Christine Rimmer
Spiel um dein Herz
Delilah ist entschlossen, Sam Fletcher zu zeigen, wie wenig sie von ihm hält! Denn...
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Christine Rimmer
Spiel um dein Herz
Delilah ist entschlossen, Sam Fletcher zu zeigen, wie wenig sie von ihm hält! Denn er hat mit ihrem Bruder Brendan um eine Woche mit ihr gepokert – und gewonnen. Nur Brendan zuliebe wird sie mit Sam sieben Tage in den Bergen verbringen. Doch schon beim ersten romantischen Sonnenuntergang in seiner Hütte am See spürt Delilah, dass ihr Herz wie verrückt klopft. Die erotische Ausstrahlung des attraktiven Mannes lässt sie keineswegs kalt. Als Delilah ihren starken Gefühlen erliegt, ist sie glücklich in Sams Armen. Aber kaum nach Hause zurückgekehrt, erfährt sie etwas Unglaubliches…
© 1993 by Christine Rimmer Originaltitel: „Wagered Woman“ erschienen bei: Silhouette Books, Toronto in der Reihe: SPECIAL EDITION Published by arrangement with HARLEQUIN ENTERPRISES II B.V. Amsterdam © Deutsche Erstausgabe in der Reihe BIANCA Band 1474 (14/1) 2005 by CORA Verlag GmbH & Co. KG, Hamburg Übersetzung: Xinia Picado Maagh-Katzwinkel
1. KAPITEL „Sag mir, was dich quält, Sam, vielleicht kann ich dir helfen.“ Oggie Jones seufzte müde und schob die Zigarre in seinen anderen Mundwinkel. „Bald ist es drei Uhr, und entweder sagst du mir jetzt, was los ist, oder du gehst nach Hause.“ Sam Fletcher nahm einen Schluck Bier, das inzwischen warm geworden war. Er verzog sein Gesicht und schob das Glas beiseite. „Es geht um eine Frau.“ Oggie beugte sich vor. „Welche Frau?“ Da er noch nicht bereit war, diese Frage zu beantworten, lehnte Sam sich an die Bar und dachte laut nach. „Ich bin vierzig Jahre alt.“ „Das weiß ich.“ „Ich besitze ein Geschäft, ein Haus, eine Hütte am Hidden Paradise Lake und sollte eigentlich glücklich sein.“ „Allerdings.“ „Und ich bin glücklich.“ „Natürlich bist du das.“ „Beinahe.“ Oggie hob die Brauen und kaute auf seiner Zigarre. Als erfahrener Barkeeper wusste er, wann es besser war, den Mund zu halten, und er spürte, dass er Sam Zeit geben musste. „Ich bin fast glücklich, Oggie, aber eben nicht völlig“, fuhr Sam fort. „Willst du damit sagen, dass dir zu deinem Glück noch etwas fehlt?“ „Genau, mein Leben ist irgendwie… leer.“ Oggie schüttete den Rest von Sams Bier weg und spülte das Glas aus. „Es geht also nicht um irgendeine Frau, sondern um eine bestimmte Frau“, stellte er fest. „Richtig.“ Oggie nickte. „Du hast alles erreicht, jetzt fehlt dir nur noch jemand, der dein Geld ausgibt.“ Er lachte laut. Nun wirkte Sam beleidigt. „Für mich ist das nicht zum Lachen.“ „Ich wollte mich nicht über dich lustig machen.“ „Gut.“ „Wer ist denn die Glückliche? Und wo liegt das Problem?“ wollte Oggie wissen. „Die Lady ist das Problem.“ „Spielt sie die Unnahbare?“ „Sie spielt gar nichts.“ „Aber was ist es dann?“ „Es gibt gar keine Lady, denn ich habe noch keine gefunden.“ Zufrieden, dass sie endlich am entscheidenden Punkt angekommen waren, reagierte Oggie mit einem „A-ha“. Dann schob er die Daumen unter seine Hosenträger. „Keine Einzige in Sicht?“ „Nein, und es ist nicht so, dass ich mich nicht umgesehen hätte. Ich wünsche mir Feuer und kann nicht einmal einen Funken entzünden. Vielleicht gibt es einfach keine Frau für mich.“ „So darfst du nicht reden“, warf Oggie ein. „Jeder Topf findet seinen Deckel.“ „Glaubst du wirklich?“ „Ich weiß es.“ Sam lächelte zufrieden. Sein alter Freund wusste, dass ein Mann die passende Frau braucht. Deshalb hatte Sam beschlossen, Oggie zurate zu ziehen. Er war glücklich verheiratet gewesen. Bathsheba Riley hatte ihm drei gut aussehende Söhne und eine Tochter geboren. Mit siebenunddreißig war Bathsheba an einem Schlaganfall gestorben, und obwohl seit ihrem Tod schon ein Vierteljahrhundert
vergangen war, wurde Oggie manchmal ganz poetisch, wenn er von der „schönen Bathsheba, der Königin meines Herzens“, sprach. „Also gut, Oggie“, begann Sam. „Ich könnte deine Hilfe gebrauchen.“ „Wobei?“ „Die richtige Frau zu finden.“ „Was willst du wissen?“ „Vielleicht kannst du mir einen Tipp geben, wie und wo ich eine Frau kennen lernen kann. Am liebsten hätte ich eine, die unsere Stadt so liebt wie ich und niemals von hier weggehen will.“ Nun lachte Oggie. „Falls du es noch nicht gemerkt hast, befinden wir uns hier in North Magdalene. Zweihundertfünfzehn Einwohner, beziehungsweise zweihundertneunzehn, nachdem Beatrice Brantley Zwillinge bekommen hat und diese zwei Ladys aus Oakland in das Haus der Luntmans gezogen sind.“ „Natürlich weiß ich das, und wahrscheinlich habe ich jede Frau berücksichtigt, die zu mir passen könnte. Vielleicht habe ich aber eine vergessen.“ „Nun“, meinte Oggie, „mir fallen sieben Frauen ein, die zu einem Mann deines Alters passen könnten. Die beiden Damen aus Oakland, die ich eben erwähnte, fallen wohl weg, denn ich habe erfahren, dass sie ein Paar sind.“ Sam schöpfte wieder Hoffnung. „Sieben? Mir sind nur sechs eingefallen, und die kommen alle nicht infrage.“ Oggie schien noch einmal zu zählen. „Doch, ich komme auf sieben.“ „Wer?“ „Soll ich alle nennen?“ „Ja klar.“ „Okay. Alma Santino?“ „An sie habe ich gedacht, aber sie ist gerade mal zwanzig. Zu jung für mich.“ „Regina Black.“ „Nett, aber zu schüchtern.“ „Betty Brown.“ „Keinesfalls, sie kommandiert jeden herum.“ „Angie Leslie?“ „Zu flatterhaft. Du weißt, dass sie schon dreimal geschieden ist.“ „Warte. Jared ist auch schon zweimal geschieden, und du weißt, dass er absolut nicht flatterhaft ist.“ „Von Jared will ich nichts“, entgegnete Sam. „Aber Angie Leslie ist nicht die Richtige für mich.“ „Schade, denn sie ist sehr hübsch.“ „Dem kann ich nicht widersprechen, aber das Aussehen ist nicht alles.“ „Was ist mit Cathy Quail? Bist du nicht letzten Monat mit ihr ausgegangen?“ „Ja.“ „Und?“ „Nette Frau, aber ohne Pep.“ „Okay. Chloe Swan.“ Sam schüttelte den Kopf. Jeder im Ort wusste, dass Chloe an Oggies mittlerem Sohn interessiert war. „Chloe ist in Patrick verliebt“, bemerkte Sam. „Für mich hat sie nichts übrig. Das war jetzt schon die Sechste. Hast du dich verzählt?“ „Nein, ich habe sieben gesagt, und ich meine sieben.“ „Wen gibt es denn noch?“ Oggie wirkte etwas nervös. Sam verstand, warum, als er seine Antwort hörte. „Meine Delilah, natürlich.“ Nun erstarb der Funken Hoffnung in Sams Brust. Oggies zickige Tochter war die letzte Person, an die er sich an einem kalten Winterabend kuscheln wollte.
„Du bist witzig“, bemerkte er trocken. „Also kommt keine Frau von hier infrage, wie ich schon befürchtet hatte.“ „Einen Moment noch.“ Oggie holte seine zerkaute Zigarre aus dem Mund und schaute sie an. „Meine Delilah ist nicht schlechter als die anderen.“ Da merkte Sam, dass er einen wunden Punkt berührt hatte. Mehr als einmal hatte Oggie gewünscht, dass Delilah einen Mann fand, ehe sie zu alt war, um ihrem Vater noch ein paar Enkel zu schenken. Aber noch nie hatte Oggie angedeutet, dass Sam dieser Mann sein könnte. Natürlich hatte er ihm auch noch nie verraten, dass er auf der Suche nach einer Frau war. Sam versuchte, den alten Mann zu besänftigen. „Okay, Oggie. Objektiv betrachtet ist Delilah…“ Er zögerte. Normalerweise fiel ihm zu Delilah Jones nichts Nettes ein. „Ganz in Ordnung“, meinte er schließlich: „Aber sie passt nicht zu mir, und das weißt du auch. Hast du noch eine andere Idee?“ Oggie war jedoch noch nicht besänftigt. „Nein, mir fällt nichts mehr ein“, knurrte er. „Warum geben wir meinem Mädchen keine Chance?“ „Weil sie mich auf den Tod nicht ausstehen kann.“ Nachdenklich kaute Oggie auf seiner Zigarre. Dann verteidigte er seine Tochter. „Versuch einmal, ihren Standpunkt zu verstehen. Im Alter von elf Jahren verlor sie ihre Mutter, und danach haben ihre wilden Brüder und ich ihr nur Kopfschmerzen bereitet. Damals schwor sie sich, etwas aus ihrem Leben zu machen, und das ist ihr gelungen. Sie ging aufs College und ist Lehrerin geworden. Sie hat eben nicht mehr viel mit uns gemeinsam, aber sie kann wirklich nichts dafür, wenn sie auf uns Kerle herabsieht, selbst wenn wir ihre Familie sind. Und dich hält sie für einen meiner Jungs, und das weißt du auch. Ihr Herz sitzt jedoch auf dem rechten Fleck. Wenn wir sie brauchten, wäre sie sofort zur Stelle.“ Trotz seiner Abneigung gegen Delilah Jones musste Sam Oggie Recht geben. „Okay, also ist Delilah loyal und gutherzig. Ich träume aber von einer liebevollen und warmherzigen Frau, zu der ich abends nach Hause komme. Delilah ist so liebevoll wie ein Fuchs, den man gefangen nimmt.“ „Mein Mädchen kann auch sanft sein.“ Oggie klang nicht sehr überzeugt. Nun reichte es Sam. „Das ist doch sinnlos. Ich will Delilah nicht, und sie mich bestimmt auch nicht. Schlag dir den Gedanken aus dem Kopf.“ „Das kann ich nicht. Je mehr ich darüber nachdenke, desto besser gefällt mir die Vorstellung von euch beiden.“ Sam wurde es ungemütlich. Das Glitzern in Oggies Augen behagte ihm gar nicht. „Meine Güte, Sam. All die Jahre habe ich vor lauter Bäumen den Wald nicht gesehen. Du bist genau der Mann, den mein Mädchen braucht, und sie passt perfekt zu dir! Du sagtest doch, dass du Feuer suchst, und das hat sie auf jeden Fall.“ Sam stöhnte laut auf. „Verdammt, Oggie. Ich käme nie mit ihr klar. Und überhaupt… Delilah würde mich freiwillig noch nicht einmal anschauen.“ Oggies Augen waren jetzt voller Tränen. „Schließlich ist sie mein kleines Mädchen, und sie ist das einzige meiner Kinder, das noch nie verheiratet war. Bevor ich ihre Ma im Jenseits treffe, möchte ich sie mit dem richtigen Mann glücklich sehen.“ „Dieser Mann bin nicht ich.“ Sam bereute langsam, sich Oggie anvertraut zu haben. Niemals hätte er gedacht, dass sein alter Freund sich wünschte, seine ledige Tochter und er, Sam, würden ein Liebespaar werden. Um es geschmeichelt zu formulieren: Delilah hasste Sam. „Du bist wie ein Sohn für mich“, schmeichelte Oggie. „Verdammt…“
„Und seit dem Tag, an dem du mit nichts als deiner frechen Art und deinen Kleidern am Leib in dieser Stadt aufgetaucht bist, hast du bewundernswert viel aus deinem Leben gemacht.“ „Oggie…“ „Es ist einfach perfekt. Schließlich hast du sogar… eine künstlerische Ader. Du bist Goldschmied und kannst gut schnitzen. Der Freund, den Delilah auf dem College hatte, war ein Künstlertyp. Wenn jemand bei ihr eine Chance haben soll, muss er künstlerisches Talent besitzen.“ „Jetzt reicht es wirklich“, unterbrach Sam. „Nein, noch ein Vorschlag, Junge!“ „Gute Nacht, Oggie.“ „Komm zurück!“ Sam winkte nur, aber Oggie gab sich nicht geschlagen. „An dem Tag, an dem du mit Delilah Ernst machst, vermache ich dir The Mercantile!“ Bei diesen Worten zögerte Sam. The Mercantile war eine alte Scheune, die zu einem Gebäude neben der Bar gehörte, die Oggie vor vierzig Jahren für wenig Geld erworben hatte. Sie würde genügend Platz für ein größeres Geschäft bieten, von dem Sam schon länger träumte. Aber hatte Oggie früher nicht gesagt, dass sein Sohn Patrick das Gebäude erben sollte? „Hörst du, was ich sage, Sam Fletcher?“ Natürlich hörte Sam, was Oggie sagte, und er konnte nicht anders, als über das Angebot nachzudenken. The Mercantile reizte ihn sehr, und es stimmte, was Oggie über ihn und Delilah gesagt hatte. Sie waren beide künstlerisch veranlagt, sie beide hatten Feuer. Doch ob das reichte, die Funken sprühen zu lassen? Zugegeben hinterließ der Gedanke an Oggies widerspenstige Tochter bei Sam kein Gefühl der Leere wie bei den anderen Frauen. Wenn er an Delilah Jones dachte, wurde ihm immer ganz heiß, aber diese Hitze wurde nicht durch leidenschaftliche Gefühle, sondern durch Abneigung hervorgerufen. Nein, er musste die Realität akzeptieren. Er würde nie mit Delilah Jones zurechtkommen, selbst wenn Oggie ihm hundert Scheunen versprach. Sam zuckte mit den Schultern und öffnete die Tür. „Kapiert?“ brüllte Oggie, als Sam in die von Sternen erhellte Nacht hinausging. „Wie lange bist du schon hinter dem Gebäude her? Verkaufen werde ich es nie. Du bekommst es geschenkt, wenn du aus meinem Mädchen eine glückliche Frau machst!“
2. KAPITEL Delilah Jones stand vor Fletcher Gold Sales und überlegte, ob sie in den Laden gehen sollte. Dass Sam Fletcher der Eigentümer war, war für sie Grund genug, das Geschäft nicht zu betreten. Doch sie hatte sich bereit erklärt, alle Geschäftsleute in der Stadt aufzusuchen, um eine Spende für den Glockenturm der Kirche zu erbitten. In diversen Geschäften hatte sie schon Geldbeträge erhalten. Ihren Vater um eine Spende zu bitten war nicht einfach gewesen, denn er hatte schon wieder gefragt, ob sie inzwischen einen Mann gefunden habe. Nachdem er ihr einen Geldbetrag gegeben hatte, musste er noch hinter ihr herrufen. „Ich meine es verdammt ernst mit den Enkelkindern. Ich habe mich schon um die Sache gekümmert. In den nächsten Tagen wird jemand vorbeikommen. Halt dich bereit. Verstanden?“ Nun fehlte nur noch Sam Fletcher, und dann hatte sie ihre Verpflichtungen gegenüber der Kirchengemeinde erfüllt. Delilah strich über ihren schmal geschnittenen Rock, rückte den Kragen ihrer Bluse zurecht und öffnete die Ladentür. Als sie eintrat, klingelte eine Glocke. „Komme sofort!“ ertönte eine tiefe Stimme aus dem hinteren Teil des Ladens. Delilah schwieg, weil sie nicht wollte, dass Sam sie an der Stimme erkannte. Sonst würde er sich vielleicht weigern, mit ihr zu reden. Wer konnte schon ahnen, wie dieser Wilde reagieren würde? In den letzten zehn Jahren hatten sie nicht einmal zwei Worte miteinander gewechselt. Wenn sie sich jetzt richtig verhielt, konnten sie vielleicht höflich zueinander sein. Nervös umklammerte sie ihre Handtasche sowie den Geldumschlag. Um sich abzulenken, schaute sie sich im Laden um. Was sie sah, ließ sie ungläubig staunen. Im Schein der Sonnenstrahlen leuchtete der Holzfußboden in einem warmen Goldton. Glänzende Vitrinen waren mit einer Vielzahl von Goldstücken, Schmuck und aparten Souvenirs gefüllt. An den Wänden hingen Ölgemälde und Aquarelle, die die Tier- und Pflanzenwelt Kaliforniens darstellten. Ausrüstungsartikel für Goldsucher befanden sich ordentlich aufgereiht in staubfreien Regalen. Außerdem sah Delilah schöne Holzfiguren: ein sich aufbäumendes Pferd, ein Weißkopfseeadler, ein Rehkitz. Delilah hatte bereits ein paar Mal gehört, dass Sam Fletcher gut schnitzen konnte. Ob er diese Figuren selbst angefertigt hatte? Wie merkwürdig, dachte sie verwirrt. Gehört dieses hübsche kleine Geschäft wirklich Sam Fletcher? Wie lange besitzt er es schon? Früher verkaufte er seine Goldstücke und den Schmuck von einem ramponierten Lieferwagen aus. Man hatte ihr schon gesagt, dass der Laden ein Juwel sei. Außerdem wusste sie, dass Touristen bei Sam die Ausrüstung für die Goldsuche liehen. Noch nie hatte sie sich Gedanken gemacht, welches Leben Sam Fletcher führte. Warum auch? Sie wollte nichts mit ihm zu tun haben. Nicht dass es wichtig war, wie sein Geschäft aussah. Es passte nur nicht ganz zu der Vorstellung, die sie sich von Sam gemacht hatte. Als Delilah sich umsah, klingelte die Türglocke erneut. Ein Mann und eine Frau, die offensichtlich Touristen waren und einen Ausflug in das Goldgräberland machten, betraten den Laden. Der Frau fielen sofort die Schmuckstücke auf. „Walter, schau dir diesen Ring an.“ Delilah zog sich zurück, bis sie in einer Ecke neben einem hohen Ständer mit Spitzhacken und Schaufeln stand. Eine Tür am anderen Ende des Ladens wurde geöffnet. Delilah zuckte zusammen und stieß mit dem Ellenbogen gegen den
Ständer. Bei dem Geräusch drehte sich der Kunde um und bemerkte sie. In diesem Moment kam Sam Fletcher aus dem hinteren Raum. Wie immer wirkte der große Mann mit der rotgoldenen Löwenmähne und dem gepflegten Bart beeindruckend. Aus irgendeinem Grund musste Delilah an ihre erste Begegnung vor zwanzig Jahren denken. Die Erinnerung überfiel sie unvermittelt. Als Sam Fletcher in den Verkaufsraum kam, fühlte sie sich wie damals mit vierzehn und glaubte sich auf dem Weg zu ihrem Geheimplatz am Fluss, wohin sie immer ging, wenn sie alleine sein wollte. Es war an einem späten Vormittag im Frühsommer, und die Bäume waren schon dicht belaubt. Die Sonne schien warm, als Delilah die Tür öffnete. Draußen seufzte sie erleichtert, denn sie freute sich, im Freien zu sein. Seitdem ihre Mutter gestorben war, gab es in ihrem Zuhause keine Ruhe und Ordnung mehr. Ihr Vater und die Brüder schienen die Streitereien und das Durcheinander regelrecht zu genießen. Im Moment war es im Haus still, da alle wie üblich lange schliefen. Die vergangene Nacht war schrecklich gewesen, und jeder ihrer Brüder hatte seinen Teil dazu beigetragen. Zuerst war ihr dreizehnjähriger Bruder Brendan mit einer Zigarette im Mund eingeschlafen. Gott sei Dank hatte Delilah den Brandgeruch bemerkt und ihren Bruder retten können. Sie schlief schon fest, als ihr Bruder Patrick ins Haus stürmte. Delilah erwachte und stellte fest, dass es zwei Uhr morgens war. Da Patrick einen fürchterlichen Lärm veranstaltete, zog sie ihren Morgenmantel an und ging aus dem Zimmer, um nachzuschauen, was los war. „Was spionierst du hier herum?“ fragte Patrick, als er seine Schwester sah. Dann hielt er ihr die rechte Hand hin, von der Blut aus einer Wunde auf den Küchenfußboden tropfte. „Wenn du schon auf bist, dann kannst du mir auch gleich die Hand verbinden.“ Nachdem sie die Wunde versorgt hatte, ging sie wieder zu Bett. Kaum war sie eingeschlafen, als ihr ältester Bruder Jared gegen die Tür schlug. „Verdammt, lasst mich rein! Ich will rein, verdammt noch mal!“ Delilah wartete darauf, dass einer ihrer Brüder reagierte, aber nichts geschah. Ihr Vater war noch nicht aus der Bar zurück. Jared klopfte weiter gegen die Haustür und brüllte immer lauter. Delilah wusste, dass er die Tür bald eintreten würde, denn er hatte es schon einmal getan. Deshalb zog sie wieder den Morgenmantel an und ließ Jared ins Haus. Mit voller Wucht schlug er die Tür zurück, als Delilah öffnete, gab eine Unverschämtheit über Frauen von sich, stürmte an seiner Schwester vorbei und ging in sein früheres Zimmer. Ohne zu fragen, wusste Delilah, was passiert war. Er war betrunken, und seine Frau Sally hatte ihn wieder mal hinausgeworfen. Der Morgen war noch frisch und verriet nichts von den Strapazen der Nacht. Als sie zu ihrem Versteck ging, kam ihr der Gedanke, dass ihr Vater eigentlich kaum besser als seine. Söhne war. Um elf Uhr lag er immer noch schnarchend auf der Couch. Nachdem die Bar geschlossen war, hatte er, wie fast jede Nacht, mit seinen Freunden noch auf seine verstorbene Frau getrunken. Doch das Chaos, das in ihr Leben eingezogen war, ließ sie jetzt hinter sich, für wenige kostbare Minuten, denn sie war auf dem Weg zu ihrem Versteck, wo sie Ruhe und Frieden finden würde. Ruhe und Frieden? Was sie stattdessen fand, war ein Riese mit fettigem Haar und eine zerstörerische Maschine. Ungläubig starrte sie auf die Szene vor sich. Ihr Lieblingsplatz war zerstört, der Fluss eine einzige Schlammwüste. Jemand hatte
offensichtlich beschlossen, dass ihr Zufluchtsort ideal für die Goldsuche, war. Der Schwimmbagger, mit dem die Menschen in dieser Gegend in großem Stil nach dem Gold fischten, erfüllte die Luft mit ohrenbetäubenden Geräuschen. Zwischen den Steinen am Flussufer saß ein Mann im Taucheranzug und hantierte mit einem großen Schlauch, der in den Fluss führte. Obwohl die Haare des Mannes schmutzig und ungekämmt waren, leuchteten sie in der Sonne. Da erkannte Delilah ihn: der neue Kumpel ihres Bruders Jared. Sam Fletcher war vor einigen Monaten aus dem Nichts in der Stadt aufgetaucht. Er machte nur Ärger, betrank sich jeden Abend und lebte in seinem Lieferwagen. Nun war das Maß voll. Sie lief zu dem kleinen Strand und stürzte sich schreiend auf den Mann. Wütend schlug sie ihn und beschimpfte ihn mit den Kraftausdrücken, für die sie ihren Vater und ihre Brüder immer verachtete. Sam zögerte einen Moment, aber dann schüttelte er sie wie eine lästige Fliege von sich ab, und sie fiel hin. Er stellte den Bagger ab und baute sich vor ihr auf. „Was willst du dumme Gans? Beweg deinen Hintern von meinem Claim.“ Das war der Gipfel. Wieder schrie sie. „Claim! Dein Claim! Dieser Ort gehört mir, kapierst du, mir! Du verschwindest jetzt von hier, du… schmutziger widerlicher Penner!“ Die Beleidigung schien ihn tatsächlich zu treffen. „Du kleine…“ Einen Augenblick befürchtete sie, dass er sie schlagen könnte, und sie schrak zurück. Aber er schien sich zu beherrschen und schaute sie genauer an. „Du bist doch Jareds kleine Schwester – Oggies Mädchen, Delilah Jones.“ „Für dich Miss Jones“, verkündete sie mit gespielter Tapferkeit, die ihr selbst absurd vorkam. „Jetzt verschwinde mit dem Bagger.“ „Du kapierst es nicht, Mädchen. Du bist diejenige, die jetzt verschwindet, und zwar sofort.“ „Nein, du haust ab. Verzieh dich, du Idiot!“ Er musste erkannt haben, dass es keinen Zweck hatte, mit ihr zu diskutieren. Deshalb sagte er kein Wort mehr, sondern stürzte sich auf sie. Sie hastete zurück, war jedoch nicht schnell genug. Er packte sie und legte sie über seine Schulter wie einen Sack Mehl. Dann marschierte er los. Er machte sich nicht einmal die Mühe, Delilah in seinen Wagen zu werfen, sondern ging barfuß die zwei Meilen bis zu ihrem Zuhause, während sie auf seinen Rücken hämmerte und ihn wüst beschimpfte. Sam ging bis zur Haustür und klopfte dagegen. Ihre drei Brüder und ihr Vater kamen heraus, und sie sahen so ungepflegt und zwielichtig aus wie dieser Riese im schwarzen Taucheranzug. „Was ist los, Fletcher?“ knurrte ihr Vater. „Vor fünf Minuten habe ich noch geschlafen. Ich habe dich kommen gehört.“ Wieder schrie Delilah, und ihr Vater verzog das Gesicht. „Süße, kannst du nicht etwas leiser sein?“ Delilah, der inzwischen alles egal war, schrie noch lauter als zuvor. Ihr Vater und die Brüder traten zurück und ebneten Sam Fletcher den Weg. Er trug sie ins Haus und warf sie auf das Sofa. „Halt sie von meinem Claim fern, Oggie“, verlangte er, drehte sich um und schloss die Tür hinter sich. Nun herrschte Ruhe. Aber nicht lange, denn Delilahs Vater und die Brüder schauten sich an und fingen an zu lachen. Als sie gar nicht mehr aufhörten, schrie sie, dass sie den Mund halten sollten. Schließlich sprang sie von der Couch, rannte in ihr Zimmer und schloss sich für den Rest des Tages dort ein. Später klopfte ihr Vater an die Tür, um sich wieder mit ihr zu vertragen. Sie
öffnete, und verzieh ihnen – ihrem Vater und den Brüdern. Sam Fletcher hingegen verzieh sie nie, und im Laufe der Zeit hasste sie ihn immer mehr. „Darf ich Ihnen etwas zeigen?“ fragte Sam Fletcher das Paar, das sich die Ringe anschaute. „Ja“, bat die Frau eifrig. „Diesen, und diesen auch, bitte.“ Walter hustete leicht und wies mit dem Kopf auf Delilah, die im Schatten stand. „Anna, da ist noch jemand vor uns an der Reihe.“ Anna – und Sam Fletcher – drehten sich um. Delilah rührte sich nicht von der Stelle, und Sam Fletcher starrte sie an. Delilah wäre am liebsten im Boden versunken. Eine Minute lang sagte keiner ein Wort. Dann trat sie hinter dem Ständer mit den Schaufeln hervor. Sie streckte sich und zog an ihrer Strickjacke. „Nein, ich bin nicht als Kundin hier. Lassen Sie sich durch mich nicht stören. Ich wollte nur kurz mit… dir reden, Sam.“ Sie hatte ihn tatsächlich in einem freundlichen Ton angesprochen und ihn beim Vornamen genannt. Sam stand eine Sekunde der Mund offen, und er sah so überrascht aus wie Delilah selbst. „Wenn du einen Moment Zeit für mich hättest…“ Sie sah ihm an, dass er ihr nicht über den Weg traute, aber glücklicherweise hielt ihn die Anwesenheit der Kunden davon ab, eine grobe Bemerkung zu machen. „Gleich habe ich Zeit“, erwiderte er. „Schön.“ Sie rang sich ein Lächeln ab. Danach widmete er sich den Kunden. Als das Paar nach zwanzig Minuten aus dem Geschäft ging, trug Anna einen neuen Ring und eine Kette, und Walter besaß alles, was man für die Goldsuche benötigte. „Was willst du?“ fragte Sam ohne Einleitung, nachdem die beiden Touristen den Laden verlassen hatten. Delilah, die so getan hatte, als würde sie das Bild einer Eule bewundern, hatte plötzlich das Gefühl, als sei der Laden kleiner geworden und die Temperatur gestiegen. Würde sie Erfolg haben? Man ging nicht zu dem Mann, den man am meisten verabscheute, und bat ihn um eine Spende. Nellie Anderson oder Linda Lou Beardsly sollten sich gefälligst um diese Angelegenheit kümmern. Sie drehte sich um und ging zur Tür. „Ist schon gut“, antwortete sie. „Es war keine gute Idee. Jemand anderes wird sich mit dir in Verbindung setzen.“ Er lachte und stellte sich ihr in den Weg. Um ihn anzusehen, musste sie den Kopf ziemlich weit zurücklegen. Der Kerl war mehr als einen Kopf größer als sie. „Weswegen?“ Da sie nun keine wütende Vierzehnjährige mehr war, beantwortete sie seine Frage sachlich. „Wegen einer Spende für den Glockenturm der Kirche. Er stürzt bald ein und muss neu gebaut werden.“ Seine eisblauen Augen schienen sie festzunageln. „Das ist der einzige Grund, aus dem du hier bist? Du hast nicht etwa mit deinem Vater geredet?“ „Doch, ich habe mit meinem Vater gesprochen, und er hat zweihundert Dollar gespendet.“ . „Zweihundert Dollar.“ Er warf ihr einen kurzen Seitenblick zu. „Für den Glockenturm?“ „Ja, das sagte ich bereits.“ „Sonst hat er nichts erwähnt?“ „Wovon redest du?“ Ihr Temperament drohte mit ihr durchzugehen. Wenn er weiter fragte, würde sie sich nicht mehr beherrschen können. „Nichts, schon gut.“ Unter seinem Bart konnte sie ein Lächeln erkennen. „Nur ein kleiner Zufall.“ Sie starrten sich an. Delilah kochte vor Wut, Sam grinste. „Gut, das ist alles.
Würdest du mich bitte vorbeilassen?“ bat sie schließlich höflich. Nun verschwand sein Grinsen, als würde er sich erinnern, dass sie immer Feinde gewesen waren. „Möchtest du deinen Auftrag denn nicht erfüllen?“ Am liebsten hätte sie ihm gesagt, dass die Kirche auf sein Geld verzichten konnte, aber das stimmte nicht. „Ich… natürlich. Eine Spende wäre schön.“ „Gut“, antwortete er und ging zur Kasse. Er reichte Delilah einen Scheck über fünfhundert Dollar, und sie füllte eine Quittung aus. „Danke“, sagte sie gezwungen. „Alles für einen guten Zweck“, entgegnete er freundlich. Sie drehte sich um und ging wortlos aus dem Laden. Delilah war sich sicher, dass Sam sie beobachtete, aber das würde sie sich nicht anmerken lassen. Sam beobachtete sie tatsächlich. Kaum hatte sie die Tür geschlossen, da schob er das Schild, mit dem er eine Aushilfe suchte, beiseite und schaute Delilah nach, während sie die Straße entlangeilte. Dabei erinnerte er sich an das Angebot, das ihr Vater ihm vor weniger als achtundvierzig Stunden gemacht hatte. Natürlich war es nicht wichtig, was der alte Schurke ihm anbot, und eine lausige Scheune wäre nicht genug, damit er sich für eine Frau interessierte, die noch nie ein einziges nettes Wort für ihn übrig gehabt hatte. Sam schüttelte den Kopf, als er erkannte, dass er Oggies Tochter seit Jahren nicht mehr richtig angesehen hatte. Irgendwie hatte sich die verfluchte kleine Hexe in eine gut aussehende Frau verwandelt. Als sie vor ihm gestanden hatte, hatte er festgestellt, dass sie inzwischen Brüste bekommen hatte, und zwar ganz ansehnliche. Wann war das bitte passiert? Die Hüften waren sanft gerundet und die Beine unter dem schmalen Rock wohl geformt. Komisch. Er kannte diese Frau schon zwanzig Jahre und hatte sie immer nur als kleines wildes Ding im Gedächtnis, das ihn getreten, gebissen und wüst beschimpft hatte. Aber selbst wenn sie jetzt besser aussah als früher, bedeutete das noch gar nichts. Sie war inzwischen erwachsen. Komisch nur, dass sie ausgerechnet dann in seinem Laden erschienen war, nachdem ihr Vater die verrückte Idee hatte, dass Sam der richtige Mann für sie war. Natürlich war er das nicht, und sie passte nicht zu ihm. Er und Delilah Jones konnten sich nicht ausstehen. So war es immer schon gewesen. Trotzdem schaute er hinter ihr her, bis sie aus seinem Blickfeld verschwunden war.
