosophischer Sicht unbefriedigend, unzulänglich und oberflächlich. In der Frage nach Gott und nach lebenstragender Wahrheit kann ich als Philosophierender nicht, wie der Ethnologe, der Soziologe, der Historiker, eine bloße Beobachterposition einnehmen. Relativismus ist nur ein Subjektivismus im großen Stil, ein Bild, das sich aus der Beobachterperspektive ergibt. In lebensbezogenen, praktischen Belangen – auch z. B. im Bereich der Ethik und der Moral – müssen wir in der philosophischen, kritisch-hermeneutischen Reflexion eine Teilnehmerperspektive, eine Perspektive persönlicher Betroffenheit und gerade darum eine Perspektive der Orientierung an Wahrheitsansprüchen, an allgemeiner Vernunft und Geltung einnehmen. Gottesverständnisse wie überhaupt religiöse Lebensformen lassen sich relativistisch nicht begreifen. Es ist unmöglich, sie von außen und objektivistisch zu rekonstruieren. Ebenso letztlich abzuweisen sind entfremdungstheoretische Analysen des menschlichen Gottesverständnisses, wie sie in den schon klassischen Ansätzen von Feuerbach, Marx, Nietzsche und Freud ausgearbeitet wurden. Der Glaube und die Orientierung an Gott lassen sich nicht einseitig als Wunschvorstellung, Symptom von Todesangst, Schuldkomplexen und Projektionen des Unbewussten, als Reflex ökonomischer Verhältnisse verstehen. Selbst, wenn solche Aspekte bei der Religionsentstehung eine Rolle spielten, selbst, wenn gegenwärtige Religionen starke Entfremdungstendenzen aufweisen – auf sie ist das Gottesverständnis nicht reduzibel. In diesem Zusammenhang ist es zunächst wichtig, grundsätzlich festzustellen, dass es Religion und Gottesglaube in der Tat von Beginn an auch mit den tiefsten Ängsten und Kümmernissen und mit der Todesangst zu tun haben – mit der Endlichkeit des Menschen, mit den unumstößlichen Gegebenheiten seiner Wirklichkeit: mit Schuld und Scheitern, mit irreversiblem Versagen, mit den Grenzen des Lebens. Die entfremdungstheoretischen Deutungen
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bezeugen wider Willen die Dignität der Gottesperspektive, wenn sie deren Verbindung mit Angst, Verfehlung und Tod hervorheben. Die Geschichte der Abschaffung der Sklaverei, die Geschichte der modernen Emanzipationsbewegungen und z. B. der Befreiungstheologie in den armen Ländern der modernen Welt zeigen, wie stark Formen der Überwindung von Unterdruckung und Armut und Formen der Solidarität mit den Schwachen in den religiösen Traditionen selbst angelegt sind. Die Perspektive der Gleichheit aller vor Gott und die praktischen Konsequenzen des Gottesglaubens wurden in der Geschichte des Abendlandes in die gesellschaftliche Gestaltung des kulturellen und zivilisatorischen, rechtlichen und normativ urteilenden Bewusstseins aufgenommen und unabhängig von ihrer Entwicklungsgeschichte produktiv, ja revolutionär weiterentwickelt. Das biblische Bilderverbot und die Schöpfungslehre – der Mensch ist nach dem Bild Gottes geschaffen – begründen ineins mit der Botschaft von der Menschwerdung Gottes den unendlichen Wert der einzelnen, einzigartigen Personalität und Individualität jedes Menschen. Die irreversible weltgeschichtliche Bedeutung dieses universalistischen Prozesses steht im Zentrum der europäischen und mittlerweile globalen Entwicklung. Die Entfremdungstheorien der Moderne ignorieren diese Freiheitsgeschichte der Sinntraditionen auf holzschnittartige Weise. Ein weiteres Missverständnis der Frage nach Gott und der damit gemeinten Lebensorientierung besteht in einer funktionalen Sicht. Religionen haben aus soziologischer Sicht stabilisierende Funktionen für die gesellschaftliche Praxis und das individuelle Leben. Insbesondere werden große Lebensereignisse: Geburt, Taufe, Erwachsenwerden, Heirat und Tod in ihnen rituell begangen und so bewältigt. Diese funktionale Sicht ist wiederum als äußerlich und oberflächlich zu bezeichnen. Die Dimension, auf die die Gottesfrage weist, lässt sich nicht funktional einholen. Die Überwindung eines instrumentalistischen Gottesverständnisses gehört zum Kern einer glaubwürdigen religiösen Praxis. Man könnte paradox formulieren: Authentischer Sinn „funktioniert“ erst dann, wenn er eben nicht um seiner Funktion willen, sondern um seiner selbst willen gesucht und begriffen wird. Bereits authentische interpersonale Verhältnisse – Freundschaft, Liebe, wechselseitige Achtung und Anerkennung – gelingen nur so. Auch tragfähige moralische Lebens- und Praxisformen sind ihrem Wesen nach nur nichtinstrumentalistisch zu verstehen. Um so mehr gilt für ein Gottesverständnis, dass in seinem Zentrum nicht-funktionale Welt- und Selbstverständnisse stehen. Die Gottesperspektive hat es demgegenüber mit unerklärlichem und unge-
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schuldetem Sinn zu tun, mit der Wahrnehmung des Unerklärlichen, das Geschenkcharakter besitzt. Ein weiterer zu kritisierender Ansatz, Gott zu denken, denkt ihn in der Form einer Hypothese, einer Vermutung, einer Fiktion oder eines so genannten Postulats. Solche Ansätze konzentrieren sich in einer Religionsphilosophie des Als-ob, die im Anschluss an Kant entwickelt wurde. Insbesondere in Verbindung mit einer Kritik an der Leistungsfähigkeit der Gottesbeweise – nach Kant können wir weder Gottes Existenz theoretisch beweisen, noch sie widerlegen – lässt sich die Gottesperspektive als eine Art lebensdienliche, hilfreiche Annahme verstehen. Auch ein augenzwinkernder Agnostizismus: „Ich probiere es doch einmal, schaden kann es ja nicht“ wird von Manchen vertreten. Es gibt in der zeitgenössischen Religionsphilosophie sogar wahrscheinlichkeitstheoretische Ansätze, so den von Swinburne. Er gelangt bei seinen Untersuchungen zu dem Ergebnis, dass bei Würdigung aller bekannten Tatsachen hinsichtlich Schöpferkraft, Allmacht und Güte der Existenz Gottes eine Wahrscheinlichkeit von über 50 % zukommt. Das genügt, um definitiv an ihn zu glauben. Auch solche Denkweisen halte ich für tiefgreifend verfehlt. Ich kann als Christ nicht sagen: „Ich lebe so, als gäbe es Gott, seine Liebe und Gnade.“ Oder als Moslem: „Ich vermute einmal, Allah sei der Allerbarmer.“ Es ist demgegenüber eindeutig, dass wir es bei der wahrhaftigen Orientierung an Gott mit letzter Wirklichkeit zu tun haben, dass die konkret mit dieser Orientierung verbundenen Geltungsansprüche unbedingt sind und sich weder als Fiktionen noch als Hypothesen verstehen lassen. Und es ist auch ganz klar, dass eine philosophische Theologie es im Zentrum mit unserem Wirklichkeitsverständnis zu tun haben muss. Sie muss auf die Frage antworten, wie sich unsere Wirklichkeit letztlich begreifen lässt. Ebenso ist es verfehlt, der Rede von Gott einen nur praktischen, ethischen Sinn zu geben. Dies ist so rational wie verlockend. Können wir das Gottesverständnis auf vernünftige Praxis beziehen, dann können wir alles Übrige – Mythologie, Metaphysik, transzendente Illusionen – eliminieren. Aufklärung, Vernunft und praktische Frömmigkeit wären vereinbar bis zur Identität. Offenbarungspositivismus, Exklusivansprüche einzelner Religionen, theologischer Dogmatismus und klerikale Herrschaft wären überwindbar. Es ist für unsere Thematik zentral, dass dieses Wunschkind westlicher Zivilisation und Säkularisierung, wenn es auch Wahrheitsmomente enthält, dennoch verfehlt ist. Vielmehr ist im Folgenden zu zeigen, dass eine grundlegende Differenz von philosophischer Theologie und praktischer Philosophie, von Gott und dem Guten, Gott
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und dem Gerechten, Gott und dem Glück besteht. Mehr noch: Erst, wenn diese Differenz wirklich präzise deutlich wird, tritt die genuine Ebene des Transzendenzbezugs, des Absoluten und einer spezifisch philosophisch-theologischen Dimension von Wahrheit und Geltung in den Blick. Denn der Kern religiöser Sprache besteht nicht in ethischen Forderungen, sondern in transethischen, das Sein betreffenden Kategorien, die die ethische Dimension aber freisetzen. Die Frage nach Gott hat es mit Grenze, Grund und Sinn unseres Seins und mit unserem Welt- und Selbstverständnis im Ganzen zu tun. Mit diesen sieben Schritten einer zeitgemäßen modernen negativen Theologie sind zunächst objektivistische, quasi-naturwissenschaftliche, subjektivistische, psychologische, relativistische, entfremdungstheoretische, funktionalistische, fiktionalistische und moralistische Zugänge zur Gottesfrage zurückgewiesen. Entscheidend ist, dass wir neben der Zurückweisung Vertreter dieser Verständnisse mit ihren Gründen und Motiven zugleich rekonstruieren und ihrerseits verstehen können sollten. Die zurückgewiesenen Auffassungen führen Wahrheitsaspekte mit sich, die in späteren Schritten im Hegelschen Sinne aufgehoben werden müssen, ohne dass man bei ihnen stehen bleibt. Es handelt sich um Partialaspekte. Um sie angemessen zu verstehen, benötigen wir eine philosophische Theologie, eine Theologie, die eine begründete Antwort auf die Frage nach Gott für die Gegenwart gibt.
2. Philosophische Theologie II: Transzendenz In der philosophischen Theologie muss eine völlige Drehung und Umkehrung funktionaler und instrumenteller Sichtweisen erfolgen. Eine Orientierung an Gott im authentischen Sinne kann auch weder als ein Fürwahrhalten absurder Tatsachen begriffen werden, noch als ein bloßes Vermuten, es könne ja vielleicht so sein. Eine solche Orientierung kann nur eine lebenstragende Grundgewissheit sein, ein sinneröffnendes und Hoffnung gewährendes Grundvertrauen. Die Tradition unterschied hier sehr präzise zwischen der Sicherheit, der securitas in weltlich-empirischen, und der gewissmachenden Grundgewissheit, der certitudo in existentiellen, personalen, geistlichen Dingen. Meine zentrale These lautet: An der Grenze der philosophischen Vernunfterkenntnis beginnt das Verstehen der Rede von Gott. Da, wie Hegel lehrt, eine Grenze zu denken, heißt, sie zu überschreiten, gelangen wir so zunächst zu einem Transzendenzverständnis inmitten der humanen Welt
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und ihrer Sinndimensionen. Dieses Transzendenzverständnis ist konstitutiv mit unseren Möglichkeiten des Transzendierens, des Überschreitens und somit auch des Vorgreifens auf Sinn verbunden.
2.1. Die Transzendenz des Seins (der Welt) (Die ontologisch-kosmologische Transzendenz) Ein erster, grundlegender Transzendenzaspekt, der sich uns bei solchem selbstreflexivem Transzendieren zeigen mag, ist die Existenz der Welt. Der Transzendenz-Aspekt ist keine Erfahrung, er kann sich nur an und in unseren alltäglichen Erfahrungen ,indirekt’ zeigen – wenn man auf ihn überhaupt jemals aufmerksam wird. Dass die Welt überhaupt ist, dass es überhaupt etwas gibt und nicht nichts – das kann man nicht direkt erfahren und nicht als normale Tatsachenbehauptung mitteilen. Direkt erfahren und mitteilen kann man Erlebnisse und Tatsachen in der Welt. Die Ebene des Dass der Welt ist auch nur behelfsmäßig als „Ebene“ zu bezeichnen. „Ebenen“ im wörtlichen Sinne lassen sich räumlich lokalisieren und einander zuordnen. Die Ebene des Dass der Welt, ontologisch die des Seins des Seienden, übersteigt, überschreitet alle solchen Ebenen. Das Sein der Welt, das Dass des Seins, übersteigt und überschreitet unsere Erkenntnis und Erfahrung völlig und grundsätzlich. Dass die Welt ist, können wir weder erklären noch von irgendwelchen innerweltlichen Tatsachen ableiten. Wenn wir selbst auf diese definitive Grenze unserer Erkenntnis und unserer eigenen Existenz stoßen, erreichen wir mit der Sinngrenze auch einen Aspekt des realen, konkreten Sinngrundes unserer Welt und unserer selbst. Die Unerklrlichkeit des Seins – dass überhaupt etwas ist, die völlige Unverfügbarkeit, die transpragmatische, weder räumlich noch zeitlich zu begreifende Vorgngigkeit des Seins und mithin auch des Universums mit Milliarden Galaxien bildet einen Grund allen mçglichen und allen wirklichen Sinns – faktisch und praktisch. Es gibt, anders gesagt, keine Immanenz ohne ontologisch-kosmologische Transzendenz. Die Struktur der Transzendenz lässt sich als einzigartiger Prozess explizieren. Die traditionelle theologische und religiöse Sprache verwendet daher in unserem Zusammenhang aus guten Gründen den Begriff der Schöpfung. Unserer Analyse entspricht es, wenn nicht nur von einer Schöpfung aus Nichts (creatio ex nihilo) die Rede ist, sondern ebenso von einer permanenten Schöpfung (creatio continua). Denn so wird das authentische Wunder nicht auf irreführende Weise verortet, verräumlicht oder verzeitlicht. Es zeigt sich die konstitutive Verbindung von (absoluter)
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Unerklrlichkeit, Unerkennbarkeit (Negativitt) und Sinn: Denn alle Ausmalungen des Schöpfungsvorgangs in realistischen Bildern oder auch in szientifischen Modellen (Urknall) unterlaufen auf simplifizierende, naive, innerweltlich-innerseiende Weise den völlig unerklärlichen ontologischkosmologischen Transzendenzprozess. Transzendenz ist mithin nicht als ein abstraktes Jenseits im Himmel begreifbar, sondern als ein wahrhaft kreativer Prozess des Hervorgangs der unendlich komplexen und differenzierten Wirklichkeit allen Seins ,aus Nichts‘. Die Rede von der Schöpfung als einzigartigem Wunder und andauerndem Prozess – „Gott sah, dass es gut war“ – ist eine diesem Aspekt absoluter Transzendenz gerecht werdende Vergegenwärtigungsweise. Bereits am Aufweis dieses Transzendenzaspektes wird im Übrigen sichtbar, wie reduktionistisch, um nicht zu sagen beschränkt, funktionale oder entfremdungstheoretische Religionsphilosophien oder Transzendenzverständnisse sind. Dass Seiendes ist, das hat keine noch irgend von uns zu eruierende ,Funktion’, Dass die Welt überhaupt geworden ist und ständig wird, entspringt wohl kaum unseren Entfremdungserfahrungen oder illusionären Projektionen. Kurz: Ein Wunder im strengen Sinne ist schlechterdings nicht erklrbar und hat berhaupt keine Funktion. Der Begriff des authentischen Wunders lässt sich zwar in Beziehung zu bestimmten religiösen Sinntraditionen und auch zu existentiellen Erfahrungen des Einzelnen setzen. Der philosophisch-sinnexplikative Status des Begriffs hat aber zunächst negativ-sinnkriteriale Bedeutung im Kontext einer erkenntniskritischen Analyse der absoluten Grenze unseres Erkennens und Erklärens, einer Analyse mit Wahrheits- und Geltungsanspruch. Wir können hier vom unsagbaren Geheimnis der Wirklichkeit erkenntniskritisch begründet sprechen und negativ-sinnkriterial den unausschöpflichen, unabschließbaren Charakter der Wirklichkeitserfahrung in jedem Augenblick mit Wahrheits- und Geltungsanspruch aufweisen. Dass diese Dimension in existentiellen Erfahrungen, in personalen Beziehungen, in Erfahrungen des Erhabenen in der Natur, in meditativer Praxis auf besondere, intensive Weise aufleuchtet, zugänglich wird und gestaltet werden kann, das zeigt nur, dass Transzendenz vorgängig ist und stets augenblicklich neu eröffnet wird, wenn man nur auf sie aufmerksam wird. Die Verstellung und Verdeckung authentischer Transzendenz durch eigene menschliche Gertschaften und Vorrichtungen ist ein Thema, auf das ich hier nicht eingehen kann. Es sind aber keine exzeptionellen Sondererfahrungen, in denen absolute Transzendenz der erläuterten Art gründet oder gar besteht. Viel-
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mehr sind die Transzendenz-Aspekte des Seins der Wirklichkeit ganz fundamentale Zge all unserer Welterfahrung und der Alltglichkeit unseres Lebens, die aufgrund ihrer übergroßen Nähe und Selbstverständlichkeit in diesem oft verdeckt und verborgen bleiben.
2.2. Die Transzendenz der Sprache (des Logos) Die Sprache ermöglicht unsere Sinngrenzreflexion und ineins die Sinngrundreflexion. Dass – und wie – wir sprechen können, ist eine unerklärliche, uns vorgängige Bedingung der Möglichkeit und Wirklichkeit unserer humanen Welt. Dass wir Sätze verwenden können, wahre Behauptungen treffen und bestreiten, Urteile über gut und böse, schön und hässlich fällen können, das ist eine uns und unsere Welt einschließlich unserer Vernunft und Selbsterkenntnis real ermçglichende Dimension, die wir nicht erklären oder von anderem ableiten können, ohne sie selbst schon verwenden und in Anspruch nehmen zu müssen. Gleichwohl ist das Wunder der Sprache und der sprachlichen Erschlossenheit der Welt wiederum nichts außergewöhnlich oder übernatürlich Mysteriöses, sondern ebenso alltäglich, jedermann bekannt, universal zugänglich wie auch die Transzendenz des Seins und aller Wirklichkeit. Den Hervorgang der Sinnbedingungen unserer Welt konnten wir bereits als kreativen Prozess charakterisieren. Der Prozess führte inmitten der materiellen Endlichkeit zur Entstehung des Lebens, des menschlichen Selbstbewusstseins und der Sprache. Das heißt: Das kreative Transzendieren und seine realen Möglichkeiten setzt sich in die menschliche, kreative Entwurfspraxis hinein fort. Die uns real ermçglichende Transzendenz des Seins und der sich prozessual auf einzigartige Weise ereignende Weltprozess führen zum Hervorgang sprach- und handlungsfähiger Wesen, der Menschen. Zur prozessualen Transzendenz des Seins und der Existenz der Welt tritt der Transzendenzaspekt des Logos. Ohne die reale Möglichkeit, ganze Sätze in ganzen, als Einheit vorverstandenen Lebenssituationen zu formulieren und zu begreifen, ohne die reale Möglichkeit, Behauptungen aufzustellen, zu begründen und nach wahr oder falsch zu beurteilen, wäre unsere humane Existenz undenkbar. Weder ein Sinn von Sein noch eine humane Welt wäre ohne kommunikative Selbsttranszendenz auch nur möglich. Wie bereits die Analyse der ontologisch-kosmologischen Transzendenz, so erschöpft sich auch die Analyse der Transzendenz der Sprache nicht in der Unerklärlichkeit ihrer Existenz, sondern sie setzt sich fort in der uns und unsere gesamte
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Weltwirklichkeit auch mit ermöglichenden, permanenten Sinneröffnung. Auch das Wunder der Transzendenz der Sprache mit all ihren Sinneröffnungspotentialen ist in der Alltäglichkeit verborgen, anwesendabwesend. Die Verdeckung und Verstellung der Transzendenz geschieht in den vielen Formen des Missbrauchs der Sprache, die als Täuschung und Lüge durch sie mit ermöglicht sind. Wir benötigen zur Freilegung des sprachlichen Transzendenzaspekts keine Mythisierung oder Idealisierung. Wohl jedoch müssen depotenzierende, unterbestimmte, reduktionistische, formalistische Verständnisse kritisch als partial erkennbar werden. Dann wird einsichtig, dass die Sprache zum nicht objektivierbaren Sinngrund unseres gesamten Seins gehört, zu den transpragmatischen Sinnbedingungen unserer Existenz.
2.3. Die anthropologisch-praktische Transzendenz (Existentiell-interexistentielle Transzendenz) Wir sind Sinn entwerfende und Sinn antizipierende Wesen. Es sind kommunikative Lebensformen, die auch unser praktisches Selbstverhältnis konstituieren und formen: einem Anderen zuhören, jemandem helfen, sich miteinander beraten, an jemanden denken, auf jemanden warten, jemandem etwas beibringen, Freundschaft und Liebe. Kommunikative praktische Lebensformen sind durch Wahrhaftigkeit, Aufrichtigkeit, Vertrauen, gegenseitige Hilfe und die Bemühung um Klarheit und Verständlichkeit möglich – die Verfehlungen und defizienten Modi werden so mit ermöglicht. Um uns zu den Transzendenz-Aspekten unseres Lebens bewusst zu verhalten, ist ein vertieftes Verständnis von Transzendenz und ihrer Bedeutung für die Sinnkonstitution unverzichtbar, – ein Verständnis, welches traditionell in der religiösen Erziehung vermittelt werden soll, das aber auch für jede Form eines Lebens in konkreter Sittlichkeit und in moralischer Verantwortung nötig ist. Sobald wir zu uns selbst werden – in kommunikativer Praxis –, stellt sich die Frage nach einem grundsätzlichen Selbst- und Weltverständnis und nach der selbst verantworteten Lebensführung. Es wird – mehr oder weniger explizit – bewusst, dass nur ich meine Handlungen tun kann, dass mir letztlich niemand meine Entscheidungen abnehmen kann, dass ich, anders gesagt, unbedingt selbst verantwortlich bin. Zu den transpragmatischen, auch transethischen Sinnbedingungen unseres Lebens gehört, dass wir dessen singuläre Totalität nicht als ganze
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vergegenständlichen, „erkennen“ oder gar in aller Tiefe seiner wenig oder kaum bewussten Schichten durchschauen können. Nur von unserer zeitlich-endlich-diskursiven, je gegenwärtigen Lebenspraxis aus, die wir von der antizipierten Zukunft her verstehen, können wir Aspekte unseres bisherigen Lebens erinnern, thematisieren, reflektieren und beurteilen. Unsere praktische Selbsterkenntnis ist endlich und begrenzt wie unsere empirischen und theoretischen Erkenntnismöglichkeiten. Es ist gerade diese pragmatische, konstitutive Nichtobjektivierbarkeit, die unsere personale Integrität und die Perspektive autonomen Transzendierens eröffnet und ermöglicht. Solange wir leben, sind wir augenblicklich noch im Entwurf einer konkreten Lebenssinngestalt begriffen, die aus nichts Vergangenem kausal determiniert gedacht oder abgeleitet werden kann. Selbsterkenntnis im praktischen Sinne, auch wenn sie Erfahrungen des Versagens, des Scheiterns und des Bösen aus der Vergangenheit einbezieht, steht in dieser offenen, nicht objektivierbaren Dimension. Unsere praktische Möglichkeit der Selbsttranszendenz beruht somit auf der Unerkennbarkeit unserer selbst bzw. unseres Wesens in einem objektivistischen, abschließbaren Sinne. Die Transzendenz unserer selbst und unserer eigenen Existenz erschließt uns die Potentiale ekstatischen Transzendierens unserer Selbst- und Situationsverständnisse. Existentielle Transzendenz als Sinngrenze allen Erkennens bildet den Sinngrund personaler Freiheit und Würde. Der Sinngrund selbst ist nur negativ zu erfassen. Die Unableitbarkeit und Uneinholbarkeit der existentiellen Transzendenz lässt sich aber im Kontext interexistentieller Transzendenz in ihrer wirklichen Tragweite angemessen analysieren und begreifen. So wie wir uns selbst nicht objektivieren können, so ist uns auch der Andere nicht verfügbar und kann uns gerade so in seiner eigenen personalen Würde begegnen. Wir stoßen mit diesen Analysen auf die sinnkonstitutiven Grenzen unserer Existenz und des Mitseins mit Anderen. Sie ermöglichen die unbedingte Achtung und Anerkennung der Mitmenschen als Personen mit irreduzibler Würde ebenso wie ein authentisches Selbstverhältnis in Freiheit und als Freiheit. Die transpragmatische und transethische Dimension der Nichtobjektivierbarkeit, der Unverfügbarkeit und Entzogenheit grndet und trgt personale und moralische Verhältnisse. Die Rede von der „Unantastbarkeit“ des Menschen in seiner Würde artikuliert diesen Transzendenzaspekt. Die praktische Anerkennung der existentiellen und interexistentiellen Transzendenz als der unbedingten Grenze und den Grund unseres eigenen Transzendierens eröffnet erst die nahe, reale Möglichkeit eines
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freien, verantwortlichen und moralischen Selbstverständnisses. Transzendenz in der Immanenz bedeutet nicht, dass Transzendenz in Immanenz aufginge oder verschwände, auf sie reduziert oder von ihr abgeleitet werden könnte. Vielmehr ist Immanenz in ihrer Tiefendimension nur aus der Transzendenz zu begreifen. Transzendenz als bloß abstraktes Jenseits wird der Realität des Transzendenzgeschehens in unserem Leben ebensowenig gerecht wie ein Lebensverständnis, das um das Wunder des unableitbaren, dennoch wirklichen Sinns des Seins der Welt, der Sprache und des eigenen Lebens gebracht würde.
3. Philosophische Theologie III: Die absolute Transzendenz und die Existenz Gottes und der Status des Wortes „Gott“ Dennoch ist der Aufweis der Transzendenz-Aspekte mitsamt ihrer dynamisch-prozessualen Struktur der Sinneröffnung, die auf Zukunft, Erfüllungsperspektiven und einen Horizont authentischen, integren Menschseins in der Wirklichkeit weisen, nur der erste Schritt der Sinnexplikation einer philosophischen Theologie. Diese Theologie kann nicht, wie dogmatische Theologien einzelner Religionen, schon von Gott und seiner Offenbarung ausgehen. Entscheidend für die Explikation und Entfaltung einer genuin systematischen theologischen Perspektive ist im Blick auf die aufgezeigten Transzendenz-Aspekte die Einsicht in ihre Gleichursprnglichkeit. Diese führt zur Perspektive einer Einheit, genauer: der Einzigartigkeit des Seins des Sinnes. Der Artikulation dieser Perspektive dient die Rede von Gott, der Orientierung an dieser Perspektive dient der praktische Lebensbezug zu Gott. Dieser Zugang wird möglich, wenn wir uns die Gleichursprnglichkeit der bisher explizierten Aspekte der Transzendenz vergegenwärtigen. Die unerklärliche, unfassbare, aber sich ständig realisierende Transzendenz des Seins, der Welt, der Sprache und unserer eigenen Existenz mitsamt ihrem prozesshaften Hervorgang und ihrer Gegenwart bildet eine für uns zwar intern differenzierbare und auch differenzierungsbedürftige, aber völlig untrennbare Einheit, die wir keinesfalls summativ oder additiv begreifen oder depotenzieren können. Die Gleichursprünglichkeit der bisher aufgezeigten Aspekte der Transzendenz erweist sich in der vorgängigen Einheit jeder Lebenssituation und jedes praktischen Sinnentwurfs, in denen die Aspekte zusammenspielen und so konkreten Sinn überhaupt erst ermöglichen. Die
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Einheit ihres Zusammenspiels ermöglicht so unsere eigenen Sinnentwürfe, den Entwurf eines leitenden Selbstverständnisses und einer praktischen, existentiellen Sicht des ganzen Lebens. Das Sein der Welt, die Dimension sprachlichen Sinns und unser eigenes, aus dem Transzendenzprozess auf unbegreifliche Weise hervorgegangenes Sein und Selbstverständnis bilden eine unvordenkliche Einheit, die sich in jeder Lebenssituation zeigt und die unsere endliche, freie und vernünftige Praxis ermöglicht. Diese Einheit wurde traditionell ontologisch, metaphysisch, mystisch, transzendental- und bewusstseinsphilosophisch auf metasprachliche Weise zu artikulieren versucht. Mit Wittgenstein (und wohl auch Heidegger) können wir sagen, dass sich diese Einheit eigentlich auf unsagbare Weise zeigt. Es lässt sich jedoch in praktischer Perspektive aufweisen, dass wir uns durch die Horizontbildung und die antizipierenden Sinnentwürfe als auf Einheit bezogene, auf Einheit angewiesene Lebewesen verstehen und verstehen müssen. Wir sind Lebewesen singulrer Totalitt, einmaliger Ganzheit. Unser je individuelles Leben ist eine einmalige Ganzheit. Aber diese Ganzheit ist kein statischer, räumlich zu objektivierender „Käfig“ der Identität, sondern ein dynamischer Prozess des Werdens zu sich selbst, der selbst in jeder Situation weit über sich hinausweist in die Welt und in die kommunikative gemeinsame Praxis. Die ursprüngliche und vorgängige Einheit dieser sinneröffnenden Transzendenz nannte die Tradition das Eine, das Absolute oder Gott. Es wird verständlich, dass Gott als namenloser Grund allen Seins sowohl negativ-theologisch in der Perspektive der absoluten Unerkennbarkeit und eher dem Nichts angenähert gedacht, andererseits mit maximalistischen Hyperformeln zu erfassen versucht wurde. Philosophische Theologie kann diese traditionellen Versuche aufgreifen und in der Perspektive der sinnkritischen Grenzreflexion durchaus mit Vernunftanspruch reformulieren. Die sinnexplikative Analyse philosophischer Theologie kann auf dem Hintergrund des bisher Ausgeführten den Status des Wortes „Gott“ genauer bestimmen und so auch zur Klärung der Grammatik der Rede von Gott beitragen. Die außergewöhnliche Grammatik des Wortes „Gott“ wurde immer wieder zu erfassen versucht. Ersichtlich handelt es sich nicht um ein gewöhnliches Prädikat wie „groß“, „mächtig“ oder „Liebe“ – allerdings werden Gott solche Eigenschaften zu- oder abgesprochen („unsichtbar“, „allgegenwärtig“). Gleichwohl werden mit dem Wort „Gott“ Unterscheidungen getroffen. So ist Gott nicht die Welt oder ein Teil der Welt, kein „Gegenstand“ der Erfahrung. „Gott“ ist aber auch kein gewöhnli-
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cher Eigenname wie „Peter“ oder „Paul“. Das Wort bezeichnet kein Individuum im üblichen, innerweltlichen Sinne. Wenn wir Kern-Sätze religiöser Rede betrachten, die im Zentrum von Bekenntnissen stehen, zum Beispiel: „Ich glaube an Gott, den Schöpfer der Welt“ und „Ich glaube, dass Gott Schuld vergibt“, dann wird deutlich, dass Gott als handelndes Subjekt vorgestellt wird, dem die Eigenschaften der Allmacht und der Liebe zukommen. Andererseits sind die bildlichen Vorstellungen anthropomorpher Art – Gott „sieht“, „spricht“, „handelt“, „liebt“ – stets dann missverständlich, wenn wir solche Ausdrucksformen zu eigentlichen und realistischen Vorstellungen etwa von einem großen Menschen verselbständigen. Der praktische Geltungssinn der Ausdrucksformen ist dennoch sinnvoll und vernünftig verstehbar. So bedeutet „Gott sieht alles“ zum Beispiel: Ich bin stets unbedingt verantwortlich, mein ganzes Leben steht im Horizont von Vernunft und Freiheit, nur so kann ich ein authentisches Selbstverständnis entwickeln und zu mir selbst werden. Aber, wie schon Wittgenstein bemerkt, sind konkrete Vorstellungen von den „Augen“ Gottes oder gar seinen „Augenbrauen“ abwegig und irreführend. Das darf weder zur Abwertung kindlichen Glaubens in seiner genuinen Authentizität noch zur hochmütigen Diskreditierung naiver Frömmigkeitsformen führen, die beide gelungenere Lebensformen sein können als verbreitete Formen eines „aufgeklärten“ Materialismus und Zynismus. Dennoch muss der philosophische Anspruch dahin gehen, die Rede von Gott so zu verstehen, dass wir auch die Wirklichkeit Gottes, die Dimension seines schöpferischen Wirkens, seines Handelns, und die Einzigkeit Gottes denken und explizieren können. Dies wird möglich, wenn wir das Wort „Gott“ selbst als einzigartiges Wort verstehen – als eigene Wortart mit nur einem Wort, das wie ein Name fr den Grund des sinnerschließenden, sinnerçffnenden Transzendenzgeschehens steht. Damit ist verbunden, dass über die Grenze des Dass der Welt (des Seins des Seienden), des gleichursprünglichen Dass des Seins des Sinns der Sprache und des unerklärlichen Dass unserer eigenen, konkreten Existenz hinaus nichts gedacht werden kann. Alles jedoch, was wir sind und erfahren, ist nur möglich und wirklich in, mit und durch das einzigartige, vorgängige, prozessuale Transzendenzgeschehen, welches uns Vernunft und Freiheit, Wahrheit und Gutes eröffnet. Diese Stiftung, Eröffnung und Schöpfung aber, dieser Hervorgang ist real und konkret. Die Transzendenzdimension erschließt die innere Unendlichkeit der Wirklichkeit, sie ermöglicht unser eigenes Transzendieren – auf selbst unfassbare, unerklärliche Weise, denn alles Fassbare und alles Erklärliche wird durch sie
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erst möglich. Auf diese Weise wird deutlich: Der einzigartige Name „Gott“ bezieht sich auf das unfassbare, authentische Wunder des Seins und des Seins des Sinns, welches den Ursprung des gesamten Universums ebenso einbegreift wie jeden konkreten, gelebten Augenblick in unseren je einzigartigen Lebensvollzügen. Philosophische, kritisch-hermeneutische und sinnexplikative Theologie kann bis zu dieser einzigartigen Seins-, Sinn- und Schöpfungsdimension vorstoßen, von der wir, recht verstanden, in jedem Augenblick leben: Im Atmen und Fühlen, im Sehen und Hören, in den Erfahrungen der Erfüllung und Versagung, in den Modi kommunikativer Hilfe und wechselseitiger Anerkennung, in den Möglichkeiten des Denkens. Gott darf nicht mit unseren Vorstellungen, Gedanken, Erfahrungen identifiziert werden, die allesamt den absoluten Sinngrund schon voraussetzen. Deswegen ist auch die Rede von der Abwesenheit Gottes sehr berechtigt und sinnvoll. Wenn Menschen in ihrer durch Gott ermöglichten Praxis die Orientierung an Vernunft und Freiheit, an Wahrheit und Liebe verlieren oder bewusst in Lüge, Hass und Mord pervertieren, dann büßen sie die von Gott gegebene Sinnperspektive ein. Das böse Handeln ist bereits selbst die Strafe. Es ist identisch mit der Ferne Gottes für diejenigen, die den unbedingten Sinn ihres Seins verderben. Indem wir „Gott“ als Eigennamen des einzigartigen Dass des Seins des Sinns explizieren, können wir neben den negativ-theologischen Explikationstraditionen auch die Eminenztraditionen in ihrer Berechtigung verstehen. Insbesondere die berstiegs- und Hyperformeln des Neuplatonismus artikulieren ja die erkenntniskritische Einsicht in die Grenze unseres Erkennens, die wir als Grenze und ineins als sinnermöglichenden, sinneröffnenden Grund unserer Welt, unserer Existenz und unserer eigenen Entwürfe expliziert haben. Auch die traditionellen theologischen Feststellungen ber Analogien lassen sich sinnvoll verstehen. Gott ist „wie ein guter Vater“ – ohne die uns real ermöglichenden Sinnbedingungen und ihre noch jetzt wirksame Macht wären wir gar nicht. Gott ist „wie das Licht“ – der Grund, das Dass des Sinns des Seins ist selbst nicht sichtbar, aber alles wird sichtbar, erkennbar, wahrnehmbar, erfahrbar und kommunizierbar durch ihn, durch den sinneröffnenden Transzendenzprozess. Begreifen wir als wirklich nicht krude Gegenstndlichkeit: Steine, Atome, Dinge, szientifisch reduzierte Quantitäten, sondern begreifen wir das Wirkliche als die konkrete Lebenswirklichkeit, in der Menschen im höchsten Maße vernünftige, freie, Sinn erfahrende und entwerfende Wesen sind und sein können, dann ist uns Gott nirgends nher als in authentischer existentieller und interexistentieller Praxis: wenn wir uns selbst trans-
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zendieren in Richtung auf authentische Sinn- und Geltungsansprüche in der gemeinsamen Wahrheitssuche, in Richtung auf Wahrhaftigkeit, Gerechtigkeit und Solidarität auch mit schwachen und hilfsbedürftigen Mitmenschen. Die uns mit diesen Richtungen erschlossene konkrete Lebenswirklichkeit lässt sich mit guten Gründen als die wahre, eigentliche Wirklichkeit bezeichnen, und somit Gott als ens realissimum. Jede Hoffnung, jeder Satz und jede Bewegung – noch in der bösesten Absicht – lebt von dem sie tragenden, schon vorgängig erschlossenen Sein und Sinn der Welt, der Existenz und der Sprache und von der Antizipation des Gelingens und der Erfüllung. Haben wir die Sinnerçffnung durch absolute Transzendenz erkannt – die transpragmatischen, transethischen und transrationalen Sinnbedingungen, die in ihrer einzigartigen Gleichursprünglichkeit unser eigenes Sein hervorgehen ließen und es in jedem Augenblick neu ermöglichen – dann haben wir uns selbst in unseren wesentlichen Möglichkeiten erkannt. Somit ist auch die christliche Lehre von dem Menschen als Bild Gottes auf diesem Hintergrund neu und vernünftig verstehbar. Der sinnkonstitutive, einzigartige Transzendenzprozess reicht bis in die leiblich-sinnliche Konkretion menschlicher Existenz in ihrer Leidbedrohtheit, in die Wirklichkeit der Angst und der Sterblichkeit. Das entwickelte Gottesverständnis ist universalistisch. Es bezieht die Entstehung und Entwicklung des gesamten Universums ebenso ein wie die Entstehung und Geschichte der Erde, der Menschheit und jedes einzelnen Menschen. Gott ist ein Gott aller Menschen – er ist in absoluter Transzendenz völlig unverfügbar. Gott lässt sich so als Grund der Wirklichkeit authentischer Interpersonalitt begreifen. Dieser Grund bleibt selbst unverfügbar, eröffnet und erschließt je konkret den Horizont freier und vernünftiger Praxis und so einen praktischen zukünftigen Sinnhorizont, aus dem her wir unsere gegenwärtigen konkreten Lebenssituationen verstehen und gestalten können. Da die Wirklichkeit Gottes als absoluter Transzendenz inmitten der Immanenz im erläuterten Sinne alle konkrete Wirklichkeit hervorgehen lässt und trgt, da nicht wir diese Wirklichkeit geschaffen haben, sondern da wir uns, recht verstanden, dieser Wirklichkeit mit allem was wir haben und sind, verdanken, können alle Aspekte unserer Welt, unserer Existenz und unserer Praxis zu Paradigmen der Transzendenz werden. Religion und Theologie können wir auf diesem Hintergrund als Aufklärung über Transzendenz bzw. als Aufklrung ber sinnkonstitutive Unverfgbarkeit definieren, insbesondere als praktische Einübung in angemessenes, sinnvolles Verhalten gegenüber bzw. angesichts absoluter Transzendenz. Der afunktionale Sinn des Heiligen lässt sich aus der Sicht philosophischer
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Theologie in seiner Tiefenrationalität begreifen und, wo dies nötig ist, rehabilitieren. Gerade weil kein funktionales, subjektiv oder objektiv vergegenständlichendes Verhältnis zu Gott, zum Absoluten, zur gleichursprünglichen Transzendenz möglich ist, sind diejenigen kulturellen Formen im Recht, die diese absolute Entzogenheit und Unverfügbarkeit bewusst machen und bewusst halten. Die Dimension absoluter, sinneröffnender Transzendenz ist kein Bereich der Beliebigkeit, sondern ein umfassender und grundlegender Bereich mit genuinen Geltungskriterien, eine Dimension, die sich allen eröffnet, die niemandem gehört und die niemand für sich funktionalisieren kann und darf. An der Grenze philosophischer Vernunfterkenntnis, die bis zur Entfaltung einer Theologie der Transzendenz in der Immanenz – auch und gerade im Blick auf ihre lebensermöglichende und lebenssinnkonstitutive Wirklichkeit und Wirksamkeit – reicht, beginnt das Verstehen und Begreifen der Geschichtlichkeit und Sprachlichkeit der großen monotheistischen Weltreligionen und ihres authentischen, irreduziblen Wahrheitsgehaltes wie auch ihrer ideologischen und pervertierten Formen. Säkularisierung, westliche Moderne und technisch-wissenschaftliche Zivilisation sind solange sinnvoll, wie sie authentische religiöse Lebensformen freisetzen und nicht versuchen, sich auf illusionäre und ideologische Weise an ihre Stelle zu setzen. So können sich die gleichermaßen komplexen wie unverzichtbaren Traditionen des Verstandes, der Vernunft und der religiösen Tiefenaufklärung und Verkündigung erneut produktiv ergänzen. Die Dialektik von Vernunft und Transzendenz gehört zur Vernunft selbst und darf nicht in eine künstliche, dualistische Entzweiung von bloß säkularer Rationalität und bloß fundamentalistisch, fideistisch oder kirchenmystisch zugänglicher Offenbarung aufgespalten werden. Wo das produktive Ergänzungsverhältnis von religiöser und profaner Vernunftperspektive einseitig aufgelöst wird, muss es neu entwickelt und mit Leben erfüllt werden – auch durch wechselseitige Kritik.
Religion und Philosophie I am not a religious man but I cannot help seeing every problem from a religious point of view. Wittgenstein
Das Verhältnis von Religion und Philosophie in der gegenwärtigen Epoche ist auf mehrfache Weise Spiegelbild von krisenhaften Umbrüchen, Unklarheiten und einer bemerkenswerten Orientierungslosigkeit. Wie in einem Brennglas verdichten sich in ihm die Reflexe offener existentieller, kultureller und weltpolitischer Fragen. Auch jedem einer Religion ferner stehenden Philosophierenden muss klar sein, dass eine erneute explizite Thematisierung der religiösen Grundprobleme im Interesse von Aufklärung und Vernunftkritik ohne Alternative ist. Diese Thematisierung berührt das Selbstverständnis von Moderne und Postmoderne, das Selbstverständnis der westlichen Kultur nicht nur äußerlich, sondern zutiefst. Das Neben- und Gegeneinander von völliger Profanität und Säkularisierung, wissenschaftlicher Weltanschauung und hedonistischer Individualkultur einerseits, religiöser patchwork-Identität, Esoterik, Fundamentalismus, Abschottungsverhalten einer Kirchenmystik andererseits prägt eine negative Dialektik aus, die beide Seiten einer Hegelsch gedachten Vermittlung ausfranst und beschädigt. Kritische Philosophie kann sich mit dieser bedauerlichen, prekären Konstellation nicht zufrieden geben. In der Tradition Kants und Hegels, aber nach den systematischen Radikalisierungen der Vernunftkritik, wie sie im vergangenen Jahrhundert von Heidegger, Wittgenstein und Adorno geleistet wurden, gilt es, die Kritik der religiösen Vernunft für die Gegenwart zu wiederholen. Um Ansätze zu diesem Projekt auf knappem Raum zu erfassen, soll im Folgenden das Terrain abgesteckt werden, auf dem das Verhältnis von Religion und Philosophie für die Zukunft neu zu bestimmen ist. Dies geschieht bewusst pointiert, um einen fälligen und sich bereits abzeichnenden Paradigmenwechsel zu verdeutlichen. Behelfsmäßig seien vorab fünf Ebenen idealtypisch unterschieden: die Ebene der religiösen Praxis in Geschichte und Gegenwart, die diese Praxis reflektierenden Theologien, die Ebene der Religionswissenschaften (z. B. Ethnologie, Psy-
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chologie, Soziologie) die Ebene der Religionsphilosophien sowie die Ebene eines religiösen Denkens bzw. einer philosophischen Theologie. Meine systematische Kernthese ist, dass letztere in der Gegenwart neu zu entwickeln ist, und zwar als eine kritische Theorie absoluter Transzendenz. Zunächst aber will ich eine mögliche übersichtliche Anordnung derjenigen zentralen Gesichtspunkte geben, die für die erneute Bestimmung des Verhältnisses von Religion und Philosophie heute entscheidend sind.
1 Die Prognosen vom Ende der Religion, vom „Tod Gottes“ und von einer vollendeten Säkularisierung haben sich als verfehlt erwiesen. Vielmehr ist die Permanenz der Vielfalt religiöser Orientierungen – auch im Blick auf eigenartige Transformations- und Umbesetzungsprozesse – das eigentlich zu begreifende Phänomen. Mehr noch: Gerade die weitreichenden und tiefgreifenden Ansätze der Religionskritik von Feuerbach, Marx, Nietzsche und Freud lassen sich in langfristiger Perspektive als produktive Beiträge zur Rekonstruktion religiöser Sinnansprüche verstehen. Die Entfremdungs- und Projektionsanalysen der radikalen Religionskritik dienen ex negativo der Freilegung authentischer religiöser Rationalität. Nietzsches Illusionskritik und Freuds tiefenhermeneutische Analysen von Verdrängungsprozessen sind, wo sie triftig sind, bereichernd, hilfreich und klärend für ein kritisches philosophisches Religionsverständnis. Freilich dürfen die Entfremdungsanalysen nicht verabsolutiert werden – denn dann werden sie selbst zur Ideologie. Geschärftes Bewusstsein von verzerrten, verfehlten und repressiven Formen von Religion führt, recht verstanden, zu einer aufgeklärten, autonomen Perspektive auf die religiöse Sinndimension. Dieses Bewusstsein schärft auch die Wahrnehmung der zur kulturell entwickelten Religion konstitutiv gehörenden innerreligiösen Religionskritik: in der Gestalt der Kritik an falschen Göttern und Götzen und irrigen Gottesvorstellungen in den drei monotheistischen Weltreligionen, im Kampf des Buddhismus gegen verdinglichte Selbst- und Weltverständnisse, in auf Befreiung und sittliche Praxis zielender religiöser Lehre. Religions-
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kritik ist gut für Religion. Der Zusammenhang des Heiligen auch mit Gewalt und Macht verdient kritische Reflexion.1 Auch das spannungsreiche Verhältnis der Religionen zu den Wissenschaften, wie es sich im 20. Jahrhundert entfaltet hat, lässt sich philosophisch produktiv rezipieren. Die ethnologischen, psychologischen Untersuchungen und insbesondere die funktionale Religionssoziologie, wie sie paradigmatisch von Niklas Luhmann entwickelt wurde, enthält viele wichtige Einsichten in die soziale und pragmatische Bedeutung religiöser Praxis. Sie ist zumindest teilweise kompatibel mit den leitenden Thesen des Pragmatismus in der Religionsphilosophie von Dewey und William James. Religionen lassen sich (zumindest auch) in ihrer pragmatisch-sinnkonstitutiven Funktion angesichts der unverfügbaren Bedingungen des menschlichen Lebens verstehen und untersuchen. Dennoch ist ihre Bestimmung als Kontingenzbewältigungspraxis2 religionsphilosophisch partial und missverständlich. Sie bricht den Religionen die kreative Sinnspitze ab. Die praktische Dimension z. B. der christlichen Verkündung – von den zehn Geboten bis zur Bergpredigt Jesu – lässt sich nicht als funktionale Kontingenzbewältigung begreifen. Auch die Entwicklung der Naturwissenschaften in der Moderne trägt bei näherer Betrachtung zur Klärung des genuinen Status von Religion bei: Philosophisch lässt sich ein Ausdifferenzierungsprozess konstatieren, naturwissenschaftliche und religiöse Wahrheit sind zweierlei. Die sinnkriteriale Ablösung der religiösen Dimension von kosmologischem, physikalischem Wissen, von einer quasi-empirischen Verortung des Jenseits, von einer supra-naturalistischen „Vorhandenheitsontologie“ (Heidegger) bzw. einer Vorhandenheitssemantik (im Sinne der Sprachkritik Wittgensteins) setzt die kritischen Arbeiten Kants fort, dessen gesamte Vernunftkritik der leitenden Intention folgt, das Wissen einzuschränken, um dem Glauben einen ihm angemessenen Ort wiederzugeben. Von dieser sinnkriterialen Ausdifferenzierung her erscheint das gesamte System Kants in einer gleichermaßen religionskritischen wie religionsrettenden, um philosophische Theologie und die Dimension des „Intelligiblen“ zentrierten Perspektive.
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2
Dazu instruktiv: Ludwig Nagl (Hg.), Religion nach der Religionskritik, Wien/Berlin 2003 sowie Matthias Lutz-Bachmann, „Religion nach der Religionskritik“, in: Theologie und Philosophie 3 (2002) 374 – 388; vgl. René Girard, Das Heilige und die Gewalt, Zürich 1987 (Paris 1972). So Herrmann Lübbe, Religion nach der Aufklrung, Graz 1986.
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Das Verhältnis von Religion und Philosophie wird durch diese Ausdifferenzierungsprozesse wieder auf neue Weise spannend. Denn es fällt – zunächst und auf den ersten Blick wieder ex negativo – ein anderer, neuer Blick auf die alte Metaphysik, auf die alte, vor- und außerchristliche philosophische Theologie. Sie hatte einen nicht-szientistischen Status. Die genuin philosophisch-theologischen Ansätze von Platon und Aristoteles, von Augustinus, Boethius, Plotin und Proklos, von Meister Eckhart und Cusanus erscheinen gerade nach der modernen OntologieSprach- und Ideologiekritik auf neue Weise rezipierbar. Denn sie kämpften bereits mit all ihren jeweiligen Mitteln gegen verdinglichte Transzendenz- und Gottesverständnisse, sie akzentuieren auf vielfache Weise den existentiell-praktischen und universalen Sinn religiöser, das Ganze des Seins und des Lebens betreffender Wahrheit. Gerade die Ausprägungen negativer Theologie sind das beste Zeugnis dieser kritischen Tradition.3
2 Auf diesem Hintergrund ist es von besonderer Bedeutung, dass die moderne philosophische Entwicklung in ihren wichtigsten Ausprägungen zunächst durch eine latente Präsenz des Religiösen charakterisiert ist. Diese latente, indirekte Präsenz wird dann in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts in weiterführende systematische Ansätze der Religionsphilosophie überführt, die verstärkt eine explizite Thematisierung von Religion unternehmen. Schließlich führt diese Entwicklung in jüngster Zeit zu philosophischen Entwürfen, die die Wahrheit von Religion, die Frage nach Transzendenz, dem Absoluten und nach Gott erneut systematisch angehen. Betrachtet man die wichtigsten und einflussreichsten Philosophen des 20. Jahrhunderts, so wird sichtbar, dass sie ohne „religiöse Glutkerne“ nicht verstehbar sind. Und das gilt nicht für ihre expliziten Ausarbeitungen zur Religion und zur Religionsphilosophie, sondern es gilt für den Zentralbereich ihrer Systematik. Dies sei kurz an Heidegger, Jaspers, Wittgenstein, Benjamin, Adorno, Horkheimer, Habermas und Derrida aufgezeigt.
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Vgl. Thomas Rentsch, Artikel „Theologie, negative“, in: Joachim Ritter/ Karlfried Gründer (Hg.), Hist. Wçrterbuch der Philosophie, Bd. 10, Basel 1998.
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Die frühen religiösen Ursprünge Heideggers, seine katholische Prägung sind klar. Sein Hauptwerk „Sein und Zeit“ repräsentiert im Anschluss vor allem an Kierkegaard mit seinen Zeit-, Angst- und Todesanalysen und seiner Unterscheidung der „uneigentlichen“, verfallenen, im öffentlichen Gerede aufgehenden Existenz des „Man“ von der „eigentlichen“, entschlossenen, sich ihrer selbst und ihres Todes bewussten Existenz (nach einer Formulierung von Habermas) einen Protestantismus auf dem Nullpunkt der Säkularisierung.4 Die ausgearbeitete Existentialanalyse Heideggers führte zu einer breiten Rezeption in der evangelischen wie auch der katholischen Theologie. Die existenztheologischen Ansätze von Rudolf Bultmann und von Karl Rahner wendeten Heideggers auf das praktische Selbstverständnis der Menschen in seiner alltäglichen Lebenssituation bezogene Analysen auf die Rekonstruktion der erlösenden Heilsbotschaft des Neuen Testaments bzw. auf die Rekonstruktion des praktischen Sinnes der metaphysischen Theologie an. In diesen Prozessen rückt somit der Alltags- und der konkrete Lebensbezug der religiösen Heilsbotschaft wie auch eines angemessenen Transzendenzverständnisses ins Zentrum. Diese Bewegung ist systematisch charakteristisch für viele philosophische Vermittlungsversuche von religiöser Wahrheit und moderner Lebenswelt. Ein eigentliches praktisches Selbstverständnis lässt sich und muss sich im Alltag ausprägen. Herbert Marcuse hat als Schüler Heideggers den emanzipatorischen Gehalt einer Kritik der verfallenen eindimensionalen Orientierung an der spätkapitalistischen Konsumwelt herausgearbeitet.5 Die weltweit wirksamen Protest- und Alternativbewegungen speisten ihre Energie auch aus den religiösen, chiliastischen Gehalten, die in die Idee der „Großen Weigerung“ und eines alternativen, authentischen Lebens Eingang fanden. Die marxistische Hoffnungsphilosophie Ernst Blochs hatte eine ähnliche Stoßrichtung.6 Deswegen konnten emanzipatorische Religionsverständnisse mit befreiungstheologischen Bewegungen verbunden werden. Die Spätphilosophie Heideggers zeigt religiöse Perspektiven, die ebenfalls den Ort des Menschen in der Wirklichkeit dieser Welt neu zu verstehen suchen.7 Das Sein wird zu einer sich entbergend-verbergenden 4 5 6 7
Vgl. Thomas Rentsch, Martin Heidegger – Das Sein und der Tod. Eine kritische Einfhrung, München 1989 sowie ders. (Hg.), Martin Heidegger: Sein und Zeit, Reihe Klassiker Auslegen, Berlin 2001. Herbert Marcuse, Der eindimensionale Mensch, Neuwied 1964. Ernst Bloch, Das Prinzip Hoffnung, Frankfurt a.M. 1954 – 1959. Martin Heidegger, Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis, 1936 – 1938), Frankfurt a.M. 1989.
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Macht, die das Geschick der menschlichen Wirklichkeit prägt. In seiner Entzogenheit, Verdecktheit und Ferne wie in seiner Nähe eignen dieser Instanz religionsspezifische Qualitäten. Die Bedeutung des Göttlichen, des Wunders und des Geheimnisses entfaltet das späte Denken Heideggers mythopoetisch und bildreich im Rekurs auf Schelling, Hölderlin und – im Versuch, hinter die Verfallsgeschichte der europäischen Entwicklung zu gelangen – im Rekurs auf das frühgriechische Weltverständnis von Hesiod, Parmenides und Heraklit.8 Dieses Denken versteht sich als ein einsamer Weg, zu einem nicht-instrumentellen, nicht-wissenschaftlichen, nicht technisch bestimmtem, gewaltlosen Selbst- und Weltverhältnis zu gelangen, zu einem erneuten Heimisch-Werden und „Wohnen“ in der Endlichkeit. Da Religionen im Kern ihrer genuinen Rationalität ein Bewusstsein dieser sinnkonstitutiven Begrenztheit kultivieren, berührt sich Heideggers spätes Denken nicht nur mit christlichem, mystischem Transzendenz- und Gottesverständnis, sondern deutlich auch mit Traditionen fernöstlicher Weisheit des Buddhismus und Taoismus. Die religiöse Tiefendimension dieses Denkens ist evident. In ihr artikuliert sich ein Bewusstsein von den Grenzen der okzidentalen Rationalität und von der Angewiesenheit des menschlichen Daseins auf seine unverfügbaren natürlichen Lebensgrundlagen, das auch die politische Ökologiebewegung Jahrzehnte vor ihrem massiven Auftreten antizipiert. Heideggers dramatisches Krisenbewusstsein artikuliert sich in seinem letzten großen Interview, das er dem „Spiegel“ gab, schließlich in dem Satz: „Nur noch ein Gott kann uns retten.“9 Auch die religiösen Implikationen des Denkens von Karl Jaspers sind unübersehbar. Sie münden in eine existenzphilosophisch rekonstruierte Metaphysik, in der die Gottheit als „Transzendenz“ gefasst und in der eine Theorie der „Chiffreschrift“ dieser Transzendenz entwickelt wird.10 Durch philosophische „Existenzerhellung“ des „Umgreifenden“ weiß ich mich geschenkt – der Transzendenzbezug eröffnet Liebe und Freiheit, aber auch das existentielle „Scheitern“, in dem das Sein erfahren wird. Der denkbare enge Konnex von Philosophie und Religion in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zeigt sich auch im Werk Paul Tillichs, der Gott als das „Sein-selbst“, als „das, was uns unbedingt angeht“, versteht. 8 Vgl. Rentsch, Das Sein und der Tod (Anm. 4), 175 – 221. 9 Das Interview stammt vom 23.9.1966. Veröffentlicht in: Der Spiegel (31. Mai 1976) 193 – 219. 10 Karl Jaspers, Philosophie III Metaphysik, München 1994 (Heidelberg 1932) sowie ders.: Chiffren der Transzendenz, München 1970.
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Seine Theorie der Vermittlung von Offenbarung und Wirklichkeit („Korrelation“) zielt auf ein „Neues Sein“ des Menschen als Überwindung der modernen Entfremdungsverhältnisse.11 Auch bei Tillich ist der praktisch-politische und emanzipatorische Bezug seines Denkens bei allem Transzendenzbezug eindeutig. Beim frühen Wittgenstein wird der alles umfassende Bereich: Dass die Welt ist, Gott und der Sinn des Lebens, als „das Mystische“ und „Unsagbare“ von innen her aus der wissenschaftlich-logischen Rationalität ausgegrenzt. Wenn alle wissenschaftlichen Fragen beantwortet sind, sind nach Wittgenstein unsere Lebensfragen noch gar nicht berührt.12 Auch bei ihm wird also die Dimension existentiellen Sinns im Verhältnis des Menschen zu einer absoluten Transzendenz jenseits wissenschaftlicher Orientierungen verortet. Seine Lebenspraxis, sein Rückzug ins Kloster und als Dorfschullehrer, seine langjährige intensive Lektüre des Neuen Testaments, Tolstois und Kierkegaards, dies alles bezeugt die fundamentale Bedeutung der Religion für ihn. In Bemerkungen zu seinem Schüler Drury wird das so deutlich: „Kierkegaard was by far the most profound thinker of the last century. Kierkegaard was a saint.“13 Und „I am not a religious man but I cannot help seeing every problem from a religious point of view.“14 Die Spätphilosophie Wittgensteins sowie seine Vorlesungen zur Religion und zum Gottesverständnis führen zu einer breiten, an Kierkegaard orientierten Sprach- und Religionsphilosophie (s.u.).15 Neben dem Lebensformbezug der religiösen Praxis steht auch bei Wittgenstein die Sprache der Religion und ihre Differenz zu wissenschaftlicher Rede im Zentrum. Diese Aspekte verbinden sein Denken auf grundsätzliche Weise mit dem Heideggers. Die Kritische Theorie der Frankfurter Schule ist ohne religiöse und theologische Bezüge ebenfalls nicht denkbar. Das gilt zunächst in hohem 11 Paul Tillich, Religionsphilosophie, Stuttgart 1962; ders.: Der Mut zum Sein, Stuttgart 1968. 12 „Wir fühlen, dass selbst, wenn alle mçglichen wissenschaftlichen Fragen beantwortet sind, unsre Lebensprobleme noch gar nicht berührt sind.“ (Tractatus logicophilosophicus 6.52) 13 Maurice O’Connor Drury, „Some notes on conversations with Wittgenstein“, in: Rush Rhees (Hg.), Ludwig Wittgenstein: Personal Recollections, Oxford 1981, 102. 14 Ebd., 94. 15 Ludwig Wittgenstein, Vorlesungen und Gesprche ber sthetik, Psychologie und Religion, Göttingen 21971. Zu Wittgensteins Religionsphilosophie: Friedo Ricken, Religionsphilosophie, Stuttgart 2003, v. a. 29 – 56.
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Maße für ihren Urvater Walter Benjamin und auch für ihre klassische Gestalt bei Theodor W. Adorno und Max Horkheimer. Benjamins ganzes Denken entfaltet eine radikalisierte Form der Dialektik zwischen absolut gedachter Transzendenz und dem historisch-materialistisch konzipierten Geschichtsprozess. Er entwickelt ein irreduzibles Transzendenz- und Eschatologieverständnis, welches sich begrifflich völlig der Funktionalisierung und auch der politischen Indienstnahme verweigert, und das gerade so ein vertieftes Verständnis von Profanität und Säkularisierung erreicht. Gott und Welt, Transzendenz und Profanität, Eschatologie und Geschichte, Erlösung und Befreiung werden radikal unterschieden, gerade um eine radikal kritische Instanz der Infragestellung aller Immanenz festzuhalten. Nur die Perspektive absoluter Transzendenz entbirgt ein anamnetisches – ein „Eingedenken“ ermöglichendes – und auch auf Zukunft gerichtetes Vernunftpotential, das in keinem linearen Fortschrittsoptimismus aufgehoben werden kann. Die authentische Transzendenzperspektive allein eröffnet nach Benjamin die Tiefenstruktur der praktischen Vernunft und die Dimensionen des Gedächtnisses, der Erinnerung an das Leiden der Unschuldigen. Für die Gegenwartsdiskussion besonders relevant ist im Ansatz Benjamins, dass für radikal gedachte Transzendenz keine weltlichen Substitute oder Surrogate möglich sind. Mythisierungen weltlicher Instanzen, politische Hoffnungen als Hoffnungen auf endgültiges Heil, Herrschaftsformen als göttlich legitimiert – das sind fundamentale Missverständnisse, die sich in der Praxis verheerend auswirken. Nur im Widerschein absoluter Transzendenz zeigen sich die transpragmatischen Sinnbedingungen aller Praxis und Rationalität: „Mein Denken verhält sich zur Theologie wie das Löschblatt zur Tinte. Es ist ganz von ihr vollgesogen. Ginge es aber nach dem Löschblatt, so würde nichts was geschrieben ist, übrig bleiben […].“16 In veränderter Form bleibt dieser sinnkonstitutive Transzendenzbezug der Kritischen Theorie erhalten, wenn Max Horkheimer die „Sehnsucht nach dem ganz Anderen“ im Zentrum seines Denkens expliziert. Die Kritik der instrumentellen Vernunft hat eine theologische Tiefendimension. Horkheimer konstatiert apodiktisch: „Einen unbe-
16 Walter Benjamin, Das Passagen-Werk, N8, 1 (GS V) 588. Man vergleiche diese Aussage mit dem Diktum Wittgensteins, Anm. 14.
