1
Über die Autorin Juliet E. McKenna liebt seit ihrer Kindheit Fantasy-Geschichten, von Pu der Bär bis zur Ilias. Ihre...
28 downloads
910 Views
2MB Size
Report
This content was uploaded by our users and we assume good faith they have the permission to share this book. If you own the copyright to this book and it is wrongfully on our website, we offer a simple DMCA procedure to remove your content from our site. Start by pressing the button below!
Report copyright / DMCA form
1
Über die Autorin Juliet E. McKenna liebt seit ihrer Kindheit Fantasy-Geschichten, von Pu der Bär bis zur Ilias. Ihre anhaltende Begeisterung für andere Welten und ihre Bewohner sorgte auch dafür, dass sie am St. Hilda’s College in Oxford Klassische Literatur belegte. Später arbeitete sie im Personalwesen und las dabei alles, was ihr in die Finger kam, bis sie begann, selbst zu schreiben. Nachdem sie ein paar Jahre lang Buchhandel und Mutterschaft unter einen Hut gebracht hatte, vereinbart sie nun ihre Arbeit als Schriftstellerin mit den Bedürfnissen ihrer Familie. Sie lebt mit ihrem Mann und ihren Kindern in West Oxfordshire.
BASTEI LÜBBE TASCHENBUCH Band 28 335 1. Auflage: Dezember 2002
Vollständige Paperbackausgabe Bastei Lübbe Taschenbücher ist ein Imprint der Verlagsgruppe Lübbe Titel der englischen Originalausgabe: The Gambler’s Fortune © 2000 by Juliet E. McKenna © für die deutschsprachige Ausgabe 2002 by Verlagsgruppe Lübbe GmbH & Co. KG, Bergisch Gladbach All rights reserved Lektorat: Wolfgang Neuhaus / Stefan Bauer Titelillustration: Atilla Boras Umschlaggestaltung: QuadroGrafik, Bensberg Satz: QuadroMedienService, Bensberg Druck und Verarbeitung: GGP Media, Pößneck Printed in Germany ISBN 3-404-28335-X Sie finden uns im Internet unter http://www.luebbe.de
Der Preis dieses Bandes versteht sich einschließlich der gesetzlichen Mehrwertsteuer
Für Michael, Rachel und Philip, die mir so viel geben, ohne es zu wissen.
Danksagungen Ich möchte mich meinem Bruder Philip Hucknall für seinen geistreichen Vorschlag danken, was den Titel betrifft. Mein Dank geht auch an alle, die sich an der großen Debatte um Singular oder Plural beteiligt haben. Wieder einmal haben sich Steve, Sue und Mike heldenhaft durch Entwürfe, Skizzen und Neufassungen gekämpft, wofür ich ihnen von Herzen danke. Außerdem kann ich keine Ideen zu Papier bringen, ohne dabei ständig nach neuen Inspirationen zu suchen, sodass ich all meinen Freunden danken möchte, die mich ihr Wissen, ihre Sammlungen und Bücherregale haben plündern lassen, allen voran Liz, Alan, Helen und Jo. Für die notwendige Ruhe, um Ideen zu einer Geschichte zu verarbeiten, danke ich Sharon und der NewlandVorschule. Bessere Herausgeber, PR- und Marketingmanager als Tim und Lisa, Cassie und Adrian kann ein Autor sich nicht wünschen, und dafür danke ich euch. Seit ich immer mehr Zeit damit verbringe, Autorin zu sein, möchte ich auch all den Buchhändlern, den örtlichen und Universitäts-SF/Fantasy-Gruppen danken, die mich zu Lesungen einluden, mir mit Interesse zuhörten und mich mit ihrem Eifer ermutigt haben. Dass ich solche Reisen unternehmen konnte, verdanke ich Ernie und Betty. Auf der ganzen Welt nehmen Menschen sich die Zeit, ihre Begeisterung für Geschichten wie diese im Internet miteinander zu teilen, was für mich Lohn und Herausforderung zugleich ist. Ich danke euch allen.
7
1.
Lieder des Gemeinen Volkes Gesammelt auf Reisen durch das Tormalin-Reich zur Zeit Castan des Gnädigen und Nemith des Tollkühnen, von Mätresse Dyesse Den Parisot Das Geschlecht derer von Den Parisot lebt seit den Tagen der frühesten Kaiser im Nyme-Tal. Während die Weisheit Tormalins fortschreitet und immer größere Gebiete umfasst, stellen die Männer sich unermüdlich in den Dienst ihrer Familie und ihres Namens, und heute reicht das Hoheitsgebiet der Den Parisots vom fernen Osten bis an die Ausläufer des Großen Waldes. Als diese Verpflichtungen meinen Gemahl von daheim fortriefen, wurden die Bande der Zuneigung zwischen uns so sehr auf den Prüfstein gestellt, dass ich beschloss, mit ihm zusammen auf die Reise zu gehen und dabei den Aufgaben einer Ehefrau nachzukommen, während ich zugleich die Geschichten und Lieder studierte, die wir hörten, um sie hier einer größeren Leserschaft vorzustellen. Musik ist eine angemessene Beschäftigung für Frauen, vom Wiegenlied, mit dem der zarte Säugling beruhigt wird, bis hin zu den edlen Weisen, die wir unsere Töchter lehren, und den fröhlichen Liedern, die wir in vertrautem Kreise singen. In diesen Liedern, die ich beim einfachen Volk des Reiches gesammelt habe, fand ich bezaubernde Melodien, Geschichten, die zu Tränen und zum Lachen rührten, und nicht zuletzt Weisheit. Im ganzen Reich fanden sich Kostbarkeiten, die den 9
großen Häusern Tormalins zur Zierde gereichen würden. Die Musik ist ein Schatz, der uns alle bereichert. Ich stelle diese Lieder zur Unterhaltung vor sowie als beredten Beweis für alles, was das Reich eint, wie viele Meilen seine Völker auch trennen mögen. So wie wir auf unseren Weizenfeldern Drianons Segen erflehen, so überantworten die Völker der endlosen Ebenen ihre Stuten und Fohlen Drianons Obhut. Ich wurde in den ledernen Zelten von Viehhirten in Ostrins Namen ebenso ehrerbietig willkommen geheißen wie auf der Schwelle des kaiserlichen Palasts. Den Göttern sind die Grenzen von Zeit und Raum einerlei, und Gleiches gilt für die Musik. Ein Lied der Waldvöglein, von einem Kind unter den Bäumen des Wilden Waldes gesungen, wird ebenso einen in Seide gekleideten kleinen Prinzen betören. Aufregende Abenteuer aus den Bergen im Norden werden das Blut der Jugendlichen erhitzen und sie darüber hinaus viel über Mut und Pflichten lehren. Harmonie erfreut das Ohr mehr als eine Einzelstimme. Ein dreifaches Seil lässt sich nicht so leicht zerreißen wie ein einzelner Faden. Brüder, vereint in gemeinsamem Tun, fahren besser als jene, die sich durch Rivalität und Misstrauen entzweien. Solche Wahrheiten werden im ganzen Reich anerkannt. Ihr werdet diese und noch weitere in dieser Sammlung finden.
10
Selerima, West-Ensaimin Erster Tag des Frühlingsmarktes, Vormittag Es gibt Leute, deren gesunder Menschenverstand beinahe genauso schnell schrumpft, wie ihr Eigendünkel wächst. Vielleicht ist das ein unabänderliches Naturgesetz – eine jener Fragen, über die sich die Rationalisten auslassen, wenn man es ihnen erlaubt. Wie dem auch sei, es gibt genügend Dummköpfe, vor allem bei Festen, sodass ich meine Runen – in diesem Fall eine Nussschale – gewinnbringend werfen kann, so oft ich will. Ich beugte mich vor und lächelte vertraulich. »Du hast jetzt gut aufgepasst, nicht wahr, mein Freund? Willst du noch einen Pfennig wagen?« Der Blick des stämmigen Mannes hob sich von der krümelüberäten Tischplatte zu meinem Gesicht und blieb an der reizvollen Rüsche meines nur locker geschnürten Hemdes hängen. Blitzschnell wanderten meine Finger unbemerkt unter meine andere Hand, um sicherzustellen, dass ich auch dieses Mal seine Münze bekam. »Ich würde sagen, jetzt habe ich es raus.« Zuversicht glänzte in seinen Augen wie die schmucken Borten an seinen Hemdsärmeln. Immer noch lächelnd, hielt ich seinen Blick fest, obwohl ein kalter Luftzug im Nacken mir die Haare sträubte. Der Kaufmann kam zu einem Entschluss und griff nach der mittleren der drei Nussschalen. Ich legte eine zarte Hand auf seine haarigen Finger. »Ein Kupferstück fürs Auswählen, ein Silberstück zum Sehen«, sagte ich strahlend, ganz unschuldige Anmut. 11
»Anständig, Mädel. Diesmal hab ich dich.« Er warf ein Kupferstück auf den Tisch und griff kühn nach der Nussschale, für die er sich entschieden hatte. Als er offenen Mundes auf das blanke Holz starrte, setzte ich einen Blick des Erstaunens auf, der dem seinen in nichts nachstand. Ein paar Zuschauer lachten. Ich nicht – wie schon seit meinen ersten Tagen auf der Straße. Ein verägerter Kuhhirte hatte mir einst ins Gesicht geschlagen, nachdem er erst seine paar Pfennigen und dann seine gute Laune verloren hatte. »Bei Saedrins Eiern, ich hätte schwören können, dass ich es diesmal geschafft habe!« Der Kaufmann rieb sich über die verschwitzten Wangen und streckte erneut die fette Hand aus. »Silber, um zu sehen, du kennst doch die Regeln«, sagte ich. Der Kaufmann warf mir missgelaunt einen blanken Pfennig zu, den ich rasch in meiner Tasche verschwinden ließ. Als er erst die eine, dann die andere Schale umdrehte, um den fehlenden Kern aufzudecken, rückten die gespannten Zuschauer näher an den Tisch. »Aber wie ...« Der glücklose Spieler schaute verblüfft auf, doch die Stadtbewohner in ihren besten Festtagsgewändern hatten mich seinen Blicken entzogen. Ich schlich davon. Einen Moment blieb ich im Schatten der Treppe stehen, um unbemerkt meine Weste zu wenden. Ohne Hast zog ich die Hintertür hinter mir zu, während ich mir einen graubraunen, handgewebten Umhang um die Schultern warf und den leuchtendbunten Schal vom Kopf riss, den ich in die Hosentasche steckte. Der donnernde Ruf eines Wachoffiziers, der wissen wollte, wer da gespielt hatte, war nicht zu überhören. Mehrere gut12
gläubige Marktbesucher, deren Geld in meiner Börse klimperte, würden ihm zweifellos eifrig eine Beschreibung von mir liefern: Eine Frau von durchschnittlicher Größe und Gestalt, mit einem leuchtendroten Wams und einem gelbroten Schal um den Kopf, der ihre glatten schwarzen Haare nicht ganz verbergen kann. Wenn die Wachen sich an diese Beschreibung hielten, würden sie mich niemals finden und einen Anteil an der Beute verlangen können. Mit den Fingern kämmte ich mir die weichen, herbstlaubroten Locken und zupfte ein paar verirrte Strähnen gefärbten Rosshaars heraus. Diese ließ ich unauffällig auf der Schwelle eines kleinen Halcarion-Schreines in ein Kohlenbecken fallen, in dem Weihrauch brannte. Der Rauch konnte meinen Dank zur Mondjungfer tragen, dass sie mir einen weiteren Tag Glück beschert hatte. Fünfmal schlugen die Glocken von der nahen Wollmarkthalle. Ein eiliger Hausierer stieß mir in den Rücken, als ich stehen blieb. Ich blickte ihn finster an und tastete misstrauisch nach Börse und Gürteltasche, doch ein zweiter Blick zeigte mir, dass er kein Taschendieb war. »Entschuldigung«, murmelte er und versuchte erfolglos, auf den Steinplatten zu bleiben. Die Rinnsteine waren schon mit Kot und Abfällen übersät. Das Fest hatte kaum angefangen, doch die Bevölkerung der Stadt verdoppelte oder verdreifachte sich zum Äquinoktiums-Markt. Trotzdem würde es am Ende der fünftägigen Feiern genügend Betrunkene und Arme geben, denen Reinigungsarbeiten einen Aufenthalt in den Zellen der Stadtwache ersparten. Große Holzhäuser lehnten sich über die gepflasterte Straße, drei oder vier Stockwerke hoch, von denen jedes ein bisschen weiter vorragte. Der frisch 13
gekalkte Putz der Wände leuchtete vor dem Hintergrund der dunklen Eichenbalken in der Frühlingssonne. Hölzerne Läden wurden über meinem Kopf aufgestoßen, als eine fleißige Hausfrau Federbetten zum Lüften ins Fenster legte. Aus offenen Türen drangen Staubwolken, wenn Fußböden zum Fest frisch gefegt wurden. Erinnerungen an die Zeit vor zehn oder mehr Jahren überfielen mich. Ich fühlte mich beinahe wieder wie in Vanam, das unter den großen Handelsstädten in dem Netz aus Lehnsgütern, aus dem Ensaimin besteht, Selerima am ehesten gleichkam. Doch ich war von meinem so genannten Zuhause fortgelaufen und durch Halcarions Güte zu einem sehr viel lohnenderen, wenn auch gefahrvolleren Leben als Spielerin gekommen. Ich war kein geschundenes Hausmädchen mehr, das vor Tag und Tau aufstehen musste, um zu schrubben und zu putzen. Als ich auf meine gepflegten Hände sah und daran dachte, wie rot sie vor Schufterei und Frostbeulen gewesen waren, tadelte ich mich selbst und streifte den auffallenden Ring ab, den ich getragen hatte, als ich die Trottel in dieser Stadt um ihre Pfennige erleichterte. Irgendein Wachmann war vielleicht ein bisschen klüger als der anderen und hielt nach solchem Tand Ausschau. Ein Turm schlug das Mittagsgeläut mit einer Reihe ansteigender Töne. Ich riss mich zusammen; jetzt war nicht die Zeit, nach einem Spiel Runen oder Raben zu gieren. Das Spiel, für das ich nun das Brett vorbereitete, versprach mich für den Rest meines Lebens zu versorgen, sollte ich gewinnen. Ich brauchte nur noch das letzte Paar Steine. Ich ging rasch an den billigen Schänken vorbei, in denen ich den Vormittag damit verbracht hatte, hübsche 14
Gewinne einzustreichen, bog in eine schmale Gasse ein und kam auf der breiten, sonnenbeschienenen Hochstraße heraus. Hier war er, der aufragende Turm der Gildenhalle, geschmückt mit Bannern und Flaggen, die Selerimas Reichtum und Macht verkündeten – jedem, der bis zu zehn Tagesmärsche aus allen Himmelsrichtungen auf sich genommen hatte, um zum Festmarkt zu kommen. All der Zierrat konnte jedoch die Wehrgänge, Wachtürme und die hohen schmalen Schießscharten für die Bogenschützen nicht verbergen. Es war eine Hand voll Generationen her, seit Selerima das letzte Mal für seine Rechte hatte kämpfen müssen, doch die Stadtväter stellten immer noch sicher, dass die jungen Männer ihrer Wehrpflicht in den Übungshallen nachkamen, die jede Gilde unterhielt. Ich überlegte, ob ich mein Glück dort einmal versuchen sollte. Aber wer schoss schon auf Ballen alten Heus, das schon mit Pfeilen gespickt war, wenn der Markt so viele Vergnügungen verhieß? Der Gildenturm lag zu meiner Rechten; also musste ich bergan. Ich schob mich durch wogende Menschenmengen zu dem prächtig ausgestatteten, aus Stein erbauten Gasthaus, in dem ich zurzeit schlief. Und sehr gut schlief, auf weichen Gänsefedern, gestärkten Laken und mit einem sanftmütigen Mädchen, das jeden Morgen herbeieilte, um mein Feuer anzuzünden und mir heißes Wasser für meine Waschschüssel zu bringen. Meine gehobene Stimmung verlieh mir einen federnden Gang, als ich zu dem Salon der Adligen spazierte. »Livak! Endlich! Ich habe mich schon gefragt, wo du steckst!« Mein derzeitiger Reisegefährte eilte die Treppe herunter. Der strenge Ausdruck seines hageren Gesichts konnte meine gute Laune nicht dämp15
fen. »Du hättest eine Nachricht hinterlassen sollen«, beklagte Usara sich und bat mit einer Handbewegung um Wein. Wir setzten uns an den Tisch. »Es ist gerade erst Mittag.« Ich nickte dem Burschen zu, der meinen Becher füllte und sich ein Kupferstück verdiente, damit er sich unauffällig zurückzog. »Die Straßen sind überfüllt, hast du das noch nicht gemerkt? Du bist nicht an große Städte oder feiernde Menschenmassen gewöhnt, stimmt’s?« Ich blinzelte in gespielter Zerknirschung über den Rand des kostbaren Kristallbechers. Usara antwortete mit einem Lächeln. »Hast du deine Freunde gefunden?« »Noch nicht.« Ich schüttelte den Kopf. »Ich habe in den Tavernen und Bordellen Nachrichten hinterlassen. Sie müssten heute oder morgen eintreffen.« Usara runzelte die Stirn. »Das ist alles sehr ungewiss. Wie kannst du sicher sein, dass sie überhaupt nach Selerima kommen?« »Weil Charoleia es mir gesagt hat. Wir sind Freunde, und das heißt, dass wir einander trauen.« Ich nahm einen Schluck von dem ausgezeichneten tormalinischen Wein. Selerima hatte vielleicht längst die Ehre abgelegt, die westlichste Stadt des Alten Reiches zu sein, doch die Kaufleute haben immer Verbindung zum Osten gehalten, und das nicht nur wegen der Annehmlichkeit einer gemeinsamen Sprache. Dieser Jahrgang war quer durch die zivilisierte Welt gereist, damit sich die anspruchsvollen Gäste dieser eleganten Herberge daran erfreuen konnten. Die Flaschen waren wahrscheinlich fast genauso weit gereist wie ich. Usara fuhr sich mit der Hand durch das lichte sandfarbene Haar. »Das ist ja alles gut und schön, aber wenn nun etwas Unerwartetes eingetreten ist? 16
Du hast keine Möglichkeit, es zu erfahren. Deswegen halte ich es für das Beste, wenn ich ...« »Nein.« Ich beugte mich im Stuhl vor und schnitt ihm mit einer Handbewegung das Wort ab. »Ich bin hier der große Hund mit dem schweren Halsband. Es ist mein Spiel, und ich sage, wie wir es spielen. Du bist nur hier, weil ich in meiner Güte deinem Herrn einen Gefallen tue.« Usara presste verärgert die Lippen zu einem schmalen Strich zusammen, während sich auf seinen hohen Wangenknochen ein zartes Rosa ausbreitete. Ich hielt es für klug, ein klein wenig nachzugeben. »Wir geben Sorgrad und Sorgren noch bis morgen Abend Zeit, um mit uns in Verbindung zu treten. Wenn wir bis dahin nichts von ihnen gehört haben, denken wir uns etwas Neues aus.« Allmählich wich die Verärgerung aus Usaras blassem Gesicht. »Was jetzt?« »Wir essen.« Ich winkte dem Serviermädchen, das geduldig an der Durchreiche zur Küche wartete. Ich konnte eine wundervolle Auswahl von Köstlichkeiten sehen, die – ansprechend auf Tellern angerichtet und garniert – aus der Küche gebracht wurden, und unser Tisch war bald mit elegantem cremefarbenem Porzellan gedeckt. Ich genoss die verlockenden Düfte, immer dankbar dafür, das essen zu dürfen, was ich als Kind nur zu sehen bekam, wie es von Dienern und Kämmerern die Hintertreppe hinaufgetragen wurde. Das Mädchen brachte das feine weiße Brot, das erste zarte Lamm, gedämpfte Taubenbrust in eigenem Saft mit Ei und Kräutern, einen hervorragenden Salat aus Spinat und Kresse, angerichtet mit Nüssen, Rosinen, eingelegten Knospen und kandierten Blumen, in einer leichten Sauce aus Obstessig und grünem Öl. Usara schien 17
weniger beeindruckt als ich, aber er aß wahrscheinlich jeden Mittag so, nicht nur an hohen Fest- und Feiertagen wie wir einfaches Volk. Er wischte sich den Mund mit einer Damastserviette ab. »Was hast du heute Vormittag getan?« »Wie gesagt, Nachrichten an wahrscheinlichen Orten hinterlegt.« Ich hielt es nicht für nötig, Usara zu erzählen, dass ich auch meine Börse aufgefüllt hatte. Ich bezahlte nichts für dieses Luxusleben, doch ich brauchte schließlich einen Grund, um in den Kneipen herumzuhängen. »Was ist mit dir?« »Ich bin bei jeder Gilde gewesen und habe um Einlass in ihre Bibliotheken oder Archive gebeten«, grollte Usara, »doch die Zunftmitglieder sind ganz und gar vom Markt in Anspruch genommen.« Das schmerzte ihn wie ein drückender Schuh, da er an Respekt und unbedingte Zuvorkommenheit gewohnt war. Ich verbarg mein Lächeln hinter meiner Serviette. »Das Fest dauert nur fünf Tage. Du kannst dir die Archive oder was auch immer anschließend anschauen. Es hat uns den größten Teil einer Jahreszeit gekostet, hierher zu gelangen, also machen ein paar Tage mehr auch keinen großen Unterschied.« Usara nickte wortlos, doch ich konnte die Unzufriedenheit in seinen warmen braunen Augen sehen, während wir uns unserer Mahlzeit widmeten. Ich musste mir etwas einfallen lassen, ehe er auf eigene Faust etwas unternahm. Ich wollte nicht, dass er eine beliebige Rune warf, mit der er meine Pläne vereiteln konnte. Usara leckte sich die Finger ab, um die letzten süßen Krumen eines Vanilletörtchens zu genießen. Ich schob meinen Teller von mir. »Dann wollen wir mal sehen, was diese Stadt zu bieten hat.“ 18
»Glaubst du wirklich, du könntest deine Freunde in dem Gedränge finden?« Als wir in Toremal zu unserer langen Reise aufbrachen, war Usara noch nie so offen spöttisch gewesen. Nun, es wurde Zeit, dass er sich bei mir entspannte. »In den Städten gibt es nicht so viele Leute aus dem Bergvolk, ich glaube also schon«, sagte ich. »Sie treiben meist nur Handel mit Dörfern am Rande des Berglandes. Aber nein, Sorgrad und ‘Gren ziehen es vor, unbemerkt zu bleiben. Bei unserer Art von Arbeit kommt man nicht weit, wenn man den Leuten im Gedächtnis bleibt.« Usara blickte einen Moment skeptisch, dann schenkte er mir ein strahlendes Lächeln. »Es wird auf jeden Fall interessanter, als den ganzen Nachmittag hier herumzusitzen. Wie du sagst, so ein Spektakel bekommen wir in Hadrumal nicht zu sehen.« Seine Worte gingen in Glockengeläut aus allen Himmelsrichtungen unter. Wir eilten zu der breiten Vordertreppe des Gasthauses und fanden die Zufahrt mit Menschen verstopft. Wachleute, für das Fest herausgeputzt, scheuchten Nachzügler aus dem Weg. Auf Zehenspitzen stehend, konnte ich gerade das erste der riesigen Zunftsymbole erkennen, das von Gesellen der Gilde getragen wurde. Dann versperrte mir ein kräftig gebauter Mann mit üppigem Federbusch am Hut vollends die Sicht. Ich zupfte Usara am Ärmel. »Lass uns einen besseren Platz suchen.« Nicht viel größer als ich und unwesentlich schwerer, mühte er sich ebenso wie ich, einen Blick auf die Prozession zu erhaschen. Wohl überlegter Einsatz von Ellbogen und Umhangspange brachten uns bis zu einer Gasseneinmündung, wo der hervorspringende Sockel einer aus tormalinischer Zeit 19
stammenden Halle uns einen Aussichtspunkt verschaffte. Ich half Usara hinauf, und wir sahen eine riesige Schere die Hochstraße entlangkommen. Sie war aus bemaltem und vergoldetem Holz, sodass sie metallisch glänzte und so den Reichtum der Schneidergilde demonstrierte. Sich verbeugende und winkende Zunftmitglieder in pelzverbrämten Roben folgten den Gesellen, die unter ihrer ehrenvollen Last schwitzten. Zum Schluss erschien der Vorsteher der Gilde, hoch in seinem gepolsterten Sessel auf den Schultern von Lehrlingen, die vermutlich wegen gleicher Größe und kräftiger Muskeln ausgewählt worden waren. Handwerker, die ihre Verbundenheit zum Ausdruck bringen und den Oberen ihres Gewerbes die Treue zeigen wollten, stießen laute Jubelrufe aus. Tuchwalker und Färber folgten mit einer wenig aufregenden Schaustellung von Tuch auf Spannhaken, das im aufkommenden Wind flatterte. Dann kamen die Kürschner mit ihren Gesellen, die monströse Köpfe trugen: Wölfe mit silbernen Augen und roten Zungen, die zwischen blutigen Zähnen hervorhingen, und riesige Bären mit schaumgefleckten Mäulern. Sie heimsten weit größeren Beifall von der Menge ein. Eine schlanke Gestalt, verkleidet als Marder, hüpfte zwischen ihnen herum, während ein anderer in der langen Lederschürze seines Gewerbes ihn mit einem Messer aus Holz und Farbe verfolgte, das so lang war wie mein Arm. Ich lachte mit den anderen Zuschauern. »Im Vergleich hierzu wirken Feste in Hadrumal ein bisschen fad.« Usara musste sich dicht an mein Ohr beugen, um sich verständlich zu machen. »Selerima macht eine fast so gute Schau wie Vanam«, rief ich anerkennend. 20
Nun folgten die Gerber, dann die Lederverarbeiter. Die Prozession ging weiter und weiter; das Zeichen jeder Gilde wurde hoch über das Große Tor gehalten, ehe sie sich zerstreuten, um zum Festmahl in ihre eigenen Hallen zu gelangen. Die Banner kündeten von den zahllosen Künsten und Handwerken, die den Städten von Ensaimin Einnahmen bescherten und Kostbarkeiten aus den Bergen und Wäldern heranschafften. Die Städte lagen an den Flüssen und an der Großen Weststraße, über die alle Arten von Erzeugnissen und Luxusgüter in das alte Königreich Solura im Westen, in das geschrumpfte Tormalin-Reich im Osten und zu all jenen dazwischen gebracht wurden, die Geld auszugeben hatten. Sattler und Zügelmacher machten Böttchern und Tischlern Platz, Zinngießer und Messerschmiede wurden von Hufschmieden gefolgt, deren Gesellen mit schwellenden Muskeln einen massiven Hammer aus poliertem Holz und glitzerndem Stahl trugen. Als einzige Zunft ließen die Goldschmiede Frauen in ihrer Prozession zu, wohlhabende Damen und hochmütige Töchter auf den Armen von Zunftmitgliedern, behängt mit Halsketten und klirrenden Ohrringen, Armreifen und Ringen, Broschen und Nadeln, die dunkelblaue Gewänder und Kopfputze hielten. In meinen Augen wurde die Wirkung durch massige, finster blickende Lehrlinge beeinträchtigt, die nebenher, dahinter und davor marschierten und schwere Knüppel schwangen. Ich glaube nicht, dass rein zufällig die Waffenschmiede folgten, deren Dolche, Schwerter und Stahl in der Sonne funkelten, wenn die Lehrlinge ihre Gesellenstücke schwangen und drohten, jede gierige Hand abzuschlagen. Ich überlegte müßig, ob die Damen 21
ihren Schmuck wohl beim Gildenbankett noch tragen würden und wie schwer es sein mochte, das schmucklose Kleid eines Serviermädchens aufzutreiben. Endlich trug der leichte Wind einen verlockenden Duft über die Köpfe der Menge heran. Silber- und Kupferschmiede erhielten nicht mehr viel Aufmerksamkeit, als die Menge sich erwartungsvoll nach den Bäckern und Brauern, den Metzgern und Krämern reckte. Ein gewaltiger Brotlaib, der hoch über den Köpfen dahergetragen wurde, war ein eindrucksvoller Anblick, und der zu Kopf steigende Geruch nach Hefe aus den vorüberrollenden Bierfässern überdeckte sogar den Schweißgeruch ungewaschener Körper. Reihen von Würsten folgten Brötchen und Süßigkeiten, die in die Menge geworfen wurden, und billige Tonkrüge mit Bier wurden herumgereicht. Die Menge begann, sich wieder in Bewegung zu setzen, und Menschen liefen auf die Straße, als das letzte Handwerk vorbeigezogen war, um von der Freigebigkeit zu profitieren und eine kostenlose Mahlzeit zu ergattern. Hausierer und Pastetenverkäufer erschienen, ebenso wie Jongleure und Unterhaltungskünstler. Alle wollten sich ihren Anteil an den Festpfennigen sichern, die in der zweiten Hälfte des Winters und der ersten Frühlingshälfte gehortet worden waren. Ein kluger Sänger stimmte ein Loblied auf Selerimas Macht an, und blanke Pfennige klimperten in seinen Hut. Es war schön, etwas erhöht zu stehen und sich nicht um Brot und Fleisch abstrampeln zu müssen. Längst vergangen waren die Tage, an denen ich mir eine Mahlzeit aus dem Rinnstein geklaubt hatte, das schmutzige Stroh und den namenlosen Schmutz hatte abwischen müssen. »Komm weiter.« Ich zog 22
Usara am Ärmel, während er noch versunken der Parade hinterherstarrte. »Lass uns zum Festplatz gehen und sehen, was es dort gibt.“
23
Selerima, West-Ensaimin Erster Tag des Frühlingsmarktes, Nachmittag
»Wohin gehen wir als Nächstes, Jeirran?« »Habt ihr es wirklich bei jeder Prüfstelle und jedem Spengler versucht?« Jeirran pflanzte seine gestiefelten Füße fest auf das Pflaster, um sich gegen den Strom der Einheimischen zu stemmen, die auf dem Weg zu ihren Festtagsvergnügungen waren. »Was ist mit den Zinngießern, von denen muss es doch reichlich geben?« Seine drei Kameraden wirkten weniger selbstsicher. Beide Männer und die Frau hatten das helle Haar und die blassen Augen des Bergvolkes, aber ihre Gesichter verrieten ihre Verwandtschaft. Sie hatten dieselben kräftigen Züge und die gleiche robuste Gestalt. Die beiden Männer tauschten einen etwas zögernden Blick, ehe der Ältere sprach. »Drei von fünf Stellen sind wegen des Festes geschlossen. Wo wir überhaupt eine Antwort bekommen, will niemand Geschäfte machen.« Verärgerung schlich sich in seine Stimme. »Jedenfalls nicht mit uns. Sie sagen alle dasselbe, Jeirran: Sie kaufen ihr Metall von den Händlern, die von den Bergen kommen ...« »Und habt ihr herausgefunden, was für Preise sie bezahlen? Fünfmal so viel wie Degran und seine Kumpane, wette ich«, unterbrach Jeirran ihn aufgebracht. »Habt ihr es genauso erklärt, wie ich es euch gesagt habe, Keisyl? Dass wir bessere Erzbarren um ein Fünftel billiger liefern können?« »Aber sie wollen die Barren sehen«, gab der ältere 24
Bruder zurück. »Niemand interessiert sich für unsere Proben. Wir müssen Metall herbringen ...« »Die Erzproben zeigen die Qualität des Metalls, das wir anzubieten haben!«, unterbrach Jeirran ihn. »Wir schmelzen das Erz und liefern das Zinn, aber wir brauchen Geld, um unsere Kosten zu decken. Bist du sicher, dass ihr das richtig erklärt habt?« »Ja, Jeirran, wir sind uns sicher.« Der Jüngere hielt inne, um finster hinter einem stämmigen Festbesucher herzustarren, der ihn anrempelte, ohne sich zu entschuldigen. »Diejenigen, die uns nicht ausgelacht haben, sagten, wir sollten mit den Metall verarbeitenden Gilden reden, sie wären vielleicht an einer Zusammenarbeit mit uns interessiert – gegen einen Anteil am Gewinn.« »Die Gildenhallen sind wegen des Festes geschlossen, aber vielleicht lohnte es sich, länger zu bleiben.« Keisyl erhob seine Stimme über das Gemurmel der Menge. Das Mädchen warnte ihn, er solle lieber schweigen, doch er tätschelte ihren Arm. »Hier versteht nicht einer unter hundert, was wir sagen, Eirys. Mach dir keine Sorgen.« »Der Sinn und Zweck, direkt mit dem Tiefland zu handeln, liegt darin, den gesamten Gewinn selbst einzustreichen.« Jeirran versuchte gar nicht, seine Verachtung zu verbergen. »Wir könnten drei vertrauenswürdige Verwandte im Umkreis einer Tagesreise finden, die mehr als glücklich wären, gegen Bauholz und Holzkohle mitzumachen, wahrscheinlich auch Söhne abzustellen, die das Erz schürfen. Wenn du auf einen solchen Handel eingehst, gibst du jede Hoffnung auf, deine Truhen zu füllen und eine anständige Ehe einzugehen, ehe Maewelin nach deinen Knochen verlangt!« »Ein halber Anteil an bearbeitetem Metall ist bes25
ser als der Anspruch auf Erz, das zehn Klafter tief im Boden liegt, ohne dass es eine Möglichkeit gibt, heranzukommen!«, wandte der jüngere Bruder hitzig ein und verschränkte die muskulösen Arme über der kräftigen Brust. »Hörst du mir jemals zu, Teiriol?«, fragte Jeirran. »Wenn wir sicher sein können, das Metall hier unten zu verkaufen, könnten wir uns beschaffen, was wir brauchen, um selbst eine tiefe Mine anzulegen und Arbeiter einzustellen. Dann würden wir den ganzen Profit selbst einheimsen.« »Es gefällt mir nicht, unsere Angelegenheiten hier auf offener Straße zu diskutieren!« Das Gesicht des Mädchens mit der breiten Stirn und dem eckigen Kinn wurde von weichen Locken umrahmt, die kunstvoll aus dem Knoten ihres goldenen Haares hervorgezupft waren. Doch ihre Lippen bebten vor Zorn. »Ich will zurück in unsere Unterkunft. Ich bin es leid, herumgestoßen und angestarrt zu werden. Du solltest mich nicht so behandeln, Jeirran, ich bin deine Frau und habe besseres verdient. Es ist respektlos und ...« »Na schön, wie du willst.« Jeirran verschränkte die Hände hinter dem Rücken, während er versuchte, seine Enttäuschung im Zaum zu halten. »Keisyl, bring deine Schwester in ihr Zimmer, bitte.« »Ich will, dass Teiriol mit mir kommt«, sagte das Mädchen schmollend. »Wie du willst. Keisyl und ich sehen dich bei Sonnenuntergang. 0h, Eirys, hör auf zu weinen!«, fuhr er sie aufgebracht an. »Tut mir Leid.« Ihre kornblumenblauen Augen standen voller Tränen, und das blasse Rosa ihres Teints wurde von unschönem, tiefem Rot verdrängt. »Tut mir Leid, aber mir gefällt es hier nicht. Es ist 26
laut und schmutzig, und die Menschen sind so grob und ...« »Komm.« Teiriol legte tröstend einen Arm um die bebenden Schultern seiner Schwester und führte sie auf der inneren Seite des Pflasterstreifens davon, wo sie von den Häusern auf der einen Seite und ihm selbst auf der anderen Seite geschützt war. Eirys zog die Kapuze ihres pelzverbrämten Umhangs hoch und band sie fest. Teiriol warf Jeirran noch einen warnenden Blick über die Schulter zu. Keisyl sah ihnen nach; sein Gesicht zeigte eine Mischung aus Erleichterung und Sorge. »Warum hast du darauf bestanden, dass sie mitkommt?«, seufzte Keisyl und fuhr sich mit der Hand über das kurz geschnittene blonde Haar. Er öffnete mit plumpen Fingern seinen Umhang, unter dem ein cremefarbenes, leuchtend bunt besticktes Leinenhemd zum Vorschein kam. Müdigkeit beschattete die helle Haut unter seinen azurblauen Augen. »Ich bin sicher, es schickt sich nicht, sie dieser Barbarei auszusetzen.« »Ich wollte sie aber nicht zu Hause lassen«, fauchte Jeirran. »Deine Mutter hat jeden Tag seit der Sonnenwende damit verbracht, Eirys einzureden, dass jeder andere Mann sich besser um ihr Land kümmern würde. Gib Ismenia die Chance, und sie wird Eirys überreden, mich nach nicht mal einem halben Jahr Ehe zu verstoßen.« Seine Zornesröte ließ seinen goldenen Bart unvorteilhaft erscheinen. Obwohl er ordentlich gestutzt war, trug er wenig dazu bei, das eckige Kinn über dem Stiernacken abzumildern. Jeirrans Haar war länger als Keisyls und aus der hohen, breiten Stirn zurückgekämmt in den Nacken, wo es sich über dem Kragen lockte. Trotz seiner eher groben Züge sah er unbestreitbar 27
gut aus, und das wusste er auch, wie sein Gebaren verriet. »Ich glaube nicht, dass Mutter sonderlich beeindruckt sein wird, wenn du sie mit irgendeiner scheußlichen Tiefland-Krankheit nach Hause bringst.« Keisyl starrte Jeirran an, und da er größer war, war das ziemlich wirkungsvoll. Außerdem war er ein paar Jahreszeiten älter. Ein zerlumpter Bursche mit verwundertem Blick duckte sich an ihnen vorbei und umklammerte fest einen Laib Brot. »Es besteht kein Grund, sich solche Gefahren auszumalen, nicht so früh im Jahr.« Jeirran zwang sich zu einer versöhnlicheren Haltung. »Wir bleiben unter uns und atmen schon bald wieder unsere gute Bergluft. Das sollte Eirys aufmuntern.« »Und was können wir für unsere Mühen vorzeigen?«, wollte Keisyl wissen. »Du hast uns den ganzen Winter erzählt, dass dieser Markt der einzige Ort ist, an dem man um bessere Preise feilschen kann. Bislang will aber niemand auch nur einen Blick auf unser Erz werfen, geschweige denn über einen Handel reden.« »Dann sind diese Leute eben zu dumm und erkennen nicht, dass ein Kauf ohne Mittelsmann, der ebenfalls Profit machen will, ihnen Geld spart! Ich werde es morgen selbst bei einigen dieser so genannten Schmiede versuchen. Ich spreche besser tiefländisch als du. Heute finden wir einen Käufer für die Felle. Wenn nötig nehmen wir dieses Geld, um zu kaufen, was wir brauchen. Wir können einen anständigen Stollen in die Rückseite der Ader treiben und schon mal selbst anfangen.« Jeirran nickte bekräftigend. »Nächstes Jahr bringen wir Barren her, so fein, dass selbst diese Bauerntölpel nicht daran 28
vorbeikommen. Es gibt mehr als eine Art, ein Karnickel in die Schlinge zu bekommen.« Ein Mädchen in seinen besten Festkleidern wandte Jeirran und den anderen den mit Bändern geschmückten Kopf zu und zupfte am Rock ihrer Mutter, doch die Frau scheuchte sie mit einem misstrauischen Blick auf die Männer davon. Keisyl lächelte die Kleine an. »Wie sollen wir das machen, wenn jeder Kürschner genauso erpicht auf dieses Fest ist wie alle anderen?« »Es gibt viele Kaufleute, die auf diesem Markt mit Häuten und Fellen handeln«, erklärte Jeirran zuversichtlich. »Ich habe mit einem gesprochen, als wir darauf warteten, das Stadttor passieren zu dürfen.« Keisyls Miene hellte sich auf. »Warum hast du dann nicht gleich an Ort und Stelle einen Handel abgeschlossen?« »Keiner von Degrans Männern, die im Tal überwinterten, hat erwähnt, dass vor der offiziellen Eröffnung des Marktes jeder Handel untersagt ist.« Zorn lag in Jeirrans Stimme. »Und wann ist das?« Keisyls Frage war kaum zu verstehen, als eine rücksichtslose Gruppe Jugendlicher einen streunenden Hund vorbeijagte. Selbst der kleinste der stämmigen Jungen war einen guten Kopf größer als die beiden Bergbewohner, wenn auch der größte nicht ganz so breitschultrig war. »Wann ist das?«, wiederholte er. »Der Mann in dem Gasthaus sagte, nachdem die Prozession der Gilden vorüber ist.« Jeirran reckte das Kinn vor und bahnte sich einen Weg durch die geschäftige Straße, wobei seine Bergvolkmuskeln ihm gereizte Blicke eintrugen, die er jedoch ignorierte. »Der Marktplatz ist unten am Fluss, hier entlang.“ 29
Mit dem Strom der Menge gelangten die beiden Bergbewohner bald zum Wassertor. Eine plötzliche Woge spülte sie durch die verstopften Torbögen, und sie fanden sich außerhalb der Mauern wieder. Jeirrans Miene erhellte sich ein bisschen, als er blauen Himmel sah, der nicht durch hohe Häuser verdeckt wurde. Wenige Augenblicke später machte die Menge Halt, und eine finstere Falte grub sich zwischen Jeirrans helle Augenbrauen. »Was jetzt?«, zischte er Keisyl zu. Der andere fluchte leise und stellte sich auf die Zehenspitzen, um etwas zu sehen, doch die erwartungsvolle Menge quetschte sie ein. Das Murmeln wurde zu aufgeregtem Geflüster, ehe der schrille Klang von Bronzetrompeten Stille gebot. Dann ergriff eine unsichtbare, aber klangvolle Stimme das Wort. »Der Vorfrühling ist vorbei, und wir danken Halcarion für die Erneuerung von Saat und Vieh. Der Nachfrühling kommt, und wir bitten Arimelin, uns Glück und guten Rat zu schicken. Denkt daran, dass dieses Fest Raeponin geweiht ist. Jedermann soll ehrlich sein oder sein gerechtes Urteil erwarten.« Jubel brach aus und scheuchte eine Schar gefleckter Vögel auf den weidenbestandenen Inselchen auf, die in dem breiten, vom Frühlingsregen angeschwollenen Fluss kaum zu sehen waren. Ein Lederhandschuh an einem Pfahl, groß wie ein Kind, schwankte über die Köpfe der Menge, bis der Pfahl sich in die Hülse senkte. Die Menschen stürmten auf den Marktplatz, um begierig Schnäppchen an leuchtend bunten Ständen zu machen und die Vergnügungen zu bestaunen, die überall dargeboten wurden. »Will die Dame ein Wunder sehen? Du siehst aus wie ein wagemutiger junger Mann! Ein Kupferstück, 30
und ihr seht Wesen – halb Mensch, halb Tier!« Ein Marktschreier hockte vor einem farbenfrohen Zelt, das mit Szenen aus Wald und Gebirge bemalt war, und wandte sich mal hierhin, mal dorthin. »Launen der Magie oder der Natur – ihr entscheidet! Herr, was ist mit Euch?« »Komm schon, wir sind hier, um Geschäfte zu machen, nicht um einem Scharlatan Geld nachzuwerfen!« Jeirran nahm Keisyl beim Arm. Der jedoch zögerte. »Wir können kein Geld verschwenden, um missgestaltn Tiefländer anzustarren.« Jeirran blickte finster einen Höker an, der mit grob geschnitzten, in bunte Lumpen gewickelten Puppen winkte. »Hast du eine Ahnung, wohin wir gehen müssen?« Keisyl blickte die fünf Gassen entlang, die sich vom Markteingang her ausbreiteten. Jede war gesäumt von eifrigen Verkäufern, Kaufleuten, die von Wagen aus arbeiteten, auf denen sich die Waren türmten, bescheidenen Händler mit Fässern und Tischen, Bauern, die die armseligen Früchte langer Winterabende von fadenscheinigen Decken verkaufen wollten, die sie auf dem feuchten Boden ausgebreitet hatten. »Wir versuchen es hier lang«, sagte Jeirran entschieden und deutete auf Stände, die unter Ballen von feinem Tuch ächzten; dazwischen boten Hausierer geschäftig Bänder und Spitzen, Perlen und Knöpfe feil. Er schob sich an elegant gekleideten Frauen vorbei zu größeren Ständen. Männer mit strengen Gesichtern prüften Berge von Häuten und Fellen, die auf breiten Tischen auslagen. Der scharfe Geruch von Farben und Gerbmitteln hing über dem frischen Duft von zertrampeltem Gras. Jeirran nickte Keisyl zufrieden zu. »Hier, sag mir, was verlangt Ihr für diese Häute?“ 31
»Was sagst du?« Der dünne Budenbesitzer wandte sich von einem Kunden ab und legte eine Hand, so gegerbt wie seine Ware, hinter ein abstehendes Ohr. »Hast du nicht gesagt, du sprichst besser tiefländisch als ich oder Teiriol?« Keisyl steckte die Hand in seinen ledernen Werkzeuggürtel und schaute den Selerimaner finster an. Jeirran wiederholte seine Frage, und der Lederhändler schlug die Ecke einer Haut um, sodass Zahlen zu sehen waren, die mit Kreide auf die Unterseite geschrieben waren, wobei er mit leichter Verachtung an seiner langen Nase entlangschielte. »Sieh mal, das ist drei- bis fünfmal so viel wie das, was Degren Lackhand im Tal bezahlt«, zischte Jeirran Keisyl zu und deutete mit dem Finger auf die Zahlen. Er prüfte rasch den Haufen Häute und schob dabei die obersten beiseite. »Die Qualität ist nicht so gut wie unsere.« »Was sagst du? Kannst du nicht sprechen wie zivilisierte Menschen?« Der schlaksige Händler stemmte verärgert die Hände in die Hüften seines Lederwamses. »Wollt ihr nun etwas kaufen oder nicht?« »Wo kaufst du deine Häute?«, wollte Jeirran wissen und wischte sich den Kreidestaub von den Fingern. »Geht dich nichts an.« Der Kaufmann blickte finster unter seinen schwarzen Augenbrauen hervor, doch ein wohlhabender Stadtbewohner heischte mit klingender Börse und einem lächerlich niedrigen Angebot für ein rotbuntes Kuhfell um seine Aufmerksamkeit. »Genau, wie ich dir gesagt habe. Wenn wir die Ausbeute eines Winters direkt an einen Pelzhändler hier verkaufen, hätten wir mehr Geld als in drei Jahreszeiten bei Degran.« Jeirran ging zu einem 32
Stand mit weichen Bündeln zusammengerollter Felle hinüber. »Schau dir das an! Deine Mutter würde damit nicht mal die Winterstiefel eines Hundes füttern, und ich würde mir nicht die Mühe machen, so was aus den Bergen mitzubringen. Aber hier unten bringt es mehr ein, als Degran für ein Eichhörnchenfell bezahlt.« »Das ist auch keine große Kunst, wenn wir eine halbe Jahreszeit damit vergeuden, den ganzen Weg hierher und wieder zurück zu machen.« Keisyl schüttelte den Kopf. »Wir waren einverstanden, dir den Winter über bei den Fallen zu helfen, wenn du uns dafür den Sommer über beim Schürfen hilfst. Wir sollten jetzt die Grube vorbereiten und nicht mit Tiefländern feilschen.« Jeirran beachtete ihn nicht. »Wir bekommen einen guten Preis, und dann nehmen wir einen Teil des Geldes und kaufen dafür Tand und Zierrat. Genügend Schnickschnack wird auch deiner Mutter den Mund stopfen.« Er drehte sich zu Keisyl um. »Andernfalls wird sie gewiss nach einem Ehemann für Theilyn Ausschau halten, der beim nächsten Sonnenwendfest mit ihr die Runde macht.« »Theilyn ist noch ein paar Jahre zu jung zum Heiraten.« Keisyl schüttelte den Kopf, doch ein Schatten der Besorgnis verdunkelte seine blauen Augen. »Aber sie ist nicht zu jung, um verlobt zu werden«, beharrte Jeirran. »Was, wenn deine Mutter eine Familie mit einer Schar Söhne findet, die alle nur zu bereit sind, ihre Arbeitskraft anzubieten, um dem zu helfen, der den Preis bekommt? Wer sagt, dass sie die nicht in der Grube arbeiten lässt anstatt dich und Teiriol?« »Wir haben das Recht, diese Minen auszubeuten, 33
bis Theilyn verheiratet ist, keinen Tag weniger«, widersprach Keisyl. »Dann solltest du dafür sorgen, dass du genug nach Hause bringst, um deine Mutter bei Laune zu halten. Und du brauchst genug Geld, um ein Mädchen mit einem anständigen Stück Land zu umwerben, wenn Theilyn erst einmal nach einem Platz Ausschau hält, an den sie ihren eigenen Herd hinstellen kann. Das alles gilt auch für Teiriol. Zinn abzubauen und Bäume zu fällen, um es zu schmelzen, mag vielleicht gut genug für deinen Vater gewesen sein, aber es gibt keine Adern an der Oberfläche mehr, oder? Ihr müsst tief schürfen, und ihr braucht Brennstoff. Es wird dreimal drei Jahre dauern, ehe eure Gehölze nennenswert nachgewachsen sind, und die alten Bestände rührt ihr nicht an – nicht so lange ich sie verwalte. Diese Wälder sind Eirys’ Mitgift, und ich werde gut darauf achten. Ihr müsst einen anständigen Stollen graben, und das bedeutet Stützstreben und Holzkohlemeiler. Und wenn ihr das, was ihr braucht, nicht eintauschen könnt, müsst ihr alles mit Geld bezahlen. Wo wollt ihr das Gold hernehmen, wenn ich nicht bei euch mitmache?« Jeirrans Augen brannten. »Dann finde jemanden, der die Felle kauft.« Keisyl ballte die Fäuste. Jeirran suchte in dem Beutel, der unter seinem Umhang hing. Er zog eine Hand voll Quadrate aus Pelz und Leder hervor und zupfte an dem moosgrünen Ärmel des Mannes hinter dem Verkaufstisch. »Hier, was hältst du davon?« »Ich kaufe nicht, ich verkaufe, Freund.« Der geschäftige Kaufmann fegte mit seiner fleischigen Hand über den Tisch. »Nehmt Euren mottenzerfressenen Plunder von meinen Waren.“ 34
