Thomas Ertl Religion und Disziplin
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Arbeiten zur Kirchengeschichte Begründet von
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Thomas Ertl Religion und Disziplin
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Arbeiten zur Kirchengeschichte Begründet von
Karl Holl † und Hans Lietzmann † herausgegeben von
Christian Albrecht und Christoph Markschies Band 96
Walter de Gruyter · Berlin · New York
Thomas Ertl
Religion und Disziplin Selbstdeutung und Weltordnung im frühen deutschen Franziskanertum
Walter de Gruyter · Berlin · New York
앝 Gedruckt auf säurefreiem Papier, 앪 das die US-ANSI-Norm über Haltbarkeit erfüllt.
ISBN-13: 978-3-11-018544-7 ISBN-10: 3-11-018544-X ISSN 1861-5996 Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar. 쑔 Copyright 2006 by Walter de Gruyter GmbH & Co. KG, D-10785 Berlin Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany Umschlaggestaltung: Christopher Schneider, Berlin
Vorwort Während eines Forschungsaufenthalts am Österreichischen Kulturinstitut in Rom lenkte Martin Bertram (DHI Rom) meine Blicke auf kanonistische Texte aus der Feder deutscher Franziskaner. Matthias Thumser, als dessen Assistent ich 1999 bis 2005 an der Freien Universität Berlin tätig war, gewährte mir den nötigen Freiraum, um dem Rechtsund Ordnungsdenken der Bettelmönche nachzuspüren. Mir scheint, es konnte dazu keinen besseren Ort geben als die Wirkungsstätte von Kaspar Elm, dem ich viel verdanke. Im Wintersemester 2005/6 wurde die Arbeit vom Fachbereich Geschichts- und Kulturwissenschaften der Freien Universität Berlin als Habilitationsschrift angenommen. Für die Drucklegung wurde sie geringfügig überarbeitet. Den Mitgliedern der Habilitationskommission danke ich ebenso wie den Herausgebern der „Arbeiten zur Kirchengeschichte“ für ihre Unterstützung sowie Herrn Albrecht Döhnert für die Betreuung im Publikationsverfahren. Für die Erstellung der Druckvorlage fand ich in meiner alten Freundin Elisabeth Natz eine kompetente und hilfsbereite Partnerin. Freunde und Kollegen haben die Arbeit maßgeblich gefördert und geprägt. Stellvertretend nennen möchte ich Stefan Esders, Andreas Fischer, Thomas Frank, Michael de Nève, Daniel Schönpflug und Sibylle Schröder. Sie alle begleiteten die Genese des Manuskripts und waren dazu bereit, Teile des wachsenden Textes zu lesen und kritisch zu kommentieren. Diese Mühe auf sich genommen haben auch Berndt Hamm, Uwe Israel, Daniela Littig, Verena Postel und Mirjam Thulin sowie meine Schwester Birgit und mein Vater Erich Ertl. Meine Familie in Berlin, Innsbruck und Stuttgart, besonders aber meine wundervolle Frau Friederike haben die Voraussetzungen dafür geschaffen, dass ich diese Arbeit zu einem glücklichen Ende bringen konnte. Meine Mutter Gertraud Ertl starb im Sommer 2003. An sie, deren Liebe und Geduld sich niemals erschöpften, habe ich bei der Fertigstellung des Manuskripts gedacht. Ihrem Andenken sei dieses Buch gewidmet. Berlin, im Winter 2005/2006
Thomas Ertl
Inhaltsverzeichnis Vorwort. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Inhaltsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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1. Fragestellung und Vorgehensweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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2. Theoretische Vorüberlegungen: Sozialdisziplinierung und Prozess der Zivilisation . . . . . . . . . . . . . . .
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Erster Teil: Selbstdeutung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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I. Hagiographie und Historiographie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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1. Apologie des Mendikantentums. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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2. Mendikanten in der Kritik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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II. Der Auftrag . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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1. Neue Herausforderungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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2. Simplicitas und scientia im frühen Franziskanertum . . . . . . . . . . .
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3. Franziskaner – die besseren Erzieher. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101 III. Selbstpositionierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 131 1. Papalismus in der Welt (Prolog des Glossenapparats Fecit deus). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 131 2. Papalismus in der Kirche (Balduin von Brandenburg, Summe I.6) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 151 3. Franziskanische Institutionalisierung und Selbstfindung . . . . . . . 166 4. Ekklesiologie in eigener Sache . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 182 Zweiter Teil: Weltordnung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 197 IV. Begleitung in die Vielfalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 197 1. Verchristlichung der Stadt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 197 2. Bürgerliche Heilswege und mendikantische Arbeitstheologie . . . 212 3. Vita activa, Müßiggang und Ausgrenzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 236
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Inhalt
V. Freiheit braucht Kontrolle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 253 1. Individualisierungsprozesse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 253 2. Durchdringung des Ich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 271 3. Traum vom perfekten Menschen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 288 VI. Neue Weltordnungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 306 1. Mendikantische Historiographie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 306 2. Verrechtlichung der Geschichte – Historisierung des Rechts. . . . . 330 3. Geschichte und Recht als Ordnungsinstrumente. . . . . . . . . . . . . . . 359 Interpretation und Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 367 1. Aufbruch in die Zivilisation?. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 367 2. Diversifizierung und Kontrollverdichtung – Zur Dialektik historischen Wandels im späten Mittelalter . . . . . . . . . 378 Dokumentation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 389 A. Prolog des Glossenapparats Fecit deus zur Summa decretalium des Heinrich von Merseburg . . . . . . . . . . . . 389 Prologus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 389 B. Balduin von Brandenburg, Summa titulorum I.6 . . . . . . . . . . . . . . 396 De electione et electi potestate . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 396 De electione episcoporum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 403 C. Casus-Sammlung Labia Sacerdotis zur Summa decretalium des Heinrich von Merseburg . . . . . . . . . . . . 406 Quellen- und Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 413 1. Quellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 413 2. Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 420 Namen- und Sachregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 489
Einleitung 1. Fragestellung und Vorgehensweise Franziskanische Geschichtsschreiber des Mittelalters feierten ihren heiligen Ordensgründer als Retter einer bedrohten Welt. Thomas von Celano berichtet in der ältesten Lebensbeschreibung des Franziskus: „Es hatte den Anschein, als ob in jener Zeit, sei es durch die Gegenwart des heiligen Franziskus oder infolge seines Rufes, ein ganz neues Licht vom Himmel auf die Erde strahlte, das alle Dunkelheit und Finsternis zerstreute, die fast die ganze Gegend so überlagert hatte, dass man kaum wusste, wohin man gehen müsse. So sehr hatte nämlich eine abgrundtiefe Gottvergessenheit und träge Nachlässigkeit gegen Gottes Gebote fast alle in Fesseln geschlagen, dass sie sich kaum aus ihren alten, eingewurzelten Übeln irgendwie aufrütteln ließen“1. Noch heute bestimmen emphatische Apologien aus franziskanischer Feder die kollektive Vorstellung vom heiligen Franziskus und seiner Bewegung. Doch das Bild von unterwürfigen und einfältigen Eiferern, die, in braune Kutten gehüllt, barfuß von Stadt zu Stadt zogen, um die Menschen zu Umkehr und Buße aufzurufen, entspricht nicht der Ambivalenz minoritischer Existenz. Die Franziskaner waren keine altruistische Friedensbewegung, sondern eine intellektuelle Elitetruppe, die zunehmend von gebildeten Klerikern beherrscht wurde und sich elaborierten Vorstellungen sittlichen Lebens und gesellschaftlicher Ordnung verpflichtet fühlte. Die wirtschaftlich, politisch und sozial in einem starken Wandel befindliche Gesellschaft des späteren Mittelalters zu zügeln und mit der Kirche zu versöhnen war ihr vornehmstes Ziel2. Die Anhänger des Franziskus förderten und beschleunigten zwei scheinbar gegensätzliche Entwicklungen: die Durchsetzung und Verchristlichung neuer individueller Freiheiten und Handlungsspielräume, zugleich aber auch die Intensivierung sozialer Disziplin mit der Hilfe 1 2
Thomas de Celano, Vita prima cap. 36 S. 29; Übers. nach Thomas von Celano, Leben cap. 36 S. 47. Zur Geschichte des Franziskanerordens im Mittelalter vgl. die Handbücher Moormann, History of the Franciscan Order; Iriarte, Franziskusorden; Nimmo, Reform and Division. – Einen Überblick über die Literatur bieten: Bibliographia Franciscana; Bibliographie zur Geschichte der Sächsischen Franziskanerprovinzen.
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neuartiger Kontrollmechanismen3. So verkörpert das nach zwei Seiten wirkende Streben der scheinbar mittellosen, tatsächlich aber einflussreichen Minderbrüder die Dialektik gesellschaftlicher Diversifizierungsprozesse im späteren Mittelalter. Die These von der zweiseitigen Wirksamkeit der von den Franziskanern mitgetragenen religiösen Erneuerung im 13. Jahrhundert anhand des deutschen Ordenszweiges zu veranschaulichen ist die Aufgabe dieses Buches. Im Mittelpunkt der Arbeit stehen daher Texte unterschiedlicher Literaturgattungen, die von deutschen Franziskanern des 13. und 14. Jahrhunderts verfasst wurden. In der Untersuchung wird gezeigt, dass diesen Texten ähnliche Vorstellungen sozialer Wirklichkeit und sozialer Ordnung zugrunde liegen. Daraus wird geschlossen, dass die Zugehörigkeit zum Franziskanerorden seine Mitglieder dazu brachte, den Wandel der spätmittelalterlichen Gesellschaft aus einer bestimmten Perspektive wahrzunehmen, zu kommentieren und mitzuformen. Verfasst wurden die untersuchten Texte von Gelehrten, von Männern des Geistes und des Wortes. Nicht von allen besitzen wir biographische Zeugnisse, die über das Faktum der Ordensmitgliedschaft hinausreichen; einige Autoren bleiben gänzlich anonym, andere Lebensläufe lassen sich dagegen mit Hilfe einer Reihe von Belegen relativ detailliert rekonstruieren. Eines jedoch steht fest: Die meisten von ihnen hatten prominente Positionen im Lehrbetrieb des Ordens inne, sei es, dass sie als Lektoren eine Konventsschule leiteten, sei es, dass sie als Verfasser von Schriften hervortraten, die andere Ordenslehrer ihrem Unterricht zugrunde legten4. Es waren diese Fratres, die während des 13. Jahrhunderts und darüber hinaus nicht nur den Studienbetrieb an den deutschen Franziskanerschulen samt seiner inhaltlichen und methodischen Ausrichtung prägten, sondern durch dieses Medium dem deutschen Zweig des Ordens insgesamt ihren Stempel aufdrückten5. Ihre Schriften musste studieren, wer die Karriereleiter innerhalb der Ordenshierarchie erklimmen wollte. Die für unsere Untersuchung wichtigen Personen, auf deren Gedanken und Positionen im einzelnen zurückzukommen sein wird, sind: Bartholomäus Anglicus, der als Lektor an der Pariser Universität 3
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Zur Kombination von Bejahung und Kritik als eine von „vier hauptsächlichen religiösen Verhaltensweisen gegenüber sozialen und wirtschaftlichen Einrichtungen“ vgl. Tawney, Religion und Frühkapitalismus 30 f. und 44 f. Zum mendikantischen Studiensystem und Schulorganisation vgl. zusammenfassend Elm, Studium 111–126 (mit Literatur); Roest, Franciscan education. Zum Studienproblem im Franziskanerorden vgl. auch unten II.2. Über Ankunft und Wirken der ersten Franziskaner in Deutschland vgl. Freed, Friars; Elm, Sacrum Commercium. Eine ausführliche Diskussion der Arbeit von Freed: Berg, Zur Sozialgeschichte.
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gewirkt hatte, 1228 die Leitung des franziskanischen Generalstudiums in Magdeburg übernahm und hier seine Universalenzyklopädie De proprietatibus rerum beendete, das erfolgreichste Werk seiner Art im Mittelalter6; Helwicus, Bearbeiter des Sentenzenkommentars des Petrus Lombardus sowie Verfasser eines Prosatextes theologisch-erbaulichen Charakters, der nach Bartholomäus’ Tod an die Spitze der Magdeburger Schule trat; Heinrich von Merseburg, Lektor an der Magdeburger und Erfurter Franziskanerschule, der eine häufig kopierte Summe der Dekretalensammlung Gregors IX. hinterließ; sowie Balduin von Brandenburg, Verfasser der umfangreichsten, vielleicht auch niveauvollsten kanonistischen Schrift, die in Deutschland während des 13. Jahrhunderts verfasst wurde. Gemeinsam eröffneten die beiden letztgenannten den Rezeptions- und Bearbeitungsprozess der gregorianischen Dekretalensammlung im Raum östlich des Rheins7. Hinzu kommen noch Berthold von Regensburg, der als einer der erfolgreichsten Prediger seiner Zeit galt, von Schülern und Zuhörern wegen seiner rhetorischen Fähigkeiten gepriesen; David von Augsburg, der mit seinen Schriften den Versuch unternahm, den Ordensbrüdern, aber darüber hinaus auch der Laienwelt christliche Erziehungs- und Lebensregeln zu vermitteln; Heinrich von Burgeis und Marquard von Lindau, Verfasser volkssprachlicher Literatur zur Beichtdidaxe sowie Johannes von Erfurt, Lektor an mehreren sächsischen Ordensschulen und an der Wende zum 14. Jahrhundert Kustos von Thüringen, der neben anderen theologisch-kanonistischen Werken eine einflussreiche lateinische Bußsumme verfasste. Neben diesen namentlich bekannten und teilweise renommierten Gelehrten bereichern nicht identifizierbare Autoren die literarische Produktion der frühen Franziskaner Deutschlands. Zu den anonym überlieferten Werken aus minoritischer Feder zählen unter anderem die Sächsische Weltchronik, ein Glossenapparat zur Summe des Heinrich von Merseburg, die Erfurter Minoritenchronik (Cronica minor Minoritae Erphordensis) sowie der Deutschenspiegel und der Schwabenspiegel mit den jeweiligen geschichtlichen Einleitungen, dem Buch der Könige bzw. der Prosakaiserchronik. Diese Autoren, deren Rechts- und Beichtsummen, Predigten, Geschichtswerke und theologische Traktate im Mittelpunkt der folgenden Untersuchung stehen, prägten das frühe franziskanische Schrifttum im deutschsprachigen Raum8. Zweifach vorbelastet – zum einen von einem europaweit agierenden Orden, in dessen Mitte prominente Theologen 6 7 8
Zu Magdeburgs Schulen und dem franziskanischen Generalstudium vgl. einführend Pätzold, Domschule. Vgl. Landau, Anfänge 273 f. Zum deutschen Franziskanertum vgl. einführend Berg (Hg.), Franziskanisches Leben.
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und Philosophen arbeiteten, aus dessen Reihen aber auch bedeutende Prälaten und Päpste hervorgingen, zum anderen von dem regionalen Umfeld, in dem sie lebten, lehrten und ihre Texte verfassten –, trugen die deutschen Franziskaner diese doppelte Gebundenheit in ihre Schriften. Nicht nur wurden die minoritischen Mönche in den deutschsprachigen Provinzen dadurch zu Übermittlern von Gedanken, die an den west- und südeuropäischen Zentren der Gelehrsamkeit formuliert worden waren9, sie waren daneben auch das Sprachrohr regionaler Vorstellungen und Denkschemata. Ihre schriftliche Produktion bediente in erster Linie die Bedürfnisse des gedachten Leser- und Zuhörerkreises, nämlich Ordensbrüder, Kleriker und Laien in den deutschsprachigen Ordensprovinzen. Dabei garantierte die franziskanische Mobilität ständige Austauschbeziehungen zwischen den verschiedenen Konventen und ihren Mitgliedern. Keine andere das gesamte Abendland durchziehende und durchdringende Personengemeinschaft besaß eine besser funktionierende Infrastruktur und eine schneller arbeitende Informationsbörse10. Die Mitglieder der deutschsprachigen Provinzen begegneten sich an den zentralen Niederlassungen ihrer Ordensprovinzen in Magdeburg, Erfurt oder Augsburg, und tauschten Neuigkeiten, Ideen und Handschriften aus. Um sich beispielsweise mit den Bibliotheksbeständen des Magdeburger Generalstudiums vertraut zu machen, musste ein süddeutscher Franziskaner nicht persönlich eine Reise nach Sachsen antreten, denn unablässig waren Bettelmönche und mit ihnen Handschriften zwischen den einzelnen Ordenshäusern unterwegs11. Der Austausch von Büchern gehörte im Franziskanerorden, der jedes Buch als Besitz des gesamten Ordens betrachtete12, zum Alltag. Das Findbuch, mit dem die Oxforder Franziskaner Anfang des 14. Jahrhunderts über neunzig Klosterbibliotheken in England, Schottland und Wales dem Ordensstudium erschlossen13, ist der deutlichste Beleg für das Bemühen um eine Mobi-
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Zu innereuropäischen Ausgleichsvorgängen auch geistesgeschichtlicher Art vgl. grundlegend Moraw, Entwicklungsunterschiede. Zur raschen Verbreitung von Predigttexten vgl. D’Avray, Preaching; Schmidt, Allegorie 330. Zum raschen Nachrichtenaustausch innerhalb des Ordens vgl. exemplarisch anhand der Missionsberichte Reichert, Beitrag 38-40. Für ausgeliehene Bücher mussten „Ausleihlisten“ zurückgelassen werden. Vgl. Constitutiones Narbonenses § 27 S. 74: Fratres, qui transferuntur, relinquant in scripto nomina librorum valentium ultra quartam partem marchae ministris illis, de quorum administrationibus transferuntur. Constitutiones Narbonenses § 27 S. 74: Nullus libros aliquos retineat sibi assignatos, nisi sint totaliter in Ordinis potestate, quod libere per ministros valeant et aufferri. Registrum Anglie. Zu Entstehung und Zweck des Findbuches vgl. Jones, Education; Einleitung der Edition, bes. lxix-cxlviii.
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lisierung des Wissens innerhalb der religiösen Bewegung14. Wenn in den deutschen Provinzen auch keine Parallelaktion stattfand, so belegt doch der intensive Gebrauch, den Ordensangehörige von Schriften ihrer Vorgänger und Kollegen machten, dass ein regelrechter Fernleihverkehr sowie ein eifriger Kopierbetrieb den raschen Wissensaustausch garantiert haben müssen15. Wichtigster Kristallisationspunkt dieses dichten Kommunikationsgeflechts waren die Provinzialkapitel, an denen sich alles versammelte, was in einer Provinz Rang und Namen hatte, um in der Diskussion interner und externer Probleme Zusammenhalt und Selbstvergewisserung der Gemeinschaft sichtbar zu erneuern16. Die Ordenszugehörigkeit bot allerdings nicht allein die Möglichkeit persönlicher Kontaktaufnahme und Freundschaft, sondern förderte auch die Bildung kollektiver Interessen und Anschauungen17. Erfahrungen wie das gemeinsame Durchleben der Novizenzeit, die ordensinterne Ausbildung von elementaren Übungen bis zur universitären Graduierung, die deutliche Abgrenzung der Ordensbrüder durch Kleidung und Lebensform, Missions- und Pastoralreisen ins christliche und heidnische Ausland sowie die Konfrontation mit einer teilweise feindlichen Fremdwahrnehmung schufen – zumindest bis zu einem gewissen Grad – eine franziskanische Mentalität und damit auch genuine Denk- und Verhaltensmuster18. Lebenswege und Denkmodelle wurden standardisiert. Es entstand ein über gemeinsame Erfahrung und Kommunikation vermittelter und erschließbarer einheitlicher Handlungs- und Deutungszusammenhang19. Diese einheitsstiftenden Faktoren spiegeln sich in einer kleinen Anzahl kanonischer Texte und Erzählungen wider, die um die historischen Ursprünge und die damit verbundene Auserwähltheit kreisten, das Selbstverständnis des Franziskanertums konstituierten 14 15
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Vgl. Clasen, Collectanea; Varva, Buchbesitz. Zu den Verhältnissen im 15. Jahrhundert vgl. etwa Schlotheuber, Bildung. Zum Bücherverkehr innerhalb des Ordens vgl. Humphreys, Book Provisions; Varva, Buchbesitz und Buchproduktion. Zu franziskanischen Bibliotheken im Mittelalter vgl. Lenhart, History; Humphreys (Hg.), Libraries. Grundlegend für das franziskanische Bibliothekswesen im späten Mittelalter wurden die 1336 erlassenen Bestimmungen Papst Benedikts XII., der die einschlägigen Verfügungen der vorhergehenden Generalkapitel systematisierte und hinsichtlich der Bücher Bestimmungen erließ, die bis in die Reformationszeit Bestand hatten. Vgl. Ordinationes a Benedicto XII. Zur ordensinternen Zensurverschärfung durch diesen päpstlichen Erlass vgl. ebd. IX/34 S. 352. So war es beispielsweise das Provinzialkapitel 1262 in Halberstadt, das Jordanus von Giano dazu veranlasste, die Frühgeschichte des Ordens in Deutschland aufzuzeichnen. Vgl. Ertl, Balduin 276. Zur Ausbildung einer spezifischen „Kultur“ in sozialen Gruppen des Mittelalters vgl. allgemein Oexle, Soziale Gruppen 25-29. Vgl. Miethke, Politische Theorie 157-176. Zur Problematik vgl. auch Hardtwig, Genossenschaft 17 (Einleitung).
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Einleitung
und den neuen Orden in seiner Gesamtheit, aber auch in seinen regionalen Zweigen zu textual communities machten, um einen Begriff von Brian Stock aufzugreifen20. Nicht das Aufzeigen einer internen Vernetzung der deutschen Franziskaner bildet daher die Voraussetzung, „Selbstdeutung und Weltordnung“ dieser Autoren, also das soziale Denken nach innen sowie nach außen zu charakterisieren. Bemerkenswert an den untersuchten Texten sind nicht die Absprachen und Abhängigkeiten der Beteiligten, sondern ihre ähnliche Sichtweise auf den Orden und auf die Welt. Könnte man zeigen, dass sich diese Personen allesamt weder persönlich noch über ihr Werk gekannt hatten, so würde dies den Wert der Untersuchung keineswegs schmälern. Dann würde sich nämlich ganz besonders deutlich zeigen, dass die Zugehörigkeit zum Minoritentum bestimmte Haltungen und Sichtweisen auf die Welt evozierte. Nicht als autarke Entität werden die deutschen Franziskaner daher in dieser Arbeit aufgefasst, sondern als exemplarische Stimmen, die den franziskanischen Beitrag zum Wandel der spätmittelalterlichen Gesellschaft veranschaulichen sollen. Vorangetrieben wurde die Herausbildung einer franziskanischen Denk- und Lebensform von einer Ordensführung, die sich seit Mitte des 13. Jahrhunderts als Zensurinstanz betätigte und deren kritisches Auge jedes Manuskript vor seiner Veröffentlichung prüfend begutachtete21. Ergebnis war Einheit nach außen durch Disziplin im Inneren. Nach und nach ergriff die Francescanità Besitz vom jedem neu gewonnenen Mitglied. Zum Franziskaner wurde man nicht durch eine plötzliche Eingebung berufen, man wurde sukzessive dazu gemacht22. Eine minoritische Mentalität, die trotz aller regionalgeschichtlichen Brechungen bis zu einem gewissen Grad als repräsentativ für den Gesamtorden gelten kann, prägte auch den Geist jener deutschen Franziskaner, deren Texte im Mittelpunkt dieser Untersuchung stehen. Ihre Interpretation dient daher nicht der Darstellung individueller Biographien und der Würdigung einzelner Werke, sondern der Konstruktion eines bestimmten Diskurses, der im Umfeld der deutschen Franziskaner über die Generationen hinweg gepflegt wurde und die nach innen gerichtete Selbstdeutung einerseits sowie die nach außen gerichtete Weltordnung andererseits zum Inhalt hatte. Eine solche Diskursanalyse riskiert, den 20 21
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Stock, Listening 23-29 und 140-158. Constitutiones Narbonenses § 21 S. 73: Item inhibemus, ne de cetero aliquid scriptum novum extra ordinem publicetur, nisi prius examinatum fuerit diligenter per generalem ministrum vel provincialem et definitores in capitulo provinciali. Et quicumque contrafecerit, tribus diebus tantum in pane et aqua et careat illo scripto. Vgl. dazu Salimbene von Parma, Chronik 122. Zur Problematik vgl. allgemein Bianchi, Moyen Age. Zur franziskanischen conversio als längerfristigem Vorgang vgl. Roest, Converting 297-300. Zu den spirituellen Grundlagen des Ordenseintritt vgl. Dolso, Minores.
Einleitung
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Kontakt zum realen Leben zu verlieren. In der Fokussierung auf konkrete Fragen zu Identität, Funktion und Gesellschaft liefert sie jedoch wichtige Einsichten in das Denken einer textual community, die zugleich eine religiöse Gemeinschaft bildete, welche ihre heilsgeschichtliche Aufgabe in der unmittelbaren Einwirkung auf die Christenheit erblickte. Auf den Wirklichkeitsbezug und die historische Wirkkraft des franziskanischen „Ordnungsdiskurses“ scheint zudem die Beobachtung hinzudeuten, dass bestimmte die Gesellschaft normierende Vorstellungen und Ideen, die in den Texten der deutschen Franziskaner einen prominenten Platz einnehmen, sich im späten Mittelalter nicht nur in breit überlieferten volkssprachlichen Schriften, sondern auch außerhalb des franziskanischen Milieus finden lassen. Es geht also um den überindividuellen Beitrag einer spätmittelalterlichen religiösen Erneuerungsbewegung zu einem epochenübergreifenden Prozess der Zivilisation, angestoßen durch die transzendentale Selbstdeutung dieser Gemeinschaft, exemplarisch dargestellt anhand von Texten vornehmlich in Deutschland wirkender Franziskaner. Die Vermittlung franziskanischen Wissens an die Außenwelt erfolgte auf direkten und indirekten Wegen. Das mendikantische Studiensystem war hermetisch abgeriegelt und diente allein der Ausbildung des eigenen Nachwuchses. Laien oder Weltkleriker hatten keinen Zutritt zu den Stuben der Ordensgelehrsamkeit23. Die Öffentlichkeit erfuhr von den geistigen Errungenschaften mendikantischer Gelehrter auf dem Umweg der Seelsorge. In Form von Predigten, Beichtgesprächen und persönlichen Kontakten konnte das mendikantische Schulwissen aus den Konventen in die Straßen der Städte gelangen und seinen Weg in die Köpfe neugieriger Zuhörer und reumütiger Beichtender finden. Daneben wurden viele der in den Skriptorien und Schulen des Ordens hergestellten Handschriften auch außerhalb der Konventsmauern gelesen. Einige Schriften aus minoritischer Feder waren ausdrücklich für ein breites, Laien und Kleriker umfassendes Publikum geschrieben worden. Die Überlieferung der in mendikantischen Kreisen verfassten Texte verrät, soweit sie noch rekonstruierbar ist, eine überaus breite Streuung. Daraus kann geschlossen werden, dass sich nicht nur Ordensmitglieder anderer Konvente und Provinzen, sondern auch Weltkleriker und Mönche anderer Orden für Schriften mendikantischer Herkunft interessierten, Kopien davon anfertigen ließen und auf diese Weise zu ihrer Verbreitung beitrugen24. Die Spuren und Etappen dieser Vermittlung zu rekonstruieren, ist allerdings in der Regel nur schwer möglich, 23 24
Elm, Mendikantenstudium. Zur Ausleihe franziskanischer Handschriften an Weltkleriker und Laien vgl. Schlotheuber, Büchersammlung 242 f.
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da sich die ursprüngliche Provenienz der meisten Handschriften nicht exakt bestimmen lässt25. Es waren vor allem die volkssprachlichen Texte, mit denen die Bettelmönche über das engere mendikantisch-klerikale Umfeld hinauszuwirken trachteten26. Zum franziskanischen Beitrag zur deutschen Literaturgeschichte bemerkte Kurt Ruh bereits vor fünfzig Jahren: „In der knappen Spanne eines halben Jahrhunderts erfuhr die deutsche Prosa drei Geburten – es sind die bedeutsamsten nach der einsamen Leistung des St. Trudperter Hohenliedes im 12. Jahrhundert und vor Martin Luthers Bibelübersetzung –: die erste brach auf in einem urtümlichen Erlebnis mystischer Gottesminne, im ‚Fließenden Lichte der Gottheit’ der Magdeburger Begine Mechthild (nach 1250); die zweite vollzog sich, ungefähr gleichzeitig, im Wirken der Augsburger Minoriten; eine Generation später erfolgte die Geburt der mystischen Predigt Meister Eckharts und seines Kreises. Im Dreiklang dieser Leistungen liegt die Genesis mittelhochdeutscher Prosa beschlossen, in ihm ruht die Schönheit und Würde der deutschen Sprache eines ganzen Zeitalters, eines Zeitalters, das den Reichtum der überlieferten Sprache der Dichter verkümmern ließ“27. Das franziskanische Streben nach einer ansprechenden, vor allem aber überzeugenden Ausdrucksweise in der Volkssprache, für den modernen Literaturwissenschaftlicher vorrangig als ästhetisches Phänomen von Forschungsinteresse, bildete für die franziskanischen Pastoraltheologen einen möglichen Weg, auf die Laienwelt einzuwirken, – und es ist dieser Sachverhalt, der den Historiker besonders interessiert28. Den zeitlichen Rahmen der Untersuchung bestimmt die Epoche, in der Franziskaner auch in Deutschland mit großer Vehemenz gegen die schlechten Zeiten und den Niedergang der Sitten anschrieben. Das bedeutet nicht, dass spätere Autoren nicht mehr auf die Schriften dieser Mönche aus dem 13. und beginnenden 14. Jahrhunderts zurückgegriffen hätten. So wurde beispielsweise der Schwabenspiegel das gesamte Spätmittelalter über stark rezipiert. Die Überlieferungsgeschichte dieses Rechtsbuchs hatte sich jedoch bereits kurz nach seiner Entstehung vom Verfasserumfeld gelöst. Dennoch scheint die Beschränkung auf die 25 26 27 28
Rüther, Bettelorden 175; Schlotheuber, Büchersammlung (mit Hinweis auf ältere Studien S. 217 Anm. 1); Dies., Franziskaner in Göttingen. Zur Volkssprache als Medium der pastoralen Einwirkung auf die Laienwelt vgl. Rusconi, Prédication 84 f.; Burger, Zuwendung 86 und 91. Ruh, David von Augsburg 72, Neudruck 48. Zum Zusammenhang von weiblicher Spiritualität und religiösen Schriften in der Volkssprache vgl. Grundmann, Frauen. Zu den Interferenzen zwischen religiösen Reformbewegungen, Prozessen sozialer Differenzierung und volkssprachlicher Alphabetisierung vgl. Schreiner, Laienbildung; Schreiner, Bibelmagie 329-373; Angenendt, Religiosität 75.
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aktive Zeit der untersuchten Autoren legitim, denn auch die mendikantische Einwirkung auf die Gesellschaft erreichte ihren Höhepunkt bereits in der Frühzeit der Ordensgeschichte; das 14. Jahrhundert bildete auch für Minoriten und Predigerbrüder eine Zeit der Krise und Neuorientierung29, selbst die Observanz des 15. Jahrhunderts erlangte nicht mehr die Strahlkraft der Ordensfrühzeit. Dieser gesellschaftliche Bedeutungsrückgang im späteren Mittelalter, der mit dem Ende der fulminanten Expansion der frühen Mendikantenorden zusammenfällt, hatte mehrere Gründe: Der Bonus des Neuen war verbraucht, die Angleichung an ältere Orden schritt voran, zugleich verschärfte sich die Kritik an der mendikantischen Lebensform. Der Bildungsvorsprung gegenüber dem säkularen Klerus verminderte sich30. So hatten die Bettelorden den Zenit ihrer Wirksamkeit in der Mitte des 14. Jahrhunderts überschritten. Weder die Fortführung von sozialdisziplinierenden Anstrengungen noch die Mitte des 14. Jahrhunderts einsetzenden monastischen Reform- und Observanzbestrebungen waren Unternehmungen, die vorrangig vom Mendikantentum betrieben wurden31. Das Untersuchungsfeld ist damit regional und zeitlich begrenzt. Die Texte einer Auswahl in Deutschland wirkender Franziskaner stehen im Zentrum der Studie. Diese Beschränkung wurde mit der Überzeugung gewählt, dass die Untersuchung eines weltanschaulichen Systems, das die Mendikanten als Speerspitze einer kirchlichen Erneuerungsbewegung über die abendländische Gesellschaft breiteten, anhand einer fassbaren Formation erfolgen muss. Allein diese Beschränkung ermöglicht es, die heterogene Überlieferung zu studieren und auch unedierte Texte in die Betrachtung mit einzubeziehen. Der Vergleich des Speziellen mit dem Allgemeinen, also der in Deutschland entstandenen Schriften mit den Werken, die an anderen Orten von Mitgliedern des Ordens verfasst wurden, soll es ermöglichen, die empirisch gewonnenen Spezialergebnisse vor einem allgemeinen Hintergrund zu profilieren. Erst die vergleichende und übergreifende 29 30
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Zum 14. Jahrhundert vgl. Francescani nel trecento. Angenendt, Frömmigkeit 51. Als Zeichen dafür könnte man das Entstehen pastoraler Handbücher zum Beichtsakrament aus säkularklerikaler Feder anführen. Vgl. dazu Haren, Confession 109 f. und passim. McIntosh, Controlling 23-45; Haren, Confession 113 f. und passim; Hamm, Normative Zentrierung (zur sozialen Normierung im 14. Jh. und später). Elm, Reform- und Observanzbestrebungen; Angenendt, Religiosität 75-79 (zur Ordensreform). Zur spätmittelalterlichen „Christianisierung“ in Deutschland und ihrer „frömmigkeitstheologischen“ Ausrichtung vgl. Angenendt, Religiosität 68-75; Angenendt, Frömmigkeit 17 f. Zur „Frömmigkeitstheologie“ im 15. Jh. grundlegend Hamm, Frömmigkeitstheologie.
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Interpretation erlaubt es, den Beitrag der Franziskaner zu einer allgemeinen gesellschaftlichen Entwicklung, die über die engere Untersuchungszeitspanne und das franziskanische Deutschland hinausreicht, zu interpretieren und – ohne dabei die regionalen Besonderheiten aus den Augen zu verlieren – eine Verbindung zwischen den Texten eines Dutzend franziskanischer Denker und dem Verlauf der okzidentalen Geschichte im späteren Mittelalter herzustellen. Der Fragestellung entsprechend stehen am Beginn der meisten Kapitel allgemeine mendikantische oder franziskanische Positionen, erläutert anhand von prominenten Gelehrten wie Albertus Magnus oder Bonaventura. Davon abgesetzt werden anschließend die entsprechenden Texte aus dem Umfeld der in Deutschland wirkenden Franziskaner diskutiert. Die Untersuchung gliedert sich in zwei Abschnitte. In drei Schritten wird im ersten Abschnitt versucht, die franziskanische Selbstdeutung und das damit verbundene Verständnis der eigenen heilsgeschichtlichen Funktion zu entschlüsseln. Den Ausgangspunkt hierzu bildet eine Charakterisierung der hagiographischen und historiographischen Arbeiten zum Franziskanerorden vom Mittelalter bis zur Gegenwart. Während die apologetischen Deutungen wichtige Hinweise auf Eigenwahrnehmung bzw. Überhöhung des Minoritenordens durch die Geschichtsschreiber aller Epochen liefern, weisen die kritischen Stimmen auf abweichende Wahrnehmungsmuster hin. Die in diesem Zusammenhang angesprochenen, häufig weniger beachteten Facetten franziskanischer Wirksamkeit werden in der weiteren Untersuchung eine zentrale Rolle spielen. Im zweiten Kapitel wird gezeigt, welche Funktionen die Franziskaner sich selbst im kirchlichen und sozialen Gefüge der Zeit zuschrieben. Um den historischen Kontext zu charakterisieren, erfolgt zunächst eine Skizzierung kirchengeschichtlicher Entwicklungen im hohen Mittelalter. Die anschließende Beschreibung der Haltung des Ordens gegenüber Weisheit (sapientia) und Wissenschaft (scientia) soll die intellektuellen Voraussetzungen franziskanischer Einwirkung auf die Laienwelt klären. Das hierauf aufbauende Selbstbild des Ordens führte dazu, dass – wie im letzten Teil des Kapitels gezeigt wird – das pastorale Bemühen, die Christenheit zu unterweisen und zu lenken, gleichsam als göttlicher Auftrag empfunden wurde. Der heilsgeschichtlichen Selbsteinordnung widmet sich auch das dritte Kapitel. Ausgehend von kirchenrechtlichen Schriften deutscher Franziskaner, im Anhang teilweise ediert, wird untersucht, welche Rolle der Ekklesiologie bei der franziskanischen Selbstdeutung zukam. Dabei zeigt sich, dass die Betonung der päpstlichen Führungsrolle in Kirche und Welt untrennbar mit der Verteidigung der eigenen Position innerhalb der Kirchenhierarchie verbunden war. Denn allein an der Seite und im Verbund mit dem Papsttum gelang es den Bettelorden, die traditionellen ekklesiologischen Strukturen zu erschüttern. Vor dem
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Hintergrund des Institutionalisierungsprozesses der Bettelorden offenbaren sich so die eigennützigen Ziele franziskanischer Ekklesiologie. Auf einer solchen „Selbstdeutung“ gründeten die franziskanischen Vorstellungen von gesellschaftlicher Ordnung, denen im zweiten Abschnitt der Arbeit unter dem Titel „Weltordnung“ anhand von drei Problemfeldern nachgegangen wird. Die Genese und die Auswirkungen einer spezifisch mendikantischen Arbeitstheologie stehen dabei am Anfang. Im vierten Kapitel wird ausgeführt, wie die Bettelmönche eine positive Arbeitsethik entwickeln konnten, nachdem sie als erste kirchliche Gruppe die Stadt als christlichen Ort wahrzunehmen bereit waren. Die „Verchristlichung der Stadt“ machte es möglich, die bürgerliche Berufswelt grundsätzlich zu akzeptieren und zugleich zum Hauptbetätigungsfeld pastoraler Bestrebungen zu machen32. Es entstand eine Arbeitstheologie, die den realen sozioökonomischen Veränderungen Rechnung trug und die bürgerliche Sinnsuche mit kirchlichen Botschaften versöhnte33. Die positive Würdigung einer korrekten Berufsausübung führte jedoch gleichzeitig zu einer Verabsolutierung der vita activa und zu einer zunehmenden Ausgrenzung nicht arbeitsfähiger oder nicht arbeitswilliger Bevölkerungsgruppen. Die mendikantische Arbeitsethik, die sich im ausgehenden Mittelalter von ihrer religiösen Provenienz zu lösen begann, hatte Konsequenzen, die weit in die Neuzeit hineinreichten. Im anschließenden fünften Kapitel verschiebt sich das Augenmerk von der Gesellschaft auf das Individuum. Zunächst wird gezeigt, wie die Franziskaner mittelalterliche Individualisierungsprozesse, die im 12. Jahrhundert an Dynamik gewannen, akzeptierten und beschleunigten. Diese positive Haltung gegenüber sozialen Emanzipations- und Bewusstwerdungsprozessen bildete eine wichtige Voraussetzung für den Erfolg der Bettelorden in den spätmittelalterlichen Städten. Gleichzeitig waren es die Bettelmönche, die seit dem 13. Jahrhundert durch die Instrumentalisierung von volkssprachlicher Predigt und regelmäßiger Beichte den Einzelnen dazu drängten, sich einer subtiler werdenden Gewissenserforschung zu unterwerfen. Franziskaner konstruierten in ihren Erziehungsschriften zudem ein umfassendes Regelwerk monastischer, aber auch laikaler Existenz, die über Erasmus von Rotterdam und andere zu einem Fundament europäischer Zivilisiertheit werden sollte34. Die Thesen des vierten und fünften Kapitels werden mit Hilfe länder32 33
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Zu den Verflechtungen von Bettelorden und Stadt vgl. Le Goff, Apostolat mendiant; Le Goff, Ordres mendiants; Rüther, Bettelorden 9-29. Zum epochenübergreifeden Mechanismus der Adaption religiöser Soziallehren an die real existierenden sozioökonomischen Verhältnisse vgl. Tawney, Religion und Frühkapitalismus 27 f. und passim. Zu den Beichtsummen des 13. und 14. Jh. als Vorstufe des „frömmigkeitstheologischen“ Schrifttums des 15. Jh. vgl. Hamm, Frömmigkeitstheologie 16 mit Anm. 14.
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übergreifenden Materials formuliert und anhand der Schriften deutscher Franziskaner exemplifiziert und belegt. Ein besonderes Gewicht kommt den Quellen aus dem deutschen Bereich im sechsten Kapitel zu, das den Blick vom Einzelnen wieder auf übergreifende Zusammenhänge lenkt. Einleitend werden Charakteristika und Funktionen mendikantischer Geschichtsschreibung in eine historiographiegeschichtliche Tradition gestellt und gedeutet. Ein enger Konnex zwischen Geschichte und Recht zeigt sich insbesondere in den Werken deutscher Franziskaner, die nicht nur die Geschichte als Legitimationsgrundlage normativer Texte betrachteten, sondern auch einen Rechtstext wie den Schwabenspiegel in eine historische Kontinuität zu stellen versuchten. Geschichte und Recht erweisen sich aus dieser Perspektive gleichermaßen als gesellschaftliche Ordnungsinstrumente35. In einem Schlusskapitel wird versucht, die Elemente „Diversifizierung“ und „Kontrollverdichtung“, die das franziskanische Einwirken auf die Gesellschaft gleichermaßen bestimmten, als Bestandteil eines Prozesses der Zivilisation im Mittelalter zu begreifen. Gedanken zu epochenübergreifenden Zusammenhängen zwischen religiöser Erneuerung und sozialem Wandel beschließen die Arbeit.
2. Theoretische Vorüberlegungen: Sozialdisziplinierung und Prozess der Zivilisation Den theoretischen Zugriff auf eine solche Fragestellung bietet die Sozialdisziplinierungsdebatte. Längst hat sich diese Diskussion, die ihren Ausgang von Gerhard Oestreichs 1969 vorgetragenen Thesen über den Absolutismus der Frühen Neuzeit nahm36, von der Vorstellung gelöst, es sei allein der frühmoderne Staat gewesen, der seine Untertanen diszipliniert hätte37. Den Stand der Debatte resümierte vor einigen Jahren Heinz Schilling: „Wir haben es nicht mehr mit der ursprünglichen Vorstellung eines mehr oder weniger geschlossenen, von oben durch den Staat gesteuerten, monolithischen und auf die ersten Jahrhunderte der Neuzeit beschränkten Prozesses zu tun. Die frühmoderne Disziplinierung stellt sich vielmehr als langgestreckter Vorgang dar, der in sich sehr differenziert war. Epochal umfaßte er nicht nur die Frühe Neuzeit, sondern auch das späte Mittelalter sowie das 18. und Teile des 19. Jahr35 36 37
Zur Legitimierung einer sich historisch wandelnden Herrschaftsordnung durch das gelehrte Recht und seine Bearbeiter vgl. Walther, Sozialdisziplinierung. Oestreich, Strukturprobleme. Dazu Schulze, Gerhard Oestreichs Begriff; Blickle, Gute Polizei; Reinhard, Sozialdisziplinierung. Schmidt, Sozialdisziplinierung? Ein Überblick über die ältere Forschung bei Bogner/ Müller, Arbeiten 127-142 (Bogner), 240-252 (Müller).
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hunderts. Funktional handelte es sich um eine Art Zangenbewegung, die sowohl von oben – durch staatliche, kirchliche oder andere Institutionen – gesteuert war als auch von unten, aus der Gesellschaft hervorwuchs und daher wesentlich mitgeprägt wurde durch Familie, Nachbarschaft, Bruderschaften oder andere Korporationen“38. Disziplinierungsprozesse sind nicht epochengebunden. Die frühneuzeitliche Ausrichtung der Sozialdisziplinierungsdebatte ist ein Ergebnis institutionalisierter Epochen- und Denkgrenzen. Sozialdisziplinierende Prozesse ereigneten sich jedoch in allen historischen Epochen der jüngeren Menschheitsgeschichte39. Um einen Forschungsbegriff, der bisher vorrangig in der Frühneuzeitforschung eingesetzt worden ist, auf das Mittelalter zu übertragen, bedarf es allerdings einiger Vorüberlegungen bzw. Einschränkungen, die im Folgenden hinsichtlich der Konzepte Säkularisierung, Religionssoziologie und Modernisierung erläutert werden sollen40. Modernisierung als Säkularisierung? Die neuzeitliche Sozialgeschichte tendierte dazu, Modernisierung mit Säkularisierung gleichzusetzen und diese als „ein Nachlassen der Orientierung von Einzelnen, von Gruppen und der ganzen Gesellschaft an übernatürlichen Instanzen und Werten“ zu interpretieren. In der Abnahme religiöser Bindungen sowie im Verfallsprozess religiöser Werte und Praktiken meinte man, die Freisetzung modernisierender Kräfte zu erkennen. Umgekehrt wurde jedes Erstarken oder Wiedererstarken kirchlicher Bindungen mit einer Verlangsamung oder Stagnation gesellschaftlichen Fortschritts in Verbindung gebracht41. Die aktuelle Sicht ist differenzierter. Die Rede ist nunmehr von phasenhaften und länderspezifischen Rechristianisierungswellen, die der traditionellen Vorstellung von einer kontinuierlichen Säkularisierung widersprechen42. Das Verhältnis von Politik und Religion zwischen dem 18. und 20. Jahrhundert geriet wieder in das
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Schilling, Disziplinierung 679 f. Zur Implementation in Policeyordnungen im Rahmen einer komplexen „Polylektik“ vgl. Landwehr, Policey 70. Zum epochenübergreifenden Charakter exemplarisch McIntosh, Controlling. Für das Mittelalter Schilling, Umbruch oder Gipfelpunkt 18 f. Zu Mittelalter und Reformation Hamm, Innovativ? 491. Vor unreflektierten Übertragungen des Paradigmas in andere Epochen muss gewarnt werden. Ob sich der Begriff beispielsweise dazu eignet, die sich wandelnden Herrschaftskonzepte im römisch-kanonischen Recht zu charakterisieren, erscheint fragwürdig. Vgl. aber Walther, Sozialdisziplinierung. Zur Problematik vgl. Lehmann, Erforschung 12 f. (Zitat 12). Schilling, Der religionssoziologische Typus Europa 43 und passim. Zur aktuellen Forschungsdebatte in der Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts vgl. Greschat, Rechristianisierung.
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Blickfeld der Forschung; das 19. Jahrhundert wurde gar als „zweites konfessionelles Zeitalter“ charakterisiert43. So besteht derzeit ein breiter Konsens darüber, dass die Bedeutung religiöser Kräfte und Motive in der okzidentalen Geschichte weder kontinuierlich abnahm noch als proportionale Gegenbewegung gesellschaftlicher Wandlungsprozesse gedeutet werden kann. Modernisierung und Säkularisierung sind nicht zwei Seiten einer Medaille44. Weiterführend sind in diesem Zusammenhang Interpretationsmodelle wie jenes von Wolfgang Schieder, der von einer „Kontinuität wellenförmig aufbrechender konfessioneller Rechristianisierungsbestrebungen vom 16. Jahrhundert bis zum Ende des 19. Jahrhunderts“ ausgeht und die Existenz einer „historischen Dialektik von Ent- und Rechristianisierung“ zur Diskussion stellte45. Das Bild von Wellen der Christianisierung und Dechristianisierung eignet sich als heuristisches Prinzip nicht allein für die Neuzeit46. Trotz der im Mittelalter starken Kirchenbindung scheint die gesellschaftliche Gestaltungskraft religiöser Faktoren in dieser Epoche keineswegs immer konstant gewesen zu sein. Phasen der Intensivierung und Verdichtung wechselten mit anderen, in denen solche Elemente nachließen oder fehlten. Obwohl das Mittelalter von Frömmigkeit nicht derart durchdrungen war, wie sich das eine auf- und abgeklärte Moderne gewöhnlich vorstellt, kann von einer linear ansteigenden Säkularisierung oder Dechristianisierung keine Rede sein. Entscheidend aber ist eine zweite Beobachtung: Die Zeitspannen einer verdichteten Christianisierung, in denen religiöse Faktoren das Leben der westlichen Kirchengemeinschaft besonders stark prägten, waren keineswegs Phasen sozioökonomischer, politischer oder geistesgeschichtlicher Stagnation, sondern häufig Zeitspannen einer beschleunigten Entwicklung, die keineswegs nur die Kirche als Institution
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Zum „zweiten konfessionellen Zeitalter“ sowie zum „religious turn“ in der Erforschung des 19. und frühen 20. Jh. vgl. Blaschke, Zweites 44 (hier das erste Zitat) und passim; Blaschke (Hg.), Zweites; Steinhoff, Zweites 549 (hier das zweite Zitat und eine kritische Auseinandersetzung mit Blaschke). Zum Modernisierungspotential von Kirchen und Konfessionen im ausgehenden 19. Jh. vgl. auch Nipperdey, Religion. Zur vielschichtigen Rolle der Religion im Modernisierungsprozess des ländlichen Frankreich im 19. Jh. vgl. Weber, Peasants. Zur Kritik am Begriff der Säkularisierung vgl. Steinhoff, Zweites 550 f. Zur Religion als „Faktor und Produkt der ungleichzeitig erfolgenden, sozialen, politischen und kulturellen Modernisierung Europas nach 1800“ vgl. ebd. 564. Schieder, Säkularisierung 311. Zur „Christianisierung des Landes“ als politisch, ideologisch und konfessionell besetztes Forschungsproblem in der Mittelalterforschung des 19. Jh. vgl. Elm, Christianisierung 87-91.
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veränderte, sondern gesamtgesellschaftliche Konsequenzen hatte47. In der neueren Geschichte hat sich diese Sicht inzwischen fest etabliert: Mit dem Blick auf gesellschaftliche Wandlungs- und Formierungsprozesse wird sowohl die spätmittelalterliche Vor- und die Frühphase der Reformation wie auch die anschließende Konfessionsbildung als Teil eines beschleunigten Transformationsprozesses verstanden48 und in einen epochenübergreifenden, auch das Mittelalter einbeziehenden Kontext gestellt49. In seiner Untersuchung zur Rolle der Religion im Prozess der gesellschaftlichen Modernisierung in der Neuzeit kam zuletzt Thomas Kuhn zu ähnlichen Ergebnissen. Die Debatte über Säkularisierung bzw. De- und Rechristianisierung weiterführend, beschrieb Kuhn religiös motivierte soziale und karitative Maßnahmen im 17. und 18. Jahrhundert als Ausdrucksformen eines Modernisierungsprozesses, um auf dieser Grundlage Religion als kulturelles Phänomen zu charakterisieren, das im Prozess der Modernisierung wesentliche Impulse geliefert habe50. Auch in der Mittelalterforschung ist der Konnex zwischen religiöser Erneuerung und der Beschleunigung von Transformationsprozessen bekannt. Als eine solche Phase dramatischer Neuordnung wurde häufig die Kirchenreform des 11. Jahrhunderts betrachtet51. Man sprach von einer „päpstlichen“ bzw. einer „europäischen“ Revolution und vertrat damit die Auffassung, dass in dieser Epoche die Grundlagen des späteren Europas geschaffen worden seien52. Christianisierung und Modernisierung können also auch im Mittelalter Komponenten eines multidimensionalen Prozesses bilden, der in die Moderne weist. Der Weg dorthin verlief keineswegs geradlinig, so dass zu seiner Beschreibung die Konstruktion eines linearen Säkulari47
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Zur „Säkularisation des sozialen und wirtschaftlichen Denkens“ im späten Mittelalter und in der Frühen Neuzeit vgl. Tawney, Religion und Frühkapitalismus 19-25 und passim. – Über die funktionale Ambivalenz von Religion als welterhaltende, stabilisierende bzw. welterschütternde, dynamische Kraft vgl. Schilling, Konfessionalisierung 6; Schreiner, Frommsein 61 f. Beispiele zur welterhaltenden und welterschütternden Macht der Religion bei Borst, Lebensformen 278-287. Zur Frühphase der Reformation vgl. Reinhard, Zwang 260. Zum Zeitalter der Konfessionalisierung vgl. Reinhard, Gegenreformation; Schilling, Konfessionalisierung 13, 30-45 und passim; Schilling, Umbruch oder Gipfelpunkt 19 f. Zu religiös determinierten „Zentrierungsschüben“ in allen Lebensbereichen während des 15. und 16. Jh. vgl. Hamm, Normative Zentrierung. Tawney, Religion und Frühkapitalismus 15-79; Schilling, Umbruch oder Hauptetappe; Schilling, Umbruch oder Gipfelpunkt 15-24 (zum Mittelalter). Kuhn, Religion. Zum Zusammenhang von Verrechtlichung und Intensivierung der priesterlichen Laienbetreuung im 11. Jh. vgl. Austin, Jurisprudence 956 f. und passim. Berman, Law and revolution; Moore, Erste europäische Revolution. Zur problematischen Revolutionsterminologie vgl. Schieffer, Papal Revolution.
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sierungsprozesses nicht ausreicht53. Im Gegenteil, das modernisierende Element scheint ein wesentlicher Charakterzug der alteuropäischen Religionsgeschichte vom Mittelalter bis ins 19. Jahrhundert gewesen zu sein. Epochen der Beschleunigung verbanden die mittelalterlichen Christianisierungswellen mit der konfessionellen Modernisierung der Frühen Neuzeit54, und selbst in der aufgeklärten Moderne können religiösen Verdichtungsphasen modernisierende Elemente innewohnen55. Dass einige Jahrhunderte früher die mendikantische Durchdringung der hoch- und spätmittelalterlichen Gesellschaft einen Disziplinierungsschub mit sich brachte, der zugleich mit einer Freisetzung neuer individueller Handlungsspielräume verbunden war und als Modernisierungsschub verstanden werden kann, wird noch zu zeigen sein56. Religionssoziologie. Die Ordensgeschichtsschreibung untersuchte das Phänomen „Mendikantentum“ häufig im Rahmen einer Kirchengeschichtsschreibung, die sich auf einen religiösen Bereich im engeren Sinn beschränkte und die gesellschaftliche Wirksamkeit nach außen vernachlässigte57. Eine Konzentration auf herausragende Gelehrte führte zudem zur intensiven Diskussion scholastischer Lehrmeinungen, die große Teile der Bevölkerung jedoch kaum erreichten, sowie zur Geringschätzung didaktischer Schriften moralischer und rechtlicher Art58. Diese einseitige Ausrichtung wurde durch den konfessionellen Hintergrund vieler Kirchenhistoriker verstärkt59. 53 54 55
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Zum Modell einer „Ausdifferenzierung“, die den Verlust der religiösen „Gesamtdeutungsmacht“ mit sich brachte, vgl. Dilcher, Säkularisierung 570. Zu Versuchen, diese epochenübergreifende Zeitspanne als Einheit wahrzunehmen, vgl. Hassinger, Werden; Chaunu, Temps¸ Schilling, Die neue Zeit. Zum Paradox, dass die US-amerikanische Gesellschaft einerseits als Inbegriff der Moderne gilt, andererseits aber die Säkularisierung, verstanden als allgemeiner Bedeutungsverlust der Religion, hier vergleichsweise gering ausgeprägt ist, vgl. Thomas, Revivalism; Prätorius, In God we Trust. – Zur Rolle der Religion im komplexen Wandlungsprozess von Kulturen und Mentalitäten vgl. grundsätzlich Kaufmann, Religion und Modernität; Graf, Wiederkehr. Zu einem „dialektischen Prozess, in dessen Verlauf religiöse Energien in die weltlichen Bereiche eingespeist wurden“, grundsätzlich Schilling, Der religionssoziologische Typus Europa 43. Zur Problematik vgl. Saurer, Kirchengeschichte. Zu den Themen der Kirchengeschichte im historiographiegeschichtlichen Überblick vgl. Angenendt, Frömmigkeit 53-68 und 93-95 (zu aktuellen Projekten). Hamm, Nahe Gnade 541: „Wer seinen Blick auf die spätscholastische Gelehrtenliteratur der europäischen Universitäten beschränkt, wird an den wesentlichen Innovationen der spätmittelalterlichen Religiosität vorübergehen“. Mit Einschränkungen gilt dies bereits für das 13. Jh. Zur Kirchengeschichte im Spannungsfeld von Glauben und Wissenschaft vgl. Borgolte, Mittelalterliche Kirche 61-65. Zur konfessionellen Gebundenheit der Kirchengeschichte vgl. Angenendt, Frömmigkeit 54-57.
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Doch Religion wurde nicht im Bereich der spekulativen Theologie praktiziert60. Neue Fragestellungen tragen dem Rechnung61. Religionssoziologische Theorien haben die historische Methode verfeinert62; sozialgeschichtliche Interpretationen des kirchlichen und religiösen Lebens halfen dabei, die Gründung von Universitäten, die Vernetzung von Domkapiteln sowie den Aufstieg des Papsttums auch unter sozioökonomischen und verwaltungstechnisch-politischen Gesichtspunkten zu verstehen. Diese und andere Begegnungsfelder zwischen Kirche und Welt wurden untersucht63. Das hat auch die Ordensgeschichtsschreibung verändert und Studien über das wirtschaftliche Verhalten der Bettelorden, über ihre soziale Zusammensetzung und ihre Einstellung gegenüber städtischen Lebensformen hervorgebracht64. Im Hinblick auf das Mendikantentum erscheint die religionssoziologische Erweiterung besonders notwendig, gehörten die Bettelmönche doch zumindest ein Jahrhundert lang zur Elite einer omnipräsenten Kirche, die dem einzelnen Christen nicht nur meditative Versenkung brachte und ihn mit theologischen Heilsgewissheiten erfüllte, sondern den äußeren Ablauf seines täglichen Lebens mitgestaltete und ihm eine Richtung für sein Handeln wies. Erneute Aufmerksamkeit verdankt Religion einer Renaissance des Kulturbegriffs65. Religion als kulturelles Phänomen begreifend, das der kollektiven und individuellen Sinngebung dient, entdeckte die neuere Kirchengeschichte das Religiöse im Alltag als „Produktivkraft menschlicher Kulturgestaltung“ wieder66. Inzwischen versucht man, sich einem adäquaten Verständnis des Religiösen interdisziplinär mit der Anwendung religions- und sozialgeschichtlicher, kulturanthropologischer sowie psychohistorischer Methoden zu nähern67. Diese methodologische Umorientierung führte zu einer Historisierung kirchlicher und religiöser Phänomene, zu ihrer Interpretation im unmittelbaren Zusammenhang 60
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Zur spätmittelalterlichen „Frömmigkeitstheologie“, die die Laienwelt für eine verinnerlichte Frömmigkeit gewinnen wollte, vgl. Hamm, Frömmigkeitstheologie; Angenendt, Religiosität 188-191. Hervorragender Überblick bei Van Engen, Christian Middle Ages. Vgl. auch Borgolte, Mittelalterliche Kirche 66-70. An einführender Literatur vgl. Luckmann, Unsichtbare Religion (Neudruck der Ausgabe von 1963); Luckmann, Funktion der Religion; Berger, Dialektik; Luhmann, Funktion der Religion; Kaufmann, Religion und Modernität. Vgl. allgemein Borgolte, Mittelalterliche Kirche 69. Stellvertretend Neidiger, Mendikanten. Vgl. Götz von Olenhusen, Religionsgeschichte. Graf, Dechristianisierung 32. Zur Geschichte der mittelalterlichen Religiosität grundlegend Angenendt, Religiosität. Weinzierl, Einleitung 7; Angenendt, Religiosität 1-30.
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mit den gesellschaftlichen Strukturen und Prozessen der jeweiligen Epoche68. Für das konfessionelle Zeitalter wird das Beziehungsgeflecht von Religion und gesellschaftlicher Entwicklung bereits seit Jahrzehnten „im Zeichen eines gesamtgeschichtlichen Paradigmas“ untersucht69, für das Mittelalter wird ein solches Beziehungsgeflecht häufig vorausgesetzt, die gesellschaftliche Wirksamkeit religiöser Faktoren allerdings selten thematisiert. Stimmt es jedoch, dass „seit dem 11. Jahrhundert die dynamischsten religiösen Kräfte in den Anstrengungen der Laien lagen, die über passiven Glauben und kirchliche Rituale hinaus das gewinnen wollten, was geweihte Männer – gleich welchen Grades – als Privileg besaßen und als Pflicht ausübten“70, dann bietet eine religionssoziologische Perspektive einen wichtigen Zugang zu anthropologischen Fragestellungen. In unserem Zusammenhang müsste entsprechend danach gefragt werden, in welchem Ausmaß es die Bettelmönche waren, die den laikalen Anstrengungen nach religiöser Erfüllung Weg und Ventil verschafften, um dabei zur gleichen Zeit die eigenen Vorstellungen zu verwirklichen. Die Religionssoziologie ruht auf festen Fundamenten, die ihre Strahlkraft noch heute aus der paradigmatischen Arbeit Max Webers über die protestantische Ethik und den Geist des Kapitalismus ziehen71. Webers Ausgangspunkt bildet die Überzeugung, dass wirtschaftliches Handeln – wie jede Form sozialen Handelns – einer adäquaten Sinngebung bedürfe, dass also eine „Wahlverwandtschaft“ zwischen Formen des religiösen Glaubens und einer konkreten Berufsethik bestünde. Im Falle des Kapitalismus habe diese Sinngebung nicht in einem zu allen Zeiten vorhandenen Gewinnstreben gelegen, sondern in einer ethisch gefärbten Maxime der Lebensführung, die den wirtschaftlichen Erfolg nicht als Mittel zum Zweck der Befriedigung materieller Lebensbedürfnisse, sondern als Selbstzweck begriffen habe. Die einem solchen ökonomischen System entsprechende asketische Berufsethik habe sich im westeuropäischen Calvinismus entfaltet, der von seinen Anhängern
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Zu Religion als „sozial geformtes, mehr oder weniger verfestigtes, mehr oder weniger obligates Symbolsystem, das Weltorientierung, Legitimierung natürlicher und gesellschaftlicher Ordnungen und den Einzelnen transzendierende Sinngebungen mit praktischen Anleitungen zur Lebensführung und biographischen Verpflichtungen“ einschließt, vgl. exemplarisch die Studie von Greyerz, Religion und Kultur 11. Vgl. dazu Kaufmann, Religion und Kultur. Schilling, Literaturbericht: Konfessionelles Zeitalter 360 f. Van Engen, Christian Middle Ages 547. Weber, Protestantische Ethik; Weber, Kritiken. Zum Werk Schluchter, Religion; Tyrell, Worum; Lehmann, Entstehung; Lenger, Weber. Zu Webers Religionsbegriff vgl. Tyrell, Religiöse.
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eine rigorose Systematisierung der ethischen Lebensführung sowie eine planmäßige Reglementierung des Lebens gefordert habe. So habe die innerweltliche Askese, die „Rationalisierung der innerweltlichen Lebensführung im Hinblick auf das Jenseits“ jenen wesentlichen Beitrag dargestellt, den der asketische Protestantismus zur Genese der kapitalistischen Berufskonzeption geleistet habe – oder, in Webers Worten: „Denn indem die Askese aus den Mönchszellen heraus in das Berufsleben übertragen wurde und die innerweltliche Sittlichkeit zu beherrschen begann, half sie an ihrem Teile mit daran, jenen mächtigen Kosmos der modernen, an die technischen und ökonomischen Voraussetzungen mechanisch-maschineller Produktion gebundenen Wirtschaftsordnung zu erbauen, der heute den Lebensstil aller Einzelnen, die in dieses Triebwerk hineingeboren werden […] mit überwältigendem Zwange bestimmt“72. Es wird noch zu fragen sein, ob die monastische Lebenssystematisierung nicht schon von den Mendikanten auf die Straßen der expandierenden Städte des späten Mittelalters getragen worden war, ob also nicht bereits im Einwirken der Bettelmönche auf die Gesellschaft zarte Keime steckten, die zur Verbreitung von Denkkategorien beitrugen, die Webers „kapitalistischem Geist“ durchaus verwandt erscheinen73. Die Religionssoziologie, die das Verhältnis von Religion und sozialer Entwicklung thematisiert, hatte in Webers Studie ihr inzwischen reichlich besprochenes Gründungsdokument erhalten74. Bisher – so Weber am Ende seiner Studie – pflegte der moderne Mensch „selbst beim besten Willen nicht imstande zu sein, sich die Bedeutung, welche religiöse Bewusstseinsinhalte für die Lebensführung, die ‚Kultur’ und den ‚Volkscharakter’ gehabt haben, so groß vorzustellen, wie sie tatsächlich gewesen ist, – so kann es dennoch natürlich nicht die Absicht sein, an Stelle einer einseitig ‚materialistischen’ eine ebenso einseitig spiritualistische kausale Kultur- und Geschichtsdeutung zu setzen. Beide sind gleich möglich, aber mit beiden ist, wenn sie nicht Vorarbeit, sondern Abschluss der Untersuchung zu sein beanspruchen, der historischen Wahrheit gleich wenig gedient“75. Für die Interpretation des Mendikantentums folgt aus Webers Worten, dass eine spiritualistische Interpretation, der es vorrangig um eine hagiographische Verklärung der 72 73 74 75
Weber, Protestantische Ethik 153. Zu Webers Religionssoziologie vgl. Angenendt, Religiosität 7-9. Zur Entstehung eines rationalen Kapitalismus zur Zeit der Renaissance in Oberitalien vgl. Cohen, Rational Capitalism. Kritisch dazu Holton, Max Weber 166-180. Zur kritischen Würdigung aus aktueller Perspektive vgl. stellvertretend Dülmen, Protestantismus; Brocker, Max Webers Erklärungsansatz. Weber, Protestantische Ethik 155.
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Ordensmänner und eine religiöse Erleuchtung der Laienwelt geht, modernen Ansprüchen nicht genügt. Religiöse Mentalitäten in ihrer Substanz zu erfahren und zu würdigen mag unmöglich sein76; die Wechselwirkungen zwischen religiösem Denken und sozialem Handeln zu untersuchen, um sozialen Wandel zu erklären, gehört dagegen zu einer wichtigen Aufgabe kulturwissenschaftlicher Mittelalterforschung77. Es war ebenfalls Max Weber, der die Wechselwirkungen zwischen Gesellschaft und Mendikantentum sowie die modernisierenden Effekte der religiösen Bewegung des hohen Mittelalters betont hat. Weber charakterisierte das Zusammentreffen und die wechselseitige Durchdringung der Phänomene Stadt und religiöse Bewegung78, deren orthodoxe Erscheinungsform die Bettelmönche darstellen, als Beginn des okzidentalen Sonderwegs, als „erste Transformation“ auf dem Weg zum Kapitalismus westlicher Prägung, die den städtisch-bürgerlichen Erwerbstrieb mit einem System rationaler Ethik verbunden und einen Rationalisierungsschub ausgelöst habe79. Auf dieser „Transformation“ basierten die Entfaltung der protestantischen Ethik im 16. und 17. Jahrhundert sowie die Versachlichung der sozioökonomischen Beziehungen im 18. und 19. Jahrhundert. Webers Hypothese blieb flüchtige Skizze, eine geplante Untersuchung der sozialen Entwicklung Europas bis zur Reformation wurde nicht ausgeführt80, dennoch muss eine Studie zur gesellschaftspolitischen Bedeutung des Mendikantentums Webers Rationalisierungsthese in ihre Überlegungen mit einbeziehen. Es sind allerdings weder Webers Terminologie noch die dem Paradigma einer zunehmenden Rationalisierung zugrunde liegende Einseitigkeit, die Webers Gedanken für die vorliegende Studie wertvoll machen. Entscheidend ist vielmehr die damit verbundene Vorannahme, dass religiöse Wirkkräfte die soziale Wirklichkeit in wesentlichem Ausmaß mitgestalteten. Mit gutem Grund hat man daher das Paradigma der Sozialdisziplinierung als Konkretisierung von Webers Modell der Rationalisierung begriffen und eine nach rationalen Kriterien gewonnene Normierung der Gesellschaft samt der damit verbundenen Herrschafts-
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Zweifel an der Feststellbarkeit der „Wirkungen der mittelalterlichen Religionen auf die einzelnen“ bei Borgolte, Europa christliches Land 1075-1077. Beispiele für Religion als weltsprengende bzw. weltkonservierende Kraft bei Borst, Lebensformen 278-287. Zur Stadt vgl. Schreiner, Stadt; Dilcher, Max Webers Stadt; Bruhns/Nippel (Hg.), Weber. Zum Mönchtum vgl. Selge, Max Weber, Angenendt, Frömmigkeit 73; Oexle, Priester 210-216. Vgl. Schluchter, Religion 45-70; Oexle, Priester 213. Zu Webers simplifizierendem und dichotomischem Mittelalterbild vgl. Stock, Listening 118.
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und Rechtsbeziehungen als gemeinsamen Nenner beider Modelle bezeichnet81. So gilt für die aktuelle Erforschung der wechselseitigen Beziehung zwischen Religion und Gesellschaft, was Klaus Schreiner vor einigen Jahren als Perspektiven- und Paradigmenwechsel beschrieben hat: „Die frömmigkeitsgeschichtliche Forschung ist begriffs- und theoriebewusster geworden. Das äußert sich zum einen im Gebrauch von Begriffen, deren Bildung den Regeln heutiger Begriffsgeschichte folgt, zum anderen im Rückgriff auf Begriffs- und Theorieangebote der Religionssoziologie. Letztere lassen es als methodisches und sachliches Erfordernis erscheinen, Gesellschaft zu einem vorrangigen Bezugssystem von Religion zu machen. Ein solches Frage- und Erkenntnisinteresse rechnet mit der empirisch verifizierbaren Möglichkeit, dass zwischen der Frömmigkeit, wie sie von Individuen und Gruppen praktiziert wird, und ihrer jeweiligen gesellschaftlichen Umwelt ein historisch variables Verhältnis des Austausches, der wechselseitigen Einflussnahme und gegenseitigen Abhängigkeit besteht“82. Modernisierung als Prozess. Die Postmoderne lehnte Begriffe wie „Modernisierung“ oder „Fortschritt“ ab und sprach stattdessen von Wandel oder verweigerte den Richtungsdiskurs überhaupt83. Betont wurden Vorstellungen der Pluralität, des Zufälligen, der Gleichzeitigkeit heterogener Prozesse und der unvereinbaren Widersprüche. Eine solche Begrifflichkeit wollte die Ziel- und Konzeptlosigkeit menschlichen Handelns sichtbar machen und daran erinnern, dass die globalisierte Gemeinschaft der Gegenwart keine höhere Stufe der Zivilisiertheit erreicht habe, von der sie auf eine linear fortschreitende Entwicklung zurückblicken könne. So trat an die Stelle der „Großen Erzählung“ das Kleinteilige, das Nebeneinander, die Aufzählung, teilweise aber auch die Beliebigkeit. Hier begegnet die Postmoderne trotz völlig unterschiedlicher Motivlage der traditionell erzählungsfeindlichen Ausrichtung einer Mediävistik, der das vorsichtige Kumulieren von Argumenten näher steht als die monokausale „Meistererzählung“, die eine subjektive Deutung wagt und eine vielschichtige Realität gleichsam zu verschlingen droht. Brian Stock fasste das Ergebnis in treffende Worte: “The books and especially the footnotes are longer, but the subjects invariably more limited in scope. For the academic medievalist, as for the classicist of the last century, the age of bold interpretation would appear to have yielded 81 82 83
Breuer, Sozialdisziplinierung 52; Schulze, Oestreich 291; Blickle, Gute Polizei 103 f.; Oexle, Priester 214. Schreiner, Frommsein 59 f. Zur Charakterisierung postmoderner Historiographie vgl. Iggers, Geschichtswissenschaft; Borgolte, Mittelalterforschung 615-628.
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to that of the cautious advance. […] The situation can be summed up as follows: a few writers now devote a good deal of time to articulating their theoretical concerns; the majority go on cultivating their esoteric gardens; and the placid surface of medieval studies remains undisturbed“84. Damit markiert die Postmoderne in ihrem Zusammentreffen mit einem academic medievalism, dessen Wesen die Kleinteiligkeit bestimmt, den Endpunkt einer historiographischen Entwicklung, die dogmatischen Geschichts- und Gesellschaftsutopien immer skeptischer gegenübersteht. Aus der berechtigten Ablehnung eindimensionaler Fortschrittskonzepte wurde die generelle Absage an eine Geschichtsbetrachung, die den längerfristigen Strukturwandel als Entwicklung hin zu einer modernen Gesellschaft begreift. Heinz Schilling hat die pauschale Ablehnung makrohistorischer Theorien kritisiert, als er vor einigen Jahren auf die „jüngst in Mode gekommene, […] fast pathologische Kritik an makrohistorischen Ansätzen“ verwies85. Und tatsächlich hat der postmoderne Skeptizismus die Geschichtswissenschaft zwar befruchtet, ist aber an seine Grenzen gestoßen. Ein Text ohne Autor, eine Vergangenheit ohne Deutung, eine Historiographie ohne Anregungs- und Orientierungsfunktion können geistreiche Spielart, aber nicht wesentliche Aufgabe einer Geschichtsschreibung sein, die gleichermaßen nach Erklärungen wie Lesern sucht. Eine historische Kulturwissenschaft, die bleibende Errungenschaften der historischen Sozialwissenschaften mit erweiternden Konzepten der jüngsten Methodendiskussion kombiniert86, brachte die Diskussion über die Postmoderne zum Verstummen. Das bedeutete keine Rückkehr zu alten Konzepten. Die historische Kulturwissenschaft lehnt – wie dies die historische Sozialwissenschaft vorgemacht hat87 – eindimensionale Evolutionssmodelle ab, indem sie die Neigung kritisiert, die eigene Geschichte „auf eine Linie“ zu bringen und als positivistische und politiklastige Faktenhäufung darzustellen. Alternativ werden in kulturwissenschaftlichen Analysen die Wirkmächtigkeit von Vorstellungen und
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Stock, Listening 54. Vgl. auch ebd. 114 f. Schilling, Disziplinierung 691. Zum Konzept einer historischen Sozialwissenschaft vgl. einführend Kocka, Historische Sozialwissenschaft; Raphael, Geschichtswissenschaft 173-195. Zur Problematik vgl. auch Kocka (Hg.), Sozialgeschichte im internationalen Überblick; Kocka, Sozialgeschichte in Deutschland. Zur kulturhistorischen Kritik an einer „modernisierungstheoretischen“ Sozialgeschichte sowie zur sozialhistorischen Antwort darauf vgl. Mergel, Modernisierungstheorie 203. Zur Problematik allgemein vgl. Flora, Modernisierungsforschung.
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kulturellen Praktiken betont und dem Randständigen und Zufälligen größeres Gewicht eingeräumt88. Dies muss aber keinen völligen Verzicht auf generalisierende Ansätze bzw. Gedanken zum längerfristigen sozialen Wandel bedeuten89. Unter der Voraussetzung, dass Strukturen nicht verabsolutiert und als mechanische Raster begriffen werden, vor deren Hintergrund die Zeitgenossen wie Marionetten agierten90, ist eine kulturhistorische Arbeitsweise mit modernisierungstheoretischen Erklärungsmodellen durchaus vereinbar. Ausgangs- und Endpunkt für einen erneuerten Strukturbegriff muss der historische Akteur als fühlendes, deutendes, handelndes Individuum mit konkreten Wertvorstellen und kulturellen Prägungen sein. Denn immer sind es neben vorgegebenen Umständen die individuellen Handlungen, Empfindungen und Deutungen, die den historischen Erklärungsmodellen zugrunde liegen. Eine solche kulturhistorische Rückkoppelung der historischen Sozialwissenschaft hat dazu geführt, dass bereits von einer „Renaissance der Modernisierungstheorien“ die Rede ist91. Für die Mittelalterforschung bedeutet dies in den Worten von Klaus Schreiner: „Will Wissenschaft vom Mittelalter modern und aktuell sein, ist sie gut beraten, wenn sie sich nicht auf das Geschäft fragwürdiger Sinn- und Kontinuitätsstiftungen einlässt und sich ideologischen Begehrlichkeiten verweigert. Sie kann […] auf Grundprobleme menschlicher Lebensführung hinweisen, die – unabhängig von Zeit und Raum – unserer Interessen würdig und bedürftig sind. Sie kann zeigen, ob und inwieweit sich Ideen und Strukturen der mittelalterlichen Welt auf Prozesse politischer und wirtschaftlicher Modernisierung beschleunigend oder hemmend auswirkten“92. Dabei gilt es zu beachten, dass der Terminus „Modernisierung“ keineswegs als wissenschaftliche Apologie der Moderne missverstanden werden darf, sondern eine Ambivalenz beinhaltet, die Erfolg und Verlust mit einbezieht93. Modernisierung wird zum einen als Prozess, als 88
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Zu einer „kulturgeschichtlichen Programmatik“ vgl. Daniel, Kompendium Kulturgeschichte 297-466; Raphael, Geschichtswissenschaft 228-246. Zum ähnlichen Programm der Historischen Anthropologie vgl. Dülmen, Historische Anthropologie. Zur exemplarischen Anlage des Europa-Buches von Michael Borgolte vgl. Ertl/ Esders, Auf dem Sprung. Vgl. Dülmen, Historische Anthropologie 101-104. Vgl. Ulbricht, Marionetten 13-32. Vgl. Mergel, Modernisierungstheorie 203. Zur soziologischen „Theorie reflexiver Modernisierung“ vgl. Ulrich Beck, So macht Gleichheit Ungleiche aus uns allen, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung 235 vom 8. Oktober 2004, S. 36. Schreiner, Frommsein 58 f. Zur semantischen Dimension des Begriffs sowie seiner Geschichte vgl. Mergel, Modernisierungstheorie.
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Anpassung an einen gegebenen Standard, verbunden mit einer Erhöhung der Funktionsfähigkeit, verstanden, meint aber zum anderen auch die Herstellung eines Zustandes der sich selbst ständig verändernden Moderne, die man heute als „Vielfalt der Moderne“ zu begreifen sucht94. Verschiedene Regionen durchliefen Modernisierungsprozesse nicht nur zu unterschiedlichen Zeitpunkten, auch das Wesen der Modernisierung wurde durch regionale Eigenheiten geprägt. Bestandteil dieses Prozesses waren Phasen beschleunigten Wandels ebenso wie solche der Stagnation oder der Regression95. Das Ergebnis ist nicht eine homogene globale Moderne, sondern multiple modernities, die globalisierte Wertvorstellungen und Handlungspraktiken mit spezifischen Elementen kombinieren96. Die Verwendung von Elementen und Ergebnissen der Sozialdisziplinierungsdebatte bildet nicht den alleinigen theoretischen Ausgangspunkt dieser Studie. Von gleichrangiger Bedeutung sind Norbert Elias’ Thesen zum „Prozess der Zivilisation“, niedergelegt im 1939 erstmals veröffentlichten Hauptwerk des Soziologen, das nach seiner Neuauflage 1969 weltweit rezipiert wurde97. Elias interpretierte in seiner mentalitätsgeschichtlichen Studie das Ansteigen der Scham- und Peinlichkeitsschwelle vom 12. bis zum 18. Jahrhundert als historischen Trend vom Fremd- zum Selbstzwang, als Verlagerung der Triebsteuerung in das Innere des Menschen. Verbunden sah Elias diesen gesellschaftlichen „Zwang zum Selbstzwang“ mit einer zunehmenden sozialen Funktionsteilung sowie der Herausbildung größerer politischer Einheiten. An deren Zentren, den frühneuzeitlichen Königshöfen, habe sich der Zivilisationsprozess intensiviert, sei doch der depravierte Adel gezwungen gewesen, sein Verhalten bei Hofe ständig zu überprüfen und die Konsequenzen des eigenen Tuns abzuwägen. Mit dieser Selbstbeobachtung sei eine Zunahme des Selbstzwangs ebenso wie die Erhöhung der Schamund Peinlichkeitsgrenzen einhergegangen. Für Norbert Elias stellen daher Adel und Hof des Ancien Régime die soziale Klasse sowie den Ort der entscheidenden Transformationen modernen Verhaltens dar. Norbert Elias’ Forschungsparadigma wird auch heute noch geschätzt. Richard van Dülmen betonte die Innovationskraft sowie die produktiven Anstöße, durch die Elias eine „neue anthropologisch orientierte Kulturgeschichte entscheidend mitgeprägt“ habe98. Jürgen Kocka 94 95 96 97 98
Eisenstadt, Vielfalt der Moderne. Eisenstadt, Tradition. Zur Problematik vgl. weiterführend Sachsenmaier (Hg.), Reflections on multiple modernities. Elias, Prozess. Dülmen, Norbert Elias 366 f.
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lobte Elias’ „empirisch gesättigte Theorie der Gesellschaftsgeschichte Europas“, diesen „Entwurf einer Synthese, die die Entwicklung des Staates und der sozialen Struktur ebenso einbezieht wie die Entwicklung der Kultur und der menschlichen Psyche“99. Trotz solcher positiven Stellungnahmen stieß Elias’ makrohistorische These auch auf Kritik. Als ethnozentrische und fortschrittsgläubige Apotheose des westlichen way of life, als Mythos, in dem ein Zerrbild vergangener und fremder Kulturen gezeichnet werde, wurde der „Prozess der Zivilisation“ von Hans Peter Duerr bezeichnet. Die Kontrolle der „tierischen Triebnatur“ des Menschen sei zwar historisch bis zu einem gewissen Grad variabel, lasse sich aber nicht als langfristiger evolutionärer Prozess weg von primitiver Triebhaftigkeit verstehen. Vielmehr seien die Menschen in einer überschaubaren traditionellen Gesellschaft einem höheren Maß sozialer Kontrolle unterworfen, während sich im Prozess der Moderne die Freiheitsgrade des Menschen erhöht hätten und die Scham- und Peinlichkeitsgrenzen niedriger geworden wären100. Gerd Schwerhoff hat Elias’ Forschungsparadigma vor einigen Jahren einer umfassenden Kritik unterzogen101. Diese betrifft vor allem – neben einer grundsätzlich problematischen Art unreflektierter Quellenlektüre sowie einer inzwischen überholten Verzerrung des (absolutistischen) Hofs zum Domestikationsinstrument102 – drei Punkte: das Verhalten des mittelalterlichen Adels, die Rolle der Religion103 sowie die Träger und Ergebnisse des Zivilisationsprozesses. [1] Elias sah im adligen Ritter des Mittelalters den Träger ungezügelter Angriffslust und sinnloser Grausamkeit par excellence. Neuere Untersuchungen haben dieses statische und einseitige Bild relativiert. Von einem ritterlichen Erziehungs- und Zivilisierungsprogramm, mit dem Hofkleriker seit dem 10. Jahrhundert auf den Adel einwirkten, hat C. Stephen Jaeger gesprochen. Josef Fleckenstein hatte neben der militärischen die zivilisatorische Funktion des Rittertums hervorgehoben und den Hof als Ort einer zivilisatorischen und höfisch-kulturellen Selbstverwirklichung charakterisiert104. Selbst in jenen Arbeiten, die der adlig-ritterlichen Gewaltausübung einen konstitutiven Charakter für die politische Kultur des späten Mittelalters einräumen, wird Gewalt nicht als zügellos und willkürlich, sondern 99 100 101 102
Kocka, Über den Prozess der Zivilisation 332. Duerr, Mythos Bd. I 7, 10-12; Bd. II 11-24 und 256 f.; Bd. III 9-31. Schwerhoff, Zivilisationsprozess 573-601. Zum mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Hof vgl. Moraw, Hof. Zur Kritik an Elias’ „Königsmechanismus“ vgl. Duindam, Norbert Elias; Duindam, Keen Observer 96-98; Asch, Hof 127-139 und 142. 103 Dazu auch Angenendt, Religiosität 10 f. 104 Zu beiden Autoren vgl. unten 374 f.
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als rational und zielgerichtet beschrieben105. „Die Diskussion der aktuellen Forschung kreist, ob eine gedämpfte oder eine forcierte Aggressionsausübung behauptet wird, immer um den sozialen Sinn bzw. die soziale Funktion von Gewalt. Elias dagegen überspringt derartige, für einen Soziologen eigentlich nahe liegende Interpretationsversuche und nimmt mittelalterliche Gewaltsamkeit als Ausdruck quasi ‚natürlicher Triebe’. Trotz der immer wieder beschworenen Anfangslosigkeit seines Zivilisationsprozesses gewinnt er so einen Pol für ein – entkleidet man es des schmückenden Beiwerks – im Wesen dichotomisches Modell. Der Verdacht liegt nahe, dass Elias hier ein ideologisch geprägtes Mittelalterbild reproduziert, das bis heute als Kontrastfolie für viele ‚moderne’ Erscheinungen gerne gepflegt wird“106. [2] Norbert Elias hat daneben soziale Gruppen und kulturelle Phänomene vernachlässigt, die für die Genese zivilisierten Verhaltens höchste Relevanz besessen haben. Dies trifft einerseits auf das Bürgertum zu, das für Elias keine aktive Kraft des historischen Wandels darstellte, sondern durch die Imitation höfischer Verhaltensweisen lediglich passiv zu deren Rezeption beitrug. Die Nichtberücksichtigung religiöser Faktoren andererseits geht auf eine bewusste Entscheidung zurück, war Elias doch der Überzeugung, dass die Religion, jenes Bewusstsein der strafenden und beglückenden Allmacht Gottes, für sich allein niemals zivilisierend oder affekthemmend gewirkt habe, sondern jeweils genau so zivilisiert gewesen sei wie die Gesellschaft, die sie trug107. In dieser von Schwerhoff als Defizit erkannten Frontstellung gegen Max Webers religionssoziologische Arbeiten zielte Norbert Elias an der realen Wirkmächtigkeit religiöser Vorstellungen vorbei108. „Die Forderung, Religion nicht isoliert von ihren sozialen Existenzgründen zu analysieren, erscheint durchaus berechtigt. Auszuschließen, dass religiöses Denken und Fühlen in bestimmten historisch-sozialen Konstellationen langfristig verhaltensleitend sein kann, und stattdessen die alles entscheidende Kraft sozialer Zwänge in Form von Machtmonopolen zu postulieren, lässt demgegenüber auf dogmatische Verengungen schließen“109. Da Religion und 105 Algazi, Herrengewalt. Ausgewogener Jendorff/ Krieb, Adel im Konflikt. 106 Schwerhoff, Zivilisationsprozess 584. Zur Elias-Kritik aus dieser Perspektive vgl. auch Dinges, Formenwandel. 107 Vgl. Elias, Prozess I 277. 108 Zu Elias’ Auseinandersetzung mit Max Weber vgl. Opitz, Quellen 43 f. Zum Zusammenhang von Religion und öffentlicher Ordnung in der frühen Neuzeit vgl. exemplarisch Boer, Conquest. 109 Schwerhoff, Zivilisationsprozess 592. Zur Vernachlässigung religiöser Faktoren vgl. auch Duindam, Norbert Elias; Asch, Hof 124 f. – Zu Sittenzuchtsbemühungen und disziplinierender Funktion von Religion und Kirche in der Frühen Neuzeit vgl. Schilling, Geschichte; Schilling, Sündenzucht; Schilling, Kirchenzucht.
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Kirchen zu den „zentralen Säulen der gesellschaftlichen Ordnung“ des vormodernen Europas zählten, standen Wandlungsprozesse im religiösgeistigen sowie im politisch-weltlichen Bereich in einem untrennbaren Abhängigkeitsverhältnis zueinander110. [3] Schließlich kritisierte die moderne Forschung auch die zielgerichtete Linearität des Modells. Elias war davon ausgegangen, dass die Affektregulierung seit dem 12. Jahrhundert in der okzidentalen Gesellschaft fortwährend im Wachsen begriffen gewesen sei. Der hinter dieser Vorstellung steckende Fortschrittsglaube wurde insbesondere von Hans Peter Duerr scharf angegriffen und etwa anhand der Gewalt in der modernen Gesellschaft widerlegt. Für Duerr stellt sich die mittelalterliche Gesellschaft in ihrer Kleinräumigkeit und Statik rigoroser dar als eine moderne permissive Gesellschaft. Die Anonymität und Rollenzersplitterung habe vor allem in den größeren Städten eine Verminderung jeder Form sozialer Kontrolle und somit gelockerte Sitten hervorgebracht111. In ihrer Umkehrung von Elias’ Teleologie bleibt allerdings auch Duerrs These eindimensional und zielgerichtet. Überzeugender sind in diesem Zusammenhang Modelle, die von einem dialektischen Gesellschaftswandel im sich ständig wandelnden Spannungsbogen von Freiheit und Zwang ausgehen. So hat Cas Wouters in der Moderne einen „Trend zur Informalisierung“ erkannt. Ein vertraulicherer Umgang zwischen Eltern und Kindern, zwischen Vorgesetzten und Untergebenen, eine Lockerung gesellschaftlicher Konventionen und Höflichkeitsstandards hätten sich durchgesetzt. Diese „Informalisierung“ interpretierte Wouters jedoch nicht als eine Umkehrung des Zivilisationsprozesses, sondern als Ergebnis eines dialektischen Prozesses, sei die Relativierung gesellschaftlicher Zwänge doch nur auf der Basis größerer Selbstzwänge erfolgt112. Uwe Timm hat in seinem Roman „Am Beispiel meines Bruders“ kürzlich die deutsche Nachkriegszeit als eine Zeit charakterisiert, in der die dem Krieg entkommene Vätergeneration im dunklen Schatten der Vergangenheit, die Häuser, Familien und Träume zerstört hatte, nach kulturellen Orientierungspunkten und sozialen Funktionen suchte. Im beschriebenen Zusammenspiel eines mühsamen Wiederaufbaus gesellschaftlicher und ökonomischer Strukturen mit starren gesellschaftlichen Konventionen kommt die Ambivalenz der Moderne im Sinne von Cas Wouters deutlich zum Vorschein: Der Schwarzmarkt, das entsprach seinen Fähigkeiten, das war er selbst, die Zeit, in der Improvisation gefragt war, man musste den richtigen Riecher haben, mehr scheinen als sein, es waren ja ständig Wechsel auf die Zukunft, 110 Schilling, Der religionssoziologische Typus Europa 42 f. 111 Vgl. Duerr, Mythos II 20 f. 112 Wouters, Informalisierung 290 f.
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Schrotthändler wurden Großindustrielle, wie Schlieker in Hamburg, der später bankrott ging, insofern war er, der Vater, im kleinen, was Schlieker im großen war. Eine kurze Zeitspanne lang waren nicht Ausbildungen, Zertifikate, Zeugnisse, Diplome gefragt, die er nicht vorweisen konnte, sondern Geschicklichkeit, Ideen, Beziehungen, Visionen, Überredungskünste. Etwas von der amerikanischen Lebensform, die ihm verhasst war, aber seiner nicht abgeschlossenen Ausbildung, seiner ganzen Existenz genau entsprach113. […] Was die Leute denken, das war die immerwährende Sorge um die eigene Geltung. Nicht in der oberflächlichen Bedeutung, was die anderen von einem halten, sondern als Spiegel dessen, was man selbst von sich halten kann, was ist man, als was erscheint man. Beides muss beständig miteinander abgeglichen werden. Adel ist Teil der Person, bestimmt von der Geburt, dem Geblüt, egal, ob jemand verkracht, verurteilt, der bürgerlichen Ehrenrechte verlustig ist, er bleibt adelig. Der Bürger aber, verkracht, gescheitert, bankrott, ist nichts mehr, verliert seinen sozialen Schatten. Darum auch das Peinlichkeitsgefühl, das nicht mit dem Taktgefühl zu vergleichen ist, das stets den anderen bedenkt. Peinlichkeit denkt nur an sich, ist die Angst, sozial zu versagen. Es ist der Blick von außen auf sich, immer mit dem vermuteten Blick des anderen. Ein scheeler Blick114.
Aus Elias’ Sicht war es der Fürst, später der Staat, der mit seinem Gewaltmonopol dem Adel, in weiterer Folge auch den bürgerlichen Untertanen Affektregulierungen aufzwang und so zur Selbstkontrolle erzog. Diese auf wenigen Wirkfaktoren beruhende Sicht wird heute abgelehnt. Zivilisierung ist auch ohne starkes politisches Zentrum vorstellbar, adlige Oberschichten müssen keine pionierhafte Rolle spielen. Der historischen Realität angemessener ist ein Modell, das nicht nur religiöse Weltbilder als Wirkfaktoren mitberücksichtigt, sondern auch verschiedene soziale Gruppen als partizipierende Elemente des Zivilisationsprozesses anerkennt115. Zu suchen wäre schließlich nicht nach einer eindimensionalen Zunahme oder – im Falle der Elias-Gegner – Abnahme von Mechanismen der Fremd- und Selbstkontrolle, sondern nach einem komplexen Zusammenspiel von Freiheit schaffenden und Zwang verstärkenden Faktoren. In einem solchen Rahmen scheint ein adaptiertes Modell des Zivilisationsprozesses mit den Thesen der Sozialdisziplinierungsdebatte vereinbar zu sein, geht es doch beiden Paradigmen um eine möglichst umfassende Würdigung der verschiedenen Faktoren, die zu einer Disziplinierung in Segmenten der Gesellschaft beigetragen haben. Insbesondere die dialektische Elias-Kritik, wie sie Cas Wouters vorgetragen und Uwe Timm in 113 Uwe Timm, Am Beispiel meines Bruders, Köln 2003, 86. 114 Timm, Beispiel 82 f. 115 Zum Einfluss des städtischen Milieus und zur Urbanisierung des Adels vgl. Asch, Hof 125 f.
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seinem Stimmungsbild der Nachkriegszeit eingefangen hat, kann dazu beitragen, die These der sozialen Disziplinierung zu erweitern und die Gleichzeitigkeit gegenläufiger Prozesse zu integrieren116. Das Paradigma der Disziplinierung wurde in den letzten Jahren mehrfach auch in der Mittelalterforschung benutzt. Dies betrifft vor allem die Bereiche Stadt und Religion, die bereits von Max Weber als zusammenhängende Phänomene erkannt worden sind. Gerhard Oestreich selbst hatte den Begriff der „Sozialregulierung“ eingeführt, um die vorabsolutistische Phase sozialer Normierungsprozesse zu bezeichnen117. Gemeint waren damit jene Normen, die städtische Obrigkeiten seit dem ausgehenden 13. Jahrhundert im Rahmen städtischer Policeyordnungen erließen und auf deren „Originalität“ Georg von Below bereits Ende des 19. Jahrhunderts hingewiesen hatte118. Anhand der frühesten Nürnberger Policeyordnung konnte beispielsweise Werner Buchholz nachweisen, dass der städtische Rat seine normativen Eingriffe in das Leben der Stadtbewohner vom 13. bis zum 15. Jahrhundert sukzessive verdichtete und dabei alle Bereiche frühneuzeitlicher Sozialdisziplinierung – etwa Regulierung großer Festlichkeiten, Eindämmung des privaten Konsums und Einführung einer leistungsoptimierenden Arbeitsethik119 – bedachte. Auf der Grundlage seiner Befunde formulierte Buchholz folgende These: „Der Prozess der Sozialdisziplinierung setzt nicht erst im 16. Jahrhundert ein. Er begann bereits in den Städten des späten Mittelalters. Im 16. Jahrhundert griff dieser Prozess auf das Land über. Was zunächst Anliegen nur der werdenden städtischen Obrigkeit war, wurde nun Anliegen der heranwachsenden Landesherrschaft. […] Diese neu reglementierten Lebensbereiche trugen jedoch auch jetzt noch einen Stempel ihrer Herkunft: die mittelalterliche Stadt“120. Die disziplinierende Kraft religiöser Überzeugungen wurde in den letzten zwanzig Jahren von mehreren Autoren „wiederentdeckt“. Daniela Romagnoli kam bei ihrer Musterung der Erziehungsschriften 116 Zum Nebeneinander von Affektkontrolle und Gewaltausübung im Absolutismus vgl. Asch, Hof 128 f. 117 Zum Begriff vgl. Schulze, Oestreich 267 f. und 292; Krüger, Begriffsbildung 108 und 113 f.; Driever, Normierung 242-248. Kritisch dazu Johann, Kontrolle 17. 118 Below, Städtische Verwaltung 438. 119 Zu den „klassischen“ Regulierungsfeldern Gotteslästerung, Schwören, Kleiderund Hochzeitsordnungen, Ehebruch und Unzucht vgl. Johann, Kontrolle; Driever, Normierung 62-166. Zur Kleidung vgl. Bulst, Problem; Driever, Normierung 214-229. 120 Buchholz, Anfänge 145 f. und 147. Ergänzend Müller, Arbeitsverbote (über handwerksspezifische Normen als sozialdisziplinierende Maßnahmen); Driever, Normierung. Zu Policey- und Stadt-Utopie in der frühen Neuzeit vgl. Dietz, Utopie. Zur sozialen Kontrolle in kleineren Städten und Dörfern in England vom 14. bis 16. Jh. vgl. McIntosh, Controlling.
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aus dem 12. bis 16. Jahrhundert zu dem Ergebnis, dass – trotz der langen Zeitspanne, trotz kultureller Transformationen und politischer Zäsuren – die Schriften mittelalterlicher und frühneuzeitlicher Autoren von Hugo von St. Viktor bis Erasmus von Rotterdam einer allgemeinen Geschichte des sittlichen Benehmens angehörten, die durch ein großes Repertoire ständig wiederkehrender Themen und Leitgedanken gekennzeichnet sei121. Erasmus könne daher nicht, wie Norbert Elias dies getan hat, als Ausgangspunkt einer Geschichte der Disziplinierung und Zivilisierung betrachtet werden. Seit dem 13. Jahrhundert stellt die Autorin zudem einen sprunghaften Anstieg pädagogischer Literatur fest, die unterschiedlichste Bereiche des Lebens zu thematisieren begonnen habe. Im gleichen Zeitraum sei das theologische Element immer stärker zurückgetreten. Die grundsätzliche Bedeutung religiöser Konzepte und Erziehungsvorstellungen für die Zivilisierung der alteuropäischen Gesellschaft wurde noch stärker von Dilwyn Knox betont122. Die Überzeugung, dass innere Haltung und äußeres Benehmen eng miteinander verknüpft seien, habe in der Religion eine besondere Rolle gespielt, da sowohl die Regungen der Seele wie auch die Erscheinung des Körpers die rechte religiöse Haltung widerspiegelten. Es seien daher seit dem 12. Jahrhundert vermehrt Erziehungstraktate für Kleriker und Mönche entstanden, die das Ziel verfolgten, das Innere des Menschen mit seinem Äußeren in Einklang zu bringen. Ideal und Apotheose dieses Programms bildete das Mönchtum, bei dem seelische und körperliche Askese eine Synthese eingegangen sei. Der Novizentraktat des Hugo von St. Viktor, ausführlichste Schrift dieser Gattung, sei zum Standardwerk geworden, vor allem durch seine Aufnahme in die mendikantischen Erziehungsschriften für den laikalen Adel, aber auch für weitere Kreise. So seien monastischklerikale Erziehungsvorstellungen im späten Mittelalter auf die Laienwelt übertragen worden123. Aus diesen Quellen habe im beginnenden 16. Jahrhundert auch Erasmus geschöpft, wie Knox durch einen Vergleich mit David von Augsburg deutlich zu machen versucht124. Der niederländische Humanist und Theologe habe dadurch das Programm klerikaler Novizentraktate endgültig zum Fundament europäischer Erziehungsvorstellungen gemacht. Gemeinsam mit Werken wie den Praecepta des Joachim Camerarius und der Disciplina et institutio puerorum des Otto 121 Romagnoli, Disciplina. Zu mittelalterlichen Erziehungschriften vgl. einführend Nicholls, Matter of courtesy; Riché, Sources pédagogiques; Alexandre-Bidon, Livres d’éducation 147-159. 122 Knox, Disciplina; Knox, Disciplina del corpo. Zum christlichen Geist der städtischen Statutengesetzgebung des späten Mittelalters vgl. Driever, Normierung 241-248. 123 Zu solchen Bemühungen im Mendikantentum des 15. Jh. vgl. beispielsweise Paton, Preaching 210-263 und passim. 124 Knox, Disciplina 20 f. Zu David von Augsburg vgl. unten III.3.
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Brunfels habe De civilitate einen Basistext insbesondere des protestantischen Schulwesens gebildet, wobei das gute Benehmen (civilitas) nicht als höfisches, sondern in mittelalterlicher Tradition als religiöses und ethisches Ideal verstanden worden sei125. Auf die Wirksamkeit religiöser Vorstellungen beim sozialdisziplinierenden Eingreifen städtischer Obrigkeiten hat schließlich Robert A. Laures hingewiesen, indem er die Anstrengungen der kommunalen Führung oberitalienischer Städte, Lebensqualität und Eintracht der Bürgerschaft zu sichern, unter anderem auf biblisch-kirchliche Vorstellungen und Modelle zurückführte. Umfassende Maßnahmen der Marktregulierung hätten – wie Laures anhand der Statutengesetzgebung Bergamos im beginnenden 15. Jahrhundert nachzuweisen sucht – bezweckt, aus dem Chaos irdischen Zusammenlebens ein himmlisches Miteinander zu machen126. Die Bettelorden wurden aufgrund ihrer führenden Rolle in der auf Disziplinierung ausgerichteten Tätigkeit der Kirche zum Gegenstand auch von Spezialstudien. Thomas Scharff untersuchte den Zusammenhang von Schriftlichkeit und Disziplinierung anhand der von Bettelmönchen geleiteten Ketzerinquisition. Die Nutzung der Schrift brachte seiner Auffassung nach eine neue Qualität bei der Verfolgung religiöser Devianz mit sich. Große Mengen von Namen seien in Verhörprotokollen gespeichert worden und so zu einem späteren Zeitpunkt bzw. an entfernten Orten verfügbar gewesen. Die Ableistung von Bußen, der Besuch bestimmter Messen ebenso wie durchgeführte Wallfahrten, musste schriftlich nachgewiesen werden; die entsprechenden litterae hatte der ehemalige Häretiker stets mit sich zu führen. Die Urteile der Inquisitoren wurden nach ihrer feierlichen Veröffentlichung an den folgenden Feiertagen immer wieder in der Messe verlesen. Verkündet wurden auf Volksversammlungen auch Bannlisten und antiketzerische Statuten. Der Verurteilte musste sein Urteil in bestimmten Abständen seinem Beichtvater vorlegen, der es ihm vorlesen und in der Volkssprache erklären sollte127. Ziel des vermehrten Schriftgebrauchs sei es gewesen, das Verhalten der Menschen zu regulieren, bestimmten Normen zu unterwerfen und 125 Zur Verwendung von Erziehungsschriften und pädagogischen Konzepten im protestantischen Schulwesen des 16. bis 17. Jh. vgl. Knox, Erasmus’ De Civilitate. Zum sozialdisziplinierenden Charakter der Reformation im 16. Jh. vgl. Mentzer, Morals. Zu pädagogischen Prinzipien und Praktiken sowie zum mäßigen Erfolg bei der Übermittlung religiöser Inhalte des protestantischen Erziehungssystems vgl. Strauss, Luther’s house of learning. 126 Laures, Heavenly visions. Zur Problematik vgl. auch Driever, Normierung 241-248. 127 Lentes/Scharff, Schriftlichkeit und Disziplinierung (Beitrag zur Inquisition von Scharff). Zur Rolle der Schrift in der Ketzerverfolgung vgl. auch Scharff, Häretikerverfolgung.
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sie zu einer methodischen Lebensführung anzuleiten, um sie auf diese Weise in den größeren Kontext des corpus christianorum zu (re)integrieren. Die Schriftlichkeit habe Prozesse der Rationalisierung, Interiorisierung, Kontrolle und Normierung angestoßen und bilde daher ein wichtiges Zeugnis für einen allgemeinen gesellschaftlichen Wandlungsprozess: „Dass Schriftlichkeit einer der herausragenden Faktoren bei der Konstruktion wie auch Organisation sozialen Handelns ist, steht in den unterschiedlichen Forschungen zum Verhältnis von Oralität und Literalität außer Frage. Die Zusammenhänge zwischen Medium und sozialer Ordnung wie auch weitergehend zwischen medialen Veränderungen – wie eben der vermehrten Bedeutung der Schriftlichkeit im hohen und späten Mittelalter einerseits und gesellschaftlichen Transformationsprozessen andererseits – gilt es freilich jeweils genau zu beleuchten. Dabei steht zu vermuten, dass sich die Medien, die für das jeweilige gesellschaftliche Symbolsystem leitend sind, in den unterschiedlichen Feldern sozialen Handelns in ähnlicher Weise auswirken“128. Ist diese Vermutung begründet – und vieles spricht dafür –, dann muss die Instrumentalisierung von Schriftlichkeit durch die Bettelorden auch über den Bereich der Ketzerverfolgung hinaus wirksam gewesen sein und dabei vergleichbare Ziele der Disziplinierung und Kontrolle verfolgt haben. Die Inquisitoren drängten die Delinquenten von der Außenkontrolle zur Introspektion. Selbstwahrnehmung und Selbstthematisierung waren gleichzeitig auch das Ziel einer regelmäßig abzulegenden Beichte. Durch das vierte Laterankonzil 1215, zu dessen wichtigsten Zielen die Reform der Seelsorge gehörte129, war jeder Christ zur jährlichen Beichte verpflichtet worden130. Kaum fünf Jahre nach der Promulgation des Beichtkanons begann Raimund von Peñafort mit der Abfassung einer Beichtsumme, seiner Summa de casibus poenitentiae, die nach 1234 um einen vierten Abschnitt, der Eheangelegenheiten behandelte, ergänzt wurde und seit 1245 vollständig glossiert vorlag131. Damit war eine neue literarische Tradition begründet worden132. An die Stelle der frühmittelalterlichen Bußbücher mit ihrer katalogartigen Aufzählung von 128 Lentes/Scharff, Schriftlichkeit 249-251 (Zitat 249 f.). 129 Zur pastoralen Ausrichtung des Konzils vgl. Tanner, Pastoral Care 112-125. Zur literaturgeschichtlichen Konsequenz vgl. Boyle, The Fourth Lateran Council; Durkin, Examining. 130 Constitutiones Concilii quarti Lateranensis 67 f. (Kanon 21). Zu den Konstitutionen vgl. zuletzt García y García, Las constitutiones. 131 Raimundus de Pennaforte, Summa de paenitentia. Zum Werk vgl. Michaud-Quantin, Sommes 34-42. Zur Entstehung des Genres vgl. Rusconi, Prédication. 132 Dietterle, Summae confessorum; Trusen, Forum internum 83-126; Teetaert, Quelques „Summae de paenitentia“; Michaud-Quantin, Sommes; Boyle, Summa 126-131. Zuletzt zusammenfassend Goering, Internal Forum 208-226.
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Vergehen und Bußen traten ausführliche kasuistische Schriften, die insbesondere den Umständen (circumstanciae) eines Vergehens großes Gewicht einräumten. Nicht mehr die Sünden, sondern der Sünder stand nun im Mittelpunkt. Hatte der frühmittelalterliche Priester nach einem festen Katalog Tarifbußen für begangene Vergehen aufzuerlegen, musste der spätmittelalterliche Priester die individuelle Schuld ermitteln, die sich nicht allein am Ergebnis einer verbotenen Handlung abmessen ließ, sondern Gesinnung, Absicht und Umstände in die Überlegung mit einzubeziehen hatte. Dieser Wandel, der aus dem Priester einen Richter und aus der Verteilung angemessener Bußen eine echte potestas iudiciaria machte, führte zu einer moralisch-hierarchischen Stärkung der priesterlichen Stellung133. Die Verfasser der Bußsummen stützten sich auf kanonistische und theologische Schriften, deren Material sie neu strukturierten und ergänzten, um ein ganz auf das „Beichtgeschäft“ konzentriertes Hilfsmittel bereitzustellen. Ergebnis waren ausführliche Lehrbücher der Sündenzucht, die dem Priester keine objektiven Bußtarife vorgaben, ihm allerdings detaillierte Anleitungen zur Verfügung stellten, um die individuelle Sündenschuld in Anbetracht der jeweiligen Umstände zu ermessen. Über ein Dutzend solcher Bußsummen entstanden zwischen dem IV. Lateranum und dem 10. Dezember 1520, jenem Tag, an dem Martin Luther neben Sammlungen des kanonischen Rechts auch die Bußsumme Angelica als Symbol einer überwundenen Kirche den Flammen übergab. Es waren die Bettelmönche, die die erzieherische und kontrollierende Funktion der Beichte erkannten, sie zum wesentlichen Bestandteil ihrer Pastoraltheologie machten und im Rahmen von Bußsummen systematisierten. Thomas Tentler hat diese hauptsächlich aus mendikantischer Feder stammenden Schriften als Instrumente der sozialen Kontrolle beschrieben134. Um die Sündenlossprechung zu einem effektiven Kontrollorgan des menschlichen Verhaltens zu machen, war es – so Tentler – zunächst nötig, die priesterliche Autorität zu unterstreichen. Dies sollte einerseits die detailreiche Materialfülle der Summen, die den Priester zum Fachmann des Beichtgeschäftes machte, und andererseits die Hervorhebung der priesterlichen Schlüsselgewalt gewährleisten. Definition und Erläuterung verbotener Taten und Gedanken machten die Bußsummen zu wirkungsvollen Werkzeugen der aktiven Kontrolle. Sünden wurden katologisiert, Unterschiede zwischen Todsünden und lässlichen Sünden gemacht, die Schwere des Vergehens gewogen. Es entstand ein klerikales 133 Trusen, Forum internum 84-86; Little, Techniques 96 f.; Rusconi, Prédication 81 f. 134 Tentler, Summa for Confessors. Kritisch dazu Boyle, Summa; Ohst, Pflichtbeichte 221 f. und 286. Zum Zusammenhang von Beichte und sozialer Disziplin vgl. auch Rusconi, Prédication; Little, Techniques; Haren, Confession 112 f. und passim.
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Panorama spätmittelalterlicher Sündhaftigkeit und eine Richtlinie des guten Lebens. Daneben dienten mittelalterliche Bußsummen aber auch dazu, die Regeln des kanonischen Rechts zu popularisieren und so zur gesellschaftlichen Ordnungsinstanz zu machen135. Die Wirkung der Bußsummen fasste Tentler mit folgenden Worten zusammen: „One might argue that it was especially the papacy, which in 1215 had made the obligation to confess its own, that benefited from this literature. And the fortunate circumstance that all of the summists were Franciscans and Dominicans, who owed their privileges, especially of confession, to the papacy, could only accentuate their papal loyalties. Yet all forms of ecclesiastical authority benefit from their efforts, right down to the curate. In the end, the great winner in this literature is the system of social control“136. Es war dies laut Tentler ein System der sozialen Kontrolle, das dem Einzelnen Trost und Absolution versprach, vermittelt durch die priesterliche Autorität. Es war aber auch ein System, das jeden einzelnen Sünder in der Beichte mit seiner Sündenlast konfrontierte, basierte es doch auf einer Theologie der Schuld, deren Grundlagen weit über das Mittelalter hinaus Bestand hatten137. Die zitierten Arbeiten werfen mehrere Fragen auf, die für eine Untersuchung des Zusammenhangs von Diversifizierung und Kontrollverdichtung von Relevanz sind. Norbert Elias hatte es abgelehnt, den Beginn des Zivilisationsprozesses chronologisch zu beschränken, in der Praxis jedoch ein zügelloses, barbarisches Mittelalter einer zur Zivilisierung aufbrechenden Neuzeit dichotomisch gegenübergestellt. Ähnlich wurde in der Sozialdisziplinierungs-Debatte verfahren – in erster Linie wohl aufgrund der institutionalisierten Epochengrenzen unserer Wissenschaft138. Wenn Prozesse der Sozialdisziplinierung jedoch im städtischen Umfeld bis in das 13. Jahrhundert zurückreichen, muss das Mittelalter in die Diskussion miteinbezogen werden. Ohnehin scheint eine epochale Beschränkung zivilisierender und disziplinierender Prozesse inhaltlich wenig begründet zu sein. Sozialdisziplinierende Elemente sind Teil jeder Gesellschaft zu allen Zeiten, denn menschliches 135 Zu Beichtsummen als Literaturgattung, die auch selbständig von Laien studiert und gelesen wurde, vgl. Le Goff, Métier 168 f. 136 Tentler, Summa 122. Vgl. auch Rusconi, Prédication 79 f. und passim. 137 Zur Haltung von Martin Luther und der Gegenreformation vgl. Tentler, Summa 123126. 138 Vgl. zuletzt den Themenschwerpunkt zu „Confessionalization and Social Discipline in France, Italy, and Spain“ im Archiv für Reformationsgeschichte 94 (2003) mit Beiträgen von James R. Farr (Confessionalization and Social Discipline in France, 1530-1685), Wietse de Boer (Social Discipline in Italy: Pereginations of a Historical Paradigm) und Allyson M. Poska (Confessionalization and Social Discipline in the Iberian World).
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Zusammenleben ist ohne die Spannung von individueller Freiheit und gesellschaftlichem Zwang nicht denkbar, variabel ist allein die zeitlich schwankende Gewichtung beider Pole139. Untersuchungen, die von einem Ursprung erzieherisch-disziplinierender Prozesse im religiösen Umfeld ausgehen, stützen diese epochenübergreifende Perspektive, lassen sich doch inhaltliche und methodische Kontinuitäten vom hohen Mittelalter bis in die Frühe Neuzeit hinein nachweisen. Es war vom 12. bis zum 16. Jahrhundert hauptsächlich ein klerikal-monastischer Personenkreis, der mit seinen Erziehungsschriften weit über die Grenzen des eigenen kirchlichen Bereichs hinauswirkte140. Wenn Calvin die Disziplin den Nerv der Religion nannte141, so entsprach dies daher zwar einerseits der zentralen Bedeutung, welche die kontrollierte Lebensführung im Calvinismus einnahm, andererseits wird damit eine Überzeugung offenkundig, welche bereits im Denken religiöser Erneuerungsbewegungen früherer Jahrhunderte eine wichtige Rolle gespielt hatte. Im Gegensatz zur dogmatischen Konzentration von Elias auf den Herrscherhof müssen auch andere soziale Gruppen als Träger von Disziplinierungsprozessen angenommen werden. Neben den städtischen Obrigkeiten ist hier in erster Linie, zumindest für das 13. Jahrhundert, an die Bettelmönche zu denken142. In den Bereichen Schriftlichkeit und Bußwesen wurde bereits ausdrücklich auf die sozialdisziplinierende Funktion dieser neuen Ordensgemeinschaften hingewiesen. Der von ihnen effektiv gehandhabte Einsatz des Mediums Schrift und ihre pastoraltheologischen Ziele machten Franziskaner und Dominikaner zu einer wichtigen gesellschaftsformenden Kraft143. In der folgenden Studie sollen die nach innen zielende Selbstwahrnehmung sowie die nach außen gerichteten Ordnungsprogramme anhand der frühen deutschen Franziskaner dargestellt und interpretiert werden.
139 Zur „Auseinandersetzung von Volkskultur und kirchlicher Kultur“ seit dem 4. Jh. als „kontinuierlicher Sozialdisziplinierung“ vgl. Oexle, Rechtsgeschichte und Geschichtswissenschaft 94. Zur gleichzeitigen Zunahme von Freiheit und Begrenzung bei Martin Luther vgl. Tawney, Religion und Frühkapitalismus 103-115. Zur Zunahme von „persönlicher Verantwortung“ einerseits und „Selbstzucht“ andererseits bei Calvin ebd. 124. Zur Reformation vgl. auch unten 385 f. 140 Zum „weltlich-höfischen“ Charakter des klerikalen Erziehungsprogramms von Hugo von St. Viktor vgl. Bumke, Höfischer Körper 67-102 (Diskussion von De institutione novitiorum). 141 Calvin, Institution Buch IV cap.12.1-2 S. 238 f. Vgl. hierzu Tawney, Religion und Frühkapitalismus 127 f. 142 Zum 15. Jh. vgl. Paton, Preaching. 143 Zur „Relevanz der kirchen- und religionsgeschichtlichen Strukturen und Prozesse“ für eine makrohistorische Gesellschaftsgeschichte vgl. Schilling, Der religionssoziologische Typus Europa 45 und passim.
Erster Teil: Selbstdeutung I. Hagiographie und Historiographie 1. Apologie des Mendikantentums Der mendikantische Beitrag zur Geschichte des mittelalterlichen Christentums war zweifellos bedeutsam. Über die Qualität und die Konsequenzen der massiven mendikantischen Expansion lässt sich jedoch streiten. Seit dem Beginn der modernen wissenschaftlichen Beschäftigung mit den Bettelorden begnügte sich die historische Forschung in ihren Überblicksdarstellungen meist mit der kontinuierlichen Tradierung scheinbar feststehender Befunde, die sich nahtlos in das Bild einfügen, das die Bettelmönche selbst, aber auch ihre Anhänger und Förderer im Mittelalter vom Mendikantentum entworfen haben. Seit den Tagen Paul Sabatiers dominiert im Grunde eine Deutung, die beinahe ausschließlich spiritualistischen Interpretationsmustern verpflichtet blieb und die religiöse Erneuerung durch die Bettelmönche emphatisch feierte. In ärmlicher Kleidung, ohne Gefolge seien sie, lang ersehnten Engeln des Herrn gleich, durch die Hochburgen der Ketzerei und die Niederungen der Armut gezogen. Nicht die kontemplative Selbstheiligung, sondern die auf Studium und Predigt beruhende Seelsorge habe das mendikantische propositum gebildet1. Demütig, nach dem Vorbild ihrer heiligen Gründer, wollten die Bettelmönche zu Fuß ihren Weg suchen, ohne Gold und Geld, in allem die Lebensform der Apostel imitierend. Selbst erleuchtet, erleuchteten sie eine erneuerte Welt. Wie über die Vögel, die verzückt Franziskus’ Predigt lauschten, seien Glück und Frieden über jene Menschen gekommen, die der evangelischen Botschaft des Heiligen ihr Herz öffneten2. Die Franziskaner verklärten sich in dieser Sicht zu einem religiösen Bollwerk gegen eine bereits im Mittelalter die Orthodoxie bedrohende „Reformation“. So retteten sie Kirche und Christenheit vor den schrecklichen Wirren, die 1 2
Forschungsüberblicke: Immagine di Francesco; Santi (Hg.), Studi Francescani. Vgl. auch Bougerol, Orígenes y finalidad; Cargnoni, Temi e problemi. Zu Franziskus in der hagiographischen Literatur und auf Bildern des 13. Jahrhunderts vgl. zuletzt Wolff, Heiliger Franziskus.
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der Ankunft des Antichristen vorausgehen sollten3. Sozialtheoretische und kulturanthropologische Ansätze hat die Mendikantenforschung, die bis heute tatkräftig von Ordensleuten mitgestaltet wird, dagegen seltener in den Blick genommen4. Diese Beschränkung auf eine spiritualistische Interpretation des Phänomens Bettelorden prägte nicht nur die historischen Darstellungen aus der Feder von Ordensangehörigen, sondern wurde in der säkularen Forschung von Generation zu Generation weitergereicht. Bereits in der zweiten Ordensgeneration – noch waren die Bettelmönche auf der Suche nach der definitiven institutionellen Gestalt ihrer Gemeinschaften5 – hatte jene quasi zeitlose Stilisierung des Mendikantentums feste Gestalt gewonnen und sofort auch eine Sanktionierung von höchster Stelle erhalten. Papst Gregor IX., Freund, Förderer und Protektor der jungen Orden, nannte in der Kanonisationsurkunde Fons sapientiae, mit der im Jahr 1234 den Kirchenprälaten als Häuptern der Christenheit die Heiligsprechung des Dominikus de Caleruega verkündet wurde, alle wesentlichen Gedanken, die noch heute die Einschätzung des Mendikantentums bestimmen6. Die ambitionierte Stilisierung des Textes – Produkt einer Kanzlei, die in organisatorischer und stilistischer Hinsicht allen vergleichbaren Institutionen im Abendland zum Vorbild diente – scheint mit der inhaltlichen Bedeutung des Schreibens in Wettstreit getreten zu sein. Einer Vision des Propheten Sacharja (Sach 6,1-8) entnahm der Verfasser der hymnischen Zelebrierung des neuen Heiligen seine Metapher, um ein großartiges Panorama der kirchlichen Heilsgeschichte zu entwerfen. Jener Prophet des alten Testaments hatte in seiner achten Vision vier Wagen gesehen, die von kräftigen Pferden über die Erde gezogen wurden, um den Geist Gottes in alle Länder zu tragen. Papst Gregor IX. erkannte in den vier Pferdegespannen wesentliche Zäsuren der Kirchengeschichte, an denen Gott charismatische Erneuerer auf die Erde gesandt habe, um den christlichen Glauben zu verbreiten und nach zyklischen Phasen des Niedergangs die verirrte und ermüdete Kirche auf den rechten Weg des Heils zurückzulenken. Die roten Pferde des ältesten Gespanns identifizierte der Papst mit den Führern des gläubigen Volkes, die mit ihrem Glauben an den Gott Abrahams die Fundamente des Neuen Bundes geschaffen hätten und – ohne Angst vor dem 3 4 5 6
Zur heilsgeschichtlichen Selbstpositionierung anderer Ordensgemeinschaften vgl. Melville, Geltungsgeschichten 86-107. Zu älteren Versuchen vgl. Guggenbichler, Protestantismus und die Franziskaner; Glaser, Franziskanische Bewegung; Zaremba, Franciscan Social Reform. Für die Franziskaner vgl. einführend Brooke, Early Franciscan Government. Potthast, Regesta Nr. 9489. Edition: Monumenta Dominici 188-194.
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weltlichen Schwert – dem Martyrium entgegen geschritten seien. Diesen Zeugen des frühen Christentums, die das Netz der Predigt über das weite Meer der Menschheit geworfen hätten, sei es zu verdanken, dass die Kirche unzählige Gläubige aus allen Ländern der Welt gewonnen habe. Doch bald hätten Anmaßung und Bosheit die Gemeinschaft der Gläubigen bedroht, so dass der Herr einen zweiten Wagen gesandt habe. Schwarz, den Trauernden und Büßern angemessen, sei die Farbe seiner Pferde gewesen. Und schwarze Kleidung hätten auch jene Männer getragen, die die Welt verlassen und sich in die klösterliche Einsamkeit begeben hätten. Ihr Führer sei Benedikt von Nursia gewesen. Die heiligen Männer, verbunden durch die gnadenerfüllte und segenbringende vita communis, hätten die Wunden der zerrissenen Gemeinschaft durch fromme Taten und strenge Buße geheilt. Erneut habe der Eifer christlicher Frömmigkeit nachzulassen gedroht und der Herr habe den dritten Wagen geschickt, gezogen von weißen Pferden, in denen man die Orden der Zisterzienser und Florenser erkennen könne, die wie frisch geschorene Schafe aus dem Bad der Buße gestiegen seien. An ihrer Spitze habe Bernhard gestanden, durch den Heiligen Geist mit übermenschlicher Stärke ausgestattet. Mit diesen Truppen, die unaufhörlich ihr Gebet und ihre Hymnen an Gott richteten, habe das Neue Israel siegreich den Philistern widerstehen können. Doch das Böse ruht niemals, und auch die grauen Mönche hätten den drohenden Niedergang nicht lange aufzuhalten vermocht. Da – zur elften Stunde, als sich der Tag schon zum Abend neigte und die Barmherzigkeit durch zahlreiche Schandtaten gefror – schien die Sonne der Gerechtigkeit zu versinken. Der Weinberg, den Gott selbst gepflanzt habe, drohte ihm verloren zu gehen, da Stacheln und Dornen ihn überwucherten und kleine Füchse ihn verwüsteten. Um diese feindlichen Angriffe abzuwehren, bedurfte es einer neuen Heerschar. Daher habe Gott den vierten Wagen geschickt, gezogen von kräftigen Pferden unterschiedlicher Farbigkeit. Es seien die Gemeinschaften der Dominikaner und Franziskaner, an deren Spitze Dominikus und Franziskus in den gemeinsamen Kampf marschierten. Gott selbst habe den Geist des Dominikus erweckt und ihm die Kraft des Glaubens und den Eifer der Predigt geschenkt. Über den heilig gesprochenen Gründer des Predigerordens, den gottgesandten Retter einer wieder aufblühenden Kirche, schrieb Gregor: Die Gnade wuchs in ihm mit dem Alter. Aus seiner heftigen Liebe zu seinen Mitmenschen unaussprechbare Freude ziehend, widmete sich Dominikus vollständig der Verbreitung von Gottes Wort. Durch das Evangelium selbst der Vater von vielen geworden, hat er durch die Bekehrung unzähliger Menschen, die nunmehr die Verpflichtung der evangelischen Botschaft erkannt haben, hier auf Erden die Glorie und die Vollendung unserer heiligen
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Vorfahren erreicht. Zum Hirten und gefeierten Führer von Gottes Volk gemacht, gründete er den neuen Orden der Predigerbrüder, geziert durch sein heiliges Werk und vorbildliches Leben. Niemals ließ Dominikus ab, seinen Orden durch offenkundige und erwiesene Wunder zu fördern7.
Die Kanonisationsurkunde nennt die wesentlichen Punkte mendikantischer Selbstdeutung, wie sie vom Mittelalter bis zum 20. Jahrhundert von Geschichtsschreiber zu Geschichtsschreiber weitergetragen wurden. Am Beginn steht die Überzeugung, dass die von Gott berufenen Bettelmönche eine fundamentale und unersetzbare Rolle in der Kirchengeschichte gespielt hätten. Diese Sichtweise fand die uneingeschränkte Zustimmung der Ordensmitglieder und -anhänger. Dabei war diese Art exegetischer Ausdeutung der Heilsgeschichte zur Legitimierung und Verherrlichung einer religiösen Erneuerungsbewegung keineswegs innovativ. Eine ähnliche Vorgehensweise hatte bereits Gerhoch von Reichersberg für seine 1167 verfasste Apologie des Kanonikertums gewählt8. Wie Gregor IX. unterteilte der eifrige Verfechter der Kanonikerreform die Heilsgeschichte in vier Phasen. Diese Zahl entnahm Gerhoch der evangelischen Erzählung von der Errettung der Apostel, als deren Boot in einem Sturm unterzugehen drohte (Mt 14,22-33). Nicht zufällig geschah es in der vierten Nachtwache, dass Jesu über das Wasser ging und die Winde besänftigte. Denn vier Nachtwachen bedeuteten für Gerhoch vier Geschichtsepochen, in denen feindliche Winde das Christentum bedrängten: Die Christenverfolgungen in der Antike, die Häresie im Zeitalter Gregors des Großen, die um sich greifende Korruption vor dem Pontifikat Gregors VII. und die allgegenwärtige Gier (avaritia) in seiner eigenen Gegenwart. Jede Epoche besitze jedoch auch ihre von Gott gesandten Wächter: Die Märtyrer, die Bekenner, die Kirchenväter und – in der gegenwärtigen Zeit – alle Jünger Christi, die auf ihren Besitz verzichtet hätten. Gerhoch meinte die apostolisch lebenden Kanoniker, denen die Christenheit der vierten und letzten Epoche ihre vorläufige Errettung verdankte9. Doch ungeachtet des Widerstands einiger „armer Christen“, die sich weigerten, mit den Mächten des Bösen zu paktieren, steuere die Weltgeschichte auf den Abgrund zu und die durch innere Zerrissenheit ausgehöhlte Kirche stünde vor ihrem Niedergang. Soweit Gerhoch. Anders wurde das biblische Bild im beginnenden 13. Jahrhun7 8 9
Vgl. Monumenta Dominici 193. Zu Gerhochs Eschatologie vgl. zusammenfassend Classen, Eschatologische Ideen 321. Gerhoch, De quarta vigilia 503-525. Vgl. dazu Classen, Gerhoch 292-298, 426 f.; Classen, Eschatologische Ideen 322. – Zum vergleichbaren Vorgehen in anderen religiösen Gemeinschaften vgl. Melville, Geltungsgeschichten 86-107.
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dert gedeutet. Die Allegorie, die Gerhoch dazu diente, seine düstere Geschichtstheologie zu untermauern, feierte ihre ins Positive gewendete Renaissance, als Gregor IX. sie aufgriff, um das Kommen der letzten Retter des Christentums zu feiern. Als Erretter der Kirche betrachteten sich auch Franziskaner und Dominikaner selbst. Sie sind die Wegbereiter des erneuerten Heils, die Vollender der Zeiten. Von Gott geführt, ist es ihnen aufgegeben, den drohenden Abfall der Christenheit in Sünde und Häresie zu verhindern. Ohne die Bettelmönche – so die mendikantische Sichtweise – wäre die Kirche, jene irdische Erscheinung des ewig Göttlichen, dem Untergang geweiht. Die Bettelorden wussten diesem Verständnis von der eigenen Wichtigkeit auf anschauliche Weise Gestalt zu verleihen. Historiographen und Künstler beider Orden erzählten von einem Traum, den Papst Innocenz III. am Vorabend des vierten Laterankonzils geträumt habe. Die Lateranbasilika, römische Bischofskirche des Papstes, drohte einzustürzen, ja ihr Einsturz habe unmittelbar bevorgestanden, doch ein einzelner Mönch habe seine Schulter gegen die wankenden Mauern gestemmt – und die Kirche war gerettet10. In diesem Mönch, der mit übermenschlicher Kraft die Mutter aller Bischofskirchen stützte, erkannten Franziskaner und Dominikaner jeweils den heiligen Gründer ihrer Gemeinschaft11. So attraktiv erschien den Bettelmönchen das päpstliche Traumbild, dass verschiedene Künstler dem hagiographischen Topos auch bildliche Gestalt verliehen12. Niccolò Pisano schuf um 1265/66 ein Relief auf dem Grabmal des Dominikus. Aus dem 14. Jahrhundert stammt eine Altartafel mit demselben Motiv, die Francesco Traini zugeschrieben wird13. Das bekannteste, aber nicht das älteste franziskanische Beispiel ist ein Fresko von Giotto aus dem Franziskus-Zyklus in der Oberkirche von Assisi14. Von diesem Bild bestellte der Pisaner Franziskanerkonvent kurz nach der Wende zum 14. Jahrhundert eine Kopie für ein dreiteiliges 10
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Einhorn, Stützen 175-180; Krüger, Selbstdarstellung 162-164; Schmitt, Darstellungen 36-49. – Zur Rolle von Visionen im Vorfeld von Kanonisationsprozessen vgl. Goodich, Vision. Einhorn, Stützen 175-180; Krüger, Selbstdarstellung 164. Zur Konkurrenz der Orden in den Bildern ihrer Heiligen vgl. Krüger, Bildkult 78-82. Zum Motiv in der franziskanischen Kunst vgl. Atanassiu, Ursprünge 116 f. Zum Grabrelief vgl. Krüger, Selbstdarstellung 167-185; Oberste, Predigt 248. Zu Trainis Altartafel vgl. Meiss, Traini Abb. 1 und 14; Geschichte des Christentums V 872 (Abbildung). Oberkirche von San Francesco in Assisi, Franziskuszyklus Szene VI. Abbildung beispielsweise bei Mariani, Giotto Abb. 50; Poeschke, San Francesco Tafel Nr. 151; Krüger, Bildkult Tafel Nr. 261. Zu einem um 1280 entstandenen Sieneser Altarbild mit dem Motiv vgl. Krüger, Bildkult 131-136.
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Altarbild15. Um die Botschaft weiter zu verdeutlichen, fügte Giotto eine zusätzliche Figur ein: Petrus selbst, auf dem die Kirche Christi ruht, legt dem schlafenden Papst die Hand auf die Schulter und weist auf Franziskus. So wird die höchste kirchliche Autorität, der erste aller Päpste, zum Zeugen des epochalen Ereignisses. Dieser heilsgeschichtliche Auftrag des Mendikantentums konkretisierte sich in einer monastischen Erneuerung, die Lebensform und Ordensauftrag einer religiösen Bewegung auf bisher unbekannte Weise verschmelzen ließ. Auch die Kunstgeschichte konnte sich dem spirituellen Genius nicht entziehen und betrachtete Franziskus als Symbol eines „neuen, humanen und gefühlsbetonten Christentums“16, dessen „Gefühlsherrschaft einer subjektiven Religionsanschauung“ das Fundament der Renaissancekunst gelegt habe und erstmals von Giotto künstlerisch eingefangen worden sei17. Der Aufschwung der Künste vollzog sich aus dieser Perspektive „aus der Vollkraft eines religiösen Aufschwungs“18. Giottos Interpretation mendikantischer Religiosität ließ noch Mitte des 16. Jahrhunderts Giorgio Vasari jubeln19. Die Konsequenz dieser einhelligen Begeisterung, die sich hagiographischen Topoi verpflichtet zeigt, war ein homogenes Erscheinungsbild, das auf eine idealtypische Stilisierung des Mendikantentums „ohne Brüche und Verwerfungen“ zielte20. Die Botschaft, bereits von unzähligen Autoren beschrieben, lautet im Fall des Dominikanerordens: Dominikus und seine Nachfolger führten ein Leben, das sie deutlich abhob von den Mönchen älterer Observanz. Diese waren einem auf Benedikt von Nursia und zahlreiche Einzelgewohnheiten zurückgehenden Regelwerk gefolgt, das den kontemplativen Tagesablauf reglementierte. Jene lebten zwar nach einer Regel, erhoben aber das Evangelium zur eigentlichen Richtschnur ihres Seins. Von den Geboten der evangelischen Texte ausgehend, führte der Gründer des Predigerordens ein vorbildliches Leben inmitten seiner Gemeinschaft, aber auch inmitten der Welt. Denn ein Bettelmönch begnügte sich nicht mit einem reinen Leben, das der Kontemplation und Selbstheiligung gewidmet war. Dem christlichen Gebot der Nächstenliebe verpflichtet, zog der, der das saeculum hinter sich gelassen hatte, wieder in die Welt hinaus, um die frohe Botschaft zu verkünden. 15 16 17 18 19 20
Abbildung bei: Cook, Images Nr. 125b S. 151. Vgl. Krüger, Selbstdarstellung 129. Thode, Franz von Assisi 81 (hier das Zitat) und 448 und passim. Krüger, Selbstdarstellung 128 (Zitat K. Burdach). Vasari, Vite II 139. Vgl. dazu Krüger, Selbstdarstellung 127 f. So Frank, Grundlegung 13. Zum Bildkult des Franziskus grundsätzlich Krüger, Bildkult. Zum „fundamentalen inneren Widerspruch“ in der Bildkunst der Bettelorden vgl. Krüger, Selbstdarstellung 146 und passim.
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Es ist das Seelenheil aller Menschen, ohne Ansehung der Person, das ihn antrieb, Studium und Gebet zu unterbrechen. Dieser innige Wunsch, der Welt zu dienen und sie auf den rechten Weg zu geleiten, machte den Mendikanten zum Prediger und Hirten von Gottes Volk. Die Bettelorden wurden zu jener Bewegung, die die theoretischen Erörterungen der Moral- und Pastoraltheologen in die Tat umsetzte, durch ihr Wirken blieben die Diskussionen an der Pariser Universität nicht leere Worthülsen. In dieser idealisierten Symbiose von Leben und Mission offenbart sich für die Zeitgenossen wie auch für viele moderne Interpreten das mendikantische Wesen, an dem die laikale Gesellschaft des Spätmittelalters genesen sollte21. Nicht ausdrücklich genannt, aber der Heiligsprechungsurkunde Gregors IX. indirekt immanent, ist ein weiterer Eckpunkt mendikantischen Selbstverständnisses: Die Nähe zum Papsttum, das den Bettelmönchen als unfehlbare Institution, als geistliches und in Wahrheit einziges Oberhaupt der Welt galt. Der vicarius Christi erhob die Gründer der neuen Orden zur Ehre der Altäre, erklärte sie zu Rettern seiner Kirche – und wusste sich der Anhänger der neuen Heiligen effektiv zu bedienen. Die päpstliche Elitetruppe, die sich entgegen einer Weisung des heiligen Franz mit päpstlichen Privilegien und Schutzverleihungen überhäufen ließ, stand in den folgenden Jahrhunderten getreu an der Seite ihres Herrn. Beide Seiten profitierten von dem Schulterschluss. Ohne den päpstlichen Schutz hätten die Bettelmönche des 13. Jahrhunderts den Angriffen des Weltklerus nicht standhalten können, ohne mendikantische Hilfe hätte das hierokratische Papsttum seinen Kampf gegen Ketzer, politische Widersacher und jene Kräfte, die sich gegen die zunehmende Zentralisierung, Fiskalisierung und Bürokratisierung der abendländischen Kirche stellten, nicht mit dem gleichen Erfolg führen können. Um das bilaterale Bündnis nach allen Seiten hin abzusichern, brachten die Mendikanten das Modell der eigenen Ordensstruktur mit dem Aufbau der Gesamtkirche in Zusammenhang. Sie förderten damit einen ekklesiologischen Papalismus, der den Papst als übermächtigen Stellvertreter Christi an die Spitze einer zentralisierten Kirche stellte. Mit freudigem Eifer griffen die Päpste das mendikantische Kirchenverständnis auf und instrumentalisierten es gegen episkopalistische und konziliare Positionen22. Die beiden großen Bettelorden verschmolzen währenddessen in den Augen von Mönche, Klerikern und Laien, aber auch im Selbstverständnis der Bettelmönche selbst immer mehr zu einer homogenen Gemein-
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Aus kunsthistorischer Perspektive vgl. Krüger, Selbstdarstellung 127-130. Zum mendikantischen Papalismus vgl. unten III.1 und III.2.
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schaft; man betrachtete sie als zwei Seiten desselben Phänomens23. Die franziskanische Hagiographie fasste diese Einstellung in deutliche Worte, wie bereits der erste Biograph des heiligen Franziskus in seinem Wunderkatalog, den er der Lebensdarstellung anfügte, deutlich zeigt: Man stelle sich die alte Welt vor. Sie war schmutzig und räudig von ihrem Lasterleben, die Orden waren erschlafft in der Nachfolge der Apostel, die Nacht der Sünden hatte in ihrem Lauf den Höhepunkt erreicht, die heiligen Wissenschaften waren verstummt. Siehe, da tritt plötzlich ein neuer Mensch auf den Plan, eine neue Heerschar ersteht alsbald, die Völker stehen staunend vor den Zeichen apostolischer Erneuerung. Ans Licht kommt wieder die längst begrabene Vollkommenheit der Urkirche, von deren Großtaten man las, deren Beispiele man aber vermisste. Warum sollen daher nicht die Letzten die Ersten heißen, da sich doch schon die Herzen der Väter den Söhnen und die der Söhne den Vätern wunderbar zuwandten? Oder soll man die herrliche und ruhmvolle Sendung zweier Orden verschmähen, und ist sie nicht die Vorherverkündigung von irgend etwas Großem in nächster Zukunft24?
Die Geschichtsschreibung beider Orden ergab sich in immer stärkerem Maße dieser Vorstellung eines religiösen Führungsduos, das, in brüderlicher Liebe vereint, von Gott auf die Erde gesandt worden war, um die Menschheit zu retten25. Franziskus und Dominikus hätten das Gleiche gewollt, wie ein Geist und eine Seele hätten sie gedacht und gehandelt. Kaum zufällig verschmolzen die beiden großen Bettelorden in der Innen- und Außenwahrnehmung insbesondere in dem Moment, in dem sie gemeinsam gegen die klerikale Kritik an ihrer Lebensweise und ihren Privilegien Stellung zu beziehen begannen26. So referiert beispielsweise der Franziskanerchronist Salimbene de Adam die Vorwürfe, die Weltkleriker auf der Provinzialsynode von Ravenna 1261 gegen die Bettelmönche erhoben, um im Anschluss daran die Privilegien nicht der Franziskaner, sondern aller Bettelorden mit vielen Exkursen und Bibelzitaten ausführlich und langatmig zu verteidigen und als Wohltat für Kirche und Weltklerus zu charakterisieren27. Zweifellos verstärkte dieser Kampf um die mendikantische Lebensweise die wechselseitige mentale Verbundenheit, die auf starken institutionellen Parallelen und einer ähnlichen religiösen Ausrichtung aufbauen konnte. 23 24
25 26 27
Zu dieser Sichtweise vgl. Alberzoni, Un mendicante 12-19. Thomas von Celano, Wunderbericht cap. 1. Vgl. auch Thomas von Celano, Vita secunda 150, 282 (Dominikus wünscht die Vereinigung von Dominikanern und Franziskanern, weil er die Größe des Franziskus erkennt). Elm, Franziskus und Dominikus 121-124. Zur homogenen Wahrnehmung der Mendikantenorden vgl. exemplarisch Vauchez, Reactions. Salimbene von Parma, Chronik 59-82.
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Die Gelehrten der Orden, sowohl die Theologen als auch die Historiographen, trugen ihren Teil dazu bei, die apologetische Stilisierung des Mendikantentums zu verfestigen. Seit den Angriffen der Säkularkleriker um die Mitte des 13. Jahrhunderts intensivierten sich diese Rechtfertigungsbemühungen. Die renommiertesten Mitglieder der Orden griffen zur Feder. Bei den Franziskanern blieb der heilige Gründer wichtigster Orientierungspunkt: Das führte zur Entstehung zahlreicher Viten und legendenhafter Ausschmückungen seines Lebens. Das Abhängigkeitsverhältnis und die Chronologie dieser Texte zu entwirren, die questione Francescana, ist ein ungelöstes Forschungsproblem28. Über das Leben des Franziskus hinausgreifend, entstanden vor allem seit der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts historiographische Werke, die mehr oder weniger deutlich das Ziel verfolgten, die besondere Stellung des Ordens im göttlichen Heilsplan darzustellen. Zu diesem Zweck betonten die Autoren die singuläre Heiligkeit des Gründers und die heilsrelevante Originalität seines Ordens29. Einen komplexeren Charakter hatten jene Schriften, die versuchten, die Mendikanten mit dogmatischen Erörterungen gegen die Angriffe des Weltklerus zu verteidigen30. Es waren vorrangig Universitätsgelehrte von hohem Prestige und mit wichtigen Funktionen in der Ordenshierarchie, die sich dieser Aufgabe stellten. Dass die berühmtesten Gelehrten hier aktiv wurden, offenbart die Existenzangst, die in den Bettelorden seit der Jahrhundertmitte grassierte. Die Kernaussagen der Verteidigung bargen allerdings wenig Überraschendes. Sie bestätigten oder ergänzten vielmehr das Bild, das bereits Gregor IX. in seiner Urkunde skizziert hatte. Der feste Kanon wurde adaptiert oder mit neuen Akzenten versehen, je nachdem, welche Botschaft die aktuelle Situation verlangte. Das Bild der Mendikanten erwies sich in dieser Hinsicht als flexibel, allerdings innerhalb eines vorgegebenen Rahmens. Während die Kontemplation den alten Orden in Form einer meditativen Versenkung allein der Selbstheiligung gedient habe, bedeute Kontemplation für den Bettelmönch Lernen und Lehren, Studium und Predigt. Die Früchte dieser Arbeit kämen der Allgemeinheit zugute. Im Gegensatz zu dieser höchsten Form des aktiven Lebens begnügten sich Gemeinschaften wie die karitativen Orden und Ritterorden mit nach außen gerichteten Tätigkeiten, wenn sie Almosen für Bedürftige sammelten oder Pilgern Schutz gewährten. Mit wenigen Worten hat Thomas die zwei wesentlichen Grundzüge des Mendikantentums zusammengefasst: contemplari et contemplata aliis tradere. Aus der aktiven mendikantischen 28 29 30
Manselli, Paul Sabatier; Ders., Nos qui cum eo fuimus; Pásztor, La questione francescana. Übersicht über die franziskanische Historiographie der Frühzeit bei Roest, Reading. Zum Bettelordensstreit an der Pariser Universität vgl. unten III.4.
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Seelsorge, die auf dem kontemplativen Studium beruht und das dabei erworbene Wissen anderen weitergibt, leitet sich die Vorrangstellung gegenüber anderen Orden ab31. Das Ergebnis ist die Erleuchtung der Herde, die sich mendikantischen Hirten anvertraut. Diese Herde kann die Früchte eines lebenslangen Studiums genießen, zu dem sich nicht nur Gelehrte wie Thomas, sondern alle Mendikanten verpflichtet fühlten – zumindest in der Theorie. In eine populäre Form gebracht wurden theologische Konzepte dieser Art von Autoren hagiographischer Texte. Ein besonders großes Publikum erreichte der Dominikaner Jacobus de Voragine mit seiner Legenda aurea, jener berühmten Sammlung von Heiligenleben, in der Jacobus im Falle der Vita des heiligen Ordensgründers eine „Absicherung der unvergleichlichen Dignität des Dominikus als auch der Existenzberechtigung der von ihm gestifteten Gemeinschaft“ anstrebte32 und zugleich seine eigene Vorstellung zeitgemäßer Spiritualität wiedergab33. Was Thomas für die Predigerbrüder geleistet hat, gelang Giovanni di Fidanza, besser bekannt unter seinem Ordensnamen Bonaventura, für die Anhänger des heiligen Franziskus. Beide saints intellectuels, der dominikanische ebenso wie der franziskanische, ergriffen in ihren Schriften regelmäßig Partei für die eigene Gemeinschaft. Von Bonaventura stammen mehrere Schriften, die allein diesem Zweck gewidmet sind34. Kaum weniger erfolgreich als sein dominikanischer Kollege verteidigte Bonaventura, der Pariser Universitätsgelehrte, Generalminister und spätere Kardinal, seinen Orden, indem er dessen göttliche Bestimmung nachzuweisen suchte und die Franziskaner als vollendete Form mönchischklerikalen Lebens stilisierte. In einer Antwort auf die rhetorische Frage, weshalb Franziskus einen neuen Orden gegründet hatte, schrieb Bonaventura: Der heilige Franziskus, erleuchtet vom heiligem Geist und erfüllt von der Liebe zu Gott und seinen Mitmenschen, entbrannte für ein dreifaches Vorhaben: in völliger Tugendhaftigkeit ein wahrer Nachfolger Christi zu sein, Gott anzuhängen durch innige Kontemplation und viele Seelen, für die Christus gekreuzigt wurde und gestorben ist, zu erretten und für Gott zu gewinnen. Da es ihm nicht genügte, dies in eigener Person zu tun, wollte er einen Orden gründen, damit er nicht nur in der Gegenwart, sondern auch 31 32 33
34
Horst, Thomas von Aquin 36. Vgl. Schürer, Findung 356-367. Zu den Heiligen des 13. Jh. in der Legenda aurea vgl. Vauchez, Jacques de Voraigne. Zur Problematik vgl. exemplarisch die Umformung des streitbaren und mächtigen merowingischen Bischofs Leodegar, der in der Legenda aurea als freundlicher und sanfter Christ auftritt (Borst, Lebensformen 521). Zu Person und Werk vgl. Delio, Simply Bonaventure.
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in der Zukunft viele Mitstreiter besitze, die seiner Heiligkeit nacheiferten und Gott viele Seelen zuführten. Die Orden, die Franziskus in der Kirche vorfand, besaßen immer nur einen Teil dieses dreifachen Verlangens: die zönobitischen Mönche folgten den Spuren Christi durch das Studium, die Eremiten durch ihre erhabene Kontemplation; die Kleriker, die Erzieher und Seelsorger des Volkes, sollten die Bekehrung der Seelen von Amts wegen mit größter Sorgfalt anstreben. Da also Franz in keinem der kirchlichen Stände alle drei Eigenschaften versammelt fand, schuf er eine neue Regel und gründete – vom Heiligen Geist erleuchtet – einen neuen Orden, der durch das Gelübde auf die evangelischen Räte, nämlich Gehorsam, Enthaltsamkeit und Armut, Christi Spuren folgt, durch das Amt der Predigt und der Beichte erfolgreich das Heil der Seelen sucht und aufgrund der vollkommenen Armut eine Freiheit des Geistes behält und sich dadurch eine reine Form der übernatürlichen Kontemplation bewahrt35.
Es ist eine weitere Variation des Themas, dessen Grundtenor wir bereits kennen. Wie Thomas war Bonaventura von der einzigartigen Bedeutung der Bettelorden überzeugt, wie sein Kollege aus dem Predigerorden rühmte der spätere Kardinalbischof von Albano in den Bettelmönchen die Vervollkommnung, die auf den älteren kirchlichen Gemeinschaften aufbaut. Bonaventura hat in seinen Schriften die wesentlichen Eigenschaften und Aufgaben seines Ordens immer wieder hervorgehoben: den Willen, nach den Geboten und Räten des Evangeliums – für die Franziskaner bedeutete dies zuerst praktisch, dann theoretisch eine übermächtige Betonung der sogenannten evangelischen Armut36 – zu leben; die meditative Kontemplation und eine Pastorale in der Nachfolge der von Christus ausgesandten Apostel. Thomas von Celano, der erste Biograph des heiligen Franziskus, hatte das daraus resultierende Spannungsverhältnis zwischen eremitischer Kontemplation und pastoraler Seelsorge bereits um 1229 gesehen und beschrieben37. Die Rückgewinnung verirrter Seelen bildet in offiziellen Stellungnahmen dieser Art Sinn, Ziel und Motivation des Mendikantentums. Die Prioritäten wechseln von Schrift zu Schrift, selbst innerhalb des umfangreichen Werkes von Thomas oder Bonaventura, die Kernaussagen jedoch bleiben unverändert. Das faktische Geschehen wird von den 35 36 37
Vgl. Bonaventura, Determinationes quaestionum 1/1 S. 338. Lambert, Franciscan Poverty. Thomas von Celano, Vita prima 35: „Als wahre Verehrer der Gerechtigkeit überlegten sie [sc. Franz mit seinen Brüdern nach ihrer Rückkehr aus Rom im Jahr 1209], ob sie unter den Menschen bleiben oder sich in die Einsamkeit begeben sollten. Der heilige Franz aber, der nicht auf eigenes Können vertraute, sondern allem Handeln mit heiligem Gebet zuvorkam, entschloss sich, nicht für sich allein zu leben, sondern dem, der für alle gestorben ist, zu dienen; denn er wusste sich gesandt, um Gott Seelen zu gewinnen, die der Teufel zu entführen suchte“.
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Selbstdeutung
Ordenstheologen transzendental gedeutet. Hinter dem unaufhaltsamen Aufstieg der Bettelmönche muss Gottes Wille stecken, dessen angebliche Evidenz gelehrte Ordensbrüder umgekehrt für die transzendentale Legitimierung des Mendikantentums gegenüber allen Anfeindungen instrumentalisieren. Ein erfolgreicher Argumentationszirkel. Trotz gewisser Unterschiede in der konkreten Absicht, in der Kolorierung des gemalten Bildes und einer Anpassung an das gewünschte Publikum repräsentieren Thomas und Bonaventura die offizielle Selbstcharakterisierung der beiden großen Bettelorden. Kehren wir den mittelalterlichen Bettelmönchen und ihren Selbstbildnissen den Rücken, um die Deutungsversuche der modernen Geschichtsschreibung zu ergründen. Dem großen zeitlichen Sprung steht allerdings zunächst keine inhaltliche Zensur gegenüber. Paul Sabatier, Begründer der wissenschaftlichen Franziskusforschung, präsentierte sich Ende des 19. Jahrhunderts als idealistischer Vorkämpfer eines überhöhten, alle kirchlichen Hierarchien sprengenden Franziskusbildes. Sabatiers Kommentierung einer Legende aus dem Leben des Heiligen, die er in seine berühmte Lebensbeschreibung aufgenommen hat, soll dies verdeutlichen: Die in mehreren franziskanischen Schriften überlieferte Anekdote beginnt mit der wiederholten Frage des einfältigen Bruder Masseo: „Warum du, warum du, warum du?“ – Dem ungeduldig werdenden Franziskus erklärt Masseo den Sinn seiner Worte: „Jeder folgt dir nach, jeder will dich sehen und hören, dir gehorchen, obgleich du weder schön, noch gelehrt, noch edlen Ursprungs bist. Woher kommt es, dass du es gerade bist, dem jeder nachfolgen will?“ Nachdem Franziskus die Frage vernommen hat, hebt er seine Augen zum Himmel, verharrt für eine Weile in stiller Kontemplation, um dann niederzuknieen und Gott inbrünstig zu loben. „Du willst wissen, warum mir die Menschen nachfolgen? Du willst es wirklich wissen? Weil es die Augen des Allerhöchsten so gewollt haben. Da diese heiligen Augen keinen geringeren Sünder gefunden haben als mich, so haben sie mich auserwählt, um das wunderbare Werk zu vollenden, das Gott unternommen hat; mich hat er erwählt, weil er keinen Niedrigeren finden konnte, weil er also Adel, Größe, Kraft, Schönheit und Weisheit der Welt zuschanden machen wollte“38. Sabatier feiert in seiner Kommentierung die Größe seines heiligen Helden: Cette réponse jette un rayon de lumière sur le cœur de saint François: le message qu’il apporte au monde, c’est encore une fois la bonne nouvelle annoncée aux pauvres; son but est la reprise de cette œuvre messianique entrevue par la Vierge de Nazareth dans son Magnificat, ce chant d’amour 38
Vgl. Speculum perfectionis 103a; Vgl. auch Fioretti 10.
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et de liberté, dans les soupirs dequel passe la vision d’un état social nouveau. Il vient rappeller que le bonheur de l’homme, la paix de con cœur, la joie de sa vie, n’est ni dans l’argent, ni dans la science, ni dans la force, mais dans une volonté droite et sincère: Paix aux hommes de bonne volonté! […] L’événement lui a donné tort. A part les illuminés de la Marche d’Ancône et les Fraticelli de notre Provence, ses disciples ont à l’envi méconnu sa pensée. Qui sait si personne ne se lèvera pour reprendre son œuvre? La fureur des spéculations véreuses n’a-t-elle pas fait assez de victimes! N’y en a-t-il pas beaucoup parmi nous qui s’aperçoivent que le luxe est un trompe l’œil? que si la vie est un combat, elle n’est pas une tuerie où des bêtes féroces se disputent une proie, mais qu’elle est la lutte avec le divin, sous quelque forme qu’il se présente, vérité, beauté ou amour?39
In der fiktiven Anekdote meint Sabatier die tiefsten Gefühlsregungen, ja das wahre Wesen des Heiligen zu erblicken. Sein Franziskus kannte nur ein Ziel, nämlich den Armen die Botschaft zu bringen, dass Menschenglück, Herzensfriede und Lebensfreude unabhängig seien von Geld, Wissen und Macht. Allein das Streben nach einem gottgefälligen Leben entscheide über das individuelle Schicksal. Keine Standesgrenze, weder weltliches Gebot noch materielle Bedürftigkeit können den wahrhaft Suchenden abhalten, sein Glück in den Armen Gottes zu finden. Sabatier konstruiert einen Franziskus, oder besser: Er folgt willig einer mittelalterlichen Stilisierung des Heiligen, dessen weltumfassende Visionen die hierarchische Struktur der Gesellschaft des 13. Jahrhunderts sprengen mussten, um jedem Einzelnen den individuellen Glauben und allen Menschen den vollkommenen Frieden zu bringen. Sabatier hat eine Tradition begründet, die noch heute viele Anhänger besitzt40. Aus seiner Perspektive war Franziskus der Engel des sechsten Siegels, der Zeuge des wahren Evangeliums, der erste moderne Mensch, der Genius Italiens, der Fürsprecher der Entrechteten und Enterbten, das tragisch zerbrochene religiöse Genie, der unbeschwerte Gottessänger, der Freund der Tiere, der Vorkämpfer des Friedens, der wahre Mensch, der unverbrauchte Heilige, der ganz andere, der Seraph mit den gestutzten Flügeln und schließlich sogar der letzte Christ41. Doch die Bewegung verriet den Religionsstifter. Die Franziskaner haben sich der verdorbenen, von Geld, Machtgier und Luxus beherrschten Welt ausgeliefert und sich der kirchlichen Hierarchie eingegliedert. Es ist dies eine Interpretation der franziskanischen Geschichte als Geschichte des Niedergangs, vom Charisma zur Bürokratie, von der religiösen Erneuerung zur sinnentleerten Anpassung, von der individuellen Erlösung zum 39 40 41
Sabatier, Vie de François 210 f. Zu Sabatiers Deutung vgl. auch unten 97 f. Vgl. Elm, Vita franciscana 151.
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gemeinschaftlichen Versagen42. Der religiöse Antrieb des Franziskus habe zum Ziel gehabt, jedem einzelnen Menschen die frohe Botschaft zu verkünden und die gesamte Christenheit zur vita evangelica und zum friedlichen Miteinander zu bekehren. Diese hohen Ideale hätten nur die radikalen Gefährten der ersten Generation und die Spiritualen in ihrem verzweifelten Kampf gegen Ordensmehrheit und Papsttum bewahrt. Die franziskanische Majorität dagegen habe sich der Welt angepasst und damit ihre eigentliche Existenzberechtigung verloren. Der Ton der Geschichtsschreibung hat sich im 20. Jahrhundert generell verändert, insbesondere die Erfahrung des zweiten Weltkrieges erfüllte die Historiker mit Misstrauen gegenüber allen geschichtsmächtigen Individuen und solchen, die man bisher in diesem Sinn interpretiert hatte. Der Ton wurde moderater, die Fortschrittsgläubigkeit nahm ab, der Stellenwert der Sozialgeschichte nahm zu. An die Stelle der politischen und personenzentrierten Ereignisgeschichte trat auch in Deutschland die sozialgeschichtlich ausgerichtete Strukturanalyse43. Dem Gründer des Franziskanertums konnte dies allerdings wenig anhaben, sein Charisma und die von ihm verkörperte religiöse Erneuerung wurden weiterhin als singulär und epochal interpretiert. Der mentalitäts- und kulturgeschichtlichen Erziehungsleistung des Mendikantentums schenkte man wenig Beachtung. Das Hauptinteresse gehörte nach wie vor dem Orden selbst, der hagiographischen Tradition, in der sein Gründer stand, sowie der pastoralen und spirituellen Erneuerung der Christenheit. Über die Person des Ordensstifters und das Wesen der Bewegung schrieb John Moormann in seinem Standardwerk zur franziskanischen Ordensgeschichte: S. Francis had brought new hope to those condemned to live in the darkness of suffering and despair. He had gone among lepers and out-casts, among vagrants, paupers, and criminals, and had shown them love and compassion. And as his early disciples went about the world, inspired by his example and strenghtened by his memory, a new light seemed to penetrate the dark corners of the earth, as those who thought that they had been deserted by God and man found that they were still remembered and loved. It was the ‘common people’ who heard Christ gladly; and it was to the common people that the friars directed their foot-steeps. The could bring them non material gifts, nothing to relieve the squalor and hardship which most of them had to endure. What they brought was a gospel, a gospel which they preached both by word and by deed, and which, by its simplicity and sincerity, touched the hearts of all men. The faithful disciple of the Poverello was a man who had 42
43
Das Interpretationsmuster ist kein Einzelfall, prägt beispielsweise auch die Reformationsforschung (von einer „Volksbewegung“ zu einer domestizierten „Fürstenreformation“). Vgl. Hamm, Reformation von „unten“ 256-263. Kocka, Sozialgeschichte 67-70; Iggers, Geschichtswissenschaft 26-50.
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renounced everything that the world most values – health, wealth, security, advancement, home life, and family affection – and was prepared to risk even life itself for what he believed to be his high calling. In the face of such single-mindedness, such gladness of surrender, the world took new hope and warmly welcomed those who came to them ‘as poor yet making many rich; as having nothing and yet possessing all things’44.
Moorman sieht einen strahlenden Franziskus durch ein Heer von Ausgestoßenen, Aussätzigen und Armen wandern. Franziskus und seine Jünger seien gekommen, die Not zu lindern, den Gottverlassenen Trost zu spenden und die Hungrigen mit spiritueller Nahrung zu versorgen. Vor der evangelischen Botschaft, verbo et exemplo vorgetragen und vorgelebt, habe sich kein Herz verschließen können. Auf „jene, die als Arme kamen und doch reich machten, die nichts hatten und doch alles besaßen“, habe man seinen Glauben und seine Hoffnung gründen können. Moormann verneigte sich vor dem religiösen Eiferer und seinen Anhängern, wie das bereits im Mittelalter geschehen und ähnlich formuliert worden war. Franziskus wird als überirdische Erscheinung inszeniert, ohne Fehl und Tadel. Der Wirklichkeit ebenso enthoben erscheint auch die Botschaft, die er und seine Mitbrüder in die Welt trugen und deren Erfolg vorausgesetzt wurde: Die Welt habe neue Hoffnung gefasst. Das Bild hat sich in den letzten Jahrzehnten gewandelt, zumindest in der säkularen Geschichtswissenschaft. Um den aktuellen Forschungsstand wiederzugeben, könnte man beispielsweise auf die derzeit beste Überblicksdarstellung der mittelalterlichen Kirchengeschichte verweisen, in deren Rahmen André Vauchez in seinem Beitrag über die Mendikantenorden folgende Gesamtdeutung gibt: Die Spitzen der Bettelorden wie auch das Papsttum legten immer mehr Gewicht auf die Seelsorgetätigkeit der Brüder und deren Rolle bei der religiösen Betreuung der Gläubigen. Die von der Hierarchie auferlegte Hauptaufgabe war die Predigttätigkeit, die die Laien zu Buße und sakramenteller Beichte bewegen sollte. Gab es einen besseren Ort als die städtischen Zentren, um die Menge in Kirchen oder auf öffentlichen Plätzen zu versammeln, zu ihr von Gott zu sprechen und sie zur Bekehrung aufzurufen? Darüber hinaus war das Ketzertum, vor allem in Italien, in erster Linie ein städtisches Phänomen. Im Jahr 1233 wurden die Dominikaner, kurz darauf auch die Franziskaner offiziell mit der Inquisition betraut. [...] Obwohl ihre Berufung die Ausübung behördlicher Funktionen auszuschließen schien, sahen sich die Mendikanten mit der Tatsache konfrontiert, dass sie zu Instrumenten des kirchlichen Apparates, ja zu Agenten der politischen Propaganda des Heiligen Stuhls gemacht wurden45.