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dingten Sinn zu retten ohne Gott, ist eitel.“, und „Zugleich mit Gott stirbt auch die ewige Wahrheit.“17 In Adornos Theorie nimmt die reflexive Bezugnahme des philosophischen Denkens auf ein Absolutes systematisch eine charakteristisch transformierte Gestalt an. Da das Absolute nicht mehr positiv gedacht oder gar expliziert werden kann, „wird es“ nach einer treffenden Formulierung Michael Theunissens „immer kleiner“.18 Der Kern dieses Denkens ist das – ebenso wie das „Mystische“ Wittgensteins und das „Sein“ Heideggers – unsagbare, prädikativ nicht vergegenständlichbare „Nichtidentische“. Dass alles identifizierende, vorstellende Denken dieses Nichtidentische notwendig verfehlt, ist Grundlage der „Negativen Dialektik“.19 Auf diese Weise leitet eine negative, eschatologische Utopie unverkürzter, liebender Erkenntnis und nicht-verdinglichter Individualität Adornos Gesellschaftskritik, seine „Ästhetische Theorie“ und seine Musikästhetik. Erst der eschatologische Zusammenfall von ästhetischer Erfahrung und begrifflicher Diskursivität ergäbe Adorno zufolge die „wahre Sprache“, deren Idee „die Gestalt des göttlichen Namens“ ist.20 In seinen bahnbrechenden Analysen zur modernen Kunst und Musik verbindet Adorno eine neuplatonisch inspirierte Ästhetik von Ekstasis, Pleroma (erfüllter Augenblicklichkeit) und Plötzlichkeit (Plotin: exaiphnes) mit Elementen einer kenotischen Christologie. Schönbergs Musik hat „alle Dunkelheit und Schuld der Welt […] auf sich genommen.“21 Spuren der Transzendenz, Spuren des Absoluten gibt es bei Adorno zwar in „kleingewordener“ Form, im scheinbar Marginalen, in kurzen Momenten der Kindheit, der ästhetischen Erfahrung oder in entfremdeten und dennoch auf Erfüllung hin geöffneten Alltagssitua-
17 Vgl. dazu Jürgen Habermas, „Zu Max Horkheimers Satz ,Einen unbedingten Sinn zu retten ohne Gott, ist eitel‘“, in: ders., Texte und Kontexte, Frankfurt a.M. 1991, 110 – 126. 18 Michael Theunissen, „Negativität bei Adorno“, in: Ludwig v. Friedeburg/ Jürgen Habermas (Hg.), Adorno-Konferenz 1983, Frankfurt a.M. 1983, 41 – 65, dort 65. 19 Dazu Thomas Rentsch, „Vermittlung als permanente Negativität. Der Wahrheitsanspruch der „Negativen Dialektik“ auf der Folie von Adornos Hegelkritik“, in: ders., Negativitt und praktische Vernunft, Frankfurt a.M. 2000, 252 – 270. 20 Theodor W. Adorno, Fragment ber Musik und Sprache, in: ders., Gesammelte Schriften Bd. 16, Frankfurt a.M. 1978, 252. 21 Theodor W. Adorno, Philosophie der neuen Musik, in: ders., Gesammelte Schriften Bd.12, Frankfurt a.M. 1975, 126.
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tionen des „beschädigten Lebens“.22 Aber dieses – von Theunissen wie von Pangritz23 treffend analysierte – „Kleiner- und Unsichtbarwerden der Theologie“ gerade in der modernen Philosophie und insbesondere in der Philosophie Adornos schmälert nicht die systematisch zentrale Bedeutung und die Funktion dieser negativen, verhüllten Sinndimension. Sie ist vielmehr auf indirekte Weise für die tiefgreifende Kritik und schon für die sensible Wahrnehmung gesellschaftlicher Entfremdungsphänomene humanen Lebens unter dem Zwang instrumenteller Verhältnisse unverzichtbar und leitend. Jürgen Habermas scheint sich am weitesten von religiösen Tiefendimensionen der Philosophie zu lösen. Dennoch versteht sich sein Hauptwerk, die „Theorie des kommunikativen Handelns“, als eine sprachliche Anverwandlung des Sakralen. Es geht ihm darum, die Einheit der Vernunft in der kommunikativen Alltagspraxis zu rückzugewinnen, nachdem seiner Auffassung nach „alle substantiellen Vernunftbegriffe kritizistisch aufgelöst worden sind.“24 Gegenüber kultisch-rituellen Vergegenwärtigungsformen der emphatisch verstandenen Heilswahrheit stelle die Versprachlichung eine „kommunikative Verflüssigung des religiösen Grundkonsenses“25 dar. Die Idee einer transzendentalen bzw. idealen Kommunikationsgemeinschaft bei Habermas und Karl-Otto Apel bleibt somit durch ihre Herkunft aus den Grundgedanken von Josiah Royce und Charles S. Peirce von theologischen Modellen und religiösen Vorgestalten perfekter Transzendenz und Kommunikation geprägt.26 Habermas erklärt in der Konsequenz seiner alltagspraktischen Transformation die Diskursgemeinschaft zum Substitut des Heiligen in der Gegenwart: „allein die zur Diskursethik entfaltete, kommunikativ verflüssigte Moral kann […] die Autorität des Heiligen substituieren. In ihr hat sich der archaische Kern des Normativen aufgelöst, mit ihr ent-
22 Theodor W. Adorno, Minima Moralia. Reflexionen aus dem beschädigten Leben, Frankfurt a.M. 1951. 23 Andreas Pangritz, Vom Kleiner- und Unsichtbarwerden der Theologie, Tübingen 1996. 24 Jürgen Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns Bd. 1, Frankfurt a.M. 1981, 340. 25 Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns, Frankfurt a.M. 1988, 126; vgl. 140. 26 Das wurde in religionskritischer Absicht besonders herausgearbeitet von Hans Albert, Transzendentale Trumereien. Karl-Otto Apels Sprachspiele und sein hermeneutischer Gott, Hamburg 1975.
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faltet sich der rationale Sinn von normativer Geltung.“27 Obwohl sich Habermas später differenziert mit religiösen Wahrheitsansprüchen auseinander setzt, stellt er fest: „Nachmetaphysisches Denken unterscheidet sich von Religion dadurch, dass es den Sinn des Unbedingten rettet ohne Rekurs auf Gott oder ein Absolutes.“28 Dennoch wird er zunehmend sensibel dafür, „dass die monotheistischen Traditionen über eine Sprache mit einem noch unabgegoltenen semantischen Potential verfügen, das sich in weltaufschließender und identitätsbildender Kraft, in Erneuerungsfähigkeit, Differenzierung und Reichweite“ gegenüber „säkularen Traditionen“ „als überlegen erweist“.29 Deutlich wird diese Sensibilität in Habermas’ Rede zum Friedenspreis des Deutschen Buchhandels: „Säkulare Sprachen, die das, was einmal gemeint war, bloß eliminieren, hinterlassen Irritationen. Als sich Sünde in Schuld, das Vergehen gegen göttliche Gebote in den Verstoß gegen menschliche Gesetze verwandelte, ging etwas verloren.“30 Es geht Habermas in der Tradition Kants daher um „eine säkularisierende und zugleich rettende Dekonstruktion von Glaubenswahrheiten“: „Wer einen Krieg der Kulturen vermeiden will, muss sich die unabgeschlossene Dialektik des eigenen abendländischen Säkularisierungsprozesses in Erinnerung rufen.“31 Das heißt: Der Prozess der Aufklärung im Dialog zwischen Religion und Philosophie ist offen und geht weiter. Auch das Denken des neben Deleuze und Lyotard wichtigsten Philosophen des französischen Poststrukturalismus, der Postmoderne und Dekonstruktion, von Jacques Derrida, ist ohne einen religiösen, negativtheologischen Hintergrund nicht zu begreifen. Sein Grundbegriff der Differenz meint – in sprachphilosophischer Fortführung Heideggerschen Denkens – den sprachlichen Sinn, dessen Abwesenheit man nie in Anwesenheit verwandeln kann. Strukturell der traditionellen Konzeption der Ferne und Nähe, der abwesenden Anwesenheit Gottes konform, entfaltet sich um die Differenz eine Gruppe ehemals metaphysischer 27 Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns Bd. 2, 140. 28 Habermas, „Zu Max Horkheimers Satz ,Einen unbedingten Sinn zu retten ohne Gott, ist eitel“‘, in: ders., Texte und Kontexte, Frankfurt a.M. 1991, 110 – 126, dort 125. 29 Habermas, „Exkurs: ;Transzendenz von innen, Transzendenz ins Diesseits‘“, in: ders., Texte und Kontexte, 127 – 156, dort 131. Vgl. auch: ders., „Ein Gespräch über Gott und die Welt“, in: ders., Zeit der bergnge, Frankfurt a.M. 2001, 173 – 196. 30 Jürgen Habermas, Glauben und Wissen, Frankfurt a.M. 2001, 24. 31 Habermas, Glauben und Wissen, 11.
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Begriffe, deren wichtigster der der „Spur“ ist. Wir erreichen je nur Spuren sich zeigenden Sinns. Dies lehrt auch die neuplatonische Theologie Plotins mit ihrem Begriff der Spur (ichnos) des Einen, ebenfalls Augustinus, der die Spur als vestigium Gottes bezeichnet.32 Der religiöse, negativ-theologische, mystische Subtext des Denkers der entzogenen Schrift ist in seinen vielen Werken überall präsent. Als algerischer Jude beerbt Derrida so die Lehre von der verborgenen Thora. In weiteren großen Texten zu „Glaube und Wissen“ und zur Sprache des Gebets expliziert Derrida immer deutlicher seine lebenslange Bezogenheit auf religiöse Ursprünge und die „Rückkehr des Religiösen“ in der modernen Welt: „Die ,Tode Gottes’, auf die man vor dem Christentum, im Christentum und jenseits des Christentums stößt, sind […] Figuren und Peripetien einer […] Anwesenheit einer Abwesenheit. Das Nichterzeugbare, das so immer wieder erzeugt wird, ist der leere Ort. Ohne Gott kein absoluter Zeuge.“33 Er reflektiert „die weltweite Latinisierung ( jenes eigentümliche Bündnis des Christentums als Erfahrung von Gottes Tod mit dem fernwissenschaftstechnischen Kapitalismus)“, die „eine hegemonische Position einnimmt und zugleich an ihr Ende gelangt, übermächtig und fast schon erschöpft.“34 Er macht deutlich, dass der absolute Wert des menschlichen Lebens – gegen allen Marktpreis und gegen alle Biotechnologie „die unendliche Transzendenz bezeugt, die dem, was mehr wert ist als es selbst, eignet“ – „die Göttlichkeit, das Allerheiligste“.35 In seinen Interpretationen arbeitet Derrida konsequent und dramatisch die konstitutiv religiösen und theologischen Prämissen des Kantschen Denkens wie der westlichen Moderne insgesamt heraus. Er rekonstruiert eine gegenwärtige Konstellation, die sich „zwischen einer Sakralität ohne Glaube (Anzeichen dieser Algebra: ,Heidegger’) und einer Heiligkeit ohne Sakralität (…) (Anzeichen: ,Lévinas‘ (…))“ abzeichnet.36 Seine persönlichen Reflexionen zur Gebetspraxis vertiefen das Bewusstsein dieser Konstellation auf eindrucksvolle Weise.37
32 Jacques Derrida, Die Schrift und die Differenz, Frankfurt a.M. 1972; ders., Randgnge der Philosophie, Wien 1988. 33 Jacques Derrida, „Glaube und Wissen. Die beiden Quellen der ,Religion‘ an den Grenzen der bloßen Vernunft“, in: ders./Gianni Vattimo, Die Religion, Frankfurt a.M. 2001, 9 – 106, dort 47. 34 Derrida, Glaube und Wissen, 25. 35 Derrida, Glaube und Wissen, 84. 36 Derrida, Glaube und Wissen, 103.
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Das Entscheidende der phänomenologischen Schule war es im Blick auf religiöse Phänomene, deren interne, irreduzible Eigenart und Authentizität wieder freilegen zu wollen. Das gilt für die frühe Schule mit Adolf Reinach und Edith Stein und setzt sich in großer Form bei Emmanuel Lévinas fort.39 In der Tradition der Hermeneutik wies Gadamer immer wieder darauf hin, wie unverzichtbar das Festhalten der philosophischen Frage nach der Transzendenz für einen Dialog der Weltkulturen und der Weltreligionen sei.40 Das „schwache Denken“ von Gianni Vattimo führt gerade nach dem Ende der Heilsverheißungen der Moderne zur zentralen Bedeutung der menschlichen Hinfälligkeit und Endlichkeit und zu einem neuen philosophischen Verständnis der Trinität und der Menschwerdung Gottes zurück; für ihn ist das „problematische Verhältnis zwischen Philosophie und religiöser Offenbarung der eigentliche Sinn der Menschwerdung.“41 Charles Taylor thematisiert die „Formen des Religiösen in der Gegenwart“42 und stellt die Grundfrage, ob der expressive Individualismus der westlichen Moderne, dessen religiöse Ursprünge er in „Quellen des Selbst“ umfassend untersucht hat, es noch gestatte, „unsere Verbindung mit dem Sakralen in irgendeinen besonderen, größeren Rahmen einzufügen, sei es die ,Kirche’ oder der Staat.“43 Gibt es einen „Ort für die Transzendenz in unserer heutigen Gesellschaft?“44 Taylor analysiert die Gründe für die Entzauberung und 37 Vgl. dazu John D. Caputo, „Die différance und die Sprache des Gebets“, in: Florian Uhl/Artur R. Boelderl, (Hg.), Die Sprachen der Religion, Berlin 2003, 293 – 315. 39 Emmanuel Lévinas, Wenn Gott ins Denken einfllt. Diskurse ber die Betroffenheit von Transzendenz, Freiburg 1985. 40 Hans-Georg Gadamer, „Metaphysik und Transzendenz“; „Der letzte Gott“, beide in: ders., Die Lektion des Jahrhunderts. Ein Interview von Riccardo Dottori, Münster 2002, 72 – 87 und 140 – 153; vgl. auch ders., Sein Geist Gott (1977), Gesammelte Werke Bd. 3, Tübingen 1987, 320 – 332. Auch das Werk Paul Ricoeurs thematisiert im Zentrum religiöse Fragen; vgl. dazu Paul Ricoeur/ Yvanka B. Raynova, „Der Philosoph und sein Glaube“, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 1(2004), 85 – 112. 41 Gianni Vattimo, „Die Spur der Spur“, in: Jacques Derrida/ders., Die Religion, 107 – 123; vgl. ders., Glauben – Philosophieren, Stuttgart 1997. 42 Charles M. Taylor, Die Formen des Religiçsen in der Gegenwart, Frankfurt a.M. 2002. 43 Charles M. Taylor, Die Formen des Religiösen in der Gegenwart, 85; vgl. sein Hauptwerk: Quellen des Selbst. Die Entstehung der neuzeitlichen Identität, Frankfurt a.M. 1994. 44 Charles M. Taylor, „Ein Ort für die Transzendenz?“, in: Information Philosophie 2 (2003) 7 – 16.
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die „Gottesfinsternis“ in der modernen Welt und artikuliert Bedingungen für eine neue Erschließung der Transzendenz: in einer „Liebe zum Menschen, so wie er ist, mit all seinen Fehlern und Schwächen“, einer „Liebe, deren wir nur durch Gottes Gnade fähig sind.“ Eine solche Perspektive eröffnet den „Sinn des Sinns“.45 Neben phänomenologischer und hermeneutischer Tradition ist es vor allem die analytische Sprachphilosophie, die in den letzten Jahrzehnten eindrucksvolle Untersuchungen zur Religionsphilosophie und zur philosophischen Theologie vorgelegt hat. Zentral für die Rekonstruktion des genuinen internen Geltungssinnes der religiösen Sprache und Praxis und der spezifischen „Grammatik“ religiöser Rede war die Orientierung an der Spätphilosophie Wittgensteins. Dass die religiöse Sprache einer eigenen Grammatik folgt, zeigte Dewi Z. Phillips in subtilen Untersuchungen.46 Hilary Putnam hat in der Tradition des jüdischen Monotheismus im Anschluss an die negative Theologie des Moses Maimonides und an die Sprachanalysen Wittgensteins die religiöse Rede von Gott als nicht-referentialisierende Rede interpretiert: der Name „Gott“ artikuliert auch den Ursprung aller Bedeutung.47 Die religiöse Sprache ist zwar in das religiöse Leben eingebettet, sie ist aber zugleich offen für die gesamte nicht-religiöse Alltagswelt. Im Rahmen der analytischen Sprachphilosophie hat Richard Swinburne „Die Existenz Gottes“ auf ihre theoretische Begründbarkeit untersucht und klassische Gottesbeweise rekonstruiert.48 Er rückt sie in die Nähe wissenschaftlicher Hypothesenbildung. Ähnlich unternimmt es Alvin Plantinga, die Existenz Gottes erkenntnistheoretisch und modallogisch zu thematisieren.49 Im Gegenzug erweist sich für den Atheisten John Leslie Mackie „Gott“, verstanden als erklärende Zusatzhypothese unseres Weltwissens, als überflüssig.50 Die Religionsphilosophie von John Hick hebt demgegenüber gerade den Wirklichkeitscharakter religiöser Erfahrung hervor und gelangt zu einem „eschatologischen Verifikationismus“, dem ein nicht ganz klarer Status zwischen christlicher Heilshoffnung und wis45 Ebd., 15. 46 So z. B. Dewi Z. Phillips, The concept of prayer, London 1965. 47 Hilary Putnam, „God and the Philosophers“, in: Midwest studies in philosophy 21 (1997) 175 – 187; ders., „On Negative Theology“, in: Faith and Philosophy 14 (1997) 407 – 422. 48 Richard Swinburne, Die Existenz Gottes, Stuttgart 1987. 49 Alvin Plantinga, God, Freedom, and Evil, New York 1974. 50 John Leslie Mackie, Das Wunder des Theismus. Argumente fr und gegen die Existenz Gottes, Stuttgart 1985.
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senschaftlicher Hypothesenbildung eignet.51 William P. Alston entwickelt in „Perceiving God“ eine komplexe Analyse alltäglicher Wahrnehmungsurteile im Vergleich mit religiöser Erfahrung.52 Die Leistungen der gegenwärtigen Religionsphilosophie werden durch die subtilen und klaren Untersuchungen in der analytischen Tradition erheblich bereichert. 53
3 Das Verhältnis von Philosophie und Religion lässt sich am Schluss unserer knappen Darstellung im Blick auf Probleme, offene Fragen und systematische Anforderungen mit folgenden Bemerkungen präzisieren. Obwohl lange nicht explizit genug bedacht, zeigt der genaue Blick auf die wesentlichen Leistungen der Philosophie der Moderne, auf Heidegger, Wittgenstein, Adorno, Derrida und andere Denker, dass diese Philosophien in ihrem Zentrum selbst eine mehr oder weniger ausgebildete religiçse Tiefendimension aufweisen. Sie haben einen religiösen Kern, ohne den sie gar nicht denkbar sind. Auch Fergus Kerr hat in einer sehr instruktiven Untersuchung herausgearbeitet, dass die moderne Philosophie entgegen weit verbreiteter Meinung in säkularisierter Form tief von religiösen Motiven geprägt ist. In seinen Stanton Lectures an der Universität Cambridge analysiert er die theologische Tiefendimension der Philosophien von Martha Nussbaum, Iris Murdoch, Luce Irigaray, Stanley Cavell und Charles Taylor.54 Er zeigt, dass in allen diesen Ansätzen Wege des Transzendierens des Menschlichen um des Menschen Willen leitend sind. Theologische Vorbegriffe spielen in der modernen Philosophie eine viel größere Rolle als bisher wahrgenommen. 51 John Hick, Religion. Die menschlichen Antworten auf die Frage nach Leben und Tod, München 1996. 52 William P. Alston, Perceiving God – The Epistemology of Religious Belief, Ithaca/ London 1991. 53 Eine sehr gute Einführung bietet Christoph Jäger (Hg.), Analytische Religionsphilosophie, Paderborn 1998. Als einen extremen Gegenentwurf zu solchen rational-metaphysischen Ansätzen kann man die religionsphilosophischen Arbeiten von Kurt Hübner lesen, der eine totale Differenz von Vernunft und christlicher Offenbarung, von wissenschaftlicher und mythischer Wahrheit, von Denken und Glaube so festschreibt, dass keine Vermittlung denkbar ist; vgl. Kurt Hübner, Glaube und Denken. Dimensionen der Wirklichkeit, Tübingen 2001. 54 Fergus Kerr, Immortal Longings. Versions of Transcending Humanity, Norte Dame (Indiana) 1997; vgl. ders., Theology after Wittgenstein, Oxford 1986, 21997.
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Um das Verhältnis von Religion und Philosophie in der Gegenwart voranzubringen, ist eine systematische Explikation dieses Verhältnisses neu zu leisten. Es gilt, sich klarzumachen, dass Philosophie von Platon und Aristoteles bis zu Kant und Hegel auch und im Kern religiös und philosophische Theologie war, und dass sie dies auch nach aller Religionskritik auf eigentümliche Weise blieb. Wie kann sich Philosophie neu – und nach aller Ontologie-, Sprach- und Ideologiekritik – den alten Fragen nach Transzendenz, dem Absoluten, Gott und unbedingtem Sinn zuwenden? Diese Frage neu zu stellen, ist eine innerphilosophische Notwendigkeit,55 aber mehr noch ist ihre Behandlung angesichts der krisenhaften weltgeschichtlichen Konstellation unumgänglich, schließlich aus existentiell-praktischen Gründen, denn die Menschen fragen weiter nach unbedingtem Sinn. Für die neuerliche Behandlung der religiösen, existentiellen Grundfragen genügen nach dem bisher Ausgeführten bloß beschreibende (phänomenologische), bloß auslegende, deutende (hermeneutische) und bloß analytische methodische Zugriffe nicht – so unverzichtbar ihre Beiträge, wenn sie gelingen, auch sind. Erst recht unzulänglich sind nur funktionale Analysen im Rückgriff auf sozialwissenschaftliche oder psychologische Rationalitätskriterien. Aber auch die Ansätze der Religionsphilosophie genügen dann nicht, wenn nicht die Frage nach dem Wahrheits- und Geltungsanspruch von Religion im Verhältnis zur philosophischen Vernunft wieder ins Zentrum der Reflexion rückt. Es darf nicht zu einem bei faktischen Lebensformen oder kulturellen Traditionen innehaltenden Reflexionsabbruch kommen. Die Philosophie muss selbst ihr Verhältnis zu religiöser Wahrheit, das Verhältnis von Vernunft und religiöser Wirklichkeitserkenntnis neu bestimmen – im Rückgang auch auf ihre eigene metaphysische, ontologische und transzendental-idealistische Tradition. Innovative Ansätze dazu zeigen sich in der analytischen Tradition, aber auch bei Franz von Kutschera, Dieter Henrich, Robert Spaemann, Ernst Tugendhat, Michael Theunissen und Peter Strasser. In der deutschsprachigen Philosophie sind in den letzten Jahren weiterführende Diskussionen zur philosophischen Gottesfrage und zum Ver55 Vgl. dazu das Standardwerk von Wilhelm Weischedel, Der Gott der Philosophen. Grundlegung einer philosophischen Theologie im Zeitalter des Nihilismus, 2 Bde., Darmstadt 1972/München 1979; sowie Georg Scherer, Die Frage nach Gott. Philosophische Betrachtungen, Darmstadt 2001 und Philip Clayton, Das Gottesproblem. Bd. 1, Gott und die Unendlichkeit in der neuzeitlichen Philosophie, Paderborn 1996.
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hältnis des „Gottes der Philosophen“ zum „Gott der Theologen“ geführt worden.56 Franz von Kutschera hat zu den philosophisch-theologischen Grundfragen Untersuchungen vorgelegt, die auf modifizierte Weise an Kant anschließen.57 Die Modifikationen betreffen die stärkere Einbeziehung existentiell-holistischer und emotiv-affektiver Aspekte des christlichen Glaubens, der im Zentrum der Analysen von Kutscheras steht: „Der Glaube ist nicht erkenntniserweiternd, aber er zeigt einen Weg, den wir gehen können, und öffnet unserem Leben einen überwältigend großen Sinnhorizont.“58 Die Sinngrenzreflexion in der Tradition des transzendentalen Idealismus in Richtung auf ein Absolutes als Grund des Bewusstseins fortzuführen, steht auch im Zentrum des Denkens von Dieter Henrich. Metaphysik wird als eine Erkenntnis mit Selbst- und Weltbezug und als „Grundverfassung des bewussten Lebens“ begriffen, die ihre „Form ganz aus der Einsicht in die Wahrheit einer Lebensdeutung gewonnen hat.“ 59 Das heißt: In einer recht verstandenen philosophischen Grundlagenreflexion geht es letztlich um das Gewinnen wahrer, verbindlicher, lebenstragender Einsichten, und damit auch um die Frage nach Gott. 56 Hans M. Baumgartner/Hans Waldenfels (Hg.), Die philosophische Gottesfrage am Ende des 20. Jahrhunderts, Freiburg/München 1999. Besonders weise ich hin auf den instruktiven Beitrag von Ludger Honnefelder, „Die Bedeutung der Metaphysik für Glauben und Wissen“, 47 – 64, in dem ein fundamental praktisches Verständnis der metaphysischen ,Theorie’ selbst erläutert wird; Christof Gestrich (Hg.), Gott der Philosophen – Gott der Theologen. Zum Gesprchsstand nach der analytischen Wende, Berlin 1999 (Beiheft zur Berliner Theologischen Zeitschrift). Besonders weiterführend der Aufsatz von Ingolf U. Dalferth, „Inbegriff oder Index? Zur philosophischen Hermeneutik von ,Gott‘“, 89 – 132, in dem die Leugnung Gottes als Selbstwiderspruch analysiert wird. Vgl. zum Status der Metaphysik im Kontext der religiösen Grundfragen auch: Matthias LutzBachmann (Hg.), Metaphysikkritik, Ethik, Religion, Würzburg 1995, sowie ders., „Postmetaphysisches Denken? Überlegungen zum Metaphysikbegriff der Metaphysikkritik“, in: Zeitschrift für philosophische Forschung 56 (2002) 414 – 425. 57 Franz v. Kutschera, Vernunft und Glaube, Berlin/New York 1991; ders., Die großen Fragen. Philosophisch-theologische Gedanken, Berlin/New York 2000. 58 Franz v. Kutschera, Die großen Fragen. Philosophisch-theologische Gedanken, VII. 59 Dietrich Henrich, Fluchtlinien. Philosophische Essays, Frankfurt a.M. 1982, 13. Vgl. ders., Bewusstes Leben. Untersuchungen zum Verhltnis von Subjektivitt und Metaphysik, Stuttgart 1999 sowie ders., „Religion und Philosophie – letzte Gedanken – Lebenssinn“, in: Dietrich Korsch/Jörg Dierken (Hg.), Subjektivitt im Kontext. Erkundungen im Gesprch mit Dieter Henrich, Tübingen 2004 (Religion in Philosophy and Theologie 8) 211 – 231.
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Ebenso hat Robert Spaemann das philosophische Denken immer wieder mit der Gottesfrage verknüpft: „Wer glaubt, dass Gott ist, glaubt, dass das, was der Fall ist, die Welt unserer Erfahrung einschließlich seiner selbst, eine ,Tiefe’, eine Dimension hat, die sich der Erfahrung, auch der introspektiven, entzieht. Diese Dimension ist der Ort, wo das, was ist, aus seinem Ursprung hervorgeht. Und zwar nicht im Sinne eines zeitlichen Folgens auf Antezedenzbedingungen, sondern als gemeinsames Hervorgehen mit den Entstehungsbedingungen und zugleich als Emanzipation von diesen, also als Selbstsein. An einen Schöpfer glauben heißt glauben, dass das Sein der Dinge und des Lebens der Sterblichen weder notwendig noch die Folge eines universellen Trägheitsprinzips ist, sondern in jedem Augenblick Hervorgang aus dem Ursprung.“60 Spaemann akzentuiert den Aspekt des Wunders, den der Unbedingtheit der Moral und der Freiheit sowie der Personalität des Menschen als holistische Prämissen, das Absolute als Gott zu denken. „Gottesbeweise nach Nietzsche“ lassen sich in diesem Sinne als „Argumente ad hominem“ verstehen.61 Ernst Tugendhat vergleicht in einer neuen Untersuchung das Transzendenzverständnis von Religion und Mystik. Während die Perspektive des jüdisch-christlichen Glaubens an Einen personalen Gott „keine Möglichkeit aus der Perspektive der 1. Person mehr“ sei, sei „die Mystik […] eine Möglichkeit […], die allen Menschen zugänglich ist.“62 Sehr fruchtbar sind die Untersuchungen von Michael Theunissen zu einer „Negativen Theologie der Zeit“63. In einem neuen Aufsatz hat Theunissen deutlich gemacht, wie er das Verhältnis von „Philosophie der Religion“ und „religiöser Philosophie“ beurteilt. Die existentiell-praktische Dimension des Glaubens an Gott findet er bei Wittgenstein zutreffend beschrieben. Er konstatiert aber angesichts der bloßen Beschreibung der Vielfalt der Lebensformen einen philosophischen „Reflexionsabbruch“. Über diesen „wären zurückzugehen auf die in ihnen sich erschließende Wirklichkeit.“ Man gelangt durch sie zu universalen Aspekten unserer Lebenswirklichkeit und erreicht, so Theu60 Robert Spaemann, „Das unsterbliche Gerücht“, in: Nach Gott fragen. ber das Religiçse, Sonderheft Merkur, Heft 9/10 (1999), 772 – 783, dort 775; s. auch ders., Personen. Versuche ber den Unterschied zwischen „etwas“ und „jemand“, Stuttgart 1996. 61 Robert Spaemann, „Gottesbeweise nach Nietzsche“, in: Nagl, Religion (Anm. 1) 111 – 122. 62 Ernst Tugendhat, Egozentrizitt und Mystik. Eine anthropologische Studie, München 2003, 115. 63 Micheal Theunissen, Negative Theologie der Zeit. Frankfurt a.M. 1991.
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nissen, „größtmögliche Allgemeinheit“, die schließlich in die konkrete religiöse Erfahrung und Praxis mit „größtmöglicher Bestimmtheit“ zurückführt.64 Im Versuch, die Einzigkeit und Personalität Gottes zu denken, führt die Transzendenzreflexion in die jüdisch-christliche Tradition zurück, deren Gott, „wenn er auch keine Person ist, doch eine personale Seite hat und sie uns zukehren kann.“65 Bezug wie Differenz von spezisch religiöser Erfahrung und philosophischer Reflexion müssen immer wieder deutlich gemacht werden. Peter Strasser hat in jüngster Zeit intensive religionsphilosophische Reflexionen vorgelegt, die im Zentrum die Gottesfrage thematisieren. Es geht Strasser um die Rückgewinnung eines religiösen Universalismus jenseits der Fundamentalismen, um ein vernünftiges Transzendenzverständnis und den „Gott aller Menschen“: „Was wir brauchen, ist eine Kultur, die das individuelle Bewusstsein in seinem Wert gerade dadurch bestätigt, dass sie es auf einen Horizont bezieht, den zu erreichen uns unmöglich ist, solange wir am endlichen Leben teilhaben. Das Leben einer Kultur hängt davon ab, ob sie beseelt genug ist, sich an diesem Horizont – dem Horizont der Verwandlung – auszurichten.“66 Es wird deutlich: Auf vielen Ebenen der Gegenwartsphilosophie finden sich produktive Ansätze, die eine neue, lebendige Diskussion des Verhältnisses von Religion und Philosophie und ihrer Stellung zu existentiellen Sinngrundfragen führen. Auf diese Weise lässt sich nach Heidegger, Wittgenstein und Adorno und ohne hinter Kant und Hegel, Schelling und Schleiermacher zurückzufallen, ein Verständnis von religiöser Vernunft als der eigentlich tragenden Tiefendimension unserer Praxis und unseres Welt- und Selbstverständnisses im Ansatz entwickeln. Wir leben von und in für uns völlig unverfügbaren Sinnbedingungen: Dass die Welt ist, dass überhaupt etwas ist, dass wir selber sind; dass sprachlicher Sinn uns erschlossen ist; dass wir selbst praktische, lebenstragende Verständnisse von Liebe und Freiheit frei entwerfen können. Das Bewusstmachen und das Erkennen dieser Transzendenz der Sinnbedingungen ist religiöse Vernunft, und Religion lässt sich somit als Aufklärung über lebenssinnkonstitutive Trans64 Michael Theunissen, „Philosophie der Religion oder religiöse Philosophie?“, in: Information Philosophie 5 (2003), 7 – 14, dort 11 und 14. 65 Ebd., 11. 66 Peter Strasser, Der Gott aller Menschen: eine philosophische Grenzberschreitung, Graz 2002, 194; ders., Journal der letzten Dinge, Frankfurt a.M. 1988 sowie ders., Der Weg nach draußen. Skeptisches, metaphysisches und religiçses Denken, Frankfurt a.M. 2000.
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zendenz, als Aufklärung über Gott bzw. das Göttliche, bestimmen.67 Religiöse Vernunft kann zu einer Erweiterung des üblichen alltäglichen wie philosophischen Vernunftverständnisses führen. Das Bewusstsein der Verschränktheit von Endlichkeit, Unbedingtheit und Sinn führt ihre Entwürfe über diskursive und pragmatisch beherrschbare Formen hinaus. Indem wir endlich, bedingt und frei existieren, leben wir von nicht machbarem natürlichem, sozialem und existentiellem Sinn: areligiös, ohne ihn zu bemerken, religiös im Bewusstsein seiner ungeschuldeten Gegenwart. Die Religionen artikulieren das Bewusstsein dieser Gegenwart. Sie erschließt sich in der Stille, im Innehalten, im Sehen und Hören, in Scheu und Langsamkeit, Behutsamkeit und Nachdenklichkeit, in Mündlichkeit und Schriftlichkeit, im vertrauten Gespräch, in den liturgischen und sakramentalen Formen. Die diskursive Vernunft öffnet sich hier einer Tiefendimension, die sie nicht zerstört, sondern, recht verstanden, intensiviert. Die Dimensionen des Geheimnisses, des Wunders, der Schöpfung und des Geschenkcharakters des Seins können so als Tiefendimensionen existentiell-praktischer Vernunft selbst erkannt werden. Das religiöse Bewusstsein dieser Transzendenz der Sinnbedingungen einer menschlichen Welt ist auf Dauer nur um den Preis einer Enthumanisierung menschlicher Praxis marginalisierbar. Keine Wissenschaft wird religiöse Vernunft und Erkenntnis der lebenssinnstiftenden und lebenstragenden Wirklichkeit jemals ersetzen können. Um die Kritik instrumenteller Welt- und Selbstverständnisse fortzusetzen, um das Ganze der Wirklichkeit der Vernunft: der Sprache, der Liebe und der Freiheit gegen reduktionistische Verständnisse zu retten, müssen kritische Philosophie und religiöse Vernunft neue Wege beschreiten. Dann ist auch die Frage nach der wahren Vernunftreligion mit Kant und Hegel neu zu stellen – jenseits von Dogmatismus und Relativismus, jenseits von Fundamentalismus und Irrationalismus, inmitten der modernen Lebenswirklichkeit.
67 Thomas Rentsch, „Religiöse Vernunft. Kritik und Rekonstruktion. Systematische Religionsphilosophie als kritische Hermeneutik“, in: ders., Negativitt und praktische Vernunft, Frankfurt a.M. 2000, 180 – 209; ders., „Worin besteht die Irreduzibilität religiöser Wahrheitsansprüche? Religion und negative Metaphysik“, in diesem Band; ders., Gott, Berlin/New York 2005.
Wieder nach Gott fragen? Thesen und Analysen zur Rehabilitation philosophischer Theologie Gibt es eine Möglichkeit, die Frage nach Gott für den Kernbereich der systematischen Philosophie zurückzugewinnen, in dem sie einst stand? Welche Entwicklungen der modernen Philosophie tragen zur Rehabilitation philosophischer Theologie tatsächlich bei? Der Goldene Logos des Aristoteles besagt: Schon wenn wir uns fragen, ob wir überhaupt philosophieren sollen oder nicht, philosophieren wir – philosophieren müssen wir auf jeden Fall. Verstehen wir das Philosophieren als Fragen nach Grenze, Grund und Sinn der Welt und des menschlichen Lebens, so ist mit dem radikalen Fragen der Philosophie auch ein Transzendenzbezug eröffnet und sogar notwendig verbunden, den es gegenwärtig erneut explizit zu machen gilt. Wir müssen, sollen und können gegenwärtig die philosophische Sinngrenzreflexion und Sinngrundreflexion wieder auf Grundfragen der Metaphysik und der Theologie zurückbeziehen. Warum? Im vorliegenden Text will ich in drei Schritten Gründe und Aspekte dieser Erneuerungsaufgabe erörtern. Um deutlich zu sein, will ich meine Thesen provokativ zuspitzen. Die erste These ist die historisch-systematische Irreduzibilittsthese: Die Gottesfrage und die philosophische Theologie sind für die Genesis der okzidentalen Rationalität unverzichtbar. Die zweite These ist die logisch damit verbundene Substitutionsthese: Die philosophische Reflexion der Moderne ist durch Substitute des Absoluten, durch Surrogate geprägt – mangels expliziter theologischer Dimension. Den tieferen Grund dieser Surrogatbildungen schaffen prekäre Entzweiungsprozesse der Moderne, die ich als negative Dialektik von Subjektivismus und Objektivismus charakterisiere. Die dritte These besagt, dass wir der Irreduzibilität der theologischen Grundlagen der okzidentalen Rationalität systematisch gerecht werden sowie die krisenhaften Entzweiungsstrukturen und Surrogate der Moderne und Postmoderne kritisch-reflexiv überwinden können, wenn wir statt der Substitutionsbildungen eine philosophische Prototheologie innovativ und systematisch entfalten. Deren Grundzüge werde ich abschließend skizzieren.
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1 Die erste These ist möglicherweise am ehesten allgemeiner Zustimmung fähig. Was besagt diese Irreduzibilitätsthese? Genesis wie Geltung der okzidentalen Rationalität sind ohne den ethischen Monotheismus undenkbar. Dessen Tiefenstruktur ist bei genauerer Analyse negativ-kritisch und universalistisch. Es wird ein Bereich gedacht, der unbedingt sinnkonstitutiv für die Vernunft, für Theorie und Praxis des Menschseins ist, der aber andererseits der menschlichen Verfügungsmacht und Erkenntnis in seiner Unbedingtheit völlig entzogen ist: Negativität, Transzendenz, Sinnkonstitution und Universalismus werden so verklammert. Das biblische Bilderverbot besagt, dass die Gottebenbildlichkeit des Menschen darin besteht, dass Gott bildlos und unverfügbar bleibt und begründet so die universale Menschenwürde. Das Sokratische Nichtwissen und die sinnkonstitutive Transzendenz des Göttlichen und Guten in Platons Ideenlehre setzen die kritisch-negative und letztlich ethische Sicht absoluter Wahrheitsansprüche in der griechischen Philosophie fort. Die Freisetzung der diskursiven Rationalität der Wissenschaften und der praktischen Vernunft in Ethik, Politik und Ökonomie ist mit der Negativität der Transzendenz unlöslich verklammert. Nichts darf sich an die Stelle Gottes setzen. Der praktische Sinn des konstitutiven Konnexes von Negativität und Transzendenz artikuliert sich christlich in der Botschaft von der Menschwerdung, vom Tod Gottes und vom Bleiben der Gemeinde in der Liebe. Bilderverbot, Nichtwissen und Tod Gottes aus Liebe lassen sich als Urstiftungen der okzidentalen Rationalität auszeichnen. Sie konstituieren sinnkriterial die okzidentale Rationalität, die Kompatibilität von Wissenschaft, Ethik und Religion, ihre wechselseitige Verwiesenheit und die Potentiale ihrer Ausdifferenzierung. Von Sokrates und Platon bis zu Kant und Hegel besteht hier ein klarer faktischer systematischer Zusammenhang von Wahrheits- und Geltungsansprüchen. Die Bewegung zu Gott, die Orientierung an Gott wird als praktische, existentielle und universale Lebensform verstanden. Die revolutionäre Entwicklung des Abendlandes ist ohne den philosophischen wie religiösen ethischen Monotheismus unmöglich und unverständlich, alle Fehlformen, Pervertierungen und Instrumentalisierungen eingeschlossen. An drei Beispielen sei dies verdeutlicht. So entfaltete sich im okzidentalen Paradigma eine reiche und radikal sinnkritische negative Theologie, deren große Entwürfe im Verbund mit der rationalen Mystik in Aufklärung und Moderne weisen, ohne den Gedanken absoluter Transzendenz preiszugeben, so bei Meister Eckhart und Cusanus. Bei Cusanus präfiguriert die
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ars coniecturalis, die diskursive Erkenntnisleistung der wissenschaftlichen Rationalität die transzendentale Analytik Kants, während die docta ignorantia die transzendentale Dialektik antizipiert. Erkenntniskritik und authentische praktische Selbsterkenntnis, Negativität und Transzendenz sind im Medium der negativen Theologie konstitutiv verbunden. Aber dies gilt nicht erst für die genannten christlichen Autoren. Denn die Geschichte der negativen Theologie zeigt, dass sie ihren Ursprung ganz eindeutig vor dem Christentum, im philosophischen, ethischen Monotheismus des Platonismus hat: bei Proklos und Plotin.1 Das rationale, erkenntniskritische Potential dieser Tradition besteht in der praktischen Einsicht, dass die unverfügbaren Sinnbedingungen aller Theorie und Praxis gerade aufgrund ihrer instrumentellen Unverfgbarkeit, aufgrund ihrer Transzendenz gelten und sinnkonstitutiv fungieren, also praktisch wirken. Der Geltungssinn des Wahren und Guten kann letztlich nur transfunktional, transsubjektiv und transempirisch bestimmt werden, letztlich als gründend in Gott. Nur wenn dies begriffen wird, entfaltet die Sinndimension ihre rettende, befreiende Wirkung und wird real und existentiell tragfähig.2 Das universalistische und revolutionäre Potential der philosophischtheologischen Tradition wird auch im zweiten Beispiel deutlich: Die Naturrechtskonzeption, wie sie in der spanischen Barockscholastik vor allem von de Vitoria und Suárez entwickelt wurde, bereitet der Sache nach die bürgerlichen Revolutionen vor. Suárez bestreitet das göttliche Recht der Könige. Er legitimiert das Widerstandsrecht, den Tyrannenmord und die Volkssouveränität. Das Naturrecht ist eigentlich ein gçttliches Schçpfungsrecht: Gott der Gesetzgeber (deus legislator) verteilt das Recht völlig gleich auf alle Völker und Nationen. Dabei sind ausdrücklich die nichtchristlichen Völker eingeschlossen. Was das – zu Ende gedacht – für das spanische Kolonialreich und die eroberten überseeischen Gebiete bedeutet, widersprach der faktischen Politik. Auch die Freiheit der Meere – das mare liberum – wird schöpfungstheologisch begründet. Diese philosophisch-theologischen Begründungen erfolgen vor Grotius und Pufendorf. Das revolutionäre Naturrecht, begründet im 1 2
Vgl. Thomas Rentsch, Artikel „Theologie, negative“, in: Joachim Ritter/ Karlfried Gründer (Hg.), Historisches Wçrterbuch der Philosophie, Bd. 10, Basel 1998, Sp. 1102 – 1105. In diesem Zusammenhang ist es wichtig, auf die Bedeutung des Mönchtums für die westliche Kultur und Zivilisation hinzuweisen. Vgl. z. B. Hugo Fischer, Die Geburt der westlichen Zivilisation aus dem Geist des romanischen Mçnchtums, München 1969.
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universalistischen ethischen Monotheismus, enthält die Kerngehalte, die zu den Transformationsprozessen von Aufklärung und französischer Revolution führen. Es braucht nicht viel ethische Phantasie, um sich die Aktualität dieses universalistisch-egalitären Schöpfungsdenkens für die gegenwärtige und unsere Zukunft bestimmende ökologische Problematik der Nutzung der endlichen natürlichen Ressourcen der Menschheit auf unserem Planeten klarzumachen – insbesondere im Blick auf die arme Weltbevölkerung. Ein drittes, wieder nur scheinbar heterogenes Beispiel für die theologische Tiefenstruktur der Genesis der okzidentalen Rationalität ist Kant. In seiner Systemarchitektonik werden zunächst zwei Welten: die noumenale, und die phänomenale, mundus intelligibilis und mundus sensibilis, dualistisch streng getrennt. Unerkennbar ist die intelligible Welt, unbegründbar die ihr entstammende menschliche Freiheit, unbegründbar auch die eben unbedingte Geltung des Kategorischen Imperativs. Kants Grundeinsicht besagt: Unbedingter Sinn ist nicht weiter erklärbar, sondern selbst Bedingung der Möglichkeit aller weiteren Erklärungen und auch Zielsetzungen – der praktischen menschlichen Sinnentwürfe in einer humanen Welt. Die Postulatenlehre expliziert die metaphysischen und theologischen Implikationen dieser unbedingten Sinnbedingungen aller menschlichen (vernünftigen) Praxis. Die Unbedingtheit der Einsicht in die absolute Transzendenz ohne zusätzliche, sie stützende Ausmalungen und Begründungen verbindet bei Kant die weltsinnkonstitutiven (nicht nur regulativen) Ideen Gott und Freiheit. Das wird besonders in der Religionsschrift und in der Kritik der Urteilskraft deutlich, in der das Übersinnliche als unerkennbare, wohl aber denkbare und denknotwendige Ursprungsebene von Sinn freigelegt wird. Das geschichtliche Vor- und Urbild des Kategorischen Imperativs ist der absolute Wille Gottes, wie er im Zentrum der theozentrischen Metaphysik und Ethik von Kants Lehrer Crusius steht.3 In der Religionsschrift zielt Kant in den Kernbereich der Rekonstruktion der Sündentheologie, der Prädestinationslehre und der Theodizeeproblematik, wenn er seine Analyse des radikalen Bösen in der menschlichen Natur bis an die Grenzen der Erkenntnis und zur Freiheitsantinomie voranzutreiben sucht. Das Vorzeichen vor der Klammer der Gesamtarchitektonik Kants ist der programmatische Satz „Ich musste also das Wissen aufheben, um für den Glauben 3
Vgl. Martin Krieger, Geist, Welt und Gott bei Christian August Crusius, Würzburg 1993, v. a. 300 – 323.
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Platz zu bekommen“4 – für den Glauben, und nicht für Scheinwissen oder Vermutung, für Fiktionen oder Illusionen. Die Grenzen der theoretischen Vernunft führen bei Kant zu ihrem Fundament, der praktischen Philosophie der Freiheit. Deren Grenzen wiederum führen zu ihrem, dem letzten Fundament: der existentiellen religiösen Authentizität, die man auch als selbst grundlosen Glauben oder grundlose Gewissheit unbedingten Sinns verstehen kann. Mit dieser gegenwärtig weniger verbreiteten Kant-Interpretation ist die These von der Kontinuitt und Irreduzibilitt philosophischer Theologie von Platon bis Kant und Hegel in gewisser Weise abschließend skizziert. Hegels Zusatzthese zu Kant lautet, dass diese rationale theologische Basis unbedingten Sinnes sich zeitlichgeschichtlich, kulturell und institutionell entfalten und entwickeln musste. Schellings Zusatzthese zu Kant lautet, dass diese Basis zuvor in der Naturgeschichte und in der Mythologie vorbereitet, angelegt und faktisch ermöglicht werden musste. Kierkegaards Zusatzthese lautet, dass diese Basis unbedingten Sinns immer neu existentiell-praktisch angeeignet werden muss, einem unbeteiligten Beobachter von Empirie oder Historie nicht einsichtig werden kann. Dies hatte schon im Sinne Kants und Kierkegaards 500 Jahre vorher Duns Scotus so formuliert: „Fides non est habitus speculativus […] sed practica.“5 Die Irreduzibilitätsthese besagt mithin, dass die Tiefenstruktur der okzidentalen Rationalitätsgeschichte sich als ein Befreiungsgeschehen von Irrtümern und Götzen, damit als die Freilegung unbedingten Sinns und durch diesen konstituierte humane Würde auch trotz Vergänglichkeit, Schuld und Tod sowie als die praktische Einsicht in die Einheit von Freiheit und Gutem (Liebe) als Grund des Seins und als ens realissimum rekonstruieren lässt. Sie lässt sich so verstehen unter Einschluss und Berücksichtigung aller Pervertierungen, Funktionalisierungen und ideologischen Instrumentalisierungen dieser theologisch-philosophischen Vernunfttradition, die ich auch als Transzendenzparadigma bezeichne.
4 5
Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft, Vorrede zur zweiten Auflage, XXX (Akad.-Ausg. 19). Johannes Duns Scotus, ber die Erkennbarkeit Gottes, Hamburg 2000, 42.
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2 Ich komme zur zweiten, der Substitutionsthese. Sie folgt in gewisser Hinsicht aus der Irreduzibilitätsthese. Denn: Verlässt man philosophisch die explizierte Sinntradition, dann muss man diese Tradition destruieren – das geschieht zum Beispiel bei Marx, Nietzsche, Freud und Foucault; oder man muss sie durch etwas anderes ersetzen – das geschieht zum Beispiel bei Heidegger, Wittgenstein, Adorno und Derrida. Ferner gilt: Alle soeben genannten Autoren lassen sich systematisch mit ihren Destruktionen und Fortbewegungen nur im Horizont des Transzendenzparadigmas verstehen. Insofern ist die Säkularisierungsthese Karl Löwiths weiterhin begründbar. Ohne die theologischen und metaphysischen Voraussetzungen des Transzendenzparadigmas lassen sich weder Aufklärung, noch Säkularisierung, noch Moderne und Postmoderne verstehen. Auch die Reflexion der Genesis der okzidentalen Rationalität folgt einem dialektischen Prozess wechselseitiger Aufklärung und Ausdifferenzierung von Religion und säkularer Rationalität, von Glauben und Wissen, um einen Prozess auch der Vermeidung und Überwindung der kategorialen Vermischung und damit Verfehlung beider. Die Moderne ist auf komplexe Weise durch Entzweiungsprozesse charakterisiert, die sich, davon bin ich überzeugt, im Kern auf misslungene Ersatzbildungen für ein wahrhaftes Absolutes zurückführen lassen. Solche falschen Ersatzbildungen waren Rasse und Klasse, Volk und Nation, Machtblöcke, der wissenschaftlich-technische Fortschritt, aber auch das einzelne Individuum. Zu diesen Formen der prekären Moderne gehören insbesondere die Totalitarismen des 20. Jahrhunderts. Ist der Kapitalismus allein der schon von Hobbes so genannte „übrig gebliebene Wolf“, so kommt es zur Ersetzung von Gott durch Geld, wie Falk Wagner es analysiert hat.6 Die Bankhäuser überbieten in ihrer Pracht die Sakralbauten. Den Ersetzungsprozessen entspricht auf der realpolitischen Ebene oft das Totschlagen, auf der ideologischen Ebene vor allem das Totsagen, das in der Moderne und Postmoderne spätestens seit Nietzsche und bis heute zu einem regelrechten Sport geworden ist: Dem „Tod Gottes“ folgte der Tod des Subjekts, das Ende des Menschen, das Ende der Moderne, das Ende der Postmoderne, das Ende der Geschichte. Ich plädiere daher seit längerem schon für ein Ende des Endes bzw. für den 6
Falk Wagner, Geld oder Gott? Zur Geldbestimmtheit der kulturellen und religiösen Lebenswelt, Stuttgart 1984.
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Tod des Totsagens.7 Substitute des Absoluten haben sich allesamt als untauglich erwiesen. Die Untauglichkeit der Surrogate zeigt sich auch in pseudo-theologischen und pseudo-metaphysischen Ansprüchen von Wissenschaften auf der einen, von subjektivistisch-irrationalen Strömungen auf der anderen Seite. Vom Urknall bis zur schwarzen Messe, von Esoterik über Exotismen bis zum Ewigen Leben durch Gentechnologie und Klonierung ist alles auf dem Markt. Dem trotzen ein reduktionistischer Szientismus sowie ein religiöser Fundamentalismus, sei er nun jüdisch, christlich oder islamisch. Insbesondere dem kritischen Blick auf die Wissenschaften fallen seit langem pseudo-wissenschaftliche Quasi-Metaphysiken auf. Sie bilden sich um quasi-absolute Grundbegriffe, um Totalitätssurrogate wie „Funktion“, „System“, „Struktur“, „Interpretation“, „Konstruktion“, aber auch „Kontingenz“, „Risiko“ oder „Chaos“ – oder gar „Blase“. Solche alles erklärenden, zuweilen auch unfreiwillig komischen Metaphysiksurrogate gibt es in der Physik, in der Kosmologie, in der Biologie und in der Soziologie ebenso wie in der modischen Kulturphilosophie. Was auf diesem Jahrmarkt herumgeboten wird, trägt sein rasches Verfallsdatum allerdings schon an die Stirn geschrieben. Für die Gegenwart gilt: Die beiden Seiten einer ausgefransten Entwicklung – hybrider Szientismus und Fundamentalismus, kapitalistische Weltökonomie und irrationaler religiöser Dogmatismus ergänzen sich derzeit zu einer prekären negativen Dialektik. Ersichtlich führen die geschilderten Prozesse nicht die besten Traditionen der okzidentalen Rationalitätsgeschichte weiter. Die geschilderten Verdinglichungs- und Irrationalisierungsprozesse wurden von der kritischen Philosophie des 20. Jahrhunderts umfassend analysiert und auf ihre Gründe befragt. Meine These ist nun aber darüber hinaus, dass gerade die wichtigsten Autoren, die dies geleistet haben, gleichzeitig auf ihrer Ebene der Reflexion die radikal-kritische Grundlagenreflexion abbrachen und charakteristische Substitutionsbildungen des Absoluten schufen. Dies gilt exemplarisch für Heidegger, Wittgenstein, Adorno und Derrida. Systematisch bin ich der Auffassung, dass wir heute in der Philosophie nicht hinter deren negativ-kritische Analysen
7
Thomas Rentsch, „Wo stehen wir heute? Philosophische Reflexionen zur Jahrtausendwende“, in: Hanna-Barbara Gerl-Falkovitz (Hg.), Zeitenwende – Wendezeiten, Dresden 2001, 36 – 61.
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zurückfallen dürfen, dass aber ein anderer Weg philosophisch-theologischer Grundsatzreflexion über sie hinausführt.8 Die kritischen Leistungen der Autoren will ich hier nicht thematisieren, sondern nur kurz ihre charakteristischen Substitutionsbildungen ins Bewusstsein rufen. Heideggers Ersatzbildung ist das „Sein“. Wie eine göttliche Instanz agiert es geschichts- und sprachschöpferisch, es ist verborgen und entbirgt sich, es schickt Fug und Unfug, es lichtet und wohnt in der Sprache, seinem Haus. Mit diesem Entwurf einer vielfach kritisierten Privatmythologie wird der späte Heidegger aus Gründen seiner radikalen Metaphysik- und Ontologiekritik schließlich mit Hilfe von Hölderlin zu einem katholischen Hesiod.9 Wichtige Züge dessen, was er im unverfügbaren Sein und mit der ontologischen Differenz andeutet, lassen sich ohne die rationale theologische und mystische Tradition des Abendlandes nicht begreifen. Auch behält er in seinem großen Spiegel-Interview die religiöse Perspektive antizipierend bei: „Nur noch ein Gott kann uns retten.“10 Aber die Wende gegen die gesamte Genesis der okzidentalen Rationalität, gegen die Traditionen der praktischen und politischen Vernunft hindert Heidegger an einer rationalen Rezeption der kritischen Transzendenzreflexion, die in der europäischen Tradition z. B. bei Plotin und Dionysios Areopagita, bei Thomas und Duns Scotus sehr wohl ein Bewusstsein der ontologischen Differenz – bei gleichzeitiger Kritik an der Gnosis – einschloss. Im Grunde mündet die das Kind mit dem Bade ausschüttende Radikalkritik Heideggers wie schon die Nietzsches in eine neuheidnische Remythisierung. Wenn alles nur Wille zur Macht ist, und nichts außerdem, dann hilft wirklich nur noch die Bejahung der Ewigen Wiederkehr des Gleichen. Wenn die Verfehlung der Wahrheit des Seins wirklich bereits vor den Vorsokratikern einsetzte und bei Platon schon gipfelte, dann muss allerdings die Welt- und die Seinsgeschichte insgesamt „verwunden“ und ein „anderer Anfang“ erwartet werden. Denn bisherige Theologie und Metaphysik sind an der Verfallsgeschichte wesentlich mit Schuld. Sie unterliegen selbst der Seinsvergessenheit, die zur Gottverlassenheit führte.
8 Vgl. Thomas Rentsch, Heidegger und Wittgenstein. Existenzial- und Sprachanalysen zu den Grundlagen philosophischer Anthropologie, Stuttgart 22003. 9 Vgl. Thomas Rentsch, Martin Heidegger – Das Sein und der Tod. Eine kritische Einfhrung, München 1989. 10 Das Interview stammt vom 23.9.1966. Veröffentlicht in: Der Spiegel (31. Mai 1976), 193 – 219.
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Auch beim frühen Wittgenstein finden sich Substitute des Absoluten: „das Mystische“ und „Unsagbare“.11 Während die kritischen, v. a. sprachkritischen Einsichten auch des späten Wittgenstein (wie die Ontologiekritik Heideggers) für eine künftige philosophisch-theologische Reflexion nicht verzichtbar sind, so ist seine eigene Position hier nur indirekt, hinweisend-zeigend. Die Rede von „Gott“, vom „Sinn“ und vom „Mystischen“ im Tractatus zehrt – wie die theologischen Implikationen des Heideggerschen „Seins“ – von den irreduziblen Sinntraditionen v. a. christlicher Theologie, ohne die sie gar nicht erst verständlich wären. Aber sie bleiben gleichsam Leerstellen und Platzhalter eines Gottes, der der Vernunft und der Sprache vollends entzogen scheint. Muss man Gott so denken? Eine weitere Spielart der Substitute des Absoluten neben Wittgensteins mystischem Dass des Weltsinns und Heideggers sich entbergendverbergendem, abwesend-anwesendem Sein ist das „Nicht-Identische“ bei Adorno. Ebenso wie das Mystische und das Sein ist auch das NichtIdentische unsagbar bzw. vergessen. Denn alles notwendigerweise identifizierende Denken verfehlt es von vornherein. Eine eschatologische Utopie der Erkenntnis unverkürzter, nicht-verdinglichter Individualität freilich leitet Adornos Denken untergründig. Er verschiebt seine Substitute des Absoluten angesichts des in der Dialektik der Aufklärung analysierten universalen Verblendungszusammenhangs in den Bereich avantgardistischer Kunst. Versatzstücke einer neuplatonisch inspirierten Ästhetik von Ekstasis, Pleroma und Plötzlichkeit (exaiphnes) verbinden sich mit einer kenotischen Christologie. Schönbergs Musik hat „alle Dunkelheit und Schuld der Welt […] auf sich genommen“.12 Erst der eschatologische Zusammenfall von ästhetischer Erfahrung und begrifflicher Diskursivität ergäbe nach Adorno – er folgt hier Benjamin – die „wahre Sprache“, deren Idee „die Gestalt des göttlichen Namens“ ist.13 Es wird sichtbar: Paradigmen der Transzendenz werden in esoterischen Randbereichen angesiedelt, sie werden marginalisiert bzw. werden in Stilformen rhetorisch aufgehoben. Hier war – dies noch zur Verortung der klassischen kritischen Theorie in unserem Kontext – der späte Horkheimer weniger kryptisch, wenn er von der „Sehnsucht nach dem 11 Vgl. dazu den vorhergehenden Text in diesem Band. 12 Theodor W. Adorno, Philosophie der neuen Musik, in: ders., Gesammelte Schriften Bd. 12, Frankfurt a.M. 1975, 126. 13 Theodor W. Adorno, Fragment ber Musik und Sprache, in: ders., Gesammelte Schriften Bd. 16, Frankfurt a.M. 1978, 252.
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ganz Anderen“ sprach und die Sätze schrieb: „Einen unbedingten Sinn retten ohne Gott ist eitel.“ Und „Zugleich mit Gott stirbt auch die ewige Wahrheit.“14 Noch ein viertes Beispiel eines Substitutes des Absoluten sei kurz beleuchtet. Es ist der Begriff der „Differenz“, wie er bei Deleuze, Lyotard und v. a. bei Derrida in den letzten dreißig Jahren außergewöhnlich wirksam entfaltet wurde. Strukturell wiederum der traditionellen Konzeption der Ferne und Nähe, der abwesenden Anwesenheit Gottes konform, entfaltet sich um die Differenz, verfremdet wie das durchgestrichene „Sein“ Heideggers als „différance“, im Frühwerk Derridas eine Gruppe von ehemals metaphysisch aufgeladenen Begriffen, deren wichtigster der der „Spur“ ist. Den metaphysikgeschichtlichen Hintergrund bildet hier Plotins Uwmor-Begriff, der im neuplatonischen Christentum als vestigium aufgenommen wird. Insbesondere, wenn Derrida das allen Unterscheidungen noch vorausliegende Geschehen als archi-trace, als „Ur-Spur“ bezeichnet und es für älter als das Sein erklärt, werden inmitten hermeneutischer Theoriebildung der Postmoderne theologisch hochkomplexe und voraussetzungsreiche Termini in andere Kontexte transferiert, ohne deren ursprüngliche Bedeutung und Herkunft zu explizieren, um ihr suggestives Potential und ihre theologisch-metaphysische Sinndimension durchaus erfolgreich zu beerben. Anders gesagt: Die gesamte Reflexion der Moderne hat einen verschwiegenen, oft verdrängten theologischen Subtext. Den Substituten des Absoluten bzw. Gottes – dem Sein, dem Mystischen, dem Nicht-Identischen, der Differenz – eignen folgende Strukturmerkmale: Sie sind 1. nicht religiös, metaphysisch oder theologisch im traditionellen Sinne verstehbar. Sie sind 2. allerdings auch ohne den geschichtlichen Hintergrund und kulturellen Kontext von Mystik, Metaphysik, Christentum, Neuplatonismus und Gnosis nicht angemessen verstehbar. Ihnen eignet 3. starke Negativitt: Unsagbarkeit, Verborgenheit, Verdecktheit; deswegen werden sie übersprungen, übersehen, vergessen, verkannt, und das hat unheilvolle Folgen, denn ihnen kommt 4. in Wahrheit ein eminenter, erhabener, emphatisch auszuzeichnender Status zu; ein Ausnahmestatus, der in Wirklichkeit von herausragender praktischer Bedeutung für das wahre menschliche Welt- und Selbstverständnis ist. Die mit den aufgezeigten Substituten verbundene Di14 Vgl. dazu Jürgen Habermas, „Zu Max Horkheimers Satz ,Einen unbedingten Sinn zu retten ohne Gott, ist eitel‘“, in: ders., Texte und Kontexte, Frankfurt a.M. 1991, 110 – 126.
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mension zu begreifen, das ist die eigentlich wahre, rettende Einsicht in den Philosophien Heideggers, Wittgensteins, Adornos und Derridas.