Jeirran beugte sich vor, um seine Muster einzusammeln, das Gesicht rot vor Empörung. »Dein Schaden, du Narr!« Er schob sich durch die brodelnde Menge zum nächsten Pelzhändler, einem Mann mit eckigem Gesicht unter einem Schopf grauer Haare, die aus der Stirn über den klug blickenden Augen zurückgekämmt waren. »Was kann ich für dich tun, Freund?« Der Mann warf Jeirran einen raschen Blick zu, während er in der Tasche seiner Kattunschürze suchte und mit der anderen Hand ein Härchen vom Ärmel seines Wamses wischte. »Möchtest du schöne Pelze kaufen?« Jeirran brachte einen seidigen weißen Streifen zum Vorschein. »Eine bessere Qualität als alles, was du hier hast.« »Ein Bergfuchs, nicht wahr?« Der Mann nahm den Pelz und schnüffelte daran; dann drehte er ihn um, um zu sehen, wie gut er gegerbt war. »Wie viel verlangst du?« »Zehn Mark pro Fell.« Jeirran nickte Keisyl triumphierend zu. »Der Gildenpreis beträgt fünf Mark pro Fell, und das gilt nur für beste Qualität. Hier, meine Dame, damit könnt Ihr ein Gewand oder eine Kapuze wunderbar verbrämen. Ein schönes Fest noch.« Der Kaufmann wandte ihnen abrupt den Rücken zu, um ein flauschiges, rotes Eichhörnchenfell an eine scharfäugige Frau zu verkaufen, deren Zofe bereits mit Einkäufen beladen war. »Jedenfalls, Bergbewohner, ich mache keine Geschäfte außerhalb der Gilde. Haltet ihr mich für einen Idioten? Ja, Sir, was sucht Ihr?« Eifrige Kunden drängten sie von dem geschäftigen Händler davon. Keisyl blickte verwirrt, doch 35
Jeirran schob das Kinn vor und glättete den zerzausten Pelz um seine Hand. »Komm, wir versuchen es da drüben.“
36
Selerima, West-Einsaimin Erster Tag des Frühlingsmarktes, Nachmittag »Ich habe alles gesehen, was ich wollte, oder gibt es noch etwas, das dich interessiert?« Ich wandte mich an Usara, der ein wenig beschämt lächelte. »Da hinten war ein Mann, der angeblich einen Basilisken hat.« »Dann wollen wir ihn uns ansehen«, sagte ich. Mal sehen, ob er herausbekommt, wie dieser alte Trick funktioniert. Ein Menschenstrom schob mich in die Schatten zwischen zwei Reihen mit Marktständen. Ein stämmiger Kerl trat mir in den Weg. »Hallo, Hübsche!« Er grinste boshaft. »Schönes Fest wünsch ich dir!« »Schönes Fest.« Ich nickte höflich und versuchte, an ihm vorbei zu kommen. »Bist zum Feiern hier, was?« Er streckte eine schmutzige Hand mit abgekauten Nägeln nach mir aus. »Haare wie Herbstlaub, Augen grün wie Gras – also bist du ein Waldmädchen.« Ein Schritt zurück führte mich tiefer zwischen die Zeltwände. »Nur eine Reisende auf der Durchfahrt. Lass mich meinen Angelegenheiten nachgehen, Freund.« Ich faltete die Hände und löste dabei unauffällig die Manschette meines Hemdes, bereit, meinen Worten mit dem kleinen Dolch Nachdruck zu verleihen, den ich am Unterarm verbarg. »Was hältst du von einer kleinen Feier ganz unter uns zweien?« Der Flegel leckte sich die vollen Lippen, und in seinen eng stehenden Augen glitzerte die Lust so widerlich wie der Schweiß auf seinem unrasierten Gesicht. »Zeig mir, was ihr Mädchen 37
einem Mann schenken könnt, und ich kaufe dir ein Bündel Bänder, um dich rauszuputzen, ja?« »Danke, aber ich bin mit Freunden hier.« Ich versuchte, eine betrübte Miene aufzusetzen. Das fiel mir leichter, als ein rascher Blick mir zeigte, dass zechende Lehrlinge einem aus ihrer Mitte zusahen, dem schrecklich übel war, und die mir den Fluchtweg nach hinten versperrten. »Warum ...« Welche Verlockung der Kerl auch äußern wollte, sie ging in Beifall unter, und ich sah meinen Möchtegern-Liebhaber, der sich vor einem flackernden gelben Feuer abzeichnete. Er drehte sich um, ich duckte mich rasch um seine blinde Seite und schoss zwischen zwei Stände. Ein Satz über eine Decke mit Flitterkram, eine hastige Entschuldigung, doch weiter kam ich nicht, denn der Weg war versperrt von Leuten, die mit offenem Mund Usara anstarrten, der mit Händen voller Flammen jonglierte. Sein hageres Gesicht strahlte verschmitzt. Das Feuer wechselte die Farbe, von Gelb über Orange zu Dunkelrot und wieder zurück, und die Flammen stiegen höher und höher. Er verwob die brennenden Farben zu blendenden Mustern, sodass die Menge blinzeln musste. Ich schnappte mir eine gesprungene Schale, die unbeachtet unter der Bank eines Töpfers stand, und schob mich durch die Menschen. »Schönes Fest euch allen.« Als ich die Schale hinhielt, begann das begeisterte Publikum in erfreulicher Eile nach seinen Börsen und Gürteltaschen zu greifen. Einige nutzten die Gelegenheit, als Wechselgeld in Hälften und Viertel geschnittene Münzen loszuwerden, doch die meisten fanden die Vorstellung ganze Pfennige wert, wenn auch meist nur aus Kupfer. 38
»Ihr seid Waldleute?« Ein Händler mit sanftem Gesicht in schlichtem grauen Gewand schob – zweifellos aus Versehen – einen Silberpfennig in meine offene Hand, ohne die Augen von dem Schauspiel abwenden zu können. »Er ist mein Bruder, guter Herr.« Ich fuhr mir mit der Hand über den Kopf und deutete auf Usaras sandfarbenes, wenn auch spärliches Haar. Dass er zur Not als Angehöriger des Waldvolks durchgehen konnte, war einer der Gründe, weshalb der Zauberer hier war. »Wir sind gekommen, um euch mit unseren Geheimnissen zu erfreuen.« »Wie macht er das nur?«, stieß eine Matrone hervor, wobei sie mit einer Hand an der Spitze ihres üppigen Brustansatzes spielte; ihre Augen waren so weit aufgerissen wie die des Kindes, das sich an ihren Rock klammerte. Ich machte eine tiefe Verbeugung. »Die alte Magie der Wildnis, meine Dame, hierher geholt, um euer Fest zu erleuchten!« Es war zwar nichts dergleichen, aber das würde niemand hier je erfahren. Ich sah den Federbusch vom Helm eines Wachoffiziers auf uns zuhüpfen und warf ein Kupferstück durch die Mitte von Usaras Muster, das immer verschlungener wurde. »Aufhören«, formte ich lautlos mit den Lippen. Er warf den Flammenknoten hoch in die Luft, ehe er sie mit einem Händeklatschen löschte. Ein letztes leuchtendes Aufflammen ließ die Zuschauer blinzeln und sich die Augen reiben. Ich hatte in die andere Richtung geblickt, packte jetzt Usara am Ärmel und zog ihn zum Fluss, ehe die Zuschauer wieder zu sich kamen und überlegen konnten, wohin wir wohl gegangen waren. »Sah aus, als ob du viel Spaß gehabt hättest.« Ich 39
leerte die Schale und teilte rasch unsere Einnahmen, passte aber gleichzeitig auf, dass sich niemand zu sehr dafür interessierte. »Hatte ich auch«, sagte er zufrieden. »Was machst du da mit meinem Verdienst?« Ich warf ihm einen großäugigen Blick voll geduldigen Erstaunens zu. »Halbe-halbe, natürlich.« »Ich geb dir ein Zehntel«, schlug Usara vor. »Das ist nur gerecht, schließlich habe ich die ganze Arbeit gemacht.« »Und hätte ich nicht meinen Verstand beisammen gehabt, hätte es dir gar nichts eingebracht, und du müsstest außerdem noch einen Wachoffizier aus eigener Tasche bezahlen.« Ich setzte einen Blick verletzter Empörung auf. Usara tat überzeugend so, als ob er darüber nachdächte. »Also gut, ein Fünftel.« Ich streckte ihm die Zunge heraus, während ich Pfennige und Kupferstücke in seine Hand fallen ließ. Einige bestanden aus Silber, das hier oder in Vanam geprägt worden war; die meisten Münzen aber waren aus Kupfer und zeigten die Wappen der kleineren Adelshäuser oder verschiedene hiesige Handelszeichen. »Ich dachte, du würdest dich nur mit Fürsten, Ratsherren und Gelehrten abgeben. Du kennst die Wertmaßstäbe meiner Welt ziemlich gut für jemanden, der es gewohnt ist, auf der Sonnenseite der Gesetze zu bleiben.« Ich ließ die wenigen Tormalin-geprägten Pfennige in meine eigene Tasche gleiten. Mein Bedarf an Geld, das praktisch überall etwas wert ist, war größer als der des Zauberers. Die verschiedenen Währungen von Ensaimin können schon wenige Meilen hinter der Stadt, in der sie geprägt wurden, wertlos sein. Usara konnte das ruhig selbst herausfinden. 40
»Danke, meine Dame.« Usara machte eine elegante Verbeugung. »Sagen wir einfach, dass ich schnell lerne.« Ich musste lachen. »Na, ich freue mich, dass du mehr zwischen den Ohren hast als nur gelehrtes Wissen und Bibliotheksstaub. Ich glaube, die Einheimischen waren recht beeindruckt.« »Feuer ist nicht mein eigentliches Element, aber es ist der Erde verwandt genug, dass ich ein bisschen Talent darin habe. Ich kann auch ganz gut mit Wasser umgehen. Aber setze nie auf meine Fähigkeiten im Umgang mit Luft. Das ist schon seit meiner Lehrzeit eine Plage für mich.« Usara bot mir seinen Arm, und wir gingen am Flussufer entlang, vorsichtig an den Barken und Jollen vorbei, die ihre Ballen und Fässer entluden, an Kaufleuten und Leichterschiffern, die alle an ernsthaften Geschäften interessiert waren. »Ich weiß, es gehört sich nicht recht, aber ich finde, auch Zauberer dürfen ab und zu mal einen harmlosen Spaß haben, meinst du nicht?« Ich mimte Erstaunen. »Darüber würde man in Hadrumal die Stirn runzeln, nicht wahr?« Es war mir nicht neu, dass Zauberer keine Ahnung von Vergnügen hatten. »Wo genau sind wir hier?« Usara blickte sich stirnrunzelnd um. Ich deutete auf den Versammlungs-Turm, den größten der Türme, die die Brustwehr der Stadtmauer überragten. »Hier lang.« Die offene Pforte eines kleinen Ausfalltores führte uns zurück in die Stadt, und wir gingen an Läden vorbei, die wegen des Festes geschlossen waren. Die Besitzer verkauften ohne Zweifel in einem Stand auf dem Markt ihre normalen Waren zum Anderthalbfachen des üblichen Preises. 41
»Du kannst den Versammlungs-Turm praktisch von jeder Stelle der Stadt aus sehen«, erklärte ich dem Zauberer. »Wenn du dich verirrst, halte darauf zu, und nimmt dann die Straße zum Großen Tor. Du kannst sie nicht verfehlen, es ist die einzige mit Streifen aus Steinplatten im Pflaster, damit die Kutschenräder besser rollen können. Oder du suchst einen Schrein. Irgendein Priester wird schon Mitleid mit dir haben und dich auf die richtige Straße setzen.« Usara nickte. »Selerima ist viel größer als Hadrumal.« Ich lachte laut auf. »Die meisten Orte mit zwei Mauleseln sind größer als Hadrumal! Auf dem Festland würde es nicht das Recht auf eine eigene Mühle oder einen Markt erhalten.« »Trydek, der erste Erzmagier, gründete unsere Inselstadt zur Betrachtung der Elemente und zum Studium der komplexen Künste der Zauberei.« Usara versuchte, einen strengen Blick aufzusetzen. »Wirklich?« Ich schlug mir theatralisch mit der Hand vor die Brust. »Also, was würde passieren, wenn du einen solchen Trick zu Hause versuchtest? Würde der Erzmagier zeremoniell den Stab über deinem Kopf zerbrechen?« Ich hielt inne, um mich zu orientieren, entschied mich aber gegen eine Abkürzung. Es war schon ein paar Jahre her, dass ich in Selerima gewesen war. Usara lachte in sich hinein. »Planir? Nein, er würde den Spaß schon erkennen, aber er würde mich wissen lassen, dass er so etwas nicht von mir erwartet. Wir haben natürlich hin und wieder Lehrlinge, die ein bisschen prahlen. Wenn man bedenkt, wie gefährlich ungeübte Magie sein kann, darf man nicht dazu ermutigen«, setzte er ernster hinzu. 42
Alle Magie ist gefährlich, soweit es mich betrifft, doch ich behielt diese Ansicht für mich. »Beim nächsten Mal solltest du vielleicht den Geruch nach heißem Öl untermischen oder dir die Manschetten deines Hemdes ein wenig versengen.« »Warum?«, wollte Usara wissen. »Das ist doch nur ganz einfache Magie.« Diese Zauberer lernen vielleicht auf ihrer Insel alles über Zauberei, aber von normalen Menschen verstehen sie herzlich wenig. »Denk daran, wie selten diese Leute einen echten Zauberer sehen. Sei nicht beleidigt, aber die meisten von uns einfachen Leuten finden Zauberei ziemlich beunruhigend. Wenn die Leute glauben wollen, dass es Magie ist, dann tun sie das auch, deshalb solltest du dafür sorgen, dass sie es nur für einen Trick halten. Dann finden wir uns nicht plötzlich vor dem Festgericht wieder und müssen eine Menge unbequemer Fragen beantworten.« »Vor was?«, fragte Usara. Ich unterdrückte einen Anflug von Gereiztheit. »Das Festgericht. Die Gilden halten es für die Dauer des Marktes anstelle der regulären Gerichte ab. Es verhandelt über Kaufleute, die Steuern umgehen oder Kunden betrügen, Leuten, die beim Stehlen erwischt werden, betrunken sind und eine Schlägerei anfangen, und was weiß ich. Jeder, der am Markt beteiligt ist, fällt für die Dauer des Festes unter die Rechtsprechung des Festgerichts. Von Rechts wegen müssten wir einen Teil dessen, was wir für deine kleine Darbietung eingenommen haben, abführen. Wenn beim nächsten Mal ein Offizier der Stadtwache fragt, liefern wir einfach das Geld ab und fertig.« »Und er gibt das Geld dann ans Gericht weiter?« Usara klang zweifelnd – zu Recht. 43
»Was meinst du wohl?« Ich grinste ihn an. »Keine Sorge, das passiert nur, wenn es einem Wachoffizier gelingt, dich zu schnappen.« Was der Grund dafür ist, dass ich in zwielichtigen Tavernen lieber das Eichhörnchenspiel spiele als gewinnträchtigere Spiele wie Runen oder Weißer Rabe. Bei beiden dauert es sehr lange, bis sie Geld einbringen, und man kann nicht einfach von seinen Spielsteinen davonlaufen und sie beim nächsten Hausierer neu kaufen. Mein Lächeln verblasste. »Wenn ich so darüber nachdenke, könnten wir morgen Abend mal einen Blick auf das Gericht werfen, falls wir bis dahin noch nichts von Sorgrad gehört haben. Wenn ‘Gren sich in Schwierigkeiten gebracht hat, würde das erklären, warum sie keine meiner Nachrichten erhalten haben.« Ich ging um eine Gruppe von Frauen herum, die kleine Schleifen an die Türpfosten eines Schreins nagelten, der Drianon geweiht war. Die üblichen Zeichen festlicher Frömmigkeit flatterten: Gold als Zeichen der Dankbarkeit, dass die Früchte der vergangenen Ernte die Leute durch den Winter gebracht hatten, und Weiß als Hoffnung, dass die Söhne nicht mit der Krätze nach Hause kamen. Weil der kleinere Mond neu war und der größere im letzten abnehmenden Viertel, hatten die älteren Menschen auf den Straßen etwas von bösen Vorzeichen gemurmelt. Selbst wir anderen, die im Alltag kaum einen Gedanken an die Götter verschwenden, neigen dazu, nicht gerade während der Feiertage zu wetten. Ich beschloss, Halcarion ein Opfer zu bringen, ebenso Trimon. »Könnten sie Schwierigkeiten mit den Behörden bekomme haben?«, fragte Usara. 44
»Möglich«, antwortete ich. Ich hoffte, dass ich mich irrte, denn der Erfolg meiner Pläne hing davon ab, dass Usara und die Brüder zusammenarbeiteten, und ich machte mir bereits Sorgen, dass Sorgrens sprunghafte Persönlichkeit den Magier auf dem falschen Fuß erwischen könnte. Obwohl ich bereits seit einer Jahreszeit mit ihm reiste, konnte ich Usara noch nicht völlig einschätzen, doch ich konnte mir nicht vorstellen, dass ihn ‘Grens berüchtigte Heldentaten beeindruckten. Selbst mich hatte es erstaunt zu hören, dass er eine Apotheke niedergebrannt hatte, nachdem der Besitzer geringschätzige Bemerkungen über das Bergvolk gemacht hatte. Ich wollte nicht, dass Usara dieses Thema weiter verfolgte. »Ich möchte unsere kleine Nebenbeschäftigung nicht unbedingt bei Gericht den Zunftmitgliedern erklären, also verhalten wir uns lieber unauffällig. Natürlich bin ich dir für deine Hilfe dankbar«, setzte ich hastig hinzu. »Ich war mir nicht sicher, was vor sich ging, als ich dich aus dem Blick verlor, aber ich rechnete mir keine allzu großen Chancen aus, es mit diesem Kerl im Faustkampf aufzunehmen.« Usara zuckte seine unleugbar mageren Schultern. »Es war eine ausgezeichnete Ablenkung«, versicherte ich ihm. Ich hatte reichlich Übung darin, mich aus unangenehmen Lagen zu retten, aber hätte ich den Eifer meines verschwitzten Verehrers bremsen müssen, wäre ich das Risiko eingegangen, mehr Probleme heraufzubeschwören als zu lösen. Wir kamen an eine Kreuzung, und ich suchte nach dem Versammlungs-Turm, ehe ich an einer Marmorstatue abbog, die eine Schriftrolle schwenkte. »Was genau wollte der Kerl?«, fragte Usara zögernd. 45
Ich sah ihn erstaunt an. »Was glaubst du wohl? Das war einer von der Sorte, die glauben, dass alle Waldmädchen Tischlers Freude sind.« »Was?« Die Verwirrung des Magiers war offensichtlich echt. »Liegt flach wie ein Brett und wartet darauf, genagelt zu werden.« Ich kicherte, als Usaras blasse Haut sich rötete. »Ihr Zauberer führt wirklich ein behütetes Leben, was?« »Ich hörte, wie du diesen Leuten gesagte hast, dass wir vom Waldvolk sind.« Usara blieb stehen. »Haben deren Männer auch so einen Ruf?« »Die Sänger des Waldvolkes stehen in dem Ruf, mit ihrem Liebreiz in fast jedes Bett zu kommen, wenn sie es sich in den Kopf setzen.« Genau das war meiner Mutter passiert. Ich war ihr geblieben, hing an ihren Röcken und war der Grund dafür gewesen, dass sie niemals eine respektable Verbindung hatte eingehen können. Ich hatte ihr kaum bis an die Hüften gereicht, als ich das Mitleid in den Augen ihrer Familie und ihrer Freunde begriff, die Beschränkungen, die ihr ein Leben als Haushälterin vorschrieben. Eine Gruppe Jugendlicher kam aus einer Nebenstraße gestürmt und rannte uns beinahe über den Haufen. Sie stoben links und rechts an uns vorbei. »Was habt ihr es so eilig?«, rief ich einem Nachzügler zu, der durch einen großen, stinkenden Sack behindert war. »Verbrecher gegen die Marktgesetze werden an den Pranger gestellt«, rief er mit offensichtlichem Vergnügen. »Dass sollten wir uns vielleicht ansehen«, meinte ich zu Usara. »Siehst du dir etwa gern an, wie Menschen mit 46
Mist beworfen werden?« Seine Abscheu war offensichtlich. »Nein, antwortete ich zögernd. »Aber ‘Gren. Er hat ziemlich schlichte Vorstellungen von Vergnügen.« Usara stieß einen langen resignierten Seufzer aus. »Also schön.« Wir folgten den aufgeregten Jugendlichen und fanden uns bald auf dem langen, gepflasterten Vorplatz des Gerichtshofes wieder. Eine hohe Fassade aus Stein mit einem Ziergiebel voller Statuen verbarg das Durcheinander der Dächer, über die ich einst in die Freiheit gekrochen war. Die erste Hand voll unglücklicher Männer, die mit nackten Hintern in ihren Hemden zitterten, wurde soeben an die Ringe der Pranger geschlossen, um die Strafe zu empfangen, die das Gericht für angemessen hielt. »In Raeponins Namen rufe ich alle hier Versammelten auf, den anwesenden Angeklagten ein ausgewogenes Urteil zukommen zu lassen.« Der erste der Gefängniswärter, der sich seine Bürgerrechte damit verdiente, ein Jahr lang für Ordnung in seiner Nachbarschaft zu sorgen, trat vor. Er öffnete ein großes Buch, wobei er mit seinem Kokardenhut und der scharlachroten Schärpe seines Amtes sehr eindrucksvoll wirkte. »Markel Galerene, für den Verkauf von mit Alaun versetztem Brot.« Das zappelnde Opfer wurde an den Pranger geschlossen, in dessen Waagschalen grob die Züge des Gottes der Gerechtigkeit geschnitzt waren. Die Menge brüllte auf, und ein Hagel fauliger Karotten flog dem entehrten Bäcker um die Ohren. Unter all den Rüben, die am Ende eines langen Winters faul aus der Miete kamen, war auch ein Stein, aus Rachsucht geworfen, der ihm die Wange aufriss. 47
»Ansim Shammel, weil er falsch abgewogen hat.« Der glücklose Shammel sah aus wie ein Metzger und litt entsprechend, denn er wurde mit den Enden alter Knochen, mit Fetzen von Fell und mit Fett bombardiert; als er die ekligen Gedärme eines Schafes, den Festtagsbraten einer Familie, mitten ins Gesicht bekam, schwoll den Jubel an, dass er über den ganzen Platz hallte. Irgendeine Hausfrau hatte wohl das Gefühl, dass die Rache mehr wert war als ein Schafspansen. »Muss das sein?«, murmelte Usara mit verstohlener Verachtung. »Frag diese Frauen, was es heißt, bei jeder Mark, die sie ausgeben, um den Wert eines Pfennigs betrogen zu werden.« Eine stattliche Frau an meiner Seite warf mit einer Hand voll nicht zu identifizierenden Unrats, das Gesicht vor Wut hässlich verzogen. »Es sind ihre Kinder, die hungern müssen.« Schwere Zeiten in meiner Kindheit hatten uns jeden Pfennig zweimal umdrehen lassen, ehe meine Mutter ihren Stolz herunterschluckte und sich als Dienstmädchen verdingte. Wenn die Umstände mich zwingen, jemanden um Geld oder Wertgegenstände zu erleichtern, sorge ich immer dafür, dass die Betreffenden den Verlust verkraften können, auch deshalb, um Raeponins Waage nicht allzu sehr zu belasten bis zu dem Tag, an dem ich Saedrin für die Überfahrt in die Anderwelt Rede und Antwort stehen muss. Usaras Lippen waren in der unbewusst arroganten Haltung der Zauberer geschürzt, die mich so ärgert. Ich ignorierte ihn und suchte in der Menge nach blonden Köpfen, nicht einfach hellem oder sandfarbenem Haar, sondern nach den weizenblonden Locken, die reines Berg-Blut verraten. 48
Das Geschrei der Menge schwoll an, als ein Mann, dessen Name mir entging, wegen eines bösartigen Hundes an den Pranger kam, doch ihm wurden mehr Beschimpfungen als Unflat an den Kopf geworfen. Während wir warteten, wurden all die, die nicht den Gesetzen der Stadt gehorcht hatten, gebührend gestraft. Der letzte Mann hustete in einer Wolke aus Asche und Schlacke, da er zugelassen hatte, dass sich von seinem Besitz aus ein Feuer ausgebreitet hatte. Die Menge zerstreute sich zu anderen Vergnügungen und überließ den Platz den Angehörigen der Angeprangerten, die Trost oder Wasser spendeten, während einige beharrliche Ankläger sie mit weiteren Beschimpfungen traktierten. Bettler, verkrüppelt durch Verletzungen oder Krankheit, huschten umher, um die essbaren Reste der vergeudeten Lebensmittel aufzusammeln, die jetzt das Pflaster verunzierten, und warfen den zerlumpten Armen, die sie trotzig anstarrten, finstere Blicke zu. »Warum müssen diese Unglücklichen ihre Nahrung aus dem Abfall klauben?« Die Empörung in Usaras Stimme erstaunte mich. »Das dürfte doch nicht sein! Wer kümmert sich denn um solche Dinge?« »Die Menschen haben es schwer genug, ihre Familien zu ernähren und ihnen ein Dach über dem Kopf zu verschaffen, ohne sich auch noch um Bettler zu sorgen. Die Schreine verteilen Almosen an die Bedürftigen, hier wie überall sonst, und die Gilden haben eigene Wohlfahrtsstellen. Darüber hinaus sind sie auf sich selbst gestellt. Das hier ist nicht Hadrumal, wo Zaubersprüche deine Probleme lösen oder dir Geld für jeden Bedarf einbringen.« Usara öffnete den Mund zu einer hitzigen 49
Erwiderung, doch plötzlich runzelte er die Stirn. »Ist das da drüben nicht einer vom Bergvolk?« Ich drehte mich um, um seinem Blick zu folgen. Ein Schimmer goldenen Haares ließ mein Herz einen Schlag aussetzen, doch als die Menge weiterging, sah ich einen Mann in steifem Leder, mit abweisendem, strengem Gesicht, der die Frau an seiner Seite mit jener Eifersucht bewachte, wie sie im Gebirge üblich ist. Fad und fehl am Platze unter all den Feiertagsgewändern ringsum, fiel das Paar sehr auf. »Nein, das sind sie nicht.« Ich seufzte. Würde ich je mein Spiel zusammenbekommen?
50
Selerima, West-Einsaimin Erster Tag des Frühlingsmarktes, Abend »Wir haben es bei jedem Händler bis hinunter zu dem stinkenden Kerl in dem halb gebeizten Karnickelfell versucht.« Keisyl stellte sich Jeirran in den Weg und verschränkte die Arme. »Niemand will kaufen, nicht von uns.« »Mit dem Mann dort drüben haben wir noch nicht gesprochen.« In Jeirrans Augen brannte ein widerspenstiges Feuer. »Er hat den größten Teil seiner Ware verkauft, also wird er mehr wollen. Und er hat auch das Silber, um dafür zu bezahlen.« Keisyl stieß einen Seufzer aus, folgte Jeirran jedoch zu einem untersetzten Mann in einem senfgelben Wams aus feinem Wollstoff, das mit Biberfell verbrämt war. Er beugte sich zu einem Bengel hinunter, der ungeduldig von einem Fuß auf den anderen hüpfte. Der Bursche warf den beiden Bergvolkmännern einen verblüfften Blick zu und verschwand, während der Pelzhändler die Hände vor seinem ansehnlichen Bauch faltete. »Was kann ich für euch tun?« »Wir haben Pelze zu verkaufen: Fuchs, Hase und Otter, schönes Elchleder und ein paar Hirschhäute ...«, begann Jeirran in gewinnendem Tonfall. »Von der Gilde abgezeichnet, ja?«, fuhr der Händler ihn an. »Habt ihr euren Zehnten an die Gildenhalle gezahlt, ja? Nein, wohl nicht.« Er hob die Stimme. »Ich werde die Gilde nicht dadurch entehren, dass ich hinter ihrem Rücken Handel treibe, hört ihr? Wofür haltet ihr mich eigentlich, mich so zu beleidigen? Ich habe euch noch nie gesehen.“ 51
»Nicht.« Keisyl packte Jeirran am Arm, als der kleinere Mann mit vorgerecktem Kinn einen zornigen Schritt vorwärts machen wollte. Als Jeirran unschlüssig stehen blieb, stolperte ein Müßiggänger gegen ihn. Nicht an Bier gewöhnt, landete der Jüngling mit weichen Knien am Boden. Jeirran machte seiner Wut und Enttäuschung mit einem heftigen Tritt Luft, sodass der unglückliche Bursche sich erbrach. Vorübergehende, die zu langsam waren, um Stiefel oder Röcke in Sicherheit zu bringen, schrien verärgert auf. »Komm schon!« Keisyl zerrte Jeirran zu einem freien Platz, an dem Stelzengänger die Menge unterhielten. Zwei, die angemalt waren wie Schmetterlinge, flatterten mit großen Flügeln aus saphirblauer Seide und torkelten ungeschickt umher, zur Freude eines Kindes, das mit großen Augen zuschaute. Doch sie waren geschickt genug, ihre Flügelspitzen um ein kicherndes junges Mädchen zu wickeln. Ein dritter, eher herkömmlich in Gold und Rot, kam hinter ihnen her, eine Handpuppe in der Rechten, deren Maul gierig nach kleinen Münzen schnappte. Jeirran schüttelte Keisyls Hand ab und trat einer vorübergehenden Dame in den Weg. »Hier, Madame, schöne Pelze, ganz weich, mit geschmeidigem Leder. Einen besseren Preis bekommt Ihr nirgends!« Die Frau schüttelte ihn ab und errötete unter den Fransen ihrer Kappe. »Herr, Ihr tragt ein schönes Gewand«, sprang Jeirran einem wohlhabenden Kaufmann in den Weg. »Bedenkt nur, wie sehr ein Pelzkragen es verschönern würde. Lasst mich es Euch zeigen!« Das rote Gesicht des Mannes verdunkelte sich. Empörung rang mit Verblüffung in seinen tief liegenden Augen um die Oberhand. »Verschwinde, du 52
Streuner«, stieß er hervor und zog die lavendelfarbenen Falten seines Mantels um sich. »He, du da!« Einer der Stelzengänger ragte über ihnen auf. Unter seiner farbenfrohen Bemalung war sein Ärger deutlich zu erkennen. »Pfuscht uns nicht ins Handwerk, Freund. Geht und macht euch woanders unbeliebt!« »Wenn ihr etwas zu verkaufen habt, dann geht und zahlt für ein Zeichen, so wie wir anderen auch«, rief ein Budenbesitzer, der hinter billigen, fleckigen Tellern und grün glasierten Topfen unter einer bunt gestreiften Markise stand. Selbst Jeirrans kämpferisches Selbstbewusstsein war den feindlichen Blicken von allen Seiten nicht gewachsen. Keisyl sah sich um und winkte einem Burschen, der einen köstlich duftenden Korb trug. »Lass uns etwas essen.« »Lammpastete, Herr, mit ein bisschen was von diesem und jenem.« Der Junge blickte von Keisyl zu Jeirran, die staunenden Augen weit aufgerissen angesichts der gestickten Hemden, der gedruckten Muster auf den kurzen Umhängen und der langen Lederhosen, die in kräftigen Stiefeln steckten. »Was kosten vier davon?« Keisyl hielt die Finger hoch. »Zwei Kupferstücke, Herr«, stammelte der Junge. Keisyl runzelte die Stirn, während er in seinen Taschen suchte. »Das ist mein letztes Geld, Jeirran. Teiriol hat unsere Börse.« Jeirran äugte zweifelnd in die Pastete und fingerte ein sehniges Stück grauen Fleisches heraus. »Das ist genauso wenig Lamm wie meine Schuhsohlen.« Er kaute langsam mit einer Miene des Missbehagens, doch der Junge war bereits wieder in der Menge verschwunden und ließ den schwachen Duft von 53
Porree hinter sich, der in ranzigem Fett gebacken war. Keisyl schluckte stur einen Bissen hinunter. »Ich habe in den Minen schon schlechter gegessen. Wenn du noch Geld hast, könnten wir uns etwas zu trinken holen, um den Geschmack herunterzuspülen. Glaubst du, dass sie hier unten irgendwo Met brauen oder noch immer dieses ZiegenpisseBier?« »Ich habe nur noch ein paar Silberstücke bei mir.« Jeirran griff in seinen Umhang. »Ich wollte nicht riskieren, bestohlen zu werden, deshalb habe ich das meiste in Eirys’ Truhe gelassen.« Er breitete die Hand aus, um die spärlichen Pfennige zu zählen, die fast bis zur Unkenntlichkeit abgegriffen und mit Schrammen und Scharten übersät waren. Während er zählte, legte sich ein eisenbeschlagener Handschuh schwer auf seine Schulter, sodass ihm die Hälfte der Münzen aus der Hand sprang und im niedergetretenen Gras verschwand. »Du Trampel! Kannst du nicht aufpassen?« Er fuhr wütend herum und stand einem bronzenen Brustharnisch gegenüber, der anlässlich des Festes auf Hochglanz poliert war. Der Handschuh verstärkte seinen schmerzhaften Griff um Jeirrans Schulter. »Ich wäre an deiner Stelle höflicher, wenn ich einem Pony nur bis zum Arsch reichte«, höhnte der Offizier der Stadtwache und schüttelte Jeirran nachdrücklich. »Wir wollen doch mal in diese Tasche da schauen, nicht wahr?« Jeirran riss so mühelos den Handschuh von seiner Schulter, dass der größere Mann beinahe zu Boden gestürzt wäre. Keisyl wollte die heruntergefallenen Münzen aufsammeln, doch ein weiterer Wachmann pflanzte einen genagelten Stiefel auf die 54
Pfennige. Ein unfreundliches Lächeln lag auf seinem unrasierten Gesicht, und an beiden Händen glänzten fingerlose Lederhandschuhe mit eisenbeschlagenen Knöcheln. Jeirran drehte sich um, doch ein dritter Wachoffizier in ledernem Kürass versperrte ihm den Weg mit einem metallbeschlagenen Stab, dick wie seine knochigen Handgelenke. Der erste Wachmann zerrte Jeirran grob den Ranzen vom steifen Hals und öffnete die Schnallen. »Sieht aus, als hätten wir hier einen netten Fang, Leute.« Seine aufgesprungenen Lippen verzogen sich zu einem zufriedenen Grinsen. »Ihr zwei kommt mit und erklärt euch vor dem Festgericht.« Der dünne Wachmann hielt seinen Stab mit beiden Händen quer und deutete damit auf Keisyl, der jetzt die geballten Fäuste erhoben hatte. »Ich glaube nicht, dass du wirklich kämpfen willst, du halbe Portion. Sonst mache ich dich noch kürzer!« Keisyl spie ihm eine Verwünschung in der Bergsprache entgegen, die ein ängstliches Murmeln bei den Festbesuchern hervorrief, welche sich hinter dem schützenden Stab des Wachmannes versammelt hatten. »Sag deinem Freund, wenn er Ärger macht, lege ich euch beide in Eisen«, warnte der erste Wachmann und klimperte nachdrücklich mit den Handschellen, die er am Gürtel trug. »Mit welchem Recht haltet ihr uns fest?« Jeirran starrte den Mann finster an, ohne sich um die Leute zu scheren, die ringsum wisperten und gafften. Der Wachmann zog eine Hand voll Pelze und Leder hervor, weiß, rotbraun und schwarz. »Es wurden Beschwerden eingereicht. Manche glauben, du stehst im Dienst der Gilde und sollst sie dazu zu verführen, die Gesetze zu brechen. Andere behaupten, 55
du lässt sie für Waren bezahlen, die du gar nicht hast. Ich aber glaube, dass ihr bloß Gebirgsleute seid, die nicht mehr Verstand haben als eure Ziegen. Hast du ein Marktzeichen, das du uns zeigen kannst?«, fragte er sarkastisch. »Ich weiß nicht, was du meinst«, antwortete Jeirran misstrauisch. »Dann habt ihr eure Gildengebühr wohl nicht bezahlt, oder, Schwachkopf? Sonst hättet ihr das Recht erworben, wie ehrliche Leute Handel zu treiben und hättet das Zeichen, dies zu beweisen. Ihr kommt mit uns!« Der Wachoffizier nickte seinem Untergebenen mit dem Stab zu, der ihn unmissverständlich drohend schwang. »Ich durchsuche ihre Beutel, ja?«, sagte der Untergebene, dessen Stiefel noch immer auf Jeirrans heruntergefallenen Münzen stand, mit Unschuldsmiene. »Wenn sie nicht genug für eine Mahlzeit und ein Bett bei sich haben, sind sie Vagabunden. So ist das Gesetz, nicht wahr?« »Du Dieb!« Jeirran machte einen Schritt auf den Unrasierten zu. Der Wachmann mit den Handschellen packte Jeirrans Arme und zog sie ihm auf den Rücken, wobei er ihm schmerzhaft die Ellbogen verdrehte. »Das reicht jetzt, Rif, durchsuch seine Taschen.« Der Mann beugte sich ungeschickt vor, um suchende Hände in Jeirrans Umhang und Hosen zu stecken, wobei er finster einen jungen Burschen anschaute, der inständig hoffte, er würde den Stiefel von den Münzen im Gras nehmen. »Nein, nichts außer dem, was er in der Hand hat«, sagte der Wachmann zufrieden zu seinem Vorgesetzten. »Was ist mit dir?« Der mit dem Stab hielt Keisyl eine Hand hin. 56
»Ich habe kein Geld«, sagte Keisyl. Die fremden Worte wollten ihm nur schwer über die Lippen, doch die Wut in seinem Gesicht sprach eine deutliche Sprache. »Das bedeutet Gewahrsam, bis das Gericht euch aufruft.« Der Anführer ließ schwarze Eisenfesseln um Jeirrans Handgelenke schnappen. Jeirran war zu überrascht, um sich zu wehren. Keisyl hob wutentbrannt die Fäuste, doch ein Schlag mit dem Stab in die Kniekehlen schickte ihn zu Boden. Die Wachmänner zerrten ihn auf die Füße und legten ihm dabei geschickt die Handschellen an. Der Mann namens Rif hob hastig auf, was er an Münzen im Gras finden konnte, und der Anführer stieß Jeirran mit einem Schubs an Marktbesuchern vorbei, die ob der unerwarteten Ablenkung johlten. »Geh schon!« »Wir mussten also eine Art Zoll bezahlen, um handeln zu dürfen?«, zischte Keisyl wütend Jeirran zu. »Gibt es sonst noch was, das Degrans Mann dir nicht gesagt hat? Hat er etwas von diesem Gericht gesagt oder wie sie es nennen?« Jeirran schaute über die Schulter, um den Wachmann anzublicken, der ihn unsanft voranstieß. »Wie hoch ist die Strafe, wenn man nur einen Irrtum begeht?« »Irrtum oder nicht, eure Waren gehören euch nicht mehr«, erwiderte Rif mit fröhlicher Bosheit. »Gut gemacht, Jeirran!« Keisyls Empörung ließ ihn stehen bleiben, bis ein Schlag mit dem Stab ihn wieder vorantrieb. »Wir kommen ohne Waren nach Hause, ohne Abkommen, mit völlig leeren Händen. Damit erfüllst du alle Erwartungen, die Mutter in dich setzt!« »Hör jetzt auf mit deinem Gebell, du Trampel.“ 57
Der Wachmann mit dem Brustharnisch schlug Keisyl auf die Schulter. »Redet gefälligst wie zivilisierte Leute oder gar nicht, jedenfalls nicht in diesem Hundegekläff.« Die Beleidigung erstickte Jeirran beinahe und hinderte ihn daran, Keisyl oder dem Wachmann etwas zu entgegnen. Die Wut ließ sein Gesicht dunkelrot anlaufen, während sie durch die geschäftigen Straßen getrieben wurden. Menschen blieben stehen und starrten sie mit offenen Mundes an, nahmen ihren Nachbarn beim Arm und deuteten mit den Fingern auf sie, wisperten hinter vorgehaltenen Händen. Nach einer Weile, die ihnen wie eine Ewigkeit erschien, zerrten die Stadtwachen sie ein paar Stufen aus rötlichem Stein zu einer massiv gebauten Halle hinauf. »Schließ sie weg, Neth«, befahl der Anführer. Der mit dem Stab hämmerte damit gegen die dicke Tür. Ein Mann mit schütterem Haar, der noch kleiner war als Jeirran, schob eine Metallluke zur Seite und spähte hinaus. »Schönes Fest, Vigo.« Er trat zurück, um die Tür zu öffnen. »Wen haben wir denn hier?« Der Bursche namens Neth schubste Jeirran und Keisyl mit seinem Stab. »Bergvolk. Haben noch Schnee an den Stiefeln und versuchen, auf dem Markt ohne Abzeichen zu handeln.« Der kleine Mann nickte bloß, drehte sich um und machte Notizen auf einem langen Pergament. »Und sie sind Vagabunden«, fügte Rif plötzlich hinzu. »Haben kein Geld dabei für eine Mahlzeit und ein Bett – das sind zwei Straftaten.« Der Schreiber sah auf, und ein Lächeln huschte über sein Gesicht. »Du hast mit dem Westtor-Wächter wieder eure übliche Wette laufen, was, Vigo?“ 58
»Richtig.« Der untersetzte Wachmann grinste. »Achte gut darauf, dass alles ordentlich aufgeschrieben wird. Dann spendier ich dir was zu trinken, wenn wir gewinnen.« »Ich nehm dich beim Wort.« Der Schreiber steckte seine Feder zurück ins Tintenfass. »Schön, lasst sie bei mir.« Er nickte einem muskelbepackten Mann zu, der an einer Wand lehnte und jetzt mit einem finsteren Blick auf die beiden Bergbewohner zukam. »Dann wollen wir mal sehen, was wir noch für Beute aufscheuchen können, was?« Vigo führte seine Männer davon und nahm sich im Vorübergehen noch ein paar Handschellen. Der Schreiber schloss sorgfältig die Tür hinter ihnen. Jeirran und Keisyl schauten sich um und fragten sich, wohin man sie wohl gebracht hatte. Kratzer und Eindrücke auf den staubigen Dielenbrettern zeigten, dass man den Raum zwecks vorübergehender Nutzung als Gerichtsstätte von den meisten Möbelstücken befreit hatte. Ein schaler Geruch nach Essen und Wein ließ an eine Art Speisesaal denken. Schwarze Eichenbalken verliefen hoch über ihren Köpfen, und verstaubte Fahnen hingen schlaff herab. Schmale Scharten direkt unterhalb des Dachüberstandes ließen das letzte Tageslicht herein, doch brannten bereits Talgkerzen in Haltern, die weiter unten in die fensterlosen Wände eingelassen waren. Eine Hand voll Wachleute mit Stäben und Knüppeln bewachten eine Gruppe von Männern und Frauen, die auf dem nackten Fußboden kauerten. »Wenn ihr mir euer Wort gebt, dass ihr euch gut aufführt, nehme ich euch die Ketten ab, und ihr könnt hier warten, bis das Gericht euch aufruft.« Der Schreiber nickte den drei wohlhabenden Stadt59
bürgern zu, die an einem langen Tisch auf einem Podest am Ende der Halle saßen und ungnädig einen zerlumpten Bettler betrachteten, der die Stufen emporgezerrt wurde. »Macht ihr Ärger, werdet ihr im Keller bei den Ratten angekettet und handelt euch ziemlich sicher einen Tritt von den Kerlen da unten ein, die immer ein bisschen Spaß, suchen.« Mit einem Nicken deutete auf die zwei Wachleute, die auf beiden Seiten eines bedrohlichen Gewölbes standen, in dem Stufen ins Dunkle hinunterführten. »Was soll’s sein?« »Wir bleiben hier und benehmen uns«, presste Jeirran mühsam hervor. »Schwört ihr?«, fragte der Schreiber. »Wir schwören«, sagte Keisyl mit zusammengebissenen Zähnen. Jeirran wiederholte es. »Das reicht.« Der Schreiber nahm einen Schlüssel von seinem Gürtel und nahm die Handfesseln ab, die sein stämmiger Helfer in den Korb warf. »Nun, es gibt nichts, was ich wegen des Handelsvergehens unternehmen kann, und ihr seht mir eigentlich auch nicht wie Vagabunden aus. Wenn ihr mir das Geld für euren Unterhalt zeigt, könnten wir auf eine Verhandlung verzichten und brauchten die Zeit des Gerichts nicht für solchen Unsinn zu vergeuden. Habt ihr eine Unterkunft, für die ihr bezahlt habt? Gibt es jemanden, der für euch bürgen kann?« »Wir schicken besser nach Teiriol, damit er eine Börse herbringt«, sagte Keisyl entschieden. Jeirran öffnete den Mund, um zu widersprechen, doch da ihm nichts einfiel, klappte er ihn wieder zu. »Was sagst du da?« Der Schreiber sah sie misstrauisch an, und der schwer gebaute Mann ragte drohend hinter ihm auf. »Wenn wir eine Nachricht an unsere Kameraden 60
schicken könnten, bringen sie Geld her«, übersetzte Jeirran resigniert. »Das ist gut.« Der Schreiber machte eine weitere Notiz auf seinem Pergament und pfiff auf den Fingern nach einem Burschen, der auf einer Bank vor dem Podest saß. »Sagt dem Jungen, wo er hingehen soll.« Jeirran biss die Zähne zusammen und gab dem Jungen die Wegbeschreibung zu ihrem Gasthaus. »Sag Teiriol, er soll das Haselnusskästchen aus Eirys’ Truhe mitbringen.« »Ab mit dir.« Der Schreiber gab dem Burschen einen Kupferpfennig aus einer Schale auf seinem Tisch und öffnete die Tür, um ihn hinauszulassen. »Gut, ihr zwei, setzt euch da drüben hin. Wenn ihr Ärger macht, habt ihr es nur umso schwerer, wenn ihr drankommt.« Jeirran schritt munter zur Wand hinüber, wobei er allen finstere Blicke zuwarf, die ihn neugierig anschauten, doch die meisten Missetäter waren damit zufrieden, einfach nur dazusitzen und für sich zu bleiben. Jeirran warf seinen Umhang ab, setzte sich darauf, die Arme um die Knie geschlungen, und brütete finster vor sich hin, den Blick auf die Tür gerichtet. »Warum hast du nach dem Haselnusskästchen gefragt?«, wollte Keisyl, der mit überkreuzten Beinen neben ihm saß, in drängendem Flüsterton wissen. »Teiriols Börse ist gut genug gefüllt, um zu beweisen, dass wir keine Bettler sind.« »Unter dem Boden des Kästchens ist Gold versteckt, ein Teil meines Erbes«, zischte Jeirran. »Ich will uns hier ‘rauskaufen. Dass wir unsere Pelze loswerden, können wir jetzt am wenigsten gebrauchen. Wenn wir nach Hause kommen und haben nichts in 61
der Hand, werden wir uns das ewig anhören müssen. Wir müssen die Pelze in einer der Städte zwischen hier und zu Hause verkaufen und das Beste daraus machen. Da hat deine Mutter wieder mal etwas, worüber sie sich das Maul zerreißen kann!« Keisyl grunzte. »Und was wird Eirys sagen? Das Gold soll dein Verdienst dafür sein, dass du ihre Ländereien gut verwaltest und ihre Kinder versorgt sind. Und wenn wir schon dabei sind – das sollte alles sicher zu Hause unter dem Herd liegen!« »Eirys muss ja nichts davon erfahren«, zischte Jeirran. »Glaubst du, sie wird still sitzen bleiben, wenn Teiriol unsere Nachricht bekommt und anfängt, Sachen aus ihrer Truhe zu holen?« Keisyls Stimme stieg ungläubig. »Sie wird herkommen und fauchen wie eine verbrühte Katze!« »Sie muss ja nicht wissen, dass es Teil meines Erbes ist«, beharrte Jeirran. »Ich sag ihr, dass ich im vergangenen Jahr ein paar Verkäufe getätigt habe, ehe wir heirateten. Ich werde schon einen Weg finden, das Gold noch vor der Sonnenwende zurück zu verdienen, und Eirys braucht nie zu erfahren, dass es fehlte.« »Dann nimm das auf deine Kappe«, fauchte Keisyl. »Falls jemand fragt, werde ich sagen, ich hätte nichts davon gewusst.« Jeirran nickte, die Augen noch immer fest auf die Tür gerichtet. Die Demütigung stieß ihm sauer auf. Heiße Wut überkam ihn, Zorn auf diese Tiefländer mit ihren unverständlichen Gilden und geheimen Regeln. Diese Halunken, die sich verschworen, um jeden Handel unter sich auszumachen. Es war immer dasselbe, diese Täuschung, so wie Degran und seinesgleichen die Leute aus den Bergen betro62
gen. Wann hatte ein Bergbewohner zuletzt einen gerechten Anteil am Gewinn erhalten, einen anständigen Lohn für die gefährliche Arbeit, Metall aus hartem Gestein zu gewinnen oder aus den waldigen Höhen Felle zu holen? Die Tiefländer aber bauten ihre schmutzigen Dörfer immer höher hinauf, suchten sich die besten Weiden für ihr schlammverkrustetes Vieh und ihre gierigen Schafe und beanspruchten das Recht, das Land zu kaufen und zu verkaufen. Jeirrans brennende Augen blieben an dem glücklosen Schreiber und den drei Männern hängen, die selbstgerecht dasaßen, während sie ihre Opfer ihres Geldes und ihrer Würde beraubten. Die Haupttür schwang auf, doch es war nur eine aufgetakelte rothaarige Frau in enggeschnittenen Hosen, die an dem Schreiber vorbei hereinspähte. Mit einem finsteren Blick auf die Frau kehrte Jeirran zu seinen zornigen Gedanken zurück. Wie hätte er wissen sollen, dass es hier keinerlei Aussicht auf ehrbaren Handel gab? Er war in gutem Glauben gekommen. Degran und diese anderen mussten gewusst haben, dass es so kam. Sie würden sich ausschütten vor Lachen über ihn. Jeirran reckte zornig das Kinn vor. Diese selbstzufriedenen Tiefländer mit ihren Täuschungen! Aber er würde schon einen Weg finden, sie dafür bezahlen zu lassen!
