Jeanette Böhme (Hrsg.) Schularchitektur im interdisziplinären Diskurs
Jeanette Böhme (Hrsg.)
Schularchitektur im interdisziplinären Diskurs Territorialisierungskrise und Gestaltungsperspektiven des schulischen Bildungsraums
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1. Auflage 2009 Alle Rechte vorbehalten © VS Verlag für Sozialwissenschaften | GWV Fachverlage GmbH, Wiesbaden 2009 Lektorat: Stefanie Laux VS Verlag für Sozialwissenschaften ist Teil der Fachverlagsgruppe Springer Science+Business Media. www.vs-verlag.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Umschlaggestaltung: KünkelLopka Medienentwicklung, Heidelberg Titelfoto: Bodo Ueberfeld, Meerane/Sa. Satz: format·absatz·zeichen, Susanne Koch, Niedernhausen Druck und buchbinderische Verarbeitung: Krips b.v., Meppel Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier Printed in the Netherlands ISBN 978-3-531-16117-4
Inhalt
Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9
I
Spatial Turn in der Schul- und Bildungsforschung: Ein Problemaufriss
Jeanette Böhme Raumwissenschaftliche Schul- und Bildungsforschung . . . . . . . . . . . 13
II
Territorialisierungskrisen des schulischen Bildungsraums im soziokulturellen Wandel
Jürgen Oelkers Globalisierte Bildungsansprüche im lokalen Schulraum . . . . . . . . . . . 25 Bernd Overwien Schulorte und Raumgefüge informellen Lernens . . . . . . . . . . . . . . . 42 Sandra Aßmann | Bardo Herzig Verortungsprobleme von Schule in einer Netzwerkgesellschaft . . . . . . . 58 Daniela Ahrens Der schulische Lernort: Zwischen institutioneller Entgrenzung und sozialer Verräumlichung? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 73
III
Schulische Bildungsorte im Schulentwicklungsdiskurs
Michael Göhlich Schulraum und Schulentwicklung: Ein historischer Abriss . . . . . . . . . . 89
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Inhalt
Sabine Reh | Fritz-Ulrich Kolbe Grenzverschiebungen: Diskurse und Praktiken in Ganztagsschulen . . . . 103 Christian Reutlinger Bildungslandschaften: Eine raumtheoretische Betrachtung . . . . . . . . 119 Thomas Spiegler Lernen ohne Schulraum: Home Education und Unschooling als Gegenentwurf zu raumgebundenem Lernen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 140
IV
Wahrnehmung, Praktiken, Kultur: Schulbauliche Wirkmächtigkeiten
Christian Rittelmeyer Schulbauten als semiotische Szenerien: Eine methodologische Skizze . . 157 Ingrid Kellermann | Christoph Wulf Schularchitektur und rituelle Raumpraktiken . . . . . . . . . . . . . . . . 171 Markus Rieger-Ladich | Norbert Ricken Macht und Raum: Eine programmatische Skizze zur Erforschung von Schularchitekturen . . 186 Jeanette Böhme | Ina Herrmann Schulraum und Schulkultur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 204
V
Architektonische Potenziale für die Pädagogik
Johannes Bilstein Raumbildung und Bildungsräume . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 223 Gerd E. Schäfer | Lena Schäfer Der Raum als dritter Erzieher . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 235
6
Inhalt
Torsten Blume Schule der Moderne: Das Bauhausgebäude in Dessau . . . . . . . . . . . 249 Karl-Dieter Bodack Organische Gestaltung von Schulgebäuden . . . . . . . . . . . . . . . . . 266
VI
Gestaltungsperspektiven: Schularchitektur im Zeitalter der Bewegung
Christian Kühn Rationalisierung und Flexibilität: Schulbaudiskurse der 1960er und -70er Jahre . . . . . . . . . . . . . . . 283 Laura Kajetzke | Markus Schroer Schulische Mobitektur: Bauen für die Bildung . . . . . . . . . . . . . . . 299 Wilfried Buddensiek Fraktale Schularchitektur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 315 Bernd Baier Flexibilisierung und Durchlässigkeit des schularchitektonischen Raumes . 330 Patrick Jakob Virtuelle Architekturen und Schulorte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 342
Verzeichnis der Autorinnen und Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . 357
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Vorwort In Vorbereitung auf ein nun angelaufenes Projekt zum Thema „Schulraum und Schulkultur“ setzte ich mich mit dem Forschungs- und Theoriestand zur Bedeutung von Schularchitekturen auseinander. Dabei blieben Fragestellungen offen, die letztlich der Handlauf für die Konzipierung dieses Bandes waren. Im März 2008 signalisierte Stefanie Laux vom VS-Verlag Interesse an diesem Publikationsvorhaben, das offen gestanden riskant war. Denn schließlich war ich ein Newcomer in dieser interdisziplinären Szene, kannte lediglich jeden Vierten von meiner Wunschliste der Autorinnen und Autoren über die Schriften hinaus. Doch bereits die ersten Reaktionen auf meine Anfragen zeigten ein breites Interesse an der Thematik an. Aber nicht nur dass dieser ‚Kaltstart‘ möglich war, auch gingen aus dem anschließenden Austausch mit und zwischen beitragenden Kolleginnen und Kollegen weiterführende Projekte hervor. So dokumentiert die Entstehungsgeschichte dieses Bandes: Die raumwissenschaftliche Schul- und Bildungsforschung ist in einer dynamischen Bewegung und etabliert sich. Bilanzierend verbinde ich mit dem Band positive Erfahrungen: Über die Herausgeberarbeit habe ich Kolleginnen und Kollegen weiterführend oder erstmals kennen gelernt, die sowohl in der inhaltlichen Diskussion als auch persönlichen Begegnung eine Bereicherung sind. Schließlich hat sich um ein Weiteres die Zusammenarbeit mit Stefanie Laux bewährt, die im VS-Verlag Cheflektorin für den Bereich Pädagogik ist. Vielen Dank auch an Susanne Koch, die den Satz erstellt hat. Mein besonderer Dank gilt Sascha Spolders, der für eine gewissenhafte Korrekturlesung des Bandes die Arbeit an seiner Promotion zeitweise zurückstellte. Ich würde mich freuen, wenn die Herausgeberschrift an das Spektrum von Interessen und Erwartungen in der Leserschaft anzuschließen vermag.
Essen, im Juli 2009 Jeanette Böhme
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I
Spatial Turn in der Schul- und Bildungsforschung: Ein Problemaufriss
Jeanette Böhme
Raumwissenschaftliche Schul- und Bildungsforschung Dieser Band zielt auf die Profilierung einer raumwissenschaftlichen Schul- und Bildungsforschung. Dass dabei der Erziehungswissenschaft eine initiale Bedeutung zukommt, liegt nahe, besteht doch ihr Kerngeschäft in der reflexiven Beobachtung von Erziehungs-, Bildungs-, Lern- und Sozialisationsprozessen in soziokulturell und historisch konkreten Räumen. Doch wie etabliert ist in dieser Disziplin die raumwissenschaftliche Forschungslinie? Mit dieser Fragestellung diskutiert Reutlinger (2009) die Erziehungswissenschaft im interdisziplinären Spektrum der „Raumwissenschaften“ (Günzel 2009). Systematisch wird gezeigt, dass die erziehungswissenschaftliche Forschung bisher unterschiedlich auf den Raum Bezug genommen hat: Skizziert werden hier Forschungsschwerpunkte zu pädagogischen Interaktionsräumen, zu sozial/institutionellen und material/ physischen Bedingungen räumlicher Umwelten und zum Raumerleben bzw. -erschließen. Sicher, eine Ignoranz gegenüber dem Raum kann der Erziehungswissenschaft nicht unterstellt werden. Jedoch ist der Raum keineswegs eine explizite zentrale Kategorie erziehungswissenschaftlicher Forschungsaktivitäten und Theoriebildung, er wird eher implizit in Diskursen mitgeführt und fristet daher ein „subkutanes Dasein“ (Schroer 2008, S. 126). So ist es selbstverständlich Begriffe wie Bildungsraum, Sozialisationsraum, Lernraum, Interaktionsraum, Handlungsraum u.a. zu verwenden, jedoch verweist der Annex „-raum“ meist auf soziohistorisch konkrete Regelsysteme, in die die jeweils erstgenannten Prozesse (wie Bildung, Interaktion, Handeln etc.) eingelassen sind. In dieser Begrifflichkeit verweist der Raum eher auf einen Sozialraum oder Kontext, in denen Prozesse ablaufen. Material-physische Raumordnungen werden dabei weitestgehend ausgeblendet. Sowohl die weitestgehende Raumvergessenheit in aktuellen Forschungsansätzen als auch die Ortlosigkeit konstruierter Forschungsgegenstände rückt im interdisziplinären Spatial Turn in den Fokus der Kritik.
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Spatial Turn: Die Wiederentdeckung der materialphysischen Raumordnung als Forschungsfokus
In dem Sammelband zum „Spatial Turn“ (2008) behaupten Döring und Thielmann: „In den Kultur- und Sozialwissenschaften gibt es ohnehin kaum noch eine Disziplin, die nicht entweder ihren spatial turn eingeläutet hat, den in anderen Fächern ausgerufenen kommentiert oder sich zu ihm positioniert hat“ (ebd., S. 10). Im dokumentierten Kontinuum der Medien-, Kommunikations-, Literatur-, Film-, Geschichts-, Sozial- und Kulturwissenschaft, der Geographie und Philosophie ist die Erziehungswissenschaft jedoch nicht zu finden. Der hier vorliegende Band zielt auf eine explizite Vernetzung der Erziehungswissenschaft mit dem interdisziplinären Diskurs zum Spatial Turn. Was kennzeichnet den Spatial Turn? Der Topos bezeichnet eine neue Aufmerksamkeit gegenüber dem Raum, die auf zwei Begründungsmuster bezogen wird: Einerseits steht die Formel für eine Priorisierung des Raums in Konkurrenz zur Zeit als dominante theoretische und empirische Schlüsselkategorie der Moderne. In dieser Perspektive bezeichnet die Formel eine „postmoderne Moderne-Kritik“ (Döring/Thielmann 2008, S. 9), ein Programm, „die räumliche Dimension strategisch zu privilegieren“, „bis das theoretische Gleichgewicht zwischen Zeit und Raum wiederhergestellt ist“ (Soja 2008, S. 246). In diesem Sinne ist dann auch die Behauptung des eben zitierten Wortschöpfers und Humangeographen Soja zu relativieren, der den Spatial Turn als Master Turn ausweist. Unstrittig bleibt dennoch das heuristische Potenzial hervorzuheben, neben oder in zeitlich-historisch ausgerichteten Analysen von soziokulturellem Wandel und Moderne auch den Raum einzubeziehen (vgl. Döring/Thielmann 2008, S. 8). Andererseits zeigt der Spatial Turn auch eine erweiterte Perspektive auf den Raum an. In kritischer Distanz zu den Thesen von der „Entbettung“ und „Entankerung“ des Lokalen in der Moderne, wie sie etwa von Giddens (1995) und Werlen (1997) vorgetragen wurden, wird nun auf die „Grenzen der Enträumlichung“ (Ahrens 2001) verwiesen. In dieser Diskussion kristallisiert sich zunehmend heraus, dass der Raum als dimensioniert zu betrachten ist (Lefebvre 1991; Soja 2008): Die Muster der Raumpraktiken und die Raumkonstruktionen der Akteure werden in ihrer Wechselwirkung auch mit der material-physischen Verfasstheit von Raumordnungen in den Blick genommen. Der Spatial Turn zielt demnach auch auf eine „Reterritorialisierung“ des Raums im Wissenschaftsdiskurs (Döring/Thielmann 2008, S. 14), eine „Rehabilitierung des geographischen Materialismus“ (ebd., S. 26), eine „ontologische Reprivilegierung des Räumlichen“ (Soja 2008, S. 250).
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Raumwissenschaftliche Schul- und Bildungsforschung
So wird im Spatial Turn eine Persistenz des physisch-materialen Raumes (Schroer 2008, S. 133) wieder entdeckt, indem „eine gewisse irreduzible Materialität“ (Döring/Thielmann 2008, S. 15) behauptet wird, die sich seismographisch etwa auch in einer systemtheoretischen Raumrevision anzeigt (vgl. Döring/ Thielmann 2008, S. 24 ff.; Stichweh 2008). Dabei steht dieser interdisziplinäre Trend keineswegs für einen „Rückfall in essentialistisch-geodeterministische Positionen“ (Dünne 2008, S. 50), die in der Geopolitik radikalisiert wurden. Zu stark ist im wissenschaftskulturellen Gedächtnis das Problembewusstsein, den „logischen Konnex zwischen Kultur und Raum“ normativ zu interpretieren und so in Argumentationsmuster zu verfallen, die die pervertierte Expansionspolitik im Nationalsozialismus begründeten und nachvollziehbar eine Raumforschung in der Nachkriegszeit erschwerten (vgl. Dünne 2008, S. 52; Günzel 2009, S. 10). Die Geographie etwa rettete sich damals auf den neutralen Boden der Geometrie. Doch durch die Kartierung und Vermessung des Raums erschließt sich die kulturelle Bedeutung dieser Ordnungen nicht. Die Sozialwissenschaften und hier insbesondere die Erziehungswissenschaft zogen sich auf den gegenüberliegenden Extrempol zurück, indem in den 1970er und 1980er Jahren weniger die materiale Raumordnung, vielmehr die sozialräumlichen Konfigurationen pädagogischer Praxis thematisiert wurden. Diese Perspektive wurde auch durch die „Alltagswende“ im linguistic turn gestützt (vgl. Arbeitsgruppe Bielefelder Soziologen 1981). Der Bedeutung des Raumes wird in diesem Band ganz im Sinne des Spatial Turns sowohl entlang der akteurstheoretischen Frage nach den Prozessen der Hervorbringung eines relationalen Raumes als auch mit dem strukturtheoretischen Interesse an der Bedeutung hervorgebrachter, material geronnener Raumordnungen nachgegangen. Dabei sind sowohl (radikal) konstruktivistische Raumkonzepte als auch raumdeterministische Behälterauffassungen zur Disposition zu stellen. Der Spatial Turn zielt in dieser Linie auf die Herstellung einer neuen Balance zwischen voluntaristischen und deterministischen Ansätzen im Raumdiskurs (vgl. Schroer 2008, S. 137). Insbesondere der kultur- und sozialwissenschaftliche Spatial Turn fokussiert auf die Analyse der Verhältnisse zwischen material-physischen Territorialordnungen, sozialen Praxisräumen und kognitiv-mentalen Maps (vgl. Döring/Thielmann 2008; Bachmann-Medick 2006). Und so ist der Begründungszusammenhang für diesen Band skizziert: Zum Ersten entkommt die Schul- und Bildungsforschung, und hier insbesondere der lobbystarke Flügel einer empirisch ausgerichteten Evaluationsforschung, dem Vorwurf einer Zeitdominanz nicht. Denn schließlich wird dort in der Logik einer ökonomischen Rationalität gemessen, wie effizient Lernprozesse ablaufen, die ihrerseits nicht verortet werden. Und auch wenn diese Forschungen etwa 15
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Vergleiche zwischen Nationen, Bundesländern, Kommunen anstellen, können zwar raumbezogene Differenzen beschrieben, aber nicht begründet werden. Denn schließlich liegt eine empirisch fundierte Theoriebildung zur Bedeutung des Schul- und Bildungraums nur ansatzweise vor. Hier gerade nimmt der Band eine Zwischenbilanz des Forschungs- und Theoriestandes sowie eine weiterführende Systematik vor, jedoch mit einem Fokus, den der Spatial Turn zum Zweiten präferiert. So wird zum Ausgang die Architektur und damit die material-physische Ordnung des exponierten Bildungsraums Schule gewählt. Wie sich auch in den folgenden Beiträgen zeigt, wird damit zwar kein Neuland in der Schul- und Bildungsforschung betreten, jedoch eine stark marginalisierte Forschungsperspektive aufgegriffen.
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Das marginalisierte Interesse an der baulichen Gestalt von Schul- und Bildungsräumen
In den 1970er und 1980er Jahren dominierte in der sozialwissenschaftlich ausgerichteten Schul- und Bildungsforschung die Auffassung, dass für vormoderne Vergesellschaftungsprozesse dem „geographischen Raum“, in der Moderne dagegen dem „sozialen Raum“ kulturgenerierende Bedeutung zukommt (Simmel 1908, 1903). In dieser Perspektive wurde die Bedeutung von alltagsrelevanten Wissens- und Deutungsmustern, Kommunikationsbeziehungen und sozialen Regelsystemen für schulische Transformations- und Bildungsprozesse hervorgehoben. In dieser bis heute noch stark vertretenen Linie wird somit Schule als interaktiv erzeugter Partizipations- und Anerkennungsraum im zeitlichen Wandel rekonstruiert (vgl. etwa Diederich/Wulf 1979; Steffens/Bargel 1987; Tillmann 1989; Aurin 1993; Altrichter/Radnitzky/Specht 1994; Helsper/Böhme/ Kramer/Lingkost 2001) bzw. werden soziale Praktiken als Hervorbringung von Raumordnungen beschrieben (vgl. etwa Zinnecker 1978; Krappmann/Oswald 1995; Adler/Adler 1998; Breidenstein 2008). Insgesamt scheint der Vorwurf berechtigt, dass diese Forschung an dem zeitlich und damit historisch konkreten Sinn dieser Sozialräume interessiert war, dabei aber weniger deren räumliche Bedeutungsstruktur berücksichtigte. Symptomatisch für die analytische Fokussierung auf den interaktiv bzw. performativ erzeugten, letztlich aber ortlosen Sozialraum ist die geringe Würdigung der methodisch interessanten, baubezogenen wissenschaftlichen Begleituntersuchung der Laborschule Bielefeld (vgl. Kroner/Institut für Schulbau 1980), in der gerade die Bedeutung der materialen Raumordnung für die sozialen Prozesse deutlich wird.
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Raumwissenschaftliche Schul- und Bildungsforschung
Mitte der 1990er Jahre wird der Raum in der Schulforschung durch zwei methodisch anspruchsvolle Studien neu thematisiert: Zu nennen sind hier die historische Analyse zum Wandel des Schulraums seit dem Mittelalter von Göhlich (1993) mit dem Titel „Die pädagogische Umgebung“ und die vielzitierte Studie von Rittelmeyer (1994), die unter dem veröffentlichten Titel „Schulbauten positiv gestalten“ die Raumwahrnehmung von SchülerInnen untersucht. Es folgen erste verdienstvolle Systematisierungen des Themenfeldes in Herausgeberbänden. Hervorzuheben sind hier insbesondere drei Bände: von Ecarius und Löw „Raumbildung-Bildungsräume“ (1997), von Becker, Bilstein und Liebau „Räume bilden“ (1997) und von Liebau, Müller-Kipp und Wulf „Metamorphosen des Raums“ (1999). Zwei Stoßrichtungen verbinden diese Publikationen: Zum einen wird darin die Raumvergessenheit der Erziehungswissenschaft laut beklagt, zum anderen wird die subkutane Tradierung einer absoluten Raumvorstellung von Schule als Behälter problematisiert. Anstelle wird als Perspektive für die Erziehungswissenschaft das explizite Aufgreifen eines relationalen Raumbegriffes ausgewiesen. Als eine Zwischenbilanz der angestoßenen erziehungswissenschaftlichen Raumforschung könnte das Kompendium „Die pädagogische Gestaltung des Raums“ von Jelich und Kemnitz im Jahr 2003 interpretiert werden. Jedoch wird in den einzelnen Beiträgen weniger an die Forderung angeschlossen, die Gestaltung und Hervorbringung des pädagogischen Raums durch die Akteure nachzuzeichnen, vielmehr wird ganz im Sinne des aktuellen Spatial Turns die Bedeutung material-konkreter Architekturen für die Verwirklichung pädagogischer Konzepte deutlich gemacht. Die vorgestellten Detailstudien in dem Band sind in der Regel auf reformpädagogische Einzelfälle konzentriert, nur ansatzweise systematisch angelegt und in ihrer methodischen Stringenz eher die Ausnahme. Dennoch kann man dieses verdienstvolle Sammelwerk als Vorgriff des Spatial Turns in der Schul- und Bildungsforschung interpretieren, werden doch die potenzielle Spannweite und die theoretisch-methodischen Herausforderungen eines bis in die Gegenwart unterrepräsentierten Forschungsbereiches markiert, in welchem pädagogische Orte und Architekturen im Zentrum stehen. Insofern gilt auch für die Schul- und Bildungsforschung: Der Raum muss „gar nicht wieder gefunden werden, er war nie wirklich verschwunden“ (Döring/Thielmann 2008, S. 15). Tritt man einen Schritt zurück, lassen sich vier Felder einer erziehungswissenschaftlichen Raumforschung markieren: Im ersten Forschungsfeld wird der Leitfrage nachgegangen, wie Schulräume wahrgenommen werden (Forster 2000; Rittelmeyer 1994). Im zweiten Forschungsfeld werden der Raum und sein Verhältnis zu Bildungs- und Lernprozessen, zur Identitätsentwicklung und Biographisierung untersucht (Becker/Bilstein/Liebau 1997; Schubert/CallejoPerez/Slater/Fain 2003; Westphal 2007). Im dritten Forschungsfeld wird eher 17
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auf Praktiken und Konstruktionsprozesse der Hervorbringung von Räumen die Aufmerksamkeit gerichtet (Liebau/Miller-Kipp/Wulf 1999). Die vierte Forschungsperspektive ist auf die material-architektonische Ausformung von Schul-/Bildungsräumen und deren Bedeutung für sozialräumliche Prozesse gerichtet (Jelich/Kemnitz 2003). Genauso wenig wie die Beiträge der hier jeweils zugeordneten Herausgeberbände und Studien umfassend in den genannten Aufmerksamkeitsschwerpunkten aufgehen, vielmehr immer auch Bezüge zu den anderen genannten Forschungsfeldern aufweisen, ist der nun vorliegende Band ebenso wenig eindeutig, doch am ehesten der letztgenannten Perspektive zuzuordnen. Dabei wird keineswegs in einem deterministischen Duktus eine umfassende Wirkmächtigkeit der materialen Raumgestalt behauptet, jedoch deren Bedeutung nachgegangen und somit eine vernachlässigte Raumdimension in der Schul- und Bildungsforschung zumindest strategisch in das Zentrum der Aufmerksamkeit gerückt.
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Zur Einführung in den Band
Im Spatial Turn ist es geboten, über Sozialräume und Raumkonstruktionen hinaus auch die material-physische Raumordnung in den Blick zu nehmen. In dieser Einstellung eröffnen sich neue Frageperspektiven. So wird Schule im komplexen Raumgefüge der Moderne als ein spezifischer Typus eines Bildungsraums beobachtbar. Denn der Schulraum lässt sich verorten, ist kartierbare Lokalität, abgrenzbares Territorium, in dem sich Schüler und Lehrer bewegen, anwesend sind. Die schulische Territorialisierung der Schüler- und Lehrkörper ermöglicht, verhindert aber auch Vermittlungs- und Aneignungsprozesse. So schließt hier systematisch die Frage nach der räumlichen Entgrenzung des monopolhaften Schulortes an, die sich wie ein roter Faden durch die Beiträge zieht. Denn betrachtet man den außerschulischen Bereich, so manifestiert sich dort ein rasanter raumkultureller Wandel in komplexen, verschränkten, teilweise auch konfligierenden oder sich potenzierenden raumzeitlichen Gefügen. Zwar haben darin auch kartierbare Lokalitäten, wie der schulische Bildungsraum, ihren „Ort“, jedoch sind diese immer weniger alternativlos. So ‚durchlaufen’ Kinder und Jugendliche Bildungs- und Sozialisationsprozesse in fluiden, temporären, volatilen aber auch starren, stabilen, zellenförmig strukturierten Räumen, teilweise auch gleichzeitig. Dabei nutzen Kinder und Jugendliche diese Räume nicht distanziert, bringen vielmehr ihr Selbst in diesen hervor und nehmen in dieser Hinsicht differente Potenzialitäten in Abhängigkeit von den raumzeitlichen Parametern wahr. So etwa auch erweiterte Optionen des Inszenierens, Ex18
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perimentierens, Lernens in außerschulischen Kommunikationsräumen, die auch teilweise nicht mehr physische Anwesenheit erzwingen bzw. ermöglichen. Vor diesem Hintergrund wird für diesen Band als Leitthese diskutiert, inwiefern die Schule als räumliches Bildungsmonopol zunehmend durch eine Territorialisierungskrise gekennzeichnet ist und welche Gestaltungsperspektiven sich für eine angemessene Raumorganisation von Bildungsprozessen im skizzierten Wandel der Kultur begründen lassen. Das zweite Kapitel des Bandes greift in diesem Sinne differente Perspektiven auf, aus denen die Leitthese von einer Territorialisierungskrise des schulischen Bildungsraumes diskutiert werden kann. Die gegenwärtige raumzeitliche Organisation von Bildung im lokalisierbaren Schulhaus wird mit Bezug auf globalisierte Bildungsansprüche (Jürgen Oelkers), die zunehmende Bedeutung informellen Lernens (Bernd Overwien) und den medienkulturellen Wandel (Sandra Aßmann/Bardo Herzig) kritisch diskutiert. Dem entgegen werden die Grenzen der räumlichen Entgrenzung schulischer Bildungsprozesse bzw. Sozialität ausgelotet (Daniela Ahrens). Im dritten Kapitel wird eher auf schulkonzeptioneller Ebene der Gestaltungswandel des schulischen Bildungsraumes im Verhältnis zu seiner Konzipierung deutlich gemacht (Michael Göhlich). Dabei wird der Frage nachgegangen, inwiefern es sich bei dem Konzept der Ganztagsschule (Sabine Reh/Fritz-Ulrich Kolbe), in dem Reden über Bildungslandschaften (Christian Reutlinger) oder in den Praktiken des Homeschoolings (Thomas Spiegler) um Entgrenzungsphänomene des schulischen Raumes handelt und in welche Begründungszusammenhänge damit verbundene Orientierungen gestellt sind. Im vierten Kapitel wird aus differenten theoretischen Ansätzen heraus die schularchitektonische Wirkmächtigkeit herausgearbeitet. Zur Erschließung der Bedeutungsdimensionen von Schulbauten werden diese als semiotische Szenerien (Christian Rittelmeyer), im Verhältnis zu rituellen Raumpraktiken (Ingrid Kellermann/Christoph Wulf), in Hinsicht auf schulalltägliche Machtbeziehungen (Markus Rieger-Ladich/Norbert Ricken) und Schulkulturen (Jeanette Böhme/Ina Herrmann) betrachtet. Gerade in diesem Kapitel zielen die Ausführungen darauf, konzeptionell das Feld einer raumwissenschaftlichen Schul- und Bildungsforschung ansatzspezifisch zu begründen. Im fünften Kapitel werden konkrete pädagogische Ansätze danach diskutiert, welche Bedeutung der Architektur darin zugesprochen wird. Hier wird die o.g. Spannung zwischen raumvoluntaristischen und raumdeterministischen Auffassungen aufgegriffen und grundlagentheoretisch am Verhältnis von Raumbildungen und Bildungsräumen geschärft (Johannes Bilstein). Vor diesem Hintergrund wird der Fokus auf die Behauptung des Raums als dritter Erzieher in der Reggiopädagogik (Gerd E. Schäfer/Lena Schäfer), die Bauhausthese von 19
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der prägenden Wirkmächtigkeit der Architektur (Torsten Blume) und das für die Waldorfpädagogik zentrale Metamorphosenkonzept der organischen Architektur (Karl-Dieter Bodack) eingestellt. Im sechsten Kapitel werden architektonische Gestaltungsparameter aufgezeigt, die zum einen die Schulbaudiskurse der 1960er und 1970er Jahre bestimmt haben (Christian Kühn) und zum anderen in den Überlegungen zu Mobitekturen entfaltet werden (Laura Kajetzke/Markus Schroer). Als architektonische Perspektiven werden konkret der fraktale Schulbau (Wilfried Buddensiek), schulräumliche Flexibilität und Leichtigkeit durch Konstruktionsarchitekturen (Bernd Baier) und Überlegungen zu Virtuellen Architekturen (Patrick Jakob) vorgestellt. Das Konzept der vorliegenden Publikation zielt vordergründig auf eine forschungskonzeptionelle und theoretisch-begriffliche Schärfung des Diskurses zur Schularchitektur und konkurriert weniger mit den Veröffentlichungen, die konkrete anwendungsbezogene Praxisbeispiele vorstellen, empfehlen, veranschaulichen und dabei eher praxeologisch Architektur und Pädagogik ins Verhältnis setzen (Perlick 1969; Dreier/Kucharz/Ramseger/Sörensen 1999; Wüstenrot Stiftung 2004; Hochbaudepartement der Stadt Zürich 2004 etc.). Gerade in der aktuell stattfindenden Umsetzung, Konzipierung und Verwirklichung schulischer Erweiterungs-, Um- und vereinzelter Neubauten zeigt sich ein interdisziplinärer Austausch erforderlich, der zwischen Architekten, Bautechnikern, Lehrerkollegien, Schulämtern, Kommunen, Schülerschaften, Städteplanern, Eltern, Politikern, Unternehmen, Schulleitungen und möglichen anderen Akteursgruppen immer wieder angemahnt wird. Diese Interdisziplinarität ist zwar in der Forschung und Theoriebildung nicht zwingend, aber instruktiv. So wird hier Schularchitektur in einen interdisziplinären Wissenschaftsdiskurs gestellt, der zwar noch ausbaufähig ist, aber seine Potenzialität aufzeigt.
Literatur Adler, P./Adler, P.: Peer Power. Preadolescent Culture and Identity. Brunswick 1998 Ahrens, D.: Grenzen der Enträumlichung. Opladen 2001 Altrichter, H./Radnitzky, E./Specht, W.: Innenansichten guter Schulen. Wien 1994 Arbeitsgruppe Bielefelder Soziologen (Hg.): Alltagswissen, Interaktion und gesellschaftliche Wirklichkeit. Bd. 1 u. 2, Opladen 1981 Aurin, K. (Hg.): Auffassungen von Schule und pädagogischer Konsens. Stuttgart 1993 Bachmann-Medick, D.: Cultural Turns. Neuorientierungen in den Kulturwissenschaften. Reinbek 2006 Becker, G./Bilstein, J./Liebau, E. (Hg.): Räume bilden. Donauwörth 1997 20
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Breidenstein, G.: Teilnahme am Unterricht. Ethnographische Studien zum Schülerjob. Wiesbaden 2008 Diederich, J./Wulf, C.: Gesamtschulalltag. Die Fallstudie Kierspe. Paderborn u.a. 1979 Döring, J./Thielmann, T. (Hg.): Spatial Turn. Das Raumparadigma in den Kultur- und Sozialwissenschaften. Bielefeld 2008 Dreier, A./Kucharz, D./Ramseger, J./Sörensen, B.: Grundschulen planen, bauen, neu gestalten. Frankfurt a.M. 1999 Dünne, J.: Die Karte als Operations- und Imaginationsmatrix. In: Döring, J./Thielmann, T. (Hg.): Spatial Turn. Das Raumparadigma in den Kultur- und Sozialwissenschaften. Bielefeld 2008, S. 49-71 Dünne, J./Günzel, St.: Raumtheorie. Grundlagentexte aus Philosophie und Kulturwissenschaften. Frankfurt a.M.2006 Ecarius, J./Löw, M.: Raumbildungen – Bildungsräume. Über die Verräumlichung sozialer Prozesse. Opladen 1997 Fischer, J./Delitz, H.: Die Architektur der Gesellschaft: Theorien für die Architektursoziologie. Bielefeld 2009 Forster, J.: Räume zum Lernen&Spielen. Untersuchungen zum Lebensumfeld „Schulbau“. Berlin 2000 Gebhardt, H. u.a. (Hg.): Kulturgeographie. Heidelberg/Berlin 2003, S. 269-288 Giddens, A.: Konsequenzen der Moderne. Frankfurt a.M. 1995 Giddens, A.: Die Konstitution der Gesellschaft. Frankfurt a.M. 1984 Gleiter, J.H.: Architekturtheorie heute. Bielefeld 2008 Göhlich, H.D.M.: Die pädagogische Umgebung. Weinheim 1993 Günzel, St.: Raumwissenschaften. Frankfurt a.M. 2009 Helsper, W./Böhme, J./Kramer, R.-T./Lingkost, A.: Schulkultur und Schulmythos. Rekonstruktionen zur Schulkultur I. Opladen 2001 Hochbaudepartement der Stadt Zürich u.a. (Hg.): Schulhausbau. Der Stand der Dinge. Der Schweizer Beitrag im internationalen Kontext. Basel/Boston/Berlin 2004 Jelich, F.-J./Kemnitz, H. (Hg.): Die Pädagogische Gestaltung des Raums. Bad Heilbrunn 2003 Krappmann, L./Oswald, H.: Alltag der Schulkinder. Weinheim 1995 Kroner, I.: Die Bedeutung von Benutzungsnormen für den Umgang mit dem Schulgroßraum – Eine Vorstudie zur Raumsozialisation. In: Kroner, W. (Hg.): Untersuchungen zur Qualität gebauter Schulumwelt. 2: Baubezogene wissenschaftliche Begleituntersuchung der Laborschule Bielefeld. Institut für Schulbau Universität Stuttgart. Villingen 1980, S. 107-137 Lefebvre, H.: The Production of Space. Oxford/Cambridge 1991 Liebau, E./Miller-Kipp, G./Wulf, Chr. (Hg.): Metamorphosen des Raums. Erziehungswissenschaftliche Forschungen zur Chronotopologie. Weinheim 1999 Perlick, P.: Die Architektur im Dienste der Pädagogik. Ein Beitrag zur Planung von Grund- und Hauptschulen sowie verwandten Systemen. Wuppertal 1969 Piaget, J./Inhelder, B.: Die Entwicklung des räumlichen Denkens beim Kinde. Stuttgart 1971
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Jeanette Böhme
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II
Territorialisierungskrisen des schulischen Bildungsraums im soziokulturellen Wandel
Jürgen Oelkers
Globalisierte Bildungsansprüche im lokalen Schulraum Die heutige Schule ist in ihrer Struktur, in ihrem Aussehen und in ihrer Dynamik eine Erfindung der Nationalstaaten des 19. Jahrhunderts. Damit zu beginnen ist nicht trivial, weil die Nationalisierung der Schule eine historisch junge Angelegenheit ist. Die lateinische Höhere Bildung des späten Mittelalters und der frühen Neuzeit war europäisch ausgerichtet und kannte nur gute oder schlechte, aber keine nationalen Universitäten. Ebenso war die kirchliche Elementarbildung im Kern nicht an nationale Grenzen gebunden. Katechese und Ritus, die beiden zentralen Erziehungsmittel, unterschieden sich nach der Reformation konfessionell, aber nicht nach Ländern oder Nationen. Der Glaube sollte, soweit das Bekenntnis reichte, an allen Orten gleich sein. Wenn man so will: Bildung und Erziehung waren international, bevor sie national wurden.1 Die Prozesse der Nationalisierung waren nicht gleichbedeutend mit der Errichtung geschlossener Grenzen. Im Gegenteil haben sich die nationalen Bildungssysteme immer wechselseitig beobachtet, um den eigenen Entwicklungsstand bestimmen zu können, aber auch um gute Lösungen zu übernehmen und die Strukturen anzupassen (vgl. Gonon 1998). Der Aufbau des Kindergartens ist im 19. Jahrhundert ebenso eine internationale Erscheinung wie die Diskussion der Herbartschen Unterrichtsmethoden, die Etablierung der Lehrerseminare, die Einführung von Lesefibeln oder die Herausbildung eigener Kommunikationsmedien der pädagogischen Professionen. Selbst die Entwicklung von Schulgärten war keine Besonderheit nur des deutschen Schulwesens. Diese Internationalisierung ist heute vergessen. Die nationalen Bildungssysteme stehen wohl unter Druck, aber dieser Druck wird von der OECD und der Weltbank erzeugt. Er hat zu tun mit Leistungsmessungen und der unterschwelligen Globalisierung des Curriculums. „Globalisierung“ ist nicht „Internationalisierung“. Diese Unterscheidung ist grundlegend. Beide Konzepte sollten nicht gegeneinander ausgespielt, sondern parallel genutzt werden, auch um darzulegen, dass nationale Systeme tatsächlich unter Druck stehen, sich für Austausch und Wettbewerb öffnen müssen, darauf aber alles andere als vorbereitet sind. Viele Irritationen über schulische Bildungsangebote erklären sich damit, dass sie eng, veraltet und wenig zukunftsfähig 1
Das ist historisch nicht ganz korrekt, weil „Internationalisierung“ Nationen voraussetzt, die es weder im Mittelalter noch in der frühen Neuzeit gab.
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Jürgen Oelkers
erscheinen. Die Curricula sind weder auf Mobilität noch auf Austausch eingestellt. Lehrpläne und Lehrmittel sind, wenn ich mir den Ausdruck gestatten darf, nationalkonservativ. Nur nominell, nicht inhaltlich, ist von Internationalisierung die Rede. Hinter der Forderung nach mehr internationalem Austausch und größerer Öffnung der Schulsysteme steht irgendwie jeder, aber faktisch verlaufen die Bildungskarrieren fast ausschließlich an nationalen Institutionen. Internationalisierung wäre nice to have, ist also im Kern unwichtig. Das Problem lässt sich mit einem augenfälligen Beispiel verdeutlichen: Wer will, dass seine Kinder Fremdsprachen nicht nur lernen, sondern auch beherrschen, schickt sie ins Ausland, für teures Geld und zumeist ohne Unterstützung der Schulen. Schweizer Gymnasien etwa rechnen selbstverständlich kein Jahr an einer amerikanischen High School an, weil dort das Schweizer Niveau unterschritten wird. Deutsche Gymnasien sehen das ähnlich. Dabei liegt in diesem privat finanzierten Jahr der stärkste Effekt für die Beherrschung der englischen Sprache (vgl. Köller/Baumert/Cortina/Trautwein/Watermann 2004) und vermutlich auch der größte persönliche Veränderungswert der gesamten Schulzeit. Sprachen lernt man wirklich nur, wenn man in sie eintaucht und nicht, wenn man über sie oder in ihnen unterrichtet wird. Folgende Fragen lassen sich hier anschließen: Warum muss man Jahre lang in der deutschen Schule Französisch lernen, wenn man das in Frankreich besser, nachhaltiger und effektiver tun kann? Warum kann man in der deutschen Schule nur sehr begrenzt Englisch als Wissenschaftssprache lernen, obwohl das die Eingangsvoraussetzung zu den meisten Studiengängen ist? Und warum unterrichten an deutschen Schulen fast ausschließlich deutsche Lehrkräfte Fremdsprachen, wenn Unterricht erteilt von Native Speakers den bessern Effekt erzielt? Die Antwort auf diese Fragen ist irritierend einfach: Man lernt jahrelang Französisch, weil die Lehrpläne das so vorsehen, weil Lehrkräfte vorhanden sind und weil Klassen gebildet werden können. Ein anderer Ressourceneinsatz ist nicht vorgesehen. Englisch als Wissenschaftssprache ist in den Lehrplänen ein vages Versprechen, Natives können nur dann angestellt werden, wenn sie die deutschen oder die schweizerischen Voraussetzungen erfüllen, ein Austausch der Lehrkräfte qua Abordnung ist im EU-Bereich die ganz seltene Ausnahme. Der Schüleraustausch dauert wenn, dann wenige Wochen, ist curricular nicht verankert und dient dem Kennen lernen, das bekanntlich mit keiner Berechtigung verbunden ist. Das ist allerdings kein vollständiges Bild. Es gibt eine Art Internationalisierung im europäischen Bildungsraum, allerdings an Stellen, die nicht den Kernbestand der Schulen berühren, also Budgets, Curricula und Stundentafeln. Die Haushalte in den europäischen Bildungssystemen sind auf den nationalen Bedarf eingestellt, der nach Klassengrößen, Unterrichtsverpflichtung der Lehrkräf26
Globalisierte Bildungsansprüche im lokalen Schulraum
te und demographischen Prognosen berechnet wird. Die nationalen Curricula werden nie europäisch abgestimmt, abgesehen von bestimmten Zertifizierungen vor allem im Berufsbildungsbereich. Auch die Lehrmittel sind national gearbeitet. Es ist bislang kaum möglich, dass englische Schulbuchverlage ihre Produkte für deutschen Englischunterricht anbieten. Schließlich ist die Ausbildung von Lehrkräften europaweit nicht etwa angenähert, sondern bis zur Unkenntlichkeit verschieden, was auch für die Berechtigungen gilt. Nirgendwo in Europa werden wie in Deutschland zwei Staatsexamen mit Spitzennoten abverlangt, bevor der Beruf auch nur einen Tag lang ausgeübt werden kann. Die Frage meines Beitrages geht dahin, wie man das ändern kann, wenn man es ändern will. Zunächst werde ich mich mit der Globalisierung der Bildung auseinandersetzen und auf den dadurch erzeugten Druck auf die nationalen Systeme eingehen. Hier zeigt sich, dass Wettbewerb und europäische Annäherung keine gegensätzlichen Größen sind, wie am Beispiel des Förderunterrichts gezeigt wird (1). In einem zweiten Schritt stelle ich mit dem europaweiten Bemühen um Qualitätssicherung eine neue Form der Internationalisierung dar, die sich unter der Hand vollzieht und die zugleich den politischen Willen hinter sich weiß (2). Abschließend beschreibe ich, wie gering heute die Mobilität im Bildungsbereich tatsächlich ist und was sich ändern muss, damit sich nationale Systeme öffnen können. Appelle werden dabei nicht genügen (3).
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Globalisierung, Systemwettbewerb und europäische Annäherungen
Der Ausdruck „Globalisierung“ scheint sich auf einen ökonomischen und in der Folge der wirtschaftlichen Veränderungen auch auf einen gesellschaftlichen Prozess zu beziehen, der mit Bildung nur am Rande zu tun hat. Es geht um internationalen Wettbewerb, Standorte, Arbeitsplätze, Fusion von Unternehmen über die nationalen Grenzen hinaus, die Verlagerung der Produktion ins Ausland, in diesem Sinne um Rahmenbedingungen auch der Bildung, aber nicht um diese selbst. Die Globalisierung ist im Klassenzimmer nur soweit spürbar, als die Schülerschaft inzwischen an fast allen Orten multikulturell zusammengesetzt ist, was für die Lehrerschaft nicht annähernd gilt. Die Ausbildung für eine zunehmend heterogene Schule rekrutiert lokales Personal, das immer noch weitgehend monokulturell zusammengesetzt ist. Das hat Gründe: Wir verstehen „Bildung“ seit dem Aufbau der öffentlichen Schule im 19. Jahrhundert als nationale Größe, also geschützt durch Grenzen und organisiert in einem staatlichen Monopol. Bildung hat in diesem Verständ27
Jürgen Oelkers
nis nichts zu tun mit Wettbewerb und auch nicht mit Entgrenzung. Letztlich geht es in der Schule um eine Verteilung von Bildungsgütern und Berechtigungen, die viel mit sozialer Herkunft und wenig mit Chancengleichheit zu tun hat. Es fällt schwer, die Berechtigungen zu internationalisieren, echte Standards gibt es bislang nur in wenigen Bereichen, die Systeme reagieren zudem weit mehr auf örtliche Problemlagen als auf nationale Vorgaben. Föderative Systeme wie in Deutschland oder in der Schweiz sind in sich soweit differenziert, dass jede Globalisierung an den zahllosen Sonderlösungen scheitern müsste, sofern unter „Globalisierung“ die Vereinheitlichung der Systeme verstanden werden soll. Eine solche Vereinheitlichung wird es nicht geben. Die Geschichte der nationalstaatlichen Schule scheint in gewisser Hinsicht auch für die Zukunft bindend zu sein. Von „Globalisierung“ ist im Bildungsbereich also wenig zu spüren, vermutlich weil viel auf dem Spiel steht, wenn sich die staatliche Monopolisierung ändern würde. Man muss sich nur vorstellen, wie mühsam die historische Etablierung dieses Monopols gewesen ist. Um 1850 war in vielen Städten im deutschen Sprachraum die schulische Bildung mehrheitlich privat organisiert, entweder durch kirchliche Träger oder durch Bildungsunternehmer, die oft nachfrageorientierte Produkte wie „Musterschulen“ oder „Reformanstalten“ anboten. Vielfach handelten solche Firmen im Auftrag der Gemeinden und nicht selten gab es zum Unterhalt der Schulen eine Mischfinanzierung aus privat finanziertem Schulgeld und öffentlichen Schulfonds. Die Vollfinanzierung aus dem allgemeinen Steueraufkommen ist kaum fünfzig Jahre alt. Angesichts dieser Geschichte dürfte es politisch ausgeschlossen sein, europaweit einen Bildungsmarkt zu konstituieren, der um 1850 in Städten wie Leipzig, Hamburg oder Zürich de facto bestanden hat. Staatliche Reglementierungen, wie die ungeteilte Schulpflicht oder die Schulkreisbindung des Schulbesuchs, tun ein Übriges, das Monopol zu schützen und Wandel zu verhindern. Wenn Globalisierung mit internationalem Wettbewerb zu tun haben soll, so scheint das im Bildungsbereich ein aussichtsloses Unterfangen zu sein. Auch wenn die Europäische Union „Benchmarks“ im Bildungsbereich vorgibt (vgl. Beratungsergebnisse des Rates vom 5. und 6. Mai 2003), also Ziele, die in allen Mitgliedsländern innerhalb einer bestimmten Frist erreicht werden sollen (vgl. Europäische Union 2003), so ist damit wohl ein Wettbewerb der Systeme verbunden, aber kein Einstieg in ein Marktsystem. In diesem Sinne scheint die Verstaatlichung des 19. Jahrhunderts unkorrigierbar zu sein. Phänomene unterhalb der staatlichen Verfasstheit der Schule zeigen aber, dass der Druck auf die nationalen Systeme zunimmt. Seit den 1960er Jahren werden die nationalen Schulsysteme mit Hilfe von Leistungstests verglichen, sie sind in diesem Sinne einem Wettbewerb um die besten Resultate ausgesetzt, der zumindest in Ländern wie Deutschland und der Schweiz nicht ohne Folgen ge28
Globalisierte Bildungsansprüche im lokalen Schulraum
blieben ist. Die Entwicklungen der letzten Jahre sind die Folgen des Vergleichs. Mit den Tests werden neue Steuerungsgrößen implementiert, die die Lernkultur in den Schulen verändern werden, ohne hier angesichts der Standardisierung der Tests noch nationale Sonderwege gehen zu können. Anders gesagt führt PISA unter der Hand in den zentralen Leistungsfächern ein internationales Curriculum ein, das sich in seinen Ergebnissen vergleichend messen lässt. Damit ist eine Art Globalisierung nationaler Systeme auf den Weg gebracht, ohne hierin eine Paradoxie zu sehen. Die internationalen Vergleiche sind auch der Einstieg in eine Wettbewerbssituation, die mit staatlicher Bildungsfinanzierung, Investitionsverhalten und Überprüfung der Resultate zu tun hat. Die heutige Form der Bildungsfinanzierung ist, wie man heute sagt, inputorientiert. Sie richtet sich nach der Zahl der Schüler und Lehrer, nach der Klassengröße, der Anzahl der erteilten Lektionen, nach der erforderlichen Menge der Lehrmittel und ihrer Erneuerungsrate und vielen weiteren Faktoren, nur nicht nach dem Ergebnis. Das Resultat des Unterrichts spiegelt sich in Noten und Berechtigungen, die tatsächlich erreichte Qualität – oder im PISA-Jargon die „Kompetenz“ der Schülerinnen und Schüler – ist nebensächlich. Wenn ich richtig sehe, sind alle Bildungssysteme dabei, diese Orientierung am Input zu verändern, ohne bislang auch die Grundzüge der Bildungsfinanzierung zu verändern. Das ist in neuartigen amerikanischen Kosten-NutzenAnalysen angedacht (vgl. Levin/McEwan 2001), hat aber zumindest in Europa noch keine bildungspolitische Realität. Eine Orientierung am Ergebnis könnte die einheitlichen Lehrerlöhne unter Druck setzen und individuelle Leistungslöhne einführen. Aber auch, wenn das nicht durchsetzbar ist, werden sich die Investitionen verändern und werden die Ressourcen anders als heute zielgerichtet eingesetzt. Ohne eine solche Veränderung wird sich im Hinblick auf die Internationalisierung des Bildungssystems nichts bewegen. Der heutige Modus der Finanzierung belohnt Beharrung, nicht Wandel. Der stärkste Anreiz ist der Status Quo. Das Thema „Globalisierung“ lässt sich noch anders wenden, so nämlich, dass es als pädagogischer Problemkontext greifbar wird. Dazu zählen einmal die Implementation international erfolgreicher Steuerungen, dann die Idee des Wettbewerbs zwischen den nationalen Systemen und schließlich die Öffnung für internationale Entwicklungen. Bildung ist nicht identisch mit dem Angebot von Schulen, es gibt außerhalb des staatlichen Monopols zahllose neue und erfolgreiche Bildungsfelder, die alle mit elektronischen Formaten zu tun haben und die Schulen in der einen oder anderen Form erreichen werden. Außerhalb der staatlichen Schulen spielt seit langem der Wettbewerb eine gewichtige Rolle, wie man etwa an der Erwachsenenbildung zeigen kann. Dieser Wettbewerb einzelner Anbieter ist vom Wettbewerb der Bildungssysteme zu unterscheiden. 29
Jürgen Oelkers
Ausdruck dafür ist das PISA-Ranking. Damit verbunden ist folgende Frage: Was kann man tun, um den Stand der besten Bildungssysteme zu erreichen, also die eigene Wettbewerbssituation zu verbessern? Die Resultate und vor allem die Ranglisten der beiden PISA-Studien könnten zu dem Gedanken verleiten, einfach das Beste, das auf dem Markt vorhanden ist, zu kombinieren und so zu verfahren wie der englische Fußballclub Chelsea London. Die andere Möglichkeit wäre die Kopie des Besten, im Falle der PISARangliste die kanadische Provinz Alberta, die mit Spitzenwerten in allen Bereichen ausgezeichnet ist. Beide Strategien würden im Bildungssektor versagen. Nach Lage der Dinge kann man nicht einfach fremde Systeme kopieren, und seien sie noch so erfolgreich. Man kann immer nur das eigene System entwickeln, das nie ein zweites Mal komplett neu erfunden wird, wie manche Kommentare zu unterstellen scheinen. Dagegen steht die historische Macht des nach dem Gesundheitswesen zweitgrößten gesellschaftlichen Systems. Das gilt umso mehr, wenn es für einen Strukturwandel auf absehbare Zeit keinen gesellschaftlichen Konsens geben wird. Die skandinavischen egalitären Systeme sind mit hoher Übereinstimmung der verschiedenen politischen Kräfte eingeführt worden, aber das ist in Deutschland und auch in der Schweiz nicht absehbar, wie nicht zuletzt die Diskussion nach PISA gezeigt hat. Gesamtschulen für alle Kinder werden im deutschen Sprachraum seit 1812 diskutiert (vgl. Oelkers 2006), aber hatten nie eine echte Chance zur Verwirklichung. Die selektiven Systeme wurden angepasst, aber blieben im Kern erhalten. Das kann man politisch bedauern, aber man muss dann zur Kenntnis nehmen, dass die vorhandene Struktur die Veränderung bestimmt, nicht umgekehrt. Wenn der Besuch eines Gymnasiums nicht gleichsam die Folge des Elternwunsches sein soll und der Besuch einer Hauptschule die Folge eines sozialen Selektionsprozesses, dann sind Systemanpassungen unerlässlich. Selektive Schulsysteme wie im deutschen Sprachraum haben letztlich nur ein faires Kriterium der Schülerverteilung, nämlich das der persönlich zurechenbaren Leistung. Aber bereits bei Schuleintritt, wie die Lernstandsforschung zeigt, liegen die Kenntnisse der Schülerinnen und Schüler zum Teil weit auseinander (vgl. Stamm/Moser/Hollenweger 2004). Jede einzelne Klasse entwickelt eine Leistungshierarchie, deren Rangverteilung auch beim Wechsel der Lehrkraft mit hoher Wahrscheinlichkeit erhalten bleibt. Die Probe auf die Förderung ist die Veränderung der Hierarchie, an deren Erhaltung vor allem die besten Schüler starkes Interesse haben. Lösbar ist dieses Problem nur dann, wenn gezielte Maßnahmen zur möglichst frühen Förderung der Schülerinnen und Schüler getroffen werden, die ohne strukturellen Wandel – die Öffnung der Schule nach unten – kaum möglich
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Globalisierte Bildungsansprüche im lokalen Schulraum
sind. In Deutschland fangen die Kinder zu spät mit kognitiv anspruchsvollem Lernen an, die Schule kann in ihrer heutigen Struktur die sozialen Nachteile bestimmter Gruppen nicht ausgleichen und der durchschnittliche Unterricht nimmt zu wenig Rücksicht auf die vorhandenen Unterschiede. Er besteht überwiegend aus Lektionen des Lernens, die den idealen oder den durchschnittlichen Schüler unterstellen, aber nicht das individuelle Kind. Fördern aber kann man nur unterschiedlich. Die Förderung muss möglichst früh beginnen und imstande sein, die individuellen Lerntempi zu berücksichtigen. Das gelingt nur mit einem gleitenden Weg des Lernens in die Schule hinein, wobei hinderlich ist, wenn zwei ganz verschiedene Institutionen, wie Kindergarten und Grundschule, den frühen Lernweg der Kinder gestalten. Strukturell werden in der Schweiz derzeit „Basis-“ oder „Grundstufen“ ausprobiert, die die bisherige, sehr strikte Trennung zwischen Kindergarten und Primarschule aufheben. Bislang war der Kindergarten – frei nach Friedrich Fröbel – als Ort des Spiels gedacht, an dem nicht, wie in der Schule, curricular gearbeitet werden sollte. In Zukunft werden beide Lernorte zusammengelegt, vor allem um die Förderung zu intensivieren. Offenbar haben andere Bildungssysteme außerhalb des deutschen Sprachraums auf diesen Tatbestand bereits reagiert. Der kognitionsferne Kindergarten scheint europaweit der Vergangenheit anzugehören. Was sich durchsetzt, sind Mischformen von spielerischem Lernen und ganzheitlicher Förderung, wozu dezidiert auch kognitive Lernangebote zählen. Einige europäische Länder haben dementsprechend Rahmencurricula für den vorschulischen, bislang wenig regulierten Bereich eingeführt. Eine Analyse dieser Entwicklungen zeigt, dass bestimmte Standards für die Gestaltung dieses Bereiches unerlässlich sind, ohne dass dies mit einer „Verschulung der Kindheit“ verbunden wäre. Frühkindliche Förderung verlangt sehr flexible und individualisierte Formen der Curricularisierung, und die internationale Entwicklung zeigt, dass genau dies möglich ist, sofern ausreichend Ressourcen vorhanden, die Lehrkräfte professionell ausgebildet sind und genügend Evaluationsdaten zur Verfügung stehen. Wirksame Förderprogramme auch über die Basisstufe hinaus sind Teil der Qualitätssicherung. Diesen Ausdruck verwenden wir erst seit einigen Jahren, aber er steht nicht nur für eine neue pädagogische Rhetorik. Vielmehr entwickelt sich eine Praxis der Qualitätssicherung, die in den verschiedenen Bildungssystemen zum Verwechseln ähnlich ist und die für eine Internationalisierung sorgt, die niemand so nennt und die doch unaufhaltsam scheint. Der politische Wille ist selbst in föderativen Systemen in diesem Punkt einheitlich, das Know How ist überraschend schnell transferiert worden und überall geht es heute eigentlich nur noch um die Implementation der neuen Verfahren. Mich interessiert in einem
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Jürgen Oelkers
zweiten Schritt, was es mit dieser Internationalisierung der Qualitätssicherung auf sich hat und ob damit tatsächlich ein Quantensprung der Schulentwicklung gelingt.
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Die Internationalisierung der Qualitätssicherung
Qualitätssicherung hat mit Normierung zu tun, wie sich nochmals am Beispiel des Förderns zeigen lässt. „Fördern“ ist kein Widerspruch zu klaren Leistungsanforderungen. Im Gegenteil kann ernsthaft nur dann gefördert werden, wenn ein Vergleichsmaßstab vorhanden ist. Daher muss verbindlich festgelegt sein, was als „Leistung“ gilt und was nicht. Es ist nicht alles eine Leistung, was die Schüler zustande bringen, und fast jede Leistung verweist auf ein höheres als das erreichte Niveau. Vielen Lehrkräften fällt diese Normierung schwer, weil sie ihre Freiheiten bedroht sehen. Aber ohne curriculare Normwerte oder ohne verbindliche Standards sind Leistungsbeurteilungen nur zuverlässig im Blick auf die Normalverteilung in der Klasse, nicht darüber hinaus. Dies ist ein erster Schritt zur Qualitätssicherung, die Etablierung von Vergleichsmaßstäben. Eine der zentralen Forderungen ist die regelmäßige Evaluation der Qualität einer Schule. Das Konzept der accountability, also der Verantwortung der Schule für das Zustandekommen der Leistungen ihrer Schüler, geht auf einen Aufsatz zurück, den Harry Levin2 im Jahre 1974 in der amerikanischen Zeitschrift School Review veröffentlichte. Seitdem ist das Thema politisch stark aufgewertet worden, ohne an dem einfachen Modell von Levin viel zu verändern. Dieses beschreibt, was Evaluationen im Kern ausmacht und wozu sie in der Praxis dienlich sind. Die Verantwortung der Schule kann nicht abstrakt definiert werden, sondern verlangt die Beobachtung des Prozesses und so eine Datenbasis. Anders kann jeder Verantwortung reklamieren, ohne zur Rechenschaft verpflichtet zu sein. Oder es kann jeder Verantwortung bestreiten, obwohl die Zuständigkeit gegeben ist. Das Modell von Harry Levin umfasst: Ziele: erreichbare Endzustände eines Prozesses; Mittel: Maßnahmen, die sicherstellen, dass der begonnene Prozess in Richtung Ziele verläuft; 2
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Harry M. Levin ist derzeit wie William Heard Kilpatrick Professor of Economics and Education am Teachers College der Columbia University. Er leitet das National Center for the Study of Privatization in Education (NCSPE).
Globalisierte Bildungsansprüche im lokalen Schulraum
Feedbackschleifen: regelmäßige Überprüfung der erreichten Qualität; Folgen: Anpassung des Prozesses in Richtung Feedback-Daten.3 Das ist die Basisidee hinter dem, was heute „Evaluation“ genannt wird. Evaluiert werden können die Leistungen der Schüler, die Kompetenz der Lehrkräfte oder die Qualität der Schulen. „Qualität“ wird nicht mit abschließenden Noten, sondern mit Hilfe von Feedbackschlaufen im Prozess beschrieben. Damit wird es theoretisch möglich, Lernen nicht einfach auf Ziele auszurichten, sondern den Prozess zu beeinflussen. Es ist im Sinne dieses Prozessmodells falsch oder irreführend, aus allgemeinen Lernzielen Operative abzuleiten und dabei stehen zu bleiben. Entscheidend ist, die tatsächlichen Erfahrungen einschätzen und korrigieren zu können. Zur Qualitätssicherung gehören daher regelmäßige Evaluationen. Die Grundidee der „Qualitätssicherung“ stammt aus angelsächsischen Ansätzen der Reform der öffentlichen Verwaltung. Zentral wurde hier die Frage der Effizienz und Wirksamkeit des Verwaltungshandelns, das nicht länger von Dienstvorschriften und Hierarchien her beurteilt werden sollte. Die Frage, ob die Regeln des New Public Managements auf Schulen übertragen werden können, ist Mitte der 1990er Jahre in der Schweiz intensiv diskutiert worden und hat zum Teil, wie in Zürich, zu groß angelegten Versuchen geführt, die positive Resultate erzielten. Viele Kantone haben inzwischen erweiterte Schulleitungen eingeführt, sind dabei, die herkömmliche Schulaufsicht durch Evaluationsagenturen zu ersetzen, lassen Leistungsmessungen durchführen, entwickeln Standards, stellen die Finanzierung auf Globalbudgets um und verlangen regelmäßige Mitarbeiterbeurteilungen. Das entspricht einem sich anbahnenden internationalen Standard der Systementwicklung. Nochmals: Niemand nennt das eine Internationalisierung, aber in fast allen Systemen passiert in dieser Hinsicht ungefähr dasselbe, nur zeitlich versetzt und mit den notwendigen Anpassungen versehen. Heute hat Qualitätssicherung in aller Regel mindestens acht ausschlaggebende Elemente: Zielsteuerung und Kompetenzorientierung, Aufbau von Schulleitungen mit Kompetenzen und Weisungsbefugnissen, höchstmögliche Transparenz des schulischen Angebots, 3
An accountability system is a closed loop reflecting a chain of responses to perceived needs or demands; an activity or set of activities that emerges to fill those demands; outcomes that result from those activities; and feedback on outcomes to the source of the demands. The feedback may generate new demands or a regeneration of the old ones; in either case, the previous set of activities may be modified or remain intact; a new or altered set of activities may be produced; and the loop is completed again with feedback to the source of the demands” (Levin 1974, S. 375).
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Unterricht und Leistungsbewertung nach Standards, Mitarbeiterbeurteilung und interne Evaluation, regelmäßige externe Evaluationen, Offenlegung der dabei erzeugten Daten, Zielvereinbarungen mit Blick auf die nächste Etappe der Schulentwicklung.
Das sind Instrumente der Professionalisierung, die heute international üblich sind und ihre Erprobung hinter sich haben. Die Entwicklung im deutschsprachigen Bildungsraum vollzieht nur nach, was in skandinavischen oder angelsächsischen Systemen vor fünfzehn oder zwanzig Jahren begonnen wurde. Im Hinblick darauf trügt der Eindruck nicht, dass Bildungssysteme auf dieser Linie modernisiert werden, mit Qualitätsgewinnen, wie der Vergleich zwischen guten und weniger guten Ländern der PISA-Studie zeigt (vgl. Oelkers 2003). Eine in der Diskussion wenig beachtete Funktion dieser Instrumente ist, dass sie die Intransparenz des schulischen Geschehens überwinden sollen. Von der Leistungsbeurteilung bis zu den Kriterien des guten Unterrichts ist im Schulalltag zuviel undurchsichtig und zu wenig wirklich explizit, also von Eltern, Schülern und Kollegen nachvollziehbar. Die tatsächlichen Kriterien, zum Beispiel der Notengebung, sind oft nur der Lehrkraft bekannt, während Schüler hier nicht selten dramatische Schicksale erleben, die auf ihre Schulkarriere nachhaltigen Einfluss ausüben. Soll sich das ändern, muss Transparenz zur Grundregel werden, und zwar nach innen und außen gleichermaßen. Das Grundmodell der heutigen Verschulung stammt, wie gesagt, aus dem 19. Jahrhundert, die weltweite Veränderung des Modells hat eingesetzt, seitdem es Kontrolldaten und kritische Befunde gibt. Der Systemumbau ist im internationalen Vergleich als Evolution mit Schwellenanstieg angelegt. Es geht im Kernbereich der öffentlichen Bildung nicht um einen radikalen Wechsel in Richtung Bildungsmarkt, zumindest in Europa soll der historische Gewinn nicht aufs Spiel gesetzt werden. Es geht also um die Effektivierung eines geschützten Systems, das umgebaut wird, während es operiert. Der Umbau soll das grundsätzliche Vertrauen in die Organisation öffentlicher Bildung bestätigen, aber das unter Voraussetzungen, die sich auf Globalisierung und Flexibilisierung, so auf Differenzierung und Beschleunigung, einzustellen haben. Der Luxus der langsamen und möglichst nicht spürbaren Entwicklung eines eher trägen Systems gehört der Vergangenheit an. Das Tempo entsteht nicht zufällig, weil der Veränderungsdruck ständig steigt und sichtbar ist. Die Systementwicklung lässt sich auf einen einfachen Grundsatz zurückführen: Die nationalen Bildungssysteme müssen im internationalen Maßstab wettbewerbsfähig gemacht werden, und dies nicht lediglich in einem formal-deskriptiven Sinne, sondern inhaltlich und qualitätsbezogen. Der Wettbewerb bezieht 34
Globalisierte Bildungsansprüche im lokalen Schulraum
sich auf den Arbeitsmarkt der Zukunft, der keine schützenden Grenzen mehr kennt und auf dem nur erfolgreich ist, wer über eine hinreichende Ausbildung verfügt. „Hinreichend“ ist die Ausbildung dann, wenn sie in Schlüsselfeldern wie Sprachen, Mathematik, Lesen und Naturwissenschaften möglichst hohe Kompetenzen vermittelt. Diese Kompetenzen werden auf dem Arbeitsmarkt der Zukunft vorausgesetzt und nicht etwa von den Betrieben nachgebessert, wenn sie nicht oder nur lückenhaft vorhanden sind. Auch die schulischen Lernkulturen müssen sich in Zukunft verändern. Bei der Veränderung muss eine Innovationsrate in Rechnung gestellt werden. Originalität spielt nicht nur bei Anstellungen in Berufsfeldern eine zunehmend wichtige Rolle, sondern unterscheidet auch die Ausbildungssysteme. Es wird also einen Innovationswettbewerb geben, und dies nicht nur im Bereich der Forschung, sondern auch in der Didaktik und also der Gestaltung von Lernprozessen. Die Ausbildungsinstitutionen werden sich didaktisch profilieren, was auf dem Markt der Erwachsenenbildung bereits heute der Fall ist. Man unterscheidet sich aber nicht von anderen ohne gute eigene Ideen. Nicht nur das Wissen wird ständig innoviert, sondern auch die Wissensvermittlung, und vermutlich wird sich der Bildungswettbewerb hier entscheiden. Mindestens haben diejenigen Anbieter Vorteile, die die Trägheit des Bildungssystems erfolgreich dynamisieren können, und das gelingt nur, wenn neue Formen nicht nur der Systemsteuerung, sondern auch der Wissensvermittlung gefunden werden. Die oft pathetische Rede von der „Wissensgesellschaft“, auf die wir uns mit dem Laptop einstellen müssen, darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Standardform schulischen Lehrens und Lernens immer noch der herbartianische Formalstufenunterricht ist, den eine dafür professionalisierte Lehrkraft erteilt. Aber diese konservative These genügt nicht für die Zukunft. Die kritischen Fragen lassen sich nämlich ganz anders stellen: Wie bereiten wir Schüler in einer Institution des 19. auf die Anforderungen des 21. Jahrhunderts vor? Zugespitzt formuliert: Wie lernt man für eine flexible und sich ständig beschleunigende Wissensgesellschaft in einer trägen Institution, die veraltetes Wissen anbietet, im Kern Methoden des frühen 19. Jahrhunderts verwendet und das Wichtigste nicht vermittelt, nämlich das „Lernen des Lernens“? Der Wettbewerb der didaktischen Ideen dreht sich um diese Fragen. Sie haben einen Nachteil: Man kann sie großflächig stellen, aber nicht großflächig beantworten. Der Unterricht wird nicht einfach anders, nur weil sich Zielpostulate der Didaktik auf Konzepte der „Wissensgesellschaft“ beziehen (vgl. Hargreaves 2003). Gefragt sind Ideen und Instrumente, die konkret und Stück für Stück für Veränderungen im sensiblen Bereich der didaktischen Vermittlung sorgen können.
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Dabei spielt die Internationalisierung, also Austausch und Öffnung, bislang keine Rolle. Auch eine europäisch angenäherte Schulorganisation ist nicht in Sicht. Die nationalen Behörden tun so, als könnte jede Schule mit ihren Mitteln auf Phänomene der Globalisierung reagieren, bei denen dann jeder froh ist, dass sie ihn nicht betreffen. Aber die Kernfrage ist, wie Öffnung möglich sein kann, wenn alle Ressourcen zur Sicherung der nationalen Bildungsversorgung eingesetzt werden. Der Bildungshaushalt der Europäischen Union ist schwach, weil die Mittel der einzelnen Länder nicht an die Bedingung der Internationalisierung gebunden sind. Aber dann muss man sich nicht wundern, dass Austausch keine Tugend und Beweglichkeit kein Systemziel ist. Das Problem lässt sich etwa an der Mobilität im Bildungssystem darlegen. Damit beginnt mein dritter Teil.
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Mobilität und die Überwindung von Trägheit
Bei ganz kleinen Zahlen von Studierenden hieß „Universität“ im 16. und 17. Jahrhundert europäischer Austausch. Die Studierenden waren beweglich, auch weil nicht überall ein Angebot zur Verfügung stand. Die Professoren wurden international rekrutiert und mussten sich an verschiedenen Orten bewähren. Es gab Wettbewerb zwischen den einzelnen Universitäten und keinen staatlichen Unterhalt. Mehrsprachigkeit war eine Voraussetzung, auch die berühmten italienischen Universitäten hatten nicht nur italienisch sprechende Studenten. Die Bildungssprache war Latein, aber zusätzlich mussten verschiedene Sprachen beherrscht werden, weil auch die Beschäftigungen nicht an ein bestimmtes Land gebunden waren. Bei sehr großen Zahlen heißt Studium heute Immobilität. Man macht dort Examen, wo man studiert hat, so wie man auch das Gymnasium nicht wechselt, es sei denn, der Erfolg bleibt aus. Auf diesen Zustand reagierte die Erklärung von Bologna, deren Ziel es ist, für mehr Mobilität im europäischen Bildungsraum zu sorgen und dafür die notwendigen Verfahren des Austausches und der Anerkennung zu entwickeln. Bei Unterzeichnung der Erklärung stand sicher nicht die Trägheit der Bildungssysteme vor Augen. Das ist typisch, denn die Bildungspolitik hat bei ihren Entscheidungen immer ein zu gutes Bild ihres eigenen Systems vor Augen, und die Verzerrung steigert sich offenbar, wenn es international wird. Eine bestimmte Variante der Internationalisierung des Bildungssystems wird oft so beschrieben, dass die besten Universitäten weltweit um die besten Studenten konkurrieren sollten. Dazu ist ein wenig mehr nötig, als nur an deutschen Hochschulen englischsprachige Studiengänge anzubieten, aber die Idee klingt 36
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gut und wird inzwischen auch politisch hoch gehandelt. Es fragt sich aber nicht nur, welche Universitäten dafür in Frage kommen, wenn nicht alle geeignet sind; es fragt sich auch, ob die Mobilität, die unterstellt wird, überhaupt vorhanden ist. Studieren die Besten aus China fortan in München oder in Zürich, wenn es in Peking in Zukunft Eliteuniversitäten mit Nobelpreisträgern gibt? Die Frage ist rhetorisch, weil der Fall ganz selten ist und vom eigentlichen Problem ablenkt. Und dieses Problem hat eher mit der Bildungsfinanzierung als mit den künftigen Nobelpreisträgern zu tun. Nationale Systeme orientieren sich am vermuteten Eigenbedarf. Die Steuern werden national erhoben und die Steuererträge werden in die nationale Bildung investiert. Auch wenn in bestimmten Quartieren großer deutscher Städte fast alle Schüler Ausländer sind, handelt es sich um deutsche Schulen. Man macht ein deutsches Abitur oder eine schweizerische Maturität. Auch der Gegenwert ist national. 60 % der italienischen Schüler machen die maturità in irgendeiner Form, 73 % der Absolventinnen und Absolventen schreiben sich unmittelbar nach dem Schulabschluss zum Studium ein, aber derzeit beenden nur 53 % der Studierenden das Universitätsstudium auch. Und wer einen Abschluss erreicht, hat nicht direkt schon gute Aussichten; nur 64 % aller Akademiker haben echte Karrierechancen (vgl. Biagi 2002). Das ist in Frankreich, England, Finnland oder Deutschland je ganz anders. Auch in der Schweiz ist die allgemeine Hochschulreife ganz auf den begrenzten Bedarf zugeschnitten. Allerdings hat die Schweiz im internationalen Vergleich einen hohen Anteil von Studierenden aus dem Ausland.4 Je nach Rechnung beträgt dieser Anteil zwischen 12 % und 17%. Der Saldo zwischen den ausländischen Studierenden und den Schweizer Studierenden im Ausland liegt bei 7.5 %, er wird nur von Australien mit 8.1 % übertroffen, wobei gesagt werden muss, dass australische Studierende praktisch nicht im Ausland studieren, während dies im Jahre 2002 immerhin 4.8 % der Schweizer Studierenden taten. Mit 5.5 % liegt die Quote für Österreich im gleichen Jahr leicht höher, während sie für Länder wie Deutschland (2.6 %) oder Frankreich (2.5 %) erheblich niedriger liegt (vgl. Bundesamt für Statistik 2004). Selbst wenn Unterschiede nach Fachrichtungen gemacht werden müssen, der Anteil ist durchweg gering und es steht nicht zu erwarten, dass sich das nennenswert ändert, sofern ein wirklicher Politikwechsel nicht erfolgt. Auch gibt es keine Daten, was die ausländischen Schülerinnen und Schüler mit ihren Berechtigungen anfangen und ob sie sich einbürgern lassen oder nicht. Im Vergleich ist unklar, welche Motive für ein Studium im Ausland maßgebend sind und ob es jenseits bestimmter amerikanischer 4
Daten: Bundesamt für Statistik. Ausländische Studierende werden definiert als „Studierende mit ausländischer Nationalität und Wohnort vor Studienbeginn in oder außerhalb der Schweiz“.
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Eliteuniversitäten wirklich einen internationalen Wettbewerb um die besten Studentinnen und Studenten gibt. Die Ausweitung des Angebots von englischsprachigen Studiengängen wird vermutlich Zielgruppen nur beschränkt erreichen können, weil das Heimatangebot attraktiver erscheint und Mobilität bislang nur in engen Grenzen vorhanden ist. Wenn im Jahre 2002 16.581 Chinesinnen und Chinesen an deutschen Universitäten studiert haben (vgl. Grund- und Strukturdaten 2004, S. 201), dann hat das wenig mit dem Wettbewerb um die Besten und viel mit Entwicklungspolitik zu tun. Wenn dies im gleichen Jahr 16.777 Personen aus der Türkei getan haben (ebd., S. 200), dann spielt eher das deutsche Ausländerrecht als der Wettbewerb eine Rolle. Auffällig ist, dass beide Gruppen mit einem hohen Anteil in den Ingenieurs- und Naturwissenschaften vertreten sind, die Chinesen zusätzlich auch in den Rechtswissenschaften (ebd., S. 202 f.), weil hier der heimatliche Bedarf besonders groß ist. Wenn sich das ändern soll, muss Bildungsmobilität zu einer politischen Größe werden. Damit meine ich nicht ein nochmaliges Aufladen der Bologna-Rhetorik. Vielmehr muss Internationalität zur überprüfbaren Zielgröße der Ausbildung werden, also zu einem Standard, an dem die Systeme gemessen werden. Sprachliche und überhaupt curriculare Öffnung, Austausch und veränderter Ressourceneinsatz wären so Teil der Qualitätssicherung. Auf den diversen Listen, die Qualitätssicherung beschreiben, fehlt notorisch das Element Internationalisierung. Das ist verständlich, weil jedes System ad hoc nur an sich denkt, aber dieses Denken ist gefährlich eng, wenn man an die Zukunft auf internationalen Bildungs- und Arbeitsmärkten denkt. Wenn zunehmend Mobilität verlangt wird, können nicht ausgerechnet die Bildungsinstitutionen immobil sein. Schulen waren seit ihren Anfängen immer lokal, also ortsgebunden5, und in diesem Sinne geschichtlich. Jeder Ort hat andere Schulen, eine bestimmte Schule ist nicht zweimal vorhanden und jede nimmt von sich an, sie habe eine eigene Identität. Wo das anders ist, etwa in der „Berlitz-School“, hat man Mühe, eine Schule zu erkennen. „Lernstudios“ sind erst dann Schulen, wenn sie mehr sind als ein Nachhilfeangebot. In diesem Sinne wird und kann es ein pädagogisches „überall gleich“ nicht geben. Die Geschichten der Schulen sind alle verschieden, geprägt durch lokale Kulturen oder Milieus, die sich sozial neu durchmischen können, aber dann immer noch auf der Einzigartigkeit „ihrer“ Schule bestehen. An keiner Stelle der Schulgeschichte hat bislang je eine Chance bestanden, den einen Ort der Schule zu überwinden und global zu wirken. 5
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Das französische local ist eine Entwicklung aus dem spätlateinischen localis. Das lateinische locus lässt sich mit „Ort“, „Platz“, „Stelle“ oder „Raum“ übersetzen, locus ist dann auch „Stellung“ oder „Rang“, im weiteren „Ortschaft“ oder „Punkt“. Erfasst wird eine Raumposition, die enge Grenzen vorschreibt.
Globalisierte Bildungsansprüche im lokalen Schulraum
Aber das Umfeld der Schulen und so der öffentlichen Bildung verändert sich radikal. „Globalisierung“ muss heute als Realität verstanden werden, die immer mehr auch in den pädagogischen Raum eingreift. Ein Basisvorgang ist die Flexibilisierung von Zeit. Arbeit wie Produktion lassen sich nicht mehr an Stundenbudgets fesseln, die Korrelation von Arbeitszeit, berechnet in Stunden, und Produktivität bricht auseinander, weil die Arbeitsvorgänge oder Tätigkeiten immer mehr an festen Elementen verlieren. Mit der Fabrik verschwinden zugleich das Fliessband und so der Arbeitstakt. Das Problem ist nicht mehr, den Arbeitstakt zu steigern oder abzusenken, sondern ohne Takt arbeiten zu müssen, mit einer individuell berechneten Zeit, die vom Ergebnis her kalkuliert wird. Wie viel Zeit für das einzelne Produkt angenommen werden muss, ist nicht in einem allgemeinen Sinne klar, sondern wird individualisiert, je nach der Leistungsbereitschaft oder -fähigkeit einzelner Mitarbeiter. Globalisierung heißt nicht nur Erreichbarkeit an jedem Standort der Welt, nicht nur Abrufbarkeit jeder Information, nicht nur Kombinationsfähigkeit jedes Elements, sondern zugleich Unberechenbarkeit bei Verlust von Rhythmus und kollektivem Lebensgefühl. „Globalisierung“, könnte ich auch sagen, überwindet den Globus, auch weil darunter keine konkreten Prozesse wie die Entdeckung Amerikas und deren Folgen mehr verbunden sind. Globalisiert werden kommunikative Netze, Datensätze, Steuerungssysteme, die nicht mehr mit dem Kontakt haben, was im Alltagsleben als „Realität“ erscheint. Umso mehr ist diese Realität von den Globalisierungsfolgen bestimmt, was sich auch in den Schulen zeigen wird. Die Dauer des Schulbesuchs ist nicht mehr sakrosankt, vor allem werden die in sich geschlossenen Lehrgänge fraglich, die lediglich einen Lernort vorsehen und die nur auf ein fachbezogenes Curriculum abzielen, das geringe kognitive Innovationsraten kennt. Diese Lehrgänge setzen ein Personal voraus, das jahrzehntelang an einem Ort tätig ist und hier ein Handlungsrepertoire entwickelt, das wenig Flexibilität erweisen muss. Schon zwischen zwei Schulen eines deutschen Bundeslandes oder eines Schweizer Kantons ist kein Austausch vorgesehen, in der Schweiz werden nicht einmal die Landessprachen genutzt, um die schulischen Lehrgänge aufzubrechen und die Sprachen dort zu lernen, wo sie gesprochen werden. Aber mit der Qualitätssicherung nimmt auch der Effizienzdruck zu. Damit wird die Frage gestellt, wo und wie Bildung eigentlich erzeugt werden soll. Ist die Zukunft der Bildungsgesellschaft wirklich gesichert, wenn Kinder und Jugendliche zwölf Jahre ihres Lebens damit zubringen, ohne große Wechsel schulische Lernprogramme nachzuvollziehen, deren Wert kaum je begründet wird? Eine Bruchstelle könnte sich sehr schnell zeigen. Allgemeinbildung und Berufsbildung sind bislang getrennt. Diese Trennung und damit die gestufte 39
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Struktur der Ausbildung stehen auf dem Prüfstand. Wenn es nicht mehr um die Fachlichkeit lebenslang ausgeübter Berufe geht, sondern um die fortlaufende Qualifizierung für Beschäftigungen (employability) (vgl. Kraus 2005), dann wird die Idee der Konsekution erst der schulischen Allgemeinbildung und dann der Berufsbildung fraglich. Bereits heute lässt sich zwischen Lernen und Arbeiten nicht mehr unterscheiden. Jugendliche werden nicht für klar abgegrenzte Berufe ausgebildet, sondern müssen Lernfähigkeit nachweisen. Es geht dann aber nicht mehr nur um schulische Abschlüsse, sondern um erworbene und nachgewiesene Kompetenzen, die sich auf dem Arbeitsmarkt einhergehend mit der Qualifizierung für die bestimmte Tätigkeit oder den Aufgabenbereich verwerten lassen. Das hat mittelfristig Folgen für die Schulen auf allen Stufen. Kompetenzen lassen sich an verschiedenen Orten erwerben, ohne an nationale Präferenzen gebunden zu sein. Die öffentliche Schule wird ihr Wissensmonopol verlieren und sich dem Wettbewerb stellen müssen, mit dem sich entscheidet, wo die wirklich besten Orte des Lernens sind. Auch wenn das utopisch klingt: Wer auf die Wirklichkeiten der Globalisierung reagieren will, kann nicht einfach nur für jedes Kind und jeden Jugendlichen minimal neun Schuljahre verstreichen lassen. Die Schulsysteme müssen sich dem Wandel anpassen und mit Öffnung reagieren. Soll es so etwas geben wie eine europäische Bildungswelt, dann müssen auch die europäischen Gelder anders verteilt werden. Es macht wenig Sinn, viele Straßen zu haben, viele Kühe und viel regional geförderte Zersiedlung, wenn der wesentliche Wandel darin besteht, Mobilität, Arbeit und Lernen zu verbinden. Die EU-Subventionen bedienen Landwirtschaft, Regionalförderung und Infrastrukturplanung, aber nicht die Bildung oder dies nur in einem sehr geringen Maße. Wie wäre es, wenn man die Prioritäten umdrehen würde: Kühe, Straßen und Regionen sind nationale Aufgaben, die Bildung erhält eine europäische Finanzierungsdimension, die endlich auf die Herausforderungen der Globalisierung reagieren kann. Dabei muss der Wandel der Bildung in Rechnung gestellt werden. Schulische Bildung ist nicht mehr Ausrüstung für das Leben, kein „Rucksack“ mehr, wie man in der Schweiz sagen würde. Was die Schule vor allem vermitteln muss, ist Lernfähigkeit und so Offenheit gegenüber dem, was man nicht kennt. Dazu muss man verschiedene Orte der Bildung erfahren haben, nicht nur die eine Schule, die man dann sehr schnell zur „eigenen“ erklärt, weil man andere Orte nie erfahren hat. Nichts ist bildsamer als eine fremde Kultur und deren Bildungswelten, in die man sich einleben muss und die nicht einfach unterrichtet werden kann. Vielleicht besteht das wesentliche Hemmnis auf dem Wege zur europäischen Einigung ja nicht in der fehlenden Verfassung, sondern in der archaischen Ortsbindung der Bildung. 40
Globalisierte Bildungsansprüche im lokalen Schulraum
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Schulorte und Raumgefüge informellen Lernens 1
Informelle Lernumgebungen
Im Folgenden sollen schulische Orte und informelles Lernen miteinander in Bezug gesetzt werden. Ohne Zweifel hat die Gestaltung räumlicher Gegebenheiten Einfluss auf das Lernen der jeweils dort agierenden Menschen. In der Diskussion um informelles Lernen wird dabei der Begriff der Lernumgebung als Ausdruck der äußeren Bedingungen des Lernens verwendet. Die Lernumgebung – im weiteren Sinne – ist eines von zwei grundsätzlichen Faktorenbündeln, die die Richtungen mit definieren, die ein Lernprozess nimmt. Der andere Blickwinkel muss naheliegenderweise auf das lernende Subjekt gerichtet sein (vgl. Zürcher 2007, S. 56 f). Wenn man also das informelle Lernen als Lernen in definierbaren und gestaltbaren Lernumgebungen (Settings) betrachtet, wendet man den Blick auf wesentliche Lernvoraussetzungen (vgl. Overwien 2001, S. 365). Manche Autoren, besonders aus der Erwachsenenbildung, sehen die zentrale pädagogische Frage inzwischen längst nicht mehr als mit der Stoffvermittlung verbundene, sondern darin, welche Lernumgebungen ein selbstbestimmtes Lernen stimulieren und welche dies weniger leisten (vgl. Alheit, Daussien 2002, S. 571). Informelles Lernen in gestalteten Lernumgebungen wird im angelsächsischen Kontext als informelle Bildung definiert (vgl. Livingstone 2006). Insbesondere im Feld arbeitsbezogener Bildung und Weiterbildung werden damit verbundene Fragen seit Jahren bearbeitet, was nicht weiter verwunderlich ist, geht es doch um die Bereitstellung von Dienstleistungen und Produkten, also auch um den Einfluss des Lernens auf deren Quantität und Qualität. Vor allem deshalb, aber auch zur Erreichung von mehr Transparenz und Durchlässigkeit in den Bildungssystemen Europas, kommen Impulse aus der Europäischen Union hin zu einer stärken Einbeziehung auch informellen Lernens. Deren arbeitsbezogene Anteile sollen sogar innerhalb von Anerkennungsverfahren sozusagen formalisiert und damit über die erworbenen Kompetenzen sichtbar gemacht werden, wobei die dazu erforderlichen Instrumente erst in der Entwicklung sind. Die Einführung eines Europäischen und Deutschen Qualifikationsrahmens wird hier vermutlich beschleunigend wirken, da die Anerkennung informellen Lernens explizit Teil dieser Rahmenwerke ist (European Commission 2008, Arbeitsgruppe DQR 2009).
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Schulorte und Raumgefüge informellen Lernens
Bereits in den 1980er Jahren zeigte sich in deutschen Unternehmen, dass neue Arbeitskonzepte eine umfassendere Kompetenzentwicklung und damit auch ein verstärktes Lernen in der Arbeit erfordern. In Deutschland wurden die damit verbundenen Lernprozesse zunächst eher als Erfahrungslernen charakterisiert. Der Begriff des informellen Lernens als Lernart im betrieblichen Kontext kommt aus der internationalen Diskussion und gewinnt in den letzten Jahren innerhalb der deutschen erziehungswissenschaftlichen Debatte an Bedeutung (vgl. Dehnbostel u.a. 2003, S. 30 ff.). Die damit verbunden Prozesse sind Teil eines in sich differenzierten pädagogischen Verständnisses von Lernen geworden (vgl. Göhlich u.a. 2007). Neben dem formal organisierten Lernen in Schulen und Universitäten, geraten auch über den betrieblichen Kontext hinaus Lernfelder in den Blick, die bis vor kurzem wenig wahrgenommen wurden (vgl. Brodowski u.a. 2009). Auch angesichts des ökonomischen wie technischen Strukturwandels findet neben dem Lernen am Arbeitsplatz der Kompetenzerwerb in sozialen Bewegungen, im Bereich neuer Medien, im Rahmen von Museen und Science Centern oder darüber hinaus im Freizeitbereich oder in der Verbindung von schulischem und informellem Lernen zunehmend Beachtung (vgl. BMFSFJ 2005). Im Zusammenhang damit, aber auch im Sinne eines umfassenderen Bildungsverständnisses, weitet sich der Blick auf die betrachteten Lernumgebungen. So werden mit Blick auf Kinder- und Jugendliche in letzter Zeit die verschiedenen Settings des Lernens bewusster im Verhältnis zueinander diskutiert, wie die folgende Abbildung zeigt (BMFSJ 2005, S. 130). Auf Kinder und Jugendliche in Schulen und auf dort arbeitende Lehrkräfte richtet sich die Diskussion um informelles Lernen bisher weniger, abgesehen von Beiträgen zum „Hidden Curriculum“. Im Folgenden soll der Versuch unternommen werden, die mit Lernorten und informellem Lernen verbundenen Debatten auch auf den Lernort Schule zu beziehen. Dazu wird zunächst der in Deutschland noch immer nicht sehr bekannte Begriff des informellen Lernens beleuchtet, es erfolgt ein kurzer und beispielhafter Blick auf einige Untersuchungen und dann werden Erkenntnisse über die Raumgefüge informellen Lernens auf schulische Orte bezogen. Dies erfolgt dann unter zweierlei Perspektive: Schule ist ja bekanntermaßen Lern- und Arbeitsort für Schülerinnen und Schüler, andererseits aber auch – und dies wird manchmal weniger deutlich gesehen – Arbeitsort für Lehrpersonen.
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Abb. 1: Bildungsmodalitäten (BMFSJ 2005, S. 130)
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Zur Diskussionsgeschichte und Definitionen informellen Lernens
Der Begriff des informellen Lernens kam aus den USA nach Europa und findet dort im Werk des Erziehungswissenschaftlers und Philosophen John Dewey seine vermutlich erste Erwähnung. Dewey sieht „informal education“1 als wesentliche Grundlage, als Umfeld auch für formale Bildung. Die Zunahme von Komplexität, so schreibt Dewey Anfang des 20. Jahrhunderts, sei es, die zu einem verstärkten Bedarf an formaler Bildung führe. Als deren Basis, so konstatiert er, seien informelle Lernweisen zu sehen (vgl. Dewey 1997, S. 9). In der US-amerikanischen Erwachsenbildung begegnet uns der Begriff des informellen Lernens in den 1950er Jahren erneut, wobei lange Zeit teils von „infor1
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„Education“ kann je nach Kontext mit Bildung und/oder Erziehung übersetzt werden. In der Literatur geschieht dies teilweise erstaunlich beliebig. Für „informal education“ wird hier die Übersetzung informelle Bildung verwendet, in Abgrenzung zum informellen Lernen.
Schulorte und Raumgefüge informellen Lernens
mal education“, teils von „informal learning“ die Rede ist (vgl. Knowles 1951). Anfang der 1970er Jahre betont die Faure-Kommission der UNESCO die besondere Bedeutung informellen Lernens. Es handele sich um ein Erfahrungslernen in allen biographischen Phasen und in jeweils sehr verschiedenen Lebensbereichen. Unter Verweis auf bereits damals sichtbare grundsätzliche Veränderungen der Arbeitswelt wird gefordert, dieses Lernen in Bildungsanstrengungen einzubeziehen (vgl. Faure 1972). Auf die Faure-Kommission soll auch die Aussage zurückgehen, nach der informelles Lernen siebzig Prozent allen menschlichen Lernens ausmache (vgl. Rohs 2009). Die englischsprachige Forschung zum informellen Lernen wird in Deutschland lange kaum zur Kenntnis genommen. Über informelles Lernen bzw. informelle Bildung wird zwar abseits des Mainstreams der Erziehungswissenschaft relativ früh gearbeitet, so etwa in der entwicklungspolitischen Bildungszusammenarbeit (vgl. Schöfthaler 1981). Es verging aber eine Reihe von Jahren, bis die damit verbunden Phänomene und Potentiale in der deutschen erziehungswissenschaftlichen Diskussion richtig zur Kenntnis genommen wurden. Inzwischen ist die Frage, was informelles Lernen ist und wie man es anerkennen kann, zu einem wesentlichen Thema auch der EU-Bildungspolitik geworden. Notwendige neue und flexible Lernweisen angesichts der „Wissensgesellschaft“ rücken dieses Lernen nun auch in den Mittelpunkt deutschen erziehungswissenschaftlichen Interesses (vgl. Overwien 2005). Lange wurden innerhalb der englischsprachigen Diskussion mögliche Unterschiede zwischen informellem Lernen und informeller Bildung ignoriert und beide Begriffe eher synonym verwendet. David Livingstone liefert diesbezüglich 2006 eine reflektierte und differenzierte Einführung in das begriffliche Feld vom informellen Lernen und von informeller Bildung. Dabei greift er auf umfangreiche Forschungserfahrungen aus Kanada zurück. Informelles Lernen kann danach in vielfältigen Lernumgebungen stattfinden. Informelle Bildung findet immer dann statt, wenn von professionellem Personal Lernsituationen gestaltet werden. Das hier stattfindende Lernen, so Livingstone, lasse sich kaum vom selbstgesteuerten informellen Lernen unterscheiden (vgl. Livingstone 2006, S. 205). Im Unterschied zum informellen Lernen ist informelle Bildung („informal education“) dann gegeben, wenn Lehrende oder Mentoren Verantwortung dafür übernehmen, dieses Lernen zu gestalten (vgl. Livingstone 2001). Viele der unterschiedlichen Sichtweisen informellen Lernens setzen in erster Linie an dessen Organisationsform an und sind in ihrer Definitionstiefe eher begrenzt. Informell ist danach jenes Lernen, das seinen Platz außerhalb formaler Institutionen oder nonformal organisierter Prozesse hat und auch nicht von dieser Seite finanziert wird (vgl. Watkins/Marsick 1990, S. 12 ff.). Marsick und Watkins gehen in ihren Überlegungen zur Gestalt des informellen Lernens davon 45
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aus, dass dies nicht routinemäßig, sondern eher Problem geleitet in ungewöhnlichen oder Konfliktsituationen stattfinde. Teile davon seien unbewusst. Dieses inzidentelle und das informelle Lernen unterscheiden sich danach im Grad der Absicht voneinander. Selbstgesteuertes informelles Lernen sei in erster Linie intentional, beiläufiges Lernen ein nicht geplanter Vorgang (ebd., S. 215). Informelles und inzidentelles Lernen sind danach durch folgende Faktoren gekennzeichnet (vgl. Marsick u.a. 1999, S. 90 f.): integriert in die Arbeit und tägliche Routine durch inneren und äußeren Anstoß ausgelöst kein sehr bewusster Prozess oft zufällig veranlasst und beeinflusst es beinhaltet einen induktiven Prozess von Reflexion und Aktion es ist mit dem Lernen anderer verbunden Informelles Lernen kann durch verschiedene Maßnahmen unterstützt werden: Zeit und Raum für Lernen schaffen Umfeld auf (Lern-) Gelegenheit überprüfen Aufmerksamkeit auf Lernprozesse lenken Reflexionsfähigkeit stärken Klima von Zusammenarbeit und Vertrauen schaffen Implizites Lernen2 führt zu Lernprozessen, deren Verlauf und Ergebnis für den Lernenden nicht bewusst und reflektiert ablaufen. Beispiele hierfür sind die Lernprozesse, die zum Schwimmen oder zum Fahrradfahren befähigen. Aber auch die Expertise des Schachmeisters und des erfahrenen Arztes oder Automechanikers erfolgt weitgehend über implizite Lernprozesse. Lernen ist dabei ein eher unbewusster Prozess; es wird in der Situation unmittelbar erfahren, ohne dass Regeln und Gesetzmäßigkeiten erkannt oder gar zur Basis von strukturierten Lernprozessen gemacht würden. Die Entstehung des „tacit knowledge“ (vgl. Polany 1967), des Wissens und Könnens, das wir zwar haben, nicht aber beschreiben können, ist zu guten Teilen auf implizites Lernen zurückzuführen. Eine in Deutschland verbreitete Definition informellen Lernens kommt aus der Erwachsenenbildung. Formales Lernen ist danach institutionell geprägtes, planmäßig strukturiertes Lernen mit anerkannten Zertifikaten. Nicht-formales Lernen oder nonformales Lernen in Kursen etc. hat dagegen seinen Platz außerhalb dieser Sphäre. Informelles Lernen findet ungeregelt im Lebenszusam2
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Auf die unterschiedlichen Hintergründe der Begriffe des inzidentellen und impliziten Lernens soll hier nicht eingegangen werden. Es handelt sich in beiden Fällen um ein beiläufiges, eher unbewusstes Lernen.
Schulorte und Raumgefüge informellen Lernens
menhang statt. Zusätzlich gibt es inzidentelles oder implizites Lernen, ein unbewusstes Gelegenheitslernen, das Nebenprodukt anderer Tätigkeiten ist (vgl. Dohmen 2001, S. 18 ff.). Dehnbostel (u.a. 2003) betrachtet das informelle Lernen prozesshaft im Kontext des betrieblichen Erfahrungslernens. Dort ist es eine wichtige Lernart im Gesamt der betrieblichen Lern- und Wissensarten. Danach ist betriebliches Lernen grundsätzlich in organisiertes und informelles Lernen zu unterscheiden. Das organisierte bzw. formale Lernen ist auf die Vermittlung festgelegter Lerninhalte und Lernziele gerichtet. Das informelle Lernen ist wiederum in zwei Lernarten unterteilt: das Erfahrungslernen bzw. reflexive Lernen und das implizite Lernen. Zur groben Unterscheidung der ohnehin nur analytisch zu trennenden Begriffe lässt sich anführen, dass Erfahrungslernen über die reflektierende Verarbeitung von Erfahrungen erfolgt, während implizites Lernen eher unreflektiert und unbewusst stattfindet. Beim Erfahrungslernen werden Erfahrungen in Reflexionen eingebunden und führen zur Erkenntnis. Dies setzt allerdings voraus, dass die Handlungen nicht repetitiv erfolgen, sondern in Probleme, Herausforderungen und Ungewissheiten eingebunden sind und entsprechend auf den Handelnden einwirken. In dynamischen Arbeitsprozessen und Umwelten ist dies zumeist der Fall.
Abb. 2: Betriebliche Lern- und Wissensarten (Dehnbostel u.a. 2003)
Im Rahmen der EU-Debatte um lebenslanges Lernen (vgl. Europäische Kommission 2001, S. 9, 32 f.) setzt sich bezogen auf Lernen nun offenbar die dreiteilige Begrifflichkeit formal, nonformal und informell durch, wie im Folgenden zu sehen ist. Informelles (und nicht-formales) Lernen wird als Teil eines komplementären Verhältnisses verschiedener Formen des Lernens gesehen, also keinesfalls dem formalen Lernen gegenüber gestellt:
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Formales Lernen: Lernen, das üblicherweise in einer Bildungs- oder Ausbildungseinrichtung stattfindet, (in Bezug auf Lernziele, Lernzeit oder Lernförderung) strukturiert ist und zur Zertifizierung führt. Formales Lernen ist aus der Sicht des Lernenden zielgerichtet. Nicht formales Lernen: Lernen, das nicht in Bildungs- oder Berufsbildungseinrichtung stattfindet und üblicherweise nicht zur Zertifizierung führt. Gleichwohl ist es systematisch (in Bezug auf Lernziele, Lerndauer und Lernmittel). Aus Sicht der Lernenden ist es zielgerichtet. Informelles Lernen: Lernen, das im Alltag, am Arbeitsplatz, im Familienkreis oder in der Freizeit stattfindet. Es ist (in Bezug auf Lernziele, Lernzeit oder Lernförderung) nicht strukturiert und führt üblicherweise nicht zur Zertifizierung. Informelles Lernen kann zielgerichtet sein, ist jedoch in den meisten Fällen nichtintentional (oder inzidentell/beiläufig). Eine andere Perspektive auf informelles Lernen ist im Rahmen der Arbeit am Nationalen Bildungsbericht für Deutschland entstanden. Die Autoren nehmen das gesamte Feld des Lernens von Kindern und Jugendlichen in den Blick und sehen das informelle Lernen querschnittartig an ganz unterschiedlichen Bildungsorten als relevante Lernform (vgl. BMBF 2004, S. 31).
Abb. 3: Informelles Lernen innerhalb unterschiedlicher Bildungsorte und -modalitäten (BMBF 2004, S. 31).
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Exemplarischer Überblick über internationale und deutsche Studien
Bezogen auf den direkten Einfluss der Gestaltung von Schulbauten auf das informelle Lernen liegen bisher keine Studien vor, die diese Begrifflichkeit nutzen. Die im Folgenden skizzierten Untersuchungen geben allerdings Hinweise auf die Schaffung von Ermöglichungsstrukturen. Eine der ersten Studien zu informellen Lernen, die international bekannter wurde, ist die von Watkins und Marsick (1990), die im Rahmen einer Sekundärauswertung die Ergebnisse sehr heterogener Studien zur Managerausbildung in Schweden, „community education“ in Nepal oder zur Lernbiographie von Studierenden in den USA zusammenführen. Wichtig ist diese Arbeit vor allem bezogen auf definitorische Aspekte. In Großbritannien sind in den 1990er Jahren eine Reihe von Untersuchungen zum informellen Lernen in der Arbeit entstanden. So gehen Gear u.a. (1994) der Frage nach, wie, warum und mit welchen Mitteln Angehörige mittlerer Berufe informell lernen. Dale und Bell (1999) untersuchen arbeitsplatzbezogenes Lernen in kleinen und mittleren Betrieben und legen Ergebnisse zu den Wechselwirkungen formaler Weiterbildung mit informellem Lernen vor. Die bisher umfangreichsten Untersuchungsergebnisse zum informellen Lernen stammen aus Kanada. Ein Forschungsnetzwerk (http://www.wallnetwork.ca/) arbeitet aus unterschiedlichen Perspektiven seit den 1990er Jahren am Thema und führt auch nationale Studien zum informellen Lernen durch. In einem Land, in dem die berufliche Bildung wenig formal organisiert ist, gibt es umfangreiche Bemühungen der Menschen, über informelles Lernen arbeitsbezogene Kompetenzen zu erwerben (vgl. Livingstone 1999, S. 86). Weitere Untersuchungen beziehen sich auf das informelle Lernen in Gemeinden und sozialen Bewegungen (vgl. Field/Spence 2000). Elsdon (1995) untersucht in Großbritannien das Lernen im Engagement in lokalen Freiwilligenorganisationen und betont die Bedeutung des Kompetenzerwerbes etwa in Sportvereinen für politische Partizipation. McGivney (1999) untersucht Lernstrukturen und Lernwege im gemeindlichen Kontext Großbritanniens. Sie geht hemmenden und fördernden Momenten des informellen Lernens nach, betrachtet dabei besonders die Möglichkeiten und Grenzen erwerbloser Menschen und entwickelt Unterstützungsstrategien für das Lernen in der Gemeinde. Im deutschen Kontext gab es lange vergleichsweise wenige Studien die explizit den Begriff des informellen Lernens verwenden. Dies hat sich in den letzten Jahren geändert. Zu Beginn war insbesondere das Deutsche Jugendinstitut in diesem Feld aktiv. Das DJI führt schon 1994 eine Untersuchung zum Thema „Informelle Bildung im Jugendalter” durch (vgl. Tully 1994). Der Autor entwi49
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ckelt, als Grundlage einer dann folgenden Analyse medialer und Kursangebote, ein eigenes Konzept von „Computerkompetenz”. Unter Bezug auf einen eher lernorganisatorischen Begriff des informellen Lernens, stehen die Freizeitinteressen und die damit verbundenen informellen Lernfelder von Schülern im Mittelpunkt einer weiteren Arbeit des DJI (vgl. Lipski 2004). Schiersmann und Strauß (2003) untersuchen Lernerfahrungen in informellen und formalen Lernkontexten innerhalb lebenslangen Lernens und verbinden ihre Fragestellung mit Einstellungen der repräsentativ und standardisiert Befragten zur Weiterbildung. Die Studie ergibt die wesentliche Bedeutung „informeller Lernkontexte“ für eine große Gruppe von Menschen im Erwerbsalter. Dehnbostel u.a. (2003) legen Ergebnisse einer Untersuchung zum informellen Lernen in Klein- und Mittelbetrieben der Informationstechnologie-Branche vor. Im Rahmen eines quantitativen Teils wurden dabei 110 Betriebe befragt, ein qualitativer Teil führt zu einer „dichten Beschreibung“ des betrieblichen informellen Lernens. Im Mittelpunkt der informellen Lernaktivitäten der formal relativ qualifizierten Befragten stehen kommunikative Prozesse, wie etwa der kontinuierliche Austausch über akute Arbeitsaufgaben und -probleme mit Kollegen. Das Spektrum arbeitsbezogener Studien hat sich inzwischen verbreitert. So liegen weitere Studien vor, die innerhalb von Tätigkeitsfeldern der Informationstechnologie der Frage nachgehen, welche Ausprägungen Lernen hier in der Arbeit hat und wie man es fördern kann (vgl. Molzberger/Rohs 2009). In Berlin und Brandenburg wird in einem ganz anderen Feld untersucht, in welcher Weise und in welchem Umfang Biohöfe im Rahmen unterschiedlicher Aktivitäten informelle Bildungsangebote zur Verfügung stellen. Dabei stellt sich heraus, dass zwar Marketingaspekte erwartungsgemäß eine Rolle spielen, die Themen und Inhalte aber über den direkten Bezug zu den verkauften Produkten weit hinausgehen (vgl. Boeckmann 2009). Auf ganz andere Weise bearbeitet eine weitere Studie das Lernen in der Arbeit. Heise (2007) setzt sich u.a. anhand von Daten des Berichtssystems Weiterbildung mit der Frage auseinander, in welcher Weise Ingenieure, Ärzte und Lehrpersonen im Vergleich informell arbeitsbezogen lernen. Entgegen verbreiteten Vorurteilen über das Weiterbildungsverhalten von Lehrkräften kann sie hier erhebliche Aktivitäten identifizieren. Das Berichtssystem Weiterbildung erhebt seit einigen Jahren auch informelle Weiterbildungsaktivitäten. Dabei ist es für die Befragten nicht leicht, über informelles Lernen Auskunft zu geben, da die meisten Berufstätigen nicht genau wissen dürften, was damit gemeint ist. Innerhalb der Befragung konkretisiert man deshalb Aussagen über informelles Lernen, die dann jeweils als wichtig oder weniger wichtig bewertet werden. Wie die folgende Abbildung zeigt, ist man hier bestrebt, die entsprechenden Lernweisen kleinteilig abzubilden.
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Abb. 4: Informelles Lernen in der Arbeit, Kategorien des Berichtssystems Weiterbildung (Autorengruppe Bildungsberichterstattung 2008, S. 146)
Das informelle Lernen im Ehrenamt ist Inhalt einer wichtigen neueren Studie. So führt das DJI bis 2008 zusammen mit der Dortmunder Universität eine Untersuchung über das informelle Lernen von Jugendlichen im Ehrenamt durch. Im Kern der Untersuchung wird der Frage nachgegangen, was Jugendliche im freiwilligen Engagement lernen. Es geht um ein Lernen beispielsweise bei der freiwilligen Feuerwehr oder im Technischen Hilfswerk, im Rahmen der Evangelischen Jugend oder bei den Pfadfindern, bei der Gewerkschaftsjugend oder der DLRG. Ein breiter quantitativ-repräsentativer Teil der Untersuchung (1500 ehemals Engagierte) wird durch einen qualitativen Interviewteil (ca. 90 Interviews) ergänzt. Dabei geht es jeweils um Voraussetzungen und Selektionsmechanismen, um das soziale und kulturelle Kapital (nach Bourdieu) der Herkunftsfamilien und um die spezifischen Rahmenbedingungen der Jugendarbeit. Untersucht wird die Bedeutung des Engagements bezogen auf den Kompetenzerwerb auch im Vergleich zu anderen Lernorten, die Rolle der Verantwortungsübernahme für die Identitätsentwicklung und auch die nachhaltige Wirkung des Kompetenzerwerbes durch informelles Lernen. Die Forschergruppe kann nachweisen, dass wichtige personale, kulturelle, soziale und auch instrumentelle Kompetenzen 51
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erworben werden. Deutlich wird auch, dass im Vergleich zum schulischen Lernen hier ein anderes, wichtiges Lernfeld vorliegt, in dem informelles Lernen innerhalb der Organisationen eine herausragende Rolle spielt. Individuelles und kollektives Lernen kommen hier produktiv zusammen. Gerade auch demokratierelevante Kompetenzen werden durch Verantwortungsübernahme oder die Arbeit in der Gruppe erworben. Den Lernprozessen kann eine nachhaltige Wirkung bescheinigt werden (vgl. Düx u.a. 2008). Einige Erkenntnisse über informelles Lernen und die Gestaltung von Lernumgebungen lassen sich aus Diskursen über das informelle Lernen im Museumskontext gewinnen. Museen entwickeln mehr und mehr ein Selbstverständnis, das weit über die schlichte Präsentation hinausgeht. Diskutiert wird die Wechselbeziehung zwischen Lernen und der Gestaltung der Lernumgebung. Es geht um die Vielfalt der Möglichkeiten, innerhalb derer Texte, Abbildungen, Modelle und auch Aktivitäten als Vermittlungs- und lernunterstützende Instanz dienen können (vgl. Schauble u.a. 1997, S. 5). Museen werden als Orte des meist impliziten Dialogs zwischen den Objekten und den Betrachtern gesehen. Möglich seien, je nach Elementen und Arrangement, auch explizite Dialoge zwischen den Gestaltern und den Betrachtern, bis hin zu deren aktiver Partizipation. Eine wichtige offene Frage in diesem Zusammenhang ist es, wie Besucher es lernen, hier aktiv zu werden. Ebenso wichtig sei die Frage, was denn geschehe, wenn sich die Sprache des Dargestellten und die Erwartungen und Hintergründe der Besucher nicht treffen (vgl. ebd., 1997, S. 6). Insgesamt wird davon ausgegangen, dass es darauf ankomme, informelle und formelle Lernsituationen so zu gestalten, dass sie sich gegenseitig verstärken (vgl. Paris 1997, S. 25; vgl. a. Rombach 2006). Die Frage nach Brücken zwischen informellem Lernen und organisiertem pädagogischem Herangehen an Lernsituationen ist sicher mehrdimensional zu beantworten. Das „Arrangement der Umstände“ (Müller 1993, S. 81) kann jedenfalls bewusst gestaltet werden.