3 Meine dritte These besagt, dass wir der Irreduzibilität der theologischen Grundlagen der okzidentalen Rationalität systematisch gerecht werden können, wenn wir statt der Substitutionsbildungen eine rationale Prototheologie innovativ entwickeln. An diese philosophische Theologie lassen sich folgende Anforderungen stellen. Zunächst muss sie es gestatten, die Substitute zu kritisieren und zu destruieren (Sie muss, traditionell gesprochen, Gott von Göttern und Götzen unterscheiden können.). Dies versucht in der Gegenwart z. B. eine an die negative Theologie anschließende Richtung der Philosophie. Sie lehrt, dass, wenn auch der Platz Gottes in der Gegenwartsreflexion leer bleibt, dieser Platz keinesfalls durch irgendetwas anderes ersetzt werden kann und darf. Dieser Platz steht gleichsam im unsichtbaren Zentrum der Welt, der Politik und der Praxis, und er darf nicht durch partiale Interessen, Meinungen, Bedürfnisse besetzt werden. Ich denke hier an die politische Philosophie einer „leeren Stelle des Sakralen“ bei Claude Lefort, M. Gauchet und Agnes Heller, aber auch an die „negative Theologie der Zeit“ von Michael Theunissen.15 Als abgeschwächte Form könnte man noch den knappen, aber weitreichenden Grundsatz des deutschen Verfassungsjuristen Böckenförde an dieser Stelle zitieren, der besagt: Der freiheitliche demokratische Rechtsstaat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht schaffen kann. Das Bewusstsein der Abhängigkeit von unverfügbaren Sinnbedingungen unserer Praxis lässt sich schon negativ artikulieren. Dies allein genügt jedoch nicht. Negative Bestimmungen ohne positive Explikation des Geltungssinnes einer Transzendenzperspektive bleiben letztlich leer. Sie lassen die weiter Fragenden mit Formen des Negativismus, des Reduktionismus, des Formalismus und v. a. des Relativismus allein. Mit der systematischen Entwicklung einer Prototheologie müssen drei weitere Ansprüche eingelöst werden. Sie muss zum einen die Rationalitätspotentiale der philosophischen und theologischen Tradition rettend bewahren. Es darf nichts an wesentlichen und tragfähigen Einsichten verlorengehen. Diese Anforderung war für Kant und Hegel lei15 Vgl. Art. „Theologie, negative“, a.a.O. (Anm. 1).
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tend, und sie sollte es auch für uns sein. Zu dieser Anforderung gehört, dass die als berechtigt erweisbare Religions- Metaphysik- und Theologiekritik z. B. von Marx, Nietzsche und Freud in diese kritische Innovation und Rekonstruktion sinnkriterial mit eingeht. Ferner gehört zur systematischen Anforderung die Aufnahme der sinnkritischen und methodischen Leistungen der Philosophie des 20. Jahrhunderts: die Sprachkritik, die Ontologiekritik, die Ideologiekritik und Einsichten einer kritischen Hermeneutik. Schließlich geht es drittens um den Anspruch der Klrung des Verhltnisses einer philosophischen Prototheologie zu faktischen Religionen, Konfessionen und religiösen Selbstverständnissen auch auf der interkulturellen Ebene. Man wird hier sicher mit einer produktiven Spannung rechnen müssen. Wie gelangen wir nun auf kritische Weise zu irreduziblen Wahrheitsansprüchen einer rationalen (philosophischen) Prototheologie? 1. Die menschliche Selbstreflexion führt nach wenigen Schritten zur Frage nach Grenze, Grund und Sinn des endlichen Seins. Negativpraktisch nenne ich die Einsicht, dass wir das Ganze der Welt, unserer Selbst (unseres Lebens) und ebenso das Ganze unserer Sprache und Praxis nicht theoretisch erkennen können und uns dennoch in dieser Totalität je und je schon befinden. Diese gleichursprüngliche Transzendenz von Welt, Leben und Sprache (Praxis) ist völlig unableitbar und völlig unerklärlich. Hier folge ich partiell den Analysen Wittgensteins im Tractatus und den Analysen Heideggers zur ontologischen Differenz. Das Dass des Sinnes des Seins des Seienden ist je schon vorausgesetzt, soll eine sinnvolle Wahrnehmung, Bewegung oder Aussage in der Welt des Menschen überhaupt nur möglich sein und wirklich geschehen können. Überall sind wir bereits auf eine ursprngliche, vorgngige Einheit und Synthesis von Sinn und Sein angewiesen, die wir nicht von etwas ableiten oder auf etwas reduzieren können, was diese Synthesis, diesen Sinngrund nicht ihrerseits schon voraussetzt. (Es handelt sich hier um einen formal-strukturellen Aufweis dieses Sinngrunds.) 2. Der Akzent auf der ursprünglichen Einheit und Synthesis ist zentral. Nach langen Überlegungen wurde mir deutlich, dass alle Versuche, Gott zu denken oder zu beweisen, die nach einer solchen ursprünglichen Synthesis ansetzen, von vorneherein zum Scheitern verurteilt bzw. verfehlt sind. Denn sie wollen etwas denken oder beweisen, was sie schon voraussetzen müssen. Ich bin der Auffassung, dass dies der Sinn der traditionellen Aussagen von der Nähe Gottes, der uns näher als wir uns selber
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sind, (z. B. bei Augustinus) ist. Das unvordenkliche Sinnereignis ist schon von vorneherein falsch gedacht und verfehlt, wenn ich es in der Reflexion einer Subjekt-Objekt-Dichotomie, einer verußerlichenden Gegenberstellung sprachlich oder ontologisch unterziehe. Alle Sinnexplikation, alle Erläuterung, jede Handlung und jede Sprachhandlung setzt es schon voraus. Deswegen ist es zwar durchaus möglich, die ursprüngliche Einheit (das ursprüngliche Sinnereignis) ontologisch, bewusstseinsphilosophisch und insbesondere transzendentalphilosophisch auf verschiedene Weise zu explizieren. Aber dies alles sind nachtrgliche Erläuterungen, die die Möglichkeit wie die Wirklichkeit der ursprünglichen Einheit und Synthesis schon voraussetzen. 3. Wir erreichen Aspekte der internen Struktur des Sinnereignisses, wenn wir einerseits die ekstatische Raum-Zeitlichkeit, die Dimensionalität unserer Welt, und wenn wir andererseits ganze Sätze betrachten – also Ekstasis und Prädikation. Dass wir uns in diesen Sinndimensionen überhaupt orientieren können, ist Voraussetzung allen Verstehens und allen Handelns, insbesondere auch Voraussetzung aller Wahrheits- und Geltungsansprüche. Philosophische Proto-Theologie kann diese Ursprungsebene zunächst aufweisen, indem sie sie als unhintergehbare Basis unserer gesamten Orientierungs- und Sprachpraxis auszeichnet. Unterhalb, vor und außer der ekstatisch-prädikativen Sinnebene gibt es keine Möglichkeit von Erkennen und Handeln – auch keine Diskurse, keine Reflexion, kein „Unsagbares“. Entscheidend ist, dass damit jeder repräsentationalistische Bedeutungssubjektivismus – der Ableitung von Sinn nur aus unseren Setzungen und Vollzügen – wie auch jeglicher vorhandenheitsontologische Objektivismus – als könnten wir Sinn, der irgendwo schon vorhanden wäre, bloß noch ablesen, oder abbilden – kritisiert wird. Dass die Welt ist und wir selbst sind, dass wir erkennen und handeln, dass wir Sätze verwenden können – ist völlig unableitbar und unhintergehbar. Es entzieht sich jeder Vorhandenheitsontologie und auch jeder Abbild-Semantik, um es mit Heidegger bzw. mit Wittgenstein zu sagen. 4. Diese Sinnebene ist ferner durch Offenheit und Unbestimmtheit gekennzeichnet. Unser Handeln und insbesondere unser Sprachhandeln, das uns die Möglichkeiten der Erkenntnis der Einheit unserer selbst, der Gegenstände und der Welt sowie der Wahrheit und des Guten eröffnet, lässt sich daher von der ursprünglichen Einheits- und Synthesisebene aus
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als freies Fortsetzen nicht-festlegender Anfnge beschreiben.16 Philosophiegeschichtlich lässt sich hier die Kantsche Analyse der Unbegründbarkeit der menschlichen Freiheit und der unerklärlichen Spontaneität mit Kierkegaards Analysen von Satz, Sprung und Wiederholung sowie mit Wittgensteins Analyse des Regelfolgens und der Wiederholung verbinden.17 Wir erreichen mit der gleichursprnglichen Ebene der Einheit bzw. der Synthesis von Sinn und Sein, die ekstatisch die Mçglichkeit prdikativer Synthesis erçffnet, den Ur-Sprung von Freiheit und Sinn, Zeitlichkeit, Sprache und Vernunft. Diese Ebene lässt sich sinnexplikativ beschreiben, aber nie einholen oder depotenzieren. Sie ist allen Vergegenständlichungen vorgängig – absolut vorgängig sogar. 5. Wir können diese Ebene auch als diejenige absoluter Transzendenz bezeichnen. In ihr wurde traditionell religiös und philosophisch das Wirken Gottes angesetzt, die Ebene wurde theologisch, insbesondere schöpfungstheologisch qualifiziert. Auf diese unbedingte Sinn-Ebene bezieht sich die Rede von der creatio ex nihilo, die gleichermaßen creatio continua ist. Denn damit wird das unvordenkliche Dass des Sinns des Seins in seiner alle Wirklichkeit erst schaffenden, ermöglichenden Macht und produktiven Wirksamkeit artikuliert. 6. Ersichtlich kann die Rede von einer „Ebene“ der absoluten Transzendenz nicht auf einen isolierten Ort bezogen werden. Die Vorgängigkeit des Sinn-Ereignisses, sein Wirken kann auch nicht zeitlich oder kausal im innerweltlich-empirischen Sinn verstanden werden. Dennoch ist der Vorgang der Transzendenz in aller Immanenz in aller Alltäglichkeit sichtbar und wirksam – bewusst wird er explizit aber nur denjenigen, die religiös oder philosophisch die völlige Unerklärlichkeit und daher das Wunder und das Geheimnis des Seins des Sinnes einsehen und begreifen. Dieses Einsehen und Begreifen ist der Ursprung von Religion – in all ihren unüberschaubaren Erscheinungsformen.
16 Vgl. Thomas Rentsch, „Praktische Gewissheit jenseits von Dogmatismus und Relativismus. Bemerkungen zu Negativität und Autonomie der Sprache bei Wittgenstein“, in: ders., Negativitt und praktische Vernunft, Frankfurt a.M. 2000, 351 – 364. 17 Vgl. dazu Christa Kühnhold, Der Begriff des Sprunges und der Weg des Sprachdenkens. Eine Einfhrung in Kierkegaard, Berlin/New York 1975.
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7. In diesem Zusammenhang können proto-theologisch traditionelle Theologoumena des ethischen Monotheismus rekonstruiert werden, die die Einzigkeit Gottes betreffen. Sie wurden unabhängig von religiösen Traditionen in der antiken Philosophie und insbesondere im Neuplatonismus als Henologie entwickelt. Ein „außerhalb“ des existierenden Seinssinns lässt sich nicht denken und nicht erkennen. Alles, was innerhalb dieses Seinssinnes existiert, ist absolut einmalig – individuiert in Zeit und Raum. Diese Einzigkeit vererbt sich gleichsam metaphysisch und wirklich vom „Größten“ zum kleinsten Seienden weiter, zu jedem Augenblick und zu jeder Bewegung. Sie gilt für das einzigartige Seins-SinnEreignis, das wir als Schöpfung bezeichnen können und das der Neuplatonismus mit seinen Hyperformeln als überseiendes Eines bezeichnete, aus dem alle Hypostasen emergieren. Die Modelle, die absoluten Metaphern und Sprachen, mit denen wir die Ebene absoluter Transzendenz indirekt und zeigend vergegenwärtigen, sind keine Abbildungen. Die Theorien, mit denen wir sie reflektieren, sind keine empirischen oder naturwissenschaftlichen Theorien. Vielmehr handelt es sich um Reflexionsmodelle, in denen Grenze, Grund und Sinn des Seins, der Welt und des Lebens im Ganzen in einem eigenen, genuinen Sprachspiel artikuliert werden. Dass es dieses genuine Sprachspiel der Philosophie und Metaphysik neben vielen anderen sinnvollen Sprachspielen gab und gibt, das war Wittgenstein nicht unmissverständlich klar. Die Negationen, die Hyper-Formeln, die absoluten Metaphern, die Analogie-Lehre – sie bezeugen das sich in diesem Sprachspiel bewusst artikulierende explizite, reflexive Verhältnis des Menschen zur absoluten Transzendenz, zur Transzendenz Gottes. Gottes? Was bedeutet dieses Wort? Welchen logischen Status hat es? Mit Wittgenstein bin ich der Auffassung, dass es keine flächendeckende Metatheorie der Sprache gibt, die wir dann auf die faktisch unendlich komplexe Sprachpraxis bloß noch anzuwenden brauchten. Wir sollten erkennen, dass in gewisser Weise jedes Wort eine eigene Wortart ist. Insbesondere gilt dies für das Wort „Gott“. Wir können dieses Wort nicht wie ein übliches Prädikat verstehen, aber auch nicht wie einen normalen Eigennamen. Es ist vielmehr Eigenname des einzigartigen Ereignisses der vorgängigen Einheit und Synthesis von Sinn und Sein. „Gott“ ist ein Wort für die Gleichursprünglichkeit des unerklärlichen, lebens- und weltsinnkonstitutiven Geschehens. Hier ist auch der Ort einer prototheologischen, sinnkriterialen Rekonstruktion der Rede von einer Personalitt Gottes. Denn im Horizont sinnermöglichender absoluter Transzendenz ist Gott uns näher als wir uns selbst sind; begriffen als
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absolutes Sinnereignis ist er Grund aller Personalität, die in Einheit, Wahrheit und Freiheit gründet. Die kommunikativen Möglichkeiten, uns zur absoluten Transzendenz meditativ und kongregativ bewusst zu verhalten, eröffnen sich hier. Alle traditionellen Gottesbeweise begehen den Fehler, Gott schon voraussetzen zu müssen, wenn sie innerweltliche und innersprachliche Phänomene zum Ausgangspunkt ihrer Beweisstrategien nehmen. Einzig der sogenannte ontologische „Beweis“ entspricht dem hier vorgetragenen Ansatz, denn er stößt auf den Begriff des Begriffs. Aber schon die komparative Rede vom „größer als“ verfehlt die absolute Transzendenz. Ferner gilt: Absolute Transzendenz und konkrete Alltäglichkeit, Immanenz, sind in dieser Konzeption keine dualistischen Gegensätze. Die dualistische Ontologie setzt die Subjekt-Objekt-Spaltung bzw. die prädikative Satzstruktur schon voraus. Sie kann so die sinnkonstitutive Ebene nicht mehr erreichen bzw. sie nur verzerrt und missverständlich nachträglich artikulieren. Sie rennt falsch gegen die Grenzen der Sprache an. Das authentische Transzendenzparadigma hingegen rannte gleichsam gekonnt an, wie schon Wittgenstein mit Bezug auf Augustinus und Kierkegaard deutlich sah. Sowohl die verkündigende, kerygmatische Rede als auch Neuplatonismus und negative Theologie lassen sich als selbst sehr unterschiedliche, eigenartige, bewusste Artikulationsformen für die sinnkonstitutive absolute Transzendenz verstehen. Es gibt nicht zunächst ein isoliertes Absolutes, ein vor-stellbares Un-Endliches oder eine irgend anthropo-morphe Instanz, sondern eine Transzendenz, die ständig im Übergang zur Immanenz ist, ein ständig sich verendlichendes Absolutes, das nicht statisch, sondern dynamisch und prozessual und so zeitlich und geschichtlich gedacht werden muss. Man könnte im Blick auf die Tradition vielleicht von einem Wahrheit und Freiheit (und Gutes) freisetzenden Schöpfungs-Panentheismus sprechen. Dieser Ansatz richtet sich gegen eine statische, ontologische Vollkommenheits- und Unendlichkeits-Theologie, gegen das Paradigma der perfect being theology, gegen die Ansätze von Swinburne und Mackie, gegen die formalistisch-analytischen, formal- und modalontologischen Gottesbeweise Plantingas. Es handelt sich bei diesen Ansätzen zumindest um defiziente, parasitäre Redemöglichkeiten. Durch den Sinnkonstitutionsholismus des Ansatzes ist die existentielle, die interexistentielle und die universale Perspektive der philosophischen Prototheologie demgegenüber von Anfang an einbezogen. Gott muss als Ursprung von Wahrheit und Freiheit gedacht werden. Er ist dieser Ursprung und als dieser Ursprung. Eine dualistische, onto-
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logische Aufspaltung der vorgängigen Sinn-Ebene in eine vermeintlich realistische Ontologie einerseits, in bewusstseinsphilosophische, transzendentale oder existentielle Subjektivität andererseits als disjunktive Alternative verunmöglicht alle rationale Theologie. Mit dem vorgestellten Ansatz jedoch können wir weiter fragen: Was heißt Leben in Orientierung am absoluten Sinngrund, am unverfügbaren Grund der Welt, unserer Existenz und all unserer Praxis? Was heißt es nicht? Das lässt sich nach meinem Urteil ethisch und praktisch sehr genau präzisieren. Begriffen als theoretische und praktische Formen der Antwort auf diese Frage erschließen sich Rationalitätspotentiale der Metaphysik und Theologie sowie der Religionen als authentische Formen einer Vernunft neu, die ihre eigene Grundlosigkeit und ihren konstitutiven Transzendenzbezug selbst begreifen will und wieder begreifen muss. Ebenso werden von dieser philosophisch-theologischen Vernunft aus viele traditionelle und gegenwärtige Vorstellungen von Gott kritisierbar.
Der moderne Wissenschaftsbetrieb und die alte Gottesfrage Die Frage nach dem Verhältnis von modernem Wissenschaftsbetrieb und alter Gottesfrage soll auf den folgenden Seiten im Horizont einer Daueraufgabe der Philosophie, nämlich der Aufklärung, behandelt werden. Philosophie ist Aufklärung: Aufklärung als begriffliche Klärung der theoretischen wie praktischen Grundlagen unseres Welt- und Selbstverständnisses. In einem ersten Schritt werde ich deshalb kritische Bemerkungen zur Gegenwart und zu in meinen Augen eklatanten Fehlentwicklungen der Gegenwartsdiskussion machen. Ich werde dann die aus dieser kritischen Analyse zu ziehenden systematischen Konsequenzen und Desiderate für ein Aufklärungsprojekt formulieren. In einem zweiten Schritt werde ich versuchen, aus philosophischer Sicht religiöse und wissenschaftliche Aufklärung gegenüber oberflächlichen Formen von Aufklärung kritisch zu differenzieren. In einem dritten Schritt werde ich die Gottesfrage vor diesem Hintergrund betrachten. Abschließend formuliere ich ein Fazit bezüglich der Klärung des Verhältnisses von Gott, Religion und Wissenschaft.
1 Unsere Gegenwart ist von tiefgreifenden Fehlentwicklungen und tief sitzenden Missverständnissen im Bereich der vernünftigen Selbstverständigung geprägt. An zwei Phänomenen bzw. Syndromen lässt sich diese Fehlentwicklung besonders plastisch vergegenwärtigen, weil sie sich in ihnen mentalitätsgeschichtlich verdichtet, und zwar weit über die Ebene akademischer Diskurse und die Ebene philosophischer Reflexion hinaus. Das erste Syndrom ist das Totsagen, das zweite ist das der Ersatzbildung. Beide zusammen tragen zu einem vagen und diffusen Klima der Desorientierung und der neuen „Unübersichtlichkeit“ bei, wie Jürgen Habermas schon vor über 20 Jahren formulierte. Betrachtet man philosophische Gesamtdeutungen der Menschheitsgeschichte aus den letzten 100 Jahren, so ist auffällig, dass eine Sportart besonders kultiviert wurde und noch immer wird, nämlich der Wett-
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bewerb im Totsagen. Der bekannteste und berühmteste Tote bzw. Totgesagte war zunächst bekanntlich Gott. Nietzsche prägte die wirkungsmächtige kultur- und religionskritische Grundformel vom Tod Gottes, mit der er seinen Atheismus, das Ende aller theologischen Gewissheiten in der Moderne, seine radikale Absage an die christlich-religiöse Tradition und die philosophische Herausforderung dieses Endes artikuliert: „Gott ist todt. Gott bleibt todt! Und wir haben ihn getödtet!“1 Die Kurzformel vom Tod Gottes meint den von Nietzsche prototypisch diagnostizierten Zusammenbruch des alteuropäischen Denkens, der christlichen Metaphysik und des Deutschen Idealismus, die Heraufkunft des von ihm vorausgesagten Nihilismus, die Notwendigkeit einer „Umwertung aller Werte“ und die Eröffnung einer vom entfremdenden Druck der seiner Meinung nach leib- und lebensfeindlichen Wirkung des Platonismus und des Christentums befreiten, autonomen und schöpferischen neuen Lebensform. Groß im Totsagen war aber vor Nietzsche bereits Hegel, der ebenfalls sowohl den Tod Gottes als z. B. auch das „Ende der Kunst“ ausgerufen hatte. Den Tod Gottes reflektierten auch Jean Paul und Heinrich Heine. In der Darstellung Heines war es Kant, der das Sterbeglöckchen für Gott zuerst läutete. Dies war kaum in Kants Sinne. Heute wird erneut deutlich: Nach diesem Strukturmodell – Gesamtgeschichtsdeutung durch Totsagen und damit verbundene Prophezeiung künftigen Heils bzw. auch Unheils – wurde nun bis in die Gegenwart immer wieder verfahren. Sei es, dass das Alter und der Tod des Christentums theologischerseits konsequent vom Freund Nietzsches, Franz Overbeck, ausgerufen wurden.2 Sei es, dass Ende und Tod der „bürgerlichen Gesellschaft“, der sogenannten „Vorgeschichte der Menschheit“, durch den revolutionären Kommunismus und den Marxismus-Leninismus sowohl prognostiziert als auch aktiv beschleunigt wurden.3 Mittlerweile versucht die bürgerliche Gesellschaft als Zivilgesellschaft eine mühevolle Auferstehung nach dem Zusammenbruch der Systeme, die ihre endgültige Überwindung hätten bringen sollen. Besonders wirkmächtig wurden in den 20er Jahren bürgerliche Apoka1 2 3
Friedrich Nietzsche, Die frçhliche Wissenschaft, in: Kritische Gesamtausgabe Bd. V/2 , hg. von Giorgio Colli/ Mazzino Monitari, Berlin/New York 1973, 159. Vgl. Rudolf Wehrli, Alter und Tod des Christentums bei Franz Overbeck, Zürich 1977. Karl Marx/Friedrich Engels, Das Kommunistische Manifest. Eine moderne Edition, hg. von Eric J. Hobsbawm, Hamburg/Berlin 1999; vgl. dazu Richard Rorty, Das Kommunistische Manifest 150 Jahre danach: Gescheiterte Prophezeiungen, glorreiche Hoffnungen, Frankfurt a.M. 1998.
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lyptiker und Endzeitvisionäre wie Ludwig Klages, Theodor Lessing und Alfred Seidel, allen voran Oswald Spengler. Ihm zufolge naht der „Untergang des Abendlandes“ (1918/1922) – so der nach dem Ersten Weltkrieg sehr erfolgreiche Titel von Spengler. Nach den Weltkriegen und den Terrorregimen des Totalitarismus in unserem Jahrhundert ging seitens der Intellektuellen auch das Totsagen weiter. Ende und Tod des Individuums konstatierten Adorno und Horkheimer,4 in der Tradition Nietzsches verkündete der französische Strukturalismus mit Michel Foucault den „Tod des Subjekts“ bzw. „das Ende des Menschen“5. Bald nun konnte der „Tod der Moderne“ nicht mehr lange auf sich warten lassen, verbunden mit der Deklaration der Heraufkunft von etwas, was danach kommt – die Post-Moderne eben.6 Nachdem unterdessen Francis Fukuyama, Berater des amerikanischen Präsidenten, angesichts des Zusammenbruchs der Sowjetunion 1989 bereits das „Ende der Geschichte“ angekündigt hatte (the end of history),7 vorher noch schnell Ralf Dahrendorf in etlichen Veröffentlichungen „das Ende des sozialdemokratischen Jahrhunderts“ vorausgesehen hatte – kurz darauf wurden überall in Europa sozialdemokratische Regierungen gewählt (vielleicht, um Dahrendorf zu bestätigen?) – nach all dem heißen die einschlägigen Titel mittlerweile aber wieder anders. Denn das Totsagen hat eine unangenehme, peinliche Begleiterscheinung: Wenn Gott und Mensch tot sind und die Geschichte zu Ende ist, bleibt ja nichts mehr übrig, vor allem nichts mehr zum weiteren Totsagenkönnen! Nun lauten die Titel dementsprechend selbstbezüglich: nach dem Ende der Postmoderne. Nach dem Ende des Endes kommt es nun unweigerlich zu Wiederholungen und Dopplungen: Ganze Buchreihen heißen nun „die zweite Moderne“ (wie die vom Soziologen Ulrich Beck bei Suhrkamp herausgegebene Reihe zur Zeitdiagnostik). Es ist auch von der „anderen Moderne“ die Rede. Nur die „moderne Moderne“ ist mir noch nicht begegnet, sie klingt zu farblos. Im Zuge des Totsagens kommt es nun parallel zu Ersatzbildungen, die ich im Blick auf Gott und die Gottesfrage als Substitute und Surrogate des Absoluten bezeichne. Hinter diesen Todeserklärungen stehen natürlich 4 5 6 7
Theodor W. Adorno/Max Horkheimer, Dialektik der Aufklrung. Philosophische Fragmente, Amsterdam 1947. Michel Foucault, Von der Subversion des Wissens (Paris 1967), München 1974. Jean-Francois Lyotard, Das postmoderne Wissen. Ein Bericht (Paris 1979), Graz/ Wien 1986. Francis Fukuyama, Das Ende der Geschichte. Wo stehen wir? (New York 1992), München 1992.
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ernstzunehmende Probleme. Denn solche Ersatzbildungen für ein wahrhaftes Absolutes waren Rasse und Klasse, Volk und Nation, Machtblöcke, der wissenschaftlich-technische Fortschritt, aber auch das einzelne Individuum und das Geld als Gott des Kapitalismus. Insbesondere die Totalitarismen des 20. Jahrhunderts gehören in diesen Kontext der prekären Moderne. Ich bin der festen systematischen Überzeugung, dass Philosophie nunmehr mit den Ersatzbildungen Schluss machen sollte, und zwar sowohl im Sinne einer expliziten Religions- und Selbstkritik und im Sinne wissenschaftlicher Aufklärung, als auch im Sinne einer klaren Anknüpfung an Traditionen philosophischer Theologie und einer expliziten Reflexion von Transzendenz.
2 Wenn die Analysen der Sinndepotenzierung, die sich letztlich hinter den Traditionen des Totsagens verbirgt, zutreffen, und wenn ferner die Diagnose der Ersatzbildungen, der Surrogate und Substitute des Absoluten auf vielen Ebenen der gesellschaftlichen Praxis und Reflexion mehr oder weniger zutrifft, dann ist eine Kritik irreführender Depotenzierung von Sinn ebenso erforderlich wie eine Neubestimmung authentischer, glaubwürdiger und verlässlicher Orientierungen. Wir benötigen daher eine neue Topik, eine neue Architektonik der mçglichen Vernunftansprche, um eine klarere Übersicht über die grundlegenden Möglichkeiten und Grenzen unserer Erkenntnis zu gewinnen. Denn darin, in einer solchen kritischen Neubestimmung von Vernunft, besteht Aufklärung. Sie ist von jeder Zeit neu zu leisten. Zu diesem Zweck will ich das Verhältnis von Gott, Religion und Wissenschaft philosophisch neu bestimmen, und zwar im Blick auf ein über sich selbst aufgeklärtes Aufklärungsverständnis, an dem beide – Gott und Wissenschaften – recht verstanden, beteiligt sind. Meine grundsätzliche These in diesem Zusammenhang lautet: Aufklrung und Transzendenz (Gottes) sind eigentlich verklammert; wird diese Verklammerung einseitig aufgelöst und getilgt, dann ergibt sich eine negative Dialektik von Nihilismus und Fundamentalismus, und zwar in Religion und Wissenschaft. Aufklärung muss mithin die Theologie sinnkriterial festhalten und praktisch transformieren, und dies hat sie in ihren besten Kernbestrebungen auch getan. Religion muss diese Theologie bildlich indirekt vergegenwärtigen und so meditativ und kongre-
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gativ, gemeinschaftlich konkret zugänglich und bewusst machen, sie zugänglich halten und sie ebenfalls praktisch transformieren. Ebenso muss Wissenschaft ihre Grenzen erkennen. Aufklärung und Religion, die modernen Wissenschaften und die Traditionen der Rede von Gott, Philosophie und Christentum machen und halten so – je auf ihre Weise – ein Wissen vom konstitutiven Konnex von Unverfgbarkeit und Sinn bewusst. Das macht ihre tiefe Entsprechung wie auch ihre topische Differenz aus, die es wiederzuentdecken und neu zu beleben gilt. Weder bedeutet dies eine rationalistische Einholung und Verkürzung christlicher Verkündigung und Praxis, die einen autonomen Bereich von Sprache und Leben bildete und bildet, eine Lebensform, eine spirituelle Kultur der Transzendenz sui generis. Noch bedeutet es ein Christlichwerden philosophisch-kritischer Reflexion, denn das wäre eine verhängnisvolle kategoriale Vermengung ganz verschiedener Ebenen. Fragen wir weiter: Worin bestehen die Rationalitätspotentiale der biblisch-christlichen Tradition, die mit Wissenschaft wie Philosophie kompatibel sind? Ich will behelfsmäßig und modellhaft eine oberflchliche Aufklärung von einer Tiefenaufklrung unterscheiden. Eine oberflächliche wissenschaftliche Aufklärung orientiert sich an Vernunft, v. a. an praktischer Vernunft, als sei sie schlicht machbar, realisierbar, wenn man nur wolle. Die Zugänglichkeit des Guten, seine Erkennbarkeit und Machbarkeit, seine Kommensurabilität, kurz: seine Verfügbarkeit scheint klar zu sein und festzustehen. Ineins damit wird die Selbsttransparenz, die Selbstdurchsichtigkeit der Subjekte vorausgesetzt. Prinzipiell können wir uns selbst klar erkennen und vernünftig beurteilen; auch wechselseitig besteht eine Durchsichtigkeit der Subjekte, ihrer Motive und Handlungsgründe. Auch die geschichtliche Entwicklung ist prinzipiell pragmatisch zugänglich und erkennbar. Wissenschaftlicher, politischer und auch existentiell-ethischer Fortschritt sind prinzipiell sicher erkennbar, sie sind letztlich evident und daher auch mit sicherem Zugriff zu befördern. Die skizzierte naive, oberflächliche Form von Aufklärung gehört sicher zu jeder vernünftigen menschlichen Lebenspraxis. Sie liegt uns nahe. Ohne sie könnten wir unseren Alltag überhaupt nicht bewältigen und doch steckt in ihr auf ganz verdeckte, in ihrer Harmlosigkeit verborgene Weise eine mehrfache Gefahr. In ihr angelegt sind nämlich Illusionen der Machbarkeit, Illusionen der Verfügbarkeit, der Selbsttransparenz und Selbsterkenntnis, die in aller scheinbaren Harmlosigkeit den Keim von Usurpation und Entfremdung, von Totalitarismus und
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Irrationalismus in sich tragen, sowohl individuell wie sozial, sowohl wissenschaftlich wie politisch und religiös. Inwiefern ist das der Fall? Die modellhaft skizzierte oberflächliche Variante von Aufklärung verkennt die vielfältige Begrenztheit und Bedingtheit menschlicher Praxis und Selbsterkenntnis. Eine über sich selbst aufgeklärte Aufklärung muss dieser vielfältigen Begrenztheit und Bedingtheit innewerden, aber sie muss aus dieser reflexiven Bewusstwerdung auch die richtigen Schlüsse ziehen. Aus der Enttäuschung der oberflächlichen Aufklärung, aus dem Bruch mit der sie ermöglichenden Naivität ergibt sich oft ein Skeptizismus, ein Relativismus, schließlich ein Nihilismus. Diese Resultate der Enttäuschung können wiederum ganz alltägliche Form haben; alltägliche Resignation, alltäglicher Zynismus, stoisches Weitermachen, technokratischer Pragmatismus; sie können aber auch zu subtilen und anspruchsvollen Formen der Ratlosigkeit auf hohem Niveau werden, so bei Nietzsche, bei Freud oder auch in der „Dialektik der Aufklärung“ von Horkheimer und Adorno. In diesen Reflexionsbewegungen wird der wissenschaftliche Befund der durchgängigen Begrenztheit und Bedingtheit unserer Selbsterkenntnis und Praxis zum Ausgangspunkt nihilistischer, pessimistischer, negativistischer Gesamtdeutungen der Menschheit und ihrer Geschichte. In der säkularisierten Gegenwart der westlichen Demokratien nimmt die oberflächliche Aufklärung unter Einschluss der in ihr angelegten Enttäuschungspotentiale sehr häufig die Gestalt vermeintlich souveräner Selbstverwirklichung an. Der sich selbst sichernde Individualismus geht mit einem wiederum oberflächlichen, nur allzu gut verstehbaren Freiheitsverständnis einher. Auch diese Resultate von Oberflächlichkeit und Enttäuschung nimmt massenhafte Form an – Hedonismus, Konsumismus, der Eventcharakter medial vermittelter Welt- und Selbstverhältnisse – ebenso wie sie auch in anspruchsvolle, reflexive Formen überführt werden kann. Der erfolgreiche Ansatz einer Neubelebung des Konzepts der Lebenskunst und einer Philosophie der Lebenskunst ist ein Beispiel dafür, die Flut trivialpsychologischer Ratgeber- und Handbücher zum glücklichen, sorgenfreien Leben und zur Selbstverwirklichung bildet den Mainstream dieser Entwicklung, ebenso die Angebote pseudoreligiöser Emotionalität und terroristische Formen der politischen Theologie der Gegenwart. In den grotesken bis abstrusen Formen der Esoterik, der Magie und z. B. in pathologischen bis kriminellen Formen des Satanismus erreicht die oberflächliche Aufklärung, gepaart mit der in ihr angelegten Enttäuschung und gepaart mir dem doch nicht preisgegebenen Selbstver-
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wirklichungsindividualismus prekäre, aufschlussreiche Formen ihres Umschlags in offenen Irrationalismus. Diese Formen bestätigen indirekt die Unzulänglichkeit der oberflächlichen Aufklärung. Aber auch die mannigfachen Formen des Szientismus und des Technizismus, die unser Alltagsleben bis tief in die Selbstverständnisse hinein prägen, die unsere medizinische Praxis beeinflussen und die die Prozesse der globalen Kapitalisierung mit ermöglichen und beschleunigen, lassen sich – betrachtet man nur sie allein – als reale, konkrete Konsequenzen des Standardmodells der oberflächlichen Aufklärung verstehen. Die oberflächliche Aufklärung verfehlt auf grundsätzliche Weise die Begrenztheit und Bedingtheit des Menschen und seiner Praxis, sie überschätzt die Möglichkeiten der Vernunft und Selbsterkenntnis, kurz: sie denkt Wissenschaft wie auch Gott falsch. Die Aufklrung der Aufklrung, die eigentlich nötig ist, wurde in kritischer Reflexion auf die Grenzen der Vernunft von Kant epochal entwickelt und zwar im Verbund mit kritischer Wissenschaft. Zur Tradition der Aufklärung der Aufklärung zähle ich auch die Werke von Marx, Nietzsche und Freud – freilich in kritischer Rezeption und im Blick auf deren eigene Begrenztheit. Wenn wir aber ihre Arbeiten als Beiträge zur Begrenztheit und Bedingtheit der menschlichen Vernunft, Praxis und Geschichte durch die Analyse und Kritik der politischen Ökonomie – so Marx –, durch die Analyse der leiblich-sinnlichen Situiertheit des Menschen wie seiner Verletzlichkeit – so Nietzsche –, durch die Analyse der Verdrängung und Sublimierung von Todesangst und Sexualität – so Freud –, wenn wir sie so begreifen, dann gehören sie zur selbstkritischen Aufklärung. Das heißt auch: Selbstkritische Aufklärung hat keine einzelwissenschaftliche, kritische Untersuchung zu fürchten oder zu meiden, sei sie ökonomischer, erkenntnistheoretischer oder psychologischer, anthropologischer Natur. Aber zu einem Religionsersatz kann keine einzelwissenschaftliche und auch keine vernunftkritische Untersuchung werden. Das Schicksal der Werke von Marx auf dem Weg zur totalitären Ideologie, von Nietzsche auf dem Weg zum Mythos vom Übermenschen, von Freud auf dem Weg zum psychologistischen Weltanschauungsmodell – dieses prekäre Schicksal zeigt, dass selbstkritische Aufklärung eine Daueraufgabe in Wissenschaft und Religion ist und bleibt. Im 20. Jahrhundert hat Wittgenstein die vernunftkritische Reflexion durch die Analyse der Grenzen der Sprache radikalisiert und präzisiert. Heidegger hat – u. a. im Anschluss an Kierkegaard – die kritische Grenzreflexion im Blick auf die Grenzen der menschlichen
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Existenz und ihre Zeitlichkeit und Endlichkeit ebenfalls radikalisiert. Adorno hat die Grenzen des verfügenden, pragmatischen, prädikativen Erkennens und Unterscheidens im Verfehlen und Ausgrenzen des Nichtidentischen in seiner Negativen Dialektik herausgearbeitet.
3 Enthält die religiöse Überlieferung Elemente dessen, was ich als tiefe Aufklärung der oberflächlichen Vernunft und Aufklärung entgegensetze? Hat auch die alte Gottesfrage mit Bezug auf die moderne wissenschaftliche Zivilisation noch eine Berechtigung? Ich meine ja. Bei tieferer Betrachtung stimmen sie zusammen. Im Zentrum dessen, was ich als tiefe Aufklärung bezeichne, steht die Reflexion bzw. das Bewusstsein und die Einsicht noch in die transpragmatischen Sinnbedingungen von Vernunft und aller unserer Praxis. Wissenschaftliche Vernunftkritik und Praxisreflexion, die nur bei der externen Bedingtheit und Begrenztheit von Vernunft, Sprache und Praxis durch Materialität und Endlichkeit stehen bleibt, führen alsbald zur Depotenzierung von Vernunft und Praxis. Sie können auch zu einer formalistisch-prozeduralen oder fiktionalen Abdrängung und Verkürzung der tatsächlich nur qualitativ, inhaltlich und ganzheitlich verstehbaren Dimension vernünftiger Praxis, und damit der Basis von Aufklärung, führen. Der Gesichtspunkt der transpragmatischen Sinnbedingungen hingegen nimmt die Dimension der Negativität, der pragmatischen Unverfügbarkeit und Entzogenheit, ganz in die Perspektive der humanen Sinnkonstitution mit hinein – und dies scheint mir das proprium dessen zu sein, was wir zu Recht Aufklärung nennen können. Es ist eine Aufklärung, die um ihre eigenen Grenzen weiß. An fünf zentralen Beispielen will ich dies mit Blick auf die Gottesfrage verdeutlichen. Entscheidend scheint mir zu sein, dass die biblisch-christliche Tradition durchweg ihre praktisch-rationalen Elemente, die Ethik der zehn Gebote, schon im Alten Testament, die Ethik der Bergpredigt im Neuen Testament, aber auch bei Paulus, in dauerndem Rückbezug auf unverfgbare Sinnbedingungen dieser praktischen Rationalitt durchdenkt und verkündet, eben mit Bezug auf Gott. 1. Zu den unverfügbaren, transpragmatischen Sinnbedingungen all unserer Vernunft und Praxis gehört zunächst fundamental das, was die Bibel Geschöpflichkeit, Kreatürlichkeit nennt. Die grundlegende prak-
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tische Einsicht, die sich hier philosophisch reformulieren lässt, ist die Einsicht, dass wir uns nicht selbst geschaffen, gemacht, hergestellt haben, sondern dass wir – bei allen wissenschaftlichen Erklärungsmöglichkeiten – auf letztlich unerklärliche Weise da sind. Und dies ist eine unaufhebbare Differenz. Aber diese Negativität reicht viel weiter. Die Unerklärlichkeit der Sinnbedingungen unserer humanen Existenz, die im Zentrum religiöser Aufklärung steht, erstreckt sich auf alle Menschen aller Zeiten, die in ihrer Kreatürlichkeit verbunden sind. Sie erstreckt sich auf die Existenz des Lebens auf der Erde und das Phänomen der Evolution. In unserer Kreatürlichkeit sind wir mit den Tieren und allen Lebewesen tief verbunden, und zwar materiell, real, leiblich. Und diese kreatürliche Verbundenheit ist selbst etwas uns Vorgegebenes, sie gehört zu den unvordenklichen Sinnbedingungen unserer Existenz. Ich weise darauf hin, dass diese holistische und materialistische Sicht der menschlichen Situation über sich selbst aufgeklärter ist als z. B. die neuzeitliche, cartesische Konstruktion eines atomistisch verengten, zu einem denkenden Punkt reduzierten ego cogito, welches die ganze Welt, die ,,Außenwelt“, zu einer ausgedehnten Sache, res extensa, verdinglicht, wobei menschliche Mitgeschöpfe mitsamt ihren Leibern zunächst nicht in Sicht sind und die Tiere als aufgezogene Maschinen, als Automaten konzipiert werden. Welche Konzeption ist wohl rationaler, aufgeklärter – die der Bibel oder die des Descartes? Dreihundert Jahre lang feierte man Descartes und mythisierte ihn zum Gründungsvater von Neuzeit und Aufklärung. Dreihundert Jahre brauchte die Philosophie, um mit Heidegger, Wittgenstein und der Phänomenologie aus der erkenntnistheoretischen Sackgasse der atomistischen Subjekttheorie wieder herauszukommen. Unterdessen sah sich der epistemologische Solipsismus zeitweilig sogar genötigt, einen „Beweis für die Existenz der Außenwelt“ zu leisten, und ebenso die Existenz anderer Subjekte allererst zu deduzieren – in der Tat ein schwieriges Unterfangen. Die gemeinsame Kreatürlichkeit und die mit ihr verbundene Einsicht in die unverfügbaren Sinnbedingungen unserer Existenz erstrecken sich weiter: auf unsere Erde als materielle Lebensbasis für alle Geschöpfe. Wir haben die Erde nicht technisch hergestellt, sondern fanden sie mitsamt den materiellen, realen Bedingungen von Wasser, Luft und allen weiteren Lebensvoraussetzungen vor. Das Schçpfungsparadigma der Kreatrlichkeit erstreckt sich schließlich universal und unbedingt auf das gesamte Universum. Auch hier gilt: Welche empirischen, wissenschaftlichen, kosmologischen Erkenntnisse
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auch immer wir noch gewinnen werden, die Existenz des Universums mit seinen Milliarden Galaxien bleibt unerklärliche, unableitbare Sinnbedingung auch unserer Existenz und allen Lebens. Anders gesagt: Das Wunder des Seins reicht von Beginn an bis zu diesem Augenblick. Wunder sind nicht quantifizierbar, die Größe Gottes ist nicht messbar. Es gibt derzeit wieder viele pseudowissenschaftliche und gleichermaßen pseudoreligiçse Deutungen naturwissenschaftlicher Forschungsergebnisse, das heißt letztlich empirisch gestützter, falsifizierbarer Hypothesen. Urknall und Hubble-Konstante, Rotverschiebung und Hintergrundstrahlung werden mit theologischen oder metaphysischen, religiösen Begriffen interpretiert. Diese Zugriffe stellen exemplarisch fundamentale Kategorienverwechslungen dar. Denn die unerklärliche Existenz des Universums als unverfügbare Sinnbedingung für alles Leben und Erkennen steht auf einer ganz anderen kategorialen Ebene als empirische Forschungsergebnisse der physikalischen Kosmologie. Dass das Universum mitsamt seiner Entstehungsgeschichte und mitsamt unserer, der Menschheit, Entstehung und Existenz ist, das lässt sich philosophisch negativ in seiner Unableitbarkeit und Unerklärlichkeit explizieren, wie es schon Kant in seiner Rekonstruktion der metaphysica specialis in der transzendentalen Dialektik unternahm. Die religiöse Kreatürlichkeitsperspektive einer göttlichen Schöpfung enthält die tiefe Aufklärungsperspektive einer Aufklärung über die letztlich absolute Unverfgbarkeit und Unerklrlichkeit aller natürlichen Sinnbedingungen unserer Existenz, des Universums selbst als Ganzem. Augustinus wie auch Luther haben dies klar und insbesondere auch erkenntniskritisch gesehen. Das wird noch in Luthers Antwort auf die Frage deutlich, was denn Gott vor der Schöpfung getan habe. Er sei an die Elbe gegangen, Ruten zu pflücken, um diejenigen damit zu prügeln, die solche dummen Fragen stellen. Die Zurückweisung von Evolutionstheorien durch den aggressiven Kreationismus der fundamentalistischen Moral Majority in den USA ist dem gegenüber ein unaufgeklärtes Zerrbild der kategorialen Differenz von Unbedingtheit und Empirie. Stephen Jay Gould schreibt dazu: „Diese regelrechte Tragikomödie, die das ganze 20. Jahrhundert hindurch die Geistesgeschichte in den Vereinigten Staaten vergiftet hat, zeigt, welche einzigartige Verbindung Wissenschaft, Religion und Politik in diesem Land eingegangen sind.“8 8
Stephen Jay Gould, Rocks of Age, Science and Religion in the Fullness of Life, New York 1991, zit. nach Jean-Claude Guillebaud, Das Prinzip Mensch. Eine abendlndische Utopie?, München 2004, 427.
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Indem die religiöse Aufklärung auf praktische Einsichten in die unverfügbaren, all unser Handeln transzendierenden Sinnbedingungen humaner Existenz hinweist und auf diesen insistiert, trägt sie zur tiefen Aufklärung und damit indirekt zur Kritik oberflächlicher Vernunft- und Aufklärungskonzeptionen bei. Sie trägt z. B. auch zur Kritik des ZurWare-Werdens des Lebens bei, die in der Form der Patentierung von Genen vorangetrieben wird. Das gilt für die gesamte menschliche Handlungssituation und ihr Verständnis. Während die oberflächliche Aufklärung durchsichtig über sich selbst verfügende, autonome Einzelsubjekte in diesen Subjekten transparenten Handlungssituationen mit dem berblick über die Folgen ansetzt, Subjekte, deren wissenschaftliche und technische Erkenntnisfähigkeiten und Handlungsmöglichkeiten zur pragmatischen Weltbewältigung in der Lage sind, geht die Vernunftkritik religiöser Aufklärung weiter; sie antizipiert schon die mit der naiven Vernunftkonzeption implizierten Enttäuschungen und Desillusionierungen. Welche Züge dieser religiös vertieften Vernunftkritik lassen sich noch freilegen? 2. Neben der Schöpfungsperspektive ist hier die Sündendimension zu nennen. Ich gebe Habermas recht, wenn er neuerdings feststellt, dass etwas sehr Wesentliches verlorengeht, wenn die Dimension der Sünde in die bloße Schuldkategorie transformiert wird. Tiefer und zugleich realistischer ist die praktische Einsicht in die strukturelle Fehlbarkeit und Abgründigkeit der Menschen und ihr katastrophisches Gewaltpotential. Es ließe sich meines Erachtens unter Rekurs auf Kants Analysen zum radikalen Bösen in der menschlichen Natur zeigen, dass die fundamentale Fehlbarkeit, traditionell die Sündhaftigkeit, strukturell und konstitutiv zur menschlichen Freiheit und Moralität gehört, anders gesagt: ebenfalls zu den negativen, unverfügbaren Sinnbedingungen, denen wir unterliegen, wenn wir berhaupt wollen und handeln. Die Realität des Bösen tritt der Bibel zufolge bereits mit der ursprünglichen Selbstbewusstwerdung des Menschen auf; dieser reflexive Status des radikalen Bösen wird auch in der Botschaft Jesu und in der Theologie des Paulus deutlich. So viel scheint mir klar und unverzichtbar zu sein: Ohne die reale Dimension fundamentaler Fehlbarkeit lässt sich die Perspektive der Moralität nicht wirklich angemessen begreifen. Die Verdrängung und Tabuisierung des Bösen und der Sünde ist typisch und bezeichnend für eine oberflächliche Aufklärung. Die vernunftkritische Tiefendimension wird erst erreicht, wenn moralisches Scheitern und mit der Freiheit und Selbstreflexivität konstitutiv mitgegebene Fehlbarkeit als irreduzible Sinnbedingung von Moralität mitgedacht werden.
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3. Der Realismus biblisch-christlicher religiöser Aufklärung, der alten Gottesüberlieferung, der die Illusionen oberflächlicher Rationalität hinter sich hat, liegt auch darin begründet, dass die Bibel weder im Alten noch im Neuen Testament in ihrem Zentrum theoretische Konstruktionen, metaphysische Abhandlungen oder wissenschaftliche Traktate enthält, sondern im wesentlichen die narrative Vergegenwrtigung von konkreten Lebenssituationen. Diese konkreten Lebenssituationen bilden die Beglaubigungsbasis der Bibel im Alten Testament; aber sie bilden die Basis auch noch für die theologischen Entwürfe des Paulus und des Johannes im Neuen Testament. Durch diese narrative Vergegenwrtigung praktischer Einsichten wird auf vielfache Weise der unbedingte Ernst der Perspektive praktischer Vernunft vergegenwärtigt, ohne jedoch theoretisch demonstriert werden zu müssen. Denn dies führt bekanntlich meist nicht sehr weit. Der ethische Monotheismus entfaltet so eine an die Lebenspraxis anschließende, existentielle Unbedingtheitsperspektive, die sinnkonstitutiv zur Ethik gehört, und die z. B. wiederum von Kant, Kierkegaard und Wittgenstein rekonstruiert wurde. Entscheidend ist, dass wir stets – auch heute – letztlich in solchen konkreten Lebenssituationen sind, – nicht hinter sie zurückkönnen. Welche Geschichte des Alten Testaments wir auch nehmen, ob wir uns auf Moses oder Hiob, auf Ruth oder Rebekka beziehen – es wird uns fehlbares menschliches Handeln im Horizont unbedingter, nämlich von Gott ausgehender Geltungsansprüche gezeigt. Mit dieser Unbedingtheitsperspektive ist in der konkreten geschichtlichen Wirklichkeit die lebensbezogene Gottesperspektive verbunden. Mit dem Bezug auf Gott ist eine Perspektive der Endgltigkeit und Irreversibilitt präsent, die wiederum zu den unvordenklichen Sinnbedingungen verantwortlichen Handelns und eines menschlichen Selbstverständnisses überhaupt gehört. In der Geschichte Jesu wird dies nochmals auf unüberbietbar radikalisierte Weise bewusst. 4. Zu der erwähnten Dimension tiefer Aufklärung gehört neben der sinnkonstitutiven Fehlbarkeit, der Unbedingtheit und Endgültigkeit auch die Perspektive fundamentaler menschlicher Bedürftigkeit, der Angewiesenheit auf die Mitmenschen, der Abhängigkeit von den Anderen und ihrer Mithilfe, ihrem Wohlwollen. Diese Dimension wird in der Bibel vorwissenschaftlich, vortheoretisch, lebensweltlich-praktisch in ihrer ganzen Komplexität narrativ vergegenwärtigt. Vergegenwärtigt wird die zeitlichendliche Augenblicklichkeit des Handelns, vergegenwärtigt wird die unauslotbare Entzogenheit des eigenen Inneren bei aller Selbstmächtigkeit, vergegenwärtigt wird die leibliche Fragilitt und Verletzlichkeit des Menschen – vergegenwärtigt wird die alle Menschen einende Kreatrlichkeit. Die le-
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bendige Persönlichkeit eines Menschen konstituiert sich im Medium der Irreversibilität und Unabsehbarkeit seines Handelns. Sinnkonstitutiv für personales Handeln ist gerade, dass es in seinem potentiellen Charakter keine Sicherheit und Konstanz bietet. Es ist theoretisch unmöglich, sich handelnd auf die Handlungen Anderer zu verlassen – ohne Vertrauen aber gibt es schlechterdings keine humane Welt. Ein jeder, der handelt, läuft Gefahr zu scheitern oder Unrecht zu begehen – das alles können wir erst im Nachhinein wissen. Hannah Arendt hat in ihrem Hauptwerk „Vita activa“ besonders herausgearbeitet, dass deshalb unsere ganze humane Handlungswelt auf Versprechen und Vergeben beruht. Es gilt somit: Unsere Fähigkeit, wechselseitig zu vergeben, konstituiert und eröffnet allererst unsere praktische Freiheit. Hannah Arendt weist darauf hin, dass das Vergeben kaum je theoretisch untersucht wurde und nur in den Lehren Jesu eine zentrale Rolle einnimmt (Vita activa § 33) 9. Und es ist klar, dass die Ebene der wissenschaftlichen Rationalität auf dieser Basis erst möglich wird, sie aber nicht selbst begründen kann. 5. Die Vergegenwärtigung der unverfügbaren Sinnbedingungen humanen Lebens geschieht religiös-narrativ, literarisch, geschichtlich, und auf diese Weise mehrdimensional, tief und komplex. Diese Vergegenwärtigungsweise – unter Einschluss von Widersprüchlichkeit, ja Paradoxalität entspricht dem qualitativen Ganzen, der qualitativen Totalitt des Menschseins in Geschichte und Augenblick. Hier scheint mir der Ursprung eines grundsätzlichen Verständnisses von personaler Menschenwürde zu liegen. Aber die religiöse Aufklärung, deren Grundzüge ich hier nur in aller Kürze zu skizzieren versuche, geht noch weiter, sprengt daher den Rahmen oberflächlicher Rationalitätsvorstellungen, wie sie z. B. szientistischen, formalistischen, funktionalistischen oder utilitaristischen Ansätzen der Gegenwart zugrunde liegen. Die religiöse Aufklärung geht in ihren Kernaussagen insofern noch weiter, als durch die Dimension der Kreatürlichkeit als Rationalitätsbedingung die Einsicht vermittelt wird, dass nur so, in dieser Kreatürlichkeit die Sinnbedingungen von Leben und Freiheit, von Gutem und Liebe berhaupt wirklich sind und wirklich sein können, religiös gesagt: mit Bezug auf Gott. Das heißt, die praktische Anerkennung der unverfügbaren Sinnbedingungen als von uns nicht selbst gemacht: die Existenz des Universums, der Welt, meiner selbst und der Mitmenschen, die unvordenkliche Vorge9
Ich habe das in meinen Untersuchungen Die Konstitution der Moralitt, Frankfurt a.M. 21999, in Form einer negativen Interexistentialpragmatik entwickelt.
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gebenheit der Dimensionen der Freiheit, des Guten und der grundsätzlichen Fehlbarkeit, die konstitutive Endlichkeit und Unbedingtheit der konkreten menschlichen Handlungssituation, die Begrenztheit unserer Selbsterkenntnis, die Verletzlichkeit und Sterblichkeit, die Angewiesenheit auf die Anderen – ohne Erkenntnis und vor allem, ohne vorgängige Anerkennung dieser unvordenklichen Sinnbedingungen, die mich und jeden Menschen doch ausmachen, gibt es keine tiefergehende Aufklärung unserer Vernunft und Praxis. Überzogene Wissensansprüche und falsch verstandene Heilsansprüche – Positivismus und Obskurantismus – beide stehen einem aufgeklärten Selbstverständnis des Menschen im Wege. Ein Gott, der wissenschaftlich bewiesen werden muss, ist kein Gott mehr; ebenso kann keine naturwissenschaftliche, empirische Untersuchung die unbedingte Würde des Menschen, seine Gottebenbildlichkeit beweisen oder widerlegen, und braucht es auch nicht. Der biblische Gott widersetzt sich jeder Verfügbarmachung, ebenso wie sich die Menschlichkeit der Menschen jeglicher empirischen Reduktion und jeder wissenschaftlichen Begründungsbedürftigkeit entzieht. Weder das Gottsein Gottes noch das Menschliche des Menschen sind verifizierbare Fakten oder Forschungsergebnisse: Sie gehören zu der uns erst ermöglichenden Dimension unbedingten Sinns und absoluter Selbstzwecke. Wie zivilisiert eine Gesellschaft ist, zeigt sich daran, wie sie im Blick auf diese Dimension sich selbst Grenzen zu setzen vermag: Grenzen der Wissenschaft, Grenzen der Politik, Grenzen der Religion. Die Moderne speist sich aus zwei Quellen – aus der Transzendenz Gottes und der Freisetzung der Freiheit des Menschen. Wir müssen im Westen die zweifache Steigerung von Säkularität und Religiosität weitertreiben – beide Quellen der tiefen Aufklärung gegen alle oberflächlichen Vermischungen und falschen Ersatzbildungsprozesse.
4 Eine abschließende Bemerkung betrifft das Verhältnis von Philosophie und Religion. Die philosophische Reflexion bezieht sich auf die Struktur und Geltung von Einsichten, die sich in der biblischen Tradition finden. Religion ist eine konkrete Lebensform und Lebenspraxis. Während Philosophie die Unverfügbarkeit, die Entzogenheit der Sinnbedingungen als deren allerdings für sie konstitutive, nicht wegzudenkende Negativität rekonstruiert, spricht an dieser Stelle die christliche Religion von Geheimnis, Wunder und Gnade. Die philosophische Reflexion kann den
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Ort dieser Rede klären; sie kann auch die Grammatik dieser Rede zu klären versuchen. Aber sie kann auf die lebenspraktische Konkretion dieser Rede in Verkündigung und Existenz, in den meditativen und gemeinschaftlichen Lebensformen nur hinweisen als auf eine Realität sui generis, die für sich selbst sorgen muss. Die durch die Dimensionen der Kreatürlichkeit, der Unverfügbarkeit und der konstitutiven Nichtobjektivierbarkeit eröffneten Perspektiven der transpragmatischen Sinnbedingungen des humanen Lebens, der irreduziblen Personalitt und Wrde, der Freiheit und Fehlbarkeit gehören zur tiefen Aufklärung, die den Menschen letztlich vor Gott begreift. Sie berühren sich mit dem Sokratischen, ebenso sinnkonstitutiven Nichtwissen, mit der Aufklärung der Grenzen der Vernunft und der Grenzen wissenschaftlicher Erkenntnis bei Kant und Wittgenstein. Leben in praktischer Anerkennung der Transzendenz der Welt, der Anderen und meiner selbst ist Voraussetzung noch aller vernnftigen gemeinsamen, auch wissenschaftlichen Praxis. Aufklärung als in diesem Sinne vermittelte Einsicht in die unverfügbaren Sinnbedingungen unserer Existenz ist weder ein Epochentitel, noch irgendwo „vorhanden“. Sie muss immer neu authentisch angeeignet werden in lebendigen Kommunikationsprozessen zwischen Religion und Wissenschaft, Philosophie und Theologie. Wo dies vergessen wird, da werden auch die Einsichten der tiefen Aufklärung pervertiert, dogmatisiert, funktionalisiert und zu Herrschaft und Unterdrückung missbraucht. Dann müssen Wissenschaft wie Religion an der Perspektive absoluter Transzendenz gemessen und daran erinnert werden, dass ihnen die unverfügbaren Sinnbedingungen nicht gehören, weil sie niemandem gehören. Das heißt: Leben in praktischer Anerkennung absoluter Transzendenz verhindert sowohl wissenschaftliche Hybris wie auch religiösen Fundamentalismus. Diese Anerkennung absoluter Transzendenz ist Voraussetzung noch von Vernunft und Aufklärung, von rationaler Wissenschaft wie Religion. Sie verhindert das Totsagen wie auch die Ersatzbildungen und ermöglicht das Leben. Dabei ist absolute Transzendenz weder eine Fiktion noch eine Idee, sondern erschließt vielmehr gerade die Wirklichkeit in ihrer unendlichen Konkretion. So kann ich mit einem Wort Luthers schließen: „Wir sollen Menschen und nicht Gott sein. Das ist die summa.“10
10 Martin Luther, Luther an Spalatin in Augsburg. [Veste Koburg,] 30. Juni 1530, in: ders., Weimarer Ausgabe, Briefwechsel Bd. 5, Brief Nr. 1612, 415, Z.45 f.
Aspekte des Urvertrauens Im Folgenden sollen Aspekte des Urvertrauens aus philosophischer Sicht untersucht werden, um so zum Thema des im menschlichen Leben und durch es Gegebenen, seines Gabecharakters beizutragen. Zunächst werde ich im Anschluss an Husserl, Heidegger und Wittgenstein Analysen zur lebensweltlichen Ur-Gewissheit vorstellen. In einem zweiten Schritt werde ich die im engeren Sinne existentiell-praktische Bedeutung dieser lebensweltlichen Gewissheitsebene explizieren. Schließlich werde ich drittens die religiçse Dimension dieser Ebene paradigmatisch zu zeigen versuchen. Die Ebene der lebensweltlichen Ur-Gewissheit können wir methodisch auch als die Ebene der strukturellen Konstitution der menschlichen Grundsituation, des menschlichen Selbst- und Weltverständnisses, der menschlichen Lebenspraxis bezeichnen, als die Ebene des Dass der menschlichen Lebenswirklichkeit. Die praktische und die religiöse Ebene sind demgegenüber Ebenen des Wie, des Umgangs mit den unhintergehbaren Sinnbedingungen unserer Praxis. Diese Ebenen führen zu den kulturellen und sozialen, den moralischen, sittlichen, ästhetischen, religiösen, politischen, rechtlichen, sozialen und individuellen Umgangsformen und Gestaltungsweisen hinsichtlich dieser Sinnbedingungen. De facto, auch das gilt es stets zu berücksichtigen, sind diese ex post differenzierbaren Ebenen auf vielfältige Weise miteinander verbunden und miteinander verschränkt; sie lassen sich zwar reflexiv voneinander unterscheiden, aber nicht voneinander trennen. Das bedeutet metatheoretisch-methodologisch nichts anderes, als dass die philosophische Reflexion selbst ein ausgezeichnetes Sich-Verhalten zu den Sinnbedingungen unseres Lebens ist und stets war.
