Gudrun Hentges · Volker Hinnenkamp · Almut Zwengel (Hrsg.) Migrations- und Integrationsforschung in der Diskussion
Gudrun Hentges Volker Hinnenkamp Almut Zwengel (Hrsg.)
Migrations- und Integrationsforschung in der Diskussion Biografie, Sprache und Bildung als zentrale Bezugspunkte 2., aktualisierte Auflage
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2., aktualisierte Auflage 2010 Alle Rechte vorbehalten © VS Verlag für Sozialwissenschaften | GWV Fachverlage GmbH, Wiesbaden 2010 Lektorat: Frank Engelhardt VS Verlag für Sozialwissenschaften ist Teil der Fachverlagsgruppe Springer Science+Business Media. www.vs-verlag.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Umschlaggestaltung: KünkelLopka Medienentwicklung, Heidelberg Druck und buchbinderische Verarbeitung: Ten Brink, Meppel Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier Printed in the Netherlands ISBN 978-3-531-16802-9
Inhalt Inhalt
Einleitung.............................................................................................................. 7 I.
Migrations- und Integrationspolitik in vergleichender Perspektive
Gudrun Hentges Integrations- und Orientierungskurse. Konzepte – Kontroversen – Erfahrungen ........................................................................................................ 23 Peter Kühne Politisches Versäumnis und humanitäre Katastrophe: Flüchtlinge – in Deutschland und Europa nicht willkommen............................. 79 Sigrid Baringhorst Abschied vom Multikulturalismus? Zu neueren Entwicklungen der Integrationspolitik in Großbritannien und Australien ......................................... 91 Nerissa Schwarz Minderheitenschutz in der Europäischen Union unter besonderer Berücksichtigung der Roma.............................................................................. 113 II. Migration und biografische Entwürfe Annette Treibel Von der exotischen Person zur gesellschaftlichen Normalität: Migrantinnen in der soziologischen Forschung und Lehre............................... 143 Norbert Cyrus Mobilität im Verborgenen. Plurilokale Mobilitätspraxen illegal beschäftigter polnischer Haushaltsarbeiterinnen in Berlin................................ 167
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Inhalt
III. Migration und Sprache Almut Zwengel „Wenn die Worte fehlen...“ – Wie Migrantinnen mit geringen deutschen Sprachkenntnissen ihren Alltag gestalten ......................................................... 167 Volker Hinnenkamp Sprachliche Hybridität, polykulturelle Selbstverständnisse und „Parallelgesellschaft“........................................................................................ 167 IV. Berufliche Qualifizierung von Migrantinnen und Migranten Ursula Boos-Nünning Berufliche Bildung von Migrantinnen und Migranten. Ein vernachlässigtes Potenzial für Wirtschaft und Gesellschaft....................... 167 Gisela Baumgratz-Gangl Verbesserung der Bildungs- und Ausbildungsbeteiligung von Migrant(inn)en im Übergang Schule – Ausbildung – Beruf............................. 167 Schahrzad Farrokhzad Erfahrungen, Strategien und Potenziale von Akademikerinnen mit Migrationshintergrund ...................................................................................... 167 Abkürzungsverzeichnis .................................................................................. 167 Autor(inn)en.................................................................................................... 167
I. Migrations- und Integrationspolitik in vergleichender Perspektive
Einleitung1 Almut Zwengel/Gudrun Hentges
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Migrations- und Integrationsforschung in der Diskussion
Migration und Integration sind in dieser Kombination ein in der öffentlichen Diskussion verbreiteter Topos. Auch in der Forschung werden beide Aspekte häufig zusammen gedacht. Migrations- und Integrationsforschung haben sich als eigenständiges Untersuchungsfeld etabliert. Zurzeit ist zu beobachten, dass sich Forschungen in dem Gebiet zunehmend auf allgemeinere Diskurse betroffener Fachdisziplinen beziehen (vgl. z.B. Annette Treibel in diesem Band). Zugleich zeigt sich, dass in anderen Untersuchungsfeldern, wie beispielsweise unterschiedlichen speziellen Soziologien, die Themen Migration und Integration zunehmend Berücksichtigung finden. Für den vorliegenden Sammelband wurden ‚Biografie‘, ‚Sprache‘ und ‚Bildung‘ als zentrale sozialwissenschaftliche Bezugspunkte gewählt. Zu diesen drei Konzepten sollen nun Diskussionslinien nachgezeichnet, exemplarische Studien vorgestellt und Bezüge zu den Beiträgen dieses Sammelbandes hergestellt werden.
1.1 Migrations- und Integrationsforschung: Biografie Wird die Entwicklung der Biografieforschung betrachtet, fällt auf, dass in den Anfängen bereits starke Bezüge zur Migrationssoziologie bestanden. William Isaac Thomas und Florian Znaniecki (1918–1920) untersuchten in ihrer klassischen Studie die sozialen Bezüge von in die USA eingewanderten Polinnen und Polen ländlicher Herkunft mit Hilfe biografischer Quellen. Für die Diskussion in Deutschland war Martin Kohli (1985) lange ein zentraler Bezugspunkt. Seine Ausführungen zur Deinstitutionalisierung des Lebenslaufs ermöglichen direkten Anschluss an die Individualisierungsthese. Alois Hahn (1988) wurde bekannt durch seine „Biografiegeneratoren“. Damit sind soziale Anlässe und Diskursformen gemeint, die zur Produktion biografischer Diskurse führen. Interessant für 1
Wir bedanken uns herzlich bei Volker Hinnenkamp für seine hilfreichen Anmerkungen und Kommentare. Ein ganz besonderer Dank gebührt Bernd Ludwig (Berlin), der als freier Lektor diesen Band mit einem großen Engagement betreut hat.
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uns ist dabei die folgende Überlegung: „Die Verzeitlichung der Selbstdarstellung wird (…) erst da zwingend, wo gleiche Gegenwarten der Endpunkt extrem verschiedener Vergangenheiten sein können.“ (S. 98) Migrant(inn)en haben Gesellschaftswechsel und häufig biografische Brüche erlebt, durch die sich ihre Erfahrungen deutlich von denen Autochthoner unterscheiden können. Umgekehrt wird Menschen, zum Beispiel durch phänotypische Merkmale, eine andersartige Vergangenheit zugeschrieben, obwohl die gemeinsam geteilten Erfahrungen mit anderen, von denen sie sich äußerlich unterscheiden, dominieren. Biografie, so lässt sich argumentieren, ist also dann von besonderer Relevanz, wenn zu vermuten ist, dass sie sich von anderen biografischen Mustern maßgeblich unterscheidet und damit für die Gegenwart (und auch für die Gegenwart Anderer) durch eine „extrem verschiedene Vergangenheit“ manifest wird. Die verschiedenen Vergangenheiten, die Migrant(inn)en und Alteingesessene erzählerisch rekonstruieren, können sich systematisch unterscheiden. Eine zweite Diskussionslinie zur Biografieforschung fordert seit langem die Abkehr von Defizitansätzen hin zu ressourcenorientierten EmpowermentAnsätzen (z.B. Geißler/Hege 1988/1997, S. 183 und S. 188). Denn wenn die Handlungsressourcen der Akteure und Akteurinnen im Mittelpunkt stehen, ist ein biografischer Ansatz sinnvoll, weil hier konkrete Entscheidungsspielräume sichtbar werden (vgl. z.B. Lutz 2000, S. 205). Einer Überschätzung von Handlungsspielräumen der – zum Beispiel migrantischen – Akteure kann entgegengewirkt werden durch die Berücksichtigung von Barrieren unterschiedlichster Art. Hilfreich ist hier Fritz Schützes Konzept der „heteronomen Systembedingungen“ (1975, Bd. I, S. 57 f. und Bd. II, S. 928 f.). Heteronome Systembedingungen sind soziale Aspekte, die in konkrete Interaktionssituationen hineinwirken und die nicht von den Interaktionspartnern selbst beeinflusst oder verändert werden können. Der Biografiebezug ist methodisch unterschiedlich verortet. Klassisch wird unterschieden zwischen quantitativ orientierter Lebenslaufforschung und qualitativ orientierter Biografieforschung. Letztere ist beeindruckend dokumentiert in den jährlich stattfindenden Tagungen der Sektion Biografieforschung der Deutschen Gesellschaft für Soziologie. Dort werden auch Migrationsbezüge thematisiert. Biografie ist aber auch für qualitative Forschung generell zentral, da ein klassisches Erhebungsinstrument das von Schütze eingeführte „narrative Interview“ ist (z.B. 1978). Es stellt ein Verfahren dar, welches das elizitierte Erzählen dem Beschreiben oder Argumentieren vorzieht. Da ein zentraler Aspekt des Erzählens die chronologische Abfolge ist, bestehen Bezüge zur chronologischen Konstruktion der Biografie. Nicht von ungefähr ist die am häufigsten praktizierte Form des narrativen Interviews das narrative biografische Interview.