63
Selerima, West-Einsaimin Erster Abend des Frühlingsmarktes
»Sie sind es nicht«, sagte ich bedauernd zu Usara. »Nur zwei, frisch von ihren Maultieren, die den falschen Wachmann komisch angeguckt haben.« »Wohin dann als Nächstes? 0h, Verzeihung, Madam.« Der Zauberer trat beiseite, als ein angemaltes Mädchen vorbeischlenderte, den dunkelroten Rock zu einer Hüfte hoch geschürzt, um ihre schneeweißen Unterröcke zu zeigen, einen unzulänglichen Schal um ihre kaum bedeckten Schultern geschlungen. Ich sah der Hure hinterher. »Wenn ‘Gren eine Blüte gefunden hat, die reif zum Pflücken ist, haben wir kaum eine Möglichkeit, sie heute Abend zu finden. Wahrscheinlich sind sie noch gar nicht eingetroffen. Wir hätten sie bei den Schmiedebuden gefunden, wo sie sich über die Qualität der Arbeiten lustig gemacht hätten, da wette ich drauf.« Usara sah mich fragend an. »Tormalin-Münzen oder die hiesigen Pfennige?« »Na gut«, gab ich zu, »vielleicht nur das Zeichen eines Bierverkäufers.« Klirrende Zimbeln und schnarrende Saiten kündeten eine kleine Gruppe an, die ihren Mangel an Zahl und Kunstfertigkeit durch Begeisterung wettmachte. Ihr Anführer setzte eine verbeulte Flöte an den Mund und blies einen quietschenden Tusch. »Liebe Leute von Selerima und geehrte Gäste unseres Festes, ich lade euch ein, ein Theaterstück von seltener Kunst und großer Schönheit anzuschauen. 64
Die Martlet-Gruppe wird heute Abend Die Händler vom Golf geben, Beginn beim zweiten abendlichen Glockenschlag im Hurtigen Hund.« Er wandte sich an seine zusammengewürfelten Musiker. Sie spielten einen misstönenden Tusch, ehe sie in eine der Melodien verfielen, die zwar jeder kennt, aber jeder mit einem anderen Text. Angeführt von dem Flötenspieler setzten sie sich zur nächsten Straßenecke in Bewegung, um dort erneut ihre Botschaft zu verkünden. Ich sah Usara an. »Lust auf einen Theaterabend?« »Ich weiß nicht«, erwiderte er vorsichtig. »Es gibt solches und solches Theater.« Ich lachte. »Der Hurtige Hund ist ein Haus mit gutem Ruf, direkt am Marktplatz. Wann hast du jemals von einem Bordell mit solchem Namen gehört? Wenn du Mädchen willst, die nichts weiter tragen als ein paar Seidenblumen und ein gewinnendes Lächeln, solltest du es unten am Fluss versuchen.« »Der Versuchung kann ich widerstehen«, sagte der Zauberer trocken, »es sei denn, du glaubst, wir finden diese Brüder in der Gegend.« Ich schüttelte den Kopf. »Falls ‘Gren in einem Bordell ist, verschwendet er keine Zeit damit, sich die Blumen anzuschauen, er macht sich gleich über den Honig her. Doch Sorgrad liebt ein gutes Stück. Es könnte sich lohnen, sich bei den Komödianten umzuschauen.« Und da diejenigen von uns, die immer unterwegs sind – Schauspieler, Bauernfänger und Spieler –, sich fast stets bei denselben großen Festen treffen, hätte ich einen Silberpfennig darauf gesetzt, von Sorgrad zumindest etwas zu hören. Mit ein bisschen Glück konnte ich Nachrichten bei Leuten hinterlassen, die ihn kannten. 65
»Also, wo ist der Hurtige Hund?« Usara schaute sich vergebens nach dem Versammlungs-Turm um. »Hier entlang.« Ich führte ihn durch eine Nebenstraße, die zum Marktplatz führte. Während die Vergnügungen auf dem Jahrmarkt mit Fortschreiten des Abends immer derber und lärmender wurden, gingen die vornehmen Bürger der Stadt hier ihren gesetzteren Feiern nach. Der Mittelpunkt war ein loderndes Feuer, über dem ein Ochse am Spieß briet, eine Spende der Fleischergilde, falls die Messer auf den Fähnchen ringsum etwas zu bedeuten hatten. Ein Priester bat um Ostrins Segen für die Versammelten, und jedermann hörte aufmerksam zu; die älteren Leute erfreuten sich sogar an dem Gottesdienst. Der Priester wirkte erfreut, und das mit Recht, denn so viel Aufmerksamkeit würde ihm bis zur Sonnwendfeier nicht mehr beschieden sein. Kohlebecken bildeten leuchtende Punkte in der zunehmenden Dunkelheit, und die Kühle des Abends strafte den Sonnenschein des vergangenen Tages Lügen. Kastanien wurden geröstet, um Hände und Bauch warm zu halten – eine Mahnung, dass die Jahreszeit noch ganz am Anfang stand. »Heißer Wein, meine Dame?« Ein Mädchen mit roten Wangen und strahlenden Augen hielt mir ein Tablett mit dampfenden Hornbechern hin. »Auf Kosten der Weinhändlergilde.« »Danke.« Ich reichte Usara einen Becher, nippte an meinem eigenen und stellte fest, dass die Gewürze und die Wärme so gut taten, dass sie die mäßige Qualität des Weines übertünchten. »Da drüben.« Ich zeigte auf die gegenüberliegende Seite des geschäftigen Platzes. »Das ist der Hurtige Hund« Usara trank durstig, schnitt eine Grimasse und blickte voll Widerwillen in seinen Wein, ehe er den 66
Rest auf das Pflaster kippte. »Was meinst du, wo wird sonst noch Theater gespielt? Hat diese Stadt ein eigens gebautes Theater?« »Nein«, antwortete ich spöttisch. »Der Spiegel in Vanam ist das einzige Theater auf dieser Seite des Weißen Flusses. In Selerima behilft man sich mit den Höfen von Gasthäusern, wie überall sonst.« Wir bahnten uns einen Weg hinüber, nicht ohne uns auf mein Drängen hin grobes Brot anbieten zu lassen, das um Fleisch und knusprige Kruste gewickelt waren. Das Fleisch stammte von einem Ferkel, das von der Schnauze bis zum Ringelschwanz halbiert war und dessen Hälften über einem flackernden Feuer auf einem Spieß steckten. Vor dem Hurtigen Hund bildete sich bereits eine Schlange, ein paar Türen weiter, unter dem Schild des Schwan im Mond, nahmen zwei Schauspieler in bunten Kostümen Silberpfennige von denjenigen entgegen, die gern früh genug kamen, um sich einen guten Platz zu sichern. »Livak!« Einer der beiden schob seine Maske hoch und rief mich erfreut an. Ich lachte mit gleicher Freude. »Niello, wie schön, dich zu sehen!« Ich packte Usara am Ärmel und zog ihn hinter mir her. »Ich wäre schon früher gekommen, hätte ich gewusst, dass du hier bist, aber ich dachte, du wärst für immer in Col geblieben. Was ist mit Lord Elkiths Theatergruppe? Wollte er nicht die Pacht für einen Gasthof für euch bezahlen?« Niello zuckte mit den wattierten Schultern seines fröhlich bunten Wamses. »Das Übliche, meine Liebe. Ein Schauspieler, eine Dame, ein Missverständnis.« »Seine Frau«, vermutete ich. »Seine Schwester«, grinste Niello wölfisch und 67
fuhr sich mit der Hand über seine makellosen kastanienbraunen Locken. Es steckte zweifellos mehr dahinter: Streit um Geld, Einnahmen, die in Bier umgesetzt wurden anstatt davon die Rechnungen zu bezahlen, Kostüme, die wegen Schulden gepfändet wurden. Aber das war nicht mein Problem. »Und, mit wem spielst du jetzt?« Niello machte eine anmutige Verbeugung. »Wir sind die Theatergruppe bronzene Glocke.« Sein Kamerad schüttelte seine Handglocke heftig zur Unterstreichung, worauf sich alle Köpfe auf dem Platz herumdrehten. »Ich habe mich ihnen angeschlossen, als sie für die Wintersonnwendfeier nach Col kamen.« »Wie ich sehe, kennt ihr euch«, sagte Usara mit einem Unterton. »Wir hatten in der Vergangenheit miteinander zu tun.« Ich schenkte Niello, dessen haselnussbraune Augen hoffnungsvoll aufleuchteten, ein kokettes Lächeln. »Du könntest uns vielleicht behilflich sein, Niello.« »Und wie?«, fragte er vorsichtig. »Erinnerst du dich an Sorgrad und Sorgren? Sie waren bei den Reiterumzügen mit mir und Halice zusammen, bei der Wintersonnenwende, vor einem Jahr.« Niello runzelte in Gedanken die Stirn. »Vom Bergvolk? Brüder? Der kleinere etwas unberechenbar, könnte man sagen?« Ich nickte. »Das sind sie. Du hast sie hier noch nicht gesehen, oder?« »Bis jetzt noch nicht, aber ich muss zugeben, ich hätte sie leicht übersehen können.« »Könntest du für mich nach ihnen Ausschau hal68
ten?« Ich schenkte ihm ein einladendes Lächeln mit all dem großäugigen Charme, den ich nur aufbringen konnte. »Wir müssen etwas mit ihnen besprechen.« Niello schaute mich liebevoll an. »Ich kann noch mehr tun, Liwie. Reza ist hier bei mir, der Bursche, der in Col mein Läufer war, weißt du noch? Er wird sich bestimmt gut an die beiden erinnern. Am besten, ich schicke durch ein paar andere Kneipen und Theater, ob er sie für dich finden kann.« Ich hauchte Niello einen Kuss zu. »Du bist ein Schatz.« Und Reza hatte jetzt eine ausgezeichnete Ausrede dafür, die Konkurrenz auszuspionieren. »Das sagen alle Mädchen, mein Goldstück. Und jetzt geht hinein, ihr haltet zahlende Kundschaft auf!« Er hob den Arm, um uns beide durchzulassen, und ich führte Usara zu einem Tisch an einer Seite des Innenhofs. »Liwie?«, fragte Usara mit einer Miene, die einem Schmunzeln verdächtig nahe kam. Ich hob warnend einen Finger. »Er ist der Einzige, dem ich das durchgehen lasse, vergiss das nie. Wenn jemand anders mich so nennt, dann weiß ich, wer aus der Schule geplaudert hat!« »Wie hast du ihn kennen gelernt?« Usara drehte sich auf der niedrigen Bank nach Niello um, der gerade einen errötenden Jüngling überredete, seine großäugige Gefährtin hereinzubringen. »Ich reise jetzt seit über zehn Jahren kreuz und quer durch Ensaimin und kenne viele Leute«, sagte ich und schaute mich nach einer Kellnerin um. Das reichte an Wahrheit für Usara. Genaugenommen ging meine Freundschaft mit Niello auf meine unglückliche Kindheit in Vanam zurück, wo ich meine freie Zeit damit verbrachte, auf der Suche nach 69
irgendeinem Unfug durch die Stadt streifte, um die Langeweile eines Lebens als Hausmädchen eine Zeit lang zu vertreiben. Niello war damals ein kleiner Botenjunge gewesen, der im Spiegel und bei den mittelmäßigeren Theatertruppen herumhing, die in den Gast- und Tempelhöfen auftraten. Er überbrachte Nachrichten, flickte Kostüme, trat als Komparse auf und hoffte auf eine Chance, eine größere Rolle zu spielen. Der Hof füllte sich allmählich. Die Menschen saßen dicht gedrängt an den Seiten der Bühne, die aus Brettern und Fässern gezimmert war. Bankreihen standen davor, und die Zuschauer falteten ihre Umhänge zu Kissen zusammen, um die harten Sitze zu polstern, während sie sich voller Vorfreude auf das Schauspiel warteten. »Hast du das Stück schon gesehen? Es heißt Klatsch an der Hintertür.« Usara blickte erwartungsvoll auf den Vorhang, der den Durchgang in ein Hinterzimmer des Gasthofs verbarg, in dem die Schauspieler ihre Masken und Kostüme anzogen. Der Vorhang war mit dem kühnen Bild zweier unwahrscheinlich farbiger Gärten bemalt, die durch eine hoch aufragende Mauer getrennt waren. Zwei verschnörkelte schmiedeeiserne Tore standen auf kleinen Plattformen zu beiden Seiten der Bühne. Sie würden zwar keine Katze fern halten, die etwas anderes im Sinn hatte, aber fröhlich alle Arten von Hindernissen für die bereitwilligen Zuschauer darstellen. Ich schüttelte den Kopf. »Nein, aber es wird das Übliche sein. Junge Liebe, voller Bitterkeit über einen strengen Vater oder eine ehrgeizige Mutter, ein paar komische Szenen, und nach einer Reihe boshafter Zufälle und Verwicklungen kommt alles in 70
Ordnung.« Ich winkte einem Schankmädchen, das geistesabwesend umherwanderte. »Wein für mich und meinen Freund, und einen Krug für die Schauspieler, mit einem Gruß von Fräulein Flink.« Das Mädchen schaute mich unsicher an. Fräulein Flink war ein ältliches, zänkisches Weib aus Der Waisen Tränen, einem düsteren Stück, das vor ein paar Jahren das Repertoire jeder Schauspieltruppe verunziert hatte. »Es ist ein kleiner Scherz«, erklärte ich, »Niello wird ihn schon verstehen.« »Ein paar unserer Lehrlinge haben das vor einigen Jahren für die Wintersonnwendfeier geprobt«, sagte Usara unerwartet. »Dann gibt es Theater in Hadrumal?« »Nur Versuche, Ansätze. Richtige Theatertruppen nehmen niemals Einladungen an, nicht einmal vom Erzmagier.« Usara klang ehrlich verwirrt. »Und das überrascht dich?«, fragte ich ungläubig. »Wo ihr Magier Saedrin wer weiß wie viele Generationen damit verbracht habt, eure schrecklichen Legenden aufzubauen und eure verborgene Insel in magischem Nebel zu verstecken? Welcher Schauspieler will es mit so einem Publikum aufnehmen? Mit faulem Obst beworfen zu werden, wenn den Leuten das Stück nicht gefällt, ist schlimm genug, aber glaubst du, jemand riskiert es, in einen Mistkäfer verwandelt zu werden?« Usara blickte ein wenig beleidigt. »Heutzutage glauben die Menschen diese alten Geschichten nicht mehr.« »Du würdest staunen«, sagte ich düster. Nicht dass ich die Absicht gehabt hätte, die Gerüchte zu zerstreuen. Wenn ich Leute beeindrucken wollte, in dem ich beiläufig erwähnte, dass ich in der geheimnisvollen Stadt der Zauberer gewesen war, würde 71
ich ihnen kaum erzählen, dass es sich um einen faden und langweiligen Ort voller selbstvergessener Gelehrter und aufgeblasener Magier handelte. »Denk daran, was du gedacht hast, ehe sich herausstellte, dass du magiegeboren warst und in die Lehre geschickt wurdest.« Usara schüttelte den Kopf. »In Hadrumal geboren und aufgewachsen, in vierter Generation von der Seite meiner Mutter, in fünfter von der meines Vaters. An jedem Zweig des Familienstammbaums Magier. Für mich ist es das Festland, wo alle Rätsel und Geheimnisse liegen!« Er grinste, und ich lächelte schwach zurück. Wie war es mir bloß gelungen, so viele hundert Meilen mit diesem Mann zu reisen, ohne das je herauszufinden? Ich schalt mich selbst für meine Nachlässigkeit. Ich sollte besser auf der Hut sein, für den Fall, dass seine Unwissenheit uns in eine Bärenfalle brachte, trotz seiner angeborenen Pfiffigkeit und jahrelanger Ausbildung. Wie schlau war er eigentlich? »Was hast du von dem Basilisken gehalten?« Usara runzelte die Stirn. »Er hat sein Leben offensichtlich als ganz gewöhnlicher Hahn begonnen, bis jemand ihm den Sporn und den Kamm abgeschnitten hat. Was ich jedoch nicht verstehe – wie hat der Mann den Sporn stattdessen auf dem Kopf wachsen lassen?« Also hatte er fast den ganzen Trick durchschaut. »Zuerst muss man den Vogel kastrieren, hat man mir erklärt...« Ein Chor von Hörnern beendete jede Unterhaltung, und der Erzähler in seiner schlichten weißen Maske und der schmucklosen Perücke trat hinter dem Vorhang hervor. Er sprach die Einleitung zu der Geschichte mit dem üblichen ausführlichen Hinweis, welche Lehren wir zu unserer moralischen 72
Erbauung daraus ziehen könnten, was auf die Tage zurückging, da fromme Schauspiele in den Schreinen aufgeführt wurden. Wie es moderner Brauch war, lauschte die Hälfte des Publikums gespannt, um herauszufinden, wer wer war, während die andere Hälfte unruhig auf den Sitzen herumrutschte und auf die Tanzmädchen und den Schwank mit dem Schwein wartete. Ich nippte von meinem Wein, während unser Held erschien, ein reicher Jüngling aus dem uns zugewandten Haus, um seine Liebe zur tugendhaften Tochter des Vorstands seiner Gilde zu verkünden. Dieses Musterbild an Tugend war anscheinend mit seiner Tante auf Reisen, wenngleich das etwas unwahrscheinlich war. Es wurden Scherze gemacht über den Vorstand – ein Mann, der jeden hasste, der nicht mit ehrlichem Handel sein Geld machte –, und witzige Bemerkungen über seinen Bauchumfang, die wohl für das hiesige Publikum ins Stück geschrieben worden waren, wenn man das wiehernde Gelächter bedachte, das sie hervorriefen. Die Köchin des Nachbarhauses klagte längere Zeit der Haushälterin des Helden ihr Leid, wie schlecht ihr elender Herr sie behandelte. Dann, zu jedermanns Erleichterung, kam der Bote mit schmutziger Maske und windzerzaustem Haar herein, das mit Mehlpampe festgekleistert war. Nachdem er mit Nachdruck versichert hatte, wie geheim seine Nachricht sei, fuhr er fort, allen und jedem zu erzählen, wie die tugendhafte Maid von gedungenen Räubern entführt worden war. Während die Zuschauer, die das noch nicht hatten kommen sehen, nach Luft rangen, erschienen die Musiker, und Tänzer kamen hüpfend hinter dem Vorhang hervor. Ich stieß Usara an. »Ich muss Niello sagen, dass 73
sich Diener in vornehmen Häusern eher nackt auf die Dächer setzen würden, als auch nur eine Bemerkung über das Wetter zur Köchin zu machen!« Der Magier antwortete nicht, sondern beugte sich vor, um einen besseren Blick auf die Mädchen zu haben, deren wohl geformte Beine unter den mit bunten Bändern besetzten Musselin-Röcken kaum verborgen waren. Fröhlich bemalte Halbmasken verbargen ihre Augen, doch nicht ihr lockendes Lächeln. Nach einem Lied, gerade noch auf der geschmackvollen Seite des Schlüpfrigen, wurde es Zeit für die Narren. Der eine hatte eine Hakennase, der andere ein Mondgesicht, also gab es hier keine Überraschungen. Sie spielten dieses Mal Händler, und ihr Problem war ein Wachhund, der alles angriff, was Hosen trug. Der eine Narr war ein Messerschleifer, der die Köchin umwarb, mit all den Scherzen, die man über Klingen und Scheiden erwarten konnte, und bald erfuhren wir, dass es der Hund war, der ihn daran hinderte, sich die Klinge ordentlich zu schärfen. Ich erkannte Niellos Stimme hinter der Hakennasenmaske. Er spielte die Szene mit einer Hingabe, der mich kichern ließ. Als der Held langatmig über den Verlust seiner Liebe lamentierte, wurde es in den Reihen hinter mir unruhig. Ich drehte mich rasch um, doch Usaras Aufmerksamkeit war noch immer ganz auf die Bühne gerichtet. Meine instinktive Besorgnis wich Freude, als ich die zwei blonden Gestalten sah, die sich zu uns durchdrängten, die Köpfe nur auf Schulterhöhe der meisten Männer, einer mit der nicht zu verkennenden stämmigen Gestalt des Bergvolks, der andere schlanker, das lange Haar mit einem geflochtenen Lederband zurückgehalten. »Mach Platz, Usara.« Ich stieß ihm einen Ellbogen 74
in die Rippen, und er rutschte mit höflichen Entschuldigungen an ein paar Lehrlinge zur Seite. ‘Gren schnappte sich einen Hocker von jemandem, der so unklug war, einen Augenblick aufzustehen, um besser sehen zu können, und reichte ihn Sorgrad, der sich prompt an unserem Tisch niederließ, als hätte er schon den ganzen Abend da gesessen. »Wir haben gehört, dass ihr hier seid.« Sorgren schlüpfte zwischen mich und Usara und bediente sich mit einem frechen Grinsen von meinem letzten Wein. »Das kann ich jetzt gebrauchen, ich bin so ausgedörrt wie der Hut eines Kalkbrenners.« Sorgrad zog einen kleinen Silberbecher aus seiner Tasche und füllte ihn aus unserem Krug. »Ich habe bei jedem, der mir einfiel, Nachrichten hinterlassen. Wann seid ihr eingetroffen?« »Kurz nach Sonnenuntergang.« Sorgrad trank durstig. »Wir kommen geradewegs von Col.« »Schulde ich dir Geld oder was?« Kühl erwiderte ‘Gren Usaras fragenden Blick. »Willst du dich nicht um deine eigenen Angelegenheiten kümmern?« »Das ist Usara, er ist mit mir hier.« Ich nahm ‘Gren meinen Becher weg und schaute mich nach dem Serviermädchen um. »Dazu kommen wir später. Was habt ihr in Col gemacht?« »Uns von Ärger fern gehalten.« Sorgrad lächelte mich zufrieden an, und ich bemerkte das feine Wolltuch seines kastanienbraunen Wamses, gut geschnitten nach der neuesten Mode und teuer nach Maß gearbeitet, um seiner fassförmigen Brust zu schmeicheln. Die zahlreichen silbernen Verzierungen an seinem Gürtel waren blank, das Leder schimmerte noch neu. Sein feines blondes Haar lugte ordentlich geschnitten unter einer eleganten Kappe in neuestem südländischem Stil hervor. 75
Selbst über die Stallgerüche und die verschwitzten Zecher hinweg konnte ich den Duft teurer Badeöle riechen. »Also ist euer kleines Projekt in Draximal gut gelaufen?«, erkundigte ich mich unschuldig. Das letzte Mal, als ich die Brüder gesehen hatte, heckten sie den verrückten Plan aus, den Sold von Soldaten zu stehlen – von Söldnern, um genau zu sein – Gold, das dafür vorgesehen war, noch eine weitere Jahreszeit des endlosen Bürgerkriegs in Lescar zu finanzieren. Sorgrad nickte. »Wir haben ein paar alte Freunde gefunden, denen es gut gefiel, zur Abwechslung einmal im Voraus bezahlt zu werden, ohne großes Blutvergießen. Wir haben uns den richtigen Fleck an der Straße durch die Berge nördlich von Sharlac ausgesucht. Es war so einfach, wie ein Brathähnchen zu erschlagen.« »Und was bringt euch dann nach Selerima?« Usara musste seine Stimme erheben, da die Tänzer wieder zu lebhafter Flötenmusik auftraten. »Wir dachten, ein gewisser Cordainer könnte zu den Festtagen hier sein.« Sorgrads blaue Augen brannten dunkel vor Rachegelüsten. Es heißt nicht umsonst, das Gedächtnis der Bergbevölkerung sei wie in Stein gemeißelt. »Wer?« Usara sah mich fragend an. »Später.« Vielleicht fiel mir später eine akzeptable Erklärung ein, dass Arie Cordainer jenen Raub ersonnen hatte, über den ich nicht mit einem Wachmann reden wollte. Er hatte unsere Dienste in Anspruch genommen, dann aber einen Weg gefunden, die Stadt mit der gesamten Beute zu verlassen, während wir anderen kurz davor standen, am Galgen zu enden, weil der Kerl entsprechende Infor76
mationen gestreut hatte. Ich drehte mich um und winkte einem Kellner, bei dem ich neuen Wein und einen weiteren Becher bestellte. Das Stück endete damit, dass ein neues Dienstmädchen im Haus des Geizkragens erschien. Es war nicht überraschend, dass sie die zierliche Maske und die ringgeschmückte Perücke der entführten Heldin trug. Ich schenkte Sorgrad mehr Wein ein, weil es keinen Zweck hatte, ‘Grens Aufmerksamkeit erringen zu wollen, solange eine hübsche Frau zum Angucken da war. Mir war es recht so: Solange er beschäftigt war, konnte er kein Unheil anrichten. »Bleibt ihr nach den Festtagen hier in der Gegend?«, fragte ich Sorgrad. »Ich schätze, dass ihr euch den Sommer über von Lescar fern halten werdet.« »Wir haben niemanden am Leben gelassen, der uns wiedererkennen könnte«, sagte er achselzuckend. »Aber ja, sobald wir das Geld geteilt hatten, hielten wir es für das Beste, ein paar Meilen zwischen die anderen und uns zu bringen. Es war ein Paar dabei, dessen Mundwerk nicht dichter hält als ein Loch in der Tasche, und wenn sie den Strick am Galgen baumeln sehen, werden sie reden wie ein Wasserfall, um ihren Hals zu retten.« Ich nickte und wählte meine nächsten Worte sorgfältig. »Charoleia sagte, man hätte ein paar Männer geschnappt, die des Raubes verdächtigt würden, und dass der Herzog von Draxima nach ihrem Blut schreit.« Usara beugte sich vor, um zu hören, was ich sagte, doch ‘Gren schob ihn mit einer ungeduldigen Handbewegung weg, da er ihm die Sicht versperrte. Sorgrad sah mich scharf an. »Wann hast du sie gesehen?“ 77
»Kurz vor Ende des Nachwinters, als Usara und ich auf dem Weg hierher waren«, erzählte ich. »Sie war wie immer in Relshaz, deswegen wusste ich auch, dass ihr zum Fest herkommen wolltet. Sie sagte, sie hätte euch bei der Wintersonnenwende gesehen.« Sorgrad runzelte die Stirn. Ich wusste, er würde kein Wort in Frage stellen, das ich angeblich von Charoleia gehört hatte. Wenn man bedenkt, dass sie ihr Geld damit verdient, leichtgläubigen Leuten einleuchtende Geschäfte aufzuschwatzen, ist ihr Netz zum Sammeln von Informationen nicht zu schlagen. Sie verbringt die Winter in einer der größten Hafenstädte am Golf von Lescar. Usara sagte etwas zu ‘Gren, das ich nicht verstehen konnte, was aber ohnehin unbeantwortet blieb, da die Narren wieder auftraten. Der eifrige Messerschleifer hatte vor, sich in einem Kleid an dem Wachhund vorbeizuschleichen. Das führte natürlich dazu, dass Reza, unter einem zerlumpten Fell und mit hängenden Hundeohren, Niello um die Bühne jagte, wobei Letzterer nicht mehr trug als Maske und einen hautengen, feingestrickten Wollanzug. »Wie kann er sich nur so auspolstern!«, japste ein errötendes Mädchen hinter mir, den Blick auf Niellos Hose gerichtet. Ich wusste es besser als sie und gestattete mir einen Augenblick nostalgischer Rückbesinnung. »Wir sind weit genug weg, um in Sicherheit zu sein.« Sorgrads Gesicht war unbekümmert, als ich ihn wieder anschaute. »Niemand wird uns quer durch Caladhria und Ensaimin verfolgen.« »Vielleicht doch, wenn die Belohnung groß, genug ist«, sagte ich langsam. »Ich hörte, dass der Herzog ein Zehntel von dem bietet, was gestohlen wurde.“ 78
Sorgrads saphirblaue Augen blickten fragend über den Rand seines Silberbechers. »Das hast du gehört?« Ich zuckte die Achseln. »Vielleicht ist es nur Kneipengeschwätz, aber es wäre vielleicht klug, für eine Jahreszeit irgendwo anders eine bezahlte Beschäftigung anzunehmen.« »Die du zufällig gerade zur Hand hast?« Sorgrad zog fragend die Augenbrauen hoch. Er nickte zu Usara hinüber, der es aufgegeben hatte, sich mit ‘Gren zu unterhalten und seine Aufmerksamkeit dem Stück widmete. »Wo kommt er ins Spiel?« »Ihn lasse ich für den Augenblick heraus. Ja, ich habe etwas in petto, und ihr solltet mich anhören.« Ich lächelte ihn an. »Wir könnten beide gut dabei abschneiden.« Als Sorgrad auflachte, drehten sich ein paar Leute von der Bühne weg, auf der gerade Held und Heldin sich unter Tränen durch eins der eisernen Tore bei den Händen hielten. Sorgrad beugte sich zu mir. »Also, wie lautet das Angebot? Nimm’s mir nicht übel, Livak, aber ich hörte, dass du mit Halice losgezogen seist, um wieder für irgendwelche Zauberer zu arbeiten. Ich kann nicht sagen, dass mir das gefällt. Charoleia sagte uns, sie hätte einen Brief von Halice erhalten, aus einem neuen Land weit draußen im Ozean. Der Erzmagier hat es entdeckt. Die Menschen dort schlafen seit dreißig Generationen in einer Höhle, heißt es, und herzlose Schurken versuchen, ihr Land zu stehlen, und Zauberer lassen Drachen erscheinen, um sie zu vertreiben.« »Ich weiß, es klingt unglaublich, aber diese Menschen in der Höhle waren die Tormalin-Kolonie, von der Nemith der Letzte kurz vor dem Untergang des Alten Imperiums die Spur verlor«, erklärte ich. 79
Sorgrad sagte: »Wir alle haben die Geschichten über diese verlorene Kolonie gehört, von Flüssen, die über goldenen Kies strömen, und Diamanten, die im Gras liegen. Seit den Tagen des Chaos haben immer wieder Leute versucht, dieses Land zu finden.« »Davon weiß ich nichts – von dem Gold und den Juwelen, meine ich«, sagte ich rasch, »aber erinnerst du dich an die Inseln im östlichen Meer, zu denen man mich schleppte, nachdem man mich gefangen und gezwungen hatte, für diesen Zauberer zu stehlen?« Sorgrad nickte. Ich bemühte mich, leise zu sprechen und die Erinnerung an diese Qual zu ignorieren. »Vergiss nicht, wie viel Geld ich von dieser Reise zurückgebracht habe, Sorgrad. Über Zauberer kann man sagen, was man will, aber sie zahlen gut.« Falls man lebend zurückkommt, setzte ich stumm hinzu. »Es waren diese Eismänner – jedenfalls ihre Ahnen –, welche die ursprünglichen Siedler in den Schlamm gestampft haben. Diejenigen, die entkommen konnten, versteckten sich in einer Höhle und hüllten sich in Zauber. Der Erzmagier schickte letzten Sommer eine Suchexpedition nach ihnen aus. Halice und ich waren dabei. Diese Leute hatten Magie, ‘Grad, alte Magie, nicht die Zaubertricks des Erzmagiers und seinesgleichen, sondern verloren gegangene Zauberkräfte, die sie über all diese Generationen hinweg in Schlaf versetzten, sodass sie in Sicherheit waren. Ich habe es mit eigenen Augen gesehen – ich sah, wie sie geweckt wurden.« Ich hielt inne, in der Erwartung einer spöttischen Erwiderung von Sorgrad, doch er schaute nachdenklich drein. »Der Erzmagier hat diese Leute geweckt, und jetzt haben sie ihre Kolonie wieder? Es 80
klingt immer noch wie ein schlechtes Stück. Warum kümmerst du dich noch um diese Dinge?«, fragte er dann mit untypischer Schärfe. »Du hast dich immer so weit wie möglich von Magiern fern gehalten, genau wie wir anderen, und nach dem, was Halice sagt, verfügen diese Elietimm über Zauber, dass dir die Haare zu Berge stehen! Ich weiß, dass man dich erpresst hat, diese ersten Auftrag für den Erzmagier zu übernehmen, und was das letzte Jahr angeht, schätze ich, schuldetest du Planir etwas dafür, dass er deine Haut gerettet hat. Aber ich verstehe nicht, warum du freiwillig schon wieder deinen Kopf in die Schlinge steckst! Hat das was mit deinem tormalinischen Schwertkämpfer zu tun? Charoleia hat uns erzählt, dass du ihn bereitwillig deine Taschen hast plündern lassen.« »Deine Zunge ist zu lang für deine Zähne, Sorgrad«, warnte ich ihn. »Ich arbeite jetzt für einen Tormalin-Prinzen, nicht für die Zauberer. Ja, die Elietimm haben mir eine Heidenangst eingejagt, und ich wache noch immer schweißnass bei der Erinnerung auf. Und das ist ein Grund dafür, warum ich so weit weg von der Küste will wie nur möglich. Nach Messires Ansicht haben diese Eismänner genug von ihren eiskalten Steinen und suchen zur Abwechslung nach einem warmen, trockenen Plätzchen. Planir hat sie aus der Kolonie geworfen, und wir fanden ihre Spuren in Dalasor und Nordtormalin im vorletzten Jahr ...« »Von einer solchen Bedrohung habe ich noch nichts gehört«, unterbrach Sorgrad mich skeptisch. »Weil Planir und Messire die Köpfe zusammengesteckt und beschlossen haben, das alles unter Verschluss zu halten, bis sie einen Plan hatten.« Ryshad und ich hatten darüber argumentiert und für 81
die Verbreitung einer genauen Beschreibung der Elietimm in ihren unverwechselbaren Livreen ausgesprochen, sodass sie auffallen würden wie bunte Hunde, wenn sie je wieder versuchten, das Festland zu erreichen. Ich dachte immer noch, dass sich unsere so genannten Führer irrten. »Schon bald werden der Kaiser und seine Kumpane vor einer organisierten Armee stehen, die von Hexern unterstützt wird, die dir aus einer Meile Entfernung das Hirn aus der Nase ziehen können«, fuhr ich fort. »Mein Herr weiß, dass er Magie braucht, um zurückzuschlagen.« »Was will der Prinz dann von dir?« Sorgrad blickte noch immer finster und feindselig drein. »Wer ist er überhaupt?« »Messire D’Olbriot. Du hast sicher schon von ihm gehört?« Ich hätte eine Goldkrone darauf gewettet, dass Sorgrad vom wichtigsten Adelshaus in Tormalin gehört hatte. Er nickte. »Es heißt, dass er praktisch den Hof führt, wo Kaiser Katriol doch noch so jung ist. Was machst du für ihn?« Ich hielt Sorgrads Blick fest. »Messire D’Olbriot möchte diese alte Magie verstehen – am besten, bevor jemand anders daran denkt, danach zu suchen – und erfahren, was er vorhat. Der Erzmagier will ebenfalls alles über diese alte Magie lernen. Zauberkunst, nennen sie es jetzt, oder Äthermagie. Der Punkt ist, die Zauberer von Hadrumal können diese alte Magie nicht anwenden – frag mich nicht warum. Das macht Planir Sorgen, also tut er alles, um herauszufinden, was er da vor sich hat.« »Wenn dein Gönner die Informationen hat, auf die der Erzmagier so wild ist, kann er sie gegen ein paar Magier tauschen und Blitze auf jeden Eismann 82
werfen, der an Land will, ohne Hafengebühren zu bezahlen?« Sorgrad sah noch immer nachdenklich aus, doch weniger feindselig. »Das macht Sinn.« »Ich wusste, du würdest es verstehen.« Ich grinste. Messire D’Olbriot hatte es nicht verstanden, bis ich es ihm erklärte, trotz all der Jahre, in denen er die Figuren im Spiel der tormalinischen Politik hin und her geschoben hatte. Die Vorstellung, sich mit Magiern und Zauberei einzulassen, war in Toremal noch immer so willkommen, wie mit einer pockenzerfressenen Hure zu tanzen. »Wie ich schon sagte, es ist ein Auftrag, der sich wirklich sehr auszahlen könnte. Wir könnten sogar für beide Seiten spielen und unseren Gewinn verdoppeln.« »Und welche Runen sollst du in diesem Spiel werfen?«, fragte Sorgrad. Ich konnte sehen, dass die Neugier bei ihm allmählich Oberhand gewann, und atmete ein bisschen leichter. »Es heißt, dass die Zauberkunst ursprünglich von den alten Rassen stammte, dem Volk der Ebene, dem Bergvolk, dem Waldvolk. Von ihnen bekamen sie die Alt-Tormaliner.« »Zusammen mit ihrem Land, ihrem Reichtum und ihrem Vieh«, knurrte Sorgrad. Ich fuhr fort: »Tormalingelehrte und Planirs Zauberer haben das letzte halbe Jahr oder länger die Archive und Bibliotheken durchstöbert auf der Suche nach Hinweisen. Ich habe mich selbst ein wenig umgesehen und ein paar interessante Dinge gefunden . . . « Nachdem die Gelehrten sich von ihrem Erstaunen erholt hatten, dass jemand aus dem einfachen Volk wie ich tatsächlich mehr als eine Wäscheliste lesen konnte, und mich durch ihre staubigen Bände blättern ließen. »Ich fand ein Liederbuch, das bis auf die Zeit vor dem Untergang 83
des Reiches zurückgeht, mit vielen alten Liedern von sämtlichem alten Völkern und voller Andeutungen über Äthermagie.« »Und das soll interessant sein?« Sorgrads schnaubte. »Ich glaube schon. Wenn wir die alten Lieder übersetzen können, werden Planir und D’Olbriot mir zustimmen, vor allem, wenn die Lieder wirklich ein paar der Gesänge enthalten, um Magie auszuüben.« »Wie wahrscheinlich ist das?«, fragte Sorgrad stirnrunzelnd. »Die Chancen stehen nicht so schlecht, wie du vielleicht denkst«, versicherte ich. »Ich habe gesehen, wie diese Äthermagie gewirkt wurde, und ich wette jede Summe darauf, dass in diesen Zaubergesängen Rhythmen aus Waldvolk-Liedern sind. Ich bin die Tochter eines Sängers, Sorgrad, du weißt, dass du dich auf meine Ohren verlassen kannst.« »Und warum machen die Zauberer es dann nicht selbst?«, wollte Sorgrad wissen. »Der Zauberer, den Planir die Arbeit der Gelehrten aufeinander abstimmen lässt, ist ein kleinkarierter Mantelträger namens Casuel«, erklärte ich. »Seine Pläne und Methoden sind wie in Stein gemeißelt, und er wollte meinen Theorien einfach nicht zuhören.« »Und da hast du ihm nicht einen Stapel Bücher an den Kopf geworfen, um ihn los zu werden?« Sorgrad grinste. »Glaub nicht, ich hätte keine Lust dazu gehabt!« Ich nahm einen Schluck Wein. »Nein, ich bin ihn einfach umgangen. Es gibt da einen Lieblingsknaben, einen Neffen, der Ryshad etwas schuldet. Junker Camarl, heißt er. Ich überzeugte ihn davon, 84
dass dieses Buch eine nähere Untersuchung wert ist, und er schlug Messire D’Olbriot vor, mich zu bezahlen und die Lieder übersetzen zu lassen.« »Und du bist den ganzen Weg hierher gekommen, um jemanden zu finden, der diese Arbeit macht? Ich nehme an, dafür willst du mich?« Sorgrad wirkte nicht beeindruckt. »Ich schätze es, dass du deinen Lohn mit deinen Freunden teilen willst, Livak, aber es muss doch jemanden geben, der eher in Frage gekommen wäre!« »Eigentlich nicht.« Ich zuckte die Achseln. »Die Gelehrten kamen mit dem Alt-Hochtormalin zurecht, aber sie machen sich keine Mühe, wenn es um verlorene Sprachen geht, wie sie es nennen. Wir fanden ein paar Adlige, die einige Zeit in Gidesta gelebt haben. Doch gerade so viel Berg-Sprache, um Wein, ein Bett und eine Hure in den Erzminen bestellen zu können, reichte bei archaischen Sagen nicht aus.« »Also suchst du nach jemandem, der den alten Dingen näher steht, um sie zu übersetzen?« Sorgrad fuhr nachdenklich mit dem Finger über den Rand seines schön ziselierten Bechers. »Ja. Und das heißt auch, in die Wildnis und hinauf in die Berge zu gehen. Zwischen hier und Toremal habe ich niemanden gefunden, der alle Worte kennt.« Ich hatte allerdings genug erfahren, um überzeugt zu sein, dass es in diesen Liedern um Zauberkunst ging. »Wirst du eigentlich im Voraus bezahlt oder für das Ergebnis?«, wollte Sorgrad plötzlich wissen. »Ich habe einen anständigen Vorschuss bekommen«, beruhigte ich ihn, »und ich habe die Vollmacht, in allen größeren Städten im Lande auf die Reserven von D’Olbriot zurückzugreifen.« Das 85