1 Sowohl Husserl und Heidegger als auch Wittgenstein haben im vorigen Jahrhundert auf innovative Weise Aspekte der menschlichen Praxis thematisiert, die ehemals wenig oder nicht gesehen wurden. Bei Husserl werden diese Aspekte unter dem Titel der Passivität bzw. der passiven Synthesis in der Phase der transzendentalen Phänomenologie in höchst
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umfangreichen Einzelanalysen herausgearbeitet.1 Im Hintergrund ist dabei stets an Kants weichenstellende systematische Einsicht in die erkenntniskonstitutive Bedeutung der transzendentalen Synthesis a priori zu denken, wie Husserl sie noch in der Krisis-Schrift stark akzentuiert. Wie lässt sich der Grundgedanke dieser Analysen fassen? Wir benötigen zu unserer Weltorientierung jeweils vorgängig ganzheitliche Perspektiven bzw. Dimensionen, in die hinein wir uns ausrichten können. Husserl thematisiert dieses Konstituens unserer Erkenntnis- und Lebenspraxis am Urphänomen der Horizontvorzeichnung. Bei jeder sinnlichen Wahrnehmung eines noch so einfachen Gegenstandes – eines Stuhles, eines Tisches, einer Säule, einer Wand – ergänzen wir passiv, wie von selbst, wir könnten auch sagen, automatisch dessen Rückseite. Wir gehen wie selbstverständlich davon aus, dass die Rückseite des Stuhles, des Tisches, anderer materieller Gegenstände, so aussieht, wie es der Vorderseite entspricht. Wir antizipieren ganz selbstverständlich die Form: Es geht dahinter so weiter, wie es von vorne aussieht. Husserl bezeichnet diese passive Ergänzungstätigkeit unseres Bewusstseins in seinen Untersuchungen zur passiven Synthesis als Horizontvorzeichnung. Sie betrifft bei genauer Betrachtung unser gesamtes situatives Wahrnehmungsleben. Jeweils baut sich ein antizipierbarer Erwartungshorizont auf, von dem wir ausgehen, in dem wir handeln und erfahren. Dem stehen zum Beispiel plötzliche und unerwartbare Veränderungen entgegen, die gerade deswegen als so überraschend erfahren werden. Der erwartbare Lauf der Dinge ist somit auch Voraussetzung für unerwartete positive wie negative Ereignisse, wie sie in Märchen und Wundergeschichten vergegenwärtigt werden. Unsere gesamte Lebenspraxis beruht, so zeigen Husserls subtile, umfassende Einzelanalysen, auf unbewussten, passiven Formen von Synthesis, von Horizontvorzeichnung. Ein eindrückliches Beispiel Husserls ist die Festigkeit des Erdbodens. Bei jedem Schritt, so Husserl, setzen wir die fortdauernde Tragfähigkeit des Bodens voraus. Wir rechnen nicht damit, dass der Boden wankt, einstürzt oder dass sich ein Abgrund vor uns bildet. Wer einmal ein Erdbeben erlebt hat, wird nachvollziehen können, wie völlig unerwartet und befremdend das plötzliche Sich-Bewegen und Rucken des Bodens erfahren wird. Auf diese Weise analysiert Husserl eine Vielzahl von Aspekten des alltäglichen 1
Edmund Husserl, Analysen zur passiven Synthesis. Aus Vorlesungs- und Forschungsmanuskripten 1918 – 1926, hg. von M. Fleischer, Den Haag u. a. 1966 (Husserliana Bd. XI).
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Urvertrauens, die unsere raum-zeitliche Leiblichkeit als das unhintergehbare Zentrum unseres konkreten Lebens fundieren und tragen. Jede bewusste Handbewegung, jede bewusste leibliche Ausrichtung antizipiert zum Voraus ihr Gelingen, und dies ganz intuitiv, selbstverständlich, wortlos, implizit, eben passiv. Erst dadurch werden Störungen, Brüche, Irritationen, Dissoziationen eigentlich erfahrbar, erkennbar und identifizierbar. Hier knüpfen auch Heideggers Analysen zur durchschnittlichen Alltäglichkeit in Sein und Zeit an.2 Als explizit vorhanden bewusst werden Dinge, Gegenstände erst dann, wenn sie für den Gebrauch in der alltäglichen Praxis nicht mehr da – wenn sie „weg“ sind. So fällt uns die theoretische Existenz des Zahnputzglases des Morgens erst auf, wenn ich es eines Morgens nicht mehr an seinem gewohnten Platz finde. Das Glas ist erst eigentlich „da“, wenn es „weg“ ist. Es ist dann im Heideggerschen Sinn vorhanden, weil es nicht mehr zuhanden ist, weil es nicht mehr im fraglosen Gebrauch zur Verfügung steht. Die von Heidegger so genannte durchschnittliche Alltäglichkeit ist fundamental dadurch charakterisiert, dass uns ihre Gewissheiten und Evidenzen ganz nah sind. Es gilt nach Heidegger, die „Ferne“ dieser äußersten Nähe philosophisch zu begreifen. So konnte es zum Beispiel dazu kommen, dass im cartesischen Paradigma das vermeintlich weltgründende Cogito isoliert gedacht wurde, dass sich daraus ein ontologischer Dualismus von Subjekt und Objekt, Ich und Welt ergab, dass schließlich bei Kant der noch fehlende Beweis der Existenz einer Außenwelt als der große „Skandal der Philosophie“ bezeichnet wird. Aus Heideggers Sicht besteht der Skandal aber in Wirklichkeit darin, dass man überhaupt nach einem solchen „Beweis“ verlangt. Denn wir sind in unserer Alltagspraxis immer schon in der Welt draußen, unsere Sorge involviert uns immer schon in den Umgang mit Gebrauchsgegenständen, um etwas mit ihnen zu erreichen, zu vollbringen. Unser Bei-uns-selbstsein ist nie anders möglich denn als In-der-Welt-sein. Das Immer-schon hat nach Heidegger den Status eines perfektischen Apriori, das heißt, es verweist auf eine vorgängige, praktische, konkrete Weltvertrautheit, die allen Störungen, Unsicherheiten und theoretisch-skeptischen Fragen und Zweifeln vorausgeht. Diese Ebene oder besser: Basis einer ursprünglichen Weltvertrautheit und Gewissheit, wie sie Husserl und Heidegger in der Lebenswelt bzw. in der durchschnittlichen Alltäglichkeit ansetzen, diese Basis findet sich auch in der Spätphilosophie Ludwig Wittgensteins in der Alltagssprache und in 2
Martin Heidegger, Sein und Zeit, Tübingen 14 1977, §§ 25 – 38.
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der Alltagspraxis, in den Sprachspielen und Lebensformen. Und ebenso, wie sich Heidegger gegen Kants Skandal des fehlenden Beweises der Außenwelt wendet, wendet sich Wittgenstein gegen G. E. Moores common-sense-Paradigma „Ich weiß, dass das meine Hand ist.“ In Wittgensteins Sicht ist das eine unsinnige theoretische Formulierung, die keinen Gebrauch hat, denn die Gewissheit, die mit ihr artikuliert wird, ist so fundamental, dass sie keiner theoretischen Behauptung noch Begründung bedarf. Ebensolches gilt von Sätzen der Art: „Ich weiß, dass ich Thomas Rentsch heiße.“, oder „Ich weiß, dass ich noch nie auf dem Mond war.“ Nach Wittgenstein besteht die gesamte konkrete Lebenspraxis durch ein dicht verflochtenes Netz von ganz ursprünglichen Gewissheiten, die all unserem Handeln, Denken und Sprechen bereits vorausliegen bzw. innewohnen. Diese impliziten Gewissheiten fundieren unhinterfragbar unsere Lebenspraxis. Sie werden uns gemeinhin gar nicht erst explizit oder gar theoretisch bewusst.3 Bereits in den Philosophischen Untersuchungen hatte Wittgenstein in diesem Sinne gelehrt, dass das meiste uns gar nicht bewusst wird, weil es vor aller Augen liegt. Auf seine Weise spricht er so den Grundgedanken Heideggers von der Ferne des Nahen aus. Das Netz der impliziten Gewissheiten betrifft die Grundlagen unserer Existenz, unserer Herkunft, die Leiblichkeit, Raum und Zeit, die Sprachverwendung. Ebenso wie gilt: Wir können mit der Sprache nicht aus der Sprache heraus, so gilt auch: Wir können die Gewissheit unserer Lebensform und die Grammatik unserer Sprachspiele nur abstrakt und künstlich verlassen, sie bleiben immer (perfektisch-apriorisch) deren Voraussetzungen. Das gilt im Übrigen auch, das sei noch einmal unterstrichen, für das wiederum vertraute Verständnis von Abweichungen, Störungen, Irregularitäten, überraschenden Ereignissen, Krisen und Brüchen, das ebenfalls nur auf dem Hintergrund des Urvertrauens möglich ist. Wittgensteins Analyse oder besser: Beschreibung der lebensweltlichen Gewissheit wird besonders ertragreich im Bezug auf die Sprachverwendung und das von ihm so genannte Regelfolgen. Kurz gesagt: Während der aktuellen Sprachgebrauchspraxis folgen wir den Sprachregeln und der Grammatik bei aller Bewusstheit letztlich „blind“, und alle 3
Ludwig Wittgenstein, ber Gewißheit, hg. von G. E. M. Anscombe u. G. H. von Wright, Frankfurt a.M. 1971; vgl. zum Folgenden: Thomas Rentsch, „Praktische Gewißheit – jenseits von Dogmatismus und Relativismus. Bemerkungen zu Negativität und Autonomie der Sprache bei Wittgenstein“, in: ders., Negativitt und praktische Vernunft, Frankfurt a.M. 2000, 351 – 364.
Aspekte des Urvertrauens
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sich rückwärts auf die vergangene Sprachgebrauchspraxis zurückbeziehende Thematisierung und Reflexion bereits verwendeter Regeln kann den vorherigen intuitiven Regelgebrauch nicht mehr „an sich“ erreichen, sondern ist wiederum selbst ein neuer, unableitbarer Fall von Regelverwendung. An der Basis der intuitiven, urvertrauten Sprachverwendung gelangen wir so zur Spontaneität des menschlichen Handelns, zu der unableitbaren Fähigkeit des Menschen, eine Handlung „von selbst“ (Kant) anzufangen. Auch in Habermas’ Hauptwerk Theorie des kommunikativen Handelns erhält das lebensweltliche Urvertrauen eine außergewöhnliche Bedeutung, obwohl es streng genommen gerade ganz gewöhnlich und alltäglich ist: „Die kommunikativ Handelnden bewegen sich stets innerhalb des Horizonts ihrer Lebenswelt; aus ihm können sie nicht heraustreten. […] Die Strukturen der Lebenswelt legen die Formen der Intersubjektivität möglicher Verständigung fest. […] Die Lebenswelt ist gleichsam der transzendentale Ort, an dem sich Sprecher und Hörer begegnen“.4 Die Lebenswelt ist „fraglos“ gegeben, sie kann nicht problematisch werden, „sie kann allenfalls zusammenbrechen“;5 sie ist das „intuitiv gegenwärtige“, „zugleich unübersehbare Netz der Präsuppositionen, die erfüllt sein müssen, damit eine aktuelle Äußerung überhaupt sinnvoll ist.“6 Habermas unterscheidet kulturelle, gesellschaftliche und persönliche Aspekte der unhintergehbaren Lebenswelt und setzt in ihr seine „Idee der Versprachlichung des Sakralen“7 an, die zu seiner Konzeption der Diskursethik führt. Mit der lebensweltlichen passiven Synthesis und Horizontvorzeichnung Husserls, den Analysen zur Alltäglichkeit bei Heidegger, mit der Beschreibung der fraglosen, grundlosen Gewissheit der Sprachverwendung inmitten der Lebenspraxis beim späten Wittgenstein und mit dem Lebensweltkonzept von Habermas haben wir bei vier der wichtigsten Philosophen des 20. Jahrhunderts an der Basis ihrer kritischen Grundlagenreflexion Formen so elementaren wie sinnkonstitutiven Urvertrauens freilegen können. Im nächsten Schritt will ich die praktische Bedeutung und Tragweite des Vertrauens thematisieren.
4 5 6 7
Jürgen Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns. Bd. 2: Zur Kritik der funktionalistischen Vernunft, 192. Ebd., 198 f. Ebd., 199. Ebd., 218.
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2 Auf der existentiell-praktischen Ebene ist die sinnkonstitutive Bedeutung des Vertrauens fundamental. Nicht erst in philosophisch-systematischen, an unbedingten ethischen Geltungsansprüchen orientierten Ansätzen erhält das Vertrauen diese zentrale Bedeutung. In seiner psychoanalytischen Theorie des frühkindlichen Selbstwerdungsprozesses verwendet Erik H. Erikson den Begriff des Ur-Vertrauens. Er unterscheidet acht Phasen des Mensch-seins: Autonomie gegen Scham und Zweifel, Initiative gegen Schuldgefühl, Leistung gegen Minderwertigkeitsgefühl, Identität gegen Rollenkonfusion, Intimität gegen Isolierung, zeugende Fähigkeit gegen Stagnation, Ich-Integrität gegen Verzweiflung. Aber an der Basis dieser acht Phasen identifiziert Erikson die Phase: Urvertrauen gegen Misstrauen: „Die feste Prägung dauerhafter Verhaltensformen für die Lösung der Kernkonflikte von Urvertrauen und Urmißtrauen in bezug auf das Leben an sich ist also die erste Aufgabe des Ich und daher auch die vornehmste pflegerische Aufgabe der Mutter. […] Ich glaube, dass die Mutter in dem Kinde dieses Vertrauensgefühl durch eine Pflege erweckt, die ihrer Qualität nach mit der einfühlenden Befriedigung der individuellen Bedürfnisse des Kindes zugleich auch ein starkes Gefühl von persönlicher Zuverlässigkeit innerhalb des wohlerprobten Rahmens des Lebensstils in der betreffenden Kultur vermittelt. Hier formt sich die Grundlage des Identitätsgefühls, das später zu dem komplexen Gefühl wird, daß man ,in Ordnung’ ist, daß man ein Selbst besitzt und daß man das Vertrauen der Umwelt rechtfertigt, indem man so wird, wie sie es von einem erwartet.“8 Erikson zufolge bedeutet der Gewinn des Urvertrauens für das Kind die Grundlage des Identitätsgefühls mit vertrauensvoller Selbst- und Fremdbeziehung, während das Misstrauen den Beginn schizoider und depressiver psychopathologischer Prozesse bildet. „Aber selbst unter den günstigsten Umständen scheint diese Phase ein Gefühl innerer Spaltung und eine allumfassende Sehnsucht nach einem verlorenen Paradies in das Seelenleben einzuführen (ein Gefühl, das geradezu prototypisch dafür wird). Gegen diese machtvolle Kombination des Gefühls, beraubt zu sein, gespalten zu sein und verlassen zu sein, muss sich das Urvertrauen ein ganzes Leben lang aufrechterhalten.“9 In der psychoanalytischen Sicht Eriksons ist das Urvertrauen also von fundamental sinnkonstitutiver Bedeutung für das spätere Leben des werdenden 8 9
Erik H. Erikson, Kindheit und Gesellschaft, Stuttgart 201991, 243. Ebd., 244.
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Menschen und dessen Gelingen. Mehr noch: Das Urvertrauen birgt nach Erikson späterhin nachgerade uneinholbare Sinnpotentiale, Potentiale der Erfüllung, die in späteren Lebensphasen nicht eingelöst werden können. Nicht nur in der Psychoanalyse, auch in der Soziologie des 20. Jahrhunderts erhält das Vertrauen eine eminente Bedeutung. Das gilt zum Beispiel für die funktionale Systemtheorie von Niklas Luhmann, deren Grundzüge er ein seinem Buch Vertrauen. Ein Mechanismus der Reduktion sozialer Komplexitt (1968) entwickelt. Es ist gerade das Beispiel des Vertrauens, durch das es Luhmann gelingt, seine funktionale, systemtheoretische Terminologie einzuführen. Er schreibt: „Vertrauen nimmt geschichtlich wie sachlich vielerlei Gestalt an. Es hat in archaischen Sozialordnungen einen anderen Stil als in zivilisierten, kann spontan entstehendes oder taktisch durchschauend aufgebautes persönliches Vertrauen oder Vertrauen in allgemeine Systemmechanismen sein. Es entzieht sich einer eindeutigen ethischen Anweisung. Nur von seiner Funktion her kann es als Einheit begriffen und mit anderen, funktional äquivalenten Leistungen verglichen werden. Vertrauen reduziert soziale Komplexität dadurch, dass es vorhandene Informationen überzieht und Verhaltenserwartungen generalisiert, indem es fehlende Information durch eine intern garantierte Sicherheit ersetzt. Es bleibt dabei auf andere, parallel ausgebildete Reduktionsleistungen angewiesen, zum Beispiel auf die des Rechts, der Organisation und natürlich auf die Sprache, kann aber nicht auf sie zurückgeführt werden. Vertrauen ist nicht das einzige Fundament der Welt; aber eine sehr komplexe und doch strukturierte Weltvorstellung ist ohne eine ziemlich komplexe Gesellschaft und diese ohne Vertrauen nicht zu konstituieren.“10 Sowohl in der Psychoanalyse als auch in der Soziologie wird dem Vertrauen, dem Ur-Vertrauen, in führenden Ansätzen des 20. Jahrhunderts zentrale Bedeutung eingeräumt. Sie greifen damit, oft ohne es zu wissen bzw. es zu explizieren, große Traditionen der Philosophie auf, in denen das Vertrauen in seiner existentiell-praktischen Tragweite bedacht wurde. Ich nenne nur einige Beispiele.11 Ohne Vertrauen kann das Leben nach Gorgias nicht gelebt werden. Es wird bei Cicero und Seneca auf stoische Weise stark auf das Selbstvertrauen konzentriert. Nach Thomas 10 Niklas Luhmann, Vertrauen. Ein Mechanismus der Reduktion sozialer Komplexitt, Stuttgart 31989, 105 f. 11 Vgl. zum Folgenden: Tanja Gloyna, Art. „Vertrauen“, in: Hist. Wçrterbuch der Philosophie Bd. XI, Basel 2001, Sp. 986 – 990.
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von Aquin ist Vertrauen Bedingung der Tugenden Großmut und Tapferkeit. Vertrauen als Hoffnung auf zukünftige Erfüllung ist für den Menschen als animal sociale und selbstmächtiges Wesen notwendig. Für Fichte ist Vertrauen auf Erfüllung Bedingung jeglicher Verträge, für Hegel als Form der Anerkennung Ausdruck von und für Selbstbewusstsein: „Wem ich vertraue, dessen Gewißheit seiner selbst, ist mir die Gewißheit meiner Selbst; ich erkenne mein Fürmichsein in ihm, daß er es anerkennt, und es ihm Zweck und Wesen ist.“12 Für die existentiell-praktische Sinnkonstitution durch Vertrauen sind, das ist Ergebnis eigener Untersuchungen, Momente der Negativitt wesentlich.13 In bestimmter Hinsicht lässt sich gerade „grundlose Gewissheit als Lebensform“14 auszeichnen. Denn wir müssen existentialpragmatisch sowohl von der objektiven Uneinholbarkeit unserer selbst als auch von unserer wechselseitigen, interexistentiellen Entzogenheit ausgehen, um unsere Praxis und insbesondere deren ethische, moralische Dimensionen in ihrer Tiefenstruktur zu begreifen. Die Uneinholbarkeit unserer selbst und die anthropologische Entzogenheit bzw. Unverfügbarkeit gilt für unsere gemeinsame Existenz in der alltäglichen Welt. Entzogenheit muss als ein wechselseitiges Verhältnis zwischen Menschen begriffen werden, als Interexistential. Bereits, wenn wir uns am Abend mit jemandem verabreden, so ist dies ein einfacher Fall wechselseitiger Unsicherheit und Unsicherbarkeit: Jeder kann die Verabredung nur zum Schein getroffen haben, beide können nicht kommen. Das kommunikative Vertrauensverhältnis der Verabredung lebt von seiner reziproken Garantielosigkeit. Eine Verabredung der üblichen Art kommt nur zustande, wenn keine instrumentelle Beherrschbarkeit des Verhältnisses besteht. Das unterscheidet ein Rendezvous zum Beispiel von einer Zwangsvorführung. Es wird deutlich, dass die reziproke Garantielosigkeit nicht erst hohe und subtile Formen moralischer Verhältnisse prägt, sondern dass sie auf ebenso elementare wie fundamentale Weise die gesamte Lebenspraxis konstituiert. Denn die Angewiesenheit darauf, sich auf andere verlassen zu können, besteht durchgängig. Sie prägt das gesamte Leben aller Menschen. Sie stellt somit keinen Sonderfall dar, zu dem wir 12 Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Phnomenologie des Geistes, Akademie-Ausgabe 9 (1980), 297. 13 Thomas Rentsch, Die Konstitution der Moralitt. Transzendentale Anthropologie und praktische Philosophie, Frankfurt a.M. 21999, 182 – 189. 14 Thomas Rentsch, Heidegger und Wittgenstein. Existential- und Sprachanalysen zu den Grundlagen philosophischer Anthropologie, Stuttgart 22003, 340 – 380.
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uns eigens bequemen müssten. Der Leser mache das Gedankenexperiment, einen Tag lang anstelle der Modi des Vertrauens auf andere versuchsweise stets Modi des Misstrauens zu praktizieren. Schnell wäre die Handlungsunfähigkeit erreicht. Dies ist der praktische Aspekt der Kritik am universalen Zweifel, die Wittgenstein in seinen Gedanken über Gewissheit vorgebracht hat. Ein Zweifel, der an allem zweifelt, kann nicht gelingen. Ohne ein Sich-Einlassen auf garantielose Praxis kommt überhaupt keine gemeinsame Praxis zustande. Die Tradition unterschied die securitas im Sinne technisch-instrumenteller Gesichertheit von der für kommunikative Verhältnisse kennzeichnenden certitudo, jener Gewissheit, die paradigmatisch in den spezifisch religiösen Sinnentwürfen des Glaubens, der Liebe und der Hoffnung wirksam ist. Wir können mit Bezug auf die Konstitution der menschlichen Welt feststellen, dass die Ungesichertheit, das Nichtbestehen der securitas, gerade Voraussetzung für die Formen der certitudo ist. Die nicht technisch und instrumentell gesicherte Gewissheit trägt die wesentlichen kommunikativen Interexistentiale des Vertrauens, des SichVerlassens auf die Mitmenschen, des Versprechens und damit auch die Möglichkeiten der wechselseitigen Offenheit füreinander. Die Negativität in der Gestalt der wechselseitigen Entzogenheit ist damit gerade Ursprung authentischer personaler Beziehungen. Was wir nicht können – über die anderen als sinnentwerfende Wesen eigenmächtig verfügen – das ist sinnkonstitutive Voraussetzung der Modi kommunikativer Rationalität in der Rede und in der Praxis. Hier zeigt es sich, dass strukturell gewaltlose und nicht-instrumentelle Verhältnisse in der Weltkonstitution eine ganz wesentliche Bedeutung haben, allerdings nicht reduziert werden dürfen auf den linguistischen Idealismus der Diskursethik. Wir benötigen keine „Metaphysik“ der zweiten Person und keine Mystifikation „des Anderen“ oder „des Du“ zu einer gleichsam auratischen Größe, um zu sehen, dass die praxistragenden Relationen von der analysierten Art sind. Versuchen wir auf diesem Hintergrund, uns die Verhältnisse beim Kennenlernen eines Menschen, den wir vorher nie gesehen haben, zu vergegenwärtigen: Von Anfang an, und das heißt, von den ersten gemeinsam gewechselten Sätzen an, etabliert sich ein mehr oder weniger offenes und vertrauensvolles Verhältnis im Maße, in dem die Partner bereit sind, füreinander zwanglos und ohne Not offen und durchsichtig zu werden. Die reziproke Entzogenheit eröffnet die Möglichkeit der Transparenz. Stellen wir uns vor, wir würden in eine unbekannte Weltgegend verschlagen. Dort lernen wir uns völlig fremde Eingeborenenstämme kennen. Es wird – soviel ist aus grammatischen und
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konstitutionellen Gründen klar – zu einer kommunikativen Praxis zwischen den Eingeborenen und uns kommen, wenn wir in garantielose Verhältnisse gemeinsam eintreten. Es wird jeweils sichtbar: Wir bedürfen der Mitmenschen und einander nicht in reduzierter, instrumentell zugänglicher Form. Wir bedürfen ihrer gerade in ihrer Ferne und Entzogenheit. Wir bedürfen ihrer im Schutze der Negativität. Diese Negativität in der Interexistenz zeigt, dass eine menschliche Welt nicht durch einen substanziellen „Kern“ des Menschseins garantiert ist, sondern sich selbst in der Einsicht in die instrumentell und pragmatisch untilgbare Entzogenheit und Unverfgbarkeit der Mitmenschen bildet. Der Schutz des Negativen, das heißt: die lebenssinnkonstitutive Bedeutung dessen, was wir nicht können – der Grenzen unseres Lebens und Handelns – lässt sich so auf dreierlei Weise präzisieren: 1. als die Unableitbarkeit (Grundlosigkeit) unserer Sinnentwürfe; 2. in der Gestalt der Nichtobjektivierbarkeit der singulären Totalität unseres Lebens; 3. als die wechselseitige pragmatische Entzogenheit der Menschen füreinander im gemeinsamen Leben. Kurz gesagt: Das unvordenkliche Ur- und Grundvertrauen bildet die Basis unseres Menschseins.
3 Auf dem entwickelten Hintergrund können wir abschließend religiöse Aspekte unserer Thematik ausblickhaft betrachten. Ersichtlich steht das Gottvertrauen im Zentrum der christlichen Botschaft und sicher auch der anderen monotheistischen Traditionen. Aber in der christlichen Religion, auf die ich hier allein rekurriere, ist durch die Botschaft von der Menschwerdung und dem Tod Gottes aus Liebe ein unüberbietbares Transzendenzgeschehen paradigmatisch, das den Grund des Glaubens und des Gottesvertrauens legt. Ich betrachte aus philosophischer Sicht Religion in ihren authentischen, irreduziblen und sowohl säkularisierungsermöglichenden wie säkularisierungsresistenten Kerngehalten als eine radikale Form von Aufklärung, in meiner Terminologie: als Tiefenaufklärung über die unverfügbaren Sinnbedingungen des menschlichen Welt- und Selbstverhältnisses. Im Kontext der Thematik des Urvertrauens erschließen die genuin religiösen Perspektiven diese Sinnbedingungen mit der Dimension der Schöpfung aus dem Nichts und der dauernden Schöpfung/Erhaltung der Welt und des Lebens, in der
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Form der Erlösung, der Befreiung von Zweifel und Angst auch im moralischen Bereich, in der Form der Vollendung, des letztlich irreduziblen, unbedingten Sinns des Lebens. Mit der paulinischen Trias von Glaube, Liebe und Hoffnung wird die Tiefendimension des Urvertrauens in der christlichen Verknüpfung bleibend artikuliert. Ersichtlich wird in der Perspektive von Religion als Tiefenaufklärung, dass die Glaubensund die Gottesperspektive wesentliche Aspekte des lebensermöglichenden Urvertrauens explizit und bewusst und damit auch kulturell, sozial und institutionell gestaltbar macht und hält, Aspekte, die in den modernen, säkularen, lebensweltlichen Vertrautheits- und Gewissheitsanalysen als unbewusst oder intuitiv handlungsermöglichend, handlungsleitend und sinnkonstitutiv rekonstruiert und identifiziert werden. Was durch die Lebenswelt- und Alltagsanalysen der modernen Philosophie von Husserl bis Habermas als unhintergehbares Sinnesfundament der Lebenspraxis freigelegt wird, ebenfalls auf andere Weise in der Psychoanalyse und der funktionalen Soziologie als solches unverzichtbare Fundament erkannt wird, das wurde und wird in der religiösen Verkündigung und Praxis in wesentlichen Aspekten explizit bewusst gemacht und bewusst gehalten. Besonders wichtig ist, dass es gerade die ansonsten in der gelingenden Praxis als selbstverständlich immer schon und passiv, intuitiv und unbewusst vorausgesetzten Phänomene sind, die religiöse Tiefenaufklärung reflexiv macht. Dass es die Welt gibt, dass wir sind, dass wir leben und handeln, überhaupt Sinn erfahren und entbehren können, dass es Grund zum Vertrauen gibt – diese Basis unseres Weltund Selbstverständnisses wird in der religiösen Lehre und Praxis als explizite Transzendenzdimension bewusst gemacht. Die religiöse Bewusstmachung des Urvertrauens als lebenstragender Basis geht aber noch weiter. Sie weist (so in der christlichen Tradition) auf konkrete Lebensformen, in denen diese Einsicht das ganze Leben zu bestimmen beginnt: als Leben in und aus Glaube, Liebe und Hoffnung im Sinne des Paulus. Die genuine Transzendenzdimension des Urvertrauens – dessen sinnkonstitutive Bedeutung sowohl moderne Philosophie wie Psychoanalyse und Soziologie hervorheben – wird erkennbar an den im Zentrum der Verkündigung stehenden Lebensformen des Opfers für andere, der supererogatorischen Werke, zu denen auch die unbedingte Moral nicht verpflichten kann, in Formen der schutzlosen Selbstpreisgabe. Aus philosophischer Sicht könnte man sagen, es handelt sich dabei um existentiell-praktische Lebens- und Praxisformen, die Möglichkeitsbedingungen noch für die (immanente, „säkular“ verstehbare) Moralität sind. In der Bibel (und auf andere Weise auch in der Tragödie,
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worauf Martha C. Nussbaum aufmerksam macht15) wird vergegenwärtigt, was es auch philosophisch zu begreifen gilt: Die zeitlich-endliche Augenblicklichkeit unseres Handelns (es ist immer „jetzt“!), die unauslotbare Entzogenheit des eigenen Inneren bei aller Selbstmächtigkeit, die leibliche und seelische Fragilität und Verletzlichkeit des Menschen, die alle Menschen einende Kreatürlichkeit. Die lebendige personale Existenz eines Menschen bildet sich im Medium der Irreversibilität und Unabsehbarkeit seines Handelns. Sinnkonstitutiv fr personales Handeln ist gerade, dass es in seinem potentiellen Charakter keine Sicherheit und Konstanz bietet. Es ist theoretisch unmöglich, sich handelnd auf die Handlungen Anderer zu verlassen – ohne praktisches Vertrauen aber gibt es schlechterdings keine humane Welt. Ein jeder, der handelt, läuft faktisch notwendig Gefahr, zu scheitern oder Unrecht zu begehen. Das Ergebnis können wir erst im Nachhinein wissen. Hannah Arendt hat besonders deutlich herausgearbeitet, dass deshalb unsere ganze humane Handlungswelt im Kern auf Versprechen und Vergeben beruht. Es gilt daher für die Konstitution der Moralität: Unsere Fähigkeit, wechselseitig zu vergeben, ermöglicht und eröffnet allererst unsere praktische Freiheit und das menschliche Zusammenleben.16 So kann auch die moderne philosophische, psychoanalytische und soziologische Grundlagenreflexion auf das Urvertrauen zurückführen zu Einsichten, die die religiöse Tradition auf ihre Weise unmissverständlich vergegenwärtigt.
15 Martha C. Nussbaum, The Fragility of Goodness: Luck and Ethics in Greek Tragedy and Philosophy, Cambridge 1986. 16 Hannah Arendt, „Die Unwiderruflichkeit des Getanen und die Macht zu verzeihen“; in: dies., Vita activa oder Vom ttigen Leben, München 1981, § 33, 231 – 238; dazu auch: Thomas Rentsch, Gott, Berlin/New York 2005, 114 ff.
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Der Augenblick des Schönen. Visio beatifica und Geschichte der ästhetischen Idee Werd ich zum Augenblicke sagen: Verweile doch! du bist so schön! Dann magst du mich in Fesseln schlagen, Dann will ich gern zugrunde gehn! Goethe
1 Die autonom gewordene und afunktionale Kunst, wie sie in den Systemästhetiken seit Kant und bis in die Gegenwart, etwa bei Adorno, reflektiert wird, eröffnet eine Weise der Erfahrung, die sich als – wie auch immer gebrochene – Kontemplation auratischer Phänomene beschreiben lässt. Für die Aura der Werke sind dabei deren genuine formale Qualitäten konstitutiv.1 Sie sind die Garanten der spezifischen Sinnlichkeit von Kunst. Dieser Sinnlichkeit ordnet die Philosophie seit Baumgarten eine eigene Erkenntnisweise: cognitio sensitivia, zu. Die cognitio sensitiva ist demnach diskursiv uneinholbar und reflexiv unüberbietbar. Als wesentliche Formqualitäten der ästhetischen Erfahrung seien genannt: 1. Die Totalitt und Simultaneitt. Ästhetische Erfahrung (bzw. Erkenntnis) hat einen nicht-partikularen Zug. Ein Kunstwerk zeigt die Totalität seiner Welt: einer unteilbaren, irreduziblen Ganzheit, die einen eigenen Raum und eine eigene Zeit aufweist. Wird so bereits die Diskursivität unseres Welt- und Selbstverhältnisses tendenziell aufgehoben, vergegenwärtigen Kunstwerke durch ihre entzeitlichenden Simultaneitätsaspekte eine Kontamination von Gegenwart, Vergangenheit und 1
Vgl. Thomas Rentsch, „Ästhetische Antropomorphie. Die Konstitution des Schönen und die transzendental-anthropologische Bestimmung thaumatischauratischer Weltverhältnisse“, in: Franz Koppe (Hg.), Perspektiven der Kunstphilosophie. Texte und Diskussionen, Frankfurt a.M. 1991, 27 – 35; „Bewunderung und Glanz des Schönen“ (Diskussionsbericht), in: ebd., 308 – 321. Zum Zusammenhang von Metaphysik und Ästhetik vgl. auch: Thomas Rentsch, Artikel ,Schöne, das‘, in: Jürgen Mittelstraß (Hg.), Enzyklopdie Philosophie und Wissenschaftstheorie Bd. 3, Stuttgart/Weimar 1995, 721 – 726.
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Zukunft, die ebenfalls gegen die Diskursivität auf die Fülle eines Augenblicks weist.2 2. Die Nichtinstrumentalitt ästhetischer Erfahrung. Diese ,Zwecklosigkeit‘ hat ihren Grund darin, dass ein Kunstwerk durch Kategorien instrumenteller Rationalität im Wesen unerreichbar ist. 3. Die Singularitt. Der auratische Zug der Werke gründet auch in ihrer Einzigartigkeit als Individuen. 4. Ästhetische Erfahrung ermöglicht eine Art von kommunikativer Selbsttransparenz der Subjekte, in der diese zwanglos sie selbst sein dürfen und dennoch auf konsubjektive Weise mit anderen Subjekten vergemeinschaftet werden. Ästhetische Konsubjektivität wäre dann sowohl von theoretischer Intersubjektivität als auch von praktischer Transsubjektivität zu unterscheiden. 5. Der Nichtinstrumentalität ästhetischer Erfahrung entspricht positiv ihre Genussqualitt, ihr Glckscharakter. Sie kann als Erfahrung jenseits von Technik und Herrschaft wie auch jenseits des ethischen Sollens die beglückende Erfahrung von ungeschuldetem Sinn sein und insofern Erfüllungscharakter haben. Im Folgenden geht es nun um den Aufweis einer außergewöhnlich engen Beziehung zwischen traditionellen theologischen, näher hin eschatologischen, und modernen ästhetischen Begriffsbestimmungen von Erfahrung. Im 18. Jahrhundert formuliert die Philosophie erstmals systematisch den genuinen Status durch Kunst vermittelter Erkenntnis und zeichnet so eine spezifische ästhetische Erfahrung aus: Die Ästhetik wird eine Disziplin eigenen Rechts und erfordert besondere erkenntnistheoretische Untersuchungen. Das hier von anderen Arten der menschlichen Erkenntnis abgegrenzte und als genuin ästhetisch ausgewiesene Welt- und Selbstverhältnis trägt Züge des unableitbar Neuen. Die Bestimmung der 2
Zur Thematik der Anschauung und der Zeitlichkeit ästhetischer Erfahrung: Rüdiger Bubner/Konrad Cramer/Rainer Wiehl (Hg.), Anschauung als sthetische Kategorie. Neue Hefte für Philosophie, Heft 18/19, Göttingen 1980; Wolfhart Henckmann, „Jedes Kunstwerk ist ein Augenblick. Versuch eine These Adornos zu verstehen“, in: Christian W. Thomsen/Hans Holländer (Hg.), Augenblick und Zeitpunkt. Studien zur Zeitstruktur und Zeitmetaphorik in Kunst und Wissenschaften, Darmstadt 1984; Jürgen Manthey, Wenn Blicke zeugen kçnnten. Eine psychohistorische Studie ber das Sehen in Literatur und Philosophie, München 1984; Günter Wohlfart, Der Augenblick. Zeit und sthetische Erfahrung bei Kant, Hegel, Nietzsche und Heidegger mit einem Exkurs zu Proust, Freiburg 1982.
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ästhetischen Erfahrung und der durch sie vermittelten Erkenntnis ist jedoch weder neuzeit- noch ästhetikspezifisch, sondern die charakteristischen Qualitäten dieser Erfahrung, wie sie bei Baumgarten und Kant, im Deutschen Idealismus, bei Schopenhauer, aber auch noch bei Adorno beschrieben werden, sind genau diejenigen Qualitäten, die vormals der „visio Dei beatifica“ 3 (visio Dei intuitiva/praesentaria, scientia intellectualis) zugeschrieben wurden, d. h. der (nicht immer) postmortal gedachten beseligenden Schau Gottes als des letzten und höchsten Zieles sowohl des individuellen Lebens als auch der ganzen Welt als der geschichtsendigenden Parusie. Die durch Kunst und schöne Natur vermittelte Erfahrung erhält so diejenigen Genuss- und Heilsqualitäten, die ehemals die Dignität der jenseitigen visio konstituierten. Der Glücksanspruch des ästhetischen Blicks und die Art, wie seine Erfüllung angesichts einer auratischen Kunst gedacht wird, postfiguriert die traditionelle eschatologische Glücksverheißung. Im Folgenden soll gezeigt werden, dass und wie sich diese These durch die Gleichheit der erkenntnistheoretisch-logischen, definitorischen Bestimmung sowohl der visio beatifica als auch der ästhetischen Erfahrung als einer cognitio clara et confusa begründen lässt.
2 Um den entscheidenden begriffs- und systemgeschichtlichen Wendepunkt zu erreichen, muss zunächst die Vorgeschichte der Rede von der Schau Gottes mit ihren mythologischen und theologisch-eschatologischen Paradigmen knapp umrissen werden. Bei dieser Rede handelt es sich um einen Kernstoff der Überlieferung, der vielleicht am besten als
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Vgl. Georg Hoffmann, Der Streit ber die selige Schau Gottes, Münster 1917; John d. Walshe, The Vision Beatific, New York 1926; Anton D. Sartori, La visione beatifica, Turin 1927; Patrick Bastable, Desire for God. London 1947; Nikolaus Wicki, Die Lehre von der himmlischen Seligkeit in der mittelalterlichen Scholastik von Petrus Lombardus bis Thomas von Aquin. Frankfurt a.M. 1954. Bereits im Kontext ästhetischer Thematik: Hans U. von Balthasar, Herrlichkeit. Eine theologische sthetik. Bde. 1 – 3 (in sieben Bänden), Einsiedeln 1961 – 1969; Thomas Rentsch, Artikel ,Visio Dei beatificia‘, in: Jürgen Mittelstraß (Hg.), Enzyklopdie Philosophie und Wissenschaftstheorie, Bd. 4, Stuttgart/Weimar 1996, 549 f. Vgl. Helmut K. Kohlenberger, Artikel ,Anschauung Gottes‘, in: Joachim Ritter (Hg.), Historisches Wçrterbuch der Philosophie. Bd. 1, Basel 1971, Sp 348.
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absolute Metapher im Sinne Hans Blumenbergs4 bezeichnet werden kann, d. h. um einen nicht diskursiv auflösbaren metaphorischen Kernbestand mit außergewöhnlicher geschichtlicher Konstanz in höchst variierenden Kontexten. Die Untersuchungen der Altorientalistik thematisieren das sumerische und akkadische Material, die hethitischen, babylonischen und ägyptischen Zeugnisse.5 Othmar Keel hat in seinem Werk über die altorientalische Bildsymbolik die theologische Transformation dieser Vorstellungen in den monotheistischen Bereich des Alten Testaments dargestellt: In der bildlosen Jahwe-Religion wird die Schau postmortal gedacht, das Schauen Gottes im Diesseits als todbringend.6 Die Vorstellung von der Schau Gottes ist bekanntlich aber auch für die antike Philosophie zentral. Bei Platon ist sie mit allen Kernlehrstücken eng verbunden und bildet das Zentrum seiner erotischen Theologie.7 Bei 4
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Vgl. Hans Blumenberg, „Paradigmen zu einer Metaphorologie“, in: Archiv f. Begriffsgeschichte, Bonn 1960; ders., „Ausblick auf eine Theorie der Unbegrifflichkeit“, in: ders., Schiffbruch mit Zuschauer. Paradigma einer Daseinsmetapher, Frankfurt a.M. 1979, dort 77 – 93. So Friedrich Nötscher, ,Das Angesicht Gottes schauen‘ nach biblischer und babylonischer Auffassung, im Anhang: Wolf v. Baudissin: „Gott schauen in der alttestamentarischen Tradition“, Repr. Nachdr. Darmstadt 1969. In Ägypten lässt sich insbesondere ein konkreter, nicht-metaphorischer Bezug auf die meist verhüllten, zu bestimmten Anlässen jedoch den Blicken der Gläubigen von den Priestern preisgegebenen Götterbilder nachweisen, ebenso eine Verflechtung der Vorstellung vom Schauen Gottes mit der Licht- und Sonnenmythologie. Diese verbindet sich mit den religiösen Grundkategorien des Glücks und des Lebens. In Babylon betete man: ,dein Antlitz möchte ich sehen, Wohlergehen haben, mit gnädigem Blick sieh mich gnädig an!‘ ,Es wird richtig der nicht Richtige, der dein Antlitz sieht‘ (Nach Nötscher. 119). Othmar Keel, Die Welt der altorientalischen Bildsymbolik und das Alte Testament. Am Beispiel der Psalmen. Zürich 31980. Nach Keel bedeutete ,Gott schauen‘ in Ägypten, Mesopotamien und auch Israel, eine erhebende Freude und ein Glück zu erfahren, das man als letzten Sinngrund des Daseins erfuhr. (178). Die damit verbundene Proskynese ist Ausdruck eines überwältigenden Erlebens der Heiligkeit (287). Die Psalmen intensivieren sowohl den Zusammenhang mit dem Glück als auch den mit dem Tod: Ps. 63.3. Ps. 16,11. ,Du kannst mein Angesicht nicht schauen, denn kein Mensch bleibt am Leben, der mich schaut.‘ (Ex. 33.20). ,Wir müssen sterben, denn wir haben Gott gesehen.‘ (Ri. 13,22. Vgl. Jes. 6.5). Vgl. zur Antike insgesamt: Rudolf Bultmann, „Zur Geschichte der Lichtsymbolik im Altertum“, in: Philologus XCVII (1948). 1ff; Julius Stenzel, „Der Begriff der Erleuchtung bei Platon“, in: Die Antike II ( J 926). 235 – 257. Die Vorstellung von der Schau ist verbunden mit dem Aufschwung der Seele zu dem Ewigen und Göttlichen und mit der ,Umlenkung‘ der Seelen zur Idee des Guten (Politeia 517 B-5 18 D), mit der Anamnesis und der pränatalen Schau der Ideen (Phaidros 247 D; 250 E), mit dem Eros, der Unsterblichkeit und der Schau des
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Aristoteles stellt die Schau das Integral seiner Kosmologie, Theologie und der Lehren von der Theoria und Eudaimonia dar.8 Joachim Ritter weist darauf hin, dass gerade hier die Aristoteles-Rezeption der christlichen Metaphysik einhaken konnte.9 Für Plotin ist die Schau Ziel des Lebens und des Philosophierens. Sie wird hier wie bei Platon als beglückende und identitätsstiftende Erfahrung des Schönen gedacht.10 Dieses Denken prägt auch die neuplatonisch beeinflusste Patristik.11 Der biblische Traditionsstrang setzt sich im Neuen Testament fort, im johanneischen Bereich12, insbesondere aber im paulinischen Entwurf einer eschatologischen ,Erkenntnistheorie‘ im Agape-Hymnus, 1 Kor. 13,9 – 12.13 Paulus rezipiert in diesem eschatologischen Entwurf das Spiegel-Motiv der griechischen Literatur. Der Spiegel symbolisiert 1. die
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Meeres des Schönen, welche ,mit einem Blick‘ geschieht (Symposion 210D ff. ). Das Ewig-Schöne rettet vor der Gewalt der Zeit: vgl. Gerhard Krüger, Einsicht und Leidenschaft. Das Wesen des platonischen Denkens, Frankfurt a.M. 41973, 280. Vgl. 200, 219, 261 f. Die Schau bildet das Zentrum der Erostheologie: Krüger. 280 – 283. Met. 1072b 25. Met. 1074b 33 f. Dazu: Walter Bröcker, Aristoteles, Frankfurt a.M. 31964, 220. Hier gründet die Lehre vom Ursprung und Sinn der Theorie bei Aristoteles, dazu: Joachim Ritter, „Die Lehre vom Ursprung und Sinn der Theorie bei Aristoteles“, in: ders., Metaphysik und Politik. Studien zu Aristoteles und Hegel, Frankfurt a.M. 1969, 9 – 33. Dazu weiter: Met. 983a 5 ff. Met. 980a sowie Ritter. 18. ,Theoria ducit ad Dei cognitionem.’ (Albertus Magnus). Interpreriert bei Ritter. ebd., 15. Porphyr rückte Plotins Schrift ber das Schçne gleich in die erste Enneadengruppe ein, zwischen die Abhandlung ber die Glckseligkeit und die ber das Gute. Nach Hans Blumenberg, „Licht als Metapher der Wahrheit. Im Vorfeld der philosophischen Begriffsbildung“, in: Studium Generale Jg. 10, Heft 7 (1957), 437 f. hat der Neuplatonismus das Höhlengleichnis nicht mehr als erkenntnistheoretische Metapher aufgefasst, sondern wörtlich und mithin kosmologisch gelesen. Unbeschadet davon kommt der plotinischen Hypostasenschematik mit ihrer aufund absteigenden Fluchtbewegung zum Einen/vom Einen (Enn. VI 9, 11 , Z. 51) ein existentieller Sinn zu, der sich in der Schau des Einen in seiner Schönheit erfüllt: Enn. V 1. Z. 43 – 49. Enn. I 6, 7. Z. 21 – 34. Zählung nach: Plotini Opera, Paul Henry/Hans R. Schwyzer (Hg.) Leiden 1951 ff. So bei Origenes, Basilius und Gregor von Nyssa. Vgl. Heinrich Scholz., Glaube und Unglaube in der Weltgeschichte. Ein Kommentar zu Augustinus De civitate Dei. Mit einem Exkurs: Fruitio Dei, ein Beitrag zur Geschichte der Theologie und Mystik, Leipzig 1911, 197 – 235. Zu Gregor: Franz Diekamp, Die Gotteslehre des hl. Gregor von Nyssa, Münster 1896. 1. Joh. 3,2. Vgl. auch 1. Tim. 6, 13.16. Vgl. auch I. Kor. 8, 3 und 2. Kor. 5, 7.
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Klarheit, 2. die Selbsterkenntnis, 3. die Indirektheit des Sehens.14 Die Vorstellung von der Schau Gottes ist ebenfalls gnostisches Zentralmotiv. Das Perlenlied der Thomas-Akten gestaltet prägnant die menschliche Grundsituation im Mythos von einem bei Gott befindlichen Bild jedes Menschen, auf das dieser, in der Welt der Finsternis verloren, zugeht.15 Die Schau in das göttliche Spiegel-Bild ist die wahrhaftige Erlösung als das Einswerden mit sich selbst. Die gnostische Visio-Konzeption weist die Momente der Simultaneitt, Totalitt und der Selbsttransparenz als Identitätsfindung auf.16 Der Kernstoff: Schau des Antlitzes Gottes findet sich ebenfalls im Koran17 und in der islamischen Gnosis.18 Für Augustinus hat Heinrich Scholz in einer eigenen Untersuchung die Zentralstellung des Begriffs der fruitio Dei untersucht.19 Die visio als jenseitiger Genuss der Gegenwart Gottes ist der Ort im augustinischen 14 Dazu: Hans Conzelmann, Der erste Brief an die Korinther, Göttingen 1969. 268 ff. Das Moment der Klarheit geht auf Timaios 72 C zurück. Das Moment der Selbsterkenntnis findet sich so auch in der Stoa, in der platonischen Tradition sind bei Plutarch die unbelebten Dinge ein ainigma tou theou, die belebten dagegen klare Spiegel. Die Indirektheit bereits Timaios 71 B. Das paulinische Kerygma wendet sich hier mit der Vergegenwärtigung der ekstatisch-eschatologischen Struktur christlicher Existenz gegen eine gnostisch-enthusiastische immanente Verfügbarmachung des Eschaton. 15 Im Perlenlied wird dieses transzendente Ebenbild dem heimkehrenden Prinzen in der Gestalt eines prachtvollen Strahlenkleides entgegengesandt: ,Seinen (= des Kleides = des wahren Selbst) Glanz / hatte ich vergessen, da ich es als Kind im Vaterhause / zurückgelassen hatte. / (Doch) plötzlich, als ich es mir gegenüber sah, / Wurde das Strahlenkleid ähnlich meinem Spiegelbild / mir gleich; / Ich sah es ganz in mir, / Und in ihm sah ich mich auch mir ganz gegenüber, / So dass wir Zwei waren in Geschiedenheit / Und wieder Eins in einer Gestalt.‘ (Zit nach Gilles Quispel, Makarius, das Thomasevangelium und das Lied von der Perle, Leiden 1967, 43.) 16 Simultaneität: exaiphanes, plötzlich. Totalität: holon, ganz. Vgl. zum Thema der Rückerinnerung an die göttliche Lichtheimat als des Innewerdens der eigenen Identität: Hans Jonas, Gnosis und sptantiker Geist, 2. Tl., 1. Hälfte: Von der Mythologie zur mystischen Philosophie, Göttingen 1954, 2. Kapitel. 17 In der frühmedinensischen Sure ,Die Kuh‘, wo die Omnipräsenz des Antlitzes Allahs verkündet (2,115) und das gute Handeln als Streben nach diesem Antlitz bezeichnet wird (2,272), in der Sure ,Die Scharen‘, in der die Posaunenstöße des Gerichts die plötzliche Schau der Gerechten einleiten (39, 68 f.), in der Sure ,Der Barmherzige‘, in der der Vergänglichkeit der Welt die Unvergänglichkeit des Antlitzes Allahs entgegengesetzt wird (55, 26 f.). Nach Tilman Nagel, Der Koran, München 1983, 128, ist „das Antlitz Gottes zuwenden […] der ursprüngliche Sinn des Wortes, Islam‘“. 18 Vgl. Heinz Halm, Die islamische Gnosis, Zürich/München 1982, 303. 19 Vgl. Scholz (Anm. 11).
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Welt- und Heilsentwurf, an dem die zu Beginn der Confessiones beschworene Unruhe des menschlichen Herzens endgültig zur Ruhe kommt.20 Hier geschieht die totale Sichtbarmachung des Antlitzes Gottes, die totale Theophanie. Diese wird im 22. Buch von ,De civitate Dei‘ mit einer völligen kommunikativen Transparenz der inneren Naturen der geretteten Menschen in eins gesetzt.21 Die eschatologische Kommunikationsgemeinschaft ist „von Schönheit entflammt“.22 Augustinus entwirft eine Ästhetik als Theophanie. Dabei ist die visio ein zweckfreies, nie instrumentalisierbares Gut (bonum incommutabile), welches den Tauschprozessen dieser Welt nicht unterliegt und somit jeglicher verfügenden Handlungsstruktur der Menschen entzogen ist. Aber bereits der ordo der Welt wird von Augustinus an ein nicht-instrumentelles Daseinsverhältnis explizit gebunden23, ist also nicht ontologisch substruiert, sondern verdankt sich einer kontemplativen Daseinshaltung. Insofern trägt ein theoretisch-ästhetisches Welt- und Selbstverhältnis die augustinische Ordometaphysik. Das wird auch an den mystischen Varianten der visio bei Augustinus deutlich, die sich einerseits dionysisch-ekstatisch, als Exzess, andererseits apollinisch-kontemplativ als (diesseitige) Schau der ewigen Schönheit Gottes (pulchritudo intelligibilis, incommutabilis et ineffabilis) ausprägen.24 Die mittelalterliche spekulative Etymologie leitet Eden, die Landschaft des Paradieses, von ,idea‘, mithin von eidein, schauen, her. Eden ist der Ort des Schauens Gottes, des visus divinus et deliciosus. Das Wort Paradies wurde dementsprechend als Kürzel für ,paratis dans visum‘: den
20 Fruimur cognitis, in quibus voluntas ipsis propter se ipsa delectata conquiescit. (De trin. X 13). 21 „Gott wird uns […] so sichtbar werden, daß er mit dem Geiste von jedem von uns in jedem von uns geschaut wird, geschaut von einem im andern, geschaut in sich selbst, geschaut im neuen Himmel und auf der neuen Erde, in jeder Kreatur […]; geschaut auch durch die Körper in jedem Körper […] Auch unsere Gedanken werden uns gegenseitig offen zutage liegen.“ (Der Gottesstaat. Übers. v. Carl J. Perl, Bd. 3, Salzburg 1953, 575). 22 Ebd. 576. 23 Gegen Hans Blumenberg, Die Genesis der kopernikanischen Welt, Frankfurt a.M. 1975, 52 – 55, 68, 211. Vgl. Augustinus, De vera religione XXIX. 24 Dazu Scholz (Anm. 11), 211. Vgl. zur Zentralstellung der Schönheitsreflexion bei Augustinus auch: Johann Kreuzer, Pulchritudo: Vom Erkennen Gottes bei Augustinus. Bemerkungen zu den Bchern IX, X und XI der Confessiones, München 1995.
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Bereiten gewährend den Anblick Gottes, etymologisiert.25 Die Gralssuche geschieht aus Sehnsucht nach der Gottesschau. In der neuplatonischmystischen Tradition ( Johannes Scotus Eriugena, Hugo von St. Viktor, Bernhard von Clairvaux) und insbesondere in der franziskanischen Lichtmetaphysik des Bonaventura setzt sich die Zentralstellung der visio fort.26 Sie wird hier besonders deutlich mit bestimmten meditativen Exerzitien in Zusammenhang gebracht. Das Erreichen der Schau bedeutet dann zunächst und bereits innerweltlich die Lösung von ablenkenden und verwirrenden Vorstellungen, das in der Folge meditativer Praxis sich einstellende Abgleiten des die Menschen von sich selbst entfremdenden Unwesentlichen.27 Thomas von Aquin bestimmt die Schau als unmittelbar.28 Die Seligen erkennen alles in Gott Geschaute auf einmal (simul, et non successive videntur).29 Zwar gewährt bereits die contemplatio in diesem Leben das beglückende Widerfahrnis der Schönheit als einer zwanglosen Synthesis von Vernunft und Willen, Rationalität und Sinnlichkeit.30 Jedoch die im irdischen Leben mögliche Erfüllung ist flüchtig und vergeht; sie bleibt hinfällig und fragmentarisch und wird immer wieder unterbrochen. Dem steht der postmortaleschatologische Entwurf der visio Dei bei Thomas gegenüber. In der visio konzentrieren sich wie in einem Brennglas der anthropologische und der theologische Entwurf des Thomas. Neuere Forschungen zum Zusammenhang der Lehre von den Proprietäten des Seins – der Transzendentalienlehre – mit der Lehre von den göttlichen Attributen und 25 So Uwe Ruberg, „Verfahren und Funktion des Etymologisierens in der mhd. Zeit“, in: Verbum et signum, Hans Fromm/ Wolfgang Harms/ Uwe Ruberg (Hg.), München 1975, 295 – 330. 26 Vgl. Bonaventura, Breviloquium VII c. 7 § 1. 27 Etwa in Bonaventura, Decem opuscula ad theologiam mysticam spectantia, Quarracchi, 3 1926. Vgl. zu meinem Thema: Emma J. M. Spargo, The category of the aesthetic in the philosophy of Saint Bonaventure, Louvain/Paderborn 1953. 28 Im Anschluss an seinen Lehrer Albertus Magnus. Vgl. Kohlenberger (Anm. 3). Thomas behandelt die visio in den 13 Artikeln der 12. Quaestio des ersten Buches der Summa theologiae, und zwar mit Bezug auf das desiderium naturale (a. 1), auf den supranaturalen habitus des lumen gloriae (a. 2), auf das Verhältnis von Sinnlichkeit, imaginatio und Intellekt (3), auf die Gnade (4), auf die claritas Dei (5), auf die Liebe (6), um sie dann selbst ihrem Wesen gemäß zu thematisieren. 29 Ebd., a. 10. 30 In vita contemplativa […] per se essentialiter invenitur pulchritudo, II – II 180, 2 ad 3. Zur Hinfälligkeit: Haec operatio nec continua potest esse, et per consequens nec unica est, quia operatio intercisione multiplicatur. Et propter hoc in statu praesentis vitaes, perfecta beatitudo ab homine haberi non potest, I-II 3, 2 ad 4.
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schließlich mit der Trinitätstheologie weisen der transzendentalen Schönheit eine zentrale und vermittelnde Funktion zu. Für die in der Transzendentalienlehre behauptete Konvertibilität des verum und bonum arbeitete Umberto Eco mit aller Deutlichkeit die vermittelnde und synthetisierende Bedeutung der transzendentalen pulchritudo heraus.31 Neuere Untersuchungen vertiefen diese Analyse.32 In seiner Arbeit über Schönheit bei Thomas hat Günther Pöltner dessen Frage nach der pulchritudo als Frage nach einer möglichen Einheit der transzendentalen Seinsbestimmungen interpretiert. In dieser Analyse erscheint Schönheit als Herkunft der transzendentalen Differenz von bonitas und veritas und als Ursprung des Partizipationsgedankens.33 Die visio bezieht den Schauenden in das innertrinitarische Kommunikationsgeschehen der göttlichen Personen ein, denen man die Transzendentalien: Einheit, Wahrheit und Güte zuwies, und deren wechselseitiges Sichdurchdringen (Perichorese, circumincessio) die göttliche Schönheit ist. So münden die Bestimmungen der eschatologischen visio: Totalität der Schau, Simultaneität, Zweckfreiheit, Synthesis von liebendem Willen und Vernunft, kommunikative Selbsttransparenz und erfüllte Identität schließlich in Kategorien einer theologischen Ästhetik. Besonders aufschlussreich für unseren Zusammenhang ist die ästhetische Mystik und Eschatologie, die Thomas von Vercelli (Thomas Gallus, Thomas von St. Viktor, Abt von Vercelli, † 1246 [oder 1226]) in der Tradition des Areopagiten, des Johannes Scotus Eriugena und der Viktoriner entwickelt hat. Hier erhält die visio beatifica eine gänzlich ästhetische Modalität. Thomas entwirft diese neuplatonisch-lichtmetaphysisch geprägte Phänomenologie der Ekstase als Kommentar zum Hohen Lied: Deum esse pulchrum. 34 Er konzipiert für die visio als mystische 31 Umberto Eco, Il problema estetico in San Tommaso, Turin 1956; ders., „Sviluppo dell’estetica medievale“, in: Momenti e problemi di storia dell’estetica. Bd. 1, Mailand 1959, 115 – 239, v. a. 129. 137. 32 So Francis J. Kovach, Die sthetik des Thomas von Aquin, Berlin 1961; Winfried Czapiewski, Das Schçne bei Thomas von Aquin, Freiburg i.B. 1964; Willehad P. Eckert, „Der Glanz des Schönen und seine Unerfüllbarkeit im Bilde“, in: Thomas von Aquino. Interpretation und Rezeption, ders. (Hg.), Mainz 1974. 229 – 244. 33 Günther Pöltner, Schçnheit. Eine Untersuchung Zum Ursprung des Denkens bei Thomas von Aquin, Wien/ Freiburg i.B./ Basel 1978. Gerade die mitunter etwas gewaltsam an die thomanischen Grundunterscheidungen (additio ad ens, modus generaliter consequens omne ens in se, diversificatio etc.) angeschlossene existenziale Interpretation ist m. E. hermeneutisch sehr fruchtbar. 34 Migne, PL Bd. 206, 9 – 862.
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Ekstasis die Einheit von kognitiver Liebe und affektivem Intellekt. 35 In der solchermaßen ästhetisch gestifteten Einheit des Bewusstseins durchdringen sich die Neigung zum Schönen und die Bewegung zum Guten in der Weise des amor cognitivus bzw. der cognitio amativa. 36 Mit diesem Kommentar liegt eine mystische Ästhetik vor, die sich zu einer ästhetischen Mystik ausformt: das ekstatische Geschehen bleibt schließlich begrifflich uneinholbar, und dies entspricht gerade der ineffabilitas der Schönheit.37
3 Wir erreichen nun den begriffs- und systemgeschichtlichen Termin, an dem die entscheidende Transformation greifbar wird, auf die sich meine These stützt. Hier ist das Werk des Johannes Duns Scotus (wie auch sonst für Fragen der „Epochenschwellengeschichtsschreibung“) von zentraler Bedeutung. Zweifellos war er mit den Gedanken des Thomas von Vercelli vertraut.38 Ich erwähne dies, weil ich für die Kernthese auf einer faktischen Filiation insistiere. Zunächst sei die scotische Konzeption der visio beatifica kurz dargestellt. Gott hat demnach nur einen einzigen „Zweck“: geliebt zu werden. Dementsprechend ist es der alleinige Zweck des homo viator, Gott ohne jegliches egoistisches Interesse zu lieben. Die Erfüllungsgestalt dieser beiden singulären Zwecke ist die cognitio intuitiva der Seligen.39 Aus der Konvertibilität der trinitarischen Personen mit den Transzendentalien der Einheit, Wahrheit und Güte (Liebe) und ihrer mit der Schönheit ergibt sich für Duns Scotus, dass die visio Schau des schrankenlos Schönen ist. Die Glückseligkeit entspringt – wie bei Thomas von Vercelli – der Synthesis von Intellekt und Willen: Hic dictur quod beatitudo consistit simul in actu intellectus et voluntatis. 40 Das heißt: Totalität und Simultaneität der visio beatifica beziehen sich auf das 35 Edgar De Bruyne, Etudes d‘esthetique medievale. Bd. 3, Brügge 1946, 62, bemerkt zu Recht, dass diese Ästhetik auf die Vermittlung fundamentaler Gegensätze abzielt: „beauté et bonté, intelligence et affection, sens supérieurs et sens inférieurs, clarté et suavité, splendeur et douceur, éclat éclairant et chaleur vivifiante, grâce et force, contemplation et dilection, vision et plaisir.“ 36 Zit. nach De Bruyne, ebd., 67 und 61. 37 Ebd., 70. 38 So auch De Bruyne, ebd., 359. 39 Dazu: Reinhold Seeberg, Die Theologie des Johannes Duns Scotus. Ein dogmengeschichtliche Untersuchung, ND der Ausg. Leipzig 1900, Aalen 1971, 457 ff. 40 Zit. nach De Bruyne (Anm. 35), 359.
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Geschaute, die Schau und den Schauenden in eins und zugleich. Primär ist das eschatologische (ästhetische) Ereignis mit seinen formalen Füllequalitäten (auf den scotischen Formbegriff kann hier nicht eingegangen werden), erst von ihm lassen sich die genannten Aspekte „abschatten“. Mit der visio verbindet Duns Scotus sodann den Gedanken der beglückten Ruhe: Der Intellekt wird durch die unmittelbare Schau erfüllt und befriedet, der Wille ebenso durch die gleichursprüngliche Liebe. Die visio führt so zur quietatio totalis et ultima. 41 Bekanntlich akzentuiert die Anthropologie des Schotten die menschliche Freiheit in einer für mittelalterliche Denktraditionen unerhörten Schärfe. So bleibt es nicht aus, dass auch im Kontext der eschatologischen visio-Thematik dieses Element seines Denkens unverkennbar bleibt: Der Wille des Menschen ist (und bleibt auch im Status der visio) frei. Die hier wirklich werdende reine, interesselose Liebe ist nun auch nach Duns Scotus die Höchstform der Manifestationen der menschlichen Freiheit. Hierin liegt für ihn gerade der Charakter der fruitio bei der Schau begründet: Nicht die contemplatio des Schönen, für sich genommen, bewirkt die Freude, den Genuss; sondern dieser Genuss ist Genuss der eigenen Freiheit – Selbstgenuss im Fremdgenuss, um eine Formulierung zeitgenössischer Ästhetik hier aufzugreifen.42 Dieser Selbstgenuss wird durch eine Freiheit ermöglicht, die sich ihrerseits der interessenlosen Liebe zur göttlichen Schönheit verdankt.43 Und diese Liebe hat zwei wesentliche Aspekte: zum einen vereinzelt sie den Liebenden auf eine einmalige Weise (sie wird gleichsam zum eschatologischen Individuationsprinzip), zum anderen entledigt sie ihn aber jeglichen Egoismus. Die Interesselosigkeit ohne jede Restriktion befreit so von der Last, vom Schwerecharakter der Existenz.44 Und es ist nun das Entscheidende: an dieser Stelle und zur logischen Bestimmung des Status der visio beatifica begegnen bei Duns Scotus genau jene Fundamentalunterscheidungen, in deren Rahmen im 18. Jahrhundert, zuerst von Baumgarten, das Spezifikum ästhetischer Erkenntnis systematisch formuliert werden konnte, nämlich als cognitio clara et confusa. Für Duns Scotus hebt jede Erfahrung mit der sinnlichen Erkenntnis konkreter Individuen an; und die menschliche Verständigung 41 Ebd., 364. 42 Hans R. Jauß, sthetische Erfahrung und literarische Hermeneutik, Frankfurt a.M. 1982, 84 f. 43 De Bruyne, (Anm. 35), 368. 44 Ebd.