44 45
Moormann, Franciscan Order 303 f. Geschichte des Christentums V 854 f. (André Vauchez).
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Charakteristika, die uns bereits in zitierten mittelalterlichen Texten begegneten, kennzeichnen auch diese Beschreibung des Mendikantentums. Der Ton und die Gesamtaussage haben sich jedoch gewandelt. Die Nähe zum Papsttum, ursprünglich allein als positives Zeichen der Erhabenheit der Bettelmönche gewertet und zum Signal ihrer heilsgeschichtlichen Bedeutung für die alle Menschen umfassende Kirche erklärt, gerät zur Instrumentalisierung der neuen Orden durch das Oberhaupt der Amtskirche. Damit hat nun letztlich auch die katholische Ordensgeschichtsschreibung zumindest ein Element der „Niedergangsthese“ des Protestanten Sabatier aufgegriffen46. Nicht allein die Führer der Bewegung, auch die Päpste haben in dieser Interpretation die starke Ausrichtung auf die Seelsorge und die Betreuung, die zugleich auch eine Überwachung und Indoktrinierung bedeutet, determiniert. Die wichtigste Waffe in der Auseinandersetzung mit Kirchengegnern und Ketzern war die Predigt. Den Gläubigen zu Buße und Beichte, den Ketzer zu Besinnung und Umkehr aufzurufen, darin sieht Vauchez die Aufgabe, die den Bettelmönchen nun allerdings nicht von Gott, sondern von der Ordens- und Kirchenspitze mit konkreten Zielen übertragen worden war. Nicht Retter einer bedrängten Kirche, außerhalb derer es kein Heil gibt, sondern Agenten der päpstlichen Propaganda nennt Vauchez konsequenterweise die Bettelmönche. Von der religiösen Erleuchtung der Massen, die frühere Historiker mit eifriger Feder und glühenden Worten verherrlicht hatten, ist nicht viel geblieben. Die sozialgeschichtliche Geschichtsschreibung hat das Phänomen Mendikantentum in seinen historischen Kontext gestellt und sich dabei nicht mehr mit emotionalen Begriffen der religiösen Erbauung zufriedengegeben. Die intensivierte Pastorale steht im Mittelpunkt dieser Interpretation, diese cura animarum wird nun allerdings ebenfalls nicht mehr allein als Vertiefung einer orthodox-katholischen Gläubigkeit verstanden, sondern als zweckgebundenes Instrument, um auf die Christenheit im Sinne der Ordensführung und des Papsttums einzuwirken. Die Mendikanten werden damit in eine sozialgeschichtliche Betrachtung der Kirchengeschichte integriert und als Fortsetzung einer religiösen und moralischen Diskussion betrachtet, die im 12. Jahrhundert sowohl in häretischen Kreisen als auch an orthodoxen Universitäten geführt worden war47. Die größte Bedeutung entfalteten die Mendikanten aus dieser Perspektive nicht als religiöse Helfer verarmter und verwahrloster Bürgerseelen, sondern als gesellschaftliche Ordnungsmacht. Bevor wir uns mit dieser Rolle des Mendikantentums ausführlicher beschäftigen, wollen wir die Risse kennenlernen, die dem schwärmerischen Ide46 47
Zu Sabatier vgl. oben 56 f. Vgl. bereits Grundmann, Religiöse Bewegungen.
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albild des Mendikantentums bereits von mittelalterlichen Zeitgenossen zugefügt worden sind.
2. Mendikanten in der Kritik Als Papst Gregor IX. Dominikus de Caleruega zur Ehre der Altäre erhob, erklärte er das Mendikantentum zu einem epochalen Einschnitt der Heilsgeschichte und stellte es auf eine Stufe mit den charismatischen Erneuerern des Christentums, ohne deren Hilfe die Kirche längst untergegangen wäre, die Menschen dem Teufel verfallen wären. Der Papst folgte damit den Konturen eines übersteigerten Selbstbildes, das aus der Mitte der Bettelorden kam. Aber auch die Gegner der Mendikanten gewannen ihre Argumente aus einer Interpretation der Heilsgeschichte, wobei sich allerdings die Rolle des Mendikantentums von der eines Retters in jene des Verderbers verwandelte. Im spätmittelalterlichen Kampf zwischen etablierter Kirchenhierarchie und mendikantischer Erneuerungsbewegung48, die die traditionelle Kirchenordnung in Frage gestellt hatte, stützten sich Apologeten wie Kritiker auf traditionelle Interpretationsmodelle. Die Worte, mit denen Gerhoch von Reichersberg die Kanoniker als Retter der Kirche gefeiert hatte49, kehrten ebenso wieder wie die Anklagen, mit denen Kleriker und Mönche des 12. Jahrhunderts gegen Eremiten und Wanderprediger Front gemacht hatten. Die polemischen Vorurteile gegen diese hatte um 1135 ein Priester aus Chartres zusammengefasst. Den „falschen Eremiten“ warf der unbekannte Autor vor, dass die von ihnen vorgebrachten Anklagen gegen Kleriker und Mönche übertrieben und unwahr seien. Zwar kritisierten die vagabundierenden Eremiten die Laxheit des traditionellen Mönchtums, in Wirklichkeit seien sie jedoch gar nicht fähig, das kontemplative Klosterleben zu verstehen. Ähnlich verständnislos stünden sie dem geweihten Weltklerus gegenüber. Entgegen dem Wortlaut ihrer Predigten verfolgten die „falschen Eremiten“ in Wahrheit nur den eigenen Nutzen. Sie lobten zwar die Armut, seien aber selbst hungrige Wölfe, sie wetterten zwar gegen die Habgier, seien aber selbst unersättlich. Obwohl sie vorgeben würden, sich von der Welt zurückzuziehen, verbrächten sie die meiste Zeit mit Wanderungen von einer Stadt zur nächsten, um Aufmerksamkeit und Geschenke zu erlangen. „Raus aus dem Wald und rein in die Stadt“ scheint dem Priester aus Chartres das Lebensmotto der falschen Mönche gewesen zu sein. Mei48 49
Allgemein zu den Spannungen zwischen Bettelmönchen und Klerus im späten Mittelalter vgl. einführend Swanson, The „mendicant problem“. Vgl. oben 44 f.
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stens schmutzig, mit Haaren, die Gesicht und Ohren verdeckten, kleideten sie sich wie wirkliche Apostel des Herrn; so täuschten sie die einfachen Leute. Beinahe die gesamte Welt sei durch diese teuflische Plage bereits verpestet worden50. Wie die eremitischen Wanderprediger der Reformzeit an der Wende zum 12. Jahrhundert wurden auch die umherziehenden Mendikantenprediger vom kirchlichen Establishment als Stachel im eigenen Fleisch empfunden. Die Rhetorik der antifraternalistischen Traktate des Spätmittelalters weist eine große Schnittmenge mit der zitierten älteren Schrift gegen die Wanderprediger auf. Der Einbruch in die fest gefügten Strukturen der ecclesia terrena führte zu verschiedenen Zeiten offensichtlich zu ähnlichen Antworten. Die Reaktion der herausgeforderten Elite änderte sich nicht, wie über hundert Jahre zuvor wurden die Neuerer und Eiferer als Störfaktoren der gottgewollten Ordnung und der ekklesiologischen Hierarchie diffamiert51. Wie jenen Predigern, die an der Wende zum 12. Jahrhundert durch die Wälder Nordfrankreichs zogen, warf man auch den Bettelmönchen vor, nur dem Schein nach die apostolische Nachfolge anzustreben, in Wirklichkeit jedoch unchristliche, eigennützige Ziele zu verfolgen. Zum Ausgangspunkt der antifraternalistischen Diskussion wurden die Schriften einer prophetischen Mystikerin, die eine Generation vor der Entstehung der Bettelorden gestorben war: Hildegard von Bingen, die bereits zu Lebzeiten gefeierte Visionärin Gottes, verfasste in ihrem heftigen Zweifrontenkampf gegen die Verweltlichung des sittenlosen Klerus sowie gegen den Erfolg asketischer Ketzer mehrere Texte52, die der spätmittelalterlichen Polemik gegen die Bettelmönche zahlreiche Argumente lieferten und einen wesentlichen Teil ihrer Berühmtheit in dieser Epoche ausmachten53. Hildegard meinte im Ablauf der Kirchengeschichte eine Typologie vom Aufstieg und Fall pseudo-apostolischer Gruppen zu erkennen. Sie griff damit eine populäre Strömung der Bibelexegese ihrer Zeit auf. Über falsche Brüder und Pseudo-Apostel, die dem Antichrist vorangingen, räsonierten in der Mitte des 12. Jahrhunderts auch Gelehrte wie Anselm von Havelberg, Rupert von Deutz oder Gerhoch von Reichersberg. Während Hildegard in den Israeliten, die in der Zeit des Propheten Elija zum Götzendienst zurückgekehrt waren, die alttestamentlichen sowie in Pharisäern und Sadduzäern die neutesta50 51 52 53
Leclercq, Poème de Payen Bolotin. Zur Kritik an der neuen mendikantischen Lebensform bei gleichzeitiger Begrüßung ihres antiketzerischen Auftretens vgl. Vauchez, Reactions. Zu Hildegards Kampf gegen die Katharer vgl. Kienzle, Defending the Lord’s Vineyard. Zur hagiographischen Hildegard-Tradition vgl. Newman, Hildegard.
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mentlichen Vorreiter des Antichristen erkannte, sah sie eine wachsende Anzahl falscher Brüder die Christenheit ihrer eigenen Zeit bedrohen. Niemals habe sich die Kirche in einer kritischeren Situation befunden, herausgefordert von innen und von außen durch listige Verführer54. Die ausführlichste Darstellung ihrer Gedanken über das apokalyptische Motiv der falschen Brüder, der Verderber und Pseudo-Apostel entfaltete Hildegard in einem Brief an den Kölner Klerus, der zu den im Mittelalter am stärksten rezipierten Schriften der Prophetin zählte und zu einer quasi autoritativen Grundlage antimendikantischer Propaganda wurde. Nach scharfen Angriffen gegen einen verweltlichten Klerus, der seine Vorbildfunktion verloren habe und seine Seelsorgepflichten nicht mehr erfülle, schrieb Hildegard: Der Teufel sprach: [...] ‚Ihr meine Schüler und Untertanen, ihr tretet mit größerer Zucht vor das Volk als jene (sc. der Klerus). Und weil ihr so seid, werdet ihr euch über jene erheben, ihnen alle Reichtümer und Ehren entreißen, und die völlig Entblößten schließlich ersticken’. So sprach der Teufel, auf dass auf diese Weise in vielen das Gebot Gottes erfüllt werde. Ich aber sage denen, die auf mich hören: Zu der Zeit, da dies geschieht, wird ein irrendes Volk, das noch schlimmer sein wird als das irrende, das jetzt da ist (sc. die Katharer), über euch herfallen, um euch zu stürzen, die ihr die Pflicht verletzt und das Gesetz übertretet. Dieses Volk wird euch überall verfolgen und eure Werke nicht verbergen. Nein, es wird sie aufdecken und von euch sagen: ‚Skorpione sind sie in ihren Sitten und Schlangen in ihren Werken’. […] Aber jenes Volk, das dies machen wird, ist vom Teufel verführt und von ihm gesandt. Es wird kommen mit bleichem Antlitz, sich in aller Heiligkeit gebärden und sich den weltlichen Fürsten anschließen. Über euch (sc. Kleriker) sagen sie: ‚Warum duldet ihr die unter euch, die die ganze Erde mit ihren schmutzigen Schändlichkeiten besudeln? Der Trunksucht sind sie ergeben und ausschweifend. Wenn ihr sie nicht ausweist, wird die ganze Kirche zugrundegehen’. Das Volk aber, das so über euch spricht, schreitet einher mit Tonsur und erweist sich in allen Sitten gefällig und sanft. Es liebt nicht den Geiz, besitzt kein Geld und übt eine solche Askese, dass man kaum einem von ihnen etwas zum Vorwurf machen kann. Der Teufel nämlich ist an ihrer Seite. [...] Diese ungläubigen, vom Teufel verführten Menschen werden wie eine Rute sein, um euch zu züchtigen, weil ihr Gott nicht in Lauterkeit anbetet. Und so lange werden sie euch peinigen, bis all eure Bosheit und Missetaten abgewaschen sind55.
Die Verführer des Volkes erfüllten die äußeren und inneren Anforderungen, denen ein verweltlichter Klerus nicht mehr gerecht werden konnte. In Hildegards Augen waren es vor allem eine exemplarische Le54 55
Die Interpretation der Geschichtstheologie von Hildegard folgt Kerby-Fulton, Hildegard of Bingen 390. Hildegard, Epistola XVr S. 34-44, hier 39 f. und 42.
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bensform und die intensive Pastoralarbeit der falschen Brüder, mit denen diese den geweihten Bischöfen und Priestern den Rang ablaufen würden. Hinter dem äußeren Schein religiöser Perfektion steckt allerdings der Teufel. Denn allein teuflischer Tarnung verdankten die falschen Brüder ihren Erfolg beim Volk, den sie dazu benutzten, die Menschen dem wahren Glauben zu entfremden und mit ketzerischem Gedankengut zu indoktrinieren. Ansehen und Glaubwürdigkeit des orthodoxen Klerus befanden sich dadurch in ernster Gefahr. Erst wenn sich die Kirche gewandelt habe, wenn sich ihre geweihten Vertreter auf Erden wieder ihrer eigentlichen Aufgabe entsinnten, erst wenn die Seelsorge wieder von eifrigen und fähigen Klerikern wahrgenommen werde, erst dann, ja erst dann werde die Gefahr überwunden sein. Bis dahin aber gelte: a diabolo seducti scopa vestra erunt ad castigandum vos. Die ersten Auswirkungen dieses Briefes spürten die Mendikanten bereits bei ihrer Ankunft in der Rheinmetropole. Ihr Auftreten in Armut, Askese und apostolischer Nachfolge erinnerte den Kölner Klerus nur zu deutlich an die Worte der verehrten Prophetin. Die Verurteilung der Dominikaner und Franziskaner als Pseudo-Apostel folgte auf den Fuß. Caesarius von Heisterbach, der ausführlich von den Verwicklungen berichtete und auch Hildegards Brief wiedergab, zitierte einen Kleriker mit den Worten: „Wir fürchteten, es wären jene, die den Klerus bedrängen und die Stadt gefährden und deren Kommen der Heilige Geist durch den Mund der gesegneten Hildegard prophezeit hat”56. Wie der positive Kanon mendikantischer Idealisierung sehr rasch seine Form gefunden hatte, so verfügte auch der Antifraternalismus schon bald nach Entstehung der Bettelorden über ein Repertoire ständig wiederkehrender Versatzstücke. Die stereotype Charakterisierung der Bettelmönche überdauerte in Grundzügen die Jahrhunderte. Zu den konstanten Elementen des Antifraternalismus, die Hildegard in ihrem Brief größtenteils vorweggenommen hatte, zählten eine nur vorgetäuschte Frömmigkeit, die korrumpierende Nähe zu weltlichen Herrschern, maßlose Geldgier und grenzenloses Geltungsbedürfnis, die Verführung der Frauen und ein unheilvolles Einwirken auf das einfache Volk zum Nutzen der eigenen Gemeinschaft. Durch Wilhelm von St. Amour, Vorkämpfer und Wortführer der antimendikantischen Fraktion während des Bettelordensstreits an der Pariser Universität in den Jahren 1250 bis 1259, verstärkte sich die exegetische Ausrichtung der polemischen Kritik sowie ihre eschatologische Dimension, die die Franziskaner selbst durch die Anwendung joachitischer Prophezeiungen auf den eigenen Orden in
56
Caesarius von Heisterbach I Nr. 208 S. 147-149 (Brief der Hildegard; Sonntagshomilien) und III 245 f. (Kölner Kleriker; Vita des Erzbischofs Engelbert).
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die Diskussion eingebracht hatten57. Wilhelm beschrieb die Bettelmönche nicht als illegitime Mitstreiter im Kampf um Privilegien und Einfluss in der Christenheit, sondern als die den bald bevorstehenden Untergang der Welt ankündigenden Vorreiter des Antichristen. Zu diesem Zweck verschmolz der Pariser Magister alle biblischen Unheilsboten – Pharisäer, Pseudo-Apostel und Antichristen – zu einem eschatologischen Schreckensbild. Immer bemühte sich Wilhelm dabei um eine von den Tagesereignissen losgelöste, abstrahierende Darstellungsweise, die eine theologisch-dogmatische Verurteilung der die kirchlichgöttliche Schöpfungsordnung störenden Mendikanten bezweckte. Mitte des 13. Jahrhunderts stand den Gegnern der neuen Bettelorden damit ein Kanon zur Verfügung, an dem sie das gesamte Spätmittelalter unbeirrt festhielten, ohne sich für den Wahrheitsgehalt der einzelnen Vorwürfe zu interessieren. Jene, die sich selbst als Nachfolger der Apostel betrachteten, wurden in den Schriften ihrer Gegner zu Pseudo-Aposteln, die nicht das Wort Gottes, sondern die Ankunft des Antichristen verkündeten. Jene, die für sich eine Erlöserrolle in der Heilsgeschichte beanspruchten, waren in den Augen ihrer Kritiker Kollaborateure des Teufels. Jene schließlich, die eine vita evangelica zu leben vorgaben, meinten ihre Gegner der frömmelnden Heuchelei überführen zu können. Wilhelm von St. Amour hatte Hildegards Schriften sorgsam studiert und für seine eigene Argumentation benutzt. Doch in seinem Umfeld arbeiteten Männer, denen der Pariser Gelehrte nicht weit genug ging. Ein unbekannter Eiferer gab sich nicht damit zufrieden, nur Hildegards Gedanken für die eigenen Zwecke zu verwenden, sondern bediente sich auch ihres Namens. Als die Kontroversen zwischen Klerikern und Bettelmönchen ihren Höhepunkt erreichten, veröffentlichte der anonyme Autor die pseudo-prophetische Schrift Insurgent gentes und schmückte damit seine antifraternalistische Polemik mit der Autorität der berühmten Visionärin. Noch einmal gewann der Ton an Verbissenheit und Emotionalität. Insurgent gentes ist kein Werk mystischer Visionen, sondern präsentiert sich als ein Text schamloser Propaganda. Wesentlicher Inhalt ist die Aufzählung der inzwischen zum Standard gewordenen Vorwürfe: Verführung des Volkes, insbesondere der Frauen, Geldgier und übersteigertes Geltungsbedürfnis, Nähe zu weltlichen Herrschern und Usurpation der Sakramentenspendung. „Doch das Volk“ – so schlussfolgert der falsche Prophet – „wird von Tag zu Tag entschlossener, und wenn es ihre Verführungen erkannt hat, wird es ihnen keine Almosen mehr geben. Wie wilde Hunde werden sie dann hungrig von Haus zu Haus ziehen, mit niedergeschlagenen Augen und gebeugtem Nacken, damit sie wie Geier mit Brot gefüttert werden. Das Volk ruft ihnen zu: ‚Weh euch, ihr Huren57
Zu Wilhelm von St. Amour und dem Pariser Bettelordensstreit vgl. unten III.4.
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söhne, die vergängliche Welt hat euch die Sinne verdreht, der Teufel hat durch euren Mund gesprochen, eure Herzen waren ohne Verstand, euer Geist war leer. Eure Augen erfreuten sich an Eitelkeiten und eure Füße führten euch mit großer Geschwindigkeit hinein in die Sünden’“58. Die Argumentation der mendikantenfeindlichen Schriften bediente sich in der Regel einer theologisch aufgeladenen Sprache. Der säkulare Klerus zeigte damit, dass er im Duell mit den Religiosen jene rhetorischen Waffen zu führen imstande war, auf die sich die Bettelmönche stützten. Franziskaner und Dominikaner reklamierten für sich nicht nur eine evangelische Lebensweise, sondern sie legitimierten ihre hervorragende Stellung in der hierarchischen Amtskirche mit theologischen und aus der Bibelexegese gewonnenen Argumenten. Ihre Verankerung wurde dadurch gleichsam transzendental. Die Anhänger und Förderer des Mendikantentums waren dieser Interpretationsweise gefolgt, allen voran die Päpste. Auch die Gegner der neuen Orden griffen tief in den angesammelten Vorrat biblischer, exegetischer und patristischer Zitate, um die eigene Position wirkungsvoll zu verteidigen. Beide Seiten interpretierten dabei die überlieferten Texte auf assoziative Art, bereits Anklänge wörtlicher oder inhaltlicher Übereinstimmungen genügten, um sie zur Legitimierung weit reichender Schlüsse heranzuziehen. Die Sprache der Auseinandersetzung war die Sprache scholastischer Theologie. Auf dem Spiel standen allerdings handfeste materielle Interessen und der Gewinn bzw. Verlust von Einfluss und Ansehen. Rhetorische Stilmittel, exegetisch gewonnene Argumente und die Instrumentalisierung aller zur Verfügung stehenden Autoritäten waren die Waffen eines Kampfes, den es unbedingt zu gewinnen galt. Inhaltlich beschränkten sich die verschiedenen Klagen der Kleriker auf zwei wesentliche Punkte: die Usurpation klerikaler Aufgaben und die ungewohnte Intensität mendikantischen Einwirkens auf die laikale Gesellschaft. Beides bedrohte die ekklesiologische und die soziale Ordnung, insbesondere aber den Status der angegriffenen Kleriker. Wilhelm von St. Amour hatte die wesentlichen Punkte zusammengetragen: zunächst die Nähe zu den Großen dieser Welt, die den Mendikanten nicht nur eine reich gedeckte Tafel bescherte, sondern ihnen auch Einfluss auf politische Entscheidungen sicherte. Wilhelm hatte daneben den Griff der Bettelmönche nach den Kirchenkanzeln und der Predigt, neben der Beichte dem wichtigsten Medium mendikantischer Einflussnahme auf die Laienwelt, genannt. Bekanntlich stammten sowohl die wichtigsten Predigtsammlungen als auch die größten Volksprediger des 13. Jahrhunderts aus den Reihen der neuen Orden. Einen dritten Punkt bei Wilhelm bildete das Einwirken auf die Gerichtsbarkeit. Schließ58
Paraphrase nach Kerby-Fulton, Hildegard 397 f.
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lich hatte Wilhelm das mendikantische Streben nach dem Magistertitel beklagt und damit speziell den Anspruch auf Lehrstühle an der Pariser Universität und generell die Selbstinszenierung als gelehrte Gemeinschaft und Hort der Weisheit verurteilt59. Wilhelms prägnante Kritik steht zweifellos in einem engen Bezug zur Realität des frühen Spätmittelalters, waren die Bettelmönche den säkularen Klerikern doch in allen genannten Bereichen überlegen. Unbestreitbar stellten die jungen Orden in dieser Epoche die umworbenen und gefeierten Fachleute, die den Fürsten mit Rat zur Seite standen, das Volk mit ihren Predigten massenweise um sich scharten, dem Rechtsleben ihren Stempel aufdrückten und aufgrund ihrer Gelehrsamkeit und ihrer Kontakte so manche ehrenvolle Gesandtschaft politischer oder diplomatischer Art leiteten. Ein dichterisches Denkmal erhielt der Pariser Universitätsstreit durch Rutebeuf, der mit dem ungeschliffenen Stil des jongleur offensichtlich die Stimmung seiner Zuhörer besonders gut traf. Gemeinsam mit Wilhelm von St. Amour stellte sich der große Satiriker an die Spitze der antimendikantischen Phalanx60. Die dogmatischen Argumente des scholastischen Theologen verwandelte der Dichter in polemische Spottverse, die insbesondere die Dominikaner als Störenfriede der ekklesiologischen Ordnung und als „ehrgeiziges und verlogenes Natterngezücht“ charakterisierten. Der Kampf der Mendikanten gegen die Pariser Professoren verwandelte sich in Rutebeufs Augen in einen Kampf der Laster gegen die Tugenden. Längst hätten sich die Bettelmönche von ihren untadeligen Anfängen entfernt. Einst seien sie demütige Gäste gewesen, die aßen, was man ihnen vorgesetzt habe. Dagegen stolzierten sie jetzt hochmütig und anspruchsvoll daher, Frau Demut habe sich bei ihnen inzwischen zur hohen Dame gewandelt. Die prächtigen Kirchenbauten offenbarten ihre unerschöpfliche Geldgier, die Schmeicheleien, mit denen die bettelnden Mönche König Ludwig IX. umwarben, ihren Willen zu Macht und Ansehen61. Gegen Ende des 13. Jahrhunderts stellte ein französischer Dichter den gesamten Lasterkatalog nochmals zusammen: Jehan de Meung schuf in seinem Roman de la Rose ein mendikantisches Sittengemälde, das aus Hochmut, Ehrsucht, Umschmeicheln der Reichen und Mächtigen, apostolischer Predigt über lukullisches Leben und Heuchelei angefertigt war62. In dieser dichterischen Popularisierung antimendikantischer Vorurteile machte sich jener topische Antifraternalismus bemerkbar, wel59 60 61 62
Wilhelm von St. Amour, De phariseo 7-16. Rutebeuf, Œuvres 107-113. Vgl. dazu Denkinger, Bettelorden in der französischen didaktischen Literatur. Denkinger, Bettelorden in der französischen didaktischen Literatur 79-97. Denkinger, Bettelorden in der französischen didaktischen Literatur 286-294.
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cher aus der Dichtung des 14. und 15. Jahrhunderts gut bekannt ist: Bettelmönche, die einst ärmlich gekleidet durch das Land gezogen waren, ritten nunmehr auf prächtigen Pferden und seien selbst wohlgenährt. Sie predigten den heiligen Glauben, aber besser noch beherrschten sie die Überredungskünste, beim Erstellen eines Testaments als Begünstigte eingesetzt zu werden. Am liebsten wohnten sie in Palästen oder dort, wo die Küche verlockend dufte. Mehr als den Altar, dem sie dienen sollten, liebten sie Opfergaben jeglicher Art63. So oder ähnlich erklang während des gesamten späteren Mittelalters ein vielstimmiger Chor. Wenngleich das Mönchtum auch um 1500 als Gesamtheit in der Regel geachtet und geehrt worden sein mag, waren die kritischen Kommentare zu seiner konkreten Erscheinung doch unüberhörbar. Selbst wenn man Luther als den Erfinder der spezifisch reformatorischen Kritik am Mönchtum bezeichnen will, können die mittelalterlichen Wurzeln dieser Haltung nicht geleugnet werden64. Zahlreiche spätmittelalterliche Werke ließen sich anführen, die eine zwischen dem 14. und 16. Jahrhundert anschwellende Strömung des Antifraternalismus kennzeichnet65. Berühmte Dichter wie Giovanni Boccaccio oder Geoffrey Chaucer setzten der Pervertierung mendikantischen Seins literarische Denkmäler66. Es ist daher wenig verwunderlich, dass die Angehörigen der Bettelorden, allen voran die Augustiner-Eremiten und die Franziskaner, von der reformatorischen Krise des Mönchtums besonders stark betroffen waren67. Seit dem 14. Jahrhundert kannte der Antifraternalismus mehrere Spielarten. Er war entweder literarischen Topoi verpflichtet, die bereits seit der Ordensfrühzeit existierten, oder aber die Kritik an den Bettelmönchen konzentrierte sich auf das mendikantische Armutsgelübde mit der Absicht, die freiwillige Armut als unwürdige Lebensform zu entlar-
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Vgl. allgemein Denkinger, Die Bettelorden in Dit und Fablel. Moeller, Die frühe Reformation 80 f. Zur Problematik vgl. Lohse, Mönchtum und Reformation. Für England vgl. Szittya, The Antifraternal Tradition in Middle English Literature; Szittya, „Sedens super flumina”. Zur Problematik allgemein vgl. Erickson, The fourteenth-century Franciscans; Szittya, The antifraternal tradition in medieval literature. Zu Boccaccio und Chaucer vgl. Havely, Chaucer, Boccaccio and the friars. Zu Chaucer vgl. Williams, Chaucer and the Friars 499: “Among the many unlovely characters in the General Prologue to the Canterbury Tales, the Friar is one of the rather small group with no mitigating virtues. Whenever Chaucer has occasion to mention friars, we get the same characterization, of unextenuated hypocritical villany”; Szittya, The Friar as false apostle. Zur Klostergeschichte in der Reformation vgl. Ziegler, Reformation und Klosterauflösung.
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ven68. Die daraus abgeleitete Ächtung des Bettels fand in der spätmittelalterlichen Gesellschaft immer größere Zustimmung – in einer Zeit, in der beträchtliche Teile der städtischen Bevölkerung am Rande des Elends lebten und kaum eine Kommune dazu imstande war, alle in ihren Mauern wohnenden Bedürftigen ausreichend zu versorgen69. Immer stärker begann die städtische Obrigkeit daher zwischen einer kleinen Zahl von legitimen Empfängern urbaner Wohltätigkeit und einer viel größeren Zahl von unwürdigen Armen zu differenzieren70. „Diese Unterscheidungen wurden zu einem großen Thema der spätmittelalterlichen Gesellschaft. Sie führten zu einer zunehmenden Kontrolle der Armut im Zeichen der Arbeit, weil nämlich nunmehr die Armenfürsorge nach dem strengen Kriterium von Arbeitsfähigkeit oder Arbeitsunfähigkeit zu organisieren war. Bettler zum Beispiel bedurften jetzt einer Lizenz, eines von den Städten verliehenen Bettlerzeichens“71. Man hat in diesem Zusammenhang von einer Disziplinierung, Bürokratisierung, Rationalisierung und Pädagogisierung der Armut gesprochen72. Lediglich wer unverschuldet durch Unfall oder Krankheit arbeitsunfähig geworden war, sollte in den Genuss städtischer Leistungen und individueller Almosen kommen. Unwürdige Bettler dagegen, die die Armut bewusst erstrebt oder selbst verschuldet hätten und damit der Allgemeinheit zur Last fallen würden, verdienten keine Unterstützung. Die Mehrzahl der spätmittelalterlichen Bettler gehörte nach Ansicht der städtischen Obrigkeiten, aber auch vieler Kleriker, Literaten und Humanisten zu dieser Gruppe der unwürdigen Armen. Auch die Bettelmönche zählte man zu ihnen. In Flugblättern und Sprichwörtern wie Wer im Bettelorden / ist der Ehre ledig worden73 offenbart sich die feindselige Haltung einer Gesellschaft, in der die Verhöhnung der einst gefeierten Orden zum guten Ton zu gehören schien. Mit einer solchen negativen Außenwahrnehmung betraten die Bettelmönche, deren Erfolgsgeschichte ihren Zenit längst überschritten hatte, die Epoche der Reformation – und Luther kannte bekanntlich keine Toleranz mit den ehemaligen Glaubensbrüdern.
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Zur Entwertung freiwilliger Armut im späten Mittelalter vgl. Ocker, Rechte Arme. Zur städtischen Armenfürsorge im späten Mittelalter vgl. Hartung, Armut und Fürsorge. Zur Armenfürsorge um 1200 vgl. dagegen Oexle, Armut und Armenfürsorge. Zur Unterscheidung zwischen Armen aus der Stadt und solchen aus umliegenden Dörfern während einer Hungersnot in Prag 1282 vgl. Borst, Lebenformen 429-434 (aus der Forsetzung der Kosmas-Chronik). Oexle, Arbeit. Zu den Auswirkungen im spätmittelalterlichen London vgl. Rexroth, Milieu. Vgl. unten IV.3. Wander, Deutsches Sprichwörter-Lexikon, Bd. 1, 361.
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Der spätmittelalterliche Antifraternalismus konnte daneben auch die Spitze eines allgemeinen Antiklerikalismus bilden, der sich sowohl gegen Kleriker als auch Mönche richtete und im Mendikantentum die Verkörperung des negativen Idealtypus erkannte, der alle realen oder fiktiven Laster und Verfehlungen der Geistlichkeit auf sich vereinte74. Konrad von Megenberg dachte in Kategorien dieser Art, als er sein „Klagelied der Kirche über Deutschland“ anstimmte. Nach ausführlichen Anklagen und Angriffen gegen die Bettelmönche ließ der Autor sein Werk in einer allgemeinen Klage über die Laster des geistlichen Standes ausklingen75. Im Laufe des späteren Mittelalters gewann der Antifraternalismus sowohl an Verbreitung wie auch an Beliebigkeit76. Einige Chronisten des 13. Jahrhunderts bemühten sich um ein differenziertes Bild, wobei bereits in diesen frühen Darstellungen zur Geschichte des Mendikantentums einer emphatisch gefeierten Gründungsphase der Bettelorden mitunter eine spätere Zeit des moralischen Niedergangs gegenübergestellt wurde77. Sich mehr und mehr von der Realität entfernend, erstarrte das Bild der Mendikanten in Stereotype. Es bildete sich ein Standardrepertoire von Vorwürfen, das sich vielseitig einsetzen ließ und das man – abgesehen vom Bettel – auch auf andere geistliche Gruppen übertragen konnte. Die ordensinternen Streitigkeiten, die Aufspaltung in verschiedene Observanzen, aber auch gestiegene Ansprüche einer kritischen Laienwelt hatten dieser Entwicklung Vorschub geleistet. Die Vorwürfe waren in starkem Maße literarischen Topoi verpflichtet. Für die reale Entwicklung der unterschiedlichen Ordensgemeinschaften interessierten sich die Angreifer meist wenig. Bereits in der Ordensfrühzeit, im 13. und 14. Jahrhundert, hatten die Gegner der Bettelmönche stereotype Gemeinplätze verwendet, sobald diese den eigenen Ansichten zu dienen schienen. Die vielen exegetischen Assoziationen, die zur Gleichsetzung der Mendikanten mit den biblischen Bösewichten der PseudoApostel oder Pharisäer führten, gehören ebenso in diesen Kontext wie die Beschwörung der eschatologischen Dimension bettelmönchischen Auftretens78. Dennoch wahrte die Kritik der ersten beiden Jahrhunderte einen stärkeren Realitätsbezug. Denn hinter einer schwülstigen Rhetorik, die das gesamte Heilsgeschehen zum Argument machte, beklagten Kleriker und Laien vor allem ein Phänomen, das mit dem mendikan74 75 76 77 78
Zum spätmittelalterlichen Antiklerikalismus vgl. unten 75 f. Konrad von Megenberg, Planctus II/23 S. 139 f. Zur Problematik vgl. den Überblick bei Szittya, Antifraternal tradition. Vgl. exemplarisch Thomson, The images of the mendicants. Zur Situation in Frankreich vgl. Vauchez, Reactions. Zur eschatologischen Dimension des Bettelordensstreits vgl. unten 184.
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tischen Wesen tatsächlich und ursächlich zusammenhing: eine gesteigerte Einmischung in die unterschiedlichsten Bereiche gesellschaftlichen Lebens, die den Klerus arbeitslos und die Laien zu mendikantischen Gesinnungsgenossen zu machen drohte. Bereits in der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts war ein schriftliches Zeugnis entstanden, das, obwohl es dem Pariser Universitätsstreit vorausgegangen war und keinen erkennbaren Einfluss auf Wilhelm von St. Amour und seine Anhänger ausgeübt hatte, die Mendikanten mit Vorwürfen konfrontierte, die auch im Pariser Bettelordensstreit und darüber hinaus eine wichtige Rolle in spätmittelalterlichen Polemiken gegen die Bettelmönche spielen sollten. Es handelt sich um die vermutlich um 1240 entstandene Satire Vehementi nimium79, die in der Regel dem kaiserlichen Logotheten Petrus de Vinea zugeschrieben wird80. Das Gedicht, eine Invektive polemischen Tonfalls, könnte man als laikales Gegenstück zu den Pariser Klerikerstimmen begreifen. Bereits wenige Strophen des Gedichts legen ein aussagekräftiges Zeugnis für die Haltung seines Autors offen: Ich denke, Gregor IX. war ein apostolischer Mann, gläubig und gut, aber seine Stimme lärmte in allen Zonen der Erde, weil er den Krieg zu sehr liebte. [...] So handelte der heilige Mann, weil er immer Predigerbrüder, die besser Heuchler genannt werden, an seiner Seite hatte und ebenso Minderbrüder, die seinen Sinn und seine Sitten verdarben. Hätte der Papst diesen Betrügern, diesen Freunden und Stiftern der Zwietracht keinen Glauben geschenkt, noch heute wäre der Kaiser unter den Verehrern und Beschützern der Kirche. [...] Als Sachwalter, Ärzte und Prozessvertreter, als Vormund, Richter und Pfleger, als Testamentsvollstrecker treten sie auf, selbst als Fideikommissare und Exekutoren. Beim Abschluss aller Verträge sind sie Mediatoren. Gibt es Geschenke, werden sie zu Schmeichlern, Verteidigern und Vertuschern von Verbrechen, fallen diese Leistungen aber weg, werden sie zu Anklägern. 79 80
Castets, Prose Latine, attribuée à Pierre de la Vigne. Zu Autor und Entstehungskontext vgl. Cian, Una satira dantesca. Zu Rhythmus und Autor vgl. Monteverdi, Pier della Vigna 276. – Zur Person vgl. Hans Martin Schaller, Art. „Pietro della Vinea”, in: Dizionario biografico degli Italiani 37 (1989) 776-784.
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Deshalb können diese an Verdienst Kleinsten als Gaukler beschimpft werden oder als weltliche Betrüger. Sie, die alle anderen Orden verachten, halten sich für etwas Besseres. Über die Märkte, Plätze und Kammern laufen sie, sie meiden keine Festlichkeit, und eilen herbei, wenn Hochzeit gefeiert wird, was selbst, wie ich glaube, Baruch und Micha nicht lehren. Wenn sie als Inquisitoren die Länder durchstreifen, loben sie die Schlechten und verdammen die Guten, jene, die ihnen üppige Kost vorsetzen, preisen sie am lautesten. […] Privilegien wurden ihnen verliehen von Papst Gregor, durch die ihr dünkelhafter Hochmut gestärkt und die Pfarrrechte begraben wurden81.
In Versform begegnet uns in dieser Satire nochmals das Standardrepertoire antimendikantischer Anschuldigungen. Die Nähe zum Oberhaupt der katholischen Kirche war für Petrus nicht das Zeichen besonderer Auserwähltheit – so sahen es die Bettelmönche und ihre Anhänger –, sondern wurde als verheerende Einflussnahme gedeutet, die das harmonische Zusammenwirken der universalen Mächte zerstört habe. Daneben beklagte der Dichter die Usurpation der Pfarrrechte und die Selbstgefälligkeit, mit der sich Dominikaner und Franziskaner über die anderen Orden erheben würden. Die meisten der zitierten Strophen widmete Petrus jedoch dem mendikantischen Streben, in allen Bereichen des Lebens mitzuwirken. Überall suchten sie ihren Einfluss geltend zu machen. Jede Rolle sei ihnen recht – ob als Prozessvertreter, Vertragsgestalter, Testamentsvollstrecker oder Inquisitor; immer wurden sie tätig, wenn es etwas zu ordnen und dabei etwas zu holen gebe. Auch in anderen Strophen seiner Satire zeichnete Petrus die mendikantische Einflussnahme auf die Gesellschaft in den schwärzesten Farben. Besonderes Augenmerk richtete er dabei auf die vermeintlichen Rechtskenntnisse der Mendikanten und ihre damit verbundenen Ansprüche, in Rechtsangelegenheiten eingreifen zu können. Die Summe des Raimund von Peñafort, von den Bettelmönchen auf allen Wegen mitgeführt, habe sie zu wahren Advokaten gemacht. Früher hätten sie die Bibel geliebt, heute würden sie als Fachleute des Rechts gelten. Ihr wahres Ziel sei allerdings nicht die Ergründung der Wahrheit, sondern die Zerstörung von Billigkeit und Gesetzen. Willkürlich urteilten sie 81
Übersetzung nach Castets, Prose, Strophen 15-26 S. 440 f.
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über versteckte und offene Vergehen, indem sie die weltlichen und geistlichen Rechtsbücher nach Gutdünken auslegten82. Im Gegensatz zum topischen Antifraternalismus des 14. und 15. Jahrhunderts war die Kritik der Frühzeit von konkreter Gestalt. Wilhelm von St. Amour und Petrus de Vinea ging es, trotz eschatologischer Übersteigerung hier und emotionaler Ausfälle dort, um Neuerungen, die das Wesen der mendikantischen Bewegung ausmachten. Neben der usurpierten Sakramentenspendung und den damit verbundenen materiellen Verlusten, die der Weltklerus hinzunehmen hatte, beklagten die ältesten Gegner der Bettelmönche vorrangig deren Anspruch, in möglichst vielen Lebensbereichen als Ratgeber, Seelenführer und Korrektor aufzutreten. Franziskaner und Dominikaner erscheinen in Schriften ihrer Gegner der ersten Generationen als selbstbewusste Elitegemeinschaften, die – im Verbund mit einem hierokratisch überhöhten Papsttum – einen religiös determinierten Führungsanspruch durchzusetzen versuchten. In allen Bereichen des Lebens und des Wissens, im Geistlichen und Weltlichen, im Sakramentalen und Juristischen fühlten sie sich dazu berufen, ihr Urteil abzugeben und der Welt den rechten Weg zu weisen. Die apologetischen Verteidiger der Bettelorden hatten die mendikantische Mission als eine Zäsur der Heilsgeschichte interpretiert. Von epochaler Bedeutung erschien das mendikantische Einwirken auf die Gesellschaft auch den Kritikern, allerdings zeigten sich diese davon überzeugt, dass eine Christenheit, die den Mendikanten folgte, nicht den Weg zu Gott fände, sondern geradewegs in die Hölle geführt werde. Was der eine kontemplative Erleuchtung nannte, beklagte der andere als sündhaftes Geltungsbedürfnis. Über dem Mendikantentum liegt ein Schleier, gewoben aus widersprüchlichen Begriffen wie Buße und Verdammnis, Reue und Heuchelei, Bekehrung und Verführung, Frieden und Zwietracht. Nur wer die Ordensgeschichte auch aus der Perspektive der Ordensgegner betrachtet und damit durch das Raster apologetischer Rhetorik hindurch blickt, kann sich dem historischen Ort der Bettelmönche nähern. Mehrere Fragen stellen sich einer Herangehensweise, die zwischen Idealisierung und Verurteilung des Mendikantentums vermitteln will: Fragen nach Wesen und Inhalt mendikantischer Missionierung, nach dem damit verbundenem Menschenbild, nach den zugrunde liegenden Vorstellungen von Macht und Herrschaft. Da Religion, Ethik, Recht und Politik sich gegenseitig durchdrangen und formten, kann die historische Würdigung einer Ordensgemeinschaft nur in einer Antwort gefunden werden, die religiöse, ethische, rechtliche und politische Deutungskategorien miteinander kombiniert. Die Mendikanten waren Produkt und Gestalter 82
Castets, Prose, Strophen 67-71 S. 447 f.
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des späteren Mittelalters. Sie begleiteten die abendländische Christenheit auf ihrem Weg in die Moderne. Dies taten sie allerdings keineswegs allein durch eine missionarische Verkündung des Evangeliums, die dem Einzelnen theologische Wahrheiten näher brachte und transzendenten Sinn vermittelte, sondern durch eine nach zwei Seiten gerichtete Vorgehensweise: durch die Verchristlichung des gesellschaftlichen Aufbruchs in den expandierenden Städten einerseits und durch die Ausarbeitung, Umsetzung und Popularisierung von Ordnungs- und Normierungskonzepten andererseits. Welchen Beitrag zu diesem weit über die Orden hinausreichenden Prozess ein kleines Netzwerk deutscher Franziskaner geleistet hat, wird im Folgenden erörtert werden. Zuvor müssen allerdings jene geistigen Grundlagen diskutiert werden, die es einem Diener der Kirche zur Aufgabe, ja zur Pflicht machten, ermahnend und regulierend in das Leben seines Nächsten einzugreifen. Denn bei der pastoralen Betreuung der Christenheit handelte es sich um eine den christlichen Kirchen und ihren Trägern immanente Aufgabe, die die Bettelmönche Anfang des 13. Jahrhunderts mit neuer Energie aufgriffen und mit aktuellen Inhalten füllten.
II. Der Auftrag 1. Neue Herausforderungen Zweifellos fehlte es unter den Klerikern des hohen Mittelalters manchen an der Kompetenz, mit den neuartigen Herausforderungen umzugehen, vor die das Anwachsen häretischer Gruppen und gestiegene Ansprüche der Laien die Kirche stellten83. Veräußerlichung und Mechanisierung des Gottesdienstes, mangelnde religiöse Unterweisung und als Folge das Wuchern unchristlicher und abergläubischer Vorstellungen, Sektierertum, Missachtung des geistlichen Standes: Mit Vorwürfen dieser Art waren Kleriker in allen Ländern des Abendlandes konfrontiert. Seitdem der heilige Bonifatius jenen bayerischen Priester getroffen hatte, der In nomine patria et filia zu taufen pflegte84, waren die Klagen über den moralischen und intellektuellen Zustand der Diener Gottes nicht mehr verstummt. Sie gehören zum Standardrepertoire eines weit über das Mittelalter hinausreichenden Antiklerikalismus, jener Kritik also, die Laien an dem Leben und der Amtsführung der mit ihrer geistlichen Leitung betrauten Weltkleriker und Ordensleute übten. Seit der Christianisierung wurde in den verschiedenen Ländern Europas „die vita clericorum et monachorum an den Forderungen des Neuen Testaments, den Lehren der Kirchenväter und den Ordensregeln, am Vorbild der Heiligen und den Vorschriften des Kirchenrechts, vor allem aber an den eigenen Worten gemessen“85. Mit schriftlichen, mündlichen und auch tätlichen Angriffen, mit Satiren, Spottgedichten, Bildern und bloßen Fäusten wurde Stellung bezogen gegen einen unsittlichen Lebenswandel, gegen Verweltlichung und Reichtum und die Vernachlässigung der Standespflichten. Der habgierige, unkeusche, streitsüchtige oder heuchlerische Geistliche war lange 83
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Angenendt, Frömmigkeit 39 und 51. Über die Schwierigkeit, den tatsächlichen Bildungsstand des Klerus in einer bestimmten Epoche zu bestimmen, vgl. Oediger, Bildung 132-137. Bonifatius, Briefe 141. Elm, Antiklerikalismus 5 (hier auch die Definition).
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vor seiner Ankunft in der Literatur des 14. und 15. Jahrhunderts zu einer topischen Figur geworden86. Von der facettenreichen Breite der Vorwürfe legt bereits Boccaccios 1350 verfasstes Decameron, ein Hauptwerk mittelalterlicher Novellenliteratur, ein eindrucksvolles Zeugnis ab87. Einen regelmäßigen Bestandteil laikaler, aber auch klerikaler Kritik an den Dienern Gottes bildete einerseits die angeblich unsittliche Lebensführung und andererseits die tatsächlich oder vermeintlich fehlende Bildung88. Ein Panorama der kleruskritischen Einstellungen und Vorurteile aus dem ausgehenden 12. Jahrhundert – jener Epoche, in der der Antiklerikalismus erstmals in der Geschichte des westlichen Christentums deutlich fassbar wurde – liefern die Briefe des Stephan von Tournai, der seine erfolgreiche Kirchenkarriere als Kleriker in Orléans und Student in Bologna begonnen und als Bischof von Tournai abgeschlossen hat. Insgesamt zeichnet der studierte Jurist, der mit der neuen Waffe des Kirchenrechts für ein altes Idealbild des Priestertums stritt, ein wenig erfreuliches Bild von der Sittlichkeit seiner französischen Klerikerkollegen. Besonders gegen die Weltkleriker, denen er Ungehorsam gegenüber ihrem Bischof, Bosheit und Gewinnsucht, weltlichen Ehrgeiz und religiöse Nachlässigkeit vorwirft, richtet sich seine scharfzüngige Kritik. Die geistlichen Weihen würden erstrebt, nicht weil der Beruf des Geistlichen locke, sondern einmal, um der weltlichen Gerichtsbarkeit zu entgehen, dann aber auch, weil sich dadurch die Aussicht auf eine kirchliche Pfründe böte. Sittliche Verfehlungen seien sowohl bei Chorherren als auch bei Mönchen zu finden, vor allem jedoch bei Weltklerikern, die häufig ein verschwenderisches Leben führten und Pfründe kumulierten. Schlecht bezahlte Stellen auf dem Lande würden häufig von schlecht qualifizierten Bewerbern besetzt; bei besser bezahlten Stellen käme es dagegen vor, dass der bestellte Pfarrer zwar die Einkünfte einer Pfründe bezöge, die Pfarrgeschäfte aber durch einen Vikar wahrnehmen ließe. An die Stelle der durch die Kirchenreform beseitigten Priesterehe sei das Konkubinat getreten. Um diesem Dilemma zu entkommen, sieht Stephan nur einen Ausweg: Der gesamte Weltklerus, dem die leitende und korrigierende Hand fehle, müsse nach mönchischem Vorbild organisiert und reformiert werden89. 86 87 88
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Zum Antiklerikalismus in der europäischen Erzählliteratur vgl. Beutin, Problematik. Zu Boccaccio und dem italienischen Antiklerikalismus im späten Mittelalter vgl. Seidel Menchi, Italian Anticlericalism, passim und 272 und 276. Zum mittelalterlichen Antiklerikalismus vgl. stellvertretend Elm, Antiklerikalismus; für das späte Mittelalter und die Frühe Neuzeit vgl. Dykema/Oberman (Hg.), Anticlericalism. Zur Klerikerbildung im späten Mittelalter einführend Oediger, Bildung. Zu Sitten und Bildung der französischen Geistlichkeit nach den Briefen Stephans von Tournai vgl. Scheler, Sitten. Zur Stephans kirchenpolitischem Wirken vgl. Conklin, Stephen.
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Die Kritik am säkularen Klerus kann jedoch nicht als unmittelbare Wirklichkeitsabbildung interpretiert werden. Stephan von Tournai selbst schwang sich beispielsweise zum überzeugten Verteidiger des von ihm kritisierten Priesterstandes auf, als es in Grandmont 1185-1187 zu Auseinandersetzungen zwischen Klerikern und Konversen kam und die klerikale Überordnung prinzipiell in Frage gestellt wurde90. Es kann daher keineswegs davon gesprochen werden, dass sittliche Lebensführung und fachliche Ausbildung des Klerus im hohen Mittelalter generell abgenommen hätten. Vermutlich trifft eher das Gegenteil zu, denn ebenso kontinuierlich, wie antiklerikale Texte verfasst wurden, arbeiteten Herrscher und Prälaten an einer Anhebung des moralischen und fachlichen Niveaus des Klerus. Die normativen Grundlagen der klerikalen Ausbildung waren bereits Jahrhunderte früher formuliert und durch die Aufnahme in Gratians Dekret normiert und allgemein zugänglich gemacht worden91 – noch im 14. Jahrhundert orientierte man sich an den alten canones92. In den kanonistischen Schriften des 13. Jahrhunderts wurden die persönlichen und intellektuellen Voraussetzungen für eine kirchliche Weihe weiter präzisiert und ausgestaltet. Raimund von Peñafort, der dem Stoff ein Kapitel seiner Rechtssumme widmete, sprach von drei Gebieten, die ein Kleriker beherrschen müsse, nämlich die Heilige Schrift, die weltlichen Wissenschaften sowie weltliche Geschäfte (triplex peritia, videlicet sacre scripture, secularium litterarum, item secularium negotiorum). Die Kenntnis der Heiligen Schrift und das kanonische Recht (ecclesiastica disciplina) dienten der Unterrichtung der dem Priester anvertrauten Seelen93. Mit Hilfe der weltlichen Wissenschaften – Raimund dachte wohl in erster Linie an das Trivium, insbesondere an die Dialektik – könne man lernen, das Wahre vom Falschen zu unterscheiden, um so einen Zugang zur scientia pietatis zu gewinnen. Eine Vertrautheit mit weltlichen Geschäften schließlich sei deshalb vorteilhaft, weil der Klerus nicht nur die spiritualia, sondern auch die temporalia der Kirche zu verwalten habe. Dabei erfolgte das Studium der Heiligen Schrift und des kanonischen Rechts vor allem an den Metropolitankirchen, während das elementare Wissen der artes an den Kathedral- oder Stiftsschulen unterrichtet werde94. 90 91 92 93
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Vgl. Conklin, Law. Insbesondere Dist. 24. Vgl. dazu Oediger, Bildung 46 f. und 80-97; Dohar, Sufficienter 306-309. Vgl. Boyle, Aspects 303 f. Diese ausdrückliche Funktionalisierung des kanonischen Rechts für die Seelsorge findet sich bereits bei Burchard von Worms Anfang des 11. Jahrhunderts. Vgl. Austin, Jurisprudence 931-933 und passim. Raimundus, Summa 2.8 S. 66-68 (das gesamte 2. Buch beschäftigt sich mit der Idoneität als Voraussetzung für die Erteilung kirchlicher Weihen). Vgl. auch Dohar, Sufficienter
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Raimund zeigt sich in seinem Text vertraut mit der institutionellen Absicherung der Priesterausbildung, wie sie sich seit dem 11. Jahrhundert sukzessive verfestigt hatte. Vor allem die Päpste selbst, an ihrer Spitze Gregor VII., sorgten mit ihren Beschlüssen für eine Institutionalisierung des kirchlichen Studienwesens. Bischofskirchen wurden dazu verpflichtet, einen Magister für den kostenlosen Unterricht der Kleriker in Grammatik, also den artes, wie Raimund sich ausgedrückt hatte, zu bepfründen; Metropolitankirchen mussten einen Lehrer für Theologie bereitstellen95. Diese allgemeine Entwicklung des kirchlichen Studienwesens sowie die gesetzgeberischen Anstrengungen der Kirchenspitzen legen die Vermutung nahe, dass die Kritik an Lebensstandard und Bildungsniveau des Klerus im 12. Jahrhundert nicht die Antwort auf einen Niedergang der fachlichen und moralischen Ausbildung des Klerus gewesen ist. Eher drängt sich der Eindruck auf, dass eine sukzessive Verbesserung der Klerikerausbildung96 nicht mit dem Anwachsen der Ansprüche an den Klerus Schritt halten konnte – ein ambivalenter Prozess, wie er sich im Laufe des 15. Jahrhunderts wiederholen sollte97. Eine Antwort auf die Kirchenkritik bildete die aktive Hinwendung der Kleriker zur Laienwelt. Neben die kontemplative Selbstheiligung in mönchischer Abgeschiedenheit trat die aktive Seelsorge inmitten der Welt98. Diesem Denken verdankt nicht zuletzt der regulierte Kanonikerstand seine Erfolge während des 12. Jahrhunderts. Gedacht als Rückwendung zur primitiva ecclesia der Apostelzeit, in der die Gemeinde bei individueller Besitzlosigkeit eine vita communis führte, bildete das regulierte Kanonikertum „eine geistliche Existenzform zwischen Mönchtum, Priesterschaft und Laienwelt“99, so wie Hildebrand, der spätere Papst Gregor VII., dies bereits Mitte des 11. Jahrhunderts gefordert hatte. Die Kanonikerreform des hohen Mittelalters hat die vita religiosa erneuert. In den Debatten, die um diese ekklesiologische Erneuerung und um den status perfectionis der einzelnen Gruppen und Stände innerhalb der Christenheit kreisten, erhoben die Regularkleriker in ihrer
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310. Zu den klerikalen Bildungsstätten einführend Oediger, Bildung 58-79. Zur spätmittelalterlichen Bildungsgeschichte Deutschlands vgl. Kintzinger, Bildungswesen; ders., Scholaster und Schulmeister. Boehm, Erziehung 172 f. Zur verstärkten Kontrolle des Klerus im Rahmen von Synodalstatuten seit dem Ende des 12. Jh. vgl. Avril, Pastorale 122 f. Zur Situation im 14. Jh. vgl. exemplarisch Boyle, Oculus; Boyle, Constitution; Boyle, Aspects. Zur Problematik vgl. Oediger, Bildung 135 f.; Eberhard, Klerus- und Kirchenkritik; Meuthen, Zur europäischen Klerusbildung; Angenendt, Religiosität 72 f. Über die kirchlichen Orden im beginnenden 12. Jh. vgl. einführend Geschichte des Christentums V 391-433 (Michel Parisse). Fuhrmann, Urban II. 24.
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Orientierung an den Normen der Urkirche den Anspruch auf die vita apostolica, die im traditionellen Denken den Mönchen vorbehalten und seit dem ausgehenden 11. Jahrhundert zum Lebensideal der Wanderprediger und ihres bunten Gefolges geworden war. Das kanonikale Denken strebte nach einer Einbindung aller Stände in die Kirche, auch der Laien, die ebenfalls – wie Gerhoch von Reicherberg gefordert hat – „zur apostolischen Lehre zurückkehren sollten, d. h. zur Predigt der Regularkanoniker“100. Das laikale Verlangen, allen Besitz zurückzulassen und apostelgleich nackt dem nackten Christus zu folgen, findet hier eine kirchlich-hierarchische Antwort in dem Sinn, dass der Wunsch der Laien, Gott nahe zu sein und seine Botschaft zu vernehmen, aufgegriffen und als Aufgabe der Kanoniker-Apostel betrachtet wird. Die regulierten Kleriker vertraten zugleich aber auch die Überzeugung, dass ungeweihte Laien, denen das Wissen um die göttlichen Dinge abging, niemals wahrhafte successores apostolorum sein könnten. Eine Konsequenz dieses Denkens, das an der bestehenden Kirchenhierarchie und einer Trennung der weltlichen von der geistlichen Sphäre festhielt, war die Gleichsetzung des ordo laicorum mit dem ordo poenitentium, dem frühchristlichen Stand der freiwilligen Büßer101. Entsprechend der biblischen Dreiteilung in Rektoren (Leiter der Kirche), Enthaltsame und Verheiratete (Ez 14,14) und entsprechend Bernhards Unterteilung der Zisterzienser in Prälaten (Äbte), Mönche und Konversen, bildete der laikale Büßerstand die dritte und unterste Stufe einer kirchlichen Hierarchie, die alle Glieder der Christenheit zusammenband102. Gerard Ithier, siebter Prior von Grandmont, gründete seine Vorstellung von der Welt auf diese Überzeugung: Alle Christen, die treu dem Glauben folgten und Gottes Gebote einhielten, könnten seiner Meinung nach Mönche genannt werden und das ewige Leben erlangen – unabhängig davon, ob sie verheiratet seien oder nicht. Denn es gebe nur eine Regel, von der auch Jesus Christus gesprochen habe, als er sagte: „Getrennt von mir könnt ihr nichts vollbringen“ (Joh 15,5). Deshalb breche jeder, der den Befehlen Gottes nicht gehorche, die Regel. Wer dagegen seinen Geboten folge, der bleibe auch innerhalb der einen Regel, die allen Menschen gemein sei103. Die laikale Integration in die Kirche wurde zudem durch ein organologisches Kirchenverständnis erleichtert, das Kleriker und Laien als 100 Wehrli-Johns, Voraussetzungen 293. 101 Vgl. dazu die zahlreichen Untersuchungen von Meersseman, zusammengefasst in Meersseman, Ordo fraternitatis. 102 Vgl. Meersseman, Ordo 217-240, bes. 228 ff. (= Ordo laicorum nel secolo XI, Erstdruck 1963) und 265-304, bes. 296 ff. (= I penitenti nei secoli XI-XII, Erstdruck 1965). Vgl. auch Congar, Laïcs 85-89. 103 Gerard Ithier, Liber de doctrina 5-6.
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zwei Seiten der ecclesia, die als corpus Christi verstanden wurde, zusammenfasste104. Theologen wie Hugo von St. Viktor und Thomas Becket, aber auch Kanonisten wie Stephan von Tournai und andere variierten diesen Grundgedanken; der eine sprach von den zwei Wegen, der via terrena und der via spiritualis, der zweite von den negotia ecclesiastica und den negotia saecularia, der dritte vom terrenum imperium und dem imperium coeleste. Zwar wies ein solches organologisches Kirchenverständnis Züge auf, die ins frühe Mittelalter zurückweisen105. Andererseits diente das Modell der Integration des laikalen Lebens in die Kirche während einer Zeit, in der die Identifizierung von Kirche und Christenheit nicht mehr selbstverständlich war106, indem geistliche und weltliche Sphäre ekklesiologisch getrennt, im Glauben aber spirituell wieder vereint wurden. Antriebskraft dieser Entwicklung war keine längerfristige Strategie, sondern Erfordernisse einer neuen Zeit, in der sich das Verhältnis zwischen clerici und fideles gewandelt hatte. Die Suche nach dem apostolischen Leben, das die um ihr Seelenheil fürchtenden Menschen des hohen Mittelalters umtrieb und zu konkurrierenden Lebensentwürfen und Kirchenvorstellungen geführt hatte, war die Wurzel dieser klerikalekklesiologischen Einbindung des ordo laicorum als ordo poenitentium107. Papst Innocenz III. machte diese Vorstellungen zur Grundlage seiner Politik108, als er den in der säkularen Welt verbliebenen Laienmitgliedern aller von ihm approbierten neuen religiösen Gemeinschaften, wie der Humiliaten, der katholischen Armen und der armen Lombarden, Lebensregeln nach den Vorschriften des Büßerstandes gab109. Der Laie erfüllte damit eine von höchster Stelle anerkannte Aufgabe innerhalb der kirchlichen Hierarchie, von Innocenz III. auf verschiedenen Wegen innerhalb der Kirche verankert: „Normativ durch die Heiligsprechung eines laikalen Büßers avant la lettre, des heiligen Homobonus von Cremona im Jahr 1199, juristisch durch den Erlaß von Lebensregeln (pro104 105 106 107
Zu diesem ekklesiologischen Verständnis im 12. Jh. vgl. Congar, Laïcs. Vgl. Ullmann, Individuum 10-39. Vgl. Ladner, Concepts. Diese Sichtweise erlaubt einen Ausgleich zwischen jener Forschungsrichtung, die ihr hauptsächliches Interesse auf die Laienwelt richtet und mit dem Namen Herbert Grundmanns verbunden ist, und jener Richtung, die stärker die klerikale Perspektive in den Vordergrund stellte, wie Gilles Gérard Meersseman dies getan hat. Eine Stellungnahme für Meersseman muss daher nicht automatisch zu einer Ablehnung von Grundmann führen, wie dies bei Wehrli-Johns, Voraussetzungen, der Fall ist. Vgl. dagegen Oberste, Predigt 290 f. 108 Zur Person vgl. zuletzt Moore, Innocent III. 109 Wehrli-Johns, Voraussetzungen 293 f. Zur päpstlichen Politik gegenüber Pauperes Catholici, Pauperes reconciliati, Humiliaten und Franziskanern vgl. Zerfass, Laienpredigt 201-224. Zu den Humiliaten vgl. auch Bolton, Innocent III and the Humiliati.
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positae vitae) für den laikalen Dritten Orden, was erstmals 1201 mit der Anerkennung der rekonzilierten Humiliaten verwirklicht wird, dogmatisch durch das Glaubensbekenntnis des Vierten Laterankonzils und die Durchsetzung des Bußsakraments in Form der jährlichen Beichtpflicht, seelsorgerisch durch die Einführung der Predigt verbo et exemplo, mit der dann vor allem die Dominikaner beauftragt werden, sowie durch umfassende Maßnahmen zur Reform des Klerus und des Studiums der Geistlichen“110. Wie die Theologen des 12. Jahrhunderts bediente sich Innocenz III. der Trias praelati – continentes – coniugati, um die dreigestaltige Phalanx der ecclesia militans zu beschreiben, die, mit dem Papst an der Spitze, geschlossen gegen die inneren und äußeren Feinde der Kirche marschierte. In den päpstlichen Predigten und theologischen Schriften wurde der laikale Büßerstand ausführlich behandelt, und es wurden Vorschriften entworfen, wie der homo poenitens das ihm angemessene Leben führen und damit das ewige Leben gewinnen konnte. Das spirituelle Programm für Laien, das Innocenz III. auch seinen Regeln für die rekonzilierten Ketzergemeinschaften zugrunde gelegt hatte, war jedoch nicht allein das Produkt dieses innovativen Papstes. Im ausgehenden 12. Jahrhundert hatte die „pastorale Moraltheologie“ ihr geistiges Zentrum an der sich konstituierenden Universität Paris111. Hier wurde intensiv über den Wandel der Zeiten und die neuen Herausforderungen, vor denen die Kirche stand, diskutiert. Hier wurde das Programm entworfen, mit dem die ecclesia militans unter Innocenz III. und seinen Nachfolgern gegen laikale Kirchenskepsis und häretische Bewegungen zum Kampfe schritt. „The first real school of moral theology“ bildete sich um Alanus von Lille († 1202), magister regens in Paris und Montpellier, bevor er in der Abtei Cîteaux den Zisterzienserhabit überzog, sowie um Petrus Cantor († 1197), der mit seinem gelehrten Kollegen nicht nur die zisterziensische Tracht im Moment des Todes teilte, sondern sich wie dieser neben der exegetischen Auslegung der Heiligen Schrift mit Fragen der Moral und Pastorale beschäftigte112. Durch ihren Schülerkreis, zu dem die berühmtesten Prediger und Prälaten der Zeit zählten, gaben sie ihre Ideen an die kommenden Generationen weiter. Es war ihr Denken, das den zunehmend problematischen Antagonismus zwischen klerikaler und laikaler Welt überbrücken half und geradezu zu einem „Distanzabbau zur laikalen Gesellschaft“ führte, der es den Bet110 Wehrli-Johns, Voraussetzungen 295 f. 111 Grundlegend Baldwin, Master I und II. Zuletzt Oberste, Predigt 253 ff. (Zitat 253); Oberste, Heiligkeit 105-119. 112 Little, Poverty 175 (Zitat). Zu Petrus Cantor vgl. Oberste, Heiligkeit 105-119, zu Alanus von Lille ebd. 119-129.
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telmönchen im Laufe des nächsten Jahrhunderts ermöglichte, eine „solidarietà tra Ordini Mendicanti e mondo cittadino“ zu verwirklichen113. Sämtliche Konfliktlinien zwischen klerikaler und laikaler Welt fanden in der pastoralen Moraltheologie, wie sie im Pariser Universitätsmilieu Ende des 12. Jahrhunderts Gestalt annahm, eine erste vorläufige Antwort. Die vorbildhafte Erzieherrolle eines reformierten Klerus und dessen Hinwendung zur Laienwelt sowie die Einbeziehung der Laien in die Kirche sollten die verirrten Schafe zur Herde zurückführen. Die Pariser Pastoralreform zielte gleichsam auf eine intensivierte Christianisierung, die ins Innere der Menschen dringen und sie zu wahren Christen machen sollte – dies galt sowohl für innerlich überzeugte Häretiker als auch für unengagierte Christen114. Die klerikale Elite begnügte sich nicht mehr damit, dass sich der Einzelne äußerlich in die Prozession der Gläubigen einreihte, sondern drängte die Gemeinschaft der fideles zur aktiven Mitarbeit in der universalen Kirche. Unter der Führung des ordo sacerdotalis sollte der ordo poenitentium den Weg zum Heil finden. Während des Pontifikats Papst Innocenz’ III. erfolgten die ersten Schritte zur Umsetzung dieses Programms115. Das umfassendste Plädoyer für eine Pastoralreform, die die gesamte Christenheit einschloss und bereits in eine von den Bettelmönchen dominierte Epoche der Kirchengeschichte überleitete, stammt von Jakob von Vitry. Jakob kannte die Welt, von der er sprach. Aus Nordfrankreich stammend, ließ er sich nach einem Studium an der Universität Paris im Jahr 1210 zum Priester weihen und wurde Regularkanoniker im Kloster Oignies im Bistum Lüttich. Sein Ruhm als Prediger drang bis ins Heilige Land, wo das Kapitel von Akkon ihn 1216 zum Bischof wählte. Doch Jakob verließ seinen Amtssitz bereits nach einigen Jahren, um in den päpstlichen Dienst zu treten, was ihm 1228 die Kardinalswürde einbrachte116. Die an der Pariser Universität diskutierten moraltheologischen Neuerungen besaßen in Jakob ihren vielleicht bekanntesten „Historiographen“. In etwa 450 Predigten, durchsetzt von lehrhaften Exempla, zeichnete Jakob ein kasuistisches Sittenbild seiner Zeit, das pointiert und wirklichkeitsnah den Einzelnen in der ihm zugewiesenen Funktion beschrieb und ihn zu Reue und Besserung aufrief117. Was Jakob in diesen Predigten moralisch behandelte, versah er in seiner Historia occidentalis, 113 Oberste, Predigt 247; Barone, Ordine 609 (unter Verwendung eines Zitats von M.-D. Chenu). 114 Vgl. exemplarisch Forni, La „nouvelle prédication“. 115 Vgl. Oberste, Predigt 273-283. 116 Zur Biographie vgl. Oberste, Heiligikeit 142-144. Künftig vgl. Nève, Jakob von Vitry. 117 Zu Jakob von Vitry als innovativen Prediger vgl. Forni, Giacomo; Oberste, Heiligkeit 142-169; Schmidt, Allegorie 309-313.
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die als Spiegel „of the apostolic life among laity and among religious“ bezeichnet wurde118, mit einem historiographischen Fundament119. Die zwischen 1223 und 1225 vollendete Geschichte des Abendlandes war der zweite Teil einer Historia Hierosolimitana abbreviata, in deren erstem Teil, der Historia orientalis, Jakob die Geschichte des Heiligen Landes erzählte. Die zeitgenössischen Ereignisse vom dritten Laterankonzil bis zum Fall von Damietta wollte Jakob einem dritten Buch vorbehalten, das allerdings nie geschrieben wurde – der Niedergang im Osten ließ den Historiographen wohl verstummen. Auch die Historia occidentalis selbst blieb entweder unvollendet oder wurde nicht vollständig überliefert. Die Anlage des Werks verrät, dass für Jakob Anfang und Ende der Geschichte in Jerusalem lagen. Das irdische Jerusalem galt es aus den muslimischen Händen zu erretten, das himmlische musste das Ziel eines jeden Christen sein. Im zweiten Buch wandte sich der erfolgreiche Prälat deshalb an das Abendland, denn von hier musste eine neuerliche und endgültige Eroberung Jerusalems ihren Ausgang nehmen. Doch war der Okzident gerüstet? In dunklen Farben beschreibt Jakob in den ersten Kapiteln seiner Historia occidentalis den moralischen Niedergang des Abendlandes. Die Schlechtigkeit der Menschen feiere Triumphe, Glaube und Barmherzigkeit existierten nicht mehr, sittenlos und verbrecherisch gehe es auf Erden zu. Paris sei ein Sündenpfuhl, die magistri der Universität eitle Lügner, die scholastische Wissenschaft inhaltsleer, kaum finde sich ein ehrlicher und gottesfürchtiger Mann unter ihnen. Den Grund allen Übels sieht Jakob in den Sünden und der Pflichtvergessenheit der Kleriker. Denn klerikale Nachlässigkeit habe sich in wölfische Wut verwandelt. Der Weg der Schafe, die von den Hirten unterrichtet und geführt werden sollten, drohe ins Unheil zu führen. So neige sich die gesamte Welt zum Sturz und steige mit beständigem Schritt in die Tiefe120. Doch Rettung naht. Unter den Pariser Professoren gäbe es einen, der einer Lilie unter Disteln (Cant 2,2), einer Rose unter Brennesseln und einer himmlischen Trompete gleiche: Magister Petrus Cantor, einen Mann der Tat und des Wortes. Wie die Lampe, die brennt und leuchtet (Joh 5,35), lebten und lehrten Petrus und seine Schüler. Diese heiligen Männer hatten ein einziges Ziel, nämlich den Verführungen der Welt zu entsagen und die guten Sitten wiederherzustellen121.
118 Jakob von Vitry, Historia occidentalis 12 (Einleitung). Zu den ekklesiologischen und pastoralen Vorstellungen Jakobs vgl. stellvertretend Oberste, Predigt 283-290. Zum Werk vgl. Oberste, Heiligkeit 103-105. 119 Vgl. Oberste, Predigt 287. 120 Jakob von Vitry, Historia occidentalis 73-88, besonders 84 f. 121 Jakob von Vitry, Historia occidentalis 94-106, besonders 94.
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Die Pariser Prediger besaßen wichtige Verbündete in den religiösen Gemeinschaften, die in Jakob von Vitry ihren ersten Historiographen fanden. Die Erneuerung der abendländischen Kirche verdankt sich in Jakobs Augen in wesentlichem Ausmaß den Männern und Frauen der Kirche. In weiten Teilen bietet die Historia occidentalis daher eine Charakterisierung der existierenden Ordensgemeinschaften. „Von Tag zu Tag bessert sich der sittliche Zustand der abendländischen Kirche, und jene, die lange Zeit in Dunkelheit und im Schatten des Todes lebten, wurden erleuchtet durch das Licht und das Wort Gottes. [...] Unter jenen, die den Heiligen Geist empfangen haben, suchten einige mit besonders großer Kraft, den Gefahren und Verführungen der Welt zu entgehen und dem Herrn mit ganzem Ernst zu dienen. Auf die Welt verzichtend, ihren Familien und Freunden Lebwohl sagend, flüchteten sie sich in den Hafen des religiösen Lebens. Sie gaben sich mit allen ihren Gütern dem Herrn als Opfer hin, um als Gegengabe das ewige Leben zu erhalten“122. Diese religiosi seien die Rettung der Kirche und damit der Welt. Am Ende und an der Spitze des Panoramas abendländischen Ordenswesens stehen die Anhänger des heiligen Franziskus: „Den drei Formen des religiösen Lebens – dem Eremitentum, dem Mönchtum und dem Kanonikertum – hat der Herr in unseren Tagen eine vierte hinzugefügt. Betrachtet man allerdings sorgfältig den Zustand und die Regel der frühen Kirche, so hat der Herr keine neue Regel geschaffen, sondern die alte erneuert. Die Welt geht ihrem Ende entgegen, die Zeit des Antichristen steht bevor, und der Herr hat die alte Form des religiösen Lebens wieder erweckt. Auf diese Weise wollte Gott zum Schutz seiner Kirche neue Athleten rüsten für die gefährlichen Zeiten, die bevorstehen“123. Es ist die Aufgabe dieser heiligen Männer und Frauen, die verdorbene Gesellschaft vom Pfad der Untugend auf den rechten Weg zurückzuführen. Gott sandte, da die traditionellen Kräfte dafür nicht auszureichen schienen, neue Helfer. Ähnlich wie Gregor IX. in seiner Heiligsprechung des Dominikus interpretierte Jakob die Entstehung der Bettelorden als kirchengeschichtliche Zäsur. Mit den Franziskanern sei die Kirche zu ihren hehren Anfängen zurückgekehrt. Sie bildeten das Salz der Erde, die Erleuchtung der Welt. Der Kampf gegen die irdischen Laster und Verführungen finde in ihnen seine wichtigste Stütze. Die geistige Erneuerung vollziehe sich durch diese neuen Kräfte, die nicht der Selbstheiligung verpflichtet seien, sondern der gesamten Christenheit auf dem Weg des Heils voranschritten. Obwohl die Diener Gottes zwar Lehrmeister und Führer seien, bildeten sie doch gemeinsam mit den Laien in der Welt die heilige 122 Jakob von Vitry, Historia occidentalis cap. 11 S. 107 f. 123 Jakob von Vitry, Historia occidentalis cap. 22 S. 135 f.
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Kirche. „Denn nicht nur jene, die der Welt entsagen und sich einer religiösen Gemeinschaft anschließen, leben nach einer Regel, sondern alle Christen, die dem Herrn unter der Regel des Evangeliums dienen und, gemäß ihrem Stand, unter der Autorität des Höchsten leben. Und wirklich, die Kleriker und Priester, die in der Welt leben, besitzen ebenfalls eine Regel, eigene Satzungen und Institutionen. Es existiert sogar ein Stand der verheirateten Menschen, ein weiterer der Witwen, ein anderer der Jungfrauen. Die Ritter, die Kaufleute, die Bauern, die Handwerker und alle anderen Menschen leben in ihrer Mannigfaltigkeit nach einer Regel und Einrichtungen, die ihnen eigen sind und die sie abgrenzen von anderen Ständen gemäß den unterschiedlichen Gaben, die Gott ihnen anvertraut hat. [...] Und dennoch gründet das corpus ecclesiae auf einer Einheit unter Christus“124. Jakob greift auf Gedanken zurück, die in der Kirche zu allen Zeiten Anhänger gefunden hatten. Gregor der Große hatte gelehrt: „Es gibt den Stand der Prediger, den Stand der Enthaltsamen und den Stand der Verheirateten. [...] Repräsentiert von drei Personen: Noah, Daniel und Hiob“125. Die Theologen des 12. Jahrhunderts kannten die Trias der Mönche, Kleriker und Laien und stützten sich dabei auf die Dreiteilung, die sie dem Buch Ezechiel entnahmen. Papst Innocenz III. dachte in ähnlichen Kategorien, wenn er von der dreigestaltigen Phalanx der ecclesia militans sprach. Bereits im 10. Jahrhundert hatte Rather von Verona in seinen Vorreden zu einem christlichen Leben (Praeloquia) Regeln für Herrscher und Untertanen, Krieger und Richter, Männer und Frauen, Eltern und Kinder, Jugendliche und Greise aufgestellt und damit zu erkennen gegeben, dass ein gottgefälliges Leben, ein rechter ordo vivendi, für ihn nicht nur im Kloster, sondern auch in den unterschiedlichsten laikalen Lebenskreisen denkbar war126. Gerard Ithier hatte von der einen Regel gesprochen, die alle Menschen unter der Herrschaft Jesu Christi zusammenfasse. In dieser Tradition steht auch Jakob von Vitry, der die Pariser Morallehre popularisierte127, dessen besondere Aufmerksamkeit allerdings den Religiosen gehörte, in deren vorbildlicher Lebensweise der weit gereiste Prälat den Schlüssel zur Welt erblickte. Von den beiden religiösen Gruppierungen, den Enthaltsamen auf der einen, den Predigern auf der anderen Seite, werden die Laien in der Welt gleichsam umringt und errettet. Die moraltheologischen Gedanken des Petrus Cantor zu ihrem logischen Ende führend, unterwirft Jakob die gesamte Christenheit einem einheitlichen Regelsystem – unter der Führung des „kleri124 125 126 127
Jakob von Vitry, Historia occidentalis cap. 34 S. 165-181, hier 166. Vgl. Folliet, Trois catégories 81-96; Congar, Laïcs 84-89. Vgl. Borst, Lebensformen 17. Vgl. Baldwin, Master I 39.
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kalen Berufspredigers mit vorbildlicher evangelischer Lebensweise und theologischer Universitätsausbildung“128. Jeder Stand hat seine eigenen Lebensvorschriften, doch die gemeinsame Hinwendung zu Gott und seiner Kirche verbindet alle Menschen. Der Erfolg der pastoralen Erneuerung war von der Überzeugungskraft seiner Träger abhängig. Wenn Petrus Cantor schrieb, man müsse in der heutigen Zeit Prediger der guten Sitten und Feinde der Laster über den Erdkreis aussenden, wie in der Urkirche die Apostel als Prediger gegen die Ungläubigen geschickt worden seien, und zu diesem Zwecke solle sich ein allgemeines Konzil unter päpstlicher Führung versammeln129, so hatte der Pariser magister das Problem klar erkannt und benannt. Es bedurfte daher einer großen Zahl klerikaler Berufsprediger, die willens und imstande waren, die Botschaft Gottes verbo et exemplo zu verkünden. Die Bildung der Kleriker musste gehoben, ihre Lebensweise verbessert werden. Erst wenn sich der Glaubenseifer der Wanderprediger des 11. und 12. Jahrhunderts mit dem eifrigen Bibelstudium, wie dies Waldenser und andere betrieben130, verbunden habe, würde die römische Kirche damit rechnen können, jene Laien, die sich häretischen Bewegungen angeschlossen hatten oder mit diesen sympathisierten, zurückzugewinnen. Doch fehlte es der Kirche um 1200 an gut ausgebildeten Männern, zumindest war dies die vorherrschende Überzeugung – nicht nur der Laienwelt. Auch Papst Innocenz III. hatte die vermeintliche Wurzel des Übels erkannt und, die Bühne des allgemeinen Kirchenkonzils für mahnende Worte nutzend, den versammelten Prälaten die Notwendigkeit der Klerusreform vor Augen geführt: Jede Verderbnis im Volk geht in erster Linie vom Klerus aus. Denn der geweihte Priester, der sündigt, lädt Schuld auf das Volk, weil die Laien, sehen sie ihn sündigen, dessen Beispiel folgen und sich hinreißen lassen zu Unrecht und Verbrechen. Wird er dann von jemanden getadelt, entschuldigt er sich sogleich, indem er sagt: Der Sohn nur tut, was er den Vater tun sieht, und ein Schüler begnügt sich damit, dass es ihm geht wie seinem Lehrer. Daraus entstehen große Übel für die Christenheit. Der Glaube geht zugrunde, die Religion wird entstellt, die Freiheit erschüttert, die Gerechtigkeit misshandelt, Häresien greifen um sich, die Schismatiker werden übermütig, es wüten die Ungläubigen, die Sarazenen triumphieren131. 128 Oberste, Predigt 286. 129 Zitiert nach Oberste, Predigt 257. 130 Zum Bibelstudium ketzerischer Gruppen vgl. Lambert, Häresie 72-76; Schreiner, Laienbildung 287. 131 Innocenz III., Sermo 678: Nam omnis in populo corruptela principaliter procedit a clero. Quia, si sacerdos, qui est unctus, peccaverit, facit delinquere populum (vgl. Levit 4), quippe dum laici vident turpiter et enormiter excedentes et ipsi eorum exemplo ad iniquitatem et scelera prolabuntur. Cumque reprehendunter ab aliquo, protinus se excusant dicentes: Non
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Aus diesen Worten klang die Sorge des ehemaligen Pariser Studenten, dass die Kirche die Herausforderung, vor der sie am Beginn des 13. Jahrhunderts stand, mit ihren traditionellen Kräften zu meistern nicht imstande sei. In seiner Eröffnungsrede verlieh der Papst neben dem tristen Bild des sündhaften Klerikers aber auch der Hoffnung Ausdruck, dass im achtzehnten Jahr seines Pontifikats die Würde der Kirche durch das Konzil wiederhergestellt und das Tugendleben früherer Zeiten im christlichen Volk erneuert werde. Vom Klerus habe das Verderben seinen Ausgang genommen, im Heiligtum, d. h. in seiner Heiligung und Reformierung, müsse auch die Reinigung beginnen132. Dass diese Worte dem Denken des Papstes entsprachen und dass er gewillt war, diesem Denken auch Taten folgen zu lassen, zeigt die Einführung des Inquisitionsprozesses. Bisher war es kaum möglich gewesen, gegen gewissenlose Kleriker und Prälaten, die ohne Skrupel einen Reinigungseid leisteten und wegen ihrer Machtposition auch die erforderlichen Eideshelfer fanden, gerichtlich vorzugehen. Das neue Verfahren sah vor, dass die Richter in Fällen, in denen ein starker Verdacht vorlag, die materielle Wahrheit ex officio ermittelten und auch ohne Geständnis ein rechtskräftiges Urteil fällten und durchsetzten. Durch die Erweiterung des herkömmlichen Verfahrens hatte Innocenz ein effizientes Instrument zur Disziplinierung des Klerikerstandes geschaffen133. Für eine Verbesserung der moralischen Lebensführung und der intellektuellen Fähigkeiten des Klerus hatte der Papst sein ganzes Pontifikat über gekämpft. Zusammengefasst wurden die päpstlichen Maßnahmen und Vorstellungen in den Konstitutionen des vierten Laterankonzils, dessen pastorale Ausrichtung der Reform des Klerus einen wichtigen Stellenwert einräumte134. Innocenz’ Ansprüche waren hoch, und so setzten die Anforderungen, die das Konzil – „Denkmal seines priesterlichen Verantwortungsbewusstseins und seines reformatorischen Eifers“ – an den Seelsorger stellte, einen Bildungsstand voraus, den der Pfarrklerus im Durchschnitt nicht erreichte. Bischöfe, die ihr Seelsorgeamt persönlich nicht ausreichend erfüllen konnten, wurden verpflichtet, an der Domkirche und an den Stiftskirchen des Bistums Geistliche zur Verwaltung des heiligen Predigtamtes anzustellen. Diese Männer sollten als bischöfpotest filius facere, nisi quod viderit patrem facientem (Joh 5, 19), et sufficit discipulo, si sit sicut magister eius (Matt 10, 25) […]. Hinc etiam mala provenerunt in populo christiano. Perit fides, religio deformatur, libertas confunditur, iustitia conculcatur, haeretici pullulant, insolescunt schismatici, perfidi saeviunt, praevalent Agareni. Vgl. dazu Segl, Volksfrömmigkeit 166. 132 Innocenz III., Sermo 675 f. 133 Zur Entstehung des Inquisitionsprozesses vgl. Trusen, Inquisitionsprozess. Zur Formierung des inquisitorischen Ketzerprozesses vgl. Trusen, Anfänge. 134 Zur pastoralen Ausrichtung des Konzils vgl. Tanner, Pastoral Care.
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liche Mitarbeiter und Vertreter die Pfarrbezirke visitieren und predigen, die Beichte hören, Bußen auferlegen und alle Aufgaben übernehmen, die sich auf das Heil der Seelen bezogen. Die Bischöfe wurden daneben auch für die gründliche Unterrichtung der Priesteramtskandidaten in den gottesdienstlichen Pflichten und in der Praxis der Sakramentenspendung verantwortlich gemacht. Sorgfältig hatten sie Bildungsstand, Lebenswandel und Alter der ihnen für eine Seelsorgestelle präsentierten Kleriker zu prüfen. Der Inhaber einer Pfarre musste diese persönlich oder durch einen ständigen Vikar mit angemessenen Einkünften versehen; der Besitz zweier Benefizien mit Seelsorge wurde verboten. Provinzialsynoden und Generalkapitel wurden reaktiviert und mit der Durchführung des Reformwerkes beauftragt. Zur Vorbereitung der jährlichen Provinzialsynoden sollten Erzbischöfe und Bischöfe geeignete Männer bestellen, die das Jahr hindurch festzustellen hatten, was reform- und korrekturbedürftig war, um darüber auf der Synode zu berichten. Die Ausdehnung des Generalkapitels auf alle bestehenden Orden verfolgte ähnliche Ziele, hatten die Kapitel doch unter anderem Visitatoren mit der Kontrolle der einzelnen Abteien und Konvente eines Landes oder einer Provinz zu beauftragen135. Jede Gesetzgebung, die sich mit dem Klerikerstand und der kirchlichen Stellenbesetzung befasste, diente letztlich der Seelsorge. Und so engte das Konzil seinen Blick nicht auf die Reform des Klerus ein, sondern richtete ihn umfassender auf die religiösen Bedürfnisse der Laienwelt. Dies ist bei einem Papst, der – geprägt von seinen Pariser Lehrjahren – der pastoralen Theologie und der Integrierung der Laien in die Kirche beständig große Aufmerksamkeit geschenkt hatte, nicht verwunderlich. Geistiger Ausgangspunkt aller diesbezüglichen Überlegungen war eine tiefpessimistische Sicht des Menschen, wie sie der zukünftige Papst in seinem bekannten Frühwerk Vom Elend des menschlichen Daseins, verfasst im Jahr 1195, beschrieb: Der Mensch ist gemacht aus Staub, Kot und Asche – und, noch gemeiner, aus unflätigem Samen. Anlass zu seiner Empfängnis war der Reiz des Fleisches und das Glühen der Begierde in der Fülle der Ausschweifung und unter dem Makel der Sünde. Geboren wird der Mensch, damit er arbeitet, sich ängstigt und leidet – und das ist elender als zu sterben. Er tut Böses und beleidigt damit Gott, seinen Nächsten und auch sich selbst. Er handelt schändlich und setzt seinen guten Ruf aufs Spiel, befleckt seine Person und sein Gewissen. Er hängt sich an Nichtigkeiten und verachtet alles Ernsthafte, Nützliche und Notwendige. Schließlich fällt er jenem Feuer anheim, das ewig brennt und unauslöschlich ist. Er wird jenem Wurm ausgeliefert, der immer nagt und 135 Zur Klerikerreform des Vierten Laterankonzils vgl. Tillmann, Innocenz 152-160 (Zitat 152); Geschichte des Christentums V 819 f. (André Vauchez). Zu Mindestanforderungen bei Innocenz III. und seinen Nachfolgern vgl. Oediger, Bildung 48-57.
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zehrt und nicht vergeht. Sein Leib schließlich verwandelt sich in stinkenden und schmutzigen Moder136.
Aus dieser Sicht erwuchs das drängende Streben nach einer allgemeinen Anhebung der Moral. Alle Menschen, Kleriker und Laien, waren vereint in der Kümmerlichkeit menschlichen Daseins. Allen Menschen musste die Kirche eindringlicher und besser als bisher vor Augen führen, welchen Weg sie zu gehen hatten, um eines Tages die Himmelspforte zu erreichen. Die Klerikerreform bildete die erste, allerdings unumgängliche Voraussetzung für die Erneuerung des christlichen Geistes und des christlichen Lebens im Volk. Der ordo sacerdotalis musste vorangehen, an seine Reformierung dachte Papst Innocenz III. unentwegt, doch auch der ordo poenitentium benötigte klare Gebote, um nicht vom gottgefälligen Büßerleben abzuweichen. Die theologischen Diskussionen des 12. Jahrhunderts wurden damit zur offiziellen Sicht der Kirche.
2. Simplicitas und scientia im frühen Franziskanertum Die mittelalterliche Kirche lebte nicht wie die ersten Christen in unmittelbarer Erwartung der Wiederkunft Christi, doch das Weltende blieb ein ständig wiederkehrendes Thema mittelalterlicher Geschichtstheologie137. Mitte des 12. Jahrhunderts hatte beispielsweise Otto von Freising in seiner Chronik geschrieben: „Wegen der Menge unserer Sünden und wegen der stinkenden Sündhaftigkeit dieser höchst unruhevollen Zeiten glauben wir, dass die Welt nicht mehr lange Bestand haben kann, würde sie nicht durch die Verdienste der Mönche, der wahren Bürger des Gottesstaates, erhalten“138. Äußere und innere Nöte, der Niedergang der deutschen Königsherrschaft und die Friedlosigkeit im Reich mögen dem gelehrten Chronisten und Verwandten des staufischen Königs die Feder geführt haben. Sein Zeugnis ist jedoch ebenso Ausdruck einer eschatologisch aufgeheizten Zeitstimmung wie literarischer Topos, wird die Zeit nach der Auferstehung Christi doch seit Augustinus von den Geschichtsschreibern übereinstimmend als letzte Periode der Heilsgeschichte vor dem Ende der Welt und dem Jüngsten Gericht begriffen139. 136 Lotario da Segni, De miseria I.3 (Geyer, Vom Elend 21 ff.; Maccarone, De miseria XXXIX). Vgl. dazu Bultot, Mépris du monde; Lazzari, Il contemptus mundi. 137 Zur mittelalterlichen Eschatologie vgl. exemplarisch Fried, Endzeiterwartung 381473. Allgemein vgl. Bünz, Tag X; Potestà, Tempo. Zur Geschichtstheologie vgl. exemplarisch Ratzinger, Geschichtstheologie 97-106. 138 Otto von Freising, Chronicon 567. Vgl. dazu Töpfer, Reich 25 ff.; Classen, Eschatologische Ideen 319 f.; Classen, Res 363. 139 Vgl. Classen, Eschatologische Ideen 309 f.
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Doch seit den Wirren des Investiturstreits mehren sich Zeugnisse für apokalyptische Erwartungen, die sich häufig mit der Kritik an einer Kirche verbinden, die zwar die Simonie teilweise zu beseitigen vermochte, die durch die Reform jedoch nicht reiner und ärmer, sondern feudalisiert und reicher geworden war. „Die apostolische Wanderpredigt, die häretische Gruppen und neue Orden hervorruft, und ebenso die Kreuzzugsbewegung mit ihren Begleiterscheinungen sind Symptome der geistigen und sozialen Unruhe, die seit der großen Kirchenreform zutage tritt. Die Sicherheit der kirchlichen und sozialen Ordnungen ist erschüttert, seit man zweifeln kann, wo das wahre Sakrament von echten Priestern gespendet wird, und die gelehrten Theologen fühlen sich gedrängt, schärfer als bisher nach dem Ort der Gegenwart in der Geschichte des göttlichen Heilsplanes zu fragen“140. Dies ist die Atmosphäre, in der Otto von Freising die Errettung der Welt durch Mönche und Kanoniker erhofft. Es ist zugleich die Zeit, in der Gelehrte wie Anselm von Havelberg, Hildegard von Bingen oder Gerhoch von Reichersberg immer ausdrücklicher und nachhaltiger die freiwillige Armut als sittliches Gebot predigen und den Armutsgedanken mit eschatologischen Vorstellungen verbinden141. Wenngleich kein Denker des 12. Jahrhunderts einen ausgeprägten Chiliasmus, also die voll entfaltete Zukunftserwartung eines eschatologischen Friedensreiches, entwickelte, stellen die Hinweise, insbesondere bei Hildegard und Gerhoch, auf eine zukünftige makellose Kirche, gelenkt von den pauperes Christi, doch eine Vorstufe späterer Entwicklungen dar142. Joachim von Fiore blieb es vorbehalten, die Vorstellung einer armen, gereinigten Kirche mit der eschatologischen Erwartung einer friedlichen letzten Zeitspanne vor dem Kommen des Antichristen zu verbinden. Der kalabresische Visionär hatte seine Prophezeiungen auf eine typologische Bibelauslegung gegründet und – im Vergleich von Altem und Neuem Testament mit Christus als Achse des Weltgeschehens – Hinweise auf die Gegenwart und die bevorstehenden Zeiten zu erkennen geglaubt. Im Unterschied zu vielen Geschichtstheologen seiner Zeit, die die christliche Vollkommenheit an ihrem zeitlichen Ursprung in Jerusalem realisiert sahen und darum auch die Ansicht vertraten, dass die Kirche sich seither, im Lauf der Jahrhunderte, vom Ideal der Urgemeinde entfernt habe, unterschied der Abt von Fiore drei aufeinander folgende Zeitalter der Heilsgeschichte: das des Vaters, welches sich ungefähr mit der alttestamentlichen Zeitspanne deckt, jenes des Sohnes, das mit der Inkar140 Classen, Eschatologische Ideen 319. 141 Vgl. Classen, Eschatologische Ideen 319-322. 142 Töpfer, Reich 25 ff. und 54 ff.; Classen, Eschatologische Ideen 324. Zur Apokalyptik im 12. Jh. vgl. Classen, Res 364-375.
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nation beginnt, und schließlich das unmittelbar bevorstehende Zeitalter des Heiligen Geistes und einer ecclesia spiritualis. Diese innergeschichtliche Zeit des Heils wird ein kontemplatives Zeitalter sein, ein Mönchszeitalter reiner Innerlichkeit, befreit von allen Regeln wird ein ordo novus die Christenheit zum Heil führen. Die Kirche braucht dann keine Geistlichen und auch keine Institutionen mehr; ein Evangelium aeternum wird von diesem neuen geistlichen Orden gepredigt und von allen im Geist und in der Wahrheit vollkommen aufgenommen und verstanden werden143. Wie im vorausgegangenen Jahrhundert sah man in den Armen das letzte Aufgebot Christi im irdischen Kampf mit dem Antichrist. Doch es war kein soziales, sondern ein sittliches Schlachtfeld, auf dem Christ und Antichrist ihren Kampf austrugen, und so waren es auch nicht sozial Arme, sondern Kanoniker und Mönche, die – durch den freiwilligen Verzicht auf die Reichtümer dieser Welt – an der Seite des Herrn ausharrten. Die Errettung der Christenheit traute man im 13. Jahrhundert jedoch nicht mehr vorrangig den Mönchen zu, die im Streben nach Selbstheiligung der Welt den Rücken kehrten und sich in abgeschiedenen klösterlichen Gemeinschaften der Kontemplation und dem Gebet ergaben. Es waren die neuen religiösen Gemeinschaften der Bettelorden, die mit der eschatologischen Dimension der Armutsbewegung identifiziert wurden und sich selbst als – diese visionären Gedanken rasch adaptierende – Verkünder des Ewigen Evangeliums und als ordo novus der Endzeit betrachteten. Besonders empfänglich für die Botschaft des Joachim von Fiore waren die Anhänger des heiligen Franziskus, betrachteten sie doch ihren heiligen Ordensgründer als jenen Engel des sechsten Siegels, von dem der süditalienische Visionär gesprochen hatte. Seit den vierziger Jahren des 13. Jahrhunderts breitete sich das joachitische Gedankengut im Franziskanerorden aus und führte zu einer weiteren Stärkung des heilsgeschichtlich aufgeladenen Selbstbewusstseins des Ordens144. Eine Selbstidentifizierung mit joachitischen Vorstellungen führte jedoch nicht nur zu einer eschatologischen Übersteigerung der eigenen Bedeutung, sondern prägte auch die Konflikte mit anderen religiösen Gruppierungen und vor allem mit einem Weltklerus, der das scharfe Schwert apokalyptischer Bibelexegese mit Freude gegen die minderen Brüder kehrte.
143 Zu Joachims Geschichtstheologie vgl. Grundmann, Studien; Benz, Ecclesia; McGinn, The Calabrian Abbot; Mehlmann, Confessio. Zur Rolle des evangelium aeternum im Bettelordensstreit vgl. unten 184. 144 Zum franziskanischen Joachitismus vgl. an neuerer Literatur Potestà, Tempo; Berg, Impero; Schmolinsky, Ordensprophetie.
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Bonaventura machte Schluss mit dem ungezügelten Joachitismus in seinem Orden. Er, der Ordensgeneral, der seinen Vorgänger aufgrund gefährlicher Sympathien für Joachims Prophezeiungen zu strenger Klosterhaft verurteilt hatte145, distanzierte sich von einer Gleichsetzung des joachitischen ordo novus mit den Minoriten und schlug so den Widersachern des Ordens ein wichtiges Argument aus der Hand. Mäßigend und schützend stellte sich Bonaventura vor seine Gemeinschaft, doch die Visionen des Joachim von Fiore hatten deutliche Spuren im franziskanischen Denken hinterlassen, denen sich auch der doctor seraphicus nicht entziehen konnte146. Seine Geschichtstheologie, am deutlichsten formuliert in den Collationes in Hexaëmeron, war tief von der joachitischen Überzeugung durchtränkt, dass die Schrift Hinweise auf die Gegenwart, aber auch auf die Zukunft von Kirche und Christenheit enthalte147. Wie Joachim glaubte Bonaventura an eine neue Zeit des Heils innerhalb der unmittelbar bevorstehenden Geschichte. Die „Vollendung“ der Kirche stehe unmittelbar bevor und werde eine ecclesia contemplativa, einen letzten ordo contemplationis sowie ein neues, besseres Verständnis der Heiligen Schrift bringen. Franziskus ist in der bonaventurianischen Deutung nicht der tatsächliche Gründer des neuen Ordens und die Franziskaner bilden nicht den eschatologischen Orden der Endzeit, wie dies franziskanische Anhänger des Joachitismus der vierziger Jahre und radikale Spirituale am Ende des 13. Jahrhunderts behaupteten. Doch Franziskus und seine Gemeinschaft stehen in einer unmittelbaren Beziehung zum ordo novus der letzten Tage. Sie antizipieren eine eschatologische Existenzform, die als allgemeine Lebensform noch der Zukunft angehört148. Auf dieser unzweifelhaft von Joachim inspirierten Geschichtstheologie aufbauend, hatte Bonaventura das nahe Ende der Zeit vor Augen und schrieb von drei Perioden in der Kirchengeschichte: In den ersten Jahrhunderten hätten Märtyrer und heilige Männer geglänzt, mächtig durch Wunder und Zeichen, um den Götzendienst der Heiden zu vernichten. Ihnen seien die Kirchenlehrer gefolgt, die die Irrlehrer zum Schweigen gebracht hätten. In der letzten Periode habe Gott die Jünger der freiwilligen Bettelarmut erweckt. Durch sie solle die Habsucht besiegt wer145 Zur Kritik an diesem Vorgehen Bonaventuras von Seiten der Spiritualen vgl. Angelo Clareno, Historia 284-286. Vgl. dazu Ratzinger, Geschichtstheologie 4 mit Anm. 3. 146 Zur Deutung von Bonaventuras Theologie als Antwort auf die Geschichtstheologie des Joachim von Fiore vgl. Zahner, Fülle 157-160 und passim; Eijnden, Bonaventura 75-79. 147 Zu Bonaventuras Geschichtstheologie vgl. Ratzinger, Geschichtstheologie. Vgl. auch Daniel, St. Bonaventure Defender of Franciscan Eschatology. 148 Zur bonaventurianischen Joachim-Interpretation vgl. neben der oben Anm. 146 genannten Literatur auch Ratzinger, Geschichtstheologie 3-56; Vian, Bonaventura; Delio, Prophecy.
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den, die sich in fine saeculi breit gemacht habe149. Hatte Bonaventura in seinem geschichtstheologischen Denken die joachitischen Extrempositionen vieler seiner Mitbrüder zwar relativiert, so behielt die gemäßigte Doktrin des Ordensgenerals doch eine eschatologische Dimension, die das Franziskanertum zu Wegbereitern der heilsgeschichtlichen Endzeit stilisierte. Das hatte weit reichende Konsequenzen für die Selbstdeutung des Ordens. Die Mendikanten wollten wie die Mönche studieren, um Wissen und Weisheit zu erlangen, wie die Eremiten wollten sie in ernster Kontemplation sich selbst und die göttlichen Wahrheiten erkennen, um – derart gestärkt – wie die Kleriker das Volk zu erziehen und zu bekehren150. Diese hochgesteckten Ziele galten für Franziskaner und Dominikaner gleichermaßen. Alles Bewährte der Kirchengeschichte wollten die Mendikanten in ihren Gemeinschaften zum Blühen bringen, alle Missstände ausreißen und vernichten. Bonaventura beschrieb den Weg: Durch ein Leben gemäß dem Evangelium folgten die Franziskaner den Spuren Christi, durch das Amt der Predigt und der Beichte förderten sie das Heil der Seelen und durch die vollkommene Armut bewahrten sie ihre geistige Freiheit und eine reine Form der Kontemplation151. Man betrachtete den eigenen Orden als Vollendung der Kirchengeschichte, von Gott geschickt, um den drohenden Untergang abzuwehren und die Heimkehr der Welt zum Schöpfer vorzubereiten152. Diese hohe Aufgabe setzte nicht nur hohes Engagement voraus, sondern erforderte auch hohe Fähigkeiten bei den Mitgliedern des ordo novus. Die Bekehrung der Welt betrieben die Franziskaner verbo et exemplo, wie Franziskus dies seine Anhänger gelehrt hatte. Eine vorbildliche Lebensweise war die Grundlage mendikantischer Seelsorge und Garantie dafür, dass die Botschaft der Bettelmönche von den Laien verstanden und geglaubt werden konnte. Richtschnur dieses Lebens in Armut und Friedfertigkeit war die vita apostolica, wie sie das Evangelium des Herrn lehrte. Die rechte Lebensweise zu finden bemühten sich alle Kirchenreformer des 12. und 13. Jahrhunderts. Die wichtigsten Bestandteile dieses apostolischen Lebens waren die asketische Armut und die pastorale Sorge für den Nächsten. Die Verstrickung in weltliche Geschäfte betrachtete man als gefährlich, sowohl für den Laien, viel mehr noch 149 Bonaventura, De perfectione evangelica 2,2,20, in: Opera omnia 5, 117-198, hier 147 f. Vgl. dazu Tierney, Infallibility 74. 150 Zum Bild des Franziskus in der Ordenshistoriographie vgl. Berg, Vita minorum 160175; Polo de Beaulieu, L’image 215-244. 151 Bonaventura, Determinationes quaestionum 1/1, in: Opera omnia 8, 337-375, hier 338. 152 Andere Ordensgründer hatten ihre Gemeinschaften mit ähnlichen Argumenten und Strategien legitimiert, vgl. dazu Melville, Geltungsgeschichten 86-104.
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für den Kleriker. Alle Reformer betonten die Ernsthaftigkeit der inneren Haltung gegenüber der Äußerlichkeit liturgischer oder zeremonieller Prachtentfaltung. Stießen diese Gedanken auf Widerstand aus den Reihen der Prälaten und Priester, konnte sich die Reform der Kirche in eine Revolution mit militanter Stoßrichtung gegen die etablierten kirchlichen Strukturen verwandeln. Diese Ausrichtung des religiösen Lebens an den evangelischen Vorgaben war seit der Zeit der französischen Wanderprediger des 11. Jahrhunderts zum Maßstab des authentischen Christenlebens avanciert. Bereits Stephan von Muret hatte seine Anhänger gelehrt, dass es keine Regel außer dem Evangelium gebe153. Norbert von Xanten und Robert von Arbrissel, die Zeit ihres Lebens der römischen Orthodoxie verbunden blieben, aber auch religiöse Rebellen wie Heinrich von Lausanne und Arnold von Brescia, die – nachdem ihr Reformeifer an den stabilen Mauern einer verweltlichten Kirche abgeprallt war – der kirchlichen Hierarchie den Rücken kehrten und die Grenze zur Häresie überschritten, waren davon überzeugt, dass ein gläubiger Christ sein Leben am Vorbild der Apostel ausrichten sollte. Den Waldensern, die ebenfalls nach der Lehre des Evangeliums leben und dieses wörtlich befolgen wollten, warf die katholische Inquisition vor, dass sie behaupteten, sie allein verstünden als die wahren Schüler Christi und Nachfolger der Apostel den Text des Evangeliums auf korrekte Weise. Daher fühlten sie sich – so die Inquisitoren weiter – irrigerweise verpflichtet, das Evangelium zu predigen154. Alle religiösen Reformbewegungen des 12. Jahrhunderts kreisten, unabhängig davon, ob sie sich inner- oder außerhalb der römischen Kirche entfalteten, um das Problem der freiwilligen Armut sowie der rechten Nachahmung des Lebens der Apostel als Prototypen christlicher Lebensführung155. Nichts anderes beabsichtigte Franziskus, der bei der Umsetzung dieser religiösen Reformvorstellungen jedoch sorgsam darauf achtete, dass seine Ein- und Unterordnung unter die römische Kirche niemals bezweifelt werden konnte. Die Eckpunkte des franziskanischen Denkens wurden daher geradezu zur idealtypischen Umsetzung der Konzilsbeschlüsse des vierten Lateranums, des offiziellen Reformprogramms der römischen Kirche unter Papst Innocenz III. So hatte Franziskus die theologische Botschaft des ersten Kanons – in der Überlieferung meist
153 Melville, Geltungsgeschichten 102. 154 Vgl. die Aussagen des Inquisitionshandbuchs, das von der Forschung lange Zeit David von Augsburg zugeschrieben wurde: David von Augsburg, Traktat 205 f. Zur Predigt bei den Waldensern vgl. Audisio, Waldenser 20-27 u. ö. 155 Vgl. grundsätzlich Grundmann, Bewegungen 13-69; Manteuffel, Naissance.
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mit der Rubrik Über den katholischen Glauben überschrieben156 –, in dem Gott als Schöpfer aller Dinge, der spirituellen wie der materiellen Welt, gepriesen wurde, mit seinem Sonnengesang in die hymnische Sprache der Dichtung übersetzt und damit der Schönheit von Gottes Schöpfung ein Denkmal gesetzt. Die Absage an die dualistische Weltsicht der Katharer, nach der die sichtbare Schöpfung ein Werk des Satans darstellte157, konnte der gebildete Kleriker der päpstlichen Kanonessammlung entnehmen, den theologisch unbewanderten Laien erreichte dieselbe Botschaft in literarisch-dichterischer Form. Wie die Konzilsväter betrachtete auch Franziskus – erneut in antihäretischer Zuspitzung158 – eine auf Gehorsam und Weihegraden beruhende Hierarchie innerhalb der Kirche für gottgewollt und unabänderlich. Seinen Anhängern hatte der Ordensgründer aufgetragen, dem Priesterstand mit Ehrfurcht und Unterordnung zu begegnen, war der für die Heilsgewinnung unerlässliche Empfang der Sakramente doch – dies hatte Franziskus immer wieder betont – die exklusive und heiligmachende Aufgabe des ordo sacerdotalis. Das vierte Lateranum hatte die Lehre von der Transsubstantiation zum kirchlichen Dogma (Can. 1) erklärt und wieder war es Franziskus, der seiner Epoche und späteren Zeiten als Vorbild voranschritt, da seine Frömmigkeit unaufhörlich um die Verehrung der Eucharistie kreiste. Der mystische Kult um die geweihte Hostie, dessen Hochblüte sich vom 13. bis ins 15. Jahrhundert hinein erstreckte159, hatte in Franziskus einen frühvollendeten Vorläufer. Über die konziliare Forderung, die geweihte Hostie und das heilige Öl verschlossen aufzubewahren (Can. 20), ging Franziskus weit hinaus, als er seinen Anhängern befahl, nicht nur die unmittelbaren Hilfsmittel des Kultes, sondern jedes Stück Pergament, das möglicherweise das Wort Gottes trug, sorgsam zu sammeln und sicher zu verwahren160. Schließlich machte Franziskus das Streben des Konzils nach einer umfassenden pastoralen Reform der Laienwelt zu seinem Lebenszweck. Er, vor allem aber die Ordensgemeinschaft, die sich um den Heiligen scharte, wurde gemeinsam mit den Dominikanern zum Vorreiter bei der seelsorge156 Constitutiones Concilii quarti 140. 157 Zum katharischen Dualismus vgl. Borst, Katharer 56-61, 115-119 u. ö.; Lambert, Häresie 58. 158 Zur häretischen Ablehnung von klerikaler Sakramentsverwaltung und Transsubstantiation vgl. Lambert, Häresie 47 und 50 f. Zu antiklerikalen Tendenzen in der Volksfrömmigkeit vgl. Segl, Volksfrömmigkeit 165-168. 159 Zur eucharistischen Frömmigkeit vgl. einführend Vauchez, Gottes vergessenes Volk 184-192; Geschichte des Christentums V 812 f. (André Vauchez) (mit weiterer Literatur). 160 Zur Rolle von geweihten Gegenständen in der spätmittelalterlichen „Volksreligion” vgl. Scribner, Magie 255 f.
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rischen Betreuung und Unterweisung verwirrter und verirrter Schafe in der westlichen Christenheit. Den meisten Konzilsteilnehmern waren die neuen Bettelbrüderschaften vermutlich noch gar nicht bekannt, als sie mit vereinten Kräften an der Verabschiedung der Dekrete arbeiteten. In den ersten Jahrzehnten des 13. Jahrhunderts entstanden jedoch nicht allein die normativen Grundlagen, die das spätmittelalterliche Kirchenleben prägen sollten, sondern auch institutionelle Träger des Reformgedankens. Bald waren Dominikaner und Franziskaner in alle Ecken der Christenheit vorgedrungen – der Reformgeist des vierten Lateranums war ihr ständiger Begleiter. War eine Seite mendikantischen Wirkens im Anschluss an das große Kirchenkonzil die Mission durch vorbildhaftes Handeln (exemplo), so bildete die Mission durch das Wort (verbo) die ergänzende zweite Seite. Auf zahlreichen Reisen durch mittel- und oberitalienische Städte und Dörfer hatte Franziskus seinen Ordensbrüdern vorgeführt, wie man die richtigen Worte finde, um Tier und Mensch zu äußerem Frieden und innerer Bekehrung zu führen161. Mit großer Überzeugungskraft gelang es dem „ungebildeten Verrückten“ (idiota, pazzus), sein Publikum in den Bann zu ziehen162. Der Chronist Thomas von Split schildert einen dieser magischen Auftritte des Heiligen: Im Jahr 1222 studierte ich in Bologna und sah, am Tag Mariae Himmelfahrt, den heiligen Franziskus, der auf einem Platz vor dem Kommunalpalast predigte. Fast die gesamte Bürgerschaft war versammelt. Seine Predigt begann mit den Worten ‚Engel, Menschen und Dämonen’. So überzeugend sprach er von diesen drei vernunftbegabten Wesen, daß die anwesenden Gelehrten die Rede des ungebildeten Mannes (homo ydiota) nicht wenig bewunderten. Dabei war seine Rede weniger eine gewöhnliche Predigt als vielmehr ein Singen. Das Ziel seiner Worte war es, die Feindseligkeiten auszulöschen und den Friedensbund zu erneuern. Die Kleidung des Heiligen war schmutzig, seine Gestalt verachtenswert und sein Gesicht hässlich. Aber Gott gab seinen Worten so große Wirkung, daß viele Adelsgeschlechter, zwischen denen der mächtige Zorn alter Feindschaften durch großes Blutvergießen gewütet hatte, zum Entschluss des Friedens (ad pacis consilium) zurückkehrten. Derart 161 Thomas von Celano, Vita prima cap. 36: Darauf zog Franziskus, der tapfere Ritter Christi, in den Städten und Flecken umher und verkündete nicht in überredenden Worten menschlicher Weisheit, sondern in Lehre und Kraft des Geistes das Reich Gottes (1 Kor 2,4 f.), predigte den Frieden, lehrte heilsame Buße zur Nachlassung der Sünden. [...] Es liefen die Männer, es liefen die Frauen, es eilten die Kleriker, es strömten die Ordensleute herzu, um den Heiligen Gottes zu sehen und zu hören, der allen ein Mann aus einer andern Welt zu sein schien. Vgl. dazu auch Thomas von Celano, Vita prima cap. 29 (Anfänge der franziskanischen Bußpredigt). 162 Zu Franziskus als Prediger vgl. Berg, Studienproblem 20 (unter Verwendung der Vita S. Francisci des Julian von Speyer); Schmidt, Allegorie 306 f. Zur Predigt im frühen Minoritenorden vgl. ebd. 307 f.
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groß waren Ehrfurcht und Demut der Menschen gegenüber diesem Mann, daß sich Männer und Frauen scharenweise auf ihn stürzten und versuchten, die Fransen seiner Kutte zu berühren oder einen Fetzen zu ergattern163.
Die Wirkung des Heiligen auf seine Zeitgenossen war beträchtlich. Wesentlichen Anteil daran hatte die charismatische Authentizität, mit der Franziskus seine Botschaft übermittelte. Von nicht geringerer Bedeutung war jedoch auch die Fähigkeit des Heiligen, sein Publikum durch das Wort der Predigt zu erreichen. Thomas von Celano berichtet von einem Gespräch zwischen dem Heiligen und einem Gelehrten, das damit endete, dass der Gelehrte, nachdem Franziskus, der ungebildete idiota, eine Bibelstelle überraschend überzeugend ausgelegt hatte, den Gefährten des Heiligen zurief: „Meine Brüder, die Theologie dieses Mannes, auf reine Gesinnung und auf Betrachtung gestützt, ist ein fliegender Adler; unser Wissen aber kriecht auf dem Bauche über die Erde“164. Wollten seine Anhänger es ihrem Vorbild gleichtun, so mussten sie – neben einer äußeren Angleichung an das ärmliche Auftreten des Franziskus in der Nachfolge des nackten Christus – imstande sein, wie dieser überzeugend zu predigen. Dazu bedurfte es, da die Ordensmitglieder nicht über das Charisma des Gründers ihrer Gemeinschaft verfügten, einer gelehrten Ausbildung. So wurde für die beständig wachsende Zahl der franziskanischen Gemeinschaft die Vorbereitung auf das Amt des Seelsorgers und Predigers zu einem fundamentalen Thema, das sich nur gemeinsam mit der allgemeinen Frage nach der wissenschaftlichen Ausbildung der Ordensbrüder diskutieren ließ. Franziskus’ Vermächtnis war auch in dieser Hinsicht nicht eindeutig. Wissenschaftliche Gelehrsamkeit erschien Paul Sabatier und den Verfechtern der Niedergangsthese in seiner Tradition als unvereinbar mit den ursprünglichen franziskanischen Idealen165. Im Gegensatz zum ordo praedicatorum, den Dominikus zur defensio fidei als Gemeinschaft gebildeter und studierender Mönche gegründet hatte166, habe Franziskus seinen Anhängern mehr das apostolische Leben in Armut und Buße als die wissenschaftliche Ausbildung und gelehrte Predigt ans Herz gelegt. Die Verwandlung der ungelehrten Laienschar um den Ordensgründer in einen Orden gelehrter Kleriker, die im ersten Jahrhundert nach der Gründung des Ordens die Entwicklung der scholastischen 163 Thomas von Split, Historia cap. 27 S. 580. Übersetzung angelehnt an Oexle, Formen 87. 164 Thomas von Celano, Vita secunda cap. 103. 165 Zur Niedergangsthese vgl. oben 56 ff. Zum monastischen Grundmotiv der „docta ignorantia“ vgl. Ehlers, Theologie 69. Zur zeitlosen Spannung zwischen simplicitas und scientia vgl. Oediger, Bildung 16-21. 166 Zur Gelehrsamkeit im Dominikanerorden vgl. Frank, Spannung; Frank, Hausstudium 25 ff.; Berg, Armut 18 ff.
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Theologie tatkräftig mitbestimmten, wurde als Bestandteil des allgemeinen Niedergangs betrachtet. Urheber und Schuldige dieses Prozesses, der zur Verfälschung der authentischen francescanità geführt habe, seien die römische Kurie, insbesondere Hugolin von Ostia, sowie gebildete Ordensobere gewesen. Inzwischen hat die Franziskanerforschung Sabatiers Deutung, die – ganz im Sinne des berühmten Diktum: Parisius, Parisius, quare destruis ordinem sancti Francisci?167 – vom Blick der radikalen Franziskanerspiritualen auf die Anfänge des Ordens bestimmt ist, überwunden oder doch zumindest stark relativiert168. Dies gilt auch für die Bedeutung und Funktion wissenschaftlicher Studien hinsichtlich der franziskanischen Lebensweise169. Zweifellos war Franziskus die heilige Einfalt, die sancta simplicitas, wichtiger als jede irdische scientia170. Während diese als Möglichkeit innerweltlichen Wissenserwerbs zum sozialen Aufstieg und zum Gewinn von Ansehen und Vermögen galt, wurde jene als Tugend verstanden, die das Erkennen ewiger Wahrheiten ermöglichte171. „Wenn die monastische ‚theologia divina’ über das Sichtbare hinaus zu dessen unsichtbaren Gründen und von dort zu den unsichtbaren Substanzen vordringen wollte, um deren Natur zu erkennen, so war das nach ihrem eigenen Zeugnis keine Frage nach Erkenntnis im griechischen Sinne. Dieses Streben ergab sich vielmehr aus der vorgefundenen Tatsache, dass die göttliche Weisheit als Einheit nur beim Vater besteht, in der Schrift sich aber auf vielfältige Weise dokumentiert hat und durch das schon mehrfach genannte exegetische Prinzip herausgearbeitet werden muss, weil Gott häufig im Verborgenen gesprochen hat: im Gesetz, durch die Propheten, durch Gleichnisse in den Evangelien. In der Meditation über so gelesene Passagen der Schrift mochte der Kontemplative dann in der Tat zu Einsichten kommen. Das verdankte er aber nicht der Wissenschaft“172. Das franziskanische Denken unterschied sich in diesem Punkt nicht wesent167 Chronica XXIV Generalium 86 (Aegidius von Assisi). Zum bildungsfeindlichen Standpunkt gebildeter Spiritualen vgl. Piana, Evoluzione 250; Roest, Education 4. 168 Zur Wissenschaftsgeschichte nach Sabatier allgemein Esser, Studium 26 f. und 31 f.; Roest, Education 1 mit Anm. 1. 169 Zum Studienproblem vgl. einführend Esser, Studium 31 f.; Berg, Armut; Berg, Studienproblem; Maranesi, San Francesco e gli studi; Maranesi, Nescientes 37-89; Roest, Education. 170 Zum antagonistischen Begriffspaar scientia – sapientia im Franziskanertum vgl. Berges, Fürstenspiegel 189-192; Bettoni, Pedagogia 84-91. 171 Vgl. die ähnliche Differenzierung bei Bonaventura (Hexaëmeron; De donis): Sapientia, quae est cognitio causarum altissimarum et per causas altissimas; scientia philosophica nihil aliud est quam veritatis ut scrutabilis notitia certa. Zitiert nach Bettoni, Pedagogia 86 mit Anm. 1-2. 172 Ehlers, Theologie 69 f.
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lich von allgemeinen Überzeugungen hinsichtlich des Erwerbs von Bildung173 – bei der Debatte über das Studium als Berufsqualifizierung oder Wahrheitssuche handelt es sich um ein zeitloses Phänomen174. Weder das gelehrte Wissen, das den Start zu einer weltlichen Karriere bedeutete, noch nachlässige Dummheit und Unbildung, stultitia und ignorantia, waren daher das Ziel franziskanischen Strebens, sondern die Erlangung tiefer Weisheit, die dem Einzelnen die göttliche Offenbarung erschloss. Dabei lag der Gegensatz zwischen negativer weltlicher Wissenschaft und positiver innerer Einsicht nicht im Studiengegenstand, sondern in der Geisteshaltung des Studierenden begründet175. Denn immer sollten die Franziskaner die minores bleiben, jene minderen Brüder, die nicht nach Macht und Geld strebten, sondern „für sich immer einen schlechten Platz suchten und Dienste tun wollten, die man für etwas Erniedrigendes hielt, um so zu verdienen, auf dem festen Boden wahrer Demut gegründet zu sein“176. Blieb die minoritas gewahrt, schadete auch das Studium nicht. Wer wahrhaft arm ist und für alles Gott dankt, hat die rechte Haltung zum Studium; ihm wird alles zur Nahrung für sein christliches Leben, weil ihn auf dem Wege der Einfalt alles zu Gott führt. Der sciens wurde durch die rechte innere Haltung zum sapiens, der den rechten Nutzen aus seinem Wissen zu ziehen vermochte177. Nur aus dieser Perspektive konnte Franziskus in einem Lobgesang der Tugenden verkünden: Ave regina sapientia. Deus te salvet cum tua sorore pura sancta simplicitate178. „Vom Buchstaben getötet“ waren für den heiligen Ordensgründer dagegen jene Mitmenschen und Ordensbrüder, die „nach der Klugheit des Fleisches“ und der „Weisheit dieser Welt“ strebten, dabei in den Augen ihrer Umwelt angesehener und weiser wurden, hinter den irdischen Wörtern aber den göttlichen Sinn zu erblicken nicht imstande waren179. Franziskus’ Denken war – so könnte man 173 Zum Ziel klerikaler Bildung im hohen Mittelalter vgl. allgemein Oediger, Bildung 2228 und passim; Boehm, Erziehung 175-178. Zum Charakter monastischer Bildung vgl. Ehlers, Theologie 69 und passim. 174 Zur Polemik Johanns von Salisbury gegen den rein auf den Nutzen ausgerichteten Bildungspragmatismus der sogenannten Cornificianer vgl. Guth, Johannes von Salisbury 56-64. 175 Esser, Studium 32 und 41; Berg, Armut 44 f.; Berg, Studienproblem 14; Roest, Education 2 f. 176 Thomas von Celano, Vita prima cap. 38. 177 Zum Übergang von scientia zu sapientia bei Bonaventura vgl. Bettoni, Pedagogia 88-91. 178 Franciscus, Salutatio virtutum, in: Franciscus, Opuscula 421-430, hier 427; Thomas de Celano, Vita secunda cap. 189. Vgl. dazu Felder, Studien 88 f. und 129 f.; Esser, Studium 34 f. 179 Berg, Studienproblem 15 (mit Zitaten aus der Regula non bullata und den Verba admonitionis).
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die Haltung des Heiligen zusammenfassend charakterisieren180 – nicht wissenschaftsfeindlich, solange die minoritas, also das Wesen franziskanischer Lebensführung, und die perfectio evangelica, das höchste Ziel des neuen Ordens, durch die Aneignung wissenschaftlicher Gelehrsamkeit nicht in Frage gestellt wurden. In diesem Sinne gestattete er im Frühjahr 1224 Antonius von Padua, den Minderbrüdern die Theologie vorzutragen181. In dieser Beauftragung zeichnet sich die zukunftsweisende Verbindung von minoritischem Studium und pastoraler Predigttätigkeit bereits deutlich ab. Seine abschließende Gestalt gab Franziskus diesem Gedanken in seinem Testament, als er schrieb, dass die Minderbrüder alle Gottesgelehrten und jene, die die heiligsten Worte Gottes vortragen, hochachten und ihnen Ehrerbietung erzeigen müssten als solchen, die Geist und Leben spendeten182. Die Grenze zwischen einer auf simplicitas beruhenden Einsicht und einem durch die superbia verführten Wissensdrang zu bestimmen hatte Franziskus anderen überlassen183, doch die Grundsätze seines Denkens blieben für seine Mitbrüder verbindlich. So bemühte sich auch Bonaventura in vielen seiner Werke um ein rechtes Verständnis der irdischen Wissenschaft und folgte dabei seinem großen Vorbild. Weniger heilig, doch umfassender gebildet als Franziskus führte auch für den doctor seraphicus der Weg von der scientia zur sapientia. Wie Christus die Mitte der gesamten Schöpfung sei, so bilde diese die Mitte aller Wissenschaften. Wie die geschaffene Welt nach göttlichem Gesetz dem Ziel der Vollendung entgegeneile, so sei es die Pflicht des Menschen, die ihm gegebenen Geistesgaben zu perfektionieren und alles Wissen darauf zu verwenden, Gott in seiner Liebe zu erkennen184.
180 Esser, Studium 37 f.; Berg, Studienproblem 15. 181 Franciscus, Epistola ad s. Antonium, in: Franciscus, Opuscula 147-154, hier 152: Placet mihi quod sacram theologiam legas fratribus, dummodo inter huius studium orationis et devotionis spiritum non exstinguas, sicut in regula continetur. Zum Text vgl. Esser, Brief; Esser, Studium 37-39. Zu Antonius’ Lehrtätigkeit in Bologna vgl. Berg, Armut 51-54; Roest, Education 44 f. 182 Franciscus, Testamentum § 13, in: Franciscus, Opuscula 439. Vgl. dazu Esser, Studium 39 f. 183 Zum Begriff der simplicitas im Franziskanerorden vgl. Berg, Studienproblem 21; Wesjohann, Simplicitas. 184 Zur Einteilung des menschlichen Wissens bei Bonaventura vgl. Hinwood, Principles.
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3. Franziskaner – die besseren Erzieher Zwar erforderte die Predigt, wie Franziskus und seine Anhänger der ersten Generation sie betrieben, weder weltliche Bildung noch theologische Fachkenntnisse, da es sich vorrangig um sittliche Ermahnungen, sogenannte exhortationes, in schlichter Ausdrucksweise handelte. Von Franziskus wird beispielsweise berichtet, dass er seine Vorüberlegungen und Konzepte bisweilen vergessen und dies dem versammelten Volk auch gestanden habe, um darauf plötzlich so beredt zu werden, dass er seine Zuhörer in Staunen versetzte185. Eine gewisse Ambivalenz in Franziskus’ Haltung blieb den Zeitgenossen dennoch nicht verborgen186: Der Heilige predigte vor Papst und Kardinalskollegium und erbat die päpstliche Unterstützung für eine religiöse Gemeinschaft, die sich die Bekehrung der Welt verbo et exemplo zum Ziel erkoren hatte, die Ausbildung zum Predigtamt dagegen verharrte unter dem diffusen Vorbehalt der Wahrung der reinen vita minorum, so dass jede Form des Studiums leicht in den Geruch des ehrgeizigen, am weltlichen Wohlergehen orientierten Karrieredenkens geraten konnte. Franziskus’ erster Biograph sah die Problematik, die diese Haltung für das Anwachsen der Gemeinschaft bedeutete, und überlieferte in diesem Kontext die folgende Vision: Habet Mut, Geliebteste, und freuet euch im Herrn (Eph 6,10; Phil 3,1). Lasst euch nicht traurig machen, weil wir scheinbar nur wenige sind. Und es soll euch nicht schrecken meine oder eure Einfältigkeit; denn so ist es mir in Wahrheit vom Herrn gezeigt worden: Zu einer sehr großen Schar wird uns Gott anwachsen lassen und bis an die Grenzen der Erde uns mehren und ausbreiten. [...] Ich sah eine große Menge Leute zu uns kommen, die im Kleid und nach der Regel unseres heiligen Ordens mit uns zusammenleben wollten; und seht, ich habe jetzt noch den Lärm im Ohr, wie sie kamen und gingen, je nachdem es ihnen der heilige Gehorsam auftrug. Ich sah gleichsam die Wege überfüllt von ihren Scharen, wie sie aus fast jedem Volke in diesen Gegenden zusammenliefen. Es kommen Franzosen, es eilen Spanier herbei, Deutsche und Engländer schließen sich an, und eine ungeheure Menge aus verschiedenen anderen Sprachen strömt herzu187.
Ob Franziskus sich tatsächlich so ausgedrückt hat, mag offen bleiben; bemerkenswert ist die Tatsache, dass die Spannung zwischen Einfalt und Expansion bereits kurz nach seinem Tod thematisiert wurde. Die Expansionsgeschwindigkeit des Ordens nahm bekanntlich sensationelle Ausmaße an, die simplicitas franciscana musste dabei lernen, neben ei185 Thomas de Celano, Vita prima cap. 72. 186 Vgl. dazu auch Berg, Studienproblem 28 f. (mit Diskussion von Thomas de Celano, Vita secunda). 187 Thomas de Celano, Vita prima cap. 27.
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ner ebenso schnell anwachsenden Gelehrsamkeit zu koexistieren. Die Prophezeiung des Gründers, die der normativen Kraft des Faktischen Rechnung trug und gleichzeitig eine historische Legitimierung der Ordensentwicklung bedeutete, erlangte in der Legenda trium sociorum, verfasst um 1246 von Leo, Rufin und Angelus, Franziskus’ Gefährten der ersten Stunde, eine bemerkenswerte Adaptierung188: Da die frühen Franziskaner in ihrem Streben nach simplicitas und evangelischer Vollkommenheit häufig für Verrückte oder Betrunkene gehalten worden seien und sich Verfolgungen ausgesetzt gesehen hätten, ließen die Autoren einen Franziskus, der sich dieses Defizits bewusst gewesen sei und seine resignierenden Brüder habe aufrichten wollen, prophezeien, dass in Zukunft nicht nur einfache und ungebildete Männer, sondern Weise und Edle dem Orden beitreten würden, um weltweit vor Fürsten und Königen zu predigen189. In Sätzen wie diesem wurde der Eintritt gelehrter Theologen in den Franziskanerorden – von Franziskus selbst visionär erahnt und begrüßt – legitimiert. Als Hugo von Digne um 1242 die erste private Regelerklärung des Ordens verfasste, ging er noch einen Schritt weiter. Um beim Predigen keine fabulae zu erzählen, sei der Besitz von Büchern in ausreichendem Maße unerlässlich. Da die Minoriten aufgrund ihrer Lebensform dazu berufen seien, das Evangelium zu verkünden und auszulegen, habe auch das wissenschaftliche Studium im Orden als intellektuelle Voraussetzung dafür seinen unverzichtbaren Platz. Der Stifter selbst habe das Theologiestudium seiner Brüder begrüßt190. In seiner zweiten Franziskusvita führte Thomas von Celano Mitte des 13. Jahrhunderts diesen Gedanken zu einem gewissen Abschluss, als er – den Auftrag zur Predigt betonend – schrieb, Franziskus habe gewünscht, dass sich die Minoritenprediger zur angemessenen Verkündigung von Gottes Wort geistlichen Studien im Orden widmeten und durch keinerlei andere Tätigkeit an diesen intellektuellen Bemühungen gehindert werden sollten: Als Diener des Wortes Gottes wollte Franziskus solche, die den geistigen Studien oblägen und durch keine anderen Pflichten gehindert würden. Sie seien, sagte er, von einem großen König dazu auserwählt, die Gebote, die sie aus seinem Mund empfingen, dem Volk weiterzugeben. Er sagte: ‚Zuerst soll der Prediger in stillem Gebete schöpfen, was er nachher in heiligen Worten aus sich herausströmen lässt, zuerst soll er innerlich warm werden, damit er nicht kalte Worte ausspricht’. [...] Die Lehrer der heiligen Theologie aber hielt er noch höherer Ehren für würdig. Er ließ nämlich einmal ganz 188 Zur Quelle vgl. Feld, Franziskus 34-38. 189 Legenda trium sociorum 34-36. Vgl. dazu Berg, Studienproblem 26 f. 190 Hugo von Digne, Expositio 310. Vgl. dazu Berg, Armut 73.
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allgemein schreiben: ‚Alle Gottesgelehrten und die uns göttliche Worte vermitteln müssen wir ehren und verehren als solche, die uns Geist und Leben vermitteln’191.
Die zunehmende Billigung des wissenschaftlichen Studiums, die sich in dem skizzierten geistigen Wandlungsprozess niederschlug, hat die institutionelle Entfaltung eines ordensinternen Studienwesens in den Jahren zwischen 1220 und 1250 begleitet. Trotz des Fehlens normativer Texte geht die moderne Forschung davon aus, dass sich das franziskanische Studienwesen spätestens seit den dreißiger Jahren des 13. Jahrhunderts in einem raschen Etablierungsprozess befunden und bereits jenen Formen angenähert hat, wie sie in den Konstitutionen von Narbonne beschrieben werden192. Da Bonaventura nach der Verabschiedung der Konstitutionen von 1260 die Vernichtung älterer Konstitutionensammlungen angeordnet hatte193, bedeutet das Fehlen älterer Aufzeichnungen nicht, dass solche nicht existiert hätten. Folgt man Bemerkungen von Salimbene de Adam und anderen Chronisten, so haben die Konstitutionen von Narbonne wenig Neues zum bestehenden Studienwesen des Ordens hinzugefügt194. Als Modell und Orientierungspunkt hatte den Franziskanern bis zu einem gewissen Grad das dominikanische Studiensystem gedient195, dessen Etablierung seit 1217 gut dokumentiert ist196. Gleiche Bedürfnisse hatten in den beiden großen Bettelorden, die vor ähnlichen Herausforderungen standen und ähnliche Ziele verfolgten, zu vergleichbaren Lösungen geführt. Da die Wurzeln des Predigerordens als antihäretische Einsatzgruppe im Süden Frankreichs lagen, spielte eine profunde wissenschaftliche Ausbildung, die man als Waffe im Kampf gegen die Feinde des katholischen Glaubens einzusetzen gedachte, in den Anfangsjahren eine ungleich größere Rolle als im Orden des heiligen Franziskus, dessen höchstes Anliegen zunächst darin bestanden hatte, die Bürger der oberitalienischen Städte durch ein vorbildliches Leben in Armut und Askese zu Umkehr und Buße zu bewegen. Seit den zwanziger Jahren des 13. Jahrhunderts begannen diese Unterschiede zu verschwimmen, von der Annäherung der beiden Orden war nicht zuletzt auch das bettelmönchische Studiensystem betroffen, das sich immer mehr vereinheitlichte197. 191 192 193 194 195 196 197
Thomas de Celano, Vita secunda cap. 163. Vgl. dazu Berg, Studienproblem 28 f. Roest, Education 8. Constitutiones Narbonenses cap. 1 und cap. 17. Roest, Education 8. So bereits Felder, Studien 97. Zum dominikanischen Vorbild vgl. Barone, Legislazione, 225; Roest, Education 5 f. Zum dominikanischen Studiensystem vgl. Mulchahey, Dominican Education 3-71. Dies wurde bereits von franziskanischen Autoren des späten 13. Jh. so interpretiert. Vgl. dazu Roest, Education 5.
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Bereits zu Lebzeiten des Gründers waren spezielle Studienhäuser des Ordens an den wichtigsten Bildungszentren des katholischen Europa entstanden198. In den frühen zwanziger Jahren schlossen sich in Paris gelehrte Theologen dem Orden an199, um bald darauf in der europäischen Hauptstadt der Theologie unter der Leitung von Jean de la Rochelle eine eigene Schule zu bilden200. Den Dominikanern, die um 1230 eigene Lehrstühle an der Universität Paris erlangen konnten201, folgten die Franziskaner im Jahr 1236, als mit dem Eintritt des magister regens Alexander von Hales ein erster universitärer Lehrstuhl dauerhaft an den Orden gebunden werden konnte; zwei Jahre später folgte ein zweiter202. Seit den dreißiger Jahren des 13. Jahrhunderts blühte das wichtigste franziskanische Studium generale und lockte Studenten aus allen Ecken und Enden des Minoritentums, da aus jeder Ordensprovinz Studenten in die französische Hauptstadt geschickt wurden. Für zwei von ihnen übernahm der Pariser Konvent sogar die Unterhaltskosten (studentes de debito)203. Wie es die franziskanischen Konstitutionen vorsahen, wurde in vielen Provinzen ein Studium generale eingerichtet204. Keines dieser Studienhäuser erreichte die Bedeutung von Paris, ob in Oxford, wo bereits kurz nach 1229 ein eigenes Schulgebäude fertig gestellt und mit Robert Grosseteste ein renommierter Lehrer der Universität gewonnen werden konnte205, ob in Cambridge, wo eine zunächst bescheidene Franziskanerschule seit den vierziger Jahren des 13. Jahrhunderts ihren Aufstieg zu einer Abteilung der theologischen Universitätsfakultät begann206, oder in Bologna, wo zwischen 1220 und 1223 das älteste Generalstudium des Ordens überhaupt entstanden war207. Die große Anzahl von schulischen Zentren, die zwischen 1230 und 1250 gegründet wurden, belegt jedoch sehr deutlich die franziskanischen Bemühungen, eine flächendeckende 198 Zur Problematik vgl. Pellegrini, Incontro. 199 Zur Ankunft der Franziskaner in Paris vgl. Thomas Eccleston, De Adventu 47 und 59. 200 Zum Pariser studium generale vgl. allgemein Roest, Education 11-20. 201 Mulchahey, Dominican Education 364. 202 Sileo, Primi 651-672. Zu den Pariser Universitätslehrern aus franziskanischen Reihen vgl. allgemein Glorieux, Maîtres. 203 Constitutiones Narbonenses 72. Vgl. dazu Roest, Education 15 f. 204 Zu den normativen Rahmenbedingungen des franziskanischen Studienwesens vgl. Brlek, Evolutione. Überblick über die Schulgründungen bei Berg, Armut 67 ff.; Roest, Education 11-51. 205 Zur franziskanischen Schule in Oxford vgl. Roest, Education 21-24. 206 Zur franziskanischen Schule in Cambridge vgl. Roest, Education 24-27. Zur Integration mendikantischer Schulen in eine bestehende Universität vgl. Roest, Education 34-36. 207 Zur franziskanischen Schule in Bologna vgl. Berg, Armut 51-54; Roest, Education 42-47.
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schulische Infrastruktur – Ende des 15. Jahrhunderts scheint der Orden mehr als 100 Generalstudien betrieben zu haben208 – zu etablieren, die den Vergleich mit dem dominikanischen Bildungssystem nicht zu scheuen braucht. Auf der Ebene der Provinzen und Kustodien wurden die überregional angelegten Generalstudien durch Studia particularia ergänzt. Jüngere Novizen, die vor dem Ordenseintritt noch keine Elementarausbildung in den artes liberales erhalten hatten, konnten in diesen Schulen die Voraussetzungen erwerben, um den Pflichten der vita minorum gerecht zu werden oder um eines Tages die Ausbildung an einem Studium generale fortzusetzen209. Schließlich existierte in vielen Konventen ebenfalls ein – mitunter schwer nachweisbarer210 – Schulbetrieb, geleitet von einem Lektor, der seine Ausbildung an einem Generalstudium erhalten hatte und jene Ordensbrüder unterrichtete, die gerade keine anderen Aufgaben zu erfüllen hatten211. Es war eine Konsequenz dieser Schulpolitik, dass die Minoriten um die Jahrhundertmitte zu einer unübersehbaren intellektuellen Macht innerhalb der römischen Kirche und der westlichen Christenheit geworden waren, die den eigenen Nachwuchs sorgsam auf die Aufgaben in Kirche und Welt vorbereitete. Als schulisches Zentrum einer Ordensprovinz entfalteten auch die untergeordneten Generalstudien, an denen keine generelle licentia docendi erteilt wurde, eine beträchtliche Außenwirkung. Dies gilt beispielsweise für das 1228 eingerichtete Generalstudium in Magdeburg212, das die geistes- und kulturgeschichtliche Entwicklung des deutschen Minoritentums bis in die zweite Jahrhunderthälfte hinein wesentlich mitprägte, zogen Franziskanermönche in diesen Jahrzehnten doch nur in Ausnahmefällen nach Paris, Oxford oder Cambridge; auch Bologna wurde offensichtlich noch ziemlich selten zu Studienzwecken aufgesucht. Wie die Karrieren von Berthold von Regensburg und David von Augsburg belegen, besuchten deutsche Minoriten meist ein Generalstudium innerhalb Deutschlands – und zunächst war dies in vielen Fällen Magdeburg213.
208 Roest, Education 34. 209 Zu den studia particularia vgl. Roest, Education 65-81. 210 Zum Quellenproblem, insbesondere hinsichtlich der Schulen im östlichen Mitteleuropa vgl. Kloczowski, Panorama 128. Zum unterschiedlichen Niveau und Grad der Institutionalisierung der Schulen in den verschiedenen Provinzen vgl. Barone, Legislazione 221-229. 211 Zu den Konventsschulen vgl. Felder, Studien 97; Berg, Armut 76; Roest, Education 81-87. 212 Zum franziskanischen Generalstudium in Magdeburg vgl. Berg, Armut 68; Roest, Education 29 Anm. 105; Pätzold, Domschule 58-63. 213 Courtenay, Franciscan Studia 88.
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Die Ordensführung hatte 1228 auf die Klage, dass es in der gesamten deutschen Provinz keinen Lektor gäbe, mit der Ernennung von Simon Anglicus zum Lektor eines Magdeburger Generalstudiums reagiert. Simon war dem Orden in Paris beigetreten und hatte eine Kustodie in der Normandie geleitet, bevor er 1227 vom Ordensgeneral an die Spitze der Teutonia Franciscana gestellt worden war. Seine Gelehrsamkeit sowie die Kenntnis der regionalen Verhältnisse prädestinierten ihn wohl für die neue Aufgabe, die er mit gelehrten Theologen aus dem Orden wie Marquard von Aschaffenburg, Marquard von Mainz und Konrad von Worms antrat. Der Leiter der jungen Schule starb jedoch bereits 1230. Da Personen regionaler Herkunft für die Leitung des Generalstudiums offensichtlich noch nicht zur Verfügung standen, fiel die Wahl erneut auf einen gelehrten Ausländer. Bartholomäus Anglicus, der als Lektor am Pariser Generalstudium gewirkt hatte, trat an die Spitze der aufzubauenden Ordensschule. Der berühmte Gelehrte, Verfasser der erfolgreichsten Universalenzyklopädie des Mittelalters214, legte den Grundstein für ein nordostdeutsches Generalstudium, das bald florierte und seinen Einfluss weit über die Stadtgrenzen hinaus geltend machte. Nach Bartholomäus leitete für kurze Zeit Helwicus die Magdeburger Schule. Er hinterließ eine in Hexametern verfasste lehrmäßige Aufbereitung des Sentenzenkommentars des Petrus Lombardus, die als mnemotechnisches Hilfsmittel für den Unterricht dienen konnte, sowie einen von Hugo von St. Viktor und Bonaventura beeinflussten Prosatext, in dem der Autor in Form eines Dankgebetes die Wohltaten Gottes verherrlichte215. Neben Naturwissenschaft und Theologie hatte sich auch die kanonistische Rechtsgelehrsamkeit in Magdeburg etabliert216. Rechtliche Grundkenntnisse gehörten mit zu den Voraussetzungen einer erfolgreichen Tätigkeit als Prediger und Beichtvater, die Mendikanten hatten daher viele Rechtsgelehrte in ihren Reihen217. Dennoch übersteigt die kanonistische Produktion der Magdeburger Franziskaner jene anderer Ordensschulen. Heinrich von Merseburg, Lektor in Magdeburg und Erfurt, verfasste in der Elbestadt um 1242 eine Titelsumme zum Liber Extra218. Die kurze und anspruchslose Summe war als Hilfsmittel für den Unterricht gedacht. Zwei Jahrzehnte später ergänzte ein unbekannter Autor die Arbeit durch einen Glossenapparat, in dem er einzelne Worte 214 Zu Bartholomäus vgl. unten 120 ff. 215 Helwich, Büchlein. Zur Person vgl. Doelle, Beiträge 65-86; Stöllinger, Helwicus 982984. 216 Doelle, Rechtsstudien 1039-1044; Trusen, Forum internum 83-126. 217 Oberleutasch, Ordensrecht 181-209; Roest, Education S. 146 f. 218 Zu Heinrich von Merseburg vgl. Kurtscheid, Heinrich 239-253; Kurtscheid, De studio 160-164; Jürgensen, Heinrich 797-799; Jörg Müller, Art. Heinrich von Merseburg, in: Lexikon für Kirchen- und Staatskirchenrecht 2 (2002) 232 f.
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erklärte, Beispiele anführte und ausgewählte Passagen kommentierte. Die Entstehungszeit der Glossen lässt sich aufgrund der Erörterung päpstlicher Dekretalen, die zwischen 1234 und 1255 erlassen worden sind, auf die Zeit um 1260 festsetzen219. Text und Glosse bildeten in den Augen der mittelalterlichen Benutzer eine sinnvolle Einheit, die man gemeinsam studierte und kopierte, so dass Summe und Apparat häufig gemeinsam überliefert wurden220. Die vielleicht bedeutendste, mit Sicherheit jedoch umfangreichste kanonistische Arbeit, die im Deutschland des 13. Jahrhunderts verfasst wurde, geht auf den Franziskaner Balduin von Brandenburg zurück, der – vermutlich ebenfalls im Magdeburger Generalstudium in die Geheimnisse des kirchlichen Rechts eingeführt – sein Opus magnum um 1270 abschloss. Seine Titelsumme von über 500 Folien diente späteren Rechtsgelehrten aus franziskanischen Reihen als Materialsammlung, insbesondere zur Ergänzung der Summe Heinrichs von Merseburg221. Nicht allein die Anhänger des heiligen Franziskus waren in der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts in und um Magdeburg mit der Herstellung und Bearbeitung von juristischen Texten beschäftigt. Einen der erfolgreichsten Kanonisten der Zeit hatte es ebenfalls in die sächsische Provinz verschlagen: Johannes Teutonicus, Magister an der Universität Bologna und Verfasser der Glossa ordinaria zu Gratians Dekret, war – falls denn seine Identifizierung mit Johann Zemeke richtig ist – seit 1220 Domscholasticus in Halberstadt. An dieser Domkirche wirkte er in verschiedenen Funktionen bis zu seinem Tod 1245222. Die Minoriten hatten bereits 1223 einen Konvent in Halberstadt gegründet. Ob Balduin von seinem rechtsgelehrten Nachbarn wusste, ist unbekannt, jedenfalls zitierte er aus dem Glossenapparat seines Kollegen. Für die deutsche Rechtsgeschichte ungleich bedeutsamer war die Zusammenfassung des sächsischen Gewohnheitsrechts im Sachsenspiegel, den Eike von Repgow zwischen 1220 und 1235 verfasste, vermutlich ebenfalls in der Nähe von Magdeburg223. Sachsen war zur Heimat und Produktionsstätte juristischer Gelehrsamkeit geworden. Die Franziskaner hatten dazu ihren Teil beigetragen, sicher aber auch von einer anregenden Atmosphäre profitiert und die in ihrem Umkreis entstehenden Werke interessiert zur Kenntnis genommen – bekanntlich gehörten sie zu den maßgeblichen Bearbeitern des Sachsenspiegels224. 219 220 221 222 223 224
Zum Apparat vgl. Kurtscheid, De studio 164-168. Kurtscheid, Heinrich 193-197. Ertl, Balduin 296 f. und passim. Zur Person vgl. Kuttner, Johannes Teutonicus 571-573. Zum Sachsenspiegel vgl. einführend Johanek, Rechtsschrifttum 402-410. Johanek, Rechtsschrifttum 413-419.
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Als Bonaventura im Jahr 1257 die Leitung des Ordens übernahm, stand er vor der Aufgabe, die Gemeinschaft nach außen zu verteidigen, aber auch disparate Kräfte im Inneren zu integrieren. Durch die Neuredaktion sämtlicher franziskanischer Konstitutionen, die im Jahr 1260 als Constitutiones Narbonenses veröffentlicht wurden, und durch die Abfassung einer neuen, exklusiven und verbindlichen Franziskusvita versuchte der neue Ordensgeneral, die Grundlagen der franziskanischen minoritas zu definieren und die Bedeutung von Studien und Bildung für die vita minorum gegenüber der Kritik innerhalb wie außerhalb des Franziskanerordens zu verdeutlichen225. Während bei Franziskus und seinen ersten Anhängern eine göttlich vermittelte Einsicht in die ewigen Wahrheiten die unzureichende Bildung nach irdischen Maßstäben mehr als wettgemacht hätte, sei – so der doctor seraphicus – das Studium der Heiligen Schrift im Orden gestattet worden, nachdem gelehrte Theologen in den Orden eingetreten seien. Solange die minoritische Demut erhalten bliebe und die Liebe zu Gott nicht verloren ginge, solange das Gelesene auch in die Tat umgesetzt werde, sei das Studium zu begrüßen; ja, es sei zu einem notwendigen Bestandteil der vita minorum geworden, da die Kirche den Orden mit der pastoralen Betreuung der Laien beauftragt habe. Die daraus resultierende Verwandlung der ehemaligen fraternitas einfältiger Brüder in einen universellen Orden gelehrter Kleriker sei daher verständlich sowie in Übereinstimmung mit der Geschichte der Gesamtkirche geschehen, da deren Mitglieder sich ebenfalls von einfältigen Fischern in berühmte Gelehrte verwandelt hätten226. Die institutionelle Etablierung des franziskanischen Studienwesens sowie die geistige Selbstwahrnehmung als Gemeinschaft gelehrter Priester fanden in den Jahren, als Bonaventura den Orden zunächst im Bettelordensstreit an der Pariser Universität verteidigte und ihn anschließend als Generalminister lenkte, ihren Abschluss. So konnte das Studium bereits kurze Zeit später aus dem Mund eines Franziskaners eine emphatische Verteidigung erhalten. Für Roger Bacon brachten Studieren, Lesen und Disputieren in den verschiedenen Fakultäten die Schönheit, Nützlichkeit und Großartigkeit der Weisheit (sapientia) hervor. Diese Weisheit wiederum strukturiere, ordne und fördere die Kirche Gottes, so dass die Gläubigen das ewige Leben erlangen könnten. Aber auch die weltliche Gemeinschaft der Gläubigen werde durch die Weisheit gelenkt, damit die Bürger mit allem Notwendigen versorgt würden, sich körperlicher und seelischer Gesundheit erfreuten und unter einer gerechten und friedlichen Herrschaft zusammenlebten. Die Weisheit 225 Zu Bonaventuras Ausbildungspolitik vgl. Berg, Armut 82-85; Berg, Studienproblem 108-113. 226 Vgl. dazu unten 179.
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sorge schließlich dafür, dass die Heiden mit großem Erfolg zum christlichen Glauben bekehrt würden und die Unbekehrbaren durch neue und bessere Mittel vernichtet werden könnten227. Eine überzeugtere Würdigung des Studiums im Orden ist kaum vorstellbar228. Gegen diese studienfreundliche Selbstverortung kämpften seit dem ausgehenden 13. Jahrhundert die Spiritualen229, ohne dass damit die Weichenstellung für die weitere Entwicklung der Majorität des Ordens nochmals grundsätzlich in Frage gestellt werden konnte. Zu einhellig waren die Stimmen zugunsten der Verkirchlichung und Klerikalisierung, die mit päpstlichen Privilegien und einer ekklesiologischen Sonderposition verbunden waren. Stolz wurden von den Ordenschronisten daher Ansehen und Gelehrsamkeit neu eintretender Kleriker vermerkt und auf die vielen Dignitäten und Lehrämter, die der Orden erwerben konnte, hingewiesen. Thomas von Eccleston rühmte beispielsweise in seiner Chronik der englischen Minoritenprovinz bis ca. 1260, trotz eingeflochtener Warnungen vor den Gefahren des wissenschaftlichen Hochmuts, den großen Bildungseifer der englischen Minoriten, die sich unter schwierigsten Bedingungen schulischen Übungen (scholasticis exercitiis) widmeten und rasche Fortschritte in ihren theologischen Studien machten. Gemahnt von ihrem Oxforder Lehrer Robert Grosseteste, dass der junge Orden durch die Vernachlässigung des Studiums wie andere Religiosen in der Dunkelheit des Unwissens wandeln würde (in tenebris ignorantiae ambulare), errichteten die englischen Minoriten ein Studiensystem, dessen Zentrum die Kustodie Oxford mit der theologischen Ordenshochschule dargestellt und das bereits in den ersten Jahren nach Gründung der englischen Minoritenprovinz viele Scholaren und Magister angezogen hatte. Über eine so große Zahl von Lektoren habe die englische Provinz schließlich verfügt, dass manche von diesen an kontinentalen Konventsschulen ihren weniger gebildeten Ordensbrüdern Unterricht erteilten230. So wie der Chronist der englischen Provinz dachte offensichtlich die Mehrheit der Ordensbrüder: Man war stolz auf die Errungenschaften der zurückliegenden Jahrzehnte und betrachtete 227 Roger Bacon, Compendium philosophiae 395. Vgl. dazu Bettoni, Pedagogia 49 f. und 58 f. Zur Einschätzung des Studiums durch Bernardin von Siena vgl. ebd. 60 f. 228 Auch für Salimbene de Adam muss ein franziskanischer Prälat noch vor einem heiligmäßigem Leben und guten Sitten Weisheit und Wissen besitzen, gleicht ein Prälat ohne Wissen doch einem „gekrönten Esel“. Vgl. Salimbene von Parma, Chronik I 100 f. Zum ursprünglich auf den König bezogenen Diktum vgl. Hans Walther, Proverbia sententiaeque Latinitatis medii aevi, Teil 4 (Carmina medii aevi posterioris Latina 2/4), Göttingen 1966, Nr. 26852. 229 Zum Standpunkt der Spiritualen vgl. Berg, Studienproblem 128-143. 230 Thomas Eccleston, De adventu cap. 11 u. ö. Zu den Studienfragen bei Thomas vgl. Berg, Studienproblem 112 mit Anm. 42.
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sich als eine religiöse Elitegemeinschaft, in der das wissenschaftliche Studium sein eigentliches Zuhause gefunden hatte. Niemand, kein Kleriker und kein Mönch eines traditionellen Ordens, konnte den Mendikanten das Wasser reichen; niemand war so gut vorbereitet, das Amt der Seelenführung auszufüllen. Es waren nicht allein Quantität und Intensität, die das mendikantische Studium auszeichneten, sondern auch der neuartige Praxisbezug und die Plastizität ihrer pastoralen Botschaft, die den Mendikanten großen Zulauf sicherten. Dies bemerkten bereits die Zeitgenossen: „Die Minderbrüder und Dominikaner“ – so Pierre Dubois am Ende des 13. Jahrhunderts – „kennen besser als andere den wirklichen Zustand der Gesellschaft und sie kennen das Verhalten des Einzelnen“231. Es ist also nicht erstaunlich, dass „das Volk den Brüdern in Scharen entgegenläuft, um das ‚Wort des Lebens’ zu hören sowie Beichte abzulegen und Belehrung zu empfangen“ – so Robert Grosseteste in einem Schreiben an Papst Gregor IX. aus dem Jahr 1238232. Denn was die Waldenser – zumindest gemäß den Aussagen der katholischen Inquisition – fälscherlicherweise von sich behaupteten, das nahmen nun die Franziskaner für sich in Anspruch: Die Bibel, den Schlüsseltext theologischer ebenso wie irdischer Erkenntnis, besser zu verstehen als andere kirchliche oder klerikale Gemeinschaften233. Die Anhänger des Franziskus fühlten sich dadurch berufen und berechtigt, vor allen anderen das Lehramt auszuüben. Ihre Ausbildung machte die Bettelmönche nicht zu spekulativen Gelehrten im Elfenbeintum, sondern zu erfolgreichen Seelsorgern. Franziskus selbst hatte gelehrt, dass Wissen kein Selbstzweck sein darf, sondern dem Leben dienen muss234. Durch das Studium soll der Studierende nicht Gelehrsamkeit und Ansehen gewinnen, sondern die gute und richtige Lebensführung erkennen und seinen Schülern und Zuhörern weitergeben235. Die Ansammlung von Wissen erfolgte mit der Absicht, 231 Petrus de Bosco, Summaria brevis 50. Vgl. Little, Religious Poverty 219. Zu Pierre Dubois, Jurist und politischer Denker im Dienst des französischen Königs († nach 1321), vgl. Otto G. Oexle, Art. Pierre Dubois, in: LexMA 3 (1986) Sp. 1433 f. 232 Robert Grosseteste, Epistolae, Nr. 58 S. 179. 233 Zu den Waldensern vgl. exemplarisch David von Augsburg, Tractat cap. 4 S. 206. Zum heiligen Franziskus als Bibelkenner und -exeget vgl. Thomas von Celano, Vita prima cap. 103 und cap. 104: Im Haus eines Kardinals über eine dunkle Schriftstellen befragt, habe Franziskus so tiefsinnig Gedanke ans Licht gebracht, dass man meinen könnte, er sei schon immer mit der Heiligen Schrift vertraut gewesen. 234 Zur Anschaulichkeit als Prämisse franziskanischen Denkens vgl. Huber-Legnani, Roger Bacon 15-28. 235 Zum Praxisbezug franziskanischer Gelehrsamkeit vgl. Bettoni, Pedagogia 45-55. Zum Praxisbezug franziskanischer Predigt vgl. exemplarisch Steer, Bettelorden-Predigt 318-320.
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die Menschen zu ermahnen und zu bessern. Das franziskanische Studium hatte sich daher durch einen hohen Praxisbezug auszuzeichnen. Diese Haltung durchdrang alle geistigen Erzeugnisse des Ordens und formte auch den Charakter franziskanischer Historiographie, die durch einen einfachen Stil und den Einsatz rhetorischer Stilmittel wie des Dialogs, des Sprichwortes, des Exemplums und der Anekdote breite Volksschichten erreichte. Der literarische Anspruch ordnete sich einer klaren inhaltlichen Botschaft unter; die pädagogisch-didaktische Perspektive strebte nach größtmöglicher Plastizität236. Nikolaus von Bibra erhob in seinem Occultus Erfordensis, einer polemischen Abrechnung mit dem Erfurter Juristen Heinrich von Kirchberg, geschrieben kurz nach Beendigung des Erfurter Interdikts 1279-1282, gegenüber den Bettelmönchen folgende Forderung237: Und ihr Brüder, was macht ihr, die ihr durch Ländereien und Häuser umherzieht? Warum tadelt ihr nicht die Übel, von denen ihr doch wisst, dass sie geschehen? Ihr predigt heute über Judith und Esther, über Mardocheus, morgen über den Pharisäer Simon, [...] bald über das Binsenkörbchen des Moses oder Balaams Eselin, [...] über die Windeln Christi oder die Jungfräulichkeit des Johannes. [Es folgt eine lange Liste abstruser exegetischer Predigtthemen.] All diese Dinge stehen fest; doch die gegenwärtigen Zeiten sind nicht so wie die vergangenen, weil die meisten Menschen ein schlechtes Leben führen. Deshalb, gute Brüder, die die Welt als ihre Väter betrachtet, achtet darauf und mischt, wenn ihr Altes erzählt, das Neue hinzu, denn sonst ist eure Predigt nicht einmal so viel wie ein Ei wert. Neu nenne ich das, was gestern oder morgen passieren kann. Sagt doch dem Papst um des Glaubens willen, dass in der Kirche vielfache Simonie besteht und zahlreiche andere Übel, die dem Glauben schaden werden und die, wenn sie andauern, vielleicht den Untergang verursachen werden. [...] Sagt der höheren Geistlichkeit: ‚Warum tretet ihr so schlecht für die euch anvertraute Herde ein, dass sie einen Platz in der Hölle hat? Eindeutig aus euren Händen wird sicherlich das Blut derer eingefordert, die jetzt die schlimme Schlange quält. Dann würdet ihr wohl gerne all die Zeit, die ihr gehabt habt, anständig gelebt und in der Sorge um eure Herde gestanden haben. [Es folgen zahlreiche Musterpredigten an verschiedene geistliche und weltliche Adressaten.]238
Es ist kein Zufall, dass er sich an die Mendikanten wandte, betrachteten sich doch diese als die correctores morum, die Verbesserer der Sitten in einer Zeit, in der die anderen führenden Stände und Gruppierungen, vom Papst und Kaiser bis zu Bischöfen und Mönchen, diese Aufgabe wahrzunehmen nicht mehr imstande waren. Allein den Bettelmönchen 236 Zum anschaulich-belehrenden Charakter franziskanischer Historiographie vgl. einführend Baethgen, Studien. 237 Zur problematischen Autorenzuschreibung vgl. Occultus Erfordensis 13-23. 238 Occultus Erfordensis vv. 1218-1421 S. 210-225.