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Zur Konkretisierung dieser eher allgemeinen Überlegungen seien drei Studien zur Migration mit Biografiebezug exemplarisch genannt: (1) Die Shell-Jugendstudie legte 2000 einen Schwerpunkt auf ausländische Jugendliche. Sie untersuchte ausländische Jugendliche insgesamt, berücksichtigte einen Vergleich zwischen Jugendlichen türkischer und italienischer Herkunft und präsentierte biografische Porträts türkischstämmiger Jugendlicher. Diese Porträts sind dem sprachlichen Ausdruck der Jugendlichen angepasst und beeindrucken in ihrer Vielfalt (Deutsche Shell 2000). (2) Daniela Duff und Bea Leuppi (1997) verfassten ihre Diplomarbeit zu biografischen Porträts von Migrantinnen in der Schweiz. Interviewt wurden 14 Migrantinnen, zur Hälfte Arbeits- und zur Hälfte Fluchtmigrantinnen. Neben den von Duff und Leuppi verfassten biografischen Porträts stehen thematisch gruppierte Interviewauszüge, die sich durch hohe Detailliertheit und Konkretheit auszeichnen. (3) In Andreas Potts (2002) qualitativer Studie werden die Ergebnisse seiner Dissertation zu bildungserfolgreichen Migranten türkischer Herkunft zusammengefasst. Er zeigt auf, wie in der biografischen Selbstdarstellung die eigene ethnische Herkunft strategisch als Ressource eingesetzt wird. In zahlreichen Beiträgen dieses Sammelbandes sind biografische Bezüge präsent. Drei Beispiele seien genannt. Annette Treibel verdeutlicht, dass Frauen nicht Anhängsel von Männern sind, sondern eigene biografische Entwürfe verfolgen. Dies zeigt sich schon allein an der Tatsache, dass 20 Prozent der Arbeitsmigrant(inn)en aus den Anwerbeländern weiblich waren. Norbert Cyrus stellt heraus, dass auch für illegale Hausarbeiterinnen Handlungsspielräume bestehen. Er verdeutlicht dies unter Zuhilfenahme der Unterscheidung von „Weil-“ und „Um-zu-Motiven“ (vgl. Schütz 1974). Almut Zwengel zeigt im Zusammenhang mit einer Fallstudie, dass das Ausbleiben einer erwarteten beruflichen Karriere dazu führen kann, dass der Besuch von aufeinander aufbauenden Sprachkursen, der zur Vorbereitung dieser Karriere dienen sollte, selbst in Karriere umgedeutet werden kann. 1.2 Migrations- und Integrationsforschung: Sprache Kommen wir nun zur zweiten in diesem Sammelband besonders berücksichtigten Dimension: Sprache. Der Erwerb des Deutschen avanciert gegenwärtig zum zentralen Beurteilungskriterium einer erfolgreichen Integration. Dies zeigt sich schon daran, dass das neue Zuwanderungsgesetz als zentrale Integrationsmaßnahme den Integrationskurs vorsieht, der primär aus einem Sprachkurs und daneben aus landeskundlichen Grundinformationen besteht (vgl. den Beitrag von Gudrun Hentges in diesem Band). Der derzeitige gesellschaftliche Diskurs insgesamt ist ähnlich einzuschätzen: Zur Integration wird deutsche Sprachkompetenz gefordert. Zwei Gruppen gelten als besonders problembelastet. Dies sind
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zum einen Migrantinnen muslimischer Herkunft, die sehr familienzentriert leben und häufig schon viele Jahre in Deutschland wohnen. Ihre Deutschkenntnisse sind oft gering (vgl. Zwengel 2004). Daneben werden schwache Deutschkenntnisse von in Deutschland geborenen und hier aufgewachsenen Kindern beim Eintritt in die Grundschule beklagt (vgl. zu möglichen Ursachen: Ucar 1999). Bei aller Bedeutung von Sprache für kognitive, soziale, sozio-strukturelle und identifikative Integration sollte die deutsche Sprachkompetenz als Integrationsfaktor jedoch nicht überbewertet werden. Kompetenz in der Sprache des Aufnahmelandes ist eine Grundvoraussetzung für Integration, aber keine hinreichende Bedingung. In Ländern, in denen angesichts der Kolonialvergangenheit geringere Sprachprobleme zu bewältigen sind, zeigen sich ebenfalls Ausgrenzung und Diskriminierung von Migrant(inn)en. Zum Thema Sprache gehört auch die Haltung zu den Herkunftssprachen der Migrant(inn)en. Ihre Förderung galt lange als wichtiger Faktor zur Stabilisierung der Identität von Migrantenkindern. In den Familien sollten die Herkunftssprachen praktiziert werden, um durch einen soliden Erstspracherwerb den Zweitspracherwerb zu erleichtern (vgl. die Interdependenzthese von Cummins 1979). Eltern wurden ermutigt, die Förderung der Herkunftssprachen in den Schulen zu fordern; der monolinguale Habitus der Schule kollidiere mit der Mehrsprachigkeit der Schüler (vgl. Gogolin/Neumann 1997). Es wurden unterschiedliche didaktische Konzepte zur Berücksichtigung der Herkunftssprachen entwickelt. Sie reichen vom Krefelder Modell der zweisprachigen Klassen (Dickopp 1982) über die zweisprachige Alphabetisierung türkischer Schüler (Nehr u.a. 1988) bis hin zur Berliner Europaschule, die eine Gleichrangigkeit von Deutsch und einer Partnersprache praktiziert im Hinblick auf die Unterrichtssprachen sowie bei der Zusammensetzung der Schüler- und der Lehrerschaft (Göhlich 1998). Diese Ansätze werden zurzeit durch Ergebnisse quantitativer Sozialforschung erschüttert. Bei PISA stellte sich heraus, dass Kinder mit Migrationshintergrund besser abschneiden, wenn die Familiensprache Deutsch ist (z.B. Baumert/Schümer 2001, S. 378). Hartmut Esser (2006) unterzog zahlreiche quantitative Studien einer Sekundäranalyse und kam zu dem Ergebnis, dass Bilingualität – mit Ausnahme von Englisch als Zweitsprache – nicht zu besseren Schulleistungen und zu einem größeren Arbeitsmarkterfolg führe. Essers Ergebnisse werden stark rezipiert2 und führen zu Verunsicherungen bei denen, die die Herkunftssprachen fördern möchten (vgl. z.B. die soeben genannte Tagung in Hamburg im Oktober 2007). 2
Vgl. z.B. Essers Eröffnungsvortrag auf der Tagung „Migration und Bildung“ von Sektionen der Deutschen Gesellschaft für Soziologie und der Deutschen Gesellschaft für Erziehungswissenschaften vom 2. bis 4. Februar 2006 im Haus Rissen in Hamburg sowie einen weiteren Eröffnungsvortrag von Esser auf der Tagung „Streitfall Zweisprachigkeit“ vom 19. bis 20. Oktober 2007 an der Universität Hamburg.