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Informelles Lernen im Schulkontext
Zwar wird im Zusammenhang mit der Gestaltung schulischer Räume erst langsam der Begriff des informellen Lernens oder gar der informellen Bildung verwendet, über den Schulraum als Einflussgröße für Lernprozesse wird allerdings vielfach diskutiert und es gibt eine ganze Reihe von Praxisbeispielen. Beispielhaft sei auf die Offene Schule Waldau in Kassel verwiesen (vgl. Albrecht 2007, S. 2) oder auf weitere Beispiele und grundsätzliche Überlegungen, die an ei52
Schulorte und Raumgefüge informellen Lernens
ner Stelle unter dem Titel „Willkommen in der Schule. Wenn Architektur und Pädagogik „heiraten“, kann Wunderbares passieren“ (vgl. Lücke 2007) zusammengefasst werden. Im Rahmen der Internationalen Bauausstellung in Hamburg werden explizit auch Prozesse der informellen Bildung auf der Zielebene der Gestaltung eines neuen Bildungszentrums „Tor zur Welt“ genannt (Rahmenkonzept 2007, S. 4, 11). Hierbei geht es nicht nur um die Einbeziehung von Science-Center-Ansätzen innerhalb der naturwissenschaftlichen Bildung, sondern auch um die Lernförderlichkeit des gesamten Ensembles. Innerhalb der derzeit erfolgenden konkreten Umsetzung werden dazu auch die jeweils Beteiligten in den Gestaltungsprozess einbezogen (vgl. http://www.tor-zur-welt.hamburg.de/. Beispielhaft sind auch Projektansätze innerhalb der Universität Lüneburg, die sich auch auf Schule als Lernraum übertragen lassen. Hier soll die gesamte Universität als „informeller Lernkontext“ innerhalb einer Bildung für nachhaltige Entwicklung gesehen werden. Dabei geht es beispielsweise auch um ein Umweltkonzept der Hochschule, dass an vielen Stellen sichtbar wird und durch das praktizierte gute Beispiel lernförderlich wirken soll. Auch die Essensversorgung wird dabei in die Überlegungen einbezogen. Was hier vorbildlich geschieht, hat mit dem Lernkontext zu tun. Die Projektverantwortlichen beziehen sich dabei auf britische Überlegungen zum Zusammenhang von formal-expliziten und informell-impliziten Lernprozessen. Auch das eher unbewusste Lernen wird dabei durch die Gestaltung der Lernumgebung als beeinflussbar gesehen (vgl. Adomßent u.a. 2009, S. 249; vgl. Adomßent u.a. 2008). Gerade bezogen auf den Nachhaltigkeitsdiskurs sollen Anregungen und Alltagserfahrungen formale Lernprozesse unterstützen. Auch an Schulen gibt es vielfach Einzelaktivitäten, die auf diese Weise angelegt sind, etwa indem Anlagen zur Gewinnung von Solarenergie als Anschauungsmodell aufgebaut werden o. ä. Das Lüneburger Konzept versucht, eine kohärente Herangehensweise für die gesamte Bildungsinstitution zu zeigen. Auf einer anderen Ebene liegen Überlegungen, die die Lehrpersonen betreffen. Für Betriebe der IT- oder Autoindustrie gilt längst, dass der Arbeitsplatz, die Arbeitsumgebung auch lernförderlich gestaltet werden soll (vgl. Dehnbostel u.a. 2003). Kolleginnen und Kollegen muss dabei der kommunikative Kontakt ermöglicht werden. Die Raumgestaltung darf dies nicht nur nicht verhindern, sondern soll einen anregenden Beitrag liefern. Dies muss natürlich auch für Schule gelten. Zu Beginn eines Arbeitstages, in den Pausen oder in der unterrichtsfreien Zeit innerhalb des Schulgebäudes erwerben etwa jüngere Kolleginnen und Kollegen konkrete Handlungskompetenzen, wenn es um die Reflexion von Praxisanforderungen und um Lösungen geht (vgl. Heise 2009, S. 256). Gleiches gilt natürlich auch für den Austausch erfahrener Praktiker. Die Relevanz informellen Lernens im Lehrerberuf ist in Deutschland bisher kaum Teil der Fragestellungen 53
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der Bildungsforschung (vgl. Heise 2007). Anders sieht es damit in Kanada oder den USA aus. So ergibt eine repräsentative Umfrage unter kanadischen Lehrpersonen, dass Kompetenzen für zentrale Aufgaben ihrer beruflichen Entwicklung eng mit informellen Lernwegen zu tun haben, wie etwa die Aktualisierung des Fachwissens, die Erarbeitung neuer Unterrichtsinhalte oder die Bewältigung von Problemen mit Schülerinnen und Schülern. Wichtigster Ort des informellen Lernens ist dabei der Arbeitsplatz Schule, wo vor allem der Austausch mit Kollegen im Mittelpunkt steht. Von Kurzgesprächen zu aktuellen Problemlagen bis hin zu umfangreichen Fachdiskussionen findet hier lernrelevante Kommunikation statt (vgl. Smaller u.a. 2000 n. Heise 2009, S. 257 f.). Eine Untersuchung aus den USA kommt ebenfalls zu dem Ergebnis, wonach Gespräche mit Kollegen, der Austausch von Materialien, die gemeinsame Reflexion des Lehrerhandelns oder auch die Beobachtung von Kolleginnen und Kollegen im Unterricht wesentliche Quellen ihres informell gestalteten Kompetenzerwerbes sind. Wenn von informellem Lernen in der Arbeit die Rede ist, wird dabei immer auch auf die notwendige Infrastruktur, wie etwa den Zugang zum Internet und die Bereitstellung von Fachliteratur hingewiesen (vgl. Lohman 2006, S. 149 f.). Heise kann anhand von Studien aus den Niederlanden und England auf ähnliche Tendenzen verweisen (vgl. Heise 2009, S. 259 f.). Sowohl der Blick auf schulische Bauten als Lernraum der Schülerinnen und Schüler, als auch die Perspektive der Lehrpersonen macht deutlich, dass Schulen auch Lernumgebungen sind. Deren Gestaltung kann gezielt Lernen auf Ebenen ermöglichen, die weit über den Unterricht hinausgehen. Wichtig ist es aber, immer auch die Verbindung zum Unterrichtsgeschehen im Blick zu haben. Dazu gehört natürlich, dass Räumlichkeiten so gestaltet sind, dass methodische Vielfalt ermöglicht wird. Nicht zuletzt ist Schule Arbeitsplatz für Lehrer und Schüler, was eigentlich keine besonders neue Feststellung ist. Diese muss allerdings in der Gestaltung, in der Schaffung von Möglichkeitsräumen Folgen haben. Natürlich kann es nicht in jeder Hinsicht um Verdichtungen von Lernprozessen gehen. So muss es auch Räume und Freiflächen geben, die angemessene Pausen ermöglichen und der Entspannung dienen. Schon bei den Schulhöfen kommt aber wieder informelles Lernen in den Sinn, wenn man an das Peer Learning der Schülerinnen und Schüler denkt, das ebenfalls gut gestaltete Möglichkeitsstrukturen benötigt. Nicht zuletzt, und hier ist die eher inzidentelle bzw. implizite Ebene angesprochen, zeugt die Gestaltung der Lernumgebungen im positiven Sinne auch von Wertschätzung für die dort agierenden Menschen.
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Schulorte und Raumgefüge informellen Lernens
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Sandra Aßmann | Bardo Herzig
Verortungsprobleme von Schule in einer Netzwerkgesellschaft Betrachtet man das Medienhandeln Kinder und Jugendlicher vor dem Hintergrund eines medienkulturellen Wandels, kann man sich auf verschiedene Theorieentwürfe stützen, von denen Castells’ Beschreibung einer Netzwerkgesellschaft einer der am stärksten rezipierten ist. Ausgehend von der Beobachtung, dass die Auseinandersetzung mit Medien in den unterschiedlichen Lebenskontexten, in denen sich Kinder und Jugendliche bewegen, different verläuft, und dass sich diese Kontexte wechselseitig häufig als undurchlässig erweisen, werfen wir die Frage auf, wie Schule sich in dieser Konstellation positionieren kann und sollte. Wir entwickeln im Folgenden die These, dass Schule das Potenzial hat, eine Schalterfunktion einzunehmen, um – über die sozialen Praktiken, die Kinder und Jugendliche in der handelnden Auseinandersetzung mit Medienangeboten erwerben – schulische mit außerschulischen Netzwerken zu verbinden und somit informelle und formale Lernprozesse gegenseitig anschlussfähig zu machen.
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Mediennutzung Jugendlicher in formalen und informellen Lebenskontexten
Morgens, 7.30 Uhr, in einem voll besetzten Schulbus in Deutschland: Vier Schülerinnen und Schüler beugen sich über ein Handy und lachen. Sie sehen sich gemeinsam einen aus dem Internet herunter geladenen Videoclip an und amüsieren sich über den Inhalt. Andere Jugendliche im Bus haben Kopfhörer in den Ohren und hören Musik über ihren im Handy integrierten MP3-Player oder über die ebenso integrierte Radiofunktion. Mit virtuos über die kleine Tastatur fliegenden Händen formuliert ein Mädchen eine SMS. Ein Junge neben ihr spielt mit seinem Handy ein Spiel, zwei andere tauschen gegenseitig Spiele über die Bluetooth-Funktion ihrer Handys aus. Eine Schülerin fragt ihren Platznachbarn, ob er ihr ein bisschen Guthaben „rüber schieben“ könne, sie sei schon wieder am Limit. Das ohnehin schon schwer zu durchdringende Konglomerat diverser – artifizieller und natürlicher – Geräusche wird durch einen lauten Song aus den 58
Verortungsprobleme von Schule in einer Netzwerkgesellschaft
aktuellen Charts übertönt, den ein Jugendlicher sich als Klingelton aufgespielt hat. Zwei Mädchen fotografieren sich gegenseitig und richten auf ihrem Handy das Foto der Freundin als Hintergrundbild ein. Zwei weitere Schüler beenden noch schnell ihre Mathehausaufgaben, das Handy dient dabei als Taschenrechner. In einem angeregten Gespräch diskutieren zwei junge Mädchen darüber, ob es angemessen sei, dass ein Mitschüler die Beziehung zu seiner Freundin mit einer SMS beendet hat. Szenen wie diese sind inzwischen Alltagsszenen, die durch weitere Beispiele leicht ergänzt werden könnten. Wenn die Beispiele auch die Nutzungsoptionen noch nicht erschöpfend demonstrieren, so wird doch deutlich, welche Bedeutung das Handy – das Ertelt (2008) treffend als „das Schweizer Messer in der Mediennutzung Jugendlicher“ (ebd., S. 15) bezeichnet – und seine Multifunktionalität für Jugendliche haben. Auch empirische Daten zeigen, dass das Handy für Jugendliche in den letzten Jahren zu einem selbstverständlichen Alltagsgegenstand geworden ist: Bei den Tätigkeiten, die von 12-19-jährigen mit dem Handy mindestens mehrmals pro Woche ausgeübt werden, stehen der Empfang von SMS (79%) und Gesprächen (75%) an erster Stelle, gefolgt vom Versenden von SMS (73%) und Anrufen (60%). Zwei Fünftel verwenden das Handy als Digitalkamera, jeweils ein Viertel bedient sich der Bluetooth-Funktion, um Filme und Bilder zu verschicken (25%) oder MP3-Dateien zu versenden (24%). 12 Prozent hören regelmäßig mit dem Handy Radio und jeder Zehnte nutzt das Handy zum Spielen (vgl. Medienpädagogischer Forschungsverbund Südwest 2008, S. 64). Die insgesamt breite und häufige Nutzung des Mediums Handy geschieht allerdings vorrangig, z.T. sogar ausschließlich, in außerschulischen Kontexten. Und dies gilt nicht nur für dieses einzelne mediale Artefakt, sondern für viele. Betrachtet man beispielsweise die Computernutzung von Kindern und Jugendlichen in Deutschland, so zeigt sich eine ähnliche Tendenz: Computerund Internetnutzung finden im Wesentlichen außerhalb der Schule statt. Das Gap zwischen häuslicher und schulischer Nutzung ist OECD-weit in Deutschland sogar am größten (vgl. z.B. OECD 2006, S. 37, S. 102). Kinder und Jugendliche bilden in der Nutzung von Medienangeboten Handlungsroutinen und soziale Praktiken aus, die nicht auf den außerschulischen Lebens- und Erfahrungskontext beschränkt bleiben dürfen. Dass schulische und außerschulische Lebens- und Lernumfelder in mehreren elementaren Aspekten (z.B. vorherrschende Normen und Regeln) auseinander klaffen, ist kein neues Phänomen, sondern so alt wie die Institution Schule selbst, da sie sich u.a. dadurch als Institution definiert. Spätestens mit dem Aufkommen der so genannten „neuen Medien“ hat sich die Situation allerdings grundlegend geändert. Schule hat ihr Informations- und Bildungsmonopol verloren (vgl. z.B. Böhme 2006, S. 128 ff., Seitz 2007, S. 85). Kinder und Jugendliche erwerben ihre Vorstellungen 59
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über die Welt nicht mehr allein oder vorrangig in schulischem Unterricht, sondern in der (all-)täglichen Auseinandersetzung mit verschiedenen Medienangeboten, in teilweise bewusster und intendierter Weise, teilweise aber auch in unbewussten Prozessen (vgl. z.B. Theunert u.a. 2005). Die Medienangebote haben dabei nicht nur Einfluss auf die Vorstellungen über Sachverhalte, sondern auch auf Verhaltensorientierungen, Wertvorstellungen und auf Gefühlslagen (vgl. Theunert/Schorb 2004, S. 203). Eine strenge Trennung zwischen „schulischer“ und häuslicher „Lebens- und Lernumwelt“ lässt sich angesichts einer von Medien durchdrungenen, globalisierten Welt nicht mehr aufrecht halten. Digitale Medien und virtuelle Welten überschreiten territoriale Grenzen.
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Verortung von Medien in informellen und formalen Lernkontexten
Trotz der skizzierten Ausgangssituation wird die Bedeutung der Medien im Hinblick auf Lernen häufig mit territorialen Begrifflichkeiten beschrieben. So diskutiert beispielsweise Grunert in Anlehnung an Marotzki Medien als „Möglichkeitsräume zur Auseinandersetzung des Heranwachsenden mit sich selbst, seiner Umwelt und mit anderen (…), als potenzielle ‚Bildungsorte‘“ (2005, S. 15). Zacharias spricht – in Anknüpfung an den sozialökologischen Ansatz – von einem „Cybersystem“ und meint damit eine „ökologische Virtualität als „virtuelle Zone“, [als] eigener, aber immaterieller „Lebens- und Erfahrungsbereich künstlicher Welten“, wo Tätigkeiten, Aktivitäten, zwischenmenschliche Beziehungen, Erfahrungen und Erkenntnisse in „eigentümlicher“ Differenz zu den anderen Systemen und Zonen, mit diesen aber in systematischen Wechselbeziehungen und Interaktionen stehen“ (Zacharias 2004, S. 171). Hier stellt sich die Frage, inwiefern Medien angesichts des aktuell viel diskutierten spatial turns – „der die räumliche Dimension sozialer Alltagspraxis akzentuiert“, indem seine Vertreter davon ausgehen, „dass Geographien Bestandteile einer sozial konstruierten Wirklichkeit sind und demnach von sozialen Akteuren in alltäglichen Praktiken produziert und reproduziert werden“ (Lippuner 2005, S. 77) – nicht vielmehr selbst als Teil der Alltagspraktiken verstanden werden müssen, die dementsprechend zwar das Potenzial bieten, den Akteur bei der Konstruktion von Räumen zu unterstützen, die aber selbst nicht mehr mit einer Raummetapher zu fassen sind. Geht man davon aus, dass jedes Handeln von Kindern und Jugendlichen mit Medien – unabhängig vom Kontext, in dem gehandelt wird – „die Differenz von Globalität und Lokalität ins Spiel (bringt)“, also „den konkreten Akt 60
Verortungsprobleme von Schule in einer Netzwerkgesellschaft
in einen weltgesellschaftlichen Kontext (stellt), auch wenn nur lokal gehandelt oder erlebt wird“ (Seitz 2007, S. 76), dann verweist dies darauf, dass das (Medien-)Handeln „eine neue, den unmittelbaren Kontext transzendierende Qualität annimmt“ (ebd., S. 72 f.). Dementsprechend würde es zu kurz greifen, die Medien territorial zu verorten, zumal eine systematisierende orts- und situationsbezogene Medienforschung an der Schnittstelle von materiellem und digitalem Raum noch an ihrem Anfang steht. Aus diesem Grund folgen wir hier keinem ortsgebundenen Verständnis von Medien, sondern fokussieren darauf, dass „[mediale] Welten, ihre Praktiken und Rituale […] zunehmend zu einem integralen Bestandteil der alltäglichen Lebenswelt (werden)“ (Fromme/Jörissen/Unger 2008, S. 4), in denen sie spezifische Funktionen wahrnehmen, z.B. die Unterstützung von Lernprozessen. Aus unserer Sicht ist es bedeutsamer, den Blick auf diese Lernaktivitäten und die damit verbundenen kulturellen Praktiken zu richten, wenn man sich der Frage stellt, welchen Platz Schule in unserer Gesellschaft zukünftig einnehmen sollte.
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Verortung von Schule angesichts eines medienkulturellen Wandels
Greift man die Idee des Netzwerkes „als Metapher für die neue Struktur des sozialen Lebens im Zeitalter der Globalisierung“ (Fromme/Jörissen/Unger 2008, S. 73) auf, wie es z.B. Castells (2001) und Stichweh (2000) tun, hat dies sowohl Implikationen für das Verständnis von Kontexten als auch für das Handeln der Akteure in diesen Kontexten. Folgt man Castells, sind Netzwerke „offene Strukturen und in der Lage, grenzenlos zu expandieren und dabei neue Knoten zu integrieren, solange diese innerhalb des Netzwerks zu kommunizieren vermögen, also solange sie dieselben Kommunikationscodes besitzen – etwa Werte oder Leistungsziele“ (Castells 2001, S. 528 f.). Betrachtet man die einzelnen Kontexte, in denen sich Kinder und Jugendliche bewegen, unter diesem Netzwerkgedanken, erscheint es insbesondere für die Schule bedeutsam, sich neu zu positionieren: Zum einen sieht sich Schule mit einem weit gespannten Informations- und Kommunikationsnetz konfrontiert, das Kinder und Jugendliche in zunehmendem Maße nutzen. Zum anderen verschieben sich Grenzen bzw. diffundieren Kontexte. Schule ist nicht mehr abgegrenzt und nicht mehr abgrenzbar als Lernumfeld gegen klar definierte nicht-schulische Lernumfelder, sondern nur ein – wenn auch institutionalisierter – Kontext, dessen Alleinstellungsmerkmale im Hinblick auf Lernen verschwinden (vgl. auch Siemens 2005). 61
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Aus der Perspektive von Erziehung und Bildung ist es bedeutsam, Lernanlässe und Lerngelegenheiten für Kinder und Jugendliche auf der einen Seite zu initiieren, zu begleiten und zu unterstützen, auf der anderen Seite diese aber auch mit ihnen zu reflektieren. Wenn Lernen nun nicht mehr ausschließlich im Kontext von Schule stattfindet, sondern in medienbasierten Lernumfeldern, dann ergeben sich hier neue Aufgaben für Schule. Ein deutliches Missverhältnis liegt vor, wenn Jugendliche erfahren, dass ihre medienbezogenen außerschulischen Handlungsweisen, Erfahrungen und Kenntnisse in der Schule nicht „gefragt“ sind, d.h. auch nicht konstruktiv eingebracht werden können, ggf. sogar unerwünscht sind. Im Sinne der Netzwerktheorie könnte man hier von unterschiedlichen „Kommunikationscodes“ sprechen, die verhindern, dass Schule und außerschulische Kontexte innerhalb desselben Netzwerkes kommunizieren können. Dies wird nicht zuletzt auch dadurch begünstigt, dass mediale Artefakte von den Akteuren (Schülern und Lehrern) unterschiedlich verwendet werden und Nutzungsformen gegenseitig nicht unbedingt bekannt sind (vgl. Hellwig 2008, S. 30; Buchen/Straub 2006, S. 15). Unterstellt man weiter, dass Kinder und Jugendliche sich zunehmend in außerschulischen medienbasierten Lernumfeldern bewegen, dann bewegen sie sich in Netzwerken, die Schule nicht ignorieren kann. Ausgehend von der Prämisse des lebenslangen Lernens und der damit verbundenen Aufmerksamkeitsverschiebung in Richtung informell ablaufender Lernprozesse wäre es also wünschenswert, formale und informelle Kontexte gewinnbringend miteinander zu vernetzen, also entsprechende Konnektivitäten herzustellen. Angesichts der divergierenden Kommunikationscodes (z.B. Bedeutung des Spaßfaktors im Freizeitkontext versus Betonung des Leistungsaspektes in der Schule) stößt man hier jedoch auf Schwierigkeiten. Dass eine Vernetzungsleistung ohne entsprechende Instruktion im Sinne einer „Selbstsozialisation“ (vgl. Zinnecker 2000) von Kindern und Jugendlichen geleistet werden könnte, indem sie selbst zu „Knoten“ im Netzwerk werden, erscheint daher fraglich. Es bedarf eines institutionalisierten Rahmens, einer “gate keeper“-Funktion, um Konnektivität zu gewährleisten bzw. kulturelle Praktiken der Konnektivität zu vermitteln. So müsste es Aufgabe von Schule sein, ihren Ort in diesem Netzwerk zu bestimmen, sowohl in institutioneller Hinsicht als auch in inhaltlicher Hinsicht, etwa in der Erweiterung und Ergänzung von Bildungs- und Erziehungszielen. Schulen müssen (analog wie Faßler dies für Universitäten fordert, vgl. Scheibel 2008, S. 87) zu Knoten innerhalb weltweit vernetzter Wissensumfelder werden, um Bestand in der zukünftigen Gesellschaft haben zu können. An diese Überlegungen anknüpfend lässt sich die Frage stellen, inwieweit Schulen im Sinne eines Schalters als ganz besondere Knoten fungieren könnten oder sollten: „Für Castells ist ein Schalter ein spezifischer Knoten, der verschie62
Verortungsprobleme von Schule in einer Netzwerkgesellschaft
dene Netzwerke miteinander verbindet (vgl. Castells 2001, S. 529). Der Ausdruck Schalter bezieht sich auf die Idee, dass dieser Knoten dazu in der Lage sein muss, den Kode eines Netzwerkes in den eines anderen zu ‚übersetzen‘. (…) Schalter sind in diesem Sinne die Orte, wo zentrale Momente von Macht innerhalb von Netzwerkstrukturen konzentriert sind, wobei sich diese Machtkonzentrationen in der ‚Übersetzungsfähigkeit‘ der Kodes von einem Netzwerk zum anderen manifestiert.“ (Hepp 2006, S. 48) Die Tatsache, dass Lernprozesse sich auch in außerschulischen informellen Kontexten vollziehen, bedeutet auch, dass Kinder und Jugendliche ihre eigenen – nicht angeleiteten oder institutionell verankerten – Lernpraktiken bzw. Lernaktivitäten entwickeln, d.h. eine eigene Lernkultur etablieren, von der Buckingham behauptet, dass sie sich zunehmend von der schulischen Lernkultur entfernt: „[…] we are witnessing a widening gap between the culture of the school and the culture of children’s lives outside school“ (2007 , S. 193). Böhme spricht in diesem Zusammenhang von einer neuen Form der „Schulentfremdung“ (vgl. Böhme 2006). Interpretiert man diese Lernkulturen als Kommunikationscodes, muss Schule versuchen, im Sinne einer Schalterfunktion die unterschiedlichen Netzwerke, in denen sich Kinder und Jugendliche bewegen, durch eine Übersetzungsleistung anschlussfähig zu machen, insbesondere um die Teilhabe an Bildung auch für mit begrenztem kulturellen Kapital ausgestattete gesellschaftliche Gruppen zu gewährleisten und einer “digital inequality“ entgegen zu wirken (vgl. Iske/Klein/Kutscher/Otto 2007). Ausgehend von der skizzierten Situation werden wir im Folgenden versuchen, die unterschiedlichen Lebenskontexte anhand der vorherrschenden sozialen Praktiken des Lernens und des Medienumgangs zu fassen und in ein Handlungsmodell einzubetten, das die Entwicklung und Reflexion sozialer Praktiken zu beschreiben erlaubt. Die Grundfigur unserer Überlegungen spiegelt informelle und formale Lernprozesse als Handlungsprozesse wider. Wir stellen ein handlungs- und entwicklungsorientiertes Modell des menschlichen Lernens im Anschluss an Tulodziecki et al. (2004) vor und diskutieren anschließend den Nutzen kulturtheoretischer Überlegungen zu „sozialen Praktiken“ nach Reckwitz als Möglichkeit einer erweiterten Perspektive auf dieses Modell.
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Lernen als (Medien-)Handeln
Wir sind in unserem Beitrag von Beispielen zum alltäglichen Medienhandeln Jugendlicher ausgegangen. Solches Handeln kann als „eine bedürfnis- und situationsbedingte psychische oder physische Aktivität [bezeichnet werden], die be63
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wußt durchgeführt wird, um einen befriedigenden bzw. bedeutsamen Zustand zu erreichen“ (Tulodziecki et al. 2004, S. 54). Solches Handeln unterliegt verschiedenen Bedingungsfaktoren, die wir – anknüpfend an eine eingangs beschriebene Szene – nachfolgend erläutern:
Stellen wir uns einen 15-jährigen Jungen vor, nennen wir ihn Marc, der sich in folgender Situation befindet: Marc hat sich seit mehreren Monaten immer wieder mit demselben Mädchen, Anke, getroffen, und es hat sich eine Beziehung zwischen den beiden entwickelt (Bedürfnis nach Liebe und Zugehörigkeit). Nun hat Marc ein anderes Mädchen, Sarah, kennen gelernt (Situation) und möchte sich von Anke trennen. Dieser Umstand erzeugt einen Spannungszustand, der die Entscheidung für eine bestimmte Handlungsoption erforderlich macht. Er wägt ab, wie er Anke seine Trennungsabsichten mitteilen soll: in einem persönlichen Gespräch, per SMS oder in einer E-Mail. In dieses Bedenken und Bewerten von Handlungsmöglichkeiten gehen zum einen Kenntnisse und Erfahrungen über die Wirkung von Kommunikation mittels unterschiedlicher Medien ein. Darüber hinaus spielt Marcs sozial-kognitiver Entwicklungsstand eine Rolle. Darunter fassen Tulodziecki et al. (2004) zum einen das intellektuelle Niveau, das sich in dem vorgestellten Beispiel an der Anzahl der in den Blick genommenen Möglichkeiten (persönliches Gespräch, SMS, E-Mail, …) sowie an der Anzahl, der Differenzierung und dem Abstraktionsgrad von Beurteilungskriterien (Wertschätzung der Person, Schnelligkeit einer Lösung, …) festmachen lässt (vgl. Schroder/Driver/Streufert 1975). Zum anderen ist die sozial-moralische Urteilsfähigkeit des Jungen ausschlaggebend für seinen Bewertungs- und Entscheidungsprozess. Konkret ließe sich fragen, ob Marc überhaupt fähig ist, eine Perspektive jenseits seiner eigenen Sichtweise einnehmen zu können, sich in Anke hinein zu versetzen und sich vorstellen zu können, wie die Nachricht 64
Verortungsprobleme von Schule in einer Netzwerkgesellschaft
in der unterschiedlichen Übermittlungsform auf sie wirken könnte. Nachdem Marc sich für eine Alternative entschieden und diese umgesetzt hat (Ausführen der Handlung), wird dies entsprechende Folgen haben (z.B. Abbruch der Kommunikation mit Anke), die sowohl auf den Kenntnis- und Erfahrungsstand des Jungen, als auch auf seine moralische Urteilsfähigkeit Rückwirkungen haben. Zusammenfassend kann dieser Prozess als Lernprozess verstanden werden, der zum einen den gleichen Bedingungsfaktoren unterliegt wie menschliches Handeln allgemein und der zum anderen auf die dauerhafte Veränderung dieser Dispositionen für menschliches Handeln gerichtet ist. Dies bezieht sich vor allem auf die Weiterentwicklung des Wissens- und Erfahrungsstandes sowie der damit verbundenen Fähigkeiten und Fertigkeiten und des Niveaus der intellektuellen und der sozial-moralischen Entwicklung. Am Beispiel des Jungen, der von einem spezifischen Bedürfnis geleitet eine bestimmte Form der Kommunikation für eine bestimmte Situation auswählt, wird zunächst der heuristische Nutzen des Modells deutlich: Einzelne Situationen können als atomisierte Handlungen von Individuen unter dem Fokus verschiedener Einflussfaktoren betrachtet werden. Dabei werden Lernprozesse als bewusste Prozesse beschrieben, die insbesondere die Erwägung von Handlungsoptionen auf der Basis entsprechender kognitiver Operationen und unter Einbeziehung moralischer Wertvorstellungen betonen. Häufig laufen Handlungen aber auch als weniger reflektierte Prozesse ab, insbesondere wenn es sich um Routinen handelt. Auf solche Prozesse werden wir das Modell nun ausweiten. Neben seiner analytischen Funktion hat das Modell auch einen normativen Anspruch, indem es gleichzeitig deutlich macht, dass die Weiterentwicklung des Kenntnisstandes, der intellektuellen und der sozio-moralischen Entwicklung eine wichtige Aufgabe von Schule ist. Ziel sollte es sein, Kinder und Jugendliche zu einem sachgerechten, selbstbestimmtem und kreativen Handeln in sozialer Verantwortung zu befähigen.
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Medienhandeln als soziokulturelle Praktik
Das im Verlauf der bisherigen Überlegungen entwickelte Handlungsmodell lässt sich an dieser Stelle um eine kulturwissenschaftliche Perspektive ergänzen, damit ein erweitertes Verständnis und Vokabular für repetierende, routinisierte Handlungen, die in unterschiedlichen Lebenswelten ausgeführt werden, zur Verfügung steht. Dazu konzentrieren wir uns im Folgenden auf den Ansatz von Reckwitz, der in einem historisch-systematischen Vergleich von Kultur- und Sozialtheorien Strukturelemente einer Theorie sozialer Praktiken heraus arbeitet 65
Sandra Aßmann | Bardo Herzig
(vgl. Reckwitz 2000, 2003). Dies ist insofern gewinnbringend, als der Autor den innovativen Charakter der Praxistheorien zum einen in einem modifizierten Verständnis von menschlichem Handeln und zum anderen in einem modifizierten Verständnis dessen, was das Subjekt ist, begründet sieht (vgl. Reckwitz 2003, S. 282). Die zentrale Frage ist, „was die Akteure überhaupt dazu bringt, die Welt als geordnet wahrzunehmen und somit handlungsfähig zu werden“ (ebd., S. 288). Im Anschluss an Reckwitz betrachten Kulturtheorien – in Abgrenzung zu zweck- und normorientierten Handlungstheorien – die Welt als kognitiv-symbolisch organisiert, d.h. dass kognitive Strukturen des Wissens (kulturelle Codes wie z.B. die Semantik der Sprache, kollektive Sinnhorizonte) dem menschlichen Handeln zu Grunde liegen (vgl. Reckwitz 2004, S. 312 f.). „Die Handelnden teilen offenbar eine kognitive Wissensordnung, die sie die Wirklichkeit synchron wahrnehmen und bewerten lässt“ (ebd., S. 312 f.). Reckwitz illustriert diesen menschlichen Wahrnehmungs-, Bewertungs- und Handlungsprozess an einem Beispiel: „Regen als ein Risiko für äußere Perfektion und Gesundheit und der Regenschirm als probates Gegenmittel“ (ebd., S. 312 f.). Interessant ist hier eine Betrachtung unter dem Gesichtspunkt der Anschlussfähigkeit an das Handlungsmodell nach Tulodziecki u.a.: Der Mensch erlebt aufgrund einer Bedrohung (Regen) eines seiner Grundbedürfnisse (Schutz und Sicherheit) einen Spannungszustand, der ihn dazu veranlasst zu handeln (Regenschirm mitnehmen). Insofern wären zunächst beide theoretischen Modelle in der Lage, den Vorgang begrifflich zu fassen und zu erläutern. Allerdings zeigt das Beispiel auch, dass es sich hier um ein routinisiertes Verhalten handelt. Man hat irgendwann einmal gelernt, dass bei Regen ein Regenschirm schützend wirkt und benutzt diesen ganz automatisch ohne darüber zu reflektieren. Vor diesem Hintergrund versteht Reckwitz soziale Praktiken als „know-how abhängige und von einem praktischen ‚Verstehen‘ zusammengehaltene Verhaltensroutinen, deren Wissen einerseits in den Körpern der handelnden Subjekte ‚inkorporiert‘ ist, die andererseits regelmäßig die Form von routinisierten Beziehungen zwischen Subjekten und von ihnen ‚verwendeten‘ materialen Artefakten annehmen“ (Reckwitz 2003, S. 289). Hier werden bereits die beiden materiellen Instanzen benannt, die elementare Bestandteile jeder sozialen Praktik sind: die Körper auf der einen, die Artefakte auf der anderen Seite. Der Fokus liegt also sowohl auf den handelnden Akteuren als auch auf den Dingen, mit denen diese im alltäglichen Leben umgehen. In Bezug auf die Nutzung medialer Artefakte schreibt Reckwitz (2003, S. 286): „Als Träger medialer Praktiken stellt sich das medienverwendende Subjekt aus praxeologischer Perspektive weder als ein bloßes Objekt medialer Informationsströme dar, noch als völlig ungebunden hinsichtlich seiner individuellen Instrumentalisierung von Medien. Vielmehr lässt sich 66
Verortungsprobleme von Schule in einer Netzwerkgesellschaft
das mediennutzende Subjekt nun als jemand analysieren, dem die Techniken des Mediengebrauchs zu ‚Techniken des Selbst‘ werden, so dass sich durch die medialen Praktiken bestimmte ‚innere‘ Kompetenzen und Dispositionen aufbauen“. Bezogen auf unser Eingangsszenario wird deutlich, dass Jugendliche mit der Nutzung des Artefakts Handy über spezifisches inkorporiertes Wissen verfügen (z.B. „smsen“) und dieses Wissen in entsprechenden Alltagsroutinen des Kommunizierens zum Ausdruck kommen lassen. Im Vergleich zum vorgestellten Handlungsmodell fehlen hier die Erwägungsprozesse, die zu begründeten Entscheidungen führen. Routinisierte Formen des Handelns können einerseits als unreflektierte Praktiken angeeignet werden und sich im individuellen Handlungsrepertoire verfestigen, sie können andererseits aber auch in reflektierten Lernprozessen erlernt worden sein und sich als Ergebnis des Lernprozesses – als quasi sedimentierte Form des Handelns – als Routine im Alltagshandeln zeigen, als „eine sozial geregelte, typisierte, routinisierte Form des körperlichen Verhaltens (einschließlich des zeichenverwendenden Verhaltens)“ (Reckwitz 2008, S. 135). Aus pädagogischer Perspektive ist es bedeutsam, unreflektierte soziale Praktiken mit Jugendlichen zum Gegenstand von Lernprozessen zu machen. Wenn es beispielsweise für einen Jugendlichen völlig selbstverständlich ist, persönliche Probleme in indirekter, medienunterstützter Kommunikation zu bearbeiten bzw. zu „lösen“, so kann dies Anlass sein, die mit solchen Kommunikationsprozessen verbundenen Auswirkungen auf die Beteiligten unter Erwägung von alternativen Handlungsoptionen und unter Einbezug der moralischen Beurteilung zum Gegenstand von Lernprozessen zu machen. In diesem Fall liegt die Bedeutsamkeit des Handlungsmodells in seinem didaktischen Wert, auf die verschiedenen Zieldimensionen aufmerksam zu machen (vgl. ausf. Tulodziecki/ Herzig/Blömeke 2004). Dementsprechend wäre es in diesem Sinne eine wichtige Aufgabe für Schule, auf diese Zusammenhänge hinzuweisen und die Reflexionsfähigkeit von Kindern und Jugendlichen zu fördern, um dafür zu sensibilisieren, wovon das eigene Verhalten eigentlich beeinflusst ist. Dies kann aber erst der zweite Schritt sein. Voran geschaltet müsste analysiert werden, wie Kinder und Jugendliche im Umgang mit Medien handeln. Ein erster Schritt sollte also darin bestehen, soziale Praktiken von Kindern und Jugendlichen im Umgang mit Medien zu rekonstruieren.
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Sandra Aßmann | Bardo Herzig
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Empirische Perspektive
Mit dem Fokus auf Medienhandeln von Kindern und Jugendlichen in ihren einzelnen Lebenskontexten bewegen wir uns an einer Schnittstelle zwischen Kinder- und Jugendforschung auf der einen und schulbezogener Forschung auf der anderen Seite. Im Bereich der informellen Lernprozesse mit Medien lassen sich zunächst Arbeiten von Theunert u.a. (vgl. z.B. Theunert/Wagner 2007) und Schorb (Schorb u.a. 2008) zur Medienkonvergenz nennen, in denen der spezifische Fokus auf der Aneignung der medienkonvergenten Welt durch Heranwachsende liegt. Tully (vgl. z.B. Tully 2007) beschäftigt sich schwerpunktmäßig mit den Auswirkungen einer flexibilisierten (Medien-)Welt auf die informellen Lernprozesse von Kindern und Jugendlichen. Treumann u.a. (2007) haben in ihrer groß angelegten Studie zum „Medienhandeln Jugendlicher“ mit Rückgriff auf das Bielefelder Medienkompetenzmodell eine Typologie von jugendlichen Mediennutzern aufgestellt, die den quantitativ und qualitativ unterschiedlichen Umgang Heranwachsender mit Medien widerspiegelt. Einen Überblick über Forschungsaktivitäten zu informellen Bildungsprozessen in virtuellen Räumen geben Otto/Kutscher (2004). Im Bereich der außerschulischen Jugendmedienbildung sei auf die Arbeiten von Niesyto verwiesen (vgl. z.B. Niesyto 2001). Bezogen auf formale Lehr- und Lernprozesse mit digitalen Medien in der Schule haben Herzig und Grafe (2007) in einer Metastudie den Forschungsstand bilanziert. Bislang existieren wenige Forschungsarbeiten, die sich sowohl dem schulischen als auch dem außerschulischen Medienhandeln von Kindern und Jugendlichen zugleich widmen. Zu nennen wäre hier beispielsweise die Studie „Medienhandeln in Hauptschulmilieus“ (vgl. Wagner 2008), in der eine bestimmte Schülerklientel unter dem Fokus ihrer Aneignungs- und Umgangsweisen mit multifunktionalen Medien betrachtet wird. Auf der methodischen Ebene besteht darüber hinaus ein Forschungsbedarf, was die konkreten sozialen Praktiken im Umgang mit Medien anbelangt. Ein Beispiel für einen qualitativ-rekonstruktiven Zugang bei der Identifizierung spezifischer Handlungspraxen mit dem Medium Computer stellt die Studie von Welling (2008) dar. Das beschriebene Forschungsdefizit wird derzeit in einem Projekt der Autoren an der Universität Paderborn mit der Ausrichtung auf medienbezogene Lernumfelder von Kindern und Jugendlichen sowie deren Wechselwirkungen, insbesondere den interobjektiven Aspekten (mit der Konzentration auf Medien als Artefakten) sozialer Praktiken des Lernens aufgenommen. Unter anderem verwenden wir dabei Web-Tagebücher, in denen Kinder und Jugendliche über 14 Tage ihr Medienverhalten dokumentieren. Ausgehend von einer deskriptiven Wiedergabe der eigenen Tätigkeiten erhoffen wir uns, inhalts68
Verortungsprobleme von Schule in einer Netzwerkgesellschaft
analytisch Routinen identifizieren zu können. Gleichzeitig wird mit der Selbstaufschreibung schon eine Bewusstmachung der eigenen Aktivitäten initiiert, die – unterstützt durch gezieltes Nachfragen – zu einer Reflexion über das eigene Handeln führen soll. Die Zielvorstellung besteht darin, eine Bandbreite sozialer Praktiken im Umgang mit Medien beschreiben zu können, wobei der Fokus auf kommunikativen Praktiken liegt, denn „Praktisches Wissen zeigt sich nicht nur im Tun, sondern auch im darauf bezogenen Sprechen – im Gewahrwerden, im Vermuten, im Erklären, im Schlussfolgern, im Rechtfertigen, im Kritisieren“ (Hörning 2004, S. 37). Entsprechend sollen Nutzungsroutinen von Kindern und Jugendlichen mit Medien durch die Analyse von Kommunikationscodes in schulischen und außerschulischen Lernumfeldern empirisch erfasst werden, um so die „Schalterfunktion“ von Schule, aber auch von außerschulischen Institutionen genauer zu bestimmen. Wir hoffen damit, erste Antworten auf die Frage formulieren zu können, welcher Übersetzungsleistungen es von institutioneller Seite in einer Netzwerkgesellschaft bedarf, um eine Konnektivität zwischen formalen und informellen Lernprozessen herzustellen. Einen ersten Entwurf von Schule, die sich als „Schalter“ betätigt, skizziert Böhme in Form eines „hypermedialen Plateaunetzwerkes“ (vgl. Böhme 2006, S. 134). Wie konkret eine solche Bildungsarchitektur ausgestaltet sein kann, liegt wohl noch weitgehend außerhalb unserer Vorstellungskraft. Der entscheidende Schritt wird jedoch – unabhängig von einer Institution – letztendlich sein, die Individuen selbst zu konnektiven Praktiken zu befähigen. „Mit einer solchen, mehr auf die ‚Reflexivität‘ der Akteure bauenden Vorstellung, tut sich allerdings eine Entwicklungsvariante auf, mit der Castells gar nicht mehr zu rechnen scheint: Auch die effizientesten Netzwerke, auch die umfassendste „Kultur der realen Virtualität“ sind und bleiben eingebettet in ganz alltägliche Verwendungszusammenhänge und damit angewiesen auf das ‚praktische Wissen‘, mit dessen Hilfe die ‚Experten des Alltags‘ (Karl H. Hörning) nicht nur allfällige Störungen bewältigen, sondern auch ihrem Umgang mit technischen Artefakten und Informationsströmen ‚Sinn‘ verleihen“ (Berger/ Kahlert 2004, S. 11).
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Daniela Ahrens
Der schulische Lernort: Zwischen institutioneller Entgrenzung und sozialer Verräumlichung? 1
Neue Herausforderungen an Lernorte
Der Sammelbegriff „Entgrenzung“ hat mittlerweile auch die Pädagogik und das Lernen erfasst. Empirische Evidenz erlangte der Entgrenzungsbegriff zunächst hinsichtlich der räumlichen, zeitlichen und sozialen Entgrenzung von Arbeit sowie den damit zusammenhängenden Grenzüberschreitungen zwischen Arbeitswelt, Freizeit und privater Lebenswelt. Mit Blick auf die Pädagogik und das Erziehungssystem rücken unter dem Begriff Entgrenzung Prozesse der sozialen, räumlichen und zeitlichen Entgrenzung des Lernens in den Blick. Angesprochen sind damit insbesondere die an Bedeutung zunehmenden außerinstitutionellen lebensweltlichen Bildungsprozesse. Institutionalisierte pädagogische Angebote verlieren ihre Monopolstellung, wenn die Familie, die Gleichaltrigen oder aber Freizeitangebote als Lern- und Bildungsorte bezeichnet werden. Dabei erleben wir derzeit eine widersprüchliche Entwicklung: Einerseits ist die Relevanz außerschulischer Lernorte für die Kompetenzentwicklung Jugendlicher unstrittig, andererseits konzentrieren sich empirische Arbeiten der Bildungsforschung nach wie vor auf formale institutionelle Lernorte1. Die Schule fungiert zwar als zentrale Sozialisationsinstanz und bestimmt im Wesentlichen den jugendlichen Zeitrhythmus, aber parallel dazu haben sich neue jugendliche Lebenswelten ausdifferenziert, die Gelegenheiten zum informellen Lernen eröffnen2. Die informell strukturierten Orte ebenso wie die nonformal organisierten Sozialsysteme 1
2
Auch das derzeitige Schwerpunktprogramm der Deutschen Forschungsgemeinschaft „Kompetenzmodelle zur Erfassung individueller Lernergebnisse und zur Bilanzierung von Bildungsprozessen“ beschränkt sich in seiner Ausrichtung auf die institutionalisierten Lernorte Schule, vorschulische Bildung, berufliche Aus- und Weiterbildung sowie Hochschule (vgl. Klieme/Leutner 2006). Dass durch die zunehmende Bedeutung außerschulischer Lernorte nicht nur neue Lernformen virulent werden, sondern sich angesichts der außerschulischen Aktivitäten auch neue Herausforderungen für die Jugendforschung stellen, betonen Wahler u.a. (2008). Der zwölfte Kinder- und Jugendbericht (2005) nennt als außerschulische Lernorte neben Vereinen und Organisationen, Schülerjobs, Medien und Nebenschulen (Musikschulen, Sprachenschulen) sowie Freizeitparks und Erlebnisorte (ebd., S. 225 ff.). Im Durchschnitt verfügen Jugendliche unter der Woche über rund 6 ½ Stunden freie Zeit pro Tag (ebd., S. 220).
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Daniela Ahrens
finden jedoch in den gegenwärtigen Untersuchungen zur Kompetenzentwicklung keine oder nur eine marginale Anerkennung (vgl. Thole/Höblich 2008). Dass hinsichtlich der Rolle außerschulischer Lernorte für die Kompetenzentwicklung Jugendlicher erheblicher Forschungsbedarf besteht, betont auch der zwölfte Kinder- und Jugendbericht (2005) und warnt vor einer „bildungskonzeptionellen Monokultur“ (ebd., S. 121) angesichts des schulbezogenen Bias. Seitter (2001) spricht von einer „fast unerschöpfliche[n] Neuschaffung von Orten im Sinne von Lernorten“ (ebd., S. 225). So wurde der Arbeitsplatz in den 1990er Jahren ebenso als relevanter Lernort entdeckt, wie die verschiedenen Freizeittreffpunkte der Jugendlichen, die Familie oder aber der Cyberspace. In der Diskussion um neue Lernorte lassen sich grob zwei Stränge unterscheiden: Zum einen die Arbeiten um neue Formen der Lernortkooperationen – an prominenter Stelle steht hier die Kooperation zwischen Schule und Betrieb –, die insbesondere auf eine stärkere Verknüpfung allgemeinen und beruflichen Lernens abstellen, zum anderen geraten neue Lernorte jenseits der klassischen Bildungsinstitutionen in den Blick. Eine Relativierung des konkreten Bildungsortes wird darüber hinaus durch die neuen Konzepte des „selbst organisierten Lernens“ und des gesellschaftlichen Postulats des lebenslangen Lernens vorangetrieben. Lebenslanges Lernen verweist auf Lernformen im Lebenslauf jenseits sequentialisierter institutionengebundener (Aus-) Bildungsphasen. Der Anfang der 1990er Jahre populär werdende Begriff des dezentralen und informellen Lernens verweist nicht nur auf die biographische Entgrenzung des Lernens, sondern relativiert auch die bisherige Vorstellung, dass Lernen nur in bestimmten Räumen stattfinden könne. Folgt man dem Ansatz des dezentralen Lernens, richtet sich der Blick auf das Individuum, genauer: auf die individuelle Wissensaneignung. Die organisatorische Rahmung der Wissensvermittlung tritt in den Hintergrund zugunsten des Lernenden. Ein wesentlicher Bereich, der die Tendenz der Entgrenzung und des selbstorganisierten Lernens vorantreibt, betrifft die neuen Medien. Insbesondere durch das Internet, der Möglichkeit des Online-Lernens durch Computer Based Training (CBT) wird das Lernen aus seinen institutionellen Beschränkungen herausgelöst und die Steuerung des Lernprozesses – etwa: Auswahl der Lerninhalte, Lerntempo – verlagert sich zugunsten des Lernenden. Erstaunlich ist, dass in der Diskussion um die Entgrenzung von Lernorten eine explizite Hinwendung zum Raum so gut wie gar nicht erfolgt. Als zugrunde liegende Ordnungs- und Referenzkategorie bleibt der Raumbegriff weitgehend unthematisiert. Während die von Läpple (1991) konstatierte „Raumblindheit“ in den Sozialwissenschaften mittlerweile angesichts einer Vielzahl von raumbezogenen Arbeiten (vgl. u.a. Ahrens 2001; Löw 2001; Schroer 2006) kaum noch Bestand haben dürfte, lässt sich in den gegenwärtig vorherrschenden Diskussi74
Der schulische Lernort
onen über neue Lernorte nach wie vor von einer Vernachlässigung des Raums sprechen. Nicht unerwähnt darf in diesem Zusammenhang die vehemente Kritik von Klaus Beck (1984) am Lernortkonzept bleiben. Für Beck ist das Lernortkonzept irreführend, da der eigentliche „Ort“ des Lernens der Schüler ist. Da Lernen ein individueller Prozess ist, wäre – so Beck – „die Entfernung der Lernortidee aus pädagogischen Denkfiguren sicherlich ein Gewinn“ (ebd., S. 259). Unberücksichtigt bleiben bei Becks kognitivistischen Lernbegriff jedoch die Kontextbedingungen, innerhalb derer Lernen geschieht. Trotz seiner begrifflichen Unschärfe macht der Lernortbegriff uns auf die sozialen und räumlichen Umgebungsbedingungen des Lernens aufmerksam – und damit auf ein Lernen, dass im psychologischen Lernbegriff nicht aufgeht. In der Auseinandersetzung inwieweit Lernräume zu Lebensräumen werden bzw. Lebensräume zu Lernräumen wird lediglich metaphorisch auf den Raum Bezug genommen, um die Omnipräsenz des Lernens zu unterstreichen. Auch die Lernortdefinition des Bildungsrats umgeht eine Auseinandersetzung mit dem Raumbegriff und verweist stattdessen auf den institutionellen Aspekt von Lernorten: „Unter Lernort ist eine im Rahmen des öffentlichen Bildungswesens anerkannte Einrichtung zu verstehen, die Lernangebote organisiert. Der Ausdruck Ort besagt zunächst, dass das Lernen „nicht nur zeitlich (…), sondern auch lokal gegliedert ist“ (Deutscher Bildungsrat 1974, S. 69). Dabei geht es dem Deutschen Bildungsrat um die vier Lernorte mit je unterschiedlicher pädagogischer Funktion: Schule, Betrieb, Werkstatt und Studio (vgl. Deutscher Bildungsrat 1974, S. 69). Aus pädagogischer Perspektive geht es hier in erster Linie um die Frage der „Didaktisierung des Ortes“ (Nuissl 2006, S. 81). Dabei wird zwischen implizitem und explizitem Lernort unterschieden, wobei all jene Lernorte als implizit begriffen werden, an denen Lernen stattfinden kann aber nicht muss, während explizite Lernorte nach didaktischen Überlegungen gestaltet sind. Die Verwendung des Lernortbegriffs erfolgt somit unter dem Primat der Pädagogik. Dabei geht es um neue Formen der Didaktik, der Öffnung und Verbindung der institutionellen Versäulung des Bildungssystems. Seitter (2001) betont in seiner Differenzierung der Lernorte die damit verbundenen neuen pädagogischen Praxisfelder und sucht nach Strategien, um die Pluralität der Lernorte institutionell zu verbinden. Dabei identifiziert er vier Kontexte, in denen die „Lernortmetapher“ (ebd., S. 225) Einzug in die Pädagogik erhalten hat: der berufs- und betriebspädagogische Kontext, der alltagskulturell-stadtteilbezogene Kontext, der lernökologisch-raumbezogene Ansatz sowie viertens der erziehungswissenschaftlich-zeitdiagnostische Ansatz. Diese Kontexte gehen mit je unterschiedlichen Lernformen einher. Auf theoretischer Ebene plädiert er für eine Erweiterung der bislang stark schulbezogenen Erziehungswissenschaft zugunsten jener Teilsysteme, in denen die Pluralität der 75
Daniela Ahrens
Lernorte besonders zu beobachten ist, wie etwa in der Erwachsenenbildung. Lernen findet nicht mehr nur ausschließlich an bestimmten Orten zu bestimmten Zeiten innerhalb weitestgehend normierter biographischer Lebensabschnitte statt, sondern vielmehr fungieren die individuellen Lebenswelten als potenzielle Lernorte. „Lernortvielfalt und Entgrenzung beziehen sich nicht nur auf das pädagogische Praxisfeld, sondern auch auf die Erziehungswissenschaft als Wissenschaft“ (ebd., S. 231). Angesprochen ist damit die Herausforderung, die sich für die Erziehungswissenschaft durch „hybride Lernorte“ (ebd., S. 230) stellt, also Lernorte, die in ihrer Zweckbestimmung nicht ausschließlich an dem pädagogischen Primat der Formung des Lebenslaufs ausgerichtet sind, sondern Lernen, Freizeit, Geselligkeit, Unterhaltung und Konsum an einem Ort vereinen. Der Raumbegriff bleibt aber insofern diffus in der Debatte um Entgrenzung und neue Lernorte, als er entweder mit Organisationen gleichgesetzt wird oder aber als außerschulischer Ort als Rahmen für Sozialisationsprozesse mitgeführt wird (vgl. Reutlinger 2008).
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Präzisierung der Entgrenzungsthese
Plausibilität gewinnt die Entgrenzungsdebatte in erster Linie durch ihre institutionelle und schulbezogene Ausrichtung. Entgrenzung verweist darauf, dass pädagogische Vermittlungsprozesse in nichtpädagogischen Organisationen stattfinden. Aus theoretischer Perspektive lässt sich im Anschluss an Kade sagen, dass der Entgrenzungsbegriff in der Pädagogik eher „destruktiv“ (Kade 1997, S. 32) angelegt ist. Unbeantwortet bleibt die Frage nach den neuen Strukturierungen angesichts zunehmender pädagogischer Realitäten außerhalb der klassischen Bildungsinstitutionen. Die Schule ist nicht mehr „der Prototyp, die primäre soziale Organisationsform des Pädagogischen in modernen Gesellschaften, sondern etwa neben Familie, dem Betrieb, den Massenmedien oder den kleinen ‚Sozialen Welten‘ nur noch ein spezifischer Anwendungsfall für eine Theorie pädagogischer Systembildung“ (ebd., S. 37). Folgt man der systemtheoretischen Argumentation, dann bestimmen sich die Grenzen des Pädagogischen strukturell über den Code vermittelbar/nicht-vermittelbar. Mit diesem alternativen Entwurf zu einer nicht professions- und institutionszentrierten Perspektive auf Pädagogik in der reflexiven Moderne rückt die Frage nach den Formen der Vermittlung von Wissen in den Vordergrund: Interaktion und Kommunikation. Bestimmt man das Erziehungssystem über die Handlungsebene und nicht über bestimmte Institutionen, dann erscheint die gegenwärtige Entinstitutionalisierung pädagogischen Handelns in einem neuen Licht. Durch den Fokus auf In76
Der schulische Lernort
teraktionssysteme und Kommunikation lassen sich die Grenzen des Erziehungssystems nicht hinreichend als institutionelle Grenzen bestimmen, denn: „Die Grundentscheidung für ‚vermittelbar‘ impliziert die beständige Modernisierung der Vermittlungsmethoden ebenso wie die grenzenlose Expansion des Pädagogischen“ (ebd., S. 41). Damit verliert die Entgrenzungsdiskussion ihre Brisanz zugunsten der Frage, wie neue Formen und Methoden der Vermittlung zum Raum in Beziehung stehen. Mit der Rede von der Entgrenzung oder Enträumlichung von Lernprozessen geht es nicht um das Überschreiten einer räumlichen Grenze, dem Wechsel von einem Territorium in ein anderes. Wenn außerhalb des Schulraums Bildungsprozesse identifiziert werden, wird die Frage virulent, in welcher Form erzieherische Kommunikation auf die Schule als spezifische Räumlichkeit angewiesen ist und – vice versa – inwieweit die Raumqualitäten der Schule bestimmte Handlungs- und Kommunikationsprozesse gleichermaßen ermöglichen und limitieren. Bislang sind Raumbezüge mit Blick auf die Schule eher randständig behandelt worden, obgleich die intentionale Erziehung nicht nur auf eine Organisation angewiesen ist, sondern angesichts ihrer interaktionsförmigen Ausrichtung auch auf den Raum. Als genuiner Ort des Lehrens und Lernens lässt sich die schulische erzieherische Kommunikation nicht losgelöst vom Raum betrachten. Erzieherische Kommunikation ist auf räumliche Strukturen ebenso angewiesen wie sie den Raum als pädagogischen Raum wirksam werden lässt (vgl. Ziemann 2003). Legt man den Fokus auf das soziale Handeln, geraten demzufolge nicht nur jene pädagogischen Vermittlungsprozesse, die in nichtpädagogischen Organisationen institutionalisiert sind, in den Blick (vgl. Kurtz 2004, S. 28)3, sondern dann stellt sich auch die Frage nach dem Verhältnis zwischen Raumstrukturen und sozialem Handeln. Im Folgenden geht es daher nicht um die Frage, ob die Entgrenzung zu einer „institutionellen Aufweichung, Verflüchtigung und Verstreuung“ (ebd.) führt, sondern um die Frage, wie sich die Schule als „besonderer Ort des Lernens“ (Künzli 2001, S. 406) in seiner Räumlichkeit wandelt. Die zugrunde liegende These ist, dass die Thematisierung des Raumes in den Diskussionen zu Lernsettings, neuen Lernumgebungen und Lernformen keineswegs zu einer Bagatellisierung des Lernorts Schule führt, sondern dass durch die Schärfung des Blicks auf die Vermittlungsprozesse die Wechselwirkungen zwischen sozialem Handeln und Interaktion und räumlichen Strukturen in den Vordergrund rücken. Es geht nicht um ein Lernen innerhalb bestimmter Räume. Der Raum fungiert nicht als Rahmenbedingung, sondern ist ein soziales Kons3
Zugrunde gelegt ist hier die systemtheoretische Prämisse des Bildungssystems als ein soziales System der Gesellschaft. Aus dieser Perspektive lässt sich die Entgrenzung als eine Frage der Öffnung des Bildungssystems gegenüber seiner Umwelt betrachten (vgl. Kurtz 2004).
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trukt, das seine Wirkmächtigkeit durch die sozialen Praktiken erfährt. Wenn die Gestaltung von Lehr-Lernprozessen an Variationsbreite gewinnt, dann hat dies auch Auswirkungen auf die Räumlichkeit. Räume lassen sich nicht als unabhängig von den sozialen Strukturen, Interaktionen und deren Interpretationen begreifen. Wir haben es vielmehr mit sozial strukturierten und die Interaktion und Kommunikation strukturierenden Raumqualitäten zu tun. Während die These der Entgrenzung einen territorialen Raumbegriff unterstellt, und der Raum als begrenztes Gebiet betrachtet wird, geht es im Folgenden um das Aufbrechen des Dualismus von pädagogischen Interaktionen auf der einen und Raumstrukturen auf der anderen Seite. Wenn sich die Vermittlungsmethoden ausdifferenzieren, stellt sich die Frage nach der Raumgebundenheit erzieherischer Kommunikation neu. Damit einher geht eine Verabschiedung eines Raumverständnisses, das den Raum als territoriale Gegebenheit und als Container betrachtet. Dem Containermodell liegt ein Raumverständnis zugrunde, wonach der Raum als dreidimensionaler Behälter gedacht wird, der sich seinen Inhalten gegenüber indifferent verhält. Der hier zugrunde gelegte Raumbegriff rekurriert hingegen auf den Raum als ein soziales Konstrukt, das durch die Relationierung von Personen und Objekten entsteht. Aus raumsoziologischer Perspektive lässt sich mit Löw der Raum als „relationale (An-)Ordnung von Menschen und sozialen Gütern“ (Löw 2001, S. 166) beschreiben. Der relationale Raumbegriff verzichtet gegenüber einem euklidischen Raumverständnis auf ein festes Referenzsystem, von dem aus der Raum beobachtet und gemessen werden kann4. In diesem Verständnis geht es weniger um die Gegenständlichkeit des Raumes, sondern um die Ordnungsleistung, die durch die Bezugnahme auf den Raum entsteht. Räumliches Denken wird hier als eine Möglichkeit, Welt zu ordnen, begriffen: Indem der Raumbegriff mit dem Begriff der Ordnung verknüpft wird, existiert der Raum nicht als eine a priori gegebene Tatsache, hat keine – weder eine sichtbare noch eine unsichtbare – Gegenständlichkeit, sondern besteht in den Beziehungen von Phänomenen zueinander. Demnach verweist der Raumbegriff auf das Ordnen, das durch die Relationierung verschiedener Dinge geschieht. In diesem Raumverständnis geht es um das Konstruieren und Herstellen einer bestimmten Ordnung, die nicht zuletzt durch die Abgrenzung und durch die Differenz zu anderen Räumen rsp. Lokalitäten an Kontur gewinnt. An dieser Stelle ist zu betonen, dass die Bezugnahme auf 4
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Die euklidische Geometrie – Geometrie der Erdvermessung - erhebt den Anspruch, den realen Raum allein durch Messverfahren erfassen zu können. Während Kant die euklidische Struktur des Raumes insofern übernimmt, dass er die Wahrnehmung von Raum als eine apriorische Erkenntnis begreift, wendet Simmel sich gegen das euklidische Raumverständnis, das den Raum als dreidimensionalen Punktraum versteht, der unabhängig von den in ihm stattfindenden Vorgängen existiert.
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den Raum zur Herstellung von Ordnung nicht gleichzusetzen ist mit dem im Alltag weit verbreiteten dreidimensionalen euklidischen Raumverständnis. Es geht vielmehr darum durch die Konstituierung von Räumen Kontingenzen einzudämmen und Komplexität zu reduzieren. Gesellschaftliche Raumstrukturen bestehen nicht als eine vor aller menschlichen Erfahrung und ohne menschliches Zutun apriorisch existierende Erscheinung, vielmehr konstituieren sie sich in Wechselwirkung zu soziokulturellen Praktiken. Die Betonung liegt somit auf den spezifischen kulturellen Hervorbringungsweisen des Raumes. Damit wird der Tatsache Rechnung getragen, dass spezifische Raumbezüge rsp. Lokalitäten in ihrem „So-Sein“ erzeugt werden. Ein relationales Raumverständnis begreift den Raum nicht als unbeweglich und stets gleich, sondern rückt die soziokulturelle Verfasstheit unterschiedlicher Räumlichkeiten in den Vordergrund. Damit wird auf die Perspektivenabhängigkeit und Kontextbezogenheit spätmoderner Wirklichkeiten abgestellt. Prozesse der Verräumlichung, des „Spacings“ und der „Syntheseleistungen“5 geschehen immer in bereits „vorarrangierten Räumen“ (ebd., S. 204). Im Anschluss an Löw ist hervorzuheben, dass die soziologische Beschäftigung mit dem Raum dessen Prozess der Konstitution erfasst und nicht dessen Ergebnis (Behälter) bereits voraussetzt (ebd., S. 270). Mit der Überwindung eines substantialistischen Raumbegriffs zugunsten eines Raumverständnisses, das den Raum als ein in und durch soziales Handeln hervorgebrachtes Konstrukt betrachtet, wird es möglich, die Variation in den Sozialverhältnissen mit sich wandelnden Raumverhältnissen in den Blick zu rücken. Legt man der Entgrenzungsdebatte ein relationales Raumverständnis zu Grunde, dann geht es nicht mehr um Auflösungs- und Aufbruchserscheinungen, sondern um Prozesse der Verräumlichung. Welche Informationen gewinnen wir mit Hilfe eines relationalen Raumverständnisses über den schulischen Raum? Welchen Mehrwert hat die Bezugnahme auf den Raum für die Pädagogik und hier insbesondere für die Gestaltung von Lehr-Lernprozessen? Auf diese Fragen wird in den folgenden Kapiteln eingegangen.
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Durch Syntheseleistungen werden soziale Räume zu größeren Einheiten zusammengefasst. Die Syntheseleistung „ermöglicht es, dass Ensembles sozialer Güter oder Menschen wie ein Element wahrgenommen, erinnert oder abstrahiert werden“ (Löw 2001, S. 159).
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Schulische Verräumlichungsprozesse
Will man den Wechselverhältnissen zwischen sozialen Handlungsprozessen und Verräumlichungsprozessen nachspüren, ist der Bezug auf Georg Simmel (1992/1908, 1997/1904) hilfreich. Die Aktualität Simmels liegt darin, dass er Raumqualitäten gleichermaßen als sozial strukturierte und strukturierende Formen begreift. Seine Raumperspektive stellt die Frage ins Zentrum, in welcher Art und Weise räumliche Ordnungen soziale Beziehungen formen. Angesprochen ist damit nicht nur die Tatsache, dass soziale Ordnung ohne die Bezugnahme auf den Raum nicht möglich ist, sondern auch, dass die sozialen Beziehungen durch den Raum geprägt werden. Hervorzuheben ist, dass Simmel zwei Raumbegriffe unterscheidet: den abstrakten leeren Raum und den durch die „Tätigkeit der Seele“ erfüllten Raum. Interpretationen, die Simmel aufgrund seiner These des „unerfüllten Raumes“ einseitig als einen Vertreter der Behälterraumvorstellung ausweisen, greifen aber zu kurz (vgl. Schroer 2006; Glauser 2006)6. Im Anschluss an Kant begreift Simmel diesen „leeren Raum“ als „bloße Abstraktion“ (Simmel 1997, S. 80), die keine soziologische Relevanz besitzt. Wie schwierig es ist, die Existenz eines Raumes an sich gedanklich und begrifflich zu verabschieden, zeigt sich auch bei Martina Löw, deren Formulierung deutliche Parallelen zu Simmel aufweist: „Ich verwende Raum als eine begriffliche Abstraktion, die den Konstitutionsprozess benennt. Empirisch erhebbar ist niemals der Raum an sich, sondern immer einzelne Räume“ (Löw 2001, S. 131). Relevant wird der Raum durch die sozialen Wechselwirkungen, die wiederum auf den Raum angewiesen sind, um als formale Bedingung Wirksamkeit zu entfalten. Damit gelingt es Simmel, den Raum als ein soziales Phänomen empirisch beobachtbar zu machen. Für Simmel entsteht der Raum erst durch die Erfahrung und Wahrnehmung des Menschen. Es sind die Wechselwirkungen, die den vorher abstrakten, leeren Raum zu einem sozialen bzw. „erfüllten“ (Simmel 6
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In seinem Aufsatz „Essay über den Raum“ (1991) bezieht sich Dieter Läpple auf Simmel, um die Raumblindheit der Sozialwissenschaften zu erklären. Dass diese einseitige Interpretation jedoch nicht hinreichend ist, zeigt sich in Simmels Ausführungen zum Raum in seinen KantVorlesungen. Dort beschreibt er den Raumbegriff wie folgt: „Was bedeutet dieses unendliche Gefäß um uns herum, in dem wir als verlorene Pünktchen schwimmen und das wir doch samt seinem Inhalt vorstellen, das also ebenso in uns ist, wie wir in ihm sind“ (Simmel 1997, S. 81; Hervorhebung im Original). Für Simmel ist die Vorstellung des Raums als „Gefäß“ ein „bloßes Gedankending“ (ebd., S. 80). An anderer Stelle führt er aus: „Angesichts jener Gewöhnung, uns und die Dinge innerhalb eines vor allem einzelnen bestehenden Raum vorzustellen, ist es ein schwieriger Gedanke, dass – mit etwas paradoxer Kürze ausgedrückt – der Raum selbst nichts Räumliches ist: grade so wenig wie die Vorstellung des Roten selbst etwas Rotes ist“ (Simmel, 1905: S. 55). Für eine fundierte Auseinandersetzung mit Simmels Raumsoziologie und deren unterschiedlichen Interpretationen vergleiche Glauser (2006).
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1992, S. 690) Raum machen. Der Begriff der „Wechselwirkung“ steht bei Simmel an prominenter Stelle, um soziale Prozesse zu analysieren. Dabei liegt die soziale Qualität von Wechselwirkungen in dem gleichzeitigen Wirken gegenseitiger Kräfte. Erst durch das gleichzeitige Vorhandensein dualistischer bzw. ambivalenter Kräfte werden soziale Beziehungen zu sozialen Gebilden (vgl. Nedelmann 1995, S. 92). Diese verschiedenen Formen der Wechselwirkung werden von Simmel als Formen der „Vergesellschaftung“ begriffen. Simmel selbst zieht den Begriff der Vergesellschaftung dem Gesellschaftsbegriff vor, um eine deutliche Abgrenzung zu substantialistischen Gesellschaftsauffassungen zu ziehen und die Betonung auf die Dynamik und das Prozesshafte zu legen. Im Anschluss an Simmel fungiert der Raum als Bedingungs- und Möglichkeitsform für soziale Beziehungen. Dabei nennt Simmel fünf Raumqualitäten, durch die der Raum sozial relevant wird: Die Ausschließlichkeit, wonach jede Raumstelle nur einmal besetzt werden kann, die Fixierung, die Begrenzung, das Verhältnis von Nähe und Distanz zwischen den Personen und das Wandern bzw. die Möglichkeit, sich im Raum zu bewegen. Simmels Interesse konzentriert sich auf die Frage, wie sich soziale Gruppierungen zu diesen Raumqualitäten verhalten und – vice versa – wie sich die so geschaffenen räumlichen Bedingungen auf die Beschaffenheit der sozialen Gruppen auswirken (vgl. Glauser 2006, S. 257). Zwei Raumqualitäten sind für unsere Argumentation hervorzuheben: Zum Einen die „Fixierung“, die der Raum den Inhalten ermöglicht. So ermöglichen gerade Immobilien oder andere räumliche Festlegungen bestimmte soziale Beziehungsformen, die sich um diesen Gegenstand gruppieren. Die Bedeutung der Fixierung liegt in ihrer Funktion als „Drehpunkt“ (Simmel 1992, S. 706). Danach ist nahezu jedes unbewegliche Gut „ein stabiler Drehpunkt labiler Verhältnisse und Wechselwirkungen“ (ebd.). Im Gegensatz zur Grenzziehung kommt hier der Stabilisierung und Bindung sozialer Begrenzungsprozesse entscheidende Bedeutung zu. An zentraler Stelle steht die Unterscheidung zwischen „freischwebenden Verbindungen“, wie etwa Freundschaft und politische Vereinigungen, und „festen Lokalitäten“, also Gruppierungen, die sich an einem bestimmten räumlichen Ort etablieren. Je nachdem, ob soziale Beziehungen nur durch gemeinsame Ideen und Anschauungen oder aber durch eine konkrete Lokalität miteinander verbunden sind, hat dies Auswirkungen auf ihre soziale Stabilität. Diese Vorstellung hat bis heute nur wenig an Aktualität verloren und lässt sich beispielhaft an der Schule verdeutlichen. Durch die Ausdifferenzierung des Erziehungssystems als eigenständiges System moderner Gesellschaft fungieren Schulen als ein wesentlicher Adressat des Erziehungssystems. Der Lernort Schule ist für Jugendliche nicht nur als besonderer Ort – Schule als Schon- und Schutzraum – vorgegeben, sondern durch seine funktionale Zweckbestimmung – Formung des Lebenslaufs – werden beim Betreten der Schule 81
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spezifische Erwartungshaltungen generiert7. In Anlehnung an Schroer lässt sich mit Blick auf die Schule sagen, dass mögliche Verhaltensweisen durch die Räumlichkeit der Schule selektiert werden und damit Kontingenz bewältigt wird (Schroer 2006, S. 177). Diese disziplinierende Raumwirksamkeit der Schule veranlasste Giddens dazu, die Schule als „Machtbehälter“ (Giddens 1988, S. 186) zu beschreiben: „Eine Schule ist ein ‚Behälter‘, in dem disziplinierende Macht generiert wird“ (Giddens 1988, S. 188). Die Schule als Raum der Kontrolle und Macht zu begreifen, stellt darauf ab, dass neben dem geregelten Zugang und dem Ausschluss von Personen, in der Schule ein bestimmtes Zeitregime institutionalisiert ist. Einschränkend muss in diesem Zusammenhang jedoch gesagt werden, dass Giddens einerseits in seiner Rede von der Schule als „Machtbehälter“ am Containermodell des Raumes festhält und damit den Raum vom sozialen Handeln entkoppelt, andererseits jedoch in seinen Arbeiten die These der „Dualität von Strukturen“ (vgl. ebd., S. 168 ff.) vertritt. Mit der Betonung der „Dualität von Strukturen“ geht es ihm um die die Überwindung des Gegensatzes von Handeln und Struktur. Giddens rückt Strukturen als rekursiv reproduzierte Praktiken in den Vordergrund, d.h. gesellschaftliche Strukturen stehen dem Handelnden nicht länger als objektive Gegebenheiten gegenüber, sondern fließen unmittelbar in die Handlungen ein, die wiederum strukturbildende Kraft haben. Anstelle der Kluft zwischen objektiven Bedingungen und subjektiven Handlungen wird Gesellschaft bei Giddens als objektiver Strukturzusammenhang und subjektvermittelte Handlungswirklichkeit begriffen. Anders gesagt: Der Strukturbegriff erscheint in seiner Handlungsbezogenheit, während soziales Handeln in seiner strukturbildenden Kraft akzentuiert wird. Giddens selbst führt jedoch das Kriterium der Dualität in Bezug auf seine Überlegungen zur Schule nicht weiter aus. Die Vermutung liegt nahe, dass Giddens sich in seiner Betrachtung der Schule als „Machtbehälter“ stark von den zeitgeographischen Arbeiten leiten ließ und die Schule in erster Linie als eine zentrale Station alltäglicher Raum-Zeitpfade thematisierte. Die zweite Raumqualität Simmels betrifft die Begrenzung. Spätestens seit Simmel wissen wir, dass Grenzen soziale und nicht räumliche Tatsachen sind, dass es den Raum ohne Grenzen nicht gibt: „Die Grenze ist nicht eine räumliche Tatsache mit soziologischen Wirkungen, sondern eine soziologische Tatsache, die sich räumlich formt“ (Simmel 1992, S. 697). Grenzziehungen stehen also im Dienst sozialer Differenzierung, d.h. es handelt sich um „seelische Begrenzungsprozesse“ (ebd., S. 697, Hervorh.i.O.), die zwar durch Linien oder ähnliches im Raum gesetzt werden können, aber in erster Linie soziale Gegenseitigkeitsver7
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An der historischen Entwicklung des Joachimsthalschen Gymnasiums in Templin zeigen die Autoren Schluß und Lachmann (2007), dass nicht die Absichten der Architekten, sondern der Nutzungskontext den Raum zum pädagogischen Raum machen.
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hältnisse ausdrücken8. Haben sich diese Grenzen, die Simmel als eine Form der „Raumgestaltung“ begreift, im Raum manifestiert, prägen sie gleichsam die jeweiligen sozialen Verhältnisse innerhalb dieser Grenzen. Simmel liefert durch seine raumsoziologischen Überlegungen einen Analyserahmen, um die vermeintlich objektiv vorgegebene materielle Anordnung von Gütern hinsichtlich ihrer sozialen Strukturierungsrelevanz zu analysieren. So sorgt eine bestimmte Anordnung von Mauern, Pulten und Tischen nicht nur für die Ordnung und Kontrolle der sozialen Beziehungen, sondern darüber hinaus tritt die Position des Professionellen im Klassenzimmer bereits durch die räumliche Anordnung deutlich hervor. Kaum jemandem sind parallele Sitzordnungen und uniforme Räume unbekannt, wenn es um die Beschreibung des Klassenzimmers geht. Der herkömmliche Klassenraum wird in der Regel als eine 60qm Box konzipiert und Klassenzimmer, Flur, Lehrerzimmer, Sanitäranlagen, Schulhof bestimmen zumindest den Grundriss der Vergangenheit einer Schule. Dass der schulische Raum gleichsam als Ressource für und Resultat von Interaktionsprozessen fungiert, hebt Ziemann (2003) in seiner Analyse der Relevanz und Funktion des Raumes für das Erziehungssystem hervor: „Jede (Neu-) Gestaltung des Klassenzimmers ist als Produkt der Unterrichtskommunikation wie auch des Lehrer- und Schüler-Handelns zu betrachten, das dann wiederum als ‚Atmosphäre‘ auf gelingende Erziehung und Bildungsvermittlung zurückwirken soll“ (ebd., S. 146). Ziemann knüpft dabei an Luhmanns Begriff der „Atmosphäre“ an. Danach lässt ein von Personen und Gütern konstituierter Raum als „Überschusseffekt der Stellendifferenz“ eine Atmosphäre entstehen. Räume erfahren dadurch ihren je spezifischen Eigensinn. Je nach Anordnung von Personen und Gütern bildet sich ein bestimmtes Raumbewusstsein aus, wobei der Raum auf die Interaktion disziplinierend wirkt, um die Anwesenden als Interaktionspartner nicht ohne weiteres entlassen zu können. Die Vergegenständlichung des Raumes erfolgt gleichsam durch die sozialen Interaktionsprozesse, die die Anordnung im Raum wirksam werden lassen. Die vermeintliche „Faktizität des Dinglichen“ (Günzel 2009,S. 12) ist demzufolge sozial hergestellt. Diese enge Verflochtenheit von pädagogischer Interaktion und räumlicher Dimension wird gegenwärtig durch neue Unterrichtskonzepte und hier insbesondere die Umsetzung eines handlungsorientierten Unterrichts aktuell. Durch neue Unterrichtsformen werden gleichermaßen neue Praktiken der Anordnung und Platzierung notwendig. Dass die Lernortgestaltung über die konkrete materielle Ausstattung von Lernräumen hinausgeht, dass veränderte Interaktions8
Simmel unterscheidet zwischen dem „natürlichen Raum“, der keine absolute Grenze besitzt, und dem gesellschaftlich verfassten Raum, der sich durch Grenzziehungen kennzeichnet. Jede Grenzziehung gegenüber der Natur ist nach Simmel als Willkür zu begreifen und damit als sozial hergestellt.
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formen mit der Konstituierung des Raumes einhergehen, zeigt das Beispiel einer Schweizer Sekundarschule. Dort wurden Wände eingerissen, um drei Klassen in einer so genannten „Lernlandschaft“ zu unterrichten (Kahl 2008). Die Umsetzung handlungsorientierter Unterrichtsformen lässt sich nicht allein über neue didaktische Konzepte erreichen, notwendig ist vielmehr auch die Bezugnahme auf den Raum als Ressource für Interaktion. Simmels Hinweis, dass der Raum seine Bedeutung erst durch die Art und Weise der Wechselwirkungen und deren Anordnung erfährt, liefert fruchtbare Anknüpfungspunkte für die Gestaltung und Ausdifferenzierung pädagogischer Interaktionen. Räume als unabhängig von den sozialen Strukturen, Interaktionen und deren Interpretationen zu denken, erweist sich vor diesem Hintergrund als unsinnig.
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Fazit
Einem schwedischen Sprichwort zufolge fungiert die Schulumwelt neben den Schülern und dem Lehrpersonal als „dritter Lehrer“ (vgl. Walden 2007). Gegenwärtig werden hohe Anforderungen an die Schule gestellt: Sie soll zum Einen Lern- und Lebensraum sein, zum Anderen ein Ort der Begegnung, der soziales Lernen, Konfliktfähigkeit und Platz für Kreativität und Entfaltung ermöglicht (ebd.). In diesem Zusammenhang wird viel Energie in die Entwicklung neuer Unterrichtsformen investiert, aber bislang existieren wenige empirische Arbeiten über den Zusammenhang der Schulräumlichkeit mit schulischen Leistungen. Indem mit dem vorliegenden Beitrag auf das Bedingungsverhältnis schulischen Lernens und sozialer Verräumlichung verwiesen wird, geht es mir um zweierlei: Zum Einen um eine Schärfung des analytischen Blicks hinsichtlich des Raumbegriffs bei der Untersuchung schulischen Lernens. Unterschiedliche Schulformen stellen nicht nur verschiedene Lern- und Anregungsbedingungen für die Schüler bereit, sondern bieten auch je spezifische Möglichkeiten der sozialen Verräumlichung. Hier könnten empirische Arbeiten Aufschluss darüber geben, wie in der pädagogischen Interaktion und Kommunikation Verräumlichungsprozesse initiiert werden und welche Effekte diese auf die Lernprozesse haben. Zum Anderen könnte eine derartige Fragestellung auch wichtige Hinweise dafür liefern, ob und in welchem Maße Formen pädagogischer Interaktion auf die Schule als „fixe Lokalität“ angewiesen oder aber in Lernorten außerhalb der Schule wahrscheinlicher sind. Damit würde der Entgrenzungsbegriff an destruktiver Kraft und an Ausmaß der Gefahr der Beliebigkeit verlieren zugunsten differenzierter Aussagen bezüglich des Verhältnisses sozialer Verräumlichung und der Gestal84
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tung von Lernprozessen. Darüber hinaus bieten Simmels raumsoziologische Überlegungen sowie seine Differenzierung verschiedener Raumqualitäten fruchtbare Anknüpfungspunkte über die jeweiligen Spezifika von Lernorten.
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III
Schulische Bildungsorte im Schulentwicklungsdiskurs
Michael Göhlich
Schulraum und Schulentwicklung: Ein historischer Abriss „The plan of school buildings depends on the method of tuition“, schreibt Robson (zit. n. Filmer-Sankey 2003, S. 222) in seinem 1874 erstveröffentlichten Standardwerk über Schularchitektur. Seinem Hinweis auf den Zusammenhang zwischen baulicher Materialisierung und methodischer Idee ist zuzustimmen. Hermann Lange (1967) hat deutlich gemacht, dass der Schulbau über die Unterrichtsmethode hinaus mit der Verfassung der jeweiligen Schule insgesamt zusammenhängt. Dabei ist die Richtung der Abhängigkeit – des Schulbaus von der Schulverfassung oder der Schulverfassung vom Schulbau – nicht eindeutig. So werden Bilder und Grundrisse von Schulgebäuden von Lange als Indizien für eine bestimmte Schulverfassung genutzt. Schließlich ist darauf hinzuweisen, dass der Schulraum nicht nur als Bau, sondern auch als Inneneinrichtung und Ausgestaltung mit Materialien zu verstehen ist und dass er als solcher immer auch auf ein bestimmtes Bild vom Menschen verweist (vgl. Göhlich 1993). Der historische Wandel des Schulraums impliziert somit auch einen Wandel der Auffassungen von Unterricht, Schule und Menschen. Der vorliegende Beitrag sucht im ersten Abschnitt Schulraum und Schulentwicklung begrifflich zu fassen und zentrale Fragen des Verhältnisses zwischen Schulraum und Schulentwicklung zu bestimmen. Der im zweiten Abschnitt zu findende historische Abriss folgt diesen Fragen mit Blick auf vier unterschiedene Zeiträume. Im dritten wird ein kurzes Fazit gezogen.
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Schulraum und Schulentwicklung – Begriffe und Fragen
Wenn im pädagogischen Diskurs von Schulraum gesprochen wird, ist Verschiedenes gemeint. Die Einen zielen damit auf die architektonische Gestalt von Schule, auf den Schulbau im engeren Sinne, auf Fassade und Grundriss, auf Breite, Tiefe und Höhe des Gebäudes und seiner einzelnen Räume, auf die Anlage des Treppenhauses und anderer Wege im Gebäude, auf Bezogenheit und Verbindung der Räume zueinander, auf Lichteinfall, Fenster und andere bauliche Öffnungen und Verbindungen zur Außenwelt; die Anderen zielen damit auf den pädagogisch gestalteten Raum, auf die Einrichtung des Raumes mit Lehr- und
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Michael Göhlich
Lernmaterialien und anderen Materialien, die von LehrerInnen und ggf. auch SchülerInnen als förderlich angesehen und eingebracht werden. Das anthropologische Raumverständnis, das dem vorliegenden Beitrag zugrunde liegt, umschließt beide Perspektiven und geht über sie hinaus, indem es den Raum als materiell-immaterielles Geflecht versteht, das der Mensch nicht nur gestaltet, sondern in dem er ist, in dem er sich als Mensch erfährt. Eine explizite pädagogische Anthropologie des Raumes existiert bislang kaum. Wer dieses Desiderat zu schließen versucht, muss auf die philosophische Raumanthropologie, etwa auf die phänomenologischen Arbeiten von Bachelard, Bollnow oder Schmitz, auf Durckheims existentialpsychologische Raumstudien oder auf Appletons anthropogeographische Studien zurückgreifen (vgl. Plöger 1993, Forster 1999, Girmes 1999, Göhlich 1999). Mit Bollnow (1989) lässt sich zunächst der erlebte Raum vom mathematischen Raum unterscheiden. Während im mathematischen Raum kein Punkt vor dem anderen und keine Richtung vor der anderen ausgezeichnet ist, gibt es im erlebten Raum einen ausgezeichneten Mittelpunkt (durch den Ort des erlebenden Menschen), ein ausgezeichnetes Achsensystem (durch die aufrechte Haltung des menschlichen Körpers), damit qualitativ unterschiedene Orte und keine Wertneutralität. Der erlebte Raum ist der Raum, wie er für den Menschen da ist. Diesen Raum historisch zu erschließen, ist allerdings kaum aus Grundrissen, eher schon aus Bildern und am ehesten wohl aus Berichten der Akteure des Raums zu erschließen. Die der untenstehenden historischen Skizze zugrunde liegende Studie greift deshalb auf alle drei genannten Formen von Zeitdokumenten zurück. Aus pädagogischer Sicht problematisch an Bollnows Perspektive ist, dass der Raum zwar auch als Handlungsraum thematisiert wird, als solcher jedoch als etwas Abgeleitetes und Späteres erscheint. Der Handlungsraum ist gerade aus pädagogischer Sicht kein Späteres. Der pädagogische Raum ist voller in Einrichtung und Materialien eingelassener und mit ihnen verknüpfter Handlungen und Handlungserwartungen. Insofern führt uns die Studie von Dürckheims (1932) weiter. Von Dürckheim unterscheidet zwischen objektivem Weltraum und persönlichem Raum, die er als ineinander verzahnte Gerichtetheiten eines den Raum lebenden Subjekts auffasst. An sein experimentell gestütztes Postulat, dass „von jedem konkreten Raum … ein spürbarer Anspruch ausgeht, sich seinem Sinn gemäß zu verhalten“ (ebd., S. 307), kann die historisch-pädagogische Anthropologie des Schulraums anknüpfen. Dabei ist nicht allein nach Gestaltung und Einrichtung des Raumes zu fragen, sondern auch nach dessen Nutzung. Hier greift Dürckheims Begriff des persönlichen Raumes, der sich in Handlungsraum, Selbstraum und persönlichen Lebensraum ausdifferenzieren lässt. Der Handlungsraum ist im Hinblick auf die Spezifika pädagogischen Raumes von besonderem Interesse. „In dem Augenblick aber, da ich wirklich 90
Schulraum und Schulentwicklung: Ein historischer Abriss
in die Handlung eintrete, ‚aktiviert‘ sich der Raum und dieser sich im Vollzuge der Handlung bildende ‚aktive Raum‘ hat eine Gegenständlichkeit ganz anderer Art als der einem möglichen Zweck zugeordnete funktionale Raum“ (ebd., S. 462). Mit Blick auf den Schulraum heißt dies: Ein Raum, der zum Zwecke des Lehrens und/oder des Lernens bzw. zu dessen Anregung und Förderung gestaltet wird, wird erst und nur insoweit zum Lehr- bzw. Lernraum, wie er und seine Gegenstände sich im Vollzug des Lehrens bzw. Lernens aktivieren. Deshalb ist etwa ein Schulraum noch lange kein Lehr- oder Lernraum und auch wenn er zum Lehrraum geworden ist, kann der Weg zum Lernraum noch weit sein. Aus dieser Differenz zwischen mathematischem und erlebtem, zwischen objektivem und persönlichem Raum speist sich die immer wieder gebotene Überarbeitung der Raumgestalt und -einrichtung. Eingebunden in den Zeitgeist, selbst Element der je spezifischen historischen Kultur, ändert sich das Erleben des Raums, die Aktivierung des Raums mit dem historischen Kontext. Auch unter dem Begriff Schulentwicklung wird Unterschiedliches verstanden. So lassen sich äußere und innere Schulentwicklung unterscheiden, wobei unter ersterer in der Regel die Entwicklung des Schulwesens als solches – z.B. die Entwicklung neuer Schulformen, die Einführung neuer Fächer in eine bestimmte Schulform, die Einführung von Jahrgangsklassen, die Lehrplanentwicklung oder die Formulierung von Qualitätsstandards – und unter letzterer die Entwicklung einer einzelnen konkreten Schule – z.B. die Verbesserung ihres Schulklimas bzw. ihrer Schulkultur, die Weiterentwicklung der Kooperation ihres Kollegiums und die konkrete Weiterentwicklung des Unterrichts – verstanden wird. Das Begehren der äußeren und inneren Schulentwicklung speist sich aus dem allgemeineren gesellschaftlichen Wandel, dessen Teil sie zugleich ist. Im Zuge sowohl der äußeren als auch der inneren Schulentwicklung entstehen raumbezogene Bedürfnisse, die zum Wandel des Schulraums beitragen. Insofern ist grundsätzlich sowohl der Zusammenhang von Schulraum und äußerer Schulentwicklung als auch von Schulraum und innerer Schulentwicklung einzelner Schulen von Interesse. Allerdings liegen zum letztgenannten Verhältnis bislang kaum Arbeiten vor. Als eine der Ausnahmen zu erwähnen ist Toschs Studie zur Forster Jahn-Schule in der Weimarer Republik, die den Zusammenhang von äußerer und innerer Schulreform im Kontext einer Schulbaugenese und ihren pädagogischen Dimensionen fokussiert (vgl. Tosch 2003). Die Darstellung im folgenden Abschnitt beschränkt sich weitgehend auf den Zusammenhang zwischen Schulraum und äußerer Schulentwicklung und verfolgt dabei eine Typisierung aus historisch-anthropologischer Perspektive, die den allgemeinen historischen Wandel und das darin eingebundene Bild von Mensch und Raum mit bedenkt. Dabei schälen sich vier Fragen als besonders relevant heraus: die Frage nach dem Verhältnis zwischen Schule und Zuhau91
Michael Göhlich
se, die raumbezogen als Frage nach der Wohnlichkeit des Schulraums gefasst werden kann; die Frage nach Offenheit und Geschlossenheit von Schule und Unterricht gegenüber Welt und Leben, die raumbezogen zur Frage nach dem Bezug der schulischen Raumgestaltung zur außerschulischen Welt wird; die Frage nach dem Verhältnis zwischen Lehrer und Schüler, die raumbezogen in die Frage nach Zentralisierung bzw. Dezentralisierung des Schulraums übersetzt werden kann; und schließlich, eng mit der letztgenannten verbunden, die Frage nach dem Bild vom Schüler, die raumbezogen zur Frage nach materiellen Hinweisen auf Fremd- oder Selbststeuerung des Lernenden wird. Diese vier Fragen ziehen sich – wenngleich unterschiedlich gewichtet und ausgearbeitet – durch den folgenden historischen Abriss.
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Historischer Abriss
Die Geschichte des Schulraums und des Verhältnisses zwischen dem Schulraum und den Bildern von Schule, Unterricht, Lehrern und Schülern wird hier in vier Schritten behandelt: Mittelalter und frühe Neuzeit, Moderne, Reformpädagogik und Postmoderne. Diese Schritte sind unterschiedlich groß und im historisch-pädagogischen Diskurs unterschiedlich etabliert, lassen sich jedoch aus dem spezifischen Interesse an der Schulraumgeschichte heraus begründen. So schreibt schon Lange: „Bis zuletzt war die neue Klassenform und mit ihr die ,Schulkaserne‘ umstritten, und kaum hatte sie sich durchgesetzt, begann das Bemühen um Differenzierung und Individualisierung im Unterricht und um den kindlichen Maßstab für das Schulhaus. Die Lern- und Lehrerschule der Jahrhundertwende (gemeint ist 1900, M.G.) mit dem ihr entsprechenden Schulhaus ist also ein Kulminationspunkt in der Geschichte der Pädagogik. Pädagogen der alten Zeit (gemeint ist „Alteuropa“, M.G.), wenn auch durchaus nicht alle, und die Reformpädagogen unseres Jahrhunderts reichen sich über ihn hinweg die Hand“ (Lange 1967, S. 14). Diese Einschätzung liegt auch dem vorliegenden Beitrag zugrunde. Die im Mittelalter entstehende Konzeption des Schulraums bleibt im Wesentlichen durch die frühe Neuzeit hindurch erhalten und wird vielerorts erst im späten 19. Jahrhundert vom modernen Schulraum abgelöst, der sich wiederum nur wenig später schon reformpädagogischer Kritik ausgesetzt sieht, die in mancher Hinsicht den vormodernen Schulraum wieder zu beleben scheint, in anderer freilich doch Neues bringt. Die jüngste Wende hin zum postmodernen, insbesondere durch Mediatisierung bzw. Virtualisierung gekennzeichneten Schulraum war für Lange noch nicht abzusehen, ist hier jedoch ebenfalls auszuweisen. 92
Schulraum und Schulentwicklung: Ein historischer Abriss
2.1
Mittelalter und frühe Neuzeit
Im Mittelalter und in der frühen Neuzeit gilt das ganze Schulhaus als Wohnung des Lehrers. Anders gesagt: Unter den Bezeichnungen „Schulhaus“ oder „Schule“ wird das Haus des Schulmeisters verstanden, in dem eben auch der Unterricht stattfindet. Beruf und privates Leben werden noch nicht getrennt, fallen in Haus und Person des Schulmeisters noch in eins. Selbst in den ab dem 16. Jahrhundert entstehenden großen Lateinschulen wohnen der Rektor und seine Schulgesellen im Schulhaus; und wo dies mit zunehmender Größe der Schule und entsprechender Anzahl der Lehrkräfte nicht mehr möglich ist, werden Häuser oder Wohnungen für die Lehrkräfte in unmittelbarer Nachbarschaft der Schule erstellt, wobei der Bau im Einzelfall für den Rektor bzw. Schulmeister das Privileg vorsieht, unmittelbar aus seiner Wohnung (im Nachbarhaus) in seinen Lehrraum (im Schulhaus) zu gelangen. In kleineren und einfacheren Schulen ist selbst ein separater Unterrichtsraum im Haus des Schulmeisters keineswegs selbstverständlich. Das „Schule halten“ erfolgt dort in der Wohnstube des Schulmeisters und ist dementsprechend eng in dessen allgemeines Hauswesen – von der Kleinkindversorgung bis zur Altenpflege, von Haushalts- bis zu nichtschulischer Erwerbstätigkeit – eingebunden. Allerdings liegen bereits aus dem 17. Jahrhundert Zeugnisse vor, dass diese Gegenwart des ganzen Hauswesens in der einzigen Stube im Blick auf die Schule als störend empfunden wird; zur Schulentwicklung des Landschulwesens im 18. Jahrhundert gehört konsequenterweise bei Neubauten eine zweite, kleinere Stube vorzusehen, in die die übrigen Hausmitglieder während des Unterrichts ausweichen können (vgl. Lange 1967, S. 25). Die Regel, dass das Schulhaus eben das Haus des Schulmeisters ist, gilt für Schulen damals generell. Dennoch sind schon im späten Mittelalter zwei Schulraumtypen zu unterscheiden – die kirchliche (Kloster-, Stifts- bzw.) Domschule und die weltliche (handwerklich-zünftige) Rechenmeisterschule. Bei aller Dezentralität des Großraums der Domschule, in dessen Winkel Unterlehrer Abteilungen von Schülern unterrichten, ist in Katedra und Rute des Schulmeisters auf den Darstellungen jener Zeit doch dessen Lehr- und Sanktionsprimat eindeutig auszumachen. Das hausherrliche Recht gilt zwar grundsätzlich auch für die Rechenmeisterschulen, aber die räumliche Dezentralität wird dort weniger konterkariert als in der Domschule. Während die Domschüler auf langen Bänken in fester Ordnung sitzen oder in Reihen vor dem auf dem Lehrstuhl sitzenden Schulmeister stehen, sitzen die Schüler in der spätmittelalterlichen und frühneuzeitlichen Rechenmeisterschule um einen Tisch, auf dem ihnen mittels Rechenbrett und Rechenpfennigen eigenständige und selbstkontrollierbare Lösungsversuche ermöglicht werden. Die im Vergleich zum kirchlichen Schulraum geringe
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Hervorgehobenheit des Meisters in der innenräumlichen Gestaltung stärkt den Selbstwert des Kaufmannssohns ebenso wie der Vertrag über seine Ausbildung, in dem sich der Rechenmeister dazu verpflichtet, ihm alles beizubringen, was er selbst beherrscht. Abgesehen von den kleinen privaten Rechenmeisterschulen sind Schulen der damaligen Zeit in der Regel kaum mit Tischen ausgestattet. In den großen (Dom-, Stifts- bzw. Latein-)Schulen gibt es viel mehr Sitz- als Tischplätze. Dies ist darin begründet, dass in den Schulen hauptsächlich gehört, gelesen und rezitiert, dagegen weniger geschrieben und noch weniger gerechnet wird. Die unterschiedlichen Raumgestalten verkörpern unterschiedliche Bilder vom Menschen: Domschüler werden auf orthodoxe Lehrmeinungen und kircheninterne Hierarchie vorbereitet, Rechenschüler dagegen auf betriebliche Selbständigkeit, Vertraglichkeit und Gleichrangigkeit innerhalb der Zunft. Gegen Ende der frühen Neuzeit wird – wenngleich nur sehr vereinzelt – der Schulraum zur Welt und zum bis dahin nicht bildungsrelevanten Leben hin geöffnet. In den Fecht-, Reit- und Ballspielräumen der Ritterakademien zeigt sich ein neuer Bezug zum Körper und der Wunsch, diesen schulisch auszubilden. Die körperlichen Übungen haben allerdings nicht mehr den Ernstcharakter ritterlicher Übungen. So ermöglicht beispielsweise das in den Ritterakademien eingeführte Voltigieren an einem in einem Saal stehenden Pferd auf Holzbeinen zwar eine womöglich lustvolle und Abenteuer verheißende Erfahrung, bleibt aber Simulation. Das Naturalienkabinett und die Drechselbänke in Franckes Halleschen Schulen Anfang des 18. Jahrhunderts sind ebenfalls als Versuch zu werten, der realen Welt schulräumlich-materiell näher zu kommen. Noch stärker ausgeprägt ist dieses Bemühen in den Philanthropinen des späten 18. Jahrhunderts und in Wolkes 1805 publiziertem Modell des Denklehrzimmers (vgl. Göhlich 1993, S. 204 ff.), das einerseits die Familiarität des Unterrichtsraums stärker betont denn je, indem dieser im Haus jeder bürgerlichen Familie verortet wird, und andererseits den Lehr- bzw. Lernraum auf vielfältige Weise (durch geometrische Rasterung der Wände, durch zur Beobachtung von Pflanzenwachstum und Vögeln angebrachte Fenstersimse, durch für Lernende verschiedenen Alters teils auf dem Boden, teils auf Tischen unterschiedlicher Höhe zur Verfügung stehenden Materialien) mit der sonstigen Welt und dem Leben zu verbinden sucht. 2.2
Moderne
Solche in der Aufklärung zu findenden, wenn auch im Schulwesen ihrer Zeit Einzelfälle bleibenden Ansätze, den Schulraum weltoffener zu gestalten, insbesondere Naturphänomene und technische Erfindungen im Schulraum erfahrbar zu machen, werden im 19. Jahrhundert – obwohl sie eigentlich gut zur dann 94
Schulraum und Schulentwicklung: Ein historischer Abriss
entstehenden Industriegesellschaft zu passen scheinen – zumindest hierzulande eher abgewürgt als bewahrt oder gar weiterentwickelt, was nicht zuletzt mit der von Humboldt mitbegründeten, bis heute im deutschen Schulwesen problematischen Trennung zwischen Bildung und Beruf in Verbindung gebracht werden kann. Charakteristisch für den modernen Schulraum ist der preußische Schulbau des späten 19. Jahrhunderts. Nicht erst aus der späteren reformpädagogischen Sicht, sondern schon aus der (Außen-)Sicht eines (englischen) Zeitgenossen (Robson, s.u.) ähnelt dieser einer Kaserne. Der Typus der Schulkaserne und eng mit ihm verbunden der nüchterne, formalisierte Frontalunterricht setzen sich durch, als es im hoch militarisierten Preußen um die Bildung und Gliederung der Massen geht. Der Schulraum ist nun nicht mehr kirchlich, zünftig oder höfisch, sondern militärisch strukturiert. „The system of public instruction is almost, if not quite, as military in spirit as that which governs the army, and the buildings do not escape the regime”, schreibt Robson (1874, S. 71) über die preußischen Schulbauten. Dass dieser moderne Schulraum den Vorbildern der Fabrik und des Militärs folgt und dementsprechend wirkt, wird also keineswegs erst von reformpädagogischen Autoren des 20. Jahrhunderts bemerkt und reflektiert. Obgleich Robson an dieser im 19. Jahrhundert neuen Schulraumkonzeption einiges (u. A. Größe, Ordnung, Helligkeit) fasziniert und er dies in die Reform des Schulbaus in England einbringt, blickt er doch auch kritisch auf diesen neuen Schulraumtyp, der nicht nur die Kontrolle deutlicher zentralisiert, sondern zudem die Separierung und Isolierung der Jahrgänge und damit verbunden der (zuvor im Großraum gleichzeitig anwesenden) Lehrer und insbesondere die Gleichschrittigkeit (des Lernens) aller Schüler einer Klasse voraussetzt bzw. mit sich bringt. Robson schaut sich viele preußische Schulen an und beschreibt sie seinen Landsleuten: „There is a series of class-rooms entered from a wide corridor. He (the child) is placed in one of these, fitted with benches and desks precisely similar to, but smaller, than those used by boys twice his age, and there he commences that intellectual drill which is continued till the age of 14. Such a system must give a dull boy a better chance, for the most awkward recruit will make a tolerable soldier if drilled regularly, and … for a sufficient long time. It can hardly fail to raise the masses of a nation. On the other hand the tendency to destroy individuality of character must be ranked as a loss” (Robson 1874, S. 72). Der Verlust an unterrichtlicher Flexibilität und an Berücksichtigung der Individualität ist ein wesentliches Implikat des Schulraums der Moderne. Der moderne Schulraum preußischer Provenienz ist ein Raum des zentral gesteuerten unterrichtlichen Gleichschritts.