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traute Nikolaus von Bibra es zu, in den gegenwärtigen üblen Zeiten die moralische Führung der Christenheit in die Hand zu nehmen und die einzelnen geistlichen und weltlichen Stände, Gruppen und Würdenträger an ihre wahren Pflichten zu erinnern. Das wichtigste Hilfsmittel, dieses Ziel zu erreichen, war die Predigt, die sich von theologisch-exegetischen Themen, die keine Berührungspunkte mit den realen Sorgen und Lebensumständen der Menschen aufwiesen, abwenden und aktuellen, didaktisch-verständlichen Themenkreisen zuwenden sollte. Nikolaus von Bibra rief die Bettelmönche dazu auf, die schlechten Gewohnheiten in der Gesellschaft zu tadeln und jeden Einzelnen bei seinem Gewissen zu Buße und Umkehr zu mahnen. Was Nikolaus von Bibra und andere von den Predigern ihrer Zeit forderten, war die Umsetzung jenes Programms, das im Pariser Universitätsmilieu an der Wende zum 13. Jahrhundert entworfen worden war. Petrus Cantor und sein Schülerkreis wollten nichts Anderes als die direkte Hinwendung des klerikalen Predigers zu seinem Publikum in Sprache und Thema. Im Unterschied zu philosophischen und theologischen Werken, die für einen kleinen Kreis von Eingeweihten bestimmt waren, richtete sich die volkssprachliche Predigt an alle, an Reich und Arm, Schriftkundige und Schriftunkundige, Adlige und Nichtadlige, Städter und Bauern, Junge und Alte, Männer und Frauen. Der erfolgreiche Prediger musste sich daher einer allgemein verständlichen Sprache sowie Metaphern, Vergleichen und Vorstellungen bedienen, die seine Zuhörer verstanden. Die Menschen sollten aufgerüttelt und zum Nachdenken über ihre Sünden und Verfehlungen gebracht werden. Dies konnte nur gelingen, wenn sich der Prediger mit eindrücklichen Worten und einer klaren Botschaft direkt an die einzelnen Stände und Gruppierungen der mittelalterlichen Gesellschaft wandte. Seit der Zeit des Petrus Cantor verfassten die pastoralen Lehrmeister daher Mustersammlungen von volkssprachlichen Standespredigten, sogenannte ad-status-Predigten, um die Leser in die zeitgemäße ars predicandi einzuweihen, die sich nicht mehr mit in lateinischer Sprache vorgetragenen exegetischen Abhandlungen biblischer oder hagiographischer Stoffe begnügten. Niemand beherrschte die Kunst der volkssprachlichen Predigt im 13. Jahrhundert so perfekt wie die Bettelmönche. In ihren Kreisen entstanden die wichtigsten Predigtsammlungen, aus ihren Reihen stammten die berühmtesten Prediger der Zeit239. Dieser Tatsache waren sich die Zeitgenossen, innerhalb und außerhalb der neuen Ordensgemeinschaften, bewusst. Jakob von Vitry sprach 1216, nach seiner ersten 239 Zur Bettelordenspredigt als „Massenmedium“, untersucht anhand der Beispiele Johannes von Capestrano und Berthold von Regensburg, vgl. Steer, BettelordenPredigt.
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Begegnung mit der erst wenige Jahre alten Franziskanerbewegung, von einem „Predigerorden“ (ordo praedicatorum), die „Minderbrüder“ (fratres minores) genannt würden. „Unser Orden wurde bekanntlich von Anfang an zur Predigt und zur Seelsorge eingerichtet“ – hieß es in den dominikanischen Konstitutionen von 1228. In beiden Bettelorden wurde die Predigt zum identitätsstiftenden Merkmal und zum festen Bestandteil einer überhöhten Selbstdeutung. So war Humbert de Romanis der Überzeugung, dass es im ganzen Universum nichts gäbe, was von Gott mehr herausgehoben sei als das Amt des Predigers; der Prediger sei gleichsam der von Gott in seinen Angelegenheiten entsandte Legat240. Die Minderbrüder standen in ihrem Urteil nicht zurück. Jean de la Rochelle dachte in ähnlichen Kategorien wie der dominikanische Generalmagister, wenn er schrieb, dass die Prediger Engel seien, weil sie den göttlichen Willen verkündeten (predicatores enim sunt angeli; eo quod divinam voluntatem annuntiant). Bonaventura schließlich verband die Würdigung mendikantischer Predigttätigkeit mit der aktuellen ekklesiologischen Debatte und stellte fest, dass die pastorale Berufung der Minoriten einen päpstlichen Auftrag zur Besserung der durch den Ortsklerus verursachten seelsorgerischen Defizite darstelle241. In Deutschland war es vor allen anderen der Franziskaner Berthold von Regensburg, der zwischen 1250 und 1270 die Massen geradezu begeisterte. Zehntausende, ja hunderttausende Zuhörer sollen seinen deutschen Predigten gelauscht haben242. Auf den Feldern und Wiesen wurden hölzerne Türme errichtet, die Berthold als Kanzel dienten. Die Windrichtung wurde bestimmt, um zu erfahren, auf welcher Seite man seine Rede am besten verstehen konnte. Chroniken und andere Quellen berichten von seinem Ruhm, der sich über den gesamten süddeutschen Raum zwischen Ungarn und dem Elsaß verbreitet hatte, von Wundern, die sich während seiner Predigten ereigneten, und von Prophezeiungen, die sehr bald in Erfüllung gingen243. „Die Predigten zeigen eine Leiden240 Zum Versuch Humberts von Romans, durch die Predigt die Gesamtheit der menschlichen Daseinsformen in eine systematisierte Ordnung zu integrieren, vgl. Schmidt, Allegorie 316-318. 241 Zur mendikantischen Sichtweise der Predigt vgl. Oberste, Predigt 248 f. (hier auch die Zitate). Zur franziskanischen Predigt vgl. D’Alatri, Predicazione; Godet, Prédication. Vgl. zuletzt allgemein Muessig, Sermon. 242 Zur „quasiauthentischen“ Überlieferung der Predigten vgl. Schmidt, Allegorie 263 f.; Oberste, Heiligkeit 252-255. Etwas kritischer zuletzt, die stetig weitergeführte Bearbeitung von Bertholds Texten innerhalb des Franziskanerordens betonend Neuendorff, Berthold; Schiewer, Predigtforschung 298 f. Generell zur Überlieferung der Predigttexte vgl. Richter, Überlieferung. 243 Zu Bertholds Predigttätigkeit vgl. Steer, Leben; Steer, Bettelorden-Predigt 323-331, Gurjewitsch, Individuum 196-218; Gurjewitsch, Zeugen 197-287; Oberste, Heiligkeit 251 f. Zur mendikantischen Predigt nach 1250 vgl. allgemein ebd. 220-227.
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schaftlichkeit der Diktion, eine sprach- und wortschöpferische Vielfalt, wie sie in ihrer Art die deutsche Sprache noch nie und dann bis Luther nicht wieder kannte. Sie dringt in ganz neue Bereiche, die des Populären und Vulgären, sie vermag zum ersten Mal den Stil der gesprochenen Rede adäquat darzustellen, zum ersten Mal in ungebundener Rede zu rühren und zu erschüttern“244. Berthold strebte nicht nach theologischer Originalität, sondern nach Verständlichkeit und Überzeugungskraft. Im Aufbau und in der formalen Gestaltung folgten seine Texte den Richtlinien einer ars praedicandi, die Bonaventura zugeschrieben wird und als geläufige Schrift im Orden zirkulierte245: „Der Gebrauch von hyperbolischen Redewendungen, die Argumentation mit Beispielen, die Deutung von Realien aus der Natur, die Beschreibung der Lebensumstände der Zuhörer und auch die für die deutschen Predigten Bertholds als typisch angesehene rhetorische Einfügung von Zuhörerfragen“246. Roger Bacon sagte rühmend von dem franziskanischen Kollegen, dass dieser allein durch seine Predigt segensreicher gewirkt habe als alle Brüder der Bettelorden zusammen, – denn während jene mit spitzfindigen Unterscheidungen unwichtige Themen auf unverständliche Weise traktierten und bei ihren Zuhörern damit nicht Gottesliebe, sondern allein curiositas weckten, werde bei Berthold die Redegewandtheit von der Weisheit begleitet247. Ein lebendiger Ton kennzeichnet Bertholds Predigten. Mit spontanen Ausrufen, fiktiven Fragen an das Publikum oder an sich selbst, mit umgangssprachlichen Ausdrücken und zahlreichen Wiederholungen gelang es dem „neuen Elias“, um dessen Kopf die Zuhörer einen leuchtenden Kranz zu sehen glaubten, leicht verständliche und lebendige Reden zu halten. Häufig von einer Bibelstelle ausgehend, diskutierte Berthold in den meisten seiner Predigten verbreitete Unsitten, um – immer ähnliche Gedanken variierend und aus einem immer gleichen Repertoire von Ermahnungen, Vorschriften und Warnungen schöpfend – die Menschen über Sünden und Almosen, die Hölle und das Himmelreich, Buße und Beichte, den Teufel und die Engel zu unterrichten. Diesen Charakter seiner Predigten thematisierte Berthold einmal selbst, als er in einem fiktiven Dialog einem Mann antwortete, welcher seine Predigt nicht hören wollte, weil er außer Gemeinplätzen nichts erwarte:
244 Richter, Überlieferung 239. 245 Bonaventura, Ars praedicandi, in: Opera omnia 9, 8-21. Vgl. dazu Longère, Prédication 198 f. 246 Schmidt, Arbeit 264. 247 Roger Bacon, Opus Tertium 4 und 309 f. Vgl. Steer, Leben 170.
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So ist es auch, denn dies ist der direkte Weg ins Himmelreich. [...] Siehe, ihr Christen habt mehrere tausend Bücher; und alle lehren sie nichts anderes, als dass man nur Gutes tun und sich vom Bösen abwenden soll. Der Dumme möchte nicht zur Predigt gehen, denn ihm werden dort Dinge vor Augen geführt, von denen er sich nicht loslösen kann, und er wird von da an sündiger sein, als wenn er davon nichts gehört hätte. Aber es kann dir nicht als Ausrede dienen, dass dir die Wahrheit unbekannt war, wie man die Seele retten muss, denn der Herr hat dir fünf Sinne gegeben, damit du in die Kirche gehst, die Messe und die Predigt hörst und lernst, was für den Körper und die Seele notwendig ist. Wenn ihr mir zuhören möchtet, lehre ich euch eine Weisheit, die euch nützlicher sein wird als alle Weisheiten der Sterndeuter oder Kenner von Gräsern und Steinen und alles, was die Weisen aus Paris, Orleans, Montpellier, Palermo, Padua oder Bologna wissen248.
Einfach und einleuchtend, nicht subtil wie das Wissen der Gelehrten in den Universitäten, doch praxisbezogen und unerlässlich für die Gewinnung des persönlichen Seelenheils, so wollte Berthold von Regensburg seine Tätigkeit als mendikantischer Volksprediger verstanden wissen. Und als ein Prediger ersten Ranges, der die Tugenden, von denen Petrus Cantor, Jakob von Vitry und die anderen gesprochen hatten, erfolgreich in die Tat umzusetzen imstande war, wurde er auch von seiner Umwelt wahrgenommen. Selbst der streitbare Roger Bacon, der allen Ständen und Gruppen seiner Zeit mangelnde Bildung und geistige Stumpfsinnigkeit vorgeworfen hatte249, konnte sich des Lobes für seinen Mitbruder nicht enthalten, als der dem Klerus seiner Zeit eine völlig verfehlte Art des Predigens unterstellte: Statt den Gläubigen das „Brot des Lebens“ zu reichen, ihnen nämlich die Gebote Gottes zu erklären und die jeweiligen Pflichten einzuschärfen, begnügten sich die meisten Prediger mit theoretischen Erörterungen, Wortgetöse und Spitzfindigkeiten. Die Regeln der Beredsamkeit würden sie nicht kennen, ihre Reden seien erfüllt von bombastischen und lächerlichen Distinktionen, die nur dazu führten, den Geist der Zuhörer auf belanglose Eigentümlichkeiten zu richten, nicht aber dazu, ihre Liebe zu Gott zu wecken. Nur wenige Ausnahmen gäbe es, zu diesen gehöre Berthold von Regensburg, der allein mehr bewirkt habe als beide großen Bettelorden zusammen250. Was Nikolaus von Bibra von den Mendikanten verlangt hatte, forderte mit anderen Worten auch Roger Bacon251: Wollten die Prediger ihr Amt erfolgreich ausfüllen, mussten an die Stelle von gelehrt-abstrakten Abhandlungen konkrete moralische Ermahnungen treten. Beide Kritiker 248 249 250 251
Berthold von Regensburg, Predigten, Nr. 1. Vgl. Easton, Roger Bacon 105-114. Vgl. Roger Bacon, Opus Tertium 309 f. Zu Person und Werk vgl. Hackett, Roger Bacon; Uhl (Hg.), Roger Bacon.
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richteten ihre Worte in erster Linie an die Bettelorden, der eine, weil er in Erfurt das Versagen des säkularen Klerus miterlebt hatte, der andere, weil er – trotz einer misanthropischen Grundstimmung und einer tiefen Verachtung für sein Zeitalter – bei seiner eigenen Glaubensgemeinschaft noch am ehesten richtige Ansätze zu erkennen glaubte. Als Gewährsmann für sein Anliegen konnte Roger Bacon Berthold von Regensburg zitieren, dessen Ruhm sich innerhalb des Franziskanerordens in Windeseile europaweit verbreitet hatte. Wir können jedoch davon ausgehen, dass der süddeutsche Prediger nicht der einzige Bettelmönch des 13. Jahrhunderts gewesen ist, der mit volkssprachlichen und volksnahen Predigten Tausende Zuhörer in den Bann zu schlagen vermochte, handelte es sich bei der zeitgemäßen Vermittlung des Gotteswortes doch um die Motivation mendikantischen Studierens sowie um das spezifische Aufgabenfeld der Bettelorden, das sie von Anfang an mit allem Ernst und Sorgfalt betrieben. Dominikaner und Franziskaner fühlten sich der verantwortungsvollen Aufgabe verpflichtet, an Seiten des Klerus für die Evangelisierung der Laien zu kämpfen, zogen die Bettelmönche doch aus dieser Beauftragung die historische Legitimität ihrer Lebensform. Zu den weit reichenden Konsequenzen des mendikantischen Auftretens als gelehrte Prediger und Seelsorger zählten nicht nur die päpstlichen Privilegierungen für die jungen Orden, sondern auch eine Diskussion und Erörterung pädagogischer Themen durch die praedicatores und curatores animarum, sozusagen die theoretisch-psychologische Fundierung der praktischen Seelsorge. Die Bettelorden wurden aus diesem Grund zu den wichtigsten Autoren erzieherischen Schrifttums im 13. Jahrhundert. Erziehungsschriften erlebten im 13. Jahrhundert eine Blütezeit252. Pädagogische Funktionen erfüllten jedoch auch Texte anderer Quellengattungen253. Dies trifft auf Historiographie und Hagiographie ebenso wie auf die höfische Dichtung und religiöse Erbauungsliteratur zu. In einer Epoche, die so viele Erziehungstraktate hervorgebracht hat wie keine andere zuvor, vermischte sich Altes mit Neuem. Literarische Traditionen wurden fortgesetzt, neue Formen traten hinzu. Wenn die fränkische Adlige Dhuoda im Liber manualis, einer Anleitung zur christlichen Lebensführung254, ihrem fernen Sohn Wilhelm Mitte des 9. Jahrhunderts den Psalter ans Herz legte („Im Psalter hast du bis zu deinem Tod etwas zu lesen, meditieren und zu lernen“), um im letzten Kapitel ihres Buches
252 Riché, Sources; Alexandre-Bidon, Livres d’éducation. 253 Zur Quellengattung vgl. grundsätzlich Riché, Sources. Zur Heterogenität pädagogischer Literatur im 13. Jh. vgl. Alexandre-Bidon, Livres d’éducation 157. 254 Zu Dhuodas Werk vgl. Luff, Schreiben 249-266.
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für jede Lebenssituation den passenden Psalm aufzulisten255, so hatte dieser mütterliche Ratschlag seine Gültigkeit auch im 13. Jahrhundert noch nicht verloren. Die heilige Elisabeth machte ihre ersten religiösen Erfahrungen mit diesem Text256; der franziskanische Generalminister Elias von Cortona hatte seinen Lebensunterhalt vor dem Ordenseintritt damit verdient, „zu Assisi Knaben im Lesen des Psalters“ zu unterrichten257. Psalmensammlungen, in ihrer pädagogischen Aussagekraft häufig durch Illustrationen in der Art der späteren Stundenbücher, durch angefügte Gebete oder den Eintrag des Alphabets verstärkt, bildeten weiterhin ein Schulhandbuch ersten Ranges zur moralischen und religiösen Erziehung von Kindern, die häufig ihre ersten Schreib- und Lateinkenntnisse anhand dieser Texte erwarben258. Eine ins 12. Jahrhundert zurückreichende Tradition setzten auch die Verfasser von Novizentraktaten fort, die der geistigen Vorbereitung des Nachwuches auf die vita religiosa dienten259. Die Autoren des 12. Jahrhunderts, insbesondere Bernhard von Clairvaux und Hugo von St. Viktor wurden ausgiebig benutzt260. Hugo von St. Viktor hatte mit seiner kleinen, zwischen 1120 und 1130 verfassten Schrift De institutione novitiorum nicht nur den Prototyp des hoch- und spätmittelalterlichen Novizentraktates verfasst, sondern eine allgemeine Erziehungslehre entwickelt, die weit über die Klostermauern hinausreichte und für die gesamte höfische Kultur Geltung beanspruchen durfte261. Das zugrunde liegende Prinzip beruhte auf einem engen Zusammenhang von innerer Einstellung und äußerem Auftreten sowie den drei Eckpfeilern Wissen, Zucht und Gutsein262, die gleichzeitig den Weg jeder erfolgreichen Erziehung markieren sollten: Durch Wissen (scientia) gelangt der Schüler zur Zucht (disciplina), durch Zucht erlernt er das Gutsein (bonitas), durch Gutsein erreicht er schließlich die Seligkeit (beatitudo), das Ziel des religiösen 255 Dhuoda, Liber manualis lib. XI, 232-239. 256 Jacobus de Voragine, Legenda Aurea 875: „Und ob sie (sc. die fünfjährige Elisabeth) gleich die Kunst von den Buchstaben noch nicht verstand, so breitete sie doch in der Kirche das Buch Psalterium oft vor sich aus und stellte sich, als ob sie läse, auf dass niemand in solcher Andacht sie möchte irren“. 257 Salimbene von Parma, Chronik I 81. 258 Zum Psalter als elementares Lehrbuch vgl. Alexandre-Bidon, Livres d’éducation 152155. 259 Zur Quellengattung Riché, Sources 20-22. 260 Zu den wichtigsten Vorlagen des 12. Jh. vgl. Creytens, Instruction 131-135; Riché, Sources 21 f. 261 Hugo von St. Viktor, De institutione novitiorum. Zum Werk vgl. Schmitt, Raison, 173 ff.; Jaeger, Humanism; Bumke, Höfischer Körper 70-98. Zur Einbettung des Werks in einen epochenübergreifenden Disziplinierungsvorgang vgl. Romagnoli, Disciplina. 262 Vgl. Ps 118,66: Bonitatem et disciplinam et scientiam doce me.
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Lebens. Die disciplina – die geordnete Bewegung aller Glieder und die geziemende Haltung in jeder Lage und bei jeder Handlung263 – strukturiert den guten und würdigen Lebenswandel: „Ihr ist es zu wenig, nichts Böses zu tun; vielmehr ist sie bemüht, in dem, was sie Gutes tut, in jeder Beziehung untadelig zu erscheinen“264. Das harmonische Verhältnis von innerer Gesinnung und äußerer Haltung, Ziel der sittlichen und religiösen Erziehung und versinnbildlicht in der körperlichen Dimension religiöser Praktiken265, beschrieb Hugo anhand der vier Bereiche Kleidung, Gestik, Sprechweise und Tischsitten, welche bekanntlich zentrale Bestandteile auch der Erziehung bei Hofe bildeten266. Nicht nur diese Schrift des Pariser Kanonikers wurde von den Bettelmönchen eifrig studiert. Alexander von Hales, Albertus Magnus und andere interessierten sich für das pädagogische, exegetische und spirituelle Œuvre des Begründers der einflussreichen Schule von St. Viktor, teilten sie doch mit diesem gemeinsame Ziele, nämlich das richtige Schriftverständnis als Ergebnis wissenschaftlicher Ausbildung sowie das Begreifen der jenseitigen Welt durch die korrekte Deutung der ein Zeichensystem bildenden sichtbaren Welt267. Während die Autoren des 12. Jahrhunderts entweder wie Bernhard von Clairvaux ganz allgemein die religiös-sittliche Formung des Menschen behandelten oder wie Hugo von St. Viktor die Novizenerziehung in einen sehr allgemeinen Kontext stellten, konzentrierten sich die mendikantischen Verfasser von Novizentraktaten stärker auf die praktischen und spirituellen Bedürfnisse der vita religiosa innerhalb der eigenen Gemeinschaft. Zu den bekanntesten Werken des Genres gehören Humbert de Romanis’ De eruditione novitiorum – von dem Dominikanergeneral stammt der Ausspruch, dass die glückliche Zukunft der Gemeinschaft von der elementaren Ausbildung des Nachwuchses abhänge268. Zu nennen sind daneben auch der Tractatus de instructione novitiorum des Jean de Montlhéry, De instructione puerorum des Wilhelm von Tournai sowie die franziskanischen Schriften von Bernard Bessa, David von Augsburg und 263 Zur Begriffsgeschichte vgl. Romagnoli, Disciplina 514-516. 264 Hugo von St. Viktor, De institutione Sp. 935. Zitiert nach Bumke, Höfischer Körper 71. 265 Zur sinnenhaftigen Körperlichkeit spätmittelalterlicher Frömmigkeit vgl. Bynum, Weiblicher Körper. 266 Zur Verwertbarkeit von De institutione im Bereich der höfischen Erziehung vgl. insbesondere Bumke, Höfischer Körper. Zur Rezeption der Schrift im „Welschen Gast“ des Thomasin von Zerklaere, der ersten umfassenden Hoflehre in deutscher Sprache (1210-1220), vgl. ebd. 73. 267 Zu Hugos Welt- und Geschichtsverständnis vgl. Baron, Science 97-166; Ehlers, Hugo 51-177; Ernst, Gewissheit 88-158. 268 De eruditione novitiorum ist Bestandteil von Humbert, Instructiones 213-233, Zitat 213.
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anderen269. Die genannten Autoren aus dem Dominikaner- und Franziskanerorden verdeutlichen stellvertretend die mendikantische Dominanz im Feld der mönchischen Literatur erzieherischen Inhalts, die im Bereich der laikalen Erziehung noch deutlicher hervortritt. Niemals zuvor war die Erziehung von Laien so massiv von Gelehrten der Kirche durchdacht und dargestellt worden270. Im Mittelpunkt des Interesses stand zunächst der Fürstensohn, seit dem 12. Jahrhundert weitet sich der Personenkreis aus271. Autoren wie Vinzenz von Beauvais (De eruditione filiorum nobilium)272, Bartholomäus Vincentius (Liber tertius ad informatione regiae prolis), Frater Laurentius (Somme le Roi), Aldebrandin de Sienne (Régime de corps) und Gilbert von Tournai (Eruditio regum) beschrieben, meist im Auftrag eines regierenden Fürsten oder seiner Gemahlin, alle Stationen des Erwachsenwerdens eines Fürstensohnes von der Wiege bis zur Heirat273. Behandelt wurden gleichermaßen die körperliche Ertüchtigung wie die geistige Ausbildung, um den Heranwachsenden schließlich häufig auch in die Kunst des richtigen Regierens einzuführen274. Eine Sonderform stellten die erzieherischen Traktate dar, die sich an der Struktur des Schachspiels, dem Strategiespiel des Adels, das gemeinsam mit der Kriegskunst gelehrt wurde, orientierten. Das moralisierte Schachspiel diente Autoren wie Jacobus de Cessolis (Liber de moribus hominum vel officiis nobilium sive super ludo scacchorum) dazu, Rechte und Pflichten der einzelnen Stände spielerisch und anschaulich darzustellen275. Ein asketischer Grundton kennzeichnet diese Schriften, deutlich erkennbar beispielsweise am Werk des Franziskaners Gilbert von Tournai276: Der König solle sein Herz nicht mehr an die Außenwelt hängen, als dies notwendig, nützlich und ehrenhaft sei. Niemals vergesse er über Jagdabenteuern, Vogelbeizen und Würfelbechern sein wahres Ich, damit 269 Jean de Montlhéry, Tractatus; Wilhelm von Tournai, De instructione; Bernardus de Bessa, Speculum. Zum anonymen Libellus de consolatione et instructione novitiorum, verfasst von einem dominikanischen Novizenlehrer im Jahr 1283, vgl. Creytens, Instruction (Edition und Kommentierung). Zu David von Augsburg vgl. unten V.3. 270 Vgl. grundsätzlich Riché, Sources 23-29. 271 Vgl. Riché, Sources 24-29 (mit Beispielen von 9. bis 12. Jh.). Zum Fürstenspiegel als Quellengattung ebd. 27 f.; Berges, Fürstenspiegel. 272 Zum berühmtesten Erziehungstraktat vgl. Gabriel, Ideas; Richè, Sources 26 f. 273 Alexandre-Bidon, Livres d’éducation 147 f. Zu den französischen Fürstenspiegeln aus der Mitte des 13. Jahrhunderts vgl. Berges, Fürstenspiegel 79-86 und 185-195 (Vinzenz von Beauvais). 274 Zu einer Umsetzung solcher Erziehungskonzepte in einem fürstlich-säkularen Rahmen des 15. Jahrhunderts vgl. Ferrari, Per non manchare. 275 Einige Stichworte zur Quellengattung bei Alexandre-Bidon, Livres d’éducation 148 f. 276 Zum Werk vgl. Berges, Fürstenspiegel 150-158 und 302 f. Zu Gilbert von Tournai als Prediger und Seelsorger vgl. Schmidt, Allegorie 314-316.
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er nicht handle wie ein noch nicht zu vollem Bewusstsein erwachtes Kind. Er möge sein Volk nicht nach Ägypten zurückführen, d. h. nicht zulassen, dass es sich an das Sinnliche versklave und in die Finsternis der unerlösten Menschheit zurücksinke. Arm bleibe er, insofern er seine Besitzungen und Reichtümer nur als Mittel zum wahren Glück werte und sich nur als Verwalter eines vom Volk gleichsam verliehenen Gutes ansehe. Die Kenntnis des göttlichen Gesetzes unterrichte ihn über das Wissen der Gelehrten hinaus in der „wahren Weisheit“, die einst Konstantin, Theodosius und Justinian in die Lage versetzt hatte, aus einer nahezu chaotischen Welt eine geordnete zu formen. Interpreten des Göttlichen sollen ihn das Gesetz lesen und anwenden lehren; sind doch Rat und Senat das Herz des Staatskörpers. Die Furcht des Herrn sei dem König der Anfang der Weisheit und die Liebe ihre Krönung, weil erst durch die Liebe der Mensch vollkommen wird277. In einem facettenreichen Gemälde beschreibt Gilbert die schlimmsten Übel seiner Zeit – einen Sumpf von Rechtlosigkeit und Verbrechen, religiöser Heuchelei und moralischer Verkommenheit allenthalben: „Wer würde nicht aus tiefstem Herzen leiden, wenn er betrachtet, wie tief im Argen die Zeit liegt?“278, um ihnen die christliche Weisheit gegenüberzustellen und vom vollkommenen Fürsten zu fordern, die Ordnung des Himmels zu erkennen, ihren Sinn auf Erden zu verwirklichen und das Leben der Menschen nach dem Muster des Himmlischen anzuordnen279. „Der Spiritualismus der Bettelmönche, der sich jetzt [in den mendikantischen Fürstenspiegeln und Erziehungstraktaten] den Problemen der Zeit gestellt hat und praktisch an der Formung des neuen Menschen arbeitet, hat wenig von der Rücksichtslosigkeit seiner religiös-ethischen Forderungen eingebüßt“280. Die Kindererziehung war im 13. Jahrhundert zu einem prominenten Thema unter den Gelehrten geworden, so dass das Thema nicht ausschließlich auf Spezialtraktate und auf die Erziehung von Herrschersöhnen beschränkt blieb. Auch in den großen, meist aus mendikantischer Feder stammenden Enzyklopädien des 13. Jahrhunderts nimmt die educatio puerum einen wichtigen Platz ein281. Das populärste Werk dieser Gattung war De proprietatibus rerum jenes Bartholomäus Anglicus282, 277 278 279 280 281
Gilbert von Tournai, Eruditio 9-15. Zitiert nach Berges, Fürstenspiegel 152. Gilbert von Tournai, Eruditio 46. Vgl. Berges, Fürstenspiegel 155. Berges, Fürstenspiegel 80. Zur Quellengattung vgl. Ribémont, Definition. Zum 13. Jh. als un siècle d’encyclopédisme vgl. Le Goff, Pourquoi. 282 Zur Universalenzyklopädie als Quellengattung und zum Stand ihrer Erforschung vgl. zuletzt Meier, Zusammenhang.
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der 1228 von seinem franziskanischen Ordensgeneral mit dem Aufbau eines Generalstudiums in Magdeburg beauftragt worden war283. Wie die übrigen Enzyklopädisten seiner Zeit wollte Bartholomäus die von Gott geschaffene Welt in seinem Buch erfassen und abbilden. Das Buch über die Eigenschaften der Dinge sollte die Erkenntnis Gottes fördern, der Mensch sollte per opera operatorem und per facturam factorem kennenlernen, kann der homo quaerens Wesen und Wirkung des Schöpfers doch nur anhand der sichtbaren Dinge der Schöpfung studieren – gemäß dem berühmten paulinischen Diktum: „Seit Erschaffung der Welt wird Gottes unsichtbare Wirklichkeit an den Werken der Schöpfung mit der Vernunft wahrgenommen“ (Röm 1,20)284. Bartholomäus hatte im Prolog angegeben, seine enzyklopädische Beschreibung der geistigen und materiellen Welt, die ihren Ausgang bei Gott nahm und sich über die geistigen und körperlichen Teile des Menschen ausführlich dem Kosmos und der Natur in ihren einzelnen Erscheinungsformen zuwandte, solle dem Bibelverständnis, insbesondere der Bibelallegorese dienen. Der dargestellte Stoff beschränkte sich allerdings keineswegs auf den Inhalt der biblischen Bücher, sondern dokumentierte die Vielfalt der Welt des 13. Jahrhunderts und das gelehrte, aus unzähligen Vorlagen zusammengestellte Wissen darüber285.
283 Bartholomäus Anglicus, De proprietatibus; Bartholomäus Anglicus, On the properties. Zum Werk allgemein vgl. Ribémont, Encyclopédies 245-252; Lidaka, Bartholomäus 395-406; Meyer, Enzyklopädie 22-40. Zum Autor vgl. die Einleitung zu Bartholomäus Anglicus, On the properties 2-4; Meyer, Enzyklopädie 13 f. 284 Zur Intention des Autors vgl. Lidaka, Bartholomäus 395 f.; Meyer, Zielsetzung 88; Van den Abeele, Moralisierte Enzyklopädien 280-282. Dieses Denken von der Sichtbarwerdung Gottes in seiner Schöpfung spielte eine zentrale Rolle im franziskanischen Denken. Vgl. beispielsweise Thomas von Celano, Vita secunda cap. 165: Obwohl Franziskus die Welt als den Verbannungsort unserer Pilgerschaft zu verlassen eilte, hatte er doch, dieser glückliche Wanderer, seine Freude an den Dingen, die in der Welt sind, und nicht einmal wenig. Gegen die Fürsten der Finsternis gebrauchte er sie als Kampfplatz und Gott gegenüber als klaren Spiegel seiner Güte. In jedem Kunstwerk lobte er den Künstler; was er in der geschaffenen Welt fand, führte er zurück auf den Schöpfer. Er frohlockte in allen Werken der Hände des Herrn und durch das, was sich in seinem Auge an Lieblichem bot, schaute er hindurch auf den lebenspendenden Urgrund der Dinge. Er erkannte im Schönen den Schönsten selbst; alles Gute rief ihm zu: „Der uns geschaffen, er ist der Beste.“ Auf den Spuren, die den Dingen eingeprägt sind, folgte er überall dem Geliebten nach und machte alles zu einer Leiter, um auf ihr zu Gottes Thron zu gelangen. Zur Übertragung dieser Maxime auf eine Geschichtsschreibung, die hinter der äußeren Erscheinung nach der Bedeutung des Ereignisses im Hinblick auf die göttliche Offenbarung sucht, durch Augustinus und die mittelalterliche Geschichtsschreibung vgl. exemplarisch Epp, Spurensuchern 47-62. 285 Zu den benutzten Quellen vgl. Seymour, Bartholomäus 40-250. Zur Tendenz der Säkularisierung der enzyklopädischen Wissensstrukturierung seit dem 13. Jahrhundert vgl. Vollmann, Enzyklopädie 174.
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So richtete sich die Rezeption von De proprietatibus rerum in erster Linie nicht auf das allegorische Verständnis der Bibel, ihrer Figuren und Erzählstränge, sondern bezog sich unmittelbar auf das Leben der mittelalterlichen Gegenwart286. Wie vor allem die Marginalglossen in den lateinischen Handschriften belegen, versuchten die Leser, in den enzyklopädisch aufgelisteten und kurz skizzierten Wesen und Dingen der göttlichen Schöpfung allegorische Anknüpfungspunkte zu finden, um die eigene Welt sinnbildlich zu deuten und zu verstehen. Die praxisnahen Themen der Marginalglossen kreisten daher um zeitlose Fragen, um Tugenden und Laster der Menschen, um die Lebensform von Klerikern und Mönchen, um die Aufgaben von Prälaten und Predigern. Aus der Leserperspektive betrachtet, war Bartholomäus’ Werk eine encyclopédie moralisée, die insbesondere den Prediger mit Stoff für seine Allegorien und exempla versorgen sollte287. Dies ließe sich anhand von vielen Beispielen zeigen, hier soll eines genügen: Der Baum des Waldes wurde an einer Stelle als Zeichen für den Mönchsstand, der Baum des Gartens als Zeichen des Klerikerstandes interpretiert. Da in das Wachstum des wilden Baumes nicht eingegriffen werde, sei dieser durchlässiger für die pflanzeneigenen Säfte, die sich daher leichter in Früchte verwandeln könnten. Diesen fruchtbaren Baum des Waldes deutet der Glossator als einen allegorischen Hinweis auf die besondere Qualität franziskanischer Armut: Nota de fratribus minoribus et voluntaria paupertate288. Die Natur und ihre Erscheinungen wurden zum Mittel der Welterklärung. Der unmittelbare Bezug zur Lebenspraxis zeigt sich auch in der Behandlung der Kindererziehung289, die Bartholomäus Anglicus im Kapitel Über den Menschen im allgemeinen und im speziellen von der Wiege bis zur Adoleszenz ausführlich beschrieb, um zu teilweise eigenartigen, teilweise tiefsinnigen Anschauungen zu gelangen290. So sah Bartholomäus alle erwachsenen Familienmitglieder mit erzieherischen Funktionen gegenüber ihren Kindern betraut: Mit Sorge und Sorgfalt beobachtet der Vater die Entwicklung seines Kindes. Er setzt das Kleinkind, sobald es nicht mehr an der Brust der Amme hängt, an seinen Tisch, um es sprechen zu lehren oder – falls notwendig – mit Schlägen zu züchtigen. Anders die Mutter, die ihr Kind zärtlich liebt, küsst und umarmt 286 Zur Rezeption vgl. allgemein Meyer, Enzyklopädie 149-191 und 281-325. 287 Zur Rezeption der Enzyklopädie De proprietatibus rerum als Kompendium und „Steinbruch“ für Prediger vgl. Binkley, Responses 82; Lidaka, Bartholomäus 398 f. und 404. 288 Zur moralisierenden Werkrezeption und zur zitierten Glosse vgl. Meyer, Zielsetzung 93-98. Zur Rezeption vgl. auch Van den Abeele, Moralisierte Enzyklopädien 282-296. 289 Zur Problematik vgl. Shahar, Childhood; Orme, Medieval Children. 290 Grundsätzliche Gedanken zur Wahrnehmung und Erziehung von Kindern im 13. Jh. bei Swanson, Childhood (kritische Auseinandersetzung mit Philippe Ariès). Vgl. auch die in der vorigen Anm. genannte Lit.
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und mit großer Sorgfalt nährt. In der frühesten Jugend ist es jedoch vor allem die Amme, die den kindlichen Charakter formt. Sie sorgt für das Kind, wenn es krank ist, sie trägt es im Arm, auf den Schultern oder auf den Knien, um es zu beruhigen, wenn es weint. Sie nährt das Kind an Stelle der Mutter, ja beinahe so, als wäre sie die Mutter. Die Amme freut sich, wenn das Kind glücklich ist, sie bedauert es, wenn es krank ist, tröstet es, wenn es weint, küsst es, wenn es schweigt. Schließlich ist es die Amme, die das Kind sprechen lehrt291. Die Formierung des jugendlichen Charakters bildete einen Teil der Welt, die von den Enzyklopädisten des 13. Jahrhunderts geordnet und kategorisiert wurde. Bartholomäus und seine Kollegen beschrieben in ihren Werken die Schöpfung aus zwei Perspektiven, einmal neutral und zweckfrei, vom naturwissenschaftlichen Forschergeist angetrieben, zum anderen aber auch nach moralischen Kriterien. Das Thema der moralisierten Enzyklopädie, die in Bartholomäus ihren ersten wichtigen Vertreter fand, war die irdische Welt, wie sie sich den neugierigen Augen der Gelehrten präsentierte, aber auch die Welt, wie sie in den Augen dieser Denker, die wie Bartholomäus, Vinzenz von Beauvais oder Thomas von Cantimpré zumeist aus den Reihen der Bettelorden stammten, sein sollte. Mit dem Werk des Bartholomäus verfügten die Franziskaner in der Saxonia und den angrenzenden deutschsprachigen Provinzen über ein enzyklopädisches Grundlagenwerk, das der weiteren intellektuellen Produktion Antriebskraft und Richtschnur sein konnte. Auf keinem Gebiet zeigt sich die mendikantische Beauftragung – jene im Denken der Bettelmönche durch die römische Kirche vermittelte, im Grunde aber unmittelbar auf Gott zurückgeführte Beauftragung – deutlicher als in den erzieherischen Schriften aus mendikantischer Feder. Erziehung war den Bettelmönchen, die meinten, der Christenheit den rechten Weg zeigen zu müssen, Formung und Neuordnung der Gesellschaft der Gläubigen. Gott allein war der oberste Lehrmeister des Menschen, daneben benötigte die Gemeinschaft der Gläubigen aber auch irdische Lehrer, die ihren Schülern Wissen und Weisheit lehren konnten. Während es allein Gott vorbehalten blieb, dem suchenden Menschen die volle Wahrheit des Glaubens zu offenbaren, konnten die Lehrer auf Erden ebenfalls wichtige Einsichten vermitteln, insbesondere die Fähigkeit zum Lernen und die Fähigkeit zur Gotteserkenntnis. Deshalb können irdische Lehrer, obwohl Gott allein der wahre pater et magister ist,
291 Zur Kleinkind-Erziehung bei Bartholomäus vgl. Alexandre-Bidon, Livres d’éducation 151 f.
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patres et magistri genannt werden, wirken jene – die Franziskaner meinten damit in erster Linie sich selbst – doch durch diesen292. Dieser Anspruch gilt für die Fürstenspiegel, in denen fürstliche Beichtväter aus den Bettelorden die heranwachsenden Fürstensöhne in das höfische Leben einführten und auf die Übernahme von Aufgaben in Politik und Öffentlichkeit vorbereiteten. Dies gilt aber auch für enzyklopädisch angelegte Schriften, in denen die Erziehung einen prominenten Platz einnimmt. Nicht umsonst forderte Bonaventura, dass jeder Vorgesetzte (superior) danach streben müsse, die ihm anvertrauten Personen „christusgleich“ (christiformi) zu machen. Er müsse deshalb in seine Schüler und Schützlinge die Form des christlichen Lebens sowie der christlichen Lehre einpressen, damit sie sich nicht nur mit ihrem Geist dem Herrn zuwendeten, sondern auch seine Lebensgewohnheiten übernähmen293. Die Ordnung der Gesellschaft begann bei der Kontrolle der nachfolgenden Generationen. Kein Wunder, dass Bartholomäus Anglicus im Leben eines Kindes von der Wiege an auf sorgfältige Betreuung, aber auch Disziplin großen Wert legte. Gerade diese modern anmutende Liberalität auf der einen Seite, verbunden mit dem Eingehen auf individuelle Bedürfnisse, dem Respektieren individueller Emotionen und Situationen, stand einer bisher unbekannten Regelungsdichte auf der anderen Seite gegenüber. Diese Mischung von Liberalität und individueller Emanzipation auf der einen Seite und möglichst umfassender sozialer Normierung auf der anderen Seite ist ein Charakteristikum mendikantischen Denkens, das wir an anderer Stelle noch ausführlicher diskutieren werden. Von der allgemeinen Überzeugung der Bettelmönche, im Ausbildungs- und Erziehungsbereich aufgrund der eigenen Gelehrsamkeit und des göttlichen Seelsorgeauftrages die kompetente Stelle zu sein, die alle Stationen und Situationen menschlichen Lebens zu beschreiben und zu bewerten weiß, zu dem Glauben, den Schlüssel für die auf empirischer Erkenntnis und philosophischer Interpretation aufbauende Weltdeutung und Weltbeherrschung zu besitzen, ist es kein weiter Weg. Erneut ist es Roger Bacon, der die Traditionen seines Ordens aufgriff, weiterführte und radikalisierte. Weit über die eigene religiöse Gemeinschaft hinausreichend, aber dennoch franziskanisches Denken widerspiegelnd, schrieb Bacon in einem Brief an Papst Clemens IV.294, er könne alle Rätsel der Zeit entschlüsseln. Seine bisherigen Schriften seien nur Vorarbeiten gewesen 292 Zum franziskanischen Unterricht als göttlichem Auftrag vgl. Bettoni, Pedagogia 140144. Bonaventura hatte seinen Lehrer Alexander von Hales ebenfalls magister und pater genannt. Vgl. Ratzinger, Geschichtstheologie 5. 293 Bonaventura, Ali del Serafino 225 f. Zitiert nach Bettoni, Pedagogia 13. 294 Roger Bacon, Brief. Vgl. dazu Miethke, Kirche und die Universitäten 319 f.
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für jene große Universalenzyklopädie, die er gemeinsam mit anderen Gelehrten für den Papst, den dominator mundi und vicarius salvatoris, ausarbeiten könne. Alle Menschen könnten sich dann nach dieser abschließenden Weisheit richten, und der Papst könne die Welt regieren. Die Verfasser, die Benutzer und Mitarbeiter dieser Enzyklopädie der Weisheit würden der Kirche großen Nutzen bringen, denn sie würden die Fürsten in die richtige Richtung lenken, das ganze Volk der Laien regieren, die Häretiker und die übrigen Ungläubigen bekehren und die Verstockten und die zur ewigen Verdammnis Bestimmten durch ihren Rat niederhalten. Ähnliche Gedanken hatte Roger Bacon bereits an anderer Stelle hinsichtlich des vielfältigen Nutzens der sapientia notiert295. Doch in seinem Brief an den Papst, in dem er um weitere Unterstützung für seine Arbeit bittet, wird Bacon besonders deutlich – und die Wissenschaft zum exklusiven Instrument der Weltordnung und Weltbeherrschung. Dass eine solche von Inhalt und Anspruch her universale Enzyklopädie, wie Bacon sie erträumte, niemals geschrieben werden konnte, ist klar; dass hier jedoch nicht allein ein „Anspruch der Universitätsgelehrten in Welt und Kirche des 13. Jahrhunderts“296, sondern auch die franziskanische Selbstdeutung der eigenen, heilsrelevanten Universalgelehrsamkeit zum Ausdruck kommt, sollte ebenso deutlich geworden sein. Nicht weniger amibitioniert war der Versuch des Gilbert von Tournai, in seinem Rudimentum doctrinae eine Gesamtdarstellung der Erziehungstheorie seiner Zeit zu geben297. Das groß angelegte Werk des französischen Franziskaners aus adliger Familie, der an der Pariser Universität Theologie lehrte und zahlreiche pädagogische, theologische, hagiographische und pastorale Schriften hinterließ298, blieb seinem Charakter entsprechend unvollendet – hierin der universalen Enzyklopädie seines Zeitgenossen Roger Bacon nicht unähnlich. Am Anfang des Werkes steht eine Diskussion von Inhalt und Zweck menschlichen Wissens. Gilbert beginnt mit dem natürlichen Drang nach Erkenntnis, einer Untergliederung des Stoffes in Fachgebiete samt einer Aufzählung der errores philosophorum in der Mathematik, der Metaphysik und anderen Disziplinen, um anschließend die verschiedenen Motive des Wissenserwerbs zu skizzieren und festzustellen, dass das höchste Ziel das Erkennen Gottes in seiner Schöpfung durch die Weisheit sei (per sapientiam invenitur Deus 295 Parallelstellen bei Miethke, Kirche und die Universitäten 320. 296 Miethke, Kirche und die Universitäten 320. 297 Zur Anlage des Rudimentum vgl. Gilbert von Tournai, De modo 22-31 (Einleitung); Gieben, Rudimentum. Zu Gilbert und seinem Werk vgl. zusammenfassend Berg, Studien 136-138. 298 Zum Schriftenverzeichnis vgl. Repertorium fontium historiae medii aevi 5 (1984) 270 f.
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in creatura). Es ist dies jener Weg von der scientia als zweckgebundenem irdischen Wissen zur sapientia der inneren Gotteserkenntnis, der bereits das Denken des heiligen Ordensgründers ausgezeichnet hatte299. Der zweite Traktat beschäftigt sich mit dem Lehramt und seinen Trägern. Oberster Lehrer ist Gott, von dem alles menschliche Wissen stammt. Vertrauen die Menschen jedoch auf schlechte Engel (angeli mali), so führt sie ihr Weg in die Sünde. Zu den Voraussetzungen des erfolgreichen Lektors zählt Gilbert unter anderem sittliche Lebensführung, Bildung und Eloquenz. Nach Gott und Engeln richtet der Autor sein Augenmerk auf den menschlichen Lehrer in seiner Rolle als Seelsorger. Gerühmt werden zunächst Dignität und Primat des Papstes, des ersten Pastors der Kirche, integriert wird zudem ein Papstkatalog. Die moralischen, disziplinarischen und pädagogischen Aufgaben und Pflichten der Kirchenprälaten sind das Thema der folgenden Kapitel. Den Abschluss des zweiten Traktats bilden ausführliche Überlegungen zur Predigt, der Gilbert wie seine Ordensbrüder eine Schlüsselrolle innerhalb der Seelsorge zuweist. Die Rede ist vom moralischen und erzieherischen Wert der Predigt, von den Anforderungen an einen wahren praedicator verbi Dei und von den unterschiedlichen Predigtarten. Möglicherweise folgte auf diese theoretische Einführung in die ars predicandi eine Sammlung von Musterpredigten ad status. Den Tractatus tertius, letzter ausgearbeiteter Teil des ursprünglich auf vier Teile angelegten Gesamtprojekts, veröffentlichte Gilbert von Tournai in den Jahr 1262-1268 als selbständige Schrift unter dem Namen De modo addiscendi. Dass der Autor den praktischen Nutzen stets im Blick behielt, belegen einerseits die Übersendung dieses Werks an Michel de Lille, den Freund aus Universitätszeiten und jetzigen Erzieher des flandrischen Thronfolgers, und andererseits das mehrmalige Wiederaufgreifen des Themas in seinen Predigten300. Die Weisheit, durch die der Mensch das ewige Leben erlangen kann, wurde im ersten Traktat als Ziel menschlichen Strebens definiert. Von den Übermittlern der Weisheit, von Gott, Engel, Christus und den von Christus gesandten Männern, nämlich Aposteln, Päpsten, Prälaten und Predigern, handelte der zweite Traktat. In De modo addiscendi geht es nun um den konkreten Erwerb von Weisheit301. „Strebe nach Wissen!“ (litteras scire desidera), beschwört der Pädagoge den Schüler und mahnt ihn, eifrig und freudig die vorbildhaften Gelehrten nachzuahmen, von denen
299 Zur Vereinigung scholastischer scientia und evangelisch-kontemplativer sapientia im Rudimentum vgl. Roest, Scientia. 300 Zum Thema Kinderziehung in Gilberts Predigten vgl. Swanson, Childhood 319-322. 301 Zur Schrift vgl. Poorter, Traité; Gilbert von Tournai, De modo 22-57 (Einleitung). Zu den Quellen vgl. ebd. 47-55.
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der Autor eine lange Reihe Revue passieren lässt. Denn Verzicht und Ausdauer lohnen sich, es winkt unschätzbarer Lohn: Die Frucht des Studiums ist die Entdeckung der Wahrheit, durch die die Seele von der Dunkelheit der Unwissenheit befreit wird. Die junge Seele eines Kindes trägt in sich die finstere Unwissenheit des Verstandes und die modernde Wollust des Affekts. Das Heilmittel dagegen ist die Wissenschaft, denn diese beherrscht die Affekte und erleuchtet den Verstand. [...] Daher macht die rechte Zucht (disciplina) den Schüler ehrlich im äußeren Umgang und gesittet in der inneren Haltung – gemäß der Definition Hugos von St. Viktor: disciplina ist die rechte Ordnung aller Glieder und die schickliche Verfassung in jeder Haltung und Handlung302.
Durch Disziplin gelangt der Mensch zur Heiligkeit und zum Besitz der ewigen Glückseligkeit. So hoch der Preis auch sein mag, der fructus studii, den Gilbert von Tournai als Lehrer des geistlichen Lebens in der Tradition Hugos von St. Viktor dem folgsamen Schüler verspricht, entschädigt für jede Anstrengung und Mühsal, ist der Ertrag des eifrigen Studiums doch das ewige Leben im Paradies. Um dies hohe Ziel zu erlangen, muss mit der Erziehung bereits im Kindesalter begonnen werden. Entscheidend ist die Auswahl eines geeigneten Lehrers, der nicht nur einen tadellosen Lebenswandel vorzuweisen hat, sondern auch eine würdige und vorbildhafte Erscheinung darstellen muss. Er darf nicht nur Bekanntes wiederholen, sondern soll sich – begabt mit klarem Verstand und fürsorglicher Milde – durch persönliche Kultiviertheit und innere Festigkeit hervortun. Der gute Lehrer ist kein Schwätzer; er versteht es, sich gewählt und verständlich auszudrücken, und besitzt didaktische Kompetenz sowie die Fähigkeit zur Synthese. Sorgfältig hat der Lehrer den rechten Zeitpunkt, den rechten Ort und den rechten sozialen Umgang des Schülers auszuwählen303. Der Lehrstoff muss an die Auffassungsgabe des Kindes angepasst werden. Immer erfolgt zunächst die elementare Einführung in ein Wissensgebiet und erst in weiterer Folge eine Vertiefung. Mag es zunächst auch sinnlos erscheinen, so darf der Lehrer doch nicht auf die ständige Ermahnung verzichten. Nur in besonders schweren Fällen darf er zur körperlichen Züchtigung schreiten. 302 Gilbert von Tournai, De modo 68 f. und 70: Ergo veritatis agnitio fructus est studii, per quam potest animus a tenebris ignorantiae liberari. Anima siquidem pueri carni recenter infusa contrahit ex eius corruptione caliginem ignorantiae in intellectu et putredinem concupiscentiae in affectu. Et in istis medicina est scientia liberalis, nam et ipsa regit affectum et illumnat intellectum. […] Unde et discipulum honestum exterius et mansuetum interius reddit scientiae disciplina. Est enim disciplina secundum Hugonem: „Omnium membrorum motus ordinatus et dispositio decens in omni habitu et actione“ (Hugo von St. Viktor, De institutione 935). 303 Zur Vorbereitung des Unterrichts vgl. Gilbert von Tournai, De modo 35-38 (Einleitung) und 72-79.
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Diese soll mit Bedacht ausgeführt werden, nicht aus Leidenschaft oder Grausamkeit, erfolgt sie doch aus Liebe zum Kind304. Der größte Teil des Textes beschäftigt sich mit dem Schüler. Zu den essentiellen Voraussetzungen des Schülers zählt Gilbert die freiwillige Unterwerfung, die allen Hochmut beseitigt, die konzentrierte Aufmerksamkeit, die beispielsweise in schweigendem Zuhören bestehen kann, eine intellektuelle Aufnahmefähigkeit, die das spätere Erinnern gewährleistet, und eine gewisse Zuneigung zum Lehrer. Nur wenn diese Voraussetzungen erfüllt sind, kann es zu einem Gleichschritt von intellektueller und sittlicher Erziehung kommen. Der Erfolg des Unterrichts hängt jedoch von weiteren Komponenten ab. Im einzelnen diskutiert werden die Sinne, da alles Äußere, auch die Schriften der Gelehrten, durch die Sinne erkannt, durch eine abstrahierende Reinigung in der Vorstellungskraft denkbar und durch eine weitere depuratio verstehbar (intelligibile) wird. Mit der Verbesserung der Sinne schreitet auch die disciplina voran. Die individuelle Begabung der Menschen schwankt, ist sie doch abhängig von verschiedenen Faktoren wie Ort und Zeit. Dies erklärt die kulturellen Unterschiede zwischen verschiedenen Ländern und Völkern. Die natürlichen Anlagen müssen durch die Lektüre nützlicher Schriften und durch Diskussionen mit dem Lehrer gefördert und erweitert werden. Entscheidend ist daneben auch das Gedächtnis, das mittels der Gegenwart die Zukunft mit der Vergangenheit verbindet und die Voraussetzung bildet für die Erkenntnis. Es muss ständig in Übung gehalten werden. Schließlich der Verstand, dieses Geschenk Gottes, der mit der Erfahrung wächst und sich in der Erkenntnis Gottes voll entfaltet. Mit der Ratio kommt der Mensch zu seinen Urteilen, allerdings nicht nach willkürlichen Maßstäben, sondern im Licht der ewigen Gesetze: Das Verstandesurteil betrachtend, erkennen wir im Verstand das natürliche Urteil, zu dem der Verstand durch das Erkennen der Wahrheit zurückkehrt. Durch diese Rückkehr wendet sich der Verstand fragend an die ewigen Gesetze. Durch die Orientierung an den leges aeternae kann der Verstand nicht irren oder getäuscht werden, und so schreitet er von der Erkenntnis zur Ausführung. [...] Durch diese Befolgung des ewigen Gesetzes bei der Urteilsfindung vermag der Verstand das Unveränderliche vom Veränderlichen zu unterscheiden. Unser Geist nämlich ist wankelmütig; das ewige Gesetz aber steht über unserem Geist, es kennt keine Unbeständigkeit, denn in ihm ruht die Wahrheit aller Wissenschaft (omnium artium veritas)305. 304 Zum magister vgl. Gilbert von Tournai, De modo 39-41 (Einleitung) und 81-104. 305 Gilbert von Tournai, De modo 230: Rationis iudicium attendentes consideramus in ratione iudicatorium naturale, ad quod ipsa veritatem discernendo recurrit, recurrendo leges aeternas ibidem consulit, consulendo, quantum ex eis est, neque fallitur neque fallit et inde per cognitionem ad operationem descendit. [...] Ergo iam recurrendo ad iudicium ratio legem aeternam consulit, per quam immutabiliter de mutabilibus discernit. Mens enim nostra est mutabilis,
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Folgt der Schüler Gilberts Ratschlägen, so erkennt man seine geistige Reife an einer allgemeinen intellektuellen Demut gegenüber der Wissenschaft, ist doch Gott scientiarum dominus. Neben der demütigen Haltung zeichnet sich der kluge Schüler durch seine Liebe zum Studium und durch inneren Frieden aus, den er aufgrund der Kontrolle des Körpers und den Freuden an der Wahrheit gewonnen hat. Die Krönung des Studiums ist die Armut, insbesondere der Verzicht auf üppiges Essen und Trinken. Jesus Christus selbst hat ihr Autorität verliehen, war er doch persönlich arm und lehrte seine Apostel den Weg der Wahrheit in Armut zu beschreiten. Die freiwillige Armut verleiht Freiheit, befreit sie den Menschen doch von den Fesseln des Besitzes und macht ihn damit unbeschwert und glücklich. Der letzte Punkt erweist Gilbert von Tournai, der das Armutsgebot seines Ordens zum universalen Lebensprinzip erhoben wissen wollte, als typischen Vertreter franziskanischen Denkens. Doch es ist nicht allein dieses Detail, es ist die gesamte Schrift, die das pädagogische Programm des Franziskanertums widerspiegelt. Obwohl Gilbert im letzten Abschnitt des Textes den status perfectionis – erreichbar in der klassischen Abfolge von Schriftstudium, Meditation, Gebet und Kontemplation – den Mönchen und viri perfecti vorbehält, richtet sich sein Erziehungstraktat nicht an eine kleine Gruppe Auserwählter, sondern an die Allgemeinheit (aus höheren sozialen Schichten allerdings). Dahinter steckte die von Gilbert und seinen Ordensbrüdern geteilte Überzeugung, dass die heilsgeschichtliche Aufgabe des Minoritenordens darin bestehe, die Christenheit auf dem Weg von der scientia zur sapientia schützend zu begleiten – und dabei womöglich auch noch das franziskanische Armutsverständnis durchzusetzen. Die franziskanischen Erziehungsvorstellungen standen in einer langen geistesgeschichtlichen Tradition. Im 13. Jahrhundert waren es Dominikaner und Franziskaner, die das pädagogische Schrifttum zu einer neuen Blüte gelangen ließen und sich zu Problemen der Erziehung, Formierung und Disziplinierung des Menschen äußerten. Enzyklopädisten aus den Reihen der Bettelmönche hatten versucht, Ordnung in die Unübersichtlichkeit der äußeren Welt zu bringen und dabei auch den Menschen und sein Innenleben in ihre Überlegungen mit einbezogen. In Erziehungstraktaten wurde dieses Thema weitergeführt und vertieft, in Form von Predigten popularisiert. Die Ansprüche behielten stets ihren umfassenden Charakter, auch bei jenen Autoren von Spezialwerken, die sich nicht nur darum bemühten, alle Wissensgebiete aus pädagogischer Perspektive zu skizzieren und wertend zu betrachten, sondern haec autem lex aeterna, quae supra mentem nostram est, in qua est omnium artium veritas, mutabilitatem non habet erroris.
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die zugleich auch eine umfassende Methodologie von Erziehung und Studium mitlieferten. Gilbert von Tournai ist ein Beispiel für die Weite dieses Vorhabens, aber auch für die Behandlung des Stoffes in der Predigt306. Die Enzyklopädisten wollten mit ihren Schriften alle anderen Bücher ersetzen307, Roger Bacon wollte das eine universale Schlüsselwerk verfassen, nicht weniger umfassend scheint das Projekt des Gilbert im Bereich der Erziehungsschriften gewesen zu sein. De modo addiscendi ist in einer weiteren Hinsicht typisch franziskanisch. Die Richtlinien menschlichen Tuns waren für Gilbert nicht menschlichen Ursprungs, sondern Derivate des göttlichen Rechts. Dieses zu erkennen und zu beachten ist ein wichtiges Ziel des Studiums. Die Regeln des menschlichen Zusammenlebens sind damit letztlich göttlich determiniert und dem Zugriff des Menschen entzogen. Die Enzyklopädisten hatten nach den göttlichen Gesetzen gesucht, die die Welt regierten308, Pädagogen wie Gilbert von Tournai wollten diese übernatürlichen Regeln hinsichtlich des Menschen ergründen. Das Streben, die göttliche Determinierung menschlichen Tuns zu erkennen und zu beschreiben, bildete einen generellen Wesenszug franziskanischen Denkens. Dies belegt beispielsweise die um 1240 verfasste, umfangreichste Naturrechtslehre der Scholastik von Jean de la Rochelle, in der die Ordnung der menschlichen Gesellschaft und ihre Hinführung zu Gott durch das Gesetz ausführlich diskutiert wird. Als Teil der theologischen Summe des Alexander von Hales war dieser Traktat De legibus et praeceptis innerhalb des Minoritenordens gut bekannt309. In den Augen des juristisch versierten Theologen, des allgemein gebildeten Enzyklopädisten, des pädagogischen Spezialisten und wohl auch vieler anderer Ordensbrüder bildete der Auftrag, der Gesellschaft und dem Individuum die rechte Ordnung der Welt und die Regeln des richtigen Handelns in seiner übernatürlichen Verankerung darzulegen, einen konstitutiven Bestandteil der eigenen religiösen Berufung. Wer auch sonst sollte die Menschen zur Weisheit und damit zum Heil führen, waren die Bettelmönche dazu doch durch Studium und exemplarische Lebensweise geradezu prädestiniert. Sie betrachteten sich daher als von Gott berufene Erzieher der Welt. Bartholomäus Anglicus und seine Nachfolger an den Ordensschulen oder im pastoralen Dienst sorgten dafür, dass dieser franziskanische „Ordungs- und Erziehungsdiskurs“ in den deutschen Provinzen weiter gepflegt wurde. 306 307 308 309
Vgl. Swanson, Childhood 319-322. Zur Enzyklopädie als Bibliotheksersatz vgl. stellvertretend Meyer, Zielsetzung 87. Zu den Ordnungsvorstellungen der Enzyklopädisten vgl. Binkley, Responses 82 f. Zur Naturrechtslehre des Jean de la Rochelle vgl. grundsätzlich Steinmüller, Naturrechtslehre.
III. Selbstpositionierung Der heilsgeschichtlich begründete Erziehungsauftrag, mit dem die Bettelmönche ihr pastorales Wirken legitimierten, stieß auch auf Kritik. Die Frage, mit welchen Mitteln die Franziskaner versuchten, den Widerständen von außen durch eine Selbstpositionierung innerhalb der kirchlichen Hierarchie zu begegnen, ist Gegenstand dieses Kapitels. Dabei bilden zwei kanonistische Texte, von deutschen Franziskanern im dritten Viertel des 13. Jahrhundert verfasst, die Ausgangspunkte, um die franziskanische Ekklesiologie im Allgemeinen sowie den deutschen Beitrag zu dieser Diskussion zu erörtern. 1. Papalismus in der Welt (Prolog des Glossenapparats Fecit deus) Ein Satz aus der Bibel eröffnet den Prolog des um 1260 verfassten Glossenapparats zur Summa titulorum des Heinrich von Merseburg310: „Gott machte die beiden großen Lichter: das größere, das über den Tag herrscht, das kleinere, das über die Nacht herrscht“ (Gen 1,16). Der Leser wusste, was folgen würde, war dieses Zitat doch mehr als nur eine geläufige alttestamentliche Metapher, es war Programm. Seit dem 11. Jahrhundert tauchte das Bibelwort immer dann auf, wenn Gelehrte über das Verhältnis von weltlicher und geistlicher Macht, über pontificalis auctoritas und regalis potestas, nachdachten. Der Vergleich von Sonne und Mond, die Tages- und Nachthimmel erleuchten, mit Papsttum und Kaisertum lag offensichtlich nahe, so dass unzählige Versionen und Abwandlungen des politischen Sinnbildes bekannt sind. Die Exegeten hatten damit neben der Zweischwerter-Theorie, die erstmals im Umfeld Kaiser Heinrichs IV. ausdrücklich mit der dunklen Abendmahlserzählung im Lukas-Evangelium (Lk 22,35-38) verknüpft worden war311, um 310 Zum Text vgl. unten Dok. A S. 389-395. Zum literaturhistorischen Problem des Prologs zu einem Glossenapparat vgl. Kuttner, Repertorium 62 f. Zu Heinrich von Merseburg vgl. oben 106 f. 311 Levison, Schwerter 14-42; Hageneder, Fürstenabsetzung 61 f.; Hoffmann, Schwerter 85 f.
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die Eigenständigkeit kaiserlicher Macht gegenüber neuartigen Ansprüchen des Reformpapsttums zu verteidigen, eine zweite Bibelstelle zum klassischen Ausgangspunkt der politischen Theorie gemacht. Als Waffen im scholastischen und militärischen Disput dienten die ZweischwerterTheorie und das Sonne-Mond-Gleichnis deshalb gleichermaßen der päpstlichen wie auch der kaiserlichen Partei312. Die älteste politische Ausdeutung des Zitats scheint von Bischof Leo von Vercelli zu stammen. Der kaiserliche Hofkapellan pries in seinem Versus de Gregorio papa et Ottone augusto aus dem Jahr 998 Kirche und Kaisertum, die Papst Gregor V. und Kaiser Otto III. einmütig zu neuer Größe geführt hätten313: Papst, Kaiser und Kirche mögen jubeln, groß sei die Freude Roms. Denn unter kaiserlicher Schutzherrschaft reinige der Papst die Welt. Wie zwei Lichter über der Erde erleuchteten Papst und Kaiser die Kirche und vertrieben die Finsternis314. Den Vorstellungen seiner Zeit entsprechend deutete Leo von Vercelli den Schöpfungsbericht im Sinne einer harmonischen und gleichberechtigten Weltherrschaft von Papst und Kaiser. In den beiden Himmelslichtern erblickte er Symbole für die beiden Gewalten, die Kirche und Imperium regierten. Papst Gregor VII. hat diese Deutungstradition nicht verlassen, als er schrieb, Gott habe Sonne und Mond allen anderen Lichtern vorangestellt, um das menschliche Auge die Schönheit der Welt erkennen zu lassen, ebenso habe Gott die apostolische und die königliche Gewalt eingesetzt, damit der Mensch nicht in die Irre gehe315. Der große Reformer, der „heilige Satan“, der das Streben nach der Freiheit einer gereinigten Kirche mit dem Führungsanspruch Roms innerhalb der gesamten Christenheit verknüpfte316 und diesem Denken im Dictatus papae eine programmatische Grundlage gab317, der vor allem aber mit seiner „abrupten Hinwendung zum prinzipiellen Problem des Gewaltendualismus“ abstrakten Theorien von der Überordnung der geistlichen Gewalt „einen gleichsam verdichteten Gegenwartsbezug“ vermittelte318, hielt an einer dualistischen
312 Zur Sonne-Mond-Metapher im hohen Mittelalter bis 1200 vgl. Constable, Relation. 313 Zum Gedicht vgl. Schramm, Kaiser 119-127; Görich, Otto III. 198f.; Dormeier, Kaiser 106. 314 Leo von Vercelli, Versus 480 (Str. 10f.). Vgl. dazu Constable, Relation 329f. 315 Gregor VII., Register VII/25, 505 f. Vgl. dazu Constable, Relation 334. 316 Goez, Kirchenreform 116-118. Das Zitat von Petrus Damiani ebd. 116. 317 Gregor VII., Register II/55a, 201-208. Dazu Fuhrmann, Catholicus 263-287; Miethke, Geschichtsprozess 569; Schieffer, Rechtstexte 56-62; Hartmann, Investiturstreit 86f. 318 Schieffer, Gregor VII. 87-107, Zitate 95 und 98. Zur Person vgl. Haller, Papsttum II 365430; Blumenthal, Gregor VII.; Cowdrey, Pope Gregory VII. – Zum neuartig aktiven Auftreten, ja zum „unprovozierten Aktivismus“ der Reformpäpste seit dem Investiturstreit, insbesondere seit Gregor VII. vgl. Schieffer, Motu proprio 34-40.
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Sichtweise fest. Gregors Gegner war ein untragbarer König, nicht das Königtum an sich. Der militärischen Schlagkraft des Kaisers trotzten die Päpste dank einer rasant zunehmenden moralischen Autorität des Apostolischen Stuhls erfolgreich319. Unter Gregor VII. gewann die religiös-theologische Reformdiskussion, in der mit „neuer und wütender Intoleranz“ am Bestehenden gerüttelt und für eine theokratische Hierarchievorstellung gestritten wurde320, eine rechtliche Dimension, die das Wesen der Kirche als übernatürliche, von jeder weltlichen Einrichtung getrennte Institution sowie die Kompetenzen des Papstes an deren Spitze konkret fassbar machte. Was als Rückbesinnung auf die Überlieferung gedacht war321, dieses Bemühen, „längst formulierte Ansprüche des römischen Stuhls auf Leitung der Kirche auch zu verwirklichen“322, wurde zum Motor des Neuen. Das Verlangen, einen verlorenen Zustand wiederherzustellen, war den Reformern Legitimation und Ziel zugleich. Das „dogmatische Potential für Rom-orientierte Reformbestrebungen“ lag längst bereit; kein „qualitativer Sprung in der primatialen Theorie, sondern eher im Umgang mit dieser“ markierte die Wende vom ersten zum zweiten kirchengeschichtlichen Jahrtausend323. Schlechte Gewohnheiten mussten ausgemerzt, die verschüttete Wahrheit ans Licht gebracht werden, gemäß eines Kampfworts Tertullians: „Ich bin die Wahrheit, nicht die Gewohnheit“, das Gregor VII. regelmäßig zitierte324. Im Kleide der reformatio strebten die Päpste des Investiturstreits nach neuen Ufern, es ging nicht um einzelne disziplinarische Maßnahmen, sondern um eine erneuerte Ordnung der heiligen Kirche. Das erwachte Bewusstsein von der zentralen Stellung eines die gesamte Kirche umfassenden und regulierenden Papsttums schlug sich in besonderem Maße in den Kirchenrechtssammlungen nieder, die seit dem 11. Jahrhundert verstärkt angelegt wurden325. Während vorgrego319 Haller, Papsttum II 393f.; Schieffer, Papal Revolution 27f.; Schieffer, Motu proprio 3438. 320 Leyser, Vorabend 3 (Zitat). Zur problematischen Begrifflichkeit vgl. Schieffer, Revolution 27 f. Vgl. allgemein Tellenbach, Libertas 48 f. 321 Mordek, Kanonistik 65-82; Schieffer, Priesterbild 484 f. 322 Hartmann, Investiturstreit 45. Vgl. zuletzt Schieffer, Motu proprio 34. Zur bildlichen Selbstdarstellung des Reformpapsttums vgl. Carmassi, Fresken. 323 Schieffer, Motu proprio 33f. 324 Zum Tertullian-Zitat vgl. Miethke, Geschichtsprozess 567 mit Anm. 4. 325 Ullmann, Machtstellung 520-552; Gilchrist, Canon Law 21-38; Gilchrist, Gregory VII 3-37; Fuhrmann, Reformpapsttum 175-203; Laudage, Priesterbild 32-36; Hartmann, Investiturstreit 62 f. Zur Debatte um die historische Verortung der Kanonistik des 11. Jahrhunderts zwischen Neubeginn und Kontinuität vgl. zuletzt Brasington, Avoiding 419-438.
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rianische Autoren an der Spitze ihrer Sammlungen meist die Kirche als Institution oder Rechte und Pflichten des Bischofsamtes behandelten326, stellte beispielsweise Anselm II. von Lucca, Gregors treuer Freund und Kampfgenosse, an den Anfang seiner Collectio canonum (um 1083) den Titel Über die Macht und den Primat des Apostolischen Stuhls327. Als caput et origo, als fundamentum et basis, als mater et magistra wurde das Oberhaupt der Kirche in kanonistischen Sammlungen dieser Zeit bezeichnet. Die Gelehrten rückten die päpstlichen Prärogativen stärker in den Vordergrund328, war es doch der Papst, der seit dem ereignisreichen Jahr 1076 den Kampf um die Freiheit der Kirche in eigener Person auszufechten sich vorgenommen hatte. Der Gehorsam, von dem Gregor VII. unzählige Male in seinen Briefen gesprochen hatte, erhielt hier seine rechtliche Verankerung und Stütze329. Kanonische Autorität, wie sie der Papst besaß, und natürliches Gesetz, wie Gott es geschaffen hatte, waren ein und dasselbe: Wer sich dem Papst widersetzte, widersetzte sich Gott330. Auf seinem Weg von der Theorie zur Praxis folgte das von den Reformern des 11. Jahrhunderts entworfene Weltbild verschlungenen Pfaden. Nicht durch die wörtliche Übernahme, sondern durch die Strahlkraft ihrer Ideen wirkten die Rechtstexte des 11. Jahrhunderts weiter; obwohl sie nur teilweise von Gratian rezipiert wurden, formten sie die kirchliche Rechtsordnung des hohen und späten Mittelalters331. Die Vollender der gregorianischen Reform im ekklesiologischen und primatialen Sinne waren Innocenz III. und die Juristenpäpste des 13. Jahrhunderts332. Das berühmte Genesiszitat über die beiden Lichter, die Tag und Nacht beherrschen, stammt in unserem Zusammenhang weder von einem kaisertreuen Bischof noch von einem rechtsgelehrten Papst. Es ist der anonyme Glossator der Summe Heinrichs von Merseburg, der seinen um 1260 verfassten Prolog mit der zitierten Bibelstelle begann, um sogleich fortzusetzen: beide Lichter sind groß, doch das eine ist größer (Utrumque magnum, alterum tamen maius)333. Der Autor aus dem Orden des Franziskus stellte damit klar, dass der Schöpfungsbericht nicht von zwei gleichrangigen Lichtern spricht. Was Leo von Vercelli bei seinem Streben 326 327 328 329 330 331 332 333
Goez, Kirchenreform 149-152. Zu Anselm vgl. Amanieu, Anselme Sp. 567-578; Cushing, Papacy 103-121. Ullmann, Machtstellung 526; Hartmann, Investiturstreit 48. Zur „oboedientia“ als zentraler Kategorie in Gregors Denken vgl. Benz, Kirche und Gehorsam. Ladner, Theologie 43. Zur Grundlegung der westlichen Rechtstradition im 11. Jh. vgl. Berman, Law. Vgl. dazu kritisch Schieffer, Papal Revolution. Kempf, Eingliederung 57-96; Fuhrmann, Catholicus 263-287. Zum Text vgl. unten Dok. A S. 389.
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nach Harmonie und Papst Gregor VII. im Bemühen nach Abgrenzung noch nicht ausdrücklich formuliert hatten, schien späteren Exegeten auf der Suche nach kirchlicher Suprematie selbstverständlich: Wie bei den Himmelslichtern, hatte Gott auch bei den irdischen Gewalten eine hierarchische Ordnung vorgesehen. „Wie Gott den Mond der Sonne, so hat er das regnum dem sacerdotium unterstellt“, lehrte Gerhoch von Reichersberg in der Mitte des 12. Jahrhunderts. Denn wie der Mond, der nicht von sich aus leuchtet, der Sonne nicht nur an Glanz und Strahlkraft unterlegen sei, sondern sein Licht von dieser empfange, so überstrahle auch die priesterliche Würde die königliche Macht334. Gerhoch befand sich mit seiner Meinung in gelehrter Gesellschaft. Hugo von St. Viktor sprach der Kirche (spiritualis potestas) die Befugnis zu, die weltliche Macht (terrena potestas) einzusetzen und – falls diese ihren Aufgaben nicht erfolgreich nachkomme – über sie zu richten335. Die Überordnung der kirchlichen Gewalt, wie Hugo, Gerhoch, aber auch Gratian und andere sie beschrieben, kann zwar dualistisch interpretiert werden: Auch wenn das Königtum Glanz und Kraft von der priesterlichen Autorität erhält, könnten die königlichen Herrschaftsrechte zumindest theoretisch auch autochthonen Ursprungs sein336. Dennoch bereiteten Deutungen dieser Art den Weg für eine monistische Gewalteninterpretation. Die Hierokraten späterer Zeiten wussten die rechte Lehre daraus zu ziehen und auch das SonneMond-Gleichnis in ihrem Sinne zu instrumentalisieren. Das 13. Jahrhundert brachte eine Radikalisierung klerikaler Weltdeutung, hierokratische Entwürfe verdrängten einen vermeintlich überholten Dualismus337. Was im 11. Jahrhundert vage gedacht worden war, gewann nun scharfes Profil, um in der Absetzung Kaiser Friedrichs II. durch Papst Innocenz IV. zu eskalieren338. Es handelte sich allerdings um keinen zielgerichteten Prozess, den einzelne Vertreter der Kirche bewusst umgesetzt hätten. Die Juridifizierung und Zentralisierung einer monarchisch strukturierten Kirche scheint vielmehr den mentalen und organisatorischen Bedürfnissen einer – im wahrsten Sinn des Wortes – wachsenden Gesellschaft entsprochen zu haben, ordnet sich 334 335 336 337
Gerhoh von Reichersberg, Libellus 283 Zeile 32 f. und 282 Zeile 32-35. Hugo von St. Viktor, De sacramentis 418. Zu Gratian vgl. Stickler, Magistri Gratiani sententia 36-111. Zum hochmittelalterlichen Papsttum vgl. einführend Haller, Papsttum III; Ullmann, Machtstellung 383-651; Barraclough, Papacy; Pennington, Pope; Morris, Papal Monarchy; Geschichte des Christentums V 555-655 (Agostino Paravicini Bagliani). Zur terminologischen Problematik (hierokratisch versus dualistisch) vgl. Tierney, Continuity 227-245, hier 234-236. – Zur Kanonistik als politischer Wissenschaft vgl. grundsätzlich Miethke, Leitwissenschaft; Miethke, De potestate. 338 Hageneder, Fürstenabsetzung 55-95; Kempf, Absetzung 345-360. Zu Innocenz IV. als politischen Theoretiker und programmatischen Praktiker vgl. Watt, Theory 236-281.
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diese Entwicklung doch ein in „eine bemerkenswerte Homogenisierung der politischen Strukturen“, die einem monarchischen Zentralismus in vielen europäischen Ländern zur Vorherrschaft verhalf339, sowie in jene „allgemeine okzidentale Rationalisierungsbewegung, die ihrerseits erst die Bedingungen der Möglichkeit von Planung in der Moderne bereitstellte“340. So nahm diese Entwicklung viele Wege und hatte viele Ursachen. Die Entstehung eines juristisch beschlagenen Klerikerstandes, der mit seinem am römisch-kanonischen Recht geschulten Denken die Kirche zu durchdringen begann und den Papst zum iudex ordinarius omnium341, Rom zum commune et generale forum omnium clericorum et omnium ecclesiarum erklärte342, wird man ebenso bedenken müssen wie sozioökonomische Veränderungen, die im Rahmen einer zunehmenden räumlichen Mobilisierung, aber auch einer herrschaftlichen sowie genossenschaftlichen Organisierung der Gesellschaft das Ausgreifen von Zentralinstanzen erst ermöglichten. In dieser Epoche der geistigen und materiellen Verdichtung und Innovation veränderte sich auch die Semantik des Sonne-Mond-Gleichnisses. Heinrich von Segusio, der berühmteste Kirchenrechtsgelehrte des 13. Jahrhunderts, der 1262 die vornehmste Kardinalwürde, jene von Ostia erhielt, zog aus einem astronomischen Größenvergleich zwischen Sonne und Mond den Schluss, dass die priesterliche Autorität 6644mal größer sei als die königliche Gewalt. Die logische Konsequenz: Wie der Mond seinen Glanz von der Sonne empfange, so erhalte die königliche Gewalt ihre Würde von der priesterlichen Autorität. Die Sonne erleuchte die Erde nachts durch den Mond, die priesterliche Autorität regiere sie durch die königliche Gewalt343. Ähnlich einseitig interpretierten die Kanonisten die Zweischwerter-Theorie. Benencasa von Arezzo führte bereits um 1200 die Vorherrschaft des Papstes Gelasius über Kaiser Anastasius auf zwei Gründe zurück: Zum einen habe sich der Papst vor Gott zu verantworten für die Seele des Kaisers und aller Menschen, zum anderen müssten „Kaiser und Fürsten ihren Nacken beugen unter den Knien der Priester“, da diese jene exkommunizieren könnten344. Es 339 340 341 342
Borgolte, Europa entdeckt seine Vielfalt 221. Miethke, Geschichtsprozess 566 (Zitat) und 598f. Watt, Theory 226 f. und 268-273. Huguccio, Summa ad C.2 q.6. c.4. Text bei Watt, Theory 270; Miethke, Geschichtsprozess 578. Zu Huguccios Sicht des Papsttums vgl. Ríos Fernández, Primado. 343 Hostiensis, Commentaria ad X 1.33.6 § 15, 171 f. Das Sonne-Mond-Gleichnis ist erwähnt bei Watt, Theory 291. Zu Hostiensis’ Primatsvorstellung vgl. Watt, Theory 281-308; Gallagher, Canon law 94-112. 344 [...] Colla regum et principum submittuntur genibus sacerdotum. Zit. nach Watt, Theory 191. Vgl. auch Hageneder, Fürstenabsetzung 61. Zum gelasianischen Charakter des Bildes eines Priestertums, das vor Gott auch für die weltlichen Herrscher verantwort-
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waren dies intellektuelle Spekulationen und theoretische Ansprüche, die das Papsttum zumindest bis an das Ende des 13. Jahrhunderts niemals eins zu eins umzusetzen bestrebt war. Zwar vertraten prominente Inhaber der Cathedra Petri wie Innocenz III. und Innocenz IV. in ihren Dekretalen und Briefen mitunter theokratisch-monistische Herrschaftsvorstellungen – so belehrte der Segni-Papst den Patriarchen von Konstantinopel über den päpstlichen Primat und die Universalität der Römischen Kirche, indem er, Bernhard von Clairvaux zitierend, feststellte, dass Christus dem Apostel Petrus „nicht allein die Leitung der Kirche, sondern jene der gesamten Welt übertragen habe“345; in seiner berühmten Deliberatio de tribus electis hatte derselbe Papst erklärt, dass das Kaisertum in Ursprung und Vollendung (principaliter et finaliter) zum apostolischen Stuhl gehöre, weil dieser es von den Griechen auf die Franken übertragen habe und weil der Kaiser durch den Papst gesalbt, gekrönt und mit der Herrschaft investiert werde346. Innocenz III. war es auch, der die Stilisierung der plenitudo potestatis, die ehemals jeder Bischof in seiner Diözese ausgeübt hatte, zum Inbegriff der päpstlichen Souveränität und Überordnung machte und damit die Auffassung verband, dass „alle Vollmacht, insoweit sie Christus der Kirche auf Erden anvertraut habe, sich zunächst im Papsttum als dem Haupt der Kirche vereint finde und von ihm auf die Glieder übergehe“347. Die päpstliche Macht scheint durch diese Annäherung der plenitudo potestatis an die Macht Gottes keine Grenzen mehr zu kennen348. Seine sichtbarste Umsetzung fand der päpstliche Führungsanspruch in den Kreuzzügen, hier wurde die Christenheit auf Initiative und unter dem Schutz des summus pontifex in den Heidenkampf geführt. Dennoch beriefen sich die Päpste auch im 13. Jahrhundert niemals allein auf eine dem päpstlichen Amt innewohnende höchste weltliche Macht, sondern legitimierten ihr Eingreifen stets mit der geistig-spirituellen Sorgfalts-
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lich zeichnet, vgl. Ensslin, Auctoritas 662. Zur gelasianischen Zweischwerter-Lehre als Ausgangspunkt politisch-ideologischer Debatten vgl. allgemein Miethke, Kirchenstruktur. Innocenz III. Register II Nr. 200 S. 382-389, hier 383 f. Vgl. dazu Hoffmann, Schwerter 108 f. Zur Vorlage vgl. Bernhard von Clairvaux, De consideratione 2.2.8. Zu Bernhards politischer Theologie vgl. Ullmann, Machtstellung 619-635. Zu päpstlichen Weltherrschaftsgedanken bereits bei Gregor VII. vgl. Haller, Papsttum II 413 f.; Hoffmann, Schwerter 85. Innocenz III., Thronstreitregister Nr. 29 S. 74-91, hier 75. Vgl. hierzu Haller, Papsttum III 351-354; Kempf, Papsttum 57-65; Watt, Theory 212f.; Hoffmann, Schwerter 109. Haller, Papsttum III 319f.; Kempf, Papsttum 296 (hier das Zitat); Watt, Theory 250-268; Borgolte, Europa entdeckt seine Vielfalt 77; Schmidt, Papal and imperial concept. Zum Zusammenhang von pastoralen und politischen Aspekten im Pontifikat Innocenz’ III. vgl. Canning, Power.
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pflicht des Papstes349, ratione peccati etwa oder certis causis inspectis350. Der vicarius Christi351, der wie Melchisedek ein königliches Priestertum ausübte, um zu richten die Lebenden und die Toten352, der von Gott wie der Prophet Jeremia über Völker und Reiche gesetzt worden war (Jer 1,10)353, blieb trotz aller weltlichen Ansprüche in erster Linie spirituelles Oberhaupt der christlichen Glaubensgemeinschaft354. Offensichtlich existierte bis ans Ende des 13. Jahrhunderts ein Zwiespalt zwischen einem rhetorischem Maximalprogramm, überhöht in der gelehrten Erörterung päpstlicher Gesetzestexte355, und einer politischen Realität, die sich nicht allein nach kirchlich-päpstlichen Vorstellungen formen ließ. Das monarchische Papsttum besaß nun allerdings seine jederzeit abrufbare Theorie. Papst Bonifaz VIII., dessen umfassende Herrschaftsansprüche alle Forderungen seiner Vorgänger in den Schatten stellten, dessen Pontifikat allerdings auch den politischen Niedergang des spätmittelalterlichen Papsttums einleitete356, versuchte, das kanonistisch-kuriale Theoriegebäude zum Fundament der realen Politik zu machen. „Hier machte ein Papst vollen Ernst mit den Prätentionen seines Amtes“357. Seine Sichtweise war apodiktisch: „Wie der Mond über kein eigenes Licht verfügt, 349 Tierney, Continuity 241-245. 350 Kempf, Papsttum 258-267. 351 Bezeichnend ist die Verengung dieses Begriffs: Ubi ergo sunt illi, qui dicunt, quod solus papa est vicarius Christi? Quoad plenitudinem potestatis verum est, alias autem quilibet sacerdos est vicarius Christi. Das Zitat aus Huguccios Dekretsumme (1187/91), das die semantische Transformation verdeutlicht, nach Maccarrone, Vicarius 106. Sakramental gedacht, gab es also viele vicarii Christi, im juristischen Sinne jedoch nur einen einzigen. Diese letztere Deutung verdrängte die ältere. Eine ähnliche dualistische Ansicht vertrat noch Bernardus de Botone in seinem Apparat zum Liber Extra. Vgl. Buisson, Potestas 75 Anm. 1. Zum päpstlichen Primat vgl. zuletzt Geschichte des Christentums V 621-626 (Agostino Paravicini Bagliani). 352 X 4.17.13 (Innocenz III.): [Der Papst ist] sacerdos in aeternum secundum ordinem Melchisedek, constitutus a Deo iudex vivorum et mortuorum. Innocenz IV. dachte noch weiter: „Jesus Christus als Mensch und Gott, als König und Priester gemäß der Ordnung des Melchisedek hat im apostolischen Thron nicht allein eine kirchliche, sondern auch eine königliche Monarchie errichtet, indem er dem heiligen Petrus und seinen Nachfolgern die Regierung des himmlischen und irdischen Reichs übertragen hat“. Vgl. Haller, Papsttum III 320; Hoffmann, Schwerter 107-111; Ullman, Opponent 80 (Innocenz III.) und 55 (Innocenz IV.). 353 Watt, Theory 217f. 354 Zur Terminologie vgl. Maccarrone, Vicarius 85 ff.; Congar, Ecce 671-696; Miethke, Geschichtsprozess 585. 355 Hageneder, Fürstenabsetzung 90; Miethke, Geschichtsprozess 588. 356 Zu Bonifaz VIII. vgl. Haller, Papsttum V 97-225; Gagnér, Ideengeschichte der Gesetzgebung 135-146; Miethke, De potestate 45-56. 357 Miethke, Geschichtsprozess 595.
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so besitzt auch die weltliche Herrschaft nichts Eigenes. Jener empfängt sein Licht von der Sonne, diese erhält ihre Gewalt von der Kirche“, so klang die päpstliche Botschaft im Vorfeld der Anerkennung König Albrechts I.358. Was Kanonisten und Theologen im Laufe des 13. Jahrhunderts an Argumenten für eine päpstliche Vorrangstellung gesammelt und erörtert hatten, sollte nun ohne Abstriche umgesetzt werden. Es waren nicht neuartige Gedanken oder eine besondere juristische Gelehrsamkeit, sondern die eiserne Entschlossenheit, mit der in der Vergangenheit erhobene Ansprüche umgesetzt werden sollten, die Bonifaz VIII. auszeichnete359 – den vehementen Drang, aus alten Programmen neue Realitäten werden zu lassen, hatte er mit Vorgängern wie Gregor VII. gemein360. Seit Philipp der Schöne von Frankreich den französischen Klerus auf der ersten Ständeversammlung des Königreiches im April 1302 zu einer romkritischen Haltung gedrängt hatte, war zwischen königlich-weltlicher und päpstlich-geistlicher Macht ein erbitterter Kampf der Worte und Theorien entbrannt361. Die theoretische Legitimierung seiner religiös-politischen Ansprüche lieferten Papst Bonifaz VIII. gelehrte Männer an der römischen Kurie, die in kühnen Ansprachen und Schriften die päpstliche Machtfülle mit theologischen und juristischen Argumenten verherrlichten362. Ein Ergebnis der Auseinandersetzung war das Entstehen einer neuen Quellengattung, der Traktate De potestate papae, die die Darstellungen zur politischen Theorie über ein halbes Jahrhundert lang dominieren sollten363. Die ältesten Beispiele wurden von Mendikanten und Mitgliedern anderer Reformorden verfasst. Um 1300 griff der Dominikaner Tolomeo von Lucca zur Feder364, in den Sommermonaten des Jahres 1302 vollendete der Augustinereremit Aegidius Romanus seine Schrift De ecclesiastica potestate365. In die Sprache des politischen Tagesge358 Bonifaz VIII., Allegacio 139 Zeile 19 f. 359 Muldoon, Boniface 449-477; Miethke, Geschichtsprozess 594. Zu Bonifaz VIII. als Gesetzgeber vgl. Schmidt, Bonifaz. 360 Die päpstliche Haltung gegenüber dem französischen König, den Bonifaz der päpstlichen Oberhoheit unterstellen wollte, interpretiert Ubl, Genese der Bulle 148f., allerdings als fundamentale Neuerung im Kirchenrecht. 361 Zur Auseinandersetzung vgl. Miethke, De potestate 68-82. 362 Zur Chronologie der Streitschriften vgl. Ubl, Johannes Quidort 63-72. Eine Gesamtbetrachtung der kurialistischen und französischen Traktate bei Miethke, De potestate 83-126. 363 Vgl. allgemein Miethke, Rolle 119-153; Miethke, Traktate 197-200; Miethke, Weltanspruch 349-443. 364 Tholomaeus Lucensis, Determinacio. Zur handschriftlichen Überlieferung vgl. Miethke, Traktate 195 Anm. 9 und 207. Zum Text vgl. Miethke, De potestate 86-94. 365 Zum Werk des Aegidius Romanus vgl. Miethke, De potestate 94-102. Zum Traktat De regimine christiano Jakobs von Viterbo, der als Ergänzung zur Abhandlung des Aegi-
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schäfts übersetzt wurden die hierokratischen Positionen vom Franziskanerkardinal Matteo d’Acquasparta. Der enge Vertraute des Papstes hielt im Juni 1302 – die Auseinandersetzung mit Philipp dem Schönen strebte ihrem Höhepunkt zu und die Veröffentlichung von Unam Sanctam im August 1303 stand kurz bevor366 – eine Predigt (Sermo de potestate papae), mit dem Ziel, französischen Legaten die Machtfülle seines Herrn vor Augen zu führen367. An den Anfang seiner Rede stellte Matteo ein altbekanntes Bibelzitat: „Sieh her! Am heutigen Tag setze ich dich über Völker und Reiche; du sollst ausreißen und niederreißen, vernichten und einreißen, aufbauen und einpflanzen“ (Jer 1,10). Was für Jeremia gelte, gelte auch für Petrus und seine Nachfolger, auf denen Christus seine Kirche gegründet habe. Der Papst stehe daher als vicarius Christi an der Spitze der Christenheit, ohne seine Zustimmung könne es keine legitime Herrschaft geben. Diesen theologischen Überlegungen, angereichert mit Zitaten und Exkursen, folgt im zweiten Teil der Ansprache eine kurze Analyse der Tagespolitik. Die Ursache des Zerwürfnisses zwischen Papst und König sah Matteo in Missverständnissen und Irrtümern, die vor allem auf die unfähigen und unehrlichen Ratgeber Philipps IV. zurückgingen. Denn eines stehe fest: Der päpstliche Primat sei göttlichen Ursprungs und damit unerschütterlich. Es folgt eine historische und theoretische Legitimierung der päpstlichen Vormachtstellung. Ungeordnet reiht der Kardinal Argumente aneinander: Der König erhalte die Absolution für seine Sünden auctoritate summi pontificis. Christus, der dominus universorum, habe seine Macht an Petrus und dessen Nachfolger übertragen. Wie im ganzen Universum immer ein Höchstes und Erstes existiere, wie jedes Haus einen paterfamilias habe, so habe auch die Christenheit ein Haupt. Wie Noah die Arche gelenkt habe, außerhalb derer es kein Heil gäbe, so führten Petrus und seine Nachfolger die Kirche. Wer schließlich
dius gedacht war, vgl. ebd. 102-105; Ubl, Genese der Bulle 135 f. Zu beiden Autoren vgl. auch Walther, Aegidius Romanus und Jakob von Viterbo. Zu Aegidius’ Bestimmung der päpstlichen Macht zuletzt Homann, Posse. 366 Vgl. Ullman, Unam Sanctam 45 ff.; Ders., Boniface VIII 73 ff. Zum aktuellen Forschungsstand und kritischer Auseinandersetzung mit Ullmann vgl. Ubl, Genese der Bulle. 367 Eine Mitschrift der Ansprache bei Matthaeus ab Aquasparta, Sermones 177-190. Zur handschriftlichen Überlieferung vgl. Miethke, Traktate 196 Anm. 10 und 207. Bereits im Januar 1300 hatte sich Matthaeus in einer Predigt ähnlich geäußert. Erhalten blieben davon jedoch nur Auszüge in einem Brief flämischer Gesandter: „messire Mathius de Aighesparte preecha en apiert, devant le pape et les cardinaus et devans tous, en l’église Sainct-Jehan de Latran, que li pape tous seus est sire souverains temporeus et spirituels deseure tous, quelque ils soient, ou liu di Diu [...]“. Vgl. Kervyn de Lettenhove, Études Sp. 1901.
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die plenitudo potestatis ausübe, halte sowohl die weltliche wie auch die geistliche Gewalt in Händen368. Gegen Ende seiner Predigt kommt Matteo auf das Sonne-MondGleichnis zu sprechen. Der Papst besitze die geistliche Gewalt, die Christus an Petrus und seine Nachfolger, alle summi pontifices, übertragen habe. Kaiser und Könige haben die weltliche Macht inne, doch greife der Papst ratione peccati auch in weltliche Angelegenheiten ein, übten weltliche Herrscher diese doch nur praktisch und gewohnheitsrechtlich aus (ratione actus et usus). Von Rechts wegen (de iure) stehe auch die weltliche Gewalt (iurisdictio temporalis) dem Vikar Petri und Christi zu. Die tatsächliche Ausübung weltlicher Macht liege jedoch in den Händen weltlicher Machthaber, gemäß dem Jesuswort an Petrus: converte gladium tuum in vagina (Joh 18,11). Doch die Tatsache, dass Kaiser und Könige die Herrschaft de facto durch Konzession ausübten, beeinträchtige in keiner Weise die Legitimität der päpstlichen Macht. Philipp habe also keinen Grund, sich über eine angebliche päpstliche Usurpation königlicher Rechte zu beschweren, ruhe doch alle Herrschaft auf kirchlichen Fundamenten369. Der Franziskaner Matteo d’Acquasparta hatte nach seinem Studium an der Universität Paris in Bologna und Rom Theologie gelehrt. Wenige Jahre hatte er als Generalminister seinen Orden geleitet, bevor Papst Nikolaus IV., der erste Papst aus dem Orden des heiligen Franziskus, ihn 1288 zum Kardinal ernannte370. Vom Gelehrten wandelte sich Matteo zum Politiker, zu keinem Zeitpunkt aber war er ausschließlich ein Denker der politischen Theorie. Seine Argumentation blieb theologisch. So bildete seine Rede auch keinen originellen Beitrag zur zeitgenössischen Debatte über Ekklesiologie und Politik371 – das hatte der Bettelmönch und Kardinal auch nicht beabsichtigt. Die pragmatische Ausrichtung seines politischen Denkens spricht jedoch dafür, dass der Franziskaner im Dienst der Kurie jene Positionen, die der Politik Bonifaz VIII. zugrunde lagen, klar und unverzerrt ausgesprochen hat. Auch in den folgenden Jahrzehnten zeigten sich Kanonisten und Päpste den programmatischen Utopien des Caetani-Papstes verpflichtet, obwohl der Traum von der päpstlichen Weltherrschaft längst ausgeträumt war372. Das Sonne-Mond-Gleichnis blieb auch im 14. Jahrhundert 368 Matthaeus ab Aquasparta, Sermo 185-187 (Primat). Zum letzten Argument vgl. Watt, Theory 296; Hoffmann, Schwerter 102f. 369 Matthaeus ab Aquasparta, Sermo 189 f. Zur Unterscheidung von de facto und de iure bei Innocenz IV. vgl. Hageneder, Fürstenabsetzung 89. 370 Zur Person vgl. Matteo d’Acquasparta. Francescano, Filosofo, Politico. 371 Garfagnini, Sermo 217. 372 Heinrich von Cremona: Sed luna non lucet, nisi quantum sol respicit eam, ergo nec imperator habet potestatem, nisi quantam dat ei papa. Zitiert nach Scholz, Publizistik 469.
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ein beliebter Ausgangspunkt hierokratischen Argumentierens. Dante wies darauf in seiner Monarchia ausdrücklich hin: „Wenn diese (sc. Verfechter des hierokratischen Papsttums) versichern, die Macht des Kaisertums hänge von der Macht der Kirche ab, wie der niedrige Handwerker vom Baumeister, so bewegen sie sich in mehreren entgegengesetzten Beweisgängen. [...] Sie sagen nämlich erstens nach der Schrift in der Genesis, dass Gott zwei große Lichter gemacht habe ...“373. Doch der Höhepunkt dieses Denkens, sowohl hinsichtlich des Niveaus des theoretischen Schrifttums als auch hinsichtlich des päpstlichen Bemühens um eine Realisierung dieser Ansprüche, war bereits während des Pontifikats Bonifaz’ VIII. an der Wende zum 14. Jahrhundert erreicht. Mendikanten, unter ihnen viele Franziskaner, hatten bei der intellektuellen Ausformung der Doktrin in der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts eine wesentliche Rolle gespielt. Wir werden noch sehen, dass den anonymen Autor des Glossenapparats Fecit deus und den Verfasser des Sermo de potestate papae mehr verbindet als nur die Zugehörigkeit zum Orden des Franziskus und die Verwendung des Sonne-Mond-Gleichnisses. Doch kehren wir zurück zu Papst Innocenz III., der das biblische Bild von den beiden Himmelslichtern mehrmals herangezogen hatte, um das Verhältnis zwischen geistlicher und weltlicher Sphäre zu definieren374. In einem Brief an den Kaiser von Konstantinopel schrieb der Papst, der den vielleicht wichtigsten Beitrag zur Ausgestaltung des papalistischen Systems leistete: Gott hat zwei große Lichter am Firmament des Himmels eingesetzt – das größere für den Tag und das kleinere für die Nacht. Beide sind groß, das eine aber größer. Ebenso stellte er an das Firmament der gesamten Christenheit – die mit dem Himmel zu vergleichen ist – zwei große Dignitäten: Das sind die bischöfliche Autorität und die königliche Gewalt. Jene Dignität, die den Tag erleuchtet, ist größer – und das ist die geistliche. Die andere, die weltliche, ist kleiner. Bekanntlich ist der Unterschied zwischen der Sonne und dem Mond so groß wie jener zwischen priesterlicher Autorität und königlicher Gewalt (X 1.33.6)375.
Diese Interpretation war die vermutlich bekannteste Version des Gleichnisses, wurde der Text doch in den Liber Extra aufgenommen, damit zum Bestandteil des gelehrten Kirchenrechts und zugänglich in allen gröClemens VI.: Luna enim nullum lumen habet a se, sed totam illuminationen recipit a sole. Cum ergo per lunam significetur potestas imperialis, per solem potestas papalis, patet, quod potestas imperialis dependet et originatur a papali. Vgl. Clemens VI., Collatio 157 Zeile 4f. 373 Dante, Monarchia III/4, 365. Zu Dantes Sicht des Gewaltendualismus vgl. Gagnér, Ideengeschichte der Gesetzgebung 146-153. 374 Vgl. Hageneder, Gleichnis 340-368; Hoffmann, Schwerter 110. Zu Innocenz III. vgl. Haller, Papsttum III 296-481; Tillmann, Innocenz III.; Sayers, Innocent III. 375 Corpus iuris Canonici II 196-198, hier 198. Übers. nach Hageneder, Gleichnis 340.
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ßeren Kloster- und Kirchenbibliotheken. Um dem päpstlichen Streben nach der plenitudo potestatis entgegenzutreten, griffen weltliche Herrscher zur selben Sprache: So berief beispielsweise Kaiser Friedrich II. die beiden Himmelslichter zu Kronzeugen für die Eigenständigkeit seiner Macht376. Mit dem Sonne-Mond-Gleichnis in jener Fassung, wie Innocenz III. es dem Kaiser von Konstantinopel mahnend vor Augen gehalten hat, begann der franziskanische Verfasser des Apparats Fecit deus seinen Prolog377. Der Leser ahnt, dass eine Diskussion über das Verhältnis von geistlicher und weltlicher Macht folgen würde, eingebettet allerdings in eine Erörterung und Einteilung des geistlichen und weltlichen Rechts. So benutzte der unbekannte Autor denn auch das Innocenz-Zitat zunächst nicht, um den Primat der priesterlichen Autorität über die königliche Gewalt zu postulieren, sondern um festzustellen: „Ebenso setzte Gott an das Firmament der gesamten Christenheit – die mit dem Himmel zu vergleichen ist – zwei große Dignitäten: Das sind die bischöfliche Autorität und die königliche Gewalt“. Die beiden folgenden Sätze, in denen Innocenz III. die geistliche über die weltliche Gewalt gestellt hatte, fehlen im Apparat. Dualistisch stehen beide Gewalten nebeneinander. Ein Zitat aus dem Dekret bekräftigt diese Sichtweise: „Zwei Gewalten nämlich regieren die Welt, die priesterliche Autorität und die königliche Gewalt“ (D. 96 c. 10)378. Es ist der Anfang des berühmten Schreibens, in dem Papst Gelasius dem Kaiser Anastasius die Lehre von den zwei Gewalten vorgetragen hat379. Erneut nur den Anfang seiner Quelle zitierend, begann der Verfasser des Apparats auch an dieser Stelle keine Diskussion der Gewaltenlehre. Sein Ziel in diesem ersten Teil des Prologs bestand darin, Papst und Kaiser als universale Gesetzgeber zu charakterisieren, um über den Ursprung von Recht und Gesetz handeln zu können: „Aus zwei Ursachen, der priesterlichen Autorität und der kaiserlichen Gewalt, gehen alle Gesetze hervor“380. Wie der Papst die Kanones, so erlässt der Kaiser die Gesetze und überwacht ihre Einhaltung. Die Zweiteilung irdischer Gesetzgebung hat in den Augen des franziskanischen Gelehrten Bestand trotz der Beobachtung des Isidor von Sevilla, mit der Gratian seine Quellensammlung des überlieferten Kirchenrechts begonnen hat, dass nämlich alles Recht entweder göttlicher 376 377 378 379
Kantorowicz, Friedrich II., 248 und 457; Tillmann, Innocenz III. 267. Zum Text vgl. unten Dok. A S. 389. Dok. A S. 389. JL 632. Ensslin, Auctoritas 661-668; Rahner, Kirche 256f.; Hageneder, Fürstenabsetzung 59; Cottrell, Auctoritas 95-109. Zur Entwicklung der Zweigewaltenlehre in der frühen Kirche vgl. Field, Liberty. 380 Dok. A S. 390.
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oder menschlicher Natur sei. Und Gratian bleibt weiter die Vorlage des Glossators. Gott hat Reiche und Arme aus demselben Lehm geschaffen, erst das menschliche Recht kennt die eigentumsrechtliche Unterscheidung. Unser Autor folgerte daraus: „Alle diese menschlichen Gesetze heißen kaiserliche, weil Gott sie den Menschen durch Kaiser und Könige gegeben hat. Die kirchlichen Gesetze dagegen behandelten kein Sachenoder Schuldrecht. Selbst das kanonische Recht könne kaiserlich genannt werden, wenn es weltliche Angelegenheiten regelt. Denn Urteile über weltlichen Besitz fallen nicht direkt in den Zuständigkeitsbereich kirchlicher Prälaten“381. Gemäß dieser etwas unklaren Definition gibt es tatsächlich nur menschliches und göttliches Recht, wie Isidor und Gratian dies behauptet haben. Menschlich oder kaiserlich heißen jene Gesetze, die zivilrechtliche und andere weltliche Angelegenheiten betreffen, unabhängig davon, ob ein weltlicher oder geistlicher Gesetzgeber sie erlassen hat. Die geistlichen Angelegenheiten, von der Regelung des Kultes über die Glaubenswahrheiten bis zur kirchlichen Strafgewalt, werden durch das göttliche Recht, das allein von der Kirche erlassen werden kann, bestimmt. Der Differenzierung in göttliches und menschliches Recht folgt eine zweite kürzere Einteilung in kanonisches und bürgerliches (ius canonum et ius civile). Noch einmal zwei Lichter und zwei Rechtsbereiche. Hier begnügt sich der Verfasser mit dem Hinweis, dass sich die Gesetze beider Bereiche gegenseitig stützten. Wie das zweischneidige Schwert, mit dem das auserwählte Volk Gericht hält über die Nationen, erscheint unserem bibelfesten Franziskaner die Kenntnis beider Rechte (vgl. Ps 149, 6–9). Beide müsse man eifrig erkunden und sorgsam bewahren, um nicht – Gratian meldet sich zurück – der Nachlässigkeit beschuldigt oder wegen Unbesonnenheit getadelt zu werden. Das Ende des ersten Prologteils ist erreicht. Die Urheber des Rechts sind namhaft gemacht und die Rechtsbereiche definiert. Am Anfang steht Gott, der durch die höchsten irdischen Gewalten die göttlichen und menschlichen, die kirchlichen und weltlichen Gesetze erlässt. Kaiser, Könige und Päpste führen die Christenheit gemeinsam in Frieden und Eintracht. Zwei Lichter, zwei Universalgewalten, zwei Rechte, aber eine Ordnung, die den Willen Gottes widerspiegelt. Doch wie schrieb schon Innocenz III.: Utrumque magnum, alterum tamen maius. Wie ein Himmelslicht das andere an Größe übertrifft, so sind auch die priesterliche Autorität und die königliche Gewalt von unterschiedlicher Dignität. Was der Verfasser des Apparats mit dem Eingangszitat angekündigt, aber nur ansatzweise ausgeführt hat, holt er nun ausführlich nach, nämlich
381 Dok. A S. 390 f.
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die Diskussion über das Verhältnis zwischen geistlicher und weltlicher Gewalt. Erneut bildet ein programmatisches Zitat die Eröffnung: „Herr, hier sind zwei Schwerter“ (Lk 22,38). Angefügt ist die Charakterisierung: „nämlich ein weltliches und zivilrechtliches Schwert sowie ein geistliches und kirchenrechtliches“. Damit war die Diskussion der ZweischwerterTheorie eröffnet. Hatten die Gelehrten bis ins 11. Jahrhundert hinein das Verhältnis von pontificalis auctoritas und regalis potestas meist in der Tradition von Papst Gelasius I. mit dem Bild von zwei harmonierenden Gewalten diskutiert (D. 96 c. 10), so dominierte seit dem Investiturstreit das Bild von den beiden Schwertern: gladius materialis, temporalis et legalis, alter canonicus et spiritualis. Dunkle Sätze im Lukasevangelium (Lk 22,35– 38), in denen politische Exegeten göttliche Offenbarungen über die beiden höchsten Gewalten auf Erde erkannten, bildeten seit dieser Zeit die biblische Grundlage der Diskussion. Die Zweigewaltenlehre wurde mittels der Zweischwerter-Lehre konkretisiert. Auf ein solches Zitat musste eine erneute Diskussion des Themas folgen, und folgerichtig leitet eine Quaestio den zweiten Prologteil ein: „Es stellt sich die Frage, ob eine Gewalt von der anderen abhängt, da doch offensichtlich beide direkt von Gott stammen?“382 Seit dem ausgehenden 12. Jahrhundert wurde dieses Problem in den verschiedenen Schulen der Kanonisten diskutiert383. Sehr bald hatten sich feste Argumentationsketten gebildet, die in unzähligen Arbeiten, meist nur durch Ausführlichkeit und Subtilität unterscheidbar, wiederkehrten384. In guter scholastischer Manier sammelte auch der franziskanische Glossator seine Argumente385. Zunächst jene, die für die Gleichrangigkeit und Gottesunmittelbarkeit beider Gewalten sprechen, anschließend jene, die eine konträre Position vertreten. In einem dritten Anlauf präsentiert der Autor seine solutio. Wichtigste Quelle sind ihm erneut die kirchlichen Rechtstexte und deren Kommentierungen. Ein solches Quaestionenverfahren stand in bewährter Tradition. Die Kanonisten pflegten diese Vorgehensweise, bei der Rechtsprobleme durch die Abwägung möglicher gegensätzlicher Lösungen zur Entscheidung gebracht werden, seit dem 11. Jahrhundert. In dialektischer Weise konnte der Rechtsstoff auf diese Weise erweitert werden. Es war die Methode, mit der die Theologen seit der Frühscholastik ihre Probleme erörterten, es war die Methode des wissenschaftlichen Disputierens schlechthin. Die übliche 382 Dok. A S. 391. 383 Kempf, Papsttum 204f.; Watt, Theory 200-211. Die Erörterung des Thema durch Alanus Anglicus sowie Trankred bei Hageneder, Fürstenabsetzung 78 f. und 81 f. 384 Stickler, Schwerterbegriff 206. 385 Dok. A S. 391-393.
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Form einer Quaestio ergibt sich aus der Sache. Am Anfang steht in der Regel eine Darstellung des Tatbestandes: Duo gladii hic: unus materialis, temporalis et legalis, alter canonicus et spiritualis. Daran knüpft sich die Frage, die mit Hilfe des Schemas Pro-Contra-Solutio entschieden wird: Sed queritur, cum utraque potestas instituta sit a domino, an altera dependeat ab altera? Seit dem 12. Jahrhundert gibt es komplexe Quaestionen, bei denen die einzelnen Allegationen disputatorisch interpretiert wurden, sowie primitive, bei denen die einzelnen Belege unkommentiert nebeneinander stehen. Zur letzteren Form gehört unser Beispiel386. Die Belegreihe für die kaiserliche Eigenständigkeit umfasst folgende Argumente: Weder bemächtige sich der Kaiser priesterlicher Rechte, noch beanspruche der Papst den Kaisertitel. Beide haben ihre Aufgaben und ihre Würde von Jesus Christus, also habe der Kaiser sein Schwert nicht vom Papst. Es gäbe zwei universale Gewalten, die die Welt regierten: die priesterliche Autorität und die königliche Gewalt, also habe der Kaiser sein Schwert nicht vom Papst. Die Fürsten, die das Heer führen, wählten den Kaiser, also ... Die Könige seien zuständig für alle weltlichen Angelegenheiten, die Priester für die geistlichen. Die Könige verhängten Körperstrafen, die Priester geistliche, deshalb gehe König David den Propheten in weltlichen Dingen voran, also .... Bereits vor der Kirche habe das Kaiserreich bestanden, also ... Wie solle Kaiser Konstantin, der dem heiligen Petrus und seinen Nachfolgern die sedes imperialis überlassen hat, seine Nachfolger in die Pflicht nehmen, wo doch gilt: par in parem non habeat imperium, also ... Schließlich scheine der Papst ein weltliches Jurisdiktionsrecht nur ratione peccati zu besitzen, denn im Fall der Sünde ist bekanntlich immer das kirchliche Forum zuständig387. Am Ende der Beweisführung steht eine Zusammenfassung: „Da der Kaiser sein weltliches Schwert wie der Papst sein geistliches besitzt, empfängt er es nicht vom Papst“. Die dualistisch ausgerichtete Beweiskette wird abgeschlossen – eigenartigerweise ohne Hinweis auf Röm 13,1: Omnis potestas est a Deo, und die Gegenseite erhält das Wort. Es gebe nur ein corpus ecclesie und die eine Kirche besitze auch nur ein geistiges Haupt. Ein Körper mit zwei Häuptern verstieße gegen die Natur und gliche einem Monster, also besitze der Papst beide Schwerter388. Der Herr habe beide Schwerter inne und mache den heiligen Petrus zu
386 Zum Quaestionenverfahren vgl. Kuttner, Repertorium 243f. 387 Zu diesem Argument vgl. Hoffmann, Schwerter 102f. 388 Alanus, Apparatus ad Comp. I, de Appell. Si duobus: Verius est quod gladium habeat a papa, est enim unum corpus ecclesia, ergo unum caput debet habere. Zitiert nach Ullman, Melchisedek 79. Dieser Text wurde in die Glossa ordinaria zu X 1.6.34 (Venerabilem) aufgenommen.
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seinem Stellvertreter, ihm habe er beide Schwerter übertragen389, also ... Auch Moses, dessen Nachfolger der Papst ist, habe beide Schwerter geführt, also ... Der Papst richte über den Kaiser, da er dessen Wahl bestätige oder kassiere, ja den Kaiser – wie Zacharias dies mit dem letzten merowingischem König getan habe – sogar absetzen könne390, also habe der Kaiser sein Schwert vom Papst, dem er Treue schwört, wie Otto I. das getan habe391. Der Kaiser werde Sohn der Kirche genannt, deren Vogt und Verteidiger er ist. Er sei nicht ihr Patron, sondern gleiche dem Vormund, der einem Waisenkind gegeben wird, damit er dieses beschütze. Damit ist die Sammlung der kanonistischen Belege für eine monistische Gewalteninterpretation komplett. Die ersten Sätze hatte der Glossator der Glossa ordinaria zu den Dekretalen entnommen, hier waren die wichtigsten Argumente für die monarchische Führung der Christenheit bereits versammelt392. Was noch zu tun übrig bleibt, ist die Abwägung der konträren Argumente und ihre Zusammenführung in einer alle Differenzen aufhebenden Lösung. Wie wird sich unser Autor entscheiden? „Es gebe Autoritäten, die behaupten“, so beginnt unser Gelehrter seinen Lösungsvorschlag, „dass der Papst beide Schwerter besitze“393. Daher müsse der Kaiser das seine vom Papst erhalten und diesem die Treue schwören. Aus dem gleichen Grund könne der Papst dem Kaiser das weltliche Schwert entziehen und es einem anderen übergeben. Zu den anderen Argumenten sei zu sagen: Es stimme, dass der Papst nicht den Kaisertitel anstrebe, das betrifft allerdings nur die tatsächliche Ausübung des weltlichen Schwerts, das er nicht persönlich, sondern durch den Kaiser führe394. Die Kaiserwahl durch das Heer sei eigentlich nur die Wahl des Königs, der zu einem späteren Zeitpunkt zum Kaiser gesalbt werde. König David leite die weltlichen Angelegenheiten lediglich gemäß einer delegierten Durchführungsgewalt (executio gladii 389 Zu diesem vielbenutzten Argument, das sich auf D.22 c.1 stützt, vgl. Kempf, Papsttum 206. 390 Zu diesem Argument vgl. Hageneder, Fürstenabsetzung 85f.; Hoffmann, Schwerter 101. 391 Zu diesem Argument vgl. Watt, Theory 204. 392 Vgl. Watt, Theory 224 f. (mit Text der Glossa ordinaria in Anm. 19). 393 Dok. A S. 393. 394 Zu dieser Differenzierung vgl die für das 13. Jahrhundert klassische Umdeutung der Lukasstelle bei Raimund von Peñafort, Summa iuris 1.11 S. 40: Sed numquid immediate an mediate habet imperator imperium a deo? Quidam dicunt quod immediate [...] Alii dicunt, quibus assentio, quod mediate. Papa enim habet a domino utrumque gladium et alterius, scilicet temporalis executionem concedit imperatori. Hoc fuit significatum in Petro cum dixit: Ecce gladii duo hic. Ergo habebat utrumque gladium. Item cum abscindisset auriculam Malco gladio materiali, non dixit et dominus: pone gladium, sed: converte in vaginam, acsi aperte diceret: habeas gladium materialem, eius tamen executionem non exercens, sed alii committas [...].
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materialis), die der Papst den weltlichen Herrschern übertrage395. Die Behauptung, dass das imperium älter als das sacerdotium ist, sei schlichtweg falsch, wie überdeutlich dem Alten Testament zu entnehmen sei, in dem Moses und Aaron als Priester auftreten396. Die Kirche gehe auf Abel zurück und besitze zu allen Zeiten ein einziges Haupt. Dass Konstantin seine Nachfolger nicht habe verpflichten können, stimme nur, wenn diese sofort widersprochen hätten, was sie freilich nicht taten. Vielmehr bekräftige ihre Zustimmung die Konstantinische Schenkung. Heute sei Widerspruch nicht mehr möglich, da sich die Kirche durch Verjährungsfristen schütze. Man könne deshalb sagen, dass der Papst die Jurisdiktion in weltlichen Dingen nicht direkt, sondern indirekt ratione peccati ausübe. Das gelte allerdings nicht für eine Vakanz im Kaiserreich, da in dieser Zeit die Kirche keinen Beschützer habe397. Die Kanonisten – Huguccio, Alanus und Tancred werden genannt – seien über manche der vorgetragenen Argumente unterschiedlicher Meinung398. Der Verfasser schlägt sich auf die Seite der Papalisten: Huguccio habe behauptet, dass kaiserliche und päpstliche Gewalt allein von Gott stammten und dass das imperium bereits vor der Errichtung des apostolatus existiert habe399. Dagegen vertreten Alanus und Tancred die Ansicht, dass der Kaiser sein Schwert von der Kirche empfange, denn diese habe nur ein Haupt: „Diesen Standpunkt halte ich“ – erstmals spricht der Verfasser in der ersten Person – „für glaubwürdiger“. Denn der Papst überträfe in seiner Führung des geistlichen Schwertes den Kaiser, zudem es jenem erlaube, diesen durch die Exkommunikation dazu zu zwingen, sich dem Recht zu beugen. Der Kaiser könne dagegen keinesfalls über den Papst urteilen. „Welche Gewalt ist also größer, die weltliche oder die geistliche?“ Mit dieser Frage leitet der Autor den Abschluss seiner Gewaltendiskussion ein400. Die Lösung ist einfach: Wie Gold wertvoller als Blei, wie 395 Zur differenzierten Verwendung der Begriffe potestas administrationis, usus gladii, executio potestatis, exercitium potestatis vgl. Kempf, Papsttum 201 und bes. 209f.; Hoffmann, Schwerter 98 (über die Differenzierung von auctoritas und administratio bei Rufinus). Wie in unserem Beispiel kümmerten sich die meisten Kanonisten „jedoch nicht um diese Spitzfindikeiten und behaupteten schlankweg, der Papst verleihe dem Kaiser die potestas und die exsecutio gladii, er besitze also die iura terreni imperii“ (ebd. 211). 396 Zum Problem vgl. Hageneder, Fürstenabsetzung 63. Zur kanonistischen Zurückweisung eines vermeintlich höheren Alters des Imperiums vgl. Hoffmann, Schwerter 99. 397 Zum Argument vgl. Watt, Theory 290 (mit dem entsprechenden Kommentar des Hostiensis, Lectura ad 4.17.13 s. v. certis causis); Hoffmann, Schwerter 102f. 398 Dok. A S. 394. 399 Zu Huguccio als Verteidiger der Selbständigkeit des Kaisers vgl. Kempf, Papsttum 219f.; Watt, Theory 201. 400 Dok. A S. 394.
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die Seele wertvoller als der Körper sei, so sei die priesterliche Autorität wertvoller als die kaiserliche Majestät. Allein der Papst könne körperliche und geistliche Strafen verhängen. Der Kaiser habe dagegen nur Gewalt über den physischen Leib, daher hieße es zu recht: ‚Fürchte nicht jene, die den Körper töten’. Damit ist die Diskussion abgeschlossen, die Frage entschieden und das Ende des Prologs beinahe erreicht. Gegen die dualistisch denkenden Kanonisten des 12. Jahrhunderts von Gratian bis Huguccio schloss sich der franziskanische Glossator der hierokratischen Lehre der Dekretalisten des 13. Jahrhunderts an – die von ihm benutzten Argumente sind alle längst bekannt401 – und berief sich dabei ausdrücklich auf Alanus und Tancred, jene zwei herausragenden Vertreter einer ekklesiologischen Extremposition, die das Papsttum in immer erhabenere und kühnere Formulierungen kleidete. So nahm unser Autor teil an einer von den kirchlichen Theoretikern vorangetriebenen „Spiritualisierung“ weltlicher Macht, die zwar ein „großartiges, im Papst gipfelndes, einheitliches Weltbild“ schuf, sich zugleich aber immer mehr von der politischen Realität entfernte402. Was folgt, ist eine kurze Charakterisierung und Einteilung der glossierten Titelsumme403: Der Nutzen des Werkes bestehe in der Rechtssicherheit, die der Leser aus dieser Zusammenstellung gewinnen könne. Den Inhalt bildeten die Kanones und Dekretalen, die von den Päpsten und den heiligen Vätern erlassen worden sind. Das Ziel des Werkes sei es, dem Leser das Recht in seiner gesamten Fülle und Unterschiedlichkeit verständlich zu machen. Damit gehöre die Arbeit zur Ethik, also zur Moralwissenschaft. Zuletzt benennt der Autor die römischen und kirchlichen Rechtsbücher und skizziert ihre interne Unterteilung in Bücher, Distinktionen und Kapitel. Was unser Autor seinem Rechtsbuch vorangestellt hat, war keine befriedigende Diskussion des Verhältnisses zwischen geistlicher und weltlicher Macht. Die Argumentation war eher theologisch als juristisch, keineswegs basiert sie auf der subtilen Terminologie, die von den Kanonisten des 12. und 13. Jahrhunderts erarbeitet worden war404. Aber es war doch mehr als eine pragmatische Hinführung zur Erklärung des Dekretalenrechts. Als eine solche könnte beispielsweise der Prolog gelten, den Goffredus von Trani seiner einflussreichen Dekretalensumme vorangestellt hat: Die Vielfalt der Glossen verdunkelt immer wieder den Sinn des Textes und zerstreut den Geist der Studierenden. […] Wer am Beginn der Lektüre un401 402 403 404
Viele Argumente z. B. bei Kempf, Papsttum 204-223. Kempf, Papsttum 229f. Dok. A S. 395. Vgl. Kempf, Papstttum 199-252.
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sicher war, wird am Ende noch unsicherer sein. Daher habe ich, Goffredus de Trano, päpstlicher Subdiakon und Kapellan, auf die häufigen und demütigen Bitten der Scholaren […] zum gemeinen Nutzen und zum Nutzen der Studenten des Rechts eine Zusammenfassung der Titel der Dekretalen verfasst. In diesem Werk findest Du alles, was Du ansonsten verstreut suchen müsstest. Sowohl Anfänger als auch Fortgeschrittene, die bereits selbst unterrichten, mögen dadurch neue Wege finden, Fehler zu vermeiden und veraltete Meinungen zu widerlegen. Beichtväter (iudices animarum) finden hier Rat, um für jedes Vergehen das rechte Heilmittel anzubieten, Richter (forenses iudices) erfahren hier, wie rechtmäßig geurteilt werden muss405.
Goffredus spricht von den Schwierigkeiten, die das Studium des Kirchenrechts mit sich bringe, vom Sinn seiner Summe, die Verstreutes vereine, und vom Nutzen, den Studierende und Spezialisten aus der Lektüre seines Werks ziehen könnten, – von den universalen Gewalten und deren Verhältnis zueinander spricht er nicht. Weder die Rolle des Papstes als Gesetzgeber noch die Abgrenzung der weltlichen von der geistlichen Gerichtsbarkeit werden thematisiert oder problematisiert von dem Kanonisten und Kardinal, dessen Summe um 1242 entstanden ist und als geistiger Ausgangspunkt franziskanischer Kanonistik in Deutschland betrachtet werden kann, hatte sie doch Heinrich von Merseburg als Vorlage gedient und war seinen Kollegen und Nachfolgern – zu ihnen gehörte auch der Verfasser des Glossenapparats – mit Sicherheit bekannt gewesen. Es ist der Prolog, in dem ein Autor sich und sein Werk charakterisiert. Gleichsam wie ein Schatten liegt der häufig topisch formulierte Eingang über dem Text, durch ihn erhält das Werk seine subjektive Bestimmung406. Der Prolog wird daher mit besonderem Bedacht formuliert, die stilistischen und rhetorischen Bemühungen der mittelalterlichen Gelehrten legen ein deutliches Zeugnis davon ab. Das Thema des Prologs wählt jeder Autor mit großer Sorgfalt, führt er doch damit den Benutzer an das Werk heran. Was aber hat den Verfasser des Glossenapparats Fecit deus dazu veranlasst, das Problem des Gewaltendualismus an einer derart exponierten Stelle zu diskutieren? Weshalb begnügte sich der Autor nicht mit einem Hinweis auf die gesetzgeberische Funktion des Papstes, sondern unterstrich seine überragende Stellung in der Welt? Hatte es einen besonderen Grund, dass Goffredus von Trani, ein am Zentrum abendländischer Rechtswissenschaft ausgebildeter Universitätslehrer aus dem Stand des Weltklerus, diesem Problem im Prolog seiner Rechtssumme keine Beachtung schenkte und sich auf pragma405 Vgl. Goffredus Tranensis, Summa 5. 406 Zur Bedeutung des Prologs im mittelalterlichen Schrifttum vgl. einführend Hamesse (Hg.), Prologues.
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tische Überlegungen konzentrierte. Ein Franziskaner dagegen, der seine Ausbildung vermutlich in provinziellen Studienhäusern seines Ordens erhalten hatte, beinahe den gesamten Prolog seines Glossenapparats der Suprematie der geistlichen Gewalt über das Kaisertum widmete? Papalismus in der Welt im Prolog einer Kanonessammlung, warum? Bevor wir versuchen, Antworten zu finden, wollen wir uns einem zweiten franziskanischen Rechtstext zuwenden, der, aus demselben geographischen und zeitlichen Umfeld stammend, ähnliche Fragen aufwirft. Beide Texte zusammen bieten eine Grundlage, um das ekklesiologische Selbstverständnis der deutschen Franziskaner zu diskutieren.
2. Papalismus in der Kirche (Balduin von Brandenburg, Summe I.6) Innocenz III. schrieb an Dekan und Kapitel von Cambrai, dass er gemäß der Fülle seiner Amtsgewalt von Rechts wegen vom Recht dispensieren könne407. Der Papst hatte damit einen Zusammenhang zwischen der päpstlichen Vollgewalt (plenitudo potestatis), jenem Schlüsselbegriff innocenzianischer Weltdeutung, und einem nicht näher bestimmten Dispensationsrecht hergestellt. Das eine betrachtete er offensichtlich als Ursprung und Quelle des anderen. Innocenz IV., in vielem Weiterführer und Vollender des Werks seines gleichnamigen Vorgängers, ergänzte das Diktum und lieferte eine dem hierokratischen Papsttum des 13. Jahrhunderts würdige Charakterisierung der päpstlichen Dispensationsgewalt: Beim Fehlen eines Grundes genüge für die Erteilung einer gültigen Dispens bereits der bloße Wunsch (voluntas dispensatoria) des Kirchenoberhauptes408. Der Papst setzte damit für seine Person jene nützlichen und dringlichen Gründe außer Kraft, die man gewöhnlich für die Voraussetzung einer rechtsgültigen Dispensation ansah – zusammengefasst im Diktum: nulla dispensatio sine iusta causa. Niemals hatte bisher ein Papst eine völlig freie Verfügung über das Recht beansprucht. Die derart ausgeweitete Befähigung zur Dispenserteilung, also zur Freistellung von der Wirkung eines allgemeinen Rechtssatzes409, ist 407 Zu Balduins Text vgl. unten Dok. B S. 396-406. Zum Innocenz-Zitat vgl. X 3.8.4: Qui secundum plenitudinem potestatis de iure possumus supra ius dispensare. Vgl. dazu Ryan, Authority 314f. 408 Kommentar zu X 3.35.6. Vgl. dazu Buisson, Potestas 80-84. 409 Die für die klassische Kanonistik grundlegende Definition stammt von Rufinus: Die Dispensierung ist eine aus gerechtem Grund vorgenommene, fallweise Durchbrechung der Strenge der einschlägigen kanonischen Vorschrift (Dispensatio est iusta causa faciente ab eo, cuius interest, canonici rigoris casualis facta derogatio). Übersetzung nach Landau, Dispens 10-13, hier 11.
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ein deutliches Zeichen für den gesetzgeberischen „Absolutismus“, den die Päpste im 13. Jahrhundert zumindest in ihren theoretischen Überlegungen anstrebten. Die programmatischen Äußerungen hierokratischen Denkens waren allerdings frommes Wunschdenken und beschrieben die gelebte Rechtspraxis nur ungenau. Zur selbständigen Rechtseinrichtung war die Dispensation erst im Laufe des 12. Jahrhunderts geworden410. Gratian und die auf ihm aufbauenden Kanonisten hatten die terminologische Präzisierung vorangetrieben411, bis schließlich in der Glossa ordinaria zum Liber Extra eine dauerhafte Definition erreicht war: iuris communis relaxatio facta cum cognitione, ab eo qui ius habet dispensandi (Glossa ordinaria zu X 1.7.6). Während Gratian und seine Zeitgenossen eine praktische Dispensgewalt der Bischöfe voraussetzten, ohne sie näher zu behandeln, wuchs in den letzten Jahrzehnten des 12. Jahrhunderts die Neigung der Kanonisten, dem Papst auch auf diesem Gebiet eine ausschließliche Gewalt zuzusprechen412. Die Dispensationsbefugnis von Bischöfen und Provinzialsynoden erschien plötzlich als Ausnahme, ermöglicht allein durch eine päpstliche Delegation. Um diese Theorie zu bekräftigen, wiesen die papsttreuen Gelehrten auf päpstliche Gesetze hin, die den Bischöfen in dringlichen und nützlichen Fällen eine Dispensgewalt zusprachen. Bis ins 13. Jahrhundert hinein blieb die Rechtslage jedoch unklar; Lehrmeinung traf auf Lehrmeinung. Während Gelehrte wie Bernhard von Pavia oder Panormitanus der Ansicht waren, die päpstliche Ermächtigung bilde die Voraussetzung jeder bischöflichen Dispensgewalt, vertraten andere Kreise, zu denen Johannes Teutonicus, Laurentius Hispanus, Bernhard von Parma und andere zählten, die Ansicht, dass jeder Bischof vom gemeinen Recht dispensieren dürfe, sofern es ihm nicht ausdrücklich verboten worden war. Die päpstliche Dispensationsgewalt unterlag nach Ansicht der Rechtsgelehrten Beschränkungen, die sich an den Maßstäben der Gerechtigkeit (iustitia), der Sittlichkeit und der Liebe zum Nächsten (caritas) orientierten413. Allerdings erfuhr die päpstliche Befugnis zur Dispenserteilung eine sukzessive Erweiterung. Daran mitgewirkt hatten sowohl papalistisch denkende Kanonisten wie auch ein gesetzgeberisch aktives Papsttum. Ausgangspunkt der Diskussion war die Lehre des Rufinus, dass von den Normen der Bibel und der Konzilien nicht dispensiert werden könne. Im 13. Jahrhundert setzte sich allerdings die 410 Zum kirchlichen Dispensationsrecht vgl. einführend Plöchl, Kirchenrecht 2, 50-54; Feine, Rechtsgeschichte 333-336. 411 Stiegler, Dispensation; Ryan, Residential Bishop 268-279. 412 Buisson, Potestas 76f.; Ryan, Authority 313f. 413 Vgl. Feine, Rechtsgeschichte 334.
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Anschauung durch, dass die Päpste in Einzelfällen sowohl Konzilsbeschlüsse wie auch apostolisches Recht außer Kraft setzen könnten414. Die kanonistischen Bestimmungen wurden immer differenzierter, zugleich lockerten sich die letzten inhaltlichen Dispensbeschränkungen. Hostiensis, der zwischen Moralvorschriften der Bibel, von denen dispensiert werden dürfe, und anderen, die der Ehre Gottes und der öffentlichen Nützlichkeit dienten und deshalb indispensabel seien, unterschieden hatte, brachte das Problem auf den Punkt: Quid non licet sedi apostolicae?, um selbst die Antwort zu geben: „Alles ist ihm nämlich erlaubt, wofern er nicht gegen den Glauben handelt [...] und wofern er nicht gegen Gott durch Todsünde fehlt. Für solches kann nämlich keine Gewalt, kein Amt und kein Vorrecht dem Sünder als Entschuldigung dienen [...] Nicht glaube ich ferner, dass es der Achtung, Würde und Frömmigkeit zukommt, etwas zu tun, was nicht rechtens ist“415. Die gelehrte Schar der Kanonisten diskutierte die Dispensgewalt im Allgemeinen und jene des Papstes im Besonderen sehr ausführlich. Ein Blick in die Rechts- und Bußsummen der Zeit belegt die Wichtigkeit dieses Rechtsinstruments. Es war die Dispensation, die in vielen Fälle eine kirchliche Karriere rettete: Wer nach der Taufe eine Todsünde beging, durfte nach gemeinem Recht nicht geweiht werden; wer sich als geweihter Kleriker einer Todsünde schuldig gemacht hatte, wurde degradiert; wer einmal seinen Weihegrad verloren hatte, konnte diesen nicht wieder erlangen. Jede Abweichung von diesen Grundsätzen verlangte nach einer Dispensation416. Von diesen drei Regeln ausgehend, diskutierte Raimund von Peñafort in seiner Bußsumme die kirchliche Dispensgewalt und differenzierte zwischen der päpstlichen plenitudo potestatis, der kaum Grenzen gesetzt seien, und der bischöflichen Dispensgewalt, die sich nicht auf Mord, Simonie, Exkommunikation, Bigamie, Pfründenkumulation und andere schwere Vergehen erstrecke, um schließlich ganz allgemein über die unterschiedlichen Arten und das Wesen der kirchlichen Dispensgewalt nachzudenken417. Auch die Laienwelt konnte davon profitieren, denn allein per dispensationem konnte man beispielsweise die Lösung oder Umwandlung eines Gelübdes erlangen418. Entsprechend ausführlich diskutierten die gelehrten Kanonisten die verschiedenen Möglichkeiten, von einem geleisteten Gelübde zu dis414 Tierney, Infallibility 45-48. 415 Hostiensis, Lectura ad X 3.34.7. Zitiert nach Buisson, Potestas 90. 416 Die Grundzüge der Lehre zusammengefasst bei Raimund von Peñafort, Summa de poenitentia III/29 (De lapsis et dispensationibus), 463 f. Zur Summe vgl. Kuttner, Entstehungsgeschichte 419-434. 417 Raimund von Peñafort, Summa de poenitentia 348-352. 418 Weigand, Dispensmöglichkeit 7-34.
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pensieren. Raimund differenzierte zwischen freiwilligen, notwendigen, feierlichen und einfachen Gelübden, traf daneben eine inhaltliche Unterscheidung zwischen Wallfahrts-, Fasten- und Keuschheitsversprechen und erörterte schließlich die Grenzen der päpstlichen Dispensationsgewalt. Drei Lehrmeinungen dienten ihm dabei als Orientierungspunkt: Huguccio und seine Gefolgsleute hatten jede Dispensation von einem Gelübde abgelehnt, weil dies gegen das Naturrecht im Sinne des göttlichen Rechts wäre. Nach Alanus konnte der Papst dagegen auf Grund seiner höchsten Gewalt von jedem freiwillig abgelegten Gelübde dispensieren, im Unterschied zu jenen „notwendigen“ Gelübden, die jeder Christ mit der Taufe auf sich nahm. Raimund schloss sich einer dritten Ansicht an, für die er keinen Gewährsmann nannte, weil sie vermutlich die herrschende war: Von gewissen Gelübden, dazu zählten unter anderem die Ehelosigkeit und die Enthaltsamkeit, war keine Dispensation, ja nicht einmal eine Kommutation möglich. In den meisten anderen Fällen lag es im Ermessen des Papstes, ein Gelübde zu interpretieren, es auszusetzen oder umzuwandeln, falls dadurch nicht schwerer Schaden entstünde419. Wie Raimund von Peñafort behandelten die meisten Kanonisten des 13. Jahrhunderts die Dispensation vorrangig im Zusammenhang mit Gelübden sowie mit Tatbeständen, die eine kirchliche Weihe verhinderten oder zur Degradation eines Klerikers führen konnten. Einen etwas anderen Weg wählte Balduin von Brandenburg420. Der rechtsgelehrte Franziskaner, der möglicherweise an einer Universität oder an einem Generalstudium seines Ordens in Frankreich oder Italien studiert und von dort einschlägige Materialien für seine Arbeiten mit in die brandenburgische Mark gebracht hatte421, verfasste im Jahr 1270 – vermutlich im Magdeburger Konvent oder dessen Umgebung – eine Summe der gregorianischen Dekretalensammlung, für die er auch die Summe Heinrichs von Merseburg ausgiebig heranzog. Dunkle Schatten liegen über Balduin von Brandenburg und seiner Titelsumme zum Liber Extra. Kein mittelalterlicher Geschichtsschreiber hat sich für Balduin interessiert. Als Aussteller oder Zeuge von Urkunden trat er nicht in Erscheinung, sein Werk wurde kaum rezipiert und schließlich vergessen. Die Gründe für das Ausbleiben des Erfolgs bildeten Qualität und Quantität der Summe – allerdings nicht im negativen Sinne: Wie ein Mono419 Raimund von Peñafort, Summa de poenitentia lib. 1 tit. 8 (De voto et votorum transgressione et redemptoribus) 54-80, hier § 3, 4 und 9 S. 54-59 und 67-69. Dazu Weigand, Dispensmöglichkeit 14f. 420 Zum Text vgl. unten Dok. B S. 396-406. Zu Balduin von Brandenburg und seiner Summe vgl. Ertl, Kanonistik; Ertl, Balduin von Brandenburg. 421 Zu einem möglichen Universtätsstudium Balduins vgl. Ertl, Balduin 276 f. In den Quellen der Universität Bologna ab 1265 ist Balduin nicht nachweisbar. Vgl. Schmutz, Juristen.
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lith erhebt sich Balduins Titelsumme aus den kanonistischen Arbeiten seines nordostdeutschen Umfelds. Zu ausführlich und zu subtil hat der Autor seinen Stoff behandelt, seine Schüler vermochten ihm dabei nicht zu folgen. Balduins Werk wurde nicht zufällig mit der Summa aurea verglichen, der um 1253 abgeschlossenen Summe des Heinrich von Segusio. Der vielleicht größte Unterschied zwischen der einflussreichsten und bestuntersuchten Summe und Balduins Text ist das Entstehungsumfeld. Während Hostiensis an den Zentren der europäischen Rechtsgelehrsamkeit tätig war und dort seine gebildeten und begeisterten Leser fand, produzierte Balduin an „seinem Markt“, den deutschen Ordens-, Domund Stiftschulen, vorbei. Das Niveau seiner Titelsumme war zu hoch422; lediglich eine Handschrift seiner Summe blieb erhalten423. Wie seine Kollegen erwähnte Balduin von Brandenburg die Dispensation häufig im Zusammenhang mit unterschiedlichsten Weihehindernissen. Das vierte Buch seiner Summe ist verloren, doch können wir annehmen, dass er im Titel über das Gelübde die Dispensgewalt ausführlich diskutiert hat. Seine Gedanken zur päpstlichen und bischöflichen Dispensation fasste er jedoch – im Gegensatz zu den meisten seiner zeitgenössischen Kollegen – im Titel Über die Wahl und die Gewalt des Gewählten (De electione et electi potestate) zusammen424. Diesen Titel begann Balduin – wiederum im Gegensatz zu den meisten seiner Kollegen – mit einem langen Abschnitt über die Papstwahl. Dieses Vorgehen bot dem Autor die Möglichkeit, gleichsam in zwei Durchgängen Wahl und Dispensgewalt zunächst hinsichtlich des Kirchenoberhauptes und anschließend hinsichtlich der Bischöfe zu erörtern. Sowohl die Gegenüberstellung von Papst und Bischof als auch die ausführliche Diskussion der jeweiligen Dispensgewalt zählte im dritten Viertel des 13. Jahrhunderts nicht zum üblichen Inhalt der Kommentierung des sechsten Titels im ersten Buch der gregorianischen Dekretalensammlung. Balduins Vorgehen unterscheidet sich auch von den beiden Traktaten über die Wahl, die bis zur Mitte des 13. Jahrhunderts entstanden sind: Bernhard von Pavias Summa de electione und dem Tractatus de formis electionum des Laurentius de Somercote. Beide Autoren konzentrierten sich auf die Bischofswahl und schenkten der Papstwahl kaum Beachtung. Der Engländer Laurentius griff zur Feder, nachdem eine Bischofswahl an seiner Bischofskirche Chichester im Jahr 1254 zwar vom König bestätigt, aber vom Erzbischof von Canterbury und später auch vom Papst 422 Zu Hostiensis vgl. C. Lefebvre, Art. „Hostiensis“, in: Dictionnaire de droit canonique 5 (1953) Sp. 1221-1227; Gallagher, Canon law 212f.; Pennington, Pope and Bishops 6374; N. Brieskorn, Art. „Henricus de Segusio“, in: LexMA 4 (1989) Sp. 2138. 423 Vgl. Dok. B S. 396. 424 Zum Text vgl. unten Dok. B S. 396 ff.
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kassiert worden war. Von seiner Absicht, einen Beitrag zur Vermeidung von Verwicklungen dieser Art zu leisten, berichtet der Autor im Prolog: „Rechtsgelehrte haben subtile und verstreute Traktate über die Wahlen an Bischofs- und anderen Kirchen veröffentlicht. Doch dabei hatten sie mehr theoretische Erörterungen als praktische Anweisungen vor den Augen. Da es nun sowohl beim Wahlvorgang als auch bei der Abfassung der Wahldekrete immer wieder zu gefährlichen Fehlern kommt, will ich ein Büchlein verfassen, in dem auch der in diesen Dingen weniger Erfahrene alles Notwendige in kurzer und übersichtlicher Darstellung findet“425. Der pragmatische Engländer setzte sein Vorhaben konsequent in die Tat um und schrieb eine Abhandlung, die, angereichert mit vielen Musterurkunden, die Verhältnisse an einer englischen Bischofskirche sorgsam widerspiegelte. Von der Festsetzung des Wahltages über die Aussendung von Zitationsschreiben, von den anerkannten Wahlformen bis zum Wortlaut der auszufertigenden Urkunden – jeder Teil des Procedere findet seine Darstellung. Für Überlegungen, die über diese konkreten Verfahrensschritte hinausweisen, gab es in dieser praxisorientierten Arbeit keinen Platz. Die bereits 1177/79 verfasste Summa de electione des Bernhard von Pavia ist hingegen abstrakter und stärker am allgemeinen Kirchenrecht ausgerichtet. Bernhard kannte das Kirchenrecht seiner Zeit genau, hatte er doch die wissenschaftliche Dekretalistik selbst wesentlich mitgestaltet426. Hauptquelle seines Traktats über die Wahl war das Decretum Gratiani. Das Ziel seiner Arbeit bildete nicht die Wiedergabe regionaler Zustände, sondern die einschlägige Zusammenfassung des Kirchenrechts. Den Hauptteil seiner Summe gliederte Bernhard in drei Teile, den Themen potestas eligendi, qualitas eligendi und forma electionis gewidmet. Während in den beiden letzteren Abschnitten von den persönlichen Voraussetzungen des Gewählten und den kanonischen Wahlformen die Rede ist, erörterte der Autor im ausführlichsten ersten Teil die Macht des Wählens. Hier definierte Bernhard den Kreis der Wahlberechtigten entsprechend der zu vergebenden Prälatenwürde, besprach die Widerrufbarkeit abgeschlossener und nicht abgeschlossener Wahlverfahren und streifte das Problem von zwiespältigen Wahlausgängen427. Wie Laurentius konzentrierte sich Bernhard auf die Bischofswahl und referierte die kirchlichen Rechtssätze Stufe für Stufe. Es handelt sich um zwei technische Handbücher zur Abhaltung von Bischofswahlen, in denen das 425 Wretschko, Laurentius de Somercote 27 f. (Prolog). 426 Schulte, Quellen I 78-82 und 175-182; LeBras, Bernard de Pavie 782-789. 427 Bernhard von Pavia, Summa de electione 308-316. Zur Summe vgl. Schulte, Quellen I 178 f.; LeBras, Bernard de Pavie 786.
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päpstliche Wahlverfahren sowie die durch die Wahl erlangte Dispensgewalt lediglich gestreift werden. Balduin von Brandenburg dagegen erörterte nach einer kurzen Begriffsbestimmung am Beginn des Titels Wahl und Macht des Papstes. Dabei interessierte ihn das pragmatische Procedere des Wahlverfahrens nur am Rande. Die Zusammensetzung des Wahlgremiums, das Wahlverfahren, Konsequenzen einer zwiespältigen Wahl, Wahltag und Ablauf der Weihe wurden zwar genannt, bildeten in Wirklichkeit aber nur die Einleitung zu Gedanken, die um die Machtfülle des Papstamtes kreisten. Im Abschnitt über das Papsttum ging es zunächst um grundsätzliche Überlegungen über die Grenzen der päpstlichen Dispensgewalt, anschließend erstellte Balduin kasuistisch eine lange Reihe von päpstlichen Dispensrechten, um zuletzt die päpstlichen Reservatrechte vorzustellen. Für unveränderbar und damit indispensabel erklärte Balduin den Gepflogenheiten seiner Zeit entsprechend die biblischen Vorschriften, die Glaubensgrundsätze der ökumenischen Kirchenkonzilien sowie den allgemeinen Zustand der Kirche. Dabei handelte es sich gemäß einer zweiten Definition um die notwendigerweise vorhandenen, naturrechtlichen Vorschriften und Verbote428. Von allen anderen Einrichtungen und Handlungen – genannt werden Zehnt, Gelübde und Eid –, ja selbst von apostolischen Vorschriften könne der Papst dispensieren. Mit diesen konkreten Überlegungen, die Balduin vermutlich der Glossa Palatina entnommen hat, kombinierte der Autor eine kurze Erörterung über die Lösbarkeit und Umwandlung von Gelübden, um anschließend den Blick ins Grundsätzliche zu richten: „Es ist offenkundig, dass die Päpste den allgemeinen Zustand (status generalis) der Kirche verändern können, da alle kirchlichen Gesetze (statuta) von den Päpsten stammen. Hinsichtlich der Jurisdiktionsgewalt ist die Macht des Papstes so groß wie zur Zeit von Petrus. Mit derselben Autorität beschließt der heutige Papst Gesetze“429. Da Balduin bereits zuvor in Anlehnung an die Glossa Palatina vom status generalis der Kirche gesprochen hat, scheint es sich um die originale Lesart zu handeln und nicht um die Verschreibung eines Kopisten, der aus einem speziellen statutum einen allgemeinen status machte430. Eine solche Machtfülle war bisher weder von Juristen noch Päpsten beansprucht worden. In den kanonistischen Werken der ersten Jahrhunderthälfte wurde zwischen dem allgemeinen Zustand (status generalis) und 428 Zum indispensablen ius naturale vgl. Gagnér, Ideengeschichte der Gesetzgebung 184186. 429 Dok. B. S. 397 f. [fol. 11va] 430 Zu diesem Problem Post, Errors 357-405.
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einem allgemeinen Gesetz (statutum generale) der Kirche unterschieden und lediglich dieses der päpstlichen Verfügungsgewalt zugeordnet. Der status generalis galt als unveränderbar und indispensabel. Innocenz IV. übernahm diese Differenzierung aus den Arbeiten seiner Vorgänger und hielt auch als Papst an dieser inhaltlichen Beschränkung der päpstlichen Machtfülle fest431. Balduin dagegen stellte den Papst über die Kirche in ihrer irdischen Erscheinung und verband die schrankenlose Machtfülle des Kirchenoberhaupts mit der Petrus-Sukzession, ein Argument, mit dem Päpste und Kirchenreformer vor allem seit dem 11. Jahrhundert innerkirchliche, aber auch weltliche Machtansprüche des apostolischen Stuhls verteidigt hatten432. Konsequenterweise bestritt Balduin die Bindung eines Papstes an die Beschlüsse seiner Vorgänger. „Kein Gesetz vermag den Papst zu binden, ist er doch der Hüter und Meister der Gesetze. Der Gleiche vermag dem Gleichen keine Befehle zu erteilen“433. Die Dispenserteilung war an die Fähigkeit geknüpft, von den Rechtssätzen des gemeinen Rechts entbinden zu können. Da allein der Gesetzgeber die Wirkung eines Gesetzes aufheben konnte, standen Dispens und Gesetzgebung in engem Zusammenhang434. Den kirchlichen Rechtsgelehrten erschien die Dispensgewalt geradezu als Ausfluss der Gesetzgebungskompetenz, ja als ein Bestandteil einer Jurisdiktionsgewalt, die jede Form von Herrschaft über Menschen und Seelen wesentlich kennzeichnete. Mit tatkräftiger Unterstützung von gelehrten Kanonisten, die nach wissenschaftlicher Anerkennung und klerikalen Karrieren strebten, hatten die Juristenpäpste des 13. Jahrhunderts jede inhaltliche Beschränkung ihrer Gesetzgebungsgewalt überwunden435. Für das Oberhaupt der Kirche galt nun, was in der Antike für den römischen Princeps gegolten hatte: Er stand über den Gesetzen, sein Wille war Gesetz. Papa potest facere, quicquid deus potest – so formulierte es zwei Jahrhunderte später Nicolaus de Tudeschis (Panormitanus), bezeichnenderweise bevor er sich vom glühenden Verteidiger der päpstlichen Suprematie zum Mentor des Konziliarismus gewandelt hatte436. Gebunden blieb der Papst 431 Hackett, State 259-290; Post, Errors 361. 432 Goez, Kirchenreform 138f. 433 Dok. B S. 398 [fol. 11va] In der Glossa ordinaria kommentiert Accursius: Princeps legibus, ab alio conditis [...] vel a seipso [...]. Vgl. Corpus Iuris Civilis I col. 80. Zur kanonistischen Rezeption dieses Gedankens vgl. Tierney, Infallibility 14-57, bes. 30 und 57. 434 Gagnér, Ideengeschichte der Gesetzgebung 285. 435 Zum Papsttum an der Spitze einer „gesetzespositivistischen Umwälzung“ vgl. Gagnér, Ideengeschichte der Gesetzgebung 341-366. 436 Panormitanus, Comm. in X 1.6.34. Vgl. Ullman, Papalism 38-42. Ähnlich bereits Hostiensis: Dicamus igitur cum domino Innocentio III., quod quicquid facit papa deus facere creditur, dumtamen evidenter non peccet nec faciat contra fidem. Vgl. Ders., Lectura ad 4.17.13 s. v. casualiter. Vgl. Watt, Theory 285 mit Anm. 6.
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allein an das ius naturale, welches die Kanonisten, die wie die Theologen Gott und Natur als Einheit dachten, einstimmig mit dem göttlichen Recht gleichsetzten. Den Menschen wurde dieses Recht durch die Vorschriften des Alten und Neuen Testaments vermittelt, die Gratian nicht zufällig an den Beginn des ersten umfassenden Rechtsbuchs der Kirche gestellt hatte437. Balduin hatte den Zusammenhang erkannt und setzte seine Erörterung päpstlicher Machtfülle konsequenterweise mit einer kurzen Abhandlung über das Thema der Abgrenzung von positivem und natürlichem Recht fort438. Die Materie war schwierig, die Terminologie diffus. Stets hatten sich die Rechtsgelehrten davor gescheut, eine exakte Definition und Inhaltsbestimmung des göttlichen Rechts zu liefern439. Nach allgemeiner Überzeugung hatten erst Schwäche und Sündhaftigkeit der Menschen die Einsetzung menschlicher Gesetze nötig gemacht. In welchem Verhältnis diese zum Naturrecht standen und wodurch die positive Rechtsordnung ihre Legitimität erlangte, wurde jedoch meist offen gelassen440. In der Praxis hatte sich gezeigt, dass Päpste zunehmend gestaltend und urteilend in Bereiche eingriffen, die nach allgemeiner Anschauung zum Naturrecht gehörten. Das führte zu eingehenden Diskussionen bei den papsttreuen Kanonisten, die sich stets bemühten, Theorie und Praxis in Übereinstimmung zu bringen. Oft hieß das jedoch nur, das päpstliche Handeln im Nachhinein zu rechtfertigen und ihm das Aussehen des Legalen und Richtigen zu verschaffen. Einen Ausweg aus der problematischen Überschneidung unterschiedlicher Rechtssphären wiesen Anschauungen, die eine inhaltliche Offenheit mit moralischen Voraussetzungen verknüpften. Tankred hatte das Problem auf eine einfache Formel gebracht, die auch in der Glossa ordinaria der Dekretalen zitiert wurde: „Was mit der päpstlichen Autorität geschehen ist, ist mit göttlicher Autorität geschehen und ist wahr, falls ein gerechter Grund existiert“441. Es lag im Ermessen des gottgleichen Gesetzgebers, einen Grund für ausreichend zu halten. Balduin beschritt einen ähnlichen Weg. Im einleitenden Satz deutet er die Komplexität der Fragestellung an: „Ich leugne nicht, dass es im positiven Recht vieles gibt, das sich in natürliches Recht verwandelt hat, so dass es nunmehr als Vorschrift göttlichen Rechts gelten 437 438 439 440
Feine, Rechtsgeschichte 331f.; Ullman, Papalism 38-42. Zur Terminologie vgl. Kuttner, Droit positif 728-740. Dok. B S. 398 [fol. 11va-11vb]. Ullman, Papalism 42-46. Zur Legitimität des menschlichen Rechts durch dauerhaften Gebrauch vgl. Landau, Sündenfall 203-214. 441 Glossa ordinaria ad X 1.7.2: Quod fit auctoritate papae dicitur fieri auctoritate Dei, et est verum, si iusta causa hoc facit. Vgl. Ullman, Papalism 55 Anm. 4.
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muss“442. An der Existenz dieser Transformationen sei nicht zu zweifeln, ihre Inhalte exakt zu bestimmen, sei jedoch unmöglich. Dementsprechend schwierig gestalte sich auch eine Begrenzung päpstlicher Gesetzgebungsgewalt, könne man sich im Einzelfall doch niemals sicher sein, ob es sich um göttliches Recht handle. Da man jedoch davon ausgehen könne, dass die päpstliche Gesetzgebung auf fromme Weise erfolge, hätten selbst Beschlüsse, die dem göttlichen Recht widersprächen, aufgrund der päpstlichen Jurisdiktionsgewalt Bestand und Rechtskraft. Mit dieser Interpretation hatte Balduin die gratianische Beschränkung päpstlicher Gesetzgebungsgewalt dem subjektiven Willen des Papstes ausgeliefert. Die Kanonisten, und Balduin an ihrer Spitze, hatten das letzte Hindernis auf dem Weg zur unbeschränkten Gesetzgebung des Kirchenoberhauptes – zumindest in der Theorie – beseitigt. In Balduins Summe folgt nun ein langer Katalog von Einzelfällen, in denen der Papst Dispensation erteilen kann. Ohne Vollständigkeit anzustreben, reiht Balduin unterschiedlichste Tatbestände aneinander. Es ist die Rede von Gewalttaten wie Mord, von Weihehindernissen persönlicher Art wie illegitimer Geburt, Wiederverheiratung oder fehlendem Lebensalter, von ungültigen Weihen bei Simonie oder vorausgegangener Exkommunikation. Daneben konnten durch päpstliche Dispensation drohende oder bereits verhängte Strafen wie Degradation aufgehoben und Maßnahmen zur Karriereförderung wie Pfründen- und Ämterkumulation sowie das Rechts- oder Medizinstudium zugelassen werden. Diese inhaltliche Systematisierung von Balduins heterogener Kasuistik soll, ohne alle Einzelfälle aufzuzählen, einen Eindruck von der Bandbreite der postulierten päpstlichen Befugnisse vermitteln. Es ist bezeichnend für die kompilatorische Arbeitsweise des Autors, dass er erst im Anschluss an eine ausufernde Aufzählung eine allgemeine Begriffsbestimmung unternimmt443. So erfährt der Leser erst am Ende des Abschnittes, wie die Kirche ihre Dispensgewalt theoretisch beschrieben habe. Die von Balduin herangezogene Definition geht auf Papst Innocenz IV. zurück: „Die Dispensation ist eine Lösung des Rechts bei Kenntnis der Sachlage durch die dispensberechtigte Person“444. Die auf diesem Grundsatz aufbauenden Gedanken über die Differenzierung zwischen rigor iuris, ius und dispensatio entnahm Balduin größtenteils
442 Dok. B S. 397 f. [fol. 11va]. Beispiele bei Ullman, Papalism 55-65. Zur kanonistischen und legistischen Naturrechtslehre des hohen Mittelalters vgl. Weigand, Naturrechtslehre. Zu Gratian vgl. Van Engen, Practical 883-888. 443 Dok. B S. 398 f. [fol. 11vb]. 444 Dok. B S. 398 [fol. 11va-11vb]. Vgl. dazu Innocenz IV., Kommentar ad X, Venedig 1610, ad X 1.11.15 n. 4.