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Neben dem Deutschen und den Herkunftssprachen sind auch Formen von alternierenden und gemischten Realisierungen der Sprachen zu berücksichtigen. Mischsprachigkeit wurde häufig als Ausdruck von doppelter Halbsprachigkeit bzw. Semilingualismus gefasst und negativ bewertet. Dabei kann Mischsprachigkeit durchaus mit hoher Kompetenz in den berücksichtigten Sprachen verknüpft sein. Noch problematischer an der Kritik dieser Sprachrealisierungen ist ihr Bezug auf die deutsche Standard- oder Umgangssprache als Norm. Damit werden reale kommunikative Praktiken ausgegrenzt. Hier setzen manche Autor(inn)en an. Sie erkennen gemischtes Sprechen als eigenständige Kommunikationsform an und zeigen, dass hierbei hohe Kreativität und spezifische Kompetenzen zum Ausdruck kommen. Zum Teil handelt es sich dabei um Phänomene, die aus dem Bereich der Jugendsprachen bekannt sind (vgl. z.B. Schlobinski 2002). Es ist von daher kein Zufall, dass sich einschlägige Studien auf die Sprache von Migrantenjugendlichen beziehen. Inken Keim (2007) untersuchte weibliche türkische Jugendliche; Volker Hinnenkamp (2005) betrachtete männliche türkische Jugendliche. Auch zum Thema Migration und Sprache sollen kurz drei interessante Untersuchungen vorgestellt werden. (1) Der Integrationssurvey des Bundesinstituts für Bevölkerungsforschung berücksichtigt junge Erwachsene türkischer und italienischer Herkunft in zwei Altersgruppen. Viele der erhobenen Items sind sprachbezogen und ermöglichen aufschlussreiche Vergleiche (Mammey/Sattig 2002). (2) Seyyare Duman (1999) analysiert in ihrer Dissertation kommunikative Praktiken türkischstämmiger Frauen in Hamburg und in Anatolien. Sie unterscheidet etwas schematisch zwischen traditionell und modern Orientierten, kontrastiert aber überzeugend die Kommunikation in Frauengruppen und die Kommunikation mit dem Ehemann. (3) Katharina Meng und Ekaterina Protassova (2001) legen eine qualitative Studie zu Aussiedlerfamilien vor, die in interessanter Weise linguistische Untersuchungen und soziologische Netzwerkanalysen verbindet. Für die ebenfalls vorgelegten quantitativen Übersichten ist die Stichprobe allerdings zu klein. Im vorliegenden Sammelband beziehen sich zwei Beiträge auf Migration und Sprache. Sie lassen sich in der kurz skizzierten Fachdiskussion verorten. Zwengel greift eine Personengruppe mit geringen Deutschkenntnissen auf. Sie fragt nicht normativ, warum die Migrantinnen so wenig Deutsch können, sondern macht das Leben der Migrantinnen mit geringen Deutschkenntnissen selbst zum Untersuchungsgegenstand. Aus der Darstellung ergeben sich dann drei unterschiedliche Bewältigungsstrategien. Hinnenkamp plädiert – unter Berücksichtigung der Debatten um die Parallelgesellschaft – für eine Anerkennung des Gemischtsprechens und seiner Sprecher/innen.
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1.3 Migrations- und Integrationsforschung: Bildung Gehen wir nun über zur dritten Dimension: Bildung. Seit PISA 2000 ist in der breiten Öffentlichkeit bekannt, dass Migrantenkinder in der Schule weniger erfolgreich sind als autochthone Deutsche (Baumert u.a. 2001). Diese Information ist jedoch nicht neu. Seit langem ist belegt, dass ausländische Schüler/innen bei Schulabschlüssen schlechter abschneiden als autochthone deutsche Schüler/innen. Einen knappen Überblick zu Benachteiligungen von Migrantenkindern im deutschen Bildungssystem bietet Heike Diefenbach (2007, S. 221). Dass Migrantenkinder benachteiligt sind, ist unstrittig (Diefenbach 2002, S. 45); umstritten aber ist, worauf diese Benachteiligungen zurückzuführen sind. Ein wichtiger Faktor ist die sozioökonomische Position der Eltern (z.B. Unterwurzbacher 2007, S. 75 f.). Vermutlich ist relevant, ob Eltern über Geld, Zeit und Aufmerksamkeit verfügen und ob sie diese Ressourcen in die Bildung ihrer Kinder investieren. Neben solchen Faktoren des Humankapitals können kulturelle Faktoren wie Sozialisation in der Herkunftsgesellschaft und in der ethnischen Community von Bedeutung sein. Schließlich sind Benachteiligungen zu berücksichtigen, die sich aus dem Bildungssystem selbst ergeben. Hier können institutionelle Hürden und strukturelle Benachteiligungen bestehen (Gomolla/Radtke 2007). Beispiele hierfür sind häufige Einschulung in Sonderschulen sowie ungünstige Lehrerempfehlungen beim Übergang in die Sekundarstufe 1 (Diefenbach 2002, S. 45 f.). Den wenigen bildungserfolgreichen Migrant(inn)en wird in jüngerer Zeit erhöht Aufmerksamkeit geschenkt. Eine zentrale Frage dabei ist, welche Faktoren einen solchen Erfolg begünstigen. Wichtig scheinen Bildungsaspirationen und institutionelle Kenntnisse der Heranwachsenden und ihrer Eltern. Dies zeigt sich zum Beispiel an „verschlungenen Bildungswegen“, die typisch sind für die von Erika Schulze und Eva-Maria Soja (2006) betrachteten bildungserfolgreichen Migrantenkinder. Merle Hummrich (2002) untersucht in ihrer Dissertation Studentinnen, die der zweiten Migrantengeneration entstammen. Sie zeigt, wie diese sich im Spannungsfeld zwischen Schule und Familie verorten müssen und wie sie versuchen, ihre zum Teil widersprüchlichen Bedürfnisse miteinander in Einklang zu bringen. Häufig ist der soziale Aufstieg ein individuelles Phänomen, das durch eine Einbettung in Gruppen Gleichrangiger und Gleichgesinnter zur kollektiven Erfahrung wird. Karin Schittenhelm (2005, S. 204 f.) belegt dies für Migrantinnen, zumeist türkischer Herkunft, die sich im Übergang vom Realschulabschluss zu einer praktischen Berufsausbildung befinden. Almut Riedel (2001, S. 234 ff.) zeigt bei der Sekundärauswertung einer vorliegenden Studie zu jungen Frauen nordafrikanischer Herkunft in Frankreich, dass diese ihren Bildungsaufstieg zwar kollektiv erleben, ihn aber als primär individuell einordnen.
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Die zunehmende Verschränkung zwischen dem Bereich Migration und Integration und allgemeineren Perspektiven unterschiedlicher Fachdisziplinen zeigt sich auch beim Thema Bildung. Dies sei am Beispiel der Soziologie verdeutlicht. Tendenziell gibt es in der Migrationssoziologie eine wachsende Berücksichtigung anderer spezieller Soziologien sowie der allgemeinen Soziologie. Umgekehrt nimmt auch beim Thema Bildung das Interesse an Migration in unterschiedlichen speziellen Soziologien sowie in der allgemeinen Soziologie zu. Zwei Beispiele seien genannt. Ein Beleg für allgemeinsoziologische Bezüge der Migrationssoziologie ist die zunehmende Rezeption der Theorien von Pierre Bourdieu. So betiteln Arnd-Michael Nohl u.a (2004) ihren erfolgreichen Antrag auf Einrichtung einer „Studiengruppe zu Migration und Integration“ bei der VWStiftung, der sich u.a. auf Bildungstitel bezieht, mit „Kulturelles Kapital in der Migration“. Ein Beispiel für die verstärkte Berücksichtigung von Migration in speziellen Soziologien ist das seit PISA zunehmende Interesse für Migration in der Bildungssoziologie. Aus dem Bereich Migration und Bildung sollen gleichfalls drei interessante Studien exemplarisch genannt werden: (1) Andrea Lanfranchi (2002) zeigt in einer quantitativ und qualitativ angelegten Untersuchung zu Kindern unterschiedlicher ethnischer Herkunft in der Schweiz, dass sich vorschulische außerfamiliäre Betreuung im Allgemeinen positiv auf den Schulerfolg auswirkt. Wichtig für eine solche Wirkung sind ein positives Familienklima sowie die Annahme des Kindes durch Erzieher/innen und Lehrer/innen und die interkulturelle Kompetenz dieser betreuenden Personen. (2) Cornelia Kirsten (2005) beschäftigt sich mit der Phase der Einschulung. Sie untersucht am Beispiel der Stadt Essen wie Entscheidungen deutscher, ausländischer und insbesondere türkischer Eltern bezüglich der Einschulung ihrer Kinder gefällt werden. Dabei geht es um Wahlen zwischen staatlichen und konfessionellen sowie zwischen Schulen innerhalb und außerhalb des Einzugsgebietes. Deutlich wird, dass türkische Eltern seltener als deutsche Eltern zwischen (mindestens) zwei Schulen wählen, dass sie über weniger Informationen über die Schulen verfügen und dass sie nach anderen Kriterien auswählen als deutsche Eltern. (3) Schittenhelm (2005) betrachtet in ihrer Habilitationsschrift die Phase, die sich an den Abschluss der Schulausbildung anschließt. Sie untersucht den Übergang von Realschulabsolventinnen in eine Berufsausbildung und vergleicht dabei zwischen Westdeutschen, Ostdeutschen und – vor allem türkischen – Migrantinnen. Die Studie ist qualitativ angelegt und stützt sich vor allem auf Gruppendiskussionen. Durch die Milieuvergleiche wird vermeintlich für Migrant(inn)en Spezifisches relativiert und ein Anschluss an die allgemeine Soziologie erleichtert (vgl. hierzu auch den Beitrag von Annette Treibel in diesem Band).
