!$$)3/. 7%3,%9 Ein Imprint von Pearson Education -àNCHENs"OSTONs3AN&RANCISCOs(ARLOW %NGLAND $ON-ILLS /NTARIOs3YDNEYs-EXICO#ITY -ADRIDs!MSTERDAM
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10 9 8 7 6 5 4 3 2 1 12 11 10
ISBN 978-3-8273-2904-2
© 2010 Addison-Wesley Verlag, ein Imprint der PEARSON EDUCATION DEUTSCHLAND GmbH, Martin-Kollar-Str. 10-12, 81829 München/Germany Alle Rechte vorbehalten Lektorat: Kristine Kamm,
[email protected] Korrektorat: Sabine Müthing, Recklinghausen Herstellung: Claudia Bäurle,
[email protected] Satz: Ulrich Borstelmann, Dortmund (www.borstelmann.de) Einbandgestaltung: Marco Lindenbeck, webwo GmbH,
[email protected] Druck und Verarbeitung: Firmengruppe APPL, aprinta-druck, Wemding Printed in Germany
Liebe Leserin, lieber Leser, wir zeichnen einen Kreis. Verfolgen den Weg von der freien natürlichen Form über die glatte architektonische Linie – bis dahin, wo sie sich zur freien Form wieder schließt. Denn: Häuser fotografieren heißt sehen lernen. Den roten Faden im Chaos entdecken und fürs Foto nutzen. Darum dreht es sich in diesem Buch und ich möchte Sie herzlich dazu einladen. Mit den ausgetretenen Pfaden von Know-How, Megapixelperfektion und naturalistischer Prozessortechnik lockt man längst keine Kunstsuchenden mehr hinter dem Ofen hervor. Individualität, Innovation und Überraschung müssen her – aber eben auch gestalterische Glaubwürdigkeit, stilistische Neugier und formale Frechheit. Das Echte will ins Bild, und das ist immer wieder neu. Der Weg dahin: Konventionen kennen und können, dann anwenden und überwinden. Mit diesem Buch legt Martin Timm ein umfassendes Werk zur Architekturfotografie in Theorie und Tun vor. Er vertieft sich ins Handwerkliche und Gestalterische, begreift dies aber nur als Basis und führt Sie, den Leser, dann weit darüber hinaus. Anhand zahlreicher Bildbeispiele, theoretischer Überlegungen und praktischer Hinweise öffnet er einen weit gefassten Bogen: die Einheit des klassischen Kennens und Könnens mit der modernen Psychologie des Sehens, der Geschichte des Bauens und der „Bautenbilder“. Das alles garniert mit einem federleichten philosophischen Reflex darüber, der zuletzt in dem bildnerischen Höhepunkt mündet: einen Schluss-Exkurs über experimentelle Architekturfotografie – bis hin zur totalen Abstraktion. Das Ziel des Autors ist komplex, aber auch genauso einfach: den künstlerischen Quell einer neuen Sichtweise und einer Bildsprache wecken, die „nur mir“ gehört. Ihm dreht es sich um weit mehr, als um einfach nur schöne Häuserbilder; er ermuntert den fotografierenden Menschen, in einen möglichst authentischen dialogischen Prozess mit dem gebauten Objekt vor der Kamera zu treten. Der Weg dahin beginnt beim Handwerk und öffnet das Tor in die persönlichen Note, den eigenen Stil. Diese Brücke spannt dieses vielfältig illustrierte Buch – auf fundierte, interdisziplinäre, aber sehr praxisnahe und ausgesprochen unterhaltsame Weise. In diesem Sinne wünsche ich Ihnen viel Freude bei der Lektüre des Buches und hoffe, dass Sie für Ihre eigenen Aufnahmen neue Impulse daraus ziehen werden.. Ihre Lektorin Kristine Kamm
Inhaltsverzeichnis Vorwort
VI
Ein Gedanke vorweg
3
Kapitel 1:
Häuser im Bild
7
Bauten und Geborgenheit
8
Leid und Lust am Bau
Kapitel 2:
Kapitel 3:
16
Musikalische Plastik
19
Holzhütten und Hochhäuser
24
Die Architektur und das Alter
28
Schöne Häuser – schöne Fotos?
34
Das Freie in mir
37
Haus, Bild und ich – ein Trialog
42
Der kompositorische Schlüssel
47
Suchen, Finden und Begegnen
49
Gestalt sehen und geben
52
Gestalttheorie und Wahrnehmung
55
Wesen und Essenz
57
Reduktion und Verdichtung
61
Mittler zwischen dem Hier und Da
65
Meine Wahrheit oder deine
67
Standpunkt, Perspektive und Position
79
Der Zwiespalt zwischen Raum und Fläche
88
Biegen an Bildern
93
Projektive Verzerrung und vergessener Alltag
IV
Inhaltsverzeichnis
14
Von Vitruvius zum Haus-Design
96
Wie man fallende Linien rettet
100
Lust und Lüge
109
Kavalier, Militär und Shift
111
Häuserbild und Terminologie
125
Blickwinkel und Tiefenwirkung
129
Atmosphärische Gestaltungselemente
134
Symmetrie und Gleichgewicht
145
Sehschule und Wahrnehmungstraining
149
Kapitel 4:
Fototechnische Basics
153
Grundbegriffe
155
Analog oder Digital
160
Bildwinkel und Brennweiten
163
Anforderungen an Objektive
167
Objektiv ganz schnell selber testen – wie geht das?
169
Die richtige Einstellung
173
Umgang mit Licht
176
Zubehör180
Kapitel 5:
Bildqualität und HD-Zauber
183
Lieder um die Löcher
184
Grenzen des Vitalen
186
Impetus in Bit
187
Lichtwert-Stufen
190
Motive und Formate
192
Zonensystem und Pixelzeit
195
Die richtigen Motive
199
Die richtige Belichtungsreihe
201
Rauschen und Aureolen
209
Motive, die nicht stillhalten
211
HDR-Software
213
Kapitel 6:
Recht haben und Recht bekommen
217
Kapitel 7:
Genres
223
Bauten von außen
224
Interieur228 Das flächige Panorama
233
Zauber der Blauen Stunde
235
Das Verträumte und die Neue Sachlichkeit
238
Mensch in Architektur
242
Experimentelle Architekturfotografie
247
Ein Gedanke zum Schluss
263
Sichwortverzeichnis
267
Inhaltsverzeichnis
V
Vorwort Architektur und ihre Wahrnehmung leben heute mehr denn je vom Bild. Gebäude werden vielfach allein durch ihre Abbilder bekannt und diskutiert ohne persönlich gesehen, besucht und gespürt zu sein. Das Architekturfoto macht Immobilien mobil – und lässt sie über das Internet selbst weltweit erscheinen – welch Entfesselung und Macht bietet dieses Medium. Umso wichtiger ist es zu verstehen, was man mit der Fotografie tut, was das Medium kann – und was genau nicht. Dazu gehört die Beherrschung der Basics wie Perspektive, Standpunkt, stürzenden Linien, Licht, Belichtung, Komposition et cetera. Dies alles erläutert Timm ebenso umfassend kompetent wie anregend. Doch einzigartig ist sein Zugang zum Metier über das Konzept: Dem Dialog von Bildermacher und gemachtem Haus. Wie der Architekt aus der persönlichen Auffassung, aus dem Empfinden von Ort, Funktion, Ziel und Bauherr einer Bauaufgabe die Form, die Gestalt, das Gebäude findet, zeigt Timm den Weg von der persönlichen Betrachtung, dem Erlebnis, der Wahrnehmung, ja der Beziehung zum Gebäude hin zum Abbild, zum Foto. Und wie in jeder guten Beziehung geht es auch hier um Nähe und Distanz. Was geschieht zwischen Gebäude und Fotograf, um das Wesen, die persönliche Wahrheit des Gebäudes vom Raum in Flachware umzusetzen? Das macht die Kunst. Timm zeigt Ansätze und Wege, die für den Profi und den Architekten ebenso interessant und lehrreich sind wie für Studierende der Bau- und Fotokunst als auch für den ambitionierten Amateur. Dass er mit Lao-tse beginnt und bei brennender Architektur endet, zeigt den umfassenden Bogen den er spannt – und er tut dies brillant. Dass er damit zugleich den Spannungsbogen der Architektur von der Höhle und Hütte zum 'Architektur muss brennen' eines Wolf Prix fast fotografisch widerspiegelt, hat ihn selbst überrascht und zeigt wie kongenial er den Zugang findet und uns teilhaben lässt. Er tut dies weise und schmunzelnd, zuweilen frech und immer ebenso fundiert wie augenzwinkernd. Das Buch zu lesen ist vielseitig anregend, erhellend und sei jedem ans Herz gelegt. Dort ist es richtig aufgehoben und wird zum Auge und zum Ausdruck finden. Hans-Peter Achatzi Prof. Dipl.-Ing. Architekt BDA DVP Köln | Berlin
VI
Vorwort
Does anyone wanna go waltzing in the garden? Does anyone wanna go dance upon the roof?
Zur Einstimmung der Refrain in dem Song Roof Garden des amerikanischen Sängers Al Jarreau, aus dessen Album Breaking Away von 1981. Das Foto hier zeigt eine abstrahierte Innenarchitektur mit zwei Lichtquellen. Thema: Architektur und Musik – ein Zusammenhang, den die Literatur der romantischen Epoche entdeckt hat. Was alles hinter einer solchen Erweiterung der Gebäudefotografie steckt, darüber mehr im Abschnitt über experimentelle Architekturfotografie am Schluss dieses Buches.
Vorwort
1
Himmel und Erde sind gleichgültig alle Dinge sind ohne Bedeutung Die Weisen sind gleichgültig alle Menschen sind ohne Bedeutung Der Raum zwischen Himmel und Erde ist wie ein Blasebalg seine Leere ist seine Fülle Viele Worte sind schnell erschöpft besser ist, das Innere zu bewahren. Lao-tse
Krüge, Gläser und Häuser – ohne das Nichts darin: ein Nichts?
Ein Gedanke vorweg Melancholische Worte? Kann sein. Aber: Sie sind visionär. Diese Zeilen unter dem Titel ‚Von der Natur’ stammen aus dem zweieinhalb Jahrtausende alten Tao-te-king – einer Sammlung von 81 Gedichten, die dem chinesischen Mystiker Lao-tse zugeschrieben werden. Heutzutage findet das Werk Platz in einem unscheinbaren Taschenbuch, nicht allzu dick, und doch ist aus ihr ein großartiges spirituelles Gebäude geworden: die Lehre vom Tao, der Taoismus. Warum so etwas in einem Buch über Architekturfotografie? Gegenfrage: Was fotografieren wir da, wo wir täglich hineingehen, worin wir leben und lieben, arbeiten und gesellig oder einsam sind, was uns leiden und sogar kämpfen lässt, wenn man es uns nimmt – und was ist dieses Ding, wenn wir nicht darin sind: also wenn wir ihm keinen Sinn geben? Was ist es dann noch, so ein Haus? Antwort des Tao: ein Hohlraum, ein Nichts. Vielleicht der Beginn von etwas, von Geschehnissen und Geschichten. Kommende Zeiträume. Mehr nicht. Wie nüchtern! Melancholisch? Nein. Genau dieses ‚Unnennbare‘, wie es bei Lao-tse heißt, ist das Tao. Auf diesem Nichts gründet seine Lehre. Auf ihm gründet wohl überhaupt alles – und gerade an einem Phänomen wie dem ‚Haus‘ scheint das verständlich zu werden. Es wäre, wenn es eine Seele hätte (und wer wollte nachweisen können, dass dem nicht so sei), wahrscheinlich völlig unvoreingenommen vor seiner Nutzung – vor all dem, was es tief in sich erleben wird. Wie auch immer es aussieht. Dazu passt die gelassene Heiterkeit, die wir mit ostasiatischen Weisheiten verbinden. Auf diesem taoistischen Nichts kann man – den obigen Worten des amerikanischen Sängers Al Jarreau zufolge – zumindest schon mal tanzen. Poppig oder Walzer. Vielleicht sollte man das sogar, bevor man es fotografiert. Aber: Dieses Nichts birgt auch sein Gegenteil in sich, es ist in höchstem Maße komplex. Und es ist individuell. Wenig später im Text Lao-tses finden wir das berühmte Bild von Rad und Krug. Unter dem Titel ‚Vom Nutzen der Leere’ wirkt hier das Schöpferische, das dieses Nichts in sich zu bergen scheint, noch deutlicher: Dreißig Speichen treffen die Nabe – die Leere in der Mitte macht das Rad Ton formt man zu einem Krug – die Leere in der Mitte macht das Gefäß Türen und Fenster bricht man in Mauern – die Leere in der Mitte macht das Haus Die Form entsteht aus dem Sein – die Verwendung aus dem Nicht-Sein. Häuser kennen wir zunächst von draußen, vom Ansehen, von der Fassade her. Jeder weiß, wie das Haus, in dem er sich gerade befindet, in etwa von außen aussieht. Umgekehrt ist das nicht unbedingt der Fall.
Wir kennen das aus dem Bereich des Zwischenmenschlichen: Wenn eine bestimmte Person sich darauf beschränkt, von sich nur eine Fassade zu zeigen, ihr Äußeres, scheint sie das Wesentliche von uns fernhalten zu wollen: ihr Innerstes. Das wahre Wesen, der tiefere Sinn, der eigentliche Ursprung auch eines Hauses, also der Grund dafür, dass es überhaupt existiert, scheint in seinem Innern zu liegen. Und zwar im ungeprägten Zustand, wenn also noch absolut nichts in ihm ist. Vor dem Erstbezug, könnte man sagen. Entblößt man es, wird Verborgenes offenbar. Es sind nicht die Fundamente oder Dächer, nicht Tapeten, Farbe oder Fenster, nicht mal tragende Mauern oder eingezogene Wände, an denen aus taoistischer Sicht das tiefere Wesen des Hauses offenbar wird – es ist das Dazwischen, seine Füllbarkeit – es ist dieses komische Nichts ... Materialien und Formen, Farben und Strukturen, aus denen es besteht, trennen nur das Innen vom Außen; seine wahre Bestimmung stellen sie ursprünglich nicht dar. Im taoistischen Sinn liegt das Wesen von Haus und Gefäß in der totalen Leere, in der absolut befreiten Möglichkeit, dass etwas hinein kann und dort Geschichten gebiert. Das füllt dann die Leere aus. Dabei gleicht es sich atmosphärisch der inneren Form an, richtet sich ein, gestaltet die Leere und haucht ihr Leben ein. Haus und Krug – zwei Erscheinungen ein und desselben Prinzips? In einem Vortrag aus dem Jahr 1950 beschäftigt sich der deutsche Philosoph Martin Heidegger mit Lao-tse. Unter dem Titel ‚Das Ding‘ heißt es: Das Dinghafte des Kruges beruht darin, dass er als Gefäß ist. Wir gewahren das Fassende des Gefäßes, wenn wir den Krug füllen. Boden und Wandung des Kruges übernehmen offenbar das Fassen. (…) Wand und Boden, woraus der Krug besteht und wodurch er steht, sind nicht das eigentlich Fassende. Wenn dies aber in der Leere des Kruges beruht, dann verfertigt der Töpfer, der auf der Drehscheibe Wand und Boden bildet, nicht eigentlich den Krug. Er gestaltet nur den Ton ins Gebild. Der Töpfer fasst zuerst und stets das Unfassliche der Leere und stellt sie als das Fassende in die Gestalt des Gefäßes her. Die Leere des Kruges bestimmt jeden Griff des Herstellens. Das Dinghafte des Gefäßes beruht keineswegs im Stoff, daraus es besteht, sondern in der Leere, die fasst. (Martin Heidegger, ‚Vorträge und Aufsätze‘, Pfullingen 1954, S. 161)
4
Ein Gedanke vorweg
Die Natur als Baumeister: ein Wespennest
Häuser im Bild Vorm Häuserschießen Lao-tse lesen, und auch noch Heidegger – muss das sein? Nicht unbedingt. Aber auch nicht unbedingt nicht. Man kann auch einen Popsong von Al Jarreau pfeifen und dazu auf Dächern einen Walzer wagen. Denn: Manchmal steckt der Wurm drin. Im Schuss – nicht im Walzer. Zumindest will er nicht gelingen. Das Drumherum stimmt, Licht, Technik und Bildaufbau – alles ok, aber: Innerlich scheint sich etwas abgewandt zu haben, das Motiv verweigert sich, die Stirn wird kraus, die Haare wirr. Man stellt sich auf den Kopf, aber das Gewünschte stellt sich einfach nicht ein. Der Schuss möchte gebeten sein. So scheint es. Immer wenn es so verhext ist, bietet sich die wunderbare Gelegenheit für ein feines Häppchen Philosophie. Garniert mit einem kleinen Tänzchen auf dem Flachdach, ruhig vermengt mit einem genervten Blick zum heiteren Himmel. Das ist besser als Flinten in Körnern und in jedem Fall besser als ein Kompromiss-Schuss. Der nämlich versucht, einen als allzuschnelle Aushilfsidee immer zu bezirzen, und sich dagegen möglichst konsequent zu verwahren, ist schon mal der erste Schritt zum Guten. Aber gerade deshalb kommt es schon mal vor, dass auch ich fern jeder Muse einfach festhänge. Dass auch ich mich nach Jahrzehnten immer noch mit der installierten Kamera vor einem Haus auf eine erschreckend altbackene Fotografenweisheit besinnen muss, und genau die ist der Link zum Tänzchen auf dem Dach und zum Krug des Denkers: Es ist wie beim guten Porträt, vielleicht einem Selbstporträt … Die scheinbare Gewissheit des Kennens und Könnens allein reicht tatsächlich nicht aus zum wirklich guten Schuss. Ich muss eine Beziehung herstellen, zuvor die Kamera beiseite tun. Der Zauber liegt im Wissen um das Ich und der Ahnung um das Du. Ich muss mich vor der diensthabenden Kamera mindestens so gut auskennen wie dahinter, und: Ich muss mich herüberziehen lassen. Von ihm zu ihm, dem Haus. Hört sich komisch an, aber wirklich gut ablichten kann ich ein Haus nur, wenn ich weiß, was das ist. Besser: Wenn ich wissen will, was gerade dieses Haus da vorne für mich ist. Erst dann bekomme ich über meinen Sehsinn ein Gespür für das Motiv und das, was manche gerne verträumt ‚den fotografischen Blick’ nennen. Erst dann kann der Schuss mehr als einfach nur kurz gefallen, nämlich adäquat eine Aufgabe erfüllen. Deshalb zunächst: Architektur, wer bist du? Und: Wer bin ich vor dir? Wir beide, das ist doch sicher mehr als dieses taoistische Nichts da oben, oder? Versuche ich doch mal, diesen Krug zu füllen. Im Dialog mit dir, du Haus …
Wieder hat die Natur Architekt gespielt. Hier eine Höhle an den Flanken des südbayerischen Estergebirges. Inmitten einer mondlosen Nacht, Belichtungszeit: drei Stunden bei Blende 90. So etwas geht nur analog, Linhof Kardan Bi Fachkamera mit ISO 50 Velvia – nur dieser Fim holt zu später Stunde jenes schönste Tiefblau, das es gibt. Das Frösteln und die Langeweile, die bei solchen Expositionen mutterseelenallein im Dunkeln anfänglich aufkommen können, verschwinden sofort, wenn man sie nutzt, und zwar für einen dialogischen Prozess. Ganz richtig, man gestattet sich ein bisschen Crazyness und Verstohlenheit, entdeckt die Höhle als eine Art Du, unterhält sich mit ihr, findet heraus, was sie da vorn sich wünscht, und hofft darauf, unbeobachtet zu bleiben …
Bauten und Geborgenheit Die Baukunst ist der einzige Gegenstand, über welchen man ein solches Buch schreiben kann; denn nirgends ist das erste Bedürfnis und der höchste Zweck so nah verbunden: Des Menschen Wohnung ist sein halbes Leben, der Ort, wo er sich niederlässt, die Luft, die er einatmet, bestimmen seine Existenz. (Goethe in einem Brief aus dem Jahr 1795) Banales aus berufenem Munde – wie schön, dass es auch das gibt. Kleine Rückschau: Nest und Höhle, Hütte und Haus – mit den Jahrtausenden scheinen sie sich gewandelt zu haben. An der mediterranen Küste Frankreichs vor mehr als 400 Jahrtausenden haben Menschen sich erstmals nachweislich ein Dach über den Kopf gebaut. Seinerzeit noch aus Ästen und Laub, wie es heißt – gestalterisch gesprochen: aus freien Formen, Naturformen. Das Wort ‚Hütte‘ leitet sich aus dem althochdeutschen Ausdruck hutta für ‚Schutz‘ oder ‚Obhut‘ ab. ‚Hütte‘ ist der etymologische Kern des jüngeren Begriffs ‚Haus‘; sie diente ursprünglich als provisorischer oder vorläufiger Verschlag. Ein Dach, das wie bei einem Zelt Zuflucht vor der Witterung bietet oder unter dem sich Dinge aufbewahren lassen, geschützt wie in einer Scheune.
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Häuser im Bild
Über zahlreiche Epochen hinweg hat man die Unwägbarkeiten der freien Form entthront, das Irreguläre entmachtet, die unregelmäßigen Hohlräume sind gradlinig geworden, geometrisch und eben, rechtwinklig, geschwungen, sogar oval oder rund. Vielleicht steckt dahinter eine Lust, die ganz normale menscheneigene Sehnsucht nach Halt, Ordnung und Orientierung inmitten des natürlichen Chaos auch mit dem Sehsinn zu erleben, sich von seiner Erfüllung optisch zu überzeugen. Bis heute bauen Erdbewohner diese ausgehöhlten Skulpturen, die daher längst weit mehr bedeuten als das taoistische Nichts. Häuser sind zu Trägern visueller Aussagen geworden, und die gehen über die bloß praktisch gemeinte Trennung des Innen vom Außen so weit hinaus, dass der Sinn für den Ursprung nur noch ins Philosophische verbannt wird. Aber beide, Sinn und Ursprung, die bleiben; letztlich lässt sich immer noch sagen: Wie aus der Fauna von einst entlehnt – eine Hülle fürs Leben, das ist Architektur. Wohl dem, der es weiß, wenn er sich davon ein Bild macht. Im doppelten Sinn.
Im beengten Innenraum so genannter Bories, einfacher Iglu-förmiger Steinhütten, fanden südfranzösische Landarbeiter der Provence, die fernab ihres Zuhauses auf einem abgelegenen Feld zu arbeiten hatten, jahrhundertelang Schutz. Funktionalität wird hier wesentlich wichtiger gewesen sein als eine visuelle Botschaft nach außen. Wie das Ganze aussah, spielte wohl kaum eine Rolle, angesagt war die Trennung von Innen und Außen. Der inhaltliche Kontrast hieß: außen unbarmherzig heiß – oder bitterkalt, innen angenehm kühl – oder schön warm. Und der fotografisch relevante Kontrast: außen hell, innen dunkel. Am Übergang zwischen diesen Extremen bietet das RAW-Format eine wesentlich bessere Dynamik und einen viel größeren Belichtungsspielraum für die Durchzeichnung eines derart hohen Motivkontrasts, als es eine JPEG-Datei könnte.
Bauten und Geborgenheit
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Sicher ist Funktionalität ein Schlüsselbegriff beim Bau der provençalischen Bories gewesen, sie war es genauso im antiken Hüttenbau und ist es auch im modernen Gebäudebau. Über die Zeiten des Hütten- und Häuserbauens hinweg hat sich aber auch dessen zweiter Aspekt hervorgetan, den der Begriff ‚Baukunst‘, insbesondere der der Architektur, zusätzlich thematisiert: die Frage der Ästhetik. Schön, wenns gut und schön zugleich ist, das Haus. Interessanterweise wird genau das später ganz genauso für das Foto gelten. Bei der Frage guter und zugleich schöner Bauten dreht es sich darum, die rechte Verbindung zwischen Funktion und Schönheit zu finden. Wenn man herausfinden will, was der Mensch da mag und was nicht, stolpert man unweigerlich über den Grandseigneur der guten, alten Architekturtheorie, Theodor Straub. Dieser muss für seine Zeit als unglaublich moderner Autor gelten, da er schon im 19. Jahrhundert, also noch vor Entdeckung der Psychoanalyse, psychologische, insbesondere wahrnehmungspsychologische Erwägungen in seine ästhetischen Betrachtungen mit einbezieht. Einen nicht uncharmanten Punkt, den er erwähnt, bezeichnet er als „das alte Märchen vom Stützen und Getragensein“. Gerade im Zusammenhang mit bedeutenden Bauwerken spricht er in seinem schwergewichtigen Text Zur Aesthetik der Architektur aus dem Jahre 1887 vom „Sinn für das Aufstrebende, Weiträumige, für die Anpassung ihrer Architekturformen an grosse Aufgaben des gesellschaftlichen Lebens“: Die vornehmste Schönheit der Architektur, die der antiken Ordnungen, ist erstanden aus diesem Hinstreben aller Schmuckformen nach dem einen Inhalt, nach dem Idealisiren von Stütze und Last. Hier ist also wieder die Form in Verbindung mit einem Inhalt schön, und es wird sich nun fragen, ob sie auch als reine Form schön wäre, d. h., ob von unserem Wohlgefallen noch etwas übrig bliebe, wenn man die Bedeutung wegnähme. Aber dann konstatiert er: Auch die am Boden liegende Säule gefällt uns noch durch den Linienzug der Kanäle, deren Breite gesetzmässig von der Mitte nach aussen sich vermindert und in welchen ebenso gesetzmässig die Schatten allmählich wachsen, bis sie die ganze Kehlung erfüllen. (…) Auch das umgestürzte korinthische Gebälk ist noch immer schön mit seiner reichen Wechselfolge glatter und skulpirter Glieder, mit seiner Konsolenreihe und den Schlagschatten in den Feldern, mit seinem breiten Arabeskenzug auf Fries und Sima. Warum ist das so, und wie können wir das fotografisch einsetzen? Bauten nicht Bilder – Bilderbauten? Bilder, die von innen kommen, die bestehen bleiben, weiterhin etwas bedeuten, selbst wenn das Äußere zusammenfällt?
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Häuser im Bild
Sind es nicht Bilder, die Bauten bauten – innere Bilder und Vorstellungen, Ängste und Wünsche, die den Menschen seit je haben Hohles konstruieren lassen? Im stets wiederkehrenden Refrain der Deutungen sind Bauten immer wieder zum Betreten, Bewohnen und Betrachten da: Mit klar konturierten, behütenden Schalen verleihen Häuser unseren wichtigsten Lebensumgebungen Struktur. Und die lässt sich gleichermaßen beleben wie anschauen. Sie macht und ist Kultur. Gewachsen aus dem allerersten Wunsch, mit dem wir aus der fruchtwässerlichen Ordnung entlassen und ins organische Chaos hinaus geboren wurden: dem sehnlichen Wunsch nach Geborgensein inmitten desselben. Wenn es denn schon keine Rückkehr mehr gibt.
Frei und schutzlos, ungebremst und ausgeliefert – wo gibts in unseren dicht besiedelten Breiten diese Gefühls-Kombination schon so intensiv wie am höchsten Berg Europas: Hier, auf diesem luftigen Höhenzug am Montblanc, halten sich selbst Wolken nicht lange auf – keine Sekunde bleiben sie, was sie eben noch gewesen sind. Die permanente, wühlige Bewegung im Herzen dieser gesamten Atmosphäre deutet unablässig auf das wohl Einzige, was beständig, vielleicht ewig sein könnte: die Veränderung. Die Technik vollzog das nach: 140° Bildwinkel mit Normalbrennweite – dieses 6 x 17 Dia entstand mit dem rotierenden Objektiv einer Noblex-Panoramakamera auf Fuji Velvia Rollfilm. Selbst die Kamera also war in Bewegung, trotz eines Stativs.
Diese Sehnsucht kultivieren wir: Bequem und behaglich, auf Dauer geht das nur drinnen – denken wir. Nie draußen. Also bauen wir Gebäude. Solche Bauten bergen Hab, Gut und Seele, sie bieten Raum für sozialen Kokon, denn hier drinnen halten wir es sauberer und leiser, es ist intimer und auch klimatisch moderater als da draußen. Häuser geben Obdach, machen Insassen zu Bewohnern, schützen gegen die Unbill der offenen Umgebung, deren Einflüsse nie völlig berechenbar wären. Wie machen sie das? Ganz einfach: Architektur ordnet unseren Lebensraum zwischen Wände, Dächer und Böden – sie setzt: Grenzen, schafft Berechenbarkeit, macht aus Feuern Flammen; sie kanalisiert Energie. Und das Dazwischen, die füllbare Leere inmitten des Umgrenzten, das ist etwas für die Seele, mit der wir das Ganze prägen und die wir nach außen vermitteln – mithilfe baulicher, möglichst erbaulicher Ästhetik.
Bauten und Geborgenheit
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Häuser sind immobil. Sie bewegen sich nicht – da sind Schnecken vielleicht im Vorteil, sie können ihr Heimatgefühl mitnehmen! Und doch weiß kaum einer, wie viel Mühe ihnen die Bürde dieses ‚Werkzeugs fürs Geborgensein‘ wirklich macht. Auch für uns haben Häuser etwas mit Werkzeugen gemein. Ähnlich Hammer und Zange, Bohrer, Axt und Säge wirken auch sie wie ein optimiertes Organ – eines, das ursprünglich einmal menschlich war, also irgendwie organisch, dann aber nach außen verlagert wurde. Wohl weil es dort viel besser als das wirken kann, wozu es da ist: Häuser sind Dickhäuter, dicke Häute für Lebensqualität. Nach der Kleidung sind sie wie eine dritte Haut, die besser schützt und uns dennoch atmen lässt. Als umfriedender Schutz sollen sie helfen, das Leben leichter, schöner und ein bisschen ruhiger zu machen; selbst nomadische Völker wissen das zu schätzen und bauen Zelte, zumindest bisweilen hier und da. Auch diese sind übrigens aus organischen Häuten, wenngleich keine menschlichen.
Das Gegenteil unseres geliebten wohlgelaunten Azorenhochs: Ein Tief zieht über die portugiesische MittelatlantikInsel Sao Miguel hinweg – mit gemessener Windstärke 11, wie es am nächsten Tag in der Presse hieß. Es regnete in Strömen, bei den heftigen Böen war meine gute, alte Linhof Kardan Bi nicht mehr zu schützen, im Hotelzimmer musste sie hinterher in alle Kleinteile zerlegt, detailliert geföhnt und stumm um Vergebung gebeten werden. Gut, dass Fachkameras nicht ganz so wasserscheu sind wie Digitalkameras. Auch hier war der Film ein Fuji Velvia, also Tageslichtmaterial, der Blaustich kommt nur vom Feuchtigkeitsgehalt der Luft und vom Blau-Potenzial dieses wunderbaren Films. Die fein verteilten Wasserpartikel in der Luft streuen den kurzwelligen Anteil des Sonnenlichts in alle Richtungen, und der ist blau. Ein Königreich für ein Dach überm Kopf, möchte man beim Blick auf diese Küste den Architekten da zurufen. Jenen zumindest, die mit dem Stift im Mund sinnierend auf den Kuss der Muse warten.
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Häuser im Bild
Haben wir das Bauen von den Tieren abgeguckt? Termitenhügel, Ameisenhaufen, Maulwurfsgänge, Kokons, Schneckenhäuser, Wespennester, Muschelschalen oder Spechthöhlen – man dürfte zudem diskutieren, ob Baukunst nur das explizit Gebaute sein kann – wie etwa Nester –, oder auch das, was die Natur selbst als originärer Baumeister hervorgebracht hat, etwa Muschelschalen oder Schneckenhäuser. Dazu kommt: Letztere werden bisweilen nach dem Schneckentod von anderen Tieren bewohnt – eine Eigenschaft, die wir von Menschenhäusern kennen. Der Fuchs hat seinen Bau, heißt es im biblischen Kanon, der Vogel hat sein Nest … – und eben auch der Mensch müht sich seit je, das Seine zu umfrieden. Tut er das nicht, bezeichnet man ihn schnell als nicht besonders kultiviert. Denn das Drinnen hat Kultur, so nimmt man an. Es repräsentiert den Geist einer Person, einer kleinen Gruppe oder sogar einer bestimmten Gesellschaft. Respekt vor Volksgruppen, die da anders sind, das nicht so sehen. Weil sie anderweitig im Einklang sind. Auch wesentliche psychische Anliegen sind es, denen das Drinnen entgegenkommt: In ihm können wir unsere Sehnsucht nach Halt, Stabilität und Identität kultivieren – und vielleicht erfüllen. Haben wir ein Haus, können wir zurückkehren, immer wieder und von überall her. In solch einem lokalen Fixpunkt finden wir soziale Orientierung, Zugehörigkeit, Zuflucht – und wenn alles gut geht: vielleicht Heimat und Zuhause. Wir können uns abgrenzen von anderen, aber genauso Gemeinschaft finden und gemeinsam gestalten. In Häusern treffen wir Familie, Arbeitskollegen, Freizeitgruppe und vieles andere mehr. Wir binden uns ein – das Phänomen ‚Leben’, mit dem wir aus unserer individuellen Sicht jene Gebäudegrenzen, von denen Lao-tse spricht, nach unserer persönlichen Art füllen, gibt ihnen Sinn. Und dieser wandelt sich, wenn wir gehen und dann andere kommen. Wenn wir das berücksichtigen, bevor wir die Kamera postieren, uns für Blickwinkel und Ausschnitt entscheiden, steigen die Chancen, dass das Foto zum ‚Porträt‘ wird, immens. Auch dieses drückt ja etwas Innenwohnendes, etwas Wesenhaftes aus. Das lateinische portrahere heißt ‚hervorziehen‘ und deutet schon darauf hin, dass ein gutes Bild etwas sichtbar macht, was sich dem bloß sensorischen Blick verschließt. ***
Bauten und Geborgenheit
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„Das alte Märchen vom Stützen und Getragensein“ – am Beispiel eines U-Bahnhofs in Köln. Was ist man hier: geborgen, getragen oder eingeengt? Immer wenn es nichts dergleichen ist, ein Betrachter sich also ausgeschlossen fühlt, geschieht etwas Besonderes: Der Bau wird zur Skulptur. Für einen ausreichenden Schärferaum war hier wegen der großen motivischen Tiefe eine kleinstmögliche Blende erforderlich.
Leid und Lust am Bau Aber alles Lichte hat natürlich mindestens eine Schattenseite: Innen ist es auch eng, selbst in großen Gebäuden. Wo wir hinsehen, wird der Blick aufgehalten, wir schauen gegen Grenzen, begradigte Wände, Böden, Raumdecken und -ecken. Physisch entspannt ist unser Sehsinn, wenn der Ziliarmuskel auf Horizonte fokussieren kann, also in die Ferne blicken darf. Dann hat er nämlich den geringsten Tonus. Aber das bietet sich nur draußen. Natürliche Lüfte und Lichter, Gerüche und Geräusche – all das, was uns die Natur schätzen lernen lässt, gibt es nicht in Kokons. Klar, denn diese sollen ja davor schützen.
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Häuser im Bild
Deshalb geht kaum jemand nach innen, ohne tief in sich gewiss zu sein, dass er wieder herauskommt. Nicht zufällig ist es eine besondere Strafe, jemandem gerade das Außen zu verwehren, ihn einzuschließen. Arrest ist die Kehrseite der Geborgenheit. Selbst wenn es innen noch so angenehm ist, die Sehnsucht nach dem Außen bleibt. Ob man sie nun nutzt oder nicht – da ist Weitsicht, die Freiheit des Könnens-wenn-man-wollte, und wir können unsere Wohnstätten auch von dort zumindest ansehen. Schön, wenn sie dann auch noch schön aussehen. Architektur wirkt immer nach innen und außen – sie ist eine skulpturale Botschaft, die sich in der Frische des Draußen an die Augen der anderen richtet. Und natürlich auch an meine. „Das alte Märchen vom Stützen und Getragensein“ – treffender und schöner kann man den Grund dafür, dass wir schöne Häuser schön finden, nicht nennen als Theodor Straub. In seinem erwähnten Werk fragt er sich, ob wir schöne Formen einfach sinnlich und sinnfrei genießen, oder ob der Genuss von angenehmen Vorstellungen kommt, die wir mit einer schönen Form assoziieren. Seine These: Auch noch die Schönheit der meisten Tiere beurteilen wir weit mehr nach ihrem Ausdruck von Intelligenz, Kraft, Wildheit, Beweglichkeit u. s. w., als nach der geometrischen Harmonie der Linien. (…) Den Linien an sich verdanken wir hier unser ästhetisches Wohlgefallen kaum mehr als dasjenige an einem Gedicht der Form seiner Schriftzeichen. Das „Idealisieren von Stütze und Last“ vermutet er als Quell des visuellen Genusses schöner Architektur. Samt allen Kehrseiten. Denn: Innen und Außen bedingen einander wie Sägen und Späne, Heiß und Kalt, Licht und Schatten. Ein Gebäude ist zwar starr, aber es wirkt wie ein Kleidungsstück, und zwar ein einzelnes für mehrere gleichzeitig. Ähnlich unserer gewohnten Kleidung, die ja längst nicht mehr nur das Nackte schützen und im Alltag praktisch sein soll, beinhaltet auch Architektur also weit mehr als nur geometrisches Höhlenbauen, um es warm zu haben und von großen Tieren nicht bedroht zu werden. Sie verleiht Struktur – ordnet, was organisch ist, erhält Einzug ins Menschliche, beeinflusst damit Kultur, und die Kultur beeinflusst sie – dies in einer Weise, die Epochen schrieb und schreibt. Wie die Fotografie. Architektur kennzeichnet Revier. Dies für den Bewohner, der sich gemütlich einrichtet, genauso wie für den Bauherrn oder Architekten, der den Blicken der anderen eine designerische Spur hinterlassen möchte. Der Begriff Architektur berührt also eine Auseinandersetzung – nämlich die des Menschen mit dem Raum, den er sich baut. Den Ausdruck ‚Architekt’ hat vor mehr als 2000 Jahren der römische Baumeister Marcus Vitruvius Pollio, besser bekannt als Vitruv, geprägt. Das Wort entstand aus dem griechischen architékton, das aus zwei Teilen besteht: arché oder archi- (‚superior’, ‚Anfang‘, ‚Ursprung‘) und techné für ‚Kunst‘, ‚Handwerk‘ oder aber tékton (‚Gelehrter, der Pläne entwirft und deren Umsetzung leitet‘). ***
Leid und Lust am Bau
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Statik und Design im Dialog – wenn die Architektur einen spannenden Zwiespalt anbietet, darf, ja sollte man ihn mit der Kamera gern aufgreifen. Bei diesem Industriebau im Herzen Westfalens haben wir uns so sehr auf einzig dieses Widerspiel konzentriert, dass es uns geradezu drängte, die klassische Sichtweise zu verlassen. Nur dem Nötigsten haben wir Zutritt ins Bild gewährt: Die senkrechten Motivlinien stürzen ins Bild und scheinen einem Fluchtpunkt zu folgen, der irgendwo im Himmel sitzen muss. Und den Boden, die gute Mutter Erde, auf der jedes Haus steht, haben wir einfach weggelassen. Das prägnante Bild war hier wichtiger als das Haus selbst oder dessen Dokumentation.
Von Vitruvius zum Haus-Design Architekturstile sind organisch. Sie wandeln sich mit der kulturellen Identität einer Gesellschaft. Das ist natürlich, denn die Natur tut es auch. Im oben genannten Werk vergleicht Theodor Straub die evolutionäre Weiterentwicklung von Naturformen mit derjenigen menschlich geschaffener Epochenformen, also auch der Architekturstile: Unser Wohlgefallen an der Schönheit einer bedeutungslosen Form nimmt ab, wenn deren Bild in unserem Gedächtniss allzu deutlich und vollständig wird. Dies ist das folgenschwere psychologische Gesetz von der Ermüdung des Formgefühls, das der Architektur eine immerwährende Stilveränderung auferlegt. (…) ‚Durch welche Einwirkung der Aussenwelt und nach welchen inneren Gesetzen entstanden immer höher organisirte, immer schönere Formen in der Pflanzen- und Thierwelt aus oder nach den älteren?‘ Das ist eine Frage, die der menschliche Geist schon lange gestellt hat und auf welche die Wissenschaft seit einer Reihe von Jahren die Antwort sucht. Weit weniger Beachtung hat die verwandte Frage gefunden: ‚Welches ist die treibende Kraft in der Geschichte des von der Menschenhand erschaffenen Formschönen, die Kraft, welche mit sichtbarer Nothwendigkeit die Völker zu immer neuer Stilveränderung geführt hat und noch immer führt?
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(…)Und doch muss in unseren Tagen diese Frage sich Jedem aufdrängen, der mit aufmerksamem Auge die Architektur unseres Jahrhunderts verfolgt. Kaum hatten wir die Aufnahme der griechischen Formen als eine Erlösung von gehaltlosem Wust gefeiert und in ihnen das Edelste erkannt, was die moderne Architektur nachschaffen könne [Renaissance], so führte uns ein hochbegabter, nun begrabener Meister zum freieren Stil der Hochrenaissance, den wir zuerst nur zurückhaltend und mit dem bewussten Streben nach der Strenge des Griechischen, dann mit voller Freude an seinem ganzen Reichthum aufnahmen und übten. Ein gewichtiger Aspekt in der Baukunst ist ihre Nähe zur Musik. Dies zum einen aus funktionaler Sicht: Möglicherweise dürfen wir Musik als ein ebenso typisch menschliches Grundbedürfnis annehmen wie das, in einem Haus zu wohnen. Aber die Verwandtschaft zwischen diesen beiden Disziplinen besteht auch in ästhetischer Hinsicht. Bereits aus dem römischen Altertum kennen wir den Baumeister Vitruv, der schon im ersten vorchristlichen Jahrhundert die Harmonie architektonischer Maßverhältnisse mit der von musikalischen Intervallen verband. Die italienische Renaissance hat uns die perspektivischen Studien eines Leon Battista Alberti, aber auch die baumeisterliche Handschrift Leonardo da Vincis hinterlassen und dessen detaillierte Konstruktionspläne etwa für ein mehrstöckiges Mailand. Auch wenn eine solche Stadt auf dem Reißbrett verblieb und nie gebaut wurde, spricht aus den Zeichnungen das Genie einer schöpferischen Potenz, die wohl ewig nachwirkt. Zumindest hat sie das bis heute. Keinesfalls zu vergessen sind Größen wie der Mathematiker Piero della Francesca und natürlich Albrecht Dürer, der zwar kein Baumeister war, mit seinem Buch ‚Underweysung der Messung‘ aber das erste deutschsprachige Lehrwerk über technisches Zeichnen schrieb. Die Erkenntnisse dieser Zeit waren Äonen-übergreifend – und die Baukunst, die sie hervorgebracht hat, schien es auch. Die Fotografie von Architektur, insbesondere Fragen der Aufnahmeperspektive und der Umgang mit den Standarten einer verstellbaren Fachkamera oder der Entzerrung von Linien per Software sind hier extrem beflügelt worden. Es lohnt sich, dass wir uns das später genau ansehen. Aber die Denkweise hat sich gewandelt. Die großen Zeitalter sind verschwunden, Architektenkünstler, von denen man Jahrhunderte lang sprechen wird, wahrscheinlich auch. Das Spektakuläre heutiger Bauten wird kaum noch Bedeutung über ein Zeitalter hinaus erlangen. Selbst wenn sogar die größten oder schönsten in 300 Jahren noch stehen sollten, werden andere sie an Ausstrahlung längst überragen und dann Gesprächsstoff sein. Zumindest für wenige Jahrzehnte. Äußerst kleine temporäre Brötchen sind es, die die Baukunst heute backt. Selbst bei himmlisch hohen aktuellen Budgets für spektakuläre Projekte spricht man mittlerweile von Strömungen, Modeerscheinungen und Zeitgeist. Und auch dieser Geist entschwindet in schlohweißem Gewand, wenn seine Zeit gekommen und er des großspurigen Umhergeisterns müde geworden ist.
Von Vitruvius zum Haus-Design
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Die Fähigkeit zum Alterslosen, Ewiggültigen hat man ‚perdu‘ gehen lassen, es ist, als scheuten sich die Bautenbauer, das eigene Schaffen kulturell wirklich bedeutsam zu artikulieren. Sich mit stilistischen Neuschöpfungen langfristig auf epochale Nachhaltigkeit festzulegen, das ist out. Es könnte ja bedeuten, den Anschluss an die Forderungen dessen zu verpassen, was einen up to date sein lässt, und damit lässt sich kurzfristig wahrscheinlich mehr Geld verdienen. Zumindest innerhalb einer Architektengeneration. Möglich, dass das genauso für die vergleichsweise junge Kunst der Fotografie gilt. So kommt es, dass man stilgeschichtlich statt Jahrhunderte nur noch Jahre, allenfalls Jahrzehnte betrachtet, wenn von einer so genannten Baukunst-‚Ära‘ die Rede ist. Übrig bleibt eine Art Häuserdesign-Geschichte, die mit immer kürzer haltbaren Materialien arbeitet. Plakatives Beispiel: Ein prominenter Franzose, der zu Beginn des 20. Jahrhunderts mit glatten, funktionalen Häuser- und MöbelDesigns für Aufregung sorgte: der Architekt Le Corbusier. Ansehen ja, aber wohnen will in seinen Häusern kaum noch einer. Zum Vergleich: Für den Bau des Kölner Doms hat man sich 800 Jahre Zeit gelassen, länger als die Gotik selbst je gedauert hat – und im Grunde hat man bis heute gar nicht aufgehört. Immer noch wendet die eigens geschaffene Dombauhütte jährlich zweistellige Millionenbudgets auf, um ein Bauwerk permanent zu restaurieren, das nur noch marginal aus historisch echter Grundsubstanz besteht. Klammert man sich daran, das Alte zu romantisieren, um das Neue zu vermeiden? Weil sonst deutlich würde, dass man nie wieder die Verve von einst aufbringen könnte? Zwar gestaltet ein Architekt auch heute noch etwas, was man ‚Gebrauchskunst’ oder im stilistischen Kontext eben Baukunst nennen kann. Er arbeitet aber – mit wenigen Ausnahmen – nicht so sehr als Künstler denn als designender Ingenieur. Und schon im Begriff ‚Design‘ steckt gerade diese Schnelllebigkeit, von der die einstige Bauens-Kunst verdrängt worden ist. In allzu kurzer Folge hintereinander entstehen weltweit immer neue Superlative, so dass sich die Fachwelt immer weniger darüber einig werden kann, welche Werke denn künftig etwa zu den modernen sieben Weltwundern zählen könnten. So ist zum Beispiel der Eifelturm – außer für jene Paris-Touristen, die ihn zum ersten Mal sehen – für niemanden mehr wirklich aufregend. Dabei war er immerhin einmal eine Sensation, nämlich seinerzeit das höchste Bauwerk der Welt. Hingepilgert ist man von überall, um die einst einmalige statische und konstruktionstechnische Meisterleistung aus der Nähe zu bewundern. Allerdings ist das alles weit über ein Jahrhundert her. Außerdem nagt der plumpe privatwirtschaftliche Hintergrund heutiger Bauten stets an der Basis jenes Zaubers einer mythos-fähigen Aura. Eher können sich die meisten Menschen an die Sieben Weltwunder der Antike erinnern, als die vielen spektakulären Hochhäuser aufzählen, die den Eiffelturm an architektonischer Artistik heute übertreffen. ***
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Mit Rhythmus und Konsonanz kommen musikalische Begriffe in die Baukunst. Durch ein extremes Tele haben wir gerade dieses Detail aus der Spiegelfassade eines norddeutschen Industriebaus herausgehoben und später vertikal entzerrt, um auf der einen Seite das Regelmaß zu zeigen, die periodische Wiederkehr einer grafischen Struktur, aber genauso auch den Bruch im System, die Dissonanz – ebenfalls ein Terminus aus der Musik. Wichtig ist dabei, dass kein einziges Element ins Bild kommt, das die Aussage nicht klar und deutlich unterstützt. Es würde ablenken, selbst wenn es optisch noch so apart wäre.
Musikalische Plastik Aus luftgen Tönen quillt ein Weißnichtwie, indem sie ziehen, wird alles Melodie. Die Säulenschaft, auch die Triglyphe klingt, Ich glaube gar, der ganze Tempel singt. (Johann Wolfgang von Goethe, Faust II – diese Zeilen spricht ein Wahrsager, im Stück ‚Astrolog‘ genannt, zu einem Architekten.)
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Aber es muss nicht immer der Vergleich mit anderen Bauwerken sein. Martialisierbare Äußerlichkeiten wie Autos oder Architektur als pompöses, rein phalloides Gut, verbunden mit nicht-öffentlichen Omnipotenzfantasien, das geht fast immer zweifelhaft aus. Selbst wenn man es schafft, das größte Haus zu haben; wir kennen das aus der Metapher des Turms zu Babel. Nein, wirklich gute Architektur schafft etwas anderes, sie macht Freude, auch ohne dass man unbedingt wissen muss, warum. Dazu kann sie klein sein. Aber dazu muss sie schön sein – und gut. Ein wunderbarer Anspruch, wir kennen ihn auch aus anderen Bereichen, etwa der Fotografie – und diesem hier: Architektur ist erfrorene Musik. Das schreibt der deutsche Denker Arthur Schopenhauer um 1800, und es scheint ein leiser Hauch Tragik in solchen Worten mitzuschwingen. Doch sie erfrischen die Fantasie beim Bautenbau, und sie deuten auch hin zur Fotografie. Sicher kann man fragen, was die Düsternis eines Schopenhauer in einem Fotobuch zu suchen hat. Aber es dreht sich um genau diese Erkenntnis, diesen Anspruch beim Festhalten eines Hauses mit der Kamera. Architektur ist die Schwester der Musik. Wenn Architekturfotografie das zeigen kann, ohne dabei starr zu wirken, ist sie gut. Nach meiner Erfahrung ist die Philosophie nicht unbedingt das Lieblingsgebiet der meisten Fotografen, aber an diesem Punkt sollten wir uns Zeit lassen, denn er ist mindestens so wichtig wie kameratechnische und kompositorische Erörterungen, die ja auch noch folgen. Schon Vitruv forderte vom Architekten eine universelle, auch musische Bildung. Dazu gehöre mindestens auch die Kunst, den Zeichenstift zu führen, am besten auch das Musizieren. Aus seiner Sicht beschränkt sich die Architektur nicht darauf, eine bloße Gebäudebaukunst zu sein. Ein Architekt ist für ihn ein Ingenieur. In seinem umfangreichen zehnbändigen Werk ‚De architectura’, der ersten bedeutenden Schrift zum Thema Architektur überhaupt, wird genauso über die Konstruktion von Uhrwerken, Maschinen und Werkzeugen gesprochen wie über die von Kanonen und Katapulten – Künste, die wir später bei Universalgelehrten wie Leonardo in der Renaissance wiederfinden. Auch heute scheint es da – zumindest im Sektor der Informationstechnologie – einen mehr oder weniger unbewussten sprachlichen Rückbezug zu geben, mittlerweile heißt es Rechner-, Datenbanken-, Prozessor- und Chip-Architektur. Wie elegant das klingt. Auch die Ansicht des romantischen Philosophen Friedrich Wilhelm Schelling, Architektur sei so etwas wie ,erstarrte Musik’, kann auf die Nähe verweisen, die zwischen Architektur und Fotografie möglich ist. Beides hat zwar etwas Arretierendes, aber da ist noch mehr. Seine Worte selbst könnten manchen zunächst staunen und vielleicht in blaue Melancholie fallen lassen. Aber anders als der düstere Aufklärer Schopenhauer mit seinem Pessimismus ist Schelling Romantiker. Erst in einer anderen Formulierung wird deutlich, dass Schelling diesen Link zur Musik alles andere als trübsinnig meint, sondern in der Baukunst eine hoch stehende Verbindung zweier großer unterschiedlicher Künste sieht: Architektur ist musikalische Plastik.
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Ebenfalls zur Zeit der Romantik bezeichnet auch die Schriftstellerin Dorothea von Schlegel Architektur als ‚versteinerte Musik’, und selbst der junge Johann Wolfgang von Goethe nennt auf seiner Italienreise die Bauwerke, die ihn dort stark beeindrucken, ‚stumme Musik’. Spätestens seitdem sehen manche in der Architektur eine – wie es heißt: ‚fest gewordene Musik’. Dies bis hin zu Aussagen über den Umkehrschluss wie etwa: ,Musik ist aufgetaute Architektur.’ Was das eine mit dem anderen zu tun hat, Musik mit Hausbaukunst? Eine ebenso einfache wie klare Begründung dazu findet der Architekt Le Corbusier zu Beginn des 19. Jahrhunderts: ,Musik und Architektur hängen beide vom rechten Maß ab‘. Ob man seinen unterkühlten Baustil nun mag oder nicht, aber das ist es: Die Maße von Rhythmus und Harmonie für das Gesehene scheinen denen für das Gehörte tatsächlich zu ähneln. Für eine theoretische Überlegung mag das zwar ganz interessant und beschaulich klingen, so verwunderlich dürfte es aber eigentlich nicht sein. Und dass es ein kompositorisches Stilmittel wie den Goldenen Schnitt auch in der Zeitachse gibt, wissen wir bereits aus dem attischen Drama der griechischen Antike. Selbst im Reich der Musik kennen wir den Goldenen Schnitt: bei Orgelkompositionen Johann Sebastian Bachs, auch dieser baute ihn vielfach in den zeitlichen Ablauf einzelner Werke ein. Diese Erkenntnis mit der Kamera nachzuvollziehen, das ist Inspiration. Also: Architekten und Musiker – eine heimliche Liebe? Haus und Lied, Schloss und Sinfonie, Hütte und Hymne – solche Pärchen in einem Topf, warum nicht. In der Romantik des 19. Jahrhunderts entsteht der uralte Gedanke neu, dass ohnehin alle Künste in der Verborgenheit ihres Herzens miteinander verbunden seien, er berührt damit die antike Idee vom Universalgelehrtentum. Eines der schönsten Beispiele ist sicher die Figur des Pythagoras von Samos. Ihn bekommen wir im schulischen Mathematikunterricht durch sein a2+b2=c2 immer als Schulmathematiker präsentiert – einer, der angeblich irgendwie Vergnügen daran gefunden habe, sich hauptsächlich mit Hypothenusenberechnungen in irgendwelchen rechtwinkligen Dreiecken herumzuschlagen. Dabei zeigt die Historie bei näherem Blick, dass er weit mehr als das gewesen sein muss, Pythagoras wurde als Musiker, Mystiker und Universalgelehrter berühmt. Seine Forschungen hat er viel weniger auf naturwissenschaftlich klar abgegrenzte Rechnereien beschränkt, sie waren – wie man heute sagen würde – interdisziplinär angelegt und dienten dem Aufbau einer ganzen Kosmologie. Warum ist die Welt so, wie sie ist, und lassen sich universelle Gesetze hinter dem Sichtbaren entdecken? – das waren die Fragen, die ihn umtrieben. Und sein besonderes Anliegen, das für ihn wichtigste Stichwort, das er mit seiner Arbeit verfolgte, war – zumindest aus heutiger Sicht – so unmathematisch, wie man sich das nur vorstellen kann: ‚Sphärenharmonie‘.
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Die Zollverein School in Essen – das japanische Architektenpaar Kazyo Sejima und Ryue Nishizawa hat hier mathematische Strenge, musikalische Improvisation und Architektur expressiv zusammenfinden lassen. Sie bilden ein Mix aus Quadrate-Geometrie und scheinbar organischer Zufälligkeit. Um genau dieses Widerspiel im Foto zu betonen, bietet sich eine zentimetergenaue Frontalansicht in voller Rechtwinkligkeit. Schäfchenwolken oder romantischer Sonnenuntergang hätten hier kaum gepasst. Die fast ‚schmuddelige‘, abend-gräuliche Lichtstimmung mit den Wohnblocks im Hintergrund betont das Haus im Kontrast zu seinem motivischen Gegenteil: ein hochdesigntes Objekt im einfachen, ganz normalen Alltags-Umfeld des Ruhrgebiets.
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Bereits im 5. Jahrhundert v. Chr., also etwa zur selben Zeit, in der im fernen Osten die Gedichte des Lao-tse entstanden, verbindet die antike Gelehrtenschmiede um diesen griechischen Zahlenmystiker dafür Zahl und Klang miteinander. Auch für die pythagoreische Schule gründen Musik und Architektur gleichermaßen auf harmonischen Zahlenverhältnissen. Zahlenverhältnisse, die bis heute auch die Bildkomposition beflügelt haben – und natürlich auch die Fotografie. Im Spielfeld zwischen gestalterischer Freiheit und kompositorischem Reglement folgen all diese Disziplinen den ordnenden Prinzipien von Rhythmus und Takt, Konsonanz und Proportion, Statik und Harmonie. Die Ästhetik der Komposition scheint universell, sie unterlegt alles Geschaffene, also auch ein Haus, mit einer logisch sinnvollen Struktur. Genau diese Erkenntnis sollten wir gestalterisch anwenden, wenn wir Häuser fotografieren. Es wird immer deutlicher: Architektur und Musik scheinen bedeutsame Gemeinsamkeiten aufzuweisen – eine Idee, die heute die Architekturfotografie beflügelt, und wegen der Vitruv seinerzeit sogar forderte, dass Baumeister sich im Zuge ihrer Lehrjahre und Studien auch musikalisch ausbilden lassen müssten. Nur so würden sie das wahre Wesen harmonischer Proportionen und Symmetrien und Eurhythmien verstehen, auf denen gute Baukunst und das Darstellen derselben im Bild aufbaue. Obwohl Musik in der Regel als zweckfrei und als ‚Zeitkunst‘, Architektur dagegen als nützlich und als ‚Raumkunst‘ gilt, werden seit Beginn des 19. Jahrhunderts beide Künste in der ästhetischen Theorie verschiedener Denker wieder in einem Zusammenhang gesehen. Dies nicht nur, weil Musik etwas mit Mathematik und Statik zu tun hat, sondern auch vor dem Hintergrund, dass in diversen Mythen die Welt ganz einfach aus einem Klang heraus entsteht, aus harmonischem Klang. Und den hatte einst Pythagoras gesucht. Wir als Fotografen tun es letztlich auch. Ob wir es nun wissen oder nicht. ***
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Eine Holzhütte im bayerischen Wald: Wenn sich Laub umschattete Lichtflecken und seitliches Streiflicht anbieten, ist das fast immer wie der verschämte Ruf: Fotografier mich, fotografier mich doch! Sie drängen geradezu danach, dass wir sie als flirrende Lichtstimmung nutzen. In diesem Fall bindet der asymmetrische Bildaufbau dieses kleine Bauwerk hier zusätzlich in seine Umgebung ein und versetzt die Komposition in eine leichte Spannung. Das Foto wirkt dadurch weniger dokumentarisch oder ‚objektzentriert‘, sondern vielmehr ‚bildzentriert‘ und atmosphärisch.
Holzhütten und Hochhäuser Ob Hütte oder Hochhaus, das ist egal. Immer noch vereint Architektur Zweck und Form, also Pragmatik, Zeitgeist und sakrale oder säkulare Symbolik. Wahrscheinlich kann man, ähnlich wie es der Kommunikationstheoretiker Paul Watzlawik beim Kommunizieren sieht, wohl gar nicht nicht-designen – dies in Anlehnung an dessen gern zitierte Behauptung, dass man nicht nicht-kommunizieren könne. Natürlich bedeutet deshalb auch heute das Tun der Architekten eben weit mehr als so genanntes ‚bloßes Bauen’, in stilistischer Hinsicht wird Architektur immer noch eine Art Bau-Kunst sein: Die Bauform nämlich kann gar nicht anders, als immer eine kulturelle Aura innerhalb eines Zeitgeists widerzuspiegeln, und es ließe sich fragen, ob selbst dieses ‚bloße Bauen’ ohne besondere architektonische Überlegungen und damit ohne Einordnung in ein kulturelles Drumherum überhaupt möglich wäre. Auch wenn ein gerade betrachtetes Bauwerk nicht für, sondern gegen diese es umgebende Kultur Stellung bezöge. Selbst eine Holzhütte kann ja hübsch sein. Und wenn wir sie in unseren Breiten heutzutage bauen, soll sie das sogar. Manch einer bucht sich für seinen Südseeurlaub gerade eine hübsche Holzhütte, um einer an sich komfortablen, atmosphärisch aber pervertierten Hotelhochburg im Plattenbaustil zu entgehen. Unser Kapitel über Perspektive zeigt: Beides kann man klein und beschaulich oder groß und pompös fotografieren. Je nachdem, von wo man schaut.
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Häuser im Bild
Häuser aus der Distanz wirken immer skulptural. Es scheint, als seien sie eher zum Betrachten als zum Betreten. Eine extreme Teleposition macht diese Perspektive möglich. Durch die harmonische Einbettung dieses klassischen, nicht unbedingt ansehnlichen Hochhauses in die umgebende Bergwelt, die das Hintergrundmassiv in das modulierende Licht der untergehenden Sonne taucht, wird ein Dialog initiiert – einer, der auf den ersten Blick dissonant wirkt. Diese zwei Dinge scheinen nicht zueinander zu passen. Der visuelle Friedensschluss kommt erst mit dem zweiten Blick. Aus großer Distanz mit mittlerem Tele aufgenommen, das macht dieses Gebäude formal zur Skulptur, nicht zum Betreten.
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Auch die äußere Wirkung von Architektur bewegt sich damit im Spielraum zwischen funktionalem Lebenshintergrund und Skulpturcharakter. Durch ihr Aussehen verleiht sie ihrer Umgebung einen gewissen geistigen Gehalt, viel mehr aber noch Befindlichkeit, also Emotion und Assoziativität. Und das ist das eigentlich Wichtige: Sie kann Gefühle wecken und Gedanken. Sie kann Geborgenheit oder Integrität vermitteln, einen praktischen Nutzen kommunizieren, eine besondere Stimmung, Gemütlichkeit, sinnliche Erbauung oder eine alte Geschichte ausstrahlen, wenn sie historisch ist. Oder als etwa repräsentatives Anwesen vermag sie es, uns persönliche Identität zu verleihen und diese nach außen deutlich zu unterstreichen. Gefühle sind das, was den Menschen bewegt, auch wenn er sich noch so rational, kühl oder materialistisch gibt. Man mag ein Haus – oder eben nicht. Selbst wer sich in unseren Breiten heute gegen das Wohnen in Gebäuden, ja gegen das Fotografieren von Häusern entscheidet, nimmt indirekt immer Bezug auf Gebäude. Diese These lässt sich hinterfragen, das ist gut so, aber gerade dadurch inspiriert sie auch zum Ausprobieren. Im letzten Teil dieses Buches über die experimentelle Architekturfotografie können wir sie auf den Prüfstand stellen und eine persönliche Haltung dazu finden. Dort bewegen wir uns weg von Gebäuden, inhaltlich wie formal, fotografieren sie aber immer noch, um zu sehen: Wo ist die Grenze der Architekturfotografie. Erstaunlich, was sich dabei herausfinden lässt. Architekten wie Fotografen formen Fassaden und Räume, teilen auf, gliedern und fügen zusammen. Die einen auf der Erde, die anderen auf einem Blatt Fotopapier. Unter Maßgabe von Ästhetik und Nutzen versuchen sie, in ihren Konzepten, mit Proportionen und Dimensionen auf definierte Weise (er-)lebbare Räume zu gestalten – ihnen also ‚Gestalt zu verleihen’. Fotografieren von Architektur bedeutet, die dabei verwendeten gestalterischen Elemente zu entdecken, bildnerisch zu dechiffrieren und möglicherweise neu zu deuten. Tun wir es als Fotograf für den Architekten oder den Bauherrn, müssen wir wissen, wie er tickt – in Bezug auf sein Werk. Im Vorgespräch mit einem Kunden findet man heraus, was er mit dem Gebäude verbindet, was ihn reizt, was er mag und womit er Probleme hat. Viele Architekten und Bauherren sind, das muss man bedenken, kompromissgeplagte Menschen, und schon deshalb können auch Häuser – genauso wie porträtierte Menschen – Details mit Schokoladenseite haben und ohne. Eine angenehm anspruchsvolle Aufgabe ist es, ‚schokoladige‘ und weniger ‚schokoladige‘ Chiffren zu entdecken, mit der Kamera zu interpretieren und in eine eigene Sprache zu fassen. Eine, die Spaß machen kann, weil sie genauso sinnlich und einfach nur schön wie auch intellektuell spannend sein kann. Weil sie fordert und fördert, nämlich individuelle Sehweisen. Nicht nur der Architektur bauende Mensch ist es, der mit seinem Bau etwas über sich verrät – auch der Mensch, der sie fotografiert. Und wenn er das weiß, sollte er es unbedingt tun. Das macht individuell.
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Eine Holzhütte in der Holsteinischen Schweiz. Die Architektur scheint unterzugehen – im Wust des grünen Drumherum. Aber vielleicht auch nicht – man mag vermuten, dass sie gerade in ihrem Bewachsensein eine völlig neue Bestimmung gefunden hat. Ob dies eine arkadisch-romantische oder eine Furcht einflößende ist, mag, ja sollte der ganz persönliche Blick entscheiden. Und dazu müssen wir ins Bild hinein: Die Kamera stand nur etwa zehn Meter entfernt – eine Nähe, die den Betrachter unwillkürlich ins Bild mit einbezieht, ihn zum Protagonisten macht. In dieser Nähe entsteht keine reine Information mehr über das Objekt, sondern Gefühl. Gefühl zu ihm.
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Alles lädt ein, das Licht, das Meer, der sommerluftige Küstenstrich – sogar die leichte Furcht, die diese uralte Ruine an der südirischen Küste bereiten kann, wenn sie uns zu den Löchern in ihren Mauern locken will. Das Alter hat ihr mehr freie Formen verliehen, als hier im Bild noch sichtbar sind. Um das Foto kompositorisch zu beruhigen, haben wir eine leicht erhöhte Perspektive mit waagerechtem Blick gewählt. Die senkrechten Mauerlinien bleiben dadurch auch im Bild vertikal. In horizontaler Richtung ist das Bild leicht entzerrt, damit die untere Linie waagerecht verläuft und das Arrangement in sich stabiler wirkt.
Die Architektur und das Alter Ruinen erwecken in mir erhabene Ideen. Alles wird zunichte, alles verfällt, alles vergeht. Nur die Welt bleibt bestehen. Nur die Zeit dauert fort. Wie alt ist doch unsere Welt! Ich wandle zwischen zwei Ewigkeiten. Wohin ich auch blicke, überall weisen mich die Gegenstände, die mich umgeben, auf das Ende aller Dinge hin, und so finde ich mich mit dem Ende ab, das mich erwartet. (Diderot) Häuser dürfen alt sein, nur Menschen nicht. Werden möchten sie es schon, aber es dann auch sein, das ist offenbar jenseits aller romantisierbaren Ideale. Und fotografieren dürfen wir es nur, wenn diese Ideale sich wandeln – was sie tun werden, angesichts der gerade entstehenden Alterspyramide. Weil Häuser wie Menschen jedoch viel länger alt sind als jung, ist diese Haltung ziemlich unvernünftig; aber sie gestaltet Bilder. Es gibt nämlich so etwas wie ein romantisches Oma-und-Opa-Image – motivisch, stilistisch und fototechnisch, illustrerweise kennen wir das auch in der Architektur. Hach, wie schön war das doch damals. Sagen wir: als es noch keine Fertighäuser und Betonburgen gab.
