Über dieses Buch
Schizophrene Kranke sind zu erstaunlichen schöpferischen Leistungen fähig. Selbst Menschen, die vor i...
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Über dieses Buch
Schizophrene Kranke sind zu erstaunlichen schöpferischen Leistungen fähig. Selbst Menschen, die vor ihrer geistigen Erkrankung niemals künstlerisch tätig gewesen sind und keinerlei Ausbildung genossen haben, produzieren Zeichnungen und Malereien von frappierender Originalität. – Der Psychiater Dr. Leo Navratil untersucht in diesem Buch die Zusammenhänge zwischen schizophrener Bildnerei und Kunst. Er hat seit Jahren Gelegenheit, zeichnende Schizophrene zu beobachten. Die schöpferische Leistung dieser Kranken ist für ihn »ein Krankheitssymptom, … ein Restitutionsversuch innerhalb des Krankheitsgeschehens«. Er bestreitet, daß sich das schizophrene Werk durch Abstrusität und Unverständlichkeit von den Arbeiten gesunder Künstler unterscheidet. Nach Navratils Ansicht ist »die psychische Dynamik des Schöpferischen bei Gesunden und Kranken gleich«. Nur durch Ausbildung, Übung, Talent ist der Gesunde meist im Vorteil. Navratil weist nach, daß die Werke der Schizophrenen dem manieristischen Stil der Kunst bis in die Einzelheiten entsprechen. Mit zahlreichen Abbildungen gibt er Einblick in diese Gestaltungen, die »der spontane künstlerische Ausdruck aus dem Unbewußten stammender ewiger menschlicher Werte« (A. Bader) sind.
Leo Navratil: Schizophrenie und Kunst Ein Beitrag zur Psychologie des Gestaltens
Deutscher Taschenbuch Verlag
Von Leo Navratil ist im Deutschen Taschenbuch Verlag erschienen: Schizophrenie und Sprache. Zur Psychologie der Dichtung (355)
Originalausgabe . Auflage März 965 4. Auflage März 972: 4. bis 47. Tausend © 1965 Deutscher Taschenbuch Verlag GmbH & Co. KG, München Umschlaggestaltung: Celestino Piatti Für die Umschlaggraphik wurden vier Darstellungen von schizophrenen Kranken verwendet, auf die in diesem Buch Bezug genommen wird Gesamtherstellung: C. H. Beck’sche Buchdruckerei, Nördlingen Printed in Germany – ISBN 3-423-00287-5
Inhalt
Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 Einleitung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Ausgangspunkte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Die schizophrene Geistesstörung . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Der künstlerische Manierismus . . . . . . . . . . . . . . . . .
13 17 17 24
II. Der schizophrene Stil . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 31 1. Schizophrene Gestalter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 31 Franz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 31 Wilhelm . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 52 Alexander . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 58 Paul . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 66 Hans. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 70 2. Stilelemente schizophrenen Gestaltens . . . . . . . . . . . . . 74 Grenze und Kontur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 74 Das gemischte Profil . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 82 Die Geometrisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 95 Die Deformation. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 112 Rand, Bildraum und formale Fülle. . . . . . . . . . . . . . 122 Die Bewegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 127 Die Transparenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 132 Der Symbolismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 133 Das Änigmatische . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 138 Die Zahl. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 139 Spirale und Labyrinth . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 141 Das Auge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 146 Anatomie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 150 Die Maske . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 151 3. Klassik und Manierismus. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 153
III. Zur Psychologie der Kunst . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Der Gestaltungsvorgang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Das Kunstwerk . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Form und Ausdruck . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Mythische Bedeutung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Originalität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gegenständlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Der Künstler . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Begabung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Auseinandersetzung mit der Kunst . . . . . . . . . . Die Gestaltungskraft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
157 157 165 165 167 171 176 181 181 185 189
Rückblick und Schluß . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 196 Erläuterungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 201 Literaturhinweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 211
Vorwort
Es ist mir eine große Ehre und Freude, erwähnen zu dürfen, daß mich Herr Professor Dr. Manfred Bleuler, Direktor der Psychiatrischen Universitätsklinik Zürich, durch wohlwollende Kritik und spontane Zustimmung zur Veröffentlichung dieser Untersuchung ermutigt hat. In gleicher Weise haben mich die Herren Professoren Dr. Helmut Selbach, Direktor der Psychiatrischen und Neurologischen Klinik der Freien Universität Berlin, Dr. Christian Müller, Direktor der Psychiatrischen Klinik der Universität Lausanne, und Dr. Helmut Rennert, Direktor der Universitäts-Nervenklinik Halle/Saale, sowie Herr Dozent Dr. Hans Strotzka, Leiter des Psychotherapeutischen Lehr-Instituts an der Psychiatrischen und Neurologischen Klinik der Universität Wien, durch ihre herzliche Anteilnahme unterstützt und gefördert. Immer wieder neue Anregungen verdanke ich meiner langjährigen Brieffreundschaft und einem lebhaften Gedankenaustausch mit Herrn Dr. Alfred Bader, Leiter des »Centre d’études de l’expression plastique« an der Psychiatrischen Klinik der Universität Lausanne. Die Zeichnungen schizophrener Kranker, welche hier wiedergegeben sind, habe ich wie alles andere Erfahrungsgut bei meiner Tätigkeit im Niederösterreichischen Landeskrankenhaus für Psychiatrie und 9
Neurologie Klosterneuburg gesammelt. Dem Direktor dieser Krankenanstalt, Herrn Hofrat Dr. Koloman Nagy, der mir bei meinen Bemühungen stets hilfreich zur Seite gestanden ist, gebührt mein besonderer Dank. Dank sagen will ich aber auch dem Deutschen Taschenbuch Verlag für den Mut, ein gleichermaßen faszinierendes wie mit Komplexen und Vorurteilen beladenes Thema aufzugreifen. Vom lange zurückliegenden Beginn meiner Studien bis heute haben mir durch ihre Mitarbeit, stimulierende Kritik und Diskussion meine Kollegen viel geholfen – nicht zuletzt meine Frau. Ihr widme ich dieses Buch. Leo Navratil Klosterneuburg, Weihnachten 964
»Aus der Narrheit der Menschen in Bedlam müßte sich mehr schließen lassen, was der Mensch ist, als man es bisher getan hat.« G. Chr. Lichtenberg
»Ich meine, daß jede richtige Beobachtung über irgendein einzelnes Kunstwerk zum Verständnis der gesamten Augenkunst, ja aller Kunstübung beizutragen vermag.« M. J. Friedländer
Einleitung
Die Zeichnungen und Bildwerke schizophrener Kranker haben oft etwas überraschend Originelles, ja mitunter sogar Künstlerisches an sich. Können aber – so fragt man – Erzeugnisse von Menschen, die vor dem Ausbruch ihrer geistigen Erkrankung niemals künstlerisch tätig waren und keinerlei künstlerische Ausbildung genossen haben, Kunstwerke sein? Die Ansichten darüber sind geteilt. Die einen sprechen von einer Inkompatibilität der Begriffe »schizophren« und »Kunst«; sie glauben, daß die schizophrene Bildnerei keine bestimmte Stilweise erkennen läßt und daß es eine schizophrene Kunst nicht gibt.1 Andere dagegen meinen, daß manche Bildnereien Geisteskranker »eine derartige emotionelle Intensität gepaart mit einer solchen Konzeption der Form aufweisen, daß sich der Begriff Kunstwerk aufdrängt«.2 Malraux3 schreibt, die Kunst der Geisteskranken sei die ausdrucksvollste von allen nicht traditionsgebundenen Künsten. Häufig wird auch die Frage gestellt, ob durch die Geisteskrankheit früher nicht vorhandene künstlerische L. Binswanger, Drei Formen mißglückten Daseins. Verstiegenheit, Verschrobenheit, Manieriertheit. Tübingen 956. 2 A. Bader, Über moderne Kunst und schizophrene Bildnerei. Vortrag, Medizinische Gesellschaft in Basel, 9. Januar 958. 3 A. Malraux, Stimmen der Stille. Baden-Baden 956.
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Fähigkeiten entstehen können oder ob die Psychose künstlerisches Schaffen nur auslösen, einer nicht genützten Begabung zum Durchbruch verhelfen kann. Die Beantwortung dieser Frage fordert eine Unterscheidung von Talent und schöpferischer Kraft. Talent ist eine Gabe zur Nachahmung. Die schizophrene Psychose kann schöpferische Fähigkeiten vermitteln – unabhängig davon, ob durch die Geistesstörung ein Talent geweckt wird oder nicht. Die Originalität der Schizophrenen entspringt den seelischen Krankheitsvorgängen, genauer gesagt, den Restitutionsversuchen innerhalb des Krankheitsgeschehens.1 Der Psychiater ist immer wieder erstaunt über die Fülle schizophrener Stilelemente in moderner Malerei und Plastik. Liegt hier nur eine oberflächliche Ähnlichkeit oder eine innere Verwandtschaft vor? Hocke2 hat die moderne Kunst mit der antiklassischen und antinaturalistischen Geisteshaltung des Manierismus in Beziehung gesetzt. Er ist der Ansicht, daß manieristische Bestrebungen auf dem Gebiete der Kunst in verschiedenen Epochen immer wieder auftreten und wie jene der Klassik ihre Tradition besitzen. Das schizophrene Gestalten offenbart die in der Natur des Einzelmenschen schlummernden manieristischen Neigungen. Auf die Frage, ob Geisteskrankheit in der Kunst eine Vgl. E. Kris, Psychoanalytic Explorations in Art. London 953. 2 G. R. Hocke, Die Welt als Labyrinth. Manier und Manie in der europäischen Kunst. Hamburg 957.
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besondere Rolle spielt, gehen wir im folgenden nicht näher ein.1 Denn nicht die wenigen Genialen, welche die Menschheit hervorgebracht hat, und das Genieproblem sollen Gegenstand der vorliegenden Untersuchung sein, sondern die »petits maîtres de la folie«, wie Cocteau2 die bildnerisch tätigen Schizophrenen nennt. Wir möchten ergründen, wodurch das schizophrene Werk den Hauch des Künstlerischen erhält und worauf die Produktivität dieser Kranken beruht. Wenn es uns gelingt, ihr Gestalten als Ergebnis ihrer Krankheit besser zu verstehen, können wir vielleicht neue Einblicke in das Wesen des Kunstwerkes und des künstlerischen Schaffens gewinnen. Immer wieder haben sich Ärzte um das Verständnis des bildnerischen Gestaltens ihrer Kranken bemüht, und oft sind sie dabei zu allgemeinen kunsttheoretischen Problemen vorgestoßen. Es sei hier Prinzhorn3 genannt, durch dessen klassisches Werk auch die Bildnerei der Geisteskranken in das »imaginäre Museum«4 eingegangen ist; oder die ungefähr zur gleichen Zeit erschienene inhaltsreiche Studie von Morgenthaler.5 Dem französischen Psychiater Volmat6 verdanken Dazu vgl. W. Lange-Eichbaum, Genie, Irrsinn und Ruhm. Hrsg. v. W. Kurth. 4. Aufl., München/Basel 956. 2 J. Cocteau, G. Schmidt, H. Steck u. A. Bader, Insania pingens. Basel 96 (Wunderwelt des Wahns. Köln 96). 3 H. Prinzhorn, Bildnerei der Geisteskranken. Berlin 922. 4 A. Malraux, a. a. O. 5 W. Morgenthaler, Ein Geisteskranker als Künstler. Bern 92. 6 R. Volmat, L’art psychopathologique. Paris 956 (hier die umfassendste Bibliographie).
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wir ein grundlegendes modernes Werk über psychopathologische Kunst. Eine vollständige und systematische Darstellung der Merkmale schizophrenen Gestaltens hat Rennert1 in seinem jüngst erschienenen Buch zu geben versucht. Und Bader2 gewährt uns an einem großartigen Material schizophrener Zeichnungen und Malereien Einblicke in die Geisteswelt der schizophrenen Kranken. Wenn auch wir im folgenden auf Fragen wie jenen nach der Beziehung zwischen schizophrenem Stil und moderner Malerei, der Dynamik des Gestaltungsvorganges, den Kriterien des Kunstwerkes oder der Eigenart der künstlerischen Persönlichkeit eine Antwort suchen, dann lassen wir uns dabei von der Überzeugung leiten, daß »immer noch einer der wichtigsten Wege zur Erkenntnis der menschlichen Seele über die Psychopathologie führt«.3
H. Rennert, Die Merkmale schizophrener Bildnerei. Jena 962. 2 J. Cocteau u. a., a. a. O. 3 E. Bleuler, Naturgeschichte der Seele und ihres Bewußtwerdens. Berlin 92.
I. Ausgangspunkte
. Die schizophrene Geistesstörung Es gibt heute kaum einen Psychiater, der nicht seine eigenen Ansichten über Ursache und Wesen der schizophrenen Geistesstörung hätte. Dabei stehen die »Somatiker« den »Psychikern« gegenüber. Jene, mehr konservativ, sind der Überzeugung, daß der Psychose ein körperlicher Krankheitsvorgang zugrunde liege. Sie setzen ihre Hoffnung auf die zukünftigen Ergebnisse der Pathophysiologie, Biochemie und Psychopharmakologie. Der ererbten Anlage schreiben sie als Ursache der Erkrankung wesentliche Bedeutung zu. Die mehr revolutionär eingestellten Anhänger der psychogenetischen Theorie der Schizophrenie richten dagegen ihr Augenmerk auf das Lebensschicksal des einzelnen Kranken und versuchen, die Entstehung der psychotischen Erscheinungen durch eine besondere seelische Verarbeitung von Erlebnissen zu erklären. Die Annahme einer Erbanlage, einer konstitutionellen Schwäche oder eines somatischen Krankheitsgeschehens scheint ihnen nicht unbedingt erforderlich. Die Vertreter dieser Richtung sind meist psychoanalytisch orientiert. Daneben gibt es heute, besonders im deutschen Sprachgebiet, noch eine dritte Gruppe von Psychiatern, welche die Frage, ob Psycho- oder Somatogenese, dahingestellt sein läßt 17
und, ausgehend von der Philosophie Martin Heideggers, die Schizophrenie als eine Veränderung der Person und ihres Daseins betrachtet. An die Lehre Kraepelins über die »Dementia praecox« anknüpfend, diese aber umgestaltend und erweiternd, prägte E. Bleuler1 das Wort und den Begriff »Schizophrenie«. Er erblickte das Gemeinsame der so bezeichneten geistigen Störungen in einer eigenartigen Spaltung seelischer Funktionen, die oft dazu führt, daß der Eindruck einer Spaltung der Persönlichkeit entsteht. Als Ursache der Schizophrenie nahm er ein noch unbekanntes somatisches Krankheitsgeschehen an, ließ aber – schon im Jahre 9 – die Möglichkeit einer reinen Psychogenese offen. Er war davon überzeugt, daß Erlebnisse den Krankheitsverlauf beeinflussen können, und führte die einzelnen Symptome auf ein Zusammenwirken somatogener und psychogener seelischer Vorgänge zurück. Überblickt man die seit dieser Zeit verstrichenen fünfzig Jahre psychiatrischer Forschung, dann muß man feststellen, daß – trotz intensiver Bemühungen und großer therapeutischer Errungenschaften – auf dem Gebiet der Schizophrenielehre kein wesentlicher Fortschritt erzielt worden ist. Anatomische oder physiologische Veränderungen, die mit der Geistesstörung in ursächlichem Zusammenhang stehen, konnten bis
E. Bleuler, Dementia praecox oder Gruppe der Schizophrenien. Handbuch der Psychiatrie von Aschaffenburg. Leipzig/Wien 9.
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jetzt nicht nachgewiesen werden. Die Diagnose und Abgrenzung der Erkrankung erfolgt immer noch nach rein psychopathologischen Kriterien. Die Abschätzung des Einflusses psychisch reaktiver und psychodynamischer Vorgänge auf den Ablauf der Psychose ist dem subjektiven ärztlichen Ermessen überlassen. Man wird daher M. Bleuler1, dem Sohn und Nachfolger des großen Schweizer Psychiaters, zustimmen müssen, wenn er sich noch vor kurzem zu dem Ausspruch »Das Wesen der Schizophrenie bleibt eines der größten Rätsel unserer Zeit« gedrängt fühlte. Man war lange geneigt, die Schizophrenie für einen »Verblödungsprozeß« infolge einer organischen Erkrankung des Gehirns zu halten (»Dementia praecox«). Als man erkannte, daß die intellektuellen Funktionen beim Schizophrenen nicht verlorengehen, glaubte man, daß diesem Leiden eine »affektive Verödung« zugrunde liege, worunter man sich eine Art organisch bedingten Abbaues auf affektivem Gebiet vorstellte. Heute zweifelt man auch an dem »affektiven Defekt« dieser Kranken. So meint Bleuler2, daß das Denken der Schizophrenen stärker von Affekten beherrscht werde als jenes der Gesunden. Er nimmt an, daß durch die Erkrankung die Affekte nicht zerstört, sondern nur funktionell verändert oder an ihrem Auftreten gehindert werden, »etwa in der Weise, wie ein Kind, das plötzlich in eine fremde E. Bleuler, Lehrbuch der Psychiatrie. 9. Aufl., umgearbeitet von M. Bleuler. Berlin/Göttingen/ Heidelberg 955. 2 E. Bleuler, Lehrbuch der Psychiatrie.
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Umgebung versetzt wird, einen Stupor ohne Affekt haben kann«. Auf keinen Fall könne die Affektivität ganz zugrunde gegangen sein. Mette1 führte die Gestaltungskraft Schizophrener auf eine »ungewöhnlich hohe Gefühlsamplitude«, die er der erhöhten Emotionalität des Künstlers gleichsetzte, zurück. Der Wiener Psychiater Stransky2 vertrat die Auffassung, daß: der »Dementia praecox« eine mangelhafte Koordination seelischer Funktionssysteme, insbesondere jener von »Noo- und Thymopsyche« zugrunde liege, und nannte diese Störung »intrapsychische Ataxie«. Gruhle3 sprach von einer Störung der seelischen Steuerung.4 Man kann die im Verlaufe der schizophrenen Erkrankung auftretende »Affektsperre« auch als einen Schutzmechanismus betrachten. Viele Schizophrene sind von Natur aus besonders sensibel. Am Beginn paranoider Erkrankungen läßt sich diese Feinfühligkeit,
A. Mette, Über Beziehungen zwischen Spracheigentümlichkeiten Schizophrener und dichterischer Produktion. Dessau 928. 2 E. Stransky, Über die Dementia praecox. Streifzüge durch Klinik und Psychopathologie. Grenzfragen des Nerven- und Seelenlebens. Bd. X. Wiesbaden 909. Ders., Lehrbuch der allgemeinen und speziellen Psychiatrie. Leipzig 94/9. 3 H. W. Gruhle, Psychiatrie für Ärzte. Berlin 98. 4 Der amerikanische Psychiater Menninger definiert die bei der Schizophrenie zusammenbrechende Ichfunktion als ein »homöostatisches Regulativ«, dessen Aufgabe es sei, die Triebenergie im Hinblick auf das System ÜberIch und auf die Realität so zu steuern und zu bearbeiten, daß die Höhe eines bestimmten Spannungszustandes erhalten bleibt. (K. Menninger, Ichveränderungen unter schwerem Druck. Jahrbuch der Psychoanalyse. Bd. I, 960. Köln/Opladen 960).
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die mit einem intensiven physiognomischen Erleben einhergeht, nicht selten beobachten. Die Eindrücke, an die der Paranoiker seine Schlüsse knüpft, entsprechen nämlich oft durchaus wirklichen Gegebenheiten. Sie beziehen sich, worauf schon Freud1 hinwies, häufig auf jene Verhaltensweisen der Mitmenschen, in denen deren unbewußte Regungen als Fehlleistungen und Symbolhandlungen zum Ausdruck kommen. Beim Ausbruch einer schizophrenen Psychose werden die Ordnungsfunktionen des Ichs teilweise ausgeschaltet. In der akuten Psychose wird der Mensch von den Gefühlen, die die äußeren Ereignisse und die inneren Konstellationen in ihm auslösen, überwältigt. Die Anmutungswerte der Vorgänge in der Umgebung übertönen alle Kategorien der Vernunft und sprengen die mühevoll errichteten und in ihrer Festigkeit überschätzten Ordnungen. Der Schizophrene erlebt den totalen Zusammenbruch seines Ichs und damit der Welt. Die Angst, die dadurch entsteht, verstärkt das Ausgeliefertsein an die Eindrucks des Augenblicks und das Gefühl des Haltverlustes. In vielen Fällen von Schizophrenie geht diesem plötzlicher Auftreten der akuten Psychose eine lange Entwicklung, die durch einen tiefgreifenden Mangel an gefühlsmäßiger Verbundenheit mit den Mitmenschen und eine Überlastung der geistigen Ordnungsgefüge
Zitiert nach P. Schilder, Entwurf einer Psychiatrie auf psychoanalytischer Grundlage. Leipzig/Wien/Zürich 925.
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gekennzeichnet ist, voraus. In anderen Fällen kann man freilich eine solche Entwicklung nur vermuten. Sobald nun die übersteigerten Affekte abklingen und die Angst nachläßt, werden Verhaltensmuster wirksam, die restituierenden Charakter haben. Der Kranke klammert sich dann an alle Ordnungskategorien, welche ihm verfügbar werden, waren sie ja für seine präpsychotische Persönlichkeit schon von erhöhter Bedeutung. Bei der chronischen Schizophrenie und im schizophrenen Defektzustand kommt es zu einem dauernden Versagen einzelner Funktionen des Ichs. Zahlreiche Symptome Schizophrener lassen sich als Ergebnis einer ordnenden Tätigkeit älterer Regulationssysteme verstehen. Eines dieser Symptome ist auch ihre Kunst. Es handelt sich dabei um Vorgänge, die zur Stabilisierung der Persönlichkeit des Kranken beitragen und ihm dadurch ein gewisses Mindestmaß an Kontakt mit seiner Umwelt ermöglichen. Viele Schizophrene zeigen in Sprechweise und Gestik, gelegentlich aber auch auf anderen Gebieten des Verhaltens gewisse Eigentümlichkeiten, die man als Verschrobenheit und Manieriertheit bezeichnet. In manchen Fällen erhält der sprachliche Ausdruck etwas Geschraubtes, scheint eine Vorliebe für das Gesuchte, Gekünstelte und Unnatürliche zu bestehen. Manierismen können unter Gesunden »Mode« werden. Bei unseren Kranken sind Verschrobenheit und Manieriertheit jedoch niemals oberflächlich angenommene Gewohnheiten, sondern Symptome ihrer tiefgreifenden seelischen Erkrankung. 22
Manieriertheit darf nicht mit Affektiertheit verwechselt werden, wenn auch beide Verhaltensweisen gelegentlich nebeneinander vorkommen. Affektiertheit kennzeichnet die Hysterie, Manieriertheit die Schizophrenie. Affektiertheit nennt man die Vortäuschung eines nicht vorhandenen Gefühls, Manieriertheit dagegen die Hervorkehrung eines Benehmens, das die Erhabenheit über das Gewöhnliche, Gefühlsmäßige anzeigen soll. Der Affektierte hat immer die Tendenz, sein jeweiliges Gegenüber, den »Zuschauer«, zu beeindrucken. Der Manierierte nimmt dagegen auf die Empfindungen der anderen keine Rücksicht. Er braucht eigentlich keinen »Zuschauer«, denn er spielt den Überlegenen in erster Linie vor sich selbst. Während durch Affektiertheit ein Mangel an gefühlsmäßiger Verbundenheit im emotionalen Bereich ausgeglichen werden soll, beruhen die Manierismen auf einer Überbetonung formaler Kategorien des Verhaltens und dienen der Stärkung eines unsicheren Ichs. Die Analyse des schizophrenen Gestaltens führt zwangsläufig zum Problem der Schizophrenie. Es sei jedoch betont, daß wir im folgenden auf die Ursachen dieser Erkrankung nicht eingehen werden. Was uns hier interessiert, ist ausschließlich das psychopathologische Phänomen, das Schizophrene, jene »Welt sonderbaren seelischen Daseins, für die man im einzelnen zahlreiche schärfere Begriffe gefunden hat, ohne sie als Ganzes genügend charakterisieren zu können«1. K. Jaspers, Strindberg und van Gogh. Bern 922.
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2. Der künstlerische Manierismus2 Der Begriff des Manierismus ist einer der jüngsten unter den historischen Stilbegriffen. Er diente zunächst zur Bezeichnung gewisser Erscheinungen der italienischen, besonders der florentinischen Spätrenaissance. Pontormo, Bronzino, Parmigianino gehören zu den Schöpfern dieses Stils. Vasari hat im 6. Jahrhundert die vom klassischen Kanon abweichende Schaffensweise des späteren Michelangelo als »maniera« bezeichnet. Von den toskanischen Frühmanieristen meinte er, sie malten nach der Manier Michelangelos. Man war sich lange Zeit nicht darüber im klaren, ob diese Maler wirkliche Künstler oder nur Nachahmer seien. Der Forschung unseres Jahrhunderts blieb es vorbehalten, den Manierismus als echten künstlerischen Stil zu erkennen und in seiner geistesgeschichtlichen Bedeutung zu würdigen. Der Manierismus kommt durch der Klassik entgegenwirkende Tendenzen zustande. Sie sind im Spätwerk der großen Meister der Renaissance selbst, bei Raffael, bei Leonardo, vor allem aber bei Michelangelo schon deutlich spürbar, in der jüngeren Künstlergeneration gelangen sie aber vollends zum Durchbruch und zwingen die schöpferischen, stilbildenden Kräfte in ihren Bann. Der Manierismus blieb nicht auf Florenz und Italien beschränkt, sondern breitete sich über ganz Europa aus und verlieh dem gesamten kulturellen Leben 2 Vgl. G. R. Hocke, a. a. O.
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in der Zeit zwischen Renaissance und Barock sein Gepräge. Auf dem Gebiet der Malerei erreichte der Manierismus außerhalb Italiens im Werk El Grecos eine letzte Steigerung und höchste Vollendung. Die Anerkennung und das Verständnis des Manierismus als künstlerische Stilweise, die in der Auseinandersetzung mit der Klassik und im Kampf gegen sie entsteht, führte zu einer Ausweitung des ursprünglich für eine bestimmte kunsthistorische Periode geschaffenen Begriffs. Curtius1 empfahl die Bezeichnung Manierismus für alle Tendenzen, »die der Klassik entgegengesetzt sind, mögen sie vorklassisch oder nachklassisch oder mit irgendeiner Klassik gleichzeitig sein«. Der Manierismus sei die »Komplementär-Erscheinung zur Klassik aller Epochen«. Nach Hocke lassen sich innerhalb dieser antiklassischen »Konstante« in der europäischen Kunst fünf »manieristische Epochen« unterscheiden: Alexandrien (etwa 350–50 v. Chr.), die Zeit der »Silbernen Latinität« in Rom (etwa 4–38 n. Chr.), das frühe, vor allem aber das späte Mittelalter, die »bewußte« manieristische Epoche von 520 bis 650, die Romantik von 800 bis 830 und schließlich die »moderne« Kunst (etwa 880–950). Hocke schlägt vor, die dialektische Beziehung Klassik-Manierismus als Oberbegriff gelten zu lassen, den Begriff Manierismus im engeren Sinne aber, vor allem in der Kunstgeschichte, wie bisher auf die Zeit von der E. R. Curtius, Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter. Bern 953.
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Hochrenaissance bis zum Hochbarock anzuwenden. Diesem Autor ging es darum, die »Ahnenschaft« des Revolutionären in der Kunst unserer Tage nachzuweisen und die geschichtlichen Verknüpfungen zwischen deren anscheinend traditionsfeindlichen Bestrebungen mit dem Manierismus im engeren Sinne (520–650) aufzuzeigen. Darüber hinaus aber erblickt Hocke im Manierismus aller Epochen einen der Klassik entgegengesetzten »Ausdruckszwang«, der auf bestimmten psychologischen und soziologischen Voraussetzungen eines »manieristischen Menschentypus« beruht. Innerhalb der einzelnen manieristischen Epochen lasse sich ein regelmäßiger Entwicklungsablauf nachweisen: jede manieristische Epoche bleibt anfangs noch »klassizistisch«, wird hierauf »expressiv«, später »deformierend« und schließlich »surreal« bzw. »abstrakt«. Die menschliche Gestalt verliert in manieristischer Darstellung ihre durch die Regeln klassischer Kunst festgelegte naturnahe Form. Schroffe Verkürzungen und übermäßige Dehnungen treten auf. Es entsteht das an die Gotik anklingende Stilideal der in der Sagittalachse verdrehten »Figura serpentinata«. Die Körper werden langgestreckt und kleinköpfig (z. B. bei Greco). Die Gestalten besitzen kein festes Verhältnis zum Boden, sondern scheinen zu schweben. Oft werden sie mit spitz zulaufenden Gliedmaßen wiedergegeben. Die Haltung der Figuren ist gespreizt, geziert, verrenkt. Nicht selten erscheinen sie stark bewegt oder auch wie in der Bewegung plötzlich erstarrt. In der Farbgebung distanzieren sich die Manieristen 26
von der klassischen Gepflogenheiten. Sie vermeiden volle Kontraste und verwenden eine Fülle ungewöhnlicher Farben: Blau, Grün, Rosa, Hellviolett, die in »Halbtönen« ineinander übergehen. Ein jäher Wechsel von Hell und Dunkel tritt auf, oder es ist über das ganze Bild eine schattenlose, schmerzhafte Helle gebreitet. Die Farbtöne wirken oft gebrochen, unruhig, glitzernd und glimmend. Bevorzugte manieristische Motive sind die Spirale, das Labyrinth, der Spiegel, die Maske, die Zeit, die Uhr, der Tod; außerdem das einzelne Auge, das Körperfragment und die anatomische Darstellung, das Janus-Gesicht und die anthropomorphe Landschaft (Landschaft mit Menschengesicht). Es besteht eine Vorliebe für das Ungewöhnliche, Abnorme, Abstruse, ein Interesse für Hieroglyphen, Rätsel, Geheimlehren, Geheimschriften, Wappenzeichen und Wahlsprüche, Seltsamkeiten und Monstrositäten der Natur, aber auch vom Menschen hervorgebrachte Automaten und »Wundermaschinen«. Die Grenze zwischen Traum und Wirklichkeit wird verwischt, die Bildinhalte werden zu »gemalten Träumen«. Die »änigmatische Gebärde« wird zur alles beherrschenden Ausdrucksform. Dinge, die sich nicht vereinigen lassen, werden in phantastischer Weise zusammengesetzt (Groteske, Surrealismus). In den »Arcimboldesken«1 dagegen lösen sich einheitliche Nach dem in Prag lebenden Hofmaler Rudolfs II., Giuseppe Arcimboldi.
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Gegenstände oder Personen in eine Fülle verschiedenen Objekte auf (ein Bibliothekar z. B. besteht aus lauter Büchern). Dem Deformationstrieb wirkt ein seelenloser Konstruktivismus entgegen. Dem Labyrinth als Sinnbild des Undurchschaubaren entspricht das maskenhafte, undurchdringliche, rätselhafte Gesicht. Im Gegensatz dazu werden manche Erscheinungen in manieristischer Darstellung eigentümlich durchsichtig. Die verstandesmäßige Durchdringung genießt den Vorrang vor der sinnlichen Erscheinung. Lebensfreude und Weltzugewandtheit sind dem manieristischen Werk fremd. Dagegen werden oft die zerstörten Ordnungen dargestellt, Beziehungslosigkeit, Angst und Schrecken. Für Greco wurde das Heilige zum Hauptmotiv seines Schaffens: von den Schlacken irdischen Seins befreite, heilige Menschen in ekstatischer Erregung und Verzückung. Das manieristische Werk soll verborgenen Scharfsinn offenbaren. Die unerwartete, erstaunliche, überraschende, verblüffende, faszinierende und schockierende Wirkung wird angestrebt. Eigenwilligkeit, Schrulligkeit, Originalität werden gepflegt. Das Bizarre, Künstliche, Gemachte wird höher als das Natürliche gewertet. Nicht Maßhalten wird verlangt, sondern die Übertreibung für richtig gehalten, das Auf-die-Spitze-Treiben bis zur Verstiegenheit und Verschrobenheit. Das Sich-Verwandelnde und Sich-plötzlich-Offenbarende gewinnt im manieristischen Kunstwerk Gestalt. Zu diesem Zweck werden gewisse Kunstgriffe ange28
wendet. Man schafft Gemälde, die nach Drehung um 90 Grad etwas anderes zeigen als bei der Betrachtung in ihrer ursprünglichen Lage. Es entstehen Vexierbilder und verzerrt gezeichnete Darstellungen, die durch Sichtwinkelveränderung unverzerrt erscheinen (»Anamorphose«). Auch die natürliche Perspektive des Raumes wird verzerrt, um einen illusionistischen oder beunruhigenden Effekt zu erzielen. Man erfindet die beschleunigte Perspektive und den sich drehenden Raum. Der Sucht nach Verschleierung, Geheimnis, Schwerverständlichkeit und Unergründlichkeit stehen eine eigentümliche Schamlosigkeit und exhibitionistische Tendenz, ein Demaskierungsbedürfnis gegenüber. Der Manierismus scheint in seinen verschiedenen Epochen als Reaktion auf anders gerichtete Bestrebungen alle Menschen zu ergreifen und nicht nur in der Kunst, sondern auch auf dem Gebiet des kunsthandwerklichen Gestaltens und der Mode den Geschmack der Massen zu beeinflussen. Den Manieristen erfüllt ein Drang nach dem Absonderlichen, Exklusiven, nach Extravaganz und gesellschaftlicher Absonderung. Im Streben nach Unabhängigkeit, in der radikalen Ablehnung jeder Tradition und Konvention liegt das Kennzeichnende dieser Geistesrichtung. Die Vertreter des Manierismus erwiesen sich durch ihre Lebensführung und ihr Verhalten oft als Sonderlinge. Sie fielen durch Schrullen und Verschrobenheiten auf. Innere Unruhe, Spannung, Inbrunst und Weltver29
neinung sind die tiefer liegenden Determinanten ihres seelischen Seins. Es wäre aber verfehlt, wollte man nur das »Bionegative« an den Trägern antiklassischer Tendenzen in der europäischen Kunst ins Auge fassen. Wir sind vielmehr der Ansicht, daß die Geisteshaltung des Manierismus gleichberechtigt neben jener der Klassik steht, ja daß sich der Widerstreit und das Zusammenspiel beider Tendenzen bei genauerer Betrachtung in allen künstlerischen Schöpfungen nachweisen läßt.