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ist bleibend auf diese sinnliche Basis zurückverwiesen.45 Von dieser cognitio intuitiva der ,quidditativen Präsenz‘ eines Gegenstandes kann der Erkennende fortschreiten zu einer cognitio clara et confusa: sie gestattet es, den Gegenstand wiederzuerkennen, jedoch nicht, ihn distinkt (deutlich) zu erkennen, d. h. eine abgeschlossene Bestimmung seiner Merkmale durch eine Definition zu geben.46 Illud est confusum quod est indistinctum.47 Distincte concipitur quod secundum hoc concipitur, secundum quod ab aliis distinguitur. Confuse concipitur quod indistincte.48 Distincte vero quando concipitur sicut exprimitur per definitionem.49 Gegenüber der bloß ,klaren‘ und ,konfusen‘ Erkenntnis (das Wort konfus hier ohne jede pejorative Nuance: confundo heißt zusammengießen, vereinigen; es handelt sich um eine klare und vieles erfassende, vereinigende Erkenntnis) hebt sich die klare und distinkte Erkenntnis durch die Vollständigkeit ihrer definitorischen Merkmalsbestimmungen ab: Nihil concipitur distincte, nisi quando concipiuntur omnia quae includuntur in ratione eius essentiali.50 Die cognitio clara et confusa nun ist für Duns Scotus das epistemologische Paradigma der Erkenntnis des Schönen. Sie ist nicht bloß (einzig und allein) sinnlich und konfus (wie eine Körperempfindung); sie ist jedoch auch nicht (bereits) begrifflich-definitorischer Art. Es handelt sich bei der ästhetischen Erkenntnis um die wiederholbare, jedoch je einmalige Erkenntnis von etwas Individuellem, das sich nicht definieren lässt.51 Die ästhetischen Erfahrungen lassen sich demnach gemäß ihrer von Duns Scotus reflexiv hervorgehobenen logischen Struktur nicht begrifflich und definitorisch einholen und wiedergeben; die Schönheit eines Individuums (einer individuellen Substanz) ist erfahrbar und kommunikabel, bleibt jedoch gleichwohl undefinierbar. Der (bislang nur auf Goethe zurückführbare, jedoch den Punkt treffende) Satz ,Individuum est ineffabile‘ erhält hier eine ästhetisch-erkenntnistheoretische, sehr präzise Bedeutung. Die so von Duns Scotus ausgearbeitete Erkenntnistheorie der ästhetischen Erfahrung verbindet sich nun folgendermaßen mit unserem ,Leitfossil‘, der visio beatifica: Nur diejenigen cogitationes sind distinkt, auf die sich der unterscheidende Wille richtet; es ist das willentliche 45 46 47 48 49 50 51
Ebd., 348. Ebd., 349. Duns Scotus, De anima, q. 16 n. 2. Duns Scotus, Theoremata X. Duns Scotus, Oxon. I d. 3 q. 2 n. 21. Ebd . De Bruyne (Anm. 35), 349.
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Unterscheidungshandeln des Erkennenden, welches das Erkennen aus dem klaren in den deutlichen (distinkten) Status erhebt. Nun sahen wir, dass die visio (und bereits innerweltlich die contemplatio) schlechthin Quietiv des Willens ist; sie führt zur quietatio totalis, indem der Schauende sich an die Fülle und Totalität (totalitas extensiva et intensiva52) des sich ihm Zeigenden verliert.53 In der Schau richtet sich die willentliche attentio nicht mehr mit Unterscheidungsabsichten auf das summum bonum et pulchrum, sondern genießt es liebend. Die Fundamentalunterscheidungen der scotischen eschatologischen Ästhetik begegnen – wie wir gleich sehen werden – bei der Geburt der philosophischen Disziplin ,Ästhetik‘ im 18. Jahrhundert wieder. Zuvor einige Stützargumente für eine faktische Filiation zwischen den hier thematischen Befunden. Es stellt sich angesichts meiner These insbesondere die Frage, wie die mittelalterlichen Unterscheidungen ins 18. Jahrhundert gelangten, und zwar bereits unter völliger Suspension ihrer funktionalen Gleichsetzung. Zwei Fakten der Überlieferungsgeschichte, deren komplizierte Binnenstruktur hier nicht entfaltet werden kann, belegen diese Filiation: 1. Die protestantische Scholastik und aristotelische Schulmetaphysik des 16. und 17. Jahrhunderts rezipierte unverhohlen die mittelalterlichen Systematiken und legte Werke der spanischen Barockscholastik als Lehrbücher zugrunde. Das gilt insbesondere für die Werke des ‘papa et princeps’ aller Metaphysiker, Francisco Suárez. Leibniz, der z. B. die suaristische These über das Individuationsprinzip der 5. Disputatio metaphysica (principium individuationis ist ipsa entitas) als die rechte protestantische Lehre rezipiert und wiedergibt54, bezieht ebenso seine erkenntnistheoretisch-logischen Grundunterscheidungen von den spanischen Jesuiten. Auch das Klagelied protestantischer Cartesianer, die Orthodoxie ziehe die Lehre eines Jesuiten der ,Einsicht von Glaubensbrüdern vor‘55, ändert nichts an dem Tatbestand, dass Descartes, bei dem die für unseren Zusammenhang konstitutiven Differenzen ebenfalls begegnen, als Zögling von La Fleche tief in der spanisch-jesuitischen Barockscholastik verwurzelt ist.56 Das gilt – folgen wir Rainer Specht – auch 52 Duns Scotus, Oxon. 4 d. 49, q. 3 n. 9. 53 De Bruyne (Anm. 35), 364. 54 Vgl. Rainer Specht, Artikel „Suárez, Francisco“, in: Religion in Geschichte und Gegenwart. 55 Ebd., Sp 447. 56 Ebd.
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für die Moduslehre, den Begriff occasio, die Concursuslehre und die Cardiologie.57 2. Die besondere, präzise und im Kontext der Ästhetik und Erkenntnistheorie erfolgende Ausarbeitung der genannten Unterscheidungen durch den doctor subtilis gelangte im 17. Jahrhundert durch die erste moderne Gesamtausgabe der Werke des Duns Scotus (L. Wadding, Lyon 1639) zur Kenntnis. Zweifellos hat Leibniz diese Werke rezipiert (ebenso wie Bossuet und Malebranche), ja auch sein berühmter ,Gradualismus’ der Intensität der Vorstellungen geht auf die Erkenntnistheorie des Duns Scotus zurück. So vermutete denn auch bereits Benedetto Croce 1907 in seiner ,Ästhetik‘ die scotische Herkunft der Leibnizschen Unterscheidungen, ohne diese Spur historisch weiter zu verfolgen.58 Einige kurze Bemerkungen zu Gregor von Rimini, Dante, Meister Eckhart und Cusanus mögen die Exposition der Vorgeschichte unseres Themas abschließen, um die hier gefundenen Spuren im 18. Jahrhundert aufzunehmen. Der Nominalist Gregor charakterisiert die visio als cognitio clara et confusa – dies ist eben die wörtliche Definition der logischen Eigenart der ästhetischen Erfahrung bei Baumgarten und in der Folgezeit. Er setzt sie von der cognitio abstractiva per discursum als cognitio intuitiva ab. Es ist insbesondere aufschlussreich für unsere These, dass diese Trennung bei Gregor von Rimini unter ausdrücklichem Bezug auf die paulinische Erkenntnislehre des 1. Korintherbriefes erfolgt. Die abstraktive Erkenntnis benennt das videre per speculum in aenigmate, die intuitive die des – nichtdiskursiven – videre facie ad faciem.59 Gegen Ende des Mittelalters verschärft sich eine Tendenz zur ,Transzendenz in der Immanenz‘: Die Schau wird innerweltlich – nicht erst post mortem – erlebt und gedacht. In der Commedia Dantes wird zum guten Schluss die visio als Schau der trinitarischen Perichorese besungen: „Du ewig Licht ruhst in dir selbst allein,/verstehst, erkennst dich, bist 57 Ebd. Vgl. zur Wirkungsgeschichte von Suárez: Ernst Lewalter, Spanisch-jesuitische und deutsch-lutherische Metaphysik des 17. Jahrhunderts, 1935; Max Wundt, Die deutsche Schulmetaphysik des 17. Jahrhunderts, Tübingen 1939; Francisco Suárez, ber die Individualitt und das Individuationsprinzip. Fnfte metaphysische Disputation, Hg. und übers. v. Rainer Specht, Hamburg 1976 ( PhB 294 a und b), vgl. dort Spechts Vorwort, Einleitung und Bibliographie. 58 Benedetto Croce, sthetik als Wissenschaft vom Ausdruck, Tübingen 1930, 216 ff. und 187. 59 Vgl. dazu J. Würsdorffer, Erkennen und Wissen nach Gregor von Rimini. Ein Beitrag zur Geschichte der Erkenntnistheorie des Nominalismus, Münster 1917 (= Beiträge 20, 1). V.a. 87 – 96.
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erkannt, verstanden/in dir und lächelst dir in Liebe zu.“60 Dieses vornehme und abschiedliche Lächeln Gottes enthüllt und verbirgt zugleich, dass sich Dante in der Trinität selber wie in einem lichterfüllten Spiegel sieht. Seit Augustinus wurde der menschliche Geist als ,Abbild‘ der Trinität aufgefasst.61 Der anthropologische Sinn von Theologie, der sich hier bei Dante so dichterisch und gleichsam zärtlich artikuliert, scheint der Kern des so genannten Visio-Streites des 14. Jahrhunderts zu sein.62 Meister Eckharts radikal-anthropologische Interpretation der Theologie63 hat auch Konsequenzen für sein Visio-Verständnis: „Das Auge, darinnen ich Gott sehe, das ist dasselbe Auge, darinnen mich Gott sieht. Mein Auge und Gottes Auge, – das ist ein Auge und ein Gesicht und ein Erkennen und ein Lieben.“64 In der mystischen visio beatifica ereignet sich die Inkarnation: der Augenblick der Schau ist der christologische, inkarnatorische, „in einem gegenwertigen nu“, „daz begrifet in im alle zit“.65 Joachim Ritter hat bereits in seinem Aufsatz „Landschaft. Zur Funktion des Ästhetischen in der modernen Gesellschaft“66 darauf aufmerksam gemacht, dass Cusanus eine der ratio (intellectio abstractiva) überlegene Erkenntnisweise beschreibt. Die Koinzidenz der Gegensätze, die Docta ignorantia ereignet sich nicht diskursiv und insofern ,logisch‘
60 Dante Alighieri, Die Gçttliche Komçdie, dt. v. Karl Vossler. Berlin 1942, 629 f. 61 Augustinus, De trin. X, 12. Kapitel. 62 Die Beguinen und Begharden vertraten die Auffassung, die visio sei bereits im Diesseits jedem vernünftigen Wesen möglich, ja komme ihm gleichsam von selbst zu. Die Möglichkeit einer innerweltlichen seligen Schau wurde durch Clemens V. 1311 auf dem Konzil von Vienne als Häresie verurteilt. (Vgl. Scholz [Anm. 11], 221). Daraufhin eschatologisierte Johannes XXII. die visio gänzlich: Animas sanctorum non videre divinam essentiam clare ante generalem diem iudicii et corporis resurrectionem – nicht vor dem Jüngsten Tag. Dagegen Benedikt XII. 1336: sofort nach dem Tod. (Vgl. Scholz, ebd.). Zum Begriff der Perichorese, circumincessio und circuminsessio vgl. Peter Stemmer, „Perichorese. Zur Geschichte eines Begriffs“, in: Archiv f. Begriffsgeschichte Bd. XXVII (1983) 9 – 55. 63 Jeder Mensch ist Gottes Sohn, die zweite Person der Trinität. Der Häresieprozess begann 1326. 64 Meister Eckhart, „Predigt über Jesus Sirach 24, 30: Quid audit me, non confundetur“, in: Meister Eckharts deutsche Predigten und Traktate, Friedrich SchulzeMaizier (Hg.), Leipzig o. J. 305 . 65 M Pred. 10, DW I 171, 6 und Pred. 9, ebd. 143.8. 66 In: Joachim Ritter, Subjektivitt. Sechs Aufstze, Frankfurt a.M. 1974, 141 – 163.
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sondern „ohne Hin und Her“.67 Gegen die diskursive Erkenntnis, deren Bild bei Cusanus spurensuchende Jagdhunde auf ihrer Jagd nach der Weisheit (venatio sapientiae) sind, betont er, „daß die wissende Unwissenheit einem hohen Turme gleich jeden zur Schau erhebt“.68 „Denn wer dort oben steht, übersieht alles, was der unten über das Feld Schweifende auf verschiedenen Wegen nach Spuren forschend sucht“.69 Die docta ignorantia ist eine simultane, totale, nicht-diskursive Erkenntnis der Fülle, in der Einheit und Vielheit koinzidieren. Sie ist nicht nur ästhetische Erkenntnis, sondern wird hier bereits als die spezifische Erkenntnisform der Philosophie selbst identifiziert.70
4 Die scotischen Fundamentalunterscheidungen gelangten über Leibniz zu Wolff, die suaresischen über Descartes in das gesamte neuzeitliche ,Nootop‘. Mit der Autonomisierung der ,unteren Vermögen‘ der Leibniz-Wolffschen Erkenntnistheorie, die bei Baumgarten und Meier zur cognitio sensitiva befreit werden, beginnt der Versuch, den Status der ästhetischen Erfahrung als eine klare (nämlich zwar Phänomene identifizierende und wieder-erkennende, insofern unterscheidende), jedoch zudem ,verworrene‘ (konfuse, nicht begrifflich-deutliche) zu begreifen.71
67 Nikolaus von Kues, Philosophisch-theologische Schriften, Leo Gabriel (Hg.). übers. v. Dietlind und Wilhelm Dupré. Bd. 1. Wien 1967, (Apologia doctae ignorantiae discipuli ad discipulum), 548 – 551. 68 Ebd., 551. 69 Ebd. 70 Neben der ars coniecturalis als Vorgestalt verfügender, zunächst vermutender Vernunft steht die docta ignorantia als ein ,entgegenständlichendes Denken‘. Hierzu: Michael Stadler, Rekonstruktion einer Philosophie der Ungegenstndlichkeit. Zur Strukutr des Cusanischen Denkens, München 1983. Im Anrennen gegen die Grenzen der Sprache und der möglichen Erfahrungen erscheint die Ignoranz als eine Vorgestalt transzendentaler Dialektik. Dass man Philosophie selbst eigentlich nur ,dichten‘ könne, verbindet im 20. Jahrhundert so verschiedene Denker wie Adorno, Heidegger und Wittgenstein. 71 Gottfried Gabriel hat hier mit der Absicht angeknüpft, systematisch eine Theorie ästhetischer Erkenntnis zu entwickeln. Vgl. Gottfried Gabriel, Fiktion und Wahrheit. Eine semantische Theorie der Literatur. Stuttgart 1975; ders., „Über Bedeutung in der Literatur. Zur Möglichkeit ästhetischer Erkenntnis“, in: Allg. Ztschr. f. Philos. 2 . 1983, 7 – 2; ders., „Literarische Form und nicht-propositionale Erkenntnis in der Philosophie“, in: ders., Zwischen Logik und Literatur.
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Die auf die extensive Flle von Gegenständen (seien es Äpfel, Wälder, sei es die Nacht oder ein Gefühl wie die Liebe) bezogene ästhetische Erfahrung wird so aus dem System der axiomatisch-deduktiven Metaphysik im Wolffschen Stile, deren Ziel im Rahmen der Begriffsbildung die Definition ist, herausgelöst. Die Fülle der Erscheinungen (ubertas aesthetica, venusta plenitudo), die vom abstrahierenden Verstand in den Wissenschaften verlassen und verdrängt wird, soll nunmehr durch das sinnlich erkennende analogon rationis 72 bewahrt und zum Gegenstand eigenen Rechts werden. Paradigmen solcher Erfahrungsmöglichkeiten – jenseits von Wissenschaft und Metaphysik – sind für Baumgarten etwa die an Gedichten73 exemplifizierten „vielsagenden Vorstellungen“ (perceptiones praegnantes). Im poetisch konstituierten horizon aestheticus soll ohne Anschauungsverzicht die ,ptolemäische‘ nicht technisch und experimentell vermittelte Welt aufbewahrt werden.74 Der durch Verwissenschaftlichungsprozesse verstellte lebensweltliche Anschauungsraum wird ästhetisch restituiert. Von den ästhetischen „Begriffen“ Baumgartens und Meiers, die durch perspicuitas und lux aesthetica eine Art ,Prospekt‘ sind, in welchem der Hauptbegriff am nächsten steht, „während die Nebenbegriffe wie in weiter Ferne hinter ihm auftauchen“75, führt die Entwicklung zu Kants Konzept der ästhetischen Idee und ihrer ästhetischen Attribute, „die so viel zu denken veranlaßt als sich niemals in einem bestimmten Begriff zusammenfassen läßt, mithin den Begriff selbst auf unbegränzte Art ästhetisch erweitert“ und die das „Gemüth“ belebt, „indem sie ihm die Aussicht in ein unabsehliches Feld verwandter Vorstellungen eröffnet“.76 Die begrifflich unerreichbare Mannigfaltigkeit des ästhetischen Phänomens wird hier von Kant mit Hilfe einer optischen Metapher artikuliert. Es steht mir an dieser Stelle nicht der Raum zur Verfügung, den komplizierten Prozess, der von Leibniz’ ,klaren und
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Erkenntnisformen von Dichtung, Philosophie und Wissenschaften, Stuttgart 1991, 32 – 64. v. a. 47 ff. Vgl. Ursula Franke, Artikel „Analogon rationis“, in: Historisches Wçrterbuch der Philosophie Bd. 1, 1971, Sp 229 f. Vgl. die sehr gute Edition der Baumgartenschen Disserration, Reflections on Poetry. Alexander Gottlieb Baumgartens Meditationes philosopicae de nonnullis ad poema pertinentibus, Karl Aschenbrenner/ William B. Holther (Hg. und übers.), Berkeley/ Los AngeIes 1954. So Ritter (Anm. 66), 156 ff. und 181 (Anm.). Eine ausführliche Darstellung bei Walter Meckauer, sthetische Idee und Kunsttheorie. Anregung zur Begrndung einer phnomenologischen sthetik, Kant-Studien 22, 262 – 301, dort 263. Immanuel Kant, Kritik der Urteilskraft. Akad.-Ausg. 194 f.
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konfusen Ideen‘ (deren Vorgeschichte wir nun kennen) und seiner Rede vom „wogenden fundus animae“ als dem Ort jener nicht-diskursiven Erkenntnis über die Lehre von der sthetischen extensiven Klarheit (claritas extensiva, d. h. der nicht-analytischen Überbestimmtheit der ästhetischen Gegenstände/Begriffe) bei Baumgarten bis zu Kants Lehre von den ästhetischen Ideen nachzuzeichnen.77 Das tangiert jedoch nicht die These: Die Eigenart und logische Struktur der formalen Qualitäten ästhetischer Erfahrung, wie sie seit den Ästhetiken des 18. Jahrhunderts und in der Folge im Deutschen Idealismus aufgewiesen werden, ist aufgrund der terminologischen Bestimmung ihres erkenntnistheoretischen Status von der Form der mittelalterlichen kontemplativen und insbesondere visionären Erkenntnis. Um den Übergang von der theologischen Erkenntnistheorie in die ästhetische Theorie zu begreifen, muss dieser Hauptthese eine Zusatzthese an die Seite gestellt werden: Die optische Simultaneitt des in der visio beatifica Geschauten wird im Zuge der rationalistischen Logisierung der theologischen Epistemologie przisiert als die konnotative Simultaneitt der ,Nebenideen‘, die sich ,nher‘ und ,ferner‘ um eine sthetische Idee gruppieren und deren extensive Flle (extensive Klarheit) konstituieren. Zum Raum wird hier die Zeit, jedoch auf der Ebene einer unhintergehbaren Bildlichkeit, denn es wird hier ja über die Sprache gesprochen. Die extensive Fülle, die ubertas aesthetica und venusta plenitudo der Konnotationen und Implikationen der ästhetischen Ideen führt dann wiederum die signifikante optische Metaphorik mit sich, wie wir sie soeben bei Kant beobachteten. Eine umfassendere Untersuchung könnte das beschriebene Phänomen zum Leitfaden nehmen: Die in der Zusatzthese behauptete Logisierung und Verräumlichung im Sinne optischer Metaphorik ist ebenfalls in der Symboltheorie Goethes sowie in Herders Theorie der sinnlichen Begriffe festzustellen. Schiller bemerkt: „darin liegt das Anziehende solcher ästhetischen Ideen, dass wir in den Inhalt derselben wie in eine grundlose Tiefe blicken.“78 Denn ihr „möglicher Gehalt“ sei „eine unendliche 77 Vgl. dazu: Karl Heinrich von Stein, Die Entstehung der neueren sthetik, Stuttgart 1886. Repr. ND Hildesheim 1964.V. a. 336 – 369; Robert Sommer, Grundzge einer Geschichte der dt. Psychologie und sthetik von Wolff-Baumgarten bis KantSchiller, Würzburg 1892, repr. ND Amsterdam 1966; Alfred Baeumler, Das Irrationalittsproblem in der sthetik und Logik des 18. Jahrhunderts bis zur Kritik der Urteilskraft, Halle 1923. Repr. ND Tübingen 1967; Hans-Georg Juchem, Die Entwicklung des Begriffs des Schçnen bei Kant unter besonderer Bercksichtigung des Begriffs der verworrenen Erkenntnis, Bonn 1970; Ursula Franke, Kunst als Erkenntnis. Die Rolle der Sinnlichkeit in der sthetik des Alexander Baumgarten, Wiesbaden 1972. 78 Friedrich Schiller, ber Matthissons Gedichte. NA Bd. 22, Weimar 1958, 273 f.
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Größe“.79 Meine These könnte vielleicht brauchbar sein, um die logischepistemologische Tiefenstruktur des allgemein bekannten geistesgeschichtlichen Phänomens einer Ästhetisierung der Theologie bzw. einer Theologisierung der ästhetischen Form in der Moderne zu verstehen: da bei diesem Prozess die Ästhetisierung der theologischen Inhalte selbst erforderlich wird, kann die Übertragung göttlicher Attribute auf Kunstwerke nicht verwundern; Schiller misst der ästhetischen Idee geradezu eine Art ,potentia absoluta‘ bei. Nach Kant ist Schönheit der Ausdruck ästhetischer Ideen. Das proprium ästhetischer Erfahrung ist ein zwangloses Welt- und Selbstverhältnis in nicht-diskursivem Erkennen, durch das die innere Natur der Subjekte auf begrifflich-definitorisch und ,kategorial‘ unerreichbare Weise transparent und kommunikabel wird. Das Schöne wird zum Schema der Identität (der transzendentalen Einheit) der Subjekte (der Harmonie von Einbildungskraft und Verstand), indem der sie Erfahrende sich gerade auf sich selbst bezieht: durch die „produktive Einbildungskraft“ ohne Begriffe vorstellend (A 144). Ästhetische Ideen sind Schemata der Einheit der Subjektivität mit ,dem Anderen ihrer selbst‘ („was als das übersinnliche Substrat der Menschheit angesehen werden kann“, die „unbestimmte Idee des Übersinnlichen in uns“80), das übersinnliche Substrat aller Erscheinungen der Natur und des Menschengeschlechtes, dessen „Schema“ die Dichtung ist.81 Sie sind auch Schemata der Einheit eines Subjektes mit den anderen Subjekten. Die sich so einstellende kommunikative Identität der Subjekte ist mithin über eine Erfahrung gestiftet, deren Formcharaktere wiederum der visio beatifica gleichkommen: Es ist eine Erfahrung ohne alles Interesse; sie besteht in einem freien Spiel der Erkenntnisvermögen, die sich in diesem Spiel wechselseitig durchdringen; die Erfahrung ist zweckfrei („zweckmäßig ohne Zweck“), und sie ist sowohl begrifflos wie kommunikativ. Ebenso tragen der schöne Gegenstand wie auch der ästhetische Betrachter zumal die Form der Totalitt an sich.82 Hierin gründet auch die „formale Allgemeinheit“ der ästhetischen Urteile. Die auffällig „paradoxen“ Begriffspaare der Dritten Kritik sowie die ,Zwischenstellung‘ der hier thematischen Erfahrungen könnten, folgen wir unserer These, ebenfalls durch einen historisch-genetischen Blick zurück in die mittel79 80 81 82
Ebd. Immanuel Kant, Kritik der Urteilskraft, Akad.-Ausg. 242. Vgl., ebd., 215. Vgl. dazu die Analyse von Baeumler (Anm. 77), 288.
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alterliche und frühneuzeitliche Logik und Erkenntnistheorie besser verstanden werden. So formuliert etwa der conimbricensische Physikkommentar im expliziten Anschluss an Duns Scotus: „Id vero inde confirmat Scotus […] confusa autem cognitio quasi medium est inter ignorationem et inter notitiam distinctam.“83 Die ästhetischen Ideen vermögen es nach Kant, einer Darstellung von intellektuellen Ideen nahezukommen. Aufschlussreich sind hier Kants Beispiele: „Der Dichter wagt es, Vernunftideen von unsichtbaren Wesen, das Reich der Seligen, das Höllenreich, die Ewigkeit, die Schöpfung u. d.gl., zu versinnlichen.“84 Ästhetische Ideen als Schemata des Übersinnlichen (in uns und außer uns) vergegenwärtigen durch ihre (hypotypotische) Versinnlichung einer von Instrumentalität befreiten Erfahrung Vernunftideen in der Anschauung; und hier sind es transzendenttheologische Vernunftbegriffe aus dem Bereich der Proto- und Eschatologie. Des Weiteren aufschlussreich für unseren Zusammenhang ist Kants Lehre von der comprehensio aesthetica: so heißt das ästhetische Begreifen der „Zusammenfassung“ durch die Einbildungskraft zu einer gewissen Form; diese Komprehension der Einbildungskraft beschreibt Kant so: „die Zusammenfassung der Vielheit in die Einheit, nicht des Gedankens, sondern der Anschauung, mithin des Successiv-Aufgefaßten in einen Augenblick, ist […] ein Regressus, der die Zeitbedingung im Progressus der Einbildungskraft wieder aufhebt und das Zugleichsein anschaulich macht.“85 Die comprehensio aesthetica ist somit die Koinzidenz des Mannigfaltigen, der Vielheit, in der Einheit des Augenblicks und als solche das Wesen der Schönheit. Die Einbildungskraft fasst in dieser comprehensio das Mannigfaltige nicht in einen Begriff, sondern in ein Bild, welches Kant das Urbild, Archetypon oder ästhetische Idee nennt.86 Diese Idee entspringt, indem die produktive Einbildungskraft die Sukzessivität der reproduktiven Einbildungskraft aufhebt und so Simultaneität anschaulich macht. Somit ermöglicht sie die comprehensio aesthetica: die Einheit des Mannigfaltigen der Anschauung in einem Augenblick.87 Der Begriff der comprehensio nun war in der mittelalterlichen Diskussion um 83 Conimb., Phys., I, 1, 2, I. Vgl. den Art. „Distinct“, in: Etienne Gilsons Index Scholastico-Cartesien. 84 Immanuel Kant, Kritik der Urteilskraft, Akad.-Ausg. 194. 85 Ebd., 99. 86 Vgl., ebd., 207. 87 Bereits in der Kritik der reinen Vernunft ist eine Vorstellung im Augenblick als „absolute Einheit“ verstanden (A 99).
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die visio beatifica von ganz zentraler Bedeutung. Die negative Theologie etwa der areopagitischen Tradition hatte ja eine absolute Transzendenz Gottes und mithin seine völlige Unerkennbarkeit vorgegeben. Weder eine apophatische noch eine kataphatische Theologie ist demnach möglich, ja noch nicht einmal die Existenzaussage („Gott existiert“). Diese vielfältig, insbesondere trinitätstheologisch und kenotisch gemilderte absolute Transzendenz führte zu den Auseinandersetzungen um eine mögliche Unmittelbarkeit und auch Komprehensivität der Schau. Der Umgang mit transzendenten Begriffen brachte die mittelalterlichen Autoren in ständige Not, einer transzendentalen Dialektik zu entkommen. Einerseits soll die Schau das letzte und höchste Ziel sein, andererseits ist sie eigentlich unvorstellbar, oder nur vorstellbar mit letalem Ausgang – wäre sie nicht postmortal konzipiert. Es war wiederum, wie Hyacinthe Dondaine aufgewiesen hat88, Duns Scotus, der das Problem gesehen hatte. Gemäß ihm wird Gott nicht essentialiter geschaut, sondern in seiner Theophanie. In diesem Zusammenhang wird die comprehensio der Schau thematisch. Und wiederum ist es Thomas von Vercelli, der der visio den Status „clara et comprehensiva“ zumisst.89
5 Einige abschließende Bemerkungen sollen anregen, die Thematik bis in unsere Zeiten zu verfolgen. Hinzu kommen Hinweise auf mögliche Deutungen der hier vorgestellten Befunde – es wurde ja bislang nur eine These über einen begriffs- und systemgeschichtlichen Zusammenhang aufgestellt. Die exponierte faktische Filiation bedarf aber einer Deutung, die ich hier noch nicht zu geben vermag. Für Schopenhauer erfüllt sich das ,metaphysische Bedürfnis’ des Menschen nicht in der philosophischen Reflexion, sondern in der ästhetischen Erfahrung. (Er nimmt hier Carnap vorweg.) Die Kunstwerke zeigen anschaulich Ideen im Singulären, Individuellen. Sie ermöglichen so ein Hinausgelangen über die Gewaltverhältnisse der Welt, die Schopenhauer als „Wille zum Leben“ bezeichnet. Der Visio-Topos begegnet in Die Welt als Wille und Vorstellung im Bilde des „klaren und ewigen 88 Hyacinthe François Dondaine, „L’objet et le ,medium‘ de la vision béatifique chez les théologiens du XIIIe siécle“, in: Recherches de thologie ancienne et mdievale XIX, 1952, 60 – 130. 89 Vgl. dazu Dondaine. ebd., 124 ff.
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Weltauges“. Der Wille erlischt, und „wir sind nur noch da als das eine Weltauge, was aus allen erkennenden Wesen blickt, im Menschen allein aber völlig frei vom Dienste des Willens werden kann.“90 Das interesselose Wohlgefallen Kants steigert Schopenhauer emphatisch zur „Seeligkeit des willenlosen Anschauens“. Wieder und wieder setzt er der begrifflich-deutlichen Diskursivität die intuitive, simultane und totale, beruhigende Füllequalität ästhetischer Erfahrung entgegen. Bei der Bestimmung der Zeitlichkeit schließt er sich an eine gängige scholastische Definition der Ewigkeit an.91 Der Augenblick ästhetischer Erfahrung hat die Zeitstruktur simultaner Totalität, das Weltauge ist „gleichewig“ mit allen Augenblicken.92 Ohne die Kenntnis der Vorgeschichte dieser Denkweise wird nicht sichtbar werden können, wie traditionell eine solche ästhetische Metaphysik der Willensauslöschung ist. Adornos ästhetische Theorie trägt eschatologische Züge und lebt von hintergründig wirksamen Theologoumena, die unausgesetzt dementiert, verboten und „totgesagt“ werden. In der Form der Kunstwerke sieht er – ich folge Albrecht Wellmer – den Vorschein von Versöhnung, die „gewaltlose Synthesis des Zerstreuten“, die „gewaltlose Einheit des Vielen in einem versöhnten Zusammenhang alles Lebendigen“, „die gewaltlose Überbrückung der Kluft zwischen Anschauung und Begriff, zwischen Besonderem und Allgemeinem, zwischen Teil und Ganzem.“ Und nur dieser, den versöhnten Zustand in sich vorbildenden Gestalt kann berhaupt Erkenntnis zufallen; in diesem Sinn ist der Satz aus den Minima Moralia zu verstehen, dass „Erkenntnis kein Licht (hat), als das von Erlösung her auf die Welt scheint.“93 Noch in der Beschreibung ästhetischer Versöhnung in der Erfahrung von Musik kehrt die uns bekannte optische Metaphorik wieder: „Musik trifft es (sc. das Absolute, Th. R.) unmittelbar, aber im gleichen Augenblick verdunkelt es sich, so wie überstarkes Licht das Auge blendet, welches das ganze Sichtbare nicht 90 Arthur Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung. Erster Band, Leipzig 1891, 233. 91 Quod aeternitas non sit temporis sine fine aut principio successio; sed Nunc stans; i. e. idem nobis Nunc esse, quod erat Nunc Adamo: inter nunc et tunc nullam esse differentiam. Schopenhauer, ebd. 330. Er zitiert hier nach Thomas Hobbes, Leviathan. 92 Schopenhauer, ebd. 333. Das Weltauge ist unvergänglich. 93 Albrecht Wellmer, „Wahrheit, Schein, Versöhnung. Adornos ästhetische Rettung der Modernität“, in: Adorno-Konferenz 1983, Ludwig v. Friedeburg/ Jürgen Habermas (Hg.), Frankfurt a.M. 1983, 138 – 176, dort 142.
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mehr zu sehen vermag.“94 Erst der eschatologische Zusammenfall von ästhetischer Erfahrung und begrifflicher Diskursivität ergäbe die „wahre Sprache“, deren Idee nach Adorno „die Gestalt des göttlichen Namens“ ist.95 Wellmers Formulierung trifft diesen Sachverhalt: „Im aporetischen Zusammenhang von Kunst und Philosophie ist eine theologische Perspektive aufgehoben: Kunst und Philosophie entwerfen gemeinsam die Gestalt einer negativen Theologie.“96 Nach Michael Theunissen bleibt Adornos ästhetische Eschatologie einer metaphysischen Theologie bei aller Negativität verhaftet.97 Da ,das Absolute‘ jedoch nicht positiv gedacht und vergegenständlicht werden darf, „wird es immer kleiner“.98 Dies wird flagrant an Adornos Rezeption des Valéryschen Begriffs der apparition: In Erscheinungen blitzartig wahrnehmbarer und vergehender Schönheit – wie etwa Sternschnuppen oder Feuerwerke mit ihren bunt verglühenden Sternen sie darstellen – findet er ein ästhetisches Paradigma, welches hinreichend genug nicht ist, um als der Positivität unverdächtiges Relikt des Trostes der glücklichen Anschauung in den Kontext einer Ästhetik als negativer Theologie eingehen zu können. Der Augenblick der visio beatifica ist hier nur noch als blitzartiges Aufschönen-undschon-Verlöschen, als jähe Katastrophe, als Explosion, denkbar. Jedoch: „Noch das Verdampfen der ästhetischen Transzendenz wird ästhetisch; so mythisch sind die Kunstwerke gekettet an ihre Antithesis.“99 Zu Recht weist Theunissen darauf hin, wie nah Adornos Ästhetik einer kenotischen Christologie ist.100 Über Schönbergs Musik heißt es: „Alle Dunkelheit und Schuld der Welt hat sie auf sich genommen.“101 Auf Adorno mag demnach der Befund eines ästhetisierten Eschaton in der Immanenz zutreffen. In94 Theodor W. Adorno, Minima Moralia. in: Gesammelte Schriften. Bd. 4, Frankfurt a.M. 1980, 254. 95 Ebd., 252. 96 Wellmer (Anm. 93), 143. 97 Michael Theunissen, „Negativität bei Adorno“, in: Adorno-Konferenz 1983 (Anm. 93), 41 – 65, dort 60 f. Vgl. zu dieser Thematik auch: Thomas Rentsch, „Vermittlung als permanente Negativität. Der Wahrheitsanspruch der „Negativen Dialektik“ auf der Folie von Adornos Hegelkritik“, in: Christoph Menke/ Martin Seel (Hg.), Zur Verteidigung der Vernunft gegen die ihre Liebhaber und Verchter, Frankfurt a.M. 1993, 84 – 102. 98 Theunissen, ebd., 65. 99 Theodor W. Adorno, sthetische Theorie, Frankfurt a.M. 1973, 131. 100 Theunissen (Anm. 97), 60. 101 Theodor W. Adorno, Philosophie der neuen Musik, in: Gesammelte Schriften Bd. 12, Frankfurt a.M. 1975, 126.
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wieweit die negierte Erfüllungsstruktur der visionären Erkenntnis gerade in der formalen Struktur der Sprache Adornos dialektisch wirksam ist, kann hier nicht untersucht werden.102 Ich möchte zum Schluss einige Vorschläge im Blick auf die Frage nach einer möglichen Deutung der aufgewiesenen Filiationen machen. Hierzu ist es erforderlich, die interne system- und begriffsgeschichtliche Perspektive zu verlassen. Anthropologisch signifikant ist die Kontinuität der analysierten Bilder und Schlüsselvokabeln. Die konstante Metaphorik indiziert zumeist ein Leibfundament, hier das des Auges und des Sehens, des Lichtes. Könnte der von Hans Jonas akribisch beschriebene ,Adel des Sehens‘ zur Aufschlüsselung lebensweltlicher Fundamente so divergierender Konzeptionen wie der Theoria, der Ideenschau und der visio beatifica beitragen? Die Momente der Fülle und der Ferne (Distanz), der Korona, der Simultaneität und der dynamischen Neutralisation gestatten die Möglichkeit eines schmerzfreien Weltbezugs, der die bedrängende Aggressivität der Wirklichkeit aufhält.103 Damit kompatibel wäre die existential-analytische Interpretation der ästhetischen Ideen, die Oskar Becker vorgelegt hat: Mit Solger und Schelling sieht er im Entwurf des Kunstwerkes den Versuch der Überdeckung der leeren zukünftigen Zeitlichkeit durch die Fülle des Augenblicks. Der ekstatischen Erstreckung des vorlaufenden Daseins gegenläufig ist die Inständigkeit des Verweilens im Augenblick des Schönen. Indem in der Form dieses Augenblicks die „Einfaltung der ganzen Welt“ in die ästhetische Idee geschehe, werde die vulgäre Zeitlichkeit übersprungen; Kunst ermögliche somit augenblickliche Fülle als Gegenwurf zur zeitlichen Existenz, deren Kennzeichen „ihre Ruhe, ihr Unbedrohtsein von anderen ,Zeitgestalten‘“ sei.104 Der ,ewige Augenblick‘, das nunc stans der ästhetischen Idee ist jedoch hinfällig und vergeht: er ist gerade nicht von Dauer. Der Augenblick des Schönen garantiert als Entzeitlichung in der Zeit durch seine Fragilität gerade keine ständige Emanzipation aus der Zeit. Es ist hier zu fragen, ob nicht auch der ,Gegenwurf‘ der ästhetischen Idee gerade das Sichtbarmachen der Flüchtigkeit und Zerbrechlichkeit intendieren kann. 102 Vgl. dazu: Thomas Rentsch, „Die Negativität der Sprache. Bemerkungen zu Adorno und Wittgenstein“, in: Wittgenstein Studies I (1996). 103 Hans Jonas, „Der Adel des Sehens“, in: ders., Organismus und Freiheit. Anstze zu einer philosophischen Biologie, Göttingen 1973, 198 – 225. Vgl. v. a. 199 f. und 209 – 217. 104 Oskar Becker, „Von der Hinfälligkeit des Schönen und der Abenteuerlichkeit des Künstlers“, in: ders., Dasein und Dawesen. Gesammelte philosophische Aufstze, Pfullingen 1963, 11 – 40, dort, 36.
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Angesichts solcher anthropologischer Erwägungen ist jedenfalls mit Wittgenstein vor ,substanzialistischen‘ Deutungen geistesgeschichtlicher Befunde zu warnen. Auch bei den hier exponierten Rezeptionsprozessen handelt es sich um eine mögliche Darstellung, bei der wir bestimmte ,Familienähnlichkeiten’ zwischen mythischen, theologischen und philosophisch-ästhetischen Diskursen bemerken. Als sprachliche Gestalten des menschlichen Selbst- und Weltverhältnisses stehen diese nebeneinander, sind voneinander nicht ableitbar und auf einander nicht reduzibel. Mit Oswald Spengler können wir angesichts der visio-Thematik vielleicht von Pseudomorphosen sprechen105, von noch verwendeten alten, überkommenen Sprachmitteln, die gebraucht werden, um etwas Neues zu artikulieren. Spenglers Gesetz von der Trägheit der Ausdrucksmittel wäre hier für die Begriffs- und Systemgeschichte in Anwendung zu bringen. Es besagt: Das Neue und Heterogene muss und kann um willen seiner Verständlichkeit zu Zeiten eines Paradigmenwechsels zumeist nur in bereits alten Sprachgewändern gesagt werden. Der Antisubstanzialismus und Anti-Essentialismus ist aber kein Einwand gegen die hier aufgewiesene (logisch-erkenntnistheoretisch präzise erfassbare) Formgleichheit der unterschiedlichen Erfahrungsbegriffe. Wittgenstein selbst gehört zu den Autoren, die ich hier nicht behandeln konnte: „Das Kunstwerk ist der Gegenstand sub specie aeternitatis gesehen; […] Die gewöhnliche Betrachtungsweise sieht die Gegenstände gleichsam aus ihrer Mitte, die Betrachtung sub specie aeternitatis von außerhalb. So dass sie die ganze Welt als Hintergrund haben.“106
105 Oswald Spengler, Der Untergang des Abendlandes. Umrisse einer Morphologie der Weltgeschichte. 2. Bd., Welthistorische Perspektiven, München 151922, 227 – 282 (Kap III A. „Historische Pseudomorphosen“). 106 Ludwig Wittgenstein, Tagebcher 1914 – 1916, in: Schriften 1, Frankfurt a.M. 1969, 176 (Eintrag vom 7. 10. 1916).
Die Funktion der Einbildungskraft in Ästhetik und Religion Einbildungskraft, Imagination, Phantasie standen und stehen im Zentrum aller menschlichen Praxis. Die Fähigkeit, Bilder zu entwerfen, ist eine elementare menschliche Fähigkeit, die in die urgeschichtliche Frühzeit unserer Gattung zurückweist: auf die Höhlenmaler und die Felsbilder des Paläolithikums. In seinen Analysen zum menschlichen Sehen weist Hans Jonas auf diese archaische Schicht des Bildentwurfs hin, die so früh wie die Totenbestattung aufkommt.1 Die Vor- und Frühgeschichte zeigt uns den Bildentwurf als eine fundamentale Möglichkeitsbedingung der menschlichen Welt und kulturellen Praxis. Wenn wir uns heute mit der Funktion der Einbildungskraft in Ästhetik und Religion befassen, so müssen wir zunächst traditionelle, allzu schematische Vorstellung der Erkenntnistheorie, der Bewusstseinsphilosophie und auch einer statischen Topik und Architektonik verlassen und überwinden. Mit Wittgenstein gilt: Wir bewegen uns in einem komplexen Netz sprachlicher und nichtsprachlicher Sinnentwürfe, und inmitten dieser Sprachspielpraxen und im holistischen Kontext unserer Lebensformen können wir uns einzelne, auch fundamentale Phänomene der humanen Sinnwelt genauer vergegenwärtigen, ihr Wesen zu erfassen versuchen. Was für die menschliche Praxis und alle Formen ihrer Theoretisierung gilt, das gilt auch für die großen Überschriften „Ästhetik“ und „Religion“. Erst ein genaues Verständnis der eigenen Praxis kann uns einen Zugang zu künstlerischen und religiösen Sinnentwürfen eröffnen. Das Vorverständnis von Phänomenbereichen darf diese nicht schon ideologisch verstellen und verzerren. Falsche und oberflächliche Vorstellungen von Aufklärung und Moderne führten so eine Zeit lang zur Verdrängung und Tabuisierung religiöser, theologischer, mystischer und metaphysischer Fragen und Reflexionshorizonte in der Philosophie, und ebenso im alltäglichen Selbstverständnis aufgeklärter westlicher Lebens1
Hans Jonas, „Homo Pictor: Von der Freiheit des Bildens“, in: ders., Organismus und Freiheit. Anstze zu einer philosophischen Biologie, Göttingen 1973, 226 – 257.
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stile. Nach dem Ende dieser zeitbedingten Episode wird uns bereits seit längerem deutlich, dass die versuchsweise Verdrängung der existentiellen Tiefendimension nicht gelingen konnte. Es wird im Rückblick klar erkennbar: Ohne einen Bezug zur Transzendenz, zum Absoluten, zu Gott, zum Unbedingten lässt sich keine der bedeutenden Leistungen der Philosophie des 20. Jahrhunderts verstehen: Weder Wittgensteins Bezug zum Mystischen, noch Heideggers Andenken des Seins, weder Adornos Reflexion des Nichtidentischen noch Derridas Denken der Differenz.2 Fergus Kerr hat in seinen Stanton Lectures auf überzeugende Weise herausgearbeitet, dass Ansätze moderner Philosophie ganz grundsätzlich eine theologische Sub- und Tiefenstruktur aufweisen.3 Ebenso ist im Alltagsleben moderner westlicher Gesellschaften die Hinwendung zu vielfältigen Formen religiöser Praxis zu beobachten. Es gilt, die komplexen Übergänge von Minimalformen eines wenig bewussten Transzendenzverständnisses zu expliziten Formen eines religiös aufgeklärten Selbstbewusstseins ebenso erkennbar zu machen wie die Übergänge von scheinbar völlig profanen Praxen zu quasi-religiösen Sinnentwürfen und zu Formen kultisch-ritueller Selbstverständnisse, von enthusiastischer Verehrung und Idealisierung z. B. in Sport, Musik, Film und Unterhaltungsindustrie. Welche normativen Identitäts- und Lebensverständnisse bilden spätmoderne Gesellschaften aus? Wie verhalten sich diese Verständnisse zur Wirklichkeit des Lebens, zu Schuld, Scheitern und Einsamkeit, zu Liebe und Tod? Für eine kritisch-hermeneutische Philosophie gilt bei der Analyse dieser Fragen: Auch eine oberflächliche Gleichgültigkeit, ein zynischer Nihilismus und selbst das Nichtmehrbemerken des Fehlens lebenstragender, sinnstiftender Orientierungen, lassen sich ex negativo nur durch den vergangenen, verlorenen, vergessenen oder verdrängten Hintergrund normativer Lebenssinnentwürfe verstehen. Schließlich ist durch die weltgeschichtliche Entwicklung der Jahrtausendwende, der Erneuerung des islamischen wie christlichen Fundamentalismus als politisch-religiöser Legitimationsideologien sowie vielfältiger Formen religiösen Irrationalismus die Frage nach einem philosophisch reflektierten Verständnis religiöser und theologischer Grundprobleme erneut ins Zentrum gerückt. Das heißt: Ohne explizite philosophisch-theologische Verständnisbildung lässt sich weder die Ge2 3
Vgl. dazu: Thomas Rentsch, Gott, Berlin/New York 2005, v. a. 173 – 188. Fergus Kerr, Immortal Longings, Versions of Transcending Humanity, Notre Dame (Indiana) 1997.
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genwart des Religiösen begreifen, noch lässt sich ihr Verhältnis zu ästhetischen Gestaltungen und Erfahrungen bestimmen. In einem ersten Schritt will ich daher Potentiale der ästhetischen wie religiösen Einbildungskraft für die Genese der okzidentalen Vernunft selbst historisch wie systematisch bestimmen. Im zweiten Schritt werde ich systematisch und praktisch-philosophisch Möglichkeiten einer produktiven und fruchtbaren Fortentwicklung der freigelegten Potentiale für die Zukunft einer menschlichen Vernunftkultur aufweisen.
1 Nietzsche schreibt, am Beginn des Abendlandes stünde der Tod zweier Männer – Sokrates und Jesus. Pointiert und nach Kant und Hegel müssen wir erneut begreifen, dass und wie die erkenntniskritischen Potentiale, die zu Neuzeit und Aufklärung und zur Moderne führten, sehr tief und früh in der Genese der okzidentalen Rationalität angelegt waren und dass sie – das weist uns bereits auf die Zukunft – noch keineswegs abgegolten sind. Ein reflexivwerdendes Selbstbewusstsein der Grenzen der menschlichen Erkenntnis führt in der Phase der Urstiftungen (Husserl) der europäischen Vernunft zu deren kritischer Bestimmung. Wesentliche Quellen dieses Bewusstseins sind das biblische Bilderverbot, das sokratische Nichtwissen und die christlich-platonisch sich entfaltende negative Theologie. Diese Paradigmen der Negativitt konstituieren die okzidentale Vernunftgeschichte von ihren Grenzen her.4 Sie stehen also nicht stets im Zentrum, sondern sie können und müssen in Erinnerung gerufen und kritisch eingesetzt werden, wo andere menschliche Praxisformen – z. B. Religion, Wissenschaft oder Politik – sich an die Stelle des Absoluten, an die Stelle der Transzendenz Gottes setzen wollen. Dieses geheime Zentrum der Negativität ist wie ein blinder Fleck, von dem her die Ausdifferenzierungs- und Freisetzungsprozesse möglich werden und gelingen, die auch für den Siegeszug und Welterfolg von Wissenschaft, Technik und praktizierter Verstandestätigkeit verantwortlich sind. Erst ein reflexiv gewordenes Transzendenzverstndnis, das heißt auch: ein Erkennen dessen, was wir nicht erkennen können, setzt die kreativen Entwurfspotentiale der Einbildungskraft so frei, dass sie zu befreienden Potentialen werden können und nicht zu mythischen Zwangssystemen 4
Vgl. dazu: Thomas Rentsch, Negativitt und praktische Vernunft, Frankfurt a.M. 2000.
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verhärten. Erst die Erkenntnis der Unverfügbarkeit und Entzogenheit der Wirklichkeit des Absoluten ermöglicht ineins und zugleich die vernünftige Selbsterkenntnis, die Erkenntnis meiner selbst als different von allem anderen in der Welt, die Erkenntnis schließlich der Differenz aller menschlichen Bildentwürfe und sprachlichen Unterscheidungen von der letztlich unerkennbaren Wirklichkeit. Die Unerkennbarkeit Gottes setzt im biblischen Bereich die geschichtliche, ethisch bestimmte Freiheitspraxis des Volkes Israel frei. Im griechischen Bereich setzt das Wissen des Nichtwissens die gemeinsame ethische Praxis sowie die Bereiche der Logik und der Wissenschaften frei, die nur in den Grenzen ihrer Mçglichkeiten weiter zu entwickeln sind. Während es Logik und Wissenschaften mit lösbaren Problemen zu tun haben, haben es Tragödie und Lyrik mit das menschliche Maß übersteigenden, unlösbaren Rtseln und Geheimnissen zu tun, die vor Augen zu stellen, zu vergegenwärtigen sind. Sie haben es – wie die Mythen – mit der uneinholbaren Tiefe unserer inneren Natur als dem unverfügbaren Grund geschichtlicher und individueller Katastrophen zu tun. Die Verflochtenheit und die Differenz religiöser und ästhetischer Bildentwürfe und eines korrespondierenden, freisetzenden Transzendenzverständnisses wird exemplarisch deutlich, wenn wir die Reflexion auf Imagination und Einbildungskraft bei scheinbar sehr weit von einander entfernten Autoren wie dem frühchristlichen Mystiker Dionysios Areopagita einerseits, bei Immanuel Kant andererseits miteinander vergleichen. Dabei kommt der Kontinuität einer Metaphysik des Schönen und deren strukturellen Bestimmungen besondere Bedeutung zu. Basis der Analyse der Phantasie ist bei Dionysios seine negative Theologie.5 Die bejahende Theologie kann zwar schöne Bilder der Phantasie entwerfen, die sich an der Materie orientieren; diese Bilder sind „Nachklänge“ (apechemai) der geistigen Schönheit, die selber unsichtbar bleibt.6 Sie haben zwar wie alles Seiende teil am Göttlichen, aber sie können Gott in seiner Übersinnlichkeit nicht sinnlich und bildlich fassen. Die negative Theologie zeigt diese konstitutive Differenz aller Phantasiebilder zum wahrhaft Göttlichen auf: alle Bilder sind unähnlich (anhomoios) und unpassend. Das heißt: Es geschieht eine Freisetzung und Legitimation aller Bildentwrfe, und zwar gerade auf der Basis einer fundamentalen Bildkritik, und diese Kritik hat ein radikales Transzendenzverstndnis 5 6
Vgl. dazu: Thomas Rentsch, Artikel „Theologie, negative“, in: Historisches Wçrterbuch der Philosophie Bd. 10, Basel/Stuttgart 1998, 1102 – 1105. Ps.-Dionysius, De Coel. Hierarch. II, 4. Migne 15, Sp. 144.
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zu ihrer Grundlage. Die Bilder, so gelungen sie auch sein mögen, haben letztlich nur die Funktion, die Einsicht zu vermitteln, dass Gott nur jenseits aller Bilder zu verstehen ist. Die Theologie absoluter Transzendenz und Unerkennbarkeit Gottes ermöglicht und begrenzt zugleich den freien Bildentwurf. Explizit unterstreicht Dionysios, dass es völlig verfehlt sei, wenn der Phantasie vorgeworfen werde, „dass wir uns sinnlich an den Erdenstaub und die Gemeinheit der Bilder heften“.7 Die Bilder der Phantasie sind vielmehr mit „Fug und Recht“ vor das Bildlose gewoben.8 In dieser für das Abendland bestimmenden Konzeption sind die „Bilder des Bildlosen“ (ta schemata ton aschematiston) 9 eine Sinngrenze, die den bildlosen Gott vor einem dessen Transzendenz depotenzierenden und verdinglichenden Zugriff ebenso schützt, wie sie den Einsichtigen zum „Transzendieren des Gegebenen“ freisetzt. In dieser Reflexion ist bereits eine kulturkonstitutive Urstiftung und Weichenstellung erfolgt, die, recht verstanden, bis in die Neuzeit und die Moderne und Postmoderne reicht, und die bis heute unabgegolten ist. Die ästhetische Dimension erhält eine erkenntniskritisch wohldurchdachte, die Phantasie freisetzende Funktion der Transzendenz in der Immanenz; die radikal negative Theologie des Absoluten ist es, die die Grundstruktur des menschlichen Selbst- und Weltverhältnisses in einer Anwesenheit des Abwesenden, somit in einer uneinholbaren Differenz verortet. Dabei ist für unsere Thematik besonders hervorzuheben, dass die ästhetische mit der religiösen Transzendenzdimension in diesem Ansatz erkenntniskritisch strukturell verklammert wird. Wir werden sehen, dass diese Verklammerung bis in die Spätmoderne erhalten bleibt. Besonders zu akzentuieren ist angesichts der negativ-theologischen Phantasiereflexion des Dionysios, dass es gerade die uneinholbare Transzendenz Gottes ist, die der Freisetzung der Phantasie, der Bildentwurfspraxis „einen geradezu universalen Spielraum“ einräumt. Dionysios setzt explizit nicht nur schöne Bilder frei, die per analogiam auf die überschöne, überseiende Transzendenz Gottes verweisen, sondern „schlechthin alle Bilder“, auch die neutralen, weder schönen noch hässlichen, und auch „die ausgesprochen abstoßenden Darstellungen“.10 Eine Ästhetik des Hässlichen, die Rosenkranz 1853 7 Ebd., Migne 12, Sp. 140. 8 Ebd., Migne 12, Sp. 140. 9 Ebd., 4. Migne 14, Sp. 141/44. Vgl. dazu auch: Barbara Ränsch-Trill, Phantasie. Welterkenntnis und Welterschaffung. Zur philosophischen Theorie der Einbildungskraft, Bonn 1996, 70 – 85. 10 Ränsch-Trill, Phantasie, 82.
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erstmals erneut zu thematisieren unternahm, wird von Dionysios erkenntniskritisch im 5./6. Jahrhundert fundiert. Die hässlichen Bilder „stacheln“ die Seele nämlich auf, ihre Ferne zum Göttlichen zu bemerken. Die Phantasie wird somit freigesetzt zur Universalitt des Bildentwurfs unter dem Vorzeichen einer radikal negativen Theologie des Absoluten. Die Präfiguration neuzeitlicher und moderner Konzepte der Erkenntniskritik, der Ästhetik und einer kritischen Transzendenzreflexion in diesem Ansatz sind evident, vor allem, wenn wir seine strukturelle, systematische Basis fern genug von ihrem Ursprung betrachten. Hinzu kommt der metaphysische, neuplatonistische Totalitätsbezug des Ansatzes, der von den Grenzen des Seins her das innerweltliche Transzendieren des Menschen in Religion und Kunst thematisiert. Das Schöne wie auch seine defizienten Modi werden als authentische menschliche Weltverhältnisse gedacht, die letztlich auf Unsagbares verweisen, das gerade in seiner Abwesenheit auf entzogene, unverfügbare Weise anwesend ist. Diese Negativittsperspektive sthetischer Transzendenz ist, so zeigt die spätere Entwicklung, in gewisser Weise unüberbietbar. Der Mangel an Sinn, des Fehlen von Fülle, die Destruktion von Ganzheit, Nichtigkeit und Marginalität – sie alle sind als Gestalten ästhetischer Einbildungskraft mit dieser Konzeption vereinbar. Dies gilt verstärkt, wenn wir die christologische Ikonologie des Kreuzestodes Gottes im Zentrum der abendländischen Kunst hinzunehmen. Als leiblich-materiale Konkretion und bildgewordene Immanenzwerdung der Transzendenz zeigt sie auf unüberbietbare Weise die von Dionysios metaphysisch wie mystisch bewusst reflektierte Dialektik von Negativität, Transzendenz und Sinn- bzw. Bildentwurf. Über die fundamentalen Topoi der Unerkennbarkeit, der Abwesenheit in aller Anwesenheit und der begrifflichen Uneinholbarkeit und Unsagbarkeit gehen die negativen Konstituentien mystischer Theologie und Ästhetik in die neuzeitliche philosophische Schönheitsreflexion ein. Es lässt sich zeigen, dass gerade die strukturellen Konstituentien der ehemals eschatologisch – jenseitig gedachten Schau Gottes wie auch die Struktur mystischer Transzendenzerfahrung in der Gegenwart des ewigen Nun, des ewigen Augenblicks, dass gerade diese strukturellen Konstituentien religiös emphatisch ausgezeichneter Erfahrung und Vorstellung die Strukturen ästhetischer Erfahrung präfigurieren, die in den großen
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Ästhetiken seit Baumgarten und Kant bis zu Adorno und Lyotard reflexiv und normativ herausgebildet werden.11 Dieser Befund, der sich in Analysen zur transzendentalen pulchritudo in der mittelalterlichen Ästhetik und in Analysen zur Bedeutung der Erkenntnistheorie des Duns Scotus für die Entstehungsgeschichte der philosophischen Ästhetiken des 18. Jahrhunderts detailliert bestätigen lässt, führt zur Freilegung folgender sich durchhaltenden strukturellen Konstituentien, die auch die Kantsche Analyse der Einbildungskraft prägen und die ich der Kürze halber als Konstituentien der immanenten Transzendenzerfahrung bezeichne. Es sind die Strukturmomente 1. der Sinnantizipation, des – wie auch immer gebrochenen – Glücksund Erfüllungscharakters dieser Erfahrung; 2. der antizipierten Ganzheitlichkeit, des Totalitätsbezugs dieser Erfahrung bei aller Fragilität und Fragmentarizität; 3. der damit verbundenen Nichtinstrumentalität und Selbstzweckhaftigkeit dieser Erfahrung; 4. der Besonderheit, der tendenziellen Singularität und Einzigartigkeit dieser Erfahrung, damit verbunden 5. ihr Plötzlichkeits-, Augenblicklichkeits- und ihr Bruchcharakter; 6. der gestaltete, geformte Charakter der Erfahrung, der auf die kommunikative Selbsttransparenz der an ihr beteiligten Subjekte ausgerichtet ist.12 In Kants Theorie der ästhetischen Ideen in der Kritik der Urteilskraft werden diese Strukturmomente als kreative Potentiale der produktiven Einbildungskraft herausgearbeitet. Sinnantizipation, antizipierte Ganzheitlichkeit, Selbstzweckhaftigkeit, Einzigartigkeit, Augenblicklichkeit und kommunikative Selbsttransparenz der Subjekte bilden ein in der ästhetischen Erfahrung des Schönen und des Erhabenen auf komplexe Weise gleichursprüngliches Gefüge von Strukturmomenten, die alle in
11 Vgl. dazu: Thomas Rentsch, „Der Augenblick des Schönen. Visio beatifica und Geschichte der ästhetischen Idee“, in diesem Band. 12 Vgl. dazu: Thomas Rentsch, „Ästhetische Anthropomorphie. Die Konstitution des Schönen und die transzendental-anthropologische Bestimmung thaumatisch-auratischer Weltverhältnisse“, in: Franz Koppe (Hg.), Perspektiven der Kunstphilosophie. Texte und Diskussionen, Frankfurt a.M. 1991, 27 – 35; ders., „Strukturen ästhetischer Erfahrung“, in diesem Band; ders., „Wie lässt sich Angemessenheit ästhetisch denken?“ in diesem Band.