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Alte Häuser sind dagegen offensichtlich etwas Wunderbares. Sie stehen unter Denkmalschutz, man lässt sie kulturelles Gemeingut werden, pflegt sie unter der behördlichen Maßgabe, jegliche Ursubstanz zu erhalten, und am Wochenende reisen wir an, um sie zu besichtigen. Selbst der ganz profane Altbau ist für viele von uns ein klares Gernewohnkriterium. Oder wir beziehen sie inmitten eines romantisch verwilderten Gartens, möglichst naturbelassen – selbst wenn sie vor dem Einzug ein wenig restauriert werden sollten. Modern natürlich. Die Widersprüchlichkeit im Umgang mit Altem und dem Altern wird also auch in der Idealisierung gewachsener Architektur offenbar. Sie ist so anmutig wie die alten Geschichten, die sich über sie erzählen lassen. Aber warum das Alte, was ist das Schöne an ihm? Am Alten, das wir als Phänomen aus der Distanz zwar irgendwie liebgewonnen haben, dem wir aber, wenn es sich uns persönlich öffnen will, selbst kaum wirklich gegenübertreten mögen?
Das Alte und die Dämmerung. Bei historischen Gebäuden geben sich Gemeinden meistens Mühe mit der Abendbeleuchtung – wie bei dieser frühromanischen Burgruine namens ‚Gleichen‘ im Vorland des Thüringer Waldes. Wer keine Angst vor Kitsch hat, betont dieses Licht gerne und wartet dafür auf die Dämmerung. Diese haben wir hier schon sehr weit fortschreiten lassen, um das Bild nicht einfach nur hübsch zu machen, sondern in eine leicht mystische Aura zu tauchen. Mit dieser Bildidee im Hinterkopf dürfen auch die Schatten zulaufen und die Lichter leicht überstrahlen, das tut dem Ganzen keinen Abbruch. Messen kann man die Belichtung hier übrigens nicht, auch per Spot ist das kaum möglich – zu klein und schwierig lokalisierbar sind die Areale, die mittelhell (entsprechend dem genormten Mittelgrau der Kodak-Graukarte mit 18 % Standardreflexion) kommen dürfen. Versuch und Irrtum über eine Belichtungsreihe ist hier das Mittel der Wahl.
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Alte Bauten zeigen Wechselwirkungen zwischen Mensch und Epoche: Architektur spricht aus, wie man einmal gedacht hat – Fotografie des Alten zeigt, wie wir heute mit dem einst Gedachten umgehen. Wohl nicht ohne Aussage über uns selbst fotografieren viele von uns im Urlaub so gern alte Gemäuer: Kirchen, Schlösser, Burgen, Herrenhäuser und verfallene Ruinen, die Geschichten erzählen und Geschichte zeigen – das sind beliebte Motive. Viel mehr haben sie erlebt als wir; sie erinnern an Zeiten, in denen alles irgendwie schöner war. Auch wenn sie sicher Übles durchgemacht haben – Kriege und Seuchen, Intrigen, Meuchelmorde und Räubereien – wir romantisieren sie gern und freuen uns, wenn kurz vor der Aufnahme durch das flirrende lichtgrüne Laub des umgebenden Birkenhains noch ein warmer Strahl der untergehenden Sonne seitlich über die Efeu behangene Bruchsteinfassade streift. Sie machen uns in unserer bürgerlich abgesicherten Laune Lust darauf, den belastenden Diesseitigkeiten des modernen Alltags zu entfliehen. Sie lassen uns einfach, licht und leicht etwas Traumhaftes assoziieren und vermitteln uns darin etwas scheinbar Ewiggültiges. Wie schön, wenn wir in der windgeschützten Ecke eines solchen Gemäuers ein kaum erkennbares, verwittertes eingeritztes Herz finden, in dem zwei große Lettern mit einem Plus dazwischen gekratzt zu sein scheinen. Und darunter vielleicht noch eine Jahreszahl, die Jahrzehnte her ist. Wahrscheinlich haben diese Gemäuer ja nur deshalb so alt werden können, weil sie aller Unbill weitgehend getrotzt haben und uns darin Vorbild sein könnten. Und doch thematisieren sie auch das Gegenteil davon – sie spiegeln uns, setzen uns in Beziehung zu sich, kitzeln an unserer Sehnsucht, und wir beginnen zu vergleichen. Das macht melancholisch: Was der französische Dichter Diderot mit den obigen Worten im Jahr 1767 über eine Ausstellung von Ruinengemälden im Pariser Louvre schreibt, ist nämlich ein klassisches ‚Memento mori‘-Motiv (lat. f.: ‚Bedenke, dass du sterblich bist’). Und damit drückt er genau das aus, worum es sich dreht: Ruinen sind weit mehr als romantische Gemäuer, an denen milde Gewächse emporranken, die manchmal das untergehende Sonnenlicht streift – sie sind gedankliche Brücken, gefühlige Herausforderungen, archaische Symbole, und als solche wirken sie unwillkürlich. Kaum einer kann sich dem entziehen, nicht mit seinen Assoziationen, auch nicht emotional. Sie bieten sich an für romantischen Kitsch, und wir genießen sie, können aber nicht recht sagen, warum. Denn bautechnisch sind sie überholt, sind fragil, und dass früher nicht alles besser war, wissen wir genau. Die Geschichtsbücher sind so voll von schweren Zeiten, wie die Mauern dieser Ruinen es von Blessuren sind. Das mit der Kamera zu zeigen, heißt, mit ihr zu einer Tageszeit, einer Witterung und aus einem Blickwinkel zu fotografieren, der genau das bestätigt. Bilder von Ruinen gibt es etwa seit dem 17. Jahrhundert. Als zentrales Motiv dieses Sujets können sie eine Landschaft in die Würde einer vielleicht prachtvollen gesellschaftlichen Vergangenheit tauchen. Alte Bauten und Ruinen sind aber meist keine echten Architekturmotive, sondern verweisen eher auf ein verwandtes Ideal: das Ideal arkadischer Landschaften. Diese sind meist drum herum zu finden.
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Auch in den Ruinen, wo die Welt noch in Ordnung ist, die Löwen neben den Lämmern weiden und alle Menschen glücklich und ungestört in Eintracht mit der umgebenden Natur leben, schwingt in der nostalgischen Ästhetik des Verfallenen immer auch ein Quantum dieser ‚Memento mori‘-Motivik mit: Es rückt das Bildgeschehen zurück, weit zurück, vielleicht in die zeitliche Nähe einer herbeifantasierten Unschuld vor dem Sündenfall, erinnert damit zumindest an ein idealisierbares Früher in der Natur, die seinerzeit noch viel unschuldiger als heute gewesen sein muss. Aber es erinnert eben auch an die eigene Vergänglichkeit, die zeitlichen Grenzen, die einem Jeden gesetzt sind. Damit reiht sich zumindest die gemalte Ruine in eine Gruppe von Motiven ein, in der Symbole wie Totenschädel und ablaufende Sanduhren ihren Platz haben. Nicht selten verleiht ihnen das ein melancholisches bis bedrohliches Fluidum.
Wechselwirkungen zwischen Mensch und Epoche, manchmal schon sichtbar an nur einem unscheinbaren Detail wie hier im verfallenen Innenraum einer alten provenzalischen Kapelle. Die Epoche längst vergangen, Stab und Stein so vorgefunden und nicht angerührt. Hier ist nichts arrangiert, die Ästhetik liegt allein in der Aura des Entdeckten. Was bietet sich da mehr, als einfach nur ein Dokument zu versuchen. Kamera hinhalten, zielen, ohne architekturfotografisch üblichen Schnickschnack abdrücken und das Bild so lassen, wie es ist.
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Es ist nicht möglich, Hektik, Lautes oder Buntes in eine Ruine zu tragen. Auch einen alten Menschen würde man dem nicht aussetzen. Eine Ruine zu betreten, verschafft einem empfindsamen Gemüt Respekt vor ihr – vielleicht eine ähnliche Achtung wie die vor dem stereotypen Ideal eines in Würde gealterten Menschen: vor seiner gelassenen Güte, emotionalen Wärme, seiner spielerischen Weisheit, dem Schmerz, der ihn so zart und stark zugleich gezeichnet hat oder einfach seiner Lebensleistung. Die Begegnung mit dem alten Gemäuer lässt innehalten, und unwillkürlich verfällt man in eine Art Versunkenheit, Bedachtsamkeit, vielleicht Andacht. Seine Stille wirft uns auf uns selbst zurück. Wer sich öffnen mag, fragt sich vielleicht nach einer Zeit: Was hier wohl alles mal war, wo ich grad‘ steh … All das wirkt meditativ oder aber bedrohlich, und wer weiß schon, wer oder was heute in den Ruinen wohnt – wer kann schon sicher sagen, ob nicht oben etwas herausbröckeln und uns treffen oder unten der Boden einbrechen kann? Beinah archetypisch fegt ein strenger Wind um sie – oder im Film schüttet sich über ihnen ein Gewitter aus. Grusel-, Horror- und Mystery-Filme spielen seit je mit dem Bild der verwunschenen Burg, in der sich offenbar Unglaubliches abspielt, es vielleicht sogar spukt. An einer Ruine macht kein Pilger lange Pause. Im modernen Zuhause von heute ist es irgendwie doch sicherer – zumindest sicherer, als es seinerzeit gewesen sein muss. Aber fotografieren möchten wir sie doch, mit welcher Ambition auch immer – das Bauwerk ist ja schön, es erzählt ja, und wir wollen doch nur ein Bild. Ist dessen Schönheit real? Wer gern Ruinen fotografiert, kann diese Reflexionen als Inspiration für eine Entscheidung nehmen: Will ich dieses Genre fotografisch nachvollziehen oder mich davon abgrenzen? Muss ich mit der Kamera aufgeklärt und reflektiert sein, gestatte ich mir nur das Schräge, habe ich Angst vor der Grenze zum Kitsch oder traue ich mich, Liebliches zu überzuckern? Traue ich mir ein simples Ja zu? Beides ist ausgesprochen reizvoll. ***
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Häuser im Bild
Blick aus einem Hinterhof-Fenster im Kölner Norden. Wirklich kein besonders fotogenes Motiv, aber ein exakter, besonders strenger, in sich geschlossener Bildaufbau. Alle motivischen Vertikalen und Horizontalen liegen exakt parallel zum Bildrand. Die Komposition bekommt dadurch Stabilität und Geschlossenheit. Außerdem sind diese Randparallelen jeweils im kurzen Teilstück des Goldenen Schnitts positioniert, um dem Arrangement mehr Spannung zu verleihen. (Näheres zum Thema Goldener Schnitt in Kapitel ‚Atmosphärische Gestaltungselemente‘.)
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Schöne Häuser – schöne Fotos? Häuser warten. Sie sind immobil, laufen nicht weg. Nie muss man ihnen sagen, wann sie zu lächeln haben, sie arbeiten ohne Murren so lange mit, wie Fotograf, Licht und Witterung es mögen. Gutmütig lassen sie sich betrachten, oft von mehreren Seiten, und eben – fotografieren. Sie scheuen sich nicht, fürs Ablichten scheinen sie sich geradezu anzubieten. Das wissen besonders Architekten zu schätzen, denn neben dem gebauten Modell, der Grundrissund der Aufriss-Zeichnung ist das Foto eine wichtige Möglichkeit für sie, ihre fertigen Schöpfungen andernorts zu präsentieren – Häuser selbst sind nun mal immobil. Aber: schöne Bauten und schöne Bilder davon – ist das wirklich ein kausaler Zusammenhang, auf den sich ein Fotografierender verlassen kann? Sicher nicht. Auch aus launigen Melodien und sanften Rhythmen werden nicht zwangsläufig beschauliche Lieder. Auch nicht unbedingt, wenn man sie beim Tanz auf Dächern pfeift. Fotografieren funktioniert nach Maximen, die nur ihr zu eigen sind und die man im Griff haben kann oder auch nicht. Das hat es mit der Architektur gemein – mit dem Liedermachen übrigens auch. Immer wieder trifft man Fotografen, die den verpatzten Fotos anderer dankbar sind – einfach dafür, dass es sie gibt, weil sie nämlich die eigenen guten besser machen. Indem sie, die misslungenen, gerade das zeigen, was schief laufen kann, weisen sie auf das, wovon es sich abzugrenzen, vielleicht abzustoßen lohnt. Eben dadurch inspirieren sie. Im Übrigen gilt: Was genau an Bautenbildern gut und was böse (also nicht gut) ist, können die meisten von uns viel einfacher beantworten, als sie glauben. Denn: Totaler Laie in Sachen Architektur sind wir alle ebenso wenig wie im Betrachten und Bewerten von Bildern. Kein Mensch kann sagen, dass ihm auch nur eines dieser beiden Themen völlig fremd wäre; jeder von uns hat jahrzehntelange Erfahrung im Umgang mit Häusern – und auch mit Bildern. Und mit Liedern, nicht zu vergessen, Architektur rührt ja ans Musikalische. Dass uns die großen Kriterien oftmals nicht so bewusst sind, dass sie in sprachliche Vergessenheit gerieten, heißt nicht, dass es sie nicht gäbe. Wir tragen sie in uns und arbeiten längst mit ihnen. Jeder weiß: Ein Haus ist fast immer öffentlich. Zumindest seine Außenhaut ist Element des gesamten gesellschaftlichen Virulens‘, in dem es steht. Man findet ein Haus meist im Kontext einer Umgebung – möglicherweise einer, die seinem Charakter entspricht, ihn auf erzählerische Weise vielleicht sogar weiterführt oder zu ihm kontrastiert. Schöne Hauser zu finden geht leicht; schöne Häuser wirklich schön zu finden, auch das ist nicht schwer. Vor schönen Häusern auf einen Apparateknopf zu drücken, ist ebenfalls kein Problem. Allein dafür braucht noch niemand eine besondere Ausbildung, und Bücher wie dieses hier erst recht nicht.
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Häuser im Bild
Aber schöne Bauten auf Bildern auch wirklich gut aussehen zu lassen, ihre besonderen Eigenheiten herauszukitzeln, diese fotografisch zu deuten und zu bewerten, das stellt ganz eigene Anforderungen. Da ist es fast schon einfacher, hässliche Gebäude schöner aussehen zu lassen. Technische Hürden und ästhetische Konnotationen bedingen einander oft, teilweise sogar sich gegenseitig, dann gehen sie ineinander über oder durchdringen sich. Gar nicht mal nur, weil man aus manch praktischer Not vor Ort eine gestalterische Tugend fürs Bild machen kann.
Eine Hütte auf einem Zechengelände im Ruhrgebiet – auch dies kein aufregendes Motiv. Wenn es das dennoch sein soll, muss man sich einlassen, Zeit nehmen und ein wenig tüfteln. Aufbau: klassisch mit exakten Senkrechten und Waagerechten. Das Mauerloch befindet sich ebenso wie die ‚10‘ leicht versetzt im Goldenen Schnitt – eine dankbare Entdeckung, die sich mit der Kamera umsetzen lässt. Aber das wars auch schon. Wenn nichts anderes weiterhilft, ist manchmal nur noch das Licht das einzig mögliche Ästhetikum. Nicht selten heißt es dann: warten und den richtigen Sonnenstand erwischen. Dieser bringt hier noch eine zusätzliche Schräglinie ins Spiel; zusammen mit dem KranDetail im Hintergrund lockert sie das Ganze etwas auf – und gibt auch diesem unscheinbaren Etwas hier doch noch seine Berechtigung, fotografiert zu werden.
Schöner geht immer, sagen manche. Mit einer voll bildzentrierten Komposition lässt sich manch mürbes Gemäuer oder Gebälk seiner trüben Aura entledigen und zum geheimniserfüllten Inspirationspunkt stilisieren. An dem kann man sich dann gestalterisch austoben. Und wenn alles nichts hilft: Zur Not gibt es immer noch die ,blaue Stunde‘ – die rettet, dann macht man es eben nach dem Abendbrot. Im Abendrot. Schöne Gebäude allein machen auch handwerklich perfekte Fotos nämlich noch
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längst nicht schön, in dieser Hinsicht sind selbst die höchstgelobten Kameraautomatiken bislang nicht verlässlich genug.
Üben sich tagsüber Licht und Umgebung in Bescheidenheit, bietet sich fast immer noch ein Schuss im Dunkeln. Gut, wenn man dann dafür sorgt, dass möglichst in allen Fenstern Licht brennt. Bei dieser Aufnahme eines westfälischen Industriegebäudes war das mit einem gewissen Aufwand verbunden. Nicht für jeden der vielen Räume war gleich ein Schlüssel zu organisieren, zu dieser Stunde hatten die meisten Mitarbeiter natürlich Feierabend. Und die Dämmerung schritt fort, drohte dunkler zu werden als das Kunstlicht. Regel Nummer eins: Hausmeister sind wichtiger als Direktoren. Die haben Leitern, wissen, wo die Schlüssel sind und durch welche Luke man aufs Dach oder auf einen Podest kommt. Wenn man wie hier analog, also ohne HDR, fotografiert, ist der richtige Zeitraum fürs Auslösen nur wenige Minuten kurz. Er liegt um die Zeit, in der Tageslicht und Kunstlicht etwa gleich hell sind. Die Dramaturgie dabei: Man wartet und wartet und wartet – und plötzlich muss alles ganz schnell gehen. Und schwupps ist es fertig.
Es funktioniert einfach nicht automatisch, mit Architekturfotos auf Anhieb wirklich etwas Individuelles auszusagen. Die Bautenbilder der Welt spiegeln eine Bandbreite wieder, die sich immerhin von dokumentarischen Ambitionen über romantische Ästhetisierung und das architekturbildnerische Experiment bis hin zur architektonischen Abstraktion erstreckt. Im letztgenannten Fall wird aus dem fotografierten Objekt ein völlig autonomes, rein künstlerisch ambitioniertes Bild – eines, welches allein und völlig souverän für sich selbst steht und das Objekt nur braucht, um vor, an oder mit ihm zu entstehen – für nichts mehr. Sehr leicht wandelt sich das Haus dabei vom großen Protagonisten zum kleinen Statisten, zum unscheinbaren Steigbügelhalter für Höheres oder schlicht nur zur Inspirationsquelle – es ist nicht mehr zentral wirksame Figur im Bildgeschehen. Irgendwo in diesem schwebenden Schattenreich sucht der häuserfotografierende Künstler dann das, was er als die Grenzen der Architekturfotografie empfindet. Von hier aus lockert er Zäune, weitet sie aus und definiert sie neu. Aus einer Sicht, die er sich selbst erarbeitet hat, und die so vielleicht zu seinem Stil werden kann. Dazu mehr im Kapitel über experimentelle Architekturfotografie. ***
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Häuser im Bild
Müssen Häuser sauber sein? Fürs brave Foto fast immer. Und doch nicht unbedingt. Das Unaufgeräumte, Nichtgesäuberte verleiht dem Ambiente zusammen mit dem Schrägblick etwas Zufälliges, irgendwie Authentisches. Auch die leichte Unschärfe im Hintergrund betont das und ist doch untypisch für Architekturfotografie. Das Authentische, fast ‚Casual-Mäßige‘ dieser Freihand-Aufnahme berührt bewusst die Grenze zum Reportage-Genre. In diesem Sinne haben wir hier nur mäßig abgeblendet und ohne Stativ fotografiert.
Das Freie in mir Zahllose Möglichkeiten an einem Bau – aber woran erkenne ich, ob Häuserfotos schön oder sogar gut sind? Was kann ich zeigen, was sollte ich besser für mich behalten – vielleicht heimlich als persönliche Etappe zum Besseren verwerten? Von welcher bildnerischen Stufe genau sollte ich mich abgrenzen? Natürlich klingt diese Frage einfacher als ihre Antwort. Gut wenn ich erstmal möglichst genau weiß, was ich tu – besser: was ich tun will – beim Fotografieren eines bestimmten Hauses. Gut wenn mir dafür zunächst eine Art philosophische Basis bewusst ist – eine, die das am Motiv Erlebte und das fotografische Bild davon trennt – und zugleich zu verbinden sucht: Häuser sind hart. Wer schon mal ein Haus berührt hat, weiß das. Elastisch? Kein bisschen, sie fühlen sich spröde an und können zerbrechen, zerbröseln oder zerbröckeln. Manche knacken sogar, ohne
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dass man sieht warum – das Material ‚arbeitet‘, heißt es dann. Auch riechen kann dieses Material – und würde sich einer zu züngeln trauen, sicher könnte man auch etwas schmecken. Und immer, aber auch immer steht ein Haus im Wetter. Jedes. Auch dadurch riecht es, ist regnerisch nass, sonnig warm oder frostig kalt, staubt, dünstet frische Farbe aus oder das Fluidum der Insassen. Und vielleicht müffelt es sogar irgendwo an einer feuchten Wand oder aus einem staubigen Kellerloch. Selbst das umgebende ‚Nicht-Haus‘, also die ganze lokale Nachbarschaft, lässt Häuser auf diese oder jene Weise wirken, verleiht ihnen eine Ausstrahlung von Dissonanz oder Eingepasstsein, sie kann laut sein oder leise – will meinen: Wir nehmen Gebäude ganzheitlich wahr, ihr Charakter ergibt sich aus der Rezeption aller Sinne, unserer kollektiven Vorstellungen und unserer ganz persönlichen Bewertungen. All das kann zu unterschiedlichen Zeiten verschieden ausfallen. Die Kamera selbst vermag nur zu schauen – sie reduziert das Erleben aufs Visuelle. Fotografie überträgt die Ganzheitlichkeit von Sinneseindrücken in einen einzigen sensorischen Sinn, macht sie bloß ansehbar. Und damit ist ihre Leistung nicht erschöpft, auch das macht sie noch nicht einmal ohne weitere Reduktion. Denn: Kein Bild stellt ein räumliches Motiv von allen Seiten zugleich dar, kein Foto zeigt ein Haus (buchstäblich) in jeder ‚Hinsicht‘ und unter all den Aspekten, aus denen es sich zusammensetzt. Im wörtlichen Sinn kann man sagen: Fotografie zeigt nur einen ‚Gesichtspunkt‘, die Sicht von dem Punkt / der Stelle, wo ich mein Gesicht habe, mehr nicht. Für alle flächigen Darstellungsformen wie Zeichnung und Stich, Malerei und Fotografie ist die Wandlung der räumlichen Wirklichkeit in eine zweidimensionale Fläche eine nachhaltige Transformation. Sie bedeutet Verlust, aber auch Gewinn: Zeichner und Fotografen opfern eine Raumdimension, gewinnen aber die Möglichkeit zu abstrahieren. Das heißt, sie können die Plastizität des Raumes selbst deuten, bewusst dosieren und mit eigenen Mitteln nach ganz persönlichem Dafürhalten darstellen. Diese Erkenntnis ist für das Fotografieren, insbesondere von Häusern, ausschlaggebend. Die Freiheit, mithilfe dieser Transformation das Haus zu interpretieren, ist Crux und Chance zugleich, denn diese Chance ist auch Pflicht – und umgekehrt. Denn wir können das einzelne Bild nur mit einer Sichtweise fertigen: aus einer Perspektive, mit einem Bildwinkel und einer Blickrichtung. Das Haus besteht aber aus unzähligen Angeboten dafür. Das wirft uns zurück aufs Subjekt, also auf uns selbst. Wir können – und müssen zugleich – entscheiden, auf welche Art wir es sehen wollen oder sollen – etwa bei Auftragsarbeiten. Wie die Zeichnung kann sich also auch die Fotografie als eigenständiges Medium kaum enthalten, subjektiv zu sein und sich immer wieder selbst zu thematisieren. Stets vermengt sich ihr atmosphärischer Ausdruck mit dem des architektonischen Werks. Weil unterschiedliche Fotografen unterschiedliche Sichtweisen und Ambitionen haben, kommt dabei jedes Mal etwas Neues heraus, das zeigt die Stilgeschichte.
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Ideal ist es sicher, wenn die im Vorfeld gewünschte Bildaussage das Foto gestalterisch bestimmt. Dies getreu dem alten toskanischen Sprichwort aus der Renaissance – jener Zeit, in der die Maler sich selbst entdeckten, dem Jahrhunderte alten Image des malenden Handwerkers den Rücken kehrten und erstmals ihre eigenen Namen unter ihre Bilder schrieben: Ogni pittore dipinge sé – ‚Jeder Maler malt sich selbst.’
Fotografie ist Raum in der Fläche. Hier mal umgekehrt: die Fläche im Raum – am Beispiel zweier verträumter Graffitis in einer verlassenen Kapelle im tiefen Südosten Frankreichs. Links ist der Bezug zum Raum noch da, rechts scheint er auf den ersten Blick fast vollends verschwunden. Erst bei genauerem Hinsehen wird offenbar, dass sich die Zeichnung auf einer Wand befindet. Nur ganz wenige Architekturaufnahmen lassen sich mit offener Blende machen, diese hier gehören dazu.
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Der Gedanke dahinter: Sei es ein Stilllife, eine Landschaft, ein Porträt oder eine Architektur – völlig unabhängig vom Motiv kann letztlich jedes Bild nie etwas anderes als immer nur ein Porträt unserer selbst sein. Diese Erkenntnis erhöht die eigene Toleranz gegenüber scheinbaren ‚Nicht-Motiven‘, also dem, was wir motivisch unwichtig bis absurd finden. Sie birgt auch das Versprechen einer immensen persönlichen Ausdrucksfreiheit in sich: zum einen in Bezug auf den fotografischen Stil, den man für sich selbst entwickeln kann, also den Umgang mit der fotografischen Technik und den besonderen gestalterischen Möglichkeiten; zum anderen aufgrund der Tatsache, dass ich mir mein Motiv, seine Umgebung, Licht- und Wetterumstände so frei aussuchen kann, dass sich auch daraus eine eigene Note und ein individueller Stil entwickeln lässt. Schon Tageszeit, Jahreszeit und Witterung mit ihren eigenen Lichtstimmungen, Farben, Kontrasten, Schattenwürfen und Reflexionen prägen die Erscheinung des fotografierten Gebäudes im Bild. Als Teilgebiet der ‚Draußenfotografie’ (neudeutsch: ‚Outdoor-Fotografie‘) berührt sie damit zumindest die Grenzen der Landschaftsfotografie. Auch mit anderen Genres gibt es Überlappungen, etwa der Sachaufnahme, dem Stilllife oder dem Porträt. Und auf den Zweck kommt es an: Zunächst sind da ganz einfach Lust und Laune zu nennen. Das Private steht im Vordergrund, die Erinnerung an eine romantische Burg aus dem Urlaub oder der Wunsch, Kaufinteressenten für das eigene Haus zu finden. Der berufliche oder gar gewerbliche Hintergrund folgt auf dem Fuße, hier sollen die kreativen Leistungen des Architekten, die Ideen des Bauherrn, die technische Umsetzung durch ein Bauunternehmen oder aber Hotels, Restaurants und Mietobjekte möglichst vorteilhaft dokumentiert werden. Architektonische Sachverständige, Gutachter und Archive benötigen keine geschönten, sondern eher nüchterne Sachaufnahmen. Ein weiterer Bereich sind freie Kunst und Design – oft ist die Architektur selbst hier weniger wichtig als das gestalterische Flair der Präsentation – etwa in einem Lifestyle-Magazin. Extreme Aufwärts- oder Schrägperspektiven, gewagte Ausschnitte, Fassadenreflexe, Wasserspiegelungen, Abstraktionen und andere experimentelle Vorgehensweisen sind hier angebracht. ***
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Eine klassisch motiv-synchrone Komposition: hochformatiges Motiv im ebenso hochformatigen Bild. Überhaupt liegt die Betonung hier auf allem, was nach oben strebt: das Bauwerk, seine inhaltliche Bedeutung, die Pappeln drum herum – und daher auch das Foto. Ein schlankes Hochformat ist das Muss, wenn man eine solche motivische Aura betonen möchte. Um den Betrachter deutlich ins Bildgeschehen einzubeziehen, haben wir dieses Bild aus der Nähe aufgenommen, Abstand nur etwa 30 Meter. Daher musste das extreme Weitwinkel sehr stark aufwärts geshiftet werden, um die vertikalen Gebäudelinien randparallel zu halten.
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Haus, Bild und ich – ein Trialog Warum gerade Architekturfotografie: Architektur macht Fotografie gradlinig. Sie schafft ein Geländer, an dem sich das Auge entlang hangeln kann. Das befruchtet alle anderen Arten der Fotografie. Nicht weil dort jetzt auch alles mit geraden Linien ausgestattet werden müsste – nein, sondern weil man nun weiß, worauf man immer Bezug nehmen kann, ob man es nun einsetzt oder nicht. Gerade Linien sind eine visuelle Heimat, ein Heimatbezug fürs Auge. Deshalb sind unsere Bilder, Fenster und Kühlschränke viereckig. Deshalb finden wir uns auf dem Land nur zurecht, wenn wir gerade Linien darüber legen. Das Haus ist also eine Chance, ein didaktisches Angebot an die allgemeine Fotografie: Viele architekturspezifische Aspekte lassen sich auf andere fotografische Genres übertragen. Da die Motive (durch ihre geraden Linien) oftmals einfach und klar in der Formgebung sind, eignet sich Architekturfotografie so sehr dafür, eine persönliche Bildsprache zu entwickeln: Was Gebäude zuallererst bieten, sind geometrische Linien und Figuren – aufgrund ihrer vorwiegend geraden Objektkanten, rechten Winkel und geglättet angelegten Details. An ihnen kann man lernen, im fotopapiernen Viereck aufzuräumen – und zwar dadurch, dass man eine Ordnung entwickelt, die man in eine stringente Bildsprache umsetzt. An Häusern fällt das manchen Fotografen leichter als an freien Formen. Im Vergleich zu frei geformten Elementen, wie sie meist etwa in der Natur oder einem porträtierten Gesicht auftreten, sind geometrische Formen, insbesondere Urformen wie Kreis, Quadrat und Dreieck, einfach und schnell erkennbar. In einer Komposition lassen sie sich daher gut für gestalterische Strategien einsetzen, mit denen der Blick des Betrachters gefangen und innerhalb des Bildes geführt werden könnte. Eine klar konturierte Linienführung ist dabei das A und O. Sie muss einfach und plausibel sein. Wenn wir uns dieses Gebäude ansehen und uns fragen, was es über den Architekten aussagt, der es gebaut, und den Bauherrn, der es in Auftrag gegeben hat, kommen wir zu einem eindeutigen Ergebnis: Der eine wie der andere muss ein Liebhaber klarer Linien sein ... (Christan Morgenstern) Diese Worte Christian Morgensterns lassen durchblicken, worum es geht: Architekturfotografie befruchtet und inspiriert durch die Gradlinigkeit, die sie sprichwörtlich bietet. An Häusern kann man exemplarisch lernen, Bilder, insbesondere Fotos, zu gestalten. Deshalb gehört Architekturfotografie untrennbar zur Ausbildung von Fotografen. Aber was unterscheidet nun eine schöne Architektur von einem schönen Foto davon? Das wichtigste Argument für eine gute Gestaltung liefert wieder der Architekt Le Corbusier: Raum und Licht und Ordnung. Das sind Dinge, die der Mensch genauso braucht wie Brot oder einen Platz zum Schlafen. (Le Corbusier)
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Interessant ist nämlich: Wünsche, die das betrachtende Auge an ein Foto hat, erinnern immer an ganz einfache Wünsche, die man gemeinhin an das Leben hat. Sinnliche Erbauung, geistige Inspiration, belebte Neugier auf das Noch-Nicht-Erfahrene und einen angenehm dosierten Wechsel von spürbarer Harmonie und Spannung, Statik, Ruhe und sanftem Schwung, könnte man noch hinzufügen. Überraschend, wie sehr sich das Fotografische auf das Menschliche übertragen lässt. Ganz normal menschlich scheinen die Kategorien im Widerspiel zwischen Kamera und Motiv.
Herz und Sonne am rechten Fleck: Manche ‚Liebhaber klarer Linien‘ müssen einfach nur warten. Oder Herz und Augen öffnen. Oft ist nämlich die Sonne schon am rechten Fleck – und wirft Schrägen so wie diese hier ins Bild. Selbst dieses oder jenes eher triste Motiv kann durch ein expressives Detail an Würze gewinnen. Schön, wenn dabei eine kraftvolle Schräge oder Biegung in einen Dialog zu den randparallelen Geraden tritt.
Über die Fotografie von Architektur tritt das Haus in einen Dialog mit dem Bild von sich. Wirklich anspruchsvolle Bautenfotografie verbindet zwar diese zwei voneinander völlig verschiedenen Welten miteinander. Sie schlägt eine Brücke zwischen der Architekten- und der Fotografensicht, beschränkt sich darin aber nie auf ein rein motivzentriertes Dokument, sondern ist vielfach bildzentriert. Sie will mehr als nur ein Spiegel des Schönen sein, sie will ein gutes Bild sein, wie auch immer das Haus aussieht. Das Eine beeinflusst zwar das Andere, wirkliche Entsprechung kann es aber nie geben, stets ist das Bild eine Schöpfung aus dem Zusammenspiel mindestens zweier Welten.
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Euer Haus ist euer größerer Körper. Es wächst in der Sonne und schläft in der Stille der Nacht; und es ist nicht ohne Träume. Träumt euer Haus etwa nicht, und verlässt es nicht träumend die Stadt für Hain und Hügel? (Khalil Gibran) Fotografie findet also eine eigene bildnerische Aussage, die von der des Architekten sogar abweichen kann. In diesem Zitat von Khalil Gibran geht sie ins Träumerische, Märchenhafte oder sogar Romantische – auch das ist fotografierbar. Im Einzelfall müsste man entscheiden, wie weit die Deutung gehen darf, ab wann sie Dichtung wird – bildnerisch. Ein schönes Haus blendet vielleicht den Häusergucker, aber eben nicht zwingend auch den Bildergucker. Gerade in der arrivierten Architekturfotografie gilt daher genau das, was die Norddeutschen so gern sagen: ‚Ein guter Fotograf macht auch aus Schiete Schokolade.‘ (Der Leser möge uns den volkstümlichen Ausdruck nachsehen.) Und mit einem künstlerischen Anspruch kann er das nur, weil er sich selbst einbringt – seine Sichtweise, seinen Beitrag zum Dialog mit diesem Dialog. Er wird dritter Teil, dritter Protagonist, und das Ganze wandelt sich zum bildnerischen Trialog, einem Austausch zu dritt. Und dies auch und selbst wenn es einfach der eigene häusliche Ort ist, den man – vielleicht zur Erinnerung – mal eben schnell mit der Kamera festhält. Wie mag es Nièpce gegangen sein … Apropos Nièpce: Fotografie und Architektur sind einander so nah wie Mutter und Kind, denn die Architektur ist das Erstgeborene von Mutter Fotografie. Das allererste Foto der Welt war – ganz recht, ein Architekturfoto. Im Jahr 1826 fotografiert der Lithograf Joseph Nicéphore Nièpce aus einem Arbeitsfenster heraus seinen privaten Innenhof im französischen Ort Le Gras. Mit zwei umgebenden Gebäudeflanken. Und mit einer Belichtungszeit von: satten acht Stunden, also einem Drittel Tag! Dieses Foto ist persönlich, und es hat zudem etwas, was es heute so gut wie nicht mehr gibt. Das Harry Ransom Research Center der Universität Austin, Texas, stellte uns freundlicherweise eine Reproduktion der asphaltbeschichteten Originalplatte zur Verfügung. Das Bild selbst ist auf der verkratzen, stark ausgeblichenen Platte kaum noch erkennbar, nur unter schrägem Lichteinfall sind noch Konturen des gehärteten Asphalts auszumachen. Um dennoch den Charme des wandernden Sonnenlichts auf dieser ‚Heliogravure‘ zu verdeutlichen, haben wir die Kopie vorsichtig mit Photoshop optimiert.
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Authentischer ging dieses Bild nicht, zumindest nicht damals: Das erste Foto der Welt – eine stundenlange Momentaufnahme von Nicéphore Nièpce aus dem Jahr 1826. So lang kann schon mal ein Moment sein. Keine kompositorische Perle, aber echt und ehrlich. So sah es aus, wenn er sinnend nach draußen sah. Hier hat er gearbeitet, erforscht, erlitten und erfunden. Und vielleicht manches Mal einen Tee zwischendurch getrunken.
Nicht dass es besonders sinnenschmeichelnd oder gar eine gestalterische Wucht wäre – auch damals nicht, womit hätte man seinerzeit das einzige Foto der Welt auch vergleichen können? Aber die Lichtwirkung auf diesem fototechnischen Zeitdokument ist kaum wiederbringlich, da in diesen Stunden die Sonne so weit gewandert ist, dass Licht- und Schattenverteilung ins Irreale abzugleiten scheinen. Wie man sieht, sind Hof und Gebäude von zwei gegenüberliegenden Seiten sonnenbeschienen – ein Effekt, der damals nur durch geringe Materialempfindlichkeit (der heutige ISO-Index) und durch die kleine Öffnung seiner Lochkamera möglich, ja nötig war.
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Das Kleine exzentrisch platziert: Bei einer extrem dezentralen Komposition erwartet der Sehsinn den gestalterischen Angelpunkt an einer markanten Stelle im Bild. Deren Ort ist sehr wichtig, denn er wird unwillkürlich interpretiert. In Kulturkreisen wie dem unseren, in denen von links nach rechts und von oben nach unten gelesen wird, liegt er meist rechts unten – wenn das Motiv selbst keine andere Linienführung vorgibt. Der Weg des Betrachterblicks vom Einstieg links oben bis hin zu diesem markanten Punkt übernimmt die Rolle einer Art Anlaufschanze. Gewissermaßen beginnt öffnet sich hier ein Spannungsbogen in der bildnerischen Dramaturgie. Der markante Punkt selbst hält den wandernden Blick dann auf und bindet ihn an sich. Hier zu sehen am Beispiel der legendären ‚Boxfabrik‘ im Norden Münchens.
Der kompositorische Schlüssel Komposition ist etwas Vertracktes. Und was hat ein Begriff aus der Musik überhaupt in der Fotografie zu suchen? Das fand ich anfangs komisch und inspirierend zugleich. Also habe ich recherchiert und herausgefunden, dass Wassily Kandinsky vor rund hundert Jahren wohl der erste war, der musikalische Termini in die abstrakte Malerei übertrug. Auch die Begriffe Improvisation, Harmonie und Rhythmus. Kein Wunder, er war Synästhetiker, konnte Farben hören. Und er fand zudem, dass Gelb irgendwie eckig aussieht. Ein Sammelsurium von Sätzen, das ist Komposition – bei Musikern und Bildnern. Wie so viele habe auch ich sie früher gesammelt, aufgelistet wie eine Kochbuch-Kladde, und versucht, die eine Rezeptur hier, die andere dort einzusetzen. Aber recht schnell war zu bemerken, dass ich mich vom individuellen Motiv entferne, wenn ich mich zu sehr auf etwas verlasse, was allgemein gültig sein soll. Komposition ist nichts Dogmatisches, nichts Universelles, Komposition ist etwas Vertracktes. Auch im Gespräch zwischen zwei Menschen funktioniert das Universelle, die Attitüden des gepflegten Tischgesprächs, ja nur bis zu einem gewissen Grad. Es wird auf Dauer dem Gegenüber nicht gerecht. Und der Atmosphäre auch nicht. Nicht wenn man permanent im Geplauder verharrt. Und doch habe ich diese Sätze schon oft als Stütze empfunden. Die Idee einer gelungenen Konversation ist für mich ein Geländer, etwas zum Festhalten, ein Gerüst, auf dem sich etwas aufbauen lässt – Orientierung. Und zwar dann, wenn ich sie aus der inneren Distanz heraus betrachten, spielerisch würdigen, besinnlich bedenken und am rechten Punkt wieder verlassen kann. Dann nämlich kommt das Persönliche ins Spiel, Atmosphäre und diese eigene Sprache, zu der beide sich zusammentun …
Nicht nur die Umgebung, auch der Betrachter lässt sich mit ins Bild einbeziehen, etwa durch eine so genannte Rahmenkomposition. Die Nähe zu den Ästen und die kurze Brennweite sollen das Gefühl vermitteln, man habe den Turm des friesischen Jever-Brauhauses zufällig beim Spaziergang zwischen Bäumen entdeckt oder man beobachte ihn heimlich von dort. Die nur leicht stürzenden Linien nehmen der Gestaltung alle bildnerische Strenge und suggerieren stattdessen Echtheit. Der nahezu symmetrische Bildaufbau macht das Arrangement stabil, aber nicht statisch, denn der tief gelegte Rahmen würzt die Unbeweglichkeit mit einer leichten atmosphärischen Spannung.
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Der kompositorische Schlüssel
Suchen, Finden und Begegnen Nun die ersten Gedanken an die ferne Praxis, aber immer noch sinnierend – ohne Kamera: Ich will ein Haus fotografieren. Meine erste praktische Frage geht an mich selbst. Sie klingt fast zu einfach, um gestellt zu werden – und doch ist sie nicht ohne. Wohl ob ihrer Doppeldeutigkeit: Wie finde ich das Bauwerk? Dies im zweifachen Sinn: Wo ist es, und: Wie gefällt es mir? Mag ich es, ist es schön, atmosphärisch oder kulturell interessant, erinnert es mich an etwas, lädt es mich ein oder aus, regt es mich zum Betrachten oder zum Betreten an, zum Nachdenken, zum Assoziieren oder einfach nur zum Hin- oder ganz bewussten Weggucken? Muss ich vielleicht aus ‚Schiete‘ Schokolade machen? Ein Tipp: Erst einmal bewege ich mich zum Haus – apparativ zwar unbewaffnet, aber mit weit geöffneten Sinnen. Ich bewege mich in seiner Aura, um es herum, auf es zu, von ihm weg – irgendwann kommt Begegnung, ein Gegenüber, ein Du und öffnet mich für den einen Punkt, an dem es mich einlädt einzutauchen in ein magisches Feld. Und plötzlich betont die gerade gestellte Frage ihren zweiten Sinn: Nicht nur wo, sondern gerade auch wie finde ich das Bauwerk? Wie muss ich wirklich suchen? Ich stehe vor ihm, aber: Wie finde ich tatsächlich hin zu ihm, zu seiner atmosphärischen Essenz? Und wenn ich das gefunden habe: Q
Wünsche ich, dieses zu charakterisieren, also möglichst so zu zeigen, wie es ist?
Q
Oder will ich es lieber idealisieren, romantisieren, ästhetisieren, also zeigen, wie es im Bild noch schöner oder expressiver wirken kann? Möchte ich manipulieren, jemanden überzeugen, bildzentriert arbeiten, also mein Foto stärker betonen als das Objekt?
Beides sind legitime Ansätze. Zwischen ihnen entscheide ich mich, denn gegen eines dieser zwei werde ich mich nicht wehren können: das so genannte Objektzentrierte oder das Bildzentrierte. Als Bildermacher bin ich Interpret und Neu-Schöpfer, ich kann nicht anders. Und nutze das als Intention. Ohne die geht es nicht, ob ich von dieser nun weiß, sie artikulieren kann oder nicht oder sie mir zufällt, was auch immer.
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Häuser zum Betreten oder Betrachten – fotografisch immer eine Frage der Perspektive, hier an einem recht dissonanten Beispiel. Was an dieser oberbayerischen Kirche motivisch als ein Willkommensgruß erscheint, zeigt sich formal als das absolute Gegenteil, lässt das Gebäude wie eine Skulptur aussehen: Motivisch lädt das offene Portal scheinbar ins Innere ein, atmosphärisch aber hält die Aufnahmeentfernung von mehr als 50 Metern alles auf Distanz, macht den Betrachter zum fernen Beobachter. Nicht zum Teilnehmer.
Unzählige Weisen gibt es, ein Haus zu sehen, und wenn mein subjektives Bild tatsächlich irgendetwas ‚dokumentieren‘ könnte – im wörtlichen Sinn, dann meinen persönlichen Blick auf das Haus. Nicht aber das Haus selbst. So hoch kann keiner fliegen, so hoch ist keine hydraulische Bühne und kein Hochstativ, dass eine solche Meta-Sicht auch nur irgendjemandem möglich wäre. Auch nicht in der ‚Militärperspektive‘ – auf die wir noch zu sprechen kommen, im Kapitel über die Perspektiven.
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Zu schnell beschäftigen sich zu viele Fotografen mit viel zu viel Technik – und entwickeln dabei eine Abgeklärtheit, die ebenso sonderbar wie unbegründet ist. Deshalb gibt es selbst von den gut ausgerüsteten Hobbyisten viele Fotos, an denen der Blick eines Betrachters kaum hängen bleibt. Dazu kommt eine biblisch-paradiesisch anmutende Theorie: Wahrscheinlich könnte ich bessere Bilder machen, wenn ich gar nichts übers Bildermachen wüsste. Wenn ich gut und böse nicht erkennen könnte wie ein Kind. Wenn ich mich einfach so fern wie irgend möglich hielte vom Baum der kompositorischen Erkenntnis, die mich gelungene und schlechte Bilder voneinander unterscheiden lässt. Wenn ich spontan und organisch meinen ersten Eindrücken gehorche und diese direkt umsetze. Oder aber das genaue Gegenteil davon: Vielleicht gelingen gute Bilder leichter, wenn ich haargenau weiß, was wie machbar ist. Aber engt mich zu viel Wissen ein? Kann ich mich wirklich frei am Objekt entfalten? Im Dazwischen, da liegt Niemandsland. Leider. In diesem Niemandsland befinden sich die meisten von uns. Für uns, die wir hier in diesem Niemandsland Häuserfotos gestalten wollen, ist das vorliegende Buch. Wir haben unsere bildnerische Unbefangenheit, unsere fotografische Unschuld verloren, denn wir haben bereits angefangen, Fotos in gute und böse – also gelungene und schlechte – einzuordnen. Wir sind infiziert von der Suche nach guten Bildern und nach misslungenen, die wir aussortieren. Das Unbedarfte, das uns so elementar Bilder machen ließe wie ein Kind, haben wir längst nicht mehr. Weil in diesem Niemandsland so viele gestalterisch unausgegorene Bilder entstehen, müssen wir unseren Unschuldsverlust kultivieren und die Konsequenz tragen: Ich muss das andere Extrem anstreben. Haargenau wissen, was ich tu. Ein guter Fotograf, heißt es doch so nett, ist einfach einer, der weiß, was er tut … ***
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Dieser Blick auf eine verschlafene elsässische Dorfarchitektur zeigt Formen und Linienzüge in einer leicht dynamischen Konstellation. Die Größenstaffelung von vorne links Richtung hinten rechts verleiht dem Bild eine belebende Tiefe und ein leichtes seitliches Ungleichgewicht. Und das, obwohl das 2:1 Querformat eher Ruhe vermittelt. Flächig gesehen besteht das Arrangement aus kleineren Polygonen in Verbindung mit einer freien Form im Vordergrund. Dazu bildstabilisierende Randparallelen und eine luftige Cyma (S-förmige Wellenlinie, Näheres dazu im Kapitel ‚Atmosphärische Gestaltungselemente‘, Seite 134 ff.) als Höhenzug im Hintergrund.
Gestalt sehen und geben Eine Gestalt ist oft gruselig. Man ahnt vielleicht, aber sieht sie kaum, weiß nicht so recht, was dahinter steckt. Wird das Schemenhafte sich entblößen? Zu erkennen geben? Sein wahres Wesen? Beim Bildermachen ist die Gestalt alles andere als etwas Verbergendes. Sie selbst ist Enthüller und Enthülltes zugleich. Um Gestalt dreht es sich, auch und gerade in der Fotografie. Gestalt ist ein Werkzeug der Bildersprache. Mit ihr lässt sich bildnerisch Wahrheit finden und artikulieren. Dabei ist Bildermachen nichts, mit dem sich irgendetwas Wahres auffangen und dann festhalten ließe – Fotografieren ist keine bloße apparatetechnische Rezeption, keine Fixierung per Knopfdruck. Wer fotografiert, begibt sich aktiv in einen innerpersönlichen Vorgang, er begeht eine produktive, schöpferische, also erschaffende Aktion. Und die ist so bedeutsam, dass die uralte Bilderskepsis mancher Religionen verständlich erscheinen kann. Ich mache mir ein Bild heißt: Auf umgrenztem Areal schaffe ich mir eine eigene Welt, und in der erzeuge ich mit meinen Mitteln eine Welt ‚nach meinem Ebenbild‘. Ich gestalte heißt: Ich schaffe Gestalt – und damit Wahrheit. Nämlich meine.
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Der kompositorische Schlüssel
Vielleicht ist diese für mich erkennbarer als für andere. Vielleicht müssen andere ahnen, sehen sie kaum, wissen nicht so recht, was dahinter steckt. Vielleicht fehlt ihnen eine Entsprechung – eine, die ich aber spüre. In der antiken griechischen Philosophie bezieht sich das Wort Schönheit auf eine Entsprechung, nämlich der von Innen und Außen. Platon sagt, dass der Mensch im Außen genau dann etwas schön finde, wenn er es wesenhaft bereits in sich trage. Ein Bild zu machen, ist demnach nichts anderes als eine Transformation, ein Übergang zwischen Welten. Ich begehe einen transzendierenden Akt, bewege mich zwischen Dimensionen – und das nicht nur, weil aus drei Raumdimensionen auf dem Foto zwei Flächendimensionen werden.
Manches Detail erschließt sich nicht sofort, einfach weil es sich hoch oben über dem Kopf auf einem Dach befindet. Die kleine Gaube neben dem großen Erker hat es dennoch geschafft. Sie fiel durch ihre weiche, wenngleich gradlinige Geometrie auf. Aber sie lag eben in etwa 20 Metern Höhe – an einer nicht allzu breiten Straße. An einen flacheren Aufnahmewinkel aus größerem Abstand war also nicht zu denken. Um das charmante, kleine Detail trotzdem zu fotografieren, mussten wir die Fachkamera mit einem Tele versehen und steil aufwärts richten. Dabei verjüngten sich die senkrechten Gebäudelinien nach oben hin, es entstanden stark stürzende Vertikale. Diesem Problem sind wir durch einen extremen Aufwärts-Shift bei exakt senkrecht ausgerichteter Filmebene begegnet. (Näheres zum Kamera-Shift im Kapitel ‚Wie man fallende Linien rettet‘, Seite 100 ff..) Von der Seite sah die Kamera aus wie das Ungeheuer von Loch Ness – s-förmig eben.
Gestalt sehen und geben
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Bildermachen heißt: Ich abstrahiere die Wirklichkeit, führe die vorgefundene in eine andere, in meine eigene. Ich wandle das, was ich subjektiv sehe, individuell mit meinen Mitteln in eine mir eigene Aussage. Andere sehen dasselbe Motiv anders, kommen aus einer anderen Kultur, haben andere Mittel, einen anderen persönlichen Hintergrund und daher andere Aussagen. Vielleicht nehmen sie auch andere Motive. Alle haben Recht. Oder keiner, je nachdem. Kein Stativ ist hoch genug, das von oben beurteilen zu lassen. Ich gebe Gestalt heißt: Zunächst finde ich sie, die Gestalt, entdecke Inspirationspunkte und setze sie um. Ich öffne mich selbst, lange bevor es der Kameraverschluss tut. Ich lasse Gefühl und Intuition spielen und erkunde das große Ganze genauso im Überblick wie übers kleine Detail. Ich übertrage die Elemente, die ich in der ganzheitlich wahrgenommenen Räumlichkeit wesentlich finde, mithilfe prägnanter Elemente und stilistischer Mittel in eine Fläche hinein. Dazu muss ich aus dem gegenständlichen Raum heraus flächige Formen abstrahieren und wahrnehmen lernen. Zu diesen muss ich dann meinen Standpunkt finden, meine Haltung, und die Kameraperspektive daraufhin als Ausdruck meiner persönlichen Perspektive nutzen: Ich erspüre grafische Elemente wie Linien und Flächen. Auch Farben, Strukturen, motivische und beleuchtende Kontraste tun sich auf. Vielleicht Linienkontraste: Wellen und schräg verlaufende freie Linien kontra Geraden und Randparallelen. Dies geschieht ‚subjektiv’, also nicht primär mit dem, was als ‚Objektiv’ vorne so zylindrisch an der Kamera hängt. Ich finde und betrachte diese grafischen Elemente, beobachte sie im zeitlichen (Licht-)Verlauf und entdecke sie minütlich neu, decke sie auf, lege sie frei und verschaffe ihnen Luft. Was ich damit wecken will, nenne ich Neu-Gier – bildnerisch eine eindeutig positive Eigenschaft. Denn sie bringt Neues hervor. An Sichtweisen, die mir und meinen Ambitionen entsprechen können. ***
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Der kompositorische Schlüssel
Das war einmal Architektur, und zwar die eines Autos. Höchstmögliche Kompression auf kleinstmöglichem Raum – und plötzlich entstehen neue Formen. Wer sich darauf einlässt, findet Gesichter und Tiere. Oder – für uns viel relevanter: angedeutete Urformen.
Gestalttheorie und Wahrnehmung Manche Blicke durch den Sucher, aber auch manche fertigen Häuserfotos gefallen ‚irgendwie’ und manche nicht. Unabhängig vom Motiv weiß man als ungeschulter Betrachter oft kaum, warum. Auch Unspektakuläres kann ja beeindruckend ins Bild gesetzt werden. Da ist es ganz gut zu wissen, worauf das Auge sonst noch so schaut. Auf der Suche nach besonderen visuellen Elementen, aus denen sich das große Ganze einer Architektur zusammensetzt, hilft ein bisschen gestalttheoretische Kenntnis. Die wahrnehmungspsychologischen Grundsätze aus der Gestalttheorie machen deutlich, wie Gestalten entstehen. Aufgrund empi-
Gestalttheorie und Wahrnehmung
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rischer Studien zeigen sie, welche motivischen Elemente unter welchen kompositorischen Umständen als Gestalt im Bild verstanden werden und welche nicht. Das Fotografieren selbst, aber auch die spätere Bildanalyse wird damit leichter. Hier die bekanntesten Überlegungen dazu: Q
Einfache Formen werden leichter als Gestalt erkannt als komplexe.
Q
Formen, die sich deutlich vom Grund unterscheiden, werden leichter für eine Gestalt gehalten als hintergrundähnliche.
Q
Nah beieinander Liegendes gehört zusammen, bildet durch Verbindungslinien eine Gruppe, vielleicht eine Form oder Gestalt.
Q
Linien, die eine kleinere Fläche umschließen, bilden eine Gestalt, die außen liegende Form ist der Hintergrund.
Q
Offene, konkave Formen werden geschlossen, weil sie dann leichter als Gestalt zu deuten sind.
Q
Symmetrisch angeordnete Konfigurationen gehören zusammen und werden zur Gestalt.
Q
Begrenzte Linien wollen ihre Richtung möglichst genauso weiter fortsetzen (Gesetz der ‚guten Gestalt’).
Q
Parallele Linien gehören zusammen, denn sie haben eine gemeinsame Bewegung.
Q
Wiedererkannte Gestalten sind die Fortsetzung alter, erstmalig wahrgenommener Gestalten.
Q
Ähnliche oder gleiche Elemente gehören zusammen und bilden eine Gruppe.
Q
Eine Figur ist kleiner als der Grund, auf dem sie liegt, und sie unterscheidet sich deutlich von ihm. Ihre Kleinheit macht sie zur Gestalt.
Q
Elemente, die gemeinsam von einer größeren Form umschlossen werden, gehören zusammen und bilden eine Gruppe.
Q
Verbundene Elemente bilden eine Gestalt.
Gestaltgesetze sind keine universellen Axiome. Nicht immer kann man sie im Voraus planen oder funktionierten sie einwandfrei. So können mehrere Gestaltgesetze interferieren, ihre Wirkung also gegenseitig stören oder gar auslöschen, wenn sie innerhalb eines Bildes auftreten, sich dort überlappen und vielleicht sogar widersprechen. Außerdem dürfen die Formen oder Figuren, also Gestalten, die vom Betrachter erkannt werden sollen, geometrisch nicht allzu kompliziert sein, da ist der Sehsinn zu behäbig. Es werden eher einfache Formen gesehen und gedeutet. Die besten Chancen haben simple Linien, etwa gerade oder geschwungene, sowie Urformen wie Dreieck, Quadrat, Kreis und Kreuz – genau das, was der französische Spätimpressionist Paul Cézanne in seinen Landschaften suchte. *** 56
Der kompositorische Schlüssel
Nur ein Detail, und das Wesen des Ganzen ist atmosphärisch gedeutet. Abendliche Sonne taucht die Fassade in ein warmes Licht, und mit der schrägen Aufwärtsperspektive suchten wir eine moderate experimentelle Note. Solche Ausschnitte lassen sich sehr schnell mit einem mittleren bis stärkeren Tele finden. Erst herumlaufen, den richtigen Abstand und die beste seitliche Position finden, Kamera aufbauen, ein bisschen drehen, und schnell verliert sich der klassische Blick auf eine Architektur zugunsten eines kleinen, für manche Auftraggeber vielleicht frechen Experiments. Man sollte zur Sicherheit vorher herausfinden, wie sie so ticken.
Wesen und Essenz Welt und ich – ein einfacher, schier unendlicher Dialog. Führbar mit sensibler Kamera und einem guten Quantum Achtsamkeit. Und wie bedeutsam er klingt, dieser Dialog. Das Wesen einer Architektur einerseits erfassen und andererseits subjektiv deuten – zwischen diesen beiden Polen bewegt sich das, was stattfindet, bevor ich fotografische Bildertechnik und -gestaltung einsetze – bevor ich mein Erleben in ein Bild umsetze.
Wesen und Essenz
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Ich fotografiere heißt: Ich nehme Licht wie einen Stift und beginne, im Sinne der wörtlichen Übersetzung, zu zeichnen – mit Licht. Eine Aufnahme fertigen heißt: Ich nehme auf. Nicht nur in die Kamera, auf Film oder Chip, auch in mich. Hinterher zeige ich, was ich beim Aufnehmen erlebte, und das wird während der Belichtungszeit bestimmt nicht viel sein; sie ist sehr kurz, oft Zehntelsekundenbruchteile. Aber was in mir geschieht, kann stärker sein. Deshalb nehme ich es in die Kamera – deshalb nehme ich auf.
Klar geführte Linien im Objekt sind immer etwas Willkommenes. Sie machen es leicht, auch dem Foto Kontur zu verleihen. Gerade bei solchen Kompositionen ist es ausgesprochen wichtig, allen nichtgewollten Eindringlingen Einhalt zu gebieten. Das Kriterium klingt einfach, einzig und artig: Alles, was nicht ins Bild gehört, gehört nicht ins Bild, so simpel ist das. Und was gehört nicht ins Bild? Alles, was die sich bietende Komposition nicht klar und deutlich betont. In diesem Fall haben wir das Gelände penibel gesäubert und gewartet, bis der Schatten genau den zu den Fluchtlinien passenden Winkel erreicht hat. Im Hintergrund stand ein Papierkorb, der einer nachfolgenden Retusche zum Opfer fallen musste.
Mit dem Ziel, die Essenz dessen, was ich am Gebäude erlebe, zu artikulieren, sehe ich genau hin, öffne die Sinne, beginne zu verstehen, hebe hervor, betone nur das, was ich wirklich erkennen kann, und konzentriere mich auf das Wenige, auf dieses Einzelne, was für meine Aussage wesentlich ist. Ich bestimme und definiere, was mir wichtig ist und was nicht. Ich lasse mich und mein Foto nicht stören
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oder sonstwie bildnerisch bedrängen durch anderes. ‚A-motivische Eindringlinge‘, zufällige ‚Ungewolltheiten‘ oder die, die sich aus lokalen Sachzwängen am Motiv aufdrängen wollen, mildere ich ab, lasse sie weg und komme zu einer möglichst minimalistischen Detailsprache. Im Zweifelsfall mache ich das Foto nicht. Dann nämlich, wenn ich den Kampf gegen die a-motivischen Eindringlinge nicht eindeutig genug gewinnen kann. Ich, nicht die Umstände, habe die Macht: Ich reduziere das architektonisch Komplexe vor der Kamera auf seine Essenz in meinem Bild. Ich versuche, diese Reduktion nur von meinem eigenen Eindruck abhängig zu machen, nur diesen drücke ich aus. Das Ergebnis ist einfach. Und wenn es wirklich gelingt, dann sogar ansehnlich. Je simpler dessen Sprache, desto hörbarer, lesbarer, fühlbarer die bildnerische Leistung, die ich erwarten kann. Ein wenig erinnert diese Reduktion an das Entmaterialisieren, das beim Potenzieren homöopathischer Tinkturen stattfindet. Dies nur, um dem – wie es heißt –‚reinen Geist‘ der verdünnten Urtinktur Platz zu machen.
Auch dieses Bild ist eine reine Linienkomposition. Der dominante Fluchtpunkt befindet sich zwar noch innerhalb des Bildes, und doch versteckt er sich. Wo? Links hinter der Garage. Licht und Linie gehen hier Hand in Hand. Interessanterweise wird das Gebäude unauffällig von einem kräftigen Komplementärkontrast umspielt. Zufällig stand links im Hintergrund ein gelber Palettenstapel und rechts ein blauer. In der Eile hatten wir keine Zeit mehr, die Stapel entfernen zu lassen, und so freundeten wir uns zunächst damit an. Erst nach der Aufnahme haben wir dieses kleine, aber expressive Detail schätzen gelernt und bewusst im Bild gelassen. Der Retuschepinsel blieb ruhig.
Wesen und Essenz
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Bei Fotos, die wir gestalterisch gelungen finden, hat es wahrscheinlich geklappt, die motivische ‚Elementeflut‘ zu entmaterialisieren, die sich vor dem Objektiv befindet und ungestalt chaotisch ins Bild drängen will: Das Vielschichtige scheint auf ein Substrat zurückgeführt, und hier, wo es nicht durch Amotivisches verwässert ist, liegt sein größtes Potenzial. Gelingt das, wird meine Bildsprache eindeutig und verständlich. Zumindest für mich. Außen stehende Betrachter werden es vielleicht anders sehen, aber prinzipiell ist auch eine betrachterfreundliche Ästhetik immer simpel. Sie ist dem adressierten Sehsinn ohne besonderen geistigen oder zeitlichen Aufwand klar verstehbar, weil und wenn ich mein Bild mit minimalen gestalterischen Mitteln gemacht habe. Anderenfalls blättere oder gehe ich als Nicht-Betrachter vorbei. Dann bin ich unberührt, desinteressiert, nicht-gefangen, hilflos fragend oder gelangweilt. Besonders wenn man mich drängt, länger hinzuschauen oder einen zweiten Blick zu wagen. An dieser einfachen Bildsprache erkenne ich, ob die Qualität meiner Fotografie dem Charakter des Bauwerks gerecht werden kann. Ich erkenne, ob das, was ich tu, wirklich das Beste ist, was mit meinen Mitteln an diesem Gebäude machbar ist. Und ich erkenne, ob ich mich ausdrücken kann – so, dass meine Botschaft nachvollziehbar ist und Lust zum Hinschauen macht. ***
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Auch Chopin übte in Etüden. Diese schuf er eigens zum Trainieren des Fingergefühls, und viele von diesen kleinen Übungsstücken sind berühmt geworden. Eine ebenso wirksame wie ästhetische Übung für uns ist das Reduzieren. Die Essenz, sagt man, sei ohnehin immer einfach. Also: erstmal alles weglassen, was geht, und dann von innen her eine eigene Sprache aufbauen. Motive, die sich dafür bieten, wollen entdeckt und genutzt sein. Stichwort: Üben in Etüden.
Reduktion und Verdichtung Also: Im Angesicht des Schönen bloß auf einen Knopf drücken, das kann jeder. Sich auf die Technik, unzählbare Megapixel und ein paar abzählbare, angelernte Gestaltungsregeln verlassen, auch das kann fast jeder, zumindest wenn er halbwegs ambitioniert ist. Was aber nicht jeder kann: Gemachte Bilder auf lange Sicht gut finden, deren Ästhetik sich nur auf Technik und Komposition beschränkt. Ein hohes Qualitätskriterium guter Fotos ist deren atmosphärische Dichte. Wahrheit, besser: Wahrhaftigkeit ist nach altgriechischem Verständnis die Schönheit dessen, was von innen heraus gut ist (griech. kalokagathia f. ‚Schöngutheit‘). Ob diese Wahrhaftigkeit nun subjektiv oder schein-objektiv gemeint ist, ob sie sich ganz individuell auf das eigene innerpersönliche Erleben bezieht oder auf angeblich nachweisbare, allgemein anerkannte Merkmale einer rein äußerlichen Ästhetik – immer gilt: Sie, die Wahrheit, ist einfach. Nie kompliziert. Ein Foto, das ihr gerecht wird, deshalb auch. Die Konsequenz: Das Auge schaut weg, wenn das Foto zu kompliziert ist. Der Umkehrschluss aber gilt nicht unbedingt.
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Komm endlich zum Punkt! – sagt sich mancher, wenns nicht klappen will. Und dieser Punkt ist das Eine, was meine Aufmerksamkeit im Motiv zuvorderst oder nachhaltig erregt, der interessant ist, attraktiv (engl. attract f. ‚anziehen‘) und mich anzog? Was ist der wesentliche Punkt in diesem einen Bild? Nur darauf konzentriere ich ,Fokus‘ und Sinne, Objektiv und Geist. Alles andere kommt weg. Mensch, werde wesentlich; denn wann die Welt vergeht, So fällt der Zufall weg, das Wesen, das besteht. So lautet die berühmte Forderung des schlesischen Lyrikers Johannes Scheffler alias Angelus Silesius aus dem 17. Jahrhundert, und wie schön, wenn Poetisches nicht immer nur der Erbauung dient, sondern hier und da auch mal das Praktische erhellen kann. Gerade das Bildermachen können Worte wie dieses aus der wunderschönen Epigramme-Sammlung Der Cherubinische Wandersmann befruchten. Es lohnt sich, das kleine Büchlein dabei zu haben, wenn man mal auf das richtige Licht oder innere Erleuchtung warten muss. Und plötzlich scheint so ein uraltes Poetenwort zu belegen: Fotografische Kunst besteht wesentlich im Weglassen. Fotografen haben Glück: Weil vor dem Hintergrund der freien Naturform die architektonische Form meist eine geglättete ist, lässt sich das ‚fotografische Sedimentieren‘ besonders gut an Bautenbildern üben. Ein Fotograf wendet auf, wenn er reduziert; die Kunst besteht – laut Michelangelo übrigens auch in der Bildhauerei – im Entfernen. Michelangelo spricht davon, dass der rohe Stein das Wesen der geplanten Skulptur bereits in sich tragen müsse, für ihn als Bildhauer hieße es dann nur noch, dieses freizulegen. Die Suche nach dem besten Standort strebt nach dem ‚Vorbeischießen‘ an allem, was unwichtig ist. Durch dieses Entfernen entsteht Kontur. Rechtfertigende Geschichten, Erklärungen von Beschränkungen durch äußere Gegebenheiten, Entschuldigungen wegen zeitlicher oder örtlicher Umstände und irgendwelcher Unwägbarkeiten machen ein Bild, wenn es gestalterisch ohnehin schon blass ist, nur noch blasser. Das aus Not ans Bild geklebte relativierende Gerede ist noch viel langweiliger als das an a-motivischen Kleinigkeiten zerbrochene Foto selbst. Deshalb können wir gerade angesichts der inflationären Bilderfluten, die uns medial umgeben, vor den vielen nicht-gemachten oder gelöschten Aufnahmen der Welt nur immer wieder Respekt üben. Im Zweifel gegen das Detail – im Zweifel sogar gegen das ganze Bild – so der Vorschlag für eine Devise, die zu einer erkennbaren Bildsprache führen soll. Besser als der französische Dichter und Flieger Antoine de Saint-Exupéry kann man es nicht ausdrücken: Perfektion ist nicht dann erreicht, wenn man nichts mehr hinzufügen, sondern wenn man nichts mehr weglassen kann. Die ganze Minimalisierung scheint nur noch einen Haken zu haben. Dieser klingt unbedeutend, aber er hat es in sich: Je weniger Unwägbarkeiten ich zulasse, desto kraftvoller kommt zwar meine persönliche Aussage ins Bild und desto mehr nähere ich mich einer Essenz. Aber umso exakter und plausibler
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muss ich das Wenige, was mir dann noch bleibt, komponieren. Gerade wenn die Reduktion viel Platz im Bild schafft, muss das verbleibende Wenige besonders gut sitzen. Und das kann ich am besten, wenn ich guten Kontakt zu mir selbst habe. Wenn ich weiß, was ich wahrnehme, und was ich mit / von diesem Motiv will. Intuition ist und bleibt aber vielleicht ein Faktor, der sich bis ins Letzte nicht erklären lässt. Und das ist gut so.