II. Der schizophrene Stil
Schizophrene Gestalter Franz Franz kam im Alter von neunzehn Jahren in unsere Behandlung. In der körperlichen Entwicklung glich er einem Dreizehnjährigen. Er war taub und gab nur unartikulierte Laute von sich. Ganz wenige Worte wie »Mama« und »schön« konnte er sprechen. Er war weder imstande, vom Mund abzulesen, noch war er mit den Buchstaben vertraut. Auf sprachlichem Wege konnte man sich daher mit ihm nicht verständigen. Es fehlten dem Kranken auch alle an Worte gebundene Begriffe, sein Denken konnte nur mit Hilfe visueller Vorstellungen vor sich gehen, und sein Weltbild mußte im wörtlichen Sinn aus Bildern bestehen. Seine Zahlbegriffe sowie die Kenntnis der Ziffern erstreckten sich auf den Zahlenraum von eins bis fünf, aber auch einfachste Rechnungen konnte er nicht durchführen. Auf dem Gebiet der praktischen Intelligenz erzielte er bessere Leistungen. So brachte er es beim Mosaiklegen im Rahmen des Hamburg-Wechsler-Tests zu einem dem Durchschnitt entsprechenden Ergebnis. Auffallend war aber das Zeichentalent des Kranken. In den ersten Jahren seines Anstaltsaufenthaltes zeigte 31
Franz schwere Störungen des Verhaltens, wie man sie nach frühkindlichen Hirnschädigungen beobachtet. Er neigte zu Zornausbrüchen, war oft ausgesprochen liebebedürftig, freundlich und anschmiegsam, dann wieder reizbar, verstimmt und boshaft. Zwischen mein und dein konnte er nicht unterscheiden. Es fehlte ihm jede Stetigkeit und Ausdauer. Aus diesem Grunde war er nicht imstande, die einfachsten Arbeiten zu verrichten. Das Zeichnen war die einzig sinnvolle Beschäftigung, die er gelegentlich ausübte. Es machte ihm Spaß, Abbildungen aus illustrierten Zeitungen abzuzeichnen. Er zeigte dabei große Geschicklichkeit, so daß ihm oft treffende Wiedergaben gelangen (Abb. ). Nach der Natur oder aus der Phantasie zeichnete er nicht. Im vierundzwanzigsten Lebensjahr des Kranken
Abb. . Vor dem Ausbruch der Psychose
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wurden die ersten Anzeichen einer Psychose bemerkt. Schlaflosigkeit stellte sich ein. Franz saß stundenlang am gleichen Platz, kümmerte sich nicht um die Vorgänge in seiner Umgebung, bewegte zeitweise die Lippen, als ob er sprechen würde, schien dann wieder in sich versunken zu sein oder sich mit einem imaginären Gegenüber durch Gesten und unartikulierte Laute zu unterhalten. Es fielen eigentümliche Hand- und Fingerbewegungen auf, die den Eindruck erweckten, der Kranke wolle etwas nicht Vorhandenes wegwischen oder ergreifen. Dabei lächelte er verschmitzt und setzte sich zur Wehr, wenn man ihn davon abzuhalten suchte. Schließlich lag Franz einige Monate hindurch völlig autistisch im Bett und versteckte den Kopf unter der Decke. Er beachtete niemanden, der sich ihm näherte, und lehnte zeitweise die Nahrungsaufnahme ab. Das einfachste Mosaik konnte er nicht mehr zusammensetzen, sondern hantierte mit den Würfeln in ganz sinnwidriger Art. Dabei war lebhaftes Grimassieren zu beobachten. Erhielt er Bleistift und Papier, brachte er
Abb. 2. Auf dem Höhepunkt der Psychose (unbehandelt)
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nur mehr Kritzelbewegungen, und zwar ein primitives Hiebkritzeln zustande (Abb. 2). Nach Einleitung einer Elektrokrampftherapie besserte sich der Zustand des Kranken. Franz nahm wieder ein wenig Anteil an seiner Umgebung, obwohl er weiter von Halluzinationen geplagt wurde. Er zeichnete auch wieder, und zwar rasch und mühelos, sobald man Bleistift und Papier vor ihn hinlegte. Dabei schien er ausschließlich vom Rhythmus seiner Hand und von den Vorstellungen, die ihm während dieser Tätigkeit in den Sinn kamen, gelenkt zu werden. Eine richtige Lust am Zeichnen war oft nur kurze Zeit vorhanden. Man konnte dem Patienten aber, sooft man wollte, ein neues Zeichenblatt hinschieben, er zögerte niemals, etwas darauf zu entwerfen. Ermüdung und Einfallslosigkeit ließen sich bei solchen Versuchen daran erkennen, daß die Produktionen einfacher wurden und einen stereotypen Charakter annahmen. Franz legte keinen Wert darauf, seine Zeichnungen zu behalten. Sie standen vielmehr im Dienste seines Mitteilungsbedürfnisses, war es ihm doch versagt, seine Gefühle und Vorstellungen auf andere Weise zu äußern. Eine der ersten Zeichnungen, die Franz jetzt herstellte (Abb. 3), zeigt einen männlichen Kopf von eigentümlich archaischem Gepräge. Dieser Eindruck der Starrheit beruht auf einer stark hervortretenden Geometrisierung. Dynamisch wirken dagegen mehrere parallele Linien, zwischen denen die Windungen einer Schlange liegen. Franz hatte vor dem Ausbruch seiner Psychose aus34
schließlich kopiert und stets nur vertraute Gegenstände seiner Umwelt zeichnerisch wiedergegeben. Was mochte er sich »gedacht« haben bei der Herstellung dieser Skizze, die so rätselhaft symbolisch anmutet?
Abb. 3 Nach Beginn der Behandlung
Von nordwestamerikanischen Indianern wird durch eine auf einem vogelähnlichen Schiffe sitzende menschliche Gestalt, aus deren Mund eine Schlange hervorkommt, die aus dem Körper fliehende Seele dargestellt.1 Dasselbe (oder die Wiederbelebung des entseelten Körpers) wollte vielleicht Franz zum Ausdruck bringen. Freilich legen wir eine solche Deutung in das von ihm geschaffene Bild hinein. Dem Kranken selbst waren ja das Wort und der Begriff »Seele« unbekannt. In seinem Geiste konnte nichts anderes als eine von lebhaften Gefühlen begleitete Zusammenballung von Bildern vor sich gegangen sein. Die Zeichnung ist kein Symbol
Zitiert nach E. Kretschmer, Medizinische Psychologie. Stuttgart 956.
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Abb. 4 und 5. Während des Behandlungsverlaufes
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für die Seele, sondern ein bildhaftes Vorstadium unseres Begriffes. Der völlige Sprachmangel des Kranken und seine innige Beziehung zu den Bildern mögen günstige Voraussetzungen für die Neuschöpfung solcher Symbolik in der Psychose gewesen sein. Eines der nächsten Blätter (Abb. 4) ist bis an den Rand mit Figuren und Kritzeleien bedeckt. Man erkennt Gebäude in verzerrter Perspektive, Tiere, ein einzelnes Auge und spiralenartige Linienzüge. Es fehlt die durchgehende Vertikalorientierung des Zeichenblattes, das während des Zeichnens von dem Kranken gedreht wurde. Im weiteren Verlaufe der Behandlung traten die psychotischen Symptome wieder stärker hervor. Die Bauwerke, die Franz jetzt zeichnete (Abb. 5), zeigen eine beschleunigte Perspektive und scheinen aus dem Raum zu stürzen. Die spiralenförmige Linie in der Bildmitte verstärkt den Eindruck des Durcheinandergewirbeltseins. Hinter einer labyrinthisch verschlungenen Linie erkennt man einen Totenschädel (Abb. 6). Es folgen groteske Gestalten (Abb. 7), vorbeischwebende Figuren mit Heiligenschein (Abb. 8), alle Zeichnungen in sehr schwungvoller Linienführung. Wir versuchten mehrmals, den Kranken zu veranlassen, andere Bilder abzuzeichnen, wie er es früher gerne getan hatte. Er war dazu aber nicht imstande. Unverzüglich drängten sich ihm seine eigenen Vorstellungen auf, und er beachtete die Vorlage nicht mehr, sondern zeichnete, was ihm in den Sinn kam. Immer häufiger traten unheimliche Gestalten auf: 37
Abb. 6
Abb. 7
Abb. 8
Abb. 6–8. Während des Bchandlungsverlaufes
das alte Weib, Hexen, der Tod (Abb. 9–). Dann kam Franz wieder mehr ins Kritzeln hinein (Abb. 2), und schließlich verzichtete er ganz darauf, etwas Gegenständliches darzustellen (Abb. 3). 38
Abb. 9
Abb. 0
Abb.
Abb. 9–. Während der weiteren Behandlung
Nach Beendigung der Krampfbehandlung (mit insgesamt 2 Konvulsionen) brachte der Kranke keine Zeichnung mit höherer Struktur mehr zustande. Ein Blatt, das durch einen waagrechten Strich in zwei Hälften geteilt ist (Abb. 4), zeigt in der oberen Hälfte das durch ein Dreieck symbolisierte Auge Gottes, in der
Abb. 2 und 3 Sich ankündigender Rückfall
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Abb. 4 und 5. Während des psychotischen Rückfalls
unteren einen Sarg, eine Wolke und einzelne unzusammenhängende Striche. In der Folge war der Kranke nur mehr fähig zu kritzeln. Es war ein schwerer psychotischer Rückfall eingetreten. Franz zeigte jetzt eine besondere Neigung, am äußersten Rand des Papiers zu zeichnen. Die Stri40
che brachen mitunter jäh am Blattrand ab, manchmal wurden sie auf der Unterlage fortgesetzt. Der Raum, den das Zeichenblatt bot, blieb bei diesem Vorgehen zum größten Teil leer (Abb. 5). Klinisch war Franz wieder völlig unzugänglich, halluzinant und mit sich selbst beschäftigt. Unter den vielen Kritzeleien, die wir von ihm im Laufe der nächsten zwei Monate erhielten, befanden sich nur zweimal erkennbare Gebilde: ein kleiner Engel (Abb. 6) und ein Totenkopf (Abb. 7). Auf manchen dieser Kritzeleien ließen sich Linienzüge erkennen, die einer Handschrift ähnlich sehen (Abb. 5, 6). Es liegt hier jedoch keine Nachahmung des Schreibvorganges vor; diese schriftähnlichen Linien sind vielmehr aus dem Bedürfnis des Kranken nach rhythmisch-schwungvoller Bewegung entstanden.
Abb. 6. und 7. Während des psychotischen Rückfalls
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Eine zweite Elektrokrampfkur wurde 63 Tage nach Abschluß der ersten Krampfserie begonnen. Der psychische Zustand des Kranken war so schlecht wie vor Beginn der ersten Behandlung. Schon zwei Stunden nach der Auslösung eines neuerlichen Krampfanfalles gelang dem Kranken zum erstenmal wieder die Darstellung einer menschlichen Gestalt (Abb. 9). Nach der vierten Konvulsionsbehandlung hatte sich sein psychischer Zustand bedeutend gebessert. Die Behandlung wurde nun auf medikamentösem Wege fortgesetzt. Die Zeichnungen, die Franz in unmittelbarem Anschluß an diese zweite Kur herstellte, zeigen weitere schizophrene Merkmale. Es ist nun eine ausgeprägte Geometrisierung auffällig. Sie äußert sich besonders in der Art der Schraffierungen. Die zahlreichen parallelen und sich kreuzenden Striche sind an die Stelle
Abb. 8 und 9. Nach neuerlicher Behandlung
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der für das mehr akute Stadium der Psychose typischen schwungvollen, weniger gebremsten Linienzüge getreten. Franz entwirft nun komplizierte flächenhafte Kompositionen von starker Rhythmik (Abb. 8). Neben ein orientalisches Bauwerk setzt er ein deformiertes menschliches Gesicht (Abb. 2). Wie in einem Vexierbild entdeckt man im Haar einer weiblichen Figur einen Vogel mit langem Schnabel (Abb. 22). Ohne jede äußere Anregung gestaltet Franz die Motive des Spiegels und der Maske (Abb. 20, 23). Er zeichnet ein weibliches Porträt
Abb. 2
Abb. 22 Abb. 20–22. Während des Abklingens der Psychose
Abb. 22
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Abb. 27 (zu S. 52 ff.). Zeichnung des schizophrenen Wilhelm
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Abb. 28 (zu S. 52 ff.). Zeichnung des schizophrenen Wilhelm
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Abb. 29 (zu S. 52 ff.). Zeichnung des schizophrenen Wilhelm
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Abb. 39 (zu S. 70 ff.). Zeichnung des geistesschwachen und schizophrenen Hans
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Abb. 23 und 24. Während des Abklingens der Psychose
von maskenhafter Starre mit reichem ornamentalem Schmuck (Abb. 24). Viele seiner Figuren scheinen zu schweben und nicht eigentlich zu stehen (Abb. 20) oder zu sitzen (Abb. 22, 23). Schon bald nach Beendigung der zweiten Krampfserie konnten wir Franz jedoch veranlassen, auch Personen aus seiner Umgebung zu porträtieren. Es machte ihm sogar wieder Spaß, aus illustrierten Zeitungen abzuzeichnen. In der folgenden Zeit entstand eine Menge von Porträts seiner Mitpatienten. Innerhalb einiger Wochen wurden die rein aus der Phantasie geschöpften Zeichnungen immer seltener, aber 48
auch sie zeigten auf einmal wieder eine wirklichkeitsnahe Gestaltung. So kehrte ein Motiv, das die Sehnsucht des Kranken nach mütterlicher Liebe und Geborgenheit zum Ausdruck bringt (Abb. 25), häufig wieder.
Abb. 25 und 26. Nach der Heilung
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Etwa drei Monate nach Beginn der zweiten Behandlung befand sich Franz in einem besseren geistigen Zustand als vor dem Ausbruch der Psychose. Die schizophrenen Merkmale waren nun auch in seinen Zeichnungen ganz geschwunden. Einzelne naturnahe Porträts aus dieser Zeit (Abb. 26) weisen sowohl in formaler Hinsicht als auch in ihrem Ausdruck ein höheres Niveau als jene Zeichnungen auf, die Franz vor seiner geistigen Erkrankung hergestellt hatte. Damals hatte er ja auch kaum jemals nach der Natur gezeichnet. Je mehr sich jedoch der Zustand des Kranken festigte, um so geringer wurde seine Originalität und um so deutlicher näherte sich seine Gestaltungsfähigkeit wieder jener Stufe, auf der sie sich ursprünglich befand. Man hat selten Gelegenheit, das Gestalten eines zeichnerisch begabten und von Umwelteinflüssen so weitgehend isolierten Menschen vor dem Ausbruch einer schizophrenen Psychose, auf deren Höhepunkt, während des Behandlungs- und Heilungsverlaufes und nach Eintritt einer Vollremission zu beobachten. Auf Grund des von uns gesammelten, aus mehr als 300 Einzelzeichnungen bestehenden Materials, läßt sich folgendes feststellen: Die in der Psychose entstandenen Zeichnungen des Patienten sind stärker im Ausdruck, schwungvoller und eigenartiger in der Form als seine Leistungen vor und nach der Erkrankung. Allerdings war die vermehrte Gestaltungskraft an jenes Stadium der geistigen Störung gebunden, das der Heilung unmittelbar vorherging. Auf 50
dem Höhepunkt der Psychose war der Patient nur fähig zu kritzeln. Dem zeichnerischen Gestalten unseres Kranken fehlte während seiner geistigen Störung jegliche Beziehung zur realen Außenwelt, es vermittelte dafür tiefe Einblicke in seine Innenwelt. Die Heilung zeigte sich durch eine allmähliche, aber schließlich volle Zuwendung zu den Dingen und Menschen der Umgebung an. Damit trat die während der geistigen Erkrankung fehlende Abbildefunktion des Zeichnens wieder in den Vordergrund. Der Stilwandel, der sich in diesem Falle radikal vollzog, besteht in einem Übergang von naturgetreuer Wiedergabe zu antinaturalistischer Darstellung und einer Rückkehr zum Naturalismus, nachdem die Psychose abgeklungen war. Schließlich zeigen die während der Psychose entstandenen Zeichnungen unseres Kranken zahlreiche manieristische Merkmale: rätselhafte Symbolbildungen, unheimliche und groteske Gestalten, schwebende Figuren, einen eigentümlichen Gegensatz von Bewegtheit und Starre, Deformationserscheinungen und konstruktivistische Tendenzen, die beschleunigte Perspektive und den sich drehenden Raum, die labyrinthisch verschlungene Linie, vexierbildartige Gestaltungen, das einzelne Auge und die Motive des Todes, des Spiegels, der Maske. Malraux1 meint, daß das Kind »Künstler« sein könne, niemals aber künstlerische Persönlichkeit. Dies trifft auch für unseren Kranken zu. Der »Künstler« in ihm war – die Psychose. A. Malraux, a. a. O.
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Wilhelm Wilhelm ist das jüngste von vier Kindern eines Landwirtes. Er besuchte die Volksschule und erlernte das Tischlerhandwerk. Schon in jungen Jahren heiratete er. Als der Krieg ausbrach, wurde er zum Militärdienst einberufen. Einige Zeit später traten während eines Fronturlaubes die ersten Symptome einer geistigen Störung auf. Seit einundzwanzig Jahren befindet sich der Kranke jetzt ohne Unterbrechung in Anstaltspflege. Wilhelm wirkt still, gehemmt, spricht leise, geht nicht auf die an ihn gerichteten Fragen ein, lächelt unmotiviert und verstummt plötzlich. Dann sagt er etwas von einer göttlichen Sendung. Als Kind habe er einen Schlag auf die Backe erhalten und sei dadurch zur göttlichen Allmacht geworden. Er habe alles, was er in der Bibel las, auf einmal verstanden. Nun müsse er einen Leidensweg gehen. Er wolle gern alle Sünden auf sich nehmen, welche im Laufe der Zeit begangen worden sind. »Daß ich selbst das Leiden trage fürs Ganze, damit auf dem Glaubensgebiet die Verbindung wieder hergestellt werden kann.« Der Kranke konnte meist im Rahmen der Arbeitstherapie beschäftigt werden. Er pflegte keinen Kontakt mit seinen Mitpatienten. Zeitweise traten depressive Phasen auf, in welchen er tage- und wochenlang völlig untätig war. Während eines solchen Zustandes sagte er einmal, er sei »wie alle zum letzten Abendmahl hier«. Der Bildungsgrad des Kranken ist gering, seine Intelligenz eher unterdurchschnittlich. Sein Interesse 52
am Zeichnen erwachte erst, als er schon viele Jahre psychotisch war. Er zeichnete meist aus der Phantasie, mitunter entnahm er Zeitschriften einzelne Motive. Er stellte nur Bleistiftzeichnungen her und arbeitete lange Zeit an jedem Blatt. Dabei mußte er ungestört sein. Er ließ die Zeichnung unvollendet, wenn er das Gefühl hatte, die Aufgabe, welche ihm vorschwebte, nicht bewältigen zu können. Wilhelm entwickelte eine absolut selbständige Arbeitsweise, erfand eine minutiöse Technik und schuf sich einen persönlichen Stil. Zur bildenden Kunst hatte er nicht die geringste Beziehung. Niemals hatte er eine Ausstellung besucht oder ein kunstgeschichtliches Werk in seinen Händen gehabt. Den Erklärungen, die der Kranke zu seinen Bildwerken gibt, kann man kaum irgendwelche Hinweise zu deren besserem Verständnis entnehmen. Aus seinem Verhalten gewinnt man jedoch den Eindruck, daß ihm die Produkte seiner Tätigkeit wertvoll sind und er sich für einen Künstler hält. Überblickt man das innerhalb einiger Jahre entstandene »Gesamtwerk« des Kranken, dann erweist sich seine Schaffenskraft allerdings als sehr gering. Trotzdem läßt sich eine gewisse Entwicklung seines Stils und sogar eine Art Höhepunkt seiner Gestaltungsfähigkeit erkennen. Die Bildwerke Wilhelms (Abb. 27–29, S. 44 ff.), obwohl mit dem Bleistift hergestellt, sind eigentlich keine Zeichnungen, sondern Gemälde in Schwarz, Weiß und den dazwischen liegenden Grautönen. Wilhelm liebt harte Kontraste und verschwimmende Übergänge. Die 53
mit Pedanterie gezeichneten Blätter und Nadeln an den Bäumen treten schärfstens hervor, während die anderen landschaftlichen Details oft undeutlich voneinander abgegrenzt sind. Von eigenen Umrißlinien macht Wilhelm sparsamsten Gebrauch, ja man hat den Eindruck, daß er mit einer gewissen Absichtlichkeit auch dort, wo man eine Kontur erwartet, auf diese oft verzichtet. In äußerstem Gegensatz zu der Pedanterie, mit der der Kranke Einzelheiten wiedergibt, steht die »schmierige« Behandlung des Gesamtbildes. Beides jedoch, Schmierlust und Zwang, werden in den Dienst eines nach Ausdruck und Form ringenden Gestaltens gestellt. Der malerische Charakter dieser Zeichentechnik macht sie besonders dafür geeignet, Atmosphärisches wiederzugeben. Der Himmel mit Sonne, Mond oder Sternen nimmt auch in den meisten Zeichnungen Wilhelms einen großen Raum ein. Manchmal scheinen Himmel und Erde miteinander zu verschmelzen. In diesem geheimnisvollen Grenzbereich befindet sich das »Vogelnest« (Abb. 27, S. 44), Sinnbild der Geborgenheit in der Ungeborgenheit. Nicht zuletzt sind es eigentümliche Lichteffekte, die den meisten Zeichnungen Wilhelms einen visionären Charakter verleihen. Es ist, als ob er Bilder festhalten wollte, die vor ihm aufgeblitzt und im nächsten Augenblick wieder verschwunden waren. Hauptmotiv der Darstellungen Wilhelms ist die von Bäumen und anderen pflanzlichen Gewächsen belebte Natur, zu der er sich – als Ersatz für den Umgang mit Menschen – besonders hingezogen fühlte. 54
Die menschlichen Figuren in seinen Zeichnungen tragen immer die gleichen Züge. Eine bestimmte Frauengestalt wird oft als überirdische Erscheinung dargestellt (Abb. 28, S. 45). Das weibliche Wesen wird verherrlicht und verklärt.1 Auf einem der merkwürdigsten Blätter unseres Kranken (Abb. 29, S. 46) sieht man zahlreiche insektenartige Tiere sowie eigentümliche kreis- oder kranzförmige Gebilde. Diese Insekten kehren auch auf anderen Blättern häufig wieder. Sie treten dort jedoch mehr in den Hintergrund, wogegen sie hier in unheimlicher Weise das Feld beherrschen. Trotz ihrer Starre sind sie voll lauernder, ruckartiger Bewegtheit. Der im Zentrum des Bildes liegende große Kreis enthält neben einer Menge kleiner Insekten drei winzige, auf dem Kopfe stehende menschliche Gestalten. Sollte es sich nicht um die gebärende Urhöhle, ein Sinnbild des mütterlichen Schoßes handeln? Die insektenartigen Ungeheuer stellen in ihrer phallusähnlichen Gestalt das männliche Wesen dar, während in den kreisrunden Gebilden ein Symbol für das empfangende, tragende, gebärende und bergende weibliche Prinzip zu erblicken ist. Auffällig ist die negative Bewertung des Männlichen, dem die Attribute des Zeugen Die Annahme, daß Schizophrene hauptsächlich ihre Halluzinationen und Wahnideen bildnerisch gestalten, ist unzutreffend. Es kommt viel häufiger vor, daß die Gestaltung bloß den Charakter dieser psychopathologischen Phänomene hat, diese selbst aber gleichsam vorwegnimmt. Sie ist eher als Ersatz für schizophrene Symptome und nicht als deren bildliche Darstellung zu verstehen.
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den, aber auch des Auflösenden, Zerstörenden, Ekeligen, Mechanischen und Unheimlichen verliehen werden; den »geflügelten Insekten« wird die untere Hälfte des Bildraumes zugewiesen, die weiblichen Symbole nehmen dagegen durchwegs dessen obere Hälfte ein. Der Kreis in der linken oberen Ecke enthält viele Kreuze. Sie dürften den toten Menschenkindern entsprechen, die von den dämonischen Ungeheuern gezeugt und vernichtet werden. So beängstigend dieser »Garten des Lebens« anmutet, so läßt sich in der Darstellung eine gewisse Harmonie nicht leugnen. Ein versöhnlicher Ausklang kann auch darin erblickt werden, daß die Gestorbenen am Ende doch im mütterlichen Schoße ruhen. Ein Stilwandel wie bei Franz ist im Gestalten Wilhelms niemals aufgetreten. Allerdings änderte sich auch sein geistiger Zustand während der gesamten Zeit seines Schaffens nicht. Man wird diesem Kranken trotz seiner Unbeholfenheit einen großen Ernst und eine echt künstlerische Absicht zubilligen müssen, wenn man sieht, wie er immer wieder unter vollem Einsatz der Persönlichkeit (wenn auch nicht voll bewußt) allgemeinmenschliche Probleme aufrollt und zu lösen versucht, an die »letzten Dinge« rührende Fragen stellt und Antworten gibt. Schon C. Schneider1 erwähnte, daß der Schizophrene »nicht selten eine Art weltanschaulicher Haltung er-
C. Schneider, Die Psychologie der Schizophrenen. Leipzig 930.
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langt, zum mindesten aber sich um geistige Fragen in lebhafter Weise bemühen kann«. Gerade an den schöpferischen Leistungen Schizophrener könne man erkennen, »daß die innere Einheit des Bewußtseins durch den schizophrenen Krankheitsvorgang nicht aufgehoben, sondern nur verändert wird … Wäre es anders …, so wäre jedes Kunstschaffen in der Schizophrenie unmöglich«. Und Prinzhorn1 meinte, daß ein »ausgesprochen metaphysischer Drang« für die Schizophrenie ebenso charakteristisch sei wie nur irgendein Einzelsymptom. Im akuten Stadium einer schizophrenen Psychose geraten alle Ordnungsgefüge des Denkens und Erlebens ins Wanken. In der Phase der Restitution kommt es zu einem Neuaufbau jener Ordnungen. Die Wiedergewinnung einer »Weltanschauung«, sei es in Form eines Philosophems oder einer künstlerischen Gestaltung, ist für den Kranken von um so größerer Bedeutung, je weniger eine Heilung, d. h. eine volle Wiederherstellung seiner kommunikativen Fähigkeiten erreicht wird. Spontane bildnerische Tätigkeit bei Schizophrenen entsteht wie die Kunst aus dem Bemühen um eine Sinndeutung des Lebens, eine geistige Daseinsbewältigung, ist Entwurf eines neuen Mythos, der dem durch die Psychose aus der Geborgenheit gerissenen Menschen wieder inneren Halt zu geben vermag.
H. Prinzhorn, a. a. O.
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Alexander Alexander, jetzt dreiundvierzig Jahre alt, befindet sich seit sechzehn Jahren wegen Schizophrenie in Anstaltspflege. Sein Gesicht ist durch eine Hasenscharte entstellt. Er ist freundlich, schüchtern, spricht nie aus eigenem Antrieb, sondern gibt stets nur kurze Antworten. Infolge einer Mißbildung des Gaumens klingt seine Aussprache nasal. Sein Gedankengang scheint zeitweise geordnet, oft jedoch verlieren seine Äußerungen schon nach kurzem Gespräch den Zusammenhang. Alexander besuchte Volks-, Haupt- und eine Klasse Handelsschule. Er hat sehr gut gelernt. Nach der Schulentlassung war er als Hilfsarbeiter tätig. Vom Militärdienst wurde er nach wenigen Monaten wegen Geisteskrankheit entlassen. An das weibliche Geschlecht hat er nie Anschluß gefunden. Nach einer »kleinen Liebesgeschichte« (par distance) glaubte er, mit einem Mädchen durch Morsezeichen in Verbindung zu stehen und auf diese Weise Liebesbeteuerungen zu erhalten. Bis heute leidet er an akustischen Halluzinationen: er glaubt die Stimmen verschiedener Personen zu hören, welche ihm Befehle erteilen. Ein gewisses Mädchen sei ständig über seine Handlungen informiert und zwinge ihn, auf der Straße bald nach links, bald nach rechts abzubiegen. Infolge eines inneren Befehles müsse er sich manchmal ohrfeigen oder während des Essens den Teller wegwerfen. »Ich werde ferngelenkt«, sagt er. In seiner Jugend habe er sich immer »als Fremdkörper in der Gesellschaft« gefühlt. Er sei ein Außenstehender 58
und spüre die von den anderen ausgehende Beeinflussung dauernd. Oft glaube er, daß sich ein feines Netz vor seinen Augen befinde. Er komme sich wie eine Spindel vor, welche sich nur nach einer Seite drehen könne. Als er schon lange in der Anstalt weilte, sagte er: »Ich bin nichts mehr wert, ich kann mich nicht einordnen.« Später brachte er in spielerischer Weise Wahnideen vor, etwa daß er mit Mussolini in Briefwechsel stünde oder gewissermaßen ein zweiter Herrgott sei; denn der Herrgott selber sei auch schon gestorben. Dann meinte er wieder, daß ihm die Stimmen, welche er wie ein »fernes Sprechen« hörte, nahegelegt hätten zu heiraten. Alexander lehnte viele Jahre hindurch jede Beschäftigung ab und pflegte nicht den geringsten Kontakt mit anderen Kranken. Er zeichnete nur, wenn man ihn dazu aufforderte. Dabei mußte er immer wieder angespornt werden, da er bei jeder Tätigkeit rasch erlahmte. Oft bedurfte es für das Hinsetzen jedes einzelnen Striches eines aufmunternden Wortes, worauf Alexander wie automatisch reagierte (»Befehlsautomatie«). Man konnte ihm auch den Auftrag erteilen, ein Gedicht zu schreiben. Er befolgte diese Aufforderung ebenso selbstverständlich wie jene zum Zeichnen. Die auf diese Weise entstandenen sprachlichen Gebilde verblüffen wie die graphischen Erzeugnisse des Kranken durch ihre Abstrusität und ihren Stimmungsgehalt.1 Alexander hatte vor seiner Der Morgen Im Herbst da reiht der Feenwind
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Erkrankung weder für die Dichtkunst noch für die bildende Kunst besonderes Interesse gezeigt. Die Zeichnungen unseres Kranken (Abb. 30–34) lassen Gestaltungsprinzipien erkennen, die für verschiedene Richtungen der modernen Malerei programmatische Bedeutung hatten. Wie die Surrealisten vereinigt Alexander gerne Gegenstände, die nicht zusammenpassen (Abb. 3, 32). Durch seine stark ausgeprägte Geometrisierungstendenz sowie eine Neigung, die Dinge »aufzuklappen« (Abb. 33), erinnert der Kranke an die Erfinder des analytischen Kubismus, welche auf ähnliche Weise »das Ganze« sichtbar machen wollten. Schließlich verwendet Alexander – wie die Futuristen, Paul Klee und viele andere moderne Maler – oft einzelne Buchstaben, Ziffern, Pfeile und andere Zeichen, die durch ihre Verteilung und Lage im Raum rätselhaft anmuten und den graphischen Erzeugnissen eine symbolistische Note geben (Abb. 3–34). Ein wirres Durcheinander heterogener Bildelemente zeigt auch die »Landschaft«, die Alexander auf Aufforderung zeichnete (Abb. 32). Dem weitgehenden Beziehungsverlust wirken hier die Prinzipien der Geometrisierung, der Stilisierung, der reihenmäßigen und symmetrischen Anordnung sowie die Hinzufügung von Buchstaben entgegen. Diese Ordnungsbestrebungen werden den natürlichen Erscheinungen nicht gerecht, da Amseln pfeifen heer im Wind und fressen. da sich im Schnee die Mähnen treffen.
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sie weniger der Kommunikation mit der Außenwelt als der Festigung einer zerfallenden Innenwelt dienen. Arnold1 hält die »Flüchtigkeit des Erlebnisvollzuges« für eine schizophrene Grundstörung. Wenn man Alexander beim Zeichnen zusah, dann schien es manchmal tatsächlich so, als ob hierbei blitzschnell ablaufende Assoziationen ihre graphische Spur auf dem Papier hinterließen. Manche seiner Gestaltungen (Abb. 34) wirken wie eine chiffrierte Wiedergabe, eine Art Kurzschrift für eine Vielzahl von Vorstellungen und Vorstellungskomplexen, welche in ihm während des Zeichnens in raschester Folge angeklungen sind. Eine solche Beschleunigung des Ablaufs der inneren Bilder kann die Auffassung von Vorgängen in der Außenwelt, aber auch das äußerlich sichtbare Verhalten eines Menschen sicherlich erheblich stören. Um den völligen Verlust der Beziehung zur Realität aufzuhalten, gelangten bei unserem Kranken Ordnungsprinzipien, auf welcher Ebene immer sie verfügbar wurden, zum Einsatz. Abbildung 33 zeigt ein Blatt, auf dem noch einmal eine männliche (links) und eine weibliche Figur (rechts) dargestellt sind. Während der Mann, wenn auch karikiert, immerhin als Mensch zu erkennen ist, hat die zeichnerische Wiedergabe der Frau mit der visuellen Wahrnehmung einer Frauengestalt nichts mehr zu tun. Sie gleicht einem Ausschneidebogen, dessen einzelne Teile aber nicht den Formen eines menschlichen O. H. Arnold, Über schöpferische Leistungen im Beginn schizophrener Psychosen. Wiener Zeitschrift für Nervenheilkunde, S. 88 (953).
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Körpers entsprechen, sondern bloß die Aufschriften jener »Bestandteile« tragen, aus denen ein Mensch »zusammengesetzt« werden könnte. Es fällt auf, daß bei unserem Kranken die Aufgabe, eine Frau zu zeichnen, immer besondere Verwirrung auslöste, während ihm die Darstellung eines Mannes leichter fiel (Abb. 30, 3, 33). Es liegt daher die Vermutung nahe, daß die »Flüchtigkeit des Erlebnisvollzuges«, welche die so naturfernen Gestaltungsprinzipien wirksam werden läßt, durch die Unterdrückung von Gefühlsregungen zustande kommt. Es ist unmöglich, darüber Klarheit zu gewinnen, ob der Kranke mit dieser Zeichnung etwas »aussagen« Abb. 30
Abb. 3
Abb. 32
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Abb. 33
Abb. 34
Abb. 30–34. Zeichnungen des schizophrenen Alexander
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wollte, ob er den Eindruck, den sie erweckt, hervorrufen, ob er ironisieren und schockieren wollte oder ob das graphische Erzeugnis ohne jede Rücksicht auf einen Betrachter, bloß dadurch, daß primitive Mechanismen des Gestaltens in Tätigkeit traten, entstand. Aber wie gering der Anteil der bewußten Intention beim Zustandekommen dieses Gebildes auch gewesen sein mag, die Zeichnung illustriert die typisch schizophrene Auffassung, daß der Mensch nicht wirklich, natürlich und ursprünglich, sondern künstlich, gemacht1, wie Spielzeug hergestellt sei. Hocke2 bezeichnet den »Kult der Machination« als Wesenszug des künstlerischen Manierismus und führt diese Erscheinung auf eine maßlose Überschätzung des Technischen, Rationalen und eine Unterbewertung der natürlichen Gegebenheiten, welchen man sich entfremdet hat, zurück. Eben dieses Mißverhältnis findet sich in krassester Ausprägung bei den schizophrenen Kranken. Eine besondere Form der Ordnungstendenz in den graphischen Erzeugnissen Schizophrener ist die gleich häufige Wiederholung von Bildelementen. So zeichnet Alexander zum Beispiel drei Wolken nebeneinander, macht drei Kreuze (Abb. 32), schreibt dreimal dasselbe Einer unserer Kranken sagte: »Ich bin nicht geboren, sondern gemacht vor drei Millionen Jahren …« Nach Kroh findet sich die Dimension des »Machens« schon auf der Frühstufe seelisch-geistiger Entwicklung (neben dem physiognomischen Erleben), noch bevor der Mensch in das Stadium mythischen Glaubens und magischen Deutens tritt (O. Kroh, Die Gesetzhaftigkeit geistiger Entwicklung. Zeitschrift für Pädagogische Psychologie, 37, , 936). 2 G. R. Hocke, a. a. O.