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Bei den in diesem Sammelband vorliegenden Texten zum Thema Bildung liegt der Schwerpunkt auf der beruflichen Bildung. Ursula Boos-Nünning legt eine klassische Diskriminierungsstudie vor. Sie belegt unter Berücksichtigung zahlreicher empirischer Studien die Benachteiligung von Migrantenjugendlichen beim Übergang von der Schule in die Ausbildung sowie beim Übergang von der Ausbildung in den Beruf. Sie versucht diese Ergebnisse im Anschluss an Mona Granato (2003) den möglichen Ursachen Humankapitalausstattung, Arbeitsmarktdiskriminierung und Arbeitsmarktsegmentation zuzuordnen. Gisela Baumgratz-Gangls handlungsorientierter Aufsatz zeigt auf, wie lokale und regionale Netzwerke die beruflichen Bildungschancen von Migrantenjugendlichen verbessern können. 2
Kurze Skizzierung der im Band versammelten Beiträge
Im Folgenden sollen die im vorliegenden Band versammelten Beiträge kurz skizziert werden: Das einleitende Kapitel „Migrations- und Integrationspolitik in vergleichender Perspektive“ behandelt internationale politische Praxen im Politikfeld Migrations- und Integrationspolitik. Gudrun Hentges Beitrag analysiert die Integrationskurse, die mittlerweile in zahlreichen EU-Mitgliedstaaten – freiwillig oder verpflichtend – angeboten werden. Ausgehend von einer Gesamtschau der divergierenden Traditionen, Konzepte und unterschiedlichen Akzentuierungen konzentriert sich die Autorin auf die in der Bundesrepublik Deutschland angebotenen Integrations- und Orientierungskurse. Einerseits wertet sie die vorliegenden vielfältigen Erfahrungen mit Orientierungskursen aus, andererseits stellt sie Ergebnisse einer empirischen Untersuchung zum Thema „Orientierungskurse“ vor. Interviewpassagen mit Teilnehmer(inne)n der Orientierungskurse illustrieren Grenzen und Möglichkeiten der sprachlichen Kompetenz und des Verständnisses historischer und politischer Zusammenhänge. Peter Kühne widmet sich in seinem Aufsatz der Frage, ob Flüchtlinge in Deutschland willkommen sind. Er zeichnet nach, wie sich die deutsche Asylpolitik der letzten Jahre im Kontext der Europäisierung dieses Politikfelds verändert hat, und analysiert deren Auswirkung auf die Lebenssituation von Flüchtlingen in Deutschland. Seine Untersuchung basiert auf biografisch angelegten Interviews mit Flüchtlingen aus den wichtigsten Herkunftsstaaten. Kühne präsentiert als Ergebnis ein Bild ethnischer Zerrissenheit und politischer Unterdrückung, das den Betroffenen schließlich keinen anderen Ausweg lasse als die Flucht ins Exil. Multikulturelle Gesellschaftsentwürfe gerieten in den letzten Jahren unter einen enormen Legitimationszwang. Vor allem seit den Terroranschlägen des 11. September 2001 wird dem Multikulturalismus zunehmend eine Absage erteilt. Sigrid Baringhorst zeichnet in ihrem Beitrag am Beispiel Großbritanniens und
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Australiens nach, in welcher Weise sich die Abkehr von einem multikulturellen Politikverständnis sukzessive vollzog. Sie thematisiert einen Paradigmenwechsel in der britischen und australischen Politik. Europäische Minderheitenpolitik ist Gegenstand des Beitrags von Nerissa Schwarz, die dieses Thema am Beispiel der größten in der Europäischen Union lebenden Minderheit – der Roma – diskutiert. Mit den Kopenhagener Kriterien etablierte der Europäische Rat 1993 die politischen Mindestanforderungen für die Beitrittskandidaten: Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, Anerkennung der Menschenrechte, Schutz von Minderheiten. Die Autorin zeichnet jene Dokumente nach, die Anknüpfungspunkte für einen europäischen Minderheitenschutz bieten könnten, und diskutiert Bezug nehmend auf die „Offene Methode der Koordination“ (OMK), in welchem Maße und in welcher Weise die OMK einen Beitrag leisten könnte zur Beseitigung von Diskriminierung von Minderheiten in den EU-Mitgliedstaaten. Das folgende Kapitel fokussiert „Migration und biografische Entwürfe“ und versammelt Beiträge von Annette Treibel und Norbert Cyrus. Treibel untersucht, wie sich die Wahrnehmung von Migrantinnen in der öffentlichen Debatte und in der soziologischen Forschung und Lehre im Laufe der letzten Jahrzehnte gewandelt hat. Als Ergebnis bilanziert sie, dass die Migrantinnenforschung eine beträchtliche Spannbreite aufweist. Die „Feminisierung der Migration“ sei ein zentrales Thema. Die Autorin prognostiziert eine intensivere Verflechtung zwischen Geschlechterforschung, Migrationsforschung und allgemeiner Soziologie. Norbert Cyrus’ Beschäftigung gilt der „Mobilität im Verborgenen“, die er exemplarisch am Beispiel der illegal beschäftigten polnischen Haushaltsarbeiterinnen untersucht. Bei den Pendelmigrant(inn)en handelt es sich um Personen, die räumlich und sozial hochmobil sind und ihrerseits die Voraussetzungen dafür schaffen, dass eine stets mobiler werdende Gesellschaft reproduziert werden kann. Der Beitrag basiert auf zahlreichen Interviews, die der Verfasser mit in Berlin arbeitenden polnischen Haushaltsarbeiterinnen – zum Teil in ihren Unterkünften – geführt hat. Die Interviews lassen deutlich werden, dass sich die Migrantinnen sehr stark auf die Gegenwart konzentrieren und ein distanziertes Verhältnis zu ihrer Vergangenheit und ihren Zukunftsperspektiven an den Tag legen. „Migration und Sprache“ steht im Zentrum des sich anschließenden Kapitels, das Beiträge von Almut Zwengel und Volker Hinnenkamp umfasst. Almut Zwengel untersucht Migrantinnen, die schon lange in Deutschland leben und trotzdem nur über sehr geringe deutsche Sprachkenntnisse verfügen. Auf der Basis teil-narrativer Interviews zeigt sie, welche Strategien diese Migrantinnen entwickeln, um ihren Alltag möglichst eigenständig zu gestalten. Sie unterscheidet drei Bewältigungsmuster: Suche nach Autonomie, Fossilierung deutscher Sprachkenntnisse und potentielle Mittlerin.