3. KAPITEL Für Sam ging der Rest der Woche ohne jegliche Aufregung vorbei. Er hatte beschlossen, sich eine Zeit lang nicht in The Hole in the Wall blicken zu lassen, denn er hatte keine Lust, von Oggie Jones wieder auf Delilah angesprochen zu werden. Vor allem, nachdem er sie am Samstagnachmittag gesehen hatte. Außerdem hatte Sam nicht vor, ständig an Delilah Jones zu denken, nachdem er festgestellt hatte, wie gut sie plötzlich aussah. Er wagte nicht, sich vorzustellen, was geschehen könnte, wenn er mit Delilah allein in einem Schlafzimmer wäre. Um Montag um neun Uhr kam Marty in den Laden, ein Sohn von Julio Santino. Er erkundigte sich nach dem Aushilfsjob, den Sam zu vergeben hatte. Sam, der seit dem Weggang von Roger McCleb auf sich allein gestellt war, erklärte Marty, dass es sich doch eher um einen Vollzeitjob handelte. Marty war darüber sehr froh. Stellen waren in der Stadt wirklich rar gesät. Sein Vater war der Inhaber des örtlichen Friseurladens und hatte schon Mühe, mit den wenigen Kunden den Laden am Laufen zu halten. Und der kleine Buchladen von Mrs. Santino konnte sich auch gerade so über Wasser halten. Bis auf Marty hatten alle seine Söhne die Stadt bereits länger verlassen, weil es einfach keine Arbeit gab. „In North Magdalene gibt es zu wenig Köpfe, Mr. Fletcher“, erklärte Marty und betrachtete Sams Haare und Bart intensiv. „Außerdem gibt es verdammt viele Langhaarige – das geht nicht gegen Sie, Sir.“ Da Sam im Laufe der Jahre schon genug Bemerkungen über sein Äußeres gehört hatte, kümmerte er sich nicht weiter darum. „Du kannst sofort anfangen.“ „Super, Mr. Fletcher!“ Sie schlossen den Vertrag mit Handschlag, und Sam erklärte Marty, was er zu tun hatte. Ein paar Stunden später hatte Sam den Eindruck, dass Marty ein sehr guter Fang war. Der Junge war intelligent und stellte sich äußerst geschickt an. Um halb vier beschloss Sam, seine Post im Postamt abzuholen und Marty solange im Laden allein zu lassen. Da North Magdalene klein war, gab es keinen Briefträger. Die Post wurde im Postamt abgegeben und in private Postfächer einsortiert. Für die Leute aus der Stadt gehörte der Gang zur Post zum täglichen Ritual. „Kein Problem, Mr. Fletcher“, antwortete Marty, als Sam ihm sagte, er wolle zum Postamt gehen. Unbeschwert verließ Sam das Geschäft, denn er war froh, endlich eine Hilfe gefunden zu haben. Im Postgebäude winkte Sam der Postbeamtin Melanie Swan zu und ging zu der Wand mit den Postfächern. Er griff gerade nach einem Stapel von Broschüren, Karten und Rechnungen, als er spürte, dass die Tür geöffnet wurde. Er drehte sich um und sah Delilah Jones. Als sie ihn bemerkte, blieb sie im Eingang stehen. Mit ihrem schwarzen Haar und dem leuchtend bunten Rock wirkte sie wie eine ungezähmte, ein wenig gefährliche Zigeunerin. Delilah nickte Sam kurz zu und ging an ihm vorbei, um an ihr Postfach zu gelangen. Dabei atmete er den moschusartigen Duft ihres Parfüms ein. Verdammt reizvoll. Er schnappte seine Post, knallte die kleine Tür zu und suchte das Weite. Während des restlichen Tages sah er immer wieder schwarze Haare und dunkle Augen vor sich. Wieder beschloss er, nicht mehr an Delilah zu denken. Nachdem er Marty nach Hause geschickt hatte und den Laden abschloss, wusste er plötzlich, was mit ihm los war. Natürlich! Er war einfach zu lange schon nicht mehr mit einer Frau zusammen gewesen, und jetzt träumte er von einer Person,
die seinem Ideal gar nicht entsprach. Er brauchte einfach eine Verabredung. Wenn er sich auf einen netten Abend in guter Gesellschaft freuen konnte, dann würde sich seine Fantasie wieder beruhigen. Zu Hause angekommen, rief Sam Sarah Landers aus Grass Valley an. Mit ihr war er schon zweimal ausgegangen, und als er sie für Samstagabend zum Essen einlud, sagte sie sofort zu. Als er den Telefonhörer auflegte, wusste Sam, dass Sarah nicht die Richtige für ihn war. Andererseits mochte er sie wirklich gern, denn sie entsprach durchaus seinem Idealbild einer Frau: liebevoll und freundlich, anschmiegsam und mit angenehm leiser Stimme. Anders als gewisse Frauen, die er jetzt nennen könnte, aber nicht wollte, da er sich selbst versprochen hatte, nicht mehr an sie zu denken… Am Donnerstag passierte es wieder. Sam dekorierte gerade das Schaufenster neu, und Marty staubte die Regale ab. Ohne Vorwarnung fuhr sie in ihrem kleinen Wagen vorbei. Ohne sich an seinen Schwur zu erinnern, sie nicht mehr zu beachten, drückte Sam seine Nase förmlich an das Schaufenster, um Delilah genauer beobachten zu können. Sie stieg mit der kleinen Emma Riggins aus dem Wagen, zusammen gingen sie in Mrs. Santinos Laden. „Sieht so aus, als hätte Emma das Buch gewonnen.“ Beim Klang von Martys Stimme zuckte Sam zusammen, als wäre er bei etwas Unanständigem erwischt worden. Er blickte zu Marty, der immer noch die Regale abstaubte. „Was meinst du mit dem Buch?“ „Am letzten Donnerstag des Monats erhält das Kind, das im Unterricht die meisten Bücher vorgestellt hat, ein Buch seiner Wahl aus dem Laden meiner Mutter. Miss Jones kauft es immer höchstpersönlich. Das machte sie auch schon, als sie mich unterrichtete, und das ist fast sieben Jahre her.“ „Das wusste ich gar nicht“, erwiderte Sam. „Aber das weiß doch jeder, Mr. Fletcher.“ Die Türglocke klingelte, und Sam blieb es somit erspart, auf Martys Kommentar zu reagieren. Marty bediente den Kunden, und Sam kümmerte sich um die Dekoration im Schaufenster. Kurze Zeit später kamen Oggies Tochter und Emma Riggins wieder aus dem Laden heraus. Emma hielt eine braune Tüte vor ihrer Brust. Die Frau und das Kind stiegen in den Wagen und fuhren weg. „Mr. Fletcher?“ Sam sprang vom Fenster zurück. Irgendwann hatte Marty sich neben ihn gestellt. „Hast du nichts zu tun?“ wollte Sam wissen. „Nö, Mr. Fletcher.“ Marty grinst viel zu unverschämt für einen Angestellten, dachte Sam. „Dann kümmere dich um die Regale in der Werkstatt.“ „Sofort, Sir.“ Marty eilte zu den Regalen und wischte sie schwungvoll ab. Beide Männer arbeiteten weiter, ohne zu reden. Dann unterbrach Sam das Schweigen. „Okay, Marty, was hast du auf dem Herzen?“ „Nun, ich will Sie nicht ärgern, Sir…“ „Spuck’s schon aus, Marty.“ „Wenn Sie ein Auge auf Miss Jones geworfen haben, dann gehen Sie besser erst zu meinem Vater, bevor Sie sie zum Essen oder so einladen. Schließlich ist sie Lehrerin, und mit diesem Haarschnitt sind Sie sicher nicht ihre erste Wahl.“ Einen Moment lang blickte Sam Marty an und erinnerte sich wehmütig, dass es
seinem früheren Angestellten Roger McCleb nie aufgefallen wäre, dass er Oggie Jones’ Tochter angestarrt hatte. Vielleicht war es nicht von Vorteil, einen so eifrigen Jungen wie Marty zu beschäftigen. Der Junge sah zu viel. „Habe ich etwas Falsches gesagt, Sir?“ „Mach die Regale sauber, Marty.“ „Klar, Mr. Fletcher.“ Am Samstagabend fuhr Sam nach Grass Valley, um Sarah Landers abzuholen. Sie aßen zusammen in einem kleinen Restaurant und schauten sich danach noch einen Film an. Es war ein netter Abend, aber schon während des Essens merkte Sam, dass es sinnlos gewesen war, Sarah anzurufen. Die Frau war nett. Aber sie war nicht Delilah Jones. Nachdem er sie nach Hause gebracht hatte, lud sie ihn noch zu sich ein, aber Sam lehnte ab. Es war sinnlos, etwas vorzugeben, was nicht einmal im Ansatz vorhanden war. Sarah behielt ihr freundliches Lächeln bei, aber das Leuchten in ihren Augen war verschwunden. Auf dem Nachhauseweg fühlte Sam sich gleichzeitig traurig und erleichtert – traurig, weil er allein war, und erleichtert, weil er definitiv wusste, dass Sarah nicht die Frau war, die zu ihm passte. Nun ja, dachte er sarkastisch, wenigstens wieder eine, die ich von meiner kurzen Liste streichen kann. Am Stadtrand angekommen, überlegte er kurz, ob er noch einen Abstecher in The Hole in the Wall machen sollte. Vielleicht war Jared ja aus dem Holzfällerlager in die Stadt gekommen. Obwohl Jared keinen Alkohol mehr anrührte, war er hin und wieder in der Bar, wenn er Gesellschaft suchte. Sam könnte ihm einen alkoholfreien Drink spendieren, und sie könnten über alte Zeiten reden… Aber Oggie würde eben auch in der Bar sein, und er war der Letzte, dem Sam jetzt begegnen wollte. Oggie würde ihn bestimmt wieder auf sie ansprechen. Und dabei wollte er gar nicht über sie reden. Nein, er fuhr lieber nach Hause. Dort ging er in den Arbeitsraum, wo er seine Schnitzwerkzeuge aufbewahrte. Er schnitzte ein bisschen an der Eule weiter, die er gerade anfertigte, und merkte, wie diese Arbeit ihn entspannte. Danach duschte er, sah sich einen Spätfilm an und schlief auf dem Sofa ein. Wenig später träumte er von seinem ersten Claim am Fluss, den Oggies rachsüchtige kleine Tochter für sich beansprucht hatte, und plötzlich sah er sie. Unruhig bewegte er sich im Schlaf. Auch ohne es zu wollen, dachte er an Delilah Jones. Nein, nicht Delilah. Lilah. Er wollte sie nur Lilah nennen. Lilah… lächelte ihn an und hielt ihm die Hand hin. Auf ihrer Handfläche glänzte das größte Nugget, das er je gesehen hatte. „Hier liegt das Gold, Sam. Komm, und hol es dir“, sagte sie. Daraufhin steckte sie das Nugget genau zwischen ihre vollen Brüste… Sam schnellte von der Couch hoch und trat dabei gegen den Beistelltisch. Verwirrt blickte er auf den Fernseher, der noch eingeschaltet war. Schlaftrunken stellte er den Apparat aus. Direkt danach schleppte er sich in sein Schlafzimmer und ließ sich auf sein Bett fallen. Na, wunderbar! Am nächsten Morgen ging er zum Frühstücken in Lily’s Cafe, wie jeden Sonntag. Der Tag konnte nicht besser anfangen. Denn dort war sie. Sie saß an einem Tisch mit Nellie Anderson und Linda Lou Beardsly und frühstückte. Fast wäre Sam wieder gegangen, aber er konnte schließlich nicht ständig vor Delilah davonlaufen. Er setzte sich an die Theke, wandte Delilah den Rücken zu und bestellte das Übliche. Wenn er in den Spiegel schaute, der direkt hinter der Theke hing, konnte er sie genau beobachten. Und Sam wusste, dass Delilah ihn ebenfalls
bemerkt hatte. Nellie und Linda Lou hatten ihn offenbar auch gesehen, denn die beiden alten Schachteln wandten sich häufiger in seine Richtung und warfen ihm böse Blicke zu. Er ließ sich jedoch nicht einschüchtern. Früher hatte er mehrmals Streit mit den beiden gehabt – wie mit vielen anderen Bürgern der Stadt. All das lag Jahre zurück, aber er war sicher, dass Nellie und Linda Lou ihn immer noch für einen Rüpel hielten. Es fiel ihnen sicher schwer, diesen Wilden mit dem Geschäftsmann in Verbindung zu bringen, der für die Restaurierung des Glockenturmes der Kirche fünfhundert Dollar gespendet hatte. Eigentlich war es Sam egal, was Nellie Anderson und Linda Lou Beardsly von ihm dachten. Er selbst war nur damit beschäftigt, nicht an sie zu denken. Himmel, es sollte doch nicht schwer sein, sie zu ignorieren! Doch er konnte nicht anders als immer wieder verstohlen in den Spiegel zu schauen. Delilah redete kaum und hörte den beiden alten Damen konzentriert zu. Genau, Konzentration! Am besten kümmerte er sich um sein Omelett und vergaß alles andere. Hätte sie sich nicht von der Stelle gerührt, wäre es Sam vielleicht gelungen. Aber plötzlich hob sie den rechten Arm. Aus irgendeinem Grund sah Sam Delilah mit etwas Goldenem in der Hand vor sich. Fast hätte er sich an seinem Kaffee verschluckt. Er schaute noch einmal zu ihr, nur um festzustellen, dass ihm seine Fantasie einen Streich gespielt hatte. Delilah hielt nichts in der Hand, sie hatte sich nur über die Haare gestrichen. Hallo, war das etwa Konzentration? Sam war der Appetit vergangen. Er bezahlte sein kaum angerührtes Omelett und ging. Oder besser gesagt: Er flüchtete. In der folgenden Woche sah er sie zweimal, glücklicherweise nur aus der Ferne. Am Samstag arbeitete Sam mit Marty fast bis zum Ladenschluss, als ihm einfiel, dass er die Post noch abholen musste. In der Post angekommen, wollte er gar nicht daran denken, dass sie vielleicht ebenfalls dort war und ihn mit ihrem Parfüm verwirren würde. Aber alles war in Ordnung, und Sam holte schnell seine Briefe. Dann verließ er das Gebäude, weil er sein Schicksal nicht herausfordern wollte. Als er über die Straße zu seinem Geschäft ging, schien noch die Sonne. Er blinzelte – und sah sie, wie sie vor Lily’s Cafe aus dem Auto stieg. Sie schloss die Tür. Und kam auf ihn zu. Als sie ihn erkannte, veränderte sich ihr Gang. Sie nickte ihm nur kurz zu, wie sie es schon vor einer Woche in der Post getan hatte. Er hörte ein grollendes Geräusch und merkte, dass es von ihm kam. Oh Gott, was war nur mit ihm los? Wo war seine innere Ruhe geblieben? Ohne zu überlegen, ging er in Santinos Friseurladen. „Ich sehe wohl nicht recht“, rief Julio Santino aus, als er Sam bemerkte. „Ich dachte, diesen Tag würde ich nie erleben.“ Sam setzte sich in den Friseurstuhl. „Nur den Bart“, sagte er tonlos. „Rühr die Haare nicht an.“ „Immerhin ein Anfang“, kommentierte Julio. „Halt den Mund, und leg los.“
4. KAPITEL Sam Fletcher saß vor ihrer Tür, als Delilah nach Hause kam. Es dauerte einen Moment, bis sie ihn erkannte, denn er hatte sich von seinem Bart getrennt. Sein schulterlanges Haar hatte er zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden. Zumindest von vorn sah er einigermaßen respektabel aus. Einigermaßen, aber nicht ganz. Er hatte immer noch diesen aufmüpfigen Blick und diese schrecklich arrogante Körperhaltung. Sam rührte sich nicht, sondern fuhr mit seiner Schnitzarbeit fort. Was wollte er hier? Warum saß er vor ihrer Tür? Ging es ihm nicht gut? Ihr Magen krampfte sich zusammen. Es verunsicherte sie, dass sie Sam Fletchers wegen besorgt war. Wütend, empört, gleichgültig, angewidert, erzürnt – all diese Gefühle fielen ihr ein, wenn sie an den Mann dachte. Aber besorgt? Was war nur los mit dem Mann? Seit dem Tag, an dem sie ihn um eine Spende gebeten hatte, schien er jeden ihrer Schritte zu verfolgen. Als sie ihren Sonntagsbrunch im Cafe genießen wollte, hatte er sie im Spiegel beobachtet. In der Post hatte er sie angestarrt, als hätte sie ihren Rock falsch herum angezogen. Der Blick aus seinen eisblauen Augen ließ sie frieren, wenn sie ihm auf der Straße begegnete, und sie hätte schwören können, dass er sie durch das Fenster seines Ladens beobachtete, als sie vorbeiging. Seit mehr als einem Jahrzehnt hatten sie in friedlicher Koexistenz nebeneinander gelebt. Ihre Kämpfe hatten sie längst ausgefochten, und sie hatten gelernt, einander zu ignorieren. Jetzt änderte der Kerl plötzlich seinen Plan, und das gefiel Delilah überhaupt nicht. Es machte sie im Gegenteil sehr nervös. Und was noch schlimmer war – sie dachte jetzt häufig an ihn. Ich werde ihm die Meinung sagen, schwor sie sich, als sie aus ihrem Wagen stieg. „Sam Fletcher, du hast absolut nichts vor meinem Haus zu suchen.“ Er zeigte ein leichtes Grinsen. Dann stand er auf und steckte sein Schnitzmesser ein. „Freut mich auch, dich zu sehen, Lilah.“ Sie starrte ihn an. „Was willst du?“ Er zeigte ihr das Holzstück, an dem er gearbeitet hatte. „Für dich.“ Delilah schaute auf seine ausgestreckte Hand, auf der ein geschnitzter Waschbär saß. Er balancierte auf den Hinterbeinen und hielt die Vorderbeine nach oben. Die kleine Figur war schlicht, aber sehr schön. Einen Moment lang schaute sie die Schnitzerei an und hätte sie gern berührt. Dann aber schaute sie demonstrativ weg. Schulterzuckend steckte er das kleine Kunstwerk in eine Tasche. „Was willst du?“ fragte sie noch einmal in schärferem Ton. Er blickte zu ihrem Wagen. „Ich kann dir helfen, deine Einkäufe ins Haus zu tragen.“ „Nein, das wirst du nicht.“ Ohne auf ihre Worte zu achten, stieg er die Stufen zu ihr hinab. Sie wich nicht von der Stelle. Natürlich versperrte sie ihm auch nicht direkt den Weg. Schließlich war Sam einsneunzig groß und kräftig. Sie konnte ihn genauso wenig aufhalten wie eine Mücke einen Büffel. „Komm schon, Lilah“, bat er. „Ich brauche deine Hilfe nicht.“ Er sah leicht verärgert aus. „Ich habe nicht behauptet, dass du sie brauchst. Ich habe nur gesagt, dass ich dir gerne helfen würde, das ist alles.“
„Warum?“ „Warum nicht?“ „Du hast doch etwas vor? Ich will wissen, warum du hier bist.“ Einen Augenblick lang schaute er sie an und seufzte. Dann packte er Delilah an den Schultern und schob sie zur Seite. Noch bevor sie Zeit hatte, einen Kommentar hervorzustoßen, hatte er ihr Auto schon erreicht. „Du hast absolut kein Recht…“ „Ich möchte mit dir reden.“ Er sprach diese Worte ganz beiläufig aus, während er den Kofferraum öffnete und drei Einkaufstüten herausholte. „Hör sofort auf“, fuhr sie ihn an. „Jetzt beruhige dich, Lilah“, bat er leicht genervt. „Lass uns die Sachen ins Haus bringen, und dann können wir reden.“ Er ging zur Haustür, wo er wartete, dass Delilah ihn hineinließ. „Okay“, murmelte sie ebenso genervt, als ihre verächtlichen Blicke keine Wirkung zeigten. Sie nahm eine Tüte, stieg die Stufen hoch, ging um den Riesen Sam Fletcher herum und schloss die Tür auf. „Hier entlang“, wies sie den Weg. Sam folgte ihr. Die Tüten stellten sie auf den Küchentisch. Delilah räumte Milch und Fleisch sofort in den Kühlschrank, während Sam noch weitere Einkäufe hereinholte. Als alles im Haus war, schaute sie den glatt rasierten Hünen an. „Also, was willst du mit mir besprechen?“ Er schaute auf die restlichen Tüten, die auf dem Tisch lagen. „Die müssen auch noch weggeräumt werden.“ „Das hat Zeit. Jetzt sag schon, was ist los?“ Er betrachtete sie eingehend, was sie zugegeben etwas nervös machte. „Es ist Samstagabend“, sagte er endlich. „Was du nicht sagst!“ „Hast du schon etwas vor?“ Nun starrte sie ihn an. „Nein, habe ich nicht. Aber was geht dich das an?“ „Du bist also mit niemandem zusammen?“ „Was soll das? Schickt mein Vater dich, oder was?“ Die Situation wurde immer merkwürdiger. Diese Fragen stellte ein Mann einer Frau normalerweise nur, wenn er überlegte… Nein, diesen Gedanken konnte sie gar nicht zu Ende denken. Nicht der wilde Sam Fletcher, der sie genauso verabscheute wie sie ihn. Er konnte sie doch wohl nicht um eine Verabredung… Delilah schüttelte den Kopf. Nein. Ausgeschlossen. Sicher gab es einen vernünftigen Grund, warum Sam sich in letzter Zeit so seltsam verhielt. „Sam, was ist los?“ Ihr flehender Tonfall schockierte sie beide, und sie starrten sich an. Er schaute zuerst weg und strich über sein Haar. „Ich habe Durst, könnte ich vielleicht etwas…“ Ohne ihn ausreden zu lassen, drehte sie sich um, öffnete den Kühlschrank, holte eine Dose Cola heraus und schob sie Sam hin. Er schaute auf die Dose, als wisse er nicht, wie sie in seine Hand gelangt war. „Macht es dir etwas aus, wenn ich mich setze?“ Meine Güte, er war so höflich. Nun betrachtete sie ihn genauer. Irgendwie sah er blass aus. Angegriffen. Vielleicht war er krank und benahm sich deshalb so merkwürdig? Andererseits ging ein kranker Mann nicht zu der Frau, die er hasste, um ihr zu sagen, dass er krank war. „Lilah?“ Und warum um alles nannte er sie plötzlich Lilah?
„Ja?“ Er schaute sehnsüchtig zu dem Tisch vor dem Fenster, und ihr fiel ein, dass er sich setzen wollte. „Oh, natürlich, nimm Platz.“ Sam ließ sich auf einen Stuhl fallen und öffnete die Dose. Delilahs Herz vollführte merkwürdige Kapriolen, während er trank. „Jetzt geht es mir besser, danke.“ „ Schon gut, nun sag mir…“ „Lilah, ich…“ Plötzlich wollte sie es gar nicht mehr hören, was Sam auf dem Herzen hatte. „Du hast ja völlig Recht.“ Nun blinzelte Sam. „Tatsächlich? Womit denn?“ „Die Lebensmittel. Ich sollte sie wirklich noch wegräumen.“ Sie setzte sich in Bewegung und eilte durch die Küche, als sei es lebenswichtig, dass die Tüten geleert wurden. „Lilah?“ Sie öffnete die Kühlschranktür, kniete sich und füllte Salat und Gemüse in das Gemüsefach. „Lilah?“ „Ein Moment noch…“ „Lilah?“ Langsam schaute sie auf. Er war aufgestanden und blickte auf sie herab. Seine Augen, die ihr immer so kalt vorgekommen waren, leuchteten. Sofort erhob sie sich. Wütend. „Hör bitte damit auf! Was immer du im Schilde führst: Ich will nicht, und ich werde nicht, hast du verstanden?“ Sie trat zurück und stieg über die Tüte. Leise schloss er die Kühlschranktür. „Lilah.“ Sie schüttelte den Kopf. „Meine Antwort lautet Nein.“ Dann lächelte er, und sie war völlig fasziniert. Ohne Bart sah er geradezu… attraktiv aus. Oh, sie wusste, dass sie ihn loswerden musste, bevor er sagen konnte, was er wollte. „Bitte geh jetzt“, bat sie ihn leise. Er schüttelte den Kopf. „Erst frage ich dich…“ „Nein, bitte nicht.“ „Ich muss es tun.“ „Um Himmels willen, Sam, bitte…“ Aber es war zu spät. „Könntest du dir vorstellen, mal einen Abend mit mir auszugehen, Lilah?“ wollte er wissen. Sie drehte sich um und schaute aus dem Fenster, wo die Sonne hinter dem Berg unterging. Einen Moment lag die Küche in einem warmen rötlichen Licht. Delilah spürte Sams hoffnungsvollen liebevollen Blick. Dann ging Delilah schnell an Sam vorbei und schaltete das Licht ein. „Nein, niemals. Vergiss es.“ Jetzt wirkte Sam angespannt, und sein Blick war nicht mehr freundlich. Als er sprach, klang seine Stimme wieder mehr wie die des ungehobelten Kerls, den sie kannte. „Warum nicht, verdammt noch mal? Es ist doch nur eine Verabredung.“ „Darum.“ „Diese Antwort akzeptiere ich nicht.“ Wieder schaute sie aus dem Fenster auf die Umrisse des Sweetbriar Summit. „Warum nicht?“ fragte er erneut. Sam bewegte sich einen Schritt auf sie zu, aber Delilah wandte sich ab und ging zur Spüle. „Nenne mir einen Grund, Delilah.“ „Du willst also den Grund wissen?“
„Richtig.“ Sie verschränkte die Arme vor der Brust. „Zuerst einmal gehe ich grundsätzlich nicht mit Knastbrüdern aus.“ „Was soll das? Ich bin kein Knastbruder.“ Selbstgerecht schüttelte sie den Kopf. „Lüg mich nicht an. Sheriff Pangborn wirft dich ständig ins Gefängnis wegen Trunkenheit und Erregung öffentlichen Ärgernisses sowie Beteiligung an Schlägereien.“ „Lilah.“ Sam sprach mit unendlicher Geduld. „Seit fünfzehn Jahren habe ich keine Nacht mehr im Gefängnis verbracht, und selbst damals hat der Sheriff mir nur einen Platz zum Ausnüchtern gegeben. Niemals wurde ich wegen irgendeiner Sache angeklagt.“ „Sheriff Pangborn hat ein zu gutes Herz.“ „Die Sache liegt fünfzehn Jahre zurück. Ich bin absolut kein Knastbruder. Lass uns über das Jetzt reden, nur das zählt. Warum kannst du nicht mit mir ausgehen?“ „Nun…“ Unsicher kaute sie an der Unterlippe. „Es gibt hundert Gründe.“ „Gut, dann fange mit dem ersten an.“ „Okay – du trinkst zu viel.“ „Ich trank zu viel. Wieder Vergangenheit, Lilah. Wir reden über das Heute.“ „Betrunken oder nüchtern, du hängst immer in Vaters Bar herum.“ „Meine Freunde sind dort, und ich gehe ein- bis zweimal in der Woche dort vorbei. Das ist doch nicht häufig.“ „Du bist ein Spieler.“ „Lilah, ich spiele ab und zu mit den Jungs Poker, was noch lange keine gefährliche Angewohnheit ist.“ „Klar, dass du so etwas sagst.“ „Es entspricht der Wahrheit.“ „Egal, meine Antwort lautet immer noch Nein.“ „Trotzdem möchte ich einen vernünftigen Grund von dir hören.“ „Ich… ich habe schon den besten Grund der Welt, warum ich mich nicht mit dir verabreden will. Weitere Gründe brauche ich nicht.“ „Und der wäre?“ „Dass wir uns immer schon gehasst haben!“ Sam schien nicht beeindruckt. „Wieso sollte sich die Situation nicht ändern?“ „Weil es noch nie mit uns funktioniert hat.“ „Wieder Vergangenheit, Lilah. Gib der Gegenwart eine Chance.“ Delilah fühlte sich plötzlich sehr unbehaglich, denn ihre Welt schien sich, ohne dass sie es wollte, zu verändern. Sam klang so vernünftig, und sie wurde langsam schwach. Himmel! Tatsächlich fragte sie sich, warum sie nicht einfach Ja sagen sollte. Was war nur mit ihr los? Vielleicht bekam sie langsam Torschlusspanik, obwohl sie immer geglaubt hatte, dass sie als Single zufrieden sei. Doch war Sam Fletcher wirklich die bessere Alternative zum Singledasein? Im College hatte sie eine Beziehung gehabt, aber die war nicht von Dauer gewesen. Die körperliche Seite hatte sie eher unangenehm gefunden, so dass sie überzeugt davon war, auch ohne Männer auszukommen. Wenn sie aber immun gegen Leidenschaft war, warum fragte sie sich dann gerade, wie es wohl wäre, Sam zu küssen? Konnte es sein, dass sie Sam Fletcher nur deshalb so verabscheut hatte, weil sie sich in Wahrheit von ihm angezogen fühlte? Nein! Verzweifelt suchte sie nach einer neuen Verteidigungsstrategie gegen die unerwünschte Faszination eines Mannes, der niemals der Richtige für sie sein
würde. Da kam ihr ein Gedanke: Vor zwei Wochen hatte ihr Vater doch diese lächerliche Bemerkung gemacht, dass er einen Mann für sie ausgesucht hatte. Natürlich, das war es! Ihr Vater hatte Sam Fletcher, Spiegelbild und Sohn seines Herzens, auf sie angesetzt. Seit jenem Tag hatte Sam sich auch so merkwürdig verhalten… Nun richtete Delilah sich energisch auf. Sie starrte den gut aussehenden Riesen vor ihr an. „Mein Vater hat die Hände im Spiel, nicht wahr? Ich kenne ihn. Schließlich will er unbedingt, dass ich heirate, und ihm ist es egal, wen. Wahrscheinlich wird er dich sogar bezahlen, wenn du mir einen Ring an den Finger steckst. Glaubst du wirklich, ich will etwas mit einem Mann zu tun haben, der von meinem Vater bezahlt wurde, um mit mir auszugehen?“ Sam überlegte einen Moment. Es ging ihm um Delilah, um nichts anderes. Allerdings hatte Oggie ihm tatsächlich The Mercantile angeboten, wenn er Delilah heiraten würde. Wusste sie davon? Vor zwei Wochen hätte man Sam nicht für alles Geld der Welt dazu gebracht, sich um Delilah Jones zu kümmern. Aber jetzt sah die Lage völlig anders aus. Er entschloss, ironisch zu reagieren. „Vielen Dank, Delilah. Deine hohe Meinung von mir überrascht mich. Aber du irrst dich. Ich bin nicht des Geldes wegen hier, sondern deinetwegen.“ Nachdenklich betrachtete Delilah ihn. Er klang verärgert, aber aufrichtig. Gegen alle Vernunft glaubte sie ihm, auch wenn sie es immer noch nicht fassen konnte, dass er nur ihretwegen gekommen war. Sie war fasziniert und fühlte sich geschmeichelt. Verwirrt starrte sie Sam an. Er zeigte ihr ein Lächeln, denn er spürte, dass sie langsam nachgab. „Lilah.“ Seine Stimme war eine Liebkosung. Sein Blick ließ sie an Dinge denken, die nicht einmal in ihrer Vorstellung existieren durften. Er machte einen Schritt auf sie zu. „Nein…“ Sie trat zurück und stieß an die Spüle. „Lilah…“ „Bleib mir vom Leib. Ich meine es ernst.“ Er ging weiter. Sie musste ihn aufhalten. Verzweifelt griff sie nach hinten und spürte den Griff einer schweren Bratpfanne. Sie holte sie hervor und hielt sie vor sich. „Geh weg.“ Er lächelte. „Du bist mir eine.“ Seine Augen wirkten wie Spiegel, in denen sie sich sah. Idiotin, dachte sie. Niemals hätte sie ihn ins Haus lassen dürfen. In dem Moment, in dem er die Lebensmittel auf den Tisch stellte, hätte sie ihn wegschicken müssen. Wegschicken, das war es. Jetzt… Aber er machte noch einen letzten Schritt. Und sie sagte keinen Ton. Ihre Waffe wurde zu schwer, und sie ließ die Hand sinken. Wieder flüsterte er ihren Namen, und sie spürte seine Wärme. Mit seiner großen Hand streichelte er ihre Wange, bevor er ihr Kinn anhob. Meine Güte, er wird mich küssen. Seine Lippen würden ihre bedecken, und sie würde den Geschmack ihres Feindes kennen lernen. Und sie wollte es, und konnte es kaum abwarten. Sam beugte sich vor… Und die vergessene Bratpfanne fiel Delilah aus der Hand. Das Geräusch rettete sie. Mit einem erstickten Schrei schubste sie Sam weg, aber er packte ihre Arme. Kurz wehrte sie sich, aber dann schaute sie in diese verführerischen Augen, deren Blick nun hart und hungrig geworden war. Langsam ließ er sie los und trat zurück. Sie schwiegen ziemlich lange, und
Delilah hob die Pfanne auf und stellte sie auf die Spüle zurück. Dann setzte er wieder diese Stimme ein – die sanfte verführerische Stimme, die sie beruhigte und dazu führte, dass sie vergaß, wer er war. „Lilah…“ „Nein.“ „Lilah.“ „Bitte geh jetzt. Sofort.“ Amüsiert schüttelte er den Kopf. „Ich weiß, was du willst, Lilah. Ich habe es in deinen Augen gesehen. Gespürt, wie dein Körper…“ Sie hob eine Hand. „Genug!“ „Lilah, warum läufst du davon? Du kannst doch nicht entkommen, das weiß ich genau.“ Sie schauten sich an, und Delilah fragte sich, ob ihr Gesicht die gleiche Sehnsucht zeigte wie seines. „Geh heute mit mir aus! Wir fahren nach Nevada City. Dort kenne ich ein nettes kleines Restaurant, wo wir…“ Sie durfte ihn nicht ausreden lassen, denn es klang zu verführerisch. „Verlass mein Haus“, bat sie streng. „Komm schon, es ist doch nur ein Abendessen.“ „Nein, ich sagte es bereits, Sam Fletcher. Keine Verabredung und auch sonst nichts zwischen dir und mir.“ Er blickte sie weiterhin zärtlich an, was ihr gar nicht gefiel. „Ich habe vierunddreißig Jahre damit verbracht zu beweisen, dass sich eine Jones nicht ständig wegen Nebensächlichkeiten streitet oder auf eine Lampe schießt statt den Schalter zu betätigen. Glaubst du wirklich, ich lasse mich mit einem Mann ein, dessen schlechter Charakter den der Jones-Männer noch übertrifft?“ „Du willst mich.“ „Und wenn schon. Mir reicht das nicht.“ „Gib uns eine Chance!“ „Keinesfalls. Such dir eine andere Frau.“ Sam griff in seine Tasche, holte den Waschbären heraus, den sie draußen abgelehnt hatte, und stellte ihn auf den Tisch. „Ich habe ihn für dich gemacht, als ich draußen auf dich gewartet habe.“ „Ich will ihn nicht.“ Er war schon auf dem Weg zur Tür. „Dann wirf ihn weg.“ Beim Gedanken daran verschlug es ihr den Atem. Natürlich wollte sie die Figur nicht. Andererseits war der Waschbär so schön, dass sie dieses kleine Kunstwerk niemals wegwerfen könnte. Die Haustür wurde geschlossen. Delilah hörte Sams Schritte auf der Treppe. Dann schaute sie sich wieder den Waschbären an. Das winzige Tier schien sie anzulächeln. Schnell räumte Delilah die übrigen Lebensmittel weg. Danach bereitete sie sich das Abendessen zu und setzte sich an den Tisch. Der Waschbär, den sie nicht angerührt hatte, seit er ihn abgestellt hatte, beobachtete sie bei jedem Bissen. Als sie den Anblick nicht mehr ertragen konnte, packte sie die Schnitzerei, ging ins Wohnzimmer, kletterte auf einen Stuhl und stellte die Holzfigur auf ein Bücherregal, wo sie sie nicht mehr sehen konnte. Um acht Uhr klingelte das Telefon. Delilah war gerade dabei, Klassenarbeiten durchzusehen. Am Apparat war Nellie Anderson. Sie ließ Delilah kaum Zeit zum Grüßen, bevor sie loslegte. „Ich habe gerade mit Loulah Bends gesprochen, und ich musste dich sofort informieren.“ „Was ist passiert, Nellie?“ „Loulah sagte mir, dass Billie Rae Naylor den verrückten Sam Fletcher vor deiner Tür gesehen hat.“