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Der Vorlauf dieses Schulraumtyps reicht einige Jahrhunderte zurück. Schon der Kupferstich, der Luthers Aufruf zur Gründung christlicher (Rats-)Schulen bebildert, zeigt die gewünschte Zentralität des Lehrers und das zugleich gewünschte Hintereinander-Sitzen der Schüler vor diesem an. Mit Comenius nimmt das Bemühen um räumliche Zentralisierung in Koppelung mit einer Vorstellung des Unterrichts, der allein vom Lehrer ausgeht, zu. Auch Pestalozzis Ausrichtung der gesamten Schülerschar auf die Tafel bzw. Tabelle und seine Methode des Zusammensprechens zielen auf den zentral gesteuerten Gleichtakt des Unterrichts. Aber erst in den preußischen Schulbauten des 19. Jahrhunderts mit ihren je Stockwerk von einem Flur abgehenden, für Jahrgangsklassen vorgesehenen Klassenzimmern, die jeweils ein Lehrerpult und vor diesem ggf. aufsteigend gereihte Schülersitze und -tisch vorsehen, etabliert sich diese Form als Schulraum der Moderne. Dass dieser eine preußische Lösung ist, in England hingegen die im ersten Abschnitt (s.o.) skizzierte alte Bauweise und das ihr zugehörige Schulverständnis zum Teil bis ins 20. Jahrhundert hinein beibehalten oder zumindest der Großraum bzw. die räumliche Einheit nur auf flexible Weise, z.B. mittels Vorhänge, getrennt wird, sei ausdrücklich vermerkt. Begründen lässt sich die dortige längere Beibehaltung des Großraums mit der Scheu vor dem mit der modernen Form verbundenen Risiko, dass die Schule ihre Einheit verliert, in Klassen auseinander fällt. Freilich ist dieses Auseinanderfallen selbst eine ältere Tendenz, die schon in den großen Lateinschulen der frühen Neuzeit mit der Entstehung von Fachklassen für Schreiben und Rechnen beginnt und mit der Entscheidung für Jahrgangsklassen an Dynamik gewinnt. Letztlich setzt sich das „German planning“ (vgl. Filmer-Sankey 2003, S. 225) in Form von „a class room for every class and a general room for assembly“ (T. Roger Smith, zit. n. Filmer-Sankey 2003, S. 224) auch in England durch, wobei der große Raum allerdings nicht repräsentativ und von den Klassenräumen deutlich separiert (wie die von Robson als nutzlose Extravaganz angesehene Aula an deutschen Gymnasien; vgl. ebd., S. 223), sondern für gemeinsamen Unterricht nutzbar und so unterrichtspraktisch Einheit stiftend zwischen mehreren Klassenräumen verortet ist. Während im englischen Schulraum also das traditionelle häusliche Modell zumindest in „assembly room“ bzw. „hall“ fortwirkt, erzeugt der preußische Schulraum Zugehörigkeit nicht im lokal-familiären, sondern im vaterländischen Sinn. Die neuen, großen, hellen, reinlichen Schulbauten des späten 19. Jahrhunderts dienen nicht nur der Hygiene, sondern bringen Reichtum und Nationalstolz der Sieger von 1870/71 in einer auch für die Kinder der „Massen“ erlebbaren Form zum Ausdruck. Ist das hygienisierend sorgsam filternde Verhältnis des wilhelminisch(-preußisch)en Schulraums zur Welt eine abwehrende Reaktion auf die Vermehrung gesellschaftlicher Information und die Beschleunigung des 96
Schulraum und Schulentwicklung: Ein historischer Abriss
gesellschaftlichen Informationsflusses, so wird die innere Nüchternheit zugleich – zumindest bei Gymnasialbauten jener Zeit – von imposanter Fassade umgeben. Wer den aufwendig gestalteten Eingang durchschritten hat, befindet sich gleichsam in heiligen Hallen der Bildung, in denen das Leben nichts zu suchen hat. 2.3
Reformpädagogik
Im Hinblick auf die Fragen nach dem Verhältnis von Schule und Welt, von Schule und Leben, von Schule und Zuhause kann der reformpädagogische Schulraum durchaus als Rückkehr zu Elementen des vormodernen Schulraums interpretiert werden. Dies betrifft zuvorderst die Wohnlichkeit des Schulraums, dessen Bestimmung als Zuhause. Zwar gibt es kein Zurück zum vormodernen Verständnis der Schule als Haus des Schulmeisters (und auch nicht zum romantischen Bild Schleiermachers, die Schüler sollten, wenn sie nicht von ihrem familiären Zuhause aus die Schule täglich besuchen könnten, in den Familien der Lehrer untergebracht werden), aber im Unterschied zum nüchternen Lehrraum der preußischen Moderne soll der Schulraum doch Lebensgemeinschaftsraum sein, d.h. nun: Raum des Kollektivs aus Lehrern und Schülern. Programmatisch steht hierfür folgende Passage aus dem Schulprogramm der KPD von 1925 (zit. n. Michael/Schepp 1993, S. 273): „Der Grundtypus der Schulanstalt ist das Schulheim, nicht die Unterrichtsanstalt. Das Schulheim gewährt jedem Schüler unentgeltliche Behausung, Ernährung, Kleidung, Lernmittel und ärztliche Pflege, auch während der Ferien; Schüler, Lehrer und Angestellte des Schulheimes bilden die Schulgemeinschaft. Die Schulgemeinschaft ordnet ihre inneren Angelegenheiten auf dem Wege der Selbstverwaltung.“ Ein konkretes Beispiel für die Umgestaltung des Schulraums zu einem Lebensgemeinschaftsraum in den 1920er Jahren ist Willy Steigers „S’blaue Nest“ an der Volksschule DresdenHellerau. Johannes Bilstein (2003) macht an diesem Beispiel deutlich, dass der Schulraum dort zur von den Kindern selbst hergestellten Heimat werden und damit diese zugleich zu einer anderen Arbeits- bzw. Lernweise zwingen soll, weg vom Drill, hin zu Selbsttätigkeit und Selbstbestimmung. Insofern ist der reformpädagogische Schulraum kein einfaches Zurück zum vormodernen Raum. Zwar wird die Wohnlichkeit des Schulraums wieder bejaht, aber eben auf eine neue Weise: der Schulraum ist nicht mehr die Wohnung bzw. das Haus des Lehrers, sondern das Heim der Schulgemeinschaft. Auch im Hinblick auf die Frage des Bezugs zwischen Schulraum und außerschulischer Welt sind in reformpädagogischen Schulräumen Elemente auszumachen, die vormodernen Modellen wie etwa Naturalienkabinett oder Denklehrzimmer ähneln. Beispiele hierfür sind die im Sinne der Arbeitsschulbewegung 97
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eingerichteten Räume, die Räume der Berliner und Hamburger Lebensgemeinschaftsschulen, in denen Werkbänke ebenso Einzug halten wie lebende Tiere und Pflanzen: „Treppenhaus, Flure und Klassenzimmer sind mit Grünpflanzen geschmückt, in einigen Klassen werden eigene Tiere gehalten, die man auf Exkursionen gefangen oder geschenkt bekommen hat“ (Rödler 1987, S. 242). Solch Einbezug der Außenwelt in den Schulraum bzw. Simulation von Abenteuer und außerschulischem Leben findet sich später auch in den Schulräumen der neuen Reformpädagogiken der 1960er Jahre, etwa in der Laborschule Bielefeld (in der zudem auch das Großraum-Modell der Vormoderne reaktiviert wird) oder den freien Alternativschulen (vgl. Göhlich 1997). Für das reformpädagogische Schulhaus insgesamt gibt es, sieht man von der spezifischen Bauweise der Waldorfschulen ab, vergleichsweise wenige Beispiele, vollzieht sich die Reform doch eher in einzelnen Klassen als in ganzen Schulen und eher in der Umgestaltung des Innenraums als in Neubauten. Umso mehr Aufmerksamkeit verdient Bruno Tauts 1927 entstandener Bauplan zur für 3000 Schüler vom Kindergarten bis zur Oberstufe gedachten Berlin-Neuköllner Dammwegschule, von der allerdings nur der Versuchspavillon – der nach einer Testphase 65-mal gebaut und aneinandergereiht werden sollte – realisiert worden ist (vgl. Kemnitz 2003). Der Plan gründet auf der Feststellung des zur reformpädagogischen Avantgarde der Weimarer Republik zählenden Berliner Schulleiters Fritz Karsen, dass die neuen Arbeits- und Gemeinschaftsformen in dem bis dahin gängigen Schulbau an Grenzen stoßen. „Das hieß, dass die alten Schulräume ein Arbeiten in kooperativen Formen, wenn nicht verhinderten, so doch nur ungenügend zuließen, die benötigten Arbeitsmittel und Bibliotheken nicht vor Ort waren und die Lichtverhältnisse für den Gruppenunterricht ungeeignet waren, weil es nur eine Fensterfront im Raum gab“ (ebd., S. 257). Der Plan entwickelt einerseits den modernen Schulraum weiter, indem er ihn weiter rationalisiert und den betrieblichen Charakter von Schule unterstreicht, andererseits schließt er an die genannten vormodernen Tendenzen der Öffnung der Schule zur Welt an und entwickelt diese weiter. So soll das Schulgelände zur es umschließenden Siedlung hin nicht umzäunt, sondern offen sein. Statt Holztüren sollen Glastüren eingesetzt werden. Für die Außenwand ist überhaupt viel Glas vorgesehen, zudem fällt durch das Flachdach Oberlicht ein. So entstehen „helle Räume, die schon durch ihre Einrichtung die Energie auf nützliche Ziele lenken, Räume, über denen niemand durch Lärm stören kann (die Schule war bis auf die Fachräume einstöckig geplant, M.G.), aus denen man entweder durch die Schiebetüren unmittelbar ins Freie, in die davor liegende Pergola geht oder auf der anderen Seite in den Korridor“ (Karsen, zit. n. Kemnitz 2003, S. 264). Fast schon selbstverständlich erscheint, dass Tauts Plan einen Werkhof vorsieht, in dem Jungen und Mädchen nähen, zeichnen sowie mit Holz und Pappe arbeiten; 98
Schulraum und Schulentwicklung: Ein historischer Abriss
aber auch Sport- und Schwimmhalle, Küche und Speisesaal machen deutlich, dass hier Schulraum als Lebensraum gedacht ist. 2.4
Postmoderne
Von einem Schulraum der Postmoderne zu reden, ist zugegebenermaßen fragwürdig, wird doch der Begriff der Postmoderne selbst noch nicht einheitlich verwendet. Wenn hier dennoch dieser Versuch unternommen wird, so geschieht dies mit Blick auf den enormen Mediatisierungssprung der letzten Jahrzehnte, der die Gestaltung des Schulraums vor gänzlich neue Herausforderungen stellt. Angesichts der Tatsache, dass inzwischen sogar (z.B. von der japanischen Cyber University oder von Nokia) Unterricht per Handy angeboten wird, sind der virtuelle Raum als Schulraum zu entdecken und zu gestalten und umgekehrt der physische Schulraum mit dem virtuellen Raum zu verbinden. Michael Scheibel (2008) arbeitet an der kulturwissenschaftlichen Bibliothek Warburgs, der Radiokonzeption Brechts, der Fernuniversität Hagen, der ETH World und anderen Beispielen die Entwicklung virtueller Lehr- und Lernräume heraus. Dabei wird wiederum deutlich, dass die räumliche Entwicklung immer eng mit der Schulbzw. Unterrichtsentwicklung und dem Wandel der Bilder von Mensch und Welt zusammenhängen. Die Vor- und Nachteile der Virtualisierung lassen sich nach Otto Peters, dem Gründungsrektor der Fernuniversität Hagen, etwa folgendermaßen umreißen: „Die Stärken (des physischen Lernraums, M.G.) sind vor allen Dingen (…) die geistige Intimität. Sagen wir wenigstens die Möglichkeit zur geistigen Intimität, und die kann hervorragend sein. Dies ist im virtuellen Raum uneinholbar. Der zweite Vorteil im physischen Raum ist eine Form der Kommunikation, die naturwüchsig ist. Diese Form der Kommunikation kommt jeden Tag vor, wird von klein auf eingeübt und ist das Ergebnis einer unendlich langen Tradition. Sie ist selbstverständlich und wird bei der Vermittlung von Wissen zu einem Mittel des Unterrichts. Beim Arbeiten am Computer ist die Kommunikation dagegen künstlich und abstrakt und wurde nicht im Alltag der Lebenswelt eingeübt. Gleichwohl – und jetzt kommen wir in eine anthropologische Dimension – hat sich die Ausstattung des Menschen im Laufe der Jahrhunderte stark verändert. Der Mensch im Industriezeitalter ist naturgemäß in vielfacher Beziehung ein anderer als im Agrarzeitalter. Ich könnte mir vorstellen, dass die Entwicklung im Laufe von weiteren Jahrzehnten zu einer derartigen Gewöhnung an die Computertechnologien und die virtuellen Lernräume führen wird, wie wir es uns noch gar nicht vorstellen können. In diesem Bereich werden Entwicklungen geschehen, die auf eine Fusion des Biologischen und Technischen zielen. Dies ist
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etwas, was wir heute befürchten, weil wir das Humanum retten wollen. Wahrscheinlich ist es aber gar nicht zu retten, und die Menschen werden in drei oder vier Jahrzehnten möglicherweise über unsere Bedenken lachen“ (Peters, zit. n. Scheibel 2008, S. 78). Wer Kinder im familiären Alltag ihres Kinderzimmers heute am Computer beim alltäglichen Downloaden, Chatten und Skypen erlebt, ahnt, dass dies gar keine drei oder vier Jahrzehnte mehr dauern wird. Zu erwarten ist zudem, dass das, was derzeit in Hochschulräumen an Virtualisierung geschieht, in nächster Zeit auch in Schulräumen stattfinden wird. Exemplarisch ist deshalb die ETH World, ein Planungskonzept zur Umstrukturierung und Virtualisierung der ETH Zürich, anzuführen. „Im Jahr 2000 wurde von ETH World ein internationaler Wettbewerb ausgeschrieben, der die Herstellung einer Beziehung zwischen physischer und virtueller Hochschul-Infrastruktur als Aufgabe stellte. Nicht die Fernuniversität sollte als Leitbild dienen, sondern eine integrale Infrastruktur, in der durch die Kombination von physischen und virtuellen Elementen eine erweiterte Realität geschaffen wird. (…) Das Preisträger-Projekt beyond luxury (…) entwickelt praktische Ideen für die permanente und persönliche Anbindung ans ETH-Netz: Smart Cards und Wearables. Beispielsweise eine einfache Card im Kreditkartenformat, deren intelligentes Innenleben einerseits die elektronische Identifikation ihres Trägers und andererseits den Wireless-Anschluss an alle erdenklichen ETH-Daten ermöglicht. Dasselbe als Accessoire zur Alltagskleidung: miniaturisierte Info-Portale zur ETH-Welt. Die individuelle Konfiguration der Cards und Wearables erlaubt die personalisierte virtuelle Präsenz der Benutzer. Der physische Kommunikationsraum der ETH wird dagegen als ein modulares, veränderbares Raumkonzept gedacht, das sich den speziellen Projekttreffen, Events und Ausstellungen der ETH-World-Community in ihrer Größe und Struktur anpasst“ (Scheibel 2008, S. 126 ff.). Auf den Schulraum übertragen bedeutet dies, dass der physische Schulraum nur noch einer von vielen dezidiert für Lehre und Lernen konzipierten Räumen ist. Die Virtualisierung des Schulraums hängt von medientechnologischer Entwicklungskompetenz und von Refinanzierungsmöglichkeiten ab. Deshalb spricht einiges für die Vermutung, dass mit der Virtualisierung des Schulraums auch eine Privatisierung (nun nicht im familiären, sondern im wirtschaftlichen Sinne) des Schulraums durch Medienunternehmen einhergehen wird.
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Schluss
Das Unterfangen eines historischen Abrisses auf wenigen Seiten ist immer zweifelhaft, bleibt bruchstückhaft und birgt das Risiko, Wesentliches außer Acht zu lassen. Der vorgelegte Beitrag sucht dies zu lösen, indem von vornherein eine bestimmte Perspektive auf die Geschichte des Schulraums ausgewiesen wird. Diese Perspektive zielt nicht auf eine Architekturgeschichte des Schulraums. Eine solche Architekturgeschichte hätte die Entstehung und den Werdegang von Bautypen wie Großraumschule, Flurschule, Hallenschule, Wabenschule etc. ebenso an Grundrissen zu verdeutlichen wie den Wandel der Schulfassade im Laufe der Geschichte nachzuzeichnen. Darauf zielt der vorliegende Beitrag nicht. In den Blick genommen wird der Zusammenhang zwischen räumlicher Entwicklung und Schulentwicklung, wobei letztere nicht als Einzelschulentwicklung, sondern als Wandel der Organisationsform Schule und als Wandel der Bilder von Schule, Mensch und Unterricht gefasst wird, die einerseits im Schulraum der jeweiligen Zeit zum Ausdruck kommen und andererseits auch von ihm beeinflusst werden. Unter diesen Prämissen eines historisch-pädagogisch-anthropologischen Zugangs, der die Ambivalenzen von Schule und Zuhause, von Weltoffenheit und Geschlossenheit, von Zentralität und Dezentralisierung, von Vorgabe und Selbststeuerung als Aspekte des Raumes anerkennt, erhält die Geschichte des Schulraums eine bestimmte Gestalt: vom häuslichen, einräumigen, dezentralen, aber vom Hausherr beherrschten Schulraum des späten Mittelalters und der frühen Neuzeit, in den während deren aufklärerischem Abschluss die Außenwelt insbesondere als Natur hineingenommen wird; über den mehrräumigen, innerhalb jeden Raumes zentral ausgerichteten, durch militärische Ordnung geprägten und den Weltausschluss wieder bestärkenden Schulraum der Moderne; zum mehrräumigen, die einzelnen Räume zur Welt, zur Natur, Technik und Kunst ebenso wie zur Gemeinde hin möglichst weit öffnenden, intern durch Gruppenarbeitsplätze und Gemeinschaftsräume geprägten Schulraum der Reformpädagogik; bis hin zum virtuellen bzw. hybriden, den physischen Raum als Anker geistiger Intimität erhaltenden, aber v.a. durch Informationsportale, Datenbanken, interaktive Lernprogramme und Kommunikationsplattformen geprägten Raum der Postmoderne.
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Michael Göhlich
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Grenzverschiebungen: Diskurse und Praktiken in Ganztagsschulen Seit geraumer Zeit hat im deutschen bildungspolitischen und schulpädagogischen Diskurs die Idee einer Ausweitung schulisch betreuter Zeiten an Bedeutung gewonnen (vgl. Kolbe/Reh/Fritzsche/Idel/Rabenstein 2009; Kolbe/Reh 2008b). Damit verbunden ist der Anspruch, die neue, die ganztägige Schule müsse gegenüber der konventionellen Halbtagschule mehr und anderes bieten. Rekurriert wird auf Grenzen der Institution Schule gegenüber anderen sozialisatorisch bedeutsamen Bereichen und gezielt wird – unter Rückgriff auf eine reformpädagogische Programmatik (vgl. Kolbe/Reh 2008a) – auf deren Überschreitung, also die eines „typisch Schulischen“. Verbunden damit sind Anforderungen an eine andere, entsprechend großzügigere räumliche Gestaltung der neu entstehenden Ganztagsschulen. Zurückgegriffen wird auch hierbei auf reformpädagogische Vorstellungen, vor allem den pädagogischen „Großraum“ (vgl. Kemnitz 2001), der – mindestens dem Anspruch nach – tatsächlich, gewissermaßen „material“, Grenzen verschiebt: „Wenn Schülerinnen und Schüler einen noch größeren Teil ihrer Lebenszeit als bisher in der Schule verbringen, muss Schule dem Rechnung tragen: zu allererst pädagogisch, aber auch organisatorisch und in Bezug auf die räumliche Gestaltung. […] Ganztagsschülerinnen und -schüler benötigen ein umfangreiches und differenziertes Raumangebot zum Lernen und Leben. Neben der Bereitstellung von mehr Fläche für die Unterrichtseinheiten werden auch zusätzliche multifunktionale und offen gestaltete Räume wichtig“ (Schweppe 2006, S. 5 ff.). Die Frage, ob neu gegründete Ganztagsschulen tatsächlich entsprechend der Programmatik ihre pädagogischen Praktiken und ihren Umgang mit Räumen verändern und ob bzw. inwiefern dieses eine institutionelle Grenzverschiebung darstellt, soll Gegenstand der folgenden Ausführungen sein. Der historische Prozess der Herausbildung einer modernen Schule (vgl. Adick 1992, Luhmann 2002) war begleitet von einer gleichzeitigen Ausdifferenzierung weiterer Institutionen, die mit der Sozialisation der Heranwachsenden beschäftigt sind, neben der Schule also zunächst die Familie in einer neuen, emotionale Nähe bietenden und an der Erziehung ausgerichteten Form (vgl. Scholz/Reh 2009). Schule eröffnete gegenüber der Familie einen Raum, in dem systematisch, methodisch-kontrolliert und angeleitet durch Professionelle das gelernt werden sollte, was im naturwüchsigen Vollzug des familiären Alltagsle103
Sabine Reh | Fritz-Ulrich Kolbe
ben von den Heranwachsenden nun nicht mehr, gewissermaßen nebenbei, angeeignet werden konnte. Im Zuge dessen wurden Schulen als Organisationen geschaffen, die tatsächlich auf einen gesonderten räumlichen Bereich angewiesen sind. Schulen entstanden als gegenüber einem Außen weitgehend geschlossene, in sich parzellierte Gebäude, um die Heranwachsenden abgesichert zu konzentrieren, im Schulraum zu verteilen und in der Zeit anzuordnen (vgl. Foucault 1976): „Wie alle Formen disziplinierender Organisationen ist die Schule durch enge Grenzen von außen abgeschlossen; die physischen Grenzen der Schule trennen die entsprechenden internen Interaktionen ziemlich straff von den sonstigen alltäglichen Interaktionssituationen ab“ und eine „disziplinierende Raumeinteilung ist Teil der Architektonik von Schulen“ (Giddens 1995, S. 188). In einem ersten Schritt wollen wir im Folgenden darstellen, welche Vorstellungen die pädagogischen Professionellen in den neu entstehenden Ganztagsschulen von institutionellen Grenzverschiebungen haben, um diese in einem zweiten Schritt schultheoretisch in ihrer Bedeutung bestimmen zu können. Anhand eines kurz skizzierten Beispiels räumlicher Gestaltung und Praktiken in einer Ganztagsgrundschule kann abschließend gezeigt werden, dass Vorstellungen von Grenzverschiebungen oder gar „Entgrenzungen“ – wie im Schultheorie-Diskurs – praktisch keine „Deterritorialisierung“ im Sinne einer Aufhebung hierarchisch strukturierter „Regionalisierungen“ des Schulgebäudes bedeuten.
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Grenz-Diskurse der pädagogischen Professionellen in Ganztagsschulen
Die schulischen Akteure führen an den in unserem Forschungsprojekt1 untersuchten Ganztagsschulen einen ausgeprägten Legitimationsdiskurs. Offensichtlich scheint ihnen dieses angesichts der starken Tradition der deutschen Halbtagsschule (vgl. Hagemann/Gottschall 2002) notwendig. Wir haben dabei zwei unterschiedliche Begründungsfiguren in den – wie wir sagen – „symbolischen Konstruktionen“ des Ganztags in verschiedenen Ausprägungen und Mischungen rekonstruieren können (vgl. Kolbe/Reh u.a. 2009).
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Von Oktober 2005 bis September 2009 förderte das BMBF ein Forschungsprojekt „Lernkultur- und Unterrichtsentwicklung in GanztagsSchulen“ (LUGS), in dem die Entwicklung der Lernkultur im Unterricht und den erweiterten Angeboten in zwölf, sich zu Ganztagsschulen entwickelnden Schulen unterschiedlicher Schulform in den Bundesländern Rheinland-Pfalz, Berlin und Brandenburg untersucht wurde. Geleitet wurde das Projekt von Fritz-Ulrich Kolbe, Mainz und Sabine Reh, Berlin, vgl. http://www.lernkultur-ganztagsschule.de.
Grenzverschiebungen: Diskurse und Praktiken in Ganztagsschulen
In den Grundschulen und den Förderschulen, teilweise aber auch noch in den weiterführenden Schulen reichen die Konstruktionen nah an die im historischen Schulreformdiskurs immer wieder beobachtete Vorstellung heran, Ganztagsschulen könnten die Familie ersetzen, oder zumindest in umfassender Weise Erziehungsdefizite von Familien kompensieren. Damit einher gehen weitgehende Abwertungen der Familien: Von emotionaler Vernachlässigung und mangelnder Erziehung ist die Rede, es herrschen Vorstellungen über eine anregungsarme und leer bleibende Freizeitgestaltung. Zur Kompensation dieser Defizite in den Familien und schließlich damit in gewisser Weise auch der Schüler und Schülerinnen soll die Ganztagsschule in zweierlei Hinsicht dienen: Sie wird entweder als eine sorgende und Halt gebende ‚Gegenwelt‘ entworfen, in der die Kinder sich wohl fühlen und emotionale Zuwendung erhalten können. Oder aber man konstruiert Ganztagsschule als ein pädagogisch gestaltetes und sinnvolles Freizeitangebot, das den Kindern ermöglicht, auch nachmittags etwas zu lernen und Defizite eines anregungsarmen familiären Bildungsmilieus auszugleichen (vgl. Fritzsche/Rabenstein 2009). Eine anders gelagerte Konstruktion konnte sowohl an Grundschulen als auch an weiterführenden Schulen entdeckt werden. Hier dient die Vorstellung von Ganztagsschule als diejenige einer Überwindung der Trennung von Schule und Leben sowie als Verbindung von formellen und informellen Lernprozessen. Gleichzeitig werden in dieser Figur Schüler und Schülerinnen zumeist als leistungs- und bildungsdefizitär wahrgenommen. Ein vorausgesetzter Mangel der bestehenden Schule besteht darin, eben nur ‚künstliche‘ Schule und nicht ein ‚wirkliches‘, ein erfahrungsunmittelbares Leben zu sein und damit keine ausreichenden Arbeits- und Lernhaltungen bzw. -dispositionen – sozialer, emotionaler, volitionaler und kognitiver Art – auszubilden. Nachmittägliche Angebote und Projekte, die gleichzeitig als Freizeitgestaltung deklariert und an Unterrichtsthemen orientiert werden sollen, überlagern so durch den Anspruch, nun auch in der Freizeit ‚Nützliches‘ zu lernen, das, was mit einer der Erwerbsarbeit entgegen gesetzten Idee von Freizeit gemeint wird. Vor dem Hintergrund strukturfunktionalistischer und systemtheoretischer Konzeptionalisierungen werden hier also einerseits Vorstellungen über Wirkungsfelder von Familie und Schule im Sozialisationsprozess verschoben (vgl. Scholz/Reh 2009), Logiken von Unterricht und Freizeit werden in der Vorstellung nicht deutlich gegeneinander abgegrenzt (vgl. Idel u.a. 2009) und Kinder und Jugendliche werden – folgt man den symbolischen Konstruktionen – mehr und mehr von den pädagogischen Professionellen nicht nur in der Rolle als Schüler, sondern als „ganze Personen“ gesehen (vgl. Kolbe/Rabenstein 2009). Die Legitimationsfiguren zur Ganztagsschule lassen sich damit gleichzeitig auf drei diskursiv konstruierte Spannungsfelder beziehen: das Spannungsfeld von 105
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Öffentlichem und Privatem, das von Künstlichkeit und Authentizität und das von Außen(orientierung) und Innenraum: (1) Strukturfunktionalistische Konzeptualisierungen gehen davon aus, dass eine der schulischen Grenzen auf der Unterscheidung zwischen Schule und Familie beruht. Rezipiert wird diese auch als die zwischen Öffentlichem und Privatem. Damit bezeichnet werden soziale Handlungs- und Verantwortungsbereiche mit einem je grundsätzlich verschiedenen normativen Charakter (vgl. Peters 2007) und unterschiedlichen sozialisatorischen Potenzialen (vgl. Parsons 1968). Während einer solchen strukturtheoretischen Auffassung zufolge der Übergang in den öffentlichen Raum der Schule dem Schüler neue Freiheitsgrade, etwa eine emotionale Ablösung von der Familie, eröffnet (vgl. Tyrell 1985), kann die Ganztagsschule aus Sicht der Professionellen gerade die Aufgaben eines stabilisierenden, emotionalen „Nahraumes“ und der Schaffung verschiedener (u.a. motivationaler) Voraussetzungen für Arbeitshaltungen und Leistungsorientierungen zumindest partiell ersetzen. (2) Die zweite schultheoretisch relevante Grenzziehung betrifft die Unterscheidung von Schule und dem „Leben“, auch die zwischen Unterricht und Freizeit, im Diskurs rezipiert als eine Differenz von Künstlichkeit und Authentizität. Unterricht wird schultheoretisch zunächst als „Kerngeschäft“ der Schule verstanden, als systematische, am Lernen der Schülerinnen und Schüler ausgerichtete, methodisch-kontrollierte Repräsentation von Wissen, die Aneignung ermöglicht (vgl. Prange 1995). Die Ganztagsschule biete – entsprechend reformpädagogischer Schulkritik – gerade die Möglichkeit, dem schulischen Unterrichten durch Informalisierung seine Künstlichkeit zu nehmen. Es wird, indem „Freizeit“ schulisch verantwortet wird, einem Lernen Raum geboten, das als authentisch, weil in den Lebensbezügen der Kinder und Jugendlichen verankert, verstanden wird. (3) Die strukturtheoretische Bestimmung von Schule konstituiert auf der Ebene der Adressaten die Unterscheidung zwischen Rolle und Person. Während entsprechend dieser Vorstellungen die Rolle gewissermaßen eine Außenorientierung, universalistische Prinzipien, wie die schulische Orientierung auf Leistung, markiert, konstituiert sich das Subjekt als Innenraum im Sinne eines möglichen strategischen Umganges mit Ansprüchen und Erwartungen, gerade auch mit Hilfe familialer, also die „ganze Person“ adressierender Kommunikation in der Familie. Das Schülersein wird in den Diskursen der Professionellen an den Ganztagsschulen nicht als rollenbasierte Teilinklusion in eine Institution projektiert, vielmehr als umfassende Lebensform bzw. Form einer personalen Pädagogisierung (vgl. Kolbe/Rabenstein 2009).
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Grenzverschiebungen: Diskurse und Praktiken in Ganztagsschulen
Das, was in dieser Form die Professionellen in den symbolischen Konstruktionen des Ganztags vor Augen haben und sich als Grenzverschiebung des schulischen Zugriffs beschreiben lässt, ist nun zu vergleichen mit dem, was in neueren schultheoretischen Überlegungen mit dem Begriff der „Entgrenzung“ beschrieben wird (vgl. dazu auch Kolbe/Reh 2009).
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„Entgrenzung“ des Pädagogischen in schultheoretischer Diskussion
Der Begriff „Entgrenzung“ des Pädagogischen wurde in den neunziger Jahren geprägt und verweist auf einen Strukturwandel mit sehr ambivalent eingeschätzten Auswirkungen (vgl. Kade/Lüders/Hornstein 1991). Er verdeutlicht die These, dass „pädagogische Denk- und Handlungsformen in den unterschiedlichsten gesellschaftlichen Sphären und Lebensbereichen wie Freizeit, Konsum, Medien und Alltag zunehmend Verbreitung finden und dort das Denken und Handeln aller (...) im Kern verändert“ (ebd., S. 40). Pädagogisch-systematisch heißt das, dass „die historisch entstandenen Formen pädagogischen Denkens und Handelns sich (...) von den vertraut gewordenen Bezügen und Bereichen, typischen Institutionen und Räumen lösen und auf neue, von der Pädagogik bisher noch nicht erfasste Altersstufen und Lebensbereiche übertragen werden“ (ebd., S. 40). Artikuliert wurde, dass damit nicht nur einem gesellschaftlich wachsenden Bedarf an Lernen, an schneller Anpassung, an „Flexibilität“ entsprochen wird. Damit verbunden sind auch neue Formierungen von Selbst und Diskursen, also Formierungen der Macht, weil neue Mischungsverhältnisse zwischen traditionellen pädagogischen und nicht-pädagogischen Momenten entstünden. Gleichzeitig mit einer „Entpädagogisierung“ pädagogischer Institutionen, dem Zurückdrängen pädagogischer Denk- und Handlungsmuster, lässt sich außerhalb eine zunehmende Pädagogisierung von Kommunikationen beobachten. Außerdem vermuten die Autoren, dass nicht zwangsläufig eine Entmündigung der Adressaten folge, weil deren Aneignungskompetenzen wachsen und Aneignungsprozesse sich verselbständigen könnten, nach Adressateninteressen und nicht nach pädagogischer Intention gestaltet würden. Die erziehungswissenschaftliche Rezeption von Theorien der Modernisierung führte nun seit Mitte der 1990er Jahre zu gesellschaftstheoretisch verankerten Entwürfen, die „Entgrenzung“ pädagogischen Handelns als Produkt paradoxer Modernisierungsprozesse verstehen. Theorien reflexiver Modernisierung, aber auch stärker differenzierungstheoretische Konzepte waren im Besonderen bei Helsper (vgl. 1996) der Anknüpfungspunkt dafür, Entgrenzungsphänomene 107
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pädagogischer Organisationen auch als Ausdruck einer „immer weiter reichenden Durchsetzung zweckrationaler Organisationgestaltung“ zu entwerfen, die „immer weitere gesellschaftliche Bereiche“ (Helsper 1996, S. 537) erfasse und eigene Probleme aufwerfe. In diesem Ansatz werden als Folge Entwicklungstendenzen skizziert, die für den Wandel von Schule interessant sein können. Eine widersprüchliche Tendenz zu mehr und stärker zweckrational dominierten sozialen Sektoren wird prognostiziert und zugleich eine stärkere „Freisetzung von Intensitätsansprüchen von Nähe und Affektivität in Beziehungen“: es komme zur „Informalisierung aller Beziehungen“ auch in zweckrational dominierten Bereichen und damit zu hoch problematischen Beziehungsstrukturen. Für die Schule steige die Distanz wie Nähe der Beteiligten zueinander, obwohl eine Nähebegrenzung erforderlich sei, „wo Lehrerhandeln zu Intimisierung und Familialisierung neige“, etwa wenn „Nähe und Stützung signalisiert wird, die (...) dazu verführt, in der Schule die ‚bessere‘ Familie zu suchen“. Diese „familiale Aufladung des Schulischen“ lasse Individualisierungsmöglichkeiten verloren gehen (für den gesamten Absatz ebd., S. 539 f.). Schon hier wird allerdings deutlich, dass die Lebensbewältigung in diesen Verhältnissen als Leistung eines starken, weil reflexiven Subjekts gedacht wird, dessen Entstehung damit nicht erfasst wird. Dieses scheint Folge eines theoretisch zu kurz greifenden Verständnisses von Differenzierung. Nur als Steigerung von Organisiertheit wird wahrgenommen, dass gesellschaftliche Strukturen immer stärker die Gestalt systemischer Zusammenhänge aufweisen. Damit scheint der Zusammenhang von „Differenzierung und Selbsterhaltung“ (van der Loo/ van Reijen 1992, S. 102) ausgeblendet. Konzeptioniert wird der Prozess systemisch-funktionaler Ausdifferenzierung gesellschaftlicher Institutionen nicht als einer, in dem durch gesteigerte Selbstbezüglichkeit sozialer Systeme Stabilität, Komplexität und Möglichkeiten ihrer Erhaltung und Veränderung hinzugewonnen werden. Übersehen ist damit zugleich auch, dass eine gesteigerte Selbstbezüglichkeit psychischer Systeme in differenzierungstheoretischer Perspektive auch als historische Veränderung von Prozessen der Subjektbildung gelesen werden kann. Eine Entgrenzung des Pädagogischen wurde auch in Betrachtungen des Bildungssystems diagnostiziert und prognostiziert, die Modernisierung als einen Ausdifferenzierungsprozess konzeptualisieren. Verstanden wird darunter zum einen die Erweiterung der Zuständigkeit pädagogischer Institutionen, zum anderen auch deren stärkere Strukturierung als System. Die Perspektive auf Ausdifferenzierung als ein Prozess der Systembildung nimmt nicht nur die Veränderung von Institutionen und die Entstehung neuer Institutionen wahr. Sie rekonstruiert Krisenphänomene in pädagogischen Institutionen (wie beispielsweise die Auto108
Grenzverschiebungen: Diskurse und Praktiken in Ganztagsschulen
nomisierung inhaltlicher Angebote und die wachsende Eigensinnigkeit der Aneignung der Angebote durch TeilnehmerInnen). Zudem werden auch außerhalb von Bildungsorganisationen pädagogisch strukturierte Interaktionen aufgefunden. „Entgrenzung“ wird in diesem Sinne zu einem Begriff, der die entstehende Vielfältigkeit pädagogischer Realitäten von Bildungsorganisationen bezeichnet (vgl. Kade 1997). Aus systemtheoretischer Sicht lässt sich diese Form der „Entgrenzung“ als Element der weiteren Systembildung des Pädagogischen im Rahmen einer fortschreitenden Modernisierung verstehen. Nicht mehr nur die klassischen pädagogischen Organisationen gehören zur systemischen Struktur, weil „das Pädagogische nicht mehr biographisch (auf Kindheit und Jugend), sozial (auf das „einfache“ Volk) oder sachlich (auf Bildungsgüter) begrenzbar ist, sondern zu einer allgegenwärtigen, universellen und lebenslangen sozialen Realität wird“ (Kade 1997, S. 37). Verstehen lassen sich solche Strukturbildungsprozesse des Pädagogischen, wenn man plausibel machen kann, dass auch ohne pädagogische Organisation und Professionalität pädagogische „Strukturierungsmomente“ entstehen (ebd.), die eine soziale Praxis hervorbringen. Kade etwa schlägt vor, das Spezifische des Pädagogischen an solchen Strukturierungsmomenten und nicht an Organisationen festzumachen. Pädagogisch ist dann das, was strukturell betrachtet der Funktion der Vermittlung dient und dabei dasjenige, was von der Welt thematisiert werden kann, nach dem Code Vermittelbar/Nicht-Vermittelbar unterscheidet. Vor diesem Hintergrund gewinnen alle so strukturierten Prozesse „ihre eigene Ordnung und reproduzieren sich“ (ebd., S. 42) als selbstbezügliche und sich selbst erhaltende Struktur. So gesehen liegt es also im Trend gesellschaftlicher Entwicklung und lässt es sich als weitere Ausdifferenzierung erkennen, wenn außerhalb pädagogischer Organisationen nun immer stärker gerade solche Strukturierungen entstehen, die bislang nur in deren Kern zu finden waren, die aber allein ausreichen, um pädagogische Prozesse hervorzubringen. Deshalb entspricht der weiteren Systembildung pädagogischer Organisationen gleichzeitig eine Ausbreitung und damit Entgrenzung pädagogischer Strukturierungen in Bereiche außerhalb pädagogischer Institutionen. Mit dem systemtheoretischen Zugang kann das stärker eigenlogische Operieren der pädagogischen Institutionen, die Entgrenzung der pädagogischen Strukturierungsmomente und die zunehmende „Autonomisierung“ der Aneignungsprozesse als Ausdruck ein und desselben Vorganges beschrieben werden. Darin liegt der Gewinn dieser Interpretation, die die in Helspers Konstrukt unterschiedenen Merkmale fortschreitender Modernisierung als Merkmale des Doppelcharakters ein und derselben Entwicklung erklären kann, nämlich von stärkerer Inklusion ins Pädagogische und mehr „Autonomie“ im Sinne indivi109
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dualisiert gestalteter Aneignung. Zur Inklusion gehört eine Unterordnung unter systemische Imperative, im Sinne nützlicher Leistungsoptimierung, aber mit ihr sind auch erweiterte Aneignungschancen verbunden. Zur ambivalenten, stärker individualisiert gestalteten Aneignung gehört mehr Selbstzwang, aber zugleich auch mehr „Autonomie“. Im Anschluss an einen systemtheoretischen Entwurf von „Entgrenzung“ ist daher die Überlegung zu formulieren, dass sich Formen schulischer Subjektformung verändern. In zwei weiteren Strängen des pädagogischen Diskurses über Modernisierung und ihre Wirkungen werden diese Fragen – Veränderungen auf der Subjektseite – aufgenommen. Einer fällt zeitlich mit der Rezeption der Theorien zur reflexiven Modernisierung zusammen (vgl. Ziehe 1991, 1996). Der zweite beschreibt diese Veränderungen vor dem Hintergrund Foucaultscher Analysen des historischen Wandels von Macht- und Subjektivationsformen2 als eine Durchsetzung gouvernementaler Regierungsformen im Rahmen eines neoliberalen Politikmusters in der Schule (vgl. etwa Foucault 1987, 2004). Sie können zum Teil auch mit dem von Deleuze beschriebenen Wandel von einer Disziplinarzu einer Kontrollgesellschaft beschrieben werden (vgl. Deleuze 1993). In der „Kontrollgesellschaft“ sei aus der „Krise der Institutionen“, aus der „Streuung“ und einer „Auflösung“ ihrer Grenzen der „fortschreitende und gestreute Aufbau einer neuen Herrschaftsform“ geworden. Diese Perspektive hat vor allem in den letzten zehn Jahren an Bedeutung gewonnen (vgl. Lehmann-Rommel 2004; Pongratz 2004; Breit/Rittberger/Sertl 2005). So beschreibt Lehmann-Rommel (2004), wie das „rationale, disziplinierte, eigenverantwortliche und partizipierende Individuum“ unumstrittener Topos der Bildungs- und Schulreform geworden ist und sich dieser Schritt der Modernisierung als ein Wandel von der Disziplinar- zur Kontrollgesellschaft beschreiben ließe. In diesem sei der Einzelne „nicht mehr qua Repression und Disziplinierung, sondern durch Kontrolle und Evaluation dem Selbstzwang zu kontinuierlicher Fortbildung und permanenter Kommunikation“ unterworfen (LehmannRommel 2004, S. 262). Die „rigide Engführung der Handlungsspielräume im Schulkontext“ sei „dysfunktional geworden“ (Patzner 2005, S. 65). Das Projekt des sich selbst bestimmenden oder des sich selbst regierenden oder führenden Individuums, das Rationalisierungsprozesse auf weite „Bereiche seines Denkens, Fühlens und Verhaltens ausweite und flexibel und problemlösend“ agiere, habe eine neue Funktionalität gewonnen und damit seien Autonomie, Partizipa2
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Von Subjektivation wird hier gesprochen, um deutlich zu machen, dass das Subjekt dem Prozess der Subjektbildung nicht vorgängig ist; Subjektivation schafft und ermächtigt, etwa und vor allem den gesellschaftlichen Normen, das Subjekt im gleichen Zuge, wie er es unterwirft; vgl. zu dieser sich vor allem auf Foucault und Butler beziehenden Position in soziologischer Perspektive Bröckling 2007, in erziehungswissenschaftlicher Ricken 2007.
Grenzverschiebungen: Diskurse und Praktiken in Ganztagsschulen
tion und Selbstreflexivität als Momente der „Führung der Führungen“ (Foucault 1994, S. 255), also der Selbstführungen, und hier entstehende Fähigkeiten nicht per se schon Instrumente einer kritischen Praxis (Lehmann-Rommel 2004, S. 262). Das stellen vor allem Pongratz und andere Autoren dar, die entsprechende Kompetenzen des Subjekts, nämlich die einer „Selbstorganisation“ als neue, ökonomisch nutzbare Ressourcen verstehen. Pongratz entwirft eine historische Folge schulisch vermittelter machtvoller Subjektivation, die, wie Pongratz (2004) schreibt, von „unmittelbarem Fremdzwang“, „internalisierter Autorität“ bis zu einem heute beobachtbaren „Selbstzwang“, einem „freiwilligen Gehorsam“ reichen. Erreicht würde dieses im Unterricht durch Praktiken reformpädagogischer Settings, die auf „Individualisierung“ setzen und auf Formen der selbständigen Organisation von Arbeit, der Selbstmotivation und vor allem der (Selbst-) Beurteilung zielen (vgl. Patzner 2005, S. 67 ff.). Dabei allerdings werden zum einen Unterschiede zwischen „internalisierter Autorität“ und „Selbstzwang“ im Sinne der Entstehung eines neuen bzw. veränderten psychischen Korrelats auf Seiten des Subjekts nicht näher erläutert (Pongratz 2004, S. 254), zum anderen wird damit an das alte Verständnis von „Selbstentfremdung“ angeknüpft (vgl. Breit/Rittberger/Sertl 2005). Auf diese Weise wird nun jedoch genau die in der Konzeption von Kade erreichte Kennzeichnung einer Widersprüchlichkeit von Modernisierungsprozessen in ihren Auswirkungen auf Subjektbildungsformen und Prozesse der Subjektivation wieder aus dem Blick verloren: Sertl spricht von „entfremdeter Selbstorganisation“ (Sertl 2005, S. 92) und davon, dass es in pädagogischen Verhältnissen lediglich noch um „trainability“, die bloße Fähigkeit, sich schulen zu lassen, gehe und der „eigentliche Sinn der Bildung, die Identitätsbildung“ verfehlt werde (Sertl 2005, S. 93). Es werde – so Pongratz – Distanz gegenüber schulischen Prozessen und Schutz eines „eigenen Selbst“ erschwert, die Schülerinnen und Schüler würden stärker in die Schule eingebunden, schutzloser und verletzbarer. Möglicherweise unterstellt auch Pongratz hier noch – anders als etwa in weitergehender Interpretation Foucaults LehmannRommel es tut – ein unabhängig von den Subjektivationspraktiken bestehendes „eigenes Selbst“, das nun durch neoliberale Regierungspraktiken bzw. diesen entsprechende Selbsttechnologien endgültig und vollständig kolonisiert würde. Lehmann-Rommel dagegen nimmt an, dass vor dem Hintergrund dieser neuen Regierungspraktiken zusätzlich zu einer psychischen Instanz, die „Selbstdisziplinierung“ garantiere, andere Fähigkeiten bzw. neue Anteile einer Instanz, die ein praktiziertes Selbstverhältnis darstellen, in der Schule hervorgebracht würden. Dieses sind solche, mit deren Hilfe das Management der eigenen Emotionen, des Begehrens und der Konflikte geleistet werden müsse. Selbstwertschätzung und intrinsische Motivation etwa (vgl. Lehmann-Rommel 2004, S. 272), die als Ausweitung normalisierter Handlungsfähigkeit und Rationalität im Sinne einer 111
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Unterwerfung, als Inklusionsmechanismen zu lesen seien, garantierten keinesfalls also schon Freiheitsgrade persönlicher Lebensführung, differenzierten aber gleichzeitig die Möglichkeiten der Subjekte, in konkreten Situationen „Routinen des Normierens, Identifizierens, Bewertens und Ausgrenzens“ zu unterbrechen, „an den Grenzen der Anerkennbarkeit zu leben“, ohne die „Spannung von Kritik und Affirmation“ aufheben zu müssen (Lehmann-Rommel 2004, S. 279). Das heißt, dass nicht der spezifische Inhalt einer Praktik – etwa die Selbstbeurteilung der Schülerinnen und Schüler, die Schülerleitung eines Morgenkreises etwa – an sich schon entweder unterwerfend oder selbstbestimmt, kritisch gegen Herrschaft gerichtet erscheint, vielmehr entscheide sich deren Bedeutung auch für das Subjekt in der Situation, in der je konkret Unterschiede erzeugt werden. Der in den Aussagen der schulischen Akteure rekonstruierte Versuch, die schulischen Aufgaben neu zu bestimmen, verweist auf einen von schultheoretischen Konzeptionen beschriebenen Wandel, der systemtheoretisch als Ablösung pädagogischer Kommunikationen von Organisationen beschrieben werden kann und dessen Kehrseite – in anderer Theoriesprache – neue Formen ambivalenter Subjektivation sind. Im Folgenden wollen wir an einem Fallbeispiel skizzieren, in welcher Weise sich „Entgrenzungen“ oder Grenzverschiebungen auf der Ebene eines in pädagogischen Praktiken3 erfolgenden Umganges mit Raum in Ganztagsschulen zeigen.
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Eine Skizze: Die Grenzen des pädagogischen „Großraums“
Ganztagsschulen machen zum einen pädagogische Angebote, die gar nicht im Schulgebäude stattfinden, zum anderen haben sie, Vorstellungen reformpädagogischer Konzepte zum sowohl dezentralen und heimischen, zum „offenen“ Klassenzimmer (vgl. Göhlich 1993), dem pädagogischen „Großraum“ (vgl. Kemnitz 2001) folgend, begonnen, ihre Gebäude – etwa um Mensen oder „Freizeitgebäude“ – zu erweitern oder umzubauen, z.B. „Lernateliers“ einzurichten (vgl. Appel 2006, S. 21). In einer der von uns beforschten Schulen bieten die neuen, jeweils 400 qm großen freien, durch keinerlei Wände unterteilten Flächen jeweils Platz für drei jahrgangsübergreifend arbeitende Lerngruppen mit insgesamt ca. 70 Schülern und Schülerinnen (vgl. Fritzsche/Rabenstein/Reh 2009, vgl. auch Reh/Labede 3
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Mit dem Begriff der Praktiken schließen wir an praxistheoretische Konzeptionen an, die immer hervorkehren, dass Prakiken “temporally unfolding and spatially dispersed nexus of doings and sayings“ sind, also genau immer schon auch in gewisser Hinsicht ein „spacing“ darstellen, vgl. insbesondere Schatzki 1996 und für die deutsche Rezeption Reckwitz 2003.
Grenzverschiebungen: Diskurse und Praktiken in Ganztagsschulen
2009)4 und damit durchschnittlich mehr Platz für den Einzelnen als vor dem Umbau. Der Eintrittsbereich – ohne Teppichboden – ist mit einer Küchenzeile und Küchenmöbeln und mit beweglichen Möbeln, z.B. Garderobenwagen, ausgestattet. Von hier aus sind rückwärtig durch eine Tür Toilettenräume zu betreten und es eröffnet sich der Blick auf eine große Fläche, die z.B. gemeinsamen Veranstaltungen oder Aufführungen aller drei Lerngruppen der Etage dient. Daran grenzen Lerngruppenflächen, die inzwischen durch weitere fahrbare und bewegliche Möbel, die gleichzeitig verschieden nutzbare Sitz- und Stauräume darstellen, geradezu statisch abgegrenzt sind. Ergänzt wird dieses durch Spiel- und Entspannungslandschaften, die wiederum aufgrund des Einbaus verschiedener Podeste in Zonen aufgeteilt sind. Es gibt keinen extra „Lehrertisch“, keine Tafel, sondern white boards und flip charts. Es wurden hier also Ideen aufgenommen, wie sie seit den 60er Jahren – nicht nur in Deutschland (für England vgl. Burke/Grosvenor 2008, S. 119 ff.) – diskutiert wurden: „Alles, was vom räumlichen Arrangement der alten Schule bekannt war, wurde verworfen. Die Anordnung der traditionellen Belehranstalt – Tafel, Sitzreihen, Gang, Flure, Lehrerzimmer, abschließbare Klassenräume – sollten aufgegeben und durch eine neue Ordnung des Raumes ersetzt werden. (…) Die Architektur, die daraus gefolgert wurde, erkor den Großraum ohne Klassen- und Lehrerzimmer zum Ideal“ (Kemnitz 2001, S. 51). Bemerkenswert ist, dass die durch Transparenz nach Innen und durch hohe akustische Durchlässigkeit – im Hinblick auf den Lärmpegel der arbeitenden Lerngruppen daher durchaus disziplinierend – gekennzeichnete „Lernetage“ zum Treppenhaus hin mit einer Glaswand und schwerer Glastür abgeschlossen ist. Da zudem eine Zone als Eingangs-, also als Übergangsbereich gestaltet ist, betreten die Akteure hier eine innerhalb des Schulgebäudes abgeschlossene Einheit. Wenn die Schüler und Schülerinnen sich nach Ankunft zur Fläche ihrer Lerngruppe begeben, holen sie mehr oder weniger zielstrebig ihre Arbeitspläne an einem bestimmten Ort ab, etwa einem Regal, an dem sie u.a. über diese miteinander sprechen, nehmen Arbeitsmaterialien aus ihren Kästen und setzen sich an ihren Arbeitstisch, manchmal aber auch an andere Plätze, an die Fensterbank, an das Podest, auf den Boden oder an die Rechner, die an einer Wand stehen und beginnen dann mehr oder weniger konzentriert zu arbeiten. Die „Entspannungs-“ und Spiellandschaften werden während der Arbeitsphasen wenig genutzt. Um sich Hilfe bei einer Pädagogin oder bei einem anderen Schüler zu holen, um mit jemandem zusammen zu arbeiten oder zumindest so zu tun, können sich die 4
Die Raumbeschreibungen und Beschreibungen der pädagogischen Praktiken sind Resultat der Rekonstruktion von Videographien, vgl. Rabenstein/Reh 2008.
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Schüler im Raum bewegen. Der Boden wird oft genutzt als Sitz- und Arbeitsfläche; Gruppen versammeln sich mit einer Pädagogin an bestimmten Stellen des Raumes. Manchmal entsteht eine größere Ansammlung von Schülern und Schülerinnen um eine Pädagogin herum, die etwa am white board etwas erklärt. Wir haben die allerdings in größeren Zeiträumen revidierbaren Zonierungen oder Regionalisierungen des Raumes, weil das white board verschiebbar ist, die Lehrerin sich an unterschiedlichen Orten aufhält, als variierbare Unterscheidungen von Zentrum und Peripherie beschrieben (vgl. Rabenstein/Reh 2008). Gleichzeitig werden hierarchische, durch schulische Leistungsfähigkeit und deren Einschätzung bestimmte Positionierungen der Schüler und Schülerinnen zueinander körperlich und räumlich aufgeführt. So hat etwa der eine mehr Platz als die andere, kann mehr Platz beanspruchen oder nutzt die Gelegenheit, auf mehr Dinge zuzugreifen als ein anderer (vgl. Reh/Labede 2009). Sehen konnten wir, dass ein „besonderer“ Schüler, derjenige, der von allen als bester Schüler angesehen wird, auch einen besonderen Platz – inmitten einer großen freien Fläche, auf die er einen Einzeltisch gestellt hatte – beansprucht. Und wir konnten Zeugen werden, wie Schüler und Schülerinnen in diesen Räumen mit größeren Bewegungsmöglichkeiten Gelegenheiten nutzen, sich selbst zu schulischen Anforderungen, diese gleichzeitig erfüllend, in ein distanzierendes Verhältnis zu setzen, indem sie etwa darüber Geschichten aufführen (vgl. Rabenstein/Reh 2008). Die von uns beobachteten Praktiken konstituieren keineswegs einfach und nicht hauptsächlich „Offenheit“, sondern unterschiedlich für verschiedene Schüler eine spezifische Nutzung von Flächen und Plätzen. Beobachtbar sind eine Vergrößerung der Räume und der Aktionsradien, die Schaffung neuer, aber auch kalkulierter Möglichkeiten zum Arbeiten und Erledigen von Aufgaben. Auch ein partieller Rückzug ist den Beteiligten möglich, indem mehr Abstand zu anderen geschaffen werden kann, der mindestens für einen Teil, etwa der schnell ihre schulischen Aufgaben erledigenden, „guten“ Schülerinnen oder Schüler, auch wirklich genutzt wird. Es kann also Zonen geben, in denen die Anwesenheitsverfügbarkeit der Beteiligten beschränkt ist, in denen etwa in bestimmtem Maße „zwischendurch“ und „zwischendrin“ Ausruhen, Laufen oder Liegen, Sitzen oder Knien auf dem Boden, Lümmeln, Hüpfen oder Herumstehen möglich sind, in denen man sich auf eine Art präsentieren kann – lesend, ausruhend, spielend, „herumdaddelnd“ – wie man es, strukturtheoretischen Positionen folgend, eher zu Hause, in der Familie tut. Die „Lernetagen“ bieten Plätze wie zu Hause; private Präsentationsformen sind aber nur in dem Umfange denkbar, wie es dem Einzelnen gelingt, trotzdem die schulische Arbeit so zu gestalten, dass sie erledigt wird. Der Schulraum ist größer, durchlässiger, aber keinesfalls „entgrenzt“. Mit der beschriebenen Art des machtvollen „spacings“ werden Zo114
Grenzverschiebungen: Diskurse und Praktiken in Ganztagsschulen
nen und Regionen geschaffen, die die Überlagerung eines „Privaten“ und eines „Öffentlichen“ Raumes in schulischen Praktiken gerade auch als „spacing“ erkennbar macht und die Position und Adresse eines universalisierten „Lerners“ schafft, der immer selbst auch lernen will, sich vieles zur Aufgabe macht und als zu erledigende Arbeit annimmt.
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Fazit
Pädagogische Räume und Schulräume des 19. und 20. Jahrhunderts (vgl. Göhlich 1993; Jelich/Kemnitz 2003) spiegeln eine moderne „rationale räumlichzeitliche Territorialisierung der Organisation des gesellschaftlichen Zusammenlebens“ (Werlen 2008, S. 373; vgl. auch Schroer 2006, S. 189 ff.). Institutionen innerhalb der modernen Gesellschaft funktionieren, so wird hier angenommen, indem die Geltung bestimmter Regeln und Hierarchien des sozialen Zusammenlebens in einem abgegrenzten, kontinuierlichen Gebiet bzw. einem Raum (und in ihrem Zusammenspiel) durchgesetzt wird. Spezielle Architekturen, etwa eine Parzellierung in kleine Klassenzimmer, beeinflussen dann einerseits die Durchsetzung bestimmter Praktiken, hier in den Schulen also pädagogischer Praktiken, wie andererseits erst in der Aufführung dieser der Raum als ein bedeutender, etwa ein bestimmter Schulraum, ein „Machtbehälter Schule“ (Giddens), konstituiert wird (vgl. Lefebvre 1991). Die „Grenzverschiebungen“, gegenwärtig in den Ganztagsschuldiskursen der Praktiker benannt und, davon durchaus unterschiedlich, in der Schultheorie analysiert, stellen keine vollständige materiale „Entgrenzung“ eines Schul- und Klassenraumes dar, sondern eine Erweiterung räumlicher Nutzungsmöglichkeiten, die mit veränderten Subjektbildungsprozessen einhergehen. Vor dem Hintergrund der Wirksamkeit pädagogisch vermittelter Hierarchien kann trotz der beobachteten „Grenzverschiebungen“ in den Diskursen und Praktiken allerdings nicht von einer „Deterritorialiserung“ des Schulraumes gesprochen werden: Auch neue Räume, die neue schulische Praktiken ermöglichen und teilweise erforderlich machen und in denen diese gleichzeitig konstituiert werden, sind von Normen durchdrungen, produziert von Verboten und Anforderungen, davon, was erwünscht und erlaubt ist und was man – unter diesen Voraussetzungen sich in je besonderer Weise dann zeigend – an welchen Plätzen tun kann.
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Christian Reutlinger
Bildungslandschaften: Eine raumtheoretische Betrachtung 1
Bildungslandschaften als eine bildungspolitische Raummetapher
Im vorliegenden Beitrag wird das (steuerungs)politisch-programmatische Konzept lokaler, kommunaler oder regionaler Bildungslandschaften raumtheoretisch betrachtet. Dieses Konzept wird in Deutschland unter anderem im „Diskussionspapier des Deutschen Vereins zum Aufbau Kommunaler Bildungslandschaften“ 2007, in der „Aachener Erklärung“ des Deutschen Städtetags 2007 oder im 12. Kinder- und Jugendbericht der deutschen Bundesregierung von 2005 propagiert. Erprobt wurde es in Projekten, wie „Selbständige Schule“ der Bertelsmann Stiftung1 oder „Ideen für mehr! Ganztägig lernen“ der Deutschen Kinder- und Jugendstiftung. Begleitforschung wurde im Projekt „Lokale Bildungslandschaften“ am Deutschen Jugendinstitut umgesetzt. In diesen Diskussionen zu Bildungslandschaften geht es um Steuerung, um Ausdifferenzierung, um Öffnung und Vernetzung und letztlich um Qualitätskontrolle, nicht aber um die Frage eines adäquaten pädagogischen Raumkonzeptes. Dem entsprechend wird keine einheitliche Definition von „Landschaft“ deutlich und ist „zumindest vorerst auch nicht möglich“ (Mack 2008, S. 741). Die bisherigen Texte sind alle affirmativ-programmatischer Art. Schulische und ausserschulische AkteurInnen denken sich darin zukünftig als Teil von Landschaften. Aus einer raumtheoretisch und explizit kritischen Perspektive wird im Folgenden aufgezeigt, dass zwar mit einer scheinbar neuen, d.h. modernen Raumetapher gearbeitet wird, die pädagogische Ordnung des Räumlichen jedoch eine rein territoriale bleibt. Dadurch wird eine adäquate Steuerung des Zusammenspiels unterschiedlicher Bildungsorte und Positionsgewinne marginalisierter Bildungsbereiche ebenso verhindert, wie für Kinder und Jugendliche neue Handlungsspielräume zu eröffnen. Als Fazit könnte man vorweg nehmen, dass die bildungspolitische Landschaftsdiskussion den Landschaftsbegriff als 1
In der gemeinsamen Initiative „Lernen vor Ort“ zwischen dem deutschen Bundesministerium für Bildung und Forschung und einem Verbund deutscher Stiftung sollen die Ergebnisse aus dem Piloten flächendeckend umgesetzt werden. Den Aufbau „eines lokalen Bildungswesens sowie eines regionalen Bildungsmanagement zu fördern, um die Bildungsbiografien der BürgerInnen vor Ort erfolgreich gestalten zu können“, soll dabei im Zentrum stehen (Lohre u.a. 2008, S. 120).
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Christian Reutlinger
tragende Raumkategorie gar nicht braucht! Hier setzt eine ermöglichende sozialräumliche Perspektive an, indem zum Abschluss dieses Beitrags skizziert wird, wie Bildungslandschaften unter Beteiligung aller Subjekte gestaltet sein könnten.
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Der Landschaftsbegriff: Die Ordnung des Räumlichen
In der bildungspolitischen Landschaftsdiskussion meint Landschaft erst einmal eine Gesamtschau bzw. eine Draufsicht auf eine Vielzahl von Orten der Bildung in einem bestimmten territorial abgegrenzten Gebiet. In der bildungspolitischen, schulorganisatorischen, schulplanerischen und sozialpädagogischen „Rede von der Landschaft“ wird diese überblickbare, zusammenhängende und geordnete Einheit erst hergestellt. Dadurch kommt es zu einer „Neuordnung des Räumlichen“ (Kessl/Reutlinger 2007). Landschaft bedeutet in diesem Kontext das Zusammenspiel der einzelnen Orte, Elemente bzw. Akteure und wird mit Harmonie, Ganzheit oder Schönheit verbunden. Diese alltagssprachlich geprägte Verbindung bildet auch den Ursprung der langjährigen Tradition in der geographischen Landschaftsdiskussion (vgl. Hard 1970; 2002). Aber auch in der Landschaftsmalerei werden seit dem 17. Jahrhundert Fragen zum optischen Erscheinungsbild einer (Erd-)Gegend, als physisch-materielle, territoriale Welt (geographischer Raum), und deren Rezeption durch einen Betrachter diskutiert (vgl. Mederer 1994). Der bildungspolitische Landschaftsbegriff lässt sich in diese eher unkritisch-romantische Tradition einordnen. So ist dann auch der Begriff Bildungslandschaft durchwegs positiv konnotiert. Dies hat sicherlich auch mit dem Zusatz „Bildung“ zu tun, welcher in jüngster Zeit nur positiv und in Abgrenzung zu Erziehung diskutiert wird (vgl. kritisch Winkler 2006). Die Rede von einer „lokale Erziehungs-, Lern oder Betreuungslandschaft“ klänge dagegen entmündigend und überwachend, wenn nicht gar nach „Erziehungscamp“ oder „Lernghetto“. Der Landschaftsbegriff suggeriert, dass man – würde man auf einen Berg steigen und vom Gipfel ins Tal schauen – „von oben“ genau ausmachen könne, wo eine Landschaft aufhört und die nächste beginnt. Während diese Abgrenzungsfrage in der geographischen Landschaftsdiskussion lange Zeit das entscheidende Problem darstellte2, scheint dies in der bildungspolitischen 2
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In der Geographie wird insbesondere über den ontologischen Status von Landschaft als ein geographisches Gebiet diskutiert, welches sich durch unterschiedliche Merkmale von anderen Gebieten abgrenzt. Einige VertreterInnen sehen die landschaftliche Einheit in den kulturellen Gegenständen und geologischen Formationen selbst. Für andere entsteht diese erst im Bewusst-
Bildungslandschaften: Eine raumtheoretische Betrachtung
Landschaftsdiskussion kein Thema zu sein. Vereinfacht meint hier Bildungslandschaft die vernetzte Tätigkeit aller Bildungsakteure sowohl schulische als auch ausserschulische, etwa eines Stadtteils, einer Kommune oder einer Region. In Anlehnung an Braun (1997) könnte man von bildungspolitisch gestalteten Arrangements als physisch-materielle, räumliche Gebilden sprechen. Eine lokale, kommunale oder regionale Bildungslandschaft nimmt demnach die Kooperation verschiedener Bildungsorte unter Wahrung ihrer Eigenständigkeit in den Blick und will die Synergieeffekte der neuen Durchlässigkeit hinsichtlich Steuerung oder Finanzierung nutzen (Coelen/Oelerich/Prüß 2008, S. 377). Mit der Fokussierung auf den Steuerungsaspekt stehen bei der Etablierung dieser neuen „staatlich-kommunalen Verantwortungsgemeinschaften“ (Lohre 2004, 2008) demnach „Ansätze und Konzepte kommunaler Jugend- und Bildungspolitik“ (Mack u.a. 2006, S. 6) im Vordergrund.
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Der bildungspolitische Landschaftsdiskurs als lokaler, kommunaler oder regionaler Steuerungsdiskurs
Auf zunehmende Komplexität reagieren politisch-administrative Systeme – soweit es ihre Einflusssphäre erlaubt – mit Dezentralisierung, mit partizipativen Steuerungsformen sowie mit Regionalisierung (Dürst 2004). Regionalisierung von Bildung bedeutet unter dem Fokus der Steuerung „eine andere Form öffentlicher Aufgabenerfüllung jenseits von Staat und kommunaler Selbstverwaltung“ (Benz 1998, S. 101). In Regionalisierungsprozessen sollen entsprechend Bildungslandschaften entwickelt werden3. Schon „aus Gründen der Größenordnung“ muss dieser Prozess „systematisch gesteuert werden und braucht einen organisatorischen Kern, wo Moderations- und Koordinierungsaufgaben wahrgenommen werden“ (Minderop/Solzbacher 2007, S. 4). In der Regel verweist deshalb das territoriale Adjektiv vor dem Landschaftsbegriff auf die zuständige politische Einheit, bei der die Steuerungsverantwortung liegt bzw. liegen soll
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stein der BetrachterInnen (Burckhardt 1985). In der „räumlichen Landschaftskunde“ (Passarge 1929), welche die Größengliederung von Landschaft zum Ziel hat (Einteilung der Erdräume in Landschaftsgebiete, Großlandschaften, Teillandschaften und Landschaftsteile), wird eine sinnvolle Abgrenzung derselben problematisiert. Hier wird auch der Zusammenhang von Regionalisierung, Region und Bildung angesprochen. Parallel zur Landschaftsdiskussion ist bildungspolitisch auch die Rede von „neuen Bildungsnetzwerken“, von „Bildungsregionen“ oder von „Regionen des Lernens“ bzw. von „Lernenden Regionen“ (vgl. etwa Solzbacher/Minderop 2007). Der damit verbundene räumliche Begriff der Region ist jedoch – ähnlich zum Landschaftsbegriff – theoretisch nur schwach fundiert (vgl. kritisch Reutlinger 2008c).
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Christian Reutlinger
(Ausnahmen: „blühende Bildungslandschaft“4 bzw. „integrierte Bildungslandschaft“). Während bis vor wenigen Jahren nur die Rede von der deutschen, österreichischen oder der schweizerischen Bildungslandschaft war und damit alle nationalstaatlichen Bildungswege und -möglichkeiten gemeint waren, scheint die Krise der formalen Bildung viel kleinere territoriale Einheiten, wie die Region, die Kommune oder den Stadtteil „als Handlungsraum und Problemkontext“ (Lohre 2005, S. 34) in den Blick zu rücken. Die damit verbundene neue Überschaubarkeit bedeutet einerseits erneute Handlungsfähigkeit. Andererseits könnte die damit verbundene Assoziation von Geborgenheit, d.h. das Gegenteil von groß, global und damit nicht-steuerbar bedeuten. In allen drei Fällen – lokal, kommunal, regional – bezieht sich die Diskussion auf den Steuerungsaspekt, d.h. es ist „eine staatlich-kommunale, d.h. regionale Verantwortungsgemeinschaft“ als Verwaltungseinheit angesprochen (ebd.). Ziel ist dabei, andere Kompetenzen einzuholen und miteinander auf einer neuen Ebene zu verbinden (Synergieeffekte) und sich als kleinere Verwaltungseinheit (Kommune) gegenüber den Ländern und dem Staat neu zu positionieren5. „Während innerhalb wohlfahrtsstaatlicher Regierungsweisen staatliche Territorien im Mittelpunkt standen“, werden diese heute zunehmend abgelöst durch neue Formen des „Regierens über Territorien“ bzw. „kleinräumige Gemeinschaften“, wie dies Kessl (2005, S. 141) kritisch herausgearbeitet hat: In diesem Zusammenhang stellt die bildungspolitische Diskussion im Rahmen des Projektes „Selbständige Schule“ der Bertelsmann Stiftung die Steuerungsgröße Region in den Vordergrund. Damit wird die „Entwicklungsmöglichkeit geeigneter Steuerungsstrukturen regionaler Bildungslandschaften“ als Ziel definiert (Lohre 2005, S. 32, vgl. auch Lohre u.a. 2004; 2008). Was für Bildungsprozesse eine geeignete Grösse sein könnte, d.h. wenn man Bildung ins Zentrum stellen und von da aus sich überlegen würde, welches sinnvolle 4
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Bei der Bilanzierung des Projektes „Selbständige Schule in regionalen Bildungslandschaften“ ist von „blühende[r] Bildungslandschaft“ die Rede (Lohre u.a. 2008, S. 9). Mit diesem Bild aus der Agronomie (Helmut Kohl, der ehemalige deutsche Bundeskanzler, hat dieses Bild am 1. Juli 1990 in seiner Fernsehansprache zur Einführung der Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion zwischen der DDR und der Bundesrepublik Deutschland populär gemacht) wird Landschaft als Nutzlandschaft gesehen, welche bebaut werden kann. Die Frage stellt sich sofort, ob Bildung bewirtschaftet, d.h. „gemacht“ werden kann. Was wird genau angebaut? Bildung? Und was wird geerntet und wer erntet? Sofort wird deutlich, dass die Verwendung des Landschaftsbildes für die bildungs(politische) Diskussion schnell an ihre Grenzen stößt (oder zumindest droht die Gefahr Schülerinnen und Schüler mit Kartoffeln gleichzusetzen). Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass insbesondere Stiftungen (vgl. etwa Bertelsmannoder Deutsche Kinder- und Jugendstiftung) derzeit besonders aktiv werden das Fenster, welches sich über das Konstrukt Bildungslandschaft auftut, zu nutzen, um gestaltend auf lokaler Ebene einzugreifen. Damit besteht ein strategischer Gewinn, überhaupt als Akteur in der Bildungsdiskussion wahrgenommen zu werden.
Bildungslandschaften: Eine raumtheoretische Betrachtung
organisatorische und administrative Einheiten wären, steht in dieser Diskussion gar nicht zur Disposition. Vielmehr wird „die lokale ordnungspolitische Einheit“ (Kreis, Stadt oder Regierungsbezirk) als Handlungsrahmen vorausgesetzt und gestärkt (Lohre u.a. 2008, S. 98): „[A]lle Schulen der Region, Betriebe, Volkshochschule, Kindergärten, Bibliotheken, Weiterbildungseinrichtungen, Museen, Musikschulen, Verbände und andere“ kooperieren „im Sinne eines gemeinsamen Qualitätsverständnisses“ (Lohre 2005, S. 34). Im Diskussionspapier des Deutschen Vereins wird hingegen von „kommunalen Bildungslandschaften“ gesprochen (2007) und damit „die Gesamtheit aller auf kommunaler Ebene vertretenen Institutionen und Organisationen der Bildung, Erziehung und Betreuung“ verstanden (ebd., S. 8). „Die Kommune ist die zentrale Plattform für die Bildung junger Menschen: Sie ist der Ort, an dem schulisches, soziales und emotionales Lernen und Bilden stattfindet“. Vor diesem Hintergrund gilt es die Kommune zu stärken, sie „muss die Steuerungsverantwortung für die Verzahnung der Träger, Einrichtungen und Angebote“ wahrnehmen (ebd., S. 2). Eine kommunale Bildungslandschaft entsteht, wenn „in Federführung eines kommunalen Verantwortungsträgers“ (S. 8) „alle am Prozess der Bildung, Erziehung und Betreuung beteiligten Akteure ihre Angebote miteinander verschränken und zu einem konsistenten Gesamtsystem“ zusammengeführt werden (S. 3; vgl. auch „Aachener Erklärung des Deutschen Städtetages 2007). Von „Lokalen Bildungslandschaften“ spricht hingegen das gleichnamige Projekt am Deutschen Jugendinstitut, in welchem der Diskussionsstand zum Thema erstmals aufgearbeitet wurde (Mack u.a. 2006; Mack 2007, S. 16). Damit rückt zwar der Stadtteil, d.h. die Wichtigkeit „des Lokalen“ im Sinne der erreichbaren, nahräumlichen Umgebung in den Blick, doch die Einheit, in der die Steuerung verortet wird, ist auch hier die Kommune (ebd.). Im Gegensatz zu den anderen Diskussionskontexten wird hier jedoch die Bedeutung der Kinderund Jugendhilfe, als ausserschulische Bildung und Erziehung betont. Nach der Formel „Bildung ist mehr als Schule“ (BJK 2002) verfügt die Schule in einer solchen Bildungslandschaft nicht mehr über das Bildungsmonopol, sondern im Vordergrund steht vielmehr die Verzahnung und Vernetzung formaler, non-formaler und informeller Lernorte und Bildungsangebote (Mack 2008, S. 742). Anknüpfungspunkte werden hier in internationalen Erfahrungen gesehen, wie bspw. in der so genannten „città educativa“ oder „Ciudad educatora“, dem Konzept der „erziehenden Stadt“ (vgl. bspw. Guerra 1997)6. 6
Die deutsche Bildungslandschaftsdebatte verweist an machen Stellen auf parallel laufende internationale Diskussionen, wie beispielsweise die holländische Diskussion um „Brede School, Community Center, Vensterschool, Forumschool, Art Magnet School“ (vgl. Gerard van de Burgwal, Teamleiter für Jugendpolitik/OOG Onderwijs en jeug Amsterdam – www.ganztags-
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Christian Reutlinger
Alle drei Diskussionszusammenhänge beziehen sich auf den 12. Kinder- und Jugendbericht der Deutschen Bundesregierung (2005). Darin wird Bildung – im Sinne eines umfassenden Prozesses der Persönlichkeitsentwicklung im Kindesund Jugendalter – als Schwerpunkt thematisiert und auf die „neuen vernetzten, ganztägigen Bildungslandschaften“ an mehreren Stellen verwiesen (vgl. etwa ebd., S. 36). Ziel ist es, ein neues Verständnis des Zusammenspiels unterschiedlicher Bildungsorte und Lernwelten politisch durchzusetzen. „Bildung von Kindern und Jugendlichen hat [...] keinen exklusiven Ort, es kommt vielmehr zu einer Entgrenzung von Bildungsorten und -gelegenheiten“ (ebd. 2005, S. 333): Schule wird zwar weiterhin als zentraler, jedoch keineswegs (mehr) als ausschließlicher Ort für Bildung betrachtet. Vor diesem Hintergrund ist das Zusammenspiel unterschiedlicher Bildungsakteure und -gelegenheiten regional auszugestalten und in kommunaler Verantwortung zu organisieren: „Ziel ist der Aufbau einer kommunalen Bildungslandschaft als Infrastruktur für Kinder und Jugendliche, die getragen wird von Leistungen und Einrichtungen der Schule, der Kinder- und Jugendhilfe, von kulturellen Einrichtungen, Verbänden und Vereinen, Institutionen und Gesundheitsförderung sowie von privaten und gewerblichen Akteuren vor Ort. (...) [Dies] erfordert ein neues Selbstverständnis der Arbeit der einzelnen Institutionen. Nicht mehr nur das eigene Organisationsziel kann ausschließlicher Bezugspunkt für die Bestimmung und Bewertung institutionellen Handelns sein, es muss auch daran gemessen werden, ob und in welcher Weise die einzelne Institution zum Aufbau und zur Gestaltung einer lokalen Bildungslandschaft beiträgt, die ein produktives Zusammenspiel unterschiedlicher Bildungsorte und Lernwelten ermöglicht“ (ebd., S. 42 und S. 344). Hier wird noch eine zweite Funktion der bildungspolitischen „Rede von der Landschaft“ sichtbar: Neben der Zusammenschau von unterschiedlichen Bildungsorten zu einem Ganzen impliziert sie ein verändertes Selbstverständnis der einzelnen (Bildungs)Orte bzw. Teile davon. Vernetzung hat hier eine klare lokale, kommunale, regionale Zielsetzung (vgl. Minderop/Solzbacher 2007, S. 4). Das einzelne Element, d.h. die Bildungsinstitution bzw. der Bildungsort, muss sich als Teil des größeren und rahmengebenden Ganzen denken. Dazu muss es sich auch intern verändern. Diesen doppelten Modernisierungsschritt gilt es im nächsten Abschnitt darzustellen.
schulen.org), oder Großbritannien. Wie diese in anderen lokalen und bildungspolitischen Kontexten gemachten Erfahrungen im deutschen Kontext sinnvoll genutzt werden könnten, steht kaum zur Debatte (vgl. Baumheier/Warsewa2008).
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Bildungslandschaften: Eine raumtheoretische Betrachtung
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Der bildungspolitische Landschaftsdiskurs: interne Ausdifferenzierung und externe Öffnung sowie Vernetzung von Schulen
Mit der Vorstellung von der „Selbstverantwortlichen Schule“ bzw. der „Schule als lernende Organisation“ (Lohre 2007, S. 44) wird ein interner Modernisierungsprozess betont: Dieser hat zum Ziel, durch Prozessoptimierung und Qualitätskontrolle das Unterrichts- und Schulmanagement zu optimieren. Dieses gilt es durch Maßnahmen der Organisationsentwicklung, durch Verbesserung des Schulklimas und der Lehrer-Schüler-Interaktion, durch kollegiumsbezogene Fortbildungsangebote, durch Festlegung von Bildungszielen, curricularen Schwerpunkten oder pädagogischen Intentionen in Schulprogrammen u.v.a.m. umzusetzen (vgl. etwa Seibert 1997). Erst wenn der interne Modernisierungsprozess gelingt, ist – so die Annahme – eine Schule „reif“ sich als Teil einer Bildungslandschaft zu denken. Jetzt setzt der zweite, externe Modernisierungsprozess an: Die „Selbstverantwortliche Schule“ braucht auch hinreichende äußere Bedingungen, denn „Schulen sind keine einsamen Inseln!“ (Meffert 2004, S. 19). Vielmehr muss insbesondere der Unterricht geöffnet und mit „stärkeren Bezug zu den verschiedenen Lebenswelten“ regional vernetzt werden, indem der „Einbezug von regionalen, kulturellen, wirtschaftlichen, natürlichen und sozialen Gegebenheiten“ erfolgt (ebd.). Im bildungspolitischen Landschaftsdiskurs wird also die schulische Integrationsfunktion als Herausforderung betont (vgl. Fend 2006)7. Empirische Studien zeigen, dass das regionale Umfeld „und die institutionellen Bezüge der Schule zum Stadtteil“ eine entscheidende Rolle für die Entwicklung der jeweiligen Schule spielen (Mack/Raab/Rademacker 2003, S. 51; vgl. auch Schoeder 2002; Mack/Schroeder 2005). Deshalb muss Schule die außerschulischen Bildungsorte und Lernwelten zur Kenntnis nehmen und miteinander verknüpfen und verzahnen8 Aus der Schulperspektive wird der Weg zur Bildungslandschaft von der 7
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Durch die Öffnungsdiskussion werden Schulentwicklungsmodelle wieder aktuell, die die Integrationsfunktion schon immer stärker gewichtet haben, sich selbst als Teil der Lebenswelt von Kindern und Jugendlichen sahen und deshalb das unmittelbare und mittelbare soziale Umfeld der Schule, d.h. das Außen, zum Ausgangspunkt von Schulentwicklungsprozessen machten. Aus dieser Tradition, deren Wurzeln sich bis zu reformpädagogischen Ansätzen nachzeichnen lassen, gibt es mittlerweile eine Vielzahl von theoretischen Konzeptionen und praktischen Umsetzungsprojekten wie beispielsweise die Konzepte der Stadtteil- oder Gemeinwesenschule (Wittmann 1991), der community-education (Buhren 2000), oder der Nachbarschaftsschule (Zimmer/Niggemeyer 1986), bei welcher Schule sich in ihrer bisherigen Form gänzlich auflöst. International wird der Paradigmenwechsel von Deregulierung (interne Modernisierung) und regionalen Initiativen (externe Modernisierung) gefordert, was beispielsweise im OECD-Vorstoß
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Einzelschule über die Entwicklung einer „regionalen Schullandschaft“ gesehen (Meffert 2004). Deshalb müssen bei der Entwicklung einer „regionalen Schullandschaft“ alle in einer Region agierenden Schulen in einem Kooperationsnetz eingebunden werden. Die einzelnen Schritte zum Aufbau einer Bildungslandschaft können folgendermaßen zusammengefasst werden: 1. Aufbau regionaler Beratungs- und Unterstützungsstrukturen; 2. Aufbau einer qualitativen Schulentwicklung in der Region insbesondere durch Kooperation der Verantwortlichen (Schulaufsicht mit Schulträgern, Schulaufsicht und Schulträger mit Schulen, Schulen gleicher und verschiedener Schulformen, Vernetzung der Bildungsakteure in der Region, Mitwirkung und Partizipation); 3. Aufbau eines regionalen Systems der Qualitätssicherung (vgl. Lohre/Kober 2004). Mit diesem letzten Schritt wird zugleich auch die vierte Funktion der bildungspolitischen „Rede von der Landschaft“ deutlich: Es geht um Qualitätssicherung und damit um die Möglichkeit des Vergleichs bzw. der Kontrolle. Der bildungspolitische Landschaftsdiskurs kann somit als Qualitäts- und Kontrolldiskurs von Schulen gekennzeichnet werden.
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Raumtheoretische Einwände gegen die bildungspolitische Landschaftsdiskussion
Erster Einwand: Raum wird als Ort verkürzt verstanden: Raum wird in der bildungspolitischen Diskussion im Allgemeinen und in der Bildungslandschaftsdiskussion im Speziellen als Ort aufgefasst, an dem Bildungssubjekte bzw. Bildungseinrichtungen aktiv sind und an dem verschiedene Bildungsprozesse stattfinden.9 Dies wird beispielsweise im Ringen um ein zeitgemässes Gleichgewicht zwischen so genannter formeller, informeller und nichtformeller Bildung deutlich, wie es etwa im Nachklang der 2000er PISA-Studie durch das deutsche Bundesjugendkuratorium provokativ eingebracht wurde (vgl. BJK 2004) und bis heute in den unterschiedlichsten Bereichen der außerschulischen Bildung
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„Community based education renewal“ in Richtung regionale Vernetzung von Bildungsinstitutionen deutlich wird (OECD 2001). Bildungsorte werden, so der 12. Kinder- und Jugendbericht, als „lokalisierbare, abgrenzbare und einigermaßen stabile Angebotsstrukturen mit einem expliziten oder zumindest impliziten Bildungsauftrag“ definiert (12. Kinder- und Jugendbericht, S. 24).
Bildungslandschaften: Eine raumtheoretische Betrachtung
und Erziehung abgearbeitet wird10. Mit der Fokussierung auf den Bildungsort rücken die beiden Fragen, wo und wann Bildungs- und Erziehungsprozesse stattfinden, ins Zentrum11. An dieser Raum-Zeit-Vorstellung als Verschiebung von Körpern auf einem Territorium im Tagesablauf erhalten Orte der schulischen und außerschulischen Bildung und Erziehung eine bestimmte Bedeutung12. Begibt sich ein Individuum an einen anderen Ort, so wird eine örtlichterritoriale Grenze überschritten. Der institutionell definierte Erziehungs- und Bildungsort, der als Haus mit Einflusssphäre gleichsam einem Behälter gleicht, wird verlassen. Es tritt damit in einen anderen Zuständigkeitsbehälter ein13. Durch die pädagogische Praxis (des Animierens, Betreuens, Bildens, Erziehens oder Beratens) an diesen Orten sind diese im Gegensatz zu anderen Orten, wie dem Bolzplatz oder der Straßenecke, besonders, d.h. von einer institutionalisierten Logik durchdrungen. Aus raumtheoretischer Perspektive liegt hinter dieser Raumvorstellung die Gefahr, den Bildungsort als geographischen Ort, d.h. als territoriale und mit der Angabe von geographischer Länge und Breite 10 Aber auch in der erneuten Thematisierung der Bedeutung von Familie als „vergessenen Bildungsort“ (Büchner/Brake 2006) bzw. von Bildungsprozessen „vor und neben der Schule“, wie dies im Rahmen der jüngsten Bildungsberichterstattung getan wird, ist ein solches Raumverständnis sichtbar. Schließlich wird die Frage, „wie und wo junge Menschen die für ein selbstbestimmtes und sozial verantwortliches Lebe notwendigen Erfahrungen und Kompetenzen in einer sich beschleunigt verändernden Gesellschaft erwerben können“, mit informellem Lernen oder Lernen an informellen Bildungsorten beantwortet (Rauschenbach u.a. 2006, S. 8). 11 Da Schule zumeist am Morgen und mit zunehmendem Alter auch am Nachmittag, Freizeit eher am Nachmittag, am Wochenende oder in den Ferien und Familie über Mittag und in der verbleibenden Zeit gelebt wird, zielt die Frage nach dem wann auf eine bestimmte Zeit bzw. Zeitspanne, d.h. einen Stundenplan, einen Tages-, Wochen- Jahres- aber auch Lebensalterverlauf. Die Veränderungen der Zeiten von Kindern wurden beispielsweise im Forschungsprojekt „Was tun Kinder am Nachmittag?“, welches vom Deutschen Jugendinstitut in München durchgeführt wurde, mittels Zeitbudgetuntersuchungen erhoben (DJI 1992). 12 Diese örtlich-territoriale Vorstellung der Welt ließe sich weiter mit Hilfe eines Raum-Zeit-Modells bildlich darstellen. Auf der horizontalen Ebene befinden sich dann die zwei Dimensionen der territorialen Welt und auf der vertikalen Ebene die Zeit. Auf diese Weise lassen sich die Aufenthaltsorte der menschlichen Körper in der Zeit darstellen. Solche Darstellungen finden in der so genannten norwegischen bzw. nordamerikanischen „time geography“ bzw. Zeitgeographie und haben da eine längere Tradition (Hägerstrand 1984). 13 Am deutlichsten wird dies an teilstationären und stationären Formen der Heimerziehung, also der Erziehung „an einem anderen Lebensort“ – eine Hilfeform, welche in der Schweiz übrigens bei aller Heterogenität und Komplexität der Entscheidungsstrukturen, auf die ich später noch zu sprechen komme, am weitesten verbreitet ist (Piller/Schurr 2006). Heime sind in der Regel vollständig außerhalb der bisherigen Lebenspraxis Heranwachsender verortet. Gleichzeitig – dies im Sinne einer Klammerbemerkung – werden diese Orte als Lebensorte bzw. „als gute pädagogische Orte“ diskutiert, die zwei Ansprüche erfüllen müssen. Sie müssen einerseits „wie andere Orte, an denen Kinder in unserer Gesellschaft aufwachsen“ gestaltet sein und gleichzeitig besondere Orte sein, an denen Kinder und Jugendliche „besondere Ressourcen – also Menschen, Anregungen und günstige Entwicklungsbedingungen vorfinden“ (Wolf 2007, S. 3)
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genau verortbare Raumstelle oder Platz auf der Erdoberfläche, zu verkürzen. Ein solches Raumverständnis, welches Standortkonfigurationen in der Form von Punkten, Entfernungslinien und Flächenangaben beschreibt, wird als „banal“ bezeichnet, da „der gesellschaftlich strukturierte Raum auf erdräumliche Standortkonfigurationen“ reduziert wird (Läpple 1991, 31 ff.). Vor dem Hintergrund aktueller gesellschaftlicher Umbruchprozesse existiert in der Bildungsdiskussion kein adäquates Raumverständnis, welches in der Lage wäre, schulische und außerschulische Bildungsprozesse, aber auch ihr komplexer werdendes Zusammenspiel hinreichend erklären zu können. Raumtheoretisch bestände die Herausforderung der aufgezeigten doppelten Modernisierungsprozesse darin, einen Paradigmenwechsel vom Ort zum Raum zu vollziehen Zweiter Einwand: Bildungslandschaft als Nebeneinander von Bildungsorten im Territorium: Die Idee der Bildungslandschaften baut nun auf einem solchen banalen Raumverständnis auf, indem die verschiedenen Bildungsorte in einer Region, einer Kommune oder im Stadtteil und damit aus einer territorialen Perspektive betrachtet werden. Eine Bildungslandschaft wird als „Referenzrahmen für ein kommunal verantwortetes Gesamtkonzept von Bildung, Erziehung und Betreuung“ definiert, welches „die auf örtlicher Ebene vorhandenen Bildungsressourcen systematisch“ zusammenführt. Dafür ist ein „strukturiertes Zusammenwirken aller Bildungs-, Erziehungs- und Betreuungsorte“ notwendig (Faltenmeier/Mund 2008, S. 39). Raumtheoretisch würde man eine solch örtlich-territorial verstandene Landschaft als eine „besondere Auftretensform des Zusammenwirkens“ einzelner Bildungsorte in „einer bestimmten Erdgegend“ definieren (Werlen 2000, S. 387). Der Standpunkt von wo in der aktuellen Bildungsdiskussion aus Landschaft „als individuelle[r] Gesamteindruck eines Teilstücks der Erdoberfläche“ beobachtet wird (ebd.), lässt sich als „von oben“ definieren – es handelt sich ja auch, wie aufgezeigt, um eine vorderhand bildungspolitische und pragmatische Diskussion. Zentral scheint es darum zu gehen, alle Bildungsorte, d.h. Punkte im Territorium miteinander zu verbinden, zu vernetzen. Das Resultat ist dabei eine Fläche ohne Erhebung, d.h. eine Landschaft flach wie ein Teller. Eine Landschaft besteht jedoch in der Regel aus einer Topologie (vgl. Günzel 2007), aus Höhen und Tiefen und unterschiedlichen relationalen Punkten und bestimmbaren Positionen. Dies sichtbar zu machen, gelingt erst dann, wenn das „Beobachten von Landschaften“ beobachtet wird, indem nach „der wahrgenommenen Wahrnehmung von Landschaft“ gefragt wird (Ahrens 2006, S. 240). „Angeregt wird damit eine Auseinandersetzung mit den Konstitutionsmechanismen von Landschaft“ (ebd.). Als raumtheoretische Herausforderung wäre zu untersuchen, wer an der Konstitution von Räumen schulischer und außerschulischer Bildung und Erziehung beteiligt ist. Diese For128
Bildungslandschaften: Eine raumtheoretische Betrachtung
schung könnte Aufschluss darüber geben, wie unter den regionalen spezifischen Rahmenbedingungen von den unterschiedlichen AkteurInnen Landschaften „erzeugt“ werden, welche Landschaftstypen unter welchen Voraussetzungen hohe Durchsetzungskraft haben und welche eher übergangen werden. Dritter Einwand: Notwendigkeit zur Neupositionierung – Gleiche Augenhöhe meint nicht gleichberechtigt: Durch den aufgezeigten Modernisierungs- bzw. Entwicklungsschub besteht die Notwendigkeit zur Neupositionierung der verschiedenen Bildungs- und Erziehungsbereiche unter- und zueinander. Eher euphorisch-positiv im Sinne einer Chance wird dies im Bereich der außerschulischen Bildung und Erziehung gesehen. Hier wird die potentielle Möglichkeit der Kinder- und Jugendhilfe, aus „ihrer traditionellen Randständigkeit“ herauszukommen, betont (Thiersch 2002, S. 57). Aus raumtheoretischer Perspektive ist jedoch skeptisch anzumerken, dass durch die erwähnte Reduktion vom Raum auf den Ort die Gefahr besteht, blind zu werden, was Position und aktive Neupositionierung bedeuten könnte. Betrachtet man die Forderung „neuer Bildungsorte für Kinder und Jugendliche“ (BJK 2004) mit der aufgezeigten Vorstellung von Landschaft als Fläche, heißt dies bezüglich der Positionierung des „eigenen“ Ortes gegenüber anderen Bildungs- und Erziehungsorten lediglich, dass man mit dabei ist. Schon das Erwähnt-Sein bzw. Mit-Erwähnt-Werden bedeutet dann strategischen Gewinn. Jedoch sagt die Anwesenheit noch nichts über die absolute Lage bzw. Position eines Ortes, d.h. welche Aufmerksamkeit, Wertigkeit und. Ausgangslage ein bestimmter Ort hat. Um beim Bild zu bleiben hat jede Landschaft ihre Sonnen- und Schattenseiten. Gewisse Orte sind bildungspolitisch interessanter, andere werden lieber verdeckt/versteckt. „Ins Zentrum des pädagogischen und bildungspolitischen Fokus rückt die Frage des Standortes bzw. die Frage der Position(ierung)“ (Reutlinger 2006) Bei der Frage der Positionierung wäre jedoch ein aufgeklärtes Raumverständnis ein wichtiger Ausgangspunkt. Erst über eine nicht nur territoriale Auffassung von Raum wäre eine bildungspolitische Auseinandersetzung über die unterschiedlichen Wertigkeiten der verschiedenen Bildungsorte, d.h. die Grundlage sich selbst verorten zu können, überhaupt möglich. Mit der Begründung, dass nur die Schule alle Kinder und Jugendlichen einer Region, eines Stadtteils erreicht (Meffert 2004), scheint diese noch immer die privilegierteste Position in der Landschaft einzunehmen. So zielt die bildungspolitische Diskussion um Bildungslandschaften in der Regel auf das Zusammenspiel von Schulen mit Schulen. Mehr noch: im Nachklapp zu PISA scheint sich der Einflussbereich von Schulen räumlich und zeitlich sukzessive auszuweiten (Stichwort Ganztagsschulen, vgl. Coelen/Otto 2008). Im Zuge dieser Ausweitung der Sphäre der schulischen Bildung drohen alle anderen Bildungsorte, d.h. nicht formelle 129
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und informelle neben bzw. untergeordnet (im Sinne einer Zuliefererfunktion zur Hauptaufgabe schulische Bildung) zu werden. Hier bestände die raumtheoretische Herausforderung darin, durch ein aufgeklärtes Raumverständnis diese Tatsache erst einmal aufzeigen zu können. Durch die klare Benennung von Positionen und Funktionen könnte herausgearbeitet werden, dass die Vorstellung der propagierten Bildungslandschaften nicht eine Fläche, sondern eine machtbzw. positionsdurchdrungene Landschaft im Sinne eines System von Orten mit einer ganz klaren Hierarchie bezüglich ihrer Funktion ist. Erst danach wäre es möglich, dieser bildungspolitischen Rede von der Landschaft eine Position entgegen zu stellen, welche nicht strategisch, sondern beispielsweise vom Bildungsgedanken aus argumentiert. Für den außerschulischen Bildungs- und Erziehungsbereich würde erst eine raumthematische Erweiterung dazu führen, aus der „Nachrangigkeit“ mit anderen Bildungsorten herauszukommen. Vierter Einwand: Regional, kommunal, lokal – Gefahr der Verdinglichung von Bildungslandschaften: Auf die Analyse, dass durch die zum Teil radikalen gesellschaftlichen Wandlungsprozesse Lebenswelten von Kindern und Jugendlichen fragiler werden, nicht mehr länger nur an einen geografischen Ort gebunden oder zeit-räumlich eingrenzbar sind und einen deutlich geringeren Grad an Standardisierung aufweisen, wird durch ein vernetztes Zusammenspiel unterschiedlicher Bildungsakteure in einem Stadtteil ein produktives Wechselspiel von Bildungsorten, Gelegenheiten und Lernwelten propagiert. Bildlich gesehen scheinen verschiedene Bildungs- und Erziehungseinrichtungen und -institutionen sich im Stadtteil, der Kommune oder Region nebeneinander zu einem neuen Ganzen aufzureihen und zu vernetzen. Durch eine geschickte lokale Steuerung sollen nun alle miteinander zusammenarbeiten und so gleichsam ein flächendeckendes Netz spinnen, oder es soll – so die entsprechende Terminologie – die Trias von „Bildung, Betreuung und Erziehung“ umgesetzt werden (Rauschenbach 2005). „Ziel und Aufgabe kommunaler Bildungslandschaften ist es, die verschiedenen institutionellen Bildungsangebote zu einem kommunalen Gesamtkonzept von Bildung, Erziehung und Betreuung zusammenzufügen und mit dem Wissen über die nicht institutionelle Wissensaneignung zu verbinden“ (Faltenmeier/Mund 2008, S. 40). Aus raumtheoretischer Perspektive ist hier das Verständnis von Lebenswelt als Kombination und Vernetzung aller institutioneller und nicht-institutioneller Lebensbereiche in einem Stadtteil kritisch zu hinterfragen. Individuelle Betreuung und Verbesserung der Lern- und damit Lebenschancen scheint sich darauf zu beschränken, alle Lern- und Bildungsorte in einem Territorium aufzusummieren. Als verbindendes Element einer Landschaft scheint Bildung zu fungieren. Damit einher scheint alles zu Bildung zu werden. Wie eine Sauce scheint sich „Bildung“ über alle pädagogischen Tätigkeiten, wie 130
Bildungslandschaften: Eine raumtheoretische Betrachtung
Erziehung, Lernen, Betreuung oder Hilfe, zu schütten. Durch einen möglichst nahtlosen Zusammenschluss von unterschiedlichen Logiken schulischer und außerschulischer Institutionen sollen Übergänge und Brüche möglichst eliminiert werden. Die Landschaft scheint sich so dem Individuum anzupassen, indem sie sich bewusst wird, dass sie eine Landschaft ist (reflexive Organisation). Durch die banale Raumvorstellung droht sie sich jedoch als starre Fläche langsam über die Lebenswelt zu legen, bis sie aus dieser institutionellen Perspektive scheinbar zur Lebenswelt wird. Die Welt scheint wie im Mittelalter wieder die Gestalt einer Scheibe anzunehmen. Vehement ist an dieser Stelle auf die Gefahr der Verdinglichung der Bildungslandschaft aufmerksam zu machen: Neben der aufgezeigten raumtheoretischen Verkürzung zu Orten, wird auch das Bildungsnetzwerk bzw. die Bildungslandschaft zum Stadtteil, Quartier oder Region verkürzt. Hinter dieser Vorstellung eines größeren Containers Quartier, in welchem kleine Behälter Bildungsorte stehen, liegt eine absolutistische Raumvorstellung14 (Löw 2001). Dabei ist die Gefahr der Kontrolle durch die potentielle Sichtbarmachung sämtlicher Lebensbereiche von Kindern und Jugendlichen hinzuweisen. Indem sich potentiell alle erwachsenen Bezugspersonen und Settings zu einem Ganzen zusammenschließen, könnte es zu einem totalen Informationsfluss bzw. zur totalen Kontrolle führen. Denkt man sich nun eine Person, ein Kind oder einen Jugendlichen in diese Landschaft hinein, so scheint sie von Bildung umgeben zu sein – ein Entrinnen wäre unmöglich. Was ist, wenn jemandem eine Landschaft nicht gefällt? Eine andere Route wählen will? Gibt es Wahlmöglichkeiten zwischen Landschaften? Oder bleibt nur das Verharren an einem Ort, bis die Schulzeit endlich fertig ist? Droht nun für die Kinder und Jugendlichen das Gefangen sein in der Bildungslandschaft? Aus raumtheoretischer Perspektive muss deshalb sowohl vor der Verdinglichung als auch vor der Sichtbarmachtung gewarnt werden: Untersuchungen aus dem Bereich der außerschulischen Bildung und Erziehung zeigen, dass heute Formen des „wilden Lernens“ (Böhnisch/Schröer 2001) bzw. „chaotische Lernformen“, d.h. Bewältigungsformen, die sich jenseits der institutionalisierten und gesellschaftlich legitimierten Pädagogik stattfinden, eine immer größer werdende Rolle spielen. Biographische Bewältigungsformen und die sozialemotionale Bildungsaufgaben in der Kindheit und Jugend, d.h. die Lebensbereiche von 14 Ein Raumbegriff kann als ‚absolutistisch‘ bezeichnet werden, wenn entweder dem Raum eine eigene Realität jenseits des Handelns, der Körper oder der Menschen zugeschrieben wird, oder wenn als unumgängliche Voraussetzung jeder Raumkonstitution der dreidimensionale euklidische Raum angenommen wird. Der Raum scheint dann, wie eine Schachtel oder ein Behälter, das soziale Geschehen zu umschließen. Albert Einstein (1960, S. XIII) hat diese Raumvorstellung mit der Kurzformel „Container“ verbildlicht, was in der deutschen Rezeption mit „Behälterraum“ übersetzt wird.
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Kindern und Jugendlichen, die nicht auf diese funktionalisierte Logik von Bildung bezogen sind, drohen jedoch durch Verdinglichung und Sichtbarmachung in der Unsichtbarkeit zu versinken (vgl. Reutlinger 2003). Um die Diskussion darüber anzuregen, wie Lernorte und Lernformen wieder zusammenkommen bzw. wie informelles, nichtformelles und formelles Lernen in Bezug zueinander gesetzt werden können, müssen die Kompetenzen von jungen Menschen in Quartieren als Aneignungshandeln erneut entdeckt werden. Dies gelingt über Ansätze, die vermehrt an der Handlungsebene der Heranwachsenden ansetzen, wie dies zum Beispiel der Aneignungsansatz aufzeigen kann (vgl. Deinet/Reutlinger 2003; 2005). Um die ‚wilden Lernformen‘ wahrzunehmen, ist deshalb eine „neue Empirie der Aneignung“ notwendig (vgl. Reutlinger 2003b). Die raumtheoretische Herausforderung besteht also darin, die Landschaft gleichsam von den Kinder und Jugendlichen in ihrem Bewältigungshandeln, d.h. beim Schreiben unsichtbarer Bewältigungskarten zu verstehen. Kinder und Jugendliche haben das Recht, in die Sichtbarkeit zu gehen, und, wenn sie es wünschen, auch wieder unsichtbar zu werden (Reutlinger 2008d). Über dieses Erschließen der subjektiven Raumdeutungen (Reutlinger 2008c) gelänge es die Bildungslandschaften von unten zu denken.
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Zur pädagogischen (Neu)Ordnung des Räumlichen – zusammenfassende Betrachtungen
Die aufgezeigten raumtheoretischen Einwände verdeutlichen, dass in der bisherigen pädagogischen Ordnung des Räumlichen die Frage des Ortes zu dominieren scheint. Die dahinter liegende territoriale Vorstellung von Raum beinhaltet(e) eine besondere Erlebnisqualität: Es war möglich in Räume zu gehen. Man konnte sich außerhalb und innerhalb von Räumen befinden und es war möglich sich leere und volle Räume zu denken. Die soziale Raumkonstruktion schien mit den Orten der physisch-materiellen Welt überein zustimmen. Gesellschaftliche Verhältnisse waren fest im Ort „verankert“. „Das ‚Wann‘ (war) mit dem ‚Wo‘ und mit dem ‚Wie‘ des Handelns verbunden“ (Werlen 1995, S. 96). Mit dieser Vorstellung lässt sich Landschaft – auch heute noch – als Nebeneinander von Bildungsorten als Häuser oder Kästchen im Territorium beschreiben. Eine Differenzierung zwischen Orten, Handlungen unterschiedlicher Akteurinnen und Akteure, aber auch gesellschaftlichen Prozessen – aber auch nach deren komplexen Zusammenspiel – findet hier gar nicht statt. Der pädagogische Ort scheint alle anderen räumlichen Dimensionen zu übertrumpfen. Alles droht auf die territoriale Welt verkürzt zu werden. 132
Bildungslandschaften: Eine raumtheoretische Betrachtung
Die aktuellen Veränderungen, die sich mit Prozessen wie bspw. Digitalisierung, Abstrahierung, Globalisierung, Entgrenzung oder Segmentierung aber auch einer zunehmenden Virtualität umschreiben lassen, führen dazu, dass die Erfahrung von geschlossenen Räumen grundlegend hinterfragt wird. „Orte“ werden ihrer tradierten Bedeutungskonnotationen „entleert“, Orte vom Raum getrennt, wie dies der englische Soziologe Anthony Giddens beschrieben hat (Giddens 1995). Damit wird unter heutigen Bedingungen das „Was“ und das „Wo“ immer weniger über den Inhalt sozialer Aktivitäten festgelegt. Vielmehr scheinen die räumlichen und zeitlichen Aspekte von bestimmten Tätigkeiten jeweils von neuem kombinierbar zu sein, Rollen können so ausgehandelt werden, feste Strukturen und Gestalten geraten so in Bewegung, verflüssigen sich (vgl. Reutlinger 2008a). Das heißt, dass man die sozialen Prozesse mit bisherigen Raumvorstellungen als „Container- bzw. Behälterräume“, bzw. in der Fläche aneinandergereihter Orte nicht mehr verstehen kann: Die zunehmend globalen Zusammenhänge, der Bedeutungsverlust tradierter, territorial gebundener Standorte, der ständige Fluss und die ortsungebundene Neuformierung von Strukturen hat die Loslösung und Infragestellung der klaren Gestalten und damit auch von geschlossenen Räumen zur Folge. Die tradierte pädagogische Ordnung des Räumlichen steht heute nicht nur durch diese Veränderungen zur Disposition, sondern auch durch die unreflektierte/-kritische Haltung der Erziehungswissenschaft gegenüber Raum/ Landschaft. Dadurch, dass einzelne pädagogische Orte nun daran gebunden sind, sich dem Landschaftsgedanken unterzuordnen, werden sie dazu gezwungen (im Sinne des nun gemeinsam Verbindenden), sich selbst zu hinterfragen, zu verändern und neu anzupassen. Die damit mitschwingenden Hierarchie- und Machtfragen werden bisher aber kaum bzw. gar nicht thematisiert. Damit könnte Raum auch als Metapher für eine “versteckte Neuordnung von Machtverhältnissen missbraucht werden. Hier setzt eine ermöglichende Perspektive auf schulische und außerschulische Räume der Bildung und Erziehung an. Aus einer raumwissenschaftlichen Perspektive auf die Bildungslandschaftsdiskussion rücken die Ordnungen des Räumlichen bzw. die mit den gesellschaftlichen Prozessen zusammenhängenden pädagogischen (Neu)Ordnungen in den Fokus. Mit der Verknüpfung des Raumbegriffs mit dem Begriff der Ordnung ist Raum nicht als a priori Tatsache gegeben, sondern besteht in den Beziehungen von Phänomenen zueinander, als „Relationen von Verknüpfungen“ (Löw 2001). Raum wird als „eine relationale (An)Ordnung von Körpern, welche unaufhörlich in Bewegung sind“ verstanden, „wodurch sich die (An)Ordnung selbst ständig verändert“. Raum ist dadurch „nie nur eine Substanz und nie nur eine Beziehung, sondern aus der (An)Ordnung, das heißt aus der Platzierung in Relation zu anderen Platzierungen entsteht Raum“ (ebd., S. 131 ff.). Indem Räume „als 133
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ständig (re)produzierte Gewebe sozialer Praktiken“ (Kessl/Reutlinger 2007a, S. 15) verstanden werden, gelingt es, die Ambivalenz zwischen „Materialität und sozialer Konstruiertheit des Raumes“ auszubalancieren (Ahrens 2006, S. 235). Über die Verknüpfung und Platzierung geraten die Handlungen unterschiedlicher Akteurinnen und Akteure, ihre sozialen Positionen, Möglichkeiten und Ressourcen ins Zentrum. Damit rücken neben den alltäglichen Konstitutionsprozessen von Raum aktuelle pädagogische Ordnungen des Räumlichen selbst ins Zentrum des Interesses.
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Aktive bildungspolitische Positionierung
Als Abschluss der vorliegenden raumtheoretischen Betrachtung von Bildungslandschaften steht die Notwendigkeit eines Plädoyers für mehrere Optiken und Perspektiven auf Orte, Räume und Landschaften. Durch die Aktivität verschiedener gesellschaftlicher Teilgruppen können an einem Ort als „lokalem Schauplatz“ (Giddens 1995, S. 30) mehrere Räume entstehen (Löw 2001, S. 65). Da der pädagogische Akt in der außerschulischen Bildung und Erziehung immer an einen Ort gebunden ist – wenn dieser Ort heute auch ein virtueller Raum sein kann, beispielsweise eine Beratungsplattform für Kinder und Jugendliche – stellt sich die Frage der aktiven und expliziten Verortung. In diesem bewussten Prozess gilt es, die Bedeutungen des konkreten Ortes „für die verschiedenen Handelnden auf den unterschiedlichen politischen, praktischen und alltäglichen Ebenen“ zu erschliessen. Gleichzeitig muss geklärt werden, welche Ressourcen in einem Ort stecken, „welche durch ihn verbaut werden und wie diese oder andere unzugängliche Ressourcen im Sinne einer Erweiterung oder Eröffnung von Handlungsoptionen für die Akteure genutzt werden können“ (Kessl/Reutlinger 2007, S. 128). Der Ort wird damit als eine Verhandlungsressource betrachtet, wie Encarnación Gutiérrez Rodríguez einmal schreibt, an dem sich die herrschenden Verteilungs-, Arbeits- und offiziellen Zugehörigkeitsmodelle reflektieren und von dem aus sich Zugangsmöglichkeiten ebenso wie Schließungsmechanismen eröffnen: „Im Prozess der Verortung werden damit neue Positionen, die die spezifische Situation der beteiligten Akteure auszeichnen, möglich. Diese Positionen bilden dann wieder die Grundlage von Handlungs- und Verortungsstrategien auch für politische Auseinandersetzungen. Verortungsprozesse stellen insofern soziale Praktiken dar, mit denen spezifische räumliche Kontexte, die das Ergebnis vormaliger sozialer Praktiken sind, verändert, bestätigt oder verworfen werden“ (ebd.). Ins Zentrum müsste die Frage gestellt werden, ob ein Bildungsort geeignet ist, um die Handlungsspielräume für alle Individuen zu 134
Bildungslandschaften: Eine raumtheoretische Betrachtung
öffnen, ob unterschiedliche Wege möglich sind und Gleichzeitigkeiten zugelassen werden. Durch einen solchen Perspektivwechsel gelänge es bei der Gestaltung von schulischen und außerschulischen Räumen der Bildung d.h. nicht nur auf die strukturell oder steuerungspolitisch Logik reduzierten Standpunkte, (bildungs)politisch mitzuwirken. Ins Zentrum der Bildungs- und Erziehungsforschung und der daraus hervorgehenden Bildungspolitik geraten dann auf allen Ebenen der Aus- und Aufbau von ermöglichenden Kontexten: Je nach Standort verändert sich der Blickwinkel und damit das, was wir sehen, aber auch, was wir nicht sehen. Im Rahmen der (Neu)Ordnung des Räumlichen sind insbesondere außerschulische Räume der Bildung und Erziehung gezwungen, sich durch eigene Sichtweisen in den gegenwärtigen bildungs- und bildungspolitischen Diskursen zu positionieren. Dazu bedarf es unter Umständen Standpunktveränderungen und Standortwechseln. Durch Standortwechsel gelingt es nicht nur Standpunkte zu verändern, sondern über veränderte Standpunkte auch den Standort zu Veränderungen zu zwingen und damit (bildungs)politisch etwas bewirken zu können: Beim dahinter liegenden Anspruch geht es um die (Er)Öffnung neuer Möglichkeitsräume. D.h. es geht um die Schaffung von sozialräumlichen Bedingungen und Ermöglichungskontexten, die es dem einzelnen Menschen gestatten, seine Fähigkeiten zu realisieren und sein Leben zu gestalten. Diese Ermöglichungsräume dürften jedoch nicht nur örtlich und sozialräumlich auf den physisch-materiellen Raum beschränkt bleiben, sondern ihrer bedarf es in allen möglichen Formen und Ebenen, wie zum Beispiel als virtuelle, institutionelle und digitale Ermöglichungsstrukturen, mit den diversen Sprachcodes. Dazu müssten die bisherigen Konzepte und Ideen von Raum und Räumlichkeit durchbrochen werden. Dazu kann an den aktuellen Bewältigungsund Gestaltungsleistungen aller Menschen, die außerhalb ökonomisch-zweckrationaler Handlungslogiken liegen, angesetzt werden (vgl. Reutlinger 2003). Diese sollen als eigenständige Leistung anerkannt und in Verbindung zu allen Bereichen – von virtuellen bis zu privaten – gebracht und die nötigen Übergänge angeboten werden.
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Bildungslandschaften: Eine raumtheoretische Betrachtung
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Bildungslandschaften: Eine raumtheoretische Betrachtung
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Thomas Spiegler
Lernen ohne Schulraum: Home Education und Unschooling als Gegenentwurf zu raumgebundenem Lernen 1
Die Bindung des Lernens an Raum
Aufgrund der in Deutschland in allen Bundesländern geltenden Schulpflicht ist das Lernen für Kinder und Jugendliche über einen langen Zeitraum per Gesetz mit der Institution Schule verknüpft. Lernen heißt für sie zur Schule zu gehen. Dies wiederum heißt in den meisten Fällen, in einem bestimmten Haus einen festgelegten Raum aufzusuchen und dort für den überwiegenden Teil der Zeit auf einem bestimmten Stuhl Platz zu nehmen. An verschiedenen Stellen wurde bereits der Frage nachgegangen, welche Bezüge zwischen der Gestalt dieses Schulraums und den sich darin vollziehenden Prozessen relevant sind (vgl. z.B.: Noack 1996; Girmes 2002; Breidenstein 2004; Willems/Eichholz 2008). Besonders im letzten Jahrzehnt wurde dem Raumbegriff in den Sozialwissenschaften verstärkte Aufmerksamkeit gewidmet (vgl. Schroer 2007). Löw stellt in ihrer Raumsoziologie (2001) dar, dass Raum weniger als feste Größe zu fassen ist, sondern dass die raumbildenden Prozesse in den Blick genommen werden müssen. Breidenstein illustriert diese von Löw als Spacing und Syntheseleistung beschriebenen Prozesse am Beispiel des Klassenraums und verdeutlicht damit, dass dieser kein einheitlich gegebener, sondern ein individuell konstruierter Raum ist (vgl. Breidenstein 2004). Ähnlich auch Girmes, die den Schulraum als eine unterschätzte und teilweise auch zu wenig akzeptierte Bildungsmacht bezeichnet (vgl. Girmes 2002, S. 29). Der vorliegende Beitrag fragt aus einer etwas anderen Perspektive nach der Bedeutung des Raums im Bildungsprozess. Es geht nicht um die im Schulraum stattfindenden Wechselwirkungen von Handlung und Struktur, sondern um die allgemein-ere Frage nach der Fixierung des Lernprozesses auf derartige Räume. Dass Lernen nicht nur in Schulräumen stattfindet, ist zwar allseits unbestritten, allerdings hat die Konjunktur des Themas „informelles Lernen“ (vgl. Tully 2006; Wahler/Tully/Preiß 2004) bisher nur sehr begrenzt Auswirkungen auf die Praxis, da gleichzeitig Grund zu der Feststellung besteht, dass es noch nie so viele pädagogische Lernbegleitung in formalisierten Kontexten gab wie heute (vgl. Rauschenbach/Düx/Sass 2006, S. 9). 140
Lernen ohne Schulraum
Die enge Verknüpfung von Lernen und Schulraum erfährt an verschiedenen Stellen Widerspruch. Historisch könnte man dabei z.B. zurückgreifen auf den Pädagogen Bertholt Otto oder den Schulkritiker Ivan Illich. Eine aktuelle Manifestation dieses Widerspruchs jenseits erziehungswissenschaftlicher Diskurse ist das Wachstum der Home Education Bewegung. Die Begriffe Home Education oder Homeschooling 1 bezeichnen den Bildungsansatz, bei dem das Lernen von Kindern und Jugendlichen anstatt in einer Schule im häuslichen Umfeld stattfindet, in der Regel unter Anleitung oder Begleitung der Eltern. International ist diese Bewegung in den letzten Jahrzehnten deutlich gewachsen. Im Folgenden wird diese Alternative zum schulischen Lernen näher vorgestellt, mit einem Schwerpunkt auf dem sogenannten „Unschooling“, das den stärksten Gegensatz zur Schule bildet. Im Hintergrund steht dabei stets die Frage nach der Verknüpfung von Lernen und Raum. Die hier präsentierten Daten zur deutschen Home Education Bewegung basieren auf empirischem Material, das zwischen 2003 und 2007 mit einer Kombination mehrerer qualitativer Methoden (teilnehmende Beobachtung, leitfadengestützte Interviews, Inhaltsanalyse) im gesamten Bundesgebiet erhoben wurde. Die Ergebnisse dieser Studie sind ausführlich dargestellt bei Spiegler (2007).