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Wort neben die männliche Figur, setzt drei einzelne Buchstaben in das Zentrum der »weiblichen Figur« (Abb. 33). Aber auch die zwei-, vier- und fünffache Wiederholung ist in seinen Zeichnungen nicht selten. Wir sehen hier die Zahl gleichsam »in statu nascendi«, als Ergebnis einer rhythmischen Gliederung der zunächst ungegliederten Iteration. Diese Entstehung aus einem Ordnungsbestreben gibt der Zahl vor jeder besonderen Bedeutung einen Wert. »Als ordnungsstiftendes Zeichen« ist sie »im Wechsel der Phänomene auf das Gleichbleibende gerichtet«.1 Wahrscheinlich kommt auch den Buchstaben zunächst eine ähnlich allgemeine Bedeutung zu. Sie muten in den Zeichnungen Alexanders jedoch rätselhaft an. Zahlen und Buchstaben haftet dann der Charakter des Änigmatischen an, wenn sie nicht mehr bloß Ausdruck eines ursprünglichen Ordnungsbestrebens, aber noch nicht rationale Symbole sind. Dies ist auf jener Stufe der menschlichen Geistesentwicklung der Fall, da ihnen magische Kräfte zugeschrieben werden und da die einzelnen Zeichen bereits einen spezielleren Sinn erlangt haben.2 Die Hinneigung Alexanders zum Änigmatischen kommt in einer seiner Zeichnungen, die an ein Bilderrätsel erinnert (Abb. 34), besonders deutlich zum Ausdruck. E. Grassi, Kunst und Mythos. Hamburg 957. 2 Das Magische halten wir für ein Zwischenbereich, das sich von der mythischen zur rationalen Ordnungsebene menschlichen Seins erstreckt.
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Das Änigmatische kennzeichnet ein Übergangsstadium, das zwischen einer ursprünglichen Ordnung und einer neuen, höheren Ordnung liegt; es kennzeichnet die Stimmung des Menschen, der im Begriffe ist, in eine neue Ordnung einzutreten, aber noch nicht fähig, diesen Schritt zu tun. Die rätselhafte Verwendung von Ziffern und Buchstaben in den Zeichnungen Schizophrener ist daher weniger ein »Rückfall« in das magisch-symbolische Denken als ein Versuch, die eigene Triebhaftigkeit zu bewältigen, ohne daß der Vorstoß bis zu jener Ebene menschlichen Daseins, auf der eine rational geordnete Kommunikation möglich ist, gelingt. Die ursprünglich vorhandenen Ordnungsgefüge sind ja durch den Einbruch der Psychose zerstört, Triebe und Ängste sind entfesselt worden und können nun nur durch magische Zeichen und Handlungen wieder in ihre Schranken gewiesen werden. Wir finden also in den Zeichnungen Alexanders eine Zerstörung der Wirklichkeit neben Vorgängen der Restitution. Die Ordnungsprinzipien, die seinen Gestaltungen zugrunde liegen, sind jedoch zur Wiederherstellung der mitmenschlichen Beziehungen ungeeignet. Sie dienen dem Aufbau einer autistischen Welt.
Paul Paul hat in der Volksschule schlecht gelernt, ist mehrmals sitzengeblieben und war hierauf als landwirtschaftlicher Hilfsarbeiter beschäftigt. Seit dem Beginn seiner Erkran66
kung, im dreiundzwanzigsten Lebensjahr, verbrachte er die meiste Zeit in Nervenheilanstalten. Er besitzt nur unterdurchschnittliche Intelligenz und geringe Allgemeinkenntnisse. Paul ist jetzt siebenundvierzig Jahre alt. Seine immer wiederkehrenden psychotischen Störungen dauern wochen- und monatelang; meist wird er zunächst schlaflos und unruhig, hierauf treten Redefluß und ideenflüchtige Verwirrtheit auf. Der Kranke wirkt dabei heiter, spricht aber mit leiser, kaum verständlicher Stimme. Sein Verhalten wird anmaßend und distanzlos. Seltsame Wortneubildungen, Verschrobenheiten, mangelnde Anteilnahme an den Vorgängen in der Umgebung, unpassendes Lachen und andere
Abb. 35–37. Zeichnungen des schizophrenen Paul
Abb. 35
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Inadäquatheiten des Gefühlsausdrucks geben der geistigen Störung das schizophrene Gepräge. Mit diesen maniformen Attacken wechseln Verstimmungen von depressiver Färbung. Paul berichtet dann, daß er in dem vorhergegangenen Zustand nicht wirklich lustig war, sondern sich bedroht gefühlt und »Stimmen« gehört habe. In den mit zunehmendem Alter immer kürzer werdenden Intervallen ist der Kranke still, antriebsarm, weist aber sonst keine psychotischen Symptome auf. Die hier wiedergegebenen Zeichnungen (Umschlag links unten, Abb. 35–37) wurden während einer maniformen Exazerbation der Psychose jeweils auf Auffor-
Abb. 36
Abb. 37
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derung hergestellt. Im Schwung und der Expansivität der Zeichentätigkeit sowie in dem aufgewandten Druck äußert sich die Steigerung des psycho-motorischen Antriebes. Es finden sich verschiedene Erscheinungen der Deformation, Verzerrungen und Verdrehungen (Umschlag links unten). Vor allem aber zeigen die Bilder dieses Kranken eigentümliche Verschmelzungen von Vorder- und Seitenansicht des menschlichen Kopfes (Abb. 36, 37). Auch das gegen die Mitte zu verschobene Profilauge (Abb. 35) ist ein typisches Merkmal schizophrenen Gestaltens. (Das Bild auf dem Umschlag links unten läßt erkennen, daß der Patient durchaus imstande ist, das Profilauge richtig zu lokalisieren.) Am Höhepunkt seiner geistigen Störung zeichnete Paul jene Gestalt (Abb. 37), über deren Brüste er die Worte »meine Mudher« schrieb. (Nach dem Abklingen der Psychose konnte er das Wort »Mutter« richtig schreiben.) Es ist ein Rumpf mit Nabel und Hängebrüsten vorhanden; etwas unklar ist die Gestaltung der unteren Körperpartie, völlig unnatürlich aber das obere Drittel der Zeichnung: zwischen zwei säulenartigen Gebilden blicken Augen hervor, welche durch die Verdeckung des übrigen Gesichtes besonders starr und faszinierend wirken. Nase, Mund und Kinn sind im Profil wiedergegeben. Durch die Fortsetzung der Profillinie bis zum Hals wird jedoch das Vorhandensein eines zweiten (männlichen) Kopfes angedeutet – neben dem en face dargestellten Gesicht. Es scheinen in diesem seltsamen Bild zwei Gestalten zu einer einzigen zu verschmelzen oder auseinander hervorzugehen. 69
Paul bringt in der maniformen Phase seiner Psychose eine Fülle arg deformierter Gestalten hervor. In der depressiven Phase und im Intervall weisen seine Zeichnungen dagegen große Einförmigkeit auf und entsprechen durchaus konventionellen Gestaltungsmustern. Die Deformation deutet auf das Triebhafte hin, Gestaltung aber ist immer Bewältigung. Auch die verzerrte, entstellte, verdrehte Form ist noch Form. Und wenn der Affekt Ordnungsprinzipien des bildnerischen Gestaltens sprengt, dann heißt dies nicht, daß auch der ursprüngliche Trieb, dem dieser Affekt entstammt, befriedigt worden ist. Wir müssen vielmehr annehmen, daß auch das deformierende Gestalten der Triebabwehr und der Festigung der Ichgrenzen dient.
Hans Hans ist vierundreißig Jahre alt und leidet an angeborenem Schwachsinn mittleren Grades. Er kann weder die Finger zählen noch drei einstellige Zahlen richtig nachsprechen. Er malt jedoch Ziffern und verbindet mit vierteiligen Zahlen die Vorstellung von »sehr viel«. Er kennt keine Buchstaben, hat aber gelernt, seinen Namen zu schreiben. Hans befindet sich seit seiner Jugend in Anstaltspflege. Meist kann er mit einfachen Arbeiten im Haus oder in der Landwirtschaft beschäftigt werden. Im Alter von zwanzig Jahren näßte er nachts noch häufig ein. Damals zeigte er auch eine erhöhte sexuelle Triebhaftigkeit und 70
versuchte oft, sich seinen Mitpfleglingen in erotischer Weise zu nähern. Außerdem machte sich ein Hang zum Stehlen bemerkbar. Während einiger Jahre war bei Hans ein dauernder Wechsel hypomanischer und depressiver Phasen festzustellen. In der hypomanischen Verstimmung war er nachts schlaflos, bettflüchtig und führte Selbstgespräche. Auch tagsüber redete er dann viel, war vorlaut und querulatorisch. Er zeigte einen erhöhten Bewegungsdrang und Arbeitseifer. In der Depression war er dagegen mißmutig, abweisend und arbeitsunwillig, manchmal sogar mutistisch. Er lungerte herum, starrte vor sich hin und mied selbst Blickkontakt. Diese gespannten Hemmungszustände wurden bisweilen von plötzlich einschießenden heftigen Erregungen durchbrochen. Einmal erzählte Hans, daß ihm die Mutter Gottes und der Teufel erschienen seien. Er sei damals ein berühmter Mann gewesen, der für seine Malereien viel Geld bekommen habe. Infolge einer erhöhten Suggestibilität sowie einer gewissen Fabulier- und Renommiersucht läßt sich jedoch schwer entscheiden, ob diese Äußerungen als Pseudologien aufzufassen sind oder ob ihnen tatsächlich Halluzinationen und Wahnbildungen zugrunde liegen. Allerdings zeigte Hans (trotz seiner geringen Intelligenz) auch eine Neigung, Wortneubildungen zu produzieren, und zeitweise verfertigte er spontan Zeichnungen von ausgesprochen schizophrenem Charakter (Abb. 38–40, S. 47 und 73; Umschlag rechts unten). Hans zeichnete am liebsten Flugzeuge, Raketen, Schiffe, Kanonen – in einem geometrisch-konstrukti71
vistischen Stil. Seine Zeichnungen stellen phantastische Mischungen von unverstandener Technik und ornamentaler Verzierung dar. Die Anordnung der einzelnen Elemente ist dabei von lebendigem Rhythmus erfüllt (Abb. Umschlag rechts unten). Es ist bemerkenswert, daß Hans keine Zahlbegriffe besitzt, obwohl die Reihung gleicher Formbestandteile in seinen Zeichnungen eine große Rolle spielt und er sogar Ziffern dekorativ verwendet (Abb. 40; Umschlag rechts unten). Es muß eine der Grundlagen mathematischer Begabung bei ihm ausgebildet, diese selbst aber infolge des Fehlens weiterer geistiger Voraussetzungen nicht zur Entfaltung gelangt sein. Neben den geometrischen Elementen finden sich in den Zeichnungen dieses Kranken auch Merkmale, die der Geometrisierung entgegengesetzt sind. Es sind das nicht endenwollende Linienzüge, die aus einer Schwungkritzelbewegung hervorgehen, zur Darstellung des Haares (Abb. 39, S. 47), zur Ausfüllung von Flächen dienen (Abb. 40; Umschlag rechts unten) oder Feuer und Rauch symbolisieren. Das Schwungkritzeln weist auf einen gesteigerten Antrieb hin und ist für manische Zustände charakteristisch. Die Geometrisierungstendenz stellt ein Gegengewicht zu dieser Erscheinung dar. Ein hohes Maß von Aggressivität bestimmt den Ausdruck in den Zeichnungen dieses Kranken. Aggressive Tendenzen sind nicht nur für die Motivwahl und für die Ausgestaltung des Motivs (vgl. die bleckenden Zähne in der Zeichnung des weiblichen Gesichts, Abb. 38), sondern auch für das Formale von Bedeutung. Die außer72
gewöhnliche Druckstärke, die eckigen und zackigen, sich vielfach kreuzenden und überschneidenden Linien und die Expansivität der Zeichentätigkeit, wodurch das Blatt bis zum Rand hin ausgefüllt wird, bringen Aggressivität zum Ausdruck. Die Geometrisierung und
Abb. 38 und 40. Zeichnungen des geistesschwachen und schizophrenen Hans
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der Konstruktivismus scheinen in diesem Falle durch die Hemmung eines Destruktionstriebes entstanden zu sein.1 Neben diesen formalistischen Tendenzen zeigt Hans eine Neigung zu Symbolbildungen. Auffällig sind schließlich die monströsen Übertreibungen in manchen seiner Zeichnungen. Das schroffe Nebeneinander von erhöhter Triebhaftigkeit und vermehrter Hemmung, von Geometrisierung und Deformation, das Hervortreten des Symbolbedürfnisses und die geringe Bedeutung visueller Bezugsnormen geben dem graphischen Gestalten dieses Geistesschwachen das schizophrene Gepräge.
2. Stilelemente schizophrenen Gestaltens Grenze und Kontur Graphisch wiedergegebene Gegenstände sind wesentlich durch ihre Kontur bestimmt. Die Umrißlinie geht, entwicklungspsychologisch betrachtet, auf die »geschlossene Rundung« (Kreis, Oval) zurück. Meist zeichnen Kinder zunächst spiralenartige Gebilde. In einem folgenden Stadium tritt eine Neigung auf, diese Auch in der kindlichen Entwicklung geht der Phase konstruktiven Bauens und Spielens eine von destruktiven Verhaltensweisen bestimmte vorher.
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Abb. 4. Schließungstendenz. Vorbild (oben); Nachzeichnungen eines schwachsinnigen Knaben (unten)
Abb. 42
Abb. 43
Abb. 42 und 43. Schließungstendenz. Zeichnungen eines geistesschwachen Knaben
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»offenen Rundungen« zu schließen; das Kind »macht die Lücke zu«. Abbildung 4 zeigt in der oberen Hälfte eine Reihe gekrümmter Linien, die einem geistesschwachen Knaben vorgezeichnet wurden; in der unteren finden sich die Nachzeichnungen, welche durchwegs geschlossene Rundungen darstellen, wobei die Schließung mit einem kurzen Strich erfolgte. Diese »Schließungstendenz« kann bei manchen Kindern einen zwanghaften Charakter annehmen. In den Abbildungen 42 und 43 sind Menschenzeichnungen eines imbezillen Knaben wiedergegeben, der bereits die Fähigkeit hatte, gerade Striche rechtwinkelig aneinanderzufügen, von der Schließungstendenz aber so beherrscht wurde, daß er zwei parallele Striche stets durch Querstriche verband, wodurch die offene Form zur geschlossenen (meist zu einem Viereck) wurde. Die Schließungstendenz macht sich bei der Wiedergabe der Beine, besonders aber der Finger einer Figur oft störend bemerkbar: der Zeichner erzielt an Stelle der ihm vorschwebenden Form dieser Körperteile nur eine Aneinanderreihung rechteckiger Gebilde (Abb. 42). Die Schließungstendenz ist bereits zu beobachten, bevor das Kind bei seinen Kritzeleien eine Darstellungsabsicht erkennen läßt. Mühle1 leitet dieses Phänomen von dem Bedürfnis des Kindes nach Umschlossensein, Geborgensein und Beschütztsein ab (vgl. Abb. 43). Die geschlossene Form, welche später ein so wichtiger G. Mühle, Entwicklungspsychologie des zeichnerischen Gestaltens. München 955.
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Bestandteil des zeichnerischen Gestaltens wird, bedeutet zunächst nämlich keineswegs Kontur im visuellen Sinne, sondern Grenze eines Eigenbereichs gegenüber einem Fremdbereich. Selbst wenn das Kind einen Kreis zeichnet, um das Schema des Mondgesichtes herzustellen, ist diese Leistung noch wenig von der Wahrnehmung eines Menschenantlitzes beeinflußt. Ihre psychologischen Determinanten entsprechen in höherem Maße denjenigen, die das Kind zum Beispiel veranlassen, einen Wall aus Sand rings um sich herum zu errichten. Das zeichnerische Gestalten wird in seinen Anfängen nicht durch visuelle Momente, sondern durch Körperbewegung, Umgang mit dem Material und affektives Erleben bestimmt. »Erst nach dem Einbruch des Optischen in die emotionalmotorische Welt der frühen Kinderzeichnung entstehen aus der Umgrenzung bilderschriftartiger Symbole die gesehenen Konturen von Gegenständen.«1 Es ist sehr wahrscheinlich, daß auch auf späteren Stufen des zeichnerischen Gestaltens die nunmehr der visuellen Wahrnehmung entsprechende Kontur noch mit einem aus dem ursprünglichen Erleben stammenden Gefühlswert verbunden ist. Die Geschlossenheit der Konturen dient der Abgrenzung von Gegenständen in der zunächst diffus-ganzheitlich, d. h. physiognomisch gegebenen Welt. Mit dem Aufbau der sachlichen, gegenstandsbezogenen Wahrnehmung tritt eine Scheidung zwischen Innen- und Außenwelt ein. In der Wahrnehmung unabhängiger und in sich geschlossener Ebenda.
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Objekte spiegeln sich die Einheit und Selbständigkeit des Ichs. Sowohl die Überbetonung von Konturen als auch deren Vernachlässigung sind für das zeichnerische Gestalten der Schizophrenen charakteristisch. Beide Erscheinungen weisen auf Störungen in der Integration des Ichs und in dem Verhältnis des Individuums zur Außenwelt
Abb. 44. Verdoppelung der Kontur. Zeichnung eines Schizophrenen
Abb. 45. Auflösung der Kontur. Zeichnung eines Schizophrenen
hin. Mächtige und druckstarke Umrißlinien kommen oft gleichzeitig mit geometrisierendem Gestalten vor. Mitunter werden doppelte (Abb. 44) und mehrfache Konturen (Abb. 63 e, S. 09) sowie bandartige Verbreiterungen der Umrißlinien beobachtet. Es handelt sich dabei um die Folgen vermehrter Brems- und Kontrollvorgänge, eines 78
Überwiegens regulativer Funktionen. Die Hervorhebung von Konturen findet sich daher hauptsächlich in der Restitutionsphase schizophrener Schübe oder bei solchen chronisch Kranken, deren Persönlichkeit in weiten Bereichen erhalten ist. Sind »Abwehrmechanismen« dagegen nur in geringem Maße wirksam, stehen die Kranken ganz unter dem Einfluß von Affekten oder sind sie von Natur aus mehr psychasthenisch, dann sieht man in ihren Zeichnungen oft eine besonders zarte, ins Unsichtbare schwindende Kontur. Machover1 spricht von der schwachen, »ektoplasmatischen« Umrißlinie in den Zeichnungen autistischer Schizophrener. Man kann aber sowohl die außergewöhnlich verstärkte als auch die extrem schwache Kontur zu verschiedenen Zeiten bei demselben Kranken beobachten. Unser Patient Wilhelm, der spontan produzierte, vermied es, menschlichen Gesichtern überhaupt eine Umrißlinie zu geben. Manchmal werden die Konturen aufgelöst, und die Details, die sie umschließen sollten, ergießen sich in den umgebenden Raum, wie in manchen Zeichnungen eines faseligen Schizophrenen (Abb. 45), bei dem es zu einer weitgehenden Auflösung der Grenze zwischen Ich und Außenwelt gekommen war.2 K. Machover, Personality Projection in the Drawing of the Human Figure. Illinois 949. 2 Auch Koch erblickt in der unterbrochenen Kontur vor allem einen »Mangel an Begrenzung«. Nach seiner Ansicht steht dieses graphische Merkmal mit folgenden Persönlichkeitseigenschaften in Beziehung: Unberechenbarkeit und Sprunghaftigkeit; Ausgeliefertsein an die Eindrücke und Neigung zu hemmungslosen Affektentladungen; Fügsamkeit aus Mangel an Entschlußkraft (K. Koch, Der Baumtest. 3. Aufl., Bern/Stuttgart 957).
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Eine besondere Art der Konturbehandlung liegt dann vor, wenn bei der Darstellung einer Gestalt ausschließlich deren Umrißlinie und sonst nichts wiedergegeben wird (Abb. 46). In solchen Fällen ist meist eine Angst vor den stärker physiognomisch wirkenden Details, dem eigentlichen »Inhalt« des Motivs vorhanden.
Abb. 46 Reine Umrißzeichnung eines Schizophrenen
Bei einem hebephrenen Kranken, der seinen Vater erschossen hatte und seit diesem Ereignis in völligem Autismus dahinlebte, konnten wir jene Scheu vor allen gefühlsbetonten Details einer Zeichnung beobachten. Der Patient schrieb vorgesprochene Sätze, sofern ihr Inhalt gefühlsmäßig indifferent war, in gestochener Schrift nieder. Auf die mehrfache Aufforderung, einen Menschen zu zeichnen, reagierte er jedoch mit einem stereotypen »Nein!« Ein Haus, einen Baum, eine Loko80
motive gab er im Umriß wieder. Die Aufgabe, einen Hund, ein Pferd zu zeichnen, lehnte er ab. Er war auch durch geduldiges Zureden nicht zu bewegen, Fenster in die Konturen eines Hauses einzuzeichnen; sogar damit schienen schon zu viele Gefühlswerte verbunden zu sein. Durch eine medikamentöse Therapie wurde der Negativismus des Kranken ein wenig gelockert. Im Zeichenversuch äußerte sich der Behandlungserfolg darin, daß die Umrißzeichnung des Hauses durch Tür und Fenster ergänzt wurde. Etwas Lebendiges, ein Tier, einen Menschen, zu zeichnen, lehnte der Patient jedoch weiterhin ab. Jenen graphischen Produkten, bei denen die Linie nur umreißende, nicht aber schraffierende oder modellierende Funktionen besitzt, schreibt Sedlmayr1 etwas Archaisierendes und etwas Unsinnlich-Geisterhaftes zu. Es gelängen ihr besonders gut Darstellungen aus der Geisterwelt, der Welt eines kalten Übersinnlichen. Sobald das Kind bestimmte Gegenstände zeichnet, etwa das von vorne gesehene menschliche Antlitz, ist die Kontur wohl wichtig, aber der bloße Umriß, ohne Augen, Mund, Nase wäre noch nichts. Die von der Umrißlinie eingeschlossenen Details sind wesentliche Bestimmungsstücke des Gegenstandes; sie machen das Bild erst lebendig. Eine aus reinen Umrissen bestehende Zeichnung wirkt leer, nüchtern, kalt. Die Wiedergabe einer menschlichen Gestalt durch den bloßen Umriß muß als extrem formalistisch bezeichnet werden. Einer H. Sedlmayr, Verlust der Mitte. Berlin 956.
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solchen Figur haftet dann tatsächlich etwas »UnsinnlichGeisterhaftes«, ja Unheimliches an. – Er wolle »punctum mit der sinnlichen Überfüllung der Welt machen«, sagte der schizophrene Kranke, der die in Abbildung 46 wiedergegebene Zeichnung hergestellt hatte.
Das gemischte Profil Die teilweise Verschmelzung von Vorder- und Seitenansicht des menschlichen Kopfes wird als gemischtes Profil bezeichnet. Bei Kindern tritt dieser typische »Fehler« in der Regel dann auf, wenn sie ein Profil wiedergeben wollen, es aber noch nicht können. So zeigt die Zeichnung eines zwölfjährigen taubstummen und geistesschwachen Mädchens (Abb. 47) im Profil eines menschlichen Kopfes ein etwas schräg gestelltes, von vorne gesehenes Gesicht.
Abb. 47. Gemischtes Profil. Zeichnung eines zwölfjährigen taubstummen und geistesschwachen Mädchens
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Die gleichzeitige Darstellung verschiedener Ansichten eines Objektes war Gestaltungsprinzip des analytischen Kubismus. Man wollte den Gegenstand vollständiger erfassen und über die Wiedergabe des »bloßen Augenscheines« hinausgelangen. In der modernen Kunst findet sich das gemischte Profil immer wieder: bei Picasso, Klee, Miro und vielen anderen. Wie verhält es sich nun aber mit der Ähnlichkeit zwischen der künstlerischen Gestaltung des Doppelgesichts und dem gemischten Profil in der Kinderzeichnung? Ist ein solcher Vergleich überhaupt zulässig, oder sind das völlig wesensverschiedene Dinge? Das Problem wird noch verwickelter, wenn wir das Vorkommen des gemischten Profils auf anderen Ebenen des Gestaltens gleichfalls in Betracht ziehen. Bei einem trunksüchtigen Patienten, der an Delirium tremens erkrankt war, konnten wir nach Abklingen des Delirs beobachten, wie mit zunehmender Aufhellung des Bewußtseins von Tag zu Tag aus einem gemischten Profil langsam wieder eine normale Profilzeichnung entstand (Abb. 48). Es zeigte sich, daß zum Beispiel
Abb. 48. Schrittweise Verwandlung eines gemischten Profils in eine normale Profilzeichnung. Zeichnungen eines Alkoholkranken während des Abklingens eines Delirium tremens (schematisch)
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der Mund schrittweise aus der reinen Vorderansicht in die Profillinie wanderte. Bei der Verschmelzung von Vorder- und Seitenansicht des menschlichen Kopfes ist eine Fülle verschiedener Kombinationen möglich. Am häufigsten sieht man
a Abb. 49. Gemischtes Profil. Zeichnung eines Alkoholkranken
b
c
Abb. 50. Verschiedene Formen des gemischten Profils. Zeichnungen eines Schizophrenen während des Behandlungsverlaufes
Abb. 5. Gemischtes Profil. Zeichnung eines geistesschwachen Knaben
Abb. 52. Gemischtes Profi mit drei Augen. Zeichnung eines Schizophrenen
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Gestaltungen, bei denen zwei Augen vorhanden sind, obwohl sich Nase und Mund (Abb. 49) oder eines der beiden Details (Abb. 50 a) bereits in Profilstellung befinden. Es können bei einem gemischten Profil die Nase oder der Mund auch gänzlich fehlen (Abb. 50 b) oder aber doppelt, zum Beispiel eine Nase in Vorderansicht und eine zweite im Profil, vorhanden sein (Abb. 5). Sehr selten findet sich bei Auslassung eines Details die Verdoppelung eines anderen (Abb. 50 c). Mühle1 glaubt, daß das Auftreten gewisser denkbarer Kombinationen, zum Beispiel einer Augenverdoppelung, von vornherein auszuschließen sei. Dies trifft für normale Kinder vielleicht zu, in pathologischen Fällen werden aber die unwahrscheinlichsten Möglichkeiten der Vereinigung von Teilen der Vorderansicht mit solchen des Profils realisiert. So finden wir in der Zeichnung eines schizophrenen Kranken zweimal den Mund, zwei Nasen und drei Augen; das Profilauge liegt in der Kontur des Gesichts (Abb. 52). Die Zeichnung eines anderen Schizophrenen zeigt sogar vier Augen, welche allerdings nur punktförmig wiedergegeben sind; die beiden Profilaugen befinden sich außerhalb der Gesichtsumrißlinie, und zwar senkrecht übereinander; daneben sind noch eine Nase im Profil und ein verschobener Mund en face vorhanden (Abb. 53). Von einem höhergradig schwachsinnigen Knaben, welcher auf Aufforderung einen Menschen zeichnete, erhielten wir eine kyklopische Darstellung (Abb. 54). G. Mühle, a. a. O.
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Die Vorderansicht mit dem »Zentralauge« ist ein Sonderfall des gemischten Profils. Es scheinen dabei die beiden Augen in der Mitte zu einem einzigen zu verschmelzen. Man findet das Zentralauge in den Zeichnungen
Abb. 53
Abb. 54
Abb. 55
Abb. 53. Gemischtes Profil mit vier Augen. Zeichnung eines Schizophrenen. – Abb. 54. Zentralauge. Zeichnung eines schwachsinnigen Knaben. – Abb. 55. Zentralauge. Zeichnung eines an Gehirnarteriosklerose leidenden Kranken
normaler und schwachsinniger Kinder. Abbildung 55 zeigt die Zeichnung eines an Gehirnarteriosklerose leidenden Kranken. Dieser wies neben den Erscheinungen eines allgemeinen geistigen Abbaues noch eine besondere Störung auf dem Gebiete des Gestaltens auf.1 In dem von dem Kranken gezeichneten Gesicht sieht man einen Mund in Vorderansicht und ein einzelnes Auge in der Mitte der Stirn. Es bestand eine »konstruktive Apraxic« (K. Kleist, Gehirnpathologie. Leipzig 934).
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Bei Schizophrenen beobachtet man nicht selten eine dem Zentralauge nahestehende Gestaltung: es wird in einem richtig gezeichneten Profil das Profilauge nicht an den gehörigen Platz gesetzt, sondern gegen die Mitte zu verschoben (Abb. 35, S. 67). Meist ist dabei das Auge selbst in Vorderansicht wiedergegeben. Die Kombination eines reinen Profils mit einem frontal gesehenen einzelnen Auge ist aber auch ohne diese Verschiebung (»ägyptisches Profil«) ein bei Schizophrenen häufiges Merkmal. Weitere Sonderformen des gemischten Profils haben wir in den Zeichnungen unseres Patienten Paul bereits kennengelernt (Abb. 36, 37, S. 68). Das gemischte Profil kommt also unter den verschiedensten Umständen zustande. In seinen mannigfaltigen Spielarten ist es ein beliebtes Motiv des künstlerischen Manierismus und ein charakteristisches Stilelement schizophrenen Gestaltens. Es findet sich jedoch auch bei Bewußtseinstrübungen im Rahmen exogener Psychosen und bei organisch bedingtem intellektuellem Abbau. Es kennzeichnet schließlich ein Übergangsstadium in der zeichnerischen Entwicklung des Kindes. Bei einer großen Anzahl von Kindern läßt sich nur ein kurzes Verweilen auf dieser Stufe feststellen, bei manchen beobachtet man das gemischte Profil überhaupt nicht; dafür bleibt es bei Geistesschwachen oft lange Zeit oder auch dauernd bestehen. Es ist noch ungeklärt, ob dem längeren Festhalten eines Kindes an diesem Gestaltungsmuster eine charakterologische Bedeutung zukommt. Eine Verschmelzung von Vorder- und Seitenansicht 87
findet sich in den Zeichnungen intelligenter Schizophrener, von denen man weiß, daß sie die normale Profil- und En-face-Darstellung beherrschen. Sie kann in der akuten Psychose auftreten und nachher wieder verschwinden. Am häufigsten ist das gemischte Profil allerdings bei Schizophrenen von geringer Intelligenz und Zeichenbegabung. Bei ihnen trifft man es meist konstant an, unabhängig vom Verlaufsstadium der Psychose. Nicht immer läßt sich entscheiden, ob diese Kranken die richtige Profildarstellung jemals wirklich beherrschten. Das Kind kann auf den ersten Stufen zeichnerischen Gestaltens die Möglichkeit, einen Gegenstand in verschiedenen Ansichten wiederzugeben, überhaupt nicht erfassen. Mit Recht betont Mühle1, daß das Mondgesicht der frühen Kinderzeichnung ein »komplexinniges, jeder analytischen Auflösung widerstrebendes Ganzes« ist. Nur vom Standpunkt des Erwachsenen aus geben diese ersten Menschenzeichnungen eine bestimmte Ansicht wieder. In Wirklichkeit bedarf es noch einer beträchtlich weitergehenden Visualisierung des Gestaltungsvorganges, bis das Kind in der Lage ist, einen Gegenstand von verschiedenen Blickpunkten aus zeichnerisch darzustellen. Dann erst ist an die Stelle der symbolischen Bedeu G. Mühle, a. a. O. 2 Diese bei Schwachsinnigen oft dauernd bestehen bleibende Diskrepanz zwischen »Anspruchsniveau« und intellektueller Leistungsfähigkeit wurde von E. Bleuler »Verhältnisblödsinn« genannt (E. Bleuler, Allgemeine Zeitschrift für Psychiatrie, 7, H. 4/5, 94). Ein entsprechendes Mißverhältnis liegt der schizophrenen »Verstiegenheit« zugrunde.
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tung des ersten Menschenschemas seine Abbildfunktion getreten. Die viel stärkere innere Verbundenheit mit dem Schema des von vorne gesehenen menschlichen Gesichts bleibt aber für immer erhalten. Bei der Entstehung des gemischten Profils im Entwicklungsgang des normalen Kindes kommt der noch mangelhaften Beherrschung der richtigen Profilzeichnung die größte Bedeutung zu. Bei manchen Kindern könnten ein Drang, aus eigenem Antrieb heraus ein formales Problem zu lösen, verbunden mit einer Unfähigkeit oder Abneigung, das neue Gestaltungsmuster einfach von anderen zu übernehmen, ein Vorauseilen der Ambitionen gegenüber den erworbenen Fähigkeiten, ein Mißverhältnis zwischen Wollen und Können dabei eine Rolle spielen.2 Auf einen, wie uns scheint, wichtigen Faktor bei der Entstehung des gemischten Profils weisen folgende Beobachtungen hin. Ein Alkoholiker wurde unmittelbar vor dem Ausbruch eines Delirs aufgefordert, ein Haus zu zeichnen. Während der ängstliche und leicht zitternde Kranke dieser Aufforderung nachkam, entstand aus dem ursprünglich intendierten Schema des Hauses immer mehr ein menschliches Gesicht: die Fenster wurden zu Augen, das Dach zum Hut, der Weg zur Nase – und der Lattenzaun mutete plötzlich wie zwei Reihen bleckender Zähne an (Abb. 56). Die in Abbildung 57 wiedergegebene Zeichnung wurde von einem Schizophrenen während eines akuten psychotischen Schubes angefertigt. Der Kranke hatte hochgradige Angst. Er zeichnete zuerst die Kontur 89
eines menschlichen Profils, hierauf setzte er in diesen Umriß die Details eines von vorne gesehenen Gesichts. Aber damit nicht genug: auch der Rumpf der Gestalt verlangte, sobald der Kranke mit der Zeichnung der Brüste begonnen hatte, nach einer Physiognomie. Die Ähnlichkeit dieser Rumpfphysiognomie mit der Physiognomie des Kopfes brachte uns auf den Gedanken, daß auch bei der Entstehung des gemischten Profils ein »Physiognomisierungszwang« eine Rolle spielen könnte: es wird zunächst die Profildarstellung angestrebt, sobald aber der Umriß eines Kopfes (eine »geschlossene Form«) vorliegt und etwa noch ein Auge hinzugekommen ist, setzt sich der Zwang zur Physiognomisierung
Abb. 57. Rumpfphysiognomie. Zeichnung eines Schizophrenen
Abb. 56. Physiognomisierung. Zeichnung eines Alkoholikers vor dem Ausbruch eines Delirium tremens
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durch. Die höheren Ordnungsgefüge werden durch die Emotionalität überflutet.1 Die »Physiognomie«, die der Schizophrene einem Ding verleiht oder in den Umriß eines Profils hineinzeichnet, ist mit dem »Suchbild« (v. Uexküll)2 vergleichbar. Ihm liegt ein gefühlsmäßiger »Suchton«, ein Bedürfnis, eine Stimmung des Subjekts zugrunde. Der gleiche Gegenstand kann bei verschiedenem Suchton als etwas ganz Verschiedenes wahrgenommen werden, andererseits können verschiedene Gegenstände bei einem bestimmten Suchton als gleich erscheinen. Das Suchbild wird nicht wie das Merkbild durch äußere Reize hervorgerufen, sondern ist ein freieres Erzeugnis des Subjektes. »Das Suchbild vernichtet das Merkbild.« In ähnlicher Weise kommt es beim gemischten Profil zu einer Zerstörung der intendierten Profildar-
Wenn wir in ornamentale Gebilde, in Wolken, Gesträuch oder Tintenkleckse Gesichter hineinsehen, dann beruht dies auf einem Überhandnehmen des Physiognomischen in unserer Wahrnehmung. Durch das Anmutungserleben, das uns einen im Gesicht des Mitmenschen wirklich vorhandenen Ausdruck nahebringt, wird ein lebendiger Austausch zwischen uns und unserer Umwelt möglich. Die Physiognomisierungstendenz verleiht dagegen der Außenwelt ein Gesicht und eine affektive Tönung, die in dieser gar nicht vorhanden ist, sondern zur Gänze dem erlebenden Subjekt entstammt. Das Auftreten der Physiognomisierungstendenz bei gewissen Krankheitszuständen zeigt eine affektive Auflockerung an. Es ist dies aber eine Affektivität ohne echten Bezug zur Außenwelt. Andererseits ist es klar, daß unser gefühlsmäßiger Kontakt mit den Mitmenschen auf einer Fähigkeit beruhen muß, die im anderen tatsächlich vorhandenen emotioneilen Regungen mitzuempfinden. 2 J. v. Uexküll und G. Kriszat, Streifzüge durch die Umwelten von Tieren und Menschen. Berlin 934.