„Oh.“ Delilah legte die Hefte zur Seite. Sie hatte Nellies Anruf – oder einen von Linda Lou Beardsly – schon erwartet. Nichts geschah in North Magdalene, ohne dass jeder davon erfuhr. Als Kind fühlte sich Delilah oft verletzt, wenn über die Taten ihres Vaters und ihrer Brüder geklatscht wurde. Aber als sie nach dem College feststellte, dass sie ihre Stadt vermisste und dorthin zurückkehren wollte, wusste sie, wie sie mit der Situation umgehen würde. Sie würde zuhören und nicht den geringsten Kommentar abgeben. „Nun…“ Nellie war kurz die Luft ausgegangen. Delilahs unaufgeregtes Oh hatte ihren Redefluss unterbrochen. Dann aber legte sie wieder los. „Du solltest wissen, dass er auch früher schon um dein Haus geschlichen ist.“ „Das weiß ich.“ Nellie schnappte nach Luft. „Du hast ihn gesehen?“ „Ja, er war hier, als ich nach Hause kam.“ „Und?“ „Er hat mir geholfen, die Einkäufe ins Haus zu tragen.“ „Und?“ Alles verriet sie jedoch nicht. „Danach ist er gegangen.“ „Was wollte er überhaupt bei dir?“ Delilah setzte ihre Lesebrille ab und rieb sich die Nase. „Nellie, das kann ich dir nicht sagen. Es handelte sich um eine private Angelegenheit, die inzwischen geregelt ist. Das ist alles.“ Enttäuscht schwieg Nellie, aber nicht für lange. „Delilah, Süße. Du weißt, dass du mir vertrauen kannst.“ „Natürlich, aber jetzt ist alles vorbei.“ „Was ist vorbei?“ „Nellie.“ Delilah sprach freundlich, aber bestimmt. „Es ist vorbei. Lass es gut sein.“ Die Freundin seufzte. „Schon in Ordnung. Wenn du dich aussprechen willst…“ „Danke, ich werde auf dein Angebot zurückgreifen, wenn es nötig ist. Aber das mit Sam war wirklich nur eine Lappalie.“ Eine Weile redeten sie noch, aber Delilah wusste, dass ihre Freundin gerne auflegen wollte, damit sie die spärlichen Informationen, die sie erhalten hatte, überall verkünden konnte. Nachdem Nellie sich verabschiedet hatte, setzte Delilah ihre Brille wieder auf und fuhr fort, die Klassenarbeiten zu korrigieren. Dass man nun darüber redete, was zwischen ihr und Sam Fletcher passiert sein könnte, war nicht gerade angenehm. Aber sie sagte sich, dass das Gerede bald wieder verstummen würde. Sie führte ein ruhiges Leben ohne Skandale. Nachdem sie zu einer Familie gehörte, deren Verhalten immer wieder für Aufruhr unter den Bewohnern der Stadt sorgte, hatte sie sich geschworen, ein Leben zu führen, das die Lästermäuler zum Einschlafen bringen würde. Den Klatschtanten würde sie keinen Anlass für weiteres Gerede bieten, und Sam Fletcher würde ebenfalls kein Wort sagen. Delilah griff nach ihrem roten Filzstift und bemühte sich, nicht mehr an Sam zu denken. Vor allem wollte sie gar nicht hinterfragen, warum sie so sicher war, dass Sam niemandem von ihrem Gespräch in der Küche berichten würde. Eine halbe Stunde arbeitete sie zügig, dann klingelte das Telefon erneut. Erst im letzten Moment hob sie ab. „Was ist mit nächstem Samstag?“ wollte Sam Fletcher wissen. „Niemals“, erwiderte sie ruhig. „Auf Wiederhören.“ Bevor sie auflegte, hörte sie jedoch noch ein verführerisches kleines Lachen. Danach rief er jeden Abend an. Sie lernte, den Hörer so schnell aufzulegen, dass
Sam nicht einmal Hallo sagen konnte. Das war aber noch nicht alles. Jeden Morgen grüßte sie eine neue Holzfigur von der Fensterbank aus – eine Eule, ein Eichhörnchen, eine Taube. Hartnäckig ignorierte sie alle. Außerdem stellte sie fest, dass sie die Main Street nicht mehr entlanggehen konnte, ohne Sam zu sehen. Kaum verließ sie ihr Haus und ging in die Stadt, als Sam aus seinem Laden kam und sich an die Wand neben der Tür lehnte. So eilte sie täglich zur Post und nahm sich vor, nicht einen Blick zu Sams Geschäft zu werfen. Genau das tat sie am Dienstag, als sie durch ein Hupen aufgehalten wurde. Sie wirbelte herum und sah ihren Bruder Brendan, der am Steuer seines fast neuen Trucks saß, für den er und seine Frau Amy sich in Schulden gestürzt hatten. Sie winkte ihm scheu zu, fast als ob er ein Fremder wäre. Tatsächlich hatte sie ihre Brüder in den letzten Jahren nur selten gesehen. Sie war ihnen aus dem Weg gegangen, weil sie sie in ihrer Kindheit fast um den Verstand gebracht hatten. Aber nun fühlte sie sich schuldig. Vielleicht war sie nicht ganz fair. Fast zwei Jahrzehnte waren vergangen, seit sie alle zu Hause gewohnt hatten. Vielleicht hatten sich Brendan – und Patrick und Jared – geändert. Plötzlich hörte sie eine verführerische Stimme. Vergangenheit, Lilah. Gib der Gegenwart eine Chance… Brendan hielt direkt neben ihr an. Das Chrom des imposanten Trucks blinkte. Delilah konnte sich geradezu spiegeln, und sie stellte fest, dass sie nervös aussah. Sam Fletcher brachte sie noch um den Verstand, denn sie musste ständig an ihn denken. Brendan stieg aus, begrüßte sie und erklärte, dass er am nächsten Morgen früh von Sacramento nach Phoenix fahren musste, um eine Ladung auszuliefern. Einige Minuten redeten sie miteinander, und Delilah war beeindruckt von Brendans Begeisterung und freute sich über sein offensichtliches Glück. Konnte das der mürrische kleine Bruder sein, dem alle möglichen Ausreden eingefallen waren, wenn sie ihn gebeten hatte, sein Zimmer aufzuräumen? In einem Monat erwarteten er und Amy ihr erstes Kind. Er schien dankbar und stolz zu sein, und er sagte, dass er seine Frau jeden Tag mehr liebe. Als Zeichen seiner Liebe hatte Brendan den Truck mit der Aufschrift „Sweet Amy“ versehen lassen, und ihr Portrait zierte den Anhänger. Brendan bestand darauf, dass Delilah sich die Schlafkoje anschaute, damit sie sah, wie komfortabel er reisen konnte. Während sie sich umsah, erklärte Brendan, dass es für Amy im Moment nicht leicht sei, da er so viel unterwegs war und sie kurz vor der Niederkunft stand. Dann sollte Delilah die Tür zum Schlafbereich schließen, damit sie ein Gefühl dafür bekam, wie wohnlich alles war. Nach einer Weile öffnete sie die Tür wieder – und entdeckte Sam Fletcher, der zu ihr hoch schaute. „Lass mich dir helfen, Lilah…“ Verblüfft starrte Delilah ihn an. Sein rotgoldenes Haar, das er wie häufig in letzter Zeit im Nacken zusammengebunden hatte, glänzte in der Sonne. Er trug einen hellblauen Pullover, der seine breiten Schultern betonte. Die Farbe des Pullovers passte genau zu seinen Augen, aus denen er Delilah verständnisvoll und begehrend anschaute. Ihr wurde ganz heiß, und sie musste an alles Mögliche denken. Nun grinste Sam sie an, als wisse er genau, was sie fühlte. Sie musste sich zwingen, nicht zurück in den Truck zu klettern. Auf der Suche nach einer praktischen Lösung blickte sie über Sam hinweg. Da
erspähte sie Brendan, der mit den Schultern zuckte, als könne er gar nichts daran ändern, dass Sam Fletcher aus dem Nichts aufgetaucht war und Delilah beim Aussteigen helfen wollte. Brendans Reaktion zeigte Delilah jedoch, dass er sich nicht völlig verändert hatte. Wahrscheinlich war er Amy zuliebe etwas gemäßigter geworden, aber er war doch noch neugierig genug, um sehen zu wollen, was geschah, wenn seiner Schwester von einem Mann Hilfe angeboten wurde, den sie völlig verabscheute. Nichts. Absolut gar nichts wird passieren, Bruderherz. Da kannst du lange warten. Mit freundlichem Gesichtsausdruck antwortete sie: „Danke Sam, wie nett von dir.“ Sie musste überzeugend geklungen haben, denn sie sah aus dem Augenwinkel, dass Brendans Kinnlade herunterklappte. Zufrieden mit sich streckte sie die Hand aus, die in Sams Pranke verschwand. Eine verlockende Wärme stieg ihren Arm hoch, und Delilah bemühte sich, gelassen zu bleiben. Aber Sam Fletcher wusste die Situation auszunutzen. Er ließ ihre Hand los und fasste sie um die Taille. Die Wärme seiner Berührung durchdrang ihren ganzen Körper, als er sie auf den Boden stellte. Jetzt stand sie vor seiner breiten Brust. Aus strahlenden Augen sah er sie an. „Das war es schon.“ Sie brachte ein Lächeln zu Stande. „Ja.“ Leicht legte sie die Handflächen auf seine Brust, wo sie sein Herzklopfen fühlte, und schubste ihn weg. „Vielen Dank.“ Seine Hände fielen zur Seite. Delilah widerstand dem Drang, sich wieder an ihn zu schmiegen und ihre Brüste an ihn zu drücken. „Heute Abend?“ fragte er leise. „Nimm Vernunft an und gib auf“, murmelte sie, damit nur er es hören konnte. „Niemals.“ „He!“ rief Brendan. „Was ist los mit euch beiden?“ Delilah wandte Sam den Rücken zu. „Nichts“, antwortete sie ihrem Bruder ruhig. Als Sam an diesem Abend anrief, legte Delilah noch schneller auf als sonst. Am nächsten Morgen schaute ein Kaninchen aus Holz sie durch das Fenster über der Spüle an. Sie zog den Vorhang vor. Am Nachmittag stand dann Sam wieder vor seinem Laden. Delilah ignorierte ihn. Abends rief er an – sie legte auf. Am Donnerstag stand ein hölzernes Reh auf der Fensterbank. Es wirkte, als ob es gerade eine Gefahr witterte. Welches Talent musste Sam besitzen, dass er so kunstvoll mit Holz arbeiten konnte? An diesem Abend blieb sie länger am Apparat, als er anrief. Diesmal hörte sie ihn traurig fragen, wann sie endlich aufhörte, so stur zu sein. Dann zwang sie sich aufzulegen. Freitag wartete ein junger Bär auf einer anderen Fensterbank. Er war rund und niedlich, lag auf dem Rücken und streckte die Tatzen in die Luft. Als sie ihn sah, musste Delilah lächeln. Merkwürdigerweise stand Sam an diesem Nachmittag nicht vor seinem Geschäft, als Delilah zur Post ging. Das war natürlich eine Erleichterung für sie. Natürlich. Am Freitagabend… nichts. Er rief nicht an, und Delilah fühlte sich wunderbar. Endlich ließ er sie in Ruhe. Wunderbar. Am Samstagmorgen kein neues Holztier vor dem Fenster. Prima. An diesem Nachmittag ging sie über die Main Street, um die Post zu holen, nachdem sie in Grass Valley ihre Einkäufe erledigt hatte. Sie eilte ins Postamt, weil sie sicher war, dass Sams gestrige Abwesenheit und das Fehlen einer
weiteren Holzfigur nur ein Trick waren, damit ihre Wachsamkeit nachließ. Delilah wusste genau, dass er wieder vor seinem Laden stehen würde, wenn sie aus der Post kam. Sie hatte sich jedoch geirrt. Am Samstagabend saß sie in ihrem Sessel im Wohnzimmer und las einen Krimi. Heute musste sie keine Arbeiten korrigieren. Die Osterwoche lag vor ihr, und sie freute sich schon auf die Ferien. Neben ihr schwieg das Telefon, und sie war wirklich erleichtert. Allmählich glaubte sie, dass Sam Fletcher aufgeben würde. Das war sehr gut und genau das, was sie wollte. Sie war dankbar, dass sie ihr Privatleben und ihren Seelenfrieden wieder hatte. Vielleicht ging er jetzt mit irgendeiner Frau aus und nahm sie mit in das nette Restaurant, von dem er erzählt hatte. Dort würde er sich sicher gut amüsieren. Sehr gut. Wenn eine andere Frau mit Sam Fletcher ausging, dann war Delilah damit einverstanden. In diesem Moment merkte sie jedoch, dass ihr Buch vom Schoß gefallen war und sie die Wand anstarrte. Leicht verstimmt nahm sie die Lesebrille ab und legte das Buch beiseite. Sie stand auf, schaltete den Fernseher ein und versuchte, sich auf den Film zu konzentrieren. Trotzdem fragte sie sich die ganze Zeit, wo Sam Fletcher wohl sein könnte…
5. KAPITEL Statt mit einer anderen Frau auszugehen, ging Sam in The Hole in the Wall Oggie begrüßte ihn mit einem „das wurde auch langsam Zeit“ und stellte Sams Lieblingsgetränk vor ihn hin. „Du siehst aus, als könntest du einen Drink gebrauchen.“ Sam knurrte, setzte sich und nahm das Glas. Oggie stützte sich auf die Theke. „Los, mein Sohn. Erzähl schon.“ „Was?“ „Warum du so frustriert aussiehst.“ „Mir geht es gut, Oggie.“ Sam prostete ihm zu und trank einen Schluck. Oggie beugte sich vor. „Übrigens, wie kommst du mit meiner Kleinen voran?“ Sam stellte sein Glas ab. „Ich weiß nicht, wovon du redest.“ „Komm schon. Du kannst mir nicht weismachen, dass du nicht über mein Angebot nachgedacht hast. Von Julio Santino weiß ich, dass sein Sohn Marty gesagt hat…“ „Marty hat zu viel Fantasie.“ Oggie schüttelte den Kopf. „Du bist heute genauso gereizt wie Brendan.“ Sam schaute sich um. „Ist Brendan hier?“ Oggie wies mit dem Kopf auf den schweren grünen Vorhang am anderen Ende der Bar. Dahinter befand sich der Kartentisch. „Er hat sich mit Amy gestritten. Vor einer halben Stunde tauchte er hier auf, bestellte einen doppelten Whiskey und eine Packung Zigaretten. Hoffentlich verliert er an diese beiden Fremden nicht sein letztes Hemd und hat den Mut, wieder nach Hause zu gehen. Wie kann der Dummkopf sich mit diesem lieben Mädchen streiten?“ „Zum Streiten gehören zwei“, meinte Sam. „Das ist mir egal. Schließlich erwartet dieses Mädel mein Enkelkind… Und glaube ja nicht, dass ich nicht weiß, was du tust, mein Sohn. Ich mag zwar alt sein, aber ich merke immer noch, wenn man das Thema wechselt.“ „Was meinst du, Oggie?“ Oggie knurrte. „Okay, dann halte dich eben bedeckt über dich und Delilah.“ Sam wusste, dass es am Klügsten wäre, das Glas abzustellen und die Bar zu verlassen. Schließlich hatte er sich geschworen, nicht mehr dorthin zu gehen. „He, Oggie. Noch eine Runde!“ rief jemand vom anderen Ende der Bar. „Immer mit der Ruhe, ich komme schon.“ Oggie ging zu den Gästen. Erleichtert, dass das Verhör unterbrochen war, sah Sam sich in der Bar um und dachte an die letzten Tage. Nachdem er Delilah am Samstag in die Augen geschaut hatte, war er sicher gewesen, dass sie ihm direkt in die Arme fiele, wenn er nur ausdauernd und geduldig genug war. Leider geschah nichts dergleichen. Seine Schnitzereien, mit Liebe angefertigt, ließ sie draußen im Nassen und Kalten stehen. Jedes Mal, wenn er anrief, legte sie auf. Ausdauer und Geduld führten momentan zu nichts. Gestern hatte er schließlich aufgegeben. Trotzdem war er so töricht zu hoffen, dass sie vielleicht heute Abend zu Hause saß und auf seinen Anruf wartete. Wenn sie es tat, dann aber wohl nur, um gleich wieder aufzulegen. Ich muss es mir eingestehen, dass sie mich nicht will, und muss diese hartherzige kleine Hexe endlich vergessen, dachte Sam. Er rieb sein Kinn. Vielleicht würde er den Bart wieder wachsen lassen und sich eine Frau suchen, die ihn genauso nahm wie er war. Nun kam Oggie wieder. Sam, der sich in den letzten Jahren auf zwei Bier pro
Abend beschränkt hatte, bestellte ein drittes und bald darauf ein viertes. Fünf Minuten später hob er erneut die Hand. „Das ist dein fünftes“, bemerkte Oggie. „Keine Angst, das hier wird jetzt etwas länger halten.“ Mit zweifelndem Blick füllte Oggie das Glas erneut. Sam nahm es entgegen und ging zu dem abgetrennten Teil der Bar, in dem Poker gespielt wurde. Acht Männer spielten: die beiden Fremden, die Oggie erwähnt hatte, und sechs Leute aus der Stadt, einschließlich Brendan Jones. Brendan, der eine Zigarette im Mundwinkel hatte und neben dem ein leeres Glas stand, sah aus, als hätte er seinen besten Freund verloren. Sein Zustand hatte jedoch keine Auswirkungen auf sein Spiel. Vor ihm lagen dreimal mehr Geldscheine als vor den anderen Männern. Die Partie schien in einer ernsten Phase zu sein, und es ging um hohe Einsätze. Einer der Fremden, ein schmaler Kerl mit schwarzem Schnurrbart, machte eine Bemerkung über Brendans Spielweise, als Sam in die Nähe des Tisches kam. Brendans Gesicht zeigte keine Spur eines Lächelns. „Ich mag zwar nicht Ihren Stil haben, aber ich habe schon einiges von Ihrem Geld.“ „Das wird sich noch ändern“, meinte der Fremde. „Ich erhöhe den Einsatz“, sagte Brendan. Owen Beardsly schaute auf. „Sam, willst du mitspielen? Für mich wird es hier zu heiß.“ „Was wird gespielt?“ „Texas Hold’em.“ Sam rieb sich das Kinn. Texas Hold’em war ein gewagtes Spiel, weil man schnell glaubte, die Karten der Gegner zu kennen, sich dann aber häufig irrte. Sam hatte eine größere Summe Geld mitgenommen, denn er war der Meinung, dass ein gutes Spiel das einzig Richtige für einen einsamen Abend sei. „Einsatzlimit?“ „Fünfzig.“ „Warum eigentlich nicht?“ fragte Sam. Er nahm Owens Platz ein und legte sein Geld auf den Tisch. Das Spiel wurde fortgesetzt. Anfangs gewann Sam, aber dann verließ ihn das Glück. Um elf Uhr hatte er einige Hundert verloren, aber es störte ihn nicht sonderlich. Sich auf die Karten zu konzentrieren half ihm, seine innere Unruhe zu kontrollieren. Das eigentliche Spiel fand zwischen dem Fremden namens Parnell und Brendan statt. Die Spannung zwischen den beiden stieg ständig. Brendan, den der Streit mit seiner Frau bedrückte, ließ seine Frustration an dem Fremden aus. Immer wenn Brendan eine Runde gewann, strich er den Gewinn mit einem breiten Grinsen ein, das an Parnell gerichtet war. „Da, wo ich herkomme, prahlen nur Idioten“, bemerkte dieser. „Lieber ein Idiot als ein Verlierer“, erwiderte Brendan. Ein Schweigen erfüllte den Raum, als jeder sich fragte, ob Parnell sich auf Brendan stürzen würde. Aber dann gab der Nächste und murmelte „Die Einsätze bitte“, und das Spiel ging weiter. Nach einigen Stunden spielte Brendan jedoch riskanter, und er begann zu verlieren. Der Stapel Geldscheine vor ihm wurde kleiner. Brendan wurde missmutig und trank ständig von seinem doppelten Whiskey. Parnell dagegen blieb ruhig und war zufrieden über seine bisherigen Gewinne. Sam, der auch gewann, überlegte, ob er Brendan nach Hause schicken sollte. Aber man gab einem Jones keinen Rat, wenn dieser Streit mit seiner Frau gehabt hatte und beim Poker verlor – es sei denn, man wollte ein neues Gesicht haben.
Vielleicht gewinnt Brendan gleich wieder, dachte Sam. Leider erfüllte sich dieser Wunsch nicht. Kurz nach eins schlug Parnell mit ruhiger Stimme vor, eine Runde mit unbegrenztem Einsatz zu spielen. Brendan, der immer unbesonnener wurde, stimmte zu. Rocky Collins war einverstanden, aber drei Männer wollten die Runde aussetzen, einschließlich des anderen Fremden. Tim Brown, der links von Sam saß, mischte die Karten. Als alle ausgegeben waren, drehte Tim die ersten beiden aus der Mitte um: Karo Zwei und Karo Ass. Parnell schob zweihundert Dollar in die Mitte des Tisches. Brendan, dessen Geldstapel gefährlich niedrig war, erhöhte um einhundert. Rocky Collins, Sam und Parnell gingen mit. Tim Brown stieg aus und drehte die nächste Karte um: Herz Fünf. Wieder schob Parnell zweihundert in die Mitte des Tisches. Brendan gab zweihundert dazu und erhöhte um einhundert. Rocky seufzte und schüttelte den Kopf. „Steige aus.“ Nun waren nur noch drei Spieler übrig: Sam, Parnell und Brendan. Sam und Parnell legten ihr Geld dazu, um im Spiel zu bleiben. Die nächste Karte war eine Karo Dame. Parnell, der diese Karte wohl gut gebrauchen konnte, schob fünfhundert Dollar auf den Tisch. Brendan hielt mit. Sam, der auch ein gutes Blatt hatte, blieb dabei, erhöhte den Einsatz jedoch nicht mehr. Er warf Brendan, der nun keinen Geldschein mehr vor sich liegen hatte, einen Blick zu. Was zum Teufel wollte Oggies jüngster Sohn für die nächste Runde einsetzen? Tim drehte die letzte Karte um: Pik Dame. Wieder schob Parnell fünfhundert Dollar in die Mitte. Lange blickte Brendan auf den Geldstapel. Er wandte sich an Parnell. „Ich habe kein Geld mehr dabei.“ Parnell erwiderte: „Dann sind Sie draußen.“ Aus geröteten Augen starrte Brendan den Mann an und warf einen Schlüsselring auf den Tisch. „Das sind die Schlüssel zu meinem Truck. Er ist achtzig Riesen wert. Nehmen Sie den Schlüssel als Garantie?“ Parnell wandte sich an Sam. „Was meinen Sie?“ Sam dachte, dass Brendan Jones sich idiotisch verhielt, aber das sprach er nicht aus. Er blickte auf sein Blatt und fasste einen Entschluss. Besser, ich lasse ihn die Sache durchziehen, dachte er. Er soll ruhig einen gehörigen Schrecken bekommen, und dann werde ich alles regeln. „Ich habe den Truck gesehen“, antwortete Sam. „Ich lasse ihn als Sicherheit für eintausend zu.“ Parnell zuckte mit den Schultern. „Gut, wenn Sie einverstanden sind, dann bin ich es auch.“ „Dann sind das Ihre fünfhundert, und ich erhöhe um fünfhundert“, entgegnete Brendan. Sam blickte auf seine beiden Karten und legte eintausend Dollar auf den Tisch. Parnell gab seine fünfhundert dazu und legte seine Karten ab: eine Drei und ein Karo Bube. Mit den Karten in der Mitte wäre sein bester Stich ein Flush. Brendan lächelte. Nun deckte er seine Karten auf: zwei Zweien, und mit der anderen Zwei und den beiden Damen auf dem Tisch konnte er Parnell schlagen. „Füll House“, verkündete er. Sam fühlte sich fast schuldig, als er vier Damen auf den Tisch legte. „Vier von einer Sorte“, verkündete er und schaute auf den großen Geldstapel, auf dem die Schlüssel zu Brendans Truck lagen. „Das gehört dann wohl jetzt mir.“ Danach war die Partie beendet.
Parnell, der nicht zufrieden war, aber sicher nicht so verärgert, als wenn Brendan gewonnen hätte, steckte seinen Gewinn ein und ging. Nacheinander verließen auch die anderen den Kartentisch. Nur Brendan und Sam blieben zurück und blickten sich an. Als die anderen Männer gegangen waren, zeigte Brendan sich beschämt. „Amy wird mir das Fell über die Ohren ziehen.“ „Warum hast du dich so idiotisch benommen?“ wollte Sam wissen. „Liegt wahrscheinlich im Blut. Am Abend hatte Amy mir vorgeworfen, ich würde sie nicht lieben. Danach war mir alles egal. Außerdem dachte ich, gegen diesen Typen gewinnen zu können. Gegen ihn kam ich ja auch an, aber dich konnte ich nicht schlagen.“ Einen Moment lang schwieg Brendan und schaute auf die Schlüssel auf dem Tisch. „Wenn ich ehrlich bin, habe ich nicht die geringste Idee, wo ich deine Tausend hernehmen soll, Sam. Ich habe gerade meine monatliche Rate gezahlt und bin deshalb etwas knapp. Heute Abend habe ich um das Letzte gespielt, was ich noch hatte.“ Nachdenklich betrachtete Sam Oggies Sohn. Er hatte vorgehabt, ihm die Schlüssel zurückzugeben und sich mit dem Geld zufrieden zu geben. Nun hatte er jedoch eine andere Idee. Vor seinem inneren Auge sah er Delilah an jenem Abend in ihrer Küche, kurz bevor sie die Pfanne fallen ließ und ihn wegschubste. Sie hatte sich an ihn geschmiegt. Himmel, er war sicher, dass sie ihn gewollt hatte und für ihn bereit gewesen war. Alles, was Sam brauchte, war ein wenig Zeit mit ihr, damit dieser Funken an Begierde, den er in ihren Augen entdeckt hatte, zu einem lodernden Feuer wurde. Brendan stand auf und warf einen reumütigen Blick auf die Wagenschlüssel. „Wahrscheinlich ist keine Antwort schon Antwort genug. Du willst die Schlüssel behalten, und ich mache dir keinen Vorwurf. Bitte gib einem alten Freund ein paar Tage Zeit, bevor du etwas mit dem Wagen unternimmst, okay?“ Brendan wartete ab. Sam schwieg noch immer. Brendan zuckte die Achseln. „Ich gehe jetzt besser nach Hause. Bevor die Nacht zu Ende ist, werde ich wohl ziemlich kriechen müssen. Ich muss Amy nicht nur für die Auseinandersetzung, die wir hatten, um Verzeihung bitten, sondern muss ihr jetzt auch noch beichten, dass ich unseren Lebensunterhalt verspielt habe. Wenn ich genau nachdenke, dann löst die Geschichte vielleicht unsere Probleme. Amy war sauer, weil ich am Sonntagabend um sechs eine Tour fahren muss. Sie hatte sich aufgeregt, weil ich nie zu Hause bin. Aber jetzt sieht es so aus, als sei ich eine ganze Zeit zu Hause, falls ich nicht irgendwo eintausend Dollar finde.“ „Vielleicht auch nicht“, entgegnete Sam. „Was willst du damit sagen?“ „Setz dich einen Moment, Brendan. Vielleicht gibt es eine Lösung, die uns beiden was bringt.“
6. KAPITEL Delilah, die fest geschlafen hatte, bewegte sich und versuchte, das Klopfen aus ihrem Traum zu verbannen. Als sie eine bekannte Stimme hörte, setzte sie sich auf und lauschte. „He, Delilah!“ Sie griff nach ihrem Wecker: 2.30 Uhr. Einer ihrer verrückten Brüder klopfte um zwei Uhr dreißig an die Tür. Was um alles in der Welt war passiert? „Schon gut“, murmelte sie. Dann rief sie lauter: „Hör schon auf, ich komme ja!“ Sie zog den Morgenmantel über, während sie zur Haustür ging und sie öffnete. Brendan stand vor ihrer Tür, und er sah einfach furchtbar aus. Delilahs Verärgerung löste sich in Luft auf. War etwas Schreckliches passiert? War ihrem Vater etwas zugestoßen? Ging es Amy und dem Baby gut? Dann aber bemerkte sie, dass ihr Bruder dieses gewisse Lächeln zeigte, das alle drei Brüder einsetzten, wenn sie etwas von ihr wollten. „Brendan“, stellte sie vorwurfsvoll fest. „Schwester.“ Das Lächeln wurde noch breiter. „Was willst du?“ „Ich muss mit dir reden.“ „Jetzt? Hat das nicht bis morgen Zeit?“ „Nein, hat es nicht. Es tut mir wirklich Leid, aber mir bleibt keine andere Wahl. Ich kann erst zu Amy nach Hause, wenn…“ Delilah zog Brendan ins Haus und in ihr Wohnzimmer. „Finger weg“, knurrte er und stieß ihre Hand weg. Nun roch sie Zigaretten und Whiskey. „Du kannst erst dann zu Amy, wenn was geschehen ist?“ wollte Delilah wissen. Brendan rieb sich die Augen. „Hast du vielleicht eine Tasse Kaffee? Es war eine furchtbare Nacht.“ „Das rieche ich. Komm mit.“ Sie führte ihn in die Küche, bot ihm einen Stuhl am Küchentisch an und setzte die Kaffeemaschine in Gang. Als der Kaffee durchgelaufen war, reichte sie ihrem Bruder eine Tasse und wartete, bis er einige Schlucke getrunken hatte. „Jetzt sag mir, was los ist.“ „Amy und ich hatten gestern Abend einen bösen Streit, und irgendwann habe ich die Tür zugeknallt und bin in Dads Bar gegangen.“ „Wieso überrascht mich das nicht?“ Er warf ihr einen Blick zu, wie ihn nur Brüder ihren Schwestern zuwerfen. „Wenn du jetzt bissige Bemerkungen machst, hilft mir das echt weiter.“ „Tut mir Leid. Also, du bist in Dads Bar gegangen. Und dann?“ „Ich ging in The Hole in the Wall und nahm an einer Partie Poker teil…“ „Sehr klug“, bemerkte sie. „Eine Zeit lang gewann ich ständig, aber dann…“ „Dann begannst du zu verlieren.“ „Wer erzählt hier die Geschichte?“ fragte er verärgert. „Okay, mach schon weiter.“ „Ich hatte einige Hundert bei mir, und nach einiger Zeit hatte ich fast viertausend gewonnen.“ „Klingt nach einem hohen Einsatz“, kritisierte Delilah. „Vater schwört immer, dass die Spiele in The Hole in the Wall nur harmlose kleine…“ „Delilah, wenn du eine Predigt über das Zocken halten willst, dann kannst du das morgen in der Kirche tun, aber lass mich bitte weitererzählen.“ „Nun, das beweist nur das, was Nellie, Linda Lou und ich schon lange behaupten:
Das Glücksspiel ist ein gefährlicher Zeitvertreib, ganz zu schweigen davon, dass es in Kalifornien illegal ist.“ „Das organisierte Glücksspiel ist illegal, Delilah. Nicht eine nette Partie mit den Jungs.“ „Nett? Du nennst es nett, an einem Samstagabend Tausende Dollars zu verlieren?“ Brendan blickte sie an. „Schon gut, entschuldige. Ich habe dich unterbrochen.“ „Vielen Dank.“ Brendan holte tief Luft. „Erst verlor ich immer mehr, aber dann hatte ich dieses wunderbare Blatt auf der Hand. Leider hatte ich keinen Cent mehr für den Einsatz. Also habe ich den Schlüssel für meinen Truck in die Mitte gelegt.“ „Um Himmels willen“, murmelte Delilah. Sie wusste, was ihr Bruder als Nächstes sagen würde. „Und ich habe verloren.“ Schweigend starrte Delilah ihren Bruder an. Brendan erwiderte ihren Blick. „Okay, es war das Dümmste, was ich je in meinem Leben gemacht habe.“ „Kein Kommentar.“ Delilah steckte die Hände in die Taschen ihres Morgenmantels. „Was hat das Ganze jetzt mit mir zu tun?“ Brendan schluckte. „Du wirst sehen, dass es doch noch eine gute Nachricht gibt.“ „Wirklich? Und die wäre?“ „Du kannst alles wieder gerade biegen.“ „Ich?“ Er nickte ernst. „Wie?“ „Du müsstest mir nur einen kleinen Gefallen tun,“ erwiderte Brendan. „Ich bekäme den Truck zurück und kann wieder zu Amy nach Hause gehen. Dann habe ich zwar einen Verlust von fünfhundert, aber das ist nicht das Ende der Welt, falls du verstehst, was ich meine.“ „Wie sieht dieser Gefallen aus?“ Wieder schluckte Brendan. „Derjenige, der den Truck gewonnen hat, macht das alles möglich…“ „Der den Truck gewonnen hat“, wiederholte Delilah mechanisch. „Wer ist es?“ Brendan fuhr sich mit beiden Händen durch sein schwarzes Haar. „Also…“ „Wer?“ fragte sie, aber dann wusste sie die Antwort auch schon. „Fletcher.“ Stöhnend schloss Delilah nun die Augen. Dann zwang sie sich, ihren Bruder wieder anzuschauen. „Sam Fletcher.“ „Schwesterherz…“ Ruhig stellte sie die entscheidende Frage. „Was will er?“ „Fast gar nichts.“ „Was?“ „Ich meine, im Vergleich zu meinem Truck…“ „Was?“ „Nur…“ „Ja?“ „… eine Verabredung mit dir.“ Einen Moment lang starrte Delilah ihren Bruder an, während sie die Information auf sich wirken ließ. Dann ging sie fast an die Decke. „Hab ich das richtig verstanden? Du hast um deine eigene Schwester gespielt?“ Hilflos streckte Brendan die Hände aus. „Beruhige dich. Wie sollen wir die Sache regeln, wenn du so reagierst? Wie ich schon erklärt habe, warst nicht du der
Einsatz, sondern mein Truck. Ihn habe ich als Pfand für die tausend Dollar eingesetzt. Da ich die Tausend aber nicht habe, hat Sam ein Anrecht auf meinen Truck. Aber er ist bereit, stattdessen… ah, dich zu nehmen.“ Delilah musste sich sehr beherrschen, um nicht laut loszuschreien. „Weißt du eigentlich, was du mir da sagst? Dass meine Person als Ersatz für einen Truck nebst Anhänger dient?“ „Jetzt siehst du wieder so aus wie damals, als die Jungs und ich dir einen kleinen Streich gespielt hatten. Das macht mir Angst.“ Ja, er hatte allen Grund, ängstlich zu sein. Sie stand kurz vor einem Wutausbruch! „Du hörst nicht zu, Brendan Jones. Ich wollte nur wissen, ob du überhaupt kapierst, was du angerichtet hast? Du hast mich dem Mann, den ich am meisten auf der Welt verabscheue, angeboten, damit du deinen Wagen behalten kannst.“ Nun schien Brendan beleidigt. „Das ist nicht wahr, und das weißt du auch. Sam hat nicht um dich gebeten, sondern um eine Verabredung mit dir. Du weißt schon… Abendessen, Drinks und vielleicht Kino. Meine Güte, wir reden doch hier nicht über deine Jungfräulichkeit. Es geht nur um einige Stunden deiner Zeit, damit Amy, das Baby und ich vor dem Ruin gerettet werden.“ Er sah sie auf eine selbstgerechte Art an. „Außerdem schient ihr euch in der letzten Woche doch ganz gut zu verstehen. Du hast ihn angelächelt und dich freundlich bedankt, als er dir vom Truck hinunter half, weißt du noch? Mir kam es vor, als wäre es nicht so schrecklich für dich, einen Abend mit Sam zu verbringen…“ Delilah hätte ihren Bruder am liebsten geohrfeigt. „Was weißt du schon, Brendan?“ Er war schlau genug, darauf nicht sofort zu antworten. „Okay, Schwester“, meinte er nach einer Weile. „Wir leben in einem freien Land, und ich kann dich zu nichts zwingen.“ Nun wirkte er betont reumütig und leidend. „Es ist wohl tatsächlich zu viel von dir verlangt, mit Sam auszugehen, nur damit Amy und das Baby genug zu essen und ein Dach über dem Kopf haben.“ „Du treibst es zu weit, Brendan.“ „Ich schildere dir nur die Lage.“ „Bleib hier.“ Sie ging zu ihrem Schlafzimmer, wo sie Jeans und einen Pullover anziehen wollte. „Ich kümmere mich um dich, nachdem ich mit ihm fertig bin!“ Nach weniger als zehn Minuten parkte Delilah ihren Wagen vor Sam Fletchers neuem Haus. Während sie den Motor ausmachte und sich selbst Mut zusprach, sah sie, dass ein Außenlicht brannte. Der Rest des Hauses hingegen lag im Dunkeln. Sie konnte sich nicht vorstellen, dass Sam schon schlief. Vielleicht war er nicht zu Hause, und sie sollte am Morgen wieder kommen? Sofort verwarf Delilah diesen feigen Gedanken. Auch wenn sie die ganze Nacht warten müsste, würde sie keinen Zentimeter weichen, bevor sie diesem Schuft nicht die Meinung gesagt hatte. Sie würde ihn so lange und so laut anbrüllen, dass er ihr die Truckschlüssel geben würde, nur damit sie aufhörte. Mit diesem Gedanken stieg Delilah aus dem Auto und schlug die Tür zu. Einen Moment zögerte sie noch, als sie die feuchtkalte Luft einatmete. Der Mond war nicht mehr zu sehen, da viele Wolken aufgezogen waren. Es sah ganz nach einem der hierzulande typischen Frühjahrsstürme aus. Delilah ging die Treppe hoch. Sie klopfte an die Haustür und lehnte sich gleichzeitig an die Klingel, wobei es ihr ein Gefühl der Befriedigung gab, solch einen Krawall zu veranstalten. Besonders, da Sam am Rande der Stadt wohnte, so dass niemand sonst um diese Zeit gestört wurde. „Sam Fletcher!“ schrie sie. Welche Genugtuung, diesen Namen verächtlich hinauszubrüllen.