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der Bußsumme des Raimund von Peñafort445. Abgeschlossen wurde die terminologische Klärung durch einen Hinweis auf die besondere Sorgfalt, mit der die konkreten Umstände jeder Dispensation geprüft werden müssten. Der Text zeigt, dass es Balduin in seiner Behandlung der Wahl nur am Rande um das formale Procedere einer Papstwahl ging. Mit wenigen Andeutungen in diese Richtung hatte der Autor es bewenden lassen, galt sein wahres Interesse doch der Machtfülle des Kirchenoberhaupts. Die Dispensationsbefugnisse wurden dabei zum Ausgangspunkt der Überlegungen. Mit den Grenzen der Dispensgewalt hat Balduin die Grenzen der päpstlichen Gesetzgebungsgewalt verbunden, um beiden nur zögerlich Beschränkungen reichlich diffuser Art aufzuerlegen. Es folgen nun in Balduins Text eine umfangreiche Aufzählung konkreter Dispensationsrechte sowie eine Definition des Begriffs. Nach dieser Verengung der Perspektive auf die Dispensation erweiterte der Autor am Ende des Abschnitts über das Papsttum erneut den Blick, um – ähnlich wie das mit den konkreten Dispensrechten geschehen war – die päpstlichen Reservatrechte vorzustellen446. „Man muss wissen, dass der Papst noch anderes seiner Macht als spezielles Vorrecht reserviert hat“447. Der einleitende Satz parallelisiert erneut die Dispensgewalt mit anderen jurisdiktionellen, legislativen und administrativen Vorrechten des päpstlichen Amtes und legitimiert damit zugleich die gemeinsame Behandlung. Es ist ein umfassender Katalog, der von der Konzilseinberufung bis zur Entscheidungsgewalt in den causae maiores, von der Translation, Deposition und Restitution eines Bischofs bis zur Aufhebung von schädlichen Gewohnheiten reicht448. Wichtiges steht neben Unwichtigem, jurisdiktionelle und legislative Befugnisse neben dispensatorischen. Die erwähnte Kompetenz, bei zu naher Verwandtschaft und bei Gewalttaten zu dispensieren bzw. die Absolution zu erteilen, fügt sich beispielsweise nur schlecht in die jurisdiktionellen Rechte allgemeiner Art ein. Eine systematische Durchdringung und Darstellung päpstlicher Machtfülle lag offensichtlich nicht in Balduins Absicht, er war kein Denker der politischen Theorie, sondern ein überzeugter Anhänger des papalistischen Systems, das hier eine unsystematische, aber emphatische Unterstützung fand. Dementsprechend schloss Balduin den Abschnitt mit einem Hinweis: 445 Dok. B S. 401 [fol. 12vb]. Vgl. Raimund von Peñafort, Summa de poenitentia, 1603, Nachdr. 1967, 351. – Zum rigor iuris vgl. Gallagher, Canon Law 183f. 446 Zu Terminologie und Sache vgl. Hinschius, Kirchenrecht 1, 201f.; Pennington, Pope 154-189. 447 Dok. B S. 401 f. [fol. 13ra]. 448 Eine kürzere Liste bei Huguccio, Summa ad D.17 c.3. Text bei Watt, Theory 259 f. Hinweise zu ähnlichen Aufzählungen päpstlicher Reservatrecht ebd. 260 Anm. 33.
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„Alles dies gehört zu den päpstlichen Reservatrechten, weil es in den Bereich der hohen Gerichtsbarkeit (merum imperium) gehört. Ein Legat kann in diesen wichtigeren Angelegenheiten (maiora) nur tätig werden, wenn er dazu ein spezielles Mandat erhalten hat“449. Die mittelalterlichen Juristen kannten das merum imperium aus einer Digestenstelle, in der Ulpian die damit bezeichnete oberste Strafgewalt dem mixtum imperium als oberster zivilrechtlicher Gewalt gegenübergestellt hatte. Auf dieses Begriffspaar griff man im Mittelalter häufig zurück, um die Fülle der Gerichts- und Hoheitsrechte zu bezeichnen. Als entscheidend betrachtete man die Ausübung der hohen Gerichtsbarkeit, es konnte daher auch dem merum imperium allein diese Bedeutung einer hoheitlichen Gewalt im öffentlichen Interesse innewohnen450. In diesem umfassenden Sinne gebrauchte auch Balduin den Begriff. Die Erörterung der Papstwahl, in der allein die Papstmacht im Mittelpunkt stand, war damit abgeschlossen, und Balduin kehrte nach einem ausgedehnten Exkurs zum standardisierten Aufbau der Rechtssummen seiner Zeit zurück. Eine Initiale, die Rubrik De electione episcoporum und die für einen Titel übliche Einleitung: „Nachdem über die Wahl des Papstes und seine Macht gehandelt wurde, müssen nun Wahl und Macht der Bischöfe betrachtet werden“451 markieren einen sichtbaren Einschnitt, wie er gewöhnlich dem Beginn eines Titels entspricht. Die Eigenständigkeit des Abschnitts über die Papstwahl erfährt dadurch eine nochmalige Betonung. Der weitere Text folgt zunächst dem zeitgenössischen Schema. Balduin berichtet über die Wähler und die Organisation einer Bischofswahl sowie die persönlichen Voraussetzungen des Gewählten. Sein Vorbild dafür bildet Goffredus von Trani; aus verschiedenen Vorlagen stellte er den anschließenden Abschnitt über die drei kanonischen Wahlformen zusammen452. Von auffallender Heterogenität ist schließlich der Rest des Titels gekennzeichnet, in dem Weihe und Amtsgewalt des Bischofs zweimal hintereinander erörtert werden. Bei der ersten, kurz gefassten Behandlung des Themas ist die Orientierung an den bekannten älteren Texten deutlich erkennbar. Die zweite Erörterung, für die offensichtlich andere Vorlagen herangezogen wurden, ist wesentlich ausführlicher und enthält zusätzlich einen Abschnitt über die bischöfliche Dispensgewalt. Hier scheint die Struktur wiederzukehren, die Balduin bei der Erörterung der päpstlichen Amtsgewalt benutzt hat. Die Darstellung der 449 Dok. B S. 402 [fol. 13rb]. 450 Pennington, Pope 186-195; Pennington, Prince 25-27 (Geschichte vom verlorenen Pferd). 451 Dok. B S. 403 [fol. 13rb]. 452 Zu den textlichen Vorlagen, die in diesem Titel verwendet wurden, vgl. Ertl, Balduin 284-297.
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bischöflichen Amtsgewalt – es ist die Rede von der episkopalen Straf-, Disziplinar- und Lehrgewalt gegenüber Klerikern und Laien der Diözese – könnte man in dieser Hinsicht mit der Aufzählung der päpstlichen Reservatrechte vergleichen. Mit der Phrase Potestas episcopi autem est ... beginnt Balduin anschließend eine Diskussion der bischöflichen Dispensgewalt, wie im Fall des Papsttums also in enger Verbindung mit jenen allgemeinen Gedanken zur Machtfülle des Amts453. An der Spitze steht eine Auflistung von Einzelfällen: Der Bischof kann unter bestimmten Voraussetzungen Kleriker dispensieren, die unwissentlich Simonie begangen oder die ihre Weihe von Exkommunizierten erhalten haben. Fehlendes Weihealter und eine beschränkte Kumulation von Pfründen kann der Bischof ebenfalls legalisieren. Schließlich ist es ihm auch erlaubt, von Straftaten zu dispensieren, deren Strafmaß unter jenen von Ehebruch und Meineid liegt. Um das Problem im Anschluss an diese Auflistung allgemeiner zu erfassen, zitierte Balduin entgegen seiner Gewohnheit einige Dekretisten und Dekretalisten: Generell darf ein Bischof in allen Fällen dispensieren, solange das nicht ausdrücklich verboten ist. Das ist die allgemeine Überzeugung, die von berühmten doctores geteilt wird: Von Huguccio und Johannes (Teutonicus) in ihren Glossen zum Dekret; von Laurentius (Hispanus) und Vincentius (Hispanus), schließlich auch von Bernhard (Parmensis) in ihren Glossen zu den Dekretalen454.
Zwar vertraten die genannten Kanonisten diesen Standpunkt nicht mit der hier suggerierten Einheitlichkeit, da in ihren umfangreichen Werken oft widersprüchliche Meinungen nebeneinander standen, aber insgesamt hat Balduin die Tendenzen der Zeit erkannt und – insbesondere durch Verwendung der Glossa ordinaria zu den Dekretalen, aus der Balduins einleitender Satz und vielleicht auch die Hinweise auf die anderen Autoritäten stammen – die vorherrschende Anschauung der Gelehrten, aber auch der Kirchenspitze korrekt wiedergegeben. Balduin fährt fort: Sie alle sind der Überzeugung, dass die gegenteilige Meinung, die sich auf die Dekretale At si (X 2.1.4) stützt, keine Gültigkeit besitze, da es einem Bischof erlaubt sei, auch in Fällen, die schwerwiegender sind als Ehebruch, zu dispensieren. Andere Gelehrte jedoch sagen, dass ein Bischof nur dann dispensieren dürfe, wenn ihm dies ausdrücklich erlaubt worden sei. Wieder andere unterscheiden wie Petrus de Sampsone, ob ein Bischof gegen kanonische Bestimmungen, die die irregularitas herbeiführen, dispensiert455.
453 Zur Struktur des gesamten Titels vgl. Ertl, Balduin 295 (mit tabellarischer Übersicht). 454 Dok. B S. 404 [fol. 18ra-18rb]. Zur bischöflichen Dispensgewalt vgl. Ryan, Authority 319. Bernhard stützt sich in der Glossa ordinaria auf Lau(rentius), Jo(hannes Teutonicus) und T(ankred?). 455 Dok. B S. 404 f. [f. 18rb].
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Die restriktive Auffassung, die jede bischöfliche Dispensgewalt an eine Erlaubnis band, wurde in der Glossa ordinaria zwar genannt, aber ausdrücklich verworfen. Balduin ließ diese Lehrmeinung unkommentiert, obwohl sie in der Mitte des 13. Jahrhunderts in Sinibaldus Fieschi (Papst Innocenz IV.) einen prominenten Vertreter hatte, dessen Werk nach der Wahl des Autors zum Papst zusätzliche Autorität erlangte und auch die spätmittelalterliche Lehrmeinung wesentlich mitbestimmen sollte456. Hinsichtlich der Grenzen der bischöflichen Dispensgewalt hat Balduin seine Vorgänger jedoch nicht korrekt interpretiert, denn Bernhard von Parma und seine Kollegen hatten in ihren Kommentaren zur zitierten Dekretale At si die Ansicht vertreten, dass ein Bischof ohne explizite Erlaubnis nicht von Vergehen dispensieren könne, die schwerer wiegender als Ehebruch seien457. Die zuletzt genannte Beschränkung der bischöflichen Dispensgewalt auf Vergehen, die nicht zur irregularitas führten, hat neben dem zitierten Petrus de Sampsone458 auch Hostiensis zum Unterscheidungsprinzip gemacht459. Balduin verfeinerte dieses Prinzip anhand verschiedener Tatbestände und zusätzlicher Einteilungskriterien und machte sich schließlich auch über die Ursachen für eine derartige Differenzierung Gedanken. Mit diesen scholastischen Distinktionen beschließt Balduin seine Darstellung der päpstlichen und bischöflichen Amtsgewalt. Damit ist auch das Ende des Titels erreicht. Wie Nachträge erscheinen die folgenden Bemerkungen über die Begleichung der Wahlspesen, den Treueid und die Pfründenvergabe nach vollzogener Weihe460. Im Titel über die Wahl zeigt sich die Ausrichtung von Balduins Summe. Das Hauptinteresse des Autors galt nicht den technischen Details einer kanonischen Wahl. Dieses Thema, das in Traktaten zur Wahl und in vergleichbaren Rechtssummen des 13. Jahrhunderts den Titel De electione dominierte, arbeitete Balduin mit Hilfe seiner Vorlagen rasch ab, um sich anschließend ausführlich der mit einer Wahl übertragenen Amtsgewalt zuzuwenden und dabei dem Papsttum besondere Aufmerksamkeit zu schenken. Durchaus differenziert in der Behandlung der bischöflichen Amtsgewalt, entwirft der Autor das Bild einer päpstlichen Suprematie innerhalb der kirchlichen Hierarchie. Allein die Tatsache, dass der Papst und seine potestas derart ausführlich in den Blick genommen werden, unterstreicht die ekklesiologische Hinwendung hin zum Zentrum der römischen Kirche. Obwohl die Eigenständigkeit episkopaler Zustän456 457 458 459 460
Ryan, Authority 320 f. Anm. 51 und 320-324. Ryan, Authority 319 Anm. 38 (Bernhard) und 320 Anm. 49 (Hostiensis). Über ihn Schulte, Quellen II 108-110; Naz, Pierre de Sampsone Sp. 1497 f. Ryan, Authority 320 Anm. 47. Zum Treueid vgl. Ryan, Oath of fealty.
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digkeit in jurisdiktioneller und dispensatorischer Hinsicht als Selbstverständlichkeit vorausgesetzt wird und eine ausgewogene, ja höchst differenzierte Behandlung findet, zeigt sich die hierokratische Einstellung des Autors in seiner Beschreibung der päpstlichen Machtfülle, die Balduin – ohne den Begriff zu verwenden – als plenitudo potestatis begreift, der auf Erden kaum Grenzen gesetzt sind. Denn mit einem Papst, der nach seinem Ermessen in den generalis status der Kirche einzugreifen vermag und dessen legislatorische Gewalt weder durch Verfügungen seiner Vorgänger noch durch Bestimmungen des göttlichen Rechts eingeschränkt werden, besitzt die päpstliche Monarchie ein in sich schlüssiges theoretisches Fundament. Balduins Gedanken weisen bemerkenswerte Parallelen zur Lehre des Heinrich von Segusio auf. Dabei verband die beiden nicht allein der ausufernde Umfang ihrer Rechtssummen. Während Balduin jedoch bald vergessen wurde, feierte man den gelehrten Kardinal als monarcha utriusque iuris. Hostiensis hat nach Ansicht der Forschung das juristische Denken in zwei Feldern wesentlich bereichert: Er war einerseits der erste, der dem Papst eine durch irdische Instanzen nicht beschränkte Macht, die potestas absoluta, zuschrieb und damit den papalistischen Strömungen seiner Zeit einen prägenden Begriff hinterließ461. Andererseits band Hostiensis dieses allmächtige Papsttum an eine korporative Ekklesiologie, die auch Bischöfen und Kardinälen einen eigenständigen Beitrag zur Lenkung der Kirche zuwies462. Beide Tendenzen finden sich auch bei Balduin von Brandenburg. Die ekklesiologischen Modelle beider Kanonisten, des berühmten und des unbekannten, kombinieren hierarchische und konstitutionelle Gedanken und werden damit der Differenziertheit der kirchlichen Hierarchie gerecht – trotz eines klaren Bekenntnisses zugunsten des papalistischen Systems. Mit der Erörterung solcher Themen im Titel über die Wahl hat Balduin den von seinen Klerikerkollegen eingeschlagenen Weg, dem in dieser Hinsicht auch Hostiensis gefolgt war, verlassen. An die Stelle einer an den formalen Abläufen orientierten Ausrichtung trat die Suche nach einer inhaltlichen Standortbestimmung päpstlicher Machtfülle innerhalb der Kirche. Dieses Verlangen nach einer umfassenden und geschlossenen Determinierung des Papstamtes im vordersten Teil des Textes hatte auch der unbekannte Verfasser des Glossenapparats Fecit deus, der in seinem Prolog die Stellung des Papstes innerhalb der Welt diskutierte. Weshalb die beiden Rechtsgelehrten aus dem Franziskanerorden in ihren kanonistischen Werken diesen Sonderweg einschlugen, weshalb sie an die 461 Watt, Plenitudo Potestatis 167. 462 Zur Ekklesiologie des Hostiensis vgl. Gallagher, Canon Law 91 f. und 108-112; Pennington, Prince 48-75.
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Stelle technischer Hinweise nunmehr inhaltliche Erörterungen papalistischer Tendenz stellten, soll nach einigen Überlegungen zur institutionellen und mentalitätsgeschichtlichen Entwicklung des Franziskanerordens erörtert werden.
3. Franziskanische Institutionalisierung und Selbstfindung Franziskus lagen ekklesiologische Überlegungen fern463. Die Gedanken des charismatischen Ordensgründers, der sein Leben vor der Bekehrung „kläglich vergeudet und vertändelt, der üblerweise sogar alle seine Altersgenossen an eitlem Tand und Treiben übertroffen hatte, der ein gar übereifriger Anstifter von Streichen und Eiferer für Torheiten gewesen war“464, kreisten nach seiner Wandlung unaufhörlich um das evangelische Leben in der Nachfolge Christi. Dieses zu erreichen und seinen Mitmenschen den Weg dorthin zu predigen waren Antrieb und Anliegen eines jahrzehntelangen Büßerlebens in unbarmherziger Askese465, die seinen Körper durch Züchtigungen und schonungslosen Umgang nach und nach auszehrte466. Das Martyrium durch Heidenhand blieb Franziskus versagt467, so kasteite er, unablässig das Loblied Gottes auf den Lippen, seinen Körper selbst zu Tode468. Der „Poverello und Pazzo, der nackt die Welt verließ und auf nacktem Boden starb, der singende und tanzende Ekstatiker, der sich kasteiende Asket, der in Höhlen und Feldhütten verborgene Eremit, der schlaflose und tränenreiche Beter, der geistbegabte Verächter der Wissenschaft, der Gehorsame, der im Aschekreis Hockende, Asche auf dem Haupt“469, war kein systematischer Ordensgründer, sondern ein religiöser Eiferer, der wie Tausende vor ihm an der Wende vom 12. zum 13. Jahrhundert das Leben in Armut und 463 Zur franziskanischen Institutionalisierung vgl. Brooke, Government; Moormann, History 83-155; Barone, Note 57-70; Desbonnets, Intuition; Nimmo, Reform 51-78; Capitani, Fraternitas 113-142; Dalarun, François; Alberzoni, Pazzus 279-289. 464 Thomas von Celano, Vita prima 2. Aus der Vielzahl der Franziskus-Biographien vgl. Manselli, Franziskus. 465 Zu Franziskus’ Persönlichkeit vgl. stellvertretend Elm, Franziskus und Dominikus 121-141. Zu Psyche und Individualität von Franziskus vgl. ebd. 137 f. Vgl. auch Dalarun, François 11-38. 466 Zur Askese des Franziskus vgl. Thomas von Celano, Vita prima 51f., 97 f. und 107. Zur Problematik vgl. Schmucki, Malattie 315-362. 467 Zum Martyrium als Ausdrucksform franziskanischer Spiritualität vgl. Daniel, Franciscan Concept 39-54. 468 Schmucki, Malattie 315-362. 469 Elm, Franziskus und Dominikus 133 (hier die Quellenbelege).
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Gebet, Fasten und Enthaltsamkeit suchte470. Seine Welt gründete nicht auf Form und Regel, sondern auf absoluter Gotteshingabe und einem radikalen Willen zur Entäußerung471. Unentwegt wollte der Heilige Buße üben und predigen472. Die franziskanische Gemeinschaft der ersten Generation war wenig strukturiert und offen für Gläubige aller sozialen und geistlichen Stände, jeden Bildungsgrades und Alters, aller Nationen und Sprachen473. Emphatisch hatte Franz in der Regula non bullata vom Winter 1220/21 alle, die Gott in der heiligen katholischen und apostolischen Kirche dienen wollten – „alle Priester, Diakone, Subdiakone, Akolyten, Exorzisten, Lektoren, Ostiarier und alle Kleriker, alle Mönche, alle Konversen und Geringen, Armen und Bedürftigen, Könige und Fürsten, Handwerker und Bauern, Knechte und Herren, alle Jungfräulichen, freiwillig Ehelosen und Verheirateten, Laien, Männer und Frauen, alle Kinder, Heranwachsenden, Jungen und Alten, Gesunden und Kranken, alle Niedrigen und Großen, alle Völker, Geschlechter, Stämme und Sprachen, alle Nationen und alle Menschen überall auf der Erde, die jetzt sind und in Zukunft sein werden“ – zu Buße und Gottesliebe aufgerufen474. Franziskus’ Anhänger benötigten allerdings nicht allein erbauliche Worte der religiösen Ermahnung, sondern ein verbindliches Regelwerk, das die Geschicke der rasch wachsenden Ordensgemeinschaft zu lenken im Stande war. Es bedurfte einer neuen pragmatischen Ordensregel. Franziskus, der das Evangelium zur exklusiven Richtschnur seines Lebens erkoren hatte475, tat sich bei dem Gedanken an eine Regulierung seiner jungen Gemeinschaft schwer476. Nachdem sich die älteren Regeln von 1209 und 1222 hauptsächlich aus Evangeliumsstellen zusammengesetzt hatten und wenige konkrete Anhaltspunkte für das Leben der expandierenden Ordensgemeinschaft boten477, forderten die Brüder ein 470 471 472 473 474 475
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Elm, Eremitengemeinschaften 491-550; Elm, Franziskus und Dominikus 131f. Elm, Vita franciscana 145. Zur franziskanischen Bußpredigt vgl. Elm, Bußpredigt 158-163. Thomas von Celano, Vita prima 31, 25. Vgl. dazu Selge, Franz 134; Elm, Entwicklung 181. Flood, Regula non bullata 73. Zur Regel vgl. Esser, Studien 59-77; Esser, Textkritische Untersuchungen; Vollat, Césaire de Spire 310-323. Die exklusive Orientierung am Evangelium war keineswegs originell und findet sich beispielsweise bereits in Stephan von Murets Vorschriften für den von ihm gegründeten Grandmontenserorden (letztes Viertel 11. Jh.): „Es gibt keine andere Regel als das Evangelium Christi“. Zit. nach Melville, Geltungsgeschichten 102. Zum Vergleich von Stephan von Muret und Franziskus von Assisi vgl. Da Milano, Prefrancescanesimo; Melville, In solitudine; Melville, Geltungsgeschichten 102-104. Alberzoni, Pazzus 280. Zur Regel von 1209 vgl. Thomas von Celano, Vita prima 32: „Da der selige Franziskus sah, dass Gott der Herr täglich die Brüderzahl mehrte, schrieb er für sich und die
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neues, besseres Regelwerk. Doch die Regula bullata von 1223 musste dem schwärmerischen Gründer gleichsam abgerungen werden478, richtete sich dessen Streben doch nicht vorrangig auf die erfolgreiche Etablierung einer regulierten Ordensgemeinschaft, sondern auf die universale Bekehrung der Menschheit479. Wenn Franziskus’ Forderung nach einem „neuen Menschen“, einem selbstlosen Christen, in dem der Geist Christi den „alten Menschen“ überwunden hatte, in Erfüllung ging, war weiteres Regelwerk unnützer Ballast. Noch in seinem Testament schrieb er lapidar: „Der Höchste offenbarte mir, dass ich leben muss gemäß der Form des Heiligen Evangeliums“480. Doch die Ansichten über die Lehren des Evangeliums gingen auseinander. So hinterließ Franziskus ein Vermächtnis, das – in der schwierigen Verschmelzung von Charisma und Institution – für unterschiedlichste Interpretationen offen war und das Gewissen der Nachfolger des heiligen Franziskus schwer bedrückte481. Die legislatorischen Defizite wurden zum Ausgangspunkt eines nie endenden Kampfes um eine institutionelle Selbststabilisierung der jungen Ordensgemeinschaft482. Es wurde ein Kampf um Authentizität und Homogenität, der Spaltung, Unterdrückung, Extremismus und brennende Scheiterhaufen mit sich bringen sollte483. Wenig kohärent, getragen von einem spirituellen Idealismus, war auch Franziskus’ Haltung gegenüber der Kirche seiner Zeit. Kaum war die Phase der eigenen Bekehrung zu Ende gegangen, eilte Franz nach Rom, um für seine kleine Gemeinschaft barfüßiger Laien den päpstlichen
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Brüder, gegenwärtige wie zukünftige, einfältig und mit wenig Worten eine Norm und Regel für das Leben, wobei er mit Vorliebe Stellen aus dem heiligen Evangelium benützte, dessen Vollkommenheit allein er eigentlich erstrebte“. – Vgl. auch Bernhardus de Bessa, Liber de Laudibus 1, 668: Franciscus regulam scripsit et eadem pene mandata, quae Christus Apostolis suis dedit. Alberzoni, Pazzus 286 f. Zur Entwicklung der Ordensregel vgl. Flood, Regula non bullata; Selge, Franz 137f.; Ghinato, Regula, passim. Zur franziskanischen Sicht vgl. Speculum perfectionis cap. 68 S. 194-198. – Zu den Versuchen anderer Charismatiker, den von ihnen gegründeten Gemeinschaften institutionelle Dauerhaftigkeit zu verleihen, vgl. Melville, Geltungsgeschichten 80-86. Selge, Franz 134f. Testamentum § 14, in: Franciscus, Opuscula, 439. Wagner, Historia Constitutionum 12: „Ita in regula nonobstante iuristarum collaboratione fundamentalia desunt. [...] Disciplina autem religiosa in regula delineata quandam amplitudinem et ambiguitatem in interpretatione non excludit“. Vgl. auch Elm, Vita franciscana 145; Berg, Vita minorum 158. Zur institutionellen Selbststabilisierung im Ordenswesen vgl Schürer, Dominikaner; Melville, Geltungsschichten 80-86. Zum Problem vgl. allgemein Elm, Legitimation. Elm, Franziskus und Dominikus 125-127.
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Segen zu erbitten484. Die enge Verbindung zum Papst und seinem Umfeld blieb in den folgenden Jahren bestehen. Bereits die Anfangsworte der Ordensregel berichten von der freiwilligen Unterordnung unter Papst und Kirche: „Bruder Franziskus verspricht Gehorsam und Ehrerbietung dem Herrn Papst Honorius und seinen rechtmäßigen Nachfolgern sowie der römischen Kirche“485, so dass der Formierungsprozess des Ordens gleichsam unter den Fittichen der Kurie erfolgte486. Deutlichster Ausdruck der persönlichen und institutionellen Verbindung von Papsttum und franziskanischer Bewegung war die Einsetzung eines gubernator, protector et corrector istius fraternitatis von Kardinalsrang, worum Franziskus Papst Honorius III. gebeten hatte, „damit die minderen Brüder zu dessen Füßen für alle Zeiten treu im katholischen Glauben verharren sowie Armut, Demut und das heilige Evangelium einhalten, wie sie es versprochen haben“487. Diese Vertrautheit zur Zentrale der katholischen Kirche drohte Franziskus selbst zu sprengen, als er in seinem Testament seinen Anhängern verbot, von der römischen Kurie Urkunden zu erbitten488. Der junge Orden sollte seinen Weg in Zukunft ohne päpstliche Privilegierungen beschreiten. Dieser offenkundigen Abgrenzung stand eine grenzenlose Hochachtung vor dem geweihten Klerikerstand gegenüber489. Für den von einer begeisterten Verehrung für die Eucharistie erfüllten Franziskus waren die Priester unverzichtbare Vermittler des sakramentalen Seelenheils, hüteten sie doch den allerheiligsten Leib und das allerheiligste Blut des Gekreuzigten490. Jedem Gläubigen trug er in schriftlichen und mündlichen Ermahnungen auf, den Klerikerstand aus vollem Herzen zu lieben und mit Achtung zu behandeln: Selig der Knecht Gottes, der Vertrauen hegt zu den Klerikern, die in Wahrheit nach der Form der heiligen römischen Kirche leben. Und wehe jenen, die diese verachten. Denn, mögen sie auch Sünder sein, so darf doch nie-
484 Selge, Franz 139-151; Maleczek, Franziskus 23-80. 485 Regula bullata cap. I, in: Franciscus, Opuscula 366 f. 486 Selge, Franz 135-139; Powell, Papacy 248-262. Zur Ausgestaltung dieses engen Verhältnisses in der franziskanischen Historiographie vgl. Speculum perfectionis cap. 78 S. 226-228. 487 Regula bullata cap. XII, in: Franciscus, Opuscula 371. 488 Testamentum § 25, in: Franciscus, Opuscula 431-448, hier 441: Praecipio firmiter per obedientiam fratribus universis, quod ubicumque sunt, non audeant petere aliquam litteram in curia Romana, per se neque per interpositam personam, neque pro ecclesia neque pro alio loco neque sub specie predicationis neque pro persecutione suorum corporum. Vgl. dazu Esser, Testament 174-182; Selge, Franz 153; Miethke, Paradiesischer Zustand 505 f. 489 Clasen, Priesterliche Würde 43-58; Esser, Sancta Mater 1-26; Franceschini, Sacerdote 34-39; Selge, Franz 150 f.; Boni, Obbedienza 113-155; Holter, Dienst, passim. 490 Esser, Sancta Mater 7; Clasen, Priesterliche Würde 50f.; Selge, Franz 150 f.
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mand über sie urteilen, weil der Herr es sich allein vorbehalten hat, über sie das Urteil zu fällen. Denn im gleichen Maße, wie die Verwaltung über alles erhaben ist, die sie über den heiligsten Leib und das Blut unseres Herrn Jesus Christus haben, welchen sie empfangen und sie allein anderen austeilen, im selben Maße ist die Sünde derjenigen größer, die sich gegen sie verfehlen, größer als bei allen anderen Menschen dieser Welt491.
Die sakramentale Gewalt des Klerus, die ihren ehrwürdigsten Ausdruck in der Eucharistiefeier fand, machte die Mitglieder des geweihten Ordo in Franziskus’ Augen zu unantastbaren Heilsträgern, denen Ehrfurcht zu zollen Aufgabe jedes Christenmenschen war und denen sich der Heilige frohlockend zu Füßen warf: Weiter gab mir der Herr zu den Priestern, die nach der Vorschrift der heiligen römischen Kirche leben, ein solch großes Vertrauen wegen ihrer Weihe, dass ich, auch wenn sie mich verfolgten, dennoch zu ihnen meine Zuflucht nehmen will. Und wäre ich so weise wie Salomon, wenn ich die ärmsten Priester der Welt träfe, würde ich mich dennoch weigern, gegen ihren Willen in den Gemeinden, in denen diese leben, zu predigen492.
Nicht die persönliche Würdigkeit des Priesters zählte – ein Vorwurf, den alle häretischen Gruppen des hohen Mittelalters gemeinsam gegen die römische Amtskirche schleuderten493 –, sondern allein die rechtmäßige Spendung der kirchlichen Weihe, die selbst ein unwürdiges Mitglied jenes geweihten Standes immer spenden konnte. Franziskus drückte sich in diesem Zusammenhang klar aus: „Was redet ihr da Brüder? Es ist ein Priester, der mir das [sc. falsche Beschuldigungen] gesagt hat. Kann denn ein Priester lügen?“494. In inniger Eintracht mit dem geweihten Stand wollte Franz den ehrwürdigen Fußspuren der heiligen Mutter Kirche folgen495 und damit jeden gefährlichen Zweifel an seiner Verbundenheit mit der ecclesia romana zerstreuen496. Während den Waldensern vorgeworfen wurde, sie würden die statuta ecclesiae missachten, die Kindstaufe und andere Sakramente ablehnen, die Transsubstantiation für eine Erfindung des Klerus halten und diese sacerdotes peccatores, die 491 Admonitiones cap. 26, in: Franciscus, Opuscula 116 f. Übers. nach Franziskus, Schriften 119-130, hier 129. 492 Testamentum § 6f., in: Franciscus, Opuscula 438. Vgl. dazu Esser, Testament 146152. Weitere Beispiele bei Clasen, Priesterliche Würde 48-50. Vgl. auch Thomas von Celano, Vita secunda cap. 146. 493 Grundmann, Religiöse Bewegungen 96; Borst, Katharer 149-156; Clasen, Priesterliche Würde 43-46; Audisio, Waldenser 134-173. Zu antiklerikalen Tendenzen in der Volksfrömmigkeit des 13. und 14. Jahrhunderts vgl. Segl, Volksfrömmigkeit 165-168. 494 Thomas von Celano, Vita prima 46. 495 Esser, Sancta Mater 10-15; Boni, Obbedienza 154f. 496 Clasen, Priesterliche Würde 47.
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keinerlei Binde- und Lösegewalt besäßen, als Pharisäer und Apostelverfolger beschimpfen497, so betonte Franziskus in allen angesprochenen Punkten ausdrücklich seine Kirchentreue. Seine kirchlich-religiöse Haltung gleicht in dieser Hinsicht einem antiwaldensischen Programm. Seine Anhängerschar brachte – zu einer Zeit, als ein möglicher Häresieverdacht den expandierenden Orden nicht mehr gefährden konnte – für den Klerikerstand weit weniger Begeisterung auf. Denn es waren die fehlende Ausbildung sowie die Verweltlichung der Prälaten und des Pfarrklerus, die die Kirche – trotz allgemeiner und regionaler Gegenmaßnahmen498 – viele Sympathien gekostet und in einen Mehrfrontenkampf gegen Kirchenkritik und Häresie verwickelt hatte. Nicht zufällig blühte im beginnenden 13. Jahrhundert die satirische Dichtung, die verlotterte Kleriker und eine verweltlichte römische Kurie zum Gegenstand ihres Spottes machte („Rom, das uns aussaugt und verschlingt, der Bosheit Quell [...]. Was immer mag geschehen dort, ist wider Gott und Gottes Wort“499). Diesem Kampf gegen interne Schwächen und äußere Feinde eine siegreiche Wendung zu geben waren die Mendikanten angetreten. Franziskus hatte sich mit den organisatorischen Antworten auf diese seine Epoche aufwühlenden Probleme kaum auseinandergesetzt. Sein Streben galt der individuellen Heiligung, die er durch Wort und Tat erlangen und allen bekehrungswilligen und bußfertigen Menschen weitergeben wollte. Die Mühsal der praktischen Ordensleitung nahm er dafür widerwillig und halbherzig in Kauf500, denn einerseits wollte Franziskus die offizielle Führungsfunktion der Ordensgemeinschaft abgeben, andererseits aber auch nicht die Kontrolle über seine Gemeinschaft verlieren501. Dagegen überließ der Heilige die Aufgabe, über den ekklesiologischen Standort des Franziskanertums nachzudenken und die wachsende Ordensgemeinschaft funktional und organisatorisch in die christliche Glaubensgemeinschaft zu integrieren, den kommenden Generationen. Von dem religiösen Ernst und Eifer der neuartigen religiösen Gemeinschaft ergriffen, berichtete Jakob von Vitry, der an der römischen Kurie in Perugia im Jahr 1216 auf Anhänger des Franziskus gestoßen 497 Vgl. polemische Beschreibung der waldensischen Lehre bei David von Augsburg, Tractatus 207. 498 Zu den theoretischen und praktischen Anforderungen an einen Priesterkandidaten vgl. Dohar, Sufficienter litteratus 305-321. 499 Haller, Papsttum III 309 f. (hier das Zitat von Guiot von Provins). 500 Esser, Anfänge 159; Selge, Rechtsgestalt 1-13; Alberzoni, Pazzus 283 f. und 289-294. 501 Zur Abgabe der Ordensleitung aus franziskanisch-apologetischer Sicht vgl. Thomas de Celano, Vita prima cap. 103; Thomas de Celano, Vita secunda cap. 143; Bonaventura, Legenda Maior VI/4 und XIV/1; Speculum perfectionis c. 39-46 S. 101-123. Vgl. dagegen aber auch Speculum perfectionis cap. 80 S. 230-238.
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war, seinen geistlichen Freunden in der Diözese Lüttich, dass die von Umbrien in die Toskana und die Lombardei, ja bis nach Apulien und Sizilien gelangten simplices et pauperes homines nicht nur von den Gläubigen, sondern auch von Papst und Kardinälen, ja selbst von einzelnen Kurialen so hoch geehrt würden, dass sie eine Behinderung durch die „stummen Hunde“ (canes muti), jene nördlich wie südlich der Alpen dem religiösen Aufbruch skeptisch gegenüberstehenden Prälaten, nicht zu befürchten hätten502. In dem Schreiben hatte der neu geweihte Bischof von Akkon die prekäre Position der Bettelmönche klar wiedergegeben. Die institutionelle Integration einer Bewegung, der in den ersten Dezennien des 13. Jahrhunderts Novizen ex omni fere natione zuströmten und die jenseits der Alpen in Spanien, Frankreich, Deutschland und Ungarn Fuß zu fassen begann503, in die bestehende kirchliche Hierarchie war nur mit der tatkräftigen Unterstützung von Päpsten und Kardinälen möglich. Dabei standen Bischöfe und Priester dem unaufhaltsamen mendikantischen Aufstieg doch skeptisch bis ablehnend gegenüber. Die „stummen Hunde“, wie Jakob die Säkularkleriker – unter Rückgriff auf ein altes Bibelwort (Jes 56,10), das bereits Gregor der Große benutzt hatte, um gegen pflichtvergessene Seelenhirten zu wettern – polemisch nannte, fürchteten um ihr pastorales Monopol, das dem Klerus nicht nur soziales Prestige bescherte, sondern auch seine materielle Lebensgrundlage sicherte. Nur mit Hilfe der römischen Zentrale konnten die Mendikanten dem Gegenwind aus den Ortskirchen trotzen. Die dadurch verursachte Verschiebung des ekklesiologischen Koordinatensystems erzeugte zwangsläufig Aufregung und Widerstand. Seit dem Mittelalter sehen die Anhänger der „Verfallsthese“, die in der kurialen Einwirkung auf den jungen Franziskanerorden den Beginn seines Niedergangs zu erkennen meinten, in Hugolin von Ostia, dessen kirchenpolitisches Wirken als Kardinalprotektor und späterer Papst Gregor IX. eng mit Entstehung und Etablierung der mendikantischen Bewegung verwoben war504, einen der Hauptschuldigen. Sein Bemühen, die Kirche mit Hilfe des kanonischen Rechts straffer zu organisieren, verdammte dreihundert Jahre später auch Martin Luther, der vehement gegen das Kirchenrecht zu Felde zog und Gregor einen Vorläufer des päpstlichen Antichristen 502 Jacques de Vitry, Lettres Nr. 1 549-557, hier 553 f. Vgl. dazu Elm, Entwicklung 173. Ausführlich zu Jakobs Sicht der frühen Mendikanten vgl. Oberste, Heiligkeit 212218. 503 Zur Internationalität des Ordens in der Frühzeit vgl. Ertl, Ihr irrt viel umher. 504 Flood, Domestication 320-327; Feld, Totengräber 337-342; Alberzoni, Pazzus 280-294 und 299 f. Ausgewogen dagegen Brooke, Government 59-76; Elm, Entwicklung 186188. Allgemein zu Gregor IX. vgl. Haller, Papsttum IV 47-160.
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schimpfte505. Mit dem Juristenpapst wurde eine zentralisierte ecclesia militans verurteilt, deren kämpferisches Streben angeblich mehr auf das irdische Wohlergehen der eigenen Truppen denn auf das ewige Leben der Christenheit gerichtet war. Die minoritische Majorität empfand anders und sah im Oberhaupt der Kirche keinen Verderber, sondern einen rettenden Helfer506. War es doch offensichtlich, dass das franziskanische Schifflein einer stürmischen Zukunft entgegentrieb, in der verlässliche und mächtige Verbündete nötig waren, um in sicheres Fahrwasser zu gelangen. Der heilige Ordensgründer selbst wies seinen Anhängern den Weg nach Rom, hatte er doch zum einen das Schicksal seiner kleinen Gemeinschaft von Anbeginn an in die Hände der römischen Kurie gelegt und seiner Hochachtung vor der kirchlichen Hierarchie deutlich Ausdruck verliehen, es aber zum anderen versäumt, das Leben seiner wachsenden Anhängerschar durch ein klares Leitbild sowie widerspruchsfreie Aufgaben und Regeln für die bevorstehenden Herausforderungen innerhalb und außerhalb der Kirche zu rüsten507. Die Ernte dieser Saat zeigte sich rasch: Bereits vier Jahre nach Franziskus’ Tod stand eine Delegation des franziskanischen Generalkapitels vor Gregor IX. und bat um eine „authentische Interpretation“ der Regel. Die päpstliche Antwort, veröffentlicht in der Bulle Quo Elongati508, gleicht einem zweiten Gründungsdokument des Ordens, war dieses umstrittene Meisterstück päpstlicher Diplomatie doch der erfolgreiche Versuch Gregors, die religiösen Ideen des Franziskus in eine juristische und theologische Terminologie zu bringen und sie damit für die Ordensgemeinschaft gleichermaßen fruchtbar wie realisierbar zu machen509. Gregors Vorgehen kann daneben auch als erster Schritt hin zu jener vermögensrechtlichen Verknüpfung von Orden und Papsttum betrachtet werden, die auf der gedanklichen Trennung von Eigentum und Gebrauch beruhte. In einer raffinierten juristischen Konstruktion, die ihre endgültige Form in der päpstlichen Konstitution Exiit qui seminat von 1279 fand (VI 5.12.3)510, wurde das dominium auf das Papsttum übertragen und 505 Luther, Resolutio 226 f. Zu Gregor IX. als Juristenpapst und Gesetzgeber vgl. Haller, Papsttum IV 51 f. Zur Persistenz des kanonischen Rechts vgl. Seebaß, Historie; Heckel, Veränderungen 25-67. 506 Zum Bild Gregors IX. in der franziskanischen Legende vgl. exemplarisch Speculum Perfectionis cap. 21 S. 56 und cap. 65 S. 179-184, hier 182-184. 507 Selge, Franz 157-160; Elm, Vita franciscana 151; Elm, Entwicklung 184. 508 Grundmann, Quo elongati 222-242; Elizondo, Quo elongati 349-394, hier 350-367; Dalarun, François 81-83. Zur kontroversen Interpretation der Urkunde vgl. Feld, Totengräber 339 f. 509 Selge, Franz von Assisi und Hugolino 157-222. 510 Zu dieser „durchgreifende Neuformulierung“ vgl. Grundmann, Quo elongati 231; Maggiani, De relatione 3-21; Elizondo, Bulla „Exiit qui seminat“ 103-110.
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den Minoriten allein der usus gelassen511. Der gesamte franziskanische Besitz, von den Konventsgebäuden bis zu den einzelnen Mönchskutten, vom Brennholz für kalte Winternächte bis zur täglichen Essensration, befand sich im päpstlichen Eigentum. Die Ordensmitglieder benutzten diese Dinge lediglich, ohne sachenrechtlich über sie verfügen zu können. Franziskaner waren mittellose, aber gut versorgte Nutznießer. Die radikalen Armutsvorschriften des Gründers wurden damit theoretisch aufrechterhalten, praktisch waren sie aber zu einer juristischen Fiktion geworden, deren Aufrechterhaltung die wohlwollende Unterstützung des Papstes voraussetzte512. Gregor IX. begründete seinen tiefen Eingriff in die Verfassung des jungen Ordens mit seiner engen persönlichen Beziehung zu Franziskus, die ihn zum kompetenten Interpreten aller dunklen und schwerverständlichen Bestimmungen der Regel mache. Folgt man der Charakterisierung des Papstes in der ältesten Vita des Heiligen, war dieser Anspruch wohlbegründet, denn nach Thomas von Celano war es Hugolin von Ostia, „ein Strom der Beredsamkeit, eine Mauer der Kirche, ein Anwalt der Wahrheit und ein Liebhaber der Demütigen“, der die Feinde des Ordens vernichtete und dem Franziskus anhing, „wie ein Sohn seinem Vater und wie das einzige Kind seiner Mutter, das an ihrem liebenden Busen sorglos schläft und ruht“. Franziskus habe diesen Freund der Armut und Einfalt zum Vater und Herrn für den ganzen Orden ausersehen, suchte sich doch dieser hohe Herr dem Lebenswandel der Brüder anzupassen. „In seinem Verlangen nach Heiligkeit war er einfältig mit den Einfältigen, demütig mit den Demütigen, arm mit den Armen“513. Nicht nur in diesem Werk franziskanischer Historiographie schlug Papst Gregor IX. Dankbarkeit und Bewunderung entgegen. In gewisser Weise betrachteten sich der Papst und die jungen mendikantischen Ordensgemeinschaften als komplementäre Erscheinungen desselben Wollens. Als päpstlicher Legat hatte Hugolin von Ostia in den Jahren, die auf das Vierte Laterankonzil folgten, in den oberitalienischen Kommunen dafür gekämpft, die päpstlichen und kaiserlichen Ketzergesetze sowie die Konzilsbestimmungen durchzusetzen514. Besonders die Legation von 1221 ist gut dokumentiert, ließ der mit päpstlicher und kai511 Zur franziskanischen Armut vgl. Lambert, Franciscan Poverty; Tierney, Infallibility 67-72. 512 Balthasar, Armutsstreit 27-101; Lambert, Franciscan Poverty 126-148; Miethke, Paradiesischer Zustand 513 f. Zu den dogmatischen Debatten des 14. Jh. vgl. Horst, Evangelische Armut und päpstliches Lehramt. 513 Thomas von Celano, Vita prima 74 und 99 (hier auch die vorigen Zitate). 514 Zu Hugolins Wirken vor seiner Wahl zum Papst vgl. einführend Brem, Gregor IX. Zu päpstlichen Legaten vgl. Zimmermann, Päpstliche Legation; Figueira, Canon Law; Maleczek, Papst 336-350.
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serlicher Autorität ausgestattete Kardinallegat seine Briefe doch in ein Register eintragen515. In einer ersten Phase dieser Reise durch die oberitalienischen Städte warb Hugolin vor allem um Gelder und Truppen für einen neuen Kreuzzug. Die Mission weitete sich jedoch aus und nahm den Charakter eines Feldzuges zur Verteidigung von Kirche und Glauben sowie zur Abrechnung mit den versteckten und offenen Feinden an. Die Kommunen wurden dazu aufgefordert, den Schutz der kirchlichen Rechte in ihren Statuten zu verankern und kirchenfeindliche Stellen daraus zu streichen; die von Kaiser und Papst erlassenen antiketzerischen Bestimmungen sollten ebenfalls in die städtischen Gesetzbücher aufgenommen werden. Hugolin gab sich nicht mit einem Eingriff in die normativen Texte der Kommunen zufrieden, sondern wachte auch über die praktische Umsetzung der kirchlichen Vorgaben. Dazu gehörten die Ausweisung von überführten Häretikern ebenso wie die Befriedung der Kommunen nach innen und außen durch die Versöhnung streitender Parteien516. In den Bettelmönchen erkannte der ehemalige Legat Hugolin nach seinem Aufstieg an die Spitze der Christenheit im Jahr 1227 die Vollstrecker seines Willens und die Vollender des eigenen Wirkens, hatten sich Dominikus und Franziskus doch sowohl die Häretikerbekämpfung als auch die umfassende äußere und innere Befriedung sowie die kirchenfreundliche Ausrichtung der Gesellschaft auf die Fahnen geschrieben. Umgekehrt definierten zweifellos auch die Mendikanten ihre Mission als Vollstreckung eines kirchlichen Auftrages im Sinne des Papsttums, das in der Phase ihrer stärksten Expansion Gregor IX. innehatte. Das mendikantische Pastoralprogramm der kommenden Jahrzehnte bildete im Grunde nur eine Verfeinerung und Ausweitung jener Maßnahmen, die Gregor IX. in den zwanziger Jahren des 13. Jahrhunderts umgesetzt oder zumindest angestrebt hatte517. So war dieser Papst den Bettelorden nicht nur Geburtshelfer und Oberhaupt, sondern auch Vorbild und Verwandter im Geiste. Hindernisse auf diesem Weg der päpstlich-mendikantischen Eintracht wurden aus dem Weg geräumt. Das rigorose Testament, in dem der von Todes- und Zukunftsängsten geplagte Franziskus jede Auslegung der Regel sowie jede Form der päpstlichen Privilegierung seines Ordens 515 Edition bei Levi, Registri 1-154. Weitere Quellen bei Levi, Documenti. Aufarbeitung und Interpretation der Quellen bei Thouzellier, Légation; Scharff, Häretikerverfolgung 81-96. 516 Zu Phasen und Inhalt der Legation vgl. Thouzellier, Légation 511-540; Scharff, Häretikerverfolgung 83. 517 Zur Halleluja-Bewegung des Jahres 1233 als umfassende Reform und Fortsetzung der kirchlichen Politik der zwanziger Jahre vgl. Scharff, Häretikerverfolgung 125-159, bes. 155.
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untersagt hatte518, erklärte der Jurist und Politiker auf dem Papstthron kurzerhand zum privaten Schriftstück, das für die Nachfolger im Amt des Generalministers keine bindende Gültigkeit besitzen sollte519. Seit der Veröffentlichung von Quo Elongati bildeten nicht mehr die evangelischen Ideale eines Freigeistes, der mit den Seinen die apostolische Nachfolge antreten wollte, sondern die Rechtssätze einer vom Papst approbierten Regel gemeinsam mit ihren päpstlichen Kommentierungen die geistige und rechtliche Grundlage des Minoritenordens520. Diese institutionell-kirchenrechtliche Verankerung hat möglicherweise einer sogenannten „ursprünglichen franziskanischen Bewegung das Rückgrat gebrochen“521, wahrscheinlich verdankte der Orden dieser Entwicklung nicht nur eine Klärung seiner theologischen Positionen, sondern auch seinen Erfolg, ja sein Überleben522. So steht der alten Verfallstheorie in Sabatier’scher Tradition heute eine differenziertere Sichtweise gegenüber, die im Wandel monastischer Denk- und Verhaltensnormen kein Versagen einzelner Individuen und Institutionen sieht, sondern – da Kirchen und Klöster „in einem engen Wechselbezug mit den politischen, ökonomischen und kulturellen Merkmalen der jeweiligen Gesellschaft“ stehen – einen notwendigen, „für Existenz und Effizienz unverzichtbaren, ja wünschenswerten Entwicklungsprozess“523. Auch diese Interpretation kann sich übrigens auf eine beachtliche Tradition berufen, hat doch bereits Max Weber die „institutionelle Wendung des Charisma“ auf allgemein gültige Weise beschrieben: Flutet die Bewegung, welche eine charismatisch geleitete Gruppe aus dem Umlauf des Alltags heraushob, in die Bahnen des Alltags zurück, so wird zum mindesten die reine Herrschaft des Charisma regelmäßig gebrochen, ins ‚Institutionelle’ transponiert und umgebogen, und dann entweder geradezu mechanisiert oder unvermerkt durch ganz andere Strukturprinzipien zurückgedrängt oder mit ihnen in den mannigfachsten Formen verschmol518 Testamentum § 38, in: Franciscus, Opuscula 444. Vgl. dazu Esser, Testament 194-198; Miethke, Paradiesischer Zustand 504f. 519 Feld, Totengräber 340 f. 520 Zu weiteren päpstlichen Regelkommentierungen vgl. Elizondo, Pontificiae interpretationes 324-358; Feld, Totengräber 342 Anm. 72. 521 Feld, Totengräber 320. Zu dieser historiographischen Tradition vgl. Elm, Entwicklung 177; Elm, Vita franciscana 147. 522 Vgl. Miethke, Paradiesischer Zustand 513. Zum Schicksal der Johannboniten, die ihre ordensinternen Spannungen zwischen radikalem Eremitentum und pastoraler Weltzuwendung nicht in den Griff bekamen und daher 1256 als Segment des neugegründeten Augustiner-Eremitenordens die Eigenständigkeit verloren, vgl. Elm, Entwicklung 190 f. – Methodisch ähnliche Überlegungen hinsichtlich der ersten Jahrzehnte der Reformation bei Hamm, Reformation „von unten“ 288f. 523 Elm, Vita franciscana 148 (hier beide Zitate); Elm, Entwicklung 180-193. Vgl. allgemein Schmelzer, Religiöse Gruppen 127-129.
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zen und verquickt, so dass sie dann eine faktisch untrennbar mit ihnen verbundene, oft bis zur Unkenntlichkeit entstellte, nur für theoretische Betrachtung rein herauszupräparierende Komponente des empirischen historischen Gebildes darstellt524.
Nicht „Totengräber“ bestimmten das Schicksal des Franziskanerordens, sondern anthropologische und soziologische Gesetzmäßigkeiten, die ihren Ursprung nicht in einem strategischen Zentrum, sondern in regionalen und heterogenen Triebkräften hatten525. Allein aufgrund der erfolgreichen Weiterentwicklung konnten die Franziskaner das Erbe ihres Gründers bewahren, denn für sie galt, was auch für andere religiöse Gruppen zutraf: Die „gelungene oder gescheiterte Anpassung war für die Orden des Mittelalters eine elementare Existenz- und Überlebensfrage, von deren Beantwortung viel abhing: Fortbestand und Verfall, Wahrung und Verlust von Identität“526. Die Jahrzehnte, die auf die Regelkommentierung Gregors IX. folgten, waren durch Konsolidierung nach innen und Expansion nach außen gekennzeichnet527. Päpstliche Privilegien beschleunigten den unaufhaltsamen Aufstieg und erlaubten ein Festhalten an den genuinen Zielen einer Bewegung, die auf neuen Wegen nach besseren Formen der gesellschaftlichen Evangelisierung suchte. Wie die Mönche wollte man studieren, um Wissen und Weisheit zu erlangen, wie die Eremiten wollte man in ernster Kontemplation sich selbst und die göttlichen Wahrheiten erkennen, um derart gestärkt wie die Kleriker das Volk zu erziehen und zu bekehren. Dies war das Programm, wie Papsttum und Ordensführung es formuliert hatten528. Allein am Leben Jesu wollte man sich orientieren. Durch das Amt der Predigt und der Beichte sollte das Heil der Seelen gefördert, durch die vollkommene Armut die Freiheit des Geistes und eine reine Form der übernatürlichen Kontemplation gewahrt werden529. Die pastorale Betreuung der Laien sollte den Diözesanklerus entlasten und war – zumindest theoretisch – nicht als Konkurrenz zu diesem 524 Weber, Wirtschaft 661 und 674 (hier Zitate). Zur mittelalterlichen Interpretation einer historia defectionis institutioneller Leitideen und Werte bei Bonaventura vgl. unten 181. 525 Elm, Entwicklung 179. Zur Problematik vgl. auch Kehnel, Formierung 493-524; Schreiner, Observantia 289-309. 526 Kaufmann, Soziologie 13. 527 Zum Wachstum des Ordens in den ersten Jahrzehnten vgl. Brooke, Espansione; Nothegger, Verbreitung, 130-132; Péano/Schmitt, Ausbreitung 42 mit Karte Nr. 58; Pellegrini, Storia 5-29; Miethke, Paradiesischer Zustand 512f.; Pellegrini, Novità 23-54 u. ö. (Ausbreitung in Italien) und 195-222 (in den Abruzzen). 528 Zum Bild des Franziskus in der Ordenshistoriographie vgl. Berg, Vita minorum 160175; Polo de Beaulieu, Image 215-244. 529 Bonaventura, Determinationes quaestionum 1/1, in: Ders., Opera omnia 8, 337-375, hier 338.
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gedacht530. In adiutorium clericorum missi sumus ad animarum salutem hatte Franziskus, erfüllt von missionarischem Sendungsbewusstsein, geschrieben531. In diesem Sinn hatte auch Balduin von Brandenburg die umstrittenen Seelsorgeprivilegien seines Ordens verteidigt und – gestützt auf die Dekretale Quidam temere Papst Clemens’ IV. aus dem Jahr 1265532 – behauptet, es sei offensichtlich, dass die Minderbrüder auch gegen den Willen des zuständigen Priesters den Gemeindemitgliedern die Beichte abnehmen könnten. Darüber ließe sich nicht streiten und daher geschehe es, falls möglich, in Frieden mit dem Klerus. „Uns [sc. Balduin] genügt es zu wissen, dass wir das Recht besitzen und dass alle Menschen, die wir von den Sünden lösen, tatsächlich gelöst sind, unabhängig davon, ob sie mit oder ohne Erlaubnis ihres Priesters zu uns kommen“533. Nicht das Streben nach innerkirchlichem Ausgleich, sondern die Wahrung der eigenen Privilegien stand im Vordergrund minoritischen Argumentierens. Der Elan des religiösen Aufbruchs übte offenbar eine große Faszination aus – sowohl auf das städtische Bürgertum, das begierig der anschaulichen Botschaft mendikantischer Prediger lauschte, wie auch auf Adelige und Kleriker, die meinten, innerhalb der neuen Orden ihre Suche nach religiöser Erfüllung auf gottgefällige Weise mit dem Aufstieg zu Wissen, Prestige und Einfluss verbinden zu können. Das Neue an den beiden novae conversationis ordines wurde gesehen und in der Regel geschätzt534. Stolz berichteten die Ordenschronisten von der großen Menge von Priestern sowie angesehenen und gelehrten Männern, die bereits in der Amtszeit des 1239 abgesetzten Generalministers Elias von Cortona dem Orden beigetreten sei535. Viel Anerkennung, viele kirchliche Dignitäten, viele Lehrämter habe man in diesen glücklichen Jahrzehnten erlangt536. Bonaventura interpretierte den Aufstieg der kleinen Bruder530 Berg, Vita minorum 161. 531 Speculum perfectionis cap. 54 S. 139-141, hier 140. Weitere Äußerungen ähnlicher Art bei Esser, Sancta Mater 16. 532 Bullarium Franciscanum III 14. 533 *GDĸVN%LEO3$10VIRO7LWHOde poenit. et remiss.): Et ita patet, quod fratres minores etiam invitis plebanis possunt eorum subditorum confessiones audire contraria assertione reprobata. Super hiis autem non expedit nobis contendere et ideo cum pace clericorum, si fieri potest, fiat, et sufficiat nobis scire, quod possumus et quos absolvimus, quod sint absoluti, sive de licentia eorum veniant ad nos sive non. Text nach Kurtscheid, De studio 175f. 534 Chronicon Montis Sereni 220. Zit. nach Melville, Duo 1 f. Zur Rezeption in Frankreich vgl. Vauchez, Reactions. 535 Salimbene de Adam, Cronica 148. Zum Eintritt von Priestern und gelehrten Scholaren bereits vor 1216 vgl. Matthaeus Paris, Chronica Maiora 248. Zur Studienproblematik vgl. Berg, Armut; Berg, Studienproblem 11-33 und 106-156; Wesjohann, Simplicitas 107-168; Elm, Studium 111-126. 536 Bernardus de Bessa, Liber de Laudibus 679 ff. Zur Klerikalisierung und zum Aufstieg innerhalb der kirchlichen Hierarchie vgl. Landini, Clericalisation; Thomson, Friars;
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schaft ungebildeter Laien zum einflussreichen Orden gebildeter Kleriker als typologische Wiederkehr der Geschichte der Gesamtkirche, deren Mitglieder anfangs einfältige Fischer, später jedoch berühmte Gelehrte gewesen seien. Erst diese dynamische Entfaltung habe die Anhänger des heiligen Franziskus zu Rettern einer Christenheit in Not prädestiniert537. Seinen normativen Abschluss erhielt dieser Prozess durch einen Beschluss des Generalkapitels von Narbonne (1260), wonach nur noch latein-, schrift- und lesekundige Bewerber in den Orden aufgenommen werden sollten538. Obwohl sich nicht alle Ordensbrüder begeistert über diese Hierarchisierung, Verwissenschaftlichung, Verrechtlichung und Klerikalisierung einer ursprünglich offenen Gemeinschaft äußerten539, war es dieses apologetische Bild, das den Orden für Außenstehende attraktiv machte und Männer vom Format und Renommee eines Alexander von Hales zum Ordenseintritt (1236/37) bewegte. Den Lehrstuhl des magnus doctor theologiae, der seit 1225 als magister regens an der Universität Paris über die Theologie dozierte, gaben die Franziskaner nicht mehr aus den Händen. Die weit reichenden Konsequenzen dieser dauerhaften Präsenz am europäischen Zentrum theologischer und philosophischer Gelehrsamkeit waren zu diesem Zeitpunkt noch nicht abzusehen. Mitte des 13. Jahrhunderts stand die Konsolidierung der Bettelorden vor ihrem erfolgreichen Abschluss. Dominikaner und Franziskaner hatten wichtige Positionen in der pastoralen Betreuung der Laienwelt erobert. Ihrem Urteil als Beichtvater und Berater lauschten Könige und Fürsten540, Kommunen verhandelten in ihren Kirchen und legten die
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Berg, Studienproblem 114f.; Conti, Sviluppo 321-346; Boni, Ordine 540-586; Schieffer, Bischöfe 405-419; Andenna, Vescovi 43-90 (weitere einschlägige Beiträge von Franz J. Felten, Jacques Paul und Robert N. Swanson in diesem Sammelband). Bonaventura, Epistola de tribus quaestionibus 13, in: Opera omnia 8, 331-337, 336. Vgl. Brooke, Government 273; Berg, Armut 82f.; Wesjohann, Simplicitas 158. Zu diesem Topos aus der Zeit der Kirchenväter vgl. Schreiner, Legitimation 323-326. Statuta Generalia 39 Nr. 3, 4. Zur antilaikalen Stimmung im Orden vgl. Schreiner, Laienbildung 339f. Vgl. Speculum Perfectionis cap. 68-69 S. 194-200. Zur Problematik vgl. Berg, Vita minorum 165-167; Wesjohann, Simplicitas 160-162. Man bräuchte nicht immer neue Gesetze, würde man die alten einhalten, klagte der Generalminister Johannes von Parma im Jahr 1254. Vgl. Brooke, Government 258; Miethke, Paradiesischer Zustand 506 mit Anm. 12. Ähnlich das Urteil von Thomas von Eccleston (1258): In den frühen Tagen hätten die Brüder Gott nicht durch die Einhaltung menschlicher Konstitutionen, sondern durch die Demut ihrer Herzen gedient. Damals konnte man sich mit der Regel und wenigen Zusätzen begnügen, heute benötige man dagegen eine große Anzahl von Konstitutionen. Vgl. Brooke, Government 215. Zur Kritik am karrierefördenden Rechtsstudium vgl. allgemein Hausherr, Warnung 397 ff. Zur Problematik vgl. die Beiträg in Berg (Hg.), Könige.
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Schlichtung ihrer Streitigkeiten in die Hände der Bettelmönche541. Ihren Gemeinschaften entstammten jene Volksprediger, die provisorische Kanzeln vor den Kirchen errichten ließen, weil keine Gebäude die Masse ihrer Zuhörer aufnehmen konnte. Zu den Mendikanten gehörten mit Albertus Magnus und Thomas von Aquin sowie Alexander von Hales und Bonaventura aber auch die bedeutendsten Theologen der Epoche. Unaufhaltsam drängten gebildete Bettelmönche in prominente Positionen der kirchlichen Hierarchie. Aus ihren Reihen rekrutierten sich Universitätsprofessoren und Bischöfe542, bald sollten sie die römische Kurie erobern543. In der gesamten westlichen Christenheit entstanden mendikantische Konvente, von denen Bettelmönche zu Missionsreisen nach Afrika und in den Orient, ja selbst bis nach China aufbrachen, um im Dienste von Religion und Papst die Frohe Botschaft des Herrn auch am Rande der Welt zu verkünden544. Die Gründungsphase fand in der geistigen Rückbesinnung auf die Erfolge der Anfangsjahre ihre Vollendung. Zeitgleich machten sich Humbert de Romanis und Bonaventura um 1260 daran, eine verbindliche Lebensbeschreibung ihrer Ordensgründer zu verfassen und damit dem Gründungsmythos der eigenen Gemeinschaft eine feste Form zu geben545. Wie sein dominikanischer Zeitgenosse bediente sich Bonaventura dabei älterer Darstellungen, glättete Brüche und Konflikte und fand – hier mäßigend, dort vermittelnd eingreifend – eine „kompromisshafte Synthese aus den widersprüchlichen Gründermythen“546. Für den doctor seraphicus war Franziskus der Künder von Armut und Buße, der Inbegriff der perfectio evangelica, erhaben über alle irdischen Verstrickungen, der Engel des sechsten Siegels, der angelus ascendens ab ortu solis, der Kontemplation und Predigt erfolgreich verbunden habe547. Heilsgeschichtliche Bedeutung, Kontinuität und Homogenität triumphierten über Wandel und Zäsuren. Neben die institutionell-materielle trat nun die geistig-ideelle Verfestigung der franziskanischen Bewe541 542 543 544
Stehkämper, Pro bono pacis 297-382; Schmidt, Politische Theorie 343-357. Vgl. exemplarisch Schieffer, Albertus Magnus. Zum ersten Franziskanerpapst vgl. Franchi, Nicolaus Papa. Zur mendikantischen Mission vgl. Altaner, Dominikanermissionen; Vat, Franziskanermissionen; Müller, Montecorvino 81-109, 197-217, 263-284; Müller, Bettelmönche in islamischer Fremde. 545 Clasen, Legenda antiqua, passim; Miethke, Paradiesischer Zustand 509; Wesjohann, Simplicitas 162 f. Die Vernichtung älterer Franziskusviten wurde auf dem 1266 in Padua tagenden Generalkapitel beschlossen. Vgl. Constitutiones Narbonenses cap. 8. Erst die moderne Forschung machte die älteren Texte aus verstreuter Überlieferung wieder zugänglich. Vgl. Thomas von Celano, Vita Francisci S. iii-lxxxiii. 546 Berg, Studienproblem 108-113, Zitat 112. 547 Vgl. allgemein Ratzinger, Geschichtstheologie 31-40; Berg, Studienproblem 109.
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gung. Mit Bonaventura stand der rechte Mann zur rechten Zeit an der Ordensspitze. Niemand hatte sich so ausführlich Gedanken über den Zerfall und Niedergang aller von Menschen eingesetzten Institutionen gemacht wie der franziskanische Universitätslehrer und Generalminister548. Durch das Abtreten der ersten Generation, durch wachsende Zahl der neu gewonnenen Mitglieder, durch das Einschleichen schlechter Gewohnheiten und weltlicher Lebensformen sei – so Bonaventuras anthropologische Interpretation – jede religiöse Gemeinschaft gefährdet, denn: Alles, was sein Dasein nicht sich selbst verdankt, neigt zu Verfall und Nichtsein, wenn es nicht von dem gehalten wird, der ihm das Dasein gibt; so auch jeder Orden und jeder Mensch. Daher fallen nicht nur die Orden der Mönche, sondern auch die der Bischöfe, Weltpriester und Laien, überhaupt alle Stände stark ab, wenn man ihren gewöhnlichen Zustand an dem misst, was im Anfang war549.
Diesem Prinzip des Niedergangs, das möglicherweise bereits Franziskus selbst in eine Metapher gekleidet hatte550, galt es zu trotzen, und Bonaventura war der Überzeugung, dass dies mit Gottes Hilfe auch gelingen könnte, weil „denen, die Gott lieben, alles zum Guten gereicht. So kann das, was im Allgemeinen nicht eintritt, im Besonderen geschehen“551. Die geistige Klarheit, mit der Bonaventura, die Erfahrungen eines Mönchs der zweiten Generation verarbeitend, die Gefahren eines jeden Institutionalisierungsprozesses erkannte552, machte ihn zum erfolgreichen Vordenker und Protagonisten der institutionellen Stabilisierung des Franziskanertums. Der Hauptzweig des Ordens, der nach einer approbierten Regel 548 Vgl. Melville, Geltungsgeschichten 76-78. 549 Bonaventura, Determinationes quaestionum 349. Übers. zitiert nach Borst, Lebensformen 549; Melville, Geltungsgeschichten 77. Zu Institutionen und Prozessen der Institutionalisierung als historische Phänomene vgl. einführend: Melville (Hg.), Institutionalität und Symbolisierung. 550 Thomas von Celano, Vita prima 28: Jetzt am Anfang unserer neuen Lebensweise werden wir ein über die Maßen köstliches und wohlschmeckendes Obst finden; doch gar bald wird uns solches von weniger Wohlgeschmack und Milde geboten werden; schließlich aber wird uns eines voller Herbe gegeben werden. [...] Der Herr wird uns zu einem großen Volk anwachsen lassen; aber am Ende wird es so gehen, wie wenn ein Mann seine Netze auswirft ins Meer oder in einen See und einen reichen Fischfang macht. Wenn er dann alle Fische in sein Schifflein gebracht hat, wählt er, weil er wegen der Menge es verschmäht alle mitzunehmen, nur die größeren und die ihm gefallen für seine Gefäße aus, die übrigen aber wirft er wieder fort. – Ähnliche Metapher auch bei Bernardus de Bessa, Liber de Laudibus 1, 668. 551 Zit. nach Borst, Lebensformen 551. 552 Zur modernen Sichtweise des Institutionalisierungsprozesses bei Max Weber vgl. oben 176 f. Zur mittelalterlichen Haltung vgl. allgemein Melville, Niedergangsbewusstsein; Elm, Legitimation; Schürer, Dominikaner; Melville Geltungsgeschichten 80-107.
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lebte und die päpstliche Gunst genoss, hatte unter dem Generalat des doctor seraphicus seine Geschichte endgültig bewältigt und sich in der Innen- und Außenwahrnehmung als eigenständige Institution neben den bereits bestehenden Formen des Religiosentums etabliert553.
4. Ekklesiologie in eigener Sache Die neuen Mönche durchbrachen die soziale und religiöse Ordnung des Mittelalters554. Örtlich ungebunden, ohne festen Wohnsitz, durchstreiften sie nach dem Vorbild Christi und seiner Apostel auf Missions- und Seelsorgereisen das gesamte christliche Europa. Mendikanten kannten keine Pfarrgrenzen; sie predigten, hörten die Beichte, beerdigten und lasen die Messe überall dort, wo man sie brauchte und ihnen Einlass gewährte. Ihr geistiger Mittelpunkt war ein Generalminister, dessen Autorität den mendikantischen Personenverband in allen Ecken und Enden dominierte. In seinem Auftrag und als seine Boten – ohne bischöfliche Erlaubnis oder Vollmacht – erfüllten die Bettelmönche ihre Mission der Bekehrung, Betreuung und Erleuchtung. Bereits im 12. Jahrhundert hatten sich regulierte Kanoniker und Chorherren um die Gläubigen bemüht, doch erst die ständige Ausweitung der mendikantischen Seelsorgeprivilegien führte zu einer flächendeckenden Durchlöcherung der pfarrlichen Seelsorge. Dabei ging die Intensivierung der religiösen Betreuung Hand in Hand mit einer zunehmenden kirchlich-politischen Einflussnahme555. Der Einbruch in die lokale Pfarrseelsorge beschnitt die traditionellen bischöflichen Prärogativen, vor allem aber die Monopolstellung des lokalen Pfarrklerus. Dem Ortspfarrer entgingen nicht nur existenzsichernde Gebühren, sondern er musste auch mitansehen, wie sich die Gebefreudigkeit der Gläubigen dem Neuen und Ungewohnten zum Schaden des Gewöhnlichen und Alltäglichen zuwandte. Der Massenandrang, der mendikantische Prediger an vielen Orten erfreute, hinterließ leere Pfarrkirchen. Was als Unterstützung des säkularen Klerus ausgegeben wurde, bedeutete in Wahrheit seine finanzielle Schädigung, die Aushöhlung seiner Rechtsstellung sowie die Untergrabung seiner moralischen Autorität. Durch die mendikantische Attacke auf eingespielte hierarchische und finanzielle Strukturen wurde die kirchliche Ordnung in ihren Grundfesten erschüttert556. 553 554 555 556
Melville, Wahrnehmung 9. Zum Fortgang des Konflikts vgl. Lippens, Le droit nouveau. Congar, Aspects 80-83; Miethke, Rolle 131f.; Miethke, Mentalität 168f. Zur Ausbildung einer „französischen Nationalkirche“ u. a. durch die Abgrenzung von den international agierenden und gelenkten Bettelmönchen vgl. Schleyer, Galli-
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Die Weltkleriker verfolgten den Aufstieg der papsttreuen Seelsorgetruppen mit wachsendem Misstrauen, für welches die Apologeten aus mendikantischen Reihen lapidare Erklärungen bereit hielten. „Warum verfolgen uns die Kleriker mit ihrem Hass?“, so fragte Bonaventura in einer seiner Verteidigungsschriften, um die Antwort gleich mitzuliefern: Weltkleriker hassten und beneideten die Bettelmönche, weil diese bei den Gläubigen in höherem Ansehen stünden und jenen offenbar in Lebensführung, Wissen und Zucht überlegen seien557. Kaum hatten die Bettelmönche ihr Netz vollständig über die westliche Christenheit gebreitet, kaum hatten äußere Expansion und innere Konsolidierung einen ersten Höhepunkt erreicht, eskalierten die Spannungen und der klerikale Widerstand begann sich zu formieren. Austragungsort der intellektuellen Auseinandersetzungen war die Universität Paris558. Vordergründig wurde um die Besetzung von theologischen Lehrstühlen durch Weltkleriker oder Mendikanten gerungen. Hatte der Weltklerus die Besetzung der Lehrstühle an hohen Schulen und Universitäten bisher als sein Vorrecht betrachtet, so wurde dieses ungeschriebene Privileg durch die aktive Teilnahme der Mönche aus den Bettelorden an Studium und Lehre – eine Neuerung in der Bildungsgeschichte des lateinischen Mittelalters, die eine Wiederannäherung von Mönchtum und Wissenschaft bedeutete559 – in Frage gestellt. Bereits 1229 hatte es Spannungen gegeben, der endgültige Bruch erfolgte 1253, als die drei Theologieprofessoren aus den Bettelorden dem Streikaufruf der Universität nicht folgten und später den Eid auf die Statuten der Magisterkorporation verweigerten. In Wirklichkeit ging es jedoch nicht um einen Streit in der Fakultät, sondern um Funktion und Existenzberechtigung der mendikantischen Bewegung sowie ihren Platz im Gebäude der irdischen Kirche. Eine päpstliche Ausnahmegesetzgebung zugunsten der Bettelmönche hatte die traditionellen Einkommens- und Seelsorgerechte der Bischöfe und des Pfarrklerus beschnitten. Die Verteidigung und Legitimierung der verletzten Standesinteressen übernahmen Weltkleriker aus dem Kollegium der Pariser Universität, angeführt von Männern wie Wilhelm von St. Amour, Gerhard von Abbeville und Nikolaus von Lisieux. Für die Bettelorden wurden unter anderem Thomas von Aquin, Bonavenkanismus 47 und passim. 557 Bonaventura, Determinationes quaestionum 1/27, in: Opera omnia 8, 355. 558 Zum Bettelordensstreit vgl. stellvertretend Bierbaum, Bettelorden; Douie, Conflict; Dufeil, Guillaume; Miethke, Papst, Ortsbischof 52-94; Lambertini, Apologia 11-42; Lambertini, Scelta francescana 143-172; Lambertini, Povertà (mit mehreren Beiträgen des Autors). – Noch immer anregend Clasen, Bonaventura; Dempf, Sacrum Imperium 335-349. 559 Vgl. Köhn, Bildungsideal 27-37.
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tura, Thomas von York und Johannes Peckham aktiv. In einer erhitzt geführten Grundsatzdiskussion, die die Pariser Theologenfakultät mit kurzen Unterbrechungen ein Vierteljahrhundert, von 1250 bis 1275, in Atem hielt, wurden in zahlreichen Traktaten und Repliken, persönlichen Beleidigungen, gegenseitigen Häresievorwürfen und erbitterten Polemiken um den rechten Aufbau und die gottgewollte Ordnung der Kirche und ihrer Glieder gestritten560. Eschatologische Dimensionen bekam der Streit, als Gerhard von Borgo San Donnino drei Hauptschriften des 1202 verstorbenen Abtes Joachim mit einer Einleitung versah und unter dem Titel des Evangelium aeternum veröffentlichte. Was der calabresische Visionär für die Zukunft prophezeit hatte, wurde von dem Franziskaner in radikaler Zuspitzung als „Ortsbestimmung seiner Gegenwart“ und als unmittelbar bevorstehenden Anbruch der Geistkirche gedeutet, die die bestehende Kirche des Neuen Testaments ablösen würde561. In konsequenter Weiterführung dieses Denkens wurde Franziskus zum Engel des sechsten Siegels und zum Führer einer gereinigten ecclesia spiritualis. Wilhelm von St. Amour und seine Freunde machten sich an die Arbeit, sobald sie den Traktat in Händen hielten. Akribisch wurde eine Liste von 31 Irrtümern erarbeitet, die in polemischer Verkehrung der Argumente Franziskus und seine Jünger zu Boten des Antichristen stilisierte562, und an den Papst gesandt. Nachdem eine Kommission von drei Kardinälen dem Papst ihr Untersuchungsergebnis vorgelegt hatte, wurden beide Schriften, sowohl die franziskanisch-joachitische als auch deren weltgeistliche Anklage, verurteilt und verworfen563. Der Minoritenorden reagierte darauf mit der Entfernung Gerhards aus Paris und der Einführung einer ordensinternen Zensur. Wilhelm machte sich daran, seine Auffassung in einer eigenen Streitschrift sowie in Predigten zu vertreten564. Mit wissenschaftlicher Vehemenz und radikaler Grundsätzlichkeit zogen die Magister aus dem Weltklerus gegen die Privilegien der Bettelmönche zu Felde. Der Kampf um die Lehrstühle war bald verloren565, so dass sich die Stoßrichtung des klerikalen Angriffs auf die Grundla560 Zur ekklesiologischen Bedeutung des Bettelordensstreites vgl. Ratzinger, Einfluß 697724; Congar, Aspects 35-151; Marrone, Ecclesiology; Miethke, Geschichtsprozess 592594; Miethke, Rolle 134-141. 561 Vgl. Miethke, Papst, Ortsbischof 71. 562 Tierney, Infallibility 59-64; Miethke, Paradiesischer Zustand 508; Lambertini, Ende 250-261. Zum franziskanischen Joachitismus vgl. Berg, Impero 133-167; Burr, Mendicant Readings 89-102. 563 Vgl. Miethke, Papst, Ortsbischof 71-75. 564 Zur Prüfung der Streitschrift De periculis novissimorum temporum durch den Papst vgl. Miethke, Papst, Ortsbischof 78. 565 Bierbaum, Bettelorden 252f.; Brooke, Government 268.
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gen mendikantischen Lebens richtete566. In einer ersten Phase wurden vor allem die neuartigen Seelsorgerechte der Bettelmönche kritisiert, bald problematisierten Wilhelm von St. Amour und sein Gefolge die mendikantische Lebensform an sich567. Die Debatte weitete sich ins Grundsätzliche aus, ihre Tonart radikalisierte sich. Mit eschatologischen Argumenten wurden Dominikaner und Franziskaner als Vorläufer des Antichristen gebrandmarkt und ihr Erscheinen mit dem Beginn der Endzeit in Zusammenhang gebracht568. Gegen die Neuerungen, gegen jene unerhörten Praktiken, die auf Aberglauben beruhten und gegen die Heilige Schrift, das kanonische Recht und die Gewohnheiten der Kirche verstießen569, beriefen sich die Gegner der Bettelmönche auf eine überlieferte Ordnung, in der jedes Kirchenamt seine konkrete Funktion besessen habe. Die Hierarchienlehre des Areopagiten zitierend, entwarf Wilhelm von St. Amour eine ekklesiologische Ordnung, in der ein dreigliedriger ordo perficientium aus Bischöfen, Priestern und Diakonen einen ebenfalls dreifachen ordo perficiendium, aus Kanonikern und Mönchen, aus gläubigen Laien sowie aus Katechumenaten bestehend, lenkte und zum Heil führte570. Die pseudo-dionysische Ordnung, die die Laienmönche den geweihten Sakramentsvermittlern unterwarf, war zwar längst von der Wirklichkeit eingeholt worden, hatte die Klerikalisierung des Mönchtums doch bereits vor Jahrhunderten begonnen571, um in den mendikantischen Pastoralorden einen geradezu dominierenden Charakter anzunehmen. Doch Wilhelms Absichten zielten ohnehin in eine andere Richtung: Hinter der Beschreibung der verschiedenen Ämter, Stufen und Lebensformen in einer gottgewollten Hierarchie steckte das Ziel, eine unumgängliche Ordnung zu konstruieren, in der jedes Kirchenamt über eine konkrete, genau begrenzte Wirksphäre verfügte. Eingespannt in diesen Rahmen war eine begrenzte Machtfülle des einzelnen Papstes, der in Wilhelms Augen irren konnte wie jeder Mensch572. Unfehlbar war allein die durch zeitlose Tradition gesicherte 566 Zur Einbettung der Auseinandersetzungen in die Pariser Theologenprozesse des 13. Jh. vgl. Miethke, Papst, Ortsbischof 69-80. 567 Zur Diskussion der franziskanischen Armut, die hier nicht weiter verfolgt werden soll, vgl. Tierney, Infallibility 72-82. 568 Lambertini, Ende 255-259. Zu apokalyptisch-eschatologischen Publizistik des 13. Jh. als politische Propaganda vgl. Mazzanti, Gregorio IX e la pubblicistica. 569 Tierney, Infallibility 72f.; Lambertini, Ende 260f. 570 Congar, Aspects 59f.; Miethke, Rolle 138; Miethke, Kirchenstruktur. 571 Vgl. Leclercq, Priesthood; Nussbaum, Kloster; Bynum, Spirituality. Zur Erneuerung des hochmittelalterlichen Ordenslebens vgl. zusammenfassend Geschichte des Christentums V 136-178 (Michelle Parisse) und 392-433 (Michelle Parisse). 572 Zum klerikalen Papstverständnis vgl. Congar, Aspects 79f.
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Lehre der Kirche573. Nachdem man seine Lehre verboten und ihn von der Pariser Universität verwiesen hatte, hatte Wilhelm möglicherweise – er bestritt diesen Vorwurf später vor der ihn vernehmenden Kardinalskommission – an ein allgemeines Konzil appelliert574. In dem Verfahren gegen ihn wollte der magister regens der Theologie zu seiner Verteidigung, „da er weder Mitra noch Ring noch sonst eine äußere Autorität sein eigen nenne“, auf die Heilige Schrift zurückgreifen575. Nach Wilhelms Ausschaltung übernahm sein Schüler Gerhard von Abbeville die Führung der antifraternalistischen Front. Er verband die durch seine transzendentale Fundierung übermächtige Starrheit von Wilhelms Kirchenmodell mit einer unmittelbaren Unterstellung aller kirchlichen Dignitäten unter Gott. Papst, Bischöfe und Priester erfüllten als Nachfolger von Petrus, den Aposteln und den Jüngern eine Aufgabe, die ihnen von Christus selbst übertragen worden sei. Ihre Funktionen und Kompetenzen seien klar voneinander geschieden, eigenständig und frei wirke ein jeder in seinem Bereich576. Die korporativen Vorstellungen der Pariser Magister waren nicht neu. Seit Jahrhunderten hatten Theologen den Aufbau der irdischen Sozialordnung als Abbild der himmlischen Hierarchie gedeutet. Meist bildeten die aus dem 6. Jahrhundert stammenden pseudo-dionysischen Schriften, deren Autor mit dem von Paulus bekehrten Dionysius Areopagita (Apg 17,34) sowie dem gleichnamigen Märtyrerbischof von Paris verschmolzen war, den quasiapostolischen Ausgangspunkt577. Die Gedanken des Pseudo-Dionysius entfalteten ihre Wirkung nach einer ersten Übersetzung aus dem Griechischen im 9. Jahrhundert insbesondere seit dem 12. Jahrhundert, als im Westen bessere Übersetzungen, unter anderem von Grosseteste, angefertigt wurden578. Allen früh- und hochmittelalterlichen klerikalen Deutungen der sozialen Wirklichkeit war die Anschauung gemeinsam, dass Gott den einzelnen Menschen in eine bestimmte Funktion gestellt habe. Damit sei der Gläubige zu einem Glied des Leibes Christi und zum Teil der Korporation Kirche geworden, in der er bestimmte Rechte und Pflichten, eine bestimmte Funktion und einen bestimmten Wirkungskreis besessen hätte. Jede Auflehnung gegen den göttlichen Plan galt als unverzeihlicher, aus der superbia geborener 573 Tierney, Infallibility 73. 574 Vgl. Miethke, Papst 77. 575 Wilhelm von St. Amour, Responsiones IV Nr. 39, S. 337-396, 354. Zit. nach Ratzinger, Einfluß 709. 576 Zu diesem ekklesiologischen Programm vgl. Congar, Aspects 60-69; Ratzinger, Einfluß 705-709; Tierney, Infallibility 64-67. 577 Dionysius Areopagita, Hierarchia. Zur Rezeption des angeblichen Apostelschülers vom Areopag im Bettelordensstreit vgl. zusammenfassend Congar, Aspects 114-145. 578 Zur Rezeption des Pseudo-Dionysius vgl. allgemein Miethke, Kirchenstruktur.
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Frevel. Der fidelis war auf diese Weise in ein verschachteltes System von Über- und Unterordnung eingebunden, in dem nicht das Individuum, sondern das Funktionieren einer gottergebenen Gemeinschaft an erster Stelle stand579. Dieses ins frühe Mittelalter zurückreichende Denken prägte die ekklesiologische Argumentation gegen die Bettelorden. Das mendikantische Eindringen in die lokale Seelsorge war aus dieser Perspektive nicht nur eine Verletzung traditioneller Pfarrrechte, sondern ein Verstoß gegen den gottgewollten, biblisch begründeten Aufbau der kirchlichen Hierarchie. Niemand, auch nicht das Oberhaupt der irdischen Kirche, besitze die Autorität, Eingriffe dieser Art durchzuführen. Da der Papst die bischöfliche Gewalt nicht überspringen könne, sei für die Erteilung der Predigt- und Beichterlaubnis an die Bettelmönche die ausdrückliche Zustimmung aller betroffenen Prälaten und Kleriker unerlässlich. Die Pariser Professoren verteidigten mit ihrer antipapalistischen und antimendikantischen Lehre eine untergehende Welt. Der Blick zurück barg jedoch auch Elemente, die weit in die Zukunft wiesen und im Keim bereits Grundgedanken der spätmittelalterlichen und frühneuzeitlichen Kirchenreform in sich trugen. Sowohl die Konziliaristen wie auch Luther mit seinem sola scriptura erneuerten Forderungen und Überzeugungen, die Jahrhunderte vorher formuliert worden waren, um den Bestand einer damals gefährdeten Ordnung zu sichern580. Die klerikale Argumentationsstrategie hatte ein großes Problem. Es war eine hierokratische Kirche gewesen, die der mendikantischen Lebensform ihren Segen gespendet und ihre Gründer heiliggesprochen hatte581. Einer kontinuierlichen päpstlichen Unterstützung verdankten die Bettelorden ihren rasanten Aufstieg. Wer sich mit den Mendikanten anlegte, konnte sehr schnell in den Verdacht geraten, sich gegen ein Papsttum zu stellen, das – gestützt auf Theologen und Kanonisten – seine moralisch-jurisdiktionelle Vormachtstellung in Kirche und Welt gerade zu dieser Zeit deutlich zur Schau stellte. Entsprechend erneuerten die Bettelmönche, Schutz suchend in diesem Wettstreit der Argumente unter dem Schirm der päpstlichen plenitudo potestatis, das alte Zweckbündnis mit dem Oberhaupt der Kirche. Vom Papst, der wie ein Familienoberhaupt über die Güter der Franziskaner wachte, erwartete sich der Orden Heil und Segen. Geschickt positionierten sich die Bettelmönche, vor allem die Franziskaner, an der Seite des übermächtigen Papsttums,
579 Vgl. grundsätzlich Ullman, Individuum 10-39. 580 Zum lutherischen Schriftprinzip vgl. Wohlfeil, Einführung 102-111. 581 Zur Rolle des Papsttums vgl. Swanson, Mendicant problem.
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indem sie – wie Bonaventura es in seiner Apologia pauperum getan hat582 – die eigene Sache zur Sache des Papstes erklärten: Dich, heilige römische Kirche, Du neue Esther, die erhoben steht unter den Völkern als Mutter aller Kirchen, als Königin und Lehrerin in Sachen des Glaubens und der Sitte – Dich fleht voller Vertrauen die Gemeinde Deiner Armen an, Du mögest jene, die Du als Mutter gezeugt und als Amme genährt hast, nun auch als Königin machtvoll und gerecht verteidigen ... Steh also auf, heilige Mutter, und schaffe Recht (Esther 3,6), denn Deine eigne Sache ist es, wenn der Orden der armen Minderbrüder die evangelische Wahrheit recht vollzieht; Deine Sache ist es, wenn er mit der von Dir gutgeheißenen Lebensform abweicht von der Wahrheit. Wenn dieser heiligen Lebensform Irrtum vorgeworfen wird, bist folglich Du es, die aufgrund der von Dir erteilten Gutheißung des Irrtums geziehen wird, und Du, bislang Lehrerin der Wahrheit, wirst der Billigung des Irrtums beschuldigt, wirst von der Anmaßung der Modernen verspottet, als ob Du nicht wüsstest um göttliches und menschliches Recht583.
Die Geschichte der Bettelorden war seit ihrer Gründung eng mit dem Papsttum verflochten gewesen. Päpstliche Privilegien hatten die Expansion der Bettelmönche gefördert und das Wesen der beiden neuen Orden, insbesondere jenes der Minoriten, entscheidend geprägt. Innocenz und Honorius hatten die Regel des Franziskus bestätigt, Gregor und seine Nachfolger den Text kommentiert und einer veränderten Wirklichkeit angepasst. Auf dieses Bündnis beriefen sich Bonaventura und seine Mitbrüder in der ersten existenziellen Krise ihrer Gemeinschaft. Die Mendikanten wussten, dass sie diese Auseinandersetzung nicht ohne die Hilfe des Papsttums gewinnen konnten. Das Oberhaupt der Kirche freundlich zu stimmen und für die eigenen Vorstellungen einzunehmen war daher die erste Aufgabe der mendikantischen Strategen. Diesem Zweck diente die ideologische Untermauerung des franziskanischen Bündnisses mit dem Papsttum, wie Bonaventura sie exemplarisch durchgeführt hat. Der Papst musste allerdings nicht nur willig sein, die Sache der Franziskaner zu vertreten, er musste daneben auch über die geeigneten Mittel verfügen, die mendikantischen Privilegien gegen den Widerstand kritischer kirchlicher Kreise zu sichern. Die Bettelmönche benötigten ein starkes Papsttum – die Franziskaner mehr noch als die Dominikaner, stand doch ihre Lebensform besonders in der Kritik584. So griffen Bona582 Zu Bonaventuras Rolle im Bettelordensstreit vgl. einführend Clasen, Bonaventura; Douie, Bonaventura 585-612. 583 Bonaventura, Apologia pauperum 11/16, in: Opera omnia 8, 233-331, hier 315. Zit. nach Ratzinger, Einfluß 713f. 584 Zur relativen dominikanischen Zurückhaltung vgl. Ratzinger, Einfluß 700 mit Anm. 8. Zum ekklesiologischen und ordenstheologischen Standpunkt des Thomas von Aquin
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ventura, Thomas von York und andere zur Feder und konstruierten, weniger aus programmatischer denn aus apologetischer Absicht, eine Primatstheologie, indem sie alte und neue Argumente aus dem päpstlichen Dekretalenrecht, den theologischen Schriften des 12. Jahrhunderts und der beginnenden Aristotelesrezeption mischten und zu einer neuen Gesamtaussage zuspitzten585. Es entstand ein franziskanischer Papalismus: Wie jedes Genus ein Erstes und Oberstes besitze, so müsse auch die Kirche ein Haupt besitzen. Wie in der himmlischen Hierarchie alles seinen Ursprung und sein Ziel in Gott finde, so blicke in der kirchlichen Hierarchie alles auf den Stellvertreter Christi, den summus pontifex. Es sei allerdings nicht allein die Korporation der Kleriker und Mönche, die der Papst lenke und leite, sondern die gesamte Christenheit finde im Oberhaupt der universalen Kirche ihren politischen und religiösen Führer. Da der Papst höchster Priester nach der Ordnung des Melchisedek sei, der zugleich König von Salem und Priester des höchsten Gottes gewesen war (Gen 14, 18), und da Christus über beiderlei Gewalt verfügt habe, habe auch der Stellvertreter Christi auf Erden beiderlei Gewalt von Christus empfangen, so dass ihm beiderlei Schwert gebühre. Der exegetische Vergleich mit Melchisedek, den bereits Innocenz III. häufig als päpstliches Vorbild bemüht hat, stammt von Bonaventura586, der auch das SonneMond-Gleichnis, das wir aus der Glosse Fecit deus kennen, benutzte, um seine Sicht des Kaiser-Papst-Verhältnisses zu veranschaulichen: Am Firmament des Himmels, das ist das Firmament der gesamten Christenheit, hat Gott zwei große Lichter eingesetzt, das heißt, er hat zwei große Dignitäten eingesetzt: die bischöfliche Autorität und die königliche Gewalt. Jene, die den Tag, das ist das Geistige (spiritualia), erleuchtet, ist größer; jene, die die Nacht, das ist das Weltliche (carnalia), erhellt, ist kleiner. Bekanntlich ist der Unterschied zwischen der Sonne und dem Mond so groß wie jener zwischen priesterlicher Autorität und königlicher Gewalt. Da die kaiserliche Macht so groß ist, dass sie als legis origo durch keine Gesetze beschränkt wird [...], um wieviel größer ist die bischöfliche Autorität, die Eigentum und Gebrauch, die nach bürgerlichen Recht zusammengehören, trennen kann. Päpstlichen Konstitutionen darf sich niemand widersetzten gemäß dem Wort des Papstes Gregorius: ‚Niemand darf, kann oder will päpstliche Vorschriften übertreten. Wer Beschlüssen des Apostolischen Stuhles wider-
vgl. Horst, Armut und Kirche. Zum dominikanischen Papalismus des 15. Jh. vgl. Horst, Grenzen; Izbicki, Council; Izbicki, Dominican papalism. 585 Bierbaum, Bettelorden 337-340 und 376; Traver, Thomas of York’s role (Thomas von York); Dempf, Sacrum Imperium 349f.; Congar, Aspects 88-114; Ratzinger, Einfluß 714-719 (Bonaventura); Tierney, Infallibility 82-86 (Bonaventura). 586 Bonaventura, De perfectione evangelica q. 4, in: Opera omnia 5, 196b. Zit. nach Ratzinger, Einfluß 716.
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spricht, möge niedergestreckt werden durch den Schmerz seines Untergangs’587.
Die Franziskaner gingen in ihren Primatsvorstellungen weit über die Dominikaner hinaus. Zwar wurde die franziskanische Ekklesiologie nicht in ein kohärentes System gebracht, da kein minderer Bruder sich der Aufgabe unterzog, innerhalb eines umfassenden ekklesiologischen Gemäldes den Standort seines Ordens zu verzeichnen. Den verstreuten Stellungnahmen lassen sich dennoch gemeinsame Grundüberzeugungen entnehmen. Obwohl der politische Papalismus in den franziskanischen Streitschriften niemals dominierte, – berührte die Stellung des Papstes in der Welt, sein Verhältnis zu Kaisern und Königen doch nicht unmittelbar die Interessen des Ordens – vertraten Franziskaner in dieser Frage durchgehend radikale Positionen. Bonaventura und seine Mitbrüder propagierten einen Papalismus, der weit über die Vorgaben der kanonistischen Kommentatoren hinausreichte und in Form einer verabsolutierten reductio ad unum die gesamte Christenheit dem Papst als vicarius Christi unterstellte588. Auch die herausragenden Lehrer des Predigerordens hatten die politische Stellung des Kirchenoberhauptes betont, ohne dabei aber den gelasianischen Dualismus völlig aufzugeben. Thomas von Aquin hatte in guter, alter Tradition den Ursprung beider Gewalten, der geistlichen wie der weltlichen, unmittelbar auf Gott zurückgeführt. Aus diesem Grund regiere jeder König sein Königreich wie der Papst das Reich Gottes. Nur in kirchlichen Belangen unterstehe der weltliche Herrscher, dessen Seelenheil der kirchlichen Vermittlung bedürfe, dem Priester589. Anders die Anhänger des Franziskus, die sich durch die Angriffe von außen stärker als die Predigerbrüder in ihren Existenz bedroht sahen und daher nach schärferen Waffen griffen. Der franziskanische Papst kannte keine Kompetenzbeschränkung – nicht gegenüber weltlichen Herrschern und erst recht nicht gegenüber den Prälaten und Priestern der ihm untergebenen Kirche. Die politischen Theologen aus dem Minoritenorden lehrten, dass der Vikar Christi über die gesamte Autorität verfüge, die Gott seiner Kirche übertragen hat. Wie Petrus die Apostel, so lenke der Papst die Bischöfe der Kirche. Der Stellvertreter des Herrn auf Erden sei im Grunde das ein587 Bonaventura, Apologia pauperum cap. 11/10, in: Opera omnia 8, 313 (erster Teil in Anlehnung an X 1.33.6, Schlusssatz nach D. 19 c. 5). Zur Gehorsamspflicht gegenüber päpstlichen Dekretalen vgl. Tierney, Grosseteste 1-17; Hageneder, Ungehorsam 29-47; Hageneder, Zweifel 126-137. 588 Bonaventura, De perfectione evangelica q. 4, in: Opera omnia 5, 194: Reductio ad summum in genere hominum, cuiusmodi est Christi vicarius, pontifex maximus. 589 Boyle, De Regno 241 f. Zur Problematik vgl. allgemein Horst, Zwischen Konziliarismus und Reformation.
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zige Zwischenglied zwischen Gott und dem Menschen und damit der notwendige Vermittler aller kirchlichen Gewalt. Ohne die Zustimmung des summus pontifex könne kein Kirchenamt wahrgenommen und kein Sakrament gespendet werden. Der iudex ordinarius omnium war auch der proprius sacerdos jedes Christen, dieses wie jenes Vorrecht konnte er delegieren590. Diese päpstliche Macht kenne keine Grenzen, weder geographisch noch inhaltlich. Überall, in jeder Ortskirche, herrsche der Papst so wie in seiner eigenen stadtrömischen Diözese. Die Rechte, die der einzelne Bischof in seinem Bistum ausübe, besitze der Nachfolger des Apostelfürsten in der gesamten Kirche. Das Programm, das Gregor VII. angestrebt hatte, war nun Wirklichkeit geworden591. War der Papst nicht der einzige wahre Bischof der Kirche Christi? Waren die Ortsbischöfe nicht Stellvertreter des Papstes und die Priester Stellvertreter der Ortsbischöfe? War es nicht nahe liegend, dass ein Mendikant, der einem straff zentralistischen Verband angehörte und einem in jeder Provinz agierenden Ordensgeneral unterstand, sein Bild der Gesamtkirche nach den eigenen Erfahrungen und Lebensstrukturen formte?592 Gegen die Pariser Magister, aber auch gegen die herrschende Lehre der Kanonisten593 entwarfen Männer wie Thomas von York und Bonaventura eine hierarchische Ekklesiologie, nach der jedes Mitglied der kirchlichen Hierarchie seine gesamte Gewalt vom Papst beziehe. Jede Autorität ströme vom Haupt in die Glieder, jede priesterliche Schlüsselgewalt stelle eine päpstliche Delegation dar. Ja, die gesamte Kirche bilde einen einheitlichen Kirchenverband unter einem allmächtigen Papst. Die gesamte Welt war päpstliche Diözese, in der subalterne Amtsträger, also Weltkleriker und Mendikanten, ausgestattet mit alten Rechten und neuen Privilegien, stellvertretend für das geistige und jurisdiktionelle Oberhaupt der ecclesia universalis ihre pastoralen und sakramentalen Aufgaben erfüllten594. Die dogmatische Konsequenz aus dieser übermächtigen Stellung des franziskanischen Papstes zog Petrus Olivi, der in einer verzweifelten Vorwärtsverteidigung der Spiritualen Ende des 13. Jahrhunderts erstmals das Wort von der päpstlichen Unfehlbarkeit in den Mund nahm, um die päpstliche Sanktionierung der radikalen franziskanischen Armut in einer sich ändernden Zeit zum unveränderbaren Rechtsgut zu stilisieren und ein von älteren Verfügungen unbeein-
590 591 592 593 594
Congar, Aspects 78; Miethke, Rolle 144. Zu Gregor VII. als „Allbischof“ vgl. Haller, Papsttum II 383. Miethke, Mentalität 169. Congar, Aspects 70f. Tierney, Infallibility 82-86.
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drucktes Papsttum an die überlieferten promendikantischen Beschlüsse zu binden595. Die beiden großen Mendikantenorden befanden sich auf dem Siegeszug596. Die scharfe Auseinandersetzung mit den Weltklerikern hatte zur Festigung des eigenen Profils und zur endgültigen Etablierung im ekklesiologischen Gefüge beigetragen. Von der anhaltenden Gunst der Päpste zeugten die zahllosen Privilegierungen, die zugunsten von Franziskanern und Dominikanern ergingen. Aus verlumpten Bettelmönchen war eine elitäre päpstliche Einsatzgruppe geworden, die im Auftrag der päpstlichen Monarchie mit Spezialaufgaben durch bekannte und unbekannte Länder reiste. Das radikale Armutsgebot des heiligen Franziskus hatte seine Gemeinschaft besonders eng mit dem Papsttum verbunden, garantierte doch allein das päpstliche Einverständnis die Aufrechterhaltung der fiktiven Trennung von dominium und usus597. Den Aufbau der Bettelorden hatte eine florierende Ordensgesetzgebung begleitet, die Minoriten und Predigerbrüder einem dichten Regelwerk von Konstitutionen unterwarf. Vorangegangen waren die Anhänger des heiligen Dominikus, die bereits zu Beginn der dreißiger Jahre des 13. Jahrhunderts über ein elaboriertes Geflecht von Regel, Konstitutionen und zusätzlichen Bestimmungen zur Rechtsfortbildung verfügten, die man als das Vollkommenste bezeichnet hat, was das Mittelalter „in Hinsicht auf die Verfassungsbildung mönchischer Korporationen hervorgebracht hat“598. Studium und Seelsorge waren in einer perfekten Symbiose verbunden worden599. Langsamer beschritten die Franziskaner diesen Weg. Von einer Ordensgesetzgebung vor 1239 besitzen wir nur undeutliche Spuren600. Diese wurden, falls jemals vorhanden, gleichsam ausgelöscht von der umfassenden Kodifizierung des Ordensrechts im Rahmen der Konstitutionen von Narbonne, veröffentlicht unter dem Generalminister 595 Tierney, Infallibility 93-130. Zur Diskussion von Tierneys Thesen zur päpstlichen Unfehlbarkeit vgl. Geschichte des Christentums V 626-629 (Agostino Paravicini Bagliani); Parisoli, Formazione 431-458. Zu Olivi vgl. Burr, Pierre Olivi; Boureau (Hg.), Pierre de Jean Olivi; Flood, Recent study 111-119. 596 Zur historischen Bedeutung des Mendikantenstreits und zum Mendikantentum als „le progrès au 13e siècle“ vgl. Dufeil, Signification. 597 Zur „rein faktischen Gebrauch“ (simplex usus facti) vgl. Grossi, Usus facti 287-355. Zur Erörterung des Problems durch Bonaventura vgl. Lambertini, Apologia 86-101. Zu den kontroversen Diskussionen innerhalb des Ordens am Ende des 13. Jh. und während des „Theoretischen Armutsstreits“ ab 1321 vgl. Miethke, Paradiesischer Zustand 516-521. 598 Elm, Franziskus und Dominikus 128 (Albert Hauck zitierend). 599 Cygler, Funktionalität 385-428; Melville, Rechtsordnungen 579-604. 600 Ehrle, Redactionen 1-138; Brooke, Government 239; Cenci, De constitutionibus 50-95, Dalarun, François 83-89.
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Bonaventura im Jahr 1260, übrigens unter massiver Heranziehung der dominikanischen Gesetzgebung601. Aus den jungen Orden, die in den ersten Jahrzehnten des 13. Jahrhunderts nach innerer Festigung und äußerer Bestätigung strebten, waren mächtige Institutionen geworden, die ihrem Dasein ein breites Fundament normativer Bestimmungen zugrunde legten. Die rechtliche Normierung wurde von einer mentalen Selbstvergewisserung begleitet und ideell mitgetragen. Die neuartige und exponierte Position innerhalb der kirchlichen Hierarchie hatte die Bettelorden dazu genötigt, sich der eigenen Identität immer wieder zu versichern und diese gegenüber existenzbedrohenden klerikalen Angriffen zu verteidigen. Intensiv und zweckorientiert ordnete die Ordensführung deshalb die eigene Vergangenheit, um einem eschatologisch überhöhten Selbstbewusstsein eine gesicherte Grundlage zu liefern. So entstanden verbindliche und exklusive Fassungen der Gründerviten, die eine mythologische Genese im Hinblick auf eine projektierte Zukunft hin konstruierten und homogenisierten602. Nicht nur Geschichtsschreibung und Gesetzgebung wurden den Ordenszielen dienstbar gemacht. Vielmehr lagen dem gesamten Denken und Schreiben der Bettelmönche apologetische Absichten zugrunde. So gerieten auch das Studium und die Lehre vom kanonischen Recht zur politischen Wissenschaft. Die Sammlung und Kommentierung des kanonischen Rechts bildete einen wesentlichen Beitrag zur politischen Theorie des Mittelalters. Franziskanische Rechtsgelehrte standen damit in einer bis in den Investiturstreit zurückreichenden Tradition. Spätestens in den Tagen Gregors VII. war das Kirchenrecht zu einem wichtigen Medium geworden, um die päpstlichen Prärogativen zu definieren und zu legitimieren. Seit dieser Zeit leisteten die Kanonisten einen wichtigen Beitrag zur Diskussion und Weiterentwicklung der politischen Theorie. Die papalistische Ausrichtung bildete zunehmend einen konstitutiven Charakterzug der kirchlichen Rechtswissenschaft, waren deren Träger doch aufstrebende Mitglieder einer kirchlichen Hierarchie, innerhalb derer sie Karriere machen wollten. Seinem Herrn zu dienen hieß, auch sich selbst zu dienen. Die päpstliche Monarchie fand in den Kanonisten ihre treuen Vordenker und Propagandisten. Der apostolische Stuhl, auf dem seit dem ausgehenden 12. Jahrhundert zumeist studierte Juristen saßen, versäumte es nicht, die ihm zugedachte Rolle mit Leben zu fül601 Zu den Statuten von Narbonne vgl. Statuta generalia Ordinis 13-94, 284-358; Brooke, Government 275; Dalarun, François 99-103. Zum dominikanischen Einfluss vgl. auch Dalarun, François 88. Zur Genese der dominikanischen Konstitutionen zwischen 1220 und 1236 vgl. grundsätzlich Tugwell, Evolution of Dominican Structures. 602 Zur vergleichbaren Selbstpositionierung anderer Ordensgemeinschaften vgl. Melville, Geltungsgeschichten 86-107.
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len. Immer stärker griffen die Päpste in die Angelegenheiten der Regionalkirchen ein, immer regelmäßiger wurden die römische Kurie und ihre Beauftragten in lokalen Konflikten zur entscheidenden Gerichtsinstanz. Mit der übermächtigen Stellung innerhalb der Kirche korrespondierte der Anspruch, dieselbe Vorrangstellung auch innerhalb der laikalen Christenheit wahrzunehmen. Wiederum lieferten die papsttreuen Kanonisten die maßgeblichen Konzepte, die in gewisser Hinsicht jede weltliche Macht dem Oberhaupt der römischen Kirche unterstellten. Ein besonderes Interesse an rechtlich fundierten Modellen eines monarchischen Papsttums hatten die Bettelmönche, ihnen voran die Söhne des Franziskus. Bereits in ihrer Geburtsstunde war die Kanonistik keine wertfreie Wissenschaft gewesen, doch im franziskanischen Umfeld nahm sie den Charakter einer politischen Theologie an. Das kirchliche Recht diente den Minoriten als Werkzeug, die eigene Existenz zu sichern und zu legitimieren. Die Verbindung zum Papsttum spielte dabei eine zentrale Rolle. In diesem Kontext, im Jahrzehnt zwischen 1260 und 1270, als sich der mendikantische Erfolg im Streit mit den säkularen Klerikern an der Universität Paris immer deutlicher abzeichnete, standen in der sächsischen Ordensprovinz zwei gelehrte Minoriten an ihren Schreibpulten. Dank des raschen Informationsflusses innerhalb des zentralisierten Ordens waren Balduin von Brandenburg und der anonyme Glossator der Summe Heinrichs von Merseburg von den Vorgängen im fernen Paris mit Sicherheit unterrichtet. Auch in der Peripherie wusste man, was auf dem Spiel stand. Man kannte auch hier die Argumente, mit denen sich die Vertreter der eigenen Gemeinschaft erfolgreich gegen die gefährlichen Angriffe von außen zur Wehr setzten. Die sächsischen Konvente waren nicht der geeignete Ort, die Ordensmitglieder an den großen Zentren der Gelehrsamkeit mit apologetischen Traktaten zu versorgen. Das war auch nicht nötig, hatten doch Bonaventura, Thomas von York und andere den Angriff der säkularen Kleriker abgewehrt und die minoritische Position nicht nur an der Pariser Universität gefestigt. Die Schlüsselwerke der Auseinandersetzung wurden vermutlich in allen Provinzen und Konventen des Ordens emsig studiert. Der provinzielle Beitrag zur Diskussion war bescheidener und diente lokalen Bedürfnissen. Die Lektoren an den Provinz- und Konventschulen verfassten in der Regel Schriften, die sie im eigenen Unterricht verwenden konnten. Diesen Praxisbezug besaßen apologetische Traktate historiographischer oder theologischer Art nur sehr bedingt, Sammlungen und Kommentierungen des kanonischen Rechts jedoch sehr wohl, musste doch jeder mit der cura animarum betraute Bettelmönch die rechtlichmoralische Verfasstheit der Christenheit kennen, um dem ratsuchenden Sünder in der Beichte die angemessene Bußleistung auferlegen zu
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können. Das Kirchenrecht enthielt einen großen Teil jener Regeln, denen sich die christliche Gesellschaft verpflichtet fühlte. Zwar lag ein Schwerpunkt der päpstlichen Dekretalengesetzgebung auf der Ordnung innerkirchlicher Prozesse und Strukturen, die Kanones der Konzilien und des iudex omnium behandelten jedoch zahlreiche zivilrechtliche Angelegenheiten und allgemeine ethische Fragen in mitunter ausführlicher Weise. Diese Rechtsordnung musste der iudex animarum kennen, wollte er im Einzelfall das korrekte Maß von Schuld und Sühne festsetzen. Franziskanische Bibliotheken verfügten daher über ein reiches Repertoire an kirchenrechtlichen Schriften. Bereits in den Jahrzehnten nach dem Tod des Ordensgründers gehörte das kanonische Recht zum franziskanischen Ausbildungskanon, wenngleich normative Bestimmungen über den Rechtsunterricht erst aus der zweiten Jahrhunderthälfte stammen603. Auch in der Saxonia Franciscana entstand ab der Jahrhundertmitte eine Reihe von kanonistischen Arbeiten, um den Novizen und Mitbrüdern die pastorale Tätigkeit zu erleichtern604. Doch das Kirchenrecht war keine wertneutrale Wissenschaft, sondern seit Jahrhunderten ein Mittel, politische Theologie zu betreiben und die ekklesiologisch-sakramentale Struktur der ecclesia carnalis gemäß den eigenen Vorstellungen zu beschreiben. Für die Mendikanten war das ius canonicum seit den Tagen Gregors IX. ein zentrales Medium der Existenzsicherung, musste doch das den Dominikanern und Franziskanern übertragene ius novum argumentativ verteidigt und legitimiert werden. Das konnte nur in der Sprache des Rechts geschehen, die dementsprechend von allen führenden Köpfen aus den Bettelorden, zumindest ab der zweiten Generation, virtuos beherrscht wurde. Auch in der sächsischen Provinz waren die Rechsgelehrten bereit, das Kirchenrecht, dieses eminent politische Wissen von der Ordnung der Christenheit, im Sinne der eigenen Sache auszudeuten. Die Summe des Balduin und der Glossenapparat Fecit deus tragen daher jene politischen Gedanken weiter, die von den verschiedenen mendikantischen Gruppen, insbesondere aber von den Minoriten zur Grundlage ihrer politischen Theologie gemacht worden waren. Die apologetische Zweckgebundenheit des Rechts dominiert diese franziskanischen Rechtstexte noch stärker als vergleichbare Arbeiten aus weltgeistlicher Feder, ging es bei diesen doch auch um einen Aufstieg innerhalb der kirchlichen Hierarchie, bei jenen aber um die eigene religiöse Existenz. 603 Zum Rechtsunterricht in franziskanischen Schulen vgl. Meier, Die Barfüßerschule 42 ff.; Roest, History of Franciscan education 146-148 (zu juristischer Literatur in franziskanischen Bibliotheken vgl. ebd. 205f., zu den normativen Bestimmungen aus dem Jahr 1279 vgl. ebd. 147 mit Anm. 128). 604 Kurtscheid, Studio 157-202.
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So wurde das Recht der Kirche zum Medium der theologisch-politischen Diskussion und ein Lehrbuch des kanonischen Rechts zum Übermittler der politischen Theologie des Franziskanertums. Welche Konsequenzen ergaben sich aus der engen Verknüpfung von päpstlicher Suprematie und kanonischem Recht? Was bedeutete es für Wesen und Funktion des Kirchenrechts, wenn es sich gleichsam im Schatten des apostolischen Stuhles entfaltete? Das Recht der Kirche war für die Männer, die es studierten und anwandten, ein zentraler Ordnungsfaktor der menschlichen Gesellschaft, umfasste es doch nach übereinstimmender Anschauung das gesamte Recht, menschliches wie göttliches, öffentliches wie privates. Die Lösung sämtlicher spiritueller und weltlicher Fragen erhoffte man sich durch das Studium eines kanonischen Rechts, das – sobald alle Menschen die Gesetze der Kirche als verbindliche Normen des Zusammenlebens anerkannt haben – zum Fundament eines universellen Friedens werden sollte. Das kanonische Recht wies den Weg zum Heil. Heilsgeschichte war Rechtsgeschichte. Die Christenheit auf dem rechten Weg zu führen, Suchende nicht abirren zu lassen und Verlorene wieder zurückzugewinnen war Aufgabe des Oberhaupts der Kirche. Allein der Papst, der de iure alle Gewalt auf Erde besaß und von dem der Kaiser sein Schwert empfing, schuf neues Recht, um dem Wandel der Zeiten zu begegnen und das geordnete Marschieren der Christenheit auf dem Weg zur vita aeterna zu schützen vor immer neuen Gefahren. So thronte der Papst über der Christenheit, formte ihre Geschichte durch seine Gesetze, ordnete Welt und Kirche und vergaß dabei niemals seine besonders treuen Helfer, die Bettelmönche.
Zweiter Teil: Weltordnung IV. Begleitung in die Vielfalt 1. Verchristlichung der Stadt Der Mönch des hohen Mittelalters betrachtete sich als Bürger der Stadt Gottes auf Erden. Nur im abgeschlossenen Konvent, der irdischen Vorwegnahme des himmlischen Jerusalem, meinte der Gottessuchende Zuflucht finden zu können vor den Verstrickungen einer sündhaften Welt. Im einsamen Kloster, dem „zweiten Paradies“, der „zweiten Arche Noah“, glaubten weltabgewandte Mönche durch ihr inständiges Beten zu Gott auf ihre Weise dazu beizutragen, „das Zusammenleben der mit Weltgeschäften befassten Laien christlicher, humaner und glückseliger zu machen“1. Die alte augustinische Metapher der eigenen Lebenswelt anpassend, hatte sich im monastischen Denken des 12. Jahrhunderts die Identifizierung der civitas Dei mit dem Mönchtum bzw. der Kirche fest etabliert. Wenn der Begriff civitas in den Schriften Bernhards von Clairvaux, Aelreds von Rievaulx, Ottos von Freising, Heinrichs von Albano und anderer auftauchte, dann war nicht die Rede von der realen Stadt und ihren Bewohnern, von engen Gassen und überfüllten Märkten, sondern von einer theologischen Imagination. Gegenübergestellt wurde der civitas Dei, die Anteil hat an den himmlischen Sphären und die Zeiten unverändert überdauert, eine civitas terrena, mit der die laikale Gesellschaft in ihrer historischen Kontingenz identifiziert wurde. Mit einem solchen dualistischen Bild veranschaulichten die Gelehrten, insbesondere die Zisterzienser um Bernhard von Clairvaux, ihre Forderung an Mönche, Kleriker und Laien, von der sichtbaren, veränderlichen Stadt des Menschen zur spirituellen, beständigen Stadt Gottes zu streben. Während die Gründungs- und Expansionsphase der mittelalterlichen Stadt mit unaufhaltsamer Wucht einsetzte, transzendierten die Mönche so eine irdische Wirklichkeit, die ihnen nicht behagte, und blieben alten theologischen Denk- und Sprachmustern verhaftet2. 1 2
Schreiner, Mönchsein 563 f. Zur Stadt im monastischen Denken des 12. Jahrhunderts vgl. Renna, Ideas of the city. Zum Städtewesen als „Ausdruck paganer Hybris“ in der frühmittelalterlichen Hagio-
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Klerikern und Mönchen erschien das Leben in der Stadt als Pervertierung ihrer Idealvorstellungen menschlichen Daseins. Ein monastisches Denken, das in der Flucht aus der Welt, im Verzicht auf materielle Güter und im ständigen Gebet den Weg zu Gott suchte, konnte einer Organisationsform sozialen Zusammenlebens mit säkularen Zielsetzungen nichts Positives abgewinnen. Ihren Höhepunkt erlebte die kirchliche Städtekritik im Kontext der Kirchenreform des 11. Jahrhunderts, die zeitlich bezeichnenderweise mit der ersten Entfaltung des mittelalterlichen Städtewesens zusammenfiel. Der Benediktiner Alpert von Metz berichtete bereits um 1000 von Verschwörungen der Kaufleute zu Tiel, die nach willkürlichen Regelungen Recht sprächen; Guibert von Nogent brandmarkte die Selbständigkeitsbestrebungen der Bewohner nordfranzösischer Städte als gefährliche Neuerungen; als zügellos und unbeständig beschrieb Lampert von Hersfeld die gegen ihren Bischof rebellierenden Bewohner von Worms und Köln. Für Eremiten wie Petrus Damiani und für religiöse Reformgemeinschaften wie die Zisterzienser lag der Weg zum Heil in der eremitischen Einsamkeit bzw. im abgelegenen Kloster. In den Augen des Abtes von Fonte Avellano verwirrte das bunte städtische Treiben die menschlichen Sinne und lenkte ab vom Wesentlichen, dem Streben nach geistlichen Verdiensten. Bernhard von Clairvaux rief den Klerikern zu, aus Paris, dem modernen Babylon, zu entfliehen. Otto von Freising beschuldigte die Mailänder, sich wie einst die Barbaren außerhalb jeder Ordnung gestellt zu haben. In monastischen Kreisen war man sich einig: In der Stadt war der Einzelne den Gefahren der sündhaften Welt schutzlos ausgeliefert, die Stadtgemeinschaft selbst verkörperte den kollektiven Abfall vom christlichen Leben3. Doch auf Dauer ließ sich die Wirklichkeit nicht negieren4, die Fakten dazu sind bekannt: Eine beschleunigte Entwicklung des Städtewesens war verbunden mit einer Differenzierung der Berufsgruppen, einer wachsenden Mobilität der Bevölkerung und neuen Formen politischer Herrschaft in den Kommunen. Die Epoche von der Mitte des 11. bis zum 13. Jahrhundert wurde zu einer Epoche der Umgestaltung und Neufor-
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graphie vgl. Kugler, Vorstellung 82 f. Zur literarischen Wahrnehmung der Stadt in Antike und frühem Mittelalter vgl. Classen, Stadt. Zur Stadt als Metapher des Paradieses im alten Ägypten vgl. Assmann, Tod 207. Zu den stadtkritischen Äußerungen aus monastischer bzw. klerikaler Feder vgl. grundsätzlich Little, Religious poverty 70-81; Schmidt, Societas christiana 299-310. Zu Babylon als metaphorisches Grundmuster klerikaler und frühhumanistischer Stadtkritik vgl. Borst, Babel oder Jerusalem? 15-123 und 433-454; Meier, Mensch 24-28. Zum realen Verhältnis von Mönchtum und Stadt, insbesondere zur Marktorientierung zisterziensischer Grundherrschaften, vgl. Bender, Zisterzienser; Endres, Wandel. Zur Verflechtung von Kloster und Stadt(wirtschaft) vgl. grundsätzlich Little, Religious poverty 65-69.
Begleitung in die Vielfalt
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mierung, zu einer Zeit, in der viele Bereiche menschlichen Zusammenlebens sich aus traditionellen Bindungen lösten. Das städtische Gemeinwesen wurde zu einem Ort der Produktion und des Warenaustausches; Handwerk und Handel begegneten sich hier im Rahmen einer alle Wirtschaftsbereiche mobilisierenden Geldwirtschaft5. Die Stadt wirkte als Schmelztiegel eines neuen Wertesystems, hervorgegangen aus dem genossenschaftlichem Zusammenschluss seiner Bürger. Hier fand man alle Vergnügungen auf engstem Raum vereint: Man feierte Feste und konnte sich auf der Straße oder in Tavernen, Schulen, Kirchen und sogar auf Friedhöfen amüsieren und mit anderen Menschen kommunizieren6. Der Gegensatz von urbs und rus gewann an Gewicht. Der Dualismus von Stadt und Land wurde – trotz der zunehmenden ökonomischen Verflechtung beider Bereiche7 – konstitutiv nicht nur für Wirtschaft und Gesellschaft, Recht und Verfassung, sondern auch für Kultur und Wissenschaft, für kirchliches und religiöses Leben8. Zwar lebte weiterhin die große Masse der Bevölkerung in agrarisch dominierten Strukturen meist am Rand des Existenzminimums, ohne Zeit und Kraft zur Rationalisierung und Meliorisierung des eigenen Lebens. Doch die Welle von Stadtgründungen bzw. Kommunebildungen, die das westliche Europa seit dem Ausgang des 11. Jahrhunderts erfasst hatte9, führte zu einer markanten und von den Zeitgenossen auch wahrgenommenen Veränderung der überlieferten Sozialordnung. Die bäuerliche Landbevölkerung wurde zunehmend als homogene Schicht wahrgenommen und von adligen Rittern in den Burgen und nichtadeligen Bürgern in den Städten abgegrenzt10. Im Zuge dieses sozialen Diversifizierungsprozesses nahmen auch die klerikalen und monastischen Äußerungen zum Aufschwung des
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Zur wirtschaflichen Expansion im späten Mittelalter vgl. Cavaciocchi (Hg.), Fiere e mercati. Zu den Annehmlichkeiten städtischen Lebens aus mittelalterlicher Sicht vgl. Le Goff, Liebe 114-118 (Jean de Garlande wirbt für Toulouse, wo im Jahr 1229 eine Hochschule errichtet worden war). Zum Kontext dieser Universitätsgründung vgl. Oberste, Heiligkeit 120. Eine grundsätzliche Beschreibung städtischer Lebensformen bei Tschipke, Lebensformen. Zur Erfassung und pastoralen Durchdringung des Landes durch die Franziskaner vgl. Rüther, Bettelorden. Zur Problematik vgl. grundsätzlich Ennen, Zur Typologie; Richter, Urbanitas; Kiessling, Stadt-Land-Beziehungen. Zur Entfaltung des europäischen Städtewesens vgl. Lefèbvre, La révolution urbaine; Nicholas, The growth of the medieval city. Zur Kommunebildung vgl. Dilcher, Die Entstehung der lombardischen Stadtkommune; Schulz, „Denn sie lieben die Freiheit so sehr“; Hubert, La construction de la ville. Vgl. exemplarisch Borst, Lebensformen 394; Rösener, Bauer und Ritter.
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Städtewesens zu11. Leben und Arbeiten in der Stadt wurde zu einem Problem, das in Traktaten, historiographischen Werken, Predigten und Rechtsbüchern behandelt wurde und nicht allein geeignet war, das Interesse der Gelehrten zu erwecken, sondern sich für die Vorstellungen breiterer Schichten als bedeutsam erwies. Von vereinzelten Ausnahmen abgesehen, dominierte dabei bis an die Schwelle zum 13. Jahrhundert ein verhaltener bis negativer Grundton12. So kritisierte noch Jakob von Vitry die Stadt als Pflanzstätte verweltlichter Gesinnung, in der die Menschen nicht nach der Erlangung des Seelenheils, sondern nach besonders raffinierten Formen persönlicher Selbstverwirklichung strebten. Nicht Frieden und Eintracht, sondern Streit, Verschwörung und Aufruhr prägten das städtische Zusammenleben13. Bereits einige Jahrzehnte zuvor, im ausgehenden 12. Jahrhundert, hatte der Benediktiner Richard von Devizes das vermutlich schärfste Pamphlet gegen eine mittelalterliche Stadtgemeinschaft niedergeschrieben, indem er die tradierten Vorurteile zusammenfasste und zuspitzte. Zielscheibe seiner Angriffe war London. Jedes Stadtviertel sei voll von widerlichen Obszönitäten. Überall treffe man Gaukler, Schauspieler, Zauberer, Tänzer. Vergnügungssüchtige durchstreiften Tag und Nacht die Gassen. Ernsthaftes Bemühen um ein gottesfürchtiges Leben sei dort unmöglich14. Meinungen wie diese hielten sich das gesamte Mittelalter über: In der Stadt würden die Rechte der Kirchen geschmälert; Neid und Streitsucht, Unterdrückung und Meineid beherrschten das Leben; Verschwendungssucht und Luxus würden an die Stelle von Frömmigkeit und Barmherzigkeit treten; der städtische Markt sei zum Tummelplatz von Betrügern und Halsabschneidern geworden. Doch das Interpretationsmuster der Kirchenmänner wandelte sich im Laufe des 13. Jahrhunderts. Nicht mehr allein Babylon, sondern auch das himmlische Jerusalem wurde als Metapher herangezogen, um über die irdische Stadt und ihre Bewohner zu räsonieren15. Schließlich 11 12
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Zum Stand der Stadtgeschichtsforschung vgl. Dilcher, Historiographische Traditionen. Für das beginnende 13. Jh. vgl. Kienzle, Cistercian views. Zur Sicht der Stadt in der deutschsprachigen religiösen Literatur, wo bereits frühzeitig positive Akzente gesetzt wurden, vgl. Pfütze, ‘Burg’ und ‘Stadt’; Kugler, Vorstellung 84-90. Zu deutschen „Stadtspiegeln“ des 15. Jh. vgl. Heimann, Stadtspiegel; Meier, Mensch 15-18. Vgl. Schmidt, Arbeit 261 Anm. 1; Schmidt, Societas christiana 309 f.; Meier, Mensch 26. Zu stadtbezogenen Exempla Jakobs von Vitry vgl. Oberste, Heiligkeit 163-169. Cronicon Richardi Divisensis 65 f. Übers. nach Schmidt, Societas christiana 301. Zum himmlischen Jerusalem als Metapher vgl. Konrad, Das himmlische und irdische Jerusalem; Kugler, Vorstellung 79-112; Russell, A similitude of Paradise; Auffarth, Irdische Wege und himmlischer Lohn 73-121. Zur Stadt als Idealform menschlichen Zusammenlebens vgl. Steiert, Die ideale Stadt.
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trat an die Stelle der Allegorie die Realität16. Zunächst war es Rom, das Zentrum der lateinischen Christenheit, der Ort der Apostelgräber und Sitz der päpstlichen Kurie, dessen Geschichte und Architektur in Pilgerführern und anderen Schriften gepriesen wurde17. In Historiographie und Hagiographie folgten, insbesondere in Italien, Hinweise auf eine positive Wertschätzung der eigenen Stadt als Wirkungsstätte heiliger Bischöfe und wunderwirkender Heiliger. „Religiöse Traditionen verbanden sich mit urbanem Selbstbewusstsein und förderten das Interesse an der Geschichte der eigenen Stadt, wobei die unterschiedlichen Elemente religiöser, wirtschaftlicher und politischer Bedeutung eine enge Verbindung eingingen“18. Eine frühe Würdigung der Stadt in ihrer irdischen Erscheinungsform stammt aus der Feder Wilhelms von Auvergne, der als Bischof von Paris seit 1228 über das geistliche Wohlergehen eines der größten urbanen Zentren Europas wachte19. In seiner Summa theologica begann der ehemalige Magister der Theologie die Sakramentenlehre De sacramento in generali mit grundsätzlichen Überlegungen: Irdisches werde nur vom Himmlischen, Unvollkommenes nur vom Vollkommenen her begriffen. Diese Grundstruktur allen Erkennens wird dem Leser verdeutlicht mit Hilfe der Metapher „Stadt“, über die es unter anderem heißt: Stellen wir uns eine Stadt vor, die sich aus so vollkommenen Menschen zusammensetzt, daß ihr ganzes Leben daraus besteht, Gott zu ehren und zu dienen, den Seelenadel zur Vollendung zu bringen und anderen zu helfen. [...] Es ist offensichtlich, daß der Rest der Menschheit im Vergleich zu dieser bewundernswerten Stadt wie ein wilder Wald ist und all die anderen Menschen wie wildes Holz20.
Die Stadt verkörpert zivilisierte Kultur, der Wald dagegen unbezwungene Wildheit21. Es ist dieser Wald als Inbegriff des Rohen und Unzivilisierten, in den bereits eine Generation früher Chretien de Troyes seinen Löwenritter Yvain geschickt hatte, um ihn dort – fern der Gesellschaft höfischer Ritter und Edelfrauen – als wilden Mann den Tieren nachspü-
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Zum Verhältnis von Topos und Wirklichkeit im Städtelob als Forschungsproblem vgl. allgemein Kugler, Vorstellung 21-37. Zu Rom als europäischem Pilgerzentrum vgl. D’Onofrio (Hg.), Romei e giubilei. Zu den römischen Pilgerführern des späten Mittelalters vgl. Miedema, Die römischen Kirchen im Spätmittelalter. Schmidt, Societas christiana 321. Zu früheren Stimmen aus dem 11. und 12. Jh. vgl. Schmidt, Societas christiana 323327; Meier, Mensch 28-30. Wilhelm von Auvergne, De sacramento in generali 407 f. Zum Wald als Metapher für den „wilden Ort“ vgl. Le Goff, Liebe 118 f.
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ren und sie roh verschlingen zu lassen22. Wilhelm von Auvergne führte den Vergleich noch weiter: Die unbehauenen Steine, das unverarbeitete Holz und das rohe Erz des Waldes würden in der Stadt bearbeitet, verfugt und in eine edle Form gebracht. Menschen mit technischem Geschick und künstlerischen Anlagen drängten so das Chaos zurück und bauten an einer Ordnung, die symbolhaft Gottes Schöpfungsordnung widerspiegle. Wilhelm kennzeichnete die Stadt als den Ort, an dem die wahren Menschen lebten. Der Einzelne ließ gleichsam beim Eintritt durch das Stadttor seine Wildheit hinter sich und wandelte sich zum kultivierten Bürger, der teilhatte an den Rechten und Pflichten der Bewohner. Überwunden werde dadurch die animalische Geistlosigkeit des Bauern, der gefräßig und einfältig sein karges Leben friste23. Von den Bürgertugenden schließlich weiß der Pariser Bischof zu berichten: Das vornehmste Ziel des städtischen Gemeinwesens bilde die Sorge für Frieden und Glück unter der Herrschaft Gottes, des vollkommensten Monarchen, des einzigen wahren Königs. Öffentlich hätten die Bewohner der Stadt zu bekennen, dass sie untereinander in freiwilliger Gemeinschaft und in gegenseitiger Hilfe verbunden sein wollten. Die Stadt sei daher eine Gesellschaft der Gleichheit und des wechselseitigen Beistandes. Die einzelnen Bürger vergleicht Wilhelm in seinem Städtelob mit jenen Steinen und Hölzern, die durch die Sorgfalt des Baumeisters veredelt würden. Wie Wildwüchsigkeit und Unebenmäßigkeit die Baumstämme des Waldes prägten, so dominierten Hochmut, Geiz und Genusssucht die Seelen der Landbewohner. Wie Geradlinigkeit, Ebenmäßigkeit, Glattheit und Festigkeit im kunstvoll bearbeiteten Stein und Holz vorherrschten, so wohnten Gerechtigkeit, Billigkeit und Tapferkeit in den Seelen der Stadtbewohner. Alle rohe Ungleichheit (inaequalitas) des Materials sei in der Stadt verschwunden. Die harmonische Gleichförmigkeit (aequalitas) wird als Idealzustand einer vollkommenen Gesellschaft begriffen, die inaequalitas dagegen als der unbehandelte Rohzustand in materieller sowie mentaler Hinsicht. Zwar gibt Wilhelms Beschreibung scheinbar die juristische Gleichstellung des Bürgers vor den städtischen Institutionen der Verwaltung und Justiz wieder, der Theologe und Prälat dachte seinen civis-Begriff jedoch in platonisch-augustinischer Tradition und betrachtete die Gemeinschaft der Bürger somit als eine metaphysisch-religiös ausgerichtete Menschenschar, deren Herz gemeinsam für die Erlangung des ewigen Heils schlug. Insofern ist des Pariser Bischofs Stadtbeschreibung dem monastischen Denken des 12. Jahrhunderts verpflichtet. Dennoch kann 22 23
Zu Yvain als wilden Mann im Wald vgl. Borst, Lebensformen 253-257. Zum literarischen Spiel mit diesen Stereotypen bereits bei Petrus Alfonsi Anfang des 12. Jh. vgl. Borst, Lebensformen 390-394.
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Wilhelms Schilderung als ein Anzeichen dafür gedeutet werden, dass die Wahrnehmung der Stadt im Wandel begriffen war, denn hinter der metaphernüberladenen Beschreibung seiner Idealstadt verbirgt sich der Stolz des Autors auf seine Heimatstadt, die zu den größten und prächtigsten Residenzstädten der mittelalterlichen Welt gehörte24. Was im 12. Jahrhundert meist in theologischen Kategorien thematisiert oder mit negativen Stereotypen durchsetzt worden war, bildete im folgenden Jahrhundert den Gegenstand einer differenzierteren Würdigung, in der eine positiv interpretierte städtische Realität in die Nähe von Zivilisiertheit, Kultur und Rechtgläubigkeit gerückt wurde. Dieser Wahrnehmungswandel war die Konsequenz der realen städtischen Expansion und der Ausbildung einer städtischen Gesellschaft. „Die Stadt und ihre Bewohner gaben dem Land und seiner Bevölkerung – was ihre Erwerbs- und Wirtschaftsweise, ihre Sozialordnung und ihre Rechtsverhältnisse, ihre Kultur und Religion angeht – eine andere Ausrichtung als diejenige, die zuvor dort herrschte, wo Kirche und Kloster in nur rudimentärer Weise die sozialen und ökonomischen Aufgaben wahrnahmen, die später die Stadt übernehmen sollte. Erst die Entstehung der Stadt, die Errichtung von Schulen, die Gründung von Universitäten, die Ausbildung eines auf die Stadt ausgerichteten Ordenswesens, die Formulierung einer neuen Theologie und Philosophie, die Aufspaltung des Klerus nicht mehr nur in Säkular- und Ordensklerus, sondern auch in Gelehrte und Ungelehrte, die Perfektionierung und Verschriftlichung der Verwaltung und des Rechtswesens, ja des gesamten öffentlichen Lebens schufen eine Welt, die das Land und die ländliche Bevölkerung zu einer Gegenwelt werden ließ, zu einem Sekundärphänomen machte, das ungeachtet gelegentlicher ‚romantischer’ Verklärung mit negativem Akzent versehen und so gewissermaßen in aeternum degradiert wurde“25. Religiöser Metaphern bedienten sich seit dem beginnenden 13. Jahrhundert auch weltliche Schriftsteller bei der Beschreibung des städtischen Gemeinwesens. Ein frühes und aussagekräftiges Beispiel ist der Oculus pastoralis, eine Art Podestà-Spiegel, der um 1222 von einem anonymen Laien in Oberitalien verfasst worden war26. Der Autor deutete die 24
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Zu Wilhelms Interpretation vgl. Le Goff, Städtische Metapher; Meier, Mensch 30-35; Frenz, Gleichheitsdenken 219-221. Zur Stadt als Raum utopischer Gesellschaftsordnung im späten Mittelalter vgl. Boucheron, De la ville idéale à l’utopie urbaine. Elm, Christianisierung 85. Zur Geringschätzung des Bauernstandes und zur Entstehung des Klischees vom „dummen, faulen, gefräßigen, geizigen oder neidischen Bauern“ vgl. aus volkskundlicher Sicht Ranke, Agrarische und bäuerliche Denk- und Verhaltensweisen 211. Oculus Pastoralis. Zu ähnlich angelegten Werken von Johannes von Viterbo sowie Brunetto Latini aus der Mitte des 13. Jh. vgl. Meier, Mensch 10-13.
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kommunale Schwureinung als christliches Ideal sozialen Zusammenlebens, in der sich die gerechte Herrschaft zum Ausdruck christlicher Nächstenliebe wandelte und an deren Spitze Amtsträger stünden, die allein das Wohlergehen der Gemeinde zu fördern suchten. Jede soziale Ungleichheit werde so im respektvollen Umgang miteinander aufgehoben. Richtschnur für das soziale Verhalten bilde das Ideal der urbanitas, die Wohlstand, Frieden und Sicherheit garantiere27. Das erstarkte Selbstbewusstsein protobürgerlicher Kreise prägte auch das entstehende profane Theater28. Um 1276 verfasste Adam de la Halle, Bürger und Dichter der reichen Handelsstadt Arras, sein Jeu de la Feuillée, das revueartig ein buntes Gemälde großstädtischen Lebens entwarf, als dessen antagonistische Pole Studium und Ehe, harte Realität und erträumtes Ideal, ökonomische Zwänge und Ausbruch in geistige Freiheit vorgeführt werden. Ein Hauptthema des Stücks ist die Bedrohung, die die bäuerliche Kultur angeblich für die Stadt und die städtische Kultur darstelle. Adam ließ zu diesem Zweck magische Feen und tumbe Bauern aufmarschieren, die in die Stadt eindrangen, um ihre Ordnung zu stören und ihre Sitten zu verderben. Die bürgerlichen Zuschauer, stolz auf ökonomische Potenz und kulturelle Überlegenheit ihres Gemeinwesens, mussten das dramatische Spektakel als Aufruf deuten, die bürgerliche Kultur, die sie im Schweiße ihres Angesichts geschaffen hatten, mit allen Mitteln und Mühen gegen die Angriffe der Hinterwäldler zu verteidigen29. Keine soziale Gruppe setzte sich im 13. Jahrhundert so intensiv mit dem Phänomen Stadt auseinander wie die Mendikanten30. Diese Beobachtung ist wenig überraschend, waren die jungen Bettelorden doch parallel mit der Expansion der Städte gewachsen, gleichsam als geistigreligiöse Antwort auf die neuartige mentale und geographische Mobilität der urbanen Laienwelt. Bereits im Verlauf des 12. Jahrhunderts hatte es in den dicht besiedelten Regionen Europas zu gären begonnen. Besonders in Oberitalien und Südfrankreich suchten Laien nach neuen Formen der religiösen Erfüllung. Die innovativsten Antworten auf die Sinnfragen einer urbaner werdenden Gesellschaft lieferten Menschen, die in Städten sozialisiert worden waren und die städtischen Alltagsnöte aus eigener Erfahrung kannten. Den städtischen Oberschichten 27 28 29 30
Zum Oculus pastoralis vgl. Frenz, Gleichheitsdenken 216-219. Vgl. auch Richter, Urbanitas. Zur semantischen Einordnung der Begriffe Bürger/bürgerlich vgl. Wiedemann, Arbeit 14-22. Zum Stück vgl. Le Goff, Liebe 55 f. Zum sozioökonomischen Kontext des Autors vgl. Langley, Community drama and community politics. Zur Stadt-Land-Diskussion bei den Bettelorden vgl. Paton, Preaching 87-132; Rüther, Bettelorden 93-98.
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entstammten daher sowohl die Führer der häretischen Bewegungen des 12. wie auch die begeisterten Anhänger von Franziskus und Dominikus im 13. Jahrhundert. Ähnlichen Idealen wie ihre Gegner anhängend, dieselbe Lebensform predigend, entwickelten sich die Bettelorden zu den erfolgreichsten Widersachern der Häretiker. Nährboden und Schauplatz dieses geistigen Ringens waren die von der religiösen Aufbruchsstimmung erfassten Regionen mit hoher städtischer Dichte. Das urbane Milieu war Ursprung und Arbeitsfeld der Prediger, unabhängig davon, ob sie inner- oder außerhalb der Orthodoxie standen. Wollte die Kirche hier erfolgreich sein, war „ein Eingehen auf die Besonderheiten der Lebens- und Arbeitsbedingungen der urbanen Bevölkerung notwendig, eine neue Sichtweise gegenüber der Stadt und ihren Bewohnern, die sich nicht darauf beschränkte, Invektiven gegen Handel, Gewerbe und Geldverkehr zu formulieren, sondern die es ermöglichte, die beruflichen und wirtschaftlichen Notwendigkeiten einer monetär geprägten Umwelt aufzugreifen“31. Das Bild von der Stadt veränderte sich. Im Gegensatz zu den Mönchen aus den traditionellen Orden betrachteten die Bettelmönche – in der Tradition Wilhelms von Auvergne32 – das städtische Leben positiver, vor allem aber differenzierter33. Ein solcher Grundton prägte beispielsweise den sechsteiligen Predigtzyklus, den der Dominikaner Albertus Magnus zum Matthäuswort Non potest civitas ascondi supra montem posita (Mt 5,14) um 1260 in Augsburg gehalten hat. In drei langen Sermones entwarf der berühmte Ordensgelehrte ein detailliertes Bild der politischen, sozialen und rechtlichen Struktur städtischen Gemeinwesens. Der Bezug zu kirchlichen Botschaften und Ermahnungen spielte dabei eine untergeordnete Rolle, das Interesse galt nahezu uneingeschränkt der Stadt in ihrer politischen und sozioökonomischen Verfasstheit. Albert übernahm zu diesem Zweck die positive Grundhaltung eines Wilhelms von Auvergne, ohne dieselbe theologisch gefärbte Tonart anzuschlagen und ohne auf einer ethisch-abstrakten Ebene zu verharren. Gegenüber dem Bischof von Paris gewann die Sichtweise des Lehrers von Köln an Profil und Realitätssinn. In dieser Hinsicht bildete der Predigtzyklus ein frühes, aber signifikantes Zeugnis mendikantischen Denkens, das sich im
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Schmidt, Arbeit 262. Zur Bedeutung Wilhelms von Auvergne für die Franziskanerschule vgl. Hamm, Promissio 137 und 483 f. Zur Kritik der Observanten des 15. Jh. an der „Verstädterung“ des Ordens und zur Sehnsucht nach einer „Deurbanisierung“ des Ordens vgl. Nimmo, Reform 353 f.; Krüger, Selbstdarstellung 143-145.
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13. Jahrhundert generell durch eine besondere Realitätsnähe und Kenntnis urbaner Strukturen und Verhältnisse auszeichnete34. Doch die Abbildung der Realität war nicht das alleinige Ziel der Predigt. Albert beließ es nicht bei der Schilderung konkreter städtischer Macht- und Sozialstrukturen, sondern er überhöhte das städtische Gemeinwesen und erklärte es damit zur idealen Lebensform schlechthin. Die politische Ordnung der Stadt wurde aus Alberts Sicht von den drei Institutionen Monarchie, Aristokratie oder Timokratie gewährleistet. Wenn der König nichts erstrebe außer Gerechtigkeit, wenn Aristokraten ausschließlich gerechte Urteile und Gesetze erließen, wenn schließlich reiche Bürger in Zeiten des Krieges und der Not ihr Vermögen der Allgemeinheit zur Verfügung stellten, dann, ja dann herrschten wahrer Frieden und Ruhe im Gemeinwesen. Mit einer solchen Einbettung der Stadt in einen ausdifferenzierten politischen Verband negierte Albert die starke politische und rechtliche Zersplitterung des deutschen Spätmittelalters. Der Text zeichnet eine idealtypische Herrschaftsstruktur, die vom König an der Spitze über den Adel bis zum Bürger das soziale Ganze harmonisch in einer politischen Einheit zusammenfasste und mit bestimmten Funktionen versah35. Diese Ausweitung der realen städtischen Begrenztheit galt für Albert auch im juristischen Bereich. Die bürgerliche Rechtsgleichheit sah der gelehrte Mönch in einer gemeinsamen Rechtsordnung begründet. Damit war allerdings nicht das konkrete Stadtrecht gemeint, in dem nur ein Bruchteil der existierenden Rechtsregeln niedergelegt war, sondern allgemeine sittliche Grundregeln des menschlichen Zusammenlebens. Seine Vorstellungen entwickelte Albert aus der zweiteiligen Rechtsregel Reddere unicuique, quod suum est servata uniuscuiusque propria dignitate. Die Verwirklichung des „Gib jedem, was ihm gehört“ sei im städtischen Wirtschaftsleben von entscheidender Bedeutung für die Aufrechterhaltung von Frieden und Ordnung. Wo Tausch- und Geldgeschäfte, Arbeit und Lohn den wirtschaftlichen Alltag bestimmten, bildeten gerechte Entlohnung und Einhaltung von Verträgen die unerlässliche Voraussetzung eines geordneten Zusammenlebens. Ergänzt wurde das allgemeine Gebot zur Rechts- und Besitzwahrung durch den Zusatz „Unter Aufrechterhaltung der individuellen Würde“, der die Bewahrung der bestehenden Sozialordnung garantieren sollte. Dies war aus Alberts Perspektive nötig, stellte sie doch die Stadt in die Verfassung des Königreiches 34 35
Schneyer, Predigtzyklus. Vgl. dazu Meier, Mensch 35-47; Frenz, Gleichheitsdenken 223-226. Schneyer, Predigtzyklus 111-119 (2. Predigt). Zur politischen Theologie und zu Aussagen zum idealen Stadtregiment bei den Bettelorden vgl. Paton, Preaching 133163.
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und verband dadurch Bürgerschaft mit Königtum und Adel. In diesem Sinn sollte jede Zuteilung von Ehre und Würde, von Lohn und Strafe, gemäß der Würde und Stellung der betroffenen Person erfolgen. König und Adlige, die eine größere Verantwortung für das Gemeinwesen trügen als die Bürger, durften deshalb auch mit einer größeren Gewinnzuteilung bzw. Nachsehen rechnen. Umgekehrt müsse jemand, der sich eines Verbrechens gegen die Person des Königs schuldig mache, härter bestraft werden als jemand, der einen Bauern auf dieselbe Weise schädige. Alberts Gedanken über die sittlichen Standards städtischen Lebens gleichen einer allgemeinen Sozialethik, welche die Grundregeln der menschlichen Gesellschaft definiert. Aus dieser Perspektive erscheint die Stadt weniger als partikulares Rechtsgebilde, sondern eher als die Metapher einer geordneten Christenheit36. Fest mit dem städtischen Bürgertum verbunden war für Albert die persönliche Freiheit. Ein Stadtherr war in seinen Augen nicht so sehr Herr der Bürger, sondern vielmehr ihr Beschützer. Freiheit wird in diesem Sinne definiert als Selbstbestimmtheit, die sich im freien Willen, in der freien Unterscheidung zwischen Gut und Böse sowie dem freien Wunsch nach dem ewigen Leben äußere und die sich unterteilen lasse in eine Freiheit der Seele, des Geistes und des Urteils. Hindernisse auf dem Weg zur vollkommenen Freiheit seien die drei Hauptsünden Völlerei, Genusssucht und Geiz. Der Theologe Albert interessierte sich nicht für die politische Selbstbestimmtheit des Bürgers, der keinem Herrn außerhalb der Stadt unterstand, sondern für die innere Ungebundenheit des Individuums. Erneut erscheint die Deutung nicht auf den städtischen Bereich beschränkt, sondern für die gesamte Christenheit zutreffend. Allerdings war für Albert die innere, geistige Freiheit nur erreichbar, wenn die weltliche städtische Freiheit vorausging. Bäuerlichen Leibeigenen oder vom Bürgerrecht Ausgeschlossenen, die nicht das persönliche Selbstbestimmungsrecht genossen, blieb deshalb auch die innere geistige Freiheit verwehrt. Denn wie Wilhelm von Auvergne war auch Albert der Große davon überzeugt, dass sich die Bewohner einer Stadt von den unbelehrbaren rudes auf dem Lande durch Erziehung, Weisheit und Sitten unterschieden. Nur der freie Mann konnte sich die notwendige Bildung aneignen und ein frommes Leben führen37. Dementsprechend predigte Albert: Die Arbeit der Narren wird ihnen sauer, weil sie nicht wissen in die Stadt zu gehen. Vergeblich schuften sie 30, 40, ja 100 Jahre lange auf dem Lande. Falls sie sich einmal selbst sorgfältig betrachteten, würden sie keinen Tag finden, an dem sie zu Ehren Gottes gelebt haben. Lieber blieben sie auf dem 36 37
Schneyer, Predigtzyklus 119-146 (3. Predigt). Schneyer, Predigtzyklus 126-130 (4. Predigt).
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Land, nach weltlichem Ruhm und Unterhaltung strebend, oder im Wald bei den wilden Tieren. Wenn jene nicht so töricht wären, würden sie in die Stadt ziehen und Bürger werden38.
Nach einer Epoche des Misstrauens im hohen Mittelalter wird die Stadt bei Albert und den nachfolgenden Theologen und Predigern aus den Mendikantenorden zur wünschenswerten Lebensform39, ja man zeigt sich darüber verwundert, dass nicht jeder Bauer den Pflug mit dem Rechenbrett zu tauschen bestrebt ist40. Mit Deutungen dieser Art findet der Paradigmenwechsel seinen Abschluss. Die Stadt erscheint im beginnenden Spätmittelalter als Metapher der besten aller möglichen sozialen Gemeinschaften. Dabei blieb Alberts Beschreibung stets realitätsnah und praxisorientiert. Die von verschiedenen sozialen Gruppen direkt oder indirekt mitgetragene Stadtherrschaft entsprach der komplexen politischen Verfasstheit spätmittelalterlicher Städte in Deutschland. Die redliche Berufsausübung erschien nicht nur Albert als Voraussetzung für das Funktionieren einer komplexer werdenden „Marktwirtschaft“41. Die in erster Linie von Bettelmönchen gepredigte Verchristlichung der Stadt wurde von den städtischen Obrigkeiten aufgegriffen und zur Legitimierung der eigenen Politik instrumentalisiert42. Insbesondere Führungszirkel oberitalienischer Kommunen versuchten im späten Mittelalter, ihre aus klassisch-antiken und biblisch-kirchlichen Traditionen gespeisten Vorstellungen von Harmonie und Ordnung auf das ihnen anvertraute Gemeinwesen zu übertragen. Entsprechend wurde die Begründung innenpolitischer Maßnahmen, die von der städtischen Müllentsorgung über allgemeine Hygienevorschriften bis zu Markt- und Handelsgesetzen reichten, in eine religiöse Rhetorik gekleidet43. Die hierarchische Strukturierung der Kommune wurde mit der hierarchia coelestis verglichen. Die exakte Funktionsbestimmung jedes Bürgers beruhte auf dem Gedanken, dass auch im Himmel jedes Wesen seine festgesetzte Würde und Aufgabe besaß44. Wie die städtische Statutengesetzgebung auch religiöse Belange regelte, so beeinflussten umgekehrt religiöse Vor38 39 40 41
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Schneyer, Predigtzyklus 110 (1. Predigt) Zeile 233-241. Zu Thomas von Aquin, der in der Tradition von Albertus steht, vgl. Rüther, Bettelorden 96. Zum Einfluß der praktischen Philosophie des Aristoteles auf eine veränderte Sichtweise der Stadt vgl. Meier, Mensch 35. Zur Weiterentwicklung der mendikantischen Theologie der Stadt im 14. Jh. vgl. Meier, Mensch 47-54 (Giordano da Pisa). Zur Würdigung einer Theologie der Stadt im 13. und 14. Jh. vgl. ebd. 55-61. Krüger, Selbstdarstellung 147-152. Driever, Normierung 241-248. Parallel fand eine ästhetische Artikulation (Kirchenbauten und -ausstattung) der religiösen Überhöhung der Bettelorden statt. Vgl. Krüger, Selbstdarstellung 152-154.
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stellungen das Selbstverständnis der Obrigkeit, die nicht nur Mönche und Asketen in ihren Dienst nahm, sondern sich bei ihrer Regierung des christlichen Gemeinwesens auch auf göttliche Hilfe und religiöse Metaphern stützte, um sich dadurch zu legitimieren45. Gedanken über das Leben der Stadtbewohner, über ihr Verhalten in Beruf und Familie, ihr Verhältnis zu Nachbarn und Verwandten und ihre Bindungen an Obrigkeit und Kirche hatten sich auch die Franziskaner in Deutschland gemacht. So lenkte bereits Bartholomäus Anglicus, als er im fünfzehnten Buch seiner Universalenzyklopädie die Länder und Regionen der bekannten Welt behandelte, seinen Blick immer wieder auf die Stadt, gehörte diese für den weitgereisten Engländer, der urbane Zentren seiner Heimat, aber auch Frankreichs und Deutschlands aus eigener Anschauung kannte, doch zu den herausragenden Merkmalen eines wohlhabenden Landes. Aquitanien etwa wird in dieser Sichtweise als fruchtbares und liebliches Land beschrieben, berühmt für seine Dörfer, Städte und Burgen, bewässert durch Bäche und Flüsse, geschmückt mit Wäldern, Feldern, Gärten und Wiesen, ausgestattet mit Weinbergen und Früchte tragenden Bäumen, beglückt durch große Reichtümer. Ähnlich klingt das Loblied auf Apulien, einem nach Bartholomäus dicht bevölkertem Land, voll mit Gold und Silber, reich an Getreide, Wein und Olivenöl, berühmt durch „edle Städte“, geschützt durch Burgen und befestigte Plätze, reich an verschiedensten Früchten46. Italien nahm nach Bartholomäus unter allen Regionen Europas den ersten Rang ein, weil es nicht nur edle Inseln und ausgezeichnete Häfen sowie mit Reichtümern gesegnete Provinzen besitze, sondern auch civitates populissimae, stark bewehrt durch mächtige Mauern, Gräben und allerlei Kriegsgerät, reichlich versehen mit Gold- und Silberschätzen47. Einen Höhepunkt erreichte das topographisch ausgerichtete Städtelob bei der Schilderung Frankreichs. Dieses Land besitze edle Steine und Steinbrüche, um Einzelhäuser zu errichten, vor allem auf Pariser Boden, weil dieses hervortritt durch Gips bzw. ein besonderes Glas, das Plastrum genannt werde. So erhalte das Land ein gläsernes, durchsichtiges Aussehen, durch die Übertragung der Tugend des Minerals auf den Stein. Dieser Stein werde gebrannt und mit Wasser gekühlt, so dass er sich in Zement verwandle. Wände und Häuser, Dächer und Böden würden auf diese Weise angefertigt. Der Zement werde geformt, nach 45 46 47
Vgl. Laures, Heavenly visions – earthly realities. Bartholomäus Anglicus, De proprietatibus 632 (Aquitanien), 633 (Apulia). Vgl. auch 637 (Belgien), 689 (Picardie) und 709 (Tuszien). Bartholomäus Anglicus, De proprietatibus 664. Zur Rolle der Stadtkommune in der politischen Theorie des Absolutismus vgl. Nader, The more communes, the greater the king.
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Art der Steine poliert und wiederum gehärtet. Daher besitze Frankreich edle und berühmte Städte, unter denen Paris zu Recht den ersten Rang einnehme. Denn wie Athen, Mutter der artes liberales, Ernährerin der Philosophen und Quelle allen Wissens, Griechenland schmücke, so erhöhe Paris nicht nur Frankreich, sondern das gesamte Europa in Wissenschaft und Sitten. Denn wie eine Mutter der Weisheit empfange es Menschen aus aller Welt, beherberge einen jeden, lenke alle friedlich und erweise sich allen Gelehrten und Ungelehrten als Förderin der Wahrheit48. Bartholomäus’ Werk enthält deutliche Hinweise auf das Aufblühen europäischer Städtelandschaften. Dem franziskanischen Gelehrten, der sein Alter in der sächsischen Provinz verbrachte und hier seine enzyklopädische Beschreibung von Kosmos und Erde abschloss, war der Zugang zu den prächtigen Städten West- und Südeuropas nunmehr verwehrt. Umso stärker mussten sie ihm als Zentren von Reichtum, Zivilisation und Gelehrsamkeit erscheinen. In jeder blühenden Landschaft lagen große Städte. Italien verdankte seine hervorragende Stellung innerhalb Europas seinen berühmten Städten im westlichen Oberitalien. Insbesondere der Gedanke an Paris, an dessen Universität Bartholomäus jahrelang gelehrt und sein enzyklopädisches Opus magnum begonnen hatte, entzückte den Gelehrten im deutschen Exil. Hier waren das Materielle und das Geistige, die ästhetische Schönheit und die intellektuellen Leistungen eine einzigartige Symbiose eingegangen. Lehrten die mendikantischen Moraltheologen, dass äußere Haltung und innere Gesinnung des Menschen zur Deckung zu bringen sind, um Harmonie und Einklang zu erreichen, so entsprachen sich Inneres und Äußeres auch in Bartholomäus’ Panegyricus auf seine geliebte Stadt an der Seine. Welch ein Unterschied zu den Äußerungen eines Jakob von Vitry, der in seiner Historia occidentalis einige Jahrzehnte zuvor Paris als eine Ansammlung von frevelhaften Menschen beschrieben hatte, die in aller Öffentlichkeit mit Kupplerinnen verkehrten und dem Aberglauben verfallen seien49. Bei Bartholomäus erscheint die Stadt allgemein als der Ort, an dem nicht nur die höchsten Fertigkeiten technischer Art gediehen50, sondern auch das Streben nach Weisheit und Erkenntnis neue Höhen erreicht hatte. Überragt an Schönheit und Geist wurden alle diese Stätten des Geschicks und des Geistes von der französischen Hauptstadt. Das moderne Babylon Bernhards hatte sich in den paradiesähnlichen Vorort menschlichen Strebens verwandelt.
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Bartholomäus Anglicus, De proprietatibus 653 f. Zu mendikantischen Würdigung von Paris als Zentrum universitärer Bildung vgl. Schmidt, Societas christiana 335 f. Vgl. Schmidt, Societas christiana 310. Zur technischen Entwicklung vgl. stellvertretend Gille, Les développements technologiques.
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„Verlasst Babylon“, Exite de Babylone51, war auch Leitspruch einer Predigt Bertholds von Regensburg, die unter dem Titel De civitatibus bekannt ist und eine Version der bei dem Regensburger Volksprediger häufig wiederkehrenden Kritik städtischer Lebensformen darstellt52. Weder die theologische Überhöhung der civitas-Metapher noch die politisch-wirtschaftliche Vorrangstellung der Stadt steht dabei im Mittelpunkt, sondern die Vielzahl der typischerweise von Bürgern begangenen Verfehlungen. In babylonischen Verstrickungen gefangen, strebten die Stadtbewohner nach unehrlichem Gewinn und danach, ihren Mitmenschen Schaden zuzufügen; sie vereinigten sich in Gesellschaften, um Verschwörungen vorzubereiten; mit ihren schlechten Ratschlägen stifteten Rechtsgelehrte nicht Frieden, sondern Zank und Hader; Wechsler unterschlügen Geld, Goldschmiede würden edles mit unedlem Metall mischen, Weber arbeiteten mit falschem Maß, Fleischer verkauften verdorbenes Fleisch und Fischhändler verfaulte Ware. Obwohl Berthold von Regensburg ein Sittengemälde entwarf, das den finsteren Gedanken Bernhards von Clairvaux nahe stand, zog der franziskanische Prediger daraus ganz andere Konsequenzen als sein zisterziensischer Vorgänger. Wo dieser zur Flucht aus dem Sündenpfuhl aufgerufen hatte, pries jener das städtische Zusammenleben als dennoch geeignetes Umfeld zum Dienst an Gott: Unter allen Dingen leben manche ruhiger als andere, und so leben unter allen Menschen die Bürger ruhiger und angenehmer als alle anderen. Wie nämlich die Ritter auf ihren Burgen und die Bauern in ihren Dörfern leben, ist bekannt – häufig fehlt ihnen das Wasser, vom Wein gar nicht zu reden. Die Bürger der Städte dagegen besitzen reichlich von allem, was in den Weinbergen, in den Wäldern, in den Flüssen und in der Luft zu finden ist. Zu welchem Zweck? Um freier und freudiger Gott dienen zu können!53
Diese positive Sicht der Stadt durchzieht Bertholds Predigttexte. Insbesondere in den deutschen Texten werden die Bewohner der Städte als verständiger und zivilisierter als die Landbewohner angesehen. In ihrem sexuellen Verhalten orientierten sie sich sehr viel enger an den kirchlichen Vorschriften. Männer achteten eher ihre Frauen; beide Geschlechter würden miteinander einfühlsamer umgehen. Häretiker hätten weniger Aus51 52 53
Vgl. Jes 48, 20; Jer 50, 4; Off 18,4. Text bei Schönbach, Studien V 159-161. Zu Berthold als Prediger vgl. oben 113. Zur Predigt vgl. Schmidt, Arbeit 264 f.; Oberste, Heiligkeit 255 f. Cum ita sit, quod inter omnes res alique magis quiete vivunt quam alie, inter omnes homines cives quietius et commodius vivunt quam alii. Qualiter enim milites in castris et rustici in villis vivant, notum est, quia, de vino taceam, aliquando eis aqua deficit. Cives vero omnibus, que magis in vineis, in nemoribus, in aquis, in aere inveniuntur, habundant. Quare? Ut libertius et libentius Deo serviant. Vgl. Schönbach, Studien 159 f.; Schmidt, Arbeit 265 Anm. 9.
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sichten, Anhänger zu gewinnen, da in den frumen steten die Menschen gebildeter seien, häufiger an Messen teilnähmen und Predigten zuhörten und somit vor dem Verlust des kirchlich anerkannten Glaubens besser gefeit seien. Ketzer gingen daher mit Vorliebe zu wilern und zuo den Dorfen und halt zua den kinden, die der gense hüetent an dem velde54. Mit der Babylon-Metapher wurde die moderne Stadt des 13. Jahrhunderts aus franziskanischer Sicht also nur noch unzureichend charakterisiert, denn die Stadt war – trotz ihrer sündhaften Verlockungen, die das alte Bild vom sündhaften Babylon immer wieder heraufbeschworen und denen die ganze Aufmerksamkeit mendikantischer Seelsorge diente – zum Ort Gottes geworden55.