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dieser Erfahrung freigesetzt werden und so mit Kants Worten ins Spiel kommen. Die Freisetzung nennt Kant das In-Schwung-versetzt werden.13 Der Rahmen gestattet es nicht, die innere Differenziertheit dieser antizipierenden Totalitätserfahrung in ihren vielfältigen Modi zu entfalten. Hier ist für unsere Thematik nur folgendes wichtig: Bereits bei Dionysios, aber auch noch bei Kant sind die Züge der Universalitt und der Negativitt der durch die freien Bildentwürfe eröffneten Erfahrung unverkennbar. Universalität freier Transzendenzerfahrung in der Immanenz besagt: Es gibt keine inhaltlichen, materialen Einschränkungen derjenigen Erscheinungen, die zu Paradigmen dieser antizipierend-transzendierenden Erfahrung werden können. Es kann ein kleiner Stein sein, der Flug eines Vogels, es kann ein kurzer Augenaufschlag sein, ein Klang, und es können beliebig komplexe sinnliche Gestaltungen in allen Künsten sein, deren der Mensch fähig ist: eine Skulptur und Komposition, Malerei und Dichtung, aber auch eine Natur- und Selbsterfahrung. Entscheidend ist neben dieser Universalität immanenter Transzendenzerfahrung deren strukturell konstitutive Negativitt: Immer wieder betont Kant in seinen Analysen die begrifflich, sprachlich unerreichbare Tiefe, Ferne und Fülle der entworfenen wie entzogenen Bildlichkeit, die die produktive Einbildungskraft erschließt. Negativität, Unsagbarkeit, ineffabilitas waren auch die Charakteristika der negativ-theologisch und mystisch ausgewiesenen, vertieften Transzendenzerfahrung bei Dionysios und in der mittelalterlichen Mystik. So fern Kant explizit dem direkten Anschluss an diese Tradition auch steht – es ist gerade daher besonders wichtig und aufschlussreich, wie nah seine systematische Konzeption dieser Tradition tatsächlich ist. Der Bezug der ästhetischen Erfahrung und der produktiven Einbildungskraft auf Metaphysik und Religion und damit auf Grenze und Grund der menschlichen Welt ist systematisch eindeutig: Sie dient der Versinnlichung von Vernunftideen und mit ihnen verbundener fundamentaler Menschheitserfahrungen, so Kant zufolge Seligkeit und Ewigkeit, Liebe und Tod (KU 194). Ästhetische Formgebung versucht, diese Ideen und die mit ihnen verbundenen existentiellen Grunderfahrungen vermittels der Einbildungskraft „über die Schranken der Erfahrung hinaus“ „sinnlich zu machen“ (KU 194 f.). Mit dieser existentiellen wie metaphysischen Tiefendimension ästhetischer Erfahrung ist eine innere, versinnlichte Form von Unendlichkeit verbunden. Die ästheti13 Immanuel Kant, Kritik der Urteilskraft, Akad.-Ausg., ND, Berlin 1968, Band V, § 49, 192 (ab hier wird die Randzählung dieser Ausgabe im fortlaufenden Text zitiert).
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sche Idee „eröffnet […] die Aussicht in ein unabsehliches Feld verwandter Vorstellungen“ (KU 195), die „keine Sprache völlig erreicht“ (KU 192 f.), sie ist eine Vorstellung der Einbildungskraft, die „in dem freien Gebrauche der selben […] viel Unnennbares hinzu denken lässt“ (KU 197). Es ist bezeichnend, dass Kant genau in diesem Kontext einen emphatischen Geistbegriff durchaus pneumatologischer Konnotation verwendet: „Geist in ästhetischer Bedeutung heißt das belebende Prinzip im Gemüt“ (KU 192). Er antizipiert eine innere Unendlichkeit in versinnlichter Vernunftperspektive – das Bild der unsagbaren Einzigkeit der Welt in ihrer unendlichen Konkretion. Im Schillerjahr ist es besonders passend, Schiller als Kant-Schüler in diesem Zusammenhang zu zitieren. In seiner Schrift über Matthissons Gedichte schreibt er im Anschluss an Kant: „(D)arin liegt das Anziehende solcher ästhetischen Ideen, dass wir in den Inhalt derselben wie in eine grundlose Tiefe blicken“. Denn ihr „möglicher Gehalt“ sei „eine unendliche Größe“.14 Eine nochmalige Präzisierung der Struktur der solchermaßen gefassten immanenten Transzendenzerfahrung und der inneren Unendlichkeit der Wirklichkeit in ihrer Tiefe erreicht Kant durch seine Lehre von der comprehensio aesthetica, der ästhetischen Verdichtung. Comprehensio aesthetica heißt das ästhetische Begreifen der Zusammenfassung durch die Einbildungskraft zu einer individuierten Form, deren außergewöhnliche Zeitstruktur Kant so beschreibt: Die Komprehension der Einbildungskraft als „die Zusammenfassung der Vielfalt in die Einheit, nicht des Gedankens, sondern der Anschauung, mithin des Successiv-Aufgefassten in einen Augenblick, ist […] ein Regressus, der die Zeitbedingung im Progressus der Einbildungskraft wieder aufhebt und das Zugleichsein anschaulich macht“ (KU 99). Die neuplatonische Analyse von ekstatischer Fülle (pleroma) im Augenblick der mystischen Einung (Henosis) weist eine analoge Struktur auf.15 Zweifellos akzentuiert noch Kant ein existentielles Transzendenzverständnis, wenn er die Aktivität der Einbildungskraft als „eine verborgene Kunst in den Tiefen der menschlichen Seele“ bezeichnet, „deren wahre Handgriffe wir der Natur schwerlich jemals abrathen und sie unverdeckt
14 Friedrich Schiller, ber Matthissons Gedichte, NA Bd. 22. Weimar 1958, 273 f. Vgl. zu Kant und Schiller auch: Hans Feger, Die Macht der Einbildungskraft in der sthetik Kants und Schillers, Heidelberg 1995. 15 Vgl. zu Plotin: Thomas Rentsch, „Strukturen ästhetischer Erfahrung“, a.a.O.
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vor die Augen legen werden“.16 Noch bis zu Wittgenstein reicht das bislang aufgewiesene, ästhetische wie religiöse Transzendenzverständnis, wenn er schreibt: „Das Kunstwerk ist der Gegenstand sub specie aeternitatis gesehen; […] Die gewöhnliche Betrachtungsweise sieht die Gegenstände gleichsam aus ihrer Mitte, die Betrachtung sub specie aeternitatis von außerhalb. So daß sie die ganze Welt als Hintergrund haben“.17 In meiner kurzen Darstellung bin ich auf die außergewöhnlich reichhaltigen Befunde im Deutschen Idealismus nicht eingegangen. Es sei nur – neben der Bedeutung der intellektuellen Anschauung für Schelling und die innere Unendlichkeit des Individuums bei Hegel als offenbares Geheimnis und Zentrum des Christentums und der religiösen Vernunft – auf Fichte hingewiesen. Genau aus den skizzierten Gründen konzipiert er 1792 eine Offenbarung a priori. In ihr kann das Moralgesetz „durch eine Kraft des Gemüths an die Seele gebracht werden, welche von der einen Seite sinnlich […], von der anderen durch Freyheit bestimmbar ist, und Spontaneität hat“: durch die produktive Einbildungskraft, die als „wunderbare(s) Vermögen“ auf der Grenze zwischen den scheinbar unvereinbaren Gegensätzen der Sinnlichkeit und des Absoluten diese doch beide „zugleich fest“ hält, zwischen beiden „schwebt“, beide „berührt“, so „wieder von ihnen zurückgetrieben“ wird, so dass sie die „Möglichkeit […] unsers Lebens, unsers Seyns für uns“ ist.18
2 Was ergibt sich systematisch aus der Kontinuität der Struktur dieser Befunde von Platon und Dionysios bis zu Kant und Wittgenstein? Jörg Hermann wies bereits in seiner Analyse der Entsprechung von mystischer und ästhetischer Erfahrung darauf hin, dass auch die postmoderne Ästhetik Lyotards das Erhabene als plötzliches Ereignis des Bildes bestimmt. So ist das Thema der Bilder von Barnett Newman „der Augenblick, der 16 Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft, Akad. Ausg., ND Berlin 1968, Band III, 180 f. (Randzählung). 17 Ludwig Wittgenstein, Tagebcher 1914 – 1916, in: Schriften 1, Frankfurt a.M. 1969, 176 (Eintrag vom 7. 10. 1916). 18 Johann Gottlieb Fichte, Gesamt.-Ausg. der Bayer. Akad. d. Wiss. Bd. I/1, 68 und Bd. I/2, 353 – 369; s. auch: Karl Homann, Artikel „Einbildung, Einbildungskraft“, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie Bd. 2, Basel/Stuttgart 1972, 346 – 358.
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geschieht“ und so „das Mysterium des Seins“.19 Mit Bezug auf Derrida ließe sich gerade im Blick auf seine letzten religionsphilosophischen Texte zu Kant zeigen, dass die antizipierende Erfahrung von Spuren des Absoluten in ihrer ständigen Ferne und Entzogenheit geradezu die Grunderfahrung seines Denkens ist.20 Meine systematische Antwort auf die Frage nach Identität und Differenz von ästhetischer und religiöser Sinnerfahrung und Bildlichkeit lässt sich zunächst so formulieren, dass ein vertieftes und reflexiv gewordenes Welt- und Selbstverständnis ohne Transzendenzdimension nicht zu haben ist. Mit dem Bewusstsein der Antizipation des Absoluten in der Endlichkeit und Wirklichkeit der sinnlichen Welt geht die Genese eines tendenziell radikalen Negativitätsverständnisses einher: das Absolute ist unverfügbar, entzogen und unfassbar, und gerade so setzt es die innere Unendlichkeit der Wirklichkeit für das formende Bewusstsein des Menschen frei. Die Aspekte der Tiefe, der Ferne, der Fülle und Grundlosigkeit der Wirklichkeit unter Einschluss unserer eigenen Natur als Individuen, als Wesen innerer Unendlichkeit sind für die religiöse Vernunftperspektive ebenso konstitutiv wie für die sinnliche Erfahrung und Gestaltung des Schönen und seiner Abwesenheit. Die Einbildungskraft wird in den für die Genese der okzidentalen Kultur grundlegenden Paradigmen vom Platonismus bis zu Kant und zur Postmoderne als Schnittstelle von Transzendenz und Immanenz gedacht, als Schnittstelle von Praxisende und Hoffnung. Die bereits herausgearbeiteten, vernunftkonstitutiven Aspekte der Negativität und der Universalität der durch die Einbildungskraft ästhetisch wie religiös erschlossenen immanenten Transzendenzerfahrung verhelfen uns zur Bestimmung ihrer Bedeutung für die Gegenwart. Erstens müssen wir dazu ihren Alltags- und Lebensbezug begreifen. Zweitens müssen wir ihre praktische und politische Bedeutung auch in weltgeschichtlicher und interkultureller Hinsicht ausloten. Die Sinnentwürfe des immanenten Transzendierens sind aufgrund der kreativen Potentiale der menschlichen Einbildungskraft sprachlich und bildlich von 19 Jörg Herrmann, „Wir sind Bildhauern gleich. Von der Verwandlung mystischer in ästhetische Erfahrung“, in: ders. u. a. (Hg.), Die Gegenwart der Kunst (Anm. 12), 87 – 105, dort 87. Zitiert wird Jean-François Lyotard, „Das Erhabene und die Avantgarde“, in: ders., Das Inhumane, Plaudereien ber die Zeit, Wien 1989, 159 – 187, dort 165. 20 Jaques Derrida, „Glaube und Wissen. Die beiden Quellen der ,Religion’ an den Grenzen der bloßen Vernunft“, in: ders./ Gianni Vattimo, Die Religion, Frankfurt a.M. 2001, 9 – 106. Vgl. dazu Thomas Rentsch, Gott, 184 – 186.
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unendlich komplexem Gestaltungsreichtum, sowohl diachron wie synchron. Sie sind Formen der Anwesenheit des Abwesenden, Formen der Selbstbewusstwerdung des Anderen unserer selbst. Eine Grundform ästhetischer Transzendenz ist die beglückende Erfahrung von Selbst und Welt im Medium des Schönen. Eine Grundform religiöser Transzendenz ist die Hoffnung auf Heil und Erlösung und die Antizipation dieser rettenden Ereignisse hier und jetzt – die Sehnsucht nach dem Ganz Anderen. Für die gegenwärtige Reflexionssituation der Philosophie ist es nötig und möglich, künstliche Scheinoppositionen von partialen künstlerischen und religiösen Praxen zu überwinden. Wir können gerade so einen interkulturellen und intrakulturellen Gradualismus und Differentialismus der Ausdrucksformen der Transzendenz auf lebensweltlichem Fundament erreichen. Nur ein Beispiel: Eine Wüstenlandschaft mit ihren Qualitäten der Reinheit, Klarheit, Leere, Stille, Zeitlosigkeit, Weite, Tiefe, Ferne, der hellen Lichtdurchflutetheit und Endlosigkeit vermag im ästhetischen Umgang kontrafaktisch als eine Erfüllungsgestalt humaner Bedürftigkeit erscheinen. Die Wüste war auch Ort grundlegender Gottesbegegnungen, ebenso Geburtsort vieler mystischer Traditionen, die sich im frühen Wüstenmönchstum ausbildeten. Die skizzierten Formaspekte der spezifischen Sinnlichkeit der Wüstenerfahrung finden sich aber ebenso in vielen modernen Kunstwerken. Das universale lebensweltlich-alltägliche Fundament der ästhetischen Transzendenz und Einbildungskraft ist der menschliche Leib als der Ort der Synthese von Sinn und Sinnlichkeit. Der Leib ist die wahrhaft ekstatische Mitte der menschlichen Welterfahrung, in der deren naturaler Grund und deren kommunikatives Wesen sich vereinen und durchdringen. Die sublimierten und subjektivierten Modi der epistemischen Rekonstruktion des Ästhetischen erscheinen so noch als Verdeckungen des Leibes und der lebensweltlichen Sinnlichkeit. Subjekttheoretische Ästhetik stellt nur eine extrem partiale Sondervariante des universalen Gestaltgebungsproblems dar. Im Blick auf den fundamentalen Aspekt der lebensweltlichen Bedeutung ästhetischer Transzendenz ließe sich Schönheit neu denken im Kontext praktischer Vernunft: als die verantwortliche Gemachtheit unserer eigenen Lebensumstände unter Einschluss der Verhässlichung der Welt und der Unwirtlichkeit der Städte; als die Ganzheit der in natürliche Kreisläufe eingebetteten Praxis auch des Atmens, des Gehens, der Geschwindigkeiten, des Geräuschpegels, des Wohnens, des Essens; als die Einmaligkeit und Kostbarkeit verletzlicher leiblicher Individuen in ihrer Naturhaftigkeit, Materialität und Endlichkeit; als die Fragilität des durch Alter und Tod bedrohten Organischen und als der selbstzweckhafte
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Teloscharakter sinnlich-bedürftiger, endlicher, Sinn und Erfüllung antizipierender Wesen.21 Ebenso ist zweitens die universale, weltgeschichtliche Dimension der religiösen Transzendenzperspektive praktisch zu begreifen. In vielen philosophischen Ansätzen der Moderne wurde die Reflexion der Phantasie, der Imagination und der produktiven Antizipationsfähigkeit zentral und verband gerade ästhetische und religiöse Aspekte, und dies, weil sie praktisch und politisch weiter gedacht wurden. Ernst Bloch hat in seinem Prinzip Hoffnung das Bewusstsein des Noch-Nicht, Phantasie und Utopie als konstitutiv für die Befreiungsgeschichte der Menschheit analysiert. Robert Musil hat die Kategorie der Möglichkeit ins Zentrum seines Romans „Der Mann ohne Eigenschaften“ gestellt. Sartre hat Formen des Imaginären, Abwesenheit und Nichtung zur Grundlage seines Existentialismus der Freiheit gemacht. Benjamin hat die humanen und revolutionären Sinnpotentiale der Erinnerung und der anamnetischen Solidarität mit der Leidensgeschichte der Menschheit als „Eingedenken“ als Grundlage seines kritischen Denkens entfaltet. Marcuse hat die Potentiale der Phantasie in revolutionärer Perspektive auf Freiheit und Glück einer zukünftigen Gesellschaft bezogen. Noch die negativistische Variante dieses Transzendenzdenkens bei Adorno steht eindeutig in der von mir rekonstruierten Tradition: „Ist in den Kunstwerken alles und noch das Sublimste an das Daseiende gekettet, dem sie sich entgegenstemmen, so kann Phantasie nicht das billige Vermögen sein, dem Daseienden zu entfliehen, indem sie ein Nichtdaseiendes setzt, als ob es existierte. Vielmehr rückt Phantasie, was immer die Kunstwerke an Daseiendem absorbieren, in Konstellationen, durch welche sie zum Anderen des Daseins werden, sei es auch allein durch dessen bestimmte Negation“.22 Einbildungskraft sprengt so bis in die Reflexion der Moderne verdinglichte und reduktionistische Weltverständnisse. Sie sensibilisiert für das Ferne, Fremde und Andere, das wir in Wahrheit selber sind. Sie macht das Andere unserer Selbst zu konkreten Gestalten, zu Klängen, Formen und Sprachen. Gerade im Prozess der Globalisierung, der Multimedialisierung, der Enttraditionalisierung, der Pluralisierung und der interkulturellen Öffnung zur Weltgesellschaft – in einem Prozess, in dem unter schmerzhaften Verlusten, gewaltigen Spannungen und 21 Vgl. dazu: Thomas Rentsch, „Wie lässt sich Angemessenheit ästhetisch denken?“ in diesem Band. 22 Theodor W. Adorno, sthetische Theorie, Gesammelte Schriften Bd. 7, Frankfurt a.M. 1970, 258 f.
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Katastrophen die Weltgeschichte erst im eigentlichen Sinne beginnt – in diesem Prozess ist ein Reflexivwerden und Gestaltwerden von Differenz und Negativität unverzichtbar. In ihm muss – religiös wie künstlerisch – das Unbewusste und Abwesende, das Unsagbare als solches erscheinen, das niemals in Schemata industrieller Produktformen Eingang finden kann. Das Nichtverstehen, die Abwesenheit und Ferne sind nämlich für eine menschliche Welt viel fundamentaler als alle technisch herstellbaren Nähen. Ein ästhetisch und religiös erweitertes Vernunftverständnis könnte uns von reduktionistischem und vereinnahmendem zu freilassendem Verstehen befreien, zu nicht verstehendem Umgang mit Nichtverstehbarem, aus dem unser Leben besteht. So können wir versuchen, durch den Schutz der Negativität kulturelle Identität zu ermöglichen, ohne das Fremde zu tilgen und das Unsagbare zu zerreden. An der Basis unserer Welterfahrung müssen wir eine Schicht konstitutiver Stummheit und Verschlossenheit gewärtigen. Sie – religiös wie ästhetisch – erfahrbar zu machen und erfahrbar zu halten, ist Zeichen unserer Humanität.
Wie lässt sich Angemessenheit ästhetisch denken? Zum Zusammenhang von Schönheit, Metaphysik und Lebenswelt Wir wissen von keiner Welt als im Bezug auf den Menschen; wir wollen keine Kunst, als die ein Abdruck dieses Bezugs ist. Goethe Die schönen Dinge zeigen an, daß der Mensch in diese Welt passe. Kant
Beide großen Traditionsströme der Ästhetik, die metaphysische, platonisch-ideale wie die handwerkliche, von der künstlerisch-bildnerischen, herstellenden Tätigkeit ausgehende Tradition, die Tradition der metaphysischen Idee des Schönen und die Tradition des Maßes, Metaphysik und Werkstatt, haben beide in ihrem Zentrum eine Vielzahl von Kategorien der Angemessenheit, deren Sinn und Geltung für eine gegenwärtige philosophische Reflexion ich im Folgenden ein wenig nachgehen will. Dabei interessiert mich, ob sich möglicherweise ehemals metaphysische Kernbestimmungen des Ästhetischen und, in deren Zentrum, die Idee des Schönen, mit Blick auf uns auch heute vertraute, lebensweltliche Sachverhalte auf neue Weise verständlich machen lassen. Ich meine, ja; ehe ich mich dieser Frage nach einem lebensweltlichen Verständnis der metaphysischen Dimension ästhetischer Angemessenheit zuwende, möchte ich einiges Grundsätzliche zum Verständnis der „maßbezogenen“ Angemessenheitstradition sagen.
1 Von Wilhelm Lehmbruck stammt der Satz „Alle Kunst ist Maß; Maß gegen Maß.“ Die Bestimmungen des Maßes, der Proportion, der Symmetrie, Ordnung und Harmonie lassen sich verstehen, wenn wir uns klar
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machen, wie grundstzlich das ästhetische Gestaltproblem tatsächlich ist.1 Für unsere gesamte Praxis ist ein Grundzug wichtig, den wir als die Unbestimmtheit der Form oder das Erfordernis der Gestaltgebung bezeichnen können. Warum? So, wie wir darauf angewiesen sind, die Leere unserer zukünftigen Zeitlichkeit zu füllen beziehungsweise zu überdecken, unsere eigene Nichtigkeit „sorgend“ zu bewältigen,2 so sind wir näherhin dazu genötigt, unserem Leben eine Form, eine Gestalt zu geben. Denn: Sowohl unser Leben wie auch alle Gegenstände, die im Kontext unserer Praxis vorkommen, sind nach ihrer Form und Gestalt weithin nicht festgelegt. Das gilt für die kleinsten Gebrauchsgegenstände: Kämme, Bürsten, Besteck, Stühle, Tische; für größere und größte Lebenszusammenhänge: Wohnungen, Häuser, Städte; Parks und Landschaften, Wälder, Flüsse und Küsten. Dieses Gestaltgebungsapriori gilt für unsere Hygiene, Kleidung und Ernährung; es gilt aber auch z. B. für unsere Sprache mit Blick auf die Stilgestalt. Überall, und dies ist der entscheidende Aspekt, müssen wir form- und gestaltgebend handeln (oder Formen übernehmen). Ein Stück weit sind diese Formen durch die Funktionen der jeweiligen Gegenstände in ihren Kontexten bestimmt: so Bestecke, Möbel, Wohnungen, Städte, Stilgestalten. Aber die Funktion legt nicht die ganze Gestalt fest. Daher der nichtfunktionale berschuss in all unseren Praxisformen und Umgangsweisen – wir müssen das Formproblem lösen. Und dies auch in der Form unserer Bewegungen, unseres Gebarens und Gehabes, unserer konkreten Sitten und Gebräuche, bei all unseren Künsten, aber gänzlich dann im afunktionalen Bereich der reinen Kunst. Formen der Angemessenheit im Kontext des noch funktional mitbestimmten Gestaltgebungsapriori sind leicht benennbar; die Dienlichkeit und Zierlichkeit von Kämmen, Bürsten und Bestecken, die schmuckvolle Eleganz und Bequemlichkeit von Möbeln und Kleidern, die Ziemlichkeit, Passung und Wohlproportioniertheit in allen Bereichen der Gestaltung, die unter den klassischen Kategorien des Geeigneten, Nützlichen, Brauchbaren (griechisch wq^silom), des Schicklichen (pq]pom) stets auch das Wohlgefällige, deshalb Begehrens- und Lie1
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Vgl. in diesem Zusammenhang die grundlegenden Bemerkungen von Friedrich Kambartel, „Zur Philosophie der Kunst. Über zu einfach gedachte begriffliche Verhältnisse“, in: ders., Philosophie der humanen Welt, Frankfurt a.M.1989, 103 – 114. Im Sinne von Martin Heidegger, Sein und Zeit, Tübingen 151979, v. a. §§ 41 u. 65.
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benswerte, das Gelungene und deshalb im Wettkampf Auszuzeichnende meinte. In dieser Tradition des Maßes ist die Universalitt des Formproblems durchgängig bewusst: ob bei rotfigurigen altattischen Vasen, ob in der Anlage von Gärten oder in der Stadtarchitektur, ob in der Rhetorik und Stilistik des ornatus, im Kontrapunkt oder in der Kunst der Fuge. Und hier geben die jeweiligen Gebrauchskontexte, die so vielfältig sind wie das Leben, die internen Kriterien fr Angemessenheitsmodi, das heißt: dafür, wie etwas zu machen sei, her. Die bürgerliche Ästhetik ab etwa 1750 stellt nun mit ihrer extremen Engführung des Verständnisses des Schönen, mit dessen Subjektivierung, mit Verinnerlichung und Ästhetizismus, Musealisierung und Avantgardismus, eine folgenreiche Einengung der praktisch-philosophischen Grundproblematik des Schönen und der sinnlichen Gestaltgebung dar.3 Keineswegs ist die Universalität des Formproblems auf einen bürgerlichen Kunstbegriff und dessen späte, destruktive Modi allein zu beziehen, so faszinierend sie sein mögen. Philosophische Ästhetik muss sich daher, z. B. im Blick auf Architektur und Ökologie, wieder praktisch und politisch begreifen, muss sich universal auf die Gestaltung der Lebenswelt beziehen. Im Kontext des politischen Lebens bildete die griechische Kultur das Ideal der Kalokagathia, des zugleich Schönen und Guten heraus, mit dem eine Synthese von ästhetischem und ethischem Weltverhältnis, von „Politik und Anmut“4 als einer Lebensform der sittlich gelungenen Humanität bezeichnet wurde. Angesichts vieler Bestrebungen, formalistische und universalistische Diskursethiken durch inhaltliche, lebensnähere, an der konkreten Gestaltung unserer Lebensformen orientierte Gesichtspunkte zu ergänzen, frage ich: Sollen wir solche praktisch-philosophischen Vorstellungen von einer lebbaren Synthese schöner und guter Orientierungen, von praktischen Maßverhältnissen, preisgeben? Ich meine, sie gehören zum Kernbereich der europäischen Vernunftgeschichte, und sie sind aktueller denn je. Ein zweites ist mir wichtig, und es betrifft die metaphysische Angemessenheitstradition der „Ästhetik“: Über zweieinhalb Jahrtausende hatte das Schöne, in Metaphysik, theologischer Ästhetik und Ontologie, bis zu den großen Systemästhetiken, eine Synthesisfunktion. Die Grundzüge der Schönheit prädestinierten sie in der philosophischen Reflexion 3 4
Vgl. dazu Hans-Georg Gadamer, „Subjektivierung der Ästhetik durch die Kantische Kritik“, in: ders., Wahrheit und Methode. Grundzge einer philosophischen Hermeneutik, Tübingen 41975, 39 – 77. Vgl. Christian Meier, Politik und Anmut, Berlin 1985
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seit Platon zu Funktionen der gelungenen Synthesis von Erkenntnis und Liebe, Vernunft und Sinnlichkeit. Die Summen der Hochscholastik arbeiteten, spätestens seit Alexander von Hales, den Status des Schönen als des Integrals des Wahren und Guten aus. Die transzendentale pulchritudo ermöglicht eine zwanglose Synthesis von Vernunft und Willen. Mehr noch: Die Reflexion des Schönen im Rahmen der Transzendentalienlehre konzipiert es, das Schöne, als Grund der Einheit der transzendentalen Seinsbestimmungen. Das Schöne ist die Herkunft, der Ursprungsort der transzendentalen Differenz von bonitas und veritas und des Partizipationsgedankens. Kurz: Die metaphysische Spekulation sah im Schönen den Grund der Einheit der Welt.5 (Das wird übrigens auch sichtbar an der systematischen Stellung der pulchritudo bei der Inbezugsetzung von Transzendentalienlehre und Trinitätstheologie, zum Beispiel bei Thomas von Aquin, wo sie der zweiten Person der Trinität entspricht.6) Für mich sind diese Befunde Indizien für die von mir provisorisch so genannte „metaphysische“ Angemessenheitstradition. Während die Maß- bzw. Proportionalitätstradition die ganze Vielfalt des „Passenden“ in den jeweiligen pragmatischen Lebenskontexten thematisiert und abdeckt, reflektiert die metaphysische Tradition, die bis zu Kant und Adorno reicht, die Bedeutung des Schönen für die Konstitution von Rationalität selbst, uns das heißt: für die innere Proportioniertheit, die internen Verhältnisse zwischen dem Wahren und dem Guten. Lässt sich 5
Vgl. Umberto Eco, Il problema estetico in Tommaso d’Aquino, Torino u. Milano 1982 (engl. The Aesthetics of Thomas Aquinas, Cambridge/Mass. 1988); ders., „Sviluppo dell’estetica medievale“, in: ders., Momenti e problemi di storia dell’estetica, Bd. 1. Milano 1959, 115 – 229 (engl. Art and Beauty in the Middle Ages, New Haven/London 1986, später u. d. Titel: Arte e bellezza nell’estetica medievale. Milano 1987); Günther Pöltner, Schçnheit. Eine Untersuchung zum Ursprung des Denkens bei Thomas von Aquin, Wien u. a. 1978; Rosario Assunto, Die Theorie des Schçnen im Mittelalter, Köln 1963; Johann Kreuzer, Pulchritudo. Vom Erkennen Gottes bei Augustin, München 1995; Thomas Rentsch, „Der Augenblick des Schönen. Visio beatifica und Geschichte der ästhetischen Idee“ in diesem Band; ders., Art. „Schöne, das“, in: Jürgen Mittelstraß (Hg.), Enzyklopdie Philosophie und Wissenschaftstheorie, Bd. 3, Stuttgart/Weimar 1995, dort umfassende Bibliographie. Thomas betrachtet Schönheit als claritas und splendor und wendet per appropriationem die transzendentale Wahrheit auf die erste, die transzendentale Schönheit auf die zweite und die transzendentale Gutheit auf die dritte Person in der göttlichen Trinität an, und dabei sagt er ausdrücklich: „Claritas convenit proprio Filii, in quantum est Verbum, quod quidem est lux et splendor intellectus.“ (5. Th. 1, q. 39, art. 8, c.).
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dieser Grundgedanke der einheitsstiftenden Funktion des Schönen, ästhetischer Erfahrung und Kommunikation, heute neu verstehen? Warum konnte so lange Zeit ästhetischer Kommunikation eine solche Bedeutung für die interne Konstitution der Rationalität, für die Tiefenstruktur unseres Welt- und Selbstverhältnisses zuerkannt werden?
2 Wir können heute, nach dem Jahrhundert der Analysen Heideggers und Wittgensteins, philosophische Fragen nach der Konstitution nicht mehr länger im Blick auf ontologische Strukturen der Wirklichkeit beantworten; und ebensowenig können wir sie im Blick auf Strukturen von Subjekten bzw. eines „Bewusstseins überhaupt“ behandeln. Vielmehr müssen wir unseren Blick auf die sprachlich verfasste kommunikative Lebenspraxis richten: auf die von uns praktizierten Sprachhandlungszusammenhänge in fragilen, opaken, naturhaften, materiellen und endlichen Lebenssituationen. Wir sind leiblich-sinnliche, endliche und bedürftige Wesen, die der kommunikativen Praxis fähig sind. Aus der lebensweltlichen Sprache und Praxis der Verwendung solcher Worte wie „wahr“, „richtig“, „es gibt“, „existiert“, „wirklich“ entsteht die kriterial konstituierte Praxis der theoretischen Intersubjektivitt. Aus der kommunikativen Praxis der Verwendung von Worten wie „gut“, „sinnvoll“, „Einsicht“, „menschlich“, „unmenschlich“, „anständig“, „schrecklich“ erwächst die kriterial (grammatisch) konstituierte kommunikative Lebensform der praktischen Transsubjektivitt. Entsprechend lässt sich in der alltäglichen Verwendung der urteilenden Prädikate „schön“, „herrlich“, „hässlich“, „meisterhaft“ , „wohlgefällig“, „grauenhaft“, „außergewöhnlich gelungen“, „total misslungen“, „einmalig“ in den entsprechenden Kontexten das Fundament der kommunikativen Lebensform der sthetischen Konsubjektivitt oder kurz: der ästhetischen Praxis ansetzen. Das fundamentale Erkenntnisinteresse an sowohl theoretischer Wahrheit wie auch an praktischen Einsichten ist evident tief in unserer Bedürfnisstruktur verwurzelt. Und so fundamental wie das universale Formgebungsproblem wurzelt auch unser Interesse an einer gemeinsamen Praxis ästhetischen Umgangs und Urteilens. Die (grammatische) Konstitution eines bestimmten Bereiches erschließt sich, analysieren wir Voraussetzungen (transzendentale Präsuppositionen) lebensweltlicher Sprache und Praxis dieses Bereiches. Hinsichtlich des Bereiches des Ästhetischen wurden die formalen
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Konstitutionsbedingungen unserer entsprechenden Urteilspraxis spätestens seit Duns Scotus als cognitio clara et confusa bestimmt. Die sinnliche Erkenntnis hat sowohl Gemeinschaft mit der Erkenntnis des Guten als auch mit der des Wahren. Sie ist nicht bloß sinnlich und konfus (verworren, wie eine Körperempfindung), jedoch auch nicht schon begrifflich-definitorischer Art. Es handelt sich bei dieser Erkenntnis um die wiederholbare, jedoch je einmalige Erkenntnis von etwas Individuellem, das sich nicht definieren lässt. Diese Bestimmungen gelangen über Leibniz und Wolff zu Baumgarten, führen zur Begründung der Disziplin Ästhetik (1750) und zur Analytik der cognitio sensitiva, der systematischen Vorgestalt der ästhetischen Urteilskraft bei Kant mit ihren ebenfalls Vernunft und Sinnlichkeit synthetisierenden Funktionen.7 Wie lassen sich Sinnbedingungen sthetischer Kommunikation anhand eines möglichst einfachen lebensweltlichen Beispiels erläutern? 8 Ich schenke einer Freundin einen Strauß schöner Blumen. Der Strauß gefällt; ich bin zufrieden. Eine ästhetische Urszene, die sich seit Menschengedenken tagtäglich vieltausendfach überall abspielt. Betrachten wir elementare Sinnbedingungen ästhetischer Kommunikationspraxis, die sich an diesem einfachen Beispiel zeigen. (1) Der Strauß ist etwas Gemachtes, Produziertes: das Ganze gibt es nur in einer Kultur menschlicher Umgangsformen. Die ästhetische Praxis ist, wie die theoretische und die ethisch-politische, eine kommunikative Praxis der Herstellung, des Umgangs und der Sichtweise, in deren Medium etwas – hier: die Blumen – seine hermeneutische Identität9 als „schön“ erhält. Diese Sinnbedingung nenne ich Artefaktizitt; sie kann zur ästhetischen Kontrafaktizität oder Fiktionalität gesteigert und immer intensiver sublimiert werden: zu den Seerosen-Serien Monets, zu den „Doldenschauern“ Gottfried Benns, „wo die Götter fallen wie Rosen“, zur extrem ritualisierten Kunst des japanischen Blumenarrangements
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Vgl. Ursula Franke, Kunst als Erkenntnis. Die Rolle der Sinnlichkeit in der sthetik des Alexander Baumgarten, Wiesbaden 1972. Vgl. Thomas Rentsch, „Ästhetische Anthropomorphie. Die Konstitution des Schönen und dietranszendental-anthropologische Bestimmung thaumatischauratischer Weltverhältnisse“, in: Franz Koppe (Hg.), Perspektiven der Kunstphilosophie. Texte und Diskussionen, Frankfurt a.M. 1991, 27 – 35 u. 308 – 321. Aus der kritischen Berliner Diskussion ergab sich meine modifizierte Darstellung ästhetischer Sinnbedingungen im vorliegenden Aufsatz. Vgl. Hans-Georg Gadamer, Die Aktualitt des Schçnen. Kunst als Spiel, Symbol und Fest, Stuttgart 1977, 32 ff.
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Ikebana, in der das kleine Gebinde den Weltzusammenhang vergegenwärtigt. (2) Der Strauß hat eine gewisse irreduzible Ganzheit und immanente Stimmigkeit. Willkürlich ausgerissene Stengel oder ein unförmiger Haufen Blumen sind kein Strauß. Dieser bildet vielmehr eine nichtbeliebige ästhetische Gestalt mit Maß und Zahl, Farbe und Passungskriterien: Diese Sinnbedingung der ästhetischen Totalitt kann ebenso vom dekorativen Strauß bis zu den Sonnenblumen van Goghs sublimiert sowie in allen Bereichen der Gestaltung relevant werden. (3) Zum Aspekt der Totalität tritt der der ästhetischen Singularitt, der Einmaligkeit oder Einzigartigkeit. Ich höre den Ausruf: „Das ist aber ein schöner Strauß!“ Es ist – natürlich – dieser Strauß hier, den ich gerade überreiche, als solcher ein einmaliges Phänomen, letztlich, wie alle Individualität, begrifflich unsagbar. Blicken wir auf die Vielfalt ästhetischer Gestaltung: Einer am Strand gefundenen Muschel können wir die hermeneutische Identität eines einmaligen, thaumatisch-auratischen Faszinosums verleihen. In den Selbstporträts Rembrandts zeigt sich, begrifflich uneinholbar und reflexiv unüberbietbar die Tiefe, Ferne und Individualität eines menschlichen Gesichts. Die ästhetische Singularität wird sichtbar, wenn Constable den Augenblick malt, in dem nach einem Gewitterregen die Landschaft Englands wieder von der Sonne beschienen wird und das Grün der Wiesen silbern zu glänzen beginnt. Die unaustauschbare Singularität bildet sich in den epochalen und in den individuellen Eigenstilen aus, im Dunkel Caravaggios wie in der Kultur der gesamten Epoche. Die Singularität ist der Bereich der ästhetischen Alterität, der Tiefe, Ferne, Fremdheit und Unsagbarkeit, die die frühen französischen Theoretiker als das „Je ne say quoy“ ästhetischer Erfahrung klassisch negativ zu artikulieren suchten. (4) Der Strauß verblüht, verwelkt, ist endlich und vergänglich in seiner Schönheit. Wir können von der ästhetischen Fragilitt oder Hinfälligkeit10 sprechen. Auch, was ehemals schön erschien, unterliegt der Endlichkeit und Vergänglichkeit. (5) Der Strauß ist selbst etwas, er ist um willen seiner selbst da. Die ästhetische Nicht-Instrumentalitt, positiv: Die Selbstzweckhaftigkeit ermöglicht im ästhetischen Umgang im Ansatz ein zweckfreies, kommunikatives, gewaltloses Weltverhältnis jenseits von instrumenteller Nut10 Oskar Becker, „Von der Hinfälligkeit des Schönen und der Abenteuerlichkeit des Künstlers“, in: ders., Dasein und Dawesen. Gesammelte philosophische Aufstze, Pfullingen 1963, 11 – 40.
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zung und jenseits auch repressiver Asymmetrien. Wie es Intensitätsgrade der inneren Gestaltung und Individuiertheit gibt, so auch solche der Afunktionalität, der Nicht-Instrumentalität. Ästhetische Kommunikation kann sich als Kultur kontemplativ-meditativen Umgangs im Hören reiner Instrumentalmusik, im meditativen Begehen von Gartenanlagen oder auch im Flanieren, in Stadtwanderungen z. B., entfalten. Aber auch das gemeinsame Erinnern und Erzählen der Vergangenheit gelebten Lebens ist ein selbstzweckhafter Modus solcher sinnlichen Erkenntnis. Der Blumenstrauß jedenfalls soll da sein, weil er dieser Blumenstrauß ist. (6) Die Blumen sollen Freude machen. Zur Nicht-Instrumentalität tritt der Telos- bzw. Erfllungscharakter als Sinnbedingung ästhetischer Kommunikation. Es zeigt sich bereits an den Blumen, dass wir es in der ästhetischen Praxis mit Erfüllungsgestalten, mit einem konkreten Genussund Glückscharakter in der Erfahrung zu tun haben. Die Kategorien des Staunens, des Glanzes, Thauma, Aura, splendor, ubertas und plenitudo, haben bereits hier ihren lebensweltlichen Sitz. Der Duft der Rosen, die Glut ihrer Leuchtkraft – sie sind bei aller Vergänglichkeit etwas Herrliches, der Bedürftigkeit unsererseits nach einer Synthesis von Sinn und Sinnlichkeit 11 zutiefst Angemessenes. Es versteht sich von selbst, dass alle aufgezeigten Sinnbedingungen Bedingungen der Möglichkeit auch ihrer Destruktion, Negation, Depotenzierung, ihres Scheiterns und Misslingens sind, wie es bereits im Aspekt der Fragilität anklang. Die genannten Sinnbedingungen konstituieren gemeinsam die ästhetische Form der Kommunikation, die ich Konsubjektivität nenne. Das heißt, was in der Analyse zunächst als nebeneinander gestellte Kategoriengruppe erscheint, das ist in der Wirklichkeit lebendigen ästhetischen Umgangs unableitbar von einander, irreduzibel auf einander und nur wechselseitig durch einander verstehbar, kurz: gleichursprünglich. Im nächsten Schritt möchte ich zeigen, dass und wie die konsubjektive Kommunikation mit der Tiefenstruktur unseres Welt- und Selbstverhältnisses zu tun hat und das Schöne bzw. das Ästhetische mit tiefer Angemessenheit.
11 Vgl. dazu Franz Koppe, Grundbegriffe der sthetik, Frankfurt a.M.1983, 166 – 169.
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3 Die aufgezeigten Kategorien der Konsubjektivität entspringen der – unübersehbar vielfältigen – Gestaltungspraxis des ästhetischen Umgangs in jeweils ausdifferenzierten geschichtlichen Lebensformen. Bereits der Teloscharakter, aber auch die übrigen Sinnbedingungen dieser Praxis verweisen auf die kommunikative Verfassung des ästhetischen Weltverhältnisses: Im kommunikativen Akt des Schenkens erfährt die Beschenkte die Schönheit der Rosen. Auch in der lebensweltlich-pragmatischen Rekonstruktion wird sichtbar: Kant hatte Recht mit seinen Bestimmungen des sensus communis und des „Ansinnens“ der Allgemeingültigkeit der subjektiven Geschmacksurteile; auch ästhetisches Mitsein mit Anderen kennt eine spezifische Form der Universalität, so, wie theoretische Intersubjektivität die Universalität von Wahrheitsansprüchen, so, wie praktische Transsubjektivität die Universalität von moralischen Geltungsansprüchen. Die Universalität, die sich durch die ästhetische Konsubjektivität herstellt, ist nun dadurch besonders ausgezeichnet, dass die Subjekte im Medium des ästhetischen Weltverhältnisses eine Beziehung zu den anderen Subjekten „kon-subjektiv“ einnehmen können, in der sie in ihrer Sinnlichkeit und Bedürftigkeit zwanglos sie selbst als Individuen bleiben, und in der sie dennoch mit den Anderen auf eine genuine, tiefe und wesentliche Weise vergemeinschaftet werden. Diese Tiefendimension ästhetischer Kommunikation und Universalität führt uns auf die Eigenart der ästhetischen Angemessenheit. Den Kernbereich des Ästhetischen bilden nämlich, so meine These, genuin anthropomorphe Phänomene. Im Medium der ästhetischen Gemeinsamkeit können Subjekte zwanglos und entlastet der Tiefe und Komplexität ihrer inneren Bedürfnisnatur innewerden, so sich selbst im „Anderen ihrer selbst“ erfahren (Hans Robert Jauß sprach vom „Selbstgenuß im Fremdgenuß“12) und sich in der Totalität ihrer Weltbezüge begegnen. Diese Analyse entspricht der Grundidee der Ästhetik Kants, und auch seiner Konzeption der ästhetischen Ideen. Die Leitidee, die er auf der Ebene einer Analytik der ästhetischen Geschmacksurteile entfaltet, gestattet ihm deshalb in seiner Theorie des Schönen auch eine Rekonstrukion der Platonischen und metaphysischen Tradition. Diese Idee besagt: Im Medium ästhetischer Erfahrung werden Bedingungen von Erfahrungsfähigkeit überhaupt auf prägnante Weise thematisch. Ästhe12 Zum Genussbegriff, vgl. Hans Robert Jauß, Kleine Apologie der sthetischen Erfahrung. Mit kunstgeschichtlichen Bemerkungen von Max Imdahl, Konstanz 1972.
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tische Konsubjektivität bildet sich im Umgang mit Phänomenen, in denen uns die Sinnbedingungen einer humanen Welt selbst transparent werden.13 Erläutern wir diese These noch einmal im Blick auf die aufgewiesenen Sinnbedingungen. (1) In der Artefaktizitt und Kontrafaktizität des Ästhetischen (auch beim Umgang mit dem so genannten Naturschönen) tritt uns die Welt nicht als etwas Fremdes und Gleichgültiges gegenüber (selbst dann, wenn sie so dargestellt wird), sondern auf eine Weise, die unseren Bedürfnissen und Wünschen, Gefühlen und Leidenschaften, unseren genuinen Lebenserfahrungen entspricht („angemessen“ ist). (2) Die ästhetische Totalitt, wie auch ihre destruierten, fragmentarisierten Modi (z. B. Fetzen, Reste, Trümmer, Ruinen) entsprechen der endlichen Ganzheit einer menschlichen Welt. Wie die humane Lebenswelt, so sind auch die ästhetischen Phänomene gestaltete und fragile Räumlichkeit, Zeitlichkeit, Sprachlichkeit, Sichtbarkeit und Klanglichkeit. Es sind qualitative Ganzheiten – Gestalten im Sinne Christian von Ehrenfels14 – die sich z. B. aus Akzenten, Betonungen, Rhythmen, Verdichtungen, Schwerpunkten und Pausen ergeben. In sprachlichen Kunstwerken, in Sonaten und Sinfonien, Gemälden und Skulpturen stehen uns anthropomorphe Gebilde gegenüber, ebenso in Parks, Wohnungen und Städten. Und zwar, weil die Formqualitten ihrer Gestaltung den Sinnbedingungen einer menschlichen Welt entsprechen, ihnen angemessen sind, ihnen gleichkommen. Die ersten Takte des letzten Satzes der Vierten Sinfonie von Schubert z. B. zeigen, dass es sich um ein „lebendiges“ Phänomen handelt, qualitativ strukturiert, mit signifikantem Anfang und Ende, in sich geschlossen, aber auch über sich hinausweisend, vielen Phänomenen ähnlich, keinem jedoch gleich, als Ganzheit irreduzibel, irreversibel in der zeitlichen Bewegungsrichtung – kurz: um ein Phänomen qualitativer Totalität mit wesentlich lebensweltlich-sinnhaften Zügen. Diese Züge dienen einem kommunikativen Wiedererkennen unserer selbst in einem Anderen, hier in den Formen des Klangmediums. Die Züge der sinnlich erfahrbaren Welt geben ihre Gleichgültigkeit und 13 Dies hat bei Kant mit der transzendentalen Affinität zwischen Vernunftregulation und Verstandeskonstitution zu tun; vgl. Günter Wohlfart, „Zum Problem der transzendentalen Affinität in der Philosophie Kants“, in: Akten des 5. Internationalen Kant-Kongresses, Bd. 1.1, Bonn 1981, 313 – 322. 14 Vgl. Christian v. Ehrenfels, „Über ,Gestaltqualitäten‘“, in: Ferdinand Weinhandl (Hg.), Gestalthaftes Sehen. Ergebnisse und Aufgaben der Morphologie, Darmstadt 1960, 11 – 43.
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Widerständigkeit preis und schmiegen sich mit ihrem Antlitz der bedürftigen Subjektivät an. Dieses Passen ist Grund auch der Kategorie der Mimesis. (3) Auch die ästhetische Singularitt entspricht den Sinnbedingungen des humanen Lebens, und zwar auf eminente Weise. Im ästhetischen Phänomen – bereits in den Rosen – tritt uns (der Idee und der Möglichkeit nach) eine unbegreifliche (begrifflich uneinholbare) individuelle Weltgestalt entgegen. Auch jedes menschliche Leben hat eine einmalige, irreduzible, unaustauschbare und unwiederholbare Gestalt. Die qualitative, bedeutsame Lebenszeit weist die Form inkommensurabler Augenblicklichkeit auf. Auch ästhetische Phänomene zeigen diese Form einmaliger Gestalt (die Rosen, Gebirgszüge, Wolken, Wellen, Dünen) oder gestalteter Einmaligkeit (z. B. ein architektonisches Ensemble wie Dresden oder die Phänomene der pulchritudo vaga bei Kant). Das Moment des Nichtdiskursiven, begrifflich Unsagbaren des Schönen ist für die spezifisch konsubjektive Kommunikation notwendige Bedingung. Sie wurde dementsprechend ästhetik-theoretisch früh, z. B. von Dubos und Batteux, bemerkt und auf die auch Leibniz geläufige Grundformel „Je ne say quoy“ gebracht. (Auf die Zusammenhänge mit mystischer Erfahrung und der logischen Struktur der visio beatifica bin ich andernorts eingegangen.15 Der Schwund des Schönen scheint etwas mit dem „Tode Gottes“ zu tun zu haben.) Da dieses Moment des Unbegrifflichen eine entscheidende Differenz zur theoretischen und praktischen Vernunft und Kommunikation darstellt, sei es im Blick auf die ekstatische Tiefenstruktur der ästhetischen Ideen Kants einmal etwas genauer beleuchtet. Die für die cognitio sensitiva, für die ästhetische Erkenntnis charakteristischen vielsagenden Vorstellungen (perceptiones praegnantes) ermöglichen bereits in Baumgartens Ästhetik eine klare und sinnliche Erkenntnis der Fülle des Gegenstandes (ubertas aesthetica, venusta plenitudo), eine Erkenntnis seiner nicht-deutlichen, nicht-abstrakten, individuierten Totalität. Wovon wir keinen deutlichen, letztlich: wissenschaftlichen Begriff gewinnen können, dies zeigen die ästhetischen Ideen: die Tiefe, Ferne, Fülle und Grundlosigkeit unserer inneren Natur, die diskursiv uneinholbar und reflexiv unüberbietbar ist, und die Leibniz als den wogenden fundus animae bezeichnete. Sie – das eigentlich Unsagbare, das
15 Vgl. Thomas Rentsch, „Der Augenblick des Schönen. Visio beatifica und Geschichte der ästhetischen Idee“ in diesem Band.
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Je ne say quoy – wird durch die comprehensio aesthetica 16 kommunikativ gestaltet und durch die spezifischen internen Formqualitäten des jeweiligen Mediums auratisch verdichtet. So in den Farben der Rembrandtschen Porträts; so in den auratisch-beruhigten Räumen, die durch die Skulpturen Lehmbrucks geschaffen werden; so in den Liedern der „Winterreise“, in der Liebeslyrik Goethes (,,O gib, vom weichen Pfühle,/Träumend, ein halb Gehör!/Bei meinem Saitenspiele/Schlafe! was willst du mehr?“) – die Semantisierung der Strukturqualitäten bewirkt die auratische Vedichtung. Das reine ästhetische Werk ist der Versuch der Überdeckung der leeren zukünftigen Zeitlichkeit durch die Fülle des Augenblicks. Der ekstatischen Erstreckung des vorlaufenden Daseins gegenläufig ist die Inständigkeit des Verweilens im Augenblick des Schönen. Indem in der Form dieses Augenblicks die „Einfaltung der ganzen Welt“ in die ästhetische Idee geschieht, wird die vulgäre Zeitlichkeit auratisch verdichtet: ästhetische Erfahrung ermöglicht so augenblickliche Fülle (pk^qyla) als Gegenwurf zur Nichtigkeit der zeitlichen Existenz. Das bedeutet auch hier: Die ästhetischen Formqualitäten werden auf eminente Weise transparent auf die Möglichkeitsbedingungen einer menschlichen Welt hin, hier: auf die ekstatische Tiefenstruktur der menschlichen Zeitlichkeit. (4) Auch die Sinnbedingung der Fragilitt, der ästhetischen Hinfälligkeit, entspricht einem Grundzug der menschlichen Welt. So ist der eben erwähnte „ewige Augenblick“, das nunc stans der ästhetischen Erfahrung selbst hinfällig und vergeht. Der Augenblick des Schönen ist in dessen subjektivierten Varianten besonders fragil. Diese Hinfälligkeit ist der Ursprung des ästhetischen Scheins: er lässt sich als das Ineinander von Aura und Schwund, von Fragilität und ekstatischer Fülle fassen. Diese Analyse bestätigt sich auch in nachklassischen Transformationen des solchermaßen subjektivierten Ästhetischen: in der modernen epiphanen Plötzlichkeit, wie sie theoretisch z. B. von Valéry und Adorno gefasst wurde. Das Kostbarste sei das Sterbendste, so Georg Simmel. Das Individuierteste ist das Verletzlichste. In der Verletzlichkeit und Hinfälligkeit des Schönen wird ein Grundzug der menschlichen Welt sichtbar. Das gilt im großen Maßstab für die Stilwelten untergegangener Völker, Kulturen und Epochen: Sie alle, mitsamt ihren Modi ästhetischer Konsubjektivität, sind endlich und vergänglich. 16 Nach Immanuel Kant, Kritik der Urteilskraft, in: Akademie-Ausgabe, Bd. V, Berlin 1908, §§ 26, 27.
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(5) Nicht-instrumentelle, in diesem Sinne gewaltlose Verhältnisse sind konstitutiv für eine menschliche Welt. Auch hier entspricht die Form ästhetischer Phänomene – von den Rosen bis zur reinen Instrumentalmusik – einem Grundzug der menschlichen Lebenswelt jenseits von Technik und Herrschaft. Die „Zweckmäßigkeit ohne Zweck“, wie sie der konsubjektiven Vergemeinschaftung eignet, ermöglicht eine gewaltlose Kultur kontemplativ-ästhetischen Umgangs, in der die kommunikativen Voraussetzungen menschlichen Lebens sinnlich erfahrbar werden. Sie prägt sich aus im Modus des Spiels. Hier verdichtet sich erneut die anthropologische, existentielle Dimension ästhetischer Praxis. Es wird hier eine Emanzipation von den zwanghaften, funktionalen und instrumentellen Reproduktionsbedingungen des Lebens greifbar, die Möglichkeit einer zweckfreien Welt und autonomen Lebens, dessen Sinn in ihm selbst und für sich besteht, und nicht in einem Leben für etwas anderes. Es ist die auch ethisch relevante Perspektive, dass der Mensch „ein aus sich selbst rollendes Rad“ (Nietzsche) werden kann – dies wohl kaum durch zwanghafte Selbstbehauptung. Im Vollzug der ästhetischen Erfahrung wird gleichzeitig eine Selbsterfahrung der Subjekte im Horizont ihrer Autonomie realisiert. Die zweckfrei individuierte Synthesis von Sinn und Sinnlichkeit in ästhetischer Kommunikation ermöglicht eine glückhafte Welterfahrung, in die die Subjekte doch mit ihrer Endlichkeit und Bedürftigkeit, mit ihrer ungeschmälerten Kontingenz und Naturhaftigkeit eingehen können. Das ist in theoretischen und ethischen Kontexten gerade nicht möglich. Das ist der mimetische berschuss ästhetischer Konsubjektivität. (6) Die Sinnbedingung des Telos- oder Erfllungscharakters des Ästhetischen entspricht auf eminente Weise dem teleologischen Grundzug einer humanen Welt. Menschen lassen sich nur teleologisch verstehen; als autonome, praktische Sinnentwürfe ihrer selbst.17 Selbst eine Wüstenlandschaft mit ihren Qualitäten der Reinheit, Klarheit, Leere, Stille, Zeitlosigkeit, Weite, Tiefe, der hellen Lichtdurchflutetheit und Endlosigkeit vermag so, im ästhetischen Umgang, kontrafaktisch als eine Erfüllungsgestalt humaner Bedürftigkeit zu erscheinen. Das ist der mimetische berschuss kommunikativer Selbsttransparenz der inneren Natur der Subjekte. 17 Zur Struktur praktischer Sinnentwürfe, vgl. Thomas Rentsch, Die Konstitution der Moralitt. Transzendentale Anthropologie und praktische Philosophie. Frankfurt a.M. 2 1999, 115 – 129.
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Ziehen wir das Fazit. Es wurde deutlich: In den ästhetischen Erfahrungen erfahren wir gleichzeitig die Sinnbedingungen einer menschlichen Welt. Das ist die einfache Kurzformel. Wir erfahren sinnlich entscheidende Bedingungen humaner Selbst- und Weltverhältnisse. Die konsubjektive Kommunikation und Praxis ist die ästhetisch ermöglichte Transparenz dieser Sinnbedingungen: eine Transparenz, die sonst in der Opazität der schwindenden Lebensbewegung dunkel und verborgen bleibt. Diese Analyse entspricht dem Diktum Goethes: „Wir wissen von keiner Welt als im Bezug auf den Menschen; wir wollen keine Kunst, als die ein Abdruck dieses Bezugs ist.“18 Die Analyse entspricht dem Diktum Kants, „die schönen Dinge zeigen an, daß der Mensch in diese Welt passe“.19 Das Wesen dieses „Abdrucks des menschlichen Weltbezugs“ im Sinne Goethes, dieses „Passens“ im Sinne Kants aufzuhellen, war das Ziel unserer Analyse. Mir scheint ihre Triftigkeit allerdings erst dann vollends deutlich zu werden, wenn wir sie, auf den Anfang zurückkommend, aus der extremen, aber geläufigen und unnötigen Subjektivierung und Formalität wieder befreien, in die sie im Kontext bewusstseinsphilosophischer Ästhetik geraten ist. Fragen wir: „Wie ist eine humane Welt möglich?“, so stoßen wir auf die kommunikativen und praktischen Modi der Weltkonstitution, die auch im Bereich der Ästhetik keineswegs subjektiv sind und sich keineswegs auf schöne Kunstproduktion im Sinne der Kunstperiode allein beziehen lassen. Diese Modi sind vielmehr durch und durch intersubjektiv (konsubjektiv), sie sind fundiert in der Lebenswelt und universal auf Gestaltung bezogen. Was ist denn der lebensweltliche Ort der Synthesis von Sinn und Sinnlichkeit, der Ort dieses ästhetischen Miteinanders, der Ort tiefer Entsprechung und Passung? Dieser Ort ist letzten Endes der menschliche Leib. Der Leib ist die wahrhaft ekstatische – weit in die Welt 18 Johann Wolfgang v. Goethe, Maximen und Reflexionen, in: Hamburger Ausgabe, Bd. 12, München 71973, 467. 19 Immanuel Kant, Nachgelassene Reflexion, in: Akademie-Ausgabe, Bd. XVI, Berlin 1924; vgl. dazu: Rüdiger Bubner, sthetische Erfahrung, Frankfurt a.M. 1989, 129. – Hegel formuliert das hier zu Begreifende in seiner sthetik so: „Der Mensch tut dies, um als freies Subjekt auch der Außenwelt ihre spröde Fremdheit zu nehmen und in der Gestalt der Dinge nur eine äußere Realität seiner selbst zu genießen. […] Das allgemeine Gesetz […] besteht darin, daß der Mensch in der Umgebung der Welt müsse heimisch und zu Hause sein, daß die Individualität in der Natur und in allen äußeren Verhältnissen müsse eingewohnt und dadurch frei erscheinen.“, Georg Friedrich Wilhelm Hegel, sthetik, hg. v. Friedrich Bassenge, Berlin 1955, 75 u. 266.
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hinausstehende – Mitte der menschlichen Welterfahrung, in der deren naturaler Grund und deren kommunikatives Wesen sich vereinen und durchdringen.20 Die sublimierten und subjektivierten Modi der epistemischen Rekonstruktion des Ästhetischen erscheinen so, insbesondere bei Einbeziehung der kulturgenetischen Triebrepressionsanalysen von Nietzsche und Freud, auch als sublimierte Verdeckung des Leibes und lebensweltlicher Sinnlichkeit, als deren surrogathafte Verdrängung und mythische Überhöhung. Hinter dem Unaussprechlichen, Unsagbaren, auch hinter dem Je ne say quoy, kommt die verdeckte und verdrängte Natur und Leiblichkeit zum Vorschein, der eigentlich Leibniz mit seinem wogenden fundus animae schon recht nahe war. Die entleibte, entmaterialisierte ästhetische Kommunikationsgemeinschaft der subjekttheoretischen Kunstphilosophie stellt aber nur eine extrem partiale Sondervariante des universalen Gestaltgebungsproblems dar. Insofern sind die metaphysischen Reklamationen der Universalität des Schönen als einer wahre und gute Orientierungen integrierenden Ebene bleibend gültig und den bewusstseinsphilosophischen Konstrukten in dieser Hinsicht überlegen. Allerdings ist die universal zu begreifende Problematik der Synthesis von Sinn und Sinnlichkeit nicht etwa vorab schon ontologisch oder theologisch gelöst, sondern ein Projekt lebensweltlicher Praxis. Die von mir so genannte „tiefe“ metaphysische Angemessenheit ist daher auf die Maß-Tradition zurückzubeziehen. Dann lassen sich alle analysierten Sinnbedingungen im Kontext praktischer Vernunft neu lesen und neu interpretieren: als die verantwortliche Gemachtheit unserer eigenen Lebensumstände unter Einschluss der Verhässlichung der Welt und der Unwirtlichkeit der Städte; als die Ganzheit der in natürliche Kreisläufe eingebetteten Praxis auch des Atmens, des Gehens, der Geschwindigkeiten, des Geräuschpegels, des Wohnens, Essens etc.; als die Einmaligkeit verletzlicher leiblicher Individuen in ihrer Materialität, Naturhaftigkeit und Endlichkeit; als die Fragilität des durch Alter und Tod bedrohten Organischen und als der selbstzweckhafte Teloscharakter sinnlich-bedürftiger, letztlich kleiner und schwacher Wesen. Der Schwund eines verbindlichen Verständnisses des Schönen im zu Ende gehenden Jahrhundert, die Negativitätsästhetiken und der Leerlauf sich überbietender Destruktionsbewegungen ist nur die Kehrseite der Aufgabe, dieses Projekt, das Verhältnis von Schönheit und Lebenswelt – im Blick auf Architektur, Ökologie und eine praktisch-philosophische Naturästhetik – neu zu formulieren, auf dass „der Mensch in diese Welt passe“. 20 Vgl. Thomas Rentsch, Die Konstitution der Moralitt, a.a.O., 88 – 93, l08 f.