Hier haben wir noch mehr weggelassen, selbst die kleine Wolke ließen wir ziehen. Atmosphärisch nicht ganz unproblematisch, da nun der räumliche Bezug fehlt, und das Ganze auch eine Simulation en petit im Studio sein könnte. An diese Grenze stößt man bei jeder Reduktion. Zahlreiche Künstler waren und sind es immer wieder, die sich mit dem Widerspiel zwischen Bild und Gesehenem auseinandergesetzt haben. Aber vielleicht kann genau diese kleine, offengelassene Frage die Essenz einer möglichen Botschaft im Bild sein.
Reduktion und Verdichtung
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Glatte Fassade, sonniger Akzent und freie Form, hier am Beispiel der Highlight Towers im Münchener Norden, entworfen vom Chicagoer Architektenbüro Murphy/Jahn. Wichtig bei solchen Gegenlicht-Perspektiven: Die Kamera muss im Schatten stehen, zumindest darf kein direktes Licht in die Frontlinse. Reflexionen innerhalb des Objektivs würden Streulicht erzeugen, das die Farben entsättigt, den Kontrast mindert und die Brillanz durch überlagerte Unschärfe beeinträchtigt. Eine gewisse Unschärfe werden wir uns später dennoch gönnen. Denn wir haben dasselbe Motiv mit einer digitalen Camera obscura fotografiert.
Mittler zwischen dem Hier und Da Stehenbleiben ist blöd. Zumindest, wenn man es zu früh tut. Das gilt in Diskussionen mit anderen sicher genauso wie mit der Kamera vor einem Haus. Auch da gibt es ein Du und ein Ich. Auch da kann ich mich aufdrängen oder verweigern. Oder mitspielen. Es mag banal klingen, aber als mir das erste Mal klar wurde, dass ich Perspektive wandeln kann, dass es sich sogar öfter mal empfiehlt, belustigte mich der Gedanke, wie sehr man vom Bildermachen fürs alltägliche Dasein lernen kann – und umgekehrt. Ausgesprochen charmant fand ich es immer, wie offenherzig mit der Kamera gelogen werden darf, etwa wenn durch das Entzerren stürzender Gebäudelinien ein Aufnahmestandpunkt vorgetäuscht wird, den man gar nicht hatte. „Der Photographenapparat kann ebenso lügen wie die Setzmaschine.“ Keine Worte eines Fotografen aus der Photoshop-Ära – nein, Bertold Brecht sagte das, ein Literat, und zwar schon Anfang der 30er Jahre – zu einer Zeit also, als von Bildmanipulationen am Rechner noch nicht einmal geträumt werden konnte. Aber richtig fasziniert hatte mich dann die Erkenntnis, dass es beim Bildermachen offenbar gar nicht möglich ist, nicht zu lügen . Für so genannte ‚Sachaufnahmen‘, wie sie jeder Auszubildende im Fotografenhandwerk anzufertigen lernt, lassen sich zwar Standards definieren wie Dreiseitenansicht bei weichem Licht, weil das möglichst informativ wirkt, aber eine Garantie gibt es nicht. Wenn ich das Haus wäre: Beim echten Verständnis einer Fotografie mit noch so objektivem Anspruch käme ich an der fotografierenden Person nicht vorbei. Die so genannte Lüge ist eine zwangsläufige Begleiterscheinung, und zwar eine der Umsetzung des Räumlichen ins Flächige, auch eine des allseits Sichtbaren ins persönlich Erlebte und eine des Äußeren ins Innere. Die Lüge ist eine Nebenwirkung der Fotografie, das Kleingedruckte auf dem Beipackzettel eben, den eine jede Kamera haben müsste. Ursprünglich ist die Fotografie nämlich zu ganz anderem angetreten, sie sollte die Realität nachbilden. Und die sollte doch – wie es immer wieder hieß – irgendwie sichtbar sein. Theorie hin oder her – mit der Zeit wurde mir immer klarer, wie subjektiv äußere Wirklichkeit und Fotografie tatsächlich sind. Und gerade hinter dieser Einschränkung, das Objektive eben nicht abbilden zu können, habe ich für meine Arbeit eine immense Freiheit entdeckt. Eine Freiheit, mich zu artikulieren – eine Freiheit, die ich mindestens so groß finde wie die gestalterische eines Architekten, der sich ein großes Haus ausdenkt. Während es bei mir jedoch nicht mehr ist als ein kleines Bild von diesem Haus. Eines, das jemand anders bestimmt ganz anders machen würde. Vielleicht aus einer anderen Perspektive. Und das ist gut so.
Hundert Ansichten eines Hauses. Die gibt es bestimmt, und sechs von ihnen sind in diesem Kapitel zu sehen. Alle sind klassisch vertikal ausgerichtet und beziehen das Umfeld mehr oder weniger mit ein. Das hier gezeigte Hochformat wirkt dynamischer als das wesentlich ruhigere Querformat. Die von links unten ins Bild laufende Schräge betont Tiefe und Plastizität.
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Mittler zwischen dem Hier und Da
Meine Wahrheit oder deine Die Zentralperspektive wurde nicht in Florenz erfunden. Aber wiederentdeckt, man hat sie dort neu belebt – reanimiert, die einst entfleuchte. Um 1500 entwickelten die italienischen Renaissance-Architekten Filippo Bruneschelli und Leon Battista Alberti zeichnerische Konstruktionen, mit denen sich der dreidimensionale Raum auf der Fläche einer Leinwand glaubhaft simulieren ließ, und zwar mit einer wesentlich plastischeren Wirkung als bisher. Während Bruneschelli 1413 mit einer motivisch bemalten und am Fluchtpunkt für den rückseitigen Durchblick gelochten ‚Guckplatte‘ sowie einem von der anderen Seite davor gehaltenen Spiegel ein perfektes Hilfsmittel zum Vergleichen des Gemalten mit der Realität präsentierte, lieferte Alberti nur wenige Jahre darauf die geometrischen Grundlagen des Zeichnens in Linearperspektive. In Teilen sind diese allerdings schon einmal bekannt gewesen, und zwar viele, viele Jahrhunderte zuvor. Aber dann kam da ein dunkles Loch, zeitlich und später auch apparativ … Erste Versuche und Berechnungen gibt es bereits im babylonischen und später – mit Vitruv – auch im römischen Altertum. Archäologen haben Vasen mit szenischen Malereien gefunden, in denen sogar schon im 6. Jahrhundert v. Chr. Raumlinien verkürzt wiedergegeben wurden. Im 4. Jahrhundert v. Chr. schematisiert Euklid, Altvater der abendländischen Geometrie, die perspektivischen Erkenntnisse erstmals. Vieles davon geriet über die ersten Jahrhunderte unserer Zeitrechnung in Vergessenheit – wir wissen, dass die Zeichnungen des Mittelalters keine linearperspektivischen Heldenblätter waren, oft wandte man lieber die etwas kindlich wirkende Bedeutungsperspektive an, in der alles, was für das Bild wichtig war, groß und alles Unwichtige einfach kleiner gezeigt wurde. Die verlorene räumliche Sehrichtigkeit und das Bedürfnis nach einem technisch perfekt umgesetzten plastischen Raumgefühl auf der ebenen Fläche eines Bildes entwickelte sich erst wieder in der Renaissance (frz. renaissance f. ‚Wiedergeburt‘). Aber zuvor musste sie noch das Mittelalter durchstehen. Ein zeitliches Loch – perspektivgeschichtlich gesehen. Die Kirche hatte seinerzeit nämlich etwas gegen zentralperspektivische Malerei. Warum das? Ganz einfach: Sie nimmt dem Göttlichen das Absolute, erlöst den Blick auf die Schöpfung von der himmlischen Allgültigkeit, die ihm der Klerus unterstellt. Das klingt etwas weit hergeholt, ist aber nicht unklug gedeutet. Perspektive tut nämlich etwas Wunderbares. Sie relativiert die Wirklichkeit, definiert sie neu und enthebt sie jeglichen objektivierten Anspruchs. Sie versteht das Reale nur in Bezug zum Schauenden, und das setzt eben immer einen externen Betrachter voraus. Aus dessen subjektivem Blickwinkel wird das Objekt betrachtet, nur von dort existiert es überhaupt, und aus ihm heraus gestaltet sich das Bild. Ohne den Betrachter gibt es die Welt nicht, warum auch, für wen auch. Und einen objektiven Blick auf sie gibt es auch nicht, von wem schon und wozu auch. Jede perspektivische Projektion hat daher etwas Persönliches, selbst virtuelle Perspektiven wie etwa die Parallelprojektionen, die ja einen unendlich entfernten Betrachter simulieren. Mit der Erfindung
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von Augen- und Fluchtpunkt wird es erstmals explizit: Die Zentralperspektive bezieht den Betrachter, dessen Standort und Blickrichtung direkt ins Bildgeschehen ein. Plötzlich ist kein vernünftiges Abbild des Gesehenen mehr denkbar, ohne klaren Hinweis auf das Von-wo. Der so genannte Augenpunkt ist dieses ‚Von-wo‘, er definiert den Blickwinkel dessen, der da schaut – und vielleicht die Kamera hebt. Dieser steht mit seinen Füßen auf der Grundebene, sieht aus seiner physischen Augenhöhe und einem bestimmten Augenpunkt mittels einer so genannten Sehpyramide, auch Sehkegel genannt, aufs Objekt und lässt auf einer Fläche dazwischen oder dahinter ein Bild entstehen. Wo dies ist, das sagt Alberti: Das Bild ist ein ebener Schnitt durch die Sehpyramide. Und eben die ist subjektiv, sie gehört einem Jeden selbst und wird zu einem bestimmten Zeitpunkt auf ein bestimmtes Objekt gerichtet. Die Sehpyramide ‚kegelt‘ sich dabei um den Hauptsehstrahl, dieser liegt mittig darin, verläuft waagerecht und trifft am Hauptpunkt mitten auf die Bildfläche. Wenn diese sich vor dem tatsächlichen Objekt befindet, wird das Objekt (durch den hier relativ engen Sehkegel) vergrößert abgebildet – liegt sie hinter ihm, sieht es (durch den hier relativ weiten Sehkegel) im Bild verkleinert aus. Überhaupt gilt: Da die Strahlen des Sehkegels vom Augenpunkt aus divergieren, hängt die Größe der Abbildung vom Abstand ab – in zweierlei Hinsicht: Die Abbildung wird größer mit wachsendem Abstand des Betrachters zur Bildebene und mit wachsendem Abstand der Bildebene zum Objekt. Dadurch erscheinen Dinge hinter der Bildebene kleiner und Dinge davor größer im Sehkegel. Richtig erfahrungsgerecht wurde es in der Geschichte der Perspektiven-Malerei, als sich dann aus der linearen Perspektive mit nur einem Fluchtpunkt Konstruktionen mit mehreren Fluchtpunkten herausschälten. Mit der Zeit kam man darauf, dass die seitlichen Fluchtpunkte stets auf der Horizontlinie liegen, und die befindet sich bei waagerechtem Geradeausblick immer exakt auf Augenhöhe. Plausibel, die waagerechte Blickrichtung horizontal zu nennen, sie weist ja auf den Horizont, das kann man sich gut merken.
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Zentralperspektive par excellence. Dieser Blick zwischen die Walzen einer norddeutschen Druckerei zeigt, worum es bei der Zentralprojektion geht: Alle Raumlinien sind parallel zueinander, im Bild deuten sie aber auf einen Fluchtpunkt hin, an dem sich ihre gedachten Verlängerungen schneiden. Dieser befindet sich bei waagerechtem Geradeausblick exakt auf Höhe des Kameraobjektivs, hier also mitten im Gegenlichtareal.
Aber natürlich waren auch die geometrisch exakt angelegten Perspektivkonstruktionen, die in der Renaissance wiedererstanden, keine endgültig erlangten Errungenschaften, die es verdient hätten, einfach so von epochaler Dauer zu sein. Dafür war später gerade den Romantikern das Progressive an ihnen nicht eindeutig genug. Warum?
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Einige der großen romantischen Künstler wie der Engländer William Blake verteufelten das fluchtpunktperspektivische ‚Gekritzel‘, allerdings nicht aus den Gründen, aus denen es die Kirche tat. Die aufbegehrenden Romantiker sahen in der geometrisch exakten Perspektivkonstruktion die bloße Beschränkung auf das fürchterlich reale, am allzu Visuellen klebende Diesseits. In ihrer typischen Gegnerschaft zur Aufklärung wandten sie sich wider die komplett durchstrukturierte, in der Ratio einer oberflächlichen Verhaftung ans Äußerliche erstarrte, rein vordergründige Perspektivik. Eine gefährliche Abkehr von jener spirituellen Suche sei darin sogar zu sehen, die der Mensch aber gerade jetzt so nötig habe. Besonders Blake wandte sich gegen die ‚Versklavung’ durch die Mathematik des physisch Sehgerechten, lehnte das linearperspektivische Regelwerk für irgendwelche perspektivisch korrekten Raumillusionen ab, und zwar mit der Verve eines Vollblut-Romantikers. Konstruktion führte für ihn zur Konfusion; bloß das Angesagte zu tun, das war ihm jenseits jeglichen Genies, und gerade um diesen zu idealisieren, nutzte er das ungeliebte Teufelswerk. Denn schließlich behauptete er schlicht: Das Genie beginnt dort, wo die Regeln enden. (William Blake) Heute weiß jeder, dass das Genie als Grenzgänger über geläufige Kriterien hinauswachsen muss, zwangsläufig also Regeln – nach deren Aneignung – zu transzendieren hat, um mit neuen Perspektiven auch neue Dimensionen finden zu können. Die Geschichte der Malerei ist voll von Beispielen, die zeigen: Gesteckte Grenzen als solche zu erkennen, wider alle Stimmen der Zeitgenossen zu überwinden und zu erweitern, das fördert Erkenntnis, ebenso für den Einzelnen wie für die große Gruppe. Auch wenn es hier fast so scheint, als bekämen die plastisch unvollkommenen Perspektiven der alten ägyptischen Bilder eine neue Autorität. Passend dazu sagt der expressive Maler und Professor Max Beckmann in seinem Vortrag ‚Über meine Malerei’ im Jahr 1938: Für mich ist die Metamorphose von Höhe, Breite und Tiefe auf eine zweidimensionale Fläche ein magisches Erlebnis, das mir eine Ahnung von der vierten Dimension vermittelt, nach der ich von ganzem Herzen suche. (Max Beckmann) Perspektivische Ungereimtheiten und Dissonanzen haben immer ihren Reiz gehabt, dahinter scheint man etwas Tieferes vermuten zu dürfen, gerade in der Kunst der Moderne, wo man sie bewusst, nicht etwa aus Unkenntnis, anwendet. Der Expressionismus um Beckmann oder Kandinsky gibt dafür zahlreiche wunderbare Beispiele.
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Noch ein Blick in eine Druckerei. Diesmal eine vertikal ausgerichtete Übereckperspektive. Hier sieht man deutlich, dass eine zweite Flucht entsteht, es gibt jetzt eine rechte und eine linke. Die Linien konvergieren also nach zwei Seiten. Ein mittleres Weitwinkel wäre hier das Objektiv der Wahl gewesen, um eine natürliche Bildwirkung zu erzielen. Die räumliche Enge ließ es aber nicht zu, die Kamera in größerer Entfernung aufzustellen, deshalb haben wir uns hier auf einen diagonalen Bildwinkel von knapp 100° eingelassen, was einer Kleinbild-Brennweite von etwa 20 Millimetern entspricht.
Nicht nur die räumlich unausgegorenen Perspektiven im frühen Symbolismus, nicht nur die kleinkindlichen Standlinienbilder, die etwa bis zum Ende des Vorschulalters fast immer Bedeutungsperspektive zeigen, nicht allein multi-perspektivische Darstellungen, mittels derer anamorphotisch verzerrte Metaphern im Bildgeschehen versteckt werden sollten – keine von diesen zeigt, dass man sich mit perspektivischen Wirkungen nur aufs Visuelle beschränkt hätte. Verfremdete Perspektive als bewusst eingesetztes geistiges, gar intellektuelles Stilmittel gibt es im Expressionismus, insbesondere im späteren analytischen Kubismus. Bekanntlich zeigen Pablo Picasso und George Braque in ihren zerklüfte-
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ten Bildordnungen Dinge und Gesichter von mehreren Seiten gleichzeitig. Niemand käme ernsthaft auf die Idee, das perspektivisch unrichtig zu nennen. Schon dem französischen Dichter und Kunstgelehrten Guillaume Apollinaire erschien die strenge sehgerechte Korrektheit linearperspektivischer Konstruktionen geistig viel zu eingeengt. Bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts, und zwar noch vor Picasso und Braque, trat er für eine Malerei ein, die den gezeigten Raum synchron aus unterschiedlichen Blickwinkeln zeigt. Damit gilt er als einer der literarischen Wegbereiter der kubistischen Simultanperspektive, die jedes Motiv aussehen lässt, als wäre es in kleine Schleifflächen eines Diamanten verwandelt. Und jede dieser Flächen schimmert andersfarbig, reflektiert etwas anderes. Bisweilen erinnern die Bilder auch an Konstellationen aus Porzellanscherben. In seiner Vieldeutigkeit und assoziativen Freizügigkeit bietet diese Malerei auch dem Betrachter etwas zur Reflexion – zum Nachdenken über allgemein etablierte Sichtweisen und Standpunkte wie über ganz persönliche. Und die letzten sind die wichtigsten.
Aus nahem Abstand wirkt alles räumlicher. Die Perspektive vor diesem Riesenbagger in einem niederrheinischen Kohlebergwerk zeigt, dass die Fluchtlinien am steilsten Richtung Hintergrund verlaufen, wenn die Kamera nah am Motiv steht. Das ist der Trick, mit dem ein Betrachter ins Bild einbezogen wird. Weil er das Gefühl bekommt, sich direkt im Geschehen zu befinden, wird er zum Protagonisten. Diese Aufnahme machten wir mit einem kraftvollen Weitwinkel mit klassischem Vertikal-Shift.
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Eines sollte man nicht vergessen, weder als Maler noch als Fotograf: So wunderbar sie als wiederentdeckte Errungenschaft auch sein mag, die klassische Zentralperspektive ist nicht das non plus ultra, oft auch nicht die plastischste Möglichkeit, ein Gebäude im Bild zu zeigen. Denn sie stellt die Gebäudefront in der Regel rechtwinklig, also aus zentraler Position gesehen, mit nur einem Fluchtpunkt dar. Das sieht recht schematisch und nicht so anschaulich aus, weil es nicht unserer alltäglichen Seherfahrung entspricht; statistisch ist diese nämlich meist schräg. Aber der Kopf sieht mit; wir wissen, dass die Gebäudefront rechtwinklig ausgerichtet ist, und zumindest ansatzweise erwarten wir es auch so im Bild. Da hilft ein Kompromiss zwischen Kopf und Auge: Wird die Kamera nur ein bisschen seitlich parallel verschoben, führt das schnell zu einer viel natürlicheren Bildwirkung und bleibt doch ausreichend schematisch. Es ergibt sich eine Perspektive, bei der sich auch der Fluchtpunkt seitlich verschiebt und vielleicht sogar außerhalb des Fotos liegen kann. Bei noch stärkerer seitlicher Positionierung entsteht irgendwann ein zweiter Fluchtpunkt auf der anderen Gebäudeseite: die Übereckperspektive. Soll dabei die Gebäudefront randparallel bleiben, muss das Objektiv seitlich geshiftet werden. Wenn dabei der Eindruck einer Kavaliersperspektive entstehen soll, müssen die Fluchtlinien annähernd parallel zueinander wirken – das geht nur aus großer Aufnahmedistanz. Trotz aller Kritik an der Zentralprojektion: Perspektive ist und bleibt das gestalterische Kriterium schlechthin in aller Abbildungskunst, die ‚Flachware‘ erzeugt – das gilt insbesondere für die zweidimensionale Darstellung des architektonischen Raums. Mit der Wahl unseres Betrachtungsorts nehmen wir Bezug zum Motiv, definieren uns selbst vor ihm, treten in Dialog, ‚verhalten’ uns irgendwie, werden vielleicht selbst ein Stück ‚verhalten’ und lassen ein Verhältnis zu ihm wachsen. Klappt das, bekommen wir das Gefühl, gerade von einem besonders geeigneten Standpunkt aus zu fotografieren. Gerade die Zentralperspektive verleiht dem Bildermachen einen interessanten Touch. Sie vernachlässigt alle anderen Fluchtpunkte und subjektiviert die Darstellung – ein Prinzip, das die Anamorphosen später übersteigern werden, weil sie eine ganz bestimmte Betrachterposition vor dem Bild fordern. Wir kommen weiter unten darauf zu sprechen. Und spätestens hier kommt auch ganz praktisch das Subjekt ins Spiel, auch wenn zur gleichen Zeit die Frage entsteht, inwieweit unsere persönliche Sicht auch dem gerecht wird, was da so duldsam, still und leise vor uns steht: dem Gebäude. Wie nah sollten wir heran, aus welcher Höhe und von welcher Seite lohnt es sich meisten, und wie viel Umfeld darf mit ins Foto, so dass die gewünschte Bildaussage expressiv unterstützt wird.
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Das Querformat in dieser Version zielt besonders auf eine ruhige, stabile Wirkung ab, unterstützt durch eine fast wuchtige Voluminösität des Gebäudes.
Das Haus als Teil seiner Umgebung. Es tritt zurück, um das Parkhaus, das ja eigentlich unter einem Grünstreifen verborgen liegt, zu einem ebenbürtigen Element in diesem Bild zu machen.
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Skulptur und Begehbarkeit: Der Betrachter befindet sich – genau wie die Kamera – auf dem Weg zum Gebäude. Dieses selbst wirkt aufgrund der Ferne verschlossen und unnahbar. Ein leichtes Weitwinkel sorgt dafür, dass die Umgebung mit einbezogen wird und auch den Betrachter integriert. Wichtig auch hier: die klassische Sicht mit entzerrten Vertikalen – ergänzt um eine zusätzliche horizontale Entzerrung.
Hier ist es eine steile Flucht, durch die der Betrachter ins Bild geführt wird, aktiviert durch ein sehr dynamisch eingesetztes Hochformat. Bei solchen relativen Nahperspektiven wird der Linien-Shift mit einer analogen Fachkamera schwieriger, die Objektive brauchen einen großen Auszeichnungskreis. Da lohnt es sich, digital zu fotografieren, um optischen Shift und Software-Linienkorrektur zu kombinieren.
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Je näher die Kamera am Haus steht, umso mehr verliert es seinen skulpturalen Charakter, umso begehbarer wirkt es – vielleicht auch: umso willkommener fühlen wir uns. Aber hier ist die Grenze dessen erreicht, was noch natürlich wirkt. Hier haben wir die Mindestentfernung unterschritten, wodurch ein extremes Weitwinkel mit einem Bildwinkel nötig wird, der größer als 60° ist. Für eine sehgerechte Wirkung des Gebäudes im Bild ist das eindeutig zu viel, die Perspektive scheint überzeichnet. Dieser Effekt kann aber auch gewünscht sein – man muss eben nur wissen, was man tut.
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In der klassischen Architekturfotografie ist der Kamerastandort das Kriterium schlechthin. Hier wird es fotografisch individuell – andere Faktoren wie Belichtung, Schärfeverteilung, Farbneutralität, vielleicht sogar Sauberkeit und Beleuchtung sind durchs Handwerkliche festgelegt. Sie sind Usus, Konvention, Qualitätskriterium, fast eine unausgesprochene Norm. Sie sind Kennen und Können des Handwerks. Die Bedeutung einer wirklich förderlichen Perspektive aber wird gern dadurch unterschätzt, dass man sie einfach ersetzt: nämlich durch die bloße Wahl einer Seite, von der das Haus vordergründig am besten auszusehen scheint. Üblicherweise ist das die Front, also die vordere Fassade, sie gilt als Visitenkarte, weil da die Haustür ist. Oder man nimmt diejenige Seite, auf welche gerade die Sonne scheint. Auch bei einem Porträt ist es ja meist das Gesicht eines Menschen, das man aufnimmt wie eine Visitenkarte – am liebsten schön beleuchtet. Nicht von ungefähr stammt der Ausdruck Fassade vom lateinischen facies und heißt ‚Gesicht‘ – also das Ding, das sieht und das zuerst gesehen wird. Auch wenn man ihn, den Kopf, fürs Porträt gern schon mal hier hin oder dort hin dreht. Dabei ist eine kraftvolle Perspektive weit mehr als der Blick auf eine Schokoladenseite, die von irgendwo gerade angestrahlt wird. Perspektive ist Standpunkt, Blickrichtung, Sichtweise. Eine gute Perspektive einzunehmen, heißt, einen Standpunkt zu finden und eine gute, ausdrucksstarke Sichtweise zu entwickeln. Das ist das A und O, wir kennen das im übertragenen Sinn aus Gesprächen und Diskussionen über strittige Themen – man merkt leicht, wie sehr Fotografie und Alltagserfahrung bisweilen miteinander korrelieren. Dazu kommt: Die Maler lernen das pinseltechnisch, Architekturzeichner konstruktionell, die Fotografen lernen es sehsinnlich. Das heißt, sie haben es zu finden. Sie müssen sehen lernen – besser: lernen, eigene Standorte, Blickrichtungen und deren Deutungsmöglichkeiten für einen späteren Bildbetrachter einzuschätzen. In der Malerei ist die korrekte Wiedergabe einer bestimmten Perspektive eine relativ komplizierte Konstruktion – eine, die sich in der Fotografie aufgrund des eigenen Standpunktes vor dem Motiv ergibt. Da ist sie also ganz anders als ihre große Schwester. Was der Maler also auf der Leinwandfläche bastelt und zirkelt, sucht der Fotograf in der Wirklichkeit des dreidimensionalen Raums. Und dann nimmt er es sich. ***
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Dieser kleine Speicher im bayerischen Museumsdorf Glentleiten rief geradezu danach, von unten fotografiert zu werden – eine für Bautenbilder eher unübliche Perspektive. Die große Aufnahmedistanz macht ihn zu einer Skulptur im Grünen, die Untersicht betont eine gewisse Erhabenheit. Im Bild herrscht eine reduzierte, aber ausgewogene Farbigkeit, die das Bild fern von jeder Ablenkung halten und so für Klarheit und Kontur sorgen.
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Standpunkt, Perspektive und Position Die Perspektive dient (...) als Zügel und Steuer. Untrennbar ist dieser Satz Leonardo da Vincis verbunden mit jener Zeit, in der die geometrische Analyse räumlicher Darstellungsmöglichkeiten als Thema in der Bildenden Kunst wiederbelebt wird. Die Zentralperspektive ist nämlich ein grandioser Zeichentrick. Neben anderen Faktoren bestimmt sie wesentlich mit, wie plastisch ein räumliches Objekt auf dem ebenen Bild wirkt, also wie realistisch es dort erscheint. Dafür nutzt sie die Erkenntnis, dass für den Sehsinn alle Dinge in der Ferne kleiner aussehen. Das Sehen selbst spielt also innerhalb des Bildgeschehens eine besondere Rolle. Die zentralperspektivische Darstellung bezieht und baut ihn ein. Wie geschieht das, und was genau ist Perspektive eigentlich, gerade in der Fotografie, in der man ja mit unterschiedlichen Bildwinkeln verschiedene räumliche Eindrücke hervorrufen kann? Und wie lässt sich das anwenden? Um gleich mit einem Missverständnis aufzuräumen: Brennweite und Perspektive haben nichts miteinander zu tun. Zumindest nicht direkt. Die Perspektive ändert sich nicht, wenn wir am Objektiv zoomen oder eine andere Brennweite aufs Bajonett setzen. Damit variieren wir nur den Winkel, unter dem das Objektiv Motive ‚sehen‘ kann, also den Bildausschnitt. Der Brennweiten-Perspektiven-Irrtum kommt dadurch zustande, dass man es gewohnt ist, in Folge eines veränderten Bildwinkels auch den Standpunkt ändern zu können: Zoomen wir Richtung Weitwinkel, können wir meist näher heran, zoomen wir Richtung Tele, kann der Aufnahmeabstand in der Regel auch größer sein. Perspektive selbst ist nicht Brennweite, sie ergibt sich höchstens daraus: Sie ist lediglich ein Ort – der, an dem die Kamera steht, mehr nicht. Sie ist ein Ort, den ich verändern kann, und zwar nur kraft meiner Füße. Oder irgendeines Verkehrsmittels. Jedes Bild entsteht aus einer bestimmten Perspektive, also von einem bestimmten Ort aus, und dieser bringt den Betrachter unvermittelt ins Spiel, setzt das Bild ins Verhältnis zu ihm. Die Perspektive ist hier der Link zwischen Fotograf und Motiv. Ebenso wie zwischen Betrachter und Foto. Perspektivische Darstellungen eines Hauses, etwa die Architekturzeichnung, sollen die dreidimensionale Wirklichkeit eines Gebäudes auf die Fläche eines Papiers projizieren und dort möglichst auch plastisch wirken lassen. Architekten wenden dafür bestimmte zeichnerische Kniffe an, diese werden Projektionsarten genannt. Mit ihnen werden Standorte und Blickrichtungen simuliert, die ein Gebäude innerhalb des Bildes sachlich und ästhetisch wirken lassen. Die in der Architektur relevanten Arten der Projektion des Raums in eine Fläche sind Parallelperspektiven und Fluchtpunktkonstruktionen. Der Fluchtpunkt wurde auch ‚Verschwindepunkt‘ genannt. Bezeichnenderweise, denn: Die gedachten Verlängerungen aller in die Tiefe des Raums hinein verlaufenden Linien, die parallel zur Blickrichtung gehen, schneiden sich in Fluchtpunkten – mindestens in einem, sonst in zweien oder dreien. Und min-
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destens einer, wenn nicht zwei oder noch mehr davon, liegen auf dem Horizont. Also äußerst fern von mir – so fern, dass er fast verwunden scheint.
Die völlig unkorrigierte Untersicht lässt dieses Firmengebäude im Kölner Rheinauhafen größer erscheinen und erzeugt dabei drei kraftvolle Fluchten – eine rechts, eine links und eine oben. Ein glücklicher Zufall: Aufgrund seiner rechtwinklig zugeordneten Position ließ sich das vom Hamburger Architektenbüro BRT neu konzipierte Kran-Haus im Hintergrund perfekt in die Zentralperspektive einbauen.
Die Bezeichnung ‚Fluchtpunkt‘ ergibt sich aus der Definition des Begriffs ‚Parallele‘ in der Euklidischen Geometrie. Laut Euklid gelten zwei Linien als parallel, wenn ihre gedachten Verlängerungen sich im Unendlichen schneiden, also ganz weit weg. Das Unendliche selbst entzieht sich allen Blicken, anderenfalls wäre es endlich. Es ist so weit weg, weil dieser Schnittpunkt vor jedwedem Blick eines Betrachters zu ‚fliehen‘ scheint. Dieser ‚flüchtende‘ Punkt ist deshalb nichts real Nachweisbares; man kann nicht zum Horizont gehen und sich da diesen Schnittpunkt ansehen. Sein Wesen ist, dass er Konstrukt zu bleiben hat. Der Fluchtpunkt weist allenfalls auf irgendeine noch nicht gefundene Meta-Ebene, mehr kann er im Grunde nicht. Er existiert – und auch wieder nicht. Wohl deshalb wird der Fluchtpunkt bisweilen auch ‚Verschwindepunkt‘ genannt. Er liegt auf einer Verschwindelinie in der Verschwindeebene – architekturzeichnerische Fachbegriffe, die wir uns im Kapitel ‚Häuserbild und Terminologie‘, Seite 125 ff., näher ansehen werden.
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Und doch hat er, der fliehende Punkt, sich als ausgesprochen nützlich erwiesen, als sehr praktisches Konstrukt – für Zeichner, Maler und Grafiker ist er eine überaus wertvolle Konstruktionshilfe. Mit seiner Unterstützung projizieren sie eine räumliche Wirkung auf die ebene Zeichenfläche. Ohne ihn ginge das nicht. Wer heilt, hat Recht – sagt man ja auch in der Alternativmedizin – nämlich dann, wenn die Erfahrung ‚Ja‘ sagt und die Wissenschaft ,Nein‘. Weil sich der Raum selbst in die drei Koordinaten Länge, Breite und Höhe gliedert, lassen sich meist drei Fluchtpunkte in unserer Seherfahrung ausmachen, für jede Dimension jeweils einer. Derjenige für die Raumhöhe befindet sich oben oder unten – je nachdem, ob man aufwärts oder abwärts schaut. Die beiden anderen sind die seitlichen Fluchtpunkte, sie liegen bekanntlich auf dem Horizont, und der befindet sich bei Geradeausblick innerhalb des Bildes immer auf Augenhöhe des Betrachters. Wenn wir so schräg fotografieren, wie wir meist auf die uns umgebenden Objekte sehen, hätten wir diese drei Fluchten auch im Bild. Meistens sieht ein Foto geordneter aus, wenn weniger Fluchten zu sehen sind, unter anderem deshalb gestalten wir Bilder, etwa durch eine bestimmte Perspektive. Das tun Maler und Zeichner auch, nur einen entscheidenden Unterschied gibt es: In der Fotografie wird Perspektive nicht konstruiert, sie wird gefunden. Und dann mit der Kamera eingenommen. Beide Arten, die zeichnerische wie die fotografische, erfordern zur Ermittlung einer dienlichen Perspektive zunächst ein möglichst ‚kopfloses‘ Sehen – also eines, das von Vorstellungen über die tatsächlichen Dimensionen und Proportionen des Hauses unbeeinflusst ist und sich nur auf das sensorisch Gesehene bezieht. Erst in Kenntnis der Prinzipien des ‚kopflosen‘, rein visuellen Eindrucks lässt sich die Perspektive als gestalterisches Mittel gezielt einsetzen. Die Botschaft kann nicht sein: So sieht das Gebäude aus – sie kann nur sein: So sehe ich es von hier, wo ich gerade stehe. Die Suche nach einer förderlichen Perspektive ist die Basis guter Architekturfotografie. Aus einem einfachen Grund: Gut ist sie dann, wenn sie neben einer sachlichen Information auf glaubhafte Weise auch ein Gefühl vermittelt. Und dies selbst dann, wenn es das des ‚sachlichen‘, gar ‚objektiven‘, vordergründig also nicht-gefühligen Scheins ist. Wie das betrachtete Haus nämlich aussieht, hängt ganz wesentlich davon ab, von wo ich es betrachte. Von der Seite, von der ich schaue, aus meiner Nähe oder Distanz und aus der Höhe zum Objekt ergibt sich meine Perspektive. Von fern und oben sieht es kleiner und verschlossen aus, von nahem mit aufwärts gerichtetem Blick wirkt es größer und begehbarer.
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Eine ungeshiftete Aufnahme aus halber Höhe. Ganz deutlich: zwei Fluchten, also klassische Übereckperspektive bei absolut senkrechten Motivvertikalen. Nicht jedem Gebäude tut das so gut wie dem Kölner Hafenamt, manches Haus wirkt dabei leicht zu klein. Hier war es akzeptabel, es bestand nicht der Anspruch, das Gebäude pompös wirken zu lassen.
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Aufsicht macht alles kleiner.
Untersicht macht alles größer.
Und noch größer wirkt das Ganze aus der Nahdistanz, und zwar mit kürzerer Brennweite – am deutlichsten mit Fluchtlinien. Die bekamen wir durch eine seitliche Position ins Bild.
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Nähe und Sehrichtung auf das Gebäude bestimmen meinen Blickwinkel, sie sind Ausdruck meiner persönlichen Sichtweise, und – wie im ganz normalen Alltag – halte ich diese oftmals für objektiver, als sie ist. Aber genau das macht Bilder von Bauten zu Objekten der Simulation, Suggestion und der bildnerischen Manipulation. Es sind dieselben Gesetze wie in der Werbefotografie: Schon durch die gezielte Wahl meiner Perspektive kann ich bestimmen, wie ein Haus atmosphärisch aussieht. Zumindest auf dem Foto. Meine Perspektive lässt es übergroß erscheinen oder beschaulich klein, bedeutend oder bescheiden, besucherfreundlich und integrativ oder distanziert wie eine künstlerische Skulptur, die sich dann eher zum Ansehen als zum Betreten eignet.
Raumlinien wollen nicht immer perspektivisch bierernst genommen werden, bisweilen mögen sie es auch ein wenig verspielt. Die BMW Welt in München ist sicher ein Gebäude von großer architektonischer Autorität, und viele Fotografen möchten so etwas gern umsetzen. Gerade deshalb lohnt sich auch mal ein spielerischer Schrägblick auf ein unscheinbares, seitliches Detail. Solche Perspektiven bieten sich zwischendrin immer beim ungezwungenen ‚Object Storming‘. Hier konzentrieren wir uns auf ein expressives Detail, die für dieses Gebäude typische Cyma.
Der Begriff selbst kommt vom lateinischen perspicere, was soviel wie ‚durchschauen’, ‚deutlich sehen‘ oder ‚überblicken‘ bedeutet. In Anlehnung daran spricht man im Zusammenhang mit der Tätigkeit des Besichtigens auch vom Perspizieren – sogar vom Inspizieren, wenn der Blick das Äußere um das Innere erweitert, also nach innen gehen soll. Auch im übertragenen Sinn des allgemeinen Sprachgebrauchs ist Perspektive natürlich nie absolut, sondern immer subjektiv, persönlich und damit relativ. Jeder hat seine eigene Sichtweise, und letztlich ist sie es, die abgebildet wird. Das ist bildnerisch genauso relevant, wie es aus philosophischer Sicht interessant klingt. Der Mensch, nicht das Göttliche, als sehendes Zentrum – genau das war ja einst der klerikale Vorbehalt.
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Also: Göttlich oder objektiv gibt es offenbar nicht; die manchmal recht teuren, mehr oder weniger durchlässigen Zylindervorsätze an den Fronten unserer Kameras – sie heißen nur so. Versehentlich oder unreflektiert. Nur wenn mein persönlicher Blickwinkel geometrisch exakt rekonstruierbar wäre, ließen sich Rückschlüsse auf die realen Größenverhältnisse des Angeschauten ziehen. Das geht aber nicht, eine zentralperspektivische Konstruktion ist nicht eindeutig umkehrbar – verschiedene Ansichten auf veränderliche Gebäudeformen können zum selben Bildergebnis kommen, müssen es aber nicht. Es ist ja nie gesichert, dass das Gebäude tatsächlich aus rechten Winkeln besteht und kurze Schräglinien tatsächlich Fluchtlinien sind, die gen Hintergrund führen – das Haus könnte ja tatsächlich schief gebaut sein. Wir kennen das von Altbauten und Innenarchitekturen auf Schiffen.
Hier ist alles ein wenig schief, besonders die Decke. Kein Wunder, denn wir befinden uns im Bauch eines Windjammers, genauer: im Offizierskasino des ukrainischen Großseglers ‚Khersones‘. Damit das Ganze seinen Schiffscharakter behält und nicht wie ein Gebäude-Interieur aussieht, haben wir uns mit perspektivischen Korrekturen zurückgehalten. Auch das einstrahlende Sonnenlicht haben wir bewusst zugelassen, damit die Atmosphäre etwas Bewegliches hat.
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Und es geht noch schiefer. Im Bug des Schulschiffes befindet sich die Kantine. Für eine ‚Landratte‘ gehört schön etwas Übung dazu, hier auf hoher Fahrt noch Haltung zu bewahren, und wer dabei seinen Seemannskaffee nicht festhält, muss hinterher das Deck schrubben. Dasselbe Weitwinkel wie oben, und auch hier haben wir die Kamera nur an den Vertikalen ausgerichtet, den grünen Stangen und den fest verankerten Stuhl- und Tischbeinen.
Trotzdem schwanken philosophische Argumentationen generell zwischen ‚objektivistischen’ Ansätzen, die aller Erkenntnis des Außen eine sachlich eindeutige, nachprüfbare Basis zuschreiben – eine, die bei ausreichendem Wissensstand von jedermann und jederfrau gleichermaßen erfahrbar ist, und einer ‚subjektivistischen’ Position. Das ist eine, die die Erfahrung und Erkenntnis der Dinge nur im Kontext einer ganz individuellen Sichtweise sieht, der persönlichen oder kulturell etablierten Seh- und Sichtweise, und die kann eben nur vor dem eigenen Erfahrungshorizont stattfinden. Nichts auf der Welt kann also ohne Perspektive wahrgenommen werden, Sichtweisen sind also nicht objektivierbar – worum es sich bei einer gelungenen Perspektive immer dreht, ist Glaubwürdigkeit. Glaubwürdig ist ein Eindruck, wenn sich eine Mindestmenge von Betrachtern auf ihn einigen kann. Die Möglichkeit, mit selbst gewählter Perspektive glaubwürdig und gezielt Einfluss zu nehmen auf die Art, wie die Welt erfahren wird, ist ein Ergebnis der modernen Verhaltenstheorie und der Motivationsforschung. Nach dieser ist jeder seines Glückes Schmied – oder eben Unglückes, niemand kann sich auf die Entschuldigung zurückziehen, hilfloser Spielball irgendwelcher ihn umgebenden Kräfte zu sein, auch nicht der einer unansehnlichen Architektur mit unlösbaren lokalen Aufnahmebedingungen. Das allein macht noch kein Foto schlecht, lässt keines misslingen. Die Möglichkeit aber, beim Bildermachen mithilfe von Perspektive gezielt Einfluss zu nehmen auf die sachliche oder erfahrungsgerechte Wirkung von Objekten und Szenen innerhalb eines Bildes, ist in erster Linie ein viel älteres Verdienst, nämlich das der Renaissance. Von der sukzessiven Entwicklung der zeichnerischen Möglichkeiten, Motive seinerzeit auf einer Fläche räumlich wirken zu lassen, profitiert auch die Gestaltung, die wir heute mithilfe der Position unserer Kamera vornehmen.
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Ein sympathisches, aber nicht unproblematisches Motiv. Der Kunde war so verliebt in seinen römisch-rustikalen Restaurant-Keller in der Kölner Altstadt, dass er alles, aber auch alles auf einem einzigen Foto haben wollte, den roten Kachelboden, die Natursteinwände und das Deckengewölbe. Der Raum war nicht unbedingt klein, aber für eine Fast-Rundumsicht waren die Verhältnisse – zumindest aus Fotografensicht – doch recht beengt. Den besten Überblick bot eine extreme Weitwinkelposition von der Metalltreppe, die ins Restaurant hineinführte. Von dort wäre zwar ein etwas tieferer Standpunkt, verbunden mit einem kräftigen Aufwärts-Shift sicher besser gewesen. Aber dann hätte rechts das Treppengeländer zu viel Dominanz bekommen. Kompromisse nur, wo sie unbedingt sein müssen.
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Hier die entzerrte Untersicht des Gebäudes aus dem Rheinauhafen in Köln. Diese teils parallele Ansicht kennt man in der Architekturzeichnung ansatzweise als Kavaliersperspektive. Der extrem geometrische Aufbau macht das Bild einfach, reduziert und verleiht ihm gerade dadurch Klarheit und Kontur. Großes Glück hatten wir mit dem warmen Licht der untergehenden Sonne und den leicht getrübten Schäfchenwolken; sie spiegelten sich in der Fassade und kontrastierten dort ideal mit der architektonischen Kühle des Bauwerks.
Der Zwiespalt zwischen Raum und Fläche Die drei Dimensionen des umgebenden Raums zusammenzudrücken, mit einer Art Lupensystem zu falten, einzuebnen und dann in einer handlichen Fläche unterzubringen, das heißt gewissermaßen, ‚rückwärts zu transzendieren‘. Oder fotografieren. Zeichnen und Malen stellen nichts anderes dar. All dies sind Formen des Abstrahierens, und zwar von der Zahl Drei zurück auf die Zwei, die dialektisch eine Stufe unterhalb der Drei liegt. Formal eine Reduktion, aus geometrischer Sicht haben wir eine Dimension weniger. Es ist, als würden wir unser Motiv durch eine Fensterscheibe ansehen und es minutiös auf dieser nachzeichnen, ‚es abpausen‘: Aus der räumlichen Tiefe wird so wieder eine ebene Fläche.
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Gut, wenn wir dieses Prinzip gestalterisch im Kopf haben, insbesondere dadurch, dass wir bewusst und gezielt den für uns allerbesten Standpunkt vor dem Objekt aussuchen. Gar nicht so selten lernt man dabei die Bewohner umgebender Gebäude kennen, weil der einzig gute Standort vor einem Motiv schon mal auf dem Dach, dem Fenstersims oder Balkon eines Nachbarhauses liegen kann. Gegenüber Zeichnung und Malerei treten mit der Fotografie zusätzliche Parameter der Abstraktion hervor. Erst die Fotografie artikuliert deutlich und klar die Möglichkeit, mit der Wahl von Brennweite, Fokussierung und Schärfentiefe die Bildaussage anders als in der Zeichnung zu manipulieren. Mit den Flächenkünsten wird räumliche Realität daher nicht wiedergegeben, sondern neu geschaffen – ähnlich wie durch Aktionen und Übungen in der modernen Verhaltens- und Motivationsforschung bestimmte Sichtweisen auf die Welt derart an- und abtrainiert werden sollen, dass mit einer neuen Sicht gewissermaßen auch eine neue Welt entsteht – innen wie außen. Ob diese objektiv oder subjektiv sei, wäre egal, Hauptsache, sie ist lebbar und man fühlt sich wohler mit der Umwelt als vorher. Aufs Foto übertragen hieße dies: Hauptsache, die bildnerische Interpretation wirkt im Foto realistisch. Schon im vierten vorchristlichen Jahrhundert beschäftigte sich der Mathematiker Euklid mit den Gesetzen des Sehens, die Erkenntnisse dazu hielt er in seinem Theoriewerk ‚Katoptrik‘ fest. Während also bereits im alten Griechenland das perspektivische Zeichnen mit Orientierung an Fluchtpunkten teilweise bekannt war, verzichteten die Maler der römischen und ägyptischen Antike weitgehend auf zentralperspektivische Mittel, also darauf, den Raum plastisch korrekt zu zeigen. Man legte keinen besonderen Wert auf sehgerecht wirkende Verkürzungen, auf Überschneidungen hintereinander liegender Formen, auf Konvergenzen von Linien, die in den Bildraum hinein verliefen oder farbliche Abkühlungen zwischen Vorder- und Hintergrund, wie Leonardo sie in der Luftperspektive, dem so genannten Sfumato, beschrieb. Die Fläche als solche zu verleugnen und stattdessen Fluchtpunkte zu simulieren, war kein explizites Thema, alles war ‚platt nebeneinander‘ platziert. Kurz zur Erläuterung des Begriffs ‚Sfumato‘: Aufgrund der in der Luft schwebenden Feuchtigkeitspartikel ändert sich die Wiedergabe von Tonwerten und Details mit zunehmender Seh-Entfernung zum Objekt. Je weiter dieses weg ist, desto blasser und bläulicher die Farben, desto geringer die Kontraste und undeutlicher die Detailzeichnung. Leonardo brachte seinen Schülern Techniken bei, diesen Effekt aus der Natur als ‚Luftperspektive‘ auf die Leinwand zu übertragen, um Naturbilder räumlicher wirken zu lassen.
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Eine einfach anmutende Perspektive, scheinbar aus halber Höhe frontal auf die Fassade, nur die Untersicht unter die Dachkante und unter den Eingangsbereich verrät, dass perspektivisch manipuliert wurde.
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Mit der Unterstellung eines bloßen zeichnerischen Unvermögens derer, die nicht zentralperspektivisch gemalt hatten, sollte man allerdings vorsichtig sein. Den altägyptischen Gelehrten ihre Kenntnisse in geometrischer Konstruktion einfach abzusprechen, hieße zu ignorieren, dass im europäischen Vergleich gerade die antike Mathematik Ägyptens sehr weit fortgeschritten war. Man vermutet, dass nicht die künstlerischen Fähigkeiten anders waren, sondern die Prioritäten. Wahrscheinlich sollte gar nicht die gesehene Realität im Bild imitiert werden, eine simple Kopie des ‚Augen-Blicks‘ war wohl nicht das primäre Ziel. Zeigen wollte man in erster Linie sicher etwas anderes. Allem Anschein nach ging es eher darum, die Bilder kommunikativ zu nutzen: In einer Art Frühform des Symbolismus wollte man geistige und spirituelle Botschaften formulieren, und die waren ohne die ablenkende Ästhetik eines sehsinnlich gewohnten räumlichen Bezugs einfach klarer zu erfassen. Durch das flächige Nebeneinander symbolischer, allegorischer oder spirituell aufgeladener Figuren hat man es bewusst in Kauf genommen, jeder Tiefenwirkung innerhalb des Bildes zu entgehen. Vielmehr waren die Bilder als zweidimensionale Tableaus gehalten, auf denen Symbolkonstellationen wie auf einer Tafel zu sehen sein sollten. Keinesfalls sollte man sich in ihnen ob einer besonders realistischen Darstellungsweise sinnlich verlieren – eine solche Form der Sinnlichkeit wäre viel zu diesseitig gewesen. Wichtig schien der Geist, der hinter dem Gesehenen steckt, es ging um eine Art spirituellen Realismus, nicht um einen visuellen. Beim Anblick solcher ‚perspektivisch ungereimten‘ Bilder mutet ein solches Gefüge flächiger Elemente in einer Ebene fast mosaikhaft an. Aber es gibt eben Dinge, die mindestens genauso wahr, wenn nicht ‚wahrer‘ sind als das, was wir mit Kopf und Auge sehen. Wahrheit ist nun mal subjektiv, dieser zylindrisch verdrehbare Aufsatz an der Kamerafront firmiert im Grunde unter falschem Namen. Heute kennen wir Wahrheiten, die zu ihrer Subjektivität stehen, untrüglich von den so genannten ‚Standlinienbildern’ unserer Kinder. Bis zu einem gewissen Kleinkindalter herrscht in deren Bildern eine so genannte ‚Bedeutungsperspektive’ vor. Die mit Augen gesehene Größe von Motivelementen ist dabei völlig unwichtig, im Bild werden Dimensionen und Proportionen nach der persönlich empfundenen Bedeutung bemessen. Wichtige Bildelemente sind einfach größer als weniger wichtige, sie haben eben mehr Wirklichkeit – wer wollte das nicht plausibel finden. Für die zeichnenden Kinder sind die entstehenden Größenverhältnisse völlig real, die kleinen Künstler staunen irritiert, wenn man das hinterfragt. Auch fotografisch kann fast jedes einzelne Motiv durch Ober- oder Untersicht bewusst größer oder kleiner dargestellt werden, so dass man deren Bedeutung und Gewicht im Bild betonen oder verringern kann. Selbst Nähe und Ferne – besser: Kriterien, die den Betrachter in das Foto thematisch integrieren und zum Teil des Bildgeschehens machen, oder Kriterien, die ihn ausschließen und zum außen stehenden Beobachter machen, sind Aspekte einer Weiterentwicklung der frühkindlichen Bedeutungsperspektive. Eben weil dadurch einer dieser Punkte mehr, der andere weniger Bedeutung innerhalb des Fotos bekommt. Realisiert wird das Ganze mit einer Kombination aus Ferne mit ‚teliger’
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oder aus Nähe mit weitwinkliger Brennweite. Wie groß das Motiv dabei abgebildet wird, spielt für diese Effekte kaum eine Rolle; Integration oder Ausschluss des Betrachters ergibt sich nur aus dem jeweiligen Größenunterschied zwischen Vorder- und Hintergrund, der bei diesen Kombinationen entsteht. Perspektivische Tricks mit gezielt eingesetzter Aufnahmehöhe funktionieren, weil der ‚normale’ Betrachterblick geradeaus führt, die Blickrichtung – in der Architektensprache: der ‚Sehkegel‘ – ist waagerecht, unsere Augen zeigen physiologisch nach vorn – nicht etwa nach unten oder oben. Deshalb liegt der Blickpunkt auf der Bildfläche immer auf der Horizontlinie. ‚Normal’ ist daher eine Perspektive mit einem, höchstens zwei Hauptfluchtpunkten auf dem Horizont, denn senkrechte Gebäudelinien bleiben so parallel. Deshalb empfinden wir Architekturaufnahmen mit entzerrten Gebäudevertikalen meist als natürlich. Wie das aufnahmetechnisch geht, darüber später mehr. Erst der aufwärts gerichtete, also schräg nach oben weisende Blick, lässt senkrechte Motivlinien offenbar konvergieren, sie scheinen zu ‚stürzen‘. An der eben erwähnten Fensterscheibe können wir das schnell nachvollziehen, dafür müssen wir nur schräg nach oben hindurchschauen und dann die Motivsenkrechten nachzeichnen. Dasselbe passiert innerhalb des Bildes, wenn man die Kamera vor dem Gebäude aufwärts richtet, also nach hinten kippt – etwa um das Dach mit aufs Foto zu bekommen. Auch im übertragenen Sinn entsteht die Botschaft, der zufolge wir im zwischenmenschlichen Bereich zu etwas aufblicken oder auf etwas herabblicken. Das Gegenteil, nämlich die Begegnung auf Augenhöhe, vermittelt Ebenbürtigkeit zweier Instanzen, die einander komplementär sind: Betrachter und Motiv. Wir schauen horizontal durch die Fensterscheibe, die optische Achse senkrecht darauf gerichtet. Aber schräg durch Scheiben blicken und das Gesehene dann darauf nachzeichnen, ist auch eine Form von Realismus, wenngleich es den gewohnten Vorstellungen erst einmal zuwider zu laufen scheint … ***
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Ein klassischer Fassadenblick: Horizontal entzerrt durch mittige Position vor dem verglasten Halbrund – und vertikal entzerrt durch Kamera-Shift. Äußerlich schien uns das Bürogebäude nicht allzu interessant, also entschieden wir uns auch hier für eine Aufnahme bei niedrigem Sonnenlicht. Das brachte wenigstens noch etwas ‚Salz in die Suppe‘, wie man so zu sagen pflegt.
Biegen an Bildern Der Gedanke, dass sich Seh- und Sichtweisen in Bildern modifizieren, sogar lustig verfremden lassen, scheint viele Künstler inspiriert zu haben. Wenn man es in gewisse plausible Formzusammenhänge bringt, scheint das Ganze eine spielerische Freiheit zu öffnen, mit der man von erlernten Perspektiven wegführen (abstrahieren) kann, ohne ins Beliebige oder allzu Humorlose auszuarten. Überhaupt
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scheint es in manchen Fällen tatsächlich nicht allzu ernst gemeint zu sein. Bekannt sind die Bilder des 1972 verstorbenen niederländischen Grafikers Maurits Cornelis Escher mit jeweils mehreren Perspektivelementen, die einander widersprechen, und zwar innerhalb eines Bildes. Nicht nur, dass der Betrachterstandpunkt vor dem Motiv nicht eindeutig auszumachen wäre – nein, bisweilen wechselt er ständig, es existieren sogar viele davon. Aber schon zweihundert Jahre vorher, nämlich 1754, zeigt der Brite William Hogarth einen knapp Frühstücksbrett-großen Kupferstich mit dem Titel ‚Satire On False Perspective‘ (‚Satire über die falsche Perspektive‘). In humoristischer Manier zeigt er hinter- oder voreinander liegende Motivelemente, die sich auf räumlich unmögliche Weise überlappen und deren Größenverhältnisse zueinander perspektivisch nicht stimmen können. Dennoch wirken sie, jedes isoliert für sich betrachtet, ausgesprochen plausibel. Sein Credo dazu hat er auf dem Blatt unter dieses Bild geschrieben: Whoever makes a design without the knowledge of perspective will be liable to such absurdities as are shown in this frontispiece. (William Hogarth) Also: Wer immer eine Gestaltung ohne die Kenntnisse der Perspektive macht, wird solcherlei Absurditäten unterliegen, wie sie in diesem Frontispiz gezeigt sind. Ein Frontispiz (von frz. frontispice f. ‚Titelblatt’) ist in der Buchdruckerkunst ein links dem inliegenden eigentlichen Titelblatt gegenüberliegendes Bild, wie bei diesem Buch von Hogarth meist ein Stich. Diese ‚Stirnseite’ liegt auf der Rückseite des ‚Schmutztitels’. Interessanterweise kommt der Begriff aber auch als Terminus in der Architektur vor, und zwar für ein Detail am Haus: der wie ein kleiner Giebel dreieckig vorspringende Teil einer Fassade über Türen und Fenstern. Besondere räumliche Kniffe mancher Künstler bestanden darin, metaphorische Elemente wie bei einer Fotomontage in das Bildgeschehen einzubauen – Elemente, deren besondere formale Eigenschaft darin bestand, dass sie ‚anamorphotisch‘ verzerrt worden waren (anamórphosis v. griech. f. ‚Umwandlung’). Diese Verzerrung entstand dadurch, dass man die Elemente aufgrund einer vorgeblichen extrem flachen Schrägperspektive so stark in die Länge gezogen hatte, dass sie aufgrund der Abstraktion als eine Art Geheimcode im Gemälde fungieren konnten. Auf den ersten Blick konnte man diese Elemente also gar nicht erkennen, erst eine wiederum extreme Schrägansicht aufs Bild machte die Abstraktion scheinbar rückgängig und entschlüsselte das Verzerrte dieser Codes. Oft waren dies geheime Botschaften, etwa Totenköpfe, die im Alltagsleben auf die Allgegenwart des Todes hinweisen sollte. Anamorphosen zeigen virtuelle Perspektiven, sie suggerieren einen ganz bestimmten Blickpunkt schräg zur Bildebene und lassen das Bild erst dann plastisch erscheinen, wenn man diese Position tatsächlich vor dem Bild einnimmt. Anamorphosen finden wir als so genannte ‚Scheinarchitekturen’, aber
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auch in den Skizzensammlungen Leonardos und schon im 16. Jahrhundert bei dem deutschen Maler Hans Holbein dem Jüngeren. Im Cinemascope-Verfahren für die extremen Kino-Breitwandprojektionen verwendet man seit vielen Jahren sogar Objektive, die gewollt anamorphotisch verzerren. Diese Objektive haben keine sphärischen, sondern oval geschliffen Linsenoberflächen, wodurch sie vertikal eine größere Brennweite, also viel größere Abbildungsmaßstäbe und damit kleinere Bildwinkel aufweisen als horizontal. Die Verzerrung geschieht an der Kamera, im 35 mm Kinoprojektor wird sie durch einen gegenläufig (im 90°-Winkel zur ursprünglichen Verzerrung) angebrachten Anamorphoten wieder aufgelöst. Der Vorteil liegt darin, dass man für die extreme Breitwandprojektion, wie sie im Kino gewünscht ist, nicht so viel Objektivauflösung nach oben und unten verschenkt. Das wäre nämlich zu befürchten, wenn das Breitwandformat bloß einen schmalen Panoramastreifen aus der Mitte des Auszeichnungskreises nutzen würde. Mit anamorphotischen Objektiven wird also durch seitliche Stauchung ein extrem breites Panoramaformat mit dem Seitenverhältnis 2,35 : 1 auf einen Film mit dem normalen Seitenverhältnis 3 : 2 belichtet. Die Projektion zerrt das seitlich gestauchte Bild dann für die breite Kinoleinwand wieder in die Breite. Anamorphotische Bildwirkungen kennen wir aus dem Alltag, etwa aus dem Straßenverkehr: Die Pfeile auf Abbiegespuren oder Fahrradzeichen auf asphaltierten Radwegen sind so in die Höhe gezogen, dass herannahende Verkehrsteilnehmer sie aus der Schrägansicht gut erkennen können. Und wir kennen sie von Zerrspiegeln auf dem Jahrmarkt. Auch in der Malerei finden sich vielfältige Zerrspiegel-Darstellungen, die nur wieder über ZerrspiegelBetrachtungen aufgelöst werden können. Manchmal dienten solche Schrägprojektionen allerdings dem genauen Gegenteil: Plausible anamorphotische Darstellungen finden sich in den Guckkästen des niederländischen Künstlers Samuel van Hoogstraaten aus dem 17. Jahrhundert. Hier dienten die Anamorphosen dazu, das Bild im Kasten perspektivisch möglichst sehgetreu erscheinen zu lassen. Aufgrund des geringen Blickabstands beim Schauen in die Kästen würden die Proportionen der Motive bei normaler Darstellung nicht realistisch wirken, weil man zum einen mit dem Auge sehr nah dran war, die Motive aber Entfernteres darstellten. Mit der Anamorphose ließ sich das Auge jedoch überlisten, und das Ganze wirkte real – ein guter optischer Trick. Letztlich ist die Anamorphose eine spezielle Form der Zentralperspektive – eine, in der der Standpunkt des Betrachters vor dem Bild noch stärker fixiert wird, als das in der Zentralperspektive ohnehin schon der Fall ist. Für die Architekturfotografie ist diese Erkenntnis elementar, denn: Im Bild zeigt sich die räumliche Wirkung von Architekturen nicht nur an der perspektivischen Linienführung im Raum, an Überlappungen hinterinander liegender Motivelemente, selektiver Verteilung der Schärfe im Raum oder Sfumato-Effekten am Horizont, sondern gerade auch an anamorphotisch verzerrten Details. Das Stichwort hierzu heißt: Projektive Verzerrung. Dazu jetzt mehr. ***
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Die ‚Khersones‘ ist heute eine der größten noch fahrenden Windjammer der Welt. Trotz seiner enormen Länge und den über 50 Metern Masthöhe ist es unter Deck und auf der Brücke recht eng. Nicht nur Soldaten, auch Kreuzfahrtgäste können sich hier seetauglich ausbilden lassen. Die Trainee-Brücke dieses Schul- und Kreuzfahrtseglers ist so simpel aufgebaut wie eine einfache Mansarden-Küche. Nicht unbedingt komfortabel, sondern spartanisch und funktional. Und für uns bildnerisch interessant – immerhin boten ihre Bullaugen mindestens zwei verschiedene Urformen in ‚projektiver Verzerrung‘: Quadrat und Kreis. Sehr schön zu sehen, wie daraus in der Seitenansicht Trapez und Ellipse werden. Aber was muss man dazu schon sagen, jeder weiß es ja. Auch wenn nicht unbedingt jeder weiß, dass er es weiß.
Projektive Verzerrung und vergessener Alltag Im Jahr 1810, nur wenige Jahre bevor in einem unscheinbaren Hinterhof in Frankreich das erste Foto entstand, baute der englische Geologe John Farey einen so genannten Ellipsografen. Wie die Bezeichnung vermuten lässt, macht man damit Ellipsen – und zwar aus Kreisen. Wozu das? Ein Ellipsograf ist eine grafische Mal- und Zeichenhilfe. Mit ihm lassen sich Kreise exakt so konstruieren, wie man sie in Schrägansicht sehen würde, und zwar aus jedem gewünschten spitzen Winkel. Als Maler oder Zeichner erstellt man damit eine so genannte ‚projektive’ oder auch ‚radiale’ Verzerrung. Aber weil die perspektivisch verformte Wiedergabe exakt unserer ‚Erfahrungsperspektive’ entspricht, entfaltet sie im Bild eine besonders realistische Wirkung.
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Die projektive Verzerrung ist unabhängig von der Korrekturgüte des Objektivs, also kein Objektivfehler. Sie sollte nicht verwechselt werden mit der kissen- oder tonnenförmigen Distorsion, und sie lässt sich nur durch eines verringern: einen größeren Aufnahmeabstand oder eine mittigere Positionierung des verzerrten Objekts. Die projektive Verzerrung ist eine reine Perspektiv-Angelegenheit, sie entsteht bei der Schrägsicht auf geometrische Motivflächen. Dies wird in der Architekturzeichnung Schrägbild genannt und erscheint so vertraut, dass es uns in der Realität gar nicht mehr bewusst auffällt. Statistisch ist es viel wahrscheinlicher, schräg auf eine ebene Fläche zu blicken als senkrecht – einfach weil es da viel mehr Möglichkeiten gibt. Unserer Bewusstheit ist diese Verzerrung durch Gewohnheit entschlüpft, und doch können wir sie an unserem erwähnten Fenster sichtbar machen, nämlich wenn wir beim schrägen Durchblick etwas nachzeichnen. Aus dem, was in natura etwa kreisförmig ist, wird dabei eine Ellipse, aus einem Rechteck ein Trapez. Und ein Oval wird zum Ei. Aus schräger Nähe wohlgemerkt. Noch etwas haben wir schier vergessen – nämlich dass wir im Alltag ohnehin fast immer schräg sehen. Beinah alle Dinge, auf die wir unseren Blick richten, liegen schräg in unserem Blickfeld und schief zur optischen Achse unserer Augen (Hauptsehstrahl). Kaum etwas nehmen wir absolut senkrecht oder waagerecht wahr. Nur selten schauen wir exakt frontal oder im 90°-Winkel seitlich auf ein Objekt – der Informationsgrad ist geringer. Von dieser Gewohnheit her wissen wir, dass auch eine simple Sachaufnahme im Studio sinnvollerweise immer eine Dreiseitenansicht sein muss. Sie soll eben informieren, nicht etwa fotografisch anspruchsvoll wirken. Projektive Verzerrung ist also etwas völlig Normales, wir kennen sie aus dem Alltag. Ohne sie könnten wir uns viel schlechter im Raum orientieren. Erst bei genauerem Betrachten von Fotos sehen wir, dass auf Gruppenbildern bisweilen die Gesichter von am Rand befindlichen Personen tatsächlich zu ‚Eierköpfen’ verzogen erscheinen. Dies umso mehr, je näher die Aufnahmedistanz und je kürzer die Brennweite, je größer also der Bildwinkel war. Der Blick von dort auf die Gesichter an der Seite ist eben besonders schräg. Deutlich ist das auch bei der Schrägansicht etwa von Bullaugenfenstern, die zu Ellipsen werden, deren Zentrum von der Bildmitte weg nach hinten verschoben ist. Dadurch wirkt der vordere Ellipsenbauch sogar runder, er hat einen kleineren Radius als der hintere. Ein sehr großer Abstand zum Objekt kann bei normalem Sehwinkel eine große Übersicht über das Objekt verschaffen. Ein sehr kleiner Abstand zum Objekt (verglichen mit dessen Größe) erfordert dagegen einen relativ großen Bildwinkel, also eine kurze Brennweite. Zu starke Nähe aber verzerrt das Bild des Objekts – mathematisch im Tangensquadrat des halben Bildwinkels, also seiner angularen Abweichung von der optischen Achse, dem Hauptsehstrahl. Folgende Verzerrungen entstehen bei diesen seitlichen Abweichungen: Q
Bei 15° seitlicher Abweichung (Bildwinkel 30°) wird der Rand um 100 % verzerrt,
Q
bei 30° seitlicher Abweichung (Bildwinkel 60°) wird der Rand um 33,3 % verzerrt,
Q
bei 45° seitlicher Abweichung (Bildwinkel 90°) wird der Rand um 7,2 % verzerrt.