Normalerweise hielt sie sich für eine ruhige kontrollierte Person, die immer vernünftig reagierte. Sie war eine intelligente Frau, die sich niemals zu unüberlegten Handlungen hinreißen ließ. Heute Nacht war jedoch eine Ausnahme. Sam Fletcher hatte sie so weit gebracht. Nun war sie wie der Sturm, der gleich über die Stadt fegen würde. „Ich weiß, dass du da bist! Komm sofort heraus! Ich will mit dir reden!“ Wieder klingelte sie und hämmerte gegen die Haustür. „Ich warne dich, Sam Fletcher! Ich verlasse diesen Ort nicht, bis du herauskommst und…“ Abrupt wurde die Tür aufgerissen, so dass Delilah fast gestürzt wäre. Sie schnappte nach Luft und richtete sich auf. Dann öffnete sie überrascht den Mund. Vor ihr stand Sam mit einem wissenden Grinsen auf dem viel zu attraktiven Gesicht. Er war nass und nur mit einem Handtuch bekleidet. „Hallo, Lilah“, grüßte er freundlich. „Wie schön von dir vorbeizukommen. Ich habe gerade geduscht und will gleich ins Bett.“ Sie blinzelte, fuhr sich mit der Zunge über die Lippen und versuchte verzweifelt, die Fassung zu wahren, obwohl ihr Herz hämmerte und ihr Gesicht ganz heiß war. Er hatte… ja, er hatte seidige Haare auf der Brust, und die Brustwarzen hatten sich auf Grund der Kälte aufgerichtet. Tatsächlich hatte er am ganzen Körper eine Gänsehaut. Durch die Feuchtigkeit wirkten seine Haare dunkler, und sie fielen ihm in weichen Locken über die Schultern. Sam sah prachtvoll aus – wie ein Wikinger oder wilder Barbar aus einer längst vergangenen Zeit. Delilah wurde am ganzen Körper heiß. Vor ihrem inneren Auge sah sie sich auf Sam zugehen. Sie presste sich an ihn, fuhr mit den Händen über seine breiten Schultern und leckte ihm die Wassertropfen ab. Sam lächelte. „Ich bin auch froh, dich zu sehen, meine Süße“, sagte er leise wie als Antwort auf eine Begrüßung, die sie, wenn sie sich richtig erinnerte, nie geäußert hatte. „Warum kommst du nicht herein?“ Verwirrt trat sie einen Schritt nach vorn und befand sich im Haus, bevor sie noch überlegen konnte, ob dies ein weiser Entschluss war. Leise schloss er die Tür hinter ihr. Delilah war mit ihm allein… Zu schnell drehte sie sich zu Sam um, der hinter ihr stand. Sie trat einen Schritt zurück und berührte fast die Wand. Sie merkte, dass sie Sam anstarrte. An seinem Gesichtsausdruck konnte sie erkennen, dass sich zu viel von ihren sinnlichen Gefühlen in ihrem Gesicht widerspiegelte. „Ich möchte mit dir reden.“ „Dann leg los.“ Delilah holte tief Luft, denn es fiel ihr schwer, die richtigen Worte zu finden, wenn sie so nahe bei Sam stand. Er roch nach Seife, Wasser – und nach Mann, ein erregender Duft, der ihre Gedanken durcheinander brachte. Sie wusste, dass sie Haltung bewahren musste, denn sonst würde sie eine Schlappe erleiden. „Zieh dir erst einmal etwas an“, bat sie Sam in dem Ton, den sie bei Schülern anschlug, die sich schlecht benommen hatten. Sie schaute um die Ecke und sah das Wohnzimmer. „Ich warte dort.“ Sie eilte aus dem Flur. Hinter ihr lachte Sam. „Jawohl, Ma’am“, erwiderte er leise und ließ sie allein. Als er die Treppe hinaufging, ignorierte Delilah ihn. Während sie auf ihn wartete, tat sie so, als würde sie die Bücherregale und die Möbel begutachten. Aber das, was sie sah, verwunderte sie. Sie musste eingestehen, dass dies hier ein wirklich gemütliches geschmackvolles Zuhause war. Das Wohnzimmer war erlesen eingerichtet und sehr behaglich. Die Bücher sahen so aus, als seien sie
auch gelesen worden, und die Bilder und Drucke an den Wänden wären auch ihre Wahl gewesen. Das alles war zu verwirrend. Ohne zu überlegen, war sie hierher gestürzt, hatte Sam fast im Adamskostüm erwischt und inspizierte jetzt sein Zuhause, das ihr fast besser als ihr eigenes gefiel. „Was hältst du von dem Tisch?“ Sofort fuhr sie zurück und erblickte Sam, der nun eine Jeans und den blauen Pullover trug, den sie schon kannte. In einer Hand hielt er einen Schlüsselbund, als er die Treppe herunter kam. Mit undurchdringlicher Miene betrachtete sie den Tisch, den er erwähnt hatte. Er war aus hellem Holz und in seiner Schlichtheit unglaublich schön. „Er gefällt mir“, entgegnete sie. Er lächelte und tat so, als sei sie um drei Uhr morgens bei ihm aufgetaucht, um etwas über ihn und seine handwerklichen Fertigkeiten zu erfahren. „Ich hatte genau im Kopf, wie er aussehen sollte. Da ich ihn nirgendwo finden konnte, habe ich ihn selbst gebaut. Normalerweise fertige ich keine Möbel an, sondern schnitze Holzfiguren, aber das weißt du ja schon.“ Nun dachte sie an die vielen Figuren, die sie so achtlos auf den Fensterbänken stehen gelassen hatte, und sie schämte sich fast ein wenig, weil sie seine Geschenke nicht gewürdigt hatte. Es war ein Fehler, hierher zu kommen, dachte sie. Sie hätte sich um diesen Mann besser am anderen Morgen kümmern sollen. Ausgeschlafen. Bei hellem Tageslicht. Mit klarem Verstand. Er ließ sich auf einem der grauen Ledersofas nieder und legte den Schlüsselbund neben sich auf den Tisch. Als er sah, dass Delilah zusammenzuckte, lächelte er ein wenig. „Setz dich doch“, schlug er vor. „Nein, danke, ich stehe lieber.“ „Wie du möchtest.“ Sie schauten sich an. Und in diesem schönen Zimmer, in dem ihr die Bilder gefielen und der Mann auf dem Sofa noch viel mehr, schien ihr dieses ganze Melodram plötzlich dumm und sinnlos. Ein kultivierter Mann wie Sam, der Shakespeare gelesen hatte und in seiner Freizeit unglaubliche Holzfiguren anfertigte, würde sie sicher nicht ernsthaft zwingen, mit ihm auszugehen. Er würde sie nie mit dem Truck ihres Bruders erpressen. Ja, sie würde die Sache wie ein dummes Missverständnis behandeln, das zwei vernünftige Erwachsene schnell aufklären konnten. „Ich bin dir wirklich dankbar.“ Einen Moment lang hob er erstaunt die Brauen. „Tatsächlich?“ Sie zeigte ihm ein Lächeln, von dem sie hoffte, dass es verlegen und gleichzeitig dankbar wirkte. „Ja, und es tut mir Leid, dass alles so aus dem Ruder gelaufen ist. Aber ich sehe jetzt, dass du die klügste Entscheidung gefällt hast.“ „Habe ich das?“ „Tatsächlich?“ Interessiert schaute er sie an. Mutig ging sie auf ihn zu und griff nach den Schlüsseln… Doch bevor sie sie in den Händen hielt, umfasste Sam Delilahs Hand. Die vertraute Wärme stieg in ihren Körper. Sie versuchte, sie zu ignorieren und weiter zu lächeln, obwohl sie ihre Hand am liebsten zurückgezogen hätte. Erstaunen vortäuschend, antwortete sie. „Aber du hast doch deine Meinung geändert, oder? Warum solltest du mir sonst die Schlüssel von oben mitbringen?“ Langsam ließ er sie los. „Nein, ich habe meine Meinung nicht geändert. Brendan hat dir die Bedingungen mitgeteilt. Sie gelten immer noch. Und du weißt
verdammt gut, warum ich dir die Schlüssel nach unten gebracht habe. Damit du sie deinem Bruder geben kannst, wenn du deinen Teil der Vereinbarung erfüllt hast.“ Wieder grinste er. „Geschickter Versuch, Lilah. Aber du glaubtest doch nicht wirklich, dass er erfolgreich sein würde?“ Nun starrte Delilah ihn an und legte ihre Maske der Freundlichkeit ab. Okay, er wollte mit offenen Karten spielen? Das konnte sie schon lange! „Ich verachte dich, Sam Fletcher.“ „Warum wundert mich das nicht?“ entgegnete er. „Du bist ein niveauloser, widerlicher, verdorbener Schuft, und ich habe dich schon vor Jahren richtig beurteilt.“ „Danke, meine Süße.“ „Ich bin nicht deine Süße.“ „Gestatte einem dummen Kerl seine Fantasien.“ „Ich will aber nicht deine Fantasie sein.“ „Glaub mir, ich habe es mir auch nicht so ausgesucht. Aber es ist, wie es ist, meine Süße.“ „Ich hasse dich.“ „Das sagst du jetzt.“ „Ach, und du glaubst, ein gemeinsamer Abend würde meine Ansicht ändern? Täusch dich da mal nicht.“ „Wirklich nicht?“ „Nein, wirklich nicht. Aber wenn das der Preis für Brendans Truck ist…“ Sie erstickte fast an den Worten. „Dann werde ich ihn eben zahlen. Nächsten Samstag, okay? Du kannst mich um sieben abholen. Von sieben bis elf, keine Minute länger, und damit basta.“ „Tatsächlich?“ „Ja, tatsächlich. So charmant kannst du gar nicht sein, dass ich auch nur eine Minute länger mit dir verbringe. Und jetzt gib mir die verdammten Schlüssel.“ Wieder streckte sie den Arm aus, aber Sam hielt sie fest. Diesmal tat sie gar nicht erst so, als habe seine Berührung keine Wirkung auf sie, sondern sie entzog ihm den Arm und sprang zurück. „Was denn noch?“ schrie sie. „Ich sagte doch, dass ich mache, was du willst.“ „Du bist so verdammt stur, Delilah Jones.“ „Was soll das heißen?“ „Ich meinen diesen tollen Vorschlag, den du mir gemacht hast.“ Sie verstand nur Bahnhof. „Welchen Vorschlag?“ Er nahm den Schlüsselbund und drehte ihn hin und her. „Nächsten Samstag. Sieben bis elf. Wie kann selbst der beharrlichste Mann einer Frau wie dir in vier Stunden näher kommen?“ „Wovon redest du eigentlich?“ wollte sie verärgert wissen. Am liebsten hätte sie ihm die Augen ausgekratzt. „Wenn ich nur eine Chance bekomme, dann muss das eine verdammt gute sein.“ Das gefiel ihr überhaupt nicht. „Eine Verabredung, das hast du Brendan gesagt“, erklärte sie. „Deine Bedingungen waren ein Abendessen, Drinks, Kino. Also, wenn das nicht in langen vier Stunden zu erledigen ist…“ Wieder drehte er die Schlüssel in der Hand. „Ich habe nur von einer Verabredung gesprochen. Brendan hat offensichtlich ein bisschen ausgeschmückt, was er sich gemeinhin darunter vorstellt.“ „Ein Date ist ein Date. Samstagabend, sieben bis elf ist eine völlig vernünftige…“ „Von deinem Standpunkt aus, ja. Aber von meinem Standpunkt aus ist es ein Reinfall.“ „Was meinst du damit?“
„Ich verliere, was ich fair gewonnen habe. Für tausend Dollar leistest du mir vier Stunden Gesellschaft, während du mich über einen Tisch hinweg anstarrst und mir ins Gesicht sagst, dass du mich hasst. Für mich klingt das nicht wirklich nach einem Gewinn.“ Delilah hatte die Hände zu Fäusten geballt, und ihre Nägel drückten in ihre Handflächen. Sie musste ihr Temperament zügeln. „Lass mich laut nachdenken. Du hast Brendans Truck beim Pokern gewonnen, obwohl du mir noch vor einer Woche gesagt hast, dass du nicht mehr spielst. Ich wollte dir schon glauben, dass du dich geändert hast, aber du hast dich absolut nicht verändert, Sam Fletcher. Egal, was du tust, ich werde nie auch nur eine Stunde freiwillig in deiner Gesellschaft verbringen. Hast du verstanden?“ „Ich verstehe dich voll und ganz.“ „Gut.“ Nachdenklich rieb er sich über das Kinn, während er nun Delilah zärtlich anschaute. „Und da ich dich verstehe, sind meine Bedingungen…“ „Die Bedingungen kenne ich schon. Und ich habe mich damit einverstanden erklärt.“ Er betrachtete die Schlüssel in seiner Hand. Sie schwieg. „Ich will eine Woche.“ „Eine Woche?“ brachte sie krächzend hervor. Er fuhr fort, als habe sie gar nichts gesagt. „Diese Woche, um es genau zu sagen. Es sind Osterferien, und du hast frei. Marty kann sich um meinen Laden kümmern. Wir verreisen gemeinsam. Geh nach Hause und pack alles ein, was man zum Campen braucht. Wir haben eine Hütte zur Verfügung, aber rechne mit niedrigen Temperaturen. Im Morgengrauen brechen wir auf.“ „Du bist doch wahnsinnig.“ „Wahnsinnig gespannt auf diese Woche, ja. Komm mit, und Brendan kann beruhigt zu Amy nach Hause gehen.“
7. KAPITEL Delilah starrte den Mann an, der grinsend auf dem grauen Sofa saß und die Truckschlüssel in den Händen hielt. Am liebsten hätte sie ihm die schlimmsten Sachen an den Kopf geworfen. Jetzt wusste sie, warum sie sich aus dem Leben ihrer Brüder heraushielt. Mit ihnen in Verbindung zu stehen bedeutete nur Ärger. Auch als Erwachsene hatten sie sich nicht verändert, sie würden immer die Jones-Gang bleiben: wild, verrückt und gefährlich für jede Frau, die dumm genug war, sich mit ihnen einzulassen. Fletcher spielte mit den Schlüsseln. „Also?“ Irgendwie musste sie doch aus diesem Schlamassel herauskommen. Hatte er nicht gesagt, dass sie campen sollten? Viele Leute hassten Camping. Vielleicht würde er ihr glauben, dass sie es auch nicht mochte. „Leider kann ich dich nicht begleiten“, meinte sie. „Für mich gibt es nichts Schlimmeres als Camping.“ „Ja?“ „Ja, wirklich. Wer will schon freiwillig an einem stinkenden offenen Feuer sitzen, mit Insekten kämpfen und aus Dosen essen? Von der Hygiene ganz zu schweigen.“ „Was soll damit sein?“ „Beim Campen gibt es keine Dusche, keine Toilette, nichts, nur den Wald. Nein, ich ziehe auch im Urlaub ein Badezimmer vor. Und eine Steckdose für meinen Föhn.“ Sam lachte. „Diese Ausrede nehme ich dir nicht ab.“ „Was willst du damit sagen?“ „Wenn du Campen so hasst, warum fährst du dann mit deiner Kirchengruppe immer zum Camping? Außerdem organisierst du alles, was damit zu tun hat, wenn ich mich recht entsinne. Jedenfalls stehen dein Name und deine Telefonnummer immer auf dem Plakat, das Owen Beardsly regelmäßig in meinem Schaufenster aufhängt.“ Delilah hätte ihm am liebsten eine Ohrfeige verpasst. Dieses verdammte Plakat hatte sie vergessen. Wieso las ein gottloser Kerl wie er Nachrichten aus der Pfarrgemeinde? Ratlos schaute Sam sie an. Warum könnte sie nicht auf der Stelle ernsthaft krank werden? Dann müsste sie nirgendwohin fahren. „Und?“ fragte er nach einer Weile Schweigen. Wahrscheinlich würde sie um diese verflixte Tour nicht herumkommen. Aber bevor sie nachgab und sich auf Sams Bedingungen einließ, wollte sie noch einiges klarstellen. Sie blickte Sam in die Augen. „Ich begleite dich nur, richtig? Es muss mir weder gefallen noch muss ich… mit dir intim werden.“ Der Kerl sah sie selbstgefällig an. „Lilah, worauf willst du hinaus?“ „Auf gar nichts, ich spreche nur klare Worte.“ „Ich verstehe diese Worte leider nicht.“ Wie sie ihn verabscheute! Sie zwang sich, noch deutlicher zu werden. „Ich werde nicht… mit dir ins Bett gehen.“ „Kein Problem. Du kannst mich jederzeit mit der Bratpfanne bedrohen, wenn ich dir zu nahe komme.“ Immer noch lächelte er. Sie wusste genau, was er dachte. Dass er nur Zeit brauchte und sie ihre Meinung dann ändern würde. Das Dumme war, dass sie gar
nicht genau wusste, ob er Recht oder Unrecht hatte. Wie lange würde ihre Willenskraft reichen, dieser körperlichen Anziehung zu widerstehen? „In Ordnung, du hast gewonnen“, sagte sie tonlos. Sam nickte. „In drei Stunden hole ich dich ab.“ „Ich würde lieber am Montagmorgen abreisen, denn ich brauche etwas Ruhe und muss jemanden organisieren, der meine Blumen gießt.“ „Deine Blumen werden überleben. In drei Stunden bin ich bei dir.“ „Aber ich…“ Er schüttelte den Kopf. „Drei Stunden, keine Widerworte.“ Fast hätte sie ihm ins Gesicht gesagt, was sie von ihm hielt, aber dann resignierte sie. „Die Schlüssel“, bat sie. Er warf sie ihr zu. Delilah fing sie auf und verließ Sams Haus. Zu Hause machte Brendan gerade noch eine Kanne Kaffee. Als er Delilah hörte, drehte er sich um. „Und?“ Er wirkte so niedergeschlagen, dass sie fast Mitleid mit ihm empfunden hätte. Nein, das verdiente er es nicht. Sie war diejenige, mit der man gefälligst Mitleid haben sollte. „Wie ist es gelaufen?“ wollte er wissen. Eigentlich hatte sie Brendan gehörig die Meinung sagen wollen, nachdem sie mit Sam Fletcher fertig war. Aber nun wäre es eine reine Energieverschwendung, ihren Bruder mit Vorwürfen zu überhäufen. „Es ist alles geregelt“, antwortete sie matt und hielt ihrem Bruder die Schlüssel hin. Brendan nahm sie entgegen und schaute seine Schwester lange an. „Danke, dafür schulde ich dir etwas.“ „Schon gut.“ Eine Woche würde nicht ewig dauern. In sieben Tagen wäre die Schuld beglichen, und alles wäre so wie immer. Oder etwa nicht? Nach einer Woche mit Sam Fletcher wäre vielleicht nichts mehr so wie vorher. Um Gottes Willen, nein! Delilah setzte sich. Sie dachte an Sams breite Brust, das rötliche Haar, die Wassertropfen auf seiner Haut, den angenehmen Geruch und die blauen Augen… „Geht es dir gut, Schwesterherz?“ Delilah blinzelte. „Was? Ja, prima. Ich bin nur müde.“ Brendan wirkte bekümmert. „Ich sollte jetzt wohl besser nach Hause gehen und alles mit Amy bereden… wenn es dir gut geht.“ „Ja, alles in Ordnung. Geh du nur nach Hause.“ Sie schenkte sich eine Tasse Kaffee ein. „Das mache ich“, versprach Brendan. „Gute Nacht.“ Delilah winkte, als ihr Bruder ging, und trank einen Schluck Kaffee. „Delilah?“ Sie schaute sich um. Brendan stand immer noch vor der Tür. „Was ist los?“ „Du bist eine tolle Schwester, weißt du?“ „Ja“, seufzte sie. „Ich bin einfach wunderbar.“ „Du hast immer eine Lösung.“ „Brendan, ich sagte doch, dass es okay ist. Spar dir deine Lobreden.“ „Ich… es tut mir Leid, verdammt. Dafür, dass ich so ein Idiot bin. Eine Schwester wie dich verdiene ich gar nicht, erst recht nicht eine Frau wie Amy…“ Delilah wusste nicht, was sie sagen sollte. Natürlich verdiente er weder sie noch Amy, aber das hatte ihn früher komischerweise nie gestört. Jetzt schien er ehrlich von ihrer Fürsorge beeindruckt zu sein. Seine Entschuldigung ging ihr nahe, und sie wusste nicht, wie sie reagieren sollte. „Brendan, ich… Es ist schon gut. Wirklich…“ Delilah fehlten die Worte, während
sie ihren Bruder zweifelnd anstarrte, der auf einmal so lieb und unsicher aussah. Plötzlich gab er einige merkwürdige Laute von sich und ging auf Delilah zu. Er zog seine Schwester an sich und drückte sie so fest, dass ihr die Luft wegblieb. „Brendan!“ Verblüfft wehrte sie ihn ab. Er hielt sie fest. „Danke, vielen Dank“, flüsterte er. Dann ließ er sie ebenso plötzlich los, wie er sie gepackt hatte, und sie schwankte leicht. Als sie wieder aufschaute, war Brendan gegangen. Einen Moment lang starrte Delilah zur Tür, bevor sie sich an den Tisch setzte. Ihr Bruder war nicht mehr der kleine freche Junge, obwohl er immer noch schnell in Schwierigkeiten geriet. Sie war froh, dass sie nicht die Kraft gehabt hatte, ihm zu sagen, dass er wirklich ein Idiot war und dass Abendessen, Drinks und Kino sich in eine einwöchige Tortur in den Wäldern verwandelt hatten. In welchen Wäldern? Delilah stellte fest, dass sie nicht die geringste Ahnung hatte, wohin die Reise ging. Nachdem sie ihren Kaffee getrunken hatte, ging sie in ihr Schlafzimmer, um zu packen. Und dabei versuchte sie nicht daran zu denken, dass sie bald eine Woche mit ihrem schlimmsten Feind verbringen musste. Als sie in einer Schublade nach einer kleinen Flasche Shampoo wühlte, stieß sie auf ein Päckchen, das sie vor zwei Jahren dort hingelegt hatte. Delilah zog die Kondome heraus und betrachtete sie. Sie hatte sie gekauft, als sie einen Kurs für Sexualerziehung besucht hatte. Wahrscheinlich konnte man sie noch benutzen… Hallo? Woran dachte sie gerade bitte? Nur an die Wahrheit, denn sie fühlte sich stark zu Sam hingezogen. Wenn sie mehrere Tage und Nächte mit ihm zusammen war… Nein! Energisch schüttelte sie den Kopf. Es würde nicht geschehen. Sie würde seiner Ausstrahlung nicht erliegen. Deshalb musste sie auch nicht vorbereitet sein. Sie legte die Kondome in die Schublade zurück. In der Küche packte Delilah Geschirr und Besteck ein. Als sie die Pfanne holte, lächelte sie zum ersten Mal seit Stunden. Sam hatte vorgeschlagen, dass sie die Pfanne bereithalten sollte, falls er sich ihr näherte. Das würde sie auch tun. Schließlich packte sie noch verschiedene Snacks und haltbare Lebensmittel ein, da sie nicht wusste, wie viel Sam mitbringen würde. Später räumte sie ihr Haus auf. Einen kurzen Augenblick überlegte sie, Nellie zu bitten, ihre Pflanzen zu gießen, aber Nellies Neugier konnte sie im Moment schlecht ertragen. Sicher wäre die Lage schlimm genug, wenn sie am nächsten Sonntag zurückkehrte. Sie war überzeugt, dass sich dann alle Gespräche um sie und Sam drehen würden. Als sie daran dachte, hätte Delilah fast geweint. Ihr guter Ruf stand auf dem Spiel. Jeder würde sagen, dass sie genauso wie ihr Vater und die Brüder sei. Ach was! Sie hatte mit solchen Vorurteilen schon in der Kindheit gekämpft, und sie würde sie auch jetzt überstehen. Delilah goss genügend Wasser in die Untersätze der Pflanzen, damit diese während ihrer Abwesenheit nicht vertrockneten. Eine Stunde, bevor Sam Fletcher sie abholen wollte, war sie fertig. Sie versuchte, sich etwas auszuruhen, aber sie konnte sich nicht entspannen. Also prüfte sie, ob alle Türen und Fenster ordentlich verschlossen waren. Über dem Sweetbriar Summit erhellte sich kurz der Himmel. Das hölzerne Kaninchen auf ihrer Fensterbank war einen Moment deutlich zu sehen. Es schien Delilah überrascht und vorwurfsvoll anzuschauen. Dann verdunkelte sich der Himmel wieder, ein Donnergrollen war zu hören, und Delilah betrachtete sich
selbst im Fenster, als die ersten Regentropfen gegen die Scheibe klopften. Kurz darauf ging sie nach draußen, um die Holzfiguren einzusammeln. Sie waren einfach zu schön, um sie ihrem Schicksal zu überlassen. Sie verdienten eine angemessene Behandlung, egal, wer sie geschnitzt hatte. Delilah würde sie Sam zurückgeben, nachdem die Woche vorbei war. Wenn er sie nicht annehmen wollte, würde sie sie vor seiner Tür abstellen, wenn er nicht zu Hause war. In der Küche stellte sie die Figuren auf den Tisch. Sie waren nass. Mit einem sauberen Geschirrtuch wischte sie jede Figur sorgfältig ab. Sie fühlten sich warm und lebendig an. Als sie die langen Beine des Rehkitzes streichelte, fiel ihr der* Waschbär ein, den sie auf ihr Bücherregal gestellt hatte. Sie holte auch diese Figur und stellte sie zu den anderen. Dann hörte sie auch schon einen Wagen vor der Tür. Ihr Herz klopfte schneller, Sam! Ein kurzer Blick auf die Uhr zeigte ihr, dass sie sich fast eine Stunde mit den Schnitzereien beschäftigt hatte. Schnell schob sie die Figuren in die Nähe des Fensters. So würde Sam sie von der Haustür aus nicht sehen können, denn diesmal, da war sie fest entschlossen, würde sie ihn nicht ins Haus lassen. Sobald sie die Tiere beiseite geschoben hatte, fühlte sie sich irgendwie kindisch. Warum sollte er nicht wissen, dass sie sie hereingeholt hatte? Als sie Sams Schritte hörte, ging sie zur Tür. Sam lächelte Delilah an, und einen Augenblick lang fühlte sie sich, als seien sie Partner, die ein großes Abenteuer vor sich hatten. „Wo sind deine Sachen?“ fragte er. „Wir können den Wagen beladen.“ Dann kam er näher, obwohl sie ihn eigentlich nicht hereinlassen wollte. „Ich…“ Sie trat zurück, weil es lächerlich wäre, ihn draußen stehen zu lassen. Delilah erinnerte sich an die Schnitzereien im gleichen Moment, als Sam sie sah. Er hielt inne, drehte sich um und schaute Delilah an. Schweigend starrte sie ihn an, denn ihre Stimme schien zu versagen. Endlich brachte sie etwas hervor. „Es hat schließlich geregnet.“ „Verstehe.“ Wieder schaute er sie an, und sein Gesichtsausdruck war anders als je zuvor. Sam wirkte weich und sogar verletzlich. Delilah schluckte. „Ich hole meine Sachen.“ „Gute Idee.“ Keiner von beiden bewegte sich. „Also…“, begann sie. „Gut.“ Er drehte sich um, und Delilah ging in ihr Schlafzimmer, um Kleidung und Schlafsack zu holen. Als sie sich auf den Beifahrersitz des glänzenden Jeeps setzte, reichte Sam ihr einen Notizblock sowie einen Stift. Fragend sah Delilah Sam an. „Zuerst kaufen wir in Grass Valley Lebensmittel“, erklärte er. „Auf dem Weg dorthin können wir uns den Speiseplan überlegen.“ „Wohin fahren wir überhaupt?“ „Hidden Paradise Lake.“ „Wo ist das?“ „Du wirst schon sehen.“ Er ließ den Motor an und schaltete Licht und Scheibenwischer ein. Grimmig blickte sie ihn an, als Sam auf die Straße fuhr. „Wir fahren an einen Ort, den ich nicht kenne. Was ist, wenn wir uns verirren?“ „Keine Sorge“, beruhigte sie Sam. „Ich habe Marty eine Karte aufgezeichnet, damit er einen Suchtrupp schicken kann, wenn wir Sonntag nicht zurückkehren.“ „Wunderbar“, erwiderte Delilah und dachte genau das Gegenteil. Marty lebte
noch bei seinen Eltern. Sie konnte sich gut vorstellen, dass er seiner Familie von Sam Fletcher berichtete, der eine Woche mit Delilah Jones verreiste. Sie starrte aus dem Fenster und schlug mit dem Stift auf ihr Knie. „Dann hast du… Marty gesagt, dass ich mit dir fahre?“ „Nein.“ Nun hielt sie den Stift ruhig. „Oh“, meinte sie verwundert und erleichtert zugleich. Langsam verließen sie North Magdalene, und nach einigen Minuten fluchte Sam leise. „Verdammt, Lilah. Jemand in der Stadt wird schon zwei und zwei zusammenzählen. Wenn nicht Marty, dann deine Familie oder deine Freundin Nellie Anderson.“ „Vergiss es einfach, okay?“ Er sah sie von der Seite an. „Hast du jemandem erzählt, dass du verreist?“ „Ich bin eine eigenständige unabhängige Frau, die niemandem Rechenschaft ablegen muss. In meinen Ferien kann ich verreisen, wohin ich will.“ Wieder gab Sam einige unfeine Bemerkungen von sich. „Kannst du bitte mit dem Fluchen aufhören?“ „Nellie und Linda Lou sind verd… ich meine, sehr neugierige Weiber, aber sie sorgen sich um dich. Hast du nicht daran gedacht, dass sie vielleicht beunruhigt sind, wenn du heute nicht in der Kirche erscheinst?“ Oh Mist, daran hatte sie in der Tat nicht gedacht. Sie hatte zu viel Angst vor den spitzen Bemerkungen der Freundinnen gehabt. Und vor dem ganzen Tratsch. „Ach, und wenn schon. Das ist meine Sache.“ „Wie du meinst.“ Resignierend schüttelte er den Kopf und konzentrierte sich auf das Fahren. Delilah hob den Stift. „Gibt es in der Hütte Herd und Kühlschrank?“ „Ja.“ „Gut, dann können wir kochen. Wir besorgen Steaks, Hamburger, Gemüse und Salat. Dazu Eier, Brot, Milch – alles, was man braucht.“ Sie warf Sam einen Blick zu. Er starrte auf die Straße. „Sam?“ „Fein, was immer du willst.“ Sie legte den Block auf ihren Schoß. „Sam, was möchtest du von mir?“ Er warf ihr einen Blick zu, der sie bis ins Innerste erhitzte. „Ehrlichkeit und ein wenig gesunden Menschenverstand.“ „Geht’s auch ein bisschen konkreter?“ „Du bist Lehrerin. Ein sehr angesehenes und respektiertes Mitglied unserer Gemeinde. Wenn du für eine Woche verschwindest, dann werden sich die Leute eben ihre Gedanken machen.“ „Du hast völlig Recht“, erwiderte sie. „Also, warum drehst du dann nicht um und fährst mich nach Hause?“ Wieder schüttelte er den Kopf, ohne den Blick von der nassen Straße zu nehmen. „Ich will bekommen, wofür ich bezahlt habe. Du hast zugestimmt, egal, welche Unannehmlichkeiten die Sache für dich haben könnte.“ „Unannehmlichkeiten? Du zwingst mich, gegen meinen Willen mit dir fort zu gehen, und du glaubst, dass dabei lediglich Unannehmlichkeiten für mich entstehen?“ „Niemand hat irgend jemanden gezwungen. Es war allein deine Entscheidung.“ Sie umklammerte den Stift und starrte auf die Windschutzscheibe. „Diese Bemerkung hat keine Antwort verdient.“ Schweigen. Delilah fragte sich, wie sie diese Woche durchstehen konnte, ohne diesen Mann zu erwürgen. Diesen selbstgefälligen, idiotischen, rücksichtslosen, sexy… Nein! Sie musste einfach einen kühlen Kopf bewahren, das war alles.
Als ihr Adrenalinspiegel wieder im normalen Bereich lag, konzentrierte sie sich auf die Einkaufsliste. „Was brauchen wir sonst noch?“ „Benzin für den Generator.“ „Was noch?“ „Du musst entscheiden, wen du anrufen willst.“ „Was meinst du mit anrufen?“ Mit äußerster Geduld antwortete Sam. „Wenn wir in Grass Valley ankommen, dann rufst du jemanden an und erklärst, dass du eine Woche zum Camping fährst und am Sonntag zurückkehren wirst.“ „Ich verabscheue dich, Sam Fletcher.“ „Fällt dir nichts Neues ein? Wen rufst du an?“ Sie schlug sieh mit dem Notizblock auf das Knie. „Okay, ich rufe jemanden an. Bist du jetzt zufrieden?“ Er zuckte mit den Schultern. „Es ist immerhin ein Anfang.“ Als sie an dem großen Supermarkt an der Brunswick Road angekommen waren, ging Sam in den Laden, während Delilah zu einer Telefonzelle schlenderte. Sie nahm den Hörer ab und seufzte. Wen sollte sie anrufen? Brendan fiel ihr ein, weil er die Situation kannte. Missmutig wählte sie die Nummer. Eine sanfte Frauenstimme antwortete. „Hallo?“ „Amy, hier ist Delilah.“ „Oh, hallo. Delilah, Brendan hat mir alles erzählt. Ich kann dir gar nicht sagen, wie dankbar ich dir bin.“ „Schon gut. Was macht das Baby?“ „Dem Baby geht’s gut.“ „Kann ich mit Brendan sprechen?“ Einen Moment lang herrschte Schweigen. „Ja, natürlich“, sagte Amy schließlich. „Ich muss ihn nur wecken.“ „Einen Augenblick, Amy.“ „Ja?“ „Muss er bald wieder fahren?“ „Ja, heute Abend.“ „Dann lass ihn besser schlafen. Ich kann es auch dir erzählen.“ „Was?“ Amy klang beunruhigt. „Geht es dir gut?“ „Alles in Ordnung. Hm, hat Brendan dir alles gesagt?“ „Ja.“ „Dass ich ein Date mit Sam Fletcher habe, damit Brendan die Sweet Amy zurückbekommt?“ „Ja, und das ist wunderbar von dir, Delilah.“ „Schon gut, Amy. Aber ich rufe an, weil dieses Date ein bisschen… länger dauert als normal.“ „Länger?“ „Ja. Sam will nicht nur einen Abend mit mir verbringen.“ „Nein?“ „Nein. Er will die ganze Woche. Diese Woche.“ Nun schnappte Amy nach Luft. „Vielleicht solltest du doch mit Brendan reden. Warte, ich hole ihn…“ „Nein, Amy. Wecke ihn nicht. Hör mir nur zu, okay?“ „Okay.“ „Wir fahren zum Campen. Der Ort heißt Hidden Paradise Lake.“ „Noch nie gehört.“ „Ich auch nicht, aber Marty Santino weiß Bescheid, falls jemand uns suchen
sollte. Mir fiel nur ein, dass ich sicherheitshalber jemanden aus meiner Familie informieren sollte.“ „Aber Delilah…“ „Schon gut, Amy. Ich weiß, was ich tue, und mir wird es gut gehen.“ „Delilah?“ „Ja, was gibt es?“ „Dieser Sam Fletcher muss wirklich verknallt in dich sein. Es ist doch furchtbar romantisch, findest du nicht? Er gibt die Sweet Amy auf, um eine Woche allein mit dir zu verbringen.“ „Amy.“ „Schon okay. Ich weiß, dass ihr beiden für eure gegenseitige Abneigung bekannt seid. Und ich sollte mich um meine eigenen Angelegenheiten kümmern. Aber vielleicht solltest du dem Mann doch eine Chance geben…“ Am liebsten hätte Delilah geschrien. Das hatte ihr gerade noch gefehlt. Ratschläge von einer hoffnungslos romantischen schwangeren Zweiundzwanzigjährigen, die noch dazu mit einem Jones verheiratet war. „Amy“, fuhr Delilah in einem sachlichen Ton fort. „Ich werde mit Sam Fletcher zum Campen fahren. Nächsten Sonntag werde ich zurück sein. Marty Santino weiß, wo wir sind. Es wäre schön, wenn du es nicht allen erzählen würdest.“ „Okay.“ Amy klang ein bisschen verletzt. Sofort bekam Delilah ein schlechtes Gewissen. „Schau, kümmere dich um das Baby – und um meinen Bruder.“ „Ich verspreche es. Und du passt auf dich auf.“ „Das werde ich.“ „Dann tschüss.“ Delilah legte auf. „Gut, das wäre geregelt“, sagte Sam Fletcher hinter ihr. Blitzschnell drehte sie sich um. „Du wolltest doch in den Laden gehen.“ „Ich wollte erst sichergehen, dass du wirklich anrufst.“ „Was hast du bloß getan, bevor du dich um meine Angelegenheiten gekümmert hast?“ „Entspann dich, Delilah. Wir haben noch eine Woche vor uns.“ „Als ob ich das nicht wüsste.“ „Komm schon, es wird sicher eine schöne Zeit.“ Delilah sah, dass der Regen nachgelassen hatte und die Wolken sich langsam verzogen. Vielleicht würde in zwei Stunden die Sonne scheinen. Trotzdem war sie alles andere als froh. Sie zeigte auf die Glastüren. „Dann lass uns jetzt einkaufen.“ Sam verbeugte sich. „Nach Ihnen.“
8. KAPITEL Innerhalb einer Stunde befanden sie sich wieder auf der Straße. Schon bald war der Sturm vorbei, und keine Wolke befand sich mehr am Himmel. Nach einer längeren Fahrt durch dicht bewaldetes Gebiet sah Delilah etwas Blaues vor sich. Es schimmerte durch die Bäume, verschwand und wurde wieder sichtbar. Schließlich fuhren sie um eine Kurve, und der Wald hörte an einer Lichtung auf, wo der meiste Schnee geschmolzen war. Die Lichtung endete an dem blauen Fleck, den Delilah erspäht hatte, einem kleinen See. Nun hielt Sam den Wagen an. Angesichts der landschaftlichen Schönheit vergaß Delilah fast, dass sie von dem Mann neben ihr gewissermaßen erpresst worden war. Sie blickte Sam an, der lächelte. Sie erwiderte das Lächeln, denn sie konnte gar nicht anders. Er zeigte auf eine Hütte am Waldrand. „Dort werden wir bleiben.“ Nun konnte Delilah ihre Aufregung nicht verbergen. „Wem gehört sie?“ „Fünfundzwanzig Hektar Land einschließlich der Hütte gehören mir. Der Rest ist Staatsforst.“ „Fünfundzwanzig Hektar?“ Sie war völlig verblüfft. Im dicht besiedelten Kalifornien war Land sehr rar. „Wie bist du an diesen Besitz gekommen?“ „Er gehörte meinem Vater.“ Nun blinzelte Delilah. Seinem Vater… Ihr war nie der Gedanke gekommen, dass Sam Eltern oder eine Familie hatte. Vor zwanzig Jahren war er allein in der Stadt aufgetaucht, und nie war von einer Familie die Rede gewesen. „Dein Vater? Ich wusste gar nicht, dass du noch einen Vater hast.“ „Er lebt nicht mehr.“ „Aber…“ „Lass uns in die Hütte gehen“, lenkte er ab. „Wir haben noch einiges zu erledigen.“ Ja, je weniger Gespräche sie führten desto besser! Denn wenn sie seine Lebensgeschichte hörte, würde sie ihn besser kennen lernen. Und genau das wollte sie nicht. Delilah stieg aus und half beim Ausladen des Kofferraumes. Sam reichte ihr eine Tüte mit Lebensmitteln, und dann gingen sie gemeinsam zur Hütte. Sam schloss die Tür auf und führte Delilah in ein Zimmer mit Holzwänden und einem rohen Dielenboden, auf dem ihre Schritte hallten. Neben der Spüle stellte Sam die Einkäufe ab. Delilah folgte ihm und schaute aus dem großen Fenster über der Spüle, das einen wunderbaren Ausblick auf den Berg jenseits des Sees bot. „Schön, oder?“ bemerkte Sam. Das Fenster rahmte den Gipfel wie ein Bilderrahmen ein. „Vor zwei Jahren habe ich das Fenster eingebaut, weil ich es hier zu dunkel fand.“ Delilah, die entschlossen war, möglichst wenig Konversation zu betreiben, nickte nur. Danach inspizierte Sam die Hütte. Der Wohnbereich war nicht gerade luxuriös, aber die Hütte schien stabil und trocken zu sein und war einem Schlafplatz im Freien bei weitem vorzuziehen. Die wichtigsten Einrichtungsgegenstände waren vorhanden: ein schlichter Holztisch, zwei Stühle, ein Kamin, vor dem zwei Sessel standen. An den Wänden waren grob gezimmerte Regale und Schränke angebracht. In einer Kommode konnte man die Kleidung unterbringen. Ein altes Eisenbett stand in einer Ecke, und die Matratze war an die Wand
gelehnt. Delilah seufzte. Ein Bett. Resignierend warf sie einen Blick auf den Läufer vor dem Kamin und wusste, wo sie ihren Schlafsack hinlegen würde. Ein Bad war nirgends zu sehen. Sie seufzte erneut. „Die gute Nachricht ist, dass die Rattenköder, die ich beim letzten Mal ausgelegt habe, ihren Zweck erfüllt haben. Die schlechte ist, dass hier viel Staub liegt und wir putzen müssen. Wir haben aber erst Wasser, wenn der Generator funktioniert. Deshalb kümmere ich mich zuerst darum“, verkündete Sam. Er wandte sich um, und Delilah betrachtete den Holzofen und den uralten Kühlschrank. Wenig später hörte sie, wie ein Motor startete. Sie schaute aus dem kleinen Fenster an der Westseite und entdeckte Leitungskabel, die zu den Bäumen führten. Der alte Kühlschrank, in dessen Tür ein Handtuch steckte, sprang summend an. Delilah entfernte das Tuch und schloss die Tür. In der Spüle gab es nur einen Wasserhahn, was darauf schließen ließ, dass es kein warmes Wasser gab. Daher beschloss sie, ein Feuer zu machen. Delilah fand Anmachholz, eine alte Zeitung und einige Holzscheite in einem Korb neben dem Herd. Sie zündete das Feuer an. Dann nahm sie einen großen Topf, füllte ihn mit Wasser und stellte ihn auf den Herd. Danach suchte sie in den Schränken nach Putzmitteln und begann mit der Arbeit. Wenig später kam Sam zu ihr, und sie arbeiteten eine Stunde lang ohne Pause. Während dieser Zeit redeten sie kaum, aber Delilah fand es sehr beruhigend, konzentriert und zielgerichtet zu arbeiten. „Lilah?“ Nun merkte sie, dass sie mehrere Minuten über das gleiche Regalbrett gewischt hatte. Sie unterbrach sich und sah Sam an. „Ja?“ Er schien sich zu fragen, worüber sie nachgedacht hatte. „Du kannst wirklich hart arbeiten“, lobte er sie stattdessen. Das Kompliment erfreute sie ziemlich. „Ich trage gern meinen Teil bei.“ „Wir arbeiten im gleichen Rhythmus.“ „Und?“ „Das ist gut.“ Einen Augenblick lang wollte sie ihn fragen, was daran so gut war. Aber sie fürchtete, die Antwort bereits zu kennen. Wenn zwei Leute den gleichen Rhythmus vorlegten, dann harmonierten sie vielleicht auch bei anderen Dingen. So etwas wollte sie jetzt nicht hören! Sam grinste, als könne er ihre Gedanken lesen. „Okay, wir sind fertig. Die Hütte funkelt wie neu. Ich hole die restlichen Sachen aus dem Wagen.“ Sie warf ihr Putztuch in den Eimer und folgte Sam. Gemeinsam räumten sie den Wagen aus und verstauten alles im Haus. Ihren Schlafsack legte Delilah neben den Kamin, aber Sam hob ihn wortlos auf und legte ihn auf das Bett. Sie wollte ihm schon sagen, dass er ihn zurücklegen sollte, als Sam seinen eigenen Schlafsack auf dem Boden ausbreitete. Offensichtlich hatte er entschieden, dass ihr das Bett gehörte. Nun ja, wenigstens schien der Kerl einen winzigen Funken Benimm und Anstand zu besitzen. Auch wenn sie ihm das nie im Leben sagen würde. Anschließend bereiteten sie Sandwiches zu und nahmen sie mit zwei Gläsern Milch nach draußen, wo sie sich auf einen Holzstamm am See setzten. Delilah genoss die Aussicht und fand es sehr angenehm, in Ruhe essen zu können. Das erste Mal seit Stunden fühlte sie so etwas wie Ruhe in sich aufsteigen. Vielleicht würde es doch nicht so grauenvoll sein, eine Woche in diesem Naturidyll zu