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Überblick zur Situation von Home Education in Deutschland
Die heutige Schulpflicht entwickelte sich in den vergangenen Jahrhunderten schrittweise aus regionalen Regelungen und erfasste aus verschiedenen Gründen lange Zeit nur einen Teil der Kinder. Die erste wirklich überregionale allgemein verbindliche Schulbesuchspflicht findet sich im Reichsgrundschulgesetz der Weimarer Republik (WRV Art. 145) von 1920. Mit Einführung des Reichsschulpflichtgesetzes (1938) konnten Zuwiderhandlungen auch strafrechtliche Konsequenzen nach sich ziehen. Damit hatte sich im Interesse der Chancengleichheit (Weimarer Reichsverfassung) eine Schulbesuchspflicht etabliert, die im Interesse der Unterweisung im „Geiste des Nationalsozialismus“ (vgl. Froese/Krawietz 1968, S. 244) keine Ausnahme mehr zuließ. Die gegenwärtigen Regelungen der Schulpflicht in den einzelnen Bundesländern lehnen sich weitgehend an die genannten Gesetze aus der Zeit vor dem zweiten Weltkrieg an (vgl. Avenarius/Heckel 2000, S. 450). In allen Bundeslän1
Im internationalen wissenschaftlichen Gebrauch wird bevorzugt von „Home Education“ gesprochen, in Deutschland ist „Homeschooling“ der häufiger verwendete Begriff.
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Thomas Spiegler
dern besteht Schulpflicht. Häuslicher Unterricht findet keine Erwähnung, genügt jedoch nicht zur Erfüllung der Schulpflicht und gilt daher als Ordnungswidrigkeit, teilweise auch als Straftatbestand. Darüber hinaus kann eine beharrliche Weigerung von Eltern, ein schulpflichtiges Kind zum Schulbesuch zu veranlassen, zu einem (teilweisen) Entzug des Personensorgerechts führen. Damit unterscheidet sich die Situation in Deutschland von der in vielen anderen Staaten. In den meisten führenden Industrienationen ist Home Education möglich, wenn auch vielerorts nur gering verbreitet. Die größten Homeschoolbewegungen findet man in den USA (> 1 Mill. Schüler), Großbritannien, Kanada und Australien, praktiziert wird es innerhalb Europas z.B. auch in Frankreich, Österreich und Irland. Die Anfänge der deutschen Home Education Bewegung liegen in der Mitte der zweiten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts. Die gesellschaftlichen Wandlungsprozesse der damaligen Zeit führten zu einer Linksverschiebung im Bildungssystem (vgl. Führ 1997, S. 22). Die ersten Schulpflichtverweigerungen, die direkt in die heutige Home Education Bewegung mündeten, fanden in den 1980er Jahren in zwei verschiedenen Milieus statt. Auf der einen Seite waren konservative Religiöse, denen die Schule zu liberal und antiautoritär erschien. Auf der anderen Seite standen liberale Kinderrechtler, die das Bildungssystem nach wie vor zu starr und autoritär empfanden. 2 Gemeinsam war beiden, dass sie weniger staatlichen Einfluss im Bildungsbereich wünschten. In den folgenden Jahrzehnten stieg die Zahl der Home Education Familien langsam an. Ab 2000 ist ein Prozess der Vernetzung, Professionalisierung und Institutionalisierung in der jungen Bewegung zu beobachten. Es bilden sich Netzwerke jenseits der ursprünglichen Milieus mit dem Ziel, Homeschooler unabhängig von den jeweiligen Motiven zu verbinden. Konkrete Zahlen zur Größe der Home Education Bewegung gibt es in Deutschland nicht. Vorsichtig geschätzt kommt man ausgehend von den Mitgliederzahlen der vorhandenen Netzwerke und Gruppierungen sowie einschließlich einer Dunkelziffer auf ca. 700-1000 Kinder, die auf diesem Weg jenseits der Schule lernen. Dass angesichts der dargestellten Rechtslage überhaupt eine Home Education Bewegung entstehen konnte, liegt vor allem darin begründet, dass die gesetzlichen Regelungen nicht in jedem Fall in vollem Maße zur Anwendung kommen. Es gibt unentdeckte Fälle von Homeschooling. Fälle, die von den zuständigen Entscheidungspersonen in Schulen oder Schulämtern geduldet werden, Bußgeldverfahren, die sich aufgrund der Widerspruchsmöglichkeiten über Jahre hinziehen oder Verfahren, die nach Bußgeldzahlung eingestellt werden, 2
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Eine ähnlich bipolare Verwurzelung findet sich auch in der Geschichte der US-amerikanischen Homeschoolbewegung (Vgl. Knowles/Marlow/Muchmore 1992, S. 197)
Lernen ohne Schulraum
obwohl Home Education auch weiterhin durchgeführt wird. Nur in einigen Fällen kommt es zu hohen Zwangsgeldforderungen, der Androhung von teilweisem Sorgerechtsentzug, Geld- oder Haftstrafen. Dies ist dann für die Betroffenen nicht selten der Anlass, in eines der Länder umzusiedeln, die Home Education gestatten. Die Zahl der Homeschoolkinder in dieser Gruppe der „Auswanderer“ liegt inzwischen mindestens auch im dreistelligen Bereich. Die elterlichen Gründe für Homeschooling sind divers und vielschichtig. Setzt man sie in Bezug zum gegenwärtigen Schulsystem, dann sind es neben der Kritik an der wenig selbstbestimmten, unflexiblen äußeren Form, in der das Lernen durch Schule strukturiert wird, vor allem die Punkte Werte, Wissen und Wohlergehen, die immer wieder sichtbar werden. Im ersten Bereich steht die Annahme, dass die elterlichen Möglichkeiten der Wertevermittlung durch den Schulbesuch (sei es durch Lehrer, Lehrplan oder Peergroup) zu stark eingeschränkt werden. Oft, wenn auch nicht immer, ist diese Sichtweise mit starken religiösen Überzeugungen verknüpft. Unter dem Stichwort Wissen wird die Kritik zusammengefasst, derzufolge in der Schule zu wenig, zu unflexibel, nicht individuell und subjektorientiert genug oder etwas „Falsches“ gelernt wird. Nicht selten sind es Eltern von Kindern mit abweichenden Lernbedürfnissen (Hochbegabung, Lernschwierigkeiten, ADHS u. ä.), die den Eindruck haben, die jeweilige Schule sei nicht in der Lage, ein der besonderen Situation des Kindes angemessenes Lernen zu ermöglichen. Der Aspekt Wohlergehen umfasst die Themen Mobbing, psychosomatische Beschwerden oder Schulangst. Hier sind Eltern, die zu der Ansicht kamen, ihr Kind leidet durch den Schulbesuch. Im konkreten Einzelfall überlagern sich meist mehrere dieser Bereiche. Insgesamt ist die deutsche Homeschoolbewegung vor allem eine „Grundschulbewegung“. Viele Eltern suchen primär für die ersten Schuljahre eine Alternative und im Laufe der Sekundarstufe I wechseln die Kinder in das öffentliche Schulsystem. In diesem Zusammenhang stellt sich die Frage nach dem Erfolg von Home Education. Eine sichere Antwort darauf ist für Deutschland nicht möglich. Zwar lassen sich Fälle finden, in denen Kinder nach mehrjährigem Homeschooling erfolgreich ins öffentliche Schulsystem wechselten und mit Abitur/Studium oder Berufsausbildung den Bildungsweg fortsetzten. Diese Daten sind jedoch nicht repräsentativ für die Bewegung. Auch der internationale Forschungsstand ist nur bedingt aussagefähig. Zwar gibt es zahlreiche Studien, denen zufolge Homeschooler besser oder zumindest nicht schlechter als Schüler öffentlicher Schulen abschneiden, jedoch spricht einiges dafür, diese Arbeiten sehr kritisch zu lesen, da das methodische Vorgehen meist einen direkten Vergleich der Resultate verbietet (Quellen ausführlich bei Spiegler 2007). Der gegenwärtige Stand des Wissens in diesem Punkt ist treffend zusammengefasst in dem Zitat von Belfield (2005, S. 174): „So far at least, the results do not indicate 143
Thomas Spiegler
home-schoolers are at a disadvantage“. Das ist weniger, als die Verfechter von Home Education angeben, aber mehr, als manche Kritiker bereit wären einzugestehen.
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Die Gestaltung des Lernens bei Home Education
Hinsichtlich der praktischen Gestaltung von Home Education gibt es eine große Bandbreite. Zwecks einer groben Typisierung werden in Abb. 1 die Lernmethoden anhand zweier Variablen unterschieden. Zum einen die Frage, wie stark das Lernen durch die Eltern strukturiert und inhaltlich bestimmt wird, und zum anderen, in welchem Ausmaß informelle Lernprozesse eine Rolle spielen, die im „alltäglichen“ Leben des Kindes angesiedelt sind. Sichtbar werden vier typische Konstellationen.
In der öffentlichen Schule wird der Lernprozess weder durch die Eltern noch durch den Alltag des Kindes bestimmt, sondern er orientiert sich am staatlich vorgegebenen Lehrplan, den Präferenzen der Lehrkraft und den Erfordernissen des Gruppenunterrichts. Die Bindung des Lernens an einen bestimmten Raum ist hier am ausgeprägtesten.
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Lernen ohne Schulraum
Typus „Schule zu Hause“: Bei dem als „Schule zu Hause“ bezeichneten Ansatz werden die schulischen Unterrichtsformen ohne große Änderungen in das häusliche Umfeld übernommen. Dies beinhaltet einen Stundenplan, feste Ferienzeiten, Klassenstufen, Leistungstests und nicht selten auch einen extra Schulraum, in dem die Kinder lernen beziehungsweise unterrichtet werden. Die Eltern übernehmen die schulische Autorität und definieren Inhalt und Gestaltung des Lernens. In der Beschreibung einer Mutter klingt dies wie folgt: „Also ich mache es über die Philadelphia-Schule. 3 Die Kinder sind beide da angemeldet und die Arbeiten schicke ich auch ein. Also ich bewerte auch nichts, das überlasse ich alles der Lehrerin. Und ja wie sieht ein Tag Homeschooling aus: Wir stehen meistens um halb sechs auf ... und ja dann mit Frühstück machen und alle anziehen und fertig machen soweit, ist dann meistens, dass wir um na ja dreiviertel sieben, um sieben machen wir dann Morgenandacht, dann essen wir Frühstück und um acht fangen wir dann mit dem Unterricht an. Und wir haben also extra ein Schulzimmer… Im Dachgeschoss ist auch noch mal eine kleine Wohnung... und da oben haben wir jetzt die Schule sozusagen. Und um acht gehen wir halt hoch. Dann haben wir einen Stundenplan für die ganze Woche halt, das also jeder weiß, wann was dran ist. Und dann machen wir, wir haben eigentlich jeden Tag drei Unterrichtsfächer. Und nicht so, dass ich jetzt sage, ein Unterrichtsfach jetzt eine Dreiviertelstunde oder so. Ich mache das nicht schulstundenmäßig oder so, ich weiß nur, ich will an dem Tag die drei Fächer machen.“ (I9, Abs. 18) Bei diesem Ansatz wird zwar das Lernen aus der Schule herausgelöst, aber über weite Strecken bleibt es mit einem bestimmten Raum oder zumindest einem spezifischen räumlichen Arrangement verbunden (z.B. Homeschooling vormittags am Esstisch). Typus „Lernen zu Hause“: Beim „Lernen zu Hause“ übernehmen die Eltern die Verantwortung für die Gestaltung des Lernprozesses, orientieren sich dabei jedoch nicht so stark am schulischen Lehrplan, sondern eher an der individuellen Situation und den Bedürfnissen des Kindes. Eine Mutter dreier Kinder schreibt: „Ich habe nichts dagegen, meinen Kindern Ideen zu geben und auch teilweise zu sagen, dass sie irgendwas Schulisches machen MÜSSEN, und 3
Ein staatlich nicht anerkanntes, aber geduldetes, stark christlich orientiertes Fernlehrwerk.
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Thomas Spiegler
so schließe ich mich eigentlich nicht den „Unschoolers“ an. Und ich habe viel dagegen, meinen Kindern zu sagen, dass, weil sie soundso alt sind, sie „dieses“ Heft machen müssen, oder weil es 8:15 ist, sie unbedingt Mathe üben sollen.“ (homeschooling_D, 19.04.2003:480, Hervorhebungen original) Sie spürt, dass man mit dieser Kombination aus Elementen des Unschooling und Aspekten der Schulorientierung „zwischen allen Stühlen“ sitzen kann. Den Lernalltag in der Familie dieses deutsch-amerikanischen Elternpaares skizziert die Mutter wie folgt: „Mit Stundenplan oder so was machen wir überhaupt nichts. Wenn wir alle wach sind, sage ich irgendwann, dass die Kinder sich anziehen sollen, es wird gefrühstückt (das könnte um 8:00 Uhr oder auch um 11:00 Uhr sein ...), und dann fangen wir an. Meistens dauert das höchstens 2 Stunden, obwohl oft über den Tag verteilt. Marie macht Deutsch mit Zebibuch ... mit meinem Mann, immer montags und donnerstags, und manchmal an anderen Tagen, wenn er gerade Zeit hat. Nur Deutsch und Mathe werden mit Arbeitsheften gemacht. Nur Bibel, Mathe und Klavier werden unbedingt jeden Tag gemacht – ich habe keinen Plan dafür, es wird einfach weiter gemacht. Und Marie liest ständig und überall, auf Englisch und auf Deutsch, so dass sie „Lesen“ auch nicht als Fach haben muß. Schreiben findet hauptsächlich mit Briefeschreiben und Tagebuchführung statt ... Für Sachkunde besitzen wir zwar ein paar deutsche Schulbücher ... aber mein Mann hat mit den Kindern vielleicht 3 oder 4 Seiten in einem gemacht, vor zwei Jahren oder so, und das war es… Aber wir haben sehr, sehr viele „normale“ Sachbücher auf Englisch und auf Deutsch, und die Kinder lesen (oder lassen vorlesen) sehr gerne davon, so dass wir festgestellt haben, dass Sachkunde superleicht als „unschooling“ klappt.“ (homeschooling_D, 4.03.2005:1899, Namen geändert) Hier ist das Lernen weniger stark an einen Lernraum gebunden. Auch andere Vorgaben werden sehr flexibel gehandhabt. Mehrfach beschreiben Eltern ihren Weg mit Home Education als einen Prozess, der von sehr schulähnlichen Lernformen schrittweise zu einer Flexibilisierung führt und zunehmend selbstgesteuerte Lernprozesse integriert. In Abb. 1 ist dies durch den grauen Pfeil symbolisiert. Typus „Unschooling“: Das Konzept des Unschooling wird im Deutschen von dessen Vertretern meist als „selbstbestimmtes“ oder „natürliches Lernen“ be146
Lernen ohne Schulraum
zeichnet. Beide Begriffe verdeutlichen gut die zugrunde liegende Idee. Selbstbestimmung bedeutet hier, dass hinsichtlich der Lerninhalte und -zeitpunkte keine Vorgaben existieren. Der Lernende bestimmt, wann welche Kenntnisse oder Fertigkeiten auf welche Art und Weise erworben werden. Der Begriff „natürlich“ deutet an, dass ein derart selbstbestimmtes Lernen als die naturgegebene, dem Wesen des Menschen am besten entsprechende Lernmethode betrachtet wird. Kinder werden per definitionem zu Lernenden, denn das Leben an sich wird als permanenter Lernprozess aufgefasst. In der Beschreibung eines Vaters sieht das selbstbestimmte Lernen im Alltag so aus: „... dass wir miteinander reden, die Haus-, Garten- und Büroarbeiten machen, lesen, Ausflüge machen, Leute besuchen. Es ist wohl eher kein „organisierter Lernalltag“, sondern „Leben“ ... Unsere Rolle als Eltern ist die von Menschen, die einerseits mit unseren Söhnen zusammenleben (wodurch sich schon sehr viel ergibt) und die andererseits unsere Söhne unterstützen, wenn diese den Wunsch dazu äußern.“ (homeschooling_D 2.6.2005:2454) Die These, dass Lesen, Schreiben und Rechnen informell erlernbar sind, wird oft durch einen Vergleich mit dem informellen Erlernen des Sprechens oder Laufens gestützt. Darstellungen des Unschooling rekonstruieren den außerschulischen Alltag als einen permanenten Lernprozess. Die folgende Beschreibung eines Nachmittagsausflugs einer Mutter mit ihren drei Töchtern (im Alter von 6 Jahren, 4 Jahren und 4 Monaten) lässt dies sehr deutlich werden: „Heute war ich ... für ungefähr zwei Stunden an der Donau zum Spielen. Die Großen ... liefen sofort zu ihrem Indianerversteck, wo sie die Schätze vom letzen Mal aufbewahrt hatten. Darunter waren „Indianer“-stöcke, große flache Steine als Unterlagen und spitze scharfe Steine als Werkzeug. Dann bearbeiteten sie wieder wie die ersten Menschen die Holzstücke mit den scharfen Steinen. Dabei kamen sie darauf, wozu wohl die Urmenschen diese Werkzeuge benutzt hätten und wie sie sich so scharfe Steine herstellen konnten. Von da aus kamen sie irgendwann weiter zur Entstehung der Steine. Woraus sie sind, wie sie so hart werden, wie die unterschiedlichen Farben der Steine entstehen und wie lange das alles dauert ... Weiter ging’s dann zur Erosion durch Wasser, Wind und Sand und dass ein Stein, der gut in der Erde liegt, wohl nicht so schnell kaputt geht und „länger lebt als wir Menschen“. „Leben Steine, Mami?“ Zwischendurch gingen meine Indianer auf Bärenjagd ... Dadurch kamen wir zum „Problembären“ in Bayern: ob der schon abgeschossen sei, wie 147
Thomas Spiegler
der nach Bayern kam, woher man weiß, wo er herkam, und warum er abgeschossen werden sollte. So ganz nebenbei zeigte mir unsere Vierjährige, dass sie mit Stöcken ein T und ein A legen kann. Sie klopfte mit einem Stein auf Steine und Hölzer und ließ mich die Geräusche erraten ... Die Ältere warf viele Steine zugleich ins Wasser und machte damit „Wassermusik“. Dann sagte sie auf einmal zu mir, sie könnte mit Steinen ihren Namen ... sagen. Sie nahm 3 Steine und warf sie nacheinander ins Wasser. Auch als ich ihr noch 2-3 andere Wörter sagte, warf sie problemlos die richtige Menge Steine ins Wasser, um die Silben anzugeben ... Ich habe auf der Decke gesessen und mich hauptsächlich um unser Baby gekümmert, das war’s! Ich möchte mal die Lehrerin, den Lehrer sehen, der in 3 Schulstunden so entspannt den Kindern soviel LEHRT und die Kinder auch noch soviel Spaß dabei haben.“ (homeschooling_D, 16.06.2006:3400) In derartigen Darstellungen wird das Ideal des „natürlichen Lernens“ deutlich sichtbar. Nahezu jede Aktivität des Kindes wird als Teil eines anhaltenden Lernprozesses betrachtet. Ausgangspunkt dieses Lernens ist das Alltagsleben, das, gemäß dem Unschoolingkonzept, ausreichend Anknüpfungspunkte bietet, um geleitet von der Neugier des Kindes nahezu alle Wissensgebiete zu berühren. Unschooling meint damit also nicht primär eine andere Art von Alltag oder Beschäftigung, sondern eine andere Art, dieses Geschehen zu deuten. Die Umwandlung dessen, was gemeinhin von vielen als Freizeitaktivität, Spielen oder Hobby wahrgenommen wird, in (informelles) Lernen vollzieht sich auch durch eine bestimmte Form der sprachlichen Rekonstruktion. In einem Artikel des Rundbriefs der „Initiative für selbstbestimmtes Lernen“4 beschreibt eine Mutter diese Übersetzungsarbeit. Sie erzählte, was ihre Kinder an einem normalen Tag gemacht haben: Yu-Gi-Oh und Gameboy gespielt, diesbezügliche Informationen im Internet gesucht, zum Karate-, Fußball- und Eiskunstlauftraining gefahren, Bücher über den Zweiten Weltkrieg gelesen und gezeichnet. Sie sagt, dass sie nicht glaubt, dies sei die Antwort, die die „anderen Leute“ erwarten, wenn sie fragen, wie Homeschooling aussieht, und ergänzt: 4
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Im internationalen wissenschaftlichen Gebrauch wird bevorzugt von „Home Education“ gesprochen, in Deutschland ist „Homeschooling“ der häufiger verwendete Begriff. Eine ähnlich bipolare Verwurzelung findet sich auch in der Geschichte der US-amerikanischen Homeschoolbewegung (Vgl. Knowles/Marlow/Muchmore 1992, S. 197) Ein staatlich nicht anerkanntes, aber geduldetes, stark christlich orientiertes Fernlehrwerk. Dabei handelt es sich um eine nicht öffentliche, regelmäßig erscheinende „Zeitschrift“ des Netzwerkes „Initiative für selbstbestimmtes Lernen“ der viele Homeschoolingfamilien (insbesondere diejenigen, die dem Unschooling nahe stehen) angehören.
Lernen ohne Schulraum
„Um ganz ehrlich zu sein: Das erzähle ich ihnen auch nicht. Die Antwort würde eher folgendermaßen lauten: ‚Wir haben uns mit angewandter Mathematik beschäftigt – Lösungsstrategien finden und Logik – und haben außerdem Lesen und Leseverständnis geübt und Sport, Kunst und Geschichte gemacht.‘“ (RB IfsL 2006 Nr. 29, 28) Die Raum- und Zeitbindung, denen das schulische Lernen unterliegt, werden beim Unschooling aufgehoben. Lernen ist keine spezielle Aktivität mehr, die abgegrenzt wird von Nichtlernen. Lernen wird als ein Prozess verstanden, der an jedem Ort stattfinden kann und der sich vollzieht, ohne dass er explizit als solcher benannt und behandelt wird. Damit wird auch die Idee des speziellen Lernraums aufgelöst, stattdessen wird die ganze Umwelt zum Lernraum – oder wie eine Vertreterin dieses Ansatzes es formulierte: „Die Welt ist unser Klassenzimmer“ (I4, Abs. 32). Die einzige Anforderung, die an einen derart universellen Lernraum gestellt wird, ist seine Qualität als ein „anregender“ Raum, der Zugänge zu Wissensbeständen ermöglicht. Insgesamt ist Unschooling in Deutschland ein noch wenig erforschtes Phänomen. Vorliegende Publikationen zum Thema stammen größtenteils aus der Bewegung selbst (vgl. Mohsennia 2004; Neubronner 2008) oder sind Übersetzungen aus dem Ausland (vgl. Thomas 2007). Eine erzählende Darstellung verschiedener Fallgeschichten findet sich bei Keller (1999), ein kurzer Überblick bei Kirchner und Gundermann (2008).
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Lernen und Raum
Lernprozesse sind in unserer Kultur eng verknüpft mit Präsenz in spezifischen Räumen. Bereits die einschlägigen rechtlichen Regelungen spiegeln dies wieder. Das in den Menschenrechten formulierte Recht auf Bildung ist in Deutschland dadurch realisiert, dass Kinder ab dem Alter von 5-7 Jahren für die Dauer von mindestens 9 Jahren einer Schulpflicht unterliegen. In einigen Schulgesetzen wird diese Pflicht durch einen Paragrafen mit dem Begriff „Schulzwang“ unterstrichen, der regelt, dass der Schulbesuch auch durch Zwangszuführung hergestellt werden kann und Zuwiderhandlung einen Straftatbestand darstellt. In der Debatte um Home Education tauchen hierzulande immer wieder Beispiele dafür auf, dass Lernen ohne Schulbesuch nahezu undenkbar erscheint. Lernen bedeutet Schule. Schule wiederum ist die Pflicht, zu einer festgelegten Zeit, einen bestimmten Raum aufzusuchen. Bildung ist operationalisiert als eine quantifizierte körperliche Präsenz im Schulraum. 149
Thomas Spiegler
Die Home Education Bewegung hinterfragt grundlegend die Verknüpfung von Lernen mit Schule, ohne jedoch in jedem Fall die Idee des speziellen Lernraums aufzugeben. Diesbezüglich bildet das hier vorgestellte Unschooling den maximalen Kontrast zum vorherrschenden Bildungsverständnis. Die Ausdifferenzierung in Lernräume und Nichtlernräume, in Pflicht und Freizeit, wird dabei aufgehoben. Anstelle eines bestimmten Raumes wird die gesamte (Lebens-)Welt zum zeitlich unbegrenzten Lernraum erklärt. Lernen wird entgrenzt, deinstitutionalisiert und informalisiert. Aus der Kontrastierung dieser entgegengesetzten Ansätze lassen sich Risiken ableiten, die die enge Verknüpfung von Lernprozess und Raumpräsenz mit sich bringt. Einige sollen hier kurz skizziert werden: Risiko 1: Das Ziel wird überlagert durch eine Fokussierung auf das Mittel. Es ist eine allgemein geteilte Auffassung, dass Schulbesuch den Erwerb von Wissen, Fähigkeiten und Kompetenzen zum Ziel hat. In der Abweisung von Home Education stellte das Hamburger Oberverwaltungsgericht allerdings fest, dass kein Anspruch bestehe auf ein bestimmtes Lern- und Leistungsniveau in der schulischen Bildung. „Der Bildungsanspruch ist auf die Teilnahme an dem vorhandenen Schulwesen beschränkt“ (Az: 1BF 25/04, 27.09.2004). Der Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg argumentierte gegen Homeschooling u. A. damit, dass dies, selbst wenn die Eltern Lehrer sind, nicht zur Erfüllung der Schulpflicht genügen kann, da es „an der organisatorischen Verselbständigung und Verstetigung und an der gemeinsamen Unterrichtung eines im Laufe der Zeit wechselnden Schülerbestandes“ fehlt (Az: 9 S 2441/01, 18.06.2002). Hier überlagert, mit Mertons Typologie individueller Anpassung (1968) gesprochen, die Betonung der institutionalisierten Normen (Teilnahme an Schule in herkömmlicher Form) die Bedeutung der kulturellen Ziele (Bildungs- und Kompetenzerwerb). Risikio 2: Die Rolle der Schule für den Lernprozess wird überschätzt. Schulen spielen in der gegenwärtigen Gesellschaft für den Erwerb von Wissen und Fähigkeiten eine zentrale Rolle. Daraus lässt sich jedoch nicht ableiten, dass sie eine zwingende Voraussetzung für den Bildungsprozess darstellen. In manchen Argumentationen aus der Home Education Debatte erscheint die gegenwärtige Regelung der Schulpflicht als unverzichtbare Bedingung für den Erwerb von Bildung und sozialer Kompetenz und in der Steigerung dessen als Voraussetzung für den Fortbestand der demokratischen Grundordnung und der wirtschaftlichen und sozialen Wohlfahrt der Gesellschaft (BayVerfGH, Az: Vf.73-VI-01, 13.12.2002). Die Fallbeispiele aus der Homeschoolbewegung zeigen, dass auch ohne Schulbesuch Wissen und Kompetenzen auf hohem Niveau erworben wer150
Lernen ohne Schulraum
den können. Selbst mit dem vom Lernraum gelösten Unschooling ist Bildung möglich. Diese Beispiele rechtfertigen keinen Vergleich der Ansätze, aber sie genügen zur Falsifikation der Annahme, dass der Lernort Schule unersetzbar ist. Risiko 3: Das schulische Raummonopol limitiert individuelle Chancen. Die Einforderung des Lernens im Schulraum schränkt die Bildungschancen zumindest all jener ein, für die sich dieses Setting als nur begrenzt geeignet erweist (so auch Reich 2002). Kinder mit abweichenden Lernbedürfnissen (Hochbegabung oder Lernschwierigkeiten) scheitern mitunter an den engen Grenzen des Schulsystems. Auch für Kinder mit ADS/ADHS sind die Disziplinierungsanforderungen des Kollektivunterrichts im traditionellen Schulraum eine Hürde, die sich meist negativ auf den Lernprozess auswirkt. Risiko 4: Relevanz und Potential informeller Lernprozesse werden nicht angemessen berücksichtigt. An dieser Stelle bringt die Forschung zum Thema Home Education ähnliche Resultate wie Studien zu informellem Lernen. Dohmen nannte dieses eine „vernachlässigte Grundform menschlichen Lernens“ (vgl. 2001). Es wird die Forderung aufgestellt, dass die Schulen mehr situatives und eigeninitiatives Lernen ermöglichen (vgl. Wahler/Tully/Preiß 2004, S. 204). Daneben wirft die Homeschoolforschung die Frage auf, ob derartiges Lernen nicht auch als (regulierte) Alternative zum Schulbesuch zugelassen sein sollte. Bisher bestehen in Deutschland kaum Möglichkeiten, derart informell erworbenes Wissen anerkannt zu bekommen. Die zentrale These dieses Beitrags besagt, dass das vorherrschende Verständnis von Lernen in Deutschland eine sehr starke Fixierung auf Schulraum beinhaltet. Diese ist unter bestimmten historischen Bedingungen gewachsen und hat unter der Anforderung der effektiven und effizienten Realisierung einer allgemeinen Schulpflicht ihre gegenwärtige Gestalt angenommen. Aus dem Charakter des Gegenstandes heraus lässt sie sich jedoch nur bedingt legitimieren. Ordnungswidrige Bildungsformen, die diese Raumbindung auflösen weisen auf Grenzen des Bildungssystems hin und hinterfragen durch die Herstellung widersprechender Fälle den kollektiven Mythos der alleinbildenden Schule und ihrer starren Raumfixierung.
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Thomas Spiegler
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Lernen ohne Schulraum
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IV
Wahrnehmung, Praktiken, Kultur: Schulbauliche Wirkmächtigkeiten
Christian Rittelmeyer
Schulbauten als semiotische Szenerien: Eine methodologische Skizze 1
Die Rhetorik von Schulbauten
In seinem Werk „Der Symbolbegriff in der neuen Ästhetik“ fragte Johannes Volkelt (1876) nach den Bedingungen, die ein Gebäude schön, angenehm oder sympathisch erscheinen lassen. Einen wesentlichen Grund für die Wohlgefälligkeit bestimmter Bauten erblickte er darin, „dass sie einen ‚intellectuellen Zusammenhang‘ anschaulich machen. Die Momente dieses ‚intellectuellen Zusammenhanges‘ sind: Einheit in der Mannichfaltigkeit überhaupt, Consequenz und Contrast, Spannung und Lösung, Erwartung und Überraschung, Gleichheit und Gegensatz.“ Dabei sind, so der Verfasser, sowohl epistemische als auch ethische Botschaften wirksam (ebd., S. 65). Die Architektur von Gebäuden (einschließlich ihrer Farbegebung, ihres Dekors, ihrer unmittelbaren Umfeldgestaltung, ihrer Belichtung und Beleuchtung sowie ihres Inventars) entspricht oder widerspricht demnach grundlegenden kognitiven, aber wohl auch emotionalen und sozialen Bedürfnissen der Betrachter. Mit anderen Worten und auf Schulbauten bezogen: Die Schularchitektur bringt jeweils spezifische Botschaften zum Ausdruck. In ihr werden grundlegende Bewusstseinsfiguren und Begriffe anschaulich inszeniert, wenngleich diese Mitteilungen vermutlich in der Regel nur unbewusst wahrgenommen werden. Wenn beispielsweise eine Schulbaufassade von Schülern als brutal, abweisend oder langweilig beurteilt wird, ist dies ein Anzeichen für in ethischer Hinsicht problematische und in epistemischer Hinsicht dürftige Botschaften der Architektur. Der von Volkelt betonten „Einheit im Mannigfaltigen“ (z.B. in einem auskomponierten, seine heterogene Elemente stimmig verbindenden Schulbau) steht die „chaotische Mannigfaltigkeit“ (etwa in Gestalt eines „zusammengewürfelten“ Inventars) oder die serielle Gleichartigkeit (etwa einer Raster-Fassade) gegenüber. Dass die Wahrnehmung der erstgenannten Eigenschaft positive Gefühle und Assoziationen, die der beiden anderen Attribute Antipathien hervorruft, könnte man auf Kants Analyse sowohl der teleologischen als auch der ästhetischen Urteilskraft beziehen (Kant 1968): Weil unser Erkenntnisvermögen immer auf das Auffinden einer inneren Zweckmäßigkeit seiner materiellen oder immateriellen Gegenstände gerichtet ist („Einheit im Mannigfaltigen“), muss 157
Christian Rittelmeyer
deren gegenständliche Darstellung Wohlgefallen auslösen. Gebäude sind demnach immer auch Zeichensysteme, die den Suchbewegungen des menschlichen Bewusstseins und Urteilsvermögens entsprechen oder widersprechen. Diese rhetorische Signatur von Schulbauten hat auch die Architekturpsychologie entdeckt: Bauten erscheinen befragten Schülerinnen und Schülern beschwingt, traurig, brutal, geschwätzig, lebendig, erstarrt, verspielt, trostlos, gewalttätig, gesichts- oder charakterlos usw. In einem gewissen Sinn begegnen die verschiedenen Raumgestalten in Schulen ihren Nutzern als „Interaktionspartner“, als z.B. bedrängende oder freilassende, düstere oder heitere Umgebungsfiguren (vgl. auch Rittelmeyer 1994, 1996, 2004). Diese erlebten Botschaften der Schularchitektur werden wie die von Lehrern bewertet – in der Regel geschieht das allerdings unbewusst und macht sich in bestimmten (positiven oder negativen) Grundeinstellungen zur Schule, im atmosphärischen Empfinden der Baugestalt bemerkbar. So führen z.B. brutal, gesichtslos, abstoßend, hektisch oder arrogant wirkende Bau- und Farbelemente zu antipathischen Grundstimmungen. Das mag die inzwischen zahlreichen Befunde der internationalen Schulbauforschung erklären, nach denen in positiv bewerteten Schulgebäuden bessere Leistungen erzielt und seltener vandalistische Aktivitäten der Schüler registriert werden. Auch über gesundheitliche Beeinträchtigungen durch bestimmte Schulbauformen wurde berichtet (vgl. die Forschungsüberblicke in Rittelmeyer 2008 und 2009a; exemplarisch Kuller/Lindsten 1992). Sogar die neurowissenschaftlich untermauerte These, dass die für empathische Fähigkeiten grundlegenden Hirnstrukturen durch anregungsreiche und dynamisch wirkende Schulbauten stärker ausgebildet werden als durch anregungsarme und charakterlos anmutende „School Boxes“, wurde vorgetragen (vgl. Sylwester 2007). Aber nicht nur Befunde der Architekturpsychologie, auch die Lektüre beispielsweise von Artikeln in Fachzeitschriften (Baumeister, Bauwelt usw.) macht deutlich, dass ebenso Architekten derartige rhetorische Muster in Bauten wahrnehmen und die Gebäude entsprechend qualifizieren: Da ist z.B. die Rede von „Architekturrüpeleien“ oder von Bauten, die sich „verschüchtert in die Auelandschaft kuscheln“, von „Wohnbauten, die sich selbstbewusst in die Umgebung stellen“ und „auf die Bewegung der Landschaft reagieren“. Wir lesen von einer „unaufgeregten und zugleich sachlichen, dabei pfiffigen“ Architektur, von „schwatzhaften Inneneinrichtungen“ und von einem „würdevollen, zurückhaltenden Ambiente“. Die „gefühlsschwangere Plastizität der Pfeiler und Laibungen“ begegnet uns ebenso wie die „ironisch überspitzte und graziöse“ Fassadenansicht. – Im Internetforum DesignShare – Designing for the Future of Learning (www.designshare.com), in dem Praxis-Berichte und neue Literatur zur Gestaltung von zukunftstauglichen Schulen ausgetauscht werden, ist eine Rubrik „Language of School Design“ zu finden. 158
Schulbauten als semiotische Szenerien
Die „Sprache der Architektur“ ist ein Topos auch in der Architekturtheorie und wird dort vielfältig thematisiert. So zum Beispiel wenn Charles Jencks von der Sprache der postmodernen Architektur spricht (1977), Daniel Libeskind die symbolische Ausdruckskraft seiner Bauten beschreibt (1995), Alessandro Carlini und Bernhard Schneider Die Stadt als Text analysieren (1976), Alexandros Lagopousos über das Verhältnis von Raum und Metapher nachdenkt (2003), Renato de Fusco die Architektur als Massenmedium beschreibt (1972) oder Ashgar Talaye Minai bauliche Arrangements als kommunikative Milieus analysiert (1984). Die Wahrnehmung derartiger Botschaften erfolgt nach Johannes Volkelts Meinung allerdings nicht bloß kognitiv. Unser Leibempfinden spielt vielmehr, so seine Vermutung, bei der Architekturwahrnehmung eine erhebliche Rolle. Wenn wir z.B. von der erlebten Starre oder Dynamik eines Schulbaus sprechen, dann liegt dem nicht nur eine rein intellektuelle Deutung zugrunde, sondern ein reales Zusammenspiel von visueller Objektwahrnehmung und der Sensomotorik in Form unseres Bewegungsempfindens (vgl. Volkelt 1905, S. 266 ff.). Eine ähnliche Vermutung hatte wenige Jahre zuvor schon der Kunsthistoriker Heinrich Wölfflin geäußert (vgl. Wölfflin 1946/1886). Auch diese leibliche bzw. biopsychologische Grundierung unserer Architekturwahrnehmung konnte die Architekturpsychologie bestätigen und aufklären (ausführlich dazu: Rittelmeyer 1994, 2002, 2003). So verändern z.B. verschiedene Klassenraum-Beleuchtungen den Hormonhaushalt von Schülern (vgl. Kuller/Lindsten 1992, Hollwich/Dieckhoes 1972), die Blickmotorik beim Betrachten von Gebäuden provoziert über den Eigenbewegungssinn je nach Bauform spezifische Bewegungsempfindungen (vgl. Rittelmeyer/Krappmann 1994) oder „kalte“ bzw. „warme“ Farbgebungen provozieren bei manchen Betrachtern eine Absenkung oder Erhöhung der Körpertemperatur (vgl. Rittelmeyer 2002). So verbindet sich der visuelle Objekteindruck immer mit (unbewussten) Empfindungen des eigenen Leibes. Das Objekt in seiner wahrgenommenen Rhetorik wird demnach synästhetisch konfiguriert. Die erlebte „Sprache der Architektur“ ist insofern tatsächlich immer auch Resultat eigenleiblicher Erfahrungen beim Betrachten oder bei der aktiven Nutzung von Schulgebäuden. Allerdings existieren bisher für die multidisziplinäre Analyse derartiger rhetorischer Figuren in Schulbauten keine anspruchsvollen methodischen Instrumentarien. Zwar gibt es interessante erste Ansätze, architektonische Botschaften zu analysieren, beispielsweise die erlebnisanalytische Interpretation von Hitlers Reichskanzlei bzw. ihrer ikonographischen Zeugnisse von Sören Nagböl (1988) oder die Studie Patricia Tarrs über ästhetische Codes in Vor- und Grundschuleinrichtungen der USA sowie – im Vergleich dazu – Reggio Emilias (vgl. Tarr 2001). Aber eine systematische Erörterung dieses kommunikationstheoretisch 159
Christian Rittelmeyer
orientierten Zugangs existiert nach meiner Kenntnis bisher nicht. Wenigstens einige vorbereitende Bemerkungen möchte ich daher hier vorstellen, die sich – da es bei der Architekturwirkung immer um Zeichen und ihre Botschaften geht – als semiotisch bzw. semiologisch orientierte Überlegungen bezeichnen lassen.1
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Die semiotische Analyse von Schulbauten
In seiner wegweisenden Einführung in die Semiotik hat Umberto Eco (1972) auf die grundlegende Differenz sprachwissenschaftlich identifizierbarer Botschaften (langue und parole) zu den Botschaften visueller Gebilde in Gestalt visueller Codes hingewiesen (ebd., S. 197 ff.). Codes nennt er konventionalisierte Bildsprachen, die aus genau diesem Grund wenigstens in Teilkulturen kommunizierbar, d.h. intersubjektiv sind. Wenn Schulbauten, die Eco in seinem Kapitel über die Architektursemiotik allerdings nicht thematisiert, durch ihre jeweilige Machart Botschaften signifizieren, so müssen sie, wenn eine intersubjektive Lektüre durch Betrachter möglich sein soll, ebenso kodifiziert sein wie die Entschlüsselungsmodi der Wahrnehmung selber. Botschaft wie Lesart bedienen sich also konventioneller Codes, nur dann verstehen wir Architektur und können sinnvoll darüber mit anderen kommunizieren. Dagegen sind idiosynkratische Darstellungs- und Lesarten nicht oder nur eingeschränkt kommunizierbar, können aber neue Lesarten provozieren. Die Semiotik hätte im Hinblick auf den Schulbau beispielsweise zu untersuchen, welche konventionalisierten Codes die visuelle Lektüre etwa der „Einheit im Mannigfaltigen“ bei Betrachtung eines Festsaals ermöglichen, oder wie dieser Begriff in den Bauformen, Farben, im Interieur und Dekor des Raumes visuell kodifiziert ist. Ich möchte nun aus Umberto Ecos Analysen einen Hinweis aufgreifen, der mir in forschungspraktischer und auch architekturpsychologischer Hinsicht ertragreicher zu sein scheint als die ausführliche Unterteilung verschiedener architektonischer Codes, die der Autor entwickelt.2 Es ist die Systematisierung der Funktionen von Botschaften, die Eco – etwas abgewandelt – von dem Linguisten Roman Jacobson übernommen hat. Eco greift aus dem System Jacobsons 1
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In der Deutschen Gesellschaft für Semiotik gilt die Architektursemiotik als Teil einer noch zu begründenden interdisziplinären Architekturwissenschaft. Vgl. www.semiotik.eu (2008) sowie Dreyer 2003. Historisch auch Gleiter 2008, S. 13. Ein solcher Code, der „Verhaltensweisen in Gang setzt“, ist z. B. die Treppe: Sie wird denotiert als Reiz, die Füße in einer bestimmten Weise zu bewegen, um aufzusteigen (Eco 1972, S. 299 ff.).
Schulbauten als semiotische Szenerien
allerdings nur eine der semiotischen Funktionen, die ästhetische, heraus und diskutiert diese dann ausgiebig. Das semiologische Analyse-System nach Jacobson unterscheidet die folgenden Funktionen von Botschaften: a) die referentielle b) die emotionale bzw. expressive c) die appellative bzw. imperative d) die phatische bzw. kontaktbestimmende e) die metasprachliche f) die ästhetische. Meine Frage ist nun, ob die Analyse von Botschaften der Schularchitektur in einer heuristisch ertragreichen Weise nach Maßgabe dieser Systematik vorgenommen werden kann. Dieser Frage kann hier nur in Form einiger Hinweise nachgegangen werden. Für weitere, hier aber schon angedeutete Forschungen scheint mir darüber hinaus die Frage interessant zu sein, ob mit der derzeitigen Wandlung unserer „Schullandschaften“ auch Veränderungen des Gewichtes einzelner Typen dieses Registers zu erwarten oder auch zu wünschen sind (Stichworte dieser Veränderung sind z. B.: Selbständiges Lernen, Lernlandschaften, Rekreationszonen, Flexibilisierung der Raumnutzungen, Ganztagsbildung, Schulverbünde, Kooperationen mit außerschulischen Einrichtungen, Bewegte Schule/bewegtes Klassenzimmer, transparente Räume, Cluster von Arbeits-, Ruhe- und Klassenzonen, neue Technologien). Man sollte mit solchen Schlagworten nicht affirmativ umgehen – Begriffe wie Multifunktionalität oder Clusterstruktur waren auch schon in den 1970er Jahren Leitbegriffe und Dirigenten der trostlosen „Fabrikbauten“, in deren Ambiente inzwischen einige Lehrer- und Schülergenerationen gelitten haben (vgl. Rittelmeyer 2009). Zunächst aber sollen die einzelnen Funktionen visueller Botschaften am Beispiel der Schularchitektur charakterisiert werden: a) Botschaften haben eine referentielle Funktion, wenn sie auf Sachverhalte, Dinge, Personen, historische Verhältnisse, Ideen etc. hinweisen: Schüler bekunden z.B., bei Betrachtung eines kasernenartigen Schulgebäudes mit serieller Fenstergestaltung (Signifikant), hier werde Gleichmacherei bzw. Entindividualisierung angezeigt (Signifikat oder Referent). Das gleiche Bauwerk kann natürlich auch anderen referentiellen Lektüren unterworfen sein – z.B. könnten Architekten die Fassade als Inszenierung der Chancengleichheit deuten. Die unterschiedlichen Codes bei der visuellen Lektüre 161
Christian Rittelmeyer
von Schulbauten, die zahlreiche Architekten auf der einen und die Nutzer auf der anderen Seite aktivieren, sind ein Hauptproblem der Schulbau-Praxis und Ursache zahlreicher Missverständnisse zwischen beiden Gruppen (vgl. Rittelmeyer 2009). Ein Forschungsüberblick des Design Councils London zeigte, dass die unterschiedlichen Sichtweisen (semiotisch: Bildlektüren) von Architekten und Nutzern ein Kardinalproblem des Schulbaus darstellen (vgl. Higgins u. a. 2005). Ein anderes Beispiel für referentielle Botschaften: Es gibt eine internationale Schulbau-Diskussion zur Frage, ob man einen internationalistischen oder einen regionalistischen Schulbau favorisieren sollte.3 Bauten der erstgenannten Art verweisen häufig auf ein technokratisches Verständnis von Erziehung, also auf einen bestimmten Zeitgeist oder mentalen Habitus, der zugleich durch sie „gelehrt“ wird. Typisch dafür sind kubische Rasterbauten („School Boxes“ in der Terminologie von US-Kritikern), bei denen neuerdings „kalte“ Materialien wie Stahl und Glas vorherrschen. Dagegen gibt es zahlreiche Schulbauten, die erkennbar regionale Traditionen zitieren, sei es modernisiert oder perpetuiert: die Waldorfschule Stavanger (Norwegen), die in ihren dynamischen, originären Formen unter anderem die Stabkirchen-Architektur zitiert (Abbildung in Kroner 1994, S. 109), oder auch eher traditionale Innenraum-Gestaltungen etwa in Schulen Baschkortostans (Russland) mit einem typischen lokalen kunstgewerblichen Interieur. In Südkorea gibt es eine Besinnung auf konfuzianische Lehr- und Lerntraditionen – das Ambiente entsprechender Schulen ist erkennbar auf innere Ruhe, auf den Kontakt mit der Natur, auf Selbststudium und dynamische Harmonie gerichtet (vgl. die Internet-Präsentation der Dosan Seowon-Schule sowie Song 2005). Betrachtet man solche Beispiele als Ausländer, so wird unmittelbar erkennbar, dass die Referenz hier im lokalen mentalen Habitus, ebenso in andersartigen pädagogischen Ideen besteht, die ikonisch und symbolisch repräsentiert sind. Auch historische Analysen des Schulbaus sind in der Regel mit solchen rhetorischen Ausdrucksgestalten befasst, beispielsweise wenn untersucht wird, welche referentiellen Botschaften in Schulbauten der Kaiserzeit oder der 1970er Jahre zum Ausdruck kommen (dazu auch Rittelmeyer 1994, S. 78 ff.; Jelich/Kemnitz 2003).
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Diese Diskussion wird unter anderem im Rahmen internationaler Kongresse beispielsweise des „Programme on Educational Building“ (PEB) der OECD ausgetragen.
Schulbauten als semiotische Szenerien
b) Affekte, Emotionen, Stimmungen, die durch architektonische Botschaften erzeugt bzw. angeregt werden, kennzeichnen deren emotionale (emotive) bzw. expressive Funktion: Man denke beispielsweise an die Rede von einem überwältigenden Bauwerk, von einem bedrückend wirkenden Flur, von einer abstoßenden Fassadengestaltung oder von einem gemütlichen KlassenraumAmbiente. Wo Sympathien und Antipathien durch die Architektur erregt werden, sprechen wir von ihrer emotionalen oder expressiven Funktion: Sie bringt etwas besonders ausdrucksstark zur Anschauung und weckt damit positive oder negative Gefühle. c) Architektonische Botschaften erhalten eine appellative bzw. imperative Funktion, wenn sie die Form von Forderungen, Direktiven, Befehlen, Regelvorschriften oder handlungsleitenden Bitten annehmen: Beispiele sind Verbotsschilder oder ein Schul-Inventar, das bestimmte Schülergruppierungen zulässt, andere verhindert (etwa soziofugale oder soziopetale Sitzanordnungen in Pausenhallen). Flure mit oder ohne Ausblick ins Freie begrenzen oder erweitern die visuellen Explorationsmöglichkeiten von Kindern; Treppen mit hohen oder niedrigen Stufen zwingen zu bestimmten Schrittformen. Vorhandene oder fehlende Spielgeräte auf Schulhöfen, Pausenhallen mit oder ohne Rückzugsecken dirigieren bekanntlich in erheblichem Umfang die Aktivitäten ihrer Nutzer. Auch historische Analysen des Schulbaus sind häufig mit dessen territorialen Imperativen oder mit seinen Appellfunktionen befasst. Bei der Analyse eines Klassenraums in einer einklassigen Elementarschule des 19. Jahrhunderts, durch dessen Längsachse eine Bretterwand gezogen ist, um Jungen und Mädchen voneinander zu trennen, geht es ersichtlich um territoriale Imperative der Geschlechter-Kommunikation und –interaktion (vgl. die Abbildung in Reiser 1984, S. 217. Zu solchen Untersuchungen territorialer Raumdirektiven auch: Ardray 1966; Sommer 1969; Hall 1976; Graumann 1988, S. 177 ff.; Rittelmeyer 1999; Flade 2008, S. 123 ff.; Walden 2008, S. 86). d) Zielt die architektonische Botschaft auf die Herstellung, Sicherung oder Unterbrechung der Kommunikation mit Betrachtern bzw. Nutzern, so hat sie eine phatische bzw. kontaktbestimmende Funktion: Beispiele für diese Funktion sind z.B. Stühle, die wegen ihrer Gestaltung, angenehmen Anmutung oder ergonomischen Funktion zum Hinsetzen „einladen“; oder eine Türklinke, die man gerne anfasst, ein abschreckender Schuleingang, ein monotoner und düsterer Schulflur, in dem man nicht verweilen möchte. Exemplarisch sei in diesem Zusammenhang auch auf den eingangs erwähnten Zusammenhang kognitiver und synästhetischer Wahrnehmung hingewiesen, die in Wahrheit 163
Christian Rittelmeyer
nicht zu trennen sind. Forschungen haben gezeigt, dass manche Schülerinnen und Schüler beim Betrachten antipathisch erlebter Schulbauten mit einer Verengung ihrer Pupille reagierten; dagegen blicken beispielsweise Verliebte einander häufig mit vergrößerter Pupille an, Architekten betrachten Gebäude häufiger mit vergrößerter Pupille als Laien, usw. (vgl. Rittelmeyer 2002, Kap. 2). Mit anderen Worten: Phänomenologisch betrachtet gibt es im Hinblick auf negativ bewertete Objekte ein Zurückziehen oder SichAbschließen des Betrachters – also eine Art visuelle Kontaktabdämpfung. Diese wird ersichtlich nicht bloß provoziert durch – beispielsweise – eine hässliche Schulhalle, sondern konstituiert deren erlebte Hässlichkeit auch sensomotorisch mit. Erst diese Leib-Resonanz macht verständlich, warum es überhaupt zu intensiven Antipathieerlebnissen (oder zu emotional tingierten Sympathie-Erlebnissen) kommt. Solche synästhetischen Verbindungen von visueller und blickmotorischer Rezeption zeigen, dass Autoren wie Volkelt und Wölfflin für derartige Prozesse noch eine Sensibilität entwickelten, die in der gegenwärtigen Architekturpsychologie eher selten anzutreffen ist. Die erwähnten Forschungsbefunde machen ebenso darauf aufmerksam, dass Umberto Eco sich mit seiner strikten Ablehnung anthropologischer Untersuchungsmethoden im Rahmen der Semiotik auf einen Irrweg begeben hatte. So verwundert es nicht, dass neuerdings die anthropologische Sichtweise in der Semiotik an Bedeutung gewinnt, etwa wenn vom „embodiment semiotic turn“ dieser Disziplin gesprochen wird (Stjernfeld 2006, S. 14). Die phatische Wirkung der Architektur offenbart sich also der Forschung gerade auch in Gestalt solcher komplexer synästhetischer Wahrnehmungsprozesse. e) Architektur-Botschaften mit metasprachlicher Funktion kommentieren andere Botschaften, im Schulbau kommentieren sie den Bau oder Baudetails: Beispiele für diese Funktion sind: Die Inschrift „Friedrichs-Gymnasium“ über dem Eingang eines Gebäudes, oder Vandalismus-Spuren, die besonders häufig in als hässlich erlebten Schulgebäuden auftauchen und diese daher auf besondere Weise kommentieren (Rittelmeyer 2009). Bisher weniger in Schulen als z.B. in Museumsbauten findet man auch ironische Kommentare, etwa die berühmte Spitzsäule in der Eingangshalle der Stuttgarter Staatsgalerie, die keinerlei tragende Funktion mehr anzeigt und eine postmoderne Persiflage des „Tragens“ überhaupt, aber auch dieses Gebäudes darstellt. Die künstlerische Ausgestaltung einer Schule kann insofern metakommunikativ wirken, als sie mitteilt: Hier hat man sich Mühe gegeben, das Lernumfeld für euch so angenehm wie möglich zu gestalten. Eine bestimmte Wandbemalung hat unter Umständen nicht nur eine referentielle oder ästhetische, sondern insofern auch eine metasprachliche Funktion, als sie sich selber als 164
Schulbauten als semiotische Szenerien
„typisch Waldorfschule“ oder in anderen Fällen als Signatur des Entertainment-Betriebes charakterisiert: Ich gehöre in diesen oder jenen ideologischen Zusammenhang, lautet dann – metaphorisch ausgedrückt – die ikonographische Selbst-Kommentierung. Die gegenwärtig beliebten Glas-Stahl-Bauten kommentieren sich in der Regel auch selber als inzwischen epigonale, unoriginelle Bau-Floskeln, so wie die Bullaugen, schrägen Kunst-am-BauElemente und Blechdachgauben in den 1980er Jahren als Ausdrucksgestalten des reinen Nachahmungstriebes fungierten. Wie in den vorhergehenden Beispielen, so gilt natürlich auch hier, dass derartige Funktionen intersubjektiv nur dann wahrgenommen werden können, wenn die Wahrnehmenden nach den gleichen konventionalisierten Codes denotieren oder assoziieren. f) Die architektonische Botschaft hat eine ästhetische Funktion, wenn sie auf sich selbst verweist: Umberto Eco definiert die ästhetische Botschaft als autoreflexiv (Eco 1972, S. 145 ff.). Damit ist gemeint, dass wir beim Betrachten des Bauwerks auf dessen Machart, auf seine Gestaltungsprinzipien aufmerksam werden, weil sie uns beeindrucken oder weil wir sie als schön empfinden. Charakteristisch für diesen Eindruck ist, dass er sich zunächst unmittelbar einstellt und uns, da wir die Gründe für dieses Wohlgefallen nicht kennen, zum anschauenden Nachdenken über dessen Ursachen anregt. Autoreflexivität hat insofern Ähnlichkeit mit der „Begriffslosigkeit“ des ästhetischen Urteils in Immanuel Kants Ästhetik: Der Einbildungskraft ist ein Schönheitseindruck unmittelbar gegeben, aber der Verstand „weiß“ nicht, wie es zu diesem Eindruck kommt. Daher werden Verstand und Einbildungskraft in ein reflexives Spiel versetzt (Rittelmeyer 2005, S. 147 ff.). Es entsteht eine für die Betrachtung „produktive Ambiguität“, die unsere „Aufmerksamkeit anspornt“ und unsere Interpretationsbemühungen anregt. „Eine Botschaft, die mich in der Schwebe zwischen Information und Redundanz hält, die mich zu der Frage treibt, was das denn heißen soll, während ich im Nebel der Ambiguität etwas erblicke, was auf dem Grunde meine Decodierung leitet, eine solche Botschaft beginne ich zu beobachten, um zu sehen, wie sie gemacht ist“ (Eco 1972, S. 146 f.). Daher sind ästhetische Botschaften, semiologisch betrachtet, immer Idiolekte, d.h. noch nicht kulturell kodifizierte Phänomene, die allerdings neue Lesarten und Bauformen anregen können, die ihrerseits zu konventionellen, also intersubjektiv verständlichen Bau-Codes werden können (ebd., S. 145 ff., S. 310). Man mag in diesem Zusammenhang an den Hinweis Christiaan Hart Nibbrigs (1978, S. 11) denken, dass Kunstwerke wie Antworten anmuten, zu denen die Fragen erst gesucht werden müssen. Schulbauten sind allerdings Zweckbauten, zeigen also immer auch diese Referenz und können daher nur eine, wie Kant 165
Christian Rittelmeyer
sie nannte, „adhärierende“, also keine ausschließlich ästhetische Botschaft zeigen (Kant 1968, § 16, S. 88 ff.). Diese spezifische Definition ästhetischer Botschaften genau zu beachten, ist für die semiologische Analyse von Schulbauten sehr wichtig, da zahlreiche Hinweise z.B. auf ästhetische Innenraumgestaltungen oder auf ästhetische Codes im Sinne dieser Definition gar nicht oder allenfalls rudimentär auf ästhetische Phänomene bezogen sind: Gemeint sind häufig expressive Botschaften (intensive Farbräume, Blumenpracht im Garten) oder referentielle Aspekte wie „Kinderfreundlichkeit“ oder die Durchdringung von Innen- und Außenraum als Bild der Einheit von Schule und Umgebung (Tarr 2001). Schulbau-Beispiele, die diese ästhetische Funktion zeigen, sind nach meinem Eindruck neben anderen die Bauten des Architekturbüros Hübner (vgl. Hübner 2005; Blundell Jones 2007), aber auch Hans Holleins postmodernes Grundschulgebäude in Wien (Teilabbildung in Kroner 1994). Wie kann diese semiotische Systematik für Theorie, Erforschung und Planung von Schulbauten nützlich werden? Zunächst eine Vorbemerkung: Die semiologische Analyse von Schulbauten kann nur eine Methode neben anderen sein. Auf bewährte architekturpsychologische Forschungs- und Evaluationsmethoden wie die phänomenologisch orientierte Erlebnisanalyse (Nagböl 1988), die „Post Occupancy Evaluation“ (POE), die apparative Messung physiologischer Wirkungen von Schulbau-Milieus (vgl. die Bemerkungen zu Funktion d) oder die systematische Befragung mit Hilfe von Fragebogen, Interviews, Semantischen Differentialen kann eine anspruchsvolle semiotische Analyse letztlich nicht verzichten, wenn ihre Interpretationen empirisch abgesichert werden sollen (zur Übersicht: Flade 2008; Rittelmeyer 1994, 2002; Jacobsen u. a. 2008; Walden 2008). Die folgenden Bemerkungen müssten insofern in einem umfassenderen Forschungszusammenhang situiert werden, der bisher nach meiner Kenntnis in der Schulbau-Diskussion nicht thematisiert wurde.
3
Die Register schularchitektonischer Botschaften
Konzentriert man sich jedoch vorerst einmal auf die genannten sechs Funktionen architektonischer Botschaften, dann scheint für einen „Schulbau der Zukunft“ (vgl. Walden/Borrelbach 2002, Walden 2009) die Forderung naheliegend, bestimmte Funktionen stärker, andere weniger stark in der Baurhetorik anzustreben. Schulgebäude sollten in referentieller Hinsicht sowohl die pädagogischen Ideen (wie Sozialität, Mündigkeit, Allgemeinbildung, Entwicklungsfähigkeit, 166
Schulbauten als semiotische Szenerien
Offenheit und Toleranz) zum Ausdruck bringen als auch in historischer Hinsicht einen Habitus demonstrieren, der einem fortschrittlichen Bewusstsein verpflichtet ist. „Entwicklung“ z.B. kann nicht durch Rasterbauten symbolisiert oder ikonographisch vermittelt werden, dafür sind vielmehr dynamisch anmutende Bauformen und Farbgebungen die angemesseneren Ausdrucksformen. „Sozialität“, „Toleranz“ kann nicht in Farb- und Formgebungen oder in einem Dekor signifiziert werden, dessen Elemente nicht aufeinander abgestimmt sind, die sich vielmehr wechselseitig „totzuschlagen“ scheinen oder die beziehungslos nebeneinander stehen (vgl. Rittelmeyer 2004 mit Bildbeispielen). Solche Beispiele machen deutlich, dass man in dieser Hinsicht genaue ikonologische Interpretationen z.B. einer Treppenhaus- oder Säulengestaltung zu leisten hätte, ergänzt um darauf bezogene strukturierte Befragungen, durch die geklärt werden muss, ob die ikonologisch ermittelten rhetorischen Muster tatsächlich von Nutzern auch so erlebt werden. Neuerdings ist im Schulbau eine zum Teil geradezu bedrängende Farbrhetorik verbreitet, die in ihrer suggestiven Kraft derartig starke emotive und auch apellative Funktionen betont, dass sie mit der ästhetischen (für die sie fälschlich oft gehalten wird) und auch mit referentiellen Ansprüchen wie der Idee einer Freiheit des Individuums kollidiert (vgl. Beispiele in Watschinger/Kühlbacher 2007). Die ästhetische Botschaft wird daher immer nur entstehen können, wenn imperative und suggestiv-expressive Botschaften nicht dominieren. Worum es bei neuen „Lernlandschaften“ auch immer gehen mag – die ästhetische Funktion wird insofern immer ein humanes, weil geistig anregendes Korrektiv im Hinblick auf mögliche Dominanzen anderer Funktionen sein. Überblickt man die Schulbau-Entwicklung der letzten Jahrzehnte, so wird man in dieser Hinsicht allerdings interessante Hinweise auf die systematische Veränderung des Funktions-Registers finden. Um eine mögliche historische Forschungsfrage zu nennen: Ich habe den Eindruck, dass sich in den heute oft kritisierten „Fabrik“- oder „Betonbauten“ der 1970er Jahre ein weitgehend schwach ausgeprägtes Botschaften-Register zeigt, das die erlebte Langweiligkeit oder sogar Menschenfeindlichkeit dieser Bauten erklärt. Referenzen auf pädagogisch fortschrittliche Ideen waren darin ebenso wenig zu finden wie expressive, emotional anregende oder auch ironisch kommentierende Botschaften. Ästhetische Ausdruckskraft hatten diese „Schulen zum Fürchten“ (Peters 1980) überhaupt nicht – ihre technische Funktionalität war als Signifikat unmittelbar präsent. Gegenwärtig beobachten wir häufiger den erwähnten Umschlag der einzelnen Register ins Gegenteil: Intensive, bedrängend wirkende Farbräume und hektische baurhetorische Figuren, die fälschlich als ästhetisch gelten, sind anti-ästhetisch, da Einbildungskraft und Verstand in suggestiven Milieus nicht in ein freies Spiel geraten können. Über 167
Christian Rittelmeyer
Kulturanalysen wäre zu klären, welche mentalen Habitus sich möglicherweise in derartigen Funktionsregistern artikulieren, welcher historischen Grammatik sie also folgen (ausführlich dazu am Beispiel antiker Lernlandschaften: Rittelmeyer/Klünker 2005). Vielleicht ist es auch die Aufgabe von Schulgebäuden, in dieser Hinsicht eine zeitkritische (metakommunikative) Attitüde zu repräsentieren. Zur Intensivrhetorik bestimmter Bauten gibt es nämlich auch den Kontrapost: die kühle, von Charles Jencks so genannte „platonische“ Architektur. Oft genug werden die gegenwärtig häufig gebauten, mit Vorliebe blaugrau gestalteten Glas-Stahl-Rasterbauten von Architekten als Inbegriff der Moderne, als Ausdruck der Chancengleichheit und klaren Erkenntnis stilisiert, während sie von all dem doch – wie die semiotische und empirische Schulforschung zeigen – das genaue Gegenteil sind.
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Schulbauten als semiotische Szenerien
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Schularchitektur und rituelle Raumpraktiken Schulbauten werden selten mit denen gemeinsam entworfen, die sie nutzen, und überdauern zumeist viele Schülergenerationen. Nicht nur ein kulturell-historischer Rückblick auf die Schulentwicklung und den damit einhergehenden Wandel pädagogischer Konzeptionen, auch die aktuellen bildungspolitischen Diskurse „nach Pisa“ (Überlegungen zu räumlich-strukturellen Veränderungen sowie zur inhaltlich-formalen Verbesserung der Bildungschancen) weisen darauf hin, dass Schulraum und Bildungsraum nicht unabhängig voneinander gedacht werden können. Die unterschiedlichen Bedeutungsebenen machen evident, dass (Schul-)Raum bzw. (Schul-)Wirklichkeit sozial konstruiert sind, indem Menschen und Räume in vielfältiger Weise aufeinander einwirken. D.h. sowohl Dinge als auch Personen bilden strukturierte und strukturierende Elemente der Raumkonstitution. Zunächst markiert der kartographisch gekennzeichnete Ort der Schule einen gesellschaftlich verankerten und institutionell verfügbaren Raum, dem ein bestimmtes Territorium zugeordnet ist (vgl. Bollnow 1963/2004, S. 38). Zudem konstituiert Raum sich in Zeit-Raum-Konfigurationen; pädagogischer Raum verbindet dabei in besonderer Weise die Zeitdimensionen der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, insofern er durch spezifische Bildungsangebote auf eine (zukünftige) Transformation des Menschen zielt (vgl. Göhlich 1999). Darüber hinaus stellt (Schul-)Raum als gestalteter und affektiv erlebter Raum ein „prozesshaftes Phänomen“ dar, das über „repetetive Handlungen (...) räumliche Strukturen reproduziert“ und institutionalisiert (Löw 2001, S. 263). Die ZeitRaum-Verknüpfungen werden in die Körper der Menschen eingeschrieben (vgl. u.a. Wulf 2005) und stellen durch ihre spezifische Ordnung, ihre Struktur einen Entfaltungsraum bereit, der nach subjektiv-relativen Bewertungen gemessen wird (vgl. Bollnow 1963/2004, S. 37). In dem Wechselverhältnis zwischen Außen und Innen, zwischen objektiven Tatsachen und subjektivem Handeln und Empfinden, genauer, mit den Determinanten von Zeit, Ort und Menschen wandelt sich Raumbedeutung immer wieder: (Bildungs-)Raum ist performativer Raum (vgl. u.a. Wulf/Zirfas 2007; Wulf et al. 2006; Wulf 1999a). Dabei entsteht in der Reziprozität zwischen „konstruierend-wahrnehmenden“ Akteuren und der „symbolisch-materiellen“ Wirkung des Wahrgenommenen (vgl. Löw 2001, S. 229) die atmosphärische Qualität des Raumes, die das Wohlbefinden zumeist
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jenseits bewusster Reflexion beeinflusst (ebd.). Dies wird besonders deutlich im rituellen Raum, der als spezifisch „gestimmter Raum“ (Bollnow 1963/2004, S. 229 ff.) in verdichteter Weise Stimmungen, Gefühle und Verhaltensweisen hervorzurufen vermag, die sich über Bildungs- und Lerninhalte hinaus auf die Sozialität der Gemeinschaft auswirken. Im Folgenden sollen einige der konstitutiven Aspekte des Raumbegriffs aufgegriffen und anhand empirischer Daten erläutert werden. Die Primarschule, mit der wir seit 1999 intensiv zusammenarbeiten, liegt in einem dicht besiedelten Berliner Innenstadtbezirk, der aufgrund der statistischen Sozialdaten als sozialer Brennpunkt gilt (vgl. Althans 2001). 40-50% der Schüler der Schulgemeinschaft kommen aus verschiedenen Nationen, fast die Hälfte von ihnen lernt Deutsch als Zweitsprache erst im Schulunterricht systematisch. Der Heterogenität aller Schüler geschuldet (Entwicklungsstand, Leistungsniveau und Lerntempo, familiäre Hintergründe, Ethnie, kulturelle Selbstinszenierungen), orientieren sich die Lehrer dieser Schule konzeptionell an reformpädagogischen Traditionen. Neben dezentralisierten, flexiblen Formen der Unterrichtsorganisation in altersgemischten Lerngruppen wird das Schulleben bestimmt durch die reformpädagogischen Grundformen des Lernens „Arbeit, Gespräch, Spiel und Feiern“, die den Wochen- und Jahresrhythmus strukturieren (aus dem Schulprogramm der Schule). Multikulturalität repräsentiert sich hierbei als integrierte Komponente ohne spezifische Akzentuierung; transkulturelle Gemeinschaft generiert unter anderem in Ritualen und rituellen Raumpraktiken (vgl. Zirfas 2004, S. 62; vgl. auch Wulf et al. 2007; 2004; 2001; Kellermann 2008). Die nachstehenden ethnographischen „Momentaufnahmen“ dienen dazu, induktiv eine Beziehung herzustellen zwischen der spezifischen Schularchitektur, den Mitgliedern der Schulgemeinschaft, den rituellen Handlungspraktiken und der dieser Schule eigenen atmosphärischen Aufladung, um das zugrunde liegende Verständnis eines performativen Raumbegriffs nachvollziehbar zu machen.
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Die Schule – Territorium oder Raum?
Von der Straße aus reiht sich das Schulhaus in die Häuserreihe ein und ist kaum als solches zu erkennen; fast dezent sind die Lettern des Schulnamens an seiner Vorderfront angebracht. Lediglich größere, im Erdgeschoss nach oben hin gerundete Fenster sowie die bunten Eingangstüren weisen eher versteckt auf eine Differenz zu den umliegenden Wohnhäusern hin.
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Schularchitektur und rituelle Raumpraktiken
Abb. 1: Straßenansicht der Schule
Abb. 2: Schulhof
Der Schulhof, von der Straße aus nicht einsehbar, ist durch Häuserzeilen nach allen Seiten räumlich-materiell begrenzt. Gleichzeitig stellt er, wie auch die sich seitlich auf dem Schulhof befindende Turnhalle, das gemeinsam genutzte Bindeglied zu einer gegenüberliegenden Grundschule dar. Pausen- und Hallenzeiten sowie außerunterrichtliche Schulhofnutzung erfordern demzufolge aufeinander abgestimmte verbindliche Absprachen. Die Schulen haben keine gemeinsamen Berührungspunkte, auch das alljährliche Freiluft-Sommerfest der hier vorgestellten Schule findet schulintern auf dem Schulhof statt. Interessant ist hierbei, dass die jeweilige Schule Schulhof und Turnhalle als Teil des eigenen Schulraums wahrnimmt. Im Schulhaus selbst befinden sich zwei Treppenflure jeweils an den Enden des Gebäudes. Dazwischen erstrecken sich die Klassen- und Fachräume über drei Etagen. Der Treppenabsatz jeder Etage ist mit Wandbild und Tischgruppe wohnlich gestaltet; Schülerarbeiten schmücken die Vitrinen, die neben dem Lehrerzimmer im Flur des Erdgeschosses stehen. „Die Arbeiten der Kinder wirken ‚dekorativ‘, sie fügen sich in das Gesamtbild ein (...). Auf den Treppen zirkuliert der Schülerverkehr, der sich von Raum zu Raum bewegt, das Schulleben summt und pulst gewissermaßen in diesen [zwei Treppen-]Kanälen, es erscheint als einheitlicher Organismus.“ (Althans 2001, S. 33) Wovon sprechen wir also, wenn wir von Schularchitektur, Schulraum oder Schule reden? Woraus ergibt sich das „Gesamtbild“, das als „einheitlicher Organismus“ erscheint? Es ist offenkundig, dass nicht einzelne Territorien, Räume, Gegenstände oder Menschen den SchulOrt repräsentieren. Denn das, was wir als Schule bezeichnen, wird durch ein Ensemble von Materialität, Sozialität und Imagination konstituiert (vgl. Löw 2001, S. 191 ff.). Dabei resultieren die baulichen Formen, die räumlichen Anordnungen der materiellen Gegenstände sowie spezifische Handlungsmuster (mit ihren Variationen und Modifikationen) aus pädagogischen und politischen Überlegungen zur Verwirklichung
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von Bildungskonzepten – man denke z.B. an die Einführung der allgemeinen Schulpflicht 1920 für alle Kinder an einem separaten, institutionsinternen Ort jenseits familiärem Einfluss, oder auch an räumliche Umstrukturierungen zur handlungspraktischen Umsetzung unterschiedlichster Bildungskonzepte (konventionelle Pädagogik, Freinet-Pädagogik, Humanistische Bildung, u.a.). In der mimetischen Aneignung des Schulraums, in Bewegungen, Handlungen und körperlich-sinnlichen Empfindungen, werden institutionelle Räume zu Orten der Erfahrung und Erinnerung – im Körpergedächtnis gespeicherte individuelle Vorstellungsbilder. Historische Tradierung etabliert kulturell geformte kollektive Imaginationen, die den materiellen Ort mit seinen immateriellen Gehalten verknüpfen (u.a. Wulf 2005). Die Begriffe Schule oder Schulraum bezeichnen folglich einen Raum, der nicht auf einzelne Territorien reduziert werden kann, sondern in ein gesellschaftliches, kulturelles, gemeinschaftliches und individuelles Netz von Relationen eingebunden ist. Als räumlich und zeitlich abgegrenzter Bereich mit einer inneren Eigenlogik stellt Schulraum ein altersspezifisches soziales Feld bereit, dem ein institutionalisiertes und normativ verbindliches Regel- und Wertesystem inhärent ist (vgl. Bourdieu 2005, 1973). Architektur sowie die Platzierung von Dingen und Personen beinhalten infolgedessen auch symbolische Codierungen, die entziffert werden müssen und die soziale Interaktionen beeinflussen. In Raumordnungen manifestieren sich spezifische Machtstrukturen und „Handlungsvorschriften“; d. h. räumliche Strukturen geben immer sowohl territoriale Anordnungen als auch soziale Ordnungen mit ihren Möglichkeiten und Begrenzungen vor (vgl. Ecarius 1999, S. 60; Löw 2001, S. 224). Im Weiteren werden anhand des empirischen Datenmaterials territoriale Settings in Hinblick auf die sozialen Ordnungen und ihre Interaktionsoptionen vorgestellt.
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SchulRaum im rituellen ZeitRaum
Mit einem kulturanthropologischen Ritualbegriff, der die zentrale Bedeutung von (sich wandelnden) Ritualen und Ritualisierungen für die Entstehung, Kontinuität und Veränderung von Gemeinschaften herausstellt und somit auch ihre konstruktive Seite fokussiert, lässt sich Schule als „rituelle Veranstaltung“ begreifen (Wulf 1999a, S. 113). Denn in regelmäßig sich wiederholenden Zeiträumen werden bestimmte wieder erkennbare soziale Handlungen vollzogen, die in einer intendiert emotiv aufgeladenen Atmosphäre über die Sinne in die Körper der Mitglieder eingeschrieben werden und jenseits des Bewusstseins ihre Wirkung entfalten. In rituellen Praktiken wirken Zeit, materieller Raum, die 174
Schularchitektur und rituelle Raumpraktiken
Anordnung von Gegenständen, symbolische Verweise und die beteiligten Körper zusammen. Die Erinnerung Walter Benjamins (1987/2006) an die „Schülerbibliothek“, gibt hierfür ein anschauliches Beispiel: „Diese Bücher mochten gemütlich oder grauenhaft, langweilig oder spannend sein – nichts konnte ihren Zauber steigern oder mindern. Denn er war nicht auf ihren Inhalt angewiesen, lag vielmehr darin, immer wieder mich der einen Viertelstunde zu versichern, um deretwillen mir das ganze Elend des schnöden Schulbetriebs erträglich vorkam. (...) endlich war der Augenblick gekommen, der mich im gleichen Raume, der noch eben Schauplatz meiner Erniedrigung gewesen war, mit jener Fülle von Macht bekleidete, wie sie dem Faust zufällt, wenn Mephistopheles bei ihm erscheint“ (Benjamin 1987/2006, 99-101). Bei der „Schülerbibliothek“ handelt es sich demzufolge um einen rituellen Raum in demselben Klassenzimmer, das durch subjektiv bewertete Wechselwirkungsprozesse soeben noch beengende Pein verursacht hat und nun, in der Pause, mit der exklusiven Befugnis zum Einsammeln und Austeilen (freiwilliger) Schülerlektüre, befreienden Zauber hervorzurufen vermag. Zugleich vermittelt der Verweis auf den „Schauplatz der Erniedrigung“ einen Eindruck von der starren, negativen Seite ritueller Praktiken, die Entwicklungsmöglichkeiten einschränken können – ein Grund, weshalb lange Zeit nicht wahrgenommen wurde, dass es ohne rituelle Praktiken kein Soziales geben kann (vgl. u.a. Wulf et al. 2004, 2001). Die Raumarchitektur ist folglich nur ein Element der Raumkonstitution, erst die Verknüpfung von Zeit, materiellem Raum, Objektivationen sowie die damit assoziierten emotiven Imaginationen machen den Raum zu einem spezifischen Raum.
Abb. 3: Sitzordnung mit Lehrerpult an der Rückfront
Abb. 4: Montagmorgenkreis
Im institutionsinternen Schulraum der hier vorgestellten reformpädagogischen Schule zeigt sich der reflektierte Umgang mit Ritualen und Ritualisierungen bereits in den räumlich-materiellen (An-)Ordnungen (Schreibweise nach Löw 2001, S. 166). So wird die inhaltlich-formal intendierte Dezentralisierung der 175
Ingrid Kellermann | Christoph Wulf
Lehr-Lernsituation durch die Anordnung der Gegenstände im Klassenzimmer zum Ausdruck gebracht: Das Lehrerpult steht hier nicht, wie üblicherweise, frontal vor den Schülertischen und sorgt für eine materiale Grenzlinie bzw. räumliche Distanz zwischen Lehrer und Schüler. Es befindet sich eher versteckt hinter einem Regal im rückwärtigen Teil der Klasse. Auch die Schülertische sind nicht frontal auf den Tafelbereich fokussiert, sechs bis acht Schüler sitzen an Gruppentischen zusammen. Die so bereitgestellte Gruppentischordnung ermöglicht flexible Unterrichtsformen, in denen die Schüler in parzellierten Sozialund Bildungsräumen kooperieren, ihr Arbeitsmaterial selbstständig beschaffen oder Teamarbeit einüben können. Entsprechend der räumlich-symbolischen Reduktion hierarchisierender Markierungen moderiert die Lehrerin den Unterricht dann auch derart, dass die Schüler durch rituelle Praktiken wie gegenseitiges „An-die-Reihe-Nehmen“ oder selbsttätige und eigenverantwortliche Lernformen aktiv daran partizipieren. Trotz der relativen Enge im Klassenraum lassen die Gänge zwischen den Tischen Bewegungsfreiheit, eröffnen vielfältige Interaktionsmöglichkeiten über die eigene Tischgruppe hinaus und stellen Raum für die integrierten Bewegungsphasen bereit. Lehrer, Schüler und Klassenraum einer Lerngruppe bilden dabei ein strukturelles Element, einen Mikrokosmos der Schulgemeinschaft, dessen Gestaltungskontingenzen im Rahmen der Schulkultur begründet liegen. Zyklisch wiederkehrende Interaktionsräume, wie die gemeinsame Frühstückspause vor der Hofpause, die Wochenplanstunden, das „Spiel des Monats“, u.a. sowie die Feste und Feiern, lassen Unterrichtsraum und Unterrichtszeit zum rituellen ZeitRaum werden. Die Rhythmisierung des Schulalltags wird akzentuiert durch spezifische Arrangements, in denen Schüler und Lehrer aufgrund der damit verbundenen Gewohnheiten in unterschiedlicher Aufgabenverteilung zusammenarbeiten (vgl. Kellermann 2008). Diese Arrangements können als rituelle Raumpraktiken bezeichnet werden. Im Gegensatz zu anderen Handlungssituationen ist ihr Vollzug an räumlich-zeitliche (An-) Ordnungen gebunden, die aus wieder erkennbaren (konstanten) und variablen (innovativen) Elementen bestehen. Symbolische Markierungen, wie z.B. der Gong der Klangschale, bestimmte Gesten, Körperhaltungen oder (para-)verbale Äußerungen, verweisen ebenso auf den Zeitrahmen des rituellen Raums wie auch die materiale (An-) Ordnung von Personen und Gegenständen. Entsprechend werden die Gruppenarbeitstische des Unterrichts kurz vor der Hofpause gereinigt, mit einer Stoffunterlage versehen und fungieren für die Frühstückspause als gemeinsamer Esstisch. In dem auf diese Weise hergestellten Setting transformiert die Atmosphäre von der fokussierten (Arbeits-)Konzentration der Schulstunde zu einer mehr informellen Gesprächsrunde. Nach der Hofpause verweisen die ruhige Musik und die Stille im Klassenraum auf die Entspannungsphase; der Arbeits176
Schularchitektur und rituelle Raumpraktiken
platz wird mit einem Kissen materiell-symbolisch sowie atmosphärisch in einen introversiven Ruheraum transformiert, indem Körperbewegungen leise ausgeführt und Kontaktaufnahmen zum Tischnachbarn vermieden werden sollen. Die Teilnahme erfordert praktisches Wissen um den modus operandi und die damit verbundenen Verhaltensordnungen und Praktiken. In der Eröffnungsphase des Unterrichts beispielsweise bedeutet die vor der Klasse stehende Lehrerin den Schülern, Aufmerksamkeit demonstrieren, zuzuhören und still sitzen zu sollen. In anderen Handlungszusammenhängen kann die gleiche Haltung genau das Gegenteil signalisieren: die Erwartung an lebhafte Mitarbeit und zahlreiche Wortmeldungen, die Aufforderung zum Wettbewerb durch Hineinrufen oder die Erlaubnis zum Verlassen des Platzes. Rituelle Praktiken wie diese werden durch mimetische Bezugnahmen erlernt und über sensuelle Verknüpfungen von Materialität, Sozialität und Imagination als Dispositionen inkorporiert. Das damit erworbene praktische Wissen ermöglicht sinnvolles Handeln, vermittelt Sicherheit und erzeugt ein Gefühl der Gruppenzugehörigkeit, das Bourdieu zufolge zugleich einer Differenzsetzung zu Nicht-Mitgliedern gleichkommt (vgl. Bourdieu 2005). Dies wird evident im Umgang mit der Klassenraumtür, die die Schwelle zur Lerngruppengemeinschaft markiert: Während der Pause und im Unterricht erhalten die Lerngruppenmitglieder ungehinderten Einlass, klassenexterne Personen dagegen müssen ihn erbitten oder anklopfen (vgl. WagnerWilli 2005; Wagner-Willi/Göhlich 2004). Im mimetischen Bezug auf vergangene rituelle Raumpraktiken werden rituelle Räume dabei zu zyklischen Raum-Zeit-Erfahrungen, die in die Zukunft hineinwirken. Die variablen, ludischen Elemente des rituellen Ablaufs, die aus der iterativen Neugestaltung jeden Ablaufs resultieren, bieten Raum für Neues und Unerwartetes. Rituelle Praktiken implizieren eine soziale Ordnung, nach der zudem die gesellschaftlich-strukturellen Machtverhältnisse (re-) produziert werden. Denn mit den Normen, Werten und Einstellungen werden Erwartungshaltungen wie das Recht auf persönliche Integrität, Konflikt- und Kooperationsfähigkeit, Anerkennung des Anderen u.a. normiert, habitualisiert und im Vollzug als „Handlungsgrundsätze“ tradiert. Dabei ist es vor allem die Lehrerin, die Arbeits- und Sozialformen vorgibt, die Zeit einteilt, über Rede- und Raumrechte im Klassenraum verfügt und Verhalten legitimiert oder sanktioniert. Im Gegensatz zu den Wochenplanstunden, deren formal-ritueller Ablauf auf die Einübung und Festigung selbsttätiger Arbeitsorganisation zielt, soll die Lerngruppe mit dem Ritual des Montagmorgenkreises als institutionelle Gemeinschaft (re-)konfirmiert werden. Dabei dienen die materiell-symbolische und inhaltlich-formale Gestaltung der Herstellung einer konzilianten atmosphärischen Aufladung. Im Stuhlkreis konstituiert und begrenzt sich die Lerngruppe performativ durch die räumliche Anordnung der Stühle in einem geschlossenen 177
Ingrid Kellermann | Christoph Wulf
Kreis und präsentiert sich als exklusive Gemeinschaft zusammen mit der Lehrerin, die ebenfalls auf einem Kinderstuhl sitzt. Außenstehende können sich nicht mehr problemlos integrieren, wenn sie nicht dazu eingeladen werden. In der Mitte des Kreises liegt als besonderer Blickpunkt ein buntes Tuch mit Realien oder Arbeitsaufgaben, die – präsentiert als besonderer Wert – auf das Bildungsmaterial der kommenden Wochenarbeit hinweisen. Auf den dicht beieinander stehenden Stühlen haben die Kinder andere Möglichkeiten zur informellen Kontaktaufnahme (sich aneinanderlehnen, necken, tuscheln, schunkeln) sowie mehr körperliche Bewegungsfreiheit als an den Gruppentischen; Bewegungsspiele können spontan und ohne Stuhlrücken durchgeführt werden. Der so hergestellte (visuelle) Raum der Schüler und Lehrer ermöglicht einen gemeinsamen Blick auf die Mitte sowie einen Blickradius zu allen Mitgliedern der Gemeinschaft. Zugleich sind konterkarierende, störende oder widerständige Aktivitäten aufgrund der exponierten Stellung des Einzelnen schneller sichtbar. Die Abwesenheit der Tische und Eliminierung der Tafel verweisen auf die intendierte Unterrichtsform des „Gesprächs“, eine der reformpädagogischen Grundformen des Lernens. Die nivellierende Sitzordnung be-deutet keine hierarchische Nivellierung, wenngleich z.B. das Gespräch durch Zuwerfen oder Weiterreichen des Kuscheltiers, das seinem Besitzer symbolisch das Rederecht erteilt, von den Schülern gelenkt wird oder diese bei Abstimmungen, Besprechungen oder Planungen Möglichkeiten der Mitbestimmung erhalten. Die Stuhlkreissituation enthält mehrere rituelle Sequenzen, mittels derer im zyklischen Wechsel gesellschaftlich-relevante und sozial-integrative Sozialformen eingeübt werden. Sie reichen von persönlichen Narrationen über Bewegungsspiele, wie „Plätze tauschen“, sowie Besprechungen und „Krisensitzungen“ bis hin zum gemeinsam gesungenen Abschlusslied. Spezifische Grundeinstellungen (z.B. das Recht auf freie Meinungsäußerung, Toleranz dem/den Anderen gegenüber), Vorstellungen/ Intentionen (z.B. der gemeinsame Spaß durch Spielphasen und Singen) sowie Erwartungshaltungen (in Bezug auf fachbezogene Gesprächsbeiträge) sind eingebettet in rituelle Praktiken, die im aktuellen Vollzug Differenzen bearbeiten und die Integrität und Kontinuität der Gemeinschaft rekonfirmieren. Im rituellen Raum verdichten sich Raum und Zeit zu einem sinnlich-körperlichen Erleben. Dabei werden im mimetischen Bezug aufeinander gemeinschaftsrelevante Themen, Inhalte und Regeln ebenso wie hierarchische Relationen performativ (re-) produziert. Im Vollzug der schulspezifischen rituellen Praktiken, im gemeinschaftlichen Tun, kommen die ihnen inhärenten symbolischen und immateriellen Gehalte zur Entfaltung, werden auf der präreflexiven Ebene im Körpergedächtnis verankert und wirken daher um so nachhaltiger. In der Wieder-Holung der Praktiken wird die sensuelle Verknüpfung von Raum, Zeit und inneren Vorstellungsbildern zur Ver-Körperung materialer und sozialer 178
Schularchitektur und rituelle Raumpraktiken
Relationen. Als aktuelle Neugestaltung rekurriert die Repetition auf die konstanten Elemente vorheriger Vollzüge, lässt aber immer auch Spielraum für Innovation und Veränderung.
Abb. 5: Sommerfest auf dem Schulhof
Abb. 6: Adventsfeier im Schulhaus
(Raum-)Metamorphosen bei Schulfesten und Schulfeiern: Feste und Feiern sind an der hier vorgestellten Schule laut Schulprogramm ein elementarer Bestandteil des Schullebens. Elternmitwirkung ist dabei als Teil des Schulkonzepts ausdrücklich erwünscht; diese bezieht sich auch auf die Mitgestaltung der alljährlichen Projektwochen (vgl. Blaschke/Ferrin 2007), den Schulunterricht oder die Einschulungsfeier (Zirfas 2004). Mit den wochen- bzw. jahreszyklischen Feiern und Festen soll die Gemeinschaft der Schule gestärkt, Akzeptanz und Toleranz zwischen den verschiedenen Kulturen erreicht und Nicht-Mitgliedern der Schulgemeinschaft ein Einblick in das Schulleben gegeben werden (aus dem Schulprogramm). Wesentliche Elemente der (re-)präsentativen Intention sind die räumlich-materielle Umgestaltung und sinnlich-atmosphärische Aufladung des Schulraums, die sich signifikant von der Unterrichtszeit abheben (sollen). Ein kurzer Exkurs auf Bollnows Ausführungen zum „gestimmten Raum“ soll den in diesem Sinne verwendeten Begriff der Atmosphäre verdeutlichen (vgl. Bollnow 1963/2004, S. 229 ff.). Die besondere Eigenschaft der Gestimmtheit, der Atmosphäre, zeigt sich Bollnow zufolge darin, dass sie als eine Art ZwischenRaum eine Dimension jenseits der Objekt-Subjekt-Perspektive darstellt, da sie weder objektiv von außen noch subjektiv von innen heraus generiert (ebd., S. 231). Vielmehr drückt sich in ihr die Einheit des Menschen mit seiner Umwelt aus, die aus einer Synthese der Raumstimmung und der inneren Stimmung des Menschen erwächst. Mit anderen Worten: Raumatmosphäre, die eigene Befindlichkeit und Raumwahrnehmung beeinflussen sich gegenseitig, wir können uns ihr nur schwer entziehen (ebd.). Atmosphäre wird über die Sinne wahrgenommen und mit dem Körper performativ zum Ausdruck gebracht. Dabei schränkt z.B. Angst oder Be179
Ingrid Kellermann | Christoph Wulf
drückung den Handlungsspielraum ein und entfaltet eine imaginär begrenzende Wirkung, der visuelle, der Bewegungs- und der Körper-Raum werden minimiert (z.B. durch Einengung des Blickraums, physischen Rückzug, Bewegungshemmung, Begrenzung des Nahraums). Freude oder Glück dagegen provozieren einen raumgreifenden Bewegungsdrang und lassen den visuellen, Bewegungsund Körper-Raum imaginär expandieren („die Welt umarmen“ wollen, „aus sich herausgehen“, offener Blick, Öffnung des Nahraums). Darüber hinaus beeinflussen auditive, olfaktorische und haptische Eindrücke das Raumerleben, aus denen Fremdheit oder Vertrautheit, Wohlfühlen oder Missempfinden resultieren. Die Atmosphäre macht den Raum zum Medium, zu etwas „Quasi-Materiellem“ (ebd., S. 274), das zwischen Materialität, Sozialität und Imagination oszilliert. „Atmosphären vermitteln die spezifische Medialität eines Raumes, sind Räume ‚Dazwischen‘: das leiblich empfindende Individuum und die zur Erscheinung kommenden Dinge. Dieses Dazwischen ist imaginär. Ein medialer Raum ist ein imaginierter Raum, ein Raum der Vorstellung, der Phantasie, ein mimetischer Raum (...) collagierender Erinnerung und projektiver Assoziationen.“ (Hasse 1999, S. 38) Während die Atmosphäre im Unterricht unter anderem mittels schulspezifischer ritueller Raumpraktiken die Voraussetzungen für ein gemeinschaftliches, sozialintegratives Leben und Lernen innerhalb der Lerngruppe herstellen soll, gehen die Feste und Feiern über diesen Rahmen hinaus. Als curricularer Bestandteil der Schule öffnen sie sich sukzessive nach außen, angefangen von „kleinen“ Feiern im Mehrzweckraum der Schule mit jeweils drei im Team arbeitenden Lerngruppenlehrern über „größere Feiern“ in der Turnhalle mit jüngeren und älteren Lerngruppen bis hin zu Einschulungs- und Abschlussfeiern und Schulfesten. Die Feiern sind in der Regel mit einem (chronologischen) Programm stärker strukturiert, bei Festen dagegen prädominiert Kreativität und Spontaneität durch den offenen Charakter der vielfältigen Aktivitätsangebote. Die Organisation, Planung und Durchführung des Sommerfestes obliegt zum Beispiel den Eltern. In Zusammenarbeit mit Lehrern und Schülern arrangieren sie auf dem Schulhof verschiedene „Interaktionsräume“ entlang seiner materialen Begrenzungen, wie Zäune und Häuserwände, in denen die Kinder bei Wettspiel-, Mal- und Bastelangeboten ihren Vorlieben und Interessen nachgehen können. Der Spielplatz in der Mitte bleibt frei und bietet Raum zum Klettern und Toben. Tische und Bänke stehen vor den kulinarischen Ständen an der Rückwand des Schulhauses, an denen selbst gebackener Kuchen und Deftiges aus unterschiedlichen Ländern offeriert und Raum für informelle Kontakte geschaffen wird. Den akustisch-visuellen Höhepunkt des Sommerfestes bildet die 180
Schularchitektur und rituelle Raumpraktiken
vor der Turnhalle aufgebaute Bühne, auf welcher während des gesamten Festes verschiedene Arbeits- oder Lerngruppengemeinschaften das musikalisch-künstlerische Programm bestreiten. Nach einer kurzen Eröffnungsrede der Schulleiterin tritt hier z.B. die Trommel-AG mit 10 Schülern auf. Sie wird von dem Vater einer Schülerin (einem Berufsmusiker) geleitet, der zusammen mit den Teilnehmern das vor der Bühne stehende Publikum mit rhythmischem Vor- und Rücklaufen, Sprechen und Klatschen „eintaktet“ für die folgende Darbietung. Tanzund Turnvorstellungen mit Lautsprechermusik wechseln sich ab und bilden den Klangraum des Festes. Davor steht immer eine Traube von Zuschauern, man kommt und geht, läuft an den Ständen entlang und macht mit, wo man möchte. Man kann seinen rot gefärbten Handabdruck auf eine Tapetenrolle drucken, auf eine Torwand mit vielen selbst hergestellten Fahnen schießen, sich schminken lassen und vieles mehr, aber auch einfach spielen oder mit seinen Eltern/Kindern zusammen sein. Es herrscht eine entspannte Atmosphäre, die einem Straßenfest in geschütztem Rahmen ähnelt, überall stehen oder laufen Grüppchen von Menschen herum, plaudern miteinander, die Lehrer sind hier überwiegend „Gäste“. Das im Schulprogramm angesprochene Desiderat, mit den Festen ein informelles Zusammensein aller am Schulleben Beteiligten zu fördern und Außenstehenden einen Einblick zu geben, interkulturellen Berührungsängsten durch Kontakte zu begegnen und Schule als Lebensraum zu gestalten, findet hier seinen räumlich-materiellen Ausdruck. Sinnlich-ästhetische Eindrücke hinterlassen im Körpergedächtnis Assoziationen und Erinnerungsbilder von einem sonst als Pausenhof dienenden Raum, der zu einem (inter-)kulturellen Begegnungsort zwischen Lehrern, Schülern und ihren Familien transformiert und die formale Trennung von Elternhaus und Schule zumindest temporär aufhebt. Die Adventsfeier gehört zu den strukturierten Festen, die von den Lehrern getragen und den Eltern unterstützt werden. Sie findet im Schulhaus statt und jede Lerngruppe bietet Aktivitäten an, die mit Raumangabe auf einem Plakat angekündigt stehen. Die „Interaktionsräume“ finden, anders als auf dem Schulhof, parzelliert in einzelnen Räumen der Schule statt. Während man sich auf dem Sommerfest an jeder Stelle des rituellen Raums „innen“, d.h. innerhalb des Aktionsraums, befindet, läuft man bei der Adventsfeier „außen“ an den Gängen entlang, um nach „innen“ in die Aktionsräume zu schauen. Ein informelles Zusammensein kann sich flüchtig draußen auf dem Gang oder spontan in der separaten „Kaffeestube“ des Mehrzweckraums einstellen, das beiläufige Verweilen des Sommerfestes „mittendrin“ jedoch ist in dieser Weise nicht möglich. Dafür gibt es Räume, in denen man basteln, malen, sägen oder in die man sich zurückziehen kann. Im dritten Stock wird z.B. der kleine Religionsraum zu einer Vorleseoase, wo ein Lehrer bei Kerzenlicht Geschichten vorliest, selbst wenn nur ein Kind vorbeikommt. Gleich neben diesem Raum befindet sich normalerweise 181
Ingrid Kellermann | Christoph Wulf
die Bibliothek, die zu diesem Anlass eine räumlich-materielle und atmosphärisch-symbolische Transformation zu einem „Massageraum“ durchlaufen hat. Bei sanfter Musik, Kerzen- und Räucherstäbchenduft massieren Lehrer, Eltern, Schülerinnen und Schüler die Entspannungswilligen. Ein Lehrer steht draußen und sorgt für geschlossene Türen beider Ruheräume. „Innen“ ist die Atmosphäre auf ein sinnlich-körperliches Erleben, auf Verinnerlichung eines ganzheitlichen Eindrucks, ausgerichtet. Bemerkenswert ist, dass hier weder religiöser Hintergrund noch Genderdifferenzen zum Ausdruck kommen. Die Menschen, die hier hineinkommen, lassen sich ein in die Atmosphäre des Friedens und der Gleichheit. Aus der Bibliothek ist ein Ruhepol geworden, der genau den mit dem Lesen assoziierten Sehsinn durch die gedämpfte Beleuchtung ausblendet, um die anderen Sinne des Riechens, Hörens und Fühlens zu sensibilisieren – und hierarchische Strukturen zu nivellieren oder teilweise sogar umzukehren. (Fast) nichts erinnert mehr an das geschäftige Treiben eines normalen Schultages, bis man wieder vor die Tür tritt und sich weitertreiben lässt, vorbei an oder hinein in einen der vielen Klassenräume mit Aktivitätsangeboten. Die Adventsfeier als Vorbereitungs- und Besinnungszeit auf das christliche Weihnachtsfest ist transkulturell vorbereitet und hoch frequentiert. Der Akzent liegt dabei nicht so sehr auf den christlichen Traditionen, wenngleich auch Tannengestecke und Kerzenhalter gebastelt werden können. Es ist die feierliche, die besinnliche Atmosphäre, die interkulturell verstehbar ist und in den einzelnen Bereichen hergestellt wird. Die hier vorgestellten Feste und Feiern vermitteln nur einen kleinen Einblick in die „Feierkultur“ der Schule. Dabei wird deutlich, dass die Schule allen Beteiligten einen gemeinsamen Lebensraum zur Verfügung stellen will, der weit über Lehr- und Lerninhalte hinausgeht. Stellt schon die Einschulungsfeier mit der Übergabe einer Sonnenblume eine feierliche Inauguration in die Schulgemeinschaft dar, so werden im Laufe der Grundschulzeit durch rituelle Praktiken und Raummetamorphosen Erinnerungsbilder geschaffen, die mit der Sonnenblume bei der Abschiedsfeier symbolisch und performativ ein letztes Mal ins Gedächtnis gerufen werden und als imaginäre Impressionen weit in die Zukunft hineinreichen sollen.
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Zusammenfassung
Die biographisch bedeutsame Lebensphase SchulZeit – der Begriff verdeutlicht die Unhintergehbarkeit der Raum-Zeit-Relation – beeinflusst den Menschen nachhaltig. Nicht erst im eigenen Erleben, sondern z.B. durch rituelle „Schnup182
Schularchitektur und rituelle Raumpraktiken
perstunden“ in der zukünftigen Schule (vgl. Nentwig-Gesemann/Blaschke 2008) wird sie schon vor dem Schuleintritt diskursiv-emotional substantiiert. Ihre bildungspolitische Relevanz zeigt sich zudem in der öffentlich-kommerziellen Aufmerksamkeit gegenüber dem jährlichen Schulanfang. Mit der Schulpflicht wird das Kind der gesellschaftlichen Raum-Zeit-Ordnung unterworfen, die es gleichzeitig vor die Entwicklungsaufgabe stellt, sich möglichst erfolgreich in eine soziale Gemeinschaft außerhalb familiärer Einflussnahme einzugliedern (vgl. Kellermann 2008). Hierfür stellt die Gesellschaft den geschützten Raum der Schule zur Verfügung. Die Rhythmisierung des Schulalltages dient als Mittel, das Verhalten der Mitglieder der Schulgemeinschaft zu regulieren, eine verlässliche (rituelle) Ordnung herzustellen und Sicherheit und Stabilität innerhalb der Gemeinschaft durch sozial standardisierte Abläufe zu vermitteln (vgl. DeHaan, S. 30-31). Die ethnographischen Daten stellen heraus, dass Raumkonstitution durch materielle Güter, Menschen sowie deren relationalen Bezugnahmen und die atmosphärischen Imaginationen bestimmt wird. Hierbei entstehen Räume durch kognitiv-sensuelle Verknüpfung der unterschiedlichen Elemente. Entsprechend verschmelzen die mit dem Schulraum assoziierten Elemente zu einem Ensemble und werden als ein Element wahrgenommen (vgl. Löw 2001, S. ). Raum wird damit Teil eines „subjekt-bezogenen“ Bezugssystems (Bollnow 1963/2004, S. 56). Zusammenfassend ergibt sich aus dem körperlich-sinnlichen Eingebundensein des Menschen in seine materielle und soziale Wirklichkeit ein anthropologisch begründeter performativer Raumbegriff. So wie der Mensch den (Schul)Raum formt, formt der (Schul-)Raum gleichsam den Menschen. Spezifische Schulspiele präfigurieren Interaktionen und normieren sie in Bezug auf gesellschaftliche Strukturen und Machtverhältnisse (vgl. Wulf 1999), bieten durch den Raum im Raum aber auch Raum für kreative Gestaltung und Veränderung von (Schul-)Wirklichkeit.
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Ingrid Kellermann | Christoph Wulf
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Schularchitektur und rituelle Raumpraktiken
Wulf, Ch. u.a. (2007): Lernkulturen im Umbruch. Rituelle Praktiken in Schule, Medien, Familie und Jugend. Wiesbaden Wulf, Ch. u.a. (2004): Bildung im Ritual. Schule, Familie, Jugend, Medien. Wiesbaden Wulf, Ch. u.a. (2001): Das Soziale als Ritual. Zur performativen Bildung von Gemeinschaften. Opladen Wulf, Ch./Zirfas, J. (2007) (Hg.): Pädagogik des Performativen. Weinheim/Basel Zeitschrift für qualitative Bildungs-, Beratungs- und Sozialforschung (2004), Jg. 5, H. 1 Zeitschrift für Erziehungswissenschaften (2008), Jg. 11, H. 1, Wiesbaden Zeitschrift für Kulturwissenschaften (2008): Räume. H. 2, Bielefeld Zirfas, J. (2004): Die Inszenierung einer schulischen Familie. In: Wulf, Ch. u.a.: Bildung im Ritual. Schule, Familie, Jugend, Medien. Wiesbaden, S. 23-68 Zirfas, J. (1999): Identität im Widerspruch. Die pädagogischen Räume Rousseaus. In: Liebau, E./Miller-Kipp, G./Wulf, Ch. (Hg.): Metamorphosen des Raums. Weinheim, S. 105-125
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Markus Rieger-Ladich | Norbert Ricken
Macht und Raum: Eine programmatische Skizze zur Erforschung von Schularchitekturen 1
Einleitung: Ein Gebäude aus der Gründerzeit
Im zweiten Teil von Ulrich Peltzers Roman „Teil der Lösung“ (2007) findet sich eine kurze Passage, in der ein ungenannt bleibender politischer Aktivist einen der eigentümlich gesichtslosen Berliner Außenbezirke inspiziert. In Vorbereitung eines Brandanschlags auf den Parkplatz der Bereitschaftspolizei prüft er die Umgebung, kalkuliert die Länge von Fluchtwegen und sucht abzuschätzen, wie das Verkehrsaufkommen zwischen zwei und drei Uhr nachts – dem Zeitpunkt der geplanten ‚Aktion‘ – sein wird. Hellwach registriert er unzählige Details des Areals, nimmt das chaotische Arrangement von Baumärkten, Gartencentern und Tankstellen wahr. Dabei streift sein Blick ein historisches Gebäude, das er nicht zweifelsfrei bestimmen kann: „Hinter der Ampel ein Verwaltungsgebäude (oder eine Schule) aus der Gründerzeit, eines dieser Bauwerke, die jeden Besucher bereits beim Eintritt einen Kopf kleiner machen“ (Peltzer 2007, S. 303). Auch wenn sich hier nicht entscheiden lässt, ob es sich bei dem geschilderten Gebäude aus der Gründerzeit tatsächlich um eine Schule handelt, so verweist diese Szene auf ein bemerkenswertes Defizit des pädagogischen Diskurses: Obwohl der spatial turn (vgl. Döring/Thielemann 2008) nun auch die Erziehungswissenschaft zu erreichen beginnt und in der jüngsten Zeit eine ganze Reihe interessanter Studien zur räumlichen Dimension von Bildungsprozessen, zur Materialität einzelner Bildungsreinrichtungen sowie zur architektonischen Verfasstheit von Lern- und Bildungsräumen vorgelegt wurden (vgl. Wigger/Meder 2002; Jelich/Kemnitz 2003; Forster 2006; Westphal 2008), geraten dabei die sozialen Effekte von Architekturen doch kaum einmal in den Blick. Dezidiert machttheoretische Erörterungen von Schularchitekturen sucht man im deutschsprachigen Raum etwa weithin vergebens. Obwohl es uns unstrittig erscheint, dass in der zitierten Beschreibung keine Idiosynkrasie zum Ausdruck kommt und die Beklemmungen, die von manchen Bauwerken ausgelöst werden, keinen Einzelfall darstellen, liegen hierzu von Vertreter/innen des pädagogischen Diskurses bislang kaum entsprechende Arbeiten vor. Der zunehmenden Sensibilisierung für Fragen der Architektur und die Dimension des Raumes korrespon186
Macht und Raum
diert daher bislang noch kein gesteigertes Bewusstsein für die machtförmigen Effekte der materialen Gestalt von Bildungseinrichtungen. Auf dieses Defizit reagieren wir mit unseren Überlegungen. Am Beispiel der Analyse von Schularchitekturen suchen wir eine Möglichkeit zu eröffnen, wie das geschilderte machttheoretische Defizit der Erziehungswissenschaft künftig bearbeitet werden könnte. Bevor wir diesen Zugang skizzieren, der insbesondere von den Sozialtheorien Michel Foucaults und Pierre Bourdieus inspiriert ist (3), sondieren wir zwei Spezialdiskurse. Wir mustern eine Auswahl bildungstheoretischer Arbeiten, welche die Bedeutung des Raumes und der Architektur freizulegen suchen, und wir prüfen Studien, die eine Machtkritik der Schule betreiben, darauf, ob sie dabei die Materialität der gebauten Räume in Rechnung stellen (2). Nach der kontrastierenden Darstellung unseres Zugangs werfen wir einige Fragen auf, die es zu berücksichtigen gilt, wenn man künftig das Verhältnis von Macht und Raum aus einer genuin pädagogischen Perspektive näher zu erforschen unternimmt, bevor wir deren Zusammenspiel abschließend knapp an einigen Beispielen illustrieren (4). Dabei sei eingeräumt, dass unsere Überlegungen nicht von einer ausgearbeiteten (Macht-)Theorie des Raumes profitieren, vielmehr suchen sie theoretische Perspektiven zu erproben, miteinander zu verknüpfen und auf einen neuen Gegenstandsbereich zu beziehen.