2. Bürgerliche Heilswege und mendikantische Arbeitstheologie Der Aufschwung des Städtewesens hatte weit reichende Folgen. Es entstand eine neue gesellschaftliche Ordnung für eine wachsende Bevölkerungsschicht, die sich aus alten Bindungen befreien konnte und damit eine bislang unbekannte ökonomische Leistungsmobilität im gesamten Gesellschaftsgefüge entfaltete. Die wichtigste Ursache dieses gesellschaftlichen Emanzipationsprozesses, der zu einer Zunahme des Gleichheitsdenkens führte und aus Unfreien im Herrendienst – überspitzt gesagt – freie Bauern und Bürger werden ließ56, war die Ertragssteigerung agrarischer, handwerklicher und kaufmännischer Tätigkeiten im hohen Mittelalter57. Nur einem kleinen Teil der Bürger gelang der soziale Aufstieg; der Großteil der städtischen Bevölkerung lebte in unmittelbarer Abhängigkeit von seiner Hände Arbeit, durch Preisschwankungen und Krankheit stets existenziellen Bedrohungen ausgesetzt. Im sozioökonomischen Wandel lag der Ursprung sowohl der unfreiwilligen Armut der vom wirtschaftlichen Aufschwung Ausgeschlos54 55
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Schmidt, Arbeit 265. Zum mendikantischen Städtelob des 13. Jh. vgl. die Belegsammlung bei Schmidt, Societas christiana 330-335. Zum Städtelob im späten Mittelalter vgl. Kugler, Vorstellung 148-152. Zur Stadt-Utopie in der frühen Neuzeit vgl. Dietz, Utopie 594-604. Stamm, Probleme (Bauern); Meier, Mensch 18 f. (Bürger). Zum städtischen Gleichheitsdenken vgl. Frenz, Gleichheitsdenken. Zur komplexen Verschränkung von Freiheit und Unfreiheit in der mittelalterlichen Stadt vgl. Meier/Schreiner (Hg.), Regimen civitatis 11-36; Boockmann, Freiheit 18 f. Zu bürgerlichen Freiheitsvorstellungen vgl. ebd. 18-23. Zum Freiheitsstreben seit dem 10. Jh. vgl. Schneider, Freiheitsstreben 42 f. und passim. Zum realen Wandel, zu Diversifizierung und Spezialisierung der Berufswelt vgl. Wolff/Mauro, Histoire générale du travail 87-162.
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senen wie auch der freiwilligen Armut der Erfolgreichen, die sich – wie Valdes in Lyon und Franziskus in Assisi – in christlicher Selbstbesinnung vom materiellen Gewinn abwandten. Wenn Mönche des 13. Jahrhunderts diesen Emanzipationsprozess mittrugen und die städtische Lebensform in einen christlichen Rahmen stellten, so geschah dies im Bezug auf eine zweite Werteverschiebung, die nach vielen Vorstufen etwa gleichzeitig mit dem kirchlichen Städtelob zum Durchbruch gelangt war und die menschliche Arbeit als körperliche bzw. geistige Tätigkeit betraf58. Die Kontroverse um Wert und Funktion der Handarbeit reicht bis an den Beginn des Mittelalters zurück59. Die aktuelle Forschungsdiskussion kreist vorrangig um die Frage, ob eine religiöse Wertschätzung weltlicher Berufausübung eine Errungenschaft der Reformation gewesen sei oder ob sich bereits im Mittelalter ein positives Berufsethos entfaltet habe, – und tendiert zur letzteren Ansicht60. So finde sich nach Ferdinand Seibt bereits im mendikantischen Denken, was Max Weber in der lutherischen Gedankenwelt sowie im Berufsethos des Reformationszeitalters zu erkennen glaubte, nämlich jene „sittliche Ordnung des weltlichen Berufslebens“, begrifflich sichtbar geworden durch Luthers Wortschöpfung vom weltlichen Beruf61. Verena Postel sieht Kontinuitätslinien, die bis in das frühe Mittelalter zurückreichen und vertritt die Ansicht, dass bereits „die christliche Spätantike die wesentlichen Argumente bereithielt, die eine Dignität der Arbeit im theologisch-philosophischen Kontext begründeten“62. Trotz Beobachtungen dieser Art lehnt die Mehrheit der Forschung eine Formierung des „kapitalistischen Geistes“ im Weberschen Sinne während des Mittelalters und damit auch die Konstruktion eines gradlinigen Prozesses von der spätmittelalterlichen zur modernen Wirtschaftsverfassung ab63. Der „Aufbruch Europas“ im hohen Mittelalter hatte jedoch zweifellos etwas mit der Diversifizierung und Umgestaltung der säkularen
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Zu Arbeitsbedingungen und Arbeitsfeldern im Mittelalter vgl. einführend Fossier, Le travail au Moyen Âge. Zur Definition von Arbeit als „zielgerichtete Hervorbringung einer Leistung“ vgl. Wiedemann, Arbeit 8 f. Zum theoretischen Umgang mit Arbeit und Muße im Mittelalter vgl. einführend Stock, Activity 87-89. Im Gegensatz zur älteren Forschung. Vgl. etwa Chenu, Die Arbeit und der göttliche Kosmos. Seibt, Lob 159. Allerdings hatte Weber davon gesprochen, dass die von den religiösen Bewegungen des Mittelalters propagierte „innerweltliche Askese“ die kapitalistische Gesinnung und den rational handelnden „Berufsmenschen“ gezüchtet habe. Vgl. Lenger, Max Weber 167 f. Postel, Bilde 3. Vgl. dazu unten 387 f.
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Berufswelt zu tun64. Geradezu entscheidend für das erfolgreiche Einwirken der Bettelmönche auf die Gesellschaft wurde eine religiöse Aufwertung von Berufspflicht und Handarbeit, die ältere Traditionen umformte bzw. fortsetzte und der neuen Wirklichkeit Rechnung trug65. Die Ergebnisse spätmittelalterlicher Transformationsprozesse sollten weit in die europäische Neuzeit hineinwirken66. Die mönchisch-klerikale Bewertung manueller Tätigkeiten erwies sich dabei – wie in anderen Epochen auch – als Verschmelzung theologischer Konzepte mit realen sozioökonomischen Verhältnissen sowie dem Bestreben, die für das aktuelle System typischen Auswüchse und Defizite unter Kontrolle zu bringen. Dieses Argumentationsbündel durchzieht als Konstante die mittelalterlich-klerikale Diskussion zum Thema. Antike Traditionen konnten den frühmittelalterlichen Denkern bei ihrer Deutung des Phänomens „Arbeit“ keine definitive Entscheidungshilfe bieten, waren das griechisch-römische, das germanisch-barbarische und das jüdisch-christliche Erbe doch gleichermaßen in sich widersprüchlich67. „Wie die anderen Überlieferungen, so bietet auch das jüdisch-christliche Erbe den Menschen des Frühmittelalters ein ideologisches Arsenal, das Waffen zur Absicherung jeglicher Position enthält, die sich sowohl zugunsten von Arbeit als auch von Nichtarbeit einsetzen lassen. Das reichhaltigste und wichtigste dieser Arsenale wird die Bibel sein, genauer gesagt das Neue Testament. All diese Waffen, alle stichhaltigen Texte werden nicht gleichermaßen von den Menschen des Mittelalters verwendet werden. Die Verteidigung der beiden Extrempositionen wird sich einerseits um die Evangelientexte gruppieren, welche propagieren, die Vorsehung walten zu lassen – das Beispiel der Lilien auf dem Felde und der Vögel unter freiem Himmel (Mt 6,25-34; Lk 13,27), andererseits wird sie sich um die paulinischen Texte scharen, in denen sich der Apostel den Arbeiter und den Handarbeiter als Beispiel nimmt (2 Thess 3, 10: Wer nicht arbeiten will, soll nicht essen)“68.
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Zur Arbeit in der Vormoderne einführend: Kuchenbuch/Sokoll, Vom Brauch-Werk zum Tauschwert. Zur Neubewertung der Arbeit im 12. Jahrhundert vgl. Meier-Staubach, Operationale Kosmologie; Meier, Labor improbus. Zu gemeinsamen Grundlagen der Entwicklung vom 13. bis zum 18. Jahrhundert vgl. Kuchenbuch/Sokoll, Vom Brauch-Werk zum Tauschwert 38-47. Zum spätantiken Erbe vgl. Le Goff, Travail, techniques 111-115; Le Goff, Travail dans les systèmes 8-15. Zur vorwiegend negativen Bewertung körperlicher Arbeit in der Antike vgl. Oexle, Armut 73 f.; Engels, Ergasia, ponos, ascholia. Le Goff, travail, techniques 115 (hier das Zitat). Zur Bewertung von Arbeit in den Schriften des Neuen Testaments vgl. auch Oexle, Armut 74 f.; Oexle, Arbeit 69-71. Zur Bibel generell vgl. Bienert, Die Arbeit nach der Lehre der Bibel.
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Die frühmittelalterliche Realität sorgte dafür, dass die klerikal-monastische Bewertung von körperlicher Arbeit einerseits und die reale Situation der auf Äckern und Wiesen arbeitenden Menschen auseinandertraten69. Die soziale Stellung der laboratores, die als unfreie Landarbeiter oder Handwerker in agrarisch geprägten Strukturen lebten, verschlechterte sich, während von manueller Arbeit freigestellte Krieger und Kleriker Herrschaft ausübten und das kulturelle Leben dominierten70. In den schriftlichen Quellen war die körperliche Arbeit daher in der Regel kein Thema. Eine Ausnahme bildeten exegetische Genesiskommentare71 sowie Schriften über die monastische vita communis, wie beispielsweise die Benediktinerregel, in denen Handarbeit als Bußleistung für den Sündenfall und als Heilmittel gegen sündhaften Müßiggang charakterisiert wurde72. Während soziale Unfreiheit und ökonomische Bedrückung das bäuerliche Leben kennzeichneten, wurde Handarbeit in den Rückzugswinkeln monastischer Institutionen gewürdigt und als wichtiger Bestandteil gottgefälligen Lebens definiert73. Doch „die Handarbeit der Benediktiner stellte keinen Selbstwert dar, sondern stand letzten Endes im Dienst eines höheren Wertes. Sie bildete ein asketisches Mittel, um der Klostergemeinschaft und dem einzelnen Mönch zu jenem ausgeglichenen Geisteszustand, zu jenem inneren und äußeren Frieden, zu jener Seelenruhe zu verhelfen, die zu Gottesliebe und Gotteserkenntnis freimachen“74. Obwohl das frühmittelalterliche monastische Denken die aktive Arbeit also stets dem kontemplativen Gebet unterordnete und bis auf wenige Ausnahmen keine positive Arbeitsethik entwickelte75, mag die körperliche Arbeit im mönchischen Alltag insgesamt zu einer gewissen Wertschätzung manueller Tätigkeit – wenn auch auf theologischabstrakten Niveau – beigetragen haben.
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Zur Arbeit aus einer wirtschafts- und technikgeschichtlichen Perspektive vgl. Bloch, Land and Work. Zu einzelnen Sektoren vgl. exemplarisch Swanson, Medieval Artisans. Zur Ikonographie vgl. Comet, Les gestes du travail. Zum Frühmittelalter generell Le Goff, Travail, techniques 115-121. Zur Arbeit in der Vormoderne einführend: Kuchenbuch/Sokoll, Vom Brauch-Werk zum Tauschwert 34-38. Zur Einstellung des Frühmittelalters zur Arbeit anhand verschiedener Genesiskommentare vgl. Postel, Bilde 5-18; Rijkers, Arbeit in der frühmittelalterlichen Exegese. Zur Rolle der Arbeit in der Regula Benedicti vgl. Hoven, Work 152-158. Zur Handarbeit im monastischen Schrifttum des frühen Mittelalters vgl. Ovitt, The Restoration of Perfection; Dubois, Le Travail des moines 63-80; Oexle, Arbeit 71. Vgl. dazu die Genesiskommentare, zusammengestellt bei Postel, Bilde 5-18. Kurze, Bedeutung 156 f. Siehe dazu Postel, Bilde.
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Arbeit bleibt Mühsal, auch in der karolingischen Renaissance76. Doch scheinen verbesserte Rahmenbedingungen der Bodenkultivierung, die sowohl eine Intensivierung der Anbaumethoden wie auch eine Verbesserung der Arbeitsorganisation mit sich brachten, nicht nur das Wirtschaftswachstum allgemein angestoßen, sondern daneben auch zu einer veränderten Bewertung von körperlicher Arbeit geführt zu haben77. Als sinnbildliches Zeichen dafür hat man kalendarische Jahresdarstellungen interpretiert, in denen seit der Karolingerzeit vermehrt die bäuerliche Arbeit in ihren saisonalen Ausprägungen abgebildet wurde. Auch die einsetzende Beschäftigung mit den artes mechanicae als neben den artes liberales zweiter Einteilungsmöglichkeit menschlichen Denkens und Handelns zeugt von einer steigenden Bedeutung laikaler Tätigkeitsfelder78. Seine ideologische Verdichtung fand dieser Prozess in der dreifunktionalen Ordnung des frühen 11. Jahrhunderts79. In einer Gesellschaft, die als Kooperation dreier Stände – der Kleriker, Krieger und Arbeitenden – gedeutet wird, kam auch der Arbeit eine gesellschaftsnotwendige Funktion zu. Zwar wird die landwirtschaftliche und handwerkliche Handarbeit von Mönchen und Klerikern, die sich von schweren körperlichen Tätigkeiten in der Regel fernhalten, zweifellos auch mit der Absicht verherrlicht, die Erträge und den Gehorsam der ihnen dienstverpflichteten Arbeiter zu steigern. Doch trotz dieser ambivalenten Haltung der Gelehrten kann das Vordringen der laboratores, also der laikalen nichtadligen, häufig unfreien Bevölkerungsschichten, in die kirchlichen Deutungsmodelle sozialer Realität als steigende Wertschätzung manueller Arbeit betrachtet werden. Die Konzipierung eines dritten Standes, den beiden anderen funktional-notwendig zugeordnet, ist als Denkform eine „konstitutive Eigentümlichkeit der okzidentalen Gesellschaften“. Der mit seinen Händen arbeitende Teil der Bevölkerung hat damit einen festen Platz im Gesellschaftsgefüge errungen80. Die Durchsetzung des dreifunktionalen Denkmusters wurde von einem kontinuierlichen Wirtschaftswachstum zwischen dem 11. und 76
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Zur Grundbedeutung von Arbeit in den germanischen Sprachen als „Mühsal, Drangsal“ und zu seiner weiteren semantischen Entwicklung bis Luther vgl. Wiedemann, Arbeit 34-60. Zum Begriff labor vgl. Le Goff, Travail 13-15; Hamesse, Le travail chez les auteurs philosophiques 115-123. Vgl. Kuchenbuch, Bene laborare. Zur karolingischen Epoche vgl. Le Goff, Travail, techniques 121-124; Le Goff, Travail 15 f. Zu den artes mechanicae vgl. Sternagel, Artes 30-53. Zu Transformationsprozessen im 11. Jahrhundert vgl. einführend Kuchenbuch, „Lavoro“ e „società“. Vgl. Le Goff, Travail, techniques 124 f.; Le Goff, Travail 16 f.; Oexle, Travail 59 f.; Oexle, Arbeit 72 f. (Zitat 73).
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13. Jahrhundert begleitet. Diversifizierung, Mobilisierung und Spezialisierung der Berufswelt vermehrten die ökonomischen Chancen, aber auch Risiken des Einzelnen. Eine Konsequenz bildeten Zusammenschlüsse von Angehörigen bestimmter Berufsgruppen zu Gilden und Zünften, die die neuen Freiheiten und Unübersichtlichkeiten kalkulieren helfen sollten81. Genossenschaftlich organisierte Einungen ersetzten in diesem sozioökonomischen Wandlungsprozess ältere, stärker herrschaftlich angelegte Bindungen82. „Solche Gruppen sind Indikatoren des Selbstverständnisses der in ihnen und durch sie handelnden, arbeitenden Individuen, und sie sind Indikatoren der sozialen und ökonomischen Prozesse, auf die Individuen mit dieser Form der Gruppenbildung antworten. Zugleich aber sind diese Assoziationen Faktoren in diesen Prozessen, also im Prozess einer zunehmend arbeitsteiligen Gesellschaft selbst“83. Die politische und ökonomische Schlagkraft von Gilden und Zünften sollte sich in späteren Jahrhunderten des Mittelalters noch deutlich zeigen. Technische Innovationen beschleunigten nicht nur die wirtschaftliche Konjunktur84, sondern wurden vermehrt auch Gegenstand des Nachdenkens über Arbeit85. Seit dem 12. Jahrhundert erschienen einschlägige Traktate wie De diversis artibus des Theophilus. Um 1120 widmete Hugo von St. Viktor den artes mechanicae eine ausführliche Erörterung in seinem Didascalicon. Technische Fertigkeiten zur Verarbeitung von organischem Material wurden ebenso vorgestellt wie Waffenherstellung und Baugewerbe, Handel, Landwirtschaft und Gartenbau sowie Lebensmittelgewerbe. Sämtliche Felder menschlicher Betätigung wurden gedeutet, systematisiert und in eine Gesamtordnung der Wissenschaft integriert. Vieles entnahmen die Autoren schriftlichen Vorlagen, Hugo von St. Viktor stützte sich insbesondere auf Augustin. Doch die Neuinterpretation der alten Texte gebar innovative Ideen und half mit, die Verwandlung der modernen Welt zu verstehen und zu kategorisieren86. 81 82
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Zum Frühmittelalter vgl. Oexle, Conjuratio. Zur genossenschaftlichen Struktur dieser Zusammenschlüsse vgl. Dilcher, Die genossenschaftliche Struktur. Zur kritischen Haltung der Kirche gegenüber laikalen Einungen vgl. Le Goff, Métier 167. Oexle, Arbeit 73. Zum technischen Fortschritt vgl. Gimpel, La révolution industrielle. Zur intellektuellen Wahrnehmung der artes mechanicae vgl. Alessio, La filosofia e le „artes mechanicae“; Flachenecker, Handwerkliche Lehre und Artes mechanicae. Zu den artes mechanicae im Werk Hugos von St. Viktor vgl. Sternagel, Artes 67-78; Hoven, Work 162-177. Zu Klassifizierungen der artes mechanicae in Werken des späten 12. und des 13. Jh. vgl. ebd. 177-200. Zur Wahrnehmung im späten Mittelalter vgl. Kurze, Lob und Tadel der artes mechanicae (mit ausführlicher Bibliographie in Anm. 1)
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Eine Neubelebung erfuhr die Handarbeit im 12. Jahrhundert auch im monastischen Bereich. Im Leben der Mönche hatte die tägliche praktische Tätigkeit niemals einen dauerhaften Platz gefunden. Die monastische Selbstverpflichtung zur Kontemplation, Geringschätzung körperlicher Arbeit, aber auch fehlender ökonomischer Druck und die klösterliche Wirtschaftsorganisation hatten dies verhindert. Das cluniazensische Mönchtum, das seine Berufung in Liturgie, Gebet und Fürbitten sah, hatte sich besonders weit vom Arbeitsgebot der Regula Benedicti entfernt87. Ordericus Vitalis brachte die Einstellung der reichen Benediktinerabteien um 1140 auf den Punkt: Es ist in Gallien alte Gewohnheit, dass Landarbeiten von Bauern und knechtische Dienste von Knechten erledigt werden. Mönche aber hätten Gott in geistiger oder geistlicher Weise zu dienen. Fern sei es, wenn Bauern, deren genuine Bestimmung nun einmal die ununterbrochene Arbeit sei, faulenzten und wenn hervorragende Ritter, scharfsinnige Philosophen und gewitzte Gelehrte, die der Welt entsagten, gezwungen würden, wie gemeines Gesinde sich mit Knechtsarbeiten zu befassen88.
Die sich in den ersten Dezennien des 12. Jahrhunderts formierende zisterzienische Reaktion verstand sich als Rückkehr zum authentischen Benediktinertum aus dem Geist des heiligen Ordensgründers89. Die zahlreichen Differenzen mit Cluny berührten auch Rolle und Wertschätzung der Handarbeit, die im zisterzienischen Denken eine theologische Überhöhung erfuhr und nahezu gleichwertig neben spirituelle Übungen wie Gottesdienst, Fasten und Schweigen gestellt wurde90. Zwar betonten Bernhard von Clairvaux und seine Mitbrüder die Überordnung der kontemplativen Versenkung, doch richtig verstandene Arbeit war in ihren Augen demütige Buße und tätige Liebe, die dem Nächsten diente und zugleich dem eigenen Heil nützlich war. Gleichsam als Erwiderung auf die von Ordericus formulierte cluniazenische Position berichtete im beginnenden 13. Jahrhundert eine zisterzienische Legende von einem Mönch in Clairvaux, der sich durch Arbeit und asketische Übungen hervortat. Eines Tages erfreute sich dieser Mönch bei der Weizenernte daran, dass auf dem Feld so viele gelehrte, edle und verwöhnte Männer aus Liebe zu Christus Anstrengungen und Mühen auf sich nahmen und 87 88 89
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Zu den cluniazensischen Lebensgewohnheiten vgl. Wollasch, Cluny – „Licht der Welt“ 252-288. Ordericus Vitalis, Historia ecclesiastica 3,8,25. Vgl. Kurze, Bedeutung 157 f. Vgl. Bredero, Das Verhältnis zwischen Zisterziensern und Cluniacensern 47 f.; Eberl, Zisterzienser 25 f. Zur Gründungsphase von Cîteaux und dem Zisterzienserorden vgl. ebd. 19-46. Zu den cluniazensisch-zisterziensischen Kontroversen im 12. Jh. vgl. Knowles, Cistercians and Cluniacs; Bredero, Cluny et Cîteaux au douzième siècle. Zur contemplatio im monastischen Denken des 11. und 12. Jh. vgl. allgemein Stock, Activity 90-92.
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sich der Sonnenglut mit einem freundlichen Eifer aussetzten, als ob sie in einem lieblichen Garten duftendes Obst pflückten oder an einem mit feinen Speisen gedeckten Tisch zum Gastmahl zusammensäßen. Plötzlich erblickte der Mönch die Gottesmutter, Elisabeth und Maria Magdalena, die den fleißigen Mönchen und Konversen die Gnade eines Besuchs gewährten. Soweit die wundersame Erzählung91. Arbeit wurde aus dieser Sicht zum unverzichtbaren Bestandteil monastischer Frömmigkeit und zu einem an alle Menschen gerichteten religiösen Gebot. Die Zisterzienser stärkten also einen in das 11. Jahrhundert zurückreichenden, religiös artikulierten Trend zur Sicherung eines legitimen Platzes für die körperliche Arbeit im Haus der Frömmigkeit92. Die wachsende Wertschätzung der Handarbeit im monastischen Milieu, welche allerdings auch bei den Zisterziensern nach einigen Generationen zum theoretischen Postulat verkam93, war das Resultat einer expandierenden „Marktwirtschaft“ und zugleich eine Reaktion auf diese94. Für die sich diversifizierende Berufswelt interessierten sich im ausgehenden 12. Jahrhundert vorrangig jene Theologen, die Seelsorge und Ethik der Laienwelt in den Mittelpunkt ihres Denkens gestellt hatten. Es ist erneut Petrus Cantor mit seinem Kreis, von dem die zukunftsträchtigsten Gedanken zum Thema stammen. Aus ihren Überlegungen zu gerechtem Lohn und Einkommen, zu Wertsteigerung sowie zu Zins und Wucher spricht das Bemühen, die laikale Berufswelt, insbesondere das gewerbliche und kaufmännische Milieu, zu verstehen und durch die Versöhnung mit christlichen Positionen zu legitimieren95. Die Suche nach christlichen Lebensformen in einer sich wandelnden Welt führte in Ober- und Mittelitalien, einer Kernzone urbaner und wirtschaftlicher Verdichtung, gleichzeitig zur Entstehung der Humiliatenorden, einer religiösen Laienbewegung, deren Ursprünge in die letzten Jahrzehnte des 12. Jahrhunderts zurückreichten96. Nachdem die gegen 91 92
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Kurze, Bedeutung 176 (Erzählung Richalms von Schöntal) und 188 (Zitat). Zur Arbeit im zisterzienischen Denken vgl. Holdsworth, The blessings of work; Sullivan, Workers, policy-makers and labor ideals; Little, Religious poverty 93-96; Seibt, Lob 165 f. Zu den zisterziensischen Konversen vgl. Toepfer, Die Konversen der Zisterzienser. Zur marktorientierten Wirtschaftsweise der Zisterzienser vgl. Eberl, Zisterzienser 227255. Zum „ökonomischen Rationalismus“ der Zisterzienser Schneider, Vom Klosterhaushalt zum Stadt- und Staatshaushalt. Zur Arbeit in der spätmittelalterlichen Stadt vgl. Kuchenbuch/Sokoll, Vom Brauch-Werk zum Tauschwert 39 f. Baldwin, Masters I 125, 263; Andrews, Labour 84 f. Zur Frühphase der Bewegung vgl. Andrews, The early Humiliati. Zum Forschungsstand vgl. auch Alberzoni (Hg.), Sulle tracce degli Umiliati. Charakterisierungen der Bewegung bei Little, Religious poverty 113-120; Alberzoni, Die Humiliaten zwischen Legende und Wirklichkeit.
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die Katharer predigenden Humiliaten von Lucius III. verketzert worden waren, gelang Innocenz III. die Reintegration der Bewegung in die Kirche sowie ihre institutionelle Stabilisierung97. Untergliedert waren die Humiliaten in Priester, Nonnen und die in ihren Familien lebenden Laien. Diese führten, in ungefärbte rauhe Wollgewänder gekleidet, ein sittenstrenges Leben der Buße, beteiligten sich aber zugleich am wirtschaftlichen und politischen Leben der Kommunen. Aufgrund ihrer Vertrauensstellung wurden den Humiliaten von den städtischen Obrigkeiten sogar kommunale Verwaltungsämter übertragen98. Ihren eigenen Unterhalt verdienten sich viele Mitglieder der Laienbewegung im florierenden Textilgeschäft, insbesondere bei der Verarbeitung von Wolle99. Die tägliche praktische Arbeit war damit zum Instrument und zum Inhalt eines frommen und bußfertigen Lebens zwischen Welt und Kloster geworden. Die städtische Lebensweise hatte ihre erste religiöse Adaptierung erhalten100. Zu einem neuartigen Verhältnis gelangten die Wirklichkeit der körperlichen Arbeit und ihre Wahrnehmung im 13. Jahrhundert. Erst im Zeitalter der Bettelmönche erhielt der Wandel von Arbeits- und Lebensformen eine zeitgemäße und dauerhafte spirituelle Legitimierung101. Franziskus, der San Damiano und andere Kirchen in Assisi mit eigenen Händen wiederaufgebaut hatte, sich ansonsten aber mehr als Lehrer und Mahner verstand, hielt die Handarbeit in seinen Schriften in hohen Ehren. In der Regula non bullata ermahnte Franziskus seine Ordensbrüder, zu arbeiten und ihr erlerntes Handwerk auszuüben. Mit dem Apostel wurde gefordert: „Wer nicht arbeiten will, soll auch nicht essen“ (2 Thess 3,9); sowie: „Jeder sollte bei dem Handwerk und Beruf bleiben, zu dem er berufen wurde“ (1 Kor 7,24). Noch in seinem Testament rief Franziskus seinen Brüdern den Stellenwert der praktischen Arbeit ins Gedächtnis, wenn er schrieb: „Ich arbeitete mit meinen Händen und will arbeiten; und es ist mein fester Wille, dass alle anderen Brüder eine Handarbeit verrichten, die anständig ist. Die nicht arbeiten können, sol-
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Vgl. Bolton, Innocent III and the Humiliati; Andrews, Innocent III and evangelical enthusiasts. 98 Zu den kommunalen Funktionen vgl. Andrews, Labour 89-93. 99 Vgl. Manselli, Gli Umiliati, lavoratori di lana. 100 Zu den Humiliaten und anderen häretischen Gruppierungen als „responses to the profit economy“ vgl. Little, Religious poverty 113-145. 101 Zu einer Betonung der zisterzienischen Rolle bei der Überwindung einer negativen Bewertung körperlicher Arbeit vgl. Endres, Wandel. Zur Problematik aus anderer Perspektive vgl. Little, Religious poverty.
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len es lernen, nicht des Lohnes, sondern des Beispiels wegen und um den Müßiggang zu vertreiben“102. Franziskus’ Position setzte sich nicht durch. Sein Orden strebte nicht nach körperlicher Arbeit, sondern nach intellektueller Bildung und pastoraler Unterweisung. Bettel, Besitz und Einnahmen gewannen rasch an Gewicht, die Parallelen zu älteren Ordensgemeinschaften wuchsen. Dennoch war die mendikantische Einstellung zur Handarbeit innovativ und zugleich von fundamentaler Bedeutung für den Erfolg, den die mendikantische Seelsorgetätigkeit in den Städten Europas erzielte. Aufbauen konnten Bettelmönche erneut auf Vorarbeiten von Klerikern wie Alanus von Lille oder Jakob von Vitry, deren Denken im Milieu der Universität Paris gereift war und die sich in ihren Predigten und Traktaten mit ermahnenden und erbaulichen Lehren an einzelne Berufsgruppen gewandt hatten103. Thomas von Aquin, der Philosoph der zweiten großen mendikantischen Bewegung, vertrat die Auffassung, dass die Menschen auch im Paradies einer Arbeit nachgegangen wären. Der Unterschied zur Gegenwart läge allein darin, dass Ackerbau im Zustand der Unschuld nicht mühsam wie im Zustand der Sünde, sondern angenehm gewesen sei. „Der Meister der scholastischen Summen verwob in seiner Definition von der paradiesischen und von der irdischen Arbeit einen wichtigen Gegensatz. Denn nicht Arbeit und Muße trennen, wie sich zeigte, die beiden Sphären der Schöpfung, sondern im Paradies nährten die Menschen sich von einer agricultura deliciosa; auf Erden lebten sie von einer agricultura laboriosa: Arbeit heißt Mühsal! Und dennoch scheint der irdischen Arbeit noch immer etwas anzuhaften von den Freuden des Paradieses“104. Es ist für Thomas darüber hinaus die göttliche Vorsehung selbst, die den einzelnen Menschen die verschiedenen Berufe zuweist. Von Gott mit individuellen Fähigkeiten und Neigungen ausgestattet, wählten die Menschen unterschiedliche Berufe. Jede berufliche Tätigkeit, die der einzelne verrichtet, ist daher sein ‚Beruf’, seine Pflicht, ein ‚Amt’, das er zugunsten der Gemeinschaft ausübt. „Diese mannigfachen Beschäftigungen und Berufsarten, die sich auf verschiedene Menschen verteilen, sind aber in ihrem innersten Grunde ein Werk der göttlichen
102 Regula non bullata § 7, in: Franciscus, Opuscula 383 f.; Testament § 20-24, in: Franciscus, Opuscula 440. Zur Handarbeit bei Franziskus vgl. Esser, Die Handarbeit; Schmidt, Arbeit 267; Oexle, Arbeit 74 f. 103 Vgl. Paulus, Wertung 733-735. 104 Seibt, Lob 158 f. Zur Arbeit bei Thomas vgl. ebd. 168-172; Wiedemann, Arbeit 89 f.; Delhaye, Quelques aspects de la doctrine thomiste.
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Vorsehung, die den einzelnen eine bestimmte Neigung zu irgendeiner Tätigkeit gibt“105. Ähnliche Gedanken vertrat Bonaventura in seinen für den Franziskanerorden grundlegenden Traktaten zur vita minorum106. Das Vermächtnis des Franziskus von Assisi konnte den Wandel der von ihm gegründeten Gemeinschaft nicht verhindern. Wie sein dominikanischer Kollege machte der Generalminister der Franziskaner die Buße zum Kriterium, um zwischen der Arbeit Gottes und der Engel einerseits sowie der Arbeit der Menschen nach dem Sündenfall zu differenzieren. Bonaventura sprach von drei unterschiedlichen Tätigkeitsformen auf Erden: Bauern und Handwerker gehen in den Augen des Autors einer körperlichen Arbeit nach; Priester und Mönche erfüllen spirituelle Aufgaben; die Inhaber politischer und militärischer Ämter und Funktionen sowie Kaufmänner und Dienstleute sind verantwortlich für äußere bzw. zivile Arbeiten. Das dreifunktionale Modell war in diesem Entwurf einer Umschichtung unterzogen worden, um die sozioökonomische Wirklichkeit mit ihrer Deutung in eine angemessenere Übereinstimmung zu bringen107. Der verfremdende Symbolismus, den das theologische Konzept der dreifunktionalen Weltdeutung betont hatte, trat im neuen Denken zurück. Dies eröffnete die Chance zu einem besseren Verstehen sozialer Zusammenhänge108, was wiederum eine intellektuelle Differenzierung der laikalen Berufsfelder ermöglichte, in denen nicht mehr die Kategorien Krieger und Arbeiter, sondern Funktionen im Produktionsprozess hervortraten. Die Welt des 13. Jahrhunderts war nicht mehr die Welt reitender Kriegerhorden, in deren Schutz Klöster und Grundherrschaft ein mitunter kümmerliches Dasein fristeten. Es waren die nach Effizienz und Potenz strebenden Königreiche, Territorien und Stadtstaaten samt ihrer komplexen Sozialstruktur, die das politische Denken beschäftigten109. Grundlegend blieben auch für diese Ordnung die Berufe des produzierenden Gewerbes. Allerdings bezeichnete Bonaventura die körperlichen Tätigkeiten als eine ars, eine Kunstfertigkeit, die rationales Können und willentliche Entscheidung voraussetze. Nicht jeder sei zu Arbeiten dieser Art geeignet, denn wie die anderen Tätigkeiten auch setze sie 105 Vgl. Paulus, Wertung 727-733 (Zitat 730). 106 Zur Handarbeit bei Bonaventura vgl. Wenin, Saint Bonaventure. Zu Bonaventuras theologischer Auseinandersetzung mit dem Thema „Arbeit“ vgl. grundsätzlich Niezgoda, Théologie du travail. 107 Zur Relativierung der dreifunktionalen Ordnung im 13. Jh. vgl. Gurjewitsch, Stumme Zeugen 217 f. 108 Vgl. Schmidt, Allegorie 316. 109 Zur Dreiteilung vgl. Bonaventura, De perfectione evangelica q. 2/3, in: Opera omnia V 161.
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gewisse körperliche und geistige Fertigkeiten voraus. Ausgeübt werde die körperliche Arbeit von Menschen, die dazu befähigt seien und keine andere Tätigkeit ausüben könnten. Priester und Mönche seien dagegen nicht verpflichtet, Handarbeit zu leisten. Es sei dem geistlichen Stand sogar davon abzuraten, würden dadurch doch die spirituellen Aufgaben Schaden nehmen. Zur Begründung dafür, dass insbesondere die Franziskaner nicht zur Handarbeit verpflichtet seien und im Erbetteln von Almosen einen gottgefälligen Weg beschritten, führte Bonaventura unter anderem an, dass auch Franziskus selbst nur gelegentlich körperlich gearbeitet habe. Handarbeit erschien dem minoritischen Generalminister, der angetreten war, die Lebensform seiner bettelmönchischen Gemeinschaft gegen die Angriffe der Weltkleriker zu verteidigen, als nicht konstitutiv für die Erlangung des Seelenheils. Auf die teilweise anders lautenden Gebote des Ordensgründers ging er nicht näher ein. Dennoch war Bonaventuras Würdigung körperlicher Arbeit äußerst positiv ausgefallen. In seiner ausführlichen Erörterung der artes mechanicae, die teilweise auf Hugo von St. Viktor zurückging110, beschrieb der Franziskaner diese Künste nicht nur als nützlich und tröstlich für des Menschen körperliches und seelisches Heil, sondern sah in ihrer Kenntnis auch eine wichtige Voraussetzung für das Verständnis der Heiligen Schrift. Zu einem solchen Symbol der theologischen Einsicht wurden die artes mechanicae vor allem durch die Interpretation der göttlichen Schöpfung als handwerklicher Leistung, deren Studium wertvolle Informationen über ihren künstlerischen Schöpfer liefere. So hat die körperliche Arbeit bei Bonaventura ihren servilen Charakter gänzlich verloren; den ursprünglich pejorativ gemeinten Ausdruck opus servile benutzte Bonaventura lediglich mit der Absicht, die Arbeit an den Werktagen von der sonntäglichen Ruhe abzugrenzen, die der Christ mit der ganzen Freiheit seines Herzens und Geistes dem Gottesdienst widmen sollte111. Nicht allein Wertschätzung und Heterogenität des „Dritten Standes“ hatten in Bonaventuras Konzept neue Akzente erhalten112. Auch der ehemalige Kriegerstand der bellatores hatte sein Gepräge geändert. Zwar wurden Militärwesen und Soldaten zu den äußeren bzw. zivilen Tätigkeiten gerechnet, diese bildeten aber nur noch einen Teil jener Funktionen, die für die Aufrechterhaltung des äußeren Friedens und der zivilen Ordnung einer politischen Herrschaft Sorge tragen sollten. Neben die „Kriegerkaste“, zuständig für die Abwehr äußerer Feinde und die Niederschlagung innerer Rebellionen, stellte Bonaventura eine poli110 Zu den artes mechanicae bei Bonaventura vgl. Wenin, Saint Bonaventure 142-145. 111 Zur sonntäglichen Ruhe bei Bonaventura vgl. Wenin, Saint Bonaventure 145-148. 112 Allgemein zur konzeptionellen Unterteilung der Gesellschaft im späten Mittelalter vgl. Constable, Orders.
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tische Führungsschicht, verantwortlich für Gesetzgebung und Rechtsprechung, sowie Kauf- und Dienstleute als Garanten der ökonomischen Versorgung eines Staatswesens. Damit hatte der Stand der bellatores seinen martialischen Charakter teilweise verloren und war zur allgemeinen Führungsklasse der Laienwelt geworden113. Zu diesem Bereich gehörten nach Bonaventura neben den Kriegern und den Herrschern auch die Kaufleute, die bisher undifferenziert unter die laboratores, den körperlich arbeitenden Teil der Christenheit, subsumiert worden waren114. Die Ausführungen des franziskanischen Theologen belegen die mentalitätsgeschichtliche Bewältigung zweier parallel ablaufender Prozesse durch die Kirche bzw. die Bettelmönche. Bonaventuras Werk enthält eine Theologie der Arbeit, die sozioökonomischen und mentalitätsgeschichtlichen Wandlungen der letzten 150 Jahre Rechnung trägt. Anfang des 12. Jahrhunderts hatte sich diese Verschiebung in den kontroversen Debatten zwischen Mönchen und Kanonikern angekündigt. Hinter der spirituellen Neubewertung der Arbeit stand der Druck der Straße: Kaufleute, Handwerker und Bauern waren ängstlich darum besorgt, im religiösen Gefüge ihrer Zeit eine Rechtfertigung ihrer Tätigkeiten, eine Bestätigung ihrer Würde und eine Zusicherung ihres Seelenheils zu finden – und zwar nicht trotz, sondern durch ihren Beruf115. Ergebnis war eine Theologie der Arbeit, die Bonaventura in elaborierter Ausprägung niederschrieb. Gott war aus dieser Perspektive der erste Arbeiter. Seine Schöpfung übersteigt menschliche Arbeit zwar durch ihre Würde und Großartigkeit, dennoch kann Gottes Werk als Arbeit begriffen werden, von der sich Gott am siebten Tag ausruhte. Für jeden Menschen hat der Schöpfer auf Erden gemäß seiner körperlichen und geistigen Eignung einen bestimmten Beruf vorgesehen. Diese Tätigkeit mit Ehrlichkeit und Einsatz auszufüllen, war Aufgabe Adams und bleibt ebenso Aufgabe aller in der Gegenwart lebenden Menschen. Obwohl die menschliche Arbeit nach dem Sündenfall einen büßenden Charakter erhalten hatte, haftet ihr noch immer etwas von jener Würde und Freude an, die sie im Paradies besessen hatte116. Bemerkenswert an Bonaventuras Modell ist zum anderen die Transformierung der dreifunktionalen Ordnung, die sich von einer archaischen Hierarchisierung zu einem komplexen und horizontal aus113 Zu den milites als Gruppe in den Deutungsversuchen sozialer Realität vgl. Constable, Orders 331-335. 114 Vgl. Wenin, Saint Bonaventure 151. 115 Zur „Mentalität der Kaufleute“ im Mittelalter vgl. Gurjewitsch, Kaufmann. Zur einer zunehmenden Diversifizierung der Gesellschaft in theologischen Schriften vgl. Constable, Orders 324-327 und passim. 116 Zur entstehenden Theologie der Arbeit vgl. Le Goff, Métier 171-173.
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gerichteten Schema wandelte117. Priestern und Mönchen bleibt zwar weiterhin die vornehmste Funktion vorbehalten, die beiden anderen Bereiche werden nun jedoch vom produzierenden Gewerbe einerseits und distributiv-politischen Aufgaben andererseits eingenommen. Die hierarchische Welt der Krieger und Bauern war einem Nebeneinander verschiedener Funktionen gewichen, in der insbesondere die Kaufleute eine neuartige Position innehatten. Im beginnenden 11. Jahrhundert von den Geistlichen noch unter die laboratores gereiht, hatte der Kaufmannsstand als Inbegriff der bürgerlichen Welt die Sphäre der niedrigen Berufe verlassen, um Teil der laikalen Führungsschicht zu werden. Noch an der Wende zum 13. Jahrhundert war die vorherrschende Sicht eine andere gewesen. Lothar von Segni bezeichnete die Arbeit der Händler, Schiffsleute, Steuereintreiber, Handwerker, Bergleute und Bauern kurz vor seinem Amtsantritt im Jahr 1198 als eitles Tun, lediglich dazu geeignet, den Besitz von Gütern und Ansehen zu gewinnen. Vergessen werde dabei, so der spätere Papst weiter, dass allein das göttliche Heil vom Elend menschlichen Daseins, dem Arme und Reiche gleichermaßen unterworfen seien, befreien könne118. Eine „solche Fundamentalkritik, die letztlich auf einer Weigerung beruhte, Wirtschaft, Gesellschaft und Herrschaft adäquat zu analysieren, vertat die Chance, auf Neuerungen angemessen zu reagieren“119. Jakob von Vitry, dem der Handel Sinnbild war für eine Haltung, die das Weltliche für das Himmlische, das Vergängliche gegen das Ewige eintauschte, dachte in ähnlichen Kategorien: Das, was Kaufleute feilbieten, dient fast immer nur der Eitelkeit: Kleider mit langen Schleppen, vergoldete Sättel, metallene Schuhriemen, purpurne Hauben, prunkvolle Becher, Dinger in tausenderlei Farben – kurz Tand (ornamenta), der zu Hochmut und Prahlerei führt. Auf den Märkten verwendeten die Händler falsches Gewicht, Advokaten liehen den Meistbietenden ihr Wort, Prostituierte böten ihren Kadaver zum Kauf an, Wechsler zweigten einen Teil des Geldes in ihre eigenen Taschen ab, Goldschmiede mischten unedles Metall in ihre Gepräge, Apotheker fertigten Salben aus nutzlosen oder gar verderblichen Substanzen, Fleisch- und Fischhändler zögen es vor, die Gebrechen der verkauften Klepper zu verschweigen: auf den Märkten halte der Teufel reiche Ernte; dorthin kämen die Menschen – Käufer wie Verkäufer –, um alles zu verlieren und nichts zu gewinnen. Ewige
117 Zur Ablehnung der dreifunktionalen Ordnung im späten Mittelalter vgl. Constable, Orders 340 f. 118 Lothar von Segni (Papst Innocenz III.), De Miseria 18 ff. 119 Schmidt, Allegorie 322.
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Höllenstrafen drohten ihnen. Die Wucht der Anschuldigungen erstickt die Ansätze zu einer positiven Würdigung laikaler Lebensgestaltung120. Hatte der Klerus im Zeitalter der Kirchenreform das kaufmännische Streben nach Gewinn als schändlich und sündig verdammt und im Zinsgeschäft einen frevlerischen Verkauf von Zeit erblickt, so hatte die Wirklichkeit, nämlich der Aufschwung des Markthandels lokalen, aber auch internationalen Ausmaßes, die Vorstellungswelt der Kirchenmänner überholt und eine zeitgemäße Adaptierung unumgänglich gemacht121. Noch wirkte das alte Vorurteil, dass Kaufleute nicht arbeiteten, weil sie nichts produzierten und lediglich Waren, die sie an einem Ort zu einem niedrigen Preis erworben hatten, an einem anderen Ort zu einem höheren Preis verkauften; noch sträubten sich viele Gelehrte. Ihr Ton, in den sich die Einsicht von der Unwiederbringlichkeit vergangener Zustände mischte, wurde schriller. Nach einem neuen Ausgleich strebten dagegen die Bettelmönche122. In der mendikantischen Theologie der Arbeit, die der Diversifizierung der urbanen Berufswelt Rechnung trug, sollte der Kaufmann in Zukunft stets eine tragende Rolle spielen und besondere Aufmerksamkeit genießen. Seine Tätigkeit bestand nicht mehr aus einem unproduktiven und sündhaften Verschachern von Zeit, sondern war eine Arbeit, die wie andere auch eine gerechte Entlohnung verdiente123. Die Bettelmönche hatte damit dem sozioökonomischen Wandlungsprozess und seinen hervorragendsten Protagonisten eine christliche Legitimierung verschafft. Dass von der Kirche bereits an der Wende zum 13. Jahrhundert Vorarbeiten geleistet wurden, zeigen deutlich Hagiographie und Heiligsprechung, die sich in dieser Zeit den Kaufleuten öffneten und aus Homobonus von Cremona 1198 den ersten heiligen Kaufmann machten. So hatte eine veränderte Umwelt das Bild des Heiligen verwandelt: „Au début du XIIIe siècle le temps des saints travailleurs est déjà en train de céder la place au temps des travailleurs saints“124. Es waren die Bettelmönche, 120 Zu Jakobs Äußerung vgl. Schmidt, Allegorie 312. Zu Jakob von Vitry und den Kaufleuten vgl. generell Oberste, Heiligkeit 159-163. Zur Idealisierung des Kaufmanns, den Jakob an anderer Stelle mit Christus identifiziert, vgl. Hoven, Work 238. 121 Zur Problematik vgl. exemplarisch Gilchrist, Church; Le Goff, Marchands; Vauchez, „Homo mercator vix aut nunquam potest Deo placere“; Hoven, Work 237 (mit weiterer Literatur in Anm. 133); Oberste, Heiligkeit 60-82. Gute Zusammenfassung bei Little, Religious poverty 38-41. 122 Einige Meinungen zusammengestellt bei Little, Religious Poverty 178 f. 123 Zur kirchenrechtlichen Diskussion vgl. Baldwin, The Medieval Merchant; Piergiovanni, Il mercante e il diritto canonico medievale. Zu Ansätzen einer Wirtschaftslehre in der Kanonistik des 12. Jh. vgl. Oberste, Heiligkeit 37 f. Zum Kaufmann in den mendikantischen Beichtsummen vgl. Langholm, The merchant in the confessional 15232. Zur juristischen Ausrichtung mittelalterlicher Wirtschaftsethik vgl. ebd. 258. 124 Le Goff, Métier 172. Zu Homobonus vgl. Vauchez, Le „trafiquant céleste“.
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diese genauen Beobachter der sozialen Realität, die aus der allgemeinen Entwicklung die logischen und für die Kirche überlebensnotwendigen Konsequenzen zogen und den Kaufleuten den christlichen Segen endgültig vermittelten125. Eingebettet war diese Einstellungsänderung in eine ausführliche Erörterung der Fundamente und Mechanismen des freien Marktes126. Es war hier insbesondere Aristoteles, dessen Rezeption den Bettelmönchen neue Wege wies. So wurde der Wert des Privateigentums für den Einzelnen und die Gesellschaft zur Kenntnis genommen und ausdrücklich anerkannt. Zwar hielten auch die Bettelmönche daran fest, dass in einer vollkommenen Christengemeinschaft Eigentum keine Rolle spielen würde, doch in der irdischen Realität wurde es als notwendiges Instrument für ein gutes Leben und eine geordnete Gesellschaft gewürdigt. Verbunden mit einer solchen Eigentumstheorie wurde eine innovative Preistheorie, die Kauf und Verkauf grundsätzlich dem Markt überließ und durch die Berücksichtigung von Faktoren wie Angebot, Nachfrage und Produktionskosten einen gerechten Preis (pretium iustum) ermitteln wollte127. Dessen Überschreitung interpretierte man als sündhaften Betrug (laesio enormis)128. Erstmals im 13. Jahrhundert wurden zudem Dienstleistungen wie der Rechtsbeistand vor Gericht und Unterricht an Schulen und Universitäten als eine Beschäftigung betrachtet, die Mühe und Zeit kostete und daher eine finanzielle Entlohnung verdiente. In einem dem heiligen Bonaventura zugeschriebenen franziskanischen Predigthandbuch aus der Mitte des 13. Jahrhunderts wurden aus einer solchen mendikantischen Arbeitstheologie die Konsequenzen für die Predigt gezogen. „Der Mensch sei, wie unter Hinweis auf Job 5,6 ausgeführt wurde, zur Arbeit verpflichtet. Aktive Beteiligung am Wirtschaftsgeschehen, selbst das Streben nach Reichtum, seien noch keine Gründe, Rechtfertigung und göttliche Gnade zu verwirken. Die Prediger sollten ihre Zuhörer nicht unbedingt zu asketischen Höchstleistungen herausfordern, sondern die der bürgerlichen Existenz innewohnenden Möglichkeiten eines christlich orientierten Strebens nach Vollkommenheit würdigen“129.
125 Neben dieser positiven Tendenz existierten freilich weiterhin auch ablehnende Stellungnahmen. Vgl. Gilchrist, Church 50-53; Baldwin, Masters I 262 f. 126 Zum folgenden vgl. zusammenfassend Little, Religious Poverty 176-178. Zum „gerechten Preis“ vgl. Baldwin, The Medieval Theories of the Just Price; Langholm, The merchant in the confessional 233-255. 127 Zur Diskussion im 13. Jahrhundert vgl. Johnson, Just price. 128 Zur Problematik vgl. Kalb, Die Wechselwirkung von Theologie und Kanonistik. 129 Vgl. Schmidt, Societas christiana 341. Zur Quellengattung (ars praedicandi) und zu mendikantischen Predigthandbüchern vgl. Little, Religious Poverty 190-192; Briscoe,
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Wie diese Maxime von den deutschen Franziskanern verstanden und weitergegeben wurde, lässt sich am besten anhand der Predigttexte Bertholds von Regensburg studieren130, von dem man behauptet hat, dass „selbst Luther Arbeit und Berufstreue nicht mit höheren Worten hätte preisen können“131. Immer wieder kommt der franziskanische Volksprediger auf die zentrale Rolle der Arbeit im Leben eines jeden Menschen zu sprechen132. In der Predigt Von den fünf Pfunden heißt es dazu: Unser Herr hat einem jedem Menschen einen Beruf („amt/officium“) anvertraut. Niemanden hat er dazu geschaffen, untätig zu sein. Wir alle müssen uns irgendeiner Aufgabe annehmen, mit der wir unsere Seligkeit erlangen. Ich habe auch einen Beruf: den Beruf des Predigers. Denn unser Herr hat alles auf Erden mit Weisheit geordnet, er hat deshalb auch jedem Menschen seinen Stand so zugewiesen und bestimmt, wie er will und nicht, wie wir wollen. Denn so mancher wäre gern ein Graf und muss doch ein Schuster sein; oder gern wärest du auch ein Ritter und musst dennoch ein Bauer sein und uns Korn und Wein anbauen. […] Welchen Beruf du aber auch immer ausüben magst, sei er nun angesehen oder nicht, du musst über ihn auf doppelte Weise Rechenschaft ablegen. Dies soll dadurch geschehen, dass du einen Beruf um Gottes willen ausübst, nicht bei dir selbst oder sogar hörbar murren sollst: ‚Ach, Herr Gott, warum hast Du mir einen so mühseligen Stand zugewiesen, vielen anderen aber hohes Ansehen und Besitz’. Das darfst du nicht tun! Stattdessen sprich: ‚Herr, sei gepriesen wegen all deiner Gnade, die du mir erwiesen hast und auch weiterhin erweisen wirst’. Denn falls er dir einen angeseheneren Beruf hätte zuerkennen wollen, hätte er dies auch getan. Da er dir aber einen weniger angesehenen zugewiesen hat, begnüge dich in Demut und um Gottes willen mit deinem Beruf. Er wird dir dafür oben im Himmel einen sehr angesehenen Beruf zusprechen. Übe deshalb deinen Beruf um Gottes willen aus133.
Luden die Denker der dreifunktionalen Ordnung die bedrückende Last der beruflichen Pflichten allein auf die Schultern der laboratores, die sich
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Artes praedicandi; Oberste, Heiligkeit 129-141 (Alanus von Lille und Thomas von Chobham). Zur Rolle der Arbeit in Bertholds Denken vgl. Schmidt, Arbeit. Vgl. Paulus, Wertung 735 mit Anm. 2 (Zitat von Chr. Sommer). Zur teilweisen Vorwegnahme der „religiösen Ethik der Reformationszeit“ vgl. Gurjewitsch, Stumme Zeugen 230. Zur Arbeit bei Berthold vgl. einführend Paulus, Wertung 735 f.; Stahleder, Arbeit 158313; Schmidt, Arbeit. Berthold von Regensburg, Deutsche Predigten I 13 f. Neuhochdeutsche Übertragung nach Berthold von Regensburg, Vier Predigten 13. Ähnlich auch die Predigt „Von den zehn Chören der Engel“ (Berthold von Regensburg, Deutsche Predigten I 140156; Berthold von Regensburg, Vier Predigten 56-99). Zur Predigt vgl. Gurjewitsch, Stumme Zeugen 218-229; Hoven, Work 214 f.; Oberste, Heiligkeit 268-272.
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täglich zu mühen hatten, um Krieger und Beter von körperlicher Tätigkeit freizustellen, so ging Bertholds Sichtweise von gänzlich anderen Prämissen aus. Determiniert wurde sie von einer sozioökonomischen Wirklichkeit, in der eine städtische Marktwirtschaft eine ländliche Naturalwirtschaft abgelöst hatte, sowie von Traktaten von Männern wie Bonaventura, durch die diese reale Transformation eine theologische Grundlage erhalten hatte. Was Prediger wie Berthold leisteten, war die Übersetzung dieser neuen Traktatliteratur für intellektuelle Klerikerkreise in die Sprache des ungebildeten Volkes. Wie schon im Neuen Testament zu lesen war, dass nur der essen solle, der arbeite (2 Thess 3,9), so waren auch Berthold und seine Zeitgenossen davon überzeugt, dass die Angehörigen aller Stände, gleich ob Ritter, Schuster, Magd oder Kleriker, zur regelmäßigen Arbeit verpflichtet seien. Ausdrücklich stellte sich der Prediger auf die Stufe seiner Zuhörer, wenn er auch seine eigene Tätigkeit des Predigens als Beruf charakterisierte134. Das pastorale Wirken der Mendikanten insgesamt wurde damit von Berthold als der „Beruf“ der Bettelmönche begriffen. Eine solche Definition entsprach der offiziellen Haltung eines Ordens, der hier wie in vielen anderen Bereichen auch von der ursprünglichen Botschaft des Franziskus, der in seinen Schriften ausdrücklich vom Wert der körperlichen Arbeit gesprochen hatte, abgerückt war. Da das Studium die Voraussetzung und Werke der Barmherzigkeit eine Begleiterscheinung mendikantischer Seelsorge darstellten, wurden diese Tätigkeitsbereiche von den Franziskanern konsequenterweise ebenfalls als Arbeit betrachtet. Trotz dieser Konzentration auf nichtmanuelle Arbeitsfelder blieb ein deutlicher Unterschied zur bisherigen Auffassung monastischer Lebensweise bestehen: Mendikanten führten eine vita activa, die sich nicht mit der kontemplativen Selbstheiligung zufrieden gab, sondern ihre Berufung in der effektiven Seelsorge fand. Berthold von Regensburg war der Ansicht, dass er für diese Arbeit – so wie Handwerker und Kaufleute auch – seinen gerechten Lohn fordern dürfe. Es war dies die zeitgemäße Rechtfertigung freiwilliger Armut, die sich im Kontext der Zeit allein durch Produktivität zu legitimieren vermochte135. Von „Amt“ spricht Berthold, wenn er den Beruf eines Menschen im Sinn hat136. Die Ausfüllung dieses „Amtes“ bilde eine existenzielle Aufgabe jedes Menschen. Die Wahl des Berufs geschieht in Bertholds Augen 134 Zur Predigt als remunerierte Tätigkeit im späten Mittelalter vgl. Martin, La prédication comme travail. Zur Reduzierung des Unterschieds zwischen Priester und Laien auf einen des Amtes in der Reformation vgl. Moeller, Kleriker als Bürger 44. 135 Zur vita activa im franziskanischen Verständnis vgl. Schmidt, Arbeit 267 f. 136 Zur Arbeit als Amt vgl. Stahleder, Arbeit 294-298. Anders Hoven, Work 217. Zur Arbeit bei Berthold vgl. auch Gurjewitsch, Stumme Zeugen 223 f.
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allerdings keineswegs zufällig, sie gleiche vielmehr einer Berufung, teile doch Gott selbst dem Einzelnen gemäß seiner Anlagen und Fertigkeiten ein spezifisches Amt zu. Es sei daher die Pflicht des Menschen, diesem göttlichen Ruf zu entsprechen und der zugewiesenen Tätigkeit mit dem nötigen Eifer und Ernst nachzugehen. Fürsten hätten ebenso darauf zu achten, nicht vom vorgegebenen Weg abzuweichen, wie Prälaten oder einfache Bürger. Der einfältige Handwerker, der seine Berufung folgsam erfülle, führe ein besseres Leben als ein Geistlicher, der seinem Ruf nicht gerecht werde. So beruhe das christliche Leben insgesamt auf einer Ordnung Gottes, welche die normativen Grundlagen nicht nur der monastischen vita communis schaffe, sondern auch für die Verfasstheit der weltlichen Dinge, geschehen diese doch ebenfalls zum Lobe Gottes. Zur Aufrechterhaltung der von Gott gewollten Ordnung seien die weltlichen Berufe schließlich nicht weniger notwendig als das Gebet der Mönche. Man muss pflügen, Kühe melken oder Dienstmagd sein, um dem göttlichen Auftrag zu folgen. Der Schuster bleibe bei seinem Leisten, der Bauer auf seinem Acker. Ungleich sind die Menschen und ungleich sind ihre Wege zu Gott. Einen wesentlichen Teil der oben zitierten Predigt widmete Berthold einer Verteidigung der beruflichen und damit auch sozialen und materiellen Ungleichheit. Jedes Amt stammt nach seiner Lehre von Gott; die engagierte Erfüllung der Berufspflicht stelle daher eine von Gott dem Einzelnen aufgetragene Verpflichtung dar. Wer dagegen murre, wer dagegen gar aufbegehre und seinen Pflug mit dem Schwert vertauschen wolle, verstieße somit gegen die göttliche Ordnung der Schöpfung. Zwar betonten die franziskanischen Theologen die konstitutive Bedeutung des freien Willens für das verdienstliche Wirken des Menschen137, entfalten sollte sich dieses Streben jedoch innerhalb der streng begrenzten Bahnen eines durch soziale Stellung bzw. göttliche Fügung determinierten Lebens. Auch daran zeigt sich die Doppelseitigkeit franziskanischer Gesellschaftsdeutung. Nicht anders klang hundert Jahre später die Botschaft des dominikanischen Mystikers Johannes Tauler: „Denn eine jegliche Kunst oder Werk, wie klein die sein, das sind allesamt Gnaden, und wirket sie allesamt der heilige Geist, zu Nutz und zu Frucht des Menschen. Nun heben wir an dem Niedersten an. Eines kann spinnen, das andere kann Schuhe machen, und etliche sind wohl der auswendigen Dinge kundig. […] Dies sind alles Gnaden, die der Geist Gottes wirket. Wäre ich nicht ein Priester und wäre in einem Orden, ich nähme es für ein großes Ding, dass ich Schuhe machen könnte und ich wollte auch gerne mein Brot mit meinen Händen verdienen“138. Es ist die mendikantische Gedankenwelt 137 Hamm, Promissio 173-175 u. ö. 138 Zit. nach Paulus, Wertung 737 f.
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des 13. Jahrhunderts, die hier ein Jahrhundert später noch deutlicher und prägnanter zum Ausdruck gebracht wurde139. Der mendikantischen Arbeitstheologie erschien die gesamte Christenheit als vielgliedriger Organismus, in dem Funktionen und Positionen nach göttlichem Ratschluss verteilt wurden. Den Lohn für die Mühsal auf Erden versprach der Prediger Berthold seinen Zuhörern im Himmel, wo Gott den Niedrigen erhöhen würde. Da die gerechte Entlohnung jeder Tätigkeit einen zentralen Stellenwert im ökonomischen Denken der Zeit gewann, im Fall niedriger Arbeiten jedoch unbefriedigend gering ausfiel, bot es sich geradezu an, deren endgültige Vergütung in den Himmel zu verlegen. Zwar mag dieses statische Bild der sozialen Mobilität des 13. Jahrhunderts nicht gerecht geworden sein; in einer Gesellschaft, die sich in politisch-hierarchischer Hinsicht kaum wahrnehmbar wandelte, an ihren Rändern aber zunehmend mit neuen Problemen der Armut und Marginalisierung konfrontiert wurde, steckte in einer Festschreibung der augenblicklichen Ordnung wohl nicht nur ein sozialkonservativer Zug, sondern auch ein beruhigendes Element140. Berthold verkündet in seinen Predigten den Standpunkt seines Ordens. Nicht Strafe sollte der Beruf sein, sondern Mittel zur persönlichen Befriedigung und Vervollkommnung, von Nutzen möge er sowohl für das individuelle Seelenheil wie auch für die irdische Gesellschaft sein. Besonders geschickt verband Berthold seine Gedanken zur Rolle des Berufs mit seinen allgemeinen Vorstellungen gesellschaftlicher Ordnung in der bekannten Predigt Von den zehn Chören der Engel141. Streng hierarchisch gliederte Berthold Himmel und Erde in jeweils zehn Chöre von Engeln und Menschen. Das Gliederungsprinzip war alt, ging auf Pseudo-Dionysius Areopagita zurück und basierte auf einer Ordnung der Christenheit, die hierarchisch, aber harmonisch in wechselseitiger Abhängigkeit begriffen wurde142. Die obersten Chöre, besetzt von Priestern, Mönchen und Herrschern, hatten die Aufgabe, Leib und Seele der Christenheit zu schützen. Im Text wird nicht weiter auf sie eingegangen, stammten Bertholds Zuhörer doch aus bürgerlich-bäuerlichen Gesellschaftsschichten. Gemäß der oben skizzierten Arbeitstheologie forderte 139 Zu Seelsorge und Arbeit bei Johannes Tauler vgl. Mieth, Einheit; Ritchie, Preaching and pastoral care in John Tauler. 140 Tawney, Religion und Frühkapitalismus 37 f. Zu sozialkonservativen Tendenzen in der deutschen Dichtung vgl. Honemann, Mobilität 41 f. 141 Berthold von Regensburg, Predigten I 140-156; Berthold von Regensburg, Vier Predigten 56-99. Eine Interpretation der Predigt bei Stahleder, Arbeit 200-213; Schmidt, Arbeit 277-285; Gurjewitsch, Stumme Zeugen 231-237; Hoven, Work 216 f. 142 Zur zugrunde liegenden Deutung sozialer Realität im frühen und hohen Mittelalter vgl. Tawney, Religion und Frühkapitalismus 36-39; Ullmann, Individual 1-32. Zur innovativen Interpretation Bertholds vgl. Schmidt, Arbeit 280 f.
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der Prediger die Mitglieder der unteren Chöre auf, das ihnen von Gott zugewiesene Amt getreulich auszuüben, um nicht dem Teufel zu verfallen. Jeder habe seinen Platz auszufüllen, sei jede Funktion doch unentbehrlich und Teil von Gottes Heilsplan. Dieser laikale Berufswelt ist der Hauptteil der Predigt gewidmet. Berthold entwarf ein Bild, das den Einzelnen, König wie Schuster, in seine Funktion zwang und zugleich die Würde des einzelnen Amtsträgers und seine individuelle Verantwortlichkeit betonte. Jedes Amt erschien in diesem Rahmen notwendig und ehrenhaft, wenn es nur getreulich ausgeübt wurde. Alle Christen, nicht nur diejenigen in den kirchlichen und weltlichen Spitzenpositionen, erhalten in der Predigt einen nach profan-wirtschaftlichen und beruflichen Gesichtspunkten definierten Platz im Gefüge der irdischen Ordnung. Diese Nivellierung entsprach historischen Veränderungen, welche zu einer zunehmenden „normativen Gleichbehandlung und zu Maßnahmen der Gleichstellung“ in den Städten geführt hatten, deren Ausdruck insbesondere die juristische Gleichstellung der Stadtbürger vor Rat und Gericht, aber auch im Marktgeschehen und Steuerwesen darstellte143. In erster Linie richtet sich der Text jedoch an die in Berufsgruppen zusammengefassten Stadtbewohner144. Die wichtigsten Berufszweige des urbanen Wirtschaftslebens erhielten ihren Platz in einem der sechs niederen Chöre145. Im ersten saßen Schneider, Kürschner und all jene, die mit der Textilverarbeitung zu tun hatten. Der zweite Chor wurde eingenommen von Schmieden, Zimmerleuten, Steinmetzen, Drechslern und Berufsgruppen, die mit eisernem Werkzeug tätig waren. Die Kaufleute nahmen den dritten Chor ein. Der vierte Chor war den Verarbeitern und Verkäufern von Lebensmitteln und Getränken reserviert. Im fünften arbeiteten die Bauern, im sechsten die Ärzte146. Die Abgefallenen, die Possenreißer, Musikanten und andere ehrlose Menschen versammelten sich im siebten, d. h. dem insgesamt zehnten und letzten Chor. Berthold skizzierte die verschiedenen Berufsfelder und nannte die jeweils typischen Beschäftigungen. Mit wenigen Worten konstruierte der franziskanische Prediger eine Idealform des jeweiligen Aufgabenfeldes und unterstrich dabei dessen Unentbehrlichkeit. Doch die Eingangsworte dienten Berthold nur als Ausgangspunkt, um mit großem Nachdruck darauf hinzuweisen, wie die Mitglieder der verschiedenen Berufsgrup143 Vgl. Frenz, Gleichheitsdenken. 144 Zur vergleichbaren Gliederung der Beichtsummen nach Berufsfeldern vgl. Le Goff, Métier 176 ff.; Hoven, Work 206-208. 145 Vgl. Schmidt, Arbeit 282 f. 146 Zu Bertholds Einteilung der profanen Gesellschaft gemäß den artes mechanicae vgl. Schmidt, Arbeit 283 f.
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pen ihr Seelenheil durch treulose und betrügerische Berufsausübung riskierten. Die unredliche Ausübung eines Berufes gleiche dem untreuen Verhalten Luzifers. Wie dieser verliere der Fälscher, Betrüger, Dieb und Wucherer die Gnade Gottes. Wer seine Aufgabe dagegen ehrenhaft und pflichtgemäß ausübe, erfülle Gottes Gebot und verdiene sich seinen Lohn, spätestens am Tag des Jüngsten Gerichts. So sei es nicht die Gnade Gottes, auch nicht die Gebete von Klerikern oder Mönchen, die dem Menschen den Weg in den Himmel öffneten. Allein die redliche Ausübung seines Berufs erspare dem Fleißigen die Höllenqualen und ließe ihn Anteil haben am ewigen Leben. Der Einzelne wird bei Berthold durch sein „Amt“ definiert; dies gilt sowohl für den König wie auch für den Schuster. Der im Kern konservativen Sozialethik steht somit eine progressive Arbeitsethik gegenüber. Die Arbeit und die damit verbundenen Pflichten bilden die Grundlage des Menschenbildes. Klerus und Mönchen bleibt es weiterhin vorbehalten, für das Seelenheil der Laien zu beten, doch den Weg zum Heil geht jeder allein. Konstitutive Voraussetzung bildeten gemäß dieser Lehre nicht priesterliche Lehre und mönchisches Leben, sondern die individuelle Entscheidung für die redliche Ausübung des von Gott verliehenen Amtes. Seinen gerechten Lohn erhält der ehrliche Amtsträger nicht erst im Himmel, sondern bereits auf Erden: Niemand sei verpflichtet, umsonst zu dienen. Jede Arbeit müsse gerecht bezahlt werden, denn jedes Amt erfülle eine würdevolle, unentbehrliche Aufgabe innerhalb einer sich spezialisierenden Gesellschaft. Die wechselseitige Beziehung zwischen den hohen und den niedrigen Ständen bestehe aus Gehorsam und Bezahlung, Dienst und Lohn. Persönliche Abhängigkeitsverhältnisse, verbunden mit besonderen Abgabeformen und Beschränkungen der persönlichen Freiheit, werden im Text dagegen nicht behandelt. Das Verhältnis zwischen Adel, Klerus und nicht-adliger Laienwelt wird durch die Verpflichtung zur korrekten Amtsausübung bzw. zur angemessenen Bezahlung bestimmt. Eine besondere Rolle ist dabei dem Kaufmann, dem Prototyp der städtischen Marktwirtschaft, zugedacht147. Berthold schrieb über ihn: Den dritten Stand bilden all jene, die Handel treiben; auch sie kann man keinesfalls entbehren. Was in einem anderen Königreich billig zu haben ist, bringen sie hierher, und was jenseits des Meeres billig zu haben ist, das schaffen sie herüber; umgekehrt schaffen sie das, was hier billig zu haben ist, hinüber. So bringen die einen Waren aus Ungarn, die anderen aus Fran147 Zum Kaufmann in mendikantischen ad-status-Predigten des 13. Jh. vgl. Hoven, Work 237-241. Zum Kaufmann in den Beichtsummen Langholm, The merchant in the confessional 15-232.
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kreich, die einen auf Schiffen, die anderen auf Wagen; die einen, indem sie ihre Lasttiere antreiben, die anderen, indem sie ihre Ware selbst tragen. Was sie nun auch immer im einzelnen tun mögen: ihnen allen ist ihr Platz in einem Chor zugewiesen und sie sind einem Amt verpflichtet. Auch diesen Beruf benötigen die obersten Chöre dringend. Dient ihnen dadurch, dass ihr euren Handel ohne Falsch tätigt! [...] Ihr sollt genaue Waagen, Messgefäße und Gewichte verwenden; auch Gott wird euren Wert dann mit einer genauen Waage veranschlagen. […] Vertraue auf Gott: er wird dich immer mit redlichem Gewinn ausreichend ernähren, hat er selbst dir das doch zugesagt [...] Doch du richtest, wenn du etwas von arglosen Leuten kaufen willst, all dein Trachten darauf, wie du ihnen etwas ohne Gegenleistung abnehmen kannst. Dazu erzählst du viele Lügenmärchen148.
Die Verchristlichung der Kaufmanns war Mitte des 13. Jahrhunderts weitgehend abgeschlossen149. Stimmungsbilder, wie sie Lothar von Segni (Papst Innocenz III.) und Jakob von Vitry noch eine Generation zuvor entworfen hatten, gehörten der Vergangenheit an. Kaufleute und das Erwirtschaften von Gewinn ohne Güterproduktion waren nun keinem apriorischen Verdikt mehr ausgesetzt. Die gesellschaftliche und verfassungsrechtliche Ordnung, wie sie die Städte in der Mitte des 13. Jahrhunderts prägte, wurde in der Jahrhundertmitte von kirchlichen Gemeinschaften anerkannt und religiös legitimiert. Auch den Kaufmann wähnte man unter der Obhut Christi150. Freilich, es gab auch die mercatores diaboli, jene Betrüger, die falsche Maße und Gewichte verwendeten und deren gesamtes Trachten darauf gerichtet war, einfältige Käufer über den Tisch zu ziehen. Akribisch und detailfreudig schilderte Berthold ihre verwerflichen Praktiken in dieser und in vielen anderen seiner Predigten151. Jeder Beruf hat mit einem speziellen Übel besonders zu kämpfen, im Fall der Kaufleute bildete dies die Unehrlichkeit152. Zwar könnten auch reich gewordene Händler das Seelenheil erlangen, allerdings nur unter der Bedingung, dass sich ihr Erfolg auf gerechten Preis gründe. Kauf und Verkauf mit Gewinn, ja selbst Geldleihe gegen Zins seien legitim153, werden diese Tätigkeiten 148 Berthold von Regensburg, Deutsche Predigten I 148-150. Übersetzung nach Berthold von Regensburg, Vier Predigten 79-81. 149 Zur Problematik vgl. zusammenfassend Tawney, Religion und Frühkapitalismus 47 f.; Oberste, Heiligkeit 82-99 und 295-300. 150 Langholm, The merchant in the confessional 235. 151 Zu den Kaufleuten in Bertholds Predigten vgl. Stahleder, Arbeit 190 f.; Oberste, Heiligkeit 272-281. 152 Zur Erörterung des Betrugs in den Beichtsummen vgl. Langholm, The merchant in the confessional 238-240. 153 Zur Erlaubnis der Zinsleihe bei Berthold vgl. Schmidt, Arbeit 275 f. Zu zeitgenössischen Stellungnahmen anderer Bettelmönche vgl. Little, Religious Poverty 181-183.
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doch als körperliche Arbeit bzw. nutzbringendes Geschäft eingestuft; ein überhöhter Preis oder gar überhöhte Wucherzinsen stellten jedoch eine frevelhafte Vernachlässigung der Berufspflichten dar, die den Kaufmann das Seelenheil kosteten154. Dass sich Bettelmönche wie Berthold oder sein Ordenskollege Gilbert von Tournai so ausführlich mit dem Kaufmannsstand beschäftigten, zeigt, welche große Bedeutung die Mendikanten dieser sozialen Gruppe zuerkannten155. Man könne die Kaufleute auf keinen Fall entbehren und benötige sie gar sehr, meinte Berthold und rühmte ihren Wagemut sowie ihre grenzüberschreitende Reiselust. Das Amt des Kaufmanns war in seinen Augen ein gottgefälliges Amt; wer es ehrlich ausübte, konnte mit Gottes Segen und Lohn rechnen. Was Philosophen wie Bonaventura auf abstraktem Niveau erörterten, wurde durch mendikantische Volksprediger popularisiert und als Standpunkt der offiziellen Kirche in den Straßen der Städte und Dörfer verkündet. Ehrlicher Gewinn werde die Kaufleute immer gut ernähren, versprach Berthold und erteilte dem kaufmännischen Gewinnstreben damit den kirchlichen Segen. Was Jahrzehnte zuvor häufig noch als NichtArbeit, als eitles Tun, ja im Fall von Zinsgeschäften als wucherischer Verkauf unverkäuflicher Zeit verdammt worden war, ließ sich nun mit einem christlichen Leben vereinbaren156. Auch Philosophen und religiöse Reformer sahen dies so: Nach Thomas von Aquin war die Handelstätigkeit anderen körperlichen Tätigkeiten gleichzusetzen und der Gewinn, den der Kaufmann aus der Spanne zwischen örtlich unterschiedlichen Preisen erzielte, daher gerechtfertigt157. Besonders prononciert vertreten wurde eine moderne, protokapitalistische „Wirtschaftsethik“ und damit auch die Tätigkeit des Kaufmanns von Petrus Olivi, einem Franziskanerspiritualen und radikalen Verfechter franziskanischer Armutsideale158. 154 Zur Verurteilung des Zinsgeschäfts als Wucher vgl. stellvertretend Le Goff, Wucherzins 17-29; Little, Religious Poverty 179 f. Zu den mittelalterlichen Vorstellungen von usura vgl. Oberste, Heiligkeit 28 und 82-102. Zur karolingischen Kapitularien- und Synodalgesetzgebung zu Wucher und Restitution vgl. ebd. 55-60. 155 Zum Kaufmannsbild bei Guibert von Tournai vgl. Schmidt, Allegorie 314 f. Zu den Modellpredigten Gilberts von Tournai an städtische Eliten vgl. Oberste, Heiligkeit 239-250. 156 Zur Verurteilung kaufmännischen Profits im Decretum Gratiani vgl. Schmidt, Arbeit 272. Zur bedingten Tolerierung der Zinsleihe vgl. Baldwin, Masters I 282 ff. Zur Entwicklung der kirchlichen Wirtschaftsethik vgl. Oberste, Heiligkeit 82-99. 157 Vgl. Schmidt, Arbeit 272. 158 Zu Olivis ökonomischen Traktaten vgl. Kirshner/Lo Prete, Peter John Olivi’s Treatises; Wolff, Mehrwert und Impetus; Piron, Marchands et confesseurs; Oberste, Heiligkeit 95. Zur Kombination religiös-ethischer und rational-ökonomischer Argumente als Kernstücke einer mittelalterlichen Wirtschaftethik vgl. Paton, Preaching 164-209; Oberste, Heiligkeit 83. – Zum Terminus „Wirtschaftsethik“ grundlegend Weber, Die
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Die Hinweise Christi auf die Lilien des Feldes und die Vögel des Himmels interpretierte man nun nicht mehr als Verbot regelmäßiger und gewinnorientierter Lohnarbeit, sondern als Warnung vor übereifriger Daseinsvorsorge. Es setzte sich die Auffassung durch, dass Arme und Reiche die gleichen Aussichten zur Rettung ihrer Seele besäßen. Nur wer Reichtümer zusammentrage und dabei seine frommen Pflichten als Christ vernachlässige, schade seiner Seele159. Maßvolle Arbeit und Gewinn in Maßen dagegen schützten vor Gefahren eines ziellosen Lebens, forderten Selbstüberwindung, schafften Lebensunterhalt und sorgten für Almosen160.
3. Vita activa, Müßiggang und Ausgrenzung Berthold von Regensburg entwarf in seinen Predigten das Bild einer Gesellschaft, in der alle Menschen den gleichen sozialen Gesetzmäßigkeiten unterworfen waren; nicht Rechtsstatus oder Abstammung entschieden über die Zugehörigkeit zu einer sozialen Gruppe, sondern die individuelle Arbeitsleistung. Ohne die irdische Hierarchie anzutasten, zeichneten sich die unterschiedlichen Berufsgruppen durch eine gleichwertige Nähe zu Gott aus. Auf einer religiösen Ebene führen nicht Geburtsprivilegien oder asketische Lebensform, sondern die getreue Erfüllung des irdischen Berufs zum Heil. Auf der sozioökonomischen Ebene werden unfreie Personen, die Zwangsabgaben und unbezahlte Leistungen zu erbringen hatten, zunehmend von Menschen abgelöst, die sich als freie Produzenten gegenübertreten. Die Unterschiede zwischen den sozialen Ständen bleiben bestehen, doch alle sind denselben Anforderungen unterworfen und damit einander näher gerückt. Es dominiert eine Grundhaltung, die von rechtlichen Abhängigkeiten und Differenzierungen absieht und das gemeinsame Schicksal der Christenheit als Glieder einer arbeitsteiligen Gesellschaft in den Vordergrund rückt. Das Geflecht, das die Menschen auf vielfältige Weise miteinander verbindet, besteht aus Geldgeschäften, Marktgesetzen, Dienstleistungen und gegenseitigem Nutzen161.
Wirtschaftsethik der Weltreligionen 81-127. Zum „kapitalistischen Geist“ mendikantischer avaritia-Konzepte vgl. Langholm, The merchant in the confessional 264. Vgl. hierzu auch Tawney, Religion und Frühkapitalismus 50. 159 Vgl. Hoven, Work 239. 160 Zur positiven Bewertung des Reichtums bei Berthold vgl. Stahleder, Arbeit 293 f. 161 Zum Menschenbild Bertholds vgl. zusammenfassend Gurjewitsch, Stumme Zeugen 217-287; Gurjewitsch, Individuum 196-218; Frenz, Gleichheitsdenken 65-67.
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Diese mendikantische Arbeitstheologie war von der sozioökonomischen Realität geformt worden. Weitgehend autarke Grundherrschaften hatten ihre dominierende Stellung verloren, grundherrschaftliche familia-Strukturen waren zerbrochen. Der städtische Markt mit seiner immer mehr Abläufe in ihren Bann ziehenden Geldwirtschaft hatte begonnen, das ökonomische Leben umzugestalten162. An die Stelle von Kleinräumigkeit und Stabilität waren Mobilität und Vernetzung getreten und hatten ein Gefüge selbständig wirtschaftender Individuen hervorgebracht. Um diese Veränderungen zu erfassen, bedurfte es neuer Interpretationen des Gesellschaftsaufbaus. Eine solche Deutung volkstümlicher Prägung, gedacht zur moralischen Erziehung breiter Bevölkerungskreise, hatte Berthold von Regenburg in seinen erfolgreichen Predigten vorgelegt. Der deutsche Franziskaner vertrat dabei keine exzeptionellen Standpunkte, sondern teilte die Ansichten, die seine Kollegen aus den Bettelorden in den sogenannten Standespredigten, den sermones ad status, verkündeten163. Gelöst von tradierten starren Mustern, versuchten die Mendikanten, die soziale Wirklichkeit möglichst detailgenau in ihren Predigten wiederzugeben, um auf diese Weise das Gewissen der ertappten Zuhörer zu erreichen. Den Gläubigen, die in den verschiedenen Tätigkeitsbereichen arbeiteten und handelten, wurde gleichsam ein Spiegel der berufsbedingten Gefährdungen ihres Seelenheils vorgehalten. Daraus entstand eine über Quellengattungen und Autoren hinausreichende homogene Berufsethik, die als innovativ bezeichnet werden kann164. Die mendikantische Arbeitstheologie fußte auf dem Prinzip der angemessenen Entlohnung, die jedem Arbeitenden, gleich ob Herrscher, Kaufmann oder Bauer, zustünde. Die Verweigerung des Lohns geschehe aus Habgier und sei daher eine besonders verwerfliche Sünde. In einer arbeitsteiligen Wirtschaft, in der jeder vom rechtmäßigen Verhalten seiner Mitmenschen abhängig war, bildete das Vertrauen in Ehrlichkeit und Entlohnung eine wichtige Voraussetzung stabiler Geschäftsbeziehungen. In derselben wirtschaftlichen Terminologie beschrieben die Prediger auch das Verhältnis des Individuums zu Gott165. „Ihr sollt rechte 162 Zum Übergang „from gift economy to profit economy“ vgl. Little, Religious poverty 3-18. Zur Rolle des Geldes in der städtischen Wirtschaft vgl. ebd. 29-34. 163 Zu den mendikantischen ad-status-Predigten vgl. zusammenfassend Hoven, Work 208-243; Oberste, Heiligkeit 32-34, 142-169 (Jakob von Vitry) und 219-250 (Humbert de Romanis und Gilbert von Tournai). 164 Anders Hoven, Work 241-243. 165 Zur Aufladung des Religiösen mit Begriffen aus dem städtischen Wirtschaftsleben vgl. Little, Techniques 98. Zur Waage als Leitbild für die „gezählte Frömmigkeit“ im Mittelalter vgl. Angenendt, Gezählte Frömmigkeit 7. Zur zeitgleichen „Entkommer-
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Waagen haben und rechte Hohlmaße und rechte Gewichte, dann wird Gott euch mit der rechten Waage wiegen“, soll Berthold den Kaufleuten gepredigt haben. Die Pflichterfüllung von Seiten des Menschen bestand in der redlichen Ausübung des Berufs, den Gott dem einzelnen vorherbestimmt hatte. Unehrlichkeit, Faulheit, aber auch das Streben nach sozialer und materieller Verbesserung galten aus dieser Perspektive als Sünde und wurden lauthals verdammt, – denn jeder Mensch hat sein Amt von Gott erhalten, um seinen Teil beizutragen zum gemeinsamen Werk der Christenheit. An die Stelle der Hochmut (superbia) trat die Habgier (avaritia) als meist verdammtes und meist behandeltes Übel der Zeit, war es im städtischen Treiben doch die Gier nach materiellen Gütern, die – nach klerikaler Interpretation – den Einzelnen seine Berufung und Verantwortung vergessen ließ166. Avaritia bedeutete Rebellion gegen Gott und gegen die soziale Ordnung aufgrund eines übersteigerten Individualismus167. Durch die Bekämpfung der Habgier meinte man gleichsam ein Regulativ zu finden, um die wachsenden Freiheiten des Marktes eindämmen zu können168. Niemand konnte dies so überzeugend tun wie die Bettelmönche, die durch den völligen Verzicht auf materielle Güter die sichtbarste Verneinung der Habgier lebten169. Die angemessene Belohnung für ehrliche Berufserfüllung, d. h. die willige Einfügung in Gottes Ordnung stellte dagegen der Gewinn des ewigen Lebens dar. Diese Betonung gesellschaftlicher und beruflicher Zusammenhänge, die den einzelnen Menschen in einen umfassenden Verbund einordnete, schloss die individuelle Verantwortung für das eigene Seelenheil nicht aus, sondern wies jedem Gläubigen den Platz zu, wo er sich zu bewähren hatte. In jedem ehrlichen Beruf war dies möglich. Ein ehrlicher Kaufmann vermag seinen Weg in den Himmel sicherer zu finden als ein strauchelnder Asket. Durch ein von Ehrlichkeit und Fleiß bestimmtes aktives Leben konnte der Laie seine Anlagen und Fähigkeiten verwirklichen und zugleich das Seelenheil gewinnen. Die vita activa erfuhr dadurch eine deutliche Aufwertung gegenüber der vita contemplativa. Damit wurden auch in einem alten Exegetenstreit neue Akzente gesetzt. In der Tradition der frühen Bibelexegese wurden das gesamte
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zialisierung“ bzw. „Theologisierung“ des Verdienstgedankens vgl. Hamm, Promissio 141 f. Vgl. Little, Pride; Little, Religious poverty 36-38; Gurjewitsch, Stumme Zeugen 240; Oberste, Heiligkeit 39-44. Zum Zusammenhang zwischen einem sozioökonomischen Wandel und dem Wandel der Lasterhierarchie vgl. Little, Pride 27-31 und passim; Casagrande/Vecchio, I sette vizi capitali 96-100. Little, Pride 32. Zum Neid als „malattia sociale“ vgl. Casagrande/Vecchio, I sette vizi capitali 43-45. Vgl. Gurjewitsch, Stumme Zeugen 245. Little, Pride 48 f.
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Mittelalter über die Christus bewirtende Martha und die zu seinen Füßen sitzende Maria (Lk 10,38-42; Joh 12,1-8) als allegorische Figuren der vita activa und vita contemplativa gedeutet und das antike Begriffspaar damit in einen christlichen Kontext gestellt170. Während die Privilegierung der Kontemplation von Verfechtern einer asketischen Mönchsspiritualität besonders betont und als einziger Weg zur Vollkommenheit betrachtet wurde, existierte seit Augustinus auch ein Verständnis, das die dialektische Spannung von aktiver Alltagspraxis und kontemplativer Gottesschau als notwendigen Bestandteil irdischer Existenz interpretierte171. Gerungen wurde in den folgenden Jahrhunderten um das richtige Verhältnis beider Lebenswege zueinander. Besonders die Reformorden des 12. Jahrhunderts, allen voran die Zisterzienser um Bernhard von Clairvaux, suchten die perfekte Lebensform in einer ausdrücklichen Einbeziehung der vita activa in die vita contemplativa. Dieses Denken hatte die theologische Legitimierung für die Neubewertung manueller Arbeit im Zisterzienserorden dargestellt172. Eine neue Dimension gewann die vita activa im Denken der Bettelmönche. Thomas von Aquin hatte die Vollkommenheit mendikantischen Lebens mit der Einheit kontemplativen und aktiven Lebens begründet. Die Kontemplation und ihre Wissensfrüchte sollten nicht allein der passiven Selbstheiligung dienen, sondern in einer aktiven Pastoraltätigkeit anderen vermittelt werden. Nicht die vita activa wurde in die vita contemplativa integriert, es war nun vielmehr – gemäß der Devise contemplari et contemplata aliis tradere – das kontemplative Leben des Studiums, das zum Bestandteil des aktiven Lebens gemacht wurde. Bonaventura definierte ganz ähnlich wie sein dominikanischer Zeitgenosse das Spezifische der Bettelorden in der Vereinigung von Studium, Kontemplation und Seelsorge. Erneut wird die kontemplative Versenkung in das Wort Gottes zur Ausgangsbasis für das aktive Wirken der Bettelmönche in der Welt173. Beide Theologen sahen in einer vita activa, die sich freilich auf Kontemplation und Meditation zu stützen hatte, die ideale Verwirklichung zeitgenössischen Mönchtums. Die Bettelorden wurden auf diese Weise zu Gemeinschaften, „die aus der Fülle der Kontemplation und 170 Zu Antike und frühem Mittelalter vgl. Joly, Le thème philosophique; Constable, Interpretation 3-43. Zum Mittelalter allgemein Leclercq, Études sur le vocabulaire monastique; Leclercq, Otia monastica; Haas, Beurteilung; Constable, Interpretation. Für die Humanisten vgl. exemplarisch Kristeller, Teorie umanistiche della Vita attiva; Rombach, Vita activa und vita contemplativa 46-53 und passim. 171 Constable, Interpretation 3-92. 172 Constable, Interpretation 44-92. Zur vita activa im Zisterziensertum vgl. auch Hoven, Work 225. 173 Zur Symbiose von vita activa und vita contemplativa in Thomas’ und Bonaventuras Würdigung mendikantischen Lebens Constable, Interpretation 110-113.
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ohne diese preiszugeben, in die Aktion übergingen. Diese und nur diese Aktion, die ex plenitudine contemplationis derivatur, ist der einfachen Kontemplation vorzuziehen. Denn wie es größer ist, zu erleuchten als bloß Licht zu sein, so ist es größer, andern das Kontemplierte weiterzugeben als bloß zu kontemplieren“174. Was für die Mönche galt, galt ebenso für die Laienwelt, denn alle Menschen waren von Gott zum Heil berufen worden. Diese Berufung war in den Augen der Bettelmönche allgemein und gleich, setzte keine besonderen Fähigkeiten oder Lebensregeln voraus. Über die Form der Nachfolge des Heilswegs entschied die Gnade Gottes, die jedem Menschen eine seinen Veranlagungen entsprechende Lebensform anbot. Mönche und Priester waren zwar auf die innere, authentische Form der Nachfolge Christi hingeordnet und mönchische Gelübde führten zum sichtbaren Stand der äußeren Vollkommenheit. Dies bewirkte aber von sich aus keine Rechtfertigung vor Gott, genau so wenig wie die sakramentale Ordination zum Priesteramt für den Geweihten allein Heilgewissheit schaffe. Heilsnotwendig war allein die Befolgung der Gebote in Liebe zu Gott. Für den Vorgang der Heilserlangung kam es lediglich darauf an, wie der Mensch den entsprechend seinen Fähigkeiten gestaffelten Verpflichtungen gerecht wurde. So besaß auch der Laie, der seinem weltlichen Beruf auf ehrliche Weise nachging, seinen sicheren Weg, der Gnade Gottes teilhaftig zu werden. Indem der Mensch seiner Berufung folgte, trug er seinen Teil zur Erhaltung der menschlichen Gesellschaft bei. Da diese wiederum wichtigster Teil des göttlichen Kosmos war, diente ihre Erhaltung dem Zweck des Kosmos und damit letztlich Gott175. Es erschien also bereits den mittelalterlichen Gelehrten möglich, dass der gläubige und strebende Mensch eine Form christlicher Vollkommenheit erlangte, indem er sich im Berufsleben, in der vita activa, bewährte176. Die Anpassung der kirchlichen Arbeitstheologie an die realen Verhältnisse war zu einem beträchtlichen Teil den Bettelmönchen zu verdanken. Auf den von diesen geschaffenen Grundlagen wurde im 14. und 15. Jahrhundert weitergebaut177. „Sorgen und arbeiten um zeitlich Gut, das ist löblich und dem Menschen nutz zu seinem Leben“, meinte beispielsweise der Dominikaner Berthold, der Anfang des 14. Jahrhunderts 174 Haas, Beurteilung 112. 175 Zum laikalen Weg zum Heil über die Arbeit im Denken der mittelalterlichen Theologie vgl. Wiedemann, Arbeit 67-114. 176 Zum Missverständnis, dass eine religiöse Würdigung weltlicher Berufsarbeit erst in der Reformation erfolgt sei, vgl. stellvertretend Paulus, Wertung; Tawney, Religion; Wiedemann, Arbeit 61-67; Seibt, Lob 159 f. 177 Paulus, Wertung; Constable, Interpretation 113-130.
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die Beichtsumme seines Ordensbruders Johannes von Freiburg ins Deutsche übertrug178. Die dominikanischen Mystiker Eckhart und Johannes Tauler brachen schließlich gänzlich mit der monastischen Überhöhung der Kontemplation. Erstmals erschien bei ihnen Martha und mit ihr die vita activa als übergeordnete Lebensform, zu der sich Maria und die vita contemplativa als Vorstufe verhielten. Das völlige Aufgehen des kontemplativen Lebens im aktiven Leben, die sich im mendikantischen Denken des 13. Jahrhunderts bereits angekündigt hatte, war in der deutschen Mystik konsequent zu Ende gedacht worden179. In engem Zusammenhang mit dieser veränderten Einstellung zum aktiv ausgefüllten Leben stand übrigens auch ein Wandel in der Wahrnehmung von Zeit, galt es doch, diese zunehmend unter rationalen Gesichtspunkten einzuteilen und zu nutzen180. Konsequenzen für die Einstellung zu Lebensführung und Arbeit konnten nicht ausbleiben181. Die Werteverschiebung führte allerdings zu keiner generellen Missachtung des kontemplativen Lebens. Aus kirchlichen Kreisen erhoben sich immer wieder Stimmen, die die christliche Vervollkommnung mit einer kontemplativen Lebensführung in Verbindung brachten182. Dennoch hatte sich die vita activa in den Köpfen der Gelehrten einen Platz erobert, den sie vor dem Auftreten der Bettelmönche nicht besessen hatte. Die Bejahung des aktiven Lebens, die mit einer Würdigung der weltlichen Berufspraxis einherging und den sozioökonomischen Veränderungen Rechnung trug, bot die Grundlage für eine neue Ethik der Arbeit. Im Gegensatz zu den meisten häretischen Gruppierungen war es der Kirche dank der Bettelorden gelungen, die mit der beruflichen Aktivität verbundenen spirituellen Bedürfnisse zu integrieren. Während die Abwertung der Alltagspraxis und des Materiellen einen vermutlich wichtigen Grund für das Scheitern von Katharern und Waldensern gebildet hatte, gelang es der Kirche, in ihrem großen Haus auch modernen Strömungen der Frömmigkeit und Seelsorge einen Platz einzuräumen und damit die neue soziale Wirklichkeit in ihr Weltbild zu integrieren183. Das Prestige der Arbeit wurde in der Stadt aufgewertet. Hier konnte man die schöpferischen und produktiven Ergebnisse der Arbeit sehen: All die Gerber, Schmiede und Bäcker waren Leute, die nützliche, gute, 178 Zit. nach Paulus, Wertung 740. Zu diesem Werk vgl. Steer, Deutsche Rechtssumme. 179 Zur Einheit von vita activa und vita contemplativa bei Meister Eckhart und bei Johannes Tauler vgl. Mieth, Einheit; Haas, Beurteilung 113-120; Constable, Interpretation 116. Zum Berufsbild in der deutschen Mystik vgl. auch Wiedemann, Arbeit 93-96. 180 Le Goff, Temps; Cipolla, Clocks; Borst, Computus 61-83. 181 Thompson, Time 57 und passim. 182 Vgl. Wiedemann, Arbeit 111-114. 183 Zur Problematik vgl. Le Goff, Métier 165.
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manchmal sogar schöne Dinge herstellten, und zwar einfach nur durch Arbeit. Umgekehrt stieß Müßiggang immer mehr auf Ablehnung. Für einen faulen Menschen war in der Stadt kein Platz. Schon Jakob von Vitry hatte in seinen Predigten gegen die Müßiggänger gewettert und den Menschen ins Gewissen geredet, sich sorgfältig ihren Arbeitspflichten zuzuwenden, so dass man nicht von ihnen behaupten könne, sie wären wie die Mäuse, geboren allein um zu konsumieren. Die Bienen empfahl Jakob den Menschen als Vorbilder, da diese von Natur aus gut und fleißig seien. So wie faule Bienen ausgeschlossen und bestraft würden, so sollten auch faule Menschen, die nicht arbeiten wollten und auf Kosten anderer lebten, davongejagt werden. In manchen Städten werde diese löbliche Sitte tatsächlich praktiziert, wie Jakob von Vitry vorgibt erfahren zu haben184. Polemiken gegen Menschen, die nicht in den allgemeinen Arbeitsprozess integriert waren, hat es zu allen Zeiten gegeben185, sie gewannen im späten Mittelalter jedoch an Schärfe186. Bonaventura beispielsweise scheint von einer obsessiven Ablehnung des Müßiggangs, den er als Pfuhl aller Sünden (sentina omnium vitiorum) bezeichnete, geradezu besessen gewesen zu sein. Dementsprechend gingen seine Vorschläge für die Behandlung fauler Mitbrüder über das damals übliche Normalmaß hinaus. Müßiggänger im Orden – so der franziskanische Generalminister – möge man einsperren und mit Schlägen bestrafen, außerdem könne man sie zur Zwangsarbeit verpflichten. Solche und ähnliche Äußerungen finden sich an vielen Stellen im Werk Bonaventuras, nach dessen Vorstellungen selbst auch die Arbeitspausen mit belehrenden Worten zur Entspannung und Belehrung des Geistes sinnvoll gefüllt werden sollten187. Die Vehemenz, mit der Bettelmönche wie Bonaventura den Müßiggang verurteilten und das pausenlose Tätigsein rühmten, hing vermutlich auch damit zusammen, dass sich die Mendikanten selbst bereits seit dem 13. Jahrhundert dem Vorwurf ausgesetzt sahen, ein Leben auf Kosten der wirklich Armen zu führen. Salimbene de Adam berichtete beispielsweise von einem Landsmann aus Parma, der ihn eines Tages auf folgende Weise attackiert hätte: „Viele ‚Söldner im Hause deines Vaters schwelgen in Brot und Fleisch’ (Lk 15,17) und du gehst an den Türen Brot 184 Hoven, Work 234. Zu Vertreibungsmaßnahmen vgl. Schubert, Hausarme 307-309 und 321 f. Umgekehrt wurde ansässige Bürger, die in Not geraten waren, seit dem 14. Jh. als „Hausarme“ bezeichnet und in besonderen Schutz genommen. Vgl. dazu ebd. 295301. 185 Vgl. Oexle, Armut 77 f. 186 Andere Stimmen des 13. Jh. bei Hoven, Work 234 f. 187 Wenin, Bonaventure 149 (mit Quellenbelegen).
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von denen erbetteln, die es nicht haben, während du es vielen Armen im Überfluss austeilen könntest“. Diesen Angriff benutzt der franziskanische Chronist, um auf den folgenden Seiten seines Werks ausführlich von einer „herrlichen Vision“ zu erzählen, die allein der Absicht dient, die mendikantische Lebensweise religiös zu legitimieren188. Bemerkenswerterweise gingen die Wertschätzung von Arbeit sowie die Verteidigung der eigenen Lebensform als gottgefälliges Tun bei Bonaventura und seinen Zeitgenossen einher mit einer zunehmenden Diffamierung der Nichtarbeitenden, des Müßiggangs und der daraus vermeintlich resultierenden Armut189. In der mittelalterlichen Gesellschaft kann man nebeneinander die Lobpreisung des Reichtums und seine Verdammung, die Bevorzugung der geistigen Tätigkeit gegenüber der körperlichen Arbeit und das Gegenteil davon finden. Doch die Wertehierarchien haben sich – als Ausdruck der veränderten realen oder wahrgenommenen Rahmenbedingungen – im Laufe der Zeit immer wieder gewandelt. Eine solche Verschiebung war die Folge der Krisen des 14. Jahrhunderts, als Armut, Entwurzelung und Arbeitslosigkeit zu einer nicht mehr übersehbaren Begleiterscheinung des ökonomischen und sozialen Wandels zu werden begannen190. Die Phase des wirtschaftlichen Wachstums war an ihr Ende gelangt. Vor allem die Städte wurden mehr und mehr zum Anziehungspunkt von Armen, die im späten Mittelalter vermutlich mindestens die Hälfte der städtischen Bevölkerung ausmachten191. Die Vermehrung der sichtbaren Armut arbeitender und nichtarbeitender Bevölkerungsgruppen war eine Herausforderung, die neue Antworten provozierte192. In weiten Teilen Europas lassen sich seit dem 14. Jahrhundert neue Denkmuster und Praktiken nachweisen193, in denen Armut bei arbeitsfähigen Menschen als Zeugnis für fehlende Arbeitswilligkeit galt, war man doch davon überzeugt, dass Arbeit ein wirksames Mittel gegen 188 Übers. nach Salimbene von Parma, Chronik I 28 (Vision 29-31). 189 Zur Armut als Mangel am Lebensnotwendigen bzw. am Standesnotwendigen vgl. Oexle, Armut 77-79. 190 Zum Auftreten von Massenarmut nach der Großen Pest sowie zum Auftreten von Aus- und Abschließungsmechanismen der Gesellschaft gegen „unwürdige Arme“ vgl. Hunecke, Überlegungen 483 und 490-492 (mit Literatur 491 Anm. 37). Zur Verschärfung der ländlichen und städtischen Armut vgl. Geremek, Geschichte 69-78 (Land) und 78-92 (Stadt). 191 Hunecke, Überlegungen 489 mit Anm. 31. Zu Terminologie und Ansätzen der aktuellen Armutsforschung vgl. Geremek, Geschichte 7-21. 192 Vgl. Oexle, Armut 82 f. Zur Armenfürsorge und zur staatlichen bzw. genossenschaftlichen Armutsbekämpfung im Mittelalter vgl. einführend Oexle, Armut. 193 Zu den Vorstellungen über die Armut und die kollektiven Reaktionen auf sie in Mittelalter und Neuzeit vgl. Geremek, Geschichte.
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Armut darstellte. Aus dieser Sichtweise konnte, wer zu arbeiten fähig und willig war, nicht zugleich arm und bedürftig sein. „Dieser kulturelle Prozess erzeugt auf dem Feld der alten Problemkonstellation von Armut und Arbeit eine dreifache Kategorienbildung: die Unterscheidung von Menschen, die arbeiteten, von jenen Menschen, die zwar arbeitswillig, aber nicht arbeitsfähig waren, und – schließlich und vor allem – die Unterscheidung dieser beiden Gruppen von jenen Menschen, die als arbeitsfähig galten, denen aber ein Mangel an Arbeitswillen unterstellt wurde. Diese Unterscheidungen wurden zu einem großen Thema der spätmittelalterlichen Gesellschaft“194. Die wichtigste Ursache von Armut wurde nicht in wirtschaftlichen, sondern vorzugsweise in moralischen Defekten der Armen selbst erblickt195. Noch existierte nicht die Vorstellung, dass sich ein beträchtlicher Teil der untersten Bevölkerungsschicht selbst bei angestrengtester Arbeit kaum oder gar nicht das notdürftigste Auskommen verdienen könne196. Der angeblich arbeitsunwillige Bettler wurde zum „negativen Antityp“, vor dessen Tricks sogenannte Bettlerspiegel die arbeitende Mehrheit der Menschen warnten197. Almosen sollten nur an Blinde, Krüppel und andere „Elende“ gegeben werden; diese „ehrlichen Armen“ mussten in manchen Städten um eine Lizenz zum Betteln ansuchen198. Da Armut und Nichtarbeit als synonyme Bezeichnungen eines einzigen verwerflichen Sachverhaltes, nämlich des „asozialen“ Faulenzertums, aufgefasst wurden, entwickelte sich der Arme zum Objekt von Abscheu, Furcht und Hass. Vorüber waren die Zeiten, als die Kirche die Existenz von Armen heilsgeschichtlich würdigte und im Geben von Almosen ein wirksames Mittel zur Abbüßung von Sünden sah. Aus der frühmittelalterlichen Vita Eligii stammt die geradezu klassische Formulierung, dass Gott alle Menschen reich hätte erschaffen können, aber er wollte, dass es auf dieser Welt notwendigerweise Arme gäbe, stellten sie
194 Oexle, Arbeit 77. Zur Genese der Differenzierung zwischen „würdigen“ und „unwürdigen“ Armen vgl. Geremek, Geschichte 36. Zur Existenz des Phänomens auch im frühen und hohen Mittelalter vgl. Felten, Zusammenfassung 383-386. Zur Entwicklung des Konzepts in der frühen Neuzeit vgl. Hunecke, Überlegungen; Dietz, Utopie 604-612. Zur Problematik vgl. auch Ocker, Arme; Kehnel, Arme. 195 Zur Bezeichnung „arm“ nicht als Deskription, sondern als Argument vgl. Gröbner, Kultur 169-173. 196 Vgl. Hunecke, Überlegungen 483. Zum Paradoxon der „labouring poor“ vgl. ebd. 483 f. 197 Camporesi, Il libro dei vagabondi; Jütte, Abbild und soziale Wirklichkeit. 198 Geremek, Geschichte 52 f.; Oexle, Armut 90; Schubert, Hausarme 302 f. Zur Einführung von obrigkeitlichen Zeichen, die den Träger zum Betteln berechtigten, vgl. Gröbner, Kultur 180-184.
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für die Reichen doch die einzige Gelegenheit dar, sich von ihren Sünden freizukaufen199. Im 13. Jahrhundert sah man die Lage nüchterner. Salimbene, der das mendikantische Betteln mit göttlichen Visionen verteidigte, riet seinen Lesern zugleich, die wirklichen Armen, die vor den Kirchen bettelten, ohne ihnen ein Wort des Trostes zukommen zu lassen, zu verjagen, da sie unnütz seien200. Hinter diesem strengen Wort des Franziskaners steckte der stillschweigende Hinweis, dass man eine bessere „karitative Investition“ tätige, wenn man sein Almosen den Bettelorden zukommen ließe. Der Dominikaner Humbert de Romanis verbreitete die Ansicht, dass unfreiwillige Armut nicht zur Heiligkeit führe, da die reale Armut keine Tugend darstelle, sondern lediglich die Liebe zu ihr. Das Volk liebe jedoch nicht die Armut, sondern den Reichtum. Und so herrsche unter den Armen die Todsünde des Neides, die aus der Gier, der Missgunst und der Weigerung entstehe, die eigene Lage zu akzeptieren. Zudem seien Faulheit, Betrug und Trunksucht im Armutsmilieu verbreitete Laster. Dies führe zur Auflehnung gegen den göttlichen Plan, ja zur Gotteslästerung201. Mit jener Verehrung, die Franziskus eine Generation zuvor der ehrwürdigen domina paupertas entgegengebracht hatte, haben solche Urteile nichts mehr gemein. „Einstmals Christi Ebenbild, wird der Arme zu einem Wesen, das Furcht einflößt“202. Mit gesundheitspolizeilichen und (sozial)hygienischen Maßnahmen, aber auch mit der Reorganisation der Wirtschaft versuchten staatliche und städtische Obrigkeiten, die Krise zu bewältigen203. Ziel der einsetzenden Wirtschaftsgesetzgebung war es, das in Unruhe geratene Lohnund Preisgefüge zu stabilisieren. Dem Mangel an Arbeitskräften sollte durch die gesetzliche Bindung von Arbeitskräften, durch Verbot der Locklöhne, vor allem aber dadurch entgegengewirkt werden, dass dem Markt jede verfügbare Arbeitskraft zugeführt wurde204. Was Bonaventura Mitte des 13. Jahrhundert für sich der Arbeit verweigernde Ordensmitglieder angedacht hatte, wurde ein Jahrhundert später Realität, als König Johann II. von Frankreich in der Großen Ordonnance vom Januar 1351 befahl, dass untätige Männer und Frauen in Paris und Umgebung einer Arbeit nachgehen sollten, anderenfalls hätten sie Paris und die 199 Vita Eligii (1. Hälfte 8. Jh.) zit. nach Geremek, Geschichte 29. 200 Zur Praxis des Bettelns vor Kirchtoren vgl. Schubert, Hausarme Leute 288 f. 201 Vgl. Geremek, Geschichte 62 f. (Salimbene) und 40 f. (Humbert). Zu weiteren dichterischen Polemiken gegen die Armen vgl. ebd. 42 f. 202 Hunecke, Überlegungen 491. Zur besonderen Wertschätzung der Armut im Mittelalter als „Mythe“ vgl. Schubert, Hausarme Leute 293 f. 203 Zur herrscherlichen „Arbeitspolitik“ im 14. Jahrhundert vgl. Braid, Et non ultra. 204 Zu Maßnahmen der Armutsbekämpfung im 14. Jh. vgl. Geremek, Geschichte 61 f.; Oexle, Armut 87-89.
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Orte der Umgebung unter Androhung von Gefängnisstrafen innerhalb von drei Tagen zu verlassen205. Zur gleichen Zeit begann man in London unter dem Eindruck der äußeren Bedrohung während des Hundertjährigen Krieges mit Frankreich sowie der Großen Pest von einem „Milieu der Nacht“ zu sprechen, von dem man meinte, es treibe sein Unwesen in der nächtlichen Großstadt: Bettler, Diebe, Verbrecher, Prostituierte und Zuhälter wurden zunehmend stigmatisiert und einer stärkeren Kontrolle unterworfen206. Zu diesem Zwecke erfolgten Stiftungen spezieller Häuser, die sich arbeitsfähiger Kranker und Armer annahmen, die aber gleichzeitig auch dazu dienten, ihre Insassen wegzusperren und auszugrenzen207. Der Zwang zur Arbeit war von der Ordensgemeinschaft auf die Ebene des weltlichen Staates gehoben worden208. Die Pflicht zur Arbeit wurde zum Inhalt eines sozialpolitischen Programms, in dem Fleiß, Ordnung, Mäßigung und Disziplin eine zentrale Bedeutung besaßen209. Christoph Sachße und Florian Tennstedt haben diesen Übergang von der Armenfürsorge zur Armenpolitik unter dem Stichwort der „Sozialdisziplinierung“ als Prozess der Bürokratisierung, Rationalisierung und Pädagogisierung beschrieben210. Solche Prinzipien, deren Fundamente in der Tiefe mendikantischen Denkens zu suchen sind, bildeten bis zum 19. Jahrhundert die Grundlage der europäischen Armenpolitik211. Den mentalitätsgeschichtlichen Rahmen, innerhalb dessen sich die soziale Ausgrenzung der Armen verschärfte, bildete eine Atmosphäre des Wettbewerbs, die das anonyme risikoreiche Wirtschaften in der Stadt mit sich gebracht hatte. Neue Formen genossenschaftlicher Einungen hatten den Niedergang traditioneller Bindungen nur unvollständig ersetzen können, diese Relativierung sozialer Netze zwang den Einzel205 Zu diesem Erlass und der zeitgleichen Armenpolitik vgl. Oexle, Armut 89 f. Zu ähnlichen Maßnahmen in Brüssel im 15. Jh. bzw. im neuzeitlichen Frankreich vgl. Geremek, Geschichte 92; Dietz, Utopie 606-611. 206 Vgl. Rexroth, Milieu. Zur Kriminalisierung bestimmter Armutsgruppen vgl. grundsätzlich Geremek, Geschichte 14. 207 Zu karitativen Institutionen des späten Mittelalters vgl. stellvertretend Geremek, Geschichte 50. 208 Zur Zwangsarbeit in neuzeitlichen Policey-Ordnungen vgl. Dietz, Utopie 606-611. Zu einer egalisierenden Arbeitspflicht als disziplinierender Herrschaftstechnik in utopischen Gesellschaftsentwürfen der frühen Neuzeit vgl. ebd. 611 f. 209 Oexle, Armut 90 f.; Oexle, Arbeit 77. 210 Sachße/Tenstedt, Geschichte der Armenfürsorge. Vgl. auch Jütte, Obrigkeitliche Armenfürsorge; Dinges, Frühneuzeitliche Armenfürsorge. 211 Über die Verschärfung der Armenpolitik in der Neuzeit bei grundsätzlicher Beibehaltung spätmittelalterlicher Vorgaben institutioneller und mentalitätsgeschichtlicher Art vgl. Hunecke, Überlegungen 492-512. Zu relativieren ist daher der Zäsurcharakter des 16. Jh. für die Geschichte der Armut. Vgl. dazu Geremek, Geschichte 16 f.
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nen dazu, vorrangig seiner individuellen Arbeitskraft zu vertrauen, um auch in Krisenzeiten bestehen zu können. Gleicher als früher waren die Stadtbürger geworden, gewachsen war allerdings auch die Verantwortung, die jeder Einzelne zu tragen hatte212. In einer solchen Gesellschaft wurde der berufliche Erfolg, Ergebnis einer vita activa, zum kostbarsten Gut eines Menschen. Allein die regelmäßige und erfolgreiche Ausübung einer sich bezahlt machenden Tätigkeit garantierte die Erhaltung des Lebensstandards. Mit demselben Nachdruck, mit dem man den Müßiggang verurteilte, wurde die Arbeit gefeiert. So sangen Literaten und Dichter, die soeben die Armut als betrügerischen Müßiggang diffamiert hatten, in der nächsten Strophe ein Lob der Arbeit als nützlichen Selbstzweck menschlichen Daseins sowie als notwendigen Bestandteil menschlichen Glücks213. Teilweise nahmen die Aussagen sozialreformerischen Charakter an, etwa wenn danach gefragt wurde, wo der Edelmann gewesen sei, als Adam gegraben und Eva gesponnen habe, oder wenn gefordert wurde, dass alle Menschen dem Bauer gleich werden sollten214. Die mendikantische Verchristlichung der Stadt hatte zu einer Werteverschiebung geführt, die einer aufbrechenden Gesellschaft neue Wege der religiösen Erfüllung und Sinnstiftung wies215. Das vorrangige Ziel der Bettelmönche war es gewesen, die Aktivitäten im städtischen Milieu zu normieren, die neuen Formen sozialer Verflechtungen und wirtschaftlicher Tätigkeiten in ein Gefüge moralisch, theologisch und juristisch definierter Werte einzubeziehen. Das Wirken Bertholds von Regensburg – wie auch anderer Mendikanten – zielte nicht allein auf die Sicherung des künftigen Seelenheils, sondern auf die praktische Ordnung des irdischen Lebens216. Die theologische Forderung, dem weltlichen Beruf wie einer göttlichen Berufung zu folgen und als Dienst an Gesellschaft und Gott zu verstehen, wie sie die Bettelorden seit der Mitte des 13. Jahrhunderts gepredigt hatten, war zu einer überlebensnotwendigen kollektiven Einstellung geworden innerhalb einer städtischen Marktwirtschaft, die dem Einzelnen große Chancen bot, aber auch große Risiken aufbürdete. 212 Zur Herleitung des städtischen Gleichheitsdenken aus der hochmittelalterlichen Armutsbewegung vgl. Frenz, Gleichheitsdenken 57-62 und passim. 213 Oexle, Armut 92 f.; Oexle, Arbeit 77 f. 214 Hans Sporer (um 1500): Da Adam reutet und Eva span, wer was die zeit da ein Edelmann? Armenbibel: Ich lob dich, du edler baur / für alle kreatur / für alle herrn auf erden / der kayser muss dir gleich werden. Beide Quellen zit. nach Seibt, Lob 175 f. 215 Zum mendikantischen Bemühen, die städtische Gesellschaft durch Pastorale und Recht zu normieren und zum Frieden mit sich selbst, der Gemeinschaft und Gott zu führen, vgl. aus anderer Perspektive auch Frenz, Gleichheitsdenken. 216 Vgl. Schmidt, Arbeit 292.
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Wer sich nicht aktiv durchzusetzen verstand und seine existenzsichernde Arbeitsstelle verlor, musste nicht nur um seine Lebensgrundlage bangen. Eine zunächst durch Bettelmönche verbreitete Überhöhung der vita activa, die im Rahmen einer redlichen Berufsausübung vermeintlich sowohl materielle Sicherheit wie auch Gottesnähe sicherstellte, belud die Armen und Ausgestoßenen zusätzlich zu ihrem Elend mit moralischen Vorwürfen. Sie gehörten zu den Verlierern neuer Denkschemata und Praktiken, die von kirchlicher Seite ursprünglich propagiert worden waren, um der Unübersichtlichkeit und Desorganisation der großen städtischen Gemeinschaften entgegenzuwirken217. Wo die Verbindlichkeit traditioneller sozialer Hierarchien nachließ und die Aufrechterhaltung der gesellschaftlichen Ordnung nicht mehr gewährleistet war, mussten neue Regulative greifen. Die religiöse Antwort des 13. Jahrhunderts lag in einer Verchristlichung der weltlichen Berufswelt, die den Einzelnen an seine göttliche Berufung binden sollte und alle Abweichler radikal ausgrenzte. Der „marktwirtschaftliche Wettbewerb“ fand hier seine religiöse Legitimation; die Bettelmönche hatten dafür den Weg bereitet. Im 14. Jahrhundert verbreiteten sich diese Vorstellungen, um sich im 15. Jahrhundert vom mendikantischen Umfeld zu lösen218. Der dominikanische Mystiker Meister Eckhart beispielsweise hat die vita activa höher geschätzt als die vita contemplativa. Der Weg, den Martha gegangen war, als sie sich um das „rechte Sein in rechtem Vollzug“ bemühte, war segensreich und führte zu Gott. Über das Seelenheil des Menschen entschied sein aktives Wirken in der Welt. „Dies hat ordentlich, einsichtvoll und besonnen zu erfolgen. Ordnungsgemäß, d. h. in ständigem Bezug zum Eigentlichen; vernünftig, d. h. orientiert auf das im Augenblick Beste; besonnen, d. h. in der Gleichzeitigkeit guter Werke und der Wahrnehmung der beglückenden Gegenwart lebendiger Wahrheit. Solch integrierendes Sein verfügt den Menschen ebenso tief in Gott hinein wie alle mystischen Erfahrungen der in der Wüste kontemplierenden Maria“219. Seine Bedeutung für die gesamtgesellschaftliche Entwicklung Europas entfaltete eine solche positive Arbeitstheologie, weil sie sich bereits im späten Mittelalter aus der Sphäre des Religiösen zu lösen begann und zum Fundament einer allgemeinen, auch die Laienwelt durchdringenden Geisteshaltung wurde220. 217 Zur Dialektik von Freiheit und Zwang in der mittelalterlichen Stadt vgl. grundsätzlich Boockmann, Freiheit. 218 Zum Eindringen christlicher Normen in die städtische Gesetzgebung des späten Mittelalters vgl. allgemein Driever, Normierung 241-248. 219 Haas, Beurteilung 118. 220 Zum Anteil der Mendikanten an der spätmittelalterlich-frühneuzeitlichen Wirtschaftsethik vgl. Langholm, The merchant in the confessional 257-265.
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Als Zeugnis dafür mag stellvertretend das Werk des ersten deutschen Handwerkerdichters dienen. Hans Rosenplüt stand in der Mitte des 15. Jahrhunderts als Büchsenmeister im Dienst der Stadt Nürnberg. Aus bescheidenen Verhältnissen stammend, war der Handwerker literarisch ungemein vielseitig tätig und hinterließ Reimpaargedichte, Lieder, Priameln und Fastnachtspiele221. Der über seine Heimatstadt hinaus bekannte Dichter, der die volkssprachliche Literatur seiner Zeit ungewöhnlich gut kannte und sich virtuos unterschiedlicher Sprach- und Erzählstile bediente, starb im Jahr 1460222. Viele Eckpunkte mendikantischen Denkens verdichteten sich in seinem Werk zu einem laikalen Spiegel der urbanen Gesellschaft des späten Mittelalters. Wenn die mendikantische Seelsorge mit ihren innovativen Konzepten in Städten wie Nürnberg auf fruchtbaren Boden fiel, so ist dies kein Zufall, gehörte die fränkische Handelsstadt im 15. Jahrhundert doch zu den größten, mächtigsten, lebendigsten und unruhigsten Städten im ganzen Reich nördlich der Alpen223. Durch die Bettelmönche hatte das städtische Leben seine religiöse Legitimierung erhalten. Zwei Jahrhunderte später führte Rosenplüt mit seinem Lobspruch auf Nürnberg ein neues Genre in die deutsche Literatur ein, aus dem ein starkes Selbstbewusstsein des Stadtbürgertums spricht224. Schon zuvor hatten Dichter Bemerkungen gemacht über Bedeutung, Berühmtheit oder besondere Charakteristika einzelner oder mehrerer Städte, doch das eigentliche Städtelob im Sinne einer Beschreibung der Lage und Eigenart einer Stadt, wie es später von den Humanisten gepflegt worden ist, findet sein erstes Exemplar in Rosenplüts Lobspruch auf Nürnberg (1447)225. Die Bettelmönche hatten die Stadt als Wohnort einer kultivierten Christengemeinde beschrieben, die – trotz aller urbanen Verlockungen – bessere Bedingungen biete, ein frommes und gottesfürchtiges Leben zu führen. Das Nürnberg des Hans Rosenplüt ist gekennzeichnet durch Handwerk und Handel, Reichtum und Almosenstiftung, religiöses Leben und wohlbegründete gesetzliche Ordnung. Es ist zugleich aber auch eine Heimstätte von Bildung, Kunst und Wissenschaft.
221 Zum Werk und seiner Überlieferung vgl. Ingeborg Glier, Art. „Hans Rosenplüt“, in: Verfasserlexikon 8 (1992) Sp. 195-211. Zur Überlieferung der Spruchdichtung vgl. Reichel, Spruchdichter 25-58. 222 Zur Person vgl. Reichel, Spruchdichter 104-153. 223 Vgl. einführend Pfeiffer (Hg.), Nürnberg 115-263 („Nürnbergs große Zeit 14381555“). 224 Rosenplüt, Reimpaarsprüche 220-234. Zum Lobspruch vgl. Reichel, Spruchdichter 200-205; Kugler, Vorstellung 210-212. 225 Zum Städtelob in Humanistenkreisen vgl. Kugler, Vorstellung 212-227.
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Das gesamte Streben der Bürger und der städtischen Obrigkeit sieht Rosenplüt auf die Erhaltung des Friedens im Inneren wie im Äußeren gerichtet. Im Gegensatz zum flachen Land, das von den räuberischen Praktiken des Adels verunsichert werde, habe das ehrliche Stadtregiment aus Nürnberg einen Hort des Friedens und der Sicherheit gemacht, in dem die Handwerker und Kaufleute ihrem ehrlichen Broterwerb nachgehen könnten226. Wie im mendikantischen Denken wird die städtische Gemeinschaft von Hans Rosenplüt als ideale Lebensform beschrieben. Wenn seine Aufmerksamkeit auch allein auf Nürnberg gerichtet ist, so wird hier doch im Einzelfall eine allgemeine Haltung spürbar, die die religiöse Würdigung der Stadt in einen laikalen Kontext versetzt. Gemeinsam war weltlichem Dichter und bettelnden Mönchen auch der Versuch, die Christenheit in den Städten mit standesbezogenen Predigten zu erziehen. In geistlich-didaktischen Spruchdichtungen wie Die meisterliche Predigt beschrieb Rosenplüt die Laster und Verfehlungen ständischer Gruppierungen, indem er negative Verhaltensweisen typisierte, um gesellschaftliche Missstände aufzuzeigen227. Diese geistlichdidaktische Spruchdichtung deutet dabei nicht auf eine geistliche Schulung des Autors, belegt aber seinen engen Kontakt zu Kirche und Klerus sowie seine Fähigkeit zur raschen, oft recht oberflächlichen Verarbeitung unsystematisch rezipierter Glaubens- und Verkündigungslehren228. „Das Verhältnis zur Homiletik und geistlichem Schrifttum ist das gleiche wie zur literarischen Tradition und allen Formen gelehrten Wissens: unmethodische, nicht schulmäßige Rezeption, Anverwandlung und Weitergabe ausgelesenen Wissens in der Form praktischer Unterweisung. Es ist die dem ungelerten leien angemessene Weise der Verbreitung geistlicher und weltlicher Bildung“229. Wie den Mendikanten ging es dem Nürnberger Dichter vorrangig um Berufe und soziale Gruppen, die innerhalb der Stadt eine wichtige Rolle spielten: um Richter, Kaufleute, aber auch um Bauern als Hintersassen städtischer Herren sowie um Handwerker und Lohnarbeiter. Gleichfalls dem mendikantischen Vorbild verpflichtet ist eine aus der Ständekritik entwickelte Verhaltenslehre, die keine konkreten Gebote aufstellt, sondern indirekt aus angeprangerten Verhaltensweisen zu erschließen ist230. 226 Zum städtischen Rat des späten Mittelalter im Spiegel der Literatur vgl. Isenmann, Ratsliteratur und städtische Ratsordnungen 236-336. 227 Rosenplüt, Reimpaarsprüche 132-137. 228 Zur deutschsprachigen Ständedidaxe des Spätmittelalters vgl. grundlegend Heinemann, Zur Ständedidaxe. 229 Reichel, Spruchdichter 173. 230 Zu Rosenplüts geistlich-didaktischer Spruchdichtung vgl. Reichel, Spruchdichter 173180.
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Die hierarchische Ständeordnung sowie die gesellschaftliche Ungleichheit stellte Rosenplüt ebenso wenig wie die Prediger aus den Bettelorden in Frage; die gravierenden sozialen Unterschiede und Interessenskonflikte wurden wie bereits 200 Jahre zuvor mit der Ideologie einer idealen Harmonie der städtisch-christlichen Lebensgemeinschaft überdeckt. Besonders verabscheuungswürdig musste dem dichtenden Handwerker in dieser glorifizierten städtischen Idealwelt des beruflichen Wetteiferns der Müßiggang erscheinen. Diesem kapitalen Laster, dem auch der Zorn mendikantischer Aktivisten gegolten hatte, widmete der körperlich arbeitende Dichter dementsprechend ein eigenes Gedicht. Das Gedicht Der Müßiggänger kann gleichsam als laikale Verdichtung mendikantischer Arbeitstheologie verstanden werden231. Im Zentrum des Gedichts, das Handwerker und Bauern als ernährende und produzierende Stände dem bloß konsumierenden Müßiggänger gegenübergestellt, steht das Lob des Arbeitsschweißes. Ausführlich wird die heiligende und reinigende Wirkung der vier Teile des Schweißtropfens beschrieben, den der schuftende Mensch vergießt: Der erste Teil lösche das höllische Feuer, der zweite Teil reinige die Seele wie das Purgatorium, der dritte Teil steige in den Himmel auf und bewirkte die Vereinigung der Seele mit Gott, der vierte Teil wiege alle verdienstlichen Werke der Christenheit auf. Arbeit im traditionellen Sinne als Mühe und Plage interpretierend, betrachtet Rosenplüt schließlich auch die Passion Christi als leidvolle Arbeit, die er mit der mühevollen Tätigkeit des Arbeiters auf Erde vergleicht232. So erfolgt aus Opposition zur verdammten Figur des Müßiggängers eine Heiligung der Handarbeit. Diese ist nicht mehr Buße, nicht mehr nur eine gesellschaftlich anerkannte Tätigkeit, sondern besitzt eine heiligende Wirkung, die alle sonstigen guten Werke aufwiegt. Mit Hilfe theologischer Argumentationsmuster entwickelt Rosenplüt eine religiöse Überhöhung der vita activa, mit der eine Ausgrenzung nichtarbeitender Bevölkerungskreise einhergeht. Wie bettelmönchische Prediger des 13. Jahrhunderts charakterisiert der Dichter dabei die manuelle Arbeit, d. h. den weltlichen Beruf, als Mittel zur Erlangung des ewigen Seelenheils. Für Pflichterfüllung, Tüchtigkeit und beruflichen Erfolg könne der Mensch himmlischen Lohn erwarten. Damit war aus mendikantischen Ordnungsvorstellungen ein laikales Berufsethos geworden, das man seinerseits mit guten Gründen als Fundament neuzeitlicher Entwicklungen wird ansprechen können. Rosenplüt befasste sich nicht nur mit der Stadt und ihren sozialen Gruppen, sondern auch mit dem Einzelnen und seinen Pflichten gegen231 Rosenplüt, Reimpaarsprüche 125-131. 232 Zum Gedicht vgl. Reichel, Spruchdichter 180-186.
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über Gott und der Gemeinschaft. Mit seiner geistlich-didaktischen Spruchdichtung verfolgte der Nürnberger Dichter eine Absicht, die viele seiner Gedichte kennzeichnet, nämlich eine Popularisierung theologischer Inhalte und ethischer Normen zu erreichen, allen Menschen ungeachtet ihres Standes religiöse Lehre und Ermahnung mit auf den Weg zu geben. Ein solches Reimpaargedicht ist Die Beichte233. In vollkommener Konformität mit den kirchlichen Lehren erläuterte der weltliche Dichter darin das Bußsakrament in der Form eines Beichtspiegels bzw. eines Beichtbüchleins. Es handelt sich dabei um eine mit typischen Bildern und Metaphern angereicherte Versifizierung des ursprünglich klerikalen Stoffs, die den Einzelnen mit Hilfe katalogartiger Fragemuster zur Selbstbesinnung und Selbstergründung aufrief234. Die grundlegenden Gedanken zur Beichte als Mittel, den einzelnen Menschen anzusprechen, ihn zur Selbstthematisierung zu führen und ihn gleichzeitig erzieherischen Normen zu unterwerfen, stammten von den Bettelmönchen des 13. Jahrhunderts. Die mendikantischen Strategien, das Bußsakrament für gesellschaftspolitische Reformvorhaben einzusetzen, werden im folgenden Kapitel untersucht.
233 Rosenplüt, Reimpaarsprüche 81-87. 234 Zum Gedicht vgl. Reichel, Spruchdichter 172 f.
V. Freiheit braucht Kontrolle 1. Individualisierungsprozesse Die mittelalterliche Individualität ist ein komplexes Forschungsfeld, in dem zeitgeistige Strömungen und individuelle Überzeugungen einen diffusen Untersuchungsgegenstand konturieren, dessen terminologische Unschärfen das Erkenntnisziel häufig verschwimmen lassen. Selbst auf grundlegende Fragen fehlen definitive Antworten: Ist Menschsein ohne Selbstbewusstsein und Individualität möglich? Ist zunehmende Selbstthematisierung ein Indiz für eine Blüte oder eine Krise des Individualismus? Ist die Geschichte der westlichen Welt eine Geschichte der erfolgreichen Befreiung des Einzelnen aus überkommenen Denk- und Verhaltensmustern? Oder handelt es sich vielmehr um ein Scheinproblem, das keinen dauerhaften Erkenntnisfortschritt liefern kann, das aber aufgrund des dahinterstehenden modernen Erkenntnisinteresses stets ein Faszinosum bleiben wird? Jede dieser Fragen wurde kontrovers diskutiert. Möglicherweise hat in diesem Sumpf der Unwägbarkeiten allein eine Regel Bestand: Das Interesse an der menschlichen Individualität verhält sich relational zur wahrgenommenen Instabilität sozioökonomischer Verhältnisse. Das hohe Mittelalter, eine Zeit der Diversifizierung und Neuordnung, scheint in dieser Hinsicht eine Zäsur darzustellen235. So verwundert es nicht, dass im Gefolge der vielen Untersuchungen zum hochmittelalterlichen Aufbruch der europäischen Gesellschaften zunehmend von der „Entdeckung des Individuums“ in diesem Zeitalter die Rede war. Vor über 30 Jahren hat Colin Morris dem Thema eine einflussreiche Untersuchung gewidmet und dabei the discovery of the individual als eine der wichtigsten kulturellen Entwicklungen in den Jahren zwischen 1050 und 1200 charakterisiert. Die Entfaltung menschlicher Individualität in dieser Epoche sei eng verknüpft gewesen mit der Re235 Zur Problematik vgl. zuletzt einführend Aertsen/Speer (Hg.), Individuum; Dülmen, Die Entdeckung des Individuums; Bessmertny/Oexle (Hg.), Das Individuum und die Seinen; Dülmen (Hg.), Entdeckung des Ich. Aktuelle Zusammenstellung der Literatur bei Schlotheuber, Norm 329 Anm. 2 und passim.
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zeption des antiken, christlichen und germanischen Erbes, habe jedoch darüber hinaus Neues und für die weitere Geschichte Europas Wesentliches hervorgebracht. Das wachsende Interesse am Individuum habe sich nicht auf bestimmte Gelehrtengruppen beschränkt, sondern sei in verschiedenen intellektuellen Kreisen zu finden gewesen, entsprechend den unterschiedlichen Ausdrucksformen menschlicher Individualität236. Es habe sich im 12. Jahrhundert – so Morris weiter – die Auffassung durchgesetzt, dass der Weg zur Wahrheit und zu Gott ein gewisses Maß an Selbsterkenntnis voraussetze. Theologen wie Bernhard von Clairvaux hätten deshalb in Traktaten, Predigten und Briefen regelmäßig von der Notwendigkeit gesprochen, die Suche nach Gott beim eigenen Ich beginnen zu lassen237, denn erst die Selbstanalyse verschaffe dem Christen die Einsicht in den rechten Glauben238. Bernhard von Clairvaux forderte von seinen Zeitgenossen: „Bei Dir setze mit Deiner Besinnung an, damit Du Dich nicht nutzlos mit anderem beschäftigst und Dich selber vernachlässigst“239. Guibert von Nogent hat diese theologische Selbstfindung in seiner Autobiographie mit folgenden Worten beschrieben: „Mich selbst erkennend, habe ich danach gestrebt, Dich zu erkennen, und indem ich mich Dir näherte, habe ich nicht das Bewusstsein meiner selbst verloren“240. Besondere Aufmerksamkeit widmete Morris auch der Beichte. Zu einer Durchleuchtung der eigenen Persönlichkeit sei der Gläubige zunehmend im Rahmen der individuellen Beichte aufgefordert worden, hatte sich das Bußsakrament doch von einer äußerlich-mechanischen Bewertung sündhafter Vergehen zu einem Medium der Gewissenserforschung gewandelt. Der Schwerpunkt der Sündenanalyse verschob sich im hohen Mittelalter von der äußeren Handlung auf die zugrund liegende Intention241.
236 Morris, Discovery 20-64. Zum Werk und seiner Bedeutung für die Forschungsdiskussion zuletzt Rosenwein, Y avait-il un moi 34-36. – Zu den geistes- und bildungsgeschichtlichen Voraussetzungen vgl. auch Bayer, Soziologie 137-140. Zur Bedeutung der christlichen Lehre bei der Entfaltung westlicher Individualität vgl. Buss, The evolution of Western individualism. 237 Zu Bernhard von Clairvaux zwischen Individualismus und Autoritätsgebundenheit vgl. Dinzelbacher, Ego non legi. 238 Zur Selbsterkenntnis im zisterziensischen Denken vgl. Davy, La rôle de la connaissance de soi même. 239 Bernhard von Clairvaux, De consideratione 2.3.6. Zu Bernhards individualistischer Frömmigkeitsauffassung vgl. auch Dinzelbacher, Erzwungenes Individuum 44. 240 Guibert von Nogent, De vita sua I.1 S. 5. Zur „Gotteserkenntnis als Ort genuin mystischer Selbst-Erfahrung“ vgl. Schlotheuber, Norm 337-345. 241 Lutterbach, Intentions- oder Tathaftung; Angenendt, Gezählte Frömmigkeit 1-40; Angenendt, Religiosität 626-652.
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Die wichtigste Antriebskraft dieser mentalitätsgeschichtlichen Transformation lag nach Morris in den sozioökonomischen Veränderungen des hohen Mittelalters. Eine komplexer werdende Welt habe das Gefühl der Unsicherheit entstehen lassen und die Menschen vor neue Herausforderungen gestellt, für deren Bewältigung die Regeln einer archaischen Vergangenheit nicht mehr ausgereicht hätten. Eine Umbruchssituation, in der der Einzelne auf seine individuelle Anpassungsfähigkeit angewiesen gewesen sei, habe zu einer intensivierten Selbst-Bewusstwerdung geführt, die Colin Morris vornehmlich in den Schriften eines kleinen intellektuellen Zirkels von monastischen und klerikalen Gelehrten dokumentiert sah242. Morris’ „Entdeckung“ wurde zwar teilweise kritisch aufgenommen243, seine Hauptthese, dass seit dem 11./12. Jahrhundert Individualisierungsprozesse die europäische Gesellschaft dauerhaft umgeformt hätten244, hat sich unter Mediävisten jedoch weitgehend durchgesetzt und kann als aktueller Diskussionsstand gelten245. Traditionelle Vorstellungen von einem Mittelalter, in dem der Einzelne im Kollektiv aufging, seinen persönlichen Willen und sein Bewusstsein unter den Imperativ des Ganzen zu stellen hatte, haben sich als unzureichend erwiesen. Der konstruierte Antagonismus von mittelalterlichem Kollektivismus und modernem Individualismus, der bis zur Aufklärung zurückreicht und Frühneuzeit-Historikern noch immer als Ausgangsbasis zur Stilisierung der eigenen Epoche als Wegbereiter der Moderne dient246, wird zu Recht abgelehnt. In einem Beitrag zur Cambridge History of Medieval Political Thought lässt Antony Black den Aufstieg des europäischen Individualismus ähnlich wie Morris im 11. Jahrhundert beginnen247. Der Investiturstreit sei – so Black – ein Faktor gewesen, der den Übergang von kollektiven Gesellschaftsformen zu einer stärker individuellen Bewusstwerdung gefördert 242 Vgl. Morris, Discovery 64-158. Zur Kritik an einer ideengeschichtlichen Deutung der Individualisierung vgl. Bayer, Soziologie 115-118. 243 Zu Kritik und Replik vgl. Bynum, Did the Twelfth Century; Morris, Individualism in Twelfth-Century Religion. Zur Diskussion zwischen den beiden Autoren vgl. Rosenwein, Y avait-il un moi 36 f. 244 Morris konnte sich selbst auf wichtige Vorarbeiten stützen, vgl. etwa Painter, Individualism in the Middle Ages; Bérubé, La connaissance de l’individuel au moyen âge; Chénu, L’éveil de la conscience. – Zur vorherrschenden Forschungsmeinung Rosenwein, Y avait-il un moi 38-40. 245 Zum 12. Jh. als „Achsenzeit“ vgl. exemplarisch auch Benton, Individualism and conformity; Benton, Consciousness of Self and Perceptions of Individuality. Weitere Literatur bei Bredekamp, Mittelalter 191 f. 246 Vgl. etwa Dülmen, Entdeckung des Individuums. 247 Black, Individual 589 und 606.
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habe248. Daneben sei ein ökonomischer und unternehmerischer Individualismus der wirtschaftlichen Entwicklung seit dem 11. Jahrhundert inhärent gewesen. Nichts habe in dieser Zeit mehr gezählt als der erfolgreiche homo oeconomicus. Wirtschaftliche Wandlungsprozesse hätten begonnen, feudale Formen der Vergesellschaftung durch eine flexible Geldwirtschaft und soziale Mobilität zu ersetzen. Zugleich hätten sich vielfältige Formen freiwilliger Genossenschaft wie Zünfte und Bruderschaften verbreitet. Die meisten Menschen hätten verschiedenen sozialen Gruppen angehört, der Pfarrgemeinde vor Ort ebenso wie der universalen Kirche, einem politisch-staatlichen Herrschaftsbereich ebenso wie einer Grundherrschaft, einer Stadt oder einem Dorf, einer Zunft oder einer Bruderschaft; alle seien sie schließlich Teil einer Familie und Sippe gewesen. Diese Komplexität habe den Einzelnen davor bewahrt, von einer dieser Gruppen vollständig absorbiert zu werden. Es habe daher keine homogene, alles und jeden einschließende Gesellschaft gegeben. Real seien vielmehr das Nebeneinander einer großen Anzahl verwandtschaftlichzwanghafter sowie freiwilliger Gruppierungen und eine entsprechende Vielzahl von Einstellungen gegenüber sozialen Bindungen und Abhängigkeiten gewesen. Daneben hätten auch philosophisch-intellektuelle Traditionen – neuplatonische und aristotelische, theologische und juristische – dazu beigetragen, die Rolle des Individuums in der Gesellschaft neu zu bestimmen249. Zwar habe im Mittelalter immer ein starkes Bewusstsein für unterschiedliche Formen von Gemeinschaft geherrscht, die Vorstellung der europäischen Gesellschaft des Mittelalters als einer Kultur des Kollektiven sei jedoch – so Black – ein Mythos. Zusammengefasst in eine umfangreiche Untersuchung wurden die ideen- und sozialgeschichtlichen Faktoren des mittelalterlichen Individualisierungsprozesses von Aaron Gurjewitsch, der sich dem Thema aus mehreren Perspektiven nähert. Exemplarisch anhand der altskandinavischen Literatur des 11. bis 13. Jahrhunderts versucht der Autor, die Rolle des Individuums in der epischen Dichtung zu bestimmen250. Als Ergebnis seiner literaturhistorischen Analyse meint Gurjewitsch eine Entwicklung feststellen zu können weg von einer charakteristischen Vereinnahmung des Individuums durch die Gemeinschaft hin zu seiner zunehmenden Isoliertheit251. Es habe ein dialektisches Spannungsver248 Zu Individualisierungsprozessen im 11. Jh. vgl. exemplarisch Borgolte, Faction. 249 Zur Ausbildung eines Bürgerbegriffs im Rahmen der Aristotelesrezeption vgl. Ullmann, Individual. Zur Bedeutung von Ullmanns Arbeit für die mediävistische Individualitätsdiskussion vgl. Rosenwein, Y avait-il un moi 34. 250 Zur Individualität in der isländischen Literatur vgl. auch Miller, Deep inner lives. 251 Zur Problematik vgl. auch Hanning, Individual; Régnier-Bohler, Die Erfindung des Selbst; Kartschoke, Ich-Darstellung in der volkssprachlichen Literatur, in: Dülmen (Hg.), Entdeckung des Ich 61-78.
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hältnis zwischen den beiden in einer Persönlichkeit angelegten Hauptelementen bestanden: dem von der Sippe geprägten Gruppen- oder Kollektivelement einerseits und dem Individualelement andererseits. Die widerspruchslose Respektierung der Werte der Sippe habe jedoch weder die Entfaltung der individuellen Initiative noch die Entwicklung eines hohen Selbstbewusstseins ausgeschlossen. Zwar hätten die nordländischen Sagas dem Einzelnen so viel Platz eingeräumt wie keine andere Literatur der Epoche, doch als Teil einer gesamteuropäischen Entwicklung würden hier allgemein europäische Einstellungen und Denkformen verarbeitet252. Ähnliche Prozesse der Individualitätsentfaltung meint Gurjewitsch in dem, was er autobiographisches Schrifttum des hohen Mittelalters nennt, erkennen zu können. Künstlerisches Selbstbewusstsein und ein gewisses Interesse an individuellen Zügen des Charakters und des Äußeren beschriebener Personen seien zwar vereinzelt schon in frühmittelalterlichen Werken zu finden, doch erst während des 12. Jahrhunderts, einer „Zeit wachsenden Selbstbewusstseins der Kulturschaffenden“, hätten Literaten und Künstler die Fähigkeit erlangt, ihre Individualität zu entdecken253. Autoren wie Abaelard und Heloise hätten in einem solchen geistigen Klima nicht Ausnahmen von der Regel gebildet, sondern müssten als Personen verstanden werden, in denen zeittypische Tendenzen einen ins Extreme gesteigerten Ausdruck gefunden hätten. Autobiographische Schriften dieses Zeitalters trugen nach Gurjewitsch’ Ansicht eine Spannung zwischen herrschenden Mustern demütiger Anonymität und einem ehrgeizigen Bestreben der Autoren, ihr Andenken jetzt und in Ewigkeit zu sichern. Zwar hätten die Autobiographen über ein umfangreicheres Repertoire an Mitteln und Möglichkeiten zur Selbstreflexion und Selbsteinschätzung verfügt, der Kern der Persönlichkeit sei jedoch von einem dichten Kokon aus festen Redewendungen, literarischen Klischees und aus der Tradition herüberreichenden Fäden umsponnen gewesen. Die Einzigartigkeit der Persönlichkeit habe als anomal und sündhaft gegolten, dafür habe der Autor äußerlich Buße tun müssen, auch wenn er insgeheim Stolz empfunden habe254. 252 Gurjewitsch, Individuum 32-115. Vom selben Autor vgl. auch Aaron Gurjewitsch, Individuum, in: Dictionnaire raisonné de l’Occident médiévale, hg. von Jacques LeGoff/Jean-Claude Schmitt, Paris 1999, 512-522. 253 Zur Problematik vgl. auch die noch zu erläuternden Thesen von Bredekamp, Mittelalter. 254 Gurjewitsch, Individuum 141-195. Zum Individuellen in der historiographischen Literatur vor dem 12. Jh. vgl. Münnich, Die Individualität der mittelalterlichen Geschichtsschreiber; Teuffel, Individuelle Persönlichkeitsschilderungen. Zum „kollektiven Erzählstandpunkt“ von Selbstzeugnissen des 15. Jahrhunderts vgl. Schlotheuber, Norm 333-337.
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Sozialgeschichtlich mache sich der Drang zur Individualisierung laut Gurjewitsch vorrangig in den adligen und bürgerlichen Gesellschaftsschichten bemerkbar255. Die adligen Ritter hätten im 12. Jahrhundert begonnen, sich als abgeschlossenen Stand wahrzunehmen und individualistische Tendenzen auszubilden256. Wie sich die Themen der höfischen Dichtung von einer ferneren, legendären Vergangenheit hin zur aktuellen Gegenwart verschoben hätten, so habe auch die Selbstwahrnehmung der Autoren zugenommen. Die Erlebnisse des fahrenden Helden stellten nicht einfach Reisen und Heldentaten dar, sondern „innere Abenteuer“ des Verfassers bei der Entdeckung seiner selbst. Die literarische Figur erweitere so bei ihrem Umherstreifen auf der Suche nach Ruhm und Ehre die eigene psychische Landschaft. Wie das Kriegshandwerk Kühnheit, körperliche Geschicklichkeit und Kraft erforderten, so verlangten Handel und Geldgeschäfte Scharfsinn, die Fähigkeit zu logischem Denken und Weitblick. Der Kaufmann habe deshalb gänzlich andere Verhaltensmuster als der Ritter ausgebildet und könne geradezu als gegensätzlicher psychologischer Typus mit eigener Mentalität und eigenem Weltbild betrachtet werden. Sozioökonomische Transformationen hätten es den Kaufleuten und Bankiers ermöglicht, ihren Geschäften relativ ungestört nachzugehen und die wachsenden westeuropäischen Städte in Pflanzstätten einer zukunftsträchtigen Zivilisation zu verwandeln. Gestützt nicht auf durch Geburt vermittelte Privilegien, sondern auf Energie, Geschicklichkeit und Unternehmungsgeist, hätten sich selbstbewusste Unternehmer und erfolgreiche Handwerker einen festen Platz in Kirche und Gesellschaft erkämpft257. Die hochmittelalterlichen Individualisierungsprozesse haben sich in den Augen von Gurjewitsch im 13. Jahrhundert weiter beschleunigt258. Komplizierter werdende Gesellschaftsstrukturen und der gleichzeitige Zerfall traditioneller Bindungen hätten dazu geführt259, dass Menschen sich mit sich selbst konfrontiert sahen und dabei zunehmend die eigene Isolierung und Einsamkeit wahrgenommen hätten. Dies habe den realistischen Blick des Menschen für seine Umwelt geschärft260. Das auf die Praxis hin orientierte Individuum habe aufmerksamer hingesehen, deutlicher wahrgenommen – und das Wahrgenommene länger im Gedächt255 Zu den sozialgeschichtlichen Grundlagen vgl. auch Bayer, Soziologie. 256 Zum ritterlichen Individualismus aus sozialhistorischer Perspektive vgl. Bayer, Soziologie 121-123. 257 Gurjewitsch, Individuum 219-240. 258 Vgl. dazu auch Putallaz, La connaissance de soi au XIIIe siècle; Köhler, Philosophische Selbsterkenntnis 54-67. 259 Zur Reduktion genossenschaftlich-familiärer Bindung als Katalysator der Individualisierung vgl. Bayer, Soziologie 123-129. 260 Zur Problematik vgl. auch Fried, Suche.
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nis behalten. Als Beispiel für eine solche vorbehaltlose Sicht auf die Welt und ihre Bewohner führt Gurjewitsch den franziskanischen Chronisten Salimbene de Adam an, der – mit einem feinen Gespür für menschliche Emotionen und das Wesenhafte an individuellen Charakteren ausgestattet – ein Werk verfasst habe, das den Geist subjektiver, persönlicher Erfahrungen atme261. Insgesamt zeichnet Aaron Gurjewitsch in seiner Untersuchung zum Individuum im europäischen Mittelalter – trotz gewisser Vorbehalte262 – das Bild einer kontinuierlichen Entfaltung der menschlichen Persönlichkeit, die im 12. Jahrhundert an Schwung gewonnen und in Schriften des 14. Jahrhunderts – diskutiert werden unter anderem Opicinus de Canistris263, Dante und Petrarca – einen ersten Höhepunkt erreicht habe. Der russische Autor schließt sich damit der herrschenden länderübergreifenden Forschungsmeinung an, dass im 11. Jahrhundert ein Prozess begonnen habe, der zur Bildung und Durchsetzung des europäischen Individualismus geführt habe. Für unseren Zusammenhang ist die Tatsache von besonderem Interesse, dass Gurjewitsch nicht nur bei seiner allgemeinen Charakterisierung des 13. Jahrhunderts als umbruchartige Zeit beschleunigter Individualisierung den franziskanischen Chronisten Salimbene zum wichtigsten Zeugen beruft, sondern dass er die franziskanische Predigt Von den fünf Pfunden264 Bertholds von Regensburg als „kapitalen Text“ für die Suche nach der Persönlichkeit im Mittelalter betrachtet: „Es gibt – was die Tiefe des Eindringens in das Wesen der gesellschaftlichen Verhältnisse und Beziehungen betrifft, aber auch, was die Reife des Verständnisses für den organischen Zusammenhang zwischen der menschlichen Persönlichkeit und dem ihr übergeordneten gesellschaftlichen Ganzen angeht – neben dieser Predigt nichts Gleichwertiges, weder im Schaffen Bertholds, von dem uns immerhin einige Dutzend Predigten überliefert sind, noch in ähnlichen Werken anderer Autoren aus dieser Zeit“265. Bertholds Predigt, oben bereits hinsichtlich des in ihr vermittelten Arbeitsethos interpretiert266, wurde von Gurjewitsch als Zeugnis für die alltäglichen Vorstellungen des „kleinen Mannes“ zum Thema Individualität herangezogen. Erstmals in diesem Text habe der Begriff persona die 261 Gurjewitsch, Individuum 242-260. Zu Salimbene und seiner Chronik vgl. auch Alberzoni, Mendicante; Guyotjeannin, Salimbene de Adam. 262 Vgl. insbesondere Gurjewitsch, Individuum 9-31 („Das Individuum ist unfassbar“). 263 Zu dieser Person vgl. auch Gurjewitsch, L’individualité au Moyen Age. Le cas d’Opicinus de Canistris. 264 Berthold von Regensburg, Deutsche Predigten I.2; Berthold von Regensburg, Vier Predigten 4-55. 265 Gurjewitsch, Individuum 198. 266 Vgl. oben 224 ff.
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antik-mittelalterliche Bedeutung von „Theatermaske“ oder „Mensch“ abgestreift, um die „Persönlichkeit“ eines Menschen zu bezeichnen267. Diese semantische Verschiebung habe Berthold durchgeführt, da er sich mit seiner Predigt immer an den Einzelnen gerichtet und das Individuum auch dann im Blick gehabt habe, wenn er von den unterschiedlichen Berufen und Ständen der mittelalterlichen Stadtgesellschaft gesprochen habe. Ausgangspunkt von Bertholds Soziologie und damit auch seines Menschenbildes war die Freiheit des Willens, die es erlaube, den Weg des Guten zu beschreiten – oder den Weg des Bösen268. Zu den Wesensmerkmalen des Menschen gehöre neben der individuellen Willensfreiheit die soziale Funktion des Individuums, seine standesgemäße und berufliche Eingruppierung269. Jede persona sei also eine sozial determinierte Persönlichkeit, deren Eigenschaften mit der Zugehörigkeit zu einer Klasse, einer Schicht oder sozialen Gruppe verbunden gewesen seien. Daher gleiche die Persönlichkeitsstruktur eines Kaufmanns nicht derjenigen eines Ritters, und die Persönlichkeitsstruktur eines Mönchs sei eine andere als die eines Bauern. Bertholds Predigten würden – so Gurjewitschs Resumée – die Spezifik der Selbsterkenntnis des mittelalterlichen Menschen, der in einer ständisch-korporativ und hierarchisch gegliederten Gesellschaft lebe, sehr treffend zum Ausdruck bringen. Gurjewitschs Betonung einer franziskanischen Mitwirkung an Individualisierungsprozessen während des 13. Jahrhunderts kann durch weitere Beobachtungen ergänzt werden, die die franziskanische Einstellung zum Menschen und seiner Rolle in Gesellschaft und Schöpfung betreffen. Wegbereiter war Franziskus von Assisi selbst. Eine Generation, nachdem Kardinal Lothar von Segni, der spätere Papst Innocenz III., in seiner Schrift De miseria humanae conditionis ein vernichtendes Urteil über die menschliche Dignität gefällt hat270, dichtete der Heilige seinen Sonnengesang, das Lob Gottes aus Dankbarkeit für die Schönheit der geschaffenen Welt: Höchster, allmächtiger, guter Herr, dein sind die Lobgesänge, die Herrlichkeit und die Ehre und jegliche Preisungen. Dir allein, Höchster, gebühren sie, und kein Mensch ist würdig, dich zu nennen. Gelobt seist du, mein Herr, mit allen deinen Geschöpfen, besonders Herrn Bruder Sonne. 267 Zum Begriff vgl. Kobusch, Die Entdeckung der Person; Gurjewitsch, Individuum 116128; Wald, Rationalis naturae individua substantia. 268 Zur Stärkung der „menschlichen Eigentätigkeit“ gegenüber Gott und seinen Mitmenschen im scholastischen Denken des 13. Jh. am Beispiel von Thomas von Aquin vgl. Angenendt, Frömmigkeit 21. 269 Zur „Freiheit“ im franziskanischen Denken vgl. Bettoni, Pedagogia 30-45. 270 Zum Text vgl. oben 88 f.
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Der ist Tag und du gibst uns Licht durch ihn [...]. Gelobt seist du, mein Herr, für unsere Schwester Mutter Erde, die uns erhält und leitet und mannigfache Früchte hervorbringt und bunte Blumen und Kräuter […]271.
Die Theologen einschließlich Innocenz III. hatten den Menschen als ein Produkt glühender Fleischeslust gebrandmarkt, geboren in der Sünde, ausgestattet mit einem üblen Charakter, geschaffen um sich auf Erden zu plagen und sich schließlich in stinkenden Moder zu verwandeln. Franziskus dagegen stellte den Menschen in die Mitte einer göttlichschönen Schöpfung272, die gemeinsam mit dem Menschen den Lobpreis des Schöpfers unablässig zu singen berufen war. „Von seinem eigenen Gesang bis zu dem der Vögel war ihm das Universum gleichsam ein riesiger Chor der Freude, von dem das Böse, der Schmerz, der Tod ausgeschlossen waren. Dieser konnte ihn nicht mehr berühren; er wich und musste der Liebe und der Freude in der Schöpfung weichen, die ein Ausdruck der Liebe Gottes zu den Menschen ist“273. Die Erscheinungen der sichtbaren Welt werden dabei von Franziskus als Brüder und Schwestern bezeichnet und erhalten damit eine quasi personale Qualität: Sie handeln im Auftrag des Schöpfers und Erhalters aller Dinge wie selbständige, mit Vernunft und Einsicht begabte Wesen; sie taumeln demzufolge nicht irrational und chaotisch zwischen zwei gegensätzlichen, sich bekämpfenden Weltprinzipien umher274. Dieses leidenschaftliche Plädoyer für die Dignität der geschaffenen Welt, gedichtet in der umbrischen Volkssprache (Volgare) und gedacht unter anderem als Antwort auf die weltverneinende Haltung häretischer Bewegungen der Zeit275, formte das franziskanische Menschenbild. Sein Fundament bildete die Würde jedes einzelnen Geschöpfes mit dem nach Gottes Ebenbild geschaffenen Menschen als Zentrum und Krönung des Universums. Die Naturerscheinungen – Tiere, Pflanzen, Feuer, Wasser, Wind, Erde – sind in seinem Verständnis gute Geschöpfe eines guten Schöpfers; doch sind sie, wie die Menschen, der Erlösung bedürftig. Das franziskanische Verständnis von „Bekehrung“ und „Erlösung“ ist universal: Es bezieht sich nicht nur auf die Menschheit, sondern es umfasst die ganze Welt. Die franziskanische Welterlösung basiert auf alten 271 Übersetzung nach Feld, Franziskus 233 f. Zum Werk vgl. ebd. 26. 272 Zum Anthropologismus bei Bonaventura vgl. Schaeffer, Der Mensch in der Mitte der Schöpfung. 273 Manselli, Franziskus 366. 274 Zu Franziskus und die Natur vgl. Sorrell, St. Francis of Assisi and nature; Feld, Franziskus 215-234. 275 Vgl. beispielsweise Borst, Katharer 110-119; Lambert, Häresie 57-63.
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Gedanken der christlichen Offenbarung, nämlich dem individuellen Charakter des Heils und der persönlichen Beziehung jedes Menschen zu Gott276, doch von keinem Vertreter der mittelalterlichen Kirche war die Dignität des Einzelnen bisher so emphatisch gefeiert worden. Bonaventura hat die schwärmerischen Äußerungen seines Vorgängers an der Spitze des Ordens in die Sprache der Philosophie übertragen. In augustinischer Tradition hielt der doctor seraphicus den menschlichen Geist für capax Dei, für fähig, Gott zu erkennen und zu ihm aufzusteigen. Voraussetzung dafür sei die Präsenz Gottes im Menschen, d. h. das Vermögen des menschlichen Verstandes, Gott und die göttlichen Wahrheiten partizipierend zu erfassen. Die Wahrheit stamme nicht von uns, aber sie sei in uns. So könne der Mensch die sichtbare Schöpfung Welt mit seinem Verstand erfassen und werde gleichzeitig durch ihre Schönheit dazu eingeladen, Gott zu lieben und zu loben. Das wachsende Verständnis der Schöpfung bringe den Menschen dem Schöpfer nahe. Der einzelne Mensch, geschaffen nach dem Ebendbild Gottes, Interpret des Schöpfung und Stimme des Schöpfers, stehe über allen anderen Lebewesen. Es gehöre daher zu seinen Aufgaben, Gott auch für die stimmlosen Kreaturen und an ihrer Stelle zu loben277. Zweifellos hat dieses positive Menschenbild etwas mit der franziskanischen Hinwendung zur städtischen Seelsorge bzw. mit der Akzeptanz der sozialen Wirklichkeit zu tun. Der mendikantische Realitätssinn hatte sich in der Verchristlichung städtischer Lebensformen bereits klar gezeigt. Die damit verbundene Würdigung des einzelnen Gesellschaftsmitglieds stellte nicht nur die Voraussetzung erfolgreicher Pastoralarbeit dar, sondern war daneben auch eine logische Konsequenz einer mendikantischen Spiritualität, die es als ihre vornehmste Aufgabe betrachtete, die den Bettelmönchen anvertraute Herde auf ihrem schwierigen Weg zu begleiten. Nicht die Ablehnung der urbanen Realität, sondern deren Hinführung zu Gott bildete das Programm franziskanischer Seelsorge. Die Hinwendung zu einer empirischen Weltsicht bedeutete eine erkenntnistheoretische Wende, die nicht zuletzt die Basis für eine Entstehung der Naturwissenschaften vergrößerte. In diesem Kontext ist auch die Zunahme eines allgemeinen philosophischen Erkenntnisbemühens um den Menschen als Individuum zu bemerken278, waren viele Philosophen doch der Überzeugung, dass die Selbsterkenntnis des Menschen, 276 Zur christlichen Sicht von Individualität vgl. Gilson, Der Geist der mittelalterlichen Philosophie 217-234. 277 Zu Bonaventuras Menschenbild vgl. Bonafede, San Bonaventura; Bettoni, Pedagogia 22-30; Bonafede, Sulla dignità dell’uomo. Zur Verknüpfung von Weltverachtung und Heil bei Bonaventura vgl. Dettloff, Weltverachtung und Heil. 278 Vgl. exemplarisch Anzulewicz, Grundlagen von Individuum und Individualität.