Entwurf und Horizontbildung in philosophischer Sicht Der Entwurf ist die existentiale Seinsverfassung des Spielraumes des faktischen Seinkönnens. M. Heidegger
1 So, wie wir Menschen und Dinge wahrnehmen, so verhalten wir uns auch zu ihnen. Meine Analysen betreffen den Kernbereich der Konstitution der menschlichen Praxis. Der Entwurfcharakter des menschlichen Daseins wurde von Heidegger in seiner ekstatischen Struktur beschrieben. Die Konstitution der lebensweltlichen Horizontbildung bzw. Horizontvorzeichnung wurde von Husserl wegweisend thematisiert. In diesen Analysen wird bereits das konstitutiv antizipatorische Moment der Entwurfspraxis und der Horizontbildung deutlich. Wenn ich einen appetitlichen Apfel sehe, so bin ich mir vorweg ekstatisch (außer mir) beim Apfel und komme so auf mich zurück in meine jeweilige ganze Lebenssituation. Die raum-zeitliche Konstitution der Praxis ist ekstatischsinnantizipierend verfasst. Sie hat, auch dies wird deutlich, einen primär ganzheitlichen Status; wir können Situationen der Horizontbildung und der Entwurfspraxis nicht in einzelne isolierte Entitäten „an sich“ aufspalten, in mich an sich, in den Apfel an sich, in den Anblick des Apfels an sich etc. Diese sich zeigenden Aspekte sind Sinn-Aspekte des situationalen Gesamtsinns, der sich uns in den jeweiligen konkreten Lebenssituationen erschließt, der sich zeigt. Primäre Sinnantizipation und Horizontbildung sind durch einen irreduziblen Holismus minimaler interner Komplexität konstituiert. (Alle Wissenschaften entstehen durch Reduktion, Objektivation und Isolation dieser primären ganzheitlichen Komplexität.) Über diese Analyse hinaus muss mit Heidegger und Wittgenstein die primäre sprachliche Erschlossenheit der Horizontbildung hervorgehoben werden. Gerade, weil, wie Wittgenstein überzeugend herausarbeitet hat, sprachliche Bedeutung mit der außersprachlichen Gebrauchspraxis konstitutiv verklammert ist, wissen wir, was ein Apfel ist und dass das da vor uns ein Apfel ist, weil wir wissen, wie ein Apfel schmeckt, wie wir mit
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Äpfeln umgehen, weil die gesamte Apfelpraxis den Hintergrund und externen Kontext unserer gegenwärtigen Sinnsituation bildet. Dieser Befund bestätigt auch die Analyse der vorgängigen Erschlossenheit bei Heidegger und die der passiven Struktur der intentionalen Horizontvorzeichnung bei Husserl: So, wie wir bei der internen Konstitution von Sinnsituationen nicht vorhandenheitsontologisch von isolierten Entitäten, Gegenständen an sich ausgehen können und dürfen – alle solche Analysen führen philosophisch und phänomenologisch in die Irre – genauso dürfen wir beim sprachlichen und nichtsprachlichen äußeren Horizont nicht vorhandenheitsontologisch von isolierbaren Gegenständen oder vorhandenheitssemantisch von isolierten Bedeutungen – z. B. einzelner Prädikate wie „Apfel“ ausgehen. Vielmehr ist die pragmatische Bedeutungskonstitution ganzer Sätze in ganzen Situationen umgeben und ermöglicht durch die Umgebung eines verdeckt, indirekt gegenwärtigen Hintergrundes eines nicht explizit bewussten Vorwissens, eines Hintergrundes, der passiv die Horizontbildung vorstrukturiert. Übersetzt in philosophische Schulrichtungen besagt dieser zentrale Aspekt der Passivität bzw. der Verdecktheit, der Negativität des Hintergrundes, dass, je entschiedener wir auf der Tatsache der Sinnkonstitution durch menschliche Praxis insistieren, also je entschiedener wir eine Pragmatik (bzw. Transzendentalpragmatik) vertreten, wir desto klarer und unabweislicher auch die Dimensionen der Hermeneutik in den Blick nehmen müssen. Denn der sprachliche und nichtsprachliche Hintergrund der Horizontbildung ist passiv, vorgängig und vorbewusst und kann nur auslegend explizit gemacht werden. Pragmatik und Hermeneutik stehen somit selbst in einem dialektischen Verhältnis zueinander. Pragmatismus, Hermeneutik und Dialektik bilden so erst zusammen die methodische Basis einer kritischen Philosophie; die phänomenologischen und sprachanalytischen Komponenten sind stets einzubeziehen. Da das Ganze der Sprache und der Praxis nicht objektivierbar ist, gehören tiefenhermeneutische und ideologiekritische Analysen (in der Tradition von Marx, Nietzsche, Freud, Heidegger, Wittgenstein, Adorno und Derrida) notwendig zur Konstitutionsanalyse im weiteren Sinne. Die Grundstruktur der Verdecktheit und der Negativität der Konstitutionsbedingungen hat Heidegger auf die Formel von der Ferne des Nahen gebracht. Wittgenstein betont entsprechend, dass die für unsere Weltorientierung konstitutiven Bedingungen uns nicht auffallen, weil sie in der Alltäglichkeit verborgen sind. Die Alltäglichkeit der Horizontbildung besagt daher nicht im Mindesten, dass ihre Struktur einer oberflächlichen Be-
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trachtung offen zugänglich ist und zutage liegt. Ohne Hermeneutik und Dialektik gibt es daher keine Phänomen- und keine Sprachanalyse. Bereits die Erfassung und Betonung des pragmatischen, lebensweltlich-praxisbezogenen und des konstitutiv sprachlichen Charakters der Horizontbildung erlaubt es gegen eine bewusstseinsphilosophisch ausgerichtete, an einzelnen Bewusstseinsleistungen bzw. an einem zunächst isoliert gedachten transzendentalen Subjekt ausgerichtete Analyse ihren primär sozialen, kommunikativen, intersubjektiven, besser: interexistentiellen, interpersonalen Charakter zu erkennen. Ein isoliert gedachtes Orientierungssubjekt gelangt nie von sich aus zum isoliert gedachten Apfel, sondern eingebettet in die gesamte, komplexe Sprach- und Handlungspraxis bin ich allererst in die Lage versetzt, den Apfel, seinen Geschmack, seine Farbe, seinen Duft, seine Konsistenz sinnvoll zu antizipieren. In unserer Welt, und in unserer gemeinsamen Sprachwelt, sind Äpfel erschlossen. Die intersubjektive Konstitution der Horizontbildung ist unhintergehbar. Erst auf ihrem material-apriorischen Fundament ist dann auch eine individuelle Entwurfspraxis möglich (und stets nötig). Zum Beispiel beruht die Höchstform subjektiver Gestaltungs- und Ausdrucksfähigkeit bei einem Komponisten wie Schubert eben gerade nicht auf bloß subjektivistischen Intuitionen, sondern auf der gesamten komplexen, hochgradig vorkonstituierten Kompositionstechnik der klassischen Wiener Schule, der Sonatenhauptsatzform und der intersubjektiv konstituierten Öffentlichkeit der Aufführungspraxis vom frühen Haydn bis zum späten Beethoven. Gleiches gilt für alle Künste und für die Architektur. Im Folgenden will ich die Analyse der Horizontbildung und der Entwurfspraxis noch vertiefen, indem ich die aufgewiesenen Strukturmomente der ekstatischen Sinnantizipation, des irreduziblen qualitativen Holismus, der konstitutiven Negativität des Hintergrundes und der Passivität, der primär sprachlichen Erschlossenheit und der sozial-kommunikativen, intersubjektiven Konstitution (vor aller Privatheit) um weitere notwendige Strukturmomente ergänze. Die Analysen sind gegen reduktionistische, szientistische, theoretizistische Auffassungen von unserem Welt- und Selbstverhältnis gerichtet, Auffassungen, die vorhandenheitsontologisch bzw. vorhandenheitssemantisch unsere Sicht auf die lebensweltliche Praxis verstellen und vergessen und die letztlich von einer dualistischen Ontologie von Subjekt und Objekt bzw. Subjekt und Subjekt oder von einer Referenzsemantik des Abbildverhältnisses von sprachlichen Unterscheidungen und vorhandenen Dingen ausgeht, d. h.: von einer verdinglichten, verfallenen Ontologie, die allerdings viele
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theoretische und damit auch alltägliche Verständnisse unserer Praxis noch tiefgreifend prägt. Folgende Strukturmomente müssen im Blick auf die Konstitution der menschlichen Praxis und der Horizontbildung noch freigelegt werden: Es ist erstens das normativ-ethische Moment der Sinnantizipation, es ist zweitens die primär leiblich-materielle Konstitution der Horizontbildung, es ist schließlich drittens ihre konstitutiv situativ-individuierte, individuelle Struktur. Erst die Berücksichtigung aller Strukturmomente kann uns das Phänomen bzw. Urphänomen wirklich angemessen erschließen, denn die Strukturmomente sind gleichursprnglich (äquiprimordial: d. h., sie sind irreduzibel aufeinander, unableitbar von einander und nur mit und wechselseitig durch einander verstehbar). Erst wenn wir alle gleichursprünglichen Strukturmomente berücksichtigen, wird unsere Urteilskraft so orientiert, dass wir eine theoretische Reflexion der lebensweltlichen Praxis (auch des Bauens und Wohnens) unverstellt leisten können. Ich werde zu diesem Zweck in einem zweiten Schritt paradigmatische Analysen und Bezüge zur Horizontbildung und zur Entwurfspraxis vorstellen, um meinen Ansatz geschichtlich zu verdeutlichen und zu veranschaulichen. In einem dritten Schritt werde ich kurz die Thematik der urbanen Landschaft in die Analyse einbeziehen.
2 Die paradigmatischen Analysen und Bezüge dienen auch der kontrastiven Erläuterung und kulturellen Kontextualisierung meiner Überlegungen. Sie sollen Horizontbildung und ihre theoretische Thematisierung gleichzeitig in den Blick nehmen. Die Bemerkungen können in unserem Rahmen nur kurz Aspekte skizzieren. Dennoch sollen sie auch so etwas wie eine modellhafte Ultrakurzgeschichte der Horizontbildung darstellen, eine Geschichte, die eben bis zu unserer gegenwärtigen Frage- und Orientierungssituation führt. Ein erster Bezug ist der auf die Urgeschichte der Menschheit. In seinen Untersuchungen zu einer philosophischen Biologie, die 1973 unter dem Titel Organismus und Freiheit auf deutsch erschienen, hat Hans Jonas die urmenschliche Höhlenmalerei zum Ausgangspunkt seiner Analysen der „Freiheit des Bildens“ gemacht. Der Mensch ist für ihn, wie für Cassirer, animal symbolicum, Bilder entwerfendes und so sich aus, in und durch sie verstehendes Wesen. In der Bildentwurfspraxis verdichten sich bereits in den frühesten Zeugnissen der Menschheitsfrühgeschichte
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die Aspekte von Freiheit und Sinn: menschliches Handeln ist ein freies Fortsetzen nicht-festlegender Anfänge von bewusstem, verstehbarem Sinn. Horizontbildung setzt imaginative Freiheit voraus. Diese vermag sich von den Gegenständen zunehmend abzuheben und zu eigenständiger Gestaltgebung überzugehen. Das Bewusstsein der Differenz des Entwerfenden selbst vom entworfenen Sinn wie auch von der gegenständlichen Wirklichkeit der Außenwelt muss dabei bereits ausgebildet sein, und damit der entscheidende Schritt zur Menschwerdung durch Sprache, Freiheit und Sinnorientierung. „Der Nachschöpfer von Dingen ist […] potentiell auch der Schöpfer neuer Dinge […]. Die erste vorsätzlich gezogene Linie erschließt jene Dimension von Freiheit“, die „als ganze“ „die aktuelle Wirklichkeit“ „transzendiert“ und ein „Feld unendlicher Variation als ein Reich des Möglichen“ eröffnet, „das vom Menschen wahrgemacht werden kann nach seiner Wahl.“1 Dabei ist der praktische Bild- und Sinnentwurf nach Jonas gerade mit der leiblichsinnlichen Basis der Konstitution verklammert: das transanimalische, einzigartige menschliche Urphänomen der eidetischen Kontrolle der Motilität (der Muskeltätigkeit) „regiert nicht von festen Reiz-Reaktionsschemata, sondern von freigewählter, imaginierter und vorsätzlich projizierter Form.“2 Dies gilt für das Malen, für das Tanzen, wie später für das Sprechen, Hören und Schreiben. „Die eidetische Kontrolle der Motilität, mit ihrer Freiheit äußerer Ausführung, ergänzt so die eidetische Kontrolle der Imagination, mit ihrer Freiheit inneren Entwerfens. Ohne die letztere gäbe es kein rationales Vermögen, aber ohne die erste wäre sein Besitz umsonst, weil wirkungslos. Beide zusammen ermöglichen die Freiheit des Menschen. Homo pictor, der beide in einer anschaulichen, unteilbaren Evidenz zum Ausdruck bringt, bezeichnet den Punkt, an dem homo faber und homo sapiens verbunden sind – ja, in dem sie sich als ein und derselbe erweisen.“3 So konzentriert der Bildentwurf eines Büffels, den der vorzeitliche Jäger an die Höhlenwand zeichnete, in seiner Abbreviatur noch einmal dessen Welt und ihren lebensweltlichen Sinnhorizont. Horizontvorzeichnung mit lebensweltlich-praktischem Fundament erschließt uns somit in gewisser Weise den Zugang zum Zentrum der 1 2 3
Hans Jonas, „Homo pictor: Von der Freiheit des Bildens“, in: ders., Organismus und Freiheit. Anstze zu einer philosophischen Biologie, Göttingen 1973, 226 – 257, dort 243. Ebd., 244. Vgl., ebd.
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menschlichen Welt. Das wird auch am zweiten Paradigma der Horizontvorzeichnung deutlich. Das babylonische Weltschöpfungsepos Enuma Elisˇ geht auf die ältere sumerische Mythologie zurück. In ihr ist die Vorstellung vom kosmischen Baum, der Erde und Himmel verbindet, besonders wichtig. Dieser kosmische Baum oder Pfahl, der die irdische mit der göttlichen Welt zusammenhält, wurde z. B. im Ningirsu-Tempel gesehen, der sich wie der Baum gisch-gana über dem Urabgrund und über alle Länder erhebt. Am Tor des Tempels steht wiederum ein Pfahl, der bis in den Himmel reicht. Der Tempel von Lagasch wurde der große Mast des Landes Sumer genannt. In Nippur, der heiligen Stadt Sumers, in der Enlil, der große Gott des Landes, seinen Sitz hat, heißt der Stufenturm, das kosmische Symbol, Duranki, Band zwischen Himmel und Erde, und in dieser Bezeichnung findet sich wieder die Vorstellung des verbindenden Pfahls, Baums oder Tempels, der die irdische Welt mit dem Reich der Götter in Kommunikation setzt. Zeichnen wir einige Etappen des babylonischen Schöpfermythos Enuma Elisˇ nach und geben dann eine Skizze des gesamten Systems der babylonischen Welt. Der Mythos4 beginnt: Als droben der Himmel noch nicht genannt war, unten die Erde noch keinen Namen hatte […]
Dahinter steht die sumerisch-babylonische Vorstellung: Das, was noch keinen Namen hat, das gibt es nicht. Es gibt am Anfang noch keine Unterscheidung von oben und unten. Was es gibt, ist die Ursubstanz Wasser sowie zwei Mächte: die weibliche Thiamat und den männlichen Anzu. Am Anfang der Dinge sind die Süßwasser (Anzu) und die bitteren Wasser der Thiamat (des Meeres) miteinander vermischt. Aus der ungeschiedenen Urflut, die zeugungsfähig ist, gehen Götterpaare hervor: Zunächst treten Lahmu und Lahama auf: dieses Urpaar bedeutet die Rumlichkeit und die Spannung der Gegenden; sie ist als Potenz, als vorschlagende Mächtigkeit gedacht. Ihre Kinder sind Anschar und Kischar. An und ki bedeuten Himmel und Erde. Aber Anschar und Kischar 4
Vgl. zum Folgenden meinen Aufsatz „Was ist eine Welt? Bermerkungen zum Verhältnis von Philosophie und Weltanschauung“, in: Johannes Rohbeck (Hg.), Philosophie und Weltanschauung, Dresden 1999, 49 – 65 sowie Texte aus dem Enuma Elisch, in: Die Schçpfungsmythen. gypter, Sumerer, Hurriter, Hethiter, Kanaaniter und Israeliten., Darmstadt 1980, 134 ff. Dazu: Carmen Blacker/ Michael Loewe (Hg.), Weltformeln der Frhzeit. Die Kosmologien der alten Kulturvçlker, Düsseldorf, Köln 1977 sowie: Hubertus Halbfas, Das Welthaus. Ein religionsgeschichtliches Lesebuch, Stuttgart 1983.
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sind das vorgängige Oben (männlich) und Unten (weiblich). Aus ihnen entspringen zwei Zeiten, die himmlische und die irdische. Außerdem geht aus Anschar Anu, der Himmelsgott, hervor. Dieser schafft den Urhimmel, und sein Sohn Enki den kosmischen Urabgrund, auf dem alles ruht. Am Busen dieses Abgrunds wird Marduk geboren, der göttliche Chaoskämpfer. In einem Kampf vornehmlich gegen Thiamat (das Urmeer) und ihre Chaosmächte ordnet Marduk den Kosmos endgültig. Auf dem Leichnam der Thiamat wird die Erde gegründet: auf ihrem Haupt erhebt sich ein Berg, aus ihren Augen entspringen Tigris und Euphrat, auf ihrem Busen stehen üppige Hügel. Marduk lässt nun Anu, Anlil (den Windgott) und Enki ihre Plätze einnehmen. Dann schafft Marduk die Menschen aus dem Blut eines geopferten Gottes, und zwar, damit ihnen der Dienst der Götter zufalle, damit diese ruhen können […] auf dass der Dienst der Götter ihr Los sei auf immer.
Das System der babylonischen Welt sieht jetzt vereinfacht so aus:
Anu-Himmel
Enlil (Wind- und Erdgott)
Erdscheibe
Weltberg
(Tempel E-Anna, Haus des Himmels)
Enki-Bereich (kosmischer Urabgrund)
Das Land ohne Umkehr, die Erde ohne Wiederkehr, die Stadt der sieben Mauern (Herrschaftsbereich der Totengottheit)
Der Weltberg ist der Tempel in Uruk, er hat die gleiche Bedeutung wie der Weltbaum oder Weltpfahl der Sumerer, die wir oben erläutert haben. In weiteren Mythen werden die Einsetzung und die Funktionen der Königs und der Priester und die einzelnen Rituale festgelegt. In diesem 4000 Jahre alten Weltentwurf gibt es eine genaue Entsprechung des
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Naturkosmos (vom Gestirnlauf über die Jahreszeiten bis zu den tierischen Wurfzeiten), des Sozialkosmos (Staats- und Rechtsordnung) und des Individualkosmos. Der Gott Enlil hält mit demselben Netz die Chaosmächte in Bann, mit dem er die Rechtsbrecher fängt. Diese Welt ist Inbegriff aller Daseinsbezüge des Menschen. Sie ist gegründeter Kosmos und Existenzgründung von Gesellschaft und Individuum zugleich. Und der Mythos ist Zeugnis und Beglaubigung, Stiftung und Bestätigung dieser Welt- und Existenzgründung. Dieses babylonische Weltbild ist keine geographische Karte. Der Mensch wird in dieser mythischen Weltordnung der frühen Kulturen umfassend in einen übergreifenden, sinnvollen Gesamtentwurf eingefügt. Der Philosoph Helmuth Plessner hat von der konstitutiven Ortlosigkeit des Menschen gesprochen. Er nennt diese Ortlosigkeit auch Exzentrizität bzw. exzentrische Position. „Das Tier lebt aus seiner Mitte heraus, in seine Mitte hinein, aber es lebt nicht als Mitte. Es erlebt Inhalte im Umfeld […], aber es erlebt nicht – sich“5, denn die Mitte seines Daseins bleibt dem Tier verborgen. Der Mensch erlebt sich als Mitte und ist darum gleichzeitig über sie hinaus – exzentrisch. Darum, weil er über sich immer schon hinaus sein muss, ist der Mensch nach Plessner nirgendwo zuhause: Seiner selbst und seiner Nichtigkeit bewusst, muss der Mensch sich ein Zentrum, einen Halt, einen Ort immer neu erst schaffen. Die Weltentwürfe der frühen Hochkulturen der etwa 10000jährigen Agrarperiode der Menschheitsgeschichte bestätigen dieses Bedürfnis nach Zentrierung. Wir sahen bereits an den sumerischen und babylonischen Weltpfahlbzw. Weltbaumvorstellungen, wie stark die mythische Intention darauf abzielt, eine solche kosmische, soziale und existentielle Zentrierung zu erreichen. Dies ist ein Spezifikum, das weltweit und durch die Zeiten hindurch feststellbar ist. Die Kulturen der 10000jhrigen Agrarperiode sind weltweit von einem Bedrfnis nach Getragenheit und Geborgenheit geprgt. Sie alle streben in ihren mythischen Entwürfen den Weltmittelpunkt an. Dieser Mittelpunkt erscheint als Weltachse, Weltzentrum, Allmittelpunkt, Weltnabel, als Weltbaum, oder auch als Kirchturmspitze im Dorf. Eines der grandiosen Beispiele sind die Pyramiden. Sie sind Wohnbauten, der Tote lebt in ihnen. Und sie sind auch Weltmittelpunktsbauten: Schrumpfen die Nilufer zusammen, verwehen rechts und links die trockenen Felder, droht alles auf dem tiefsten Punkt der Ebbe zu ersterben, dann nimmt der Pulsschlag des Flusses wieder zu und bedeckt in aus5
Helmuth Plessner, Die Stufen des Organischen und der Mensch. Einleitung in die philosophische Anthropologie, New York/Berlin 1975, 288.
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gedehnt flacher Strömung lebloses Ödland wieder mit fruchtbarem Schlamm. Die triumphale tägliche Wiedergeburt der Sonne bringt durch Trocknung die ersten Boten des Sieges über den Tod hervor: Vereinzelt tauchen Erdkuppen aus der sinkenden Überschwemmung auf. Sie heißen „Pracht der Erscheinung“. Von ihnen nimmt die Schöpfung ihren Ursprung. Mehr und mehr Fruchtland wird sichtbar. Diesen kosmischen Schöpfungsakt wiederholen die Erbauer der Pyramiden. Lässt sich das Leben des Menschen auch nicht wieder herstellen, so doch dadurch „wieder erschaffen“, dass die kosmische Urschöpfung auf Dauer gestellt wird. Die Pyramide ist ein stilisierter Urhügel. Ihre Seiten entsprechen den vier Weltquadranten. Das Licht des Polarsternes, der „nichts von Ermattung“ weiß, weil er nicht unter dem Horizont verschwindet, fällt in die Hauptöffnung. Die Strahlen des Sirius, der die Nilüberflutung ankündigt, scheinen bis tief in das königliche Gemach hinein: es gibt keine bessere Wohnung für den Toten als inmitten dieses Schöpfungshügels, der den ursprünglichen Augenblick des Weltanfangs architektonisch vergegenwärtigt. „Im Herzen der Wirklichkeit“ weilt, wer in der Pyramide „lebt“. Keine Pyramide als solch ein mythischer Urhügel liegt im kartographischen Raum. Der mythische Weltbeginn nimmt ebenso auch keine datierbare Zeitstelle ein. Darum liegen die heiligen Wohnungen der Pharaonen alle in dem einen Weltzentrum. Durch den mythischen Raum wird die bleibende, mythische Zeit Gegenwart und eine Welt mit ihrem Zentrum wird gegründet. Dies ist ein weltweites Phänomen: es gilt von den altamerikanischen Tempelpyramiden, deren Vorläufer gewachsene runde, durch Steinmassen oder Stuckmäntel zusammengehaltene Weltzentren sind. Es gilt von chinesischen Totenhausurnen, es gilt vom Anspruch Chinas, das „Land der Mitte“ zu sein. Die indische Weltsäule skambha steht im Zentrum der Welt. Der Mittelpfosten ist die Weltachse in den Wohnungen der primitivsten arktischen und nordamerikanischen Behausungen und in den Hirtenhütten Zentralasiens. Die oben ausgesparte Öffnung ist nicht nur Rauchabzug. Sie gibt die Sicht auf den Polarstern, den „Weltnagel“, frei. Bei Opferfeiern wird der Weltbaum in die Jurte gebracht, der mit seinen sieben Ästen, den sieben Himmelssphären, aus der Öffnung herausragt. Es werden Weltsäulen errichtet, die bei den Mongolen „goldene Pfeiler“ heißen. Bei den Ostjaken werden diesen Holzpfählen Schlachtopfer gebracht. Bevor in Indien auch nur ein Stein gelegt wird, bezeichnet der Astrologe den Punkt der Grundsteinlegung, der sich über der die Welt tragenden Erdschlange befindet. Der Maurermeister schneidet dann im Wald einen Pfahl, rammt ihn in den Boden, genau an dem bezeichneten Punkt, damit
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der Kopf der Schlange gut festgehalten wird. Um in der Welt als der sinnhaften Gesamtwirklichkeit heimisch zu wohnen, baut man sich in ihr Zentrum ein. Es ist ersichtlich, dass an diesem weltgeschichtlich vielleicht bedeutendsten bisherigen Paradigma von Weltentwurf und Horizontvorzeichnung die Strukturmomente der ekstatischen, rückwirkenden Sinnantizipation, des irreduziblen qualitativen Holismus, der sinnkonstitutiven Negativität und Passivität (also das Eingelassensein in die in der Horizontbildung vergegenwärtigten natürlichen, kosmischen Bezüge), die Momente der sprachlichen Erschlossenheit und der sozial-kommunikativen, intersubjektiven Konstitution ebenso aufweisbar sind wie das normativ-ethische Moment, das leiblich-materielle und das situativ-individuierte. In einem dritten Paradigma beziehe ich mich auf Vastu, die indische Lehre vom guten Bauen und Wohnen.6 Die hinduistischen Bauten sollen die kosmische Ordnung vergegenwärtigen. Der Architekt wird als Arzt verstanden. Entscheidend ist, dass das Wesen der Technik in dieser Tradition nichts Technisches ist, sondern dass die Bautechniken auf Weisheitstraditionen aufruhen. Es geht bei dieser Baukunde um das Einwohnen in einer Totalität in rechter, guter, gesunder Balance. Die in diesem Horizontentwurf vorgezeichnete Totalität wird aus den fünf Basis-Elementen Wasser, Feuer, Luft, Himmel und Erde gebildet. Die Prinzipien der Lehre haben einen klaren Lebensform-Praxisbezug: Orientierung, Situierung, Proportionalisierung und maßvolle Gestaltung, schließlich Schönheitsaspekte sind leitend. Raum und Zeit sind in diesem Horizontentwurf keine entleerten Anschauungsformen, sie sind Lebensformen – wie auch in den altorientalischen Weltbauten. In der indischen Baukunst mit ihrer 5000 Jahre alten Tradition wird eine qualitative Raumzeit mit konkretem Bezug auf gelingende Lebenspraxis konzipiert. Im Maß, begriffen als „Frieden und Segen“, wird so eine Einheit von Mensch und Natur, von Geist und Leben in Gestalt einer integralen Biologie angestrebt. Der Hausbau ist ein religiöser Akt. Es lässt sich nun, so die These der Dissertation, zeigen, dass sich die Ansätze des Vastu mit dem modernen Konzept des sustainable development verbinden lassen, auch ohne be6
Ich betreute vor einiger Zeit mit meinem Kollegen Bernhard Irrgang die philosophische Dissertation einer Inderin, Reena Patra, an unserem Institut: Vastu Shastra. An old Indian Technical Philosophy (Diss. TU Dresden 2003); vgl. auch: Birgit Frohn/ Hans-Heinrich Rhyner, Vastu. Die indische Lehre vom gesunden Bauen und Wohnen, München 1999 sowie Arun Kumar Tripathi, „Menschliche Leiblichkeit und das Prinzip von Vastu Purusha Mandala“, in: Ausdruck und Gebrauch 5, Heft II (2004) 41 – 48.
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stimmte astrologische Vorstellungen zu übernehmen, die für den Hinduismus leitend sind. Angesichts moderner Verluste von Totalität, Ganzheit und Harmonie durch Fragmentierung und Entfremdung ist der integrale Horizontentwurf des Vastu jedoch auf neue Weise interessant. Es geht um einfache und pragmatische Maße, die eine holistische Integration der (fünf) Elemente der Natur mit Raum, Menschheit und Zeit gestatten. Im Vergleich mit einer vorhandenheitsontologischen Weltreduktion sind solche traditionellen Horizontentwürfe lebenspraktisch viel reicher. Vielleicht gelingt es heute auch interkulturell, die Weisheit der Tradition mit dem Wissen von heute produktiv zu verbinden, ohne die Vergangenheit zu romantisieren oder die Aufklärung rückgängig zu machen. (Ob Vitruv Kenntnis von indischer Lehrtradition und dem Manasara des Wishwakarma hatte, wie einige vermuten, wäre natürlich interessant zu wissen.) 7 Die Zeit gestattet es nicht, ein viertes, unser eigenes europäisches Paradigma der mittelalterlichen Ordo-Metaphysik, zu behandeln. Die hier in den Großsystemen vergegenwärtigte Horizontvorzeichnung ist die einer Metaphysik als Grammatik der Lebenswelt und einer existenzbezogenen Ethik, in der Kosmologie, Ontologie, Theologie, Axiologie und Logik auf einander bezogen werden. Damit interpretiert die mittelalterliche Ordo-Metaphysik auf ihre Weise die bereits aufgewiesenen Strukturmomente. In einem fünften Paradigma wird die ontologische und kosmologische Vergegenwärtigung der Struktur der lebensweltlichen Horizontbildung bewusstseinsphilosophisch bzw. transzendentalphilosophisch subjektiviert und verinnerlicht, ohne ihre Strukturmomente einzubüßen. Es ist nun bezeichnend für unsere Thematik, dass die volle Struktur weder in der theoretischen noch in der praktischen Philosophie freigelegt wird, sondern in der Ästhetik und mit Bezug auf die Einbildungskraft und die Urteilskraft. In Kants Analyse der ästhetischen Einbildungskraft finden sich die Strukturmomente der Horizontvorzeichnung: die Sinn- und Erfüllungsantizipation, die antizipierte Ganzheitlichkeit, die Selbstzweckhaftigkeit, die individuierte Einzigartigkeit, die qualitativ erschlossene Raumzeitlichkeit und die kommunikative Selbsttransparenz der inneren Natur der Menschen vereint in der Erfahrung des Schönen. Der kreative Entwurfcharakter ist geradezu das proprium der produktiven
7
Vgl. dazu Frohn/Rhyner, a.a.O., 194 ff.
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Einbildungskraft. Er zielt auf erfüllte Gegenwart und sinnhafte Lebensganzheit.8
3 Es geht meines Erachtens darum, die bleibende Gültigkeit der traditionellen Paradigmen der Horizontbildung zu retten, indem wir sie aus ihren ontologisch-objektivistischen und ontologisch-subjektivistischen Voraussetzungen lösen, indem wir ihren Alltags- und Lebensbezug begreifen und neu begreifen. In aller Alltäglichkeit nämlich praktizieren wir die horizontbildenden Sinnentwürfe, die einst mythisch, metaphysisch bzw. transzendentalphilosophisch vergegenwärtigt wurden. Die Sinnentwürfe entfalten sich aufgrund der kreativen Potentiale der menschlichen Einbildungs- und Antizipationskraft sprachlich, bildlich und technischpraktisch in unüberschaubarem Gestaltungsreichtum, sowohl diachron wie synchron. Die Gestaltungsfreiheit und die Offenheit der Formgebung über jeden Funktionalismus hinaus hat hier ihren Ursprung. Einerseits sind Horizontvorzeichnung wie auch Gestaltgebung notwendig. Deswegen kann man mit Husserl von dieser Notwendigkeit als von der Passivität der Synthesis sprechen. In allen bereits elementaren Wahrnehmungs- und Orientierungssituationen ist die Horizontbildung fr unsere Lebenspraxis sinnkonstitutiv. 9 Eine menschliche Welt ist unmöglich ohne leiblich-zeitlichräumliche, sinnliche Horizontbildung, die einen gleichursprünglichekstatischen Charakter besitzt. In diese vorprädikative Horizontbildung ist auch die sprachliche Horizontbildung, die an der Basis in ganzen Sätzen erfolgt, eingebettet. Wir müssen unsere Horizonte vorzeichnen und kommen so aus der Zukunft auf uns zurück in die schon erschlossene Gegenwärtigkeit. Aber wie wir bewusst gestalten und formen, dies ist in Grenzen offen. Wir mssen unserer Welt, unseren Wohnungen, Häusern, Städten und Gebrauchsgegenständen Form geben; aber das Wie ist in Grenzen unbestimmt und offen.10 Für die gegenwärtige Reflexionssituation der Philosophie ist es nötig und möglich, künstliche ScheinOppositionen von Technik und Praxis, Wissenschaft und Kultur, Tra8 Vgl. Thomas Rentsch, „Strukturen ästhetischer Erfahrung“, in diesem Band. 9 Vgl. Thomas Rentsch. „Phänomenologie als methodische Praxis. Didaktische Potentiale der phänomenologischen Methode“, in: Johannes Rohbeck (Hg.), Denkstile der Philosophie, Dresden 2002, 11 – 28. 10 Vgl. Thomas Rentsch, „Wie lässt sich Angemessenheit ästhetisch denken? Zum Zusammenhang von Schönheit, Metaphysik und Lebenswelt“, in diesem Band.
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dition und Moderne zu überwinden. Wir können, das ist mein Ziel, gerade so einen interkulturellen und intrakulturellen Gradualismus und Differentialismus des Sinns der bewussten Entwurfspraxen auf letztlich lebensweltlichem Fundament erreichen. Das universale lebensweltlichalltägliche Fundament der Horizontbildung und der Einbildungskraft ist der menschliche Leib als der Ort der Synthese von Sinn und Sinnlichkeit. Leiblich entwerfen und leben, leiblich gestalten, sprechen und wohnen wir. Der Leib ist die wahrhaft ekstatische Mitte der menschlichen Welterfahrung, in der deren Naturgrund und deren kommunikatives Wesen sich vereinen und durchdringen. Die sublimierten und subjektivierten Modi der epistemischen Rekonstruktion der Horizontbildung in Transzendentalphilosophie, klassischer Phänomenologie und Sprachanalyse erscheinen so noch als Verdeckungen des Leibes und der lebensweltlichen Sinnlichkeit. In ihr hat das Bauen und Wohnen und unser gesamtes Entwerfen und Gestalten seinen bleibenden Bezugspunkt. Die Theorien der Subjektivität sind ebenso lebensweltentfremdet und verkopft, wie auf ihre Weise die ontologisch-metaphysischen Theorien, wenn wir sie objektivistisch verstehen. Auch die subjekttheoretischen Ästhetiken der klassischen wie modernen Kunstentwicklung stellen nur eine extrem partiale Sondervariante des in Wirklichkeit universalen Gestaltgebungsproblems dar. Im Blick auf den fundamentalen Aspekt ihrer lebensweltlichen Bedeutung müssen die Horizontbildung, die Gestaltgebung und die Entwürfe neu gedacht werden im Kontext praktischer Vernunft: als die verantwortliche Gemachtheit unserer eigenen Lebensumstände unter Einschluss der Verhässlichung der Welt und der Unwirtlichkeit der Städte; als die Ganzheit der in natürliche Kreisläufe eingebetteten Praxis auch des Atmens, des Gehens, der Geschwindigkeit, des Geräuschpegels, des Wohnens und Essens; als die Einmaligkeit und Kostbarkeit verletzlicher leiblicher Individuen in ihrer Naturhaftigkeit, Materialität und Endlichkeit, als die Fragilität des durch Alter und Tod bedrohten organischen Lebens und als der selbstzweckhafte Teloscharakter sinnlich-bedürftiger, endlicher, Sinn und Erfüllung antizipierender Wesen. Auf diese Weise würden sowohl subjektivistische wie auch objektivistische, verdinglichte und reduktionistische Weltverständnisse gesprengt. Der praktische Kontext der lebenssinnkonstitutiven Horizontbildung kann für das Zwischen sensibilisieren, für das Inmitten
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von Natur und Kultur, von Negativität und Vernunft, das wir in Wahrheit selber sind.11 Das Wohnen in der Zwischenstadt, im städtisch-landschaftlichen Gebiet, kann demnach als konkretes Paradigma einer faktischen und zu gestaltenden Lebenswirklichkeit begriffen werden, an dem Exzentrizität und Re-Integration als Lebensform anschaulich werden. Die hier genuine Horizontbildung im Rahmen einer Grammatik des Randes, wie sie Achim Hahn analysiert hat, bestätigt die Strukturmomente, die ich aufgewiesen habe, konkret.12 Es ließe sich so ein für die Moderne einschlägiges, integratives, sowohl konstruktives wie mimetisches Paradigma des Wohnens und des Lebens in der humanen Welt denken und entwerfen. Es geht schließlich darum, ich will es abschließend mit Heidegger formulieren, dass wir endlich heimisch werden in der Endlichkeit, da nämlich, wo wir längst schon waren und eigentlich nur sind.
11 Vgl. Thomas Rentsch, Negativitt und praktische Vernunft, Frankfurt a.M. 2000, v. a. 9 – 29. 12 Vgl. dazu Achim Hahn/Michael Steinbusch, „Biographisch-räumliche Wanderung und das ,gute Leben’, in: Raumplanung 91 (August 2000) 191 – 196; Achim Hahn, „Lebenswelten am Rand. Interpretationen zum kulturellen Ausdruck von Wohnsuburbanisierung“, in: Brake u. a. (Hg.), Suburbanisierung in Deutschland. Opladen 2001, 223 – 233.
Thesen zur philosophischen Metaphorologie Ce qui n’est pas ineffable n’a aucune importance Valry
Zur Rede von der philosophischen Metaphorologie Zunächst möchte ich vorschlagen, den Begriff „Metapher“ in einem engeren, den Begriff „Bild“ in einem weiteren und fundamentaleren Sinne zu verstehen, der gleich erläutert wird. Der Disziplinentitel „philosophische Metaphorologie“ verdeckt bei Blumenberg diese Unterscheidung. Wissenschaftspolitische Gründe waren wohl dafür ausschlaggebend. Auch die angelsächsische Diskussion – etwa seit Mary Hesse – verwendet „Metaphorologie“ ebenfalls in Zusammenhängen, in denen weit besser von Bildern, Modellen oder auch von Paradigmen die Rede sein könnte. Dann könnte man die harmlosen Metaphern-Fälle und die ihnen entsprechenden Theorien (etwa Searle, mit Ausnahme seiner Zeit-Beispiele) wieder auf sich beruhen lassen. Es ist klar, warum der Titel gewählt wurde, denn „philosophische Symbolik“ bzw. „Philosophie der symbolischen Formen“ sind antiquiert, und „Philosophie der Bilder“ o. ä. klingt zu schwächlich. Welche Fragen sollen durch die philosophische Metaphorologie geklärt werden? Im Folgenden geht es um Blumenbergs Arbeiten und um das, was er absolute Metaphern nennt. Es soll gezeigt werden, was sie im Wesentlichen systematisch sind, und wie sie gebraucht werden. Die Klärung dieser Fragen fällt zusammen in der Frage, warum sie gebraucht werden müssen. Blumenberg und Kant Blumenberg selbst hebt hervor, dass das, was er unter absoluten Metaphern versteht, im Wesentlichen dem Kantschen Symbolverständnis entspricht. Dieses Verständnis erläutert einschlägig der § 59 der Kritik der Urteilskraft, indem er für die Versinnlichung von Vernunftideen den Begriff der symbolischen analogischen Hypotypose (Darstellung, expositio im Unterschied zur schematischen Hypotypose zur Darstellung von
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Verstandesbegriffen) einführt. Diese geben keine adäquate Anschauung (wie dies für empirische Begriffe durch Beispiele, für Verstandesbegriffe durch Verfahren [Schemata] möglich ist), sondern unterlegen der Idee eine Vorstellung, die mit ihr nichts Inhaltliches, sondern nur die Form der Reflexion gemeinsam hat. Auf diese Weise findet eine indirekte analoge Darstellung statt. Kant nennt als Beispiel etwa „Grund“, „Basis“, „Abhängen“ und „Substanz“ als „Träger“ der Akzidentien. Kant nennt also bereits auch philosophische Beispiele: Philosophische Grundunterscheidungen, von denen andere abhängen; und auch die Theologie jenseits von Anthropomorphismus und Deismus (=Vermenschlichung bzw. „Super-causa“) kann in diesem Sinne nur symbolisch sein.1 Die praktische Funktion der absoluten Metapher (Kant und Wittgenstein): Bedeutung und Gebrauch Blumenberg unterstreicht, dass bei Kant die absolute Metapher bzw. die symbolische Hypotypose einspringt, indem eine „Übertragung der Reflexion über einen Gegenstand der Anschauung auf einen ganz andern Begriff (erfolgt), dem vielleicht nie eine Anschauung direkt korrespondieren kann“.2 In diesem Zusammenhang erhält die absolute Metapher (das Symbol) eine praktische Funktion. Gefragt werden kann also nicht etwa – und ich interpretiere Kant hier mit Wittgenstein –: Welche Wirklichkeit steht – theoretisch erfassbar – hinter der absoluten Metapher, hinter der symbolischen Hypotypose, welche Tatsache(n) in der Welt bildet sie ab, die der Fall sein müssten, damit die absolute Metapher zutrifft. Wir können sie nicht mit etwas außerhalb ihrer vergleichen, mit dem „Eigentlichen“, mit „der Wirklichkeit“, die sie „abbildet“. Sie bildet also nichts ab, sondern hat ihre Bedeutung im Gebrauch. Blumenberg artikuliert das und versteht Kant so, dass die absolute Metapher „deutlich charakterisiert [ist] als Modell in pragmatischer Funktion, an dem eine ,Regel der Reflexion‘ gewonnen werden soll, die sich im Gebrauch der Vernunftidee ,anwenden‘ läßt, also ,ein Prinzip nicht der theoretischen Bestimmung des Gegenstandes‘ […], was er an sich, sondern der praktischen, was die Idee von ihm für uns und den zweckmäßigen Gebrauch derselben werden soll.“3 (Eine Stelle, an der Kant ebenfalls die Witt-
1 2 3
Immanuel Kant, Kritik der Urteilskraft, Akademie-Ausgabe, 255 ff. Ebd., 257. Hans Blumenberg, Paradigmen zu einer Metaphorologie, Frankfurt a.M. 1999, 12.
Thesen zur philosophischen Metaphorologie
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gensteinsche Auffassung von der Bedeutung als dem Gebrauch antizipiert, ist die „Amphibolie der Reflexionsbegriffe“.) Nicht „an sich“, sondern „für uns“ – diese Unterscheidung nennt eigentlich eine zentrale, systemkonstitutive Differenz der gesamten kritischen Philosophie: In ihr geht es grundsätzlich – und nicht nur in der Theorie der Symbole – nicht um die theoretische Bestimmung von Gegenständen an sich, sondern um die Idee, die wir uns überhaupt von den Gegenständen für uns machen können. Die Rede von dem praktischen Für-uns bei Kant lässt hier auch den Bezug auf die Bestimmung der metaphorischen Rede als einer Rede zu, die durch die Mitartikulation kontextuell-situativer Relevanz aus der Sicht des Redenden charakterisiert werden kann. Mit den absoluten Metaphern, den Kantschen Symbolen bestimmen wir nichts bezüglich theoretischer Vorhandenheit, sondern artikulieren die Hinsicht, in der etwas uns praktisch bedeutend erscheint und in welcher Hinsicht wir es pragmatisch verstehen. Aufgrund dieses pragmatischen Kontextholismus ist auch eine Kernthese von Paul Ricoeur zu bestätigen: Es geht bei der Analyse der Metaphern um die Stze als die erste, fundamentale semantische Einheit, in denen die Metaphern auftreten, und damit auch um die Gebrauchskontexte dieser Sätze.4 Metapher und Metaphysik Da Kant die Symbole den Vernunftideen zuweist, können wir hier bereits im Kern ein sprachkritisches Zusatztheorem zu seiner transzendentalen Vernunftkritik bzw. Metaphysikkritik sehen. Und dass dies so ist, nutzt Blumenberg in seiner philosophischen Metaphorologie. Denn diese Sprachform der absoluten Metapher bestimmt hier insbesondere den sprachlichen Status der Metaphysik (wenn wir die Metaphysik transzendental-kritisch verstehen). Sie bestimmt nämlich die Weise, wie wir vom Ganzen, vom Unbedingten, von Totalitt, von der Form eines Ganzen überhaupt reden können. Sie zeigt kritisch die bildliche Weise, in der die Metaphysik eigentlich spricht. Der Status der Sprache der Transzendentalphilosophie wäre nun selbst zu erörtern. Die metaphysica generalis sv. ontologia wird transzendentale Analytik. Die metaphysica specialis: theologia, cosmologia und psychologia rationalis werden transzendentale Dialektik. Von den metaphysischen Gegenständen des Seins, Gottes, der Freiheit bzw. Welt und der Seele bzw. Unsterblichkeit ist anschaulich nur 4
Paul Ricoeur, Die lebendige Metapher, München 1986, V.
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symbolisch-hypotypotisch zu reden. Wie verhält sich diese systematische Tatsache zur Postulatenlehre? Jedenfalls gilt: Die transzendental-kritische Transformation der Metaphysik führt – sprachkritisch – zur These vom Status der Vernunftideen als symbolischer Hypotyposen und damit auch zur These von ihrer Bedeutung im praktischen Gebrauch. Die metaphysischen Bilder sind keine Abbilder Diese Symbole Kants, die Blumenberg absolute Metaphern nennt, können wir auch Bilder nennen, und zwar Bilder, die keine Abbilder sind. Wir können sie als Bilder verstehen, die zwar – mit den Unterscheidungen Freges – einen Sinn haben, aber keine Bedeutung, nämlich keine Referenz auf einen der Rede externen Gegenstand. Insofern würden diese Bilder rede-intern gegenstandskonstitutiv fungieren, und zwar durch ihren Gebrauch, durch ihre jeweilige Verwendung in bestimmten Praxiszusammenhängen. Lösen wir uns von Freges Unterscheidung, dann können wir jedenfalls von einem festen gemeinsamen Gebrauch solcher nicht-abbildender Bilder ausgehen. Die Gegenstände der Metaphysik sind in der Rede prsent, aber die Rede re-präsentiert sie nicht, jedenfalls nicht so, wie referentialisierende Ausdrücke, empirische Begriffe im landläufigen Sinne deiktisch aufgewiesen werden können. Zu erörtern wäre auch ihr synkategorematischer Status. Hier zeigt sich der Zusammenhang der systematischen Rekonstruktion Kants mit Heideggers synkategorematischen Existentialien und mit Wittgensteins praktischer Rekonstruktion: „Dies ist ein Haus.“ „Das Dasein ist In-der-Weltsein.“ „Gott ist die Liebe“. Wenn man Bilder als Abbilder denkt und in der repräsentationalistischen Vorhandenheitsontologie von Subjekt und Objekt befangen bleibt, dann gelangt man zu einer erkenntniskritischen Aporetik, die vielleicht Heinrich Hertz am prägnantesten formuliert hat: „Wir machen uns innere Scheinbilder oder Symbole der äußeren Gegenstände, und zwar machen wir sie von solcher Art, dass die denknotwendigen Folgen der Bilder stets wieder die Bilder seien von den naturnotwendigen Folgen der abgebildeten Gegenstände“.5 Das heißt: Bilder werden zunächst entworfen, dann jedoch hypothetisch als den Objekten zugrundeliegend angenommen und schließlich – Gipfel der Hypostasierung – als selbst eigenständige „äußere“ oder „innere äußere“ Objekte in Substitution für die ursprünglichen Objekte behandelt. 5
Heinrich Hertz, Die Prinzipien der Mechanik in neuem Zusammenhange dargestellt, Leipzig 1894, 1.
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Wittgenstein ist derjenige, der am subtilsten und radikalsten diesen Prozess analysiert und destruiert hat: „Die Vorstellung muß ihrem Gegenstand ähnlicher sein als jedes Bild: Denn wie ähnlich ich auch das Bild dem mache, was es darstellen soll, es kann immer noch das Bild von etwas anderem sein. Aber die Vorstellung hat es in sich, dass sie die Vorstellung von diesem, und von nichts anderem, ist. Man könnte so dahin kommen, die Vorstellung als ein Über-Bildnis anzusehen.“6 Aller Repräsentationalismus läuft in diesem Sinne auf eine solche Superbildtheorie hinaus; insbesondere der Mentalismus. Aber ich denke, dass auch die gegenwärtige Neurobiologie mit ihren quasi-philosophischen Ansprüchen eine solche Theorie sein wollen muss. Ein Bild der Bildlichkeit selbst kann uns gefangen halten. Warum das Zeigen neben dem Sagen notwendig ist Es wird so deutlich, wo bildliche Rede unumgänglich wird: Zunächst einmal schlicht und einfach da, wo wir von etwas reden, das sich in der Erfahrung nicht ohne weiteres aufzeigen und so nicht sagen lässt, sondern das sich nur – sprachlich – zeigen lässt. Die Verwendung der Bilder in der Sprache erschließt eine Sichtweise, sie eröffnet eine Perspektive, sie lässt Aspekte bemerken. Sie sagt nicht: Das ist so, sondern sie zeigt: So ist das.7 Die absoluten Metaphern werden entworfen, um zu zeigen (sehen zu lassen, allererst zu erschließen), wie etwas gesehen werden kann. Ihr Wesen besteht in ihrem Gebrauch. Sie gehören zur Grammatik der Sprache im Wittgensteinschen Sinne. Das heißt sie gehören zum konstitutiven kulturellen framework, sie artikulieren keine Tatsachen (Fakten), die in der Welt empirisch vorfindlich sind, sondern sie artikulieren (zeigen) die Form der Welt. Philosophische Metaphorologie und philosophische Anthropologie Absolute Metaphorik bzw. konstitutive (nicht-abbildende) Bildlichkeit finden sich in den großen Weltbildentwürfen der Mythen, der Religionen, der Philosophie und der Dichtung, wie dies Blumenberg einschlägig vorführt. Lässt sich darüber hinaus eine stärkere Systematik bzw. Übersicht über diejenigen Phänomen- und Problembereiche entwickeln, in denen absolute Metaphern/Bilder unverzichtbar und konstitutiv sind? 6 7
Ludwig Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen, Frankfurt a.M. 1969, § 389. Vgl. dazu: Thomas Rentsch/Morris Vollmann, Artikel „Zeigen“, in: Hist. Wçrterbuch der Philosophie Bd. 12, Basel 2004, Sp. 1182 – 1186.
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Gibt es Bereiche der Rede, in denen die symbolische Konstitution die eigentliche, einzige, unersetzbare ist, und in denen dann die Paraphrasierungen selbst absolut-metaphorisch wären? Dies ist der Fall, wenn wir das anthropologische Fundament der Sprachphilosophie radikalisieren und transzendieren zugleich, so dass keine neuen „materialen“ Aspekte des Lebens im Potential metaphorischer Rede zutage träten, sondern in den absolut-metaphorischen, konstitutiv-symbolischen, konstitutivbildlichen Reden sich die Formen des Lebens zeigen und artikulieren würden, jene Formen, die Heidegger als Existentialien bezeichnete und die die Titel für die philosophische Analyse der apriorischen Grundzüge menschlicher Lebenssituationen sind, die Überschriften der condition humain, des In-der-Welt-seins, der Grundsituation, der basic situation. Ich behaupte die systematische Komplementarität einer philosophischen Anthropologie und einer hermeneutischen Sprachphilosophie und Sprachkritik insbesondere in Bezug auf Grenzen und Grund unseres Lebens.8 Der transzendental-anthropologische Kontext der Metaphorologie. Metapher und Lebensform Wenn die Metaphorik situationserschließend/kontextvergegenwärtigend ist, dann haben wir es bei der konstitutiven Bildlichkeit mit dem Kontext schlechthin zu tun, mit dem Kontext, der unser Leben ist, mit dem Kontext, der wir selber sind. Es handelt sich um einen zwar auch distanzierbaren und objektivierbaren, jedoch gleichwohl transzendentalen, d. h. zu unseren faktischen, praktischen und begrifflichen Möglichkeitsbedingungen gehörenden und je und je unhintergehbaren Kontext, um einen Kontext, der auch bei partialen Distanzierungen in toto und fundamental nicht distanzierbar ist. Ich nenne im Folgenden für diesen Kontext charakteristische lebensweltliche Aprioritäten. Es handelt sich um Lebensformen, die unableitbar von einander, irreduzibel aufeinander und nur durch einander verstehbar sind. Sie sind somit selbstgegeben und gleichursprünglich:
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Vgl. dazu: Thomas Rentsch, Heidegger und Wittgenstein. Existential- und Sprachanalysen zu den Grundlagen philosophischer Anthropologie, Stuttgart 22003; ders., Die Konstitution der Moralitt. Transzendentale Anthropologie und praktische Philosophie, Frankfurt a.M. 21999.
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(a) Sprache Eine erste konstitutiv bildlich durchsetzte Sprachspielgruppe (Familie) ist verbunden mit dem Reden über die Sprache und die sprachlichen Unterscheidungen selbst. Dieses Reden kann nicht auf Gegenstände referieren, auf sie zeigen im Sinne deiktischen Hinweisens, sondern dieses Reden muss, um die menschliche Sprachsituation zu erschließen, selbst etwas zeigen. Beispiele sind die „syntaktischen Metaphern“ bzw. die Metaphern, die Frege zur Grundlegung einer nicht-aristotelischen Logik verwendet (s. u.). Es muss hier eine Umlenkung der Blickrichtung eingeleitet werden, die Sprache muss anders gesehen werden. Es muss geklärt werden, inwiefern über die Sprache auch bildlich gesprochen werden muss, und inwiefern über sie in einem wesentlichen Sinne nur bildlich gesprochen werden kann. (b) Welt Ebenso wie über die Sprache (als Ganze – ggf. ist dies das Kriterium bezüglich auch-müssen/nur-können) so können wir auch bezüglich einer weiteren transzendentalen Lebensform im Wesentlichen nur konstitutiv-bildlich reden: angesichts unseres In-der-Welt-seins, angesichts der Weltlichkeit. Die Lebenswelt als transzendentaler Horizont unserer einzelnen Handlungsorientierungen ist selbst kein Gegenstand einzelner referentialisierender Akte, sondern kann nur mit Hilfe von Bildern (als „Hintergrund“) in ihrer Bedeutsamkeit sprachlich erschlossen werden. Die Weltdimension der Metaphorologie zeigt sich aber auch in der physikalischen Kosmologie z. B. angesichts des Urknalls. Der Urknall wird in der Forschung als „eine verführerisch falsche Metapher“ bezeichnet; denn der „Urknall ist keine Explosion. Ein Feuerwerkskörper zerplatzt in einem Punkt der Raumzeit; am Urknall jedoch begann die Raumzeit erst ihre Existenz.“9 Aber das verführerische Bild einer riesigen Explosion, die mit ihrem gewaltigen Getöse den Beginn der Existenz des Universums einleitete, bewirkt einen guten Teil des öffentlichen Interesses an der Kosmologie. (c) Selbstsein und Mitsein So steht es auch mit unserer Rede über uns selbst (von uns selbst) und über andere (von anderen). Unsere Subjektivität (Existenz) und Intersubjektivität (Interexistentialität), die kommunikative Transparenz unserer 9
Bernulf Kanitscheider, Kosmologie, Stuttgart 1984, 235 f.
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„inneren Natur“ kann nur bildlich erschlossen werden, ohne dass die hier verwendeten Reden auf innere Objekte oder Zustände „in uns“ oder „in“ anderen bezogen wären. Die Rede ist konstitutiv-metaphorisch; sie konstituiert als Grammatik der Schmerzen, als Grammatik der Gefühle, der Stimmungen, Befindlichkeiten und der Selbstverständnisse die Subjektivität und die gleichursprüngliche Intersubjektivität, ohne dass hinter dieser Rede ein „eigentlicher“, „wirklicher“ Entitätenbereich erklärend gesichert werden könnte. Hier ist die bildliche Fundamentalunterscheidung von innen und außen konstitutiv für die Grammatik dieser Sprachspielgruppen, ohne dass eine subjektive Innenwelt von einer objektiven Außenwelt ontologisch und dichotomisch abgespalten werden könnte. Das macht im Übrigen auch die fundamentalontologischen Probleme an dieser Stelle metasprachlich so schwierig und führt zu ParaOntologien (Oskar Becker, Hermann Schmitz) alternative Ontologien (Heidegger) oder negative Ontologien (Wittgenstein, Adorno). (d) Freiheit Das gilt insbesondere auch von einem zentralen Konstituens der menschlichen Situation und des menschlichen Selbstverständnisses, der Freiheit. Hier kann der Grenzfall reiner Negativität eintreten, wenn wir überhaupt sagen wollen, was wir unter Freiheit verstehen. (e) Zeit Die konstitutive Bildlichkeit betrifft auch unser Reden von der Zeit. Wie für unser „Innenleben“, so müssen wir auch für unsere Artikulation der Zeiterfahrung im Wesentlichen räumliche Bilder gebrauchen. Auch die transzendentale Lebensform der Zeitlichkeit können wir zwar jeweils (z. B. datenzeitlich, messend, uhrzeitlich) objektivieren, jedoch geschieht auch dieses Handeln wieder zeitlich verfasst. (f) Gott Die Rede von Gott, vom Sinn der Welt, vom Absoluten und vom „Grund“ des Seins war schon immer bildlich: mythisch, religiös, liturgisch, sakramental, ästhetisch und theologisch. In der Kombination von negativer Theologie und Analogielehre wurde diese Tatsache selbst von Beginn an kritisch reflektiert.10 An diesem Bereich wird auch deutlich, 10 Vgl. dazu: Thomas Rentsch, Gott, Berlin/New York 2005; ders., Artikel
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dass zu überlegen ist, ob und wann besser von Metaphern des Absoluten als von absoluten Metaphern die Rede wäre. Bildlichkeit und Lebenswelt/Alltäglichkeit Meine These ist also: das Reden über die Sprache (als Ganze), über die Welt, über unsere „Innenwelt“ (subjektiv und intersubjektiv), d. h. über Schmerzen, Geschmäcker, Empfindungen, Gefühle und Stimmungen, schließlich unser Reden über die zeitliche Verfassung unseres Daseins ist konstitutiv bildlich im erläuterten Sinne. Den weltkonstitutiven Lebensformen entsprechen bestimmte Sprachspielgruppen, bestimmte grammatische Regionen, die absolut metaphorisch, konstitutiv bildlich, aber eben nicht abbildend verfasst sind. Wir leben und orientieren uns durch bestimmte Bilder vom Funktionieren unserer Sprache, durch Bilder von der Welt, durch Bilder von uns selbst, durch Bilder vom Wesen der Zeit, des Sinns und Gottes. Diese Bildlichkeit erschließt allererst lebensweltliche Erfahrung. Sie gehçrt zur grammatischen Konstitution der Subjekte, zu der transzendentalen Verfassung einer menschlichen Lebenswelt, in der (durch die) die Subjekte sich selbst allererst erschlossen sind und begegnen können. Deswegen bildet die absolute Bildlichkeit auch nicht „Wirklichkeit“ ab, sondern konstituiert allererst mögliche Wirklichkeit. (Sie gehört somit zur Existentialen Grammatik, zur lebensformkonstitutiven bzw. „Weltgrammatik“.) Insofern versteht man, warum Wittgenstein in seiner späteren Philosophie lehrt, in unserer Sprache, in deren Grammatik sei eine ganze Mythologie verborgen. Diese Mythologie beginnt bereits bei der Schmerzgrammatik des Alltags, und nicht erst bei den MakroMythen der Religionen und Erkenntnistheorien, den philosophischen Großkonstruktionen und wissenschaftlichen Weltbildern. Das heißt die konstitutive Bildlichkeit gilt angesichts der transzendentalen Lebensformen für alle möglichen sprachlichen Orientierungen. Das sieht auch Blumenberg, wenn er darauf verweist, dass die absoluten Metaphern bei folgenden Phänomen- und Problembeständen auftreten: „Welt“, „Anfang und Ende der Welt“ (Protologie und Eschatologie), „Subjekt“, „Leben“, „Zeit“, „Geschichte“, „Gott“, „Glück“ und „Sein“.11 Das heißt auch er sieht den von mir systematisch „Theologie, negative“, in: Hist. Wçrterbuch der Philosophie Bd. 10, Basel 1998, Sp.1102 – 1105. 11 Vgl. dazu: Hans Blumenberg, „Ausblick auf eine Theorie der Unbegrifflichkeit“, in: ders., Schiffbruch mit Zuschauer. Paradigma einer Daseinsmetapher, Frankfurt a.M. 1979, 77 – 93.
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unterstellten Zusammenhang mit der klassischen Metaphysik und ihren disziplinenbildenden Großthemen Ontologie, Theologie, Kosmologie und Anthropologie (Psychologie). Auch, dass sich in der Metaphorik ein lebensweltliches Substrat der theoretischen Stilisierungen durchhält, behauptet er und erwägt auch eine mögliche Systematisierung der absoluten Metaphern. In der Metaphysik, der dogmatischen Theologie und in bestimmten Erkenntnistheorien erstarrt ein grammatischer Bildzusammenhang, um wiederum in den Destruktionen und Paradigmenwechseln anderen Bildern zu weichen. Stürzt die Metaphysik, dann erneuern sich die absoluten Metaphern.12 Der tiefere transzendentalanthropologische Grund unserer Bildentwurfspraxis gerade im Blick auf die unhintergehbare Alltäglichkeit lässt sich angeben, wenn wir Kants These von der Angewiesenheit von Verstand und Vernunft auf die Sinnlichkeit und Anschaulichkeit leibanthropologisch vertiefen und präzisieren. Da der Leib – im Sinne von Merleau-Ponty und Hermann Schmitz verstanden – die Mitte der Lebenswelt ist, in der deren naturaler Grund und deren kommunikatives Wesen sich wechselseitig ermöglichen und durchdringen, können wir letztlich ohne leiblichen Rückbezug nichts denken, erkennen und vorstellen. Transzendentalphilosophie in diesem Sinne ist eine systematische Verbindung von Sprachphilosophie und philosophischer Anthropologie.13 Kein Relativismus, keine Theoretisierbarkeit, sondern kritische Hermeneutik Es muss deutlich werden, dass und wie die Einsicht in die konstitutive Bildlichkeit (die ja bereits lebensweltlich gilt) keine „relativistischen“ Folgen haben kann. Ja mehr noch: Gerade diese Einsicht ist anti-relativistisch, weil sie bereits anti-repräsentationalistisch ist. (Der erkenntnistheoretische Relativismus setzt den Repräsentationalismus voraus.) Sprachkritische Philosophie muss darauf insistieren, dass die grammatischen Bildentwürfe (1) notwendig sind im Sinne der Kommunikation über transzendentale, konstitutive Lebensformen (2) nicht zu Abbildern hypostasiert werden dürfen, auf denen – verstünden wir sie als „Superfakten“ – unsere Sprachspiele „gründeten“. 12 Vgl. dazu: Hans Blumenberg, Paradigmen zu einer Metaphorologie, Frankfurt a.M. 1999, 193. 13 Vgl. Thomas Rentsch, Die Konstitution der Moralitt, a.a.O.
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Konstitutive Bildlichkeit repräsentiert keine Superwirklichkeit, sondern zeigt Perspektiven unseres (überhaupt möglichen) Welt- und Selbstverständnisses. Hinter diesen möglichen Perspektiven steht nichts mehr „an sich“. Nicht „Dinge an sich“ gilt es zu repräsentieren, sondern unsere Perspektiven je lokaler Weltkonstitution (weltkonstitutiver Praxis) aufzuklären. Wir artikulieren unsere Sichtweise bildlich so, dass die Artikulation diese Sichtweise selbst zeigt. Die transzendental-kritische These von einer perspektivisch-pragmatischen Welt- und Selbstkonstitution der Subjekte besagt „metaphorologisch“ und kritisch-hermeneutisch: das Ganze der Welt, des Lebens und der Sprache ist uns nur in lokalen (begrenzten), aber je konstitutiven grammatischen Bildzusammenhängen erschlossen und erschließbar. In solchen Grammatiken existieren wir. Unverzichtbar bildliche Sprachspielgruppen finden sich dort, wo dass, was wir als situativ-kontextuelle Vergegenwärtigungsfunktion bezeichnen können, unsere Grundsituation ist, d. h. die Form, wie wir (in der wir) leben. Eine allgemeine Theoretisierbarkeit der Bildverwendung ist (über bestimmte abstrakte Aufweise hinaus) ebenso unmöglich wie eine philosophische Theorie der Sprache. Es gibt gute und schlechte (falsche) Bildlichkeit, sinnexplikative und sinnzerstörende. Es gibt aber keine Metaphilosophie, in der niedergelegt ist, welche Bilder gut und passend sind, und die für diese Frage Beurteilungsregeln allgemeiner Art bereitstellt. Der Status der Philosophie: Kritische Hermeneutik statt quasi-metaphysischer Theoriebildung (Frege und Wittgenstein) Die kritische Selbstreflexivität der modernen Philosophie zeigt sich nicht zuletzt darin, dass sie sich ihrer Bildentwurfspraxis zunehmend explizit bewusst wird und sie selbst thematisiert. Ich möchte dies mit Blick auf Frege und Wittgenstein erläutern und belegen. Frege will seine Leser mit seinen Logischen Untersuchungen in eine neue Sichtweise logischer Formen der Sprache einführen. Hierzu bedient er sich häufig bildlicher Ausdrücke. So erläutert er das Verhältnis von Sinn und Bedeutung mit dem Gleichnis von der Betrachtung des Mondes durch ein Fernrohr.14 Die „Ergänzungsbedürftigkeit“ der Negation und Konjunktion – selbst ein Bild – illustriert er durch das Gleichnis von den ,Umhüllungen’ Rock und 14 Gottlob Frege, „Über Sinn und Bedeutung“, in: ders., Funktion, Begriff, Bedeutung. Fnf logische Studien, Göttingen 1969, 44 f.