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Welche Brennweite und welcher Abstand sind am besten? Diese Frage führt zu den RaumlinienVerkürzungen, wie sie in der Architekturzeichnung üblich sind. Diese Verkürzungen hängen von dem Winkel ab, den sie zur Motivsenkrechten haben – letztlich also davon, wie stark die Schrägansicht ist, aus der man das Gebäude aufnimmt. In der Kavaliersperspektive, also rechtwinkliger Frontalansicht (Aufriss aus theoretisch unendlicher Ferne) auf die Fassade aus leicht seitlicher Position, d.h. bei zusätzlichem Schrägblick auf eine Gebäudeseite sind folgende isometrische Verkürzungen gebräuchlich: Q
bis 45°: Verkürzung um die Hälfte
Q
bis 60°: Verkürzung um zweidrittel
In dimetrischer Ansicht nimmt man gern einen Winkel von 7°10“ auf der einen Seite, zusammen mit 41°25“ auf der anderen Seite. Die Linien von Front, Seite und Oben gibt man dann im Verkürzungsverhältnis 1 : 1 : 0,5 wieder. Man spricht davon, dass die projektiven Verzerrungen bei Bildwinkeln bis etwa 60° weitgehend vernachlässigt werden können, sie fallen da nicht so auf, weil sie gewohnt und sehgerecht wirken. Als optimal für eine weitgehend sachliche Darstellung gilt bei Architekturzeichnern also ein Sehwinkel bis etwa 60° auf das Gebäude, fotografisch umsetzbar ist dies idealerweise mit einem leichten Weitwinkelobjektiv. (Zum Vergleich: Eine Normalbrennweite hat einen diagonalen Bildwinkel von etwa 47° – genauer Winkel: 46,7°.) Mit diesem Objektiv und unter diesem Winkel blickt ein Betrachter aus so genannt ‚normalem’ Abstand aufs Gebäude. Dieser ‚normale‘ Betrachtungsabstand hängt von der Größe des betrachteten Objekts ab. Er steigt mit der Größe, weil wir weiter weggehen, um Großes anzusehen, und näher herangehen, wenn wir uns Kleines ansehen. Als ‚normaler Betrachtungsabstand‘ zum guten Überblicken eines Gebäudes wird gemeinhin das Anderthalbfache seiner größten Ausdehnung genannt – also: "«Ì>iÀÊ>ÕÃÃV
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iÀÊÃÌÊ>ÃÊLÀiÌ® Bei einem Sehwinkel von 60° spricht man vom so genannten zentralen Gesichtsfeld (das gesamte oder totale Gesichtsfeld beträgt beim Menschen ziemlich genau 180°). Zentral deshalb, weil er der wichtigste Teil des gesamten Sehkreises ist, alles innerhalb dieses Kreises sieht für den Menschen unverzerrt aus. Die Winkelangaben gelten für den diagonalen Bildwinkel, das Seitenverhältnis des horizontalen zum vertikalen Bildwinkel beträgt bei Menschen etwa 16 : 9.
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Nahpositionen können mit Ultraweitwinkel gerade bei moderner Architektur fotografisch recht verführerisch sein – mit solchen Objektiven braucht man ja nicht so viel Raum, hat eine freiere Auswahl des Kamerastandpunktes, und im Bild kann es schon sehr plakativ aussehen. Extreme Perspektiven mit überzeichneter Tiefen- oder aber mit besonders starker Flächenwirkung (lange Teles aus großer Ferne) gelten bisweilen zwar als fotogen, erscheinen aber leicht unwirklich, übertrieben bildzentriert (‚zu künstlerisch’ heißt es oft). In der professionellen Architekturfotografie sollen oft auch noch die Proportionen der Bauten realistisch zu erkennen sein, und das erreicht man weder aus zu großer Nähe mit zu kurzer Brennweite noch aus zu großer Distanz mit zu langer Brennweite. Aus diesem Grund macht man auch Gruppenaufnahmen nicht mit extrem kurzen Brennweiten. Aufgrund des geringen Aufnahmeabstandes liefen die Gesichter am Bildrand Gefahr, durch die Schrägansicht projektiv verzerrt zu erscheinen. Aber auch zu weit weg ist nicht eben förderlich. Das Ganze wirkt von dort distanziert und unnahbar, die Raumdimensionen sehen gedrungen aus, perspektivisch verflacht, und als Betrachter fühlt man sich wie ein Beobachter von fern, weit außerhalb des Bildgeschehens. Gut, wenn man auch bei Aufnahmen von Gruppen in etwa die 60° einhält, die auch für architektonische Dokumentationen als Ausgangspunkt gelten. Ausnahmen von dieser Perspektivregel können allerdings manche repräsentativen Herrscherhäuser oder Sakralbauten sein – etwa Burgen, Schlösser oder Kathedralen, die oft auf Fernwirkung hin gebaut sind. Ihr individueller Charakter kann eher aus der Ferne mit Telebrennweiten offenbart werden. ***
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Ein prominentes friesisches Brauhaus, entworfen von Gerd Seele. Ob man diese Linien nun stürzen lässt oder nicht – Geschmackssache. Ein annähernd symmetrischer Bildaufbau mit leichtem Rahmen-Charakter bei seitlichem Sonnenstand geben dem Bild Stabilität, Geschlossenheit und Tiefe zugleich.
Wie man fallende Linien rettet Vertikale und Horizontale, das Dream-Team in der ‚Bautenbildnerei‘: Die randparallele Linie ist das kompositorische Schlüsselelement in der Architektur. Und in der Architekturfotografie ohnehin. Unerheblich ist dabei, ob sie im Bild direkt zu sehen ist oder nicht. Jedes Haus und jedes Häuserfoto nimmt Bezug auf sie, auch wenn das Haus krumm und schief, eierig, rund oder in völlig freier Form gebaut oder fotografiert ist. Selbst das alte krumme und schiefe oder das moderne, bewusst organisch konstruierte tut es. Die Abwesenheit der Geraden heißt nicht, dass es sie nicht gibt. Moral gibt es ja auch, selbst wenn sich keiner dran hält.
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Häuser sind größer als Menschen. Sonst könnten wir nicht hinein. Wollen wir sie überblicken, geht das in der Regel nicht mit waagerechtem Blick, meist müssen wir hoch schauen. Eine rückwärts gekippte Kamera schaut aufwärts. Sie hat also keine horizontale Blickrichtung mehr, per definitionem liegt der Augenpunkt damit nicht mehr auf Horizonthöhe, sondern rutscht darunter – hoch oben über dem Gebäude entsteht ein neuer, ein dritter Fluchtpunkt. Kompositorisch gilt am Gebäude selbst wie auch am Gebäudefoto aber: Stehen Linien aufrecht, stabilisieren sie – tun sie es nicht, beginnen sie zu ‚fallen‘. Das hört sich gefährlich an – jetzt heißt es, optisch zu retten, was zu retten ist – bevor sie sich ganz in die Flucht begeben. Eine solche entsteht dabei nämlich neu, und zwar oben … Auch in der Architekturfotografie ‚fällt es‘ – viel eher sogar als in der Wirklichkeit – sofort auf, wenn ‚Linien stürzen’. Das bedeutet nichts anderes, als dass wir Gebäudelinien sehen, die am Haus selbst zwar messbar parallel zueinander liegen, aber aufgrund unseres schräg gerichteten Blicks (etwa um das Dach mit ins Bild zu bekommen) auf einen Fluchtpunkt nach oben hin zusammenzulaufen scheinen. Diese Erscheinung ist eine Sonderform der projektiven Verzerrung, nur dass sie sich hier nicht auf kreis- oder gesichtsförmige Motivelemente, sondern auf gerade Motivlinien und alle dazwischen befindlichen Flächen bezieht. Diese verlaufen in den Raum hinein und scheinen dabei innerhalb des Bildes dem erwähnten Fluchtpunkt zu folgen. Der lässt sie zusammenlaufen, damit sie sich da – zumindest in ihren gedachten Verlängerungen – treffen. Also ‚stürzen’ sie. Sie scheinen vom Betrachter zu fliehen und sich klein zu machen, daher der Ausdruck ‚Flucht‘. Klassischerweise wollen die meisten Architekturfotografen diesen Effekt zunächst vermeiden. Zum einen da er zwar der tatsächlich gesehenen, weitgehend aber nicht der ‚gefühlten Realität’, also unseren Vorstellungen nahe kommt. Zum anderen weil ein Grundaufbau aus Bildrandparallelen ein Architekturbild meist aufgeräumter erscheinen lässt als ein Foto mit schiefen Schrägen. Vermeidet man allzu viele freie Flächenformen, schafft das Ordnung, Struktur, Klarheit und Orientierung auf der Bildfläche, was dem architektonischen Spezifikum der Grad- und Rechtwinkligkeit nahe kommt. Deshalb zieht man oft der Dreipunkt-Flucht, die man aus dem Alltag kennt, eine Zweipunkt-Flucht oder sogar die EinpunktFlucht vor, wie sie die Zentralperspektive bietet.
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Auch dieses Beispiel am selben Brauhaus zeigt: Stürzende Linien lassen sich durchaus in eine Komposition einbinden. Übermäßig statisch wirkt das Ganze, wenn man es dabei mit der Symmetrie übertreibt. Allerdings kann dadurch auch eine ausdrucksstarke grafische Konnotation ins Bild kommen.
Das geht prinzipiell ganz einfach. Man hält dafür die Film- oder Chip-Ebene der Kamera möglichst parallel zur Hausfront. Die Kamera muss dabei so ausgerichtet werden, dass die optische Achse waagerecht liegt, die Blickrichtung des Objektivs also horizontal verläuft. Die Bildmitte (mittleres AF-Feld) weist dann exakt auf den Horizont, und aus vertikalen Fluchtlinien werden so randparallele senkrechte Linien. Eine praktische Hilfe leistet dabei eine Gittermattscheibe in der Kamera oder der Life-ViewModus mit einblendbarem Linienraster in SLRs. Falls es bei der Aufnahme nicht exakt geklappt hat, ist es nicht allzu schlimm: Für die spätere Ausrichtung der Linien am Rechner bietet auch Adobe Photoshop ein Gitternetz, das sich einblenden lässt, oder randparallele Hilfslinien, die man mit der Maus aus dem digitalen Lineal am Bildrand herausziehen kann.
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Aber wünschenswert ist es schon, das Ganze aufnahmeperspektivisch zu lösen, da das Entzerren per Software lokale Verluste in puncto Detailschärfe nach sich ziehen kann. Auch wenn das Prinzip im Grunde recht einfach ist, lässt sich das randparallele Kriterium bei der Aufnahme selbst nicht immer ganz leicht erfüllen. Aufgrund der niedrigen Aufnahmeposition (aus Gründen der realistischen Wirkung ist das meist in natürlicher Augenhöhe) hat man obere Gebäudepartien oft nicht mit auf dem Bild. Stattdessen sieht man bei waagerechter Kameraausrichtung unten meist viel zu viel Boden im Vordergrund. Für dieses Problem gibt es verschiedene Lösungsansätze: Q
Man suche oder baue sich einen erhöhten Aufnahmestandpunkt, um den Neigungswinkel der Kamera nach oben zu verringern. Das mindert die Konvergenz der stürzenden Motivsenkrechten. Aus diesem Grund stehen Architekturfotografen oft auf ihrem Fotokoffer (bisweilen reichen schon diese wenigen Dezimeter), einer Leiter oder Balkonen, Dächern oder in Loggien gegenüberliegender Gebäude. Nachteil: Die erhöhte Perspektive wirkt für den normalen Beobachter möglicherweise nicht mehr natürlich und sehgerecht. Denn: Menschen sind eben viel kleiner als Häuser und haben sich damit an einen Blickwinkel von unten gewöhnt.
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Q
Man vergrößert den Bildwinkel nach oben, indem man die Kamera vertikal ausrichtet (Hochformat) und eine kürzere Brennweite verwendet. Sollte dabei im unteren Bildteil zu viel Vordergrund ins Bild kommen, wird man das Format hier beschneiden. Nachteil: Durch den Beschnitt verliert man Pixel, also Auflösung.
Q
Man geht mit der Kamera weiter weg vom Haus und verengt dann den Bildwinkel durch eine längere Brennweite. Nachteil: Bei dieser Perspektive legt man sich durch die Fernsicht gegebenenfalls auf eine distanzierte Bildwirkung und damit skulpturale Anmutung des Gebäudes fest.
Q
Man verwendet einen Shiftadapter zwischen horizontal ausgerichteter Kamera und Objektiv. Mit diesem lässt sich das Objektiv parallel nach oben verschieben. Am besten befestigt man aber nicht die Kamera am Stativ, sondern das Objektiv. Dafür bietet der Münchner Hersteller Zörkendorfer eine so genannte ‚Stativgondel’. Damit verschiebt man nicht das Objektiv nach oben, sondern die Kamera selbst nach unten. Vorteil: Die Perspektive ändert sich nicht – streng genommen geht diese nämlich vom optischen Zentrum inmitten des Objektivs aus. Wenn man das berücksichtigt, liegen die Übergänge der Stitchbelichtungen in Vorder- und Hintergrund exakt an gleicher Stelle. Durch den vertikalen Shift hebt sich bei horizontal ausgerichteter Kamera die Horizontlinie aus dem Bildmittelpunkt heraus. Damit verschiebt sich der Bildausschnitt so, dass das ursprünglich angeschnittene Dach wieder ins Bild kommt und störende Bodenfläche verschwindet. Shiften ist auch gut, um mit veränderter, dann mit dem Objektiv aber wieder korrigierter Perspektive störende Spiegelungen in Fassaden besser in den Griff zu bekommen – ebenso wenn man um Hindernisse, die vor dem Haus stehen, herum fotografieren will, ohne dass Linien seitlich konvergieren. In diesem Fall shiftet man seitlich. Der seitliche Shift ist gut einsetzbar in der Fotografie gestitchter Flächenpanoramen. Die Breite des Bildes ist aber begrenzt, je nach Auszeichnungskreis des angesetzten Objektivs kann man meist nur zwei Bilder stitchen. Hersteller solcher Adapter sind derzeit Hasselblad, Mamiya (für RZ-System), Linhof (für Technorama), Zörkendorfer (für Mittelformat- und Vergrößerungsobjektive an KB- und Digital-SLRs), Mico-Treppenwinkel (Mirex-Adapter, ebenfalls für Mittelformat- und Vergrößerungsobjektive an KB- und Digital-SLRs), Novoflex (Pro-Shift+Adapter). Nachteil: Shiftadapter gibt es nicht für jede Kamera-Objektiv-Konstellation. Die Objektive der üblichen SLR-Kamerahersteller sind in der Regel nicht zu gebrauchen, da sie für die Verschiebung einen zu kleinen Auszeichnungskreis haben und weil der Adapter das Auflagemaß erhöht, damit ist keine Fokussierung auf Unendlich mehr möglich.
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Q
Man benutzt ein Shiftobjektiv. Nutzung und Effekt ist genauso wie unter dem Aspekt Shiftadapter beschrieben. Nachteil: Auch Shiftobjektive gibt es nicht von jedem Hersteller (im SLR-Sektor derzeit nur von Nikon und Canon). Deshalb – und wegen des großen Auszeichnungskreises – sind sie relativ teuer. Und es gibt sie nicht in extremeren Brennweiten. Das ist nicht machbar, weil aufgrund der Shiftmechanik ein Mindest-Auflagemaß vorhanden sein muss, also auch eine Mindest-Schnittweite (Entfernung Rücklinse – Chip bei Unendlich-Fokussierung) und damit auch eine MindestBrennweite. Verschöbe der Konstrukteur die Hauptebenen im Retrofokus weiter nach hinten, wäre die optische Qualität nur durch extrem teure Korrekturen zu halten.
Q
Man macht das Foto mit einer verstellbaren Großformatkamera und verschiebt die Objektivstandarte parallel aufwärts. Das ist der klassische, aufwändigste, aber immer noch professionellste Weg, um zu guter Architekturfotografie zu kommen. Solche Fachkameras liefern die höchste Bildauflösung und mit den richtigen Objektiven (großer Auszeichnungskreis) auch die weitesten Verstellwege zum Shiften. Selbst psychologisch ist man mit der Fachkamera im Vorteil: Der ganze Aufbau, die perspektivische Ausrichtung der Kamera und die Justage der Standarten dauern wesentlich länger, man lässt sich zwangsläufig mehr Zeit und komponiert schon dadurch viel genauer als mit einer SLR-Kamera, mit der alles ganz schnell geht. Nachteil: Fachkameras sind wesentlich schwerer und weniger mobil als SLRs. Außerdem sind Digitalrückteile für Fachkameras ausgesprochen kostenintensiv, obwohl die Chipgrößen derzeit noch nicht das ganze verfügbare Mattscheibenfeld abdecken. Dadurch werden die Objektive nicht in ihrer vollen Auszeichnung genutzt, was durch den erforderlichen Vergrößerungsfaktor zu Verlusten an effektiver Linienauflösung führen kann. (Die Schärfeleistung pro Quadratmillimeter ist wesentlich geringer als bei den meisten Objektiven mit kleinerem Auszeichnungskreis.)
Q
Man entzerrt das Bild im Nachhinein am Rechner. Das geht zügig und leicht, insbesondere unter Zuhilfenahme des einblendbaren Rasters und der im Lineal verborgenen Hilfslinien. Nachteil: Durch die örtliche Pixel-Interpolation, die beim Verzerren stattfindet, tritt relativ zum Pixelgewinn ein Detailverlust ein – der Detailreichtum steigt ja nicht mit den hinzugerechneten Pixeln auch noch an. Besonders in größeren Ausdrucken kann das lokale Schärfeverluste nach sich ziehen. Dieser Effekt macht sich dadurch bemerkbar, dass oben und unten die fokussierten Details nicht gleichmäßig scharf wirken.
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Hier noch einmal das obige Motiv – nun aber per Software entzerrt. Die Anmutung ist braver, aber scheinbar auch informativer. So sehen wir das Haus nicht, so denken wir es uns. Denn wir wissen, dass es so gebaut wurde. Der Mensch sieht eben nicht mit dem Aug‘ allein.
Bei extrem beengten Verhältnissen empfiehlt es sich, eine Kombination aus Perspektivänderung durch höhere oder entferntere Position, Shift und digitaler Korrektur vorzunehmen. Ursprünglich ist Architekturfotografie eine Domäne des Großformats, denn die Verschiebbarkeit der Kamerastandarten ermöglicht es, schräge Perspektiven linienkorrigiert darzustellen – also bei aufwärts oder seitlich gerichteten Ansichten. Wenn man ‚shiftet’, verschiebt sich das Objektiv parallel senkrecht nach oben oder seitwärts und korrigiert so den Bildausschnitt. Was unten oder auf der einen Seite zu viel war, ist nun aus dem Foto herausgeschoben, obere Teile oder Bereiche von der anderen Seite des Motivs sind wieder im Bild und die Schrägperspektive auf den oberen Fluchtpunkt entfernt. Es scheint diesen Fluchtpunkt nicht mehr zu geben.
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Das Ergebnis ist nichts anderes als eine klassische Linearperspektive mit einem oder höchstens zwei seitlich gelegenen Fluchtpunkten. Malereigeschichtlich wäre dies ein Rückschritt, denn in der Ansicht kleiner bis mittelgroßer Objekte ist unsere Seherfahrung am stärksten an eine Dreiseitenansicht mit drei Fluchtpunkten gewöhnt, eben da wir im statistischen Mittel ja meist schräg auf etwas schauen. Heute lassen sich anamorphotische und projektive Verzerrungen leicht mit Adobe Photoshop bewusst erstellen (das vergrößert die Raumtiefe) oder entfernen, und zwar durch den ‚Datei-transformierenverzerren’-Dialog. Überhaupt können wir heute in der Nachbearbeitung Fehler kompensieren, die ein analoges Foto früher disqualifiziert hätten. So bietet der Rechner neben der Parallel-Korrektur konvergierender Vertikalen und Horizontalen (also dem Ausgleich stürzender Linien) auch den Ausgleich von Randfehlern minderwertiger Objektive (Verzeichnung, Vignettierung und chromatische Aberrationen). Die Probleme der Verzeichnung und Vignettierung können teilweise sogar schon vor der Aufnahme durch eine kamerainterne Menüfunktion gelöst werden. Wird im Falle des bewussten Verzerrens nicht nur zu einer Seite hin verzerrt, sondern trapezförmig (also schräg zu zwei Seiten hin), dann simuliert man, dass das Bild von einem ganz bestimmten Blickpunkt her aufgenommen wurde. Die Kamera müsste sich in extremer Schrägansicht zum Motiv befunden haben, und zwar dort, wo das Trapez am breitesten aussieht. Von dieser Seite aus gesehen scheinen wir dem Objekt dann ja näher zu sein als von der anderen. Betrachtet man das Foto später tatsächlich aus exakt diesem Blickpunkt, erscheinen die Proportionen des Bildes wieder normal. Diesen Effekt haben wir oben unter dem Stichwort Anamorphose besprochen. ***
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Perfekte Sicht unter eine unperfekte Lüge. Die Logik sagt: Wenn die Vertikalen des Hauses auch im Bild senkrecht und parallel sein sollen, müsste die Kamera auf halber Höhe schweben. Die Logik sagt aber auch: Wenn ich unter etwas schauen kann, muss ich tiefer sein als dieses Etwas. Das Eingangsdreieck am Haus mit der Säule offenbart, wo die Kamera tatsächlich stand: nur leicht über Bodenhöhe. Deshalb mussten wir das Weitwinkel an der Fachkamera sehr hoch schieben. Dabei sind übrigens sehr schön die Grenzen eines Objektivs zutage getreten: Aufgrund des extremen Aufwärts-Shifts erreichten wir mit der Vignettierung im oberen Bildteil das Limit des Auszeichnungskreises. Das Foto wird dort dunkler. So etwas plant man normalerweise nicht, schließlich haben wir uns aber doch bewusst entschieden, den etwas eintönig blauen Himmel mit der Abschattung etwas aufzulockern. Das Wetter war einfach zu gut, möchte man sagen.
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Lust und Lüge Kann ein Fotograf mithilfe solcher perspektivischen Korrekturen perfekt lügen? Ein klares Nein. Shift ‚weglügen‘ geht auch deshalb nicht, weil der Horizont beim Aufwärts-Shift mit horizontalem Blick so niedrig liegt. Das Bild wird nur schöner, zumindest nach Bildauffassung der klassischen Architekturfotografie. Froschperspektive bleibt Froschperspektive, Schrägansicht bleibt Schrägansicht, das lässt sich nicht hundertprozentig verleugnen. Auch nicht, wenn man künstlich per Digital- oder Analogshift Fluchtpunkte und Konvergenzen entfernt und so versucht, die mit der Kamera tatsächlich eingenommene Perspektive zugunsten einer besseren wegzuflunkern. Ob stürzende Motivsenkrechte allein durch einen tatsächlich erhöhten Standpunkt ohne Shift oder nachträgliche Ausschnittskorrektur und ohne digitale Verzerrung am Rechner vermieden wurden, lässt sich am fertigen Bild leicht erkennen. Da die Horizontlinie und der auf ihr liegende Blickpunkt (Augenpunkt) immer genau auf Augenhöhe des Betrachters liegen und bei nicht-stürzenden, also exakt vertikal verlaufenden Motivsenkrechten im Bild Betrachterauge und Kamera auf halber Haushöhe schweben müssten, muss bei einem unkorrigierten Bild trotz senkrechter Motivvertikalen der Horizont ebenfalls auf halber Haushöhe sein. Ist er bei randparallelen Motivsenkrechten niedriger, etwa auf menschlicher Körperhöhe über der Straße, zeigt dies untrüglich, dass der Fotograf an der Perspektive herumgebastelt hat. Weil durch den niedrig liegenden Horizont klar ist, dass die Kamera auf Körperhöhe war, nicht etwa höher. Und: Schaut man sich das perspektivisch korrigierte Foto genau an, offenbaren zudem bestimmte Elemente wie Balkone, Fenstersimse, Türrahmen oder Dachrinnen, dass es sich trotz randparalleler Senkrechten um eine Untersicht handelt. Und das obwohl diese vertikalen Motivlinien auf den ersten Blick eigentlich vermuten lassen könnten, dass die Kamera auf halber Höhe geschwebt haben müsste. Die Untersicht lässt sich eben nicht vollständig wegleugnen, und der Aufblick von unten ist natürlich umso extremer, je näher die Kamera am Gebäude postiert ist. Ein wichtiger Punkt kommt noch hinzu – wir nannten ihn bereits: die projektive Verzerrung. Sollte etwa ein rundes Bullauge im Motiv sein, wird dieses durch die Schrägansicht selbst nach der ersten Entzerrung elliptisch aussehen. Projektive Verzerrungen einzelner geometrischer Formen lassen sich durch einfaches Entzerren bei der Aufnahme nicht direkt entzerren. Auch ein quadratisches Element im Motiv, etwa ein Fenster, sieht im entzerrten Bild zwar nicht trapezförmig aus, die rechten Winkel kommen wieder zurück, aber es erscheint rechteckig. Außerdem sieht das Gebäude im Bild vertikal gestaucht aus. Deshalb ist ein zweiter Entzerr-Schritt am Rechner nötig, bei dem man das Gebäude nach oben in die Länge zieht. Motivkreise werden dann wieder rund und Quadrate wieder quadratisch. Liegen Fenster und Bullaugen allerdings in einem Sims nach innen verschoben, bleibt die Untersicht auch trotz perfekter Verzerrung offenbar. Und noch ein Problem bleibt trotz Entzerrens unlösbar: Die Wiedergabe von Höhenverhältnissen hintereinander befindlicher Motivteile, etwa Türme oder vorstehende Erker. Deren relative Größen-
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wiedergabe zueinander hängt nur vom tatsächlichen Aufnahmestandpunkt ab und kann nicht einfach ‚weggezerrt‘ werden.
Hier war der Ausgleich stürzender Linien recht einfach; es musste kaum entzerrt werden, weil wir das Foto aus einem gegenüberliegenden Gebäudefenster heraus gemacht haben. Und das befand sich halb so weit oben wie das Dach des Motivs. Aus solcher ‚Augenhöhe‘ wirkt die Fassade allerdings niedriger, als sie aus der Froschperspektive ausgesehen hätte. Dieses Essener Bürogebäude bot eine kleine Hürde. Die Fassade befindet sich in einem Innenhof, in den kaum Licht fiel. Um ihre etwas nüchterne Form ein wenig aufzufrischen, warteten wir mit der Aufnahme, bis die Nachmittagssonne ein Streiflicht auf den linken Teil legte und gleichzeitig den rechten frontal erwischte. Nun war die linke Seite relativ glatt, das Streiflicht also recht düster, so dass bei einer rein symmetrischen Komposition das Licht rechts die linke Fassade zu sehr dominiert hätte. Deshalb entschieden wir uns für einen stark dezentralen Aufbau, der allerdings durch ein kleines symmetrisches Element wieder stabilisiert wird: den mittigen Turm im Hintergrund.
In der Regel korrigiert man stürzende Linien aber nicht zu hundert Prozent, sondern lässt die aufwärts strebenden Gebäudelinien immer noch ein kleines bisschen nach oben konvergieren. Hundertprozentige Parallelität glaubt das Auge dann doch wieder nicht, bei zu viel geometrischer Korrektheit hätte man leicht das Gefühl, die Linien divergierten sogar nach oben hin, liefen also auseinander. Und das sähe noch fremdartiger aus. Aber eines ist sicher noch interessant für Architekturzeichner: Durch das Shiften, und zwar seitliches, können wir eine der beiden klassischen Parallelprojektionen simulieren, die so genannte Kavaliersperspektive. Dazu und über die Grundlagen der zeichnerischen Perspektivik jetzt mehr. Die Fotografie kann da möglicherweise etwas übernehmen, was Zeichner und Grafiker entlastet. Zudem wirkt das Foto über seine höhere Realitätsillusion ja noch viel wirklicher als eine Zeichnung oder softwaregenerierte 3D-Grafik. *** 110
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Die symmetrische Ansicht, hier mit zwei Fluchten, betont die Geometrie der Essener Zollverein School. Gut, wenn bei einer solchen Ansicht das Licht zumindest leicht seitlich kommt, damit das Ganze organisch etwas belebt wird. Auch die umgebenden Wohnhäuser rechts und die beiden Passanten links unten tragen dazu bei.
Kavalier, Militär und Shift Blickpunkt und Simulation Mit Kamera, Objektiv und/oder Software lässt sich also einiges an der perspektivischen Wirkung eines Hauses im Bild manipulieren. Letztlich ist alles Shiften und Entzerren eine Simulation von Blickpunkten, die man nicht tatsächlich hatte. Meist gibt man vor, auf etwa halber Höhe des Hauses geschwebt zu haben, in der Kavaliersperspektive dabei sogar exakt frontal davor. Das funktioniert relativ gut, weil wir uns schon aus ganz normaler Lust an ästhetischen Wirkungen gern täuschen lassen. Aber nicht nur beim Fotografieren, schon beim Ansehen von Architektur erliegen wir der oben erwähnten Täuschung, dass in der Ferne alles kleiner wirkt und in der Nähe alles größer aussieht. Überhaupt scheint jede Flucht, also jede von uns weg in die Bildtiefe hineinführende Motivlinie einer Verkleinerung zu unterliegen.
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Der Punkt dabei ist: Dieser Effekt steigt, je näher wir uns am vorderen Teil des Motivs befinden – umso kürzer ist deshalb wahrscheinlich auch die Brennweite (damit der Bildausschnitt wieder stimmt und das Motiv nicht unerwünscht beschnitten wird). Das liegt am Entfernungsunterschied – genauer: Distanzverhältnis (ein Quotient) zwischen den beiden Strecken Auge-bis-Vordergrund und Auge-bis-Hintergrund. Wer Architektur sinnvoll und ansprechend fotografieren will, kann sich bestimmt zusätzlich durch etwas eigentlich Unfotografisches inspirieren lassen: nämlich die Art, wie Architekten zeichnen. Die optimale Sicht aufs Haus lässt sich gut aus dem spezifischen Blickwinkel der Architekturzeichner ableiten. Diese haben nämlich ein interessantes recht ambivalentes Ziel: rein sachlich zu informieren, dies aber über eine unaufdringliche, eher bescheidene Ästhetik – eine, die sich zwar klar artikuliert, ohne dabei jedoch zu sehr im Vordergrund zu stehen. Die zeichnerische Ästhetik darf den Blick aufs Motiv nicht verbauen, mit anderen Worten: Das Bild soll optisch angemessen ansprechend sein, darf aber nicht zu schön sein, weil es sonst vom Haus wegführt. Wenn das Haus aber wichtiger ist als das Bild davon, ist der Anspruch ans Bild klar: Der klassische objektzentrierte Ansatz dominiert den bildzentrierten. Auch wenn es keine hundertprozentige bildnerische Objektivität gibt, zumindest die gestalterische Gewichtung liegt auf dem dokumentarischen Impetus. Für die Architekturfotografie ist die Freiheit des Ästhetisierens und Stilisierens, vielleicht sogar Romantisierens natürlich groß. Um aber zu wissen, was man im Einzelfall tut, ist es gut, sich auf den Quell des architektonischen Bildes zu besinnen, und der liegt in der visuell ansprechenden, eher sachorientierten Dokumentation. In diesem Bereich gibt es drei architekturzeichnerische Klassiker: die Kavalier-, die Kabinett- und die Militärperspektive. Alle drei gibt es in so genannter isometrischer, dimetrischer und trimetrischer Form. Demgegenüber stehen die Parallelprojektionen in der Kabinett-, Kavaliers- und Militärperspektive. Hier konvergieren die Raumlinien nicht, sondern sie laufen parallel zueinander in den Tiefenraum des Bildes hinein. Laut Definition von Parallelen nach Euklid schneiden sich ihre gedachten Verlängerungen höchstens im Unendlichen. Ob die Strecken selbst aber verkürzt sind oder nicht, hängt davon ab, ob die Darstellung isometrisch, dimetrisch oder trimetrisch ist. Die Fachkamera kann Parallelperspektivik höchstens näherungsweise erreichen, mit längerer Brennweite aus der Ferne, und nur mit Verkürzung der Linien, die in den Raum hinein verlaufen. Parallelprojektionen sind also hypothetische Projektionen aus dem Unendlichen. Sie zeigen eine Seite des Gebäudes aus einer Perspektive, in der die Linien, die am Motiv parallel sind, auch im Bild parallel bleiben. Sie zeigen das Haus zwar noch schematisch, deuten aber darauf hin, dass das Haus keine Fläche ist, sondern dreidimensional im Raum steht. Solche parallelen Darstellungen sind Schematisierungen zweiten Grades, könnte man sagen, sie sind die ersten schematisierenden Abstraktionen von Ansichten auf Gebäuden. Sie sind ein wenig realistischer, da sie immerhin nicht so platt wie die frontal gezeigten Grundansichten wirken, die wir weiter unten betrachten. Aber wirklich sehrichtig sind auch sie noch nicht. Es fehlt ihnen die Flucht.
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Das Grundproblem: 3D auf 2D Es gibt viele verschiedene Arten, die dreidimensionale Wirklichkeit auf eine Fläche zu projizieren. Diese Projektionsarten lassen sich in zwei Gruppen unterteilen: Q
anschauliche, plastische, dann aber nicht maßtreue Projektionen
Q
maßtreue, dann aber nicht anschauliche Projektionen. Sie wirken schematisch abstrahiert, entsprechen dem Gedachten, nicht aber dem tatsächlich Gesehenen. Dazu zählen die Parallelprojektionen, die man ja aus unendlich imaginärer Ferne annimmt.
Maßtreue und Anschaulichkeit scheinen also gegenläufig zu sein, eine Gebäudedarstellung ist entweder das eine oder das andere. Die Ursache dafür liegt im Grundproblem der Übertragung des realen Raums auf das flächige Bild. Plastische Darstellungen deformieren, das wusste schon Alberti. Sie vermindern oft den Informationsgehalt eines Bildes über ein Haus, und zwar zugunsten einer räumlichen Wirkung. Wahre Proportionen, Flächeneinteilungen und tatsächliche Umrisse eines Hauses können Fluchtpunktdarstellungen nur unzuverlässig zeigen, weil sie die in den Raum verlaufenden Linien verzerren: Es entstehen Winkelungen und Verkürzungen im Bild, die dem Realen nicht entsprechen. Da gibt es eine kleine Hilfe: die Parallelperspektiven. Sie abstrahieren das Gebäude und reduzieren es auf ein Schema: Sie betonen nicht so sehr die räumliche Wirkung eines Hauses, sondern nur Umriss und Gliederung einer bestimmten Ansicht. Der gedankliche Trick dabei ist, dass dafür alle Parallelperspektiven (auch: ‚Axonometrien‘) aus einem imaginären unendlichen Fernpunkt kommen. Wir betrachten das Haus gewissermaßen aus unendlicher Ferne mit einem extrem starken Fernrohr oder Teleobjektiv. Von dort aus verliert sich jede Tiefenwirkung des Raums, das Flächige tritt hervor und Linien, die nach vorn oder hinten verlaufen, erscheinen parallel. Dabei projiziert die orthogonale Parallelprojektion senkrecht (rechtwinklig) auf die Bildfläche und liefert entweder eine Frontalansicht (Aufriss), eine Seitenansicht (Seitenriss) oder eine Draufsicht (Grundriss). Schräge Parallelprojektionen projizieren dagegen schief auf die Bildfläche und liefern eine schräge Dreiseitenansicht. Sie sind weitgehend maßtreu, motivische Längenverhältnisse bleiben im Bild erhalten – zumindest wenn sie parallel zur Bildfläche sind. Solche schematischen Darstellungen dienen natürlich weniger dem sinnlichen Genuss oder der atmosphärischen Veranschaulichung, sondern sind entweder Entwurfsansichten, zeigen Ideen, Entwürfe, Konzepte, oder sie helfen einfach bei der praktischen Ausführung und Umsetzung des Häuserbaus.
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Das Innere der Zollverein School unverzerrt in Zentralperspektive. Nicht nur die seitlichen Raumlinien von rechts konvergieren zu einem Fluchtpunkt links im Bild, auch die Linien der gegenüberliegenden Wand verjüngen sich von links auf einen Punkt zu, der sich rechts befindet, übrigens außerhalb der Bildfläche.
Fotografisch relevant und zumindest annähernd mit der Kamera nachvollziehbar ist hier nur die Kavaliersperspektive – eine schematische Zwei- oder Dreiseitenansicht, je nachdem, ob man sich dabei noch eine leichte Aufsicht gönnt oder nicht. In jedem Fall zeigt sie mit der Vorderansicht die wichtigste Seite des Hauses, die Fassade – also die ‚ Visitenkarte des Hauses‘ – orthogonal, das heißt rechtwinklig mit randparallelen Vertikalen und Horizontalen (griech. orthos f. ‚recht‘, ‚richtig‘ und gony f. ‚Winkel‘, ‚Ecke‘, ‚Knie‘). Zusätzlich sehen wir eine Seite des Hauses mit schräg nach hinten verlaufenden Raumlinien. Die Perspektive geht über Eck, allerdings ohne dass die Linien der Gebäudefront seitlich fluchten.
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Hier noch einmal der eben gezeigte Innenraum, allerdings horizontal entzerrt. Die Waagerechten verlaufen parallel zum Bildrand, und es ergibt sich der Eindruck einer Kavaliersperspektive. Zum Aufnahmekontrast: Aufnahmen mit einem derart hohen Helligkeitsumfang müssen exakt belichtet sein und am besten im RAW-Format aufgenommen werden. Dieses Format hat eine wesentlich höhere Dynamik und damit einen sehr viel weiteren Belichtungsspielraum als das JPEG-Format. Das RAW-Format macht es wahrscheinlicher, dass in Lichtern und Schatten die Detailzeichnung erhalten bleibt. Sollte bei sehr hohen Aufnahmekontrasten selbst ein RAW passen müssen, handelt es sich um ein typisches HDR-Motiv. Näheres dazu im Kapitel 5, ‚Bildqualität und HD-Zauber‘, Seite 183 ff.
Fotografisch ist das natürlich nur annähernd realisierbar, und zwar über die richtige Kombination aus Aufnahmehöhe und Shift, Abstand und Brennweite. Um das Problem, dass keine reale Perspektive parallele Raumlinien behält, sondern immer Fluchtpunkte bildet, kommt man auch bei größtem Aufnahmeabstand und längster Brennweite nicht vollkommen herum. Deshalb erscheinen in isometrischen Darstellungen die in den Raum verlaufenden Formen oft verzerrt, unwirklich in die Länge gezogen. Für eine annehmbare Simulation der Kavaliersperspektive geht nur eines: extremer Horizontal-Shift aus ausreichend seitlicher Position. Dabei muss die Kamera, genauer: die Chip- oder Filmebene exakt parallel zur Gebäudefront aufgestellt sein. Klappt das nicht, kann man das Foto hinterher am Rechner entzerrend transformieren. Übrigens: Die parallele Fluchtlinienverzerrung, die bei einer Parallelperspektive stattfindet, verschwände scheinbar, wenn man das Bild auch aus unendlicher Entfernung betrachten würde, aber nur dann. Andererseits soll ein Betrachter jedoch auch nicht mit ins Bild gezogen werden, denn aus der Nähe sähe das Bild plastisch falsch aus, und aus unendlicher Ferne könnte man es gar nicht sehen.
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Grundansichten der Architekturdarstellung Die orthogonalen Perspektiven basieren auf den drei Grundansichten. Sie sind deren leichte, schematische ‚Verräumlichungen‘ und setzen die rein schematische Darstellung zumindest ein wenig in Bezug zur Sehwirklichkeit. Die klassischen Grundansichten der Architekturzeichnung sind der Grundriss (Blick von senkrecht oben), der Aufriss (Blick von vorne, Vorder- oder Hauptansicht) und Seitenriss (Schnitt, Blick von der Seite, Seitenansicht). Sie zeigen jeweils nur eine einzelne Seite, und zwar so, dass die Linien, die senkrecht zur optischen Achse in der Bildfläche liegen – von der Kamera aus gesehen also nicht in den Raum verlaufen –, exakt randparallel sind (so das Haus sie denn hat). Als reine Schemazeichnungen dienen sie nur der sachlichen Information. Das gefühlige oder gar atmosphärische Element schließen sie aus, sie sollen möglichst nicht zeigen, wie etwas wirkt. Die schautafelhafte Darstellung nur einer Gebäudeseite aus mittiger Frontalposition kann beispielsweise eine bestimmte architektonische Konstruktionsleistung betonen. Dabei könnte man mit einem grafischen (statt plastischen) Bildaufbau das Nebeneinander von Flächen- und Linienformen betonen und diese zueinander in Beziehung setzen – wenn das der Architekt auch getan hat, wäre es sinnvoll. Der flächige Charakter paralleler Ansichten erhielte dann seine Emphase dadurch, dass man das Gebäude aus größerer Distanz mit längerer Brennweite aufnimmt. Die förderliche Aufnahmehöhe liegt exakt auf halber Haushöhe, vor dem Haus müsste die Kamera mittig stehen – mit absolut waagerechter und frontal aufs Haus gerichteter Aufnahmeachse. Da man an solchen schematischen Ansichten die Dimensionen und Maßverhältnisse des Gebäudes en gros wie en détail viel besser illustrieren kann als in der naturalistischen Zentralprojektion mit Fluchtpunktperspektive, sind Grundriss, Aufriss und Seitenriss als Vorlage zur technischen Umsetzung eines Bauvorhabens wesentlich besser geeignet als sehgerechte 3D-Schrägansichten. Diese stehen gestalterisch im Gegensatz zur grafischen Komposition. Eine solche plastische Komposition betont aus kurzem Abstand mit kürzerer Brennweite eher das Vorne und Hinten, deren besonderes Miteinander, und wirkt damit wesentlich räumlicher. Die schräge Dreiseitenansicht bietet für eine solche Komposition meist den optimalen Motivausschnitt.
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Eine verschämte Verdeckung als klassische Aufriss-Ansicht, frontal auf die Fassade fotografiert. Nicht selten wirkt ein solch direkter Blickwinkel sehr schematisch und erinnert leicht an das minutiös Einfache einer Kinderzeichnung. In diesem Fall bot sich genau das an, das Motiv rief geradezu danach. Alles, was aus architektonischer Sicht hier schematisch wirken kann, wird durch die freien Formen des alten Gemäuers und die umspielende, saftig blättrige Umgebung wieder ‚organisch‘ gemacht.
Projektionen Darstellungen von Gegenstandspunkten auf einer Bildfläche nennt man Projektionen. Dieser Ausdruck beruht auf der Vorstellung, dass die Lichtstrahlen nicht vom Motiv zum Auge verlaufen, sondern umgekehrt: Das Auge sendet sie aus, und von dort gehen sie zum Motiv. Das Sehen wird hier nicht als reine Rezeption begriffen, sondern als aktiver Vorgang – ein wenig erinnert dieser Gedanke an die bekannten Verse aus der Farbenlehre Goethes: Wär nicht das Auge sonnenhaft, die Sonne könnt‘ es nie erblicken; Läg nicht in uns des Gottes eigne Kraft, wie könnt uns Göttliches entzücken?
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Das Auge erschafft virtuell also einen Sehkegel, der das Motiv bis zu seinen Enden umschließt. Ohne Sehhilfe in Form eines Weitwinkels geht das nur aus einem gewissen Mindestabstand und funktioniert aus sehr großem Abstand auch nur mit Hilfe, diesmal in Form eines Teles. Tele und Weitwinkel sind also ‚Sehwinkelveränderungshilfen‘, mit ihrer Hilfe können wir uns förderliche Abstände zum Motiv aussuchen, so dass die Wirkung eher uns selbst, unserem persönlichen Hintergrund, unseren Wünschen, Erfahrungen und Erwartungen, also unserer ganz eigenen Art zu sehen entspricht als der Vorgabe durch die scheinobektive Sachlichkeit eines äußeren Motivs – eines, das eben jeder anders interpretieren könnte. Die Bildaussage ist also das, was in uns steckt, nicht im Haus. Anders ist das Haus nicht zu sehen, und das berührt sich mit dem gerade zitierten Goethe’schen Gedanken. Auch das Auge wird auf die Bildfläche projiziert, und zwar an die Fluchtpunkte, die man in der Zentralprojektion sehen kann. Fluchtpunkte gibt es theoretisch auch in der Parallelprojektion, nur dass sie da nicht sichtbar sind, denn Parallelen schneiden sich ja im Unendlichen. Parallel ist diese Projektion, weil eben der Augenpunkt so unendlich weit weg gedacht wird, dass die Sehstrahlen annähernd parallel sind. Deshalb denkt man sich im Augenpunkt also das Projektionszentrum. Auf die Kamera übertragen liegt an dieser Stelle das optische Zentrum des Objektivs – in der Sprache der stitchenden Panoramafotografen: der Nodalpunkt. Hier ist der gesamte Aufnahmestandpunkt auf ein konzentriertes, klitzekleines, schier immaterielles Nichts zusammengeschrumpft. Wie in einem Schwarzen Loch der Astronomen kulminiert hier die ganze Körperlichkeit des perspektivischen Zentrums. Hier und nirgendwo anders – wie groß, dick und vieläugig ich auch bin – stehe ich und mache mein Bild. Die verschiedenen Projektionsarten und Richtungen, die vom Auge auf das Motiv ‚gestrahlt‘ werden können, lassen sich mithilfe der darstellenden Geometrie, einem der ältesten Teilgebiete der Mathematik, als so genannte ‚Ansichten‘ visualisieren. Erst nach den erwähnten Jahrhunderten mittelalterlicher Vergessenheit besteht seit der Renaissance eine solche Konstruktion wieder aus folgenden Elementen, die sich übrigens gut am Beispiel eines Diaprojektors verdeutlichen lassen: Q
Motiv (Gegenstandsebene oder -raum) [gerahmtes Dia]
Q
Augenpunkt (Sehpunkt, von dem aus gesehen wird) [Projektionslampe]
Q
Gradlinige Sehstrahlen (Verbindungen zwischen Sehpunkt und Motivecken) [projizierendes Strahlenbündel]
Q
Bildebene [Leinwand]
Q
Bild [projiziertes Bild, die Projektion selbst]
Aus der heimischen Diaschau oder von professionellen AV-Präsentationen kennen wir das Prinzip der Zentralprojektion. Jeder Diaprojektor funktioniert nach diesem Prinzip. Warum? Ganz einfach: Im Seh-
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punkt, also der Lampe innerhalb des Projektors, haben alle an der Projektion beteiligten Strahlen ihren Ausgangspunkt – umgekehrt betrachtet läuft hier alles (fluchtpunktartig) zusammen. Das Bild aber wird immer größer, je weiter man die Bildebene vom gerahmten Dia entfernt. Wie gesagt lässt sich dieses Entfernen so weit treiben, dass irgendwann – theoretisch bei unendlich großer Distanz (und langer Brennweite des Projektionsobjektivs) – die Projektionsstrahlen parallel verlaufen würden. So etwas wie Parallelprojektion (Orthogonalprojektion) ist demnach eine hypothetische Projektion – hypothetisch, weil sie aus dem Unendlichen kommt. Zumindest von so weit weg, dass die Sehstrahlen des Auges auf das Motiv parallel verlaufen. Und das gibt es geometrisch nur näherungsweise – streng genommen ist auch die Sonne nicht unendlich weit weg, fotografisch aber schon, zumindest annähernd. Moderate Änderungen in der Bildweite können aus dieser Distanz kaum noch Änderungen der Bildgröße nach sich ziehen. Das Bild bleibt fast immer gleich groß, und zwar genauso groß wie der Gegenstand selbst – im Falle der Diaprojektion also das 24 x 36 Millimeter große Dia. Allgemein gilt zunächst: Einzelne Punkte, Strecken und Flächen aus einer Gegenstandsebene, die senkrecht zur optischen Achse, also parallel zur Bildebene verlaufen, lassen sich perspektivisch verlustfrei projizieren, Körper jedoch nicht. Für die Projektion des Raumes gibt es diverse geometrische Konstruktionen mit unterschiedlichen zeichnerischen Perspektivarten. Diese unterschiedlichen Perspektiven lassen sich also durch verschiedene geometrische Projektionsverfahren zeigen. Welche Art zur Anwendung kommt, hängt auch von der Form der Projektionsfläche ab, da der räumliche/ flächige Charakter von Gegenstands- und Projektionsebene (in der Fotografie ‚Ding‘- und ‚Bildebene‘ genannt) meist nicht identisch ist, die Darstellung demnach eine Modulation ist: Bei der Zentralprojektion fluchten alle Linien, die in Wirklichkeit parallel zur Blickrichtung sind, in einen Punkt, den Fluchtpunkt. Einfach weil hinten alles kleiner aussieht als vorne, auch die Abstände zwischen parallelen Linien.
Linienwinkelung Orthogonale Projektionen sind Schematisierungen. Sie verdeutlichen etwas, was visuell zwar wichtig, aber so nicht sichtbar ist. Auch in einem sehrichtigen Bild wäre dieses nicht eindeutig und klar darstellbar. Fast alle Motivdetails bleiben im originalen Größenverhältnis zueinander, nur insgesamt wird die Wiedergabe verzerrt. Wir kennen solche schematischen Perspektiven von beschrifteten anatomischen Schaubildern oder -tafeln aus Biologie- und Medizin. Wir kennen sie aus technischen Zeichnungen und Gebrauchsanleitungen zum Selbstzusammenbau von Möbeln oder Überraschungseiern. Und wir kennen sie von Landkarten, auf denen die Erde trotz ihrer kugelförmigen Oberfläche als ebener rechteckiger Plan zu sehen ist. Rechte Winkel am Objekt bleiben dabei tatsächlich rechte Winkel im Bild, selbst wenn Breiten- und Längengrade gebogen wiedergegebenen werden. Und doch entsprechen orthogonale Darstellungen nicht unserer Sehwirklichkeit.
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Beim Shiften simulieren wir sie – und zwar indoor am Studio-Stilllife genauso wie outdoor am Gebäude. Dabei entsteht aus einer natürlichen, gewohnten Schrägansicht, die eigentlich drei Fluchtpunkte erzeugen würde (rechts, links und unten bzw. oben) und denen jeweils sich verjüngende Fluchtlinien folgen müssten, eine perspektivische Dissonanz: eine Dreiseitenansicht, aber mit nur zwei Fluchtpunkten. Die beiden anderen orthogonalen Projektionen, die Kabinett- und Militärperspektive, sind hier nicht interessant – die erste, weil sie einfach zu schematisch und damit völlig unrealistisch ist, die zweite, weil sie nur die obere Gebäudefläche orthogonal zeigt, also als Rechteck. Dieser simulierte fast senkrechte Leichtschrägblick auf ein Haus ist aber ein Erfordernis, das in der Architekturfotografie kaum vorkommt, höchstens zu militärischen oder zivilen Überwachungszwecken. Eine Verjüngung der Raumlinien in Richtung Bildhintergrund auf einen Fluchtpunkt zu findet bei allen orthogonalen Perspektiven nicht statt, parallele Motivlinien bleiben eben parallel im Bild. Das hat einen klaren Grund, sie sind nämlich virtuelle, also gedachte Projektionen aus dem Unendlichen. Genau deshalb kann es hier auch keinen sicht- oder konstruierbaren Fluchtpunkt geben – höchstens im Unendlichen. Dort dürfte man einen annehmen, denn da schneiden sich ja laut Euklids Definition alle Parallelen. Weil der Fluchtpunkt bei diesen Perspektiven im Unendlichen liegt, alle Fluchtlinien also parallel zueinander sind, heißen diese Ansichten auch Parallelprojektionen.
Linienverkürzung Neben der Frage der Winkelung von Raumlinien gibt es noch einen zweiten Aspekt, der die parallelperspektivische Darstellung bestimmt: die Verkürzung von Raumlinien. Aus unserer Seherfahrung wissen wir, dass alle Linien, die von uns weg führen, kürzer aussehen als gleich lange, die frontal vor uns liegen. Man spricht von perspektivischer Verkürzung der Raumlinien. Die isometrische Darstellung berücksichtigt das nicht. Alle drei Raumkoordinaten werden mit demselben Maßstab wiedergegeben (iso metrum f. ‚ein Maß‘). Man nennt die Isometrie daher maßstabsgetreu. Die Längenproportionen im Grundriss bleiben gleich, geometrisch wird das Motiv nur in einer Ebene verzerrt aufgrund der schrägen Aufsicht: Rechtecke werden zu Parallelogrammen, also Rauten, und Kreise werden Ellipsen. Das Ganze wirkt wie aus sehr großer Entfernung mit sehr langer Brennweite ins Bild gesetzt. Darstellungen in Isometrie verwenden an beiden Seiten, also rechts und links, oft 30° für den Winkel zwischen der Flucht der unteren Hauskanten und dem unteren Bildrand sowie das Maßstabsverhältnis 1 : 1 : 1 (ein einziges Maß für rechts, links und oben, also alle gleich). Weil rechts und links unten dieselbe Winkelung zwischen Flucht und Bildrand besteht, weist der Blick genau auf eine spitze Häuserecke. Eine solche Symmetrie ist relativ unanschaulich, deshalb geht man mit der Kamera gern noch ein kleines Stück weiter. Zumindest etwas anschaulicher ist da nämlich die dimetrische Darstellung.
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Diese lässt neben der rechtwinklig wiedergegebenen Hausfront im selben Bild die Verkürzung in einer einzelnen seitlichen Ebene zu. Bei einer Dreiseitenansicht (also einem Schrägblick leicht von oben) sähe man dann, dass die Linien der Aufsichtkomponente aber nicht verkürzt sind. Dimetrisch heißt diese Darstellung, weil es zwei verschiedene Abbildungsmaßstäbe für die Gebäudekanten gibt: den verkürzten an der Seite und den unverkürzten oben und vorn. Dimetrie zeigt die unteren Fluchten oft in einem Winkel zum unteren Bildrand von 7° auf der einen Seite und 42° auf der anderen Seite, dies beim Maßstabsverhältnis beider Seiten zueinander von 1 : 1 : 1/2 (zwei Maße). Die trimetrische Darstellung dagegen zeigt auch die oberen Raumlinien verkürzt. Hier gibt es also drei Maßstäbe: den für die Linien der orthogonal gezeigten Vorderseite, den für die seitlichen Linien und den für die Linien an der oberen Gebäudekante. Die Trimetrie ist die realistischste von diesen Darstellungen. Nicht selten wird eine Winkelung von 5° zur einen und 18° zur anderen Seite angewandt. Für die drei Fluchtlinienebenen gelten drei verschiedene Abbildungsmaßstäbe, diese stehen oft im Verhältnis 9 : 10, 1 : 2 oder 1 : 1 (drei Maße). Drei Winkelungen und drei Maßstäbe für Fluchtlinien – das ist so kreuz und quer, dass es sehgerecht wirkt! Eine solche Dreiseitenansicht oder Schrägperspektive, wie sie auch in einer Sachaufnahme im Studio anwendet wird, wirkt nicht nur am realistischsten, sie vermittelt auch den höchsten Informationsgehalt über die räumliche Gesamtwirkung des Motivs; sie bringt nämlich alle drei charakteristischen Grundprojektionen in einem einzigen Bild zusammen. Auch unsere Alltagserfahrung hat ja nur in den seltensten Fällen etwas mit einer frontalen oder exakt rechtwinkligen 90°-Geometrie zu tun, meist erleben wir die gesehene Welt in Schrägansicht. Die Übereckperspektive wirkt realer – wenn Häuser nicht so viel größer als Menschen wären, würde man aus dokumentarischer Ambition heraus sicher die noch realistischere Dreiseitenansicht von oben nehmen. Aber wer kann schon ohne Leiter aufs Dach gucken, ohne dass ein Foto von dort oben ‚hochgeklettert‘ aussieht. Die klassische Architekturaufnahme ist eine Übereckperspektive mit mindestens einem, wenn nicht zwei konstruierbaren seitlichen Fluchtpunkten – und mit einer virtuellen Flucht; diese geht nach oben oder unten, weil die Motivsenkrechten trotz Untersicht auch im Foto parallel und vertikal sind.
Zentralperspektive Beim ‚Perspizieren‘, wie man es nennen könnte, also beim Schauen von einem bestimmten Blickpunkt aus, könnte man vom Auge aus Sehstrahlen auf das Objekt projizieren. Hielte man sich dabei einen Bilderrahmen aus Glas vor das Gesicht, ergäbe sich auf der Fläche dieses Glases die Projektion, und man könnte die Kanten und Umrisslinien des Hauses darauf nachzeichnen, ‚abpausen‘. Was mithilfe dieser Linien entstünde, heißt Linearperspektive – ein perspektivischer Eindruck, und derselbe Effekt ergäbe sich auch, wenn man von dort aus fotografierte. Im Unterschied hierzu stehen andere perspektivische Mittel, etwa die Luftperspektive (Sfumato), die über Farbtonverläufe dargestellt wird.
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Der Blickpunkt liegt im Endlichen und projiziert mit konvergenten Strahlen den Raum in die Bildfläche. So wirkt er anschaulich, ist im Bild aber nicht maßtreu. Die Raumlinien konvergieren umso steiler, je näher man an das Haus heran geht. Um das Haus an den Rändern dabei nicht zu beschneiden, muss man den Bilderrahmen näher an das Gesicht halten. Dabei vergrößert sich der Bildwinkel – und zwar genauso, als würde man bei einem Objektiv in Richtung Weitwinkel zoomen und so die Brennweite verkürzen. Der in endlicher Entfernung liegende Blickpunkt stellt perspektivisch eine echte Beziehung zwischen Beobachter und Motiv her. Dadurch wirkt das Ganze realistisch, der Betrachter fühlt sich mit ins Bild einbezogen, die Projektion ist sehgerecht, weil die Wirkung des Objekts von seinem Standort abhängt.
Eine alte, ausrangierte Tankstelle in der südbayerischen Provinz. Wichtig bei Motiven, die nach symmetrischer Bildgestaltung rufen, ist, dass die Symmetrie exakt sein muss, zumindest von der Kameraposition her. Beide Bildhälften müssen gleich groß sein, und wesentliche Motivteile müssen denselben Abstand zum Bildrand haben. Auch dominierende Schrägen müssen rechts und links denselben Winkel zu Bildrand aufweisen. Schon geringe Abweichungen stören den Symmetrie-Effekt empfindlich. Anders ist es, wenn das Motiv selbst leichte Asymmetrien in sich trägt – wie etwa hier die Lage der Tür und der Schaufenster. Das wirkt organisch und belebend innerhalb der Statik des symmetrischen Bildaufbaus.
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Die klassische Zentralperspektive bildet ein Gebäude mit randparallelen Frontlinien an der vertikalen Bildseite ab. Die Kamera steht frontal vor dem Haus, die Film- oder Chipebene liegt parallel zur Fassadenebene, also absolut senkrecht. Wenn diese exakt im Lot steht, weist die Blickrichtung – und damit die optische Achse des Objektivs – waagerecht geradeaus auf den Horizont. Durch diese Position sind alle Vertikalen des Motivs auch im Bild senkrecht, also parallel zum seitlichen Bildrand. Die Blickrichtung – genauer: die optische Achse – trifft exakt senkrecht auf die Hausfront, dadurch sind alle horizontalen Linien an der Gebäudefront auch im Bild waagerecht, also parallel zum oberen und unteren Bildrand. Es gibt höchstens einen sichtbaren Haupt-Fluchtpunkt, zu dem hin alle Linien zwischen den äußeren Gebäudekanten, die senkrecht zur Bildebene in den Raum verlaufen, konvergieren. Und dieser Fluchtpunkt liegt ebenfalls auf dem Horizont. Eine solche Komposition hat eine waagerechte Grundebene und keine stürzenden Motivsenkrechten im Bild. Diese Konstruktion ähnelt der Kavaliersperspektive. Die Übereckperspektive dagegen hat zwei Haupt-Fluchtpunkte, da man das Haus schräg von der Seite ansieht: einen rechts vom Haus, einen links vom Haus. Die senkrechten Gebäudelinien sind die einzigen Randparallelen, sie bleiben vertikal im Bild. Waagerechte Randparallele gibt es nicht. Wie oben besprochen, gilt: Schon wenn die Kamera nur leicht aufwärts gerichtet ist, um obere Gebäudeteile nicht anzuschneiden, kann das Gefüge empfindlich irritiert werden. Allerdings: Beengte Umfeld-Verhältnisse vor Hochhäusern zwingen oft zu einer Aufnahme aus der Nähe. Den entstehenden perspektivischen Makel wird man dann kultivieren und die Motivsenkrechten dann erst recht stürzen lassen müssen. Dabei entstehen Dreiecks- oder Trapezformen, die sich aber auch wirkungsvoll ins Bild setzen lassen, etwa durch symmetrische Bildkonstruktionen oder asymmetrische Aufteilungen in einer dramatischeren Dynamik. Wenn man Linien bewusst stürzen lässt, wird die Störung kultiviert und dann ‚Familienmitglied‘. Wohlproportioniert kann das wieder ein plausibles, in sich geschlossenes Ganzes ergeben. Je ungestörter und unmissverständlicher alle Elemente des Bildes in eine Konstellation gesetzt sind, umso besser für das Foto.
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Das Dach über diesem Eingang der technischen Hochschule in Aachen und der Blick auf das anschließende Gebäude im Hintergrund zeigen, dass es sich hier um keine einfache Zentralperspektive handelt, sondern um eine Übereck-Ansicht mit zwei Fluchten. Die Senkrechtstellung der vertikalen Gebäudelinien geschah durch einen Ausschnitt aus einer eigentlich weitwinkligeren Aufnahme. Die Kamera stand horizontal ausgerichtet, dabei kam sehr viel Boden ins Bild, der Vordergrund musste dran glauben.
Zum Fotografieren sind nur drei Perspektiven wichtig: 1. die orthogonale Einseitenansicht: Die optische Achse ist frontal mittig auf eine Häuserseite gerichtet. 2. die Übereckperspektive mit mindestens zwei Fluchtpunkten: In dieser Schiefansicht sind nur die Vertikalen randparallel, aber keine Horizontalen. 3. die Zentralperspektive Parallele Mehrseiten-Ansichten wie etwa in der Kavaliersperspektive sind allenfalls näherungsweise zu erreichen, etwa durch Extremshift, per verzerrender Transformation am Rechner oder durch extrem große Aufnahmeentfernungen mit extrem langen Brennweiten. *** 124
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Mehr Spannung als in der symmetrischen Ansicht bringt eine leicht seitliche Kameraposition. Sie löst die Statik eines gleichseitigen Bildaufbaus. Architekturzeichnerisch ist auch dies eine Übereckperspektive mit zwei Fluchten.