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stellung durch die Wiedergabe des von vorne gesehenen Gesichts. Im Zeichentest wird die Profilzeichnung als Hinweis auf Introversion, die En-face-Darstellung auf Extraversion der Versuchsperson gewertet.1 »Im physiognomischen Erleben menschlichen Ausdrucks sind die frontale Zuwendung und die im Profil sich zeigende Abwendung die beiden extremen Möglichkeiten mitmenschlichen Bezugs« (Mühle).2 Das Profil ist vergleichsweise formaler, distanzierter, gestalthafter. Es ist für das Kind auch schwieriger zu zeichnen. »Mit der Profildarstellung ist der dargestellten Persönlichkeit im Verhältnis zum Beschauer ein stolzes Fürsichsein, ein In-eineranderen-Welt-Leben gesichert« (Friedländer).3 Durch die Seitenansicht werde der Dargestellte in die Ferne gerückt. Die Vorderansicht sei dagegen dazu geeignet, dessen »herrschgewaltige Gegenwart« dem Betrachter aufzudrängen. Das Profil ist das höhere, vom Kind später erworbene Gestaltungsmuster. Es ist relativ stärker formal, vorwiegend durch die Umrißlinie bestimmt. Die Vorderansicht ist das einfachere, ursprünglichere Schema. Es ist mehr gefühlsgesättigt, hat einen höheren Anmutungswert. Der präpsychotische Schizophrene ist in der Regel introvertiert. Mit dem Ausbruch der Psychose stellen sich jedoch oft starke extratensive Strebungen ein. Man K. Machover, a. a. O. 2 G. Mühle, a. a. O. 3 M. J. Friedländer, Von Kunst und Kennerschaft. Berlin 957.
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beobachtet bei akuten Psychosen die verschiedensten (pathologischen) Formen einer vermehrten Zuwendung zur Außenwelt. Oft hat man dabei den Eindruck eines Schutz- und Hilfesuchens. Diese plötzliche Inkoordination introversiver und extratensiver Tendenzen kommt im gemischten Profil symbolisch zum Ausdruck. In der akuten Psychose entsteht diese Gestaltung ohne jede Intention und Absichtlichkeit, und meist auch ohne daß sich der Kranke der Bedeutung des Doppelgesichts bewußt ist – im Banne eines Ausdruckszwanges. Bei der chronischen Schizophrenie, bei der wieder ein gewisser Gleichgewichtszustand eingetreten ist, die krankhaften Manifestationen der akuten Phase aber zum großen Teil fixiert worden sind, beruht die Wiedergabe eines gemischten Profils nicht auf den gleichen elementaren Vorgängen. Der Gestaltung haftet dann oft eine gewisse Willkürlichkeit und Gekünsteltheit an. Im Wesen liegt ihr jedoch dieselbe Störung zugrunde: eine Dissoziation seelischer Vorgänge, ein Zwiespalt zwischen einer auf Objektivierung und Form gerichteten Tendenz und einer die Form durchbrechenden Emotionalität. Das gemischte Profil beruht auf einer Diskrepanz zwischen Wollen und Können, formalen und emotionalen, introversiven und extratensiven Tendenzen, Distanzierungsstreben und abnormem Kontaktbedürfnis, zwischen der Tendenz zur Objektivierung und dem Sich-Durchsetzen der Subjektivität. Auf Grund dieses Mißverhältnisses gerät die Grenze zwischen Ich und Außenwelt ins Wanken, entsteht das Erlebnis der Gespaltenheit und der Zweifel an der eigenen Identität. 93
Der gesunde Künstler kann spontan ein gemischtes Profil gestalten oder, was häufiger sein wird, von außen her dazu angeregt werden. Es mag seine Neigung, etwas Besonderes, Rätselhaftes, Schockierendes hervorzubringen, dabei eine Rolle spielen. Wahrscheinlich empfindet er dunkel den Symbolgehalt des Doppelgesichts. Seine Überlegungen sind aber für die Motivwahl nicht ausschlaggebend. Die eigentlich determinierenden Faktoren müssen in tieferen Seelenschichten gesucht werden und sind sicherlich jenen verwandt, die auch beim Kind und beim Schizophrenen ein gemischtes Profil an Stelle einer gewöhnlichen Vorder- oder Seitenansicht entstehen lassen. Schon das Kind, das ein gemischtes Profil zeichnet, strebt nach der höheren Form, ohne sie jedoch zu beherrschen. Die »Natur« rächt sich, indem sie das unvollständige und zu schwache Merkbild des Profils (»Idea«) zerstört und dem angestrebten Gestaltungsmuster das der geistigen und emotionalen Reife des Kindes (seiner tatsächlichen »Gestimmtheit«) viel mehr entsprechende Bild des von vorne gesehenen Gesichts aufprägt. Beim Künstler und beim schizophrenen Kranken entsteht dasselbe Gestaltungsmuster – zwangsläufig oder mit mehr oder weniger Prätention und Bedeutungsbewußtsein – durch ein ähnliches Auseinanderklaffen von emotionalem Erleben und formaler Erlebnisbewältigung. Das gemischte Profil ist eines der eindrucksvollsten Symbole schizophrener Gespaltenheit.
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Die Geometrisierung In seinem Versuch, den »Traditionalismus des Antiklassischen« aufzuzeigen, erwähnt Hocke1, daß die ersten kubistischen Darstellungen des 6. Jahrhunderts durch Werkstatt-Experimente Leonardos und Dürers angeregt wurden. Während jedoch Dürers kubistisches Figurenschema noch als ein dem eigentlichen Werk vorangehender Entwurf zu betrachten ist, sei der Kubismus seines Schülers Ehard Schön bereits zum künstlerischen Selbstzweck geworden. Den Konstruktivismus Bracellis und Calders deutet er als »spielende Formengeometrie im Raum, kuriose Poesie, abstruse Lyrik«. »Man fängt die sich ins Ungegenständliche verflüchtigenden
Abb. 58. Geometrisierung. Zeichnung einer Schizophrenen
G. R. Hocke, a. a. O.
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Bildinhalte mit Netzen geometrischer Formen wieder ein.« Daneben finde sich jedoch in der modernen Kunst eine Richtung, der es darum gehe, das Gefährdet- und Unbehaustsein des Menschen im Zeitalter der Technik zum Ausdruck zu bringen. »Aus einer lyrischen Formengeometrie wird eine Geometrie der Angst.« Das betont geometrisch-technische Gestalten strebe nach einer Entseelung der Welt als Antwort auf das erlebte Übergewicht des Irrationalen. Kretschmer1 weist auf die Neigung der Schizophrenen zu geometrisierendem Gestalten hin. Einer seiner Kranken habe dem Drang zur Geometrisierung in folgenden Worten Ausdruck verliehen: »Ich stelle mir alle realen anschaulichen Formen gerne in geometrischer Stilisierung, als Dreieck, als Viereck und Kreis, vor. Alles in ein Schema bringen, der realen Wirklichkeit entkleiden!« Dieser Äußerung entspricht eine Skizze, die wir von einer schizophrenen Kranken auf unsere Bitte, einen Mann zu zeichnen, erhielten (Abb. 58). Sogar in den Klecksbildern des Rorschachtests erblicken Schizophrene mitunter geometrische Figuren.2 Der Tendenz zur Geometrisierung begegnen wir aber nicht nur auf bestimmten Gebieten der bildenden Kunst und der Psychopathologie, sie ist vielmehr für alles menschliche Gestalten in hohem Maße kennzeichnend. »Jeder Baum im Walde«, sagt Klages3, »steht merklich E. Kretschmer, a. a. O. 2 E. Bohm, Lehrbuch der Rorschach-Psychodiagnostik. Bern 95. 3 L. Klages, Handschrift und Charakter. 2. und 22. Aufl., Leipzig 943.
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schief; aber jedes vom Menschen gebaute Haus nähert sich so sehr der fallrechten Linie an, daß wir die tatsächlich dennoch vorhandene Abweichung nicht mehr bemerken. Die Umrißzeichnung keines einzigen Blattes, wohl aber jeder beliebigen Tischplatte verwirklicht – wenigstens annähernd – eine mathematische Figur.« Kretschmer1 glaubt, daß schon auf frühesten Stufen primitiven Gestaltens ein entschiedenes Wohlgefallen an regelmäßigen geometrischen Figuren vorhanden sei und daß es dem einfachen Menschen Freude bereite, komplizierte empirische Formen von Menschen und Tieren nach dem Geometrischen hin zu vereinfachen (»Formvereinfachung«), ihnen geradlinige oder regelmäßig gerundete Umrißlinien zu verleihen, ja den Gesamtumriß der Gestalt möglichst den geometrischen Grundformen von Dreieck, Kreis, Rhombus oder einer Zusammensetzung solcher Grundformen anzunähern. Auch Worringer2 hielt »die einfache Linie und ihre Weiterbildung in rein geometrischer Gesetzmäßigkeit« für eine »Beglückungsmöglichkeit« des primitiven Menschen. Er war jedoch der Meinung, daß der durch die Unsicherheit und Verworrenheit der Welt geängstigte Mensch durch die von ihm selbst hervorgebrachten geometrischen Gebilde Beruhigung und Befriedigung erfahre. Denn in diesen geometrischen Formen »ist der
E. Kretschmer, a. a. O. 2 W. Worringer, Formprobleme der Gotik. 4. Aufl., München 98.
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letzte Rest von Lebenszusammenhang und Lebensabhängigkeit getilgt, hier ist die höchste absolute Form, die reinste Abstraktion erreicht; hier ist Gesetz, ist Notwendigkeit, wo sonst überall die Willkür des Organischen herrscht«. Ehe wir jedoch diese Gedankengänge weiter verfolgen, scheint es angebracht, das Phänomen der Geometrisierung unter entwicklungspsychologischem Aspekt zu betrachten.1 Die Wahrnehmung des Kleinkindes ist als physiognomisches Erleben, als Angemutetwerden aufzufassen. Diese Art des Bezugs zur Außenwelt ist von dem gegenständlichen Wahrnehmen des Erwachsenen wesensverschieden. Die Anmutungen sind gefühlsartig und unstrukturiert, sie haben im Fluß der Zeit keinen Bestand, sind gewissermaßen bloß Atmosphäre und Stimmung. Von ihnen sind die Gestaltqualitäten zu unterscheiden. Sie stellen die formalen und figuralen Bestimmungsstücke der Erscheinungen dar und sind gefühlsindifferent. Während die Welt ursprünglich rein physiognomisch erlebt wird, dringen mit fortschreitender Entwicklung immer mehr Gestaltqualitäten in dieses Erleben ein und ordnen den Strom der Erscheinungen. Bei wahrnehmungspsychologischen Experimenten entdeckte Sander2, daß in einer Übergangsreihe von Ich folge dabei den Ausführungen von G. Mühle, a. a. O. 2 F. Sander, Experimentelle Ergebnisse der Gestaltpsychologie. Bericht über den X. Kongreß für experimentelle Psychologie. Jena 928.
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ähnlichen Figuren einzelne erlebnismäßig besonders herausspringen, von »besserer« Qualität als die dazwischenliegenden Figuren zu sein scheinen. Sie sind die sogenannten »ausgezeichneten« Gestalten: bei der Rechteckreihe das Quadrat, das Rechteck im goldenen Schnitt und der schmale Streifen. Die »ausgezeichneten« Gestalten bewirken, daß sich Nachbarfiguren erlebnismäßig ihnen angleichen oder zumindest eine Tendenz zur Angleichung in der Wahrnehmung zeigen (»Eidotropie«). Die »ausgezeichneten« Gestalten spielen im Erleben die Rolle der »Bezugsnormen« (Petermann1) oder »Ordnungsqualitäten« (Prinzhorn2). Mit zunehmender geistiger Reife erfährt ihr Bestand eine Bereicherung. So können zum Beispiel in der Winkelreihe zuerst nur der rechte, erst viel später der Winkel von 45 Grad und dann die Winkel von 30 und 60 Grad als charakteristische Orientierungsfiguren erkannt werden. Die am frühesten erworbenen Normgestalten üben aber auch noch im späteren Leben die stärkste Wirkung auf den Wahrnehmungsvorgang aus. Sicher sind jene Prinzipien, die beim Gestalterleben eine Rolle spielen, auch für die Vorgänge der Gestaltung
B. Petermann, Die Wertheimer-Koffka-Köhlersche Gestalttheorie und das Gestaltproblem. Leipzig 929. 2 Symmetrie, Parallelität, Rechtwinkligkeit, alle zahlenmäßig faßbaren geometrischen Beziehungen sind »Ordnungsqualititen« im Sinne Prinzhorns. Sie bestimmen die Form des Werkes. Durch Überbetonung dieser Kategorien erhält das Werk eine formalistische Note (H. Prinzhorn, a. a. O.).
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wichtig. Schon auf frühesten Stufen des Zeichnens tritt, wie Britsch1 gezeigt hat, der rechte Winkel als Norm auf (»R-Prinzip«). Der rechte Winkel ist eines der ersten und ursprünglichsten Ordnungselemente. Er stellt zunächst eine Gefügequalität, nämlich die Beschaffenheit des Winkeligen schlechthin, dar. Die Erfassung des »R-Prinzips« ist für jede über früheste Stufen hinausgehende Entwicklung des Zeichnens grundlegend. Sie ist Voraussetzung für die Wiedergabe eines Kreuzes, eines Viereckes, einer Leiter. Mit Hilfe dieser Normgestalt werden später komplizierte Gebilde aufgebaut. Der Entwicklung der Wahrnehmung entsprechend, wenn auch dieser weit nachhinkend, lernt das Kind, immer mehr »prägnante« Gestalten auf dem Zeichenblatt zu entwerfen. Zuerst ist es nur ein gerader Strich, ein Kreis, ein Viereck, später treten kompliziertere Gebilde, auch solche nicht-geometrischer Art, in Erscheinung. Brunswik2 unterscheidet innerhalb der »Tendenz zur prägnanten Gestalt« eine Neigung zur Geometrisierung von einer Neigung zur Empirisierung. Die empirischen Gestalten in der natürlichen Umwelt des Kindes werden nämlich wie die geometrischen mit Hilfe bestimmter Bezugsnormen wahrgenommen, welche, wie etwa das menschliche Profil, sehr verschieden von einfachen geometrischen Figuren sein können. Während am Anfang Zitiert nach G. Mühle, a. a. O. 2 E. Brunswik, Experimentelle Psychologie in Demonstrationen. Wien 935.
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der Entwicklung der zeichnerischen Fähigkeiten des Kindes die Geometrisierung in die Augen springt, ist der weitere Fortschritt der Empirisierungstendenz zu verdanken. Sie gleicht die verfügbaren Schemata an das Erscheinungsbild der wahrgenommenen Gegenstände an. Eine solche Angleichung ist nur dadurch möglich, daß die ursprünglich vorwiegend motorisch determinierte Zeichentätigkeit unter den zunehmenden Einfluß visueller Momente gerät. Das Kind zeichnet dann nicht mehr, was es kann und weiß, sondern lernt langsam so zu zeichnen, wie es die Dinge sieht. Empirisierung bedeutet also Normalisierung in Hinsicht auf organische und visuelle Bezugsnormen. Wenn man die Zeichnungen von Kindern verschiedener Altersstufen betrachtet oder die Entwicklung des Zeichnens bei einem einzelnen Kinde verfolgt, kann man feststellen, daß auf den Erwerb des primitiven Menschenschemas ein Stadium der Geometrisierung dieses Schemas folgt. Bei Kindern im 6. und 7. Lebens-
Abb. 59. Geometrisierung. Menschendarstellungen eines gesunden siebenjährigen Kindes
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jahr ist die Geometrisierung besonders ausgeprägt. Auch sie zielt auf eine differenziertere Erfassung der Wirklichkeit, wenn auch die Darstellungen auf dieser Stufe noch wenig naturgetreu sind (Abb. 59). Geometrische Kategorien sind im Gegensatz zu organischen Formen gefühlsindifferent. Sie berauben die natürlichen Erscheinungen ihrer physiognomischen Werte. Wenn daher auch die Geometrisierungstendenz des Kindes im Sinne der Weiterentwicklung des Zeichnens einsetzt und ebenfalls eine zunehmende Angleichung der Gestaltungen an das Erscheinungsbild erstrebt, so geht sie doch auf Kosten des Ausdrucks. Der zeichnerischen Wiedergabe eines Tieres, einer Landschaft, eines Menschen wird nämlich eine schematisierende Darstellung nicht gerecht. Das Unmittelbare, Lebendige, Atmosphärische liegt ja eben in jenen Abweichungen der Zeichnung von der rein geometrischen Form. Die Abbildung 60 zeigt die Zeichnungen eines schizophrenen Patienten von unterdurchschnittlicher Intelligenz und Zeichenbegabung. Sie wurden im akuten Stadium eines katatonen Schubes und im Verlaufe der darauf folgenden Elektrokrampfbehandlung hergestellt. Der Kranke war vor Beginn der Behandlung nahezu mutistisch, konnte aber veranlaßt werden zu zeichnen. Die unter starker innerer Bedrängnis entstandene erste Zeichnung (Abb. 60 a) zeigt eine menschliche Figur, die durch eine von oben einwirkende Gewalt niedergedrückt zu sein scheint; es finden sich kaum geometrisierende Züge. Die zunehmende und einen hohen Grad erreichende Geometrisierung, welche in 102
a
d
b
c
e
f
Abb. 60. Zeichnungen eines Schizophrenen im akuten Stadium der Psychose (a), während des Behandlungsverlaufes (b–e) und nach Abschluß der Behandlung (f)
den nächsten Zeichnungen zu sehen ist (Abb. 60 b–f), trat unter dem Einfluß der Konvulsionsbehandlung gleichzeitig mit der klinischen Besserung des Kranken auf. Auf Grund derartiger Beobachtungen könnte man vermuten, daß die Geometrisierungstendenz eine Nebenwirkung der Behandlung sei. Dies ist aber nicht der Fall; die Elektrokrampfbehandlung bewirkt vielmehr nur die deutlichere Manifestation einer bereits vorher bestehenden Neigung zu geometrisierendem Gestalten. 103
Die geometrischen Kategorien im graphischen Gestalten der Schizophrenen sind als Ergebnis eines Restitutionsversuches zu betrachten. Sie fehlen weitgehend in den Zeichnungen eines siebzehnjährigen Patienten am Beginn einer hebephrenen Erkrankung (Abb. 6 a und b), sind dagegen in jenen Zeichnungen, die derselbe Kranke sieben Jahre später hergestellt hat – nachdem die Psychose einen »äquilibrierten Defektzustand« hinterlassen hatte –, in extremer Ausprägung vorhanden (Abb. 6 c und d). Ein angsterfülltes, deformiertes Menschenbild hat sich in ein geometrisch-starres Schema verwandelt. Wir beobachteten an einer langen Reihe von Zeichnungen, wie diese formalen Veränderungen unabhängig von Behandlungsmaßnahmen allmählich erfolgten.1 Ein anderer unserer Kranken, der einen beträchtlichen Negativismus zeigte, weigerte sich hartnäckig, der Aufforderung, einen Menschen zu zeichnen, nachzukommen. Plötzlich verlangte er ein Lineal, zog dann aber bloß eine Linie diagonal über das Blatt (Abb. 62 a) und verharrte hierauf wieder in seinem negativistischen Stupor. Der Versuch einer rein konstruktiven Lösung der Aufgabe ist in diesem Falle nicht geglückt. Die zweite Zeichnung (Abb. 62 b) hat bereits abbildenden Eine ähnliche Entwicklung läßt sich nicht selten auch bei gesunden Künstlern feststellen: sie beginnen ziemlich naturalistisch, versuchen hierauf immer mehr Ausdruck zu bewältigen, verwenden dazu auch das Mittel der Deformation, verdrängen schließlich das Physiognomische und enden in einem erstarrten Konstruktivismus – oder finden einen reifen, beruhigten, mehr oder weniger abstrakten Altersstil.
104
a
b
c d Abb. 6. Zeichnungen eines siebzehnjährigen Patienten zu Beginn einer hebephrenen Erkrankung (a und b) und sieben Jahre später, nachdem die Psychose einen »äquilibrierten Defektzustand« hinterlassen hatte (c und d)
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a
b
Abb. 62. Erzeugnisse eines schizophrenen Kranken nach Aufforderung, einen Menschen zu zeichnen; unbehandelt (a); nach Behandlung (b)
Charakter, verrät aber immer noch eine starke Tendenz zur Geometrisierung; sie wurde von dem Kranken nach Elektrokrampfbehandlung hergestellt; sein Zustand hatte sich etwas gebessert. Ein Kranker, der einen Menschen zeichnen sollte, füllte das Zeichenblatt durch Hiebkritzeln bis an den Rand mit kurzen Strichen aus. Zwei in die Mitte gesetzte Augen lassen das Gebilde wie ein Gesicht, welches ins Grenzenlose verschwimmt, erscheinen (Abb. 63 a). Der Patient befand sich im akuten Stadium seines dritten schizophrenen Schubes, war im Gespräch kaum fixierbar, zerfahren, in Gestik und Mimik jedoch eher etwas starr. Während unter dem Einfluß einer neuroplegischen Behandlung die Psychose langsam abklang, verschwand zunächst das primitive Hiebkritzeln. Der Kranke brachte längere, gerade Linien hervor, die 106
waagrecht und senkrecht angeordnet sind und parallel zueinander verlaufen. Die Visualisierung des Gestaltungsvorganges nahm zu, setzte sich aber gegenüber den iterativen Bewegungsimpulsen und der stereotypen Ordnungstendenz zunächst nur schwer durch. Die Umrisse der dargestellten Figuren schienen durch eine Annäherung und ein Sich-Verdichten einzelner Linien in dem vorgegebenen Linienmuster zu entstehen (Abb. 63 b und c). Infolge der noch mangelhaften Integration des visuellen Schemas mit den Eigentendenzen des Bewegungsablaufes erinnern einzelne Gestaltungen des Kranken an Erzeugnisse aus primitiven Kulturen (Abb. 63 d). Mit fortschreitender Heilung trat seine Neigung zu mehrfacher Konturierung allmählich zurück (Abb. 63 e), aber selbst in einer der letzten Zeichnungen, die der Kranke kurz vor seiner Entlassung angefertigt hat, ist der iterative Gebrauch geometrischer Elemente noch zu erkennen (Abb. 63 f). Geometrisierendes Gestalten erfolgt zunächst durchaus prärational. Die geometrischen Kategorien sind Ergebnis einer elementaren Ordnungstendenz, welche bereits auftritt, lange bevor eine gedankliche Erfassung der entstehenden Ordnungsfiguren möglich ist. Kretschmer1 meint, daß die unregelmäßigen, komplizierten Umrißlinien an den lebenden Organismen und in der Landschaft so beherrschend und geometrische Begrenzungen so in der Minderzahl seien, daß diese Spärlichkeit des Geometrischen in der durch Menschen E. Kretschmer, a. a. O.
107
a
b
c
d
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e
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Abb. 63. Zeichnungen eines Schizophrenen auf dem Höhepunkt der Psychose (a), während des Behandlungs- und Heilungsverlaufes (b–e) und nach psychischer Wiederherstellung (f)
hand noch unbearbeiteten Natur zu seinem Hervortreten in der primitiven Kunst in keinem Verhältnis stehe. Wir können somit nicht annehmen, daß die geometrischen Kategorien von außen her, durch die Sinneswahrnehmung in die zeichnerische Tätigkeit hineingetragen würden. Die Tendenz zur Geometrisierung sei wie jene zur Formwiederholung mit den rhythmischen Tendenzen auf psychomotorischem Gebiet eng verwandt und als eine sehr alte, »primäre Eigentendenz des seelischen Apparates« zu betrachten. Die ursprüngliche Neigung des Menschen, geometrische Gebilde hervorzubringen, läßt sich am ehesten mit dem Zustandekommen gewisser Bauweisen im 109
Tierreich vergleichen. Der Termitenbau, das Vogelnest, das Spinnennetz bedürfen zu ihrer Entstehung keiner Überlegung, aber auch nicht der Nachahmung irgendwelcher in der Natur wahrgenommener Gestaltungen. Es liegt ihnen ein dem Organismus dieser Lebewesen innewohnender und in deren Erbgefüge verankerter Plan zugrunde.1 Die Fähigkeit zu geometrisierendem Gestalten ist angeboren, ihre Manifestation ist an die Triebhemmung gebunden. Aus diesem Grunde konnte der primitive Mensch, wie Worringer2 annahm, schon die einfachsten geometrischen Gebilde, welche er vor jeder Beimengung einer Darstellungsabsicht schuf, als schützende und bannende Zeichen betrachten. Sie waren durch die Hemmung seiner eigenen, von ihm selbst bedrohlich erlebten triebhaften Impulse zustande gekommen und stellten einen »Schutzwall« gegenüber den Affekten dar. So wurden sie zu Symbolen einer neuen Ordnung, eines Daseins auf höherer Ebene, nachdem er seinen Leidenschaften und Ängsten nicht mehr gewachsen war. Tritt das geometrisierende Gestalten später in den Dienst eines Abbildungsvorganges, dann bietet es die Möglichkeit, die unbestimmten Erscheinungen abzu Peters erforschte die formalen Entsprechungen zwischen dem Körper und dem Netz der Kreuzspinne und gelangte zu der Feststellung, daß von der Spinne die Mathematik ihres Körpers gewissermaßen nach außen projiziert werde (zitiert nach Frieling, Harmonie und Rhythmus in Natur und Kunst. München/Berlin 937). 2 W. Worringer, a. a. O.
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grenzen, einzufangen und zu bewältigen. Vom dranghaften Hervorbringen geometrischer Figuren mit Hilfe angeborener Bewegungsschablonen führt der Weg des menschlichen Geistes über verschiedene Stufen künstlerischer Tätigkeit und zunehmender Bewußtheit bis zur wissenschaftlichen Geometrie.1 Es ist derselbe Weg, auf dem der Mensch von der mythisch-magischen auf die rationale Ebene des Seins gelangt. Für die neuen und außerordentlichen Möglichkeiten der Kommunikation mit der Dingwelt, welche sich auf dieser letzten Stufe ergeben, liefert die moderne Technik den besten Beweis. Aber auch die mitmenschlichen Beziehungen gestalten sich auf dieser Ebene neu. Der »Realitätsverlust« des schizophrenen Kranken offenbart die Störung seiner Kommunikationsfähigkeit im rationalen Bereich. Seine Neigung zu geometrisierendem Gestalten entspringt dem Versuch, die Ordnung von Grund auf wiederherzustellen. Dieses Bestreben kann zur Erstarrung im schizophrenen Defektzustand – oder zur Heilung führen. Tritt eine völlige Genesung ein, dann schwindet aber meist auch die ausgeprägte Geometrisierungstendenz.
Eine ähnliche Ansicht vertritt Read: »Symmetrie, Gleichgewicht, alle die Gesetze geometrischer Komposition wurden zuerst in der Kunst augenfällig gemacht; die erste Wissenschaft bestand in einem Festhalten der Entdeckungen des Künstlers; die Mathematik ging aus einem Nachdenken über Schöpfungen der Kunst hervor« (H. Read, Bild und Idee. Köln 96).
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Die Deformation Das schizophrene Gestalten ist entweder durch Überbetonung oder durch den Verlust formaler Kategorien gekennzeichnet. Strenger Formalismus und Zerstörung der Form sind – wie die schizophrene Bildnerei am eindringlichsten zeigt – nahe miteinander verwandt. Beide Methoden tun der natürlichen Umwelt Gewalt an. Darin liegt das Gemeinsame der entgegengesetzten Tendenzen und ihre Beziehung zur Schizophrenie. Wenn nun auch Formalismus und Deformation den mangelhaften Außenweltkontakt anzeigen, so weisen sie doch auf verschiedene Zustände des schizophrenen Kranken hin. Wir sahen eine zunehmende Tendenz zur Geometrisierung vor allem im Heilungsverlauf schizophrener Psychosen. Im akuten Stadium der Erkankung findet man dagegen häufiger die Erscheinungen der Deformation.1 Einer unserer Patienten erkrankte im Alter von vierzehn Jahren zum erstenmal an einer schizophrenen Psychose. Er bot ein paranoid-halluzinatorisches Bild mit depressiven und hypochondrischen Zügen. Zwei Jahre später erfolgte der nächste schizophrene Schub. Nun war der Patient maniform erregt, nahm bei Ansprache
Die Zeichnungen chronischer Schizophrener können auch beide Phänomene in bunter Mischung aufweisen (vgl. z. B. Abb. 3, 32; S. 46). Die Hervorkehrung formaler, struktureller, konventioneller Bezüge einerseits, ihr völliges Fehlen andererseits entsprechen ja auch dem Wesen dieser Kranken in klinischer Hinsicht.
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stramme Haltung ein, salutierte, ließ sich dann plötzlich zu Boden stürzen, sprang blitzartig wieder auf, stieß unzusammenhängende Worte hervor, grimassierte und gestikulierte. Aufgefordert zu zeichnen, brachte er nur primitive Kritzelbewegungen zustande. Es wurden nun zwei Elektrokrampfbehandlungen im Abstand von zwanzig Minuten durchgeführt. Eine halbe Stunde nach dem zweiten Krampfanfall zeichnete der Kranke ein menschliches Gesicht (Abb. 64 a). Der ungebrochene Schwung weit ausholender Linien ist Ausdruck einer immer noch bestehenden maniformen Erregung. Am folgenden Tag (vierundzwanzig Stunden nach der Behandlung) zeigte der Patient eine etwas erhöhte Ablenkbarkeit, war jedoch ruhig und verhielt sich geordnet. Er zeichnete jetzt mit beträchtlichem Druck und neigte dazu, die Konturen zu verbreitern und zu verstärken sowie geometrische Elemente (Kreuz, parallele Striche) inadäquat und stereotyp zu verwenden. Die Zeichnung ist größer entworfen, als es die verfügbare Zeichenfläche erlaubt. Die dargestellte Figur weist hochgradige Deformationen auf (Abb. 64 b). Schon am Abend desselben Tages hatte sich die Struktur der Zeichnung gebessert, Deformationserscheinungen waren jedoch immer noch deutlich ausgeprägt (Abb. 64 c). Sechzehn Tage nach Beginn der Behandlung (mit insgesamt drei Krampfanfällen), als die Psychose bereits abgeklungen war, war auch die ungewöhnlich starke Neigung des Kranken zu deformierendem Gestalten 113
a
b
c
d
Abb. 64. Zeichnungen eines sechzehnjährigen Patienten von unterdurchschnittlicher Intelligenz während seines zweiten schizophrenen Schubes (a–c) und nach dem Abklingen der Psychose (d)
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geschwunden. Die von ihm gezeichnete Figur ist wohl immer noch deformiert, aber nicht mehr als wir es bei einem minderbegabten, nicht-psychotischen Patienten erwarten würden (Abb. 64 d). Eine deutliche Geometrisierungstendenz ist vorhanden. Die geometrischen Elemente stehen jetzt jedoch zu den übrigen Bildinhalten in Beziehung, dienen zum Ausschmücken der Flächen bzw. der Kleidungsstücke der dargestellten Figur und sind mit dem visuellen Gestaltungsmuster voll integriert. Die Deformation ist wie die Geometrisierung auch in der Entwicklung des kindlichen Zeichnens festzustellen, sie ist ein Merkmal der Bildwerke der Primitiven und der manieristischen Kunst; schließlich findet sie sich in den bildnerischen Gestaltungen sowohl geistig tiefstehender als auch hoch differenzierter schizophrener Kranker. Deformationen sind auffällig und oft »schockierend«. Sie lösen ein Gefühl der Verwirrung aus. Viele Menschen empfinden eine Abneigung gegenüber deformierten Gestaltungen. Da die Deformation jedoch in der schizophrenen Bildnerei und in der modernen Kunst von so großer Bedeutung ist, wollen wir einige ihrer Spielarten genauer untersuchen. In der Kinderzeichnung werden wie in manchen Werken mittelalterlicher Kunst die Hauptpersonen unabhängig von der räumlichen Entfernung oft größer als die Nebenfiguren dargestellt. Aber auch was dem Kind aus irgendeinem anderen Grunde wichtig ist, etwa der Hut an einer menschlichen Gestalt, kann unverhält115
nismäßig groß gezeichnet werden. Werner1 nennt dieses Phänomen »Affekt-Perspektive«. Auch in der Natur kommt der Größe oder Kleinheit eines Gegenstandes häufig ein entsprechender Ausdruckswert zu. Dieser Ausdruckswert der relativen Größe wird vom Kind aber, unabhängig von den tatsächlichen Verhältnissen, den eigenen Bedürfnissen entsprechend verteilt. Meist ist dieser Vorgang unbewußt. Unter affektivem Einfluß wird der Wahrnehmungsinhalt umgeformt, was nicht selten zu beträchtlicher Entstellung führt. Schizophrene verfügen in ihren Zeichnungen oft willkürlich über Größenverhältnisse. Je krasser das Merkmal der Disproportion zutage tritt, um so eher spricht es für Schizophrenie. In akuten psychotischen Zuständen weisen die Zeichnungen der schizophrenen Kranken oft zahlreiche Disproportionen auf (Abb. 64 c). Manchmal beruht die unnatürliche Vergrößerung einzelner Körperteile darauf, daß sie sexualsymbolische Bedeutung erlangen (so sind z. B. die Finger in Abbildung 64 c als Phallussymbole zu betrachten). Eine besondere Vorliebe für Proportionsschemata, welche man bei Schizophrenen ebenfalls beobachten kann, ist wie die Geometrisierungstendenz als eine Erscheinung des Formalismus und als Folge einer »Gegenregulation« aufzufassen. Sie äußert sich zum Beispiel in der vagen Andeutung gewisser »Richtlinien« beim Zeichnen eines Menschen, kann aber H. Werner, Einführung in die Entwicklungspsychologie. 3. Aufl., München 953.