verbringen? Erst nachdem sie aufgegessen hatte, fragte Delilah sich, ob ihr das hier alles nicht zu gut gefiel. Ein- oder zweimal hatte Sam sie angelächelt, und ohne zu überlegen, hatte sie sein Lächeln erwidert. Als sie die leeren Gläser in die Hütte zurückgebracht und die Küche aufgeräumt hatten, beschloss Sam, die Holzvorräte aufzufüllen. Delilah, die vernünftig genug war, ihn nicht zu beobachten, während er seine Muskeln zur Schau stellte, entschloss sich zu einem langen Spaziergang. Ohne Sam ein Wort zu sagen, ging sie in den Wald. Sie spazierte um den See und genoss die Stille des Waldes, die nur vom Ruf eines Vogels oder vom Geräusch kleiner Tiere im Gebüsch unterbrochen wurde. Allmählich entspannte sie sich, und sie war dankbar für die Zeit, die sie ohne Sam und die Versuchung, die er darstellte, verbringen konnte. Bei ihrer Rückkehr war es fast Abend. An der Seite der Hütte war nun ein Stapel Holz aufgetürmt, und drinnen stand Sam an der Spüle. In der Hütte war es kuschelig warm, denn Sam hatte Herd und Kamin beheizt. Delilah hängte ihre Jacke an einen Haken an der Tür und betrachtete Sams breiten Rücken, seine schmalen Hüften und muskulösen Po. Und im Nu baute sich die Spannung, die sie während des Spaziergangs verloren hatte, wieder auf. Na, wunderbar! „Schöner Spaziergang?“ fragte er über die Schulter. Diese Frage klang betont beiläufig. Er legte die Karotte, die er gerade in Scheiben schnitt, hin und drehte sich zu Delilah um. „Ja“, sagte sie bedächtig. „Es ist wirklich ein schönes Stückchen Natur.“ „Du hättest mir sagen sollen, dass du spazieren gehen wolltest.“ „Ich… hatte offensichtlich nicht daran gedacht“, erwiderte sie kühl. Was erwartete der Typ? Dass sie nicht nur eine Woche mit ihm verbrachte, sondern ihn auch noch über jeden ihrer Schritte informierte? Nein, da hatte er sich gründlich getäuscht. Sam zog eine Braue hoch. „Es ist ziemlich gefährlich, in einer fremden Gegend allein loszuziehen.“ „Dessen bin ich mir durchaus bewusst“, entgegnete sie, nun weniger kühl. Im Prinzip hatte er ja Recht. Doch wenn sie ihm gesagt hätte, dass sie sich die Gegend anschauen wollte, dann hätte er bestimmt Einwände gehabt. Ein Wort hätte das andere ergeben und sie hätten im Nu wieder gestritten. Und genau das wollte sie nicht. „Wenn du weißt, dass es gefährlich war, warum hast du es dennoch getan?“ „Ich wollte alleine sein.“ „Genau das kann in einer fremden Umgebung verdammt unklug sein. Bitte benutz in Zukunft deinen Verstand!“ „Ja, ja, schon gut!“ Nun sprach sie lauter und musste sich ermahnen, ruhig zu bleiben. „Es ist mir ja nichts passiert. Es war ein harmloser wunderschöner Spaziergang“, fügte sie nach tiefem Luftholen hinzu. Offensichtlich zufrieden mit ihrer Antwort, wandte Sam sich wieder um. „Wo warst du eigentlich?“ „Ist das wichtig?“ Wieder schaute er zu ihr, und Delilah erkannte, dass sie zu kurz angebunden reagiert hatte. Sam hatte dieses Flackern in den Augen, das ihr gar nicht gefiel. Zu emotional. Zu aufwühlend. Sie musste kühl und überlegt bleiben. Sie versuchte, höflich zu antworten. „Ich war am See.“ „Ein schöner Weg“, erwiderte er. „Ja, sehr schön.“
„Beim nächsten Mal nimmst du dennoch besser die Pistole mit.“ Sam hatte sie als Schutz mitgenommen. Delilah schaute auf Sams breiten Rücken und wusste, dass sie um des lieben Friedens willen zustimmen sollte. Aber eine Waffe war nun doch zu viel verlangt. „Warum?“ fragte sie und meinte: Niemals! Kurz schaute er zu ihr. „Komm, Delilah. Du weißt schon, warum. Wenn du in Schwierigkeiten gerätst, kannst du Schüsse abfeuern. Dann höre ich dich und suche dich. Wenn du einem Puma oder einem Bären begegnest, dann wirst du dich sicher besser fühlen, wenn du eine Waffe bei dir hast.“ Natürlich hatte er Recht. Dennoch – sie war eine erwachsene Frau und konnte gut auf sich selbst aufpassen. Sie war schließlich die letzten vierunddreißig Jahre ganz wunderbar ohne Sam Fletcher ausgekommen. „Ich brauche keine Waffe“, verkündete sie trotzig. „Ohne Pistole gehst du nicht mehr alleine los.“ „Tatsächlich? Und wie willst du mich davon abhalten?“ „Interessante Frage. Darüber muss ich ernsthaft nachdenken.“ Er grinste sie an, und Delilah erkannte, dass er diese Diskussion wieder einmal als Sieger beendete, indem er alles ins Lächerliche zog. Erneut ermahnte sie sich selbst, Streit zu vermeiden. „In Ordnung, wenn es dir dann besser geht, nehme ich beim nächsten Mal eben die Pistole mit.“ „In Ordnung.“ Was folgte, war Schweigen. Langsam ging Delilah zum Tisch und sah, dass Sams Pferdeschwanz nass war. Er musste sich nach dem Holzfällen gewaschen haben. Ihr wurde ganz warm, als sie sich vorstellte, dass er sich vor dem Fenster ausgezogen und eingeseift hatte, und Wasser über sein dichtes rotgoldenes Haar gelaufen war… Sie dachte daran, wie er ausgesehen hatte, als er ihr in der vergangenen Nacht die Tür geöffnet hatte und sie die Wassertropfen von seinem Körper ablecken wollte. Delilah sah seinen sehnsüchtigen Blick, der ihrem eigenen glich. Kurz blickte sie weg. Sie schaute auf den Tisch und wartete, bis ihr Herzschlag wieder normal war und sie ruhig atmen konnte. Als sie ihre Lustgefühle unter Kontrolle hatte und merkte, dass Sam sich weiter mit dem Gemüse beschäftigte, wandte sie sich wieder an ihn. „Was gibt es denn zum Essen?“ fragte sie betont munter. „Steaks, Möhren und Salat. Willst du helfen?“ „Ja.“ Sie kochten, aßen, räumten den Tisch ab und spülten das Geschirr. Mittlerweile war es draußen ganz dunkel, obwohl es noch nicht wirklich spät war. „Komm mit mir, dann zeige ich dir die Sterne von Hidden Paradise Lake“, schlug Sam vor. Delilah hielt diese Idee nicht für besonders klug. „Nein, danke.“ „Lilah…“ „Ich. Habe. Nein. Gesagt.“ Einen Moment lang schaute er sie an, und sie hatte das Gefühl, dass er enttäuscht war. Dann zuckte er jedoch mit den Schultern und holte ein weiches Tuch von der Kommode. Darin befanden sich verschiedene Werkzeuge, die Sam auf dem Tisch ausbreitete und nach und nach schärfte. Delilah überlegte, womit sie sich beschäftigen konnte. Eigentlich sollte sie hundemüde sein, immerhin hatte sie vergangene Nacht nur vier Stunden geschlafen, hatte eine Hütte gesäubert und war um den Hidden Paradise Lake gewandert. Trotzdem fühlte sie sich überhaupt nicht erschöpft. Sie musste einfach noch etwas anderes tun, als nur Sam Fletcher bei der Arbeit
zu beobachten. Ihr fielen die Bücher ein, die sie mitgebracht hatte. Sie holte sie aus dem Rucksack und legte sie auf den Nachttisch neben dem Bett. Eines wählte sie aus, holte ihre Brille und setzte sich in einen der Sessel. Vergeblich versuchte Delilah, sich auf ihr Buch zukonzentrieren. Nach einer Ewigkeit legte Sam seine Werkzeuge weg, zog seine Jacke an und ging wortlos nach draußen. Die Minuten verstrichen, und Sam kehrte nicht zurück. Eigentlich sollte sie froh sein, etwas Zeit für sich zu haben. Das Feuer brannte im Ofen, es war gemütlich und warm. Sie war angenehm gesättigt und hatte ein gutes Buch vor sich, selbst wenn sie nicht wusste, wovon es handelte. Sie sollte sich entspannen und den Moment genießen. Wo könnte er wohl sein? So lange konnte es doch nicht dauern, bis er seine Bedürfnisse verrichtet hatte. Plötzlich dachte sie an Pumas und an Braunbären, die aus dem Winterschlaf erwachten und hungrig waren. Sie hatte gar nicht gesehen, dass Sam die Pistole mitgenommen hatte. Er war unbewaffnet da draußen, allein mit den Gefahren der Nacht… „Das ist doch lächerlich“, sagte sie sich laut. Draußen war es so ruhig, dass sie jegliches Brüllen oder Heulen gehört hätte. Ihre Fantasie ging mit ihr durch, und das musste aufhören. Sam wusste, wie er sich im Wald zu verhalten hatte. Sie brauchte sich keine Sorgen zu machen, sondern würde lesen und die Einsamkeit genießen. Nach fünf Minuten war er immer noch nicht zurückgekehrt. Wenn nun doch etwas mit Sam passiert war? Delilah konnte nicht mehr still sitzen. Sie legte Buch und Brille beiseite und ging zu dem großen Fenster, presste ihr Gesicht gegen das Glas. Draußen schien der Mond über dem See, und am Himmel sah sie unzählige Sterne. Eine dunkle Gestalt saß auf dem Baumstamm am Wasser. Es war Sam. Er wirkte nicht so, als sei etwas nicht in Ordnung. Vielleicht wollte er auch nur etwas Ruhe haben. Sie dachte kurz daran, zu ihm zu gehen, aber sofort verscheuchte sie diesen Gedanken. Wahrscheinlich wartete er nur darauf, dass sie sich einsam fühlte und ihn suchte. Diese Hoffnung würde sie ihm nicht erfüllen. Delilah ging vom Fenster weg. Obwohl sie Sam Fletcher verachtete, fühlte sie sich besser, da sie nun wusste, wo er war. Und dass es ihm gut ging. Sie wusch sich das Gesicht und putzte die Zähne, bevor sie auch aus der Hütte ging – natürlich nicht in die Nähe des Sees. Als sie zurückkam, zog sie die Vorhänge vor, so dass Sam sie nicht unbekleidet sehen konnte, wenn er in die Hütte kam. Schnell schlüpfte sie aus ihrer Kleidung und zog sich Skiunterwäsche an, die als Pyjama dienen sollte. Dann rollte sie den Schlafsack aus und legte sich hinein. In diesem Moment wurde die Tür geöffnet. „Lilah?“ Weil Sam denken sollte, dass sie schon schlief, antwortete sie nicht. Einen Moment lang hört sie nichts, und sie versuchte, gleichmäßig zu atmen. Kurze Zeit später putzte Sam die Zähne. Dann rollte er seinen Schlafsack auf dem Teppich aus. Die Stiefel fielen zu Boden, und Delilah wusste, dass er sich auszog. Er schaltete das Licht aus, so dass man nur noch den Feuerschein aus dem Kamin sah. Sam legte sich in den Schlafsack. Draußen hörte sie einen Kojoten heulen, Sam drehte sich auf seinem harten Bett. Delilah rollte sich zusammen und wartete auf den Schlaf. Als sie fast eingeschlafen war, sprach Sam. „Lilah?“
Sie reagierte nicht. „Ich weiß, dass du wach bist.“ Sie versuchte, ruhig zu atmen. Woher wollte er wissen, ob sie schlief, wenn sie ihm keine Antwort gab? Sie wartete ab und hoffte, dass er nicht zu ihr kam, um zu prüfen, ob sie tatsächlich schlief. Er stand nicht auf, sondern bewegte sich wieder. „Heute Nachmittag hast du mich nach meinem Vater gefragt…“ Es war ein Fehler, vergiss es, dachte sie. Sam fuhr fort. „Und ich habe nicht geantwortet, was mir Leid tut. Inzwischen habe ich nachgedacht. Ich werde dir alles sagen, was du über mein früheres Leben wissen willst.“ Delilah überlegte, ob sie sich aufrichten und ihn höflich bitten sollte, seine Lebensgeschichte doch für sich zu behalten. Aber sie hatte so getan, als schliefe sie, und selbst wenn er wusste, dass sie es nicht tat, wäre sie nur im Nachteil, wenn sie die Täuschung zugab. „Lilah?“ Fast hätte sie geantwortet, aber dann lachte er leise. Damit hatte er verspielt. Sie kniff die Augen zusammen und beschloss, diesen Mann zu ignorieren. „Du bist die sturste Frau, die ich kenne.“ Das klang… liebevoll. Gerade als sie dachte, er solle seine Vergangenheit für sich behalten, begann er zu reden. „Mein Vater war… ein Mann mit einer Mission. Er war ein freikirchlicher Prediger und wollte die Welt von Sünde und Dekadenz befreien.“ Delilah verschluckte sich fast. Der verrückte bösartige Sam Fletcher war Sohn eines Predigers? Sam fuhr fort. „Als ich fünf Jahre alt war, ließen wir uns in einem Dorf nördlich von Fresno nieder, und mein Vater hatte seine eigene Kirche – die Valley Bible Church.“ Danach folgte eine längere Pause, und Delilah begriff, dass er auf eine Reaktion von ihr wartete. Vielleicht hoffte er, sie würde aufstehen und sich zu ihm ans Feuer setzen. Darauf könnte er ewig und drei Tage warten! Er hätte es sich genau überlegen müssen, ob er Dinge offenbaren wollte, die er besser für sich behielt. Wieder herrschte Schweigen im Raum. Dann hörte sie, dass Sam im Feuer stocherte. „Das ist deine letzte Chance, Lilah. Wenn du jetzt nichts sagst, dann erfährst du alles. Mein ganzes Leben.“ Er klang müde – und sogar etwas traurig. Nun merkte sie, dass sie nicht zuhören konnte, wenn der Mann, den sie immer verachtet hatte, ihr über seine Kindheit berichtete. Es wäre nicht klug, denn dann würde sie zu viel fühlen. Das brächte sie in noch größere Gefahr. „Lilah?“ „Ich hasse dich, Sam Fletcher.“ Er lachte. „Du bist unmöglich“, murmelte sie. „Ganz meine Lilah.“ Wütend stöhnte Delilah. Dann setzte sie sich auf, schlang die Arme um die Knie und starrte Sam so böse an, wie sie konnte. „Ich bin nicht deine Lilah und werde es nie sein. Wann begreifst du das endlich?“ Sam grinste nur. Sein nackter Oberkörper glänzte im Schein des Feuers. Sam beobachtete Delilah zärtlich, und ihr Pulsschlag beschleunigte sich. „Du hast also doch nicht geschlafen“, flüsterte er liebevoll. „Du bist ein…“ „Lilah, sag nichts, was du bereuen könntest. Überleg es dir genau“, bat er sie. Sie riss sich zusammen. „Ich möchte nichts über deinen Vater hören, und du sollst mir auch nichts von dir erzählen. Ich weiß alles, was ich über dich wissen
muss. Kapiert?“ „Das stimmt nicht, Lilah. Du wirst bald viel mehr wissen wollen, sehr viel mehr.“ „Du irrst dich.“ Nun änderte sich sein Blick. „Du willst mich. Das ist es, was zählt. Es bedeutet mir verdammt viel, und ich versuche nur, dich dazu zu bringen, zu deinen Wünschen zu stehen.“ „Also“, schnaubte sie, „ich will und muss dich nicht wollen. Und selbst wenn ich dich wollte, dann würde ich nicht so handeln. Niemals.“ Wieder lächelte er. „Lass dir Zeit.“ „Zeit spielt keine Rolle.“ „Das werden wir noch sehen.“ „Sam Fletcher…“ Bevor sie fortfahren konnte, stand er auf. Sein prachtvoller Körper ragte vor ihr auf, und Delilah sah, dass er völlig nackt war. Himmel! Sofort schaute sie weg und hasste sich für die heißen Gefühle, die sein Anblick in ihr weckte. Sie hörte, dass Sam noch Holz in das Feuer legte. Nach einigen Augenblicken unterbrach er das Schweigen. „Du kannst wieder herschauen, Süße.“ Sie warf einen Blick in seine Richtung und stellte fest, dass er wieder in seinem Schlafsack lag. Dabei wirkte er zufrieden wie eine Katze, die erfolgreich eine Maus gejagt hatte. „Ein letztes Mal appelliere ich an dein Ehrgefühl, das vielleicht noch irgendwo verborgen ist.“ „Tu dir keinen Zwang an.“ „Bring mich morgen nach Hause.“ „Auf keinen Fall.“ „Diese Woche wird dir absolut nichts bringen, denn ich werde dir nie geben, was du willst.“ „Ah, Lilah. Weißt du denn, was ich will?“ „Aufmerksamkeit, Zuneigung, Gesellschaft, Sex.“ „Nicht schlecht geraten.“ „Fest steht, dass du nichts dergleichen bekommst.“ „Das behauptest du.“ „Ich werde nie deine Frau sein, denn ich weiß, was es bedeutet, wenn man sich mit einem Mann wie dir einlässt: endlose Nächte, in denen man wartet und sich fragt, was du schon wieder angestellt hast.“ „Du bist nicht fair, Lilah.“ „Fair? Ausgerechnet du nimmst dieses Wort in den Mund? Deine Methoden, mich hierher zu bringen, waren völlig unfair. Ich habe dir von Anfang an gesagt, dass es mir nicht gefällt. Ich mache das hier nur wegen meinem Bruder. Ich dachte mir, okay, sei nicht hysterisch, diese Woche wird schon vorübergehen, Sam wird dich in Ruhe lassen. Aber das tust du nicht.“ „Lilah.“ Seine Stimme klang wie Samt. „Ich habe dich nicht hierher gebracht, um dich in Ruhe zu lassen.“ „Das habe ich inzwischen auch gemerkt. Sam, ich verachte dich und verabscheue es, hier mit dir allein zu sein. Und glaub mir, ich bin so was von entschlossen, diese Woche für dich so unerträglich zu machen, wie du sie für mich machst. Verstanden?“ Einen Moment lang schaute er sie unter gesenkten Lidern an. „Verstanden?“ wiederholte sie. „Jawohl“, entgegnete er endlich.
9. KAPITEL Delilah setzte ihren Plan, Sam das Leben schwer zu machen, in die Tat um. Am Montag und Dienstag sagte sie nicht ein freundliches Wort zu ihm. Die meiste Zeit schwieg sie. Nach der Küchenarbeit las sie oder ging spazieren. Sie achtete streng darauf, kein überflüssiges Wort mit ihm zu sprechen. Sie informierte ihn, wohin sie ging, und nahm immer eine Waffe mit, damit es nicht zum Streit kam. Sam hingegen suchte Delilahs Nähe, wo er nur konnte. Als sie montags allein losgehen wollte, erkundigte er sich, ob sie mit der Waffe umgehen konnte. „Zweifelst du an meiner Treffsicherheit?“ fragte sie empört. „Ich weise darauf hin, dass eine Pistole nur dann nützt, wenn man sie auch bedienen kann. Und es wäre verantwortungslos, wenn ich dir die Waffe gäbe, ohne zu wissen, ob du damit umgehen kannst.“ Sie ließ ihn in der Hütte stehen und ging nach draußen. Dort stellte sie drei Dosen, die sie aus dem Müll geholt hatte, auf den Baumstamm und kam zu Sam. „Hol die Waffe und die Patronen.“ Sam holte die Pistole nebst Munition vom Regal und ging nach draußen. Delilah nahm ihm die Waffe ab und lud sie. Schnell drehte sie sich zu den Dosen und feuerte dreimal. Die Dosen flogen durch die Luft. Sie wandte sich an Sam. „Zufrieden?“ Er nickte nur atemlos. Diese Frau war einfach wunderbar. Zu schade, dass sie auch so verdammt widerspenstig war. Sie ersetzte die Patronen, die sie verschossen hatte, schnallte sich das Halfter um und zog los. Sam versuchte, die gespannte Situation zu ertragen, indem er einen Kojoten schnitzte. Immerhin hatte er sein Hobby, das ihn beruhigte. Ablenkte. Von Delilah und seinen Gedanken an sie. Wenn er mit dem Holz arbeitete, konnte er Delilahs Ablehnung fast vergessen. Na ja, aber eben nur fast. Ansonsten wechselte Delilahs Laune ständig. Mal schwieg sie, mal stritt sie mit Sam. Er hätte nie gedacht, über wie viele Themen man diskutieren konnte. Ihr schien es egal zu sein, welche Position sie einnahm, Hauptsache, sie hatte eine andere Meinung als Sam. Am Montag erwähnte er beim Abendessen, dass er Chloe Swan am Samstag mit einem Fremden gesehen hatte, aber Delilah entgegnete, das sei unmöglich, da jeder wusste, dass Chloe nur Augen für Patrick hatte, selbst wenn der sich nicht wirklich um sie kümmerte. „Lilah, ich sage nur, was ich gesehen habe.“ „Entweder lügst du, oder du irrst, jedenfalls hast du Unrecht.“ „Ich lüge nicht, Lilah, und ich weiß, was ich gesehen habe.“ „Du weißt gar nichts.“ „Wie du meinst.“ „Du gibst also zu, dass du nichts weißt?“ „Ich gebe zu, dass diese Diskussion einfach lächerlich ist. Ich kann es kaum abwarten herauszufinden, wessen du mich als Nächstes beschuldigst.“ „Bring mich nach Hause“, schlug sie vor. „Dann hören die lächerlichen Diskussionen auf.“ „Glaub ja nicht, dass ich deine Taktik nicht durchschaue. Die Woche ist noch nicht vorbei. Du bleibst hier.“ Sie warf ihm einen eiskalten Blick zu und schwieg wieder. Nachdem sie den Tisch abgeräumt hatten, hatte Sam sich die North Magdalene News vom Wochenende genommen und sich in einen Sessel vor dem Feuer gesetzt. Delilah saß mit dem gleichen Krimi wie am Vortag im anderen Sessel. Ja, von außen betrachtet sahen sie wirklich aus wie ein Paar, das ein paar
idyllische Tage in der Natur verbrachte. Eine halbe Stunde später stand Sam auf und stellte sich direkt vor Delilah. Überrascht riss sie die Augen auf, in denen, wie Sam durchaus bemerkte, Unsicherheit flackerte. „Lilah, sei doch nicht so zänkisch. Gib es zu, dein Plan, mich zur Weißglut zu bringen, ist etwas außer Kontrolle geraten.“ „So? Es ist gar nichts außer Kontrolle geraten.“ „Nein?“ „Auf keinen Fall. Alles, was ich dir antue, geschieht absichtlich.“ „Wie beruhigend.“ Er ging in die Hocke, beugte sich vor und unterdrückte ein Lächeln, als er sah, wie ihre Brust sich schneller hob und senkte. Delilah war äußerst bemüht, so zu tun, als würde seine Nähe sie nicht nervös machen. Ihr Mund zitterte, aber sie presste die Lippen aufeinander. „Ach, Lilah“, murmelte er. „Ich will nichts mehr hören.“ Am liebsten hätte er sie berührt. Wenn er ihr nur zeigen könnte, wie gern er sie hatte, wie sehr er sie begehrte, wie seine Gefühle und Gedanken sich nur um sie drehten… „Was hast du vor?“ Sie rückte in die hinterste Ecke des Sessels und blickte auf Sam hinunter. „Ich bitte dich, Lilah…“ „Worum?“ fragte sie und merkte sofort, dass diese Frage ihr nur Probleme bringen würde. Nun lachte Sam. „Zu spät. Du hast schon gefragt.“ „Steh jetzt auf. Ich warne dich…“ „Gib mir eine Chance.“ „Niemals. Jetzt steh endlich auf.“ „Du bist eine hartherzige Frau, Delilah Jones.“ „Richtig, deshalb kannst du mich morgen nach Hause bringen.“ „Oh, nein. Wir haben eine Abmachung getroffen.“ „Du hast mich gezwungen.“ „Die Abmachung wird eingehalten.“ „Wie du willst.“ „Gut.“ „Glaube nur nicht, dass du jemals etwas anderes von mir bekommst als das, was du verdienst.“ „Nein?“ „Nein.“ Plötzlich bewegte Sam sich ganz schnell und packte Delilahs Hand. Erschrocken schnappte sie nach Luft, aber dann seufzte sie. Dieses Seufzen gefiel Sam. Er drehte ihre Hand um und küsste ihre Handfläche. Kaum hatte er seinen Wunsch erfüllt, als Delilah die Hand wegziehen wollte. Sam ließ das nicht zu. Stattdessen stellte er sich auf und zog Delilah mit sich nach oben. Sie landete an seiner Brust. Er legte die Arme um Delilah und hielt sie fest. Er schaute in ihr Gesicht und entdeckte dort die gleiche Sehnsucht, die er verspürte. Sam atmete ihren süßen Duft ein und sah, dass ihre Lippen weicher wirkten. Ihre vollen Brüste drückten sich an ihn, und er wollte sie streicheln. Nun nahm er ihr Gesicht in die Hände und blieb ganz still. „Bitte nicht…“, flüsterte Delilah atemlos. Hätte sie etwas anderes gesagt und nicht so verletzlich ausgesehen, dann hätte er sie geküsst. Stattdessen ließ er die Arme sinken und machte einen resignierten Schritt
zurück. Sofort fehlte ihm ihr warmer weicher Körper. Insgeheim betitelte Sam sich mit allen möglichen Schimpfworten. Wie hatte er nur so dumm sein können! Wütend schnappte er seinen Mantel und verließ die Hütte. Als er eine halbe Stunde später zurückkehrte, lag Delilah mit dem Gesicht zur Wand im Bett. Danach wurde die Lage noch schlimmer. Delilah hatte ihre Taktik offensichtlich geändert, denn sie ließ sich auf keine Diskussion mehr ein und sprach nur mit Sam, wenn er sie anredete. Sam nutzte jede freie Minute zum Schnitzen. Bis zum Nachmittag arbeitete er an dem Kojoten. Morgen wollte er mit einem Puma beginnen. Aber Dienstagabend fragte Sam sich, ob das alles hier noch einen Sinn hatte. Wenn er die ganze Zeit damit verbrachte, Tiere zu schnitzen, um nicht mit Delilah zu streiten, dann konnte er das auch zu Hause in seiner Werkstatt, wo er nicht von einer Frau beobachtet wurde, die so aussah, als würde sie ihn am liebsten mit seiner eigenen Waffe erschießen. Wie in den beiden Nächten zuvor, legte Delilah sich auch dieses Mal wieder mit dem Gesicht zur Wand, während Sam das Feuer anstarrte. Da gab er endlich zu, dass er doch keine glänzende Idee gehabt hatte. Bevor er Brendans Truck am Samstag gewonnen hatte, war ihm schon klar gewesen, dass Delilah nicht leicht zu erobern sein würde. Und er hatte Recht gehabt. Es machte ihn wahnsinnig, sie Tag und Nacht um sich zu haben und die Hände bei sich zu behalten. Ihre stete Abwehrhaltung hatte ihn ausgelaugt – und er war frustriert. Vielleicht sollte er wirklich aufgeben. „Lilah?“ fragte er leise und hoffte, dass sie nur ein freundliches Wort sagte. Ein kleines freundliches Wort, und er würde ihr sagen, wie wichtig sie ihm war. Wie sehr er sie begehrte. Wie verzweifelt er war. Aber sie drehte sich nicht um, sondern blieb stocksteif liegen. Okay, wir fahren zurück, dachte er enttäuscht. Morgen früh. Fest entschlossen legte er sich in seinen Schlafsack und wartete auf den Schlaf, der ihn schon bald übermannte. Am Morgen erwachte er, weil Delilah schon in der Hütte herumwerkelte. Stöhnend öffnete er die Augen und bemerkte, dass vier dampfende Töpfe auf dem Herd standen. Er schaute sich nach Delilah um. Sie stand komplett angezogen an der Spüle und hatte die Arme vor den Brüsten verschränkt. „Gut, du bist wach.“ Ihre Stimme war kälter als der Schnee. Sam richtete sich auf und strich sich das Haar aus dem Gesicht. Es entging ihm nicht, dass Delilah den Blick von seinem nackten Oberkörper wandte. Er verspürte Ärger – und starke Lust – und erkannte, dass er Delilah gegenüber doch noch nicht so resigniert hatte, wie er dachte. „Ich möchte mich waschen. Kannst du bitte für zwanzig Minuten nach draußen gehen?“ „Draußen friert es.“ „Zieh deinen Mantel an.“ Eigentlich wollte er ihr sagen, dass sie aufbrechen würden und dass sie sich zu Hause gründlich duschen und baden könnte, aber er änderte seine Meinung. Er würde Delilah nicht sagen, dass sie gewonnen und ihn mit ihrer Abwehr kleinbekommen hatte, wenn er splitternackt in seinem Schlafsack saß und nicht wusste, wie er aufstehen sollte, ohne dass sie bemerkte, was er für sie empfand. „In Ordnung“, erwiderte er und bewegte sich, damit sie erkennen konnte, dass er aufstehen wollte. Delilah drehte sich um und schaute aus dem Fenster. Sam stand auf, zog seine Hose an sowie ein warmes Unterhemd und einen dicken Pullover.
„Jetzt kannst du dich umdrehen“, sagte er und setze sich auf einen Sessel, um Socken und Stiefel anzuziehen. Ein wenig zuckte er zusammen, als er sich setzte, denn seine Lustgefühle waren noch nicht vollständig verschwunden. Dann stand er auf und ging zur Spüle, während Delilah ihm Platz machte. Sam wusch sich das Gesicht, bürstete sein Haar und band es zu einem Pferdeschwanz zusammen. Anschließend holte er Mantel, Wollmütze und Handschuhe. Er zog sich an und öffnete wortlos die Tür. „Warte.“ Sie gab ihm seine Uhr. „Ich meine es ernst. Zwanzig Minuten.“ Sie ging zurück zur Spüle und zog den Vorhang vor, um neugierige Blicke abzuwehren. Sam ging hinaus und konnte sich gerade noch beherrschen, die Tür nicht zuzuknallen. Draußen war die Morgenluft kalt und feucht wie an den Vortagen. Wenn der Frühnebel sich verzogen hatte, dann würde der Tag klar und wunderbar werden – so lange die Wolken, die Sam im Westen sah, nicht mehr wurden. Für wen hielt Delilah sich eigentlich? Sie hatten eine Vereinbarung getroffen: eine Woche ihrer Zeit für Brendans Truck. Er hatte den Wagen schon vorher zurückgegeben. Und nun stand er hier und wartete in Eiseskälte darauf, dass sie ihren Prachtkörper wusch und dass er sie vorzeitig nach Hause bringen konnte. Sam schaute auf den Berg hinter dem See. Eigentlich hatte er sich vorgenommen, den Ladyslipper Peak, wie sein Vater ihn genannt hatte, mit Delilah zu besteigen. Der Weg dorthin war eine Herausforderung, aber nicht gefährlich. Sam sah auf die Uhr. Noch fünf Minuten. Nun würde Delilah warmes Wasser über die Schultern, den Nacken, das Tal zwischen den Brüsten tröpfeln… Wieder sah Sam zum Berg und nahm sich vor, nicht nachzugeben. Nein, er würde Delilah nicht nach Hause fahren, bevor die Woche vorüber war. Nein, sie würden erst dann abreisen, wenn er bereit war. Schließlich ging es hier auch um seinen kostbaren Urlaub. Er musste sich nur Delilah aus dem Kopf schlagen. Es war doch töricht, darauf zu warten, dass er ein freundliches Wort oder einen sanften Blick von einer Frau bekam, die nicht mal den Krankenwagen rufen würde, wenn er auf der Straße verblutete. In den letzten Jahren war er schon unzählige Male allein am See gewesen, und bis heute hatte ihm seine eigene Gesellschaft immer gereicht. Diese Woche sollte seiner Entspannung dienen, und er würde nicht eher abreisen, bis er dieses Ziel erreicht hatte – egal ob die kleine Hexe ihm die Augen auskratzte oder nicht. Wieder schaute Sam auf die Uhr. Die Zeit war vorbei. Er ging zur Hütte und bemerkte sofort, dass die Vorhänge geöffnet waren. Delilah war vollständig angezogen, ihr nasses Haar hatte sie zu einem Zopf geflochten. Sie kochte Kaffee, als Sam die Hütte betrat. Er legte Holz neben den Herd und zog danach Mantel, Handschuhe und Mütze aus. Dann ging er zum Kühlschrank, nahm Schinken, Eier und etwas Milch heraus und bereitete aus einer Teigmischung Pfannkuchen zu. Delilah holte Teller und deckte den Tisch. Es war schon merkwürdig, wie gut sie seit dem ersten Tag ihrer gemeinsamen Reise bei der Hausarbeit harmonierten. Sam hatte es schon erwähnt, aber Delilah hatte es nicht hören wollen. Natürlich wusste sie, dass Sam auch an andere Dinge dachte, die sie gemeinsam tun könnten. Als sie den knusprigen Schinken und die Pfannkuchen wortlos verspeisten, schaute Sam sehnsüchtig auf den Ladyslipper Peak. Ja, er würde heute auf den Berg steigen. Vielleicht würde Delilah ihn begleiten, und die schöne Aussicht vom Berg würde
ihr hartes Herz erweichen? Nein, er sollte sich jede Hoffnung besser aus dem Kopf schlagen. Nach dem Frühstück standen sie gleichzeitig auf und räumten den Tisch ab. Inzwischen war es fast acht Uhr. Da es noch recht kalt war, beschloss Sam, noch eine Stunde zu schnitzen, bevor er den Berg bestieg. Er holte seine Werkzeuge und fühlte sich besser als in den letzten zwei Tagen. Obwohl er versuchte, Delilah nicht zu beachten, spürte er, dass sie ruhelos war. Sie ging aus der Hütte, kam wieder herein, setzte sich mit einem Buch in einen Sessel und legte das Buch wieder weg. Ob sie wohl spürte, dass er aufgegeben hatte, um sie zu werben? Um neun Uhr legte er seine Werkzeuge weg und holte einen kleinen Rucksack, in den er Snacks und Getränke einpackte, die Delilah mitgebracht hatte. Beim Füllen seiner Flasche bemerkte er, dass Delilah ihn beobachtete. Als der Rucksack gepackt war, lud er seine Pistole, schnallte sie um und zog sich warm an. Sam ahnte, dass Delilah gerne wissen würde, was er vorhatte. „Ich steige auf den Ladyslipper Peak, das ist der Berg gegenüber dem See. Man braucht einige Stunden für den Aufstieg, hinunter geht es schneller. Um eins oder zwei bin ich dann wieder zurück.“ Delilah schaute ihn aus ihren dunkeln Augen an. Sam erkannte Ärger – und unterdrückte Sehnsucht. Irgendwie war er zufrieden, denn es war offensichtlich, dass sie nicht die geringste Ahnung hatte, wie sie mit dieser Entwicklung umgehen sollte. Sie hatte sich daran gewöhnt, dass er stets in ihrer Nähe war und wie ein Panter um sie herumschlich, auf einen Satz, eine Handlung wartete, auf die er reagieren konnte. Dass er sie in Ruhe ließ, ja mehr noch, dass er seine eigenen Pläne machte, war neu für sie. Er zog seine Mütze an und ging zur Tür. „Warte!“ rief sie in letzter Sekunde. „Wieso?“ Verwirrt blinzelte sie. Sam musste ein Grinsen unterdrücken, als Delilah verzweifelt nach einem Grund suchte, warum er bei ihr bleiben sollte, damit sie ihn wieder zur Weißglut treiben konnte. „W…was ist, wenn du einen Unfall hast?“ „Dann feuere ich zwei Schüsse ab.“ „Aber ich kenne die Gegend überhaupt nicht. Ich wäre schon auf den Berg gestiegen, wenn ich gewusst hätte, dass man die Tour allein machen kann.“ „Man kann.“ „Bist du schon oben gewesen?“ „Ja.“ „Davon hast du mir gar nichts gesagt.“ Darauf entgegnete er nichts. Er warf ihr nur einen viel sagenden Blick zu, der sie daran erinnern sollte, auf welche Art und Weise sie seit ihrer Ankunft hier miteinander sprachen – gar nicht oder in zänkischem Ton. Verlegen schaute sie weg. „Was kann ich tun, wenn dir etwas passiert?“ fuhr sie fort. „Falls du Schüsse hörst – was nicht der Fall sein wird –, dann fahr mit dem Truck den gleichen Weg zurück, den wir gekommen sind. An der letzten Kreuzung biegst du nach links ab, und dann stößt du nach vier Meilen auf die Bergwacht. Dort bittest du um Hilfe.“ Sam drehte sich endgültig um und griff nach der Tür. Delilah stand auf. „Sam…“ „Was?“ „Ich… ich glaube, ich komme besser mit.“
Diesmal kostete Sam ein wunderbares Siegesgefühl aus, bevor er sich umdrehte und Delilah unbekümmert ansah. „Warum?“ Ihr Gesicht war gerötet. Sie sah verwirrt und bezaubernd aus, und Sam musste sich daran erinnern, dass er jetzt unter keinen Umständen eine Schwäche zeigen durfte, denn sonst würde sie ihm das Leben wieder zur Hölle machen. „Also… wir sollten besser zusammen bleiben.“ Er zuckte mit den Schultern. „Nichts wird passieren, und wenn doch, dann weißt du, was zu tun ist.“ „Aber ich…“ „Was?“ Einen Moment lang sagte sie gar nichts. Sam starrte sie an, ihr rosiges Gesicht, die Haarsträhnen, die sich aus dem Zopf gelöst hatten, die dunklen Augen und die roten Lippen. Er sah sie gerne an, besonders wenn sie, wie gerade, verletzlich wirkte. Was zugegebenermaßen nicht gerade häufig vorkam. „Ich… glaube einfach, dass ich mitgehen sollte“, erwiderte sie schließlich. „Nein“, antwortete er. Nun veränderte sich der friedliche Gesichtsausdruck. In einer Minute würde sie wieder keifen, wenn Sam nicht die Oberhand behielt. „Es sei denn…“ Er beendete den Satz bewusst nicht. „Was?“ „Es sei denn, du willst mitkommen.“ „Also ich… ja! Ja, natürlich.“ Sie musste jedoch noch etwas hinzufügen, damit sie das letzte Wort behielt. „Aber nur, weil du nicht alleine gehen solltest.“ Einen Moment überlegte er, ob er ihr sagen sollte, dass das nicht ausreichte. Entweder wollte sie mitgehen oder nicht. Aber er war wohl schon weit genug gegangen. Er betrachtete ihre weichen Mokassins. „Okay. Dann zieh deine Stiefel an, und mach dich fertig. Ich warte draußen.“ Zufrieden öffnete er die Tür und atmete die frische Luft ein. Ratlos starrte Delilah auf die geschlossene Tür. Sie wusste, dass sie Sam nur sagen musste, dass er allein losgehen sollte. Ihre fadenscheinigen Entschuldigungen und ihr Nachgeben erschienen ihr falsch. Sie sollte sich von Sam fern halten und ihm nicht freiwillig einen Berg hinauf folgen. Aber sie war einfach völlig… verwirrt. Ihre Gefühle spielten schlicht verrückt. Sam vierundzwanzig Stunden am Tag das Leben zur Hölle zu machen war keine leichte Aufgabe gewesen. Natürlich hatte sie in der Jones-Gang gelernt, hart zu sein, aber seit sie erwachsen war, hatte sie keine Übung mehr darin. Noch schwieriger wurde es, weil Sam ihr immer netter zu sein schien, je übler sie ihm mitspielte. Sam Fletcher war vierzig Jahre alt. Er hatte nie geheiratet, und Delilah bezweifelte, dass er das je tun würde. Nicht, dass sie einen Mann wie ihn je heiraten wollte. Nein, egal, was zwischen ihnen geschah, es würde nur hier stattfinden und wäre beendet, sobald sie zu Hause waren. Für eine kurze Affäre war sie jedoch nicht der Typ. „Also passiert gar nichts“, verkündete Delilah laut, bevor sie ihre dicken Socken und Stiefel holte. Aber sie wollte mit Sam gehen, denn wenn sie vier Stunden allein in der Hütte bliebe, würde sie nur den See anstarren und versuchen, nicht an Sam zu denken. Mit ihm einen Berg zu besteigen war die bessere Alternative. Wenigstens würde durch die Bewegung etwas von der Spannung zwischen ihnen abgebaut. Delilah stand auf und zog sich warme Sachen an. Sie holte Lebensmittel, ihre Flasche,
Mütze und Handschuhe und ging dann nach draußen zu Sam, nachdem sie die Tür abgeschlossen hatte. Er wartete auf dem Holzstamm, aber als Delilah kam, stand er sofort auf. „Fertig?“ „Ja.“ Sam nahm den gleichen Weg, den Delilah am ersten Tag gegangen war. Sie folgte ihm. Ah, es fühlte sich herrlich an, sich zu bewegen. Sicher würde ihr die Wanderung gut tun, und was sollte schon geschehen, während sie auf einen Berg stiegen? Dann schaute sie auf den Berg, den sie besteigen wollten. Er wirkte kantig und kompromisslos, wie der Mann vor ihr. Eine gewisse Erregung stieg in Delilah auf. Sie fühlte sich leichtsinnig und waghalsig und neugierig auf das, was vor ihr lag. Doch sofort wurde sie rot. Waghalsigkeit und Leichtsinn waren Gefühle, denen sie nicht nachgeben durfte. Als sie in ihrer Familie aufwuchs, hatte sie erfahren, was Menschen passierte, die ihre Bedürfnisse nicht unter Kontrolle hatten. Geh sofort zurück. Du spielst mit dem Feuer und hältst deine eigenen Regeln nicht ein. Du befindest dich auf gefährlichem Terrain. Delilah schüttelte den Kopf. Nichts würde passieren. Sie litt ja unter Verfolgungswahn. Schließlich wollte sie einen Berg besteigen und weiter nichts. Als sie merkte, dass Sam schon weiter vor ihr ging, eilte sie ihm nach.