Bronzeamulett mit dem Siegel D’Olbriots hing warm und schwer unter meinem Hemd, doch ich wollte keine unerwünschte Aufmerksamkeit auf uns lenken, indem ich es hier zeigte. »Die endgültige Zahlung hängt davon ab, was genau ich herausfinde. Ja, ich will die Lieder übersetzt haben. Aber mit ein bisschen Glück wird jeder, der die alten Sprachen beherrscht, mich an Leute verweisen, die nützliches Wissen über alte Ätherkunde oder ähnliches besitzen. Ich kann selbst in den Wald gehen, als Halbblut, und mit dem Namen meines Vaters für mich bürgen. Sobald ich echtes Volk finde, sollte ich in der Lage sein, jemanden zu überreden, dass er mir hilft. Doch um in die Berge zu kommen brauche ich jemand, der weiß, wie die Dinge dort oben aussehen, der die Sprache spricht und mich an den richtigen Stellen einführt.« »Was du also brauchst, sind ich und ‘Gren.« Schalk blitzte in Sorgrads Augen auf. »Vielleicht ist es die Sache wert, wenn wir uns auf einen anständigen Preis einigen können.« Seine Belustigung ging mir auf die Nerven, und mir fiel auf, dass ich nie wirklich erfahren hatte, warum die zwei ursprünglich aus den Bergen fortgegangen waren. »Wir werden doch nicht ständig über Leute stolpern, die euch am liebsten die Haut abziehen würden, weil ein Preis auf euch ausgesetzt ist, oder?«, fragte ich streng. »Nein, nicht so lange wir uns von ein paar Orten fern halten.« Sorgrad blickte wieder nachdenklich in seinen leeren Becher. Ich schenkte ihm nach. »Lass mich darüber nachdenken«, sagte er schließlich. »Ich muss mit ‘Gren darüber reden.« »Kommt mich morgen früh besuchen. Dann zeige ich dir das Buch.“ 86
Ich wandte mich zur Bühne, wo wieder Tänzerinnen ihre Beine schwangen. Es hatte keinen Sinn, Sorgrad zu drängen; er würde mir früh genug antworten – und dann würde ‘Gren tun, was sein älterer Bruder für richtig hielt. ‘Gren ging das Leben mit einem Eifer an, der manchmal in Rücksichtslosigkeit umschlug. Das war zweifellos der Grund, weshalb sie die Berge verlassen hatten. ‘Gren hatte gewiss irgendetwas getan, ohne an die Folgen zu denken, und sie mussten sich aus dem Staub machen. Also hatten sie sich nach Lescar durchgeschlagen, wie Auswanderer aus allen Teilen der Welt. ‘Grens Hang zu Gewalt hatte sich im Söldnerleben bestimmt rasch als Aktivposten erwiesen, statt eine Belastung zu sein wie anderswo. Also waren sie geblieben und hatten erlebt, dass sich aus dem endlosen Kreis der Bürgerkriege reiche Ernte einfahren ließ. Die Tänzerinnen überließen die Bühne wieder den Schauspielern, und ich war rasch wieder im Bilde. Der Geizhals, der nur das Geld unserer Heldin heiraten wollte, hatte sie entführt und ließ sie nun als Spülmädchen schuften, bis sie einwilligte. »Warum beschleunigt er das Ganze nicht, indem er die dumme Nuss vergewaltigt?«, murmelte Sorgrad verwirrt. »Sie sieht nicht aus, als ob sie sich wehren könnte«, pflichtete ich bei. Die Köchin und die Haushälterin kamen auf die Bühne, um eine weitere jener angenehmen Unterhaltungen zu führen, bei denen beide Beteiligten sich erzählen, was sie ohnehin schon wissen. »Da hast du deine Antwort!« »Der alte Mann in Der Waisen Tränen war auch impotent.« Usara beugte sich hinter ‘Gren herum, um mit mir zu reden. Er sah verwirrt aus. 87
»Das gehört in der Regel zu einer Maske mit hängender Nase«, flüsterte ich. Saedrin schütze mich vor diesen Zauberern mit ihrem behüteten Leben. Als Nächstes waren am Gartentor unser Held und unsere Heldin dran. Er wollte unbedingt die Stadtwache rufen und den alten Schuft verhaften lassen »Das erste vernünftige Wort von ihm«, wisperte Sorgrad. »Ein ehrbarer Bürger sollte sich schließlich immer an die Stadtwache wenden.« »Ich wette mit dir um eine Silbermark, dass sie es nicht tut«, erwiderte ich. Das Geld war mir sicher, denn unsere Heldin widersprach unwiderlegbar und überzeugend theatralisch, der alte Geizhals wäre ihr zu nahe gekommen, sodass ihr Ruf ruiniert sei und die Eltern unseres Helden ihnen niemals erlauben würden zu heiraten. Ich winkte nach mehr Wein, während wir dem üblichen romantischen Unsinn lauschten, der nun folgte. Ich merkte, dass ich an Ryshad dachte, den Tormalin-Schwertkämpfer, den Sorgrad erwähnt hatte. Unsere Wege hatten sich gekreuzt, als er in Messires Auftrag die Eismänner verfolgt hatte. Seit Jahren schlichen sich Elietimm nach Tormalin aufs Festland, um zu rauben und zu töten, wobei sie Kostbarkeiten stahlen, von denen sie hofften, dass sie zur verlorenen Kolonie von Kel ArÄyen führten. Ich war hinter denselben Raritäten her – und widerwillig als Dieb für den Erzmagier tätig gewesen. Ein Feuer plötzlicher Leidenschaft und die sinnlichen Freuden, die darauf folgten, waren mir nichts Neues, doch die wahre Überraschung war das unangenehme Gefühl des Verlustes, als Ryshad zu seinem Herrn zurückgekehrt war. Ich neige nicht dazu, Männern nachzuweinen – die Runen fallen, 88
und ich ziehe weiter –, doch ich vermutete, dass wir eins geworden waren, und nicht nur zwischen den Laken. Als der Zufall und die Duldung des Erzmagiers uns wieder zusammenführten, zeigte ich mich entgegenkommend und nachgiebig, damit Ryshad und ich uns nicht trennen mussten. Ich kleidete meine Gefühle zwar nicht in duftende, sinnlose Worte wie die Heldin, die über die Bühne flatterte, doch ich musste mir schließlich eingestehen, dass ich mit Ryshad zusammen sein wollte, und nicht nur so lange, bis zum Jahreswechsel alle Verträge ausliefen. Schließlich hatte ich erfahren, dass er genauso versessen auf mich war, was mich zugleich freute und wachsam machte. Ich blickte zu den angeblich Liebenden mit ihren Gesichtern aus Holz und Farbe und ihrem Leben, das aus dem Repertoire der Schauspieler stammte: der edle Liebhaber, der verschollene Erbe, die schändlich behandelte Schönheit, der fröhliche Gauner, der weise alte Mann, die komischen Handwerker. Ihre misslichen Lagen und die Lösungen passten wie die Steinchen in ein Mosaik, anders als das Leben für Ryshad und mich. Eine Hoffnung auf eine gemeinsame Zukunft zu finden, erwies sich als äußerst schwierig. Niellos klingende Stimme zog meine Aufmerksamkeit auf sich, und ich merkte, dass die beiden Händler anboten, die Heldin aus dem Haus des Geizhalses zu rauben, sodass unser Held sie im Wald herumirrend finden und in den Schoß ihrer liebenden Familie zurückführen konnte. »Und was soll ich im Wald tun?«, fragte der Held verwirrt. »Vielleicht Blümchen pflücken?«, höhnte der mondgesichtige Narr mit einer bedeutungsvollen 89
Geste auf die Hose unseres Helden, die entschieden ausgepolstert war. »Was sollte ein junger Mann im Frühling sonst im Wald tun?« Gelächter brandete auf. »Ich glaube nicht, dass Papas kleiner Schatz unbefleckt nach Hause kommt«, sagte ich mit gespielter Missbilligung zu Sorgrad. Das Stück folgte voraussehbaren Pfaden: Die unglaubwürdigen Liebenden, die sich mitsamt den Narren, dem Hund, der Köchin und dem Geizkragen vor und hinter dem Vorhang jagten, ernteten noch lauteres Gelächter als die zweideutigen Scherze, die rasch hin und her flogen. Der Geizhals machte den Fehler, sein eigenes Haus durch die Hintertür betreten zu wollen, weil er die Flucht der Heldin vereiteln wollte; prompt wurde ihm die Hose zerrissen, und er wurde mit fliegenden Hemdzipfeln von seinem eigenen Hund gejagt. Der Scherenschleifer ergriff die Gelegenheit, um erstens die Erbin zu retten und dann seine Füße unter den Tisch der Köchin zu strecken. Die Tänzerinnen traten auf, um das Tempo mit einer gemäßigten Zurschaustellung von Spitzen und Beinen herauszunehmen, und das Stück endete damit, dass unser Held und die Heldin in ihren Hochzeitskleidern hinter dem Vorhang auftauchten, ihr Haar ordnungsgemäß abgeschnitten und auf Drianons Altar gelegt. Der Erzähler erhob seine Stimme über das Raunen der Zuschauer, die nach Bier riefen, und verkündete die Moral von der Geschichte, obwohl die Geschichte jeden Priester schockiert hätte, der versehentlich über die Schwelle gestolpert wäre. Ich war überrascht, dass Niello das nicht weggelassen hatte wie so viele Komödiantentruppen heutzutage, doch wir hatten schließlich Festtage, an denen die 90
Leute es gern sahen, wenn die alten Traditionen befolgt wurden. Als die Schauspieler hervorkamen, um sich zu verbeugen, winkte Niello, machte eine Geste, als würde er trinken und deutete auf unseren Tisch. »Bleiben wir noch?« Ich sah die anderen an. »Entschieden«, antwortete ‘Gren prompt. Die Tanzmädchen tauchten zu zweit und zu dritt auf, ihre Schuhe in der Hand und warme Schals über ihre Kostüme geschlungen. »Es ist noch zu früh, um ins Bett zu gehen, jedenfalls ohne Gesellschaft.« Er schlenderte zur Bühne und nahm einen Krug und ein paar Becher von einem Serviermädchen entgegen. Die Tänzerinnen beachteten ihn zunächst kaum, eine schlanke Gestalt in unauffälligem braunem Wams und Hosen, wie die Hälfte der Männer in der Stadt. Ich sah zu, wie die Köpfe der Mädchen nacheinander herumfuhren, goldene Ringellocken sich neben ‘Grens flachsblonden Schopf drängten. Neugierige Blicke wichen zimperlichem Kichern, und es endete damit, dass ‘Gren auf dem Bühnenrand saß, umgeben von vier Mädchen, die Wein tranken und kokett kicherten, als er ihre Vorführung mit allerlei Schmeicheleien pries. Niello schlenderte herbei und schwenkte seine Hakennasen-Maske an den Bändern. Er trug ein zerlumptes aufgeknöpftes Wams in Regenbogenfarben über einem durchgeschwitzten Hemd. Sein maskuliner Duft war nicht unangenehm, als er sich auf die Bank fallen ließ und mir ein herzliches Lächeln schenkte. Er fuhr sich mit der Haar durch das zerzauste kastanienbraune Haar und stieß einen dankbaren Seufzer aus. »Na, was sagst du?« »Sehr unterhaltsam.« Usara schob ihm einen Becher zu. »Erstklassig.“ 91
»Gut genug für den Spiegel«, stimmte ich zu. »Wohl kaum«, meinte Niello achselzuckend, doch seine Miene verriet, dass er sich freute. »Ich glaube, wir könnten die Sache mit dem Hund noch mehr ausreizen.« »Nur wenn du splitternackt wärst, damit die Mädchen wirklich was zu sehen haben«, gab ich zurück. »Sollte ich dieses Opfer bringen?«, überlegte er scheinbar ernsthaft. »Vielleicht nicht. Ich glaube nicht, dass die Stadtwache das komische Element darin sehen würde. Was hältst du von meiner Szene mit der Köchin?« »Wo war der Brief?«, wollte Sorgrad wissen. »Was für ein Brief?« Niello war verblüfft. »Der Brief, der entweder eine entscheidende Bedeutung hat und verloren geht oder eine wichtige Information enthält, die jedermanns Probleme löst.« Sorgrad lächelte. »In jeder guten Geschichte kommt so was vor, oder nicht?« Wir sprachen über das Stück im Allgemeinen und Niellos Rolle im Besonderen. Allmählich leerte sich der Hof, bis nur noch wir vier und die Schauspieler da waren, die sich entspannten. Die fünf Glockenschläge für Mitternacht klangen von einem fernen Turm herüber. »Wo wohnt ihr?« Niellos Blick glitt fragend von Usara zu mir. »Wir haben zwei Zimmer in den Sechs Sternen.« Ich legte einigen Nachdruck auf das Wort >zweiHerren< mit löblicher Zurückhaltung. »Ein schönes Fest wünsch ich euch.« ‘Gren fegte fröhlich herein, während Sorgrad eine höfliche Verbeugung vor dem Dienstmädchen machte und sie mit einem Silberpfennig davonschickte, den sie in ihr Mieder schob. Er trug heute Weidengrün, kostbar geschneidert und von zurückhaltender Eleganz. ‘Gren nahm Platz und griff nach dem letzten weichen Brötchen. »Meine Kehle ist ganz ausgedörrt.« Dafür, dass er zweifellos bis zum letzten Glockenschlag der Nacht wach gewesen war, sah er bemerkenswert frisch aus, gewaschen und gekämmt in sauberem Leinen und schlichtem Leder. Sorgrad setzte sich auf die Fensterbank und begann ohne Vorrede. »Also, wer ist das, Livak?« »Usara?« Ich deutete auffordernd auf ihn. »Ich bin hier, um die Interessen des Erzmagiers 104
zu vertreten.« Der Zauberer trank mit ausdruckslosem Gesicht von seinem Dünnbier. »Ich bin Magier. Mein Talent betrifft vor allem die Erde, doch ich besitze auch Fähigkeiten in den anderen Elementen, die sie unterstützen. Ich habe die Ehre, ein Schüler Planirs des Schwarzen zu sein.« »Schüler? Mantelträger, Vertreter, so was?« Sorgrads Skepsis ging nur knapp an einer Beleidigung vorbei. »Ich bin seit Jahren in die Beschlüsse des Erzmagiers eingeweiht.« Usara blickte herablassend an seiner Nase entlang. »Aber ohne größere Erfahrung mit der Welt jenseits deiner Hallen und Höfe?« Sorgrad legte den Kopf schief. »Wenn ihr Hunde wärt, würde ich erwarten, dass ihr erst alles beschnüffelt und euer Bein hebt«, bemerkte ich. »Da ihr aber keine seid – können wir nicht einfach anfangen?« Sorgrad und ‘Gren lachten, und nach einem Augenblick erhellte sich auch Usaras finstere Miene mit einem verlegenen Grinsen. »Werdet ihr beide uns helfen oder nicht?«, fragte ich. ‘Gren sah Sorgrad an, der seine auf Hochglanz polierten Stiefel auf die Fensterbank schwang. »Ich denke, wir könnten eine Zeit lang mitkommen, wenn ihr in den Großen Wald geht. Selbst Niello hat etwas von der Lohntruhe von Draximal läuten gehört.« »Und wenn euer Vorschuss euch weiter diesen Lebensstil ermöglicht, könnten wir ihn mit euch zusammen durchbringen.« ‘Gren griff nach einer eingemachten Kirsche, sodass Kirschsaft auf das schneeweiße Tischtuch tropfte. 105
»Gut.« Ich sah die Erleichterung auf Usaras Gesicht. Ein Glockenschlag von draußen wurde drinnen von einer eleganten Silberuhr auf dem Kaminsims beantwortet. Der schmale Zeiger blieb die eingravierte Skala hinunter stehen, neu eingestellt auf die längeren Tage nach dem Äquinoktium. Ein kostbares Stück, dachte ich abwesend, getrennte Blätter für jede Jahreszeit, nicht nur einfach verschiedene Skalen auf ein und demselben. »Drittes Morgenläuten?« ‘Gren sah entsetzt von den Kirschen auf. »Ist das ein Problem?«, fragte Usara. »Am zweiten Tag der Festwoche finden immer die Pferderennen statt.« ‘Gren nahm seinen Umhang. »Wenn ich noch etwas gewinnen will, muss ich die Tiere bei der Vorstellung sehen.« Usara runzelte die Stirn. »Ist das nicht Zeitverschwendung? Wir sollten doch ...« »Pferderennen sind nie Zeitverschwendung, so weit es ‘Gren betrifft.« Ich sicherte mir mit einem strengen Blick Usaras Aufmerksamkeit. »Ich weiß nicht, wie ihr Zauberer das haltet, aber wenn wir zusammenarbeiten, lassen wir jedem Zeit für seine Vorlieben.« »Ihr geht schon vor«, sagte Sorgrad von der Fensterbank aus. »Ich muss mit Livak noch etwas besprechen.« Ich entließ Usara mit einer Geste. »Geh mit ihm. Wir kommen nach.« ‘Gren wartete ungeduldig an der Treppe, und nach einem letzten, misstrauischen Blick auf mich nahm der Zauberer seinen pelzgefütterten Mantel und folgte ihm. 106
»Glaubst du, sie schaffen es, sich von Scherereien fern zu halten, die beiden?«, überlegte ich laut. »Ich würde ihnen nicht zu viel Zeit lassen.« Sorgrad setzte sich zu mir an den Tisch. »Also, wo ist dieses Buch?« Ich ging in mein Schlafzimmer und nahm das gut verschnürte Bündel aus den Tiefen meiner Reisetasche. Ich legte es vorsichtig auf den Tisch und löste die Seidenschnur, mit der die Leinenschichten zusammengehalten wurden. Sorgrad fuhr mit dem Finger behutsam über das einst cremeweiße, geprägte Leder, in welches das Buch gebunden war; es war mit den Jahren gelblich nachgedunkelt. Ich schlug das Buch vorsichtig auf und blätterte die Seiten, deren Ränder dunkel vom Alter und von Gebrauchsspuren waren, mit den Fingerspitzen um. Die ordentliche Schrift war verblasst und braun, doch die Illustrationen am Rand sowie oben und unten besaßen leuchtende Farben und zeigten sogar Spuren von Blattgold, das bald fünfundzwanzig Generationen getrotzt hatte. Tierköpfe spähten aus naturgetreuen Blättern und Hecken, Vögel flogen über wunderbare Landschaften, und in kleinen ovalen Bildern gingen winzige Gestalten ihrem Gewerbe nach. »Es ist sehr schön«, bemerkte Sorgrad geistesabwesend. Er betrachtete die schwungvolle Schrift und runzelte die Stirn. »Aber sehr schwer zu lesen, selbst wenn es nicht so verblasst wäre. Dafür brauchst du Charoleia. Ich kenne niemand sonst, der AltHochtormalin so gut beherrscht.« Ich schob ein Stück Pergament übers Tischtuch, das Charoleias unverwechselbare Lescarischrift in neuer, schwarzer Tinte aufwies. »Deswegen sind wir über Relshaz gekommen. Ich wollte eine zweite 107
Meinung, da die Gelehrten bestimmt darüber streiten, wer das Recht daran hat.« Sorgrad lachte. »Was ist mit diesen Zauberern? Sie haben doch angeblich Macht über alle Elemente. Könnten sie nichts unternehmen, dass die Schrift deutlicher wird?« »Casuel hatte offenbar weit wichtigere Dinge zu tun, als mir zu erzählen, dass die Tinte verblasst ist, weil sie aus Eichengalle und Eisen gemacht ist, wie es heißt.« Sorgrad blickte bei meinem sarkastischen Tonfall auf. »Er scheint dein ausgesprochener Liebling zu sein.« Ich wollte nicht über Casuel reden. »Kannst du das hier entziffern?« Ich blätterte die Seiten behutsam um, bis ich zu einer kam, die mit einem Berggipfel geschmückt war, während die eckige Handschrift darunter in scharfem Gegensatz zur glatten Gleichmäßigkeit des Tormalin stand. Sorgrad beugte sich darüber. »Ich kann nicht alles lesen, aber ich kann genügend entziffern, um die Geschichte zu erkennen. Es ist die Sage von Misaen und den Wyrms. Ich kann dir die Version erzählen, die ich kenne.« »Ich möchte die Version lesen.« Ich tippte auf das Buch. »Die Tormalin-Lieder hier drinnen unterscheiden sich ziemlich von denen, die ich als Kind gelernt habe. Auch hier führt die Neugier Amit ins Schlafgemach der Kaiserin, aber er endet nicht am Galgen, sondern macht sich unsichtbar und schleicht wieder hinaus.« »Können Planirs Zauberer das nicht?« Sorgrad lehnte sich zurück. »Wer sagt, dass es sich dabei um Äthermagie handelt?« »Genau das hat Casuel auch gesagt.« Ich schüttelte 108
den Kopf. »Die Kolonisten sagen, es war Äthermagie, die das Imperium zusammenhielt.« Ich blätterte zu dem Vorspann des Buches. »Sieh mal hier: Nemith der Tollkühne lebte sechs Generationen vor Nemith dem Letzten. Niemand hatte je von Elementarmagie gehört, die Planirs Zauberer verwenden. Die tauchte erst nach dem Chaos auf. Und überhaupt – wenn die Wald- oder Berg-Lieder Magie enthalten, muss es doch wohl Zauberkunst sein, oder? Kein Magiegeborener aus diesen Völkern ist jemals in Hadrumal gewesen.« Sorgrad grunzte. »Wenn wir mit dir kommen, was ist dann unser nächster Schritt?«, fragte er. »Ich wollte sicher sein, dass ihr zwei mit im Boot seid, bevor ich zu planen anfange. Als Erstes müssen wir entscheiden, ob wir zuerst in den Wald oder in die Berge gehen.« Ich wusste, was ich wollte, aber zu diesem frühen Zeitpunkt wollte ich Sorgrad nicht so einfach überfahren. »Wir fangen mit dem Wald an, ist doch klar«, erwiderte er entschieden. »Sobald die Feiertage vorüber sind, werden sehr viele Leute über die westliche Hochstraße reisen, um durch den Wald nach Salura oder zurück zu ihren Dörfern am Rande der Wildnis zu gelangen. Wir können uns jemandem anschließen, der weiß, wo wir zu dieser Jahreszeit eine Gruppe des Volkes finden können.« »Sollten wir nicht nach einem Waldsänger suchen, der zum Fest hierher gekommen ist?«, schlug ich vor. »Für den Anfang könnte so einer in der Lage sein, die Lieder für uns zu lesen. Und dann, wenn sie für uns bürgen, werden wir mehr Hilfe bekommen, wenn wir erst im Wald sind.« Sorgrad schürzte die Lippen. »Angenommen, du findest jemanden, der sich mit alten Sagen aus109
kennt. Warum sollte er dir verborgene Geheimnisse anvertrauen?« »Wie viele Männer würden mir wohl nicht trauen, wenn ich es darauf anlege?« Ich sah ihn mit großen Augen an. »Ich zum Beispiel«, erwiderte er knapp. »Und von dir abgesehen? Ist es nicht besser, es erst im Bergland zu versuchen? Du hast Berg-Blut, also wird jeder, der überhaupt etwas zu erzählen hat, eher mit dir reden wollen. Dann nehmen wir unser Wissen mit ins Waldland.« »Du kannst diese Rune auch umgekehrt werfen«, entgegnete Sorgrad. »Du hast Wald-Blut, das ist deine Einführung ins Waldvolk.« »Ich bin Halbblut«, erinnerte ich ihn, »und ich bin auch außerhalb des Waldes aufgewachsen. Ich spreche kaum die Sprache. Du bist ein reinblütiger Angehöriger des Bergvolkes und auch dort aufgewachsen, und wir können die Berge eher erreichen als den Wald, wenn wir uns von hier aus nach Norden halten.« Sorgrad sah mich einen langen Augenblick an. Seine strahlendblauen Augen verrieten ebenso wenig wie die Oberfläche eines sonnenbeschienenen Sees. Er nahm ein Stück Holzkohle in einem silbernen Halter aus der Tasche und zog die Schutzkappe ab. Dann drehte er Charoleias Pergament um. »Ja, die Berge sind näher im Norden, aber willst du dich wirklich durch endlose Streitereien über Minen- und Weiderechte schlagen? Hier drüben liegt Wrede, und hier Tanoker, Dunsel und dann Grynth.« Er skizzierte mit leichter Hand, während er sprach. »Wann warst du das letzte Mal da oben? Nicht seit der Sache mit Cordainer? Seitdem ist viel geschehen, was auf allen Seiten Unmut hervorruft, 110
der jederzeit überkochen kann. Die Tiefländer drängen mit jeder Jahreszeit tiefer in die Vorberge ein. Die Schmiedegilden von Wrede übernehmen jede Mine, auf die sie irgendwie Anspruch erheben können und graben überall neue Schächte. Wenn die örtlichen Anwohner sich dagegen wehren, heuern die Gildenvorstände Ganoven aus der Gosse an, um ihnen die Schädel einzuschlagen.« »Das hat man nun davon, dass man für Zauberer arbeitet«, murmelte ich ärgerlich. »Da pfuscht man mit Abenteuern und Geheimnissen herum und verliert aus den Augen, was wirklich wichtig ist. Wie schlimm steht es?« Sorgrad zuckte die Achseln. »Schlimmer als in den letzten zehn, vielleicht fünfzehn Jahren. Da oben haben sie einander schon immer schlecht behandelt, auf beiden Seiten. Nimm dazu die alten Streitereien darüber, wem nun was in der FerringSchlucht gehört und die üblichen Zänkereien darüber, wo das Gebiet der Mandarkin anfängt und aufhört. Ich würde nicht ohne ein paar Schwertkämpfer im Rücken dorthin reisen. Jeder Angehörige des Bergvolkes wird dich wahrscheinlich mit Steinen bewerfen, ehe du nach dem Weg zum nächsten Brunnen fragen kannst.« Ich betrachtete zweifelnd seine genaue Karte. »Müssen wir dann direkt nach Osten gehen? Ich weiß, dass die Gidestaner sich bemühen, friedlich zu bleiben, aber es ist ein sehr weiter Weg über erbärmliche Straßen. Und sie führt uns sehr weit vom Wald weg.« »Wir sollten es zwischen Solura und Mandarkin in den Bergen versuchen.« Sorgrad zeichnete die Weststraße und den Rand des Großen Waldes ein. »Die Soluraner lassen das Bergvolk in Ruhe und 111
halten es bei Laune, sodass jeder Mandarkin, der nach Süden will, plötzlich rücklings von einer Klippe stürzt, wobei ihm eine Axt hilft. Westlich der Ferring-Schlucht hält sich das Bergvolk ziemlich für sich. Wenn jemand alte Überlieferungen kennt, dann sie. Die Anyatimm in Gidesta haben die alte Lebensweise fast aufgegeben, indem sie auch nach außen geheiratet und sich mit den Tiefländern in ihren Dörfern niedergelassen haben.« Ich warf einen Blick auf die Karte und dann auf Sorgrad. Es war ungewöhnlich, ihn den Bergnamen für sein Volk aussprechen zu hören: Anyatimm. Abgesehen davon, dass er mir die Bergschrift und ein paar Wörter wie >PferdTor< und >Sonnenuntergang< beigebracht hatte, sodass wir uns gegenseitig Nachrichten zukommen lassen konnten, hatte er nie eine Verbundenheit zu seiner Herkunft gezeigt. »Wo genau kommt ihr beide her? Ich kann mich nicht erinnern, dass ihr es je gesagt hättet.« »Das spielt keine Rolle.« Er tippte mit dem Finger auf die Karte. »Sieh dir die Gegend an. Wir gehen zuerst in den Wald, finden so viel wie möglich heraus und machen uns dann auf nach Solura. Wir können die Schlucht umgehen, wenn wir hinauf zum Pasfall gehen und zu den Soken kommen.« Er sah auf. »Es waren soluranische Mystiker, die Halices Bein heilten, nicht wahr? Mit viel Gemurmel und Weihrauch?« »Planir hat seine eigenen Männer geschickt, um dort Erkundigungen anzustellen«, sagte ich geistesabwesend. »Es ist ein sehr langer Umweg, ‘Grad. Es wird die halbe Jahreszeit dauern.« »Wie lange könnte ein Gefecht zwischen Tiefländern und Ostländern uns aufhalten?«, fragte Sorgrad zurück. 112
»Es ist schweres Gelände«, meinte ich zweifelnd. »Ich habe da einige Geschichten gehört, und nicht alle können Lagerfeuerfantasie entspringen.« »Ein weiterer Grund, das wir zuerst in den Wald gehen und dort auf besseres Wetter warten sollten. Der Frühling hier unten kann im Hochland noch immer Winter bedeuten.« Wenn man sich mit Spielen den Lebensunterhalt verdient, dann lernt man, wann man seine Steine aufdecken und wann man sie in der Hand behalten muss. Ich wollte noch immer zuerst in die Berge, da ich Sorgrads und Sorgrens Abstammung bessere Gewinnchancen einräumte als meiner eigenen, etwas ungewissen Herkunft. Vielleicht sollten wir auf unser Glück vertrauen – jede Rune zeigt schließlich zwei Seiten. »Ich mache eine Runde durch die Tavernen und schaue einmal, ob ich etwas Vielversprechendes aus einem Sänger herausbekomme. Du und ‘Gren seht zu, ob ihr jemanden findet, mit dem wir mit nach Norden reisen können. Wenn wir wissen, welche Möglichkeiten wir haben, können wir eine Entscheidung treffen.« »Hört sich gut an.« Sorgrad nickte. »Und was ist jetzt mit deinem Zauberer? Meinst du nicht, wir wären ohne ihn besser dran?« Er warf mir einen Seitenblick zu. »Wir könnten ihn leicht verlieren, wo die Stadt doch wegen des Festes so überlaufen ist. Wird er nicht jede Information schnurstracks an seinen Erzmagier weitergeben? Du wirst mehr für deine Informationen bekommen, wenn du sie für dich behältst, bis du weißt, wem sie am meisten wert sind.« »Messire D’Olbriot hat das Abkommen mit Planir getroffen.« Ich zuckte die Achseln. »Er war damit einverstanden, dass ein Zauberer mitkommt, um alle 113
Neuigkeiten schnellstens zu übermitteln. Falls wir Äthermagie finden sollten, will Messire sie schnell genug haben, damit sie von Nutzen ist, sobald Elietimm-Schiffe auftauchen, jetzt, wo die Winterstürme vorüber sind. Briefe zurückzusenden, selbst per Kurier, würde eine halbe Jahreszeit dauern. Bezahl einen Kaufmann dafür, sie mitzunehmen, und er wird sie vergessen. Schick einen Boten los, und er verirrt sich oder wird wegen seines Ranzens überfallen. Nein, Planir weiß, dass er D’Olbriot verpflichtet ist, und D’Olbriot weiß, dass er mir verpflichtet ist.« »Und was schließt du daraus?« »Du weißt doch – es gibt Geschäfte, bei denen du für den Rest deines Lebens ausgesorgt hast.« Ich holte langsam Luft. »Das hier könnte es sein.« Sorgrad lachte. »Wie Cordainers Truhe? Als ob ich nicht wüsste, wie viele Pläne Charoleia im Laufe der Jahre schon ausgebrütet hat! Darauf fällst du doch genauso wenig rein wie ich!« »Wir müssen abwarten. Es muss Gewinn abwerfen, wenn man ein Siegel mit dem Namen eines Tormalinprinzen bei sich hat.« Sorgrad nickte. Ich war es zufrieden: Solange er glaubte, ich würde nur Vermutungen anstellen, brauchte ich mich nicht näher zu erklären. Dafür war noch Zeit genug, wenn ich meinen Lohn von Messire verlangte. »Lass uns den Tag nicht vergeuden.« Ich stand auf. »Treffen wir uns alle heute Mittag wieder hier?« »Solange ‘Gren und dieser Zauberer sich nicht in allzu viele Schwierigkeiten gebracht haben.« Sorgrad grinste. »Nein. Der Laden hier ist etwas zu fein für ‘Grens Geschmack. Wir treffen uns im Schwan im Mond.“ 114
Ich verscheuchte meine Bedenken, als ich ihm die Treppe hinunter folgte. ‘Gren konnte auf sich selbst aufpassen, und wenn Usara einen Fehltritt beging, konnte Planir ihn freikaufen. Ich beschloss, am Marktplatz anzufangen. Es gab keine Spuren mehr von der Freigiebigkeit der Gilden der vergangenen Nacht; alles war sauber gefegt, und Männer und Frauen warteten geduldig in langen Schlangen. Hausmädchen mit ihren Staubwedeln, Weber mit dem Spinnrocken, den niemand heutzutage mehr benutzt, wenn ein Spinnrad in der Nähe ist, Milchmädchen, deren Hocker zumindest einen Sitzplatz boten, um die Beine zu schonen. Mädchen mit frischen Gesichtern und hoffnungsvollem Lächeln standen neben anderen mit misstrauischen Augen und ernster Miene. Die Männer redeten nicht offen, sondern musterten potenzielle Konkurrenten. Fuhrleute hatten ein Stück Peitschenschnur an ihr Wams gepinnt, Stallburschen hatten ein Heubündel dabei, Schäfer hatten Wolle in Knopflöcher und Hutbänder gesteckt, Kuhhirten einen Tuff Tierhaare. Ich ging zum Schwan im Mond und überlegte, ob ich Niello um Hilfe bitten sollte: Auf der Suche nach Arbeit, mit der sie durch das Alte Reich nach Osten kämen und den Frühling und Sommer auf Reisen verbrachten, würden Sänger Verbindung mit ihm aufnehmen. Dann würden sie zurück nach Col gehen, um ihren Lohn beim Herbstfest durchzubringen, den letzten Feiertagen, ehe sie wieder mit den Liedern und kleinen Schätzen, die sie gesammelt hatten, in den Wald zogen. Drei Sänger hatten mir auf der Straße von Relshaz von dieser Hoffnung erzählt. Sie alle suchten nach einem Brotherrn, der ihnen den Rückweg finanzierte, doch keiner war in 115
der Lage, Licht auf mein geheimnisvolles Liederbuch zu werfen. Ich steckte den Kopf durchs Hoftor und sah, dass keiner der Schauspieler da war. Sie lagen zweifellos alle noch im Bett, wo sie noch eine geraume Weile bleiben würden. Ich musste später wiederkommen. Musik zog mich in den Schankraum des Hurtigen Hundes, doch ich fand nur eine improvisierte Versammlung von einheimischen Burschen vor, die ihr Bestes taten, ihre Mädchen zu beeindrucken – Mädchen mit frischen Gesichtern, Zöpfen und Röcken, die den oberen Rand ihrer Stiefel dekorativ verbargen. Eine sah mit schrägem Blick auf meine Hosen, und ich grinste sie an. Ich hatte mein Bestes versucht in Ryshads Zuhause in Zyoutessela. Ich hatte seine Mutter höflich angelächelt, hatte mich für die Arbeiten ihres Nähkränzchens interessiert und jedes Mal das Thema gewechselt, wenn sie ihre Nachbarn erwähnte, deren Tochter beim kommenden Sonnwendfest ihre Hochzeitsflechten auf Drianons Altar legen würde. Ich hatte sogar zum ersten Mal im Leben, seit ich von zu Hause fort war, öfter Röcke als Hosen getragen, bis mich die Verzweiflung hinausgetrieben hatte. Ich trieb mich um D’Olbriots Zitadelle herum, in der Hoffnung, Ryshad zu sehen, und die Neugier hatte mich in die riesige Bibliothek geführt, wo die Bücherregale so hoch hinaufreichten, dass sie mit Leitern versehen waren. Meine eigene Mutter hatte mir zumindest nie mit der erstickenden, unkritischen Zuneigung einer Frau Tathel die Luft zum Atmen genommen. Sie hatte mich lesen und rechnen gelehrt, mich ermutigt, selbst zu denken und Fähigkeiten zu erwerben, um die Nachteile meiner Geburt wettzumachen, 116
wenn sie dabei auch mehr an Kontorarbeiten gedacht hatte als daran, meine Talente mit einem Beutel voll Runen zu schärfen. Ich mochte Ryshads Mutter wirklich gern, aber sie erinnerte mich an die Mehlschwalben, die ihre Nester unter den Dachvorsprüngen der Gasthäuser bauten, die den Platz umstanden. Sie kehren immer an den Fleck zurück, an dem sie das Jahr zuvor und auch davor waren. Meine Sympathien galten eher dem Halsbandfalken, der die Straße musterte, bereit, sich auf jede Beute zu stürzen, die ein vorbeifahrender Karren überrollte und zu nehmen, was immer Talagrin schickte. Ein Karren rumpelte vorbei. Leder knarrte, als das Pferd sich ins Geschirr legte. Ich war nicht das einzige quietschende Rad am Wagen in diesem Winter gewesen. Ryshad erkannte schon bald, dass er nicht ins Geschäft seines Vaters zurück konnte. Seine Brüder kamen gut zurecht; ein Erlass aus dem letzten Jahr, der hölzerne Veranden wegen der Feuergefahr untersagte, hatte sie mit so viel Arbeit versorgt, wie sie sich nur wünschen konnten, und sie hatten alle vornehmen Häuser mit schmucken Steinsäulen und Vordächern versehen. Nun aber war diese Quelle der Arbeit weitgehend versiegt, und mehr als drei Steinmetze konnten im Familienbetrieb nicht arbeiten. Seine älteren Brüder hatten ihm das nur allzu deutlich gemacht. Ich hatte Hansey oder Ridner nicht besonders gemocht, und das beruhte auf Gegenseitigkeit. Beide erwarteten Gehorsam und Anstand von einem Mädchen, und ihre Brautwerbungen waren so fad und langweilig, dass jede Frau mit einem Funken Verstand sich nach etwas besserem umgesehen hätte. Eines Abends hatte ich ihnen das auch gesagt, 117
nachdem sie mich so herablassend behandelt hatten, dass mir der Kragen platzte. Ich seufzte. Ich vermisste Ryshad, seinen flinken Verstand, seine Entschlossenheit, seine starken Arme und die Wärme seiner Liebe. Was wir brauchten, war eine Möglichkeit, Geld zu verdienen, die wir beide akzeptieren konnten. Sein Ehrgefühl würde es nicht zulassen, dass er von den Gewinnen lebte, die ich mit den Runen erwarb, und ich konnte mich nicht damit abfinden, wenn er irgendein langweiliges Geschäft betrieb, in einem kleinen Reihenhaus drei Straßen von seiner Mutter entfernt wohnte und an jedem Markttag Abends bei der Familie aß. D’Olbriot hatte Ryshad den Titel eines Vertrauten angeboten, unleugbar eine Ehre. Ein Verschworener, der den Schritt zum Vertrauten machte und dann gute Dienste leistete, konnte sich berechtigte Hoffnung darauf machen, später die Aufsicht über D’Olbriots Ländereien und Gefolgsleute in irgendeiner Stadt oder Provinz zu übernehmen. Es war ein Verwalteramt, dessen Besoldung uns erlauben würde, das Leben zu führen, das wir uns wünschten. Es klang verlockend. Ryshad sah darin die beste Grundlage für unser gemeinsames Leben, aber ich hatte keine Lust, für die nächsten fünfzehn Jahre auf dem Hintern zu sitzen und darauf zu warten, dass mir dieser Apfel in den Schoß fiel. Wir brauchten eine Möglichkeit, uns Messire D’Olbriot so tief zu verpflichten, dass er Ryshad schneller beförderte. Was waren die dringendsten Probleme des Gönners? Erstens, sich die Unterstützung des Erzmagiers zu versichern, ohne sich dafür Hadrumal zu verpflichten. Zweitens musste sichergestellt werden, dass das Haus D’Olbriot seine Position als einzige einflussreiche Kraft auf die Kolonie von Kel 118
ArÄyen blieb – oder Kellarin, wie es heute meist heißt. Deswegen war ich hier in Selerima und arbeitete an der erstgenannten Aufgabe, während Ryshad vorübergehend in den Diensten von Messires Neffen Camarl stand, um sich um die zweite Aufgabe zu kümmern.