Häuserbild und Terminologie Häuserfotografie hat etwas Kleinkariertes. Architektur an der Kamera mit einem 3D-Neiger mit Flügelschräubchen hier und Hebelchen da einstellen, das ist penible Millimeterarbeit. Kleinste Änderungen an Kameraposition, Aufnahmerichtung oder einer Verstellebene des Stativkopfes haben deutliche Auswirkungen auf die Geschlossenheit der Linienführung innerhalb des Bildes. Wehe, wenn eine der Arretierungen nicht fest angezogen ist. Einmal haben wir es erlebt, dass eine Mittelsäule etwas zu locker im Stativ steckte und zwischen gelungenem Testschuss und Finalschuss samt schwerer Fachkamera unmerklich langsam und gemütlich der Gravitation nachgab. Der verlorene Teil des Himmels
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war natürlich unverzichtbar in die Komposition mit einbezogen, wir mussten das Dia also scannen lassen und das fehlende Stück per Retusche ersetzen. Überhaupt sind es gerade die geringen Abweichungen von der Randparallelität, die den grafischen Aufbau eines Architekturfotos besonders stören können. Allzu leicht wirken solche Ungenauigkeiten unbeabsichtigt, zufällig, inkonsequent und nicht zur bildnerischen Idee gehörig. Aber was genau geschieht in der Sprache der Architekturzeichner mit dem Gebäude im Bild, wenn ich meinen Aufnahmestandpunkt verändere oder an ein und demselben Standpunkt perspektivische Verstellungen vornehme – was passiert, wenn ich Kamera und Objektiv zueinander verschiebe oder beide miteinander gekoppelt verdrehe? Es ist gut, das zu wissen, denn Aussage und Atmosphäre ändern sich eklatant. Variiere ich Perspektive oder Blickrichtung, verschiebt sich die gesamte Geometrie von Linien und Flächen des Hauses im Bild – alle sichtbaren Flächen ändern ihre Lage und ihre Größenverhältnisse zueinander, fast alle Linien ändern die Richtung ihres Verlaufs. Und damit kann ich bewusst Einfluss auf die Bildatmosphäre nehmen. Um allerdings Architektur vor der Aufnahme perspektivisch einschätzen und dann die gewünschte Perspektive einnehmen zu können, müsste man einen Blick dafür bekommen, die Architektur als grafische Linien- und Flächenkonstellation zu erfassen. Beim – wie wir es nennen – Objekt-Storming bewegt man sich in aller Ruhe und fotografisch unbewaffnet um das Haus herum und lässt es von allen Seiten auf sich wirken. Dabei wird schnell klar, wie sehr sich diese Konstellation mit Standort und Blickrichtung des Betrachters verändert. Für eine genauere Analyse dessen, was dabei geschieht, hier die wichtigsten Grundbegriffe der architektonischen Perspektivik, denn auch genaue perspektivische Absprachen mit Architekten sind viel leichter, wenn man eine gemeinsame Terminologie benutzen kann: Ausgangspunkt aller Perspektive ist die Grundebene. Sie ist die Standebene der Kamera. Die Grundlinie liegt immer exakt waagerecht im Bild. Architekturzeichner konstruieren ihr Bild von hier aus, sie ist die Basis des Bildes, deshalb wird sie auch Konstruktionsebene genannt. In der Grundlinie schneiden sich Grundebene und Bildebene als so genannte Spur. Parallel zur Grundebene in Augenhöhe befindet sich die Augenebene. Sie schneidet die Bildebene am Horizont. Die Bildebene liegt senkrecht zu Augen- und Grundebene zwischen Kamera und Haus. Die Punkte, durch die die Sehstrahlen vom Betrachter zum Gebäude gehen, bilden insgesamt das projizierte Bild. Die Film- oder Chip-Ebene der Kamera ist letztlich also eine Schnittebene im Sehkegel. Parallel zur Grundebene, damit auch horizontal – eben nur in Augenhöhe – liegt die Augenebene. Ihre Lage hängt von der Höhenposition des Objektivs ab. Steht die Kamera auf dem Boden und schaut geradeaus, ergibt sie sich aus der Stativhöhe. Bei erhöhtem Standpunkt der Kamera liegt sie entspre-
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chend höher, und man hat einen besseren Überblick über die Grundebene. Aus liegender oder sitzender Betrachterposition gesehen befindet sich auch die Augenebene tiefer. Das gilt aber nur, wenn die Aufnahmerichtung absolut horizontal ist, also genau auf die Horizontlinie zielt. Fotografisch entspricht die menschliche Blickrichtung der optischen Achse des Kameraobjektivs, architekturzeichnerisch dem so genannten Hauptsehstrahl. Senkrecht zu diesem liegt bei Geradeausblick natürlicherweise die Bildebene, in der die Bildfläche abgegrenzt oder umrahmt ist. Die genaue Lage des Auges oder Kameraobjektivs auf der Augenebene bestimmt den Augenpunkt. Von hier gehen die Strahlen der Fluchtlinienprojektion aus. Exakt von ihm aus schaut das Kameraobjektiv, und zwar in eine ganz bestimmte Aufnahmerichtung. Diese entspricht architektonisch dem Hauptsehstrahl, fotografisch der optischen Achse des Objektivs. Entsprechend den Konstruktionsregeln bei der Zentral- und der Übereckperspektive verläuft der Hauptsehstrahl in der klassischen Architekturfotografie (also derjenigen mit vertikal abgebildeten Motivsenkrechten) tatsächlich immer exakt horizontal. Schaut man sich ein aufgehängtes Bild an, so steht man meist mittig davor. Die optische Achse trifft dann senkrecht zur Bildebene auf, der Augenpunkt liegt dadurch im Bildzentrum. Geometrisch ist die mittige Position aber nicht unbedingt zwingend, es ginge auch seitlich. So entstünde eine Schrägperspektive, etwa über Eck. Entscheidend ist: Steht ein Betrachter genau dort vor dem Foto, von wo aus am Motiv die Aufnahme entstanden ist, dann sieht der Betrachter das abgebildete Motiv sehgetreu, also unverzerrt. Er fühlt sich genauso nah am Motiv, wie es die Kamera tatsächlich war. Exakt hier befindet sich dann der Augenpunkt. Senkrecht unter diesem befindet sich direkt auf der Grundebene der Standpunkt. Der Augenpunkt ist der Sehpunkt in der Zentralprojektion und damit die Spitze des Sehkegels, der den Hauptsehstrahl radialsymmetrisch umschließt (nur ein Auge zählt, das andere muss man – wie so oft im Leben und am SLR-Kamerasucher ohnehin – zudrücken). Natürlich wirkt eine Darstellung realistischer, bei der der Horizont möglichst so hoch liegt, wie wir es aus unserer Seherfahrung kennen. Schwierig wird das also bei Aufnahmen aus höherer Position mit Abwärts-Shift, hier liegt der Horizont trotz vertikal platzierter Motivsenkrechten ungewohnt hoch. Als ‚normale‘ Kamera- also Augenhöhe geht man im Schnitt von 1,60 Meter beim stehenden Menschen aus, von 1,20 beim sitzenden. Für eine besonders realistische Bildwirkung sollte dies in etwa eingehalten werden. Der Fluchtpunkt ist der Punkt, in dem sich die gedachten Verlängerungen aller Linien schneiden, die parallel zur Sehrichtung verlaufen – also alle orthogonalen Raumlinien. Fluchtlinien müssen übrigens nicht unbedingt parallel zur optischen Achse sein. Der Standort ist der Punkt auf der Standlinie, der sich exakt unter dem Augenpunkt befindet. Die Bildebene liegt senkrecht zur optischen Achse des Objektivs. Sie ist ein Querschnitt durch den Sehkegel.
Häuserbild und Terminologie
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Senkrecht zur Augenebene verläuft die optische Achse, also die Blickrichtung, auch die der Kameraoptik. Bezogen auf ein bestimmtes Objekt entsteht aus dessen Position und der Blickrichtung der so genannte Blickwinkel (nicht zu verwechseln mit dem Sehwinkel oder Bildwinkel eines Objektivs). Es ist in etwa so, wie wir es aus dem allgemeinen Sprachgebrauch kennen: Der Blickwinkel ist der Winkel, aus dessen Schenkelschnittpunkt heraus wir ein Objekt betrachten, wahrnehmen, also für wahr halten und fotografieren: der Augenpunkt. Innerhalb des Motivs verläuft – senkrecht zur optischen Achse – die Bildebene. Würde man Architektur mit selektiver Schärfe fotografieren (was stilistisch ungewöhnlich und aufgrund der bei Architekturen üblichen kleinen Abbildungsgröße nur mit extrem großer Blende möglich wäre), verliefe wahrscheinlich hier die Schärfenebene. Mitten auf dieser Bildebene, im Hauptpunkt, mündet die optische Achse, die am Augenpunkt beginnt, dem Ort des Betrachterauges oder des Objektivs. Im Hauptpunkt schneidet die Mittelsenkrechte der Bildfläche den Horizont. Auf dem Horizont liegen die seitlichen Fluchtpunkte, denn hier schneiden sich alle horizontalen Raumlinien. Die Schnittgerade, an der die Bildebene auf die Grundebene trifft, könnte man innerhalb eines Zimmers mit der Fußleiste vergleichen. An dieser treffen Wand und Fußboden aufeinander, beide bilden hier einen 90°-Winkel. Im Studio verbirgt man sie mittels einer Hohlkehle, da diese Linie bei Stilllifes in der Regel stört. Diese Spurlinie liegt genauso hoch über dem Horizont wie die Augenebene, ihre Höhe entspricht also der Augenhöhe. Auch wenn es ihn, den Horizont, konstruktionstheoretisch in jedem Bild gibt, ist er nicht immer sichtbar – manchmal ‚steht etwas davor‘. Zum Beispiel ein Busch, eine Mauer, ein Zaun oder ein Haus. Da der Horizont auf die Bildebene in Augenhöhe projiziert ist, muss er bei waagerechtem Geradeausblick niedriger liegen, wenn auch die Kamera tiefer steht. Hinter dem Fenster eines Ferienhauses am Meer lässt sich das gut überprüfen: Steigt man auf einen Stuhl, hebt sich innerhalb des Fensterrahmens auch die Wasserlinie, steigt man herab, scheint sie zu sinken. Am deutlichsten kann man die Horizontlinie erkennen, wenn das fotografierte Haus im Umfeld einer weiten Ebene liegt oder sich im Hintergrund das Meer befindet. Wenn die Kamera exakt waagerecht ausgerichtet ist, liegen die seitlichen Fluchtpunkte auf dem Horizont, selbst wenn diese durch den gewählten Ausschnitt innerhalb der Bildfläche nicht zu sehen, sondern vom Motiv verdeckt sind. Durch die projektive Verzerrung werden in zentralperspektivischen Fluchtpunktdarstellungen aus motivischen Kreisen Ellipsen und aus Rechtecken Trapeze, also schiefwinklige Vierecke. ***
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Ein westfälisches Firmengebäude aus mittlerem Abstand mit Normalbrennweite. Die Größenstaffelung Richtung Bildtiefe wirkt aus dieser Entfernung normal. Wahrscheinlich weil wir es von hier auch betrachten würden, wenn es nur darum ginge, das Gebäude einfach anzusehen, nicht aber darum, es zu fotografieren.
Blickwinkel und Tiefenwirkung Da ist das Haus, hier die Kamera – und nun? Einfach draufhalten, zielen, schön ins Bild setzen und abdrücken? Vielleicht vorher noch auf Fokus und Blende achten und die schönste Seite des Hauses suchen? Schließlich noch auf gutes Licht warten oder einfach da fotografieren, wo grad schon gutes Licht ist? Dann bräuchten wir so schöne Bücher wie dieses hier nicht. Übrigens wissen Pfadfinder, wie man ohne Kompass, nur mit einer Armbanduhr, bei gutem Wetter die Himmelsrichtungen ermittelt. Um abzuschätzen, um wie viel Uhr sich der Schuss lohnt, also wann das Sonnenlicht ein Streiflicht auf die gewünschte Hausseite legt, einfach das Zifferblatt waagerecht nach oben halten, mit dem Stundenzeiger Richtung Sonne weisen – dann zeigt die Winkelhalbierende zwischen Stundenzeiger und 12 Uhr exakt nach Süden (sommerzeitbereinigt). Wo Osten liegt, wissen wir dann auch, und dass von dort die Sonne morgens kommt und nachmittags von gegenüber, das ebenso. Astronomen begehren hier gern auf, sie wissen, dass diese Handregel nicht hundertprozentig stimmt. Aber in der fotografischen Praxis hat sie sich bewährt, und sind Astronomen fotografische Praktiker? Und ist Licht überhaupt so wichtig wie die Perspektive, oder kann ich gar beides zusammenbringen? Sollte ich das vielleicht sogar?
Blickwinkel und Tiefenwirkung
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Auf jeden Fall. Sollen Gebäude realistisch wirken – atmosphärisch also so wirken wie in natura, muss man sie von einem realistischen Standpunkt aufnehmen. Dazu zählt weder Froschperspektive noch Vogelperspektive, weder extreme Nähe noch extreme Ferne. Im Grunde auch nicht die halbe Höhe aus dem Fenster eines gegenüberliegenden Gebäudes, wie sie ja bei Aufwärts-Shiften simuliert wird. Die aussagekräftige Platzierung des so genannten Sehkegels ist das A und O einer expressiven Perspektive. Das Moderate erscheint auf der Bildfläche, die vielgerühmte Goldene Mitte. Nicht hüh und nicht hott, möchte man denken – aber ist so eine Haltung keine Beschneidung der kreativen Freiheit? Nein, denn sie liegt woanders. Häuser sind ein empfindliches Gut, und Bilder von Häusern sind es auch. Ein klassisches Architekturfoto, das als solches problemlos erkannt werden soll, sollte sich in ganz bestimmten Aspekten nicht allzu sehr von der Konvention entfernen. Irgendwann ist das Architekturfoto dann nämlich keines mehr. Die kreative Freiheit liegt nicht im Ausschöpfen irgendwelcher Extreme, sondern – und das ist mindestens genauso reizvoll – im schöpferischen Spiel mit den Grenzen. Diese auszuloten fordert schon genug heraus. Der Herrscher ist der Überwinder, ein Beherrscher ist es auch: Echt überwinden lässt sich eine Konvention nur, wenn sie tatsächlich beherrscht wird. Und das geht nur, wenn man sie kennt. Deshalb hier weitere wichtige Elemente der architekturzeichnerischen Bildsprache.
Näher heran mit kurzer Brennweite. Das Ganze bei möglichst demselben Ausschnitt im Hauptmotiv. Deutlich sichtbar wird der Betrachter hier viel stärker ins Bild mit einbezogen. Er steht quasi vor dem Haus und könnte es betreten.
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In der Begriffswelt technischer Zeichner liegt der Hauptsehstrahl in der Mitte des Seh- oder Sichtkegels. Dieser ist ebenfalls horizontal ausgerichtet, beginnt spitz am Auge und umschließt von dort ausgehend in einer bestimmten Entfernung das Motiv. Der Sehkegel entspricht dem Bildwinkel des Objektivs, der Hauptsehstrahl der mittig darin befindlichen optischen Achse. Die Schnittebene des Sehkegels bildet mit der Bildebene des Fotos den Sehkreis. Alles, was innerhalb dieses Sehkreises liegt, sieht für das unbewegte Auge unverzerrt aus, (wenn der Betrachter den gleichen Sehwinkel aufs Objekt hat wie die Kamera). In der Praxis setzt man den Sehkegel aus einer Durchschnittshöhe von 1,65 Metern (mittlere Körpergröße) wie gesagt oft mit einem Winkel von etwa 60° an, ein Bildwinkel, der sich diagonal bei einer Kleinbild-Brennweite von etwa 35 Millimetern ergibt. Der genaue Winkel bei 35 Millimetern ist laut Formel etwas größer, er beträgt 63,4°. Die Brennweitenangabe ist ‚ungecropt‘, Verlängerungsfaktoren für Digitalkameras müssten also zusätzlich berücksichtigt werden. Das geht schnell: Man dividiert einfach durch den jeweiligen Cropfaktor (nicht multiplizieren!). Sicher war es nicht gerade die Lust an phonetischer Ästhetik, die bei der Bezeichnung dieses Faktors Pate stand, zu sehr weckt schon das Hören des Wortes – zumindest beim Autor – die Assoziation eines eher unsympathischen, hohlen ornithologischen Körperteils. Sei es drum, der Crop-Faktor ist ein Verlängerungsfaktor. Er ergibt sich daraus, dass der Bildwinkel einer bestimmten Brennweite ‚beschnitten‘ wird (engl. to crop f. ‚abschneiden‘), wenn das Objektiv an einer Kamera mit kleinerem Chip verwendet wird. Dadurch wirkt die Brennweite des Objektivs länger, und zwar um eben diesen so überaus hässlich benannten Faktor. Meistens bezieht sich der Crop-Faktor auf Kleinbildkameras, also eine Bildgröße von 36 x 24 Millimetern. Da die meisten Digitalkameras aus Kostengründen einen kleineren Bildchip haben, bildet dieser nur einen Ausschnitt dessen ab, was das Objektiv an einer Kleinbildkamera zeigen würde. Der Bildausschnitt wirkt deshalb ‚teliger‘, also längerbrennweitig. Durch den engeren Bildwinkel scheint die Brennweite um denselben Faktor länger zu sein, um den das Aufnahmeformat kürzer als das Kleinbildformt ist. Um diesen Crop-Faktor zu finden, muss man wissen, wie groß der Kamerachip ist – man schaut in die technischen Daten der Kamera. Unter dem Punkt ‚Sensorgröße‘ sind die Millimeterabmessungen des Chips angegeben. Über den bekannten Satz des Pythagoras (a2+b2=c2) errechnet man mithilfe der Seitenlängen die Diagonale. Dieser Wert entspricht der Normalbrennweite für das verwendete Aufnahmeformat. Dann teilt man die Zahl 43,3 (KB-Diagonale und KB-Normalbrennweite, manche runden unkaufmännisch auf die Zahl 50) durch die ermittelte Diagonale und erhält so den Crop-Faktor. Weitwinkel mit einer kürzeren Brennweite setzt man eher innen ein und versucht bei einem Bildwinkel von maximal 90° zu bleiben – wenn es die Beengtheit der Raumverhältnisse zulässt. Außen können Extremweitwinkel zwar sehr effektvolle plakative Perspektiven bewirken, fordern aber nähere Kamera-
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positionen und offenbaren durch die dabei entstehende starke perspektivische Verkürzung Richtung Bildhintergrund leicht ihren manipulativen (also nicht gerade sachlichen) Charakter. Für eine authentische, dokumentarisch glaubwürdige Bildaussage wirken die extremen Nahperspektiven, die sie erfordern, meist zu dominant. Je größer der Abstand (bei gleichem Motivausschnitt also auch je größer die Brennweite und je kleiner der Bildwinkel), umso weniger werden seitlich gelegene Formen projektiv verzerrt. Aber: Desto distanzierter und weniger integrativ wird das Gebäude im Bild wirken. Wie der Betrachter scheint auch der Besucher des Hauses nicht mehr so sehr eingebunden ins Bild (oder Haus), der Betrachter schließt daraus möglicherweise, dass sich das Haus eher ansehen als betreten lässt. Es bekommt skulpturalen Charakter. Die relativ nahe Perspektive, wie man sie mit einem Weitwinkel einnimmt, nennt man auch ‚kurvilineare Perspektive‘: Gerade Motivlinien am Motivrand können aus dieser Nähe nicht mehr gerade gesehen werden – und das, obwohl wir es als gerade empfinden. Der Mensch sieht eben nicht mit dem Aug‘ allein – oder besser: Das Hirn isst mit. Und plötzlich sehen unsere Vorstellungen mehr als unser Auge. Aber gegen eines kann sich auch der Kopf nicht wehren, so banal es sich auch anhört: In dieser Nähe gibt es keine Distanz mehr.
Das Gegenteil zur Aufnahme oben, eine ‚Paparazzi-Distanz‘: Aus knapp 80 Metern Entfernung mit stärkerem Tele wirkt das Haus unnahbar und verschlossen. Der Betrachter ist ein Beobachter von außen und nimmt nicht Teil am Bildgeschehen. Auch Personen erscheinen aus großer Entfernung immer distanziert, ganz gleich, wie groß das Tele sie ins Bild setzt.
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Ferne, Abstand, Respekt, Nichtberührung ist von hier aus nicht mehr vermittelbar. Nicht in diesem Foto jedenfalls. Das Motiv scheint sich nicht mehr nur vor dem Auge des Betrachters zu befinden, sondern ihn zumindest vorne fast vollends zu umgeben; der Betrachter ist ‚drin‘, also integrierter Teil des Bildgeschehens. Eine ‚Flucht‘ scheint nur noch den Raumlinien, nicht aber dem Betrachter möglich. Erstaunlicherweise gibt es nur wenige Maler, die diesen dramatischen Effekt eingesetzt haben, aber einer hat es extrem getan: der Brite William Turner. Seine überaus expressiven Landschaften beziehen den Betrachter teilweise so extrem mit ins Bild ein, dass es kaum möglich ist, Distanz zu wahren, wenn man vor einem Original steht. Bei der Anwendung unterschiedlicher Abstände zum Motiv geht es also darum, den Betrachter atmosphärisch ins Bild ‚einzubauen‘ oder ihn auszuschließen. Damit bei nahen Abständen das Motiv nicht unvorteilhaft beschnitten und bei größeren Distanzen nicht zu viel Umgebung zu sehen ist, wird dabei der Bildausschnitt durch den Bildwinkel, also die Brennweite des Objektivs, angepasst. Es lohnt sich ja immens, für eine gewünschte Atmosphäre die Wahl des richtigen Aufnahmeabstands als gestalterisches Angebot anzunehmen und zu nutzen. Letztlich lässt man es damit einladend und besucherfreundlich oder eben skulptural und lediglich von außen ansehnlich erscheinen. Der Abstand ist also ein wunderbares Gestaltungsmittel für die Bildatmosphäre, das gilt für die Gebäudefotografie genauso wie für Porträts oder Landschaften. Aber: Natürlich gelten diese Freiheiten nur im Idealfall – bisweilen sind sie fiktiv. Nicht immer bekommt man die lokalen Verhältnisse am Haus so präsentiert, dass der Aufnahmestandpunkt völlig frei wählbar wäre. Für eine skulpturale, also eher distanzierte Wirkung kann man mit dem Stativ nicht in jedem Fall so weit zurückgehen, wie man es gern möchte. Deshalb sind hier in der Praxis oft organisatorische Zugeständnisse nötig, die zu einer Veränderung der Bildaussage drängen. Aber immer, wo es sich bietet – etwa bei frei stehenden Häusern –, sollte man dieses Angebot seines Motivs wahrnehmen. Für eine ideale Aufnahmeposition muss man oft schon mal ein wenig klettern oder die Bewohner gegenüberliegender Häuser kennen lernen. ***
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Das Querformat macht es leichter, einem Betrachter im Bild die Ruhe zu vermitteln, die ein Motiv ausstrahlt. Wir haben die Kamera sehr seitlich von der Kirchenflanke positioniert, um zusätzlich ein wenig Spannung ins Foto zu bringen. Außerdem verlaufen die Vertikalen komplett entzerrt. Das stabilisiert, und die wellenförmigen Linien im Bildhintergrund treten so in einen leichtgängigen Dialog mit den randparallelen Gebäudelinien. Bei einer dezentralen Komposition tut man übrigens meist gut daran, wenn man das markante Motivelement eher rechts ins Bild setzt. Dem Betrachter fällt es leichter, von links oben in ein Bild einzusteigen und den Weg zum motivischen Zentrum dramaturgisch als ‚Anlaufstrecke’ dahin zu nutzen.
Atmosphärische Gestaltungselemente Auch wenn es sich oft unterhalb der Ebene des Sprachlichen abspielt: Bilder werden immer bewertet, selbst jene, die uns scheinbar kalt lassen. Bestimmte einzelne Elemente innerhalb des Fotos gestalten seine Atmosphäre offensiv mit. Diese zu kennen erleichtert es ebenso, Fotos während der Aufnahme zu gestalten wie aus einer Serie gemachter Fotos die geeigneten herauszusuchen. Gerade die Bildanalyse und Bildredaktion im Nachhinein verlangt einen geübten Blick auf gestalterische Faktoren, wenn aus einem Pool eine Sequenz zusammengestellt werden soll. Insbesondere sind es bildzentrierte Arbeiten (im Gegensatz zu objektzentrierten), deren Komposition sich hier noch
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durch Beschnitt, Kontern oder Verzerren vervollkommnen lässt. Gerade dazu finden wir weiter unten Hinweise zu Linien- und Blickführung sowie zur symbolischen Wirkung von Richtungen im Bild. Natürlich ist bei Motiven mit Schriftzügen die spiegelnde Umkehrung des Bildes keine Alternative. Dasselbe gilt für so genannte objektzentrierte Darstellungen. In denen ist das abgebildete Objekt wichtiger als dessen künstlerische Umsetzung im Bild, Sachliche Information ist angesagt. Bildzentriertes Vorgehen dagegen betont das Bild selbst, hier darf mit Hilfe der Komposition gefühlig oder sogar manipulativ gearbeitet werden. Bisweilen kann die Beurteilung der kompositorischen Gesichtspunkte in einem Foto erleichtert werden durch einen kleinen Trick: die zeichnerische Abstraktion. Es ähnelt dem erwähnten Blick durch eine Fensterscheibe, auf der man das dadurch sichtbare Motiv abpaust. Nunmehr legt man ein Pauspapier über das Foto, kopiert skizzenhaft die markanten Punkte, Linien und Flächen – möglichst ohne dabei zu viel Gegenständliches vom Motiv zu zeigen. Dann versucht man, das Motivische (durch Konzentration und Kopfschütteln) kurz aus dem Blickfeld herauszuhalten und schaut sich das Ganze unter rein formalen Kriterien an. Bildaufbau und -struktur lassen sich so oft leichter erkennen. Es ist genauso wie am Fenster. Übrigens zahlt es sich aus, wenn man bei Bildreihen darauf achtet, dass es zwar eine fühlbare formale Linie gibt, die alle Bilder verbindet, dass sich aber die einzelnen Inhalte, Botschaften und ästhetischen Aspekte deutlich genug voneinander abheben. Denn so erlangt jedes einzelne Foto seine volle Daseinsberechtigung – obwohl sie deutlich bemerkbar zusammengehören. Im Grunde ist es mit der konstruktiven Bilderkritik wie mit dem Schneiden eines Kinofilms: Man sichtet das Rohmaterial, verwirft, wählt aus, setzt zusammen und macht das Ganze irgendwie rund. Durch Ordnung und Reduktion. Nur dass es hier eben keine szenischen Abläufe sind, die aus dem Umfeld isoliert werden, sondern Sekundenbruchteile – festgehaltene Starre, eben Bilder. Hier nun die Kriterien bei Bildern – teilweise übrigens aus der Malereikomposition entlehnt: Q
Formatausrichtung Die meisten Bilder sind quer. Wir haben uns daran gewöhnt. Das hat wahrscheinlich nicht nur Bequemlichkeitsgründe – nein, es wirkt tatsächlich etwas ‚normaler‘ – besser: sehgerechter. Da unsere Augen nebeneinander liegen, haben wir bei hochformatigen Bildern den Eindruck, einen Ausschnitt zu sehen, also durch etwas hindurch. Und dieses Etwas liegt näher als das Dahinter, näher als das eigentliche Motiv. Während das Querformat (horizontal, engl.: landscape) also fern, zuständlich und ruhig wirkt wie der Horizont, lässt das Hochformat (vertikal, engl.: portrait) den Betrachter eher Nähe und Dynamik spüren.
Atmosphärische Gestaltungselemente
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Das Hochformat betont Nähe, Dynamik und das Ausschnitthafte des Blickwinkels. Die Kirche liegt relativ weit oben im Bild, wodurch der Vordergrund besonders unterstrichen wird. Dabei kommt unwillkürlich die Ortssymbolik zum Tragen: Während oben das Geistige, Transzendente, Spirituelle und Flüchtige ist, deutet man unten das Erdige, Gebundene, Verhaftete und eher Trübe.
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Das Quadrat tanzt dabei aus der Reihe, es vermittelt nichts von beidem. Es verweigert sich dem örtlichen Statement oder dem einer Gemütslage. Das Quadrat als geometrische Urform (neben Kreis und gleichseitigem Dreieck) ist radialsymmetrisch und doch wieder nicht. Von seinem Zentrum gehen über die Ecken vier gleich starke Energiewirkungen aus, die sich vollkommen die Waage halten. Damit verharrt es absolut bewegungslos. Wenn das quadratische Format überhaupt eine Stimmung vermitteln kann, dann die der Statik. Und das ist etwas anderes als die Ruhe des Horizontalen. Q
Blickfang Da wir in unseren Breiten Texte von links oben nach rechts unten lesen, lässt sich hier auch ein Betrachterblick leichter fangen, wenn ihm der Bildeinstieg links oben ermöglicht wird – beispielsweise durch eine eher helle Fläche in der Ecke oder eine Linie, die von dort ins Bild hineinführt. Kontraproduktiv wäre eine dortige dunkle, undurchdringliche Fläche oder eine dominante Linie, die in der linken oberen Ecke nach rechts oben führt und dabei in der Ecke ein Dreieck hinterlässt. Dies kann etwa durch die Begrenzungslinie eines Giebels passieren und würde als Barriere für den Einstieg des Betrachterblicks wirken. Hier wäre es angesagt, die Position oder Richtung der Kamera so zu ändern, dass man einen anderen Ausschnitt bekommt.
Die helle Metallverstrebung führt den Betrachterblick von links oben her sehr leicht ins Bild hinein, hin zum markanten Punkt zwischen Korbgestänge und den beiden Tribünentreppen. Aber das Wichtigste war hier etwas ganz anderes: die Uhrzeit. Unsere Idee war, die Halle im Mischlicht aufzunehmen. Damit wollten wir ausschließen, dass in den Fenstern das Licht überstrahlt. Dafür musste das Licht von außen etwa so hell sein wie das Kunstlicht von innen. Wir machten den Aufbau morgens vor Sonnenaufgang und warteten einfach, bis die Morgendämmerung die richtige Helligkeit erreicht hatte.
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Zwar lässt sich nicht jedes Bild mit einem solchen Element aufbauen, manchmal geht es gar nicht ohne diese Schräglinie, aber in vielen Fällen ist ein Bild ansehnlicher, wenn man darauf achtet. Q
Orts- und Richtungs-Symbolik Alles Gute kommt von oben. Oben sind Himmel, Geist, Ideale, Fantasie, alles Flüchtige und Freie, tief unten dagegen möchte keiner sein. Unten ist das Gebundene, Unreine, Verhaftete, die Hölle und die schmutzigen Füße. Bewegungen nach oben deuten wir deshalb optimistischer als Bewegungen nach unten. Diese wirken eher melancholisch. Aufgrund unserer hiesigen Leserichtung empfinden wir Bewegungen, die nach rechts gehen, als in Zukunft, Aufbruch und Ferne weisend, links dagegen erwarten wir Vergangenheit, Rückkehr und Heimat.
Ein einfacher, aber effizienter Linienaufbau. Dieser Blick auf eine Halle an der Essener Zeche Zollverein bot sich dafür an. Die Richtung, die die Konvergenz nach rechts unwillkürlich assoziieren lässt, verläuft in die Zukunft, da wir in unserem Kulturkreis von links nach rechts lesen.
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Liniensprache Die vertikalen und horizontalen Linien im Bild entsprechen in ihren Wirkungen denen der Hochoder Quer-Ausrichtungen des Bildformats: waagerechte beruhigen und vermitteln Ferne, senkrechte dynamisieren und kommunizieren Nähe.
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Entsprechend unserer Leserichtung empfinden wir Linienverläufe zwischen links unten und rechts oben als steigend, sie haben eine optimistische Konnotation – Linienverläufe zwischen rechts oben und links unten dagegen scheinen zu fallen, sie wirken eher melancholisch.
Manchmal lohnt es sich, Bilder spiegelverkehrt zu betrachten. Wir haben hier dieselbe Aufnahme wie die Abbildung auf Seite 134, nur seitenverkehrt. Die eigentliche Liniendominanz fällt nun von links oben nach rechts unten ab, was dem Bild einen eher melancholischen Touch verleiht. Im Gegensatz dazu wirkt das Originaldurch den scheinbaren Linienanstieg eher optimistisch.Dieser Effekt ist kulturabhängig, er gilt nur in Ländern, in denen die Schrift von links nach rechts gelesen wird.
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Goldener Schnitt Der Goldene Schnitt ist eine unausgesprochene Übereinkunft. Sie funktioniert ungeplant, und das ist das Organische daran. Denn: Jeder kennt ihn, aber kaum einer weiß es. Vom Goldenen Schnitt spricht man, wenn eine Strecke an einer ganz bestimmten Stelle geteilt wird, an der das Größenverhältnis der beiden entstehenden Teilstrecken besonders harmonisch aussieht. Einfachstes Beispiel ist die Horizontlinie des Meeresspiegels, die an eben dieser Stelle die Höhe des Bildes in Himmels- und in Meeresfläche teilt. Architektonische Beispiele an Gebäudefassaden und Säulenkonstruktionen aus griechischer und römischer Antike gibt es en masse.
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Die Spitze des Hauses teilt die Breite des Bildes im Goldenen Schnitt. Dies wird umso deutlicher, als der gesamte Bildaufbau streng geometrisch ist, sogar die Korrespondenz der Randparallelen zu der Wellenform im Hintergrund scheint exakt gezirkelt. Der harmonische Impetus, der durch den Goldenen Schnitt in der viereckigen Strenge entsteht, wirkt leicht ein wenig ‚postkartig‘ und verleiht der Bildatmosphäre hier etwas von einer biederen Bürgerlichkeit.
Die Theorie: Der Mensch trägt ihn in sich. Le Corbusier zeigt an seinem so genannten ‚Modulor‘, dass im menschlichen Körper vielfach Proportionen nach dieser – wie es ursprünglich heißt: sectio aurea (lat. f. ‚Goldene Teilung‘) vorkommen. Und Schönheit bedeutet für den Philosophen Platon, dass der Mensch ein bestimmtes Maß im Außen besonders dann schön findet, wenn er es auch in sich trägt. Die Schule der Pythagoreer wies den fraktalen Charakter dieses Teilungsverhältnisses nach und belegte damit das ‚Ewiggültige‘, das ihm augenscheinlich innewohnt. Das Pentagramm, also der in einem Strich zu zeichnende fünfzackige Stern, wurde zu ihrem Emblem, weil es nur aus Strecken besteht, die alle zweimal nach diesem ‚göttlichen Verhältnis‘ geschnitten werden. Innerhalb des Sterns bildet sich ein regelmäßiges Fünfeck, dessen Diagonalen wieder ein Pentagramm ergeben. Das lässt sich nach innen unendlich fortsetzen. Und verbindet man die Ecken des Pentagramms, ergibt sich erneut ein regelmäßiges Fünfeck.
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Der Turm wurde ein wenig in das kurze Teilstück des Goldenen Schnitts hinein verlagert. Das ruhige Querformat wird so in eine leichte Spannung versetzt.
Das Teilungsverhältnis ergibt sich von innen gerechnet aus der irrationalen Zahl ݊ (Phi), also etwa 1,618 (dann ist die kurze Teilstrecke gleich 1 gesetzt), von außen her gerechnet 0,618 (dann ist die Gesamtstrecke gleich 1 gesetzt). Das entspricht in etwa dem Verhältnis 8 : 5. Bilder ständig nach dem Goldenen Schnitt zu gestalten, ist jedoch weniger interessant. Vielmehr kann man ihn als Ausgangspunkt einer kompositorischen Vorüberlegung nutzen und dann transzendieren, indem man bewusst in die kurze Seite hinein komponiert, um Spannung zu erzeugen, oder in die lange Seite, um das Bild mit mehr Ruhe auszustatten. Q
Cyma Im 18. Jahrhundert hat der britische Kupferstecher und Kunsttheoretiker William Hogarth entdeckt, dass Menschen geschwungene Linien lieber mögen als eckige. Er fand heraus, dass es besonders die S-Linie ist, die es dem Sehsinn angetan hat. Das ist eine gebogene Linie, die einmal innerhalb ihres Verlaufs die Richtung ändert. Heute heißt sie Cyma (griech. f. ‚Welle‘) oder Schönheitslinie. Hogarth widmete ihr den poetischen Namen Line of beauty and grace – ‚Linie der Schönheit und Anmut‘ (grace ist die anmutig Schöne, wir erinnern uns an die drei Grazien, die altgriechischen Göttinnen der Anmut).
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Die ‚BMW Welt‘ in München, entworfen vom Architektenbüro Coop Himmelb(l)au, Wien. Deutlich sichtbar ist der architektonische Linienschwung des Hauptgebäudes, der einem Wirbelsturm nachempfunden wurde. Den Eingang bildet der Kern des Sturms, er wird liebevoll ‚Eierbecher‘ genannt; die auslaufenden Winde formen schwungvoll das Gebäude selbst, das durch seine Mischung aus kühlem Glasfassadentimbre mit barem Beton ansonsten eher steril wirkt. Ein schönes Spiel zwischen den beiden Polen materiale Kälte und formaler Schwung. Die Cyma lässt sich hier zum einen als singuläres Gestaltungselement zeigen, aber auch im Widerspiel mit einer oder zwei geraden, vielleicht sogar rechtwinkligen Formen. Aus dieser Perspektive ist das besonders gut im Linienkontrast zu den geraden Gebäudekanten zu sehen. Um solche Eigenheiten herauszustellen, ist ein motivisches Gegenelement oft sehr geeignet. Gut, wenn man so etwas entdeckt, eine schöne fotografische Herausforderung.
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Vielleicht kommt es daher, dass wir auch dieses Maß in uns kennen, so dass die SchönheitsDefinition Platons wieder zum Tragen kommen kann. Denn: Kennen wir dieses Hin und Her nicht, weil wir als Säugling von Mutter und Vater gewiegt worden sind? Romantische Vorstellung. Zumindest wissen wir, dass Kinder im Freien nicht eckig, sondern schwungvoll hin und her laufen, dass Radfahren in Schlangenlinien (klammheimlich zumindest, oder nicht?) etwas Befreiendes hat, das Gleiche gilt für Wasserski. Und wir wissen, dass weiche, stromlinienförmige Konturen an PKW-Karosserien nicht nur etwas mit der Physik im Windkanal zu tun haben, sondern auch mit Sinnenschmeichelei. Ähnlich wie das Schunkeln im rheinischen Karneval.
Ein tolles, unaufdringliches Cyma-Motiv: Das Fahrrad, die ansteigende Treppenlinie und die Grasnarbe an der Gebäudefront bilden eine sanfte S-Form. Und weil die Situation so schön war, haben wir daraus eine Sequenz gemacht.
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Hier das zweite Bild der kleinen Reihe. Die Dame mit dem Fahrrad war gar nicht geplant, sie ist als Zufallsengel ins Bild geraten, wenn es einen solchen denn gibt. Dankbar sind wir ihr allemal.
Nun sind es meist gerade Linien, die die Gebäudestatik fordert, um Häuser-Konturen zu umgrenzen. Mit Ausnahme romanischer Rund- oder gotischer Spitzbögen sowie der gewölbten Iglu-Form bei grönländischen Inuit ist mit geraden Linien einfach leichter Stabilität zu erreichen als mit geschwungenen. Die Cyma ist also kein typisches Architekturthema. Und doch gibt es moderne Bauten, die auf geschwungenen Linien beruhen. Vielleicht hat man da atmosphärische Synergien mit den Nierentischen entdeckt, die wir aus den 50er Jahren kennen. Recht prominent ist da sicher das Hundertwasser-Haus in Wien. Der Maler Friedensreich Hundertwasser ist neben seinen bunten Bildern sicher auch bekannt für sein Traktat wider das Viereck. Nun fordert gute Gestaltung nicht nur, dass man ein Objekt unter Maßgabe dieser oder jener kompositorischen Grundsätze ins Bild bringt. Gestalt will nicht nur gegeben sein, sondern auch gefunden werden … ***
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Symmetrische Kompositionen erfordern eine minutiöse Ausrichtung der Kamera. Kleine Ungenauigkeiten in der Perspektive bringen das gesamte System bereits ins Wanken.
Symmetrie und Gleichgewicht Für Vitruv hat das architektonische Bild keinen dokumentarischen Charakter. Das Tun des Zeichners ist nicht dazu angetan, eine oder die Gestalt des Bauwerks zu finden. Bilder von Bauten dienen keiner objektiven Erkenntnis, sie sind nur eine von vielen Formen des Zeigens. Sie kommen über den Status des Mediums nicht hinaus. Und dieses Medium selbst kann ungekonnt oder gekonnt sein, hässlich oder schön. Wie auch immer das Bauwerk tatsächlich aussehen möge – seine Darstellung selbst kann symmetria zeigen oder auch nicht. Und in Anlehnung an den in der Renaissance wiedergeborenen Schönheitsbegriff Platons erklärt er dazu: Schönheit bedeutet: die Übereinstimmung des Sichtbaren mit dem Guten. Für das Wort Schönheit benutzt er den anmutigen Begriff symmetria. Symmetrie kommt vom griechischen Wort für ‚Gleichmaß‘. Symmetrisch ist das Ausgewogene, Gleichrangige, sich in Balance Befindliche, Ausgeglichene, Angemessene, Adäquate, Ebenbürtige und Stimmige – eben das Schöne,
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im tieferen Sinn des Wortes. Etwas passt zusammen – Harmonie, als harmonia aus dem Griechischen kommend, heißt Fügung, Einklang. Der Ausdruck Symmetrie betont dabei das Ebenmaß, weist auf einen harmonischen Aufbau.
Eine Sonderform des symmetrischen Bildaufbaus ist das dynamische Gleichgewicht. Die Grundkonstellation besteht aus einer spiegelgleichen Linienanordnung, das Motiv selbst – hier die Salzburger Festung ‚Hohensalzburg‘ – bietet aber Abweichungen, die die Statik unterbrechen. Die Linien haben wir hier bewusst stürzen lassen, um der Burg im Bild nicht nur Tiefe, sondern auch Höhe zu verleihen.
Sicher nicht von ungefähr berührt auch die symmetrische Aufteilung der Bildfläche einen angenehm empfindlichen Punkt im Sehsinn. Symmetrie ist ein bestechendes Mittel der Komposition, sie stellt eine der höchsten Formen von Ordnung und Stabilität im Bild dar. Symmetrisch ist es wie mit geöffneten Armen, sie bieten Stabilität, Sicherheit, leicht aber auch Statik. Wenn man eine geometrische Balance im Gebäude findet und diese zeigen will, muss sie immer hundertprozentig exakt im Foto zu sehen sein. Jede auch noch so kleine perspektivische Abweichung zerstört den Eindruck metrischer wie atmosphärischer Ausgewogenheit. Kleinste Ungenauigkeiten in der Kameraposition machen den Effekt zunichte.
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Bei symmetrisch angelegten Ansichten von Häusern bietet es sich auf den ersten Blick recht schnell an, den Leckerbissen anzunehmen und auch das Foto symmetrisch aufzubauen. Wie jede Konzentration aufs allzu Geometrische übernimmt auch die Symmetrie die Statik des Hauses ins Bild und betont eher die Qualität des architektonischen Konzepts als einen vitalen Bezug zum Menschlichen. Spannung bekommt man dann meist nur noch durch extrem niedrigen Horizont (Kamerahöhe) und bewusst stürzende Linien.
Ein weiterer Fall eines dynamischen Gleichgewichts. Hier scheint fast eine Symmetrie-Grenze erreicht zu sein, da die Korrespondenz zwischen den Bäumen links und dem Wohnhaus rechts höchstens gerade mal noch eben funktioniert. Verzeihlich wird dieses Experiment durch den dekorativen Schattenwurf auf der Wohnhausfassade, den ähnlich schrägen Winkeln der Bäume oben am Himmel und der Dachkante des Wohnhauses.
Die Frage symmetrischer Effekte spielt in der Architektur eine wesentlich größere Rolle als etwa in der Porträt- oder Landschaftsfotografie. Hintergründige Bedeutung einer jeden Symmetrie sind Ausgewogenheit, Balance und Ebenbürtigkeit. Thematisiert wird also die Zahl Zwei – es handelt sich um zwei Pole, zwei Seiten oder zwei gegensätzliche Aspekte ein und derselben Sache. Und zwar in jeder Konnotation: Polarität, Dualität und Komplementarität, Zwiespalt und Zwietracht, Dualismus und Dialektik,
Symmetrie und Gleichgewicht
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in transzendiertem Sinne aber auch das besondere Zusammenspiel, die Eintracht, das Gefüge, die Gleichartigkeit, die Ähnlichkeit und die Verwandtschaft. Aber Symmetrie ist nicht gleich Symmetrie. Symmetrische Wirkungen lassen sich in zwei Arten unterscheiden: Q
Geometrische Symmetrie Sie teilt das Bild mittig in zwei strukturell fast identische Hälften, die sich spiegelgleich gegenüberstehen. Sie zeigt Ausgewogenheit unter statischem Aspekt, vermittelt Stabilität und kann dadurch leicht bewegungslos verharrt wirken. Denn nur eine leichte Irritation lässt das Gefüge recht schnell zerfallen. Visualisierung: Rohrschach-Test mit Tintenklecksen auf mittig gefaltetem Papier. Das sieht fast immer wie ein Schmetterling aus.
Q
Dynamische Symmetrie Sie vermeidet das geometrisch Exakte und stellt bewusst Verschiedenheiten gegenüber. Dies aber so, dass gerade die Unterschiede zwischen ihnen das eigentliche Agens ihrer ausgewogenen Beziehung zueinander sind. Diese Unterschiede dürfen, ja sollen sein; sie sind verschiedengewichtig, aber dadurch ebenbürtig, dass sie gerade durch eine geometrisch eigentlich asymmetrische Konstellation ein Kräftegleichgewicht darstellen. Ein typisches Beispiel für ein dynamisches Gleichgewicht ergibt sich aus dem Umstand, dass verschiedene Farben unterschiedlich dominante Raumwirkung entfalten. Würde ein Bild etwa zu gleichen Teilen aus Blau und aus Gelb bestehen, hätte das Gelb ein größeres Gewicht und dominierte das Blau. In einer dynamisch ausgewogenen Konstellation dieser beiden Farben im Bild müsste das Blau also mehr Platz beanspruchen. Ein Vergissmeinnicht in einem Butterblumenfeld würde farblich untergehen, nicht dagegen eine Butterblume auf einem Beet aus Männertreu. Visualisierung: Kind und Erwachsener auf einer Spielplatzwippe sind im Gleichgewicht, wenn sie unterschiedliche Abstände zur Mitte einnehmen. ***
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Mittler zwischen dem Hier und Da
Ein gestitchtes Panorama, aus der Hand am Boden aufgenommen und aus der Hocke heraus um die eigene Körperachse gedreht – ohne Blick durch Sucher oder Monitor, und ohne jede Rücksicht auf Nodalpunkt oder sonstiges. Völlig unkorrigierte Linien, eine scheinbar unmotivierte Unterbrechung des Betrachtereinstiegs schon auf der linken Seite und ein einfach ins Nichts auslaufendes, divergentes Liniengefüge – inmitten so viel Unerlaubtem kann man sich einfach nur auf die Suche begeben. Nach Halt, Einhalt, Stütze und Orientierung.
Sehschule und Wahrnehmungstraining Architekturfotografie ist langweilig! Im Allgemeinen wartet man vor einer wirklich guten Architekturaufnahme. Meist auf das richtige Licht. Es wird zwar zum Schluss hin gern schon mal hektisch, weil sich in den letzten Minuten die Beleuchtung sekündlich zu ändern scheint – zunächst aber hat man meist Zeit. Die lässt sich nett verbringen, wenn man sich von ästhetischen Fragen wie etwa den folgenden inspirieren lassen kann: Q
Was sind für mich generelle Kennzeichen eines Gebäudefotos, wie ich es mir wünsche?
Q
Ziele ich auf eine ‚objektiv gelungene’ Komposition oder habe ich einen bestimmten Bildgeschmack im Sinn?
Q
Mag ich eher stimmungsvolle Romantik oder futuristische Kühle?
Q
Liegt mir eine eher intuitive und analytische Reflexion meines bildnerischen Tuns?
Q
Will ich das Gebäude dokumentieren oder stilisieren?
Sehschule und Wahrnehmungstraining
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Dieses Haus müsste man erstmal als solches erkennen können. Motivisch stellen Dämmerung und ein farblich zwar ausgewogenes Spiel mit Unschärfen und Silhouetten allerdings mehr Fragen, als dass sie Antworten gäben. Dennoch: Die Form lädt ein.
Wie bei anderen Foto-Genres gibt es auch hier verschiedene Spielarten der Komposition, insbesondere klassische und experimentelle Stile. Prinzipieller Unterschied ist der Umgang mit stürzenden Linien und Randparallelen, mit Fluchtlinien, Anschnitten und der Lichtverteilung. Zunächst einmal heißt es Gucken lernen. Folgende Trainings haben sich bewährt:
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Mittler zwischen dem Hier und Da
Trainieren ohne Kamera Sinne und Geist – manchmal konkurrieren sie, hier können sie sich zusammentun. Q
Erkunden und Entdecken von Form, Formen, grafischer Struktur, Strukturen und Licht Hier dreht es sich um die Fähigkeit vom Figürlichen zu abstrahieren.
Q
Die Essenz im Motiverlebnis entdecken Hier ist das Vermögen gefragt, die Bildsprache auf eine Essenz zu reduzieren.
Q
Überlegungen zu meiner persönlichen Bildsprache – einer, die also besonders gut zu mir passt Hier wird nach dem eigenen Stil geforscht, einer besonderen Note, die meinem Wesen entspricht.
Trainieren mit Kamera Übungen haben immer etwas von einem langen Kennenlerngespräch. Q
Ein Haus nach obigen Kriterien verstehen und mit der Kamera interpretieren
Q
Details des Hauses losgelöst aus ihrem Kontext fotografisch deuten oder erzählerisch nutzen ***
Sehschule und Wahrnehmungstraining
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Technik pur – ein unverzichtbares, für sich allein aber doch recht kühles Fundament für ein Foto. Hier noch mal einer der beiden Highlight Towers in München.
Fototechnische Basics „Does anyone wanna go dance upon the roof …“ Ein Walzer auf dem Dach. Dabei auf die eigenen Füße schauen – geht das? Was, wenn man Angst vor unsicheren Schrittfolgen hat, vielleicht um die glänzenden Schuhe des Gegenübers? Oder vor dem Abgrund? Richtige Schritte sind sicher ein tragender, aber nur kleiner Teil im Lernprogramm des Walzers. Viele kennen das vom Tanzen allgemein, auch beim Schwimmen und Radfahren wird das so sein – ebenso: beim Bildermachen. Technik ist ein Fundament, sie ist gut, wichtig, meinetwegen unerlässlich – aber eben nur ein Fundament. Und das steht immer nur unter dem, was wirklich wichtig ist. Auf ihm, dem Fundament, wird balanciert, mehr nicht – vielleicht weil das große Andere, was ein gutes Architekturfoto auch noch ausmacht, viel größer ist und darüber steht. Und gerade in der Fotografie ändert sich die Technik viel schneller als dieses große Andere. Das hat sie dem Walzer voraus. Fotografische Technik finde ich nur insoweit wichtig, wie sie mir gestalterisch weiterhilft. Bestimmte Ausrüstungen und Einstellungen an Kameras und Objektiven machen es leichter, ganz individuelle Sichtweisen optimal umzusetzen. Im Laufe meiner Jahre mit der Architekturfotografie hat sich gezeigt, welche das für mich sind. Und deshalb sind sie Thema dieses Kapitels.
Komposition symmetrisch, Motiv selbst asymmetrisch – vielfach eine fruchtbare Dissonanz. Zwischen den Bäumen im Vordergrund und dem Gebäude im Hintergrund befand sich eine breite Straße und nur gegenüber ein Bürgersteig mit Radweg. Damit die Bäume genauso scharf wie das Gebäude werden, haben wir die Schärfe dazwischen gelegt. Zwischen zwei Ampelphasen stellte sich mein Assistent kurz und guten Mutes auf den Mittelstreifen der Straße, damit ich die Schärfe manuell auf ihn legen konnte. Bei diesem Abbildungsmaßstab lässt sich die Schärfentiefe durch den Fokus etwa aufs erste Drittel der Entfernungsdifferenz zwischen Bäumen und Gebäude wesentlich besser ausnutzen – man verschenkt kaum Schärferaum nach vorn oder hinten.
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Fototechnische Basics
Grundbegriffe Technische Parameter des guten Bildes Blende und Sphäre Die Größe der Blendenöffnung und die Öffnungszeit des Schlitzverschlusses in der Kamera regeln die Helligkeit des Fotos – fototechnisch gesagt: Das Produkt aus Blendenzahl und Belichtungszeit ergibt die Belichtung. Dabei führen theoretisch unendlich viele Zeit-Blenden-Kombinationen zu derselben Helligkeit im Bild, also zum selben Belichtungs-Produkt: kleinere Blenden mit längeren Zeiten und große Blenden mit kürzeren Zeiten. Gestalterisch lässt sich diese Erkenntnis wunderbar einsetzen, da über die Blende dosiert werden kann, wie weit sich der Schärfenraum vor und hinter dem Fokuspunkt ausdehnt. Diese Schärfentiefe wird dabei umso größer, je kleiner die Blende eingestellt ist – je größer also die Blendenzahl. Da sich die Blendenzahl aus dem Verhältnis virtueller objektseitiger Blendendurchmesser zu verwendeter Brennweite ergibt und letztere fast immer größer als ersterer ist, steht die Blendenzahl im Nenner eines Quotienten. Das bedeutet: Große Schärfentiefe bekommt man bei großer Blendenzahl. Wenn wir die Schärfentiefe, also die Tiefe des Schärfenraums definieren, können wir entscheiden, ob das Foto eher ‚sphärisch‘ oder informativ sein soll. Eine sphärische Wirkung kommt durch eine stark selektierte Punktschärfe zustande, eine kleine Schärfentiefe mit deutlichen Unscharfpartien im Bild. Die Schärfentiefe hängt aber auch vom Abbildungsmaßstab ab, mit größerer Abbildung wird sie geringer. Da ein Haus sehr groß ist, ein Chip aber sehr klein, macht man nun aus einer kleineren Not eine größere Tugend: Klassischerweise bevorzugt man in der Architekturfotografie nämlich eine vom Vorder- bis zum Hintergrund scharfe Abbildung. Dies nicht ganz von ungefähr. Selektive Schärfe wäre aufgrund des relativ kleinen Abbildungsmaßstabs in der Architekturfotografie kaum möglich – da bräuchte man schon extrem lichtstarke Objektive. Um aber auch leichte Schärfeverluste zu vermeiden, geht man auf Nummer sicher und blendet mehrere Stufen ab. Der Verzicht ist die atmosphärische Beeinflussung des Bildes über einen selektiven Schärfenraum. Stativ, Statik und Bildrauschen Da die Belichtungszeit dabei relativ lang wird, empfiehlt es sich immer, ein Stativ zu benutzen. Damit ist man ‚verwacklungstechnisch‘ am besten gewappnet. Sollte in einer spontanen Aufnahmeaktion auf die Schnelle keines verfügbar sein, muss man die ISO-Empfindlichkeit des Kamerachips so hoch einstellen, dass man unter den Wert der so genannten Freihandregel kommt. Diese besagt, dass die längste Belichtungszeit, die gerade noch aus freier Hand verwacklungsfrei gehalten werden kann, 1 : Brennweite in Sekunden beträgt. Stabilisatoren verlängern diese längste Belichtungszeit um zwei bis vier Stufen.
Grundbegriffe
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Je nach Markt-Alter des Kameramodells kann das Bildrauschen, das sich durch die Signalanhebung mit höheren ISO-Zahlen verstärkt, im Foto sichtbar werden. Die Prozessoren aktueller Modelle lassen Fotos bis ISO 400 in der Regel noch nicht sichtbar verrauschen. Zumindest bei Vergrößerungen unter DIN A4 bleiben die Rausch-Artefakte so klein, dass das menschliche Auge sie auch innerhalb homogener Schattenflächen kaum auflösen wird.
Romantik oder Sozialreportage – Bildrauschen at its best. So sieht ein Bild aus, wenn die ISO-Zahl sehr hoch, die Belichtungszeit sehr lang, die Umgebung relativ warm, der Chip eher klein und der Prozessor schon recht alt ist. All diese Faktoren bewirken ‚Rausch-Artefakte‘, die aber auch schon mal in die Komposition mit einbezogen werden können. Wir kennen das aus analogen Zeiten, in denen das wunderbare 27-DIN-Korn des legendären Kodak Tri-X pan Liebhaber auf den Plan gerufen hat, die heute noch von ihm schwärmen. Mittlerweile gibt es tatsächlich Software, die dieses Korn simulieren kann, etwa von der Firma DXO. Eigentlich sinnlos, denn Leute, die auf so etwas stehen, werden den Tri-X gar nicht mehr kennen.
Programm und Belichtung Von der Nutzung der Vollautomatik oder der Motivprogramme ist abzuraten. Diese entmündigen den fotografierenden Menschen, indem sie die Funktionalität der Kamera extrem begrenzen. Vollautomatische Programme erhöhen zwar die Sicherheit, dass das Motiv auf dem Foto überhaupt zu sehen ist, der Preis dafür ist aber eine immense Einschränkung der kreativen Möglichkeiten. Viele Menüfunktionen sind bei solchen Programmen deaktiviert, auch die AF-Feld-Wahl, Belichtungskorrekturen und andere Funktionen sind meist nicht mehr einstellbar. Empfehlenswert ist die manuelle Belichtungseinstellung oder eine Halbautomatik. Professionell belichtet werden Häuser manuell oder per Halbautomatik, also mit Blenden- oder Zeitvorwahl – plus gegebenenfalls Belichtungskorrektur. Am logischsten erscheint sicher die Blendenvorwahl, da sich darüber die Schärfentiefe direkt dosieren lässt. Natürlich ergibt sich diese aber auch
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Fototechnische Basics
indirekt über eine vorgewählte Zeit. Hier gibt es kein Richtig oder Falsch – jeder Profi hat hier seine persönlichen Vorlieben. Überprüfen lässt sich die Belichtung danach sehr gut mit dem Histogramm (v. griech. histos f. ‚Gewebe‘ und gramm f. ‚Darstellung‘). In diesem Diagramm ist über eine Kurve von links nach rechts die Menge der einzelnen Hellwerte im Bild abzulesen. Fängt diese Kurve an der unteren Seite links an, sind alle Schatten durchzeichnet. Hört sie an der unteren Kante rechts auf, sind auch alle Lichter detailliert durchzeichnet. Sind Beginn oder Ende der Kurve aber an der seitlichen Kante des Diagramms, gibt es entweder zugelaufene Schatten und/oder überstrahlte Lichter. In so einem Fall muss die Belichtung korrigiert, gegebenenfalls auch der Kontrast weicher eingestellt werden.
In diesem recht ausgewogenen Histogramm sehen wir einen hohen Anteil mittlerer bis heller Töne, einige wenige Schwarztöne und einen ganz gut durchzeichneten Lichter-Anteil. Der senkrechte Streifen auf der rechten Seite deutet auf größere Hellweiß-Partien ohne Zeichnung hin, das Bild hat also überstrahlte Bereiche, in diesem Fall einen fast schneeweiß bedeckten Himmel.
Vollformatige Chips haben oft eine geringere Pixeldichte, was das Bildrauschen bei höheren ISO-Zahlen, längeren Belichtungszeiten und höheren Temperaturen nicht ganz so stark werden lässt. Große Chips bedingen aber auch größere Abbildungsmaßstäbe beim Fotografieren, und die wiederum senken die Schärfentiefe. Man muss also vielleicht eine Stufe stärker abblenden, kann es aber auch, weil die Diffraktion (Unschärfeüberlagerung durch Lichtstreuung an kleinen Öffnungen) erst bei etwas kleineren Blenden sichtbar wird. Weißabgleich und Farbcharakter Der Weißabgleich ist nur bei JPEG-Aufnahmen ein Thema, Fotos im RAW-Format gestatten es, diesen im Nachhinein über den RAW-Konverter einzustellen. Das ist sehr einfach, weil man am Computermonitor eine Sichtkontrolle hat. Gut, wenn er dafür alle paar Monate kalibriert wird, so bleiben die Ergebnisse stets wiederholgenau und sind auch für andere Nutzer mit gleich gut kalibrierten Monitoren nachvollziehbar. Wenn dann auch noch die Farbcharakteristik des Druckers auf den Monitor abgestimmt ist, wird das Ganze perfekt Auch für Veröffentlichungen ist das wichtig, denn alle Agenturen und Grafiker arbeiten mit kalibrierten Bildschirmen. Und was JPEGs anbelangt: In der Regel funktionieren die heutigen automatischen Weißabgleichsysteme zwischen 2800 K und 10.000 Kelvin sehr gut – farblich entspricht das einem Bereich zwischen
Grundbegriffe
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Kerzenlicht und Himmelblau bei sehr hohem Luftdruck; rein manuelle Einstellungen sind nicht erforderlich. Nur bei Farbdominanzen, in Mischlichtsituationen oder wenn mit Multishot-Techniken (HDR, Pano-Stitch, Makro) gearbeitet wird, sollte man einen der im Menü verfügbaren Festwerte einstellen. Am besten den, der der aktuellen Aufnahmesituation im Mittel entspricht.
Ein Kabelkanal in einem Kölner Hotel. In diesem Keller war es sehr eng, eine attraktive frontale Sicht war unmöglich, die Fachkamera musste seitlich aufgestellt werden. Damit die Grenzen der Schärfentiefe dabei nicht allzu sehr strapaziert werden, führten wir einen klassischen Scheimpflug-Schenk aus: Wir drehten das Objektiv seitlich um seine vertikale Achse, so dass sich die drei gedachten Verlängerungen der Objektivebene, der Filmebene und Kabelebene an der Wand scheinbar in einer Linie schnitten. Dadurch legte sich die Schärfenebene schräg zur optischen Achse schmiegsam über die Kabel. Resultat: Von vorne bis hinten alles im Fokus.
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Fototechnische Basics
Entfernung und Fokus Nicht immer wird die Komposition im Sucher so aussehen, dass das aktive Autofokusfeld einen Motivteil trifft, der in der für die Aufnahme optimalen Schärfenebene liegt. Die Schärfe sollte man daher eher manuell einstellen, und zwar auf eine Entfernungsebene, die etwa im vorderen Drittel innerhalb der gewünschten Schärfentiefe des Motivs liegt. Zwei Ausnahmen gibt es hier: zum einen Makro-Details aus einem Architekturausschnitt, hier rückt der Scharfstellpunkt immer weiter in die Mitte der Schärfenverteilung (bei 1 : 1 Abbildung wäre es exakt 50 : 50); zum anderen Einstellungen auf die so genannte ‚hyperfokale Distanz‘. Hier soll die Schärfentiefe von einem gewünschten Nahpunkt bis zum Horizont gehen. Diese setzt die Parameter Aufnahmeformat, Blende und den Nahpunkt, den man sich scharf im Foto wünscht, in Bezug zu der Entfernung, auf die man dafür fokussieren muss. Bei geeigneter Wahl des Fokuspunktes und der richtigen Blende verteilt sich die Schärfentiefe vor und hinter dem Fokuspunkt nämlich im Verhältnis 1 : Unendlich, also extrem asymmetrisch. Falls man übrigens aus Gründen der Mobilität oder einer größeren Fokussiergenauigkeit auf den Autofokus besteht, empfiehlt sich eine Einstellung mit Schärfepriorität. Damit ist gewährleistet, dass der erste Schuss bereits scharf ist. Ansonsten könnte bei der Auslösepriorität des Action-Autofokusses (welch schöner Genitiv) die Auslöseverzögerung so kurz sein, dass die Kamera gerade bei etwas langsamer fokussierenden Objektiven schon vor Abschluss des Scharfstellprozesses auslöst.
Bildbearbeitung Das Feintuning der Bildbearbeitung z. B. mit Adobe Photoshop im Nachhinein bezieht sich meist auf folgende Punkte: Q
Optimierung des Bildausschnitts
Q
Korrektur der Tonwerte über das Histogramm
Q
Gradationskurven
Q
‚Tiefen-und-Lichter‘-Funktion
Q
Genaue Farbabstimmung per Farbbalance und Sättigung
Q
Einstellen der Bildgröße bei der geforderten Auflösung (meist 300 ppi)
Q
Nachschärfen durch die Unscharfmaske, Ausfleck- und motivische Retusche
Q
Eventuelle Aufbereitung der Datei fürs Internet durch Komprimierung *** Grundbegriffe
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Schiefe Motive, gerade Linien.
Analog oder Digital Die Dateiformate Die gängigen Dateiformate der Kameras sind RAW und JPEG. Während letzteres mit wählbaren Parametern zur Bildqualität schon vor der Aufnahme optimiert werden kann, ist das erste ein kameraherstellereigenes, authentisches Format. Statt chemisch auf Film werden Fotos heute in solchen Formaten zumeist auf Datenträger abgespeichert. Das RAW-Format komprimiert verlustfrei, das JPEG-Format verlustbehaftet.
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Fototechnische Basics
Die Digital-Fotografie – Vor- und Nachteile Die Vorteile des Digitalen sind allseits bekannt, sie liegen klar auf der Hand: Das Bild ist sofort nach der Aufnahme verfügbar, und diese lässt sich direkt wiederholen, wenn irgendetwas nicht stimmt. Dennoch kann es auch im Nachhinein noch weitgehend optimiert werden, gegenüber dem Analogen sind die Korrekturmöglichkeiten wesentlich erweitert, sie sind einfacher, schneller und sauberer geworden. Die einst so gefürchteten Farbkipper, also zwei gleichzeitig auftretende komplementäre Farbstiche in Schatten und Lichtern innerhalb eines einzelnen Bildes, sind kein großes Thema mehr. Während man früher in aufwändigen Laborprozeduren über farbig gefilterte Internegative versuchte, ihrer Herr zu werden, genügen heute ein paar Mausklicks. Über selektive Farbkanäle kann jede einzelne Grundoder Mischfarbe in Ton, Helligkeit, Sättigung und Gradation einzeln bearbeitet werden. Das Zonensystem – zu analogen Zeiten ein außerordentlich komplexes Verfahren, Belichtung und Entwicklungsprozess exakt aufeinander abzustimmen, um die Dynamik der verwendeten Fotomaterialien für jede einzelne Aufnahme exakt an den Tonwertumfang des Motivs anzupassen – ist heute quasi nicht mehr nötig, das Digitale simuliert es. Mittels Histogramm und Tonwertkorrektur können die tiefsten Schwärzen und die hellsten Weißen Detailzeichnung zeigen – und wenn Lichter doch mal überstrahlen oder Schatten zulaufen sollten, bietet Adobe Photoshop die wunderbare Funktion Tiefen und Lichter, mit der sich die Extremwerte anheben und Absenken lassen. Und wenn alles nichts hilft, gibt es immer noch ‚HDR’ (wir kommen später darauf zu sprechen). Aber das ist noch längst nicht alles, auch für Präsentation und Archivierung bieten sich vielfältige leicht praktizierbare Möglichkeiten. Und selbst was die Bildqualität anbelangt, schlägt eine gut bearbeitete RAW-Ursprungsdatei das Kleinbild- und Mittelformat um Längen – zumindest in puncto Auflösung, gerade bei höheren ISO-Zahlen (die in der Architekturfotografie allerdings kaum eine Rolle spielen – zumindest wenn vom Stativ fotografiert wird und keine Menschen scharf gezeigt werden sollen). Alles scheint gegen den Film zu sprechen. Aber man muss auch die Nachteile sehen, mit denen das Digitale in der Fotografie immer noch behaftet ist. Dabei entscheidet zunächst der persönliche Geschmack. Viele Liebhaber des Analogen behaupten, das Digitale in einer Fotografie fast schon von Weitem erkennen zu können, sie empfinden digitale Bilder als kühl und steril. Die Farben seien hart und gläsern, heißt es, und gegenüber dem guten alten Filmkorn wirkten die Artefakte des Bildrauschens genauso künstlich und unorganisch wie die Konturlinien des Schärfefilters. Zu Recht fühlen sich manche an die Veränderungen im Audiosektor erinnert: den Übergang von der analogen Vinylschallplatte über das digitale Masterband zur CD oder gar hin zum mp3. Nicht von ungefähr gibt es auch heute noch mindestens eine besondere Domäne des Analogen: Für Diaschauen und Audiovisionen wird auch derzeit noch gern auf Diamaterial fotografiert. Im AV-Bereich lässt sich ein Kleinbilddia immer noch wesentlich schöner projizieren, als das ein Beamer könnte.
Analog oder Digital
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Sicher sieht man die Unterschiede nicht immer, und zweifellos ist da auch viel Emotion und Liebhaberei des Vergehenden gegenüber in der Diskussion; Tatsache aber ist: Selbst die besten Beamer lösen bis heute kaum mehr als zwei Millionen Pixel auf – eine Qualität, mit der wir uns bei einer Kamera längst nicht mehr zufrieden geben würden. Auch die Tonwertmodulation hat gerade in den Extremwerten bisweilen recht ‚metallisch‘ anmutenden Charakter – im Gegensatz zur eher ‚sanftmütig‘ erscheinenden Nuancierung des Films. Außerdem strapazieren zumindest die qualitativ guten digitalen Projektoren einen Geldbeutel immer noch ganz schön. Ganz davon zu schweigen, dass alle Digitalkameras vom Strom abhängen und so unglaublich schnell veralten, dass die Chips eminent staubanfällig sind, ganz einfach weil man – anders als beim Film – vieltausendfach immer wieder nur auf ein und dieselbe Stelle fotografiert. Doch das wirklich Schlimme ist: Die fotografische Gestaltung leidet vielfach, die Fotos sind nicht besser, sondern schlechter geworden. Es wird zu viel fotografiert, das Bildermachen ist zu einfach geworden, zu oft verlässt man sich auf das digitale Nachhinein – oder lässt es ganz bleiben. Bildermachen ist wertloser geworden, weil es jeder irgendwie kann. Man schießt zu schnell, ist – weil digitalfototechnisch alles so einfach scheint – kaum noch hundertprozentig bei der Sache, und die Verführung ist groß, dem Dialogischen, das am Motiv stattfinden will, nicht mehr genug Zeit zu gewähren. Letztlich bleibt die Frage nach Analog oder Digital eine subjektive. Wichtig ist es, in die Diskussion nicht allein technische Kriterien einzubeziehen (über die kann man streiten), sondern auch psychologische Erwägungen. Gut wenn ich darauf zu achten weiß, dass mir das Digitale nicht meine bildnerische Handschrift verdirbt. Ein guter Fotograf, heißt es, ist einer, der einfach nur weiß, was er tut. ***
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Fototechnische Basics
Bei diesem Frankfurter Autohaus haben wir die stürzenden Linien dynamisch ins Bild gesetzt.