10. KAPITEL Nach einer guten halben Stunde Wegstrecke war Delilah froh, dass sie sich Sam angeschlossen hatte. Das Laufen tat ihr sehr gut. Während sie auf den Ladyslipper Peak stiegen, lichtete sich der Frühnebel, und es wurde so warm, dass sie ihre Sweatshirts um die Taille binden konnten. Obwohl Delilah gut zu Fuß war, musste sie sich anstrengen, um mit Sam mitzuhalten. Nachdem sie zwei Steigungen hintereinander genommen hatten, blieb sie stehen, weil sie Seitenstiche bekam. Sie rieb ihre Seite und schaute zum Himmel, an dem jetzt dunkle Wolken zu sehen waren. Ein kühler Wind blies ihr ins Gesicht. Sam hatte mitbekommen, dass sie ihm nicht folgte, und blieb stehen. „Komme gleich!“ rief Delilah. Sam sah, dass sie sich beeilte und nicht auf den Weg achtete. Als sie ausrutschte, konnte Sam sie noch rechtzeitig festhalten. Delilah fiel gegen ihn. „Langsam“, murmelte er und drückte sie kurz an sich. Sie blickte zu ihm auf, und ihr wurde heiß. Sams Augen schienen in ihr Innerstes zu sehen. Die Zeit stand still. Völlig verblüfft über ihre Erregung, starrte Delilah Sam regungslos an, und ihr Puls raste. Endlich fasste sie sich und legte ihre Hände auf Sams Brust. „Entschuldige.“ Sie drückte ihn weg. Sam ließ sie los. Delilah blickte auf den Boden und hoffte, ihr inneres Gleichgewicht wiederfinden zu können. Erst danach wagte sie, Sam wieder anzusehen. Er beobachtete sie, aber seine Augen verrieten nichts. Delilah bemerkte, dass Sam einen Schritt von ihr zurückgegangen war. Sie zeigte auf die Wolken. „Ein Sturm kommt“, sagte sie laut, damit Sam sie verstehen konnte. „Ich weiß.“ „Vielleicht sollten wir umkehren.“ „Für Schnee ist es nicht kalt genug, und ein paar Regentropfen werden uns nicht umbringen.“ „Es sieht nach mehr als ein paar Regentropfen aus, Sam.“ Er antwortete nicht sofort, sondern schaute Delilah nur an. Sie wusste, woran er dachte. Er wollte nicht in der Hütte mit ihr eingeschlossen sein, und sie konnte ihm keine Vorwürfe machen, da es ihr ähnlich ging. „Ich gehe weiter“, meinte er. „Wenn du zurückgehen willst, ist das okay. Du kennst den Weg.“ Sie dachte kurz nach, während Sam sie beobachtete, aber der Gedanke, allein in der Hütte auf seine Rückkehr zu warten, behagte ihr nicht. „Ich komme mit!“ rief sie in den Wind. „Warum?“ Sie blickte ihn durchdringend an. „Weil ich es will.“ Sam nickte und lächelte leicht. „In Ordnung.“ Während sie weitergingen, wurde der Weg immer beschwerlicher, und Sam reichte Delilah oft die Hand, um ihr zu helfen. Delilah hatte jedes Mal das Gefühl, als würde zwischen ihnen ein elektrischer Strom fließen, der von ihrer Hand durch den ganzen Körper führte. Mehr als einmal glaubte sie, zurückkehren zu müssen, aber das ging jetzt nicht mehr. Irgendetwas war geschehen, auch wenn sie nicht genau wusste, was. Irgendwie erschien ihr die Welt nun schön und voller Leben, und Delilah fühlte sich völlig frei. Sie wollte, dass dieses unbeschreibliche Gefühl nie mehr aufhörte.
Bald hatten sie die Baumgrenze überschritten, und am Himmel war kein blauer Fleck mehr zu sehen. Nachdem sie fünfzehn Minuten auf Fels gewandert waren, flammte ein Blitz auf, lauter Donner ertönte, und der Himmel öffnete wie ein Staudamm seine Schleusen. Delilah schaute nach oben, das Wasser tropfte hart auf ihr Gesicht. Sie öffnete den Mund und kostete die kühlen und süßen Tropfen. „Du hattest Recht, wir sollten besser umkehren“, meinte Sam. Oh nein, bitte nicht! Sie war auf einmal enttäuscht und fast verzweifelt. In ihrem ganzen Leben war sie immer vorsichtig gewesen, hatte nichts Spontanes unternommen und nichts Unbedachtes getan. Dann hatte dieser Mann hier sie regelrecht verfolgt, belagert, förmlich erpresst – und statt sich entsetzlich zu fühlen, stand sie mit ihm in einem heftigen Gewitter auf einem Berg und fühlte sich so lebendig wie schon lange nicht mehr. Nein, sie wollte nicht umkehren, bevor sie den Gipfel erreicht hatten, um die Aussicht auf den See und die Landschaft zu genießen. Dabei hatte sie keine Angst vor den Gefahren des Unwetters. „Wie weit ist es denn noch?“ fragte sie. „Gleich hätten wir es geschafft.“ „Dann gehen wir weiter.“ Sam schüttelte den Kopf. „Wir werden klatschnass.“ „Das sind wir schon.“ Zum ersten Mal berührte sie Sam freiwillig. „Lilah…“ Er verspannte sich. „Bitte, Sam. Ich möchte den Gipfel erreichen.“ Er begegnete ihrem Blick und sah, was mit ihr geschehen war. Sie hatte endlich die wilde Seite ihres Wesens freigelassen. „Du bist verrückt“, flüsterte er. „Ja, endlich.“ „Bis zum Gipfel?“ „Ja, du sagtest doch, es sei nicht mehr weit.“ „Richtig.“ Er berührte ihr Gesicht und fuhr mit seinem Daumen über ihre Lippen. Sie ließ seinen Arm los, und er nahm seine Hand von ihrem Gesicht. Sam wandte sich um, und sie gingen weiter. Nach kurzer Zeit überquerten sie eine Rinne, die schon mit Wasser gefüllt war. Auf allen Vieren krochen sie aufwärts, und endlich hatte Sam den Gipfel erreicht und zog Delilah nach – direkt in seine Arme. Sie prallte gegen seine Brust und schaute auf. Die Welt um sie herum tobte, und Sam und Delilah konnten keinen vernünftigen Gedanken mehr fassen. Er wusste, was sie suchte – was sie in diesem Moment suchte. Wunderbarer Berg, der es geschafft hatte, Delilah aus dieser unnahbaren Hülle entschlüpfen zu lassen! Wunderbare Delilah! Sam drückte sie fester an sich, und sie wurde sich ihrer plötzlich empfindlichen und volleren Brüste bewusst. Sie reckte sie mutig nach vorn, und Sam umfasste eine mit seiner großen Hand. Er stöhnte, und Delilah seufzte. Während er mit dem Daumen über ihre Knospe strich, sah er ihr in die Augen. Delilah umarmte Sam, damit sie ihn schmecken konnte, so wie sie es sich in den letzten Nächten vorgestellt hatte. Der Regen prasselte auf sie hinunter, während Sam Delilah hungrig auf den Mund küsste. Beide stöhnten vor Lust. Mit der Zunge streichelte er ihre Lippen, bevor sie ihn einließ, und sie rieben ihre Körper aneinander. Der leidenschaftliche Kuss dauerte eine Ewigkeit. Delilah, die noch nie so erregt gewesen war, genoss jede Sekunde. Während Sam sie küsste, nahm sie ihm den Rucksack ab und streichelte Sams Rücken durch das nasse Hemd. Ihr gefielen seine kräftigen Muskeln, die einen reizvollen Kontrast zu ihren weiblichen Formen bildeten.
Delilah ließ sich von ihren sinnlichen Gefühlen leiten. Sie berührte Sams schmale Hüften und umfasste sein straffes Gesäß, während sie jeden Kuss erwiderte. Nach einer Weile flüsterte Sam gegen ihren Mund. „Dreh dich einmal um.“ Sie hielt inne und blickte Sam in die Augen. Ihre Erregung konnte und wollte sie nicht mehr verbergen. Mit einem Lächeln deutete Sam ihr an, dass sie noch weitere sinnliche Genüsse erleben würden. „Erst küss mich noch einmal, Sam. So, wie du es gerade getan hast.“ „So gierig?“ Sie wurde verlegen. Sam lächelte. „Ah, es gefällt mir.“ Er schaute zum dunklen Himmel. „Wenn wir nicht bald umkehren, geraten wir in Schwierigkeiten.“ Delilah nickte, denn sie erinnerte sich an die Spalte, die schon mit Wasser gefüllt war. Der Weg würde schlammig werden, und sie könnten abrutschen. „Aber zuerst…“ „Was?“ Er nahm sie an den Schultern und drehte sie mit dem Rücken zu sich. „Schau.“ Delilah blinzelte gegen den Regen. „Wir sind jetzt im Schuh“, sagte er in ihr Ohr. „Ladyslipper Peak, erinnerst du dich?“ Sie nickte und genoss das Gefühl, das sein fester Körper in ihr erweckte. „Unten vom See kann man erkennen, wo wir jetzt stehen. Die Stelle sieht so aus wie ein Stöckelschuh.“ „Das musst du mir einmal zeigen.“ „Wenn wir jemals wieder hier runter kommen.“ Sie schaute sich um und konnte die Hütte kaum erkennen, da der starke Regen die Sicht verschleierte. Die Landschaft erschien geheimnisvoll und magisch unter dem dichten Netz des Regens. Ein Blitz leuchtete am Himmel, gefolgt von einem lauten Donnerschlag. „Süße, wir müssen gehen.“ „Ich weiß.“ Diesmal akzeptierte sie seine Worte, denn auf dem Ladyslipper Peak hatten sie ihren Kampf beendet. Er hatte gewonnen – oder die wilde Seite ihrer Persönlichkeit? Für einen Augenblick gehörte sie jedenfalls zu ihm und er zu ihr. Sie bückte sich, hob den Rucksack auf und half Sam, ihn wieder anzuziehen. Dann begannen sie mit dem Abstieg.
11. KAPITEL Überall flossen kleine Bäche, die Erde war aufgeweicht und hatte sich in Schlamm verwandelt. Ein Sturm fegte über den Berg. Zwei Stunden, nachdem sie den Gipfel verlassen hatten, stürzten Delilah und Sam zitternd in die Hütte, da sie völlig durchnässt waren. Sie zogen die Stiefel und die nassen Kleider aus. Delilah stellte Töpfe mit Wasser auf den Herd, damit sie sich waschen konnten, und Sam zündete das Kaminfeuer an. Schon bald war es in der Hütte angenehm warm. Delilah blickte zu Sam, der vor dem Kamin kniete und in die Flammen schaute. Langsam ging sie zu ihm. Er schaute zu ihr auf und blickte sie von oben bis unten an. Sie wusste, dass er ihre Brüste durch das eng anliegende Shirt sehen konnte. Dieser Gedanke erregte sie, und sie wunderte sich, dass sie das Gefühl akzeptierte und sogar genoss. „Du willst mich“, sagte Sam. Nun leugnete sie die Wahrheit nicht mehr. „Ja.“ Sam hakte einen Finger in ihre Gürtelschlaufe und zog sie zu sich. Delilah kniete sich vor das Feuer und blickte Sam an. „Nach Sonnenuntergang wird es kälter werden“, stellte Sam fest. „Ich weiß.“ „Morgen wird es schneien.“ „Wahrscheinlich.“ „Wenn wir jetzt aufbrechen, könnten wir es noch bis nach Hause schaffen.“ „Ja.“ „Ja, was?“ „Ja, ich verstehe.“ „Wirklich?“ Wieder streckte er die Hand aus und berührte die Spitzen ihrer Brüste, die sich hart aufgerichtet hatten. Ein angenehmes Gefühl breitete sich in ihrem Körper aus. Mit einem bedauernden Achselzucken ließ er seine Hand fallen. „Ich bringe dich zurück“, sagte er leise. „Unsere Abmachung ist erfüllt.“ Verwirrt sah sie ihn an. „Erfüllt?“ „Ja, unsere Vereinbarung. Ich bin… zufrieden. Wenn du willst, bringe ich dich nach Hause.“ Nun verstand sie, und sie musste insgeheim lächeln. „Du willst mich nach Hause bringen? Jetzt gleich?“ „Ja.“ „Und Brendan kann seinen Wagen behalten.“ „Richtig.“ Er wirkte ungeduldig und schien zu befürchten, dass Delilah gleich die Koffer packte. Langsam schüttelte sie den Kopf und lächelte Sam verschmitzt an. „Du kennst wohl kein Erbarmen.“ Sam rührte sich nicht. „Vor kurzem hast du mich mit einer Schlange verglichen, aber der Vergleich trifft jetzt nicht mehr zu.“ „Okay“, sagte sie. Sam starrte sie an. „Okay? Was soll das heißen?“ „Dass ich bleiben will.“ Ein Stöhnen war seine Antwort, und dann packte Sam Delilah und zog sie zu sich. Er nahm ihr Gesicht in seine Hände, und sie konnte sich nicht mehr befreien, selbst wenn sie gewollt hätte. Sein Mund war nun fest und heiß auf ihrem. Delilah erwiderte den Kuss. Wieder berührte Sam ihre Brüste, und sie stöhnte lustvoll auf. Sam hielt sie fest im Arm, und einige Minuten schauten sie in das Feuer.
Da fielen Delilah die kleinen Päckchen ein, die sie zu Hause in der Schublade gelassen hatte. „Ich habe nichts… zur Verhütung“, murmelte sie. Sam küsste ihre Schläfe und strich das feuchte Haar zurück. Dann setzte er Delilah vor sich, stand auf und ging zu seinem Gepäck. Er suchte etwas in einem Rucksack und kehrte zu Delilah zurück. „Ich habe etwas dabei.“ Sie betrachtete die Päckchen, die so aussahen wie die, die sie zu Hause gelassen hatte. Nun lächelte Sam verlegen. „Sicher kann man es einem Mann nicht vorwerfen, wenn er vorbereitet ist. Schließlich könnte er seiner Traumfrau begegnen…“ „Nein, dafür mache ich einem Mann wirklich keine Vorwürfe…“ Sie umarmte ihn, und sie küssten sich leidenschaftlich. Dabei löste er ihren Zopf und kämmte ihr Haar mit den Fingern. Ganz sanft zog er ihr feuchtes Shirt aus den Jeans. Mit einer Hand glitt er darunter und streichelte ihren Rücken. Delilah seufzte und bewegte sich unruhig. Sie hätte sich nie vorgestellt, dass sie sich einmal so nach der Berührung eines Mannes sehnen würde. Nun zog Sam ihr das Shirt über den Kopf. Sein Hemd streifte er sich über die Schultern und legte es beiseite. Dann schaute er Delilah erneut an. „Wunderschön“, sagte er, als er ihr den BH auszog. Sam beugte sich vor und küsste ihre Brüste. Zuerst saugte er ganz sanft und dann fester, bis Delilah leise stöhnte. Sie staunte über ihre Lustgefühle, als Sam die inzwischen hoch empfindlichen Brüste geschickt mit Händen und Lippen liebkoste. Erregt löste sie seinen Pferdeschwanz und fuhr mit den Händen durch sein langes Haar. Sam fasste Delilah um die Taille und stellte sie vor sich. Vor ihr kniend, öffnete er ihren Gürtel und den Reißverschluss ihrer Jeans und streifte sie mit dem Höschen nach unten. Delilah trat zur Seite, und Sam schob die Kleidung weg. Nun stand sie nur in Socken gekleidet vor ihm. Sams Augen wurden dunkel vor Verlangen. Er beugte sich vor und küsste Delilahs Bauch. Ohne Hast wanderte er mit den Lippen nach unten. Er teilte ihre Schenkel und berührte ihre intimste Stelle mit dem Mund. Delilah ließ es zu, sie wollte seine Berührung spüren. Sie packte Sam an den Schultern und presste sich gegen ihn, während er ihr weibliches Zentrum weiter küsste, bis sie dachte, sie würde vor Lust sterben. Sie warf den Kopf in den Nacken und schrie, während draußen der Sturm tobte. Plötzlich zog Sam sie nach unten und legte sich auf sie. Er sah auf sie hinunter, und Delilah wusste, was er wollte. Sie öffnete seinen Gürtel und den Reißverschluss seiner Cordhose. Dann streifte sie Hose und Slip über seine harten Schenkel. Nun sah sie, wie erregt Sam war. Sie berührte ihn. „Lilah…“ Er stöhnte, und Delilah konnte seine Anspannung erkennen. „Ja, Sam. Ja, jetzt…“ Wieder schaute er sie an und griff nach einem Kondom. Mit Delilahs Hilfe streifte er es über. Dann schlang sie die Beine um seine Hüften, und Sam drang kraftvoll in sie ein. „Schau mich an“, bat er leise. Sie blickte in seine Augen, die Dinge sahen, die noch niemand gesehen hatte. Er zog sich zurück, und sie protestierte. Langsam füllte er sie wieder aus und zog sich erneut zurück. Ihr Körper verlangte nach ihm, und Sam gab ihr, wonach sie sich sehnte. Während der ganzen Zeit sahen sie sich an und zeigten sich, dass sie ganz genau
wussten, was sie taten. „Ich habe mich so danach gesehnt“, flüsterte er. „Davon geträumt…“ „Ja. Oh ja, ich weiß…“ Der Wind peitschte den Regen gegen das kleine Fenster. Blitze leuchteten und der Donner grollte. Sam nahm sie langsam und beobachtete, dass sie ihre Erfüllung fast erreicht hatte. Er hielt sich zurück, bis sie sich so heftig an ihm rieb, dass er wusste, dass sie bald am Gipfel angekommen war. Er richtete sich etwas auf und hielt ganz still, damit sie ihren eigenen Rhythmus finden und das Tempo bestimmen konnte. Als er es kaum noch aushalten konnte, drehte er sich um, so dass Delilah auf ihm lag. „Meine Güte!“ Sie sah auf ihn hinunter. Ihre Haare fielen in wirren Locken um ihr Gesicht. Delilahs Lippen waren rot und geschwollen von Sams Küssen, ihre Augen waren vor Lust verschleiert. „Was jetzt?“ „Beweg dich auf mir“, bat er heiser. Sie richtete sich vorsichtig auf. „Oh…“ Langsam sank sie auf Sam, und sie stöhnte. Sam spürte die Weichheit, die ihn umgab – er war vereint mit seiner Traumfrau. Er wusste, dass noch niemand sie so gesehen hatte, und wenn es nach ihm ginge, würde er der Einzige bleiben. Das war die Lilah, die er befreien wollte. Seine Frau. Und von jetzt an… Er hob die Hüfte an, um Delilah noch mehr von sich zu geben, und er genoss ihre Reaktion. Sie stöhnte noch lauter und erwiderte seine Stöße. Dann legte sie die Hände auf seine Brust und bewegte sich immer schneller auf ihm. Ihre dunklen Augen hielten ihn gefangen, und er unterwarf sich freiwillig ihrem erotischen Zauber. „Oh, Sam, ich habe nie gedacht und mir nie vorgestellt…“, begann sie, aber sie konnte nicht weiterreden. Ihre Augen, in denen sich ihre steigende Lust gespiegelt hatte, waren nun geschlossen. Ihr Körper hob und senkte sich immer schneller und glänzte im Schein des Feuers. Sam hielt ihre Hüften fest und spürte, dass er bald mit ihr den Höhepunkt erreichen würde. Gemeinsam schrien sie auf. Ein letztes Mal stieß Sam in sie, und seine Lust dauerte unendlich, während Delilah ihn festhielt und alles von ihm nahm, was er ihr zu geben hatte, und es ihm tausendfach zurückgab. Ermattet sank sie auf ihn, und ihre weichen Brüste drückten sich an seine Brust. Erst streichelte sie Sam, aber dann lag sie entspannt in seinem Arm. Eine Weile blieb er ganz still und genoss ihre Nähe. Langsam drehte Sam den Kopf und sah, dass das Wasser kochte. Das große Fenster war völlig beschlagen. „Wir haben ordentlich Dampf gemacht“, meinte Sam. Sie streichelte zärtlich seinen Arm, bevor sie in sein Brusthaar griff und eine Art Gurren von sich gab. Sam lächelte zufrieden. „Was ist?“ wollte sie wissen. „Nichts. Ich freue mich nur über dich.“ Sie erwiderte Sams Lächeln und küsste ihn sanft auf die Lippen. Dann legte sie sich auf die Seite. Sam entfernte das Kondom und ging zum Bett, um die Decke zu holen. Er öffnete seinen Schlafsack und legte ihn auf den Läufer vor dem Kamin. Sam legte sich wieder hin, und Delilah schmiegte sich an ihn. Sam deckte sie zu. Eine Zeit lang redeten sie nicht, sondern hörten dem Regen zu. Plötzlich kochte das Wasser in einem der Töpfe über. „Wir können uns waschen“, stellte sie fest. „Das Wasser kocht.“
Sam griff nach ihr. „Nicht nur das Wasser ist heiß. Komm her.“ Irgendwann standen sie dann doch noch auf, um sich zu waschen. Jetzt brauchte niemand hinauszugehen, um zu warten, bis der andere fertig war. Sie wuschen sich gegenseitig, was für beide eine sinnliche Erfahrung war. Danach merkten sie, wie hungrig sie waren. Sie bereiteten das Abendessen zu und aßen gemeinsam. Als es dunkel wurde, räumten sie auf. Sie schalteten das Licht an, und Sam schnitzte weiter an seinem Puma und beantwortete Delilahs Fragen über seine Arbeit. Später, als sie das Bett machten, wurde Sam plötzlich ganz ruhig. „Was ist los?“ fragte Delilah. „Hör mal…“ „Ich höre nichts“, entgegnete sie. Es hatte aufgehört zu regnen, und der Wind tobte nicht mehr. „Doch, du hörst etwas“, meinte Sam. Sie lauschte – und dann hörte sie es. Wie Federn, die langsam zur Erde fielen… „Schnee.“ Sam lächelte und streckte die Hand aus. Gemeinsam gingen sie zum großen Fenster. Mit einem Handtuch wischte Sam das Fenster trocken, und dann drückten er und Delilah wie Kinder das Gesicht an das Glas. Draußen fiel dichter Schnee. Sam drehte sich um. „Miss Jones, wir werden eingeschneit“, verkündete er mit ernster Stimme. „Vielleicht kommen wir nie mehr hier weg“, erwiderte sie. „Doch, irgendwann schon.“ Sie blickte ihn unter dichten Wimpern an. „Aber was machen wir so lange?“ Sam berührte ihre Kehle und fuhr mit dem Finger bis zum Ansatz ihrer Brüste. „Ich habe schon so eine Idee.“ „Wirklich? Dann zeig sie mir…“ „Gerne.“ Sam hielt Wort. Am nächsten Morgen erstrahlte die Welt in reinem Weiß, und Sam und Delilah blieben gern in der Hütte. Sie aßen, schliefen und liebten sich, wann sie es wollten. Sam arbeitete zwischendurch an seinen Schnitzereien. Delilah verschlang nun den Krimi, auf den sie sich vorher nicht hatte konzentrieren können. Sie redeten nicht darüber, was passieren würde, wenn sie wieder nach North Magdalene zurückkehrten. Stattdessen sprachen sie über ihre Vergangenheit und die Erlebnisse, die sie geprägt hatten. Sam war der Sohn eines Predigers gewesen, aber er galt als Rebell und schwarzes Schaf, der am Tag seines High-School-Abschlusses von zu Hause wegging und niemals zurückkehrte. Sein Vater war schon seit fünfzehn Jahren tot, aber in San Diego lebten seine Mutter und eine Schwester. Delilah vertraute Sam an, wie schwierig es für sie gewesen war, mit elf die Mutter zu verlieren und in einem Haus allein unter Männern aufzuwachsen. Vor dem Tod der Mutter war die Situation nicht schlimm gewesen, und die Jungs hatten viel gelacht. Natürlich waren sie nie besonders brav gewesen, denn sie ähnelten ihrem Vater sehr. Bathsheba hatte jedoch immer alles unter Kontrolle gehabt, und sie hatte Wunder vollbracht, von denen niemand etwas wusste, bis sie nicht mehr da war. Oggie war immer schon schwierig gewesen, aber Bathsheba hatte das gemeinsame Leben gut geregelt. Dann starb sie, und nichts war mehr so wie vorher. Vergeblich hatte Delilah versucht, ihre Stelle einzunehmen. Aber es war ihr nicht gelungen, und sie befand sich in ständigem Kampf mit den Brüdern, die sich von ihrer Schwester nichts sagen lassen wollten.