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Abb. 65. Proportionsstudie. Zeichnung eines Schizophrenen
gelegentlich auch für die Motivwahl von Bedeutung werden (Abb. 65). Unter Dislokation verstehen wir die Wiedergabe einzelner Teile eines Gegenstandes an falscher Stelle. So brachte einer unserer schizophrenen Kranken den rechten Arm am Kopfe einer menschlichen Gestalt an (Abb. 67). Auch die Verschiebung der Brüste gegen die Körpermitte (Abb. 66) oder des Mundes aus der Medianebene (Abb. 64 a) sind Beispiele für diese Art von Deformation. Die Dislokation setzt ein Bestreben zu gliedern und anzuordnen voraus. Infolge einer mangelhaften Beherrschung des visuellen Gestaltungsmusters (beim Kinde) oder dessen Zurückdrängung durch affektive Einflüsse (beim Schizophrenen) wird das Ziel dieses Ordnungsbestrebens jedoch nicht erreicht. 117
Abb. 66. Konturzerfall und verschiedene Erscheinungen der Deformation. Zeichnung eines faseligen Schizophrenen
Abb. 67. Dislokation des rechten Armes. Zeichnung eines Schizophrenen
Häufig kann man beobachten, daß Schizophrene einzelne Teile einer Figur in verschiedenen, nicht zusammenpassenden Ansichten wiedergeben, zum Beispiel das Gesicht im Profil und den Rumpf von vorne oder den Rumpf in Vorderansicht und die Beine in seitlicher Stellung. Auch dies ist ein typischer »Fehler« der Kinderzeichnung. In den Zeichnungen Pauls äußert sich diese Neigung zur Verdrehung (Distorsion) besonders deutlich. Der Kranke hatte nicht nur eine Vorliebe für das gemischte 118
Abb. 68.‹Verdrehung. Zeichnung eines Hebephrenen
Abb. 69. Torso. Zeichnung eines Schizophrenen
Profil1, er verdrehte auch den Körper radikal (Umschlag links unten). Die Skizze eines anderen Schizophrenen zeigt eine menschliche Figur, bei der Füße und Arme vom Betrachter aus nach links, Profil und Brüste dagegen nach rechts gewendet sind (Abb. 66). Ein hebephrener Kranker zeichnete zwei weibliche Figuren, deren eine in Frontalansicht wiedergegeben ist; bei der anderen ist der untere Körperabschnitt von Man kann das gemischte Profil als einen Sonderfall der Distorsion auffassen; es entspricht einem Porträt in Halbprofilstcllung; das Halbprofil drückt aber Bewegung aus.
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hinten, der obere von vorne dargestellt; dabei weist der Oberkörper eine leichte Drehung auf (Abb. 68). Der Kranke führte diese ganz unnatürliche Distorsion auf seine Absicht zurück, eine Bewegung darzustellen, meinte jedoch, daß es ihm nicht gut gelungen sei. Sicher spielt der kinästhetische Faktor (im Sinne einer vermehrten »inneren Bewegtheit«) bei der Entstehung dieser Spielart der Deformation eine Rolle. Auch die eigentümlichen Regeln für die Wiedergabe des Menschen in der ägyptischen Reliefkunst und Malerei sind wohl in erster Linie aus einem Drang nach Bewegungscharakteristik hervorgegangen. Wahrscheinlich verhinderte eine starke emotionale Fixierung an die Vorderansicht des menschlichen Körpers zusammen mit der konventionellen Strenge der ägyptischen Kunst die Entstehung eines natürlicheren Bewegungs- und Menschenbildes. Die Verstümmelung (Mutilation) ist eine weitere Möglichkeit deformierenden Gestaltens. Unsere Zeit hat es gelernt, aus den durch äußere Einflüsse teilweise zerstörten Relikten vergangener Kulturen sich von dem Ganzen eine Vorstellung zu bilden. Als selbständiges Thema der Bildhauerkunst ist der Torso jedoch vor der zweiten Hälfte des 9. Jahrhunderts bis auf wenige Ausnahmen1 unbekannt. Erst seit Rodin sind wir gewohnt, auch in der unvollständigen Gestalt ein vollendetes Kunstwerk zu erblicken. Z. B. die Karyatiden von Jean Goujon in der Salle des Gardcs im neuen Louvre (um 550).
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Die Verstümmelung, der Torso, das Bruchstück finden sich häufig in den Bildnereien der Schizophrenen (Abb. 69). Bei der Zerstückelung (Dismembration) werden schließlich die einzelnen Teile eines Ganzen nicht nur disloziert, sondern völlig voneinander getrennt. Meist fehlt der Umriß, der die Details zum Ganzen verbindet, oder aber es liegen einzelne Teile eines Gegenstandes außerhalb von dessen Kontur. Die Neigung zur Zerstückelung sahen wir bei Alexander (vgl. die Hand der Figur in Abbildung 3, S. 62) und bei jenem Kranken, in dessen Zeichnungen die Konturen zerfallen und die Details dadurch ihren Zusammenhang verlieren (Abb. 45, S. 78; Abb. 66, S. 8).1 In der modernen antinaturalistischen Kunst finden wir diesen höchsten Grad der Deformation zum Beispiel in dem Blatt »Angstausbruch III« (939) von Paul Klee oder bei den Plastiken »Liegende, zweiteilig« (959 und 96) von Henry Moore. Wir sprachen davon, daß Formalismus und Deformation einen mangelhaften Außenweltkontakt anzeigen. Formalismus geht mit einer Einschränkung der Kommunikation auf der triebhaft-emotionalen Ebene einher, durch die Deformation werden die mitmenschlichen Beziehungen im sachlich-rationalen Bereich in Frage gestellt. Beide Erscheinungen sind Wesensmerkmale schizophrenen Gestaltens und manieristischer Kunst. Vgl. auch die Zeichnungen von Baders Patienten Jules in J. Cocteau u. a., a. a. O., S. 76 ff.
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Rand, Bildraum und formale Fülle Wie die Überbetonung und die Vernachlässigung der Konturen ist für Schizophrene auch die vermehrte oder verminderte Beachtung des Randes der Zeichenfläche charakteristisch. Manche Kranke heben die Grenzfunktion des Randes hervor, indem sie ihre graphischen Gebilde mit einem gezeichneten Rahmen umgeben. Mitunter hat man den Eindruck, daß durch eine solche Begrenzung überschießende und gefährliche Antriebe mühsam in Schranken gehalten werden (Abb. 70). Franz zeigte im akuten Stadium seiner Psychose eine Tendenz, den Rand der Zeichenfläche nicht zu berücksichtigen, führte die Linien seiner Kritzeleien über das Blatt hinaus und setzte sie auf der Unterlage fort (Abb. 5, S. 40). Bei manchen Patienten läßt sich im Verlaufe der Behandlung ein Wechsel von vermehrter und verminderter Randbeachtung feststellen. Manchmal können wesentliche Teile eines Gegenstandes nicht wiedergegeben werden, weil das Zeichenblatt zu wenig Raum dafür bietet. In diesem Falle hat der Kranke den der Zeichenbewegung vorhergehenden inneren Entwurf der Größe des zur Verfügung stehenden Raumes nicht angepaßt. Solche Störungen der »Ideation«1 findet man bei gewissen Erkrankungen des Gehirns sowie im Rahmen des organischen Psychosyndroms nach Elektrokrampfbehandlung (Abb. 64 b, S. 4). Wahrscheinlich können auch affektive Momente K. Kleist, a. a. O.
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für die Entstehung derartiger Fehler verantwortlich sein. Es gibt Schizophrene, die nicht aufhören zu zeichnen, bevor sie das Zeichenblatt restlos ausgefüllt haben. Sie dulden keine Zwischenräume und bedecken die ganze Zeichenfläche bis zum Rande hin gleichmäßig mit Figuren oder Kritzeleien. Der von Morgenthaler1 beschriebene Kranke Wölfli zeigte diesen »horror vacui«. Er verwendete stilisierte »Vögelchen« als Füllsel, zeichnete sie in die Gegenstände hinein und stopfte alle leeren Stellen damit voll.2
Abb. 70. Verstärkte Randbeachtung. Zeichnung eines Schizophrenen
W. Morgenthaler, a. a. O. 2 Eine ähnliche Angst vor leeren Stellen in einer figural oder ornamental verzierten Fläche scheint das alte Kulturvolk der Mayas beherrscht zu haben.
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a
b
Abb. 7. »Eineck-Stil« in Zeichnungen des schizophrenen Franz
Abb. 72. Ungegenständliche graphische Produkte eines Schizophrenen nach Aufforderung, einen Mann (a) und eine Frau (b) zu zeichnen
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Es ist nun bemerkenswert, daß Schizophrene auch ein entgegengesetztes Verhalten zeigen können: manchmal wagen sie es nicht, den ihnen zur Verfügung stehenden Raum zu benützen, und zeichnen am äußersten Rand oder in einer Ecke des Zeichenblattes; dessen größten Teil lassen sie dabei leer. Die auf diese Weise entstandenen Zeichnungen (Abb. 7) erinnern an den »Eineck-Stil« der Zen-Malerei. Bei Franz war in verschiedenen Stadien des Behandlungsverlaufes das Merkmal der totalen (Abb. 4, S. 36) und jenes der mangelhaften Raumausnützung (Abb. 5, S. 40) zu sehen. Ähnlich dem Verhältnis zum Raum und zur Zeichenfläche (aber nicht identisch damit) ist das zur Fülle oder Magerkeit der Form. Manche unserer Kranken können im Ausgestalten kein Ende finden (Amplifikation), andere wieder neigen dazu, möglichst viel wegzulassen und sich auf bloße Andeutungen zu beschränken (Abbreviation). Sie konzentrieren, verdichten, verkürzen und brechen auch unvermittelt ab (»Sperrungen«), Auf diese Weise können »Abstraktionen« entstehen, die nichts Gegenständliches mehr erkennen lassen. So brachte einer unserer Kranken, aufgefordert, einen Mann und eine Frau zu zeichnen, ganz flüchtig zwei hieroglyphenartige Gebilde zu Papier (Abb. 72), womit er die Aufgabe als gelöst betrachtete. Das Prinzip des Ausgestaltens und Weglassens, des Bereicherns und Vereinfachens ist eine wesentliche Dimension künstlerischen Gestaltens. In der Schizophrenie werden jedoch wie in der modernen Kunst die Formen oft so weit reduziert, daß von Gestaltung nicht mehr die Rede sein kann (vgl. Abb. 62 a, S. 06). 125
Die Vereinfachung der Form wirkt im allgemeinen künstlerischer, die Berücksichtigung allzu vieler Details dagegen banal. Auf einer Vereinfachung, die nur das Wesentliche, Typische in knapper Form festhält, beruht die Stilisierung. Oft führt diese Beschränkung auf das Wesentliche zur Geometrisierung(Abb. 58, S.69; Abb. 73) und zum Symbolismus. Die naturgetreue Abbildung erfordert dagegen immer eine gewisse Ausgestaltung. Die genaue Schilderung zahlreicher Details ist ein Kennzeichen des künstlerischen Realismus. Auch im Rorschachversuch gilt eine entsprechende Detailbeachtung als Merkmal der Realitätsanpassung.
Abb. 73. Anklänge an meso- und neolithische Menschendarstellungen. Zeichnungen eines Schizophrenen
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Durch die Schizophrenie dürften gewisse formale Grundfunktionen eine Intensitätsänderung erfahren. Sie sind entweder zu stark oder zu wenig wirksam. Es handelt sich dabei um eine Störung der Feinregulation dieser Funktionen und ihrer für eine naturnahe Gestaltung notwendigen Integration.
Die Bewegung Einer unserer Patienten zeichnete während eines akuten schizophrenen Schubes eine übermäßig bewegte Gestalt (Abb. 74 a). Die unmittelbar nach Beendigung der Elektrokrampfkur (mit insgesamt neun Konvulsionen) von ihm hergestellte Figur wirkt dagegen völlig erstarrt (Abb. 74 b). Der hochgradige Strukturverlust ist eine Folge des organischen Psychosyndroms, einer vorübergehenden Begleiterscheinung dieses Behandlungsverfahrens. Obwohl sich der klinische Zustand des Kranken bereits gebessert hat, treten durch die primitive Darstellungsweise die schizophrenen Züge jetzt stärker hervor. Eine drei Tage später entstandene Zeichnung (Abb. 74 c) zeigt wieder einen Menschen in ungewöhnlicher Bewegung. Es findet sich nun aber eine ganz andere Art der Bewegungscharakteristik: es ist keine Spur mehr von der Flüssigkeit der Bewegung und dem Erfaßtsein des ganzen Körpers vorhanden. Die gezeichnete Figur wirkt im Gegenteil nun hölzern und marionettenhaft. Zwanzig Tage nach Abschluß der Behandlung verfertigte der Kranke eine Zeichnung, 127
a
b
c
d
Abb. 74. Zeichnungen eines Kranken während eines akuten schizophrenen Schubes (a), unmittelbar nach Beendigung der Behandlung (b), drei Tage später (c) und 20 Tage später, nach Abklingen der akuten psychotischen Erscheinungen (d)
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die nicht nur eine bessere Struktur, sondern auch eine maßvollere, wenngleich noch etwas eckige Wiedergabe der Bewegung erkennen läßt (Abb. 74 d). Die Exazerbation der Psychose war abgeklungen. Wie bei der katatonen Form der Schizophrenie stuporöses Verhalten in raptusartige Erregung umschlagen kann, so weisen die Zeichnungen der Schizophrenen die outrierte Bewegung und die bewegungslose Starre auf. Manchmal ist es eine Starre, bei der man eine erhöhte innere Spannung, einen mächtigen unterdrückten Bewegungsantrieb zu spüren meint (Abb. 74 b).1 Ähnlich wie bei Pubertierenden, aber oft stärker ausgeprägt, zeigt die Gestik dieser Kranken eine Vielfalt schwer zu beschreibender Eigentümlichkeiten. Man spricht von disharmonischen, ausfahrenden, vertrackten, hölzernen, gezierten, gekünstelten, bizarren Bewegungen. Die von den schizophrenen Kranken gezeichneten Figuren bewegen sich in der gleichen unnatürlichen Art. Einer unserer Patienten, der sich während seiner jahrzehntelangen Krankheit niemals spontan bildnerisch betätigt hatte, zeichnete auf Aufforderung eine menschliche Figur. Auf die Frage, ob die von ihm skizzierte Gestalt einen Mann oder eine Frau darstelle, erklärte er, er habe sich in dieser Beziehung nicht festlegen wollen; seine Figur verkörpere das »dritte Ge Kris stellte fest, daß die von Schizophrenen angefertigten Porträts entweder eine ungewöhnliche mimische Starre und Leere zeigen oder aber die grimassenartige Übertreibung eines bestimmten Gesichtsausdrucks (E. Kris, a. a. O.).
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schlecht«. Die Kombination von Gelöstheit im unteren Körperabschnitt, Starre im Bereich des Oberkörpers und des Kopfes mit einer etwas gezierten Bewegung des rechten Armes verleiht dem Blatt einen gewissen manieristischen Reiz (Abb. 75).
Abb. 75. Manierierte Bewegung. Zeichnung eines Schizophrenen
Bei der Schizophrenie scheint sich die Körpermotorik aus dem kommunikativen Gesamtverhalten des Menschen oft gleichsam herauszulösen und ein Eigenleben zu führen. Der Bewegungsantrieb dieser Kranken unterliegt abnormen Schwankungen. So entsteht der in nahezu allen Einzelmerkmalen durch extreme Gegensätze gekennzeichnete schizophrene Stil. Das feste und aufrechte Stehen zeichnerisch wiedergegebener Gestalten läßt auf Standfestigkeit und allgemeine Sicherheit des Zeichners schließen. Unsicherheit, 130
Angst und Realitätsverlust äußern sich dagegen häufig im unsicheren Stand auch der gezeichneten Figuren. In der Malerei der italienischen Spätrenaissance scheinen die dargestellten Gegenstände ihr festes Verhältnis zum Boden zu verlieren und in der Luft zu schweben. Auch in manchen Bildwerken zeitgenössischer Kunst fliegen Menschen und Dinge durch den Raum, ohne Rücksicht auf die physikalischen Gegebenheiten. Häufiger allerdings wird das Schweben nur angedeutet: sitzende Gestalten sitzen nicht wirklich, stehende ruhen nicht auf ihrer Unterlage. Die Gesetze der Schwerkraft scheinen nicht wirksam zu sein. Dadurch wird das Stoffliche spiritualisiert, erhalten die Gegenstände den Aspekt psychischer, traumhafter Erscheinungen.1 Unser Patient Franz zeichnete in den Phasen seiner größten Produktivität fliegende und schwebende Figuren. Er fand die verschiedensten Möglichkeiten, die Schwerelosigkeit und die fehlende Verbindung seiner Gestalten mit dem Erdboden anschaulich zu machen (Abb. –26, S. 32–49). Wie auf dem Gebiete der Kunst läßt sich die Vorliebe für schwebende Figuren auch in der schizophrenen Bildnerei feststellen, entspricht doch das Schweben – und das In-Gefahr-Schweben – ganz dem Welt- und Lebensgefühl des Schizophrenen. Manche Kranke vergleichen sich selbst und ihre Mitmenschen mit Marionetten. Auch diese haben keinen festen Stand, sondern schweben, wie
W. Winkler, Psychologie der modernen Kunst. Tübingen 949.
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von unsichtbaren Kräften gelenkt, durch den Raum. »Ich bin wie an einem Faden hereingelassen in die Welt«, sagte ein schizophrener Patient Binswangers1, »und könnte jeden Augenblick herausgezogen und weggezogen werden.«
Die Transparenz Morgenthalers2 Patient Wölfli neigte dazu, ein Blatt mehrfach zu überzeichnen und dann noch darauf zu schreiben. Derart übereinander gelagerte Entwürfe können völlig unabhängig voneinander sein, aber auch in besonderen symbolischen oder formalen Beziehungen stehen. Ein anderer, häufigerer Fall von Transparenz beruht darauf, daß Kinder zunächst ein primitives Menschenschema zeichnen und dann »bekleiden«. Man hat für dieses kindliche Vorgehen den Ausdruck »intellektueller Realismus« geprägt. Das gleiche Phänomen findet man oft in den Zeichnungen Schizophrener (Abb. 60 d und e, S. 03). Beim Kinde ist die noch mangelhafte Visualisierung des zeichnerischen Gestaltens dafür verantwortlich (es zeichnet, was es weiß, nicht, was es sieht). In der Schizophrenie werden die Inhalte der sinnlichen Wahrnehmung von rationalen Vorgängen oft gleichsam überwuchert. Daneben findet man aber auch eine ganz ungewöhn L. Binswanger, a. a. O. 2 W. Morgenthaler, a. a. O.
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liche und groteske Art von Durchsichtigkeit in den Zeichnungen der schizophrenen Kranken. So können an den verschiedensten Stellen des menschlichen Körpers die inneren Organe durchscheinen (Abb. 64 c, S. 4), oder aber die Gegenstände werden schemenhaft transparent gegenüber dem Hintergrund. Bei der Entstehung des Merkmals der Transparenz spielt das Überwiegen des Rationalen gegenüber der Sinneswahrnehmung, manchmal auch des Traumhaften gegenüber dem hellen Tagesbewußtsein eine Rolle. Die Transparenz beraubt die Gegenstände ihrer natürlichen Erscheinungsweise und läßt sie zu Bildern eines mit ihnen willkürlich verfahrenden Subjektes werden. Wenn auch der Zeichner glaubt, durch die Loslösung von den visuellen Bezugsnormen der Realität näher zu kommen – in Wahrheit entfernt er sich von ihr.
Der Symbolismus Formalismus, Deformation und Symbolismus sind die drei Hauptmerkmale schizophrenen Gestaltens. Symbole sind bildhafte Vorstadien der Begriffe, gefühlsstarke Bildverschmelzungen.1 E. Kretschmer, a. a. O. Die Symbolbildung spielt sich an der Grenze zwischen Unbewußtem und Bewußtem ab (Häberlin). Das Symbol ist die Vorwegnahme eines im Entstehen begriffenen Bewußtseins (Jung). Symbole treiben die allmähliche Bewußtwerdung gleichsam voran (v. Siebenthal). (Zitiert nach W. v. Siebenthal, Die Wissenschaft vom Traum. Berlin/Göttingen/ Heidelberg 953.)
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Mythische Wesen wie der Minotaurus, Sphinxe, Sirenen, Nixen, Zentauren, Teufel, Engel sind durch eine Zusammenballung von Bildern im menschlichen Bewußtsein entstanden. Bei vielen Symbolen sind nun allerdings die Einzelvorstellungen, aus deren Agglutination sie hervorgegangen sind, nicht mehr als solche erkennbar. Der symbolische Gehalt einer Darstellung ist dann mit Hilfe der Sinneswahrnehmung allein nicht zu erfassen. Es kommt vor, daß das Bild eines bestimmten Gegenstandes, in dem, der das Symbol kennt, eine ganze Reihe verschiedener Vorstellungen auslöst oder zumindest anklingen läßt. Den Vorgang, der in diesem Falle der Symbolbildung zugrunde liegt, nennen wir »Verdichtung«. Mitunter kann noch aus der Formähnlichkeit oder auf Grund anderer, oft sehr lockerer assoziativer Beziehungen auf die Entstehung des Symbols und seinen Sinngehalt geschlossen werden. Die symbolische Bedeutung eines Gegenstandes kann aber schließlich so überragend werden, daß sie zu dessen Bildcharakter in überhaupt keinem Verhältnis mehr steht, ja, daß die Gestaltung dabei belanglos wird. Bei Primitiven kann der unbehauene Stein so gut wie die Statue den Dämon verkörpern. In der Regel verbindet sich dann allerdings das Bild mit dem Wort. Der Gegenstand wird bezeichnet und verschmilzt in der »magischen Weihe« mit dem Namen und dessen Bedeutung. Hier liegen die Wurzeln der rationalen Zeichensymbolik und aller Schriftzeichen.1 H. Prinzhorn, a. a. O.
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Auch in der modernen Kunst begegnet man nicht selten dem Drang, einem ungegenständlichen Werk einen Namen zu geben, ohne auf Ähnlichkeit Rücksicht zu nehmen. Dabei gewinnt man den Eindruck, daß die Bezeichnung, sei sie auch noch so absurd, ein wesentlicher Bestandteil des Werkes ist. Der Akt des Bedeutungverleihens wird hier – für den Künstler – an sich schon zu einer gestaltenden Leistung. Dieses Phänomen entspricht der »magischen Weihe«, durch die der Primitive selbst den unbehauenen Stein zum Dämon macht; aber auch jener Entwicklungsphase des Kindes, in der es seine Kritzeleien benennt, ohne daß die Bezeichnung damit in einer erkennbaren Beziehung steht. Auch bei Schizophrenen kann das Bedeutungsbewußtsein so überhandnehmen, daß die Gestaltung unwichtig wird (»Es bleibt sozusagen nur noch die Gebärde des Darstellens übrig«; »Einer mit Prätention verkündeten Inhaltsbezeichnung entspricht fast ein Nichts an Gestaltung«1). Zu den ursprünglichen oder »Alt-Symbolen« gehören die Schlange, der Drache, die Höhle, das Kreuz, der Brunnen, der Lebensbaum. Diese Symbole haben eine vielschichtige, auch Gegensätzliches umfassende Bedeutung. So kann die Schlange zum Beispiel ganz Sublimes, aber auch banal Geschlechtliches bedeuten: sie ist ein Phallussymbol, wurde aber auch als lebenerzeugende und -erhaltende Gottheit, ja als Bild des Logos und Gottessohnes verehrt. Die Schlange verkörpert das H. Prinzhorn, a. a. O.
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männliche und das weibliche Prinzip, das Böse und den Erlöser.1 Vielleicht ist die Widersprüchlichkeit seines Bedeutungsgehaltes – ein Wesensmerkmal des ursprünglichen Symbols – auch der Schlüssel zu seinem Verständnis. Symbole sind Vorläufer der abstrakten Begriffe. An die Stelle ihrer Doppel- und Mehrdeutigkeit tritt später rationale Eindeutigkeit. Die Paradoxie des ursprünglichen Symbols läßt vermuten, daß es als ein Versuch, im Inneren des Menschen vorhandene Gegensätze zu bewältigen, entstand. Die Erfindung des Symbols diente offenbar dazu, die zwischen bestimmten Trieben und Ängsten bestehende Spannung zu mildern. Sexuellerotisches und religiöses Erleben sind ja in der Seele des Primitiven enger als bei den heutigen Menschen vereint. Die Tatsache, daß den Alt-Symbolen ein sexueller und gleichzeitig ein numinoser Charakter innewohnt, beruht darauf, daß der Primitive auch den Gegensatz dieser beiden Seinssphären noch stärker empfand. Das Symbol sollte ihm helfen, diesen Widerspruch zu überwinden. In seiner schillernden Zweideutigkeit bringt das ursprüngliche Symbol den nicht ganz zu beseitigenden Zwiespalt zwischen Trieb und Intellekt, Natur und Geist zum Ausdruck. Es verliert diesen Charakter erst, sobald es seine Paradoxie verliert und mit rationalem Sinn erfüllt wird. Damit betritt der Mensch eine neue Ordnung des Seins. Nun »sieht er die Dinge anders«, die Angst ist geschwunden, W. v. Siebenthal, a. a. O.
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die Beherrschung der Triebe geglückt. In dem durch die Vernunft gebauten Haus vermag er sich – für eine Weile – sogar wieder geborgen zu fühlen. Eine Neigung, die Atmosphäre des Symbolischen heraufzubeschwören, wird daher dann auftreten, wenn sich das rationale Beziehungsgefüge als zu wenig belastungsfähig erweist und die Widersprüchlichkeit menschlichen Daseins wieder stärker empfunden wird. In der Schizophrenie wird die Ebene rationaler Ordnung, auf der sich der Gesunde mit selbstverständlicher Sicherheit bewegt, brüchig; gefährliche Triebe werden freigesetzt, im Laufe der Erkrankung jedoch meist rasch wieder unterdrückt. Das erhöhte Symbolbedürfnis der Schizophrenen ist an die Triebhemmung gebunden. Es ist charakteristisch für diese Geistesstörung, daß sie auch Alt-Symbole lebendig werden läßt; andererseits findet man bei Schizophrenen, wie die Zeichnungen Alexanders zeigen, eine besondere Vorliebe für Ziffern, Buchstaben und andere scheinbar rationale Zeichen. Die Art der Verwendung dieser für uns so eindeutigen Symbole hat jedoch etwas Magisches an sich. In den Symbolbildungen der Schizophrenen spiegeln sich alle Entwicklungsstufen des menschlichen Intellekts. Sie entstehen wie die Tendenz zur Geometrisierung durch ein Wirksamwerden älterer Ordnungsprinzipien, nachdem das Gefüge des Ichs teilweise zusammengebrochen ist. Wie jedoch der Formalismus die Kräfte der Deformation gewaltsam bindet, so ist das prärationale Symbol der nur unvollkommen geglückte Versuch einer geistigen Bewältigung des Triebhaften. 137
Das Änigmatische In der modernen Kunst gibt es viele Beispiele für eine spielerische Verwendung von Symbolen, wobei es nur um die Atmosphäre des Rätselhaften geht und nicht um die besondere Bedeutung der einzelnen Symbole selbst. So benützte zum Beispiel Baumeister in einer bestimmten Schaffensperiode symbolhafte Zeichen, die sich an die Schriftbilder ostasiatischer Völker anlehnen. »Das schafft eine magische Atmosphäre, ohne daß sich eine Handhabe ergibt, das einzelne Zeichen zu enträtseln.«1 Prinzhorn2 erwähnt, daß Schizophrene oft in spielerisch Entstandenes etwas »hineingeheimnissen«. Die Atmosphäre des Rätselhaften umgibt die meisten Symbole in den Zeichnungen Schizophrener. Eine der Skizzen Alexanders zeigt sogar Bestandteile eines Bilderrätsels, das allerdings nicht entziffert werden kann, da der Kranke die Regeln nicht befolgte, nach denen ein »Rebus« gebildet wird (Abb. 34, S. 63). Man muß das Rätselhafte als Anmutungswert vom Rätsel als Gegenstand der Vernunft unterscheiden. Das Rätselhafte ist dem Gefühl der Ratlosigkeit verwandt. Es kann leicht zur Verzweiflung führen. Aber auch die Rätselaufgabe selbst wurde in früheren Zeiten als etwas Tiefernstes betrachtet, das den Menschen vor eine gefährliche Alternative stellt, nämlich: die Lösung zu finden oder zu sterben. Wer das Rätsel der Sphinx W. Winkler, a. a. O. 2 H. Prinzhorn, a. a. O.
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nicht löste, war des Todes. Homer soll aus Kummer darüber, ein Rätsel nicht lösen zu können, gestorben sein. Später verlor das Änigmatische an Ernst, es entstanden die Rätselspiele, die den Menschen nicht mehr wirklich beunruhigten, da er ja nun imstande war, die Schwierigkeiten des Lebens mit Hilfe der Vernunft zu meistern. Das echte Kunsträtsel ist ein sprachliches Gebilde, das einen Gegenstand irreführend umschreibt. Es hat labyrinthischen Charakter. Man wird in einen Irrgarten geführt und gezwungen, krause Gänge zu gehen, die vom Ziel möglichst weit wegführen. Der Rätselaufgeber ist dabei der Überlegene. Aber auch dem Ratenden gibt die Lösung große Befriedigung. Sie stärkt sein Selbstvertrauen, weil er dadurch die Anmutung des Rätselhaften überwunden hat und sich auf der Ebene der Vernunft wieder zu Hause fühlen kann. Wir haben bereits angedeutet, daß sich der Mensch, den das Änigmarische fesselt, in einem Übergangsstadium befindet – und zwar in jenem Bereich –, das zwischen der ursprünglichen mythischen Ordnung und der rationalen Ordnung des Daseins liegt.
Die Zahl Schizophrene neigen dazu, in ihre Zeichnungen Ziffern hineinzuschreiben (Abb. 34, S. 63; 40, S. 73; 66, S. 8). In ihren verwirrten sprachlichen Äußerungen spielen Zahlen manchmal eine besondere Rolle. So erzählte 139
einer unserer Kranken: »Ich habe 35 Jahre lang studiert und dann noch 35 Jahre lang gelernt. Im nächsten Jahr werde ich ganz neu, denn die alte Gestalt wird gemordet. Das geschieht bei mir jährlich einmal, weil alle meine Knochen gebrochen sind. Ich fliege mit einem Schiff über einen Fluß und über alle Meere zu einer Insel, auf der ich ein Schloß besitze. Dort lebte ich vor 35 000 Jahren, als ich 3 ½ Millionen Jahre alt war. Der Pavillon 5 ist von vierzig 80-Meter-Männern, der Pavillon 2 von vierzig 250-Meter-Männern und der Pavillon 6 von vierzig 32-Meter-Männern, die wie ich dem Baugewerbe angehören, erbaut worden. Im Juli 963 hat die Anstalt wie jedes Massenquartier ein Ende. Ich bin noch 32 Monate hier gefangen, davon 2 Monate in der Spülküche und 20 Monate auf dem Wirtschaftshof. Das macht mir nichts aus, denn mit meinen Augen bin ich draußen bei den 32-Meter-Maurern. Von nun an gibt es keinen Mord mehr, da der Mond mit der Sonne in 43 Grad und 495 Meter steht, das sind 32-Monate-Meter über Fluß und Meer …« Die skurrilen Zahlenangaben dieses Kranken müssen als ein Versuch der Sicherung und des Haltfindens gedeutet werden. Sie sind für ihn Fixpunkte, festen Pfeilern gleich, im unaufhörlich dahinfließenden Strom phantastischer und keiner verbindlichen Ordnung gehorchender Gedanken. Der Menschengeist hat vom Augenblick der ersten Entstehung der Zahlen bis zu deren erfolgreichem Gebrauch in Arithmetik und Geometrie einen weiten Weg zurückgelegt. Die Zeitspanne, in der die Zahl als 140
Ergebnis einer gegliederten rhythmischen Betätigung in Gesang und Tanz zur Beherrschung von Leidenschaften und Ängsten diente, muß unvergleichlich größer gewesen sein als jene, da sie ausschließlich im Dienste der Vernunft, aller Gefühlswerte entkleidet, Verwendung findet. Zwischen dem rein mythischen Charakter der Zahl am Anfang und ihrem rein rationalen am Ende der menschlichen Geistesentwicklung herrscht aber über den vielleicht längsten Zeitraum ihr magisch-symbolischer Wert vor; auf dieser Stufe ist sie auch von der Sphäre des Änigmatischen umgeben.
Spirale und Labyrinth Die Spirale als Formelement zeichnerischen Gestaltens läßt sich bis auf früheste Entwicklungsstufen zurückverfolgen. Sie entsteht aus dem Schwungkritzeln und hat einen Rest der Dynamik jener ursprünglichen Bewegungsform noch in sich. Lange bevor das Kind einen Kreis zeichnen kann, bringt es gekrümmte Linien und spiralenartige Gebilde hervor. In diesem Stadium ist der Akt des Zeichnens noch als darstellende Gebärde und sein Ergebnis als Bewegungsspur zu verstehen. So geben Kinder »Räder« als Spiralen wieder, indem sie die Bewegung des Drehens nachahmen, nicht aber die sichtbare Form des Rades. Erst in einer dem Erwerb der gekrümmten und der geraden Linie folgenden Periode geht das Kind dazu über, offene Rundungen mit einem kurzen Strich zum 141
Abb. 76. »Labyrinth«. Zeichnung von Franz zu Beginn seines zweiten schizophrenen Schubes
Kreis zu schließen. Wir haben diese »Schließungstendenz«, die bei manchen Kindern besonders ausgeprägt ist, mit dem Schutzbedürfnis des Kindes, seinem Wunsch nach Umschlossensein und Geborgensein in Beziehung gesetzt. 1 Spirale und Kreis bedeuten daher ihrer verschiedenen Entstehung entsprechend verschiedenes: hier das Ruhende und häuslich Begrenzte, dort das Dynamische, Unbegrenzte und Unheimliche. Eine der Zeichnungen unseres Patienten Franz zeigt ein schwungvolles Gekritzel, hinter dessen Liniengewirr »der Tod« zu erkennen ist (Abb. 6, S. 38). Nachdem
G. Mühle, a. a. O.
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Franz nach seiner ersten geistigen Erkrankung vier Jahre lang gesund gewesen war, erkrankte er zum zweitenmal. Wieder war er zu gegenständlichem Gestalten zunächst nicht fähig, zeichnete jedoch lange, verschnörkelte, spiralenartige Linien, ohne den Bleistift dabei abzusetzen. Bisweilen traten aus diesen labyrinthischen Linienzügen schemenhafte Gesichter und Gestalten hervor (Abb. 76).