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Die mischsprachlichen Varietäten von jugendlichen Migrant(inn)en sind – so die These von Volker Hinnenkamp – Teil der sprachlichen und kulturellen Hybridisierung, sie sind ein Reflex migrationsgeschichtlicher Entwicklungen und emanzipatorischer Ausdruck von sich in diesem Prozess formierenden Identitäten. Mit der Analyse von Transkriptionspassagen aus authentischen Gruppengesprächen jugendlicher Migranten weist der Autor zum einen den populär gewordenen Begriff der doppelten Halbsprachigkeit zurück und kann zum anderen aufzeigen, wie die Migranten die ihnen zur Verfügung stehenden Sprachen (hier: Deutsch und Türkisch) bewusst einsetzen, kreative Wortspiele machen und Erstund Zweitsprache auf originelle Weise miteinander kombinieren. Das abschließende Kapitel untersucht die „berufliche Qualifizierung von Migrantinnen und Migranten“. Ursula Boos-Nünning setzt sich in ihrem Beitrag mit der beruflichen Bildung von Migrant(inn)en auseinander. Sie beschreibt die drei Hürden, mit denen Jugendliche im Übergang von der Schule zum Beruf konfrontiert sind, und konstatiert eine „Negativbilanz“ mit Blick auf die berufliche Bildung von jungen Erwachsenen mit Migrationshintergrund. Sehr eindringlich erinnert die Autorin an die Potenziale, die der deutschen Aufnahmegesellschaft durch Einwanderer zugeflossen sind. Boos-Nünning erachtet eine neue Ausbildungspolitik als erforderlich und plädiert dafür, das kulturelle Kapital der eingewanderten Personen „für das Leben in einer globalisierten Gesellschaft zu nutzen“. Gisela Baumgratz-Gangl thematisiert in ihrem Beitrag die „Verbesserung der Bildungs- und Ausbildungsbeteiligung von Migrant(inn)en“ und rekurriert hier auf Ergebnisse des Programms „Kompetenzen fördern – Berufliche Qualifizierung von Zielgruppen mit besonderem Förderbedarf (BQF-Programm) des Bundesministerium für Bildung und Forschung“. Aufgrund der schlechteren Chancen von Jugendlichen mit Migrationshintergrund unterstreicht das Projekt die Notwendigkeit, kommunale Verantwortungsgemeinschaften als Instrumente der verbesserten Bildungsintegration Jugendlicher mit Migrationshintergrund zu etablieren. Diese spielen, so die Empfehlung, eine wichtige Rolle bei der interkulturellen Öffnung der mit Bildung, Ausbildung und Arbeitsmarkt befassten Institutionen und Akteure im Umgang mit einer heterogenen Schülerschaft. Schahrzad Farrokhzad hat sich im Rahmen ihrer qualitativen Studie mit den Bildungs- und Erwerbstätigkeitsverläufen von Akademikerinnen mit Migrationshintergrund beschäftigt und rekonstruiert ihre Motive, ihre Wege und Strategien zur Erlangung eines erfolgreichen Bildungsabschlusses und eines Arbeitsplatzes. Die Autorin arbeitet einerseits die Barrieren heraus, die Migrantinnen davon abhalten können, beruflich erfolgreich zu sein, andererseits benennt sie die Ressourcen und Handlungskompetenzen, die diesen Prozess befördern können. Sie empfiehlt, dass in den Schulen nicht die Defizite, sondern vor allem
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auch die Ressourcen von Mädchen mit Migrationshintergrund genauer in den Blick genommen werden, um Fördermöglichkeiten zu entwickeln, und rät zum Instrument der Kompetenzfeststellungsverfahren, um auch informelle Lernprozesse zu berücksichtigen.
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Almut Zwengel/Gudrun Hentges
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Einleitung
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Integrations- und Orientierungskurse. Konzepte – Kontroversen – Erfahrungen
Integrations- und Orientierungskurse. Konzepte – Kontroversen – Erfahrungen
Gudrun Hentges
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Integrationskurse im europäischen Kontext
Die Integrationspolitik der Europäischen Union gewann im Laufe der letzten Jahre zunehmend an Bedeutung. So forderte der Rat Justiz und Inneres die EUKommission 2002 dazu auf, nationale Kontaktstellen einzurichten, die sich mit dem Themengebiet Integration befassen sollten. Der Europäische Rat bestätigte 2003 diesen Auftrag und bat die Kommission darum, jährlich einen Bericht zum Thema „Migration und Integration“ zu präsentieren. Die Kommission legte schließlich „Eine gemeinsame Integrationsagenda“ vor, mit der sie einen Rahmen für die Integration von Angehörigen aus Drittstaaten absteckte (KOM 2005). Des Weiteren publizierte sie 2004 das „Integrationshandbuch für politische Entscheidungsträger und Praktiker“. Während die erste Ausgabe die Einführungskurse für neu Zugewanderte und anerkannte Flüchtlinge fokussiert (European Commission 2004), behandelt die zweite Ausgabe die Bereiche Wohnen, urbane Aspekte, Gesundheits- und Sozialdienste (Europäische Kommission 2007). Das Haager Programm, welches am 4./5. November 2004 vom Europäischen Rat gebilligt wurde, schreibt fest, dass die Integrationsmaßnahmen der EU-Mitgliedsstaaten und der EU einer umfassenden Koordinierung bedürfen. Des Weiteren soll ein Rahmen mit gemeinsamen Grundprinzipien – klaren Zielsetzungen und Bewertungsmethoden – erarbeitet werden, der künftig als Basis weiterer Initiativen in der EU fungieren soll. Der Rat Justiz und Inneres nahm am 19. November 2004 gemeinsame Grundprinzipien für einen schlüssigen Rahmen zur Integration der Angehörigen von Drittstaaten an. Als erste Antwort auf die Forderung des Europäischen Rates nach einem kohärenten europäischen Rahmen für die Integration der Angehörigen von Drittstaaten legte die Kommission eine Mitteilung vor, in der sie – in Bezug auf Integrationskurse – Folgendes festhält: „1. Die Eingliederung ist ein dynamischer, in beide Richtungen gehender Prozess des gegenseitigen Entgegenkommens aller Einwanderer und aller in den Mitgliedstaaten ansässigen Personen.“ (KOM 2005, S. 5)
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Gudrun Hentges
„Betonung der staatsbürgerlichen Dimension in Einführungsprogrammen und sonstigen Aktivitäten für neu ankommende Bürger von Drittstaaten, um sicherzustellen, dass Einwanderer die gemeinsamen europäischen und nationalen Werte verstehen, respektieren und Nutzen aus ihnen ziehen.“ (KOM 2005, S. 6)
„4. Grundkenntnisse der Sprache, Geschichte und Institutionen der Aufnahmegesellschaft sind eine notwendige Voraussetzung für die Eingliederung; Einwanderer können nur dann erfolgreich integriert werden, wenn sie die Möglichkeit erhalten, diese Grundkenntnisse zu erwerben.“ (KOM 2005, S. 7)
„Stärkung der Integrationskomponente bei den Aufnahmeverfahren, z.B. durch vorbereitende Maßnahmen vor der Ausreise, wie Informationspakete, Sprachkurse und Kurse in Staatsbürgerkunde im Heimatland Einführungsprogramme und -maßnahmen für Neuzuwanderer zur Vermittlung von Grundkenntnissen der Sprache, Geschichte, Institutionen, sozioökonomischen Bedingungen, des Kulturlebens und der Grundwerte Mehrstufiges Kursangebot, bei dem Unterschiede im Bildungshintergrund und bereits vorhandene Kenntnisse über das Land berücksichtigt werden.“ (KOM 2005, S. 8)
Insofern steckte die Kommission einen Rahmen ab, um im Sinne der „Offenen Methode der Koordinierung“ (vgl. Höchstätter 2007) eine freiwillige Kooperation und einen Austausch der EU-Mitgliedsstaaten im Feld der Integrationspolitik zu befördern. Nationale Verfahren und Praktiken in Bezug auf die Integration von Drittstaatenangehörigen sollten künftig untereinander ausgetauscht werden. Eine detaillierte Analyse der nationalen Politiken in diesem Bereich lässt deutlich werden, dass wir es mit einer Gemengelage zu tun haben: In einigen Ländern richten sich Integrationskurse in erster Linie an neu Zugewanderte, die sich dauerhaft niederlassen wollen (nachziehende Familienangehörige, anerkannte Flüchtlinge); in anderen Ländern auch an Personen mit einem temporären Aufenthalt (geduldete Flüchtlinge, Studierende, Arbeitsmigrant(inn)en); in weiteren Ländern an Einwanderer, die bereits seit mehreren Jahren im Aufnahmeland leben; an Personen, die auf staatliche Unterstützung angewiesen sind; an Einbürgerungswillige und schließlich an Personen, die im Ausland leben und im Zuge der Familienzusammenführung in das Aufnahmeland einreisen wollen. In einigen Ländern dienen Integrationskurse in erster Linie der Vorbereitung auf die Einbürgerung, in anderen eher dem Spracherwerb und einer ersten gesellschaftlichen und beruflichen Orientierung. Auch die Frage der Sanktionen – negative Sanktionen und/oder positive incentives – wird von Land zu Land unterschiedlich gehandhabt.