Bildwinkel und Brennweiten Leichtes Tele, leichtes Weitwinkel und Normal, alle moderaten Brennweitenbereiche sind interessant, wenn man Architekturen fotografieren will. In erster Linie verbindet man die Architekturfotografie mit dem Weitwinkel. Der Grund leuchtet ein: Häuser sind groß, die Umgebung oft eng. Da ist meist ein leichtes Weitwinkel die erste Wahl. Zum einen eben weil die zu fotografierenden Gebäude oft nicht von jeder gewünschten Seite völlig frei zugänglich sind, die Wahl des Kamerastandortes also eingeschränkt sein kann (ein wichtiger Grund für die Perspektivkorrektur). Da ist es schon gut, wenn man sich mit der Kamera flexibel an die örtlichen Gegebenheiten anpassen und zwischen Nachbargebäuden und Umgebungsbepflanzung wohl platzieren kann, denn irgendetwas stört immer. Weil man mit ihnen aus ‚mittlerem Abstand’ fotografiert, lassen mäßige, moderate oder ‚sanfte’ Weitwinkel das Haus sehgerecht und realistisch erscheinen, die Darstellung sachlich und ehrlich, objektiv, authentisch und perspektivisch unmanipuliert. Klassisch ist der erwähnte Bildwinkel von 70°, wie er in vielen Architekturzeichnungen simuliert wird. Kleinbild- und Vollformatbrennweite sind dafür die erwähnten 35 mm, entsprechend herunterzurechnen für die verschiedenen Crop-Faktoren der unterschiedlichen Kamerahersteller. Zum anderen ermöglicht eine Wahlfreiheit der Brennweite, über variable Abstände und die sich damit ergebenden unterschiedlichen Bildwinkel den Betrachter atmosphärisch ins Bildgeschehen einbinden oder aber ausschließen zu können. Er würde dann zum Betrachter von außen werden, dessen Aufgabe es nicht ist, das Haus zu betreten, sondern es anzusehen.
Bildwinkel und Brennweiten
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Extreme Brennweiten, Teleobjektive oder Weitwinkel, bieten immer die Möglichkeit einer besonders expressiven Linienführung. Insbesondere die nahen Aufnahmeabstände, die bei Gebrauch von Weitwinkeln mit extrem kurzen Brennweiten ermöglicht werden, können Pfiff in manch schnöde oder fade Architektur bringen – es ergeben sich steile Aufwärtsperspektiven mit stark stürzenden Vertikalen und spitzwinkligen Raumfluchten. Gern unterschätzt wird die besondere Bildwirkung von Normalobjektiven, also von Bildwinkeln um die 46° (zum besseren Merken: etwa ein halber rechter Winkel). Mit solchen Brennweiten, die dem Durchmesser des Aufnahmeformats entsprechen, nimmt man etwa einen Abstand zum Objekt ein, den man meistens auch für dessen Betrachtung einnehmen würde – ohne also dass eine Kamera im Spiel wäre. Dieser Abstand hängt von der Größe des Motivs ab. Die Perspektive wirkt also ‚normal’ – man bekommt eine besonders natürliche, sehgerechte Größenstaffelung Richtung Bildtiefe. Der Satz, den man oft im fotografischen Volksmund hört, dass Normalobjektive ‚so sehen wie das Auge‘, kommt daher nicht von ungefähr. Das hat nur indirekt einen technischen Grund, vielmehr hängt es mit dem, betrachtungsgerechten Abstand‘ zusammen, den man mit solchen Objektiven einnimmt, ihre ausgesprochen realistische Anmutung ist aber wahrscheinlich der Grund, weshalb sie so unspektakulär wirken. Den Kenner, sagen einige wenige, erkennt man an seiner Liebe zum einfachen 50er 1,8 – dem mit Abstand günstigsten Objektiv in jedem Kamerasystem. Aufgrund seines simplen Korrekturzustandes ist diese Optik zwar kein Spezialobjektiv für Architektur, aber das Prinzip sagt, wohin der Wind gestalterisch zu wehen hat. Zumindest wenn eine besonders naturgetreue Bildwirkung gewünscht ist.
Die Filmfläche eines Kleinbild-Dias liegt innerhalb des Projektionskreises, den das Objektiv auszeichnet. Der Auszeichnungskreis wird begrenzt durch zunehmende Unschärfe, Dunkelheit und Verzeichnung. Bei geringwertigen Objektiven sieht man das an den Rändern des Bildes, aber manche dieser Fehler lassen sich ausgleichen durch Verwendung kleinerer Blenden.
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Fototechnische Basics
Bei vielen Digitalkameras ist der Bildchip viel kleiner als das Kleinbild-Feld, es entsteht der so genannte Crop-Faktor. Dieser sprachästhetisch so überaus unansehnlich benannte Faktor verengt den vertrauten Bildwinkel der verwendeten Objektive, da nur ein Ausschnitt des Kleinbildfeldes genutzt wird. So entsteht der Eindruck einer längeren Brennweite – gegenüber dem KB-Format ein Gewinn im Tele-, ein Verlust im Weitwinkelbereich. Was dazu kommt: Durch die relativ kleinen Chips werden stärkere Vergrößerungsmaßstäbe bei den Prints erforderlich, um auf die üblichen Größen zu kommen; das wiederum stellt höhere Anforderungen an die Schärfeleistung der Objektive.
Teleobjektive dagegen komprimieren den Bildraum. Größenunterschiede zwischen Vorder- und Hintergrund verringern sich, weil man mit ihnen aus größerem Abstand fotografiert. Plastizität geht, Umriss kommt – es erscheint das Silhouettenhafte sowie die Farbe und Struktur einer Oberfläche. Aus normaler Distanz eignen sich Teleobjektive sehr gut für Fassadenbetonung oder Detailstudien und Strukturkontrast-Darstellungen, wie sie bei den überlappenden Fassaden hintereinander liegender Hausfronten thematisiert werden. Grafisch anmutende Vertikal-/Horizontal-Konstellationen wie bei den New-York-Aufnahmen Reinhard Wolfs werden möglich, bei denen die Wirkung schräg in den Raum verlaufender Linien extrem gemindert erscheint. Und wenn man weiter weg geht? Die Aufnahmen ganzer Häuser aus der Teleperspektive lassen diese distanziert und skulptural wirken, auch wenn sie groß im Bild, also nah herangezoomt sind. Um es noch einmal deutlich zu betonen: Wie einladend und integrativ oder wie fern und skulpturenhaft ein Gebäude im Bild erscheint, hat nichts damit zu tun, wie groß es im Foto ist. Dieser atmosphärische Aspekt hängt allein von der Perspektive ab, aus der fotografiert wurde. Auch die Tele- oder Weitwinkelbrennweite selbst ist es nicht primär, sie dient nur dazu, den gewählten Aufnahmeabstand mithilfe ihres Bildwinkels an die Motivgröße anzupassen. ***
Bildwinkel und Brennweiten
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Hier im Versorgungskeller eines Fußballstadions waren die Verhältnisse derart beengt, dass wir nur mit einer extrem kurzen Brennweite zurande kamen. Um eine einheitliche Linie in die Komposition zu bekommen, ist es immer wieder wichtig, das Durcheinander an Linien durch perspektive und Kameraausrichtung zu ordnen.
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Fototechnische Basics
Anforderungen an Objektive Marken- oder Systemobjektive An architekturtaugliche Objektive werden ganz spezifische Anforderungen gestellt. Dies allerdings nur in puncto Verzeichnungsfreiheit, Vignettierung sowie allgemeine Schärfe- und Kontrastleistung. Besonders lichtstark müssen sie nicht sein, und ein schneller Autofokus ist auch nicht gefordert. Während nicht wenige Teleobjektive (insbesondere einige Tele-Zooms) kissenförmig verzeichnen und chromatische Aberrationen aufweisen (Regenbogenfarben an Hell-Dunkel-Kanten), neigen Weitwinkelbrennweiten eher zu Vignettierung (Randabschattung) und tonnenförmiger Distorsion. Markenobjektive sind teuer. Da stellt sich schnell die Frage, wie es mit den wesentlich kostengünstigeren Fremdherstellern aussieht. Im Gegensatz zu ihrem Ruf in der Semiprofi-Szene können es manche Objektive der Günstig-Anbieter mittlerweile durchaus mit den Markenprodukten der großen Kameraproduzenten aufnehmen. Das allseits beliebte arrogante Naserümpfen gegen die reinen Objektivhersteller ist kein Selbstgänger mehr. Es hat an Basis verloren, und manch gewohnter Qualitätsvorsprung ist keiner mehr, teilweise werden einzelne Profilinsen sogar deutlich geschlagen. Ein Unterschied, der immer wieder angeführt wird, spielt in der Architekturfotografie kaum eine Rolle: Schnelligkeit und Stabilisation. Die Autofokusmotoren der Markenhersteller sind oft schneller und leiser, auch die Bildstabilisatoren kompensieren meist mehr Belichtungszeitenstufen beim Fotografieren aus freier Hand. Aber das ist nichts, was Architekturfotografen interessiert. Informationen über Unterschiede bezüglich der Bildqualität bekommt man leider nur schwer, die großen Kamerahersteller halten natürlich ihre eigenen Produkte hoch und veröffentlichen nur selten verifizierbare Kenndaten, die über die ungefährlichen Daten in den Prospektinfos hinausgehen. MTFKurven wären da sehr hilfreich. Diese zeigen über die Modulation Transfer Function die Auflösung des einzelnen Objektivs in Abhängigkeit von mehreren Parametern – etwa Blende, Abstand von der Bildmitte und Feinheit der Motivstruktur. Aber diese Diagramme muss man auch erstmal lesen können, und so ganz einfach ist das nicht. Auch ob die ständig wiederkehrenden Testberichte in Amateurzeitschriften immer glaubwürdig sind, darf zumindest hinterfragt werden – zu verlockend ist es für die Redaktionen, lukrative Anzeigenwerbung der Hersteller zu platzieren, und wer wollte garantieren, dass das keinen Einfluss auf Testergebnisse haben könne. Auf Dauer wird es kein Industrieproduzent als Anzeigenkunde in einem bestimmten Fachblatt aushalten, wenn seine Produkte von diesem ständig negativ getestet werden. Im Einzelfall sollte man sich vor dem Kauf direkt vor Ort die Zeit nehmen auszuprobieren und die Optik auf Herz und Nieren prüfen – ein wirklich guter Fotohändler wird für diesen Zweck auch VerleihObjektive anbieten. Wenn man weiß, wie man ohne großen Aufwand testet, geht das einfach.
Anforderungen an Objektive
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Zoom oder Festbrennweite Zu dieser Frage ist Folgendes zu sagen: Auch wenn es einige Ausnahmen gibt, sind viele Festbrennweiten immer noch weniger verzeichnungsanfällig als Zoomobjektive. Das gilt insbesondere für lichtstärkere Zoomobjektive, da diese zudem aufgrund der großen Frontlinse extrem asymmetrisch konstruiert sind. Überhaupt bieten Zoomobjektive oft nicht über den gesamten Brennweitenbereich hinweg die gleiche Qualität. Viele verbiegen in der Weitwinkelstellung gerade Motivlinien am Bildrand ‚tonnenförmig’, in Teleposition ‚kissenförmig’. Nicht selten zeichnen nur einige wenige mittlere Brennweiten einigermaßen fehlerfrei. Oft kann man feststellen: Je größer der Zoombereich und je günstiger das Objektiv, umso stärker dieser Effekt. Allerdings erwähnten wir bereits, dass manche Abbildungsfehler sich im Nachhinein per Software mildern lassen. Hierzu zählen Randunschärfen, Vignettierung und Verzeichnung. Die letzten beiden können bei vielen Kameramodellen sogar schon vor der Aufnahme an der Kamera minimiert werden. Dazu aktiviert man einen kamerainternen Menüpunkt, woraufhin die Kamera das angeschlossene Objektiv erkennt und das Bild entsprechend korrigiert. Natürlich haben die Kamerahersteller dafür gesorgt, dass das nur mit systemeigenen Objektiven funktioniert und nicht etwa mit Produkten von Fremdherstellern. Dafür sind fast alle aktuellen Objektive in der Firmware hinterlegt. Erscheinen neue Objektive des Kameraherstellers am Markt, bietet er meist über seine Homepage ein entsprechend aktualisiertes Firmware-Update zum kostenlosen Download.
Lichtstärke – keine Frage Das Kriterium der Lichtstärke ist in der Architekturfotografie weniger wichtig, da man Gebäude ohnehin nur selten mit offener Blende fotografiert; meist wünscht man sich ja eine große Schärfentiefe. Aus oben genannten Qualitätsgründen kann eine hohe Lichtstärke sogar kontraproduktiv sein. Verzeichnungen (Distorsion) lassen sich durch Abblenden nicht mildern. ***
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Fototechnische Basics
In diesem Galerieraum einer südfranzösischen Kapelle konnte nur mit vorhandenem Licht gearbeitet werden – es war ein spontaner Auftrag, der eine Ausstellung dokumentieren sollte. Hier ist Improvisation nötig, wir öffneten das Portal, ließen Tageslicht hinein, wodurch sich zusammen mit der künstlichen Innenbeleuchtung eine passable Mischlichtsituation ergab.
Objektiv ganz schnell selber testen – wie geht das? Mir wird ein Objektiv angeboten. Kann ich es selber testen? Völlig unmöglich ist das nicht. Zumindest einige wichtige Eigenschaften sind recht schnell bereits vor Ort überprüfbar.
Verzeichnung Von Natur aus verzeichnungsfrei sind eigentlich nur symmetrisch konstruierte Systeme, und das sind Makro-Objektive im mittleren Brennweitenbereich und ohne allzu große Lichtstärke. Wenn auch nur eines dieser Kriterien nicht zutrifft – und das ist bei den meisten Objektiven der Fall –, werden gerade Motivlinien am Bildrand gewölbt wiedergegeben, wenn das Linsensystem dagegen keine speziellen Korrekturlinsen aufweist.
Objektiv ganz schnell selber testen – wie geht das?
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Durch den Kamerasucher kann man diese ‚Distorsion‘ nur bedingt ausmachen, da er selbst ein verzeichnendes optisches System ist. Also schießt man Testfotos, auf denen eine gerade Motivkante weit außen an der Bildseite abgebildet wird und schaut sie sich per Monitor an. Bei Zoomobjektiven macht man dies mit unterschiedlichen Brennweiteneinstellungen und achtet auch darauf, wie sich die Biegung der geraden Motivkanten während des Zoomens ändert.
Hier das Gegenteil: Eine tonnenförmige Verzeichnung wölbt die außermittig gelegenen Motivgeraden nach außen. Klar, auch das tut keinem Bau im Bild gut.
Besonders an den Vertikalen ist es zu sehen: Dieses Bild ist kissenförmig verzeichnet, am Rand gelegene Motivlinien wölben sich nach innen. Gerade in der Fotografie von Architekturen ein absolutes ‚NoGo’.
So muss es sein: hier eine verzeichnungsfreie Aufnahme. Auch am Bildrand verlaufende Motivlinien bleiben genauso gerade, wie sie in natura sind.
Schärfeverhalten am Bildrand Randunschärfen kommen vom so genannten Öffnungsfehler, auch ‚sphärische Aberration‘. Die Abweichung der Fokussierebene am Rand entsteht dadurch, dass die Linsenoberflächen kugelförmig sind. Das bewirkt, dass Lichtstrahlen am Linsenrand schräger auf die Linse treffen als in der Mitte. Die Randstrahlen werden damit stärker gebrochen als die Mittenstrahlen, deshalb liegt die Schärfenebene
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Fototechnische Basics
für die Randstrahlen näher an der Linse als die für die Mittenstrahlen. Also ist die Schärfe am Bildrand nicht dieselbe wie in der Bildmitte. Schon bei der Aufnahme kann dieser Fehler reduziert werden, indem man nämlich die Randstrahlen durch Abblenden des Objektivs einfach ‚wegschneidet‘. Nichts anderes geschieht ja, wenn man mit kleinen Blenden fotografiert. In der Architekturfotografie tut man das ohnehin meist, da fast immer eine große Schärfentiefe gewünscht ist. Gut korrigierte Objektive haben für die sphärische Korrektur allerdings Linsen eingebaut, die diesem Fehler auch bei größeren Blenden schon entgegenwirken. Ein wichtiger Aspekt, da aus Beugungsgründen nicht immer die allerkleinste Blende gefragt ist. Zum Check fokussiert man bei offener Blende ein filigranes Detail in der Bildmitte, etwa die Zweige einer Baumkrone. Man merkt sich die Stelle im Motiv genau und belichtet in exakt derselben Schärfeneinstellung – also mit deaktiviertem Autofokus – die Stelle noch einmal, jetzt aber in eine Bildecke. Über die Lupenfunktion der Kamera kann – gleiche Vergrößerung vorausgesetzt – die Schärfe der Motivstelle in der Mitte und am Rand der Aufnahme verglichen werden. Mit offener Blende werden sich hier bei fast jedem Objektiv Schärfeunterschiede zwischen Rand und Mitte ergeben. Diese lassen sich dann aber auch bei mittleren Blenden überprüfen. Und: Da viele Zoomobjektive nicht über den gesamten Brennweitenbereich gleich gut sind, sollte man diesen Test bei unterschiedlichen Brennweiten durchführen.
Vignettierung Keine Angst vor Vignettierung, die gefürchtete Düsternis in den Bildecken sagt nichts über die Güte des Objektivs aus. Konstruktionstechnisch lässt sie sich nicht korrigieren. Gerade große Lichtstärken bewirken, dass aufgrund des Wegunterschiedes und des flacheren Winkels, in dem außermittige Motivstrahlen auf die Linsenoberfläche treffen, das Bild zum Rand hin dunkler wird. Aber auch diese Randabschattung kann schon bei der Aufnahme deutlich minimiert werden, und zwar wiederum durch Abblenden. Manche Hersteller extremer Weitwinkel im Großformatsektor bieten sogar spezielle Centerfilter an, die zusätzlich in die Objektivkorrektur mit einberechnet sind.
Objektiv ganz schnell selber testen – wie geht das?
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Bei übermäßig starkem Shift mit einer Fachkamera erreicht man leicht die Grenze des Objektiv-Auszeichnungskreises.
Funktionalität Ob ein gebrauchtes Objektiv mechanisch in Ordnung ist oder nicht, lässt sich am einfachsten feststellen. Man überprüft den Schneckengang und hält die Optik dabei ans Ohr. Knirscht es, ist Sand drin. Gehen Zoom- oder Fokussierring zu leicht oder haben gar Spiel, müssen sie im Service justiert werden – was Geld kostet. Ist die Schwergängigkeit eines Drehrings nicht konstant, lässt das auf Verunreinigungen im Schneckengang schließen – Reinigung ist teuer. Ein penibler Blick durch Front- und Rücklinse gegen Licht sowie gegen eine dunkle Fläche zeigt, wie sauber es innerhalb des Linsensystems ist (Fusseln, Flecken). Zu guter Letzt schüttelt man das Objektiv und hört, ob es drinnen klimpert, dann wäre nämlich im Innenleben etwas locker. Nichts gegen allgemeine Lockerheit, aber mit einer solchen müsste man sich dann doch nicht unbedingt abfinden.
Konstanz der Blende Ob die Blende wiederholgenau die geforderte Lochgröße liefert, hängt mechanisch davon ab, wie verharzt die Blendenlamellen über die Zeit geworden sind. Da auch die Konstanz der Belichtungszeiten mit dem Alter der Schlitzverschlüsse in den Kameras variiert, bräuchte man für diesen Test mehrere Kameras: Vor einem unbewegten Motiv shiftet man unter dem Programm ‚P‘ oder einer der zwei Halbautomatiken derart, dass sich große Blenden mit kurzen Zeiten und kleine Blenden mit langen Zeiten kombinieren. Die Kamera steht auf einem Stativ, Motivausschnitt und Beleuchtungsverhältnisse müssen konstant bleiben. Wichtig ist, dass alle Aufnahmen exakt gleich hell sind und identische Histogramme aufweisen. ***
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Fototechnische Basics
Ein Fehler, der beim nachträglichen Entzerren am Rechner passieren kann, wenn man während der Aufnahme nicht genug ‚Fleisch‘ um das Motiv herum gelassen hat. Rechts und links tun sich weiße Dreiecke auf, an den Ecken wird das Bild beschnitten. Da kann nur noch eine aufwändige Retusche helfen. Oder man freundet sich mit den stürzenden Linien, die man eigentlich ausgleichen wollte, irgendwie an. Am besten aber – wenn die Zahl der Kamerapixel es gestattet: ‚Fleisch‘ lassen, wenn man sich eine nachträgliche Entzerr-Option offen halten möchte.
Die richtige Einstellung Lieber mehr als weniger. Das gilt zumindest in der Frage des Bildausschnitts. Oft brauchen wir Reserve. Schon aus technischen Gründen lohnt es sich bisweilen, bei der Aufnahme ein wenig ‚Fleisch’ um das Haus herum zu lassen. Das erleichtert auch eine spätere Perspektivkorrektur am Rechner, denn so läuft man bei der digitalen Entzerrung stürzender Linien nicht so leicht Gefahr, durch den damit entstehenden engeren Bildausschnitt wichtige Motivpartien ungünstig zu beschneiden. Außerdem wächst die Schärfentiefe, wenn das Motiv kleiner im Bild ist – die Schärfentiefe hängt ja nicht nur von der Blende, sondern auch vom Abbildungsmaßstab ab. Aber nicht übertreiben: Natürlich geht ein Zuviel des Guten zu Lasten der Auflösung. Förderlich – nicht nur, aber auch – für eine große Schärfentiefe und eine Minimierung blendenabhängiger Abbildungsfehler des Objektivs ist eine mittlere bis kleine Blende. Zu klein sollte sie allerdings auch nicht sein, weil dann Beugungsunschärfen drohen. Wegen der zulässigen Größe des Zerstreuungskreises gilt: Je größer das Aufnahmeformat, desto kleiner darf die kleinste Blende gewählt werden. Denn der Vergrößerungsmaßstab im Druck ist bei größeren Chips (etwa Vollformatchips) kleiner. Die Beugungsunschärfe wird also weniger leicht sichtbar. Zum Vergleich: Objektive an Großformat-
Die richtige Einstellung
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kameras lassen Blenden von 64, sogar 90 oder 128 zu. Bei Kompaktkameras ist wegen der Mini-Chips oft schon bei Blende 8 als kleinster Öffnung Schluss. Den Fokuspunkt setzen wir am besten etwa ins vordere Entfernungsdrittel des Schärfenraums oder in die so genannte hyperfokale Distanz. Das ist die Entfernung, die man einstellen muss, um bei einer bestimmten Blende eine Schärfentiefe bis Unendlich zu erreichen. Der Schärferaum wird damit bei einer bestimmten Blende in Verbindung mit einer bestimmten Brennweite optimal ausgenutzt und beginnt in dieser Einstellung etwa bei der halben Fokussierentfernung. Wo genau die hyperfokale Distanz liegt, lässt sich sehr einfach aus Schärfentiefe-Tabellen ablesen oder – ebenfalls in Sekundenschnelle – mit Schärfentiefe-Rechnern ermitteln, beides gibt es kostenlos im Netz. Hier für alle HobbyCracks eine unansehnliche, aber recht exakte Formel zur Berechnung: Hyperfokale Distanz = Brennweite + [(Brennweite)2ÊÉÊ i`iÊUÊ>Ý>ÊâÕBÃÃ}iÀÊ ÕÀV
iÃÃiÀÊ des Zerstreuungskreises)] Kurz zum Zerstreuungskreis: Dieser ist die Abbildung eines Objektpunktes. Streng genommen wird nämlich kein Motiv verlustfrei abgebildet, sondern jeder Punkt des Motivs immer als leicht unscharfer Kreis, eben als Zerstreuungskreis. Je kleiner dieser auf dem Bild ist, umso schärfer erscheint das Motiv an dieser Stelle. Wenn er in einem Foto so klein ist, dass unser Auge ihn nicht mehr auflöst, nehmen wir eine Kette solcher Punkte als scharfe Linie oder Motivkontur wahr. Eine Ansammlung solcher Punkte in einem Haufen erscheint im Bild als homogene Fläche. Die kleinen Motivpunkte, die vor und hinter der Scharfstellebene noch scharf aussehen, definieren dabei den Schärfentiefe-Eindruck. Wir betonen: nur den ‚Eindruck’, denn physikalisch gesehen hat Schärfentiefe eine unendlich kleine Ausdehnung, es gibt eigentlich keine Schärfentiefe. Es scheint nur, als hätte die fokussierte Schärfe eine gewisse Tiefe (vor und hinter der Fokusebene), weil das Auge eine begrenzte Auflösung hat. Dadurch nimmt es die wachsende Größe des Zerstreuungskreises vor und hinter der Schärfenebene nicht wahr – zumindest nicht bis zu einer gewissen Grenze. Und diese bestimmt nach vorn und hinten die Schärfentiefe.
Bei kleiner Blendenöffnung ergibt sich scheinbar eine größere Schärfentiefe.
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Fototechnische Basics
Durch die große Blendenöffnung verringert sich der Bereich der Schärfentiefe. Wohlgemerkt: bei konstanter Größe des gerade noch zulässigen Durchmessers des Zerstreuungskreises, der bei einer Abbildung immer entsteht.
Nun zur Belichtung: Die Belichtungsmessung im Analogsektor geschieht per Kontrastmessung, Profis nehmen für den Check des letzten Schliffs ein Pola (Sofortbild auf Polaroid- oder Fuji-Instant-Material). Damit kann man auch schnell überprüfen, ob Komposition und Arrangement stimmen. Digitalkameras machen einem das Leben da wesentlich leichter, am Histogramm einer Testaufnahme lässt sich perfekt überprüfen, inwieweit die Belichtung passt und Lichter wie Schatten durchzeichnet sind. Bei Bedarf korrigiert man darauf die Belichtung und die Kontrasteinstellung (Letzteres ist im RAW-Format unnötig, da es im Nachhinein stattfinden kann). Problemkind Dämmerung oder allzu hartes Sonnenlicht: Bei hochkontrastigen Motiven oder Lichtsituationen hilft HDR (wir kommen später noch darauf zu sprechen). Sind zu viele Leute im Bild, können sehr lange Belichtungszeiten belebte Plätze menschenleer machen. Realisierbar ist das über eine möglichst kleine ISO-Zahl, eine kleine Blende und einen starken Graufilter als ‚Sonnenbrille‘ vor der Linse. Mittlerweile geht es teilweise auch mit einer der so genannten ‚Multishot-Techniken‘, zu der auch das HDR-Verfahren gehört: Vom Stativ werden bei absolut unveränderter Kamera aus ein und derselben Perspektive mehrere Aufnahmen gemacht, die man dann mit Adobe Photoshop in transparenten Ebenen übereinanderlegt. Da bewegte Motivelemente in den Einzelbelichtungen nicht exakt an gleicher Stelle erscheinen, kann die Menüfunktion Photomerge Scene Cleaner diese durch Vergleich der einzelnen Ebenen erkennen und dann automatisch löschen. (Diese Funktion gibt es ab Version CS 4 und Elements 7.0.) ***
Die richtige Einstellung
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Das flache, seitliche Streiflicht moduliert die Ziegelstruktur des Daches und trennt mit der unteren Schattenlinie klar das Innen vom Außen. Dieses Spiekerooger Feuerwehrhaus befindet sich mitten im Grünen. Um das zu zeigen, bot es sich an, die Eiche rechts zu betonen. Der Helligkeitsumfang passte gerade eben in ein RAW – wäre der Kontrast nur etwas höher gewesen, hätten wir ein HDR machen müssen, um keine Zeichnung in Lichtern und Schatten zu verlieren (mehr zum Thema HDR in Kapitel 5, ‚Bildqualität und HDR-Zauber).
Umgang mit Licht Häuser fotografieren ist langweilig. Es kann aber auch hektisch werden. Begibt man sich sicherheitshalber sehr früh schon ‚on location‘, wartet man oft recht lange aufs Licht, dann ist es da, und plötzlich muss alles ganz schnell gehen – so wird aus einem Geduldsspiel die finale Hektik. Vielleicht nur, weil man den Sonnenstand zum Haus vorher nicht exakt genug eingeschätzt hat – oder weil man verhindern will, dass sich die Wolke, die da grad im Anmarsch ist, ins Bild schmuggelt.
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Fototechnische Basics
Diese sehr grafische Detailstudie an einer Brandenburgischen Schule zeigt noch einmal ein Streiflicht in einer asymmetrischen, streng senkrecht ausgerichteten Komposition. Normalerweise teilt man ein Bild nicht durch eine waagerechte Mittelachse. Das Bild verliert dabei leicht seine Geschlossenheit und zerfällt in zwei Teile, die der Sehsinn nicht mehr zusammenbringt - wahrscheinlich, weil unsere Augen nebeneinander und nicht übereinander liegen. Wir haben es bei diesem Foto dennoch riskiert, weil die strengen geometrischen Formen geradezu danach riefen, für eine besonders grafisch wirkende Bildaufteilung genutzt zu werden.
Jahreszeit und Tageszeit bestimmen den Sonnenstand. Sonnenstand und Witterung bestimmen die Lichtwirkung. Zusätzlich aufgestellte Lampen dienen entweder der Aufhellung von Schattenbereichen oder sollen die Charakteristik der Beleuchtung beeinflussen, um eine bestimmte Bildaussage zu stützen. Schräg verlaufende Schattenwürfe, bei Architekturzeichnern auch ‚Schattendreieck‘ genannt, lassen sich meist optimal in die Komposition einbauen, wenn sie noch im Bild selbst enden. Dafür darf die Sonne nicht zu tief stehen, die Schatten wären sonst zu lang. Hier noch einige weitere Stichpunkte: Q
Fotogene Beleuchtungsarten draußen (etwa Streif- oder Seitenlicht, gern niedrige Sonne)
Q
Schattenwürfe, Reflexkanten, -punkte, Spiegelungen und Hellverläufe einbauen oder nicht?
Q
HDR bei hohen Motivumfängen
Umgang mit Licht
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Q
Licht eher für die Form oder für die Struktur (Lichtrichtung aufs Motiv, Lichtkontrast) einsetzen?
Q
Bei Mischlicht innen: Blitzmenge plus Blende regeln die Hellwirkung und Leuchtweite des Blitzlichtes; die Belichtungszeit an der Kamera dagegen regelt, wie sehr das vorhandene Kunstlicht und durchs Fenster einfallende Tageslicht zur Geltung kommen, bzw. das, was draußen hinter dem Fenster zu sehen ist. Wenn das Fenster überstrahlt, muss ich die Belichtungszeit kürzen, der Blitz kommt da nämlich nicht hin. Wichtig: Räume leuchtet man nicht mit integriertem oder aufgestecktem Kamerablitz aus. Blitzlicht in der Architekturfotografie sollte entweder von einer Blitzanlage stammen und einen weichen Vorsatz am Lampenkopf haben oder zumindest indirekt über eine Reflexfläche ins Motiv leuchten. Blitz an der Kamera direkt aufs Motiv gerichtet, lässt hässliche Schlagschatten, nur schwer kontrollierbare Reflexe und seitliche Abschattungen im Motiv entstehen und bewirkt einen starken Lichtabfall zwischen Vorderund Hintergrund. Unterschiedliche Lichtfarben verschiedener Lichtquellen in einem Bild können sehr fotogen aussehen, müssen es aber nicht. Mal sind sie gewünscht, mal nicht. Die Entscheidung für die Betonung einer solchen Mischlichtsituation Mischlicht ist fast immer eine schöne Sache. Bei dieser Vernissagen-Szene in einer provenzalischen Kapelle finden zwei verschiedene Lichtfarben zusammen und bilden eine ‚Kalt-warm-Zange‘. Das von außen einfallende, kühle Tageslicht und die künstliche, warme Innenbeleuchtung stehen hier in einer ausgewogenen Balance zueinander. Das Portal steht dafür genau halb offen.
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Fototechnische Basics
oder dagegen sollte immer klar und eindeutig ausfallen, alles andere sieht kompromisshaft aus.
Ein Haus im Nebel. Was man hier sehr gut sehen kann, ist das Leonardo’sche Sfumato. Die ruhige Stimmung im Motiv wird ein bisschen umspielt von der dynamischen Wirkung des Hochformats, das Foto ist immerhin doppelt so hoch wie breit; umgesetzt wurde das mit einer Linhof 6 x 12 Panoramakassette.
Umgang mit Licht
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Zubehör Q
Eine an die verwendete Brennweite exakt angepasste Streulichtblende verhindert, dass gerichtetes Sonnen- oder Lampenlicht seitlich auf die Frontlinse fällt und durch Streuung innerhalb des Linsensystems Kontrast, Farbintensität und Konturenschärfe im Bild verringert. Es ist immer gut, etwas dabei zu haben, was die Frontlinse des Objektivs gegen Lichtquellen abschirmt. Das kann auch eine schwarze Pappe oder – die professionelle Lösung aus dem Fachkamera-Sektor: ein Kompendium sein. Dabei handelt es sich um eine Sonnen- bzw. Gegenlicht- oder Streulichtblende mit einem verstell- und arretierbaren Balgen, mit dem die Abschattung genau an den Bildwinkel des Objektivs angepasst werden kann.
Q
Stabile, möglichst hohe Stative sind praktisch, sie verursachen weniger Entzerr-Bedarf. Eine eingebaute Libelle erleichtert eine schnelle Horizontalausrichtung vorab (die exakte Einstellung nimmt man aber per Sucher oder Monitor vor). Nicht nur technisch, auch psychologisch ist die Benutzung eines Stativs vorteilhaft. Architekturen aus der Hand zu schießen, empfiehlt sich eher nicht, selbst bei Sonnenlicht, das theoretisch für eine verwacklungsfreie Belichtungszeit ausreicht. Eine mobile Kamera bietet oft nicht die bildnerische Ruhe, die man für eine genau ausgewogene Komposition mit gezielter Linienführung braucht. Stativ heißt immer auch: Ich lass mir Zeit, Zeit für mich, Zeit für Dich, Du mein Motiv, Zeit fürs Dialogische. Dennoch: Sollte mal keines zur Hand sein – etwa weil der Entschluss zu fotografieren spontan fiel, hilft der gute, alte Schlaufentrick: Vielleicht findet man zufällig eine dicke Schnur, die doppelt so lang ist wie die eigene Körperhöhe. Die nehme man und knote ihre Enden fest zusammen. Dann lege man die entstehende Schlaufe über das Objektiv, setze unten in die Schlaufe einen Fuß, drücke die Kamer nach oben, halte das Ganze gespannt und lehne sich möglichst gegen einen Baum oder eine Wand. Zusätzliche Stabilität bekommt man, wenn man auch noch den Kamerariemen um Hand und Hals wickelt (Nacken, damit‘s nicht würgt).
Q
Sollte das Stativ keine Libelle aufweisen, empfiehlt sich eine kleine Wasserwaage, die man auf die Kamera stecken kann.
Q
Gut ist eine Leiter, auch sie kann den Entzerr-Bedarf verringern.
Q
Robuste, eher schwere, aber samtweich zu justierende 3D-Neiger, am besten mit Rändelschrauben und Zahntrieben. Bei der Arretierung dürfen sie nicht ‚nachschwingen’ (keine Kugelköpfe, da die drei einzelnen verstellbaren Ebenen getrennt voneinander arretierbar sein müssen).
Q
Fern- oder Selbstauslöser gegen Erschütterungsgefahr bei Belichtungszeiten im Sekundenbereich (Spiegelvorauslösung erhöht hier zusätzlich die Sicherheit gegen Verwackeln).
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Fototechnische Basics
Q
Brennweiten-assimilierte Streulichtblenden und/oder Kompendien gegen Verluste durch schräg einfallendes Direktlicht.
Q
Polfilter für Reduktion von Reflexen von nichtmetallischen Oberflächen (etwa Fensterfronten) und ggf. zur Intensivierung des Himmelsblaus (am besten bei Lichteinfall aus ‚Brewster-Winkel‘ zur optischen Achse)
Q
Starke Graufilter (Verlängerungsfaktor ab 10fach) für lange Belichtungszeiten tagsüber, um bewegte Elemente zu verwischen. Belebte Plätze werden fast menschenleer.
Q
Gittermattscheibe oder Live-View mit einblendbarem Gitter unterstützt die waagerechte und senkrechte Ausrichtung motivischer Horizontalen und Vertikalen im Bild.
Q
Chipreinigungs-Sets: In Architekturfotos dominieren oft strukturarme große Flächen, etwa Himmel oder Fenster. In diesen detailfreien Arealen machen sich schon leichte Verunreinigungen auf dem Chip besonders bemerkbar. Um die spätere Ausfleckretusche in Grenzen zu halten, ist eine gereinigte Kamera unabdingbar. Hier bieten sich Klistier-ähnliche Gummiblasebalge, kleine MiniStaubsauger und so genannte Speck-Grabber (Radiergummistifte zum Tupfen) an.
Q
Zur Fleckenentfernung gibt es weiche Stäbchen, die mit schnell-flüchtigem Alkohol getränkt werden. In solchem Fall sollte man sich allerdings bewusst sein, dass die Chipreinigung hier zur Operation am offenen Herzen wird – schon kleinste Fehler können dauerhafte Konsequenzen nach sich ziehen. Gegebenenfalls zieht man hier lieber eine vom Kamerahersteller autorisierte Vertragswerkstatt zu Rate. (Kameras mit eingebauter Chip-Vibration sollte man während des Vibrationsvorgangs waagerecht halten, damit der abgeschüttelte Staub sich nicht über die Verschlusslamellen verteilt, sondern nach unten auf den im Gehäuseboden befindlichen Klebestreifen fallen kann. Die bei vielen Kameras integrierte digitale Staubreduktion, bei der die von einer Referenzaufnahme vorab eingespeicherten Staubinformationen später automatisch per Rechnersoftware herausgerechnet werden können, kann nur als provisorisches Hilfsmittel gelten.) ***
Zubehör
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Das Künstlerhaus auf der Nordseeinsel Spiekeroog – hier im vorweihnachtlichen Abendnebel, was eine besondere Herausforderung an die Tonwertmodulation darstellt. Die hohe Luftfeuchtigkeit ließ eine stärkere Detailzeichnung in den Fenstern nicht zu, bei künstlich verringertem Bildkontrast wäre das Kunstlicht nur gedeckter, vergrauter, aber nicht detaillierter geworden. Das Gleiche gilt für die Schatten – bei stärkerer Aufhellung wären auch sie nur vergraut, ohne an Zeichnung zu gewinnen. Aus diesen Nöten kann man eine wunderbare Tugend machen: Gerade die trotz HDR immer noch vorhandene leichte Kunstlicht-Überstrahlung und zurückhaltende Schattenzeichnung betont den angenehm nebligen Charakter dieser Aufnahmesituation.
Bildqualität und HD-Zauber Was für ein Diebstahl: überstrahlte Lichter ohne Details, kaum durchzeichnete Himmelsflächen, konturlose Tiefen und trübe, zugelaufene Schatten – ‚abgesumpft‘ laut Fotografenjargon! All dies entzieht vielen Fotos die Details, die kurz vor dem Schuss in Weißen und Schwärzen noch deutlich zu spüren war. Es schien mir immer, als ob sie, die Fotografie, nicht nur gibt, sondern auch nimmt – Nerven bisweilen, Tränen der Freude und des Schmerzes und: Tonwerte. Man stelle sich ein Klavier vor, an dem mehrere weiße und schwarze Tasten einfach fehlen würden. Nuancen gingen verloren, Lieder dürften nur noch einfach sein. Zumindest im visuellen Gedächtnis, wenn auch nicht unbedingt in sprachlich verfügbarer Erinnerung, ist dieses Mitbringsel der Lichtbildnerei aber bekannt. Seit beinah zwei Jahrhunderten des Fotografierens hat man sich daran gewöhnt, es scheint dies der letzte Schuss Unperfektheit zu sein, den sich die gute alte Fotografie noch gestattet. Und wer will ihr das in dem Alter noch übel nehmen – am Klavier komponiert man eben Lieder um die Löcher herum, so spürt man die fehlenden Tasten nicht …
Architektur muss nicht immer gezirkelt ins Bild – weder belichtungs-, kontrast-, schärfe- oder farbtechnisch. Auch HDR-Technik ist kein Universalrezept, man sollte es immer nur dann einsetzen, wenn es der Atmosphäre wirklich dient. Diese Detailaufnahme eines privaten Schwimmbads war Teil einer nächtlichen Architekturserie. Die technische und kompositorische Schnörkellosigkeit. erhöht den dokumentarischen Charakter und betont das Zufällige eines Blickwinkels, den man beim Vorbeigehen bekommt. Manchmal schließen sich das Perfekte und das Authentische gegenseitig aus. HDR wäre hier völlig fehl am Platz gewesen.
Lieder um die Löcher Also haben auch wir es ihr offenbar erlaubt, denn durch fast 200 Jahre Persistenz hat sich dieser klassisch fototechnische Makel ein visuelles Gewohnheitsrecht erkämpft. Normalerweise kennen wir eben die Wirkung eines annehmbaren Gesamtkontrasts im Bild fast nur in Fotos mit zugelaufenen Schwärzen und/oder ‚ausgefressenen’ Lichtern, wie es unter Fotografen heißt. Und wir erwarten es schon gar nicht mehr anders. So kennen wir Fotos, und wir haben gelernt, sie trotzdem zu mögen. Wenn Helligkeit und Kontrast des Fotos insgesamt ausgewogen wirken, fällt uns dieser Zeichnungsverlust in den Extremwerten auch
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Bildqualität und HD-Zauber
kaum mehr störend auf. Bis jetzt. Wie wunderbar nämlich, wenn es unverhofft ganz plötzlich anders geht. Schöner. Das Zauberwort heißt HDR, Abkürzung für High Dynamic Range, zu deutsch: ‚hoher Dynamikbereich‘. Mit HDR werden die Lichter lichter, die Tiefen tiefer und das Wichtigste: Die Zeichnung darin wird noch reicher an Details. Ganzheitlich interpretiert: Die Grenzen des Vitalen sind erweitert. Vielleicht spielt sich seit jeher alles Leben in Fauna und Flora immer nur zwischen zwei Polen ab: einem Zuviel und einem Zuwenig. Einzig dazwischen ist das Dasein ‚dynamisch‘. Hier ist der Bereich, in dem sich das Vitale entfalten und die Stärke seiner Reaktionen der Stärke umgebender Reize anpassen kann. Außerhalb dieses Bereichs ist alle Bewegung erstarrt – Reizzuwächse oder -abnahmen rufen keine stärkeren oder schwächeren Reaktionen hervor. Ähnlich kann man das auch für Filme, Fotopapiere und Kamerachips formulieren. Der Begriff ‚Dynamik‘ spielt eine wesentliche Rolle. Er steht für das Vitale, den Reichtum an unterschiedlichen Tonwerten innerhalb eines Bildes. Und wenn der groß ist, brauchen wir nie wieder Lieder um die Löcher zu dichten. ***
Grenzen des Vitalen Wenn ein Bildpixel zeigen soll, dass er belichtet worden ist, braucht er eine Mindestmenge an Licht. Nur dann kann er elektrisch reagieren, also Ladungsfluss erzeugen. Bekäme er weniger Licht, wäre er unterbelichtet, würde kaum Ladung erzeugen, also keine nennenswerte Bildinformation zeigen. Jedenfalls nicht oberhalb des ‚Grundrauschens‘, das schon durch das Einschalten, also vor aller Belichtung vorhanden ist (durch die ganz normale Grundbewegung der Ladungsträger in einem Pixel). In diesem Fall wäre die Mindestlichtmenge zum Erreichen wenigstens minimaler Dichte unterschritten. Leichte Lichtschwankungen in einem solchen Dämmerungszustand riefen noch keine Zeichnungsdifferenzierung hervor, sie hätten keinen Effekt. Das ist das Zuwenig. Auf der anderen Seite kennen wir das Gegenteil: das Zuviel. Es gibt eine Höchstmenge an Licht, ab der der am Chip entstehende Elektronenfluss so gesättigt ist, dass bei noch weiterer Zunahme der Lichtmenge der Ladungsfluss nicht mehr weiter steigen kann. Er produziert längst das ihm mögliche Maximum und kann darüber nicht hinauswachsen. In diesem Fall wäre der Pixel überbelichtet, die maximale Dichte ist erreicht, die Histogramm-Kurve sucht den Weg nach rechts und schneidet deutlich die rechte Seitenkante des Diagramms: Übersättigung an differenzierbarer Lichtmenge. Bei noch stärkerer Belichtung bliebe eine weiße Fläche weiterhin homogen weiß, eine differenzierte Zeichnung an dieser Stelle im Bild entstünde längst nicht mehr. In der Akustik kommt dieser Effekt einer verzerrten Tonwiedergabe durch Übersteuerung des Signalpegels gleich.
Grenzen des Vitalen
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Keine Blaue Stunde mehr, hier wars schon später: eine Nachtaufnahme mit drei Einzelbelichtungen bis zu mehreren Minuten. Auch hier ist der HDR-Effekt sehr zurückhaltend ins Spiel gebracht. Gut, wenn er als solcher gar nicht oder nur kaum erkennbar ist. Solch lange Belichtungszeiten verrauschen leicht, aber bei Fotos, die aus mehreren transparenten Ebenen übereinander bestehen, sinkt diese Gefahr. Denn die Rauschartefakte verteilen sich statistisch unregelmäßig über das Bild und die Wahrscheinlichkeit, dass an exakt derselben Bildstelle in allen Ebenen ein Artefakt auftritt, ist relativ gering. Insofern ist HDR – zumindest in Grenzen – ganz gut gegen Rauschen.
Daraus könnte man die Maxime schließen: Alles in Maßen – temperantia – eine kardinale Tugend aus dem Leben, hier lässt sie sich sogar in die Fotografie übersetzen. Zu viel ist zu viel, und zu wenig ist und bleibt zu wenig. Dazwischen sprudelt das Leben, hier ist es dynamisch, vital und virulent, außerhalb nicht. Der mehr oder weniger große Raum zwischen diesen beiden Lichtmengen, genau das ist der Dynamikumfang des Pixels. Wenn sich Belichtung und Kontrast stets in diesem Rahmen bewegten, hätten wir fast immer gut belichtete Fotos mit angenehm durchzeichneten Extremwerten. Das mit der Belichtung bekommen wir hin, das haben wir gelernt – Blende, Zeit und ISO sind hier die Werkzeuge. Aber durchzeichnete Extremwerte, da müssen wir oft passen. Seit fast 200 Jahren. ***
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Bildqualität und HD-Zauber
Dieses Bild aus dem Mönchengladbacher Borussenstadion ist ein digitaler Einzelschuss, also kein HDR. Die Details in den Dunkelwerten haben wir nur im Nachhinein über die ‚Tiefen-und-Lichter‘-Funktion mit Adobe Photoshop erhöht. Normalerweise steigt dabei leicht das Bildrauschen in den Schatten, aber hier war das kein Problem: Es hatte geregnet, und die ohnehin sehr grobe Struktur fast aller motivischen Details – von der Tribüne über den Rasen hinweg bis zur nassen Betonfläche im Vordergrund – ist viel deutlicher sichtbar als entstandene Rauschartefakte. Diese wären eher bei homogenen Flächen aufgefallen.
Impetus in Bit Der Begriff Dynamik stammt von den griechischen Ausdrücken dynamiké und dynamis ab. Er bedeutet so viel wie ‚bewegende Kraft‘ oder ‚Impetus‘ und bezieht sich auf eine Modulation oder Umsetzung von etwas – hier: die Umsetzung von etwas Fotografiertem in ein fotografisches Bild. Dynamik – als physikalische Größe – ist immer ein Quotient, sie leitet sich aus einem Dezimalbruch her, und dieser beziffert das Verhältnis von darstellbarem Maximum zu darstellbarem Minimum, oberhalb des so genannten Grundrauschens. Das sind die beiden Pole, von denen wir im vorigen Abschnitt sprachen. In ihnen findet kontrollierte Bewegung statt, nichts Brachiales also, sondern proportional angepasst an die Verhältnisse. In unserem Fall: angepasst an den Kontrastumfang des Kamerachips.
Impetus in Bit
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Das gilt für Laut und Leise in der Akustik, etwa bei Kopfhörern, genauso wie für Licht und Finsternis in der Fotografie: Je heller die hellste Stelle in einem normalen ‚Halbton’-Bild oberhalb der Grundweiße und zugleich je dunkler die dunkelste Stelle im Bild sein kann; je weiter also höchste und geringste Sättigung voneinander entfernt sind und je mehr Blendenstufen Hellstes und Dunkelstes auseinanderliegen können – desto größer ist der fotografierbare Kontrastumfang und damit die Dynamik des jeweiligen Chips, Films oder Papiers. Das zentrale Anliegen einer guten Belichtung bei einem dem Motiv angepassten Kontrast lautet: Mit der Menge der Belichtung (Lichtwert), also dem für Motiv und verwendete ISO-Zahl richtigen Produkt aus Zeit und Blende, strebt man an, den gegebenen Helligkeitsumfang des Motivs möglichst vollständig in den Dynamikumfang des lichtempfindlichen Materials zu betten. Klappt dies, haben wir in der Regel ein richtig belichtetes Foto, es sieht ‚normal hell’ aus, ist also ‚richtig belichtet’ – und: Die Extremwerte sind so durchzeichnet, dass sich ein annehmbarer Kompromiss zwischen den Erfordernissen in den Lichtern und in den Schatten ergibt. Und wenns mal daneben geht: Kann man fehlbelichtete Bilder nicht einfach am Rechner korrigieren – mit Tonwertkorrektur, Gradationskurven oder der Tiefen-und-Lichter-Funktion? Nur in geringen Toleranzen. Bei starker Fehlbelichtung tun wir dem Foto gewissermaßen Gewalt an: Wir beschränken nämlich seine Dynamik – profan gesprochen: seine Vitalität. Das erkennen wir dann, wenn ein nachträgliches Aufhellen oder Abdunkeln falsch belichteter Fotos kaum noch ausreichend zusätzliche Details zutage fördert, sondern aus dem zugelaufenen Schwarz nur dunkelgrau ‚matschige’ Schatten kommen oder aus dem überstrahlten Weiß fade, hellgrau belegte Lichter. Die Menge des einfallenden Lichts variiert natürlicherweise analog, fürs Auge also ohne fest definierte Übergänge oder Abstufungen. Und fast ohne Grenzen – selbst das hellste uns bekannte Licht kann noch heller, selbst der dunkelste Schatten noch dunkler werden. Die Einheit aus Pixel und Prozessoren aber reagiert anders, und zwar digital. Das bedeutet: Sie reagiert stufenweise und mit begrenzten Extremwerten. Durch die digitale Erfassung eines für das Auge analogen Motivs entsteht damit aus fein nuancierten motivischen Hellwertverläufen eine klar abzählbare Menge an einzelnen Helligkeitsabstufungen. Zudem ist die Dynamik begrenzt, wie gesagt, nämlich durch eine hellstmögliche Helligkeit und eine dunkelstmögliche Dunkelheit. Die Zahl dieser Stufen dazwischen lässt sich in Bit umrechnen, es entsteht die logarithmische Bit-Skala:
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0 Bit = 20 = 1 Abstufung
(homogene Fläche)
1 Bit = 21 = 2 Abstufungen
(Schwarzweiß oder monochrom, Nachtaufnahmen)
2 Bit = 22 = 4 Abstufungen
(Isohelie, Tontrennung, wird als Digitaleffekt im CamcorderSektor gern ‚Paint-‘ oder etwas großspurig auch ‚AndyWarhol-Effekt‘ genannt)
Bildqualität und HD-Zauber
7 Bit = 27 = 128 Abstufungen
(menschliches Auge; so viele Abstufungen erkennen die Zäpfchen auf der Netzhaut pro Grundfarbe)
8 Bit = 28 = 256 Abstufungen
(JPEG-Grundfarbtiefe)
12 Bit = 212 = 4096 Abstufungen 16 Bit = 216 = 65536 Abstufungen
(derzeit höchste RAW- und TIFF-Farbtiefe)
21 Bit = 221 = 2,1 Mio. Abstufungen
(Gesamtfarbtiefe eines gesunden menschlichen Auges; so viele Töne, Sättigungsstufen und Helligkeiten nimmt der nicht-farbenblinde Mensch insgesamt wahr)
24 Bit = 224 = 16,7 Mio. Abstufungen
(derzeit JPEG-Gesamtfarbtiefe)
32 Bit = 232 = 4,3 Mrd. Abstufungen
(derzeit HDR-Gesamtfarbtiefe)
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48 Bit = 2 = 281,5 Bio. Abstufungen
(Gesamtfarbtiefe einiger Kamerachips im wissenschaftlichen HDR-Sektor)
Mit der Einheit Bit beschreiben wir numerisch die Informationsdichte, die jeder einzelne Pixel in Bezug auf Farbtiefe und Dynamik überträgt. Eine Farbtiefe von 1 Bit heißt, dass nur zwei Werte, z. B. zwei Hellwerte dargestellt werden können. So etwas ist der Fall bei grafischem Schwarzweiß, etwa Schrift, also ohne dazwischen liegende Grautöne. Eine Zunahme der Informationsmenge um ein Bit heißt Verdopplung dieser Informationsmenge. Da der begrenzte Dynamikumfang eines Chips fast immer viel kleiner ist als der Helligkeitsumfang eines normalen Motivs, lässt sich mit mehreren übereinander gelegten, unterschiedlich hellen Belichtungen (in so genannten ‚transparenten Ebenen’) der Dynamikbereich der Bilddatei scheinbar vergrößern. Dies ist besonders interessant für hochkontrastige Motive, etwa Dämmerungsaufnahmen von Gebäuden oder Schüsse in grellem Sonnenlicht. Die Dynamikumfänge der einzelnen Belichtungen tun sich quasi zusammen und addieren sich zu einer Art ‚Vereinigungsmenge’. Mit diesem Gedanken aus der mathematischen Mengenlehre fangen wir an, HDR-technisch zu denken. Wie wir sehen werden, muss bei Ausgabemedien mit normalem Dynamikumfang der Tonwertumfang eines auf diese Weise entstehenden Bildes allerdings skaliert (‚gemappt’), also wieder reduziert werden, weil solche hochdynamischen Bilder für sie ‚zu gut‘ sind. Sie können sie nicht tonwertrichtig anzeigen. Da auch die handelsübliche Aufzeichnungshardware (Kameras und Scanner) solche großen Dynamikumfänge derzeit nicht anbietet, können diese per Software und mithilfe der erwähnten Belichtungsreihen simuliert werden. Und genau das ist das Prinzip der heutigen HDR-Fotografie. ***
Impetus in Bit
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In einer samtweichen Dämmerungssituation: das Headquarter-Gebäude einer internationalen Industriefirma im amerikanischen Detroit. Das HDR-Verfahren sorgte dafür, dass das Umgebungslicht genauso hell aufs Gebäude zu strahlen scheint wie das Kunstlicht von innen. Und das, obwohl es dafür eigentlich schon zu dunkel war. Kompositorische Würze bekommt das Bild durch das moderat stürzende Liniengefüge und das leicht in den kurzen Teil des Goldenen Schnitts platzierte Zentrum des Glasrunds.
Lichtwert-Stufen Den übertragbaren Hellwertumfang von CCD-Chips – ebenso wie etwa die Schalldruck-Dynamik bei Audio – geben technische Datenblätter oft in Dezibel (dB) an, also einer logarithmischen Reihe zur Basis 10 (Zehnerlogarithmen). Fürs Bildermachen klingt das leicht theoretisch aufgeblasen, in der praktischen Fotografie rechnen wir deshalb mit Lichtwerten (LWs) – in Literatur und Presse oft leider auch als Blendenstufen (‚F-stops’) bezeichnet. Letzteres ist hinsichtlich der Lichtmenge zwar korrekt, kann aber verwirrend wirken, weil – wie wir sehen werden – die Objektivblende bei HDR aus Gründen der Schärfentiefe-Konstanz innerhalb der Belichtungsreihe konstant gelassen wird. Variiert wird stattdessen die Belichtungszeit. Kurz zur Erläuterung des Lichtwerts: Lichtwert Null (LW 0) wurde festgelegt als Belichtung mit Blende 1 bei 1 Sekunde Belichtungszeit. Per definitionem steigt der Lichtwert mit zunehmender Helligkeit und den daraus folgenden geringeren Belichtungswerten, die an Kamera und Objektiv einzustellen sind.
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Bildqualität und HD-Zauber
Demnach liegt zum Beispiel LW 10 bei Blende 4 und 1/60 Sekunde – oder einer gleichwertigen Kombination, aus der sich dieselbe Lichtmenge ergibt. Verschiedene Zeit-Blenden-Kombinationen können also ein und denselben Lichtwert darstellen, das heißt, mit unterschiedlichen Belichtungseinstellungen kann man ein und dieselbe Belichtung hervorrufen. Lichtwert-Tabellen und Lichtwert-Rechner finden sich im Internet, etwa unter www.bildergalerie-hamburg.de. Übrigens: Der Lichtwert, auch EV (Exposure Value) genannt, ist eine ISO-unabhängige Zahl. Demnach lässt er sich auch nicht direkt aus den Belichtungserfordernissen an einem Motiv ableiten. Ein bestimmter Lichtwert bezeichnet einfach alle Zeit-Blenden-Kombinationen, die im Foto dieselbe Helligkeit und damit eine gleichwertige Belichtung hervorrufen. Der Lichtwert allein gibt also noch keine Aussage über die Helligkeit eines Motivs, dazu bräuchte man eben zusätzlich erst noch die ISO-Zahl. Die Dynamik, also die höchstmögliche ‚vitale Anmutung‘ eines Chips, hängt auch vom Dateiformat und dem Kameraprozessor ab. Sie ergibt sich aus der Differenz in Lichtwerten zwischen hellstem und dunkelstem durchzeichneten Tonwert und kann mit folgender Formel aus den Blendenstufen ermitteln: 2 LW = Bl 2 / 2 Da eine Dynamik-Zunahme um nur einen Lichtwert bereits eine Verdoppelung des vorhandenen Umfangs bedeutet, bildet die Angabe über Lichtwerte eine logarithmische Reihe zur Basis 2, ist also ‚binärlogarithmisch’. Wenn beispielsweise also ein Dynamikumfang 8 LWs groß ist, wird das hellste durchzeichnete Weiß 8 Blenden heller als das dunkelste Schwarz sein, in dem sich gerade noch Details befinden. Wenn die Hellwertwiedergabe nun in ganzen Blendenschritten abgestuft ist, gibt es 28 = 256 verschieden helle Abstufungen in diesem Bild, eine jede doppelt so hell wie ihre Vorgängerin und halb so hell wie ihre Nachfolgerin, also je eine Blende – genauer: 1 LW Unterschied. Die 256 Abstufungen schälen die betreffende Grundfarbe aus der ‚Nichtfarbe’ Schwarz heraus, sie gehen von 0 (für Pechschwarz) bis 255 (für reine Farbe höchster Sättigung). Die üblichen Dateiformate digitaler SLR-Kameras unterstützen im TIFF- oder RAW-Modus zurzeit 16 Bit, je nachdem, wie aktuell die Kameras sind oder welchen TIFF-Modus man in der Nachbearbeitung benutzt. Hier hat man beim Abspeichern die Wahl zwischen 16 Bit und 8 Bit. 16 Bit entsprechen dabei 16 LWs und 96,33 dB. Das sind 216 = 65.536 Abstufungen von farblosem Schwarz bis hin zur reinen Farbe höchstmöglicher Intensität. Nun stellt ein Sprung von 14 Bit auf 16 Bit zwar eine Dynamik-Zunahme um zwei Lichtwerte dar, was prozessortechnisch schon recht fortschrittlich ist – aber fürs praktische Fotografieren bedeutet es trotzdem nicht gerade viel Dynamik – zumindest wenn wir diesen Wert mit den tatsächlichen Motivumfängen vergleichen, die wir draußen bei schönem Wetter haben. Und die meisten Architekturen werden nun mal bei schönem Wetter geschossen. ***
Lichtwert-Stufen
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Noch einmal das Stadion der Borussia. Auch hier kein HDR, sondern nur ‚Tiefen-und-Lichter‘-Manipulation per Software. Deutlich zu sehen ist, wie viel Detailzeichnung noch in den Extremwerten eines RAWs steckt – ein JPEG hätte aufgrund seiner wesentlich geringeren Dynamik hier längst passen müssen. Die Schatten wären hemmungslos zugelaufen und der Monitor über der Tribüne wäre genauso überstrahlt gewesen wie die Spots.
Motive und Formate Im aktuellen JPEG-Format gelten derzeit sogar nur 8 Bit, entsprechend 8 LWs, also 48,16 dB. Das sind wie gesagt insgesamt 256 Abstufungen, in denen jede einzelne der drei Grundfarben erscheint, durchzeichnet also 255 : 1. Damit können insgesamt zwar 16,7 Mio. Farbkombinationen aus den Grundfarben Rot, Grün und Blau (jeweils für R, G und B also 3 x 28 = 224 vom hellsten Mischweiß bis zum dunkelsten Mischschwarz) generiert werden, diese aber in allenfalls 8 bis 9 durchzeichneten Blendenstufen (von Schwarz bis Weiß, wobei Weiß aus dreimal reine Farbe, also R, G und B höchster Sättigung besteht). Mit diesem Wert lässt sich bei gut durchzeichneten Lichtern und detailreichen
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Bildqualität und HD-Zauber
Schatten gerade mal eben ein Umfang von knapp 1000 : 1 darstellen, mehr nicht. Die Zahl klingt nett, funktioniert auch für mäßige Motivumfänge und traditionelle Ansprüche, sie entspricht der Seherfahrung, die wir mit Fotos haben, aber auch das ist nicht viel. Für höherkontrastige Motive reicht das nämlich schon nicht mehr aus, und das können ganz normale Szenen bei fröhlicher Witterung oder mit einer direkten Lichtquelle bzw. tieferen Schatten im Bild sein. Da kommt schnell schon mal ein Hellwertumfang von 250.000 : 1 und mehr zustande. Auf gut deutsch: Die hellste Stelle kann bei Sonnenschein, also dem beliebtesten Architekturfoto-Wetter, etwa 250.000 mal heller sein als die dunkelste Schattenpartie. Wäre doch schön, wenn bei unserem Bautenbild das alles bis in die Extremwerte durchzeichnet sein könnte … Am schlimmsten ist es bei einem ganz normal gedruckten Foto: Ein Aufsichtsdruck auf seidenmattem Papier sagt schon bei 10 : 1 gute Nacht, allenfalls eine Glanzoberfläche kitzelt noch einen Umfang bis etwa 50 : 1 heraus. Ganz tapfer, aber auch nicht gerade mächtig, halten sich da noch das klassisch analoge Farb-Dia und der Chip in einer Consumer-Digitalkamera: Sie können Hellwertunterschiede nacheinander von ca. 1000 : 1 erfassen, das entspricht immerhin 10 LWs Umfang. Dieser Wert gilt in etwa auch für das helladaptierte menschliche Auge. Die 100.000 : 1, die dem Sehsinn üblicherweise beigemessen werden, bewältigt der optische Apparat allerdings auch nicht in einem einzigen Blick, sondern nur nacheinander, also durch unwillkürliche Hellwertanpassung (Pupillengröße). Letztlich funktioniert diese aber noch weiter: Das Sonnenlicht kann bis zu 10 Millionen Mal heller sein als das Vollmondlicht – und in beiden Situationen können wir sehen. Wenn sie nicht gleichzeitig auftreten (aber wann ist das schon …). Könnte ein Bild so viel Umfang zeigen wie das schöne Wetter, das wir beim Blick aus dem Zimmerfenster sehen, müsste es genauso hell und kontrastreich strahlen wie das Fenster im Raum. Bei Sonnenschein auf dem Foto bräuchte man zur Bildbetrachtung wahrscheinlich einen Sonnenschutz und würde die Augen zusammen kneifen. Nun ist das Wort ‚Helligkeit’ in der physikalischen Optik nicht exakt definiert, deshalb formulieren die Physiker etwas kühler: Die Beleuchtungsstärke, also der Lichtstrom in Lumen pro bestrahltem Quadratmeter Fläche, beträgt im Sonnenlicht bis zu 10.000 Lux – das sind 10.000 Kerzen, die eine weiße Fläche von 1 qm aus einem Meter Entfernung anstrahlen (ein ganz schönes Gedränge) – trübes Wetter mit bedecktem Himmel, ebenso wie die Innenbeleuchtung einer normalen Wohnung, liegt zwischen 150 und 500 Lux. Ein Riesenunterschied. Zwischen 150 und 500 Lux hat das menschliche Auge übrigens genauso wie der Chip die nuancierteste Hellwertdifferenzierung. Das entspricht einer Helligkeit, die wir bei sehr fragwürdigem Wetter haben: ein tief verhangener Himmel mit dicken, grauen Wolken. Ausgerechnet dann also, wenn die meisten von uns gar nicht gerne Häuser fotografieren …
Motive und Formate
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Wie gesagt: großer Unterschied plus lange Zeit der Gewöhnung fürs Auge gleich kaum noch Unterschied. Dennoch: HDR wirkt. Tritt dann nämlich etwas in Erscheinung, was diesen Makel auch für jeden Unkundigen deutlich sichtbar überwindet, wirkt dieses auf den ersten Blick sehr leicht so beeindruckend, dass Motivisches und Gestalterisches in den Hintergrund zu rücken scheinen. Und was für eine grandiose Fotografie man machen könnte, wenn man dies dann aber nicht im Hintergrund belassen, sondern alles auf eine Ebene heben, also zusätzlich noch tolle Fotos gestalten würde!
Oft unterschätzt: Auch tagsüber kann HDR eine ausgesprochen sinnvolle Sache sein. Nämlich dann, wenn das Wetter extrem gut ist: hoher Luftdruck, geringe Luftfeuchte. Wenn die ‚Hobbyisten‘ am liebsten fotografieren, haben es die Tonwerte tatsächlich am schwersten. Hier die Außenansicht einer Fertigungshalle in strahlendem Sonnenlicht – analog, also ohne HDR.