Sam unterbrach sie an dieser Stelle. „Deine Brüder halten sehr viel von dir. Allerdings merkst du es nicht, da du sie nicht mehr in deine Nähe lässt.“ „Was erwarten sie? Du siehst doch, was passiert, wenn ich etwas mit ihnen zu tun habe – du gewinnst mich als Preis für eine Woche.“ Spielerisch boxte sie gegen seine Schulter. Da packte Sam sie und zog sie auf den Boden. Sie küssten sich, und für eine Weile redeten sie nicht mehr. Am Samstagmorgen war der Himmel strahlend blau. Die Temperatur war gestiegen, und die Sonne ließ den Schnee schmelzen. Obwohl beide nicht davon sprachen, dachten sie an die bevorstehende Abreise. Nach dem Essen wusch Delilah Sam die Haare. Als sie sie kämmte, neckte sie ihn. „Ich weiß nicht, Sam Fletcher…“ „Was weißt du nicht?“ „Ich weiß nicht, was ich mit einem Mann soll, dessen Haare länger sind als meine.“ Sie beugte sich vor und küsste sein Ohr. „Schließlich bin ich eine konservative Frau.“ Er packte sie am Arm und küsste sie so lange, dass sie schon fast vergessen hatte, was sie sagen wollte. Seine nächsten Worte erinnerten sie. „Es gibt einige Dinge, die ein Mann nicht einmal für seine Traumfrau tut.“ Delilahs Herz schlug schneller. Unvorstellbar, dass ihr ehemals schlimmster Feind sie als Traumfrau bezeichnete. Und noch überraschender, dass sie das gerne hörte. Wieder neckte sie ihn. „Als wäre ein Haarschnitt ein besonderes Zugeständnis.“ „Für mich schon.“ „Wieso?“ „Meine Haarlänge ist Ausdruck meiner Freiheit. Als ich von zu Hause wegging, habe ich die Haare wachsen lassen und sie immer lang getragen.“ „Warum?“ „Mein Vater hat mir stets den Kopf rasiert.“ „Jetzt übertreibst du.“ „Nein.“ Seine Stimme war tonlos. „Er hat mir den Kopf geschoren, weil lange Haare für ihn ein Werk des Teufels waren. Einmal sagte ich ihm, dass Jesus auch lange Haare hatte, und danach konnte ich eine Woche lang nicht sitzen.“ „Oh, das tut mir Leid.“ „Warum? Deine Schuld ist es nicht. Jedenfalls bin ich nach meinem High-SchoolAbschluss abgehauen.“ „Und danach?“ „Ging ich nach L.A. und arbeitete als Hausmeister.“ „Und?“ „Ich arbeitete zwei Jahre, wohnte in East Hollywood, ging aufs City College und sparte jeden Penny.“ „Womit hast du dich im College beschäftigt?“ „Mit Shakespeare und der Ausbildung zum Goldschmied. Dazwischen blieb mir viel Zeit für Partys. Besonders ehrgeizig war ich nicht. Heute weiß ich, dass ich wenig Selbstvertrauen hatte. Damals nannte man Leute wie mich Versager – jedenfalls nannte mein Vater mich achtzehn Jahre lang so.“ Nun lagen Sams Haare glatt auf seinen Schultern. Delilah legte den Kamm zur Seite und setzte sich Sam gegenüber. „Du warst zwanzig, als du in North Magdalene aufgetaucht bist.“ „Richtig.“ „Wieso bist du ausgerechnet in dieses Nest gekommen?“
„Zu meinem zwanzigsten Geburtstag kaufte ich mir ein Geschenk – erinnerst du dich an den alten Lieferwagen?“ Delilah nickte. „Ich kaufte den Wagen, nahm meine Ersparnisse und fuhr in Richtung Norden. Nach zehn Stunden hatte ich eine kleine Stadt erreicht.“ „North Magdalene.“ „Genau. Ich parkte den Wagen und ging in die Bar, wo ich einen Kerl namens Oggie Jones traf, bei dem ich ein Bier bestellte. Er fragte mich nach meinem Ausweis gefragt, und als ich ihm eine erfundene Geschichte auftischte, warf er mich kurzerhand raus. Draußen stieß ich auf Jared Jones, den Sohn des Barbesitzers. Armer Jared. Er war deprimiert, weil seine Frau ihn hinausgeworfen hatte…“ „Zum hundertsten Mal“, bemerkte Delilah. „Jared hatte eine Flasche und fragte nicht, ob ich schon achtzehn war. Außerdem war er bereit zu teilen.“ „Wie rührend.“ „Delilah, du weißt gar nicht, wie das ist, wenn ein einsamer Mann endlich einen Freund findet.“ „Ich kann es mir vorstellen… Also bliebst du in North Magdalene.“ Er nickte. „Warum sollte ich weggehen? In deinem Vater und deinen Brüdern hatte ich eine Ersatzfamilie gefunden. Außerdem fand ich meinen Traum.“ „Welchen?“ „Nun, zuerst war es Gold.“ Delilah schnaubte verächtlich, denn sie wusste, dass meist nur Greenhorns vom Goldfieber gepackt wurden. Die Männer, die immer in der Gegend lebten, wussten, dass man nicht mehr reich werden konnte, wenn man nach Gold suchte. Sam zuckte mit den Schultern. „Damals war ich noch sehr jung“, rechtfertigte er sich. „Und es war schön, endlich einen Traum zu haben. Ich kaufte meinen Nassbagger…“ „Und hast an meinem Versteck einen Claim abgesteckt.“ „Ich weiß.“ Nun sah er zerknirscht aus. „Niemals habe ich an die Gefühle einer Vierzehnjährigen gedacht, die keine Mutter mehr hatte. Ich war besessen von dem Wunsch, ein Vermögen zu machen. Als ich erkannt hatte, dass ich keine faustgroßen Nuggets finden würde, stellte ich schon Schmuck her und verkaufte ihn aus meinem Wagen.“ „Du hast einen anderen Traum gefunden“, sagte sie leise. „Das stimmt, und zwar einen, mit dem ich leben könnte. Ich habe mein Geschäft eröffnet und ein Haus gebaut. Tatsache ist, dass ich einige Jahre lang zu viel getrunken habe und häufig in Streitigkeiten verwickelt war.“ Nun griff Sam Delilahs Hand und drückte sie. „Aber im Laufe der Jahre baute ich mir mein Geschäft auf und fühlte mich zu Hause. Allmählich glaubte ich, dass mein Vater sich geirrt hatte und ich weder ein Versager war noch der Teufel von mir Besitz ergriffen hatte.“ Er unterbrach sich. „Hörst du, was ich sage, Lilah?“ Sie nickte und fragte sich, warum er plötzlich so entschlossen wirkte. „Ich besitze ein Geschäft, ein Haus und dieses Gelände mit der Hütte, das mein Vater mir nach seinem Tod hinterlassen hat – gemeinsam mit einem Brief, dass ich immer noch sein Sohn sei, trotz meines schlechten Charakters.“ „Oh, Sam…“ „Heute habe ich Eigentum und werde von den Leuten in der Stadt respektiert.“ „Das stimmt.“
„Ich bin keine schlechte Partie, wenn du weißt, was ich meine.“ Delilah schaute diesen kräftigen attraktiven Mann an, und sie wusste genau, was nun folgen würde. „Auch für eine Lehrerin bin ich gut genug.“ „Sam…“ Nun packte er ihre Hand so fest, dass sie schmerzte. Delilah zuckte zusammen, aber Sam ließ nicht locker. „Heirate mich, Lilah. Heirate mich noch heute Abend.“
12. KAPITEL Delilah starrte ihn über den Tisch hinweg an. Damit hatte sie nicht gerechnet. „Und?“ fragte Sam und drückte immer noch ihre Hand. „Oh, Sam, das ist so plötzlich…“ „Für mich nicht.“ „Wir haben noch nie über Heirat gesprochen.“ „Das ist mir klar, also reden wir jetzt darüber. Heirate mich. Heute Abend. Wir können gleich aufbrechen und noch vor Sonnenuntergang in Reno sein. Wir heiraten, verbringen die Hochzeitsnacht in einem Hotel und kehren morgen Nachmittag nach North Magdalene zurück. Dann versäumst du keinen Schultag.“ Nun fiel Delilah ein, dass sie schon in achtundvierzig Stunden wieder vor ihrer Klasse stehen würde. Natürlich hatte sie gewusst, dass sie morgen zurückkehren würden, aber sie hatte nicht daran denken wollen. Ihr Alltagsleben schien so weit entfernt zu sein. Bei dem Gedanken an Zuhause verzog sie das Gesicht, denn dann würde sie sicher mit wilden Gerüchten konfrontiert werden. „Vergiss sie, denk an uns“, warf Sam ein. „Wovon redest du?“ „Das weißt du ganz genau. Du fragst dich, was die Leute zu Hause sagen werden. Ich kann es an deinem Gesicht ablesen.“ Schuldbewusst schüttelte sie den Kopf. „Nein…“ „Lüg mich bitte nicht an, Lilah. Das haben wir beide doch nicht nötig.“ Reumütig schaute Delilah auf ihre Hände. „Du hast Recht. Ich mache mir wirklich Sorgen, wie man uns zu Hause empfangen wird.“ „Sieh mich an.“ Sie hob den Kopf und begegnete Sams Blick. „Du wirst es bald herausfinden.“ Delilah zwang sich zu einem tapferen Lächeln. „Ich weiß.“ „Dann warte doch erst einmal ab.“ „In Ordnung.“ „Jetzt frage ich noch mal: Willst du mich heiraten?“ „Oh, Sam…“ „Das sagtest du bereits.“ Delilah konnte nicht mehr still sitzen. Sie stand auf und schaute durch das große Fenster auf den Berg. Sam stand auf und kam zu ihr. Schon legte er die Arme um sie, und Delilah lehnte sich seufzend zurück. „Du hast mir den Schuh noch nicht gezeigt“, stellte sie fest. „Siehst du den großen Felsbrocken in dem Vorsprung auf dem Weg zur Spitze?“ „Ja… ja.“ Sie lächelte. Jetzt konnte sie die Form eines Stöckelschuhs erkennen und wusste, wo sie während des Sturms gestanden hatten und wo sie Sam zum ersten Mal geküsst hatte. Wieder stellte Sam seine Frage. „Heiratest du mich?“ Als sie ihn so nahe bei sich spürte, war es schwer an etwas anderes als an ihn zu denken. Ja, sie konnte sich vorstellen, ihr ganzes Leben mit ihm zu verbringen. Sein Antrag war sehr verlockend. Es störte sie aber, dass Sam sie so drängte und dass er nicht von Liebe gesprochen hatte. Fairerweise musste sie zugeben, dass sie das auch nicht getan hatte. Liebte sie Sam wirklich? „Sag Ja“, bat er. „Ich überlege noch.“ „Du machst dir zu viele Gedanken.“
„Wenn du irgendeine hirnlose Person gewollt hättest, hättest du dich nicht für mich interessiert.“ „Der Punkt geht an dich. Also, heiratest du mich?“ „Warum?“ „Was soll das jetzt, verdammt noch mal?“ Delilah schubste ihn weg. „Fluche nicht, sondern antworte mir. Warum willst du mich heiraten?“ „Weil wir gut zusammen passen.“ „Schön, was noch?“ Sie wartete ab, ohne ihn zu fragen, ob er sie liebte. Darin unterschied sie sich nicht von anderen Frauen. Sie wollte hören, dass er sie liebte, und zwar weil er es sagen wollte – und nicht, weil sie ihn darum gebeten hatte. Sam wirkte jedoch völlig verwirrt. „Was soll es denn noch geben?“ „Meine Güte, Sam.“ „Du gehörst zu mir“, behauptete er. „Ich will, dass die ganze Welt das erfährt.“ Die Lage wurde immer schlimmer statt besser. „Du gehörst zu mir“, imitierte sie ihn. „Du klingst wie einer meiner Brüder, wenn er zu seiner Frau spricht.“ „Ich bin wie deine Brüder. Vielleicht habe ich mehr gelesen als sie oder mehr darüber nachgedacht, was ich vom Leben erwarte. Aber in den entscheidenden Dingen bin ich wie Jared, Patrick und Brendan. Wir alle haben unsere wilden Seiten, und wir alle haben nach der richtigen Frau gesucht.“ Nun kam er auf sie zu, und Delilah wich zurück, bis sie an die Spüle stieß. Sam legte die Hände auf ihre Schulter und hielt sie so gefangen. „Jetzt gibt es kein Entkommen mehr, meine Süße. Weder für dich noch für mich. Ich habe die richtige Frau gefunden – dich. Und du machst mir verdammt viel Angst. Trotzdem lasse ich dich nicht gehen.“ Verständnislos sah sie ihn an. „Ich mache dir Angst?“ Sam nickte. „Darauf kannst du wetten. Ich sagte, dass du zu mir gehörst, aber du hast mich nicht ausreden lassen…“ „Ja?“ „Ich gehöre auch zu dir, und zwar ganz. Du könntest mich verletzen, wenn du wolltest, denn ich habe mich dir gegenüber geöffnet.“ „Oh, Sam…“ Sie berührte zärtlich seine Lippen. „Nie würde ich dich verletzen, das schwöre ich, denn ich… ich liebe dich.“ Endlich hatte sie die entscheidenden Worte ausgesprochen, und sie bereute es nicht. Ausgerechnet diesen wilden ungezähmten Mann hatte sie sich ausgesucht. „Dann heirate mich“, bat er erneut. Sie hob das Kinn. „Einverstanden.“ Einen Moment lang rührte Sam sich nicht. Dann jubelte er laut, zog Delilah fest an sich und küsste sie so, dass sie keinen klaren Gedanken mehr fassen konnte. „Aber nicht heute Abend“, sagte sie nach einer Weile. „Wann denn?“ „Wir werden in der North Magdalene Community Church heiraten, und mein Vater wird mich zum Altar führen.“ „Lilah, seit zweiundzwanzig Jahren habe ich keine Kirche mehr betreten“, meinte Sam gequält. „Es liegt nicht an Gott, dass dein Vater… töricht war. Natürlich hast du das Recht auf deine Meinung, aber es wird auch meine Hochzeit sein. Und ich würde gern in meiner Kirche heiraten.“ „Lilah…“ „Ich bin noch nicht fertig. In den nächsten Wochen könnten wir eine kleine Feier planen. In dieser Zeit kannst du dich mit deiner Mutter und deiner Schwester in
Verbindung setzen und fragen, ob sie kommen möchten.“ „Aber ich habe schon seit Jahren keinen Kontakt mehr zu ihnen.“ „Darum geht es ja. Schließlich sind sie deine Familie, und auch meine, wenn wir heiraten. Ich möchte sie gerne kennen lernen.“ „Einverstanden“, stimmte Sam zu. „Was heißt das?“ „Das heißt, dass ich deine Bedingungen akzeptiere. Obwohl es viel leichter wäre, wenn…“ Wieder berührte sie seinen Mund. „Das Leben ist nicht immer einfach, Sam Fletcher.“ Nun blickte er sie durchdringend an. „Dann steht es also fest. Du hast versprochen, mich zu heiraten, und wirst keine Ausrede finden, wenn wir wieder zu Hause sind.“ Delilah spürte eine gewisse Unruhe. Er schien es wirklich sehr eilig zu haben. „Glaubst du, dass ich mein Versprechen nicht halten werde?“ „In der Zwischenzeit kann viel passieren.“ „Bestimmt nicht. Schließlich habe ich dir versprochen, dich zu heiraten.“ „Gut, dann zeige ich dir jetzt, was du mit diesen Lippen noch anstellen kannst, außer Befehle zu erteilen.“ „Oh, Sam…“ Er grinste. „Oh, Lilah…“ Seine Stimme klang jetzt ganz rau. Sam zog sie fest an sich, und sie wusste, dass er sich diesmal nicht ablenken lassen würde, aber sie hatte auch gar nicht vor, ihn abzuweisen. Sein Mund berührte den ihren so leidenschaftlich, dass Delilah keinen klaren Gedanken mehr fassen konnte. Sie schmiegte sich eng an Sam und griff in sein Haar. Sam stöhnte und zog ihr langsam das Hemd und den BH aus. Er küsste ihre Brüste,* während das Licht der Nachmittagssonne die Hütte in einen goldenen Schein hüllte. Delilah genoss Sams Liebkosungen und erwiderte seine leidenschaftlichen Berührungen. Sie spürte seine Härte an ihrer Weiblichkeit, rieb ihren Körper an seinem, so dass Sams Leidenschaft noch gesteigert wurde. Er murmelte ihren Namen und berührte ihren Gürtel. Delilah verstand, was Sam wollte, und half ihm. Danach zog Sam sich aus. Beide standen nackt vor dem Fenster. Sam holte ein Kondom, und Delilah streifte es ihm über. Dann umfasste Sam ihre Taille und hob Delilah hoch. Sie schlang die Beine um seine Hüften, und er drang mit einer schnellen sicheren Bewegung in sie ein. Bereitwillig erwiderte sie seine Stöße, die immer heftiger wurden. Sie klammerten sich aneinander, während Sam immer tiefer in Delilahs Weiblichkeit eindrang. Delilah rief laut seinen Namen, als sie den Höhepunkt erreichte, und Sam folgte ihr nach. Zufrieden blieben sie eine Zeit lang vor dem Fenster stehen, aber schließlich trug Sam Delilah zum Bett. Sie sanken eng umschlungen auf die Matratze. Delilah schloss die Augen und legte ihren Kopf auf Sams Schulter. Ich kann seine Liebe fühlen, sagte sie sich. Natürlich hatte er die Worte nicht ausgesprochen, aber er hatte andere Dinge gesagt, die auf das Gleiche hinausliefen. Sie war sich sicher, dass er sie liebte. Warum sonst wollte er sie heiraten? Am nächsten Morgen packten sie, und am Mittag schlossen sie die Hütte ab. Delilah stieg in den Jeep und warf noch einen letzten Blick zum Ladyslipper Peak, bevor sie losfuhren.
„Bist du traurig?“ fragte Sam. „Ja“, gab sie zu. „Ein wenig schon.“ „Keine Angst, wir kehren zurück.“ „Daran werde ich dich noch erinnern“, erwiderte sie lächelnd. Die Rückfahrt verlief ruhig und angenehm. In Grass Valley hielten sie an, um Lebensmittel zu besorgen. Im Supermarkt schlug Sam vor, dass sie nur für einen Haushalt einkauften. Delilah blieb im Gang stehen. Sie hatte nicht daran gedacht, dass sie vor der Hochzeit zusammenleben würden, aber Sam war offensichtlich davon ausgegangen. Er wandte sich um. „Lilah, was ist los?“ Sie konnte sich schon das Gesicht von Nellie vorstellen, wenn sie erfuhr, dass Delilah mit Sam Fletcher zusammenlebte. Mit Sam Fletcher! „Lilah?“ fragte er beunruhigt. Schnell ging sie zu ihm. „Sam…“ „Was ist denn los?“ „Sam, ich kann es einfach nicht.“ „Was kannst du nicht?“ „Mit dir zusammenleben, bevor wir verheiratet sind. Ich weiß, dass es altmodisch und heuchlerisch ist, aber ich bin Lehrerin, und ich…“ „Du hast Recht“, unterbrach er sie. „Es ist heuchlerisch.“ „Sam, bitte…“ „Aber ich verstehe deinen Standpunkt.“ „Wirklich?“ „Du glaubst, dass du ein bestimmtes Image aufrechterhalten musst.“ „Ja.“ „Dein Image bliebe intakt, wenn du mich heute noch heiraten würdest.“ „Oh, Sam…“ „Lass uns nach Reno fahren.“ „Sam…“ „Schon gut. Wie du willst. Wir kaufen für beide Haushalte ein, aber die Hochzeit ist hoffentlich bald.“ Sie küsste ihn, ohne auf die Leute zu achten, die sie mit wissendem Blick betrachteten. „Danke.“ Ungefähr um vier hielten sie vor Delilahs Haus an. Sie öffnete die Tür und stieg aus dem Wagen. Die Nachmittagssonne schien warm auf ihren Rücken. In North Magdalene hatte der Frühling Einzug gehalten. Das Gras leuchtete in einem satten Grün, und die Bäume waren voller Blätter. Auch die Rosen in ihrem Vorgarten blühten schon. Sie bemerkte, dass Sam ausgestiegen war und den Kofferraum öffnete. „Lass uns deine Sachen ins Haus bringen“, schlug er vor. „Gute Idee.“ In wenigen Minuten hatten sie Gepäck und Einkäufe in Delilahs Haus untergebracht. Sam wollte anschließend in sein Geschäft gehen, um zu hören, wie Marty die Zeit ohne ihn gemeistert hatte, und dann den Wagen ausladen und die Post holen. In der Küche räumte Delilah die Lebensmittel ein. „Das Hähnchen sieht aber gut aus“, meinte Sam. Delilah warf ihm einen Blick zu. „Du hoffst wohl auf eine Einladung zum Abendessen.“ „Keine Frau konnte jemals so gut meine Gedanken lesen, Schatz.“ „Abendessen gibt es um halb sieben. Sei bitte pünktlich.“
„Jawohl, Ma’am.“ Sam packte Delilah und küsste sie. „Hol bitte auch meine Post“, bat sie und gab ihm die Kombination ihres Postfaches. Sam drückte Delilah an sich und ging nach draußen. Sie räumte die restlichen Lebensmittel weg und packte dann ihren Rucksack aus. Den Puma und den Kojoten stellte sie zu den anderen Holztieren. Anschließend duschte sie sich und zog sich um. Um fünf Uhr schob sie das Hähnchen in den Ofen. Als sie die Zutaten für einen Salat suchte, klingelte das Telefon. Delilah blieb stocksteif stehen. Noch nie hatte sie so wenig Lust gehabt, ans Telefon zu gehen, denn Nellie oder Linda Lou wollten sie sicher gründlich ausfragen. Wieder klingelte das Telefon, und Delilah ging ins Wohnzimmer. „Hallo?“ „Delilah? Du bist zu Hause? Endlich.“ Die atemlose Stimme gehörte niemand anderem als Nellie. „Ja, ich bin zu Hause.“ „Geht es dir gut? Hat er dir… wehgetan?“ „Wer, Nellie?“ „Natürlich dieser Sam Fletcher.“ „Du weißt also, dass ich mit Sam zusammen war?“ Nellie sog laut hörbar die Luft ein. „Du nennst ihn jetzt Sam?“ Delilah seufzte. „Bist du meine Freundin, Nellie?“ „Natürlich bin ich deine Freundin…“ „Dann stell dich nicht so an und sag mir, was los ist.“ Einen Moment lang schwieg Nellie, bevor sie sich beklagte. „Du hättest doch etwas sagen können. Wozu gibt es schließlich Freunde?“ Nellie hielt inne, aber nicht so lange, dass Delilah antworten konnte. „Und warum sollte ich dir berichten, was in deiner Abwesenheit passiert ist, wenn du mir absolut gar nichts erzählt hast? Ich habe mir schreckliche Sorgen gemacht. Linda Lou und ich wussten nicht, was wir tun sollten, als du nicht in der Kirche warst und zwei Tage lang nicht ans Telefon gingst. Schließlich bin ich zu Sheriff Pangborn gegangen, und du weißt doch, wie er ist.“ Nach kurzem Luftholen imitierte Nellie den Sheriff. „,Aber Miss Anderson, bekommen Sie jetzt bitte keinen Herzinfarkt. Sicher hat Miss Jones vergessen, sich bei Ihnen abzumelden. Sie wird schon wieder auftauchen.’ Kannst du dir das vorstellen? ‚Auftauchen’, sagte er, als wärest du eine Sache, die man verlegt hat. Ich schwöre dir, ich verstehe nicht, wer den Mann immer wieder wählt. Aber ich gab nicht auf, und schließlich wollte er sich bei deiner Familie nach dir erkundigen.“ Nellie unterbrach sich kurz, um tief einzuatmen. „Das hat er auch getan, und es stellte sich heraus, dass die kleine Amy genau wusste, wo du warst, obwohl sie den Sheriff bat, es mir nicht zu erzählen. Er sollte nur sagen, dass es dir gut geht, denn du hättest sie gebeten, weiter nichts zu verraten. Noch nie habe ich mich so verletzt gefühlt.“ „Nellie…“ Aber Nellie war noch nicht fertig. „Natürlich wurde dann in der ganzen Stadt darüber geredet. Jetzt weiß jeder von dem Kartenspiel, dem Einsatz von Brendans Truck und dass Sam Fletcher ein Date mit dir haben wollte. Aber dieser Schuft war mit einem Date nicht zufrieden. Oh nein, er musste dich in die Wildnis entführen, und…“ Delilah hörte, dass Nellie immer noch redete, aber sie verstand die Worte nicht, da jemand an die Haustür klopfte. Sie war erleichtert, denn schlimmer konnte es
nicht werden. „Nellie…“ „… und jeder in der Bar ist deswegen…“ „Nellie.“ Nun hatte sie Delilah gehört. „Ja? Was ist los?“ „Jemand klopft an die Tür. Ich rufe dich zurück.“ „Aber…“ „Bis bald.“ Ihre Freundin redete immer noch wie ein Wasserfall, als Delilah frustriert den Hörer auflegte. Das Klopfen wurde heftiger. Sam konnte es nicht sein, und da die Tür nicht abgeschlossen war, würde er sicher hereinkommen. Wahrscheinlich war es Linda Lou, die ihr die Meinung ins Gesicht sagen wollte. „Ich komme!“ rief sie, als das Klopfen nicht aufhörte. Sie eilte zur Tür und öffnete. Ihr Bruder Patrick stand davor und sah aus, als hätte er gerade seinen besten Freund verloren. „Ich muss mit dir reden, Delilah.“
13. KAPITEL Misstrauisch blickte Delilah ihren Bruder an. Vor einer Woche hatte Brendan mitten in der Nacht hier gestanden. Auch er hatte gesagt, dass er mit ihr reden müsse. Danach hatte sie sich geschworen, sich nie wieder in die Angelegenheiten ihrer Brüder einzumischen. Patrick sah jedoch wirklich elend aus. „Worum geht es?“ fragte sie argwöhnisch. Er sah sich um. „Nicht vor der Haustür. Lass mich bitte rein.“ „Okay.“ Sie trat einen Schritt zurück, und Patrick kam ins Haus. Trübsinnig schaute er sich um. „Hast du vielleicht ein Bier?“ fragte er endlich. „Da muss ich erst nachschauen. Komm doch mit.“ Sie führte ihren Bruder in die Küche und bot ihm einen Stuhl an. Im Kühlschrank fand sie eine Flasche Bier. „Möchtest du ein Glas?“ Patrick schüttelte den Kopf. „Schon gut.“ Er nahm ihr die Flasche ab und trank einen großen Schluck. „Was ist los?“ Er betrachtete die Holzfiguren auf dem Tisch. „Hat Sam die für dich gemacht?“ Natürlich hatte Patrick die Gerüchte um sie und Sam gehört. Wahrscheinlich hatte sein Besuch mit Sam zu tun, und Delilah wurde nervös. „Ja“, antwortete sie vorsichtig. Wieder trank Patrick einen Schluck Bier. „Verdammt. Alles verändert sich.“ Er streckte die Beine aus und betrachtete seine Stiefel. Dann schaute er Delilah traurig an. „Man kann sich nicht mehr darauf verlassen, dass alles so bleibt, wie es ist. Du verschwindest mit Sam Fletcher, und Chloe trifft sich mit einem Fremden…“ Delilah fühlte sich etwas besser, nachdem Patrick Chloe erwähnt hatte. Vielleicht ging es bei seinem Besuch doch nicht um sie und Sam. Möglicherweise wollte er mit ihr über Chloe Swan reden. „Sam hat mir erzählt, dass er Chloe in The Hole in the Wall mit einem Fremden gesehen hat.“ Patrick nickte und nahm noch einen Schluck Bier. „Das war vor einer Woche, und seitdem war sie schon zweimal mit ihm aus.“ Delilah verbarg ein Lächeln. „Du passt aber gut auf sie auf, oder?“ „Natürlich nicht. Wir sind… Freunde, jeder weiß das. Ich hoffe nur, dass sie weiß, was sie tut.“ Patrick begann, das Etikett von der Bierflasche zu entfernen. „Wolltest du mit mir über Chloe reden?“ „Nein, eigentlich nicht. Sie beschäftigt mich nur deshalb, weil sich so viel verändert. Meine Ex-Frau zieht mit unseren beiden Mädchen nach Arkansas.“ „Das kann doch nicht wahr sein.“ „Ist es aber.“ „Aber sie darf die Kinder ohne deine Einwilligung doch sicher nicht mitnehmen.“ „Soll ich sie etwa verklagen? Ist das gut für die Kinder? Außerdem hat Marybeth gesagt, dass ich die Mädchen ja auch allein erziehen könnte.“ Delilah dachte nach. Patricks Töchter waren acht und zehn Jahre alt. Niemals konnte er sie allein erziehen. „Das tut mir Leid, Patrick“, erwiderte sie mitfühlend. „Das ist nur eines der Dinge, die sich geändert haben.“ Delilah verstand ihren Bruder, denn nach dem Telefonat mit Nellie hatte sie auch gemerkt, das alles anders geworden war. Wenn Sam Teil ihres Lebens wurde, dann würde nichts mehr so sein wie früher. Mit ihrem Bruder empfand sie Mitleid, weil er mit den Änderungen in seinem Leben nicht zurechtkam.
„Richtig“, stimmte sie zu. „Nichts bleibt gleich.“ „Wie meine Schwester, die eine Woche mit einem Mann verbringt, den sie schon immer gehasst hat.“ Sein missbilligender Tonfall gefiel Delilah gar nicht. „Bist du hergekommen, um mir Vorwürfe zu machen? Ausgerechnet du, dessen Leben nicht gerade mustergültig verlaufen ist!“ Patrick schaute plötzlich auf. „Das sind keine Vorwürfe. Ich möchte nur wissen…“ Er hielt inne und wurde rot. „Er hat dich doch gezwungen, oder? Du hattest keine andere Wahl. Entweder gingst du mit ihm, oder Brendan und Amy hätten alles verloren.“ Eigentlich sollte sie ihm zustimmen. Sie hatte sich auch eingeredet, dass sie nur Brendans wegen mit Sam weggefahren war. Trotzdem hörte sie Sams Stimme. Wenn das so weitergeht, dann wirst du niemals sagen, dass du eine Wahl hattest… Sie schaute ihren Bruder intensiv an. „Er hat mich nicht verschleppt, sondern ich bin freiwillig mitgegangen. Ich hatte die Wahl.“ „Gut, aber du wärest nie mitgegangen, wenn Brendan sich nicht in dieser Zwangslage befunden hätte.“ „Das stimmt.“ Wieder betrachtete Patrick die Bierflasche. „Bist du im Nachhinein froh, dass du mit ihm gegangen bist?“ „Worauf willst du hinaus?“ „Ich weiß nicht recht, wie ich es dir sagen soll…“ „Das merke ich.“ „Die Leute reden über euch.“ „Das habe ich schon gehört.“ „Es wurden Wetten abgeschlossen.“ Delilahs Kehle wurde trocken, und sie trank einen Schluck Wasser. „Wetten? Über Sam und mich?“ „Ja.“ „Welche Wetten?“ Patrick blickte verlegen nach draußen. „Ich habe Geld auf dich gesetzt, weil ich davon ausging, dass du Sam immer hassen würdest.“ „Wie viele Wetten, Patrick?“ Delilahs Stimme klang nun scharf. „Und um was?“ Patrick sah sie kurz an. „Zwei Wetten. Eine ging darum, ob Sam dich…“, Patrick zögerte, bevor er sich zwang weiterzureden, „… herumkriegt, falls du weißt, was ich meine.“ „Und die andere?“ „Ob er dich überreden konnte, ihn zu heiraten.“ Jetzt fühlte Patrick sich offensichtlich besser, nachdem er alle Neuigkeiten verkündet hatte. „Wie ich schon sagte, habe ich mein Geld auf dich gesetzt. Ich habe gewettet, dass du ihm widerstehst. In beiden Fällen.“ Delilah wurde übel. Sie hatte geahnt, dass die Leute reden würden, aber das hier war noch schlimmer als ihre ärgsten Vorstellungen. Sie hatten tatsächlich gewettet, wie ihre Woche mit Sam ausgehen würde. Die Wetten ergaben keinen Sinn, besonders nicht die letzte. Sie konnte begreifen, dass man sich fragte, ob sie mit Sam geschlafen hatte. Aber wer konnte wissen, ob Sam heiraten wollte? Sie hatte es jedenfalls nicht gewusst und war völlig überrascht gewesen, als er sie gefragt hatte. „Wer hatte die Idee, dass Sam mich heiraten wollte?“ „Dad.“ „Vater?“
Patrick schaute sie herablassend an. „Jetzt tu doch nicht so. Du weißt ganz genau wie Dad darunter leidet, dass du noch keinen Mann gefunden hast.“ „Ja und?“ „Deshalb hatte er sich vor einem Monat lange mit Sam unterhalten und ihn überredet, dir den Hof zu machen und dich zu heiraten. Er hat tausend Dollar gewettet, dass Sam dir einen Antrag machen würde und du Ja sagen würdest.“ „Überredet? Womit hat Vater versucht, Sam zu überreden?“ Mitleidig schaute Patrick sie an. „Der Bastard hat es dir nicht gesagt?“ „Wenn ich es wüsste, würde ich dich dann fragen?“ „Nein, natürlich nicht. Entschuldige, Delilah.“ „Du hast meine Frage noch nicht beantwortet.“ Jetzt hatte Patrick einen trockenen Mund, und er hustete. „Es war Bestechung.“ „Vater hat Sam bestochen, mich zu heiraten?“ Ihre Stimme klang ganz seltsam. „Du hast es erfasst.“ „Womit?“ „The Mercantile.“ „Vater hat Sam The Mercantile versprochen, wenn er…“ „… dich heiratet. Mein Erbe. Ich wollte es einfach nicht glauben. Als ich Dad darauf ansprach, bat er mich nur, mir keine Sorgen zu machen, denn er würde sich um alles kümmern. Dieser alte Lügner! Von seinen Versprechen halte ich gar nichts. Deswegen bin ich hier, denn du sollst wissen, dass ich das nicht hinnehme. Ich muss vielleicht zuschauen, wie Chloe ihr Leben mit irgendeinem Fremden versaut, und ich sehe ein, dass es niemandem nützt, wenn ich Marybeth verklage. Aber du kannst verdammt sicher sein, dass ich meinen Vater verklage, wenn er das Versprechen, das er mir gegeben hat, bricht, um dir einen Mann zu kaufen!“ Seiner Schwester fehlten die Worte. „Delilah?“ Patrick starrte sie an. „Geht es dir gut?“ „Alles in Ordnung“, murmelte sie. Natürlich war nichts in Ordnung, aber das würde sie ihrem Bruder gegenüber nicht zugeben. „Meine Güte, du liebst diesen Kerl wirklich, nicht wahr? Hast du noch nicht herausgefunden, dass er nichts Gutes im Schilde führt?“ wollte Patrick wissen. „Besonders nachdem du mit drei Brüdern aufgewachsen bist, die so sind wie er?“ Delilah wandte sich ab. „Da habe ich wohl zu viel gesagt. Es tut mir Leid…“ Das wollte sie nicht. Niemand sollte Mitleid mit ihr haben. „Danke für die Information, Patrick. Du kannst sicher sein, dass ich sie verwenden werde. Jetzt geh bitte.“ „Aber Schwester…“ Patrick sah nun dümmlich aus. „Vielleicht bin ich etwas zu weit mit meiner Bemerkung gegangen, dass Dad dir einen Mann gekauft hat, und ich…“ „Hör auf, Patrick, es reicht.“ „Mist!“ Delilah ging einige Schritte auf ihn zu, damit er erkannte, dass sie es Ernst meinte. „Geh jetzt bitte.“ Sie hatte die Arme vor der Brust verschränkt und wies mit dem Kopf in Richtung Tür. „Sofort.“ „Okay, okay…“ Patrick stand auf und ging aus der Küche ins Wohnzimmer. „In letzter Zeit scheine ich immer die falschen Worte zu finden…“ „Tschüss, Patrick.“ Endlich schloss er die Tür hinter sich. Danach wusste Delilah nicht, was sie mit sich anfangen sollte. Wenn Patrick Recht hatte, dann machten die Widersprüche in Sams Verhalten
einen Sinn. Sein plötzliches Werben um sie, sein Drängen auf eine Hochzeit in Reno, bevor sie nach Hause kamen. Von Liebe war bisher nie die Rede gewesen. Und jetzt wusste Delilah, warum. Aber dann dachte sie an seine Küsse, seine Zärtlichkeit und seine liebevollen Blicke. Wir brauchen keine Lügen zwischen uns… Du könntest mich wirklich verletzen, denn ich habe mich dir gegenüber geöffnet… Alles, was sie gemeinsam erlebt hatten, war echt gewesen, dessen war sie sich sicher. Natürlich hatte sie in Liebesdingen nicht viel Erfahrung, aber sie glaubte schon, instinktiv zu wissen, was wahr und was gelogen war. Sollte sie sich so getäuscht haben? Zwanzig Jahre lang hatte sie sich von Sam Fletcher fern gehalten. Sie hatte ihm nicht über den Weg getraut. Erst im letzten Monat hatte sie ihre Meinung über ihn geändert. Wer war nun der echte Sam? Der, den sie zwanzig Jahre lang bekämpft hatte, oder der, der sich ihr in den letzten Wochen aufgedrängt hatte? Delilah spürte Schmerzen in der Herzgegend, und sie musste sich setzen. Jetzt wollte sie auf Sam warten und ihn fragen, ob Patrick die Wahrheit gesagt hatte.