Abb. 77. »Labyrinth«. Zeichnung eines Schizophrenen im akuten Stadium der Psychose
Einen anderen Kranken forderten wir während einer Exazerbation seiner schizophrenen Psychose auf, einen Menschen zu zeichnen. Der Kranke zeichnete jedoch ein Labyrinth (Abb. 77). Gefragt, was seine Zeichnung darstelle, gab er zur Antwort: »Den ganzen Lebensweg eines Menschen, wie er so sitzt und nachdenkt, einen Rückblick auf das Leben im 143
Abb. 78. Brief in Spiralenform. Produkt eines Schizophrenen
Rahmen der Familie.«1 Diese Labyrinthe sind nicht als visuelle Gestaltungsmuster, sondern als die Spuren eines Weges, den der Kranke auf der Zeichenfläche zurückgelegt hat, zu betrachten. Ein Kranker, der sich jahrzehntelang wegen paranoider Schizophrenie in Anstaltspflege befand, schrieb einen Brief in Spiralenform (Abb. 78). Ist es ein Drang zu verschlüsseln und irrezuführen, den Betrachter in Staunen zu versetzen, oder soll der Leser auf magische Weise von der Peripherie zum Mittelpunkt geleitet werden? Es gab Zeiten, da es Mode war, Liebesbriefe Es handelt sich um denselben Kranken, der die in den Abbildungen 63 a–f wiedergegebenen Zeichnungen hergestellt hat.
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auf diese Weise zu schreiben. Im Geistesleben der Gesunden werden verschiedene Manierismen überliefert – die Schizophrene immer wieder von selbst erfinden.1 Mit Spiralen sind kretische und altägyptische Vasen verziert, aber auch schon früheste keramische Erzeugnisse, wie der donauländische kugelige Kumpf. Da Spiralen bereits hervorgebracht werden, lange bevor das Gestalten dem Zweck dient, Gegenständliches abzubilden, sollte man sie nicht auf pflanzliche Motive zurückführen. Aber auch die etwaige Sexualisierung dieses Zeichens ist sekundär. Ihren ursprünglichen Sinn erhält die Spirale von der schwungvollen Bewegung, durch die sie zustande kommt. Auch die barocke Volute betrachtet man ja in erster Linie als »bewegungshaltiges« architektonisches Element.2 Ein mächtiger Bewegungsantrieb ohne das Bewußtsein eines Zieles läßt die Spirale zuallererst zu einem Symbol des Dynamischen schlechthin Mitunter kommen allerdings auch Pubertierende auf den Gedanken, von der konventionellen Anordnung der Zeilen abzuweichen. Häufig bietet sich dann die spiralenartige Zeilenführung als »originelle« Möglichkeit eines neuen Briefstiles an. Solche Manierismen werden von Gleichgestimmten gerne aufgegriffen und nachgeahmt. Briefe Schizophrener in Spiralenform sind in mehreren Lehrbüchern der Psychiatrie abgebildet (z. B. E. Bleuler, Lehrbuch der Psychiatrie). 2 An barocke Voluten erinnern die Schnörkel in den Zeichnungen von Baders schizophrenem Patienten Jules. Dieser Kranke hatte eine besondere Neigung, einzelne Linien, die die Kontur eines Gegenstandes bildeten, in Spiralen auslaufen zu lassen. Seine Zeichnungen zeigen auch andere Merkmale eines vermehrten Bewegungsimpulses (J. Cocteau u. a., a. a. O.). Bader fand an Runensteinen aus der Wikingerzeit den Schnörkeln seines Patienten Jules völlig entsprechende Gestaltungen (Bader-Bourasseau, De la production artistique des aliénés. La Vie Médicale, No. spécial, Art et psychopathologie, 956).
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werden. Die Doppelspirale oder die sich als Mäander mehrfach wiederholende Spirale kann Werden und Vergehen, Tod und Wiedergeburt symbolisieren. Im Labyrinthsymbol tritt das Ziellose, Ausweglose und Unheimliche mehr in den Vordergrund. Das Labyrinth ist das Gegenteil zu den Mandala-Formen. Der Mensch, dem das Labyrinth Sinnbild der Welt wird, steht am Rande der Verzweiflung.
Das Auge Die Augen werden von Schizophrenen entweder besonders genau gezeichnet oder gröblich vernachlässigt. Manche Kranke begnügen sich mit deren flüchtiger Andeutung durch Punkte oder kurze Striche, andere stellen nur ein Detail der Augengegend, etwa den Umriß der leeren Augenhöhlen dar. Paul ließ im depressiven Vorstadium der Psychose bei der Wiedergabe einer menschlichen Figur die Augen aus, betonte sie dagegen, sobald er sich in manischer Stimmung befand. Morgenthalers1 schizophrener Kranker Wölfli pflegte am Beginn seines Schaffens mächtige Augenbrauen zu zeichnen, später führte er die Brauen immer weiter um die Augen herum, bis sie sich zu Ringen schlossen, die sich allmählich verbreiterten und schließlich die ganze obere Gesichtshälfte wie eine Maske bedeckten. Diese Beobachtung zeigt, daß die Neigung, die Augen W. Morgenthaler, a. a. O.
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hervorzuheben, in eine Tendenz, sie zu verdecken und zu verbergen, übergehen kann. Baders1 Patientin Aloyse füllte bei der Darstellung der Augen – wie Modigliani in manchen seiner weiblichen Porträts – die Lidspalten mit einem homogenen Blau aus, ohne Iris und Pupille wiederzugeben. Unnatürlich vergrößerte Augen findet man in vielen Werken der bildenden Kunst. Gemüt, Seele, Leben, Sinnlichkeit kommen nirgends so stark zum Ausdruck wie in den Augen. Es gibt chinesische Künstlerlegenden, in denen berichtet wird, daß sich durch das Einsetzen der Augen Bilder urplötzlich in Lebewesen verwandelten.2 Von der Psychoanalyse wird das Auge als androgynes Sexualsymbol gedeutet. Die Selbstblendung des Oedipus wird als symbolische Kastration aufgefaßt. Das Anblicken und Angeblicktwerden kann mit stärksten erotischen Gefühlen einhergehen. Metaphorisch setzt man diese Ausdrücke manchmal dem Geschlechtsakt gleich.3 J. Cocteau u. a., a. a. O. 2 Der Maler Wei Hsieh (3. Jhd. n. Chr.) soll es nicht gewagt haben, in die Augen dämonischer Wesen die Pupillen zu zeichnen, weil er fürchtete, sie könnten lebendig werden. Als Chang Seng-yu, der größte Maler um die Wende des 5. Jahrhunderts, einmal vier Drachen an die Wände eines Tempels gemalt hatte, weigerte er sich, an ihnen die Augen darzustellen. Auf das Drängen der Leute gab er endlich nach und setzte bei einem der Tiere die Augen ein. Sogleich zerschmetterten Blitz und Donner die Wand, und man sah, wie der Drache hinwegsauste, während die anderen drei unverändert an den nicht beschädigten Wänden blieben (O. Fischer, Chinesische Landschaftsmalerei. Berlin/Wien 943). 3 P. R. Hofstätter, Einführung in die Tiefenpsychologie. 2. Aufl., Wien 948.
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In nächster Nähe zu dem beglückenden Gefühl, welches das Angeblicktwerden durch ein liebendes Auge vermittelt, steht ein entgegengesetztes Gefühl, das auftritt, wenn sich der Mensch der liebevollen Zuneigung des ihn anblickenden Gegenübers nicht mehr sicher ist. Es ist das ängstliche Gefühl des Beobachtetwerdens. Im Rorschachversuch werden Augendeutungen als paranoide Komplexantworten gewertet. Menschen mit vermehrter Selbstbeobachtung und Kranke mit Verfolgungsideen neigen zu solchen Deutungen. Im gleichen Maße, in dem das liebevolle Einanderanblicken innige Berührung, ja »Einsfühlung« bedeutet, wirkt der kalte Blick trennend und distanzierend. Nach der Aussonderung der Gegenstandswelt aus der ursprünglich rein physiognomisch gegebenen Welt werden die Menschen zu Beobachtern und Beobachteten.1 Für den Paranoiker haftet dem Angeblicktwerden immer etwas Drohendes an. Das frontal zugewendete einzelne Auge, und zwar das »isolierte« Auge, gehört zu den Stilelementen der schizophrenen Bildnerei (Abb. 4, S. 36; 40, S. 73) wie der manieristischen Kunst. Für das Kind ist das von vorne gesehene menschliche Gesicht mit seinen beiden Augen eine sehr vertraute Wahrnehmung. Sicherlich kommt diesem tief eingeprägten Schema im Erleben ein höherer Ganz-
Vgl. das Gedicht ›Vice versa‹ von Christian Morgenstern (Alle Galgenlieder. Leipzig 944).
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heitscharakter als dem einzelnen Auge zu. Die Vorstellung oder Gestaltung des einen Auges setzt die Zerstörung jener durch das ursprüngliche Erleben stark fixierten Ganzheit voraus. Eine solche »Zerstörung« wurde von Alexander bei der zeichnerischen Wiedergabe einer weiblichen Figur vorgenommen (vgl. Umschlag rechts oben). Jedenfalls ist das einzelne Auge kein liebendes, sondern ein beobachtendes, warnendes und drohendes Auge. In seiner schematisierten Form finden wir es über den Altären als »Auge Gottes« – aber auch als Warnungstafel im Straßenverkehr. Sogar das »Auge« am Schmetterlingsflügel soll der Abschreckung von Feinden dienen. Die Uhr ist wie das Auge ein beliebtes Motiv schizophrenen Gestaltens und manieristischer Kunst. Hocke1 lenkte die Aufmerksamkeit auf gewisse Beziehungen zwischen Auge und Uhr, die sich daran zu erkennen geben, daß das eine Motiv an die Stelle des anderen treten kann. So wurde von Alberto Trevisan in seiner »Vision des spanischen Platzes« die alte Sonnenuhr auf dem einen der beiden Türme von Trinità dei Monti durch ein Auge ersetzt. Klar geht die Beziehung zwischen Auge und Uhr aus einem Essay von Hellmut Holthaus2 hervor, worin es heißt, genaue Zeit sei ein sehr junges Bedürfnis, »ein G. R. Hocke, a. a. O. 2 H. Holthaus, Die Stunde ohne Minuten. In der Tageszeitung ›Die Presse‹ am 8. Februar 959
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Erfordernis des Lebens mit Maschinen«. Das englische »watch« bedeute eigentlich Wache, aber auch soviel wie heimlicher Beobachter oder Spion. Der moderne Mensch stünde demnach unter ständiger Bewachung, ein Mechanismus spioniere ihm nach; denn jede Uhr sei eine Kontrolluhr. »Wir haben’s ja so gewollt!«
Anatomie Franz zeichnete wiederholt den menschlichen Schädel, offenbar um die Angst vor dem Tode damit auszudrücken (Abb. 6, S. 38; , S. 39; 24, S. 48). Ein anderer unserer schizophrenen Kranken neigte dazu, bei der graphischen Wiedergabe einer menschlichen Figur auch die inneren Organe detailliert – wenn auch ohne genaue Kenntnis davon – darzustellen (Abb. 64 c, S. 4). Bei der Entstehung dieser Zeichnungen schienen ein vermehrter motorischer Antrieb sowie die Furcht vor tödlicher Erkrankung eine Rolle zu spielen. Ein anderer unserer Kranken fand im Alter von achtzehn Jahren, nachdem die ersten psychotischen Schübe bereits aufgetreten waren, Zugang zu einem anatomischen Studiersaal und formte dort aus »künstlerischem« Interesse mit Hilfe von Packpapier und Kleister ein vollständiges menschliches Skelett. Dieser Gestaltung liegt bereits eine ganz andere Beziehung zum anatomischen Objekt zugrunde. Beim Anatomie-Motiv im engeren Sinne treten die Anmutungswerte des Todes in den Hintergrund. 150
Auch in der Kunst ist das Anatomie-Motiv (wie bei unseren beiden letztgenannten Kranken) nicht mehr bloß ein Bild des Todes, sondern zugleich ein Sinnbild der Überwindung des Grauens, das uns durch seinen Anblick eingeflößt wird. Die Entstehung der anatomischen Wissenschaft ist ein Schritt in der Geistesgeschichte der Menschheit, der auf den verschiedensten Gebieten in gleicher Richtung – aber nicht gleichzeitig – erfolgte: die Befreiung aus der Gebundenheit physiognomischer Anmutung durch den Eintritt in die rationale Ordnung des Seins. Van Calca, ein Schüler Tizians, der das Werk des großen Anatomen Vesal illustriert hat, schrieb unter die Abbildung eines menschlichen Skelettes: »Vivitur ingenio, cetera mortis erunt.« Es braucht nicht mehr betont zu werden, daß die Überwindung von Angst durch den Gewinn einer objektiven Betrachtungsweise mit einer Festigung des Ichgefüges identisch ist.
Die Maske Eine von Franz hergestellte Zeichnung zeigt eine Frau hinter einer Maske (Abb. 23, S. 48). Ein anderer Schizophrener zeichnete zwischen die Zeilen eines Briefes an seine Mutter, welcher im übrigen ganz banalen Inhaltes war, fratzenhafte Gesichter und Masken (Abb. 79). Maskenhafte Starre zeigen auch die Gesichter in einzelnen Skizzen von Franz und Hans. 151
Abb. 79. Masken. Zeichnungen eines Schizophrenen
Pinder1 nannte die Welt des Manierismus eine »Welt des Zweifels und der geheimen Lebensangst«, die »den Panzer statt des Leibes, die Maske statt des Gesichtes« brauche. Auch die moderne Malerei bevorzugt gegenüber dem lebensnahen Porträt oft die Maske und das maskenhafte Gesicht. Was ist die tiefere Bedeutung dieses Motivs, und wie kommt die eigentümliche Vorliebe mancher Menschen dafür zustande? Masken sind unwirklich, leblos, starr; sie zeigen leere Augenhöhlen. Andererseits gleicht ihr Ausdruck meist einer Grimasse; die Gesichtszüge sind verzerrt, gequetscht, verbeult. Konstruktivistisch-geometrisierende Züge ergeben zusammen mit Merkmalen der Deformation das maskenhafte Gepräge. Masken sind im Gegensatz zur natürlichen Physiognomie als Machwerke zu erkennen. Der Ursprung der Maske liegt im sakralen Bereich; sie stellt für den Menschen auf früher Stufe das Dau-
W. Pinder, Zur Physiognomik des Manierismus. Festschrift Ludwig Klages zum 60. Geburtstag, hrsg. v. H. Prinzhorn, Leipzig 932.
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ernde, Unwandelbare, Archetypische dar. Setzt der Primitive die Maske auf, die einen Naturdämon oder einen Ahnen verkörpert, dann wird er zur Ahnenfigur oder zum Dämon und geht so in jene Welt, die dem einzelnen Bedeutung und Dauer verleiht, ein. Auch in älteren Kulturen ist der Mensch noch nicht »persona« im heutigen Sinne. Die Maske war ein Hilfsmittel zur Personwerdung. Sie ist ein Sinnbild des Ichs, das im Entstehen oder im Zerbrechen begriffen ist. Sie ist unheimlich, bietet aber Schutz. Sie dient der Verdekkung von Angst und verleiht ihrem Träger ein Sein, das nicht sein eigenes ist.
3. Klassik und Manierismus Während man bisher eine gewisse Ähnlichkeit zwischen der sogenannten modernen Kunst und schizophrenem Gestalten wohl immer wieder bemerkt hat, sich aber davor scheute, tiefere Entsprechungen anzunehmen, fanden wir in den zeichnerischen Produkten unserer Kranken alle jene Merkmale wieder, die uns in der Kunst unserer Zeit beunruhigen und schockieren. Wir sprachen von antiklassischen und antinaturalistischen oder auch manieristischen Erscheinungen und gelangten zu der Auffassung, daß die Stilelemente schizophrenen Gestaltens mit jenen des Manierismus auf dem Gebiete der Kunst identisch sind. 153
Die schizophrene Bildnerei ist die eigentliche »Urgebärde des Manierismus«, denn ihr liegt keine Tradition zugrunde. So wertvoll die Unterscheidung von Klassik und Manierismus in psychologischer Sicht ist, so glauben wir doch, daß es sich dabei – wie bei den meisten dichotomen Typologien – nur um zwei Typenpole handelt, welche durch eine kontinuierliche Reihe von Übergangsformen miteinander verbunden sind. Die einzelnen Werke müssen wohl entsprechend der Häufung ihrer klassischen und manieristischen Merkmale in dieses Typensystem eingeordnet werden. Die klassische Kunst beruht auf einem relativ ausgewogenen Wechselspiel zwischen den emotionalen Kräften und den formalen Tendenzen. Dieser inneren Ausgeglichenheit entspricht ein Verhältnis zur Welt, das sowohl im Bereich des Triebhaften als auch auf sachlichrationaler Ebene einen lebhaften Austausch ermöglicht. In diesem Sinne kennzeichnet Stokes1 Geist und Kultur des frühen Griechentums, als deren Voraussetzung er eine starke Ichstruktur betrachtet. Es darf aber nicht übersehen werden, daß künstlerische Gestaltung überhaupt nur dort entsteht, wo eine gewaltige Spannung zwischen den vitalen Trieben und den geistigen Ordnungskräften vorhanden ist. Die Kunst dient ja zur Überbrückung der zwischen den Seinsbereichen bestehenden Kluft. Denn in der Wirklichkeit A. Stokes, Greek Culture and the Ego. A Psychoanalytic Survey of an Aspect of Greek Civilization and of Art. London 958.
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ist dem Menschen eine vollkommene Integration der einander widerstrebenden Kräfte nicht möglich – und war es auch in der klassischen Antike nicht. Der »manieristische Ausdruckszwang« stellt die Unmöglichkeit der Vereinigung von Triebleben und Geist dar – und muß daher in dieser Hinsicht als realistisch bezeichnet werden. Die »klassische Gebärde« läßt hingegen ein optimales Verhältnis der Seinsbereiche zueinander möglich erscheinen – ein idealistischer Zug. Zwischen diesen beiden Extremen bewegen sich der Mensch und seine Kunst.
III. Zur Psychologie der Kunst
. Der Gestaltungsvorgang Freud1 betrachtete die Kunst als einen Ersatz für den Verzicht auf Triebbefriedigung, den die Kultur von uns verlangt. Die Phantasie nannte er eine der Realitätsprüfung entzogene »Schonung« seelischen Seins, einem Naturschutzpark vergleichbar, in dem der Mensch mit Hilfe seiner Tagträume noch ganz »Lusttier« sein könne. Die Tagträume seien das Rohmaterial für die künstlerische Gestaltung, und dem Genuß an Werken der Kunst liege eine Befriedigung von Trieben in der Phantasie zugrunde. In der Kunst werde die Realität durch eine Illusion ersetzt, und was sie in uns bewirke, sei eine »milde Narkose« – die allerdings nicht ausreiche, um uns reales Elend vergessen zu lassen. Der Psychoanalyse ging es zunächst darum, die Triebbedingtheit künstlerischen Schaffens bloßzulegen. Diesen Bemühungen um ein Verständnis der Kunst fehlte jedoch eine Würdigung ihres formalen Aspektes und des Vorganges der Gestaltung. Nur nebenbei erwähnt Freud2 die Fähigkeit des Künstlers, »ein bestimmtes S. Freud, Das Unbehagen in der Kultur. Gesammelte Werke, Bd. XIV. 2 Ders., Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse. Kap. XXIII, Gesammelte Werke, Bd. XI.
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Material zu formen«, und nennt sie ein »rätselhaftes Vermögen«. Nach Prinzhorn1 ergibt sich die primitivste Art von Gestaltung durch das Zusammenwirken von Ausdrucksbedürfnis, Spiel- und Schmucktrieb. Tritt die Ordnungstendenz noch hinzu, dann seien die Voraussetzungen für die Entstehung der Ornamentik erfüllt. Die Prinzipien der Reihung, des regelmäßigen Wechsels, der Symmetrie, der Proportionalität, kurz, alle Merkmale einer Gestaltung, die quantitativ erfaßbar sind, kämen durch die Ordnungstendenz zustande. Sie sei für jede Art von Dekoration, aber auch für die geometrischen Stile von größter Bedeutung. Es liege ihr ein Bedürfnis nach rhythmischer Tätigkeit zugrunde. Dem Schweizer Psychiater Morgenthaler2 verdanken wir eine der ersten eingehenden Studien über einen künstlerisch tätigen Schizophrenen, der erst nach dem Ausbruch seiner Psychose zu schaffen begann. Er stellte mit Farbstiften Zeichnungen her, schrieb Gedichte und Prosa. Seine Produktivität, die deutlich den Stempel des Krankhaften trug, war ungeheuerlich. Allein seine Autobiographie umfaßte einen Stoß beschriebenen Papiers von zwei Meter Höhe. Am Beginn der Psychose reagierte dieser Kranke seine inneren Spannungen in Tobsuchtsanfällen ab, sein späteres Zeichnen und Schreiben setzte Morgenthaler den katatonen Automatismen, Stereotypien und Manieren gleich. Gewisse katatone H. Prinzhorn, a. a. O. 2 W. Morgenthaler, a. a. O.
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Erscheinungen lassen sich nämlich nicht nur als Krankheitssymptome, sondern auch als Selbstheilungsversuche auffassen, zum Beispiel als Versuche, in das Chaos der Bewegungen eine gewisse Ordnung zu bringen – »und wenn es auch nur durch das Sichfestklammern an einer einzigen stereotypen Bewegung wäre«. Morgenthaler war der Ansicht, daß der künstlerischen Tätigkeit Gesunder eine ähnliche seelische Dynamik zugrunde liege. Die Gestaltungskraft schien ihm in der Wirksamkeit gewisser ordnender und regelnder Funktionen zu bestehen. Er nahm an1, daß dem Triebhaften eine normative oder formale Funktion gegenüberstehe und daß alle geistigen und künstlerischen Leistungen durch sie zustande kämen. Sie äußere sich in einer Fähigkeit zu rhythmischem Anordnen, Abwägen, Einteilen, Zusammenfassen, Gegenüberstellen und Eingliedern des Einzelnen in das Ganze. Künstlerische Begabung sei ganz allgemein vom Ausprägungsgrad der Ordnungsfunktionen abhängig. Die Gesetze von Form und Rhythmus, die in der Natur herrschen, seien im Künstler in besonderer Weise wirksam, und ihnen würden wir die Entstehung des künstlerischen Werkes verdanken. Die gegenwärtige psychoanalytische Forschung betrachtet das Kunstwerk nicht mehr ausschließlich unter dem Gesichtspunkt der Triebbefriedigung und des Lustgewinnes, sondern mehr als Ergebnis einer
Unter Berufung auf P. Häberlin.
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unbewußten Tätigkeit des Ichs. Nach Hartmann1 erfülle die Kunst eine synthetische Aufgabe im Rahmen der (nicht-rationalen) Ichfunktionen und vermittle – »jenseits der Frage ihrer Tauglichkeit zur Bedürfnisbefriedigung« – »Orientierungspunkte auf einer höheren Entwicklungsebene«. Stokes2 hält die »Ich-Figur« für die Grundlage des Erlebens der formalen Qualitäten eines Kunstwerkes. Die Wahrnehmung äußerer Objekte in ihrer Ganzheit und ihrem Getrenntsein voneinander schließe eine Selbstwahrnehmung in sich ein, und zwar hinsichtlich der Struktur des Ichs. Diese Struktur besitze einen gewissen Grad von Unpersönlichkeit und stelle gleichsam ein Skelett, einen stabilen Rahmen für das dar, was wir Persönlichkeit nennen oder mit dem Worte »Selbst« bezeichnen. Es sei die Wahrnehmung einer vom Körper untrennbaren Einheit und Integration des Seelischen. Besonders würden die ästhetischen Formwerte (Gleichgewicht, Muster, Bewegung, Rhythmus, Oberflächenbeschaffenheit (Textur), Masse, Verhältnis der Teile zum Ganzen usw.) die »Ich-Figur« widerspiegeln. Ästhetisches Erleben sei eine Übung in der Wahrnehmung einer äußeren Struktur, die auf starke und angenehme Weise die Wahrnehmung einer inneren Struktur auslöse. Die Formwerte sprächen in intensivster Weise unseren Körper mit seinem taktilen und kinästhetischen Empfindungsvermögen an. Jede H. Hartmann, Ich-Psychologie und Anpassungsproblem. Psyche, XIV. Jahrg., H. 2 (960). 2 A. Stokes, a. a. O.
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Darstellung eines Gefühls, jeder gefühlsmäßige Ausdruck als solcher wirke früher oder später ermüdend. Die Formwerte der Kunst seien dagegen unausschöpfbar und lebensteigernd. Nur durch ihre Komplexität könne irgendein besonderer Inhalt ästhetisch genossen werden. Ihnen verdanken wir es, wenn ein Gemälde bei wiederholter Betrachtung, ein Gedicht bei wiederholtem Lesen nicht langweilig werden. Das Objekt in seinem Für-sich-Sein anerkennen, heiße, sein Ich stärken. Die Betonung des Für-sich-Seins und des In-sich-Geschlossenseins von Gegenständen sei jenes Mittel, durch das Gefühlsprojektionen in Kunst verwandelt würden. Nach Grassi2 ergibt sich Gestaltung stets aus der Notwendigkeit eines »Überstieges« von einer Stufe geordneten Lebens auf eine andere. Die beiden Aspekte Form und Inhalt oder Materie und Form, die jede Gestaltung aufweist, lassen sich nur als Ergebnis eines solchen »Überstieges« verstehen, denn Materie tritt als ungeordnetes Material immer erst dann auf, »wenn der Mensch in den Ordnungen und Gestaltungen einer Stufe der Wirklichkeit nicht mehr aufgeht. Es ist also nicht so, wie man allgemein annimmt, daß zuerst der Stoff, die Materie da wäre und daraus sich die Notwendigkeit ergebe, sie zu ordnen, sondern etwas erscheint als ›Ungeordnetes‹ erst, wo die Notwendigkeit auftritt, es in neuer Weise einzuordnen«.1 2 E. Grassi, a. a. O Hervorhebungen nach Grassi.
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In diesem Akt des »Transzendierens« von einer Stufe der Ordnung auf die nächst höhere sei die gemeinsame Wurzel von Ungeordnetem und Geordnetem, von Chaos und Kosmos, von Materie und Form zu erblicken. »Das Ordnungsvolle des triebhaften Lebens, in dem der Mensch nicht mehr aufgeht, erscheint ihm als das zu Ordnende: als Materie.« Für den Menschen gibt es nun zwei in ihrem Wesen verschiedene Möglichkeiten einer Ordnung des Triebhaften: die eine verwirklicht sich in der Empirie, die andere im Mythos. Kunst ist keine empirisch-technische Errungenschaft, sie geht vielmehr aus dem Mythos hervor. Beim Primitiven wird das noch weitgehend fehlende Ichbewußtsein durch den Mythos ersetzt. Es ist wahrscheinlich, daß der Ordnungsbereich des Mythos in Tanz und Gesang seinen Ursprung hat. Der ursprüngliche Mythos ist der »ordnungsstiftende Bezug schlechthin«. Er regelt das gemeinsame Leben der Menschen und umfaßt nicht nur Kult und Kunst, sondern zunächst auch die profanen Tätigkeiten. Alle mythischen (und im engeren Sinne sakralen) Kunstwerke sind Darstellungen der einen und einzigen, unabänderlichen, ewig aktuellen (mythischen oder religiösen) Wirklichkeit. Erst nach dem Zerbrechen des ursprünglichen Mythos entsteht an dessen Stelle und als ein teilweiser Ersatz dafür profane Kunst. Sie ist »Weltentwurf menschlicher Möglichkeiten«.1
E. Grassi, a. a. O.
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Ich und Gegenstandswelt konstituieren die Realität im engeren Sinne, die empirisch-technische Ebene unseres Seins. Das Kunstwerk entsteht in einem anderen Bereich. Künstlerisches Schöpfertum erfordert eine Ausschaltung des durch Überlegungen geleiteten, Zwecke setzenden Wollens und eine Ausblendung des Realitätsprinzips. Die Ordnung, die der Künstler schafft, entstammt nicht einer von ihm selbst gelenkten Tätigkeit, sondern verdankt unbewußten Kräften seines Inneren ihr Sein. Bei der Schizophrenie versagt die Regelung des Verhaltens durch das höchste Integrations- und Regelzentrum, das Ich. Dadurch lassen sich viele Symptome dieser Kranken als ein Kampf zwischen den Trieben und jenen ordnungschaffenden Tendenzen, die dem Bereich des Mythos zugehören, verstehen. Die Annahme ist unzutreffend, daß der Schizophrene in einen Autismus, der jede mitmenschliche Beziehung ausschließe, versinkt. Er büßt vielmehr nur die Fähigkeit zur Kommunikation auf der Ebene des Ichs teilweise ein. Sein Leben wird durch einen fiktiven Mythos geregelt, welcher die Triebe mit Gewalt unterdrückt, wenn sie auch gelegentlich die ihnen gesetzten Schranken durchbrechen. Formalismus und Deformation kennzeichnen das schizophrene und das manieristische Gestalten. Vielleicht handelt es sich dabei aber überhaupt um Wesensmerkmale der Kunst: auch die Mythen weisen ja eine Strenge, Starre und Gewaltsamkeit bei der Unterdrükkung der Triebe auf, die dem Ich nicht eigen sind; andererseits gestatten sie oft Exzesse des Triebhaften, die sich ein reifes Ich nicht erlaubt. Das Ich ist eben zu einer 163
feineren Regelung des Trieblebens fähig, während sich der Mythos härterer Methoden bedienen muß, aber auch enger an das Triebhafte gebunden ist.1 Wenn nun die Kunst durch mythische Ordnungskräfte entsteht, erhebt sich die Frage, welche Rolle das bewußte Ich im künstlerischen Schaffensprozeß spielt. In dem Augenblick, da Kunst nicht mehr Darstellung der einen und ewigen, unabänderlichen mythischen Wirklichkeit ist, sondern zur »Darstellung menschlicher Möglichkeiten« wird, erfordert künstlerisches Gestalten auch eine Entscheidung. Der Künstler setzt sich mit der Tradition auseinander und stellt der absolut verbindlichen Norm sein individuell Mögliches gegenüber. Das ausschließlich durch den Mythos geregelte ist eine Vorstufe des selbstbewußten und selbstverantwortlichen Lebens. Wenn also künstlerisches Gestalten Ichlosigkeit erfordert, so ist es doch auch ein Versuch, das Ich neu aufzubauen. Die originale Leistung ermöglicht eine Ichfindung und Selbstverwirklichung. Darin liegt die wesentlichste Beziehung zwischen dem Ich und künstlerischem Schaffen – für den Gesunden und den Schizophrenen.
Formalismus und Deformation sind für jene Stile charakteristisch, die noch wenig durch das Ich geprägt sind. Die Hinwendung zum Naturalismus zeigt dagegen eine Ichreifung an. Diese Tendenz führt allerdings vom eigentlich Künstlerischen weg, während Ichlosigkeit die schöpferischen Kräfte fördert.
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2. Das Kunstwerk Form und Ausdruck »Holbeins Zeichnungen von Männern und Frauen«, schreibt Oscar Wilde, »wirken durch ihre unmittelbare Lebendigkeit. Das liegt aber daran, daß Holbein das Leben Zwang, seine Bedingungen anzunehmen, die Grenzen, die er ihm setzte, zu wahren … und nur in der Gestalt Erscheinung zu werden, in der er es wünschte.« Der Wahrnehmung von Gegenständen, die dem Erwachsenen als Wahrnehmung schlechthin erscheint, geht eine andere Art des Bezugs zur Außenwelt vorher, nämlich das physiognomische Erleben oder Anmutungserleben. Dieses ist schon vor der bewußten Unterscheidung von Subjekt und Objekt vorhanden. Die Anmutung ist gleichzeitig Gefühl und Empfindung; sie ist diffus-ganzheitlich, verschwommen, ungegliedert. Aus bestimmten Anmutungsqualitäten entstehen im Laufe der Entwicklung die »Gestaltqualitäten«, welche in der Wahrnehmung des Erwachsenen vorherrschen, wenn auch die Anmutungswerte der Erscheinungen weiter ihre Wirkung ausüben. Neben den »reinen« Anmutungsqualitäten gibt es solche, die einem bereits gestalthaft wahrgenommenen Gegenstand anhaften: »Sie sind die eigentlich physiognomischen Qualitäten, sozusagen die physiognomische Valenz, die eine Gestalt über die rein figuralen Qualitäten hinaus noch besitzt« (Mühle).1 Auf dieser G. Mühle, a. a. O.
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physiognomischen Valenz beruht die »unmittelbare Lebendigkeit« eines Kunstwerkes. Durch das sachliche Wahrnehmen wird das physiognomische Angemutetsein gleichsam überlagert; es kann aber jeden Augenblick stärker hervortreten und die formale Gegenstandserfassung in den Hintergrund drängen. Der Erwachsene, besonders aber der Künstler, ist fähig, seine Einstellung zu ändern und bald den Gestaltqualitäten, bald den Anmutungswerten einer Erscheinung mehr Aufmerksamkeit zuzuwenden.1 Um den von einem archaischen Torso Apollos empfangenen Eindruck wiederzugeben, gebraucht Rilke die Worte: »… denn da ist keine Stelle, die dich nicht sieht.« Das Anmutungserleben knüpft an die ersten und stärksten Eindrücke an, die wir in unserer Kindheit empfangen haben. Diese empfingen wir aber vorwiegend durch Blick und Stimme. Der Ursprung alles Physiognomischen, das uns durch das Auge vermittelt wird, liegt im menschlichen Antlitz.2 Deshalb ist auch das Anmutungserleben des reifen Menschen noch mit dem Angeblicktwerden zu vergleichen. Später differenziert sich das physiognomische Erleben, erfaßt den Menschen in verschiedenen Erscheinungsweisen, greift auf andere Lebewesen, Tiere, Pflanzen über, schließt aber auch leblose Gegenstände in sich G. Mühle, a. a. O. 2 Vgl.: »Die Kraft eines schönen Gesichts, welch ein Sporn für mich! Nichts auf der Welt bereitet mir gleiche Lust« (Michelangelo). »Die unterhaltendste Fläche auf der Erde für uns ist die vom menschlichen Gesicht« (Lichtenberg).