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Bildqualität und HD-Zauber
Dieselbe Situation mit HDR. Deutlich sichtbar der Zeichnungsgewinn in Lichtern und Schatten. Übrigens: Das beste Verhältnis zwischen Grauwertmodulation und Extremwertzeichnung haben die meisten Chips bei mittleren Kontrastlagen und Leuchtdichten bei grisseliger Witterung. Aber wer fotografiert bei miesem Wetter?
Zonensystem und Pixelzeit HDR beweist: Wir haben Pixelzeit. Aber so neu ist es gar nicht, zumindest nicht das Prinzip. Unter anderem Namen gibt es HDR (‚High Dynamic Range’) und ‚Tone-Mapping’ (Tonwertkompression) schon seit den 50er Jahren in der Analogfotografie! Wenn man so wollte – denn es ist alles Definitionssache: HDR-Technik verfolgt im Prinzip nämlich dieselben Ambitionen wie das berühmte ‚Zonensystem’ der beiden großen amerikanischen Naturfotografen Edward Weston und Ansel Adams: die Simulation
Zonensystem und Pixelzeit
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des hochdynamischen menschlichen Sehsystems im Foto durch Angleichung des wiedergegebenen Tonwertumfangs im Bild an den tatsächlichen Hellwertumfang des Motivs. Bildnerisches Ziel dabei ist, dass die hellste Stelle im Bild zwar schneeweiß, aber eben voll durchzeichnet ist und die dunkelste Stelle zwar pechschwarz, ebenfalls jedoch volle Detailzeichnung aufweist. Das erscheint uns sehrichtig, so kennen wir die Welt. Zumindest glauben wir das, und das ist entscheidend. Gerade in der monumentalen schwarzweißen Landschaftsfotografie hat besonders Ansel Adams mit dem Zonensystem technisch und gestalterisch Meilensteine gesetzt. Sein Trick war, die Filme erstmal gezielt völlig ‚falsch zu belichten‘. Die stark manipulierten Belichtungsindizes wurden dann mit verlängerten oder verkürzten Negativentwicklungszeiten gekoppelt. Gezieltes Unterbelichten und Überentwickeln des Planfilms war die eine Variante, ebenso gezieltes Überbelichten und Unterentwickeln die andere. Mit der ersten wurden Kontraste verstärkt, mit der zweiten verringert. Zusammen mit einer ausgefeilten Vergrößerungstechnik auf selengetontem Baryt war die zweite Variante, also die Kontrastverringerung, geeignet, die Dynamik des Negativ-Positiv-Prozesses immens zu erhöhen. Wo die modifizierte Negativentwicklung die Kontraste senkte, um die Detailzeichnung in den Extremwerten zu sichern, holte der Positivprozess die gebremsten Schwärzen und Lichter wieder heraus. Sicher hat der Meister selbst kaum je einen Film oder einen Entwickler nach Gebrauchsanleitung benutzt, und wer diese unerreichten, meist fenstergroßen Fotografien in Ausstellungen anschaut, bekommt schnell das Gefühl, als sehe er durch ein (wenngleich schwarzweißes) Fenster hindurch, so kristallin und brillant wirken seine Baryt-Vintages. Heute kennt sie fast jeder als Drucke auf zahlreichen Postkarten, Postern und Kalendern. Bis zu gewissen Grenzen entspricht genau diese hohe Dynamik unseren alltäglichen Sehgewohnheiten, denn auch unser Auge nimmt ja hochdynamisch wahr. Deshalb wirkt der HDR-Effekt – gerade weil wir dies von herkömmlichen Fotos nicht gewohnt sind – so effektvoll und überraschend, verblüffend, ungewöhnlich und bestechend wie seinerzeit das Zonensystem in der schwarzweißen Naturfotografie. Ähnlich wie Ansel Adams aus Belichtung, Entwicklung und Positivprozess eine Dynamik erzeugte, die optimal auf das einzelne Motiv abgestimmt war, lassen sich auch die Dynamiken einzelner Belichtungen aus einer Belichtungsreihe ‚addieren’ – mathematisch gesagt: zu einer ‚Vereinigungsmenge’ zusammenfassen. Auch hier ist das Ergebnis eine immense Erweiterung der Dynamik: HDR-Fotografie heißt Bildermachen mit bis zu 32 Bit, also 192,66 dB, die man im Foto umsetzen kann. Das entspricht einem Kontrastumfang von sage und schreibe 32 Blendenstufen oder einem übermittelbaren Helligkeitsverhältnis von etwa 10.000 : 1! Das sprengt wie gesagt die Grenzen jedes handelsüblichen Monitors und jedes normalen Druckers – es ist so viel, dass derzeit noch kein gewöhnliches Ausgabemedium damit klarkommt. Macht aber nichts, die Bilder werden trotzdem schöner. Und zwar durch das so genannte ‚Mapping‘. Doch dazu gleich mehr.
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Bildqualität und HD-Zauber
Da die aktuellen Dateiformate JPEG, RAW und TIFF in der üblichen Form von solchen Umfängen völlig überfordert sind, gibt es extra für HDR-Fotos spezielle Formate, denen beim Abspeichern von Bildern mit 32 Blenden Dynamik nicht gleich schwindlig wird. Ursprünglich wurden HDR- und dem Tone-Mapping ähnliche Verfahren – die ersten gab es schon im Jahr 1989 – also gar nicht für die Fotografie entwickelt, sondern für plastisch wirkende Applikationen der Special Effects Industrie in computeranimierten Kinofilmen. Haben Sie schon mal drauf geachtet: Manche Plakate für Hollywood Mainstream-Produktionen, insbesondere Fantasy-Plakate, sehen oft so ‚unwirklich real’, so gemalt aus? Auch in medizinischen Röntgengeräten und bei CAD-Programmen für Architekten kommt ToneMapping zum Einsatz, das hat Vorteile bei der Simulation bestimmter Beleuchtungen. Hier werden Gebäude vor Baubeginn schon einmal virtuell aufgebaut und können mit verschiedenen Sonnenständen trotzdem bei menschlich erfassbaren Kontrastumfängen beurteilt werden. Übrigens: Natürlich kann man theoretisch auch das Photoshop-eigene psd-Format als vollwertig HDR-fähiges Format ansehen, wenn in einer psd-Datei mit offenen Ebenen die Belichtungsvarianten als übereinanderliegende, transparente Ebenen in Photoshop erstellt wurden. Tatsächlich bieten die Photoshop-CS-Versionen sogar eine HDR-Funktion, es ist ja der Klassiker eines Ebenen-fähigen Grafikprogramms. Verglichen mit spezieller HDR-Software ist die Ausstattung mit variablen Parametern jedoch recht dürftig. Die Einstellmöglichkeiten sind begrenzt, man kann einfach nicht so viel am Bild variieren, und allzu leicht entsteht der Eindruck, dass dieses Feature eher kaufmännisch als technisch motiviert ist – vielleicht glaubt man im Hause Adobe allen Ernstes, die Klientel von reinen HDRProgrammen abwerben zu können. Es gibt also Programme, die wesentlich mehr können und dabei doch sehr komfortabel zu bedienen sind. Aber heute, in einer Zeit, in der ein wesentlicher Teil des bildnerischen Prozesses in den Rechner verlegt werden kann, kommt noch eine Variante hinzu: Bei Übertreibung des HDR-Prinzips im ‚ToneMapping’ erreicht die Bildwirkung schnell das Malerische bzw. Zeichnerische, es kann fast Comic-haft, bisweilen hyper- oder gar surreal anmuten. Je nachdem, wie weit man es im Einzelfall treibt, ist dieser abstrahierend wirkende Effekt im Mapping-Prozess dosierbar. ***
Zonensystem und Pixelzeit
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Ohne HDR wäre dieses Motiv in die Binsen gegangen. Ein grafisches Monster. Metallisch glänzende Fassade, Sonne direkt ins Objektiv reflektierend, mehr Gegenlicht geht kaum. Und die Konturen eines Krans genau dort, wo der Himmel gerade heller wird.
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Bildqualität und HD-Zauber
Die richtigen Motive Mit jeder manuell steuerbaren Kamera kann man HDR-Bilder erstellen, auch mit Kompaktkameras, bei denen die Helligkeit korrigiert werden kann. Qualitativ bessere Ergebnisse erzielt man jedoch, wenn das RAW-Format verfügbar ist, damit lässt sich insbesondere auch der Kontrast besser kontrollieren. Das Handling wird durch Spiegelvorauslösung sowie manuelle Einstellmöglichkeiten für Blende, Belichtungszeit, Weißabgleich, Fokus und ISO erleichtert. Serienbildschaltung und Belichtungsreihenautomatik (Bracketing bzw. AEB) sind von großem Vorteil. Dazu ein Stativ, ein Fern- oder Selbstauslöser (mit diesem dauert der Durchgang einer Belichtungsreihe allerdings etwas länger), eine gute Portion visuelle Genusssucht und einen gewissen Wahn im Blick ... Gut ist ferner ein nicht zu träger Rechner mit einem Grafikprogramm, das mit mehreren Ebenen arbeiten sowie transparente Masken übereinanderlegen und miteinander verrechnen kann. Das hört sich aufwändig an, ist es aber nicht, auch Photoshop kann es ja – wenngleich in Maßen. Der Rechner selbst sollte ein bisschen Mumm unter der Haube haben, damit er bei größeren Dateien nicht gleich zu stöhnen beginnt. Immerhin soll er ja mehrere Fotos, vielleicht RAWs, in schöner Qualität noch schöner zusammenbasteln können. Die Software muss nicht unbedingt ein spezielles HDR-Programm sein; empfehlenswert scheint Photomatix zu sein (hergestellt von HDR Soft und vertrieben vom Franzis Verlag), weil die Presets so flexibel über Schieberegler einstellbar sind und die relativ komplexen Einstellvarianten am ehesten deutlich machen, was mit HDR derzeit so alles möglich ist. HDR-Technologie ermöglicht, dass man auch bei hochkontrastigen Motiven fast keine über- oder unterbelichteten Bereiche mehr im Bild behalten muss, und beim Anblick der Bilder mit besonders problematischen Motiven ist man bisweilen geneigt, sich zu fragen, wie die fotografische Welt vor diesem Qualitätssprung überhaupt existieren konnte. Irgendwie scheint es geklappt zu haben, aber was genau kann man mit HDR denn nun besonders gut fotografieren? Wo sind die Vorteile, und kann es auch tatsächlich jeder sehen, ist es wirklich evident oder einfach nur Dynamik- und Farbtiefenfetischismus? Nun, jedes Kamera-Histogramm, aber auch die Tonwertkorrektur in Photoshop zeigt bekanntlich die – nach der jeweiligen Pixelmenge angegebene – Verteilung aller einzelnen Hellwerte im Foto. Fast immer wenn ein seitlicher Beschnitt an der Histogramm-Kurve anzeigt, dass der Motivumfang größer ist als das, was Kameraelektronik, Rechner und Software verarbeiten können, wird HDR-Technologie mit wenigen Mausklicks das Bild auf wundersame Weise verschönern können. Zumindest dann, wenn die ‚Tiefen-und-Lichter‘-Funktion bei Adobe Photoshop nicht mehr weiterhilft, weil ab einer gewissen Einstellgrenze auch sie die aufgehellten Schatten verrauschen lässt.
Die richtigen Motive
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Als motivische HDR-Specials bieten sich also Aufnahmesituationen mit besonders hohen Hellwertumfängen an. Solche finden wir etwa bei stark akzentuierter Beleuchtung, grellen Lichtkanten oder Lichtflecken und vielen kleinen Details oder feinen Gebäudestrukturen. Stellen wir uns dazu bitte kurz blattlose Baumkronensilhouetten am zart blassblau besonnten Winterhimmel mit federleichter Perlmuttwolken-Melierung und sanftmütiger Musikuntermalung in einem spätbarocken Schlossgarten vor – wie schade, wenn hier auch nur ein Detail verloren ginge … Gut anwenden lässt sich HDR auch bei klassischen Interieur-Aufnahmen mit direkt durchs Fenster einfallendem Sonnenlicht. Von innen und/oder außen beleuchtete Außenarchitekturen, Bauten vor Sonnenauf- und -untergängen, überhaupt gerade auch Dämmerungs-Szenen mit überstrahltem Himmel kann HDR mit schöner Fenster-, Himmels- und Lichtkantenzeichnung sowie lebhaften Details in den dunkelsten Tiefen versorgen. Die Aktion selbst erscheint, zugegeben, nicht ganz einfach am Anfang, aber mit etwas Übung, Experimentierlust und Spielgeist klappts. Gut geeignet ist HDR besonders auch bei vielen Panoramen, weil hier durch den großen Bildwinkel unterschiedliche Einfallsrichtungen des Lichts zur optischen Achse auftreten können. Dabei entstehen leicht größere Zonen unterschiedlicher Helligkeiten, also lokal verschiedener Belichtungsanforderungen innerhalb eines Bildes. Auch Maschinen und spitzlichtanfällige Metallteile in Fabrikhallen sind jetzt voll mit ‚Available Light’ (auch: ‚Ambient Light’) fotografierbar. Sogar die Schlepperei und Kosten einer Lichtanlage kann man sich in nicht wenigen Fällen theoretisch sparen – es sei denn, das ganze Motiv liegt einfach im Dunklen oder für die Aufnahme sind ganz besondere, im Motiv noch nicht vorhandene Beleuchtungseffekte gewünscht. Selbst aus manchen (aber um Himmelswillen nicht allen!) eher unscheinbaren Motiven, zum Beispiel simplen Tunnelszenen, lassen sich mit HDR verblüffend plastisch wirkende, hyperrealistische Hingucker zaubern. Naja, das klingt sehr vielversprechend, fast zuviel versprechend – wenn denn jetzt jeder alles kann; aber trösten wir uns, völlig demokratisch oder beliebig ist HDR nicht. Es gibt auch ausgesprochen kreativierende Haken an der ganzen Sache, das macht gute Lichtbildnerei dann doch wieder angenehm elitär – und das ist auch gut so, denn gute Bilder könnte sonst ja plötzlich jeder machen, dem es noch nicht mal eine Herzenssache wäre. Und das sollte es doch sein. Sonst wäre unser persönliches Foto auch gar nichts Besonderes mehr … ***
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Bildqualität und HD-Zauber
Die Dämmerungsaufnahme einer Bonner Werbeagentur, ohne HDR. Wir sehen deutliche Detailverluste in den Extremwerten, besonders in den Schatten. Da der Kunde das Gebäude selbst nicht unbedingt als architektonischen Knüller ansah, entschieden wir uns für diese kleine ‚Unperfektion‘, um wenigstens ein Quäntchen Dramatik ins Bild leuchten zu lassen. Der Dämmerungseffekt wäre zu brav geworden, hätten wir die Belichtung ein paar Minuten früher gemacht. Der steile Aufwärtsblick sorgt mit seiner Dynamik für einen Dialog mit der Ruhe des breiten Querformats. Die beruhigende Komponente kommt noch durch zwei weitere Elemente zum Tragen: Die Ecke der Dachkanten setzten wir in den seitlichen Goldenen Schnitt und richteten die Kamera so aus, dass die dominante untere Fensterlinie parallel zum Bildrand liegt.
Die richtige Belichtungsreihe Wie Perlen einer Kette: Eine kleine Anzahl unterschiedlich heller, möglichst deckungsgleicher Einzelfotos (Quellbilder) – ganz normale ‚LDRs’ (so genannte ‚Low Dynamic Range Images’) einer Belichtungsreihe – werden am Computer mittels einer entsprechenden Software miteinander zu einem Zielbild fusioniert (‚gerendert’) und je nach Verfahren danach gegebenenfalls ‚gemappt’. Wenn wir ‚HDR-Bilder‘ in einer der vielen Online-Galerien ansehen, handelt es sich also gar nicht mehr um echte HDRs, sondern derzeit immer um ‚gemappte’ Bilder, auch ‚Radiance Maps’.
Fertigen Sie Belichtungsreihen an Alles beginnt also mit unterschiedlich hellen Fotos ein und desselben Motivs, daher heißt es zuerst einmal: eine Belichtungsreihe anfertigen. Es geht von einer Aufnahme mit leicht unterbelichteten (‚belegten‘) Lichtern schrittweise hin zu einer Aufnahme mit leicht überbelichteten (‚aufgerissenen‘) Schatten.
Die richtige Belichtungsreihe
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Und so geht es: Hier die helle Version. Die Lichter überstrahlen völlig, das zeigt auch die am rechten Rand des Histogramms hochlaufende Kurve – aber das ist nicht so wichtig. Worauf es ankommt, ist: Die Schatten sind durchzeichnet – erkennbar daran, dass die Kurve links im mäßigen Abstand zum seitlichen Rand des Diagramms unten auf der x-Achse beginnt
Hier das Histogramm dazu. Deutlich sichtbar: die senkrechte Linie am rechten Bildrand, die die überstrahlten Lichter dieser Belichtung zeigt.
Bei alldem ist auf Folgendes zu achten: Die Bilder müssen unbedingt deckungsgleich sein, sonst gibt es im Zielbild durchsichtige Unschärfen. Also: stabiles Stativ benutzen. Und wir müssen die Aufnahmen schnell hintereinander wegschießen, ohne die Kamera dabei zu bewegen. Schön wäre, sie nicht mal zu berühren. Auch bewegte Objekte im Bild könnten unscharf werden und transparente, scheinbar zusammenhangslos erscheinende ‚Geisterbilder’ hervorrufen. Außerdem: Der Beginn der Histogramm-Kurve der hellsten Einzelaufnahme, die die Schattendetails zeigt, sollte einen kleinen, aber deutlichen Abstand zum linken Rand haben. Die Schatten sind dann
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Bildqualität und HD-Zauber
zwar aufgerissen, also zu hell (dunkelgrau statt schwarz), aber eben durchzeichnet. Auch das Ende der Kurve der dunkelsten Aufnahme, die die Lichterzeichnung zeigt, soll nah an den rechten Rand heranreichen, aber ohne ihn zu berühren. Die Lichter sind dann zwar belegt, also zu dunkel (hellgrau statt weiß), aber durchzeichnet.
Hier die mittlere der drei Belichtungen. Auch hier sind noch große Teile des Lichterpotenzials überstrahlt, während die Details in den Schatten bereits langsam beginnen, sich zu verflüchtigen. Die Tiefen laufen zu.
Das Histogramm dazu zeigt eine fast ausgewogene Kurve, deren hohe Seitenbereiche aber Schwächen in der Durchzeichnung von Lichtern und Schatten offenbart.
Die richtige Belichtungsreihe
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Je mehr Aufnahmen wir machen, desto größer der Motivumfang, der bewältigt werden kann und desto geringer das Rauschen in den aufgehellten Schatten. Desto mehr besteht jedoch auch die Gefahr von Motiv-Versatz oder Beleuchtungsänderung zwischen den Einzelbelichtungen – ein Problem, das handhabbar ist. Stabiles Stativ und stabile Witterung schaffen hier Abhilfe. Schwierig kann etwas werden, was wir schon aus der ‚Tiefen-und-Lichter‘-Funktion kennen: Wenn Lichter gesenkt und Schatten angehoben werden, ‚vermatschen‘ leicht die Mitteltöne. Klar, sie werden ja zusammengedrückt. Der Mitteltonkontrast kann im Mapping-Prozess zwar wieder erhöht werden, verlorene Details kommen aber nicht wieder. Die Grenze zur Augenwischerei ist hier nicht fern. Adobe bietet hierzu einen speziellen Regler, um die Mittenkontraste wieder anzuheben, ohne dass die Extremwerte berührt werden. Man könnte dies vergleichen mit einer Aufteilung des mittleren Teils der Gradationskurve. Bei HDR regelt man das über die Anzahl der Aufnahmen. Und dies, obwohl die richtige Aufnahmezahl ein zweischneidiges Schwert zu sein scheint. Wie so oft im Leben ist also auch hier ein Zuviel nicht ungefährlich: Aus Qualitätsgründen sowie wegen der steigenden Doppelkontur-Gefahr für den Fall, dass das Motiv oder dessen Beleuchtung sich ändern sollte, wird tatsächlich empfohlen, eher weniger Aufnahmen zu machen und diese möglichst schnell hintereinander. Ich würde im Zweifel jedoch eher mehr Aufnahmen machen und dann im Nachhinein entscheiden, wie viele Aufnahmen später das optimal gemappte HDR ergeben. Ganz wichtig: Um ‚geisterhafte’ Unregelmäßigkeiten zwischen den Einzelbelichtungen zu vermeiden, müssen zuvor auch Fokus, Blende, ISO-Zahl und Weißabgleichswert fest eingestellt sein! Von der Benutzung eines Blitzes wird im Allgemeinen abgeraten, da er eine Invarianz ins Bild bringen kann und es einfacher ist, die Reihe ausschließlich bei konstantem Licht zu erzeugen. Als guten Einstiegswert zum Testen empfiehlt der Hersteller HDR-Soft erst einmal drei Belichtungsvarianten im Abstand von 2 ganzen Belichtungszeitenstufen (also LWs). Bei Aufnahmen mit besonders großen Motivumfängen bietet sich ein Einstieg mit 5 Belichtungen im Abstand von je einem LW an. Bei zu großem Abstand der Einzelbelichtungen voneinander können unansehnliche Tonwertsprünge entstehen, die selbst für hartgesottene Freunde der Verfremdung keinen bildnerischen Wert besitzen (senkrechte Streifen im Histogramm). Es sei denn, man steht auf Tontrennungsverfahren der 70er Jahre, die etwa so aussehen wie Isohelien.
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Bei dieser dunklen Variante der drei Belichtungen sind die Lichter angenehm detailliert, aber die Schatten – laut Fotografenjargon – schon restlos ‚abgesumpft‘.
Die Histogramm-Kurve schmiegt sich derart sehnsuchtsvoll an die linke Diagrammflanke, als würde sie die geeignete Stelle für einen Ausbruch suchen. Rechts dagegen zeigt der flache Kurvenverlauf noch große Reserven in den Lichtern.
Die richtige Belichtungsreihe
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Und hier nun das, was daraus wurde. Lichter und Schatten sind wohl durchzeichnet, das Ganze bei angenehm korrigiertem Kontrast über das Gesamtbild sowie in den Mitteltönen. Die Farbsättigung musste etwas gesenkt werden, damit das Foto nicht zu unwirklich aussieht. Auch das Histogramm belohnt uns für unsere Mühen, es verläuft ausgewogen von links unten nach rechts unten bis in die jeweiligen Ecken. Das heißt, wir haben klare Weißen und Schwärzen, inklusive Detailzeichnung darin. Die hätte man zwar noch erhöhen können – wir sehen rechts und links unten in den Ecken zwei kleine senkrechte Linien –, aber das haben wir bewusst unterlassen. Die Extremwerte wären zu flau geworden, und das Ganze hätte unrealistisch ausgesehen. Denn: Zumindest leichte Überstrahlung, gerade an Metallflächen, und leichte Schattenverluste kennen wir auch aus unserer Seherfahrung. Und genau der soll das Bild hier ja entsprechen.
Hier die Kurve zum HDR. Trotz der extrem akzentuierten Beleuchtung liegen die Mitteltöne perfekt im Mitteleil des Diagramms, und die beiden Spitzen rechts und links lassen wir aus oben genannten Gründen gern zu.
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In welcher Reihenfolge die Aufnahmen entstehen, ist übrigens egal. Unterschieden werden die einzelnen Belichtungen durch die Software über das Auslesen der jeweiligen EXIF-Daten. Sollte übrigens die AEB-Funktion der Kamera (Automatic Exposure Bracketing, also ‚Belichtungsreihenautomatik‘) die gewünschten Abstände bei einer gewünschten Anzahl nicht zulassen, arbeitet man einfach mit manueller Belichtungseinstellung oder man macht eine zweite AEB-Reihe mit größerem Abstand der Einzelbelichtungen und löscht das dabei entstehende zweite normalbelichtete Bild aus der zweiten Belichtungsreihe nachträglich (sonst gäbe es ja zwei identische Mittelbelichtungen). Dann dauert der Spaß des Fotografierens ein wenig länger, was ja auch schön sein kann. Ganz wichtig: Die Variation der Belichtung soll in jedem Fall über die Belichtungszeit, also nicht per Blendenverstellung, laufen. Die Schärfentiefe in den Einzelbelichtungen würde sich sonst ändern. Das könnte im späteren Zielbild. Mit geisterhafter Unschönheit bestraft werden, also: Blende konstant lassen. Außerdem ist es aus Gründen der Schärfenkonstanz beim Belichten der Einzelbilder ohnehin gut, auch den AF zu deaktivieren sowie unbedingt bei konstantem WB (bei gegebenenfalls während der Belichtungsreihe auftretenden Beleuchtungsveränderungen sind sonst Farbverschiebungen möglich) und fixiertem ISO-Wert zu fotografieren. Nach den Aufnahmen empfiehlt es sich, anhand der einzelnen Histogramme zu prüfen, ob die Summe aller Aufnahmen den Helligkeitsumfang des Motivs wirklich vollständig erfasst hat. ***
Die richtige Belichtungsreihe
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Solche Nachtszenen sind im Allgemeinen prädestiniert fürs Bildrauschen. Gut, wenn ein Stativ verfügbar ist und die ISO-Zahl nicht allzu hoch eingestellt werden muss. Dennoch: Auch die Belichtungszeit trägt zum Rauschen bei. Diese verlängert sich bei hohen ISOs, die Gefahr ist also nur teilweise gebannt. Richtige Nachtaufnahmen sind immer noch eine Domäne des Analogen.
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Bildqualität und HD-Zauber
Rauschen und Aureolen Viele Kameras optimieren die Gradationskurve im JPEG-Modus selbstständig. Das hört sich vorteilhaft an, hat aber einen Nachteil: Es kann die Gesamtgradation im Zielbild später unangenehm beeinflussen. Was die Kamera uns hier abnehmen will, haben wir tatsächlich nicht mehr in der Hand. Diese Kontrolle zu behalten, wäre besser. Optimal ist eine so genannte ‚lineare’ Gradationskurve. Diese ist nicht manipuliert, lässt alle Freiheiten für die Nachbearbeitung offen, zeigt sich dabei viel toleranter, qualitätserhaltender – aber es gibt sie nur im RAW-Modus. JPEG ist also allenfalls die zweite Wahl – zum einen aus Gründen der Dynamik, zum anderen aus Gründen der Kontrastkontrolle. Zum Problem Bildrauschen und Lichthöfe: Die dunkelste Belichtung in den bildwichtigen Lichterpartien sollte wirklich nur gerade noch durchzeichnet sein und die hellste in den Schatten auch. Gäbe man jeweils eine weitere noch dunklere bzw. noch hellere Belichtung hinzu (man könnte meinen, das wäre sicherer), können in den Schatten durch übertriebenes Software-Aufhellen der nicht durchzeichneten (also zu dunklen) Belichtung sehr leicht Rauschartefakte entstehen. Um die dunkleren Bereiche herum sieht man dann mehr oder weniger starke ‚Aureolen’, so genannte ‚Halos’, also ‚Heiligenscheine‘. Gegebenenfalls lässt man viel zu dunkle Bildpartien bei ganz schwach beleuchteten Motiven bereits mithilfe der Menüfunktion ‚Rauschunterdrückung’ direkt in der Kamera ‚entrauschen‘ -, der dabei entstehende Detailverlust wird an diesen Stellen möglicherweise nicht allzu störend sichtbar sein. Allgemein gibt es gegen das Rauschen bei schwach beleuchteten Motiven und höheren ISOs einen kleinen Trick, der übrigens nicht HDR-spezifisch ist: Man ‚stapelt’ zunächst mehrere gleiche Belichtungen – und zwar die der hellen Schatten-Belichtung, also die mit der längsten Belichtungszeit – und verrechnet sie in der Photomatix-Funktion ‚Mittelwert’. Das entstehende Bild ist dadurch weitgehend ‚entrauscht‘ und wird dann zur Serie der anderen Einzelbelichtungen, die fürs HDR angefertigt wurden, als lichte Schattenaufnahme extra hinzugefügt. In gewissen Grenzen kann ein solches Bilderstapeln oftmals gegen Rauschen helfen, denn die Rauschartefakte jedes Einzelbildes sind immer zufällig verteilt; und dass zwei Artefakte aus zwei übereinanderliegenden Einzelbelichtungen genauso übereinanderliegen, ist statistisch wenig wahrscheinlich. Diesen Effekt macht man sich in der Astrofotografie zunutze, wo durch die verwendeten ultrahohen ISO-Zahlen (teils mehrere Hunderttausend) das Rauschen ein großes Thema ist. Für den Fall der Fälle gibt es aber diverse ‚Entrauschungsprogramme‘, die auf das Gesamtbild im Nachhinein angewandt werden können – nichts auf der Welt geht ja je verloren. Die Astros haben übrigens noch einen besonderen Trick gegen das Rauschen auf Lager: In bestimmten Teleskop-Kameras werden die Chips vor der Aufnahme mit flüssigem Stickstoff auf mehrere Dutzend Minusgrade tiefgekühlt. Dabei werden die Ladungsträger so schlapp, dass es auch bei ISO 100.000 kein Rauschen mehr gibt. Also bei Vorliebe für mitternächtliche Architekturschüsse: Motivempfehlung ganz klar Nordpol, Grönland, Sibirien, Spitzbergen und Antarktis. Insgesamt sollten wir tagsüber jedoch bei möglichst niedrigem ISO-Wert belichten. *** Rauschen und Aureolen
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Extremes Gegenlicht mit tiefen Schatten. Diese Aufnahme entstand aus einem einzelnen, aus der bloßen Hand geschossenen RAW, das wir nach der Aufnahme in drei Helligkeitsvarianten zerlegten und mit transparenten Photoshop-Ebenen übereinander legten. Der Effekt eines solchen ‚Pseudo-HDRs‘ ist weit weniger stark als der eines echten HDRs.
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Bildqualität und HD-Zauber
Motive, die nicht stillhalten In gewissen Grenzen lässt sich ein HDR-Effekt tatsächlich mit einem Einzelbild simulieren. Das ToneMapping bei Photomatix kann dafür auch auf ein einzelnes 16-Bit-Bild oder eine einzelne RAW-Datei angewendet werden. Das Einzelbild muss vor dem Tone-Mapping geöffnet werden. Die Belichtungsvarianten kann man dadurch erzeugen, dass man mehrere Kopien erstellt, die im RAWKonverter durch Verschiebungen der Histogramm-Kurve unterschiedlich aufgehellt und abgedunkelt werden. So entstehen quasi verschiedene Belichtungsvarianten. Photomatix Pro liefert übrigens ein eigenes, ins Programm implementiertes, Tool zum Erstellen von Belichtungsvarianten aus einem einzelnen RAW. Aber mit fast gleichem Ergebnis lässt sich ein singuläres RAW auch ohne künstlich simulierte Belichtungsvarianten, so genannte ‚Fake Exposures’, mappen und daraus ein ‚Pseudo-HDR’ erzeugen. So etwas macht eventuell Sinn bei bewegten Motiven oder bei bereits aufgenommenen Einzelbildern, deren Tonwertwiedergabe im Nachhinein verbessert werden soll. Fürs Fotografieren erscheint eine solche Erleichterung ganz nett, weil man durch die einzelne Belichtung eventuell vom Stativ wegkommen und eben sogar bewegte Motive für die HDR-Technik erschließen könnte. Allerdings ist der kompensierbare Helligkeitsumfang bei Weitem nicht so groß wie bei einem ‚Multishot-Verfahren‘ – also dem Aufnehmen und Zusammenfügen mehrerer Einzelbelichtungen. Die Dynamik ist geringer, deshalb wirkt das ganze im Zielbild auch längst nicht so spektakulär wie ein echt gemapptes HDR, das aus echten Belichtungsreihen entstanden ist. Und selbst bei moderat angewendeten Parametern können extreme Lichter immer noch überstrahlen und tiefe Schatten detailverloren im Dunkel umher schweben. Auch aus qualitativen Gründen sind selbst einem solch schönen Verfahren Grenzen gesetzt. Wenn man es übertreibt, laufen die Bilder schneller als beim Multishot-Verfahren Gefahr, durch die Aufhellung in den Schatten zu verrauschen. Das kann schon bei nur leicht erhöhten ISO-Zahlen geschehen. Am besten geht es daher eher bei leicht überbelichteten Aufnahmen mit kleinen ISOs (um eben die dunklen Partien rauscharm zu halten). Den entstehenden Detailverlust in den Lichtern steckt das RAWFormat aufgrund seiner höheren Farbtiefe und seiner größeren Dynamik gutmütiger weg, als das am Monitor zunächst sichtbar ist. Man sollte, um später so wenig wie möglich aufhellen zu müssen, ein solches Einzelbild also erst einmal eher auf die Schatten belichten, selbst wenn die Lichter dabei zu hell werden. Im Nachhinein lässt sich die Überbelichtung innerhalb des RAW-Konverters dann weitgehend wieder ausgleichen, und zwar durch eine Belichtungskorrektur von -1 oder -2, so dass die Lichter wieder ein wenig mehr Zeichnung gewinnen.
Motive, die nicht stillhalten
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Von einem einzelnen 8-Bit-Quellbild wird dabei abgeraten. Bei Verwendung eines einzelnen JPEGs ist es noch schwieriger, denn hier entstünden aufgrund der geringen Dynamik des JPEG-Formats in den aufgehellten dunklen Bildern schon sehr früh Rauschartefakte. Und die kann dann auch ein ‚EbenenSandwich‘ kaum noch unterdrücken.
HDR analog Übrigens ist digital kein Zwang: Ähnlich wie das Stitchen geht HDR auch ohne digitale Daten. HDR funktioniert theoretisch auch mit bereits vorhandenen, unterschiedlich belichteten Analog-Aufnahmen, also mit Belichtungsreihen auf Dia- oder Negativmaterial. Die verschieden hellen Filme müssen eben einfach nur gescannt werden, und zwar alle mit den gleichen Belichtungswerten am Scanner, also ohne Belichtungsautomatik, so dass die Helligkeits-Unterschiede bestehen bleiben. Damit es im Nachhinein kein Durcheinander gibt, ist es praktisch, die Dateien durch eindeutige Benennung der Motive und der Einzelbelichtungen im Rechner abzuspeichern. Auch diese Aufnahmen müssen natürlich vom Stativ bei unveränderter Kameraposition gemacht worden sein. ***
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Bildqualität und HD-Zauber
Natürlich ist HDR kein Tonwerte-Allheilmittel, natürlich kann auch ein völlig überstrahltes Spitzlicht seinen atmosphärischen Charme haben, besonders in der Dämmerung. Nur: Worauf es dann ankommt (viel mehr als bei HDR), ist der richtige Zeitpunkt und eine exakte Belichtung. Die Stimmung hier am Leuchtturm Westerhever in Nordfriesland ist eine Analog-Aufnahme, Belichtungszeit zweieinhalb Minuten auf meinem geliebten 6 x 12 Fuji Velvia mit ISO 50. Die einen Meter breite Ausbelichtung auf hochglänzendes Ilfochrome sieht perfekt aus, hat knackige Schärfe, sanft modulierte Farbflächen trotz hoher Sättigung und kein sichtbares Korn. Digitale Prozessoren schaffen diese Qualität bislang nicht, bei Raumtemperatur und Einstellung auf ISO 50 beginnt etwa der DIGIC-IV-Prozessor in den aktuellen Canon SLRs schon ab Vergrößerungen im Format DIN A4 Bildrauschen zu zeigen. Vor allem in homogenen Schattenflächen.
HDR-Software Es ist wohl zu erwarten, dass Kamera- und Softwareindustrie im Laufe der nächsten Jahre Chips und Dateiformate anbieten, die in gewissem Sinn von sich aus bereits HDR-tauglich sind, also mit größeren Helligkeitsumfängen zurechtkommen. Im wissenschaftlichen High End Bereich und im professionellen Videosektor sind derartige Dynamiken bereits möglich. Bis das Ganze bezahlbar wird, dürfen wir uns also noch über Dynamikbasteleien am Rechner freuen. HDR-Programme gibt es mittlerweile einige auf dem Markt – zu finden und zu testen in der großen Kiste Internet. Einige werden von den Herstellern verschenkt, andere kosten sozusagen ‚von hinten herum’, und manche kann man ganz normal kaufen. Da gibt es Namen wie Easy HDR, HDR-Shop,
HDR-Software
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Picturenaut, FDRTools, Traumflieger DRI, Artizen oder das mit dem unaussprechlichen QuellcodeNamen Qtpfsgui, um nur einige zu nennen. Einfach googeln und schwupps sind sie da. Weil die Innovationszyklen sehr kurz sind, gehen wir hier nicht allzu sehr darauf ein – mit Recherchen im Netz kann man sich da immer auf dem neuesten Stand halten. Eigentlich braucht man für HDR aber gar kein spezielles HDR-Programm. Jedes ebenen- und maskenfähige Grafikprogramm ist geeignet, mithilfe transparent übereinandergelegter Ebenen 32-Bit-HDRs zu erstellen – viel mehr muss eine Software nämlich nicht können. Auch Photoshop kann seit Version CS2 HDR-fähige Daten generieren, importieren und exportieren. Und selbst für frühere PhotoshopVersionen gibt es Plug-Ins von diversen Herstellern (natürlich nicht von Adobe, die möchten ja ihre neusten CS-Versionen verkaufen). Die recht komplex ausgestattete Software Photomatix bietet bislang die meisten Parameter zur Einstellung der Bildwirkung, gerade im Mapping-Prozess. Sie ist als Windows- und Mac-kompatibles Programm erhältlich. 32-Bit-HDR-Dateien können aber auch über ein Photomatix Plug-In mit Photoshop ab Version CS3 gelesen und verarbeitet werden. Auch zum Kennenlernen von HDR eignet sich Photomatix zurzeit ganz gut, weil man mit seiner recht plausiblen Ausstattung vielseitig spielen kann und weil es die vielen Möglichkeiten des Phänomens HDR übersichtlich darstellt. Regelmäßig upgedatet kann das Programm alle gebräuchlichen KameraRAWs sowie JPEGs, TIFFs und einige andere Formate öffnen und speichern. Wie alle anderen auch lässt sich die Software zum unbegrenzten Testen aus dem Netz herunterladen – die entstehenden Bilddateien bekommen zunächst ein Wasserzeichen, das man bei Kauf der Lizenz mit einem bestimmten Code entfernen kann. Manche Programme sind recht umständlich zu handhaben, einige gibt es auch nur für Windows und nicht als Mac- oder Linux-Versionen, nicht alle Programme bieten eine automatische Vorschau im Tone-Mapping oder verfügen überhaupt über ein Tone-Mapping-Modul. In dem Fall läuft der zweite Teil des Prozesses dann mit einem anderen Programm, das man sich zusätzlich zu besorgen hat. Einige sind auch gar nicht in deutscher Sprache erhältlich, und nicht alle unterstützen jedes gängige FotoFormat. Kostenlose Programme können demnach Blendwerk sein – es ist nicht immer alles Gold, was nichts kostet. Ernsthafte Entscheidungskriterien fürs richtige Programm sollten vielmehr sein:
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Intuitives Handling
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Verständlichkeit des Handbuchs
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Ausstattung mit sinnvollen Parametern
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Rauschfiltervermögen (Dunkel-Qualität)
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Mapping-Fähigkeit (ja/nein)
Bildqualität und HD-Zauber
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Systemkompatibilität (Mac, Win, Linux – jeweilige Versionen beachten)
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Format-Kompatibilität (verarbeitungsfähige Dateiarten)
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Kompensierbarer Dynamikbereich
Möglicherweise kann der Preis schon deshalb eine geringere Rolle spielen, weil in der Regel alle Vollversionen derzeit ohnehin weit unter 100 Euro kosten. Und apropos Euros – wenn es denn sein muss, kann man gerne auch richtig viel Geld ausgeben: Im Spezialhandel sind hochpreisige High-End-HDR-Kameras für professionelle Anwendungen zu finden. Diese kosten derzeit mehrere zigtausend Euro, denn aufgrund der besonders hohen Sättigungsgrenze ihrer Chips übertragen sie MDR-Dynamikumfänge von derzeit um die 2000 : 1 mit einem einzigen Schuss. Da braucht man kaum noch richtig zu belichten, denn die Zeichnung in hellsten Lichtern und tiefsten Schatten ist immer noch so satt, dass sich fast jedes auch noch so düstere oder zu grell geratene Bild durch Aufhellen oder Abdunkeln im Nachhinein retten lässt. Überhaupt wird bei manchen dieser Kameras die Qualität an allerhöchsten Maßstäben gemessen, zur Rauschunterdrückung werden nämlich viele Sensoren – ähnlich wie bei wissenschaftlichen AstroKameras – aktiv gekühlt. Dadurch rauschen die Schatten auch bei Aufhellung weniger, wodurch diese Kameras spielend mit noch größeren Kontrastumfängen zurechtkommen. Außerdem besitzen solche Geräte aufgrund der entstehenden großen Datenmengen und hohen Datenraten sehr schnelle Prozessoren mit groß dimensionierten internen Arbeitsspeichern. Aktuell sind da Hersteller wie etwa Leica, Jenoptik, Leaf und das Stuttgarter Mikroelektronik-Institut zu nennen. Und das alles nur, damit selbst im hellsten Licht genauso wie in den dunkelsten Tiefen noch Substanz ist. Wir glauben, das sei realistisch so, denn so nimmt es unser Sehsinn wahr. Doch ist Realismus immer ein Abklatsch des Gesehenen? Wenn nur unsere Augen alles schön deutlich sehen – ist das Bild dann schon real? Und wenn alle es deutlich sehen – gilt dieses ‚Reale‘ für alle? Die Antwort findet sich nur experimentell, im Kapitel 7 gehts los. Doch vorher: Darf ich das alles überhaupt? Wie, wenn jemand was dagegen hat? ***
HDR-Software
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Was darf man, was nicht – manchmal ist das alles ‚Wischiwaschi‘, die Grenzen dazwischen so unscharf, wie hier zu sehen, und nicht selten ist das auch ganz gut so. Denn: Mit ein bisschen Geschick, Charme und Überzeugungskraft bekommt man bisweilen Genehmigungen, die die Paragrafen zunächst einmal verweigern würden. Dieses Gebäudebild ist nicht etwa auf der Flucht vor heranstürmenden Rottweilern entstanden, die das Gelände bewachen sollten, sondern bewusst als rein formales Experiment. Defokussierung und eine leicht fragile Vertikalbewegung der Kamera sind hier in einen Dialog gesetzt. Wollte hier ein Eigentümer gegen Veröffentlichung klagen, müsste er geltend machen können, dass sein Motiv eindeutig erkennbar ist. Nicht immer leicht, wie man sieht.
Recht haben und Recht bekommen In der Regel ist Häuserfotografie nichts Problematisches – es sei denn, man verhält sich penetrant. In den meisten Fällen gibt es keine Probleme mit einer Erlaubnis, aber ehrlich gesagt habe ich nicht für alle Standorte meiner Kameraaufbauten wirklich die formale Genehmigung abwarten können, manches musste einfach schneller gehen. Empfehlen möchte ich das nicht, und wenn man sagt, das gewünschte Foto sei im Dienste der Kunst angesiedelt, lenken viele auch kurzfristig ein. Manche aus Mitleid, manche aus verschämter Lust am kulturell oder sonstwie Bedeutsamen, das irgendwie dahinter stecken könnte. Aber manche auch, weil sie ganz einfach hilfsbereit sind. Immerhin tun ja auch sie hier und da nur ihren Job oder freuen sich, wenn man sie bei der Ausübung ihrer privaten Interessen unterstützt. Wenn man dann die Erlaubnis mithilfe subtiler Charmeoffensiven endlich bekommen hat, etwa bei einem größeren Gebäude, muss man stets bedenken, dass Hausmeister und Pförtner die wichtigsten Menschen der Welt sind (neben der eigenen Familie natürlich). Und nicht wenige freuen sich, wenn sie spüren dürfen, dass sie da letztlich über den Direktoren stehen. Denn nur sie haben die Schlüsselgewalt und wissen genau, wie man überall hinkommt, wo eine Leiter steht, eine Kabeltrommel oder wo der Durchstieg zum Dach ist. Nur sie wissen, dass im Keller noch eine alte, riesige Holzkiste steht, die zwar verschlossen ist, auf der man aber wunderbar ein Stativ aufbauen könnte. So können nur sie Perspektiven möglich machen, von denen Direktoren lediglich träumen können. Und nur sie befinden auch darüber, ob man hier und da nicht doch mal ein rechtliches Auge zumindest halb zudrücken kann – einfach weil sie von der Basis kommen, von dort also, wo ein ‚Schaunwamadrüberwech‘ Kultur ist. Aber – frei nach Wilhelm Busch – nicht alles, was beliebt, ist eben auch erlaubt. Rechtlich und moralisch auf Nummer sicher geht, wer sich an Folgendes hält.
Hier geht es in erster Linie um die so genannte Panoramafreiheit – was für ein poetisch anmutiger Terminus für eine derart trockene Sache! Diese Panoramafreiheit wird im Urheberrechtsgesetz geregelt, insbesondere im Paragrafen 59, und darin heißt es: UrhG § 59, Werke an öffentlichen Plätzen (1) Zulässig ist, Werke, die sich bleibend an öffentlichen Wegen, Straßen oder Plätzen befinden, mit Mitteln der Malerei oder Graphik, durch Lichtbild oder durch Film zu vervielfältigen, zu verbreiten und öffentlich wiederzugeben. Bei Bauwerken erstrecken sich diese Befugnisse nur auf die äußere Ansicht. (2) Die Vervielfältigungen dürfen nicht an einem Bauwerk vorgenommen werden. Bei fotografiertem Fremdeigentum gibt es außerdem eine so genannte ‚Property Release‘ Regelung. Es handelt sich um eine Freigabeerklärung des Eigentümers oder Architekten, ohne die die Aufnahmen theoretisch nicht veröffentlicht werden dürfen. Es sei denn, die Panoramafreiheit gilt – die Bilder sind also von frei zugänglichem, öffentlichem Boden ohne Hilfsmittel wie Leiter, Hocker oder Ähnliches gemacht worden. Merkwürdigerweise schließt dieser öffentliche Boden nicht nur Privat- und Geschäftsgelände aus, sondern auch Parkplätze, Tierparks, Bahnhöfe und Flugplatzareale. – Im Zweifelsfall mit Augenzwinkern eine falsche Perspektive per Shift herbeiflunkern, denn welcher Ordnungsbeamte kann solche Tricks schon entlarven ... (Bitte nicht nachmachen, Kinder.) Auf der sicheren Seite ist man mit schriftlichen Einverständniserklärungen. Wer nicht darauf achtet, kann bei unerlaubter Nutzung teuer verklagt werden, denn hier werden – wie es so schön heißt – die Rechte Dritter berührt. Diese können sein: Q
das Urheberrecht des Architekten (es sei denn, das Foto stellt ein eigenständiges Werk im Sinne des Urheberrechts dar)
Q
das Haus- und Eigentumsrecht des Inhabers
Q
die Persönlichkeitsrechte des Bewohners (insbesondere wenn Namen oder andere persönliche Daten mit veröffentlicht werden sollen)
Letzteres gilt natürlich besonders dann, wenn Personen groß im Bild zu sehen sind. Gegen das Fotografiertwerden von frei zugänglichem Boden können sie nichts tun, gegen das Veröffentlichtwerden schon.
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Recht haben und Recht bekommen
Ein Schwimmbad auf dem Gelände der Zeche Zollverein – frei zugänglich, aber öffentlich? Oder privat? Das zum Rechtlichen. Das fotografische Problem war hier die Vielfalt der motivischen Elemente. Sie mussten in eine sinnvolle Ordnung gebracht werden, und das ging nur mithilfe einer plausiblen, möglichst einfach wirkenden Perspektive plus Kamera-Shift. Um dem unruhigen Drumherum etwas mehr Stabilität zu verleihen, haben wir den Turm exakt mittig gesetzt und die Vertikalen senkrecht gestellt. Die beiden oberen Diagonalen führen genau ins Bildzentrum und sind durch den Aufnahmestandort fast symmetrisch gewinkelt.
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Hier durften wir nur kurz hinein. Nachdem die Gemeinde uns Schlüssel und Erlaubnis gab, das schwere Vorhängeschloss am Kapellenportal aufzuschließen, entdeckten wir, dass hier drinnen auch abseits solcher Genehmigungen lebhafte Kultur stattfindet. Die Wände waren voller verträumtem Graffiti. Die Künstler waren wohl durch die offene Fensterklappe oben links gekommen.
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Recht haben und Recht bekommen
In öffentlichen Gebäuden wie Museen und Kirchen oder bei Konzerten findet man oft Schilder, auf denen steht, was erlaubt ist und was nicht. Hier geht es vom Verbot zu blitzen über eingeschränkte Fotografierzeiten, unerwünschte Nutzung von Stativen bis zum totalen Fotografierverbot. Veröffentlichung seiner Aufnahmen wünscht sich zwar fast jeder, ist aber nicht immer ein und dasselbe. Das Zitatrecht regelt Ausnahmen, wann Aufnahmen, die eine bestimmte Größe nicht überschreiten, als Illustration für einen Text gelten können. Das Zitatrecht steht in Paragraf 51. Übrigens entschied der Bundesgerichtshof in einem Urteil von 1974, dass Gebäudefotos, die unter Panoramafreiheit entstanden, also von öffentlichem Grund aus und ohne Hilfsmittel, prinzipiell sogar kostenlos für Werbezwecke genutzt werden dürfen. ***
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Rinde und Astloch, freie Form und fotografisches Experiment: ein hohler Lebensraum mit naturgemachter Umwandlung und ebenso natürlichem Ein- und Ausgang. Darf man die Ursprünge des Architekturbildes im Grünen suchen?
Genres Fünfzig Wege, seinen Liebhaber zu verlassen – ob der amerikanische Sänger Paul Simon in den 70ern mit diesem Titel Recht hatte? Wer weiß. In jedem Fall gibt es mindestens hundert Wege, ein Bauwerk zu fotografieren, und sei es noch so klein. Während mich diese Freiheit bei meinen ersten freien Aufnahmen und meinen ersten Jobs hier und da noch irritiere, hat sie mich bald schon inspiriert. Eine tolle ‚bildnerische Befruchtung‘ habe ich immer auch in dem entdecken können, was Kunststudenten üblicherweise nahegelegt wird: dem Studium der ‚alten Meister’. Nun ließe sich angesichts der kaum 200 Jahre Fotografie sicher fragen, ob der Begriff ‚alte Meister’ denn da angesagt ist. Ich finde schon, denn gerade das letzte Jahrhundert hat bedeutende Fotografie im Bereich Architektur hervorgebracht. Die verschiedenen Stile voneinander zu unterscheiden und zu verstehen, ist für mich nach wie vor ein lernerischer Leckerbissen. Es ist gar nichts dabei, Vorbilder zu haben und deren Sichtweisen mit den eigenen Kameras nachzuvollziehen, zumindest eine Zeitlang. Und zwar so lange, bis man bemerkt, worin genau man sich unterscheiden möchte. Die Gewissheit, wovon genau es sich irgendwann loszusagen gilt, ist der erste Schritt hin zu einer befreiten eigenen Bildauffassung. Und – ganz nebenbei: Alte Meister sind nicht immer nur Fotografen. Gerade die unterschiedlichen Projektionen und Perspektiven der Architekturdarstellung sind alles andere als fotografische Mitbringsel, sie stammen aus Zeichnung, Stich und Malerei. Nicht viel weniger als die alten Meister hat mich zunächst oft auch deren absolutes Gegenteil beflügelt: misslungene Fotos – nicht nur die anderer, auch meine eigenen. Stichwort: die Artikulation des Misslingens. Was wollte oder will ich – und was genau gerade nicht. Sie führt zurück zu der Frage, die wir zu Beginn dieses Buches gestellt haben: Was kann Architekturfotografie für mich sein, was nicht? Und sie weist nach vorn: Sehr spannend finde ich es, im großen Topf der Bautenbilder zu rühren, um die Grenzen der Architekturfotografie auszuloten – Abstraktion ist da sicher nur ein Mittel, ein extremes. Häuser abstrahiert zu zeigen, knüpft an die formalen Ursprünge an, es führt das Geometrische wieder zu den freien Formen von einst zurück – architektonische Formen, die in der Natur entstanden, teils ohne dass auch nur irgendein Lebewesen einen Finger, Tatze, Pfote oder Kralle angelegt hätte. Aber schauen wir doch zuerst einmal, von wo und wie man ein Haus prinzipiell fotografieren kann.
Die Außenansicht ist die erste motivische Domäne von Architekturmalerei und -fotografie gewesen. Und weil Häuser so groß, Menschen aber so klein sind, wurden schon recht frühzeitig parallel verschiebbare Standarten entwickelt, die den Kameras perspektivische Tricks ermöglichten. Klassisches Ziel dabei war und ist der Ausgleich stürzender Vertikalen im Bild. Um die schematische Wirkung einer Kavaliersperspektive zumindest annähernd zu simulieren, werden bisweilen auch die horizontalen Fassadelinien parallel gestellt, verbunden mit einer Übereck-Perspektive. Hundertprozentig geht das nicht, weil die Kavaliersperspektive streng genommen nicht nur die frontalen, sondern auch die Raumlinien parallel projiziert, und wer fotografiert schon Architektur schon aus dem Unendlichen. All das war hier unnötig, die Münchner ‚BMW Welt‘ hat außen kaum senkrechte Kanten. Und den schönen Dialog der Cyma-förmigen Dachlinie mit den Bäumen haben wir einfach von einer gegenüberliegenden Anhöhe aus aufgenommen. Halbe Höhe und keine Linienkorrektur mehr nötig.
Bauten von außen Wohl denen, die es sich aussuchen können. Die Gebäudeauswahl kann dann erste Priorität sein – zumindest für die arrivierte Hobbyfotografie, denn als Profi muss man mit den Objekten des Kunden klarkommen, ob die avisierte Hütte nun gefällt oder nicht. Ohnehin wird ein Hobbyist nur das fotografieren, was ihm persönlich auffällt, leicht fällt – oder einfach ge-fällt. In freien Arbeiten fotografieren die meisten Ambitionierten gern Spaciges oder das genaue Gegenteil davon: Romantisches, Verspieltes, naturhaft Anmutendes – oder als Amateur etwas, was einem ganz einfach selbst gehört: das eigene Heim auf einem schönen Bild. Da berührt der Stolz aufs Cottage dann den Stolz aufs geglückte Bild davon. Die Wahl des Objekts nach eigenem Gusto ist ein Segen, der dem Profi nicht immer gegeben ist, und so manches Mal empfiehlt sich eine Nachtaufnahme samt beleuchteter Fenster und im Licht der Straßenlaternen, um dem allzu hässlichen Büroklotz eines Kunden, dessen kaum ansehnlichem Fabrikgebäude oder einem irgendwie doch biederen Wohnhaus zumindest einen leisen Anstrich von irgendwie
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Genres
gearteter Fotogenität zu verleihen. Vielleicht ist es ein illusionäres Ideal zu sagen: Wenn man sich wirklich darauf einlässt, wird man sicher an jedem Gebäude eine gewisse Schönheit, zumindest eine lohnenswerte Hürde, entdecken. Vielleicht aber auch nicht. Von Personen sagt man das ja auch, und ein guter Porträtfotograf der ästhetisierenden Schule wird, ja muss das gern bestätigen. Wenn er seinen Job wirklich gerne macht. Aber auch Fotografen selbst kennen eine eingebungsferne Hilflosigkeit vor dem avisierten Objekt. Man steht da wie ein beim Bäcker stehen gelassenes Stativ, sieht sich das Gebäude der bildnerischen Begierde an, zieht die Stirn in Furchen, rauft sich die Haare, wie es ein Dichter vor dem leeren Blatt in seiner Klause tut, und wartet auf irgendeinen Musenkuss. Der scheint auszubleiben, das Haus sich zu verweigern, und so heißt es: Blick auf – Glück auf! Wenn es nicht intuitiv kommt, schalten wir eben den Geist kurz aus und wieder ein und definieren Kriterien, auf die wir uns in solchen Momenten besinnen können. Als architekturfotografische Aspekte eines Bauwerks können gelten: Q
Gesamtästhetischer ‚Spontan-Kick’: die Wirkung des Hauses auf den ersten Blick
Q
Abstrakte Kriterien: die räumliche Aura, skulpturale Ausstrahlung und Wirkung der Fassade
Q
Praktische Assoziationen: Zweck, Nutzen, Funktion und Gebrauchswert
Q
Bautechnische Specials: Konstruktionelle, stilistische oder statische Besonderheiten
Q
Dialog mit dem Nicht-Haus: Einfügung in die Umgebung oder plausible Kontrastierung dazu
Q
Ideelle Einordnung: Denkmal, berühmte Geburtsstätte, lokale historische Begebenheit oder Repräsentativ-Klotz
Q
Ökologischer Kontext: besonders geringer Energiebedarf oder umweltfreundliche Materialien
Q
Jahreszeit und Tageszeit: aktuelle oder erwartete Lichtsituation
Q
Vegetation, Farbsituation und Jahreszeit: assoziative, also frische, warme oder kühle Umgebungsfarben
Typische Themen, die es kurzfristig vor Aufnahmen von Exterieurs zu erwägen gilt, sind Sonnenstand, Witterung, Jahreszeit, Tageszeit, Passantenfrequenz, parkende Autos, nicht herumliegende Abfälle,
Bauten von außen
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saubere Umgebung, offene oder heruntergelassene Jalousien und geputzte Fenster – von innen beleuchtet, geöffnet oder geschlossen mit oder ohne Vorhang. Gut, wenn das Zusammenspiel von Formen, Farben und Plastizität, von Licht, Schatten und Spiegelungen an Fassade oder Fenstern entweder ausgewogen, spannungsreich oder auf andere Weise expressiv ist. Die engagierte Suche nach einer ausdrucksstarken Sichtweise ist das A und O. Technik und Gestaltung sind eine überschaubare Selbstverständlichkeit.
Die horizontale Ansicht des Jever-Gebäudes in Ostfriesland durch die Blätter umgebender Bäume betont stärker den ruhigen Aspekt des Gesamt-Arrangements als die hochformatige Ausrichtung des Bildes in Kapitel 2 ‚Der kompositorische Schlüssel‘, Seite 47 ff. Letztere wirkt dynamischer, aber – und das ist der Preis der Dynamik: ein wenig instabiler.
Eine besondere Frage beim Abbilden von Außenarchitekturen ist immer die der fotografischen Einbindung in das Nicht-Haus: Soll zu sehen sein, wo das Gebäude steht oder ist das weniger wichtig? Könnte die Umgebung von einer gewünschten Bildaussage oder -wirkung ablenken oder sie fördern?
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Genres
Weich gebettet in eine dominiernde, satt-grüne Zange aus Laub: Auch über ihr Umfeld kann sich das Wesen einer Architektur erschließen. Bei diesem Bayerischen Seminarhaus bot sich das besonders an, weil es von Bäumen geradezu umschlossen war, die der gesamten lokalen Atmosphäre ihren Nimbus verliehen.
Gern integriert man schon mal bautenfremde Umgebungsdetails wie etwa Äste oder Ähnliches in den Vordergrund. Sehr schön kann ein rahmenartiger Blick durch eine Baumgabel sein, so dass etwa eine zu große homogene Himmelsfläche durchbrochen wird. Um gewisse Stimmungen oder Assoziationen im Bild zu unterstützen oder gar erst einmal hervorzurufen, wird auch in der professionellen Architekturfotografie bisweilen auch kräftig geflunkert. Dafür müssen schon mal Assistenten blühende Zweige aus dem Gartenhandel seitlich ins Bild halten. Auf den Zentimeter genau positioniert, am ausgestreckten Arm. Und dann befinden sie sich unscharf im Vordergrund. Die Zweige, nicht die Assistenten. Und: Ob weiß oder blau – nicht selten sieht ein strukturloser Himmel über dem Gebäude langweilig aus. Selbst bei allerschönstem Wetter in himmlisch purem Stahlblau fehlt vielfach der atmosphärische Pfiff. Das ist nur etwas für Künstler der so genannten Neuen Sachlichkeit, weiter unten kommen wir auf die Düsseldorfer Becher-Schule zu sprechen. Außerdem heißt helles Licht oftmals tiefdunkle Schatten mit drohendem Zeichnungsverlust in den Schwärzen. Die Kontraste sind also allemal so groß, dass aufgrund der begrenzten Chip-Dynamik auch hier eine Domäne des HDR zu finden ist. Zu gutes Wetter ist fürs klassische Bautenfoto demnach kontraproduktiv. Gerade für eine rein sachliche Dokumentation gilt das – hier wird man sogar einen postkartenreifen Schäfchenwolkenhimmel zugunsten eines zumindest ganz leicht bedeckten, möglichst melierten Himmels zurückstellen. Also: Am besten ist wohl mildes Wetter. Wirklich? Schätzen wir das Moderate nicht nur, weil wir uns sicherer fühlen, wenn wir das Extreme dem Mittelmäßigen opfern? Zeichnet sich echter Experimentiergeist nicht immer durch die – zumindest minimale – Überschreitung von Grenzen aus, zum Beispiel denen des geläufigen Geschmacks? Wo und wie beginnt ‚experimentell‘? Völlig harmlos angefangen: Ein wirklich schönes Experiment ist mieses Wetter. Alle fotografieren bei Lufthochdruck, vor Schönwetteraufnahmen kann sich die Welt kaum retten – von Nebel und Regen gibt es bislang nur wenig Gutes. Weder Image noch Aufnahmen. Zumindest in unseren eher feuchten Breiten wäre dies sogar eine Art Realismus – warum also nicht jenseits des Gewohnten Ästhetisches suchen, sehen und betonen. Die meteorologischen Sympathieträger endlich mal ändern, weg von ‚Sonne lacht – Blende acht‘. Eine Herausforderung? *** Bauten von außen
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Innenarchitektur ist ein besonderes Gebiet. Wenn das Fensterlicht so natürlich kommt wie hier, kann man dankbar sein. Aufgrund räumlicher Beschränkungen sind aber oft sehr kurze Brennweiten gefragt, was leicht zu einer perspektivischen Überzeichnung führt. In dieser Schlafkammer eines alten bayerischen Bauernhauses ging es gerade noch. Die Kamera stand in die äußerste Ecke einer Fensterbank gedrängt. Manche Fotografen sind eben Menschen, die sich wohl hier und da in dunklen Ecken herumdrücken.
Interieur Natürlich hat jede Schale nicht nur von außen ein Aussehen, sondern auch von innen (ein Einsehen?). Wenn wir mit der Kamera vom Außen ins Innen wechseln, ändert sich das Sujet. Aus der Komposition konvexer Körper wird Hohlraumkomposition. Hier im Konkaven gelten andere Voraussetzungen. Es gibt kein Umfeld: Interieurfotografie ist immer Detailfotografie, sie bleibt ausschnitthaft, die Kamera kann nie wirklich weit weg. Meist stehen wir mit dem Stativ in eine Ecke gequetscht. Und von dort läuft das Meiste dann im motivsynchronen Querformat. Es ist eben nicht besonders schön, wenn die freien Flächen von Wänden, Böden und Raumdecken das Bild mehr beherrschen als das wirkliche Innenleben innerhalb der Architektur. Denn – und das kommt hinzu: Innen können wir die Architektur fast nie allein zum Thema machen, Innenraumfotografie ist nämlich Einrichtungsfotografie. Hier hat der Mensch mobiliare Spuren hinterlassen, und die haben eindeutig mit dem Leben zu tun. Nur selten ist das nicht der Fall.
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Genres
Interieur heißt nicht immer bloß kuschelig. Diese Stallgasse hier wird nur mit Oberlicht versorgt, was die Atmosphäre kühl und steril erscheinen lässt – für temperamentvolle, nervös tänzelnde Hippos sicher beruhigend. Wir haben diese Atmosphäre unterstützt durch strengen Vertikalausgleich und eine exakt symmetrisch orientierte Kameraposition.
Außerdem sind Innenräume viel niedriger als Häuserfassaden; nur in extrem hohen Hallen kann es Probleme mit stürzenden Vertikalen geben. Die Kamera lässt sich in der Regel also mit nur mäßigem Bedarf an perspektivischer Korrektur waagerecht ausrichten. Die Raumdecke ist oft unwichtig, und viel Boden im Bild ist ohnehin gut, damit sich der Betrachter räumlich orientieren und in die abgebildete Architektur hineinfühlen kann. Konvergierende Linien werden allenfalls in horizontaler Richtung zum Thema werden können. Soll der Innenraum skulpturaler wirken, shiftet man in seitlicher Richtung. Soll der Raum dagegen tiefer wirken, lässt man die Linien konvergieren, verstärkt das vielleicht durch nahe und besonders schräge Weitwinkelpositionen oder shiftet sogar in Gegenrichtung.
Ein Messestand. Auch das ist Interieur, selbst wenn das motivische Arrangement eher einer Skulpturenkonstellation ähnelt. Gut, wenn wie hier die Beleuchtung vor Ort bereits fotografiertauglich ist. Das größte Problem auf Messeständen ist nämlich oft der eminent hohe Beleuchtungskontrast, hervorgerufen durch grell beleuchtete Displays und harte Spots von oben – für den vorbei schlendernden Besucher ein Eye-Catch, für die Kamera ein Graus. Da gibt es nur zwei Möglichkeiten: die aufwändige Installation von Blitzlampen oder HDR. Aber hier bildete das ganze Sammelsurium an Lichtern eine vielleicht etwas unruhige, letztlich aber wohlgestimmte Kontraste-Familie.
Interieur
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Gestalterisch liegt bei Innenaufnahmen neben den Linien die Priorität auf dem Einbeziehen des Tageslichts durch Fenster sowie der Platzierung kleinerer Einrichtungsgegenstände unter den Aspekten Funktionalität, Wohnlichkeit, Stilästhetik oder Atmosphäre. Sehr wichtig: Sauberkeit, arrangierte Einrichtung und Authentizität. Weil es lebensnäher wirkt, wünscht man sich oft Personen im Bild. Bei den in der Architekturfotografie üblichen kleinen Blenden, also längeren Verschlusszeiten, kann dies jedoch dazu führen, dass Personen ‚verwischen‘. Heute sind höhere ISO-Zahlen eher möglich als noch vor wenigen Jahren, weil sich mit der Prozessorleistung in den Kameras auch die Unterdrückung des Bildrauschens verbessert hat. Technisch wichtig bei Interieur-Aufnahmen: Ein Blitz oder sonstige künstliche Beleuchtung sollte in den meisten Fällen nicht als dominante Hauptlichtquelle, sondern nur zur dezenten, weichen Aufhellung tieferer Schattenpartien eingesetzt werden. Ein gewisser Aufhell-Effekt lässt sich auch mit der praktischen ‚Tiefen und Lichter‘-Funktion bei Adobe Photoshop erreichen. Sollten einzelne Fotos bei der Schattenanhebung verrauschen oder sich Lichthöfe bilden, bietet sich eine Dynamikerhöhung per HDR an oder ein nachträgliches Entrauschen per Software. Letzteres kann die Detailschärfe beeinträchtigen, wenn es zu stark betrieben wird.