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welche geistige und körperliche Natur in sich vereine, die Erkenntnis der gesamten Weltwirklichkeit liefere. Die Grundlage dieser Auslegung beruhte auf der traditionsreichen Idee vom Menschen als Mikrokosmos, wonach die Weltdinge auf bestimmte Weise – nämlich entweder im Sinne einer Realentsprechung, einer Analogie oder einer Finalbeziehung – im Menschen gegenwärtig seien279. Die menschliche Selbsterkenntnis erlange auf diese Weise eine erkenntnisleitende Funktion gegenüber den Außendingen. Gleichermaßen können im Rahmen eines solchen philosophischen Verständnisses die menschliche Individualität sowie der Mensch als aktives Subjekt der Erkenntnis den ersten Rang des Untersuchungsinteresses beanspruchen280. Die neue Wertschätzung des Singulären und Individuellen hat auch Theologen und Philosophen aus dem Minoritenorden beschäftigt. Voraussetzung dafür war der Glaube an die wissenschaftlich exakte Beschreibbarkeit eines Einzelphänomens. Bis zum 13. Jahrhundert hatte der Grundsatz gegolten: De singularibus non est scientia281. Nur Universalien könnten genau definiert und beschrieben werden, das Individuelle dagegen sperre sich einer exakten Erfassung. Ausschlaggebend für den Paradigmenwechsel war unter anderem die Aristotelesrezeption. Die empirische Ermittlung von Einzelbeobachtungen eroberte sich einen eigenständigen Rang282. Mit besonderer Klarheit fasste Roger Bacon die neue Einstellung gegenüber dem Allgemeinen und dem Einzelnen in Worte, wenn er von der Würde des einzelnen (dignitas individui) sprach und hier den Bereich der eigentlichen Erkenntnis erblickte. Abschätzig verurteilte der streitbare Franziskaner das ungebildete Volk, das aufgrund seiner Autoritätsgläubigkeit die Universalien anbete, wo doch ein Individuum alle Universalien der Welt überträfe. Dies belege unsere Erfahrung: „Im täglichen Leben, bei der Beschaffung von Nahrung, Kleidern und anderen Notwendigkeiten, suchten wir das Einzelne, nicht das Allgemeine. Die Universalien würden uns nicht weiterhelfen, sie machten uns nicht satt und hielten uns nicht warm. Selbst die Theologie belege, daß das Universale dem Vergleich mit dem Singulären nicht standhalte: Gott habe nämlich die Welt nicht wegen eines universalen Menschen, sondern wegen der Individuen erschaffen“283. 279 Zur Problematik vgl. McEvoy, Microcosm and Macrocosm. 280 Vgl. Köhler, Philosophische Selbsterkenntnis 54-67. 281 Zur metaphysischen Überordnung des Allgemeinen in der abendländischen Philosophie vgl. Heimsoeth, Die sechs großen Themen 172. 282 Vgl. Köhler, Wissenschaftliche Annäherung an das Individuelle. 283 Roger Bacon, Liber Primus Communium Naturalium pars 2, d. 2. c. 8 S. 94-96: Totum vulgus est in contrarium propter quasdam auctoritates […] Nam homines imperiti adorant universalia, propter hoc quod Aristoteles dicit primo Posteriorum quod universale est semper et ubique, singulare est hic et nunc. Unum individuum excellit omnia universalia de mundo.
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Der spätere Weg der Franziskaner zur Sozialphilosophie war durch Einstellungen dieser Art gleichsam vorgezeichnet284. Auf der Grundlage der geschilderten geistesgeschichtlichen Entwicklung beschritt die philosophia moralis einen Weg der Verwissenschaftlichung. Über den einzelnen Menschen und sein Schicksal diskutierten Theologen und Philosophen im Rahmen der Ethik; die menschliche Gemeinschaft in ihrer Gesamtheit wurde in der politischen Theorie studiert. In beiden Wissensgebieten bildete der Mensch als Einzel- bzw. als Gemeinschaftswesen das zu untersuchende Subjekt. Die Schriften eines Johannes Duns Scotus († 1308) oder eines Wilhelm Ockham († 1349) sind die wichtigsten franziskanischen Beiträge zu dieser Debatte. Duns Scotus hatte dem Prinzip der Individuation, d. h. dem Prinzip, das ein Einzelnes zum Einzelnen macht, eine ausführliche systematische Darstellung gewidmet. In abstrakten und subtilen Analysen definierte der doctor subtilis die Individualität als unteilbar und grundlegend für die spezifische Natur der Wirklichkeit. Sie konstituiere ein Sein anderer Art als das der Wesenheit; während die Artbestimmung spezifiziere, individuiere das Individuationsprinzip. Ein Individuum sei schließlich von jedem anderen ursprünglich verschieden und die letzte Vervollkommnung und Bestimmung des Seienden285. Auf die radikalste Weise wird der Primat des Individuums im Nominalismus Wilhelms von Ockham vertreten. Für ihn sind die Begriffe „Wirklichkeit“ und „Individualität“ vertauschbar. Alles, was existiert, ist individuell; nur was einzeln ist, ist wirklich. Das Individuum kann nicht dem Allgemeinen einer Gattung oder einer Art untergeordnet werden, das Allgemeine besitzt keine extramentale Realität. Bei Ockham zeigt sich eine grundlegende Wende der Denktradition. Für ihn ist die Frage nach der Individuation müßig; was erklärungsbedürftig ist, ist die Allgemeinheit286. Beobachtungen dieser Art führten dazu, dass die Forschung die Franziskaner als Wegbereiter sozialer Individualisierungsprozesse im Mittelalter charakterisiert hat. In seiner Einleitung zu einem Sammelband zum Thema schrieb beispielsweise der Philosophiehistoriker Jan […]. Singulare est nobilius quam suum universale. Et nos scimus hoc per experienciam rerum. Non enim in nutrimentis et vestimentis et aliis utilitatibus nostris querimus nisi singularia, quia universalia nichil prosunt nobis nec nature similiter. […] Non enim Deus fecit hunc mundum propter universalem hominem set propter personas singulares, nec creavit humanum genus, nec redemit propter hominem universalem set propter personas singulares; nec gloria est parata principaliter homini universali, set electis personis et certis in numero. 284 Zur Problematik vgl. Miethke, Ockhams Weg zur Sozialphilosophie. 285 Zum Individuationsprinzip bei Johannes Duns Scotus vgl. Mensching, Zur Neuentdeckung des Individuationsprinzips im 13. Jahrhundert 296-302. Zu Duns Scotus vgl. auch Manzano, Individuo y sociedad en Duns Escoto. 286 Vgl. einführend Goldstein, Nominalismus und Moderne.
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Aertsen: „Franziskanische Denker haben eine grundlegende Rolle in der mittelalterlichen Entdeckung des Individuums gespielt“287. Von ihrer Gründungsphase an leisteten die Mitglieder des Minoritenordens offenbar einen zentralen Beitrag zu Wahrnehmung, Diskussion und Würdigung menschlicher Individualität. Ihr Wirken scheint die seit dem hohen Mittelalter im Gang befindlichen Individualitätsprozesse gleichermaßen in einen praktisch moralischen sowie einen abstrakt philosophischen Rahmen gekleidet zu haben. Waren Franziskus von Assisi und seine Anhänger also weitere Glieder einer Kette von intellektuell-geistigen und praktischen Individualisierungsschüben, die zunehmend das Wesen der europäischen Gesellschaft prägen sollten? Die Erforschung der Individualität im Mittelalter hat im 20. Jahrhundert zweifellos Fortschritte erzielt288. Das Bild vom Mittelalter als einer überindividuellen, romantisch verklärten Gegenmoderne wurde als literarische Utopie erkannt und dekonstruiert. Die dichotomische Gegenüberstellung eines kollektiv geprägten Mittelalters und einer egomanen Renaissance, die den Individualismus als Essenz der Moderne begreift, ist einer differenzierteren Interpretation gewichen. Prozesse der Individualisierung gab es – so konnten die Forschungen der letzten dreißig Jahren zeigen – während des gesamten Mittelalters in äußerst unterschiedlichen Bereichen gesellschaftlichen Lebens289. Eine Beschleunigung erfuhren Prozesse dieser Art offenbar im hohen Mittelalter. Obwohl die Akzente zur Erklärung des Phänomens im Spannungsbogen von theologisch-ideengeschichtlichen bzw. sozialgeschichtlichen Einflussfaktoren unterschiedlich gesetzt werden, hat sich die Forschung diese paradigmatische Ansicht mehrheitlich zu eigen gemacht. Auf diesen scheinbar geradlinigen und eingleisigen Prozess der Individualisierung haben nach neueren Untersuchungen seit dem 13. Jahrhundert vor allem die neu entstandenen Bettelorden Einfluss genommen290. Gleichsam eine katalysatorische Funktion ausübend, hätten Mendikanten, allen voran die Franziskaner, für eine neuerliche Intensivierung und Verdichtung von Individualisierungsprozessen gesorgt. Die Geschichte der Individualität wird in diesem Sinn als eine Geschichte der Befreiung gedeutet291. Langsam sei an die Oberfläche gekommen, was der Mensch immer schon in sich trug, aber durch einen 287 Vgl. Jan A. Aertsen, Einleitung: Die Entdeckung des Individuums, in: Aertsen/Speer (Hg.), Individuum XIII. 288 Ein Überblick der Forschungsdiskussion zuletzt bei Rosenwein, Y avait-il un moi 3143. 289 Vgl. die Übersicht bei Bredekamp, Mittelalter 191 f. 290 Diesem Stimmungsbild verpflichtet ist auch Melville/Schürer, Das Eigene und das Ganze. 291 Wettlaufer, Von der Gruppe zum Individuum; Rosenwein, Y avait-il un moi 40.
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Kokon fester Konventionen, übermächtiger Gruppenzugehörigkeiten und archaischer Traditionen umsponnen war. Nur zögerlich habe sich der Vorhang gelüftet und dem Zeitgenossen wie dem modernen Forscher den Blick ins Innerste erlaubt. „Eine hypothetische Kurve würde, von der Spätantike ausgehend, ein Tief im frühen Mittelalter aufweisen, eine vorübergehende Steigerung in der sog. Karolingischen Renaissance, um nach einer neuerlichen Reduktion einen Höhepunkt im 12. Jahrhundert zu erreichen, von dem aus sie sich in einzelnen Schüben (Renaissance, Romantik) auf den autonomen Individualismus des 19. und 20. Jahrhunderts hinbewegen würde“292. Die Fokussierung auf das hohe Mittelalter stellt keine methodische Innovation gegenüber den Forschungen von Jakob Burckhardt dar293, sondern lediglich eine diachrone Verschiebung des Phänomens. Dies ist erstaunlich, sind doch sowohl Terminologie wie auch der Sachverhalt selbst durchaus diskussionswürdig, insbesondere seit den Arbeiten von Ethnologen wie Clifford Geertz, der den Kult um das Individuum als Sonderweg europäischen Geschichtsdenkens charakterisierte: Die abendländische Vorstellung von der Person als einem fest umrissenen, einzigartigen, mehr oder weniger integrierten motivationalen und kognitiven Universum, einem dynamischen Zentrum des Bewusstseins, Fühlens, Urteilens und Handelns, das als unterscheidbares Ganzes organisiert ist und sich sowohl von anderen solchen Ganzheiten als auch von einem sozialen und einem natürlichen Hintergrund abhebt, erweist sich, wie richtig sie uns auch scheinen mag, im Kontext der anderen Weltkulturen als eine recht sonderbare Idee294.
Der mediävistische Mainstream zeigt sich unbeeindruckt von epistemologischer Fundamentalkritik dieser Art. Die opinio communis der Forschung zur hochmittelalterlichen Identitätsfindung hat kaum Gestalt angenommen, da stößt sie jedoch bereits auf harsche Kritik aus zweierlei Richtungen. Zum einen bezweifeln Jean-Claude Schmitt und andere aus erkenntnistheoretischen Überlegungen heraus grundsätzlich die Fähigkeit des Historikers, das Problem der Persönlichkeit, wie es Ethnologen und Psychologen diskutierten, zu erkennen und zu behandeln. Bei der Entdeckung des Individuums handle es sich daher nicht um einen wissenschaftlichen Fortschritt, sondern um eine historiographische Fiktion, die dort eine lineare Entwicklung konstruierte, wo ein roter Faden der
292 Dinzelbacher, ‚Ego non legi’ 722. 293 Zur anhaltenden Wirkungen von Burckhardts Ansichten in der RenaissanceForschung vgl. Rosenwein, Y avait-il un moi 31-33. 294 Geertz, Aus der Perspektive des Eingeborenen 294.
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Überlieferung in Wirklichkeit kaum zu verfolgen sei, da sich ein großer Teil des Verlaufs unserem Blick entziehe295. Vorrangig gegen die Annahme einer im hohen Mittelalter einsetzenden linearen Entfaltung der Persönlichkeit wendet sich zum anderen eine stärker inhaltlich ausgerichtete Kritik am vorherrschenden Individualitätskonzept. Ein wenig beachteter Vorreiter dieser Denkrichtung ist Alphons Dopsch, der bereits 1929 gegen die Thesen einer zunehmenden Individualisierung im späteren Mittelalter Stellung bezogen hat. In seinem Eintreten gegen eine vermeintliche Verunglimpfung des frühen Mittelalters durch Jakob Burckhardt und Karl Lamprecht, beschrieb Dopsch diese Zeit als Epoche des Individualismus. Es war in den Augen des anerkannten Sozial- und Wirtschaftshistorikers das Zeitalter, in dem sich große Männer monumentale Pfalzen bauen ließen, um sich gegen die Masse ihrer Untertanen abzugrenzen. Dort, in prunkvollen Sälen und Gemächern, deren Wände mit mythologischen und historischen Ereignissen geschmückt gewesen seien, hätten fahrende Dichter die Taten ihrer toten und lebenden Helden besungen. Auch die wirtschaftlichen Verhältnisse hätten zur Individualisierung gedrängt. Der frühmittelalterliche Wirtschaftsgeist habe nicht allein auf die Deckung des Eigenbedarfs gezielt, sondern sich in einem eifrigen Streben nach Gewinn und der lustvollen Gier nach Geld verwirklicht. Viele jener Bindungen, die den mittelalterlichen Menschen einschränkten und einem Kollektiv unterwarfen, wären dagegen erst im hohen und späten Mittelalter entstanden. Was hätte die Kirche nicht seit dem Frühmittelalter durchgesetzt: die Ehehindernisse, den Zölibat, die Ohrenbeichte, die Inquisition und die Hexenprozesse. Andere Fesseln hätten die Wirtschaft beschränkt: im Gewerbe der Zunftzwang und die Bannrechte, im Handel Stapel- und Meilenrechte, Straßenzwang und Vorkaufsrechte. Auf dem platten Land habe sich die Schollenpflichtigkeit der Bauern, d. h. Verlust der Freizügigkeit und Berufsbindung der Kinder, durchgesetzt. Man könne folglich behaupten, dass der frühmittelalterliche Individualismus nach 1100 verloren gegangen sei296. Zu vergleichbaren Ergebnissen kam Robert Hanning in seiner literaturwissenschaftlichen Untersuchung des höfischen Romans. Bei Chrétien de Troyes und einigen anderen Autoren des 12. Jahrhunderts sei zwar eine Konzentration der Gedanken auf das Individuum und die Herausbildung eines persönlichen Standpunktes feststellbar. Diese 295 Schmitt, La découverte de l’individu, une fiction historiographique? 296 Dopsch, Wirtschaftsgeist und Individualismus im Frühmittelalter. Zu Dopsch Thesen zuletzt Rosenwein, Y avait-il un moi 33. Zum philosophischen Denken des Individuellen im frühen Mittelalter vgl. Gracia, Introduction to the problem of individuation; Gräser, Individualität und individuelle Form.
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Tendenzen zur Individualisierung und Subjektivierung in einem frühen Entwicklungsstadium der Literaturgattung hätten sich jedoch nicht verfestigt, sondern seien im höfischen Roman des 13. Jahrhunderts weitgehend verloren gegangen. Hier sei die Gestalt des Individuums unter der Wirkung der Vision vom gemeinschaftlichen Schicksal des Menschengeschlechts oder unter der Macht der Bilder, die der Untergang von König Artus’ Tafelrunde heraufbeschwört, in den Hintergrund getreten297. Aus kunsthistorischer Perspektive widersprach kürzlich Horst Bredekamp der Vorstellung einer linearen Entfaltung mittelalterlicher Individualität298. Den Ausgangspunkt seiner Revision bilden die Künstlersignaturen des 11. und 12. Jahrhunderts, die sich in großer Anzahl auf Skulpturen und skulptierten Kapitellen, auf Goldschmiedearbeiten und in Manuskripten der Zeit finden. Die deutlich betonte, namentliche Nennung des Künstlers sei dabei keineswegs eine Ausnahme gewesen, sondern regelmäßig wiederkehrender Ausdruck eines künstlerischen Selbstbewusstseins, das sich nicht gescheut habe, in einem auftrumpfenden Gestus das Lob der eigenen Genialität zu singen und selbst vor dem Wunsch nach Selbstvergöttlichung nicht haltmachte. Diese sich expressiv äußernde Individualität, die zwischen etwa 1000 und 1140 geherrscht und mit der individuellen Expressivität romanischen Kunstempfindens korreliert habe, sei im Laufe des 12. Jahrhunderts einem Angriff von zwei Seiten ausgesetzt gewesen. Die erste Waffe sei die Kritik, die zweite der neue Stil gewesen. Kritik sei von monastischen Reformern wie Bernhard von Clairvaux gekommen. In deren Vorstellungswelt sollten schmucklose Klöster fernab von jeder Siedlung, in unwegsamem Gelände, also entfernt von allen Anfechtungen, entstehen. Der Zielsetzung eines solchen Baustils habe die geringe Zahl von überlieferten Architektennamen in der Gotik des 12. Jahrhunderts entsprochen. Dieses Zurücktreten der Künstler deutet Bredekamp als das Produkt einer rhetorischen Repression. Es habe sich offenbar nicht um eine gottgefällige Preisgabe des „Ich“ gehandelt, sondern um eine aus Eifersucht der Autoritäten genährte Anonymisierung, die das Individuelle der Künstler ausschaltete, weil es maßlos zu werden drohte. Die offenkundigste Kritik einer anarchisch individuellen Kunstwelt habe der neue, gotische Stil jedoch in der Bildhauerei selbst formuliert. An die Stelle einer „Ästhetik des Hässlichen“ sei eine konfliktfreie, abstrakte Formgebung getreten, deren zurückhaltende Körper- und 297 Hanning, Individual 234-242. 298 Bredekamp, Mittelalter. Zu weiteren kunsthistorischen Korrekturen am herrschenden Individualitätskonzept vgl. ebd. 192. Zustimmung zur These der hochmittelalterlichen Individualisierung aus kunsthistorischer Sicht exemplarisch bei Reudenbach, Individuum ohne Bildnis?; Wagner, Porträt und Selbstbildnis.
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Gewandsprache die emotive Bandbreite deutlich geschmälert habe. So sei die phantasietreibende Seite jener Kunst, die ihre Existenzberechtigung aus der apotropäischen Abweisung des Bösen gezogen habe, verloren gegangen. Die Gotik habe die Skulptur aus dem vitalen, von Dämonen beherrschten Reich der Freiheit permanenter Individuation in das einer geistigen Ordnung gebracht. Mit einer Interpretation der historischen Konsequenzen schließt Horst Bredekamp seine Untersuchung: Der Preis dieser überirdischen Schönheit bestand in einem Verlust an Vitalität und Vereinzelung. In Chartres wird sichtbar, dass mit der Vergeistigung und Rationalisierung ein Verlust einhergeht. Der Umschwung von den extrem individuierten Formen, gegen die Bernhard von Clairvaux seine Philippika richtet, bedeutet auch eine Aufklärung, die in der Gefahr steht, die Welt der Gewalt und des Schreckens zu verharmlosen. Chartres zeigt, dass die Frage nach der Individualität nicht auf einer Linie stetigen Aufstieges zu verfolgen ist. Die vorgebliche Überindividualität des hohen Mittelalters, gegen die sich Spätmittelalter und Renaissance abzusetzen suchten, hatte ihrerseits eine Epoche zurückgedrängt, die von Zeugnissen schier maßloser Individualität geprägt war. Es gibt in dieser Frage keine Stetigkeit, sondern nur die Wiederkehr eines Auf und Ab, das mit Gewinnen und Verlusten zu rechnen hat299.
Die Annahme einer kontinuierlichen Steigerung des Individualismus seit dem hohen Mittelalter erscheint im Lichte solcher Untersuchungen problematisch. Ein Bewusstsein vom „Ich“ existierte, wie moderne anthropologische und soziologische Ansätze nahelegen, bereits in „cultures collectivistes“ wie dem frühen Mittelalter300. Das zunehmende Sprechen über Individualität seit dem 12. Jahrhundert scheint dagegen nicht so sehr auf eine „Entdeckung des Individuums“ zurückgeführt werden zu können als vielmehr auf ein wachsendes Bedürfnis bestimmter Gesellschaftsschichten, sich zu diesem Thema zu äußern. Der Grund dafür mag im „Aufbruch des hohen Mittelalters“ zu suchen sein, denn – und damit kehren wir zum Ausgangspunkt unserer Überlegungen zurück – persönliche Identität entsteht nicht in einer bestimmten historischen Epoche301, wird aber in Zeiten des Umbruchs und der Neuorientierung besonders häufig thematisiert302. „Individualität“ wird für eine Kultur und für die 299 Bredekamp, Mittelalter 234. 300 Rosenwein, Y avait-il un moi 41-51. 301 Das Individuum/Individuelle wurde daher in allen Epochen von Historikern „entdeckt“. Zu Beispielen aus der alten Geschichte bzw. der Zeitgeschichte vgl. etwa Seidensticker, „Ich bin Odysseus“; Flaig, Wie der griechische Individualismus den römischen Gemeinsinn zerstörte; Matter, Macht der Religion; Beck, Jenseits von Stand und Klasse? 302 Vgl. bereits Assmann, Tod und Jenseits 116-159 (Zur Individualisierung des ägyptischen Totenkultes).
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in ihr lebenden einzelnen Gesellschaftsmitglieder dann zum Problem, wenn die Wechselbeziehungen zwischen der persönlichen Identität der einzelnen Gesellschaftsmitglieder und der gesellschaftlichen Ordnungsstruktur und Hierarchie durch Neuformierungen und Veränderungen der gesellschaftlichen Organisationen gelockert, aufgelöst und gar anonymisiert werden. „Individualität“ wird zum Problem, wenn sie als sozial gesicherte und vermittelte verloren gegangen ist und der Einzelne auf die Suche nach einer festen Position und Definition innerhalb eines gesellschaftlichen Verbandes geschickt wird303. Das hohe Mittelalter war offensichtlich eine solche Zeit der Neuorientierung und Neuordnung. Einen gewichtigen Beitrag zur Beantwortung der im Zuge dieses Prozesses aufgeworfenen Fragen leisteten zweifellos die Bettelorden. Doch dieser Beitrag diente nicht einseitig einem steten Zugewinn an Individualität im Sinne einer persönlichen Lösung von sozialen Bindungen und kulturellen Traditionen. Im Folgenden soll anhand des franziskanischen Schrifttums gezeigt werden, dass die Mendikanten einerseits tatsächlich Prozesse der Individualisierung, Identitätsfindung und Selbstthematisierung beschleunigten, dass dies andererseits aber nicht vorrangig mit der Absicht geschah, individuelle Handlungsspielräume und Denkfreiheiten zu vergrößern. Nicht anders als bei der Verchristlichung der Stadt akzeptierten und förderten die Bettelorden vorhandene gesellschaftliche Entwicklungstendenzen, um sich dadurch die Möglichkeit zu verschaffen, moderne Strömungen der Emanzipation auf einer höheren Ebene zu regulieren und damit die gesellschaftliche Ordnung und die kirchliche Vormachtstellung zu wahren. Die These, die zu überprüfen sein wird, lautet: Es existierte im späteren Mittelalter eine dialektische Entwicklung von Individualisierung und Kontrollverdichtung. Mit der Zunahme der Freiheit gingen zeitgleich neue Formen ihrer Beschränkung einher. Beide Prozesse, nicht lediglich die Bejahung und Beschleunigung von Individualisierungsprozessen, wurden von den Mendikanten gefördert und mitgeformt.
303 Vgl. Soeffner, Typus und Individualität? 31-33. Exemplarisch für die Renaissance vgl. Bredekamp, Mittelalter 236.
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2. Durchdringung des Ich Das frühe Mittelalter war eine Welt gewesen, „qui se définit par des attitudes, des conduites, des gestes. Les gens ne peuvent y être jugés que sur des actes, non sur des sentiments. C’est ce qu’on observe dans les lois barbares et dans tous les codes du haut Moyen Age. Le Wehrgeld par exemple considère bien à côté des actes des acteurs mais en fonction de leur situation objective selon une classification très rudimentaire d’ailleurs: libres et non libres, membres de telle ou de telle communauté nationale – non de leurs intentions“304. Entsprechend wurde auch die Sündenlehre von den sichtbaren Taten und ihren Folgen determiniert305. Der Priester blickte bei seiner Beurteilung sündhafter Vergehen nicht auf die Gesinnung des Täters, sondern auf die Wirkung seiner Handlung und ordnete diese, meist ohne die zugrunde liegenden Motive zu würdigen, einer bestimmten Tarifbuße zu. Diese konnte er den katalogartigen Zusammenstellungen von Verfehlungen und adäquaten Bußleistungen in den frühmittelalterlichen Bußbüchern entnehmen306. Die verhängte Strafe wurde als Vergeltung und Wiedergutmachung begriffen und hatte den Zweck, den äußeren Frieden wieder herzustellen. Mit ganz anderen Herausforderungen als am Beginn des Mittelalters sah sich der Erlösung suchende Sünder an dessen Ende konfrontiert: Ja, sprichst du, soll ich mich selber an die Axt geben und sagen, was ich getan habe, ich schämte mich zu Tod. Wenn ich nur zu dem Pfaffen komme, niederknie, beichten will, den Beichtpfennig in der Hand habe und anfangen soll zu sprechen von meiner Armseligkeit, sagen soll die Sünden, die ich getan habe, so schwitzen mir die Finger, ehe ich anfange ...307.
Das Offenlegen der eigenen Verfehlungen in allen Details war kein angenehmes Unterfangen. Was Johannes Geiler von Kaysersberg Ende des 15. Jahrhunderts als Mühen des Beichtsakraments beschrieben hatte, 304 Le Goff, Pour un autre Moyen Age 167. 305 Zu Beichte und Buße im christlichen Altertum und im Frühmittelalter vgl. grundlegend Poschmann, Die abendländischen Kirchenbuße im Ausgang des christlichen Altertums; Ders., Die abendländische Kirchenbuße im frühen Mittelalter. Vgl. auch Ohst, Pflichtbeichte 50-54. 306 Zur Quellengattung vgl. Vogel/Frantzen, Les Libri paenitentiales. Vgl. auch Frantzen, La littérature de la Pénitence; Körntgen, Studien. Zur praktischen Wirksamkeit der Bußbücher vgl. Hamilton, Practice. 307 Aus den Predigten des Johannes Geiler von Kaysersberg (Aus den Brösamlin des Fraters Pauli) zit. nach Thiele, Leben in der Gotik 461. Zu Geiler von Kaysersberg als Sozialreformer vgl. Israel, Johannes Geiler von Kaysersberg. Zu Kaysersbergs beichtdidaktischem Werk: Die ältesten Schriften Geilers von Kaysersberg, bes. 128175 („Beichtspiegel“, „Von der Beicht“).
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hatte unzählige katholische Christen vor ihm vermutlich in ähnlicher Weise bedrückt. Scham- und Schuldgefühle dieser Art setzen allerdings ein Sündenverständnis voraus, wie es sich erst im Laufe des hohen Mittelalters herausgebildet hatte308. Es waren zunächst die frühscholastischen Theologen, die vor allem während des 12. Jahrhunderts ihr Augenmerk zunehmend auf den inneren Zustand der sündhaften Einzelseele gerichtet hatten. Besonders deutlich wurde die radikale Verinnerlichung des Sündenbegriffs von Petrus Abaelard vertreten. Der umstrittene Pariser Magister betrachtete die Sünde nicht als Verletzung menschlicher Sozialnormen, sondern als direkten Verstoß gegen göttliche Gebote. Allein die Reue als Geschenk Gottes vermag Schuld und Strafe aufzuheben. Im Gegensatz zur frühmittelalterlichen Konzentration auf das Äußere, rückten die inneren Triebkräfte in den Mittelpunkt des Bußverständnisses309. Im Rahmen einer solchen Intentionalethik genügte für die Vergebung der Sünden nicht allein die Durchführung der vom Priester verordneten Bußleistung; entscheidend waren vielmehr die ehrliche Reue sowie ein wahrhafter Besserungsvorsatz. Die Lossprechung von den Sündenstrafen erlangte der Übertreter kirchlicher Gebote dadurch, dass er die innere Wirklichkeit der Sünde tilgte, durch die Negation der Intention, die in der reuigen Zerknirschung ihren deutlichsten Ausdruck fand. Die Beichte wird damit zur zentralen Instanz, vor der das Individuum sich verantworten muss. „In dem Maß, wie sich die entsprechende Konzeption durchsetzt, wird das Individuum zu einer Besinnung auf sich selbst zurückgeworfen, wie dies vorher nie der Fall war. Seine innersten Motive werden heilsrelevant, deshalb erforschungsbedürftig. Mit dieser Erhellung des eigenen Motivhaushalts ist aber gerade auch eine Steigerung der Empfindung für die eigene Subjektivität verbunden, die historisch neu ist. Subjektivität ergibt sich also als Folge sozialer Kontrollprozesse“310. Unter priesterlicher Führung wird der einzelne gezwungen, sich selbst gleichsam von außen durch die Brille der zunehmend verschriftlichten Sündenkataloge wahrzunehmen und gemäß den kirchlichen Vorschriften „objektiv“ einzuordnen311. In einem solchen 308 Zu einer mentalitätsgeschichtlichen Darstellung der Buße vor allem in der Frühen Neuzeit vgl. Delumeau, Le péché et la peur; Ders., L’aveu et le pardon. 309 Zu Abaelards Ethik vgl. Marenbon, The Philosophy of Peter Abelard 213-331; Angenendt, Religiosität 644 f.; Clanchy, Abaelard 174-176. Allgemein zur neuen individualistischen Konzeption von Sünde, Buße, Zerknirschung und Beichte in der Theologie des 12. Jahrhunderts Anciaux, Théologie; Ohst, Pflichtbeichte 55-102. 310 Hahn, Soziologie 408 f. 311 Zur Identitätsbildung durch Außenwahrnehmung vgl. Hahn, Identität und Selbstthematisierung. Zur Ablehnung der Beichte als verordneter „Durchforschung der eigenen Vergangenheit“ durch Luther vgl. Ohst, Pflichtbeichte 4 f.
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Klima der psychologischen Persönlichkeitserforschung entstanden die frühesten biographischen und autobiographischen Schriften des Mittelalters, und die literarische Thematisierung zwischenmenschlicher Beziehungen wurde häufiger312. Seit diesem Paradigmenwechsel ging es „weniger um die Sünde als um den Sünder, weniger um die Verfehlung als um die Absicht, weniger um die Buße als um die Reue – eine Subjektivierung, eine Verinnerlichung des geistlichen Lebens, die der Introspektion und damit der ganzen modernen westlichen Psychologie zugrundeliegt“ war die Folge313. Entsprechend versuchte der Priester die Seele des reumütigen Gläubigen zu ergründen, der sich ihm anvertraute. In seinen Anweisungen für die Pfarrtätigkeit, die der englische Augustiner-Chorherr John Mirc zu Beginn des 15. Jahrhunderts verfasste, ist dementsprechend über die Beichte zu lesen: Schone Dich also nicht, Sohn, sondern sage mir, was Du in Deinen Gedanken hast. Hast Du irgendwelche Zweifel an irgendeinem Glaubensartikel gehabt? […] Durchsuche Dein Herz getreulich, ob Du zu irgendeiner Zeit falsch geschworen hast. [...] Du kannst so schlimm in Gedanken sündigen, als ob Du die Tat vollbracht hättest, wenn Du in Deinen Gedanken gern etwas bestimmtes Übles tust. Somit kannst Du tödlich sündigen, wenn Du viel daran denkst314.
Die theologischen und mentalitätsgeschichtlichen Wandlungen fanden ihren Eingang auch in die kirchliche Gesetzgebung. Bereits vor der Wende zum 13. Jahrhundert wurde den Gläubigen in einigen kirchlichen Rechtstexten regionalen Zuschnitts die Beichte anlässlich des Osterfestes vorgeschrieben315. Papst Innocenz III. und die Prälaten, die auf dem IV. Laterankonzil 1215 über die Reform der Kirche berieten, machten durch den berühmten Kanon Omnis utriusque sexus fidelis die jährliche Beichte jedes Katholiken zum Bestandteil des allgemeinen Kirchenrechts316. Kein 312 Zum entstehenden (auto)biographischen Schrifttum des hohen Mittelalters vgl. Misch, Geschichte Bd. 3.2 109 ff.; Kölmel, Autobiographien der Frühzeit; Schlotheuber, Persönlichkeitsdarstellung und mittelalterliche Morallehre. Zur Diskussion um Abaelards Historia calamitatum als autobiographischer Quelle vgl. McLaughlin, Abelard as Autobiographer; Clanchy, Documenting the Self. Anders Bagge, The Autobiography of Abelard. 313 Jacques Le Goff, Pour un autre Moyen Age, Paris 1999, 167. 314 John Myrc, Instructions for Parish Priests 25, 27, 30. Übers. nach Dinzelbacher, Erzwungenes Individuum 52. 315 Browe, Pflichtbeichte 342 f.; Ohst, Pflichtbeichte. Zur regelmäßigen Beichte vor 1215 und ihrem geringen Verbreitungsgrad vgl. auch Baldwin, Ordeal; Rusconi, Prédiction 67 f.; Ohst, Pflichtbeichte 14-32; Murray, Confession before 1215. 316 Zum Kanon vgl. Gy, Les définitions de la confession après le quatrième concile du Latran. Zum „innovativen Gehalt des Kanons“ vgl. Ohst, Pflichtbeichte 32-41. Zu seiner Genese ebd. 41-49.
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Gläubiger konnte von dieser auf einer veränderten Sündenwahrnehmung basierenden Neuordnung des Bußsakraments unberührt bleiben. Die Kirchenspitze hatte eine heilsfördernde Technik der Gewissenserforschung, die ein wesentliches Element frühscholastischer Theologie dargestellt hatte, in ein verbindliches Merkmal christlicher Lebensführung verwandelt317. Auf dieser normativen Grundlage entfaltete die Vorstellung von der Sündenvergebung durch Reue, Beichte und Buße ihre Wirkung im späten Mittelalter und darüber hinaus318. Ältere Formen öffentlicher Bußleistung bzw. Wahrheitsfindung wie Gottesurteil, Prangerstehen oder Wallfahrten traten dagegen in den Hintergrund319. Mit unterschiedlichen Maßnahmen übten Kirche und Pfarrgemeinde Druck auf die jeweiligen Mitglieder aus, der regelmäßigen Beichtpflicht nachzukommen320. Auf Partikularsynoden wurde das Thema aufgegriffen321. Im späten Mittelalter übernahmen städtische Obrigkeiten die Kontrolle über die Beichtmoral ihrer Bürger. Beichtlisten sowie Beichtzettel, auf denen Geistliche die Ablegung der Beichte und die Lossprechung von den Sünden schriftlich bestätigten, dienten der bürokratischen Überwachung der Gläubigen322. Für Versuche, sich der Beichtpflicht zu entziehen, standen der Pranger oder – in letzter Konsequenz – der Scheiterhaufen bereit, da als Häretiker galt, wer die Beichte dauerhaft verweigerte323. In kirchlichen Schriften und Predigten wurde für das regelmäßige Bekenntnis vor dem Priester geworben324. „Zahllos waren die Predigtexempel, die von der Kanzel zur Empfehlung dieser Institution ertönten: sie heile Stumme, mache Mörder unsichtbar, vertreibe Dämonen, kuriere
317 Zur Entwicklung des Beichtsakraments nach 1215 als kulturgeschichtliche Innovation größter Reichweite vgl. Rusconi, Prédication 68 f.; Rusconi, Ordine; Angenendt, Religiosität 650-652; Dinzelbacher, Erzwungenes Individuum 46. 318 Murray, Confession as a historical source. Zur Frühen Neuzeit vgl. Rublack, Lutherische Beichte und Sozialdisziplinierung; Prosperi, Die Beichte und das Gericht des Gewissens. 319 Zum späten Mittelalter vgl. Mansfield, The Humiliation of Sinners; Baldwin, Ordeal 191-209. 320 Browe, Pflichtbeichte 369 und passim; Little, Techniques 89-93; Dinzelbacher, Erzwungenes Individuum 46 f. 321 Duggan, Fear and Confession 163. 322 Browe, Pflichtbeichte 376 f. 323 So in der südfranzösischen Synodalgesetzgebung. Vgl. Hahn, Soziologie 410. Zur Annahme des Heilsangebots in der Beichte als Instrument der In- und Exklusion im Luthertum vgl. Ohst, Pflichtbeichte 9. 324 Murray, Confession as a Historical Source; Roberto Rusconi, Prédication. Zur theologischen Legitimierung der jährlichen Pflichtbeichte vgl. Ohst, Pflichtbeichte 36-41.
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Verrückte, werde sogar von Engeln abgenommen usf.“325. Wunderberichte entstanden326, das Beichtmirakel vom gelöschten Sündenregister war besonders verbreitet: Ein oder mehrere Dämonen notieren darin die Verfehlungen der Menschen. Doch kaum hatten die Sünder die priesterliche Absolution erlangt, lösten sich die Aufzeichnungen in Nichts auf327. Die Angst vor dem Tod war ein wichtiger Grund, die Beichte gemäß den kirchlichen Vorgaben abzulegen. Dies war auch dem Klerus bewusst: Die Hölle als Teil des Weltgerichts verzierte ab dem 12. Jahrhundert romanische und gotische Kirchenportale Frankreichs; seit dem 13. Jahrhundert wurde Hölle und Fegefeuer in zunehmendem Maße auch in anderen Ländern zum künstlerischen Gegenstand auf Altarbildern und Kirchenwänden328. So konnte der sündige Kirchenbesucher deutlich erkennen, was mit ihm geschehen würde, falls er es wagen sollte, in der Beichte eine Sünde zu verschweigen. Mit der Angst wuchs umgekehrt auch die Überzeugung von der Heilsnotwendigkeit und der göttlichen Stiftung des Bußsakraments329. Mit dieser Betonung der individuellen Eigenverantwortlichkeit korrespondiert eine sich individualisierende Erlösungshoffnung, die ihren Ausdruck in einer wachsenden Sorge um das eigene Seelenheil fand. In dem Maße, in dem das Bewusstsein von der individualisierten Identität zunahm, wuchs auch die Angst vor dem eigenen Ende. „Die durch die verstärkte Individualisierung gesteigerte Angst vor dem Verlust des Selbst wird durch die Individualisierung des Jenseitsschicksals aufgefangen. Andererseits akzentuiert die Drohung eines unmittelbar auf den Tod folgenden individuellen Seelengerichts die Eigenverantwortung, stärkt also ihrerseits die Individualisierung“330. Sich wandelnde 325 Dinzelbacher, Erzwungenes Individuum 49. Zur Problematik vgl. auch Berlioz, „Quand dire c’est faire dire“. 326 Zu den der Beichte gewidmeten Wundergeschichten bei Caesarius von Heisterbach vgl. Ohst, Pflichtbeichte 129-131. 327 Frederic C. Tubach, Beichte, in: Enzyklopädie des Märchens 2, Berlin 1979, 45-48, hier 46. Vgl. auch Little, Techniques 93 f. 328 B. Brenk/A. Brulhart, Art. „Hölle“, in: Lexikon der christlichen Ikonographie 2 (1990) Sp. 313-321; Wegmann, Auf dem Weg zum Himmel. Grundsätzlich vgl. Le Goff, Die Geburt des Fegefeuers. 329 Zur Furcht vor Fegefeuer und Hölle vgl. Hahn, Soziologie 411. Zur Wahrnehmung des Heilswerts der Beichte in der Volksfrömmigkeit vgl. Ohst, Pflichtbeichte 130. Zur Ablehnung der durch die Pflichtbeichte erzeugten Gewissensnot durch Luther vgl. ebd. 7 f. 330 Zu den sich wandelnden Todesvorstellungen im hohen Mittelalter vgl. allgemein Ariès, Geschichte des Todes 181-259. Zum Zusammenhang von Todes- und Jenseitsvorstellungen mit dem Prozess der Individualisierung vgl. Hahn, Tod und Individualität 763 (Zitat).
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Todes- und Jenseitsvorstellungen und deren künstlerische Darstellung verstärkten so das Bedürfnis, das eigene Gewissen zu erleichtern und im Augenblick des Todes gewappnet zu sein. Mendikantische Prediger waren an vorderster Front an diesem kirchlichen Werbefeldzug für die Durchsetzung der regelmäßigen Beichtpflicht beteiligt331. Ein anschauliches Beispiel dafür aus dem deutschen Raum bildet Berthold von Regensburgs Predigt Von der Beichte332. In dem langatmigen Text erklärte der franziskanische Prediger das Bußsakrament zum Schlüssel für die Erlangung des ewigen Lebens. Der Teufel, ausgestattet mit unzähligen Verführungskünsten, versuche beständig, den Menschen daran zu hindern, wahre Reue zu empfinden, eine vollständige Beichte abzulegen und die Buße korrekt durchzuführen. Nach dieser drohenden Einleitung zählte Berthold konkrete Gefahren für das Seelenheil auf, etwa den Fall, dass eine einzige Todsünde, die nicht erinnert und bitter bereut werde, die Errettung verhindere. Wie Berthold die Sündenlehre des IV. Lateranums auf rhetorisch geschickte Weise zu popularisieren verstand, zeigt folgendes der Predigt über die Beichte entnommene fiktive Beichtgespräch: Die sich auf den Teufel hinausreden, sagen zum Priester: ‚O weh, o weh, der Teufel riet mir, dies oder jenes zu tun’, um dann die entsprechende Sünde zu nennen und die Schuld auf den Teufel zu schieben. Doch damit bist Du nicht frei. Denn es ist eine besonders schwere Sünde von Dir, etwas zu tun, was der Teufel Dir riet, da Du doch weißt, dass er Dein Todfeind ist. Ich habe Dir ausführlich davon berichtet, welche Listen er anwendet, um Dich zu verführen. ‚Bruder Berthold!, was soll ich denn sagen?’ [Du sollst sagen:] ‚Herr [Priester], mir riet es mein böser Wille, deshalb bekenne ich mich jetzt für schuldig vor dem allmächtigen Gott und bitte nun durch Gott, dass ihr mir dafür eine Buße auferlegt, damit ich in die Gemeinde der heiligen Christenheit gelange’. Niemals darfst Du dich mit dem Teufel herausreden, denn der rät Dir bekanntlich niemals zum Guten333.
Die Betonung der individuellen Alleinverantwortlichkeit, die Berthold auch an anderen Stellen der Predigt hervorhob, um jedes sündhafte Vergehen als willentlichen Verstoß gegen Gottes Gebote darzustellen, bildete ein konstitutives Element des spätmittelalterlichen Sündenverständnisses334. Der franziskanische Volksprediger folgte hier genau jener Linie, 331 Rusconi, Ordine. Zur theologischen Erörterung des Bußsakraments durch Thomas von Aquin und dem mendikantennahen Wilhelm von Auvergne vgl. Ohst, Pflichtbeichte 102-139. Zur Mitwirkung der Mendikanten am Beichtsakrament vgl. Goering, Internal Forum. 332 Berthold von Regensburg, Predigten, Nr. 22 S. 339-356. 333 Berthold von Regensburg, Predigten 346. 334 Zur Sünde als „Aufstand“ gegen Gott vgl. Angenendt, Religiosität 614-621.
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die auch von den Theologen seiner Zeit vertreten wurde. Dies trifft auch für weitere Aspekte des Textes zu: Unnütz und sinnlos sei eine Beichte, die nicht alle begangenen Sünden erwähne oder lediglich summarisch und undifferenziert auf diese verweise. Die große Scham, die der einzelne dabei empfinden möge, müsse überwunden werden, sei es doch besser, sich schamvoll einem verschwiegenen Priester anzuvertrauen als am Tag des Jüngsten Gerichts vor Gott und allen Heiligen bloßgestellt zu werden. Die Beichte habe beim zuständigen Pfarrer zu erfolgen. Falls dieser jedoch nicht über eine ausreichende Kompetenz verfüge und die nötige Einwilligung dazu erteile, könne der Laie in der Stadt einen Bettelmönch aufsuchen. Zur vollständigen Vergebung der Sünden gehöre schließlich die korrekte Ableistung der Buße, die zunächst im Willen, keine Todsünden mehr zu begehen, bestehe und daneben die ordnungsgemäße Ableistung der vom Priester verordneten Bußleistung umfasse. Durch Predigten wie diese wurde der abstrakte Beichtkanon Omnis utriusque der Bevölkerung vermittelt. An der Heilsnotwendigkeit der Beichte ließ der Franziskaner keinen Zweifel, das Bußsakrament nahm in seiner Interpretation geradezu eine Schlüsselposition auf dem christlichen Heilsweg ein. Um seiner Botschaft Nachdruck zu verleihen, räumte Berthold der Beschreibung des Teufels, der mit unzähligen Listen unaufhörlich gegen das Bußsakrament zu Felde zog, breiten Raum ein335. Die beständig wiederkehrenden Hinweise auf die teuflischen Schliche, die priesterliche Vergebung der Sünden zu untergraben, benutzte der Prediger als rhetorisches Mittel, um seinem Publikum Angst einzujagen und die dramatischen Konsequenzen der Nichtbeachtung kirchlicher Beichtvorschriften vor Augen zu führen. Falls Berthold – wie angenommen wird – tatsächlich als „Stimme des Volkes“ gelten kann und seine Texte die Gefühlswelt der laikalen Bevölkerung getreu wiedergeben336, so bedeutet dies hinsichtlich der Beichte, dass sich bereits Mitte des 13. Jahrhunderts eine allgemeine Akzeptanz der Pflichtbeichte und eine Anerkennung ihrer fundamentalen Relevanz für die Erlangung des Seelenheils durchzusetzen begonnen hatte. Wichtigstes Handbuch für den die Beichte hörenden Priester waren die Beichtsummen, deren erste Exemplare bereits wenige Jahre nach dem IV. Laterankonzil verfasst wurden und das Beichtgeschäft bis zur Reformation prägten337. „Der einzelne wäre bald am Ende mit seinem Blick ins Innere, wenn ihm keine Karte für seine Seelenlandschaft an die Hand 335 Zur Rolle des Teufels im kirchlichen Schrifttum zur Beichte vgl. Bernstein, Teaching and Preaching Confession. 336 Vgl. etwa Gurjewitsch, Stumme Zeugen 212-217; Ders., Individuum 200 f. 337 Zur Literaturgattung vgl. oben S. 40 Anm. 132.
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gegeben würde“338. Diese Summen listen keine festen Bußtarife auf, wie frühmittelalterliche Bußbücher dies getan hatten, sondern gaben dem Priester Anleitungen und Minimalstandards, um den Beichtenden in die Kunst der Gewissenserforschung einzuführen, auf dass er selbst seine Sünden und deren Schweregrad analysiere339. Die Zuweisung der Buße lag dann im freien, auf den komplexen Einzelfall abgestimmten Ermessen des Beichtvaters. „Ihre Hauptfunktion lag wohl darin, dass sie in einer Zeit komplexer werdender, differenzierterer Handlungswelten durch ihrerseits komplexere Respezifikationen allgemeiner moralischer Prinzipien dem Beichtvater und über ihn auch dem Beichtkind moralische Sicherheit in der Beurteilung der ethischen Qualität von Handlungen und Motiven bieten. Sie stellen ein Deutungsmuster dar, das es dem Individuum erlaubt, angesichts der neuen Fülle von Handlungsmöglichkeiten Orientierung und Bewältigung der Schuldangst zu finden“340. Auch das deutsche Franziskanertum lieferte einen wichtigen Beitrag zu dieser Literaturgattung. Der wahrscheinlich aus dem sächsischen Raum stammende Johannes von Erfurt, der zwischen 1275 und 1309 sowohl in Magdeburg wie auch in Erfurt als Lektor an der Ordensschule nachweisbar ist, vollendete kurz nach der Wende zum 14. Jahrhundert eine umfangreiche Beichtsumme341. Für ein solches Unternehmen hatte sich der doctor iuris utriusque durch mehrere Vorgängerarbeiten qualifiziert. Vermutlich vor 1281 erörterte Johannes die vieldiskutierte Streitfrage des Beichtehörens und Predigens durch Mitglieder der Bettelorden und setzte sich dabei mit dem Beichtkanon des IV. Laterankonzils auseinander342. Schon einige Jahre zuvor hatte der sächsische Franziskaner in seiner Tabula iuris utriusque als einer der ersten mittelalterlichen Autoren ausgewählte Materien sowohl des kanonischen wie des römischen Rechts in eine alphabetische Ordnung gebracht343. Dieses Kompendium sollte juristisch nicht ausreichend gebildeten Theologen und Seelsorgern die Erschließung des römisch-kanonischen Rechts erleichtern. Bis 1311
338 339 340 341
Hahn, Identität 20. Murray, Counselling; Goering, Internal Forum 195-203. Hahn, Soziologie 412 f. Zu Leben und Werk Johannes’ von Erfurt vgl. Doelle, Johannes von Erfurt; Kurtscheid, De Studio Iuris 157-160; Trusen, Forum internum 109-117; Norbert Brieskorn/Volker Honemann, Art. „Johannes von Erfurt“, in: Verfasserlexikon 4 (1983) Sp. 583-589. 342 Delorme, Questions de Jean d’Erfurt et de Roger Marston 319-335, Text 322-331. Die Beichtfrage beschäftigte die Franziskaner der Saxonia auch im 14. Jahrhundert. Dies belegt u. a. eine Erörterung des Themas durch Hermann Topelstein (Hermann von Mühlhausen). Vgl. dazu Reiter, A Treatise on Confession. 343 Zum Werk vgl. Schulte, Geschichte II 387-389; Kurtscheid, Die Tabula utriusque iuris.
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entstanden mehrere Redaktionsstufen, in die jeweils die neu erschienene Literatur eingearbeitet wurde. 1300/02 vollendete Johannes von Erfurt seine Summa confessorum, die er in den folgenden Jahren ebenfalls mehrfach aktualisierte344. Dieses Lehr- und Nachschlagewerk für die Beichtpraxis, gedacht wohl vorrangig für Geistliche in der sächsischen Ordensprovinz, folgte einer ungewöhnlichen Anordnung: In einem dreiteiligen Verfahren werden zunächst Amt und Pflichten des confessors erörtert, daran schließt sich eine systematische Darstellung des Bußsakraments (confessio), den größten Teil des Textes nimmt schließlich eine ausführliche Diskussion einzelner Sünden ein, wobei diese untergliedert sind in die sieben Hauptlaster sowie die Zehn Gebote. Johannes schrieb – wie er im Prolog verkündete – für seine Ordensbrüder: „Ersucht von den Brüdern, dass ich ihnen eine Vorlage für das Hören der Beichten geben sollte, war ich nicht stark genug abzulehnen, und so habe ich mich diesem Vorhaben mit Eifer gewidmet, wobei ich das Vertrauen auf die Vollendung und die Mühe des Lohnes auf den Erlöser aller gründete“345. Den Bezugsrahmen der Summe bildet die Vorstellung von der Sünde als Verstoß gleichermaßen gegen den Menschen und gegen Gott. Die sündhafte Tat gleicht in Johannes’ Interpretation einer Grundverweigerung, Mensch zu sein und menschlich leben zu wollen. Das Leben des Menschen zwischen Verstoß und Verzeihung bedarf einer rigorosen Gewissensprüfung, die allein zur Gotteserkenntnis zu führen vermag346. Amt und Person des Beichtvaters stehen im Mittelpunkt des ersten Abschnitts. Zunächst werden die theologischen und jurisdiktionellen Grundlagen der priesterlichen Schlüsselgewalt zu binden und zu lösen beschrieben347. Der Zuständigkeitsbereich des sacerdos proprius wird definiert und es werden Fälle aufgezählt, in denen ein anderer Priester die Beichte abzunehmen berechtigt sei. Insgesamt erscheint der Priester, der als minister Gottes an dessen Stelle die Sünden vergibt, weniger als mitfühlender, mitleidender Gefährte denn als sorgfältig abwägender Richter348. Unter den verschiedenen Eigenschaften, die für die korrekte Erfüllung seines Amts nötig sind, der starken Liebe, der guten Lebens344 Zur Summe vgl. Schulte, Geschichte II 389-391; Johannes von Erfurt, Summa. Zur Textgeschichte vgl. ebd. I 19-22. 345 Johannes von Erfurt, Summa II 1. 346 Zum Charakter des Werks vgl. Johannes von Erfurt, Summa I (Einleitung) 43-50. 347 Zum Priester als Inhaber der Vergebung gewährenden Schlüsselgewalt vgl. Ohst, Pflichtbeichte 126-129. 348 Zur parallelen Verschiebung sakraler Herrschaftslegitimierung weg von einer „diffusen Teilhabe am bischöflichen Amt“ hin zur „irdischen Vollstreckung göttlicher Gerechtigkeit“ sowie zum König als „Priester der Gerechtigkeit“ vgl. Erkens, Vicarius Christi 51.
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führung, der Wachsamkeit und des Wohlwollens, ist der Besitz des nötigen Wissens zum wichtigsten Element geworden349. Ähnlich stark kanonistisch ist auch der zweite allgemeine Abschnitt zum Bußsakrament ausgerichtet. Es geht zunächst um Zuständigkeitsrechte und erneut um die Rolle des sacerdos proprius. Diskutiert werden daneben die Beichtprivilegien der Mendikanten sowie problematische Sonderfälle, in denen nur der Bischof die Absolution erteilen könne. Ausführlich ging Johannes auf die Tatumstände ein, die bei der Feststellung der Sündenstrafe Berücksichtigung finden sollten. Als erleichternde bzw. erschwerende Umstände wurden unter anderem aufgezählt: Ordenszugehörigkeit, Stand und Alter, Bildung und Wissen, Zeit und Ort, Schwere und Häufigkeit der Tat, Motive und Ursachen. Der Beichtende habe sein Geständnis auf einfache, demütige, reine, getreue, präzise, diskrete, freiwillige, umfassende, wahrhaftige, geheime, gehorsame und tränenreiche Weise vorzutragen350. Mit Passagen aus dem Kirchenrecht und der Patristik veranschaulichte der Erfurter Franziskaner diese abstrakten Normen. Anschließend folgen weitere Voraussetzungen für ein sündentilgendes Bekenntnis wie beispielsweise der Wille, nicht erneut gegen Gottes Gebote zu verstoßen, sowie Gedanken zum Beichtgeheimnis, mit denen der Abschnitt schließt351. Diese sorgfältige Gewissenserforschung des reumütigen Gläubigen schuf die Voraussetzung, sich mit den Sünden selbst auseinanderzusetzen. Um das Dickicht der Sündenvielfalt zu lichten, hatte Johannes auf die theologisch ausgerichtete und für einen Rechtstext ungewöhnliche Gliederung nach den sieben Hauptsünden und den Zehn Geboten zurückgegriffen. Das Ergebnis war eine überreiche Stofffülle und eine Umorganisation des überlieferten Wissens gegenüber anderen Rechtsund Beichtsummen, was den Gebrauch des Werks erschwerte und vermutlich maßgeblich zu dessen geringer Rezeption beitrug352. Klar ersichtlich wird zugleich das Bemühen des Autors, das gesamte Kirchenrecht, wie es sich in den Rechtsammlungen seit Gratian findet, in eine Ordnung zu bringen, die vom Sündenbegriff her gedacht wird. Dabei blieb der juristische Charakter der kanonistischen Vorlagen weitgehend erhalten, was dazu führte, dass der Priester im Beichtstuhl genau so wie der Richter den Richtlinien des römisch-kanonischen Rechts gemäß sein Urteil fällt. Allein die andere Sichtweise, die von Geboten und Verboten 349 Johannes von Erfurt, Summa II 2-45. 350 Zum Fragekatalog von Beichthandbüchern vgl. Little, Techniques 95. Rusconi, Prédication 77 f.; Haren, Interrogatories. Zur scholastischen Erörterung der Reue (attritio/ contritio) vgl. Ohst, Pflichtbeichte 122 f. 351 Johannes von Erfurt, Summa II 46-62. 352 Zur Gliederung des Stoffes gemäß den sieben Hauptsünden vgl. unten 298.
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ihren Ausgang nimmt, um durch ständige Differenzierungen alle denkbaren rechtlichen Sachverhalte zu erfassen, wahrt die Nähe zum Bußsakrament. Gelehrte Arbeiten wie die Summa confessorum des Johannes von Erfurt wurden mit dem Ziel geschrieben, den einzelnen Menschen mit Hilfe einer komplexen Sündenkategorisierung sorgfältig zu durchleuchten. Die aktive Mitarbeit des Gläubigen bei der Gewissenserforschung wurde dabei ebenso vorausgesetzt wie die bedingungslose Auslieferung an den Priester und seine Schlüsselgewalt. Der beschwerliche Weg zum höchsten Richter war ohne den Seelenrichter auf Erden nicht bewältigbar. Wenig Jahre, bevor Johannes von Erfurt seine juristischen Kenntnisse und Vorarbeiten in seine Beichtsumme einfließen ließ und damit das Recht der Pastorale dienstbar machte, wurde auch die Rechtssumme des Heinrich von Merseburg, das älteste kanonistische Werk aus der Feder eines deutschen Franziskaners353, mit denselben Zielen ergänzt. In den sogenannten Casus ad summam Henrici stellte der unbekannte Autor um 1290 eine der Dekretalenordnung folgende Reihe von Einzelfällen (casus) zusammen, die nach seiner Ansicht im forum internum eine besondere Rolle spielten354. Im Prolog, der mit dem Incipit Labia sacerdotis einsetzt, wird vom Priester eine dreifache scientia gefordert: weltliches Wissen als Voraussetzung für das Theologiestudium, Vertrautheit mit der Heiligen Schrift sowie Kenntnis des kanonischen Rechts, damit die Pflichten des Priesteramts ordnungsgemäß erfüllt und die Beichtenden korrekt beraten werden könnten. Mit Hinweisen auf seine Vorlage und sein eigenes Anliegen fährt der Autor fort: Damit den Priestern der Weg zur Kenntnis des kanonischen Rechts offenstehe, stellte Heinrich von Merseburg aus dem Franziskanerorden, ehemals Lektor in Magdeburg, zum allgemeinen Nutzen eine Rechtssumme zusammen, die wir in Händen halten. […] Als ich die Summe meinen Mitbrüdern auslegte und einige zusätzliche Beispiele (casus) dem Unterricht einfügte, baten mich die Brüder, diese Einzelfälle (casus) mit kurzen und einfachen Worten niederzuschreiben, damit die einfältigen Brüder, die weder sich noch die ihnen Beichtenden sicher durch den dunklen Wald des kanonischen Rechts zu führen imstande sind, größere Klarheit gewännen, wie es die Komplexität des Beichtgeschäfts erfordert355.
Diesem Anliegen folgend, entnahm der unbekannte Franziskaner der verfügbaren kanonistischen Literatur seiner Zeit ihm für das Bußsakrament wichtig erscheinende Fälle und brachte sie in das klassische 353 Zu Person und Werk vgl. oben 106 f. 354 Zum Werk vgl. Schulte, Geschichte II 535 f.; Kurtscheid, De studio 168-174. Zur Quellengattung vgl. Schulte, Geschichte II 492 f. 355 Zum Text vgl. unten Dok C S. 406-411.
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Ordnungsschema einer Dekretalensammlung. Die Summe Heinrichs von Merseburg erhielt dadurch eine Ergänzung, die ihre pastorale Verwendbarkeit steigern sollte. Einmal mehr wurde so der Überzeugung Rechnung getragen, dass das Recht der Kirche seine größte praktische Bedeutung im Rahmen des Bußsakraments entfalte. Die ordnende Durchdringung der Gesellschaft setzte im franziskanischen Denken bei der pastoralen Betreuung und Lenkung des Individuums an. In der Kontrolle des einzelnen lag der Schlüssel für die Bewältigung gesellschaftlicher Missstände. Die Konstituierung des Ich-Bewusstseins stand also offensichtlich in einem engen Zusammenhang mit der durch die Beichte stimulierten Sündenerkenntnis. Dies belegen bereits die Anfänge autobiographischer Arbeiten, in denen Selbsterkenntnis und Sündenbekenntnis eine untrennbare Symbiose eingegangen waren356. Das neue Verständnis von Sünde und Buße hatte der Verbreitung dieser Literaturgattung einen wichtigen Anstoß geliefert, interpretierte es doch den Einzelnen als selbstverantwortliches Subjekt der Sünden- und damit auch der Lebenserkenntnis. Wenn allein die Gewissenserforschung, verbunden mit einer aktiven emotionalen Reue, die Voraussetzung der Sündenvergebung bildete, lag die Verschriftlichung dieser analytischen Selbstbetrachtung zum Zwecke der Selbstvergewisserung, aber auch der Außendarstellung nahe357. Im Falle der berühmten Schriften eines Guibert von Nogent oder Petrus Abaelard hat man auf diesen Konnex längst hingewiesen358. Doch auch in der für Laien bestimmten weltlichen Literatur finden sich seit der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts Hinweise auf die Verbreitung eines verinnerlichten Bußverständnisses, verbunden etwa mit der Absicht, die Persönlichkeit des Helden offenzulegen und sein Streben nach Erlösung zu verdeutlichen359. Es existierte offensichtlich zunehmender Bedarf nach volkssprachlicher Literatur, die das kirchliche Bußverständnis breiten Bevölkerungsgruppen zugänglich zu machen imstande war. Den ältesten mittelhochdeutschen Beichtspiegel verfasste der Südtiroler Franziskaner Heinrich von Burgeis in den Jahren 1301/04. Das spätmittelalterliche Sündenverständnis verschmolz in diesem kurzen und über weite Strecken anspruchslosen Werk mit einem auf die Laienwelt zugeschnittenen Katalog der Laster sowie mit Szenen aus der
356 Zur Biographie als Identitätsgenerator vgl. Hahn, Identität 12-18. 357 Zum Zusammenhang von Autobiographie und Beichte vgl. Feistner, Semantik 1-6. 358 Benton, The Personality of Guibert of Nogent; Coupe, The Personality of Guibert de Nogent Reconsidered; Kölmel, Autobiographien der Frühzeit; McLaughlin, Abelard as Autobiographer; Rosenwein, Y avait-il un moi 33 mit Anm. 9. 359 Vgl. Duckworth, Heinrich’s Confession.
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geistlichen (Spiel-)Dichtung360. Im Hinblick auf Tod und Jenseits erläuterte der minoritische Autor das innere Beichtgeschehen in einem allegorischen Erzählzusammenhang: Eine der Sünde verfallene Seele wird von Gewissen und Reue, beide als Frauen personifiziert, zur Umkehr bewogen und zu Frau Beichte geführt. Dieser unterwirft sich die Seele, nachdem sie ein vollständiges Sündenbekenntnis abgelegt hat. In einer eindrucksvollen Gerichtsszene im Schlussteil des Textes verkündet der Teufel seinen Anspruch auf die Seele des inzwischen verstorbenen Menschen. Als Entlastungszeugin tritt ihm jedoch Frau Gewissen entgegen, so dass Frau Buße der Sünde das Gewicht zu nehmen vermag. Der Kampf um die Seele findet seinen glücklichen Abschluss, und ein Erzengel geleitet die Seele ins Paradies. Aus dieser auf laikale Lebensformen zugeschnittenen Maximalbeichte konnte jeder Leser die für ihn nützlichen Sätze auswählen und in sein eigenes Bekenntnis integrieren. Die Aufzählung und Charakterisierung besonders verbreiteter Verstöße gegen den Dekalog boten hierzu das nötige Anschauungsmaterial. Repräsentativ für das spätmittelalterliche Sündenverständnis ist das nur in einer unvollständigen Handschrift überlieferte Werk aufgrund seiner Interpretation der individuellen Seele als selbstverantwortlicher Instanz. Die einzelnen Sünden werden dabei nicht mehr als Mächte und Kräfte geschildert, die den Menschen von außen bedrängen und verführen, sondern einem kohärenten System der personalen Mitte zugeordnet. Zwar kleidete der Autor seinen Beichtspiegel in ein allegorisches Gewand, doch das Zusammenspiel von Gewissen, Reue, Beichte und Buße entspricht einem verinnerlichten Sündenbegriff, der sich im 12./13. Jahrhundert durchgesetzt und dabei die individuelle Prüfung der eigenen Gesinnung zur wichtigsten Voraussetzung der Erlösung gemacht hatte361. Im 14. und 15. Jahrhundert wuchs die Anzahl der volkssprachlichen Arbeiten zur Beichtdidaxe, was ein steigendes Bedürfnis nach theoretisch fundierter, gleichwohl aber praxisbezogener und leicht verständlicher Beichtanleitung verrät362. „Es sind die Fragen der theologisch-philosophischen Vordenker des 12. und 13. Jahrhunderts (nach der Abhängigkeit der Sünde von der jeweiligen Intention und die Bedeutung der Gewissensanalyse), die nun auf einer breiteren Rezipientenebene eingeholt
360 Heinrich von Burgeis, Der Seele Rat. Zum Werk und zu Beziehungen zur franziskanischen Predigt vgl. ebd. VII-XLVIII. 361 Zum Text und seiner Interpretation vgl. Peter Kesting, Art. „Heinrich von Burgeis (Burgus)“, in: Verfasserlexikon 3 (1981) Sp. 706 f.; Feistner, Semantik 9 f. 362 Zur Problematik bereits Greving, Zum vorreformatorischen Beichtunterricht; Browe, Der Beichtunterricht im Mittelalter.
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werden“363. Die Bettelmönche bleiben bis zur Reformation die führenden Kräfte dieses Popularisierungsprozesses. Der Franziskaner Marquard von Lindau beispielsweise, der in der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts nicht nur wichtige Ordensämter in der Provinz Germania Superior bekleidete, sondern in dieser Zeit auch zu den produktivsten Autoren seines Ordens zählte, verfasste neben lateinischen Traktaten theologischen Inhalts auch volkssprachliche Texte, in denen unter anderem die Beichtdidaxe eine wichtige Rolle spielte364. Sein bekanntestes Werk und zugleich einer der wirkmächtigsten religiösen Prosatexte des deutschen Spätmittelalters ist eine Dekalogerklärung, die der ehemalige Lektor des franziskanischen Generalstudiums in Straßburg zu einer ausführlichen christlichen Lebenslehre ausbaute365. In Form eines Dialogs zwischen Meister und Schüler werden die Zehn Gebote erörtert und mit zahlreichen Exkursen sowie Exempla-artigen Erweiterungen versehen, die das vorbildhafte Verhalten der heiligen Maria und anderer Heiligen schildern. Während die lateinischen Beichtsummen vor allem für den priesterlichen Seelsorger geschrieben wurden, hatte Marquard bei der Abfassung seines Werks die Bedürfnisse des zur Beichte schreitenden Laien im Blick. Subtile scholastische Erörterungen der komplexen Sündenwelt wurden daher durch konkrete Anleitungen zur Andacht bzw. zur Beichtvorbereitung ersetzt. Bei der Erörterung des vierten Gebots kommt Marquard ausdrücklich auf das Bußsakrament zu sprechen. Sechs Punkte, die bei der Beichte besonders zu beachten seien, führt der Autor an. Zuvorderst müsse der Gläubige sich selbst fleißigleichen betrachten. Die weiteren konstitutiven Elemente sind echte Reue und feste Vorsätze, ohne welche die Beichte unnütz sei, ein kompetenter Priester, der die unterschiedlichen Sünden zu unterscheiden wisse, das Bemühen um Kürze und das Vermeiden von Ausreden sowie das exakte Bekenntnis aller Todsünden: „Und wenn Du bekennst, sollst Du auch angeben, in welchen Lebensumständen Du Dich befindest, was und wie Du es getan hast, warum und wann Du es getan hast“. Nur wenn alle diese Punkte eingehalten würden, könnte die Beichte zur Absolution führen. Abgeschlossen wird das Kapitel über die 363 Feistner, Semantik 11. Vgl. dazu auch die Beispiele bei Weidenhiller, Untersuchungen zur deutschsprachigen katechetischen Literatur 26 f. und 240-243. – Zu den Beichtsummen als Vorläufer der „frömmigkeitstheologischen Literatur“ des 15. Jh. vgl. Hamm, Frömmigkeitstheologie 16 mit Anm. 14. 364 Zu Leben und Werk vgl. Nigel F. Palmer, Art. „Marquard von Lindau“, in: Die deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon 6 (1987) Sp. 81-126; Blumrich, Marquard von Lindau; Ders., Die deutschen Predigten Marquards von Lindau; Löser, Rezeption als Revision. 365 Marquard von Lindau, Die zehe Gebot (Straßburg 1516 und 1520); Marquard von Lindau, Das Buch der zehn Gebote (Venedig 1483).
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Beichte mit Überlegungen zur Häufigkeit, mit der das Beichtsakrament empfangen werden müsse. Ausgehend von der Grundregel der jährlichen Pflichtbeichte empfiehlt Marquard seinen Lesern, darüber hinaus immer dann zur Beichte zu schreiten, wenn besondere Umstände wie eine Krankheit oder eine Reise dies nahelegten oder wenn ein schlechtes Gewissen dies einfordere366. Schematisch fixierte Kataloge traten in beichtdidaktischen Werken dieser Art hinter einer dezidierten Individualisierung zurück. Sündentypen wie die sieben Hauptsünden oder Verstöße gegen die Zehn Gebote beschränken sich auf die Funktion thematischer Orientierungshilfen bei der Selbstanalyse. Was von den Autoren anhand solcher Kategorisierungsschemata entwickelt wird, ist ein möglichst umfassendes kasuistisch ausgerichtetes Panorama menschlicher Verfehlungen. Bereits im ersten Kapitel von Marquards Dekalogerklärung war die Rede von der rechten Gesinnung, die als zentrale Instanz fungiert in einem System, das die Verfehlung als Produkt des subjektiven Willens interpretiert367. Damit verschwimmt auch die Grenze zwischen lässlichen Sünden und Todsünden, da sich keine Tat von den inneren und äußeren Umständen des Täters abtrennen lässt368. Allein die gründliche Selbstbetrachtung ermöglicht es, hinter einer Oberfläche von Taten und Ereignissen den eigentlichen Grund des eigenen Tuns zu erfassen. Das Frage- und Antwortspiel zwischen Pönitent und Priester konzentrierte sich auf die Psyche des Pönitenten, und die von der Kirche propagierte Selbstanalyse hat – dies belegt der Erfolg volkssprachlicher Werke dieser Art – Eingang in die laikale Lebenspraxis gefunden369. Die kirchliche Propaganda für die Beichte war vermutlich ein wesentlicher Grund dafür, dass sich die Bedeutung des Bußsakraments auch im Bewusstsein der Laienwelt verankern konnte. Diese kollektive Wertschätzung der Selbstbefragung im Beichtstuhl spiegelte sich wiederum in der weltlichen Dichtung, die die Vorstellung von der seligmachenden Beichte aufgriff und weitergab. Wie bereits erwähnt, gehörte der Nürnberger Handwerkerdichter Hans Rosenplüt, der bereits als laikales Sprachrohr ursprünglich mendikantischen Ideenguts charakterisiert wurde370, zu jenen Literaten, die dem Bußsakrament eigene Gedichte widmeten371. Seine versifizierte Beichtanweisung steht in enger 366 367 368 369
Marquard von Lindau, Das Buch der zehn Gebote 50-52, Zitate 50 und 51. Marquard von Lindau, Das Buch der zehn Gebote 10-16. Marquard von Lindau, Das Buch der zehn Gebote 19-21. Zu „Gewissenserforschung, Reueerweckung und Beichte“ als „Bestandteil der allgemeinen Mentalität“ vgl. Dinzelbacher, Erzwungenes Individuum 50. 370 Vgl. dazu oben 252. 371 Rosenplüt, Reimpaarsprüche 81-87. Zum Gedicht vgl. Reichel, Spruchdichter 172 f.
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Verbindung zur populären Erbauungsliteratur der Zeit, wie sie beispielsweise auch von den beiden oben genannten Mitgliedern des Franziskanerordens verfasst worden war. An einen fiktiven guten Freund, dessen Gewissen stark unter der drückenden Sündenlast litt – verkörpert durch „teuflische Zwerge“, die im Inneren des Sünders wüteten –, richtete der Dichter den Rat, er solle sich einem gelehrten Priester anvertrauen und vor diesem ohne Rücksicht auf Schamgefühl und Ehre alle Verfehlungen bekennen. Sein Innenleben möge er „wie einen Sack“ aufbinden und alle verborgenen Gedanken offenlegen. Denn nur wer mit allen Kräften sein Inneres durchleuchte, könne der göttlichen Gnade teilhaftig werden. Nach dieser emphatischen Einleitung reihte Rosenplüt verschiedene Sündenkataloge aneinander, die sich unter anderem an den sieben Todsünden, den sieben Sakramenten und den Zehn Geboten orientierten. Seine Ratschläge beschloss der dichtende Büchsenmacher mit Hinweisen auf die vier Voraussetzungen einer wirksamen Sündenabsolution: echte Reue, wahrhaftiges Bekenntnis, vollständige Bußleistung und gute Vorsätze. Kurz und prägnant hat die kirchliche Bußlehre in populären Gedichten dieser Art ihren Weg in bürgerliche Lesewelten und Mentalitäten gefunden. Hans Rosenplüt mit seinem Interesse an der Popularisierung kirchlicher Stoffe war keine Ausnahmeerscheinung. In Nürnberg selbst führte der Wundarzt und Meistersinger Hans Folz die Tradition fort372. Wie sein literarisches Vorbild übte Folz ein Handwerk aus und gehörte dem Nürnberger Bürgerstand an373. Als Meister verschiedenster Gattungen verfasste er Fastnachtspiele und Reimpaarsprüche sowie Meisterlieder und Prosatexte zu unterschiedlichen Themen374. Seine Nürnberger Leserschaft versuchte Folz mit der Literarisierung volkstümlicher Stoffe und sprachlicher Eleganz zu unterhalten und zu beeindrucken; seine Texte, insbesondere seine Reimpaarsprüche zeichnen sich jedoch zugleich durch ein stark didaktisches Bemühen um eine sittliche Durchdringung der Nürnberger Stadtgesellschaft aus375. Dies betrifft sowohl den weltlichen Bereich, so etwa, wenn die zeitlosen Männerlaster Frauenkauf, Alkoholgenuss und Spielsucht gegeißelt werden376, erfolgt allerdings auch in einem religiös-ethischen Rahmen. Gleichsam als weltlicher Pre372 Vgl. Schramm, Hans Rosenplüt und Hans Folz. 373 Vgl. Janota, Hans Folz in Nürnberg. 374 Zu Leben und Werk vgl. zusammenfassend Fischer, Studien zur deutschen Märendichtung 160-162, 309-312 (hier Literatur); Johannes Janota, Art. “Folz, Hans“, in: Verfasserlexikon 2 (1980) Sp.769-793; Krohn, Hans Folz. 375 Hans Folz, Die Reimpaarsprüche. Zu den Reimpaarsprüchen vgl. Spriewald, Literatur zwischen Hören und Lesen 56-116. – Zur Problematik vgl. allgemein Heger, Zur didaktischen Literatur des deutschen Spätmittelalters. 376 Hans Folz, Reimpaarsprüche Nr. 28-30 S. 241-262.
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diger, der sich bei der Abfassung seiner Texte predigthafter Elemente geschickt zu bedienen wusste, fühlte sich Hans Folz dazu berufen, als Vermittler theologischen Wissens und religiöser Werte aufzutreten. In seinen geistlichen Reden und Erzählungen bearbeitete der „Didaktiker mit ausgeprägtem literarischen Talent“377 vor allem biblisch-historische sowie satirische Stoffe, setzte sich dabei allerdings auch mit den Fragen der Sündenvergebung und Erlösung auseinander und widmete dem Bußsakrament in diesem Zusammenhang einen eigenen Reimpaarspruch378. Der Beichtspiegel von Hans Folz erschien am 18. März 1479 während der vorösterlichen Beichtvorbereitung. Der Zeitpunkt war geschickt gewählt, um die Nachfrage zu stimulieren. Jene Elemente, die die klerikale beichtdidaktische Literatur der Zeit charakterisierten, kehrten in dem Reimpaarspruch wieder. Um die Voraussetzungen für eine priesterliche Absolution zu bestimmen, wird der dreistufige Prozess von Reue, Beichte und Buße erläutert. Auf die Einführung in das Bußsakrament folgt eine Reihe von Tugend- und Lasterkatalogen, die dem Autor die Gelegenheit bieten, menschliche Stärken und Schwächen kasuistisch darzustellen. Am ausführlichsten wird dabei – wie in der Bußsumme des Johannes von Erfurt – auf die sieben Hauptsünden bzw. die Zehn Gebote eingegangen. Mit diesem Panorama sündhafter Vergehen und sittlicher Stärke versucht der Autor, seinem Leser ein Mittel zur eigenen Gewissenserforschung zu liefern und damit den österlichen Beichtgang vorzubereiten. Denn erst die sorgfältige Selbstdiagnose schafft die Möglichkeit, eine gründliches Bekenntnis gemäß dem folgenden Frageraster abzulegen: „mit wem, wie oft, wer, wen und wo man gesündigt hat, hier oder dort, warum, wogegen, freiwillig oder gezwungen, in Worten, Werken oder Gedanken, mit Schimpf, Ernst oder Gespött“379. Wie es den Guten und Gerechten bzw. den Sündern und Verstockten beim Jüngsten Gericht ergehen werde, erfährt der Leser im letzten Teil des Beichtspiegels, im dem Folz die ewige Glückseligkeit als Lohn eines auf Selbsterkenntnis und Reumütigkeit basierenden gottgerechten Lebens preist bzw. die schrecklichen Höllenqualen schildert, die alle jene Menschen erwartet, die das Beichtsakrament nicht in der beschriebenen Weise zur Tilgung der eigenen Sündenlast nutzen. 377 Langensiepen, Tradition und Vermittlung 12. Zum didaktischen Charakter der Texte von Hans Folz vgl. ebd. 36-91. 378 Hans Folz, Reimpaarsprüche Nr. 25 188-210. Von Hans Folz und seinem Umfeld stammen weitere Beiträge zum Thema „Beichte“. Vgl. dazu Hans Folz, Reimpaarsprüche Nr. 17 S. 124-130: Die missverständliche Beichte; Langensiepen, Tradition und Vermittlung 175-177. 379 Hans Folz, Reimpaarsprüche Nr. 25 vv. 463-466 S. 204.
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Hans Folz hatte persönlich dafür gesorgt, dass seine im letzten Viertel des 15. Jahrhunderts verfassten Reimpaarsprüche ohne lange Verzögerung im Druck erschienen380. Der 1513 verstorbene Dichter gehörte damit zu den produktivsten und „modernsten“ spätmittelalterlichen Autoren, sowohl in seinen Themen, literarischen Formen und Gattungen wie auch in den Praktiken der Literaturdistribution, dabei mit der Bindung des Literaturbetriebs an die städtische Gesellschaft das kommende Zeitalter vorwegnehmend. Der Beichtspiegel wurde nachweislich nicht nur in Nürnberg benutzt. Vom Erfolg des Textes zeugt auch die Tatsache, dass Johannes Geiler von Kaysersberg ihn 1497 seinen Fastpredigten zugrunde legte und sich um eine Neuauflage bemühte381. Die individuelle Selbstreflexion, ob mit der Unterstellung unter einen Priester verbunden wie in den altgläubigen Ländern oder dem individuellen Gewissen anheimgestellt wie in den reformierten Gemeinden, bildete zweifellos einen wesentlichen Charakterzug des anbrechenden neuen Zeitalters. Die Bettelmönche des 13. und 14. Jahrhunderts hatten einen essentiellen Beitrag zu diesen mentalitätsgeschichtlichen Wandlungen geleistet. Ohne ihr Bemühungen, die reformatio christiana beim Individuum beginnen zu lassen, wäre die Vorstellung von der Notwendigkeit der individuellen Gewissenserforschung vermutlich nicht so rasch von der Laienwelt aufgegriffen und internalisiert worden. Auf dieser Grundlage konnte die Beichte während des 15. Jahrhunderts auch im säkularen Bereich als notwendiger Bestandteil des christlichen Lebens begriffen werden.
3. Traum vom perfekten Menschen Die Geschichte der Individualität im späten Mittelalter ist geprägt von einem dialektischen Nebeneinander scheinbar widersprüchlicher Entwicklungen. In einer Zeit des ökonomischen und demographischen Aufschwungs wuchsen individuelle Freiheiten und Handlungsspielräume. Vor allem in den Städten lösten sich die Menschen von persönlichen und dinglichen Abhängigkeitsverhältnissen, um selbstbestimmter als zuvor ihrer Wege zu gehen. Die Kirche hatte lange Zeit Schwierigkeiten gehabt, sich den wandelnden Realitäten anzupassen und die neuen Lebensformen zu integrieren. Es waren in erster Linie die beiden großen Bettelorden, die im Laufe des 13. Jahrhunderts dafür sorgten, dass die Kirche die neuen Herausforderungen zu meistern imstande war. Gedan380 Zu Folz als Drucker und Verleger vgl. Spriewald, Hans Folz – Dichter und Drucker; Rautenberg, Das Werk als Ware. 381 Hans Folz, Reimpaarsprüche XXIV (Einleitung).
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ken aufgreifend, die im Umfeld der Pariser Universität diskutiert worden waren, setzten die Anhänger von Franziskus und Dominikus eine „pastorale Offensive“ in Gang, die auf die zunehmende seelsorgerische Durchdringung des spätmittelalterlichen Bürgertums zielte. Doch die Bettelmönche legten in ihren Predigten und Traktaten nicht nur den Grundstein für eine religiöse Legitimierung eines Prozesses der sozialen Diversifizierung. Sie waren auch dafür verantwortlich, dass neue Methoden sozialer Kontrolle eine Intensivierung erfuhren. Den Ausgangspunkt lieferte der einzelne sündige Mensch, der im Rahmen der sakramentalen Absolution der Hilfe des Priesters bedurfte und von diesem zur Gewissenserforschung angeleitet wurde. Auf der Grundlage eines verinnerlichten Sündenverständnisses begriffen die Verfasser der spätmittelalterlichen Beichtsummen den Priester als Richter im forum internum, der dafür zu sorgen hatte, dass der reuige Sünder eine angemessene Strafe erhielt. Dadurch wurde die Selbstthematisierung zu einem Medium der fortwährenden Selbstkontrolle, die das gesamte Leben einem analytischen Zugriff unterstellte. Die Auflösung des traditionellen Gesellschaftsverbandes, der Wegfall überlieferter Formen sozialer Einordnung, etwa im grundherrschaftlichen Bereich, wurden auf diese Weise ebenso kompensiert wie die zunehmende Isolierung der Menschen im Kampf um die Durchsetzung ihrer Einzelinteressen382. Auch die deutschen Mitglieder des Franziskanerordens hatten diese dialektische Entwicklungen in beide Richtungen begleitet und gefördert. Die mentalitätsgeschichtlichen Wurzeln dieses Strebens lagen in einem Glauben an die Verbesserungsfähigkeit des Menschen und der Welt383. Solche Gedanken zur Perfektibilität des Menschen und der Konstruktibilität der Welt erhielten im Pariser Umfeld des Petrus Cantor eine neue zukunftsweisende Richtung. Alanus von Lille, der nach seinem Studium an der Schule von Chartres in Paris die artes liberales und Theologie lehrte und zu den berühmtesten Pariser Magistern des späten 12. Jahrhunderts zählte, hatte das starke moraltheologische Interesse, welches die Atmosphäre an der Pariser Universität jener Jahre wesentlich bestimmte, in eigenen Arbeiten umgesetzt384. In seinem Gedicht De planctu naturae bemühte er sich, die Laster seiner Zeit möglichst plastisch darzustellen und zu geißeln385. Mit der Schrift De arte praedicatoria widmete er einem zentralen Medium pastoraler Betreuung der Laienwelt 382 Vgl. Feistner, Semantik 14. 383 Zur spätmittelalterlichen Dichtung, die „aus einem fast rührenden Glauben an die Besserung der Menschen und der Welt getrieben wird“ vgl. Boor, Die deutsche Literatur im späten Mittelalter 375. 384 Vgl. Longère, Théologie et pastorale de la pénitence. 385 Zur Schrift vgl. Köhler, Natur und Mensch in der Schrift De Planctu Naturae.
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eine eigene Schrift386. Alanus verdichtete und überhöhte seine Vorstellungen vom irdischen Menschen, dessen Unterweisung und Lenkung die vollständige Aufmerksamkeit des Pariser Gelehrtenkreises galt, in seinem Lehrgedicht Anticlaudianus387. In einer harmonischen Mischung von Rationalität und Ethik zeichnete er hier das Bild eines sündlosen und zugleich gelehrten Menschen, dessen Wesen Gelehrsamkeit, Verstandeskraft und Tugend gleichermaßen prägten388. Das utopische Denken, das erst im neuzeitlichen Europa zur vollen Entfaltung kommen sollte, fand eine seiner frühesten Ausdrucksformen in jenem akademischen Zirkel, dem die Bettelorden wesentliche Anstöße für das eigene Denken und Handeln verdankten. Noch direkter war der Einfluss, den das Vermächtnis Joachims von Fiore auf die Franziskaner ausübte389. Der süditalienische Abt hatte in seinem prophetischen Liber Figurarum von einem neuen kurz bevorstehenden Zeitalter gesprochen, in dem die Welt zwar in ihrer irdischen Erscheinung, aber vollkommener als bisher weiterbestehen würde. In kleinen Gemeinschaften würden die Menschen zusammenleben, auf glücklichen Inseln, der Arche Noah vergleichbar. Wie in den klassischen Utopien der Neuzeit lebten und wirtschafteten die Menschen miteinander, asketisch und kommunistisch. Alle Eheleute, Priester und Mönche folgten einem vorgeschriebenen Tagesablauf in festen Siedlungsformen und strebten auf dieselbe Weise nach einem einheitlichen Glück. In diesem neuen dritten Zeitalter seien alle Menschen vom Heiligen Geist inspiriert, so dass menschliche Herrschaft traditioneller Art überflüssig sein würde. Mönche, Mitglieder eines neuen Ordens, der nach dem Vorbild des himmlischen Jerusalems aufgebaut sei, sollten die Lenkung der Menschheit übernehmen, die ihr gesamtes Leben auf die religiöse Muße ausrichten werde390. Bemerkenswert an diesem mönchischen Gemeinschaftsmodell ist nicht allein, dass es eine „Vorwegnahme künftiger utopischer Projekte darstellt, deren Strukturen eben nicht genialer Neuschöpfung entsprangen, sondern offensichtlich vorgeformten Bahnen
386 Alain de Lille, Summa de arte praedicatoria. Zu Alanus’ Interesse für die Predigt vgl. auch Bartòla, La technica della predicazione. 387 Alain de Lille, Anticlaudianus; Alanus ab Insulis, Der Anticlaudian. Zum Werk vgl. Ochsenbein, Studien zum Anticlaudianus; Simpson, The Information of Alan of Lille’s Anticlaudianus. 388 Vgl. Seibt, Utopie als Funktion 65 f. 389 Vgl. dazu oben 90 ff. 390 Zum dritten Zeitalter nach dem Liber Figurarum vgl. Seibt, Liber figurarum; Thompson, Reinterpretation; Troncarelli, Il Liber Figurarum. Zu Joachim von Fiores Diagrammen (figurae) als Veranschaulichung seiner theologischen, historischen und exegetischen Konzepte vgl. Patschovsky, (Hg.), Bildwelt.
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der abendländischen Tradition“391, sondern auch, dass hier der perfekte Mensch, den bereits Alanus von Lille beschrieben hatte, in eine vollkommene paradiesische Welt integriert wird392. Die ausführlichste Paradiesdarstellung des 13. Jahrhunderts ging bezeichnenderweise ebenfalls auf einen mendikantischen Gelehrten zurück393. Im Gegensatz zu anderen Autoren seiner Zeit, die jener überirdisch entrückten Sphäre wenig Aufmerksamkeit schenkten, beschrieb Thomas von Aquin das Paradies in seinem Sentenzenkommentar als geographisch definierte Ideallandschaft unter dem Äquator. Auch über das dortige Leben der Menschen wusste der berühmte Dominikaner einiges zu berichten. Ganz natürliche Eigenschaften habe der unsterbliche paradiesische Mensch besessen und sich trotz der fleischlichen Zeugung eine geistige Virginitas erhalten. Nichts Abstoßendes sei an diesem Menschen zu finden gewesen, kein Defekt durch Jugend, Alter, Krankheit oder Tod. Immerwährenden Glücks habe er genossen, sei er doch durch keine Wirrungen daran gehindert worden, sich in Ruhe der geistigen Muße zu erfreuen. Selbst die körperliche Arbeit, im Zustand der Sünde eine mühevolle Plage, sei im Paradies das reinste Vergnügen gewesen394. Gelehrte wie Alanus von Lille, Joachim von Fiore und Thomas von Aquin haben anthropologische Gedanken utopischer Gesellschaftsentwürfe der europäischen Neuzeit vorweggenommen395. „Die Interdependenz aller menschlichen Beziehungen im Hinblick auf eine mögliche und nötige universale Ordnung; das Vertrauen in die grundsätzliche menschliche Neigung zu sozialer Harmonie; seine Disposition dafür aus seiner religio naturalis; die intellektuelle Führungsrolle in der Gesellschaft an Stelle der herkömmlichen des Geblütsadels; die Verbundenheit aller menschlichen Dinge mit dem Kosmos, eingebunden in das Schöpfungsganze“, dies sind zweifellos Positionen, welche die Vordenker der „pastoralen Offensive“ des 13. Jahrhunderts mit den Utopisten späterer Jahrhunderte teilten396. Das gemeinsame Fundament dieses Traums von der universalen Eintracht bildete eine scholastische Erkenntnistheorie, die von der Erkenntnisfähigkeit des Menschen und der Erkennbarkeit der Welt ausging. Epo391 Seibt, Utopie als Funktion 68. 392 Zu Joachim als utopischen Denker vgl. auch Coleman, Continuity of Utopian Thought 14-18. 393 Zur Problematik vgl. einführend Patch, The Other World; Hahn, Soziologie der Paradiesvorstellungen; Delumeau, Une histoire du paradis. 394 Seibt, Thomas und die Utopisten 100 f. 395 Zu einer Charakterisierung mittelalterlicher Utopien vgl. Graus, Social Utopias; Seibt, Utopie im Mittelalter. 396 Seibt, Thomas und die Utopisten 96.
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chenübergreifend strebt ein solcher erkenntnistheoretischer Optimismus in seiner Hoffnung auf die große Harmonie nach einer Neuordnung der Welt nicht aus Willkür, sondern aus Einblick in die ewigen Ordnungen bei Korrektur aller menschlichen Unzulänglichkeiten. Im 13. Jahrhundert waren es vor allem Bettelmönche, die diese Vorstellungen von der Perfektibilität des Menschen zum Anlass nahmen, um sich über Möglichkeiten ihrer Realisierung Gedanken zu machen. Die innovative Ausrichtung der Bettelorden, in denen die monastische Selbstregulierung eine enge Verbindung mit der großen pastoralen Außenwirkung einging, prädestinierte Dominikaner und Franziskaner, eine führende Rolle bei der utopischen Überhöhung sozialer Realität zu spielen. Als Mönche hatten sie sich wie ihre Vorgänger aus dem Benediktiner- oder dem Zisterzienserorden einer streng geregelten vita communis unterworfen, die als Urbild aller utopischen Gesellschaftsentwürfe gelten kann397. Das mendikantische Ziel einer Reformierung der societas christiana legte die Übertragung monastischer Lebensideale auf größere Bevölkerungskreise nahe. Besonderer Sorgfalt musste in einem solchen Rahmen der Ausbildung des eigenen Nachwuchses zukommen. Alle Vorstellungen und Konzepte des idealtypischen Christenlebens flossen daher ein in den Unterricht der eigenen Novizengemeinschaft. Der mendikantische Traum vom perfekten Menschen nahm in solchen Erziehungsschriften deutliche Gestalt an. Der vielleicht erfolgreichste Text dieser Art stammt von dem deutschen Franziskaner David von Augsburg398. Der theologisch gründlich geschulte David von Augsburg verfolgte mit allen seinen Texten praktische pädagogische Ziele, war er doch um 1240 selbst als Novizenmeister seines Ordens in Regensburg tätig. Wenige Jahre später bestimmte der Papst ihn zusammen mit Berthold von Regensburg und anderen Klerikern zu päpstlichen Visitatoren der beiden Regensburger Kanonissenstifte. Mit dem Franziskaner Volksprediger Berthold war David offenbar gut bekannt; vermutlich hat er seinen Mitbruder bei zahlreichen Predigt- und Missionsreisen begleitet. Im Jahr 1272 starb David von Augsburg in seiner Heimatstadt399. Sein Hauptwerk, in das er sein gesamtes erzieherisches Bemühen einfließen 397 Zur Klostergemeinschaft als „most perfect society achievable in history on earth“ vgl. Coleman, Continuity of Utopian Thought 2-14. Vgl. dazu auch Séguy, Les sociétés imaginées. Zum Problem vgl. auch Walther, Veränderbarkeit. 398 Nach wenig erforscht, aber ähnlich von seiner inhaltlichen Ausrichtung ist das „Speculum Disciplinae“, ein Text, der heute Bernardus de Bessa, dem Sekretär und Vertrauten Bonaventuras, zugeschrieben wird, nachdem er zuvor für ein Werk Bonaventuras gegolten hatte. 399 Zu Person und Werk vgl. grundlegend Kurt Ruh, Art. „David von Augsburg“, in: Verfasserlexikon 2 (1980) Sp. 47-58; Martin A. Schmidt, Art. „David von Augsburg“, in: TRE 8 (1981) 388-390. Vgl. auch Rüegg, David von Augsburg.
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ließ, trägt den Titel De exterioris et interioris hominis compositione secundum triplicem statum incipientium, proficientium et perfectorum. Diese Ordnung des äußeren und inneren Menschen gemäß den drei Gruppen der Beginnenden, der Fortgeschrittenen und der Vollkommenen zählt mit einer Überlieferung von über 370 Handschriften zu einem der erfolgreichsten Lehrbücher des geistlichen Lebens im späten Mittelalter400. Der Ordnung des äußeren Menschen ist der erste Abschnitt des Werks gewidmet. Es handelt sich dabei um ein umfassendes Regelwerk, das den Novizen die Einübung in die geistliche Lebensform erleichtern soll401. Davids erklärtes Ziel war es, seinen Schülern elementare Richtlinien zu geben, die diese zu einem internalisierten Gehorsam und zur Selbstdisziplinierung ermunterten. Geordnet wurde das Leben der Novizen im Speculum monachorum – wie dieser erste und erfolgreichste Abschnitt des Werks in späterer Zeit häufig genannt wurde – von äußeren Richtlinien her. Denn sichtbare Disziplin und Haltung begriff David als Ausdruck und Stütze innerer Werte. Mit dieser Suche nach einem harmonischen Verhältnis von innerer Gesinnung und äußerer Haltung stand David von Augsburg in einer Tradition, die weit ins 12. Jahrhundert zurückreichte, wie sich generell seine starke pädagogische Sorge um den monastischen Nachwuchs trefflich in das allgemeine mendikantische Erziehungsdenken einfügt402. Der einzelne Novize wurde einem möglichst lückenlosen Regelwerk unterworfen. Vom Aufstehen vor Sonnenaufgang bis zur Nachtruhe nach vollbrachtem Tagwerk regeln einzelne Bestimmungen das Novizenleben. Demütige Selbstbeherrschung gilt als oberstes Gebot in jeder Lebenslage. Immer wieder wird davor gewarnt, die stets gebotene Zurückhaltung aufzugeben. So schreibt David über Tischmanieren: „Bei Tisch vermeide es, hin und herzublicken […] Versenke dich nicht so ganz und gar in das Essen wie ein hungriger Hund. Schau nicht mit ruhelosen Augen und unruhigem Herzen umher, welche Speise auf dem Tische etwa feiner und besser wäre“403. Eine würdevolle Bescheidenheit fordert David nicht allein beim Essen, sondern auch bei Gebärden, Sitten, Reden, Blicken 400 David von Augsburg, De compositione. Zur Überlieferung vgl. ebd. XX-XXXVII sowie zuletzt Pezzini, La tradizione manoscritta inglese. – Eine umfassende Auseinandersetzung mit dem Werk (Autor, Abfassungszeit, Quellen, Textgestalt, Intention) zuletzt bei Bohl, Geistlicher Raum. 401 Zu mittelalterlichen Handbüchern der Novizenerziehung vgl. Knox, Disciplina 112114. Eine Interpretation des Werks bei Ruhe, Mönche, Nonnen und die ideale Frau 52-56. 402 Vgl. dazu oben II.3. Zur Verbindung äußerer Erscheinung und innerer Gesinnung vgl. auch Knox, Disciplina 109-112. 403 David von Augsburg, De compositione I.7, Villanova, Wegweiser 13 f. Zu Parallelen zu den adlig-höfischen Tischgeboten vgl. Wenzel, Tisch und Bett 318-325.
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und Schritten, d. h. in allen Bereichen menschlicher Ausdrucksformen und Gestik404. Der Gang sei ernst, das Sitzen gerade, das Reden sanft, das Lachen selten usw. In Situationen, in denen es nicht gelingt, den eigenen Willen gänzlich zu kontrollieren, wird dem Novizen geraten, zumindest den Schein der Contenance zu wahren. So sei es nicht erlaubt, während des Stundengebets Gedanken und Blicke hin- und herschweifen zu lassen, mit einer Einschränkung allerdings: „Wenn es dir aber nicht gelingt, innerliche Andacht zu haben, dann versuche doch wenigstens, äußerlich den Anstand und sittlichen Ernst aufrechtzuerhalten aus Ehrfurcht vor Gott und zur Erbauung der anderen Brüder“405. Bereits die Anfänger (incipientes) stehen vor der Aufgabe, neben den Umgangsformen auch ihr Innenleben der Eigen- und Fremdkontrolle zu unterwerfen. So hat der Novize in den Versammlungen aller Konventsmitglieder ein offenes Bekenntnis der eigenen Fehler abzulegen und Vergehen anderer gegen die klösterliche Zucht anzuzeigen406. Daneben gehört die beständige Gewissenserforschung zu den Pflichten des zukünftigen Mönchs. Zur Beichte schreitet der Novize nach Davids Vorstellungen weit häufiger als der durchschnittliche Laie: „Beichte oft, wenigstens dreimal wöchentlich, und bekenne deine Fehler dem Beichtvater wie einem Engel, der die Geheimnisse deines Herzens kennt. Niemals entschuldige etwas und nie stelle es leichter dar; auch drücke dich nicht so verworren aus, dass der Beichtvater nicht versteht, was du sagst. Deine Fehler musst du im Einzelnen aufführen, ohne jedoch ganze Geschichten oder das Tun und Lassen anderer damit zu verbinden“407. Häufig vermag allein das Sakrament der Buße das Seelenheil zu bewahren. Deshalb rät David besonders jenem Mönch, der sich außerhalb des Klosters aufhalten muss, zur sorgfältigen Gewissenserforschung und aufrichtigen Beichte, führten die weltlichen Verlockungen doch ansonsten zum sicheren Untergang. Zusammengefasst werden die Ermahnungen zur Selbstkontrolle in einem Paragraphen, der überschrieben ist mit der Rubrik „Von der Wahrung der Disziplin im Verborgenen“ (De disciplina in occulto servanda): Führe dich auch in der Abgeschlossenheit in Blick und Gebärden immer so anständig und rein auf, dass dich jedermann sehen dürfte. Die heiligen En404 Zur großen Bedeutung, die Gesten in den mittelalterlichen Schriften zur Novizenerziehung gewidmet wird, vgl. Schmitt, La raison des gestes 150 (hier allerdings falsche Zuschreibung des Werks). 405 David von Augsburg, De compositione I.5, Villanova, Wegweiser 11. 406 Zu institutionalisierten Formen klösterlicher Selbstkontrolle vgl. Jacobs, Zur juristischen Struktur des benediktinischen Sanktionssystems; Schreiner, Observantia regularis 283-286. 407 David von Augsburg, De compositione I.11, Villanova, Wegweiser 18 f.
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gel, die bei uns sind, sehen allzeit ein jedes unserer Werke, und ihren Anblick müssen wir stets ehren, ihre Gegenwart fürchten. Es schaut auf uns auch der Herr, der unser Richter sein wird, der in seiner Allgegenwart Herz und Nieren durchforschet, das heißt alle fleischlichen Gelüste und Gedanken. Zudem ist in uns unser Gewissen, das alles, was wir tun, bezeugt und einst anklagen wird. Wer aber mehr das Auge der Menschen fürchtet als das Auge Gottes und der Engel und seines eigenen Gewissens, der ist kein wahrer Liebhaber der Tugend. Er vermeidet die Sünde nicht aus Liebe zum wahrhaft Guten, sondern aus Furcht vor dem Verluste zeitlicher Ehre. Der ist kein wahrer Diener Christi, der mehr den Menschen zu gefallen sucht als Gott408.
Diese unaufhörliche Übung äußerlicher und innerlicher Selbstbeherrschung bildet das Fundament monastischen Strebens nach Vollkommenheit409. An diese einführenden Richtlinien fügte David von Augsburg eine Reihe von Grundsätzen, an denen die Novizen ihr Leben ausrichten sollten410. Von der beständigen Festigkeit, mit der an den Ordensregeln festgehalten werden muss, ist ebenso die Rede wie von der Gefahr des Müßiggangs. Im Zentrum dieses zweiten Abschnitts des ersten Buchs über den „äußeren Menschen“ steht allerdings das korrekte Verhalten den Mitmenschen gegenüber. Gefordert wird eine strenge Selbstkontrolle, die jede Beziehung zu anderen Menschen einer demütigen Zurückhaltung unterwirft. Der ernsthafte Novize interessiert sich nach Davids Vorgaben weder für irdische Güter noch für menschliches Lob, er gibt nichts auf das Urteil seiner Mitmenschen und maßt sich selbst kein Urteil an. In Fortführung von Gedanken aus dem ersten Teil des Abschnitts rühmt David als höchstes Gut die fortschreitende Selbstbeherrschung in allen Lebenslagen, entsprechend schildert er die Lockerung der Disziplin als Beginn des Untergangs: Soviel Macht musst du über dich bekommen, dass du auf jeden Befehl deiner Vernunft sowohl die Herzensstimmung als auch die Glieder und Sinne des Leibes vom Bösen abwenden und zum Guten hinführen kannst. Augen, Hände, Zunge, Ohren und Gedanken halte stets in deiner Gewalt, damit sie nicht die Grenzen der Zucht überschreiten. Wie ein gezähmter Vogel oder ein gebändigtes Tier augenblicklich zur früheren Wildheit zurückkehrt, sobald ihm mehr Freiheit gewährt wird, so verleiten auch die äußeren Sinne wie die Gefühle und Stimmungen, wenn sie nicht ohne Schonung gezügelt werden, infolge der gewährten Freiheit zu Ausschreitungen411. 408 David von Augsburg, De compositione I.14, Villanova, Wegweiser 26. 409 Zur Rolle des Gewissens bei der Verinnerlichung monastischer Normen vgl. Melville, Der Mönch als Rebell 171-182. Zur Problematik vgl. auch Zschoch, Klosterreform und monastische Spiritualität 180 f. 410 David von Augsburg, De compositione I S. 36-62, Villanova, Wegweiser 66-99. 411 David von Augsburg, De compositione I.40.2, Villanova, Wegweiser 81.
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Gemäß diesen Richtlinien erfolgt die Erneuerung des äußeren Menschen. Der Ordensneuling, der sich an Davids Regelwerk orientiert, hat nicht nur den Ablauf seines täglichen Lebens an detaillierten Vorgaben ausgerichtet, sondern sich auch fleißig auf dem Gebiet der Selbstbeherrschung geübt. Dies schafft die Voraussetzung, die zweite Stufe des Ordenslebens zu erreichen. Für jene Fortgeschrittenen schrieb David von Augsburg die Erneuerung des inneren Menschen. Wie das erste Buch folgt auch dieses dem Programm einer fortschreitenden Verinnerlichung412. Im Kampf mit den Lastern und in der Einübung der Tugenden werden des Menschen ursprüngliche Unschuld und Gottähnlichkeit wiederhergestellt. Die reformatio interior erfolgt durch die drei Seelenkräfte Vernunft, Wille und Gedächtnis (ratio, voluntas, memoria). Nach allgemeinen Überlegungen, in denen erneut eine eifrige Beständigkeit im Verfolgen der geistigen Ziele eingefordert und vor den Verlockungen irdischer Genüsse gewarnt wird, schildert David in diesem Abschnitt ausführlich den Kampf der seelischen Kräfte gegen die Leidenschaften. Wie in der Bußsumme des Johannes von Erfurt werden die sieben Hauptlaster – David nennt Stolz, Neid, Zorn, Trägheit, Geiz, Völlerei, Unkeuschheit413 – zum Ordnungskriterium, um eine umfassende Morallehre zu entwickeln und diese mit Hilfe einer einfachen Sprache zu veranschaulichen. Im erfolgreichen Kampf mit diesen Leidenschaften liegt die Erneuerung des inneren Menschen. Dieser Teil von Davids dreigliedrigem Werk steht in der Tradition mittelalterlicher Traktate über Tugenden und Sünden (De virtutibus et vitiis), die bis in die frühchristliche Zeit zurückreicht414. Mehr oder weniger systematisch und vollständig wurden in diesen Morallehren die wichtigsten Tugenden und Sünden abgehandelt. Während manche Autoren sich auf die Erörterung ausgewählter Bereiche beschränkten, etwa die Kardinaltugenden oder die sieben Hauptsünden, strebten andere nach größtmöglicher Vollständigkeit. Die signifikante Abgrenzung der Sünden- und Tugendtraktate gegenüber anderen Literaturgattungen wird nicht allein durch diese inhaltliche Heterogenität erschwert, sondern auch durch die Tatsache, dass sich einschlägige Schemata ebenfalls in theologischen und pastoralen Werken finden lassen. Die mittelalterliche Wahrnehmung und Interpretation einzelner Tugenden und Sünden lässt sich daher nicht allein mittels systematischer Morallehren bestimmen, 412 Zur Problematik vgl. Einhorn, Der Begriff der „Innerlichkeit“. 413 Zur Systematisierung der Todsünden im Mittelalter vgl. Penco, La classificazione dei peccati capitali; Casagrande/Vecchio, I sette vizi capitali 181-224. 414 Zu Definition und Genese der Literaturgattung vgl. Newhauser, „Alle sunde hant vnterschidunge“; Newhauser, Treatise 55-96 und 98-108. Zur Genese in patristischer und karolingischer Zeit vgl. Jehl, Lasterschema. Zur handschriftlichen Überlieferung vgl. Bloomfield (Hg.), Incipits of Latin Works on the Virtues and Vices.
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sondern muss andere Literaturgattungen mit einbeziehen415. Die verschiedenen Autoren verfolgten mit ihren einschlägigen Traktaten unterschiedliche Absichten. Erster Zweck war stets die Bereitstellung einer allgemeinen Orientierungshilfe, die dem klerikalen und laikalen Leser nicht nur mit der kirchlichen Morallehre vertraut machte, sondern ihm darüber hinaus die Möglichkeit bot, seine eigenen Gedanken und Taten im Spiegel dieser Lehre zu überprüfen. Mit der Anleitung zur Selbstprüfung einher ging das Ziel, dem Leser bei der Vorbereitung zur Beichte Hilfsdienste zu leisten. Es war dieser innere Zusammenhang von systematischer Morallehre und Bußsakrament, der Johannes von Freiburg dazu veranlasste, seiner Bußsumme die sieben Hauptsünden als Ordnungskriterium zugrunde zu legen416. Schließlich konnten systematische Darstellungen von Tugenden und Sünden Funktionen bei der privaten Andacht und der Erziehung erfüllen oder als Materialsammlung für die Predigt gedacht sein417. Ihrem Selbstverständnis als Seelsorger entsprechend, waren es seit dem 13. Jahrhundert vor allem Bettelmönche, die sich um die Erstellung systematischer Morallehren bemühten oder mit ihnen in Verbindung gebracht wurden. Als Vorbilder aus dem 12. Jahrhundert dienten Franziskanern und Dominikanern Hugo von St. Viktor und Alanus ab Insulis, die jeweils mehrere einschlägige Arbeiten verfasst hatten418. Vom Franziskaner Johannes de Rupella stammte die erste große Summa de vitiis, geschrieben vor 1236. Anonyme Werke des 13. und 14. Jahrhunderts, deren Provenienz in mendikantischen Kreisen zu suchen ist, wurden sehr bald prominenten Gelehrten aus den Bettelorden wie Albertus Magnus, Alexander von Hales und Bonaventura zugeschrieben419. 415 So auch die Vorgehensweise von Fichtenau, Askese und Laster; Bloomfield, The Seven Deadly Sins. Zur Problematik vgl. allgemein Wenzel, The Seven Deadly Sins. 416 Vgl. dazu oben. Teilweise auf Johannes von Erfurt basierend, verfasste Heinrich von Langenstein Ende des 14. Jahrhunderts seine „Erchantnuzz der sund“, in der – analog zu Johannes’ Arbeitsweise – eine einführende Erörterung des Bußsakraments mit einem Katalog der sieben Todsünden verbunden wurde. Vgl. dazu Heinrich von Langenstein, Erchantnuzz der sund. 417 Vgl. Jehl, Lasterschema; d’Avray, Preaching 76 f. 418 Zu Hugo von St. Viktor vgl. Baron, Études sur Hugues de Saint-Victor 246-255 (mit den beiden Werken „De septem vitiis“ und „De virtutibus et vitiis“, das Hugo zugeschrieben wird). Zu weiteren Morallehren, die von Hugo von St. Viktor stammen oder ihm zugeschrieben werden vgl. Newhauser, Treatise 33 f. und 120 f. – Zu Alanus vgl. Lottin, Psychologie et morale 28-36, 45-92. Vgl. dazu Delhaye, La vertu et les vertus; Newhauser, Treatise 122-124. – Zum Einfluss von Hugo von St. Viktor auf David vgl. Matanic, La “hominis compositio”. 419 Zu Rupella vgl. Newhauser, Treatise 125. Zu Überlieferung und Zuschreibung der anderen Werke vgl. ebd. 25-28. Zu weiteren Werken aus der Feder von Mendikanten vgl. ebd. 134.
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Die mit mehr als 300 Handschriften erfolgreichste Version des Genres stammte aus der Feder Guillaume Peyrauts (Guillelmus Peraldus), der vor 1250 sowohl eine Summa de vitiis wie auch eine Summa de virtutibus verfasste. Beide Texte wurden bereits ab der Jahrhundertmitte häufig als Einheit betrachtet und gemeinsam überliefert. Im Gegensatz zu systematischen Morallehren früherer Jahrhunderte verzichtete der französische Dominikaner auf abstrakte moraltheologische Erörterungen und stellte den praktischen Nutzen so stark in den Vordergrund, dass man seine beiden Summen als Kompendien für Priester und Seelsorger charakterisieren kann420. Eine solche Integrierung von Tugend- und Lasterkatalogen in größere Werke pastoraltheologischer Ausrichtung ist typisch für die spätmittelalterliche Entwicklung der gesamten Literaturgattung421. Die Erörterung positiver und negativer menschlicher Verhaltensweisen wurde offenbar in immer stärkerem Maße von einem praktisch-erzieherischen Impetus vorangetrieben. Dieser Tendenz zeigte sich an der Wende zum 14. Jahrhundert auch Johannes von Erfurt verpflichtet, als er einen Abschnitt seiner Bußsumme gemäß den sieben Hauptsünden strukturierte; eine Generation zuvor hatte bereits sein Ordensbruder David von Augsburg den Katalog der sieben Hauptsünden seinen Gedanken zur Erneuerung des inneren Menschen zugrunde gelegt. Das Ergebnis war eine plastische Schilderung des Kampfes gegen die sündhaften Leidenschaften, denen sich jedes Menschenleben ausgesetzt sah. Die einzelnen Sünden wurden dabei in einzelne Unterbereiche geteilt, für die Völlerei etwa sind dies folgende Punkte: zu häufiges und vorzeitiges Essen; zu schnelles und gieriges Essen; zu große Mengen; zu kostbare Speisen. Anschließend wurden vom Autor in der Regel Ursachen und Konsequenzen der einzelnen Vergehen bedacht und nach geeigneten Heilmitteln gesucht. Die Ausdifferenzierung geht bei manchen Hauptsünden weit über das genannte Beispiel hinaus, dennoch bleibt stets ein gewisses Maß an Anschaulichkeit und Eindringlichkeit erhalten. David von Augsburg war zweifellos darum bemüht, kein scholastisches Lehrbuch für den höheren Schulbetrieb, sondern ein praktisches Handbuch für den täglichen Gebrauch anzufertigen. Bemerkenswert ist an diesem kompendienhaften Abschnitt zudem, dass der Autor auf Bezüge und Verweise zum Ordensleben verzichtete. Den Kampf gegen die Leidenschaften muss jeder Mensch bestehen, hier gelten für den Novizen des Franziskanerordens offenbar keine 420 Zum Autor vgl. Dondaine, Guillaume Peyraut; Newhauser, Treatise 127-130. Eine Edition der Summe befindet sich in Vorbereitung (Bearbeiter: Kent Emery jr., Joseph Goering, Richard Newhauser, Catherine Pinchetti, Siegfried Wenzel). 421 Zur literaturgeschichtlichen Entwicklung des Genres im späten Mittelalter vgl. Newhauser, Treatise 124-135.
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grundsätzlich anderen Regeln und Ermahnungen wie für die christliche Laienwelt im Allgemeinen. Im dritten und letzten Buch von De Compositione beschrieb David von Augsburg in sieben Stufen, wie das monastische Leben auf seine Vollendung hin zu ordnen sei. Zunächst wandte sich der franziskanische Novizenmeister direkt an seine Schüler, um sie in den ersten drei Stufen erneut zu beständigem Eifer, asketischen Übungen und Glaubensfestigkeit zu ermahnen. Während sich David in diesem Abschnitt auf wenige Worte beschränkt, schenkt er den drei folgenden Stufen höchste Aufmerksamkeit und räumt ihnen drei Viertel des Umfangs seiner Aufstiegslehre ein. Thema ist der Kampf des Menschen gegen allgegenwärtige Versuchungen. Nicht anders als die Fortgeschrittenen im zweiten Abschnitt über die Innere Erneuerung müssen sich auch jene, die nach der geistigen Vollendung streben, zunächst im Kampf gegen die Leidenschaften bewähren. Der konkrete Bezug zum Ordensleben und zur Ordenszugehörigkeit gerät in diesem Abschnitt ebenso wie im oben geschilderten Kampf gegen die sieben Hauptsünden in den Hintergrund. Der Widerstand gegen sündhafte Verlockungen betrifft alle Menschen auf der vierten Stufe ihres Weges zu Gott und erfüllt in Davids Augen durchaus eine sinnvolle Funktion: Geprüft wird, was lange währen soll, und alles Vornehme und Teuere, ob es so sei, wie es sein soll. So wird auch die Tugend des Frommen, die das Edelste ist und für immer bestehen muss, in der Versuchung einer Prüfung unterzogen, ob sie wohl auch beharrlich sei. Und so prüft Gott seine Freunde im Unglück, ob sie ihm die Treue halten. […] Die allgemeinste Versuchung aber, von der wir alle auf dem großen und tiefen Meer umhergeworfen werden, ist der Aufruhr unserer Leidenschaften. Da sind wir oft in Gefahr unterzugehen, und hernach arbeiten wir uns mit erneuter Kraft empor, um dann gewissermaßen von solchen Stürmen verschont zu bleiben422.
Wer Zweifel und Ungeduld sein Herz beherrschen lässt, wer sich der Freud- und Mutlosigkeit ergibt, kann die Prüfung nicht bestehen. Wer jedoch standhaft bleibt, der lernt aus der Überwindung seiner Leidenschaften. Welche Heilmittel dem Menschen zur Verfügung stehen, in diesem Kampf zu bestehen, erfährt der Leser aus der Darstellung der fünften Stufe, in der David seine Ausführungen über angemessenes Verhalten im Privaten und in der Öffentlichkeit aus dem ersten Buch wieder aufgreift und variiert. Die Wichtigkeit demütigen Auftretens in allen Lebenslagen wird ebenso wiederholt wie die Übereinstimmung von äußerlichem Handeln und innerer Einstellung. Dies schafft die Voraussetzung, um im Kampf mit den Leidenschaften bestehen zu können. Triumphieren kann 422 David von Augsburg, De compositione III.3.1 und III.10, Villanova, Wegweiser 220 und 233.
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jedoch allein der Mensch, der mit jenen sieben Tugenden ausgestattet ist, die den sieben Hauptsünden gegenübergestellt sind. Von ihnen ist auf der folgenden sechsten Stufe die Rede. Der Katalog umfasst folgende Tugenden: Demut gegen Stolz, Nächstenliebe gegen Neid, Sanftmut gegen Zorn, Gottesliebe gegen Trägheit, Verachtung der Reichtümer gegen Geiz, Mäßigkeit gegen Völlerei, Keuschheit gegen Wollust. Zwar gebe es – so David – weitere Einteilungen der Tugenden, doch da er „nur zu einfachen Leuten ganz einfach reden wolle“, konzentriere er sich auf eine solche Anordnung423. Die sechste Stufe des Wegs zur Vollendung umfasst also eine Summa de virtutibus, die entsprechend der Summa de vitiis im zweiten Buch das ausführlichste Kapitel im dritten Buch darstellt. Gemäß der Vorgangsweise im Lasterkatalog traf David auch hier wieder zahlreiche Unterteilungen, um die einzelnen Tugenden sowie die sie bedrohenden Untugenden listenartig aufzugliedern und nach scholastischer Manier zu erörtern. Erneut gerät der Bezug zum Ordensstand in den Hintergrund. Konstruiert wird vielmehr ein allgemeiner Tugendkatalog, der Normen und Gebote für das christliche Leben im Allgemeinen formuliert. David von Augsburg hat mit dieser Integrierung zweier Moralkataloge in seine via triplex zur christlichen Vollkommenheit die literaturgeschichtliche Entwicklung des Genres der systematisierten Morallehren gleichsam abgeschlossen. Wie Guillaume Peyraut dachte der franziskanische Novizenmeister an ein breites Publikum, als er seine Laster- und Tugendlehre verfasste; doch anders als der französische Dominikaner machte David seine moralischen Erörterungen zu Bestandteilen eines umfassenden Erziehungstraktats, der zwar vordergründig auf die Novizenausbildung und das Ordensleben zielte, im Grunde jedoch den christlichen Menschen als solchen in den Blick nahm424. Dieser allgemeinen Ausrichtung widerspricht auch nicht die Tatsache, dass die Vollkommenheit selbst, der David die siebte und letzte Stufe seiner Aufstiegslehre vorbehält, nur durch das Gebet erreicht werden kann. Die mystische Kontemplation wird nach Davids Lehre sogar jenen, die ihr ganzes geistliches Leben auf sie hin orientiert haben, nur in besonderen Augenblicken zuteil. So ist es die vordringlichste Aufgabe der gewöhnlichen Menschen, sich im täglichen Kampf gegen die Leidenschaften an den Richtlinien eines gottgefälligen Lebens zu orientieren, wie David sie in seiner Erziehungslehre zu beschreiben sich bemühte. Die Integrierung systematischer Morallehren in einen größeren Erziehungstraktat bedeutet allerdings nicht nur einen gewissen Abschluss 423 David von Augsburg, De compositione III.28.3, Villanova, Wegweiser 267. 424 Ähnlich bereits Hugo von St. Viktor, der sein Novizentraktat zwar einerseits für die Novizen seines Ordens, andererseits aber darüber hinaus “pour l’homme en général“ geschrieben hatte. Vgl. dazu Schmitt, Raison des gestes 197.
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der literaturgeschichtlichen Entwicklung des Genres, sondern auch ein Wiederaufgreifen karolingischer Traditionen. In den Programmschriften der karolingischen Renaissance war der moralischen Erneuerung ein vorrangiger Platz eingeräumt worden. Ihren originellsten Niederschlag hatte die Suche nach der sittlichen correctio in den sogenannten Laienspiegeln aus der Feder Alkuins, Dhuodas, Paulinus’ von Aquileja, Jonas’ von Orléans, Hinkmars von Reims und anderer gefunden425. Im Gegensatz zu den zeitgleichen Fürstenspiegeln fehlte diesen Werken die Konzentration auf eine spezielle Amtsethik426. Stattdessen stand die persönliche Vollkommenheit eines Laienchristen, seine „Privatmoral“, im Vordergrund. Entsprechend ging es neben den Hauptpunkten des Glaubens hauptsächlich um die verschiedenen Tugenden und guten Werke sowie um die zu überwindenden Laster. Das „Buch über die Tugenden und Laster für Graf Wido“ (De virtutibus et vitiis liber ad Widonem comitem) etwa, mit dem Alkuin dem Grafen von der Bretagne eine praktische Hilfestellung im Alltag für den Weg zur Vollkommenheit zu geben beabsichtigte, weist deutlich auf den Zusammenhang von systematisierter Morallehre und allgemeiner Erziehungsschrift hin427. Mit den meisten karolingischen Autoren hat David von Augsburg nicht nur diese literaturgeschichtliche Kombination gemeinsam. Der Franziskaner teilte mit den Gelehrten des 9. Jahrhunderts auch den Anspruch, nicht ausschließlich für eine bestimmte Personengruppe zu schreiben. Alkuin und seine Zeitgenossen hatten ihre pädagogischen Traktate häufig an einen konkreten Adressaten gerichtet, Davids De compositione wandte sich beispielsweise vorrangig an die Novizen seines Ordens. Epochenübergreifend wohnte allen diesen Arbeiten neben der vordergründigen Beschränkung jedoch eine ganz allgemeine Tendenz inne, die sie zu standesübergreifenden christlichen Erziehungsschriften machte. Jeder Mensch, der einen geistlichen Prozess beginnen und darin vorwärts kommen wollte, wurde angesprochen. Davids Hauptwerk und andere ähnliche Arbeiten entfalteten eine Strahlkraft, die weit über die Mauern franziskanischer Konvente hinausreichte. Körperliche Disziplin und innere Selbstbeherrschung galten als Instrument der Seelenformung, derer jeder Mensch auf seinem Weg zu Gott bedurfte. Regeln für das angemessene Verhalten und die Beherrschung des eigenen Körpers zu jeder Tageszeit stießen daher auf ein allgemeines Interesse im späten Mittelalter. Eine erste starke Rezeption innerhalb der Laienwelt erlebten die Lehrschriften vom harmonischen Zueinander von Körper und Seele in der Herausbildung eines weib425 Zu den karolingischen Laienspiegeln vgl. Jehl, Lasterschema 327-344. 426 Zu den Fürstenspiegeln vgl. Anton, Fürstenspiegel. Zur Unterscheidung von Laienund Fürstenspiegel vgl. ebd. 83-86 und 287. 427 Zu Alkuins Werk vgl. Jehl, Lasterschema 329-331.
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lichen Erziehungsideals. Seit dem 13. Jahrhundert entstand eine Serie von Erziehungstraktaten für Frauen, welche eine Fixierung fester Rollenbilder für Frau und Mann hervorbrachten, die in vielfacher Hinsicht bis in die Neuzeit fortwirkten. In diesem Rahmen wurden Prinzipien der Novizenerziehung, sofern sie auf die Beherrschung der Triebe und Affekte gerichtet waren, zu einem für Frauen gültigen Erziehungsideal428. Ein Beispiel für die direkte Rezeption von De compositione bildet der Danziger Birgittinerkonvent, in dem eine überarbeitete Fassung des Werks benutzt wurde429. Das große Interesse an De compositione zeigt sich desgleichen an einer breiten volkssprachlichen Überlieferung vor allem im deutsch-niederländischen Raum430. Insbesondere innerhalb der geistlichen Erneuerungsbewegung der Devotio moderna, die Ende des 14. Jahrhunderts von den Niederlanden ihren Ausgang nahm und im Laufe des 15. Jahrhunderts auf das übrige Europa, vor allem auf Deutschland übergriff, wurde das Werk stark rezipiert431. Im Jahr 1374 hatte Gert Groote sein Stadthaus in Deventer frommen, gottsuchenden Frauen überlassen, die unter einer Meisterin ein klosterähnliches Leben führten. Dieser Gemeinschaft gab Groote eine geistliche Ordnung. Ebenfalls in Deventer entstand um 1384 das erste Haus der Brüder vom gemeinsamen Leben, die caste, concorditer et in communi lebten, aber keine Mönchsgelübde ablegten. Im Bistum Utrecht bei Zwolle gründeten Anhänger der Devotio moderna einige Jahre später das Kloster Windesheim, das als monastischer Zweig der Reformbewegung schon sehr bald mit anderen Klöstern eine Kongregation bildete, die im 15. Jahrhundert kräftig expandierte432. In keiner geistlichen Reformgruppe des späten Mittelalters erreichte die Zahl der Laienbrüder solche Ausmaße wie in den Konventen der Brüder und Schwestern vom gemeinsamen Leben bzw. der Augustinerchorherren-Kongregation von Windesheim433. Zurückzuführen ist diese 428 Vgl. Ruhe, Mönche, Nonnen und die ideale Frau 59-66. 429 Ahldén, Nonnenspiegel und Mönchsvorschriften. 430 Zur handschriftlichen Überlieferung vgl. Ruh, David von Augsburg und die Entstehung eines franziskanischen Schrifttums 80 f.; Kurt Ruh, Art. „David von Augsburg“, in: Verfasserlexikon 2 (²1980) Sp. 47-58, hier Sp. 49. 431 Viller, Le „Speculum monarchorum“; Smits, David von Augsburg. Zur Verankerung der Devotio moderna in der monastisch-spirituellen Tradition des Mittelalters vgl. Hinz, Brüder. 432 Zur Devotio moderna vgl. einführend Post, The Modern Devotion. Zum Selbstverständnis der frühen Reformbewegung vgl. Lourdaux, Dirk of Herxen’s tract De utilitate monachorum. Vgl. auch die Beiträge der Geert-Grote-Tagung in Nimwegen 27-29 September 1984, veröffentlicht in: Ons Geestelijk Erf 59 (1985) 113-506. Zuletzt zusammenfassend Elm, Devotio moderna. 433 Zu Leben und Frömmigkeit der unterschiedlichen laikalen Gruppen der Windesheimer Kongregation vgl. Rüthing, Frömmigkeit, Arbeit, Gehorsam.
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starke Anziehungskraft der Devotio moderna auf die Laienwelt durch das Bemühen Gert Grootens und seiner Nachfolger, der spekulativen spätscholastischen Theologie den Rücken zu kehren und einen einfachen Weg zu Gott zu propagieren434. Die pragmatische Erneuerung der geistlichen Lebenspraxis, die sich am Leben Jesu Christi orientierte, bestimmte daher das Programm dieser Reformbewegung. Ausgangspunkt war das Individuum, das sein Leben mit dem Anschluss an die Devotio einem differenzierten, das gesamte Leben durchdringenden Exerzitienprogramm zu unterwerfen hatte. Der Sieg über die Laster, die Überwindung des eigenen Ich, die Stärkung der Tugenden bildeten ebenso einen Bestandteil dieses Systems der Selbstübung wie die Ausübung anspruchsloser Arbeit und die brüderliche Zurechtweisung. Das Leben der Brüder glich einer ständigen exercitatio, die die freiwillige und unablässige Selbstkontrolle zu einer wichtigen Voraussetzung religiöser Erfüllung machte435. Unterstützt wurde dieser Komplex moralischer Selbstbildung durch ein Schrifttum, das sich der moraltheologischen Auseinandersetzung mit den sieben Hauptsünden und den Pflichten des Christenlebens verschrieben hatte und dabei immer den Praxisbezug im Auge behielt436. Verinnerlichter Lebensstil und innerweltliche Askese machten die Devotio moderna zu einer religiösen Bewegung, die einen „entscheidenden Schritt auf dem Weg von der altkirchlichen zur reformatorischen Frömmigkeit, vom Mittelalter in die Neuzeit“ markiert437. In Davids Schrift fanden die Anhänger der Devotio moderna vieles von dem, was sie als ihre genuine spirituelle Lebensform zu verwirklichen suchten438. De compositione wurde in ihren Reformkreisen daher eifrig rezipiert, in die Volkssprache übersetzt und durch weitere Schriften zur geistlichen Lebensführung ergänzt439. Die umfassende Regulierung des religiösen Lebens, die Anleitung zu Selbst- und Fremdkontrolle sowie die Konzentration auf einen affektiv geführten Kampf gegen die Laster 434 Oberman, Gelehrten. Zur pastoralen Selbstverständnis Geert Grotes vgl. Peteghem, Gérard Grote et l’image du „Bon pasteur“. 435 Vgl. Weiler, Over de gesstelijke praktijk van de Moderne Devotie. Zur Meditation als Mittel der Selbstreflexion und -kontrolle im späten Mittelalter vgl. Schlotheuber, Norm 350-357. 436 Vgl. exemplarisch Weiler, La systématique de la théologie morale. 437 Elm, Bruderschaft 471 (hier das Zitat); Oberman, Gelehrten. Zur Wahrnehmung der Devotio moderna durch die Reformatoren vgl. Elm, Bruderschaft 491. Zur Devotio moderna als erster von mehreren Reformationen (neben Luther und Calvin) vgl. Obermann, Reformationen. 438 Zur Legitimierung der eigenen Lebensform durch Anhänger der Devotio moderna vgl. Elm, Bruderschaft 475 f. und 487-490. 439 Vgl. etwa Haverals, Deux exhortations.
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machten David von Augsburg zu einem Mitbegründer einer „religiösen Psychologie“. Deren Anhänger verfolgten das Ziel, den gläubigen Menschen einer methodischen Lebensführung zuzuführen, die das gesamte Leben – im Kloster ebenso wie in der Welt – zu einer beständigen Einübung in das tugendhafte Leben werden ließ. Diese ganzheitliche Ausrichtung machte Davids Hauptwerk auch für die Begründer der Devotio moderna attraktiv, betrieben diese doch eine „Umgestaltung des individuellen Selbst und die Umgestaltung der sozialen Lebensformen der neuen Christen“ gleichermaßen, indem sie „die Codes der monastischen Existenz auf die Lebensordnung des devoten spätmittelalterlichen Bürgers“ übertrugen440. Vom devoten Christen wurde erwartet, dass er sich zu einer charakterstarken Persönlichkeit entwickelte, die durch tägliche Exerzitien auf dem Weg zu Gott voranschritt und sich dabei unaufhörlich selbst beobachtete und kontrollierte. Männer wie David von Augsburg hatten solchen Frömmigkeitsformen, die weit in die Neuzeit hineinwirkten, mit ihren Schriften den Weg bereitet. Seit dem 16. Jahrhundert wurden die Grundsätze monastischer und klerikaler Erziehungsschriften als allgemein gültige Verhaltensmaßregeln begriffen441. Die Übertragung der kirchlichen disciplina auf die Laienwelt, die bereits im 13. Jahrhundert in Gang gesetzt worden war, erreichte einen Höhepunkt und verlor zugleich ihre klerikale Prägung. An vorderster Front war Erasmus von Rotterdam an diesem Transformationsprozess beteiligt, vor allem mit seiner Schrift De civilitate morum puerilium, die er im Jahr 1530 für die Erziehung des zehnjährigen Prinzen Heinrich von Burgund niederschrieb. Diese populäre Benimmlehre erlebte noch zu Lebzeiten des Autors zahlreiche Druckausgaben und entwickelte sich im Laufe des 16. Jahrhunderts zu einem Standardwerk der Jugenderziehung. Während Erasmus’ Schrift von Norbert Elias in die Tradition von Handbüchern über das Verhalten am Fürstenhof und damit als Ausdruck der Popularisierung höfischen Verhaltens interpretiert worden war, betont die moderne Forschung Erasmus’ Abhängigkeit von kirchlichen Erziehungsschriften. Dies lässt sich gerade durch Textvergleiche mit Davids De compositione deutlich zeigen, so dass Dilwyn Knox den Schluss ziehen konnte: „Indeed Erasmus’ comments often echo precepts in David of Augsburg’s or Bernard of Besse’s manuals for novices“442. Zugang zu Ideen und Schriften mittelalterlicher Autoren 440 Weiler, Soziale und sozial-psychologische Aspekte der Devotio moderna 192 f. – Zu Selbstdisziplinierung und Persönlichkeitsbildung in der Devotio moderna vgl. zuletzt Elm, Devotio moderna 20 (Hinweise auf den Forschungsstand). 441 Zur Verbreitung der Devotio moderna und ihres Gedankenguts im späten Mittelalter vgl. Derwich/Staub (Hg.), Neue Frömmigkeit. 442 Knox, Disciplina 116.
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mit pädagogischen Ambitionen hatte Erasmus durch seine Ausbildung in klerikalen Kreisen, die der Devotio moderna zuzurechnen sind und daher mit den Arbeiten Davids von Augsburg gut vertraut gewesen waren443. Während sich die kirchlichen Texte des Mittelalters jedoch auf theologische Autoritäten und die Bibel stützten, erklärte Erasmus von Rotterdam die Vernunft zur fundamentalen Quelle seiner Erziehungslehre. Dieses Argument legitimierte und beschleunigte zugleich die Ausweitung ursprünglich klerikal-monastischer Erziehungsideale auf die gesamte Menschheit über alle sozialen und geographischen Schranken hinweg. Verstärkt wurde diese Entwicklung durch die Reformation und die anschließende Epoche der Konfessionalisierung, als zunächst das protestantische, später aber auch das katholische Lager diszipliniertes Verhalten und Selbstkontrolle als Ausdrucksform wahrer Frömmigkeit betrachteten. In einem solchen Rahmen vollzog sich die breite Rezeption von De civilitate und anderer Erziehungsschriften. Seit der Wende zum 17. Jahrhundert galt den Europäern ein festen Normen unterworfenes Verhalten, das seinen nun allerdings vergessenen Ursprung im monastisch-klerikalen Erziehungsprogramm hatte, schließlich als Fundament europäischer Zivilisiertheit, als typisch „europäisch“444. Der „perfekte Mensch“ war damit zum Idealbild für jedes Mitglied einer Gesellschaft geworden, die in der eigenen Zivilisiertheit zunehmend ein Element der moralischen Überlegenheit gegenüber außereuropäischen Kulturen erblickte. David von Augsburg und der deutsche Zweig der Franziskaner hatten ihren Beitrag dazu geleistet.
443 Zum Kontakt mit franziskanischen Kreisen vgl. Beumer, Erasmus. 444 Knox, Disciplina 129-134.
VI. Neue Weltordnungen 1. Mendikantische Historiographie „Wenn man Geschichte aufzeichnet oder erforscht, so geht man entweder von der Annahme aus, die Gegenwart sei so bedeutend (im positiven oder negativen Sinn), dass sie für künftige Zeiten festgehalten werden müsse, oder aber man ist der Meinung, die Vergangenheit habe irgendeinen Bezug zur eigenen Gegenwart, der man den Ablauf vergangener Zeiten entweder als leuchtendes Beispiel oder aber als Warnung vorhalten könne. […] Dabei verfolgt der Geschichtsschreiber bestimmte Ziele (und auch durch ihre unterschiedliche Zielsetzung unterschieden sich literarische Gattungen), und je umfangreicher sein Werk ist, je größer die Mühe, die er zur Erforschung der Vergangenheit aufwendet, desto spürbarer machen sich diese Aspekte bemerkbar. Selbst in dem Fall, wo nur intellektuelle Eitelkeit oder der Broterwerb die Triebfeder seiner Bemühungen sind (und Exempel dafür sind in der Historiographie bis in die Gegenwart hinein gar nicht selten), bewegt den Verfasser historischer Schriften eine eigenartige Zielsetzung seines Mühens – sein Werk soll bestimmte Funktionen erfüllen“445. Dieser Funktionen besitzt die moderne wie die mittelalterliche Geschichtsschreibung viele; sie reichen von der Unterhaltung und Belehrung bis zur Propaganda und Legitimierung446. Im Mittelalter schrieb man „zum Lob Gottes und zur Ehre von Königen, Bischöfen und Äbten bzw. des eigenen Bistums oder Klosters, aber man tat dies mit einem ganz bestimmten, didaktischen Zweck: Aus der Lektüre der vergangenen Tage sollten Lehren gezogen werden. Neben wissenschaftlichen Zwecken, zur Kenntnis der Vergangenheit oder der genauen Chronologie, und neben auf theologische Erkenntnis gerichteten Absichten, die ‚Hand Gottes in der Geschichte’ auszuweisen, standen ethisch-moralische: Der
445 Graus, Funktionen 11 f. 446 Vgl. stellvertretend Graus, Funktionen 17-55; Goetz, Geschichtsschreibung 130-134.
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Mensch sollte aus der Vergangenheit lernen, selbst richtig zu leben und richtig zu handeln“447. Mit dem Wandel von Schulen und Gesellschaften änderte sich jedoch auch der Charakter mittelalterlicher Historiographie. Eine Zäsur dieser Art bildete der Durchbruch dialektisch-scholastischer Methoden des wissenschaftlichen Denkens im Laufe des 12. Jahrhunderts, der mit weit reichenden sozioökonomischen Wandlungsprozessen verbunden war448. Der damit verbundene Niedergang überlieferter Lebens- und Denkstrukturen berührte auch die exklusive Lebenswelt monastischer und klerikaler Gelehrter, die sich intensiver als zuvor darum bemühten, den Platz der Gegenwart innerhalb der Heilsgeschichte zu bestimmen449. Das Geschichtsdenken des 12. Jahrhunderts bildet den End- und Höhepunkt einer tausendjährigen Entwicklung historischen Denkens und Schreibens. Die wissenschaftliche Durchdringung und Systematisierung der historischen und biblisch-mythischen Vergangenheit war bereits von den Gelehrten der Antike und Spätantike in jene Modelle gegossen worden, die auch im hohen Mittelalter den strukturierenden Rahmen historischer Schriften bestimmten. Die Lehre von den vier Weltmonarchien, wie sie Pompeius Trogus im ersten vorchristlichen Jahrhundert entworfen hatte, die Einteilung nach Lebensaltern bei Cato Censorius aus dem zweiten Jahrhundert unserer Zeitrechnung, die drei Zeitalter des Eusebius († 339) sowie die sechs Weltalter des Augustin († 410) bildeten jene Grundtypen historiographischer Kategorisierung, nach denen die hochmittelalterlichen Geschichtsschreiber bis Otto von Freising in der Mitte des 12. Jahrhunderts die Vergangenheit strukturierten. An methodischen Neuerungen hatte das Mittelalter den vormittelalterlichen Denkmodellen wenig hinzuzufügen450. Der historiographische Wandel an der Wende zum späten Mittelalter beruhte weder auf wissenschaftlicher Erneuerung, noch auf der Invention neuer Durchdringungs- und Ordnungsraster der Vergangenheit, sondern auf einer fundamentalen Funktionsänderung der Historiographie; davon unten mehr. Seine Grundzüge hatte das christlich-theologische Geschichtsbild des hohen Mittelalters erhalten, als in den ersten nachchristlichen Jahrhunderten eine systematische Geschichtstheologie Gestalt annahm, die das biblische Geschehen historisierte und als Bestandteil einer Geschichte des Heils (historia salutis) begriff, die nach Gottes Plan von Adam über 447 Goetz, Geschichtsschreibung 132. 448 Zu Traditionen und Neuerungen in der Historiographie des 12. Jh. vgl. einführend Classen, Res. 449 Vgl. Classen, Res 364-375. 450 Zur Problematik vgl. Ehlers, Ordnung (im Druck).
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Christus bis zur Gegenwart und bis zum Ende der Welt verläuft451. Aus diesen theologischen Prämissen ergaben sich bestimmte Rahmenvorstellungen vom Geschichtsverlauf452. So war die Heilsgeschichte zielgerichtet; die Geschichtstheologie immer auch Geschichtsteleologie, die in der irdischen Geschichte eine Übergangszeit sah, die es im Hinblick auf die Ewigkeit zu überwinden galt. Jeden Tag rückte das freudig und ängstlich erwartete Ende näher. Es war eine Aufgabe der Geschichtsschreibung, den Standort der eigenen Epoche innerhalb der Heilsgeschichte zu bestimmen und das Näherkommen der endgültigen Erlösung in eschatologischen Geschichtsdeutungen zu beschreiben453. Zwar stand der Mensch im Zentrum der historischen Erzählung, doch er wurde nicht als autark-autonome Kraft beschrieben, sondern als erstes und vornehmstes Objekt des göttlichen Willens. Hinter den Taten der Menschheit wirkte als geschichtsmächtige Kraft die göttliche Vorsehung. Alles geschah durch Gott, auf sein Geheiß, nach seinem Willen. Der Verlauf der historischen Ereignisse spiegelte daher sein Wirken wider und die irdische Geschichte glich einem unaufhörlichen Offenbarungsprozess. Die Erforschung der Geschichte, das heißt ihre Deutung und Auslegung, war aus dieser Perspektive nicht nur das willkürliche Sammeln historischer Fakten, sondern ein Weg, sich Gott zu nähern und seinen Heilsplan in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft aufzudecken454. Ziel der historia war die Gotteserkenntnis, oder – wie es der anonyme Verfasser der Biographie des Erzbischofs Heinrich von Trier formuliert hat: „Geschichte zu schreiben ist von vielfachem Nutzen, denn aus dieser Quelle schöpft man die zuvor unbekannten Ereignisse, die den inneren Menschen erbauen, und gelangt zur Kenntnis wundersamer Werke, die der ruhmreiche Gott vor unseren Zeiten wundertätig vollbracht hat“455. Dementsprechend gilt: „Geschichte wissen heißt also Gottes Heilswerk besser kennen“456.
451 Zur Genese einer christlichen Heilsgeschichte vgl. Funkenstein, Heilsplan 10-36; Campenhausen, Die Entstehung der Heilsgeschichte; Müller-Funk, Zeit und Erwartung. Zur Entstehung einer alternativen, laikalen Historiographie in den Kommunen Oberitaliens während des 12. Jh. vgl. Classen, Res 353-359. 452 Zu den geschichtsphilosophischen Grundlagen vgl. Müller-Funk, Zeit und Erwartung 17-37. 453 Vgl. Funkenstein, Heilsplan. 454 Zum hochmittelalterlichen Geschichtsbild vgl. Goetz, Geschichtsschreibung 91-97. 455 Vita Henrici 456 f.: Hystorias conscribere multiplex est utilitas, quoniam ex hoc fonte hauriunt preteritarum rerum prius ignari, quo interior homo delectatur et venit ad cognitionem mirabilium operum, que Deus gloriosus ante nostra tempora mirabiliter operatus est. Übers. nach Goetz, Geschichtsschreibung 106. 456 Ehlers, Historiographische Literatur 430.
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Den Schlüssel zum Verständnis der Heilsgeschichte bildete die typologische Interpretation der Heiligen Schrift, die „zwei zeitlich und kausal weit voneinander entfernte Ereignisse verknüpft, jedes von ihnen aus dem Zusammenhang, in dem es geschah, herausreißt und sie durch einen beiden gemeinsamen Sinn verknüpft“457. Mit Hilfe einer solchen Befragung der Heiligen Schrift konnte der Exeget nicht nur Korrespondenzen zwischen dem Alten und dem Neuen Testament erkennen und die alttestamentarische Geschichte des israelitischen Volkes als Wegbereitung und Hinführung zum Wirken Christi und der Apostel begreifen, sondern auch für Ereignisse späterer Zeiten typologische Präfigurationen im biblischen Geschehen entdecken. In diesem Sinn werden die Errettung Daniels aus der Löwengrube zur prophetischen Ankündigung der Auferstehung Christi und das babylonische Reich zur Präfiguration des römischen Imperiums. Die Suche nach typologischen Übereinstimmungen wurde methodisch ständig verfeinert, um möglichst alle verborgenen Deutungsebenen auszuleuchten und das Wirken Gottes in der Geschichte in seiner gesamten Vielfalt zu erkennen. Um den allegorischen, tropologischen und anagogischen Sinn, also die bezeichnende Kraft der Ereignisse in der Gegenwart und das mit ihnen eingeschlossene ethische Gebot sowie die auf Gott und die Ewigkeit vorausblickende Interpretation zu ergründen, musste der theologische Geschichtsdeuter zuvor den Schriftsinn ergründen. Zu diesem Zweck betrieb er die historische Exegese458. Die historische Exegese war die unterste, aber auch die grundlegende Auslegungsart des Gotteswortes459. Diese Deutungsmethode geht vom Wortlaut aus und erschließt das wörtliche Verständnis des Bibeltextes. „Da es sich dabei nicht selten um ein ‚Faktum’ (res gesta) handelt, hat man für diesen Sinn nicht zufällig gerade den Geschichtsbegriff (historia) gewählt, auf den die einschlägigen Definitionen zurückgreifen: Historia quippe est res gesta (die ‚Geschichte’ besteht aus dem Faktum), schrieb Honorius, bzw. genauer, Historia est, quae res gestas narrat (‚Geschichte’ liegt vor, wenn man Fakten erzählt), oder noch deutlicher: die auf fünffache Weise zu deutende heilige Schrift sei zunächst ,Geschichte’, ‚wenn sie nämlich Vergangenes erzählt’ (aliquando ad solam historiam, cum praeterita narrat). Für Hugo von St. Viktor war historia die erste Auslegungsart, mit der man die Bedeutung der Worte in Bezug auf die Dinge erwägt, 457 Auerbach, Typologische Motive 13. 458 Zu den mittelalterlichen Formen der Bibelexegese vgl. Smalley, The Study of the Bible; Lubac, Exégèse médiévale; d’Esneval, Les quatre sens de l’écriture. Vgl. auch Goetz, Geschichtsschreibung 82-84. 459 Allgemein zur Wirkkraft der biblischen Texte in intellektueller, kultureller und politischer Hinsicht im Mittelalter vgl. Lobrichon, La bible au Moyen Age.
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um die es geht. Geschichte ist die Faktenerzählung (rerum gestarum narratio), die im wörtlichen Schriftsinn enthalten ist“460. Geschichtsschreibung war in diesem Sinn eine exegetische Auslegungsart der Fakten, zunächst jener Fakten, von denen die biblischen Bücher berichten, dann aber auch anderer historischer Fakten der Heilsgeschichte, hinter denen der Exeget und Geschichtsschreiber das Wirken Gottes zu erkennen vermochte. Als Exegese der Fakten war Geschichte nichts anderes als „historische Theologie“461. Doch das Forschen nach den Spuren der göttlichen Einwirkung auf die Welt erforderte positives Wissen über die Welt. Das Sammeln des historischen Stoffes war daher niemals Selbstzweck, trug doch auch das Nacherzählen der profanen Geschichte seinen Teil dazu bei, den göttlichen Heilsplan zu offenbaren. Alles Wissen der Zeit wurde dazu herangezogen, um die dunklen Stellen der biblischen, patristischen und historiographischen Überlieferung richtig zu erfassen. Die artes liberales, insbesondere das Trivium, vermittelten die Fähigkeit, die Bedeutung der Worte (significatio vocum) zu erkennen462. Nachschlagewerke für die Etymologie der Orts- und Personennamen, allegorische Lexika und andere Hilfsmittel entstanden, um in den Dienst der historia zu treten. Die Anstöße aus der exegetischen Arbeit verdichteten sich, als sich die Art der Exegese im frühen 12. Jahrhundert änderte und zu einem gesteigerten Interesse an den historischen Erzählungen der Bibel und deren theologischer Ausdeutung führte, um den verborgenen Sinn hinter diesen äußeren Handlungen, Ereignissen und Gestalten aufzuspüren. Dies führte dazu, dass man in den Klöstern und regulierten Chorherrenstiften des 12. Jahrhunderts neben theologischen Arbeiten vermehrt auch historiographische Schriften, „verbunden mit teilweise sehr feinsinnigen Überlegungen zu deren Motivierung, Rechtfertigung und Methode“ verfasste463. Niemand hat den Zusammenhang zwischen Exegese und Geschichte so klar beim Namen genannt und so konsequent im eigenen Werk umgesetzt wie Hugo von St. Viktor464. Der vielseitige Theologe, Philosoph und Schulgründer konzipierte eine gänzlich auf die Schriftauslegung hin geordnete Wissenschaftslehre, in der sämtliche Wissenschaften, unter dem höherem Gesichtspunkt zu einer sinnvollen Einheit verbunden, 460 461 462 463
Goetz, Geschichtsschreibung 83. Goetz, Geschichtsschreibung 106. Oediger, Bildung 30-38. Zum Zusammenhang von Theologie, Geschichtsscheibung und Dialektik im 12. Jh. vgl. Ehlers, Monastische Theologie 58-79 (Zitat 70). Zum Wandel der Exegese im frühen 12. Jh. vgl. Ehlers, Historia 153 f. 464 Zu Hugos Leben und Wirken vgl. Ehlers, Hugo von St. Viktor 27-50.
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sowie alle zugänglichen Hilfsmittel, von Etymologien bis zum Physiologus, zu Instrumenten und Hilfsmitteln der Schriftdeutung wurden465. Um die Exegese im allegorischen und anagogischen Sinn frei von Irrtümern zu halten, legte Hugo besonderen Wert auf die expositio historica, das wörtliche Textverständnis. Von diesem musste jede weitere Deutung ihren Ausgang nehmen: Die Basis und der Beginn der heiligen Lehre ist die Geschichte. […] Erstelle daher zuerst das historische Fundament, und mache dann dieses Werk des Geistes durch die typologische (allegorische) Bedeutung zu einer Burg des Glaubens, schmücke zuletzt dies Gebäude mit prächtigen Farben, das heißt durch die Gnade des moralischen (anagogischen) Sinns. […] Glaube daher nicht, dass Du die Feinheiten der allegorischen Deutung beherrschst, solange Du nicht zuvor eine sichere Stütze in der historia gefunden hast. Verachte diese also niemals466.
Historische Kenntnis bildete eine notwendige Voraussetzung, um die biblischen Ereignisse zu verstehen, war doch teilweise ein chronologischer Leitfaden nötig, um die zeitlich ungeordneten oder verwirrten Ereignisse der Bibel in eine rechte Ordnung zu bringen. Die historische Exegese konnte jedoch nicht allein zur Schriftdeutung, sondern auch zur Interpretation profaner Ereignisse herangezogen werden. Wie der Stoff des Alten Testaments, so konnte auch der historische Stoff der nachbiblischen Geschichte anhand der Schriftexegese geordnet und aufbereitet werden. Diese Beobachtung entfaltete ihre besondere Relevanz aufgrund von Hugos heilsgeschichtlicher Perspektive, die sich in den beiden Begriffen opus conditionis und opus restaurationis artikuliert. In sechs Tagen hat Gott Erde, Pflanzen, Tiere und den Menschen geschaffen (opus conditionis), sechs Zeitalter hat er vorgesehen für sein opus restaurationis, das „der Aufrichtung des in Sünde gefallenen Menschen dient, demzufolge erhabener ist als das Werk der Schöpfung“467. Biblisches Geschehen und die mit dem Opfertod Christi beginnende christliche Heilsgeschichte verschmelzen in diesem Denken zu einer Einheit. „Können die Taten, Ereignisse, Orte, Personen oder Handlungen in 465 Zur Wissenschaftlehre und exegetischen Methode von Hugo von St. Viktor vgl. Ehlers, Historia; Ehlers, Hugo von St. Viktor; Ehlers, Monastische Theologie 65 f. und 71 f.; Classen, Res 367. 466 Hugo von S. Viktor, Didascalicon 6.3: Fundamentum autem et principium doctrinae sacrae historia est. […] Aedificaturus ergo primum fundamentum historiae; deinde per significationem typicam in arcem fidei fabricam mentis erige; ad extremum vero per moralitatis gratiam quasi pulcherrimo superducto colore aedificium pinge. […] Neque ego te perfecte subtilem posse fieri puto in allegoria, nisi prius fundatus fueris in historia. Noli comtemnere minima haec. Vgl. Dazu Classen, Res 367; Ehlers, Hugo von St. Viktor 58 f. Allgemein zum Werk vgl. ebd. 37-39. 467 Ehlers, Historia 154; Ehlers, Hugo von St. Viktor 63.
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der Bibel zeichenhaft verstanden werden, warum soll es dann in dem Teil des opus restaurationis, dessen Zeuge der Exeget selbst ist und von dessen Geschichte er durch vielfältige Überlieferung weiß, nicht ebenso sein? Wenn die Schrift eine heilspädagogische Seite hat, warum nicht auch der Ereignisverlauf des Sechsten Zeitalters? Diese Ereignisse der Profangeschichte müssen nur für den Zweck einer sinnvollen Deutung zusammengestellt und genauso sorgfältig gelernt werden wie der Psalter oder die Evangelien“468. Die praktische Umsetzung seiner theoretischen Überlegungen lieferte Hugo von St. Viktor in seinem Liber de tribus maximis circumstantiis (11301133)469. Diese Zusammenstellung historischer Daten und Fakten war als Grundlage für weiterführende theologische Studien gedacht und sollte angehenden Exegeten den Zugang zur expositio historica eröffnen. Vorangestellt wurde eine mehrere Seiten füllende Anleitung zur Gedächtnisschulung, die darlegte, wie der in den folgenden Tabellen aufgelistete Stoff zu memorieren sei. Denn nicht als historisches Nachschlagwerk, sondern als jederzeit und unabhängig von Büchern verfügbares Grundwissen bildete der Stoff gleichsam ein fundamentum fundamenti, von dem aus der Weg zur historia, dem fundamentum omnis doctrinae führte. Nach einem Überblick über das Sechstagewerk versuchte Hugo eine tabellarische Aufarbeitung der sechs Zeitalter umfassenden Weltgeschichte. Auf Listen mit den Namen der Erzväter von Adam an folgten die Namen der Richter, Könige und Priester des Volkes Israel sowie Herrscherreihen der Skythen, Assyrer, Ägypter und Sikyonier. Neben den anschließenden vier Weltreichen stand weiteres Material, das unter anderem Herrscherlisten von Argos, Sparta, Korinth, Lydien, des litinischen Königtums sowie eine lange Reihe biblischer Dynastien enthielt. Ein geographischer Teil markierte den Übergang zur christlichen Heilsgeschichte, die eine Liste der Päpste sowie eine Herrscherfolge von Caesar bis zur Gegenwart des Verfassers umfasste. In dieser Anlage der Schrift, die bald irrtümlich als Chronik aufgefasst wurde und in diesem bezeichnendem Missverständnis den Zusammenhang von historia als exegetischen Terminus und historia als Geschichtserzählung besonders bewusst macht, können wir „in besonderer Deutlichkeit sehen, was Hugo von St. Viktor inhaltlich unter historia verstanden hat: Es ist tatsächlich weitgehend das Garn, aus dem Heilsund Profangeschichte gewoben werden können. [...] Hugo hat auf die heilspädagogische Seite der Schrift hingewiesen und gesagt, dass Gottes Weisheit unverständlich bleiben müsse, wenn sie nicht zuerst corporaliter 468 Ehlers, Historia 160. 469 Hugo von S. Viktor, De tribus. Vgl. dazu Ehlers, Hugo von St. Viktor 52-71; Ehlers, Monastische Theologie 71 f.
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begriffen werden könnte: Der Heilige Geist hätte Figuren und dingliche Bezüge ja vergeblich und überflüssigerweise in die Schrift eingeführt, wenn sie unbeachtet blieben und das Spirituelle sogleich angestrebt würde“470. Um zur korrekten Auslegung des wörtlichen Schriftsinnes zu gelangen, hatte Hugo von St. Viktor die irdische Ereignisgeschichte zur Grundausbildung des Klerus erklärt. Wenn es sich bei der Suche nach verborgenen Heilszeichen in der Geschichte auch um ein altes Prinzip handelte, so bedeutete die profanhistorische Ausdehnung bis in die eigene Zeit doch eine innovative Neuerung471. Der Pariser Kanoniker hat die theologisch-heilsgeschichtlichen Grundlagen der Historiogaphie des 12. Jahrhunderts programmatisch zusammengefasst. Für die Chronisten dieser Epoche hatte Geschichte einen konkreten Sinn, ja sie glich einer göttlichen Offenbarung und war zugleich magistra vitae, belehrte sie doch „über das Leben (die Moral), über Gegenwart und Zukunft (als Typologie) und, da sie, ontologisch betrachtet, irdisches Abbild des Ewigen war, auch, wenngleich nur schemenhaft, über das Jenseits und die Göttlichkeit. Ihr ‚Stellenwert’ war einerseits enorm, da sie bei rechtem Verständnis eben Gottes Willen zu offenbaren vermochte, andererseits aber auch eingeschränkt, da sie nicht Selbstzweck, sondern stets nur ‚Durchgangsstadium’, opus restaurationis, wie Hugo von St. Viktor sagt, zum Wiedererwerb des im Sündenfall verlorenen Heils war und da sich der Wille Gottes in ihr nur mittelbar und keineswegs immer eindeutig enthüllte“472. Innerhalb des weiten theologischen Rahmens war die hochmittelalterliche Historiographie jedoch ausgesprochen pragmatisch und gegenwartsbezogen. Eine auf heilsgeschichtlichen Deutungen basierende Vergangenheitsbetrachtung wurde herangezogen, um in scheinbar objektiver und zeitlos gültiger Weise die Gegenwart zu erklären und zu rechtfertigen. Die Heilsgeschichte bildete die Folie einer personenorientierten, chronologisch-genetischen Geschichtsschreibung, die stets der eigenen „Institution“, einem Herrscher, einer Dynastie, einem Bistum, einem Kloster oder einer Stadt, verbunden blieb und so die Gegenwart nach subjektiven Kriterien in die Geschichte einordnete473. Im 12. Jahrhundert wurden Theologie und Geschichtstheologie neu durchdacht und systematisiert. Die sozioökonomischen und kulturgeschichtlichen Wandlungen der Zeit, aber auch der lange und heftige Konflikt zwischen Päpsten, Königen und Fürsten hatten die Suche nach historischer Ordnung und Selbstvergewisserung verstärkt. In der kri470 471 472 473
Ehlers, Hugo von St. Viktor 55. Vgl. Ehlers, Hugo von St. Viktor 61 und 67. Goetz, Geschichtsschreibung 414. Vgl. Goetz, Geschichtsschreibung 411-425.
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senhaften Umbruchszeit wurden Argumente gesucht, um die krisengeschüttelte Gegenwart mit der zielgerichteten historia salutis zu kombinieren, die Unordnung auf einer transzendenten Ebene zu ordnen und aufzuheben. Mittels der Geschichte wurden civitas dei und civitas terrena in einem Moment, in dem sie auseinanderzufallen drohten, wieder vereint. Die Geschichtsschreiber ergriffen daher Partei nicht nur für die Institution, der sie angehörten, sondern auch für die Weltordnung, der sie anhingen474. Die umfassendsten Deutungen historischer Art bildeten universal angelegte Weltchroniken, in denen die gesamte literarisch erreichbare Weltgeschichte zusammengefasst wurde; und es war kein Zufall, dass diese Form der Geschichtsschreibung im 11. und 12. Jahrhundert eine neuerliche Blütezeit erlebte475. Das Jahrhundert, in dem Ordericus Vitalis, Hugo von Fleury, Otto von Freising und andere an ihren Schreibpulten standen, um die Geschichte der eigenen Umwelt mit dem Weg der Christenheit zum Heil zu verknüpfen, bedeutete den Zenit, markierte zugleich aber auch den Beginn einer Sinnkrise der klerikalen Meistererzählung universalhistorischen Zuschnitts. Die theologisch geschulten Historiographen hatten versucht, die Kluft zwischen spirituell-kirchlicher und temporal-weltlicher Sphäre, die sich in den Wirren des Investiturstreits aufgetan hatte, durch eine ganzheitliche Weltsicht, die exegetisch Gottes Wirken in der Welt zum Vorschein brachte, zu überwinden. Die Protagonisten der Auseinandersetzung zwischen regnum und sacerdotium hatten dagegen ein methodologisches Repertoire entwickelt, das sich an den hohen Schulen des 12. Jahrhunderts rasch entfalten sollte476. Die Anhänger der neuen scholastischen Methode, allen voran Petrus Abaelard, Gilbert von Poitiers und ihr Schülerkreis, strebten nach gedanklicher Klarheit bei der begrifflichen Deduktion, nicht nach der heilsgeschichtlichen Einordnung historischer Ereignisse477. Die freien Magistri befreiten sich von der Tradition – im Vertrauen auf ihr ingenium478, gezwungen aber auch durch die Umstände, verfügten sie als institutionell ungebundene Lehrer in der Regel doch über keine gut ausgestatteten Klosterbibliotheken, in denen sie ihre exegetisch-theologischen Probleme mit Hilfe patristischer und monastischer Autoritäten
474 Vgl. Goetz, Geschichtsschreibung 422 f. 475 Zur Quellengattung vgl. Krüger, Universalchroniken. 476 Zum intellektuellen und institutionellen Rahmen der Universitätsentstehung in Paris und Bologna bis zur Mitte des 12. Jh. vgl. Southern, Scholastic Humanism. 477 Vgl. Ehlers, Monastische Theologie 76-79. 478 Zum Umgang mit den Autoritäten vgl. Clanchy, Abaelard 54-64 und 120-124.