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ein. So erhalten die Sonne, der Berg, das Haus eine physiognomische Valenz, eine bestimmte Gefühlstönung in der Wahrnehmung – auch wenn wir ihnen keine Physiognomie mehr verleihen. Alles Physiognomische ist gefühlsgesättigt, alles Formale zunächst gefühlsleer. Das Kunstwerk umfaßt beides: unmittelbare Lebendigkeit und Form. Die Spannung zwischen Form und Ausdruck entsteht dadurch, daß es sich um einander entgegenwirkende Kräfte handelt: je stärker das Physiognomische ist, um so schwieriger läßt es sich gestalten. Es kann der Fall eintreten, daß dem Künstler dieses Physiognomische, welches ihm vorschwebt und ihn erfüllt, während des Gestaltungsvorganges mehr oder weniger entschlüpft und durch »leere Formen« verdrängt wird. Aber auch wenn die Gestaltung gelingt, wird der Ausdruck dadurch eingedämmt, werden jene triebhaft-emotionalen Kräfte gezügelt, die in dem ursprünglich erlebten Physiognomischen enthalten waren. Das dem triebhaft-emotionalen Bereich zugehörige, uns unmittelbar ansprechende Physiognomische ist der eigentliche Inhalt des künstlerischen Werkes, die Materie, die nach einer Form verlangt.
Mythische Bedeutung Piet Mondrian hatte sich in seinem Schaffen mit dem Naturalismus, Impressionismus, Symbolismus und Kubismus auseinandergesetzt. Sein Weg entfernte sich 167
immer mehr von der gegenständlichen Darstellung. Schließlich gelangte er zu einem Gestaltungsprinzip, das nur mehr rechtwinkelig sich kreuzende Gerade und die primären Farben Rot, Blau und Gelb zuließ. Mondrian wollte über das Ästhetische hinausgehen und eine geistige Aufgabe erfüllen. Sein Werk sollte das Bild einer universellen Harmonie vermitteln, die den Menschen von der Willkür und den Zufälligkeiten des Lebens erlöst. Beruht das Künstlerische dieser am Höhepunkt seiner Laufbahn entstandenen Kompositionen auf der Anordnung ihrer Linien und der Ausgewogenheit ihrer farbigen Flächen oder vielleicht auf einer tieferen, ursprünglicheren Bedeutung derartiger Gebilde? Sicher hat Mondrian mit seinen Liniengefügen etwas bewältigt; vielleicht waren es ungeheure Gesichte, die ihn bedrängten. Man kann aber nicht sagen, daß dieses Etwas in seinen Bildern Gestalt gewann; es kommt nichts davon in ihnen zum Ausdruck. Und dies entspricht ja auch im tiefsten dem Streben dieses Künstlers: das Physiognomische und das individuelle Ich auszuschalten und zu einem Symbol des reinen geistigen Seins vorzustoßen. Parmenides stellte das eine, unveränderliche, unentstandene und unvergängliche Sein, das er dem Denken gleichsetzte, im Bilde einer Kugel dar. Für den Zen-Buddhismus ist der in sich geschlossene Kreis ein Symbol der Nicht-Zweiheit, des Wissens um die Torheit aller Unterscheidungen. Ebenso sind die Schöpfungen Mondrians (wenn sie auch mit ihren sich kreuzenden 168
Geraden ein dualistisches Prinzip andeuten) mythische Zeichen, Symbole einer umfassenden Ordnung menschlichen Seins. Einfachen geometrischen Gebilden wohnt kein primäres Leben inne; dennoch sprechen sie uns gefühlsmäßig an. Diese Erlebnisqualität des Formalen muß aber vom physiognomischen Gehalt eines Werkes unterschieden werden. Wenn wir in einem Dreieck ein Auge erblicken, dann ist das ein physiognomisches Erlebnis, erscheint es uns aber als »ordnungsstiftendes Zeichen«, dann liegt ein ausschließlich an die Form gebundenes Bedeutungserlebnis vor. Was einfache geometrische Kategorien »ausstrahlen«, ist vor allem die Affektbeherrschung ihres Schöpfers. Die symbolische Bedeutung geometrischer Formen wird jedoch immer auf das Triebhaft-Emotionale, das Physiognomische bezogen erlebt, auch dann, wenn diese Formen nichts davon in Erscheinung treten lassen. Denn diese vom Menschen hervorgebrachten, seiner psychophysischen Organisation entstammenden formalen Kategorien sind ja die Schablonen, mit deren Hilfe die eigene Triebhaftigkeit und die entsprechenden physiognomischen Erlebnisinhalte geordnet werden sollen. Der Kreis, das Quadrat, das Dreieck, das Kreuz sind also nur insofern gefühlsleer, als ihnen der Ausdruck unmittelbarer Lebendigkeit fehlt. Diese geometrischen Formen sind aber besonders dazu geeignet, zu Symbolen einer geistigen Ordnung des triebhaften Lebens zu werden, mythische Bedeutung zu erlangen. Es ist eine eigentümliche Tatsache, daß die formalen 169
Kategorien, mit denen es gelingt, Physiognomisches einzufangen und im eigentlichen Sinne zu gestalten, zunächst auch für sich, gleichsam neben den Inhalten physiognomischen Erlebens stehen können. Dieses Nebeneinander, die noch fehlende Durchdringung von Form und Ausdruck, beziehungsweise das Zurücktreten dessen, was im Grunde zu gestalten wäre, ist das Wesen jener Erscheinung, die wir Formalismus nennen. Formalismus kennzeichnet das noch ganz im Mythischen wurzelnde, sakrale Werk. Auf dieser ursprünglichen Erlebnisqualität der vom Menschen selbst, vornehmlich durch rhythmische Bewegungen hervorgebrachten Formen beruht das religiöse Wesen der Kunst. Es liegt also nicht im Gegenständlichen oder Rationalen, sondern in der Struktur des Kunstwerkes. Jeder künstlerischen Form kommt neben und vor allen übrigen Eigenschaften mythische Bedeutung zu. Kunst verwirklicht sich in einem der gewöhnlichen Welt entrückten, völlig anderen Bereich. Der Mensch ist eingespannt in die Realität von Raum und Zeit, das Kunstwerk ist über Raum und Zeit erhaben. Es entsteht aus einem Bestreben, dem Vergänglichen Dauer zu verleihen und den Wechselfällen des Lebens gegenüber eine bleibende Ordnung zu errichten. Als eine »im Nichtwirklichen aufsteigende sinnoffenbarende Gestalt« (Guardini1) dient es dazu, das Schicksal geistig zu bewältigen. R. Guardini, Über das Wesen des Kunstwerkes. Tübingen/Stuttgart 947.
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Realistisch gesehen, ist freilich auch das Kunstwerk wie alles Irdische vergänglich; aber es geht »aus der Sehnsucht nach jenem vollkommenen Dasein hervor, das nicht ist, von dem aber der Mensch trotz aller Enttäuschungen meint, es müsse werden«, es weckt die Hoffnung, »die Welt, wie sie sein müßte … werde irgendeinmal tatsächlich erstehen«.1
Originalität Wiener2 betrachtet die schöpferische Leistung in der Kunst vom Standpunkt der Informationstheorie. Der Wert eines Gemäldes oder eines Werkes der Literatur könne nur beurteilt werden, wenn man in Betracht ziehe, was an ihm der Allgemeinheit bis zu seinem Erscheinen unbekannt war. So sei die geometrische Perspektive in der Malerei zur Zeit ihrer Entdeckung sehr bewundert worden. Die führenden Künstler jener Epoche, Leonardo da Vinci, Dürer und deren Zeitgenossen, hätten diesem neuen Kunstgriff größtes Interesse entgegengebracht. Die perspektivische Darstellung habe jedoch rasch an Bedeutung verloren, sobald sie einmal beherrscht wurde und der Nachahmung durch jedes mittelmäßige Talent preisgegeben war. Ein Maler wie Picasso, der in seinen verschiedenen Schaffensperioden die künstlerischen Möglichkeiten einer Zeit umfassend R. Guardini, a. a. O. 2 N. Wiener, Mensch und Menschmaschine. Frankfurt 958.
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erkunde und verwirkliche, bringe die Originalität seiner Schüler und Zeitgenossen zu Fall. Eine Information, die zum allgemeinen Informationsstand beitragen soll, müsse etwas von dem vorhergehenden Informationsbesitz Verschiedenes aussagen. Nur selbständige Information sei von Wert. Daran ist so viel richtig, daß man kein Werk hoch einschätzen wird, das durch bloße Nachahmung entstand, obwohl wahrscheinlich viele Kunstwerke nur deshalb bewundert werden, weil man die Werke, denen sie nachgebildet sind, nicht kennt. Die Originalität eines Werkes ist oft schwer feststellbar. In psychologischer Sicht ist »originell« jedoch keinesfalls mit »neuartig« und »noch unbekannt« gleichzusetzen. Ob eine Form übernommen oder selbst geschaffen worden ist, ist einzig und allein von Belang. Eine Gestaltung muß nicht neu sein, um originell zu sein. Auch naturwissenschaftliche Entdeckungen und technische Erfindungen, die ja häufig von mehreren Personen unabhängig voneinander gemacht werden, sind deshalb, weil sie schon bekannt sind, nicht weniger originell. Vieles kann auf Grund einer allgemeinmenschlichen Veranlagung unter gewissen Bedingungen erfunden werden. Gerade bei unseren schizophrenen Kranken sehen wir, daß sie ohne jede äußere Anregung Gestaltungsmöglichkeiten neu entdecken, die in der menschlichen Gesellschaft auf jahrtausendealter Tradition beruhen. Ein Schizophrener, der viele ziemlich verworrene Schriftstücke verfaßte, setzte hinter seinen Namen stets das Wort – »Erfinder«. Was er erfunden hatte, 172
war eine »Stahlpanzerplatte« von einer gewissen Größe und Stärke, die gegen jegliche feindliche Einwirkung Schutz bieten sollte. Graphisch gab er seine Erfindung in Form eines schwarz schraffierten Rechteckes (Abb. 80) wieder.
Abb. 80. »Erfindung«. Zeichnung eines Schizophrenen
Dieses von unserem Kranken gezeichnete Rechteck ist keine gewöhnliche geometrische Figur, wie man sie in der Schule herstellen und beschreiben lernt. Es ist auch nicht vom Vorstellungsbild irgendeines Gegenstandes abstrahiert. Die Überzeugung unseres Kranken, ein Erfinder zu sein, dürfen wir als einen Hinweis darauf betrachten, daß das von ihm entworfene Rechteck eine echte Neuschöpfung ist. Sein Versuch, durch daran anknüpfende Überlegungen und Erklärungen die Entdeckung dem rationalen Erfahrungsbereich einzugliedern, ist freilich fehlgeschlagen; aber auf magische Weise diente ihm die »Stahlpanzerplatte« zur Beherrschung der Angst und zur Abwendung der von ihm wahnhaft erlebten Bedrohungen und Gefahren. 173
Wahrscheinlich ist auch das schwarze Quadrat, das Malewitsch auf weißen Grund gesetzt hat, um damit der Malerei einen neuen Inhalt und Anfang zu geben, in einem ähnlichen Sinne Neuschöpfung. Rennert1 berichtet von einem Schizophrenen, der Bilder herstellte, indem er seine Hand umfuhr und die Konturen mit roter Wasserfarbe ausfüllte. Neben dieses unheimlich wirkende Handmotiv malte er dann noch bedeutungsvoll irgendeine einfache geometrische Figur. Einer unserer schizophrenen Patienten zeigte während des akuten Stadiums seiner Psychose ein ähnliches Verhalten. Wir zweifeln nicht an der Originalität dieser Leistungen. Auch die Abdrücke von Kinderhänden an Hausmauern oder die Handsilhouetten in altsteinzeitlichen Höhlen können ebensogut spontan wie durch Nachahmung entstanden sein. Originalität läßt sich an derart einfachen Leistungen nicht ablesen; man kann nur aus den Umständen ihres Zustandekommens darauf schließen. Nun gibt es aber auch eine Originalität, die im Werke selbst ihren Niederschlag findet. Sie beruht auf einer größeren Zahl formaler Eigentümlichkeiten, die ähnlich wie in der Handschrift auch in allen Zeichnungen eines Menschen wiederkehren. Diese Merkmale sind typisch für die Individualität des Zeichners und ermöglichen die Agnoszierung des aus seiner Hand hervorgegangenen Werkes. Es liegt ihnen vor allem ein besonderer Bewegungsrhythmus zugrunde. H. Rennert, a. a. O.
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Auf eben diesen formalen Merkmalen beruht schließlich aber auch jene Originalität, deren Grad – neben anderen Kriterien – für den Rang eines Kunstwerkes maßgebend ist. Vielleicht läßt sich hohe Originalität als eine Steigerung des Individuellen auffassen. Denn das Werk des durchschnittlich Begabten enthält neben besonderen Formmerkmalen (oder einer besonderen Korrelation von Formmerkmalen) noch zahlreiche ganz banale, die in den Werken vieler anderer in gleicher Weise vorkommen. Solche Merkmale fehlen oder sind sehr vermindert in dem durch hohe Originalität ausgezeichneten Werk. Originalität liegt weder im Ausgangsmaterial noch im Endergebnis einer Gestaltung, sondern in der Art und Weise, wie aus dem Unbestimmten etwas Bestimmtes, aus dem Allgemeinen etwas Besonderes wird – wie aus den Bewegungsspuren ein Objekt entsteht. Nur an diesen Übergang ist der Begriff der Originalität geknüpft. Da das Originelle also einen Weg kennzeichnet, kann es nur aus der Form erschlossen werden. Die Form verliert ihre Originalität, sobald sie objektiviert ist und nachgeahmt werden kann.1
Wissenschaft und Kunst«, schreibt Grillparzer, »unterscheiden sich voneinander wie eine Reise und eine Spazierfahrt. Der Zweck der Reise liegt im Ziel, der Zweck der Spazierfahrt im Weg.« (Grillparzers Werke, 2. Teil, Studien II/Zur Ästhetik, hrsg. von St. Hock. Berlin/Leipzig/Wien/ Stuttgart o. J.)
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Gegenständlichkeit Die Verteidiger der gegenstandslosen Malerei neigen dazu, die formalen Aspekte der Kunst allein für entscheidend und Stoff, Inhalt, Ausdruck für nebensächlich zu halten. Es äußert sich darin eine Überschätzung des Kriteriums der Originalität, welches ja nicht allein für die Höhe künstlerischer Leistung maßgebend ist. Es kommt zum Beispiel auch auf die unmittelbare Lebendigkeit eines Werkes an. Dinge, Pflanzen, Tiere, vor allem aber der Mensch sind Träger starker physiognomischer Valenzen. Als solche bieten sie reiches Material für die Gestaltung. Die völlige Ausschaltung des Gegenständlichen beraubt dagegen die Malerei, bedeutender Möglichkeiten, Physiognomisches wiederzugeben. Deutet der Maler jedoch mit seinen Linien und Farben Gegenständliches auch nur an, dann ruft dies sofort Gefühle hervor, fesselt den Betrachter und schafft ein Gegengewicht zu den formalen Aspekten der Darstellung. Das Formale wird wieder zur Lösung – das vorher nur der Verdrängung diente. Dem Gegenstand kommt in der bildenden Kunst jedoch noch eine andere, wesentlichere Bedeutung zu. Sobald die Gestalt nämlich nicht mehr bloß ein heiliges Zeichen ist, sondern der Künstler daran geht, etwas Lebendiges damit zu fassen, entsteht ganz von selbst aus den zunächst leeren Formen ein Gegenstand. Künstlerisches drängt zu gegenständlichem Gestalten. Eine scharfe Subjekt-Objekt-Trennung, sachliches 176
Wahrnehmen und rationales Denken sind Funktionen eines reifen Ichs. Wenn künstlerisches Schaffen also zu gegenständlichem Gestalten führt, dann erfüllt sich dabei nur ein der Entwicklung des menschlichen Geistes innewohnendes Gesetz. Die immer bessere Erfassung des Gegenstandes ist nichts anderes als ein Ergebnis der Ichfindung. Nun darf aber nicht übersehen werden, daß diese der Kunst immanente Tendenz zum Naturalismus, zum Gegenständlichen, zum Rationalen eigentlich über die Kunst hinaus will und von ihr wegführt. Der Naturalismus ist stets das Ende einer künstlerischen Epoche. Niemals kann die Intention auf naturgetreue Abbildung am Anfang künstlerischen Gestaltens stehen.1 Soweit die Form Gegenständliches festhält und rationale Bezüge verwirklicht, spiegelt sich in ihr die Tätigkeit des Ichs. Eine Überwertung des Gegenständlichen und Rationalen liegt dem Naturalismus und Klassizismus zugrunde. Aber je »objektiver« der Gegenstand erfaßt, je genauer er abgebildet wird, um so geringer werden die Intensität des Physiognomischen und die Originalität der Form. Der Naturalismus vermittelt uns wohl ein Gegen diese Auffassung scheinen die frühesten urgeschichtlichen Zeugnisse bildnerischer Tätigkeit zu sprechen. Niemand kann aber behaupten, daß der Naturalismus der jungpaläolithischen Höhlenmalereien ein Anfang und nicht ein Höhepunkt künstlerischer Entwicklung war. Wenn diese Bildwerke auch dem Jagdzauber gedient haben mögen, so sollte man ihnen doch den Charakter der Kunst nicht absprechen. Die magische Bedeutung der Höhlenzeichnungen liegt auf derselben Linie wie der rationale Zweck, dem in historischer Zeit das Kunstwerk nicht selten dient. Vor jedem magischen oder realen Wert hat aber jegliche vom Menschen
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reichhaltiges, aber ein zu oberflächliches Bild der Welt. Deshalb ist die Zertrümmerung des Gegenstandes, die Zerstörung der rationalen Ordnung ein Versuch, zum Eigentlichen der Kunst zurückzukehren. Die Deformation entsteht dadurch, daß die naturgetreue Form des Gegenstandes von der Sphäre des Affektiven her verändert wird. Es wird dadurch die Intensität des Physiognomischen erhöht. Der Wert der Deformation für die bildende Kunst liegt vor allem hervorgebrachte Gestaltung mythischen Sinn. Auch die Jungpaläolithiker hatten den Drang, ihre Seele der Vergänglichkeit zu entreißen und ihren flüchtigen Eindrücken Dauer zu verleihen. Es ist ihnen in einem für sie selbst unvorstellbaren Ausmaß geglückt. Die Höhlenzeichnungen legen Zeugnis dafür ab, daß der Mensch der späten Altsteinzeit, wenn auch sein geistiger Horizont eng gewesen sein mag, die Gegenstände seiner Umwelt klar erfaßt hat. Er war extravertiert. Als ein in kleinen Verbänden lebender Jäger hatte er ausreichend Gelegenheit, seine Triebe abzureagieren. Der moralische Druck von Seiten der Gemeinschaft dürfte wesentlich geringer gewesen sein als die Nöte und Gefahren der Außenwelt, in der sich dieser Altmensch bewährte. Man wird ihm eine gewisse Persönlichkeitsreife zuerkennen müssen. Den jungpaläolithischen Naturalismus löst im Meso- und Neolithicum ein geometrischer Stil mit expressiven und deformierenden Zügen ab. Es ist die Zeit, in der die ersten größeren Siedlungsgemeinschaften entstehen. Die Felsbilder, die jetzt geschaffen werden, geben nicht mehr das Jagdwild naturgetreu wieder, sondern vorwiegend den Menschen bei seiner Tätigkeit. Die dargestellten Figuren sind jedoch hochgradig stilisiert und weisen oft eine outrierte Bewegung auf. Dies läßt auf eine fortschreitende Verinnerlichung, eine Abkehr der Triebenergie von den Objekten der Außenwelt und deren stärkere Hinwendung auf das eigene Ich schließen. Die schematisierten Menschenbilder des Meso- und Neolithicums erinnern an Zeichnungen unserer schizophrenen Kranken (vgl. Abb. 73, S. 90). Der »Kulturzwang«, dem sich der Mensch unterwirft, führt nicht nur zum Erwerb neuer geistiger Fähigkeiten, sondern auch zu einer Verzögerung der Persönlicbkeitsreifung und in vielen Fällen zu einem Verlust an äußerer und innerer Freiheit. Diese Feststellung wird durch den urgeschichtlichen Stilwandel erstmalig belegt.
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darin, daß – wie Bader1 es formuliert hat – die physiognomischen Valenzen des Gegenständlichen dadurch »valenter« werden. In der abstrakten Malerei tritt an die Stelle der Wiedergabe von Gegenständen die Gegenständlichkeit der abstrakten Form. Das Bewußte und Gewollte, das »Technische« an den formalen Eigenschaften eines abstrakten Gemäldes liegt auf der Ebene des Ichs. Gegenständlichkeit ist also ein Zeichen geglückter Ichfindung. Freilich muß sie immer Ergebnis künstlerischen Schaffens und kann nie dessen Voraussetzung sein. Denn die Kunst führt zum Gegenstand, die Wiedergabe von Gegenständen aber nicht zur Kunst. Manche zeitgenössische Werke sind nur verständlich, wenn man sie als Manifeste eines fiktiven Mythos betrachtet, die früheste Stufen der Ichfindung repräsentieren. Der moderne Künstler läßt sich durch die Kinderzeichnung, die Kunst der Primitiven oder der Geisteskranken anregen. Bei seinem folgerichtigen Zurückschreiten auf der Suche nach den Ursprüngen der Kunst gelangt er nicht selten auf jene Stufe, auf der eine ästhetische Beurteilung unangemessen ist und künstlerische Rangunterschiede noch nicht bestehen. Die Tiefe des Erlebens, das uns die Kunst vermittelt, ist nämlich nicht vom Rang des Kunstwerkes, sondern vom erlebenden Subjekt abhängig, und um dieses Kunsterleben hervorzurufen, bedarf es nicht immer einer großen formalen Leistung. Jedem ästhetischen Urteil Briefliche Mitteilung Alfred Baders an den Autor.
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liegt jedoch der Vergleich des in Frage stehenden Werkes mit anderen Werken zugrunde. Dabei sind die Kriterien der unmittelbaren Lebendigkeit, der technischen Vollendung (Treffsicherheit gegenständlicher Wiedergabe, rationale Ordnung usw.) und der Originalität maßgebend. Es bedarf keiner besonderen Voraussetzungen, die Ausdruckskraft eines Werkes zu empfinden, Kennerschaft ist jedoch erforderlich, um seine technische Vollendung zu beurteilen, und am schwierigsten ist es, die Originalität richtig einzuschätzen. So wird das Kunstwerk mit Recht ein Mikrokosmos genannt, der den menschlichen Daseinsebenen und ihren Spannungsverhältnissen entspricht. Sein Rang ist vom Ausmaß der bewältigten Spannungen abhängig, sein Stil vom Verhältnis der in den drei Dimensionen liegenden Eigenschaften des Werkes: in der Klassik treten die dem Ich zugehörigen Merkmale stärker hervor, der Manierismus legt mehr Wert auf Originalität. Dennoch können Werke verschiedenen Stils den gleichen künstlerischen Rang besitzen.
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3. Der Künstler Die Begabung Unsere Erfahrungen mit schizophrenen Kranken zeigen, daß auch bei geringer allgemeiner und spezieller Begabung schöpferisches Gestalten möglich ist. Der Rang der künstlerischen Leistung wird jedoch in hohem Maße durch Talent und Intelligenz bestimmt. Kunstwerke spiegeln das geistige Niveau ihrer Schöpfer wider. Man kann nicht sagen, meint Read1, daß Plato »intelligenter« war als Praxiteles oder daß Freud »intelligenter« war als Cézanne, und erkennt damit diesen Künstlern eine ganz außerordentliche geistige Begabung zu. Während die Intelligenz mit der Weite des geistigen Horizontes in Beziehung steht und sich im Gesamtverhalten eines Individuums äußert, verstehen wir unter Talent die Fähigkeit zu einer ganz bestimmten, oft eng umschriebenen Leistung.2 Das Talent ist wie die Intelligenz eine angeborene, nicht selten erbliche Begabung. Manche Forscher vermuten, daß einzelne Sonderbegabungen (z. B. jene für H. Read, a. a. O. 2 Wenn man, wie es eine Analyse der Kunst nahelegt, das Schöpferische von Talent und Intelligenz unterscheidet, dann hat dies gewisse Rückwirkungen auf den Intelligenzbegriff. Intelligenz ist dann nämlich nichts anderes mehr als der Umfang des Gedächtnisses, die Fähigkeit, auf allen sensomotorischen Gebieten (im Gegensatz zum Talent, das sich auf ein spezielles Gebiet beschränkt) Gestalten zu erfassen, zu behalten und zu reproduzieren, die allgemeine Lernfähigkeit.
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Mathematik oder für Musik) in bestimmten Gehirnstrukturen ihre materielle Grundlage besitzen. Die Allgemein-Begabung läßt sich dagegen am ehesten mit der Entwicklungsstufe des gesamten Gehirns in Beziehung setzen. Das Talent steht wie die Intelligenz den Ichfunktionen nahe;1 denn mit Hilfe eines angeborenen Talentes gelingt es leicht, unbestimmten Eindrücken Gestalt zu verleihen und sie damit auf die Ebene des Bewußtseins zu heben. Wir wollen uns hier nur mit dem Zeichentalent beschäftigen, da es für den bildenden Künstler von größter Bedeutung ist.2 Bei der Fähigkeit zur farbigen oder plastischen Wiedergabe spielen vielleicht zusätzliche dispositionelle Faktoren eine Rolle. Das Talent ist nicht schöpferisch; auch Fälscher und Kopisten sind meist sehr talentiert. Es äußert sich auf musikalischem Gebiet schon in der Fähigkeit zur Wiedergabe. Obwohl das angeborene (oder zumindest früh sich manifestierende) Talent aus sich heraus häufig zur Betätigung drängt, kann es doch auch brachliegen und Nach H. Hartmann gehört die Intelligenz zu den »Ich-Apparaten«, deren Beschaffenheit (neben anderen Faktoren) für »Ich-Stärke« und »IchSchwäche« maßgebend ist (H. Hartmann, a. a. O.). 2 »Wer sich von den Gemälden eines Meisters zu den Zeichnungen wendet, dem scheint sich ein Vorhang zu heben, und er dringt in das innere Heiligtum.« »Zeichnend waren die Meister im 5. und 6. Jahrhundert mehr Künstler, malend mehr Handwerker.« »Zeichnen ist in höherem Grade als Malen ein Wählen, Entscheiden, Auslassen, ein geistiges Eingreifen, deshalb als unmittelbare, persönliche, intime Äußerung der Individualität unschätzbar.« (M. J. Friedländer, a. a. O.).
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verkümmern, wenn das talentierte Individuum keinen Antrieb hat, seine Begabung zu nützen. Grillparzer1 schätzte Talent sehr hoch ein, ja hielt es für eine größere und seltenere Gabe als Genialität. Unter Genie verstand er Eigentümlichkeit (Originalität) der Auffassung, unter Talent die Fähigkeit zur Wiedergabe, zur Ausführung: »Genialität ohne Talent gibt keinen anderen Wert als einen höchst persönlichen …« – »Das Talent gehört der Welt.« – »Talent ohne Genie behält immer seinen Wert, Genie ohne Talent ist ein Vorsatz ohne Tat, ein Wollen ohne Können, ein Satz ohne Überzeugung.« – »Der eigentlichen Schöpfungskraft beim Künstler kommt nur jenes, bereits im Talent gegebene, gleichsam gebundene Denkvermögen zugute, das sich instinktmäßig äußert und die Quelle von Leben und individueller Wahrheit ist.« Das Zeichentalent ist ein gutes Beispiel für eine Sonderbegabung. Es ist weitgehend unabhängig von der Intelligenz. So findet man unter Geistesschwachen hervorragende Zeichner. Der Schweizer Maler Gottfried Mind, der unter dem Namen »Katzen-Raffael« bekannt ist, soll an Schwachsinn mittleren Grades gelitten haben. Andererseits besitzen hochintelligente Menschen oft keinerlei Geschicklichkeit im Zeichnen. Statistische Untersuchungen zeigen allerdings, daß auch das Zeichentalent (wie die meisten Sonderbegabungen) mit der Intelligenz korreliert, wenn es sich dabei auch nur um eine schwache Korrelation handelt. Es ist sicher, daß Grillparzers Werke, a. a. O.
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die Fähigkeit zur zeichnerischen Wiedergabe auf einer angeborenen Disposition beruht. Nach dem 9. oder 0. Lebensjahr weisen die meisten Kinder nur mehr geringe Fortschritte im Zeichnen auf. Das Zeichentalent dürfte durch eine besondere Synergie visueller Wahrnehmungen und kinästhetischer Empfindungen zustande kommen. Man könnte sich diese Beziehung etwa so vorstellen, daß der Anblick eines Gegenstandes, sei er bewegt oder unbewegt, sofort eine eigene Körperbewegung, die den sichtbaren Formen des Objekts entspricht, wenn auch nur im Ansatz, auslöst. Vielleicht wird dabei die Kontur mit dem eigenen Körper oder mit einem Teil des Körpers nachgezogen, etwa mit der Hand oder den Augen. Bei der nachfolgenden zeichnerischen Wiedergabe hätte dann nur dieser motorische Akt reproduziert zu werden. Man ist immer wieder geneigt, das Zeichentalent auf ein besonders gutes visuelles Gedächtnis, eine »eidetische Begabung« zurückzuführen. Wenn auch der Wert des visuellen Vorstellungsvermögens für den Zeichner nicht angezweifelt werden kann, so bleibt doch dabei die Frage offen, wie das innere Bild in den entsprechenden motorischen Akt umgesetzt wird. Und hier scheint ja das eigentliche Problem zu liegen. Entstammt das Zeichentalent dagegen einer kinästhetischen Begabung oder verdankt es einer besonderen Verbindung zwischen dem visuellen und dem kinästhetischen Funktionsbereich seine Entstehung, dann müßte man annehmen, daß die eidetische Begabung dabei nicht von primärer Bedeutung ist. Es könnte nämlich durch das kinästhetische 184
Gedächtnis allein sowohl die graphische Reproduktion des einmal gesehenen Gegenstandes gelingen als auch das visuelle Bild in der Vorstellung wiedererweckt werden. Die Wahrnehmung ist keine Spiegelung physikalischer Gegebenheiten der Außenwelt. Sie entsteht vielmehr durch eine für das Sinnesorgan spezifische Auswahl und Bearbeitung dieser Gegebenheiten und eine zusätzliche Gestaltung durch das erlebende Subjekt. Wahrnehmungen können mehr oder weniger gestaltet sein. Vermutlich wird die optische Wahrnehmung beim zeichnerisch Begabten durch das Mitwirken kinästhetischer Empfindungen in höherem Maße gestaltet als beim Unbegabten. Der talentierte Künstler sieht die Dinge anders als der Durchschnittsmensch, weil er dem Gegebenen aus sich heraus mehr hinzufügt als dieser.
Die Auseinandersetzung mit der Kunst Die Formen der Kunst sind weder aus der allgemeinmenschlichen noch aus einer einzelmenschlichen Veranlagung zur Gänze ableitbar. Bei ihrer Entstehung spielen vielmehr auch äußere Umstände und historische Zufälligkeiten mit. Sind aber Kunstformen einmal geschaffen, dann bergen sie gewisse Entwicklungsmöglichkeiten und entfalten sich auf Grund einer inneren Notwendigkeit oft in ganz bestimmter Art. Der Künstler findet also Formen vor, die in einem 185
Traditions-Zusammenhang stehen, und selbst Meister ersten Ranges bedienen sich der traditionellen Gestaltungsmuster. Es ist erstaunlich, wie wenig Neues oft die berühmtesten Werke bieten, wenn man sie in historischem Zusammenhang betrachtet. Die Schaffenden selbst sind sich meist nicht bewußt, in welch hohem Maße sie nur Verwirklicher überindividueller Formtendenzen sind.1 Im Fehlen jeglicher Beziehung zu künstlerischen Vorbildern und Überlieferungen erblickte Binswanger2 den entscheidenden Beweis dafür, daß Kunst und schizophrene Bildnerei unvereinbare Begriffe seien: »Dort künstlerische Darstellungsweisen, die ihre Geschichte, ihre künstlerischen Bedingungen und Bestrebungen haben, hier ungeschichtliche, aus keiner Tradition, also auch nicht aus einem ›Bruch mit der Tradition‹ entstandene, rein ›persönliche‹ Erzeugnisse.« Auch Schmidt3 will den bildnerischen Produkten der Geisteskranken unabhängig von ihrer formalen Höhe und Ausdruckskraft den Namen der Kunst im strengeren, reineren Sinne nicht zuerkennen; denn Kunst im strengsten Sinne sei nur, »was den geistigen Bedürfnissen, dem Ausdruck der Freuden und Nöte der menschlichen Gesellschaft in einer bestimmten Phase ihrer Geschichte dient, was auf eine ganz bestimmte Zeitsituation antwortet«. Vgl. R. Müller-Freienfels, Psychologie der Kunst. Leipzig/Berlin 923. 2 L. Binswanger, a. a. O. 3 J. Cocteau u. a., a. a. O.
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In der schizophrenen Bildnerei sei dagegen das Verhältnis des Menschen zur Umwelt seiner Gegenwart nicht nur gestört, sondern geradezu zerstört, d. h. nicht existent. »Im Weltbild des Geisteskranken ist die Zeit mit ihren Fragen und Antworten ausgelöscht. Seine Kunst ist zeitlos wie die Kinderkunst.« Über die Beziehung des schizophrenen Kranken zur Welt gibt es nun aber auch ganz andere Ansichten. So fand Kranz1 beim Studium von Krankengeschichten Schizophrener aus verschiedenen Epochen eine »überaus enge Verzahnung des psychotischen Erlebens mit allem, was die jeweilige Zeit und die jeweilige Um- und Mitwelt an den Kranken heranträgt«. »Wie ein zeit- und kulturgeschichtliches Bilderbuch« eröffneten sich ihm diese Krankenblattaufzeichnungen, und er sah, daß »Friedens-, Kriegs- und Nachkriegssituation, politische und soziale Lebensformen, gesellschaftliche und wirtschaftliche Strukturen, alles Bedeutsame in Kultur, Kunst, Zivilisation und Technik, wissenschaftliche und religiöse Strömungen, im Vordergrund stehende Persönlichkeiten«, kurzum alles, was eine bestimmte historische Zeit prägt, die Quellen sind, aus denen die Wahninhalte der Schizophrenen gespeist werden. Die weitverbreitete Meinung, der Geisteskranke nehme so gut wie nichts von seiner Umgebung wahr, verrate daher eine »erschütternde Ahnungslosigkeit
H. Kranz, Der Begriff des Autismus und die endogenen Psychosen. In: Psychopathologie heute, hrsg. von H. Kranz. Stuttgart 962.