Eine Säulenhalle im Gebäude des stillgelegten Berliner Flughafens Tempelhof – gestitcht aus vier hochformatigen Segmentbildern, die jeweils mit Normalbrennweite aufgenommen wurden. Der ‚normale‘ vertikale Bildwinkel, der sich dabei ergibt, verleiht dem Motiv eine moderate Tiefenwirkung – eine, die bei Verwendung einer kürzeren Brennweite völlig überzeichnet worden wäre. Wir hätten dann näher herangehen müssen, wodurch die vorderen Säulen die hinteren erschlagen, zumindest dominiert hätten. Passend zur zurückhaltenden Tiefe präsentiert sich auch die vorhandene Beleuchtung wunderbar sanftmütig: Nur leicht unterkühlt mutet das Tageslicht an, wie es von oben senkrecht durch ein strukturiertes Mattglas fällt und die Beleuchtung einerseits klar gerichtet, andererseits aber doch sehr weich ins Bild führt.
Gegenüber Gebäude-Außenansichten haben Interieurs einen entscheidenden Vorteil im Arbeitsablauf: In der Regel kann man sich mehr Zeit lassen, weil Veränderungen des Lichts kalkulierbarer und
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das Arbeiten meist komfortabler ist. Es sei denn, ein durchs Fenster direkt einstrahlendes Sonnenlichtbündel wandert im Raum herum oder bringt die Unwägbarkeiten einer wechselnden Witterung mit sich. Hier in der Mittlerwelt zwischen Innen und Außen heißt es allerdings: Vorsicht vor zu hohen Kontrasten. Um diese zu verringern, könnte zusätzliche Innenbeleuchtung oder das erwähnte HDRVerfahren erforderlich sein. Ein weiterer Trick ist, ganz einfach zu warten, bis es draußen dämmert und dort schließlich dann genauso hell (oder dunkel) ist wie drinnen.
Eine Sporthalle in Essen in einer Rahmenkomposition.
Überhaupt macht sich ein Blick durch Tür- oder Fensterrahmen fast immer sehr gut. Der Blick nach draußen wirkt luftig und befreiend, und auch ideell ist das Phänomen ‚Durchblick’ oder ‚Ausblick’ ein sanftmütiger und subtiler Sympathieträger – einer der ins Freie weist. Denn zu Beginn dieses Buches vermuteten wir schon: Tief in sich ahnt wohl jeder, dass Freiheit immer jenseits aller Enge zu finden ist. Und das gilt nicht nur für die innerbaulichen Grenzen, die das Gebäude setzt, sondern auch für jene, die der Bildwinkel des verwendeten Objektivs definiert. Übrigens lassen sich diese sogar noch mit einem weiteren Kniff überwinden. ***
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Das EA-Gebäude im Umfeld seiner Baustelle am Kölner Rheinauhafen, eingebunden zwischen zwei Kran-Häusern. Diese Aufnahme erforderte einen großen Bildwinkel. Mit einem extremen Weitwinkel wären die beiden riesigen Kran-Häuser viel zu dominant geworden, und der avisierte Firmenbau zu klein ausgefallen. Es gab nur eine Möglichkeit, die Größe der Kran-Häuser und des Gebäudes einander anzugleichen: weiterer Abstand mit längerer Brennweite. Um trotz des engeren Bildwinkels auch seitlich den gewünschten Ausschnitt noch zu gewährleisten, haben wir dieses Bild aus zwei Aufnahmen gestitcht. Beide Aufnahmen mussten rasch aufeinanderfolgen, da sich die Wolken relativ zügig bewegten und den Übergang zwischen beiden Segmentfotos schwierig gemacht hätten. Eine leichte Ungenauigkeit war tatsächlich nicht zu verhindern, die wir dann später per Retusche entfernten.
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Das flächige Panorama Sehr en vogue im Interieur-Sektor ist derzeit die Panoramafotografie. Dies war bis vor wenigen Jahren nur durch analoge Rotationskameras wie die Seitz Roundshot oder die Noblex aus Dresden möglich – mittlerweile immer mehr per Stitch. Bei Letzterem fotografiert man zunächst mehrere Ausschnittbilder und fügt diese dann mittels einer Software zu einem Gesamtbild am Rechner zusammen. Das erhöht den verfügbaren Bildwinkel und die Pixelauflösung. Auch Photoshop kann das, und zwar über die ‚Photomerge‘-Funktion im ‚Datei’-Menü ‚Automatisieren’. Durch die Drehung des optischen Systems um eine Rotationsachse entsteht ein zylindrisches Panorama. Perspektivisch kann man sich dieses vorstellen wie ein zeichnerisches Abpausen des Motivs an die Innenwand eines Plexiglaszylinders, der für das gedruckte Foto dann einfach plan ausgerollt wird. Das Problem bei klassischen Zylinderpanoramen: Gerade Motivkanten außerhalb der Horizontlinie werden durch die Kamerarotation gebogen wiedergegeben. Der Trick dagegen: Flächenpanorama mit Shiftobjektiv. Brennweite und Bildwinkel werden auch dabei gewissermaßen entkoppelt, weil sich durch den erweiterten Bildausschnitt der Bildwinkel mit derselben Brennweite vergrößert. Und: Beim Flächenpanorama kann die perspektivische Flucht vollständig erhalten bleiben, weder Fluchtpunkte noch Fluchtlinien verschieben sich, wenn die Perspektive konstant bleibt. Dafür muss man allerdings anders shiften als gewohnt.
Ein zylindrisches Panorama produziert gerade auf engem Raum stark aufwärts und abwärts gewölbte Horizontalen, oben und unten. Damit sich die Wölbungen gleichmäßig verteilen und nicht ‚eierig durch die Bildfläche wabern‘, muss die Kamera exakt waagerecht ausgerichtet sein und möglichst in der Mitte des Raumes stehen. Nur wenn der Abstand zu allen Wänden gleich ist, erscheint das Größenverhältnis aller Seiten zueinander halbwegs sehgetreu. Hier zu sehen per 360°-Rundumsicht in einem Privatraum des Autors.
Das flächige Panorama
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Streng genommen bestimmt nämlich nicht die Position der Kamerabodys den Aufnahmestandpunkt, sondern die Lage des Objektivs – genauer: des optischen Zentrums darin. Damit sich bei der Parallelverschiebung keinesfalls die Perspektive ändert, das optische Zentrum samt der von ihm ausgehenden optischen Achse also exakt an ihrem Ort bleibt, muss statt der Kamera das Objektiv am Stativ fixiert sein. Dies gilt besonders bei Aufnahmen mit großer plastischer Tiefe, wenn also einzelne Motivpartien relativ nah an der Kamera liegen. Es würden sonst Vorder- und Hintergrund unterschiedlich weit verschoben werden, das spätere Stitching wäre schwieriger. Fotografiert man mit einem Shiftadapter, wie er von der Münchner Firma Zörkendörfer gebaut wird, befestigt man diesen mittels einer ‚Stativgondel’ (aus selbem Hause) am Stativkopf. Am leichtesten geht das aber mit einer Fachkamera, weil die Verstellwege hier größer sind, wenn auch der Auszeichnungskreis des Objektivs genug Reserven lässt. Nachteil dieser Praktik: Die üblichen SLRObjektive haben einen zu kleinen Auszeichnungskreis und können wegen des geringen Auflagemaßes meist nicht auf Unendlich fokussieren. Deshalb benötigt man Mittelformatoptiken, etwa von Pentax, Mamiya oder Hasselblad. Was dann folgt, ist keine Rotation um einen Nodalpunkt, sondern ein seitlicher Parallel-Shift. Verschoben wird dabei eben nicht das Objektiv, sondern die Kamera dahinter (bzw. die GroßformatStandarte). Nun schießt man mehrere Aufnahmen nebeneinander, wobei Fokus, Weißabgleich und Belichtung konstant bleiben (Automatik also aus). Wie bei zylindrischen Panoramen sollten sich auch die Segmentbilder flächiger Panoramen zu etwa einem Drittel überlappen. Diese Menge erscheint viel, erleichtert aber den späteren Rechenprozess. Es passieren weniger Fehler im Stitch, das Zusammenfügen läuft zuverlässiger. Panoramen fordern eine spezielle gestalterische Würze, denn das Panorama spricht anders als das Querformatbild mit dem üblichen Seitenverhältnis. So etwas zu bedenken, ist nicht unwichtig, denn auf diesem relativ neuen Gebiet gibt es so viel technikverliebten Fetischismus, dass die Fragen der Komposition schnell ins Hintertreffen geraten. Das schmale Querformat dominiert die Bildatmosphäre und drückt dem Bildgeschehen einen so starken Stempel auf, dass alle beteiligten bildnerischen Elemente in einen nuancierten Dialog dazu gesetzt werden sollten. Wer auch nur annähernd mit der verlockenden, teils kostenlos im Netz zu findenden Software klarkommt, vergisst allzu schnell, dass hier veränderte Kompositionsregeln gelten. Das Wichtigste: Stark querformatige Panoramen eröffnen die Möglichkeit, Geschichten zu erzählen, sie wirken narrativ. Tut man es nicht, ist das wie ein Konzertabend, auf dem nur durcheinander geredet wird. Wer das Panorama technisch beherrscht, sollte es in besonderem Maße also auch gestalterisch nutzen. Anderenfalls können auch perfekt gestitchte Panoramen selbst der allerschönsten Inneneinrichtungen leider leer und langweilig wirken. Und von solchen Stitches haben wir schon viel zu viel. ***
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Die Blaue Stunde bringt zunächst eine gewisse Romantik ins Bild. Da kann sie gar nicht umhin. Sie hat aber auch etwas ungemein Praktisches – und es klingt nach einem Plädoyer für die Kunst des kultivierten Einbruchs: Aus einem Gebäude, das ansonsten nicht viel zu bieten hat, ist im Dunkeln oft noch etwas herauszuholen. Zumindest wenn Kunstlichtquellen da sind. Schön, wenn alle zum Leuchten zu bringen sind. Übrigens ist der Shift, wie man unschwer erkennt, hier unproblematisch gewesen, die Kamera stand auf einem Baukran und wurde damit fast auf halbe Gebäude-Höhe gehieft. Sehr gut zu sehen ist außerdem, dass bei höherer Aufnahmeposition und waagerechtem Blick auch der Horizont mit steigt.
Zauber der Blauen Stunde Ein schönes Mittel, sich von außen einer Architektur fotografisch zu nähern, ist es, die Blaue Stunde zu nutzen. Diese Zeit der Dämmerung liegt zwischen Sonnenuntergang und totaler Dunkelheit. Streng genommen sind nämlich nachts nicht alle Katzen grau, wie Goethe in seinem ‚Faust‘ sagt, sondern blau. Denn der kurzwellige blaue Anteil des an sich immer weißen Sonnenlichts wird wesentlich stärker durch das optische Medium ‚Erdatmosphäre’ abgelenkt als alle längerwelligen Spektralanteile. Kurz nach Sonnenuntergang macht sich das eben besonders bemerkbar. Wie lang der Zeitraum dieser so genannten ‚Heure Bleue’ ist, hängt von der geografischen Breite ab. Am Äquator geht die Sonne fast senkrecht unter, hier gibt es kaum Dämmerung. An den Polen kann es – je nach Jahreszeit – stundenlang dauern. Der optimale Aufnahmezeitpunkt ist in europäischen Breiten nur wenige Minuten lang. Wir haben ihn, wenn die Abenddämmerung genauso dunkel geworden ist wie das durch Fenster und Außenbeleuchtung ausgestrahlte Kunstlicht. Es ergibt sich ein ausgewogener Kalt-Warm-Kontrast und damit ein attraktives Mischlicht.
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Verpasst man den Punkt durch zu langes Warten, nimmt das Kunstlicht sofort Überhand, und es verlieren sich Zeichnungsdetails in Schatten und Lichtern. Dann hilft nur noch eine Dynamik-Erhöhung des Kamerachips per HDR. Überhaupt hat sich die Blaue Stunde offenbar zu einer Domäne der HDRFotografie entwickelt.
Die Aufnahme dieses Bürogebäudes in Schweinfurt hat nicht nur Spaß gemacht, sondern auch einen gewissen sportlichen Einsatz erfordert. Aus Energiespargründen schaltete sich automatisch in jedem einzelnen Büro nach wenigen Minuten das Licht aus, wenn es verlassen wurde. Da wir – der Dämmerung sei es gedankt – dieses Foto nach Feierabend aufnehmen mussten und uns zu dieser Tageszeit nur noch zwei Hausmeister zur Verfügung standen, hatten diese die Ärmel hochzukrempeln: Im Dauerlauf rannten sie permanent durch alle Büros, um die Fensterbeleuchtung am Laufen zu halten. In der Zwischenzeit haben wir draußen an der Kamera auf die fortschreitende Dunkelheit gewartet und Testbelichtungen gefertigt, anhand derer wir das richtige Helligkeitsverhältnis zwischen Kunstlicht und Umlicht ermittelten. (HDR war hier noch kein Thema, das Bild ist mit einer analogen Fachkamera auf Diamaterial geschossen worden.)
Mit der recht plakativen ‚Blaue-Stunde-Technik‘ lässt sich selbst unansehnlichen Gebäuden noch ein gewisser Reiz abtrutzen. Es gibt Berufsfotografen, die darauf schwören und sagen: Hässliche Häuser fotografiert man ausschließlich abends. Das bringt natürlich nur dann etwas, wenn das Gebäude selbst Licht ausstrahlt, möglichst alle verfügbaren Kunstlichtquellen eingeschaltet sind und so die Mischlichtsituation ermöglichen. Besonders beschaulich ist der Umstand, dass Glasfassaden in der Dämmerung Einblicke gewähren, die tagsüber durch Spiegelungen verwehrt sind. Nachts werden Häuser transparent. Der Gegensatz Innen und Außen thematisiert sich kaum besser als zu dieser Stunde. Übrigens: Auf dem Mond gibt es keine Dämmerung. Weil dieser keine Atmosphäre hat, trennt die dunkle und die helle Seite ein scharfer Schatten. Nichts für astronautische Blue-Hour-Fotografen. *** 236
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Das Gegenteil von sachlich: die verträumten Reste einer uralten Ruine, einsam gelegen auf einer luftigen Anhöhe im frühabendlichen Voralpenland. Hier geht es nicht um eine sachliche Dokumentation, sondern um eine Stimmung. Man kann solche Silhouetten auf komplizierteste Weise per Spot oder selektiv anmessen, vielleicht sogar durch Mehrpunktmessung mit nachfolgender Mittelwertbildung – oder man macht einfach digital mehrere manuell belichtete Varianten und schaut sich die Extremwerte in den Histogrammen an – noch besser: die Bilder selbst. Denn Fotos macht man ja nicht für Diagramme oder Messreihen, sondern ganz schlicht nur fürs Auge.
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Das Verträumte und die Neue Sachlichkeit Wären Gegensätze nicht naiv, wenn sie sich wirklich anzögen? Vielleicht tun sie es gar nicht. Manche Ansichten auf Gebäude wirken ruhig oder beruhigend, andere dynamisch überzeichnet. Wieder andere betont harmonisch oder in fragiler bis voluminöser oder gar dramatischer Statik. Einige vermitteln einen stattlich skulpturalen Charakter, muten abweisend und wehrhaft, distant und geschlossen an – das Haus scheint eher ansehbar als betretbar zu sein. Andere zeigen, wie zugänglich, begehbar, willkommenheißend, einladend und behaglich das Haus ist. Wieder andere konzentrieren sich eher auf einen persönlichen künstlerischen Bildstil als auf eine Deutung des fotografierten Hauses an sich. Gut, dass es zwischen alldem Grenzen gibt – Grenzen, die sich erobern lassen. Was hätten kompositorische Reisen sonst für einen Sinn. In den 1920er Jahren will man all das Emotionale oder geistig Bedeutsame nicht mehr. Der Jugendstil hat sich ausgeschnörkelt, und die Expressionisten haben sich mit ihrem intellektuellen Nimbus wider den Naturrealismus farblich und formal ausgetobt. Man wendet sich wieder den real gesehenen Äußerlichkeiten zu und sagt sich: Käfige sind zum Ausbrechen da – und sehen tu ich nur mit den Augen. Mit der Rückwendung zum Naturalismus, den die Malerei aus Furcht vor dem Perfektionismus der Fotografie einst aufgegeben hat, entsteht die Stilrichtung der so genannten ‚Neuen Sachlichkeit’. Auch in der Fotografie von Gebäuden distanziert man sich von gefühligen Stimmungen oder hochphilosophischen Deutungsmustern und beginnt, das Gesehene ganz einfach zu dokumentieren. Der möglichst neutrale Blick ist gefragt, der Künstler persönlich möge sich zurückhalten, heißt es. Besondere Schmuckstücke der folgenden Jahrzehnte sind die oft recht nüchtern wirkenden Architekturdokumente, wie sie der Pariser Eugène Atget, der Bauhaus-Lehrer Albert Renger-Patzsch und der Kölner Fotograf August Sander geschaffen haben. Über fast jedem Haus ist der Himmel ohne Kontur, stattdessen weiß bedeckt. Sein weiches Licht wirkt wie das einer Flächenleuchte, jenes Vorsatzes an Blitzlampen, den Studiofotografen später ‚Hazy‘ nennen sollten (engl. haze f. ‚Dunst‘). Diese Fotografien sind lange her.
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Keine Schnörkel, kein Schnickschnack: Dies ist ein Dokument – zumindest soll es so aussehen. In möglichst sachlich wirkender Dreiseitenansicht zeigt es den Counter an der Kundenannahme eines Frankfurter Autohauses. Auch das Licht fällt so neutral ins Bild, wie es nur geht, weich und ohne große Nuancen – von vorne durch eine großflächige Schaufensterfront, von oben durch eine Lichtleiste mit einzelnen kleinen Spots. Die einzige Ästhetisierung, die wir uns erlaubt haben, bestand darin, auf natürliche Weise ein perfektes Mischlicht hinzubekommen. Unser Plus: Der Himmel war immer wieder wolkendurchzogen, und wir warteten darauf, dass eine Wolke vor der Sonne das Tageslicht außen so weit verdunkelte, dass es nicht mehr heller als das Kunstlicht drinnen war. Dann kam unser ‚instant décisif‘, wie der große Henry Cartier Bresson sagen würde, unser ‚entscheidende Moment‘.
Aber sie sind längst wieder da. Ab den 60er Jahren greifen die schwarzweißen Arbeiten aus der berühmten ‚Düsseldorfer Schule‘ von Hilla und Bernd Becher diesen Stil in extremer und besonders eigenwilliger Weise auf. Sie hyperstilisieren in besonderem Maße dieses an sich ‚langweilige’ Licht von Aufnahmesituationen ohne besondere Lichtcharakteristik, auch ihre Himmel sind weiß bedeckt wie das Diffusionstuch an der Hazy-Softbox. Interessantes oder gar hübsches Licht ist vollkommen abgesagt, alles soll weich, weitgehend schattenfrei, ungestilt und dadurch besonders ‚wahr’ sein. Also eben sachlich. Manchmal warten sie extra,… bis der Nebel kommt, damit das Objekt sich vom Hintergrund ablöst. (Aus einem Presseinterview mit Hilla Becher (‚Die Welt‘) vom 28.6.2009)
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Sie wenden sich gegen das Gefühlige oder besonders gestaltet Wirkende, besonders gegen die Stilrichtung der ‚Subjektiven Fotografie’, wie sie von Otto Steinert, dem Begründer des Essener Folkwang Museums pionierhaft vertreten wurde. Konsequent lassen sie alles weg, was atmosphärisch ablenken könnte, auch Farbe und Sonnenlicht. Die Komposition ist nüchtern mittig, karg und blass, sie soll Objektivität suggerieren, nicht nur stilistisch, auch motivisch: Wie für ein enzyklopädisches Archiv werden karteikartenartig alle abgelichteten Gebäude in stets gleich mittig gesetzten Frontalansichten oder exakten, isometrisch wirkenden 45°-Positionen gezeigt. Sie begreifen sich als Archäologen. Über 50 Jahre setzt man daran, möglichst alle verfügbaren Objekte akribisch aufzulisten. Im oben genannten Interview beschreibt Hilla Becher es so: Als wir die ersten drei Objekte mit gleicher Funktion nebeneinander gelegt hatten, fand ich, unsere Arbeit sei ein bisschen vergleichbar mit der von Naturwissenschaftlern, die ihre Käfer und Schmetterlinge systematisch ordnen. Schon als Kind habe ich selber welche gesammelt. Das Künstlerische daran ist – vereinfacht gesagt – der Umstand, dass die fotografierten, formalästhetisch eher unscheinbaren Betriebsgebäude und Fördertürme durch die Fotografie zu einem eigenständigen Ästhetikum uminterpretiert werden. Sie sollen skulpturalen Charakter gewinnen, ohne selbst artifiziell zu sein, wie es eine echte Skulptur wäre. Wenn man so will, könnte man sie als riesige immobile ‚Ready-mades‘ im Sinne Marcel Duchamps oder als Objèts Trouvés nach der Vorstellung Eugène Atgets bezeichnen. Die Fotografie als Medium hält sich zurück, auch der Fotograf thematisiert sich zunächst nicht selbst, und aus dem Bildzentrierten schält sich klar das Objektzentrierte. Aber auch darüber geht es hinaus: Es wird medienzentriert, die Fotografie selbst wird Thema. Hilla Becher sagt: Zurückzugehen zu dem, was Fotografie kann, das war unser Anliegen. Die Abbildung eines stehenden Objektes so präzise, dass das Auge es nicht übertreffen kann. Man nagelt das Objekt geradezu fest. So ist jedes Bild für das Auge ein Schmaus. In der aktuellen Praxis der gängigen Architekturfotografie aber haben sich die Ambitionen längst gewandelt. Nicht immer ist eine rein sachliche Fotografie gefragt, heute geht es wieder um Vorstellungen. Gerade heute sind innere Bilder gerne wichtiger als die Realität, die sie äußerlich zeigen. Der Motivraum lässt sich tief plastisch aufbauen oder – wenn Raum genug für Telepositionen ist – bis zur platten Fläche komprimieren. Manche alten verschnörkelten oder bewachsenen Gebäude stellt man zudem wieder gern verträumt und romantisch verspielt dar, andere nüchtern und technisch kühl, wieder andere besonders experimentell und ungewöhnlich. Hier gerät man leicht von einer motivzentrierten wieder in eine bildzentrierte Gestaltung.
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Architektur braucht klassischerweise Raum ums Haus. Im Leben genauso wie im Foto. Sie muss atmen, um auch innerhalb des Fotovierecks ihre Aura entfalten zu können. Extreme Ausschnitte wirken abstrahierend, sind Mittel der ‚Verungegenständlichung‘ und deuten wieder in eine bildzentrierte Richtung, in der das Objekt selbst kaum inhaltlichen Raum finden kann. Durch die Reduktion erschließen sie allenfalls geometrische Formen. Deshalb heißt es Platz lassen oder – wie es Layouter so gern nennen: ‚Fleisch’ gewähren. Aber was hat eine Regel mit Ewigkeit zu tun, wohl kaum eine hält sich lange ohne ihre eigene Transzendierung: Ein wunderbares Beispiel für eine individuelle Sicht auf Architektur sind die Aufnahmen des 1988 verstorbenen Werbefotografen Reinhard Wolf, Stifter des gleichnamigen Förderpreises für junge Fotografen. Die überaus strengen rechtwinkligen Kompositionen seines New Yorker Wolkenkratzerbandes ‚Gesichter von Gebäuden’ aus dem Jahr 1979 zeigen keinerlei Umraum. Sie beschneiden das Objekt über alle Maßen und heben dabei das geometrisch Eckige und Rhythmische von Details aus Hochhausfassaden hervor. Fensterreihen werden nicht selten zum ebenso kühlen wie überhitzten Ornament. Obwohl die Motivausschnitte mit extrem langen Brennweiten sehr groß ins Bild geholt sind und oft in ausgesprochen romantischem Streiflicht stehen, wirken die Arbeiten seltsam distanziert und emotionslos. Diese Dissonanz hat großen Anteil am besonderen Reiz dieser Aufnahmen. Der Trick: Die meisten Bilder entstehen aus sehr großer Distanz, oft von den Dächern umliegender Hochhäuser. Aus dieser Position fotografiert er mit einer geshifteten Großformatkamera, deren Auszug durch die Extremteles teilweise so lang ist, dass sie nicht selten auf zwei Stativen steht. Das Ergebnis sind überaus flächige, kulissenhafte Wirkungen ohne jede perspektivische Tiefe. Die Lust an Winkeln und flachen Fluchten scheint es zu sein, was ihn alles Gemütliche und allzu Menschliche am Häuslichen aus seinen Bildern heraushalten lässt. Seine Motive sind nicht betretbar, sie sind – wie seine Bilder selbst – unnahbare Skulpturen. Apropos menschlich … ***
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Dieses Bild haben wir von einem Baukran aufgenommen. Die steile Abwärtsperspektive fällt auf, sie ist eher selten. Wichtig bei derart stürzenden Linien ist ein guter Dialog mit dem Bildrand. Die horizontalen Motivlinien sind exakt waagerecht ausgerichtet.
Mensch in Architektur Weil Architektur ja nun mal mit Menschen zu tun hat und deshalb oft nicht unbelebt ist, entsteht auch schon mal die Frage: Soll man Menschen einbeziehen oder nicht? Gehören Menschen in eine geometrische Fläche? Eigentlich schon, ohne sie wirkt das Foto, gerade bei moderner Architektur, leicht kühl, leblos, sachlich und rein formalästhetisch. Aber das kann ja durchaus auch ein gewünschter Effekt sein.
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Diese sehr schematische, fast flächige Frontalansicht vermeidet Plastizität, architekturzeichnerisch gesprochen eine ‚Aufriss‘-Darstellung. Die telefonierende Dame spielt hier eine wichtige Rolle: Sie betont die Doppeldeutigkeit, von der dieses Foto lebt: das Spiel zwischen der geglätteten Schema-Zeichnung und dem vital Organischen. Ihre erfrischende Mimik macht sie nicht nur fotogen, ihr Lächeln erleichtert zudem das Spiel zwischen diesen beiden Polen ungemein. Es ist so dominant, dass es das Organische innerhalb der Architektur, die ja viel mehr Raum einnimmt, effizient stützt. Auch hier ist der richtige Auslösezeitpunkt ein klares Kriterium gewesen – die Blickrichtung sollte leicht ins Bild hinein weisen. Zusammen mit der links stehenden roten Wand als Gegengewicht wirkt das Foto dadurch innerhalb der gesamten Rechteck-Komposition in sich geschlossener.
Dennoch: Menschen im leblosen Umfeld sind Eye-Catcher. Sie lenken die Blicke immer erst auf sich und lockern dadurch eine allzu strenge architektonische Geometrie weitgehend auf. Andererseits sind Menschen unpraktisch. In Architekturfotos, besonders wenn sie groß im Bild zu sehen sind, werden sie zum sprudelnden Quell praktischer Unwägbarkeiten. Wie leicht können sie unentspannt stehen, durch ahnungsloses Weitergehen die Komposition irritieren, komisch gucken oder – wie oben erwähnt – verwischte Unschärfen bei längeren Belichtungszeiten im Foto hinterlassen. Ein Mensch macht immer so viel Ärger wie die Realität selbst. Das ist nun mal menschlich – damit organisch, also natürlich. Ein wunderbar experimentelles Beispiel für Menschen in der Architektur sind die Arbeiten von Hermann und Clärchen Baus. Die beiden Kölner Fotografen haben Gruppenakte in Architekturen integriert, und dies derart skulptural, dass man kaum weiß, was vorher da war – der Bau oder die entblößten Körper darin.
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Ansicht einer Straßenrand-Architektur, und zwar während des Karnevalumzugs in einer biederen Kölner Geschäftsstraße – ein Ausschnitt aus großer Ferne mit Fachkamera und Extremtele. Der Betrachter nimmt nicht Teil, er bleibt außen vor, ist Beobachter der Szenerie. Überhaupt spielen Vordergrund und Hintergrund keine Rolle, die starke Distanzansicht lässt alle Räumlichkeit außer Acht und gestaltet die gesamte Bildfläche lediglich durch eine Konstellation aus nebeneinanderliegenden, unterschiedlich strukturierten Flächen – Stichwort: Strukturkontrast. Die Menschenmenge als Dreieck links unten, die Wohngeschoss-Etage rechts oben und die Geschäftszeile als diagonaler Mittelstreifen, der links oben ins Bild führt und rechts unten wieder heraus. Dieses Bild muss man nicht als Architekturfoto ansehen, aber man kann. Es steht sicher an der Grenze zum architektonischen Abbild, und genau die werden wir im kommenden Abschnitt näher ausleuchten.
Menschen in der Architektur – wo sie ja eigentlich auch hingehören, weil sie dort leben, lieben, arbeiten und sonstwie wirken – lassen Bauten meist realitätsnäher und integrativer erscheinen. Sie beleben das Ganze, entkräften eine rein grafische Wirkung – und geben übrigens auch einen guten Größenvergleich zur Umgebung. Die erkennbare Maßstäblichkeit von Größenverhältnissen stellt ein prägnantes Gestaltungsmittel einer architektonischen Atmosphäre dar. Deshalb der Tipp: Strenge kultivieren und – falls förderlich – plausibel mit Organischem vermengen. Die motivische Einbeziehung von Menschen ist da eine wunderbare Möglichkeit.
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Hier geht es weder um einen fotogenen Bau, bezauberndes Licht oder ästhetisierende Technik. Im Gegenteil, um das matte Licht sogar zu betonen, haben wir den Velvia-Planfilm bewusst überbelichtet und eine kontrastmindernde Unterentwicklung eingeplant. Das Motiv: Ein Turm, dessen Stimmung und Symbolik durch keine romantisierte Ästhetik verspielt wird – er ist hoch, hohl, trüb und einsam; die Zweige blattlos, der Himmel grau. Ein schweigsamer Blick von der fernen Maueröffnung herunter untermalt das Arrangement, um Architektur und Atmosphäre gegeneinander auszuspielen. Versunkene Elfenbeinmelancholie.
Denn immer noch ist der Mensch das zentrale Organ im Organismus ‚Bauwerk’. Auch wenn man das manchen zeitgenössischen Bauten ob deren futuristisch-grafischer Coolness bisweilen kaum mehr zutrauen mag. Aber durch den Sucher einer SLR schauen, das heißt immer auch: ‚ein Auge zudrücken’. Der Mund kann dabei in die Breite gehen – hinter dem geschlossenen Lid könnte ein wohlwollendes Lächeln warten – aus diesem dunklen Nichts heraus, das uns das Fotografieren lehrt. Und in diesem Nichts wartet auf uns ein tolles Experiment … *** Mensch in Architektur
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Ein Wisch im Wald. Bogenförmig. Mit Dach. Mehr nicht. Architektur?
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Experimentelle Architekturfotografie Dialog mit dem Nichthaus Wo sind die Grenzen der Architekturfotografie? Wo beginnt das andere, das Gegenteil? Zunächst einmal: Jedes Haus hat eine Grenze. Es hört immer irgendwo auf, und da beginnt das Nichthaus. Wie viel Umraum dem Gebäude als Spielfeld zusteht, um das Motiv nicht allein für sich selbst sprechen zu lassen, sondern dieses auch zum angemessenen oder experimentellen Spielball seines Umfeldes zu machen, das ist eine Sache des gewünschten Spiels mit dem Nichthaus, dem Drumherum. Denn Architektur beginnt bereits hier. Jean-Jacques Rousseaus berühmte Forderung ‚Zurück zur Natur‘ stellt alles Kultivierende in Frage und führt Rousseau zu dem melancholisch romantischen Schluss: Nur in der unberührten Natur kann der Mensch zu den Formen der reinen Existenz zurückfinden.
Häuser in ihrer Umgebung, hier die Südküste von São Miguel, der Hauptinsel der portugiesischen Azoren, mitten im Atlantik. Mit solchen Ausschnitten muss man sich Zeit lassen, die Fachkamera stand fest auf einer luftigen Höhe, und alle Ruhe der Welt lag uns zu Füßen.
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Hier im ‚Dialog des Motivs mit seinem Gegenteil’ gibt es keine allgemein gültigen Orientierungen, nur die Freiheit individueller Erwägungen über Haus und Nichthaus. Hier liegt die Frage, inwieweit das Umfeld förderlich in die Komposition mit einbezogen oder ausgeschlossen werden kann, etwa zugunsten eines expressiven Detailausschnitts oder sogar einer Aussage, die die geläufigen Grenzen der Bilder von Bauten sprengt und das Nichthaus zum ebenbürtigen Faktor avancieren lässt. Zum Beispiel ein rotes Haus im grünen Wald: Gibt es Dynamik trotz Starre, gibt es das Grüne trotz des Roten? Wie komplementär sind Grün und Rot inhaltlich, wie sehr ergänzen sich Beweglichkeit und Immobilientum, oder schließen sie vielleicht einander aus? Oder kann gar das Eine nur mit dem Anderen? Wie befruchtend kann ein Grenzübertritt sein, etwa einer vom Roten ins Grüne?
Hinweise auf Häuser: Wo immer ein Schild in diesem Gelb steht, darf man getrost in der Nähe Architektur vermuten.
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Die so genannte ‚Organische Architektur‘ steht als Baustil für die Einbeziehung von Landschaft und Bewegung in das, was man gemeinhin als bewegungslos kennt: das Immobile. Dies insbesondere unter dem Aspekt dessen, was schlechthin alles Organische ausmacht: eben das Wachsen, das von sich aus Bewegungswillige, Veränderungsfähige, Entwicklungsfreudige. Häuser bekommen von Architekten dieses Stils anstelle der gewohnten Geometrie organische Formen, und die Fotografie betont sie. Und plötzlich werden Grenzen unscharf, durchlässig und inspirativ. Aus dem gewohnten Konterfei eines Gebäudes, dem klassischen Architekturfoto, also dem reinen Häuserbild, schält sich ein Miteinander zweier ebenbürtiger Partner, das Ergebnis: Haus und Natur im Dialog. Und wie jeder weiß: Echte Dialoge bedeuten immer Beweglichkeit. Wie fruchtbar.
Wieder ein Bild im Wald. Wieder gebogen. Diesmal nur ein Stück Mauer, aber wenigstens bewegungsscharf. Und doch: Ist das schon Architektur?
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Die Grenzen der Architektur Die Grenzen der Architekturfotografie sind sicher von denen der Architektur zu trennen. Denn: Häuser zelebrieren ihre Grenzen auch selbst. Sie sind Baustelle oder baufällig, verwittern oder knarren, stehen leer, wachsen zu oder werden zwangsversteigert, abgerissen, stehen in Brand oder stürzen von selbst ein. Darf Architekturfotografie auch das zeigen? Häuser, die vollkommen sich selbst überlassen sind und dabei als Ruine in der Natur aufgehen, werden mit der Zeit von Flora und Fauna (zurück-)erobert. Irgendwo fängt die Grenze zum natürlichen Ursprung an, die sich bei allen Zerfallsprozessen immer wieder zugunsten der Natur verschiebt. Aus den architektonischen Gradlinigkeiten schält sich dann wieder deren Ursprung: die gereinigte, befreite – die freie Form. Warum so etwas Zerfall heißt und nicht Neubeginn, dürfte noch zu klären sein. Aber ist Fotografie, die das zeigt, noch Architekturfotografie? Wie weit darf Architekturfotografie gehen, um noch so zu heißen?
Auch hier wird von Architektur gesprochen. Chip-Architektur. Warum muss ein Architekt auch immer nur Großes bauen, das hier passt auf einen Fingernagel. Der Begriff, den wir zu Beginn dieses Buches untersucht haben, scheint längst über seine Grenzen hinauswachsen zu dürfen. Grenzen, Enden – dahinter lockt immer Inspiratives. Denn Käfige sind zum Ausbrechen da …
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Fotografie schaut zurück. Sie ist etwas Rückbezügliches, so scheint es. Zumindest ergibt sich das aus der landläufigen Auffassung, sie bilde nur etwas ab – etwas, was man auch vorher schon sehen konnte. Und tatsächlich: Gerade in der Architekturfotografie bezieht sie sich auf das längst Gemachte – einen Bau, und der ist ja bereits einem kreativen Akt entsprungen – einem, der meist lange vor dem Foto lag. Diese Sichtweise bedroht die Fotografie seit Anbeginn, sie bedeutet Gefahr. Sie verurteilt die Fotografie dazu, nur reproduzieren zu können; die Architekturfotografie bliebe in ihrer eigenen Geschichte stecken. Wie viele Bildbände zeigen eher visionäre Architektur als visionäre Architekturfotografie! So lange sich die Fotografie von Architektur nur über die Architektur selbst definiert, ist und bleibt sie unfrei. Dann kann sie keine eigene stilisitische Entwicklung hervorbringen, sondern sich nur im Windschatten der Architekten weiterbewegen, nicht im Fahrtwind der Fotografen. Aber so sehr wir Architektur auch mögen, schätzen, bewundern und reflektieren: Wir Fotografen sind keine Architekten. Wir haben andere Ziele. Fotografie ist sprechen, und das wollen wir. Allen fotografischen Gebieten tut Autonomie gut, auch der Architekturfotografie. Eine souverän praktizierte Bildsprache, die nicht nur genrespezifischen Regeln gehorcht, sondern das Motiv Architektur auf individuelle und ganz persönliche Weise für den eigenen künstlerischen Ausdruck nutzt, bereichert das persönliche Ausdrucksvermögen und die gesamte Fotografie. Erst wenn wir das bedenken, verschwindet der Rückbezug, den man der Fotografie landläufig unterstellt. Erst dann emanzipiert sich Fotografie von ihrem Motiv. Bilder, die wir dann machen, beziehen sich nicht mehr auf ein Vorher-bereits, sie entstehen im Moment des Tuns. Sie entwickeln Sprache im Sprechen. Wie bei kleinen Kindern. Aber das Potenzial, das in deren scheinbarem Unvermögen liegt, kommt uns immer näher, wen wir uns trauen, die Grenzen des Erlernten auszuleuchten. Wenn wir es uns leisten, der Architekturfotografie immer mal wieder ‚ein Ende zu setzen‘…
Vom Ende der Architekturfotografie Unvermittelt gleiten wir über in ein neues Gebiet – eines, das man mit dem Thema Bauten und Bilder im Augenwinkel ‚experimentelle Architekturfotografie’ nennen kann, bislang künstlerisch vertreten etwa in Wettbewerben des Deutschen Architekturmuseums. Sehen, Deuten und Werten des Motivischen fürs Foto geschieht dann eher losgelöst von der Vorstellung: ‚Ich fotografiere ein Haus.‘ Sich mit einer derart konventionellen Denkweise einzuschränken, wirkt vor dem Hintergrund experimenteller Möglichkeiten fast bieder. Selbst die Vorstellungen, die schon das Wort ‚Haus’ mit sich
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bringt, können etwas sein, von dem es sich in dieser Art der Bautenbildnerei zu lösen lohnt. Es geht eher in die Richtung:
‚Ein Haus lässt mich fotografieren.’ oder besser noch: ‚Ich fotografiere am Haus.‘ Das Gebäude als Inspirationsquelle, als locus, als beflügelnder Ort – nicht mehr und nicht weniger, das ist es, was den energetischen Impuls für diese befreite Art, Architekturen abzulichten, liefert. Diese Idee verweist auf das Ende der gängigen Vorstellung über das Architekturbild. Das völlig befreite Experiment kann bis hin zum autonomen, ausschließlich bildzentrierten Ansatz führen, bei dem die gegenständliche Darstellung vollkommen verlassen wird und man die architektonische Abstraktion erreicht. Auf ähnlichem Weg gelangte die akademische Kunstmalerei vor knapp einem Jahrhundert vom naturalistischen über den impressionistischen Stil in die künstlerische Expression. Und von der Expression ging es in die Abstraktion, dem motivisch völlig befreiten künstlerischen Ausdruck: Mit seinen klaren abstrakten Kompositionen zeigt der weißrussische Architekt und AvantgardeMaler El Lissitzky die Fäden, die aus seiner Sicht zwischen Malerei und Architektur bestehen. Für ihn ist der so genannte Suprematismus seines Künstlerkollegen Kasimir Malewitsch nichts anderes als eine Abstraktion des Blickwinkels. Er sagt 1925: Der Suprematismus hat die Spitze der endlichen Sehpyramide der Perspektive in die Unendlichkeit versetzt. Der Suprematismus, den Malewitsch mit dem berühmten Schwarzen Quadrat auf weißem Grund kurz zuvor ausgerufen hatte, sollte die höchste Form der Abstraktion sein. El Lissitzky versteht ihn als eine extrem hochstilisierte Form der Parallelprojektion, eine maximale Schematisierung. Die Sehschule, die damals wie heute dafür nötig wird, ist dieselbe wie die in der normalen dinglichen Architekturfotografie. Hier wie dort heißt es Formen, Farben und Strukturen entdecken, deuten und erfinden. Und in der Hohen Schule dann das Zusammenspiel von motivischen und formalen Wesenhaftigkeiten. Das Ziel des fotografierenden Menschen kann damit zu einem sehr persönlichen werden: Glaubwürdigkeit, Authentizität und Wahrhaftigkeit in der Artikulation dessen, was von innen her bewegt. Und das selbst wenn – oder gerade wenn – es, dieses Virulente, was da nach außen drängt, jenseits der äußeren Sehgewohnheiten liegt.
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Genres
Eine Hütte, krumm und schief. Ein dominanter Baum darüber. Der Stamm, seitlich im Goldenen Schnitt, wirft einen Schatten. Im Vordergrund die Spurlinie eines Feldwegs. Entzerrt, er verlief zu schräg, sollte aber horizontal ins Bild. Ganz nette Konstellation, hübsches Licht, aber: Architektur?
Das Haus als bloßer Ort Fotos, die auf solchem Humus entstehen, können zunächst skurril wirken, bisweilen versteht man sie kaum – und der Impuls, sie erst einmal nicht besonders ernst zu nehmen, stellt sich vielleicht bei vielen Leuten rasch ein. Das ist natürlich; wie alle künstlerisch innovativen Darstellungsformen berührt auch die experimentelle Architekturfotografie naturgemäß die Grenzen des Gewohnten, Gängigen und Liebgewonnenen. Sie muss es tun, denn die Aufgabe eines künstlerischen Experiments ist es, genau die ausgetretenen Pfade des allzu Vertrauten und Etablierten zu entlarven, um es letztlich über sich selbst hinaus zu führen. Dorthin, wo die eigene, ganz persönliche Bildsprache schon immer auf ihre Artikulation gewartet hat. Fotografische Erfahrung findet am Motiv statt. Die Grenzen, um die es hier gehen soll, sind daher explizit fotografisch. In diesem Zusammenhang betrachten wir also nicht die Möglichkeiten der Ver-
Experimentelle Architekturfotografie
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fremdung am Rechner, sondern bleiben an der Kamera. Um zunächst ein Gefühl für die Grenzen der Architekturfotografie zu bekommen, könnte man Fragen an Bilder stellen – Bilder, die entstehen, wenn man – ein Vorschlag aus meiner Erfahrung als Fototrainer – zunächst mit folgenden abstrahierenden Techniken beginnt: Q
Verwischen mit längerer Belichtungszeit – kleine ISO, kleine Blende, vielleicht Graufilter
Q
Frage ans Bild: Wie deutlich muss das Haus in einem Bautenbild mindestens erkennbar sein?
Q
Extreme, schräge Nahausschnitte expressiver Details
Q
Frage ans Bild: Wie viel vom Haus muss in einem Bautenbild mindestens sichtbar sein?
Q
Haus nur sehr klein im Bild, viel Umgebung
Q
Frage ans Bild: Wie groß muss ein Haus in einem Bautenbild mindestens sein?
Q
Gebäude ist nur wenig durch verdeckende Bäumen zu sehen
Q
Frage ans Bild: Wie sehr darf ein Haus in einem Bautenbild durch ein anderes Motiv maximal verdeckt sein?
Q
Stark angeschnittenes Detail am Rand vor großflächigem Himmel
Q
Frage ans Bild: Wie stark muss das Motiv Haus in einem Bautenbild den Hintergrund dominieren?
Q
Defokus, Über- oder Unterbelichtung
Q
Frage ans Bild: Wie scharf und hell muss ein Bautenbild sein, um nicht misslungen zu wirken?
Wir sehen, es sind Fragen an den Sehsinn – Fragen danach, was er braucht, um auch hinter dem Sichtbaren zu sehen. Und weil alles Innovative immer so schön fremd ist, hier nun ein kleines Tableau mit Beispielen experimenteller Architekturfotografie – als Anregung, die eigenen Vorstellungsgrenzen über Bilder von Bauten herauszufordern. Wir fangen zunächst ganz einfach an, experimentieren mit Ausschnitten, Dunkelheit und bewegen uns gemächlich ins Malerische. Ist es Zufall, dass wir dabei wieder die vertraute freie Form erwischen – jene, aus der sich seit dem Altertum die gerade Linie von heute herausgeschält hat? Ist es Zufall, dass sich ein Kreis zu schließen scheint – vom völlig formbefreiten Anbeginn über die neuzeitliche Geometrie bis hin zu der Freiheit von einst? Von der Natur zur Natur – eine zyklische Wiederkehr des Gestalt-Verleihens über das Gegenteil. Lässt sich ein Haus nicht am besten fotografieren, wenn man sich immer einen kleinen Raum für eine Rückbesinnung offenhält? Wenn wir den Blättern, die uns vor 400.000 Jahren erstmals die Köpfe bedeckt haben, mit der Kamera ihr Rauschen wiederbringen? Einfach um zu spüren, was das eigentlich ist, ein Haus?
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Weite. Riesige Himmelsfläche, extrem niedriger Horizont, ein paar Bäume – halb verdeckt dahinter, eher unscheinbar und sehr klein im Bild: eine Kirche. Nette Beleuchtung. Die warmen Strahlen der untergehenden Sonne und die gleichzeitig zunehmende Blaue Stunde auf der Schattenseite zaubern ein verspieltes Mischlicht. Aber wenn das Haus so weit weg ist – ist das noch: Architektur?
Noch ein Stück Mauer. Die Ruine von oben. Zugegeben, ein architektonisches Detail, die Fensteröffnung im Naturstein. Aber im Hintergrund lenkt etwas ab: der warme Lichtstreifen, mit dem die untergehende Sonne die Bergkette gegenüber umspielt. Wenn etwas ablenkt vom Bau im Bild – ist das dann noch: Architektur?
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Ein steiler Blick nach oben. Kein Boden in Sicht. Nur Linien, allenfalls die Höhe und eine von der Witterung über die Jahrhunderte verwaschene Oberfläche zeichnen den Blick auf diese Burg in Salzburg nach. Im Grunde aber nur ein Linienexperiment, mehr nicht. Architekturfotografie?
Dasselbe wie eben, nur auf die Spitze getrieben – im wörtlichen und damit doppeldeutigen Sinn. Ein kaum erkennbares Detail, schwebend in einer übermächtigen Himmelsfläche. Zeigt so ein Bild noch Architektur?
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Und gehts auch glaslos? Warum nicht. Dieses Bild wurde völlig ohne Linsen vor dem Chip geschossen. Durch eine ganz normale Toilettenrolle, gekürzt mit einer Metallsäge, glattgeschmirgelt mit einer feuchten Nagelfeile, dann mattschwarzlackiert und auf einen handelsüblichen T-2-Adapter geklebt. Die Öffnung vorne dann abgedeckt mit einem geschwärzten Stück Alufolie per Gummiband und um die Rolle befestigt. Ganz vorne drin: ein mittiges, klitzekleines Löchlein. Kaum sichtbar, Durchmesser weniger als ein halber Millimeter, mit einer Stecknadel gepikst. Und jetzt kommt es: der Schuss selbst über ein zweistufiges HDR – wegen des Gegenlichts an der glänzenden Fassade. Das ist digitale Camera obscura, und zwar topmodern – aber übersteigen da Form und Technik nicht den motivischen Inhalt – ist das noch Architekturfotografie?
Nur eine Wand. Ein Arbeiter in einer Öffnung. Das Ganze tief im Innern eines riesigen Regenwasser-Reservoirs unter den Straßen Münchens. Aber eben nur Betonfläche, darin ein rotes Detail, und alles kaum erkennbar, unscharf verfremdet. Tatsächlich: Im Dunkeln aus freier Hand – eigentlich genau so, wie man es gerade nicht tun soll. Ist das also noch Architektur?
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Dieses Bild lebt nur durch die Erklärung dazu. Das Licht ist eine geglückte Wucht. Denn: Es kommt nicht von einer Lampe, nicht vom Mond und schon gar nicht von der Sonne. Es stammt von einem Gewitterblitz, mitten in der Nacht. Im Hintergrund die Mallorquinische Südwestküste. Ein Schnappschuss mit Kompaktkamera aus der freien Hand - darf man das, ist das noch Architekturfotografie?
So langsam scheint es malerisch werden zu wollen. Das Haus im Hintergrund ist nur am weißen und roten Farbklecks zu erahnen und an einer irgendwie gearteten, gerade wirkenden Form. Im Vordergrund sehr dominant die freie Form eines Baums und eine deutliche Cyma-Linie von links oben nach rechts unten. Die Kamera haben wir vor der Aufnahme in Schwingungen versetzt. Wenn das Formale einer Abstraktion so sehr dominiert – ist das dann noch Architektur?
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Ein Kran. Auch wenn man ihn kaum erkennt. Auf einem Essener Zechengelände. Eben Vertrauenssache. Oder unwichtig? Wenn die Komposition das Gebäude nicht als zentralen Bildinhalt zeigt, sondern nur als Location allenfalls erahnen lässt, an der mit der Kamera in der Hand eine motivische Erfahrung stattgefunden hat – ist das dann Architektur?
Zwei Fenster in einem Bauernhaus. Wer es wissen will: Das Haus steht in den Bayerischen Alpen. Es hat niedrige Decken. Und duftet hölzern.
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Nur die geraden Formen lassen die architektonische Wurzel des Motivs erkennen. Formal treten hier drei abstrahierende Techniken in einen ‚Trialog‘: Fokusbefreiung, Überbelichtung und Kamerabewegung. Das Ganze passiert aber nicht völlig entregelt: Ein architekturfotografisches Gebot wurde befolgt: Wir haben die senkrechten Elemente der Gitterkonstruktion dieses Duisburger Fabrikgebäudes exakt parallel zum Rand ausgerichtet. (Geshiftet.)
Wenn an der Architektur ein neues Thema entsteht – hier: die Zweiheit. Dualität, Dualismus, Polarität, Komplementarität, Dichotomie, Zwiespalt, Zwietracht, Dialektik – ein reichhaltiger Fundus an Möglichkeiten zur Reflexion. Einfach beginnen mit der Zahl Zwei. Zwei Fenster bieten sich dafür. Und das Gefühl, als ersten visualisierenden Aspekt das Innen vom Außen trennen zu können. Das geht nicht mit einer klassischen Architektur. Der Wisch muss stark genug sein, der Abstraktionsgrad also ausreichend hoch, damit das fotografierte Motiv nicht von der Botschaft ablenkt, die an ihr entsteht.
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Zentrales Motiv: ein Dachfenster. In beengtem Innern. Mehr nicht. Es führt nach oben. Hinaus ins luftige Freie. Dorthin, von wo wir vielleicht den Musenkuss für weitere Inspiration erwarten dürfen. Die Vertikalbewegung der Kamera während der zwei Sekunden Belichtungszeit – sie musste leicht bogenförmig sein; mit einem Zuviel an Gradlinigkeit lässt sich nämlich keine Muse gnädig stimmen …
Architektur, mit der Kamera aufgelöst. Durch Kontrapunkt: Bewegung wider das Immobile. Auch wenn die Sonne diese Ruinenhalle von außen durchflutete, gab es noch Freiraum genug, ihre bizarren Formen ohne bildnerisches Dogma umzusetzen. Den Blick nach oben, ein leichtes Weitwinkel, dazu sorgten eine niedrige ISO-Zahl und ein kräftiger Graufilter für einige wenige Sekunden Belichtungszeit – gut genutzt, um gemeinsam mit dem Gerät am ausgestreckten Arm – zu zittern. Das war die einzige Bewegung, die der Atmosphäre unter diesen Formen voll entsprach. Zumindest aus meiner Sicht.
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Architektur im Vorbeigehen – ebenso einfach wie subjektiv. Der Blick nach oben, stürzende Linien leicht wahrgenommen, normale Brennweite (35 mm bei Crop 1,3), ganz normale Witterung, keine große Ästhetisierung aber auch keine besondere dokumentarische Ambition. Einfach ein kurzer Blick nach oben, und der, nicht das Bauwerk, ist das Motiv. So etwas schießt man aus der Hand oder gar nicht – ein Stativ, ein Belichtungsmesser, ein Filter oder eine Streulichtblende – all das unterbräche den Fluss der Dinge, so scheint es. Und das Bild wäre dahin.
Ein Gedanke zum Schluss Nach so vielen Ein- und Ausblicken schließen wir den Kreis mit einem unscheinbaren Impuls – einem, der bei kurzem Blick auf den ersten Teil dieses Buches vielleicht kaum erwähnt werden muss und doch ein wenig vorlaut danach drängt: Gut, wenn wir nicht vergessen, dass nur ein kleiner Teil des Weges über die Technik führt, die Apparatur, das Know-how – auch wenn sich dieser Part am besten kaufen – aber eben auch sinnbefreit konsumieren – lässt. Ein weiterer, nur unwesentlich größerer Teil über Komposition. Beides, Technik und Gestaltung, Kennen und Können sind Chiffren, mehr nicht. Sie stehen für etwas, sind ein Angebot, die Reise noch weiter zu führen. Sie bestehen letztlich aus Prinzipien, die im Zuge dieser Reise nicht befolgt, sondern angewandt sein wollen. Und in genau diesem Unterschied besteht die Crux: der dritte Teil. Und der hat es in sich.
Gestartet haben wir unsere Betrachtungen im Süden Frankreichs – die einstigen Blätter und Äste gegen die Unbill der Natur, aus denen letztlich die Häuser von heute wurden . Nun kehren wir dorthin zurück, mit der Kamera. Nach 400 Jahrtausenden Haus-Historie finden wir in dieser Tropfsteinhöhle im provenzalischen Thouzon bei Arles wieder ein Beispiel für den dienstältesten Baumeister, die Natur selbst: Stalagmiten und Stalaktiten strukturieren den Raum und lassen ihm – auf ihre Art, in ihren Grenzen – doch die Freiheit der Form. Ausführende Kraft: vereinzelte Wassertropfen, mehr nicht. Ausgeleuchtet haben wir dieses natürliche Interieur mit akkubetriebenen Blitzlampen, von denen die eine blau gefiltert wurde. Das horizontale Panoramaformat vermittelt extreme Ruhe. Um diese ein wenig zu würzen, haben wir sie mit dem Gegenteil in Dialog gebracht: Spannung. Wir stellten die starre Fuji 6x17 Panorama-Kamera so weit seitlich vom ausgeleuchteten Areal des Motivs auf, dass das Gesamtbild rechts ein starkes Schwergewicht bekam. Die Ruhe war dahin, atmosphärisch zumindest nicht mehr eindeutig.
Er ist der wichtigste und der schönste Schritt, hier geschehen die tiefsten Erfolgserlebnisse, ebenso die tiefsten Frustrationen: Hier wird die Intuition freigelassen, das Unerklärliche, das Ungeplante, Freilaufende, Durchwandernde, nur mich persönlich Meinende. Hier erwächst die freie Form des Ausdrucks unter Bezug auf das Geführtsein zuvor. Hier werden aus Wurzeln Flügel, der Kreis schließt sich, die geglättete Bautenform unterscheidet sich in nichts mehr von der unorganisierten, freien Gestalt, aus der sie vor über 400.000 Jahren entstand. Das, was jede und jeden von uns zur ganz persönlichen Handschrift führt, bekommt seinen Raum. Und dessen Wert, samt allem Irrationalen, Unkonventionellem, Nichterlaubtem in Komposition und Technik ist nicht zu unterschätzen. Ohne das Moment des Irrationalen würden wir am selben Motiv mit derselben Technik und demselben Know-how alle die gleichen Bilder machen. Schön, wenn wir hier ein wenig dazu beitragen können, dass das Gegenteil geschieht.
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Ein Gedanke zum Schluss
Vielleicht kommen wir zu dem Schluss, dass Architektur natürlich mehr sein muss als das Nichts, das Tao Lao-tses – zumindest für uns Fotografen, denn wie sollte man mit der Kamera ein ‚Nichts‘ porträtieren (lat. portrahere f. ‚hervorziehen‘). Und ein Haus sieht und deutet man doch als Haus, also als das individuelle, materielle Ding, das es nach außen darstellt – nicht einfach nur als ummantelten Hohlraum. Vielleicht kommen wir aber auch zu dem Schluss, dass die Kamera mehr kann. Und dass auch wir selbst mehr können, als einfach nur das Äußere aufzunehmen. Und dass der ummantelte Hohlraum, dieses elementare Nichts, von dem Lao-tse spricht, gar nicht im Sinne einer inhaltlichen Leere dastehen muss, sondern genauso komplex und individuell sein kann, wie wir das Haus wahrnehmen. Das macht unser Bild dann zum Spiegel, zum Spiegel unserer selbst. Und die Bildsprache zu einer eigenen – einer, die nur uns entspricht. Das Schwierige daran ist das Einfache – nämlich zu akzeptieren, dass diese Suche zwar komplex, aber nicht kompliziert ist. Wir müssen nämlich einfach nur hinsehen. Und uns ein Bild machen. In uns, ohne Kamera. Erst das fotografieren wir dann. Gönnen wir uns für diese Sichtweise zum Schluss von Kreis und Buch doch noch einmal einen großen Philosophen. Nicht aus dem fernen Osten, sondern direkt aus unseren Breiten. Vor genau einem halben Jahrhundert schrieb Ernst Bloch in ‚Das Prinzip Hoffnung‘ ein Kapitel ‚Bauten, die eine bessere Welt abbilden, architektonische Utopien‘. Hierin heißt es: Nicht überall muss gleich der Fuß hingesetzt werden. Wie schön sieht eine entworfene Treppe aus, klein eingezeichnet. Immer schon wurde ein eigener Reiz der Pläne und Aufrisse bemerkt. Das meiste davon geht ins fertige Haus ein, und doch war das Geschöpf auf dem Papier, das zart ausgezogene, ein anderes. Ähnlich frisch, zuweilen auch trügend wirken gezeichnete Innenräume, selbst wirkliche Zimmer, sofern sie durchs Schaufenster gesehen werden oder durch eine Schranke abgetrennt sind. Wer wollte nicht in diesen edel schwellenden Sesseln ruhen, unter der freundlich gestellten Lampe, im abendlichen Zimmer. Möchte uns sein Friede eigen sein, der ganze Raum erzählt von Glück. Aber das Glück liegt im bloßen Blick von außen, Bewohner könnten es nur stören. Auch hier also lebt der reizvolle Plan fort, wenngleich als körperlich gewordener; eine täuschende Frische des Entwurfs lebt im unbetretenen Raum noch fort.
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Und am Schluss – lösen sich da die Formen auf? Wiedererlangung von Verlorenem? Brennt hier wirklich ein Haus? Dürften wir in der Lösung vom ‚Häusischen‘ architektonische Ästhetik sehen? Wenn die fotografische Form sich von der Konvention völlig befreit hat, wird die Frage nach dem Was auf dem Bild und dem Wie des Gemachten unwichtig sein. Dann ist das Foto autonom und die persönliche Note auch. Dann können wir uns zurückwenden und aus den beschrittenen Wegen eine eigene Bildsprache entwickeln. Eine, die nur uns gehört. Und das ist doch ein schönes Ziel. Eines, das uns allerdings nie im Weg stehen sollte
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Ein Gedanke zum Schluss
Stichwortverzeichnis A Abendrot 36 Abstraktion 54, 89, 93 Achtsamkeit 57 Alberti, Leon Battista 17 alte Häuser 28 Ameisenhaufen 13 a-motivische Eindringlinge 59 Anamorphose 95 Apollinaire, Guillaume 72 arkadisch 27, 30f Ästhetik 10 Arrest 15 Asymmetrie 24 atmosphärische Dichte 61 Aufnahmeabstand 99, 115f, 118, 132 Aufriss 116, 243 Augenhöhe 126, 128 Augenpunkt 68, 101, 118, 127 Auszeichnungskreis 108 Axonometrie 113
Blake, William 70 Blaue Stunde 36, 235f Blickfang 137 Blickrichtung 92 Blickwinkel 67, 128 Bloch, Ernst 265 Borie 9 Brecht, Bertolt 65 Brennweite 79, 97, 115f, 118, 132, 163ff Bruneschelli, Filippo 67
C Cropfaktor 131 Cyma 52, 84, 141
D Dateiformate 160 Diderot 28, 30 Dimetrie 121 Dissonanz 70 Dramaturgie 46 Dreiseitenansicht 116, 121
B Becher, Hilla und Bernd 239f Beckmann, Max 70 Bedeutungsperspektive 91 Betrachtungsabstand 98 Betreten oder Betrachten 50, 133 Bildausschnitt 79, 132 Bildebene 126 Bildmitte 102 Bildrauschen 208f Bildwinkel 97, 163ff
Dürer, Albrecht 17 Düsseldorfer Schule 239f
E Ellipse 97, 120 Ellipsograf 96 entzerren 93 Erfahrungsperspektive 96 Escher, Maurits Cornelis 94 Euklid 67, 89, 120 Exzentrische Platzierung 46
F Fachkamera 105 Farey, John 96 Figuren 56 Flächen 54 Fleisch 241 Fluchtpunkt 59, 68, 79f, 127 Fokussierung 158ff Formatausrichtung 135 Formen 56 Freihand-Aufnahme 37 Fuchsbau 13
Hogarth, William 94, 141ff Holzhütte 24 Horizont 126f, 128 Horizontale 101f Hütte 8 Hyperfokale Distanz 174
I Isometrie 120
K Kalokagathia 61 Kandinsky, Wassily 47
G gefühlte Realität 101 Geraden 54 Gestalt 52 Gestalttheorie 54 Glaubwürdigkeit 86 Goethe, Johann Wolfgang von 21, 117 Goldener Schnitt 139 grafische Elemente 54 Grundebene 126 Grundlinie 126
Kitsch 29f Klang 23 Klarheit 101 Kleinkinderzeichnungen 91 Kokon 11 Komplementärkontrast 59 Kompromiss 87 Konsonanz 23 Konstruktionsebene 126 Konvergenz 109
Grundriss 116, 120
L
H
Lao-tse 3f, 265
halbe Haushöhe 90, 109, 111 Harmonie 23 Hauptsehstrahl 97, 127, 131 Hausmeister 36 Haut 12 HDR 161, 175, 177, 183ff Heimat 13 Himmelsrichtungen 129 Histogramm 157, 161, 202ff Hochhaus 25 Höhle 8
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Kavaliersperspektive 98, 112, 114f, 124
Stichwortverzeichnis
Le Corbusier 18, 42, 140 Leonardo 17, 79, 89 Linearperspektive 107, 121 Linien 54, 138 Linienkomposition 59 Lissitzky, El 252 Lüge 65, 108f Luftperspektive 89, 121
M
R
Malewitsch, Kasimir 252
Rahmenkomposition 231
Mathematik 23
Randparallele 54, 103, 116, 123, 126
Maulwurfsgänge 13
Raumkunst 23
Memento mori Motivik 30f
Raumlinien 67, 98
Michelangelo 62
rechter Winkel 42
Militärperspektive 112, 120
Reduktion 62
Mischlicht 178
Renaissance 67
Morgenstern, Christian 42
Rhythmus 23
Muschelschale 13
Richtungssymbolik 138
Musik 20
Rousseau, Jean-Jacques 247
N Neigungswinkel 103
Ruhe 43 Ruinen 30
Nest 13
S
Neue Sachlichkeit 238f
Saint-Exupéry, Antoine de 62
Nicht-Haus 38, 225
Schärfenebene 158
Nichts 3
Schärfentiefe 174
Nodalpunkt 118
Scheimpflug 158
Normalbrennweite 98
Schelling, Friedrich Wilhelm 20
O
Schlegel, Dorothea von 21 Schneckenhäuser 13
Objekt-Storming 126
Schönheit 16, 34, 145
Ordnung 42
schokoladige Chiffren 26
Orientierung 47
Schopenhauer, Arthur 20
orthogonal 133f, 119, 124
Schwung 43
Ortssymbolik 138
Sehkegel 67, 118, 130f
P
Sehpyramide 67 Sehwinkel 98
Panorama 118, 149
Seitenriss 116
Parallelprojektion 67, 79, 112f, 118
Sfumato 89, 121, 179
Perspektive 65, 126, 132
Shiftadapter 104
Platon 53, 145
Shiftobjektiv 105
Projektive Verzerrung 96f, 109
Silesius, Angelus 62
Proportion 23
Simultanperspektive 72
Punkt 62
Skulpturcharakter 25, 75f, 133
Pythagoras 23
Softwaretransformation 107, 115 Spannung 43, 125
Stichwortverzeichnis
269
Spechthöhle 13 Sphärenharmonie 23 Standlinienbilder 91 Standort 77, 103, 127, 133 Statik 23 Straub, Theodor 10 Streiflicht 176
V Verschwindepunkt 79f Vertikale 101 Verzeichnung 107, 168f Vignettierung 107f, 171 virtuelle Perspektiven 67 Vitruv 17, 20
Struktur 101 stürzende Linien 101f, 123 Symmetrie 23, 122, 145ff
T
W Weitwinkel 71, 132 Wespennest 6 Wolf, Reinhard 241
Takt 23 Termitenhügel 13 Telebrennweiten 99, 241 Tiefenwirkung 88, 91 transzendieren 89, 113 Trapez 96f, 107 Trimetrie 121
U Übereckperspektive 71, 121, 123f, 127 Unendlich 112, 115
270
Stichwortverzeichnis
Z Zahlenverhältnisse 23 Zentralperspektive 67, 119, 121, 124, 127 Zerstreuungskreis 174 Zonensystem 161, 195f Zufall 37 Zuhause 13
(FTUBMUFOEF-BOETDIBGUTGPUPHSBGJFIBU'PUPHSBGFO[VBMMFO;FJUFOGBT[JOJFSU#FSUIPME%BVN[FJHU JOEJFTFN#VDI XJF4JFNJU%JHJUBMLBNFSBVOE$PNQVUFS#JMEFSFSTDIBGGFOLÚOOFO EJFàCFSEFO 6SMBVCTTDIOBQQTDIVTTIJOBVTHFIFO&SHFIUBVTGàISMJDIBVG5FDIOJLFOEFSHSBGJTDIFO,PNQPTJUJPOVOE EFS'BSCLPNQPTJUJPOFJOVOEBVDIEJF,BNFSBVOEEJF%JHJUBMUFDIOJLLPNNFOOJDIU[VLVS[8PSLTIPQT CJFUFO*IOFOFJOFO&JOTUJFHJOEJF3"8&OUXJDLMVOH EJF)%3VOEEJF1BOPSBNBUFDIOJL"OIBOEFJOFT #FJTQJFMQSPKFLUT[FJHUFS XJF4JFTJDIHF[JFMUFJO5IFNBWPSOFINFOVOETP*ISGPUPHSBGJTDIFT"VHFVOE*ISF GPUPHSBGJTDIFO'FSUJHLFJUFOTDIVMFOLÚOOFO
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