119
Selerima, West-Ensaimin Zweiter Tag des Frühlingsmarktes, Nachmittag
»Ich glaube nicht, dass du in der Lage bist, Forderungen zu stellen!« Eirys verschränkte die Arme vor der Brust. Ihre empörte Stimme hallte von den nackten weißen Wänden des kleinen Zimmers wider. »Ich finde nicht, dass ich überhaupt fragen müsste«, erwiderte Jeirran eisig. Er leerte seine Börse auf eine Kommode, von der die Farbe abblätterte und deren Tür schief in den Angeln hing. »Eine Ehefrau sollte man nicht an ihre Pflichten erinnern müssen, weder im Bett noch außerhalb.« Eirys schnaubte wütend. »Würdest du nur ein wenig Rücksicht nehmen, würdest du an die Folgen denken. Was ist, wenn ich hier unten schwanger würde, in dieser schlechten Luft? Ich würde das Kind wahrscheinlich verlieren, ehe wir halbwegs wieder zu Hause wären.« Sie fuhr sich unbewusst mit der Hand über die schmale Taille. »Findest du das nicht ziemlich vermessen?«, entgegnete Jeirran höhnisch. »Es ist jetzt bald ein halbes Jahr her, seit wir über Misaens Amboss aneinander geschmiedet wurden. Wann wird Maewelin dir Söhne schenken, die dein Land mit mir zusammen bearbeiten? Vielleicht solltest du eine heilige Stätte aufsuchen, falls diese gottlosen Tiefländer überhaupt so etwas haben, und um ihren Segen bitten.« »Vielleicht wartet sie nur, bis du bewiesen hast, dass du für mich sorgen kannst«, gab Eirys scharf 120
zurück. »Aus all deinen großartigen Plänen ist bis jetzt nichts geworden. Du hast es lediglich geschafft, meiner Mutter Schande zu machen, indem du dich ins Gefängnis hast werfen lassen. Ich weiß nicht, was Mutter dazu sagen wird!« »Sie wird gar nichts sagen, weil du ihr nämlich nichts davon erzählen wirst.« Jeirran hob warnend die Hand, und Eirys machte hastig einen Schritt zurück, um die schmale Bettstelle zwischen ihn und sich zu bringen. »Sie wird fragen, wie es uns ergangen ist«, beharrte sie. »Wo wir doch so lange fort waren. Wo du doch versprochen hattest ...« Sie hielt inne, als Jeirran einen Schritt nach vorn machte. »Du gehst heute einkaufen«, erklärte er mit gezwungenem Lächeln. »Kauf dir ein paar Längen schönen Kleiderstoff, ein bisschen Flitterkram. Und kauf deiner Mutter ein Stück caladhrianischer Spitze, das wird ihr gefallen.« Sein Ton wurde ein wenig schärfer, während er einen kleinen Beutel mit Kupfermünzen füllte. »Such etwas, das sie so zufriedenstellt, dass sie ihre Nase aus meinen Angelegenheiten heraushält.« Er warf den Beutel aufs Bett. Eirys nickte. Ein Lächeln erhellte ihr Gesicht, als sie den Beutel um ihre Taille band. Sie nahm einen warmen, bestickten Schal von der zerlumpten Decke und steckte ihn fest, während sie zur Tür ging. Jeirran hielt sie fest. »Kein Grund zur Eile, meine Süße.« Er strich ihr eine Haarsträhne aus der Stirn und küsste sie, erst leicht, dann heftiger. »Es ist schon spät.« Eirys stemmte sich wirkungslos gegen seine breite Brust und drehte kokett den Kopf weg. »Die besten Waren bekommt man am Morgen ...« »Und die besten Schnäppchen macht man am 121
Abend.« Jeirrans kraftvolle Umarmung ließ Eirys leise aufschreien, schließlich aber gab sie seinen Küssen bereitwillig nach. Sie beantwortete Jeirrans zufriedenes Gemurmel mit unterdrücktem Kichern. Sein Atem ging schneller, und mit einer Hand zerrte er ihre Bluse aus der Schärpe, ehe ein abruptes Klopfen an der Tür sie beide aufschrecken ließ. »Bring dich in Ordnung«, fuhr Jeirran sie an und zog seine Hosen zurecht. »Wer ist da?« »Wir«, kam die knappe Antwort durch die rohe hölzerne Tür. Jeirran schob den Riegel zurück und ließ Keisyl und Teiriol ein. Teiriol warf Eirys einen scharfen Blick zu, als er ihre geröteten Wangen sah, doch sie schüttelte kaum wahrnehmbar den Kopf, eine stumme Bitte in den kornblumenblauen Augen. »Was habt ihr zwei heute Vormittag gemacht?«, fragte Jeirran in dem löblichen Versuch, gelassen zu wirken. »Das Mädchen sagte, ihr wärt schon bei Tagesanbruch ausgegangen.« »Wir dachten, wir versuchen unser Glück mal bei den Pferderennen.« Keisyl warf Jeirran einen bedeutungsvollen Blick zu. »Wir wollten mal sehen, ob wir noch eine andere Möglichkeit finden, auf dieser Reise ein bisschen Gewinn zu machen.« »Ihr hättet mich wecken sollen. Wie sind die Pferde hier denn so?«, erkundigte sich Jeirran mit echtem Interesse. »Größer«, antwortete Teiriol lachend. »Schneller, schlanker. Sie rennen wie Hunde hinter einem Hasen her.« »Schön anzusehen, aber zu nichts nütze auf einem steilen Pfad oder um mehr als Eirys’ Gewicht zu tragen.« Die Bewunderung in seiner Stimme strafte die Verachtung in seinen Worten Lügen. 122
»Ihr habt sie doch bestimmt leicht einschätzen können.« Jeirran sah Keisyl und Teiriol hoffnungsvoll an. »Nachdem ich mein Leben lang mit Bergponys zu tun hatte?«, schnaubte Keisyl. »Ich hätte dir sagen können, wer gewinnt, noch ehe die Stallburschen die Pferde sattelten ...« »... aber keiner wollte unser Geld«, platzte Teiriol dazwischen. »Anscheinend hatten sie von unseresgleichen gehört. Sie sagten, Bergbewohnern kann man nicht trauen.» »Wollt ihr damit sagen, sie wollten nicht einmal eure Wette annehmen?« Verwirrung lag auf Jeirrans Gesicht, und eine steile Falte erschien auf seiner Stirn. »Nicht einer von ihnen«, bestätigte Keisyl mit kalter Wut. »Ohne Erklärung, ohne Entschuldigung, nur mit dünn verschleierten Hinweisen, dass wir sie irgendwie übers Ohr hauen wollten.« »Ich verstehe diese Leute nicht.« Jeirran schüttelte verwundert den Kopf. »Wie können sie nur so von sich eingenommen sein?« »Das liegt daran, dass sie so viele sind.« Teiriol durchquerte das kleine Zimmer mit zwei Schritten und spähte durch das milchige Fenster. »Schau sie dir nur an, geschäftig wie Käfer im Mist. Sie haben ihresgleichen, von denen sie kaufen und an die sie verkaufen – mehr brauchen sie nicht. Drefial hatte Recht. Wenn zwei von ihnen sich wegen eines Handels die Kehle durchschneiden, stehen zehn bereit, einen Vorteil daraus zu ziehen, noch bevor das Blut angetrocknet ist ...« »Schon gut, Teir, es reicht«, sagt Keisyl mürrisch. »Ich brauche frische Luft.« Jeirran seufzte. »Keisyl, du gehst mit Eirys einkaufen. Teiriol und ich sehen 123
zu, ob wir jemanden von diesen allmächtigen Gilden finden, der bereit ist, uns heute anzuhören.« Keisyl blickte Jeirran zweifelnd an. »Sollte ich nicht besser mit dir kommen?« »Du bist an der Reihe, Eirys zu begleiten«, protestierte Teiriol. »Ich habe den ganzen gestrigen Tag damit verbracht, mir Perlen und Knöpfe anzusehen«, erklärte er mit einem entschuldigenden Blick auf seine Schwester. Eirys sah die Männer unsicher an. »Ich könnte auch einfach hier bleiben.« »Nein, komm schon.« Keisyl bot ihr seinen Arm. »Wir müssen aufpassen, dass du in guter Obhut bist.« Eirys gab Jeirran einen raschen Kuss auf die Wange. »Bis später, Lieber.« Ehe er noch etwas sagen konnte, war sie zur Tür hinaus. Ihre Schritte in den kräftigen Lederstiefeln polterten auf dem nackten Holz der Treppe. »Ich bringe sie bei Sonnenuntergang zurück«, rief Keisyl über die Schulter. »Wir lassen ihnen noch ein paar Minuten Vorsprung, dann brechen wir auf«, sagte Jeirran leise zu Teiriol. »Wozu sollen wir hinter noch mehr Gildenleuten herrennen und mit der Mütze in der Hand um ihre Gunst betteln?«, wollte Teiriol wissen. »Davon hatte ich bereits genug, vielen Dank.« »Das habe ich doch nur gesagt, um Eirys zu beruhigen«, erwiderte Jeirran spöttisch und beobachtete vom Fenster aus, wie seine Frau unten auf die Straße trat. »Du glaubst doch nicht im Ernst, dass jedermann für diese Handelszeichen zahlt, oder? Kein Tiefländer ist ehrlich, wenn er glaubt, ungeschoren davonkommen zu können. Irgendjemand 124
ist bestimmt bereit, die Kosten einer Gildenbestechung zu sparen, indem er direkt von uns kauft.« »Da könntest du Recht haben.« Teiriol nickte langsam. »Also, wo fangen wir an zu suchen?« »Degran Lackhand und seine Kumpane gehen doch gern zu Hahnenkämpfen, oder?« Jeirran schlang sich seinen Umhang über eine Schulter. »Du hast gesagt du würdest auch gern mal einen echten Hahnenkampf sehen, Vögel, die für den Kampf gezüchtet werden statt für den Misthaufen. Gestern wurde in der Kneipe auch über eine Bullenhatz geredet.« »Kein Wunder, dass du Keisyl nicht dabeihaben wolltest. Schön, Jeirran, ich bin dein Mann. Ich würde gern eine Hatz sehen«, sagte Teiriol begierig. »Ich wusste, ich kann mich auf dich verlassen.« Jeirran schlug dem jungen Mann auf die Schulter, gute Kameradschaft vortäuschend, doch in seinen Augen stand Verachtung, als er ihm die schmale Treppe hinunter folgte. »Wo gehen wir hin?« Teiriol blieb auf der Stufe stehen und drehte sich erwartungsvoll nach Jeirran um. »Hier lang.« Jeirran bog um eine Ecke zu einer Holzscheune, an deren Wand eine ganze Sammlung alter Hufeisen genagelt war. »Ich dachte, wir fragen mal hier.« Ein drahtiger Mann, dessen Kleidung staubig von Sägemehl war, hielt den Kopf eines unruhigen Ponys fest, während ein gut gewachsenes Mädchen sorgfältig einen Huf reinigte, der im Schoß ihrer Schürze ruhte. »Guten Tag«, sagte der Mann freundlich. »Euren Maultieren geht es gut. Seid ihr hier, um nach ihnen zu sehen, oder wollt ihr euch mal für einen Tag ein 125
Pferd mieten? Wir haben zwei ausgeruhte Reitpferde bereit stehen.« »Nein«, winkte Jeirran ab. »wir wollen wissen, wo wir zu einer Bullenhatz gehen können.« »Das alles findet am Südtor statt. Die Hatz ist bei den Schlachthöfen, und die besten Hahnenkämpfe sind in der Nebelkrähe, direkt beim Torhaus«, antwortete der Pferdehändler bereitwillig. »Schöne Festtage euch noch«, rief er Jeirran und Teiriol nach, doch die beiden hatten sich schon abgewandt. Das Mädchen sah auf und wechselte einen resignierten Blick mit ihrem Vater. Jeirran schritt zuversichtlich aus. Teiriol folgte etwas langsamer, da er die farbenfrohen Bilder betrachtete, die über den Ladeneingängen hingen. »Ich kann ja verstehen, dass ein Flickschuster einen Stiefel raushängt«, sagte er belustigt, während er einen riesigen, bunt bemalten und unmöglich hochhackigen Stiefel musterte, »aber was soll das hier jemandem sagen?« Er deutete auf einen Messingadler, der im Sturzflug erstarrt schien. »Wen interessiert das schon«, sagte Jeirran, die Augen nach vorn gerichtet. Er behielt das rasche Tempo den ganzen Weg durch die Stadt bei. Selbst als er einen Fußgänger anrempelte, der schimpfend im Rinnstein landete, verlangsamte er seinen Schritt nicht. Beide zeigten keine Spur von Ermüdung, als Jeirran schließlich stehen blieb. Sie blickten an dem abweisenden roten Ziegelbau des Tores zur Südstraße empor. Es ragte über die baufälligen Häuser, die sich zu beiden Seiten an die Stadtmauer lehnten, die drei Stockwerke hoch war und deren Wehrgänge und Schießscharten in sämtliche Richtungen wiesen. Das Tor selbst bestand aus altem, schwarzem Holz, das mit Bändern und Riegeln aus gehämmer126
tern Eisen beschlagen war. In dem düsteren Eingang waren die scharfen Zähne eines Fallgitters zu sehen, wie im Maul eines knurrenden Hundes. Davor erstreckte sich ein schlecht abgegrenztes Gelände mit einzelnen gepflasterten Stellen und einer eingestürzten Mauer, den Überresten eines Gebäudes. Alle brauchbaren Steine waren inzwischen fortgeschleppt worden. Den leeren, noch erkennbaren Mauernischen zufolge konnte es sich hier um einen ehemaligen Schrein handeln. Der Lärm der Stadt wurde von einem anschwellenden Misston der Blutgier übertönt. Jeirran und Teiriol versuchten vergebens, an größeren Männern vorbeizuschauen, als die Unruhe einen neuen Höhepunkt der Erregung erreichte. Scharfes Gekläff war über bösem Knurren und dem tieferen Grollen eines wütenden Bullen zu hören. Das letzte gequälte Aufbrüllen des gepeinigten Tieres ging in Jubel unter. Danach folgte Stille, nur unterbrochen vom ängstlichen Wimmern eines verletzten Hundes. Die Männer zogen in Grüppchen davon, tauschten Meinungen aus und rechneten Wetten ab auf dem Weg zu einem Bier in den behelfsmäßigen Tavernen, um vielleicht noch ein schnelles Geschäft bei den langen, stinkenden Reihen der Metzgerstände abzuschließen. »Wir haben es verpasst«, jammerte Teiriol enttäuscht. Ein Mann mit grimmigem Gesicht schnallte einem gescheckten Mastiff das Stachelhalsband ab. Der Hund versuchte vergebens aufzustehen, seine Hinterläufe lagen schlaff in einer übel riechenden Pfütze aus Blut und Kot. Sein Eigentümer rieb ihm mit einer rauen Hand liebevoll über die Ohren, ehe er ihm die Schnauze anhob. Der Blick des Hundes 127
war warm und vertrauensvoll, die Augen des Mannes rot und blinzelnd, als er ihm mit einem raschen Schwung seines Messers die Kehle durchschnitt und dann zurücktrat, um seine letzten Zuckungen zu beobachten. »Einen guten Tag dir«, sagte Jeirran und hob seine Stimme über das wilde Knurren des restlichen Rudels, das jetzt große Stücke aus seinem erlegten Feind riss. »Gibt es heute noch eine andere Bullenhatz?« Der Mann sah auf. In seinem brutalen Gesicht stand Kummer. »Nein, heute nicht mehr, jedenfalls nicht mit meinen Hunden.« Er schaute zu den kräftig gebauten Tieren hinüber, gelbbraunen, schwarzen und gescheckten, die sich um ihr Fleisch rissen, und seine Miene hellte sich ein wenig auf. »Artel! Zeig ihnen die Peitsche, oder du wirst noch eine Hand verlieren. Bei Talagrins Zähnen, hast du denn gar keine Ahnung?« Er machte einen Satz, um einem unruhig dreinblickenden Burschen die Hundepeitsche zu entreißen, der nur zu froh darüber war, sich von den beharrlichen Forderungen der Mastiffs entfernen zu können. Die Hunde scharten sich um ihren Herrn, blutverschmiert von den stumpfen Schnauzen bis zu den massigen Schultern. »Das sind beeindruckende Hunde«, bemerkte Teiriol und steckte die Hände unter den Gürtel. Einer der Mastiffs erblickte ihn und ließ ein tiefes, drohendes Knurren hören. »Welche Schänke ist die Krähe?«, fragte Jeirran. »Da drüben«, antwortete der Bursche. »Ich könnte euch den Weg zeigen, wenn ihr wollt ...« Er blickte seinen Herrn unsicher an. »Geht ruhig.« Der Mann holte mit einem scharfen 128
Pfiff einen Ausreißer unter seinen Hunden zurück und rief einen Befehl, worauf sich die dicken Köpfe sämtlicher Hunde gehorsam hoben. »Kommt mit«, sagte der Bursche. Er führte sie zu einer Taverne mit einer offenen Front aus roh gesägten Brettern, deren Anstrich aus Pech schon bessere Tage gesehen hatte. Er schob sich durch die Menge der Männer, die müßig trinkend um die Schwelle standen, und überließ es Jeirran und Teiriol, sich ihren Weg an zerbrochenen Hockern und Tischen vorbei zur Theke zu bahnen. Die Sägespäne auf dem festgestampften Erdboden waren schon viele Tage alt und von Bier und Blut verklumpt. »Zwei, hierher«, Jeirran hob die Hand und winkte einem überarbeiteten Bierkellner, der an der Reihe von Fässern hinter der Theke stand. »Man hat uns gesagt, hier wäre der richtige Ort für Hahnenkämpfe.« Eine lederne Flasche und zwei Trinkhörner wurden vor ihn geschoben. »Hinten raus, macht drei Kupferstücke.« Der Mann sah Jeirran nicht einmal an, nahm die Münzen und wandte sich dem nächsten durstigen Gast zu. »Komm.« Teiriol versuchte, nichts von dem Bier auf sein Hemd zu verschütten, als er angerempelt wurde. »Hier kriegen wir bestimmt was zu sehen.« Die Hintertür öffnete sich auf eine lärmende Szene erhitzter Erwartung, gebrüllter Unterhaltungen und einem durchdringenden Geruch nach Bier, Schweiß und Hühnermist. Männer und Frauen drängten sich mit leuchtenden Augen auf den breiten hölzernen Stufen, die rings um die tiefer liegende Arena anstiegen. Neuankömmlinge warteten auf eine Gelegenheit, einen Platz zu ergat129
tern, wenn jene, die sich bereits heiser geschrien hatten, sich auf die Suche nach einem Bier oder Wein machten. Jeirran beugte sich vor und zischte Teiriol ins Ohr: »Wir müssen diese Felle verkaufen, oder deine Mutter lässt uns beide auspeitschen.« Die Erregung in Teiriols Augen ließ ein wenig nach, und er trank einen Schluck Bier. »Das schmeckt gar nicht so schlecht«, sagte er erstaunt. »Dann kannst du dir ja den Verstand umnebeln, bis du einen Hahn nicht mehr von einer Henne unterscheiden kannst«, sagte Jeirran verächtlich, nahm aber nichtsdestoweniger einen tiefen Zug aus seinem Becher. »Der Wirt nimmt bestimmt einen Anteil von den Wetten.« »Sollen wir etwas setzen?« Teiriol trat eifrig vor, als zwei Vögel für den Kampf bereit gemacht wurden. Jeirran schob sich bis an die Umzäunung vor. Ein stolzierender Hahn mit vernarbten Kehllappen und glänzendem kupferfarbenem Gefieder kam bereits herein, während sein kleinerer gescheckter Gegner noch auf Hochglanz polierte Sporne an die schuppigen Beine gebunden bekam. Jeirran strich sich zögernd über den Bart. »Lieber nicht. Wenn wir noch mehr Geld verlieren, erspart Eirys deiner Mutter die Mühe und macht uns selbst zur Schnecke.« Teiriol schaute Jeirran scharf an, doch die beiden Vögel gingen in einer Wolke aus Staub und Federn aufeinander los. Der Gescheckte machte seinen Mangel an Größe durch überraschende Wildheit wett, schwang sich flatternd in die Höhe und stieß mit seinen Spornen auf Kopf und Augen seines Gegner. Der größere Hahn wurde zurückgetrieben, doch er krähte trotzig, ehe er sich wieder nach vorn 130
stürzte, die Flügel ausgebreitet und mit Krallen und Schnabel um sich hackend. Der kleine Hahn, dessen Federn am Hals zerzaust waren, wich geschickt den bösartigen Schnabelhieben des Kupferfarbenen aus. Er hüpfte vor und stieß mit seinem Schnabel zu, sodass orange Federn und rote Blutstropfen in den geharkten Sand fielen. Nicht so gewandt auf den Beinen und schwerer gebaut, war der größere Vogel bald in Bedrängnis und versuchte vergebens, sich vor den immer wütenderen Attacken des Gegners zu schützen. Jeirran sah, wie der kleinere Hahn mit stolzgeschwelltem Kamm seinen Gegner schließlich mit gebrochenem Flügel im aufgewühlten, blutbespritzten Sand zurückließ. Die Zuschauer lachten, als er umherstolzierte und seinen Triumph hinauskrähte, ehe sein Halter ihn einfangen konnte. Der besiegte Vogel wurde sorgfältig untersucht, ehe er in einen weichen Tuchbeutel gewickelt und von seinem finster blickenden Besitzer davongetragen wurde. »Der Gescheckte wird nicht lange aushalten, wenn er nicht lernt, den Todesstoß zu versetzen«, meinte Jeirran zu Teiriol, doch der erwiderte nichts, denn eine Bewegung auf der anderen Seite erregte seine Aufmerksamkeit. »Sieh mal da, Jeir, die beiden da haben Berg-Blut, oder ich will ein Tiefländer sein. Mutter kann also nicht sagen, es sind nur die Schmutzfüße, die so etwas mögen, nicht wahr?« »Sie sind gekleidet wie Tiefländer«, sagte Jeirran stirnrunzelnd. »Sie könnten Mischlinge sein.« Er starrte hinüber und erntete einen herausfordernden Blick von dem kleineren der beiden. »Ich würde lieber mit unseren Leuten verhandeln, selbst mit Mischlingen«, sagte Teiriol drängend. »Ob sie wohl unsere Felle nähmen?“ 131
»Kommt darauf an, was sie dafür zu bieten haben«, erwiderte Jeirran langsam. »Wo sind sie hin?« Teiriol schaute sich um, doch der Augenblick war verpasst. Die beiden waren verschwunden. »Egal.« Jeirran blickte zu einer Hand voll Männer auf gepolsterten Stühlen, die an der gegenüberliegenden Wand standen. Ein kleiner, aber respektvoller Abstand wurde zwischen ihnen und der dicht gedrängten Menge eingehalten. Jeirran achtete nicht auf den lärmenden Kampf hinter sich, als ein paar Neuankömmlinge mit einem der Sitzenden sprachen und Geld hinüberreichten, um dafür ein gefaltetes und versiegeltes Pergament zu erhalten und wieder gingen, ohne den Hahnenkampf auch nur eines Blickes zu würdigen. »Wir sollten da drüben ein Gespräch suchen.« Jeirran nickte bedeutungsvoll mit dem Kopf in die Richtung. Er trat vom Zaun zurück. Teiriol folgte ihm widerstrebend und blickte über die Schulter. Jeirran blieb so abrupt stehen, dass Teiriol ihm heftig in die Hacken trat. »Was ist?« »Siehst du diesen fetten Sohn seines Großvaters da drüben?« Jeirran schürzte die Lippen. »Das ist der Mistkerl, der mich und Keisyl gestern auf dem Festplatz verhaftet hat.« Teiriol betrachtete den Mann, der ihnen den Rücken zuwandte. »Und die anderen?« Jeirran schaute sich wie beiläufig um, ehe er langsam nickte. »Ja, sie sind alle hier und verschwenden unser Geld auf Vögel, die besser im Topf landen würden.« Teiriol legte warnend eine Hand auf Jeirrans Arm. »Wenn wir dieses Geld ersetzen wollen, müssen wir 132
die Felle verkaufen, auch wenn wir diesem Abschaum da noch was schuldig sind«, erklärte er nachdrücklich. »Stimmt leider.« Jeirran wandte seine Aufmerksamkeit wieder dem Mann mit dem harten Gesicht zu, der an der Wand saß, sowie dessen riesenhafter Begleitung, die ihr Bier trank und dabei wachsam den Ausgang im Auge behielt. »Wollen mal sehen, was dieser Mantelträger zu sagen hat.« Die kräftigen Arme über einem ansehnlichen Bauch verschränkt, betrachtete der fragliche Mann die beiden Bergbewohner mit einer unausgesprochenen Frage, als sie vor ihm stehen blieben. »Willst du ein Glas mit uns trinken?« Jeirran hielt seinen Krug hoch. Der Mann hielt wortlos einen zerbeulten Zinnbecher hoch, und Jeirran schenkte ihm großzügig ein. »Wo könnten wir hier wohl einen ehrlichen Geschäftsmann finden?« Der große Mann sah Teiriol und Jeirran verächtlich an. »Einen Mann, der es vorzieht, direkt zu handeln, ohne diesen Unsinn von wegen Berücksichtigung der Gilden und Festgebühren«, erklärte Jeirran freundlich. »In den Bergen gibt es so etwas nicht, müsst Ihr wissen.« »Womit handelt ihr denn?« Ein Funken des Interesses glitzerte in den harten Augen des Mannes. »Felle, Pelze – besser als alles, was es sonst hier auf dem Markt gibt.« »Sprich mit Harquas, dem Herrn dort.« Ein schwergewichtiger, grauhaariger Mann mit krummer Nase und scharfen Augen drehte den Kopf nach ihnen. »Braucht ihr mich?« Jeirran trat kühn vor. Teiriol folgte ihm ein wenig zögernd. »Einen guten Tag wünsch ich Euch. Euer 133
Kollege sagt, dass Ihr vielleicht Interesse an Pelzen aus den Bergen haben.« »Ja, vielleicht.« Harquas entspannte sich, doch seine Augen unter den buschigen Brauen blickten stechend. Er trug bleigraues Wolltuch, konservativ geschnitten, und sein Umfang ließ ahnen, dass seine Muskeln allmählich Fett wichen, da er die kraftvolle Durchsetzung seiner Geschäfte inzwischen jüngeren Männern überließ. »Wollt ihr einen regelmäßigen Handel oder nur dieses eine Geschäft?« »Im Augenblick nur den einen Verkauf«, erwiderte Jeirran vorsichtig. Harquas schürzte nachdenklich die Lippen. »Ihr müsst die beiden Bergvolkmänner sein, von denen ich gehört habe. Ihr versucht, eure Ware zu verkaufen, ohne eure Gebühren zu zahlen?« Er nickte jemandem zu. »Wo wir herkommen, verlangt man nur dann einen Anteil, wenn man auch etwas dafür getan hat«, erklärte Jeirran steif. Ein freudloses Lächeln legte sich auf Harquas’ Gesicht. Er drehte den Kopf leicht zur Seite, als ein Kellner kam, und flüsterte ihm etwas ins Ohr. »Entschuldigt mich.« Harquas beugte sich zu dem neben ihm sitzenden Mann, einem weiteren stämmigen Kerl, dem der Zeigefinger an der rechten Hand fehlte und der eine hässliche Narbe quer über den ganzen Kiefer hatte, als hätte jemand versucht, ihm die Kehle durchzuschneiden, wäre dabei aber ein bisschen zu hoch geraten. Harquas verbarg seine Worte hinter vorgehaltener Hand. Jeirran verschränkte die Arme in einer Gebärde kalter Zuversicht. Teiriols Versuch, es ihm nachzumachen, glückte nicht besonders, als er bemerkte, dass inzwischen drei fins134
ter aussehende Kerle in seinen Nacken atmeten, von denen jeder ihn um mehr als eine Haupteslänge überragte. Harquas nickte, als sein Kamerad irgendetwas murmelte, und schoss Jeirran einen misstrauischen Blick zu. »Schön, mein Freund.« Harquas lächelte Jeirran mit der Herzlichkeit eines Schweins am Schlachthaken an. »Ich stecke hier ein bisschen in der Klemme. Du scheinst mir ein ehrlicher Mann zu sein, aber Lahrer hier sagt, du wurdest auf dem Fest von der Wache am Südtor hopp genommen. Wäre ich ein misstrauischer Mann, könnte ich auf den Gedanken kommen, dass du nur zum Schein vors Festgericht gebracht wurdest. Angenommen, ich mache ein Geschäft mit dir – muss ich dann damit rechnen, dass ein paar Gildenleute die Türen zu meinem Lagerhaus eintreten und du einem neugierigen Richter die Pelze zeigst, die du mir verkauft hast?« Die drei Männer in Teiriols Rücken bewegten sich. Leder knirschte leise auf Metall, als der eine sich die messingbeschlagenen Handschuhe rieb. »Wenn Ihr das denkt, verschwenden wir nicht länger Eure Zeit.« Jeirran wirkte ungerührt. »Es gibt noch andere Leute in einer Stadt dieser Größe, mit denen ich handeln kann. Eure Stadtwache, Gilden und Regeln interessieren mich nicht«, fuhr er fort, ohne seine Verachtung zu verbergen. »Ich will einfach nur meine Pelze zu einem anständigen Preis verkaufen und dann nach Hause ins Hochland zurückkehren.« Harquas hob eine Augenbraue. »Du sprichst sehr unverblümt für einen Mann, der einer Überzahl gegenübersteht und fern von zu Hause ist. Soll mich das beeindrucken?“ 135
»Es interessiert mich einen feuchten Dreck, ob Ihr beeindruckt seid oder nicht«, erklärte Jeirran achselzuckend. »Kauft Ihr nun, oder kauft Ihr nicht?« Harquas tauschte einen Blick mit seinem Nachbarn, der wiederum auf ein Zeichen hinter Jeirran zu blicken schien. Was er auch sah – es stellt Lahrer zufrieden. Sein vernarbtes Gesicht nickte Harquas zu. »Falls du bereit bist, etwas zu tun, um deine Vertrauenswürdigkeit zu beweisen, kaufe ich von dir«, sagte Harquas. »Falls Vigo und seiner kleinen Bande ein Missgeschick zustößt, kann ich sicher sein, dass sie ihre Nasen nicht in meine Angelegenheiten stecken, verstehst du? Wenn du dieses Missgeschick verursachen würdest, würde ich wissen, dass du nicht mit ihnen unter einen Decke steckst, nicht wahr?« »Warum sollten wir für Euch die Drecksarbeit machen?« Jeirran achtete nicht auf das ärgerliche Gemurmel, dass sich hinter ihm erhoben hatte. »Willst du nun deine Pelze verkaufen oder nicht?«, fragte Harquas mit seidenweicher Drohung in der Stimme. »Sollen wir diese Leute töten?«, fragte Jeirran gerade heraus. Harquas runzelte die Stirn. »Ein toter Wachoffizier regt die Richter nach meiner Erfahrung unangemessen auf. Aber sie müssen hinnehmen, dass manch einer es ein bisschen zu toll treibt, wenn er etwas getrunken hat, und dann verprügelt wird.« »Das ist der Preis dafür, mit Euch Geschäfte zu machen?« Harquas nickte. »Sag mir, wo ihr wohnt, und wenn ich das Richtige höre, schicke ich jemanden hinüber, der sich morgen Mittag eure Ware ansieht.“ 136
Jeirran schüttelte den Kopf. »Wir treffen uns auf dem Marktplatz, am Brunnen.« Er drehte sich um und blickte den stiernackigen Mann finster an, der ihm den Weg versperrte. »Lass unseren Freund vorbei, Teg«, sagte Harquas liebenswürdig. »Wir reden morgen weiter, Jeirran.« Teiriol folgte Jeirran aus der Hahnenkampf-Arena zurück in die lärmige Taverne. Jeirrans Blick schoss hin und her, bis er Vigo sah, den Wachmann, dessen plumpes rotes Gesicht vor Lust und Freude glänzte, während er ein Mädchen mit zerzausten Haaren auf dem Knie hielt. Ihr aufgeschnürtes Mieder ließ schwere Brüste sehen, für jeden, der einen Blick darauf werfen wollte, während Vigo ihr die Röcke hochschob, sodass darunter nackte, fette Beine zum Vorschein kamen. Jeirran schob Teiriol in eine dunkle Ecke und schüttelte angewidert den Kopf, als die Hand des Wachmann hoch auf den Schenkel des Mädchens glitt. »Tiefländer! So wenig Anstand wie Hunde, die es auf der Straße treiben.« »Das ist doch jetzt egal.« Teiriol riss sich widerstrebend von dem Anblick los. »Woher wusste dieser Harquas unsere Namen?« »Was meinst du wohl?«, erwiderte Jeirran verächtlich. »Er hat bestimmt in der ganzen Stadt seine Leute, meinst du nicht? Wenn er von unserer Verhaftung erfahren hat, dann weiß er unsere Namen vom Gericht, kennt vielleicht sogar unsere Unterkunft.« Er blickte finster. »Wenn seine Mistkerle Eirys zu nahe kommen, werde ich ihnen den Hals umdrehen, Gericht hin oder her.« »Was sollen wir mit diesen Wachmännern machen?« Teiriol sah Vigo an, dessen Kopf jetzt in die Arme des Mädchens gebettet war. Ihr Gekicher 137
täuschte Vergnügen vor, doch ihr Gesicht blickte gelangweilt. »Ich kann mir nicht vorstellen, dass er es dieser Hure vor aller Augen besorgt. Sie gehen bestimmt in eine Gasse«, meinte Jeirran nachdenklich. »Und wir packen ihn, wenn ihm die Hosen um die Füße schlenkern?« Teiriol lachte unruhig. »Das ist nur der gerechte Ausgleich dafür, wie er mich und Keisyl gestern geschlagen hat«, antwortete Jeirran mit grimmiger Genugtuung. »Komm.« Draußen wurde das Licht des Nachmittags weicher. Ein paar Ringkämpfe wurden in Arenen ausgetragen, die grob in den Sand gezeichnet waren. Teiriol schaute bedauern zu, folgte Jeirran jedoch gehorsam in eine dunkle Ecke hinter einem Galgen. Das Holz war schwarz von altem Blut, und eklige tote Ratten baumelten herab. »Pass auf ihn und die anderen auf«, befahl Jeirran. Sie mussten nicht lange warten. Schon bald erschien Vigo mit der Hure am Arm. Rif und Neth trotteten mit einer Miene eifriger Erwartung hinter ihnen her. »Wollen sie es alle mit ihr machen?«, fragte Teiriol verblüfft. »Wie schon gesagt, sie treiben es wie die Hunde.« Jeirran bewegte sich lautlos, als die Wachleute auf die schmale Lücke Zwischen zwei baufälligen Häusern zusteuerten. »Und sie sind dumm genug, ihre Schlampe in eine Sackgasse zu führen«, setzte er zufrieden hinzu, nahm ein Paar Handschuhe von seinem Gürtel und nickte Teiriol zu, es ihm gleich zu tun. »Vorsicht. Wir wollen nirgendwo einen Kampf anzetteln, wo man uns sehen kann.« Teiriol lockerte das Messer in der Scheide, als sie die Gasse überquerten, doch Jeirran schüttelte den Kopf. »Wir wollen sie nicht umbringen. Wir benut138
zen keine Messer, es sei denn, wir haben keine Wahl.« Er blieb stehen, um eine Daube von einem zerbrochenen Fass aufzuheben, das man vor die Tür geworfen hatte, und spähte die Gasse hinunter. »Die Hure nimmt sie mit in diesen Stall da. Wir geben dem Dicken einen Augenblick Zeit. Die beiden anderen haben ihre Dinger dann wahrscheinlich auch schon in der Hand. Dann können wir sie niederschlagen, ehe ihr Anführer wieder hochkommt.« In Jeirrans Augen stand wilde Vorfreude. Teiriol ließ seine eigene Fassdaube durch die Hände gleiten und wog das Holzstück grinsend. »Lass deinen Umhang hier und binde dir etwas vors Gesicht.« Jeirran zog sein Hemd aus der Hose und riss einen breiten Streifen Leinen vom Saum, um seinen Worten Taten folgen zu lassen. »Sie können nur behaupten, dass es Leute aus den Bergen waren, und wenn jemand kommt und uns ansieht, schwören wir, dass es diese anderen beiden gewesen sein müssen, die wir gesehen haben. Wenn wir drin sind, verriegelst du die Tür.« Die Gasse war nur kurz, jedoch düster in den doppelten Schatten der Stadtmauer und der Häuser, die auf beiden Seiten aufragten. Überall stapelten sich Müll, weggeworfene Säcke, Schachteln und Haushaltsabfälle, vermischt mit alten Knochen und verrottendem Dreck. Ein übler Gestank stieg aus einem Abwasserlauf, der in die nackte Erde gegraben war. Teiriol und Jeirran gingen lautlos weiter, die Augen auf die Stalltür gerichtet, die an zerbrochenen Angeln hing und einen Spalt offen stand. Jeirran holte mit seinem Holz aus und nickte Teiriol zu, der dasselbe tat. Sie hielten inne, jeder auf einer Seite der Tür, doch Vigos erregtes Stöhnen und die gespielten lustvollen Laute der Hure waren laut 139
genug, um das Geräusch von Schritten zu übertönen. Jeirran stürmte hinein. Teiriol folgte ihm auf den Fersen und stieß die Tür mit einem Fußtritt zu. Neth drehte sich um, mit rotem Gesicht. Die Erregung in seiner Miene wich verblüfftem Entsetzen. Jeirran schwang seine Daube wie eine Sense und erwischte ihn unter einem Ohr. Der Aufprall ließ ihn gegen Rif taumeln, der ihn verwirrt auffing. Teiriol sprang vor und stieß seine Keule in Rifs ungeschützte Seite. Neth war noch immer benommen, doch Rif schüttelte ihn ab und machte kehrt, um sich auf Teiriol zu stürzen, doch der Mann aus den Bergen schleuderte ihn mit einem Stoß in den Magen zurück. Jeirran attackierte erneut Neth und landete einen wuchtigen Hieb gegen sein Knie. Der Wachmann taumelte zur Seite. Jeirran warf sein Holz weg und schlug zu. Seine behandschuhten Hände trafen Gesicht, Rippen, Magen und Lenden in einem Wirbel schmerzhafter Schläge. Blut aus der Platzwunde am Kopf tränkte Hemd und Wams des Wachmanns. »Was, zum Henker ...« Vigo hatte von der Hure abgelassen und rappelte sich auf, während er seine Hosen umklammerte, die seine Füße behinderte. Rif hatte jetzt eine Box im Rücken, wippte von einem Fuß auf den anderen und ballte die Fäuste. Teiriol grinste und täuschte mit seiner Daube an, erst zur einen Seite, dann zur anderen. Rif wurde gegen das splitternde Holz zurückgedrängt. Schmerzhafte Schläge regneten auf Schulter und Schenkel. Vergeblich kauerte er sich zusammen, um sich zu schützen, spie Teiriol an und schnappte sich einen Zügel. Teiriol holte rasch mit dem vom Alter harten Holzstück aus und zerschmetterte ihm den Unterarm. 140
Rifs Schmerzensgeheul mischte sich mit dem Knacken von Knochen. Sein Schrei wurde erstickt durch Vigos Wutgebrüll, mit dem er sich auf Jeirrans Rücken warf, während Neth schlaff in einer Blutlache lag. Der Wachmann versuchte, seine großen Hände um den dicken Hals des Bergbewohners zu legen, doch Jeirran war zu schnell, grub das Kinn in die Brust und zog die Schultern vor. In einer fließenden Bewegung machte Jeirran einen Schritt nach vorn und gleichzeitig zur Seite, sodass der nichts ahnende Vigo über seinen Kopf rutschte und im Schlamm des Stallabflusses landete. Vigo lag keuchend zu Teiriols Füßen und rang nach Luft. Teiriol setzte nun seine Stiefel ein – schweres Leder, mit Metall und Nägeln beschlagen – und hinterließ damit Abdrücke auf Vigos Hemd und seinen halb zugeschnürten Hosen. Er trampelte auf den Händen des anderen herum und riss ihm mit einem ausholenden Tritt die Wange auf. Der Wachmann rollte sich zusammen, um den Tritten zu entgehen. Rif versuchte vergebens einzuschreiten. Sein getroffener Arm hing kraftlos herab. Jeirran schlug ihn mit einem Schwinger in die Rippen zu Boden und packte dann Teiriol am Arm. Der Jüngere atmete rasch durch das Tuch vor seinem Gesicht, und seine Tritte wurden immer härter. »Das reicht! Du willst ihn doch nicht umbringen! Hat dein Vater dir denn gar nichts übers Kämpfen beigebracht?« Teiriol ließ von Vigo ab. Rif hockte auf den Knien und rang keuchend nach Atem. Neths Tränen vermischten sich mit dem Blut, das aus seiner gebrochenen Nase quoll, während er zusammengesunken in einer Ecke hockte. 141
»Was ist mit ihr?« Teiriol deutete auf die Hure, die in einem wüsten Durcheinander ihrer Unterröcke auf einem Haufen staubigen Heus kauerte. Auf ihrem Gesicht mischten sich Begehren mit Abscheu. Dann versuchte sie ein Lächeln, brachte jedoch nur eine hässliche Grimasse zu Stande. »Ihr könnt euer Vergnügen kostenlos haben, aber tut mir nichts!«, flehte sie und öffnete mit zitternden Händen ihre Bluse, eine Geste wie die Parodie einer Verführung. Jeirran rümpfte die Nase. »Ich würde eine wie dich nicht mal mit einem Stück Holz anfassen!« Er nahm seine Fassdaube und machte einen drohenden Schritt auf sie zu. »Aber wenn jemand hinter uns her ist, weiß ich, wer uns verraten hat. Du bist die Einzige, die etwas gesehen hat, also bist du auch die Einzige, die etwas erzählen kann. Tu’s lieber nicht, ich warne dich!« Das Mädchen wimmerte und versprach zu schweigen. »Komm!« Jeirran zog die Stalltür auf. Er schob Teiriol hindurch; dann verkeilte er die Tür mit seinem Stock. Er stopfte seine fleckigen Handschuhe in eine Tasche, zog seinen Umhang an und schloss ihn, um das Blut auf seinem Hemd zu verbergen. Am Ausgang der Gasse schaute er sich vorsichtig um. »Wir müssen weg hier. Rasch.« Teiriol nahm seinen eigenen Umhang und hielt inne, um seine Stiefel mit Wasser abzuspritzen, das sich zwischen ein paar Pflastersteinen gesammelt hatte. »Das sollte diesem Harquas zeigen, dass wir es ernst meinen«, stellte er zufrieden fest. »Und ich kann Keisyl sagen, dass wir seine Schulden voll zurückgezahlt haben.« »Du wirst nichts dergleichen sagen, kein Wort zu 142
ihm oder Eirys«, fuhr Jeirran ihn an. »Schließlich war es nicht gerade ein Kampf, auf den man stolz sein kann. Und diese Wachmänner nennen sie harte Burschen! Die würden in einem Bergarbeiter-Lager keine drei Tage durchhalten!« Seine Augen ruhten kurz auf den Ringkämpfen, die immer noch hitzig geführt wurden. »Wir gehen rasch, aber ruhig, und schauen uns nicht um. Wir sind hergekommen, um uns die Ringkämpfen anzuschauen, doch es war uns zu langweilig, und deshalb gehen wir jetzt zurück in unsere Herberge. Das sagen wir Eirys und Keis und jedem anderen, der fragt. Verstanden?« »Sicher.« Teiriol konnte einem Blick über die Schulter nicht widerstehen, als sie die Schlachthöfe verließen. »Und was jetzt?« »Wir machen uns sauber, ehe die anderen zurückkommen. Wir essen, was diese Diebin von einer Wirtin als Vier-Mark-Gericht ausgibt, und dann gehst du mit Keisyl aus und vergnügst dich. Eirys und ich haben einen ruhigen Abend zu Hause verdient, wir beide allein«, verkündete Jeirran. Seine Augen leuchteten vor Vorfreude. »Es ist Zeit, dass sie mir Anerkennung zeigt!“
143
Selerima, West-Ensaimin Zweiter Tag des Frühlingsmarktes, Abend
Die Runen rollten endlich zu meinen Gunsten, als ich die Knackweide erreichte, ein ordentlich geführtes Speiselokal an der Ecke der Schreibergasse. Der volle Klang einer Laute schwebte durch den offenen Fensterladen. Kindheitserinnerungen an WaldRhythmen regten sich, und ich stieß die Tür auf und fand mich in einem ordentlich möblierten Raum wieder, in dem achtbare Bürger ihre Frauen und Töchter bei üppigen Pasteten und teuren Weinen unterhielten. Es dauerte einen Moment, ehe die Kellner mich bemerkten, da aller Blicke auf den Sänger gerichtet waren, der an der Treppe saß, die Augen geschlossen und ganz versunken in die Melodie. Er war nicht erst seit kurzem unterwegs, frisch aus dem Wald und erpicht auf Abenteuer. Dieser Mann lebte seit fast einer Generation auf den Straßen, die das Alte Reich durchschnitten, wenn ich mich nicht irrte. Er war ein wenig kleiner als der Durchschnitt, mit eckigem, wettergegerbtem Gesicht, und sein Haar wies nicht mehr das Rot des Herbstlaubes auf, sondern war zu Bernstein verblasst, das weiße Strähnen durchzogen. Es war kurz geschnitten und wich an Schläfen und Stirn zurück. Seine langfingrige Hand auf den Bunden seiner Laute war knochig, die andere, die die Saiten nach Art des Waldvolkes zupfte, war geschmeidig und zeigte die verdickten Nägel und die schwieligen Fingerspitzen, die lebenslanges Spiel mit sich brach144
ten. Seine Stimme besaß einen vollen Klang und die Tiefe einer unendlichen Erfahrung. Seine Kleider, unauffällig in Farbe und Schnitt und an den Knien und Ellbogen deutlich abgetragen, hatten einst bei einem erstklassigen Schneider viel Geld gekostet. Er stammte unverkennbar aus dem Volk, war jedoch alt genug, um so weise zu sein, die Winter dort zu verbringen, wo Gasthäuser warme Betten und warme Mahlzeiten boten, und nur zur Sommerzeit in den Wald zurückzukehren, wenn das Leben dort einfach war. Eine schwere Goldkette um seinen Hals war durch eine Hand voll Ringe gezogen, und jedes Ohr war mehrmals durchstochen. Juwelen funkelten im Kerzenschein. Waldleute haben eine Vorliebe für glitzernde Dinge, wie Elstern. »Kann ich dir helfen?« Ein Junge in fleckenloser Schürze blieb höflich neben mir stehen. »Ich möchte gern mit dem Sänger sprechen.« Ich verfiel in den rollenden Tonfall meines Vaters, dessen Akzent mir in lebhafter Erinnerung war. »Er macht seine Pause hinten im Hof.« Der Junge blickte unsicher drein. »Möchtest du gern dort warten?« »Danke.« Ich hatte angesichts der Ordnung im Haus zwar nicht den üblichen Müllhaufen aus zerbrochenem Geschirr und leeren Fässern erwartet, dennoch erwies der Hof sich als angenehme Überraschung. Das graue Pflaster war sauber gefegt, und Töpfe mit Kräutern standen entlang den Wänden, wo es in der Nachmittagssonne warm war, und erfüllten die Luft mit ihrem Duft. Eine Laube wurde von Rosen umrankt, die zu dieser Jahreszeit zwar kaum mehr als nackte Stämme waren, aber trotzdem einen hübschen Platz boten, um zu sitzen und zu warten und die geschnitzte Statue von Halcarion zu 145
bewundern. Die Göttin betrachtete ihr Spiegelbild, während sie sich über einem breiten Marmorbecken kämmte. Mir fiel ein, dass ich einen Schrein für ein Opfer suchen wollte. »Hübsch, nicht wahr?« Die Stimme des Sängers ließ mich in Erinnerung erschauern, wie er so als Silhouette vor den Lampen stand: Ich erinnerte mich an eine Dachkammer, und mein Vater stand auf der Schwelle, nachdem er mich mit Liedern in den Schlaf gesungen hatte, deren Erbe mir längst verloren gegangen war. Aber dieser Mann war nicht mein Vater. »Ja«, sagte ich, »wenn man sich Halcarion als ein Mädchen vorstellt, dass sich die Haare macht und die Zeit abwartet, bis Drianon sie zur Mutterschaft ruft. Ich selbst bevorzuge die Geschichten, wo sie Männer und Monde nach ihrer Pfeife tanzen lässt.« »Da spricht wohl dein Blut aus dir, nach der Farbe deiner Haare zu urteilen.« Der Sänger sagte noch etwas in der fließenden Sprache des Waldes – der Betonung nach ein Sprichwort oder eine Binsenweisheit –, aber ich verstand ihn nicht. »Es tut mir Leid, ich verstehe nicht.« Ich schüttelte entschuldigend den Kopf. Der Sänger lehnte sich gegen die wacklige Ziegelmauer und zog eine Augenbraue hoch. »Du hast alle Steine. Und wenn du mit mir reden willst, nehme ich doch an, dass du spielen willst. Und da kennst du die Regeln nicht?« »Das hängt vom Spiel ab«, entgegnete ich. Ich fragte mich, worauf er hinauswollte. »Das ganze Leben ist ein Spiel.« Er lächelte mich an, und diesmal erhellte ein Licht, dass ich nur zu gut wiedererkannte, seine kupferfarbenen Augen. »Also, wenn du nicht zum Volk gehörst, wie kommt 146
es dann, dass du all die Züge hast, die ein Waldmädchen auszeichnen – dazu noch ein besonders reizendes?« Er schaute mit jener bedächtigen Intensität an mir hinauf und hinunter, die viele Frauen schmeichelhaft finden. »Mein Vater hinterließ mir die äußere Hülle«, versuchte ich höfliches Desinteresse zu zeigen. Glücklicherweise lenkte eine andere Sorge meinen Gefährten ab. »Wann und wo bist du geboren?«, fragte er. Leichte Besorgnis ließ ihn die Stirn runzeln. »In Vanam, im Nachherbst vor siebenundzwanzig Jahren, als Tochter einer Dienerin namens Aniss«, erwiderte ich mit breitem Grinsen. Er durchkämmte rasch seine Erinnerungen an Reisen und Eroberungen, und bald erhellte sich seine Miene, und er teilte meine Belustigung. »In diesem Jahr, in der in Frage kommenden Jahreszeit, war ich in Col, meine Liebe«, sagte er mit einer förmlichen Verbeugung. »Wenn du nach einem verschollenen Vater suchst, fürchte ich, habe ich nicht die Ehre.« »Deswegen wollte ich auch nicht mit dir sprechen, keine Sorge.« Als willkommene Unter-brechung öffnete sich die Tür, und der junge Bursche kam miteinem Tablett köstlicher Pasteten und goldenem Wein in einem Glaskrug heraus, auf dem sich Feuchtigkeit niederschlug, da er die Kühle eines Eiskellers mit sich brachte. »Auf jeden Fall trinken wir auf unser gemeinsames Blut.« Der Sänger schenkte mir ein Glas ein und hob das seine. »Auf dein Wohl. Wie heißt du?« »Livak.« Auch ich hob mein Glas. »Und ich heiße Frue«, erwiderte er. »Dein Vater hat dir zumindest einen schönen Waldnamen hinterlas147
sen«, stellte er fest, ehe er hungrig in eine knusprige Hülle biss, die prall mit gewürzten Äpfeln gefüllt war. Ich nahm ein Aprikosentörtchen, als er mir eins anbot, und erinnerte mich seltsamerweise daran, wie meine Mutter jeder Schmeichelei und Drohung widerstanden hatte, die meiner Großmutter bei ihren zahlreichen Versuchen einfielen, mir einen anderen Namen zu geben, nachdem die seltenen Besuche meines Vaters ganz aufgehört hatten. »Sein Name war Jihol«, erzählte ich, selbst erstaunt über meine Worte. »Von welcher Sippe?« Frue legte den Kopf schief. »Weißt du das?« »Von den Hirschen, glaube ich.« Ich trank einen Schluck Wein und überlegte, wie ich dieses fruchtlose Gespräch beenden konnte. Frues Schweigen wurde von einem abrupten Kopfschütteln unterbrochen. »Ich kenne ihn nicht... nicht dass ich wüsste.« »Es ist nicht wichtig«, sagte ich erleichtert. Genau genommen, würde ich mir wahrscheinlich einige Mühe geben, meinen Vater zu meiden, wenn der Wind einen Hauch von ihm mit sich brächte. Ich musste zur Zeit schon mit genügend Unwägbarkeiten in meinem Leben jonglieren. »Wonach suchst du?« Frue verschlang eine zweite Pastete. »Ich habe ein Buch mit alten Liedern, gesammelt von einer tormalinischen Adelsfrau in den späten Tagen des Imperiums«, sagte ich. »Sie stammen von sämtlichen Völkern – aus den Bergen, den Ebenen und dem Wald. Ich versuche, Leute zu finden, die diese Lieder für mich übersetzen können.« Frue schaute interessiert auf. »Ich würde gern einen Blick darauf werfen.“ 148
Kein Wunder, dachte ich. Alte Lieder konnten einem Sänger die Mühe ersparen, selbst etwas Neues zu komponieren. »Deine Meinung würde ich natürlich gern hören«, erwiderte ich. »Es ist nur so ... ich reise mit einem Gelehrten, und er will bestimmt mehr als nur eine Meinung hören, also möchte ich die Lieder gerne mehr als einem aus dem Volk mit reinem Blut zeigen. Kehrst du in den Wald zurück? Können wir mit dir reisen?« Ich füllte Frues Glas nach. »Ich bin tatsächlich auf dem Weg zurück zu meiner Sippe, wie der Zufall es will«, sagte Frue vorsichtig und wischte sich die Finger an einer Serviette ab. »Du und dein Gelehrter, ihr könnt mich gern begleiten.« »Wir haben noch zwei andere Gefährten, alte Freunde, Männer aus den Bergen.« Ich hoffte, dass Frue das leichte Zögern in meiner Stimme nicht bemerkt hatte. »Was wollen Hochländer denn in der Wildnis?« Frue schien eher neugierig als besorgt zu sein, was mich erleichterte. »Wie ich reisen auch sie und spielen Runen und Weißer Rabe, wo sich die Gelegenheit bietet.« Ich machte mir im Geiste eine Notiz, Sorgrad zu erzählen, dass er ein neues Interessensgebiet hatte. »Du spielst Weißer Rabe?« Frue schaute mich wieder interessiert an. »Mein Vater hat es mir als Kind beigebracht«, erwiderte ich. »Dann weißt du auch, dass das Spiel auf dem Gleichgewicht zwischen dem Schutz des Waldes und der Stärke der Vögel beruht, wenn sie versuchen, den Raben zu vertreiben, nicht wahr?« Frues Augen strahlten. Er setzte sich neben mich unter die 149
nackten Dornen der Laube und beugte sich dicht zu mir. »Was hast du mir im Austausch dafür zu bieten, dass ihr mit mir kommt und ich euch den Leuten vorstelle?« »Lieder, die seit den Tagen, als der Wald noch bis vor die Tore von Selerima reichte, niemand mehr gehört hat?« Behutsam schob ich seine Hand von meinem Bein. »Ein leidenschaftliche Nacht ist ja gut und schön, aber ein Lied bleibt bestehen. Wenn man es wieder hört, wird man deinen Namen damit in Verbindung bringen.« »Nur wenn die Lieder wirklich unbekannt sind. Du wärst überrascht, wenn du wüsstest, wie weit der Jahresbaum einiger unserer Lieder zurückreicht.« Er lachte, und ich merkte erleichtert, dass dieser Teil des Spiels zu Ende war, ohne dass er mir grollte. Die Tür zum Hof flog auf. »Was hält dich hier draußen so lange auf, Frue?«, fragte eine rundliche Frau in grünem Gewand, die mich mit schlecht verhohlenem Misstrauen anstarrte, als sie näher kam. Sie hatte ein kindliches Gesicht, rund und weich mit Stupsnase und hübschen Augen, doch die Mundwinkel ihrer vollen Lippen waren mürrisch herabgezogen. »Tris sagte, du wärst hier.« Ihre unausgesprochene Frage war nicht zu verkennen. »Zenela, das hier ist Livak«, sagte Frue. »Sie versucht mich mit der Aussicht auf etwas Reizvolles zu locken.« Zenela blähte die Nüstern. »Reizvoll für die Ohren oder fürs Bett?« Frue lachte und schaute mich an. »Bring dein Liederbuch morgen Vormittag her, und ich werde sehen, was ich für dich tun kann.« Er zog Zenela an sich, deren Atem so heftig ging, dass der Ausschnitt ihres Kleides in Gefahr war. 150
»Wir wollen für unser Abendessen singen, Süße.« Frue tänzelte durch die Tür; Zenela eilte ihn hinterdrein, nachdem sie mir einen warnenden Blick zugeworfen hatte. Kichernd trug ich das Tablett zurück in die Küche. »Kann ich von hier aus zuhören?«, fragte ich die breithüftige Frau, der alle gehorchten. Ihre schneeweiße Schürze war mit Honigsirup verschmiert, ihr Gesicht unter der schlichten Haube gerötet. Sie nahm ein Tablett mit Pasteten von einer solchen Auswahl, dass sie sich hinter Messires Küche nicht zu verstecken brauchte. »Solange du nicht im Weg herumstehst.« Sie begann, Puderzucker und kandierte Früchte zu verteilen. Ich fand ein ruhiges Eckchen an der Tür und machte mich nützlich, indem ich leere Teller an einen Jungen mit fettigen Haaren weiterreichte, dessen Arme bis zu den Ellbogen in einem riesigen hölzernen Abwaschbecken steckten. Die Geschäftigkeit in der Küche wurde kurz unterbrochen, als Frue einen lebhaften Reigen anstimmte. Er endete mit einem Tusch; dann begann Zenela zu singen, und die sanften Akkorde der Laute untermalten ihre Melodie. Ich ging näher zur Tür, um besser sehen zu können. Ihre Stimme war rein in den höheren Lagen und reich und volltönend in den tieferen. Sie stand unter einem zweiarmigen Leuchter. Ihr leuchtend rotes Haar verdankte sie eher Kräuterspülungen denn Waldblut, und ihre Augen spiegelten das Grün ihres Kleides und die gefärbten Wimpern. Ich überlegte, was für eine Geschichte sie wohl hatte. Sie war vielleicht ein paar Jahre jünger als ich und sah aus, als hätte sie noch immer viel zu lernen. Ich schaute zu, als sie von Liebe und Verlust sang und ließ mich 151
von der herrlichen Harmonie von Stimme und Laute gefangen nehmen. Dann kam mir eine Idee. Was, wenn ich Frue eine neue Geschichte bot, die auf ihre Weise ebenso neu war wie die alten Lieder? Eine Geschichte, die noch nie in Musik gefasst worden war? Eine Geschichte von jüngsten Ereignissen, die die höchsten Mächte Tormalins erschütterte und zu den Waffen greifen ließ gegen eine Herausforderung, wie man sie seit dem Untergang des Alten Reiches nicht mehr gesehen hatte? Sänger verbringen ihr Leben mit dem Versuch, stets der Erste zu sein, der eine Geschichte und eine Melodie verwebt. Außerdem war FesttagsZeit; jeder, der auch nur für zwei Pfennige singen kann, trällert dieselben alten Lieder. Doch die Bedrohung von geheimnisvollen Inseln im Meer, die Entdeckung der verlorenen Kolonie und ihrer schlafenden Überlebenden – dies alles würde eine Ballade ergeben, wie man sie lange nicht hörte. Die zehn Glockenschläge, die den Sonnenuntergang und damit das Ende des Tages verkündeten, drangen durch die Hintertür, und ich schalt mich für meine Genusssucht. »Sag Frue, dass ich morgen wiederkomme.« Ich packte den Servierburschen am Arm und steckte ihm für seine Mühe ein paar Kupferstücke zu und kehrte zum Schwan im Mond zurück, wo ich Sorgrad antraf, der mit Usara im Schankraum ein geselliges Mahl einnahm. »Wo ist ‘Gren?« Ich zog mir einen Stuhl heran. »Sorgt dafür, dass Kelty ein bisschen Farbe auf die Wangen bekommt, ehe das Stück anfängt.« Sorgrad schenkte mir zu trinken ein. »Wie bist du bei den Rennen zurecht gekommen?«, fragte ich ihn. »Ganz gut.« Er grinste. »Keiner der Wetter kannte 152
deinen Mann hier, und so konnte er das Unschuldslamm spielen. Wir haben ihnen ein hübsches Sümmchen abgenommen.« »Woher hattet ihr die Tipps? Habt ihr jemanden getroffen, den wir kennen?« Es war unmöglich, dass die Brüder über die hiesigen Züchter Bescheid wussten, nicht, wenn sie den ganzen Winter über in Col gewesen waren. Sorgrad lächelte sonnig. »Unser guter Freund hier war in der Lage, uns alles über den Zustand des Geläufs zu erzählen, als die Pferde vorgeführt wurden. Sobald wir das wussten, welches Tier lieber trockenes oder feuchtes Geläuf mochte, waren die Wetten weniger riskant für uns.« Ich sah Usara prüfend an. »Der Erzmagier würde das doch billigen, oder?« »Planir billigt, dass ich meine Gaben möglicherweise auf ungewöhnliche Weise einsetzen muss, um unsere Nachforschungen zu unterstützen.« Er lächelte sanft und griff nach einem Stück Brot. »Wie bist du vorangekommen?« »Ich habe einen Sänger gefunden, der uns vielleicht mit ein paar nützlichen Leuten bekannt machen kann«, sagte ich. »Was ist mit euch?« Sorgrad schüttelte den Kopf. »Nicht die leiseste Spur. Es waren ein paar Männer aus den Bergen bei den Hahnenkämpfen, doch sie waren bei Harquas.« Ich verzog das Gesicht, als ich mir etwas von Sorgrads Brot nahm und ein Stück von dem getrockneten Fisch, den er sorgfältig von den Gräten befreit hatte. »Was habt ihr bei den Hahnenkämpfen gemacht?« »Unser Blondschopf hier sagte, er wollte sich nochmal in den Gildenhallen umsehen und meinte, wir sollten uns amüsieren.« Sorgrad lächelte. 153
»Ist dieser Harquas von Bedeutung?« Usara sah uns der Reihe nach an. »Er ist einer der größten Schurken der Stadt«, erklärte ich. »Jeder, der mit ihm zusammenarbeitet, ist so falsch wie das Willkommen eines Pfandleihers.« »Bestell dir an der Küchentür etwas zu essen, mein Liebes«, sagte Sorgrad und schob seinen Teller aus meiner Reichweite. »Nein, diese beiden sahen aus, als kämen sie frisch vom Lande, gut gekleidet und auffällig wie ein verbundener Finger.« »Dann wird Harquas sie stopfen lassen wie Küken aus einem Taubenschlag, ehe die Feiertage vorbei sind.« Ich kaute auf etwas Kresse herum, die ich von Sorgrads Teller stibitzt hatte. »Ist es denn wahrscheinlich, dass noch andere Leute aus dem Bergvolk in der Stadt sind?«, wollte Usara wissen. Sorgrad schüttelte den Kopf. »Nur wenige. Nur die Sippen, die Arbeitskräfte entbehren können, können es sich leisten, ihre Waren so weit zu schicken. Man braucht viel Zeit für die Reise und ...« Eine Bewegung an der Tür ließ ihn innehalten. Ich schaute hinüber und erkannte Reza, der auf uns zueilte. »Niello sagte, ich sollte euch das geben, sobald ihr kommt.« Der Junge zog eine zweifach gefaltete und versiegelte Notiz aus seinem übergroßen, schäbigen Wams. Ich gab dem Ober einen Wink, ehe ich das Siegel erbrach. »Setz dich, Rez, und trink etwas.« Er lächelte mich an und entblößte dabei die zahnlose Seite seines Mundes, ein dauerhaftes Vermächtnis des Hungers und der Schläge, die sein Los gewesen waren, ehe Niello ihn aus der Gosse geholt hatte. Ich zwinkerte ihm zu, doch meine gute 154
Laune schwand, als ich Niellos ungeübtes Gekritzel auf der Rückseite eines Theatertextes entzifferte. »Was gibt’s?« Sorgrad las in meinem Gesicht ebenso aufmerksam, wie ich das Pergament studierte. »Du und ‘Gren, habt ihr heute Nachmittag irgendwelchen Ärger gehabt?«, fragte ich beiläufig. Sorgrad schüttelte unbesorgt den Kopf. »Nein.« »Und ‘Gren war die ganze Zeit bei dir?«, hakte ich nach. »Bis wir hierher kamen und er Kelty entdeckte, die ihm ihre Strumpfbänder zeigte.« Er grinste. »Er gehört nicht zu denen, die an einer fetten Gans herummäkeln.« Ich nickte. »Niello zufolge war die Stadtwache hier und hat Fragen gestellt. Es scheint, sie wollen mit zwei Bergbewohnern reden – wegen einer Tracht Prügel, die sie ein paar Burschen verpasst haben.« Usara öffnete den Mund, um etwas zu sagen. Hätte ich es geschafft, hätte ich ihn unter dem Tisch getreten, um ihn daran zu hindern. »Ist das ein Problem?« Sein Tonfall war höflich und versöhnlich. Ich versuchte, meine Erleichterung zu verbergen, weil er keinen Zweifel an Sorgrads Worten geäußert hatte. »Um ehrlich zu sein, ja. Wenn Niello es nicht für ernst hielt, hätte er sich hiermit«, ich winkte mit dem Zettel, »nicht das Hirn zermartert.« »Sie haben fast die ganze Bühne auseinander genommen, für den Fall, dass jemand sich darunter versteckt«, warf Reza ein. »Sie haben sogar alle unsere Kostümkörbe ausgeleert.« Ich legte die Hände vor mir auf den Tisch. »Die Stadtwache wird jeden verhaften, auf den die Beschreibung passt, und ihn zusammenschlagen. Das ist hier genauso wie überall sonst. Zu jeder anderen 155
Zeit des Jahres könnten wir uns einen Advokaten suchen und den Fall vor Gericht austragen, vielleicht ein paar Zeugen finden, die zu unseren Gunsten aussagen. Kelty zum Beispiel könnte einen Richter davon überzeugen, dass ‘Gren ihr Bett nicht verlassen hat.« Ich schüttelte den Kopf. »Aber nicht während der Festtage, wenn das Festgericht tagt.« »Ich glaube nicht, dass wir die Aufmerksamkeit der Wache auf uns lenken wollen, nicht wahr?« Ich sah das Gesicht von Arie Cordainers in Sorgrads Augen. Noch eine Überlegung, die die Richtung angab. »Niello schreibt, Vadim hat einen der Kerle in eine Ecke gezogen«, sagte ich zu Sorgrad, ohne auf die anderen zu achten. »Sie haben so dicht zusammengesteckt wie ein Geizkragen mit seinem Geld.« »Wir könnten ihm das Maul stopfen«, meinte Sorgrad achselzuckend. »Wenn er vor Ende des Festes als Leiche auftaucht, wird das nur noch mehr Ärger machen«, warnte ich. »Er wird nicht auftauchen.« Sorgrad grinste. »Warum reisen wir nicht einfach ab?«, fragte Usara beunruhigt. »Weil kein Sänger sich auf die Straße begibt, ehe der allerletzte Augenblick des Festes gekommen ist.« Ich verbarg meine Gereiztheit. Es hatte keinen Zweck, sich gegen das Schicksal aufzulehnen, also musste ich diese Runen so gut ausspielen, wie ich konnte. »Du könntest den zweiten Narren spielen, nicht wahr, Rez?« Der Bursche nickte hoffnungsvoll. »Dann kann Niello Vadim sagen, er soll sein Geld nehmen und verschwinden. Andernfalls verwenden wir es dafür, seiner Asche eine Nische in einem Schrein zu kaufen«, sagte ich entschieden. »Er wird 156
nichts dagegen einwenden. Er ist wie ein Hund, der bellt, aber nicht beißt.« »Wer spielt den Hund?«, fragte Sorgrad. »‘Gren?«, schlug ich vor. Nichts würde ihn davon abhalten können. »Also gehen wir in den Wald und nicht in die Berge?«, fragte Usara und blickte von mir zu Sorgrad und wieder zurück. »Wenn die Feiertage vorüber sind?« Ich nickte. »Hast du ein Problem damit?« »Nein, überhaupt nicht.« Usara spreizte die Hände in einer besänftigenden Geste. »Ich beuge mich deiner Entscheidung.« Er lächelte mit falscher Bescheidenheit. Ich ließ mich nicht täuschen: Er hatte Magie benutzt, um irgendwann im Laufe des Nachmittags Planir in Hadrumal zu unterrichten. Ich hätte wetten können, dass man ihm befohlen hatte, seinen Hund an die Kette zu legen und sich einvernehmlich zu geben. Das war alles schön und gut – wenigstens würde er so wahrscheinlich mit ‘Gren und Sorgrad auskommen –, aber ich war nicht bereit, einem Zauberer zu trauen, jedenfalls nicht völlig, nicht einmal, wenn er beim Abendessen saß, brav wie eine alte Hure bei einer Hochzeit. »Was machen wir morgen?«, fragte Sorgrad. »Die Schrein-Bruderschaften werden am Vormittag auf Pietät machen, doch die Gaukler und Tiervorführer werden nachmittags ihren Platz an der Sonne bekommen.« Ich schüttelte den Kopf. »Ich werde diesen Sänger wegen ein paar Liedern aufsuchen.« Und nicht nur wegen der alten Lieder. Usara konnte seine Geheimnisse für sich behalten, ich die meinen. Ich hatte über Lieder, ihre Macht und ihre 157
Wirkung nachgedacht. Die Geheimnisse der alten Äthermagie zu erlernen war ja gut und schön, aber vielleicht konnte ich noch einen anderen Nutzen für eine schöne Melodie und aufrüttelnde Worte finden. Wenn Frue ein Lied reimte, das vor der Bedrohung durch die Elietimm warnte, würde sich das schneller ausbreiten als ein Waldbrand. Und wenn ich gut aufpasste und die Geschichte so erzählte, dass ich gar nicht darin vorkam, würde niemand in der Lage sein, sie zu mir zurückzuverfolgen.