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Entgegen der hier skizzierten Palette unterschiedlicher gesetzlicher Regelungen und Praxen lässt sich jedoch auch ein allgemeiner Trend feststellen: Während Integrationskurse in einigen Ländern zunächst speziell als freiwilliges Angebot für Neuzuwanderer konzipiert und bereitgestellt wurden, setzte sich im Laufe der letzten Jahre der Trend durch, die Teilnahme an solchen Kursen zur Pflicht zu machen und bei Nichtbefolgung Sanktionen anzukündigen. Man kann beobachten, dass die Integrationskurse und die damit verbundenen Prüfungen und Tests (im Herkunftsland) in einigen Aufnahmeländern (z.B. den Niederlanden und der Bundesrepublik Deutschland) zu einem Instrument der Verhinderung von Einwanderung (im Zuge der Familienzusammenführung) werden bzw. künftig möglicherweise auch Ausweisungen und Abschiebungen legitimieren können (vgl. Joppke 2007; Jacobs/Rea 2007; Schönwälder u.a. 2005; KOM 2005; KOM 2003; European Commission 2004). Im Folgenden sollen am Beispiel von Schweden, Großbritannien, den Niederlanden, Finnland, Dänemark, Österreich und Frankreich die europäischen Erfahrungen mit Integrationskursen rekapituliert werden: In Schweden werden seit den 1970er Jahren staatlich finanzierte Sprachkurse für Einwanderer angeboten. Seit Mitte der Neunzigerjahre haben alle Neuzuwanderer über 16 Jahren einen Rechtsanspruch auf „Schwedisch als Zweitsprache“. In Schweden, wo ein traditionell gutes Netzwerk von Sprachkursen existiert, ist die Teilnahme an diesen Kursen, die ca. 525 Stunden umfassen, freiwillig. Lediglich Personen, die von Sozialhilfe leben, werden zur Teilnahme verpflichtet. Die Nichtteilnahme zieht jedoch keine negativen Sanktionen nach sich. Spracherwerb wird nicht als Ziel an sich formuliert, sondern als Mittel zum Zweck, wobei die berufliche Integration von Migrant(inn)en im Zentrum steht. Das „Swedish Integration Board“ (Integrationsverket) koordinierte von 1998 bis 2007 die Bestrebungen auf kommunaler Ebene. Für jede einzelne Person wurden so genannte Aufnahmebzw. Integrationspläne entwickelt. Zurzeit befinden sich diese Strukturen im Umbruch: Das „Swedish Integration Board“ wurde am 1. Juli 2007 aufgelöst, und die bislang von diesem Amt übernommenen Aufgaben werden sukzessive an andere Einrichtungen übertragen (vgl. Ministry of Integration and Gender Equality 2007; Bundesministerium des Innern 2006b, S. 149 f.; Schönwälder u.a. 2005, S. 21 ff.; Unabhängige Kommission Zuwanderung 2001, S. 255 f.). In Großbritannien werden Integrationskurse bereits seit Jahren auf freiwilliger Basis angeboten. Wichtige Dokumente und Memoranden sind in diesem Kontext das „Community Cohesion“ (2001), das sich kritisch mit dem bisherigen Verständnis des britischen Multikulturalismus auseinandersetzt; das Weißbuch „Secure Borders, Safe Haven“ (2002), in dem eine Standardisierung der Sprachund Orientierungskurse für Neuzuwanderer vorgeschlagen wird; das „Gesetz über die Regelung der Staatsangehörigkeit, der Einwanderung und des Asyls“
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Gudrun Hentges
(2002), das von den Einbürgerungswilligen die ausreichende Kenntnis des Englischen, Walisischen oder Gälischen verlangt sowie ausreichende Kenntnisse über das Leben im Vereinten Königreich; und nicht zuletzt der Bericht „The New and the Old“ (Crick Commission 2003), in dem empfohlen wird, dass jedem Inhaber einer (längerfristigen) Aufenthaltserlaubnis die Möglichkeit geboten werden soll, an diesen Kursen teilzunehmen, um sich für die Staatsangehörigkeit zu qualifizieren. Ein vom Innenministerium herausgegebenes Handbuch mit dem Titel „Life in the United Kingdom. A Journey to Citizenship“ (Home Office 2007) fasst die „britischen Kernwerte“ und das „Schlüsselwissen über Großbritannien“ zusammen. Dieses Handbuch dient der Vorbereitung auf den Citizenship Test (vgl. Baringhorst 2009, S. 177). In den Niederlanden sind Neuzuwanderer seit 1998 dazu verpflichtet, an Integrationskursen (ca. 600 Std.) teilzunehmen. Diese umfassen Sprachunterricht, Sozial- und Landeskunde sowie Unterricht zur beruflichen Orientierung. Grundlage ist das „Gesetz über die Eingliederung von Neuankömmlingen“ („Wet Inburgering Nieuwkomers“, WIN) – wobei „Inburgering“ verstanden wird als „Aufnahme als gleichberechtigter Teil in die holländische Gesellschaft“. Zur Teilnahme verpflichtet sind alle Zuwanderer über 16 Jahre, die sich dauerhaft in den Niederlanden aufhalten, Flüchtlinge mit einer langfristigen Aufenthaltsperspektive, aber auch niederländische Staatsbürger/innen, die aus den ehemaligen Kolonien eingewandert sind. Verstöße gegen die Teilnahmepflicht können mit negativen Sanktionen belegt werden. So sieht das Gesetz vor, dass die finanzielle Hilfe zum Lebensunterhalt um 20 bis 40 Prozent gekürzt werden kann; Personen, die keine sozialen Leistungen beziehen, können laut Gesetz zu einer Geldstrafe verurteilt werden. Teilnehmer/innen, die die Abschlussprüfungen nicht bestehen, haben jedoch keine Sanktionen zu befürchten (vgl. Joppke 2007, S. 5 ff.; Jacobs/Rea 2007; Bundesministerium des Innern 2006b, S. 145 f.; Feik 2003, S. 54; Unabhängige Kommission Zuwanderung 2001, S. 253 ff.; Landeszentrum für Zuwanderung NRW 2000). An dieser Regelung wurden die zu starre Stundenzahl kritisiert sowie das – relativ gesehen – zu hohe Sprachniveau (B 1), das von den Teilnehmer(inne)n häufig nicht erreicht wurde. Kritisiert wurde zudem, dass die Teilnehmer/innen nur unregelmäßig die Kurse besuchten. Vor diesem Hintergrund entfaltete sich die Debatte über eine mögliche Novellierung des „Gesetzes über die Eingliederung von Neuankömmlingen“. Die Novellierung trat am 1. Januar 2007 in Kraft und sieht vor, dass Neuzuwanderer bereits in ihrem Herkunftsland einen Niederländisch-Test auf dem Niveau A 1 absolvieren und landeskundliche Kenntnisse nachweisen müssen. Während Neuzuwanderer dazu verpflichtet sind, 3,5 Jahre nach der Einreise die Abschlussprüfung erfolgreich abzulegen, haben Altzuwan-