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Mantel.15 Die doppelte Negation wird als „Verschmelzung von etwas mit sich selbst“, die Unterscheidung von Gedanke und Wahrheit mit einer „Kernspaltung“ verbildlicht.16 Frege wehrt auch seiner Meinung nach irrige Auffassungen der Negation durch Verbildlichungen ab.17 „Sättigung“ und „Fügung“ eines „logischen Baus“, die dessen „Zusammenhalt“ sichern, sind immer wieder auftretende Bilder.18 Sein Verfahren der logischen Analyse verdeutlicht Frege am Beispiel der Subjunktion: „Winke gehören zum Beiwerke, das in der Sprache des Lebens den Gedanken oft umrankt. Meine Aufgabe ist es hier, durch Abscheidung des Beiwerks als logischen Kern ein Gefüge von zwei Gedanken herauszuschälen, ein Gefüge, welches ich hypothetisches Gedankengefüge genannt habe. Die Einsicht in den Bau der aus zwei Gedanken gefügten Gedanken muss die Grundlage für die Betrachtung vielfältiger gefügter Gedanken bilden.“19 Er verwendet Bilder bewusst und gezielt, und zwar bereits im Rahmen erkenntnistheoretischer Erwägungen, versteht sie jedoch andererseits eher als ein notwendiges Übel: „Ich muss mich begnügen, den an sich unsinnlichen Gedanken in die sinnliche sprachliche Form gehüllt dem Leser darzubieten. Dabei macht die Bildlichkeit der Sprache Schwierigkeiten. Das Sinnliche drängt sich immer wieder ein und macht den Ausdruck bildlich und damit uneigentlich. So entsteht ein Kampf mit der Sprache […]“.20„Der Ausdruck ,Fassen’ ist ebenso bildlich wie ,Bewusstseinsinhalt’. Das Wesen der Sprache erlaubt es eben nicht anders.“21 Freges Bildlichkeit kommt aber nicht nur eine Verdeutlichungsfunktion zu, sondern ist für die Gewinnung seiner neuen Sichtweise der Form der Sprache geradezu konstitutiv. Denn abgesehen von der schon gemäß der neuen Sichtweise vollzogenen Formalisierung seiner alltagssprachlichen Beispielsätze stehen Frege – außer seinen Bildern – nur noch syntaktische Metaphern im Sinne von Erik Stenius zur
15 Gottlob Frege, „Die Verneinung. Eine logische Untersuchung“, in: ders., Logische Untersuchungen, Göttingen 1966, 71. 16 Ebd., 63. 17 Ebd., 60. 18 Ebd., 72 f. 19 Ebd., 84. 20 Gottlob Frege, „Der Gedanke“, in: ders., Logische Untersuchungen, a.a.O., 40 (Anm. 15). 21 Ebd., 49.
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Verfügung. Stenius geht sogar selbst so weit, zu sagen, „daß alle philosophischen Stze syntaktische Metaphern sind“.22 Eine erste explizite (transzendentale) kritische Reflexion der Bildlichkeit stellt bereits der Tractatus dar. Die root metaphor ist hier „logischer Raum“. Sie ist irreduzibel. (In der mittleren Phase kennt Wittgenstein dann viele logische Räume – dies sind transzendental-kategoriale Gruppen oder Felder.) Im Tractatus gibt es im logischen Raum logische Orte. Sie bilden ein „Gerüst“. Der logische Raum bildet die Welt der Tatsachen ab. Der Raum ist endlich, begrenzt. Wittgenstein selbst verwendet im Tractatus eine Sprache, die keinen Ort im logischen Raum hat. Dies wird selbst metaphorisch vergegenwärtigt in der Leiter-Metapher: Metaphorische Redeweisen bilden das (unhintergehbare) Fundament für explizitere Formen der Rede. Können wir die Leiter auch wegwerfen, so ist doch die Leiter der Metaphorik unverzichtbar. In den Philosophischen Untersuchungen treten organische Metaphern auf: alte Bedeutungen sterben, neue wachsen, die Sprache lebt im Gebrauch, andere und andere Bedeutungen wachsen den Worten zu. Die geschichtlich-architektonische Metapher ist die der Sprache als alte Stadt, mit vielen neuen Vierteln. Sprache wird sodann als Spiel verbildlicht. Das Präzisieren geht vor sich aufruhend auf der Basis der Bilder, denn wir müssen schon irgendwo stehen, um dann zu präzisieren. Und wir stehen nicht im Reiche der Präzision/Exaktheit, sondern schwimmen im Meer des Lebens. Daher schreibt Wittgenstein: „107. Je genauer wir die tatsächliche Sprache betrachten, desto stärker wird der Widerstreit zwischen ihr und unsrer Forderung. (Die Kristallreinheit der Logik hatte sich mir ja nicht ergeben; sondern sie war eine Forderung.) Der Widerstreit wird unerträglich; die Forderung droht nun, zu etwas Leerem zu werden. – Wir sind aufs Glatteis geraten, wo die Reibung fehlt, also die Bedingungen in gewissem Sinne ideal sind, aber wir eben deshalb auch nicht gehen können. Wir wollen gehen; dann brauchen wir die Reibung. Zurück auf den rauhen Boden! 108. Wir erkennen, dass, was wir ,Satz’, ,Sprache’, nennen, nicht die formelle Einheit ist, die ich mir vorstellte, sondern die Familie mehr oder weniger mit einander verwandter Gebilde. – Was aber wird nun aus der Logik? Ihre Strenge scheint hier aus dem Leim zu gehen. – Verschwindet sie damit aber nicht ganz? – Denn wie kann die Logik ihre Strenge verlieren? Natürlich nicht dadurch, dass man ihr etwas von ihrer Strenge abhandelt. – Das Vorurteil der Kristall22 Erik Stenius, Wittgensteins Traktat. Eine kritische Darlegung seiner Hauptgedanken, Frankfurt a.M. 1969, 276 f.
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reinheit kann nur so beseitigt werden, dass wir unsere ganze Betrachtung drehen. (Man könnte sagen: Die Betrachtung muss gedreht werden, aber um unser eigentliches Bedürfnis als Angelpunkt.)“23 Und Wittgenstein stellt daher fest: „115. Ein Bild hielt uns gefangen. Und heraus konnten wir nicht, denn es lag in unsrer Sprache, und sie schien es uns nur unerbittlich zu wiederholen.“24 Das stellenweise nötige Präzisieren und Definieren ruht immer auf der Bildlichkeit auf: die Reflexionsbegriffe sind schon da. Im Text ber Gewissheit werden diese Analysen noch einmal vertieft. Gewisse fundamentale Einsichten, die Basis, das Flussbett unseres Wissens, sind letztlich nur auf die Weise auszudrücken, in der wir in-derWelt-sind (existieren): Sie zeigen sich von sich selbst her: So, wie sich unser Existieren in der Welt, (als jemeinige Person, in Zeit und Raum usf.) nur zeigt. So sind fundamentale Metaphern irreduzibel und unübersetzbar. Rechtfertigung und Begründung kommen an ihr Ende, weder rational noch irrational, sondern konkret in unserer menschlichen Lebensform. Das Wissen gründet in der Anerkennung.25 Ich muss stets bereits etwas nicht diskursiv Einlösbares an-erkannt haben, bestimmte Bilder bereits problemlos verwenden können, um dann auch eine explizite und diskursive Ebene zu erreichen. Die Möglichkeitsbedingungen von Rationalität gründen ihrerseits im Bildlichen: Eine menschliche Lebensform ist konstituiert durch gemeinsame Erfahrungen, die sich in bestimmten Bildern und Gleichnissen artikuliert, und gründet in diesen. Die Reflexionsgeschichte, die kritische Selbstreflexionsgeschichte von Frege bis zu Wittgenstein zeigt exemplarisch und im Paradigma einer kritischen Sprachphilosophie und Logik ein Zu-sich-selbst-Kommen des Geistes als vernünftiges Selbstbewusstsein im Hegelschen Sinne. Im Blick auf die Bildlichkeit ist, wie Ricoeur mit Hegel formuliert, „das Spekulative die Bedingung der Möglichkeit des Begrifflichen“.26 So lässt sich die Seinsgeschichte kritisch-hermeneutisch und praktisch als Vernunftgeschichte begreifen und damit auch als Fortschritt im Bewusstsein der Freiheit auch der Sprachverwendung, als Befreiung von falschen Bildern. Wir sind es selbst, die handelnd sprechen, und keine Ontologie oder sonstige Theorie nimmt uns dies ab. Die Sprache, die Wirklichkeit und 23 Ludwig Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen, a.a.O., §§ 107 f. 24 Ebd., §115. 25 Vgl. Ludwig Wittgenstein, ber Gewissheit, Frankfurt a.M. 1971, §§ 378, 204, 287. 26 Paul Ricoeur, Die lebendige Metapher, a.a.O., 280.
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wir selbst sind intern unendlich komplex. Sie haben kein Abbildverhältnis zueinander, noch einen Bezug zueinander außerhalb unserer letztlich freien, offenen Entwurfspraxis.
Strukturen ästhetischer Erfahrung Abstract Im ersten Teil zeige ich an einem literarischen Beispiel (Eichendorff, Das Schloß Drande) Strukturen ästhetischer Erfahrungen auf. Ich erläutere diese Strukturen mit Hilfe der Theorie der ästhetischen Ideen, wie sie Kant im § 49 der Kritik der Urteilskraft entwickelt hat. Besondere Bedeutung kommt dabei den ästhetischen Attributen und der Lehre von der „comprehensio aesthetica“ zu. Auf diesem Hintergrund beantworte ich im zweiten Teil mit eigenen systematischen Kategorien die Frage nach dem „Was und Wie des Antizipierten“ in einer (literarisch-) ästhetischen Idee. Diese Kategorien bzw. Strukturmomente ästhetischer Erfahrung sind 1. Artefaktizität bzw. Kontrafaktizität, 2. Totalität und Simultaneität, 3. Nichtinstrumentalität, 4. Singularität, 5. die kommunikative Selbsttransparenz der Subjekte und 6. der Genuss-, Glücks- und Erfüllungscharakter der ästhetischen Erfahrung. Hinweise erläutern den Zusammenhang dieser Strukturen mit der Entstehung der Ästhetik (Leibniz, Dubos, Batteux, Baumgarten, Meier) und der Geschichte der Metaphysik des Schönen (Plotin: Ekstasis und Pleroma). Im Folgenden möchte ich an einem literarischen Beispiel Strukturen ästhetischer Erfahrung aufzeigen und dann die Frage beantworten: was durch diese Strukturen antizipiert wird. Das Beispiel stammt aus einer Novelle Eichendorffs; für die Analyse der Struktur ästhetischer Erfahrung beziehe ich mich zunächst auf Kants Theorie der ästhetischen Ideen.
1 Zum Beispiel. Joseph von Eichendorff hat als Adliger unter der französischen Revolution schwer gelitten. In seiner Novelle Das Schloß Drande gestaltet er diesen Schmerz als die letzte Abschiedlichkeit einer untergehenden Welt: Ludwig XVI. und sein Hof waren damals in Versailles; Renald eilte sogleich hin und freute sich, als er bei seiner Ankunft hörte, daß der König, der
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unwohl gewesen, heute zum ersten Male wieder den Garten besuchen wolle. Er hatte zu Hause mit großem Fleiß eine Supplik aufgesetzt, Punkt für Punkt, das himmelschreiende Unrecht und seine Forderung, alles, wie er es dereinst vor Gottes Thron zu verantworten gedachte. Das wollte er im Garten selbst übergeben, vielleicht fügte es sich, daß er dabei mit dem König sprechen durfte; so, hoffte er, könne noch alles wieder gut werden. Vielerlei Volk, Neugierige, Müßiggänger und Fremde hatten sich unterdes schon unweit der Tür, aus welcher der König treten sollte, zusammengestellt. Renald drängte sich mit klopfendem Herzen in die vorderste Reihe. Es war einer jener halbverschleierten Wintertage, die lügenhaft den Sommer nachspiegeln, die Sonne schien lau, aber falsch über die stillen Paläste, weiterhin zogen Schwäne auf den Weihern, kein Vogel sang mehr, nur die weißen Marmorbilder standen noch verlassen in der prächtigen Einsamkeit. Endlich gaben die Schweizer das Zeichen, die Saaltür öffnete sich, die Sonne tat einen kurzen Blitz über funkelnden Schmuck, Ordensbänder und blendende Achseln, die schnell vor dem Winterhauch unter schimmernden Tüchern wieder verschwanden. Da schallt’ es auf einmal: „Vive le roi!“ durch die Lüfte, und im Garten, soweit das Auge reichte, begannen plötzlich alle Wasserkünste zu spielen, und mitten in dem Jubel, Rauschen und Funkeln schritt der König in einfachem Kleide langsam die breiten Marmorstufen hinab. Er sah traurig und bleich – eine leise Luft rührte die Wipfel der hohen Bäume und streute die letzten Blätter wie einen Goldregen über die fürstlichen Gestalten.1
Diese literarische Gestaltung entspricht genau der Theorie der ästhetischen Ideen, wie sie Kant – im Anschluss an die Lehre von den ästhetischen Begriffen Baumgartens und Meiers – in der Kritik der Urteilskraft (v. a. § 49) entwickelt hat: Geist in ästhetischer Bedeutung heißt das belebende Princip im Gemüthe. Dasjenige aber, wodurch dieses Princip die Seele belebt, der Stoff, den es dazu anwendet, ist das, was die Gemüthskräfte zweckmäßig in Schwung versetzt, d.i. in ein solches Spiel, welches sich von selbst erhält und selbst die Kräfte dazu stärkt. Nun behaupte ich, dieses Princip sei nichts anders, als das Vermögen der Darstellung ästhetischer Ideen; unter einer ästhetischen Idee aber verstehe ich diejenige Vorstellung der Einbildungskraft, die viel zu denken veranlaßt, ohne daß ihr doch irgend ein bestimmter Gedanke, d.i. Begriff, adäquat sein kann, die folglich keine Sprache völlig erreicht und verständlich machen kann. – Man sieht leicht, daß sie das Gegenstück (Pendant) von einer
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Joseph von Eichendorff, Das Schloß Drande, in: ders., Werke, hg. von Wolf Dietrich Rasch, München 1966, 1326 – 1364, dort 1346 f.
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Vernunftidee sei, welche umgekehrt ein Begriff ist, dem keine Anschauung (Vorstellung der Einbildungskraft) adäquat sein kann.2 (KU 192 f.)
Kant legt hier die eigentümliche Struktur einer spezifischen menschlichen Kommunikationsmöglichkeit frei: die Struktur der ästhetischen Erfahrung, deren Kern und Wesen er auch als die Versinnlichung von Vernunftideen bzw. fundamentaler Menschheitserfahrungen bezeichnet, so z. B. Seligkeit und Ewigkeit, Liebe und Tod (KU 194). Ästhetische Gestaltung versucht, diese Ideen bzw. Grunderfahrungen vermittels der Einbildungskraft „über die Schranken der Erfahrung hinaus“ „in einer Vollständigkeit sinnlich zu machen, für die sich in der Natur kein Beispiel findet; und es ist eigentlich die Dichtkunst, in welcher sich das Vermögen ästhetischer Ideen in seinem ganzen Maße zeigen kann.“ (ebd.) Wenn nun einem Begriffe eine Vorstellung der Einbildungskraft untergelegt wird, die zu seiner Darstellung gehört, aber für sich allein so viel zu denken veranlaßt, als sich niemals in einem bestimmten Begriff zusammenfassen läßt, mithin den Begriff selbst auf unbegränzte Art ästhetisch erweitert: so ist die Einbildungskraft hierbei schöpferisch und bringt das Vermögen intellectueller Ideen (die Vernunft) in Bewegung, mehr nämlich bei Veranlassung einer Vorstellung zu denken (was zwar zu dem Begriffe des Gegenstandes gehört), als in ihr aufgefaßt und deutlich gemacht werden kann. (KU 194 f.)
Kant nennt die Formen, die „nicht die Darstellung eines gegebenen Begriffs […] ausmachen, sondern nur als Nebenvorstellungen der Einbildungskraft die damit verknüpften Folgen und die Verwandtschaft desselben mit andern ausdrücken“, sthetische Attribute eines Gegenstandes, „dessen Begriff als Vernunftidee nicht adäquat dargestellt werden kann.“ (KU 195) Diese ästhetischen Attribute stellen im Unterschied zu den logischen Attributen Kant zufolge nicht das dar, was in unseren Begriffen liegt, „sondern etwas anderes […], was der Einbildungskraft Anlaß giebt, sich über eine Menge von verwandten Vorstellungen zu verbreiten, die mehr denken lassen, als man in einem durch Worte bestimmten Begriff ausdrücken kann; und geben eine ästhetische Idee, die jener Vernunftidee statt logischer Darstellung dient, eigentlich aber um das Gemüth zu beleben, indem sie ihm die Aussicht in ein unabsehliches Feld verwandter Vorstellungen eröffnet.“ (ebd.) Mit einem Worte, die ästhetische Idee ist eine einem gegebenen Begriffe beigesellte Vorstellung der Einbildungskraft, welche mit einer solchen 2
Immanuel Kant, Kritik der Urteilskraft, in: Akademie-Ausgabe, Bd. V, Berlin 1908, 192 f (ab hier wird die Randzählung dieser Ausgabe im fortlaufenden Text zitiert).
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Mannigfaltigkeit der Theilvorstellungen in dem freien Gebrauche derselben verbunden ist, daß für sie kein Ausdruck, der einen bestimmten Begriff bezeichnet, gefunden werden kann, die also zu einem Begriffe viel Unnennbares hinzu denken läßt, dessen Gefühl die Erkenntnißvermögen belebt und mit der Sprache, als bloßem Buchstaben, Geist verbindet. (KU 197)
Eichendorff evoziert ein Bild in unserer Einbildungskraft; durch die ästhetischen Attribute, die er verwendet, ruft er eine sthetische Idee hervor. Nennen wir noch einmal diese Attribute: – ein halbverschleierter Wintertag, der lügenhaft den Sommer nachspiegelt – die Sonne scheint lau aber falsch über die stillen Paläste – Schwäne auf den Weihern – kein Vogel singt mehr – die weißen Marmorbilder stehen verlassen in der prächtigen Einsamkeit – ein kurzer Blitz über funkelnden Schmuck, Ordensbänder und blendende Achseln – die schnell vor dem Winterhauch unter schimmernden Tüchern – wieder verschwinden – der traurige, bleiche König schreitet in einfachem Kleid langsam die Marmorstufen hinab – durch einen leisen Hauch werden die letzten Blätter wie ein Goldregen über den Adel gestreut. sthetisch versinnlicht wird ein ungeheures Sujet: der Untergang der Feudalherrschaft in Europa, also ein Weltuntergang. Die ästhetischen Attribute stellen nicht wie die logischen Attribute das, was in unsern Begriffen von der Erhabenheit und Majestät der Schöpfung liegt, sondern etwas anderes vor, was der Einbildungskraft Anlaß giebt, sich über eine Menge von verwandten Vorstellungen zu verbreiten, die mehr denken lassen, als man in einem durch Worte bestimmten Begriff ausdrücken kann; und geben eine ästhetische Idee, die jener Vernunftidee statt logischer Darstellung dient, eigentlich aber um das Gemüth zu beleben, indem sie ihm die Aussicht in ein unabsehliches Feld verwandter Vorstellungen eröffnet. Die schöne Kunst aber thut dieses nicht allein in der Malerei oder Bildhauerkunst (wo der Namen der Attribute gewöhnlich gebraucht wird); sondern die Dichtkunst und Beredsamkeit nehmen den Geist, der ihre Werke belebt, auch lediglich von den ästhetischen Attributen der Gegenstände her, welche den logischen zu Seite gehen und der Einbildungskraft einen Schwung geben, mehr dabei, obzwar auf
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unentwickelte Art, zu denken, als sich in einem Begriffe, mithin in einem bestimmten Sprachausdrucke zusammenfassen läßt. (KU 195 f.)
Es erfolgt also durch die Gestaltung mittels ästhetischer Ideen, durch den Schwung, den sie der Einbildungskraft geben, die Antizipation eines „unabsehlichen Feldes verwandter Vorstellungen.“ (KU 195) Diese Antizipationsleistung hat auch Schiller in seiner Rezension der Gedichte Matthissons im Anschluss an Kant gesehen und so formuliert: „darin liegt das Anziehende solcher ästhetischen Ideen, daß wir in den Inhalt derselben wie in eine grundlose Tiefe blicken.“ Denn ihr „möglicher Gehalt“ ist „eine unendliche Größe“.3 Eine weitere Präzisierung erfährt die Strukturanalyse ästhetischer Erfahrung und Gestaltung bei Kant durch seine Lehre von der comprehensio aesthetica: So heißt das ästhetische Begreifen der ,Zusammenfassung‘ durch die Einbildungskraft zu einer gewissen Form; diese Komprehension der Einbildungskraft beschreibt Kant so: „die Zusammenfassung der Vielheit in die Einheit, nicht des Gedankens, sondern der Anschauung, mithin des Successiv –Aufgefaßten in einen Augenblick, ist […] ein Regressus, der die Zeitbedingung im Progressus der Einbildungskraft wieder aufhebt und das Zugleichsein anschaulich macht.“ (KU 99) Die comprehensio aesthetica ist somit die Koinzidenz des Mannigfaltigen, der Vielheit, in der Einheit des Augenblicks und als solche das Wesen der Schönheit. Die Einbildungskraft fasst in dieser comprehensio das Mannigfaltige nicht in einen Begriff, sondern in ein Bild, welches Kant das Urbild, Archetypon oder ästhetische Idee nennt. Diese Idee entspringt, indem die produktive Einbildungskraft die Sukzessivität der reproduktiven Einbildungskraft aufhebt und so Simultaneität anschaulich macht. Somit ermöglicht sie die comprehensio aesthetica: die Einheit des Mannigfaltigen der Anschauung in einem Augenblick. Und gerade in der Eichendorff-Passage ist ein solcher Augenblick zugespitzt gestaltet – denken wir an das kurze Aufblitzen des funkelnden Schmucks im fahlen Sonnenlicht.
3
Friedrich Schiller, ber Matthissons Gedichte, NA Bd. 22. Weimar 1958, 273 f. Zur Analyse der ästhetischen Ideen vgl. Thomas Rentsch, „Der Augenblick des Schönen. Visio beatifica und Geschichte der ästhetischen Idee“ in diesem Band.
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2 Auf diesem Hintergrund möchte ich abschließend noch genauer bzw. mit eigenen systematischen Mitteln die Frage nach dem was und wie des Antizipierten in einer solchen ästhetischen Idee beantworten. Was wird antizipiert mit und in der Struktur ästhetischer Erfahrung, wie wir sie exemplarisch in der Eichendorffschen Szene vor uns sehen? Folgende Strukturmomente4 möchte ich abheben – dass die Kantsche Ästhetik dabei im Hintergrund steht, thematisiere ich nicht eigens – es sind die Strukturmomente der 1. Artefaktizität, 2. der Totalität und Simultaneität, 3. der Nichtinstrumentalität, 4. der Singularität, 5. der kommunikativen Selbsttransparenz (der Subjekte) 6. und des Genuss- bzw. Glückscharakters, des Erfüllungscharakters der ästhetischen Erfahrung. 1. In der Artefaktizitt und Kontrafaktizitt des Ästhetischen – hier des Eichendorff-Textes – tritt uns die Welt nicht als etwas Fremdes und Gleichgültiges gegenüber, sondern so, dass sie unseren Bedürfnissen und Wünschen, Gefühlen und Leidenschaften, unseren genuinen Lebenserfahrungen entspricht bzw. diese antizipiert: Erfahrbar wird eine Antizipation kontrafaktischer Nähe und Entsprechung zu unserer Bedürfnisnatur. 2. Die gestaltete endliche Ganzheit und Augenblicklichkeit: Totalitt und Simultaneitt entsprechen lebensweltlich-sinnhaften Zügen unserer eigenen Welterfahrung: Wir kennen die fahle Wintersonne, wir wissen, was es heißt, traurig und bleich zu sein, wie hier Ludwig XVI. Diese Züge der Lebenswelt dienen einem kommunikativen Wiedererkennen unserer selbst in einem Anderen, hier in der sprachlichen Gestaltung des Novellentextes. Die Züge der sinnlich-erfahrbaren Welt geben ihre Gleichgültigkeit und Widerständigkeit preis und antizipieren Aspekte 4
Vgl. zu dieser Strukturanalyse: Thomas Rentsch, „Ästhetische Anthropomorphie. Die Konstitution des Schönen und die transzendental-anthropologische Bestimmung thaumatisch-auratischer Weltverhältnisse“, in: Franz Koppe (Hg.), Perspektiven der Kunstphilosophie. Texte und Diskussionen, Frankfurt a.M. 1991, S. 27 – 35.
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lebensweltlicher Bedürftigkeit und eines – wie immer gebrochenen – stimmigen Weltzusammenhanges. Und zwar – nicht nur in der Literatur, auch in bildender Kunst, Musik und Architektur – weil die Formqualitten ihrer Gestaltung die Sinnbedingungen einer menschlichen Welt antizipieren. 3. Diese Antizipation von Sinnbedingungen einer menschlichen Welt geschieht auch durch den nichtinstrumentellen Grundzug der ästhetischen Erfahrung: Es ist – im Lesen des Textes – eine Erfahrung jenseits von Technik und Herrschaft, die ,Zweckmäßigkeit ohne Zweck‘. Sie ermöglicht eine gewaltlose Kultur kontemplativ-ästhetischen Umgangs, in der wiederum kommunikative Voraussetzungen menschlichen Lebens sinnlich erfahrbar und antizipierbar werden. Es erfolgt durch die Strukturen ästhetischer Erfahrung eine Emanzipation von zwanghaften, funktionalen und instrumentellen Bedingungen unseres Lebens. Es erfolgt – in Literatur, Kunst und Musik – die Antizipation einer zweckfreien Welt und autonomen Lebens, dessen Sinn in ihm selbst und für sich besteht – ästhetisch in der Form der Gestaltung – und nicht in einem Leben in der Funktionalisierung durch etwas anderes. Das heißt in der ästhetischen Erfahrung wird gleichzeitig eine Selbsterfahrung der Subjekte im Horizont ihrer Autonomie eröffnet und antizipiert. Anhand unseres Textes können wir z. B. Mitleid und Anteilnahme am Schmerz einer untergehenden Welt frei durchspielen: Die literarisch individuierte Synthese von Sinn und Sinnlichkeit in ästhetischer Kommunikation ermöglicht eine glückhafte Welterfahrung, in die die Subjekte doch mit ihrer Endlichkeit und Bedürftigkeit, mit ihrer ungeschmälerten Kontingenz und Naturhaftigkeit eingehen können. 4. Das Strukturmoment der Singularitt besagt, dass uns im Text als ästhetischem Phänomen eine einmalige, individuelle Gestalt entgegentritt. Das Zusammenspiel der Formqualitäten, der ästhetischen Attribute, ergibt eine begrifflich-diskursiv uneinholbare, irreduzible Weltgestalt, bzw. hier besser: Situationsgestalt, die nur sie selbst ist: eine nichtabstrakte, sinnlich individuierte Ganzheit. Von solcher individuierten Totalität konkreter Lebenssituationen erfahren wir nichts im Medium theoretischer Intersubjektivität (in den Wissenschaften), nichts im Medium praktischer Transsubjektivität (in der Ethik), aber wir erfahren davon im Medium ästhetischer Erfahrung – im Medium ästhetischer Konsubjektivität. Wovon wir keinen deutlichen wissenschaftlichen Begriff gewinnen können, dies zeigen die ästhetischen Ideen; die Tiefe, Ferne, Flle und Grundlosigkeit unserer inneren Natur, das Je ne say quoy der frühen
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Ästhetiker (Dubos, Batteux), der inneren Natur, die diskursiv uneinholbar und reflexiv unüberbietbar ist, und die Leibniz als den wogenden fundus animae bezeichnete. Hier setzt wieder – gerade angesichts gestalteter erfüllter Augenblicklichkeit – die comprehensio aesthetica, die ästhetische Verdichtung ein. Bereits Baumgarten sprach hier in der LeibnizTradition von der cognitio sensitiva, der sinnlichen Erkenntnis individueller Füllequalitäten durch vielsagende Vorstellungen (perceptiones praegnantes), wobei er die Fülle als ubertas aesthetica und venusta plenitudo bezeichnete. Perceptio praegnans ist eigentlich eine schwangere Vorstellung – dieses Schwangersein von unabsehlichen weiteren Vorstellungen nennt wieder die antizipatorische Grundstruktur der ästhetischen Erfahrung. Sie wird letztlich ermöglicht durch auratische Verdichtung, wie sie das von Eichendorff sprachlich entfaltete Tableau leistet: die auratische Verdichtung in einem augenblicklichen und einmaligen Bild, bewirkt durch die Semantisierung der sprachlichen Formqualitäten. (Ein anderes Beispiel wäre die Szene in Goethes „Hermann und Dorothea“: sie knickt mit dem Fuß auf der Treppe um – im Mondlicht erstarren sie zu einer antiken Statue zweier Götter.) 5. Das Strukturmoment der kommunikativen Selbsttransparenz der Subjekte in der ästhetischen Erfahrung. Auch für unsere Textstelle gilt: Das proprium ästhetischer Erfahrung ist ein zwangloses Welt- und Selbstverhältnis in nicht-diskursivem Erkennen, durch das die innere Natur der Subjekte auf begrifflich-definitorisch unerreichbare Weise transparent und kommunikabel wird. Das Schöne wird so – ich spreche mit Kant – zum Schema der Identität (der transzendentalen Einheit) der Subjekte (der Harmonie von Einbildungskraft und Verstand), indem der sie Erfahrende sich gerade auf sich selbst bezieht: durch die „produktive Einbildungskraft“ ohne Begriffe vorstellend (A 144). Ästhetische Ideen sind Schemata der Einheit der Subjektivität mit dem Anderen ihrer selbst – über die Zeiten und Räume hinweg z. B. Schemata unserer Einheit mit Subjekten, deren Welt in der Revolution vergeht und untergeht; sie sind Schemata der Einheit eines Subjektes mit den anderen Subjekten. Kant spricht hier davon, „was als das übersinnliche Substrat der Menschheit angesehen werden kann“, von der „unbestimmte(n) Idee des Übersinnlichen in uns“, vom übersinnlichen Substrat aller Erscheinungen der Natur und des Menschengeschlechtes, dessen „Schema“ die Dichtung ist. (KU 242; 215) Die so ästhetisch vermittelte kommunikative Identität der Subjekte wird ermöglicht über eine Erfahrung ohne alles Interesse; sie besteht in
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einem freien Spiel der Erkenntnisvermögen, die sich in diesem Spiel wechselseitig durchdringen; die Erfahrung ist zweckfrei und sie ist sowohl begrifflos wie kommunikativ. Auf diese Weise lässt sich die so ermöglichte Erfahrung 6. kontrafaktisch als eine Erfllungsgestalt humaner Bedrftigkeit verstehen. Die kommunikative Selbsttransparenz der inneren Natur der Subjekte erschließt sich durch die Gestaltung als eine glückhafte Erfahrung. Ich fasse zusammen. Durch die ästhetische Idee in literarischer Gestaltung werden kontrafaktisch Nähe und Entsprechung zu unserer Bedürfnisnatur antizipiert; die Formqualitäten (ästhetischen Attribute) antizipieren die Sinnbedingungen einer menschlichen Welt, in der Leiden, Schmerz, Verletzlichkeit und Vergänglichkeit herrschen; sie antizipieren das kommunikative Wiedererkennen unserer selbst in einem Anderen. Die ästhetische Idee antizipiert eine Ebene der nichtinstrumentellen, von den funktionalen Bezügen befreiten und autonomisierten Welterfahrung. Sie antizipiert durch auratische Verdichtung die Tiefe, Ferne und Fülle unserer diskursiv uneinholbaren Bedürfnisnatur – die comprehensio aesthetica vergegenwärtigt mit Kants Worten das Unnennbare von Gemütszuständen. Die ästhetische Idee antizipiert so letztlich die Einheit einer menschlichen Lebenswelt – einer menschlichen Lebensweltgemeinschaft und einer menschlichen Lebenswelterfahrung. Im Medium der Strukturen ästhetischer Erfahrung können Subjekte zwanglos und entlastet der Tiefe und Komplexität ihrer inneren Bedürfnisnatur innewerden, so sich selbst im Anderen ihrer selbst erfahren und sich in der Totalität ihrer Weltbezüge begegnen. In diesem Medium wird auch Sensibilität für die Fragilität und Verletzlichkeit vergänglichen menschlichen Lebens wachgerufen: die Sonne tat einen kurzen Blitz über funkelnden Schmuck. Diese ganze Betrachtungsweise reicht noch viel weiter zurück in die Geschichte der Metaphysik. Plotin spricht angesichts des Schönen in Peri tou kalou von Ekstasis und Pleroma der Seele. Die Struktur der Antizipation formuliert er so, dass das Schöne das ist, was der Seele ihr Heimkommen zu sich selbst bringt: „Es gibt nämlich etwas Schönes, das schon beim ersten Hinblicken wahrgenommen wird; dessen wird die Seele gewissermaßen inne und spricht es an; indem sie es wiedererkennt, billigt sie es und passt sich ihm so-
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zusagen an […] Wir behaupten nun, wenn die Seele das ist was ihr wahres Wesen ist, […] so ist es das Verwandte oder auch nur die Spur des Verwandten, dessen Anblick sie erfreut und erschüttert; sie bezieht das auf sich selbst und erinnert sich ihres eigensten Wesens, dessen was sie in sich trägt.“5 Dieses Innewerden der Spur des Verwandten scheint mir schon diejenigen Aspekte der ästhetischen Erfahrung anzusprechen, die ich als Tiefe der inneren Natur der Subjekte und als Totalität ihrer Weltbezüge zu charakterisieren versuchte. Eine Untersuchung der Bedeutung des Platonismus für die erkenntnistheoretischen Grundlagen der Geschichte der Ästhetik könnte auch die spezifisch anamnetischen Züge ästhetischer Antizipation genauer ins Auge fassen, die bereits an unserer Beispielanalyse – als Erinnerung an humane Welterfahrung – ablesbar sind. Und ebenso wird das Sichtbarmachen von auratischer Weltfülle und Einmaligkeit als Signum des Pleroma im Neuplatonismus mit Augenblicklichkeit und Plötzlichkeit (exaiphnes) verbunden – dem plötzlichen Aufblitzen des Schmucks und dem Goldregen der Blätter bei Eichendorff entsprechend. Es ergäbe sich in nuce eine Kontinuität der philosophischen Analyse der Struktur ästhetischer Erfahrung, die letztlich in der Metaphysikgeschichte gründet.
5
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Namenregister Adorno, Theodor W. 4f., 72, 74, 76, 78, 98, 106, 108, 117, 124–129, 131, 133f., 141–147, 149, 151, 153–155, 158, 161, 180, 202, 207, 218, 228, 230, 252, 270, 289, 292, 296–298, 303, 307, 314f., 317, 319, 328, 331, 333, 355, 357, 370, 376–378, 381, 386, 392, 397, 405, 410, 430 Al Ghazali, Muhammad 231 Albert, Hans 77, 149, 298 Alexander von Hales 397 Alston, William P. 303 Anderson, Tyson 232 Apel, Karl-Otto 28, 77, 270, 298 Archilochos 172 Arendt, Hannah 11, 24, 40f., 53, 222, 338, 352 Aristoteles 14f., 17–19, 65, 70, 101, 120, 127, 170, 172f., 178, 183, 201f., 260, 270, 292, 304, 309, 359 Arndt, Andreas 83 Augustinus 8, 31, 134, 209, 272, 292, 300, 321, 324, 335, 360f., 369 Avenarius, Richard 162 Barth, Karl 94, 269 Batteux, Charles 404 Baum, Wolfgang 134 Baumgarten, Alexander Gottlieb 355, 357, 365, 368, 370–372, 386, 399, 404, 438f., 445 Baumgartner, Hans M. 305 Bayle, Pierre 28 Beck, Ulrich 328 Becker, Oskar 378, 400, 430 Beethoven, Ludwig van 411
Benjamin, Walter 72, 74, 76, 79–85, 124, 126f., 129, 149, 180, 218, 292, 296, 317, 392 Benn, Gottfried 92, 399 Berg, Alban 22 Bernhard von Clairvaux 362 Birkenstock, Eva 176 Bloch, Ernst 117–123, 125–130, 180, 269, 293, 392 Blumenberg, Hans 148f., 174, 227, 358f., 361, 423–427, 431f. Boethius 292 Bonaventura 362 Brentano, Franz 225 Buddha 234 Bultmann, Rudolf 63, 70, 180, 269, 293, 358 Bush, Georges W. 38 Camus, Albert 149 Capelle, Wilhelm 100 Caputo, John D. 301 Caravaggio 400 Carnap, Rudolf 202, 375 Cassirer, Ernst 412 Cavell, Stanley 180, 303 Chilon von Sparta 100 Cicero 347 Cohen, Hermann 9 Colpe, Carsten 37 Constable, John 400 Croce, Benedetto 368 Crusius, Christian August 312 Dahrendorf, Ralf 328 Dante Alighieri 368f. Darwin, Charles 234 Deleuze, Gilles 77, 155, 299, 318 Demmerling, Christoph 174, 177
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Namenregister
Derrida, Jacques 72, 74, 77f., 128f., 151, 155f., 161, 180, 198, 203, 207, 218f., 230, 270, 292, 299f., 303, 314f., 318f., 381, 390, 410 Descartes, René 7, 36, 185, 334, 367, 370 Dewey, James 291 Dietschy, Beat 121 Diogenes 16 Dionysios Areopagita 74, 214, 231, 263, 316, 383–385, 387, 389 Dondaine, Hyacinthe François 375 Dostojewski, Fjodor M. 134 Drury, Maurice O’Conner 35, 55, 295 Dubos, Jean-Baptiste 404 Duns Scotus, Johannes 65, 74, 313, 316, 364–368, 374f., 386, 399 Eco, Umberto 363, 397 Ehrenfels, Christian von 124, 403 Eichendorff, Joseph von 438f., 441–443, 445, 447 Eluard, Paul 196 Erikson, Erik H. 346f. Eriugena, Johannes Scotus 362f. Faulstich, Werner 38 Feuerbach, Ludwig 150, 270, 274, 290 Fichte, Johann Gottlieb 65, 348, 389 Fisch, Jörg 241 Foucault, Michel 240, 314, 328 Frege, Gottlob 186f., 196, 429, 433f., 436 Freud, Sigmund 4f., 21f., 52, 88, 90, 99, 106, 109, 164, 207, 218, 225, 240, 249, 252, 270, 274, 290, 314, 320, 331f., 408, 410 Frohn, Birgit 418 Fukuyama, Francis 328 Gadamer, Hans-Georg 188, 202, 301, 396, 399 Galilei, Galileo 234 Gauchet, Marcel 267, 319 Gehlen, Arnold 97–99, 105–112, 114–116, 143
Girard, René 240, 291 Gloyna, Tanja 347 Goethe, Johann Wolfgang von 21, 37f., 355, 366, 372, 405, 407, 445 Gogh, Vincent van 134, 400 Gould, Stephen J. 335 Gregor von Nyssa 359 Gregor von Rimini 368 Gudmunsen, Chris 232 Habermas, Jürgen 9, 37, 72, 74, 76–79, 82, 98, 115, 149, 152, 180, 202, 248f., 252, 269f., 292f., 297–299, 318, 326, 336, 345, 351 Haecker, Theodor 147 Hahn, Achim 166, 422 Halbfas, Hubertus 239, 414 Haydn, Joseph 411 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 19–22, 24, 54, 58–71, 88, 90, 107–109, 123, 125, 142, 146, 150f., 158, 164, 170, 173, 183, 207, 209, 214, 216f., 220, 224f., 232, 237, 243, 245, 248f., 252, 257–260, 270, 277, 289, 304, 307f., 310, 313, 319, 327, 348, 382, 389, 407, 436 Heidegger, Martin 5, 7, 28, 30, 52, 69, 72, 74–78, 92, 102f., 106, 108, 117f., 120–122, 124f., 127–129, 131, 133–136, 143, 145f., 151–153, 155f., 158, 161f., 165, 170, 180, 185–189, 191, 194–196, 198, 202, 207, 209f., 217–221, 223, 225, 228, 230–232, 248, 252, 260, 270, 284, 289, 291–295, 297, 300, 303, 307, 314–321, 332, 334, 341, 343–345, 370, 381, 395, 398, 409f., 422, 426, 428, 430 Heller, Agnes 267, 319 Henning, Christoph 178 Henrich, Dieter 143, 304f. Heraklit 136, 294 Herder, Johann Gottfried 104f., 372 Hermann, Jörg 389 Hertz, Heinrich 426 Hesiod 74, 136, 294, 316 Hesse, Mary 423
Namenregister
Hick, John 302f. Hirsch, Emanuel 92 Hitler, Adolf 133 Hobbes, Thomas 72, 314 Hölderlin, Friedrich 136, 294, 316 Holz, Hans Heinz 120 Honnefelder, Ludger 251, 305 Horkheimer, Max 4, 76, 106, 143, 154, 180, 218, 292, 296, 317, 328, 331 Hösle, Vittorio 66, 68 Huber, Herbert 64 Hugo von St. Viktor 362 Hume, David 231, 239 Husserl, Edmund 15, 123f., 129, 162, 187–189, 195f., 198, 205, 224f., 341–343, 345, 351, 382, 409f., 420 Illies, Christian 55f. Irigaray, Luce 180, 303 Irrgang, Bernhard 418 James, William 251, 291 Jaspers, Karl 180, 269, 292, 294 Jauß, Hans Robert 402 Jesus 9f., 12, 22, 24, 41, 50, 53, 57, 215, 223, 234, 241, 261, 273, 291, 336–338, 382 Jonas, Hans 134–136, 360, 378, 380, 412f. Joyce, James 22 Jünger, Ernst 92 Kafka, Franz 22 Kallscheuer, Otto 249 Kambartel, Friedrich 33, 161, 166, 175, 178, 180, 395 Kamlah, Wilhelm 33, 110 Kanitscheider, Bernulf 429 Kant, Immanuel 5, 8–10, 12, 16, 19–22, 24, 26, 35–37, 41–52, 54–56, 65f., 68, 71, 80f., 83, 88, 90, 99, 105, 107f., 112, 118f., 122f., 129, 151, 161f., 164, 168–170, 172f., 181, 183, 185, 191, 195–197, 203, 207, 209, 214f., 217, 220f., 224, 231, 237f.,
453
242, 248, 251f., 260f., 263, 270, 276, 289, 291, 299, 304f., 307f., 310–313, 319, 327, 332, 335–337, 340, 342–345, 355, 357, 371–374, 376, 382f., 386–390, 397, 399, 402–405, 407, 419, 423–426, 432, 438–440, 442, 445f. Keel, Othmar 358 Kerr, Fergus 180, 303, 381 Kierkegaard, Søren 5, 10, 75, 88–90, 99, 124–126, 134, 140, 146f., 151, 158, 194f., 209, 214, 228, 247, 293, 295, 313, 322, 324, 332, 337 Klages, Ludwig 328 Kleist, Heinrich von 194, 228 Koch, Traugott 95 Kodalle, Klaus-Michael 93f., 148f., 155, 157f. Kripke, Saul 191 Kroeger, Matthias 93 Kühnhold, Christa 194, 228, 322 Külpe, Oswald 118 Kutschera, Franz von 304f. Langthaler, Rudolf 81f. Lask, Emil 118 Lefort, Claude 267 Lehmbruck, Wilhelm 394 Leibniz, Gottfried Wilhelm 27f., 30–33, 35, 152, 367f., 370f., 399, 404, 408, 438, 445 Leibowitz, Jeshajahu 41 Lessing, Theodor 328 Levi, Primo 41 Lévinas, Emmanuel 198, 300f. Löwith, Karl 62, 89, 148, 314 Lübbe, Hermann 180, 291 Luckner, Andreas 136 Luhmann, Niklas 291, 347 Lukács, Georg 92, 118 Luther, Martin 8, 134, 237, 247, 257, 264, 335, 340 Lyotard, Jean-François 77, 155, 299, 318, 328, 386, 389f. Mackie, John Leslie 302, 324 Maimonides, Moses 231, 302 Marcuse, Herbert 392
454
Namenregister
Marquard, Odo 36f., 252 Marx, Karl 5, 21f., 88–90, 99, 107, 164, 175, 178, 207, 218, 240, 249, 252, 270, 274, 290, 314, 320, 327, 332, 410 Meier, Georg Friedrich 370f., 438f. Meister Eckhart 19, 66, 231, 273, 292, 310, 368f. Merker, Barbara 134 Merleau-Ponty, Maurice 7, 187, 191, 196, 432 Monet, Claude 225, 399 Montaigne, Michel de 99 Moore, George E. 344 Mulhall, Stephen 158 Murdoch, Iris 180, 303 Musil, Robert 22, 392
Pindar 100 Plantinga, Alvin 302, 324 Platon 15, 17, 19–21, 65, 70, 74, 101, 166, 170, 173, 183, 201f., 208, 260, 270, 292, 304, 310, 313, 316, 358f., 389, 397 Plessner, Helmuth 98f., 106, 416 Plotin 3, 19, 65f., 70, 74, 93, 95, 123, 214, 231, 292, 297, 311, 316, 359, 438, 446f. Pöltner, Günther 363 Pothast, Ulrich 221 Proklos 3, 19, 66, 93, 95, 214, 231, 292, 311 Proust, Marcel 22 Putnam, Hilary 251, 302 Quine, Willard Van Orman
Nagarjuna 232 Nagl, Ludwig 249, 251f., 291, 306 Neiman, Susan 38 Nestroy, Johann 218 Nicolaus Cusanus 19, 217, 231, 292, 310, 368–370 Nientied, Mariele 158 Nietzsche, Friedrich 4f., 21f., 72, 74, 88–90, 99, 103, 105, 107, 149, 151, 164, 207, 218, 238, 240, 249, 252, 261, 270, 274, 290, 306, 314, 316, 320, 327f., 331f., 382, 406, 408, 410 Nono, Luigi 22 Novalis 132f., 208 Nurbakhsh, Javed 237 Nussbaum, Martha 180, 303, 352 Origenes
85, 359
Pangritz, Andreas 85, 298 Parmenides 136, 294 Pascal, Blaise 42, 103, 134 Patra, Reena 418 Paulus 6, 9f., 57, 134, 273, 333, 336f., 351, 359 Peirce, Charles S. 77, 251, 298 Phillips, Dewi Z. 241, 302 Pico della Mirandola, Giovanni 99, 101–104, 114
202
Rabia von Basra 240 Rahner, Karl 180, 269, 293 Ratzinger, Joseph 37 Reagan, Ronald 38, 179 Rehberg, Karl-Siegbert 105–111, 115f. Rehbock, Theda 114, 177 Rembrandt 400 Rentsch, Thomas 344 Rhees, Rush 55, 295 Rhyner, Hans-Heinrich 418 Rickert, Heinrich 118 Ricoeur, Paul 240, 301, 425, 436 Ritter, Joachim 359, 369, 371 Rohbeck, Johannes 166 Rorty, Richard 202, 252, 327 Royce, Josiah 77, 298 Ryle, Gilbert 221 Sappho 18, 172 Sartre, Jean-Paul 102, 107, 392 Scheler, Max 99, 114 Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph 90, 93f., 151f., 294, 307, 313, 378, 389 Schiller, Friedrich 122, 372f., 388, 442 Schmidt, Thomas M. 249 Schmidt-Biggemann, Wilhelm 37
455
Namenregister
Schmitt, Carl 92 Schmitz, Hermann 7, 430, 432 Scholz, Heinrich 359f., 369 Schönberg, Arnold 22, 76, 144, 155, 297, 317, 377 Schopenhauer, Arthur 52, 357, 375f. Searle, John 423 Seebohm, Thomas M. 125, 195 Seidel, Alfred 328 Seneca 347 Seuse, Heinrich 66 Siep, Ludwig 22 Simmel, Georg 106, 405 Sokrates 14–17, 19, 21f., 201, 208, 210, 261, 310, 382 Solger, Karl Wilhelm Ferdinand 378 Solon von Athen 100 Spaemann, Robert 180, 304, 306 Specht, Rainer 367 Spengler, Oswald 328, 379 Spinoza, Baruch de 68, 107 Stalin, Josef 133 Stenius, Erik 434f. Strasser, Peter 304, 307 Straus, Erwin 193, 195, 204 Stumpf, Carl 124 Suárez, Francisco 20, 235, 311, 367 Swinburne, Richard 276, 302, 324 Tauler, Johannes 66 Taylor, Charles 180, 203, 224, 301, 303 Theunissen, Michael 76, 100, 109, 127, 144, 155, 297f., 304, 306f., 319, 377 Thomas von Aquin 41, 53f., 74, 348, 362f., 397 Thomas von Vercelli 363f., 375 Tillich, Paul 86–95, 180, 269, 294f. Tolstoi, Lew N. 134, 136, 295 Trakl, Georg 136
Troeltsch, Ernst 89 Tugendhat, Ernst 29, 304, 306 Ujma, Christina
127
Vaihinger, Hans 238 Valéry, Paul 155, 377, 405 Vattimo, Gianni 203, 301 Vermeer, Jan 225 Vitoria, Francisco de 20, 311 Voegelin, Eric 144 Vollmann, Morris 174, 427 Wagner, Falk 72, 314 Waldenfels, Bernhard 191, 195, 305 Weber, Max 89, 109, 118 Weischedel, Wilhelm 94, 304 Wellmer, Albrecht 142, 145, 154, 376f. Wieland, Wolfgang 166 Wimmer, Reiner 114, 177 Winch, Peter 241 Wittgenstein, Ludwig 5, 7, 10, 30, 33f., 45, 55, 67, 69, 72, 74–76, 78, 81, 83, 117, 120f., 124–126, 128–131, 133f., 136–140, 145f., 151–153, 155, 158, 161f., 164f., 167, 169–171, 174, 180, 185–188, 190–192, 194–196, 199, 202–204, 207–209, 211, 213–215, 218–221, 226, 228–232, 235, 241f., 247f., 252, 256, 260, 262, 270, 284f., 289, 291f., 295, 297, 302f., 306f., 314f., 317, 319–324, 332, 334, 337, 340f., 343–345, 349, 370, 379–381, 389, 398, 409f., 424, 426f., 430f., 433, 435f. Wolff, Christian 370, 399 Woytila, Karol 179 Zˇizˇek, Slavoj
203
Sachregister Absolute, das 3, 65, 68, 72–82, 91, 93, 96, 133, 144f., 148–153, 155–158, 181, 208, 230, 252f., 267, 270f., 277, 284, 288, 292, 297, 299, 304–306, 309, 314f., 317f., 324, 328f., 376f., 381–385, 389f., 430f. – Substitute des 72f., 75–78, 80, 82f., 148–150, 153, 156, 270f., 296, 309, 315, 317–319, 328f. Alltagspraxis, kommunikative 17, 77, 149, 298, 344 Analogie 236, 286, 323 anthropologia transcendentalis 261, 263 Aufklärung 3–14, 19f., 24f., 28, 38f., 82, 86, 98, 103, 115, 148, 176, 179f., 182–184, 202, 218, 230, 233, 235, 250, 268, 270, 272, 276, 289, 299, 310, 312, 314, 326, 329–334, 340, 380, 382, 419 – biblische 6, 8f., 11, 337 – Dialektik der 4, 76, 106, 143, 317, 331 – existentielle 57 – Tiefen- 3, 6, 12, 36, 57, 230, 288, 330, 333, 336f., 339f., 350f. Augenblick 10, 17, 29, 53f., 69, 82, 85, 91, 119, 121–124, 126f., 129, 135, 222, 225, 232, 265f., 279, 286, 297, 306, 323, 335, 337f., 352, 356, 374, 376–378, 385f., 388f., 400, 404f., 417, 442f., 445, 447 Autonomie 33, 42, 212, 267, 346, 406, 444 Bilderverbot 18f., 24f., 100, 181, 210, 217, 231, 244, 246, 261, 275, 310, 382
Böse, das 9, 26, 30–34, 36–41, 43–48, 50, 52–57, 62f., 282, 312, 336 Christologie 47f., 64, 70, 76, 93, 144, 155, 297, 317, 377 Differenz 77f., 128, 155–157, 181, 209, 242, 270, 299, 318, 381, 393 – Kultur der 24 – ontologische 69, 74, 120, 127f., 152, 155, 271, 316 Diskursethik 77, 298, 345, 349 Endlichkeit 5f., 11, 26–30, 35, 53, 58, 64, 69f., 88f., 94, 104, 110, 118, 195–197, 205f., 208, 230, 243, 245f., 258, 262f., 265f., 274, 280, 294, 301, 308, 333, 339, 390f., 400, 406, 408, 421f., 444 Eschatologie 10, 79–81, 117, 144, 150, 155, 296, 363, 374, 377, 431 Evolutionstheorie 272, 335 Freiheit 9, 11f., 16, 20f., 25, 31–33, 36, 39, 41f., 45–49, 51–54, 60–63, 67, 71, 101, 103f., 107f., 115, 125, 169, 177, 187, 193, 195, 197, 204, 212, 216, 220–222, 227, 245, 266f., 282, 285f., 294, 306–308, 311–313, 322, 324, 336, 338–340, 352, 365, 392, 412f., 425, 430, 436 Gewissheit 29, 222, 229, 236, 313, 341, 343–345, 348f., 351 Gnosis 74, 78, 90, 131, 133–136, 140f., 146f., 157, 316, 318, 360 Grundsituation, menschliche 58f., 131, 341, 360, 428, 433
Sachregister
457
Gute, das 4, 11, 17, 19, 39, 42, 46–48, 54–56, 63, 68f., 88, 201, 212, 262, 276, 310f., 313, 321, 324, 330, 338, 359, 396f., 399
– Hermeneutik der 26f., 29–31, 35 Leiden, das 26–30, 33–35, 39, 52, 64, 70, 82, 94, 141, 143, 245, 264, 268, 296, 359f., 446
Hermeneutik 100, 136, 156, 167, 174, 188, 210, 301, 410 – kritische 128f., 161, 165, 171, 214, 219, 320, 410, 433 – negative 227 – und Dialektik 411 – und Pragmatik 410
malum – metaphysicum 26–29 – morale 26, 30f. – naturale 26–29 Metapher, absolute 323, 358, 423–427, 431f. Metaphysik 15, 26, 38, 52, 65f., 71, 74f., 78, 90, 95f., 101, 108, 110, 118, 120, 123, 132, 134, 145, 149, 151–153, 157, 169, 201–204, 207f., 217, 219, 224f., 230, 234, 243f., 249, 252f., 258, 260–263, 267, 276, 292, 294, 305, 309, 312, 316, 318, 320, 323, 325, 327, 349, 359, 371, 376, 383, 387, 394, 396, 419, 425f., 432, 438, 446 Moderne 19, 21f., 24f., 72, 78f., 86, 88, 90, 103f., 106, 111, 128, 134, 148f., 158, 176, 179f., 182f., 204, 210, 218f., 228, 230f., 233, 245, 268, 270f., 275, 288f., 291, 300f., 303, 309f., 314, 318, 327–329, 339, 373, 380, 382, 384, 392, 421f. Moralität 9, 21, 23, 31–33, 40–42, 44f., 53, 193, 238, 243, 246, 249, 336, 351f. Mystik, rationale 19, 66, 69, 78, 157, 210, 219, 222, 231, 273, 306, 310, 318, 363, 387 Mystische, das 69, 75f., 78, 80, 151f., 157, 181, 213f., 230, 270, 295, 297, 317f., 381
Identität 9, 34f., 44, 53, 67, 80, 90, 94, 125, 141f., 154, 190, 195, 276, 284, 289, 346, 363, 373, 390, 393, 399f., 445 – und Differenz 67 Individualität 20, 23f., 67f., 76, 91, 127, 129, 185, 196, 206, 222, 249, 257–259, 271, 275, 297, 317, 400, 407 Individuation 67f., 71 – -sprinzip 21, 120, 365, 367 Kalokagathia 396 Kommunikationsgemeinschaft, ideale 77f., 181, 270, 298 Lebensform 33, 140, 164, 178, 186, 203, 211, 214, 229, 256, 306, 344, 348, 351, 380, 402, 418, 422, 428, 436 Lebensform: 170 – kommunikative 17, 94, 96, 116, 140, 169, 186, 214, 263, 281, 398 – moralische 26f., 32–34 – religiöse 3, 12, 19, 140, 204, 215f., 235, 241, 250, 256, 259f., 274, 285, 288, 295, 310, 330, 339f. – säkularisierte 253 – transzendentale 429–432 Lebenswelt 26f., 31f., 35, 86, 99, 111, 115, 162, 170, 192f., 224, 226, 293, 343, 345, 351, 396, 403, 406–408, 419, 429, 431f., 443, 446
Negativität 6f., 12, 28, 46, 56, 78, 82, 85, 88–90, 92–94, 97, 99f., 106, 109, 111, 113f., 122, 127, 129f., 132, 142, 196f., 206, 208, 210, 212, 217, 219, 222, 231, 243f., 246, 252, 318, 333f., 339, 349, 377, 382, 393, 410 – anthropologische 106, 110, 115
458
Sachregister
– der Transzendenz 213, 265, 310f., 387 – existentielle 61, 63, 88f., 106 – interexistentielle 350 – Ontologisierung von 142 – Paradigmen der 382 – Schutz der 221f., 350 – sprachliche 89 – und Moralität 246 – und Praxis 47, 111, 113, 121 – und Sinn 3, 12, 18, 20, 32, 52, 109f., 114, 119, 121–124, 127, 132, 184, 198, 207f., 210, 212, 227, 246f., 263, 266, 279, 310, 348, 385, 418 – und Vernunft 21, 233, 243f., 246, 251, 262, 390, 422 Neuplatonismus 3, 19, 66, 78, 90, 93, 127, 157, 207, 217, 231, 286, 318, 323f., 447 Nichtidentische, das 5, 76, 78, 117, 125, 127, 141–143, 145, 153–155, 157, 181, 230, 270, 297, 317f., 333, 381 Nichtwissen, sokratisches 12, 16, 18f., 25, 56, 100, 114, 181, 210, 217, 231, 244, 261, 310, 340, 382 Phänomenologie 7, 107, 109, 123f., 167, 184–186, 190f., 196, 199, 205, 334, 341, 363, 421 Postmoderne 72, 78, 86, 148f., 156, 179, 289, 299, 309, 314, 318, 328, 384, 390 postsäkular 37, 202, 270 Psychoanalyse 44, 73, 99, 148, 218, 347, 351 Rationalität, okzidentale 14, 19, 65, 70, 73f., 79, 99f., 150, 157, 202, 207f., 210, 217f., 231, 294, 309f., 312–316, 319, 382 Regelfolgen 67, 125, 190, 192, 194, 200, 221, 226, 322, 344 Säkularisierung 19, 37, 79f., 148, 150, 203, 250, 276, 288–290, 293, 296, 299, 314, 339, 350
Sinnkonstitution 6, 51, 58–62, 65–69, 114, 123, 126, 189–191, 194, 199, 217, 223f., 226, 271, 281 – sprachliche 60, 67, 70, 112, 199 – und Negativität 12, 18, 20, 67, 109f., 114, 119, 121–124, 127, 130, 162, 190, 197f., 212, 219, 221, 223, 227, 230f., 263, 310, 333, 348, 410 Sprachanalyse 117, 167, 186, 190, 226, 411, 421 Sprachspiele 77, 83, 126, 128f., 140, 167, 171, 186, 188, 194, 228, 242, 250, 323, 344, 380, 429–432 Sprung 46, 48, 125f., 194f., 200, 228, 322 Spur 78, 123, 128, 156, 158, 230, 270, 300, 318, 447 Subjektivität 18, 60, 62f., 70, 80, 107, 173, 185, 222, 273, 325, 373, 421, 429f., 445 – passive 124, 188, 341f., 345 – prädikative 59, 67f., 187, 193, 205 – transzendentale 342 – ursprüngliche 320–323 Theologie 9, 14, 35, 47, 58–60, 62, 68, 74f., 78, 155, 157, 180, 182, 202, 204, 207, 212, 219, 244, 261, 269, 277, 283, 287, 293, 300, 316f., 325, 329, 336, 340, 358f., 369, 373, 375, 384, 424, 432 – dialektische 79, 214 – negative 3, 19, 24f., 50, 138, 142, 181, 207, 210, 217, 231, 244, 246, 263, 267, 271, 277, 292, 302, 306, 309–311, 319, 324, 375, 377, 382–385, 430 – philosophische 65, 68, 71, 78, 93f., 149, 157f., 179, 252f., 270f., 276f., 283f., 286, 288, 290–292, 302, 304, 313, 319, 321, 329 – politische 80, 331 Tod Gottes 12, 18f., 63, 72, 149, 179, 210, 231, 246, 252, 290, 310, 314, 327, 350
Sachregister
transpragmatisch 6–8, 12, 42–45, 49, 51, 84, 211, 215, 243, 245, 252, 258–260, 266, 268, 278, 281f., 287, 296, 333, 340 transrational 18, 49, 69, 270, 287 Transsubjektivität 32, 248, 356, 398, 402, 444 Transzendentalien 203, 262f., 362–364, 397 Transzendenz 3, 10, 18f., 44, 50f., 54, 69, 71, 76, 79–85, 94, 117, 125–127, 131f., 145f., 149f., 155, 181f., 184, 189, 195, 201–217, 247, 252f., 263, 265–267, 271, 278–283, 285–288, 290, 292–298, 300–302, 304, 307f., 310–312, 314, 319, 322–325, 329f., 339f., 350, 375, 381f., 384f., 391f. – -ansprüche, ethische 140 – ästhetische 377, 385, 391 – der Sprache 69, 206, 212, 271, 280f., 283 – der Welt 12, 69, 206, 212, 262, 264, 278, 280, 283, 340 – des Guten 262 – Dialektik der 201, 207, 210–214, 216 – existentielle 12, 51, 206, 211, 262, 282f., 340 – Gleichursprünglichkeit der 271, 283f., 288, 320
459
– in der Immanenz 19, 69, 181, 189, 207, 209, 212, 217, 252f., 263, 277f., 283, 287f., 322, 324, 368, 384, 387, 390 – interexistentielle 12, 24, 206, 211, 262, 264f., 282, 340 – kommunikative Selbst- 122, 194, 205, 280, 282 – Paradigmen der 14, 76, 210f., 214, 287, 313, 317 – -überschuss, eschatologischer 82, 126 – und Geschichte (Benjamin) 81f., 85 Transzendenzreflexion, europäische 74, 207, 219, 307, 316, 385 Trinität 60, 62, 66, 70, 150, 301, 369, 397 Unverfügbarkeit, sinnkonstitutive 6, 8, 12, 18f., 24, 28, 82, 119, 181, 197, 206, 211, 222f., 231, 278, 282, 287f., 311, 330, 333, 335, 339f., 348, 350, 383 Verifikation, eschatologische 302 Vernunftreligion 50, 308
236,
Wunder 12, 52, 62, 69, 254, 259, 264, 272, 278–281, 283, 286, 294, 306, 308, 322, 335, 339