158
Kehannasekke, Inseln der Elietimm Frühlings-Äquinoktium
Er war so in Gedanken versunken, dass er nicht hörte, wie sein Vater mit leisen Schritten hereinkam. »Eresken?« Er erschrak so heftig, dass er scharf die Luft einsog, und seine Schultern spannten sich unwillkürlich unter der schmucklosen Tunika aus ungefärbter Wolle. »Wie kommst du voran?« Die Frage war freundlich gestellt. Der ältere Mann war guter Laune, und Eresken atmete auf. »Schlecht, Sire«, gestand er offen. »Ich habe Tag und Nacht mit der Suche verbracht und könnte ebenso gut im Nebel verirrt herumwandern. Ich hatte gehofft, der Stillstand des Äquinoktiums könnte mir helfen, aber bislang habe ich keinen Vorteil bemerkt.« Der weißhaarige Mann schnaubte und ging hinüber zu dem schmalen Fenster, dessen Eisenstäbe schwarze Schattenstreifen auf sein schlichtes braunes Gewand zeichneten. Das blasse Sonnenlicht zwängte sich an ihm vorbei und wurde von den kahlen weißen Wänden und den Dielenbrettern zurückgeworfen, die strohgelb geschrubbt waren. Ein paar helle Strahlen der Beleuchtung hier und dort waren die einzigen Farbflecken, die die Nüchternheit des kahlen Raumes durchbrachen. Er blickte in den Hof hinunter, der vier Stockwerke tiefer lag, wo schwarz livrierte Soldaten sich zielstrebig bewegten und Diener in grauen 159
Umhängen ihnen eilig aus dem Weg gingen. »Vielleicht sollten wir ein Exempel an einem Übeltäter statuieren – einen Hahn töten, um den Rest der Schar einzuschüchtern.« Er warf einen scharfen Blick auf seinen Sohn. »Was hältst du davon?« »Ich glaube nicht, dass mangelnder Einsatz unserer Leute das Problem ist«, erwiderte Eresken vorsichtig. »Ich spüre ihre Kraft durchaus, und der Fokus der Steine ist so stark wie eh und je. Es ist eher so, dass Tren Ar’Dryen irgendwie geschützt ist, dass eine Barriere gegen uns errichtet wurde. Selbst mit der Klarheit der Tag-und-Nacht-Gleiche kann ich die Täuschung nicht durchdringen.« Ein Scheitern zuzugeben war riskant, doch ihm blieb keine andere Wahl. Falls jemand dieses unheilige Schild durchdringen konnte, bei dem er versagte, dann war es sein Vater. Dann würde er Eresken zeigen, wie man es machte. »Du hast Recht.« Sein Vater nickte. »Wie erklärst du dir das?« Eresken überlegte einen Augenblick. Er wusste, dass er einer Prüfung unterzogen wurde, achtete aber sorgsam darauf, nicht zu zeigen, dass er es wusste, denn das wurde mit einer Strafe oder, schlimmer noch, dem Ausschluss aus den Überlegungen und den Anweisungen seines Vaters belegt. »Bei der Wiederbelebung der Verborgenen von Kel ArAyen haben die falschen Magier von Hadrumal wahrscheinlich Könner der wahren Zauberkunst gefunden«, begann er vorsichtig. »Und falls Planir sie für seinen eigenen Pläne gewinnen konnte, benutzt er vielleicht ihre Fähigkeiten, um uns fern zu halten.« »Gut«, sagte sein Vater anerkennend. »Du hast schon wieder Recht.“ 160
Kühner geworden, legte Eresken sich im Stuhl zurück, die Hände entspannt auf dem mit Pergament übersäten Tisch. »Vielleicht Kramisak ...« »Kramisak interessiert uns nicht«, fauchte sein Vater. »Kel ArÄyen interessiert uns nicht. Wenn ich den Eindruck habe, dass du von den Pflichten abweichst, die dir zugewiesen wurden, werde ich dich züchtigen – schlimm züchtigen. Hast du verstanden?« Sein Zorn kam und ging mit der Gewalt eines Wintersturms, doch die kalte Drohung in seiner Stimme war eisig. »Gewiss, Sire.« Eresken verschränkte langsam die Hände, damit sie nicht mehr zitterten. »Meine Aufgabe besteht darin, einen Weg um diese Hindernisse zu finden. Ich werde mich noch eingehender damit befassen.« »Was hast du heute gemacht?« Der weißhaarige Mann kam vom Fenster und begann durch Ereskens Pergamente zu blättern. Stirnrunzelnd las er die Randbemerkungen und die sauberen Ergänzungen unter den Texten, die in verschiedenen Handschriften erstellt waren. »Ich habe nach Priestern gesucht.« Eresken sprach mit größerer Zuversicht. »Begründe deine Schlussfolgerung«, verlangte sein Vater knapp. »Das Äquinoktium kommt sowohl für die Länder des Westens als auch für uns, und einige ihrer Traditionen reichen bis zu den Tagen vor dem Exil zurück. Ich habe nach jenen Städten gesucht, die religiöse Versammlungen abhalten, um das Vierteljahr zu feiern.« Eresken blätterte in seinen Notizen bis zu einer wichtigen Stelle und hielt sie hoch. »Wir wissen, dass ihre Priester die letzten Überreste der wahren Zauberei in den Ländern des Westens hal161
ten. Deswegen haben wir sie ja umgebracht. Jetzt aber glaube ich, sie könnten uns lebend vielleicht mehr von Nutzen sein als tot. Ich hoffe einen zu finden, der noch eine Spur von Frömmigkeit für ihre Götter zeigt und seinen Geist für mich öffnet. Es ist immer einfacher, mit einem Geist Verbindung aufzunehmen, der eine gewisse Übung hat, als mit einem widerstrebenden Verstand.« »Ein vernünftiges Argument«, stellte der alte Mann fest. »Welche Fortschritte hast du bislang gemacht?« »Im Augenblick ist es, als ob ich versuchte, eine einzelne Stimme in einem Gewitter zu hören.« Eresken konnte seine Enttäuschung nicht verbergen. »Glücklicherweise wurden die stärksten Barrieren im Osten aufgestellt, also bin ich einer Kette von Erinnerung und Vorfreude gefolgt, die aus den unbewachten Gedanken von Kaufleuten und anderen stammen, die auf dem Weg nach Westen sind. In ihrer Stadt, Selerima, herrscht große Furcht, und es muss dort bestimmt einen Schrein geben, wo die Frommen sich versammeln, und sei es nur, um Göttern oder Göttinnen die Ehre zu erweisen.« Sein Vater studierte eine Karte. »Bei einer so großen Entfernung kannst du nicht darauf hoffen, einen Geist zu beeinflussen, der nicht aktiv mit dir zusammenarbeitet.« »Ich werde mein Äußerstes tun«, erklärte Eresken beherzt. »Mit der Stärke, die den Steinen innewohnt, halte ich es für möglich.« Der weißhaarige Mann warf das Pergament auf den Schreibtisch. »Du solltest nach Zauberern suchen, die ihre faulen Tricks ausüben. Wir wissen, dass sie dabei für uns so verwundbar sind wie neugeborene Kinder.« Der alte Mann muss müde sein, dachte Eresken 162
bei sich. Die Falle war zu offensichtlich, um hineinzutappen. »Keiner weiß das besser als Planir. Die Magier sind von allen am besten abgeschirmt. Ich versuche nicht einmal, sie anzurühren, bis sie nicht wegen mangelnder Bedrohung unaufmerksam werden und ihre Wachsamkeit nachlässt. Selbst dann wäre es – obwohl das Töten der Magier befriedigend ist – kurzsichtig und würde den Erzmagier nur in Wut versetzen. Ich suche nach einem Mittel, auf breiterer Front anzugreifen.« Der alte Mann verzog die Mundwinkel zu der Andeutung eines Lächelns. »Und was ist mit denen, deren Geist du bereits berührt hast? Die rothaarige Hexe, der Schwertkämpfer? Hast du sie gesucht?« »Das habe ich, aber nur oberflächlich«, sagte Eresken langsam. »Alles andere birgt das Risiko, sie auf unser Interesse an ihrem Untergang aufmerksam zu machen.« »Du hast Angst, das ist deutlich zu merken«, sagte sein Vater leise. Er beugte sich vor, die Hände auf den Tisch gestützt, und blickte tief in Ereskens grasgrüne Augen. Leugnen war zwecklos, und Eresken leerte hastig seinen Geist von jedem Gedanken, den er für sich behalten wollte, als die undurchsichtigen braunen Augen seines Vaters die seinen unausweichlich in Bann hielten. Eresken zwang sich dazu, sich auf das Gesicht des Vaters zu konzentrieren und ungebetene Gefühle oder Ansichten, die sich aufdrängten, fernzuhalten. Das Gesicht seines Vaters war straff und hager, mit einem Schopf schneeweißen Haares. Zarte Falten zeigten, dass Wind und Zeit ihre Spuren hinterlassen hatten, und die wenigen Narben waren stumme Zeugnisse für Lektionen, die er aus seinen seltenen Fehlern gelernt hatte. 163
Eresken zwang sich, langsam und gleichmäßig zu atmen, und öffnete seinen Geist. So war es leichter und weniger schmerzhaft. Der alte Mann lachte, jedoch nicht unfreundlich. »Sie haben dich gedemütigt, nicht wahr? Schlugen sie dich besinnungslos und schleppten dich davon wie einen Seehund nach der Jagd? Du willst nicht riskieren, dass das noch einmal passiert. Nun, das kann ich verstehen. Du bist nicht allein, Junge. Die Schlampe hat standgehalten mit nicht mehr als angeborenem Trotz und einer Flut von Knittelversen.« Eresken schnappte nach Luft. »Ich hatte keine Ahnung ...« »Ich auch nicht.« Das Lachen des alten Mannes hallte unerwartet von den weiß verputzten Wänden des Zimmers wider, das nur mit dem einen Tisch und Stuhl möbliert war. »Das ist auch so eine Ironie unserer gegenwärtigen Lage, dass irgendeine unwissende Dirne ein paar Liedfetzen und Geschwätz von sich geben kann, um unsere erprobten Zaubergesänge gründlich zu stören! Auf die Herausforderung eines Gleichgestellten ist man vorbereitet, aber nicht auf die eines unehelichen Langfingers!« »Keiner von ihnen war ein würdiger Gegner«, fauchte Eresken mit wachsendem Zorn. »Sie hatten nichts als rohe Kraft und Wildheit. Sie waren zu dumm, ihr Schicksal zu erkennen und sich ihm zu ergeben!« »Lass dich nicht von deiner Enttäuschung hinreißen«, warnte sein Vater. »Gefühle werden dich beschränken, deine Wirksamkeit begrenzen. Doch auf der anderen Seite«, er wandte sich abrupt ab, »musst du diesen Zorn, diese Wut fühlen, diesen Funken, um hinter die Grenzen dieser Inseln zu schauen, während so viele andere zufrieden damit 164
sind, nicht weiter als bis zum Horizont zu blicken. Diese Vision zeichnet dich als meinen Sohn aus und macht dich meiner Zeit und Mühen würdig. Du musst lernen, solche Widersprüche zu erkennen und zu meistern.« »Aber warum ...«, entfuhr es Eresken, ehe er es verhindern konnte. »Ein Kind, das nach dem Warum fragt, zeigt eine Begabung zum Lernen. Ein Mann, der dasselbe tut, verwechselt Vertrauen, das man in ihn setzt, mit der Erlaubnis zum Widerspruch.« »Ich wollte nicht respektlos sein«, beharrte Eresken. Niemals – nicht so lange er als Lohn die Gunst seines Vaters ernten konnte. Die Wahrheit seiner Worte und seiner Gedanken hing in der gespannten Stille. »Du solltest dir solche Fragen selbst beantworten können, wie ich es getan habe. All diese Dinge sind Prüfungen, die uns gestellt werden, um uns würdig zu erweisen, unsere verlorenen Länder zurückzufordern und noch mehr. Wenn wir die eine Herausforderung meistern, tut sich eine andere auf – Paradoxe, die keinen Sinn machen und unsere Entschlossenheit auf die Probe stellen. Ich bin der reichste Mann auf diesen Inseln. Meine Einkünfte liegen um das Fünffache höher als die jedes anderen, und doch bin ich arm gegenüber dem gemeinsten niederen Adeligen der Tormalin.« Er ging auf und ab, sprach ebenso zu sich selbst wie zu’ seinem Sohn. »Mit Opfer und Disziplin führen wir unsere Zaubergesänge zu einer Höhe, die eine sichere Überquerung der Meeresströmungen erlaubt. Wir stellen fest, dass Tren Ar’Dryen ein Land ist, überschwemmt von jenen, die schwach an Geist und Körper sind, moralisch korrupt und gänzlich ver165
achtenswert. Aber die Stärke dieses Abschaums liegt in seiner Zahl, der wir nichts entgegensetzen können, wir, die wir die Feuerprobe auf diesen Inseln überstanden haben, gehärtet in der rauen Kälte. Wie können wir stärker und gleichzeitig schwächer sein? Wir stellen fest, dass diese Menschen fast alles an wahrer Magie verloren haben und deshalb offen für unseren Angriff sein sollten, doch dieser Mangel bedeutet, dass falsche Magier aufgeblüht sind – Magier, die mit dem Sichtbaren und Fühlbaren herumpfuschen und eine Überheblichkeit an den Tag legen, die sie ermutigt, uns herauszufordern. Wie kann das sein?« Eresken war nicht so dumm, darauf zu antworten. Seine Rolle als passiver Zuhörer, während sein Vater eine Rede probte, war selbstverständlich. Diese Worte würden benutzt, um die Gedanken des niederen Volkes näher zu ihrem Bündnis zu lenken, ihre Treue durch das Prisma der Steine konzentriert, sodass die Macht der Männer, die sie beherrschten, noch strahlender leuchten konnte. »Also richten wir unsere Aufmerksamkeit nach Süden, nach Kel ArAyen – das Land, das die Vorväter unserer Vorväter beinahe besaßen und sich doch entgleiten ließen. Aber irgendwie stört unser Interesse die Schurken von Hadrumal auf, und es gelingt ihnen, uns diesen Preis aus den Händen zu reißen.« Der weißhaarige Mann hielt inne und kniff die Augen zusammen. »Jedenfalls für den Augenblick. Und jetzt müssen wir Paradox mit Paradox beantworten. Wir kämpfen, indem wir nicht kämpfen, wir eilen mit schmerzlicher Langsamkeit auf unsere Ziele zu. Wir haben die Zauber, uns über das offene Meer zu bringen, und doch lassen wir unsere Schiffe sicher im Hafen. Wir warten ab. 166
Deshalb wird unser Sieg nur umso schneller kommen und umso vollständiger sein.« Die Tür schlug hinter ihm zu, als er hinausging, ohne sich noch einmal umzusehen. Eresken blieb noch einen Augenblick sitzen und betrachtete das Durcheinander von Pergamenten auf seinem Schreibpult. Er ordnete sie und stapelte sie wieder zu den ursprünglichen Haufen, jeder an den Tischkanten ausgerichtet und mit genau gleichem Abstand zum nächsten. Das Knurren seines hungrigen Magens übertönte das leise Rascheln der Dokumente, doch Eresken achtete nicht darauf. Ein flüchtiger Wunsch nach Wasser, um den schalen Geschmack im Mund fortzuspülen, lenkte ihn einen für Augenblick ab, doch er schob diesen Gedanken hastig beiseite. Es war schon viele Jahreszeiten her, seit er den Beweis dafür gefunden hatte, dass sein Vater ihn von weitem beobachtete, aber die Strafe für Faulheit wollte er nicht noch einmal erleben. Doch so viel Mühe Eresken sich auch gab, abgeschieden in diesem hoch gelegenen, kahlen Zimmer, in dem nichts das Auge oder den Geist ablenken konnte – sein Vater arbeitete dreimal so hart wie er, dreimal so lang, und Eresken wusste es. Sein Vater verlangte nichts von ihm, das er nicht doppelt und dreifach sich selbst abverlangte. Sein Vater war ein großer Mann. Alle im Bergfried wussten das, bis hinunter zum niedersten Küchenjungen. Die grimmigen Männer auf den Wehrgängen, die den Hafen sicherten, wussten von dem Einsatz ihres Herrn für ihr Wohlergehen. Die, die dem widerstrebenden Land Nahrung und andere Dinge abrangen und sich in ihren kärglichen Dörfern unter den Wachtürmen zusammenkauerten, wussten, dass sie ihm bis zum letzten Atemzug 167
Treue schuldeten, dass er ihr erbärmliches Leben verteidigte. Und hinter den öden grauen Bergrücken aus Fels und Eis, an den kalten Meeresufern, jenseits der Buchten und Grenzhügel aus Stein wussten es auch jene, die neidisch seinen Erfolg beobachteten und versuchte, ihn zu überlisten. Ereskens Pflicht und Vorrecht lag darin, seinen Vater zu unterstützen und ihm zu helfen. Dieses Wissen tröstete ihn. Seine Lippen bewegten sich in lautlosem Gesang, und Entschlossenheit glättete sein Gesicht zu einer mitleidlosen Maske. Er schleuderte seinen Geist in den Mahlstrom und beugte die äußere Welt gewaltsam seinem Willen, wobei sein Blut sich bis an den Rand der Ekstase erhitzte. Er packte das Herz des Strudels, verstärkte die Stille im Zentrum des Zornes, schwelgte in dem erhabenen Bewusstsein, das ihn von der Tyrannei des Sichtbaren und Fühlbaren befreite. Von diesem transzendenten Zustand aus war es eine vergleichsweise leichte Aufgabe, sich dem entsetzlichen Angriff zu stellen, der den klaren Geist lähmte und die innersten Geheimnisse des Unbewussten bloßlegte. Der nächste Schritt war die größte Herausforderung, die Disziplin, die nur die besten Könner meisterten. Eresken zögerte nicht. Er schmolz Eis zu einem spinnwebfeinen Nebel. Kein Geist würde vor dieser Berührung zurückschrecken, und nur wenige würden sie überhaupt bemerken; diejenigen, die es fühlten, würden in der tröstlichen Befreiung von ihren Sorgen und Kümmernissen reiche Entschädigung für das Wissen erhalten, das sie ahnungslos geteilt hatten. Eresken griff nach seinen Pergamenten. Seine grünen Augen blickten in die Ferne, ohne zu blinzeln. Er schenkte der Karte unter seinen Händen 168
kaum einen Blick. Seine Fingerspitzen glitten leicht über die Straße, die nach Westen führte, und sein geistiges Auge sah Dinge, die dem gemeinen Volk seiner Heimat unbekannt waren. Er lauschte dem Summen der Gedanken, suchte hier und da. Er brauchte Geduld, und wenn er mit dieser Aufgabe Tage in diesem Zimmer verbringen müsste, Jahreszeiten, ja, sogar den Lauf eines Sonnenjahres – er würde in den Menschen von Tren Ar’Dryen Fuß fassen. War ihm das erst gelungen, würde er einen Brückenkopf schlagen. Und dann würde die Invasion beginnen.
169
3.
Da das Spiel Weißer Rabe immer beliebter wird, habe ich dieses vergnügliche Lied des Waldvolkes in die Sammlung aufgenommen: Der Rabe hörte den wispernden Wind betörende Worte, den Toren zu ködern, suche die Weisheit, so flüsterte er denn nur der Weiseste wird herrschen. Der Rabe flog tief in den Wald und suchte bei den lachenden Bäumen, Sie bargen ihr Wissen unter den Blättern wo niemand sucht, und niemand sieht Der Rabe flog bis zu den Gipfeln, und grub tief im eisigen Schnee Doch unerreichbar lag die Weisheit begraben unter seinen Krallen. Der Rabe flog zurück auf die Ebene, krächzend vor Verzweiflung. Die Gräser rieten ihm: Weine nicht, riskiere den Regenbogen, wenn du es wagst! Der Rabe flog ins Unwetter, bis die Sonne den Regen zerteilte Er gelangte in die Anderwelt, stahl die Weisheit und flog zurück. Doch seine Farben, wo waren sie hin? Einst waren die Schwingen schwarz wie die Nacht, 171
doch als der Regenbogen seinen Lohn verlangt, Ward schlohweiß der Rabe. Und zu jedem Vogel sagte der Rabe: Ich bin der Klügste, verneig dich vor mir. Die Vögel riefen: Wir kennen dich nicht!, und hackten mit den Schnäbeln auf ihn ein. Und der Rabe litt Schmerzen und weinte einsame Tränen, bis er endlich Ruhe fand im Schutz des Jahresbaums. Jetzt sitzt der Rabe stumm und wartet bis einst man seinen Rat sucht. Dass weise Vögel sich Achtung verdienen müssen lehrte seine Weisheit ihn zuletzt.
172
Medeshale, West-Ensaimin 12. Nachfrühling
»Ich bin damit einverstanden, so weit die Kutschen fahren, aber sagt mir bitte, dass wir nicht den ganzen Weg durch knöcheltiefen Dreck nach Solura laufen müssen!« Usara blieb stehen, um einen Klumpen Schmutz von seinem Stiefel zu kratzen. Es war noch früh am Morgen und recht kühl, sodass der Geruch des Unrats noch halbwegs erträglich war. »Nein, keine Sorge. Das gilt nur für die Sommermast in dieser Gegend.« Ich war froh, wieder auf meinen eigenen zwei Beinen zu sein. Usara konnte schimpfen, so viel er wollte. Ich hatte genug davon, im stickigen Innern einer der ausrangierten herrschaftlichen Kutschen über die Hochstraße zu holpern, die jetzt regelmäßig zwischen den kleinen Städten West-Ensaimins verkehrten. »Ein paar Leute werden ihr Vieh am Rand des Wildwaldes grasen lassen.« Sorgrad hatte am Vorabend einen dunkelgrauen Esel gekauft. Er schnallte mit zufriedener Miene meine kräftige Ledertasche an sein Geschirr. »Wir sollten zusehen, dass wir den Viehherden voraus sind.« Ich betrachtete das Jungvieh, das auf einer umzäunten Koppel stand, nach Wasser muhte und sich gegenseitig anrempelte, um an altes Heu und ein paar wurmstichige Rüben zu gelangen. Freiwillig würde ich im Herbst nicht über diese Straße reisen, nicht mit diesen Herden, die sich ein halbes Jahr lang voll gefressen hatten und die Straße in knietie173
fen Morast verwandelten, wenn sie auf dem Rückweg nach Selerima waren, um verkauft und geschlachtet zu werden. »Wo ist ‘Gren?« Sorgrad zuckte die Achseln, während er Usaras Reisetasche zwischen zweien seiner eigenen festzurrte. Der Esel scharrte mit seinen hübschen schwarzen Hufen auf der festgestampften Erde. Von den zahllosen weißen und rotbraunen Rindern war das Gras längst völlig zertrampelt. »Da ist er.« Usara deutete auf ‘Gren, der aus dem Ziegelbau des Gasthauses kam und ausgesprochen übellaunig aussah. Er hatte seine Tasche unter dem einen Arm und Sorgrads unter dem anderen geklemmt. »Was habt ihr gestern Abend erreicht?«, fragte ich. »Viehzüchter sollten eigentlich immer gut für ein Spiel Runen sein«, brummte ‘Gren und reichte Sorgrad das Gepäck, was ihm einen vorwurfsvollen Blick des Esels einbrachte. »Aber nur, wenn sie ihr Vieh verkauft haben und ihnen das viele Geld Löcher in die Taschen reißt«, erinnerte Sorgrad ihn. »Der Reichtum dieser Kerle läuft noch auf den Hufen.« »Ihr hättet versuchen sollen, für euer Abendessen zu singen.« Frue erschien wie aus dem Nichts, Zenela am Arm. »Wir haben reichlich eingenommen.« Er klopfte auf den dicken Beutel an seinem Gürtel. »Könntest du heute Abend Unterstützung gebrauchen?«, fragte ‘Gren hoffnungsvoll. »Man weiß nie.« Frue grinste. Ich bemerkte, dass Zenela ganz und gar nicht erfreut aussah. Vielleicht war sie nur müde; sie musste schon vor dem Morgengrauen und den Küchenmädchen auf gewesen sein, um ihre Brennscheren anzuheizen, damit sie 174
eine solch komplizierte Frisur mit so vielen Bändern zu Stande bringen konnte. Staubbedeckte Viehhirten waren mit ihren Tieren beschäftigt, setzten sie mit einem Schlag aufs Hinterteil oder einem Schubs gegen die Schulter in Bewegung, suchten nach Verletzungen, trüben Augen oder trockenen Mäulern. Stimmen erhoben sich über das Gemuhe und vermischten sich mit dem anschwellenden Lärm der Kleinstadt, die ihren morgendlichen Geschäften nachging. Medeshale war ein Ort mit gepflegten Häusern aus fröhlich roten Ziegeln unter soliden Schieferdächern. Der Duft nach frisch gebackenem Brot wehte vom Schornstein eines Backhauses herüber, der hoch über die Dächer ragte. Kinder hüpften mit dem Morgenbrot nach Hause, vorbei an Frauen, die Fensterläden öffneten und die Treppenstufen zum Haus kehrten. Eine Gruppe von Männern kam auf den Weg zu den Lehmgruben an uns vorbei, und ich hörte einen gepfiffenen Melodiefetzen. Es war der Refrain von Frues Lied über die Elietimm. Ich lächelte in mich hinein. Es war ein überwältigender Erfolg gewesen am vergangenen Abend in dem Lokal, und – besser noch – Zenela hatte ausgeplaudert, dass ein Drucker dem Sänger eine anständige Summe für das Recht bezahlt hatte, für einen halben Pfennig Blätter mit dem Text zu drucken und diese dann in den Kneipen von Selerima zu verkaufen. Ich gönnte Frue das Geld von Herzen, solange sich die Kunde von der Gefahr der Elietimm verbreitete. »Zeitverschwendung.« Frue sah belustigt zu, wie Sorgrad die letzte Tasche auf den Esel lud. Das Tier legte die großen pelzigen Ohren zurück und versetzte eine vorüberfahrende Ponykutsche durch empörtes Geschrei in Schrecken. Frue schlang sich 175
einen Lederriemen über die Schulter, der um eine fest gerollte Decke geschlungen war, die seine Habseligkeiten enthielt. Zenela trug ein Kleid, das eher geeignet war, in einem Garten frische Luft zu schnappen als einen Tag lang zu Fuß zu marschieren, aber wenigstens sahen ihre Stiefel vernünftig aus. Ich wippte auf den Fersen, und das glänzende Leder meiner neuen Fußbekleidung knarrte: Das Geld war gut angelegt, denn jetzt war nicht die Zeit, sich mit Blasen an den Füßen herumzuplagen. Zenela wollte offenbar auch ihren voll gestopften Rucksack auf den armen Esel laden, doch Sorgrad stellte sich stur, was nicht weiter erstaunlich war, wenn man bedachte, wie herablassend sie gegenüber den Brüdern gewesen war. Sie würde Sorgrad schon fragen müssen. Rufe verkündeten, dass eine Herde bereit zum Abmarsch war. »Kommt«, sagte ich. »Ich habe keine Lust, mir einen Weg durch Kuhfladen zu bahnen.« Frue ging voraus, Zenela immer noch an seinem Arm. ‘Gren und ich folgten; dann kamen Sorgrad und Usara mit dem Esel. »Du hast wohl keine Lust, deine Chancen bei ihr zu testen?«, fragte ich mit einem Kopfnicken auf Zenelas gekräuselten Schopf. »Nach diesem Lied von ihr?« ‘Gren verzog die Lippen. »Wenn sie liebeskranke Verehrer will, die sie aus der Ferne bewundern, ist das ihr Bier, aber nichts für mich.« Ich lachte in mich hinein. Auch meine Mutter hatte mich das Rühr-mich-nicht-an-Lied gelehrt, so wie jede andere gute Frau, die ihre Tochter unbedingt davon überzeugen wollte, ihre Jungfernschaft für einen würdigen Verehrer aufzubewahren, doch 176
Zenela war die Erste, die ich das Lied singen hörte und so offenkundig sich selbst meinte. Sie betrachtete sich also als Blüte, die ihren Duft nur so lange verströmte, wie sie ungepflückt blieb? Ich selbst betrachtete mich anders; ich war ein Mädchen, das nie einsehen wollte, warum es die Jungs auf Armeslänge fern halten sollte, wo sie doch von nahem viel interessanter waren. »Wo kommt Zenela eigentlich her?« »Ihr Vater hat ein Gasthaus in Kadras«, erzählte ich. »Frue sagt, er besucht es schon seit Jahren. Ihr Vater weiß, dass ihre Stimme ihre einzige Hoffnung auf Reichtum ist, also bat er Frue, sie mit nach Selerima zu nehmen, in der Hoffnung, dass ein wohlhabender oder einflussreicher Mann sie hört.« »Sie wird kaum einen wohlhabenden Gönner finden, wenn sie im Wildwald herumträllert«, sagte ‘Gren. »Das geht uns nichts an«, erwiderte ich achselzuckend. Auf unserem Weg die Hochstraße entlang kamen wir an Bauersfrauen und ihren Mägden vorbei, die auf dem Weg zum Korbmarkt auf Medeshales gepflastertem Platz waren. Einige trugen voll beladene Körbe, andere hatten ein breites Joch über ihre Schultern gelegt, an dem Eimer schwangen, in denen zugedeckte Töpfe standen. Frue blieb stehen, um einen Laib Käse zu erstehen, frisch im Tuch. Ich tat es ihm nach, während ‘Gren mit einem hübschen Mädchen schäkerte, deren Wangen so rund und sommersprossig waren wie die Eier, die sie behutsam in einem Korb trug. »Ich danke dir.« Die Hausfrau nickte zum Abschied, einen guten Anfang in der Tasche, was die Tageseinnahmen betraf. »Komm, Tila.“ 177
‘Gren machte eine Verbeugung vor Tila und warf ihr einen Handkuss zu, der ihm ein Kichern eintrug. Ich sah Zenelas Verblüffung. Wieso brachte keiner der Männer ihr die Verehrung entgegen, die sie gewohnt war? Ich ging zu Frue. »Der Schlangenpfühl war ein schönes Gasthaus, eine gute Empfehlung. Kommst du oft durch Medeshale?« »Von Zeit zu Zeit. Vor ein paar Jahren war es bloß ein Weiler am Rand des Wildwaldes. Die Viehmärkte fanden weiter die Straße hinunter in Tiefenbrunn statt.« Er deutete auf Frühlingsblumen, die das Gras sprenkelten, vorwiegend in Gelb, hier und da in sanftem Blau oder leuchtendem Rosa. Die Luft war angenehm, doch die emporsteigende Sonne trocknete den Tau und wärmte die Blumen, sodass ihr Duft sich verbreitete. Vereinzelte Gebüsche standen im weiten Weideland; Vögel huschten umher, ihr Getriller erfüllte die Luft. »Als ich noch ein Junge war, gab es hier nur Haselnusssträucher. Die Nussernte war ein Erlebnis.« Er warf mir einen schrägen Blick zu. »Viele Mägde gingen mit einer vollen Schürze nach Hause.« Zenela eilte herbei, um ihren Anspruch auf Frues Arm wieder geltend zu machen. »Ist es denn auch sicher, wenn wir ganz allein auf der Straße sind?« »Ich beschütze dich schon, meine Süße.« Ich hörte einen Anflug von Spott in seiner Stimme. Ich hatte nicht den Eindruck, dass wir uns ernsthaft Sorgen machen mussten, denn jede Deckung für Möchtegern-Wegelagerer war auf Pfluglänge zu beiden Seiten der Straße weggehackt worden. »In dieser Gegend Ensaiminns gib es nicht diese herrenlosen und landlosen Schurken, die Dalasor oder Gidesta so gefährlich machen«, sagte ich. 178
»Die Waldleute kümmern sich schon um Banditen, die den Wildwald als Deckung benutzen, um die Straße zu überfallen«, setzte Frue hinzu. »Und wir haben gemeinsames Blut. Waldleute, die mit den Viehzüchtern etwas abzurechnen haben, werden uns keinen Ärger machen. Viehzüchter schätzen keine Staatsdiener auf dieser Seite des Wildwaldes, und die Soluraner kümmert nur, dass die Straße offen bleibt. Burg Pastamar schickt einmal pro Jahreszeit Männer aus, die das Gestrüpp zurückschneiden und die schlimmsten Löcher flicken.« Ich blickte nach vorn, wo die Straße sich langsam auf die dichte grüne Linie zuwand, die den Horizont der leicht gewellten Ebene bildete. Nach einem ereignislosen, durchwanderten Vormittag, an dem wir gelegentlichen Bauernkarren zuwinkten oder beiseite traten, um eine eilige Kutsche vorbeirumpeln zu lassen, erkannte ich allmählich, dass der Große Wald seinen Namen wahrhaftig verdient hatte. Ich bin schon oft in der Wildnis gewesen; dort gab es Wasserläufe, Hügel und Flüsse, und wenn dich Bäume umgeben, weißt du, dass sie irgendwann zurückweichen. Dieser Wald jedoch schien aus einem undurchdringlichen Kleid aus Blättern zu bestehen. Voraus versperrte er die Sicht und bildete ein ernst zu nehmendes Hindernis. Nach Süden zog sich schier endlos das Grün und verblasste verschwommen in der Ferne, was unzählige grüne Meilen dahinter versprach. Nach Westen verlief der Wald bis zu den Bergen in der Ferne, deren Gipfel noch immer schneebedeckt waren. Ich beschattete die Hand mit den Augen und sah, wie das hellere Grün breitblättriger Bäume sich zu den düsteren Schatten von Tannen und Kiefern hin 179
verdunkelte; dahinter bildeten breite Streifen von grauem Fels und Eis einen starken Kontrast. »Das sind die Berge.« Sorgrad stand mit ernstem Gesicht neben mir. »Sie sind sehr groß.« Etwas anderes fiel mir nicht ein. »Wie weit ziehen sie sich?« »Den ganzen Weg vom östlichen Ozean bis zur Wildnis westlich von Solura.« Sorgrad lächelte, doch sein Blick war nicht zu deuten. »Und das hier sind bloß die Vorberge. Ein paar hundert Meilen weiter nördlich kommen erst die hohen Gipfel.« »Die hier sehen für mich schon hoch und kalt genug aus.« Ich schauderte. »Du hast Recht. Da oben ist immer noch Winter.« »Maewelin schuf das Land, und Misaen schuf uns passend dazu, heißt es«, murmelte Sorgrad nachdenklich. »Die ganze Welt besteht aus denselben Elementen: Luft, Erde, Feuer und Wasser«, sagte Usara so plötzlich, dass ich zusammenfuhr. »Es ist ihre Anordnung, die den Unterschied macht.« Ich vermute, er wollte uns beruhigen. Leider klang es einfach nur herablassend, und Sorgrad blickte finster ob dieser unerwarteten Beleidigung. »Machen wir Pause zum Mittagessen?«, fragte ‘Gren. Wir aßen und betrachteten dabei die winzigen Bäume, die das Grasland in Schach hielten. Dann folgten wir den ganzen Nachmittag hindurch der gewundenen Straße, dem einzigen Weg, der durch die Geheimnisse des Wildwaldes führte. Ich untersagte mir allzu viel Fantasie. Mein Waldblut war ein Zufall der Geburt. Ich kannte den Namen meines Vaters und wusste, dass er ein Sänger war, und hätte Drianon aufgepasst, hätte die Göttin nie zugelassen, dass Halcarions Laune ein 180
solch unpassendes Paar zusammenführte. Ich hatte die Sorgen über meine Geburt oder meine Herkunft in Vanam hinter mich gelassen. Ein kalter Wind blies gegen Abend von den Bergen herab, als wir in den eigentlichen Wald kamen. Zarte Blätter verrieten Maewelins schwarze Berührung, und die Schatten unter den Bäumen waren noch immer feucht und kalt in der Erinnerung an den langsamen Gang der alten Frau Winter. »Ob es heute Nacht friert?«, fragte ich Sorgrad, der den ganzen Tag ungewöhnlich schweigsam gewesen war. Er hatte immer schon das beste Gespür fürs Wetter gehabt. Er blickte zum Himmel empor. »Wahrscheinlich nicht, aber es wird trotzdem sehr kalt. Glaubst du, Madam ist daran gewöhnt, außerhalb eines Gasthauses zu schlafen?« Er trieb seinen Esel mit Schmeicheleien über eine unebene Strecke, wo der Frost die Oberfläche aufgebrochen hatte, sodass Wagenräder und Hufe hängen blieben. »Die Soluraner sollten vor Mittsommer eine Wagenladung Kies schicken, wenn sie ihre Wolle nach Osten bringen wollen«, bemerkte er. Jeder von uns war wegen der klebrigen Klumpen, die an unseren Schuhen hafteten und mit jedem Schritt an unseren Kräften zehrten, buchstäblich einige Fingerbreit größer. Obwohl die Bäume am Straßenrand gefällt waren, um Wind und Sonne auf die Fahrbahn zu lassen, war der Boden noch immer durchnässt von den Winterregen. Wir mussten an schweren Fahrzeugen vorbei, an deren Rädern dick der Schlamm klebte. Doch zu unserer Erleichterung blieb keiner stecken. Die Wanderer waren auf die gerodeten Flächen beiderseits der Straße ausgewichen in der Hoffnung, 181