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derer fünf Jahre Zeit, um die Prüfung zu absolvieren (vgl. Bundesministerium des Innern 2006 b, S. 145 ff.). In Finnland werden aufgrund der demografischen Entwicklung und des Fachkräftemangels gezielt qualifizierte Zuwanderer – vor allem so genannte ethnische Finnen aus der ehemaligen Sowjetunion – als Arbeitskräfte angeworben. Bereits in ihren Herkunftsländern, vor allem in der Russischen Föderation, werden Finnischkurse und Kurse zur sozialen Sensibilisierung für Menschen finnischer Abstammung angeboten (vgl. Länderprofil Finnland 2003). Verstärkt seit Beginn der Neunzigerjahre wandern russische und estnische Staatsbürger/innen finnischer Abstammung nach Finnland ein. Im Laufe der Neunzigerjahre gewann das Thema Integration innenpolitisch an Bedeutung – vor allem mit Inkrafttreten des finnischen Integrationsgesetzes „Act on Integration of Immigrants and Reception of Asylum Seekers” (1999), das sich in erster Linie an Einwanderer richtet, die auf staatliche Transferleistungen angewiesen sind, sowie an Asylbewerber/innen. Integrationsprogramme werden auf kommunaler Ebene in Zusammenarbeit mit Arbeitsämtern und Sozialversicherungsverbänden konzipiert und umgesetzt. Migrantenorganisationen, NGOs, Gewerkschaften, Arbeitgeberorganisationen und andere Akteure auf kommunaler Ebene haben die Möglichkeit zur Stellungnahme. Der Zeitraum, innerhalb dessen die Angebote wahrgenommen werden, hängt von den jeweils vereinbarten „individuellen Integrationsplänen“ ab, ist demnach flexibel und dauert maximal drei Jahre. Das Programm umfasst Finnisch- und Schwedischkurse, berufliche Fort- und Weiterbildungen, Fragen der Selbstmotivation, praktisches Training, Vorbereitungskurse, Praktika, die Integration von Kindern und Jugendlichen sowie gegebenenfalls weitere erforderliche Maßnahmen. Eine teilweise oder vollständige Nichterfüllung des Integrationsplans hat zur Folge, dass Sozialhilfe oder Arbeitslosengeld reduziert oder ganz gestrichen werden (vgl. Werth 2002; Feik 2003, S. 55). Mit der Einführung des „Integrationsgesetzes“ (1999) wurden in Dänemark erstmals für alle eingewanderten Personen und Flüchtlinge über 18 Jahre, die eine Aufenthaltsbewilligung erhalten, kostenlose Dänischkurse angeboten. Dieses Einführungsprogramm dauert – je nach Voraussetzungen – bis zu drei Jahre und umfasst auch berufliche Fort- und Weiterbildungen. Auch sonstige Zuwanderer, die sich zu Arbeits- oder Studienzwecken im Land aufhalten, dürfen an den Kursen teilnehmen (vgl. Ministry of Foreign Affairs of Denmark 2006). Am 1. Januar 2004 trat das „Act on Danish courses for adult aliens, etc.” in Kraft. Das erklärte Ziel dieser Kurse besteht laut Gesetz darin, die notwendigen Sprachkenntnisse und das erforderliche Wissen über die dänische Kultur und Gesellschaft zu vermitteln, um eine gesellschaftliche Teilhabe und berufliche Integration zu ermöglichen. Angeboten werden die Kurse auf unterschiedlichen
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Gudrun Hentges
Niveaus, so dass die Teilnehmer/innen jeweils den Kurs besuchen bzw. Abschluss anstreben können, der ihren sprachlichen Voraussetzungen entspricht.1 Die jeweilige Kommune vereinbart mit dem Einwanderer einen Eingliederungsplan („introduction contract“). Bei vollständiger Kursteilnahme werden den Einwanderern 50 bis 95 Prozent des Sozialtransfersatzes ausbezahlt; bei unvollständiger Teilnahme hingegen können die Sozialleistungen gekürzt oder gestrichen werden. Der Besuch der Dänischkurse hat Auswirkungen auf die Erteilung von unbefristeten Aufenthaltserlaubnissen (vgl. Act No. 375 of May 2003 on Danish courses for adult aliens; Consolidation Act No. 826 of 24 August 2005 of the Danish Ministry of Refugee, Immigration and Integration Affairs 2006; Arbeitstreffen in Sèvres 2004; Bundesamt für Migration und Flüchtlinge 2006a; Bundesministerium des Innern 2006b, S. 147–149). In Österreich müssen Neuzuwanderer mit Niederlassungs- oder Aufenthaltstitel seit der Novellierung des Fremdengesetzes (2002) eine Integrationsvereinbarung abschließen, mit der sie sich dazu verpflichten, ihre Zweitsprachenkompetenz zu verbessern. Spätestens vier Jahre nach Erteilung der Erstniederlassungsbewilligung müssen die Neuzuwanderer nachweisen, dass sie die Integrationsvereinbarung erfüllt haben. Erst dann kann ihnen ein Niederlassungsnachweis erteilt werden, sofern sie seit fünf Jahren in Österreich leben und über ein eigenständiges Einkommen verfügen. Sind diese Bedingungen nicht erfüllt, wird der betreffenden Person nur eine befristete Niederlassungsbewilligung erteilt (vgl. Feik 2003, S. 55 f.). Zunächst sah die Integrationsvereinbarung vor, dass die Teilnehmer/innen innerhalb von 100 Stunden Sprachkurs das Niveau A1 erreichen sollten. Mit der am 1. Januar 2006 in Kraft getretenen erneuten Novellierung des „Fremdengesetzes“ wurden Stundenzahl (von 100 auf 300) und Sprachniveau (von A1 auf A2) erhöht; zudem wurde ein Alphabetisierungskurs optional vorgeschaltet: „§ 6. (1) Der Alphabetisierungskurs umfasst 75 und der Deutsch-Integrationskurs 300 Unterrichtseinheiten zu je 45 Minuten.“ (Integrationsvereinbarungs-Verordnung – IV-V 2006; vgl. auch: Bundesministerium des Innern 2006b, S. 143 f.; Jacobs/Rea 2007) In Frankreich wurde mit Inkrafttreten des neuen Einwanderungsgesetzes (loi relative à l’immigration et à l’intégration, Nr. 2006-911) vom 24. Juli 2006 der Aufnahme- und Integrationsvertrag, der zuvor im Rahmen eines Pilotprojekts in 26 französischen Départements auf freiwilliger Basis erprobt wurde, verpflichtend eingeführt (vgl. Französische Botschaft in Deutschland 2006). Mit Unterzeichnung des Aufnahme- und Integrationsvertrags verpflichten sich Einwanderer, die dauerhaft in Frankreich leben wollen, den Vertrag zu erfüllen, der neben den Sprachkursen in Französisch die Teilnahme an einem eintägigen 1
Es werden folgende Niveaus angeboten: Dänisch 1 (schriftlich A2, mündlich B1), Dänisch 2 (schriftlich B1, mündlich B1-B2), Dänisch 3 (B2 bzw. C1).