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Zweierlei Forschungsdefizite
Auch wenn die Einsicht in die pädagogische Bedeutung des Raumes vermutlich ebenso alt ist wie die Pädagogik selbst, ist die systematisch geleitete Reflexion dieser Dimension doch jüngeren Datums. Konstatierte Christian Rittelmeyer noch Ende der 1980er Jahre das Fehlen von „Untersuchungen zur pädagogischen Bedeutung der unmittelbar architektonischen Elemente des Schulbaus“ (Rittelmeyer 1988, S. 381), hat sich zwischenzeitlich die Lage deutlich verändert. Vorherrschend ist jedoch die Orientierung an der Frage, wie und von wem Räume so gestaltet werden können, dass sie pädagogische Prozesse befördern, indem sie die körperliche Befindlichkeit der Schüler/innen erhöhen, die Grundeinstellung zur Schule verbessern und schließlich bessere Leistungen sowie höhere Freiheitsgrade ermöglichen (vgl. Rittelmeyer 2004; Forster 1997). Eine systematische Beschäftigung mit Raum, seiner pädagogischen Bedeutung, seinen Bedingungen und Effekten steht aber gleichwohl noch aus. Durchgängig fällt auf, dass der Raum nicht mehr als ein bloßes Behältnis verstanden wird, in dem sich – davon weitgehend unabhängig – pädagogische Handlungen vollziehen. Vielmehr wird mit Raum „eine relationale (An-)Ordnung von Lebewesen 187
Markus Rieger-Ladich | Norbert Ricken
und sozialen Gütern an Orten“ (Löw 2001, S. 271) bezeichnet, die es zu gestalten gilt und die ihrerseits gestaltende Bedeutung hat (vgl. Willems/Eichholz 2008). Obwohl schon in den Reflexionen der räumlichen Dimension pädagogischen Handelns durch die klassischen Autoren auch machttheoretische Fragen thematisch werden – erinnert sei nur an die Comenius Überlegungen zur zentralperspektivischen Anordnung von Schulräumen oder an Rousseaus Idee einer ‚pädagogischen Provinz‘ –, so geschieht dies doch kaum einmal explizit. Auch wenn hier pädagogische Räume ganz bewusst als Gegen-, Schutz- und Entfaltungsräume konzipiert werden, geschieht dies doch meist, ohne dass überzeugende Instrumente entwickelt werden, um auch noch deren Machteffekte beobachtet zu können. Und nicht eben selten wird Macht lediglich als pädagogische Fremdbestimmung begriffen, der gegenüber es die Selbstbestimmung zu fördern gilt (vgl. Ricken 2004). So kann eine machttheoretische Lektüre pädagogischer Räume durchaus an Traditionsstränge der pädagogischen Raumreflexion anknüpfen; sie muss allerdings eine eigene Systematik entwickeln – und sie wird sich wohl nur eingeschränkt als Anregungspotential für die planerische Gestaltung von pädagogischen Räumen nutzen lassen. Bereits bei Otto Friedrich Bollnow finden sich Reflexionen zum Raum als einer anthropologisch bedeutsamen Dimension menschlicher Existenz (vgl. Bollnow 1963a). Raum gilt ihm nicht lediglich als gebauter Ausdruck eines jeweiligen menschlichen Selbstverständnisses, sondern als Bedingung, Medium und Form der menschlichen Existenz, der daher nicht nur „modifizierend auf den Menschen einwirkt“, sondern ihn erst sein „bestimmtes Wesen“ gewinnen lässt (Bollnow 1963b, S. 507). Die Erkundung dieses sowohl ‚gelebten‘ als auch ‚erlebten Raumes‘ ergibt dann auch folgerichtig einen Zusammenhang von Raumbeschaffenheit und Existentialien, die bis heute für die Raumanalyse bedeutend und durchgängig als balancierende Pole formuliert sind: Monoperspektivität und Homogenität des Raums vs. Perspektivenpluralität, Heterogenität und Unvereinbarkeit der Perspektiven vieler; Innenraum und Außenraum bzw. privater und öffentlicher Raum. Der pädagogisch ‚gestimmte Raum‘ hält die Balance (vgl. Bollnow 1976), indem er ein Gleichgewicht zwischen Privatheit und Öffentlichkeit, zwischen Schutz, Schonraum und Beheimatung einerseits und Öffnung und Befreiung andererseits erlaubt. Er räumt Zufluchtsorte und kindliche Eigenräume, „geheime Orte“ der Kinder (Bollnow 1976, S. 157) ein und eröffnet damit nicht nur unterschiedlich dimensionierte Spielräume, sondern vermittelt diesen die Fähigkeit, sich innerhalb der Welt zu verorten, sie zu bewohnen und bewusst zu gestalten. Durchaus verwandte Bestimmungen gelungener pädagogischer Räume hat Christian Rittelmeyer in einem empirischen Zugriff vorgenommen und diese auf 188
Macht und Raum
ihre direkten sowie indirekten Effekte für pädagogisches Handeln hin reflektiert. Sie sollen „1. anregend und abwechslungsreich, 2. freilassend und 3. warm bzw. weich wirken“ (Rittelmeyer 2004, S. 203). Dabei zielt sein Plädoyer auf eine auf das Lernen der Schüler/innen bezogene Funktionalität pädagogischer Räume ab und nimmt die Form einer harschen Kritik bisheriger Schulbauten als häufig ausschließlich an den Funktionen der Kontrolle, Disziplinierung und Hygiene ausgerichteten Entwürfen an. Zugleich nährt dies allerdings den trügerischen Glauben an einen idealen pädagogischen Raum, der nicht nur Machtfreiheit als Abwesenheit von Kasernen- und Anstaltsbausymbolen verkörpert, sondern auch Selbständigkeit und Eigenwilligkeit zulässt und selbst weitgehend machtfrei entstanden ist. Es ist das Verdienst der schulbaugeschichtlichen Arbeiten Michael Göhlichs, diese fatale Polarisierung von „Anti-Bild und Vor-Bild“ im reformpädagogischen Raumdiskurs zu analysieren und als „Sackgasse“ (Göhlich 1993, S. 108) zu erweisen. So macht er in seiner überwiegend disziplinargeschichtlichen und an den Arbeiten Foucaults orientierten Studie deutlich, dass nicht nur das Frontalklassenzimmer einer durchgängigen Machtlogik und -ökonomie folgt, die überwiegend den Imperativen der Sichtbarkeit, Hörbarkeit und Sauberkeit einerseits und der Positionierung und asymmetrischen Verteilung von Mobilität (des Lehrers) und Immobilität (der Schüler) andererseits gehorcht. Auch das reformpädagogisch konzipierte, dezentral organisierte und sozial geöffnete Klassenzimmer hat disziplinierende Effekte, indem es die Sichtbarmachung der Einzelnen intensiviert, die Verinnerlichung der Anforderungen befördert und damit die Regulation als Selbstregulation etabliert (vgl. Göhlich 1993, S. 117 ff.). Seine Geschichte des Schulbaus weist daher nicht nur Vielfalt und Zeitgebundenheit der pädagogischen Raumkonzeptionen nach, sondern fokussiert auch die in Räumen eingearbeitete und durch sie bewirkte Selbstorientierung und -bezüglichkeit ihrer Benutzer. In jüngster Zeit hat nun Georg Breidenstein (2006) in seinen Analysen der räumlichen Dimension des pädagogischen Geschehens diesen Doppelaspekt aufgenommen, indem er sie nicht allein als einschränkende und eröffnende Bedingung, sondern auch als Effekt sozialen Handelns zu beschreiben sucht. Dabei wird deutlich, dass sowohl die Akzentuierung der disziplinierenden Effekte des Raums als auch die kontrastierende Gegenüberstellung von kontrollierender Lehrermacht und subversiver Schülerkultur wenig förderlich ist. Zu diesem Zweck unterscheidet er im Klassenzimmer visuelle, akustische und haptische Räume, so dass nicht nur der pädagogische Raum in seiner Mehrdimensionalität aufgefächert, sondern auch als ein komplexes Ineinander verschachtelter Räume deutlich wird. Während im visuellen Raum vielfältige Zonen sowohl der Sichtbarkeit als auch der Unsichtbarkeit und des Verbergens existieren, ist 189
Markus Rieger-Ladich | Norbert Ricken
der akustische Raum weniger perspektivisch-diagonal als vielmehr kreisförmig strukturiert – und doch zugleich auch begrenzt: zum einen überlagern sich offizieller Unterrichtsdiskurs und ‚Neben-Kommunikationen‘ (Rehbock) an den verschiedenen Plätzen mit dem nur sehr unterschiedlich wahrnehmbaren Gesamtgeräusch, zum anderen gibt es räumlich begrenzte „akustische Separaträume“ (Breidenstein 2006, S. 53), die durch die jeweilige Reichweite des Hörsinns der Beteiligten entstehen. Noch einmal verschieden davon lassen sich auch haptische Räume rekonstruieren, die durch Nachbarschaften, Bewegungs- und Zugriffsmöglichkeiten entstehen. ‚Teilnahme am Unterricht‘ heißt dann, sich auf all diesen Kanälen zu bewegen und als ein kompetenter Spieler zu erweisen. Der pädagogische Raum wird von Breidenstein daher nicht allein als Bedingung, sondern eben auch als Medium und Resultat des sozialen Verhaltens entworfen. Er gilt ihm sowohl als Beschränkungs- wie auch als Ermöglichungsrahmen. Somit wird der pädagogische Raum konsequent prozessualisiert und relationiert, geht es doch bei dem „Ausnutzen, Erweitern, Schaffen, Verschieben oder Reklamieren von Räumen“ (Breidenstein 2006, S. 41) immer auch um die eigene Positionierung in einem durch andere strukturierten Feld. Kehrt man nun die Perspektive um und mustert – nach der machttheoretisch instrumentierten Sichtung der Beiträge zur räumlichen Dimension von Bildungsprozessen – jene Studien, welche die Schule aus einer machtkritischen Perspektive in den Blick nehmen, erhält man einen vergleichbaren Befund. Dabei fällt weiterhin auf, dass die Bezugstheorien, die zu diesem Zweck bemüht werden, durchaus unterschiedlicher Art sind und zugleich die Konjunkturen innerhalb der sozialtheoretischen Theoriebildung abbilden. Ludwig A. Pongratz knüpft in seinen Studien zur Sozialgeschichte der Schule, die 1989 unter dem Titel „Pädagogik im Prozeß der Moderne“ (Pongratz 1989) erschienen, sowohl an Arbeiten der Kritischen Theorie als auch an jene machttheoretischen Arbeiten Foucaults an, die dieser Mitte der 1970er Jahre vorlegt. Die Schule gilt ihm als eine Institution, die nicht allein in den Prozess der gesellschaftlichen Rationalisierung verwoben ist; sie ist zugleich eine Instanz der gesellschaftlichen Disziplinierung. Auch wenn diese längst nicht mehr offen betrieben und physischer Zwang mittlerweile verpönt werde, wäre es doch allzu kurzschlüssig, die Schule der westdeutschen Nachkriegsgesellschaft als Ort zu interpretieren, der frei sei von Zwängen und Disziplinierungen. Vielmehr müsse der Blick geschult werden für das „Netzwerk von Taktiken und Strategien“ und das „Beziehungsnetz von subtilen Zwängen, die sich des Körpers und der Seele der Menschen bemächtigen“ (Pongratz 1989, S. 130). Die Unterwerfung werde längst ungleich raffinierter betrieben, und daher gelte es, einen machttheoretisch geschulten Blick zu entwickeln. So beschreibt er die Schule als ein „Dispositiv der Macht“ (mit Foucault), das sich auf weithin unbemerkte Weise in die 190
Macht und Raum
Körper der Schüler/innen einschreibt. Es überrascht denn auch nicht, dass er an dieser Stelle die Aufmerksamkeit auf deren materielle Gestalt lenkt: Suche man die Schule als einen Akteur im „Prozess der Disziplinierung“ zu erweisen, müsse neben der Ebene der Texte und Diskurse auch jene der „materiellen Einrichtungen, Architekturen und administrativen Verfügungen“ (Pongratz 1989, S. 150) untersucht werden. Pongratz verweist daher in seiner Sozialgeschichte der Schule ausdrücklich auf die Bedeutung der Architektur von Schulgebäuden; freilich bleibt es hier bei dem Appell, diese Dimension künftig stärker in Rechnung zu stellen. Die Studie selbst leistet dies nicht. Auch Rolf-Torsten Kramers Arbeit „Schulkultur und Schülerbiographien“ (Kramer 2002) nimmt Sozialisationsfunktionen der Schule in den Blick, ist aber ergebnisoffener angelegt: Sie will nicht die Effekte der Disziplinierung aufdecken, sondern das komplizierte Verhältnis erhellen, in dem die symbolische Ordnung der Schule zu den Lernbiographien von Schüler/innen steht. Geschult an bildungssoziologischen Untersuchungen und im Rückgriff auf Instrumente einer „strukturtheoretisch-rekonstruktiven Erziehungswissenschaft“ (Kramer 2002, S. 12), arbeitet er an exemplarischen Fällen die Logik von Bildungsverläufen heraus. Dabei unterscheidet er zwischen der realen, symbolischen und imaginären Dimension der Schulkultur. Erst wenn die Durchdringung etwa administrativer Rahmenbedingungen, kommunikativer Praktiken und handlungsorientierter (Ideal-)Konstruktionen berücksichtigt und zu den je spezifischen Voraussetzungen der Schüler/innen in Beziehung gesetzt werde, gerate die „schulbiographische Passung“ (Kramer 2002, S. 217 ff.) in den Blick. Damit treten nicht allein die Entstehung von Habitusaffinitäten und -differenzen zwischen Schule und Schüler/innen in den Fokus, sondern auch die materiale Gestalt von Bildungseinrichtungen. Deutlich wird dies in einem Exkurs, in dem Kramer den Habitus eines Gymnasiums herausarbeitet. Dabei nimmt er zunächst eine Situierung der fraglichen Schule vor, beschreibt ihr sozialräumliches Umfeld und erwähnt auch deren Positionierung, Baustil und farbliche Gestaltung. Weiter ins Detail geht er jedoch nicht. Er weist zwar überzeugend nach, welche Dimensionen es künftig zu berücksichtigen gilt, soll das Zusammenspiel von Schulkultur und Habitus der Schüler/innen erforscht werden, aber eine sinnliche Qualität erreicht seine Darstellung leider kaum einmal: Die entsprechenden Passagen der Dissertation sind weder um Photographien und Skizzen noch um Baupläne oder ähnliches ergänzt. Auch Mechthild Gomolla und Frank-Olaf Radtke sehen die Schule in die Herstellung von Ungleichheit verstrickt. Allerdings sprechen sie sich dezidiert dagegen aus, schulischen Misserfolg durch den Rückgriff auf Theorien zu erklären, die „Passungsprobleme“ in den Mittelpunkt rücken (Gomolla/Radtke 2002, S. 26). Statt das Augenmerk auf Individuen, deren Interaktionen und Hand191
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lungslogiken zu lenken, plädieren sie dafür, die Rolle zu untersuchen, welche die Schule bei der Verteilung des öffentlichen Gutes Bildung spielt: „Institutionelle Diskriminierung“, so der Titel ihrer systemtheoretisch argumentierenden Studie, beschreiben sie als eine Praxis, durch welche die Schule Ungleichheit erzeugt, die dabei entstehenden Differenzen mit Sinn ausstattet und sie auf diese Weise gegen Kritik immunisiert (vgl. Gomolla/Radtke 2002, S. 274 ff.). Damit wird erneut der Blick von der Ebene der Individuen weggelenkt und stattdessen auf die Schule als einflussreicher gesellschaftlicher Akteur fokussiert. Die bauliche Gestalt der einzelnen Bildungseinrichtungen gerät dabei freilich kaum einmal in den Blick. So hilfreich der Wechsel der Beobachterebene fraglos ist und so instruktiv die Sensibilisierung für die diskriminierenden Effekte der Schule als einer Institution, so sehr scheinen sich hier doch die einzelnen Schulen in ihrer je konkreten, materialen Verfasstheit zu verflüchtigen. In der jüngsten Studie lässt sich ein vergleichbares Phänomen beobachten: Sven Sauter stellt unter dem Titel „Schule Macht Ungleichheit“ (Sauter 2007) Überlegungen vor, die sowohl von Bourdieus Theorem der symbolischen Gewalt als auch den Arbeiten der Cultural Studies geprägt sind, und erhebt dabei den Anspruch, zur Aufdeckung jener Zusammenhänge beizutragen, welche die Reproduktion sozialer Ungleichheit auch in den (vermeintlich) meritokratischen Gesellschaften verhältnismäßig reibungslos betreiben. Er knüpft zu diesem Zweck an bildungssoziologische Studien an und sucht diese zu erweitern, indem er nicht allein Lehren und Lernen als „kulturelle Praxen“ interpretiert, sondern das gesamte Bildungssystem als einen „kulturellen Raum“ begreift (Sauter 2007, S. 19). Bei seinem Versuch, die Schule als einen „Kampfplatz“ zu erweisen und die systematische Benachteilung von Kindern aus Migrantenfamilien aufzuklären, gerät kurz auch die materiale Verfasstheit von Bildungsräumen in den Blick. Und obwohl er hier darauf verweist, dass die Verschränkung von Prozessen der Raumaneignung und der Entwicklung von Handlungsressourcen noch als weitgehend unerforscht gelten muss, bleiben etwa die „Zehn Thesen für einen neuen Anfang“, die er am Ende formuliert, hinter diesen Ansprüchen doch deutlich zurück: Hier verschwindet die Dimension des Raumes wieder und bleibt die materiale Verfasstheit von Bildungsreinrichtungen eigentümlich ausgespart (vgl. Sauter 2007, S. 243 ff.). Doch auch wenn der latenten ‚Raumvergessenheit‘ der sozialwissenschaftlichen und pädagogischen Machtanalysen nun keine durchgängige ‚Machtblindheit‘ der pädagogischen Raumanalysen entspricht, so ist doch das darin beanspruchte Machtverständnis meist erst in den Anfängen ausgearbeitet. Im nächsten Schritt wird es folglich darum gehen, die Grenzen der Disziplin zu überschreiten und gezielt Ausschau zu halten nach solchen Theoriemodellen, die es ermöglichen, die unterschiedlichen Aspekte genauer in den Blick zu nehmen. 192
Macht und Raum
3
Neue Perspektiven
Vielleicht noch stärker als in der Architekturtheorie selbst (vgl. de Bruyn/Trüby 2001) sind die machtförmigen Effekte von Räumen und Gebäuden bislang innerhalb der Philosophie und der Soziologie thematisiert worden. Dabei haben die einzelnen Fallstudien, die etwa von Walter Benjamin, Norbert Elias, Michel Foucault und Pierre Bourdieu vorliegen (vgl. Delitz 2005), den besonderen Vorzug, dass hier meist auch eine ausgearbeitete Machttheorie erprobt wird. Deren Analysen von Passagen und Schlössern, von Gefängnissen und Mietshäusern bleiben die Fragen nach disziplinierenden Wirkungen oder der Ausbildung von Verhaltensdispositionen mithin nie äußerlich, vielmehr gehören sie in das Zentrum ihrer Studien (vgl. Fischer/Delitz 2009). Im Folgenden suchen wir lediglich den Anschluss an die beiden zuletzt genannten Theoretiker, um auf diese Weise mit Perspektiven vertraut zu machen, die in benachbarten Disziplinen bereits erprobt wurden – und die uns geeignet erscheinen, das erziehungswissenschaftliche Forschungsdesiderat künftig zu bearbeiten. Eine der berühmtesten machtkritischen Architekturstudien stammt aus der Feder Michel Foucaults. Etwa zehn Jahre bevor er 1975 seine Untersuchung „Überwachen und Strafen“ (1976) vorlegte, hatte er bereits in einem kurzen Text das Gefängnis als eine jener „Heterotopien“ bezeichnet, die aus dem komplexen Zusammenspiel von „Öffnungen und Schließungen“, von Isolation und Durchdringung hervorgehen (Foucault 2002, S. 34). Obwohl sich Foucault hier für die Reform des Strafvollzuges zwischen 1750 und 1850 interessiert, betrachtet er die Veränderungen des Gefängnisses keineswegs als singulär, vielmehr gelten sie ihm als exemplarisch: Die Veränderungen der Strafpraxis verweisen demnach auf eine grundlegende Transformation der Gesellschaft, die sich eben auch an der Gestalt von Kasernen, Fabriken und Schulgebäuden ablesen lässt. In diesem Prozess, in dem sich eine „ganz andere Physik der Macht“ (Foucault 1976, S. 149) herauskristallisiere, wachse der Architektur eine neue Funktion zu: Übernahm sie in der Vergangenheit entweder eine repräsentative Funktion oder diente der Überwachung des öffentlichen Lebens, werden ihr nun formierende Kräfte zugeschrieben, die jene Personen, die ihr anvertraut werden, nicht allein der Kontrolle unterstellen, sondern darüber hinaus einer nachhaltigen Verhaltensänderung unterziehen. Es geht mithin „um eine Architektur, die ein Instrument zur Transformation der Individuen ist: die auf diejenigen, welche sie verwahrt, einwirkt, ihr Verhalten beeinflußbar macht, die Wirkungen der Macht bis zu ihnen vordringen läßt, sie einer Erkenntnis aussetzt und sie verändert“ (Foucault 1976, S. 222). Als Idealtyp einer solchen Architektur gilt ihm Jeremy Benthams Entwurf des Panopticons: Obwohl dieser nie realisiert wurde, verkörpert er doch die An193
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nahmen über die disziplinierenden Wirkungen, die von der architektonischen Gestalt eines Gebäudes ausgehen können. Durch ein raffiniertes Arrangement von Zellenwänden und Fenstern, von Blickachsen und Glasflächen wähnt sich der Gefangene fortwährend beobachtet. Da er aufgrund der Verspiegelung des Wachturms nicht kontrollieren kann, ob dieser mit Wachpersonal besetzt ist, wird er dazu genötigt, die Kontrolle seines Verhaltens selbst zu übernehmen: Die Grenze zwischen dem Wachpersonal und dem Strafgefangenen, zwischen strafender Instanz und bestraftem Subjekt beginnt sich in jenem Moment zu verflüchtigen, in dem der Sträfling dazu übergeht, sich die vorgeschriebenen Verhaltenscodes zu eigen zu machen, in welchem er die Gefängnisordnung inkorporiert und auf diese Weise „zum Prinzip seiner eigenen Unterwerfung“ wird (Foucault 1976, S. 260). An die Stelle des physischen Zwangs tritt somit eine perfide Form der Intensivierung von Machtverhältnissen, die sich fraglos auch jenseits von Gefängnissen zum Einsatz bringen lässt. In ihrer ganzen Brisanz werde diese freilich erst dann verstanden, wenn das Panopticon als ein „verallgemeinerungsfähiges Funktionsmodell“ (Foucault 1976, S. 263) begriffen werde, das eben nicht auf den Bereich der Strafe beschränkt bleibe, sondern das etwa auch in jenen der Produktion, der Heilung und der Erziehung effizient zum Einsatz kommen könne. In der Folge gelten ihm auch Fabriken, Krankenhäuser und Schulen als „panoptische Institution[en]“ (Foucault 1976, S. 166), für die charakteristisch sei, dass gerade durch die Sublimierung der Macht deren Wirkung letztlich enorm gesteigert werden können. Als Foucault seine wichtigsten Studien zur Disziplinargesellschaft erarbeitet, gilt ihm die materiale Gestalt von Gebäuden daher nicht lediglich als ein weiteres Moment von Machtverhältnissen, die es ebenfalls in den Blick zu nehmen gilt; vielmehr interpretiert er die geschilderten Arrangements als subjektkonstitutiv. Sie verändern das Selbstverhältnis der Betroffenen auf grundlegende Weise. Das Disziplinarindividuum, von dem er in dieser Phase spricht, verdankt sich denn auch nicht der Korrektur eines zunächst ungebändigten, anarchischen und freien Subjekts, vielmehr geht es aus diesen subjektivierenden Strafpraktiken selbst hervor (vgl. Rieger-Ladich 2004). Und auch wenn er in späteren Arbeiten unter dem Stichwort Gouvernementalité erneut der prägenden Kraft der Dinge und Artefakte nachspürt und deren Bedeutung bei der Etablierung von neuen Regierungstechnologien aufzudecken unternimmt, hat er sich den formierenden Kräften der Architektur doch nie wieder so intensiv zugewandt wie Mitte der 1970er Jahre, als er das Sujet-Subjekt als einen Effekt von immer auch räumlich dimensionierten, sich architektonisch materialisierenden Subjektivierungspraktiken bestimmte. Befragt man nun das Werk Pierre Bourdieus auf den systematischen Stellenwert, der darin der Architektur eingeräumt wird, so geraten zunächst womöglich 194
Macht und Raum
seine frühen Studien zum kabylischen Haus in den Blick. Ungleich populärer sind freilich jene Passagen der „Feinen Unterschiede“ (Bourdieu 1992, S. 277 ff.), in denen er Wohnungseinrichtungen als Universen sozial distinkter Zeichen interpretiert: In dieser empirisch verfahrenden und zugleich theoretisch argumentierenden Studie entziffert er etwa großbürgerliche Salons oder die Kücheneinrichtungen von Arbeiterfamilien, um die darin zum Ausdruck kommenden unterschiedlichen Habitus aufzudecken und die Grammatiken der differenten Lebensstile zu entschlüsseln. Gleichwohl sind diese Studien, die – in methodischer Hinsicht – ersichtlich auf Norbert Elias‘ Interpretationen von Gebäuden des Ancien Régime verweisen (vgl. Elias 1983, S. 75 ff.), für unseren Zusammenhang weniger interessant als jene, welche die formierende Kraft von Architekturen freizulegen versuchen. Zu diesem Zweck sei daran erinnert, dass die soziale Ordnung, die Bourdieu als Ergebnis zahlloser historischer Kämpfe gilt, stets in zweierlei Gestalten existiert: Der subjektivierten Form, die sich in der Ausbildung von Dispositionen, Haltungen und Präferenzen niederschlägt, korrespondiert die objektivierte Form, die sich in der Welt der Dinge und der Objekte materialisiert. Beide „Existenzweisen des Sozialen“ (Bourdieu 1995, S. 69) – der Habitus und das Habitat – verweisen aufeinander und stabilisieren sich wechselseitig. Die gesellschaftlichen Strukturen existieren mithin in zweifacher Weise: Der objektivierten Form, die sich in sozialen Feldern, Institutionen und Organisationen auskristallisiert, korrespondiert die subjektivierte Form, die auf Inkorporierungsprozesse des Sozialen verweist. Statt also noch länger die Dichotomie von Individuum und Gesellschaft zu bemühen, muss mit einer Verschränkung der beiden Modi des Sozialen gerechnet werden: Leiblichkeit und Dingwelt gelten Bourdieu nicht länger als zwei strikt einander entgegengesetzte Sphären, sondern sind in ihrer Relationalität immer wieder neu zu bestimmen (vgl. Rieger-Ladich 2002, S. 297 ff.). Der Ertrag dieses Perspektivenwechsels für die Diskussion der sozialen Effekte von Architekturen wird etwa deutlich in dem großen Gemeinschaftswerk „Das Elend der Welt“ (Bourdieu et al. 1997), das unterschiedliche Spielarten des Leidens an der Gesellschaft untersucht. Unter dem Titel „Ortseffekte“ plädiert Bourdieu hier zunächst dafür, zwischen physischem und sozialem Raum zu unterscheiden sowie die sozialräumlich sehr ungleich verteilten Fähigkeiten zu deren Aneignung in Rechnung zu stellen. Diese Aneignung erscheint dabei nicht als ein neutrales Geschehen; vielmehr müsse unterstellt werden, dass von den Strukturen des angeeigneten Raumes „heimliche[...] Gebote“ und „stille[...] Ordnungsrufe“ ausgingen (Bourdieu 1997, S. 162). Die Inkorporierung der Gesellschaftsstruktur stelle somit kein vernachlässigenswertes Oberflächenphänomen dar, sondern führe insofern zu einer besonderen Empfänglichkeit, als der 195
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Leib gleichsam als ‚Gedächtnisstütze‘ des Sozialen fungiere. Und so schreiben sich die Machtverhältnisse, die etwa in der ungleichen Verteilung des kulturellen, ökonomischen und sozialen Kapitals sowie in der ungleichen Verteilung von Anerkennung, Wertschätzung und gesellschaftlicher Teilhabe zum Ausdruck kommen, eben auch in die räumlichen Strukturen ein (vgl. Schroer 2006). Gebäude, die aufgrund ihrer Funktion, aber auch ihrer Gestaltung als Repräsentanten der herrschenden Kultur gelten müssen und von den gesellschaftlichen Eliten entsprechend häufig frequentiert werden – wie etwa die Stammhäuser international operierender Unternehmen, die Zentralen großer Banken, prachtvolle Opernhäuser oder exklusive Galerien –, werden insofern zu Medien symbolischer Gewalt, als von ihnen Signale ausgehen, denen sich die betroffenen Akteure kaum einmal entziehen können, da sie als leibliche Wesen über ein entsprechendes Sensorium verfügen: „Die architektonischen Räume, deren stumme Gebote sich direkt an den Körper wenden, fordern von ihm ebenso zwingend wie im Falle der Etikette der höfischen Gesellschaft die aus der Entfernung oder, besser, aus dem Fernsein bzw. respektvollen Distanz erwachsende Ehrerbietung ein“ (Bourdieu 1997, S. 163). Gebäude, die in dieser Perspektive als Habitat – also auch als Materialisierung einer Geschichte von Herrschaftsbeziehungen – gelten können, erzwingen daher nicht nur einen entsprechenden Habitus, um entsprechend genutzt werden zu können. Als unausgesprochene Zugangsvoraussetzung erfordern sie die Ausbildung eines fein abgestimmten Systems von entsprechenden Dispositionen. Fehlt diese Voraussetzung, klaffen Habitus und Habitat also auseinander, kommt es unweigerlich zu einem schmerzhaften „Gefühl des Fremd- und Ausgeschlossenseins“ (Bourdieu 1997, S. 166), das sich auch darin äußert, dass die Offerten, die mit dem Gebäude und seiner ‚angemessenen Nutzung‘ verknüpft sind, nicht genutzt und dessen (potentiellen) Gewinne nicht realisiert werden können (vgl. Bourdieu 1991, S. 31). Deutlich wird dies in einem Interview mit einer Familie, die aus dem Süden Algeriens stammt und nun am Rande von Paris lebt: Die Sozialwohnungen, die ihr zugewiesen worden waren, konnten von ihr nicht ‚bewohnt‘ werden, weil sie nicht über die entsprechenden Voraussetzungen verfügten (vgl. Bourdieu 1997, S. 43 ff.). Die Wohnungen waren zwar durchaus geräumig, aber der Zuschnitt und die Aufteilung der Räume entsprachen nicht den kulturellen Praktiken ihrer Bewohner/innen: So konnten etwa die Mahlzeiten nicht im Kreis und auf dem Boden sitzend eingenommen werden. Die Familie war nicht in der Lage, sich die Wohnung anzueignen, sie zu bewohnen. Stellt man nun in Rechnung, dass auch der Kampf um die Aneignung von Räumen nie unabhängig von der Ausstattung mit Kapital – und damit von der Position innerhalb des sozialen Raumes – geführt wird, zeigt sich, dass auch von Gebäuden starke segregierende Effekte ausgehen können. Über ihre ar196
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chitektonische Gestalt repräsentieren sie nicht allein die hegemoniale Position gesellschaftlicher Gruppen; sie adressieren eben auch eine bestimmte Gruppe idealer Nutzer. Das Habitat erzwingt daher stets einen gewissen Habitus, sollen die Funktionen des Gebäudes genutzt und seine Möglichkeiten verwirklicht werden. Können diese Erwartungen, die von den potentiellen Nutzer/innen meist leiblich gespürt werden, nicht erfüllt werden, kommt es nicht eben selten zu einem Gefühl des Ungenügens oder der Scham – wie es etwa jene empfinden, die in einem exklusiven Restaurant speisen und gewärtigen müssen, dass sie weder den herrschenden Dresscodes entsprechen, noch mit den unausgesprochenen Regeln vertraut sind (vgl. Alkemeyer/Rieger-Ladich 2009).
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MachtRäume
Versteht man Schulräume und -bauten folglich nicht bloß als Behältnisse, sondern als materiale, soziale und symbolische Rahmungen, die Interaktionen präfigurieren, dann ist es ebenso nahe liegend, diese auch machttheoretisch zu lesen. So vertraut diese Perspektive auch scheinen mag, so sehr ist darauf zu insistieren, dass Macht hier nicht allein negativ als Repression, Begrenzung und Verbot verstanden wird; vielmehr werden die erwähnten Effekte erst dann verständlich, wenn auch die produktive Seite von Macht – also die Frage, als wer man von wem wodurch hervorgebracht wird – berücksichtigt wird. Auch Verbote und Begrenzungen funktionieren nur, insofern in ihnen Selbstverhältnisse formiert werden. Foucault hat diese Doppelbödigkeit der Macht im Begriff des „Führens der Führungen“ gefasst (vgl. Ricken 2004). Unverzichtbar ist dabei, die Frage mitzubedenken, welche Möglichkeiten sich durch Räume eröffnen, was sie erlauben bzw. hervorbringen und wie man in ihnen und durch sie in bestimmter Weise handlungsfähig wird. So erweist sich, dass Schulbauten und -räume ihrerseits als Teil übergreifender Machtzusammenhänge und somit als Elemente eines Ensembles von Technologien gelesen werden müssen, insofern sie – wie Diskurse, Praktiken und Objektivationen – jeweilig ein spezifisches Selbst-, Anderen- und Weltverhältnis etablieren. Es gilt daher, Bildung als ein Dispositiv zu verstehen und Räume als Teil der ‚Ordnung der Bildung‘ zu begreifen (vgl. Ricken 2006). Entlang der Unterscheidung der Materialität, Sozialität und Symbolik von Räumen lassen sich nun Dimensionen und Kriterien einer machttheoretischen Raumlektüre entfalten, die zwar keinen Anspruch auf Vollständigkeit beanspruchen, aber eine erste Orientierung ermöglichen.
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(a) Ausgehend von der Materialität des Raums, der die Korporalität des Menschen nicht nur entspricht, sondern sie auch figuriert, ist mit Raum zunächst sowohl eine Limitierung als auch eine Positionierung im Raum verbunden. Während mit Limitierung überwiegend Fragen nach den Grenzen von Räumen – also nach Eingrenzung (Innen) und Ausgrenzung (Außen), nach Einund Ausschluss sowie Ein- und Ausgängen, jeweiligen Übergängen sowie Ausblicken, Öffnungen und Schließungen, Sackgassen etc. – und deren jeweiliger Haltbarkeit und Sicherheit verbunden sind, zielt die Frage nach der Positionierung auf die Innengestaltung des Raums und lässt in besonderer Weise die Analyse von Sichtbarkeits-, Hörbarkeits- und Bewegungszonen in den Vordergrund rücken. Gerade hinsichtlich der Positionierung im Raum ist der erwähnte Doppelaspekt der Macht von besonderer Bedeutung, geht es doch – bloß exemplarisch für den visuellen Kanal – nicht allein um kontrollierende Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit, sondern eben auch um die aktive Inszenierung des Gesehenwerdens und Verbergenkönnens. (b) Eng verbunden mit der Materialität des gestalteten Raums ist eine zweite Perspektive auf Räume, in der deren Sozialität aufgegriffen und hinsichtlich der Territorialität des besessenen und angeeigneten Raums sowie der Theatralität von Räumen und deren jeweiligen Aufführungsimplikationen analysiert wird. Dabei spielt der Aspekt der Territorialität insofern eine besondere Rolle, als Individuen aufgrund ihrer Körperlichkeit ihren jeweiligen Platz benötigen, der nicht gleichzeitig mit anderen geteilt werden kann und daher gegenüber anderen vertreten und verteidigt werden muss. Raum ist daher notwendigerweise immer auch ein von jemandem besessener Raum. Erving Goffman hat diesen Gedanken der Territorialität als eines Bündels (konkurrierender) Raumansprüche in zahlreichen Studien entfaltet und nicht allein unterschiedliche „Territorien des Selbst“ (Goffman 1974, S. 54 ff.) identifiziert, sondern auch vielfältigen Strategien der Territorialisierung, der Inbesitznahme und der Markierung von Reservaten herausgearbeitet. Versteht man Raum somit nicht bloß als ‚besessenen Raum‘, sondern auch als material und sozial konstituierte ‚Bühne‘, die Aufführungen erlaubt, verhindert oder gerade erzwingt, kann mit der Theatralität von Räumen eine zweite Dimension der Sozialität von Räumen aufgedeckt werden. Goffman hat hierfür wichtige Stichpunkte einer dramatologischen Rauminterpretation formuliert. Seine entlang der Theater- und Aufführungslogik entwickelten Begriffe erlauben eine Raumanalyse, in der Fragen der (kontrollierenden) Hör- und Sichtbarkeit mit Fragen der Inszenierung, ihrer jeweiligen Inszenierungsnormen und der verschiedenen Inszenierungspraktiken ergänzt werden können, so dass die jeweilige Ortsgebundenheit des Verhaltens – wo 198
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man was, wie legitimiert, tut und nicht tut, welche Rückseite (Kulisse) zu welchen Vorderseiten (Bühne) gehört etc. – deutlich wird (vgl. Willems/ Eichholz 2008). Unübersehbar aber ist damit auch, dass soziale Raumfragen eng verbunden sind mit Fragen der Verletzbarkeit von Individuen. (c) So wie die Sozialität des Raums auf dessen Materialität basiert, ist eine Interpretation jener ohne eine Auseinandersetzung mit der symbolischen Codierung von Räumen kaum möglich. Als gestaltete und besessene Räume sind sie immer auch zeichenhafte und bezeichnete Räume, so dass die Fragen nach ihrer Normativität einerseits und Rezeptivität andererseits unausweichlich sind. Symbolische Codierungen markieren dabei nicht nur Zweckbestimmungen, indem sie sowohl Funktionszusammenhänge und Verwendungsweisen als auch Atmosphären und damit implizierte Normen symbolisieren. Sie konstituieren auch die jeweilige Ordnung, in die man beim Betreten eines Raumes eintritt. Tatsächlich lässt sich kein Raum denken, der nicht symbolisch codiert ist und dadurch auf Gemeinschaften, Zugehörigkeiten und Überzeugungen, Geschichte und Zukunftsperspektiven verweist – und zugleich voraussetzt, dass die Akteure im Raum soweit vertraut sind mit der ästhetischen Ordnung, dass sie die Zeichen zu lesen imstande sind und sich die Räume zu eigen machen. Mit dieser sozialisatorisch vermittelten Raumkompetenz kommt zugleich die Frage nach den jeweiligen Rezeptionsmustern, nach Gebrauchs- und Aneignungspraktiken in den Blick: Räume müssen nicht nur besetzt, sondern auch symbolisch angeeignet und zugeeignet werden. Manche laden dazu ein, eröffnen Handlungsräume, andere hingegen verwehren dies. Betrachtet man nun ausgewählte Beispiele, dann ist offensichtlich, dass die beschriebenen Dimensionen einer machttheoretischen Lektüre pädagogischer Räume nicht getrennt nebeneinander bestehen, sondern sich wechselseitig durchdringen. Deutlich wird dies etwa an den Schulpforten – wie jener des humanistischen Spohn-Gymnasiums in Ravensburg (Abb. 1) und der von Wim Cuyvers gestalteten Passage der Basisschool de Letterdoos in der Abb. 1: Spohn-Gymnasium, Ravensburg
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flämischen Gemeinde Oostakker (Belgien) (Abb. 2) – oder auch an Klassen- und anderen Lernräumen, welche die jeweiligen Ordnungen des Lernens und Lehrens – seien sie asketisch-konzentriert wie im Salem International College oder behaglich-bewohnbar wie in der Freien Waldorfschule am Bodensee – sinnenfällig repräsentieren (Abb. 3 und 4).
Abb. 2: Basisschool de Letterdoos, Oostakker (Belgien); Aufnahme Jan Kempenaers
Abb. 4: Freie Waldorfschule am Bodensee, Überlingen; Aufnahme Karen van den Berg
Abb. 5: Salem International College, Überlingen; Aufnahme Karen van den Berg
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Abb. 3: Salem International College, Überlingen; Aufnahme Karen van den Berg
Kaum weniger anschaulich wird dies bei panoptisch strukturierten offenen Zonen und Fluren wie im International College und der The International School den Haag (vgl. Abb. 5 und 6) und den verborgenen Nischen und Hinterräumen, die der disziplinierenden Kontrolle sich zu entziehen erlauben, wie es etwa in der ebenfalls von Wim Cuyvers entworfenen Schetsontwerp Basisschool in Ieper (Belgien) möglich ist (vgl. Abb. in: Masschelein/Simons 2009). Stets zeigt sich dabei, dass Fragen der Materialität, Sozialität und Symbolik verwoben sind und erst in ihrem Zusammenspiel Effekte zeitigen. Sie machttheoretisch zu lesen, heißt Räume folglich als Adressierungen zu verstehen, durch die Individuen zunächst positioniert und platziert werden. Sie werden auf diese Weise aufgefordert, Erfahrungen zu machen und sich in
Macht und Raum
bestimmter Weise zu anderen und zur Welt zu verhalten – und auf diese Weise schließlich als jemand Bestimmtes hervorgebracht. Erst in dieser Hinsicht scheint es uns sinnvoll, von der bildenden Bedeutung von Räumen und ihren subjektivierenden Effekten zu sprechen. Gleichwohl verlangt eine machttheoretische Lektüre aber auch der vermeintlichen ‚Authentizität des Ortes‘ kritisch zu begegnen (vgl. Abb. 6: The International School den Haag, Den Haag (Niederlande) Bourdieu 1997, S. 159) und eben auch jene gesellschaftlichen Transformationen in den Blick zu nehmen, welche schließlich in Schulbauten Gestalt annehmen (vgl. Masschelein/Simons 2007).
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Macht und Raum
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Abbildungsverzeichnis Abb. 1: Spohn-Gymnasium, Ravensburg Abb. 2: Basisschool de Letterdoos, Oostakker (Belgien); Aufnahme Jan Kempenaers Abb. 3: Salem International College, Überlingen; Aufnahme Karen van den Berg Abb. 4: Freie Waldorfschule am Bodensee, Überlingen; Aufnahme Karen van den Berg Abb. 5: Salem International College, Überlingen; Aufnahme Karen van den Berg Abb. 6: The International School den Haag, Den Haag (Niederlande)
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Jeanette Böhme | Ina Herrmann
Schulraum und Schulkultur 1
Funktion: Form: Funktion: Kontroverse Gestaltungsprinzipien Pädagogischer Architekturen
In diesem Beitrag wird der Fokus auf die schulkulturelle Bedeutung des Schulraums eingestellt, der neben den Standortbedingungen „räumliches Kapital“ (Soja 2008, S. 241) einer Schule ist. Der Schulraum ist material durch eine Architektur strukturiert, die Spielräume für soziale Bewegungs- und Kommunikationsmuster eröffnet oder verschließt, welche funktional auf Bildungs- und Lernprozesse gerichtet sind (vgl. Bächer 2003, S. 15). Schularchitekturen sind demnach funktional spezifizierte Bauten, deren Gestalt jedoch nicht nur pädagogischen, sondern vielmehr auch pragmatischen, stadtbildnerischen, technischen, ökonomischen, regional-ökologischen bzw. ästhetischen Kriterien unterworfen ist (vgl. Detail 2003). So sind Schulbauten nur bedingt als Projektionsfläche pädagogischer Konzeptionen interpretierbar. Instruktiv, aber wenig profiliert, ist für diese Problematik eine begriffliche Unterscheidung zwischen Schularchitektur und Pädagogischer Architektur. Pädagogische Architekturen sind zwar nicht im raumdeterministischen Sinne der „Bauhaus-Auffassung“ durch eine pädagogisch gerichtete „Prägekraft auf das Verhalten und die Einstellungen der Bevölkerung“ (Helbrecht 2003, S. 154) gekennzeichnet, zumindest aber an der Verwirklichung eines antizipierten pädagogischen Praxisentwurfs ausgerichtet. Entsprechend müssen Bauten in Schulentwicklungsprozessen zu Pädagogischen Architekturen immer wieder professionalisiert bzw. durch Umbauten profiliert werden. Für die Betrachtung der schulkulturellen Bedeutung von Architektur ist demnach das Verhältnis zwischen material ausgeformtem und schulpädagogisch konzipiertem Bildungsraum von zentraler Bedeutung (vgl. Girmes 1999, S. 101). Die Potenzialität der Architektur für die alltägliche Verwirklichung und Stabilisierung pädagogischer Konzepte zeigen vorliegende schulhistorische Studien auf (vgl. etwa Ciupke 2003: Volksschulheime am Meer in Prerow und Klappholttal; Pilarzyk 2003: Kibbuz und Internatsschulen in Palästina und Israel von 1930 bis 1970; Schmitt 2003: Philanthropin im thüringischen Schnepfenthal etc.). Trotz forschungsmethodischer Schwächen verdeutlichen die Studien das 204
Schulraum und Schulkultur
potenzielle Spannungsverhältnis zwischen Schularchitektur und Schulentwicklung, das thesenhaft auch im theoretischen Diskurs wie folgt konkretisiert wird (Ortlepp 1999; Bächer 2003, S. 25; Hochbaudepartement Zürich 2004): Je enger die Verkopplung von baulicher Gestaltung und pädagogischem Konzept, desto stärker wird der Raum zwar zum Stützsystem für antizipierte Lern- und Bildungsprozesse, um so geringer wird jedoch auch die flexible Offenheit für die Umsetzung alternativer pädagogischer Konzepte in diesen Bauten und damit für Schulentwicklung. Im Hintergrund scheint hier die Kontroverse durch, inwiefern aus der Funktion die Form abzuleiten ist. Dieses, insbesondere in der Organischen Architektur verwirklichte Gestaltungsprinzip setzt allerdings voraus, dass die Funktion der Schule definierbar ist. Zwar könnte sich hier die strukturfunktionalistische Schultheorie anschlussfähig erweisen, jedoch ist gleichsam auf die Kritik dieses Ansatzes zu verweisen. Alternativ dazu wird hier in der Perspektive einer Schulkulturforschung argumentiert, die weniger gesellschaftsanalytisch generalisierbare Funktionen von Schule herausarbeitet, sondern vielmehr von der konkreten Einzelschule ausgehend analysiert, wie die Akteure ‚vor Ort‘ den schulischen Zusammenhang sinnstiftend entwerfen. In diesen Sinnkonstruktionen wird der Institution auch eine gesellschaftliche Funktion zugeschrieben, deren Konkretion zwischen den Einzelschulen aber mehr oder weniger different ist. Somit lässt sich die Frage nach einer instruktiven Pädagogischen Architektur immer nur unter Berücksichtigung des konkreten einzelschulischen Falls beantworten. Nicht nur, dass jede konkrete Einzelschule die Frage nach Funktion und Sinn different beantwortet, auch sind diese Antworten einem steten Wandel unterworfen. Daraus folgt die pragmatische Schwierigkeit, dass nach dem architektonischen Gestaltungsprinzip „form follows function“ bzw. „Die Form folgt aus der Funktion“ (FFF; vgl. Sullivan 1896), jede Veränderung im pädagogischen Schulkonzept potenziell einen schulischen Neu- oder Umbau erforderlich macht. Jedoch zeigt sich hier die „Architektur“ pädagogischer Konzepte flexibler als die Trägheit der materialen Architektur eines Schulbaus1. Dem funktionalen Leitprinzip organischer Architektur steht als maximaler Kontrast das formenbezogene Prinzip des funktionalen Spielraums gegenüber, welches besonders in der Bauhausarchitektur, etwa namentlich durch Walter Gropius, profiliert wurde. Die Form- und somit auch Bedeutungsoffenheit von Architekturen sollte deren bedarfsorientierte Nutzung und Veränderung möglich machen. Zugespitzt wird diese Perspektive im Konzept einer „Architektur 1
Unter dem Titel: „Nomadische Subjekte und träge Organisationen. Selektionseffekte des schulkulturellen Raums“ ist zusammen mit Markus Rieger-Ladich (Universität Zürich) für den DGfE-Kongress 2010 in Mainz eine Arbeitsgruppe geplant, in der sich auch mit dieser Frage weiterführend auseinandergesetzt wird.
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Jeanette Böhme | Ina Herrmann
der Nacktheit“, deren Botschaft das „Schweigen“ ist (Castells 2001, S. 476). Hier wären die schulischen Akteure in einer gesteigerten Weise herausgefordert, einen pädagogisch förderlichen Raum erst durch Praktiken voluntaristisch hervorzubringen. Die Diskussion um die Frage, ob der funktionale oder formenbezogene Gestaltungsleitsatz für Schularchitekturen geltend zu machen ist, darf nicht davon ablenken, dass es bisher kaum Erkenntnisse gibt, wie Schularchitekturen die Verwirklichung von pädagogischen Konzepten erschweren, verunmöglichen oder befördern. Das damit verbundene Wechselspiel zwischen Schularchitektur, akteursspezifischen Raumpraktiken, pädagogischen Raumentwürfen und Sichtweisen der Betroffenen vor Ort ist für eine raumwissenschaftliche Schul- und Bildungsforschung von zentraler Bedeutung.
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Heuristik einer raumwissenschaftlichen Schulkulturforschung
Es wäre überzeichnet, würde eine raumwissenschaftliche Schul- und Bildungsforschung als etablierter Forschungsschwerpunkt der Erziehungswissenschaft ausgewiesen. Die folgende Heuristik für eine raumwissenschaftliche Schulkulturforschung versteht sich jedoch als Beitrag dazu. Zu deren Begründung werden wir im Folgenden die empirisch ausdifferenzierte Schulkulturtheorie von Helsper, Böhme, Kramer und Lingkost (2001; Böhme 2000) mit dem Konzept einer „Trialektik der Räumlichkeit“ von Soja (1993, 2003) verschränken und in eine Heuristik für ein Forschungsprogramm überführen. Im daran anschließenden Abschnitt werden über Auszüge aus einer Fallstudie die Potenzialität der Heuristik aufgezeigt und Einblicke in die Forschungspraxis eines laufenden DFG-Projektes gegeben2. Für eine erste heuristische Konstruktion, in der Schulraum und Schulkultur systematisch aufeinander bezogen werden, wird die Theorie von Schulkultur aufgegriffen, in der zwischen dem Realen als Strukturdimension, dem Symbolischen als Handlungsdimension und dem Imaginären als Entwurfsdimension differenziert wird Helsper, Böhme, Kramer, Lingkost 2001; Böhme 2000, 2006; Helsper 2008). Auf dieses Modell werden dann die „drei konzeptionellen Di2
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Der Titel des DFG-Projektes lautet: „Schulraum und Schulkultur. Studie zur schulkulturellen Bedeutung der Entwurfs-, Handlungs- und Strukturdimension von Raumordnungen“ (Bewilligungszeitraum 07/2009-08/2012). Das Forschungsprojekt wird von Jeanette Böhme geleitet und in Zusammenarbeit mit Ina Herrmann als Wissenschaftliche Mitarbeiterin und den Hilfskräften Herrn Christian Gerwers und Frau Alina Biesenbaum umgesetzt.
Schulraum und Schulkultur
mensionen“ des Raums bezogen, die Soja in seinen Ausführungen zur Trialektik des Raums (2003) konkretisiert hat. Darin wird unterschieden zwischen den „representation of space“ als manifeste Ausdrucksgestalten des Raums, den „spatial practice“ als Raumpraktiken also und den „geographical imaginations“ als Raumentwürfe (ebd., S. 278). In einer empirisch zu schärfenden Verschränkung beider theoretischer Konzepte ergeben sich folgende raumbezogenen Analysedimensionen von Schulkulturen: Materiale Gestalt von Schularchitekturen (perceived space/schulkulturelle Strukturebene): In dieser Aufmerksamkeit stehen die materialen Schulbauten im Zentrum, auf die sich soziale Handlungs- und Deutungsmuster wechselseitig beziehen (vgl. Soja 2008, S. 250). Entsprechend wird der Fokus auf die physisch erfahrbaren Raummanifestationen der Schularchitektur gerichtet. In dieser Aufmerksamkeit interessieren außenarchitektonisch die schulterritoriale Verhältnissetzung zum Umfeld, innenarchitektonisch die gestalteten Spielräume, die „territorialgebundene Interaktionsprozesse“ bzw. Sozialformen in der Schule vorstrukturieren (Gerngroß-Haas 1980, S. 64). Erst eine Rekonstruktion dieser latenten „Ordnungsprogramme, die in der räumlich-dinglichen Umwelt verankert sind bzw. dort verankert werden“ (Kroner 1980, S. 112), legt die architektonische Bedeutungsstruktur des schulischen Sozialraums frei. Es ist davon auszugehen, dass der schularchitektonischen Tiefenstruktur differente Potenziale für Machtkonfigurationen, soziale Kontrolle und Disziplinierungen eingeschrieben sind (vgl. Böhme 2006 a, b). Zur Erschließung der schularchitektonischen Tiefenstruktur von Schulkulturen finden sich in der begleitenden Raumstudie zur Bielefelder Laborschule interessante methodische Hinweise (vgl. Kroner 1980). Darin werden Grundrisse vom schulischen Innenraum ausgewertet. Orientiert an der „Planungsmethode“ aus der Architektur werden dort „mögliche Wege“ bzw. optionale Bewegungslinien in Grundrisse eingezeichnet und so die latenten räumlichen Ordnungsparameter zunächst sichtbar gemacht (vgl. ebd., FN 1, S. 124). Im Vorgehen Kroners lassen sich Parallelen zum bildrekonstruktiven Verfahren von Imdahl (1996) aufzeigen. In dieser eher kunstwissenschaftlichen Methode werden Feldliniensysteme in bildhafte Ausdrucksgestalten eingezeichnet, um die latente ikonische Sinnstruktur im Prinzip der komparativen Analyse zu erschließen. Ergänzend zu den Rekonstruktionen der Grundrisse von schulischen Innenund Außenbereichen sind auch foto- bzw. videographische Dokumente zur Gestaltung von Außenfassaden, Innen- und Eingangsbereichen sowie der zentrale materiale Türöffner und -schließer in den Blick zu nehmen, die den schulischen Bildungsraum territorialisieren.
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Jeanette Böhme | Ina Herrmann
Raumbezogene Handlungsmuster schulischer Akteure (spatial practice/schulkulturelle Handlungsebene): Diese Raumdimension bezieht sich auf die lebenspraktische Generierung soziokultureller Handlungsmuster in architektonisch vorstrukturierten Kommunikations- und Bewegungsspielräumen. Auch hier liegen bereits Detailstudien vor, insbesondere zum Schülerverhalten auf Pausenhöfen (z.B. Forster 1999, S. 196; David/Weinstein 1987; Schünemann 1983). Dort zeigt sich etwa im Grundschulbereich, dass die ‚Besucherfrequenz‘ in nischenhaften Rückzugsgebieten oder Randbereichen im Vergleich zu unstrukturierten Freiflächen weitaus höher ist (vgl. Kasper 1997). Dies bestätigt auch die Längsschnittstudie zum lehrer- und schülerseitigen Nutzungsverhalten im Schulgroßraum der Bielefelder Laborschule (Gerngroß-Haas 1980, S. 75 ff.). Darin konnte der Bedeutungswandel von schülerseitig gebauten ‚Buden‘ proportional zu der Beobachtungs- und Kommunikationsdichte zwischen schulischen Akteuren aufgezeigt werden (vgl. Bilstein 1999; Groeben 1997, S. 169; Hentig 1997, S. 152 ff.). Die Studien zeigen, dass offene, ‚leere‘ Großräume eher territorialisierende Rückzüge in Nischen für Kleingruppen evozieren und eben gerade eine soziale Vernetzung zu Großgruppen durch einen übergreifenden Austausch nicht präferiert wird. Heißt das, dass offene Architekturen eher territorialisierende Raumpraktiken, geschlossene Architekturen eher entgrenzende Raumpraktiken bedingen? Diese einfache kausale These einer kontrafaktischen Proportionalität zwischen materialer Raumordnung und sozialen Raumpraktiken fordert zu einer empirischen Ausdifferenzierung auf. Entsprechende Leitfragen könnten lauten: Welche Formen der Territorialisierungen in den raumbezogenen Handlungsmustern schulischer Akteure lassen sich aufzeigen? Wie wird der schulbauliche Ordnungsraum performativ (re-)interpretiert? Wo stößt die (Re-)Inszenierung schulischer Räume an ihre materialen Grenzen? In dem laufenden Forschungsprojekt werden zur Erfassung dieser Raumdimension drei Erhebungsverfahren umgesetzt: Erstens werden über eine ethnographische Kartierung schulischer Raumpraktiken differente soziokulturelle Szenen mit unterschiedlicher kommunikativer Dichte in Grundrissen grafisch protokolliert. Auf der Grundlage dieser schulischen Landkarten lassen sich zweitens schulterritoriale Grenzbereiche und Intensitätszonen begründet auswählen und video- und fotographisch erfassen. Drittens erfolgt die videographische Aufzeichnung schulalltäglicher Bewegungsströme und Kommunikationsfiguren in verschiedenen architektonischen Bereichen des Schulgeländes, aus denen räumliche Strukturmuster schulischer Handlungsabläufe bildrekonstruktiv erschlossen werden. Institutionelle Entwürfe des schulischen Bildungsraums (geographical imaginations bzw. conceived space/schulkulturelle Entwurfsebene): Diese Raumdimension bezieht sich auf Entwürfe des schulischen Bildungsraums, in denen 208
Schulraum und Schulkultur
Akteure die Institution sinnstiftend zum schulischen Außen und damit auch im kulturellen Wandel positionieren. Bilstein (1997) zeigt auf, dass Bildungsräume in der säkularisierten Gegenwart idealtypisch als „Jenseitstopographien“ (ebd., S. 22) entworfen werden: romantisierend als Dorf, Insel, Garten (vgl. auch Böhme 2000; Baader 1999), technokratisch als Fabrik oder Kaserne, diskursorientiert als Werkstatt. Dass diese Raumkonzepte auch mit Entwürfen vom Lehrer, vom Schüler, der Generationsbeziehung und der Bildung verknüpft sind, wird in der Forschung zu pädagogischen Metaphern und Mythen aufgezeigt (Böhme 2000; Bilstein 1997, S. 46; Lenzen 1985). Demnach sind in dieser Dimension auch die pädagogischen Konzepte einer Schule verankert. In dieser Perspektive interessiert die Varianz, wie sich Einzelschulen in institutionellen Selbstdarstellungen als Bildungsraum entwerfen. Diese Entwürfe lassen zentrale Rückschlüsse auf die antizipierte Schulentwicklung zu. Methodisch ist hier insbesondere die Detailstudie „S’blaue Nestl“ von Bilstein (2003) hervorzuheben, der in seinen Analysen von pädagogischen Raumkonstruktionen insbesondere die Potenzialität bildlicher Darstellungen aufgezeigt hat. Daran anschließende eigene Vorstudien bestätigen, dass Schullogos als ikonische Formate schulischer Selbstdarstellungen besonders instruktives Datenmaterial sind (Böhme/Kasbrink 2009). Raumbezogene Deutungsmuster schulischer Akteure: Wird bei Sojas Raumtheorie (1996, 2003) zwar den Handlungs-, aber weniger den Deutungsmustern von Raumnutzern Bedeutung zugesprochen, so wird diese Dimension entsprechend der schulkulturellen Theorie hier als vierte Dimension ergänzt. Die Deutungsmuster schulischer Akteure interessieren in Hinsicht auf die materiale Gestalt des Schulbaus, auf handlungspraktisch erfahrene schulbauliche Grenzen und Potenziale sowie auf Idealvorstellungen, die gesteigert in Veränderungswünschen zum Ausdruck kommen. Diese Deutungsmuster können durchaus in mikropolitisch spannungsvoller Differenz zu den dominanten institutionellen Selbstdarstellungen als Bildungsraum stehen. Die raumbezogenen Deutungsmuster von Akteursgruppen werden in dem laufenden Projekt mit der Methode der Zukunftswerkstätten erhoben, die zwar eine Moderationsmethode in der Organisationsentwicklung ist (vgl. Burow/ Neumann-Schönwetter 1997), sich jedoch auch als Erhebungsmethode bewährt hat. In diesem Rahmen werden Akteure aufgefordert ihre Deutungsmuster zum schulischen Erfahrungsraum in drei differenten Fokussierungen zu explizieren. So wird mit den Akteuren eine Kritik-, Visions- und Projektphase mit Bezug auf den Schulraum durchlaufen (vgl. Böhme/Kallweid 2008). Dieses Datenmaterial wird durch problemfokussierte Interviews ergänzt.
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Jeanette Böhme | Ina Herrmann
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Räumliche Unterwerfung zum Widerstand gegen den Disziplinarraum. Auszüge einer Schulraumstudie
Entlang einer Fallstudie aus dem laufenden Projekt zu „Schulraum und Schulkultur“ soll schlaglichtartig die Potenzialität der skizzierten Heuristik aufgezeigt werden. Exemplarisch wird auf ein Gymnasium Bezug genommen, das den Namen „Geschwister-Scholl“ trägt3. Zentrale Schlagwörter des schulischen Leitbildes sind: Fundierte Bildung – Zivilcourage – Soziale Kompetenz (vgl. http://gsg.intercoaster.de/ic/). Ausgewählt wurde hier aus dem erhobenen Datenpool zu dieser Schule: für die Dimension der institutionellen Raumentwürfe: das Schullogo; für die materiale Gestalt der Schularchitektur: der Grundriss des Schulbaus, erfasst über Google Earth Deutschland; für die Dimension der Raumpraktiken: ein Foto der Pausenhalle; für die Dimension der Deutungsmuster: das Foto einer Moderationskarte, die im Rahmen der Kritikphase der Zukunftswerkstatt beschrieben wurde.
Institutionelle Entwürfe des Schulraums
Materiale Gestalt der Schularchitektur Raumbezogene Handlungsmuster schulischer Akteure
Raumbezogene Deutungsmuster schulischer Akteure
Schaubild 1: Dimensionen einer raumwissenschaftlichen Schulkulturforschung 3
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An dieser Stelle möchte ich mich ausdrücklich und wertschätzend bei der Lehrer- und Schülerschaft, besonders aber bei dem Schulleiter Andreas Niessen für die Unterstützung in der Pilotphase des Projektes sowie für die Genehmigung bedanken, das Datenmaterial zu veröffentlichen.
Schulraum und Schulkultur
Die Rekonstruktionen und Triangulationen der Dimensionen sind teilweise noch nicht abgeschlossen und lassen sich im gegebenen Rahmen ohnehin nur auszugsweise vorstellen. Dazu wird in diesem Abschnitt ein erster Fokus auf die Rekonstruktion des Schullogos eingestellt, in einem zweiten Schritt werden in großen Zügen sowohl der schulbauliche Grundriss als auch die Handlungs- und Deutungsmuster der Akteure ins Verhältnis gesetzt. 3.1
„Unterwerfung zum Widerstand im geschützten Disziplinarraum Schule“: Rekonstruktion eines institutionellen Entwurfs vom schulischen Bildungsraum
Die Komposition der räumlichen Parameter des Schullogos (vgl. Abb. 1) ist durch drei Elemente bestimmt: Erstens der schraffierten Grundfigur eines Rechtecks, das grundrissförmig im architektonischen Parameter der Zelle aufgeht. Zweitens wird die zellenförmige Grundstruktur durch ein diagonal verlaufendes Band durchbrochen, das architektonisch dem Grundriss eines Kanals oder Ganges entspricht. Drittens sieht man zwei Abb. 1: Schullogo eher organisch geschlungene Dreiecke, die jeweils mit einer Seite an der Außenlinie der Diagonale anliegen, die zwei angrenzenden Seiten laufen im gegenüberliegenden Winkel spitz zusammen. Zelle: Die Grundfigur des Logos ist als Quadrat gleichseitig sowie gleichwinklig und damit ein räumlicher Parameter maximierten Gleichmaßes. Linie und Richtung, Seite und Winkel reproduzieren sich seriell und verlinken sich zur architektonischen Grundform der Zelle. Die Zelle wird somit dem Entwurf des schulischen Bildungsraums zugrunde gelegt. Nach Foucault (1994) reproduziert sich in zellförmigen Raumparametern ein Strukturgitter, das Disziplinarräume gliedert. Damit wird in der Grundfigur des Schullogos eine zellenförmige „Mikrophysik der Macht“ zitiert, die auf „Kontrolle und Nutzbarmachung einer Gesamtheit verschiedener Elemente“ zielt (Foucault 1994, S. 191). Foucault führt Techniken an, die der „Verteilung der Individuen im Raum“ (ebd., S. 181) dienen. Durch die Schließung und Abschottung des Raums (die Klausur), die individuelle räumliche Platzzuweisung (die Parzellierung), die Raumcodierung mittels zugewiesener Funktionsstellen sowie den in Klassifizierungen eingenommenen Platz (Rang) erfolgt die Herstellung und Organisation komplexer Räume, in denen Individuen unterworfen werden, die als Bedingung dieser Disziplinarpraktik jedoch anerkannt werden müssen. Das zellenförmige Strukturgitter finden wir auch in Schularchitekturen, etwa den kasernenförmigen Bauten 211
Jeanette Böhme | Ina Herrmann
aus der Wilhelminischen Ära, die eine gesteigerte Kontrolle und Disziplinierung von Massen an Individuen möglich machten. Kanal: In diesem Logo wird also die Schule als zellenförmiger Disziplinarraum entworfen, jedoch wird dazu ein zweites Raumelement in Beziehung gesetzt: ein diagonal verlaufendes Band, das zwei Winkel des Quadrates durchbricht. Liest man das Schullogo als Grundriss, kann dieses Band ein Kanal, ein Gang, funktional konkret ein Transferweg sein. Planimetrisch gesprochen handelt es sich um eine aufsteigende Fluchtlinie, die auf den Durchbruch der Winkel und glatten Zerschnitt der Fläche gerichtet ist und damit eine destruktive Bedeutung hat. Dies auch insofern, als ein vertikal-symmetrisches Durchschneiden des quadratischen Grundrahmens letztlich die orthogonale Fläche als Raumordnung lediglich geteilt, aber nicht zerstört hätte. Mit der diagonalen Durchtrennung des Quadrates wird dagegen die quadratische Grundform in neue Raumfiguren überführt. Damit wird im Logo eine Bewährungsdynamik ausgewiesen, die in einem destruierenden Angriff gegen Begrenzungen des grundständigen zellenförmigen Disziplinarraums erfolgreich ist. Doch die Bewährungsdynamik ist angespannt. So drängt der destruierte Zellraum zu einer Reform bzw. schließenden Reorganisation, indem auf den durchbrechenden und zerschneidenden Kanal Druck ausgeübt wird. Dies zeigt sich in der intervallförmigen Schraffierung der dreieckigen Fragmente des Quadrates, die an begradigte Wellenlinien erinnern, welche ans Ufer schlagen. Der Erhalt des Kanalraums fordert permanenten Gegendruck, einen Widerstand. So lässt sich zusammenfassen: In den verschachtelten Raumentwürfen wird die Bewährung des Bildungsraums in einem Widerstand gegen begrenzende, disziplinierende Machtverhältnisse ausgewiesen. Dieser Widerstand hat sich sowohl in dem Durchbruch der Winkel als auch in dem Zerschnitt der Zelle bereits verwirklicht. Und dennoch, gerade im Einzeichnen der imaginären Feldlinien, zeigt sich, dass der Grundrahmen des Disziplinarraums erhalten bleibt. Damit schließt die Rekonstruktion an den Foucaultschen Widerstandsbegriff an (vgl. Foucault 1983; Klass 2008), der darauf verweist, dass Disziplinarisierung und Widerstand in einem konstitutiven Wechselverhältnis stehen. Würde also der Widerstand den schulischen Disziplinarraum total destruieren, so würde der Bewährungsdynamik des entworfenen Bildungsraumes die konstitutive Voraussetzung entzogen. Denn: Gerade in dem erfolgreichen Durchbrechen der Winkel und Durchschneiden der Fläche des Disziplinarraums und damit in der Destruktion der zellenförmigen Mikrophysik der Macht ist der institutionelle Bewährungsmythos dieser Schule angezeigt. Doch wie wird dieser Widerstandsraum konkret entworfen?
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Schulraum und Schulkultur
In einem Kanal, Gang, einer Bahn wird eine Bewegung gerichtet. Die Begrenzung ist hier begradigt und parallelisiert, was eine effiziente Beschleunigung bedingt. In dieser gesteigerten Gerichtetheit des Bewegungsflusses wird gleichsam zu dieser diszipliniert. Denn ein Durchbrechen der Seiten nach links und rechts ist ebenso wenig möglich wie eine Umkehr. Der kanalförmige Gang entpuppt sich damit auch als Disziplinarraum. Erzwingt jedoch die Zelle eine verteilende Sedierung, so der Kanal, ähnlich einem Autobahntunnel, eine gerichtete Mobilität. Die widerständige Destruktion der Zelle als Disziplinarraum wird damit durch die Einlagerung eines fluiden Disziplinarraums erzwungen. Im entworfenen Bildungsraum werden also Disziplinarräume verschachtelt, die ihrerseits differente Bedeutungsstrukturen aufweisen: Der zellenförmige Disziplinarraum wird durch einen bahnförmigen Disziplinarraum durchbrochen und zerschnitten, in dem ein Mobilitätszwang besteht. Der zellenförmige Disziplinraum wird damit zur Bedingung der Möglichkeit des bahnbrechenden Disziplinarraums. Zwar stehen die Raumordnungen von Zelle und Kanal für maximale Gegenpole der Dichotomien geschlossen-offen und statisch-fluid, jedoch - und das ist eine weitere Crux der Rekonstruktion - ist die zwangsläufige Gerichtetheit beider Räume strukturhomolog. Akteure, die sich im offenen, fluiden Schulraum bewegen, entkommen der Disziplinierung nicht. Die mobilen Akteure im Kanalraum werden damit zu einem Widerstand gegen die zellenförmige Mikrophysik der Macht unterworfen. Denn ein „Widersetzen“ in diesem Strom, also eine immobile, sesshafte Haltung einzunehmen, sogar ‚gegen den Strom’ zu schwimmen oder seitlich auszubrechen, ist nicht nur riskant, vielmehr existenziell bedrohlich. Damit wird hier der schulische Bildungsraum in einer widersprüchlichen Spannung entworfen: Der institutionelle Bewährungsmythos zielt auf die Einnahme einer widerständigen Haltung gegen disziplinierende Ordnungen, in denen das Individuum kontrolliert und negiert wird. Die Paradoxie ist nun, dass die Akteure in diesem schulischen Raum zu diesem Widerstand gezwungen werden. Zudem muss seine destruktive Wirkmächtigkeit auch soweit ‚in Bahnen’ bleiben, dass der schulische Rahmen nicht umfassend zerstört wird. Denn damit wäre auch die konstitutive Voraussetzung für die Verwirklichung dieses Bildungsentwurfes entzogen. Dreiecke: Welche Bedeutung haben nun die beiden geschlungenen Dreiecke? Auffallend ist hier die Mehrdeutigkeit dieser Elemente, die sich auflöst, wenn der Betrachter über Insiderwissen verfügt. Dann ist klar, dass es sich nicht um überlappende oder segelhaft aufgespannte Stoffe, auch nicht um Haiflossen handelt, vielmehr Dornen dargestellt sind. So trägt die Schule den Namen „Geschwister-Scholl-Gymnasium“. Im Logo soll der hier bezeichnete Kanal einen 213
Jeanette Böhme | Ina Herrmann
Rosenstängel darstellen, der mit zwei Dornen versehen ist. Die Dornen als Symbol des defensiven Widerstandes, im Sinne einer Abwehr vor Angriffen, verteidigen den schulischen Bildungsraum. Damit wird die Gesamtfigur abgerundet: Das schulische Innen wird als Raum entworfen, in dem eine Unterwerfung zum Widerstand gegen eine Mikrophysik der Macht erfolgt. Ein Widerstand gegen diese Unterwerfung zum Widerstand wäre paradoxerweise das schulinterne Krisenpotenzial dieses Entwurfs. Gleichsam posiert die Schule nach Außen als wehrhaft. Jeder, der einen destruierenden Zugriff versucht, wird abgewehrt. Somit wird die Schule selbst zu einer Feste, die bereits institutionell für eine Abwehr gegen Angriffe sorgt, und somit den künstlich erzeugten und gleichsam verschachtelten Disziplinarraum schützt. Welche Architektur braucht nun dieses pädagogische Konzept? Bezieht man in die Betrachtung mit ein, dass der diagonale Kanal den Stängel der Weißen Rose der Geschwister Scholl darstellen soll, lässt sich thesenhaft folgender Bildungsentwurf behaupten: Der einengenden und beschränkenden Parzellierung durch die Disziplinierung in raster- bzw. zellenförmigen Raumordnungen ist mit Widerstand zu begegnen, der seinen Erfolg in der Zerstörung dieser Ordnung hat. Bildung verwirklicht sich erst in der erfolgreichen Aufhebung gegebener Begrenzungen, im Auf- und Durchbruch. Dieses Konzept „Bildung durch Widerstand“ braucht Begrenzung, seine Verwirklichung setzt also eine Architektur voraus, die eben gerade nicht offen, sondern geschlossen, die eben gerade nicht flexibel, sondern statisch, die eben gerade nicht plural, sondern standardisiert rastert. Durch eine solche geschlossene, statische und standardisierende Architektur werden sowohl die Schüler als auch die Lehrer machtvoll sediert, so dass gerade die Architektur Ausdruck der Machtstrukturen ist, der es sich im Bildungsentwurf zu widersetzen gilt. Entgegen den schulpädagogischen und -politischen Forderungen nach Öffnung, Flexibilisierung und Pluralisierung des Schulbaus ist hier ein institutioneller Bildungsentwurf rekonstruiert, dessen Verwirklichung eine Pädagogische Architektur voraussetzt, die durch zellenförmige Strukturgitter gekennzeichnet ist, an denen Widerständigkeit gegen Disziplinierung sowie entgrenzende Durch- und Aufbrüche geübt werden können. 3.2
Skizzenhafte Triangulation schulkultureller Raumdimensionen
Da in diesem Beitrag keine systematischen Analysen akteursspezifischer Deutungsmuster, architektonischer Raumordnung und der Raumpraktiken verschiedener Akteursgruppen und Akteure vorgestellt werden können, soll nun lediglich exemplarisch und thesenhaft auf diese Dimensionen Bezug genommen werden. Für die Dimension der raumbezogenen Deutungsmuster wurde hier eine Notiz ausgewählt, die ein Lehrer in der Kritikphase der Zukunftswerkstatt am 214
Schulraum und Schulkultur
vorgestellten Gymnasium auf eine Moderatorenkarte geschrieben hat: In der Sequenz „Diktatur des rechten Winkels“ (vgl. Abb. 2) kommt ein lehrerseitiges Deutungsmuster zum Ausdruck, in dem die Schularchitektur durch eine raster- und zellenförmige Struktur gekennzeichnet und diesem Ordnungsprinzip ideologiekritisch eine raumAbb. 2: Moderatorenkarte deterministische Wirkung zugesprochen wird. Denn der Begriff Diktatur bezeichnet eine hierarchisch-zentralistische Form der Alleinherrschaft als Gegenmodell zur Demokratie. Damit wird kritisch auf die architektonische Präferenz von Machtverhältnissen verwiesen, in denen Oppositionen und Widerstand unterdrückt sowie Gewaltenteilungen aufgehoben werden und die Beherrschten Ohnmacht erfahren. Wenn nun im Logo gerade zu einen Durchbruch und Zerschnitt solcher absoluten Räume verpflichtet wird, in denen Körper raumdeterministisch standardisiert und uniformiert werden, wird in der lehrerseitigen Aussage eben dieser Widerstand verwirklicht. Hier zeigt sich um ein Weiteres, dass der schulische Bildungserfolg nur mit Bezug auf Grenzmarkierer, wie den „rechten Winkel“, demonstriert werden kann. Betrachten wir nun die materiale Raumordnung des Schulbaus, hier fokussiert auf den Grundriss (vgl. Abb. 3): Einen Teil der schulischen Gemeinschaft ist es bekannt, dass die Schule aus der Vogelperspektive Ähnlichkeit mit einem Hakenkreuz hat. Anstelle einer Symbolanalyse erfolgt hier die Rekonstruktion der planimetrischen Komposition des Grundrisses (vgl. zum bildrekonstruktiven Verfahren: Imdahl 1996 a, b). Abb. 3: Grundriss Durch die Einzeichnung orthogonaler Feldlinien wird deutlich, dass dieser Bau durch eine verschachtelte Zellenstruktur gekennzeichnet ist (vgl. Abb. 4). Weiterführend ist nun die Raumgrammatik des Schullogos aufzugreifen: Nimmt man so die zellenförmigen Grundrahmen der vier Außentrakte zum Ausgang und zeichnet das Durchbrechen der Winkel und Zerschneiden der Flächen jeweils mit Diagonalen ein, eröffnet sich bei der Kreuzung ein neuer Raum, der jedoch ebenso geschlossen ist und sich im Gebäudekern befindet: Abb. 4: Grundriss mit die Pausenhalle (vgl. Abb. 5). orthoganalen Feldlinien 215
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Am Ende der hier lediglich angedeuteten Rekonstruktion der architektonischen Tiefenstruktur kann die These formuliert werden: In der Kernzone des Gebäudes wird die Möglichkeit eröffnet, einen anderen Widerstandsraum hervorzubringen, der in eklatanter Differenz zu der Ordnung jener zellenförmigen Trakte steht. Die Pausenhalle wird zur Heterotopie. In Hinsicht auf die Raumpraktiken in dieser Pausenhalle (vgl. Abb. 6) können aufgrund einer gegenwärtig zu begrenzten Datenbasis und unabgeschlossenen Rekonstruktionen nur riskante Behauptungen formuliert werden. So zeigt zumindest das Foto zwei dominante Bewegungsfiguren: Einerseits stehen Akteure am Rande, andererseits werden Klumpen bzw. dialogische Stehkreise gebildet. Hier gerade ist eine Analyse der Kommunikationsstrukturen anzuschließen. Sie könnte Abb. 6: Pausenhalle Aufschluss geben, inwiefern die punktuelle Vernetzung in den Stehkreisen im heterotopischen Raum für eine Anpassung an die geforderte Differenzmarkierung zu den zellenförmigen Raumpraktiken steht, in denen die SchülerInnen als „Subjekte in einer Kommunikation“ (Foucault 1994, S. 257) eher negiert werden. Doch was bedeuten die Raumpraktiken der SchülerInnen, die sich der Offenheit des Raums entziehen, indem sich die Akteure in den marginalen Randzonen aneinanderreihen, lediglich das Geschehen in der Pausenhalle rahmen? Thesenhaft könnte hier von territorialisierenden Raumpraktiken gesprochen werden, in denen die Zelle als schulischer Grundrahmen zitiert wird. Kommt hier ein Widersetzen gegen die schulische Unterwerfung zum Widerstand zum Ausdruck, indem der zellenförmige Disziplinarraum raumpraktisch hervorgebracht wird, wo sich von ihm distanziert werden soll? Die Zelle als Heterotopie im Disziplinarraum Pausenhalle, die wiederum Heterotopie im Verhältnis zu den zellenförmigen Unterrichtstrakten ist? Verweigern also die rahmenden Schüler in der Pausenhalle die Potenzialität des offenen, fluiden Raums raumpraktisch, um so den heimlichen Lehrplan der materialen Raumordnung zu boykottieren? Sind unter diesen Schüler gerade jene zu finden, die eine Bildung durch Widerstand gegen eine gerichtete Disziplinierung konsequent verwirklichen, sich also jeglicher Unterwerfung, auch einer zum Widerstand, entziehen?
Abb. 5: Grundriss mit diagonalen Feldlinien
216
Schulraum und Schulkultur
4
Ausblicke
Im Beitrag wurde heuristisch das komplexe Feld einer raumwissenschaftlichen Schulkulturforschung aufgespannt und mit Bezug auf ein laufendes Projekt zumindest die Potenzialität exemplarisch aufgezeigt. Dabei wird deutlich, dass eine solche Grundlagenforschung instruktiv den eher schulpolitisch und -programmatischen Diskurs zu Schularchitekturen irritieren kann. Dies soll abschließend an zwei Aspekten verdeutlicht werden: Die Fallstudie zeigt auf, dass der pädagogische Diskurs zur schulbaulichen Öffnung und Flexibilisierung zu kurz greift. So wurde deutlich, dass offene, fluide Raumordnungen stark gerichtet zu Disziplinarräumen werden können, die Foucault lediglich mit Bezug auf zellenförmige Raummuster konkretisiert hat. Wie Foucault die o.g. disziplinierenden Techniken der zellenförmigen Mikropyhsik der Macht im „Raum der Orte“ (Castells 2001) herausgearbeitet hat, sind diese auch für den „Raum der Ströme“ (Castells 2001) zu erschließen. Dazu sind weiterführende Anschlüsse etwa bei der Raumtypologie von Deleuze und Guattari (2002) zu prüfen, die zwischen dem gekerbten (hier vergleichbar mit dem zellenförmigen) Raum und dem glatten (hier vergleichbar mit dem fluiden) Raum unterscheiden. Denn instruktiv in dieser Unterscheidung ist, dass beide Raumformate eine (Un-)Gerichtetheit der Bewegung präferieren können. Vor diesem Hintergrund und auch mit Bezug auf die Fallstudie kann bereits behauptet werden, dass die Öffnung und Flexibilisierung einer materialen Raumordnung nicht kausal bedingt, dass die Handlungsspielräume für Akteure vielfältiger werden, was konstitutiv etwa für forschende Lernformate ist. Zwar lässt sich in solchen Architekturen durchaus eine Zunahme an Raumbewegungen beobachten, jedoch können diese auch Ausdruck einer gesteigerten Disziplinierung sein. Denn gerade so, wie die zellenförmige Mikrophysik der Macht die Individuen über Verteilung im Raum diszipliniert, ist in einer fluiden Mikrophysik der Macht des Raums eine Disziplinierung der Individuen durch verordnete Rhythmisierung denkbar. Hier schließen machtkritische Studien zur Mobilität und also zu fluiden Disziplinarräumen im o.g. Projekt an. Gerade in dieser Perspektive wird auch deutlich, dass die raumbezogene Forschung ohne den Einbezug des Zeitparameters an Grenzen stoßen wird. Ein zweiter hier zu nennender Aspekt richtet sich an die Behauptungen zur pädagogischen Wirkmächtigkeit des Raums. Dieser wird etwa in der Formel vom ‚Raum als dritten Erzieher’ gesteigert ausgedrückt. Weisen wir diese Perspektive nicht einfach zurück, sondern bleiben in diesem Bild, so stellt sich die Frage nach der pädagogischen Professionalität dieses Erziehers, was uns auf die Ausgangsdiskussion verweist: Wann ist eine Schularchitektur eine Pädagogische Architektur? Wenn also Schularchitekturen professionalisiert werden müssen, 217
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um sich als Pädagogische Architekturen zu bewähren, müssen die aufgezeigten Raumdimensionen (institutionelle Entwürfe des Schulraums; materiale Gestalt der Schularchitekturen; Deutungsmuster schulischer Akteursgruppen; raumbezogene Handlungsmuster schulischer Akteure) berücksichtigt werden. Sowohl in diesen Raumdimensionen als auch in deren Verhältnis zueinander konnten jedoch bereits exemplarisch widersprüchliche Spannungen rekonstruiert werden. Mit heuristischem Rückbezug auf Professionalitätstheorien, die konstitutiv das Lehrerhandeln als widersprüchlich bzw. in antinomischen Spannung gekennzeichnet sehen (vgl. Helsper 1996), ist im Weiteren die These zu verfolgen, inwiefern auch Pädagogische Architekturen konstitutiv durch eine antinomische Grammatik gekennzeichnet sind. Hier eröffnet sich ein weites Feld für eine raumwissenschaftliche Schul- und Bildungsforschung.
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Jeanette Böhme | Ina Herrmann
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Abbildungsverzeichnis Abb. 1:
Schullogo, Geschwister-Scholl-Gymnasium Pulheim; Entwurf: Bernhard Kilimann Abb. 2: Moderatorenkarte; Autorinnenaufnahme im Rahmen der Zukunftswerkstatt am Geschwister-Scholl-Gymnasium Pulheim, 4.-5.04.2008 Abb. 3-5: Grundriss; Geschwister-Scholl-Gymnasium Pulheim http://maps.google.de/ maps?hl=de&ie=UTF-8&rlz=1T4GGLD_deDE306DE306&tab=wl Abb. 6: Pausenhalle; Geschwister-Scholl-Gymnasium Pulheim; Aufnahme: Renate Bonow
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V
Architektonische Potenziale für die Pädagogik
Johannes Bilstein
Raumbildung und Bildungsräume 1
Perspektiven auf Raum
Raum ist immer schon da, Raumgestalten werden immer schon vorgefunden und zugleich ist die Geschichte jedes menschlichen Lebens von Anfang an eine Geschichte von Raumaneignung und Raumkonstitution: Menschen bilden Räume. Das beginnt beim Kinderzimmer (vgl. Berg 2000) und führt über die Schule bis in die Verortung der reflexionsfähigen Subjekte in ihrer je eigenen Geographie: immer beeinflussen die Räume und wirken auf die in ihnen lebenden Menschen – Räume bilden. Wenn von „Raum“ die Rede ist, bewegt man sich also in einem Überschneidungsbereich von Wahrnehmung und Gestaltung (vgl. Becker, Bilstein, Liebau 1997). Diese Grenzregion zwischen Erfahrung und Handeln, zwischen aisthesis und techné, wird im Rahmen der philosophischen Tradition an verschiedenen Stellen zum Gegenstand: in der praktischen Philosophie zum Beispiel und in der Erkenntnistheorie, aber auch beim Nachdenken über die Genese der menschlichen Persönlichkeit. Einer der prominentesten Orte jedoch, an dem diese Spannung zum Thema wird, ist die Kunsttheorie, das Nachdenken und Reden also über die Künstler, über ihr Handeln und Können und über ihre Werke. Die kunsttheoretische Reflexion bewegt sich per definitionem zwischen Wahrnehmung und Gestaltung, behandelt damit auch von vorne herein Grundbedingungen der Reflexion auf Raum (vgl. Zirfas 2009). Dabei haben sich im Laufe einer nunmehr zweieinhalb Jahrtausende währenden kunsttheoretischen Tradition unterschiedliche Blickrichtungen herausgebildet, die man in drei große Gruppen zusammenfassen kann. Immer dann nämlich, wenn es um die Kunst und um die Auseinandersetzung mit Kunstwerken geht, sind grundsätzlich drei Parteien im Spiel: die Werke selber; diejenigen Menschen, die diese Werke hergestellt haben, die Produzenten; und dann diejenigen Menschen, die schließlich den fertigen Werken gegenüberstehen, die Rezipienten. Jede dieser drei Parteien kann in den Mittelpunkt der theoretischen Aufmerksamkeit rücken und jede von ihnen ist auch in der Tat immer wieder zum Ausgangspunkt ästhetischer Theoriebildung geworden. Wir haben uns daran gewöhnt, Werkästhetik, Produktionsästhetik und Rezeptionsästhetik bzw. Wirkungsästhetik voneinander zu unterscheiden.
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Johannes Bilstein
Natürlich lässt sich der einzelne Entwurf einer ästhetischen Theorie kaum je vollständig und restlos einer Gruppe zuordnen (vgl. Jauß 1994). Dennoch sind Schwergewichte und Akzentuierungen unübersehbar und eindeutig zu identifizieren. Im Folgenden soll nun versucht werden, aus diesen Kategorisierungsmustern kunsttheoretischer Perspektiven auch für die Analyse pädagogischer Raum-Gestaltungen Gewinn zu ziehen und Analogien für das Nachdenken und Reden über Erziehung zu erkennen.
2
Schöpfung
Die lange Tradition der Kunst-Theorien als Künstler-Theorien beginnt bei den enthusiastischen Konzepten der griechischen Antike, in denen ein vom Geist erfüllter Sehender Worte spricht, die nicht eigentlich aus ihm kommen, sondern ihm von oben eingegeben sind (vgl. Bilstein 2009 a). Ein göttlicher Geist wirkt hinein in eine Menschenseele, damit ist dieser Gott dann ins Innere dieser Menschenseele hinein geraten, und damit ist sie zu einer ganz besonderen geworden: gottbegeistert, en-theos eben. Übersetzt als „Inspiration“ bzw. später dann als „Begeisterung“ mündet diese Vorstellung jenseitigen Einwirkens schließlich in die Genie-Ästhetiken der europäischen Spätaufklärung, um dort das alte – horazische – Gleichgewicht zwischen ingenium und studium nahezu vollständig zugunsten einer mehr oder weniger göttlich generierten Gabe zu verschieben (Horaz 1972, S. 408, S. 288308; vgl. Bilstein 2008 b). Die Kunst und die Kunstwerke definieren sich über die nicht weiter analysierbare und nicht rational kontrollierbare Leistung genialisch begnadeter Künstler. Diese Genie-Ästhetik, nicht zuletzt die quasi-feudalen Stilisierungsbedürfnisse vor-bürgerlicher Künstler widerspiegelnd, geht dann spätestens in der Renaissance eine enge Verbindung ein mit neuen Konzepten menschlicher Subjektivität, begründet auf diese Weise die prominente Positionierung der Künstler im Selbstverständigungsprozess des sich entwickelnden Bürgertums (vgl. Schmidt 1988, Bd. I, S. 354-380; Zilsel 1926; Curtius 1984, S. 467-468; Bilstein 1996). Dieses Genie-Konzept bewegt sich nahezu von Anfang an in dem bemerkenswerten Paradox gerade nicht pädagogisch determinierter selbstkonstitutiver Ambitionen, die dann aber wiederum in heftigen pädagogischen Sehnsüchten münden. Anders gesagt: Wahrhaft genialische Künstler haben keine Lehrer, entwickeln aber gerne kräftigen Ehrgeiz, ihrerseits ganze Schulen von Nachfolgern auszubilden (vgl. Bilstein in „von selbst“).
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Raumbildung und Bildungsräume
Die spezifische künstlerische Leistung wird einerseits an die Abbildung, die Auseinandersetzung mit Vorgefundenem also, gebunden. Andererseits jedoch erhält künstlerisches Wirken seine spezifische Eigenart und seine Qualität durch ein nicht erklärbares und auch nicht verstehbares Mehr im Produzenten: eine Art genialistischer Metaphysik. Der sich daraus ergebende Anspruch der Künstler, Besondere zu sein, wird in der langen Tradition prometheischer Selbststilisierung immer wieder durchgespielt, und dadurch wird die Fokussierung der KunstDiskussion auf die Produzenten immer wieder festgeschrieben. Shaftesbury’s Konzept vom Künstler und vom Virtuosen als zweitem Schöpfer unter Jupiter fasst diese Vorstellungen dann im 18. Jahrhundert noch einmal zusammen und transportiert sie damit in die begriffsgeschichtliche Entwicklung des deutschen Bildungsbegriffes (vgl. Bollenbeck 1996, S. 112-126). Unumstritten war das nie. Gerade wegen seiner Paradoxien und wegen des mehr oder weniger radikalen Subjektivismus ist das Geniekonzept schon früh unter Kritik geraten: Vernachlässigt würden bei der Reduktion künstlerischer Prozesse auf die Arbeit genialisch Begabter sowohl die Entstehungs- und Herstellungsbedingungen als auch die Bedingtheiten der Rezipienten – und schließlich auch die Eigendynamik und die innere Logik der Werke selbst (vgl. Schmidt 1988, Bd. 2, S. 40-62 und S. 169-193). Dennoch sind aus dieser auf die Produktion, genauer auf die Produzenten fokussierten Sichtweise nicht nur gemalte Bilder oder Plastiken, Werke der Dichtkunst oder musikalische Schöpfungen betrachtet worden, sondern auch räumliche und bauliche Gestaltungen. In der Geschichte der Produktionsästhetik spielen die Baumeister traditionell eine wichtige Rolle. Bereits im Begriff des „Architekten“, dem archi-tekton, dem obersten und ersten der Bau-Zimmerer, ist diese Perspektive personalisiert und individualisiert enthalten: Er ist ein Einzelner, Entscheidender, der seine techné in eigener Verantwortung und autonom ausführt, vor und über seinen Helfern und Mitarbeitern, ausgestattet mit eigener Machtvollkommenheit. Das Bild von Gott als erstem und oberstem Baumeister, als Archi-Tekt eben, gehört denn auch zur christlichen StandardBildlichkeit, sei es in sprachlich-legendärer oder visueller Form. Gott, mit einem Zirkel die Welten-Räume vermessend, mit einem Lot die rechten und richtigen Verhältnisse überprüfend: das ist eine Grundmetapher der Konstruktion und des Herstellens, in der sich strenge Rationalität und disziplinierte Omnipotenz, planerischer Voluntarismus und physikalische Intellektualität miteinander vereinen (vgl. Tachau 1998). Diese Imagination von der Allmacht des architektonischen Raum-Gestalters wird dann – aus der Theologie kommend – in die Staats- und Gesellschafts-Metaphorik übertragen, mündet schließlich in die lange Tradition utopischer Architektur-Entwürfe – von Ziegenhagen bis Owen, von Fourier bis le Corbusier (vgl. 225
Johannes Bilstein
Demandt 1978, S. 277-296; Bollerey 1991). Und noch die Selbststilisierung prätentiöser Monarchen und Diktatoren als Staats-Architekten, neue Welten auf dem Modell-Tisch hin und her schiebend, folgt den immanent angeboten Mustern architektonischer Omnipotenz. Der produktionsästhetisch fokussierte Blick auf die Architekten rückt konsequent den einen, den technisch-gestalterisch handelnden Bezug zum Raum in den Vordergrund. Aus dieser produktionsästhetischen Sicht erscheint der Raum nur und allein als Ergebnis menschlichen Tuns – und so kann man von hier aus denn auch sehr genau über Motive, Bedingungen und Techniken menschlicher Raumgestaltung diskutieren und verhandeln. Von hier aus sind auch pädagogische Analogien gezogen worden. Zwar ist die Architektur-Metaphorik bei Comenius – konstantes Element in seiner Großen Didaktik – noch als mechanistisch-rationale, wenn nicht maschinale Konstruktionsmetaphorik angelegt, sie lenkt aber in der Konkurrenz zu georgomorpher Betreuungsmetaphorik bereits den Blick auf die Produzenten und Gestalter von Erziehung und auf deren konstruktive Verfügungsgewalt über ein tendenziell passives Material (vgl. Schaller 1966; Gaebe 1984; Bilstein 2008 a). Es ist diese Perspektive auf die konstruktive Leistung der Erziehenden, die sich dann bis zum 19. Jahrhundert zunehmend genialisiert und in die theoretisch aufgeladene Imagination von einem pädagogischen Genius mündet, der sich durch Liebe und Verstehen, gar nicht durch den Verstand oder durch rationale Professionalität auszeichnet. Und alles pädagogisch Entscheidende geschieht dann in dem einen zugespitzten Augenblick, dem Moment der göttlichen Enthusiasmierung, der Inspiration und Begeisterung, in dem einen fruchtbaren Moment eben (vgl. Dilthey 1971; S. 100; Copei 1950 S. 28-100; Bilstein 2004). Und schließlich verschiebt sich die Perspektive noch einmal, wenn der konstituierende Genius sozusagen die Seiten wechselt und in das Innere nun nicht mehr der Erzieher, sondern des Kindes verlagert wird. Hartlaubs „Genius im Kinde“ von 1922 liefert hier eine Art Schluss-Resümee (Hartlaub 1922). Mit solcherart selbstkonstitutiv wirksamen kindlichen Genies entsteht eine Variante genialistischer Produktionsästhetik, die sich einerseits in den bekannten mentalitätsgeschichtlichen Kontexten der zeitgenössischen Kulturkritik und Lebensreform bewegt, die aber andererseits an ganz alte, autoplastisch akzentuierte Künstler-Theorien anschließt. Auch hier wurde immer schon widersprochen. Mit dem Konzept pädagogischer Genialität ist eine ganz spezifische Widersprüchlichkeit verbunden, deren Kritik und Gegenkritik zu den Kernbereichen der pädagogischen und erziehungswissenschaftlichen Diskussion gehören (Lenzen 1997). Einerseits – so lauten die klassischen Vorwürfe – reduzieren sich gesellschaftlich und historisch bedingte Prozesse hochkomplexen Zusammenspiels zwischen vielen Beteilig226
Raumbildung und Bildungsräume
ten auf das unhintergehbare und letztlich unreflektierbar spontane Handeln einzelner Begabter: des genialischen Künstlers, des begnadeten Architekten oder eben des pädagogischen Genius. Andererseits jedoch hält ein solcher Genialismus auch den Blick offen auf die unplanbaren, unkalkulierbaren, nicht vermittelbaren und auch nur bedingt professionalisierbaren Elemente künstlerischer, architektonischer – aber eben auch pädagogischer Praxis.
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Nutzung
Aber es gibt bei der Kunst auch diejenigen, welche sich anschauend, zuhörend oder lesend mit den Werken der Künstler auseinander setzen: die Rezipienten. Rezeptionsästhetik hat bei weitem nicht eine solch lange Tradition wie die Produktionsästhetik – dennoch spielt sie in der Auseinandersetzung und Diskussion um die Kunst eine zunehmend wichtige Rolle. Nimmt man also die Nutzer und Empfänger, die Opfer und Genießer künstlerischer Gestaltungsarbeit in den Blick, dann kann man vor allem deutlich erkennen, wie sich die Gleichgewichte zwischen den beiden Perspektiven – Produktion und Rezeption – immer wieder verschieben. Am interessantesten ist dabei das ausgehende 18. Jahrhundert. Hier kommt es zu einer Umorientierung, die geradezu symptomatisch ist für das Ende der Aufklärungsepoche. War es in den Aufklärungsästhetiken nämlich vor allem um die moralische Wirkung der Kunst auf die Gesellschaft und auf die einzelnen – auf die Rezipienten also – gegangen, so verschiebt sich das künstlerische und theoretische Interesse nun wieder einmal auf die Produzenten. Außerkünstlerische Legitimationen der Kunst werden für obsolet erklärt, alles künstlerische Wirken definiert und legitimiert sich nur noch über das Stürmen und Drängen des Genius und der Genies. Der Übergang von der Rezeptions- zur Produktionsästhetik markiert hier eine außerordentlich folgenreiche Epochenschwelle, und einer der wichtigsten Protagonisten dieses Überganges ist Goethe (Wolf 2001) Allerdings geraten bei diesem Wandel auch die Rezipienten nicht in Vergessenheit – sie werden vielmehr produktionsästhetisch nobilitiert. Zunehmend geraten sie unter den Anspruch, nach-schöpferisch tätig zu sein. Mit Leidenschaft, geradezu erotischem Bezug sollen sie das anschauen, was andere hergestellt haben und es im Sehen noch einmal schaffen (vgl. Bätschmann 1985). Rezeption und Produktion nähern sich einander immer mehr an, je weniger die Auseinandersetzung mit der Kunst im aufklärerischen Sinne moralisch-propädeutisch wirken soll, und je mehr sie auf Wahrheit und auf das unverfälschte „Nachempfinden“ einer künstlerischen „Ursprache“ gerichtet ist. Werk und Be227
Johannes Bilstein
trachter treten nun in eine kontemplativ-reversible Zweierbeziehung, wo sich früher die Rezipienten untereinander im geistreichen Dialog aus Anlass des Kunstwerkes übten (vgl. Kemp 1989). Schweigend und ergriffen, nachschaffend und nacherlebend stehen die Kunstbetrachter vor dem Kunstwerk und erfahren dort Unterricht vom schöpferischen – zum Beispiel architektonischen – Genie. „Deinem Unterricht dank ich’s, Genius, dass mir’s nicht mehr schwindelt an deinen Tiefen, dass in meine Seele ein Tropfen sich senkt der Wonneruh des Geistes, der auf solch eine Schöpfung herabschauen und gottgleich sprechen kann: Es ist gut.“ (Goethe 1981, S. 12; Schmidt 1988, Bd. 1 S. 193-196; vgl.: Goethe 1981, IX. und XII. Buch, S. 382-384 und S. 507-508.). Beim Anschauen des Straßburger Münsters wird der 23-jährige Goethe 1772 zum – und sei es tröpfchenweise – kongenial Nachschaffenden, der sich selbst als einen dem Genie-Konzept adäquaten Typus des Kunstbetrachters in Szene setzt. Erst als solcher, als Nachvollziehender und ekstatisch Erfüllter, ist er belehrt. „Ein ganzer, großer Eindruck füllte meine Seele, den, weil er aus tausend harmonisierenden Einzelheiten bestand, ich wohl schmecken und genießen, keineswegs aber erkennen und erklären konnte“ (Goethe 1981, S. 11.). Ein Teil der genialischen Ambitionen verlagert sich so von den Herstellern der Werke auf die Betrachter. Von hier aus ist es noch ein weiter Weg hin zur gegenwärtigen Museums-Didaktik, es ist aber auf jeden Fall ein breiter und historisch sich verbreiternder Weg, auf dem durch Profanisierungs- und Demokratisierungsprozesse mehr und mehr die prominenten Positionen hervorgehobener Einzelner geschleift und zugunsten allgemeiner Partizipation aufgegeben werden. Noch Joseph Beuys‘ Anspruch eines Künstlerstatus für alle folgt diesem Weg einer Universalisierung des Produzentenstatus durch Produktivierung der Rezeption. Der Blick auf die Empfänger der künstlerischen Anstrengungen verfolgt in diesem Sinne eine quasi-demokratische Perspektive – zumal dann, wenn er die Qualität des künstlerischen Werkes an die Qualität und schließlich sogar die Quantität der Rezeption bindet. Zwar haben rezeptionsästhetische Argumente im Diskussionskreis des Systems „Kunst“ einen einigermaßen schweren Stand. Ihre vehemente Ablehnung in Zeiten zunehmender Marktorientierung trägt jedoch oft die Züge von Abwehrprozessen im klassisch psychoanalytischen Sinn: häufig borniert, manchmal komisch, manchmal von wirklichem Heroismus geprägt (vgl. Graw 2008; Bilstein 2009 b). Trotz dieser Abwehrhaltung aber bleibt die rezeptionsästhetische Perspektive von zentraler Bedeutung, vor allem deshalb, weil das Angeschaut-Werden und das Gehört-Werden, das Genutzt- und Aufgenommen-Werden zu den unhintergehbaren Bedingungen aller Kunstwerke gehören, und weil – um es mit Hans–Robert Jauß zu formulieren – der Rezeption mehr noch als der Produktion eine kulturstiftende „geschichtsbildende Energie“ inne wohnt (Jauß 228
Raumbildung und Bildungsräume
1994, S. 127). Dies gilt auch und vielleicht sogar besonders dann, wenn sich die Werke auf das Hermetischste dieser Auseinandersetzung zu entziehen suchen. Was Bauwerke angeht, so sind sie mehr als andere Kunstwerke für menschliche Nutzer und für menschlichen Nutzen konzipiert. Insofern liegen hier rezeptionsästhetische Aufmerksamkeitsrichtungen besonders nahe: in der Kritik wie im Gegenentwurf. In diesen argumentativen Zusammenhang gehören die klassischen architekturkritischen Polemiken, beginnend bei Adolf Loos‘ „Ornament und Verbrechen“ von 1908 (Loos 1962). Gerichtet sind all diese Kritiken gegen die menschfeindliche Dysfunktionalität von Bauten, die sich dem Lebens- und Gebrauchsbedarf ihrer Nutzer gegenüber abweisend verhalten. Im Einzelnen freilich ist die Frage nach den Auswirkungen des Gebauten auf die Menschen nicht immer einfach zu beantworten – die Forschungsarbeiten Christian Rittelmeyers liefern Beispiele dafür, wie durch genaue Untersuchungen des Rezeptionsverhaltens angesichts von Schulbauten die Qualität und der Wert dieser Bauten für die sie nutzenden Menschen bewertet werden können. Aber auch die disziplinierungsgeschichtlich vorgehenden Arbeiten von – zum Beispiel – Wolfgang Dreßen oder Michael Göhlich bewegen sich innerhalb eines rezeptions- und wirkungsästhetischen Horizontes (vgl. Dreßen 1982; Göhlich 1993; Rittelmeyer 1994; Lederer 2002). Im weitesten Sinne rezeptionsästhetisch, also von der Seite der Nutzer her, argumentieren schließlich aber auch viele der reformpädagogisch inspirierten Gegenentwürfe, die es sich oft zum Programm und zur Aufgabe machen, SchulArchitektur entlang den Bedürfnissen der Nutzer zu gestalten. Dabei entstehen Raum-Konzepte, bei denen Nutzer- und Produzentenorientierung, aisthesis und techné, ineinander verschlungen sind. Und das ist auch wichtig so. Genauso jedoch wie eine produktionsästhetisch verkürzte Sicht die Rezeptions-Bedingungen und die Adressaten aus dem Auge verliert und sie damit verbirgt, bleiben – wenn man den Fokus der Aufmerksamkeit alleine auf die Rezeption legt – all die Entscheidungsprozesse und Wahlen im Dunklen, die jedem Gestaltungsakt zugrunde liegen. „Gemütlichkeit“ als Kriterium verschleiert dann letztlich den angestrebten Zwang, so gut er auch gemeint sein mag.