dort einen trockenen Weg zu finden, und trampelten dabei zahllose neue Pfade. Zenela und der Esel bahnten sich zimperlich ihren Weg durch den Morast; beide trugen den selben Ausdruck des Abscheus zur Schau. Als wir zur ersten Brücke gelangten, blickte ich ebenso finster drein wie sie. Um genau zu sein, erreichten wir die Hütte des Brückenwärters und den kleinen Trimon-Schrein daneben, an dem eine zerfetzte Flagge mit dem Wasserrad von Tiefenbrunn über einem hölzernen Schild mit einem Keilerkopf flatterte. Der Fluss wirbelte dunkel und trübe um Holztrümmer und verbogene Eisenstangen und verkeilte eine vom Sturm gefällte Pappel an den Steinsäulen, die trotzig standhielten. Der Baum musste die Brücke mit der Gewalt eines Vorschlaghammers gerammt und ebensolchen Schaden angerichtet haben. Der Brückenwärter saß vor seiner Hütte mit den dicken Mauern, die sich unter dem bemoosten Strohdach duckte, während eine Gruppe Soluraner hilflos in das aufgewühlte Wasser blickte oder auf ihren unglücklichen Führer schimpfte. Mit zornigen Gesten wandte der sich an den Brückenwärter, der energisch antwortete: »Dann sagt es Lord Pastiss. Fragt ihn doch selbst, wofür er all die Zölle ausgegeben hat, die er so eifrig erhebt! Hätte er Ende des letzten Jahres Holz und Nägel und seinen Vogt geschickt, könntet ihr trockenen Fußes hinüber!« Der Brückenwärter war klein und mit rötlichem Haar. Er griff jetzt nach einem handlichen Stecken, der unter seiner Bank lag. Der Soluraner zog sich klugerweise zurück. »Wir sollten nicht versuchen, die Furt zu durchqueren. Erst muss der Wasserspiegel sinken«, erklärte Sorgrad. 182
Usara gesellte sich zu uns und blickte skeptisch zum Himmel. »Ich glaube nicht, dass es heute Abend noch regnet.« »Ich wünschte, wir hätten Pferde.« Ich seufzte. Sorgrad schüttelte den Kopf. »Ich würde kein Pferd dieser Gefahr aussetzen.« »Morgen früh schätze ich die Kraft des Wassers ab«, schlug Usara vor. »Wenn es trocken bleibt, müssten wir ohne Probleme hinüberkommen.« »Das bezweifle ich sehr. Zu dieser Jahreszeit ist nicht der Regen am schlimmsten, sondern die Schneeschmelze«, erklärte Sorgrad dem Zauberer. Usara schaute ihn an und blickte dann auf den dunklen, mit Blättern übersäten Boden. »Aber hier ist jeder Schnee längst geschmolzen!« »Und was ist mit dem Schnee in den Bergen?«, fragte Sorgrad mühsam beherrscht. Was immer ihm am Tag die Laune verdorben hatte, jetzt hatte er eine Zielscheibe für seinen Zorn gefunden. »Die Wärme ist genau richtig für Tauwetter.« »Bei diesem Wetter taut es nur langsam.« Usara schüttelte den Kopf. »Ich kann es in der Luft fühlen.« »Ich habe in diesen Bergen gelebt, und ich habe gesehen, wie ein ganzes Schneefeld über Nacht verschwand!«, gab Sorgrad zurück. »Lasst uns ein trockenes Fleckchen für ein Feuer suchen, ehe noch mehr Leute komme«, sagte ich, ehe ein Streit entbrennen konnte. »Wir werden nicht die Einzigen sein, die über Nacht hier festsitzen.« »Wir sollten uns ein Stück vom Wasser entfernt halten«, beharrte Sorgrad. »Hier lang.« Er zerrte seinen Esel zu einem ungeschützten Hügel. »Aber der Himmel ist klar, und wird hatten mehrere aufeinander folgende Tage schönes Wetter. Ich halte ein Unwetter wirklich für sehr unwahrschein183
lieh«, protestierte Usara und sammelte totes Holz im Windschatten der kleinen Erhebung. »Hier unten sind wir vor dem Wind geschützt.« »Was bedeutet, dass es genau dort frieren wird«, erwiderte Sorgrad. »Was bedeutet, dass wir ein Feuer in Gang halten können, ohne dass der Wind es so anfacht, dass wir die halbe Nacht damit verbringen müssen, Feuerholz zu sammeln.« Usara richtete sich auf. Seine lobenswerte Entschlossenheit, sich mit jedermann gut zu stellen, ging eindeutig nicht so weit, als dass er Widerspruch in Sachen Elemente hinnahm. Sorgrad schaute ihn verächtlich an und trieb den Pflock für seinen Esel in die steinige Erde des Hügels. Ich sah mich nach einem Fleckchen zwischen den beiden um, das möglichst wenig Furchen und Steine aufwies, die mich im Schlaf drangsalierten. Ich wollte es mir mit keinem von beiden verderben. Hoffentlich würde eine erholsame Nacht beide wieder in bessere Laune versetzen. Als die Sonne schließlich hinter den Bergen im Norden versank, brannte eine Reihe von kleinen Feuern hell in der Dämmerung zwischen uns und dem Flussufer. Grüppchen von missmutigen Reisenden kauerten in Umhänge und Decken gewickelt im Schutz ihrer Fahrzeuge um die Wärme ihrer Feuer. Unseres spie Funken, und das feuchte Holz knisterte in der wütenden, ungleichmäßigen Hitze. Ich sprang auf, als ein plötzlicher Windstoß heiße Asche umherstieben ließ. »Ich kann nicht verstehen, was dieses Feuer so sprunghaft macht.« Usara stocherte ungeduldig mit einem Stock in der Glut, als ob er sich persönlich beleidigt fühlte. 184
»Lass es«, knurrte Sorgrad und blickte finster in die Flammen. »Du machst es nur schlimmer.« ‘Gren reichte mir einen halben, verkohlten Waldvogel. »Hier. Der war noch jung genug, um auch ohne Abhängen zart zu sein.« »Und hat seine Chance vertan, alt genug zu werden, um Vorsicht zu lernen.« Ich lächelte ‘Gren an, während ich in die knusprige Haut biss und zu den anderen Reisenden hinüberschaute, die es hierher verschlagen hatte. Mehrere Familien waren auf ihrer nur alle paar Jahre stattfindenden Reise nach Selerima. Hausierer reisten zu zweit oder zu dritt zu den verstreuten Dörfern von Pastamar, um dort den Tand weiterzuverkaufen, den sie auf dem Markt erstanden hatten. Ein paar Kaufleute bewachten hoch beladene Karren, über die Leinenplanen geschnürt waren. Niemand sah aus, als wäre er an einem Spiel Runen interessiert. »Meinst du, wir könnten morgen hinüber?«, fragte ich niemanden im Besonderen. »Ziemlich sicher«, antwortete Usara zuversichtlich. »Höchst unwahrscheinlich«, erklärte Sorgrad im selben Atemzug. Ich tauschte einen resignierten Blick mit ‘Gren. »Das Wasser ist doch ein Element, Usara«, sagte er. »Kannst du nicht einen Pfad hindurch schaffen oder so etwas?« »Tut mir Leid«, seufzte Usara. »Wäre ich ein SteinMeister, dann vielleicht, aber ...« »Du bist Magier?«, unterbrach ihn Zenela mit weit aufgerissenen Augen. Wenigstens übertönte sie Sorgrads verächtliches Gemurmel. »Allerdings«, erwiderte Usara. »Aus Hadrumal.« Frue warf mir einen kurzen Blick zu. »Ich dachte, du wärst Gelehrter.“ 185
»Das auch, vor allem Historiker«, erwiderte Usara. »Daher interessiere ich mich auch so sehr für Livaks Liederbuch.« Frue schien mit dieser Erklärung zufrieden. Halcarion sei gedankt für die angeborene Toleranz des Waldvolks. Danach, flaute die Unterhaltung ab. Sorgrad brütete vor sich hin, und Usaras Gesicht zeigte einen Ausdruck gekränkter Würde. Ich hatte keine Lust, mit den beiden länger hier festzusitzen. Wo war der Brückenwart? Ich blickte zu dem kleinen TrimonSchrein. Jemand hatte ein Opferfeuer vor der dunkel verwitterten Statue des Gottes angezündet. Das hölzerne Gesicht des Gottes der Straßen besaß in dieser Gegend einen deutlichen Waldvolk-Zug. Seine kleine Harfe trug er unter einem Arm. Eine plötzlich auflodernde Flamme ließ zwei Köpfe erkennen, die im Gespräch eng zusammensteckten. »Die zwei da gucken schon eine ganze Weile in unsere Richtung, und ich glaube nicht, dass sie nur die Beine des Mädchens bewundern.« ‘Gren setzte sich neben mich. »Sie haben jeden hier abgeschätzt.« Ich sah mich beiläufig im Lager um. »Wer reist mit ihnen?« »Die beiden da drüben«, sagte ‘Gren, »die ihre Ponys anpflocken.« Es waren kräftige Bergponys, klein und wendig, um sich zwischen Bäumen durchzuschlängeln und in rauerem, steilerem Gelände zurechtzukommen, wo Flachlandponys störrisch würden und ins Rutschen gerieten. Genau die richtigen Reittiere für Banditen. »Vier Burschen, kein nennenswertes Gepäck, aber doppelt zugeschnallte Satteltaschen mit schimmernden Schlössern«, bemerkte ich nachdenklich. 186
Ich sah einen von ihnen in der Nähe des Schreins. Er betrachtete Sorgrads Esel, der angehobbelt war und mit einem Maul voll Hafer aus seinem Futtersack zufrieden vor sich hindöste. »Beide Monde nehmen zu, bald haben wir Doppel-Vollmond«, sagte ‘Gren. »Die Zeit der Diebe. Sagt man nicht so. in Col?« Ich schaute ihn fragend an. »Sie werden eine Wache aufstellen, wenn sie auch nur für einen Pfennig Verstand haben.« »Eine Wache lässt sich ablenken«, sagte ‘Gren. »Sorgrad kann sich um sie kümmern.« »Was sitzt ihm eigentlich quer?«, fragte ich leise. »Frag ihn selbst. Ich weiß es auch nicht.« ‘Gren zuckte die Achseln. »Schnappen wir sie uns, bevor sie uns schnappen?« »Das wäre der sicherste Weg herauszufinden, ob sie ehrliche Männer sind«, gab ich zu. Ich hatte Ryshad versprochen, nicht zu stehlen, außer wenn es unbedingt notwendig war, doch unehrliche Schurken um gestohlenes Gut zu erleichtern, betrachtete ich nicht als Diebstahl. »Ein paar Kleinigkeiten zum Tauschen könnten nicht schaden«, murmelte ‘Gren. »Alle Waldleute haben ein Auge für hübsche Dinge. Vielleicht haben die Schurken genau das dabei, was wir brauchen, um es gegen eins unserer Lieder zu tauschen.« Ich blickte ihn an. »Lass uns nachschauen, ob jemand wach genug ist, um uns Schwierigkeiten zu machen, wenn Mitternacht kommt. Falls ja, lassen wir es bleiben.« ‘Gren lächelte; seine Zähne leuchteten weiß in der zunehmenden Dunkelheit. »Das wird so einfach, wie einen Esel mit Kirschen zu füttern.« Ein Akkord von Frues Laute beendete unser Ge187
spräch. Der Sänger hatte sich ans größte Feuer gesetzt und eine ansehnliche Zuhörerschaft um sich versammelt. Alte Lieblingslieder wurden mit Schwung gesungen, ebenso wie Frues neuestes Lied, sehr zu meiner Zufriedenheit. Zenela sang dazu; ihre volle Stimme stieg zu den hellen Sternen empor und ließ jede Nachtigall in Hörweite vor Neid verstummen. Der Brückenwart begab sich als Erster zur Ruhe und schloss die Läden vor seinen Fenstern. Die Fuhrleute verschwanden unter dem Schutz ihrer Karren; ihre Pferde standen sicher hinter einem behelfsmäßigen Zaun aus Weißdornzweigen. Die Hausierer unterhielten sich noch ein Weilchen leise an der erlöschenden Glut, in ihre Umhänge gewickelt, doch als Halcarions Krone mir zeigte, dass es Mitternacht war, lag das Lager still und ruhig da. Das Gurgeln des Flusses war das einzige Geräusch, abgesehen von einem gelegentlichen Rascheln im Unterholz oder dem Schnauben eines Pferdes. Ich beobachtete die Sterne, die langsam über den Himmel zogen. Das farblose Licht verblasste, als die Monde ihrem Lauf folgten und hinter den Bäumen langsam untergingen. Ich drehte mich herum und lag Gesicht an Gesicht mit ‘Gren, dessen Augen vor Schalk leuchteten. »Haben sie eine Wache aufgestellt?«, fragte ich. »Das letzte Mal noch nicht, als ich pinkeln ging«, erwiderte er kaum hörbar. »Sie vertrauen auf den Knaben bei den Fuhrwerken.« »Und der schläft?« »Schnarcht wie eine Wildsau«, bestätigte ‘Gren. Er wickelte die Decke von seinen Füßen, die bereits in den Stiefeln steckten. 188
»Welche Richtung nimmst du?« »Da lang.« ‘Gren deutete mit der Hand über das Gelände zwischen uns. »Wenn du siehst, dass sich einer rührt, setz dich hin und huste.« Ich drehte mich wieder um und bettete den Kopf auf den Arm. Die vier Burschen, die wir verdächtigten, waren in ihren Decken nur noch formlose Bündel in der Dunkelheit. Ihre Ponys waren angepflockt und dösten; das Geschirr und das Gepäck, das uns interessierte, war zwischen den schlafenden Männern gestapelt. Das würde ‘Gren nicht abschrecken. Wenn er sich etwas in den Kopf gesetzt hatte, schreckte ihn gar nichts ab. Drüben bei den Fuhrwerken ruhte der angebliche Wachposten der Kaufleute reglos an einem Karrenrad, das Kinn auf die Brust gelegt und laut schnarchend. Ein leichtes Rascheln war zu hören: Zweige, die sich im Nachtwind bewegten, oder ein Tier des Waldes auf der Jagd. Eine Bewegung neben mir ließ mich zusammenfahren, dass ich mir beinahe die Lippe zerbissen hätte. Sorgrad saß kerzengerade da, das Gesicht aschgrau im Mondlicht. Usara öffnete verwirrt die Augen. Plötzlich kroch mir die Angst mit kalten Fingern über den Rücken. »Der Fluss ...« Usaras Worte wurden von einem Dröhnen übertönt, das die Stille der Nacht zerriss. Ein heftiger eisiger Windstoß fegte durchs Lager und brachte den Gestank von Tang und Wasser mit sich. Vögel flatterten von den Bäumen auf, alarmiert kreischend, und Gestalten brachen durch das erste Frühlingsgrün. Kaninchen und Wiesel flohen vor irgendetwas, das Furcht einflößender war als jedes größere Tier. Ein Damhirsch preschte mit zurückgelegtem Kopf und hochgestelltem Schwanz durch 189
unser Lager. Als der Hirsch verschwand, erbebte der Boden unter uns, als ob etwas Riesiges, Wildes wie verrückt oben auf dem Hügel trommelte. »Alle Mann weg vom Fluss«, brüllte Usara, machte jedoch einen Schritt auf die Ruinen der Brücke zu. Rufe und Fragen weckten das halbe Lager. Männer krochen verschreckt aus ihren Decken; andere bemerkten kaum die Unruhe, als sie schläfrig die Köpfe hoben. Und dann, in einem grollenden Schwall aus Lärm und Wut, brach eine reißende Flut über uns herein, die hochschäumend aus dem Flussbett quoll. Wasser schoss zwischen den Bäumen hindurch; Holzstücke trafen Menschen und Tiere und schleuderten sie hilflos in die Fluten. »Stellt euch hinter mich!«, rief Usara und wandte sich dem Aufruhr von Wasser und Trümmern zu, der uns entgegenraste. Ich griff verzweifelt nach meiner Tasche mit dem kostbaren Buch. Sorgrad packte meinen Arm mit eisernem Griff; die andere Hand hatte er um die Zügel des Esels gekrallt. Die rollenden Augen des Tieres waren weiß gerändert vor Angst; deshalb warf ich ihm eine Decke über den Kopf und hielt es fest an mich gedrückt. Ich biss die Zähne zusammen und wartete auf den Aufprall – doch eine schimmernde Wand aus smaragdgrünem Licht trotzte der Flut. Es erhob sich vom Boden und sah nicht fester aus als ein Vorhang aus Seide, so breit wie Usaras ausgebreitete Arme, doch es war stark genug, um den gierigen Strom zu beiden Seiten abzulenken. Gischt sprühte mir ins Gesicht, Nadeln aus eisigem Feuer, doch die mörderische Wut des Wassers konnte uns nichts anhaben, sondern floss zu beiden Seiten ab, kochend vor Wut, da wir seinem hung190
rigen Schlund entkamen. Schmutziger Sprühnebel trieb wie der Speichel eines tollwütigen Hundes vor dem Wind daher. Usara stand da, die Arme und Beine gespreizt, das Gesicht vor Anstrengung verzerrt, als ein neuerlicher Strom goldgelbem Feuers aus seinen Fingern in die Erde floss. Die Magie raste zum Fluss, ein sich ausbreitendes Flechtwerk, das durchs trübe, schaumgekrönte Wasser schimmerte, das immer noch stieg. Erde und Gras an beiden Ufern knisterten wie berstendes Eis, und große Stücke wurden vom Wasser weggespült. Als das Land zurückwich, wurde der Strom ins Flussbett zurückgesogen, das er verlassen hatte. Zitternd vor Schreck standen wir da, fassungslos und stumm vor Entsetzen. Einen Atemzug lang herrschte vollkommene Stille, dann brach das verängstigte Wiehern eines Pferdes den Bann, und aus allen Richtungen erklangen Rufe. »Sorgren!«, brüllte Sorgrad. Ich hätte keine Antwort hören können, selbst wenn es eine gegeben hätte. Ich kämpfte mit dem verflixten Esel; meine Zehen und Schienbeine waren schon blau von seinen Tritten. Ich schüttelte wütend seinen Zügel. »Das sind neue Stiefel, verflucht nochmal!« Schweißnass und mit zitternden Händen, tauchte Frue von irgendwoher auf und half mir, das widerspenstige Tier an einen Baumstumpf zu binden. »Zenela?«, fragte ich. »Ich hatte ihre Hand.« Tränen stiegen ungewollt in die Augen. »Sie wollte in die falsche Richtung laufen ... es ging alles so schnell, so schnell ...« »Helft uns, bei Saedrin!«, rief ein Mann, der im knöcheltiefen Matsch ausrutschte und vergebens 191
versuchte, sich mit einer Schulter hinter ein Karrenrad zu stemmen. Die schweren Karren, von der Kraft des Wassers bewegt, waren wie Kinderspielzeuge durcheinander geschoben. Einer lag auf dem Kopf da, begraben unter Schlamm und Trümmern, und trotzte allen Versuchen, ihn zu bewegen. Ein Mann regte sich schwach in der Pfütze darunter; er war vom Gewicht des Karrens mit den Oberschenkeln gleichsam am Boden festgenagelt. Erfolglos drückte er mit den Händen gegen die Last, während sein Gesicht vor Schmerz verzerrt war. Ein blaues Licht verdichtete sich um ihn herum, und alle erstarrten, selbst der eingeklemmte Mann. »Macht euch bereit, ihn herauszuziehen!« Alle Köpfe wandten sich um und sahen einen azurblauen Schein um den Magier. »Macht euch bereit!«, wiederholte er mit einem Anflug von Zorn. Alle bückten sich unverzüglich, um Hand anzulegen. Usara spannte sich. »Jetzt!« Saphirblaues Licht loderte auf und hob das Fuhrwerk an, nicht mehr als eine Handbreit, aber das war genug. Wir zogen, und der Fuhrmann kam frei. Er biss sich mit einem Schmerzensschrei auf die Lippen, denn seine Beine waren gebrochen. Ich tauschte einen mitleidigen Blick mit Sorgrad. Der Mann konnte von Glück sagen, wenn er je wieder laufen konnte. »Also ist der Zauberer doch zu etwas nütze«, bemerkte Sorgrad. Usara atmete schwer. »Sammelt Holz!« »Es ist doch alles nass«, protestierte jemand schwach aus der Dämmerung. »Das wird niemals brennen ...« »Spielt keine Rolle.« Usara ließ einen scharlachroten Flammenstoß von einer Hand in ein Gewirr aus schlammbedecktem Gestrüpp schießen. Es 192
loderte auf, als hätte er einen Krug Lampenöl darüber gegossen. Ehrfürchtig staunten die Leute einen Moment das Feuer an, ehe sie zersplitterte Äste und die Trümmer eines Karrens darauf warfen. »Er ist ein guter Mann für einen schlechten Tag, dein Zauberer«, bemerkte ‘Gren fröhlich. Ich fuhr ihn an: »Bei Saedrin, wo warst du? Ich dachte, du wärst ertrunken!« »Unmöglich.« ‘Gren zwinkerte mir zu. »Sheltya sagte, dass ich mal am Galgen ende.« »Hier rüber, hier rüber!« Rufe des Jubels und der Angst kamen vom Waldrand. Ich rannte mit ‘Gren hinüber, rutschte auf dem nassen Gras aus, stolperte über namenlose Trümmer. Durchnässte, schmutzige Menschen versuchten, ein Gewirr von Wasserpflanzen und schlammigen Kleidern auseinander zu ziehen, das an den zerschmetterten Körper eines unglücklichen Pferdes angeschwemmt worden war. Ein Kind wurde herausgezogen, weinend und blutend, und an seine aufgeregte Mutter weitergereicht. Zwei weiteren hustenden Gestalten wurde von freundlichen Händen an Land geholfen; als man sie davonführte, spuckten sie Wasser und gingen auf zittrigen Beinen. Zenela war zuunterst in dem Haufen, das Gesicht blass und reglos. Sie war von der Flut mitgerissen worden wie ein ertrunkenes Kätzchen. »Bringt sie zum Feuer.« Sorgrad drängte sich an mir vorbei und grub Zenelas schlaffen Körper aus dem klebrigen Lehm. Der widerstrebende Boden ließ sie mit einem schmatzenden Geräusch der Enttäuschung los, und schlammiges Wasser quoll Zenela aus Mund und Nase. Wir trugen sie zum Feuer und legten sie behutsam nieder. Ich überlegte, ob wir sie aufbahren sollten. 193
»Usara!«, rief Frue und barg Zenelas reglosen Kopf in seinen Armen. »Wo habt ihr sie gefunden?« Usara kniete nieder, legte ein Ohr an ihren Mund und drückte einen Finger leicht an ihren Hals, um ihren Puls zu fühlen. Er verzog das Gesicht, riss ihr das Mieder auf und legte eine Hand auf die Brust über dem Herzen. »Legt sie flach auf den Boden.« Mit der anderen Hand beugte Usara Zenelas Kopf zurück und schloss voller Konzentration die Augen. Ihre Haut war im Schein des Feuers noch immer kalkweiß. Usara hob die Hand, und Zenelas Brust hob sich langsam, folgte der Bewegung des Zauberers. Ihre bläulichen Lippen öffneten sich, und ein schwaches Strahlen zeigte, wie sich Luft auf Geheiß des Magiers in ihre Kehle zwängte. Wir anderen hielten den Atem an. Usara machte unbeirrt weiter, bewegte den Brustkorb Zenelas und erinnerte ihren Körper daran, wie man atmet. Ein warmes Glühen legte sich über sie und vertrieb die Kälte aus ihren Knochen. »Reibt ihr die Arme und Beine warm.« Der Magier nickte Sorgrad und mir zu. Ich beeilte mich zu helfen, doch Zenelas nasse Finger fühlten sich zwischen meinen Händen tot, kalt und schlaff an. Sorgrad rieb ihr mit ausdrucksloser Miene die Füße. Usara sah ihn scharf an, ehe er sich wieder seiner Aufgabe zuwandte. Nach einer halben Ewigkeit hustete Zenela und verdrehte die Augen. »Setz sie auf und wickle sie warm ein«, befahl Usara, an Frue gewandt. Zenela hustete erneut und spuckte plötzlich einen großen Schwall übel riechendes Wasser über beide Männer, wobei sie von einem Krampf nach dem anderen geschüttelt wurde. 194
»Wird sie wieder gesund?« Ich ergriff Usaras Arm. »Vielleicht.« Er schaute finster. »Kann sein, dass ihre Lungen sich wieder mit Wasser füllen. Das kann passieren, wenn man beinahe ertrunken ist...« Er schüttelte den Kopf. »Wir wollen hoffen, dass sie in guter Verfassung ist.« »Was ist mit Burg Pastamar? Die Soluraner verfügen über Ätherkunde in ihrer Heilkunst.« Zenela war mir nicht gerade ans Herz gewachsen, aber ich wollte mir nicht Drianons Zorn zuziehen, indem ich ihr nicht half, so gut ich konnte. »Wir können niemanden nach Pastamar bringen, solange wir nicht über diesen dreimal verfluchten Fluss kommen«, grollte Usara. Ich betrachtete den Strom. Die kräftigen Säulen, die einst den letzten Ehrgeiz des Tormalin-Reiches getragen hatten, waren nur noch zerborstene steinerne Stümpfe. Die Hütte des Brückenwärters war eine dachlose Ruine aus zusammengefallenen Steinen. Der Mann darin war mit Sicherheit tot; auch der kleine Schrein für Trimon war davongespült worden. »Wird das Wasser noch einmal steigen?« Ich hörte ein Zittern in meiner Stimme. »Es hätte erst gar nicht steigen sollen!« Usara starrte zornig flussaufwärts. »Ich verstehe das nicht. Ich habe das Wasser ausgelotet, habe das Maß der Schneeschmelze eingerechnet, habe berücksichtigt, dass der Boden so gesättigt ist ...« Er brach kopfschüttelnd ab. »Hier draußen ist alles so anders. Ihr wärt mit einem Wasser-Magier besser bedient gewesen.« »Aber du bist der einzige Zauberer, den wir haben!«, sagte ich heftig. »Ja, das fürchte ich auch.« Usaras schmale 195
Schultern sanken herab. »Ich hätte wirklich eine wirksamere Abwehr entwickeln müssen ...« »Das habe ich nicht gemeint«, wandte ich ein. »Wer ist gestorben und hat dich zum König vorgeschlagen?«, fragte ‘Gren im gleichen Atemzug und schlang mir meinen Umhang über die Schultern, der zwar schmutzig, aber warm vom Feuer war. »Diejenigen von uns, die magische Fähigkeiten besitzen, haben die Verantwortung, diese Gaben zu einem höheren Nutzen zu verwenden«, sagte Usara leicht gekränkt. »Also hast du dafür gesorgt, dass Sorgrad und ich nicht wie Mäuse in einem Abflussrohr ersoffen sind«, sagte ich. Drianon hilf, diese Zauberer nahmen sich vielleicht wichtig! »Kommt und trinkt etwas Warmes«, drängte ‘Gren uns beide. Usara schüttelte den Kopf. »Ich muss sehen, wie das Wasser sich auf die Furt ausgewirkt hat.« Er rollte eine Welle von ockerfarbenem Licht zwischen seinen Händen und starrte ins Wasser. »Das hätte nicht passieren dürfen ...« Vor sich hin murmelnd, stapfte er davon. Ich fand die Unsicherheit des Zauberers ausgesprochen beunruhigend, und ‘Gren war ein willkommenes Ziel für meine Gereiztheit. »Wo warst du?« Er umarmte mich liebevoll. »Siehst du diesen Vorsprung? Da oben war ich, wie eine Ratte auf einem Kornspeicher!« Ich warf einen Blick auf unsere Räuber, drei entmutigte Gestalten, die versuchten, ein durchweichtes Durcheinander von Zügeln zu entwirren. Zwei verschlammte und schwitzende Ponys waren neben ihnen angehobbelt. 196
»Die Flut hat ihr Gepäck davongespült«, sagte ‘Gren mit gespielter Unschuld. Ich kniff die Augen zusammen. »Wohin?« »In einen sehr bequemen Spalt da drüben«, gestand er. »Hattest du zufällig Gelegenheit, einen Blick hineinzuwerfen?«, konnte ich mir nicht verkneifen zu fragen. ‘Gren lächelte. »Ja. Und wenn die da ehrenhafte Männer sind, bin ich der Erwählte von Col.« »Also ist die Nacht nicht gänzlich ins Wasser gefallen«, scherzte ich schwach. »Du brauchst einen heißen Tee«, meinte ‘Gren. »Sicher«, entgegnete ich, »und dazu Fleisch, Gemüse und weißes Brot. Und sag dem Mädchen, es soll mich morgen nicht zu früh wecken.« Ich fand es schon immer unmöglich, ihm lange böse zu sein. Ich ließ mich von ‘Gren zum Feuer zurückführen, wo ein paar Frauen die Männer ausschimpften, dass sie sich über die verbliebenen Vorräte hermachten. Niemand hatte Wacholderlikör retten können, also musste ich mich mit einem Becher frisch gekochten Wassers, das bitter von ein paar eingeweichten Kräutern war, zufrieden geben. Ich hätte einen Löffel Honig gebrauchen können, aber es war wirklich nicht der richtige Zeitpunkt, sich über Nebensächlichkeiten zu beklagen. »Wie fühlst du dich?« Ich saß neben Zenela, die an einem der übrig gebliebenen Koffer Sorgrads lehnte. »Meine Brust tut weh«, sagte sie heiser. Eine schwere Prellung zeigte sich purpurrot auf ihrer Stirn, und ein tiefer Kratzer unter dem Kinn würde sie für eine ganze Weile zeichnen. Ihre Hände waren zerkratzt, ihre Fingernägel abgebrochen, und ihr 197
langes Haar sah aus wie ein zerzaustes Rattennest. Ihr Kinn bebte, und Tränen ließen ihren Blick verschwimmen. Ich hatte keine Lust, herumzusitzen, nichts zu tun und mich dabei selbst elend zu fühlen, also zog ich einen Kamm aus der Tasche und machte mich daran, Zenela die verfilzten Haare zu kämmen. Frue sang ein Waldlied, dessen Refrain eine sinnlose Litanei war, aber hübsch anzuhören. Zenela atmete allmählich leichter; die Leute ringsum schauten nach, was sie noch retten konnten, untersuchten ängstlich ihre Pferde und Maultiere und froren innerlich ebenso wie äußerlich. Frue stimmte ein neues Lied an. Unter den mir ansonsten unbekannten Waldwörtern fiel mir ein Name auf. »Ist das ein Lied über Viyenne?« Er nickte. »Kennst du es?« »Ich glaube, ich habe es vor langer Zeit gehört.« Wichtiger war, dass ich den Namen in einem der noch nicht übersetzten Waldlieder in dem Buch erkannt hatte. Es juckte mich, das Buch herauszuholen, doch ich wagte es nicht, das kostbare Stück inmitten des Schlamms und der Feuchtigkeit auszupacken. »Erzähl mir die Geschichte«, sagte ich. Frue lächelte. »Viyenne hatte ihren Liebhaber Seris verlassen, um eine Jahreszeit zu reisen und neue Lieder kennen zu lernen. Sie reiste eine Zeit lang mit Regere, dem Baumweber. Er war vernarrt in sie und wütend, als Viyenne beschloss, zu Seris zurückzukehren. Regere befahl den Weiden, sich zu einem Käfig zu verschlingen, um Viyenne bei sich zu behalten, doch ihre Tränen fielen in den Fluss, und dieser erhob sich, um die Barrieren hinwegzuspülen und sie zu befreien.« Frue schaute sich die 198
Verwüstung ringsum an. »Eine recht passende Geschichte.« Also hatte ich mich richtig erinnert. Ein Blick hinüber zum Flussufer zeigte mir, dass Usara noch immer stirnrunzelnd dort herumschlich und gestikulierte, als würde er mit sich selbst streiten. Sorgrad und ‘Gren hatten sich einer Gruppe angeschlossen, die versuchte, in die eingestürzte Hütte zu gelangen. Ich stand auf und machte einen Tee, um die Steifheit in meinem Rücken und meinen Beinen zu vertreiben; dann ging ich hinüber zu dem Zauberer. »Trink das«, befahl ich. »Aber ich muss ...« »Du musst dir Zeit nehmen, wieder zu Kräften zu kommen, sonst bist du keinem mehr von Nutzen«, sagte ich streng. Er seufzte und nippte am dampfenden Becher. »Danke.« »War das alles hier ein Zufall?«, fragte ich. Mir war kalt, ich fror und war müde – und ich wollte beruhigt werden. »Ich weiß es nicht.« Usara blickte finster auf das Wasser, das im fahlen Licht vorbeirauschte. »Ich kann es nicht genau sagen. Auf jeden Fall ist hier irgendetwas seltsam mit den Elementen, aber es könnte auch ein Zufall sein, ein Ergebnis besonderer Wetterverhältnisse, eine Nachwirkung des plötzlichen Wärmezaubers.« Er gähnte. »Wenn ich Zugang zu einer guten Bibliothek hätte, und ein oder zwei Lehrlinge, die Nachforschungen anstellen, und eine Woche Schlaf, müsste ich es dir sagen können.« Er brachte ein dünnes Lächeln zu Stande. »Theorie und Praxis erweisen sich als noch weiter voneinander getrennt, als ich es mir vorgestellt hatte. Ich muss mich bei Sorgrad entschuldigen.“ 199
Ich fragte mich, wie oft ein Zauberer einen Irrtum eingestanden hatte. »Besteht die Möglichkeit, dass diese Flut durch Zauberkunst heraufbeschworen wurde?«, fragte ich. Ich hatte versucht, eine weniger offensichtliche Formulierung zu finden, doch ich war müde, und Frues Erinnerung an Viyennes Geschichte hatte mich unruhiger gemacht, als ich sein wollte. In einer Stadt kann man sagen, woher Gefahren kommen können – aus Türen oder dunklen Hauseingängen, zum Beispiel. Hier draußen in der Wildnis konnten Gefahren von allen Seiten kommen und mit jeder Art von Magie; sie konnten unsichtbar und lautlos sein und einen ins Ohr beißen, ehe man es merkte. Usara schaute mich verblüfft an. »Ich habe keine Ahnung. Wie kommst du darauf, die Flut könnte heraufbeschworen worden sein?« »Eins der alten Lieder, das von einer Flut spricht, die aus dem Nichts kommt. Das war vielleicht Äthermagie.« Ich erkannte, dass es sehr unwahrscheinlich klang, noch während ich es aussprach. »Ich könnte Planir bitten, bei Guinalle nachzuforschen, wenn ich das nächste Mal mit ihm spreche«, sagte Usara, »aber ich glaube, du siehst Gespenster.« Vielleicht, und vielleicht enthielten die alten Geschichten über kleine blaugraue Männer, die die Dunkelheit von Kaminecken und Speichern nutzten, um in einem Augenblick von einem Ort zum anderen zu gelangen, ihre eigenen Hinweise auf alte Äthermagie. Ich rieb mir mit der Hand übers Gesicht und schauderte in der Kälte vor der Morgendämmerung. Ein Schrei erklang aus den Ruinen der Brückenwärter-Hütte, und als wir hinüberschauten, sahen wir Männer beiseite springen, als die Überreste des 200
Schornsteins mit einem dumpfen Aufprall umstürzten. Sorgrad und ‘Gren schüttelten die Köpfe. Ich ging, um ihnen einen Tee zu machen. »Das sind dann insgesamt sechs Tote für Poldrions Fähre«, sagte Sorgrad bitter. »Vielleicht gibt der Fährmann dem Brückenwärter eine freie Überfahrt, weil sie ja beide im gleichen Beruf tätig waren«, witzelte ‘Gren, doch er war nicht mit dem Herzen dabei. Ich reichte jedem sein Getränk. »Hätte ich auf dich gehört, hätten wir vielleicht mehr tun können, sie vom Ufer fernzuhalten«, sagte Usara mit aufrichtigem Bedauern. Sorgrad blickte ihn scharf an, das Gesicht grau vor Erschöpfung. »Das heißt noch lange nicht, dass sie uns geglaubt hätten. Jedenfalls ist das eine Rune, die nach beiden Seiten hätte fallen können. Sturzfluten sind nun mal so. Sie kommen unerwartet und erwischen jeden.« Plötzlicher Lärm vom Waldrand ließ uns alle aufblicken. Eine Hand voll Männer trat hervor, gekleidet in Leder und Pelze. Zwei hielten Kurzbögen schussbereit, und einer hatte eine Sammlung von Wurfmessern unter einem Schultergürtel stecken. Sie waren muskulös, mit schmalen Gesichtern, und alle kleiner als ich, aber genauso rothaarig. Ich fragte mich, wie lange sie uns schon beobachteten.