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vom Wesen des Wahns«; denn es gibt, wie Conrad1 sagt, »überhaupt keine Krankheit, bei der die äußere Umgebung, das situative Feld einschließlich aller Bestände, angefangen von der Beleuchtung und Ausstattung des Raumes, bis zur Geste, Stimme, dem Verhalten und dem Wort der Menschen, von so ausschlaggebender Bedeutung ist wie gerade beim Wahn«. Wenn daher die bildnerischen Gestaltungen der Schizophrenen außerhalb der künstlerischen Tradition stehen, so beruht dies nicht so sehr auf ihrer Krankheit als auf der Tatsache, daß jene Kranken, die erst in der Psychose zu schaffen beginnen, zu den »peintres naïfs« gehören. Sie sind gesellschaftlich isoliert und gehen als Autodidakten an künstlerische Aufgaben heran. Mit der Welt, in der sie leben, setzen sich dagegen diese Menschen schon auseinander. Vielleicht ist gerade die intensive geistige Auseinandersetzung der Schizophrenen – wie der Laienmaler überhaupt – mit ihrer Umwelt ein wichtiger Beweggrund ihres Schaffens. Falsch wäre auch die Annahme, daß die Schizophrenen zum Konventionellen keine Beziehung hätten. Im Gegenteil, diese Kranken besitzen nicht nur einen Hang zur Originalität, sondern auch eine ausgesprochene Neigung zum Konventionellen, Altmodischen, Kitschigen und Schwülstigen, wie Rennert2 mit Recht hervorhebt. Der Schizophrene unterwirft sich bedingungslos der konventionellen Norm, oder er ignoriert sie ganz. Es K. Conrad, zitiert nach H. Kranz, a. a. O. 2 H. Rennert, a. a. O.
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weisen die Überbetonung wie der Mangel des Konventionellen auf eine Störung des Ichs bzw. Schwäche der Ich-Apparate hin. Ich-Stärke gründet sich dagegen ebensosehr auf Originalität wie auf eine selbstverständliche Sicherheit im konventionellen Bereich. Wir müssen unserer These, daß die originale Leistung der Ichfindung und Selbstverwirklichung diene, nun eine andere zur Seite stellen: auch das Aufgreifen konventioneller Gestaltungsmuster ist als ein Versuch der Ichfindung zu betrachten. Die Auseinandersetzung mit der künstlerischen Tradition, die Aneignung des vorhandenen Formengutes und seine selbsttätige Umgestaltung sind Hauptaufgaben des Künstlers. Beim Schizophrenen tritt Heilung ein, sobald zwischen seinem konventionellen und seinem originalen Ich eine echte Synthese zustande kommt.1
Die Gestaltungskraft Talent, Intelligenz, die Teilhabe an der Kunst sind wichtige Voraussetzungen künstlerischen Schaffens. Zur originalen Leistung bedarf es aber noch einer besonderen Fähigkeit. Wir nennen sie die Gestaltungskraft. Sie ist die am meisten bewunderte Gabe des Künstlers, ohne sie entsteht kein geniales Werk. Was ist dieses Schöpferische? Wie kommt es zustande? Die stufenweise Sozialisierung des Einzelnen erfolgt in einem ständigen Wechsel von seelischer Eigentätigkeit und Kommunikation. Dadurch ent-
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Die Gestaltungskraft ist von der Stärke der Triebe und einer entsprechenden Stärke der Hemmungen abhängig. Es müssen jedoch gewisse Schemata zur Verfügung stehen, um einem Material Form zu verleihen. Solche werden im Laufe des Lebens erworben. Ein Talent erlaubt es, sich bestimmte Gestaltungsmuster frühzeitig und umfassend anzueignen. Die Gestaltungskraft bedient sich erworbener Fähigkeiten und angeborener Begabung. Sie kann aber auch bei Menschen, die weder eine Ausbildung genossen haben noch außergewöhnliche Anlagen besitzen, in Erscheinung treten. In diesem Falle werden durch die vermehrte emotionelle Spannung Gestaltungsmuster wirksam, die in jedem Menschen potentiell vorhanden sind. Auf diese Tatsache weisen zahlreiche Beobachtungen an den von Umwelteinflüssen so weitgehend isolierten Geisteskranken hin. Gewisse allgemeinmenschliche Dispositionen ermöglichen es den unterdrückten Trieben, sich in gestaltende Handlungen zu verwandeln. Unter der Herrschaft eines Triebes bilden die seelischen und körperlichen Vorgänge eine funktionelle Einheit. Die plötzliche Triebhemmung führt zur Desintegration von Psychomotorik und Emotionalität. Das steht ein individuelles und ein soziales Ich. Man kann das soziale auch als konventionelles und das individuelle als originales Ich bezeichnen. Das konventionelle Ich bildet sich durch die Übernahme sozialer Rollen und die Nachahmung des Verhaltens der anderen. Das originale Ich entsteht durch die Triebbewältigung. Originales und konventionelles Ich beeinflussen und durchdringen sich gegenseitig: Dies führt zu verschiedenen Graden der Integration. Bei Schizophrenen sind diese beiden Icbstrukturen desintegriert.
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ursprünglich einheitliche Triebgeschehen hinterläßt zwei verschiedene, d. h. in verschiedenem Rhythmus ablaufende seelische Funktionen. Dieses Ereignis ist der Ausgangspunkt alles Gestaltens. Denn nun, da das ungestillte Bedürfnis als Emotion weiterwirkt, bieten sich dem wiedererwachenden Tätigkeitsdrang Gestaltungsmuster an, die Ersatzhandlungen ermöglichen. Geht die emotionelle Spannung über ein mittleres Maß nicht hinaus, dann werden die von der Umwelt nahegelegten, konventionellen Schemata aufgegriffen. Eine hochgespannte Emotion bildet dagegen die Voraussetzung für Originalität. Es kommt im Anschluß an die Triebhemmung aber nicht nur zur Desintegration des Triebgeschehens, sondern auch zu einer Phaseninterferenz zwischen motorischem Antrieb und Emotionalität, und zwar derart, daß die Gefühlsamplitude zunächst hoch bleibt, während der Tätigkeitsdrang bereits Schwankungen unterliegt. Nach einer gewissen Zeit »kühlt« die Emotion »ab«; das heißt aber nicht, daß sie gleich völlig schwindet, sondern daß sie sich zunächst gleichsam in ihr Gegenteil verkehrt. Diese negative Phase einer hochgespannten Emotion ist für das künstlerische Gestalten von besonderer Bedeutung. Erfolgt nämlich die Gestaltung unter dem Einfluß einer starken Gefühlserregung, dann entstehen die Erscheinungen des Expressionismus und der Deformation, erfolgt sie dagegen bei erkalteter Emotionalität, dann beherrschen die konstruktivistisch-geometrisierenden, formalistischen Tendenzen das Feld. 191
Schon Müller-Freienfels1 meinte, innerhalb jedes Schaffensprozesses eine Kurve feststellen zu können, »die von stärkster Gefühlserregung abrückt zu immer größerer Kühle«. Der hier geschilderte Ablauf der Triebhemmung steht nicht nur mit den erwähnten Stilunterschieden in Beziehung, sondern auch mit zwei typischen Phasen des Gestaltungsvorganges. Im meist relativ kurzdauernden Stadium der Inspiration und Konzeption wird der Künstler vom Emotionellen überflutet; im Stadium der technischen Ausführung hat er sich dagegen von seinem Werk gefühlsmäßig distanziert. Eine gewisse Gefühlskälte (die negative Phase der hohen Gefühlsamplitude) scheint aber eine unerläßliche Voraussetzung der Fähigkeit zur Formgebung zu sein.2 Schöpferische Leistungen entstehen durch die Unterdrückung von Trieben, die infolge ihrer Stärke das Ichgefüge zu sprengen drohen und die geistige Integrität
R. Müller-Freienfels, a. a. O. 2 »Das Gefühl, das warme herzliche Gefühl«, schreibt Thomas Mann, »ist immer banal und unbrauchbar, und künstlerisch sind bloß die Gereiztheiten und kalten Ekstasen unseres verdorbenen, unseres artistischen Nervensystems. Es ist nötig, daß man irgend etwas Außermenschliches und Unmenschliches sei, daß man zum Menschlichen in einem seltsam fernen und unbeteiligten Verhältnis stehe, um imstande und überhaupt versucht zu sein, es zu spielen, damit zu spielen, es wirksam und geschmackvoll darzustellen. Die Begabung für Stil, Form und Ausdruck setzt bereits dieses kühle und wählerische Verhältnis zum Menschlichen, ja, eine gewisse menschliche Verarmung und Verödung voraus …« (Aus ›Tonio Kröger‹) Vgl. auch H. Asperger, Autistisches Verhalten im Kindesalter. Jahrbuch für Jugendpsychiatrie und Grenzgebiete, Bd. II. Bern 960.
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des Individuums gefährden. Aus diesem Grunde ist die unerhörte Anstrengung, die zur genialen Leistung führt, auch als das Ringen eines Menschen, der sich in Gefahr befindet, zu verstehen. Braque1 sagte, er sei außerordentlich sensitiv gegenüber der »Atmosphäre«, die ihn umgibt; dadurch bilde sich eine Art »Imprägnation«; daraus werde eine »Halluzination«, welche sich in einen »Zwang« verwandle. Um sich davon zu befreien, müsse er malen, als ginge es auf Leben und Tod.2 Auch der geistig Gesunde kennt jene emotionellen »Grenzspannungen«, die die rationale Ordnung des Daseins erschüttern und ein tiefgehendes Gefühl der Unsicherheit aufkommen lassen. Von solchen Situationen gibt es fließende Übergänge zum Erlebnis der Depersonalisation: die Welt erscheint unwirklich, ratlos und angsterfüllt ist der Betroffene. Kayser3 deutete das Groteske in der Kunst als Darstellung der sich plötzlich entfremdenden Welt. Allerdings erblickte er in der Gestaltung dieses Motivs einen Versuch, die Orientie-
Zitiert nach A. Stokes, a. a. O. 2 Mechanismen, die den Zwangserscheinungen ähnlich sind, spielen auch beim künstlerischen Schaffen eine Rolle. Es kommt den Zwängen eine magisch-symbolische Bedeutung zu: sie dienen auf imaginäre Weise der Abwehr von Gefahren und der Wunscherfüllung. Der »rituelle« Charakter der Zwangshandlungen offenbart aber ihren ursprünglicheren mythischen Sinn: in der Ordnungs- und Wiederholungstendenz des Zwangskranken äußert sich ein Bestreben, dem Wechselvollen etwas Dauerndes, dem Chaos einen Kosmos gegenüberzustellen (wenn er auch eine kaum zu ertragende Welt der Qualen ist). 3 W. Kayser, Das Groteske in Malerei und Dichtung. Hamburg 960.
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rung wiederzugewinnen, die Dingkategorien aufrechtzuhalten, die Individualität zu wahren – und dadurch das Dämonische zu bannen und zu beschwören. Die emotionellen »Grenzspannungen« lassen neben unserem sachlich-rationalen Wahrnehmen wieder Physiognomisches wirksam werden, und zwar nicht als eine den Dingen »anhaftende Komplexqualität« (Krueger), sondern als urtümliche Anmutung bei fehlender Differenzierung von Subjekt und Objekt. Dieses Physiognomische bricht in die rationale Ebene des Daseins ein. Durch einen ersten Versuch der Objektivierung wird es zur »Halluzination«, von der Braque spricht, deren er sich nur durch einen gestaltenden Akt entledigen kann. Dieses vorläufig und unvollkommen objektivierte – und daher immer noch das Ich bedrohende – Physiognomische entspricht etwa dem »anschaulichen Charakter« des Kunstwerkes, der dem Künstler während des Schaffensprozesses »vorschwebt« und dessen »Gegebensein« und »Getrenntsein vom Emotionellen« Sedlmayr1 betont. Das Gegebensein ist jedoch nur ein vorläufiges und das Getrenntsein noch kein vollkommenes. Sander2 bezeichnete das zwischen dem rein Physiognomischen Nach Sedlmayr ist ein als »Vision« sich aufdrängender »anschaulicher Charakter« die prima materia und das primum movens des Gestaltungsvorganges. Der »anschauliche Charakter« sei, wenngleich gefühlsartig, so doch gegeben und von den Gefühlen bereits abgehoben. Der gesamte Gestaltungsvorgang beruhe auf einem immer stärkeren Sichbestimmen, Sichausprägen dieses ursprünglich Gegebenen (H. Sedlmayr, Kunst und Wahrheit. Hamburg 958). 2 Zitiert nach Conrad, Das Unvollendete als künstlerische Form. Symposion 956. Bern/München o. J.
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und der vollendeten Gestalt feststellbare psychische Phänomen als »Vorgestalt«. Das künstlerische Werk rettet seinen Schöpfer vor der Ichzerstörenden Gewalt des Physiognomischen, das heißt im Grunde, der Triebe. Die Verschiebung der Triebenergie auf ein anders geartetes Ziel erfolgt durch einen »Überstieg« von einer Stufe geordneten Lebens auf eine andere, und zwar in jenem Augenblick, da das Ordnungsgefüge des einen Bereichs im Zerbrechen ist. Künstlerische Tätigkeit kann als ein Regulationsvorgang verstanden werden und der psychophysische Apparat als ein solcher, der sein Gleichgewicht auf verschieden strukturierten Ebenen zu erhalten vermag. Die Verwandtschaft zwischen dem gesunden Künstler und dem Geisteskranken besteht darin, daß in beiden mit ungeheurer, systemsprengender Gewalt die Bedürfnisse und Triebe aufschießen, daß durch deren Hemmung hochgespannte Emotionen entstehen und in einer zweiten Phase der Aktivität an die Stelle der Triebbefriedigung die Gestaltung tritt.
Rückblick und Schluß
Wir haben gezeigt, daß Menschen, die ganz konventionell zu zeichnen pflegen und spontan überhaupt nicht bildnerisch tätig sind, während einer schizophrenen Erkrankung ungewöhnliche und phantastische Gestaltungen hervorbringen. Die Schizophrenie zerstört gewisse psychische Strukturen – Ichstrukturen –, hierauf setzt ein Wiederaufbau ein. Die schöpferische Leistung dieser Kranken ist ein Krankheitssymptom und der zugrunde liegende Gestaltungsvorgang ein Krankheitsvorgang, genauer gesagt, ein Restitutionsversuch innerhalb des Krankheitsgeschehens. Ein Wesensmerkmal der Kunst ist ihr historischsoziologischer Aspekt. Es gibt jedoch auch eine Kunst außerhalb des Geschichtlichen. Dazu gehören die originalen Leistungen der Kinder, der Naiven und der Schizophrenen. Immer dann, wenn es um einen neuen Anfang in der Kunst geht, richten die Künstler ihren Blick auf diese Quellen des Ursprünglichen und Schöpferischen. Manche Autoren sind der Meinung, daß sich die Gestaltungen der Schizophrenen von den Werken gesunder Künstler durch gewisse inhaltliche und formale Merkmale unterscheiden. Dieser Unterschied beruht jedoch hauptsächlich auf dem Mangel an Übung, Ausbildung und Talent des schizophrenen Kranken. Die 197
Annahme, daß das schizophrene Werk durch seine Abstrusität und Unverständlichkeit im Gegensatz zu dem des gesunden Künstlers stehe, ist unzutreffend. Wir haben dargelegt, daß der schizophrene Stil dem Manierismus auf dem Gebiete der Kunst in allen Einzelheiten entspricht, und führten dies auf eine Wesensverwandtschaft des manieristischen Menschentypus und des schizophrenen Kranken zurück. Bei beiden besteht ein Mangel an Integration zwischen dem triebhaft-emotionalen und dem geistig-rationalen Bereich ihres Seins. Es scheint jedoch, daß jeglichem künstlerischem Gestalten eine derartige seelische Dissoziation zugrunde liegt und daß die Kunst, indem sie zum Gegenständlichen und zum Rationalen (vom »Manierismus« zur »Klassik«) hinstrebt, sich selbst zu überwinden trachtet. Kunst ist eine Vorstufe der Realitätsbewältigung. Oft wird behauptet, daß der Gestaltungsvorgang bei Geisteskranken und Gesunden verschieden sei. Die »Regression« des Künstlers sei kontrolliert und beabsichtigt. Am bildnerischen Schaffen der Schizophrenen habe das Ich dagegen nur wenig Anteil. Der Geisteskranke werde von unbewußten seelischen Vorgängen (z. B. den Mechanismen der Verdichtung und Symbolbildung) gleichsam überwältigt, während der gesunde Künstler über diese Vorgänge in klarer und überlegter Weise verfüge. Nach unserer Ansicht ist die psychische Dynamik des Schöpferischen bei Gesunden und Kranken gleich. Völlig gewollt und beabsichtigt ist auch beim Gesunden nur die mehr oder weniger gekonnte Imitation der von 198
anderen erfundenen Gestaltungen. Das ist aber nicht echtes künstlerisches Schaffen. Andererseits fehlt auch der bildnerischen Tätigkeit der Schizophrenen nicht jede bewußte Kontrolle. Wenn nun hinsichtlich der Dynamik des Gestaltungsvorganges bei Gesunden und Kranken kein wesentlicher Unterschied besteht, dann erhebt sich die Frage, inwiefern auch beim Gesunden die künstlerische Gestaltung restituierenden Charakter hat, für das Ich des Schaffenden von Bedeutung ist. Wahrscheinlich muß jeder Mensch immer wieder durch originale Leistungen sein Ich verwirklichen; gleichzeitig hat er sich einen Teil der an ihn herangetragenen konventionellen Verhaltens- und Gestaltungsmuster anzueignen und schließlich die konventionellen Normen mit seinem originalen Ich zu integrieren. Künstlerische Tätigkeit bietet eine ausgezeichnete Möglichkeit für diese synthetische Aufgabe. Am Kunstwerk fanden wir die Dimensionen des Physiognomischen, des Originalen und des Gegenständlichen. Diese Aspekte der künstlerischen Gestaltung entsprechen dem Aufbau der menschlichen Person: der triebhaft-emotionalen, der mythisch-magischen und der rationalen Ebene unseres Seins. Maßgebend für den Rang eines Kunstwerkes sind die Kriterien der unmittelbaren Lebendigkeit, der Originalität und der technischen Vollendung (Gegenständlichkeit). Hinsichtlich jedes einzelnen dieser Merkmale können Kunstwerke miteinander verglichen werden. Schließlich wollten wir erkennen, was einen Menschen
zum Künstler macht. Drei Voraussetzungen schienen uns dazu erforderlich: eine angeborene Begabung, die Auseinandersetzung mit der Kunst und das eigentlich Schöpferische, die Gestaltungskraft. Gerade diese letzte, merkwürdigste Fähigkeit fanden wir auch bei unsereren schizophrenen Kranken. Das Schöpferische ist vom Talent verschieden. Talent ist eine Fähigkeit zur Nachahmung und steht unter der Kontrolle des Ichs. Dagegen ist die Gestaltungskraft vom bewußten Ich unabhängig. Nur sie gibt Originalität. Originalität ist Wandel, Dynamik, Veränderung. In ihr liegt oft etwas Asoziales, Abweichung von der Norm, Absonderung, Vereinsamung. Künstlerische Tätigkeit wird primär eben nicht durch das Ich gelenkt, sondern dient der Ichfindung – und das Ich der Beziehungnahme zur Welt –, wenn auch dieses Ziel nicht immer erreicht wird.
Erläuterungen
Abwehrmechanismen – psychische Funktionen, die unangenehme Vorstellungen, Trieb- und Gefühlsregungen dem Bewußtsein fernhalten und dadurch die Integrität des Ichs wahren. Äquilibrierter Defektzustand – s. Psychose. Affektivität (Affektivität = Emotionalität, Gefühlsleben; affektiv = emotional, gefühlsmäßig) – zur Affektivität gehören Gefühle, Affekte, Stimmungen; Gefühle sind lust- oder unlustbetonte seelische Zustände; Affekte sind heftigere Gefühlsregungen; Stimmungen sind Gefühlszustände von längerer Dauer. Androgyn – mannweiblich, doppelgeschlechtlich. Autismus – von Eugen Bleuler als wichtiger Zug schizophrenen Verhaltens herausgestellt: der Kranke ist in sich selbst versunken und kapselt sich gegen seine Umgebung ab; er verliert den Kontakt mit der Wirklichkeit und lebt in einer wahnhaft veränderten Welt. Bedlam – Irrenanstalt in London. Befehlsautomatie – scheinbar willenlose Ausführung von Befehlen, abnorme Fügsamkeit; besonders bei Schizophrenen. Delir – Bewußtseinstrübung mit unzusammenhängendem Gedankengang und traumähnlichem Vorstellungsablauf; die Wahrnehmungen werden verfälscht und Sinnestäuschungen treten auf; es besteht Bewegungsunruhe. (Z. B. Fieberdelir; nächtliche Delirien bei psychischen Störungen des höheren Lebensalters.)
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Delirium tremens – ein Delir infolge langjährigen übermäßigen Alkoholgenusses mit heftigem Zittern, Schweißausbrüchen, gerötetem Gesicht; oft werden kleine Tiere gesehen; das Delir klingt innerhalb weniger Tage ab. Dementia praecox – von Kraepelin verwendete Bezeichnung für jene geistigen Störungen, die man später Schizophrenie nannte. Es äußert sich darin die heute meist aufgegebene Meinung, daß diesen Erkrankungen eine Demenz zugrunde liege. Demenz – bleibender und meist zunehmender geistiger Abbau durch Krankheits- oder Rückbildungsvorgänge im Gehirn; am häufigsten in vorgeschrittenem Lebensalter. Depersonalisation – Störung des Ich-Erlebens, besonders bei Schizophrenen, aber auch bei anderen seelischen Störungen und ausnahmsweise bei Gesunden; das Ich, der eigene Körper, die Welt erscheinen fremd, unwirklich, verändert. Depression – traurige Verstimmung; endogene Depression = Melancholie; dabei finden sich häufig Hemmung oder ängstliche Unruhe, Selbstvorwürfe, Minderwertigkeitsgefühl und absoluter Pessimismus; viele Kranke neigen zum Selbstmord. Nicht selten treten depressive Zustände mit manischen abwechselnd auf; man spricht dann von manisch-depressiver Erkrankung. Eidetische Begabung – Fähigkeit, sich einmal gesehene Gegenstände besonders lebhaft und deutlich vorzustellen. Elektrokrampf (= Elektroschock, Elektrokonvulsion) – über zwei in den Schläfegegenden angelegte Elektroden wird für den Bruchteil einer Sekunde ein Wechselstrom von 90 bis 0 Volt geleitet. Es kommt zu einer kurzdauernden Bewußtlosigkeit mit Muskelkrämpfen (einem künstlich ausgelösten epileptischem Anfall); die Bewußtlosigkeit geht in Schlaf über. Mehrere solcher Konvulsionen haben meist ein leichtes organisches Psychosyndrom (s. dort) zur Folge, welches sich jedoch wieder völlig rückbildet.
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Der Elektroschock wurde von Cerletti im Jahre 938 an der Neurologischen und Psychiatrischen Universitätsklinik in Rom zum ersten Male angewendet. Die Behandlungsmethode verbreitete sich rasch über die ganze Welt und hat vielen Kranken Heilung gebracht. Heute wird die Elektrokrampfbehandlung unter medikamentöser Muskelentspannung, an manchen Kliniken auch in Narkose, durchgeführt. Erst in den letzten Jahren ist der Elektrokrampf durch die Behandlung mit neuroplegischen Substanzen (s. neuroplegische Behandlung) etwas zurückgedrängt worden. Emotionalität, emotional – Gefühlsleben, gefühlsmäßig (s. Affektivität). Endogen – aus inneren Ursachen (s. Psychose). Exazerbation – Wiederaufflackern (s. Psychose). Exhibitionismus – Neigung, sich zu entblößen und zur Schau zu stellen, entweder körperlich oder nur in Worten (psychischer Exhibitionismus). Exogen – durch äußere Einwirkung (s. Psychose). Expansivität – Neigung zu übertreibender und ausschweifender Darstellung, besonders in manischen Zuständen. Extratensiv – umweltbezogen und anpassungsfähig, nach außen lebend, gefühlsmäßig labil, gewandt und lebhaft (Rorschach). Extravertiert – mehr durch äußere Umstände bestimmbar, aufgeschlossen, vertrauensvoll und unbekümmert (C. G. Jung). Faseln – Störung des Gedankenablaufs bei Schizophrenen: Satzbruchstücke und einzelne Wörter werden beziehungslos aneinandergereiht, so daß der Zuhörer den sprachlichen Äußerungen keinen Sinn mehr entnehmen kann; ein höherer Grad der Zerfahrenheit.
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Gefühlsamplitude – das An- und Abschwellen der Gefühle ist mit einem Schwingungsband zu vergleichen, wobei die Höhe der Schwingung der Intensität des Gefühls entspricht. Halluzination – Sinnestäuschung, die ohne äußeren Reiz auftritt, aus einer Vorstellung entsteht, aber den Charakter einer Wahrnehmung hat. Es gibt Halluzinationen auf allen Sinnesgebieten. Bei Schizophrenen sind Gehörshalluzinationen häufig; die Kranken werden durch »Stimmen« beeinflußt und gequält. Hamburg-Wechsler-Test – geeichter Intelligenztest, der aus einem sprachlichen und einem praktischen Teil besteht. Hebephrenie – Form der Schizophrenie, die in jugendlichem Alter beginnt, meist schleichend verläuft und selten zur Heilung führt (»Jugendirresein«). Hypochondrie – übertriebene Befürchtungen für die eigene Gesundheit und pessimistische Auslegung alltäglicher Beschwerden. Hypomanie – leichte Form der Manie. Hysterie – seelische Störung, bei der innere Konf likte körperliche Krankheitssymptome hervorrufen; häufig beim hysterischen Charakter; er äußert sich vor allem in einer Neigung, sich in Szene zu setzen, um bemitleidet oder bewundert zu werden. Ideenflucht – einfallsreicher, beschleunigter Gedankenablauf in manischen Zuständen; durch Wegfall der Zielvorstellungen jagt ein Gedanke den andern; die Störung kann sich bis zur ideenflüchtigen Verwirrtheit steigern. Imbezillität – angeborener Schwachsinn mittleren Grades; Imbezille sind meist nicht schulbildungsfähig und nur zu einfachsten Arbeiten verwendbar. Inkompatibilität – Unverträglichkeit (z. B. von Arzneimittelmischungen).
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Introversiv – in sich gekehrt, weniger anpassungsfähig, produktiv, gefühlsmäßig stabil, ungeschickt, linkisch (Rorschach). Introvertiert – sich mehr nach subjektiven Momenten richtend, reflexiv, zurückgezogen, vorsichtig, mißtrauisch (C. G. Jung). Iteration – gleichförmige Wiederholung einfacher Bewegungen oder lautlicher und sprachlicher Äußerungen. Katatonie – Form der Schizophrenie mit akutem Beginn und einem Verlauf in Schüben und Remissionen (»Spannungsirresein«, da Störungen der Körperbewegung vorherrschen). Kinästhesie – Empfindung der Bewegungen des eigenen Körpers durch die Reizung von Nervenendorganen in Muskeln, Sehnen und Gelenken; die kinästhetischen Empfindungen liefern einen wichtigen Beitrag zum Bild, das wir von unserem Körper – dem Körperschema – besitzen. Konstruktive Apraxie – Störung des Gestaltens, wobei die richtige Anordnung einzelner Teile im Raum mißlingt; Folge einer lokalen Hirnschädigung. Konvulsion – s. Elektrokrampf. Krampfanfall – s. Elektrokrampf. Mandala – mystisches Kreis- oder Vieleckbild; Motiv des kosmischen und persönlichen »Selbst« (C. G. Jung). Manie – krankhafte Verstimmung heiterer Art mit Redefluß, erhöhter Betriebsamkeit, Selbstüberschätzung und vermehrtem Vorstellungsangebot; Manie und Depression treten bei der manisch-depressiven Erkrankung häufig abwechselnd auf. Maniform – Bezeichnung manischer Zustände bei Schizophrenie und anderen Psychosen, die nicht dem manischdepressiven Formenkreis angehören.
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Mutismus – seelische Sprechhemmung bei intakter Sprachfunktion; häufig bei Katatonie und depressiven Psychosen. Negativismus – aktives, trotzartiges Widerstreben, besonders bei Schizophrenen. Neuroplegische Behandlung – medikamentöse Behandlung seelischer Erkrankungen mit neuartigem Wirkungsprinzip; im Gegensatz zu den Schlaf- und Beruhigungsmitteln haben die neuroplegischen Medikamente nicht nur einen dämpfenden, sondern auch einen antipsychotischen Effekt (s. auch Elektrokrampf). Noopsyche – Intellekt (»Geist«). Organische Erkrankungen – beruhen auf anatomisch faßbaren Veränderungen, während bei funktionellen Erkrankungen nur Funktionsstörungen festzustellen sind. Organisches Psychosyndrom – psychische Störung, die das Gedächtnis, das Denken und die Affektivität in wechselnder Stärke betrifft und vor allem bei ausgebreiteten Hirnschädigungen beobachtet wird (Bleuler). Im Gegensatz zur Demenz ist das organische Psychosyndrom rückbildungsfähig. Paranoia – meist unheilbare Geistesstörung, die mit zahlreichen untereinander logisch verknüpften Wahnideen einhergeht. Paranoide Schizophrenie – Form der Schizophrenie, wobei Wahnideen und Sinnestäuschungen im Vordergrund stehen. Pathologie – Lehre von den Krankheiten (pathologisch = krankhaft). Pathophysiologie – Lehre von den krankhaft veränderten Funktionen des Körpers. Philosophem – eine philosophische Behauptung, Frage oder Lehre; bei Schizophrenen eine aus der seelischen Störung
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hervorgegangene Idee philosophischer, insbesondere metaphysischer Art. Physiologie – Lehre von den normalen körperlichen Funktionen (physiologisch = im Bereich des Normalen). Präpsychotische Persönlichkeit – s. Psychose. Pseudologie – abnorme Neigung, unwahre Geschichten zu erfinden, um damit die eigene Person in ein besseres Licht zu rücken. Psychasthenie – anlagebedingte seelische Schwäche. Psychiatrie – Seelenheilkunde. Psychisch – seelisch (Psyche = Seele). Psychoanalyse – von Sigmund Freud begründete Lehre über die Entstehung seelischer Störungen; Behandlungsmethode. Psychogenese – Herleitung einer Krankheit aus seelischen Ursachen; Gegenteil: Somatogenese – körperliche Verursachung einer (seelischen) Störung. Psychologie – Lehre von den seelischen Vorgängen. Psychomotorik – Bewegungsantrieb und Ablauf der Körperbewegungen als Ausdruck seelischer Vorgänge. Psychopathologie – Lehre von den krankhaften Erscheinungen des Seelenlebens. Psychopharmakologie – Lehre von der Beeinflussung seelischer Vorgänge durch Arzneimittel. Psychose (= Geisteskrankheit, Geistesstörung) – man unterscheidet Psychosen infolge von Vergiftungen, Infektionen und anderer körperlicher Erkrankungen (exogene Psychosen); Psychosen, die durch Erlebnisse ausgelöst werden (reaktive oder psychogene Psychosen); und Psychosen unbekannter, aber hauptsächlich im Individuum selbst liegender Ursache
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(endogene Psychosen; dazu rechnet man die Schizophrenie und die manisch-depressive Erkrankung). Nach dem Verlauf werden akute und chronische Psychosen unterschieden; chronische Psychosen können wiederaufflakkern (Exazerbation); viele Psychosen sind heilbar; die Wiederherstellung (Restitution) kann eine völlige sein; nach dem Abklingen mancher schizophrener Psychosen bleibt jedoch das Energieniveau gesenkt, ist ein Verlust an innerer Spannkraft und gefühlsmäßiger Resonanz eingetreten (schizophrener Defekt); oft sind die Kranken dabei ausgeglichen und sozial angepaßt (äquilibrierter Defektzustand); rückblickend hat man manchmal den Eindruck, daß Schizophrene schon vor dem Ausbruch der Psychose (präpsychotisch) eigentümlich und auffällig waren. Raptus – plötzliche Erregung mit Gewalttätigkeit, meist bei stuporösen Kranken. Remission – vorübergehende Rückbildung von Krankheitserscheinungen; völliges Abklingen: Vollremission; unvollständiges Schwinden der Symptome: Teilremission; schizophrene Psychosen verlaufen entweder chronisch progredient oder in Schüben und Remissionen; bei der manisch-depressiven Erkrankung spricht man von einem phasenhaften Verlauf. Restitution – Wiederherstellung (s. Psychose). Rorschach-Versuch – von dem Schweizer Psychiater Hermann Rorschach im Jahre 92 angegebenes psychodiagnostisches Verfahren auf Grund der Deutung von Klecksfiguren durch die Versuchsperson. Schizophrenie – »Spaltungsirresein«. Somatisch – körperlich (Soma = Körper). Somatogenese – s. Psychogenese. Sperrung – plötzliche Unterbrechung des Gedankenganges oder eines Bewegungsablaufs bei Schizophrenen.
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Stereotypie – gleichförmiges Wiederholen von Worten, Sätzen oder Bewegungen, wiederholtes Einnehmen einer bestimmten Körperhaltung (Sprach-, Bewegungs-, Haltungsstereotypien). Stupor – durch seelische Vorgänge ausgelöste Bewegungslosigkeit bei erhaltenem Bewußtsein; dem Totstellreflex der Tiere vergleichbar; dabei besteht eine Neigung zu plötzlichen Erregungszuständen (s. Raptus). Thymopsyche – Affektivität (s. dort). Wahn – eine falsche, meist absurde, durch Argumente aber nicht korrigierbare Überzeugung bei seelischen Erkrankungen; nach dem Inhalt der geäußerten Ideen unterscheidet man: Verarmungswahn, Verfolgungswahn, Eifersuchtswahn, Erfinderwahn, Größenwahn u. a. Wortneubildungen – ungewöhnliche, auch völlig unverständliche Wörter in den sprachlichen Äußerungen Schizophrener. Zerfahrenheit – formale Störung des Denkens bei Schizophrenen: der Kranke reiht Vorstellungen beziehungslos aneinander (s. auch Faseln). Zwang – Vorstellungen, Gedanken, Impulse, die sich gegen den Willen aufdrängen und sehr unangenehm empfunden werden; sinnlose Handlungen, die der Kranke, einem unwiderstehlichen Drange folgend, immer wieder verrichtet.
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Leo Navratil, geboren 92, trat nach der Promotion zum Dr. med. an der Wiener Universität im Jahre 946 als Sekundararzt in das Niederösterreichische Landeskrankenhaus für Psychiatrie und Neurologie Klosterneuburg ein. Er studierte daneben Psychologie und Anthropologie und promovierte 950, ebenfalls in Wien, zum Dr. phil. Nach einem Studienaufenthalt im Institute of Psychiatry am Maudsley Hospital in London vervollständigte er seine Ausbildung an der PsychiatrischNeurologischen und an der I. Medizinischen Klinik in Wien. Seit 954 ist er wieder im Psychiatrischen Krankenhaus Klosterneuburg tätig, seit 956 als Primararzt. Dr. Navratil beschäftigt sich seit Jahren mit den Problemen des zeichnerischen Gestaltens psychisch Erkrankter. Er ist Beirat der »Société Internationale de Psychopathologie de l’Expression« für Österreich. 966 erschien im Deutschen Taschenbuch Verlag sein Werk ›Schizophrenie und Sprache. Zur Psychologie der Dichtung‹ (dtv-Band 355).