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Werk
Neben den Produzenten und den Rezipienten kann man auch die Werke selber in den Blick nehmen. Dabei wird dann schon früh deutlich, dass in den Bildern und Plastiken, den großen Dramen oder Musikstücken übersummative Effekte wirksam sind, die aus ihnen mehr machen als bloße Repräsentanten eines 229
Johannes Bilstein
Schöpfer-Willens, als bloße Abbilder von Anderem, wirklich Vorhandenem oder als Antworten auf Nutzer-Bedarf: Sie produzieren und repräsentieren durch ihr bloßes Dasein einen „Zuwachs an Sein“ (Gadamer 1960, S. 133). Hieraus ergibt sich die ehrwürdige und folgenreiche Unterstellung einer eigenen inneren Gesetzlichkeit der Werke; einer Autonomie, die nicht an einen Hersteller oder Schöpfer gebunden ist, sondern sich aus dem Eigenleben, der inneren Logik und Dynamik der Werke selber bestimmt. Und wieder ist es – diesmal allerdings der alte – Goethe, der die entsprechende Grundformel am Beispiel der Poesie liefert: „Wer Gedichte will verstehen, muss ins Land der Dichtung gehen“ (Goethe 1888, S. 1). Den Werken der Kunst wird eine eigene Territorialität zugeschrieben, ein „Land“; ihnen wird kontrafaktisch eine Autonomie unterstellt, die sie real keineswegs haben. Aus dieser – mehr oder weniger metaphysisch begründeten, jedenfalls paradoxen – Unterstellung folgt dann für jede Interpretation und jede Rezeption, dass sie vor allem eines sein müssen: werk-immanent. Die Kritik an der werkimmanenten Interpretation hat sich vor allem im 20. Jahrhundert mit vorzugsweise soziologischen Argumenten breit und in oft heftiger Polemik entfaltet. Vor lauter Einfühlung in die innere Bedeutung und Struktur der Werke gehe – so die Kritik – jedes Bewusstsein ihrer Bedingtheit und ihrer Wirkung verloren, es entstehe ein unreflektierter, politisch fataler Ästhetizismus, der einen historisch unschuldigen Bereich des Schönen hypo-stasiere (vgl. Bilstein 1997). Trotz dieser Kritik und trotz aller Widersprüchlichkeiten sind die argumentativen Grundmuster der Werk-Autonomie jedoch immer weiter entfaltet worden – am deutlichsten wohl in Adornos Ästhetischer Theorie. Diese Theorie bleibt im Kern eine Werkästhetik und versucht, jede Manifestation von künstlerischer Arbeit in der grundsätzlichen Spannung von Autonomie und fait social zu begreifen. „Gesellschaftlich aber ist Kunst weder nur durch den Modus ihrer Hervorbringung [...] noch durch die gesellschaftliche Herkunft des Stoffgehalts. Vielmehr wird sie zum Gesellschaftlichen durch ihre Gegenposition zur Gesellschaft, und jene Position bezieht sie erst als autonome“(Adorno 1970, S. 335). Gerade als Autonome also trägt die Kunst, tragen die Kunstwerke sozialen Charakter. Nun geht es bei Adorno, wenn er von Kunst spricht, vornehmlich um Musik und Literatur – aber auch bei Architektur- und Raumgestaltung ist der Blick aus werkästhetischer Richtung durchaus traditionell und durchaus aufschlussreich. Dieser Blick fällt zunächst natürlich auf per definitionem auratische bzw. auratisierte Gebäude: die gotische Kathedrale zum Beispiel entsteht seit den Konzeptionen des Abtes Suger im 12. Jahrhundert als ein Gesamtkunstwerk, dessen Architekten zwar vielleicht bekannt, eigentlich aber nicht von Interesse sind (vgl. Duby 1984; Duby 1979, S. 71-134, mit schönem Bildmaterial). Es ist 230
Raumbildung und Bildungsräume
der Bau selbst, ein durch Licht, Stein, Glas, Höhe und Weite wirkender Raum, der als Agent und Subjekt von Gottesverehrung angesehen wird. Diesem Kathedralraum wird wie allen späteren auratischen Räumen - der romantischen Wald-Kathedrale, der andachtsheischenden Museumshalle, der furchteinflößenden Schulaula etc. - eine eigene Qualität und ein eigenes, autonomes Wirken unterstellt, das sich übersummativ herstellt. Um Wirkung geht es also auch hier, der Blick ist aber nicht auf die Rezipienten, sondern auf das Bauwerk selbst gerichtet, das diese Wirkung ausübt. Will man versuchen, diesen eigenartigen, übersummativ wirkenden Charakter eines Gebäudes oder eines Raumes in Kategorien von „Stimmung“ und „Anmutung“ zu erfassen, dann ist dafür zunächst und vor allem Eines nötig: genaue und skrupulöse Beschreibung. Ein je spezifischer Raum wird so darstellbar in seiner Eigenart und Gesamtwirkung, seiner Atmosphäre (vgl. Bollnow 1964 S. 18-26; Bollnow 1997, S. 229-243). Vor allem die inzwischen lange Tradition phänomenologischer Beschäftigung mit Raum – auch und gerade im pädagogischen Zusammenhang – verfolgt durchweg werkästhetische Perspektiven. Wie genau und zugleich empathisch räumliche Gestalten aus dieser Sichtweise nachgezeichnet werden können, dafür bietet Martinus Langevelds Arbeit über die geheimen Stellen im Leben des Kindes ein schönes Beispiel. Wenn Langeveld den Dachboden als Ort kindlicher Welterschließung beschreibt, unterstellt er dem von Menschen gemachten Raum-Werk eine Autonomie, die kontrafaktisch ein gehöriges Stück Metaphysik enthält, die aber zugleich auch den Blick freimacht für die eigendynamischen Wirksamkeiten räumlicher Figurationen (vgl. Langeveld 1968, S. 74-100; Bilstein 1999). Erst und nur aus einer solchen werkästhetischen Perspektive heraus wird sichtbar, dass und auf welche Weise Räume, auch und gerade als von Menschen gebildete, ihrerseits wiederum mit eigenem Profil bildend wirken. Dass sich von einer solchen werkästhetisch definierten Selbständigkeit künstlerischer Gestalten auch Analogien zu pädagogischen Denkfiguren ergeben, liegt auf der Hand. Historisch hat sich diese Parallele spätestens im Laufe der Romantik herausgebildet – und die Argumentationsgänge sind da von wirklich erstaunlicher Ähnlichkeit: Es entwickelt sich ein pädagogischer Blick auf das Kind, der – gegen alle empirisch offensichtlichen Determiniertheiten – die eigene Kraft und die unverwechselbare Individualität schon der Kleinsten erkennen will. Dieser Blick entspringt einer gewollten und gewählten Ästhetisierung, welche der gewollten und gewählten, alle empirisch offensichtlichen Determiniertheiten zurückstellenden Autonomisierung der Kunstwerke durchaus vergleichbar ist (vgl. Baader 1996). Mit diesem gewollten Blick auf Autonomie wird den Werken, wird den vor-mündigen Menschenkindern, wird aber auch Raumgestalten eine Subjektivität zugeschrieben, die sich zwar im Einzelnen 231
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nicht empirisch nachweisen lässt, die aber sowohl für das komplexe Unternehmen einer Bildung zur Mündigkeit wie für den Anspruch einer für Menschen existenziell relevanten Kunst eine unhintergehbare Voraussetzung liefert.
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Respekt
Nun wissen wir, dass alles auch ganz anders sein kann. Gerade ein nicht angepasster, vielleicht sogar feindlicher Raum kann zusammenschweißen, räumliche Widrigkeiten können sich pädagogisch ganz außerordentlich fruchtbar auswirken. Pestalozzi bietet in seinem Stanser Brief Beispiele für dieses Spannungsverhältnis zwischen räumlichen Defiziten und der Intensität pädagogischer Beziehungen (vgl. Pestalozzi 1980). Und natürlich gab es auch in den wilhelminischen Schulkasernen viele gute, ernsthafte und humane Lehrer – selbst wenn sie dazu auch noch Herbartianer waren. Dabei wird deutlich, wie wichtig Fremde und Distanz sind – auch zwischen den Menschen und ihren Räumen. Eli-Lenti: dieses althochdeutsche Wort bezeichnete einst einen anderen, fremden Raum, ein anderes Land, eli-lenti eben. Im Neuhochdeutschen ist daraus unser Wort „elend“ geworden, Bezeichnung für eine Fremde, ein Exil, für einen ursprünglich räumlich gedachten Mangel, welcher der symbolischen Aufgehobenheit von „Heimat“ entgegensteht. Diese Fremde jedoch, als wahrgenommene Differenz zwischen den Menschen und ihren Räumen gedacht, könnte auch ein Stück Freiheit und eine menschliche Kulturleistung jenseits von allem Aneignungspathos beinhalten - im Großen, wie im Kleinen. Die im pädagogischen Kontext handelnden Menschen und die Räume, in denen sie handeln; diese beiden Parteien könnten aus einer gegenseitigen respektvollen Fremde durchaus gewinnen. Der Raum wäre dann nicht mehr den menschlichen Wünschen vollständig unterworfen, er bliebe vielmehr ein Gegenüber, das sich Achtung verschafft und dem Achtung entgegengebracht wird: auch nach dem Verlust jeder Aura (vgl. Ziehe 1997). Was dann entstehen könnte, und was auch an die nächste Generation weitergegeben werden könnte, das ist Respekt: Respekt und Achtung nicht nur vor dem, was unter, was über und was neben uns ist, sondern auch vor all dem, was um uns und was in uns ist: Raum. Dieser Respekt, der sich dem Raum bildend zuwendet und ihm zugleich seine Bildungswirkung belässt – dieser Respekt muss ja nicht gleich Ehrfurcht sein (vgl. Goethe 1977, II. Buch, 1. Kapitel, S. 156-157; vgl. Bollnow 1997, S. 271285).
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Johannes Bilstein
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Gerd E. Schäfer | Lena Schäfer
Der Raum als dritter Erzieher 1
Reggiopädagogik – eine Pädagogik des Zuhörens
1991 verlieh die amerikanische Zeitschrift „Newsweek“ den Einrichtungen in Reggio einen Oskar für „eine Pädagogik, die den vielerorts üblichen Vorstellungen zur Kindererziehung neue und außergewöhnliche Ideen entgegensetzt.“ Es wurde weiterhin betont: „In Reggio Emilia gibt es die schönsten Krippen und Kindergärten der Welt“ (Romberg 2001). Was macht diese Reggiopädagogik so besonders? Reggiopädagogik ist eine Pädagogik der frühen Kindheit, die sich auf die Zeit der ersten sechs Lebensjahre bezieht. Sie ist als eine lokale Pädagogik der kommunalen Kindertageseinrichtungen in Reggio/Emilia in den 1960er Jahren des 20. Jahrhunderts entstanden. Ihre wichtigsten Merkmale sind: Ein demokratisches Verständnis der Kooperation, welches Eltern, Erzieher/innen und Kindern gleichermaßen die Möglichkeit einräumt, ihre Interessen einzubringen und zu vertreten. Das bedeutet auf Seiten der Erwachsenen eine zwischen Eltern und Fachpersonal abgestimmte pädagogische Zusammenarbeit. Jeder, bis hin zur Köchin und dem technischen Personal, ist ein Teil des pädagogischen Konzepts. Zwischen dem Fachpersonal gibt es wenig hierarchische Unterschiede. Die fachliche Kooperation im Team wird institutionell auch organisatorisch stark unterstützt. Wie aber können Kinder ab dem ersten Lebensjahr gleichgewichtig ihre eigene Sicht der Dinge zur Geltung bringen? Dadurch, dass die Erwachsenen sie nicht einfach zu Adressaten pädagogischer Absichten machen, denen man alles mögliche vermitteln muss, sondern sich mit all ihren Möglichkeiten bemühen herauszubekommen, was die kindlichen Interessen und Bedürfnisse jeweils sein könnten. Grundlage ihres fachlichen Handelns ist daher eine „Pädagogik des Zuhörens“, die den Kindern Raum und Zeit vorhält, wo sie ihre eigenen Vorstellungen von der Welt einbringen und prozesshaft verändern können. Dabei steht Zuhören als Metapher für alle Formen der Aufmerksamkeit für die Weisen, in welchen sich Kinder äußern und in Beziehung treten. Es geht um ein „multiple listening“ (Rinaldi 2001, S. 82) Dies fügt einerseits ein Moment der Zurückhaltung in das pädagogische Handeln ein – Zurückhaltung, bis man „verstanden“ hat; andererseits eine Weise des Dialogs, der sich mit den Kindern über ihre
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Anliegen – auch nicht sprachlich – verständigt. Verständigen meint hier die Intentionen der Kinder mit denen der Erwachsenen in eine Balance zu bringen, die den Kindern ein Höchstmaß an Eigeninitiative zugesteht. Nach außen wird diese „Pädagogik des Zuhörens“ in einer Kultur des teilnehmenden Beobachtens und der Dokumentationen sichtbar. Umfangreiche Dokumentationen über die Ideen und Prozesse der Gedanken der Kinder in ihren Projekten machen diese Kultur einer pädagogischen Aufmerksamkeit für die kindliche Weltwahrnehmung und die daraus sich ergebenden Bildungsprozesse sichtbar (vgl. Reggio Children/ Project Zero 2001). Die institutionell verankerte Kooperation der Fachkräfte untereinander, zusammen mit Fachberaterinnen, bildet die strukturelle Basis dafür.1 Ein weiterer zentraler Gedanke der Reggiopädagogik bezieht sich auf die Bedeutung des sozialen Miteinanders im Bildungsprozess. Dabei wird vornehmlich die Kooperation der Kinder untereinander beim Problemlösen nach dem Motto herausgefordert: Einer ist klug, mehrere sind klüger, wobei sich Klugheit auf alle Weisen bezieht, die Welt zu erfassen und daraus Weltbilder zu entwickeln. Projektarbeit in der Reggiopädagogik dient nicht in erster Linie der kindlichen Aneignung vorgegebener Könnens- und Wissensbereiche, sondern ist insbesondere eine Weise, die Kinder über ihre Ansichten von einzelnen Facetten ihrer Welterfahrung miteinander ins Gespräch zu bringen. Das Ziel dabei ist, dass sich ihre Weltsicht vertieft, sie unterschiedliche Perspektiven umfasst, immer wieder kritisch überdacht, mit neuen Wahrnehmungen, Empfindungen und Erfahrungen bereichert wird und durch den Prozess der Gegenseitigkeit in Handlungen, Vorstellungen und Gedanken interessierte Resonanz erfährt. Das setzt voraus, dass anerkannt wird, dass Kinder selbst bereit und in der Lage sind, die Wirklichkeit, die sie umgibt, kennen zu lernen, in und mit ihr zu handeln sowie ihr Wissen und Können dabei weiter zu entwickeln; dass sie sich Gedanken darüber machen, was die Dinge, denen sie begegnen, bedeuten; und dass sie neugierig sind, ihre Ansichten von der Welt zu erweitern und zu differenzieren. Das führt dazu, dass man Kinder nicht belehrt, sondern ihr eigenes Denken so weit wie möglich ins Spiel bringt, mit dem sie Wirklichkeiten erfahren, ordnen, denken und umdenken können. Die Anerkennung des Kindes als ein Wesen, das sich selbst die Welt erschließen will, die Beteiligung der Kinder an den Möglichkeiten, die ihnen ihre Umwelt bietet, eine Pädagogik des Zuhörens, sozialer Austausch über die unterschied1
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Beobachtung und Dokumentation wird nicht einfach gefordert. Vielmehr wurden institutionalisierte Rahmenbedingungen geschaffen, in welchen regelmäßige Teamgespräche über die Beobachtungen stattfinden können. Die Kooperation mit Fachberaterinnen verhilft dazu, nicht nur die sozialen Aspekte des Lernens der Kinder in den Blick zu nehmen, sondern darüber hinaus ihre Gedanken, Denkweisen, Ideen, Problemlösestrategien und individuelle Sicht der Dinge.
Der Raum als dritter Erzieher
lichen Weltsichten als Möglichkeit der Bereicherung, sind der Hintergrund, vor dem erst verständlich wird, weshalb der Raum als dritter Erzieher eine zentrale Bedeutung für pädagogische Handlungszusammenhänge bekommt. Denn alle diese anthropologischen Voraussetzungen, die heute auch durch Kognitions-, Säuglings- oder Kleinkindforschung gestützt werden (vgl. zusammenfassend z.B. Dornes 19992; Gopnik u.a. 2003; Goswami 2007; Nelson 2007), verlangen nach einer sachlichen und sozialen Umwelt, in der einerseits die Neugier der Kinder angestoßen wird, sie zum Zweiten die Möglichkeit haben, selbst tätig zu werden und zwar handelnd, vorstellend, gestaltend und denkend, sie aber andererseits durch einen institutionellen und sozialen Rahmen vor Überforderung und unzuträglichen realen Folgen geschützt sind. Neben einer Öffnung der Einrichtung in den Bereich des öffentlichen, kommunalen Lebens spielt dabei der Raum als dritter Erzieher eine wichtige Rolle. Was sich in Reggio nun über mehrere Jahrzehnte entwickeln konnte, unterscheidet sich von den derzeit öffentlich propagierten Vorstellungen über frühkindliche Bildung als Kompetenzerwerb. An keiner Stelle geht es darum, den Kindern vor allem bestimmte Kompetenzen zu vermitteln. Instruktive Momente ergeben sich allerdings gelegentlich als Notwendigkeit, wenn sich Kinder mit bestimmten Materialien, Werkzeugen oder Denkverfahren vertraut machen müssen, um in ihren Problemlösungen weiter zu kommen. Instruktion verfolgt daher keinen Selbstzweck, sondern ist ein Mittel, das zeitweise helfen kann, Schwierigkeiten von Problemlösestrategien zu erleichtern. Vielmehr ist man in der Reggiopädagogik bemüht – wie in einigen anderen reformpädagogisch inspirierten Konzepten auch – eine Kultur des Lernens zu entwickeln, in der das individuelle Lernen nicht als isolierbares und individualisierbares Einzelphänomen angesehen, sondern in einem breiteren sachlichen, sozialen, institutionellen und gesellschaftlichen Kontext verankert wird. Dabei werden diese Kontexte nicht nur als förderliche oder begrenzende Rahmenbedingungen wahrgenommen, sondern als konstitutive Bedingungen des Lern- und Bildungsprozesses selbst. Genauer: Es sind individuelle, soziale, institutionelle und gesellschaftliche Bedingungen, die gemeinsam den Bildungsprozess hervorbringen und ihn nicht nur beeinflussen.
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Vier Säulen einer Kultur des Lernens
Lernen ist so gesehen kein individueller Prozess. Qualitäten und Erfolge von Lernprozessen sind unterschiedlich, je nachdem in welchen Beziehungen, räumlichen, sachlichen und sozialen Umfeldern es stattfindet. Es ist also ein 237
Gerd E. Schäfer | Lena Schäfer
viel zu verkürztes pädagogisches Denken, welches Lernen auf individuelle Kompetenzen einschränkt, welche erworben werden sollen. Vielmehr setzt ein angemessenes Verständnis die Gestaltung einer Kultur des Lernens voraus, die eben die individuellen Handlungs- und Denkmöglichkeiten der Kinder gleichermaßen berücksichtigt wie den Reichtum oder die Armut sachlicher Anregungen. Auch die Bedingungen des räumlichen Umfeldes, in dem die kindlichen Erfahrungsprozesse stattfinden, bilden einen Brennpunkt pädagogisch-didaktischer Überlegungen, die Qualität und der Reichtum der zwischenmenschlichen Beziehungen zu Erwachsenen oder anderen Kindern, die Möglichkeiten der selbständigen Beteiligung an den sachlichen Aufgabenstellungen, die Anregungen, die die verschiedenen Denkformen im kulturellen und sozialen Umfeld erhalten, die soziale Resonanz auf die kindlichen Bemühungen oder die kulturellen Formen, die die kindlichen Ideen aufgreifen und weiter treiben. Dies alles macht eine Kultur des Lernens aus. Je kleiner die Kinder sind, desto mehr muss man ihre Erfahrungs- und Bildungsprozesse in einer Kultur des Lernens verankern. Diese ruht, wenn man es systematisch zusammenfasst, auf vier Säulen2: Die erste Säule bildet die individuelle Lebensgeschichte des Kindes: Sie begründet die Handlungs- und Denkmöglichkeiten, mit welchen ein Kind seine Erfahrungen zum jeweiligen Zeitpunkt seiner Biografie machen und verarbeiten kann. Sie enthalten also alle, irgendwie einschlägigen Lernerfahrungen, die dem Kind für die Bewältigung aktueller Aufgabenstellungen zur Verfügung stehen. Wir bezeichnen diese Möglichkeiten als Selbstbildungspotenziale. Die zweite Säule bilden die sozialen Beziehungs- und Beteiligungsmöglichkeiten: Jede Erfahrung eines Menschen ist eine Erfahrung in einem sozialen Kontext. Soziale Beziehungen sind nicht Zutat zu den Lernerfahrungen, sondern ermöglichen oder verhindern, erleichtern oder erschweren Lernerfahrungen. Sie sind damit ein Teil der Lernerfahrung selbst. Erwachsene strukturieren die Bedingungen, wie weit sich Kinder selbständig auf einen Erfahrungsraum einlassen können. Sie geben damit einen Rahmen vor, innerhalb dessen sich Kinder mehr oder weniger an einer Aufgabenstellung beteiligen können. Eine Naturerfahrung, die mit einem begeisterten und kundigen Erwachsenen geteilt wird, ist eine andere Erfahrung als eine, für die sich niemand interessiert. Andere Kinder, die in einen Erfahrungszusammenhang hinein verwickelt sind, können ihn bereichern oder auch behindern. Soziale Bezüge erweitern oder begrenzen also
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Die Überlegungen zu den vier Säulen einer Lernkultur sind nicht Teil des Theorierahmens, mit dem sich die Reggiopädagogik selbst artikuliert, sondern ein Versuch, die pädagogische Reichweite dieses Konzepts aus einer übergreifenden, systematischen frühpädagogischen Sicht verständlich zu machen.
Der Raum als dritter Erzieher
den jeweiligen Erfahrungshorizont. Wir sprechen deshalb hier von kommunikativen Potenzialen3. Natürlich wird die jeweilige Erfahrung entscheidend durch den Inhalt und die Qualität der jeweiligen sachlichen Herausforderungen geprägt. Deshalb kann man hier von Sachpotenzialen sprechen. Jede Sache, jede Aufgabenstellung ist anders, stellt andere Anforderungen und ist dadurch mehr oder weniger neu oder interessant. Und schließlich hängen Lernerfahrungen vom institutionellen Umfeld ab, in dem sie gemacht werden. Eine Schulstruktur bietet andere Erfahrungsbedingungen als eine Lernwerkstatt in einem Waldgelände. Dabei wird sichtbar, dass die Institutionen die individuelle Lernerfahrung aus dem gesellschaftlichen Umfeld heraus trennen, oder sie auch dorthin öffnen können. Von daher geht der gesellschaftliche Kontext, in dem Kinder ihre Erfahrungen machen, mal direkter (z.B. bei einem Besuch im Museum), mal indirekter (z.B. über Rahmenbedingungen eines bestimmten Einrichtungsträgers) in den kindlichen Lern- und Bildungsprozess mit ein. Diese institutionellen und gesellschaftlichen Einflüsse auf den kindlichen Bildungsprozess kann man als Strukturpotenziale bezeichnen. In einer Kultur des Lernens werden Kinder nicht lediglich zur Nachkonstruktion kultureller und sozialer Strukturen aufgefordert, sondern Selbstbildungspotenziale, kommunikative, sachliche und gesellschaftliche Potenziale kommen ins Spiel und werden jeweils aufeinander abgestimmt. Das Zusammenspiel dieser Potenziale entscheidet über Form, Qualität und Nachhaltigkeit kindlicher Bildungsprozesse. Die Reggiopädagogik kann man als Modell einer Kultur des Lernens betrachten, das diese vier Aspekte gleichermaßen zu berücksichtigen sucht.4 Sie bietet eine institutionelle Struktur für das selbstbestimmte Tun der Kinder und der Erwachsenen. Sie bietet ein räumliches Umfeld, in dem Kinder einer Vielfalt von Anregungen nachgehen können. Sie entwickelt eine Kultur des Miteinanders, das von der interessierten Teilnahme der Erwachsenen (Pädagogik des Zuhörens) gleichermaßen geprägt ist, wie vom Zusammenspiel der Ideen der Kinder untereinander5. Sie kultiviert Projektarbeit als einen Weg gemeinsamen Denkens, der die individuellen Beiträge der Kinder ins Gespräch mit den anderen Kindern und mit den Erwachsenen bringt. Auf diesem Weg können 3
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Es sind also nicht die kommunikativen Potenziale des Individuums gemeint, sondern diejenigen, welche als Möglichkeiten in der jeweils gegebenen Struktur und Qualität der Beziehungen liegen. Natürlich gelingt diese Balance auch den Reggiopädagogen und Pädagoginnen in unterschiedlicher Qualität. Wichtig ist hier, alle diese Ebenen im Blick zu behalten. Dokumentationen sind zu aller erst eine Form, Kinder miteinander ins Gespräch zu bringen. Vgl. Reggio Children, Project Zero 2001
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sich Gedanken multiplizieren und differenzieren. Sie gibt den verschiedenen Denkformen der Kinder Möglichkeiten sich zu entfalten und sich auf vielfältige Weise auszudrücken („die hundert Sprachen der Kinder“). Die Bedeutung des Raumes im Zusammenhang dieser Lernkultur soll im Folgenden ausführlicher betrachtet werden.
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Bedeutung des Raumes in der Reggiopädagogik: Raum als „dritter Erzieher“6
Der Raum ist in Reggio Teil des pädagogischen Konzeptes, er wird als dritter Erzieher verstanden. Der erste Erzieher, das sind die anderen Kinder, der zweite die Erwachsenen, der dritte also der Raum, in dem sich die Kinder treffen und aufhalten. Der Raum wird als Interaktionspartner der Erwachsenen und Kinder wahrgenommen und einbezogen. Den Kindern gibt er, als Partner und Begleiter, auf der einen Seite Geborgenheit und Sicherheit, auf der anderen Seite fordern die Räume, ihre Materialien und Werkzeuge, sie immer wieder zu Neuem heraus. Räume wirken, wie Menschen, auf die Kinder ein (vgl. Knauf 2001, S. 176; Knauf 2006; Romberg 2001; von der Beek 2001, S. 197). Als Raum muss er aber auch die ErzieherInnen unterstützen, ihrer Aufgabe gerecht zu werden. D.h. er muss ihren persönlichen wie auch ihren fachlichen Belangen entgegenkommen, z.B. ihren pädagogischen Vorstellungen vom Umgang mit den Interessen der Kinder. Das ist ein deutlicher Unterschied zur traditionellen Schule, wo der Klassenraum im institutionellen Kontext weitgehend präformiert, was man pädagogisch darin tun kann. In frühpädagogischen Konzepten wandelt sich hingegen der Raum mit den pädagogischen Aufgabenstellungen, je nachdem wie sie von den ErzieherInnen definiert werden. Das Konzept der Reggiopädagogik hat daher eine Raumvorstellung entwickelt, die den eingangs skizzierten pädagogischen Grundeinstellungen entgegen kommt.
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Dieser Beitrag geht von der Literatur aus, die in Deutschland zu diesem Thema einschlägig ist. Besuche in Reggio zeigen jedoch, dass das reggianische Raumkomzept in diesen Beiträgen etwas überhöht und idealisiert dargestellt wird. Die Verwirklichung ist in der Regel unterschiedlicher und weniger streng am Konzept orientiert, wie es die Texte erscheinen lassen. Gleichwohl gibt es Einrichtungen, für die diese Beschreibungen zutreffen. Für die Diskussion hier scheint es bedeutsamer, die Grundgedanken darzustellen.
Der Raum als dritter Erzieher
3.1
Entwicklung des Raumkonzeptes
Dieses Raumkonzept entstand nicht von heute auf morgen. Es war vielmehr ein langer, offener Entwicklungsprozess, an dem neben Architekten auch Erzieherinnen, Eltern und pädagogische Berater mitwirkten und dies heute noch beim Bau neuer Einrichtungen oder Umgestaltung vorhandener Einrichtungen tun. Hintergrund des Raumkonzeptes bilden die Bedürfnisse, Interessen und Entwicklungsbelange der Kinder. Um diese zu ermitteln wurden zwei Arbeitsgruppen gegründet. Eine Gruppe analysierte und beobachtete den unterschiedlichen Gebrauch der Räume durch die Kinder, Erzieherinnen, Köche und Eltern, die in ihnen lebten. Die andere Gruppe fertigte eine Bestandsaufnahme vorhandener Möbel und Materialien an. Auch wurden die vorhandenen verschiedenen Typen von Kindergarten-Gebäuden daraufhin untersucht, ob und inwieweit man sie neu oder umgestalten könnte (vgl. von der Beek 2001, S. 197). Durch diese Materialsammlung wurde versucht, die tatsächliche Nutzung, die besonderen Bedürfnisse der Menschen in den Einrichtungen und die bislang vorhandenen pädagogischen Erfahrungen und Stärken der verschiedenen Personen und Gruppen, die am Entwicklungsprozess beteiligt waren, aufeinander abzustimmen. Darauf aufbauend entwickelten die Reggianer ein Raumkonzept, das diese Erfahrungen und den Gedanken des Raumes als einen dritten Erzieher auf architektonische und innenarchitektonische Weise umsetzte (vgl. Dreier 1993, S. 29; Krieg 2002, S. 68 f.; von der Beek 2001, S. 197). Dieses Konzept wurde mit der Zeit weiterentwickelt und verändert und bleibt immer offen, sich zu verändern und sich an die spezifischen Bedürfnisse der Menschen anzupassen. Entstanden sind eine Reihe von Orientierungen für den Bau und die Einrichtung von Kindergärten und Krippen; Orientierungen insofern, als sie nicht als feststehendes, starres Rezept verstanden werden dürfen. Es sind vielmehr Anregungen, wie die pädagogischen Aufgaben des Raumes verwirklicht werden können, einerseits eine geborgene Atmosphäre zu schaffen, und andererseits die kindlichen Aktivitäten zu unterstützen und herauszufordern. Zu diesem Zweck folgen die Räume der Einrichtungen einem klaren, aber nicht starren Konzept und sind darüber hinaus mit einer Vielzahl an Ressourcen für Spiel und kindliches Forschen sowie mit Materialien ausgestattet, die immer wieder neue Impulse geben. (vgl. Ceppi/Zini 1998, S. 36; Knauf 2006; von der Beek 2001, S. 198).
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3.2
Richtlinien zur Raumgestaltung in reggianischen Kindergärten
Horizontalität: Eine horizontale Anordnung der „Schulgebäude“7 unterstreicht, dass es keine Hierarchie zwischen den verschiedenen Räumen gibt: Alle Räume haben eine wichtige Rolle. In der Horizontalität drückt sich weiterhin aus, dass alle in der Einrichtung lebenden Menschen gleichgestellt sind. Zudem bilden die Räume ein Netz möglicher Zusammenhänge, das vielfältig genutzt werden kann (vgl. Ceppi/Zini 1998, S. 37). Eingang: Der Eingangsbereich ist die Visitenkarte der Einrichtung. „Alle Besucher sollen sich eingeladen fühlen, das Haus zu betreten“ (Krieg 1993, S. 37). Sie sollen ohne Barrieren in die Kommunikation der dort lebenden und arbeitenden Menschen einbezogen werden. Sämtliche für Besucher wichtige Informationen – Namen und Aufgaben der Erzieherinnen, Lage und Funktion der Räume, Dokumentationen – sind im Eingang ausgestellt. „Sprechende Wände“ berichten mit Fotos, Texten und Zitaten, von aktuellen Projekten. Die täglichen Ereignisse verzeichnet ein Gruppenbuch. Arbeiten der Kinder sind dort ausgestellt (vgl. Dreier 1993, S. 31; Knauf 2006; Krieg 2002, S. 70; von der Beek 2001, S. 198). Vom Eingangsbereich stößt man direkt auf den zentralen, großen Raum, die Piazza. Piazza: Der Piazza gilt besondere Aufmerksamkeit in der Architektur neu gestalteter reggianischer Kindergärten und Krippen. Sie ist in Form und Funktion einem italienischen Marktplatz nachempfunden. Beim Bau einer Tageseinrichtung erfährt sie dieselbe Aufmerksamkeit wie bei der italienischen Stadtplanung. Als symbolischer Raum einer Pädagogik der Beziehungen (vgl. Ceppi/ Zini (1998), S. 37) bildet sie sowohl den räumlichen, als auch den sozialen Mittelpunkt der Einrichtung (vgl. Knauf 2006; Ceppi/Zini 1998, S. 37). An diesem Ort der Begegnung inszenieren sich neue Beziehungen, Freundschaften werden gepflegt, Gruppenaktivitäten finden statt. Sie bietet aber auch Rückzugsmöglichkeiten. Diese Erfahrungen bilden den Grund für frühe Vorstellungen von öffentlicher Aktivität (vgl. Ceppi/Zini 1998, S. 37; Schäfer/Stenger 1998). Auch von der Ausstattung her hat die Piazza Marktcharakter, jeder Stand bietet etwas anderes an: Geräte wie Klettergerüste, Podestlandschaften laden die Kinder zum Spielen ein. Möglichkeiten zum Forschen und Experimentieren bieten z.B. Spiegelzelt, Zerrspiegel, Periskop oder Kaleidoskop. Kaufladen und Verkleidungsschnecke geben den Kindern vielfältige Aktivitätsmöglichkeiten, die in kleinen oder auch in größeren Gruppen genutzt werden können. Den Erwach-
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In Italien werden auch die frühpädagogischen Einrichtungen „Schulen“ genannt.
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senen werden Sitzecken, Informationen und Anschauungsmaterial geboten (vgl. Dreier 1993, S. 31; Krieg 2002, S. 71; von der Beek 2001, S. 198). Die anderen Räume gruppieren sich um die Piazza. Teilweise hat man durch große Innenfenster direkte Einblicke, so dass diese Räume von ihr nicht völlig getrennt erscheinen. Von der Piazza gelangt man direkt in die anderen Räume. Flure in den Einrichtungen konnten durch dieses Konzept abgeschafft werden. Die Reggianer lehnen Räume ab, deren Funktion ausschließlich in der Verteilung und Verbindung liegt. Räume sollen zusammenführen und nicht voneinander isolieren. Ihnen ist es wichtig, dass die zentrale Funktion eines jeden Raumes darin liegt, für kindliche Aktivitäten genutzt zu werden (vgl. Ceppi/Zini 1998, S. 38; Krieg 2002, S. 71). Gruppenraum: Eine Einrichtung besteht aus mehreren altershomogenen Gruppen, deren Räume dem Alter entsprechend eingerichtet sind. Jährlich wechselt die Gruppe mit ihren beiden ErzieherInnen den Raum, um die räumlichen Gegebenheiten der Entwicklung der Kinder anzupassen (vgl. Dreier 1993, S. 32). Gruppenraum und Ausstattung sind ästhetisch gestaltet. Es gibt funktional unterschiedene Bereiche, wie z.B. Bau- und Konstruktionsecken, Puppen-, Rollenspiel- oder Rückzugsbereiche. In einer kleinen Wohnküche können die Kinder für sie bedeutsame Elemente alltäglicher Ereignisse in Szene setzen. Werkzeuge und Materialien sind den Kindern in den einzelnen Funktionsbereichen ständig und unmittelbar zugänglich. Es gibt nur sehr wenige fertige Spielmaterialien oder didaktisches Material. Vielmehr gibt es eine Vielfalt von Dingen, die zum Betrachten, Anfassen, Ordnen, Sortieren und Gestalten anregen, z.B. Muscheln, Schneckenhäuser, Federn, Knöpfe und einfache Materialien, wie z.B. Schachteln oder Pappröhren in der Bauecke (vgl. Göhlich 2001, S. 178; Krieg 2002, S. 76). Viele Gegenstände zum Spielen sind Alltagsgegenstände. So sind in vielen Gruppenräumen Espressomaschinen, Computer oder sogar Porzellangeschirr zu finden (vgl. Dreier 1993, S. 33). Die Spielsachen und unterschiedlichen Materialien werden ästhetisch und überschaubar präsentiert. Dadurch bekommen die Materialien „Aufforderungscharakter, bieten ordnende Orientierung, ermöglichen unterschiedliche Perspektiven, fordern verschiedene Wahrnehmung heraus und laden zum forschenden Lernen ein“ (Dialog Reggio 2006). In der Rollenspielecke zum Beispiel liegen die Kleider, Hüte, Halstücher nicht durcheinander in einer Verkleidungskiste, sondern werden geordnet an einer Garderobe mit Kleiderbügeln und Haken angeboten. Alle „Dinge, auch die scheinbar wertlosen Materialien, entfalten durch die Art ihrer Präsentation eine Schönheit und erfahren einen Wert“ (Brockschnieder 2001, S. 67). Spiegel in vielerlei Formen laden dazu ein, sich aus einer Außenperspektive zu betrachten. Im Spiegelzelt können Kinder sich von allen Seiten betrachten. 243
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„Eck-, Decken- und Zerrspiegel erlauben einen Blick auf die eigene Person und die Umwelt aus anderen, ungewohnten Perspektiven und vermitteln nicht alltägliche, anregende Eindrücke. Bekanntes wird durch den anderen Blick fremd und neuartig, ermutigt zu fantasievollen Spielen“ (Brockschnieder 2001, S. 68). Podeste gliedern die Räume, grenzen ab, markieren Orte, bilden Hindernisse. Auf ihnen präsentieren sich kindliche Werke oder die Kinder verwenden sie als Bühnen (vgl. Krieg 2002, S. 76). Für Licht und Schattenspiele gibt es große Leinwände, die sich von der Decke herunterziehen lassen. Mit Hilfe von Diaprojektoren und Leinwänden entstehen Schattentheater. Overheadprojektoren, belegt mit Plastikteilen, Wasserschüsseln oder anderen Dingen, projizieren vielfältig verfremdete Bilder ihrer Objekte an die Wand (vgl. ebd., S. 76). Beliebt sind in Reggio auch Leuchttische, auf denen gezeichnet, gewerkt oder gebaut werden kann. Durch das Licht bekommen die Materialien eine neue Wirkung. Unterschiedliche Geräte unterstützen die kindliche Lust an der Bewegung (vgl. Dreier 1993, S. 33). Atelier und Miniatelier: Einen zentralen Ort für die Untersuchungen und Gestaltung kindlicher Wirklichkeiten bilden Ateliers und Miniateliers. Sie sind weniger ein Ort des Gestaltens ästhetischer Produkte, keine kindgemäße Form von Kunstunterricht, vielmehr ein Ort des genauen Wahrnehmens und des Begreifens erlebter und erfahrener Wirklichkeiten durch Nachgestaltung und phantasievolle Umgestaltung. Das Atelier ist also ein Ort konstruktiver Un- und Umordnung von Wirklichkeiten und damit ein Ort, der immer wieder neu dazu anregt, gewohnte Sicht-, Handlungs- und Denkweisen zu verlassen, um experimentell Neues auszuprobieren und zu schaffen. Das Atelier ist deshalb „Studio, Laboratorium und Experimentierstätte in einem“ (Krieg 2002, S. 72 f.). In den Ateliers arbeiten sog. Atelierista, Künstler ohne pädagogische Grundausbildung. Ihre speziellen Fähigkeiten und Kenntnisse stellen eine Bereicherung und Erweiterung der pädagogischen Arbeit in den Einrichtungen dar. Einerseits sind sie Spezialisten der Wahrnehmung und der Beobachtung, andererseits sind sie Fachleute für den Umgang mit den Werkzeugen und Materialien des vielfältigen gestalterischen Ausdrucks, z.B. beim Zeichnen, Malen, Modellieren oder Konstruieren (vgl. Ceppi/Zini 1998, S. 39; Krieg 2002, S. 73; Knauf 2006). Dafür stehen vielfältigste Materialien wie Farben, verschiedene Arten Papier, Ton, Gips, Holz oder Draht zur Verfügung. Außerdem gibt es „viele verschiedene Objekte, deren Farben, Formen und Materialität Kinder (und auch Erwachsene) reizen sie anzuschauen, zu betasten, in die Hand zu nehmen und mit ihnen etwas zu tun“ (Göhlich 2001, S. 178). So sind im Atelier auch nach Farben sortiere Knöpfe, Muscheln, Glasperlen, Steine, Textilreste und vieles mehr zu finden. An Staffeleien, großen Arbeitstischen oder Leuchttischen, können diese Dinge betrachtet, 244
Der Raum als dritter Erzieher
ausprobiert oder mit Werkzeugen wie Pinsel, Feilen, Sägen oder Scheren beund verarbeitet werden (vgl. Krieg 2002, S. 74). Die Kinder erfahren dadurch vielfältige Möglichkeiten, sinnliche Wahrnehmung zu differenzieren, sich gestalterisch auszudrücken und damit in einen ständigen Dialog mit den anderen Kindern und den Atelierista einzutreten. Sie erproben und entwerfen sich selbst in immer neuen, imaginierenden und simulierenden Wirklichkeitsentwürfen (vgl. Ceppi/Zini 1998, S. 39; Romberg 2001; Malaguzzi in Krieg 2002, S. 73; Krieg 2002, S. 73). Auch das Miniatelier, das Teil des Gruppenraumes ist, bietet den Kindern vielfältige Möglichkeiten für Experimente und gestalterisches Arbeiten. Ausgestattet ist es ähnlich wie das Atelier mit altersgemäßen und projektspezifischen Materialien, die ansprechend in Regalen in verschiedensten Behältern präsentiert werden, erreicht jedoch dessen Größe und Vielfalt nicht. Das Miniatelier steht immer allen Kindern der Gruppe zur Verfügung, während das Atelier nur in kleinen Gruppen besucht werden kann, wenn die Atelierista zugegen sind (vgl. von der Beek 2001, S. 199). Restaurant und Küche: Etwas abseits der Piazza befinden sich der Essbereich und die Küche. Die Zubereitung des Essens ist in Italien traditionell von besonderem kulturellem Wert. In allen kommunalen Kindereinrichtungen wird selbst gekocht. „Die Küche soll in der Mitte der Einrichtung angesiedelt werden, um zu verdeutlichen, dass sie der Bauch der Kita ist“ (von der Beek 2001, S. 198). Durch die nahtlose Verbindung von Piazza und Essbereich soll auch signalisiert werden, dass dem körperlichen Wohl ebenso viel Aufmerksamkeit geschenkt wird wie dem geistigen. Durch ein großes Fenster ist die Küche den Kindern jederzeit einsehbar. Darüber hinaus ist sie ihnen aber auch zugänglich. Die Kinder können der Köchin bei der Zubereitung der täglich frischen Menüs zusehen und sie dürfen auch bei der Zubereitung helfen oder verschiedene Dinge ausprobieren (vgl. Dreier 1993, S. 35; von der Beek 2001, S. 198; Krieg 2002, S. 72; Knauf 2006). Der Essbereich der Kinder ist mit gedeckten Tischen, Bildern, Grünpflanzen und einem mit Fotos bebilderten Speiseplan gestaltet. Er vermittelt so den Charakter eines kleinen Restaurants (Kinderrestaurant). Dort nehmen alle Kinder der Einrichtung gemeinsam ihr Essen ein (vgl. Krieg 2002, S. 72). Der Essbereich ist der Küche unmittelbar zugeordnet, so dass es keine langen Wege beim Transport von Essen und Geschirr gibt. Das Kinderrestaurant ermöglicht, die Gruppenräume von Esstischen frei zu halten. Dadurch haben Kinder mehr Platz zum Spielen und Arbeiten (vgl. von der Beek 2001, S. 198). Toiletten: Der Toilettenraum ist für die Kinder in Reggio nicht nur Funktionsraum, sondern auch ein wichtiger Erfahrungsraum. Die Toiletten sind kindgerecht. Niedrige Waschrinnen laden zu Wasserspielen und verschiedenen Experi245
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menten mit Wasser ein (vgl. Dreier 1993, S. 33 f.). „Spiegel neben den Toiletten, über dem Wickeltisch, als Kachel oder so groß, dass sie ihren ganzen Körper betrachten können, befriedigen die Neugier der Kinder, regen zu immer neuen Spielen an und fordern zum Verweilen auf“ (von der Beek 2001, S. 198). Büro: Aber auch die Erwachsenen, die in den Einrichtungen arbeiten, brauchen einen Raum, in den sie sich zurückziehen können, um sich zu entspannen oder um über ihre pädagogische Arbeit diskutieren zu können. Denn „das Wohlbefinden der Erwachsenen spiegelt sich im Wohlbefinden der Kinder“ (Krieg 2002, S. 74). Eine den Bedürfnissen der ErzieherInnen entgegenkommende Einrichtung gehört daher genauso zum reggianischen Raumkonzept, wie die Ausgestaltung der Räume, die vorwiegend von den Kindern genutzt werden. 3.3
Individualität der Einrichtungen
Trotz eines gemeinsamen Raumkonzeptes sind die reggianischen Kindertageseinrichtungen bemerkenswert unterschiedlich und unverwechselbar. Das begründet sich zum einen durch die unterschiedlichen Bauzeiten und Bautypen. Wichtiger jedoch ist, dass jede Einrichtung ein Spiegel der sie umgebenden Kultur und der Menschen ist, die in ihr leben. Bei der Einrichtung wird weitgehend auf eine standardisierte Ausstattung verzichtet8, stattdessen setzt man auf Individualität und Liebe zum Detail. Die Einrichtungsgegenstände werden von Eltern, Verwandten und Bürgern zusammengetragen. „So legen antike Teppiche, Holzschränke und -tische, alte Waagen vom Markt, diverse Espressomaschinen oder verschieden geformte Weinflaschen Zeugnis ab über die Kultur und Geschichte der Familien und der Stadt Reggio. Auf diese Weise bekommt jeder Kindergarten und jede Krippe einen ganz eigenen und unverwechselbaren Charakter“ (Dreier 1993, S. 35). Die Einrichtungen sind keine anonymen Orte, sondern vielmehr ein Gemeinschaftswerk aller. Sie sind eingebettet in eine Kultur der Einrichtung und ihrer Personen. Durch diese persönlichen Beziehungen zu den Dingen in den Einrichtungen identifizieren sich die Kinder, aber insbesondere auch die ErzieherInnen auf spezielle Weise mit ihrer Einrichtung (vgl. Ceppi/Zini 1998, S. 36; Dreier 1993, S. 35; Krieg 2002, S. 69 f.; Knauf 2006; Schäfer 2006).
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Neuerdings stimmt das so nicht mehr ganz, denn es wurden eigene Einrichtungskomponenten entwickelt, die auch industriell hergestellt werden.
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Zusammenfassung
Ziel dieses Beitrags war es, den „Raum als dritten Erzieher“ in seiner Bedeutung für das Konzept elementarer Bildung in den kommunalen Kindertageseinrichtungen in Reggio/Emilia zu beschreiben und wenigstens ansatzweise in ein Konzept der Kultur des Lernens einzubeziehen. Die Reggiopädagogik hat seit den 1980er Jahren des 20. Jh. in Deutschland Einfluss gewonnen. Es gibt inzwischen zahlreiche Einrichtungen, die sich von diesem Konzept haben inspirieren lassen. Dabei sind auch eigene Weiterentwicklungen entstanden. Ein mittlerweile über Hamburg hinaus verbreitetes Konzept, das „Hamburger Raumgestaltungskonzept“, hat die Anregungen zur Raumgestaltung aus Reggio aufgegriffen und unter dem Einfluss anderer konzeptueller Ideen (z.B. der Psychomotorik und der „Offenen Arbeit“ oder Mahlke/Schwarte 1989) weiter entwickelt (vgl. von der Beek u.a. 2001; von der Beek 2006). Neben Krippen und Kindertageseinrichtungen, in welchen dieses Konzept bereits differenziert umgesetzt wurde, gelten die Weiterentwicklungen dieses Konzepts neuerdings auch dem Bereich der Grundschulen.9 Die Schule als ein Ort der Kultur des Lernens im skizzierten Sinn (nicht nur als Schulkultur) könnte von diesen Anregungen profitieren.
Literatur Beek, A. von der (2006): Bildungsräume für Kinder von Null bis Drei. Berlin/Weimar Beek, A. von der (2001): Der Raum als dritter Erzieher. In: Päd Forum, H. 3, 29./14. Jg., S. 197-202 Beek, A. von der/Buck, M./Rufenach, A. (2001): Kinderrräume bilden. Neuwied/Kriftel/Berlin Ceppi, G./Zini, M. (Hg.) (1998): Children, spaces, relations: metaproject for an environment for young children. Reggio Emilia, Italien Dreier, A. (1993): Was tut der Wind, wenn er nicht weht? – Begegnung mit der Kleinkindpädagogik in Reggio Emilia. Berlin Dornes, M. (1992): Der kompetente Säugling. Frankfurt a.M. Göhlich, M. (2001): Was ist Reggiopädagogik? Antwort auf eine problematische Frage. In: Päd Forum, H. 3, 29./14. Jg., S. 177-180 Gopnik, A./Kuhl, P./Meltzoff, A. (2003): Forschergeist in Windeln. Stuttgart Goswami, U. (2001): So denken Kinder. Bern
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Zur Zeit wird auch in Reggio eine Einrichtung eröffnet, in der das Konzept der Reggiopädagogik in die Schule weiter gedacht wird (private Mitteilung von Angelika von der Beek, die diese Einrichtung besichtigen konnte).
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Knauf, T. (2001): Einführung in das Thema – 100 Sprachen der Kinder zu Wort kommen lassen. In: Päd Forum, H. 3, 29./14. Jg., S. 175-176 Krieg, E. (Hg.): Hundert Welten entdecken. Die Pädagogik der Kindertagesstätten in Reggio Emilia. Essen 1993 Krieg, E. (2002): Lernen von Reggio: Theorie und Praxis der Reggio-Pädagogik im Kindergarten. Lage Mahlke, W./Schwarte, N. (1989): Raum für Kinder. Weinheim/Basel Nelson, K. (2007): Young Minds in Social Worlds. Cambridge MAS, London Reggio Children/Project Zero (2001): Making Learning Visible. Reggio Rinaldi, C. (2001): Documentation and Assessment: What ist the Relationship? In: Reggio Children/Project Zero: Making Learning Visible. Reggio, S. 78-89 Romberg, J. (2001): Was ist Reggio-Pädagogik – In hundert Sprachen Ball spielen. In: GEO, H. 10, S. 164-180 Schäfer, G.E./Stenger, U. (1998): Grundlagen der Reggiopädagogik. In: Kinder in Tageseinrichtungen, H. 3, S. 135-142 Ullrich, W./Brockschnieder, F.-J. (2001): Reggio-Pädagogik im Kindergarten. Freiburg
Internetquellen Dialog Reggio (2006), Vereinigung zur Förderung der Reggio-Pädagogik in Deutschland e.V.: Was heißt für uns „reggio-orientiert“? http://www.dialogreggio.de/DialogReggio-Kriterien.pdf (Abgerufen am 17.03.06). Knauf, T. (2006): Reggio-Pädagogik: Kind- und Bildungsorientiert. In: Textor, M. (Hg.): Kindergartenpädagogik – Online – Handbuch: http://www.kindergartenpaedago gik.de/1138.html (Abgerufen am 17.03.06). Liegle, W. (2006): „Das Meer wird aus der Mutter Welle geboren“ - Vorsichtige Annäherungen an die Reggio-Pädagogik. http://www.akademie-rs.de/gdcms/ files/20051110_1550_Reggiov_Vortrag_Liegle_Wolfgang.pdf (Abgerufen am 17.03.06).
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Schule der Moderne: Das Bauhausgebäude in Dessau Wenn im Folgenden vom Dessauer Bauhausgebäude die Rede ist, dann wird dieses nicht nur als herausragendes Zeugnis der architektonischen Moderne behandelt, sondern vielmehr als Manifestation eines umfassenden architektonischen Erziehungskonzeptes gesehen. Für den Architekten Walter Gropius, der das Bauhaus in Weimar 1919 gründete und die Schulen bis 1928 leitete, bildete die Architektur von Anfang an das Zentrum seiner pädagogischen Vision. Entsprechend hieß es im Gründungsmanifest: „Das Endziel aller bildnerischen Tätigkeit ist der Bau! (…) Architekten, Maler und Bildhauer müssen die vielgliedrige Gestalt des Baues in seiner Gesamtheit und in seinen Teilen wieder kennen und begreifen lernen“ (Gropius 1919, S. 208). Darin manifestierte sich die Sehnsucht nach einem architektonischen Gesamtkunstwerk, zu dessen Gestaltung unter dem Dach einer neuen Baukunst alle visuellen Künste und das Kunstgewerbe – als Vorläufer des modernen Designs – beitragen sollten. Dem entsprachen die Realitäten in Weimar, wo der Unterricht in den von Henry van der Velde zwischen 1904 und 1911 entworfenen Kunstschulbauten stattfand und wo bis 1924 im Wesentlichen, allerdings wenig, experimentelle Ansätze eines neuen Bauens verwirklicht werden konnten. Bis 1927, als mit der Gründung einer Bauabteilung die Architektur erstmals Teil des regulären Curriculums wurde, sind alle Bauprojekte vom privaten Büro des Bauhausgründers und Direktors Walter Gropius bearbeitet worden. So auch die Planung und Errichtung des Dessauer Bauhausgebäudes, das ein Jahr nach der Übersiedlung von Weimar nach Dessau am 4. Dezember 1926 als „Hochschule für Gestaltung“ eröffnet wurde. Dieses Gebäude, an dessen Ausstattung alle Werkstätten beteiligt gewesen sind, gilt bis heute als eine Ikone der Moderne und als ideale Verkörperung des pädagogischen Programms des Bauhauses. Denn mit diesem Gebäude erhielt die Gemeinschaft der Bauhäusler eine Arbeits- und Lebensumgebung, die nicht nur die architektonische Haltung des Bauhausgründers widerspiegelte, sondern ebenso dessen Lehrprogramm auf spezifische Weise verortet hat. Erstmals verfügte das Bauhaus mit Werkstätten, Unterrichtsräumen, Aula und Mensa sowie einem integrierten Studentenwohnheim über eine Umgebung, die konsequent auf die besonderen Arbeits- und Lebensformen dieser Schule zugeschnitten war. Aber auch die etwa zeitgleich entstandenen Häuser für die Bauhausmeister und die Siedlung Törten, in der vor allem Arbeiter wohnten, ge-
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hörten zur Umgebung des neuen Dessauer Bauhauses. Denn nicht nur im Bauhaus-Schulgebäude, sondern in der Gesamtheit dieser Dessauer Bauhausbauten, welche ebenfalls vom Architekturbüro Gropius entworfen wurden, bildete sich ein architektonisches Denken ab, dessen Ziel das Entwerfen einer neuen modernen Lebenswelt war und das zugleich die Bauhaus-Ausbildung geprägt hat. Als das Bauhaus 1925 nach der Schließung des „Staatlichen Bauhauses Weimar“ als eine kommunale „Hochschule für Gestaltung“ in Dessau wiedereröffnet wurde, entwickelte sich diese Stadt gerade als Zentrum einer modernen Industrieregion. Mit der Ansiedlung des Bauhauses wurde auf kommunaler Ebene die Hoffnung verbunden, dass der dort stattfindende Unterricht sowie das gestalterische Experimentieren mit neuen Materialien zu Ergebnissen führen würden, die für die örtlichen Industrien, insbesondere die Junkerswerke, nützlich sind. Zudem erwartete man auch wesentliche Impulse für den Wohnungsbau, denn Dessau benötigte damals zahlreiche neue Quartiere für die wachsende Zahl von Beschäftigten der lokalen und regionalen Industriebetriebe. Vor diesem Hintergrund stellte die Stadt Dessau dem Bauhaus nicht nur Bauareal, sondern auch beträchtliche finanzielle Mittel für die Errichtung des neuen Schulgebäudes zur Verfügung. Dieses Gebäude manifestierte gemeinsam mit den anderen Bauhausbauten die damalige Aufbruchsstimmung und wurde zugleich wegweisend für eine architektonische Moderne, die die Architektur gleichsam neu erfinden wollte, indem sie neu entwickelte Technologien und Materialien aufnimmt und künstlerisch integriert, bzw. symbolisch übersetzt und metaphorisch überhöht.
Abb.1: Bauhausgebäude. Lageplan der Gesamtanlage
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Schule der Moderne: Das Bauhausgebäude in Dessau
Abb.2: Junkers Luftbild: Bauhaus Dessau 1926
„Ein Riesenlichtkubus: das neue Gebäude des Bauhauses. Später, bei heller Sonne und blauem Himmel, wirkt das Gebäude noch immer als Konzentrationspunkt allen Lichtes, aller Helle. Glas, Glas und dort wo Wände aufsteigen, strahlen sie ihre blendend weiße Farbe aus. Ich habe noch nie einen solchen Lichtreflektor gesehen. Und die Schwere der Wände hebt sich in diesen beiden Faktoren auf, an den hohen Glasmauern, die unverbrämt die leichten Eisenkonstruktionen des Gebäudes zeigen, und in der ausstrahlenden weißen Farbe (...). Einen besonderen, fast unvergesslichen Eindruck bietet das Riesengebäude bei Nacht, wenn, wie am Tage der Einweihung sämtliche Räume beleuchtet waren und so einen Lichtwürfel bildeten, der durch und durch sichtbar an seinen Außenseiten durch die Eisenkonstruktionen quadriert und gefasst wurde“ (Schwalacher 1927). Natürlich sind auch die Dessauer Bauhausbauten Häuser mit Türen, um hinein- und hinauszukommen, mit Fenstern, um hinauszuschauen, und ebenso wie andere Häuser umschließen sie physisch konkrete Volumen. Neu aber waren die damit verknüpften Symbolisierungen der Moderne und der Technik im Besonderen. Denn es handelt sich bei diesen Bauten wesentlich auch um Manifeste, um programmatische Verkörperungen einer Architektur, bei der das Modernisieren in den Dienst einer besseren Welt gestellt werden sollte; einer Welt, in der Dreck und Gestank, die Unordnung schnell wachsender Industriestädte, soziale 251
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Ungerechtigkeit überwunden sind und auch eine neue Einheit des Denkens und Fühlens, des Glaubens und der Vernunft, von Schönheit und Technologie möglich wird. Diese Bauten sind Zeugnisse der Überzeugung davon, dass es möglich ist, die ökonomisch entfesselte Technik, die der industrialisierten Welt den Takt schlägt, sowohl ästhetisch als auch kulturell und sozial zu gestalten. Die Gestalter, die dazu in der Lage sind, sollten am Bauhaus ausgebildet werden und das Schulgebäude selbst sollte dies mit dem darin stattfindenden Schulbetrieb verkünden. Das Bauhaus war vor allem ein Ort für übergreifendes gestalterisches Denken und Forschen sowie für ein experimentelles Entwurfstraining. Nicht zuletzt deshalb konnte das Bauhaus zu einem Kristallisationspunkt des europäischen Modernismus werden. Denn hier herrschte unter Lehrenden und Studierenden eine große Offenheit für neue Ideen und die Sensibilität für wesentliche aktuelle Gestaltungsdebatten und Diskurse. Was ein Bauhäusler neben dem natürlich notwendigen praktischen und theoretischen Fachwissen vor allem lernen sollte, war, dass es keine Selbstverständlichkeit der Form gibt und dass etwas wirklich Neues nur entsteht, wenn man sich zuvor mit möglichst vielen Faktoren des jeweiligen Gestaltungsproblems auseinandersetzt – wenn man sich in die Lage versetzen kann, die Dinge so zu betrachten, als sähe man sie zum ersten Mal und wenn man bereit ist, daraufhin den Entwurfsprozess soweit wie möglich auf elementare Phänomene und Prozesse zurückzuführen. In ihrer Suche nach neuen Modi der Darstellung, mit denen die neuartigen Wahrnehmungsbedingungen in einer industrialisierten, durch technische Transport- und Kommunikationsmedien veränderten Umwelt verarbeitet werden sollten, hatten avantgardistische Künstler den Bildraum und die Kunstpraxis erweitert. Impressionismus und Expressionismus, Kubismus und Futurismus, Suprematismus und Konstruktivismus waren als eine sich mehr oder weniger ablösende Folge stilistischer Antworten auf eine Wahrnehmungskrise entstanden, die ganz neue Muster von Selbst- und Weltdarstellung herausforderte. Die Künstler der Avantgarde suchten aber ebenso nach zeitgemäßen Kunstformen, die die Kunst aus ihrer gesellschaftlichen Isolation befreien könnten. Neue Technologien, wie die unsichtbare, dafür aber umso wirkungsvollere Elektrizität, und neu aufgekommene technische Medien, wie der Film, wurden nicht zuletzt deshalb zum Stimulus von künstlerischen Innovationen, weil sich mit ihnen die Hoffnung verband, zu einer Synthese von Massenmedien, neuen Technologien und traditionellen Kunstgattungen zu gelangen. Es ging um eine Emanzipation von den traditionellen Kunstmitteln, verbunden auch mit der Wahl neuer Materialien und der Öffnung der Verfahren in alle Bereiche des Alltagslebens und der Massenkultur hinein. Mit der Berufung von avancierten bildenden Künstlern als Lehrer einer Schule, deren Ziel keine künstlerische Ausbildung, sondern das Training von 252
Schule der Moderne: Das Bauhausgebäude in Dessau
Gestaltern für alltägliche moderne Lebensräume war, ist das Bauhaus zu einem wesentlichen Ankerplatz dieser Tendenz geworden. Aber gerade weil es hier im Unterschied zu den bereits früher entstandenen Kunstgewerbeschulen nicht nur um eine mehr oder weniger direkte Übertragung künstlerischer Form-Erfindungen und -Übersetzungen in praktische Gegenstände ging, sondern mit der Idee vom „Bau der Zukunft“ eine umfassende und lange Zeit relativ unbestimmte Gestaltungsvision proklamiert wurde, konnte sich eine einzigartige komplexe Suche nach einer modernen Formenwelt und nach der Rolle von Künstlern und Gestaltern in einer industrialisierten Umwelt entfalten. Oskar Schlemmer schrieb 1921: „Das Bauhaus [„baut“] nach ganz anderer Seite hin (…), als erwartet wird, nämlich den Menschen. Gropius scheint das sehr bewußt, und erkennt darin das Manko der Akademien, die die Menschenbildung außer acht lassen.“ (Schlemmer 1921, S. 72) Anders als die traditionellen Akademien, die Architekten vor allem als Künstler ausbildeten, die Entwürfe lieferten, deren Ausführung von Technikern oder Ingeneuren übernommen werden musste, wollte Gropius in der Bauhausausbildung den Beruf des Künstlers und des Ingenieurs oder des Handwerkers integrieren. Dabei knüpfte er an ältere Versuche und Experimente an, vor allem an Ideen der Kunstgewerbebewegung und die in deren Folge entstandenen Kunstgewerbeschulen, die von dem Bemühen getragen waren, „Kunst und Gewerbe neu zu vermählen“ (Waentig 1909, S. 255).
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Der neue Mensch
„Hier in diesem neuen Bau des Dessauer Bauhaus kommt einmal stark und rein zum Ausdruck, was zwar hinter allen anderen Bauten unserer modernen Architektur ebenso gut steht, aber meist durch irgendwelche Hemmungen, Beschränkungen und Schwierigkeiten beeinträchtigt wird: dass ein neuer Typ Mensch und ein neues Verhältnis dieses Menschen zur Welt Ausgangspunkt und zugleich Zielpunkt der neuen Baubewegung ist. Neue Materialien, neue Konstruktionen, neue Techniken sind wichtig und müssen diskutiert, erprobt, beobachtet werden. Aber sie sind immer nur Mittel zum Zweck, und der höchste letzte Zweck ist der Mensch“ (Behne, o.J., S. 112).
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Abb. 3: Student beim Hochsprung vor dem Ateliergebäude, 1931
Selten hatte, bzw. hat, eine Schule einen derart umfassenden Bildungsanspruch wie das 1919 in Weimar gegründete, 1925 nach Dessau übergesiedelte und schließlich 1933 in Berlin geschlossene Bauhaus. Denn das Bauhaus wollte weitaus mehr erreichen als die Ausbildung professioneller Experten für die Gestaltung moderner Produkte. Es ging um nichts Geringeres als die Erziehung eines „Neuen Menschen“. Während der „Neue Mensch“ bis ins 19. Jahrhundert vor allem ein christlich geprägter Begriff gewesen ist und man sich darunter einen Menschen vorstellte, der sich am vorbildlichen Leben Christi orientierte, wurde der „Neue Mensch“ im 20. Jahrhundert und wesentlich in den 1920er Jahren zu einem ikonischen Schlagwort, das meist dann benutzt worden ist, wenn es darum ging, menschliche Eigenschaften zu definieren und zu propagieren, von denen man annahm, dass sie ideale Vorraussetzungen für eine Bewältigung jener Herausforderungen seien, die das technisierte, industrialisierte und urbane „moderne Leben“ bereithält. Dementsprechend war die Rede vom „Menschen mit den modernen Nerven“, vom „Tatenmenschen“ oder dem „Menschen von Morgen“ (Poppelreuter 2007, S. 13). Er sollte sozial, gesund, sportlich, aufgeschlossen, kreativ und mobil sein; technisch orientiert wie der Chauffeur eines Automobils oder geistreich und scharfsinnig wie der Ingenieur. Keineswegs war der „Neue Mensch“ in den 1920er Jahren ein klarer und eindeutig definierter Begriff. Der Begriff charakterisierte vielmehr einen unscharfen Idealtypus, dem 254
Schule der Moderne: Das Bauhausgebäude in Dessau
es gelingt, sich von Hemmungen durch vergangene und überholte Vorstellungen zu lösen, sich den technischen, kulturellen und wirtschaftlichen Entwicklungen der industriell modernisierten Gesellschaft nicht nur anzupassen, sondern auch deren Bedingungen für seine persönliche Weiterentwicklung zu nutzen, weil er mehr als andere das Bewusstsein für die „Neue Zeit“ entwickelt hat. In diesem Sinne war der „Neue Mensch“ schließlich ein Mensch der Zukunft, ein Mensch, der in einer prognostizierten besseren Welt lebt, in der der technische Fortschritt, die Standardisierung und die industrielle Massenproduktion aller lebenswichtigen Güter den Lebensstandard breiter Bevölkerungsschichten erhöhen und damit auch alte soziale Widersprüche und Konflikte aufheben. Die moderne Architektur und insbesondere das Bauhaus hatten es sich zur Aufgabe gemacht, für den „Neuen Menschen“, bzw. für ein entstehendes, innovatives, dem Neuen gegenüber aufgeschlossenes Milieu neue Lebensräume zu entwerfen, womit die Hoffnung verbunden war, die Architektur als enzyklopädische, universelle Gestaltungsdisziplin, bzw. als eine allgemeine Lebenswissenschaft von Grund auf neu zu definieren und zu entwickeln.
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Architektur als Gestaltung von Lebensvorgängen
„Die Baukunst als Gehäuse, als Umgebung, als Milieu, vom Menschen geschaffen, strahlt bildende Kraft aus und gestaltet so wiederum von sich aus das Wesen der Menschen. Geformtes formt. (...) neuer Mensch fordert neues Gehäuse, aber neues Gehäuse fordert auch neue Menschen“ (Wichert 1928, S. 233). Im Vorwort zu seinem 1930 erschienen Buch über die Dessauer Bauhausbauten fragt Walter Gropius: „Was zieht den künstlerischen Gestalter zu dem vollendeten Vernunfterzeugnis der Technik hin?“ Und er antwortet: „Die Mittel seiner Gestaltung! Denn seine innere Wahrhaftigkeit, die knappe, frasenlose, der Funktion entsprechende Durchführung aller seiner Teile zu einem Organismus, die kühne Ausnutzung der neuen Stoffe und Methoden ist auch für die künstlerische Schöpfung logische Vorraussetzung, (...) das Kunstwerk ist immer (...) ein Produkt der Technik, aber es hat gleichzeitig noch geistige Zwecke zu erfüllen, deren Sinnfälligmachung nur mit den Mitteln der Fantasie und Leidenschaft gelingt. Und hier schiebt sich das andere große Problem in den Gesichtskreis des Bauhauses: Was ist Raum? Mit welchen Mitteln wird er gestaltet?“ (Gropius 1930/1976, S. 8 f.). Das Architekturverständnis von Walter Gropius war wesentlich durch die Kunsttheorie des späten 19. Jahrhunderts im Übergang zum 20. Jahrhundert geprägt 255
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worden, durch Wissenschaftler wie August Schmarsow, Heinrich Wölfflin oder Wilhelm Worringer. Deren Theorien hatten sich gegen einen sogenannten ästhetischen Materialismus gerichtet und vor allem gegen die Behauptung, Architektur spiegelt als „Bauschmuck“ Tektonik und Material. Die Kunstwissenschaft der Jahrhundertwende definierte Architektur dagegen als Raumgestaltung. Diese organisiert weniger Baumaterial, sondern bedient sich des Materials um Raumschöpfungen hervorzubringen, in denen ein spezifisches, zeitgemäßes welt- und Raumverhältnis des Menschen zum Ausdruck gebracht wird. Dementsprechend sei das architektonische Kunstwerk, wie jedes andere Kunstwerk, wesentlich vom Geistigen getragen und es realisiert sich in der sinnlichen Erfahrung des Menschen. In diesem Sinne zielen die ästhetischen Wirkungen, die Architektur zu erzeugen vermag, vor allem auf das Körpergefühl des Menschen. Damit konnte das Bauen als eine Gestaltungspraxis gedacht werden, die nicht nur visuelle, sondern letztendlich komplexe Erfahrungen von Räumlichkeit und damit von Lebensbedingungen entwirft. Nicht zuletzt deshalb waren die ersten Meister, die Walter Gropius an das Bauhaus berufen hatte, keine Architekten und Gestalter, sondern bildende Künstler wie Lyonel Feininger, Wassily Kandinsky oder Paul Klee, die in ihrem Unterricht zunächst elementare sinnliche Wirkungen von Farben, Material, Rhythmen, Strukturen und Kompositionsprinzipien vermittelten. So wurde im von Johannes Itten eingeführten Vorkurs, den jeder Bauhausschüler anstatt eines Eignungstest zu absolvieren hatte, die Schulung des „physischen Körper(s), Hand, Arm, Schulter und die Sinne“ (Rotzler 1972, S. 60) in Sensibilisierungsübungen trainiert. Laszlo Moholy-Nagy, der den Vorkurs ab 1923 leitete, knüpfte daran an und ließ seine Schüler zum Beispiel Tasttafeln herstellen, „mit deren Hilfe (man) möglichst viele verschiedene Empfindungen registrieren“ konnte (Moholy-Nagy 1968, S. 21). Die Bauhausschüler sollten im sinnlich erfahrbaren Tun von „ihrer zwanghaften, verkopften Existenz“ (Wilhelm 1998, S. 21) befreit werden, zu der sie durch ihre bisherige schulische Ausbildung gelangt waren. Dem diente auch der Unterricht in den Werkstätten, in denen sehr praktisch und konkret an der Herstellung neuer Produkte für die zu entwickelnde Abb. 4: Tischlerei-Werkstatt im Bauhaus um 1930 256
Schule der Moderne: Das Bauhausgebäude in Dessau
moderne Lebenswelt, bzw. deren Prototypen, gearbeitet wurde. Bereits 1919 hatte Gropius formuliert: „Die Schule ist die Dienerin der Werkstatt, sie wird eines Tages in ihr aufgehen“ (Gropius 1919, S. 208). In der täglichen Werkstattarbeit, die erst in Dessau umfassend auf eine industrielle Perspektive ausgerichtet wurde, sollte eine „Synthese aller Momente von Kunst und Leben“ (Moholy-Nagy 1929/1968, S. 14) erreicht werden. Dabei galt: „Nicht das Objekt, der Mensch ist das Ziel. Nicht ein Beruf, nicht ein herzustellendes Objekt, wird zunächst in den Vordergrund zu stellen sein, sondern vielmehr müssten die organischen Funktionen des Menschen erkannt werAbb. 5: Arbeitsraum der Baulehre im den. Von seiner Funktionsbereitschaft Bauhausgebäude, 1928 kann man dann zur Aktion, zu einem von innen her begründeten Leben übergehen. So schafft man die organische Basis für eine Produktion, deren Mittelpunkt der Mensch ist und nicht die Profitinteressen mit mechanischem Werkresultat“ (ebd., S. 14). „Nicht gegen die Technik, sondern mit ihr!“ ( Moholy-Nagy (1929/1968), S. 21) sollte gearbeitet werden, denn Technik und Rationalisierung wurden als unverzichtbare Potentiale für die Erhöhung des Lebensstandards und die Befreiung von den Schranken der alten bürgerlichen Kultur gesehen. Um aber der Gefahr eines sinnentleerten und desensibilisierten, nur „sektorenhaften Menschen“ (ebd.) zu begegnen, müsse sich die Kunst als ein systematisches „Trainingsmittel“ (ebd.) der menschlichen Wahrnehmung, das heißt für die Erweiterung und Sensibilisierung der Sinne, in den Dienst stellen. Die Bauhauspädagogik, so verschieden die Lehrkonzepte der einzelnen Lehrer auch waren, zielte in ihrer Gesamtheit darauf, paradigmatische Modelle zu entwickeln, die geeignet sind, den modernen Menschen, den man als einen durch die Modernisierung überforderten und die industrielle Arbeitsteilung innerlich zerrissenen Menschen verstand, zu einem „Neuen Menschen“ zu machen: Zu einem Menschen, der „kein Gegner der Maschine (ist) aber (...) ihren Dämon bezwingen (will)“ (Gropius 1930/1974, S. 81) und so verloren gegangenes sinnliches Vermögen und damit die Potenz zur schöpferischen Selbstbetätigung zurückerlangt. Der Bauhaus-Absolvent sollte ein Prototyp dieses „Neuen 257
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Menschen“ sein, der in der Lage ist, Raumschöpfungen zu gestalten, die es dem Nutzer wiederum ermöglichen, sich selbst als „Neuer Mensch“ zu erfahren bzw. zu entwickeln. Den Bauhäuslern der 1920er Jahre war bewusst, dass die von ihnen angestrebte neue Gestaltung vor allem ein neues „Im-Raum-Sein“ hervorbringen muss. Denn so hatte Walter Gropius bereits 1914 formuliert: „Das Ziel der Baukunst bleibt immer nur dieses, Körper und Räume zu Bilden“ (Gropius 1914, S. 30). Gerade „bei der Entwicklung industrieller Formen“ gehe es darum, mit den an sich „wesenlosen Materialien“ wie Glas und Eisen wieder ein Raumgefühl zu erwecken und im „Grundton der Zeit“ von „Handel, Technik und Verkehr“ eine Architektur zu schaffen, die zum symbolischen „Ausdruck“ eines „inneren Sinnes“ werden kann (ebd., S. 30 f.). Die neuen Räume, sollten Ausdruck und Symbol der „Zeitideen“ sein, dabei aber auch Räume zur Verwirklichung eines modernen Glücks, und nicht nur sinnvoll funktionieren, sondern wie der Unterricht am Bauhaus ebenso zur Befreiung appellieren, indem sie dazu einladen, die moderne, technisch vermittelte Welt als neuartigen Möglichkeitsraum für ein sinnlich reiches Leben zu genießen. Diese Vision von der Rekonstruktion der sinnlichen Fähigkeiten im Bauhausunterricht und durch eine neue moderne Architektur hat alle von Walter Gropius entworfenen Bauhausbauten in Dessau geprägt. Am Bauhaus war mit dem Begriff „Bauen“ eben nicht nur das Entwerfen und Herstellen von Architektur im engen physischen Sinne gemeint. In Abgrenzung zu den zeitgenössischen Akademien und Kunstgewerbeschulen, an denen Architekten ausgebildet wurden, umschrieb man mit dem Begriff „Bauen“ eine fundamentalistisch und universalistisch ausgerichtete Gestaltertätigkeit, die die räumliche „Organisation von Lebensvorgängen“ ebenso meinte, wie das elementare Erzeugen von räumlichen Wirkungen durch Formen, Farben, Licht und Bewegungen. Obwohl die programmatischen Texte eine nach außen gerichtete Expansion einer universalistischen Gestaltung beschworen, die letztlich die gesamte Gesellschaft und tendenziell jeden möglichen Punkt der Welt zu erfassen vermag, realisierten sich die totalisierenden Behauptungen anfangs vor allem in der „Formlehre“ der Bauhausmeister, die als bildende Künstler den gleichzeitig von Handwerksmeistern betreuten Werkstätten vorstanden. Nach einer Vorbereitung durch die Grundlehre (den Vorkurs) fand hier eine Unterweisung in strukturelle Gesetze der Gestaltung statt. Die dabei entstandenen Materialstudien und abstrakten Kompositionen, aber auch die Möbel, Teppiche, Tapeten, Türgriffe, Beleuchtungskörper und das Tischgeschirr waren zunächst die Details einer potentiell umfassenden Raumgestaltung. Man konzentrierte sich – ähnlich wie zuvor die Künstler der Wiener Werkstätte oder des Deutschen Werkbundes – auf die weitgehend kontrollierbaren und vom Pluralismus der Außenwelt abgehobenen 258
Schule der Moderne: Das Bauhausgebäude in Dessau
Interieurs neuer Wohnräume, die sich deshalb an einer gestalterischen Grundidee ausrichten ließen. Im Interieur war es zunächst am ehesten möglich das in der Mitte des 19. Jahrhunderts von Richard Wagner formulierte Konzept des Gesamtkunstwerks, in dem das Zusammenwirken unterschiedlicher Kunstformen eine einheitliche, singuläre Erfahrung erzeugen sollte, praktisch umzusetzen. Die moderne Architektur bzw. das Neue Bauen ist zuerst von Innenräumen her entwickelt worden, in denen der Architekt wie ein Universal-Designer wirken bzw. wie ein Regisseur einen umfassenden theatralen Effekt inszenieren konnte. In dem im Interieur implodierten Design konnten Raumbilder hergestellt werden, die zugleich eine konsequente Neuformatierung der äußeren chaotischen, industrialisierten Welt manifestierten, denn die einzelnen Entwürfe waren stets auch als Prototypen für die Massenfertigung gedacht und die Gestalter, die am Bauhaus ausgebildet wurden, sollten schließlich als „Produkte“ der besonderen Pädagogik in die Welt hinausgehen, um diese nachhaltig zu verändern. Die Modelle der Implosion und Explosion gehörten deshalb am Bauhaus zusammen. Walter Gropius hatte gewollt, dass das Bauhaus von der „Einheit einer gemeinsamen Idee“ getragen würde, um die sich die verschiedenen Künstler und Gestalter in einer einzigartigen Arbeits- und auch Lebensgemeinschaft verbinden sollten. Dies wurde nicht zuletzt auch mit der Anlage des Bauhausgebäudes in Dessau – in dessen unmittelbarer Nähe die Meisterhäuser liegen – manifestiert, das als komplexes Gefüge aus Arbeits-, Unterrichts-, Verwaltungs-, Wohn- und
Abb. 6: Studenten auf der Brüstung der Mensa-Terrasse, um 1931
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Gemeinschaftsräumen die unterschiedlichen Tätigkeitsbereiche dieser fast wie in einer Künstlerkommune zusammen arbeitenden und lebenden Lehrer und Schüler aufgenommen und abgebildet hat. In vielen Veröffentlichungen hat sich das Bauhaus oft fast familiär mit Bildern präsentiert, die eben nicht nur die Produkte der Werkstätten, sondern ebenso den Lebensalltag der hier Arbeitenden und Lernenden zeigten. Auch in Form der anspruchsvoll inszenierten Gemeinschaftsfeste, den berühmten Bauhausfesten, haben die Bauhäusler das Bauhausgebäude oft wie eine Bühne genutzt und sich in avantgardistischen Posen oder auch als maskierte und kostümierte Kunstfiguren auf den Balkonen oder den begehbaren Dächern des Bauhausgebäudes offenbar gerne selbst inszeniert. Mit solchen Inszenierungen explodierte gewissermaßen das Innenleben der Schule in das Bauhaus als Gesamtkunstwerk. So gesehen, lässt sich das Bauhausgebäude in Dessau auch als das verwirklichte Gesamtkunstwerk einer kollektiven „Fabrik-Schule“ beschreiben. Hier wurde die Arbeit aller Werkstätten mit der Verschränkung avancierter Raumkonzepte, aber auch in der Beteiligung an der Ausstattung des Gebäudes zusammengeführt. In diesem Sinne war das Bauhaus aber nicht nur ein Gesamtkunstwerk, sondern zugleich auch eine Werkstatt zur Herstellung von Gesamtkunstwerken, die sich von hier aus in die Welt bewegen sollten. Wie in einem Theater präsentierte das Bauhausgebäude in seinem Inneren unterschiedlichste Szenen für die Umgestaltung der Welt aus dem Geist der Moderne. So sehr die einzelnen ästhetischen Stücke, die hier aufgeführt wurden, auch als von der Außenwelt isoliert erschienen, verdeutlichten beispielsweise die gläserne Transparenz und die sich nach allen Seiten entfaltende Kubatur des Gebäudes doch eine Potenz, um in der Ausweitung des Inneren nach außen exakt auf die Welt auszustrahlen und zu wirken.
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Die Fabrikschule
„Am Rand der Stadt liegt das Bauhaus, die Schule von Walter Gropius für Architektur und verwandte Künste, ein großer Bau mit Flachdach und (...) kompromissloser Linienführung. (...) Große Flächen von Glasfenstern fangen jeden Sonnenstrahl ein (...), seine weißen Wände, geradlinigen Terassen mit schwarzem Eisen sind so glatt und ohne Ornament wie ein Rennwagen. Wären nicht die exquisiten Proportionen, könnte es sich um eine Fabrik handeln“ (Mowrer 1928, zit. n. Scheiffele 1998, S. 116).
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Schule der Moderne: Das Bauhausgebäude in Dessau
Nüchtern beschreibt Walter Gropius das Bauhausgebäude: „Das Bauhausgebäude wurde im Herbst 1925 im Auftrage der Stadt Dessau begonnen, nach einjähriger Bauzeit fertig gestellt und im Dezember 1926 eingeweiht. Der gesamte Bau bedeckt rund 2630 qm Grundfläche und enthält ca. 32450 cbm umbauten Raum. Er kostete 902500 MK oder 27,8 MK pro cbm umbauten Raum einschließlich sämtlicher Nebenkosten. Die Beschaffung des Inventars kostete 126200 MK. (...) Eisenbetongerippe mit Ziegelmauerwerk, Steineisendecken auf Unterzügen, im Sockelgeschoß ,Pilzdecke‘. Sämtliche Fenster aus doppelt überfälzten Profileisen mit Kristallspiegelglas verglast“ (Gropius 1930/1974, S. 8 f.). Ebenso informiert Gropius über die Dreiteiligkeit des Gesamtkomplexes, der aus einem Gebäude für die „Anhaltische Berufsschule“, dem Werkstättentrakt und dem Atelierhaus (das Studentenwohnheim mit 28 Wohneinheiten) besteht. Er betont die Modernität der haustechnischen Ausstattung, zu der der mit der Küche verbundene „Speiseaufzug“, Bademöglichkeiten im Souterrain, eine „elektrische Waschanstalt“ ebenso gehören, wie die modernen Lampen und das Stahlrohr-Möbeliar, das nach bauhauseigenen Entwürfen in der Metallwerkstatt hergestellt worden ist. Dieses asymmetrisch gegliederte Gebäude ist eine Zusammenfügung aus mehreren eigenständigen Baukörpern, die sich entsprechend ihrer Funktionen von Arbeit und Lehre über Wohnen bis Freizeit in ihrem Raumvolumen und ihrer äußeren Gestalt voneinander unterscheiden. Es ist eine offene und helle Architektur, die nahezu alle Forderungen von modernen Architekten der 1920er Jahre zu erfüllen verspricht und prototypisch abbildet. Stahl und Glas prägen das Bild. Das klar geometrisch geordnete Gebäude wirkt sauber und verspricht beste Belichtungs- und Belüftungsverhältnisse. Der enge Zusammenhang von Wohn- und Arbeitsräumen betont die Gemeinschaftlichkeit des hier stattfindenden Projektes und gleichzeitig verweist die sich offen in die Umgebung entfaltende Struktur auf dessen zwanglosen und freien Charakter. Die dominante weiße Farbe markiert, wie Jean E. Hammann 1930 schrieb, eine moderne Weltanschauung: „Der Raum wird leer, gibt Bewegung, macht frei (...). Der Raum wirkt durch das Weiß wie ins Unendliche gerückt, wie die Sinne des modernen Menschen in vielfacher Tätigkeit erobern, vorwärtsstürmen, in die Weite wollen“ (Hammamm 1930, S. 122). Es gibt keine einzelne Hauptansicht in Form einer repräsentativen Fassade. Wie eine Skulptur entfaltet sich dieser Bau multiperspektivisch in seinem Umgebungsraum. „Man muß rund um diesen Bau herumgehen, um seine Körperlichkeit und die Funktion seiner Glieder zu erfassen“ schrieb Gropius (1930/1974, S. 20). Die Teile des Komplexes sind so angeordnet, dass eine Verzahnung von Gebäuden und Außenräumen entsteht. An mehreren Schnittpunkten durchdringen sich die einzelnen Baukörper, so im Foyer oder der Kantine. Vor allem 261
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das Treppenhaus auf der Südseite wirkt als Knoten, in dem die Teile der Anlage zusammenlaufen. Als verbindender Kontext wirken auch die weiß verputzten Wände mit den meist horizontal gelagerten StahlrahmenFenstern. Der Gesamtkomplex ist eine Komposition, in der massive Wandelemente und zahlAbb. 7: Blick vom nördlichen Treppenhaus ins reiche Glasflächen konHauptreppenhaus, 2003 trastieren. Vor allem der Werkstättenflügel, dessen drei Obergeschosse durch eine durchgehende, abgehängte Glaswand gefasst werden, betont, dass sich in diesem Gebäude das Innere und Äußere durchdringen. Fasziniert schrieb Ilja Ehrenburg 1929: „Als ich schließlich das ,bauhaus‘ erblickte, das ganz aus einem Stück gegossen zu sein scheint Abb. 8: Blick vom Hauptreppenhaus zur Brücke und wie ein beharrlicher Gezum nördlichen Treppenhaus, 2003 danke, und seine Glaswände, die einen durchsichtigen Winkel bilden, mit Luft verfließend und doch von ihr getrennt durch eine exakten Willen – da blieb ich unwillkürlich stehen, es war kein Staunen angesichts einer sinnlichen Erfindung, nein, es war einfach Bewunderung“ (Ehrenburg 1929/1982, S. 94). Die große Glasfläche entmaterialisiert. Sie nimmt dem Volumen die Schwere. Gleichzeitig veredelt und betont sie diesen wohl am meisten fotografierten Gebäudeteil und stellt die zentrale Bedeutung der sich darin befindenden Werkstätten heraus. Selten zuvor wurde Glas derart als dominanter Baustoff eingesetzt wie am Dessauer Bauhausgebäude. Begeistert schrieb Walter Gropius 1926 in einem Aufsatz: „Glas ist der reinste Baustoff aus irdischer Materie, 262
Schule der Moderne: Das Bauhausgebäude in Dessau
zwar raumabschließend, Witterung abhaltend, aber dennoch in seiner Wirkung raumöffnend, wesenlos und leicht (...) die Glasarchitektur, vor kurzem noch dichterische Utopie, wird hemmungslos zur Wirklichkeit“ (Gropius 1926/1988, S. 103). Das gesamte Bauhausgebäude ist so angelegt, dass es leicht und fast schwerelos wirkt. Dazu trägt das grau gestrichene und zurückgesetzte Sockelgeschoss ebenso bei wie die Straßen überspannende Brücke, in der sich vor allem Büro- und Verwaltungsräume befinden. Das Gebäude demonstriert wie das „Gefühl der Schwere, das die alte Bauform entscheidend bestimmte“ einem „neuen Baugeist“ weicht, der „Überwindung der Trägheit, Ausgleich der Gegensätze“ bedeutet (Gropius 1923, S. 19). Zugleich thematisiert der massive Einsatz großer Glasflächen das Spannungsverhältnis von Innen- und Außenraum als Wahrnehmungsproblem in einer Schulung des Sehens, die in der Verschiedenartigkeit der optischen Eindrücke erfahren wird, wenn man sich um das Gebäude oder darin bewegt. Besonders deutlich wird dies in den beiden sich gegenüberliegenden Treppenhäusern. Beide sind vom Außenraum durch große durchlaufende Glasflächen getrennt. Vor allem von hier aus ergeben sich im Fluss der Bewegung ständig neue Aus- und Einblicke zu den gegenüberliegenden Gebäudeteilen. Im Gehen auf den Treppen, die auch an barocke Anlagen erinnern, erlebt man in der Bewegung sehend ein sich ständig veränderndes Geflecht aus Überblendungen. Man erfährt dabei das Bauhausgebäude als eine Raumschöpfung, die eine geradezu enthusiastische, aus heutiger Sicht durchaus eindimensionale Begeisterung für moderne Technik, für Automobil, Elektrizität und Kino, für industrielle Rationalität, Standardisierung und Massenproduktion nicht ohne subtile Didaktik in anschaulich nachvollziehbare Raumerlebnisse übersetzt. Und zugleich wird jeder, der sich im oder um das Bauhaus bewegt, sofort selbst ein Teil dieses multiperspektivischen Gefüges einander durchdringender Raumbilder. Das Dessauer Bauhausgebäude verkörpert und bildet ab. Es ist als Projektion der Gesellschaft gestaltet, die hier leben, lernen und arbeiten sollte. Deren gewollte Ordnung bringt es zur Erscheinung und überstrahlt gewissermaßen alle Konflikte und Widersprüche, die es zwischen den hier versammelten Gestaltern und Individualisten gegeben hat.
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Abbildungsverzeichnis Abb. 1: Bauhausgebäude. Lageplan der Gesamtanlage. Aus: Gropius, W. (1930/1974): Bauhausbauten in Dessau, Reprint. Mainz/Berlin, S. 19 Abb. 2: Junkers Luftbild: Bauhaus Dessau 1926, Stiftung Bauhaus Dessau Abb. 3: Student beim Hochsprung vor dem Ateliergebäude, 1931, Foto: Unbekannt, Stiftung Bauhaus Dessau Abb. 4: Tischlerei-Werkstatt im Bauhausum 1930, Aus: Gropius, W. (1930/1974): Bauhausbauten in Dessau, Reprint. Mainz/Berlin, S. 72 Abb. 5: Arbeitsraum der Baulehre im Bauhausgebäude im Jahr 1928, Foto: Unbekannt, Stiftung Bauhaus Dessau
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Schule der Moderne: Das Bauhausgebäude in Dessau
Abb. 6: Studenten auf der Brüstung der Mensa-Terrasse, um 1931, Foto: Unbekannt, Stiftung Bauhaus Dessau Abb. 7: Blick vom nördlichen Treppenhaus ins Hauptreppenhaus, 2003, Foto: Jürgen Homuth, Stiftung Bauhaus Dessau Abb. 8: Blick vom Hauptreppenhaus zur Brücke und zum nördlichen Treppenhaus, 2003, Foto: Jürgen Homuth, Stiftung Bauhaus Dessau
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Karl-Dieter Bodack
Organische Gestaltung von Schulgebäuden 1
Architektonische Gestaltungsprinzipien im 20. Jahrhundert
Jean Gebser, polnisch-schweizerischer Kultursoziologe, charakterisierte den Umbruch vom 19. in das 20. Jahrhundert in der mitteleuropäischen Kultur durch den Schritt aus dem dreidimensionalen-perspektivisch orientierten Bewusstsein in die aperspektivisch-vierdimensionale Bewusstseinsstufe, die er „integral“ nannte (1995). Diese ist in der bildenden Kunst und in der Architektur gekennzeichnet durch: die Diskussion um die „vierte Dimension“ (angestoßen auch durch den Umbruch in den Naturwissenschaften), die Überwindung der Fixierung auf die Dreidimensionalität und die Perspektive, Versuche, dynamische, raum-zeitliche Darstellungen und Raumstrukturen zu gewinnen, Korrelationen zur soziokulturellen Entwicklung mit den Tendenzen zur Überwindung statischer und egozentrischer Bewusstseinshaltungen zugunsten weltoffener, toleranter und globaler Haltungen. Dieser Entwicklung entspricht z.B. Kandinskys Münchner Arbeit um 1910, die sich der Integration von Methoden musikalischen Schaffens in die Malerei zuwendet und so dieses zeitorientierte mit dem räumlich orientierten Kunstschaffen kombiniert (1952), da damit zeitlich-strukturierte und räumlich-orientierte Kunst verbunden werden. In die Architektur kommt dieser Impuls durch Rudolf Steiner mit dem Münchner Kongress der Theosophischen Weltgesellschaft im Jahre 1907 (vgl. van der Ree 2001): Steiner gestaltete die Elemente der seinerzeit gemieteten Räume entsprechend den Intentionen dieses Kongresses unter Anwendung der Metamorphose und schuf damit Beziehungen Raumgestaltung zu den Kongressinhalten. Das neue Gestaltungsprinzip stand und steht für eine kritische Distanzierung von klassischen Mitteln der visuellen Gestaltung. Der Begriff der „Gestalt“ definiert ein aus dem Umfeld „abgehobenes Ganzes“, das mehr darstellt als eine bloße Addition von Elementen, die sich durch „Geschlossenheit“, „Prägnanz“ 266
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und „Innigkeit“ auszeichnen. Zur Schaffung von Gestalt kann sich der Entwerfer verschiedener Vorgehensweisen, Arbeitsmittel und Methoden bedienen. „Klassisch“ ist die Arbeit in Stilen: Der Entwerfer bedient sich einer kohärenten Auswahl, eines Kanons, von Formelementen und Kompositionsregeln. Dazu Abb. 1: Architektur mit Kontrasten kommt in der aktuellen Gestaltung meist die Verwendung von „Rastern“, von formalen Strukturen, die auf wiederkehrenden Elementen, regelmäßigen Anordnungen und Maßzahlen basieren, die ganzzahlige Vielfache eines Grundmaßes sind. Damit entsteht mehr „Ordnung“ bei reduzierter „Komplexität“. Durch die Pioniere des „internationalen Stils“ (maßgeblich durch Mies van der Rohe, 1886-1969) kam das Prinzip der Gestaltung durch „Kontraste“ in die Architektur. Darunter wird ein Gestaltungsprinzip verstanden, das auf gegensätzlichen, polar wirkenden Formen, Oberflächen und Farben aufbaut (vgl. Abb.1). Dahinter steht die philosophisch-religiöse Grundüberzeugung, dass alles in der Welt – angefangen mit der Schöpfung durch Gott – aus Gegensätzen hervorgegangen ist. Demgemäß wird davon ausgegangen, dass Neues nur aus polaren Elementen entstehen kann. Die spirituelle Grundlage dafür legte der Religionsphilosoph Romano Guardini, dessen Werk 1926 Mies van der Rohe inspirierte und ihn zu seinen weltweit beachteten Gestaltungsgrundsätzen führte (vgl. Zimmermann 2006). Damit entstehen die bekannten spannungsvollen, oft auch faszinierenden Gestaltungen, die in vielen Fällen keine sinnvollen Funktionserfüllungen leisten können, da sie „abstrakt“, abgehoben erscheinen. In der Gestaltungsarbeit steht meist der übliche Kubus mit Kompositionen aus Glas- und Massivelementen am Anfang aller Planung. Die für die realen Anforderungen und Bedürfnisse notwendigen Raumfolgen und Funktionsabläufe werden dann in die formale Grundkonzeption hineingepasst und damit oft vergewaltigt: Die dogmatische Anwendung geometrisch-idealer Formen für verschiedene Gebäude, Räume und Objekte schließt aus, dass jeweils optimal funktionserfüllende Gestaltungen geschaffen werden können. Die Urheber wählten für diesen Stil den Begriff des „Funktionalismus“ – vielleicht gerade deshalb, um damit die tatsächliche Unfunktionalität zu kaschieren. 267
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Mit solchen Gestaltungen können hohe „Ästhetische Maße“, gemäß George D. Birkhoff (1933) definiert durch den Quotienten „Ordnung/Komplexität“, erreicht werden (2003). Dabei versteht er unter „Ordnung“ eine möglichst elementare geometrische Gestaltqualität, unter „Komplexität“ die Anzahl der Formelemente (Linien, Körperformen). In einer Reihe von Befragungen zeigte sich allerdings, dass das subjektive Schönheitsempfinden nicht proportional mit dem „Ästhetischen Maß“ korreliert: Die meisten Menschen empfinden solche Objekte „am schönsten“, die mittlere Werte des Ästhetischen Maßes aufweisen. Relativ chaotisch gestaltete Bauten mit niedrigen Ästhetischen Maßen werden ebenso als „unschön“ eingestuft wie geometrisch einfach strukturierte mit hohen Werten; hier bestätigt sich das weit verbreitete Unbehagen vieler Menschen gegenüber trivialen, „minimalistischen“ Gestaltungen (vgl. Bodack 1998, 2003). Ernst Bloch hat den „internationalen Stil“ mit dem Begriff des „Todeskristalls“ charakterisiert, organische Gestaltungen in der Architektur mit der Metapher des „Lebensbaums“ (vgl. Maurer-Dietrich 2007). Tatsächlich entsprechen die Bauformen des internationalen Stils oft denjenigen Bauten früherer Kulturen, in denen Totenkulte zelebriert wurden. Der Psychoanalytiker und Sozialphilosoph Erich Fromm (1974) charakterisierte eine aktuelle Zeittendenz als „Nekrophilie“, als „leidenschaftliches Angezogenwerden von allem, was tot ist (…) und das, was lebendig ist, in etwas Unlebendiges umzuwandeln (…) das ausschließliche Interesse an allem, was rein mechanisch ist“ (ebd., S. 63). Fromm kommt in seiner Analyse dieser Haltung u. A. zu der Schlussfolgerung: „Eine andere Manifestation des nekrophilen Charakters ist die Überzeugung, dass sich Probleme und Konflikte nur mit Gewalt und Gewalttätigkeit lösen lassen“ (ebd., S. 64). Die Bauten, die ausschließlich mit Rastern, Orthogonalität und monotonen Wiederholungen gestaltet sind, weisen offensichtlich Bezüge zur „Nekrophilie“ auf. Die Erfahrungen, dass minimalistische Umfeldgestaltungen Vandalismus provozieren, bestätigen dies: Die Deutsche Bundesbahn hatte deshalb die technophil gestalteten Interieurs zahlreicher Fahrzeuge umbauen und mit organisch geprägten Einrichtungen und Farbkompositionen ausstatten lassen. Die Vandalismusschäden konnten so nachweislich auf ein Drittel bis ein Viertel reduziert werden (vgl. Bodack 2008).
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Organisches Gestalten mit der Metamorphose
Im Gegensatz zum internationalen Stil bedient sich „Organische Gestaltung“ einer freien Form- und Farbwahl. Dabei wird primär nicht „biomorph“, d.h. nicht mit Formen aus der Natur gestaltet. Vielmehr werden Gesetzmäßigkeiten der Natur angewandt, vor allem die der „Metamorphose“. Als Entdecker der Metamorphose in der Natur gilt J.W. von Goethe. In seinem legendären Werk „Die Metamorphose der Pflanzen“ (1790) stellt er dar, dass viele Pflanzen im rhythmischen Wechsel von „Zusammenziehen und Spreiten“ wachsen, indem sie im zeitlichen Ablauf Stängel und Blätter schaffen. Somit entwickeln sie sich im Wechsel in die Senkrechte und in die Waagerechte und schaffen nach einer Reihe polarer Entfaltungsschritte mit der Blütenbildung eine „Steigerung“. Bei allem Wachstum bewahren sie jedoch ihre eigene Charakteristik, folgen also einem inneren Motiv (vgl. ebd.). Diese Erkenntnisse begeisterten Louis Sullivan (1856-1924), den bedeutenden Architekten in Chicago und Schöpfer des Slogans „form follows function“. Er schuf viele Skizzenreihen von Metamorphosen und übertrug sie auf seine Gebäude – oft allerdings in Formen von Ornamenten (vgl. Klingborn 1985). Frank Lloyd Wright (1869-1959), sein bedeutendster Schüler, gestaltete viele seiner Architekturelemente in Metamorphosen, gut erkennbar am GuggenheimMuseum in New York. Er prägte den Begriff „Organic Architecture“ (vgl. Hess 2006). In Europa wurden diese Erkenntnisse vor allem durch Rudolf Steiners naturwissenschaftliche Forschungen erschlossen und in die Kunst sowie in die Gestaltung von Gebäuden und Objekten eingeführt (vgl. Klingborn 1985; Mensch und Architektur 2005; Kugler/Baur 2007). Diesen raumzeitlichen Grundgesetzen des Pflanzenreichs ist eine Reihe aktueller Forschungsansätze gewidmet; vor allem Andreas Suchantke (2002) hat dazu wesentliche Erkenntnisse publiziert. So hat Suchantke an den Entwicklungsprozessen des Insektenreiches (1965/1994) und des Menschen (2002) die Metamorphose in vielen Beispielen analysiert und dokumentiert. Damit wurden Schlüssel zum tieferen Verständnis der Gestaltbildungen in der lebendigen Natur, ja des Lebendigen überhaupt, gefunden. Um diese zu verstehen, bedarf es eines „raumzeitlichen“ Denkens: Im Pflanzenwachstum ver- Abb. 2: Der Hahnenfuß 269
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wandelt sich weniger ein und dasselbe Blatt einer Pflanze (es wächst nur meist in seiner einmal angelegten Gestalt!), vielmehr bilden viele Pflanzen in ihrem Entwicklungsprozess nacheinander verschiedene Blattgestalten, die untereinander gesetzmäßig verwandt sind. Diese Wachstumsprozesse beruhen jeweils auf einem individuellen Gestaltprinzip, dem „Motiv“. Im Wachstum entstehen daraus mit dem Mittel der Metamorphose die einzelnen Gestalten der Organe (Blätter und Pflanzengestalten, Körperteile und Gliedmaßen); Teile und Ganzes werden als verwandt wahrgenommen und zeigen in ihrem Erscheinungsbild einen ganzheitlichen Organismus. Werden diese Gesetzmäßigkeiten bei der Gestaltung von Bauten eingesetzt, werden Geschlossenheit, Prägnanz und Innigkeit der Bauten oder Objekte durch sukzessive Entwicklung und Verwandlung von Formen und Farben geschaffen. Ausgangspunkt ist ein Motiv, das aus dem „Wesen“, den Aufgaben und Funktionen der gestellten Aufgabe gewonnen werden soll. Es wird in einem freien, kreativen Prozess Schritt für Schritt verwandelt, um damit die der Aufgabe entsprechenden Gestalten zu gewinnen. Betrachter und Nutzer erleben damit in einem dynamischen Wahrnehmungsprozess Form- und Farbverwandlungen, die den „Schein des Lebendigen“ erwecken können (van der Ree 2001). Stereotype Wiederholungen und monotone Raster werden vermieden und bewegte und lebendig wirkende Erscheinungsbilder möglich. Die an sich dreidimensionale Welt der Objekte und Räume erhält somit die Dimension der Zeit (vgl. Bodack 1998).
Abb. 3: Wohnhaus „Duldeck“ in Dornach (Schweiz), Gartenseite. Entwurf Rudolf Steiner
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Im aktuellen Berufsfeld des Designers ist die Arbeit mit Metamorphosen weit verbreitet, oft unreflektiert, jedoch wie selbstverständlich z.B. in der Automobilindustrie. Kein aktuelles Design eines Pkws, Lkws oder Busses basiert auf Rastern, wenige Elemente sind im klassischen Sinn „Stil“ – d.h. einem festgelegten Formenkanon entnommen. Vielmehr finden sich zahlreiche „Metamorphosen“, die die einzelnen Elemente der Karosserie oder der Innenräume zu ganzheitlich wirkenden Gestalten verbinden. Die zugrunde liegenden formalen Motive sind meist herstellerspezifisch und spiegeln dessen Unternehmens- oder Markenphilosophie: das „Wesentliche“ oder sogar das „Wesen“, mit dem die tieferen, unbewussten Schichten der Psyche und der Wertekanon des Selbst potenzieller Käufer angesprochen werden sollen. Im Bereich öffentlicher Verkehrsmittel war die Deutsche Bundesbahn viele Jahre Vorreiter derartiger Gestaltungen mit den Innenräumen von RegionalExpress-, InterRegio- und InterCityExpress-Zügen (vgl. Bodack 2005, 2008). Kundenbefragungen ergaben, dass die Atmosphäre in diesen Zügen, das Wohlbefinden während der Reise und die daraus resultierenden sozialen Verhaltensweisen maßgeblich dazu beitrugen, dass der Marktanteil von Bahnreisen erstmalig seit dem 2. Weltkrieg zunahm.
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Metamorphosen: erkennen – verstehen – üben
Im Berufsfeld der Architekten spielt diese Entwurfsmethode bestenfalls eine Außenseiterrolle. Organisch gestaltende Architekten sind heute auf diesem Feld de facto Autodidakten, die zwar den Erfahrungsaustausch pflegen, jedoch in Deutschland keine grundständige Architekturausbildung vorfinden (vgl. Peters 2004). Es gibt kaum einen Lehrstuhl, der überhaupt die Methoden „Organischen Entwerfens“ lehrt. Vielfach erleben Studenten, die sich mit diesem Thema beschäftigen wollen, ideologisch gefärbte Vorbehalte und Ablehnungen seitens der Lehrenden. Bauherren, die eine organische Gestaltung erwägen, werden von Architekten mit den Argumenten geschreckt, dass diese risikobehaftet, schwierig, teuer, ja unbezahlbar sei. Dabei zeigen z.B. viele Waldorfschulen, dass sie im Vergleich zu staatlich-städtischen Rasterbauten zu niedrigeren spezifischen Raumkosten organisch bauen können. Dagegen spielt das biomorphe Gestalten eine gewisse Rolle im akademischen Lehrbetrieb: die Übertragung von Formen aus der Natur auf Architektur- und Designaufgaben. In der Garten- und Landschaftsgestaltung erscheint dies sicher angemessen – bei Architekturaufgaben wird dies nur in Ausnahmefällen sinnvoll sein, da sich Wesen und Funktionen von Bauten meist „wesentlich“ von Aufgaben natürlicher Lebewesen unterscheiden. 271
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Die Ursachen mögen vielfältig sein: Zunächst ist die Metamorphose, da sie ein tieferes Verständnis, ein bewegtes Vorstellen, mehr kreative Fähigkeiten erfordert, ein schwieriges und mühsames Lern- und Übungsfeld. Zumindest gilt das im Vergleich zu Rastergestaltungen, die einfach anzulegen sind und im Rechner mühelos beherrscht werden können. Immer wieder werden Ideale der Einfachheit, Simplizität und Transparenz beschworen, rationalisiert mit Argumenten leichter und serieller Herstellbarkeit. Die anhaltende Kritik der Nutzer, die seitens der Sozialwissenschaften vielfach dokumentiert ist, wird ignoriert (vgl. Rittelmeyer 1994). Kreative Arbeit mit der Metamorphose kann gelehrt, verstanden, geübt und schließlich mit Erfolg praktiziert werden. In der Lehrtätigkeit beginnt der Verfasser mit der Arbeit mit Quadrat- und Rechteckrastern, geht über zur Gestaltung mit geometrischen Reihen (Proportionen Quadratseite/Diagonale, Goldener Schnitt), eröffnet das Übungsfeld „Projektive Geometrie – Dekonstruktivismus“ und kommt nach dieser schrittweisen Befreiung aus dogmatischen Lehrsystemen zur Arbeit mit Metamorphosen. Binnen eines Semesters können durchweg bei allen teilnehmenden Studenten gute Gestaltungsqualitäten erreicht werden. Voraussetzung ist allerdings, dass die Entwürfe in studioartiger Zusammenarbeit von Studenten und Lehrern skizziert und besprochen werden – wie dies an ausländischen Architektur- und Designschulen üblich ist. Damit kann ein grundlegendes Verständnis und eine erste Entwurfspraxis veranlagt werden, die dann im Rahmen komplexer Projektarbeit fortgesetzt werden muss. Dem stehen allerdings die oben dargestellten Vorurteile und Vorbehalte gegen organisches Gestalten in den Architekturfakultäten entgegen.
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Organische Architektur für Schulgebäude
Organische Gestaltungsweisen wecken in der Regel hohes Interesse bei den Rezipienten: Sie eignen sich wegen ihrer undogmatischen Offenheit besonders für Partizipationsprozesse (vgl. Bodack 2004), in denen sich Lehrer, Eltern und Schüler einbringen können. Die damit geweckten Motivationen sind ein wirkungsvolles Fundament für jedes Schulgeschehen! Im Schulbau gelten die Waldorfschulen als „Pioniere“ des Zusammenwirkens aller am Schulgeschehen Beteiligten wie auch des organischen Bauens (vgl. Mensch und Architektur 2008, Rittelmeyer 1994). Ihr Begründer, Rudolf Steiner (1861-1924), gilt als einer der Urheber „Organischer Architektur“. Er beabsichtigte mit seinen Architekturentwürfen, den jeweiligen materiellen und seelischen und geistigen Funktionen entsprechende Baugestalten und Räume 272
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Abb. 4: Erdgeschoss-Grundriss der Rudolf Steiner-Schule Gröbenzell bei München
zu schaffen - sie sollten innen wie außen getreue Wahrzeichen der jeweiligen Intentionen sein. Er hat diese Arbeit vielfältig beschrieben (Steiner 1965/1932). Seine Entwürfe sind von zahlreichen Autoren gewürdigt worden (Zimmer 1985; Hasler 2005). Darüber hinaus hat er mit den von ihm in Dornach (Schweiz)gestalteten Funktionsbauten, wie dem „Glashaus“, dem „Heizhaus“ und dem „Transformatorenhaus“ (Abb. 4), gezeigt, dass die organische Gestaltung völlig undogmatisch eine außerordentliche Fülle von Gestaltungen ermöglicht (vgl. Klingborn 1985; Zimmer 1985; van der Ree 2001). Auch hier war ihm wichtig, Inhalte und Funktionen, ja das „Wesen“ der Bauaufgaben erlebbar zu machen. Mehr noch galt es ihm, das Umfeld einzubeziehen, den Bau als „Organ“ zu gestalten, welches im Gespräch ist mit der Umgebung und den Menschen. Dies entspricht dem tieferen Sinn des Wortes „organisch“: Organ sein im Sinne einer aktiven Integration in die Umwelt und als „Werkraum“, als „dritte Haut“ für die tätigen Menschen! 273
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Wie kein anderer bedeutender Bau waren das erste Goetheanum und die ergänzenden Bauten ein soziales Geschehen: Ingenieure und Künstler, Handwerker und Laien aus einem Dutzend Nationen bauten in Dornach unter der Regie Rudolf Steiners – auch während des ersten Weltkriegs! Er zeigte mit der Art seines Wirkens, mit persönlichen Gesprächen, Anleitungen und Vorträgen Wege zu einem sozialfundierten Bauen – Intentionen, die dann später von Joseph Beuys aufgegriffen und als „Soziale Plastik“ weitergeführt wurden (vgl. FIU Kassel 1989). Primäre psychisch-soziale Funktion jedes Schulgebäudes sollte sein, die Entwicklung der Nutzer zu fördern, Freude, Neugier und Abb. 5: Freie Waldorfschule Salzburg, Treppenhaus und Interesse zu wecken, Offenheit und MotivaAusgang zum Schulhof tion zu unterstützen, sozialverträgliche Kommunikationsprozesse zu veranlagen, Gewalt gegen Menschen und Objekte zu verhindern. Objekte sollen Sinn vermitteln, Erkenntnisse über Zusammenhänge und Funktionen erkennbar machen. Raumformen sollen je nach ihren Funktionen die Konzentration oder die Kommunikation fördern. Außerdem könnte die Schularchitektur soziale und kulturelle Bezüge zum Umfeld erlebbar werden lassen, mit der Nachbarschaft über die Sprache der Formen und Farben kommunizieren und damit vorbildlich für ein soziales Klima sorgen. Auf jeden Fall wird von allen am Schulgeschehen Mitwirkenden erwartet, dass die Gestalt der Baukörper und der Räume die pädagogische Arbeit unterstützt und fördert (vgl. Rittelmeyer 1994). Fundament jeAbb. 6: Umspannstation der Pädagogik sollte sein, die Individualitäten „Transformatorenhaus“ zu fördern, indem die Selbstentwicklung der Menschen angeregt wird. Dies stellt ein Urbedürfnis jedes Menschen dar; dafür nimmt er Anstrengungen und Risiken in Kauf, begibt sich in Ausbildungs- und Schulungswege, unternimmt Reisen in unbekannte Länder.