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hätten traktieren können479. So waren es unter anderem die materiellen Lebensumstände, die das scholastische Denken des 12. Jahrhunderts in neue Richtungen lenkten. In den exegetischen Spezialtraktaten Abaelards und anderer Frühscholastiker war kein Raum mehr für die heilsgeschichtliche Betrachtungsweise vorgesehen. Dem scholastischen Theologen war die Geschichte eine Anhäufung philosophisch unergiebiger Details; auch für den Geschichtsschreiber hatte die historia nicht mehr vorrangig den Zweck, das göttliche Wirken auf Erden zu illustrieren. Zwar wurden gute Taten in spätmittelalterlichen Chroniken zuweilen von Gott belohnt und militärische Siege gelegentlich als Gottesurteile gedeutet, doch Gottes unmittelbare Beteiligung am irdischen Geschehen stand nicht mehr im Vordergrund. Dies betrifft sowohl das gerichtliche Gottesurteil, das iudicium Dei, das eine aktive Mitwirkung Gottes in unergründlichen Rechtsstreitigkeiten vorausgesetzt hatte, die man zunehmend als anmaßende Versuchung Gottes verurteilte480, wie auch die Geschichtsschreibung, die verstärkt nach innerweltlichen Motiven und Erklärungen suchte und ihre Funktion stärker in einer erbaulichen Belehrung und einer rechtlichen Legitimierung fand, die des heilsgeschichtlichen Rahmens nicht mehr bedurfte. Die Chronisten schilderten Niederlagen nicht mehr vorrangig als Vollstreckung eines göttlichen Urteils, sondern als das Ergebnis wankelmütigen Kriegsglücks; die heidnische Fortuna begann nun in Schlachtenschilderungen eine größere Rolle zu spielen als der Gott des Alten Testaments481. Für Theologen wie Thomas von Aquin ging die Theologisierung des Schöpfungsgeschehens, das unmittelbar mit dem Wirken Gottes erklärt wurde, mit einer Enttheologisierung des historischen Geschehens auf der Erde einher. In beiden Punkten unterschied sich der berühmte Philosoph aus den Reihen der Bettelmönche von seinen Vorgängern aus dem 12. Jahrhundert, die Gottes Tun weniger in einer mechanisch-naturalistisch verstandenen Schöpfung, dafür umso deutlicher in der irdischen Menschheitsgeschichte beobachten wollten. Der Gott des späten Mittelalters war stärker in seiner Schöpfungstat als in deren irdischer Erscheinung und Wandelhaftigkeit präsent482. Obwohl inhaltliche Überschneidungen weiterwirkten, trennten sich die Wege von eschatologischer Theologie und Geschichtsschreibung.
479 Zur Problematik vgl. Ehlers, Ordnung (im Druck). Zum Leben des freien Magisters vgl. exemplarisch Clanchy, Abaelard 103-108. 480 Trusen, Verbot der Gottesurteile 237-239. 481 Vgl. Graus, Funktionen 24 f. 482 Zum Wandel der philosophischen Auffassungen vgl. Wieland, Ordnung.
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Die Eckpunkte hochmittelalterlicher Weltchronistik hatte Otto von Freising in seinem Widmungsbrief an Friedrich I. genannt, als er Eigenart und Zweck seiner Chronik zu charakterisieren versuchte: Ehrenvoll also und förderlich wird Eurer Hoheit die Kenntnis der Geschichte sein: sie wird Euch eine Anschauung vermitteln von den Taten tapferer Männer wie von der Kraft und Macht Gottes, der die Herrschaft nimmt und gibt, wem er will, und den Wandel der Dinge zulässt, – so werdet Ihr stets in der Furcht vor ihm leben und mit glücklichem Erfolg viele Zeitumläufe lang regieren. Daher möge Eure Hoheit zur Kenntnis nehmen, dass wir, veranlasst durch die Wirrnisse der trüben Zeit vor Euch mit verbitterter Seele diese Geschichte geschrieben haben und deshalb weniger die Folge der Geschehnisse als ihr Elend wie in einer Tragödie dargestellt haben, und dass daher jeder Schluss unserer Bücher bis auf den des siebten und des achten Buches, wo auf die Ruhe der Seele und die zwei Arten der Auferstehung hingewiesen wird, in Jammer endet483.
Es ist Gott selbst, der über die irdische Geschichte wacht und über dem Wandel der Zeiten thront. Der Geschichtsverlauf ist zielgerichtet und endet mit dem Jüngsten Gericht und der Auferstehung. Innerhalb der Heilsgeschichte erscheint jede Konfrontation zwischen geistlicher und weltlicher Obrigkeit als ein Zeichen für die Unzulänglichkeit menschlichen Strebens auf Erden. Der Investiturstreit und seine politischen Folgen innerhalb Deutschlands bilden für Otto ein Indiz für das bevorstehende Ende der Zeiten. Die Aufgabe der Geschichtsschreibung sieht er folglich darin, Gottes Wirken sichtbar und nutzbar zu machen – nutzbar insbesondere für den Herrscher, der sich an den historischen Vorbildern orientieren und dabei niemals Gottes Allmacht vergessen möge, um das Ende der Zeiten aufzuhalten484. Gänzlich andere Akzente setzte Vinzenz von Beauvais, Dominikaner der ersten Generation und Vertrauter des französischen Königs485, in seiner Apologia Actoris, mit der er hundert Jahre nach Otto von Freising sein Speculum Maius486, die umfangreichste Enzyklopädie des Mittelalters, die mit dem Speculum Historiale auch einen historischen Teil enthält487, einleitete. Im Dominikanerorden – so Vinzenz in seiner Ein-
483 Otto von Freising, Chronicon 5. 484 Zum Geschichtsbild Ottos von Freising vgl. Goetz, Das Geschichtsbild Ottos von Freising. 485 Zu Person und Werk vgl. einführend die Beiträge in Lusignan (Hg.), Vincent de Beauvais. Intentions et réceptions; Lusignan/Paulmier-Foucart (Hg.), Lector. 486 Vincent de Beauvais, Speculum. 487 Zur Einteilung des Speculum Maius in Speculum Naturale, Speculum Doctrinale, Speculum Morale und Speculum Historiale vgl. Brincken, Geschichtsbetrachtung 410417. Zur Genese des Werks vgl. ebd. 449-463. Zum Speculum Historiale vgl. Paulmier-
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führungs- und gleichzeitig Rechtfertigungsschrift488 – benötigte man ein umfassendes Nachschlagewerk, um den Pflichten der Predigt und der Ketzerbekämpfung nachkommen zu können489. Die Masse der existierenden Bücher, der Mangel an Zeit und die Unzuverlässigkeit des menschlichen Gedächtnisses erlaubten es niemandem, alles schriftlich Niedergelegte gleichzeitig abrufbereit im Kopf zu haben. Aus diesem Grund habe Vinzenz – auf den Rat und die Bitte seiner Mitbrüder hin – beschlossen, durch eine Blütenlese des Wissens ein Kompendium als Abhilfe zu erstellen, das den Aufbau der Glaubenslehre, die sittliche Unterweisung, den moralischen Ansporn zu Werken der Liebe und die Bibelexegese miteinander verbinde. Das gesamte vorhandene Schrifttum strotze vor Zweideutigkeiten. Oft wisse man nicht, ob ein Ausspruch, der unter dem Namen eines bekannten Kirchenvaters erscheine, diesem oder einem ganz anderen zuzuschreiben sei. Häufig sei auch der Wortlaut beschnitten, erweitert oder entstellt. So möge das Speculum dazu dienen, Gott nicht nur durch sich selbst und seine Geschöpfe zu erkennen und zu lieben, sondern auch um zu predigen, zu lesen, zu disputieren, zu erklären und Fertigkeiten aller Art zu vermitteln. Die Geschichte der Kirche, in der sich der Fortschritt zum Heil offenbare, aber auch die Geschichte der irdischen Reiche und ihrer Kriege übe große moralische Wirkung aus, ebenso die Darstellung von Tugenden und Lastern, von Sakramenten, ja sogar jene von den geringeren Dingen wie Herrschaft und Kampf um irdisches Gut. Sowohl die weltliche wie auch die kirchliche Geschichte müssten daher nach den Regierungszeiten der Kaiser und Könige geordnet werden. Denn Ereignisse, bei denen weder Herrscherjahr noch genaue Zeit bekannt seien, hätten nicht als historisch zu gelten. Aus diesem Grund sei es außerordentlich bedeutsam, Abfolge und Herrscherjahre von Kaisern und Königen wie auch von römischen Päpsten zu kennen, und dies gelte keineswegs nur für die eigene Zeit. Hege man irgendwelchen Zweifel an der Chronologie, so brauche man nur den Königskatalog des betreffenden Landes, aus dem ein Ereignis geschildert werde, zu befragen, um über die Zeit Bescheid zu wissen490. Wo der Zisterzienser des 12. Jahrhunderts die moralische Ermahnung in heilsgeschichtlicher Perspektive im Blick gehabt hatte, konzentrierte sich der Dominikaner des 13. Jahrhunderts auf den praktischen Foucart/ Lusignan, Vincent de Beauvais et l’histoire du Speculum Maius; Voorbij, Het „Speculum Historiale“ van Vincent van Beauvais. 488 Zur Apologia Actoris vgl. Lusignan, Préface au Speculum maius; Brincken, Geschichtsbetrachtung. 489 Zum dominikanischen Charakter des Speculum Historiale vgl. Voorbij, Les mises à jour de la matière dominicaine. 490 Zusammenfassung der Apologia Actoris nach Brincken, Geschichtsbetrachtung 417420.
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Nutzen in der gegenwärtigen Seelsorge. Sein Geschichtswerk ist nicht universale Geschichtstheologie, sondern Predigthandbuch, gedacht als Hilfsmittel, um die Exempla historisch einzuordnen und ihnen dadurch eine unangreifbare Glaubwürdigkeit zu verschaffen491. Der mittelalterliche Geschichtsschreiber sucht damit „einen Mangel auszugleichen, der für die Legende im Zeitalter der Bettelorden charakteristisch ist: Die Betrachtung des Menschlichen in Verbindung mit dem Wunderbaren lässt häufig die dynamischen Elemente in der Erzählung zurücktreten; es entsteht ein Andachtsbild ohne zeitliche Verknüpfung“492. Geschichtsbetrachtung bei Vinzenz von Beauvais zielte nicht auf eine Spiritualisierung des Irdischen, sondern auf eine Authentisierung der Pastorale. Geschichte, bei den monastischen Exegeten des 12. Jahrhunderts Mittel zur kontemplativen Gottessuche, wurde zum Werkzeug bei der täglichen Arbeit, die sich auf die Gewinnung und Bekehrung der Seelen richtete. Die mendikantische Geschichtsschreibung hatte immer den konkreten Nutzen im Auge. Kein Bettelmönch erarbeitete eine neue Einteilung der historia von Anfang der Welt bis zu ihrer Vollendung. Dort, wo man dies gebrauchen konnte, griff man auf die im hohen Mittelalter vielfach rezipierten Ordnungsmodelle antiker Historiker zurück, doch meist kam man ohne sie aus. Hinsichtlich der wissenschaftlichen Aufarbeitung und Ordnung des historischen Stoffes hatten die Mendikanten für die Geschichte der Geschichtsschreibung nichts Neues beizutragen. Das Interesse der modernen Historiographiegeschichte, die sich bevorzugt mit Otto von Freising und anderen Universaldeutern des 12. Jahrhunderts beschäftigte, war daher stets gering. Vinzenz von Beauvais, seine Kollegen und Nachfolger galten als einfallslose Epigonen, ihr Zeitalter als Epoche der wissenschaftlichen Stagnation493. Aus einer Perspektive, die nach einem immanenten wissenschaftlichen Innovationspotential der Geschichtsschreibung sucht494, mag dies richtig sein, aus einer Sicht, die nach der Funktion der Geschichtsschreibung im historischen Kontext fragt, lohnt sich die Betrachtung mendikantischer Historiographie des 13. Jahrhunderts allemal, denn parallel zum Verlust von „Wissenschaftlichkeit“ trug diese Form der Geschichtsschreibung zur Herausbildung neuer Ordnungskategorien bei. 491 Zur Sammlung von Exempla in mittelalterlichen Enzykopädien vgl. Berlioz/Polo de Beaulieu, Les recueils d’exempla. Zur Bedeutung profanhistorischer Exempla in der Predigt des 13. Jahrhunderts vgl. Menzel, Predigt. Zur Verwendung von Exempla in der Predigt vgl. allgemein Schmitt (Hg.), Prêcher d’exemples; Schmidt, Allegorie 311. 492 Brincken, Anniversaristische und chronikalische Geschichtsschreibung 201. 493 Zur kompilatorischen Arbeitsweise mendikantischer Autoren vgl. exemplarisch Tugwell, Humbert of Romans. Zu Vincent als eigenständigen Autor vgl. dagegen Schneider, Vincent of Beauvais. 494 Eine solche Bewertung bei Ehlers, Ordnung.
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Insbesondere der Orden des heiligen Franziskus bediente sich von Anfang an der Historiographie, um sich der eigenen Existenz zu vergewissern und die spezifische franziskanische Lebensform nach außen hin zu legitimieren und abzusichern495. Geschichte wurde erforscht und geschrieben, nicht aufgrund eines wertfreien antiquarischen Interesses, das bemerkenswerte Ereignisse der Vergangenheit der Nachwelt zu überliefern trachtete, sondern um als Instrument zu dienen, interne Konflikte zu lösen, Stellung zu beziehen gegen äußere Gegner und Wandlungsprozesse des Ordens zu kommentieren. Diese Zweckgebundenheit rückte die hagiographische Bearbeitung der Gründervita in den Mittelpunkt minoritischen Geschichtsdenkens496. Durch die Verknüpfung hagiographischer Traditionen mit spezifischen Merkmalen der vita minorum versuchten die Biographen am Beispiel der Franziskusvita ein umfassendes Bild franziskanischer Lebenswirklichkeit zu liefern497. Thomas von Celano hatte 1228 noch im Auftrag des Papstes, der wohl bereits an den soeben anlaufenden Kanonisierungsprozess des Ordensgründers dachte, an einer ersten Lebensbeschreibung des Franziskus gearbeitet. Schon bald erkannte die Ordensführung jedoch die Bedeutung der Formierung eines spezifischen historischen Gedächtnisses und ergriff selbst die Initiative. Als das Generalkapitel im Jahr 1244 anordnete, alle verfügbaren Informationen über Leben und Wirken des heiligen Franziskus zu sammeln, entstanden mehrere Lebensbeschreibungen gleichzeitig, nämlich die Legenda trium sociorum, die zweite Vita des Thomas von Celano sowie die Gesta über die Fratres der ersten Generation aus der Feder des Thomas von Pavia498. In seiner Funktion als Generalminister ließ sich Bonaventura auf dem Generalkapitel von Narbonne 1260 den Auftrag erteilen, ein neues und offizielles Leben des heiligen Franziskus zu schreiben, das die zahlreichen bereits existierenden Legenden ersetzen sollte. Getragen von der Hoffnung, die widerstreitenden Kräfte innerhalb des Ordens zu versöhnen und eine umfassende und definitive Rechtfertigung der franziskanischen Lebensform zu erstellen, verfasste Bonaventura zwischen 495 Zur Bedeutung historischer Legitimation für Entstehung, Funktion und Bestand des mittelalterlichen Ordenswesens vgl. Elm, Elias, Paulus von Theben und Augustinus; Stock, Listening 24-28 (Waldenser); Elm, Die Bedeutung historischer Legitimation 74 f., 88 f. und passim. Zu fiktiven Gründungsgeschichten im Bereich der Universitäten vgl. Rexroth, König Artus und die Professoren. 496 Zu den verschiedenen Gründerviten vgl. Feld, Franziskus von Assisi 30-45; Roest, Reading 69-89. 497 Zum Zusammenhang von hagiographischen und historiographischen Tendenzen im franziskanischen Schrifttum vgl. Roest, Reading 98 f. 498 Eine Chronologie und Kurzbeschreibung der Gründerviten bei Feld, Franziskus von Assisi 30-45.
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1260 und 1262 die Legenda maior sowie eine unter dem Titel Legenda minor bekannte gekürzte Fassung derselben499. Weitere Lebensbeschreibungen und Materialsammlungen folgten, ohne allerdings mehr bieten zu können als Variationen des viel behandelten Stoffes. Für sämtliche Gründerviten, die zumindest bis zur Mitte des 13. Jahrhunderts die wichtigste Ausdrucksform franziskanischen Geschichtsdenkens darstellten, gilt: „Indem die Autoren besondere Aspekte des Gründerlebens betonten, akzentuierten sie gleichzeitig bestimmte Elemente, die ihnen wesentlich für ein zeitgemäßes Verständnis der franziskanischen Lebensform erschienen. Die Diskussion um die weitere Entwicklung der franziskanischen Gemeinschaft und die zeitgemäße Akkommodation der vita minorum wurde im Orden somit hauptsächlich über das Medium der Geschichtsschreibung geführt“500. Denn es war der Rekurs auf die eigene Geschichte, der nicht nur nach außen abgrenzend und legitimierend wirkte und die Sicherung des Bestandes und Legitimation der eigenen Funktionen gewährleistete, sondern die damit verbundene formazione di una memoria storica war daneben auch für die Integration der Kommunität und die Ausbildung der eigenen Spiritualität von grundlegender Bedeutung. Mit der inneren Konsolidierung der Ordensgemeinschaft erweiterte sich der Berichtshorizont franziskanischer Geschichtsschreibung. Seit der Mitte des 13. Jahrhunderts entstanden universale Chroniken, die Entstehung und Expansion des Franziskanertums in die Weltgeschichte einordneten501. Die Schnittstelle zwischen hochmittelalterlich-monastischer und spätmittelalterlich-mendikantischer Universalhistorie markieren in Deutschland die Annalen des Albert von Stade, die dieser verfasste, nachdem er als Abt bei der Reformierung des Benediktinerklosters St Maria in Stade gescheitert war und sich deshalb im Jahr 1240 dem Minoritenorden angeschlossen hatte. Alberts Perspektive ist konservativ, seine bis 1256 reichende Darstellung konzentriert sich auf die Reichsgeschichte und die Bremer Kirchengeschichte, lediglich vereinzelt werden wichtige Ereignisse aus der Frühzeit des Franziskanerordens genannt502. Noch sind die charakteristischen Elemente mendikantischer 499 Bonaventura, Legenda Maior, in: ders., Opera omnia 8, 504-564; Legenda Minor ebd. 565 ff. 500 Zur Interpretation der Gründerviten vgl. Berg, Geschichtsschreibung und historisches Bewusstsein 222. 501 Ein Überblick franziskanischer Weltchroniken bei Roest, Reading 42-59. 502 Zur Chronik vgl. Berg, Studien zur Geschichte 141 f.; Wesche, Studien zu Albert von Stade; Maeck, Vom Benediktinerabt zum Minderbruder. Zur vermuteten Bearbeitung des Apokalypsenkommentars des Alexander Minorita durch Albert von Stade vgl. Alexander Minorita, Expositio XXVI ff. Zum Apokalypsenkommentar, dessen Autor sich häufig auf Alberts Annalen stützt, vgl. unten 332 f.
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Geschichtsschreibung nicht ausgebildet, zu stark orientierte sich der norddeutsche Chronist an Vorlagen früherer Jahrhunderte503. Es sollte noch einige Jahre dauern, bis jene Vorbilder, welche Weltgeschichte im mendikantischen Geist erzählten, von den deutschen Anhängern des heiligen Franziskus aufgegriffen und zur vorherrschenden Ausdrucksform minoritischen Geschichtsbewusstseins gemacht wurden. Wie so vieles im frühen Franziskanertum stammen auch die historiographischen Vorbilder aus den Reihen der Dominikaner504. Die entscheidende Wirkung ging von zwei Chroniken aus, dem 1244-1254 verfassten Speculum Maius des Vinzenz von Beauvais und der 1268 fertiggestellten Chronik Martins von Troppau. Gemeinsam prägten diese zwei Geschichtskompilatoren die gesamte Historiographie der folgenden drei Jahrhunderte. Besonders unmittelbar und intensiv war ihr Einfluss auf franziskanische Geschichtswerke, repräsentierten die beiden dominikanischen Chroniken doch in vollendeter Weise mendikantische Vorstellungen von der historia und ihrem Sitz im Leben. Von den Zeitgenossen fleißig kopiert, in die Volkssprachen übertragen und emphatisch gefeiert, wurden Vinzenz’ und Martins historiographische Leistungen von der modernen Forschung lange Zeit abschätzig, ja teilweise vernichtend beurteilt. Die deutlichsten Worte fand Heinrich Vildhaut, der Martins Chronik in seiner Quellenkunde zur deutschen Geschichte mit folgenden Worten charakterisierte: „Keine Spur von Geist oder höherem Schwung, alles unsäglich dürr und ermüdend für den, der aus Pflicht sich mit diesem Proletarier unter den mittelalterlichen Autoren beschäftigte. Kein Ansatz zum Witz oder Humor, kein Anflug von Begeisterung für den Stoff [...] verfuhr er ohne Plan, Übersicht und Einsicht“505. Diese ablehnende Haltung konnte erst mit der Erkenntnis überwunden werden, dass nicht allein die Quantität historischer Informationen sowie deren geschichtsphilosophische Einrahmung den Wert eines historiographischen Werkes bestimmen, sondern auch ihre zeitgenössische Funktion und Rezeption. Während ersteres seine Bedeutung vorrangig in der modernen Geschichtsschreibung entfaltet, war letzteres für die Zeitgenossen wesentlich wichtiger. Vinzenz von Beauvais hat eine Universalchronik verfasst, die den mendikantischen Vorstellungen und Bedürfnissen exakt entsprach. Die chronologische Gliederung des ausufernden Werks mittels der Regierungsjahre von Kaisern und Päpsten gab lediglich das Raster ab, um Hagiographisches und Biographisches, politische und kirchliche Ereignisgeschichte, Gedanken zur Staatslehre und Ethik sowie ethnogra503 Vgl. Berg, Historische Reflexion und Tradition 92; Roest, Reading 43. 504 Zur Vorbildfunktion der Dominikaner vgl. Roest, Reading 42 f. 505 Vildhaut, Handbuch der Quellenkunde 14 f.
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phische Exkurse mit Erzählungen aus der Frühzeit der Bettelorden zu verknüpfen. Das Ergebnis ist keine teleologisch gedachte Heilsgeschichte, sondern eine gigantische Ansammlung disparaten Materials, das keinen Einblick in den Verlauf einer linearen Geschichte, aber unendlich viele Anknüpfungspunkte für religiös-moralische Predigtexzerpte bietet506. „Der Übergang zu einer Darstellungsweise mit in sich geschlossenen Kurzerzählungen, Gliederungen in überschriebene Abschnitte sowie Themenlisten markiert Schritte eines stilistischen und methodischen Umbaus in den Texten, der wesentlich durch die Verwendung in den Predigten begründet ist. Die Aufrüstung für die Prediger mit nützlichen Bibelzitaten, die innertextlichen Verweise auf parallele Stoffe oder gar deren exkursartige Zusammenstellung, die narrative Zügellosigkeit und gelegentlich auch der explizite Hinweis auf die homiletische Eignung des Dargestellten kommen hinzu“507. So war das im Foliodruck mehr als tausend Seiten umfassende Speculum des Vinzenz von Beauvais ein großartiges Nachschlagewerk, um für eine konkrete Predigtsituation das geeignete Exemplum zu finden und mit einer zeitlichen und geographischen Verortung zu versehen, ohne die jede exemplarische Anekdote – wie Vinzenz ausdrücklich festgestellt hat508 – ihre Authentizität verloren hätte. Denn, um glaubwürdig zu erscheinen, bedurften die Erzählungen von den Wundern der Heiligen, der Standhaftigkeit der Jungfrauen und der Vorbildhaftigkeit weltlicher Herrscher eines chronologischen Rahmens509. Das Speculum Historiale war eine Predigerenzyklopädie, nicht dazu bestimmt, den Standort der eigenen Epoche innerhalb der Heilsgeschichte zu bestimmen, wie dies die Exegeten des 12. Jahrhunderts zu tun sich bemüht hatten. Es war diese pragmatisch-pastorale Zweckbestimmung, die den Autor der Aufgabe enthob, sich über den Verlauf der Heilsgeschichte geschichtsphilosophisch zu äußern510. Vinzenz wollte nicht Geschichtsdeuter, sondern lediglich Kompilator sein, dessen persönlicher Beitrag sich auf das Sammeln und Ordnen des vorgefundenen Stoffes beschränkte511 – was ihm die Vorwürfe moderner Historiker eingetragen hat. Als elementare Einweisung in die Geschichte, als Einordnung des eigenen Ordens in die Weltgeschichte, vor allem aber als 506 Eine Kategorisierung der Wunderberichte versucht Tarayre, Miracula et mirabilia. 507 Menzel, Predigt 302. Diese allgemeinen Bemerkungen zur Historiographie des 13. Jh. charakterisieren das Speculum Historiale ganz trefflich. 508 Vgl. Brincken, Geschichtsbetrachtung 440. 509 Vgl. Baethgen, Franziskanische Studien 331 f. und 362. 510 Vgl. Brincken, Geschichtsbetrachtung 445 f. 511 Zur Kompilation als Arbeitsprinzip franziskanischer Geschichtsschreiber vgl. Roest, Compilation as Theme and Praxis.
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Fundus für die Predigttätigkeit von dessen Mitgliedern war das Werk gedacht, und als solches wurde es begierig aufgegriffen und vervielfältigt512. Vinzenz hat nicht nur den Umfang aller bisherigen Weltchroniken gesprengt, er hat auch den Prototyp einer moralisierenden Geschichtsschreibung im Dienst der cura animarum geschaffen. Nicht der intellektuelle Kleriker sollte sich in kontemplativer Schau an der gelungenen methodischen Durchdringung der Geschichte erfreuen, sondern der einfache Bettelmönch sollte ein Werkzeug für seine tägliche Arbeit gewinnen. Nicht intellektueller Genuss, sondern konkreter Nutzen wurde in einem historiographischen Werk angestrebt. In einer Universalenzyklopädie dieser Art spiegelt sich die unübersichtliche Mannigfaltigkeit der Schöpfung wider, wie sie erstmals von Thomas von Aquin als Gottes gewolltes Werk gepriesen worden war513. Die mendikantische Historiographie gibt damit in einem gewissen Sinn diese philosophische Position des berühmtesten Philosophen aus den Bettelorden wieder, betonten doch beide Traditionen, die historiographische ebenso wie die philosophische, das Gute in der erschaffenen Vielheit und die menschliche Autonomie im Geschichtsprozess. Es war diese Hinwendung zu weltimmanenten Zielen, die der mendikantischen Geschichtsschreibung ihre historische Funktion verlieh. Das Speculum Historiale zeugt jedoch nicht allein von einer pastoralen Ausrichtung der Bettelorden, es liefert gleichfalls, auf einer weniger offensichtlichen Ebene, wichtige Hinweise zu Geschichtsbewusstsein und Weltdeutung des Mendikantentums. Die Geschichte der Menschheit war für Vinzenz und die mendikantischen Chronisten, die ihm nachfolgten, kirchlich-religiös determiniert. Bereits in der Apologia Actoris führte der Speculator omnis materiae scibilis aus, dass die Geschichte der Kirche und ihrer Heiligen, die in christlicher Antike und patristischer Zeit zwar in hoher Blüte gestanden habe, von den eigenen Zeitgenossen aber vernachlässigt werde, besonders nützlich und wichtig sei. Die Historia ecclesiastica dokumentiere die Geschichte der Kirche seit ihren Anfängen im apostolischen Zeitalter, bezeuge ihr Erstarken durch Märtyrer während der Verfolgungen, ihre Ausdauer, ihren Sieg unter Kaiser Konstantin, die Überwindung der Anfechtung durch Häresien wie Arianismus, Donatismus und Pelagianismus, das Hervortreten der Kirchenlehrer und Bekenner in patristischer Zeit, der Eremiten und Mönchsväter im Orient. Innerhalb der Kirchengeschichte vollziehen sich für Vinzenz die entscheidenden Taten, Wunder und Wandlungen, an denen sich der 512 Zu Enzyklopädien als Hilfsmittel für die Predigerausbildung vgl. exemplarisch Schmidt, Allegorie 304 f. 513 Zu Thomas’ Position vgl. Wieland, Ordnung.
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Mensch zu orientieren habe. Es sei zudem die Kirchengeschichte, die der gründlichen Einweisung in die Glaubenslehre diene. Ihr Studium informiere über falsche Lehren und helfe, diese rechtzeitig zu erkennen und zu widerlegen. Sie stelle somit das Fundament bereit für Predigt und Ketzerbekämpfung, die pastoralen Ziele des Speculum Historiale514. Dieser Verkirchlichung der Weltgeschichte entspricht die Auswahl der Quellen, die Vinzenz in mehreren Kapiteln seiner Einleitung vorstellt und verteidigt515; unter anderem schreibt er zu diesem Thema: Nicht alles, was in diesem Werk benutzt wurde, besitzt dieselbe Autorität. Manchem kommt eine herausragende Autorität zu, manchem nur eine mittlere, manchem eine kleine und manchem überhaupt keine. Eine Sonderstellung nimmt die Heilige Schrift ein, die einst von heiligen Propheten und Aposteln, erfüllt von göttlichem Geist, niedergeschrieben worden war, und von der ich in diesem Werk aufgrund des allgemeinen Gebrauchs nichts eingehender behandelt und aufgrund ihrer Ehrwürdigkeit nichts herauszugreifen gewagt habe, abgesehen von der Skizzierung der Geschichte. Wie die Bibel anderen Schriften zeitlich vorangeht, so auch an Würde. Neben den heiligen Schriften von höchster Autorität kommen sogleich die Dekretalen der Römischen Päpste und die Konzilskanones sowie die Schriften der Kirchenväter. Im Dekret Gratians steht im ersten Teil der zwanzigsten Distinktion zu lesen: Dekretalen und Konzilsbeschlüsse besitzen dieselbe Rechtskraft. Die Exegeten der Heiligen Schriften gehen den Päpsten, die sie an Wissen überragen, denen sie an Würde jedoch nicht gleichkommen, bei gewissen Deutungen der Schrift voran. Bei der Entscheidung von Rechtsfällen jedoch, wo nicht nur Wissen, sondern auch Macht erforderlich ist, nehmen die Exegeten (und Theologen) den Platz hinter den Päpsten (und Kanonisten) ein516. 514 Zur Kirchengeschichte bei Vinzenz vgl. grundsätzlich Brincken, Geschichtsbetrachtung 441 f. 515 Apologia Actoris cap. 8-14 (Brincken, Geschichtsbetrachtung 475-488). 516 Apologia Actoris c. 11-12 (Brincken, Geschichtsbetrachtung 482): Ex predictis itaque patet, non omnia, que in hoc opere continentur, paris auctoritatis esse, sed quedam in eis supremum auctoritatis locum tenere, quedam vero medium et quedam infimum, quedam autem nullum. Et in hiis omnibus excipio sacram paginam, olim a sanctis prophetis et apostolis divino spiritu indubitanter afflatis editam et conscriptam, de qua in hoc opere nichil penitus volvi propter ipsius usum communem, sed nec ausus fui propter ipsorum sacrorum librorum reverentiam excerpere, nisi forte breviter percurrendo fundamentum historie. Sicut enim scriptura sacra precedit alias tempore, sic etiam dignitate. […] Exceptis igitur divinis libris et in summa quadam auctoritatis arce sepositis, primum post eos locum tenent epistole decretales Romanorum pontificum et canones generalium conciliorum, opuscula quoque sacrorum doctorum. Nam ut in decretis Gratiani prima parte xx. distinctione legitur: Epistole decretales conciliorum canonibus pari iure exequantur. Divinarum vero scripturarum tractatores, etsi scientia pontificibus praemineant, tamen quia dignitatis eorum apicem adepti non sunt, in scripturarum quidem expositionibus eis proponuntur, in causis vero diffiniendis, ubi non solum scientia, sed etiam potestas requiritur, secundum post eos locum merentur (D. 20 d.a.c. 1).
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Von höchster Autorität, dennoch nach der Bibel und dem Kirchenrecht angesiedelt, stehen die Äußerungen der Kirchenväter und jener Autoren, die man heute der Patristik zuordnet. Auf einer mittleren Autoritätsstufe siedelt Vinzenz die Kirchenlehrer des frühen Mittelalters an. Wenig Autorität besitzen für ihn die heidnischen Gelehrten, Philosophen und Dichter, während die apokryphen Schriften über keinerlei Autorität verfügen. In der praktischen Umsetzung innerhalb des Speculum Historiale stehen Auszüge aus diesem heterogenen Quellenmaterial unvermittelt und ungewichtet nebeneinander, werden jedoch eindeutig von historiographischen und hagiographischen Vorlagen überragt. Obwohl Vinzenz’ Quellenkunde mehr den Charakter einer theoretischen Stellungnahme zur scholastischen Auseinandersetzung mit den Autoritäten besitzt, ist die Position, die das kanonische Recht innerhalb dieser hierarchischen Bewertung einnimmt, bemerkenswert. Vinzenz von Beauvais zeigt sich in seiner episodenreichen Materialsammlung nicht sonderlich interessiert an Texten des ius canonicum517. Seine kirchliche Perspektive findet allerdings in der Positionierung der kirchlichen Gesetze zwischen Bibel und Patristik, also zwischen göttlicher Offenbarung und ihrer ehrwürdigsten Kommentierung von Seiten der Theologen, eine passende theoretische Fundierung. Was wie eine historiographische Umsetzung der zeitgenössischen Lehrmeinung der Kanonisten klingt, vom ersten großen Geschichtsschreiber aus den Mendikantenorden aber noch nicht wirklich umgesetzt worden ist, sollte in den Werken seiner Nachfolger zum essentiellen Bestandteil mendikantischer Weltsicht und Weltordnung mutieren518. Den Beginn machte Martin von Troppau, Dominikaner wie Vinzenz von Beauvais und wie dieser Wegbereiter und frühes Sprachrohr mendikantischen Geschichtsbewusstseins. Der päpstliche Kaplan und Pönitentiar, der sechs Päpsten gedient hatte und im Jahr 1278 von Papst Nikolaus III. zum Erzbischof von Gnesen ernannt worden war, auf der Reise dorthin allerdings verstarb519, bediente sich der reichen Stofffülle seines Ordensbruders und setzte dessen Ratschlag, dass sich die Regierungsjahre der Päpste und Kaiser besonders gut eigneten, um den historischen Geschehnissen die rechte Glaubwürdigkeit zu verleihen, konsequent
517 Zum juristischen Charakter des Speculum Doctrinale vgl. dagegen Fioravanti, Philosophi contro legistae 423. 518 Zur Rezeption des Speculum Maius innerhalb des Dominikanerordens vgl. Guzman, Testimony of Medieval Dominicans. 519 Zur Biographie vgl. Anna-Dorothee Brincken, Art. „Martin von Troppau“, in: Die deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon 6 (²1987) Sp. 158-166, hier Sp. 159 f.; von den Brincken, Martin von Troppau 158-160.
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in die Tat um520. Sein Chronicon pontificum et imperatorum, in mehreren Redaktionsstufen zwischen 1268 und 1277 entstanden521 und das am meisten kopierte und benutzte lateinische Geschichtswerk des europäischen Mittelalters522, wurde zum klassischen Beispiel mendikantischer Geschichtsschreibung. Über Jahrhunderte hinweg blieb sein Vorbild verbindlich, für Bettelmönche, aber auch für andere Chronisten aus allen Ländern des lateinischen Europas, ja sogar darüber hinaus523. Trotz der inhaltlichen Verwertung des Speculum Historiale und der von Vinzenz von Beauvais angeregten Chronographie mittels Herrscherjahren besitzt Martins Chronicon einen völlig anderen Charakter als die Geschichtsenzyklopädie seines älteren Kollegen. Vergleicht man die unterschiedlichen Absichten, die beide Chronisten mit ihren Werken verbanden und in ihren Prologen verkündeten, so ist dies nicht überraschend. Während nämlich Vinzenz eine Predigerenzyklopädie, die seine Ordensbrüder bei ihren seelsorgerischen Tätigkeiten, insbesondere bei der Predigt und Ketzerbekämpfung, unterstützen sollte, im Sinn hatte, schrieb Martin mit gänzlich anderen Intentionen für einen anderen Leserkreis. Im Vorwort seines Chronicon ist darüber zu lesen: Da insbesondere Theologen und Rechtsgelehrte die Zeiten (und Taten) der Päpste und Kaiser sowie anderer Persönlichkeiten der Vergangenheit kennen müssen, habe ich, Frater Martin aus dem Dominikanerorden, päpstlicher Pönitentiar und Kapellan, dieses Werk aus verschiedenen Chroniken und Geschichtswerken zusammengestellt, indem ich auf der einen Seite die Päpste und auf der anderen Seite die Kaiser nach ihren Regierungsjahren aufgelistet habe. Verfasst wurde dieses umfangreiche Kompendium, damit es die Theologen ihrem Exemplar der Historia Scholastica und die Rechtsgelehrten dem Dekret oder auch den Dekretalen bequem beibinden können524.
520 Zu älteren Vorbildern für Martins Chronographie vgl. Brincken, Martin von Troppau 171-173. 521 Martin von Troppau, Chronicon. Eine neue Edition durch Brincken befindet sich in Vorbereitung. 522 Zur Aufarbeitung der Chronik und ihrer handschriftlichen Überlieferung vgl. zuletzt Ikas, Neue Handschriftenfunde zum Chronicon pontificum et imperatorum. Zur geschätzten Gesamtüberlieferung von 487 Handschriften vgl. ebd. 525. 523 Vgl. exemplarisch für England Ikas, Martinus Polonus’ Chronicle. Zur außereuropäischen Rezeption vgl. Brincken, Martin 157. 524 Martin von Troppau, Chronicon 397: Quoniam scire tempora summorum pontificum ac imperatorum nec non et aliorum patrum ipsorum contemporaneorum quam plurimum inter alios theologis ac iurisperitis expedit, ego frater Martinus ordinis Predicatorum, domni pape penitenciarius et capellanus, ex diversis cronicis ac gestis summorum pontificum et imperatorum presens opusculum […] deduxi componere inclusive, in una pagina eo anno Domini, quo creati fuerunt, ponendo pontifices, in alia pagina imperatores. Factum est autem eo compendiosius hoc opusculum, ut scolasticis hystoriis a theologis et a iuris peritis decreto vel
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Martin von Troppau wollte ein chronologisches Gerüst erstellen, um die Ereignisse der Vergangenheit zu ordnen und dadurch zu authentisieren. Darin unterschied sich seine Absicht nicht von jener des Speculators. Hatte dieser jedoch nach einer historischen Verortung von erbaulichen Geschichten und Wundererzählungen gestrebt, die als Exempla in der Predigt benutzt werden konnten, verfolgte Martin das doppelte Ziel, Theologen und Kanonisten ein historisches Nachschlagewerk an die Hand zu geben. Die einen sollten das Chronicon als Fortsetzung der Historia Scholastica, in der Petrus Comestor die biblische Heilsgeschichte bis zu den Aposteln erzählt hat525, lesen. Den anderen sollte Martins Werk helfen, Urheber und Entstehungsumstände der kanonischen Gesetze chronologisch einzuordnen und diese dadurch in ihrer Glaubwürdigkeit und Wirkkraft abzusichern. Die Methode der Legitimation durch Geschichte ist in Speculum und Chronicon identisch, der Stoff, den es abzusichern gilt, variiert jedoch deutlich. Martin hatte seine Chronik nicht für Prediger geschrieben, sondern eine Zeittafel zum Dekret und den Dekretalen verfasst, die hauptsächlich den Kanonisten die Interpretation des ius canonicum und seiner Genese aus dem Geschehen der Zeit heraus erleichtern sollte526. Seine Darstellungsweise kennt daher nicht das Ausufernde, das Exkurshafte, welche Vinzenz’ neugieriges Interesse am Geschehen der Vergangenheit ausgezeichnet hat. Beim päpstlichen Pönitentiar dominiert vielmehr eine ordnende, juristische Denkweise, die nach Exaktheit und Stringenz strebt – und die dem kanonischen Recht innerhalb der Geschichte jene Position höchster Autorität zuerkannte, von der Vinzenz von Beauvais in seiner programmatischen, aber Theorie gebliebenen Quellenkunde zum Speculum Historiale gesprochen hatte. Mit dem kanonischen Recht rücken auch die Urheber dieses Rechts, die Päpste, in den Mittelpunkt der Darstellung. Martin schuf, indem er die längst vor seiner Zeit populäre Papst-Kaiser-Chronik streng systematisierte und um die vor Päpsten und Kaisern liegenden Hauptphasen römischer Stadtgeschichte erweiterte, eine neue Form rombezogener Geschichte der lateinischen Welt527. Um die Zeit der Geburt Christi wird Rom Weltmacht und umschließt die gesamte Weltgeschichte. Zugleich beginnt die gemeinsame universale Herrschaft von Papsttum und Kaiserdecretalibus convenienter possit alligari. Zum Prolog vgl. Brincken, Martin von Troppau 164 f. 525 Zur Historia Scholastica vgl. zuletzt Sylwan, Petrus Comestor, Historia Scholastica. 526 Zum Anliegen von Martins Chronik vgl. einführend Brincken, Martin von Troppau 164-167. 527 Zu Martins stark romzentrierter Weltsicht vgl. Brincken, Martin von Troppau 188190.
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tum, deren Rangfolge in der Geschichtsschreibung und in theologischen Traktaten häufig durch die Zweischwerter-Lehre oder das Gleichnis von den Himmelslichtern Sonne und Mond verdeutlicht wird. Die Fortsetzung der biblischen Heilsgeschichte findet von nun an in Rom statt. Hier schaffen die Päpste das kanonische Recht, mit dessen Bestimmungen die Nachfolger Petri die Christenheit lenken. Es ist umgekehrt dieses Recht, insbesondere pseudoisidorisches Material im Dekret, auf das sich Martin stützt, um die Frühgeschichte eines mächtigen Papsttums und einer voll ausgebauten kirchlichen Hierarchie zu rekonstruieren. Als Dominikaner, dessen Orden im Schutz und im Verbund mit dem Papsttum des 13. Jahrhunderts groß und mächtig geworden war, verherrlichte der Chronist im Oberhaupt der Kirche den eigenen Schutzpatron. Ein Papsttum, dessen religiös-weltliche Vormachtstellung von den Kanonisten mit immer neuen Argumenten behauptet wird, findet umgekehrt in dieser Art der Geschichtsschreibung eine vermeintlich angemessene Charakterisierung. Es ist daher nicht verwunderlich, dass die nachfolgenden Päpste die von Clemens IV. in Auftrag gegebene Martinianische Chronik als Ausdruck eines kurialen Geschichtsverständnisses betrachteten und die Rezeption des Werks im Rahmen der mendikantischen Missionstätigkeit auch außerhalb Europas förderten528. Martins Chronicon besitzt den Charakter einer kurialen Universalhistoriographie, die der jurisdiktionellen Vorherrschaft des Papsttums in der Welt eine historische Erklärung und Legitimation verschafft. Als Scholastiker und Systematiker hat Martin von Troppau Kirchenrecht und Geschichtsschreibung verbunden und das eine benutzt, um das andere abzusichern. Seine Chronik gleicht einer Zeittafel zum kanonischen Recht, das Recht der Kirche wird dem Chronisten zur vornehmsten Quelle der Historiographie. Zur Erschließung der Geschichte in ihrer Funktion als subsidiären Hilfsmittels der Kanonistik hat Martin durch sein Chronicon pontificum et imperatorum beigetragen. Zur Erschließung des Kirchenrechts hat derselbe Autor die Margarita Decreti verfasst, eine Realkonkordanz zum Dekret, die früheste Systematisierung von Gratians Kanonessammlung. Mehrere Jahrhunderte hindurch wurde dieses pragmatische Hilfsmittel abgeschrieben und für Schule und Praxis herangezogen529. Wenn das historische Werk der Legitimierung der päpstlichen Vorrangstellung sowie der Absicherung des kanonischen Rechts gedient hat, so vermittelt das juristische Werk einen systematischen Zugang zum päpstlichen Instrument der Menschenführung vermittelt. Von Dignität 528 Zur außereuropäischen Rezeption von Martins Chronik vgl. Brincken, Martin von Troppau 157. 529 Zur Margarita Decreti vgl. Stintzing, Geschichte der populären Literatur 127 f.; Schulte, Geschichte II 137.
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und Zweck des kanonischen Rechts erfährt der Leser bereits im Prolog der „Perle des Dekrets“: Perle oder Tabula Martiniana des Dekrets. Zu den Schriften, die zur Belehrung (ad doctrinam) der Christen geschrieben worden sind, gehört auch das Dekret, das zur Belehrung (ad doctrinam) und Tröstung derselben verfasst worden ist. Die Lehre (doctrina) diese Buches wurde zu dem Zweck überliefert, damit sowohl Kleriker wie auch Laien durch diese gelenkt werden (regulentur) und jeder – unter Zurückweisung der falschen Unbilligkeit – durch den Glauben an die Sakramente und die Kenntnis der Schrift zur vollständigen Wahrheit gelangt. Daneben ermutigt die Lehre dieses Buchs jeden Gläubigen, nicht am Unglück zu zerbrechen oder sich im Glücke aufzulösen sowie das Vergangene im Gedächtnis zu behalten und dem Zukünftigen mit Vorsicht zu begegnen. Schließlich führt die Lehre dieses Buches den Gläubigen zur Nachahmung des heiligmäßigen Lebens, lehrt ihn die Übung der Tugenden sowie die Ausführung guter Taten530.
Die gesamte Christenheit untersteht dem Recht der Kirche, dessen Urheber die Päpste sind. Kleriker und Laien werden durch die doctrina iuris canonici gelenkt und zum Heil geführt. Das Kirchenrecht ist die magistra vitae und der Papst magister omnium. Für einen Monisten wie Martin von Troppau lag es daher nahe, die Geschichte der Christenheit um die sedes apostolica und das ius canonicum zu gruppieren. Hier liegt das Heil der Welt, die Kenntnis der Geschichte des Papsttums und des kanonischen Rechts vermittelt das notwendige Wissen, um den Weg des Heils zu erkennen und zu beschreiten. Friedrich Baethgen hatte in seiner Untersuchung franziskanischer Historiographie „die große historische Rolle der Bettelorden“ darin gesehen, „dass sie noch einmal versuchten, die Welt des Mittelalters, die über die Grenzen des transzendental-kirchlichen Systems hinauszuwachsen drohte, in die alten Schranken zurückzuzwingen“531. Vinzenz von Beauvais und Martin von Troppau hatten ihren Teil dazu beigetragen, diesem Ziel näherzukommen. Der Speculator hatte seine Aufgabe in erster Linie darin gesehen, dem mendikantischen Prediger, der ausgezogen war, 530 Margarita Decreti, Prolog (nach Von den Brincken, Martin 162 Anm. 42): Margarita Decreti seu Tabula Martiniana Decreti. Inter alia, quecunque ad fidelium Christi doctrinam scripta sunt, liber decretorum ad ipsorum doctrinam et consolationem conscriptus reperitur. Huius enim libri doctrina ad hoc est tradita, ut per ipsam tam clerici quam laici regulentur; per ipsam enim circa fidem sacramentorum et circa scientiam scripturarum repulsa falsitate iniquitatis perducitur quilibet ad veram perfectamque cognitionem veritatis. Item per ipsam animatur quilibet, ne frangatur in adversis et ne dissolvatur in prosperis. Recordationemque habeat de preteritis et cautelam de futuris. Item per ipsam infertur quilibet ad exemplum sancte imitationis. Instruitur ad exercitium virtutis atque ad executionem cuiuslibet bone operationis. 531 Baethgen, Franziskanische Studien 362.
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die Seelen der Gläubigen zu bestärken, jene der Irrenden zu bekehren und jene der hartnäckigen Leugner zu verdammen, bei seiner Arbeit zu helfen. Mit glaubwürdigen Geschichten von vorbildhaften Dienerinnen und Dienern Gottes sollten die Laien überzeugt und unter das Gesetz der Kirche gezwungen werden. Auf die Autorität des kanonischen Rechts hatte Vinzenz hingewiesen, es auch benutzt, ohne ihm allerdings eine vorherrschende Stellung innerhalb seines Werks zukommen zu lassen. Martin von Troppau, der in vielerlei Hinsicht den Vorgaben des Speculum Historiale verpflichtet blieb, ging einen Schritt weiter und konzentrierte sich weniger auf die aktive Seelsorgetätigkeit der Bettelmönche als auf die Ordnung und Regulierung der Welt. Sein Denken kreiste um Rom, das Papsttum und die von diesem erlassene Rechtsordnung. Eindeutig mendikantisch ist das Denken des Vinzenz von Beauvais, eindeutig mendikantisch ist aber auch das Denken des Martin von Troppau, waren es doch die Bettelmönche, die diese papalistisch-kanonistische Weltordnung, von der sie selbst profitierten, in ihren theologischen und juristischen Schriften theoretisch untermauert hatten und in ihren praktischen Auseinandersetzungen mit dem Weltklerus umzusetzen trachteten. 2. Verrechtlichung der Geschichte – Historisierung des Rechts Der erste Versuch, die franziskanische Lebensform in Deutschland zu etablieren, war 1217 angeblich daran gescheitert, dass sich die Sprachkenntnisse der italienischen Franziskaner auf das Wort Ja beschränkten. Was sich als Reaktion auf das Angebot von Nahrung und Unterkunft als passend erwiesen hatte, entpuppte sich als gefährliche Antwort auf die Frage der Einheimischen, ob die Fremden häretische Lombarden seien532. Auf dem Pfingstkapitel des Jahres 1221 beschlossen Franziskus und Elias von Cortona, der damalige Generalvikar des Ordens, einen zweiten Versuch zu wagen. Eine Gruppe von 27 Brüdern – es handelte sich um 12 Kleriker und 15 Laien, unter ihnen fünf Deutsche, die sowohl die lingua lombardica als auch die lingua theutonica beherrschten – machte sich im Herbst desselben Jahres auf den Weg über die Alpen. Im Gegensatz zur ersten Predigt- und Missionsreise war das Gemeinschaftsunternehmen diesseits und jenseits der Alpen beheimateter Brüder gut gerüstet und mit den geographischen und verkehrstechnischen sowie den kirchlichen und politischen Verhältnissen in Deutschland bestens vertraut. Den Kontakt zu geistlichen, adligen und städtischen Obrigkeiten suchend, gelang es dem wachsenden Grüpplein schuhloser Prediger 532 Jordan von Giano, Chronica cap. 5.
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bereits in den zwanziger Jahren des 13. Jahrhunderts, von Augsburg aus nicht nur in den rheinischen Bischofsstädten Anhänger zu gewinnen, sondern auch im bayerischen und mitteldeutschen Raum Fuß zu fassen. Als sie sich 1230 erneut zu einem Kapitel zusammenfanden, konnten die aus Italien nach Deutschland gekommenen Brüder eine Bilanz ziehen, die sie, die pauperes et simplices, wenn auch nicht mit Stolz auf ihre eigene Kraft, dann doch mit Dankbarkeit gegen Gott erfüllt haben wird. Die Predigt, wahrscheinlich aber noch mehr die Lebensführung hatten zahlreiche junge Männer veranlasst, sich ihnen anzuschließen. Ihre Strategie, sich auf zentrale Orte zu konzentrieren und die zuständigen kirchlichen und weltlichen Autoritäten so sehr für sich einzunehmen, dass diese sie nicht nur unterstützten, sondern ihnen auch eine erste Unterkunft gewährten, hatte sich aufs beste bewährt. Mit dem Beschluss des Generalkapitels, die Provinz Teutonia zu teilen, ging die Gründerzeit des deutschen Franziskanertums im Jahr 1230 zu Ende. Die folgenden Jahrzehnte waren von institutioneller Konsolidierung und verwaltungsmäßiger Verdichtung geprägt533. Es waren die allgemeinen Formen und Themen mendikantischer Geschichtsschreibung, die sich seit den dreißiger Jahren des 13. Jahrhunderts – zunächst noch zögerlich, blieb Deutschland doch bis in die zweite Jahrhunderthälfte hinein ein Aufbaugebiet – auch innerhalb des deutschen Ordenszweiges entfalteten. Im Rahmen des franziskanischen Selbstfindungsprozesses war insbesondere der Gründervita eine legitimierende und sinnstiftende Funktion zugekommen. Zwar stammten die erfolgreichsten Vitenschreiber aus der italienischen Heimat des heiligen Franziskus, doch in der Person des Julian von Speyer versuchte sich auch ein deutsches Ordensmitglied an dieser hagiographischen Verarbeitung der eigenen Frühzeit. In den dreißiger Jahren verfasste Julian, der vor seinem Eintritt in den Orden an der Pariser Universität studiert hatte und Mitglied der Hofkapelle des französischen Königs gewesen war, zunächst ein Reimofficium und im Anschluss daran eine Franziskusvita534. In beiden Schriften „stellte Julian den Ordensgründer als christusähnlichen Heiligen dar, der sich durch die Gnade Gottes von seinem sündigen Lebenswandel als junger Mann lösen konnte und nach seiner Bekehrung die Verwirklichung der vita evangelica erstrebte. Gemeinsam mit seinen Gefährten war Franziskus um die Erlangung der prefectio evangelica bemüht; hierfür orientierte er sich am Leben der Apostel, die 533 Zur franziskanischen Frühgeschichte in Deutschland vgl. Elm, Sacrum Commercium 390-404. Vgl. auch Freed, Friars 21-43; Berg, Studien zur Geschichte 114-123. 534 Julian von Speyer, Officium; Julian of Speyer, Life. Zu Person und Werk vgl. Dieter Berg, Art. „Julian von Speyer“, in: Die deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon 4 (²1983) Sp. 900-904; Roest, Reading 74 f.
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als Wanderprediger um das Seelenheil ihrer Mitmenschen besorgt waren und zu Buße und Friedenswahrung mahnten“535. Es war dies das klassische Repertoire franziskanischer Hagiographie, die das gesamte Jahrhundert über ein wichtiges Medium der eigenen Existenzsicherung bleiben sollte. In seiner Betonung der Christusähnlichkeit von Franziskus sowie der eschatologischen Bedeutung der von ihm gestifteten Ordensgemeinschaft wies Julians Werk bereits Charakteristika auf, die für die franziskanische Historiographie der folgenden Generation bestimmend werden sollten; durch die offizielle Verbindlichkeit der Legenda Maior konnten die Schriften des Julian von Speyer allerdings keine dauerhafte Wirkung entfalten. Eine andere Tendenz franziskanischen Geschichtsdenkens repräsentierte der Laienbruder Alexander aus der Kustodie Bremen, der zwischen 1235 bis 1249 mehrere Redaktionen einer historisch-chronologischen Auslegung der Apokalypse des Johannes anfertigte und in dieser expositio in Apocalypsim geschichtstheologische Gedanken von der Art eines Joachim von Fiore auf den Franziskanerorden übertrug536. Der Provinzvisionär aus Norddeutschland unternahm erstmals, noch bevor eine breitere Joachimrezeption an den süd- und westeuropäischen Zentren franziskanischer Gelehrsamkeit einzusetzen begonnen hatte537, den Versuch, das irdische Wirken der beiden großen Bettelorden in endzeitlichen Glanz zu hüllen. Die Offenbarung des Johannes als Prophetie der gesamten Welt- und Kirchengeschichte von der Entstehung der Kirche bis zur Gegenwart deutend, war Alexander davon überzeugt, dass das letzte Zeitalter, das die finale Auseinandersetzung zwischen Freunden und Feinden der Kirche bringen würde, unmittelbar bevorstünde. Die Kirche selbst erschien dem Bremer Propheten in augustinischer Tradition als civitas dilecta, versinnbildlicht durch die civitas Jherusalem, die auf einer nächsten Deutungsstufe – seit der Überarbeitung der ersten Redaktion zu Beginn der vierziger Jahre – mit den Franziskanern und Dominikanern gleichgesetzt wurde, gründete das Jerusalem der Apokalypse doch auf den Namen der Apostel, deren Lehre und Leben die Bettelmönche vor allen anderen Menschen durch Worte und Taten nachahmten. Die Bettelmönche gelangten aus dieser Perspektive in eine eschatologische Schlüsselposition, dazu bestimmt, die Christenheit sicher in 535 Zu Julians Schriften vgl. Berg, Studien zur Geschichte 126-128 (Zitat 127). 536 Alexander Minorita, Expositio. Zum Werk grundlegend Grundmann, Über den Apocalypsen-Kommentar; Schmolinsky, Apokalypsenkommentar; Roest, Reading 164 f.; Schmolinsky, Prophezeite Geschichte. 537 Gegen eine direkte Abhängigkeit von Joachim von Fiore zuletzt Schmolinsky, Ordensprophetie 326-330. Zur Rezeption joachitischer Ideen im Franziskanertum seit den vierziger Jahren vgl. Roest, Reading 163.
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die Ewigkeit hinüberzuführen, denn die heilige Stadt der Apokalypse ist für Alexander auch jene „civitas Jherusalem nach dem Jüngsten Gericht, die allerdings bereits zuvor durch gute Werke erbaut werden muss. […] Und man muss wissen, dass die Auserwählten, die wir mit der Stadt Jerusalem identifizieren, diese bereits vor dem Jüngsten Gericht errichten werden“538. In einer Überspitzung und Verengung der Lehren des Joachim von Fiore hat die deutsche Provinz einen frühen geschichtstheologischen Beitrag geleistet, um die Überlegenheit des ordo minorum gegenüber den alten Mönchsorden sowie seine heilsgeschichtliche Sonderstellung zu belegen539. Das pastorale Moment kam in der franziskanischen Historiographie Deutschlands ebenfalls nicht zu kurz. Wichtigstes Beispiel für eine Weltchronik, die – bei einer formalen Orientierung an Martin von Troppaus doppelter Geschichtsgliederung anhand der Regierungsjahre von Kaisern und Päpsten – wie das Speculum Historiale geschrieben wurde, um der mendikantischen Predigt authentisches Material zu liefern, sind die Flores Temporum540. Diese Chronik, verfasst von einem schwäbischen Minoriten kurz nach 1292, stellt eine nach den sechs aetates gegliederte Auslese dar, wobei sich der anonyme Autor im wesentlichen auf das sechste und letzte Zeitalter, die Epoche des römischen Reiches und des Christentums, das mit der Geburt Christi seinen Anfang nahm, konzentrierte541. Dabei ging es dem Chronisten nicht um die große Geschichte, sondern um die kleine Anekdote. Vor dem Hintergrund des Tuns irdischer Herrscher sammelte er Erzählungen und Legenden über die Heiligen, jene Blumen der Zeitalter, die in der Vorrede als Himmelsrosen und Paradieslilien charakterisiert wurden. Der Sammler der Blütenlese „befestigt an den Stützpfeilern Kaiser und Päpste weniger bekannte historische Nachrichten als Predigtmärlein. Stoffmagazin für die Predigt hat man die Flores daher genannt. Das Werk selbst wird zur 538 Alexander Minorita, Expositio 467 18-10 und 26-28 (zu Apoc 21,9 mit Bezug auf die „heilige Stadt“): Hic post diem novissimum dicitur de civitate Jherusalem, quae tamen ante diem novissimum est bonis operibus aedificanda. […] Sciendum, quod electi, quos dicemus per civitatem Jherusalem designatos esse, eam ante diem iudicii aedificabunt, sicut locuti sumus. 539 Zum franziskanischen Charakter des Apokalypsenkommentars vgl. Berg, Studien zur Geschichte 128 f.; Schmolinsky, Apokalypsenkommentar 36 f. und 116-119; Schmolinsky, Ordensprophetie. 540 Flores temporum (Teiledition von 713-1288/90). Zur Überlieferung vgl. Mierau/ Sander-Berke/Studt, Studien zur Überlieferung. Zu Quellen und Vorlagen vgl. Brincken, Flores 205-207. Zu älteren, vollständigeren Editionen vgl. ebd. 195 Anm. 2. Allgemein zum Werk vgl. Roest, Reading 49 f. Zu den Vorarbeiten zu einer Neuedition im Rahmen der MGH vgl. Mierau, Geschichte als Ergänzungsform: (Ziel ist die „überlieferungsgeschichtliche Dokumentation der einzelnen Textstufen“, die die Grundfassung bis ins Jahr 1313 beziehungsweise 1349 fortsetzten). 541 Zum Titel vgl. Melville, Zur „Flores-Metaphorik“.
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Anekdotensammlung, […] zur Mönchsbelletristik“542. Die zahlreichen Exempla wurden zu einem beträchtlichen Teil aus der Legenda Aurea des Dominikaners Jacobus de Voragine geschöpft543. Die Erklärung, die der Autor für seine Arbeitsweise und Darstellungsform gab, erinnert an die Forderung des Vinzenz von Beauvais nach historischer Verankerung der Predigtexempla: Erfüllt von dem Wunsch zu wissen, welcher Heilige zu welcher Zeit auf Erden gelebt hat, habe ich viele Chroniken durchforscht und aus diesen mit kindlichen Worten und berechneten Jahreszahlen von Beginn der Zeit an bis zum Jahr 1290 Notizen zum Eigengebrauch gemacht. Als ich dem Volke predigte: ‚Heute sind so viele Jahre vergangen, seit dieser oder jener Heilige in den Himmel aufgefahren ist’, erregte dies die Bewunderung sowohl meiner Mitbrüder als auch der Kleriker, die mich daher um eine Abschrift meiner Notizen samt den üblichen Jahresangaben baten544.
Die weltliche Geschichte hat für den Autor der Flores keine eigenständige Relevanz, sondern dient als Hintergrund, vor dem sich die Wundertaten der Heiligen vollziehen. Obwohl Kaiser und Päpste den Geschichtsverlauf nur am Rande mitgestalten, sind sie für den Geschichtsverlauf dennoch nicht ohne Wert, bilden sie als spina, als „Dornen der Welt“, doch das Rückgrat der Taten und Wunder der „Rosen des Himmels“. Es ist also ein Rahmen sowie eine chronologische Ordnung der Geschichte, die man mit Hilfe der Regierungsjahre geistlicher und weltlicher Herrscher zu gewinnen vermag. Der eigentliche Sinn der Historiographie liegt jedoch in der historischen Absicherung der Heiligenerzählungen, die in den Flores temporum eine zeitliche Gliederung und dadurch eine historische Authentisierung erhalten. Um dieses Ziel zu erreichen, stützte sich der schwäbische Blumensammler zwar auf historiographische Vorlagen, vor allem aber bediente er sich an der erfolgreichsten Sammlung von Heiligengeschichten, der Legenda Aurea. „Die Flores Temporum sind die Zeittafel zur Legenda Aurea, wie Martin eine Zeittafel zur Historia Scholastica des Petrus Comestor oder zum Dekret lieferte. Sie erscheinen daher als lineares Mirakelbuch. Ihr Stil ist in der Tat kindlich, sie geben nur noch einen Schatten der Legenda wieder. Dies beabsichtigte der Chronist auch nicht anders, er will die Legenda nicht ersetzen, sondern nur
542 Brincken, Flores 201. 543 Zur Legenda Aurea als Quelle für die Flores temporum vgl. Brincken, Flores 206 f. 544 Flores temporum 230: Scire desiderans, quibus temporibus quilibet sanctus vixerit super terram, cronicas diversas et multas studiose perlegi. Ex quibus omnibus ab inicio seculi usque ad annum gracie 1290 michi soli aliqua breviavi verbis puerilibus et numero algorismi. Cum ergo in predicationibus populo dicerem: ‘hodie tot anni sunt, quod iste sanctus migravit ad celos’, admirantes fratres et clerici pertinaciter exegerunt a me copiam exemplaris et numero usuali.
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an sie heranführen“545. Das erfolgreichste religiöse Volksbuch des späten Mittelalters in ein chronologisches Raster gebracht und damit als Exempelsammlung für die Predigt adaptiert zu haben war das Verdienst der Flores Temporum546. Die Franziskaner besaßen damit ein in seiner Anlage und seiner Zielsetzung den großen dominikanischen Universalchroniken vergleichbares Werk, das aufgrund seiner Tendenz, je näher die Darstellung der eigenen Gegenwart kam, um so häufiger mirabilia der regionalen Umwelt einzustreuen, vor allem in Süddeutschland eine große Resonanz erlangte547. Es sei interessant festzustellen, schrieb Bert Roest in seiner History of Franciscan Education, dass es sich bei einigen dominikanischen und franziskanischen Chroniken wie jener des Martin von Troppau sowie den Flores Temporum gleichsam um „histories of canon law development“ handle548. Nun trifft diese Beobachtung zwar auf die Flores Temporum weniger zu, ein wesentliches Charakteristikum mendikantischer Historiographie des 13. Jahrhunderts ist damit jedoch zweifellos genannt. Martin von Troppau, der in dieser Hinsicht quellenkundliche Überlegungen seines Ordensbruders Vinzenz von Beauvais in die Tat umgesetzt hat, ist dagegen ein gut gewähltes Beispiel für diese „Verrechtlichung der Geschichte“, die neben der legitimatorisch-sinnstiftenden sowie der pastoralen Funktion das Geschichtsdenken der Dominikaner, vor allem aber der frühen Minoriten kennzeichnet. Das beste Beispiel für dieses historiographische Phänomen stammt aus dem deutschen Raum: die Cronica minor Minoritae Erphordensis, auch Cronica Romana oder Cronica Romanorum genannt, die ein namentlich unbekannter Angehöriger des Erfurter Minoritenkonvents wahrscheinlich 1264 geschaffen und bis 1272 mehrfach überarbeitet hat549. Von ihrem Herausgeber wurde die Papst-Kaiser-Chronik, die von Apostel Petrus und Kaiser Augustus bis zur Gegenwart des Autors reicht, für historisch wertlos erachtet; Bedeutung verleihe dem Werk einzig seine breite Rezeption im thüringischen 545 Brincken, Flores 214. 546 Zum Nutzen der Kompilation für die Predigtvorbereitung vgl. Berg, Studien zur Geschichte 148 f. Zu den Flores Temporum als “archetypal Franciscan pulpit chronicle” vgl. Roest, Reading 221 f. 547 Zur Rezeption und regionalen Verankerung der Flores Temporum vgl. Johanek, Weltchronistik und regionale Geschichtsschreibung 315 f. Zu den sogenannten Fortsetzungen vgl. ebd. 317-326. Zum Charakter der Flores als „lebendiger Text“, der von seinen Bearbeitern in mehreren Textstufen aktualisiert und erweitert wurde, vgl. Mierau, Geschichte als Ergänzungsform. 548 Roest, Education 147 Anm. 126. Zur Rolle der Kanonistik bei der Klerikerausbildung vgl. Oediger, Bildung 43-45. 549 Cronica minor. Zum Werk vgl. Berg, Studien zur Geschichte 143 f.; Roest, Reading 43 f.
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Raum während des 13. und 14. Jahrhunderts550. Aus der Sicht des Historiographiehistorikers, der nach wissenschaftlich-methodologischen Innovationen sucht, sowie des positivistischen Faktensuchers, dessen Idealbild der gut unterrichtete und vermeintlich objektive Chronist ist, trifft diese Wertung zu. Aus der Perspektive einer kulturgeschichtlichen Herangehensweise, die nach den Bedingungen und Funktionen mittelalterlicher Historiographie sowie dem Selbstverständnis mittelalterlicher Geschichtsschreiber und ihrem Geschichtsbewusstsein fragt551, erscheint das negative Urteil jedoch unbefriedigend. Denn der Autor der Cronica Minor liefert in seiner überaus tendenziösen Darstellung interessante Einblicke in die Instrumentalisierung der Vergangenheit durch die franziskanische Ordensgeschichtsschreibung552. In einem kurzen Prolog nennt der Autor seine Textvorlagen und den Zweck seiner Schrift. Die Auflistung der Quellen beginnt bezeichnenderweise mit der Nennung des kanonisches Rechts: „Dieses Kompendium wurde aus verschiedenen Vorlagen zusammengestellt, videlicet de iure canonico [...]“. Es folgen historiographische und theologische Werke wie Bedas Historia ecclesiastica, die Chronik des Eusebius und die Briefe des Hieronymus553. Die Hierarchie der Quellen entspricht der Absicht des franziskanischen Chronisten, seinen Lesern Informationen über die Taten und Gesetze der Päpste sowie über das gute oder schlechte Verhalten der Kaiser zu geben, eine Reihenfolge der Päpste und Kaiser zu erstellen und bemerkenswerte Fürsten zu erwähnen, von der Zeit des heiligen Petrus und des Kaisers Augustus bis zum Jahr 1261554. Diesen programmatischen Worten entsprechend, stellt der Autor die Päpste, ihre Taten sowie ihre rechtlichen und dogmatischen Verlautbarungen in den Mittelpunkt seiner historischen Darstellung. Vor den Augen des 550 Chronica minor 177 (Holder-Egger): Chronicon licet nobis non magni pretii, tamen maioris momenti est, quia saepissime et praesertim ab omnibus, qui postea in Thuringia res gestas praeteritorum saeculorum composuerunt, exscriptum est. 551 Vgl. zuletzt Oexle, Von Fakten und Fiktionen; Epp, Von Spurensuchern und Zeichendeutern; Goetz, „Konstruktion der Vergangenheit“. 552 Zur Verwendung von Geschichtsschreibung, um eine bestimmte Weltordnung oder -deutung zu präsentieren und durch das Argument der Geschichte zu stützen, vgl. die Beiträge in Gleba (Hg.), Instrumentalisierung von Historiographie, insbesondere Studt, Vom universalen Modell zum politischen Argument 31-48. 553 Cronica minor 178: In hac conpilacione, que de diversis excerpta est, videlicet de iure canonico ... Zu den benutzten Quellen vgl. Chronica Minor 176 (Einleitung von HolderEgger). 554 Cronica minor 178: In hac conpilacione […] ostenduntur legere volentibus aliqua de gestis sive statutis Romanorum pontificum et de statu bono vel malo inperatorum, insuper quibus, qui successerunt tam in sede apostolica quam eciam in Romana re publica, preterea quibus, qui memorati principes contemporanei fuerunt a beato Petro apostolo et a Cesare Augusto usque ad annum Domini 1261.
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Lesers wird eine lineare Geschichte des römischen Papsttums entfaltet, das alle anderen Bereiche des Lebens absorbiert. Für eine selbständige Erörterung weltlicher Herrschaften ist kein Raum, im Gegensatz etwa zu den Flores Temporum, wo Könige und Fürsten als „Dornen dieser Welt“ den Rahmen bereitstellten, innerhalb dessen die „Rosen des Himmels“ ihre Wunder vollbrachten. In der Cronica Minor wurden die Taten weltlicher Herrscher ausschließlich dann erwähnt, wenn sie mit konkreten Auswirkungen auf die Kirche verbunden waren. In diesem Sinn muss auch der Hinweis im Prolog auf das wechselhafte Verhalten des Kaisers, das dessen Stellung gegenüber der Kirche bestimmte (de statu bono vel malo inperatorum), als Ausdruck für das sich wandelnde Verhältnis zwischen Kaisertum und Papsttum interpretiert werden. Um nicht das Idealbild einer harmonischen Zusammenarbeit beider Universalgewalten unter spiritueller Führung des Papstes zu zerstören, überging der Erfurter Chronist die historischen Konflikte zwischen Kaiser und Papst. Als Gradmesser für die Größe weltlichen Herrschertums erscheint dem Autor allein die jeweilige Beziehung zu Kirche und Papst. Idealisiert als Beschützer und Förderer der Kirche begegnen uns Karl der Große, Otto I. und Friedrich I. Verweigert ein Herrscher jedoch die Unterstellung unter die päpstliche Autorität, so gefährdet er dadurch sein Seelenheil und riskiert die Exkommunikation555. Als paradigmatisches Beispiel hierfür nennt der Chronist Kaiser Friedrich II., der mehr als einmal den Frieden zwischen Ecclesia und Imperium gestört habe und der Häresie verdächtig gewesen sei. Papst Gregor IX. habe ihn daher mit der Exkommunikation belegt. Die kirchliche Schlüsselgewalt habe der Kaiser – nach der Gefangennahme von Kardinälen und Prälaten auf ihrem Weg zum apostolischen Stuhl – verachtet und die heiligen Sakramente zelebrieren, das heißt profanisieren lassen. Geschrieben und verkündet habe der Kaiser überdies, dass er das päpstliche Urteil nicht anerkenne; andere habe er gezwungen, dasselbe zu tun556. In dieser von kurialen Vorlagen abhängigen Charakterisierung Friedrichs II. als Friedensbrecher, hartnäckigen Sünder und Häretiker in Wort und Tat verschmelzen alle Vorurteile hinsichtlich des weltlichen Widerstands gegenüber einem Papsttum, das im Geschichtsbild des Chronisten Mittelpunkt und Oberhaupt der Welt darstellt. Die Lenkung der Christenheit durch das Papsttum vollzog sich in erster Linie durch das ius canonicum, verlautbart in den statuta Romanorum pontificum557. Bereits im Prolog hat der anonyme Autor auf die 555 Zum Kirchenbild der Cronica minor vgl. Roest, Reading 209-214. 556 Vgl. Cronica minor 200. 557 Zur Rechtssetzung als Baustein päpstlicher Geschichtsschreibung sowie zum Vorbildcharakter des Liber Pontificalis vgl. Melville, De Gestis 384-400.
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Bedeutung, die er dem kanonischen Recht und den päpstlichen Gesetzen zumisst, hingewiesen. Diese Haltung führte zu einer bemerkenswerten, alle anderen mendikantischen Chroniken des 13. Jahrhunderts weit übersteigenden Fokussierung auf das gesetzgeberische Wirken des Papsttums. Wenn bei Martin von Troppau beispielsweise zu lesen war, dass der Ruhm Innocenz’ III. unter anderem darauf zurückzuführen sei, dass dieser Papst Dekretalen erlassen habe558, so konzentriert sich der Erfurter Minorit beinahe ausschließlich auf die legislatorische Tätigkeit, als gäbe es von anderen Taten und Ereignissen während des achtzehnjährigen Pontifikats eines Papstes, der als vicarius Christi den jurisdiktionellen und moralischen Höhenflug der sedes apostolica im 13. Jahrhundert vorbereitet hatte, nichts Nennenswertes zu berichten. Der Text liest sich dementsprechend über weite Abschnitte wie eine Aneinanderreihung päpstlicher Dekretalen: Papst Innocenz III. war sehr gebildet und redegewandt. Er hat ein Buch über die Eucharistie, Predigten und ein Buch ‚Über das menschliche Elend’ verfasst. Er hat auch viele Dekretalen erlassen. […] Papst Innocenz hat verfügt, dass die deutschen Fürsten das Recht zur Wahl des Königs besitzen, der zum Kaiser gekrönt werden muss, falls er nicht häretisch, dumm oder krank ist. Extra de elect. Venerabilem. Er hat verfügt, dass ein Ehepartner vor vollzogener Ehe gegen den Willen des anderen in ein Kloster eintreten darf, dies hat bereits Papst Alexander III. festgesetzt. Papst Innocenz III. hat verfügt, dass sich Juden beiderlei Geschlechts in jedem christlichen Land durch ihre Kleidung von den Christen unterscheiden müssen. Er hat auch verfügt, dass kein geweihter Kleriker der römischen Kirche eine Ehefrau oder eine Konkubine haben dürfe. Weiters hat er verfügt, dass kein Kleriker mehrere kirchliche Benefizien oder zwei Dignitäten ohne päpstliche Dispens besitzen dürfe. Papst Innocenz III. hat daneben verfügt, dass jeder Erwachsene zumindest einmal im Jahr seinem Pfarrer beichten und zumindest zu Ostern den Leib Christi empfangen müsse, außer sein Pfarrer rät ihm fernzubleiben; und er hat verfügt, dass der Beichtvater auf keinen Fall das Beichtgeheimnis brechen dürfe. Extra de pen. Omnis utriusque. Und er hat verfügt, dass jeder Mönch einem strengeren Orden beitreten kann, nachdem er um Erlaubnis dafür gebeten hat, auch wenn ihm diese Erlaubnis verweigert worden war559. 558 Martin von Troppau, Chronicon 437: Innocencius III. nacione Campanus ex patre Transmundo, consecratus in festo cathedre sancti Petri sedit annis 18, mensibus 4 et diebus 23. Hic quantum fuit gloriosus, opera eius testimonium perhibent veritati. Fecit enim inter cetera hospitale sancti Spiritus et renovavit ecclesiam sancti Syxti, composuit decretales, sermones et librum de misera conditione humani generis et multa alia gloriosa. […]. 559 Cronica minor 195: […] Hic papa (sc. Innocencius III.) fuit eruditus valde et plurimum eloquens. Hic composuit librum de sacramento altaris et sermones et librum de miseria humana. Hic fecit plurimas decretales. […] Hic papa Innocencius declaravit, quod principes Theutonie ius habent in eligendo regem promovendum, si non fuerit hereticus vel stolidus aut
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In der Cronica minor hatte die „Verrechtlichung der Geschichte“ eine besonders hervorgehobene Stellung erlangt560. Vinzenz von Beauvais hatte dem ius canonicum höchste Autorität als Quelle und daher gleichsam Offenbarungscharakter zugesprochen. Zumindest innerhalb seines Speculum Historiale waren diese Überlegungen jedoch Theorie geblieben, bemühte sich der Dominikaner doch in erster Linie um die historische Absicherung von Predigtexempla. Martin von Troppau hatte die Vorgaben seines Ordensbruders aufgegriffen und eine Papst-Kaiser-Chronik verfasst, die den Kanonisten die Entstehung des kanonischen Rechts in seinen historischen Umständen verdeutlichen und diesem dadurch Legitimation verschaffen sollte. In einer Art Zeittafel zum Dekret, das Martin selbst durch eine alphabetische Enzyklopädie aufgearbeitet hatte, sollten die Fachmänner das Kirchenrecht aus seiner Genese heraus begreifen lernen. Das weltliche Treiben reduzierte Martin deutlich. Es behielt jedoch eine Art Rahmenhandlung, vor der sich die Geschichte der Kirche vollzog. In der Cronica minor Minoritae Erphordensis war die Konzentration auf das kanonische Recht, das Recht der Päpste, zum Zentrum der Darstellung geworden. Weder für die allgemeine historische Orientierung noch für die Predigt konnte dieses Werk herangezogen werden. Sein erster Zweck lag in der Betonung der legislatorischen Vorherrschaft des Papsttums, eines Papsttums, das in den Augen des Erfurter Chronisten von Gott dazu bestimmt war, die gesamte, die klerikale und laikale Christenheit zu führen – und dabei auf die Hilfe geeigneter Truppen angewiesen war561. Der mendikantische Papalismus, den die Theologen des Ordens, insbesondere jene, die in den Bettelordensstreit an der Universität Paris verwickelt gewesen waren, ausformuliert hatten, fand hier seine historiographische Version, die in ihrer Begrenztheit einer Verstümmelung gleicht, gleichwohl aber die ekklesiologischen Gedanken Bonaventuras und anderer führender Köpfe in die Provinz transportierte. Damit perpetuo infirmus, in inperatorem Romanorum, extra de elect. Venerabilem (X 1.6.34). Hic constituit, quod alter coniugum altero invito ante carnalem copulam potest eligere religionem, et hoc statuit similiter Alexander papa III. (X 4.1.16). Iste papa Innocencius III. statuit, ut in omni christianorum provincia notabiliter distinguatur habitus Judeorum in utroque sexu (X 5.6.15). Constituit eciam, ut nullus clericus in sacris ordinibus habeat uxorem vel concubinam in occidentali ecclesia. Constituit eciam, ut nullus clericus habeat plura beneficia ecclesiastica vel duas dignitates absque dispensacione sedis apostolice. Hic papa Innocencius eciam constituit, ut quilibet adultus ad minus semel in anno plebano suo confiteatur et ad minus in pascha percipiat corpus Domini, nisi de consilio eius abstineat; et constituit, quod confessor nulla racione prodat peccatum confitentis, extra de pen. Omnis utriusque. Et constituit, quod quilibet religiosus ad arciorem ordinem, postulata licencia, etsi non detur licencia, licite possit transire (X 3.31.16 und 18). 560 Zu dieser historiographischen Rückführung des Rechts auf seinen historischen Urheber vgl. Melville, De Gestis 380 f. 561 Vgl. Roest, Reading 212-214; Berg, Studien zur Geschichte 143.
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zeigt sich der unbekannte Erfurter Chronist derselben Gedankenwelt provinzialdeutschen Minoritentums verpflichtet wie jener unbekannte Glossator der Rechtssumme Heinrichs von Merseburg, der um 1260 in der Saxonia Franciscana, möglicherweise in Erfurt, wo auch Heinrich von Merseburg als Lektor tätig gewesen war, seinen Glossenapparat verfasst hatte562. Beide Autoren, der Kanonist ebenso wie der Historiograph, entwarfen eine Welt, die der päpstlichen Gesetzgebung unterworfen sein sollte. Die Christenheit bedurfte in den Augen der deutschen Franziskaner einer rechtlichen Reglementierung, die allein der Papst gewährleisten konnte. Dies war von besonderer Notwendigkeit in einer Epoche, die an den nahenden Beginn der Endzeit denken ließen. Niemals wieder sollte die Historie derart auf die päpstliche Gesetzgebung reduziert werden. Die Verbindung beider Sphären prägte jedoch auch andere minoritischen Schriften dieser Zeit, insbesondere in Deutschland. Eine konservative Universalchronik, die deutlich den Geist des 12. Jahrhunderts atmet, fungierte in den deutschsprachigen Provinzen als Bindeglied zwischen den genannten Geschichtswerken aus franziskanischer Feder und Eike von Repgow beziehungsweise dem Sachsenspiegel, durch dessen Bearbeitung die Anhänger des heiligen Franziskus die deutsche Rechtsgeschichte maßgeblich mitgestalteten. Die Rede ist von der Sächsischen Weltchronik563, einer vermutlich 1260/75 abgeschlossenen mittelniederdeutschen Prosachronik564, die man „die bedeutendste Zusammenschau der Welt-, Reichs-, Kirchen und Landesgeschichte […] volkssprachlicher Historiographie“ genannt hat565. Mag dieses emphatische Urteil auch übertrieben sein, so hat der unbekannte Autor doch eine Chronik verfasst, die in ihrer universalhistorischen Perspektive vom ersten Schöpfungstag an bis zur Gegenwart sowie in ihrer kirchenpolitischen Ausrichtung den Vergleich mit lateinischen Werken des hohen Mittelalters nicht zu scheuen braucht566. Der üblichen Priori562 Zum Glossenapparat Fecit deus vgl. oben III.1. 563 Sächsische Weltchronik 65-384 (einschließlich Fortsetzungen); Buch der Welt (Faksimile). Zur Chronik vgl. die Einleitung zur Edition von Ludwig Weiland (Sächsische Weltchronik 1-64); Wolf, Sächsische Weltchronik; Buch der Welt. Kommentar. Zum Handschriftenbestand und zur Rezeption vgl. Wolf, Sächsische Weltchronik 18-120 und 197-400. 564 Zur mehrstufigen Genese ab circa 1230 vgl. Menzel, Sächsische Weltchronik 176-179; Wolf, Sächsische Weltchronik 401 f. 565 Herkommer, Sächsische Weltchronik Sp. 476 f. Zur Volkssprache in der Chronistik des 13. Jh. vgl. zusammenfassend Gärtner, Die Tradition der volkssprachigen Weltchronistik; Bertelsmeier-Kierst/Wolf, „Man schreibt Deutsch“. 566 Zur komplexen Genese des aus vielen Schichten zusammengesetzten Textes vgl. im Detail Menzel, Sächsische Weltchronik 153-186; Wolf, Sächsische Weltchronik 402-406 (Zusammenfassung des aktuellen Forschungsstandes).
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tätensetzung gemäß begriffen der Chronist und die späteren Bearbeiter der Chronik die Zeit bis zur Geburt Christi als Vorspann der Heilsgeschichte und sie begnügten sich daher mit einer kurzen Skizzierung des alttestamentarischen Israels, Babylons, Persiens und Griechenlands, um im Anschluss daran die Geschicke von Kirche und Christenheit ausführlicher darzustellen567. Die Erzählung gewinnt an zusätzlicher Breite ab der Wende zum 13. Jahrhundert und wendet sich dabei immer stärker den norddeutsch-dänischen Verhältnissen zu568. Ihren rückwärtsgewandten Charakter verdankt die Sächsische Weltchronik zum einen ihren Quellen und zum anderen ihrem Hauptgegenstand. Die beiden Hauptquellen, denen der Autor über weite Strecken wörtlich folgt, sind die Chronica des Frutolf von Michelsberg in der bis 1125 fortgeführten Redaktion des Ekkehard von Aura sowie die Pöhlder Annalen569. Beide Vorlagen haben Form und Inhalt der Sächsischen Weltchronik maßgeblich geprägt. Das Hauptinteresse des Autors galt der chronologischen Darbietung politischer Ereignisgeschichte, die sich auf Höhen und Tiefen der Reichsgeschichte konzentrierte und das Wechselhafte der Politik vordergründig mit dem moralisch-religiösen Profil der herrschenden Protagonisten zu erklären versucht. Widerstreit und Harmonie zwischen Kaiser und Papst, Fürsten und Bischöfen bestimmen ein politisches Geschehen, das im Rahmen einer faktenorientierten Erzählweise ohne eine tiefere Analyse geschichtsphilosophischer Art dargelegt wird. An wenigen Stellen durchbricht der Autor dieses Konzept, indem er den Lauf der irdischen Dinge anhält, um sich Gedanken zu machen über Wesen und Ziel der Heilsgeschichte. Dies geschieht zum einen – wie nicht anders zu erwarten – in der Reimvorrede, die toposgeladen auf die Gnade Gottes in der Geschichte hinweist und zur moralischen Erneuerung aufruft: In der Nachfolge Christi möge der Leser der Chronik den rechten Glauben pflegen, seinen Nächsten lieben und sich von Sünden fernhalten; die Beschäftigung mit moralischen Exempeln der Chronik möge zur Vertreibung schlechter Gedanken und zur wirklichen Wahrheit führen570. Dieser Interpretationsrahmen ist wenig originell, erfährt jedoch eine Konkretisierung in einem predigtartigen Einschub, der die Regierungszeit Kaiser Konstantins einleitet und den ersten längeren 567 Zur heilsgeschichtlichen Ausrichtung der Chronik vgl. Zips, Die Heilsgeschichte in der Sächsischen Weltchronik 182-200, bes. 189 f. und 194 f. 568 Zum Aufbau der Chronik vgl. Herkommer, Sächsische Weltchronik 475-477. 569 Zu den Quellen vgl. Sächsische Weltchronik 20-33 (Einleitung Weiland); Menzel, Sächsische Weltchronik 59-152. Anders Herkommer, Sächsische Weltchronik Sp. 477479, der die Chronik des Albert von Stade als zweite Hauptquelle betrachtet. 570 Sächsische Weltchronik 65 f.
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Eigenbeitrag des unbekannten Autors darstellt, der sich bis dahin weitgehend damit begnügt hat, seine Vorlagen auszuschreiben. Van unses herren bort wante an de tit Constantini waren 311 jar. Dat was diu reine kintheit der heiligen cristenheit. […] Do unse herre Jesus Christus van menschen, war got unde war mensche, an sunde durch den menschen geboren wolde werden, do brachte he de ware minne, de he selve was, an de werlt. He wolde uns armen lude delhaftich maken des ewigen rikes. Wo we dat gewinnen solen, dat hevet he uns geleret mit den worden unde mit den werken, do he sprach: ‚Discite a me, quia mitis sum et humilis corde’, dat TXLWÄ/HUHWYDQPHZDQWHLFKELQVDPIWHXQGHRWPśGHVKHUWHQ·571.
Mit diesen Worten beginnt der Autor seine paränetische Beschreibung einer wahrhaft christlichen Lebensführung, die in Jesus Christus ihr Vorbild hat. Mit einer Reihe von Bibelsprüchen ermahnt der Autor seine Leser, das Augenmerk nicht auf weltlichen Besitz zu richten, sondern für den Glauben Leid und Entbehrung freudig in Kauf zu nehmen. Gepriesen wird die christliche Urgemeinde: de hadden al en herte unde ene sele an der suten minne Jesu Christi. Allet dat se hadden, dat was gemene, under in ne was neman arm, wande swe luttel se hadden, des genogede in wol. Um den Glauben zu verbreiten, predigten die Apostel den Ungläubigen und erduldeten viele Entbehrungen. Große Not habe die sich ausbreitende Christengemeinde in der Zeit der Christenverfolgungen erlitten. Das Leben sei unsicher gewesen, Gottesdienste hätten versteckt unter der Erde stattgefunden, viele Gläubige hätten das Martyrium erlitten. Dit waren de di werlt mit erer werdicheit uphelden, unde der di werlt nicht werdich ne was. Dit was de junge wingarde, den unse herre Jesus Christus selve geweGHPHWKHYHWPLWVLQHQEOśGHXQGHJHGXQJHWPLWVLQHUVRWHQOHUHGDULQQHKHEEHW gearbeidet de twelef apostole unde de heilegen martelere. Die Arbeit dieser Diener Gottes sei wohl gediehen: Alle Menschen, die nach dem Himmelreich strebten und das Evangelium verbreiteten, führten ihr Werk fort. Doch: We geistliken lude, de geistliken leven solen, we hebben under ihren namen de groten dorp und vile hove, burge unde lant unde vile dienestmanne und ane mate late unde egener lude vile, van ereme namen hebbe we riken disch van mede unde van wine, van dickenbere unde van manegeme richte, we hebbet der schoner cledere vile unde stolter perede genoch. Darna will we hebben wertliken rom unde der valschen lovere lof, we krenken widewen unde wesen572.
Mit einer harschen Kritik wandte sich der Autor an den Klerus seiner Zeit, der geistlich leben sollte, doch – im Namen der verstorbenen Heiligen und Märtyrer! – große Besitztümer angehäuft habe, an reich gedeckten Tischen guten Wein genieße, sich in prunkvolle Gewänder 571 Sächsische Weltchronik 115. 572 Sächsische Weltchronik 116.
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hülle, nach weltlichem Ruhm strebe und Witwen und Waisen im Stich lasse. Nach der Konstantinischen Wende sei zwar Sicherheit ins Leben der Kirche eingekehrt, diese habe ihr allerdings nicht nur zum Vorteil gereicht. So möge Jesus Christus den Menschen bei der Erlangung des himmlischen Reiches mit seiner heiligen Duldsamkeit zur Seite stehen. Damit schließt der predigtartige Einschub, der als allgemeine Mahnung zur christlichen Lebensführung begann und als Abrechnung mit den Berufskollegen endete, zählt sich der unbekannte Autor doch am Beginn der zitierten Textstelle ebenfalls zu den „geistlichen Leuten“573. Eine strenge Spiritualität und rigorose Armutsvorstellungen, die die predigtartige Eröffnung der Epoche Konstantins dominieren574, scheinen das theologisch-paränetische Geschichtsverständnis des Chronisten bestimmt zu haben, obwohl die Weltchronik an anderen Abschnitten reine Faktenerzählung bietet575. Ein am urkirchlichen Armuts- und Märtyrerideal orientierter Autor verträgt sich allerdings schwer mit der seit der frühen Neuzeit vorherrschenden Überzeugung, dass Eike von Repgow, der Verfasser des Sachsenspiegels aus dem Laienstand, ebenfalls Autor der Sächsischen Weltchronik gewesen sei576. Gestützt wurde diese These durch Verse der Reimvorrede, in denen auf den Ratschlag des Repgowers hingewiesen wird (logene sal und wesen leit / daz ist des van Repegouwe rat) sowie durch vereinzelte Zitate aus dem Sachsenspiegel577. Trotz dieser Hinweise zielen Überlegungen der modernen Forschung in eine andere Richtung: Vermutlich war der unbekannte geistliche Autor, der sich an spirituellen und asketischen Idealen orientierte, wie sie Mitte des 13. Jahrhunderts besonders ausgeprägt im minoritischen Umfeld existierten, Mitglied des Franziskanerordens578. Sprachwissenschaftliche und kunsthistorische Charakteristika der handschriftlichen Überlieferung sowie inhaltliche Kriterien deuten zudem darauf hin, dass der unbekannte Autor in der Saxonia Franciscana, möglicherweise in
573 Zur „Mahnrede“ vgl. Buch der Welt. Kommentar LXII-LXIV und 81-84 (Edition). 574 Durch die handschriftliche Verbreitung ist der predigtartige Einschub als Bestandteil der ersten Fassung der Sächsischen Weltchronik gesichert. Vgl. dazu Herkommer, Eike 20; Menzel, Sächsische Weltchronik 402 Anm. 5. 575 Übertrieben die Charakterisierung von Herkommer, Sächsische Weltchronik Sp. 484: „Das dort (sc. in der ‚Predigt’) begegnende Gedankengut findet seinen Widerhall in der geistlichen Tönung der ganzen Chronik“. 576 Zur Geschichte der These von Eikes Verfasserschaft vgl. Herkommer, Eike 10-16. 577 Zum Sachsenspiegel als Vorlage vgl. Herkommer, Eike 26-33; Menzel, Sächsische Weltchronik 97-99. 578 Zur Verfasserfrage vgl. Herkommer, Sächsische Weltchronik Sp. 483 f.; Wolf, Sächsische Weltchronik 402. Zur langen Tradition, in der diese kirchenkritischen Äußerungen stehen, vgl. exemplarisch Olsen, The Ideal of the Ecclesia Primitiva.
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Magdeburg selbst, dem Ort des Generalstudiums, gearbeitet hat579. Sein Werk war integraler Bestandteil minoritischen Schrifttums des 13. Jahrhunderts: Hatte der Verfasser der Sächsischen Weltchronik seinerseits die Chronik des Albert von Stade, der sich 1240 der franziskanischen Gemeinschaft angeschlossen hatte, benutzt, so griff umgekehrt der franziskanische Visionär Alexander von Bremen bei der Abfassung seines Apokalypsekommentars im zweiten Viertel des 13. Jahrhunderts nach der mittelniederdeutschen Weltchronik580. Ein bisher wenig beachtetes Detail stützt die Vermutung, dass die Sächsische Weltchronik von einem Franziskaner angelegt wurde581. Jene Stellen aus den Evangelien, die den Ermahnungen im ersten Teil des predigtartigen Einschubs zugrunde liegen, scheinen nicht direkt aus der Heiligen Schrift geschöpft worden zu sein, sondern bezeichnenderweise aus Texten, die jeder Minorit kannte. Bereits das erste lateinische Zitat: Discite a me, quia mitis sum et humilis corde (Mt 11,29) erinnert an eine Stelle aus der Regula Bullata, der franziskanischen Ordensregel von 1223, wo es über den Wandel der Brüder in der Welt heißt: Quando vadunt [fratres] per mundum, non litigent neque contendant verbis nec alios iudicent, sed sint mites, pacifici et modesti, manueti et humiles582. Während in diesem Beispiel eine ähnliche Geisteshaltung die wörtlichen Anklänge erklären könnte, stammen die folgenden Bibelzitate in ihrer Reihenfolge und Amalgamierung mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit aus einem Kapitel der Regula non Bullata, der vom Papst nicht anerkannten Franziskanerregel aus dem Jahr 1222583: Sächsische Weltchronik S. 115 Z. 18-39.
Regula non Bullata cap. XVI S. 391 § 14-16.
Cum persequentur vos in civitate una, fugite in aliam (Mt 10, 23). […] Beati eritis (Mt 5, 11), cum vos oderint homines * et cum separaverint vos et exprobraverint
Si persequentur vos in civitate una, fugite in aliam (Matth. 10, 23). […] Beati eritis (Mt 5, 11), cum vos oderint homines et maledixerint vobis et persequentur vos
579 Zum Entstehungsort vgl. Menzel, Sächsische Weltchronik 272-276; Wolf, Sächsische Weltchronik 402; Buch der Welt. Kommentar 19-45 und 47-117 (aus sprach- und kunsthistorischer Sicht). 580 Vgl. Herkommer, Sächsische Weltchronik Sp. 478 f.; Menzel, Sächsische Weltchronik 105 f. (beide zu Albert von Stade). Herkommer, Sächsische Weltchronik Sp. 496; Wolf, Sächsische Weltchronik 202 f. (zu Alexander von Bremen). Zur Verwendung ausgewählter Passagen aus der Erfurter Cronica minor in einem Überlieferungsstrang der Sächsischen Weltchronik vgl. Menzel, Sächsische Weltchronik 141. 581 Hinweise auf wörtliche Parallelen lediglich bei Herkommer, Eike 27 Anm. 61. 582 Regula bullata cap. III, in: Franciscus, Opuscula 367 f. 583 Regula non bullata cap. XVI, in: Franciscus, Opuscula 391. Wörtliche Übereinstimmungen wurden kursiv gesetzt. Varianten der Regula non bullata, die mit der Sächsischen Chronik übereinstimmen, wurden in den Text übernommen. Vgl. ebd. 391 Anm. 43, 45 und 51.
Neue Weltordnungen et eiecerint nomen vestrum tanquam malum (Luc 6, 22) propter filium hominis (Mt 5, 11). Gaudete * et exultate (Lc 6, 23), quoniam merces vestra copiosa est in celis (Mt 5, 12).
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et separaverint vos et exprobraverint et eiecerint nomen vestrum tanquam malum (Luc 6, 22) et cum dixerint omne malum adversum vos mentientes propter me (Mt 5, 11). Gaudete in illa die et exultate (Lc 6, 23), quoniam merces vestra copiosa est in celis (Mt 5, 12).
Die Textsynopse verleiht der Vermutung einige Wahrscheinlichkeit, dass der Verfasser der Sächsischen Weltchronik ein in der sächsischen Ordensprovinz wirkender Franziskaner, der bei seiner historiographischen Arbeit auch auf normative Texte seines Ordens zurückgegriffen hat584. Der minoritische Charakter des universalhistoriographischen Werks blieb lange Zeit unentdeckt, weil sich die wesentlichen Elemente mendikantischer Geschichtsschreibung in der Sächsischen Weltchronik noch nicht entfaltet hatten; zu stark erinnern Struktur und Inhalt an die Universalchroniken vergangener Jahrhunderte, zu wenig greifbar ist die pastorale und funktionale Perspektive mendikantischer Autoren wie des Vinzenz von Beauvais oder Martin von Troppau. Neben der mendikantischen Spiritualität, die zumindest ansatzweise in dem zitierten predigtartigen Einschub zu greifen ist, war auch die Anbindung an ein Rechtsbuch und seinen Autor bezeichnend für ein Geschichtsdenken der Bettelmönche, das Recht und Historie zu einer neuartigen Synthese verschmolz. Keinesfalls war der unbekannte Autor, der die erste Fassung der Sächsischen Weltchronik verfasst hatte, so weit gegangen wie Martin von Troppau, der sein Werk unter anderem als Hilfsmittel für den Kanonisten verstanden wissen wollte, dennoch stellt seine Hommage an Eike von Repgow im Prolog sowie sein Interesse für den Sachsenspiegel eine Brücke dar, die uns mitten hineinführt in die Werkstatt jener minoritischen Mönche, die sich im dritten Viertel des 13. Jahrhunderts an die Bearbeitung des sächsischen Land- und Lehnrechts machten und dieses in einen geschichtstheologischen Rahmen stellten, der ihrem historischen Verständnis entsprach. Standen Sachsenspiegel und Sächsische Weltchronik noch eher nebeneinander – zwar aufeinander bezogen, in der Überlieferung aber nur gelegentlich miteinander verbunden585–, so sollten die Verrechtlichung der Geschichte und die heilsgeschichtliche Verortung des Rechts nun bald ihren Höhepunkt in der deutschen Geschichte des Mittelalters erreichen.
584 Zu einer mutmaßlichen Verbindung des im 13. Jahrhundert im Magdeburger Raum entstandenen Gothaer Codex Membr. I 90 der „Sächsischen Weltchronik“ mit Magdeburger Minoriten vgl. Buch der Welt. Kommentar LXIV-LXVIII (Herkommer). 585 Vgl. Herkommer, Eike 31 f.
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Als eine Art Vorstufe könnte man die Magdeburger Rechtsbücher, auch Magdeburgisches Weichbild genannt, bezeichnen586. Ein unbekannter Autor, vermutlich aus dem Umkreis der Magdeburger Schöffen, versuchte mit diesem mehrteiligen Rechtsbuch eine umfassende Darstellung des städtischen Rechts zu geben587. Den Kern des Konvoluts bilden zwei kürzere Rechtsaufzeichnungen, die mit fortschreitender Zeit um weiteres Material ergänzt wurden588: das Rechtsbuch von der Gerichtsverfassung und das Magdeburger Schöffenrecht, beide entstanden möglicherweise kurz nach 1261, als die Magdeburger Schöffen eine Rechtsweisung an Breslau gesandt hatten und sich dabei möglicherweise des Nutzens einer schriftlichen Fixierung des geltenden Rechts bewusst wurden. „Die Magdeburger Rechtsbücher formulieren so den Kernbestand des in Magdeburg von den Schöffen praktizierten städtischen Rechts unter dem Eindruck des Modellcharakters des Sachsenspiegels und in dem Wissen, dass viele Sätze seines Landrechts auch in der Stadt Gültigkeit hatten“589. In einer etwas erweiterten Form wurden die beiden Rechtsaufzeichnungen zur sogenannten Magdeburger Weichbild-Vulgata verbunden und – bemerkenswerterweise – mit einem historischen Rahmen versehen: Die Magdeburger Weichbildchronik, von Anfang an integraler Bestandteil der Rechtssammlung, bot einen knappen Abriss der Universalgeschichte von der Schöpfung bis zur Mitte des 13. Jahrhunderts. Das chronologische Gerüst bildete eine Kaiserreihe. In sie eingeordnet wurden Nachrichten zu den Päpsten und Magdeburger Erzbischöfen. So hatte das Recht der Gegenwart seine Stellung in der Geschichte und die Geschichte ihre Legitimationsfunktion für das Recht erhalten. Im Ganzen ist die Weichbildchronik den dürren historischen Kompendien von der Art der Chronik des Martin von Troppau vergleichbar. Wie diese mit ihrem Papst-Kaiser-Schema nach eigener Aussage dem Juristen ein chronologisches Gerüst an die Hand geben will, das ihm die historische Einordnung und Interpretation der Sätze des Kirchenrechts ermöglicht, so leistet die Weichbildchronik mit ihrer Einbindung der Geschichte der Magdeburger Erzbischöfe in die Reichsgeschichte ähnliches für die beiden magdeburgischen Rechtstexte. Martin von Troppau empfahl, seine Chronik den kirchlichen Rechtsbüchern, das heißt dem Dekret Gratians oder dem Liber Extra, als Anhang beizugeben. Ähnlich 586 Vgl. zusammenfassend Johanek, Rechtsschrifttum 410-413; Johanek, Magdeburger Rechtsbücher Sp. 945-953. 587 Zu Werden, Wesen und Wirkung Magdeburger Rechts vgl. einführend Ebel, Magdeburger Recht. 588 Zu Textentwicklung und aktueller Forschungslage vgl. Schelling, Magdeburger Schöffensprüche und Magdeburger Weichbildrecht 118-122. 589 Johanek, Magdeburger Rechtsbücher 950.
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verfuhr man mit der Weichbildchronik. Zusammen mit dem Rechtsbuch von der Gerichtsverfassung und dem Magdeburger Schöffenrecht verband man sie zur Weichbildvulgata590. Während Sachsenspiegel und Sächsische Weltchronik von zwei unterschiedlichen Autoren stammen, die den Zusammenhang von Recht und Historie in ihren jeweiligen Werken betonten591, hat dieses Bewusstsein beim Verfasser der Magdeburger Rechtsbücher von vornherein zur systematischen Verbindung von Recht und Geschichte geführt. Es ist jene mendikantische Auffassung einer Historizität des Rechts sowie seiner historischen Verankerung, die aus dieser Haltung spricht. Einer solchen engen Verflechtung von Geschichtsbuch und Rechtsbuch gerade in Magdeburg zu begegnen, erstaunt wenig, unterhielten die deutschen Minoriten doch seit den dreißiger Jahren des 13. Jahrhunderts in dieser Stadt ein blühendes Generalstudium. Zweifellos hatten die Mitglieder des Magdeburger Konvents den Sachsenspiegel und die Magdeburger Rechtsbücher studiert. Heinrich von Merseburg und seine unbekannten Kollegen, die für ihre kanonistischen und historiographischen Werke auf Rechtsschriften unterschiedlicher Provenienz zurückgegriffen hatten, bildeten innerhalb der Magdeburger Stadtgemeinschaft einen gelehrten Zirkel, der das städtische Rechtsleben vermutlich nicht nur beobachtete, sondern auch mitgestaltete. Im Umfeld dieser rechtsinteressierten Franziskaner scheint zwischen 1265 und 1275 eine erste Übersetzung des Sachsenspiegels ins Mittelhochdeutsche erfolgt zu sein. Dieser nicht erhaltene Text bildete die Grundlage für alle weiteren Bearbeitungen des niederdeutschen Rechtsbuches592. Zum wichtigsten Zentrum der Verbreitung, Rezeption und Verarbeitung des Sachsenspiegels außerhalb Sachsens und des Gebiets der deutschen Ostsiedlung wurde jedoch der Franziskanerkonvent in Augsburg593. In seinem Umkreis entstanden mit den unterschiedlichen Sachsenspiegel-Bearbeitungen die ersten Werke eines volkssprachlichen Rechtsschrifttums im Süden Deutschlands. Zwar lassen sich direkte Beziehungen zwischen dem Magdeburger und Augsburger Konvent, etwa die oft behaupteten Studienaufenthalte von Berthold von Regens590 Johanek, Rechtsschrifttum 411 f. 591 Zur Geschichte in deutschen Rechtsaufzeichnungen des 13. Jh. vgl. Theuerkauf, Geschichte in Rechtsaufzeichnungen 201-216. 592 Zur Genese der oberdeutschen Rechtsbücher vgl. einführend Johanek, Rechtsschrifttum 413-421. 593 Vgl. Johanek, Rechtsschrifttum 413 f. – Zum Sachsenspiegel vgl. grundsätzlich Kroeschell, Rechtsaufzeichnung und Rechtswirklichkeit; Lieberwirth, Eike von Repchow und der Sachsenspiegel; Johanek, Eike von Repgow, Hoyer von Falkenstein; Lück, Über den Sachsenspiegel. Zum Entstehungsort vgl. Landau, Entstehungsort.
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burg und David von Augsburg am Magdeburger Generalstudium, nicht nachweisen, dennoch kann es als sehr wahrscheinlich gelten, dass der Weg des Sachsenspiegels in den Süden über franziskanische Vermittlung lief. Franziskanische Rechtsgelehrsamkeit sowie die hohe Kommunikationsdichte innerhalb des Ordens bereiteten den Boden dafür. Die Aneignung des niederdeutschen Rechtsbuches vollzog sich in mehreren Schritten. Nachdem es sich beim fragmentarisch überlieferten Augsburger Sachsenspiegel um eine Redaktion der oberdeutschen Sachsenspiegel-Übersetzung gehandelt hatte, entstand – vermutlich 1274/75 – der Deutschenspiegel, benannt nach dem in der Reimvorrede genannten teutzeland als Geltungsbereich des Rechtsbuchs. Der Verfasser überarbeitete und ergänzte die oberdeutsche Sachsenspiegel-Fassung durch Korrekturen, Streichungen und Einschübe594. Bei Artikel 109, also noch im ersten Drittel des Werks, brach er diese Arbeitsweise ab, um sich für den Rest des Textes mit einer bloßen Übersetzung zu begnügen595. Das Vorhaben, das sächsische Recht für außersächsische Verhältnisse nutzbar zu machen, war unvollendet geblieben596. Im Gegensatz zu Eike von Repgow hatte der Verfasser des Deutschenspiegels nicht die Absicht, das im Lande von alters her geübte Gewohnheitsrecht aufzuzeichnen. Er beabsichtigte stattdessen jenes Recht darzustellen, das die Herrscher gesetzt und die „weisen Meister“, die gelehrten Juristen, interpretiert und weitergegeben hätten597. Damit sind es nicht mehr die Bewohner des Landes und ihre Gewohnheiten, die Ursprung und Legitimation des geltenden Rechts ausmachen, sondern herrscherlicher Wille und juristische Auslegungsmethode598. Das deutsche Land- und Lehnrecht rückt damit an die Seite des römischen Rechts, aus dem – insbesondere aus den Justinianischen Institutionen – gelegentlich auch zitiert wird599. Beide Rechtscorpora zusammen, das deutsche und das römische, bilden das lantrecht. Methodisch und exe594 Zum Werk vgl. grundsätzlich Eckhardt, Der Deutschenspiegel. 595 Zur Gliederung des Sachsenspiegels vgl. grundsätzlich Theuerkauf, Lex, speculum, compendium iuris 117 f. Zur Möglichkeit, dass die überlieferte DeutschenspiegelVersion lediglich das Fragment eines ursprünglich längeren Textes darstellt, vgl. Klebel, Quellen des Schwabenspiegels 285 f. und 293. 596 Zur Stellung des Deutschenspiegels im Umarbeitungsprozess des Sachsenspiegels zum Schwabenspiegel vgl. Johanek, Rechtsschrifttum 414 f.; Johanek, Spiegel aller deutschen Leute 98 f. 597 Deutschenspiegel, Reimvorrede 77: Ditz recht han ich niht erdacht / Ez habent die chunig an uens bracht / mit weiser maister lere. Vgl. dagegen Sachsenspiegel, Landrecht Vorrede 41: „Dieses Recht habe ich mir nicht selbst ausgedacht, es haben von alters her auf uns gebracht unsere rechtschaffenen Vorfahren“. 598 Zum kanonistischen Verständnis von ius und consuetudo vgl. Weitzel, Der Grund des Rechts. 599 Vgl. Johanek, Spiegel aller deutschen Leute Sp. 97.
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getisch gleicht das weltliche Recht damit dem kirchlichen Recht, gründen beide Rechtssphären doch auf der Gesetzgebung eines legitimierten Oberhaupts, das von erfahrenen Fachleuten beraten und unterstützt wird, begrenzt allein durch das ius naturale beziehungsweise divinum. Kaiser und Könige auf der einen, Päpste auf der anderen Seite, umgeben jeweils von Legisten und Kanonisten. Diese Angleichung der Rechtsbereiche ist aus franziskanischer Sicht gut verständlich, war die Verschriftlichung des deutschen Rechts, die zugleich seine Verwissenschaftlichung einleitete, für einen Rechtsgelehrten aus dem Minoritenorden, der in seiner Konventsschule ausgiebig die päpstliche Dekretalen hatte studieren müssen, wohl nur in den Kategorien des ihm vertrauten kanonischen Rechts vorstellbar. So wurden Gedanken zum Rechtsursprung sowie Methoden der Bearbeitung von einem Bereich auf den anderen übertragen600. Was der Verfasser des Deutschenspiegels an methodischer Angleichung durchführte, wurde in einem nächsten Bearbeitungsschritt vom Verfasser des Schwabenspiegels auch inhaltlich zu Ende gedacht; dazu unten mehr. In einer weiteren Hinsicht prägte das mendikantische Rechts- und Geschichtsverständnis die aus dem Sachsenspiegel hervorgehenden Werke. Wie Eike selbst, waren auch seine franziskanischen Nachfolger davon überzeugt, dass das Recht letztlich göttlichen Ursprungs sei, sich im Ablauf der Heilsgeschichte offenbare und in einem umfassenden Sinn paränetische Wirkung entfalte. Dieses über einen hermetisch-legalistischen Rechtsbegriff hinauszielende Grundverständnis machte aus dem Deutschenspiegel eine material- und facettenreiche Dokumentation mendikantischen Rechtsverständnisses. Wie dem Autor der Sächsischen Weltchronik war dem anonymen Verfasser weniger an inhaltlicher Stringenz als an ethischer Aussagekraft gelegen. Bereicherte der eine seine historische Darstellung um einen predigtartigen Einschub, in dem er seiner Historie spiritualistische und kleruskritische Äußerungen einfügte, so ergänzte der andere seinen Rechtstext um mehrere in der Dichtung der damaligen Zeit weit verbreitete Anekdoten mit dem Ziel, den normativen Text zu veranschaulichen und seine moralische Wirkkraft zu erhöhen601. Erzählt wurde in einem solchen Exemplum, welches auch in eine Freiburger Schwabenspiegel-Handschrift übernommen wurde, von der Begegnung eines Richters mit dem Teufel, die unter anderem der
600 Zum Thema Sachsenspiegel und kanonisches Recht vgl. nun Landau, Entstehungsort. 601 Zu den engen Beziehungen zwischen Jurisprudenz und fiktiver Literatur sowie ihrer wechselseitigen Durchdringung im Mittelalter vgl. Jacobs/Klugmann, Mittelalterliche Novellistik.
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Stricker in Verse gefasst hatte602. Es heißt dort, unmittelbar an einen Paragraphen über die Verurteilung bestechlicher Richter anschließend603: Bei einer gemeinsamen Wanderung über Land begegnen dem Richter und dem Teufel verschiedene Personen, die jeweils etwas „zum Teufel“ wünschen: der Metzger ein Schwein, ein Bauer sein Pferd, eine Mutter ihr Kind. Der Richter fordert jedesmal den Teufel auf, doch zuzugreifen, aber der weigert sich, da diese Flüche nicht „ernst gemeint“ seien. Schließlich wird der Richter von einer armen Witwe wiedererkannt, der er in einem Prozess mit unredlichen Mitteln das letzte Hab und Gut genommen hat. Die Frau wünscht den Richter zum Teufel, und dieser Fluch gilt: Der Teufel ergreift sein Opfer und führt es in die Hölle. Dieses Beispiel betrifft alle Richter. Wer Richter ist, hat allen Grund sich zu hüten, dass es ihm nicht geht, wie es jenem Richter ergangen ist; davor bewahre Gott alle Richter. Salomo sagt: ‚Liebt das Recht, ihr, die ihr auf Erden herrscht’. Dazu haben die Richter allen Grund.604
Die Integration des Exemplum samt der angefügten Kommentierung in den Deutschenspiegel spiegelt das gesellschaftspolitische Denken des Franziskanertums wider605. Um im Interesse lebenspraktischer Anleitungen allgemeine ethische Gebote zu formulieren, wurden Texte unterschiedlichen Charakters vereint. Ermöglicht wurde eine solche, Gattungsgrenzen überwindende Vorgehensweise durch die Präponderanz des sinnstiftenden Ordensziels sowie durch ein Rechtsverständnis, das nicht „legalistisch“ ausgerichtet war, sondern Recht als umfassende Ordnungsgröße menschlichen Zusammenlebens interpretierte. Zur vornehmsten Pflicht des Rechtsgelehrten wurde damit das Aufzeigen des rechten Weges und die Warnung vor den Gefahren sündhaften Handelns. Normatives mischte sich mit Erzählendem – das Rechtsbuch wurde zum Tugendbuch. Der Verfasser des Deutschenspiegels integrierte zwei weitere Verse des Strickers in seinen Rechtstext, jeweils verbunden mit der
602 Stricker, Verserzählungen II Nr. 17 31-42. Vgl. dazu Röhrich, Advokat und Teufel Sp. 118-123. Zum Stricker-Text vgl. Lewis, The Devil as Judge. – Überliefert ist die Erzählung auch bei Caesarius von Heisterbach, Wundergeschichten III 106 f. (hier Advokat statt Richter). 603 Deutschenspiegel 154f: Die (sc. Richter) habent toetlîche sünde, die sôgetân guot nement. Wir wellen ein bîspel sagen, das wâr ist und ûf diese rede alle gehoeret. Zur Verwendung der Summa des Raimund Peñafort bei der Erörterung des Richteramts vgl. ebd. 153 f. 604 Paraphrase nach Deutschenspiegel 155-163. Ende 163: Ditz bîspel hoeret ûf alle rihter. Swer rihter ist, der bedarf wol daz er sich hüete, daz im iht geschehe alse dem rihter geschach; dâ behüete got alle rihter vor. Salomon sprichet: ‚Minnet daz reht die daz ertrîche rihten’. Des bedurfen die rihter wol. Dieser Zusatz geht auf den Verfasser des Deutschenspiegels zurück. 605 Zu einer ähnlichen Interpretation vgl. bereits Heinzle, Gerechter Richter 266-294.
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Absicht, durch anschauliche Morallehren den normativen Text zu verdeutlichen und gegen verbreitete Laster der Zeit zu Felde zu ziehen606. Ein zusätzliches Element franziskanischen Ordnungsdenkens liegt in der besonderen Behandlung des Richteramts, dem eine Schlüsselrolle bei der Wahrung sozialer Ordnung zuerkannt wurde; eine Rolle, die dem Richteramt übrigens bereits im Prolog des Deutschenspiegels beigemessen wird, wo es heißt, dass, wer Gott liebe, auch das Recht liebe, und wissen solle: Wer wegen Liebe oder Leid, wegen Geschenken, wegen Feindschaft oder Freundschaft anders richte, als dies Buch es vorschreibe, der handle gegen Gott607. Bemerkenswert ist diese Haltung gegenüber dem weltlichen Richteramt deshalb, weil die Franziskaner gemeinsam mit ihren mendikantischen Gesinnungsgenossen eifrig an einer Autoritätssteigerung des Priesters, des Richters im forum internum, arbeiteten. Es war diese Bedeutungssteigerung, die das Sakrament der Beichte in der Entstehungszeit der Bettelorden durchgemacht hatte, welche nicht nur dafür sorgte, dass Bettelmönche seit dem zweiten Dezennium des 13. Jahrhunderts die Sünden dieser Welt in groß angelegten Bußsummen katalogisierten, sondern auch das Priesteramt in seiner Stellung als Urteils- und Vergebungsinstanz würdigten und mit dem Arztberuf, häufig aber auch mit dem Richteramt verglichen. In den Händen dieser drei Berufsstände lag das körperliche und seelische Heil des Menschen; Ärzte, Richter und Priester sollten hohe Kompetenz besitzen und spezielle Sorgfaltspflichten einhalten. Priester und Richter waren es zudem, die als Mittler zwischen Himmel und Erde fungierten und die göttlich-kirchliche beziehungsweise die weltlich-politische Ordnung der Christenheit garantierten608. Diesen Ämtern musste daher das besondere Interesse einer religiösen Gemeinschaft gelten, die eine aufbrechende Gesellschaft mit neuen Regulierungsmechanismen zu zügeln beabsichtigte. Die franziskanische Umformung des Sachsenspiegels führte daneben auch zu einer Historisierung des Rechts, die einherging mit der parallel stattfindenden Verrechtlichung der Geschichte, wie sie die mendikantische Historiographie des 13. Jahrhunderts prägte. Eine solche Form 606 Zu den verschiedenen Stricker-Texten in den deutschen Rechtsbüchern vgl. Ott, Bispel und Mären als juristische Exempla; Johanek, Spiegel aller deutschen Leute Sp. 96. 607 Deutschenspiegel 80 (Prologus): Swer got minnet, der minnet daz reht, unde wizzet daz: swer durch liebe oder durch leide oder durch gabe oder durch viuntschaft oder durch vîntschaft iht anders rihtet danne alse ditz buoch daget, daz ist wider got. 608 Zur herrschaftlich-richterlichen Zusammenarbeit der höchsten Gewalten vgl. etwa Deutschenspiegel 81 (Textus Prologi 1): Swaz dem bâbeste widerstê, […] daz sol der keiser und ander werltlîche rihter mit der aehte betwingen, und daz geistlîche sol twingen mit dem banne. – Hinweise zu den Mendikanten als Förderer verdichteter Staatlichkeit und Zivilisierung bei Heinzle, Gerechter Richter 282-294.
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der Zusammenbindung beider Wissensbereiche musste einem franziskanischen Gelehrten geradezu natürlich erscheinen, standen doch Recht und Historie gemeinsam und vereint im Dienst der gesellschaftlichen Hierarchisierung, Normierung und Ordnung; dies wiederum war vornehmster Seinszweck des Franziskanertums. Eike von Repgow hatte in seinem Prolog programmatisch auf die göttliche Provenienz des Rechts hingewiesen609, die Passage wurde von seinen franziskanischen Bearbeitern auch übernommen. Die Einbindung des normativen Rechts in die Heilsgeschichte erfolgt nun aber im Zuge der Umformung des Sachsenspiegels zum Schwabenspiegel in ganz anderen Dimensionen; ähnlich übrigens, wie dies im Fall der Magdeburger Rechtsbücher geschehen war, nämlich durch die Kombination des Deutschenspiegels mit einer Chronik610, dem Buch der Könige (Buch der Könige alter ê), einer Darstellung der biblischen Geschichte von Abraham bis Nebukadnezar, der das Alte Testament und die Historia Scholastica des Petrus Comestor zugrunde lagen611. Die Synthese beider Texte bringt das mendikantische Verständnis einer engen Verflechtung von Recht und Geschichte zum Ausdruck. Die Absicht der Kompilatoren unterschied sich dabei prinzipiell nicht von der Haltung Vinzenz’ von Beauvais oder Martins von Troppau. Wie jenen dominikanischen Schriftstellern ging es den rechts- und geschichtsbewanderten Franziskanern des Augsburger Konvents um eine Authentisierung und Legitimierung ihrer Ordnungsvorstellungen. War bei Vinzenz der Schwerpunkt noch im Bereich der Predigt, der populären Umsetzung moralischen Denkens, gelegen, so war es bereits Martin von Troppau um eine historische Legitimierung irdischen Rechts gegangen. Dasselbe Ziel verfolgte die Kombination des Deutschenspiegels mit dem Buch der Könige, wie in der Vorrede der Chronik deutlich wird: In nomine patris et filii et spiritus sancti amen. Wir suln dises buoches beginnen mit gote und ez sol sich enden mit gote. Wir suln ditz buoch bewaeren mit der alten ê unde mit der niuwen ê. Daz tuon wir dar umbe, daz man ez deste baz gelaube swaz dar an geschriben stê612. Die historische Erzählung sollte die Sätze des Rechtsbuches legitimieren. Das Geschichtsbuch stellt gewissermaßen die 609 Vgl. etwa Sachsenspiegel, Landrecht, Prosaprolog 51 f.: Got is selve recht, dar umme is eme recht lef. Zur Problematik vgl. etwa Theuerkauf, Geschichte in Rechtsaufzeichnungen 204 f. 610 Zum historischen Element im Sachsenspiegel und anderen deutschen Rechtsaufzeichnungen vgl. Theuerkauf, Geschichte in Rechtsaufzeichnungen. Zum Fehlen des historischen Bezugs (z. B. im Mühlhäuser Rechtsbuch) vgl. ebd. 202. 611 Deutschenspiegel 3-71. Vgl. dazu Rockinger, Der Könige Buch und der sogenannte Schwabenspiegel; Herkommer, Das Buch der Könige Sp. 1089-1092. 612 Deutschenspiegel 3 (Buch der Könige, Vorrede). Zu den unterschiedlichen Fassungen vgl. Herkommer, Buch der Könige Sp. 1090 f.
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historische Illustration und Begründung dessen dar, was das Rechtsbuch in seine Artikel fasst613. Damit sollte sinnfällig werden, dass das Recht in der Beglaubigung durch die Heilige Schrift und in der Berufung auf die gesetzgeberischen Autoritäten der Heilsgeschichte seine Legitimität erhält. Da jedoch dem mendikantischen Geschichtsverständnis entsprechend auch aus der Historie Lehren für das gegenwärtige Leben zu ziehen sind, bilden Geschichte und Recht im Grunde nur zwei unterschiedliche Medien, die dieselbe ethisch-normierende Botschaft transportieren. Während die Geschichtschronik in diachron erzählender Form beispielhaft die Regeln eines guten Lebens bestimmt und vor dem sündhaften Lebenswandel warnt, geschieht dies im Rechtstext auf synchrone, normative Weise. Die letzte Stufe der oberdeutschen Rezeption des Sachsenspiegels stellt der vermutlich 1275/76 abgeschlossene Schwabenspiegel dar614. Der unbekannte franziskanische Autor übernahm die geschichtliche Einleitung des Deutschenspiegels, ergänzte sie jedoch um eine Darstellung der Reichsgeschichte bis Konrad III. Wie aus dem Prolog des Buches der Könige hervorgeht, war eine solche historische Fortführung bereits zur Zeit der Abfassung des Deutschenspiegels der Plan seines Verfassers gewesen. Beide Teile wurden unter dem Namen Buch der Könige alter und niuwer ê als Einheit betrachtet. Der Verfasser der Prosakaiserchronik stützte sich über weite Teile seiner Darstellung auf die zur Mitte des 12. Jahrhunderts in Regensburg entstandene „Kaiserchronik“ sowie auf Einhards Vita Karoli. Insbesondere die fabulösen Erzählungen, mit denen in der mittelhochdeutsch gereimten Kaiserchronik viele Herrscher bedacht wurden, entsprachen den Vorstellungen des franziskanischen Kompilators, lag die Bedeutung dieser legendenhaft ausgeschmückten Exempla doch vorrangig in ihrer moralisch-ermahnenden Aussagekraft, die dem Gesamtwerk den Charakter eines Fürstenspiegels verlieh615. Entscheidend hervorgehoben wurden dabei die Kaiser als Gesetzgeber und Richter, wobei besonders Konstantin und Karl der Große hervortraten und das pfaht, das Reichsrecht, eine wichtige Rolle in der gesamten Kaiserchronik spielte616. Ein vergleichbares Ziel hatte auch der franziskanische Geschichtsschreiber im Auge, wenn er allen Herrschern und 613 Vgl. Herkommer, Buch der Könige Sp. 1090. 614 Vgl. Johanek, Rechtsschrifttum 416 f.; Johanek, Schwabenspiegel Sp. 896-907. Zu den Quellen vgl. Klebel, Quellen. Zur handschriftlichen Überlieferung und zu Texteditionen vgl. Oppitz, Deutsche Rechtsbücher des Mittelalters 34-42. 615 Vgl. Menzel, Predigt 301. 616 Kaiserchronik eines Regensburger Geistlichen. Zum Werk vgl. Ohly, Sage und Legende in der Kaiserchronik; Neuendorff, Studie zur Entwicklung der Herrscherdarstellung 34-150; Trusen, Rechtsspiegel 40 f.; E. Nellmann, Art. „Kaiserchronik“, in: Lexikon des Mittelalters 5 (1991) Sp. 856 f.
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Richtern die Lektüre seiner Schrift ans Herz legte: „Alle künig und alle vürsten und ander herren und ir alle, den der almehtige got gerihte und gewalt enpfohlen hat, damit sie an den einzelnen Figuren und ihren Taten bilde nehmen [d. h. sich zum Vorbild machen] und die Verhaltensregeln lernen, deren Nachahmung gottgefällig macht, deren Missachtung aber Strafe nach sich zieht“617. Exemplarisch sei auf das Kaisertum Trajans verwiesen, dessen Regierungszeit in der Prosakaiserchronik mit folgenden Worten eingeleitet wird: Trajan war der höchste Richter, den die Römer jemals hatten. Chroniken und andere Bücher erzählen viel von seiner Weisheit und seinen gerechten Urteilssprüchen. Bei den Römern stand er in hohen Ehren, da er Arme und Reiche gerecht behandelte. Niemals nahm er für ein Urteil Geschenke an. Kein Mensch besaß so großen Reichtum, dass es ihm nicht nutze, vor dem Kaiser zu erscheinen. Sorgsam urteilte dieser gemäß den kaiserlichen Gesetzen über Herrn und Knecht. Er hatte es so weit gebracht, dass ihn niemand zu bestechen wagte; denn wer ihm Geld für ein Urteil anbot, der hatte sein Leben verwirkt. Trajan war kühn, milde, ehrlich und beständig618.
Auf diese Einleitung, die den Herrscher zum Richter und das Herrschen zum Rechtsprechen macht, folgt die Erzählung von Trajan und der Witwe, die häufig rezipiert wurde und das Bild dieses römischen Imperators im Mittelalter in wesentlichem Maße formte. Übermittelt wird dieselbe Botschaft, diesmal in einer narrativen Verpackung: Trajan schickte sich an, in den Krieg zu ziehen, als eine Witwe sein Urteil in einem Rechtsstreit suchte. Der Kaiser versprach, die Angelegenheit nach seiner Rückkehr zu erledigen, doch die Frau erinnerte ihn daran, dass er, falls er stürbe und den Rechtsfall unerledigt hinterlasse, all sin gut richt verlorn, also alle seine richterlichen Verdienste verlieren würde. Trajan stieg vom Pferd und begann seinen Kriegszug erst nach der Vollstreckung eines gerechten Urteils. Als Papst Gregor I. mehrere Jahrhunderte später von der Sache hörte, vergoss er so manche Träne für den guten Richter und legte vor Gott Fürsprache ein für den Heiden619. In dieser Symbiose von Jurisdiktion und Herrschertum hatte die Verschmelzung von Geschichte und Recht ihren Höhepunkt erreicht. Die geschichtliche Einleitung des Schwabenspiegels führte hin zu einem Geschichtsverständnis, das seinen Fokus auf die richterliche Führung der Menschheit richtete, deren materielle Richtlinien im Schwabenspiegel niedergelegt wurden. Entsprechend hieß es im Vor617 Urschwabenspiegel § 19a S. 257 (Buch der Könige). 618 Urschwabenspiegel § 19 S. 269 (Prosakaiserchronik). Zur Vorlage vgl. Kaiserchronik 189-193. 619 Urschwabenspiegel § 19-20 S. 269-271. Zu den unzähligen Versionen der Anekdote sowie zu ihrer Semantik vgl. Whatley, The Uses of Hagiography; Ladero Quesada, El emperador Trajano como modelo; Jussen, Der Name der Witwe 326 f.
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wort: 8QGGDUXPEZLOOPDQDQGLVHPEśFKOHUHQDOOHGLHJHULFKF]SIOHJHQVLQG wie sy ain ieglich sach zu rechtem rechten sind bringen nach gottes willen620. So wie der Priester in seiner Bußsumme nachschlug, um im forum internum das rechte Strafmaß zu finden, verfügte nun auch der weltliche Richter über ein Nachschlagewerk, das seine hohe ethische Verantwortung hervorhob und eine angemessene Rechtsprechung im forum externum ermöglichen sollte621. Bezeichnenderweise verschwand diese Einheit in späterer Zeit, als sich die Rezeption des Schwabenspiegels vom franziskanischen Umfeld gelöst hatte, so dass in vielen Handschriften der Rechtstext ohne seine geschichtliche Einleitung überliefert wurde622. Von seinen Intentionen und seinem Rechtsverständnis berichtet der franziskanische Verfasser des Schwabenspiegels in einem stark erweiterten Vorwort, das an die Stelle der Reimvorrede des Sachsenspiegels getreten ist und stärker noch, als dies Eike von Repgow getan hatte623, auf die transzendentale Verankerung und ethische Ausrichtung des Rechts hinweist. Eröffnet wird das mehrteilige Vorwort durch einen predigtartig angelegten Schöpfungsbericht, dessen erster Teil einem Traktat Davids von Augsburg entnommen ist624. Im Mittelpunkt des Gedankengangs steht die Schönheit der Schöpfung, an deren Spitze Gott den nach seinem Bild geschaffenen Menschen gestellt hat. Um diese Gabe zu erwidern und um eines Tages unermesslichen Lohn zu empfangen, wird jeder einzelne aufgefordert, Gott mit rechtem Ernst zu dienen. Wichtigste Voraussetzung dafür sei der Friede, den Gott liebe und den er durch die Menschwerdung seines Sohnes auf die Erde gebracht habe625. Wer dagegen Gottes Gebote breche, verstieße auch gegen den Frieden und könne als Friedensbrecher niemals in den Himmel gelangen, dessen Pforten von Petrus im Auftrag Christi beaufsichtigt werden. Wer Gottes Gesetze missachte, verfalle zudem dem Urteil des Papstes, des Stellvertreters Gottes auf Erden. Dieser werde die Rechtsprechung auf Erden ausüben bis zum Jüngsten Gericht. Aus diesem Grund sollen in diesem Buch (sc. dem Schwabenspiegel) alle jene, die Recht sprechen, Anleitung erhalten, um jede Angelegenheit nach Gottes Willen gerecht zu beurteilen. 620 621 622 623 624
Urschwabenspiegel Vorwort c S. 357. Vgl. Johanek, Schwabenspiegel Sp. 903. Vgl. Trusen, Rechtsspiegel 42. Zu Eike vgl. Ignor, Über das allgemeine Rechtsdenken Eikes. David von Augsburg, Dritter Traktat 8 f. Zur Authentizität der Schrift vgl. Kurt Ruh, Art. „David von Augsburg“, in: Die deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon 2 (²1980) Sp. 54. 625 Im Vorwort b über den Frieden finden sich Anklänge an Predigten Bertholds von Regensburg. Vgl. Berthold von Regensburg, Predigten Nr. 17 und 49. Zu den Übernahmen aus franziskanischem Schrifttum vgl. generell Johanek, Schwabenspiegel Sp. 901.
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Beispiele gerechter Richter, die sich nun des ewigen Friedens erfreuten, fänden sich in den Büchern der „Alten und der neue e“. Wer jedoch gegen die Rechtssätze dieses Buches richte, der werde am Jüngsten Tag seine gerechte Strafe empfangen. Zum Schutz der Christenheit gebe es zwei Schwerter auf Erden, ein Schwert des weltlichen Gerichts, ein anderes des geistlichen Gerichts. Das weltliche Schwert habe der Papst dem Kaiser geliehen, das geistliche behalte er selbst626. Das in diesem Vorwort entworfene Programm fasst nochmals alle Eckpunkte franziskanischen Rechts- und Geschichtsverständnisses zusammen und weist auch durch die Integration theologisch-paränetischer Schriften, für die sich sowohl innerhalb der geschichtlichen Einleitung als auch innerhalb des Schwabenspiegels selbst weitere Beispiele aufzeigen ließen627, auf die Einbettung von Recht und Geschichte in das allgemeine Bestreben der Franziskaner hin, ihre gesellschaftspolitischen Gedanken zu popularisieren und umzusetzen. Auf die wichtigsten Elemente des Vorworts werden wir zurückkommen. Der Schwabenspiegel stellt eine tiefgreifende Bearbeitung und Umformung des Sachsenspiegels dar628. Zwar blieb das Grundkonzept des sächsischen Rechtsbuches erhalten, es wurde jedoch seines spezifischen Bezugs auf das sächsische Rechtsgebiet entkleidet und durch Erweiterungen aus dem römischen und kanonischen Recht sowie unter Rückgriff auf ältere Rechtstexte zur Verwendung im süddeutsch-österreichischen Raum adaptiert629. Ergebnis ist die Verschriftlichung des sich aus vielen Rechtscorpora zusammensetzenden Gewohnheitsrechts, das den Vorgaben der kirchlichen Gesetze, der sozialen Zucht bzw. Disziplin sowie dem Seelenheil nicht widerspricht630. Bereits Eike hatte die Übertretung der von ihm niedergeschriebenen Normen als Sünden gegen Gott definiert. Diese Vorstellung von der göttlichen Natur der einzelnen 626 Urschwabenspiegel Vorwort a-d S. 356 f. 627 Vgl. Rockinger, Berthold von Regensburg und Raimund von Peninafort 172 ff.; Strobl, Berthold von Regensburg und der Schwabenspiegel; Rockinger, Deutschenspiegel, sogenannter Schwabenspiegel, Bertholds von Regensburg deutsche Predigten; Hübner, Vorstudien zur Ausgabe des Buches der Könige 105 ff. 628 Vgl. Klebel, Quellen 278-283. Zum Schwabenspiegel als Dokument der „individuellen kognitiven Entwicklung seines Verfassers oder der kollektiven kognitiven Entwicklung der Gesellschaft“ vgl. Derschka, Der Schwabenspiegel und die kognitive Entwicklung. 629 Zu den römisch-rechtlichen Quellen vgl. Kantorowicz, Zu den Quellen des Schwabenspiegels. 630 Schwabenspiegel Landrecht § 44 (Urschwabenspiegel 380): Von guoter gewohnheit suln wir hier sprechen. Swa guot gewonheit ist, die ist guot und reht; wan diu reht ist, diu ist och guot, daz ist guot gewohnheit und rehtiu gewonheit, diu wider geistlichem reht niht ist, und diu wider den menschelichen zuhten niht ist, noch wider der selicheit nit ist der eren und der sele. disiu gewonheit heizet stete und reht gewonheit und des landes guotiu gewonheit.
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Richtlinien wurde vom Autor des Schwabenspiegels noch stärker betont, stilisierte er seine Rechtssammlung doch gleichsam zum Abschluss der göttlichen Schöpfung, auf deren Basis die Christenheit dem Jüngsten Tag entgegenzuschreiten hat. Wer auf diesem Weg strauchelt, wird am Tag des Jüngsten Gerichts keine Gnade finden. Da im franziskanischen Rechtsdenken die herrscherliche Gesetzgebung einen hohen Stellenwert einnahm (Ditz recht ... habent die chunig an uens bracht!631), wird der Ursprung vieler Rechtssätze mit verschiedenen Kaisern und Königen der Spätantike und des Mittelalters verbunden. Unverkennbar ist insbesondere der Versuch, Karl den Großen als mustergültigen Gesetzgeber erscheinen zu lassen; auf keinen Herrscher werden mehr Landrechtsartikel zurückgeführt. Diese Betrachtung des Schwabenspiegels, der im Mittelalter bezeichnenderweise den Titel Kaiserliches Land- und Lehnsrechtsbuch trug, als Kaiserrecht entsprach der in Magdeburg vertretenen Auffassung vom Sachsenspiegel als kaiserlichem Recht. Zwischen 1250 und 1270, in einer Zeit, in der das Kaisertum bereits seine frühere auctoritas und das Königtum seine eigentliche potestas weitgehend verloren hatten, wurde in Magdeburg das eigene Recht immer ausdrücklicher mit dem Nimbus kaiserlicher Autorität legalisiert und damit eine Tendenz fortgeführt, die bereits Eike von Repgow seinem Werk mitgegeben hatte. Eike, der in Kategorien der Zweischwerter-Lehre des 12. Jahrhunderts dachte, war von einer einträchtigen Zusammenarbeit zwischen Kaiser und Papst bei Wahrung der beiderseitigen Eigenständigkeit ausgegangen. Das weltliche Schwert war dem Kaiser aus dieser dualistischen Perspektive von Gott übertragen worden; in der Handhabe dieses Schwertes war der Kaiser alleiniger Gesetzgeber oder wenigstens derjenige, der das überlieferte Gewohnheitsrecht bestätigte632. Nicht von Eike und seinen Zeitgenossen, aber vom späteren Mittelalter wird der Sachsenspiegel daher schlechthin „Kaiserrecht“ genannt, das Landrecht als Gesetz Kaiser Karls, das Lehnrecht als Gesetz Kaiser Friedrichs interpretiert. Die franziskanischen Bearbeiter übernahmen diese Auffassung, entsprach sie doch dem ordensinternen Rechtsdenken, das am kirchenrechtlichen Material geschult worden war und in diesem Bereich von einem hierarchisch-papalistischen Verständnis ausging. Die Gesetzgebungskompetenz der römischen Kaiser wird daher ebenfalls ohne Bedenken akzeptiert und weitertradiert633. Ja, erst die Rezeption des Sachsenspiegels als Kaiserrecht machte es möglich, dass „jenes auf Kon631 Vgl. dazu oben S. 348 mit Anm. 597. 632 Zu Sachsen- und Schwabenspiegel als Kaiserrecht vgl. Trusen, Rechtsspiegel; Derschka, Schwabenspiegel und die kognitive Entwicklung 112 f. 633 Vgl. Trusen, Rechtsspiegel 44 f.
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stantin und besonders auf Karl den Großen zurückgehende Sachsenrecht zur Grundlage des neuen Rechtsbuches genommen wird; dass man sich eine oberdeutsche Sachsenspiegel-Übersetzung beschafft und, von ihr ausgehend, auch anderes Kaiserrecht mit einbezieht, das Karl der Große und seine Nachfolger gesetzt haben, aber auch solches, das auf den großen kaiserlichen Gesetzgeber Justinian zurückgeht. Eng verbunden damit ist das Konzept der Chronik, die zeigen soll, wie die Könige des alten Bundes, aber auch die Kaiser des letzten, römischen Weltalters Vorbilder in Rechtsprechung und Gesetzgebung waren“634. Kaiser und Könige sind für den Verfasser des Schwabenspiegels die eigentlichen Schöpfer des gemeinen Rechts. Sie hatten als Gesetzgeber das lantrecht erlassen und als höchste Richter für die Einhaltung der Gesetze gesorgt. Die gesamte Reichsverfassung dachte man sich in jenem Augsburger Franziskanerkreis, der für die verschiedenen Bearbeitungsstufen des Sachsenspiegels sowie seine historische Einleitung verantwortlich war, als Ergebnis kaiserlicher Gesetzgebung. Es liegt ganz auf dieser Linie, dass in der Prosakaiserchronik beispielsweise davon berichtet wurde, Karl der Große habe das Kurfürstenkollegium quasi per Gesetz aus der Taufe gehoben635. Die Franziskaner hatten die Rechtsquellenlehre des Eike von Repgow weitergeführt, entsprach sie doch ganz den eigenen Vorstellungen636. Etwas andere Akzente setzte der unbekannte Autor des Schwabenspiegels dagegen bei seiner oben zitierten Interpretation der ZweischwerterLehre. Hatte der Verfasser des Deutschenspiegels noch die dualistische Sichtweise des Sachsenspiegels übernommen und die harmonische Gleichrangigkeit der höchsten politisch-kirchlichen Gewalten betont, vertrat der Schwabenspiegel-Kompilator andere Ansichten, wenn er schrieb, dass der Papst das geistliche Schwert selbst führe, das weltliche Schwert aber dem Kaiser geliehen habe. Eine solche monistische Auslegung der Zweischwerter-Lehre kann nicht überraschen, wenn man bedenkt, zu welcher Schlussfolgerung der Autor des Glossenapparats Fecit deus in seiner Diskussion des Themas gekommen war637. Allerdings wird man dem Autor des Schwabenspiegels bei der Abfassung seines 634 Trusen, Rechtsspiegel 40. Vgl. auch Johanek, Rechtsschrifttum 418. 635 Vgl. Ertl, Kurfürstenkollegium 619-621. 636 Zur Rezeption des Kaiserrechts und der damit verbundenen Überwindung des rechtlichen Partikularismus in Deutschland vgl. Dilcher, Kaiserrecht; Dilcher, Der mittelalterliche Kaisergedanke als Rechtslegitimation 169: Erst der „Kaisergedanke erlaubte die Universalisierung und Übertragung von verschriftlichtem Recht, das ursprünglich in einem partikularrechtlichen Kontext entstanden ist“. Zum sogenannten Kleinen Kaiserrecht, auch Frankenspiegel genannt, als Kaiserrecht vgl. Johanek, Rechtsschrifttum 418 f. 637 Vgl. dazu oben III.4.
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weltlichen Rechtsbuches, das die juristische Grundlage vor weltlichen Gerichten bilden sollte, nicht unterstellen wollen, dass er von einer praktizierten Allgewalt des Papstes im geistlichen und weltlichen Bereich ausging. Hinter seiner Aussage steckte vielmehr eine grundsätzliche Überordnung der geistlichen Sphäre, die dem weltlichen Gericht im Alltag nicht ihre praktische Unabhängigkeit zu nehmen anstrebte, im Notfall jedoch mit guten Argumenten gerüstet war, eine Hierarchisierung der beiden Universalgewalten im franziskanischen Sinne zu stützen638. Die franziskanische Weltordnung, die mit historisch-moralischen Beispielen und normativen Rechtssammlungen realisiert werden sollte, hatte ihre jurisdiktionelle Spitze im Papsttum – nicht zuletzt deshalb, weil es die Päpste waren, die den Erziehungs- und Normierungsauftrag der Franziskaner ermöglicht und immer wieder abgesichert hatten.
3. Geschichte und Recht als Ordnungsinstrumente Die Geschichtsschreibung erlebte im 13. Jahrhundert eine Zeit der geschichtsphilosophischen Stagnation. Geschichtstheoretische Modelle wurden entweder von antiken beziehungsweise hochmittelalterlichen Vorgängern entlehnt, oder aber man verzichtete gänzlich darauf, dem eigenen Geschichtswerk einen theoretischen Rahmen zu geben. Im 12. Jahrhundert hatte die historisch-exegetische Methode das Geschichtsdenken beflügelt und die geschichtsphilosophische Suche nach dem Standort der eigenen Zeit im Ablauf der Heilsgeschichte hatte ihren Höhepunkt erreicht. Hugo von St. Viktor und Otto von Freising sind die vielleicht wichtigsten Repräsentanten einer hochmittelalterlichen Historiographie, die das Jahrhundert ihres Siegeszuges nicht überlebte. Es waren bereits Zeitgenossen des Pariser Kanonikers und des Zisterziensers aus dem Haus der Babenberger, die in anderen Kategorien dachten und die Geschichte nicht mehr als Deutungskraft ersten Ranges anerkannten. Petrus Abaelard und die anderen Magistri, die mit ihrem Schülerkreis durch die französischen Städte zogen, konnten der Anhäufung historischer Fakten wenig abgewinnen. Ihr Interesse galt der dialektischen Durchdringung theologischer Probleme, die sie mit einem präzisen Vokabular zu distinguieren sich bemühten. Dennoch erlebte die Geschichtsschreibung während des 13. Jahrhunderts eine neuerliche Blütezeit; sowohl die Herkunft der Autoren als auch die Funktionen der Geschichtswerke hatten sich allerdings beträchtlich gewandelt. 638 Zum Versuch, die Schwabenspiegel-Interpretation der Zweischwerter-Lehre traditionell dualistisch zu interpretieren, vgl. Trusen, Rechtsspiegel 47-55.
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Es waren die Bettelmönche, die der Geschichtsschreibung neues Leben einhauchten. Das Medium erfüllte dabei mehrere Funktionen; teilweise waren diese allgemeiner Natur, teilweise handelte es sich aber auch um Funktionen, die das mendikantische Geschichtsverständnis widerspiegeln. Unter Verzicht auf eine wissenschaftlich innovative Durchdringung des Stoffes, diente eine hagiographisch angelegte Geschichtsschreibung zunächst einmal der Sinnstiftung und Legitimierung der jungen religiösen Gemeinschaften, die sich ihre Traditionen und Sicherheiten auf diese Weise erst erschaffen mussten. In keiner anderen Literaturgattung lassen sich die Wandlungen und Kontinuitäten des Mendikantentums derart deutlich ablesen. Insbesondere die Minoriten versuchten immer wieder, sich in den historischen Erzählungen der eigenen Existenz zu vergewissern. Es ging den franziskanischen Autoren nicht allein darum, die Lebensform des heiligen Franziskus zu beschreiben, um damit das verbindliche Vorbild für spätere Generationen von Ordensmitgliedern zu verherrlichen, sondern auch darum, Franz und seine Gemeinschaft eschatologisch zu verklären und zu Rettern einer verkommenen Welt und gefährdeten Kirche zu stilisieren. Die wichtigste Innovation, die die mendikantische Historiographie des 13. Jahrhunderts mit sich brachte, lag weniger in einer Perpetuierung oder Intensivierung traditioneller Konzepte, als vielmehr in der pastoralen Belehrungs- und sozialen Ordnungsfunktion, die der Geschichte zuerkannt wurde. Dies war nicht nur neu, sondern singulär. Die wichtigsten Vorreiter für ein Geschichtsdenken dieser Art kamen aus dem Dominikanerorden. Vinzenz von Beauvais hatte für seine Geschichtsenzyklopädie keine geschichtsphilosophischen Modelle herangezogen, es ging dem Speculator gar nicht um eine lineare Komprimierung der überlieferten Fakten. Sein Ziel war eine Geschichtsschreibung im Dienst der Seelsorge. Dieser pragmatisch-pastoralen Zweckbestimmung fiel das wissenschaftliche Bemühen um eine Durchdringung des Stoffes zum Opfer. Die ungeheure Ansammlung von Material sollte der Steinbruch sein, aus dem sich der Prediger die historischen Fakten und Daten besorgte, die er für seine Exempla benötigte. Was Vinzenz für die Predigt geleistet hatte, tat Martin von Troppau für die Erschließung des kanonischen Rechts. Seine Papst- und Kaiserchronik sollte Pastoren und Rechtsgelehrten helfen, die konkreten Entstehungsumstände der kanonischen Gesetze kennenzulernen und den Gesetzen der Kirche dadurch Glaubwürdigkeit und Wirkkraft zu sichern. Beiden Autoren aus dem Dominikanerorden ging es um die Stabilisierung jener sozialen und ekklesiologisch-politischen Ordnung, von der die Bettelmönche träumten. In diesem mendikantischen Traum war die Welt und mit ihr die exklusive Gemeinschaft der guten Christen geprägt von einer unübersichtlichen Mannigfaltigkeit, die der Ordnung
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bedurfte. Sozioökonomische Wandlungen, soziale Diversifizierungen und philosophische Kosmologien hatten den westlichen Christen die Heterogenität ihrer erfahrbaren Umwelt stärker ins Bewusstsein gebracht. Die Mendikanten, insbesondere die Franziskaner, kämpften an vorderster Front darum, diesen sozialen, wirtschaftlichen und geistigen Wandlungsprozessen ein christliches Gepräge zu geben. Das mit diesem „Aufbruch in die Vielfalt“ beziehungsweise mit dieser „Entdeckung der Vielfalt“ zusammenhängende Anwachsen von individuellen und kollektiven Freiheiten bedurfte in den Augen der religiösen Elitegemeinschaften des 13. Jahrhunderts jedoch neuer Regulierungsmechanismen, um nicht gänzlich außer Kontrolle zu geraten. Alles Tun und Handeln der Mendikanten, auch ihre Interpretation der Geschichte, hatte daher die innerweltliche Funktion, einen Beitrag dazu zu leisten, die christliche Gemeinschaft vor den Gefahren einer komplexen Welt zu bewahren und auf den Weg des Heils zu führen. Der Nutzen der Geschichte für die Mendikanten war dabei zweifacher Natur. Einerseits fand der Prediger in der Historie den Stoff für seine Predigten. Da dieses Medium wiederum das wichtigste Werkzeug der Bettelmönche darstellte, die Laien zu erreichen, zu belehren und zu beeinflussen, war die Aufarbeitung der Vergangenheit ein wichtiger Teil mendikantischer Ordnungspolitik. Geschichte war verdichtete Tugendlehre, der moralische Ermahnung und bindendes Gesetz exemplarisch entnommen werden konnten. Diese regulierenden Funktionen des historischen Materials in der Pastoralarbeit weisen andererseits deutlich darauf hin, dass zwischen Exemplum und Gesetz, also zwischen Geschichte und Recht ein enger Zusammenhang gesehen wurde. Martin von Troppau hat die Verrechtlichung der Geschichte auf einen ersten Höhepunkt geführt, als er eine Universalchronik vorlegte, die als Hilfsmittel zum Verständnis und zur Auslegung des kanonischen Rechts gedacht war. Mit dieser Konzentration auf eine kirchliche Gesetzgebung, der die Christenheit ihre Friedensordnung verdankte, wurde zugleich die jurisdiktionelle Vorherrschaft des Papsttums betont und legitimiert. Die deutschen Franziskaner führten die mendikantischen Traditionen fort. Der Autor der Flores temporum entnahm den Stoff für sein Mirakelbuch der Legenda aurea, verpasste diesem Werk ein chronologisches Raster und adaptierte die zahlreichen Wundererzählungen für die Predigt. Wie bei Vinzenz von Beauvais bildete die Geschichte ein Werkzeug der Seelsorge. Die päpstlich-jurisdiktionellen Tendenzen auf die Spitze treibend, verwandelte der Erfurter Chronist seine Weltchronik in ein Verlautbarungsorgan der päpstlichen Dekretalengesetzgebung. Im Geschichtsbild des unbekannten Franziskaners bildete das Papsttum den Mittelpunkt einer Christenheit, die vom kanonischen Recht gelenkt wurde. Die Cronica minor sollte nicht wie das Werk Martins von Troppau
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einer Kanonessammlung beigebunden werden, sondern diese gleichsam ersetzen und das Wesen der Geschichte als Offenbarung irdischer Regulierungsmechanismen und gesetzlicher Regeln freilegen. In ihrem Drang, das historische Wissen der sozialen Ordnung dienstbar zu machen, mussten auch Rechtssammlungen, die normativen Ordnungstexte par excellence, das Interesse der deutschen Franziskaner erregen. Es ist daher nicht verwunderlich, dass einiges darauf hindeutet, dass es ein unbekannter Franziskaner gewesen war, der im Rahmen der „Sächsischen Weltchronik“ erstmals ein historiographisches Werk indirekt mit einem Rechtsbuch, in diesem Fall dem Sachsenspiegel Eikes von Repgow, verbunden hat. Die Chronik atmet trotz ihrer ereignisgeschichtlichen Ausrichtung an manchen Stellen einen franziskanisch-spiritualistischen Geist, der den Leser in eindringlicher Mahnung beschwört, auf den Weg der Askese und Glaubensstrenge zurückzukehren. Im Verständnis des vermutlich in Magdeburg arbeitenden Minoriten gehörten Geschichte und Recht zusammen. Das mendikantische Rechtsverständnis drang über die Pforten des Magdeburger Generalstudiums hinaus, denn es ist vermutlich dem Einfluss dieser franziskanischen Haltung zu verdanken, dass im dritten Viertel des 13. Jahrhunderts in dieser Stadt eine Rechtskompilation, nämlich die Magdeburger Rechtsbücher, mit der Weichbildchronik zu einer historisch-rechtlichen Synthese verbunden wurde. Wer könnte ausschließen, dass der Kompilator, den man bisher im Kreis der Magdeburger Schöffen vermutet hat, in Wirklichkeit aus dem Umkreis des franziskanischen Konvents stammt? Von entscheidender Bedeutung für die deutsche Rechtsgeschichte wurden die franziskanischen Bearbeitungen des Sachsenspiegels, die ebenfalls in Magdeburg ihren Ausgang nahmen, ihr eigentliches Zentrum jedoch im Augsburger Franziskanerkonvent hatten. In mehreren Schritten vollzog sich in diesem süddeutschen Minoritenzentrum die Umformung des Sachsenspiegels zum Schwabenspiegel, dessen Rezeption das spätmittelalterliche Recht in den deutschen Ländern maßgeblich mitgestaltete639. Den ideengeschichtlichen Ausgangspunkt der franziskanischen Kompilatoren bildete die Vorstellung vom Recht als einer umfassenden Ordnungsgröße menschlichen Zusammenlebens, die jedes Rechtsbuch zum Tugendbuch werden ließ. Um die laikale Gesellschaft rechtlichen und ethischen Normen zu unterwerfen, wurde jede Sammlung von Rechtssätzen in einen größeren Zusammenhang gestellt. Legendenhafte Exempla wurden ebenso integriert wie geschichtliche Einleitungen vorgeschaltet. Auf diese Weise entstanden synthesenhafte Verflechtungen von Legende, Geschichte und Recht, die der gesellschaftlichen Ermahnung und Normierung dienten. 639 Vgl. Johanek, Rechtsschrifttum 419-421.
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Die Verschmelzung von Historie und Norm erreichte im Schwabenspiegel ihren Höhepunkt. Der unbekannte Autor führte nicht nur die oberdeutsche Bearbeitung des niederdeutschen Sachsenspiegels zu einem erfolgreichen Ende, er ergänzte daneben auch die geschichtliche Einleitung, die im Deutschenspiegel noch auf die biblische Geschichte beschränkt geblieben war. Dem Verfasser der Prosakaiserchronik ging es in seiner historischen Erweiterung vorrangig darum, die Kaiser und Könige vergangener Zeiten als gerechte Richter vorzuführen, um damit auf die vornehmste Pflicht eines christlichen Herrschers zu verweisen. Denn neben dem Priester war es der Richter, den die Franziskaner als Garanten der irdischen Ordnung in ihrer zweifachen, geistlich-weltlichen Ausprägung betrachteten. Beide Ämter wurden im franziskanischen Schrifttum häufig behandelt und als moralisch-juristische Führungskräfte dargestellt. Mit der richterlichen und priesterlichen Aufrechterhaltung des menschlichen und göttlichen Rechts ging eine Gesetzgebung einher, die die franziskanischen Autoren und so auch der Verfasser des Schwabenspiegels mit der Gesetzgebung von Kaiser und Papst in Zusammenhang brachten. Weit stärker als Eike von f hatten die Minoriten in ihren Schriften die Gesetzgebungskompetenz und Ordnungsfunktion der obersten weltlichen und geistlichen Instanzen hervorgehoben, damit das Recht seiner diffusen gewohnheitsrechtlichen Provenienz entkleidet und die menschliche Gesellschaft nach klaren Kriterien hierarchisiert. Aus den historiographischen und juristischen Schriften der deutschen Franziskaner des 13. Jahrhunderts spricht der deutliche Wunsch, die Gesellschaft einer hierarchischen Ordnung und einer Kontrollverdichtung zu unterwerfen. Die „gesetzespositivistische Umwälzung des 13. Jahrhunderts“ erhielt so ihre historiographisch-religiöse Legitimierung. Damit ist dies ein Beispiel für den aus der Sozialdisziplinierungsdebatte stammenden Hinweis, dass nicht allein politische Obrigkeiten, sondern auch religiöse Gemeinschaften die soziale Disziplinierung vorantreiben konnten. Die Kritik an Norbert Elias bestätigt sich in diesem Punkt. Die deutschen Franziskaner entwickelten Literaturgattungen und soziale Schranken überwindende Gedanken, die Geschichte und Recht zu einer Synthese verbanden und diese zu einer sozialen Ordnungskategorie ersten Ranges machten. Dies belegt umgekehrt, dass das Denken der deutschen Anhänger des Franziskus unaufhörlich um die Ordnung und Disziplinierung der sie umgebenden klerikalen und laikalen Gesellschaft kreiste. Von einer christlichen Weltordnung, die durch göttliche Gesetze und kanonistische Interpreten dem Menschen geoffenbart und erklärt wird, predigten die Missionare aus den Mendikantenorden auch den Heiden und Ungläubigen in fernen Ländern. Von der Richtigkeit der eigenen
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religiösen und politischen Vorstellungen völlig überzeugt, lag Johannes von Plano Carpini, Wilhelm von Rubruk, Odericus von Pordenone und den anderen Reisenden in Sachen Glaubensverbreitung nicht an einem gleichberechtigten Dialog zwischen den Religionen, sondern an einer Vermittlung des eigenen Weltbildes. Jeder Disput, jedes Religionsgespräch diente diesem Vorhaben640. Wilhelm von Rubruk beispielsweise, franziskanischer Mongolenmissionar in französischen Diensten, ergriff die Gelegenheit, von der göttlichen Ordnung der Welt zu berichten, als ihm am Hof des Großkhan Mangu die Frage vorgelegt wurde, ob es denn Menschen gäbe, die Gott nicht liebten: ‚Gott sagt’, antwortete ich, ‚wer mich liebt, wird meine Gebote befolgen. Und wer mich nicht liebt, befolgt sie nicht. Wer also die Gebote Gottes nicht befolgt, der liebt auch Gott nicht’. Da fragte einer: ‚Warst du denn im Himmel, dass du die Gebote Gottes kennst?’ ‚Nein’, sagte ich, ‚aber er gab sie selbst vom Himmel herab an heilige Menschen. Und schließlich ist er selbst vom Himmel herabgestiegen und lehrte sie uns. Wir besitzen diese Gebote in der Heiligen Schrift, und wir erkennen durch die Taten der Menschen, ob sie die Gebote halten oder nicht‘641.