201
Im Keil und Hammer, Grynth 12. Nachfrühling
»Meinst du nicht, du hast genug?« Keisyls Stimme klang freundlich. Teiriol wurde rot, als er leicht benommen von seinem Becher aufschaute. Keisyl stand am Tisch, an dem der jüngere Mann bei klebrigem, verschüttetem Met und einer Schale Eintopf saß, die er noch nicht angerührt hatte. »Nein, finde ich nicht.« Teiriol sprach überdeutlich und blinzelte, während er sich darauf konzentrierte, den letzten Rest aus seiner Flasche in den Becher zu gießen. Er rieb sich mit zitternder Hand über das verschwitzte Gesicht; sein gelbes Haar stand ihm wirr vom Kopf ab. »Mutter wird so wütend sein, dass sie einen Eisenstab zerkaut und Nägel ausspuckt, wenn wir nach Hause kommen, also werde ich das Beste aus dieser Reise machen. Noch ein Met für mich!« Er winkte mit dem leeren Krug der Schankmaid. »Nicht, bevor du nicht etwas gegessen hast.« Keisyl wandte sich an der Serviermädchen, das an den Tisch gekommen war. »Brot und Fleisch, bitte.« Er reichte ihr die geleeartig gewordene Suppe. Teiriol blickte einen Augenblick streitlustig drein, doch der Trotz in seinen Augen verschwand hinter einer plötzlichen Gefühlsaufwallung. »Du weißt, was am besten ist, nicht wahr, Keis? Du passt auf uns alle auf. Ich hätte auf dich hören sollen, nicht? Nicht wie Jeirran ...» »Was ist mit Jeirran?« Keisyl setzte sich und schob unauffällig Teiriols Becher beiseite. 202
»Wo steckt er überhaupt?« Teiriols Kopf wackelte ein wenig, als er durch den Schankraum spähte. »Wo ist Eirys? Wir müssen auf sie aufpassen, Mutter sagte ...« »Jeirran hat sie zum Tanzen in die Markthalle ausgeführt«, sagte Keisyl. Teiriol schaute verwirrt auf das grobe braune Brot und das saftige Hammelfleisch, das die Schankmaid vor ihn hinstellte. »Iss, Teir«, sagte Keisyl. Sein Ton war beiläufig, doch seine Augen blickten wachsam. »Jeirran hat mir nie genau erzählt, was passiert ist, als ihr die Häute verkauft habt. Ihr seid losgezogen, um zu schauen, wo es Hahnenkämpfe gibt, nicht wahr? Mach dir keine Sorgen. Ich werde es Mutter nicht erzählen.« Teiriols Fluch wurde gedämpft, weil er den Mund voll hatte, und er hustete. »Weißt du, was er bekommen hat?«, fragte er, als er wieder sprechen konnte. Sein Gesicht war rot, und das nicht nur vom Husten. »Nicht mehr als zweimal so viel, wie wir von Degran bekommen hätten. Nach all seinen Versprechungen!« »Hat er auch hart genug verhandelt?«, fragte Keisyl. Leichte Verwirrung legte sich auf Teiriols Gesicht. »Hatte gar keine Gelegenheit zu handeln. Dieser Huckus sagte, entweder wir akzeptieren dem Preis, oder er sorgt dafür, dass diese Hure der Stadtwache ein paar Dinge erzählt... dass wir es waren, die ihre Kameraden windelweich geprügelt haben.« Er klang verwirrt und betrübt. »Jeirran hat dich in einen Kampf mit Tiefländern hineingezogen?« Keisyls Knöchel traten weiß hervor, als er den Griff seines Messers umklammerte. »Er sagte, es gehörte dazu, mit diesem Huckus 203
Geschäfte zu machen.« Teiriol konnte seinem Bruder nicht in die Augen sehen und scharrte mit den Stiefeln in dem mit Kräutern versetzten Stroh auf dem Fußboden. »Na schön, es war ein abgekartetes Spiel«, fuhr er empört fort. »Diese Hure arbeitete für diesen Huckus, darauf wette ich! Muss nach diesen Wachmännern Ausschau gehalten haben, bis zum Bauch aufgeschnürt und die Beine so nackt wie ein abgezogenes Kaninchen ...« Keisyl schüttelte den Kopf. »Vergiss die Hure, die spielt keine Rolle. Und sprich leise, wir wollen nicht, dass jeder uns zuhört. Du willst mir also sagen, dass Jeirran übertölpelt wurde?« Teiriol schaute sich nach seinem Becher um. »Dieser Huckus kommt mit einem Beutel voll Geld und fünf Schlägern, breit wie Kleiderschränke, mit genagelten Stiefeln und Keulen. Jeirran fängt an, Lärm zu schlagen, als sie die Felle auf einen Wagen packen, doch Huckus droht, auf der Stelle die Stadtwache zu holen.« Seine Zunge stolperte unter der doppelten Last von Empörung und Alkohol. »Wir hätten die Felle ebenso gut in Bytarne verkaufen können, wie du gesagt hast. Ich darf gar nicht daran denken, dass Mutter beide Hälften des Winters damit verbringt, sie zu gerben und zu pflegen. Was denkt Eirys bloß ...« »Genug«, sagte Keisyl. Die Tür ging auf, und eine fröhliche Gruppe kam herein, gefolgt vom leisen Klingen der Uhr am Turm der Markthalle. Die Männer waren stolz in ihren neuen Hüten, deren Federn noch straff und farbenfroh waren. Die Damen hatten ihre Alltagsgewänder aus blauer und roter Wolle mit neuen Seidenbändern aufgefrischt, was ihnen einen festlichen Anstrich verlieh. Ein dunkelhaariges Mädchen glättete sorgfältig die langen Fransen an einem 204
schönen Schal aus weichem Ziegenhaar, bestickt mit Bergblumen. »Hast du so einen nicht für Theilyn gekauft?« Teiriol spähte angestrengt hinüber. Keisyl sah ihn abschätzend an. »Mehr Met, eine ganze Flasche«, rief er dem Kellner zu, der die Achseln zuckte und sich zum Fass drehte, das auf der Theke hinter ihm stand. Keisyl nahm kaum einen halben Becher für sich selbst, füllte jedoch Teiriols Becher bis zum Rand. Breit grinsend leerte Teiriol ihn fast in einem Zug, ehe er wieder Luft holte. Er runzelte die Stirn, und eine beängstigende graue Farbe verdränge die Röte von seinem Gesicht. »Ich fühle mich nicht gut ...« Er schluckte setzte den Becher rasch ab. »Ich glaube, ich brauche frische Luft.« Ein Schweißausbruch ließ seine Stirn glänzen. »Komm.« Keisyl packte seinen Bruder unterm Arm, und sie machten sich auf den Weg zur Tür, aufmerksam beobachtet vom Kellner. Auf halbem Weg gaben Teiriols Beine nach, und er presste die Hände auf den Bauch und knirschte mit den Zähnen. »Beweg dich!« Keisyl legte einen Arm um Teiriols Taille. Halb zog er ihn, halb trug er ihn hinaus und ließ Teirol auf der schmalen, ungepflasterten Straße zu Boden fallen. Teiriol übergab sich krampfhaft, erbrach Fleisch, Met und Brot in einem ekligen Schwall. Keisyl verzog voll Abscheu das Gesicht. Dann hob er Teiriol auf und führte ihn langsam zum Stadtbrunnen. »Setz dich einen Moment hier hin, mein Junge.« Teiriol ließ sich gehorsam auf die kalten Steinstufen sinken. Rasch wand Keisyl den Eimer hoch und goss das eisige Wasser über Teiriols Kopf; dann wiederholte er das Ganze trotz Teiriols schwacher 205
Proteste, ehe er sein Taschentuch nahm, um seinem zitternden Bruder das Gesicht abzuwischen. »Ich bin klatschnass«, beschwerte sich Teiriol mit klappernden Zähnen, aschgrau im erbarmungslosen Licht der beiden Monde am Himmel. »Trink.« Teiriol ließ Wasser in seine hohlen Hände rinnen. Er sah jämmerlich aus, und sein Kinn bebte. »Wenn du trinken willst, bis du dich übergeben musst, dann tu’s. Ich werde es Mutter nicht sagen«, erklärte Keisyl. »Aber du wirst nicht in einem Bett mit mir schlafen, solange du zum Himmel stinkst wie ein Misthaufen.« Teiriol saß stumm da, nass und kläglich. »Du musst schlafen, mein Junge«, sagte Keisyl und half Teiriol über die Straße zu der Herberge mit dem niedrigen Dach, in der sie wohnten. Der finster aussehende Türhüter öffnete auf Keisyls Klopfen, in der Hand eine blakende Talgkerze. »Ist er betrunken? Ich lasse nicht zu, dass er in mein Bett kotzt – er kann seinen Rausch bei den Hunden ausschlafen.« »Wir haben das Zimmer gemietet, und wir werden auch darin schlafen«, sagte Keisyl mit drohendem Unterton. »Und was ist mit den Gästen, die nach euch kommen? Ihr geht nach den Feiertagen zurück in die Berge, aber es gibt ja noch andere als euch!«, klagte der Türhüter. Keisyl beachtete ihn nicht, lehnte Teiriol gegen die Wand und entriegelte die Tür zu ihrem Schlafzimmer. »Komm.« Teiriol schlurfte voran und brach auf der Pritsche zusammen. Er stöhnte auf, als Keisyl ihm die Stiefel abstreifte und den nassen Umhang und das Hemd 206
auszog. »Du Dummkopf.« Er öffnete den Kragen und schnürte die Hosen auf; dann rollte er seinen inzwischen reglosen Bruder auf den Bauch und deckte ihn zu. »Und jetzt zu dir, Jeirran«, murmelte er und verließ die Herberge. Die Markthalle wurde im Innern von Kerzen, draußen von Kohlenbecken hell erleuchtet. Gruppen von Männern, die sich vom Tanzen ausruhten, teilten Kaublätter, und einer röstete Nüsse in einer Pfanne über glühenden Kohlen. Keisyl blickte durch die offene Tür in die Halle, auf der Suche nach Jeirran und Eirys, die er in einer Gruppe sah, die sich soeben zu einem Rundtanz formierte. Ihre Augen strahlten vor Freude, ihre Wangen waren leicht gerötet. Ihr Kleid aus besticktem Leinen war das einzige nach Art der Berge im Saal. Züchtig hochgeschlossen und langärmelig, war es ihr auf die Figur geschnitten und zog die neidischen Blicke einheimischer Schöner auf sich. Dazu trug Eirys ein Halsband aus geflochtenen Goldkettchen; die Ringe an jedem Finger fingen das Licht mit ihren tiefen Gravuren, und ein zartes Netz mit Kristalltropfen glitzerte auf ihrem blonden Haar. Der Schmuck, den Jeirran ihr geschenkt hatte, um seinen Schwur zu bekräftigen, sie zu heiraten, macht etwas her, dachte Keisyl. Doch seitdem hatte er ihr kaum etwas geschenkt. Am Rand des Tanzbodens schwatzten die Matronen der Stadt bei Kräutertee und verdünntem Wein. Eine warf einen neugierigen Blick auf Keisyl, als er an ihnen vorbeiging. »Wer ist denn dieser junge Mann?“ 207
Ihre Freundin spähte kurzsichtig hinter ihm her, schüttelte jedoch den Kopf. »Bloß so ein Hochländer auf der Durchreise.« Die Frauen wandten sich wieder interessanteren Themen zu. Keisyl blieb einen Augenblick stehen und betrachtete die vier Musiker, die am Schrein Larasions saßen. Die Statue der Göttin war mit rosa und weißen Blüten übersät und blickte mit ihren starren Marmoraugen auf einen rot gesichtigen Mann, der die Wangen aufblies, als er die Melodie auf einer Doppelflöte vorgab. Seine Kameraden, dem Äußeren nach alles Brüder, begleiteten die Melodie mit einer Bogenleier und einer Zimbel, während die Trommeln den Rhythmus schlugen. »Solltest du nicht mit deiner Frau tanzen?« Keisyl nahm sich ohne Umschweife einen Stuhl. Jeirran saß neben einem Wandschirm, der die Zugluft von einer Hintertür abhalten sollte; seine Augen waren blicklos, als wäre er tief in Gedanken versunken. »Wie?« Was immer Jeirran dachte, es zauberte ein Lächeln auf sein Gesicht. Als einer der am besten aussehenden Männer im Saal, zog er die Blicke jener Mädchen auf sich, die zur Zeit vergeblich auf einen Tanzpartner hofften. »Ich sagte, solltest du nicht mit deiner Frau tanzen«, wiederholte Keisyl mit einem Nachdruck, dass es fast schon eine Herausforderung war. Jeirran schaute Eirys mit Besitzerstolz an. »Nein, auf dem Tanzboden ist sie gut aufgehoben, und sie wird kaum mit einem von diesen Schmutzstiefeln nach draußen gehen. Oder glaubst du, dass einer von denen auch nur daran denkt, ohne zu befürchten, dass ich ihm die Knochen breche?« Er blickte in Keisyls ernstes Gesicht. »Was machst du eigentlich 208
hier? Du findest doch genauso wenig Spaß daran wie ich, herumzuhüpfen wie eine junge Ziege.« Er lächelte Eirys liebevoll zu, als die Mädchen zu einem raschen Wechsel der Partner vorbeiwirbelten. »Hast du Teiriol das Geld gegeben, dass er sich betrinken kann?« Keisyl blickte Jeirran scharf an, doch der zuckte die Achseln. »Teiriol ist erwachsen und kann tun und lassen, was er will.« »Es dauert noch fünf Jahre, bis er volljährig ist, wie du sehr gut weißt. Du bist mit seiner Schwester verheiratet und genauso für ihn verantwortlich wie ich«, erklärte Keisyl. Jeirran schaute sich mit den ersten Anzeichen von Besorgnis um. »Was hat er getan?« Keisyls Augen wirkten in der schattigen Ecke mitternachtsblau. »Er hat mir von dem wunderbaren Geschäft erzählt, das du in Selerima gemacht hast, zum Beispiel.« »Geschäft? Das war kaum mehr als Raub«, schnaubte Jeirran. »Ein Nest voller Diebe, wie alle Tiefländer, und Teiriol hat mich hineingezogen. Du hast Recht, er ist noch lange nicht erwachsen.« Keisyl sah ihn finster an. »Er sagt, du hast einen beschissenen Preis gekriegt«, beharrte er grimmig. Jeirrans Miene wurde streitlustig. »Ich habe den besten Preis bekommen, den ich kriegen konnte, und ich werde jeden zusammenschlagen, der etwas anderes behauptet.« Er fuhr sich unbewusst mit der Hand über den Bart. »Jedenfalls, geschehen ist geschehen. Hunde, die den Mond anbellen, verhindern nicht, dass er untergeht.« »Du kommst mir hier mit solchen Weisheiten? Nachdem all deine Versprechungen, uns reich zu machen, nichts als Staub und Asche sind?«, gab 209
Keisyl zurück. »Wir können uns auch im Tal zu Hause von Tiefländern betrügen lassen, da hätten wir nicht hierher gemusst. Und du hast mehr Verluste gemacht, als wir wettmachen können! Woher soll das Gold kommen, um dein Erbe zu ersetzen? Was soll Eirys zur Sonnwendfeier unter ihrem Herdstein finden?« Er sprach leise zum Klang der fröhlichen Musik, doch der Zorn in seinen Worten zog trotzdem neugierige Blicke auf sich. Jeirran verschränkte voll Genugtuung die Arme über der mächtigen Brust. »Eirys wird mehr in ihre Truhe bekommen als schmutziges Tiefländer-Geld. Lass uns diesen stinkenden Harquas und seine Straßenköter vergessen.« Er zog die Füße zurück, als ein Tanzpaar seinen Platz verließ. »Wovon redest du?« Keisyls Zorn wich Verblüffung. »Würdest du gern ein Mittel finden, diese Tiefländer ein für alle Mal auf ihre Plätze zu verweisen? Brauchen wir nicht eine Möglichkeit, um wiederzuerlangen, was rechtmäßig uns gehört?« Jeirran spreizte die Arme hinter dem Kopf und grinste Keisyl breit an, ehe er sie wieder vor der Brust verschränkte. »Du bist ja noch betrunkener als Teiriol«, sagte Keisyl. Er griff nach dem grünen Glaskelch, der vor Jeirran stand, und schnüffelte am Inhalt. »Von Mandelmilch werde ich nicht betrunken«, höhnte Jeirran. Keisyl warf ihm einen prüfenden Blick zu. »Dann erklär mir, was du meinst.« Jeirrans Wunsch, seine Entdeckung mitzuteilen, überwog die Versuchung, sie noch eine Weile für sich zu behalten. »Siehst du diese Musiker da drüben? Sie kommen gerade aus Selerima.“ 210
»Und?« Keisyl warf kaum einen Blick auf die Musikanten, die fröhlich eine neue Weise anstimmten. »Und sie haben ein neues Lied. Der Trommler hat es vorhin gesungen.« Keisyl seufzte. »Komm zu Sache, oder ich gehe und kümmere mich um Teiriol.« »Sie sangen eine Ballade über Tormalin-Männer, die über den Ozean segeln, zu unbekannten Ländern, und die dort ein mächtiges Volk finden. Mit seiner Magie kann dieses Volk das Meer überqueren und die Tormaliner in ihrer eigenen Heimat angreifen.« Keisyl zuckte die Achseln. »Die Tiefländer haben ihre Zauberer ins Meer getrieben, oder? Und jetzt sind sie eben zurückgekommen, um zu kämpfen.« Jeirran sah selbstgefällig drein. »Dem Sänger zufolge nennt sich dieses Volk Elietimm.« »Sollte ich den Namen kennen?« Keisyl runzelte die Stirn. »Klingt irgendwie vertraut ...« »Alyatimm?«, schlug Jeirran vor. Keisyl klappte der Mund in plötzlicher Überraschung auf. »Aber das ist bloß eine Geschichte, die man an langen Winterabenden am Kamin erzählt.« »Und wenn doch nicht?«, fragte Jeirran. »Was ist, wenn dieses Volk, was immer sie sind, von jenem Blut geboren ist?« Die beiden Männer verfielen in Schweigen, als die Musik anschwoll und die Tänzer an ihnen vorbeiwirbelten. »Glaubst du, das könnte wirklich so sein?«, grübelte Keisyl laut über diese erstaunliche Frage nach. Seine Feindseligkeit war vergessen. »Diese Ballade spricht von hellhaarigen Männern«, berichtete Jeirran. 211
»Dann sind wir mal wieder die Schurken in dem Stück«, sagte Keisyl langsam. »Das ist ja nichts Neues. In der Geschichte der Tiefländer kommen immer wieder gelbhaarige Räuber vor, die Großmutters Hühnerhof überfallen.« »Bei den Bauern hierzulande, das stimmt.« Jeirran nickte. »Aber warum sollte ein Lied aus dem Osten so etwas berichten? Die Balladen, die wir in Selerima hörten, warnten vor barfüßigen Barbaren mit dunkler Haut und dunklen Augen, die weit aus dem Süden kommen, um zu rauben.« Keisyl kaute verwirrt an seiner Lippe. »Glaubst du denn, es könnten wirklich Alyatimm sein?« »Das Lied sprach von Männern aus dem Eis«, erzählte Jeirran. »Das kann doch kein Zufall sein, oder?« »Nein«, sagte Keisyl leise. »Ich glaube nicht.« Er schaute Jeirran an. »Und was bedeutet das für uns, abgesehen davon, dass es aus einer Sage Geschichte macht? Und warum sollten wir überhaupt die Alyatimm finden wollen? Sie wurden verstoßen, weil ihr Anführer versuchte, sich zum alleinigen Herrscher über alle Soken zu machen!« »Diese Leute verfügen über Magie«, sagte Jeirran mit glänzenden Augen. »Sie haben genug Magie, um übers Meer zu kommen und ungesehen unter den Tiefländern zu reisen. Wenn dieses Lied wirklich etwas beweist, haben die Tiefländer eine Heidenangst vor diesen Elietimm. Denk darüber nach, Keisyl. Falls es Alyatimm sind, muss es sich um wahre Magie handeln, nicht um die Abartigkeiten der Tiefland-Magier. Echte Macht, die ihre Wurzeln in den alten Bergen hat und nicht von Sheltya in Sonnwend-Mysterien verschlossen ist. Falls es Alyatimm sind, haben wir gemeinsames Blut, auch 212
wenn sich unsere Wege vor zahllosen Generationen getrennt haben. Was, wenn wir uns auf unsere Verwandtschaft berufen und sie um Hilfe bitten? Denk an die Geschichten, die du am Kamin bei einer sonnenlosen Sonnwendfeier gehört hast. Was, wenn die Lindwurme von Ceider wieder beschworen werden könnte? Das würde die Tiefländer schneller aus unseren Minen vertreiben als ein Schlagwetter!« »Aber das sind doch nur Geschichten, Jeirran«, wandte Keisyl ein, doch in seiner Stimme lag Unsicherheit. »Wirklich?«, entgegnete Jeirran. »Die Alyatimm sind auch nur eine Geschichte, so hat man uns jedenfalls immer erzählt, aber woher sollten Tiefländer etwas von ihnen wissen, wenn nicht ein Körnchen Wahrheit daran wäre?« Keisyl war verwirrt. »Es ist nur ein Lied, Jeirran. Ein Balladensänger denkt sich eine Geschichte aus, mit der er die Tiefländer erschreckt. Was erzählt dieses Lied denn weiter?« »Die Tormalin-Männer fuhren zu diesen Inseln, um eine Geisel zurückzuholen, doch diese Geisel wurde hingerichtet. Die anderen wurden als überführte Schurken verfolgt, stahlen jedoch ein Boot und wurden zu Hause angespült.« Keisyl schüttelte den Kopf. »Es ist nur ein Lied, Jeirran. Eine Abenteuergeschichte, die aus Teilen alter Sagen gestrickt ist. Irgendein Ostländer, der in die Ferne geheiratet hat, hat die Legende an seine Tiefländer-Frau und ihre Halbblut-Kinder weitergegeben. Mehr kann dahinter nicht stecken.« »Welche Legende?«, wollte Jeirran hartnäckig wissen. »Sag mir, aus was dieses Lied zusammengestückelt ist. Wie können Ostländer sich so eine 213
Geschichte ausdenken, wo sie sich doch so weit von den alten Wegen entfernt haben? Sie können kaum drei Grade ihrer Verwandtschaft aufzählen!« »Ach, ich weiß nicht«, lenkte Keisyl ein. »Na schön, aber was haben wir davon, selbst wenn ein Funken Wahrheit darin steckt? Diese Leute hätten vielleicht die Macht, Varangel und seine Eisdämonen zu erwecken, aber allein die Reise zum Meer dauert schon ein halbes Jahr, und du sagst, diese Menschen wohnen auf der anderen Seite des Meeres!« Jeirran beugte sich vor und sprach leise weiter. »Falls sie über wahre Magie verfügen, müssten Sheltya sie erreichen können.« Keisyl fuhr zusammen, als hätte ihn etwas gestochen. »Das kann doch nicht dein Ernst sein!« »Warum nicht?«, fragte Jeirran kühn. »Meinst du nicht, Sheltya sollten davon erfahren?« »Wenn dieses Lied die Runde macht, werden sie noch früh genug davon erfahren und brauchen es nicht von mir zu hören«, sagte Keisyl bestürzt. »Auf diese Art von Ärger kann ich verzichten.« »Ich will aber diese Art von Macht. Alyatimm besitzen wahre Magie und sind bereit, sie zu teilen«, sagte Jeirran grimmig. »Ich möchte über Eirys’ Land gehen, ohne dauernd in die Falle eines Diebes zu tappen. Ich will das Metall, das ich im Schweiße meines Angesichtes aus der Erde gewinne, zu einem anständigen Preis verkaufen, und nicht von irgendeinem Tiefländer unterboten werden, dessen Mine mit dem Blut von Sklaven betrieben wird. Ich will von einer Soke zur andern wandern und überall um Unterkunft bitten können, ohne vor verriegelten Türen zu stehen, weil die Tiefland-Räuber den Waffenfrieden der Straße so oft gebrochen haben, dass er nichts mehr wert ist.“ 214
»Du weißt doch gar nicht, ob diese Leute über wahre Magie verfügen, selbst wenn sie denn wirklich existieren.« »Willst du es denn nicht herausfinden?«, fragte Jeirran. »Vielleicht ... jetzt, wo du es mir in den Kopf gesetzt hast mit deinen Fantasien«, seufzte Keisyl. »Aber nicht um den Preis, mich von den Sheltya verstoßen zu lassen.« »Ich glaube, ich weiß jemanden, dem wir trauen können«, sagte Jeirran. »Meine Schwester.« »Du hast keine Schwester.« Keisyl sah ihn scharf an. »Sie ist jetzt eine Sheltya. Ihr Blut gehört ihnen, und du hast keinen Anspruch darauf.« Jeirran fuhr sich nachdenklich mit den Fingern durch den Bart. »Ich glaube, ich könnte Aritane überreden, das für sich zu behalten.« »Das sollte sie auch, sonst steckst du bis zum Hals im Schlamassel«, sagte Keisyl zweifelnd. »Was wird sie selbst dazu sagen? Was meinst du?« »Ich habe keine Ahnung«, gestand Jeirran. »Ich werde sie ausforschen. Mal sehen, ob sie mir zuhören will.« »Uns hältst du da raus«, beharrte Keisyl. »Wenn du als Ausgestoßener endest, können wenigstens wir uns um Eirys kümmern.« »Eirys ist einer der Gründe dafür, dass ich das alles überhaupt tun will.« Jeirrans Augen brannten. »Ich will ihr alles geben, was sie möchte. Ich will ihren Töchtern genug Ansehen verschaffen, dass sie jedes Recht auf das Land zurückfordern können, das an andere von ihrem Blut gefallen ist. Ich will Söhne mit einem Erbe ausstatten, das das Auge jeder Mutter erfreut, um unser Blut, deins und meins, mit jeder Soke westlich der Schlucht zu ver215
binden, sodass wir nie wieder mit Tiefländern zu tun haben müssen, wenn wir es nicht wollen.« Seine Stimme wurde berechnend. »Und natürlich, du und Teir werdet als Erste davon profitieren. Angenommen, euer Vater stirbt, bevor er euch ein respektables Erbe hinterlassen kann, dann wird niemand etwas dagegen sagen, wenn Eirys beschließt, euch etwas zu schenken. Ihr könntet bei der Sonnwendfeier selbstbewusst auftreten, nicht wie beim letzten Mal.« »Wenn du diese Sache weiter verfolgen willst, werde ich dich nicht aufhalten«, sagte Keisyl. »Ich werde keinem davon erzählen, und du darfst es auch nicht, vor allem nicht Eirys. Wenn irgendetwas dabei herauskommt, ob gut oder schlecht, ist immer noch Zeit genug für Erklärungen.« »In Ordnung.« Jeirran streckte die Hand aus, und Keisyl schüttelte sie. »Sobald wir zu Hause sind, schicke ich meiner ehemaligen Schwester eine Nachricht.« »Sie wird nicht kommen«, prophezeite Keisyl. »Das werden wir sehen«, erwiderte Jeirran. Eirys kam zu ihnen. »Mein Liebes, du strahlst wie ein Schwan unter all diesen Waldtauben«, sage Jeirran, erhob sich und hauchte ihr einen Kuss auf die Wange. Eirys kicherte. »Willst du jetzt mit mir tanzen?« »Aber natürlich, Teuerste.« Jeirran bot ihr seinen Arm. »Um diese Tiefländer daran zu erinnern, dass du meine Frau bist, ehe sie alle ihr Herz an deine Schönheit verlieren.« Keisyl schaute mit einem leicht spöttischen Lächeln zu, wie sie sich in den Kreis einreihten. Sein Gesicht wurde für einen Moment ernst, doch dann rieb er sich die Hände in einem entschlosse216
nen Ausbruch von Energie und stand auf. Er durchquerte den Saal, verbeugte sich tief vor einem der aufreizend gekleideten Mädchen und schaute das hübsche braunhaarige Ding von oben bis unten mit einer Bewunderung an, in die sich eine Spur Frechheit mischte. Das Mädchen zögerte, doch als sie den Neid ihrer zurückhaltender gekleideten Freundinnen sah, konnte sie nicht widerstehen. »Sehr gern, mein Herr«, sagte sie. Die Musiker stimmten einen fröhlichen Tanz an, und Keisyl schwenkte das Mädchen herum, seine breite Hand fest um ihre schmale Taille gelegt.
217
Erdigs Brücke, Große West-Straße 13. Nachfrühling
»Braucht ihr Hilfe?« Der Mann mit den Wurfmessern trat vor. Der Kupferton seines Haares war zu einem Mittelbraun verblasst, und seinem wettergegerbten Gesicht nach zu urteilen, schätzte ich ihn ungefähr auf Ryshads Alter, eine Hand voll Jahre älter als mich selbst. Frue redete kurz in der Waldsprache mit ihm, während auf den Gesichtern der anderem Reisenden eine Mischung aus Hoffnung und Furcht zu sehen war. Der Messermann sprach mit seinen Gefährten. Zwei von ihnen verschwanden wieder zwischen den Bäumen, doch die beiden anderen gingen, um den Zustand des Flusses zu begutachten. »Was haben sie vor, Frue?« Ich lächelte den Messermann höflich an, der mir ein Grinsen schenkte. »Sie wollen den Leuten helfen, über den Fluss zu kommen«, erwiderte Frue, stand auf und versuchte vergeblich, den getrockneten Schlamm von seiner Hose zu klopfen. »Was ist mit Zenela?«, fragte ich. »Bringen wir sie nach Burg Pastamar oder zurück nach Medeshale?« Frue nickte zum Waldrand hin. Eine Waldfrau, ungefähr in meinem Alter und mit einem Hirschlederbeutel auf dem Rücken, kam mit einem der Bogenschützen herbei. Sie kniete neben dem Mann mit den gebrochenen Beinen nieder und legte behutsam die Wunden frei. Ihre Miene blieb un218
gerührt, auch als das schrecklich zerschundene Fleisch enthüllt war. Sie nahm einen kleinen Tontopf aus ihrem Beutel, der verkorkt und mit Wachs versiegelt war, erbrach das Siegel mit dem Daumennagel und strich eine Salbe auf ein Stück sauberes Leinen, wobei sie nickte, als der Verletzte etwas zu ihr sagte. »Was tun wir jetzt?« Sorgrad stocherte mit einem Stück Holz in der Asche unseres Feuers und setzte den Kessel aufs Dreibein, während ‘Gren in einem unbeachteten Gepäckstück wühlte und einen in Tuch gewickelten Schinken daraus hervorholte. Er schnitt ein Stück ab und reichte es mir, und ich kaute hungrig, trotz des modrigen Geschmacks nach Flusswasser. Sorgrad grub sein persönliches Teekästchen aus den Tiefen eines Koffers hervor und prüfte, ob die kleinen Gläser noch immer dicht gegen Feuchtigkeit und Luft verschlossen waren. »Sollten wir unsere Hilfe anbieten? Dann finden wir vielleicht heraus, was hier vor sich geht.« »Wir wollen sehen, wie die Runen fallen.« Ich beobachtete die anderen im Lager, die unsere unerwarteten Besucher offenen Mundes anstarrten. Die Fuhrleute und die Familien hießen die Neuankömmlinge bereitwillig willkommen, doch die Hausierer und Händler waren vorsichtig. Eine resolute Matrone brachte einen der Waldleute sogar dazu, seinen Bogen beiseite zu legen und Feuerholz zu sammeln. Die Waldfrau mit dem Hirschlederbeutel ging zu ihr, um mit ihr zu sprechen, und die Matrone schickte ein Mädchen, um dem Verletzten die Wunden zu verbinden. Die anderen Reisenden entspannten sich zusehends. Das Wasser war kaum heiß genug, dass Sorgrad Tee machen konnte, als so viele Waldleute erschie219
nen waren, dass ich mich fragte, wie nah sie wohl gewesen waren. Jedenfalls nahm ich an, dass es Waldleute waren, sie waren sich nicht auffallend ähnlich, jedenfalls nicht so wie Sorgrad und ‘Gren, die ganz offenkundig gemeinsames Blut aufwiesen. Es waren alles erwachsene Frauen und Männer, keine Kinder oder alten Leute, die mit einer Ungezwungenheit zusammenarbeiteten, die auf lange Vertrautheit schließen ließ. Eine Frau mit einer beeindruckenden Sammlung von Ringen, Ohrringen und goldenen und silbernen Halsketten wickelte ein dünnes Seil von ihrer Taille. »Das ist nicht fest genug, um irgendwas zu halten«, meinte ‘Gren zweifelnd und musterte das Seil mit geübtem Auge. »Sieh mal da rüber«, nickte Sorgrad und goss kochendes Wasser auf Kräuter in einem Mullsäckchen. Drei weitere hatten Seile bereit und schlangen sie geschickt zu einem dickeren Tau umeinander. Anschließend knoteten sie das Tau fest an ein ähnlich langes, das drei andere Leute geflochten hatten und warteten darauf, mit einem dritten Stück ein noch dickeres Seil zu flechten. Als ich einen Pfiff hörte, drehte ich den Kopf und sah Waldleute, die auf dem anderen Flussufer eine Eiche erklommen. Einer trat vor und klatschte in die Hände, und der größere von unseren ersten beiden Bogenschützen schoss einen Pfeil mit einem dünnen Seil daran ab. Der Pfeil bohrte sich vor die Füße des Mannes, der am anderen Ufer wartete, in den Boden. »Der hat gute Nerven«, murmelte ‘Gren anerkennend. Er rümpfte die Nase über ein vergammeltes Stück Brot und warf es weg. »Meinst du den Schützen oder den, der gewartet 220
hat?«, fragte ich und zupfte eine zähe Fleischfaser zwischen den Zähnen heraus. An dem Seil wurde ein schwereres Tau ans andere Ufer gezogen; der Fluss strömte in schlammigen Wirbeln darunter hinweg. Dann wurden zwei weitere Taue an dem ersten befestigt, eins in Handhöhe, das andere in Brusthöhe, und die Waldleuten überquerten den Fluss so sicher, als gingen sie über eine meterbreite Brücke. »Wie soll das Mädel vom Sänger das schaffen?«, fragte ‘Gren mit hochgezogener Braue. Ich sah mich nach Frue um. Er sprach mit dem Mädchen mit dem Hirschlederbeutel, während sie eine silberberingte Hand auf Zenelas Stirn legte. »Ich wette, er würde sich über einen Tee freuen, der ihn aufmuntert. Hast du Ringelblumensamen?« Sorgrad kam mit einem wenig appetitlichen Becher, auf dem dumpfgrüner Schaum schwamm. »Ich selbst nehme einen Schluck Wein, mit ein bisschen heißem Wasser und Honig«, setzte ich hoffnungsvoll hinzu. »Wie altmodisch.« Sorgrad schüttelte den Kopf. »Jedermann trinkt heutzutage Kräutertees.« Aber er machte kehrt, um eine Reihe von Flaschen zu untersuchen, die ein Kaufmann sorgfältig beiseite gelegt hatte. Ich durchquerte das geschäftige Lager und achtete darauf, nicht auszurutschen. Der Schlamm trocknete allmählich, doch die Nässe darunter war tückisch. Ich verlor fast das Gleichgewicht, als hinter mir ein hitziger Streit ausbrach. Die drei, die wir für Räuber hielten, standen sich Nase an Nase gegenüber. Zwei schubsten den dritten Mann weg und unterstrichen ihre drohenden Worte durch Gesten. »Worüber streiten sie?«, fragte ich einen Hausierer. 221
»Sie haben gerade ihren Kameraden gefunden«, erklärte er ernst. »Mit durchgeschnittener Kehle.« Ich schüttelte den Kopf und ging weiter. ‘Gren gegenüber ein Messer zu ziehen ist meistens der letzte Fehler, den einer macht. Ich schaute mich unter den verbliebenen Reisenden um. Die Kaufleute und Fuhrmänner waren damit beschäftigt, ihre Fahrzeuge und Tiere fertig zu machen, doch der Rest starrte voller Unbehagen auf die Seilbrücke und schüttelte nur langsam den Schock über die Flut ab. Frue sprach mit einem Waldmann, in einer Geschwindigkeit und mit einem Akzent, der meine kümmerlichen Kenntnisse der Sprache überforderte. Die grünen Augen des jungen Mannes blickten ein paar Mal in meine Richtung, freundlich und mit einem Anflug von Bewunderung. Er sah gut aus, hoch gewachsen und mit breiten Schultern. Sein Gesicht war sommersprossig, und sein Haar schimmerte wie poliertes Kupfer. Er trug ein Halsband aus Weiß- und Rotgold. Ich merkte, dass die Frau mit dem Hirschlederbeutel mich mit einer Belustigung betrachtete, die mir nicht gefiel. Sie hatte ungefähr meine Größe und Gestalt, sah aber aus, als könne sie ein wenig mehr Fleisch auf den Rippen vertragen. Kluge Augen unter schweren dunklen Brauen und mittelbraunem Haar musterten mich. Der Junge stellte ihr eine Frage, und ich war dankbar, dass ich ihre Antwort verstehen konnte, die langsam und mit einem deutlich anderen Akzent gesprochen wurde. »Sie braucht Ruhe und sorgfältige Pflege, wenn sie nicht an der Lungenfäulnis zugrunde gehen soll. Je mehr sie sich bewegt, desto schwächer wird sie.« Zenelas Gesicht hatte eine ungesunde Farbe im 222
zunehmenden Tageslicht. Sie versuchte, einen leisen, andauernden Husten zu unterdrücken. Ihre verquollenen Augen waren groß und ängstlich, als sie von Frue zu der Frau sah, unfähig, dem Gespräch zu folgen. »Wo ist der nächste Ort, an dem wir Pflege für Zenela bekommen?« Ich fragte mich, ob wir uns wohl von dem Sänger trennen mussten. »Orial wird sie pflegen. Ich bin vom Blute, und diejenigen unter meinem Schutz werden ebenso behandelt. Ich gehe und bereite alles vor.« Die Frau stand auf und wischte sich den Schmutz von den Lederhosen. »In der Zwischenzeit weiche das hier gründlich in abgekochtem Wasser ein. Sie soll es heiß trinken.« Sie entfaltete ein kleines, in öltuch gewickeltes Päckchen und reichte Frue eine Hand voll getrockneter Blumen, nichts Geheimnisvolleres als Schlüsselblumen. Ich erinnerte mich gut an den bitteren Geschmack von den Erkältungen meiner Kindheit her. Ich reichte Frue den lauwarmen Tee. »Können wir noch für einen Tag bei euch bleiben? Wir könnten eine Ruhepause gebrauchen, ehe wir weiterziehen.« »Du bist vom Blute, du wirst schon willkommen sein.« Frue schaute mich an. »Kannst du dir deine Fragen über alte Lieder für später aufheben? Je eher diese Fremden über den Fluss sind, desto eher können wir Zenela an einen geschützten Ort bringen.« »Natürlich.« Ich lächelte Zenela aufmunternd an und ging zu Usara hinüber. »Was ist mit den Pferden und den Waren?« Ein Fuhrmann mit Stirnglatze sah zweifelnd zu den Waldleuten hoch, die dünne Seile um die Taue der Brücke wanden, die als Seitenteilen dienen sollten. »Wir können sie doch nicht da rüber tragen!“ 223
»Wir sollten es an der Furt versuchen«, erwiderte Usara. »Die Brückenpfeiler werden verhindert haben, dass das Flussbett allzu sehr zerstört wurde.« »Ich schneide einen Pfahl«, murmelte der Fuhrmann ohne rechte Überzeugung und ging davon. Ich schaute nachdrücklich auf Usaras noch feuchte und schmutzige Ärmel. »Und wie ist die Furt?« »Fuhrwerke kommen durch, wenn sie es langsam angehen und ein zusätzliches Paar Pferde anschirren.« Usara stieß einen Seufzer aus. »Jedenfalls ist das, was gestern hier vor sich gegangen ist, abgeklungen, und daher kämpft das Wasser nicht gegen mich.« »Verausgabe dich nicht zu sehr«, warnte ich. Er lächelte dünn. Sein Blick fiel auf einen Punkt hinter mir. Als ich mich umwandte, sah ich Sorgrad näher kommen. »Ravin sagt, wir sollen die Leute in Bewegung setzen. Das Volk ist bereit, den Reisenden zu helfen, die von der Flut überrascht wurden, aber sie haben nicht vor, die Brücke den ganzen Sommer lang zu halten.« »Ravin?«, fragte ich. »Der mit den vielen Messern«, erklärte Sorgrad. Ich kletterte hinauf, um die Brücke zu erproben. Vorsichtig gewöhnte ich mich ans Schwanken. Als ich hinuntersah, blickte ich in einen Kreis von aufwärts gewandten, neugierigen Gesichtern. »Ich kann doch nicht klettern wie ein Eichhörnchen!«, sagte eine soluranische Frau hinter mir. Trotz des Schlamms, der ihr Kleid verkrustete, hatte sie irgendwo ein Spitzenhäubchen aufgetrieben und Zeit gefunden, sich die Haare zu kämmen und aufzustecken. Ich erkannte in ihr die Frau, die am Feuer die Organisation in die Hand genommen hatte. 224
»Das trifft auch für mich zu.« Auch Sorgrad erschien hinter mir. »Folgt mir langsam und versucht, nicht hinunterzuschauen«, riet ich ihm und der Frau. Ich ging langsam voran und spürte Sorgrads schwerfällige Schritte hinter mir. »Es ist einfacher, als es aussieht«, sagte ich, »und mir ist lieber, ich komme trockenen Fußes hinüber, als ein Bad zu nehmen!« »Mach schon, Mutter.« Ein eifriger Junge drängte die Frau nach vorn. Seine Schwestern rollten ein zersprungenes Weinfass herbei, das von einem Wagen gefallen war. Die Frau sah auf. Ihre Miene war ernst und entschlossen. Sie steckte den Saum ihrer Röcke in die Schärpe um ihre Taille, kletterte auf das Fass und zog sich schwerfällig auf die Brücke. Ein rechtzeitiger Schubs eines Fuhrmanns gegen ihr Hinterteil entlockte ihr ein Schimpfwort, das die Tochter zum Kichern brachte. »Halt das Gleichgewicht.« Ich lächelte sie ermutigend über die Schulter an. »Mach ganz langsam, einen Schritt nach dem anderen ... nicht hinuntersehen ... so ist es gut, schau mich an ... immer nur eine Hand und einen Fuß.« Ich fuhr mit dieser beruhigenden Litanei fort, während die Frau einen Schuh vor den anderen setzte. Die schmutzigen Strümpfe über den dicken Knöcheln wackelten ein bisschen, ihre Fingerknöchel waren weiß, so fest packte sie die Seile. Sie murmelte ständig Gebete an Drianon vor sich hin. Ich schloss mich ihr an, denn wenn sie ausrutschte, hatte ich keine Möglichkeit, sie zu halten. »So ist es gut, geh einfach weiter, wird sind gleich drüben.« Sie warf einen kurzen Blick auf das gelb225
braune, gurgelnde Wasser unter uns. »Nicht nach unten schauen«, fuhr ich sie an, und sie hob den Kopf vor Empörung. »Wenn du es nicht vormachst, wird niemand es wagen«, erklärte ich ihr leise. »Ihr werdet hier festsitzen. Es wird Tage dauern, ehe das Wasser in der Furt so weit gesunken ist, dass ihr es mit den Kindern wagen könnt. Also reiss dich zusammen.« Sie holte tief Luft und ging langsam, doch ohne zu stocken weiter, bis sie am anderen Ufer anlangte und hilfreiche Waldvolk-Hände sie auf das sichere Gras zogen. »Ich würde lieber noch fünfmal das Kindbett durchmachen«, sagte sie von ganzem Herzen und fächelte sich mit ihrem Schal Luft zu. Trotzdem war ihr Stimme fest, als sie zu ihren Kindern hinüberrief. »Mirou und Sarel, steckt eure Röcke hoch, dass sie nicht im Weg sind. Mach schon, jetzt ist nicht der Augenblick, dich zu schämen, weil Männer deine Beine sehen können, du dummes Kind! Esca, du folgst deinen Schwestern. Nein, immer nur einer zur Zeit, ich will nicht, dass ihr alle gleichzeitig über dem Wasser sein. Sei doch mal vernünftig, Mirou, und benutze beide Hände!« Diese strenge Ermutigung behielt sie bei, bis sie alle sicher auf festem Boden standen, wo sie die Kinder umarmte, als wollte sie sie nie wieder loslassen. »So, und worauf wartet ihr noch?«, rief die Frau den noch immer Zögernden auf der anderen Seite des Übergangs zu. Drianon gewährt Müttern einen Befehlston, dem nichts gleichkommt. Als die Sonne ganz über die Baumwipfel gestiegen war, hatten alle den Fluss überquert bis auf die Fuhrleute, die mit ihren 226
Fahrzeugen warteten. Wir alle sahen zu, wie der erste Wagen in den Fluss glitt und die Männer schimpften, als das Wasser aufspritzte. Der Fluss hatte noch immer genug Strömung, um die Karren beängstigend ins Schaukeln zu bringen. »Weiter, weiter!« Der Kutscher schlug auf seine Leitpferde ein und ließ ihnen die Peitsche um die Ohren knallen, als die Tiere vor dem eisigen Wasser zurückschreckten. Männer lehnten sich in die Seile, die an das Geschirr jedes Tieres gebunden worden waren, um die Pferde vorwärts zu ziehen. Die Tiere mühten sich voran. Mit großer Anstrengung zogen sie den schweren Karren heraus, zitternd und schwitzend, und wurden mit Freudenklapsen, sanften Worten und Bündeln voll frischem Gras belohnt. Der Fuhrmann war völlig durchnässt, strahlte jedoch vor Erleichterung. Alles, womit er seinen Lebensunterhalt verdiente, war wohlbehalten über den Fluss gelangt. Als auch die anderen Karren den Fluss durchquerten, bemerkte ich, wie sich Usara mit dem Kaufmann stritt, der bei dem letzten Karren wartete, und ich lief über die Brücke zurück. »Was gibt es?« »Ich glaube, wir sollten diesen Mann im Wagen nicht dem Risiko aussetzen.« Usaras Missbilligung war unter seiner angespannten Höflichkeit deutlich zu spüren. »Hory kann nicht über die Brücke«, protestierte der Kaufmann. Hory lag auf schmutzigen Decken auf dem Wagenboden; beide Beine waren grob geschient und mit dicken Verbänden umwickelt, die grünfleckige Umschläge hielten. »Du würdest Magie benutzen, um ihn über das Wasser zu kriegen, nicht?«, fragte ich sanft. 227
»Natürlich«, sagte Usara verärgert. »Warum auch nicht?« Ich sah, wie die Angst Horys Augen verdunkelte. »Du kannst ihm vertrauen«, versicherte ich ihm. Hory kniff die Lippen widerspenstig zusammen. »Die Furt ist sicher genug. Darauf vertraue ich.« »Deine Entscheidung.« Ich nahm Usara beim Ellbogen und führte ihn fort. »Lass die Runen doch fallen, wie sie wollen.« Usaras empörte Antwort hörte der Fuhrmann schon nicht mehr, da er bereits auf seine Pferde eindrosch und sie in den aufgewühlten Fluss trieb. Der Karren kippte sofort zur Seite, da keine Ladung Gewicht brachte, um ihn zu halten. Hory klammerte sich an die Seiten, kreidebleich vor Angst und fluchend wie ein Söldner. Der Kutscher schlug auf die Tiere ein, doch der Karren rutschte immer schiefer. Wenn Hory ins Wasser fiel, würde er nie mehr auftauchen. »Tu etwas, Usara«, drängte ich. »Warum sollte ich?«, fauchte der Magier mit unverhohlener Wut. »Schon gut.« Ich verschränkte die Arme. »Es wäre ja nicht das erste Mal, dass Dummheit jemanden zu Tode gebracht hat.« Usara schoss mir einen wütenden Blick zu, doch er schüttelte die Manschetten von seinen Handgelenken. Mit einem Blitz aus goldenem Licht, der die Sonne blass erschienen ließ, schickte er einen magischen Strahl ins Wasser. Der Fluss brodelte golden, himmel- und saphirblau um den Karren herum auf, und die Pferde legten sich ins Geschirr, während der Fuhrmann sich an sie klammerte. »Setz sie in Bewegung, du vaterloser Sohn einer pockenzerfressenen Hure«, knurrte Usara. Ihn so 228
fluchen zu hören, gefiel mir noch besser als das Zauberlicht. Der Fuhrmann ließ seine Peitsche auf die ersten Pferde knallen, bis die Striemen auf ihren Leibern blutig waren. Ein Blick über den Fluss zeigte mir, dass alle mit offenem Mund und aufgerissenen Augen zuschauten, wie der Wagen endlich den flachen Hang erklomm. Das letzte schwache Strahlen des magischen Lichtes an den Rädern verblasste, und das Wasser troff auf den schlammigen Boden. »Ich für mein Teil hätte ihn ja absaufen lassen«, bemerkte ‘Gren. Sorgrad stand ein paar Schritte hinter ihm. »Aber du bist auch kein Magier von Hadrumal, dazu ausgebildet, deine Magie fürs Wohl der Allgemeinheit anzuwenden.« Ich lächelte Usara freundlich zu. Der Zauberer murmelte etwas vor sich hin, warf Sorgrad einen ungerechtfertigt bösen Blick zu und stapfte davon. Er atmete keuchend; seine Wangen waren eingesunken, und er ließ erschöpft die Schultern hängen. ‘Gren hatte eine unbekannte Satteltasche über eine Schulter geschlungen, und mir fiel auf, dass die Räuber nirgends zu sehen waren. »Wohin sind denn unsere Freunde gegangen?«, fragte ich. »Haben sich auf den Rückweg nach Medeshale gemacht«, antwortete Sorgrad. Mit emsiger Geschäftigkeit brachen die anderen Reisenden auf, darauf bedacht, verlorene Zeit wettzumachen oder weit weg von Usaras Magie zu kommen. Die Waldleute begannen ihre Brücke abzubauen und ich sah, dass Orial mit einer Trage aus Zweigen und bunten Tüchern für Zenela zurückgekehrt war. 229
»Dein ausländischer Mann da ist ein Magier?« Der gut aussehende Bursche kam herbei. Seine Augen funkelten vor Neugier. »Mein Freund«, stellte ich richtig. »Ja, er ist ein Zauberer.« »Diese Magie, wie lernt man sie?«, fragte er fasziniert. »Es ist eine Kraft, die angeboren ist.« Ich wandte mich meinem eigentlichen Vorhaben zu. Gute Taten am heutigen Tag verhalfen mir vielleicht zu einem Guthaben bei Saedrin, doch was ich von diesem Leben wollte, war ein Guthaben bei Messire und Planir. »Verfügen die Waldleute auch über Magie?« Wir gingen hinter vier muskelbepackten Burschen her, die Zenelas Bahre trugen. Der junge Mann schüttelte den Kopf. »Nein, wir haben keine Zauber.« Ich bemühte mich um einen beiläufigen Ton. »Gar keine?« »Nein. Was führt dich denn um diese Jahreszeit in den Wald?« Er sah hoffnungsvoll drein. »Ich habe ein Buch mit uralten Liedern, von denen manche in der Sprache des Waldes geschrieben sind.« Ich lächelte aufmunternd. »Ich möchte mehr über diese Lieder herausfinden.« Wenn ich Frue dazu bringen konnte, diese alten Balladen zu singen, konnte ich nach jemandem Ausschau halten, der ein besonderes Interesse daran zeigte oder Erkennen verriet. Wir wanderten durch herrliches Frühlingsgrün; Teppiche aus blauen Hornveilchen eiferten dem strahlenden Himmel nach. In den meisten Balladen fällt natürlich die entscheidende Enthüllung, die den verlorenen Prinzen in die Lage versetzt, seine Ansprüche geltend zumachen, im Allgemeinen auf den 230
Teil drei Verse vor Schluss. Das wahre Leben ist meiner Erfahrung nach nie so einfach. Die Siedlung, zu der uns Ravin führte, stellte eine Überraschung dar. Ich hatte nicht gerade Wilde erwartet, die unter den Bäumen saßen und darauf warteten, dass ihnen Nüsse in den Schoß fielen, aber ich hatte mir Behausungen aus Zweigen und Blättern oder so etwas vorgestellt. Wir fanden eine große Lichtung vor sowie geschäftige Waldleute zwischen einer Reihe runder Hütten, die mit dicken Matten aus gewebter Baumrinde verkleidet waren. Eine Frau hängte bunt gemustertes Bettzeug zum Lüften über ein Holzgestell, das vom dauernden Gebrauch wie poliert wirkte, und Kinder spielten fröhlich mit ein paar jungen Hunden vor der Tür. Eine andere Gruppe Frauen saß bei Leder- und Näharbeiten zusammen. Die jüngeren neckten sich lebhaft mit ein paar Burschen, die Feuerholz zu Kegeln aufstapelten. Alle trugen eng geschnittene lederne Beinkleider und darüber Tuniken unterschiedlicher Länge und Schnitte. Die jüngeren Männer bevorzugten eine ärmellose Variante, die ihre muskulösen Arme besonders gut zur Geltung brachte, während die meisten Frauen Gewänder mit zahlreichen Taschen trugen. So viel zu den exotischen Geheimnissen der Wildnis. Dies hier war selbst für Ryshads Mutter heimelig genug. »Das ist wohl für uns gedacht.« Frue nickte zu einer Gruppe, die dabei war, ein neues Haus zu bauen. Ein Mädchen hob eine Feuergrube aus, während ein anderes Steine stapelte, um damit einen Ring um die Grube zu bilden, und ein drittes markierte einen Kreis auf dem gefegten Erdboden. Vier ältere Frauen flochten ein langes, biegsames Gitter aus dünnen durchbohrten Ruten, die mit 231
Lederstreifen zusammengebunden wurden, während ein paar andere Rollen aus gewebten Matten herbeischafften. »Bringt sie hier herein.« Orial erschien an einer Tür, über deren Rahmen ein Gebinde aus Grünzeug hing. Die Bahre wurde abgestellt, und Frue trug Zenela in das niedrige Haus. Neugierig folgte ich und sah, wie sie auf ein Bettgestell gelegt wurde, das mit gegerbten Häuten bespannt und mit einer wollenen Decke überzogen war, die aus jeder beliebigen Stadt in Ensaimin hätte stammen können. Ein Hustenkrampf ließ Zenela keuchen; Tränen liefen ihr über die Wangen, und ihre Augen blickten verängstigt. »Setz sie auf und schnür ihr das Kleid auf«, befahl Orial. Frue lehnte Zenela gegen seine Schulter, und Orial rieb eine ölige Salbe auf den Rücken des Mädchens, die streng nach Knoblauch und etwas anderem roch, das ich nicht identifizieren konnte. Ich hustete. Hier gab es vielleicht Geheimnisse für Apotheker zu ergründen, aber ich sah keine Anzeichen von dem Wunderglauben der soluranischen Heiler, die Halices Bein geflickt hatten. »Langsam und gleichmäßig ausatmen.« Orial legte ihr Ohr an Zenelas Mund, fühlte an ihrem Hals nach dem Herzschlag und zog ihr dann sanft ein Augenlid nach unten, um die Farbe ihres Blutes zu prüfen. Genau wie jeder andere Apotheker, den ich je aufgesucht hatte. »Und jetzt leg dich hin und versuch, ein wenig zu schlafen.« Sie scheuchte mich und Frue mit einer Handbewegung hinaus, und ich sah, dass Zenela schon schläfrig blickte. Ich überlegte, was wohl in dieser Salbe gewesen war. Frue ging an mir vorbei, um mit Ravin zu sprechen. Sorgrad, ‘Gren und Usara waren nirgends zu 232
sehen, und ich wusste nicht, was ich tun sollte. Das Gefühl behagte mir nicht. »Du teilst dir das mit deinen Männern.« Orials Stimme hinter mir ließ mich zusammenfahren. Sie deutete auf das Gitterrund, das jetzt ein Dach aus kräftigeren Zweigen trug, die sich in der Mitte trafen und in einem alten Karrenrad mündeten, wie es aussah. Der Feuerrost, der soeben über der Grube befestigt wurde, sah ebenfalls verdächtig nach gehämmerten Radspeichen aus. Ich wollte fragen, ob ich helfen könnte, doch alle schien sehr geübt darin zu sein, zusammenzuarbeiten. Und ich wollte keine schlechte Figur abgeben, weil ich etwas falsch machte. Ich setzte mich neben Orial, die ein paar Wurzeln in einem Mörser zerstampfte. Dicke Matten aus grobem Leinen wurden um die Wände unseres neuen Heimes gespannt, die wiederum mit fester, gewebter Borke bedeckt wurde, die mit Tauen aus geflochtenen Ranken fest verschnürt wurde. »Haben wir Ravin dafür zu danken?«, fragte ich. »Frue gehört zum Volk und kann deshalb in jedem Lager Unterkunft erwarten.« Orials Blick war ein wenig herablassend. »Du gehörst nicht zum Volk, auch wenn du vom Blute bist, oder?« »Du stammst auch nicht aus dieser Gegend«, entgegnete ich. »Deine Sprache unterscheidet sich von der der anderen.« »Ich komme aus dem tiefen Süden«, erwiderte Orial gelassen. »Ich reise, um neue Weisheiten kennen zu lernen. Ich werde zu gegebener Zeit zu meinen Leuten zurückkehren – für den Winter.« Ich hatte den Eindruck, dass sie noch etwas anderes hatte sagen wollen, doch ihr Gesicht war verborgen, weil sie etwas in ihrem Hirschlederbeutel suchte. 233
»Welche Art von Weisheit suchst du?«, fragte ich. »Wie mein Freund Usara sie besitzt? Magie oder Zauber?« Orial zog ein kleines Messer unter dem Gürtel hervor und schabte Späne von einem lederartig getrockneten Stängel in ihre Paste. »Ich bin Kräuterkundlerin, wie meine Mutter vor mir und die meisten Frauen in meiner Sippe. Ich suche nach neuem Wissen über Wurzeln und Blätter, die Kräfte von Blumen und Früchten, die beruhigen und heilen.« Sie nickte zu dem neuen Haus hin. »Du solltest gehen und das erste Feuer im Herd entzünden, das bringt Glück.« Wie jede frisch gebackene Braut in Vanam, die die Küche in Besitz nahm, die bald zum Mittelpunkt ihrer Welt wurde? Nicht wahrscheinlich, dachte ich. Orial summte wieder vor sich hin, ganz in ihre Arbeit vertieft. »Frue hat diese Melodie gestern Abend gespielt«, bemerkte ich. »Kennst du ihn?« »Erst seit gestern.« Orial zuckte die Achseln. »Es heißt >Mazirs heilende Hände