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Abb. 7: Beispiel für eine altersgerechte Gestaltung der Grundrisse von Klassenräumen
Können diese Ziele mit den Mitteln herkömmlicher Architektur im „internationalen Stil“, mit dem akademisch gelehrten Minimalismus erreicht werden? Fördern Simplizität, Einfachheit und Klarheit, Transparenz und Kontraste von Materialien die pädagogische Arbeit? Oder verhindert gerade die Selbstbeschränkung auf wenige formale und farbliche Gestaltungselemente die Selbstentwicklung der Betroffenen? Diese Fragen könnten beispielsweise an den Grundrissformen der Klassen- und Fachräume einer Schule diskutiert werden. Pädagogen werden die berechtigte Forderung haben, dass die Raumformen den Altersstufen und den Funktionen adäquat gestaltet sein sollten. In den Waldorfschulen arbeiten in den Baukreisen meist Lehrer und Eltern mit dem Architekten daran, optimale Gestaltungen für die weit differierenden Funktionen der Räume zu entwickeln. Von der 1. bis zur 10. oder 12. Klasse machen die Kinder einschneidende, ja dramatische Entwicklungsschritte, denen gleiche, orthogonale Räume nicht gerecht werden können. Außerdem dürfte es die Kinder anregen und erfreuen, nach jedem Schuljahr in einem Raum in eine neue Umwelt hineinzuwachsen. Den Fachlehrern hilft es sicher, in adäquat gestalteten Räumen zu unterrichten: Im Handarbeitsraum findet doch ganz anderes statt als im Chemiesaal, im Religionsunterrichtsraum anderes als im Medienraum! Wie „langweilig“, ja demotivierend muss eine Schule erlebt werden, in der alle Räume gleichartig aus vier Beton- und Glaswänden bestehen!
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Gewinne, Chancen und Schwierigkeiten
Durch die weitgehende Gestaltungsfreiheit organischer Architekturprinzipien können die Räume optimal auf die Nutzungsfunktionen hin gestaltet werden und benötigen daher oft geringere Flächen und Raumvolumina als bei orthogonaler Gestaltung. In der Architektur zeigen sich in den relativ seltenen Fällen organischer Gestaltung unmittelbare „Gewinne“ gegenüber klassischen Rastergestaltungen: Räume und Raumstrukturen können durch die größeren Gestaltungsfreiheiten besser und wirtschaftlicher dimensioniert werden; Wände, Fenster, Raumformen lassen sich durch die gegebene Gestaltungsfreiheit viel besser auf das Umfeld und die Funktionen ausrichten; die „semantischen“ Qualitäten, die wahrnehmbaren Bedeutungen und die Kommunikation von Funktionen werden besser darstellbar; Raumformen, z.B. von Schulklassen, können auf die pädagogischen Belange, vor allem auf die Entwicklungsstufen der Kinder ausgerichtet werden; es entstehen statt monotoner nun altersgerechte, interessante und Interesse weckende Schulräume (vgl. Peters 2004); zugunsten individueller und aussagekräftiger Baukörper werden seriell und konformistisch wirkende Stadtbilder vermieden; die Gebäudegestaltung kann Motive und Elemente der Umgebung aufnehmen; „Organische Gestaltung“ wird allgemein als naturnäher und menschengemäßer erlebt (vgl. Rittelmeyer 1994). Dem steht oft der Nachteil einer schwierigeren Herstellung gegenüber. Firmen und Handwerker sind meist unerfahren in der Ausführung organisch gestalteter Bauelemente und kalkulieren daher höhere Preise. Nach den Erfahrungen des Verfassers verhält sich dies relativ zu den Fähigkeiten der Auftragnehmer: Qualifizierte Firmen und Handwerker „meistern“ auch vom Üblichen abweichende Form- und Farbgestaltungen ohne wesentlichen Mehraufwand. Potenzielle Mehrkosten können durch Einsparungen bedingt durch verringerte Massen und Raumvolumina kompensiert werden, indem die Räume weitgehend undogmatisch nach ihren spezifischen funktionalen Anforderungen gestaltet werden. Flure werden dann nicht in ganzer Länge gleich breit sondern in ihrer Breite entsprechend den angeschlossenen Räumen gestaltet, Klassenräume benötigen neben der Tafel nicht die üblichen Ecken – wenn sie wegfallen, wird Raum für Garderoben gewonnen oder wird die Außenhautfläche verringert –, Gruppenräume, in denen die Schüler im Kreis sitzen, werden nicht rechteckig, sondern sechseckig oder rund gestaltet und erfordern dann weniger Baumassen. 276
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Hinter den genannten rationalen „Gewinnen“ können besondere „Architekturqualitäten“ festgestellt werden, wobei hier unter diesem Begriff die gesundheitlichen, psychischen und sozialen Wirkungen verstanden werden sollen (vgl. Bodack 2003). Mehr und mehr wird in den psychologischen und soziologischen Forschungen erkannt, dass Einseitigkeiten, die Vernachlässigung von Sinnen, Lebensfunktionen, von Teilen der Psyche und des Ich/Selbst Schäden bei den betroffenen Menschen verursachen. Sie manifestieren sich im Individuum, zeigen sich jedoch auch im sozialen Verhalten: Destruktion, Vandalismus und Kriminalität sind oft auch Folgen der Umweltgestaltung. Daher muss es vornehmstes Ziel der Gestaltungsarbeit sein, die betroffenen Menschen ganzheitlich anzusprechen und zu erreichen. Dies ein wesentliches Ziel Organischer Gestaltung, für das es – über Arbeit mit Metamorphosen hinaus – weitere Erkenntnisse und Methoden gibt (vgl. Bodack 2004; Mensch und Architektur 2008). Mit der durch die Metamorphosen veranlagten Prozesshaftigkeit schafft der Gestalter einen Bezug zu den tieferen, meist unbewussten Bedürfnissen, die vor allem in der Ich/Selbst-Struktur veranlagt sind: das Bestreben nach eigener Entwicklung („Individualisierung“), das in der Psyche Aufgeschlossenheit und Interesse weckt (vgl. Bodack 2008). Im Sozialen ist diese Tendenz deshalb positiv wirkend, da Konstanz und Verhärtung tendenziell Konflikte forcieren, Offenheit und Prozesse dagegen Lösungen unterstützen. Hinter dem in den USA aktuellen Begriff der „Cultural-Creatives“ steht der sich selbstentwickelnde Mensch, der eigenmotiviert agiert, der seine Potenziale auf seinem Weg zu seinem „Höheren Selbst“ entwickelt. Eine Architektur, eine Gestaltung, die dies ermöglicht oder sogar fördert, darf im tieferen Sinn als menschlich gelten, da sie die tiefsten Bedürfnisse der Menschen tangiert.
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Internetquellen www.organische-architektur.org
Abbildungsverzeichnis Abb. 1: Architektur mit Kontrasten: Innen-/Außenkubus, Horizontal-/Vertikalgestalt, transparente/massive Wände, schwebende/lastende Baukörper. Expo 2000 in Hannover Abb. 2: Der Hahnenfuß zeigt in seinem zweijährigen Wachstum eine charakteristische Metamorphose in seinen Blattgestalten: Die unteren, älteren Blätter haben eine Entwicklung durchlaufen, die an den oberen, jüngeren Blättern ablesbar 278
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Abb. 3:
Abb. 4:
Abb. 5: Abb. 6:
Abb. 7:
ist (Andres Suchantke: Die Idee der Metamorphose, Mensch und Architektur, 2005) Wohnhaus „Duldeck“ in Dornach (Schweiz), Gartenseite. Entwurf Rudolf Steiner, 1913, heute Rudof-Steiner Archiv: Treppensockel, Überdachung und Fenster sind entsprechend ihren Funktionen unterschiedlich gestaltet und über verwandte Formen miteinander verbunden. Erdgeschoss-Grundriss der Rudolf Steiner-Schule Gröbenzell bei München. Architekten: 1.Bauabschnitt (Klasse 1… Spielen-Turnen): Portus-Bau, Karlsruhe, 2. Bauabschnitt (Hausmeister…Holzwerken): Kaifler, König, Reeh, Grafrath, 3. Bauabschnitt (Nachmittags-Betreuung bis Gärtnern): bpr, Stuttgart. Zeichnung: TASD, 82110 Germering Freie Waldorfschule Salzburg, Treppenhaus und Ausgang zum Schulhof, Architekt: BPR, Stuttgart Umspannstation „Transformatorenhaus“ in Dornach (Schweiz). Entwurf Rudolf Steiner, 1921: Ein Beispiel für sinnenfällige Gestaltung eines Baus mit ausschließlich technischen Funktionen. Das Fenster zeigt das Baumotiv eines Rechtecks mit symmetrischen Anschrägungen, das vielfach verwandelt in den Dachgestalten wiederkehrt. Beispiel für eine altersgerechte Gestaltung der Grundrisse von Klassenräumen (Jens Peters und Dietrich Esterl: Schulbau im Zeichen des spirituellen Funktionalismus. In: Mensch und Architektur, 2008
Alle Fotos vom Verfasser
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Gestaltungsperspektiven: Schularchitektur im Zeitalter der Bewegung
Christian Kühn
Rationalisierung und Flexibilität: Schulbaudiskurse der 1960er und -70er Jahre 1
Schulkritik und Schularchitektur
Im Jahr 1977 publizierte eines der renommiertesten Architekturjournale im deutschen Sprachraum, „Bauen und Wohnen“, einen Rückblick auf den Schulbau des letzten Jahrzehnts, der kaum kritischer hätte ausfallen können: „Soll das die »Wende im Schulbau« gewesen sein, die Pädagogen, Politiker und Planer vor zehn Jahren ausgerufen hatten? Unser Schulwesen ist erbarmungsloser Kritik ausgesetzt. Eltern, Lehrer, Schüler – alle klagen über die Bildungsreform. […] Die neuen Gesamtschulen sind »Lernfabriken« und »Bildungsghettos«. »Schulmaschinen« haben die »Schulkasernen« von einst abgelöst. Kritisch zu nennen ist: die Größe dieser Bauten, der keiner sich gewachsen fühlt; Raumeigenschaften, an die niemand gewöhnt ist; eine aufwendige Technik, von der sich jeder beherrscht glaubt; der Bau als Fremdkörper in seiner Umgebung, der auf alle abweisend wirkt.“ (Kücker 1977, S. 333) Wilhelm Kücker, der spätere langjährige Präsident des Bunds Deutscher Architekten, versucht mit seinem Text ein „sich bisher nur verschwommen äußerndes Unbehagen“ zu artikulieren, das sich am Ende eines Jahrzehnts verbreitet, in dem so viele neue Schulen errichtet wurden wie nie zuvor. Kückers fundamentale Kritik am Schulbau der Jahre zwischen 1965 und 1975 erscheint umso dramatischer, wenn man sie dem vorsichtigen Optimismus gegenüberstellt, der zehn Jahre zuvor in der Diskussion über die Zukunft des Schulbaus geherrscht hatte. 1967 erschien – ebenfalls in „Bauen und Wohnen“ – ein Artikel über den „Schulbau für eine neue Schule“ von Gerold Becker, der eine grundsätzliche Erneuerung der Schulbautypologie fordert und mit zwei Thesen begründet: „1. Die äußere und innere Reform der Schule wird aufs schwerste gefährdet oder gar verhindert, wenn sie nicht auf grundsätzlich neue Bauformen im Schulbau trifft. 2. Es ist zu vermuten, daß Erziehung und Verhinderung von Erziehung in einem bisher kaum geahnten Maß durch Räume und ihre Ausstattung bewirkt werden.“ (Becker 1967, S. 367) 283
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Becker erläutert diese Thesen durch eine ausführliche Analyse der aktuellen Chancen und Gefahren. Einleitend stellt er die rein quantitative Betrachtung der Aufgabe als größte Gefahr dar: „Zahlen, Statistiken, quantitatives Denken sind Trumpf geworden […]. Auch für den Schulbau, von dem im folgenden die Rede sein soll, gilt, daß das quantitative Argument das Nachdenken über qualitative Fragen zu ersticken droht. Denn wir brauchen nicht nur dringend mehr Schulen (besser vielleicht: Raum für Unterricht und Erziehung), sondern vor allem andere.“ (ebd.) Aus heutiger Sicht klingen die meisten der Alternativen zum traditionellen Schulbetrieb, die Becker ins Spiel bringt, durchaus vertraut: Umwandlung der Halbtagsschule in eine Tagesheimschule; Stärkung der Autonomie der einzelnen Schulstandorte, „von denen Dahrendorf zu Recht sagt, daß sie (und nicht die Lehrergewerkschaften […] oder die Schulbehörden) die ‚korporativen Vertretungen’ ihres Stands sind“ (ebd.); Schulversuche „als Normalfall“; gemeinsame Schule der 9 bis 13-Jährigen mit einer Maximalgröße von 700 Schülern; darüber Einheiten mit Collegebetrieb, deren größeres Angebot aber 1500 Plätze nicht überschreiten sollte, verbunden mit einer expliziten Warnung vor „Mammutschulen“ mit 2000 bis 3000 Schülern, die aus der Zusammenlegung bestehender Schulformen zu scheinbar effizienteren Zentren zu befürchten seien; flexible Grundrisse für sich ändernde Anforderungen; neue Methoden des Unterrichts wie Team-Teaching, Epochenunterricht; Kritik am „Einheitsklassenraum“, ergänzt durch die Frage, ob „das System »Stammklassenräume + Fachklassenräume + Gemeinschaftsräume + Verwaltungstrakt = Schule« noch zu retten ist, oder vielleicht nur dazu dient, die überfällig gewordene Auflösung der Jahrgangsklasse hinauszuzögern“ (ebd., S. 369); als Gegenvorschlag dazu das Ausgehen von Grundaktivitäten wie „Selbstunterricht; Beratung und Einzelunterricht; Gespräch, Diskussion, Gruppenarbeit; Demonstration, Vortrag, Großveranstaltung“; In-Frage-Stellen der einheitlichen „45-Minuten-Stunde“ für jedes Fach; Thematisierung der Arbeitsplatzqualität für die Lehrkräfte. Schließlich schlägt der Autor als Antwort auf die Tatsache, dass jedes zeitgenössische Gebäude nach 10 Jahren veraltet sei, „intelligente Grundelemente vor, die verlustlos demontabel sind“ (ebd., S. 371), eine Art „Schulbaukasten“, wie er bereits vom Berliner Schulbauinstitut als Grundlage für ein bundesweit nutzbares Fertigteilsystem vorbereitet würde, um den „dilettantischen Dezentralismus“ in der Schulbauplanung zu überwinden. Zu den genannten Aspekten, die der Autor auf seine erste These von der „Notwendigkeit grundsätzlich neuer Bauformen“ bezieht, kommen weitere, die seine zweite These betreffen, also die „Erziehung oder Verhinderung von Erziehung durch den Raum“. Das Schulgebäude müsse einerseits „Möglichkeiten zu ungestörter Beratung“ bieten, andererseits aber auch „ein Plenum, das zur öffentlichen Debatte zwingt“ (ebd., S. 371). Gerade den scheinbar nur der 284
Rationalisierung und Flexibilität
Erschließung dienenden Zwischenbereichen käme eine große Bedeutung zu: „Müssen Gänge, Flure, Pausenhallen eigentlich so steril sein, daß man darin nichts anderes tun kann als sich langweilen oder Krach machen (oder beides)?“ Und schließlich sei die Frage zu stellen, ob denn alles „perfekt vorgeordnet, getüftelt, geregelt“ sein müsse, oder ob Schulen nicht vielmehr „so gebaut [sein sollten], daß man in ihnen das Improvisieren und Erfinden lernen muß“ (ebd.). Es handelt sich hier keineswegs um eine Einzelposition, sondern um die vorherrschende Meinung im Schulbaudiskurs der Jahre 1965 bis zum Anfang der 1970er Jahre. So fordert etwa ein Text „Zur sozialen Rolle der Schule“ im Mitteilungsblatt des Österreichischen Instituts für Schul- und Sportstättenbau im Jahr 1970 Schulräume, die „zu kritischem produktivem Denken, zu einem rationalen selbständigen Urteil, zur Kritik, zur demokratischen Willensbildung, zur Mitbestimmung und Mitverantwortung“ beitragen (Ottel 1970, S. 46). Von einer bestimmten und allgemein gültigen Zeiteinteilung könne bei der Planung nicht länger ausgegangen werden. Bei Bau und Einrichtung müsse daher auf den Einzelschüler Rücksicht genommen werden, zugleich müssten „für die Gruppenarbeit in verschiedenen Größen und Variationen adäquate Gruppenräume zur Verfügung gestellt stehen.“ (ebd.) Für größere Veranstaltungen der Schulgemeinde seien entsprechende Räume vorzusehen, wie überhaupt die Schule „ideell und materiell in das öffentliche Leben einer Siedlung“ integriert werden müsse. Die wichtigste Schweizer Architekturzeitschrift, „werk“, widmet dem Thema „Schulhäuser“ 1969 eine eigene Ausgabe, in deren Editorial festgestellt wird: „Man kann ohne Untertreibung feststellen: Eine neue Didaktik steht zur Verfügung, mit all den dazugehörigen technischen Hilfsmitteln.“ (werk 7 1969, S. 453). Auch die Schüler seien „nicht untätig geblieben, als es galt, der Schule den Problemkatalog zu vergrößern […] Die Schüler wollen ihr Lernen und Leben an der Schule in bisher ungehörtem Maß in die eigene Verantwortung übernehmen“ (ebd.). Als wesentliche Referenz wird auf das Schulbauseminar des Europarates in Ottenstein im Mai 1968 verwiesen. Zu den dort aufgestellten Forderungen gehörten: „Ersetzen der konventionellen Teilung in Stammklassen durch verschiedenartige Alters-, Leistungs- und Interessensgruppen. Größere Flexibilität des Schulraumes, damit er sich den wechselnden Verhältnissen anpassen kann und eine Bindung vielfältiger Erziehungsgruppen ermöglicht. Aufhebung des traditionellen Konzeptes der derzeitigen Schulen als einer Addition gleichgroßer allgemeiner Klassenzimmer. Entwicklung einer neuen Konzeption, welche die gesamte Bodenfläche eines Schulhauses als ein Kontinuum miteinander in Beziehung stehender Räume erreicht. […] Die Räume und die Einrichtungen sollen eine möglichst differenzierte Gruppenbildung beim Unterricht erlauben. Aufhebung des traditionellen Unterrichtsraumes. Dafür sollen Arbeitsplätze und 285
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Arbeitsbereiche mit eigenen Lehrmittelzentren geplant werden. Integration des programmierten Unterrichts in das Schulsystem“ (ebd.). Zu diesen die Struktur und Organisation des Schulraums betreffenden Forderungen kommen weitere, die sich auf den Prozess der Schulraumplanung beziehen: „Dauernder Dialog zwischen Erziehungsfachleuten, Behörden, Politikern, Architekten, Ingenieuren und allen Personen, die sich mit Schulbauproblemen befassen. Erfahrungsaustausch über jene Schulen, die bereits unter Berücksichtigung jener Tendenzen gebaut wurden.“ (ebd.) Diese Beispiele sollen als Indiz dafür ausreichen, dass um das Jahr 1970 im Architekturfeld ein breites Bewusstsein für die neuen Anforderungen an das Schulsystem und deren Konsequenzen für die Raum- und Organisationsformen der „neuen Schule“ als Gebäude vorhanden war. Wie ist es zu erklären, dass wenige Jahre später ein derart vernichtendes Urteil über das Ergebnis einer so viel versprechenden Reformbewegung im Schulbau gesprochen werden konnte, wie es sich in dem eingangs erwähnten Text von Wilhem Kücker exemplarisch darstellt? Und dass in den Jahren ab 1980 von Seiten der Architektenschaft die klassische Schultypologie mit Gang und Klassenraum wieder als Normalzustand akzeptiert wurde und der Dialog zwischen Pädagogik und Architektur praktisch zum Erliegen kam? Und dass erst 30 Jahre später im Zuge der aktuellen Debatte über die Leistungsfähigkeit unseres Schulsystems auch die Rolle des Schulraums als „dritter Pädagoge“ wieder angesprochen wird, und dabei praktisch idente Vorschläge wie in den Jahren um 1970 zur Debatte gestellt werden? (vgl. Kühn 2008; Dudek 2005; Kahl 2005; Stadt Zürich 2004)
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Das Scheitern der „neuen Schule“
Die Erklärung, wie die „neue Schule“ der Jahre zwischen 1965 und 1975 architektonisch gescheitert ist, lässt sich einfacher formulieren als die Gründe, warum sie gescheitert ist. Wilhelm Kücker bietet 1977 rückblickend eine Analyse der Problemlage, die in Bezug auf die erste Frage zwei Achsen des Scheiterns herausstreicht. Erstens erschwere „die Größenordnung der neuen Schulen [...] die Identifikation, treibt sie in die Isolation und gefährdet das städtische Gefüge“ (Kücker 1977, S. 333). Zweitens zwinge „ihre massige Kompaktheit als kurzschlüssige Reaktion auf überzogene Variabilitätsanforderungen [...] die neuen Schulen in die Abhängigkeit komplizierter und störanfälliger Technisierung und rührt in ihren räumlichen Konsequenzen, die sich mit einer generellen Vernachlässigung gestalterischer Ansprüche verbindet, an die Grenzen der physischen und psychischen Belastbarkeit ihrer Benutzer“ (ebd.). 286
Rationalisierung und Flexibilität
Die überzogene Größe der neuen Schulen sei vor allem auf die Überlegung zurückzuführen, dass die Wahlmöglichkeiten für die Schüler umso größer würden, je mehr Klassen und Schultypen an einem Standort vereint seien. „Auf diese Weise entstand der Großbetrieb der Schulzentren und Gesamtschulen mit ihren 1500 bis 2500 Schülern: eine Konsequenz, die niemand zu erschrecken schien. Erst als die Planungen realisiert waren, wurden die dabei nicht bedachten Probleme offenbar. Diese Mammutschulen waren unüberschaubar geworden. Sie förderten Anonymität und Vermassung, ein Gefühl des Verlorenseins. Die Folge war, daß sich jeder der schulischen Gemeinschaft, die nicht mehr als solche erlebt wurde, zu entziehen suchte. Es wirkte sich aus in einem vielerorts beobachteten Erlahmen der sozialen Aktivitäten und Verkümmern zwischenmenschlicher Beziehungen, bei den Schülern sowohl wie bei den Lehrern.“ (ebd., S. 334) Als Seiteneffekt dieser Entwicklung würden Schulen auch nicht mehr dort gebaut, wo sie eigentlich hingehörten, „nämlich hinein in die Städte“. Die notwendigen Flächen würden sich nur an der Peripherie finden, womit die städtebauliche Aufgabe der Schule als soziales Zentrum verloren gehe. Durch ihre Dimension würden derartige Bildungseinrichtungen „teilhaben an jenem zerstörerischen Prozeß der Nutzungsentflechtung, an dem unsere Städte heute kranken.“ (ebd.) Die zweite Achse des Scheiterns ist für Kücker darin zu sehen, dass überzogene Variabilitätsanforderungen mit Typologien beantwortet würden, die unreflektiert aus dem Industrie- und Bürobau stammen. „Landauf, landab entstanden nun jene »Behälterbauten«, die bereits für Zwecke der Produktion, des Verkaufs, der Lagerung und des Verhaltens erprobt waren und sich dort wegen ihrer Neutralität gegenüber den Zwecken bewährt hatten.“ (ebd.) Die Konsequenz waren Kompaktbauten mit vielen innenliegenden Flächen, teilweise ohne natürliche Belichtung und Belüftung. Gestalterisch würde in solchen Anlagen der „Geist des Industriebaus“ walten, eine Gestaltlosigkeit, die als „bewusster Gestaltverzicht“ im Interesse der zukünftigen Gestaltungsmöglichkeiten der Nutzer argumentiert würde1: „Die Situation verschärft sich, sobald aus Gründen optimaler Raumausnutzung das Stammklassenprinzip beseitigt wird und die Schüler nun gleichsam heimatlos von Fachklasse zu Fachklasse wechseln. Ständig unterwegs bleibt ihnen als Fixpunkt in mancher dieser durchrationalisierten Schulanlagen nur noch das kleine Schließfach für ein paar persönliche Utensilien. Bei größeren Pausen und Freistunden wird der Aufenthalt in der Schule dann zum Problem. [...] Der in neuen Schulen verstärkt auftretende Vandalismus dient den 1
Als Ausgleich für diesen architektonischen „Gestaltverzicht“ diagnostiziert Kücker die verbreitete Applikation von „Kunst am Bau“, die den Verlust an räumlicher Qualität aber nicht kompensieren könne.
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Christian Kühn
notorischen Gegnern der Gesamtschule als willkommenes Argument gegen sie und ihr angeblich zu freizügiges Erziehungssystem. Es ist wohl eher ein Indiz gegen ihr bauliches Korrelat.“ (ebd., S. 335) Kücker bleibt in seiner Kritik nicht bei diesen Symptomen stehen, sondern versucht Ursachen zu benennen. An erster Stelle nennt er die „Unsicherheit der Politiker und Pädagogen“, der die Architekten nur zu bereitwillig mit flexiblen Strukturen begegnet wären, in denen alles möglich sein sollte, „weil alles für möglich gehalten wurde“ (ebd.). Als weitere Ursachen werden das „zweckrationale Planungsverständnis bei Staat und Gemeinden“ sowie „das »wissenschaftliche« Planer-Selbstverständnis“ genannt (ebd., S. 336). Diese beiden Ursachen gehen Hand in Hand: Wenn der Auftraggeber nur quantifizierbare Planungsfaktoren akzeptiert, entwickelt sich eine entsprechende Planungskultur auf der Architektenseite, zu der schließlich als vierte genannte Ursache ein „blindes Vertrauen in die Ökonomie der Serie“ trete, das in der Praxis aber nicht eingelöst worden sei. So würden etwa den „13 Mittelstufenzentren in Berlin, identisch bis ins kleinste Detail, ohne Rücksicht auf die jeweilige Umgebung über das Stadtgebiet verteilt […] bald 20 Oberstufenzentren folgen – obwohl schon die 13 mitnichten den versprochenen Verbilligungseffekt der Serienproduktion gebracht haben“ (ebd., S. 337). In keinem Fall hätte „die oft sehr einseitig betriebene Förderung vermeintlich kostengünstiger Bausysteme und Systembauten […] die Baupreise tatsächlich zu senken vermocht. Das einzige, was dadurch wirklich gefördert werden könnte, waren schon erkennbare Monopolisierungstendenzen bei der Bauindustrie“ (ebd., S. 337). Das kollektive Versagen der verantwortlichen Behörden und Planer bestehe insgesamt nicht so sehr in den Experimenten, zu denen man sich im Bewusstsein des Risikos entschlossen hätte, sondern in der „Sorglosigkeit, mit der die Versuchsbauten in den vergangenen Jahren einfach nur reproduziert wurden“ (ebd., S. 337).
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Rationalisierung und Flexibilität als schularchitektonische Leitbegriffe
Die Bereitwilligkeit, mit der die Architektur als Disziplin sich an der Reproduktion von Lösungen beteiligt hat, deren Fragwürdigkeit von an Anfang geahnt und schon bald nach den ersten Realisierungen evident war, ist tatsächlich bemerkenswert. Sie hat ihre Ursache nicht zuletzt in einer sich seit Beginn der 1960er Jahre kontinuierlich verändernden Auffassung des Begriffs „Rationalisierung“, die im Folgenden anhand der untersuchten Quellen dargestellt werden soll.
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Rationalisierung und Flexibilität
1963 erschien im wichtigsten Österreichischen Architekturjournal, „der aufbau“, ein Text über „Rationalisierung im Schulbau – Tendenzen und Erfahrungen“. Der Autor Wilhelm Schütte war unter Ernst May ab 1925 Leiter der Unterabteilung für Schulbau im Frankfurter Stadtbauamt und von 1930 bis 1934 in der Sowjetunion im Trust für Projektierung neuer Städte ebenfalls für den Schulbau tätig. Schütte definiert Rationalisierung als „die Umgestaltung, die in jeder Unternehmung und Verwaltung trachtet, zur Routine gewordene veraltete Praktiken durch Methoden und Maßnahmen zu ersetzen, die auf systematischer Überlegung beruhen; sie ist die Modernisierung der Arbeit ... aus dem Erfordernis, die Bedingungen des Lebens in der Schule ständig zu verbessern“ (Schütte 1963, S. 294). Der „Durchbruch von der Lernschule zur Erziehungs- und Bildungschule“ sei bereits in den 1920er Jahren erfolgt. „Wir sehen im Kind nicht mehr den potentiellen Arbeiter, Wähler oder Studenten, sondern wir sehen in ihm die ganze Persönlichkeit. Vollste Kindheit ist die Quelle vollsten Mensch-Seins, die beste Schule ist die, in der das Kind lernt zu leben (mehr als bloß lebt, um zu lernen)“. Wenn Schütte eine bei der 12. Mailänder Triennale 1960 im Original gezeigte Modellschule beschreibt, wird deutlich, dass es ihm nicht nur um die Effizienz des Systembaus aus vorgefertigten Elementen geht: „Die englische Schule auf der Triennale in Mailand hat alle Besucher durch ihre überzeugende räumliche Gestaltung, durch die wohlproportioniere Bemessung der Schulzimmer mit ihren Nischen und der zentralen Halle, mit der reizvollen Farbgebung und Lichtführung und der Einlagerung ins Grüne entzückt. Diese Schule war einer der Serienbauten, dessen Elemente in sorgfältiger konstruktiver Erprobung fixiert waren. CLASP2 ist es gelungen, in einer Zeit, in der die Baukosten in England im allgemeinen um 60% gestiegen sind, die Baukosten für die Schule um fast 10% zu senken – das alles dank der Ausarbeitung und Anwendung standardisierter Konstruktionen. Dabei wurden 0,25% der Baukosten für die Forschung aufgewendet“ (ebd., S. 299). Nachdem Schütte im Folgenden internationale Beispiele für Typenschulen dargestellt hat, schließt er den Text mit einer Formulierung, die direkt an die Erlösungsrhetorik der klassischen architektonischen Moderne anknüpft: „Es geht vielmehr darum, das ganze Leben zu gestalten. Eine vertiefte Bildung befähigt die Menschen dazu, ihr Leben in schöpferischer Tätigkeit aufzubauen. In diesem Sinne ist die Arbeit an der Gestaltung der Schule ausgerichtet auf den Menschen der Zukunft: Der Mensch der Zukunft ist der gebildete Mensch“ (ebd., S. 302). In der selben Ausgabe des „aufbau“ erscheint der Beitrag „Der neue Schulbau – Entwicklung und Ausblick“, verfasst von den Mitgliedern der Arbeitsgruppe 4, 2
CLASP (Consortium of Local Authorities Special Program), ein Team, das sich aus den Architekten der Grafschaft Nottinghamshire und anderer Grafschaften gebildet hatte.
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Wilhelm Holzbauer, Friedrich Kurrent und Johannes Spalt, Absolventen der Akademie der Bildenden Künste in Wien. Obwohl der Text ebenfalls mit einem sehr positiven Kommentar über den britischen Beitrag zur Mailender Triennale abschließt, beginnt er mit einer historischen Einführung, an deren Beginn mit dem Grundriss einer islamischen Koranschule ein archetypischer Zentralraum gestellt wird. Die sehr unterschiedlichen Beispiele, die zum überwiegenden Teil aus der Zeit nach 1918 stammen, stellen in der Summe ein Plädoyer gegen jede Art der Reglementierung des Schulbaus dar, das zum Abschluss des Texts nochmals betont wird: „Die rasche Entwicklung auf dem Gebiete des Schulwesens, die durch neue pädagogische und psychologische Erkenntnisse hervorgerufen wurde, läßt keine starre Form des Schulbaues zu. Es ist vielmehr nötig, wandelbare, den jeweiligen Verhältnissen leicht anzupassende Organismen zu schaffen. Für die zukünftige Schule kann es weder Rezepte noch einengende Vorschriften geben, da sonst das bereits Erreichte oder die im Fluß befindliche Entwicklung in Frage gestellt wird“ (Arbeitsgruppe 4 1963, S. 292). Es dauert nur wenige Jahre, bis sich diese Forderung nach einer offenen Planung selbst in ein einengendes Rezept verwandelt hat, in dem Rationalisierung und Flexibilität rhetorisch zu einer Einheit verschmelzen. 1966 widmet der „aufbau“ neuerlich ein Heft dem Thema „Schule und Volksbildung“. Die Autoren des Hauptbeitrags, eine Gruppe von Architekten der österreichischen UNESCO-Kommission und der Zentralvereinigung der Architekten3, verzichten auf historische Referenzen und stellen das Problem der Schulraumgestaltung – stilistisch auffallend spröde – als primär technisch-organisatorische Frage dar: „Der immense Bevölkerungszuwachs und die daraus sich ergebenden Änderungen der Sozialstruktur, besonders die immer spezieller und komplizierter werdenden Aufgaben des einzelnen, notwendig, um das Überleben aller zu gewährleisten, führt zu einem wachsenden Bildungsbedarf. Um diesen notwendigen Bedarf zu decken, müssen alle Begabungen erfaßt und ausgebildet werden. Parallel dazu entsteht ein akuter Mangel an Lehrern und Lehrerbildnern, der immer größer wird. Vor diese Probleme werden in erster Linie die gestellt, die sich mit der Ausbildung und dem Lehren befassen. Verschiedenartigste pädagogische Systeme sind heute in stürmischer Entwicklung begriffen und stehen zumeist noch im Anfangsstadium. Der richtunggebundene Vortragsunterricht erfüllt nicht mehr alle heute gestellten Aufgaben, ihm gegenüber treten der Gruppenunterricht (Teamwork) und andere selbsttätige Unterrichtsformen auf, wie der programmierte Unterricht mit Hilfe der Magnetophonmethode, der 3
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Auf Seite der Zentralvereinigung werden Lukas Lang, Franz Schuster, Wilhelm Schütte, Anton Schweighofer, Herbert Thurner und Dr. Robert Weinlich genannt, auf Seiten der österreichischen UNESCO-Kommission Dr. Erich Kröner, Emil Kuntner, Dr. Wilhelm Grimburg, Peter Czernin und nochmals Lukas Lang.
Rationalisierung und Flexibilität
Lehrmaschinen und Lehrcomputer. In manchen Ländern werden Versuche mit lehrersparenden Unterrichtsformen unternommen, man denke an audiovisuellen Unterricht über Television, oder sogar Unterricht mit Hilfe von Radiogeräten, welche den Lehrstoff an die Schüler während des Schlafes oder in Hypnosezustand vermitteln“ (Lang u.a. 1966, S. 377). Architektonisch soll auf diese Anforderung mit einem flexiblen Gerüst reagiert werden, über dessen Raum- oder Gestaltqualitäten keinerlei Aussagen mehr getroffen werden: „Das Schulgebäude bildet den Rahmen für das pädagogische Geschehen und soll in erster Linie funktionell den Ablauf dieses Geschehens garantieren. […] Drei Hauptforderungen müssen daher an ein neu zu errichtendes Schulgebäude von vornherein gestellt werden: Flexibilität des Gebäudes – Ein offenes Fertigteilsystem wird hier am Platz sein, um späteren Veränderungen, Erweiterungen oder Umbauten entgegen zu kommen. Adaptierbarkeit im Innenraum – Leicht veränderbare Zwischenwandkonstruktionen Schiebewände, Faltwände, Teleskop- und Versenkwände sind hier anzuwenden. Mobilität des Schulgebäudes – Um später sich ergebende Standortverlegungen (durch Bevölkerungsumschichtung) leicht zu ermöglichen, wären hier transportable Raumzellen oder leichte Fertigteilsysteme angebracht“ (ebd.). Als besonders vorbildlich erwähnen die Autoren das seit Anfang der 1960erJahre in den USA entwickelte SCSD-System (EFL 1967). SCSD steht für „School Construction Systems Development“, eine Initiative der Educational Facilities Laboratories (EFL) in New York, die 1958 als Tochter-Institution der Ford Foundation gegründet worden war. Die EFL entwickelte Anfang der 1960er Jahre ein Konzept für Großraumschulen, dessen didaktisches Prinzip des „Open Classroom“ aus England übernommen wurde (vgl. Marks 2009). SCSD wurde vom Architekten Ezra Ehrenkrantz als Spezifikation für ein modulares Schulbausystem konzipiert, dessen Elemente von verschiedenen Produzenten in Konkurrenz angeboten werden konnten. Nachdem sich Mitte der 1960er Jahre einige Kalifornische Schuldistrikte auf das System geeinigt hatten, verbreitete sich das System rasch. 1967 waren 22 Projekte nach dem SCSD-System errichtet worden.4 Bis Mitte der 1970er Jahren wurden in den USA über 2000 Schulen nach diesem oder ähnlichen Prinzipien errichtet (vgl. Dobranski 2008). 4
Die Angaben in den untersuchten Quellen im deutschen Sprachraum geben weit größere Zahlen an. So spricht etwa die Zeitschrift „werk“ 1967 von „400 Bauten mit SCSD-System in Konstruktion“ (Redaktion werk 1967, S. 454). Andere Quellen geben an, dass bis Mitte der 1970er Jahre über 2000 Schulen nach dem Open Classroom Prinzip errichtet wurden, von denen die
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Christian Kühn
Auch die Schweizer Zeitschrift „werk“ räumt dem SCSD-System breiten Raum ein. Ein Beitrag mit dem Titel „Die neuen Unterrichtsmethoden und ihre Bauformen“ berichtet emphatisch über die Erfahrungen: „Mit der Entwicklung des SCSD-Systems gelang seinen Schöpfern ein eigentlicher Entwurf, indem es noch heute, nach einer Reihe von programmlichen Umstellungen und Anpassungen, den Anforderungen eines höchst modernen Volks- und Mittelschulunterrichts gerecht wird“ (Schmid 1969, S. 495). In der effizienten Massenanfertigung von Schulraum spiegelt sich für den Autor eine entsprechende Professionalisierung der Pädagogik: „Bisher sind die Schulen aller Stufen unprofessionell geführt worden. Aufbau der Schulprogramme, Lehrprogrammgestaltung und Schwerpunktbildung blieben weitgehend dem Zufall beziehungsweise der zufällig zustande gekommenen Konstellation des Lehrkörpers überlassen. Diesem Zufallsprinzip soll nun der professionelle Aufbau gegenübergestellt werden, bei dem weniger das Können des isoliert arbeitenden Einzelnen als das Einsatzprogramm des ganzen Lehrkörpers nach einem bestimmten Organisationsprinzip im Vordergrund steht“ (Schmid 1969, S. 493). Die Abbildungen, mit denen das SCSD-System illustriert wird, zeigen offene Großräume mit flexiblen, leichten Trennwänden, die entlang eines quadratischen Deckenrasters verschoben werden können. Die Belichtung erfolgt künstlich von oben durch Leuchtstoffröhren, die in die Deckenelemente integriert sind. In der Publikation, die von den Educational Facilities Laboratories 1967 über das System und die bis dahin errichteten Schulen herausgebracht wurde, findet sich keine einzige Abbildung, die einen Blick vom Innenraum nach außen zeigen, obwohl die Projekte umfassend mit dutzenden Fotos dokumentiert sind (EFL 1967).
Abb. 1-3: SCSD-Prototyp, Innenräume
meisten aber bald wieder auf ein konventionelles Klassensystem zurückgeführt waren. (Dobranski 2008) Eine aktuelle wissenschaftliche Aufarbeitung dieser Initiativen liegt derzeit nicht vor.
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Rationalisierung und Flexibilität
Auch in den europäischen Publikationen werden diese Abbildungen übernommen, ohne dass die primär künstliche Belichtung und die völlig homogene, undifferenzierte Raumwirkung kritisch kommentiert würden. Das Fehlen dieser Kritik lässt sich auf die Verwandtschaft des „Open Space“-Konzepts mit der Architektur des deutsch-amerikanischen Architekten Ludwig Mies van der Rohe, dessen Status Mitte der 1960er Jahre kaum überschätzt werden kann, zurück-
Abb. 4: SCSD-Prototyp, Außenansicht
Abb. 5: SCSD-Prototyp, Konstruktives Skelett
führen. Zu seinem 80. Geburtstag 1966 widmeten ihm fast alle der untersuchten Zeitschriften in Deutschland und der Schweiz eigene Ausgaben. Mies van der Rohe, der die Idee eines horizontal organisierten, universellen Raums bereits vor dem 2. Weltkrieg mit dem Barcelona Pavillon oder dem Haus Tugendhat in Brünn realisiert hatte, entwickelt
Abb. 6 Ludwig Mies van der Rohe und die Neue Nationalgalerie Berlin
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Christian Kühn
diese Idee nach dem zweiten Weltkrieg in den USA weiter. Unter Berufung auf Augustinus‘ Gedanken, das Schöne sei „ein Abglanz des Wahren“, verstand Mies seine Bauten als autonomes Abbild einer transzendentalen Ordnung (vgl. Kühn 1989). Im Gegensatz zur Architektur des Funktionalismus vermeidet diese Architektur jede Ableitung von Formen aus Funktionen des Alltagslebens und stellt ihnen stattdessen einen neutralen Raum zur Verfügung. So weit in den europäischen Publikationen Außenansichten von SCSD-Schulen gezeigt werden, gleichen sie frappant dem einzigen Projekt, das Mies van der Rohe nach dem zweiten Weltkrieg in Deutschland realisieren durfte, der 1962 beauftragten und 1968 eröffneten Neuen Nationalgalerie in Berlin. Derart in ihrem „Immunsystem“ geschwächt, war die Architektur als Disziplin bereit, zugunsten von Flexibilität und Rationalisierung auf jede baukünstlerische Gestaltung jenseits der mehr oder weniger elegant detaillierten Hülle zu verzichten, auch wenn diese Haltung in der Realität nichts anderes bedeutete als die „Wegrationalisierung“ der Architektur zugunsten des Bauingenieurwesens5. Der „universelle Raum“ wurde zu einem wesentlichen Aktionsfeld der sich in den 1960er Jahren rasant entwickelnden Fertigteilindustrie. Die Werbung, mit der diese Industrie in den untersuchten Publikationen – in der Regel auf der hinteren Umschlagseite und damit der teuersten Werbefläche – das Vertrauen der Architekten zu gewinnen sucht, spricht für sich. „Und das ist für Sie besonders wichtig: unsere jahrzehntelangen Erfahrungen, die gemeinsame technische Entwicklung, die rationelle Fertigung und das schnelle Bauverfahren ermöglichen es, wertbeständige und preiswerte Bauten zu festen Preisen und festen Terminen zu liefern. Vor Überraschungen sind Sie also sicher“ heißt es in einer Werbung für Vorfertigung im Industriebau (Arbeitskreis Betonfertigteilbau 1967). Bei einer Werbung für Vorfertigung im Schulbau wird demselben Slogan („Feste Termine – Hohe Qualität – Feste Preise“) ein Hinweis hinzugefügt, der offensichtlich dazu dienen soll, Befürchtungen auszuräumen: „Und noch etwas: Unsere Systeme bieten dem Architekten immer neue Gestaltungsmöglichkeiten“ (Arbeitskreis Betonfertigteilbau 1966). Die eingangs zitierte Kritik Wilhelm Kückers aus dem Jahr 1977 lässt sich als Anzeichen dafür lesen, dass das „Immunsystem“ der Architektur angesichts der in den vorangegangenen 10 Jahren realisierten Bauproduktion wieder zu greifen beginnt. Kücker stellt dabei auch die Frage nach der Verantwortung der Architekten für das Scheitern der Bildungsreform: „Haben die Schulbauplaner der Bildungsreform einen Bärendienst erwiesen, weil die verbreitete Ablehnung des Experiments in der Öffentlichkeit auch durch diese Bauten provoziert wird? 5
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Dass die Gegenbewegung dazu bei einer jüngeren Generation bereits Ende der 1950er Jahre einsetzte, wäre gesondert zu diskutieren und sprengt den Rahmen der vorliegenden Untersuchung.
Rationalisierung und Flexibilität
Die Abwehr gegen die neuen Schulen könnte sich auf die unzweifelhaft notwendige Reform der Schule als Institution übertragen, vermag doch heute selbst unter Fachleuten niemand zu beurteilen, bis zu welchem Grad diese gebaute Umwelt oder das darin sich vollziehende Tun am bisherigen Mißerfolg schuld ist“ (Kücker 1977, S. 337). Als vordringlich sieht Kücker daher eine vorurteilsfreie Diskussion, um die Ergebnisse der letzten Jahre aufzuarbeiten: „Was in dieser Lage am wenigsten angebracht wäre, ist lautstarke Schadenfreude. Sie würde nur diejenigen wieder auf den Plan rufen, die schon immer gegen Experimente waren, aber jahrelang geschwiegen haben. […] Was nötig sein wird, ist die kritische Prüfung der Ergebnisse. Zehn Jahre Schulbau sind aufzuarbeiten um daraus Folgerungen und Nutzanwendungen für die nächste Zeit zu ziehen. Nach und nach wird ja doch deutlicher, was gut funktioniert hat und was falsch gemacht wurde. Statt Folgerungen gibt es zunächst eher Fragen, vor allem diese: Müssen Schulen so groß sein? Müssen sie so technisiert sein? Müssen sie so flexibel sein? Denn das sind doch wohl jene bisher unangefochtenen Planungsmaximen, die das Entstehen architektonischer Werte im neuen Schulbau am stärksten behindert haben“ (ebd., S. 337).
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Die Flucht aus der Verantwortung
Eine umfassende Aufarbeitung in diesem Sinn findet jedoch nie statt. Im selben Jahr, in dem Kückers Beitrag erscheint, publiziert die Zeitschrift „werk“ – inzwischen auf „werk.archithese“ umbenannt – einen Text des Architekten Aldo Rossi mit dem Titel „Voraussetzungen meiner Arbeit“, der die architektonische Diskussion der kommenden Jahre exemplarisch vorzeichnet (vgl. Rossi 1977). Rossis Sicht der Architekturentwicklung ist um nichts weniger kritisch als die Kückers, seine Antwort fällt jedoch radikal anders aus. Den Funktionalismus bezeichnet er ebenso als Sackgasse wie die organische Architektur, die „bestimmte Räume für bestimmte Lebensweisen vorsah, wo die Form lediglich die plastische Umsetzung, fast der Abdruck einer bestimmten Funktion war und dies auch noch immer ist“ (ebd., S. 38). „Diese Wege waren falsch. Der Architekt soll die wichtigsten Linien des Entwurfs geben, aber er darf nicht »lehren, wie man zu leben hat«“ 6(ebd., S. 38). Eigentliche Aufgabe der Architektur sei die richtige Auswahl zeitloser Archetypen, aus denen sich die Stadt schon immer zusam6
Rossi sieht sich mit seinem Ansatz in der Tradition des „Rationalismus“ und beruft sich dabei auf den deutschen Architekten Adolf Behne, der in seinem Buch „Der Moderne Zweckbau“ zwischen Rationalismus und Funktionalismus unterschieden hatte: „Sucht der Funktionalist die
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Christian Kühn
mengesetzt hätte. Nur diese Archetypen würden echte Flexibilität bieten: „Die flexible Bauweise soll nicht in sich selbst flexibel sein, sondern das Leben darin flexibel gestalten. Jede Bauweise muss eine Vielzahl von Funktionen ermöglichen. Das System, das der Mensch baut, und das, in dem er wohnt, sind zwei verschiedene Dinge“ (ebd., S. 38).
Abb. 7- 8, Aldo Rossi, Schule in Broni, 1979-81, Grundriss und Ansicht)
Von einer intensiven Auseinandersetzung mit den Bedürfnissen der Nutzer entbunden, darf sich die Architektur nun wieder mit formalen und typologischen Grundfragen befassen. Dass der Schulbau mit der klassischen Typologie von Gang und Klasse bewältigt werden kann, steht für Rossi – der selbst einige viel publizierte Schulen nach diesem Muster gebaut hat – außer Frage. Eine Aufarbeitung der Entwicklungen der 1960er und 70er Jahre erübrigt sich aus dieser Perspektive vollständig. Dass Rossi keine Einzelposition vertrat, beweist nicht nur der so gut wie vollständig am Gang- und Klassensystem orientierte Schulbau der 1980er und 1990er Jahre. Auch viele der Forschungsstätten, die sich dem Thema widmen, werden geschlossen. 1983 wird das Institut für Schulbau an der Technischen Hochschule und späteren Universität Stuttgart, 1963 von Günther Wilhelm gegründet, aufgelöst, 1985 das Schulbauinstitut der Länder in Berlin.7 Im deutschsprachigen Architekturdiskurs blieb vom Schulbau der
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grösstmögliche Anpassung an den möglichst spezialisierten Zweck, so der Rationalist die beste Entsprechung für viele Fälle.“ (Behne 1926, S. 59) Das Institut wird in eine der Kultusministerkonferenz angegliederte „Zentralstelle für Normungsfragen und Wirtschaftlichkeit im Bildungswesen“ verwandelt, deren Aufgaben „die Rationalisierung von technischen Normen und Vorschriften, die Einbeziehung pädagogischer und schulorganisatorischer Gesichtspunkte in die Normenarbeit und die Information über Kosteneffektuierung im Bildungswesen“ umfassen. (Landeselternausschuss 2009)
Rationalisierung und Flexibilität
1960er und 1970er Jahre und seinen Visionen nicht viel mehr übrig als ein bauphysikalisches Problem, dessen thermische Sanierung ein lukratives Aktionsfeld für die Bauindustrie darstellt.
Literatur Arbeitskreis Betonfertigteilbau (1966): Fertigbau. Verwaltungs- und Schulbau. Industrieund Wohnungsbau. In: Bauen + Wohnen, H. 3 Arbeitskreis Betonfertigteilbau (1967): Namhafte Architekten realisieren ihre Entwürfe mit unserem Industriebausystem und der Bauherr profitiert davon. In: Bauen + Wohnen, H. 10 Arbeitsgruppe 4 (1963): Der neue Schulbau – Entwicklung und Ausblick.“ In: der aufbau, H. 8/9, S. 281-293 Behne, A. (1964): Der moderne Zweckbau. Neudruck der Originalausgabe von 1926. In: Ullstein Fundamente Nr. 10, Hg. von U. Conrads. Berlin/Frankfurt a.M./Wien Dobranski, B. (2008): Final Bell Tolls for Norwich School. Pittsburgh-Tribune Online, 13.1.2008 http://www.pittsburghlive.com/x/tribunereview/news/westmoreland/s_ 547240.html (Download 20.2.2009) Dudek, M. (2005): Children’s Spaces. Oxford EFL (1967): SCSD – The Project and the Schools. A report from Educational Facilities Laboratories. EFL. New York Hochbaudepartment der Stadt Zürich (Hg.) (2004): Schulhausbau. Der Stand der Dinge. Basel/Boston/Berlin Kahl, R. (2005): Treibhäuser der Zukunft. Wie Schulen in Deutschland gelingen. Archiv der Zukunft/BELTZ Kücker, W. (1977): Die neuen Schulen. In: Bauen und Wohnen, H. 9, S. 333-337 Kühn, Ch. (2008): Bildungsvisionen – Schulmodelle. In: schule und sportstätte - Fachjournal des Österreichischen Institutes für Schul- und Sportstättenbau, Jg. 43, H. 1, S. 19-21 Kühn, Ch. (1989): Mies oder das Schöne als Abglanz des Wahren. In: Das Wahre, das Schöne und das Richtige. Braunschweig Landeselternausschuss (2009): Kultusministerkonferenz. http://wiki.landeselternausschuss.de/index.php/Kultusministerkonferenz. (Download 12.2.2009) Lang et al. (1966): Schulen bauen. In: der aufbau, H. 11/12, S. 376-388 Marks, J. (2009): A History of Educational Facilities Laboratories (EFL). http://www. edfacilities.org/pubs/efl2.pdf (Download 9.3.2009) Ottel, R. (1970): Zur Sozialen Rolle der Schule. In: Mitteilungsblatte des Österreichischen Instituts für Schul- und Sportstättenbau, H. 2, S. 46-53 Redaktion Werk (1969): Non Scolae Discimus. In: werk, H. 7 Schütte, W. (1963): Rationalisierung im Schulbau – Tendenzen und Erfahrungen. In: der aufbau, H. 8/9, S. 294-303
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Christian Kühn
Schmid, Th. (1969): Die Neuen Unterrichtsmethoden und ihre Bauformen. In: werk, H. 7, S. 493-496
Abbildungsverzeichnis Abb. 1-5: EFL (1967): SCSD – The Project and the Schools. A report from Educational Facilities Laboratories. EFL. New York Abb. 6: Briefmarke der Deutschen Bundespost, Quelle: http://commons.wikimedia.org/ wiki/File:Stamps_of_Germany_(Berlin)_1986,_MiNr_753.jpg (Anmerkung: Diese Briefmarke wurde von der Deutschen Bundespost bzw. Deutschen Bundespost Berlin herausgegeben. Als amtliches Werk ist sie nach § 5 Abs. 1 UrhG gemeinfrei.) Abb. 7-8: Gianni Braghieri, Aldo Rossi, Artemis Verlag Zürich, 1993 Grundriss (S. 104), Ansicht (S. 105)
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Schulische Mobitektur: Bauen für die Bildung 1
Schüler: Vagabundierende Nomaden oder sesshafte Spießer?
Eine Schule ist in Bewegung. Schüler strömen wie eine Flut1 durch die Gänge, auf dem Pausenhof bilden sich Gesprächskreise, um sich nur kurze Zeit später wieder zu verlaufen. Schlangestehen in der Schulcafeteria, das Ein und Aus in den Schultoiletten, sogar vor dem Schultor stehen Schüler, obwohl das Verlassen des Geländes verboten ist. Das Kommen und Gehen, die Bewegung und die Platzierung sind nicht vollständig vorhersehbar: Zwar setzt sich die Masse der Anwesenden beim Läuten der Pausenglocke einheitlich in Bewegung, doch ein Schüler beschließt zu schwänzen und schleicht auch noch nach Unterrichtsbeginn durch die Gänge, um sich mit einigen Freunden bei den Fahrradständern zu treffen. Eine andere Schülerin hat sich verspätet, weil sie ihr Sportzeug in der Turnhalle vergessen hat und den ganzen Weg zurücklaufen musste. Auch in den Räumen herrscht nicht immer die Anordnung, die für die Schüler vorgesehen ist, Streiche und Verwirrspiele stehen auf der inoffiziellen Tagesordnung: „Während Martin vor der Tür gewartet hatte, war etwas Haarsträubendes geschehen! Ein paar Externe (...) hatten Uli in den Papierkorb gesetzt und den Papierkorb an den zwei Haken, die zum Aufhängen der Landkarten dienten, hochgezogen. Matthias war von vier Jungen in der Bank festgehalten worden. Und nun hing Uli oben unter der Zimmerdecke und schaute mit knallrotem Kopf aus dem Körbchen. Martin wäre fast in Ohnmacht gesunken. Professor Kreuzkamm tat, als bemerke er den skandalösen Tatbestand überhaupt nicht, sondern setzte sich gleichmütig hinters Katheder.“ (Kästner 1979, S. 91 f.) Sind Schüler Vagabunden, Nomaden der Schulflure und -höfe, die, wie so viele andere Menschen im westlich geprägten Kulturraum, unter den Vorzeichen einer positiv besetzten Mobilität und Flexibilität permanent unterwegs sind? Oder sind sie nicht doch vielmehr das genaue Gegenteil davon, sesshafte Spießer wie 1
Zu dieser Bildlichkeit vergleiche auch die Wahrnehmung von Lehrern in einer Untersuchung so genannter ‚Schulrebellen‘ (Willis 1982, S. 127).
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Laura Kajetzke | Markus Schroer
ihre Eltern?2 Zentrale Bezugspunkte ihres Handelns sind das Elternhaus und die Schule, zwei Gebäudetypen mit sichtbaren Außengrenzen sowie mit meist unverrückbarem Mobiliar, das vor allem zum Verweilen und zur Passivität einlädt. Aus dieser Perspektive erzeugt die Schule als institutionalisierter Raum immobile Individuen, deren Bewegung nur eine kurzzeitige Übergangsphase von einem Ruhezustand in den nächsten darstellt. Beide Sichtweisen klingen für sich genommen plausibel, doch gehen sie von einem Raumverständnis aus, das von der neueren Raumsoziologie (Sturm 2000; Löw 2001; Schroer 2007) aus guten Gründen nicht geteilt wird. Räume sind nicht nur ein hübscher Bilderrahmen für Interaktionen, der Akteure in ihren Möglichkeiten begrenzt. Das Konzept des Raumes soll vielmehr konstruktivistisch verstanden werden: Zwar können Gebäude und Mobiliar und auch typische Platzierungen in und zu diesen den Individuen vorgängig sein, doch konstituiert sich der Raum erst durch die Bewegung der Individuen. Löw (2001) beschreibt die „(An)Ordnung“ von Individuen zu Objekten und Gebäuden, das bewusste oder habituell gewusste Sich-Platzieren, als „Spacing“, die kognitive Verknüpfung dieser disparaten Elemente zu einer kohärenten Raumwahrnehmung als „Synthese“ (ebd., S. 158 ff.). Räume werden also erst geschaffen und sind nicht ontisch vorgegeben. Zugespitzt kann man sogar sagen, dass auf einem Territorium, wie z.B. dem Schulgelände, ganz unterschiedliche „raumkonstituierende Kompetenzen und Kämpfe“ (ebd., S. 234) stattfinden können. In diesem Verständnis ist auch der Körper ein wesentlicher Aspekt der Raumbildung, da er sowohl Ausgangspunkt für jegliche Form von Raumwahrnehmung ist als auch als strategisches Mittel zur Definition eigener Räume eingesetzt werden kann (Schroer 2007, S. 276 ff.).3 In diesem Spannungsfeld von Akteuren, Gebäudevorgaben und Objekten4 in der Schule, in dem Raum erst aktiv hergestellt wird, wird im Folgenden das Konzept der „Mobitektur“ Erhellung bringen. Dieser Begriff soll erfassen, dass die klassische Unterscheidung von Sesshaftigkeit und Unterwegssein an Bedeu2
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Die Konzepte des Nomaden und des Spießers als zwei „Mobilitäts-Idealtypen“ finden sich erstmalig im Aufsatz „Mobilität ohne Grenzen? Vom Dasein als Nomade und der Zukunft der Sesshaftigkeit“ (Schroer 2006). Der Körper ist hier nicht lediglich als ein ‚Ding’ unter anderen zu platzierenden Objekten in einem Raum zu verstehen, sondern soll im Sinne der Schützschen Phänomenologie angesehen werden als notwendige Bedingung der Erfahrung von Raum: „Mein Körper ist (...) nicht ein Gegenstand im Raum, sondern die Bedingung für alle meine Erfahrung der räumlichen Gliederung der Lebenswelt. In jeder Situation wirkt mein Körper als ein Koordinatenzentrum in der Welt, mit einem Oben und Unten, einem Rechts und Links, Hinten und Vorn.“ (Schütz/Luckmann 1975, S. 152 ). In der Regel handelt es sich hier um Mobiliar. Interessant ist daran für den vorliegenden Zusammenhang, dass sich das Wort „Möbel“ etymologisch ebenso wie die Mobilität von movere, „bewegen“ herleitet und eine „bewegliche Habe“ bezeichnet (Kluge 2002).
Schulische Mobitektur: Bauen für die Bildung
tung verliert, weil sich beide Pole einander annähern. Dabei beschränkt sich die „mobile Architektur“ nicht nur auf die Gebäude selbst, sondern setzt am (bewegten) Verhältnis von Handelnden, Dingen und Bauten an. „Mobitektur“ ist ein Neologismus5, der darauf zielt, den alltäglichen und soziologischen Blick für die zunehmende Mobilität des Sesshaften und die zunehmende Sesshaftigkeit der Mobilität zu schärfen. So holt einerseits beispielsweise das Wohnhaus, als Inbegriff des Ankommens, Bleibens und Verweilens, durch technische Entwicklungen im Kommunikationsbereich, z.B. Heimkino, Homeshopping und Informations- und Entertainmentzufuhr via Internet, ehemals ausgelagerte Orte direkt in das Eigenheim. Das Haus wird zum Terminal, der Ort wird entterritorialisiert. Auch wird die Innen- und Außenarchitektur von Wohnhäusern offener und leichter in der Gestaltung.6 Diese zunehmende Beweglichkeit in der Sesshaftigkeit soll, als erste Tendenz der Mobitektur, Mobilisierung des Wohnens genannt werden. Andererseits wird durch die permanente Erfordernis zur Mobilität der Arbeitsweg mit dem Zug, dem Auto oder gar dem Flugzeug zurückgelegt, was Auswirkungen auf Ausstattung und Komfort dieser Transportmittel hat.7 Autos können aufgrund ihrer vielfältigen Funktionen und ihrer Abgeschlossenheit nach außen mit kleinen Häusern verglichen werden, die den einzelnen Reisenden in einer gewissen Weise vor der Außenwelt „beschützen“ wie ein Kokon. So ist trotz einer Bewegung von A nach B auch eine zunehmende Sesshaftigkeit innerhalb dieser Mobilität zu konstatieren. Diese zweite Tendenz der Mobitektur kann als Verhäuslichung der Fortbewegungsmittel bezeichnet werden.8 Mit diesem Verständnis sind Schüler folglich nicht mehr mit den ‚traditionellen’ Nomaden vergleichbar, die einen bereits vorhandenen, aber als statisch wahrgenommenen Raum durchqueren. Der Raum selbst wird zu einem Vagabunden, seine Grenzen sind veränderbar und nicht an Mauern aus Stein gebunden. Dieser neuen Fluidität des Raumes wird durch den Begriff der Mobitektur Rechnung getragen. Das Konzept nimmt jedoch auch gleichermaßen in den Blick, dass Räume durch die Handlungs- und Wahrnehmungsleistungen der Schüler in ihrem Alltag zum Leben erweckt werden. Die zentrale Frage, die sich 5
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Dieser Terminus scheint jedoch nahe liegend zu sein, um das Verhältnis von Bewegung und Sesshaftigkeit zu erfassen und wird nicht nur in der Soziologie verwendet. „Mobitektur“ nennt daher der Kurator der Ausstellung „Living in Motion“, Mathias Schwarz-Clauss, Objekte, die gleichzeitig Architektur und Möbel, Behausung und Einrichtung sind. Bezogen auf die Inneneinrichtung spricht Düllo (2000) von einer „Ikeaisierung der Wohnwelt“. Augé (1994) beschreibt anschaulich die Orte des Reisenden als „Nicht-Orte“ mit speziellem Augenmerk auf die Inszenierung und Ausstattung dieser Übergangsstationen. Vgl. erneut zu diesen Gedanken und den folgenden: „Mobilität ohne Grenzen“ (Schroer 2006).
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aus einer konstruktivistisch-mobitektonischen Perspektive in Bezug auf Schularchitektur stellt, zielt auf die Raumkonstituierungsleistungen der Akteure in Wechselwirkung mit Gebäudeumrissen, Mobiliar, Lernmaterial und Handlungserfordernissen unter den Gesichtspunkten von Bewegung und Stillstand ab. Nachdem nun in einem ersten Schritt das Spannungsfeld von Sesshaftigkeit und Mobilität zum Schüler-Akteur in Beziehung gesetzt wurde, soll in einem zweiten Schritt der Blick auf ein idealtypisches Klassenzimmer geworfen werden. Der historische Institutionalisierungsprozess dieses Raumtypus mit seiner handlungsstrukturierenden Kraft wird dabei umrissen, um die Genese bestimmter Fixierungspraktiken nachzuzeichnen (vgl. Foucault 1994). Eine Perspektive, die sich auf die Sesshaftwerdung der Schüler-Subjekte beschränkt, greift aber zu kurz. Die raumerschaffenden Möglichkeiten von Schülern beginnen schon im Klassenzimmer, wie in einem dritten Schritt mit interpretativen Deutungen gezeigt wird (vgl. Goffman 1983). Raumkonstituierung durch Schüler findet nicht nur im Klassenzimmer statt. Da in diesen Prozess sowohl Gebäudevorgaben und Objekte als auch deutungsund handlungsmächtige Individuen mit ihren Körpern (als ein weiteres Definitions-Mittel) einbezogen sind, wird in einem vierten Schritt über Möglichkeiten der Raumaneignung reflektiert. Unterschieden wird dabei in top-down-Maßnahmen, die „von oben“ verordnet werden, um eine bessere Lernumgebung zu schaffen, sowie bottom-up-Maßnahmen durch die Schüler selbst, die teilweise subversiv sein können und sich durch Fragilität auszeichnen. All dies mündet in das Konzept der Mobitektur, wie dann in einem letzten Schritt in Form eines Fazits herausgearbeitet wird. Abschließend ist zu diskutieren, welchen Beitrag die eröffneten Dimensionen einer schulischen Mobitektur zu raumsoziologischen Analysen leisten können.
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Fliegendes Klassenzimmer? Fixierendes Klassenzimmer!
Erstaunlicherweise wurde das Klassenzimmer als Raumtypus bislang von der Forschung sträflich vernachlässigt. Grosvenor et al. beklagen eine „silence in the history of education about the practice, meaning and culture of classrooms in the past” (Grosvenor et al. 1999, S. 1). Das idealtypische Klassenzimmer mit seinen Zweiertischen und Stühlen, ob nun in Reihen aufgestellt oder in U-Form, mit der Tafel und dem Lehrerpult, ist vielen vertraut. Aber wie kommt es, dass uns diese Grundelemente eines Klassenzimmers so gar nicht kontingent vorkommen? Erwartet wird Zentralität, also Ausrichtung der Schüler auf den Lehrer, genauso wie eine gewisse Kargheit, gegen die vom Klassenverband 302
Schulische Mobitektur: Bauen für die Bildung
hin und wieder mit bescheidenen Mitteln – etwas Farbe, ein paar Bravo-Poster – angegangen wird. Die Schüler stellen wir uns in der Regel sitzend vor. Woher stammen diese institutionalisierten Raumvorgaben, die sich als Typisierung9 in jedermanns Wahrnehmung geschlichen haben? Ein Blick auf die Geschichte der (europäischen) Klassenzimmer offenbart drei Aspekte, die die Schularchitektur maßgeblich geprägt haben: der Protestantismus in der Folge der Reformation, der Militarismus in der Folge des Wilhelminismus und der Hygienediskurs des 19. Jahrhunderts in der Folge der Industrialisierung und der Beschulung der Massen durch die allgemeine Schulpflicht.10 Hier finden wir zentrale Gründe für die Fixierung der Schüler im Sichtbarkeitsfeld des Lehrers als Möglichkeit raumzeitlicher Kontrolle sowie für die karge Ausstattung von Schulen, z.B. das Fehlen von Teppichen. Betrachtet man Protestantismus, Militarismus und Hygiene im Sinne Webers als legitime Ordnungen, die orientierend auf das soziale Handeln der Menschen wirken (vgl. Weber 1976, S. 16 f.), dann steckt hinter dem Protestantismus die Idee des rastlosen Arbeitens11, hinter dem Militarismus der Mechanismus der Disziplin und im Hygienediskurs die Idee der Ansteckungsgefahr. Diese Ideen hielten Einzug in das Klassenzimmer. Foucault (1994) sieht im Raum12 den Bezugspunkt für die Disziplin, innerhalb dessen diese sich optimal entfalten kann: „Die Disziplin macht sich zunächst an die Verteilung der Individuen im Raum“ (ebd., S. 181). Die Machttechniken, die auf die Schüler wirken, dienen allesamt ihrer Fixie9
„Typisierung“ wird hier im Sinne Bergers und Luckmanns (2004, S. 32 ff.) verstanden als Verfügen über hilfreiche kognitive Schablonen zur Erfassung der komplexen Weltwirklichkeit, mit der wir das Besondere einer Vis-à-Vis-Situation mit dem Allgemeinen abgleichen. 10 Einen Überblick, der mehr ins Detail geht, geben Göhlich (1993, S. 304 ff.) und Luley (2000). Vergleiche dazu auch Göhlichs Beitrag in diesem Band. Mit Verweis auf eine historisch-kritische Interpretation des fotographischen Blicks finden sich bei Grosvenor anschauliche Fotographien von Schulraumsituationen des 19. Jahrhunderts (Grosvenor 1999). 11 Zum Verhältnis von religiösen Ideen und sozialem Handeln vergleiche Weber (2006). Göhlich weist in seiner „Kurze(n) Geschichte des Schulraums seit dem Mittelalter“ (1993) auf den Umstand hin, dass Luther seiner Zeit voraus war: „Die Dezentralität der innerschulischen Sitzordnung blieb im 16. Jahrhundert dominant. Aber der Kupferstich, der Luthers Aufruf zur Gründung christlicher Schulen bebildert, zeigte die gewünschte Richtung. Hintereinander sollten die Schüler sitzen, die Zentralität des Lehrers sollte außer Frage stehen. Tragen wir Luthers Bemühen um den Ausschluß der sündigen Welt, des Tanzes, Ballspiels und sonstiger teuflischer Vergnügungen mit der (...) Sitzordnung eines frontalen Hintereinanders zusammen, so wird deutlich, daß die Reformation die Kontrollanteile des Lehrers stärkte.“ (ebd., S. 309) 12 Genau genommen verfolgt Foucault (2003) eine Raumhistorie, die auch raumsoziologisch fruchtbar gemacht werden kann: „Man müsste eine ganze Geschichte der Räume schreiben – die zugleich eine Geschichte der Mächte wäre –, von den großen Strategien der Geopolitik bis zu den kleinen Taktiken des Wohnens, der institutionellen Architektur, dem Klassenzimmer oder der Krankenhausorganisation und dazwischen den ökonomisch-politischen Einpflanzungen. Es überrascht, wenn man sieht, welch lange Zeit das Problem der Räume gebraucht hat, um als historisch-politisches Problem aufzutauchen.“ (ebd., S. 253)
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rung und Kontrolle im Klassenraum.13 Solche Techniken der Disziplin sind nach Foucault die Klausur, die Parzellierung, die Codierung (des Raumes) und die Rangzuteilung. Mit der Klausur bezeichnet Foucault die bauliche Schließung eines Ortes. Im Falle der Schule gilt dies für die Schulaußenmauern wie für die (altershomogenen) Klassenzimmer. Die Parzellierung der Individuen weist jedem seinen Platz zu (Sobczyk/Landau 2003, S. 12). Komplettiert wird die Parzellierung durch die Codierung des Raumes, also die Zuweisung bestimmter Funktionen, sowie durch den Rang. Darunter versteht Foucault die Organisation des Raumes durch hierarchische Prinzipien. Dies kann sich auf so unterschiedliche Aspekte wie die Zuweisung des Ranges „Klassenbester“ als auch auf die Einteilung der Lernzeit nach Lehr- und Stundenplänen beziehen. (Foucault 1994, S. 180 ff.). Diese Fixierung der Schüler-Akteure wirkt in ihrer Funktionsweise raumkonstituierend. Dazu Foucault: „Indem sie die ‚Zellen‘, die ‚Plätze und die ‚Ränge‘ organisierten, fabrizieren die Disziplinen komplexe Räume aus Architektur, Funktionen und Hierarchien. (...) Es handelt sich um Mischräume: sie sind real, da sie die Anlage der Gebäude, der Säle, der Möbel bestimmen; sie sind ideal, weil dieser Anordnung Charakterisierungen, Schätzungen, Hierarchien entsprechen.“ (ebd., S. 190) Der „klassische“ Klassenraum des 19. Jahrhunderts zeichnet sich folglich durch eine Institutionalisierung der schulischen Sesshaftigkeit, verbunden mit einer raumzeitlichen, also gleichzeitigen und flächendeckenden Kontrolle der Schüler, aus (vgl. Sobczyk/Landau 2003, S. 5 f.). So ist auch die Typisierung des Klassenzimmers in unserer Wahrnehmung, das (Klassen-)„Zimmer im Kopf“ (Schöttker 2005, S. 1191), als historisch gewachsene Schablone erklärbar. Das fixierende Klassenzimmer steht spätestens seit den 1920er Jahren, seit dem Erblühen der Reformpädagogik oder auch architektonischen Strömungen wie dem Bauhaus, in der Kritik. Trotzdem halten sich die fixierenden Elemente mit erstaunlicher Beharrlichkeit.14
13 Zu weiteren Mechanismen, die im Sinne einer Foucaultschen Disziplinierung auf das SchülerSubjekt einwirken, vergleiche Kajetzke (2008, S. 93 ff.). 14 Sobczyk und Landau (2008, S. 8) machen vor allem pädagogische Gründe für die Konstanz der disziplinierenden Schularchitektur verantwortlich, zeigen aber ebenfalls Verwunderung darüber, warum die Kritik an Konzepten wie dem Frontalunterricht nicht auch zur Veränderung des schulischen Raumes geführt hat.
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Schulische Mobitektur: Bauen für die Bildung
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Fliegendes Klassenzimmer? Mobilisierendes Klassenzimmer!
Dies ist die eine, wirkmächtige, Seite der Schularchitektur, die im Sinne der Fixierung einen Raum der Sesshaftigkeit bildet. Dennoch wäre eine Perspektive, die es bei dieser determinierenden Kraft des Klassenzimmers belassen würde und Schüler zu reinen „Stubenhockern“ degradiert, zu eindimensional. Ein Kernanliegen der Mobitektur ist es zu zeigen, wie die Wechselverhältnisse von Raumvorgaben und Handlungen der Akteure aussehen können, die erst in gemeinschaftlicher Konstituierungsarbeit den Raum erschaffen. Ergänzend soll eine interpretative Herangehensweise an die Thematik den mobilen Aspekt des Klassenzimmers unter die Lupe nehmen. Aus dieser Sicht sind Schüler nicht lediglich Zielscheibe disziplinierender Maßnahmen, sondern aktive Mit-Erzeuger der sozialen Wirklichkeit Klassenraum. Goffman, der die „Presentation of Self in Everyday Live“ (1983) in den unterschiedlichsten Situationen untersucht hat, weist auf die Inszenierungsleistung der Akteure in alltäglichen Kontexten hin und verwendet zur Verdeutlichung dieser Zusammen- und Darstellungsarbeit das Bild des Theaters. Beschreibt man einen gewöhnlichen Schultag im Vokabular einer Theateraufführung, dann werden die dramaturgischen Strategien, die die einzelnen Akteure zur Erzeugung dieser Alltagssituation aufwenden, in der sie intersubjektiv geteilten Raum und Sinn erzeugen, deutlich: So wird ein Schultag in einem Klassenzimmer zu einer Vorstellung mit Ensemble und Publikum, bestehend aus Schülern und dem Lehrer in wechselnden Kombinationen. Der Raum teilt sich in Vorder- und Hinterbühne. Vorderbühne ist die Inszenierung des Stückes „Deutschstunde“, „Geographieunterricht“ oder „Fünfminutenpause“. Für die Schaffung von Hinterbühnen im Klassenzimmer selbst zum Zeitpunkt des Unterrichts ist Findigkeit gefragt: Hinter Schulbüchern und unter den Tischen, quasi unter Verwendung von Requisiten und verborgen vor den Blicken des Lehrers, können Hinterbühnen entstehen, Zonen der Informalität, die nicht offizieller Teil der Darstellung auf der Vorderbühne sind (vgl. Goffman 1983, 1989, S. 143 ff.; vgl. Willems 2008). Auch hier gilt: Bühnen sind – wie Räume im hier verstandenen Sinne – keine ontischen Orte. Zur Pausenzeit kann der geographische Ort Klassenzimmer zu einer Hinterbühne für Interaktionen unter Peers umgedeutet werden (vgl. Breidenstein 2008). Zeit – die Unterrichtsstunde – und Raum – das Klassenzimmer – werden durch die Akteure in einen Sinnzusammenhang gestellt, den man mit Goffman (1989) als „Rahmen“ bezeichnen kann. Diese Rahmen bieten als kollektive Handlungsorientierungen Muster zum Zurechtfinden in Situationen an (vgl. ebd., S. 602 ff.). Goffman spricht von einem komplexen Prozess der Schaffung und Erhaltung einer Interaktionsordnung, die sich vor allem im Etablieren von Ritualen 305
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Stabilität verschafft (vgl. Goffman 1999; Wagner-Willi 2007, S. 126 f.). Wichtig ist hierbei, dass nicht eine determinierende Wirkung der Räumlichkeiten angenommen wird, sondern der Umriss des Klassenzimmers und die Kenntnis der Rahmung „Unterricht“ als Sinnlieferant dienen, also den Akteuren Hinweise auf ein Spektrum angemessener Handlungen liefern. Der Umgang mit der Rahmung ist folglich kreativ und nicht vorhersehbar, auch wenn es Wahrscheinlichkeiten für bestimmte Handlungsabläufe gibt, die als „normal“ angesehen werden. Die Schüler sitzen und sie lärmen nicht. Der Lehrer eröffnet und schließt die Stunde und seine Autorität steht weitgehend außer Frage. Diese konsensuale Normalität wird zum zentralen Bezugspunkt der Inszenierung. Wenn sich sowohl die Schüler als auch der Lehrer Kreuzkamm im oben erwähnten Zitat aus Kästners Roman zunächst so verhalten, als ob es sich um eine alltägliche Unterrichtssituation handelt, obwohl Schüler Uli in einem Papierkorb an der Decke hängt, dann wird hier der Versuch unternommen, die Theateraufführung „Deutschstunde“ nicht zu stören. Zur „Choreographie“ der Schüler gehört dabei wesentlich die Platzierung und Fixierung auf der Schulbank, wie durch das Abweichen von diesem „Skript“ durch Uli bei dessen Entdeckung deutlich wird: „‚Und wie wird Grammophon geschrieben? Uli!‘ Die ganze Klasse erstarrte vor Schreck. Der Professor trommelte nervös mit den Fingern auf dem Katheder. ‚Na, wird‘s bald, Simmern? Los, los!‘ Da ertönte es zitternd aus dem Papierkorb. ‚G..r..a... m…m…‘ Weiter kam Uli nicht. Magisch angezogen blickte der Professor nach oben und stand auf. ‚Seit wann ist denn dieses Zimmer ein Rummelplatz?‘“ (Kästner 1979, S. 94 f.) Mit der interpretativen Brille auf die Situation Klasse zeigt sich die Bedeutung der Bewegung der Schüler für die Raumkonstitution. Auch wenn Uli sich in seinem Papierkorb an der Decke, in den er nicht freiwillig gestiegen ist, selbst immobil fühlt, vergleicht Professor Kreuzkamm die Situation im Klassenzimmer mit einem lärmenden und bewegten Jahrmarkt. Von Uli wird auf die Gruppe der Schüler rückgeschlossen. Das Skript einer normalen Unterrichtsstunde ist kurz erschüttert, bis mit einer kollektiv verhängten Strafarbeit als Sanktion für diesen kalkulierten „Rahmenbruch“ (vgl. Goffman 1989, S. 378 ff.) die (fixierende) Interaktionsordnung wieder hergestellt wird. Uli fügt sich wieder in das Ensemble ein. Für die schulische Mobitektur sind im Hinblick auf das Klassenzimmer zwei Aspekte festzuhalten: In einem standardisierten, „klassischen“ Klassenzimmer gibt es fixierende Elemente, die zur Sesshaftigkeit verpflichten und Mobilität stark einschränken bzw. regulieren. Jedoch ist diese Sesshaftigkeit kein Automatismus, sondern muss als Inszenierungsleistung der Akteure tagtäglich wieder hergestellt werden und wird, in Hinterbühnen-Performances und mit vielen kleinen Bewegungen mit dem und um den Lehrer herum, beständig unterlaufen. We306
Schulische Mobitektur: Bauen für die Bildung
der ist die Kontrolle total noch wird sie von den Beteiligten ausdrücklich gewollt. Vielmehr sind wiederkehrende Ausbruchsversuche zu beobachten, die zeigen, dass institutionelle Arrangements weit weniger starr sind, als sie oftmals dargestellt werden. Wie das Beispiel illustriert, haben wir es aber oftmals mit situativen Umbrüchen und Umcodierungen zu tun, die die sozialräumliche Ordnung nur vorübergehend aus dem Tritt zu bringen vermögen. Entscheidend ist, dass der Platzierungsordnung nicht blind entsprochen wird, sondern dass diese auf einer prinzipiellen Bereitschaft der Akteure aufbaut, die zurückgenommen werden kann. Aushandlungsprozesse spielen hier grundsätzlich eine große Rolle.
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Raumaneignung: Wer initiiert Mobilität?
Eine Schule besteht nicht nur aus Klassenzimmern. Korridore, Foyers, Aulen, Schulhöfe, womöglich Gärten und Schulkantinen, auch Parkplätze, Fahrradständer und Toiletten werden von Schülern durchquert und belebt. Der „Schulraum“ endet nicht am Schultor: Eine mobitektonische Raumsoziologie interessiert sich ebenso für eine Untersuchung der Schulwege, die zurückgelegt, der Straßenbahnen, die befahren, der nahe gelegenen Supermärkte, die betreten und der Kioske, an denen für Kaugummis angestanden wird (vgl. Knie 1997, S. 42 ff.), eigentlich des gesamten Ortes um die Schule, der diese in einer je spezifischen Beziehung zu den anderen Gebäuden setzt (vgl. Löw 2001, S. 234 f.).15 Innerhalb dieser Regionen der Schule finden die Raumaneignungsprozesse der Schüler, Lehrer, Hausmeister, des Verwaltungspersonals und der Reinigungskräfte statt. Die Schule als Ort des Lernens, der Bewegung und des Aufhaltens kann aus zwei Richtungen im Sinne einer mobilisierenden Raumkonstitution betrachtet werden: Verordnete Strategien, die sich gegen die übliche Fixierung und Kontrolle richten, können als ein top-down-Prozess der Raumkonstitution bezeichnet werden. Solche Prozesse können unterschiedlich motiviert sein: Entweder soll damit „Schmierereien“ und letzten Endes abweichendem Verhalten präventiv entgegengewirkt oder schülerische Partizipation ermöglicht werden. Dahinter stehen pädagogische Konzepte, die Schülern neue Formen der Raumaneignungsstrategien zugestehen (vgl. Abs. 4.1). Wenn Schüler und andere Akteursgruppen, die sich unmittelbar in der Schule befinden, sich mit
15 Dieser Hinweis ist als ein Plädoyer für eine qualitative Einzelfallforschung zu lesen. Würde Bildungsforschung neben quantitativ angelegten repräsentativen Erhebungen wie der PISA-Studie auch den Raumaspekt als bildungsfördernd oder -hemmend verstärkt untersuchen, käme man um eine Untersuchung der je schulischen Umwelt nicht herum.
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verschiedenen Handlungsstrategien aktiv den Raum zueigen machen, soll dies als bottom-up-Prozess verstanden werden (vgl. Abs. 4.2). 4.1
Schulraum von oben: Planung der Mobilität
Der Schulpreis 2008 wurde in diesem Jahr an eine Grundschule in Münster vergeben, die es geschafft hat, Ansprüche der Pädagogik, die Bedürfnisse der Kinder und Raumgestaltung zusammen zu bringen, so die Begründung der Jury. Die Zusammenarbeit der schulischen Akteure und die gemeinsame Gestaltung der Räume wurden dabei explizit hervorgehoben: „Einem CDU-Stadtrat verdankt die Schule, dass ihre gewandelte Seele mit dem Neubau von 1995 auch einen passenden Körper bekam. Ein gelungenes Ineinander von Innen und Außen. In einem Vorraum etwa, der zugleich ein Zwischenraum zum Hauptgebäude ist, arbeiten Kinder allein, in Gruppen, hier gibt es Ausstellungen, und überall sieht man Schüler, die voller Hingabe gewagte Holztürme bauen. Sie sind tatsächlich Baumeister und Konstrukteure ihrer Welt.“ (Kahl in „Die Zeit“ vom 11.12.2008) Im Dezember desselben Jahres wurden von der Bildungsministerin Schavan 20 Mio Euro für die Restaurierung maroder Schulgebäude gefordert, was einmal mehr einen gewaltigen Missstand innerhalb des Bildungssektors offen legt (Kahl in „Zeit Online“ vom 15.12.2008).16 Pädagogischer Anspruch und Schularchitektur sind in der Vergangenheit manches Mal gemeinsame, häufig aber auch getrennte Wege gegangen (vgl. Luley 2000, S. 117). Luley weist darauf hin, dass Schularchitektur als ein Spiegel der Moden des vorherrschenden Architekturstils der jeweiligen Zeit angesehen werden kann, was z.B. an den funktionalistischen Schulbauten der 1970er Jahre, einer Boomzeit des Schulbaus, gut zu belegen ist.17 Bedeutsam an der top-down-Strategie ist die Verknüpfung von pädagogischen Konzepten mit der Beobachtung und Umgestaltung der Lernumgebung als Form der Ermöglichung von Raumaneignung. Die Reformpädagogik als eine Strömung, die sich seit dem späten 19. Jahrhundert gegen die rein autoritär angelegte Schule richtete, erzeugte schon 16 Im Bereich der „Bildungsbauten“ wies vor einiger Zeit DER SPIEGEL auf den katastrophalen Zustand deutscher Universitätsgebäude hin, die „im Kern verrottet“ seien (Kaiser et al. im Spiegel vom 14.07.2008). 17 Allerdings betont er, dass seit den achtziger Jahren ein Bruch in dieser Entwicklung festzustellen ist: „War der Schulbau der siebziger Jahre vor allem auf Objektivität und Einheitlichkeit bedacht, so rückt seit den achtziger Jahren das Architekturobjekt als Solitär immer stärker in den Vordergrund: Eine architektonische Kontinuität lässt sich allenfalls noch am Rande ausmachen.“ (Luley 2000, S. 114 f.) Diese Tendenz sorgt für eine Aufwertung der individuellen Vorstellungen des Architekten, dies freilich in Abhängigkeit zu den zur Verfügung gestellten finanziellen Mitteln.
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Schulische Mobitektur: Bauen für die Bildung
früh einen kritischen Diskurs über die Wechselwirkung der disziplinierenden Wucht wilhelminischer Schulbauten und der in diesen Gemäuern ausgeübten schulischen Erziehung (vgl. Göhlich 1993, S. 319 f.). Gegen diese und gegen andere Bau- und Erziehungsformen der Folgezeit gab es immer Widerstand.18 Aber auch indirekt geäußerter Protest der Schüler fand Eingang in die Planung neuer Schulbauten: Die in den 1980er Jahren vom niedersächsischen Kultusministerium in Auftrag gegebene wissenschaftliche Studie „Schule kaputt“ sorgte beispielsweise für einen lauten Aufschrei, sodass sogar Verfechter des „klassischen“ Klassenzimmers auf die Destruktion hervorrufende Seite der vorherrschenden Architektur hingewiesen wurden (vgl. Niedersächsisches Kultusministerium 1981). Dies führte nicht nur zu einem Umdenken, sondern auch zu konkreten raumreformerischen Projekten. Heute hat sich weitgehend eine Sichtweise durchgesetzt, die sich zumindest theoretisch an den Bedürfnissen der Schüler und Lehrer orientiert, die dort ihren Alltag verbringen. Praktisch findet dies jedoch selten Platz in den Schulbaurichtlinien der Bundesländer und in den Plänen der Architekten, die zusätzlich noch vom vorherrschenden Baustil und den eigenen Ideen beeinflusst sind und die nichtintendierten Folgen ihrer Gebäude häufig nicht im Blick haben. So hat der Architekt der Grundschule Leonberg-Ezach, die 1995 fertig gestellt wurde, mit einer großen, zu zwei Dritteln verglasten Halle und ebenso mit einer Glasfront versehenen Klassenzimmern die Absicht verfolgt, mehr Sonnenlicht ins Gebäude zu lassen und einen direkten Naturbezug der Akteure herzustellen. Der Effekt war ein anderer: Dies „... hat jedoch zur Folge, ‚dass in jedem Klassenraum nur ein kleines Fenster geöffnet werden kann‘ und sich Schüler und Lehrer trotz großer Glasflächen von der Natur abgekapselt fühlen (...). Lernen mit allen Sinnen kann nach Aussage der Schulleiterin unter solchen Bedingungen nur schwerlich stattfinden.“ (Luley 2000, S. 109/111) Für top-down-Prozesse ist abschließend zu ergänzen, dass die Schulform eine wichtige Rolle bei Kreativität und Reichweite solcher bauplanerischen Maßnahmen spielt.19 Handelt es sich um private Schulen oder staatliche, um ein Gymnasium in Berlin-Zehlendorf oder um eine Hauptschule in Duisburg-Marxloh?20 Auch spielen Altersgruppe und damit verbundene pädagogische Konzepte eine entscheidende Rolle in der Raumplanung. Vor allem Grundschulen werden nach 18 Die Vorstellungen, die in diesem kritisch-reformerischen Diskurs entwickelt wurden, fanden nach dem Ersten Weltkrieg teilweise auch Realisierung im Schulbau, z.B. in Form von freiraumschaffenden Flachbauten. (vgl. Luley 2000, S. 118) 19 Häufig finden Ausschreibungen und Wettbewerbe statt, in denen innovative schularchitektonische Konzepte zwar prämiert, jedoch in der Folge nicht umgesetzt werden. 20 Zum Zusammenhang konkreter Schulformen und Raumplanung vergleiche die Beiträge von Reh, Reutlinger und Spiegler in diesem Band.
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Laura Kajetzke | Markus Schroer
ganz anderen Aspekten als die weiterführenden Schulen ausgestattet: Die raumzeitliche Kontrolle ist weniger auf gleichzeitige Beschulung und Frontalunterricht ausgelegt. Häufig findet sich eine dezentrale Anordnung von Schülern z.B. in Form von Gruppentischen und mit Möglichkeiten des Rückzugs vom Blick des Lehrers. Dies ermöglicht eine ganz andere Form der Mobilität als beispielsweise das Klassenzimmer einer staatlichen Realschule. Unterrichtskonzepte wie „entdeckendes Lernen“ sind verbunden mit raumplanerischen Vorstellungen von dem Klassenzimmer als „Lernlandschaft“ oder als „miniaturisierte Welt voller Abenteuer“ (Göhlich 1993, S. 45 f.), in der die Schüler umherstreifen und selbst entscheiden können, an welchem Platz sie verweilen möchten. In Lese-, Spiel-, Kuschel-, Medien- und Beobachtungsecken können Grundschüler ganz eigene Subjekt-Objekt-Raumvorgaben-Beziehungen eingehen (ebd., S.14 ff.). Sobczyk und Landau können sich „mobile Klassenzimmer“ jedoch für jede Altersklasse und Schulform vorstellen und sehen die Schulplanung in der Pflicht, ermöglichende Raumstrukturen zu schaffen, in denen Schüler und Lehrer jenseits von Frontalunterricht und „Belehrung“ neue Formen der Ordnung aushandeln können (Sobczyk/Landau 2003, S. 12 f.). 4.2
Schulraum von unten: Schüler als Mobitekten
Unter bottom-up-Prozessen der Raumaneignung soll ein solches Handeln verstanden werden, das direkt durch die Beteiligten raumkonstituierend wirkt. Dies können auch halblegale, subversive Formen der Schaffung eigenen Raumes sein. Oft wird diese Vorgehensweise als rein destruktiver Akt diffamiert, aber vermutlich sind nicht alle Maßnahmen der schülerischen Raumbesetzung als „Sachbeschädigung“ intendiert. Mittel der Raumaneignung sind Gebäudevorgaben, Objekte, Handlungen und der eigene Körper sowie die mit dem „Spacing“ dieser Mittel einhergehende Wahrnehmung (der „Synthese“) der Räume als „die Raucherecke“ oder „der Ort, an dem nur die Punk-Clique abhängt und an dem wir nichts zu suchen haben“. Subversive Raumkonstitution erfordert Beweglichkeit.21 Die Mittel der Schüler sind transportabel: Ein Edding-Stift oder eine Spraydose zum Taggen auf Wände oder Tische, ein Skateboard oder eine Gruppe Schüler, die mit ihren Körpern, ihrer Kleidung und ihrem Verhalten Präsenz zeigen; all dies eignet sich zur Schaffung eines Raumes im konstruktivistischen Sinne.22 Das Wort „Architektur“ leitet sich vom Griechischen arché ab, dem Anfang oder Ursprung, so21 Vergleiche dazu erneut die frühe Studie von Willis zu den Schulrebellen einer amerikanischen Schule, der Clique der „Lads“ (Willis 1982; dazu kritisch auch Löw 2001, S. 231 ff.). 22 Rehle bezeichnet diese Art von Raumaneignung als „Prozesse symbolischer Formung“ (Rehle 1998, S. 43).
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Schulische Mobitektur: Bauen für die Bildung
wie tekton, dem Baumeister oder Zimmermann (vgl. Kluge 2002). Unser Neologismus „Mobitektur“ macht so raumkonstituierende Schüler zu „Mobitekten“, beweglichen Baumeistern ihrer räumlichen Wirklichkeit. Diese Wirklichkeit ist, wie die Bewegung selbst, flüchtiger Natur: Der zum Skateplatz umgedeutete Schulhof mit seinen Treppen und Bänken, die kurzfristig zu Rampen und Herausforderungen geworden sind, kann durch das Auftreten eines schimpfenden Hausmeisters und das Davoneilen der Schüler schnell wieder zu einem Standard-Schulhof werden. Foucault nennt solche vergänglichen Raumkonstruktionen „Heterotopien“23, Gegenräume, die wirken, „indem sie Illusionen schaffen, die der Wirklichkeit etwas entgegensetzen, sie entwerten, und eventuell radikal in Frage stellen“ (Ruoff 2007, S. 174). „Illusionen“ sind solche Raumaneignungsprozesse nur in dem Sinne, dass sie vergänglich sind, dies macht sie jedoch nicht weniger real. Außerdem sind sie maßgeblich für Identitätsbildungsprozesse von Jugendlichen, für die die Peers24 eine wichtige Bezugsgruppe darstellen, mit denen sie auf Vorderbühnen und Hinterbühnen, in ihren gemeinsamen Heterotopien und als Mobitekten in Interaktion Räume erschaffen.
5
Fazit zu einer schulischen Mobitektur: Fluide Schulräume, mobile Stubenhocker
Das Konzept der Mobitektur setzt an einem relationalen Raumverständnis an, das die kreativen Möglichkeiten und Chancen des Akteurs bei der Erschaffung und Umgestaltung von Räumen hervorhebt (vgl. Schroer 2007, S. 175). Dennoch folgt die Mobitektur dabei keinem unkritischen Raumvoluntarismus (ebd., S. 78), sondern versucht den analytischen Spagat zu schaffen zwischen der Berücksichtung der hervorbringenden Kraft der Individuen und der Berücksichtung der strukturierenden Wirkung von vorgängigen Räumen, die manchmal hilfreich orientierend wirken, manchmal aber auch als Zwang empfundene Grenzen für das Handeln aufzeigen. Nimmt man Norbert Elias’ (1999, S. 82 ff.) Forderung nach einer Prozesssoziologie wörtlich, so kann man Mobitektur als Untersuchung der menschlichen Figurationen in raumzeitlichen Veränderungsprozessen beschreiben – mit dem speziellen Fokus auf Bewegung und Stillstand, wobei davon ausgegangen wird, dass starre Konzepte von reiner „Sesshaftigkeit“ und purer „Mobilität“ dabei wenig hilfreich sind, sondern sich postmoderne Erfah23 Von hetero, dem Gegensatz, und topos, dem Ort oder der Stelle (Kluge 2002). 24 Zur Rolle der Peers vgl. auch Breidenstein (2008) sowie Wagner-Willi (2007, S. 129 ff.).
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Laura Kajetzke | Markus Schroer
rungswelten durch eine zunehmende Mobilisierung der Sesshaftigkeit sowie einer Versesshaftlichung des Mobilen auszeichnen, die ehemals divergenten Pole sich also bis hin zur Überlappung annähern. Die Aufgabe einer (schulischen) Mobitektur besteht zum einen darin, die strukturellen Raumgegebenheiten sowohl hinsichtlich ihrer fixierenden als auch ihrer ermöglichenden Funktion zu ermitteln und zum anderen darin, die raumkonstituierenden Handlungsleistungen in Form von „Spacing“ und „Synthese“ der Akteure zu analysieren, die affirmativ oder in Widerstand zu den vorgängigen institutionalisierten Räumen vorgenommen werden können. Ebenso darf eine auf Bewegung abzielende mobitektonische Analyse den Kontext der Schule nicht vernachlässigen, also auf keinen Fall an den Schulmauern Halt machen. Da die Körper der Beteiligten ein Mittel der (Schul-) Raumkonstitution sind, müssen essentialistische Vorstellungen von der Schule als ontischen Ort aufgegeben werden. Weiterhin darf der Aspekt der Mobilität, der in der Mobitektur enthalten ist, nicht nur auf physische Körperbewegung reduziert werden. Offenheit kann ebenso durch architektonische Mittel ausgedrückt werden, dies z.B. im Sinne einer ‚leichten‘ Bauweise, jedoch auch durch Schaffung von Rückzugsmöglichkeiten vor kontrollierenden Blicken. In diesem Verständnis kann Mobilität heißen, keinem fixierenden Zwang ausgesetzt zu sein. Andersherum bedeutet eine physische Bewegung nicht automatisch die Freiheit von Fixierung. Eine Bewegung durch räumliche Koordinaten kann weitgehend gelenkt sein. Dies stellten erste Gedanken zu einer möglichen Untersuchung schulischer Mobitektur dar, die, wie zu hoffen ist, anschlussfähig für eine Bildungsforschung sind, die den spatial turn (vgl. Schöttker 2005, S. 1194) noch vollziehen muss. Aber was ist der Schüler nun, um zur Ausgangsfrage zurückzukommen: Raumnomade oder Stubenhocker? Subversiver Skater oder doch Fixierungsopfer? Eine stark planerische und damit gelenkte Mobilität spricht für den mobilen Stubenhocker, subversive und kreative Raumaneignungsprozesse in institutionalisierten Räumen in Form von Heteropien lassen aber auf sesshafte Nomaden schließen. Beide Existenzformen soziologisch deutend zu verstehen und ihren Wandel zu beobachten wird die Mobitekturforschung wohl noch für eine Weile in Bewegung halten.
312
Schulische Mobitektur: Bauen für die Bildung
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Laura Kajetzke | Markus Schroer
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Wilfried Buddensiek
Fraktale Schularchitektur
1
Entstehungszusammenhänge und fraktales Gestaltungsprinzip
Die fraktale Schularchitektur entstand aus der Suche nach pädagogisch funktionalen Schülerarbeitsplätzen sowie nach Lernräumen, die offene, schüler- und handlungsorientierte Lernformen unterstützen. Sie wurde vom Verfasser dieses Aufsatzes im Rahmen eines schulpädagogischen und arbeitswissenschaftlichen Forschungsprojekts an der Universität Paderborn entwickelt und zusammen mit einem interdisziplinären Planungsteam von Architekten, Innenraumgestaltern, Schulträgern sowie Schul- und Freizeitpädagogen zur Baureife gebracht (vgl. Buddensiek 2001, S. 70 f., S.183-244). Erstmalig realisiert wurde die fraktale Schularchitektur bei Erweiterungsbauten für zwei Herforder Ganztagsgrundschulen, die im Jahr 2007 fertig gestellt wurden (vgl. Buddensiek 2008b). In die Detail-
Abb. 1: Hexagonale Gruppenarbeitsplätze im fraktalen Schulgebäude
315
Wilfried Buddensiek
gestaltung der Herforder Schulbauten sind Erfahrungen aus der skandinavischen Lernraumgestaltung und -möblierung eingeflossen (vgl. Törnquist 2005). Beim pädagogischen Entwurf der fraktalen Schularchitektur hat der architektonische Leitsatz „form follows function“ (Sullivan) eine konsequente Anwendung gefunden. Den Ausgangspunkt bildeten die Auseinandersetzung mit pädagogisch dysfunktionalen Schülerarbeitsplätzen auf der Mikroebene von Schulen sowie die Suche nach einer kommunikations- und gesundheitsfördernden Lernraumgestaltung auf der Mesoebene. Zugleich aber ging es auf der Makroebene der Gebäudeplanung um die Frage, wie sich räumliche Reviere für kleine, dezentrale Arbeitseinheiten bilden lassen, die etwa die Größendimension von vier Schulklassen umfassen. Ausgehend von einem kommunikations-ökologisch optimierten sechseckigen Gruppenarbeitsplatz wurden die hexagonalen Grundrisse der einzelnen Lernräume so wie des gesamten Schulgebäudes durch einen iterativen Konstruktionsprozess aus der sechseckigen Grundform entwickelt. Oder anders ausgedrückt: Die Komplexität der fraktalen Gebäudeform hat sich aus einer einfachen Grundform unter Anwendung fraktaler Rückkopplungsregeln – wie von selbst – entfaltet. Die Planungsschritte von der Mikroebene des Schultisches bis zur Makroebene des Baukomplexes werden im Folgenden nachgezeichnet. Daraus erklärt sich auch der Begriff der „fraktalen“ Architektur, der im fünften Abschnitt näher erläutert wird.
2
Der Ausgangspunkt auf der Mikroebene: Ökologische Analysen von Schülerarbeitsplätzen
Schülerarbeitsplätze an deutschen Schulen bestehen in den meisten Fällen aus einem stapelbaren Stuhl und einem rechtwinkligen, nicht stapelbaren Tisch, den sich zwei Lernende teilen. Das ist für viele Pädagogen so selbstverständlich, dass die pädagogische Funktionalität dieser Möblierung nur selten hinterfragt wird. Gelegentlich gibt es im Klassenraum feste oder rollbare Regale, in denen sich persönliche Ablagefächer befinden. Selten sind diese den Schülerarbeitsplätzen unmittelbar zugeordnet. Die rechtwinkligen Schultische haben zumeist eine Breite von 130 cm und eine Tiefe von 50-55 cm. Daneben gibt es Schultische mit 65 cm Tiefe. Diese bieten zwar eine etwas größere Arbeitsfläche, beanspruchen aber mehr Stellfläche und engen damit den häufig ohnehin knappen Bewegungsraum weiter ein. Die herkömmlichen Partnertische von 50 cm Tiefe und 130 cm Breite haben sich bei dominantem Frontalunterricht bewährt. Sie sind funktional, wo es um diszipliniertes Stillsitzen und Zuhören geht. Ihr Hauptdefizit liegt in der geringen 316
Fraktale Schularchitektur
Einzelarbeitsplatzbreite von lediglich 65 cm, die insbesondere bei Reihen- oder Hufeisenformationen zu einer sehr geringen Netto-Bewegungsfläche von ca. 0,8 x 0,65 m = 0,52 m² pro Schüler führt. Bewegtes, schüler- und handlungsorientiertes Lernen kann sich an derartig engen Arbeitsplätzen nur schwer entfalten. Für eine kommunikationsfördernde Lernraumgestaltung wird demgegenüber ein Bewegungsspielraum von mindestens 1m Breite und eine Nettobewegungsfläche von 1 m² pro Schüler empfohlen (vgl. Buddensiek 2006, S. 42). Wo sich eine neue Lernkultur mit offenen Arbeitsformen entwickeln soll, gewinnen Gruppenarbeitsplätze an Bedeutung. Unter dem Anspruch des Erwerbs von Schlüsselqualifikationen wie Kommunikationsfähigkeit, Kooperationsbereitschaft oder Teamfähigkeit erweist sich die Kleingruppenarbeit als unverzichtbar und spielt im Zusammenhang mit dem sog. Team-Kleingruppen-Modell sogar die Schlüsselrolle (vgl. Gemeinnützige Gesellschaft Gesamtschule 1989; Ratzki u.a 1996; Buddensiek 2008a, S. 183 f.). Der Wandel vom „Haus der bewegungsarmen Belehrung“ zum „Haus des bewegten Lernens“ beginnt in vielen Fällen mit dem Umräumen der vorhandenen Tische. Diese für den Frontalunterricht konzipierten Schulmöbel haben sich im Rahmen differenzierter arbeitswissenschaftlicher Analysen aus mehreren Gründen als pädagogisch dysfunktional erwiesen. Dies gilt insbesondere für die in der Schulpraxis üblichen 6er-Gruppenformationen (vgl. Tab.1 sowie Buddensiek 2008a, S. 187-193). Der tabellarische Vergleich zwischen den beiden 6er-Gruppentischformationen lässt einerseits die Hauptdefizite der herkömmlichen Schultische erkennen und verdeutlicht andererseits die kommunikationsökologischen Vorteile, die eine sechseckige Gruppentischformation (bei hinreichender Tischgröße!) bietet. Ein zentrales Beurteilungskriterium für die Qualität von Gruppentischen sind die Kommunikationsdistanzen, die sich zwischen jeweils zwei Lernenden ergeben, wenn sie eine unverdrehte Arbeitshaltung an ihrem Arbeitsplatz einnehmen. Da die Kommunikationsqualität sowohl von der Sitzentfernung als auch von den Blickwinkelbeziehungen abhängt, fließen beide Faktoren in die Berechnung der K-Distanzen ein (Zur genauen Berechnung der Kommunikationsdistanzen vgl. Buddensiek 2008a, S. 190). Die extrem unterschiedlichen K-Distanzen an der herkömmlichen Sechserformation (2,0-4,5) deuten daraufhin, dass es über kurz oder lang zu möblierungsbedingten Kommunikationsstörungen in der Gruppe kommen wird. Dabei liegt das größte Störpotential zwischen den Schülern C und E (bzw. B und F). Solange sich C auf A und B konzentriert, verliert er E vollkommen aus den Augen (K-Distanz 4,5). Schüler E hingegen hat Schüler C ständig vor Augen (K-Distanz 2,8), muss aber zugleich akzeptieren, dass er von C keine Beachtung findet. Sollte E zu den sozialen Außenseitern in der Klasse gehören, wird diese Rolle durch die dysfunktionale Möbelform verstärkt (vgl. ebd., S. 191). 317
Wilfried Buddensiek Tabelle 1: Vergleichstest: Arbeitstische für Sechsergruppen
Im Vergleich • herkömmliche Schultische 50 x 130 cm • Trapeztische 80/80/80/160 cm
• Breite Einzelarbeitsplatz
> 80 cm >
gut
65 cm
ausreichend
• Ellenbogenfreiheit (30 cm von der Tischkante)
120 cm
gut
65 cm (+ x)
mangelhaft (ausreichend)
• Breite des Knieraums (25 cm unter dem Tisch)
52 cm
gut
50 - 55 cm
gut
• Breite des Fußraums (40 cm unter dem Tisch)
35 cm
ausreichend
50 - 55 cm
gut
0,28 m2
ausreichend
0,33 m2
befriedigend
• Sitzabstand zur Tischmitte (min-max)
70 cm
gut
50 - 90 cm
mangelhaft
• Blickwinkel zur Tischmitte (min-max)
0° - 0°
sehr gut
0° - 50°
mangelhaft
• Blickwinkel zu den Tischnachbarn (min-max)
60° - 60°
gut
0° - 90°
mangelhaft
• Kommunikationsdistanz1 (min-max)
2,4 - 2,9
sehr gut
2,0 - 4,5
mangelhaft
symetrische/asymetrische Zweierbeziehungen
30 / 0
sehr gut
18 / 12
mangelhaft
• Einzelarbeitsfläche
Gruppentische als Therapieinstrument
Gesamturteil
318
hervorragend geeignet
vollkommen untauglich
gut
mangelhaft
Fraktale Schularchitektur
Im Gegensatz dazu würde Schüler E in der konzentrischen Sitzformation der sechseckigen Gruppentische sozial integriert. Dazu tragen nicht zuletzt die günstigen Blickwinkelbeziehungen bei, die zu ausgeglichenen und relativ niedrigen Kommunikationsdistanzen führen (2,4-2,9). Der sechseckige Gruppentisch kann nicht nur therapeutische Funktionen bei der Integration sozialer Außenseiter übernehmen, sondern erfüllt auch eine diagnostische Funktion, indem er Lernstörungen anzeigt. Schüler, die sich innerlich aus der Gruppenarbeit zurückziehen, sind äußerlich an ihrer aus der Konzentrik zurückgezogenen Sitzposition zu erkennen. Selbst im Vergleich zu runden Tischen hat sich der sechseckige Gruppentisch, der aus zwei rollbaren Trapeztischen oder 6 Dreieckstischen gebildet wird, als idealer Arbeitsplatz für 4er-, 5er- und 6er-Gruppen erwiesen. Beim Entwurf der fraktalen Lernräume hatte die sechseckige Tischformation eine weitere grundlegende Bedeutung: Sie gab den Anstoß für die Wiederholung hexagonaler Grundrissstrukturen in den unterschiedlichen Größendimensionen der Gruppenarbeitsnischen und des Klassenraums.