Die göttliche Ordnung war den Eingeweihten bekannt. Diese waren nicht nur Kenner und Interpreten des ius divinum, ihnen war es daneben auch vorbehalten, die Übertreter der göttlichen Gebote zu erkennen, zurechtzuweisen und zu züchtigen. Dass für Wilhelm von Rubruk die Anhänger des heiligen Franziskus, die nicht nur im Inneren der Christenheit das Wort Gottes zu verkünden sich bemühten, sondern auf ihren Missionsreisen zu Muslimen und Heiden auch das Martyrium zu erleiden freudig bereit waren642, die wichtigsten Hüter dieser Gottesordnung darstellten, liegt auf der Hand. Die Bekehrung zum christlichen Glauben ging so einher mit der Annahme einer Weltordnung, die sich weit über den engeren Bereich des Religiösen hinaus erstreckte. Die Beobachtungen zeigen, dass eine Phase religiöser Intensivierung, denn eine solche stellt die Expansion der Bettelorden mit Sicherheit dar, auch einen Schub für die Rechtsentwicklung bedeuten konnte. Religiöse Ideen wirkten somit weit über den engeren Bereich der Kirchengeschichte hinaus und waren an einem gesellschaftlichen Mentalitätswandel beteiligt. Vielleicht kann die Wirkung, die das mendikantische Ordnen von Zeit und Recht hervorbrachte, nicht verglichen werden mit einer protestantischen Ethik, die in den Augen Max Webers den Geist des Kapitalismus gebar. Doch die Kompilation, Popularisierung und moralische 640 Zur scholastisch-westlichen Denk- und Argumentation der Missionare vgl. Fried, Auf der Suche nach der Wirklichkeit. 641 Wilhelm von Rubruk, Reisen 183. 642 Vgl. Elm, Bußpredigt oder Heidenmission.
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Aufladung schriftlicher Rechtssammlungen hat mit Sicherheit nicht nur auf abstrakt-wissenschaftliche Weise die Rechtsgeschichte bereichert, sondern auch das Zusammenleben der Menschen mitgestaltet. Wenn wir diesen Wandel, der einen Zugewinn an rechtlicher Stabilität und Berechenbarkeit sowie eine Moralisierung der Rechtskonformität mit sich brachte, als eine Form der Modernisierung begreifen wollen, so hieße dies zudem, dass sich Modernisierung und Christianisierung, hier verstanden als eine Welle der Verchristlichung beziehungsweise als zeitweilige Intensivierung religiösen Gedankenguts, im Mittelalter nicht ausschließen, in bestimmten Fällen sogar miteinander einhergehen, ja sich wechselseitig beschleunigten. Wie alle religiösen Reformer zwischen Papst Gregor VII. und den protestantischen Reformatoren der frühen Neuzeit übersetzten auch die frühen deutschen Franziskaner ihre ethischen Forderungen in ein juristisches Regelwerk, das mit seinen konkreten Normen die religiösen Postulate in eine Sprache des verbindlichen Rechts transponierte. Das franziskanische Erziehungs- und Zivilisierungsstreben zielte darauf, die Gesellschaft allmählich mit religiösen Werten und Praktiken, Normen und Konventionen zu durchdringen. Dieses Streben nach einer „franziskanischen Weltordnung“ setzte modernisierende Kräfte frei, die längerfristig freilich losgelöst vom religiösen Umfeld weiterwirkten und über mancherlei Umwege zu einem elementaren Bestandteil der modernen westlichen Zivilisation wurden.
Interpretation und Ausblick 1. Aufbruch in die Zivilisation? Oberstes Ziel der Minoriten war die moralische Reformierung der societas christiana. Mit ihren Taten und Schriften wollten Franziskus und seine Anhänger der Christenheit zu Hilfe eilen und sie leiten auf dem steinigen Weg gottgerechten Lebens. Die Gesellschaft und der Einzelne sollten Halt und Orientierung finden, die politischen, sozialen und wirtschaftlichen Verhältnisse geregelt werden, die franziskanische Ordensgemeinschaft den ihr gebührenden Platz erhalten. Zu diesem Zweck verfassten die Gelehrten des Ordens theologische und pastorale, juristische und historiographische Schriften. Diese Werke über Ordensleben und Novizenausbildung, über geistliches und weltliches Recht, über Sitten und Moral, über Gott und den Teufel, ja über den Verlauf der gesamten Heilsgeschichte legen das politische, soziale und gesellschaftstheoretische Denken der erfolgreichsten religiösen Bewegung des 13. Jahrhunderts offen. Was sich in diesen Schriften zeigt, waren die Umrisse jener Gesellschaft, von der die Anhänger des heiligen Franziskus träumten und die sie zum integralen Bestandteil einer „franziskanischen Weltordnung“ zu machen versuchten. Es entstand eine „gedachte Ordnungskonfiguration“, ein „ideologisches Ordnungssystem“, das Aufgaben und Verantwortung des einzelnen Menschen im Gesamtgefüge der Christenheit konkretisierte1. Und die Autoren des Systems waren überzeugt: Wer ihren Ratschlägen folgte, wer sich ihrer Ordnung unterwarf, dem war das Himmelreich sicher. Auf ein großes Arsenal intellektueller und spiritueller Waffen vertrauend, rückten die Mendikanten den Menschen mit Ermahnungen, Vorschriften, Versprechungen und Drohungen zu Leibe. Ihre Buchstaben und Worte, Gesten und Taten umzingelten die Gesellschaft sowie den Einzelnen und errichteten hohe Mauern einer neuen Moral2. Die Ordnung, welche die Mendikanten predigten und von der sie in ihren Texten erzählten, wies jedem Menschen seine Funktion im Gesamtge1 2
Zum Terminus „Ordnungskonfiguration“ vgl. Weinfurter/Schneidmüller, Einleitung, in: Weinfurter/Schneidmüller (Hg.), Ordnungkonfigurationen. Zur Rolle von Sprache und Texten in sozialen Kontrollsystemen vgl. Stock, Listening 87-94 und 122-127.
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füge zu. Es war eine politische, eine soziale und eine religiöse Ordnung, welche vom Papst über die Mendikanten, seine meist treuen Mitstreiter, bis hinunter zum Bürger und Bauern reichte. Die Weltordnung, auf welche die Mendikanten hinarbeiteten, war Erziehungsprogramm, aber auch Unterdrückungsprogramm – und dabei zugleich eine Antwort auf die drängenden Fragen der Zeit. Denn es waren bewegte Zeiten, denen die Bettelorden ihre Entstehung verdankten. Kulturelle und sozioökonomische Prozesse hatten die Welt verändert, ja der Wandel der Welt hatte sich für die Zeitgenossen merklich beschleunigt: Die Welt ist allenthalben/voll von Unfreundlichkeit. Die einst mit mir gespielt,/sind jetzt müd und alt, erweitert ist das Feld,/abgeholzt der Wald3.
So beklagte Walther von der Vogelweide, im Jahr 1228 wehmütig auf ein bewegtes Leben zurückblickend, die dramatischen Veränderungen, die er mit miterlebt hatte. Es war dies mehr als eine toposgeladene Elegie, denn die westliche Christenheit erlebte in den Dezennien um 1200 tatsächlich eine Form beschleunigter Diversifizierung4. Alle Lebensbereiche wurden davon erfasst5. Neue Lebensformen in den Städten entstanden, doch nicht jeder Stadtbewohner profitierte von der städtischen Expansionsbewegung. Innere Beruhigung konnte man auf traditionellen Pfaden immer weniger finden, so erhielten neue religiöse Bewegungen, die am Rande oder außerhalb der katholischen Kirche lebten, lehrten und Heil versprachen, starken Zulauf6. Während traditionelle politische Strukturen in Frage gestellt wurden, feilten franziskanische Gelehrte am Generalstudium in Magdeburg und an anderen Orten zwischen Bremen und Augsburg, Magdeburg und Straßburg an juristischen und theologischen Texten. Eine Ursache für die Unruhe, von der die Gesellschaft in weiten Teilen des westlichen Europa in den Jahrzehnten um 1200 erfasst wurde, lag in wirtschaftlichen und sozialen Wandlungsprozessen, deren deutlichster Ausdruck die Expansion der Städte und protokapitalistische Wirtschaftsformen war. Eine vorwiegend agrarische Gesellschaft verwandelte sich im Laufe dieses Prozesses in eine protostädtische Gesellschaft, die sich 3 4 5
6
Walther von der Vogelweide, Sämtliche Lieder 263 f. (Elegie). So die These von Haas, Welt im Wandel. Zum hohen Mittelalter als Forschungsproblem vgl. Borgolte, Einheit, Reform, Revolution. Zum mittelalterlichen Wandel von der Natur- zur Kulturlandschaft vgl. Meier, Bauer. Zu neuen Sichtweisen der bewohnten Welt Anfang des 13. Jh. vgl. auch Brincken, Die bewohnte Welt in neuen Sichtweisen. Vgl. Lambert, Häresie 35-91.
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immer stärker des Mediums der Schrift bediente7. In manchen Gegenden Europas vollzog sich diese Entwicklung schneller und nachhaltiger als in anderen; die Peripherie wurde bis ans Ende des Mittelalters kaum davon berührt. Dennoch kann der Weg zum entfalteten Städtewesen mit allen seinen Implikationen als der vielleicht wesentlichste Ausgleichsprozess, den das mittelalterliche Europa durchlebte, betrachtet werden, vor allem dann, wenn man ihn mit der dafür unentbehrlichen Bevölkerungsvermehrung im agrarischen Milieu verbunden sieht8. Die sozioökonomischen Veränderungen strahlten auf andere Lebensbereiche aus. Die Formen politischer Herrschaft waren davon ebenso betroffen wie soziale Praktiken und religiöse Überzeugungen. Die überlieferten Traditionen lieferten keine befriedigenden Antworten mehr. Dies zeigte sich ganz deutlich in dem Erfolg, den häretische Gruppierungen in jenen Regionen Europas hatten, in denen sich die größten Städtekonzentrationen befanden. Die etablierte Kirche tat sich schwer mit der Integration neuer urbaner Lebensformen9. Zu sehr blieben große Teile von Klerus und Mönchtum traditionellen Vorstellungen verhaftet, hatte sich ihr beschauliches Leben in Pfarre, Stift oder Kloster im Gegensatz zu jenem der Kaufleute, Handwerker und freien Scholaren doch weniger stark verändert. So blieb es den Mendikanten überlassen, die Krise zu überwinden, indem die neuartigen bürgerlichen Lebenswelten mit der Kirche versöhnt und „verchristlicht“ wurden. Waren es im hohen Mittelalter die Ritter gewesen, die als milites Christi ihren Platz in der Kirche gefunden hatten, so empfingen nun die nichtadligen Bürger den kirchlichen Segen. Die Bettelmönche begleiteten und förderten diese Entwicklung, welche vielen Menschen unter anderem auch einen Zugewinn an individuellen Handlungsspielräumen und Freiheiten brachte10. Individualisierungsund Emanzipationsprozesse waren die Folge. Diese wurden von Dominikanern und Franziskanern bejaht und beschleunigt, allerdings nicht weil man soziale Wandlungen dieser Art an sich begrüßt hätte, sondern weil man damit den Untergang der ecclesia militans aufhalten und deren moralisch-institutionellen Führungsanspruch wiederbeleben wollte. Es war dieser mendikantische Sinn für die soziale Realität, welcher der spätmittelalterlichen Kirche neue Chancen eröffnete und den gesellschaftlichen Wandel sehr eng mit religiösen Kräften verband. 7 8 9 10
Vgl. grundlegend Stock, Listening; Clanchy, From Memory. Vgl. Moraw, Entwicklungsunterschiede 599. Zur Lebensform als „geschichtlich eingeübter sozialer Verhaltensweise“ vgl. programmatisch Borst, Lebensformen 14 und 19. Zur Frage, ob nur Angehörige des männlichen Geschlechts von diesen neuen Freiheiten profitierten, vgl. McNamara, City Air Makes Men Free.
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Die Mendikanten feierten ihre Erfolge aber auch in einer Zeit, in der eine zunehmende Rationalisierung das soziale, wirtschaftliche und wissenschaftliche Leben erfasst hatte. Es handelte sich um einen Rationalisierungs- und Verwissenschaftlichungsschub, dessen Ziel die Kategorisierung und Ordnung aller Lebens- und Wissensbereiche bildete. Nachdem sich die Wissenschaften im 12. Jahrhundert professionalisiert11 und an der Wende zum 13. in Form der Universitäten institutionalisiert hatten12, schrieben die Theologen, Philosophen, Juristen und Enzyklopädisten des 13. Jahrhunderts ihre großen Kompendien, in denen sie das angehäufte Wissen interpretierend zusammenstellten. Ist es ein Zufall, dass die meisten der großen Gelehrten aus den Reihen der Bettelmönche hervorgingen oder sich im Verlauf ihrer wissenschaftlichen Karriere einem Bettelorden angeschlossen hatten? Alexander von Hales, Albertus Magnus und Thomas von Aquin verfassten die bedeutendsten Summen der Theologie; Raimund von Peñafort redigierte im Auftrag Papst Gregors IX. den Liber Extra, die bis ins 20. Jahrhundert verbindliche Grundlage des Dekretalenrechts; Bartholomäus Anglicus, Thomas von Cantimpré und Vinzenz von Beauvais dokumentierten den Kenntnisstand über die Naturerscheinungen. Daneben arbeitete eine große Anzahl weniger bekannter Gelehrter an ähnlichen Projekten13. Das 13. Jahrhundert war insgesamt eine Zeit der logischen Durchdringung, des Ordnens und Kategorisierens14. Diesen Rationalisierungsprozess trieben auch die Mendikanten voran, indem sie die Sünden der Menschen katalogartig zusammenfassten, gewichteten und die Popularisierung normativer Texte vorantrieben. Im Gegensatz zu den frühmittelalterlichen Bußbüchern bildete die individuelle Gesinnung den Ausgangpunkt der Überlegungen. Das Ergebnis war eine neuartige Komplexität des Sündensystems, eine Erfassung der „gesamten Persönlichkeit“, aber auch ein Zuwachs an „formaler Rationalität“, d. h. an Berechenbarkeit der individuellen Sündenlast15. Die Sündenkodifizierung machte den Menschen und seine Verfehlungen „zum Gegenstand einer klassifizierenden und vergegenständlichenden Betrachtungsweise,
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15
Zusammenfassend: Weimar (Hg.), Die Renaissance der Wissenschaften. Stellvertretend Esch, Die Anfänge der Universität; Pedersen, The First Universities; Verger, L’essor des universités 43-59. Vgl. allgemein Grundmann, Sacerdotium – Regnum – Studium. Morris, Discovery 166: „There is, in fact, no sharp break between the twelfth and thirteenth centuries, but it is true to say that, among the various conflicting tendencies which we can observe before 1200, the victory on the whole went to those of law, authority, system, and logic“. Zur „formalen Rationalität“ als Berechenbarkeit bei Max Weber vgl. Bogner, Zivilisation 21.
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die den einzelnen Menschen in ein komplexes Tableau justiziabler Eigenschaften und Tatbestände einordnete“16. Entsprechend dieser scheinbar widersprüchlichen Zeittendenzen17 gestaltete sich auch die mendikantische Einwirkung auf die Gesellschaft: Einerseits gelang es den Anhängern von Franziskus und Dominikus, eine nicht mehr aufzuhaltende sozioökonomische Diversifizierung in die Kirche zu integrieren und so eine alte Institution mit der neuen Zeit zu versöhnen, andererseits beschleunigten die Bettelmönche einen mit diesen Umwälzungen verflochtenen Prozess der Rationalisierung. Der „Aufbruch in die Vielfalt“ (Vauchez) beziehungsweise die „Entdeckung der Vielfalt“ (Borgolte) wurde verchristlicht und mit neuen Regulierungsmechanismen und Konventionen versehen18. Der Diversifizierung folgte die Kontrollverdichtung auf den Fuß, intellektuell durchdrungen und propagiert von ein- und derselben religiösen Elitegemeinschaft. Das mendikantische Wirken führte zu einer „Bewältigung des europäischen Aufbruchs“, die neue Formen des Denkens und Handelns im Rahmen der traditionellen Institutionen auf Dauer ermöglichte. Einer aufbrechenden Gesellschaft einerseits den kirchlichen Segen gespendet zu haben, den sozioökonomischen Aufbruch andererseits mit der Einführung rationaler Denkkategorien abgesichert und neuen Kontrollmechanismen unterworfen zu haben: dieses doppelte Kunstwerk erklärt den Erfolg der Bettelmönche im 13. und beginnenden 14. Jahrhundert. Die moralische Reform der societas christiana war kein Vorhaben, das Bettelmönche erdacht hatten, sondern ein Epiphänomen der Kirchengeschichte aller Zeiten. Die Christianisierung selbst bildete „geistig wie institutionell einen der dominant einheitsstiftenden Faktoren der europäischen Geschichte. […] Die expansive Römerin Ecclesia wirkte als Organisatorin und Gleichmacherin. Denn mit der Christianisierung einher ging das räumliche ‚Encadrement’ Europas durch das Netz von Provinzen, die oft noch antiken Circumscriptionen folgten, von Diözesen und Pfarreien. Insofern entstand in der Differenzierung zugleich etwas elementar Gemeinsames zwischen Schweden und Spanien, Schottland und Ungarn“19. Mit der äußeren Organisation der Christenheit war immer auch die innere Durchdringung des Individuums verbunden, ein Vorha16 17
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Breuer, Die Gesellschaft des Verschwindens 43 (über den Prozeß der Disziplinierung im Foucault’schen Sinn). Zu einer methodologisch ähnlichen Interpretation der japanischen Gesellschaftsgeschichte während der Tokugawa-Zeit (17.-19. Jh.) als Standardisierung und Fragmentierung vgl. Berry, Was Early Modern Japan. Vom „Aufbruch zur Vielfalt“ spricht André Vauchez in: Geschichte des Christentums V 946. „Entdeckung der Vielfalt“ lautet Borgoltes Version. Vgl. Borgolte, Europa entdeckt seine Vielfalt. Helmrath, Partikularsynoden und Synodalstatuten 135.
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ben, das im Gegensatz zur Etablierung pfarrkirchlicher Strukturen niemals als gänzlich abgeschlossen betrachtet werden kann. Gleichsam in Wellen versuchten Kleriker und Laien in allen Jahrhunderten des Mittelalters, die innere Verchristlichung der Gemeinschaft voranzutreiben. Zu immer neuen Hilfsmitteln und Methoden wurde gegriffen, ständig wurde nach neuen Wegen gesucht20. So erfand sich die Kirche immer wieder neu, um den jeweils aktuellen Herausforderungen gerecht zu werden. „Diese innere Mission, die ,Christianisation‘ der bereits getauften Gläubigen also, vollzog sich in einem Kontext, der durch die jeweiligen politischen, rechtlichen und ökonomischen Institutionen und Strukturen, nicht zuletzt durch die Macht- und Kompetenzverteilung zwischen den für die Christianisierung des Landes verantwortlichen Instanzen, zwischen dem Episkopat und dem Weltklerus, den Klöstern und Orden, aber auch den Dynasten, dem Adel und den Grundherren, die vor und nach dem Investiturstreit als Eigenkirchen- und Patronatsherren einen starken Einfluss auf die Organisation des Niederkirchenwesens, die cura animarum und das religiöse Leben der Gläubigen ausübten, gekennzeichnet ist“21. Ein solcher Erneuerungsschub, eine solche Phase verdichteter „Christianisation“ formierte sich im ausgehenden 12. Jahrhundert, um im 13. Jahrhundert, in der Frühzeit der Bettelorden, seine Wirkung zu entfalten22. Im letzten Drittel dieses Jahrhunderts nämlich, als alle Abenteurer des Geistes und junge Aufsteiger, die eine Dompfründe oder einen Bischofsstuhl im Blick hatten, nach Paris strömten, nahm in der Hauptstadt des Studiums ein Aktionsprogramm Gestalt an, das ein widerspenstiges und von Ketzern verführtes Laienvolk wieder in den Schoß der Kirche zurückführen sollte. Von den Päpsten unterstützt, formte sich ein mönchisch-klerikales Weltbild, das nicht mehr monastisch abgeschlossen nach Kontemplation und Selbstheiligung strebte, sondern über das Kloster hinauszuwirken sich bestrebt zeigte. Zur Askese, die sich im beständigen Rhythmus mönchischer Lebensführung verwirklichte, trat das gottgefällige Leben, das man auch in der Welt führen konnte. Die Weltkleriker, die immer mehr scholares um sich sammelten, richteten den Blick freimütig auf die gesamte Christenheit, nach außen predigten sie den Kreuzzug, nach innen die moralische Erneuerung. Es war die Zeit des Petrus Cantor von Nôtre-Dame und seiner Kollegen und Schüler. In ihren Schriften skizzierten sie jenes Projekt, das für 20 21 22
Zur Vielfalt der mittelalterlichen Mission(smethoden) vgl. Muldoon, Varieties of Religious Conversion; Armstrong/Wood (Hg.), Christianizing Peoples. Elm, Christianisierung 86. Zur Religionsgeschichte des 12. Jahrhunderts vgl. einführend Constable, Renewal; Bolton, The Medieval Reformation; Giles Constable, The Reformation of the Twelfth Century.
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die Mendikanten zum Auftrag wurde: Nicht der Welt zu entsagen, sondern allen Gläubigen Christi die frohe Botschaft zu bringen, predigend dem Herrn seine Schafe zurückzugewinnen und die gesamte Christenheit unter einer Regel, einer Disziplin zusammenzufassen. Man träumte von einer Versammlung der gesamten christlichen Gesellschaft in Brüderlichkeit, unter der väterlichen Herrschaft der weisen Fürsten und doctores. Zur Verwirklichung dieser großen Aufgabe – das wussten die Pariser Gelehrten – musste der Mann Gottes die Realität genau studieren, er musste das Böse aufspüren, wo immer es sich versteckte. Die kirchliche Botschaft schließlich musste von allen verstanden werden. So wurde die volkssprachliche Predigt, die alle Verfehlungen der städtischen Laienwelt beim Namen nannte, zum wichtigsten Medium der neuen Denker. Schon wenige Jahre nach ihrer Etablierung als religiöse Orden eilten die klügsten Köpfe aus den mendikantischen Reihen in die intellektuellen Zentren Paris und Bologna. Hier schlossen sich ihnen neue Anhänger an, hier gerieten sie aber auch in Kontakt mit den neuesten Erkenntnissen universitären Denkens. Die moraltheologischen Werke des Petrus Cantor und seiner Schüler übten eine besondere Anziehungskraft auf die Mitglieder jener Orden aus, die sich der aktiven cura animarum verschrieben hatten. Der daraus folgenden Verschmelzung der innovativsten Form religiöser Spiritualität und der höchsten intellektuellen Anstrengungen der Zeit verdankten die Bettelorden ihr Wesen, ihre Wirksamkeit, ihren Erfolg – und die pastoralen Schriften der Pariser Gelehrtenwelt erhielten auf diese Weise ihre praktische Umsetzung. So wurden die Bettelorden, ihrem Ordensideal nach der Seelsorge verbo et exemplo verpflichtet, zu „Vollstreckern“ akademischer Ideen23. Askese und Gelehrsamkeit bildeten die Grundlagen einer mendikantischen Weltordnung, der alle Menschen angehören sollten. In erster Linie zielte das mendikantische Erziehungsprojekt allerdings auf die nichtadlige Bevölkerung in Stadt und Land24, insbesondere auf das städtische Bürgertum25. Damit gehörte das Interesse der intellektuellen Kirchenelite einer aufstrebenden Schicht, die bisher nicht im Mittelpunkt klerikaler Überlegungen und Aktionen gestanden hatte. Dieser spirituellen Hinwendung zur Stadt war ein Prozess vorausgegangen, der Mönche und Klerus von der völligen Ablehnung der städtischen 23
24 25
Vgl. D’Avray, Preaching 163-203. Zur Universität als Vermittlungsinstanz theologischer Lehren und pastoralen Praktiken an die Laienwelt vgl. Schiewer, Universities and Vernacular Preaching; Crossnoe, Education and the Care of Souls. – Zur Problematik grundlegend Burger, Transformation. Zur mendikantischen Seelsorge außerhalb der Stadt vgl. exemplarisch Rüther, La participation des ordres mendiants au soutien spirituel. Zur Problematik allgemein vgl. Neidiger, Mendikanten; Schmidt, Bettelorden in Trier; Berg (Hg.), Bettelorden und Stadt.
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Lebensform hin zu einer differenzierteren Würdigung der Chancen und Risiken des Stadtlebens geführt hatte. Obwohl sich eine solche Werteverschiebung bereits im 12. Jahrhundert in ersten Ansätzen angedeutet hatte, waren es schließlich die Bettelorden, die mit der traditionell stadtkritischen Haltung der Kirche brachen. Städtisches Wirtschaften und materieller Erfolg verloren ihren sündhaften Charakter und erschienen erstmals vereinbar mit einem frommen Christenleben. Als Gegenleistung machten die Handwerk und Handel treibenden Bewohner von Städten und Dörfern die Mendikanten zu ihren Pastoren und Seelführern. Aus dieser vertieften Beziehung zwischen mendikantischer Kirchenelite und Bürgertum erwuchs der erste umfassende Versuch der mittelalterlichen Kirche, den Nichtadel mit moralischen Werten zu durchdringen. Den Anstoß dazu gab nicht eine programmatische Neukonzeption religiöser Dogmen, sondern die Reaktion einer Gruppe Gleichgesinnter auf vermeintlich bedrohliche gesellschaftliche Herausforderungen. Man könnte das mendikantische Wirken daher als zweite Stufe eines längeren kirchlichen Erziehungs- und Zivilisierungsprozesses betrachten26, der im 10. Jahrhundert am kaiserlichen Hofe Gestalt angenommen hatte und nun seine erweiterte spätmittelalterliche Fortsetzung erhielt. Die erste Stufe hat C. Stephen Jaeger beschrieben. Seit der Regierungszeit Ottos I., so seine These, hätten die Mitglieder der kaiserlichen Hofkapelle sowie die Reichsbischöfe, die vor der Übernahme eines Bischofsamtes in der Regel ebenfalls zur Kapelle gehört hatten, ein Erziehungs- und Zivilisierungsprogramm ersonnen, mit dessen Hilfe es gelungen sei, im Laufe der folgenden zwei Jahrhunderte den kriegerischen Adel zu erziehen und zu zivilisieren. Was zunächst ein funktionsbestimmtes Ideal geistlicher Staatsdiener im Rahmen des sogenannten Reichskirchensystems gewesen sei, hätte sich beständig ausgeweitet und die erste Laienkultur des Mittelalters geformt. Die Wurzeln des propagierten Wertekanons lägen einerseits in der Antike, andererseits aber auch in der christlichen Tradition und der frühmittelalterlichen Hofkultur. Der höfische Bischof habe den triebgesteuerten und zügellosen Kriegeradel durch die behutsame Übertragung des eigenen Wertesystems zum höfischen Ritter erzogen, dessen ideale Überhöhung schließlich Gegenstand der klassischen Literatur des 12. Jahrhunderts geworden sei. Die ideale Symbiose von Ritter und Hofmann habe der Tristan des Gottfried von Straßburg verkörpert27. 26
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Zu kirchlichen Reformbestrebungen, die bereits im 11. und 12. Jh. auf die Gesamtheit der Laienwelt gerichtet waren und als Vorstufen des mendikantischen Wirkens betrachtet werden können, vgl. Constable, Renewal 42; Jestice, The Gorzian Reform. Jaeger, Origins. Zum höfischen Erziehungs- und Sozialisationsprogramm vgl. zusammenfassend Groppe, Kloster, Hof und Stadt als Bildungswelten 303-307. Zu Formen,
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Ergänzt werden Jaegers Thesen durch Gedanken zur höfischen Kultur des Mittelalters. Zwei Seiten habe das Rittertum, meinte Josef Fleckenstein, „eine militärische und eine zivilisatorische; die militärische gipfelt in den Kreuzzügen, die zivilisatorische in der Begründung der höfisch-ritterlichen Kultur. Erscheint die eine als Austrag eines weltgeschichtlichen Konflikts, so die andere dank der Zeit und Raum übergreifenden Kommunikation, die der Hof ermöglicht hat, als eine eigentümliche Form der Selbstverwirklichung einer großen Gemeinschaft im Dienst von Gesittung und Kultur. Wenn man auch beide schwerlich miteinander verrechnen kann, da sie im Grunde voneinander zehrten, so ist die Kommunikation als Lebensgesetz aller Kultur doch letztlich fruchtbarer geworden als der Konflikt, und es bleibt ein Ruhmestitel des Rittertums, dass es mit der Begründung der höfisch-ritterlichen Kultur Wertvorstellungen geschaffen hat, die in den großen geistigen Haushalt der Menschheit eingegangen sind“28. Hat nach den höfischen Klerikern des frühen und hohen Mittelalters und dem erfolgreichen Abschluss der ersten Stufe eines mittelalterlichkirchlichen Zivilisierungsschubes eine zweite religiöse Elitegruppe die Bühne der abendländischen Geschichte betreten, um gleichsam in einem zweiten Anlauf das christliche Erziehungsprogramm auf einen größeren Personenkreis auszudehnen? Kam nach der Verchristlichung des Adels nun jene des Stadtbürgertums? Klaus Schreiner interpretierte die klerikalen Anstrengungen des hohen Mittelalters als den Versuch, den „Hof als christliche Herrschaftsinstitution zu legitimieren“29. Kann man parallel dazu auch von einem spätmittelalterlichen Versuch der Bettelorden sprechen, die Stadt zum Ort Gottes zu machen? Lehrmeister und Ideengeber des Rittertums war ein hochmittelalterlicher Klerus, der zivilisierend auf die adlige Kriegerschicht eingewirkt hat. Wenn klerikales Denken und Wirken verantwortlich zu machen ist für die Ausbildung bleibender Wertvorstellungen im Rahmen der ritterlich-höfischen Kultur, so gilt vermutlich Ähnliches für die mendikantische Einwirkung auf die spätmittelalterliche Stadtgesellschaft. Die einzigartige Errungenschaft der Bettelmönche bildete ihre Schaffung neuer Formen religiösen Ausdrucks, insbesondere für den städtischen Teil der Gesellschaft und jene Personen, die in dieser Gesellschaft dominierten. Diese neuen Formen umfassten eine ethische Rechtfertigung der urbanen Gesellschaft selbst wie auch der charakteristischen Aktivitäten ihrer einflussreicheren Mitglieder. Sie umfassten daneben auch neue
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Funktionen und Inhalten von Erziehung und Wissen bei Hofe vgl. zusammenfassend Paravicini/Wettlaufer (Hg.), Erziehung und Bildung bei Hofe. Fleckenstein, Nachwort – Ergebnisse und Probleme, in: Curialitas 487. Schreiner, ‚Hof’ (curia) und ‚Höfische Lebensführung’ (vita curialis) 123.
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Formen der Frömmigkeit, neue religiöse Praktiken, neue Strukturen für die laikale Partizipation an organisierter Wohltätigkeit sowie – vor allem – einen gesteigerten Sinn für spirituelle Würde30. Verbunden war die Förderung individueller Frömmigkeit mit der Verkündigung und Durchsetzung sozialer Normen, wie sie von den Bettelmönchen in pastoraltheologischen, historiographischen und juristischen Schriften niedergelegt worden waren. Das ausgesprochene Interesse der deutschen Franziskaner für die Fixierung moralisch-sozialer Normen zeigt, wie sehr „ihr Wirken auf gesellschaftliche Ordnungsvorstellungen gerichtet war, wie sehr sie darauf bedacht waren, den Menschen durch ein aufeinander bezogenes System von Kontrolle, rechtlicher Normierung und theologischer Unterweisung zu einem Verhalten anzuleiten, das unter den veränderten Bedingungen von Wirtschaft, Gesellschaft und Politik soziale Kohäsion gewährleisten sollte“31. Im Sinne einer solchen christlichen Sinn- und Formgebung städtischen Lebens stellt die nach zwei Seiten gerichtete mendikantische Einwirkung auf die Gesellschaft die zweite Stufe eines Prozesses dar, in dem die von Geistlichen propagierte Disziplin (disciplina), jene geordnete Bewegung aller Glieder in jeder Lage und zu jedem Zeitpunkt, nach einer „adligen Phase“ im hohen Mittelalter nun auch nichtadlige Bevölkerungskreise in Stadt und Dorf zu durchdringen begann. Die durchschlagende Rezeption mendikantischer Normierungsstrategien im späteren Mittelalter belegt die historische Bedeutung eines solchen Vorgangs der Kontrollverdichtung32. Die Entfaltung neuer gesellschaftlicher Kontrollmechanismen vom 13. bis zum 15. Jahrhundert kann als die spätmittelalterliche Phase eines epochenübergreifenden „Prozesses der Zivilisation“ betrachtet werden33. Zweifellos leistete die mendikantische Lehre von der gottgefälligen Selbstverwirklichung im Beruf sowie die von den Bettelmönchen propagierte Aufforderung zur regelmäßigen Gewissenserforschung einen wichtigen Beitrag zu einer „Verlagerung der Triebsteuerung in das Innere des Menschen“. Norbert Elias meinte die Wurzel des von ihm beobachteten „historischen Trends vom Fremd- zum Selbstzwang“ in 30 31 32 33
Vgl. Little, Religious Poverty 173. Schmidt, Arbeit 293. Zu einem weiteren „Schub“ der Vermittlung von Glaubenswissen an Laien im späten Mittelalter vgl. Burger, Zuwendung 85-105. Die Fortdauer von gegenläufigen Tendenzen der Differenzierung und Disziplinierung im 15. und 16. Jh. könnte man mit Berndt Hamm als „normative Zentrierung“ beschreiben. Auch bei dieser Deutungskategorie geht es um gesellschaftliche Normierungsschübe als Antwort auf Vorgänge der Differenzierung, Multiplizierung, Individualisierung. Vgl. Hamm, Reformation als normative Zentrierung; Hamm, Normative Zentrierung.
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der kritischen Selbstbeobachtung des neuzeitlichen Adels am Fürstenhof entdeckt zu haben. Die Kritik an diesem Erklärungsmodell sozialen Wandels, wie sie oben vorgestellt wurde34, kann durch die Darstellung der franziskanischen Gesellschaftspolitik und ihrer Konsequenzen ergänzt und weitergeführt werden. Dies betrifft insbesondere die drei Punkte Datierung, Trägerschaft und Linearität des Zivilisationsprozesses. Die Zivilisierung der europäischen Gesellschaft nahm ihren Ausgang nicht am frühneuzeitlichen Fürstenhof. Neuere Untersuchungen zeigen, dass die ritterlich-höfische Welt bereits seit Jahrhunderten vor Anbruch der Neuzeit dem erzieherischen Einfluss kirchlicher Lehren und Praktiken ausgesetzt war. Das pastorale Wirken der Bettelorden trat in gewissem Sinne an die Stelle des hochmittelalterlichen Hofklerus, als die Kirche im späten Mittelalter auch die nichtadlige Laienwelt stärker zu integrieren und zu formen versuchte. Die Frühe Neuzeit markiert keine Zäsur im Prozess der Zivilisation, so dass die Zeit zwischen dem 11. und 18. Jahrhundert in diesem Zusammenhang als Einheit betrachtet werden muss. Die Konzentration auf den Fürstenhof versperrte Elias zudem den Blick auf kirchlich-religiöse Faktoren, auf deren Wirksamkeit im Mittelalter bereits hingewiesen wurde. Der kirchlich-religiöse Einfluss beschränkte sich jedoch nicht auf diese Epoche, bildete ein im Mittelalter entwickelter Kanon doch das Fundament neuzeitlicher Erziehungsvorstellungen, wie das Werk des Erasmus von Rotterdam exemplarisch belegt. Für die Ausbreitung zivilisierten Verhaltens war also weniger die Diffusion vom Fürstenhof zum Bürgertum als jene von der Kirche zur Laienwelt entscheidend35. Besonders signifikant scheint ein dritter Punkt zu sein: Norbert Elias wurde die lineare Ausrichtung seines Modells vorgeworfen und dagegen vorgebracht, dass gesellschaftliche Wandlungsprozesse als dialektische Prozesse interpretiert werden müssen; als Prozesse nämlich, in denen Freiheit schaffende Elemente der Emanzipation mit entgegengesetzten Faktoren zusammentreffen, durch welche Konventionen und Normen verstärkt werden36. Eine Symbiose solcher scheinbar widersprüchlicher Entwicklungen scheint auch für das spätere Mittelalter kennzeichnend gewesen zu sein. Gestalter und Drehachse eines Stranges eines nach diesem dialektischen Muster ablaufenden Wandlungsprozesses waren seit dem 13. Jahrhundert die jungen Bettelorden. Sich als Erretter der Kirche und damit der Welt inszenierend, begriffen es die Bettelmönche als ihre 34 35 36
Vgl. oben 32 ff. Zur disziplinierenden Funktion von Religion und Kirche in der Frühen Neuzeit vgl. Schilling, Geschichte; Schilling, Sündenzucht; Schilling, Kirchenzucht. Zur Dialektik einer auf Integration und Konfrontation zielenden Ausrichtung der Konfessionalisierung vgl. Schilling, Konfessionalisierung 6 und passim.
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Aufgabe, die antagonistischen Tendenzen des Zeitalters zu versöhnen, indem sie den gesellschaftlichen Aufbruch verchristlichten und durch die Etablierung neuer Kontrollmechanismen zu bändigen versuchten.
2. Diversifizierung und Kontrollverdichtung – Zur Dialektik historischen Wandels im späten Mittelalter Soziologen interpretieren die Spannung zwischen Autonomie und Kontrolle, zwischen Freiheit und Disziplin als ein Element im unaufhörlichen sozialen und kulturellen Wandel moderner Gesellschaften37. Die Verstärkung von Mechanismen der sozialen Kontrolle im Zuge der gesellschaftlichen Modernisierung Europas wurde in der Frühneuzeitforschung der vergangenen Jahrzehnte intensiv untersucht und mit dem Terminus „Sozialdisziplinierung“ gekennzeichnet. Die Ergebnisse dieser Diskussion gehen inzwischen weit über das ursprüngliche Konzept, wie Gerhard Oestreich es vor 35 Jahren entwickelt hatte, hinaus. Der Prozess der Sozialdisziplinierung wird heute als vielschichtiges Phänomen betrachtet, das seine Wirksamkeit nicht allein in der Frühen Neuzeit entfaltet und seinen Ausgangspunkt nicht allein im frühmodernen Staat besessen hat. Aktuelle Interpretationen charakterisieren die soziale Disziplinierung der europäischen Gesellschaft vielmehr als epochenübergreifenden und multizentrierten Vorgang. In Spezialuntersuchungen wurde auf den sozialdisziplinierenden Charakter der spätmittelalterlichen städtischen Gesetzgebung hingewiesen. Untersuchungen zur „Kirchenzucht“ machten auf die Bedeutung aufmerksam, die kirchlichen Gruppierungen und religiösen Vorstellungen bei der Verdichtung sozialer Kontrolle und der Etablierung neuartiger Kontrollmechanismen zukam. Einen nicht zu unterschätzenden Beitrag zur sozialen Disziplinierung und Normierung der europäischen Gesellschaft im späteren Mittelalter leisteten die Mendikanten, wie die vorliegende Studie exemplarisch anhand der deutschen Franziskaner deutlich zu machen versuchte. Durch verfeinerte Methoden und Medien konfrontierten die Bettelmönche die Laienwelt mit einer wachsenden Zahl von Geboten und Verboten. Das Bild einer exklusiven Gemeinschaft des einen wahren Glaubens nahm festere Formen an, welche dem einzelnen Menschen genauer als in früheren Jahrhunderten vorschrieb, wie er seine tägliche 37
Wagner, Soziologie der Moderne. Freiheit und Disziplin. Für das 15. und 16. Jh. vgl. die Arbeiten von Berndt Hamm, der mit seinem Konzept der „normativen Zentrierung“ ebenfalls von dialektischen Wandlungsvorgängen (Pluralität – Zentrierung, Angst – Gnade) ausgeht. Vgl. etwa Hamm, Normative Zentrierung; Hamm, Nahe Gnade.
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Arbeit auszuüben, seine eigene Persönlichkeit zu kontrollieren und die Weltordnung wahrzunehmen hatte38. Diese Bemühungen, den Weg zum Heil immer exakter zu determinieren, gingen einher mit einer zunehmenden Ausgrenzung alternativer Lebensformen. Denn bekanntlich gehörte zum Geschäft der Mendikanten neben der pastoralen Betreuung der gläubigen Gemeinde auch die Verketzerung und Marginalisierung aller religiösen oder sozialen Randgruppen. Zunehmender Repression wurden allerdings nicht allein die Häretiker ausgesetzt, sondern auch jene Gläubigen, die ihr Leben nicht nach den strengen Vorgaben der Bettelorden auszurichten gewillt waren. Nichtarbeitende Müßiggänger wurden ebenso diffamiert wie ehrgeizige Aufsteiger39. War es möglicherweise eine „verfolgende Gesellschaft“, von der die Bettelmönche träumten, eine exklusive Gemeinschaft der Gläubigen, welche ihr Heil immer stärker in der Marginalisierung von Randgruppen suchte?40 Robert I. Moore charakterisierte in einem provokanten Essay 1987 die hochmittelalterliche Gesellschaft des 11. und 12. Jahrhunderts als eine persecuting society, die soziale Gruppen, welche durch allgemeine Charakteristika wie Rasse, Religion oder Lebensstil gekennzeichnet waren, immer radikaler ausgrenzt, unterdrückt und vernichtet habe41. Die Häretikerverfolgung habe in diesem Zeitraum zugenommen, gegen Juden sei die Mehrheitsgesellschaft erstmals in größerem Ausmaß mit physischer Gewalt vorgegangen, Lepröse und andere Kranke seien vom Rest der Bevölkerung separiert und Gruppen wie Homosexuelle und Prostituierte mit neuartiger Nachdrücklichkeit ausgegrenzt worden. Moore führt den wachsenden Eifer bei der Verfolgung von Randgruppen auf ein gewandeltes Weltbild der herrschenden Eliten zurück, welche gewisse Individuen als Mitglieder von Randgruppen und diese Randgruppen als gefährlich definiert hätten. Die Ursachen dieser mentalitätsgeschichtlichen Verschiebung liegen laut Moore in politischen und sozioökonomischen Transformationsprozessen, die den Unterschied zwischen reich 38
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Ähnliche Ziele verfolgten religiöse Erneuerungsbewegungen späterer Jahrhunderte. Zum Calvinismus vgl. Tawney, Religion und Frühkapitalismus 121: „Für Kalvinisten ist die Welt dazu da, die Majestät Gottes zu zeigen, und Christenpflicht ist es, diesem Zweck zu dienen. Die Aufgabe des Christen ist zwiefach: sein persönliches Leben zu disziplinieren und eine Gemeinschaft der Heiligen zu schaffen“. Zur Anpassung der calvinistischen Soziallehre an die sozioökonomische Realität vgl. ebd. 115-143. Zur Ausgrenzung von Bettlern und Müßiggängern im Calvinismus vgl. ebd. 127. Zum gesellschaftlichen Mechanismus, in Krisenzeiten eine „gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit“ auszubilden, vgl. Hamm, Normative Zentrierung 166 f. sowie für die Gegenwart Wilhelm Heitmeyer, Feindselige Normalität, in: Die Zeit 51 vom 11. Dezember 2003, Politik S. 19. Moore, Persecuting Society. Das Paradigma wurde in der deutschen Mediävistik lange Zeit vernachlässigt. Vgl. die Hinweise bei Angenendt, Religiosität 610-613; Angenendt, Frömmigkeit 83 f.
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und arm vergrößert hätten. Um ihre führende Stellung in diesem sozialen Umschichtungsprozess zu sichern, habe die herrschende Elite nach effizienteren Mitteln der sozialen Kontrolle gesucht und diese unter anderem in der Verfolgung aller Arten von Devianz gefunden. Anhand der Schriften des Petrus Venerabilis konnte Dominique Iogna-Prat zeigen, wie im 12. Jahrhundert eine innere Konsolidierung christlicher Institutionen, in diesem Fall die Cluniacensis ecclesia, mit der Exklusion von religiösen Randgruppen einherging42. Moores Gedanken finden hier eine exemplarische Veranschaulichung. František Graus konnte zeigen, dass sich diese Entwicklung in den städtischen Gesellschaften des späten Mittelalters fortsetzte43. Die Verschlechterung der wirtschaftlichen Situation habe – so Graus – dazu geführt, dass die Mehrheitsgesellschaft immer stärker auf die Einhaltung von schichten- und gruppenspezifischen Normen bestanden und in diesem Zusammenhang auch randständige Personen zu homogenen Gruppen geformt habe: „Analog zu den sich abschließenden Ständen in den einzelnen Ländern begann sich auch die städtische Einwohnerschaft zu formieren, es entstanden echte städtische Gesellschaften. Durch das Aufkommen größerer Märkte war man immer mehr einem anonymen, nicht mehr zu durchschauenden Spiel von Angebot und Nachfrage ausgeliefert. Preisbewegungen und Krisensituationen verschiedenster Art erschienen als Einbrüche in die natürliche Ordnung. Die Räte der Städte mussten zunehmend regelrecht in die Produktion eingreifen, die Versorgung der Städte sichern und eine Art Wirtschaftspolitik treiben. Durch auftauchende wirtschaftliche Schwierigkeiten, Stagnation und soziale Erstarrung sank vielerorts die Integrationsfähigkeit der städtischen Gemeinschaften und erzwang eine neuartige Hierarchisierung der Gesellschaft“44. Nichtkonformes Verhalten wurde von der spätmittelalterlichen Gesellschaft, die sich unkalkulierbaren Transformationsprozessen gegenübersah, immer stärker abgelehnt und bekämpft45. Die Mendikanten hatten diesen zweiseitigen Prozess der Normierung der Mehrheit bei gleichzeitiger Diffamierung der Minderheit verchristlicht und damit legitimiert. Die Propagierung einer Arbeitsethik, die in der strebsamen und beständigen Erfüllung beruflicher Pflichten einen Weg zum Heil sah, und das Werben für eine institutionalisierte 42
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Iogna-Prat, Order and Exclusion. Ziel des Buches ist der Nachweis eines kohärenten Weltbild des Petrus Venerabilis, welches mithalf, eine „intolerant society that emerged during the time of the first two Crusades“ zu schaffen (232) Graus, Randgruppen. Zur christlichen Verfolgungsgemeinschaft im Zeitalter der Reformation vgl. Hamm, Innovativ? 491. Graus, Randgruppen 434 f. Zur Problematik vgl. generell Rexroth, Mediävistische Randgruppenforschung.
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Gewissenserforschung, die das individuelle Innenleben regelmäßig einer Außen- und Innenprüfung unterzog, dienten der Disziplinierung der Mehrheitsgesellschaft. Einher ging damit die Verdammung abweichenden Verhaltens, die besonders in der Predigt und der Beichte den Laien zur Belehrung und Warnung dienen sollte. Das Streben mendikantischer Gesellschaftsordnung zielte also nur insofern auf eine persecuting society, als Normierung und Unterdrückung gesellschaftlicher Gruppen notwendig schienen, um die Reinheit der Mehrheitsgesellschaft zu sichern und die sozialen und ökonomischen Diversifizierungsprozesse des späteren Mittelalters unter Kontrolle zu halten. Es war auch eine gedachte Gesellschaftsordnung, in der dem einzelnen Gläubigen mehr Freiraum und Verantwortung zukam als den meisten Menschen in früheren mittelalterlichen Epochen. Die Kirche sah sich im 13. Jahrhundert gezwungen, die städtische Lebensform und eine intensivierte religiöse Sinnsuche der Laienwelt zu akzeptieren, wollte sie ihre eigene monopolartige Existenz nicht gefährden. Erfolgreich in die Tat umgesetzt wurde die Verchristlichung laikaler städtischer Lebensformen allerdings erst von den Bettelmönchen. Individualisierungs- und Emanzipationsprozesse wurden in diesem Kontext insbesondere von den Franziskanern gefördert und beschleunigt. Was die Minderheit also an Verwirklichungsmöglichkeiten verlor, gewann die Mehrheit zur gleichen Zeit an kollektiven und persönlichen Freiheiten. Das Konzept der „verfolgenden Gesellschaft“ ist daher zu einseitig, um den sozialen Wandel dieser Epoche vollständig zu beschreiben. Es bleibt jedoch ein nützliches Erklärungsmodell, um eine Facette der Entwicklung zu kennzeichnen. Robert I. Moore war davon überzeugt, dass die klerikale Elite des 12. Jahrhunderts die soziale Ausgrenzung bestimmter Randgruppen bewusst vorantrieb, um die eigene Machtposition zu legitimieren und zu sichern. Mit Sicherheit kann von den Bettelmönchen des späteren Mittelalters Ähnliches behauptet werden. Die gesamte mendikantische Weltordnung, mit dem Papst an der Spitze und den Bettelmönchen an seiner Seite, diente unter anderem diesem Zweck. Die Gliederung und Hierarchisierung der Kirche, die Belehrung und Formung der Laienwelt fügten sich ein in dieses Weltverständnis. Die Anerkennung der herausgehobenen Position der Mendikanten in Kirche und Welt bildete zugleich die Voraussetzung für ihren Erfolg. Indem Bettelmönche sich in die Spitze der Inquisition, aber auch der Judenverfolgung stellten, erreichten sie nicht nur eine Reinigung der Gesellschaft in ihrem Sinn, sondern auch eine hervorgehobene Machtposition innerhalb einer exklusiven Gesellschaft des Heils46. 46
Zum mendikantischen Antijudaismus vgl. Cohen, Friars. Zur Judenverfolgung als Symptom einer Krisenzeit vgl. Graus, Pest, Geissler, Judenmorde.
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Die Hinführung der städtisch-bürgerlichen Gesellschaft zu verinnerlichter Selbstreflexion und ihre Unterordnung unter verfeinerte Kontrollmechanismen führte daher nicht nur zu einer randgruppenfeindlichen Gesellschaft, sondern veränderte auch die Mehrheitsgesellschaft im Sinne einer doppelten „Subjektivierung“, um eine Begriffsschöpfung Michel Foucaults aufzugreifen47. Unter einer solchen „doppelten Subjektivierung“ ist die Förderung wachsender Selbsterkenntnis bei gleichzeitiger Unterwerfung unter neue Abhängigkeiten und Normen zu verstehen. Das Subjekt gewinnt als erkennendes und handelndes Ich an Möglichkeiten zur individuellen Lebensgestaltung, erlebt im gleichen Moment allerdings eine Unterwerfung (subiectio) unter neuartige Gesetze, Konventionen und Ordnungsmechanismen. Mit der Freiheit wuchs der Druck zur Konformität. Um solche Regulierungen des menschlichen Daseins von der individuellen Gewissenserforschung bis zur Ordnung der Heilsgeschichte kreisten die Gedanken und Schriften der Bettelmönche in einer Welt, die alte Denk- und Handlungskategorien zunehmend in Frage stellte. Apologetisch wurde das franziskanische Streben nach gesellschaftlicher Ordnung von mittelalterlichen und modernen Geschichtsschreibern als „Friedensstiftung“ interpretiert. Bonaventura beschrieb Franziskus in der Mitte des 13. Jahrhunderts als den „Engel des wahren Friedens“48; Hilarin Felder deutete die franziskanische Bewegung 1923 als die „größte Friedensaktion, die je unternommen, und das höchste Friedensideal, das je proklamiert wurde“49. In einer solchen Tradition steht teilweise auch die moderne Forschung50. Deutungsmuster dieser Art vertrauen jedoch einer theologischen Rhetorik, die über das gesellschaftspolitische Engagement der Bettelorden einen Schleier legt, der aus den Begriffen contritio, penitentia, conversio, pax gewoben ist. Dies erscheint zu einem gewissen Maße auch sinnvoll, allerdings lediglich unter dem Vorbehalt, dass „Friedensstiftung“ nicht als wertneutrale unpolitische Handlung betrachtet wird51. Denn jeder „Friedenszustand“ gründet auf einem bestimmten Normensystem, das den friedlichen
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Foucault, Das Subjekt und die Macht 247 f. Bonaventura, Legenda maior, in: ders., Opera omnia 8, 557. Felder, Die Ideale des hl. Franziskus 296. Zur apologetischen Geschichtsschreibung vgl. auch Hardick, Ansatz und Richtung des Friedensgedankens. Differenzierter Oexle, Formen des Friedens 96-110. Vgl. zuletzt Kinsella, „The Lord give you Peace“. Vgl. Weber, Der Sinn der „Wertfreiheit“ 517: „’Friede’ bedeutet Verschiebung der Kampfformen oder der Kampfgegner oder der Kampfgegenstände oder endlich der Auslesechancen und nichts anderes“.
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Ausgleich unterschiedlicher Interessen gewährleisten soll, zugleich aber auch ein ethisches Regulativ der Gesellschaft darstellt52. Wie „Freiheit“ im Mittelalter weniger die individuelle Freiheit im modernen Sinn des Wortes, sondern die Einordnung in eine neue, bessere Gemeinschaft bedeutete53, so war die Befriedung einer Gemeinschaft mit ihrer Durchdringung und Gestaltung verknüpft54. Befreiung und Befriedung erscheinen in diesem Sinne mit Herrschaft verbunden, da die Abwendung von älteren und die Hinwendung zu neueren Formen des Eingebundenseins in einem dialektischen Prozess voranschritten. Ein Friedenskonzept war im alten Europa immer auch ein Herrschaftskonzept55. Bei den unterschiedlichen Formen der Friedensdurchsetzung zeigt sich demnach, welche Gesellschaftsform die beteiligten Aktivisten anstrebten, wie sie die vorhandenen hierarchischen Ordnungen wahrnahmen und interpretierten. Denn jede soziale Gruppe, jeder politische Herrscher und jede religiöse Gemeinschaft verband mit dem herrschenden oder angestrebten Frieden konkrete Inhalte; stets war die Vorstellung eines institutionalisierten Friedens verbunden mit bestimmten sozioökonomischen und gesellschaftspolitischen Konzepten. Man kann die Welt nicht verbessern56, ohne sie zu verändern – und dazu berief man sich auf die eigenen moralischen Ideen, die man in der Regel für die besten hielt. Die expandierenden Bettelorden besaßen eine genaue Vorstellung von einer im mendikantischen Sinne befriedeten Gesellschaft. Nach deren Verwirklichung strebten sie nicht allein mit Aufrufen zu Buße, Reue und Frieden, sondern auch mit einer neuen „Ökonomie der Kontrolle“, von der sie selbst profitierten, da das zu etablierende Regel-
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Zur Identität von moralischer und sozialer Wirklichkeit im Sinne von Emile Durkheim vgl. Miethke/Schreiner, Innenansichten 11. Zur pax als „Besieglung der Unterwerfung unter Rom [und Byzanz] mittels eines Vertrages“ vgl. Strässle, Krieg. Vgl. Diestelkamp, Freiheit der Bürger – Freiheit der Stadt 485-510. Dies gilt auch für das Recht. Vgl. Martti Koskenniemi, Das Völkerrecht ist nicht die Bibel, in: Die Zeit 51 vom 9. Dezember 2004, Feuilleton S. 52: „Das Recht ist eben nur ein sehr enger Ausschnitt von dem, was in der Welt geschieht. Im Übrigen ist es ein gefährliches Vehikel, weil es Illusionen und Utopien transportiert. Obwohl ich für den Staatsrechtler Carl Schmitt beileibe keine Sympatien habe, finde ich seine Kritik an den Illusionen des Rechts richtig. Wenn man an der Oberfläche des Rechts kratzt, kommen schnell politische und ökonomische Interessen zum Vorschein. Wenn jemand behauptet, er liebe nur das Recht und nichts Anderes, dann verleugnet er seine politischen Interessen“. Zu Friedens- als Herrschaftssicherung vgl. Angermeier, Königtum und Landfriede 114. Von einer „Instrumentalisierung der Landfriedensgesetzgebung durch die Staufer zur Stärkung der Zentralgewalt“ spricht Patschovsky, Fehde im Recht 166. Zum Glauben an die Perfektibilität der Welt vgl. Walther, Veränderbarkeit der Welt 634-638.
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werk die Bettelmönche an die Schalthebel der Entscheidungsgewalt über Gut und Böse setzte57. Transformationsprozesse sozialer, ökonomischer und politischer Art eröffneten den einzelnen Mitgliedern der Mehrheitsgesellschaft neue Handlungsspielräume, unterwarfen diese aber zugleich neuen Kontrollmechanismen58. Man kann diese Gleichzeitigkeit von Emanzipationsund Repressionstendenzen als dialektisches Grundmuster sozialen Wandels im späteren Mittelalter begreifen, aber darin auch eine Phase jenes vielschichtigen Modernisierungsprozesses erkennen, der Europas Geschichte nicht nur in dieser Epoche bestimmte. So hatten bereits Max Horkheimer und Theodor W. Adorno in ihrer „Dialektik der Aufklärung“ die europäische Geschichte als Kontinuum betrachtet und von einer Gleichzeitigkeit von Fortschritt und Rückschritt gesprochen59. Für die Moderne sei in diesem Zusammenhang die beschleunigte Modernisierung in der Epoche von Aufklärung und Industrialisierung von besonderer Bedeutung gewesen. Während der Entfaltung der industriellen Konkurrenzgesellschaft habe ein zunehmender Zwang zur Individualisierung geherrscht. Stärker als zuvor sei der Mensch in einer von anonymer Lohnarbeit geprägten Welt auf sich selbst zurückgeworfen worden. Die Gelegenheit zur Emanzipation des Subjekts von Fremdbestimmtheit sei damit von einer Gesellschaft, die ihre Mitglieder einem wachsenden Konformitätsdruck ausgesetzt habe, zunichte gemacht worden. Der Drang zur Normierung ist nach Horkheimer/Adorno in erster Linie auf die maschinisierte Massenproduktion zurückzuführen, die genormte Waren und normierte Lebensläufe hervorgebracht habe. Das Individuum habe sich entsubstanzialisiert, um sich den standardisierten Produktionsbedingungen anzupassen: „Nur indem der Prozess, der mit der Verwandlung von Arbeitskraft in Ware einsetzt, die Menschen samt und sonders durchdringt und jede ihrer Regungen als eine Spielart des Tauschverhältnisses a priori zugleich kommensurabel macht und vergegenständlicht, wird es möglich, dass das Leben unter den herrschenden Produktionsverhältnissen sich reproduziert. Seine Durchorganisation verlangt den Zusammenschluss von Toten. Der Wille zum Leben sieht sich auf die Verneinung des Willens zum Leben verwiesen: Selbsterhaltung annuliert Leben an der Subjektivität“60. Nicht nur die Abkehr von einem naiv fortschrittsoptimistischen Denken und die 57 58 59 60
Zur franziskanischen Friedenspredigt als theologischem und sozialem Reformprogramm vgl. Polecritti, Preaching Peace in Renaissance Italy. Zum spätmittelalterlichen Transformationsprozess vgl. zuletzt: Jussen/Koslofsky (Hg.), Kulturelle Reformation. Horkheimer/Adorno, Dialektik der Aufklärung. Adorno, Minima moralia 308.
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Besinnung auf das Destruktive im Fortschritt garantieren der „Dialektik der Aufklärung“ heute noch Aktualität61. Das Theorem einer Gleichzeitigkeit scheinbar gegenläufiger Prozesse der Emanzipation und Individualisierung bzw. der Repression und Kollektivierung wird auch von der aktuellen geschichts- und sozialwissenschaftlichen Forschung für die Beschreibung sozialgeschichtlicher Transformationsprozesse in den modernen westlichen Gesellschaften herangezogen62. Macht man sich diese epochenübergreifenden Muster sozialen Wandels bewusst, dann erscheinen die deutschen Franziskaner als ein beredtes Beispiel für jene sozialgeschichtlichen Wirkkräfte, die den europäischen Weg hin zu einer Moderne, die in sich Momente des Fortschritts ebenso wie solche des vermeintlichen Rückschritts birgt, mittrugen und formten. Die untersuchten franziskanischen Texte machten zudem deutlich, dass sich religiöse Erneuerung und Modernisierung in Europas Geschichte auch im Mittelalter nicht gegenseitig ausschlossen. Diese Beobachtung lenkt den Blick zuletzt auf eine Frage, die für eine epochenübergreifende Interpretation der vormodernen europäischen Geschichte, insbesondere in ihrer globalen Verflechtung, von besonderer Relevanz ist: die Frage nach dem Umbruchscharakter der frühneuzeitlichen Reformation. In der modernen Geschichtsforschung hat die Reformation den revolutionären Charakter verloren, den ihr die Geschichtsschreibung Jahrhunderte lang zuschrieb, „zerrieben zwischen vorreformatorischer ‚gestalteter Verdichtung’ des späten Mittelalters einerseits und nachreformatorischem ‚eigentlichen’ Formierungs- und Modernisierungsschub im konfessionellen Zeitalter andererseits“63. Die aktuelle Forschung interpretiert die reformatorischen Neuerungen in Religion, Theologie und Kirche als Ende eines weit früher einsetzenden Wandels und nicht als Umbruch im strengen Sinn. Aus dieser Perspektive wurde Luthers Reformation sogar „als Höhepunkt und Vollendung der monastischen Reformen des Mittelalters“ gedeutet64. Die lutherische Lehre vom Priestertum aller Gläubigen65, die Entfaltung einer innerweltlichen Askese und protestantischen Arbeitsethik66 sowie Kirchenzucht und Sozialdisziplinierung67, die man einst als revolutionäre reformatorische Innova61 62 63 64 65 66 67
Vgl. Kunneman (Hg.), Die Aktualität der Dialektik der Aufklärung. Vgl. exemplarisch Beck/Gernsheim (Hg.), Riskante Freiheiten. Schilling, Die Reformation – ein revolutionärer Umbruch oder Hauptetappe 36; Schilling, Reformation – Umbruch oder Gipfelpunkt 13-34; Hamm, Innovativ? Köpf, Heilige und Modelle 246. Schreiner, Laienfrömmigkeit. Oberman, Via Calvini. Zur veralteten Position vgl. Troeltsch, Die Bedeutung des Protestantismus. Schilling (Hg.), Kirchenzucht und Sozialdisziplinierung.
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tionen betrachtet hatte, gelten heute als Entwicklungen, deren Anfänge im Mittelalter liegen. Zu den drei genannten Punkten hatten die deutschen Franziskaner ebenso wie ihre mendikantischen Ordensbrüder in anderen Provinzen wichtige Beiträge geliefert: Wenn Berthold von Regensburg das Predigeramt als sein „Amt“ kennzeichnete und alle Christen – Priester wie Laien – zur sorgsamen Berufserfüllung und Einhaltung derselben moralischen Standards aufrief, dann entwarf der Franziskanermönch beispielhaft das Bild einer allen Christen gemeinsamen Frömmigkeit und Spiritualität, wie dies vom oben zitierten Lutherwort angemahnt wurde. Getrennt waren die Menschen in dieser mendikantischen Weltsicht durch Funktionen, doch geeint sollten sie marschieren auf ihrem Weg zum ewigen Heil – geführt von Bettelorden, die Gott mit der Rettung der Christenheit beauftragt hatte. Eine solche Konzeption einer im Glauben unter einer Regel geeinten christianitas war bereits im 12. Jahrhundert von den Gelehrten an der entstehenden Pariser Universität diskutiert worden. Die Bettelorden verkündeten die Botschaft von der geheiligten Gemeinschaft der Laien seit dem folgenden Jahrhundert von den Kirchenkanzeln. Es war kein weiter Weg von Vorstellungen dieser Art zum Priestertum aller Gläubigen. Die Anerkennung der individuellen spirituellen Dignität war nicht nur im deutschen Franziskanertum einhergegangen mit einer wachsenden Sorgfalt bei der Propagierung einer genormten Lebensgestaltung. In der Beichtliteratur wurde der einzelne Gläubige angehalten, allein oder mit Hilfe eines Priesters sein Gewissen regelmäßig zu ergründen sowie seinen persönlichen Lebensweg zu überdenken und zu korrigieren. Auf die stärkere Individualisierung der Gesellschaft in weltlichen und geistlichen Angelegenheiten antworteten die Mendikanten also mit der Intensivierung eines individualpsychologischen Kontrollmechanismus. Dies bildete die Grundlage einer mendikantischen Erziehungslehre, die beim Gewissen des einzelnen Gläubigen ansetzte, um über die Kontrolle seiner individuellen Gesten und Handlungen eine religiös-sittliche Formung des gesamten Lebens zu erreichen. Als sichtbarsten Ausdruck eines gelungenen Lebens betrachteten Prediger wie Berthold von Regensburg die korrekten Ausübung der beruflichen Alltagspflichten. Diese umfassende Lebensgestaltung, normiert gemäß den mendikantischen Erziehungsidealen und der mendikantischen Arbeitsethik, trennt nicht viel von innerweltlicher Askese und protestantischer Ethik, die früher als Ergebnisse des reformatorischen Umsturzes im 16. Jahrhundert betrachtet worden waren. Insgesamt kann die Gleichzeitigkeit von Prozessen der Emanzipation und der Sozialdisziplinierung, welche im späteren Mittelalter für das kirchlich-gesellschaftliche Wirken der deutschen Franziskaner im
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speziellen und der Bettelorden im allgemeinen kennzeichnend gewesen ist, als ein wesentliches Merkmal auch für den reformatorischen Innovations- und Modernisierungsschub verstanden werden68. Wie die Bettelmönche im 13. Jahrhundert reagierten die frühen Reformatoren auf neue gesellschaftliche Herausforderungen, die mit den Stichworten Individualisierung, Pluralisierung, Konfliktverschärfung, Entfriedung, Divergenz, Dissens, Autoritätsverlust besonders der Kirche und Häufung konkurrierender Leitvorstellungen beschrieben worden sind, auf zweifache Weise: Einerseits entwarfen Martin Luther und andere protestantische Theologen die Lehre von einer individuellen Freiheit, die der Gläubige allein durch die Gnade Gottes erlangte. Die christliche und persönliche Freiheit wurde dadurch zu Schlüsselbegriffen der politischen Rhetorik in der frühen Reformation; Individualisierungsprozesse erhielten neuen Schwung69. Andererseits richteten sich das kirchliche und gesellschaftliche Reformstreben und Gestaltungsbemühen der Eliten auf eine Eindämmung des Auseinanderbrechenden. Indem die Reformatoren die Heilige Schrift zur normativen Grundlage aller Bereiche des privaten und öffentlichen Lebens erklärten, strebten sie nach einer „Durchdringung, Integration und verchristlichten Intensivierung aller Lebensbereiche des gesellschaftlichen corpus christianum vom Zentrum des biblischen Gotteswortes und des gemeinschaftsformenden Glaubens her. […] Dies bedeutet aber gerade nicht Säkularisierung der Welt und der Religion im modernen Sinne, sondern Sakralisierung der Welt, Ausweitung der Heiligung auf alle Lebensbereiche“70. Religiöse Erneuerung und gesellschaftlicher Wandel bildeten im späteren Mittelalter und in der Frühen Neuzeit offensichtlich sich komplementär ergänzende Bestandteile von „Zentrierungsschüben“ zivilisatorischer und politischer Art71. Freigesetzt wurde in dieser scheinbar widersprüchlichen und mehrdimensionalen, „religiös motivierten Rationalisierung der Lebensführung“ Elemente der Autonomie und des Zwanges, der Freiheit und der Unterdrückung72. Das 68
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Zur widersprüchlichen Gleichzeitigkeit von Individualisierung und Disziplinierung in der Reformation vgl. bereits Lutz, Europa in der Krise; Ders., Die politische und kulturelle Ausgangssituation der Reformation. Vgl. dazu Luttenberger, Humanismus und Reformation. Blickle, Reformation und Freiheit. Hamm, Reformation als normative Zentrierung 262. Zum Eindringen christlichen Geistes in weltliche Normen bereits Driever, Normierung 241-248. Zum Begriff vgl. Hamm, Reformation als normative Zentrierung 251; Hamm, Normative Zentrierung 164. Zur Kontinuität zwischen Mittelalter und Früher Neuzeit vgl. Schilling, Umbruch oder Hauptetappe; Schilling, Umbruch oder Gipfelpunkt; Schilling, Der religionssoziologische Typus Europa 43 f. und passim. Zum Begriff bei Weber und Sombart vgl. Lenger, Weber 177 und 181. Die kulturgeschichtliche Erforschung der Genese des Kapitalismus benötigt einen mediävistischen Neuanfang. Zum Diskussionsstand vgl. Tawney, Religion und Frühkapitalismus 15-
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Interpretation und Ausblick
Europa der Gegenwart mag sein vormodernes Erbe in beträchtlichem Maße hinter sich gelassen haben, jene Muster historischen Wandels, die scheinbar Widersprüchliches immer wieder in epochenspezifischen Entwürfen systematisierter Lebensführung verbinden, hat es mit jenen weit zurückliegenden Epochen offenbar gemein73.
73
79; Holton, Weber; Dülmen, Protestantismus; Brocker, Erklärungsansatz; Lehmann, Entstehung; Lenger, Weber; Langholm, The Merchant in the Confessional 266-269. Zur Bedeutung des Religiösen in diesem Prozess vgl. ebd. 269. Zum Fortbestand des Religiösen als Fundament des säkularen Staates vgl. Böckenförde, Entstehung; Schilling, Der religionssoziologische Typus Europa 45.
Dokumentation A. Prolog des Glossenapparats Fecit deus zur Summa decretalium des Heinrich von Merseburg Zur Überlieferung vgl. Kurtscheid, De Studio 193-197. Der Dokumentation liegt als Leithandschrift Leipzig UB Cod. 1074 zugrunde [L1] (Vgl. Helssig, Katalog 196-198). Die Pergamenthandschrift aus dem frühen 14. Jahrhundert enthält einen vollständigen und wenig fehlerhaften Text der Summa titulorum Heinrichs von Merseburg mit anschließendem Glossenapparat (fol. 11-118v bzw. 119-155v). Zeitnahe Randnotizen deuten auf eine intensive Benutzung der schmucklosen Gebrauchshandschrift, deren Provenienz unbekannt ist. Zur Textherstellung wurden zudem die Handschriften Leipzig UB Cod. 1003 [L2] sowie München BSB Clm 22278 [M] herangezogen. Zur Interpretation des Textes vgl. oben III.1.
Prologus Fecit deus duo luminaria magna. Luminare maius, ut preesset diei1, luminare2 minus, ut preesset nocti (Gen 1.16). Utrumque magnum, alterum tamen maius. Igitur ad firmamentum celi, id est universalis ecclesie, fecit deus duo luminaria magna, id est duas instituit dignitates, que sunt pontificalis auctoritas et regalis potestas, ex. de ma. et obe. Solite (X 1.33.6). Duo sunt quippe, quibus principaliter hic mundus regitur, auctoritas sacra pontificis et regalis potestas3, xcvi.d. Duo4 (D.96 c. 10). Sed contra: Humanum genus duobus5 regitur, scilicet iure et moribus, i. d. Humanum (D.1. c.1 Gr.a.). Solutio: Illis regitur quasi artificibus, istis autem duobus iuribus, quasi per instrumenta artificis, quia parum esset ius in civitate, nisi sint quorum auctoritate iura reddantur6, ff.7 de 1 2 3 4 5 6 7
diei] et add. M luminare] om. L2 regalis potestas] tr. L1 xcvi. d. Duo] xcvi. d. Uno M duobus] duobus in omnibus L2 reddantur] regantur L2 ff.] om. L2
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orig. iur. l.ii. Post originem (D. 1.2.2 §13). Ex hiis igitur duobus tamquam principiis, auctoritate8 pontificali ac imperiali potestate9, omnia iura prodierunt. Hic enim scilicet papa conditor est canonis, hic vero scilicet imperator legum. Unde precepit papa in canone, ut canonum statuta ab omnibus ita custodiantur, ut nemo in actionibus vel iudiciis ecclesiasticis suo sensu, sed eorum auctoritate ducatur, ex. de constit. Canonum (X 1.2.1). Conditor vero legum est imperator, unde Iustinianus imperatoriam10 maiestatem non solum armis decoratam, sed et11 legibus oportet esse armatam, ut utrumque tempus bellorum et pacis certe possit gubernari, ut Inst. Imperatoriam (Inst. prooem). Numa enim Pompillius, qui Romulo successit in regno, primus legem12 Romanis13 dedit, vii.d. Moises (D.7. c.1). Fecit ergo14 deus duo luminaria15 etc., ex quibus omnia iura prodierunt. Sed contra: Omne ius vel est divinum vel humanum, i.d. Omnes16 (D1. c.1.). Quo17 iure defendis villas ecclesie? Divinum in scripturis divinis habemus, humanum vero in legibus regum. Unde quisque possidet, quod possidet. Nam iure divino domini est terra et plenitudo18. Pauperes et divites omnes de uno limo fecit deus. Iure humano hec villa mea, hec domus mea. Iura autem humana19 imperatoris sunt. Quare? Quia ipsa iura humana per imperatores et reges seculi20 generi humano21 deus distribuit, d. viii. Quo iure (D.8 c.1). Ergo canon non debet tractare22 de possessionibus et contractis et emptionibus etc., sed tantum leges, que sunt imperatorum. Contra: Antequam essent23 imperatores, erant24 iura. Solutio: omnia iura humana dicuntur imperatorum esse25 vel per appro8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25
auctoritate] scilicet add. M imperiali potestate] tr. M Imperatoriam] Imperator L2 et] om. M, etiam L2 legem] leges M legem Romanis] tr. L2 ergo] igitur L1 duo luminaria] tr. M Omnes] om. L L1 M Quo] Quomodo M plenitudo] eius add. L2 humana] om. M et reges seculi] seculi et reges L1 generi humano] tr. L1 debet tractare] tr. L2 essent] erant M erant] fuerint L2 imperatorum esse] tr. L2
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bationem, ut C. De veteri iur. enucl. l.i. (C. 1.17.1), vel quia plus26 ceteris et principalius tractaverint de hiis, scilicet que sunt de iure humano ut possessionibus, emptionibus, aquirendis, retinendis, amittendis. Unde et ius canonicum dicitur esse imperatorum, in quantum ibi tractatur de possessionibus, emptionibus et ceteris temporalibus, quia de hiis semiplene agitur in canone, sed in legibus imperatorum sufficienter. Unde iudicia possessionum secularium non spectant directe ad prelatos ecclesiarum. Fecit ergo27 deus duo luminaria etc., id est duas dignitates, id est duplex28 ius canonum et ius civile, quorum alterum altero prestat amminiculum29. Unde sicut leges non dedignantur sacros canones imitari, ita et sacrorum statuta canonum principum constitutionibus adiuvantur, ex. de nov. op. nunciat. Intelleximus (X 5.32.1). Utriusque autem scientiam legis30 scilicet et canonis tamquam gladios ancipites in manibus teneamus, diligenter31 inquiramus et exquisita diligentius conservemus, ne de incuria vehementer redarguendi32 de temeritate simus33 vehementius34 increpandi. Ecce dicit35, domine, duo gladii hic: unus materialis temporalis36 et legalis, alter canonicus et spiritualis. Sed queritur, cum utraque potestas instituta sit a domino, an altera dependeat ab altera? Et videtur quod neutra, immo quod imperator gladium non habeat a papa, ar. xcvi.d. Duo37 (D.96 c.10), ubi dicitur: Cum ad verum ventum est, ultra sibi38 imperator iura pontificatus non arripuit, nec pontifex nomen imperatorium usurpavit, quoniam idem mediator39 dei et hominum Christus40 Jesus actibus propriis et dignitatibus distinctis officia potestatis utriusque discrevit, xcvi. d.41 Cum ad verum (D.96 c.6). Idem dicitur x.d. Quoniam idem mediator dei etc. (D.10 c.8). Ergo imperator non habet 26 27 28 29 30 31 32 33 34 35 36 37 38 39 40 41
plus] plures M ergo] igitur L2 id est duplex] om. L2 amminiculum] anunculum M scientiam] legum praem. L2 diligenter] dilienter L1 redarguendi] arguendi L2 simus] simul M vehementius] frequentius L2 dicit] inquit L2 materialis temporalis] tr. L2 xcvi. d. Duo] om. L, xvi. d. Duo L2 sibi] igitur L2 mediator] commodiator L2 Christus] hoc praem. L2 xcvi. d.] xvi. d. L2
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gladium a papa. Item ad idem: duo sunt, imperator auguste, quibus regitur mundus, pontificalis auctoritas et regalis potestas, xcvi.d.42 Duo (D.96 c.10), ergo etc. Item exercitus facit imperatorem, id est principes, qui presunt exercitui, xciii.d. Exercitus (D. 93 c.24), ergo etc. Item due sunt persone43, quibus regitur44 mundus, regalis scilicet et sacerdotalis. Sicut reges presunt in45 causis seculi, ita sacerdotes in46 causis dei. Regum est corporalem irrogare penam, sacerdotum spiritualem vindictam inferre. David enim47 ex regali unctione prophetis preerat in48 causis seculi, ii. q.vii. Due ergo persone (C.2 q.7 c. 41 §3 Gr.p.). Item ante fuit imperium quam sacerdotium, ergo etc. Preterea quomodo potuit Constantinus posteros imperatores obligare, qui temporalia contulit ecclesie, cum non habeat imperium par in parem, qui beato Petro et successoribus eius sedem imperialem reliquit et concessit, xii. q.i. Futuram (C.12 q.1 c.15). Item49 papa non videtur habere iurisdictionem in temporalibus, nisi forte ratione peccati, nam ratione peccati quilibet sortitur forum ecclesie, ex. de iud. Novit (X 2.1.13). Ergo cum imperator habeat gladium temporale sicut papa spirituale, non habet gladium suum a papa50. Contra: unum est tantum corpus ecclesie, ergo unum tantum51 caput spiritualem52 habere debet. Monstrum enim53 et contra naturam esset unum corpus duo habere54 capita, xcvi. Cum ad verum (D.96 c.6), ergo papa habet utrumque. Item dominus utroque gladio usus est et deus beatum Petrum vicarium suum constituit, ergo ei utrumque gladium commisit, xcvi.d. Cum ad verum55 (D.96 c.6), ergo etc. Item dominus56 Petro terreni et celestis imperii iura commisit, xxii.d.57 Omnes (D.22 c.1), ergo etc. Item Moises utrumque gladium exercuit, cuius successor est apostolicus, ergo etc. Item iudex imperatoris est papa, quia electionem 42 43 44 45 46 47 48 49 50 51 52 53 54 55 56 57
xcvi. d.] xxvi. d. L2 sunt persone] tr. L2 regitur] exigitur M in] om. M in] om. M enim] ergo L2 in] om. L2 Item] Nam M sicut papa spiritualem, non habet gladium suum a papa] non habet gladium sicut papa M tantum] om. M spiritualem] om. L2 enim] autem L2 duo habere] tr. L2 Cum ad nostram] M dominus] deus M xxii. d.] xxvi. d. L2
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eius confirmat vel cassat, ex. de elect. Venerabilem (X 1.6.34), item confirmatum deponit, xv. q.vi. Alius (C.15 q.6 c.3), ubi dicitur, quod Zacharias papa regem Francorum non tam pro suis iniquitatibus, quam pro eo, quod tante potestati erat inutilis, a regno deposuit et58 Pipinum, patrem Karoli, in eius loco substituit. Ergo imperator ius gladii habet a papa. Item fidelitatem ei facit et iurat, lxiii. d. Tibi domino (D.63 c.33): „Johanni pape ego Otto promittere et iurare facio per patrem et filium et spiritum sanctum etc.“59, ergo etc. Item imperator dicitur filius ecclesie60, non ergo caput, xxiii. q.viii. Convenior (C.23 q.8 c.21). Item ipse est advocatus61 ecclesie et defensor, ut dicitur ex. de elect. Venerabilem (X 1.6.34), non ergo patronus, sed comparatur tutori, qui datur pupillo, ut ipsum defendat a vexationibus aliorum et appellatur tutor honoratus, ff. De solutionib. Quod si forte (D. 46.3.14). Solutio: quidam sic dicunt, quod papa habet ius utriusque gladii sicut et beatus Petrus, xxii.d. c.i. (D.22 c.1) et ar. ad idem i. q.iiii. Quia presulatus (C.1 q.4 c.5). Unde imperator ius gladii habet a papa et inde facit ei fidelitatem, lxiii.d. Tibi domino (D.63 c.33). Unde papa potest eum deponere a iure gladii et alium constituere, xv. q.vi. Alius (C.15 q.6 c.3). Ad hoc62, quod dicitur, quod63 pontifex sibi nomen imperatorium64 non usurpet, dicendum, quod verum est, expone65, quantum ad executionem gladii materialis, quod sibi66 non competit per se, sed per imperatorem exsequatur. Item ad aliud, exercitus facit imperatorem, expone67, id est, eligit eum, qui futurus est imperator. Ad hoc, quod dicitur, quod David preerat in causis68 seculi, dicendum, quod revera preerat quoad executionem gladii materialis, quam sibi papa non retinuit. Ad hoc, quod obicitur, quod ante fuit imperium quam sacerdotium, dicendum, quod falsum est, sicut satis69 patet in veteri testamento et in psalmo. Moises et Aaron in sacerdotibus eius70. Ecclesia enim cepit ab Abel. Numquam enim fuit ecclesia sine capite et sacerdotio vel vere vel figurative. Dicendum etiam, quod Constantinus non potuit obligare successores, dum tamen 58 59 60 61 62 63 64 65 66 67 68 69 70
et] om. M etc.] om. M dicitur filius ecclesie] filius ecclesie dicitur L2 est advocatus] tr. M hoc] autem add. L2 M Alius ... quod] om. M sibi ... imperatorium] nomen ... sibi L2 expone] et praem. M sibi] om. L2 expone] om. M, et expone L2 causis] casibus L1 sicut satis] quod M eius] et Samuel inter eos add. L2
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successores immediate contradicerent, quod utique non fecerint, sed potius per consensum ratificaverint, quod factum fuit, quia non contradixerint, sed modo nemo71 amplius potest contradicere72, quia73 ecclesia tuetur se74 temporis prescriptione. Dicendum etiam, quod papa non habet iurisdictionem in temporalibus directe, sed indirecte ratione peccati, ut75 dictum est, nisi forsitan76 vacante imperio, quia non est, qui tunc ecclesiam tueatur, ex. de foro compet. Licet (X 2.2.10) Hugo dicit, quod imperator a solo deo habet potestatem in temporalibus, papa vero in spiritualibus, et ante fuit imperium quam apostolatus. Alanus et Tancredus dixerunt, quod licet imperium a solo deo dicatur processisse, executionem tamen gladii recepit ab ecclesia. Ecclesia enim habet unum corpus etc. Argumenta inducunt, que habentur hic. Hoc ultimum dicit B(ernardus) et verius credo. Et notandum, quod papa maior est in executione gladii spiritualis quam imperator materialis, potest enim papa per excommunicationem cogere77 imperatorem, ut iuri pareat, lxiii.d. Valentinianus (D.63 c.3). Sed imperator in nullo casu potest ferre sententiam in papam, nisi forte de consensu78 cardinalium, si deprehensus esset de heresi. Potest enim semper excipiendo dicere: qui me iudicat, deus est, ix. q.iii. Nemo, Aliorum (C.9. q.3 c.13 und 14). Item que potestas precellit79 aliam, temporalis vel spiritualis? Solutio: Sicut aurum pretiosius est plumbo, sicut pontificalis auctoritas imperiali maiestate, xcvi.d. Duo80 (D. 96 c. 10). Item sicut anima pretiosior est corpore, sic spirituale temporali, xii. q. i. Precipimus (C.12 q.1. c.24). Item papa tam corpus potest81 afficere penis quam animam excommunicare82, xxiiii. q.iii. Si habes (C.24 q.3 c.1). Imperator vero non, nisi corporis habet potestatem. Unde dicitur83: Nolite timere eos, qui occidunt corpus, xi. q.iii. Nolite (C.11 q.3 c.86). Item notandum, quod alia est pena gladii materialis84 ut membri truncatio, mors, deportatio in exilium, proscriptio, 71 72 73 74 75 76 77 78 79 80 81 82 83 84
nemo] om. L2 potest contradicere] tr. M quia] quod L2 tuetur se] tr. L2 ut] sicut L2 forsitan] forte M per ... cogere] cogere ... executionem M de consensu] de om. L2, in casu de consensu M precellit] precellat L1 Duo] om. L2 potest] om. L2 excommunicare] excommuncatione L2 dicitur] om. L2 gladii materialis] tr. L2
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relegatio etc. Pena gladii spiritualis est interdictum, suspensio, excommunicatio, depositio, degradatio. Fecit ergo deus etc. Videndum ergo in hoc opere sicut in aliis, que utilitas huius operis, que materia, quis modus agendi, que causa suscepti operis et cui parti philosophie subponatur. Utilitas huius operis est diversis emergentibus causis, ut habeat lector unum85, certitudinem iuris accipat et formam. Materia est, circa quam versatur intentio, scilicet canonis conciliorum et decreta et decretales epistole Romanorum pontificum et auctoritas sanctorum patrum. Modus agendi dicetur infra, quia in quinque libros distinguitur. Causa suscepti operis est86, ut prudens lector advertat, quid ad iuris equitatem87, quid ad consilii utilitatem, quid causaliter, quid temporaliter, quid localiter tradatur, quid novum, quid vetus, que cui precellat auctoritas. Supponitur autem ethice88, id est morali scientie, unde dicit imperator: legibus nostris mores intendimus corrigere, C. De sec. nuptiis l.i. (C. 5.9.1), quia quicquid ignoscendo vel corrigendo agimus, hoc solum bene agitur, ut vita hominum corrigatur, xxiii. q.v. Prodest is (C.23 q.5 c.4). Ad cognitionem librorum legis et canonis notandum89, quod habent Instituta90 quatuor libros, Codex xii, Digestum quinquaginta et hii sunt libri legales. Decretum habet centum et unam distinctionem et xxxvi causas et91 de consecratione quinque distinctiones. Decretales habent quinque compilationes sive libros et hii libri92 dicuntur canon.
85 86 87 88 89 90 91 92
unum] operis praem. L2 est] om. L2 equitatem] executionem L2 ethice] hetice L1 M notandum] nota L2 habent Instituta] tr. L2 et] om. L2 libri] om. M
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B. Balduin von Brandenburg, Summa titulorum I.6 'LH%FKHU,,,,GHU6XPPHVLQGEHUOLHIHUWLQGHU+DQGVFKULIW*GDĸVN%LEOLRtheka Polskiej Akademii Nauk Ms. 1873; der Titel De electione et electi potestateHEGIYDYE'LH+DQGVFKULIW*GDĸVNMs. 1874, welche die Bücher IV und V enthielt, ist seit dem zweiten Weltkrieg verschollen. Zu Autor, Werk und Überlieferung vgl. Ertl, Balduin. In Petit-Druck die wörtlichen Übernahmen aus der Summa titulorum des Goffredus von Trani, der Glossa Palatina, der Glossa ordinaria sowie der Summa de poenitentia des Raimund von Peñafort. Die Wiedergabe des Textes beschränkt sich aufgrund der Länge des Titels auf die für die Untersuchung bedeutsamen Passagen. Nicht alle paläographischen Schwierigkeiten, insbesondere im Bereich der Allegationen konnten gelöst werden. Zur Interpretation des Textes vgl. oben III.2.
De electione et electi potestate Quia vero per postulationem venitur ad electionem, ideo post ipsam videndum de electione. Est ergo rubrica de electione et electi potestate. Videndum ergo, [Goffredus:] quid sit electio, qui possint eligere, quis possit eligi, que forma eligendi, infra quod tempus electio facienda, quis debeat electum confirmare, que potestas electi confirmati. […] De electione vero domini pape hic inserendum puto. Unde videndum a quibus et ex quibus et qualiter et quando sit eligendus. Agendus est autem a cardinalibus, ut xxiii.d. In nomine domini et lxxix.d. c.i. (D.23 c.1 und D.79 c.1). Et quod ibi dicitur, quod etiam a religiosis clericis et laicis eligatur, intelligendum est, ut vel electioni facte consentiant, lxiii.d. Cleri (D.62 c.26), vel si scisma timetur, ut scisma reprimant, lxiii.d. Quia sancta (D.63 c.28), vel loquitur de consuetudine, que olim omnes Romani electionem domini pape intererant cum legatis imperatoris, ut in c. Quia sancta et in c. Ego (D.63 c.28 und D.63. c.30), et habebant hoc imperatores ex privilegio, sed postmodum tali privilegio renunciaverant, ut lxiii.d. Constitutio (D.63 c.32) et c. [f.11ra] Tibi domino (D.63 c.33). Debet etiam eligendus in papatum assumi ex cardinalibus, lxxix.d. Oportebat (D.79 c.3). Nam de iure communi semper assumendus est prelatus de gremio ecclesie, c. Non pro defectu et xxiii.d. In nomine (X 1.6.41 und D.23 c.1), si idoneus in ea inveniatur. […] Et ita electus consecratur a tribus episcopis [f.11rb] cardinalibus, qui vice metropolitani funguntur, xxiii.d. In nomine domini (D.23 c.1). Nec tamen sunt maiores eo, cum etiam suffraganei consecrantes archiepiscopum sint ipso minores, lxxvi.d. c.i. (D.66 c.1). Consecratur autem cum
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missa et anteph. „Gloria in excelsis“ et postea sic consecratus missam incipit et perficit, ex. e.t. Quod sicud § Super eo (X 1.6.28 §1). Et sic consecratus in papatum habet plenitudinem potestatis ordinandi et dispensandi super omni dispensabili. Dispensabili dico, quia sunt quedam, circa que dispensare non potest, ut puta circa precepta et prohibitiones ewangelii et veteris testamenti et circa dicta apostolorum et quatuor conciliorum articulos fidei tangentia, xxv. q.i. Que ad perpetuam93 et c. Sunt quidam et c. Contra statuta (C.25 q.1 c.6 und c.7.), eo, quod statuta fidei firma debent permanere, xv.d. Sicut sancti (D.15 c.2). [Glossa Palatina:] Etiam si omnis ecclesia consentiret, nichil tamen contra articulos fidei statuere posset, immo et papa et omnes consentientes essent heretici, ar. [d.xv.] c. Sicut sancti (D. 15 c.2). Verum circa generalem statum ecclesie, puta de continentia clericorum non servanda vel alio consimili, posset aliud statuere, sed non solus ar. xi. Ecclesiasticarum (D.11 c.5) et xxiiii. q.i. Memor (C.24 q.1 c.10). In aliis autem, puta decimis, votis, iuramentis etiam solus dispensare potest et etiam contra apostolum, xxxiiii.d. Lector (D.34 c.18). Credo ergo ea iura et sola inmutabilia et indispensabilia esse, que in preceptorum generalium iuris naturalis et prohibitionum necessitate consistunt sive ad ius naturale concretum hominibus pertineant sive ad ius divinum consistens in iustificationibus, ubicumque huiusmodi precepta legantur aut prohibitiones. Omnia enim alia mutabilia sunt. Quia, quod in eis consilii est, potest precipi, sicut est hodie de continentia clericorum. Quecumque fuerit consilii, nunc est precepti. Et quod permissum est, potest prohiberi, ut vinum bibere, carnes comedere. Et quod dicitur de voto, quod est iuris naturalis et sub generali precepto secundum illud „Vovete et reddite“, id est: si voveris, redde. Quod circa ipsum possit dispensari, ibi inproprie [f.11va] accipitur verbum dispensandi, cum voventi iniungi debeat satisfactio, que pro solutione habenda est, ff. de solut. l. Satisfactio (D. 46.3.52), et recompensatio melior et deo magis accepta. Et ideo transgressor voti non erit, qui illud in melius commutat. Immo videritur omnia vota, quamdiu non fuerint iuris solempnitate vestita, pertinere ad claves ecclesie. Quibus clavibus permittitur, quod in crimine occulto alicui potest in penitentia iniungi inchatio, abstinentia, peregrinatio et elemosinarum largitio et similia. Idem dico de iuramento, quo quis deo tamen obligatur, secus si homini obligatur, cum effectum. Sed circa continentiam forte non ita, quia res tantum voti est, non precepti. Quod autem ea, que ad generalem statum ecclesie pertinent, mutari possint, patet. Omnia enim statuta sunt ab ecclesia Romana, xxii.d. 93
C.25 q.1 c.3.
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Omnes (D.22 c.1). Sed quantum ad iurisdictionem, tanta est hodie eius potestas et auctoritas, quanta fuit beato Petro presidente, xix.d. Sic omnes (D.19 c.2), ergo sicut illa instituit. Sed videbitur decreto contrario mutare poterit, xxxv. q.i. Sententiam (C.35 q.9 c.6). Nulla enim constitutio papam ligare potuit, qui canonum custos est et magister, xxiii. q.i. Cum quibus (C.23 q.1 c.36), nec aliquis antecessorum suorum, cum non habeat par in parem imperium, ex. de elect. Innotuit (X 1.6.20). Et nichil magis congruit equitati naturali quam unumquidque eo genere dissolvi, quo colligatur, ff. de reg. iur. l. Nichil (D. 50.17.35). Non tamen nego, quantum multa sint in iuro positivo, que in ius naturale transierunt, ita ut etiam intelligantur esse precepta iuris divini. Et si possent ab aliis discerni, dicerem plane, quod circa illa non haberet locum aliqua mutatio. Sed, que illa sint, in hac vita sciri non possunt nisi per revelationem. Sicut enim ius naturale transit in ius positivum, cum illi formam praestat (?), sicut cum de consilio iuris naturalis fit in iure positivo preceptum et de permissione prohibitio. Ita et ius positivum in ius potest naturale converti, quando in tantum placet deo, sicut preceptum iuris naturalis. Quando autem hoc fiat, determinare [f.11vb] non possumus, sed quod transeat, non dubitamus. Unde, cum queritur, utrum papa possit in hoc vel in illo dispensare, puta ut contra hanc filii duorum fratrum, sicut lex concedit ff. de ritu nupc. (D. 23.2), et leviticus expresse non prohibet. R.: nescio, quia ignoro, utrum hec iustitia positiva, que hoc prohibet, in tantum deo placeat, ut transeat in preceptum et auctoritatem iuris naturalis. Et credo de multis, quod mutari non possint. Que tamen, si mutentur, pie crederem esse mutata. Undequam ius pape non liceat de iure divino, quod fieri non potest salva caritate mutare, licet tamen ei ex iurisdictione, id est, si fecerit factum, habebit in iure effectum. Sciendum ergo, quod dispensare potest papa et etiam quilibet episcopus et sunt duo, que inducunt dispensationem, videlicet necessitas et utilitas, i. q.vii. Et si illa (C.1 q.7 c.23), quecumque alia sunt, ad ista reducantur. Si predicta duo affuerint, fiat dispensatio, nisi tunc enormitas aliud inducat, ut i. q.i. Erga (C.1 q.1 c.110), prohibetur. Ergo dispensatio in enormibus debetur in necessitatibus l.d. Ut constitueretur (D.50 c.25), permittitur in utilitatibus, lvi.d. Omnia apostolicus (D.56 c.?). Sunt autem isti casus, in quibus dominus papa dispensat, puta eum eo, qui se scivit excommunicatum et factum, pro quo fuit excommunicatus, similiter bene scivit, et sic in contemptum clavium sacrum ordinem suscepit. Talis, si fuerit persona secularis, perpetuo ab executione ordinis sic suscepti et officii est suspensus, nisi cum ipso per sedem apostolicam fuerit dispensatum. Sed cum persona religiosa facilius dispensat. Item cum eo, qui se excommunicatum meminit, sed factum, pro quo in canonem late sententie cecidet, non recolit. Item cum eo, qui factum
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scivit, quod secum traxit excommunicationem, sed iuris ignorus non credidit exinde teneri se et sic ordinem sacrum recepit. In hiis duobus casibus, si religionem intraverint iniuncta et peracta penitentia, poterit cum tali propositus, abbas dispensare, nisi tunc esset factum grave et notabile, puta sanguinis effusio aut membri [f.12ra] mutilatio aut in episcopum vel prelatum manumissio aut presumptio contra ignorantem et obliviosum. Hos tres casus habes ex. de sen. excomm. Cum illorum (X 5.39.36). Item cum religioso, qui clericum percusserit secularem, ut in c. Cum illorum (X 5.39.36). Item cum apostata in seculo promoto, ex. de apost. Consultationi (X 5.9.6). Secus, sed ad aliam religionem quis transiret et ibi ordinem reciperet et contingeret ipsum ad primum ordinem redire non intelligeretur ordinatus in apostasia, sed potest sine dispensa in suscepto sic ordinem ministrare ex. de temp. ord. Ex parte (X 1.11.10). Maxime sed ad ordinem transiverat altiorem secus forte si ad minorem. Item cum clerico scienter per saltum promotu ac a sensu contrario, ex. de cler. per salt. promo. c. uno (X 5.29.1). Ibi enim quidam non habuit conscientiam, quod per saltum promotus esset, facta fuit sibi ex verbis aliorum et licet episcopus in tali casu dispensare potuisset, consultus mandat papa, ut ipsum permittat ministrare, ergo si ex certa scientia promotus fuisset per saltum, solus papa dispensasset. Item cum clerico interdicto, supenso vel excommunicato scienter celebrante, ex. de cler. excomm. Clerici (X 5.27.3), et est expressum in constitutione domini Innoc. iiii. ex. De sen. excomm. Cum eterni et c. Cum medicinalis (VI 5.11.1). Item cum iniuste deposito ab omnibus ordinibus siveque cum degradato, ut suo restituatur officio, ii. q.vi. Ideo huic (C.2 q.6 c.17). Si quis iniuste depositus esset, puta per falsos testes aut per falsa instrumenta convictus, tunc si innocens inventus fuit, potest per episcopum vel episcopos in secunda sinodo restitui et secundum hoc intellige xi. q.iii. Episcopus presbiter (C.11 q.3 c.65). Ideo dixi ab omnibus ordinibus, quia si episcopus cum aliis episcopis aliquem deposuerit a sacerdotio, tantum potest ipsum recipere in inferioribus ordinibus. Similiter intellige, si depositus fuerit a diaconatu et aliis, ar. xv. [f.12rb] q.viii. Qui amiserit et c. Si quis presbiter (C.15 q.8 c.1 und c.4). Item cum clericis, qui receptatores, credentes et defensores et fautores hereticorum, qui postquam de hoc notati fuerint et infra annum se non expurgaverint et satisfecerint, ad sacramenta et ecclesiasticam sepulturam receperunt aut eorum oblationes et elemosinas susceperunt, ut ad officia sua restituantur, ut ex. de heret. Excommunicamus itaque § Sane clerici (X 5.7.13). Item cum illis, qui in subversione fidei ab hereticis ordinem receperunt, q.viii. Convenientibus in fi. (C.1 q.7 c.4). Item cum rebaptizatis scienter, si laici fuerint, ut promoveantur, vel si clerici fuerint, ut officia sua exequantur, de cons. d.iiii. Qui bis et c. Eos quos (de cons. D.4 c. 117 und 118). Item cum illis, qui iterata unctione fuerint maculati, id est iterato ordinati ut i.
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q.ult. Saluberrimum in fi. (C.1 q.7 c.21). Item cum simoniaco scienter in ordine i. q.i. Erga et ex. De sim. Si quis ordinaverit (C.1 q.1 c.110 und X. 5.3.45). Ibi dicitur, quod qui ordinatur data promissione vel iuramento, quod ordinatorem suum vel presentatorem suum super provisione sui non inquietaret, quod simonia est et per solum papam cum tali dispensandum. Item cum electo simoniace ad episcopatum vel aliam dignitatem seu personatum, etiam episcopo ignorante nec ratum habente, ut in eadem, ad quam sic electus est, permaneat, ut ex. de elect. Si alicuius (X 1.6.59). Si tamen talis postea ad aliam dignitatem eligeretur, posset episcopus dispensare, ut ibidem dicitur „ibi illa vice“. Dicunt tamen quidam, quod si talis statim postquam intellexit, se taliter electum ante motam sibi questionem sponte renuntiaret, posset cum tali episcopus dispensare, quia hoc in illo c. non prohibetur, quod in eo casu, quando post motam questionem per sententiam electio reprobatur, quod colligitur ex eo, quod ibi ponitur „reprobari contingerit“. Item, ut quis [f.12va] episcopus possit plures ordines sacros uno eodemque die conferre, ex. de temp. ord. Dilectus filius (X 1.11.15). Item cum clerico vel monacho studente in physica vel legibus, ut promoveatur, ex. ne clerici vel monachi Super specula et c. Non magnopere (X 3.50.10 und 3.50.2). Quidam tamen istud intelligunt de monachis tantum et non de clericis et dicunt, quod episcopi cum clericis dispensare possint, ut promoveantur. Et quod dicitur pena extendi ad clericos, dicunt verum esse quoad sententiam excommunicationis, quam incurrunt ipso facto, si infra duorum mensium spacium non resipiscant et quoad hoc, quod in nulla causa eorum patrocinium admittatur, sed non quoad promotionem. Item ut quis eligatur ad proximo vocaturam contra concilium Lateranensem, ex. de preb. (X 3.5). Item, ut quis in eadem ecclesia possit habere plura beneficia, ex. de concess. preb. Litteras (X 3.8.9). Item ut quis possit habere plures dignitates aut personatus, sive curam habeant animarum sive non, ex. de preb. De multa in fi. (X 3.5.28). Item cum non legittime nato, ut possit habere dignitates, personatus aut beneficia curam animarum habentia, ex. de fil. pres. c. ult. (X 1.17.18). Etiam si religionem ingressus bene vixerit, prelationem tamen sine dispensatione domini pape habere non poterit, ex. de fil. pres. c.i. § Prelationem vero (X 1.17.1). Item cum filio clerici etiam legitimo, ut patri inmediate succedere possit in beneficio, ex. de fil. pres. Dilectus (X 1.17.17), maxime in quo pater fuit prelatus aut perpetuus vicarius, ex. de fil. pres. Constitutus (X 1.17.8). Item ut una ecclesia duobus presbiteris conferatur, xxi. q.ii. c. penult. (C.21 q.2 c.4). Item cum bigamo, ut etiam in minoribus ordinibus promoveatur, ar. ex. de bigam. Super eo (X 1.21.2). Item cum eo, qui simplex beneficium per se vel pre alium scienter simoniace est adeptus, ex. de sim. De regularibus (X 5.3.25). Item cum monachis et aliis religiosis, ut proventus ecclesiarum ad eorum presentationem pertinentium
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in suos usus convertere valeant, ex. de supp. neglig. prel. Sicut (X 1.10.2), ibi enim solus episcopi concessio non sufficit, ex. donat. Pastoralis (X 3.24.7). Item cum eo, qui minor est xxv annis, ut ad honores promoveatur, ex. de elect. Nichil est (X 1.6.44). Ibi enim punitur [f.12vb] graviter, qui hoc fecerit, et ita per consequens episcopis dispensatio prohibetur, nam legitime factum penam non meretur, C. ad legem Iuliam de adult. l. Gracchus (C. 9.9.4). Item cum electo de factum etatis patiente, C. de hiis qui ven. etatis impet. l.ii. (C. 2.44(45).2). Item cum homicida, l.d. Miror (D.50 c.4). Item cum clerico, qui alienum expetit iudicium, puta de episcopo suo vel alio prelato querelam faciens apud principem vel alium iudicem secularem, ut xxi. q.iiii. Si quis episcopus (C.21 q.5. c.5). Item super voto terre sancte solus papa dispensat, ex. de vot. Ex multa (X 3.34.9). Effectus dispensationis est, ut quumque pena infligenda non infligatur, ut l.d. Studeat et c. Clericum (D.50 c.39 und ?), uumque ut inflicta remittatur, xxxii. q.ii. Si quis (C.32 q. 2 c.?), quandoque, ut inhibitum conferatur vii. q.i. Petisti (C.7 q.1 c.17). Et ita patet, quod [Raimund:] dispensatio est iuris relaxatio facta cum cause cognitione ab eo, qui ius habet dispensandi. Et ita patet, quod non sufficit, quod ius probet secum dispensatum esse, nisi probet secum dispensatum a tali, qui dispensare potuit. Et ita etiam patet, quod aliud est dispensatio, aliud rigor et aliud ius. Rigor enim est iuris excessus et quedam austeritas94 ad terrorem facta et secundum hoc intellige, quod dicit canon, quod penitentia sit illi imponenda, qui secundas nuptias contraxerit, xxxi. q. i. Hac ratione (C.31 q.1 c.9), et quod communio non sit danda, nisi in fine, illis, qui in accusatione clericorum defecerint, ii. q.i.95 Si quis episcopum (C.2 q.3 c.4). Et iste rigor non est servandus, nisi ubi exemplum mali timetur, xlv.d. Sed illum (D.45 c.17). Rigor tamen quandoque idem est, quod subtilitas iuris, ex. de rest. spol. In litteris (X 2.13.5). Ius vero medium est inter rigorem et dispensationem.
Et dicitur dispensatio quasi „diversa pensare“ eo, quod qui vult dispensare, debeat diversa pensare, videlicet tempus, causam, personas, utilitatem vel necessitatem et multa alia, videlicet etatem, multitudinem, potentiam, scandalum, merita, scientiam, ignorantiam et similia, ar. i. q.vii. § Nisi [f.13ra] rigor (C.1 q.7 c.5 Gr.p.). Si tamen is, qui dispensare potest, ex propria voluntate contra utilitatem et citra necessitatem dispensat vel ius speciale constituat, tenet constitutum et ius est, licet iniquum, ff. quod quisque iur. l.iii. § Si quis ius iniquum impetraverit (D. 2.2.3). Sciendum etiam, quod sunt quedam alia, que dominus papa in privilegium speciale sue potestati reservavit, videlicet auctoritas concilium 94 95
austeritas] auctoritas R q. i.] q. iii. R
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generale celebrandi, ut xvii. d. per totum et ex. de elect. Significasti (X 1.6.4). Item statutum concilii generalis interpretandi xvii.d. Nec licuit (D.17 c.4). Quia eius est interpretari, cuius est condere, ex. de sen. excomm. Inter alia (X 5.39.31). Item maiores ecclesie causas diffiniendi, ut ii. q.vi. Omnis oppressus (C.2 q.6 c.3), puta questio fidei, xii.d. Preceptis alias apostolicis et xxiiii. q.i. Quociens, ex. de bap. Maiores (D.12 c.2 und C.24 q.1 c.12 und X 3.42.3). Item interpretatio iuramenti, ex. de elect. Venerabilem et ex. de iureiur. Quanto (X 1.6.34 und 2.24.18). Item dispensare in gradibus consanguinitatis, ex. de consang. Quia circa (X 4.14.6). Legatus enim in hoc dispensare non posset, ex. de transact. c. ult. (X 1.36.11). Item ad ipsum pertinet sedium mutatio, vii. q.i. Mutationes et ex. de translat. c.i. (C.7 q.1 c.34 und X 1.7.1) Item episcoporum translatio, ex. de translat. per totum (X 1.7). Item episcoporum cessio vel mutatio, ex. de transl. Inter (X 1.7.2). Item episcoporum renunciatio, ex. de off. leg. Quod translationem (X 1.30.4). Idem est de electo confirmato, qui nec renuntiare aut ad aliam ecclesiam se transferre potest sine licentia domini pape, ex. de transl. Inter (X 1.7.2). Item episcoporum depositio aut iuste depositorum restitutio, ii. q.vi. Ideo (C.2 q.6 c.17). Item episcoporum exemptio, xvi. q.i. Frater noster (C.16 q.1 c.52). Item ad ipsum pertinet unam ecclesiam alteri subicere, duos episcopatus unire et unum in duo dividere, ex. de off. leg. Quod translationem (X 1.30.4). Item ipse solus potest ipso die consecrationis sue ordines conferre, ex. de elect. Quod sicut (X 1.6.28). Item die dominico subdyaconum facere, ex. de temp. ord. c. i. et c. De eo (X 1.11.1 und 1.11.3). Item proximo vocaturam conferre, ex. de preb. Dilectus (X 3.5.27). Item de privilegio sedis apostolice cognoscere, ex. de iud. Cum venissent (X 2.1.12). Item onerosam consuetudinem tollere, ex. de regul. Exposuisti (X 3.5.33). Item monachum clericum secularem [f.13rb] percutientem absolvere, ex. de sen. excomm. Cum illorum § Quodsi clericum (X 5.39.32). Item incendiarium ab ecclesia nominatim denunciatum (?) absolvere, ex. de sen. excomm. Tua nos (X 5.39.19). Item manus violentas mittentes in clericum absolvere, xvii. q.iiii. Si quis suadente (C.17 q.4 c.29). Sed hoc possunt hodie legati cardinales, ubicumque fuerint, et alii legati non cardinales alias de latere domini pape missi in suis provinciis constituti et dumtaxat illos, qui de eorum sunt provinciis, ex. de sen. excomm. Ad eminentiam (X 5.39.20), secus de aliis legatis, ex. de off. leg. Excommunicatis (X 1.30.9). Hec omnia et hiis similia, quia meri imperii sunt, ff. de iurisd. om. iud. l. Imperium (Dig. 2.1.3), ideo generali commissione non transeunt, ff. de off. eius, cui mand. est iurisd. l.i. (Dig. 1.21.1), nam maiora non committuntur sine speciali mandato, ff. de procurat. l. Pomponius (D. 3.3.40). Et ideo legatus, quantumcumque generalis, ad ista non debet manum extendere, nisi ea sibi specialiter committantur, ut ex. de off. leg. Quod translationem (X 1.30.4).
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De electione episcoporum Habitum est supra de electione domini pape et eius potestate, videndum est nunc de aliorum episcoporum electione et potestate. […] Consecratus vero in episcopum per suam consecrationem consequitur omnia ea, que sunt ordinis episcopalis, ut puta clericos ordinare, crisma conficere, ecclesias et altaria consecrare, clericos deponere et virgines benedicere, ex. de elect. Quod sicut § [f.17vb] Preterea (X 1.6.28), et similia, puta signare baptizatos in fronte sive confirmare, solempniter penitentes reconciliare, in ecclesia consecrata altaria erigere et litteras dimissorias dare, ut lxviii.d. Quamvis et de cons. d.i. Nullus presbiter ii. et e. d.v. Non oportet (D.68 c.4 und de cons. D.1 c.25 und de cons. 5.37). Item inter subditos iudicare ix. q.iii. Per singulas ii. et xi. q.i. De persona (C.9 q.3 c.2 und C.11 q.1 c.38). Item anathematizare cum solempnitate, quam habes xi. q.iii. Debent (C.11 q.3 c.106). Item unam ecclesiam in duas dividere vel duas unire vel unam alteri subicere. Et ex causa eorum, quorum ius est requisito consilio, novas ecclesias erigere, ex. de excess. prel. Sicut (X 5.31.18), unire licet tiam non obtento, ex. de ecc. edific. Ad audientiam (X 3.48.3). Item episcopalem synodum celebrare, xxviii.d. Quanto (D.28 c.3), item revertentem ab heresi reconciliare, ex. de heret. Ad abolendam (X 5.7.9), item canonem etiam late sententie quoad sibi subiectos condere, iii. q.iiii. Nullus (C.3 q.4 c.6). Item litteras conmendatitias concedere, ex. de off. archid. Significasti (X 1.23.8). Et multa alia, que longum esset enarrare, cum ipse sit preordinator in omnibus, xxv.d. Perlectis (D.25 c.1). Propter huiusmodi enim ante consecrationem ecclesia vidua dicitur, ex. de transl. Inter (X 1.7.2), quod enim, que predicta sunt, a prelatis inferioribus pre.? non debent. Potestas autem episcopi est, quia ipse potest dispensare cum illo, qui simplex beneficium ignoranter simoniace adeptus est post liberam eius resignationem, ex. de elect. Si alicuius (X 1.6.59). Et dicitur beneficium simplex, quod non est personatus vel habens curam animarum. Ista enim ad paria iudicantur, ex. de fil. presbit. c.ult. (X 1.17.18), et in tali vacante sede bene dispensat capitulum, ex. de sim. Ex insinuatione (X 5.3.26). Et sunt quidam, qui dicunt, quod episcopus dispensare etiam potest cum illo, qui dignitatem ignoranter simoniace adeptus est, si postquam intellexerit, sponte resignet et petat humiliter suam resignationem admitti, ut eandem retineat, ut i. q.i. Presentium (C.1 q.1 c.?) et c. Quicumque (C.1 q.1 c.2). Sed, si in iudicio per contentionem hoc detectum fuerit, tunc illa vice non poterit dispensare episcopus cum ipso ad eandem. Sed si alia vice contingeret ipsum ca[f.18ra]nonice eligi ad eandem, tunc posset, ex. e. Si alicuius ibi (X 1.6.59). Illa vice ergo, non alia vice. Item cum eo, qui ignoranter ordinatus est ab excommunicato, ex. de ord. ab ep. qui ren. c. ult. (X 1.13.2). Item cum eo, qui ignoranter ordinatus est ab eo, qui
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renunciaverat loco et dignitati, ex. de ord. ab ep. qui ren. ep. c. i. in fi. (X 1.13.1). Item cum simoniaco in ordine, i. q.v. c. i.96 et ult. (C.1. q.5 c.1 und c.3), quoad hoc, ut in ordinibus ante simoniam rite susceptis valeat ministrare, ut ibidem. Item cum iuste deposito a sacerdotio quoad hoc, ut in minoribus ordinibus valeat ministrare, xv. q.viii. Qui admiserit et c. Si quis presbiter (C.15 q.8 c.1 und c.4). Item cum sacrilego, l. d. Si quis presbiter. Item cum scismatico, l.d. Ut constitueretur (D.50 c.22). Item in etate cum personis promovendis ad dignitates minores, ex. de et. et qual. Preterea (X 1.14.5), puta ut post annum xiiii, ex. de et. et qual. Indecorum (X 1.14.3). Item cum eo, qui inmodice97 etiam ex culpa sua corpore viciatus est98, ex. de cler. pugn. c. i. (X 5.14.1). Item cum eo, qui sibi fecit virilia amputari, quoad hoc, ut possit baptizare, cathezizare, predicare, penitentias99 iniungere et omnia alia, que ad officium sacerdotum pertinent, preterquam ad missam celebrandam, ex. de corpore vic. Significavit (X 1.20.4), ibi auctoritate nostra et tua fretus. Item ut quis habeat duo simplicia beneficia, ar. ex. de preb. De multa (X 3.5.28). Item in heresi, l.d. Presbiteros (D.50 c.32). Item cum promoto extra tempus ordinationum, ex. de temp. ord. Consultationi (X 1.11.16) . Et qui hoc tenent, intelligunt contraria, quando papa ad terrorem aliorum sibi talium dispensationem reservat, sed alii dicunt, talem ad solum papam mittendum, ex. de temp. ord. Cum quidam (X 1.11.8), eo, quod suus episcopus, qui enim extra tempus ordinavit, propter suum vicium cum eo dispensare non posset. Nec suus archiepiscopus, cum in subditos sui suffraganei auctoritatem non habeat. Item in omnibus votis aliis ab Ierosolimitano, ex. de vot. c.i. et c. Ex multa (X 3.34.1 und 3.34.9). Item in criminibus capitalibus occultis, l.d. De hiis vero (D.50 c.34). Item in minoribus criminibus: adulterio et periurio, ex. de iud. At si clerici (X 2.1.4). Et generaliter [Glossa ordinaria:] episcopus dispensare potest in omni casu, ubi non prohibetur, ar. [f.18rb] ex. de sen. excomm. Nuper (X 5.39.29) et c. A vobis (X 5.39.28). Et hec est communior opinio et sicurrunt [sic] in ea doctores magni: Hug(uccio)o, ut invenies l.d. Si quis presbiter (D.50 c.22), et Johannes (Teutonicus), ut notavit l.d. Miror (D.50 c.4), et Laurentius (Hispanus) et Vincentius (Hispanus), Bernardus (Parmensis), ut notavit super illud c. At si (X 2.1.4). Et secundum eos non habet locum argumentum a sensu contrario, ex. de iud. At si (X 2.1.4), quia, ut ex iam dictis patet, in multis criminibus, que maiora sunt adulterio, episcopis dispensatio est permissa. Alii dicunt, quod episcopus dispensare non potest, nisi ei inveniatur 96 97 98 99
c. i.] i. om. B. Korr. nach N inmodice] modice B, korr. nach N viciatus est] vic. c. i. et B, korr. nach N penitentias] pueros B, korr. nach N
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concessum, ex. de temp. ord. Dilectus (X 1.11.15) et ex. de transl. Inter (X 1.7.2). Alii vero distingunt ut Petrus de Samsone, an episcopus dispensare velit contra canones, qui irregularitatem inducunt. In primo casu non possunt, verbi gratia: Canones prohibent, ne quis uno die ordinetur ad plures sacros ordines. Hoc non est propter irregularitatem, sed ut interstitia temporum serventur, cum tali non est episcopo a canone dispensatio concessa, ex. de temp. ord. Dilectus (X 1.11.15). Item prohibitum est, ne episcopus de ecclesia ad ecclesiam sine licentia pape se transferat et hoc non est propter irregularitatem, sed quia papa hoc sibi in signum specialis privilegii reservavit, ex. de off. leg. Quod translationem (X 1.30.4). Ideo in hoc casu archiepiscopus cum suo suffraganeo dispensare non potest, ut ex. de transl. Inter corporalia (X 1.7.2). In secundo casu, puta si episcopus dispensare velit contra canones, qui irregularitatem inducunt, distingue, an irregularitas proveniat ex defectu an ex delicto. Si ex defectu, puta aliquis contraxit cum vidua repudiata aut corrupta aut habuit legitime successive duas uxores aut alias est bigamus, effectus tunc episcopus dispensare non potest, ex. de bigam. Super eo et c. Nuper (X 1.21.2 und 1.21.4). Si vero provenit ex delicto, iterum distingue, an ex proprio an ex alieno. Si ex proprio delicto, puta quia fecit adulterium aut periurium et huiusmodi in hiis inferioribus potest episcopus dispensare, ex. de iud. At si (X 2.1.4). Non autem in maioribus, quia, ex quo ei conceditur de minoribus, per consequens [f.18va] de maioribus denegatur, xxv.d. Generalis cum suis concordantiis (D.25 c.?). Si ex alieno delicto, tunc potest episcopus dispensare in maiori crimine quam sit adulterium, puta simonia, que maior est adulterio, ex. de sim. Per tuas, et tamen in ea dispensat episcopus, cum precedit ex alieno delicto, puta amicus tuus dedit pecuniam te ignorante alicui, ut daret tibi prebendam vel te ad ordines presentaret. Post liberam resignationem tuam potest tecum episcopus dispensare, quia in dignitate taliter acquisita tecum dispensare non posset, i. q.v. c.i. et ult. et ex. de elect. Si alicuius (C.1 q.5 c.1 und c.3 und X 1.6.59). De hoc dictum est supra. Si tunc queritur, quare episcopus dispensare possit contra canones, qui irregularitatem inducunt, et non contra illos, qui non inducunt, dico, quod hoc ideo est, quia in primis causa cessat prohibitionis, in secundis non, verbi gratia: Crimen est causa, quare criminosus prohibitur ordinari, sed per penitentiam peccator desinit esse criminosus, ergo cessante causa cessare debet effectus, ex. de appell. Cum cessante (X 2.28.60), ergo peccator post actam penitentiam potest ad pristina officia reparari, quia scriptum est: Age penitentiam et prima opera fac, l.d. Domino sancto et c. Ferrum (D.50 c. 28 und 18). Et ideo potest episcopus cum talibus post actam penitentiam dispensare, in aliis autem, quia numquam cessat causa, numquam potest episcopus dispensare. Privilegium enim Romane ecclesie numquam cessare potest et ideo contra ipsam et ea, que in signum privilegii
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specialis sibi retinuit, nullus dispensare potest. Et quod dicitur, quod episcopus in heresi dispensare potest, hoc hodie locum non habet, cum sint hodie incarcerandi, ex. de heret. c. penult. (X 5.7.15). Et illud, quod dicitur de sacrilegio, illud sacrilegium, de qua dicit canon, minus fuit adulterio. Item notandum, quod episcopus et quilibet sacerdos potest dispensare et mitigare canones plures, qui satisfactionem iniungunt pro peccato confesso, ar. de pen. d.i. Mensuram (de pen. D.1 c. 86), et ideo quilibet eorum tenetur ipsos scire, xxxviii.d. Que ipsis (D.38 c.5), non ut eos imitentur ex necessitate, quia penitentie sunt arbitrarie, xxvi. q.vii. Ipsa (C.26 q.7 c.?), sed ut ex eis habere valeant modum dispensandi. Sed circa illos canones, qui in enormibus criminibus penam suspensionis aut depositionis inducunt, mitigare vel dispensare non possunt ut l.d. Miror et xii. q.ii. De iuro et ex. de acc. Inquisitionis (D.50 c.4 und C.12 q.2 c.? und X 5.1.21).
C. Casus-Sammlung Labia Sacerdotis zur Summa decretalium des Heinrich von Merseburg Zur Überlieferung vgl. Kurtscheid, De Studio 197-201. Der Dokumentation liegt die Leithandschrift Berlin Staatsbibl. Ms. lat. fol. 171 [B] zugrunde (Vgl. Rose, Die Handschriften-Verzeichnisse Nr. 844). Es handelt sich um eine kanonistische Sammelhandschrift aus dem 15. Jahrhundert von hoher Textqualität, die Casus-Sammlung ebd. f. 1-33v. Zur Texterstellung wurde zudem Vat. Lat. 10068 [V] herangezogen. Zur Interpretation des Textes vgl. oben 281 ff. Incipit supplementum summule iuris fratris Henrici Merseburgh ordinis fratrum minorum. „Labia sacerdotis custodient scientiam et legem requirent ex ore eius, quia angelus domini exercituum est“, Malach. 2 (Ma. 2.7). Hic duo describuntur100, quae debent esse in sacerdotibus, scilicet perfectio scientie et sanctitas vite. Perfectio scientie, cum dicitur: labia sacerdotis etc., sanctitas vite, cum dicitur101: quia angelus domini etc. Sane quia102 ad hoc eliguntur, ut ceteris presint, sicut preordinantur dignitate, sic preeminere debent sanctitate, alioquin cur ceteris preferuntur, qui nulla103 gratia meritorum assumuntur, i. q.i Hii quoscumque revera (C.1 q.1 c.44). Talis enim debet eligi, cuius comparatione ceteri grex dicantur, xxv.d. Nunc 100 101 102 103
describuntur] scribuntur V dicitur] subiungiter V quia] qui V nulla] ulla B
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autem (D.25 c.3.Gr.p.). Debent etiam precellere scientia. Vilissimus enim reputandus est, qui alios precellit dignitate nec etiam precellat scientia et sanctitate, i q.i. Vilissimus (C.1. q.1 c.45). Unde qui doctior et sanctior est, est eligendus104, viii q.i. Licet ergo (C.8 q.1 c.15). Igitur ignorantia, cum sit mater cunctorum errorum, in sacerdotibus maxime est vitanda, xxxviii. d. c.i. (D.38 c.1). Et ideo bene dicit propheta: Labia sacerdotis custodiunt scientiam etc. Et quamquam eminens scientia semper est105 in prelatis desideranda, competens tamen est toleranda, ex. de elect. Cum nobis (X 1.6.19). Et tunc imperfectionem scientie supplere debet perfectio caritatis, ex. de renunt. Ne pro defectu (X 1.9.10). Porro sacerdotes triplicem debent habere scientiam: Primo debent habere scientiam secularum106 litterarum, secundo scientam sacre scripture, tertio scientam iuris canonici. Primo debent habere scientiam secularum107 litterarum, xxxvii.d. Sed econtra et c. Turbat (D.37 c.1.Gr.a. und c.8). Has autem habere debent propter tria: Primo, ut verum a falso possunt discernere, xxxvii.d. Si quis grammaticam (D.37 c.10); secundo, ut viam ad scientiam pietatis possint habere, id est ad theologiam, xxxvii. d. Cur ergo (D.37. 8.Gr.p.); tertio, ut officium suum possint exequi licite, quod sine litteris fieri non potest, quia substantia summi sacerdotii sunt eloquia divinitus tradita, xxxviii.d. Omnes et ar. xl.d. Sicut (D.38 c.6 und D.40 c.8) Item debent habere scientiam sacre scripture ut habetur108 xxxvi. d. per totum (D.36). Hanc autem debent habere109 propter tria: Primo propter huius scientie perfectionem. Hec enim est perfecta virtus et sapientia; quidquid alibi queritur, hic perfecte invenitur, xxxvii.d. Sed econtra (D.37 c.7 §2). Secundo propter heresis vitationem, quia dubius in fide, hereticus est, ex. de her. c.i. (X 5.7.1). Fides autem in sacra scriptura docetur, ex. de sum. tri. Firmiter et xxiii.d. Qui episcopus (X 1.1.1 und D.23 c.2). Tertio propter subditorum informationem ut xxxvi.d. Ecce (D.36 c.1). Item debent habere scientiam iuris canonici ut xxxviii.d. c.i. et Nullus (D.38 c.1 und c.4). Debent autem sacerdotes scire110 canones propter tria: primo, ne per ignorantiam contra eos offendant111, xxxviii.d. Placuit
104 105 106 107 108 109 110 111
est eligendus] tr. V est] sit V secularum] scholarium B secularum] scholarium B habetur] om. V debent habere] tr. V sacerdotes scire] tr. V offendant] defendant B
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(D.38 c.7), quia ignorantia in sacerdotibus nec excusatione est digna est112 nec venia, xxxviii.d. Si in laicis (D.38 c.7); secundo, ut se ipsos honeste regant, ex. de vit. et hon. cleric. per totum (X 3.1); tertio, ut penitentibus consulere sciant113. Quia, si sacerdotes ceci per ignorantiam aliis ducatum prebeant, ambo in foveam cadunt, xxxviii.d. Cum itaque et ex. de et. et qual. prefi. Cum sit ars artium (D.38 c.1 Gr.a. und X 1.14.14). Et ideo penitens querit sacerdotem, qui sciat ligare et solvere, de pen. d.vi. Qui vult (De pen. D.6 c.1). Nam propter ignorantiam sacerdotis potest subditus licite confiteri alteri quam proprio sacerdoti, de pen. d.vi. Placuit (De pen. D.6 c.3). Igitur „Labia sacerdotis etc.“ non dicit querunt, sed custodiunt, quia qui scientia carent, sacerdotes domini114 dici non merentur dici, xxxviii. d. Que ipsis (D.38 c.5). Scientiam, inquam, tam sacre scripture quam etiam iuris canonici quam etiam litterarum secularium115 sacerdotes scire debent. Defectus enim scientie impedit promovendum, xxxviii.d. Omnes (D.38 c.6), ubi inducitur illud Osee iiii: „Quia tu scientiam repulisti, repellam et ego te, ne sacerdotio fungaris michi“ (Os 4.6). Et hoc intelligitur de scientia sacre scripture, xxxvi.d. Illitteratus D.36 c.1), et de scientia iuris canonici, ar. xxxviii.d. Nulli (D.38.4), et etiam116 intelligitur de scientia secularum117 litterarum, ex. de et. et qual. prefi. c. ult. (X 1.14.15), ubi dicitur, quod quidam episcopus fuit depositus propter ignorantiam grammaticam, quia confessus fuit, se numquam legisse Donatum. Dicit ergo „labia sacerdotis etc.“, ut autem118 sacerdotibus pateat via ad scientiam iuris canonici. Ideo frater119 Henricus de Merseburgh120 de ordine fratrum minorum, quondam lector in Magdeburgh121, summam122 iuris canonici, quam pre manibus habemus, communi utilitati deserviens compilavit, ut prudens lector inveniat in ea, quid ad iuris equalitatem, quid ad consilii utilitatem, quid causaliter, quid localiter tradatur. Et ex hoc patet causa efficiens et intentio auctoris. Causa materialis est, 112 113 114 115 116 117 118 119 120 121 122
est digna] tr. V consulere sciant] tr. V domini] om. B secularium] scholarium B etiam] non B secularium] scholarium B autem] ergo V frater] om. B Henricus de Merseburgh] Hinricus de Merseborch B Magdeburgh] Magdeborch B summam] summulam V
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circa quam versatur intentio auctoris123, et hec sunt canones, decreta et decretales epistole Romanorum pontificum. Causa formalis est duplex, quia duplex est forma, scilicet forma tractatus et forma tractandi. Forma tractandi est modus agendi, qui est multiplex, scilicet diffinitivus, diversivus124, probativus, improbativus et exemplorum positivus. Sed iste ultimus modus non est de necessitate artis, sed utilis propter addiscentes, quia exempla ponimus, ut sentiant, quod addiscant. Forma tractatus est divisio libri in quinque libros partiales et librorum partialium in titulos et titulorum in alias partes, ut in125 divisione libri postea patebit. Causa finalis est cognitio iuris canonici, ut diversis casibus126 emergentibus scire possit lector, qualiter se regere127 debeat tam in foro causarum quam conscientiarum. Supponitur hec scientia ethice, id est morali scientie, quia dicit imperator: legibus nostris intendimus mores corrigere, C. de sec. nupt. l.i. (C. 5.9.1), et canon dicit: sive plectendo sive ignoscendo hoc solum128 bene agitur, ut vita hominum corrigatur, xxiii. q.v. Prodest (C.23 q.5 c.4). Nota, sicut duo sunt, ex quibus componitur homo129, scilicet corpus et anima, sic due sunt in ecclesia dignitates, scilicet pontificalis auctoritas et regalis potestas, ex. de maior. et obe. Solite (X 1.33.6). Ex his duobus iura prodierunt. Papa enim est conditor canonum, sed imperator est conditor legum. Ad cognitionem autem librorum legis et canonis sciendum, quod libri legales continent instituta, codicem, digestum novum et vetus, autentica. Instituta habent quatuor libros et hii sunt introductorii in alios libros130, et quilibet illorum dividitur per titulos et tituli per leges et leges per paragraphos. Item utrumque digestum continet statuta Romanorum et habet quinquaginta libros et eodem modo dividitur quo et131 instituta. Codex continet statuta imperatorum et habet xii libros et simili modo dividitur. Autentica sunt quasi quedam132 excerpta vel summula istorum133 et iste liber dividitur per titulos et tituli per paragraphos et paragraphi per collationes. 123 124 125 126 127 128 129 130 131 132 133
auctoris] om. B diversivus] divisivus B in] de V casibus] om. B regere] habere V solum] om. B componitur homo] corpore hominis V libros] om. B et] om. B quedam] om. B istorum] illorum V
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Libri vero iuris canonici continent decretum et decretales. Decretum habet tres partes. Prima pars habet centum et unam distinctiones. Secunda pars habet134 xxxvi causas. Tertia pars de consecratione et habet quinque distinctiones. Prima pars dividitur in distinctiones, distinctiones in capitula et hec interdum in paragraphos. Secunda pars dividitur in causas, et cause in questiones et questiones in capitula et hec interdum in paragraphos. Nota tamen, quod xxxiii. causa habet quinque questiones et tertia questio huius cause subdividitur in septem distinctiones de penitentia. Et hee distinctiones subdividuntur135 in capitula et in paragraphos. Ultima pars de consecratione dividitur in quinque distinctiones et hee distinctiones subdividuntur in capitula et paragraphos. Ubicumque ergo ponitur absolute distinctio prima vel secunda vel huiusmodi, queratur in prima parte decreti. Ubi additur de pen. dist. tali vel tali, queratur sub tertia questione xxxiii. cause. Ubi vero agitur de cons. dist. tali vel tali, queratur in ultima parte decreti. Decretales autem dividuntur in quinque libros et hii subdividuntur in titulos et hii in rubricas et hee interdum in paragraphos. Nota differentiam inter canonem, decretum et decretales. Canon proprie dicitur, quod in generali concilio auctoritate multorum episcoporum est statutum. Decretum dicitur, quod ad nullius consultationem dominus papa de consilio cardinalium statuit et in scriptis redegit. Decretalis dicitur epistola, quam papa ad consultationem alicuius vel solus vel cum consilio cardinalium rescribit. Indifferenter tamen canones, decreta et decretales canones appellantur. His visis ad litteram accedamus: sicut dicit lex Codicis. Cum summam Heinrici fratribus legerem et quosdam casus lectioni intersererem, quos136 textus eiusdem summule non habebat, fratres multimodis precibus ac importunis instantiis me rogaverunt, ut eosdem casus brevibus verbis137 et simplicibus annotarem, quatenus fratres simplices ad planiciem138 eorundem casuum pro expediendis penitentium perplexitatibus recurrerent, qui non possent se ac confitentes139 sibi in latebrosa silva iuris canonici ad liquidum expedire. Et quamvis hunc laborem tum propter defectum scientie tum propter defectum virium corporalium teste conscientia subire formidarem, nimia fratrum devictus instantia et charitate Christi, cuius oculi imperfectum meum viderunt, 134 135 136 137 138 139
habet] om. B subidividuntur] dividuntur V quos] quorum V brevibus verbis] tr. V planiciem] planificationem V confitentes] penitentes B
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me compellente fratrum devotioni, censui annuendum magis deserviens communi utilitati quam private, quippe cum publica utilitas preferenda sit private, ut habetur vii. q.i. Scias (C.7 q. 1 c.35). Igitur de textu decretalium et decretorum et de summis ac apparatibus plurimorum140 magistroum famosorum ac valde nominatorum in iure canonico cum magno labore et crebris vigiliis casus quosdam141, prout potui, collegi et certis titulis, prout eorundem materie mihi magis videbatur congrue142, annotavi. Porro casus illos, que in textu eiusdem summule habebantur, non posui, ut ostenderem casus, quod quosdam adieci non sunt in eiusdem summule supplementum, plurimosque casus de diversis titulis voluntarie obmisi, quia intentionis mee fuit solum communiores casus explicare, precipue illos, que simplicibus confessoribus143 utiles esse possunt sive in confessionibus audiendis aliorum144 sive pro conscientiis propriis servandis. Sane, ubi145 circa eundem casum diversi diversa opinantur, ibi opiniones singulorum explicare nolui, sed sufficit mihi pro conscientia mea ibi opinionem unius magistri autentici146 cum ipsius nomine ponere, ut qui opiniones aliorum magistrorum defendere voluerint, mihi non detrahant nec contra me disputent, sed contra auctorem illius opinionis, cum quedam hic ponam non sententiando, sed aliorum opiniones simpliciter recitando. Rogo te, quicumque istud legeris, ut oculo pio perspicias diligentique studio discutias ac benigno animo corrigenda corrigas et emendas et compilatoris animam deo devotis precibus recommendas.
140 141 142 143 144 145 146
plurimorum] plurium V casus quosdam] tr. V videbatur congrue] tr. V confessoribus] fratribus V aliorum] om. B ubi] om. B. autentici] magis praem. V
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Namen- und Sachregister A Abraham 46, 352 Academic medievalism 30 Academic medievalist 29 Adam de la Halle 204 Adorno, Theodor W. 384 Aegidius Romanus 139 Aelred von Rievaulx 197 Aertsen, Jan 265 Akkon 82, 172 Alanus 148, 149, 154, 221, 290, 394 Alanus von Lille, Alanus ab Insulis 81, 289, 291, 297 Albertus Magnus, Albert der Große 18, 118, 180, 205, 207, 297, 370 Albert von Stade 205, 206, 207, 208, 320, 344 Aldebrandin de Sienne 119 Alexander III., Papst 338 Alexander von Bremen (Alexander Minorita) 320, 332, 333, 344 Alexander von Hales 104, 118, 130, 179, 180, 297, 370 Alpert von Metz 198 Anselm II. von Lucca 134 Anselm von Havelberg 62, 90 Anticlaudianus 290 Antifraternalismus 64, 67, 68, 70, 73 Antonius von Padua 100 Apokalypse 332, 333 Apologia Actoris 316, 323 Apologia pauperum 188 Apulien 172, 209 Arbeitsethik 19, 37, 215, 233, 380, 385, 386 Arbeitstheologie, Theologie der Arbeit 19, 212, 224, 226, 227, 231, 237, 240, 248, 251 Aristoteles 227 Aristotelesrezeption 189, 263 Armut 45, 55, 61, 64, 68, 69, 90, 93, 94, 97, 103, 122, 129, 166, 169, 174,
177, 180, 191, 212, 213, 229, 231, 243, 244, 245, 247 Artes liberales 77, 78, 105, 210, 216, 289, 310 Artes mechanicae 216, 217, 223 Askese 27, 38, 63, 64, 103, 166, 303, 362, 372, 373, 385, 386 Ästhetik des Hässlichen 268 Augsburg 205, 331, 347 Augustiner-Eremiten 68 Augustinus 89, 217, 239, 307 Augustus, Kaiser 335, 336 Austausch von Büchern 12 Avaritia 48, 238
B Babylon 198, 200, 210, 211, 212, 341 Baethgen, Friedrich 329 Balduin von Brandenburg 11, 107, 151, 154, 155, 157, 158, 159, 160, 161, 162, 163, 164, 165, 178, 194, 195, 396 Bartholomäus Anglicus 10, 11, 106, 120, 121, 122, 123, 124, 130 Bartholomäus Vincentius 119 Beichte 19, 40, 41, 42, 55, 59, 60, 66, 88, 93, 110, 114, 177, 178, 182, 194, 252, 254, 272, 273, 274, 275, 276, 277, 279, 282, 283, 284, 285, 287, 288, 294, 297, 351 Beichtsumme, Bußsumme, Summa confessorum 11, 40, 41, 42, 153, 161, 241, 277, 278, 279, 280, 281, 284, 287, 289, 296, 297, 298, 351, 355 Bellatores 223, 224 Benedikt von Nursia 47, 50 Benencasa von Arezzo 136 Bernard Bessa 118 Bernhard von Clairvaux 47, 79, 117, 118, 137, 197, 198, 210, 211, 218, 239, 254, 268, 269
490
Namen- und Sachregister
Bernhard von Parma (Bernhardus Parmensis) 152, 163, 164 Bernhard von Pavia 152, 155, 156 Berthold von Regensburg 11, 105, 113, 114, 115, 116, 211, 228, 229, 230, 231, 232, 233, 234, 235, 236, 237, 238, 240, 247, 259, 260, 276, 277, 292, 347, 386 Bettelordensstreit 64, 71, 108 Bettlerspiegel 244 Bibelexegese 62, 66, 91, 238, 317 Black, Antony 255, 256 Boccaccio, Giovanni 68, 76 Bologna 76, 96, 104, 105, 107, 115, 141, 373 Bonaventura, Giovanni di Fidanza, doctor seraphicus 54, 55, 56, 92, 93, 100, 103, 106, 108, 113, 114, 124, 178, 180, 181, 183, 188, 189, 190, 191, 193, 194, 222, 223, 224, 227, 229, 235, 239, 242, 245, 262, 297, 319, 320, 339, 382 Bonifatius 75 Bonifaz VIII., Papst 138, 139, 141, 142 Bredekamp, Horst 268, 269 Brunfels, Otto 38 Buch der Könige 11, 352, 353 Burckhardt, Jakob 266, 267
C Caesarius von Heisterbach 64 Calvin 43 Calvinismus 26, 43 Cambridge 104, 105, 255 Casus ad summam Henrici 281 Cato Censorius 307 Chaucer, Geoffrey 68 Chiliasmus 90 China 180 Chretien de Troyes 201 Christianisierung 22, 23, 75, 82, 365, 371, 372 Civitas Dei 197, 211, 314 Civitas terrena 197, 314 Clemens IV., Papst 124, 178, 328 Constitutiones Narbonenses, Konstitutionen von Narbonne 103, 108 Corpus Christi 80 Cronica minor Minoritae Erphordensis 11, 335, 336, 337, 339, 361
D David von Augsburg (siehe David of Augsburg) 11, 38, 105, 118, 292, 293, 295, 296, 298, 299, 300, 301, 304, 305, 348, 355 Dechristianisierung 22 De electione 155, 164, 396 De electione, Summa 155, 156 De electione episcoporum 162, 403 De exterioris et interioris hominis compositione 293, 299, 301, 302, 303, 304 Dekretalen 107, 137, 147, 149, 150, 159, 163, 324, 326, 327, 338, 349 De miseria humanae conditionis 260 De modo addiscendi 126, 130 De potestate papae 139, 140 De proprietatibus rerum 11, 120, 122 Deutschenspiegel 11, 348, 349, 350, 351, 352, 353, 358, 363 Deutschland 11, 15, 16, 17, 18, 58, 70, 105, 107, 113, 150, 172, 208, 209, 302, 316, 320, 330, 331, 333, 340, 347 Devotio moderna 302, 303, 304, 305 Dhuoda 116, 301 Dialektik der Aufklärung 384, 385 Dictatus papae 132 Didascalicon 217 Dionysius Areopagita, PseudoDionysius 186, 231 Dispens 151, 158, 338 Dispensation 151, 152, 153, 154, 155, 160, 161 Dispensationsrecht 151, 157, 161 Disziplinierung 20, 36, 37, 38, 39, 40, 69, 87, 129, 363, 378, 381 Disziplinierungsprozesse 21, 43 'LYHUVLÀ]LHUXQJ20, 42, 213, 217, 226, 253, 289, 361, 368, 371, 378 Dominikaner 43, 47, 49, 54, 59, 64, 66, 67, 72, 73, 81, 93, 95, 96, 104, 110, 116, 129, 139, 179, 185, 188, 190, 192, 195, 205, 240, 245, 291, 292, 297, 298, 300, 316, 317, 321, 325, 328, 332, 334, 335, 339, 369 Dominikus 47, 48, 49, 50, 52, 54, 84, 97, 175, 192, 205, 289, 371 Dominikus, Dominikus de Caleruega 46, 61 Dopsch, Alphons 267
Namen- und Sachregister
E Ecclesia militans 81, 85, 173, 369 Eike von Repgow 107, 340, 343, 345, 348, 349, 352, 355, 356, 357, 358, 362, 363 Einhard 353 Ekkehard von Aura 341 Ekklesiologie 18, 19, 131, 141, 165, 182, 190, 191 Elias, Norbert 32, 33, 34, 35, 36, 38, 42, 43, 304, 363, 376, 377 Elias, Prophet 114 Elias von Cortona 117, 178, 330 Elija 62 Elisabeth, heilige 117, 219 Encyclopédie moralisée 122 Erasmus von Rotterdam 19, 38, 304, 305, 377 Erfurt 12, 106, 116, 278, 340 Eucharistie 95, 169, 338 Eusebius 307, 336 Evangelium aeternum 184 Exiit qui seminat 173 Exite de Babylone, De civitatibus 211
F Fecit deus 131, 142, 143, 150, 165, 189, 195, 358, 389 Felder, Hilarin 382 Fleckenstein, Josef 33, 375 Flores temporum 333, 334, 335, 337, 361 Folz, Hans 286, 287 Fons sapientiae 46 Fonte Avellano 198 Forum internum 281, 289, 351, 355 Foucault, Michel 382 Francesco Traini 49 Frankreich 103, 139, 154, 172, 209, 210, 233, 245, 246, 275 Friedrich I., Kaiser 316, 337, 357 Friedrich II., Kaiser 135, 143, 337 Frömmigkeitstheologie 17, 19, 25 Frutolf von Michelsberg 341
G Geertz, Clifford 266 Gelasius, Papst 136, 143, 145 Generalkapitel 88, 173, 179, 319, 331 Generalminister 54, 108, 117, 141, 176, 178, 181, 182, 192, 222, 223, 242, 319
491
Generalstudium, Studium generale 11, 12, 104, 105, 106, 107, 121, 154, 284, 344, 347, 348, 362, 368 Gerard Ithier 79, 85 Gerhard von Abbeville 183, 186 Gerhard von Borgo San Donnino 184 Gerhoch von Reichersberg 48, 49, 61, 62, 79, 90, 135 Geschichtsbild 307, 337, 361 Geschichtsdenken 266, 307, 319, 320, 332, 335, 345, 359, 360 Gilbert von Poitiers 314 Gilbert von Tournai 119, 120, 125, 126, 127, 128, 129, 130, 235 Giotto 49, 50 Glossa ordinaria 107, 147, 152, 159, 163, 164, 404 Glossa Palatina 157, 396, 397 Goffredus von Trani (Goffredus de Trano) 149, 150, 162, 396 Gratian 77, 107, 134, 135, 143, 144, 149, 152, 159, 280, 324, 328, 346 Graus, František 380 Gregor I. der Große, Papst 85, 172, 354 Gregor IX., Papst; Hugolin von Ostia 11, 46, 47, 48, 49, 51, 53, 61, 71, 72, 84, 110, 172, 173, 174, 175, 177, 188, 195, 337, 370 Gregor V., Papst 132 Gregor VII., Papst 48, 78, 132, 133, 134, 135, 139, 191, 193, 365 Große Ordonnance 245 Guibert von Nogent 198, 254, 282 Guillaume Peyrauts (Guillelmus Peraldus) 298, 300 Gurjewitsch, Aaron 256, 257, 258, 259, 260
H Hanning, Robert 267 Häresie 48, 49, 86, 94, 171, 323, 337 Heilsgeschichte 46, 48, 61, 65, 73, 89, 90, 196, 307, 308, 309, 310, 311, 312, 313, 316, 322, 327, 328, 341, 349, 352, 353, 359, 367, 382 Heinrich von Albano 197 Heinrich von Burgeis 11, 282 Heinrich von Burgund 304 Heinrich von Kirchberg 111 Heinrich von Lausanne 94 Heinrich von Merseburg 11, 106, 107,
492
Namen- und Sachregister
131, 134, 150, 154, 194, 281, 282, 340, 347, 389, 406 Heinrich von Segusio (Hostiensis) 136, 153, 155, 164, 165 Heinrich von Trier, Erzbischof 308 Heloise 257 Hieronymus 336 Hildegard von Bingen 62, 63, 64, 65, 90 Historia 308, 309, 310, 311, 312, 315, 318, 321, 323, 326 Historia ecclesiastica 323, 336 Historia Hierosolimitana 83 Historia occidentalis 82, 83, 84, 210 Historia orientalis 83 Historia Scholastica 327, 334, 352 Historische Kulturwissenschaft 30 Homobonus von Cremona 80, 226 Honorius III., Papst 169, 188, 309 Horkheimer, Max 384 Hugo von Digne 102 Hugo von Fleury 314 Hugo von St. Viktor 38, 80, 106, 117, 118, 135, 217, 223, 297, 309, 310, 312, 313, 359 Huguccio 148, 149, 154, 163 Humbert de Romanis 113, 118, 180, 245 Humiliaten 80, 81, 220
I Individualisierung, Individualität 253, 254, 257, 258, 259, 263, 264, 265, 267, 268, 269, 270, 275, 285, 288, 384, 385, 386, 387 Individualisierungsprozess 19, 253, 255, 256, 258, 260, 264, 265, 270, 369, 381, 387 Individualismus 238, 253, 255, 256, 259, 265, 266, 267, 269 Informalisierung 35 Innocenz III., Papst (Lothar von Segni) 49, 80, 81, 82, 85, 86, 87, 89, 94, 134, 137, 142, 143, 144, 151, 188, 189, 220, 234, 260, 261, 273, 338 Innocenz IV., Papst 135, 137, 151, 158, 160, 164 Inquisition, Ketzerinquisition, Inquisitionsprozess 39, 59, 87, 94, 110, 267, 381 Insurgent gentes 65 Iogna-Prat, Dominique 380
Isidor von Sevilla 143, 144
J Jacobus de Cessolis 119 Jacobus de Voragine 54, 334 Jaeger, C. Stephen 33, 374, 375 Jakob von Vitry 82, 83, 84, 85, 112, 115, 171, 172, 200, 210, 221, 225, 234, 242 Jean de la Rochelle (Johannes de Rupella) 104, 113, 130, 297 Jean de Montlhéry 118 Jehan de Meung 67 Jerusalem 83, 90, 197, 200, 290, 332, 333 Jesus Christus 48, 50, 51, 54, 55, 79, 85, 89, 90, 91, 93, 94, 97, 100, 111, 126, 129, 137, 140, 141, 146, 166, 168, 170, 177, 182, 186, 189, 191, 218, 234, 236, 239, 240, 245, 251, 295, 303, 308, 309, 311, 327, 333, 338, 341, 342, 343, 355, 373, 391, 410 Joachim Camerarius 38 Joachim von Fiore, joachitisch 64, 90, 91, 92, 93, 184, 290, 291, 332, 333 Johannboniten 176 Johannes, Evangelist 332 Johannes als Prophetie 332 Johannes Duns Scotus 264 Johannes Peckham 184 Johannes Tauler 230, 241 Johannes Teutonicus 107, 152, 163 Johannes von Erfurt 11, 278, 279, 280, 281, 287, 296, 298 Johannes von Freiburg 241, 297 Johannes von Parma 179 Johannes von Plano Carpini 364 Johann II., König 245 Julian von Speyer 331, 332
K Kanones 143, 149, 195 Kanonisches Recht, ius canonicum 144, 195, 325, 327, 329, 336, 337, 339, 391 Kanonisten 80, 107, 136, 139, 141, 145, 148, 149, 150, 152, 153, 154, 158, 159, 160, 163, 165, 187, 191, 193, 194, 324, 325, 327, 328, 339, 345, 349
Namen- und Sachregister
Kapitalismus 26, 28, 364 Kardinalprotektor 172 Karl der Große 337, 353, 357, 358 Katharer 63, 95, 220, 241 Kaysersberg, Johannes Geiler von 271, 288 Kirchenrecht 75, 76, 142, 143, 150, 156, 172, 193, 195, 196, 273, 280, 325, 328, 329, 339, 346 Knox, Dilwyn 38, 304 Konfessionalisierung 305 Konfessionelles Zeitalter 22 Konrad III., König 353 Konrad von Megenberg 70 Konrad von Worms 106 Konstantin I., Kaiser 120, 146, 148, 323, 353, 357 Kontrollverdichtung 20, 42, 270, 363, 371, 376, 378 Konziliarismus 158 Kuhn, Thomas 23
L Labia sacerdotis 281, 406, 407, 408 Laboratores 215, 216, 224, 225, 228 Lampert von Hersfeld 198 Lamprecht, Karl 267 Lateranbasilika 49 Laterankonzil, Lateranum 40, 41, 49, 81, 83, 87, 94, 95, 96, 174, 273, 276, 277, 278 Laurentius, Frater 119 Laurentius de Somercote 155, 156 Laurentius Hispanus 152, 163, 404 Laures, Robert A. 39 Lebensform 13, 14, 17, 25, 36, 45, 50, 63, 68, 92, 102, 116, 122, 181, 185, 187, 188, 205, 206, 208, 211, 213, 219, 220, 223, 236, 239, 240, 241, 243, 250, 262, 283, 288, 293, 303, 304, 319, 320, 330, 360, 368, 369, 374, 379, 381 Legenda aurea 197, 334 Legenda maior 320 Legenda trium sociorum 102, 319 Leo von Vercelli 132, 134 Liber Extra 106, 142, 152, 154, 346, 370 London 200, 246 Lucius III., Papst 220 Ludwig IX., König 67
493
Luther, Martin 16, 41, 68, 69, 114, 172, 187, 213, 228, 385, 387 Lüttich 82, 172
M Magdeburg 11, 12, 105, 106, 107, 121, 278, 281, 344, 346, 347, 357, 362, 368 Magdeburger Rechtsbücher 346, 347, 352, 362 Magdeburger Schöffenrecht 346, 347 Magdeburger Weichbild-Vulgata 346 Magdeburger Weichbildchronik 346 Magdeburgisches Weichbild 346 Mangu, Großkhan 364 Margarita Decreti 328 Maria Magdalena 219 Marktwirtschaft 208, 219, 229, 233, 247 Marquard von Aschaffenburg 106 Marquard von Lindau 11, 284, 285 Marquard von Mainz 106 Martin von Troppau 321, 325, 326, 327, 328, 329, 330, 333, 335, 338, 339, 345, 346, 352, 360, 361 Martyrium 47, 166, 342, 364 Matteo d’Acquasparta 140, 141 Mechthild, Begine 16 Meister Eckhart 248 Melchisedek 138, 189 Mentalität 13, 14, 258 Milites Christi 369 Mirk, John 273 Modernisierung 21, 22, 23, 24, 29, 31, 32, 365, 378, 384, 385 Moore, Robert I. 379, 381 Moormann, John 58, 59 Morris, Colin 253, 254, 255 Multiple modernities 32 Müßiggang 215, 221, 236, 242, 247, 251
N Narbonne 103, 179, 192, 319 Niccolò Pisano 49 Niedergangsthese, Verfallsthese 60, 97, 172 Nikolaus III., Papst 325 Nikolaus IV., Papst 141 Nikolaus von Bibra 111, 112, 115 Nikolaus von Lisieux 183 Noah 85, 140 Norbert von Xanten 94
494
Namen- und Sachregister
Observanz 17, 50 Ockham 264 Oculus pastoralis 203 Odericus von Pordenone 364 Oestreich, Gerhard 20, 37, 378 Okzidentaler Sonderweg 28 2PQLVXWULXVTXHVH[XVÀGHOLV273, 277, 338 Opicinus de Canistris 259 Ordericus Vitalis 218, 314 Ordnungsdiskurs 15 2UGQXQJVNRQÀJXUDWLRQ367 Ordo contemplationis 92 Ordo laicorum 79, 80 Ordo minorum 333 Ordo novus 91, 92, 93 2UGRSHUÀFLHQGLXP185 2UGRSHUÀFLHQWLXP185 Ordo poenitentium 79, 80, 82, 89 Ordo praedicatorum 97, 113 Ordo sacerdotalis 82, 89, 95 Ordo vivendi 85 Orient 180, 323 Otto I., Kaiser 147, 337, 374 Otto III., Kaiser 132 Otto von Freising 89, 90, 197, 198, 307, 314, 316, 318, 359 Oxford 12, 104, 105, 109
Petrus de Samsone (Sampsone) 163, 164, 405 Petrus de Vinea 71, 72, 73 Petrus Lombardus 11, 106 Petrus Olivi 191, 235 Petrus Venerabilis 380 Pharisäer 62, 65, 70, 111, 171 Philipp IV. (der Schöne), König 139, 140, 141 Pierre Dubois 110 Plenitudo potestatis 137, 141, 143, 151, 153, 165, 187 Pöhlder Annalen 341 Policeyordnung 37 Pompeius Trogus 307 Postel, Verena 5, 213 Postmoderne 29, 30 Predigerbrüder 17, 48, 54, 71, 190, 192 Predigerorden 47, 50, 55, 103, 113, 190 Predigtzyklus „Non potest civitas ascondi“ 205 Priester aus Chartres 61 Prosakaiserchronik 11, 353, 354, 358, 363 Protestantische Ethik 26, 28, 364, 386 Prozess der Zivilisation 7, 15, 20, 32, 33, 376, 377 Psalter 116, 117, 312 Pseudo-Apostel 62, 63, 64, 65, 70
P
Q
Panormitanus, Nicolaus de Tudeschis 152, 158 Papalismus 51, 131, 151, 189, 190, 339 Paris 81, 82, 83, 104, 105, 106, 115, 141, 179, 183, 184, 186, 194, 198, 201, 205, 210, 221, 245, 289, 339, 372, 373 Pastoralreform, Pastorale Offensive 82, 289, 291 Pauperes Christi 90 Persecuting society 379, 381 Perugia 171 Petrarca 259 Petrus, Apostel 50, 137, 140, 141, 146, 157, 186, 190, 335, 336, 355, 393 Petrus Abaelard 272, 282, 314, 359 Petrus Cantor 81, 83, 85, 86, 112, 115, 219, 289, 372, 373 Petrus Comestor 327, 334, 352 Petrus Damiani 198
Questione Francescana 53 Quidam temere 178 Quo Elongati 173, 176
O
R Raimund von Peñafort 40, 72, 77, 78, 153, 154, 161, 370, 396, 401 Rather von Verona 85 Ravenna 52 Rechristianisierung 22, 23 Reformation 23, 28, 45, 69, 213, 277, 284, 305, 385, 387 Regula Benedicti 218 Regula bullata 168, 344 Regula non bullata 167, 220, 344 Religionssoziologie 21, 24, 26, 27, 29 Reue, contritio 73, 82, 272, 273, 274, 276, 282, 283, 284, 286, 287, 382, 383 Revolution 23, 94
Namen- und Sachregister
Richard van Dülmen 32 Richard von Devize 200 Richter 41, 71, 85, 87, 150, 250, 279, 280, 281, 289, 295, 312, 350, 351, 353, 354, 355, 356, 358, 363 Robert Grosseteste 104, 109, 110 Robert von Arbrissel 94 Roest, Bert 335 Roger Bacon 108, 114, 115, 116, 124, 125, 130, 263 Rom 5, 132, 136, 141, 168, 171, 173, 201, 327, 328, 330 Roman de la Rose 67 Rosenplüt, Hans 249, 250, 251, 285, 286 Rudimentum doctrinae 125 5XÀQXV152 Rupert von Deutz 62 Rutebeuf 67
S Sabatier, Paul 45, 56, 57, 60, 97, 98, 176 Sacharja 46 Sachsenspiegel 107, 340, 343, 345, 346, 347, 348, 349, 351, 352, 353, 355, 356, 357, 358, 362, 363 Sächsische Weltchronik 11, 340, 341, 343, 344, 345, 347, 349, 362 Sachße, Christoph 246 Sadduzäer 62 Säkularisierung 21, 22, 23, 387 Salimbene de Adam (Salimbene von Parma) 52, 103, 242, 245, 259 Sapientia 18, 99, 100, 108, 125, 126, 129, 407 Saxonia 123, 195, 340, 343 Scharff, Thomas 39 Schilling, Heinz 20, 30 Schmitt, Jean-Claude 266 Schreiner, Klaus 29, 31, 375 Schriftlichkeit 39, 40, 43 Schwabenspiegel 11, 16, 20, 349, 352, 353, 354, 355, 356, 357, 358, 362, 363 Scientia 18, 77, 89, 98, 100, 117, 126, 129, 263, 281, 399, 407, 408, 409 Seibt, Ferdinand 213 Selbstdeutung 14, 15, 18, 19, 45, 48, 93, 113, 125 Simon Anglicus 106 Simplicitas 89, 98, 100, 101, 102 Sizilien 172
495
Sonne-Mond-Gleichnis 132, 135, 141, 143, 189 Sonnengesang 95, 260 Sozialdisziplinierung 20, 28, 37, 42, 246, 378, 385, 386 Sozialregulierung 37 Spanien 172, 371 Speculum historiale 316, 322, 323, 324, 325, 326, 327, 330, 333, 339 Speculum maius 316, 317, 321, 322 Speculum monachorum 293 Spiritualen 58, 109, 191 St. Maria in Stade 320 St. Trudperter Hohenlied 16 Städtelob 202, 209, 213, 249 Stephan von Muret 94 Stephan von Tournai 76, 77, 80 Studiensystem 15, 103, 109 Superbia 100, 186, 238
T Tancred 148, 149 Tennstedt, Florian 246 Tentler, Thomas 41 Tertullian 133 Teufel 61, 63, 64, 65, 66, 114, 225, 232, 276, 277, 283, 349, 350, 367 Textual communities, textual community 14, 15 Thomas Becket 80 Thomas von Aquin 53, 54, 55, 56, 180, 183, 190, 221, 235, 239, 291, 315, 323, 370 Thomas von Cantimpré 123, 370 Thomas von Celano (Thomas de Celano) 9, 55, 97, 102, 174, 319 Thomas von Eccleston 109 Thomas von Split 96 Thomas von York (Thomas of York) 184, 189, 191, 194 Tolomeo von Lucca 139 Totengräber 177 Trajan 354 Transsubstantiation 95, 170
U Ungarn 113, 172, 233, 371 Universität 10, 25, 51, 60, 64, 67, 81, 82, 83, 104, 107, 108, 115, 125, 141, 154, 179, 183, 186, 194, 203, 210, 221, 227, 289, 331, 339, 370, 386
496
Namen- und Sachregister
V
Z
Valdes in Lyon 213 Vasari, Giorgio 50 Vauchez, André 59, 60, 371 Vehementi nimium 71 Verchristlichung der Stadt 19, 197, 208, 247, 270 Vicarius Christi (Vikar Christi) 51, 138, 140, 190, 338 Vielfalt der Moderne 32 Vildhaut, Heinrich 321 Vinzenz von Beauvais 119, 123, 316, 318, 321, 322, 325, 326, 327, 329, 330, 334, 335, 339, 345, 360, 361, 370 Vita activa 19, 229, 236, 238, 239, 240, 241, 247, 248, 251 Vita aeterna 196 Vita apostolica 79, 93 Vita communis 47, 78, 215, 230, 292 Vita contemplativa 238, 239, 241, 248 Vita Eligii 244 Vita evangelica 331 Vita Karoli 353 Vita minorum 101, 105, 108, 222, 319, 320 Vita religiosa 78, 117, 118 Volkssprache, volkssprachlich 11, 15, 16, 19, 39, 112, 116, 249, 261, 282, 283, 284, 285, 302, 303, 321, 340, 347, 373
Zemeke, Johann 107 Zensur, Zensurinstanz 14, 56, 184 Zentrierung, Zentrierungsschübe, normative Zentrierung 387 Zweischwerter-Theorie, Zweischwerter-Lehre 131, 132, 136, 145, 328, 357, 358
W Waldenser 86, 94, 110, 170, 241 Walther von der Vogelweide 368 Weber, Max 26, 27, 28, 34, 37, 176, 211, 213, 364 Wilhelm Ockham 264 Wilhelm von Auvergne 201, 202, 205, 207 Wilhelm von Rubruk 364 Wilhelm von St. Amour 64, 65, 66, 67, 71, 73, 116, 183, 184, 185, 186, 202 Wilhelm von Tournai 118 Witwe 85, 343, 350, 354
Y Yvain 201