14. KAPITEL Etwas beunruhigte Marty. Sam spürte es, als er zu ihm in den Laden kam, aber Marty äußerte sich erst eine Dreiviertelstunde später, als er mit Sam die Belege prüfte. „Mr. Fletcher, warum haben Sie mir nicht gesagt, dass Sie mit Miss Jones wegfahren würden?“ Unsicher schaute Sam seinen Angestellten an. „Wer behauptet das?“ „Kommen Sie, Mr. Fletcher. Seit Mitte der Woche redet man in der Stadt über nichts anderes.“ Sam schüttelte den Kopf. Damit hatte er schon gerechnet. „Worüber beklagst du dich? Du hast es doch schnell herausgefunden.“ „Also.“ Marty klang wirklich verletzt. „Es wäre nett gewesen, wenn Sie es mir gesagt hätten. Dann hätte ich gewusst, dass Sie mir vertrauen.“ „Schau, Marty, es ging um Miss Jones und mich und hatte nichts mit dir zu tun.“ „Nun, Sie haben sich geirrt. Es ging mich schon etwas an.“ „Inwiefern?“ „Haben Sie schon mit Jared Jones geredet?“ „Nein. Ist er in der Stadt?“ „Gestern Morgen war er es noch.“ „Und?“ „Er hat Sie hier gesucht.“ Sam lächelte, als er an seinen alten Freund dachte. „Jared und ich sind schon lange befreundet.“ Marty schüttelte den Kopf. „Mr. Fletcher, Sie verstehen mich nicht ganz. Jared Jones wirkte nicht so, als wollte er über alte Zeiten reden. Er packte mich am Hemd, hob mich hoch und wollte von mir wissen, wo zum Teufel Sie mit seiner Schwester hingefahren wären. Wenn ich es ihm nicht sagte, würde ich niemals Vater werden können.“ „Hast du es ihm gesagt?“ fragte Sam nach einer Weile. „Natürlich nicht. Ich mag meinen Job.“ „Ist noch alles an dir dran?“ „Bis jetzt ja.“ „Danke, Marty“, sagte Sam, und er wagte sich gar nicht vorzustellen, was passiert wäre, wenn Jared wütend in der Hütte aufgetaucht wäre. Eigentlich hätte er mit dieser Reaktion rechnen müssen. Von den drei Jones-Brüdern war Jared immer der gewesen, der seine Schwester beschützen wollte. Dass Sam und Jared immer gute Freunde gewesen waren, hieß noch lange nicht, dass Jared Sam als Mann für Delilah akzeptierte. „Was werden Sie jetzt tun?“ wollte Marty wissen. Selbst nach längerem Nachdenken fiel Sam keine zufrieden stellende Antwort ein. Marty hüstelte nervös. „Mr. Fletcher?“ Jetzt erinnerte Sam sich an die Frage. „Mach dir keine Sorgen, Marty, wir werden schon alles regeln.“ Mit dieser Antwort gab Marty sich nicht zufrieden. „Aber was werden Sie tun?“ fragte er. „Am besten rede ich mit ihm. Jared ist zwar leider kein guter Zuhörer, wenn er wütend ist, aber wenn ich ihm erkläre, was wirklich los ist, dann wird er sich beruhigen.“ „Was ist denn wirklich los, Mr. Fletcher?“ wollte Marty wissen. „Nichts, alles ist in Ordnung.“ „Könnten Sie sich nicht etwas deutlicher ausdrücken?“
„Verdammt noch mal, Marty.“ „Kommen Sie schon. Dem Mann, der künftige Generationen von Santinos aufs Spiel gesetzt hat, nur um Sie nicht zu verraten, können Sie es doch sagen.“ „Wir werden heiraten.“ Marty riss die braunen Augen weit auf. „Ist das ein Witz? Sie und Miss Jones. Das haut mich glatt um… Wann ist die Hochzeit?“ „In einigen Wochen in der Community Church.“ „Mensch, wer hätte das gedacht?“ Jetzt lächelte Sam. „Ja, die Welt ist ganz schön verrückt, nicht wahr?“ Marty grinste nun zurück und rückte dann näher an Sam. „Mr. Fletcher?“ „Was gibt’s?“ „Wenn Sie Miss Jones wirklich glücklich machen wollen, dann wissen Sie doch, was zu tun ist“, flüsterte Marty mit einem Blick auf Sams Haare. Sam betrachtete Marty nachsichtig. „Nur weil dein Vater Friseur ist, glaubst du, dass jeder Mann in der Stadt sich die Haare schneiden lassen muss.“ „Aber Sie haben doch gemerkt, was Sie bei ihr erreicht haben, nachdem Sie den Bart abrasiert hatten.“ „Meine Haare gefallen ihr“, murmelte Sam und dachte daran, wie sie ihm das Haar gewaschen hatte und wie sie mit den Fingern durchfuhr, wenn sie sich liebten. Andererseits hatte sie ihm auch schon gesagt, dass sie kürzere Haare bevorzugen würde. „Ja, aber falls Sie ihren Bruder fertig machen müssen, dann ist es doch besser, wenn Sie noch ein Ass im Ärmel haben. Damit Sie ihr zeigen können, wie viel sie Ihnen bedeutet. Denken Sie mal darüber nach.“ „Schon gut.“ Er holte das Scheckheft und schrieb einen Scheck aus. „Danke. Ein kleiner Bonus für gut geleistete Arbeit.“ Als Marty den Betrag sah, riss er wieder die Augen auf. „Wie ich schon sagte, der Job gefällt mir. Jetzt gehe ich besser nach Hause, denn Mom wartet sicher schon mit dem Essen.“ Sam begleitete ihn bis zur Tür. Danach schloss er den Laden ab und ging zur Post. Zuerst holte er seine Briefe, dann ging er zu Delilahs Fach. Er versuchte gerade, ihre Post herauszuholen, als Linda Lou Beardsly hereinkam. „Hören Sie sofort damit auf, Sam Fletcher!“ rief sie empört. Sam drehte sich um. Linda Lou war eine große knochige Frau mit langem Gesicht, die im Moment einem wütenden Maulesel glich. „Haben Sie ein Problem, Mrs. Beardsly?“ „Allerdings, Mr. Fletcher. Sie haben gerade Delilah Jones’ Postfach aufgebrochen.“ „Delilah hat mich gebeten, ihre Post abzuholen.“ „Schwer zu glauben“, konterte Linda Lou. „Sie können mir glauben“, antwortete Sam geduldig. „Woher sollte ich sonst die Kombination für ihr Postfach kennen?“ „Ich könnte mir schon diverse Möglichkeiten vorstellen. Ich weiß schließlich, wie Sie sind.“ Eigentlich müsste er Linda Lou bitten, sich bei Delilah nach der Wahrheit zu erkundigen, aber sie war sehr nervös gewesen, als er sie verlassen hatte. Man wusste nicht, welche Folgen ein Anruf von Linda Lou für Delilahs seelisches Gleichgewicht haben würde. Nellie Anderson hatte sie wahrscheinlich schon angerufen, wenn er das richtig einschätzte. Linda Lou presste ihre dünnen Lippen missbilligend zusammen. „Sie haben schon genug angestellt. Wie kann ein Mann wie Sie eine so liebe Person wie Delilah entführen. Aber jeder weiß, wie sehr Sie sie schon immer gehasst haben und nur
darauf gewartet haben, ihr Leben zu zerstören.“ „Mrs. Beardsly…“ Sie war noch nicht fertig. „Es ist unverzeihlich, was Sie ihr angetan haben.“ „Mrs. Beardsly, Delilah geht es sehr gut. Sie ist gerade zu Hause und bereitet ein Hähnchen für unser Abendessen zu.“ „Für wie dumm halten Sie mich? Niemals würde Delilah Jones freiwillig für Sie kochen.“ „Nun, wie dumm auch immer Sie sind oder nicht, jedenfalls geht Sie das alles gar nichts an, Mrs. Beardsly.“ „Geht mich nichts an!“ Sie schien immer zu wiederholen, was Sam sagte. „Delilah Jones ist eine sehr gute Freundin. Und wir alle wissen, dass sie nie aus freien Stücken mit Ihnen gegangen wäre. Sie wollte nur einen ihrer nichtsnutzigen Brüder vor dem Ruin bewahren.“ „Hier scheint ja jeder alles über jeden zu wissen“, murmelte Sam. „Wir sind in North Magdalene. Hier kümmert sich jeder um den anderen. Wo war ich stehen geblieben? Ah, ja… Aber jetzt ist Delilahs Qual vorbei. Sie hat die Schulden ihres Bruders bezahlt, und ich verlange, dass Sie sie in Ruhe lassen.“ Sam betrachtete die alte Keifziege und überlegte, was er jetzt tun sollte. Wahrscheinlich stürzte sie sich wie eine Furie auf ihn, wenn er Delilahs Post aus dem Fach holte. Plötzlich fühlte er sich erschöpft. Er dachte an Jared, der seinen Angestellten bedroht hatte, weil er herausfinden wollte, wohin er mit Lilah gefahren war. Jetzt diese Konfrontation mit Linda Lou. Kein Wunder, dass Lilah sich Sorgen machte, was die Leute denken würden. Er war davon ausgegangen, dass die meisten Menschen grundsätzlich aufgeschlossen waren. Als er in Linda Lous wütendes Gesicht schaute, zweifelte er an seiner früheren Meinung. „Einfach unmöglich. Sie stehlen ihre Post… mir fehlen die Worte!“ „Gut“, unterbrach Sam. „Dann halten Sie einfach den Mund.“ „Wiebi…“ „Halten Sie den Mund!“ Linda Lou schnappte entsetzt nach Luft, aber sie blieb ruhig. Er warf ihr einen bösen Blick zu, und sie schwieg. Wahrscheinlich hatte sie Angst davor, was der böse Sam Fletcher einer armen Frau antun konnte, die sich am Ostersonntag in einem verlassenen Postamt befand. Sam wollte ihr schön sagen, dass er Lilah heiraten wollte, aber er bezweifelte, dass sie ihm glauben würde. Die Post würde warten müssen. Er würde sie mit Lilah gemeinsam nach dem Essen abholen. „Sehen Sie, ich lasse die Post hier. Delilah wird sie später selbst holen.“ „Davon können Sie ausgehen, Sam Fletcher.“ Sam fragte sich, wie er Delilah von der Begegnung mit Linda Lou erzählen sollte, ohne dass sie sich aufregte. Zum ersten Mal seit seinem Heiratsantrag fragte er sich, ob wirklich alles gut gehen würde. Wie ein Gefangener, der aus dem Gefängnis entlassen wird, stürzte Sam aus dem Postgebäude nach draußen und atmete erleichtert die frische Luft ein. Er wollte schnell zu Lilah gehen, obwohl er erst in einer Stunde mit ihr verabredet war. Sam wollte sie berühren und küssen und sicher gehen, dass sie immer noch zu ihrem Wort stand. Leider musste er an The Hole in the Wall vorbeigehen, und Rocky Collins kam gerade aus der Tür. Rocky sah so aus, als hätte er schon einige ordentliche Schlucke seines geliebten
Tequila getrunken. „Meine Güte, wen haben wir denn da? Den Mann der Stunde!“ rief er. Auf diese Begrüßung hätte Sam gern verzichtet, und er wollte auch gar nicht genau wissen, was Rocky meinte. „Verschwinde, Rocky“, sagte er nur und ging weiter. „He Sam, komm schon!“ rief er. „Ich will dich mal was fragen!“ „Dann leg los, Rocky.“ „Wir wüssten alle gerne…“ „Ja?“ „Wie lief es mit der Lehrerin?“ „Das geht dich überhaupt nichts an“, erwiderte Sam. „Ja, das weiß ich…“ „Warum fragst du dann?“ „Aus Dummheit, wahrscheinlich.“ „Verzieh dich, Rocky.“ „Schon gut, ich verschwinde ja schon.“ Rocky drehte sich um und eilte die Straße entlang, so schnell es sein Zustand erlaubte. Während Sam ihm nachschaute, überlegte er, ob eigentlich jeder in der Stadt verrückt geworden war, nachdem er die Woche mit Delilah am Hidden Paradise Lake verbracht hatte. Vor weniger als zwei Stunden hatte er Delilah an ihrem Haus abgesetzt. Seitdem hatte jeder, den er getroffen hatte, etwas über sie beide zu sagen gehabt. Wenn er schon so viele Reaktionen erhalten hatte, wie mochte es ihr dann inzwischen ergangen sein? Jetzt war Sam nervös. Er wusste, dass er Delilah gedrängt hatte und sie zu einem Versprechen gezwungen hatte, bevor sie bereit war, es freiwillig zu geben. Genau davor hatte er Angst gehabt: dass sie nach Hause kämen und jeder sich das Maul über sie zerreißen würde. Dann würde Delilah feststellen, dass sie nicht die Frau des wilden Sam Fletcher werden konnte, und sie würde mit ihm Schluss machen. Aber sie war eine Frau, die ihr Wort hielt. Wenn sie ihm versprochen hatte, ihn zu heiraten, dann würde sie das auch tun. Ob ein zögerlich gegebenes Versprechen gegen Klatsch, zweideutige Andeutungen, Jareds Beschützerinstinkt und Linda Lous Entsetzen Bestand haben würde? Sam wollte bei Delilah sein, aber nur, wenn sie immer noch glaubte, dass sie die richtige Wahl getroffen hatte. Er wollte ihr einen Beweis für seine Zuneigung liefern. Deshalb ging er in sein Geschäft und suchte einen Diamantring aus, von dem er glaubte, dass er Delilah gefallen könnte. Sam steckte sich das samtene Schmuckkästchen in die Tasche und ging aus dem Geschäft. Draußen überlegte er, dass Schmuck nicht genug war. Es musste noch mehr geben, was er ihr schenken konnte, damit sie ihr Versprechen nicht bereute. Da kam ihm eine Idee. Er ging zu Santino’s Friseurladen und klopfte an die Tür, bis Julio mit einer Serviette um den Hals und einem halb vollen Glas Wein öffnete. „Was soll das?“ fragte Julio. „Kann man nicht einmal an Ostern in Ruhe zu Abend essen?“ Seine Frau Maria schaute ihm über die Schulter. „Komm schon herein, Sam. Du kannst gerne mit uns essen.“ „Nein, danke. Delilah kocht für mich.“ Maria und ihr Mann schauten sich viel sagend an. „Was können wir für dich tun?“ erkundigte Maria sich. „Ich wollte mir die Haare schneiden lassen und habe gar nicht daran gedacht,
dass Ostersonntag nicht gerade der richtige Zeitpunkt für einen Friseurbesuch ist.“ Wieder schauten die beiden sich an. Dann lachten sie fröhlich. „Ich schicke Marty mit einem Glas Wein hinunter“, sagte Maria zu ihrem Mann. „Und für dich auch eins, Sam.“ „Macht es euch auch nichts aus…?“ fragte Sam. Er brauchte keine Sorgen zu haben, denn Julio war so begeistert von der Idee, dem langhaarigen Sam die Haare zu schneiden, dass er sogar hinnahm, nicht in Ruhe essen zu können. „Gehen wir, Junge“, sagte Julio und führte ihn in den Salon. Sam setzte sich, und Julio begann mit der Arbeit. Nachdem er fertig war und Sams langes Haar auf dem Boden lag, drehte er ihn zum Spiegel. So schlecht sah er gar nicht aus. Julio reichte ihm einen Handspiegel, damit er sich auch von hinten betrachten konnte. Sam lachte. „Stimmt etwas nicht?“ fragte Julio besorgt. „Nein“, erwiderte Sam. „Ich dachte nur gerade, dass ich nach zwanzigjährigem Kampf nun von vorne und von hinten respektabel aussehe.“ „Du siehst gut aus“, stellte Julio fest. „Ja, das finde ich auch. Vielen Dank.“ Julio nahm ihm den Umhang ab und bürstete den Nacken aus. „Fertig.“ Sam bedankte sich und bezahlte Julio großzügig, da er seinetwegen sein Essen unterbrochen hatte. Dann machte er sich auf zu Lilah, während sein Kopf sich so leicht wie noch nie anfühlte. Sam war noch etwas zu früh und immer noch nervös, aber jetzt konnte er ihr wenigstens deutlich zeigen, was sie ihm bedeutete. Auf dem Weg zu ihr wurde er glücklicherweise nicht mehr aufgehalten. Da die Tür offen war, ging Sam direkt ins Haus. Drinnen war es warm und gemütlich, und Sam stellte fest, wie sehr ihm Delilahs Haus gefiel. Sein Magen knurrte, als er den Duft des Brathähnchens wahrnahm. Ihm fiel auf, dass sie seine Holztiere alle in der Nähe des Tisches aufgestellt hatte. Der Gedanke, dass Delilah sie ab und zu betrachtete, gefiel ihm sehr. Das Hähnchen war sicher jetzt fertig, und der Tisch war noch nicht gedeckt. Das könnte Sam übernehmen. Er ging in die Küche, wo Delilah aus dem Fenster starrte. Das Hähnchen lag im Ofen. Allerdings war der Salat noch nicht zubereitet, und Gemüse sowie Kartoffeln waren noch nicht gekocht. Das beunruhigte Sam. Er stellte sich hinter Delilah und legte die Arme um sie. Sie versteifte sich. „He, ich bin es nur“, meldete Sam. Delilah zeigte keine Reaktion. „Lilah?“ Er drehte sie zu sich. „Was ist los?“ Sie ging von ihm weg und setzte sich an den Tisch. „Lilah, sprich mit mir.“ Sie nahm den kleinen Waschbären in die Hand, den er ihr am ersten Abend geschnitzt hatte. „Ich habe über einiges nachgedacht, Sam. Liebst du mich eigentlich?“ Nun bekam Sam Angst. Ging es ihr gut? „Lilah, was ist los? Sag es mir, Schatz!“ Delilah lächelte kalt. „Komm schon, Sam. Beantworte meine Frage. Man braucht keinen College-Abschluss, um sie zu beantworten. Ich will nur ein Ja oder Nein.“ „Ja“, erwiderte er. „Was ist denn eigentlich los? Hat Nellie Anderson dir die Ohren voll gejammert? Oder hat Linda Lou dich angerufen?“
Diese Fragen ignorierte Delilah. Sie stellte den Waschbären auf den Tisch. „Rede mit mir, Lilah…“ Sie zuckte mit den Schultern. „Dein Ja klang nicht gerade überzeugend“, sagte sie leise. „Kannst du mich bitte ansehen, wenn du mit mir redest?“ Das tat sie nicht, aber sie sprach weiter. „Patrick war hier.“ „Und?“ „Er hat mir von Wetten in Dads Bar berichtet.“ „Worum wurde gewettet?“ „Ob du mich ins Bett bekommst.“ Sam fluchte leise. „Das ist noch nicht alles. Die andere ging darum, ob du mich überredest, dich zu heiraten.“ „Lilah…“ Immer noch blickte sie an ihm vorbei. „Das kommt mir merkwürdig vor“, fuhr sie fort. „Dass sie wetteten, ob du mich dazu bringst, dich zu heiraten. Normalerweise glauben Männer, dass Frauen diejenigen sind, die vor den Traualtar wollen.“ „Lilah.“ Sam bemühte sich um Geduld. „Was soll das Ganze?“ „Die Wette, ob du mich dazu bringst, dich zu heiraten, kam mir komisch war. Aber Patrick hat es mir erklärt. Er sagte, dass du vor einem Monat mit Vater über mich geredet hast und dass Vater dir The Mercantile versprochen hat, falls du mich heiratest.“ „Lilah.“ Mit einer Handbewegung bat sie ihn, zu schweigen. „Ich wollte abwarten und mit dir reden, bevor ich mir Gedanken über die Widersprüche in deinem Handeln machte. Aber leider konnte ich mein Gehirn nicht abschalten, und ich musste an den Tag denken, an dem ich die Spenden für den Glockenturm gesammelt habe. Damals sagte mein Vater, dass er einen Mann für mich gefunden hätte und dass der sich bald bei mir melden würde. Natürlich hielt ich diese Idee für lächerlich, aber als ich in dein Geschäft kam, fragtest du mich, ob ich mit meinem Vater geredet hatte. Erinnerst du dich?“ „Ja.“ „Ab dem Zeitpunkt hast du mich immer so merkwürdig angesehen, wenn wir uns begegnet sind. Bald darauf wolltest du dich mit mir verabreden. Ich wollte wissen, ob mein Vater dahinter steckte, aber du hast es abgestritten. Du hast mich jedoch angelogen.“ „Lilah…“ „Warte, ich bin noch nicht fertig. Du wolltest dieses Gebäude, und deshalb hast du dich für mich interessiert. Niemals hast du gesagt, dass du mich liebst, denn du liebst mich nicht. Du selbst sagtest, dass wir uns nicht belügen dürfen, aber alles, was du von dir gegeben hast, war gelogen!“ Nun schlug sie mit der Faust auf den Tisch, so dass die Holzfiguren wackelten. „Was nun?“ fragte sie wütend. „Was bedeutet das?“ „Willst du dich nicht dazu äußern?“ „Warum sollte ich? Mir scheint, du hast schon alles gesagt.“ Einen Moment lang schaute ihn Lilah an. „Sag, dass es nicht wahr ist…“, begann sie leise. Dann aber nahm ihre Wut wieder überhand. „Jetzt rede schon!“ verlangte sie. „Okay.“ Er verschränkte die Arme vor der Brust, weil er sich nicht im Nacken reiben wollte, denn Delilah hatte noch gar nicht bemerkt, dass Sam keinen
Pferdeschwanz mehr trug. Jetzt wollte er gar nicht mehr, dass sie sah, was er ihr zuliebe getan hatte. Er musste den Tatsachen ins Auge sehen: Niemals würde es mit ihnen funktionieren, und er war dumm gewesen, zu glauben, dass eine Frau, die ihn zwei Jahrzehnte lang gehasst hatte, auf einmal seine beste Freundin und seine Frau werden wollte. Leider hatte sich die Befürchtung, sie zu verlieren, wenn sie nach North Magdalene zurückkehrten, erfüllt. Delilah biss nervös auf ihre Unterlippe, und Sam hatte Mitleid mit ihr. „Warum sollte ich noch mit dir streiten? Du hast ja schon dein Urteil gefällt.“ „Hat mein Vater dir das Gebäude angeboten, falls du mich heiratest?“ „Ja.“ Er hoffte immer noch, dass sie ihn verstand. „Aber…“ „Aber was?“ „Deshalb habe ich mich nicht für dich interessiert.“ „Nein?“ „Nein.“ „Tatsächlich?“ Jetzt ärgerte sich Sam, denn sie hatte ihn nicht nur verurteilt, sondern sie wollte auch noch, dass er sich verteidigte. „Du willst Schluss machen, ist es das?“ Abweisend schaute sie ihn an. „Okay, dann sagen wir das Ganze ab. Aber ich will keine Lügen, okay?“ „Nenne mich bloß nicht Lügnerin“, erwiderte sie verächtlich. „Wir beide wissen genau, wer hier nicht die Wahrheit sagt!“ „In deinem Innern weißt du, dass du lügst“, sagte er ruhig. Delilah schnappte nach Luft. „Tief in deinem Herzen weißt du, was du tust. Und es geht nicht darum, dass du von mir keine Liebesschwüre gehört hast und dass dein Vater mir The Mercantile versprochen hat. Worum es wirklich geht, ist, wer wir beide sind. Zwanzig Jahre lang hattest du eine bestimmte Meinung von mir, ohne jemals zu prüfen, ob sie stimmte.“ Jetzt wirkte Delilah betroffen, aber Sam wollte sich nicht erweichen lassen. „Ich hatte gehofft, dass du nach dieser Woche den echten Sam erkennen würdest. Aber ich habe mich geirrt. Und du siehst dich selbst auch nicht so, wie du wirklich bist.“ „Das stimmt nicht“, warf Delilah ein. „Doch, denn du hast ein Bild von der Person geschaffen, die du gerne sein möchtest. Du wolltest immer anders sein als deine chaotische Familie. Nach dem College bist du hierher zurückgekommen, obwohl du irgendwo ganz von vorn hättest anfangen können. Aber du wolltest dieser Stadt etwas beweisen, nicht wahr? Wieder zu Hause, arbeitest du als Lehrerin, hast dich nie mit einem Mann eingelassen und hast dich ganz bewusst mit den engstirnigsten Bürgern dieser Stadt angefreundet. Du hast dich neu geschaffen. Eine Jones, die sich nicht wie eine Jones verhält, sondern ein ruhiges unspektakuläres Leben führt. Eine engagierte Lehrerin, die jeden Sonntag in die Kirche geht und am Samstagabend ihre Blumen gießt. Du hast dich neu erfunden, und die Person, die du erfunden hast, würde sich niemals etwas aus einem Mann wie mir machen.“ „Nein!“ „Doch.“ Er schaute in Delilahs dunkle Augen, in die er gerne für den Rest seines Lebens schauen würde. „Also gut“, sagte er tonlos. „Belüge dich selbst. Mach, was du willst.“ Sprachlos sah sie Sam an, und er konnte an ihrem Gesicht ablesen, dass jedes Wort, das er gerade geäußert hatte, der Wahrheit entsprach. Delilah hatte
gelogen, und am schlimmsten war, dass sie sich selbst belogen hatte. „Oh, Sam…“, flüsterte sie und streckte die Arme nach ihm aus. Er trat zurück. Es war zu spät, er konnte ihr nicht mehr trauen. Jetzt erkannte er, dass sie immer an ihm gezweifelt hatte. Schon eine winzige Bemerkung von außen konnte sie gegen ihn aufbringen, und er hatte keine Lust, sein Leben damit zu verbringen, seine Frau ständig davon zu überzeugen, dass sie ihm vertrauen konnte. Wütend wischte er die Holzfiguren vom Küchentisch. Sam blickte Delilah an, und sie schien meilenweit von ihm entfernt zu sein. „Auf Wiedersehen“, sagte er sehr leise. Dann ging er an Delilah vorbei und verließ ihr Haus.
15. KAPITEL Delilah konnte nicht ertragen, dass Sam wegging. Tränen liefen ihr über das Gesicht. Zu ihren Füßen lag der kleine Waschbär und starrte sie an. Sie bückte sich, nahm ihn in die Hand und stellte ihn vorsichtig auf den Tisch. Dann sammelte sie alle Holztiere ein und stellte traurig fest, dass das Rehkitz und die Eule beschädigt waren. Sie versuchte, an gar nichts zu denken, aber sie konnte nicht abschalten. Alles, was Sam behauptet hatte, stimmte. Das Image, das sie sich geschaffen hatte, ließ keinen Raum für Sam. Unbewusst hatte sie nur auf einen Grund gewartet, um ihn wieder loszuwerden. Während sie das Rehkitz streichelte, klingelte es an der Tür. Delilah schaute auf und wischte ihre Tränen mit dem Handrücken weg. Die Tür ging langsam auf. „Delilah?“ fragte Nellie. Am liebsten hätte Delilah sich in Luft aufgelöst. Nellie war der letzte Mensch, den sie jetzt sehen wollte. Kurz überlegte sie, ob sie zur Hintertür hinausgehen sollte. Leider war sie nicht schnell genug, denn Nellie schaute schon herein. „Oh“, sagte Nellie überrascht, aber als sie Delilahs Tränen sah, seufzte sie, und ihre Augen füllten sich ebenfalls mit Tränen. „Meine Liebe, was hat er dir angetan?“ Nellie schob die Tür ganz auf, und Delilah bemerkte, dass Linda Lou bei ihr war. Delilah wollte die beiden schon bitten, sie allein zu lassen, als sie sich wie Glucken auf sie stürzten, sie umarmten und sie baten, sich keine Sorgen zu machen. „Komm doch ins Wohnzimmer, und setz dich…“, schlugen sie vor. „So ist es schon besser. Hier ist ein Taschentuch…“ „Ich mache dir eine Tasse Tee…“ Während Nellie in die Küche ging, blieb Linda Lou bei Delilah und streichelte ihre Hand. „Alles wird wieder gut“, tröstete sie. „Dieser Mann sollte erschossen werden.“ Obwohl Delilah es genossen hatte, sich von ihren Freundinnen trösten zu lassen, rückte sie jetzt von Linda Lou weg. Sie hatte Sam schon Unrecht getan, aber sie würde es nicht noch einmal tun. „Nein“, begann sie schluchzend, „ihr versteht das nicht…“ „Natürlich verstehen wir. Dieser Sam Fletcher ist verrückt…“ „Nein, nein. Oh, Linda Lou, du begreifst es einfach nicht.“ „Sicher tue ich das. Jeder bewundert dich, dass du dich für deinen Bruder geopfert und eine Woche mit diesem schrecklichen Kerl verbracht hast, um…“ „Hör auf“, bat Delilah. „Hör sofort auf.“ Sie putzte sich die Nase und setzte sich gerade hin. „Du bist meine Freundin, Linda Lou, und ich halte sehr viel von dir. Aber ich dulde nicht, dass du etwas Schlechtes über Sam sagst.“ Linda Lou riss die Augen auf. „Du bist wirklich selbstlos. Nach allem, was er dir angetan hat, willst du Sam nicht schlecht machen?“ „Komm schon, Linda Lou“, widersprach Delilah und putzte sich erneut die Nase. „Was du sagst, macht keinen Sinn. Habe ich mich jemals vorher geweigert, Sam Fletcher herabzusetzen?“ „Nein.“ „Natürlich habe ich das nicht. Ich war immer diejenige, die erzählt hat, wie gemein und bösartig er ist. Aber ich habe mich geirrt.“ „Geirrt?“ wiederholte Linda Lou entgeistert. „Richtig.“ Diese Information schien Linda Lou gar nicht zu gefallen, wenn man von ihren
zusammengepressten Lippen ausging. Aber ihr Gesichtsausdruck wurde sanfter. „Alles wird wieder gut, meine Liebe. Du brauchst nur etwas Ruhe. Du lässt dich von der Schule beurlauben und unterhältst dich einmal mit Pastor Johnson…“ Delilah schob die Hand der Freundin weg. „Hör bitte auf, Linda Lou.“ Die Freundin ließ sich nicht entmutigen. „Du warst sehr angespannt. Jetzt versuche einfach…“ „Mit mir ist alles in Ordnung.“ „… zu entspannen. Dein hysterischer Anfall ist gleich vorbei, und danach fühlst du dich wieder besser.“ „Ich habe keinen hysterischen Anfall.“ „Wie du meinst.“ Der gönnerhafte Ton war zu viel für Delilah, und sie stand auf. „Schau mich genau an, Linda Lou. Sehe ich aus wie eine Verrückte?“ Die Freundin wirkte verletzt. „Aber, Delilah…“ „Glaubst du, dass ich verrückt geworden bin?“ Linda Lou blinzelte und schaute weg. Jetzt reichte es Delilah. „Nellie!“ brüllte sie. „Ja, Liebes.“ „Komm sofort her!“ „Aber der Tee…“ „Vergiss den Tee, und komm her!“ Nellie eilte ins Wohnzimmer. „Was ist denn los?“ „Setz dich“, befahl Delilah. „Neben Linda Lou.“ „Ja, sofort“, erwiderte Nellie. „Ihr seid meine Freundinnen, und ich hoffe, dass ihr das auch bleibt. In der letzten Zeit habe ich festgestellt, dass ich einem gewissen Mann gegenüber grausam und ungerecht gewesen bin. Ihr beide wisst, von wem ich rede: von Sam Fletcher.“ „Das stimmt doch gar nicht“, widersprach Linda Lou. „Doch“, insistierte Delilah. „Es stimmt, dass ich ihn schon seit Jahren falsch eingeschätzt habe. Das aber ändert sich jetzt. Außerdem habe ich mich nicht richtig verhalten. Ich war weder mir selbst gegenüber ehrlich noch den Menschen, die mir etwas bedeuten. Ich habe mich immer verstellt, denn im Innern ähnele ich Sam sehr. Allerdings habe ich meine wilde Seite seit Jahren unterdrückt.“ „Nein“, hauchte Nellie, „das stimmt nicht.“ „Und ob es stimmt.“ Delilah schaute Nellie ins Gesicht. „Als du mich vor zwei Wochen anriefst, wollte er sich mit mir verabreden.“ „Ich wusste, dass etwas passiert war“, behauptete Nellie. „Du hattest Recht, und ich wollte damals mit ihm ausgehen…“ „Nein!“ „Doch, aber ich wollte es nicht zugeben. Deshalb hatte Sam verzweifelt versucht, meine Aufmerksamkeit zu erregen.“ „Die Wette“, verkündete Linda Lou. „Richtig. Und jetzt hat er es geschafft.“ Nellie stand auf, um sich gleich wieder zu setzen. „Was sagst du da?“ „Er hat um meine Hand angehalten.“ „Das kann nicht sein“, meinte Linda Lou entgeistert. „Er hat es getan, und ich habe Ja gesagt.“ „Um Himmels willen!“ stöhnte Linda Lou und fasst sich mit der Hand ans Herz. „Aber ich habe ihm nicht wirklich geglaubt und ihn sehr verletzt. Wahrscheinlich wird er mir niemals verzeihen, egal, was ich tue…“
Nellie wollte die Einzelheiten erfahren. „Was ist denn passiert?“ „Es ist zu kompliziert, um es dir jetzt zu erklären.“ Beide Frauen waren enttäuscht. „Die Hauptsache ist, dass ich ihn liebe“, fuhr Delilah fort. Jetzt schnappten die Freundinnen gleichzeitig nach Luft. „Ich liebe Sam Fletcher, und das ist die Wahrheit. Ihr könnt mich verrückt nennen, mitleidig den Kopf schütteln oder mir sagen, dass ich mit Pastor Johnson sprechen soll, aber es ist mir egal, denn Sam Fletcher ist der Mann für mich. Er ist es auch immer gewesen, egal, ob er mich noch mal in seine Nähe lässt oder nicht. Und jeder, der etwas gegen ihn sagt, wird nicht mehr mit mir befreundet sein. Habt ihr verstanden?“ Fassungslos starrten Nellie und Linda Lou ihre Freundin an. „Verstanden?“ fragte sie erneut. „Aber Liebes…“, begann Nellie. „Aber Süße…“, meinte Linda Lou. Beide schwiegen, als man von draußen Schritte hörte. Delilah drehte sich um. Ihr jüngster Bruder stand in der Tür. „Brendan“, sagte sie leise. „Was gibt es jetzt schon wieder?“ „Delilah…“ Brendan holte Luft. Seine Haare waren zerzaust, sein Gesicht gerötet. Er sah aus, als sei er gelaufen. „Ich muss mit dir reden!“ „Komm herein“, bat sie ihn. „Und mach die Tür zu.“ Brendan befolgte die Aufforderung und kam ins Haus. Er nickte den beiden Damen auf dem Sofa zu. „Ladys…“ „Guten Abend.“ „Hallo, Brendan.“ „Was gibt es diesmal?“ unterbrach Delilah die Förmlichkeiten. „Es geht um Jared…“ Er sah zu den Frauen auf der Couch. „Können wir unter vier Augen reden?“ „Warum? Hier hat man sowieso keine Geheimnisse. Schließlich wohnen wir in North Magdalene.“ Delilah näherte sich ihrem Bruder und schaute ihn genau an. „Was ist das denn?“ „Das siehst du doch. Ein blaues Auge.“ Er zuckte zusammen. „He, Hände weg.“ „Du hast dich mit Jared geprügelt?“ Brendan nickte. „Er wollte mich dafür bestrafen, dass du meinetwegen mit Sam weggefahren bist. Und er ist…“ Delilah schüttelte den Kopf. „Jared hat immer schon nach Streit gesucht.“ „Das will ich dir doch gerade sagen…“ „Jetzt komm endlich zur Sache, Brendan.“ „Schon gut. Jared hat überall nach Sam gesucht, und er hat geschworen, dass er ihn zusammenschlagen wird, weil er dich gegen deinen Willen mitgenommen hat. Dabei hat Dad ihm erklärt, dass Sam dich heiraten will…“ „Und?“ „Jared hat Sam gerade gefunden. In The Hole in the Wall. Statt vernünftig zu sein, spielt Sam genauso verrückt wie Jared. Wahrscheinlich sucht er auch nach Streit, falls du weißt, was ich meine.“ Delilah wurde ganz mulmig, denn sie wusste genau, warum Sam so schlechte Laune hatte. „Sie prügeln sich gerade“, fasste sie zusammen. „Richtig“, erwiderte Brendan. „Und falls du dir doch etwas aus Sam machst, dann…“ Sofort setzte sich Delilah in Bewegung. Sie rannte in die Küche, holte ihre Schlüssel vom Schlüsselbrett, ging zurück ins Wohnzimmer, wich ihrem verblüfften Bruder aus und riss die Tür auf.
„Was hast du vor?“ wollte ihr Bruder wissen. „Das entscheide ich zu gegebener Zeit“, erwiderte Delilah. Sie eilte nach draußen und setzte sich in ihren Wagen. Kaum hatte sie die Tür geschlossen, als Brendan sich auf den Beifahrersitz setzte und Nellie und Linda hinten einstiegen. „Was wollt ihr?“ fragte Delilah. „Wenn du ihn liebst…“, begann Linda Lou. „Die Lage kann aber ziemlich ungemütlich werden“, warnte Delilah. „Wir halten das schon aus“, versicherte Nellie. Ihre Augen glänzten – wie die ihrer Freundin Linda Lou. Delilah vermutete, dass die beiden es genossen, endlich einmal etwas Aufregendes zu erleben. Mit quietschenden Reifen fuhr Delilah los. Innerhalb von Minuten war sie an der Bar angekommen. Sie stieg aus und achtete nicht darauf, ob ihr Bruder und die beiden Freundinnen folgten. Sie hörte Fluchen und laute Geräusche und überlegte einen Moment, ob sie Sheriff Pangborn verständigen sollte. Wahrscheinlich hatte ihn schon jemand gerufen. Delilah öffnete die Tür zur Bar. Ein Stuhl wurde gerade umgeworfen, und das Stöhnen eines Mannes war zu hören. „Pass besser auf“, warnte Brendan, der hinter Delilah aufgetaucht war. „Eine Frau hat hier nichts zu suchen.“ „Halt den Mund, und komm schon“, forderte sie ihn auf. Sie drückte mit der Schulter gegen die Pendeltür und spürte einen Widerstand, weil jemand auf der anderen Seite dagegen gefallen war. Als sie noch fester drückte, öffnete sich die Tür. In der Bar herrschte das reine Chaos. Delilah versuchte, einen Überblick über die Lage zu gewinnen, aber das war schwierig, da sie sich vor umherfliegenden Biergläsern ducken musste. Trotzdem sah sie Jared und Sam, die wie Pitbulls aufeinander losgingen. Beide waren gleich stark, und niemand war so vernünftig aufzugeben. Ihr Vater versuchte, die Streithähne davon zu überzeugen, dass ein Kampf nicht notwendig sei, und als sie darauf nicht hörten, bat er sie, den Kampf nach draußen zu verlegen. „Ihr wildgewordenen Stiere! Verschwindet aus der Bar! Ihr macht alles kaputt! Haut ab!“ brüllte er. Nachdem sie sich einen Überblick verschafft hatte, verschwendete Delilah keine Zeit. Sie bückte sich und bewegte sich auf den Knien zur Theke. Sie versteckte sich dahinter, als ein Billardstock in den Spiegel über der Kasse geschleudert wurde. Das Glas splitterte, aber glücklicherweise blieb der Spiegel an der Wand hängen. Der Stock fiel auf die Theke und zerbrach Flaschen, deren Inhalt sich über die Theke auf den Boden ergoss. Delilah versteckte sich immer noch hinter der Theke und versuchte, Pfützen von Pfefferminzlikör und Orangenlikör auszuweichen. Sie suchte nach der Pistole, die ihr Vater aus Sicherheitsgründen in der Bar aufbewahrte. Gefunden! Sie holte die Pistole aus einer Schublade und stellte fest, dass sie geladen war. Gerade wurde ein Stuhl in den Spiegel geworfen, und die Glassplitter flogen durch den Raum. Jetzt ist der richtige Zeitpunkt, dachte sie. Schnell stand sie auf und sprang auf die Theke. Um sie herum wurde weiter gekämpft. An der Tür stand Linda Lou, die gerade einem der Kämpfenden ein Bein stellte. Als er wieder aufstand und auf sie zuging, schlug Nellie ihm mit einer Bierflasche auf den Kopf. Da sah Owen Beardsly seine Frau. „Linda Lou!“ brüllte er. „Mein Gott, Linda Lou!“ „Beruhige dich, Owen!“ bat Linda Lou und versetzte einem weiteren Mann, der
ihr zu nahe gekommen war, einen Stoß. In der Mitte der Bar verpasste Sam gerade Jared einen Schlag. Delilahs Bruder ging zu Boden, aber er richtete sich wieder auf. „Meine Herren!“ rief Delilah. „Bitte!“ Niemand achtete auf sie. Resigniert zielte sie mit der Pistole auf die Lampe, die die Bar beleuchtete. Sie gab vier Schüsse ab und zerstörte alle Glühbirnen. Beim dritten Schuss hörten alle auf zu prügeln und suchten Schutz. Alle, bis auf Sam und Jared, die Delilah entgeistert anstarrten. „Das reicht für heute!“ verkündete sie, und jetzt hörten ihr alle zu. „Der Kampf ist beendet.“ „Delilah, du hast die Glühbirnen zerschossen“, sagte ihr Vater und kratzte sich am Kopf. Geduldig sah sie ihn an. „Jemand musste doch etwas unternehmen.“ „Das ist mir klar, aber ich hätte niemals gedacht, dass ich den Tag erleben würde…“ „Mach dir keine Sorgen, ich ersetze dir die Glühbirnen.“ Da Delilah noch nicht wagte, Sam anzuschauen, warf sie ihrem Bruder Jared einen bösen Blick zu. „Was in aller Welt geht hier vor, Jared Jones?“ Jared, der nicht gerade für ein friedliches Wesen bekannt war, wischte sich das Blut aus den Augen und starrte seine Schwester an. „Ich verteidige dich. Was hast du denn gedacht?“ Zustimmendes Murmeln ertönte aus dem Hintergrund. „Hört auf, ihr ungehobelten Kerle!“ unterbrach sie Linda Lou. „Hört zu, was Delilah zu sagen hat.“ Wieder schaute sie ihren Bruder an. „Danke für deine Unterstützung, Jared, aber beim nächsten Mal solltest du erst mit mir reden.“ Jared verstand gar nicht, was Delilah eigentlich sagen wollte. „Seltsam, warum habe ich nur das Gefühl, dass du mir so dankbar nicht zu sein scheinst.“ „Und warum sollte sie dir dankbar sein, du Idiot? Du verprügelst ihren Verlobten“, warf Oggie ein. „Davon weiß ich nichts. Ich habe ihn gefragt, ob er meine Schwester heiraten will, aber er hat nicht darauf geantwortet. Du warst doch dabei. Er sagte, dass es niemanden etwas anginge, was zwischen ihm und Delilah passiert sei. Wenn ein Mann auf die Frage, ob er eine Frau heiraten will, nicht antwortet, dann sieht es doch ganz so aus, als sei er nur auf das Eine aus gewesen.“ Oggie wandte sich an Sam. „Sag es ihm, Sam. Sag ihm, dass du mein kleines Mädchen heiraten wirst. Stopf diesem Sturkopf das Maul, und mach mich zum glücklichsten Mann der Welt.“ Jetzt musste Delilah Sam anschauen, und er erwiderte ihren Blick. „Ja, wir heiraten. Wir lieben uns mehr, als irgendjemand wissen kann. Wir hatten unsere… Schwierigkeiten, aber wir werden sie gemeinsam meistern.“ Sie schaute Sam an, und hoffte, dass er ihr die Chance gab, ihm zu zeigen, dass sie die Frau war, der er vertrauen konnte. Wortlos schaute Sam sie an. „Stimmt das nicht, Sam?“ fragte sie in flehendem Ton. „Antworte ihr“, zischte Oggie. „Halt den Mund, Oggie“, sagte Sam leise und ging nach vorne. Die Männer wichen ihm aus, so dass er ungehindert zu Delilah gegen konnte, die immer noch auf der Theke stand. Zu ihren Füßen blieb er stehen. Sie schaute auf ihn hinunter und sah, was ihr vorher nicht aufgefallen war. „Sam! Oh, Sam…“ Ihre Stimme drückte ihre ganze Liebe aus. „Sam Fletcher, du hast dir die Haare abschneiden lassen!“ Sie war so gerührt, dass sie für einen Moment die Waffe in ihrer Hand vergaß.
Sie fiel ihr aus der Hand, und einige Männer ließen sich zu Boden fallen. Glücklicherweise konnte Brendan die Pistole rechtzeitig an sich nehmen, bevor sich ein Schuss löste. Erleichtert seufzten alle auf. Da sprang Delilah Jones in Sams Arme, und er fing sie mühelos auf. Seine Lippen berührten die ihren. Beide hörten die Jubelrufe nicht, sondern sie hatten nur Augen für einander. Schließlich mussten sie Luft holen. „Ich liebe dich, Delilah Jones“, verkündete Sam. Als sie diese Worte endlich hörte, war Delilah überglücklich. „Und ich liebe dich, Sam Fletcher. Bis dass der Tod uns scheidet.“ „Was bedeutet das jetzt?“ wollte Jared wissen. „Er hat immer noch nicht gesagt, dass er sie heiraten will.“ „Natürlich heiratet er mich“, klärte Delilah ihren Bruder auf, während sie den Blick nicht von dem Mann wandte, der sie in den Armen hielt. Eine Schnittwunde befand sich über seinem linken Auge. Sanft wischte sie das Blut ab. „Oh, Sam…“ Oggie räusperte sich. „Sam, was ich dich noch fragen wollte. Es geht um The Mercantile…“ Bittend schaute Delilah zu Sam. „Behalte alles“, knurrte Sam und strich Delilah über das Haar. „Was ich am meisten wollte, habe ich von dir bekommen.“ Oggie zwinkerte nun Patrick zu, der neben Owen Beardsly stand. „Auch ich habe alles, was ich mir je gewünscht habe“, verkündete Delilah. „Können wir jetzt nach Hause gehen, Sam?“ „Zu dir oder zu mir?“ „Egal, Hauptsache, wir sind zusammen.“ Glücklich hob Sam Delilah hoch und ging auf die Pendeltür zu. „Er hat The Mercantile und Brendans Truck aufgegeben, nur um die Lehrerin zu bekommen“, stellte Rocky Collins verwundert fest. „War sie es denn wert?“ fragte ein vorwitziger Kerl in der Nähe der Tür. „Das kannst du wohl sagen“, antwortete Sam und stieß die Tür auf. Delilah seufzte zufrieden und legte den Kopf an Sams Herz, als er sie aus der Bar in eine wunderbar milde Frühlingsnacht hinaustrug. - ENDE -