3
Form follows function: Vom Gruppentisch auf der Mikroebene zum Lernraum auf der Mesoebene
Ausgehend von der Prämisse, dass die Kleingruppenarbeit von 4 bis 6 Lernenden in der Schule der Zukunft eine zentrale Rolle spielt, stellt sich die Frage, wie sich eine hinreichende Zahl sechseckiger Gruppentische möglichst günstig im Raum anordnen lässt. Darüber hinaus ist zu klären, welche weiteren Hauptfunktionen ein kommunikations- und gesundheitsfördernder Lernraum erfüllen soll: Platz für einen konzentrischen Stuhlkreis, der sich in hinreichender Größe möglichst ohne Umräumen der Tische herstellen lässt, Platz für eine freie Mitte im Raum, auf der sich spontane Aktionen entfalten oder Meditations- und Bewegungsübungen stattfinden können, Platz für eine konzentrierte Gruppenarbeit, bei der die Kommunikationsdistanz innerhalb der einzelnen Arbeitsgruppen möglichst klein und zwischen den Gruppen möglichst groß ist, Platz für eine hinreichende Zahl von (rollbaren) Regalen, in denen alle benötigten Lernmaterialien unterzubringen sind, Platz für eine möglichst ungestörte Einzel- und Partnerarbeit (mit oder ohne PC)
319
Wilfried Buddensiek
Platz für Phasen einer frontalen Präsentation mittels unterschiedlicher Medien (Tafel, Tageslichtprojektor, Beamer, Landkarte), Bewegungsfläche für einen möglichst reibungslosen und spontanen Wechsel der genannten Raumfunktionen, eine angemessene Arbeitszone für die Lehrkraft. Angesichts bestehender Schulbaurichtlinien bzw. Musterraumprogramme bestand das Entwurfsziel für die Lernraumgestaltung darin, optimierte flexible Arbeitsbedingungen (für eine ganztägige Raumnutzung) mit bis zu 30 Lernenden auf möglichst nicht mehr als 75-85m² Grundfläche zu schaffen. Abbildung 2 verdeutlicht, wie diese Ansprüche bei der fraktalen Lernraumgestaltung umgesetzt sind. Besonderer Wert wurde auf die Optimierung kommunikations- und konzentrationsfördernder räumlicher Rahmenbedingungen gelegt. Die einzelnen Arbeitsgruppen sind so weit wie möglich auseinander gerückt und so zueinander positioniert, dass die kleinste Kommunikationsdistanz zwischen den Gruppen immer noch dreimal so groß ist, wie die größte Kommunikationsdistanz innerhalb der Gruppen. Zum Vergleich: In konventionellen Klassenräumen mit herkömmlichen 6er Gruppentischen ist die kleinste K-Distanz zwischen den Gruppen oftmals nicht größer (und manchmal sogar kleiner!), als die größte K-Distanz innerhalb der Gruppen. Damit einher geht ein erhebliches Störpotential zwischen den Gruppen. Dieses wird im Fall der fraktalen Lernraumgestaltung durch die maximierten K-Distanzen zwischen den Gruppen auf ein Minimum reduziert. Durch die hexagonale Nischenbildung entsteht zudem eine hinreichende freie Raummitte, in der sich ein Stuhlkreis für ca. 30 Personen ohne Umräumen der Schultische unterbringen lässt. Es gibt keinen anderen Raumgrundriss, bei dem auf gleicher Fläche eine ähnliche Raumqualität zu erreichen ist.
4
Hexagonale Variationen: Vom Lernraum auf der Mesoebene zum fraktalen Baukomplex auf der Makroebene
Nachdem der Grundriss des Lernraums aus einer geometrischen Iteration der hexagonalen Tischformation entstanden ist, war es nahe liegend, einen ähnlichen Iterationsschritt auf der Makroebene der Gebäudeplanung zu wiederholen. Aus funktionalen Gründen ergab sich dabei eine architektonische Variation, indem die hexagonale Eingangszone verkleinert und der hintere Bereich des Gebäudes zu einem annähernd runden Baukörper vergrößert wurde. 320
Fraktale Schularchitektur
Abb. 2: Fraktale Schule – „Raum in Raum“-Konzept
321
Wilfried Buddensiek
Das in Abbildung 2 dargestellte Erweiterungsgebäude für einen Ganztagszug wurde an der Grundschule Landsbergerstraße in Herford realisiert und zum Schuljahresbeginn 2007/08 fertig gestellt. Es bietet: vier transparente Lernreviere (Klassenräume) mit halboffenen, abschirmbaren Gruppennischen in einem flurlosen Gebäude, einen Marktplatz, der zur Hälfte von einer Galerie umgeben ist, um 70 cm erhöht eine Bühne sowie eine Selbstlern- und Spielzone, die durch ein Personalrevier begrenzt wird, einen lichtdurchfluteten Personalarbeits- oder Team-Raum, ein „fraktales“ Schulgebäude, in dem selbstähnliche Strukturen in vier verschiedenen Größenskalen auftreten (Raum-im-Raum-Prinzip). Das Forum, die Bühne und das Selbstlernzentrum: Nach dem Betreten des Gebäudes, dem Wechsel der Schuhe und der Ablage der Garderobe fallen die Weite und die lichtdurchflutete Höhe des zentralen Forums ins Auge. Seine Fläche ist nicht größer als die eines 2,5 m breiten Flures, der als Fluchtweg an vier hintereinander liegenden Klassenräumen vorbeiführt, aber von einer ganz anderen Qualität: Ein Marktplatz für spontane Kommunikation, ein Ausstellungsort mit Platz für rollbare Garderoben oder bisweilen auch ein Zuschauerraum mit Blick auf eine um 70 cm höher liegende Bühne. Eine Bühne, die in ein Abb. 3: Blick von der Galerie ins Forum, auf die offenes Selbstlernzentrum überBühne und in Richtung Teamraum geht, mit Platz für Leseecken in Nähe der Fenster und einem flexibel nutzbaren PC-Bereich in den dunkleren Zonen. Der Teamraum: Ebenfalls im 70 cm erhöhten Bereich untergebracht ist der Raum für das multiprofessionelle Team aus Lehrern, Erziehern, Sozialpädagogen und anderen Mitarbeitern, die für das Abb. 4: Blick von der Bühne (bzw. vom Teamgesamte soziale und curriculare raum) auf die Galerie, zum Eingang und zu den Geschehen in diesem Gebäude transparenten Lernräumen drei und vier 322
Fraktale Schularchitektur
verantwortlich sind. Ein Teamraum mit Balkon, von dem aus weite Teile des Schulhofes einsehbar sind, zugleich aber auch ein Raum, von dem aus sich das Geschehen im Inneren des Gebäudes und im Eingangsbereich optimal überschauen lässt. Ein Raum mit viel Transparenz, aber auch mit Rückzugsnischen. Vor allem aber bietet der Teamraum Platz für die Einrichtung persönlicher Arbeitsplätze, für die Lagerung häufig genutzter Arbeitsmittel, für die Einzelarbeit mit und ohne PC wie auch für die gemeinsame Konferenz oder für informelle Gespräche bei Kaffee oder Tee. Die Galerie: Vom Teamraum bzw. Selbstlernzentrum führt ein Weg über die Bühne, eine Treppe hinauf zu einer etwa 2,5 m breiten halbrund gezogenen Galerie, von der aus das Geschehen im Forum, auf der Bühne und im Selbstlernbereich zu überblicken ist. Gleichzeitig ermöglicht die Galerie einen Ausblick nach draußen über die Gründächer der Lernräume hinweg auf das Schulgelände. Ähnlich wie das Forum bietet auch die Galerie einen Bereich, der bei wechselnden Nutzerinteressen unterschiedlich ausgestaltet werden kann. Die Lernräume: Vom Teamraum führt ein zweiter Weg über die Bühne, eine behindertengerechte Rampe hinunter, in das Forum und von dort in die Lernräume. Schon auf dem Weg dorthin lässt sich das Geschehen in den Räumen überblicken, weil die Wände zum Forum aus einer Holzrahmenkonstruktion bestehen, die ab ca. 1 Meter Höhe mit Glas ausgefacht ist (Bei einer veränderten Nutzung des Gebäudes lässt sich die Konstruktion mit anderen Baustoffen ausfachen oder auch demontieren, ohne dass in die tragende Bausubstanz eingegriffen wird.). Die einzelnen Lernräume bringen zwei Gliederungsebenen in die soziale Einheit der etwa hundert Lernenden. Etwa 25-30 Kinder teilen sich einen fraktalen Raum und etwa 5-6 Kinder einen sechseckigen Gruppenarbeitsplatz, der sich in einer Nische oder Zone im Raum befindet. Jeder Tischgruppe ist mindestens ein rollbares Regal zugeordnet, in dem sich die Büchertaschen unterbringen lassen und persönliche Ablagefächer in hinreichender Zahl und Größe vorhanden sind. Andere rollbare Regale nehmen die Materialien für die Wochenplan- und Freiarbeit und für Lernwerkstätten auf. Weitere Regale bieten Platz für das Spiel- und Bastelmaterial, das in einer Ganztagsschule benötigt wird. Die Regale lassen sich entweder an die Wände und in die Fensternischen schieben oder aber als niedrige Raumteiler einsetzen. Bei einer Höhe von ca. 95 cm, einer Tiefe von ca. 42 cm und einer Breite von ca. 160 cm bieten sie insbesondere für Dritt- und Viertklässler eine gute Steharbeitsfläche zum Schreiben sowie für die Arbeit am PC. Dies gilt insbesondere, wenn zwei Regale Rücken an Rücken in den Raum gerollt werden. Damit größere und kleinere Kinder in einer Gruppe auf einer einheitlichen Fläche sowohl im Sitzen als auch im Stehen (!) zusammenarbeiten können, haben die Tische – nach schwedischem Vorbild – in allen Grundschulklassen eine 323
Wilfried Buddensiek
für Erwachsene gängige Einheitshöhe von ca. 72 cm. Passend zu dieser Tischhöhe wurden Stühle mit einer Sitzhöhe von ca. 50 cm und höhenverstellbaren Fußrasten angeschafft (vgl. www.kvartet.de). Weil manche Kinder lieber auf dem Fußboden als an Schultischen arbeiten und lernen, wurde im Neubau eine Fußbodenheizung installiert, die den Grundwärmebedarf abdeckt. Zwei schnell ansprechende zusätzliche Flachheizkörper lassen sich gleichzeitig als Magnetwände nutzen. Die übrigen geschlossenen Wände sowie die Holz – Glas – Konstruktionen zum Forum sind in etwa zwei Meter Höhe mit einem dänischen Schienensystem ausgestattet, das nicht nur als Bildleiste, sondern auch als Gleitschiene für einhängbare und horizontal verschiebbare Tafeln dient (vgl. www.flexiblesklas senzimmer.de). In jedem Lernraum stehen 5-6 Leichtbautafeln von ca. 120 cm Breite und 100 cm Höhe zur Verfügung. Nach kurzer Übung lassen sich diese von einer erwachsenen Lehrkraft oder von zwei Grundschulkindern abhängen oder auf eine zweite Schienenhöhe umhängen. Die Tafeln sind von einer Seite als Pinnwand und von der anderen Seite als magnetische Kreidetafel bzw. als white board nutzbar. Bei der Erstellung von Gruppenpräsentationen lassen sich die Tafeln auf die Arbeitstische legen oder auf den freien Bodenflächen nutzen. Werden rückseitig gestaltete Tafeln vor die Glaswand zum Forum gehängt, wirken sie nach außen wie ein Schaukasten und dienen zugleich der temporären Reduktion der großflächigen Transparenz.
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Das iterative Konstruktionsprinzip der fraktalen Schularchitektur
Die dargestellte Neubauplanung weist eine pädagogisch und architektonisch gleichermaßen beachtenswerte Besonderheit auf. Ausgehend von der pädagogischen Funktion sowie der sechseckigen Form des Gruppentisches hat sich die Gebäudeform von innen nach außen durch einen iterativen Konstruktionsprozess schrittweise entwickelt. Dabei erscheint die hexagonale Ausgangform des Gruppentisches auf verschiedenen Größenskalen: in der Gruppennische, im Klassenzimmer, im einzelnen, dezentralen Schulgebäude und – je nach Schulgröße – gegebenenfalls auch in den Baukörpern eines größeren Schulkomplexes. Der Iterationsprozess folgt einer einfachen Rückkopplungsregel aus der fraktalen Geometrie. Diese nicht lineare Geometrie wurde von Mandelbrot als Geometrie der Natur beschrieben (vgl. Mandelbrot 1991). Sie lässt sich zugleich aber auch als Mathematik der Komplexität und der Selbstorganisation bezeichnen (vgl. Capra 1996, S. 134-180). 324
Fraktale Schularchitektur
Viele Naturformen weisen „fraktale“ Muster auf. Dies bedeutet, dass das Ganze in jedem kleineren Teil enthalten ist, sodass schon das kleinste Teil das Muster des Ganzen repräsentiert. Einfache Ausgangsformen, die sich auf unterschiedlichen Größenskalen wiederholen und dabei an Komplexität gewinnen, gibt es beispielsweise beim Bronchial- und Adernsystem, aber auch bei allen Baumarten. Ein abgesägter Ast, senkrecht aufgestellt, ergibt das Bild eines (kleineren) ganzen Baumes. Das gleiche gilt für einen Nebenast, der vom Hauptast getrennt wird. Dieses Spiel lässt sich solange wiederholen, bis der kleinste Zweig wie ein junges Bäumchen erscheint. Vom Wiesenkerbel bis zum Blumenkohl reicht die Palette der Pflanzen, die sich beim Wachstum verzweigen und dabei ihre ursprüngliche Ausgangsform zu neuer Größe und Komplexität treiben. Das Geheimnis dieses natürlichen Wachstums wird von der fraktalen Geometrie begrifflich erfasst mit Rückkopplung, Iteration oder Wiederholung in unterschiedlichen Größendimensionen. Diese führt durch Selbstorganisation (!) – zu selbstähnlichen Formen. Die fraktale Schularchitektur hat zwar nichts mit der Form eines Blumenkohls oder eines Baumes zu tun. Aus der Natur übernimmt sie aber den iterativen Selbstorganisationsprozess der Formenbildung. Dieser Formgebungsprozess führt zu einem natur-, struktur- und sozialwissenschaftlich beachtenswerten Wechselspiel von Geist und Materie: Mittels mathematischer Selbstorganisationsprozesse lässt sich eine räumlich-materielle Struktur schaffen, innerhalb derer geistige Prozesse der sozialen Selbstorganisation zur besseren Entfaltung kommen. Während in der herkömmlichen Schularchitektur traditionelles, lineares und hierarchisches Denken zum Ausdruck kommt, wird nicht lineares, systemisches Denken in der fraktalen Schularchitektur sichtbar. Systemischer Geist manifestiert sich in der technischen Materie, und die Materie des Raumes beeinflusst den sozialen Geist. Die Architektur kann damit Synergiepotenziale zwischen Geist und Materie erschließen. Sie unterstützt die Kommunikation und die Kooperation auf verschiedenen sozialen Systemebenen einer Schule: im Lehrerteam, in der Lerngruppe, im Gesprächskreis der Klasse sowie im Plenum größerer sozialer Einheiten. Kurzum: Die Architektur übernimmt eine pädagogische Funktion und vermag damit die Lehrkräfte bei ihrer anspruchsvollen und Kräfte zehrenden Arbeit zu entlasten. Bei alledem ist sie allerdings nicht mehr als ein Werkzeug, dessen Potential sich nur in den sensiblen Händen pädagogischer Profis voll entfalten kann. Die Grundvoraussetzung für die pädagogische Wirksamkeit der fraktalen Lernräume ist die methodische Kompetenz der Lehrenden, selbst gesteuertes und handlungsorientiertes Lernen in Einzel-, Partner- und Kleingruppenarbeit zu initiieren und zu gestalten.
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Wilfried Buddensiek
Die fraktale Schularchitektur wirkt auf verschiedenen Ebenen selbstbegrenzend und trägt somit dazu bei, dass humane Größendimensionen im Schulbau nicht überschritten werden. In einem dezentralen, eingeschossigen Baukomplex lassen sich nicht mehr als vier Schulklassen, also etwa 100 bis 120 Menschen unterbringen. Innerhalb der einzelnen Klassen wird die Obergrenze der Schülerzahl durch die Zahl der Raumnischen und die Möblierung festgelegt. Fünf Gruppen mit jeweils fünf bis sechs Lernenden finden optimierte Arbeitsplätze vor (notfalls lässt sich noch ein sechster Gruppentisch unterbringen). Die Gebäude- und Raumgrundrisse eignen sich nicht nur für schulische Bildungszwecke, sondern lassen sich bei wechselndem Bildungsbedarf auch als Kindergarten, Begegnungsstätte für Jugendliche, Freizeitzentrum oder Altentagesstätte nutzen und werden damit den wechselnden demographischen Bedingungen eines Stadtteils eher als konventionelle Schulgebäude gerecht. Gegenüber der fraktalen Architektur halten sich zwei hartnäckige Vorurteile. Erstens seien die Baukosten signifikant höher als bei einer konventionellen Bauweise und Zweitens führe die gefaltete Fassade zu einer erheblichen Vergrößerung der Außenwandflächen, die energietechnisch ungünstig sei. Mit den fraktalen Neubauten in Herford lässt sich zeigen, dass beide Vorurteile unzutreffend sind. Die Baukosten für die Grundschule Landsbergerstraße (Kostengruppe 300 und 400) liegen mit 1.460 Euro pro m² Nutzfläche deutlich unter dem Durchschnittswert für allgemeinbildende Schulen, den das Baukosteninformationszentrum deutscher Architektenkammern für das Jahr 2005 mit 1.830 Euro pro m² angibt. Die Baukosten pro Kubikmeter umbauten Raum liegen aufgrund der kompakten Bauweise mit 320 Euro pro m³ geringfügig über dem ermittelten Durchschnittswert von 308 Euro pro m³. Der kompakte fraktale Bau weist weniger Außenwandfläche auf, als ein lang gezogener rechtwinkliger Baukörper. Während es bei letzterem zu bestimmten Tageszeiten zu einer starken einseitigen Sonneneinstrahlung kommen kann, verteilt sich diese an einer fraktalen Fassade gleichmäßig über den ganzen Tag, so dass sich die einstrahlende Sonnenwärme gleichmäßig nutzen lässt und einer Überhitzung vorgebeugt wird. Im Rahmen von Schulbauten geht es aber nicht nur um technische Energieeinsparpotentiale. Entscheidend ist viel mehr, wie die Nutzer mit ihrer physischen, psychischen und sozialen Energie haushalten und diese möglichst ungestört für konstruktive Lernprozesse einsetzen können. Bei der Einsparung von menschlicher Energie zeigen sich die signifikanten Vorteile der fraktalen Schularchitektur.
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Fraktale Schularchitektur
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Beobachtbare Raumwirkungen
Über die Wirkung konzentrischer Sitzformationen und fraktaler Lernräume lässt sich theoretisch vortrefflich spekulieren. Wie aber bewähren sie sich in der Praxis? Auf der Basis wiederholter teilnehmender Beobachtungen im Schulalltag und teilstrukturierten Interviews mit dem pädagogischen Personal des gebundenen Ganztagszweigs sowie mit offenen Interviews von externen Gästen (Pädagogen, Architekten und Innenraumgestaltern) lässt sich nach einem einjährigen Schulbetrieb an der Grundschule Landsbergerstraße in Herford zusammenfassend festhalten: Die fraktalen Lernräume erscheinen durch die transparenten Wände, die großen Fensterfronten, die niedrigen Regale und die freie Raummitte größer, als sie tatsächlich sind. Sie vermitteln ein Gefühl von Weite und Offenheit. Die Gruppenwaben wirken ihrem Grundriss entsprechend offen und geschlossen zugleich. Die maximierten Kommunikationsdistanzen zwischen den Gruppen und die hexagonalen Nischen schirmen die einzelnen Schülergruppen deutlich voneinander ab, obwohl ungehinderte Sichtkontakte zwischen ihnen möglich bleiben. Die freie Raummitte wird regelmäßig für Stuhlkreise oder für eine Kinositzformation vor der Präsentationsfläche genutzt. Schon bei Erstklässlern klappt das häufige Umstellen ihrer Stühle vom Kreis zum Gruppenarbeitsplatz aufgrund kurzer Wege reibungslos. Für die Einzel-, Partner- und Gruppenarbeit in den 86 m² großen Räumen wurden Dreiecks- bzw. Sechsecktische mit einer Kantenlänge von 90 cm (statt 80 cm) angeschafft. Die vergrößerte Tischfläche hat sich auch bei Grundschülern bewährt. Sie gewährleistet eine angemessene Einzelarbeitsfläche. Wenn sich Kinder in Einzelarbeitsphasen am Gruppentisch gestört fühlen, nutzen sie entweder die rollbaren Dreieckstische um sich an einen ruhigeren Ort zurückzuziehen oder sie breiten sich an den Rollregalen bzw. auf den freien Bodenflächen aus. Bei der Wochenplanarbeit sowie bei anderen Formen offenen Lernens können sich Kinder – nach Rücksprache mit der Lehrkraft – ins Forum, in den Selbstlernbereich oder auf die Galerie zurückziehen. Damit entsteht noch mehr Platz und Bewegungsraum für die Kinder im Klassenzimmer. Besuchern fällt die ruhige, konzentrierte Lernatmosphäre auf, die für eine Schule im sozialen Brennpunkt eher ungewöhnlich ist. Die Transparenz und Offenheit der Räume führt nach Ansicht von Lehrkräften zur sozialen Offenheit. Die knapp 100 Kinder der ersten bis zur vierten Klasse kennen sich untereinander und helfen sich zunehmend gegenseitig, 327
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wenn sie sich im Forum oder im Selbstlernbereich begegnen. Unterstützt wird dies durch regelmäßige Lesetage, an denen Viertklässler den Erstklässlern vorlesen. Die befragten Pädagogen heben die günstigen Sichtbeziehungen im fraktalen „Lernhaus“ hervor und schätzen ganz besonders die Zentrierung und Öffnung der Räume zum Forum. Das Potential der verschiedenen flexiblen Einrichtungselemente wurde – mit Ausnahme der Schultische – bislang noch nicht ausgeschöpft. Dies gilt für die flexiblen Tafeln, die relativ selten von der Wand genommen oder umgehängt werden, ebenso wie für die Rollregale, die nach wie vor in den Fensternischen stehen, obgleich sich einzelne Kollegen für bestimmte Arbeitsphasen eine stärker abgeschirmte Gruppenzone wünschen. „Der Raum verändert mich“ äußerte eine Kollegin, die sich einerseits zu einer noch weiteren Öffnung ihres Unterrichts herausgefordert sieht, andererseits aber auch nach neuen Strukturen sucht, die Orientierung und Verlässlichkeit insbesondere für Erstklässler schaffen. Dabei erscheint ihr eine klare Rhythmisierung des Schultags ebenso von Bedeutung wie die Arbeit mit Wochenplan, Log-Buch und Lerntagebuch. Das fraktale „Lernhaus“ als kleine, eigenständige Schule in der Schule entwickelt sich nach Ansicht der Schulleitung mit großer Eigendynamik weiter. Das Lernklima hebt sich zunehmend vom Schulklima in der übrigen Schule ab. Zunächst eher zurückhaltende Kollegen interessieren sich für einen Wechsel in das fraktale Lernhaus. Nicht zuletzt trägt dessen funktionaler Teamraum dazu bei, dass sich die Lehrkräfte, Sozialpädagogen und Erzieherinnen der Ganztagsschule als ein kooperatives Team verstehen, das sich bei seiner weiteren Entwicklung durch externe Experten coachen lässt.
Literatur Bildungskommission NRW (1995): Zukunft der Bildung – Schule der Zukunft. Denkschrift der Kommission „Zukunft der Bildung – Schule der Zukunft“ beim Ministerpräsidenten des Landes Nordrhein-Westfalen. Neuwied/Kriftel/Berlin Brägger, G./Posse, N. (2007): Instrumente für die Qualitätsentwicklung und Evaluation in Schulen. Bd. 1: Schritte zur guten Schule. Bd. 2: Vierzig Qualitätsbereiche mit Umsetzungsideen. Bern Brägger, G./Posse, N./Israel, G. (Hg.) (2008): Bildung und Gesundheit. Argumente für eine gute und gesunde Schule. Bern Buddensiek, W. (2001): Zukunftsfähiges Leben in Häusern des Lernens. Göttingen Buddensiek, W. (2006): Lernräume analysieren und gestalten. Stuttgart 328
Fraktale Schularchitektur
Buddensiek, W. (2008a): Lernräume als gesundheits- und kommunikationsfördernde Lebensräume gestalten. Auf dem Weg zu einer neuen Lernkultur. In: Brägger, G./Posse, N./Israel, G. (Hg.) (2008): Bildung und Gesundheit. Argumente für eine gute und gesunde Schule. Bern, S. 177-204 Buddensiek, W. (2008b): Werkstattbericht: Das Herforder Modell für den Ausbau guter und gesunder (Ganztags-)Schulen. In: Brägger, G./Posse, N./Israel, G. (Hg.) (2008): Bildung und Gesundheit. Argumente für eine gute und gesunde Schule. Bern, S. 507-544 Capra, F. (1996): Lebensnetz. Ein neues Verständnis der lebendigen Welt. Bern/München/Wien Dreier, A. u.a. (1999): Grundschulen planen, bauen, neu gestalten. Frankfurt a.M. GGG – Gemeinnützige Gesellschaft Gesamtschule (Hg.) (1989): Das Team-Kleingruppen-Modell. 4. Aufl. Aurich Jelich, F.-J./Kemnitz, H. (Hg.) (2003): Die pädagogische Gestaltung des Raums. Bad Heilbrunn Lernende Schule (2002): Themenheft „Lern(t)räume“. Hg. von Giermes, R./LindauBank, D., H. 20 Mandelbrot, B.B. (1991): Die fraktale Geometrie der Natur. Basel Ratzki, A. u.a. (1996): Team-Kleingruppen-Modell Köln-Holweide. Theorie und Praxis. Frankfurt a.M. Törnquist, A. (2005): Skolhus för tonåringar. Rumsliga aspekter på skolans organisation och arbetssätt. Stockholm Watschinger, J./Kühebacher, J. (Hg.) (2007): Schularchitektur und neue Lernkultur. Neues Lernen – Neue Räume. Bern
Abbildungsverzeichnis Abb. 1: Entwurf: Wilfried Buddensiek; Foto Vera Zahlten Abb. 2: Pädagogisch-architektonische Grundkonzeption: Dr. W. Buddensiek, Universität Paderborn. Bauplanung: Architekturbüro Sittig + Voges, Göttingen. Innenraumgestaltung: Planungsteam Buddensiek / Sittig + Voges / Stjerneby. Bauausführung: Stadt Herford Abb. 3: Architekturentwurf: Sittig + Voges; Fotos: Vera Zahlten. Weitere Fotos und Hintergrundinformationen finden sich unter www.fraktale-schule.de Abb. 4: Architekturentwurf: Sittig + Voges; Fotos: Vera Zahlten. Weitere Fotos und Hintergrundinformationen finden sich unter www.fraktale-schule.de
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Bernd Baier
Flexibilisierung und Durchlässigkeit des schularchitektonischen Raumes 1
Flexibilität und Leichtigkeit nach Prinzipien der Bionik
Flexibilität und Durchlässigkeit setzen sowohl Weiträumigkeit als auch eine damit verbundene relative Leichtigkeit der Konstruktions- und Hüllelemente des Raumes voraus. Nur damit ist eine optimale wechselnde Nutzung und bestmögliche architektonische Gestaltung des Lern-Ortes erreichbar. Leichtigkeit begegnet uns in der Natur ebenso wie in der Technik in vielen Erscheinungsformen. Die Ursachen und Gründe für Material- und/oder Gewichtsersparnis sind allerdings bei natürlichen wie bei technischen Konstruktionen sehr vielschichtig und wirken sich entsprechend unterschiedlich aus (vgl. Baier 2004). Strukturen der nicht belebten Natur folgen jeweils physikalischen Formbildungsgesetzen. Ihre Gestalt ist grundsätzlich selbstbildend, d. h. die als Folge chaotischer Abläufe entstehenden Formen würden sich beim Zusammentreffen von exakt gleichen Voraussetzungen immer wieder gleich einstellen. Die Baupläne der nicht belebten Natur zielen jedoch im Allgemeinen nicht auf Leichtigkeit, d. h. nach unseren technischen Maßstäben spielen sowohl Materialverbrauch als auch Energieaufwand bei diesen Konstruktionen keine Rolle. In biologischen Strukturen sind dagegen die Aufwendungen an Material und Bewegungsenergie von wesentlicher Bedeutung. Leichtigkeit ist deshalb in biologischen Systemen überall dort zu finden, wo Gewichtsersparnis es ermöglichen muss, dass Strukturen fliegen, schwimmen oder sich schnell bewegen können. In Bewegungsabläufen trägt minimiertes Gewicht in Kombination mit optimierter Formgebung zur Energieersparnis und damit indirekt zur Arterhaltung bei. Auffallend viele Tierbauten zeichnen sich beispielsweise dadurch aus, dass für ihre Errichtung relativ wenig Arbeit im physikalischen Sinne als Produkt aus Kraft und Weg aufgewendet werden muss. Möglichst leichte, wieder verwendbare oder verwertbare Baumaterialien und kurze Transportwege reduzieren auf diese Weise den Energieverbrauch ihrer Erbauer und sichern so ihr Überleben (vgl. Abb.1). Abb. 1: Webervogel 330
Flexibilisierung und Durchlässigkeit des schularchitektonischen Raumes
Warum sollte das in der Technik der Menschen anders sein? Seit es Menschen gibt, spielt Leichtigkeit eine bedeutende Rolle, nicht nur im Traum vom Fliegen. Der Leichtbau wurde vor etwa zweihundert Jahren vor allem von Konstrukteuren für fahrende, schwimmende oder fliegende Geräte oder Maschinen entdeckt. Man erkannte, dass durch eine Abb. 2: Tragstruktur für Zeiss Planetarium 1922 Verringerung des Gewichts der bewegten Teile eine Steigerung der Geschwindigkeit oder der Leistung erreicht werden kann. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts waren es deshalb besonders Flugzeugingenieure, aber auch andere Konstrukteure, die verstärkt an der Gewichtsreduzierung von Fluggeräten und anderen Leichtbau-Strukturen arbeiteten (vgl. Abb. 2). In der Mitte des letzten Jahrhunderts wurden in zahlreichen Schriften und Vorträgen des Architekten Frei Otto zum Leichtbau bereits die Grundsätze für eine flexible und leichte Architektur formuliert: Mit weniger mehr leisten - das ist die Maxime der Entwicklung in der Natur und in der Technik. Kräftiger und zugleich leichter sein kennzeichnet das gemeinsame „Prinzip Leichtbau“ (vgl. Otto 1969). Der geniale amerikanische Ingenieur-Architekt, Philosoph und Erfinder Richard Buckminster Fuller (vgl. Marks 1960) machte ebenfalls vor mehr als einem halben Jahrhundert den Architekten und allen an der Gestaltung der menschlichen Umwelt beteiligten Ingenieuren den Vorwurf, dass „wir zwar um das Gewicht der Werkzeuge auf dem Meer und am Himmel wissen, aber nicht an das Gewicht der Hilfsmittel auf dem Lande denken, z.B. an das Gewicht der Gebäude, da wir nicht nach dem Motto Leistung pro Kilogramm bauen“. Der französische Konstrukteur und Architekt Jean Prouvé (Peters 2006) bezog seine Ansicht „wenn die Flugzeuge zusammengesetzt wären wie die Gebäude, würden sie nicht fliegen“ vor allem auf die Leichtigkeit von Konstruktionen sowie die Möglichkeiten der wirtschaftlichen Vorfertigung und der Industrialisierung des Bauens. Die Ansichten der beiden praktizierenden Konstrukteure und Theoretiker lassen sich – wohl nicht beabsichtigt, aber doch prinzipiell – auch auf die Flexibilität und Leichtigkeit des schularchitektonischen Raumes anwenden.
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Bernd Baier
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Potenziale transportabler Leichtbauten
In der Geschichte des Bauens ist eine Entwicklung von provisorischen, kurzzeitig nutzbaren, transportablen, nicht dauerhaften Schutzbauten wie Laubhütten oder Nomadenzelten, zu schweren, dauerhaften Holz- oder Steinbauten bis hin zu den heutigen Stahl- und Stahlbeton-Gebäuden zu verfolgen. Massive, schwere Bauten haben jedoch in der Regel einen größeren Flächen- und Raumbedarf, einen höheren Transport-, Montage-, Demontage-, aber auch Wiederverwendungs- und Entsorgungsaufwand, weshalb in neuerer Zeit wieder ein wachsendes Interesse an material- und gewichtsreduzierten, wirtschaftlicheren Bauwerken und Konstruktionen zu beobachten ist. Leichtbau ist eine Errungenschaft der modernen Bautechnik und gilt heute vor allem als eine Methode zur Steigerung der Wirtschaftlichkeit von Baukonstruktionen, bei der durch besondere Baustoffe, Bauweisen und Formen das Gewicht und damit auch Kosten und Arbeitszeit verringert werden können. Leichte Konstruktionen sind in aller Regel einfacher zu bewegen, zu transportieren, zu montieren und zu demontieren als schwere und verbrauchen für diese Herstellungsschritte demnach auch weniger Energie. Dies wirkt sich besonders bei transportablen Bauten, bei beweglichen Gebäudeteilen, bei großen Spannweiten, z. B. bei Brücken und stützenfreien Hallen, großen Gebäudehöhen, wie bei Masten und Türmen, und bei besonderen funktionellen Anforderungen an das Gebäude bezüglich Flexibilität, Durchlässigkeit und Anpassungsfähigkeit aus. Es ist allerdings auch ein Naturgesetz, dass jeder technische Herstellungsprozess, wie das Bauen, stets mit der Umwandlung von Rohstoffen und Energie sowie dem Einsatz von Arbeit verbunden ist. Diese Gegebenheit wird ebenso häufig unterbewertet wie die Tatsache, dass in jedem dieser künstlich herbeigeführten, technischen Umwandlungs-Schritte zusammen mit den gewünschten Produkten zugleich Abfälle und Umweltbelastungen entstehen. Selbst nach Ablauf der Nutzungsdauer von Bauwerken und ihren Teilen ist noch der Verbleib, die Wiederverwendung oder die Verwertbarkeit der Baumaterialien von tiefgreifender Bedeutung. Es bleibt die Erkenntnis, dass schwere, massive Bauteile mehr Stoffe enthalten, die in den ökologischen Kreislauf rückgeführt werden müssen und dafür letztendlich auch mehr Energie benötigen. Der synergetische Leichtbau weist hier praktikable Lösungen auf, da besonders in letzter Zeit nicht nur die Möglichkeiten der Teile-Wiederverwendung, sondern auch die des Rohstoff-Recyclings optimiert wurden und zunehmend industriell genutzt werden können. Mit der Entdeckung, Entwicklung und Anwendung von neuen Werkstoffen wie Glas, Schaummetall, Keramik und bestimmten Kunststoffen sowie optimierten Bauweisen kann man davon ausgehen, dass mit der Anwendung aller dieser Erfahrungen in einer modernen Architektur mehr 332
Flexibilisierung und Durchlässigkeit des schularchitektonischen Raumes
Wirkung bei weniger Aufwand, nicht allein als Gewichts-Minderung, sondern auch als Rohstoff- und Energiereduzierung in allen Phasen des Bauens erreichbar wird.
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Multifunktionalität, Teilbarkeit und Erweiterbarkeit des schulischen Raumes
Die mehr als 1000-jährige Entwicklung der Schule zeigt Zwischenstationen von der familiären Stube über die Kloster- und Zwergschule, die Einraum-Schule, die Kleinschule des 17. und 18. Jahrhunderts mit Schulklassen bis zu 70 Schülern und mehr, über den Klassenraum mit feststehender, inflexibler Möblierung aus der ersten Hälfte des letzten Jahrhunderts, bis hin zu den vielseitig nutzbaren Klassenräumen der heutigen Zeit mit flexibler Bestuhlung und zum Hörsaal mit ansteigendem Gestühl. In den 1960er Jahren gab es vorwiegend in Mitteleuropa entsprechende revolutionäre Bemühungen in der Schularchitektur, welche statt der bisher bekannten ein- oder zweibündigen Grundriss-Anordnungen der Klassenzimmer längs eines Flures eine größere Flexibilität des schularchitektonischen Raumes forderten und diese zu multifunktionell veränderbaren, flexiblen Arbeitsgruppen-, „mobilen“ Aktions- und Lehrräumen oder sogenannten “clustern“ umgestalteten, um damit unter anderem auch eine größere „Durchlässigkeit“ und „Anpassung“ der tradierten Bildungsprozesse zu ermöglichen. Um diese Flexibilität zu gewährleisten, entstanden bis heute unter anderem zwei-, drei- und mehrbündige Anordnungen von Klassenräumen, kammförmige und H-förmige Schulgrundriss-Typen sowie die sogenannte Hallenschule mit zumeist im Rechteck um einen überdachten Innenhof angeordneten Schulräumen (vgl. Abb. 3), auch zentrale, radiale und hybride Anlagen in einer Art „Teppich-Anordnung“, in denen mono- und multifunktionelle Räume einander abwechselten oder einander zugeordnet waren. Es wurde auch mit kompakten, großflächigen Schulanlagen experimentiert, die teilweise nur über eine Belichtung und Belüftung mittels Oberlichtern, bzw. Shed-Strukturen verfügten. Es gab allerdings auch Experimente mit Schulgebäuden, die vollklimatisiert waren und ganz ohne natürliche Belichtung auskommen mussten. Unter anderem wurde die erwartete Steigerung der Konzentrationsfähigkeit der Schüler durch diese Maßnahmen nicht erreicht, ganz im Gegenteil, sie nahm sogar ab. Derartige Versuche sind weitestgehend gescheitert. Einige der bis dahin ausgeführten Schulen wurden in den Folgejahren umgebaut und mit gebräuchlichen Fenstern sowie natürlichen Belichtungs-, Lüftungs- und Ausblicksmöglichkeiten versehen. 333
Bernd Baier
Abb. 4: Musterplan einer Dorfschule
Abb. 5: Musterschule um 1895
Abb. 6a/6b: Beispiele für Weiträumigkeit und Nutzungs-Flexibilität durch Skelettbauweise
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Die üblichen, wegen der kürzeren Spannweiten in der Querrichtung entlang von Fluren aufgereihten, Lern- und Lehrorte sind in ihrer Raumnutzung entweder inflexibel (vgl. Abb. 4, 5) oder sie erfordern aus funktionellen Gründen gelegentlich eine variable räumliche Erweiterbarkeit oder Abtrennbarkeit. Um eine flexible Veränderbarkeit und Anpassungsfähigkeit der Raumgrenzen in verschiedenen oder möglichst allen Richtungen zu ermöglichen, sind weiter gespannte Decken zwischen Wandscheiben längs des Flurs zu den Außenwand-Scheiben mit Fensteröffnungen oder zu außen liegenden Stützenreihen mit dazwischen eingefügten transparenten Außenwand-Elementen unerlässlich. Eine bestimmte Weiträumigkeit, mit der eine größtmögliche Raum-Disponibilität und Nutzungs-Flexibilität erreicht werden
Flexibilisierung und Durchlässigkeit des schularchitektonischen Raumes
kann, wird dementsprechend erst durch reine Skelettkonstruktionen in Verbindung mit relativ großen Stützweiten in Längs- und/oder Querrichtung möglich (vgl. Abb. 6a, 6b). Diese gewünschte Flexibilität, Multifunktionalität und Durchlässigkeit der Architektur muss allerdings auch wegen der meist erforderlichen größeren Decken-Spannweiten teilweise sehr kostenaufwändig erkauft werden. Ein erhöhter Vorfertigungsgrad sowie die viel gepriesene Elementierung und Industrialisierung von Bauteilen kann dies nur geringfügig mindern. Gegenwärtig wird für die nötigen weit spannenden Decken- und Dachkonstruktionen meist auf die bewährten, entsprechend dimensionierten Stahlbeton-Bauweisen zurückgegriffen, die im Einzelnen als Plattendecken oder zur Gewichtsreduzierung bei größeren Spannweiten als Plattenbalken-, Rippen-, Kassetten- oder Hohlraum-Decken ausgeführt werden. Vielfach wird wegen seines vorteilhaft niedrigen Flächengewichtes für große Spannweiten auch Stahl als Konstruktionsmaterial in Form von Träger- oder Rippendecken oder als Stahl-Beton-Verbund-Decken eingesetzt. In neueren Beispielen sind außerdem Holzbauweisen aus Massivholz, aus besonders ausgestatteten Holz-Fertigteil-Sandwich-Trägerplatten oder für weitgespannte Decken und Dachkonstruktionen in Holz-Stahlbeton-Verbundbauweise in Anwendung.
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Temporäre Bauten und schulische Flexibilität
Die vorgenannten Kriterien heutiger Schularchitektur entspringen meist dem Wunsch der Nutzer nach mehr Flexibilität, Wandelbarkeit und Anpassungsfähigkeit, wobei die verlangte oder erforderliche Standortveränderung von Gebäuden mitunter den Transport ganzer Häuser, auch containerartiger mobiler Raumzellen oder großer Bauabschnitte in schiffs-, straßen- oder bahntauglichen Transporteinheiten notwendig macht (vgl. Baier 2003). Zu solchen Bauten oder Bauteilen, die für den wiederholten, raschen Aufund Abbau vorgesehen sind, den so genannten “Fliegenden Bauten”, zählen neben der bekannten Container-Bauweise ebenso andere Bauweisen, welche besonders mobil, also leicht zu transportieren, zu handhaben und kurzfristig in Gebrauch zu nehmen sind. Beispiele sind unter anderem Schulzelte zur temporären Nutzung, auch Pilgerzelte, Rettungs- oder Notunterkünfte, Kirchenoder Versammlungszelte, Informations- und Ausstellungspavillons sowie leicht transportierbare Schutz- und Ersatzbauten in Katastrophenfällen. Für den schulischen Gebrauch werden darüber hinaus in letzter Zeit vermehrt Bauweisen eingesetzt, wie sie z. B. auch seit Jahrhunderten in der japanischen 335
Bernd Baier
Abb. 7a: Traditionelle japanische Architektur
Abb. 7b: Katsura-Palast, 17. Jh.
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leichten Holz- und Papier- Architektur gegenwärtig waren (vgl. Abb. 7a, 7b). Sie ermöglichen eine größere Wandelbarkeit und Nutzungs-Flexibilität von Bauwerken, wobei sie unter anderem eine teilweise oder auch vollständige Veränderbarkeit von Bauten oder deren Teilen, z. B. mittels verschiebbarer, dreh-, klapp-, kipp- oder raffbarer Dach- oder Wandelemente aufweisen (vgl. Otto 1972). In Europa, vor allem in Deutschland, Holland, Frankreich und Großbritannien, wurde in den letzten Jahrzehnten erfolgreich belegt, dass besonders im Schulbau die Vorteile der Flexibilität nicht nur in der gewünschten multifunktionellen horizontalen Nutzbarkeit, Veränderbarkeit sowie Anpassungsfähigkeit des Grundrisses liegen können, sondern auch in der Möglichkeit einer vertikalen Ausdehnung des Schul-Raumes.
Entwurfsaspekte, Nutzen und Grenzen der Flexibilität
Die möglichen Vor- und Nachteile einer gewünschten Flexibilität müssen in jedem Entwurfsprozess vorausschauend erfasst und in einer Kosten-NutzenAnalyse möglichst objektiv bewertet werden. Beispielsweise berühren die jeweiligen örtlichen Bedingungen, die funktionellen Vorgaben und Bindungen, aber auch Einschränkungen und Bedenken im Zusammenhang mit der beabsichtigten Weiträumigkeit und Durchlässigkeit des Raumes gewisse Aspekte der natürlichen Belichtung und zugfreien Lüftung, der Ausblickmöglichkeit, Schallübertragung und physiologischen Beheizung. Diese beeinflussen wiederum im 336
Flexibilisierung und Durchlässigkeit des schularchitektonischen Raumes
Einzelnen sowie im Gesamten die Gestaltungsmöglichkeiten, die Konstruktion oder Bauweise, das verwendete Material und die Notwendigkeit der Einhaltung von Kostenvorgaben. Ein Entwurf ist demnach immer ein – unter den gegebenen Randbedingungen – bestmöglicher Kompromiss zwischen unzähligen, oftmals konträren Wünschen und einem geplanten, realistisch erreichbaren Ziel. In diesem Zusammenhang ist auch – und besonders – die Frage nach den Bau-, Betriebs- und Unterhaltskosten einer geplanten oder bestehenden Schule zu bewerten. Die zu erwartenden objektbezogenen Kosten werden in der Entwurfs- und Auswahlphase zumeist als Produkt aus Quadratmeter- oder Kubikmeterangaben und Kostenrichtwerten ermittelt, die unter anderem aus Erfahrungswerten oder statistischen Untersuchungen wie vom Baukosteninformationszentrum (BKI 2008) vorliegen. Auf der Basis der jeweiligen Ausgangsdaten, der gemäß Baufortschritt jeweils abgeglichenen Eingangsdaten sowie aller kostenrelevanten Randbedingungen können in der Folge in mehreren Genauigkeitsstufen Berechnungen angestellt werden, die beispielsweise unter Verwendung der Richtlinien des Deutschen Instituts für Normung (DIN 276/277), bzw. nach der Honorarordnung für Architekten und Ingenieure (HOAI 2006) in ihren Ergebnissen von der Kostenschätzung bis zur exakten Kostenfeststellung reichen. Damit sind in aller Regel realistische Kosten- und Zeitrahmen für zeitgemäße schulische Räume mit einem optimalen flexiblen Architektur- und Nutzungskonzept zu ermitteln.
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Bauphysikalische und haustechnische Aspekte der Flexibilisierung
Über der Suche nach einem bestmöglichen, flexiblen, durchlässigen Schul-Nutzungskonzept dürfen jedoch wesentliche, in Abstimmung mit den gewählten Konstruktionsweisen kostenrelevante, bauphysikalische und haustechnische Aspekte nicht vergessen werden. Alle Randbedingungen, die eine Nutzung der Schule funktionell, ästhetisch, praktisch, bequem und dauerhaft machen, müssen in ihren gegenseitigen Abhängigkeiten Beachtung finden und gemeinsam zur Optimierung des Endproduktes beitragen. Unter Berücksichtigung aller wechselseitigen Einflüsse, wie topografische Lage, Himmels- und Windrichtung, Sonneneinstrahlung, Licht, innere und äußere Wärmequellen, müssen dem gewünschten Innenraumklima entsprechend und gemäß der vorgesehenen Nutzung bzw. der nötigen Raumabmessungen Vorkehrungen getroffen werden, welche Schulgebäude in die Lage versetzen, aufgrund ihrer Bauweise passiv oder durch Gebäudetechnik aktiv auf andau337
Bernd Baier
ernde Belastungen, auf allmähliche, aber auch auf rasche physikalische Änderungen zu reagieren. Bei den heutigen Gebäuden, die besonders energiesparend betrieben werden sollen, stellt sich beispielsweise die Frage, ob durch transluzente, aber weniger wärmedämmende Hüllflächen, welche Sonnenenergie gewinnen können, in der Summe mehr Energie eingespart werden kann als durch eine hoch wärmedämmende opake Hüllfläche, die einen größeren Energiebedarf für zusätzliche künstliche Beleuchtung hat. Das Dilemma ist mit wandelbaren Hüllflächen zu lösen, die während der Tagesstunden Beleuchtungsenergie sparen und Sonnenenergie gewinnen, aber auch während der Nacht oder bei niedrigen Außentemperaturen eine erhöhte Wärmedämmung aufweisen können. Die nötige Wandelbarkeit und Transparenz solcher Konstruktionen sind auch hier durch synergetische Leichtbauweisen zu erreichen (vgl. Baier 2001). Im Allgemeinen haben massive schwere Baumassen mit ihrer Fähigkeit, Wärmeenergie langsam aufzunehmen und auch langsam wieder abzugeben, gewisse Vorteile gegenüber Leichtbauweisen, die wegen fehlender Speichermasse und mit dem sogenannten „Barackenklima“ rasch auf äußere thermische Einflüsse reagieren. Die fehlende thermische Trägheit von Leichtbauweisen kann allerdings auch ein Vorteil gegenüber einer schweren Bauweise sein, wenn rasches Abkühlen von Räumen im Sommer oder kurzfristiges Aufheizen im Winter gewünscht ist. Zurzeit sind neue Materialien auf dem Markt und einige in der Entwicklung, die in der Lage sind, die erforderliche temporäre Anpassungsfähigkeit von Wärmedämmung und Wärmespeicherung von Decken und Wänden auch in leichter Bauweise zu gewährleisten. Eine allgemeingültige Abwägung der thermischen und hygrischen Vor- und Nachteile schwerer oder leichter Bauweisen ist im Voraus nicht ohne Weiteres möglich. Es ist vielmehr erforderlich, für jedes Bauvorhaben spezielle Ermittlungen durchzuführen, z. B. thermische und hygrische Simulationen über den gesamten Jahresverlauf auf der Basis von wechselnden Voraussetzungen und in unterschiedlichen Kombinationen, die sowohl den stationären Zustand als auch instationäre Bedingungen des Bauwerks und seiner Umgebung berücksichtigen. Erst dann kann im jeweiligen Fall über die Vor- oder Nachteile der einen oder anderen Bauweise in einer möglichst umfassenden, ganzheitlichen Kosten-Nutzen-Analyse entschieden werden. Auch bei bestimmten Nutzungsfällen, z. B. beim akustischen Schallschutz, der Schallabsorption bzw. Schallreflektion kann eine ähnliche Vorgehensweise wie bei thermischen Fragen erforderlich sein. Auch hier ist es unter anspruchsvollen Voraussetzungen unumgänglich, sich spezieller elektronischer Rechenverfahren zu bedienen, die es ermöglichen, alle Randbedingungen der Räume des Bauwerks und seiner Umgebung einzubeziehen und damit eine Vergleich338
Flexibilisierung und Durchlässigkeit des schularchitektonischen Raumes
barkeit der Wirkung bestimmter Baumaterialien, -teile und -konstruktionen auf das gewünschte Gesamtresultat vorauszubestimmen. Die heute auf dem Markt erhältlichen Materialien, die für den Einsatz in der Akustik und im Schallschutz geeignet sind, haben eine große Bandbreite von schweren bis zu leichten, flexiblen Anwendungen. Für besonders flexible Nutzungen, z. B. für Sporthallen, die funktionell und akustisch abgetrennt werden sollen, sind neben Falt-, Schiebe- oder Roll-Elementen mit Metall-Holz-Unterkonstruktion auch relativ leichte Wandkonstruktionen bekannt, die aus beschichteten, mehrlagigen Kunststoff-Membranen bestehen, welche die erforderlichen Schallschutz-Anforderungen ebenfalls erfüllen können. Für besondere Formen der baulichen Anpassung, die in der letzten Zeit an Bedeutung gewonnen haben, gibt es darüber hinaus spezielle Konstruktionen, die neben ihrer Flexibilität und Leichtigkeit auch die Möglichkeit bieten, ihre physikalischen Eigenschaften durch geplante passive oder aktive Reaktionsfähigkeit temporär zu verändern. Dabei werden bei Wänden, Fassaden, Fensteroder Dachflächen besondere konstruktive Vorkehrungen getroffen, die es Bauten oder Bauteilen ermöglichen, z. B. ihre Form und Farbe, die Durchlässigkeit, Absorptions- oder Reflektionsfähigkeit von Licht oder auch Schall oder aber auch die Fähigkeit der Wärmeleitung, der thermischen oder hygrischen Speicherung von hüllenden oder trennenden Bauteilen kurzfristig oder dauerhaft zu verändern (vgl. Baier 2005b).
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Ausblick auf eine zweckmäßige Flexibilität
Mit diesem Einblick in die Chancen der Erneuerung des schularchitektonischen Raumes sollte gezeigt werden, dass trotz aller endlichen Fähigkeiten im Verhältnis zu den nahezu unendlich vielen Möglichkeiten, neuen Techniken, Bauweisen und Materialien auf der Suche nach der „Flexibilisierung und Durchlässigkeit“ in Zukunft eine viel größere Bandbreite von Maßnahmen gegenseitiger Abhängigkeiten verglichen werden muss. Es genügt dann nicht mehr, nur vordergründig kostensparend oder bestenfalls im herkömmlichen Sinne lediglich „leicht“ Abb. 8: Grundschule in Gando, Burkina Faso 339
Bernd Baier
oder materialreduziert zu bauen. Es ist daher unerlässlich, dass alle Auswirkungen des Bauens auf die Umwelt, auf Psyche und/oder Physis von Menschen und anderen Lebewesen in ihrem Verhältnis zueinander und in ihren Abb. 9: Schule in Amsterdam vernetzten Reaktionen nach einer angemessenen Fortschreibung des heutigen Entwicklungsstandes über möglichst lange Zeiträume weiterentwickelt, beobachtet, analysiert und bewertet werden. Nur so ist es auch denkbar, unter Einbeziehung des „Synergetischen Leichtbaus“ eine moderne Anpassung und Verbesserung der Schul-Landschaft und eine Annäherung der Gegensätze zwischen Natur und Technik in Verbindung mit einer nachhaltigen gedeihlichen Entwicklung zu erreichen.
Literatur Baier, B. (2001): Synergetik – Das erweiterte Prinzip Leichtbau. In: Baier, B. u.a. (Hg.): LeichtBauKunst, Symposium interdisziplinär. Universität Duisburg-Essen, Essen, S. 139-147 Baier, B. (2003): Transluzente Strukturen. In: Baier, B. u.a. (Hg.): Transparenz und Leichtigkeit, Symposium interdisziplinär. Universität Duisburg-Essen, Essen, S. 163-175 Baier, B. (2004): Leichtbau mit Membranen – Neue Entwicklungen, Materialien, Konstruktionen. In: Essener Unikate 23, Berichte aus Forschung und Lehre. Ingenieurwissenschaft der Universität Duisburg-Essen. Essen, S. 86-97 Baier, B. (2005a): Temporäre, wandelbare und anpassungsfähige Membranstrukturen. In: Messe Frankfurt (Hg.): Proceedings Techtextil Symposium. Frankfurt a.M. Baier, B. (2005b): Grenzbereiche: Aspekte und Chancen der Veränderbarkeit und Anpassungsfähigkeit von Membranbauten. In: Baier, B. u.a. (Hg.): Grenzbereiche leichte Konstruktionen, Symposium interdisziplinär. Universität Duisburg-Essen, Essen, S. 167-178
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Flexibilisierung und Durchlässigkeit des schularchitektonischen Raumes
Baier, B. (2009): Interdisziplinäre Aspekte des Leichtbaus - Oder: Die unentbehrliche Leichtigkeit des Bauens. In: Baier, B. u.a. (Hg.): Konstruktion und Gestalt, Symposium interdisziplinär. Universität Duisburg-Essen, Essen BKI (2008) (Hg.): BKI Baukosten. Baukosteninformationszentrum. Stuttgart DIN 276/277 (Hg.): DIN 276 (1993): Kosten im Hochbau, DIN 277 (1996): Grundflächen und Rauminhalte von Bauwerken im Hochbau. Deutsches Institut für Normung e.V., Normenausschuss für Bauwesen (NaBau). Berlin HOAI (2006) (Hg.): Honorarordnung für Architekten und Ingenieure. AKNW Architektenkammer NRW. Düsseldorf Marks, R. W. (1960): The Dymaxion World of Buckminster Fuller. Reinhold Publishing Corporation, USA Otto, F. (1969) (Hg.): Mitteilungen des Instituts für leichte Flächentragwerke IL, IL1(1969) bis IL41(1995). Universität Stuttgart, Stuttgart Otto, F. (1972) (Hg): IL 5 Wandelbare Dächer - Convertible Roofs. Mitteilungen des Instituts für leichte Flächentragwerke, Universität Stuttgart, Stuttgart Peters, N. (2006) (Hg.): Jean Prouvé 1901-1984. Die Dynamik der Schöpfung. Köln
Abbildungen Abb. 1, 2, 3, 7b: Archiv des Autors Abb. 4: Musterplan für eine Dorfschule, Ende 18. Jh. In: Krünitz, J.G.: Die Oekonomisch-technische Encyklopaedie; 61. Teil, Berlin 1793. Aus: Archiv des Saarländischen Schulmuseums Ottweiler, Gegebenheiten des Schulhausbaus im 19. Jahrhundert im Bereich des damaligen Landkreises Ottweiler Abb. 5: Musterplan für eine achtklassige preußische Volksschule, 1895. Aus: Archiv des Saarländischen Schulmuseums Ottweiler, Gegebenheiten des Schulhausbaus im 19. Jahrhundert im Bereich des damaligen Landkreises Ottweiler Abb. 6a: Matzke Elementary School Houston, Texas, USA. Arch.: Wilson-Morris-CrainAnderson, Houston 1968. Aus: Peters, P. (1969) (Hg): e+p3 Entwurf und Planung. Callwey, München, S. 23 Abb. 6b: Schulzentrum Freigericht in Somborn. Arch.: Fesel, Seeheim ü. Darmstadt, 1969. Aus: Peters, P. (1969) (Hg): e+p3 Entwurf und Planung. Callwey, München, S. 47 Abb. 7a: Shokin-Tei-Teepavillon. Foto: Raphael Azevedo Franca 2007 Abb. 8: Grundschule in Gando, Burkina Faso. Arch.: Francis Kéré 2008 Abb. 9: Schule in Amsterdam. Arch.: HVDM Architects 2008
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Patrick Jakob
Virtuelle Architekturen und Schulorte 1
Die Informationsgesellschaft
Anfang der 1980er Jahre wurde die Informationsgesellschaft als Nachfolgerin der Industriegesellschaft proklamiert. Das Hauptinteresse war in ihr nicht auf materielle Waren, sondern auf die Produktion, Verarbeitung, Aufarbeitung und Weitergabe von Informationen gerichtet (vgl. Flusser 2000). Die Herstellung und Aufnahme von Informationen in der Arbeits- und Lebenswelt wird von Rötzer (1999, S. 11) ökonomisch, politisch und sozial als so hoch eingeschätzt, dass Wirklichkeit durch bestimmte Konstellationen von Informationen definiert wird. Gegen Ende des 20. Jahrhunderts hat sich dann, basierend auf der technischen Entwicklung der Digitalisierung, eine nach den Transport- und Versorgungsnetzen weitere globale Infrastruktur herausgebildet. Sie ist gekennzeichnet durch Telekommunikationsnetze, die durch Verknüpfungen mit Computern in Form von Netzwerken entstehen und aufgrund mobiler Zugangsmöglichkeiten nutzbar sind (Apflauer 2000, S. 210). Auf Grundlage dieser Infrastruktur sind nicht nur Nachrichten und Datensätze global übertragbar, sondern auch ein fast unbegrenzter Zugang zu Informationen und Datenbanken über das Internet weltweit möglich. Informationen beinhalten für den Menschen nur eine indirekte Form des Wissens, da es sich um aufgearbeitete Daten handelt, die auf der Grundlage von Medien für den Benutzer zur Verfügung stehen. Dagegen bedeutet Wissen, Informationen aufnehmen und verarbeiten zu können, um Ergebnisse zu erzielen oder Kenntnisse über Phänomene in der Welt zu erlangen. Methodisches Wissen benötigt aber eine formale Sprache. Im Fall der Informationsgesellschaft vollzieht sich die kulturelle Entwicklung über die künstlichen Sprachen der Mathematik und des Computers. Mittlerweile besitzt der Aspekt der Wissensaneignung einen hohen Stellenwert unter volkswirtschaftlichen Gesichtspunkten, da beispielsweise die Produktivität des Wissens einen entscheidenden Einfluss auf die Wettbewerbsfähigkeit eines Landes ausüben kann.
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Virtuelle Architekturen und Schulorte
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IT-Ausstattung und -Nutzung in Schulen
Nach einer vom Bundesministerium für Bildung und Forschung veröffentlichten Studie aus dem Jahr 2006 sind 99% der 31.064 bundesweiten Schulen mit einem stationären und/oder mobilen Computer für den Unterricht ausgestattet (Krützer/Probst 2006, S. 6). Insgesamt stehen an den deutschen Schulen im Erhebungszeitraum 1.075.393 Computer zur Verfügung. In den Grundschulen teilen sich dabei 12 Schülerinnen/Schüler einen Computer. In der Sekundarstufe I und II ist das Verhältnis mit 11:1 und in der berufsbildenden Schule mit 9:1 zu beziffern. Eine ebenso große Akzeptanz ist bei den Peripheriegeräten, wie Beamern, Scannern, Digitalkameras, etc. zu verzeichnen. In den berufsbildenden Schulen sind dabei die Verbreitung und der Einsatz dieser Geräte gegenüber den Sekundarschulen I und II sowie den Grundschulen am größten (vgl. ebd.). Betrachtet man sich den Anteil der Schulen, die ihren Schülerinnen und Schülern die Möglichkeit der Computernutzung außerhalb des Unterrichts ermöglichen, ist festzustellen, dass auch hier der Anteil der berufsbildenden Schulen mit 82% gegenüber der Sekundarschule I und II mit 66% und der Grundschule mit 36% am größten ist. Diese Form der Nutzung wird von den meisten Schulen in speziellen Computer-Kabinetten bzw. Computer-Räumen angeboten. Was den Zugang zum Internet betrifft, so sind 71% der Computer in den bundesdeutschen Schulen im Jahr 2006 mit dem World Wide Web verbunden. In den berufsbildenden Schulen beträgt der Anteil der Computer, die an das Internet angeschlossen sind, 79%, bei den Sekundarstufen I und II 75% und bei den Grundschulen 52%. Diese Rangfolge wird auch bei der Internetnutzung im Unterricht in allen Schulformen bestätigt. Dabei variiert die Art der Nutzung nach der jeweiligen Schulform. In der Grundschule wird das Internet größtenteils für den Sachunterricht verwendet, wohingegen in der Sekundarschule I und II die naturwissenschaftlichen Fächer im Vordergrund stehen. Bei den berufsbildenden Schulen dominiert das Fach Informatik in Bezug auf die Internetnutzung (vgl. ebd.). Nicht nur innerhalb der Schulen, sondern auch in der Gesamtzahl der Bevölkerung hat das Internet eine stetig steigende Akzeptanz erfahren. So hat die Zahl der Internetnutzer in Deutschland vom Jahr 1997 bis zum Jahr 2008 ständig zugenommen (Schenk 2008, S. 1). Die zweite Jahreshälfte 2002 kann als ein Meilenstein in der Geschichte des deutschen Internets gesehen werden. Hier stieg zum ersten Mal die Zahl der Internetnutzer auf über 50% an. Diese Zahl konnte sich im Verlauf des Jahres 2003 weiter festigen und nahm bis 2006 stetig zu. Im Jahr 2007 wurde eine Akzeptanz von 63% erreicht. Damit avancierte das Internet zu einem in weiten Kreisen der Gesellschaft bekannten und akzeptierten Medium. Es steht heute nicht mehr nur einer kleinen spezialisierten 343
Patrick Jakob
Minderheit, sondern einem Großteil der Gesellschaft offen. Dennoch bezeichnet Schenk das Internet nicht als Massenmedium, da es eine von ihm als „digitale Kluft“ bezeichnete Spaltung erkennen lässt, die globale, technische und demokratische Facetten aufweist (vgl. ebd., S. 3). Betrachtet man sich die Gesamtzahl der Nutzer in Hinblick auf die Nutzergruppen, so bleibt festzuhalten, dass sich die Gruppen der Lehrlinge, Schüler und Studenten mit 96% durch eine besonders starke Internetnutzung auszeichnen (vgl. ebd., S. 12). Mit steigendem Alter nimmt die Nutzungsintensität ab, so dass bei der Gruppe der 50-Jährigen und älter eine Nutzungsintensität von 35% zu verzeichnen ist (vgl. ebd., S. 9).
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Reale und virtuelle Schulräume
Die Zahlen belegen die umfassende Verbreitung von Hard- und Software in deutschen Schulen, sei es durch die Einrichtung von Computerräumen oder die Einführung spezieller Laptop-Klassen, die den transportablen Computer in den Unterricht integrieren. Mittlerweile sind neben den realen Räumen in den Schulgebäuden auch die virtuellen Räume des Computers zu einem festen Bestandteil der räumlichen Umwelt von Schülerinnen und Schülern geworden. In ihnen können Materialien und Aufgaben ausgetauscht und Arbeitsergebnisse mit Hilfe integrierter Homepages im Internet veröffentlicht werden. Daneben stehen den Schülerinnen und Schülern verschiedene Kommunikationsmöglichkeiten zur Verfügung, die entweder als reine textliche Kommunikation in Form von EMails oder als visuelle Kommunikation mit Hilfe von Bildübertragungen realisiert werden können. Nach Angaben des statistischen Bundesamtes verfügen im Jahr 2008 über 70% der Bundesbürger über einen privaten Computer, so dass einem Großteil der Schülerinnen und Schüler auch außerhalb des Schulgebäudes der Zugang zur virtuellen Welt möglich ist. Nicht zuletzt bietet das World Wide Web eine unerschöpfliche Informationsund Datenquelle, die sich ständig erweitert und aktualisiert. Ein Beispiel dafür ist die Online-Enzyklopädie „wikipedia.org“. Diese ist mit über sieben Millionen Begriffserklärungen in 150 Sprachen das meistgenutzte Nachschlagewerk der Welt (vgl. Friebe 2008, S. 168). Die Besonderheit dieser Bibliothek besteht darin, dass nicht nur jeder Nutzer einen Artikel lesen, sondern auch selbst schreiben und bestehende Artikel bearbeiten sowie mit seinem Wissen erweitern kann. Die Darstellung der Inhalte in den virtuellen Welten des Computers beschränkt sich dabei nicht auf die rein textliche Form, sondern wird mit Hilfe von Architekturelementen unterstützt, die eine räumliche Struktur schaffen, durch die der Nutzer navigieren kann. Neben einem Internetzugang und Computerspielen, 344
Virtuelle Architekturen und Schulorte
die inzwischen Zugang zu einem Großteil der Haushalte gefunden haben, sind durch die Technik der virtuellen Realität neue elektronische Kommunikationsräume entstanden. Sie werden durch die virtuelle Architektur charakterisiert und markieren den Bereich der Arbeits- und Freizeitzone des Menschen im 21. Jahrhundert.
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Virtuelle Architektur
Um den Charakter der virtuellen Architektur darzustellen, ist es unerlässlich, sich mit ihrem realen Pendant auseinander zusetzten. Im Folgenden wird auf wesentliche Eigenschaften beider Erscheinungsformen eingegangen, um so in einer Gegenüberstellung das Erscheinungsbild der virtuellen Architektur darzustellen. Im traditionellen Sinn wird reale Architektur aus physischen, dreidimensionalen Materialien, wie beispielsweise Beton und Stahl hergestellt. Vom Menschen können die diversen Materialien durch die Sinnesorgane sowohl visuell als auch haptisch wahrgenommen werden. Damit können sie durch ihren materiellen Erscheinungscharakter einen entscheidenden Einfluss auf das Wohlbefinden des Menschen ausüben. Die Hauptfunktion der realen Architektur besteht in der Schaffung von Räumen und Gebäuden, die einerseits eine Schutzfunktion gegenüber der Umwelt realisieren und andererseits Raum für menschliche Aktivitäten und soziale Interaktion zur Verfügung stellen. Durch die physischen Gesetzmäßigkeiten der Reibung und der Schwerkraft wird der formale Charakter eines Gebäudes bestimmt. Im Gegensatz dazu existiert virtuelle Architektur nicht in einem physischen Material, wie Stahl oder Beton. Ihr „Baumaterial“ besteht aus Datenbanken, die eine Repräsentation als visuelle Simulation von Architektur beinhalten können. Im virtuellen Raum wird Architektur dazu verwendet, Plätze für menschliche Interaktion zu schaffen. Diese müssen nicht zwangsläufig traditionellen Plätzen ähneln. Das einzig physische Material der virtuellen Architektur ist das Repräsentationsmedium des Computers und seiner Ausgabegeräte, wie es beispielsweise der Monitor darstellt. Aufgrund der Immaterialität ihrer Elemente kann sich der Gestalter dieser Architekturform von den physischen Gesetzen lösen und somit dynamisch und variabel agieren. Es ist ohne größeren Aufwand möglich, Räume in Form und Farbgebung auf den jeweiligen Nutzer anzupassen. Im Gegensatz zu ihrem realen Pendant beschränkt sich die Wahrnehmung in erster Linie auf den Gesichtssinn. Haptische Qualitäten sind nur mit Hilfe eines größeren technischen Aufwandes zu realisieren. 345
Patrick Jakob
Die virtuelle Architektur ermöglicht dem Nutzer eine räumliche und zeitliche Unabhängigkeit in dem Sinne, dass er sich an zwei Plätzen zur selben Zeit aufhalten kann. Dabei beschränkt sich die Darstellung nicht auf drei Dimensionen und das kartesische Koordinatensystem. Im Gegensatz zur realen Architektur sind die Elemente der virtuellen Architektur nicht von Materialität und Schwerkraft abhängig, was dadurch zum Ausdruck kommt, dass beispielsweise Wände schweben und vom Nutzer problemlos Abb. 1: Schematische Übersicht der durchschritten werden können. Begrifflichkeiten zur virtuellen Architektur Die Begriffe „Cyberspace“, „virtuelle Realität“ und „virtuelle Architektur“ sind mittlerweile zu einem festen Bestandteil des allgemeinen Sprachgebrauchs geworden. Jedoch werden sie in der Fachliteratur unterschiedlich definiert, so dass zunächst eine Begriffsbestimmung vorgenommen wird, um die Verflechtung zwischen Cyberspace, virtueller Realität, Nutzer und dem virtuellen Raum mit seiner virtuellen Architektur deutlich zu machen (vgl. dazu Abb. 1). Häufig wird die Technik der virtuellen Realität mit dem Begriff des Cyberspace gleichgesetzt. Dieser ist jedoch mehr ein Oberbegriff für jede Art von Technik, in denen Komponenten über ein Netzwerk miteinander in Verbindung stehen und Informationen austauschen. Jede Form eines Computernetzwerkes, wie es beispielsweise das Internet darstellt, bildet einen Cyberspace, der Unterschied zur virtuellen Realität besteht darin, dass diese einen speziellen Cyberspace ausbildet. Ausgangspunkt für die Erforschung eines Virtual-Reality-Systems war die Weiterentwicklung der Schnittstelle von Mensch und Maschine mit dem Ziel, die Barriere zwischen dem Benutzer und dem Computer zu reduzieren. Die virtuelle Realität ist nach Aukstakalmis und Blatner (1994) eine vom Computer geschaffene, interaktive Umwelt, in die eine Person mit Hilfe technischer Geräte eintaucht. Erweitert wird diese Definition von Wooley (1993, S. 52) und Thomsen (1994, S. 183), die virtuelle Realität als einen Bereich der Kommunikation ansehen, der in synthetischen Räumen stattfindet und den Menschen als einen gleichberechtigten, integralen Bestandteil eines digitalen Systems versteht. Die Technik der virtuellen Realität umfasst Ein- und Ausgabetechniken, die es dem Menschen erlauben, eine sinnliche Erfahrung zu machen, die einer physikalisch existierenden Wirklichkeit nicht entspricht oder eine physikalisch existierende Wirklichkeit um so nicht wahrnehmbare Dimensionen erweitert. 346
Virtuelle Architekturen und Schulorte
Nach Faßler und Halbach (1994, S. 188 f.) steht die virtuelle Realität in der Tradition anderer Medien, wie Literatur oder Fernsehen, die sich ebenfalls einer Technik bedienen, um mit Hilfe von narrativen und dramaturgischen Mitteln eine gemeinsame Wirklichkeit zu synthetisieren. Während bei den Printmedien, wie Zeitungen oder Zeitschriften, der Zusammenschluss der Leser eher zufällig ist, wenn an verschiedenen Orten zur gleichen Zeit derselbe Artikel gelesen wird, ermöglichen bereits Radio, Fernsehen und Telefon strukturell den Zusammenschluss von Personen an unterschiedlichen Orten. Mit der Technik der virtuellen Realität werden die Nutzer an verschiedenen Orten über entsprechende Datenkanäle im virtuellen Raum zusammengeschlossen. Den gemeinsamen Bezugspunkt ihrer Erfahrungen bildet, wie bei den genannten Medien, die medial gerichtete Konstruktion einer Realität, die der Aktivität des Nutzers bedarf. Der Unterschied zwischen der virtuellen Realität des Cyberspace und den virtuellen Realitäten der Literatur oder des Films liegt in den Qualitäten ihrer Textualität. Um diese textuellen Qualitäten zu entfalten bedarf es eines Nutzers, der sich mit Hilfe einer technischen Ausrüstung in die virtuelle Realität begibt und diese „zum Leben erweckt“. Dabei fungieren die Sinne als Schnittstelle zwischen dem künstlichen Raum der virtuellen Realität und dem Nutzer. Die virtuelle Realität wird damit abhängig von seinen sinnlichen und kognitiven Aktivitäten. Die Technik der virtuellen Realität besteht im Wesentlichen aus einem geschlossenen System mit den drei Hauptkomponenten (Grafik-) Computer, 3D-Eingabegerät und 3D-Ausgabegerät (vgl. dazu Abb. 2). Bei den einzelnen Komponenten handelt es sich ausschließlich um spezielle Geräte, die nicht mit herkömmlichen Computern aus dem Arbeits- und Freizeitbereich zu vergleichen sind.
Abb. 2: Technisches Prinzip des Interagierens in virtuellen Welten
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Patrick Jakob
Alle Komponenten des Systems wirken zusammen, wobei der Computer das Kernstück der Anlage bildet. Auf ihm erfolgen alle Berechnungen zur Generierung der virtuellen Welt. Als Ausgabemedium dient ein so genannter Datenhelm, an dem sich zwei kleine Monitore vor den Augen des Nutzers befinden. Durch das somit mögliche ausschließliche Betrachten der computergenerierten Welt, bekommt er sehr schnell den Eindruck, er befinde sich in dieser Welt als agierende Person. Mittels eines im Raum benutzbaren elektronischen Stiftes (Stylus) navigiert und agiert der Nutzer mit der dreidimensionalen Welt und gibt die Richtung seiner großräumlichen Bewegung an. Durch das so genannte Tracking werden alle Positionen im Raum, die des Nutzers (Kopfbewegung), der Handbewegung und Handgeste, die der Interaktionsgeräte in Position, Richtung und Bewegung dem Rechnersystem übermittelt. Der grundlegende Unterschied zwischen den gängigen Eingabegeräten wie Maus oder Joystick und den Eingabegeräten für die VR-Technik besteht darin, dass die Ermittlung der Position von Objekten im realen Raum in sechs Freiheitsgraden erfolgt. Die räumliche Position und sämtliche Bewegungen sind eindeutig durch diese sechs Parameter definiert. Die drei Orts- (x, y, z) und die drei Richtungskomponenten (Azimuth, Höhenwinkel, Neigung). Im Gegensatz dazu sind Maus und Joystick auf zwei Freiheitsgrade beschränkt. Am weitesten verbreitet in der Anwendung sind kopfgebundene Sichtsysteme (engl. Head-Mounted-Displays, Kurzform: HMD), da die natürliche visuelle Wahrnehmung durch eine künstlich erzeugte audiovisuelle Welt ersetzt wird. An dem umgangssprachlich bezeichneten Datenhelm befinden sich zwei Miniaturdisplays, die sich unmittelbar vor den Augen des Nutzers befinden. Die gesamte Konstruktion wird durch eine auf den Kopf anpassbare Halterung fixiert und folgt damit immer seiner Kopfbewegung. Ein Großteil der Anwendungen, die mit Hilfe der Technik der virtuellen Realität realisiert werden, verfolgt das Ziel, ein Abbild einer Umgebung herzustellen und diese für die unterschiedlichsten Zwecke zu nutzen. Häufig wird diese Technik für Ausbildungs- und Forschungszwecke, wie etwa in der Luftfahrt oder im militärischen Bereich, verwendet. Einen ebenso weit verbreiteten Einsatz findet die Technik der virtuellen Realität in der wissenschaftlichen und technischen Forschung. Gerade in den Entwicklungsabteilungen der Automobilindustrie spielen die virtuellen Simulationsumgebungen eine große Rolle, da hier der aufwendige Modellbau ersetzt werden kann. In der Architektur wird die Technik der virtuellen Realität eingesetzt, um beispielsweise die Simulation eines nicht mehr vorhandenen oder die Vorwegnahme eines zu erstellenden Gebäudes zu erzeugen. Neben diesen Anwendungen, die sich in erster Linie auf das Betrachten und Durchlaufen beschränken, hat sich eine virtuelle Architekturform herausgebildet, die mit Hilfe der Technik der virtuellen Realität Informationen visualisiert und diese räumlich erlebbar macht. In ihr besteht das 348
Virtuelle Architekturen und Schulorte
primäre Ziel nicht in der reinen Simulation von realen Gegebenheiten, sondern in der Visualisierung abstrakter Informationen unter Ausnutzung der Möglichkeiten des virtuellen Raumes. Die virtuelle Architektur stellt nach Schmitt (vgl. Engeli 2001, S. 7) eine Alternative zur Produktion der physischen Architektur dar. Durch die technische Entwicklung der virtuellen Realität wird sich die Architektur in drei Bereiche aufspalten: physische, hybride und virtuelle Architektur. Unter der physischen Architektur ist die den Menschen umgebene, gebaute Umwelt zu verstehen. Hybride Architektur meint die Verflechtung von gebauter Umwelt und technischer Ausstattung in Form von Sensoren und Prozessoren, die Kontroll- und Regelfunktionen übernehmen. Daneben existiert die virtuelle Architektur rein über die Ausgabemedien des Computers. Die virtuelle Architektur wird wiederum von Bertol (vgl. 1997, S. 288) in zwei Bereiche unterteilt. Einerseits in eine virtuelle Architektur, die eine Simulation einer gebauten Umwelt mit der Technik der virtuellen Realität ermöglicht und den virtuellen Architekturen, die nur für sich existieren und keinen Bezug zur physischen Welt besitzen.
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Informationsarchitektur
Durch die technische Entwicklung der virtuellen Realität ist es möglich, die Kommunikation zwischen Computer und Mensch umzukehren. Üblicherweise werden die Informationen in den Computer extern über eine Tastatur eingegeben. Der Mensch ist nun in der Lage, sich innerhalb von virtuellen Architekturen zu bewegen, um dort Informationen aufzunehmen und auszutauschen. Es entstehen so genannte Informationslandschaften, durch die der Nutzer navigieren kann (vgl. Abb. 3). Der Vorteil einer solchen Schnittstelle besteht für den Nutzer darin, dass er keine speziellen Sprachkenntnisse benötigt, um sich in der Informationsumgebung zu orientieren. Im Gegensatz zur sonst eher textlich dominierten Darstellung erlangen visuelle Konzepte eine zentrale Bedeutung. In der Fachliteratur ist der Begriff der „Informationsarchitektur“ zu finden, der unter anderem von Schmitt (vgl. 2000, S. 59-62) geprägt wurde. Darunter ist eine räumliche Umgebung zu verstehen, die in einen neuen Kontext der Computerkommunikation eingebunden ist. Es entsteht ein Bereich, der sowohl vom Menschen als auch vom Computer in gleicher Weise genutzt wird, um Informationen austauschen. Die Informationsarchitektur reflektiert nach Engeli (vgl. 2001, S. 103f.) den Gebrauch von Architekturprinzipien, um Informationen erreichbar zu machen sowie Gestaltung und Struktur der Daten, die es anderen Nutzern ermöglichen, miteinander zu kommunizieren. Für die Ausgestaltung 349
Patrick Jakob
der virtuellen Informationsumgebung übernimmt die Architektur die Rolle des Repräsentationsmediums und die der Navigationshilfe für den Nutzer. Für den Architekten stellt die Informationsarchitektur einen neuen Aufgabenbereich dar. Im Entwurf der informativen Plätze für Visualisierung und Interaktion mit einer immer komplexeren Informationsmenge sieht Engeli (2001, S. 76) die große Herausforderung für den Informationsarchitekten.
Abb. 3: Dieses Beispiel für Informationsarchitekturen zeigt die Visualisierung eines Beziehungsgeflechtes in einer virtuellen Informationsumgebung. Komplexe Strukturen können so räumlich visualisiert und für den Nutzer schneller und besser erfassbar gemacht werden.
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Die zwei Welten des modernen Schülers
Durch den Einzug des Computers in die Schulgebäude sehen sich die Schülerinnen und Schüler mit zwei Welten konfrontiert – der virtuellen und der realen. Die physische Existenz hält sie in der realen Welt, während sie durch entsprechende Schnittstellen der Kommunikations-, Wahrnehmungs- und Handlungsbereiche nicht mehr an den realen Raum gebunden sind. Hierbei handelt es sich, im Gegensatz zu der beschriebenen Informationsarchitektur, um einen einfachen Kommunikationsraum, was einerseits auf die Form der Darstellung 350
Virtuelle Architekturen und Schulorte
und andererseits auf das Erleben dieser Architekturform zurückzuführen ist. Die Informationsarchitektur wird mit Hilfe einer technischen Ausrüstung, die den Nutzer visuell umschließt, aktiver erlebt, da er direkt in die Umgebung eingreifen kann. Dennoch bilden auch Internetseiten und Computeranwendungen eine einfache Form der Informationsarchitektur. Der Architekt sieht sich, wie die Schülerinnen und Schüler, in ähnlicher Weise mit den zwei Welten konfrontiert. Für das Schulgebäude als realarchitektonische Hülle bedeutet das, den Computer als „Zugang“ in die virtuelle, vernetze Welt zu integrieren. Neben dem Beruf des klassischen Architekten wird sich eine Art „Cyberarchitekt“ herausbilden, der wie sein Kollege auch Gebäude und Räume entwirft und realisiert, die jedoch nicht aus realen Materialien bestehen. Von Bernd Meuer wird in diesem Zusammenhang der Begriff des digitalen Bauens verwendet (vgl. Meurer 1994, S. 199-202). Durch die Integration der Informationstechnologien in den Bereichen virtuelle Realität, digitale Medien und künstliche Intelligenz ist eine Basistechnologie entstanden. In den Arbeits- und Lebensumgebungen besteht das Ziel in der gezielten Bearbeitung von großen Datenmengen, die über eine für die menschlichen Sinne physische Repräsentanz in der virtuellen Welt verfügen. Dazu werden die einzelnen Elemente mit einem für den Nutzer bekannten Verhalten und Aussehen ausgestattet und können somit leichter genutzt und interpretiert werden. Eine einfache Form dieser Anwendung ist auf dem Desktop eines Computers zu finden. Die dort vorhandenen Symbole ersetzen durch ihre graphische Repräsentanz die Eingabe von Befehlen und erleichtern die Form der Kommunikation zwischen dem Nutzer und dem Computer. In den Schulgebäuden sind neben den reinen Funktionsräumen, die dem klassischen Unterricht dienen, auch Räume für Computer in Form von Kabinetten und Serverräumen vorhanden. Die Erweiterung des Schulraumes vollzieht sich jedoch auf einer vom real-architektonischen Raum abgelösten Ebene. Das Klassenzimmer wird durch den Einsatz des Computers um den virtuellen Lern-, Freizeit- und Arbeitsbereich erweitert. Der Architekt Toyo Ito beschreibt diesen Zustand sehr treffend: „We of the modern age are provided with two types of bodies. The real body which is linked with the real world by means of fluids running inside, and the virtual body linked with the world by the flow of electrics.“ (Picon 2003, S. 110). Dabei muss beachtet werden, dass der Nutzer virtueller Räume in der realen Welt und der mit ihr verbundenen, gebauten Umwelt aufwächst. Der menschliche Körper dient ihm als Quelle seiner Erfahrung und durch ihn wird die Sicht der Welt konstituiert. Im Laufe der Entwicklungsgeschichte haben sich die Sinnesorgane soweit optimiert, dass sie eine Orientierung und Bewegung in der dreidimensionalen Welt erlauben.
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In seiner Entwicklung zum Erwachsenen stellen der architektonische Raum und die Bewegung in ihm eine der ersten Aufgaben dar, die der Mensch zu erlernen hat. Durch ihn werden Beziehungen und Hierarchien hergestellt und im Bewusstsein verankert, die sich auch in der virtuellen Welt wieder finden lassen. Auf dem Gesetz der Schwerkraft fußt das architektonische Denken, welches zwei Parameter impliziert. Einerseits gibt es nur eine zum Erdmittelpunkt gerichtete Erscheinungsform der Schwerkraft und diese führt andererseits dazu, dass Elemente und die damit verbundenen Gebäude aufrecht stehen müssen. Diese orthogonalen Strukturen haben für den Menschen die wichtige Funktion, eine Orientierung im Raum zu ermöglichen. Der vom Menschen als inhomogen erfahrene Lebensraum ist asymmetrisch und in ihm nimmt die Vertikale als dominierende Richtung unter allen möglichen dreidimensionalen Raumrichtungen eine Sonderstellung ein. Jede andere Raumlage wird entsprechend ihrer Beziehung zur Vertikale wahrgenommen. Im Gegensatz dazu ist kein menschlicher Sinn für das Empfinden von virtuellen Umgebungen und Telepräsenzen konditioniert worden. Eine Hauptaufgabe des architektonischen Gestaltens liegt in der Schaffung von Räumen für menschliche Aktivitäten. Dabei steht im ursprünglichen Sinn die Schutzfunktion vor klimatischen Einflüssen und Feinden im Vordergrund. Noch heute ist der Aspekt des Klimaschutzes eine der primären Aufgaben des architektonischen Raumes, wobei sich der Schutz vor Feinden zu einer Absicherung der Privatsphäre gewandelt hat, da sich der Mensch im 21. Jahrhundert nicht mehr gegen Angreifer in der freien Natur behaupten muss. In der Generation, die mit Videospielen, Handys und Computern aufwächst werden sich nach Antonie Picon (vgl. 2003, S. 110) physische und mentale Fähigkeiten entwickeln, die an eine andere Art von Räumen gewöhnt sind. Dieser Raum wird beispielsweise nicht durch einen traditionellen Grundriss wahrgenommen, sondern durch ein System von virtuellen Szenarien. Ein weiterer Grund liegt in der Tatsache begründet, dass der Computer nicht als eine isolierte Maschine gesehen werden kann. Er ist Teil einer digitalen Welt, die ein gesamtes Netzwerk umfasst und Millionen von Computern miteinander verbindet. Innerhalb dieses Netzwerkes sind der Mensch und damit auch die Schülerin und der Schüler eingebunden. Ein Vorteil der digitalen Welt ist in der Tatsache begründet, dass diese nicht zwingend realen Plätzen ähneln muss, da die Randbedingungen, wie Materialität und Schwerkraft, obsolet sind, welche in entscheidender Weise den Erscheinungscharakter der gebauten Umwelt bestimmen. Die Kinder und Jugendlichen wachsen im Gegensatz zu den heutigen Erwachsenen in beiden Räumen, dem realen und virtuellen, auf und haben somit die Möglichkeit, hier schon von der Kindheit an ein Beziehungsgeflecht zu entwickeln. „Vielleicht werden sich aber auch einige Fragen, die wir hier erörtert 352
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und verhandelt haben, in Zukunft gar nicht mehr stellen, weil die nachwachsende Generation sie längst abgehakt und eigene Fakten geschaffen hat – und sei es im virtuellen Raum. Von den realen Chancen und Perspektiven in virtuellen Welten braucht man einer Generation, die im Internet ebenso wie außerhalb aufwächst, nichts mehr zu erzählen“ (Friebe 2008, S. 267). Der Computer erweitert den Klassenraum über das Schulgebäude nicht nur durch den virtuellen Raum des Bildschirms, sondern auch über seine mobile Einsatzmöglichkeit, beispielsweise als Notebook oder internetfähiges Handy. In Amerika ist man sogar in einigen Schulen dazu übergegangen, Schulbücher durch Laptops zu ersetzen (vgl. Stoll 2001, S. 50). Zur Rechtfertigung dieses Schrittes werden die Argumente der Mobilität und der Aktualität angeführt. Einerseits ist durch den mobilen Einsatz das Lernen an jedem Ort und zu jeder Zeit möglich. Auf der anderen Seite können die Inhalte jederzeit aktualisiert werden. Im Gegensatz dazu veralten die Inhalte in einem traditionellen Buch im Laufe der Zeit. Natürlich muss an dieser Stelle kritisch hinterfragt werden, ob das Unterrichtswissen eines Schülers sich so rasant verändert, dass es nur noch in digitaler Form vorliegen kann? Grundlegende Wissenselemente in den Schulfächern unterliegen keinem schnellen Wandel und werden auch in den gedruckten Schulbüchern nicht ständig aktualisiert. Als ein weiteres Argument ist anzumerken, dass gerade auch das Internet eine Vielzahl von Webseiten enthält, die fehlerhaft oder veraltet sind, da sie nicht ständig aktualisiert werden. Hier wird wieder das Problem der Informationsflut deutlich, der sich die Schülerinnen und Schüler ausgesetzt sehen. Sie müssen lernen, die wichtigen von den unwichtigen und die richtigen von den falschen Informationen zu unterscheiden. Hinzu kommen der technische Fortschritt und die damit verbundene Halbwertzeit der eingesetzten Hardware. Die Entwicklung von neuen Prozessoren und Mikrochips bringt Computer mit einer immer größeren Speicherkapazität und Rechenleistung hervor. Neue Lern- und Spielprogramme erfordern einen Computer mit einer immer schnelleren Rechenleistung und einer immer größeren Grafikkarte. Durch die Computertechnik und den mit ihr verbundenen virtuellen Raum wird der in erster Linie statisch vorhandene Schulraum aufgebrochen und erweitert. Der Zugewinn an Dynamik und Flexibilität offeriert den Schülerinnen und Schülern einen erweiterten Freiheitsgrad in Bezug auf die Art der Kommunikation und die Form der Wissensaneignung. Jedoch dominiert der optische Aspekt in der virtuellen Welt und kann die Jugendlichen dazu verleiten, den Blick für wesentliche Inhalte zu verlieren. Ein wesentlicher Kritikpunkt betrifft die Informationsdichte, die innerhalb eines Knopfdrucks zur Verfügung steht. Mussten sich vor dem Einzug des Computers in die Klassenräume die Informationen noch durch Recherche in den Bi353
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bliotheken angeeignet werden, so stehen den Schülerinnen und Schülern heute fast sämtliche Buchbestände der Welt per Mausklick zur Verfügung. Auf der anderen Seite sehen sie sich hier mit einer Informationsflut konfrontiert, die meist nicht gefiltert werden kann. Informationen werden unreflektiert übernommen. Dabei können die Fähigkeiten zum kritischen Denken und zur Kommunikation nicht durch Aufenthalte in der virtuellen Welt kompensiert werden. „Keine Multimedia-Maschine hilft dem Schüler, analytisches Denken zu entwickeln. Kein Mikroprozessor kann beim Formen einer Plastik das kreative Zusammenwirken der Hand des Schülers mit dem Ton und den Kenntnissen des Kunstlehrers übertreffen. Kein Online-Programm für Astronomie kann dasselbe Staunen erzeugen wie der Saturnring, wenn man ihn zum ersten Mal im Fernrohr sieht“ (vgl. Stoll 2001, S. 48). An dieser Stelle sind sowohl die Pädagogen als auch die Gestalter virtueller Welten gefragt. Es muss die Fähigkeit geschult und entwickelt werden, Informationen aufzunehmen, auszuwerten und diese schließlich zu selektieren. Den Cyberarchitekten kommt dabei die Aufgabe zu, die virtuellen Räume so zu gestalten, dass sie eine sinnvolle Orientierung und Informationsaufnahme ermöglichen. Hier kommt ein weitere Aspekt zum tragen. Nicht nur, dass die Orte der Wissensvermittlung mit einer Überzahl an Informationen aufwarten. Neben den Cyberarchitekten, deren primäres Gestaltungsziel auf die Navigation und die Kommunikation gerichtet ist, betätigen sich weitere „vermeintliche Gestalter“, deren Intention in erster Linie dem Konsumverhalten geschuldet ist. So hat beispielsweise die Werbeindustrie das Potential der virtuellen Räume erkannt und nutzt es, um direkt in die Wohn- und Klassenzimmer der Jugendlichen vorzudringen. Wer kennt als Nutzer nicht die aufblinkenden elektronischen Fenster, die einem in der virtuellen Welt begegnen und auf dem Weg von der Bibliothek zum nächsten Online-Elektronikmarkt (ab-)lenken? Durch die Möglichkeiten der Telepräsenz in virtuellen Räumen wird den Schülerinnen und Schülern die Möglichkeit gegeben, ihre örtliche und räumliche Trennung in dem Sinne zu überwinden, dass ihre physische Existenz auf eine andere Ebene, den virtuellen Raum verlagert wird. Basierend auf dieser technischen Entwicklung ist das System des Fernunterrichts und des so genannten e-learnings aufgebaut. Der Vorteil dieser Technologie besteht darin, dass kein Klassenraum für den Unterricht aufgesucht wird und dass er Personen aus unterschiedlichen Orten zusammenführt. Dabei wird die Kommunikation über eine rein textliche Ebene oder mit Hilfe eines virtuellen Repräsentanten (Avatars) realisiert. Die so entstehenden virtuellen Klassenzimmer unterscheiden sich in erster Linie von ihrem realen Pendant in Bezug auf den Ort und die Art der Kommunikation. Schon zu Beginn der Architektur wurde über die äußere Form eine spezifische Auffassung gegenüber der Umwelt ausgedrückt. Mit ihr 354
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ist untrennbar die Identität eines Ortes verbunden. Für den Menschen, der in der gebauten Umwelt aufwächst, bedeutet Architektur räumliche Information, die auf dem Prinzip von Analogien beruht. Ein Gebäudetyp, wie es beispielsweise ein Krankenhaus oder eine Schule darstellt, ist für ihn aufgrund seiner Erfahrung und seiner Konditionierung als solches zu erkennen. Dagegen beschränkt sich der virtuelle Raum auf den Innenraum, da er durch seine Immaterialität und Flexibilität zu jeder Zeit verfügbar ist und keinen spezifischen Ort benötigt. Die Begriffe Nähe und Erreichbarkeit werden obsolet und erschweren dem Nutzer die Orientierung in der virtuellen Welt. Es ist nicht mehr von Bedeutung, dass sich die verschiedenen Kommunikationspartner in der virtuellen Architektur an einem gemeinsamen Ort befinden, sie müssen sich lediglich zur gleichen Zeit im virtuellen Raum aufhalten. Was die Art der Kommunikation betrifft, so findet in den elektronischen Räumen kein direkter Informationsaustausch statt. Im Zusammenhang mit der Nutzung des Computers und seinem Netzwerk wird häufig der Bergriff der „community“ gebraucht. Inwieweit es sich hierbei um eine wirkliche Gemeinschaft handelt muss differenziert betrachtet werden. Natürlich kann der Zusammenschluss von verschiedenen Personen in einem Raum, auch wenn es sich hierbei um einen virtuellen Kommunikationsraum handelt, als eine Gemeinschaft angesehen werden. Vergleicht man diesen Raum mit dem realen Klassenzimmer, finden bestimmte Formen der Kommunikation und des Austausches nicht statt. Die Technisierung der Welt und damit auch der Schulgebäude und Klassenzimmer lassen sich nicht aufhalten. Virtuelle Räume und virtuelle Architekturen sind weder aus dem Alltag der Schülerinnen und Schüler noch aus dem der Erwachsenen wegzudenken. Sie bieten für unterschiedliche Lebensbereiche ein sehr großes Potential. Bei der Gestaltung der virtuellen (Klassen-) Räume bleibt der Nutzer, in diesem Fall die Schülerinnen und Schüler, das Maß der Dinge. Es muss eine sinnvolle Synthese zwischen den Möglichkeiten des virtuellen Raumes und der Konditionierungsgrenze des Menschen hergestellt werden, um die Qualitäten dieser elektronischen Umgebung soweit ausnutzen zu können, wie es die Benutzbarkeit des Raumes und die Orientierungsfähigkeit des Nutzers zulassen. Es ist die Aufgabe von Architekten, Programmieren, Webdesignern und Pädagogen, diese Räume so zu gestalten, dass sie eine sinnvolle Ergänzung des Lebensbereiches der Schülerinnen und Schüler darstellen.
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Literatur Anders, P. (1999): Invisioning Cyberspace. New York Aukstalkins, St./Blatner, D. (1994): Cyberspace – Die Entdeckung künstlicher Welten. Köln Apflauer, R. (2000) (Hg.): Schule online – Das Handbuch zum Bildungsmedium Internet. Wien Bertol, D. (1997): Designing digital spaces – An architect's guide to virtual reality. New York Engeli, M. (2001): Bits and spaces – Architecture and Computing for Physical, Virtual, Hybrid Realms 33 Projects by Architecture and CAAD. Basel Fassler, M./Halbach, W.R. (1994) (Hg.): Cyberspace – Gemeinschaften, Virtuelle Kolonien, Öffentlichkeiten. München Flusser, E./Bollmann, St. (2000) (Hg.): Kommunikologie – Vilèm Flusser. Frankfurt a.M. Friebe, H./Lobo, S. (2008): Wir nennen es Arbeit – Die digitale Bohème oder: intelligentes Leben jenseits der Festanstellung. München Goldamann, G. (1991): Reality and Virtual Reality. New Jersey Hentig, H. von (2002): Der technischen Zivilisation gewachsen bleiben. Weinheim Jakob, P. (2007): Die Bedeutung von klassischen Elementen in virtueller Architektur – Eine Untersuchung am Beispiel der Wand. Saarbrücken Krützer, B./Probst, H./Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) (Hg.) (2006): IT-Ausstattung der allgemein bildenden und berufsbildenden Schulen in Deutschland, Bestandsaufnahme 2006 und Entwicklung 2001 bis 2006. http:// www.bmbf/pup/it-ausstattung_der_sculne_2006.pdf Meurer, B. (1994) (Hg.): Die Zukunft des Raumes. Frankfurt a.M. Möller, E. (2006): Die heimliche Medienrevolution. Hannover Picon, A. (2003): Architecture and the Virtual. In: Thesis. Wissenschaftliche Zeitschrift der Bauhaus-Universität Weimar. Weimar Plieninger, M. (2004) (Hg.): Mit neuen Medien lernen und lehren. Braunschweig Redi, I./Redi, A. (2006): Ortlos – Architecture of the networks. New York Rötzer, F. (1999): Megamaschine Wissen. Frankfurt a.M. Schenk, M. (2008) (Hg.): Nutzung und Akzeptanz von Internet und E-Commerce. Hohenheim Schmitt, G. (2000): Information architecture, basis and future of CAAD. Basel Stoll, C. (2001): Warum Computer nichts im Klassenzimmer zu suchen haben und andere High-Tech-Ketzereien. Frankfurt a.M. Thomsen, C. (1994): Architekturphantasien – von Babylon bis zur virtuellen Architektur. München Weibel, P./Flachbart, G. (2005) (Hg.) : Disappearing architecture – from real to virtual to quantum. Basel Wooley, B. (1993): Virtual Worlds. London
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Verzeichnis der Autorinnen und Autoren Ahrens, Daniela, geb. 1965, Dr. phil.; Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut Technik und Bildung der Universität Bremen; Schwerpunkte: Globalisierungsforschung, Medien- und Wissenssoziologie, Organisations- und Bildungssoziologie; E-Mail:
[email protected] Aßmann, Sandra, geb. 1981, Dipl.-Päd.; Wissenschaftliche Mitarbeiterin in der Arbeitsgruppe für Allgemeine Didaktik und Schulpädagogik unter Berücksichtigung der Medienpädagogik am Institut für Erziehungswissenschaft der Universität Paderborn; Schwerpunkte: Lernen in formalen und informellen Kontexten, medienerzieherische und mediendidaktische Fragestellungen; E-Mail:
[email protected] Baier, Bernd, geb. 1943, Prof. Dr.-Ing.; ehem. Professor an der Fakultät für Ingenieurwissenschaften, Abteilung Bauwissenschaften der Universität Duisburg-Essen, Freier Architekt AKNW und Ingenieur-Consultant; Schwerpunkte: Konstruktive Gestaltung und Leichtbau, Forschung zu Membrankonstruktionen und Bau-Bionik, energie- und umweltschonende Bauweisen; E-Mail:
[email protected] Bilstein, Johannes, geb. 1949, Prof. Dr. phil.; Professor für Pädagogik an der Kunstakademie Düsseldorf; Schwerpunkte: Bildungstheorien, ästhetische Bildung, pädagogische Anthropologie; E-Mail:
[email protected] Blume, Thorsten, geb. 1964; Wissenschaftlicher Mitarbeiter der Stiftung Bauhaus Dessau; Schwerpunkte: Architektur und Theater, die Bauhausbühne als ein Laboratorium für performative Raumforschung; E-Mail:
[email protected] Böhme, Jeanette, geb. 1969, Prof. Dr. phil.; Professorin für Erziehungswissenschaft mit dem Schwerpunkt Schulpädagogik am Institut für Pädagogik der Universität Duisburg-Essen; Schwerpunkte: Empirische Fundierung einer medienkulturellen Schultheorie, Raumzeitliche Relationen von Schulkulturen, Medienbildung Jugendlicher und Schulentfremdung, Methoden und Methodologie rekonstruktiver Ansätze der Sozial- und Kunstwissenschaft; E-Mail:
[email protected] 357
Verzeichnis der Autorinnen und Autoren
Bodack, Karl-Dieter, geb. 1938, Prof. Dipl.-Ing.; Verkehrswissenschaftler, Designer und Professor für Design an der Fachhochschule Coburg, Lehre im Rahmen des Internationalen Forums „Mensch und Architektur“; Schwerpunkte: Organisches Gestalten; E-Mail:
[email protected] Buddensiek, Wilfried, geb. 1948, Dr. phil. habil; Privatdozent im Lernbereich Gesellschaftswissenschaften/Didaktik des Sachunterrichtes an der Fakultät für Kulturwissenschaften der Universität Paderborn; Schwerpunkte: gesundheitsfördernde Schulentwicklung, neue Lernkultur, teamorientierte Lernverfahren und Schulorganisation, kommunikationsförderde Lernraumgestaltung, Bildung für eine nachhaltige Entwicklung; E-Mail:
[email protected] Göhlich, Michael, geb. 1954, Prof. Dr. phil; Inhaber des Lehrstuhls für Pädagogik I am Institut für Pädagogik der Universität Erlangen-Nürnberg; Schwerpunkte: Allgemeine und historische Pädagogik, Organisationspädagogik, Interkulturelle Pädagogik; E-Mail:
[email protected] Herrmann, Ina, geb. 1981; Wissenschaftliche Mitarbeiterin im DFG-Projekt „Schulraum und Schulkultur.“ (Leitung: Jeanette Böhme) am Institut für Pädagogik der Universität Duisburg-Essen; Schwerpunkte: Macht und Pädagogik, Schulraum und Schulkultur; E-Mail:
[email protected] Herzig, Bardo, geb. 1964, Prof. Dr. phil.; Professor für Allgemeine Didaktik und Schulpädagogik unter Berücksichtigung der Medienpädagogik am Institut für Erziehungswissenschaft der Universität Paderborn; Schwerpunkte: Allgemeine Didaktik, Medienbildung, Mediendidaktik, empirische Unterrichtsforschung; E-Mail:
[email protected] Jakob, Patrick, geb. 1971, Dr.-Ing, Architekt; Leiter der Bauhaus Akademie Schloss Ettersburg gGmbH; Schwerpunkte: Virtuelle Architekturen, Virtuelle Realität, Gestaltkriterien für virtuelle Umgebungen; E-Mail:
[email protected] 358
Verzeichnis der Autorinnen und Autoren
Kajetzke, Laura, geb. 1979, Dipl. Soz.; Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Arbeitsbereich Soziologische Theorie und Philosophie der Sozialwissenschaften der Universität Kassel; Schwerpunkte: Soziologische Theorien, Wissenssoziologie, Wissenschaftssoziologie, Raumsoziologie; E-Mail:
[email protected] Kellermann; Ingrid, Dr. phil.; Wissenschaftliche Mitarbeiterin im Cluster of Exzellenz „Languages of Emotion“ der Freien Universität Berlin; Schwerpunkte: Ethnographische Schulforschung, Pädagogische Anthropologie, Emotionsforschung; E-Mail:
[email protected] Kolbe, Fritz-Ulrich, geb. 1955, Prof. Dr. phil.; Professor für Erziehungswissenschaft unter besonderer Berücksichtigung der Schulpädagogik am Institut für Erziehungswissenschaft der Johannes Gutenberg Universität Mainz; Schwerpunkte: Schul(entwicklungs-)forschung, schulbezogene Professionalisierungstheorie, Lehrerbildungs- und Professionsforschung; E-Mail:
[email protected] Kühn, Christian, geb. 1962, a.o. Prof. Dr. sc. tech.; Professor für Gebäudelehre am Institut für Technik und Entwerfen der Technischen Universität Wien; Schwerpunkte: Gebäudelehre und Planungsmethodik, Bildungsbau, CAAD (Computer Aided Architectural Design), Architekturdidaktik; E-Mail:
[email protected] Oelkers, Jürgen, geb. 1947, Prof. Dr. phil.; Professor für Allgemeine Pädagogik am Pädagogischen Institut der Universität Zürich; Schwerpunkte: Geschichte reformpädagogischer Bewegungen im 19. und 20. Jahrhundert, Entwicklung und Steuerung der Bildungssysteme, Demokratie und Erziehung, Bildungspolitik und internationaler Vergleich; E-Mail:
[email protected] Overwien, Bernd, geb. 1953, Prof. Dr. phil.; Professor für Didaktik der politischen Bildung am Fachbereich Gesellschaftswissenschaften der Universität Kassel; Schwerpunkte: Globales Lernen, Internationalisierung, Informelles Lernen; E-Mail:
[email protected] 359
Verzeichnis der Autorinnen und Autoren
Reh, Sabine, geb. 1958, Prof. Dr. phil.; Professorin für Allgemeine und Historische Erziehungswissenschaft am Institut für Erziehungswissenschaft der Technischen Universität Berlin; Schwerpunkte: Pädagogische Organisationen und Professionen, (Sozial)Geschichte pädagogischer Institutionen und Berufe, Grundlagentheorie und Methodologie rekonstruktiver Sozial- und Bildungsforschung; E-Mail:
[email protected] Reutlinger, Christian, Prof. Dr. phil.; Professor am Institut für Soziale Arbeit der Fachhochschule für Angewandte Wissenschaft St.Gallen; Schwerpunkte: Interund Transnationale Soziale Arbeit, Social development und Agency, Sozialer Raum, Sozialraumorientierung in der Kinder- und Jugendhilfe, Sozialgeographie der Kindheit und des Jugendalters, Netzwerke und Raum; E-Mail:
[email protected] Rieger-Ladich, Markus, geb. 1967, Dr. phil; vertritt derzeit die Professur für Allgemeine Erziehungswissenschaft an der Pädagogischen Hochschule Freiburg; Schwerpunkte: Reflexive Erziehungswissenschaft, Bildungs- und Erziehungsphilosophie, Symbolische Gewaltverhältnisse, erziehungswissenschaftliche Geschlechterforschung, Literarische Ethnographie; E-Mail:
[email protected] Ricken, Norbert, geb. 1963, Prof. Dr. phil.; Professor für Systematisch-historische und vergleichende Erziehungswissenschaft am Fachbereich Erziehungsund Bildungswissenschaften der Universität Bremen; Schwerpunkte: Theorie und Geschichte von Erziehung und Bildung, Subjektivationsforschung, Erziehungsphilosophie und pädagogische Anthropologie, Pädagogische Habitus- und Ethosforschung; E-Mail:
[email protected] Rittelmeyer, Christian, geb. 1940, Prof. Dr. phil.; bis 2003 Professor für Erziehungswissenschaft am Pädagogischen Seminar der Universität Göttingen; Schwerpunkte: Pädagogische Anthropologie, Methodologie der Erziehungswissenschaft, Pädagogische Psychologie, Bildungstheorie und -geschichte; E-Mail:
[email protected] 360
Verzeichnis der Autorinnen und Autoren
Schäfer, Gerd E., geb. 1942, Prof. Dr. rer. soc., Dr. phil. habil; Professor i. R. für Pädagogik der frühen Kindheit, Familie, Jugend am Institut für Bildungsphilosophie, Anthropologie und Pädagogik der Lebensspanne der Universität zu Köln; Schwerpunkte: Frühkindliche Bildungsforschung, Spiel, Fortbildung, Qualitätsentwicklung; E-Mail:
[email protected] Schäfer, Lena, geb. 1982, Dipl. Päd.; Regionalleitung beim BDP – Institut für berufliche Bildung – Lohwasser KG; Schwerpunkte: Elementar- und Familienpädagogik, Erwachsenenbildung insbesondere im Bereich Familien- und berufliche Bildung; E-Mail:
[email protected] Schroer, Markus, geb. 1964, Prof. Dr. phil.; Professor für Soziologische Theorie und Philosophie der Sozialwissenschaften am Fachbereich Gesellschaftswissenschaften der Universität Kassel; Schwerpunkte: Soziologische Theorie, Kulturund Wissens, Stadt- und Raumsoziologie, Politische Soziologie; E-Mail:
[email protected] Spiegler, Thomas, geb. 1972, Dr. phil.; Dozent am Fachbereich Christliches Sozialwesen der Theol. Hochschule Friedensau; Schwerpunkte: Bildungssoziologie und Methoden empirischer Sozialforschung; E-Mail:
[email protected] Wulf, Christoph, geb. 1944, Prof. Dr. phil; Professor für Allgemeine und Vergleichende Erziehungswissenschaft; Schwerpunkte: Pädagogische Anthropologie, Historische Anthropologie, Emotionsforschung, Performativitäts- und Ritualforschung, Mimesis- und Imaginationsforschung, ästhetische und interkulturelle Erziehung; E-Mail:
[email protected] 361