Integrations- und Orientierungskurse. Konzepte – Kontroversen – Erfahrungen
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Pflichtunterricht in Staatsbürgerkunde vorsieht. Teilnehmer/innen dieser Kurse sollen nach maximal 500 Stunden Unterricht das Niveau A1.1 (eine in Frankreich eingeführte Zwischenstufe) erreicht haben, wobei die Prüfung mündlich abgelegt wird. Die Ausstellung einer ersten Daueraufenthaltserlaubnis oder auch die Entscheidung über Einbürgerung hängen davon ab, ob die betreffende Person einen Aufnahme- und Integrationsvertrag unterzeichnet und die erforderlichen Kenntnisse der französischen Sprache durch eine erfolgreich abgelegte Prüfung unter Beweis gestellt hat (vgl. International Centre for Migration Policy Development 2005, pp. 136–146; Arbeitstreffen in Sèvres 2004; Arbeitstreffen in Sèvres 2005, S. 21–23; Französische Botschaft in Deutschland 2006; Focus Migration 2007; Joppke 2007, S. 9 ff.). Wie dieser Überblick zeigt, werden mittlerweile in fast allen westeuropäischen Ländern Integrationskurse (Sprach- und Orientierungskurse) angeboten. Einige Länder (Großbritannien) setzen – noch – auf die freiwillige Teilnahme an diesen Kursen; in anderen Ländern (Dänemark, Finnland, Frankreich, Niederlande, Österreich) ist die Teilnahme für alle Neuzuwanderer oder zumindest für bestimmte Gruppen von Einwanderern (Schweden) verpflichtend. Die Gesetze, Durchführungsbestimmungen und Verordnungen auf nationaler Ebene sehen eine breite Palette unterschiedlicher Sanktionen vor. Die Teilnahme an den Kursen wird insofern positiv sanktioniert, als die erfolgreiche Teilnahme die Einbürgerung erleichtert (Großbritannien, Frankreich) oder auch als Voraussetzung für die Verfestigung des Aufenthaltsstatus dient. Die Nichtteilnahme an den Kursen wird negativ sanktioniert, indem staatliche Leistungen (Arbeitslosengeld, Sozialhilfe) gekürzt werden oder deren Zahlung (Arbeitslosengeld) ausgesetzt wird – bis hin zur Androhung einer Ausweisung (vgl. auch die Synopse: Arbeitstreffen in Sèvres 2005, S. 29 f.). Noch bevor die seit einigen Jahren gesammelten Erfahrungen in den verschiedenen Ländern systematisiert und ausgewertet wurden, begann in der Bundesrepublik Deutschland die Debatte über die Einführung von Integrationskursen, wobei die „Unabhängige Kommission Zuwanderung“ (2001, S. 252 ff.) in ihrem Bericht vor allem auf die Erfahrungen in den Niederlanden und Schweden zurückgriff. 2
Integrationskurse in der Bundesrepublik Deutschland
Die bundesdeutsche Diskussion über das Zuwanderungsgesetz und die Integrationskurse stieß bei zahlreichen Flüchtlingsinitiativen, Migrantenorganisationen,
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Gudrun Hentges
Wohlfahrtsverbänden und sozialen Diensten auf Kritik, die sich u.a. auf folgende Aspekte konzentrierte:2
2
Begriffe wie „Sprachförderung“ und „Integrationskurse“ seien diskriminierend und entstammten der Behinderten- und Kleinkindpädagogik (Flüchtlingsrat Berlin) Das Ziel, nach 600 Stunden Deutschunterricht das Sprachniveau B1 zu erreichen (entspricht dem Sprachniveau bei Abschluss der Realschule/Mittlere Reife), wird als illusorisch eingeschätzt. Die Türkische Gemeinde in Deutschland (TGD) kritisiert, das Erlernen der deutschen Sprache und die Integration könnten nicht durch Zwang erreicht werden. „Wo Zwang ausgeübt wird, regt sich Widerstand, und zwar bei allen Menschen. Deshalb muss die Teilnahme an den Integrationskursen durch Anreize gefördert werden.“ (Türkische Gemeinde in Deutschland 2001) Pro Asyl warnt vor einer „Verstaatlichung“ der Integrationspolitik, was auch dazu führen könne, dass sich die gesamte Palette der integrationspolitischen Instrumente auf die Kurse reduziert und andere Angebote der Migrationsberatung und -sozialarbeit zunehmend unter Legitimationsdruck geraten (vgl. Pro Asyl 2002). Die zusätzliche Vermittlung von Kenntnissen über das politische und gesellschaftliche System Deutschlands und über die demokratischen Grundwerte sollte – so argumentiert beispielsweise der Flüchtlingsrat Berlin – eigentlich eine Selbstverständlichkeit sein. Die explizite Aufnahme des Orientierungskurses als ein Bestandteil des Integrationskurses unterstelle, dass Ausländer generell ein Problem mit der Anerkennung demokratischer Grundwerte haben. Problematisiert wird ferner, dass das Zuwanderungsgesetz eine sozialpädagogische Betreuung und Kinderbetreuung nur für die Kinder von Spätaussiedlern (§ 9 Abs. 1 Bundesvertriebenengesetz), nicht jedoch für Kinder von Ausländer(inne)n (§ 43 ff. AufenthG) vorsieht. Eine weitere Unterscheidung zwischen Ausländer(inne)n und Spätaussiedler(inne)n findet sich auch bei der Frage des Kostenbeitrags. Ausgenommen von der Zahlung der Kursgebühren (1 EUR pro Stunde = 630 EUR) sind Spätaussiedler/innen. Von den Gebühren befreit werden darüber hinaus Empfänger/innen des Arbeitslosengelds II (vgl. § 9 Abs. 2 Intv.).
Diese Kritikpunkte beziehen sich auf das Zuwanderungsgesetz, das am 1. Januar 2005 in Kraft trat, und die Integrationskursverordnung (Bundesregierung 2005b), nicht hingegen auf die Erste Verordnung zur Änderung der Integrationskursverordnung, die am 21. November 2007 im Bundeskabinett verabschiedet wurde (vgl. Presse- und Informationsamt der Bundesregierung 2007).
Integrations- und Orientierungskurse. Konzepte – Kontroversen – Erfahrungen
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Ungeklärt ist weiterhin die Frage der finanziellen Möglichkeiten der Teilnehmer/innen mit geringem Einkommen, da sie neben der Kursgebühr – insbesondere in ländlichen Regionen – die Fahrten zum Deutschkurs finanzieren müssen.
Ungeachtet dieser im Vorfeld geäußerten Kritik am Gesetzentwurf und an der Integrationskursverordnung trat das Zuwanderungsgesetz am 1. Januar 2005 in Kraft. Als zentrales – und auch einziges – Instrument der Integration sieht das Zuwanderungsgesetz Integrationskurse vor, die für Neuzuwanderer verpflichtend sind. Im Kapitel 3 (§ 43, Förderung der Integration) heißt es: „Die Integration von rechtmäßig auf Dauer im Bundesgebiet lebenden Ausländern in das wirtschaftliche, kulturelle und gesellschaftliche Leben in der Bundesrepublik Deutschland wird gefördert.“ Eingliederungsbemühungen von Neuzuwanderern (erstmals werden Ausländer/innen und Spätaussiedler/innen gemeinsam unter die Kategorie der Neuzuwanderer subsummiert) sollen durch Integrationskurse unterstützt werden. Solche Kurse umfassen Angebote, die Migrant(inn)en an die Sprache, die Rechtsordnung, die Kultur und die Geschichte in Deutschland heranführen. Das Ziel dieser Kurse besteht darin, sie mit den Lebensverhältnissen im Bundesgebiet vertraut zu machen, damit sie ohne Hilfe oder Vermittlung Dritter ihren Alltag selbstständig bewältigen können. Wie in der Integrationskursverordnung festgelegt, dient der Integrationskurs neben „dem Erwerb ausreichender Kenntnisse der deutschen Sprache (...) der Vermittlung von Alltagswissen sowie von Kenntnissen der Rechtsordnung, der Kultur und der Geschichte in Deutschland, insbesondere auch der Vermittlung der Werte des demokratischen Staatswesens der Bundesrepublik Deutschland und der Prinzipien der Rechtsstaatlichkeit, Gleichberechtigung, Toleranz und Religionsfreiheit.“ (Bundesregierung 2005b)3 Die im Gesetz festgeschriebenen Integrationskurse umfassen neben einem Sprachkurs (600 Stunden) einen Orientierungskurs (30 Stunden) zur Vermittlung von Kenntnissen der Rechtsordnung, der Kultur und der Geschichte in Deutschland.4 Der Orientierungs- und der Sprachkurs werden jeweils mit einer Prüfung 3
4
„Zu § 12 Absatz 1: Der Orientierungskurs soll das Sprachkursangebot ergänzen und den Integrationsprozess beschleunigen. Die Durchführung des Orientierungskurses erfolgt im Anschluss an den Sprachkurs und in deutscher Sprache (vgl. § 10 Abs. 1). Er bietet neben der reinen Wissensvermittlung auch Anwendungs- und Weiterentwicklungsmöglichkeiten der erreichten Sprachkenntnisse und führt insoweit zu einem Synergieeffekt. Der Integrationskurs sollte möglichst in einer Hand bleiben, da die Lehrkraft bereits die Teilnehmer kennt und die individuellen Lernfähigkeiten und Lernvoraussetzungen einschätzen kann.“ (Bundesregierung 2005b) In Auswertung der Erfahrungen, die seit dem 1. Januar 2005 mit den Sprach- und Orientierungskursen gesammelt wurden, sieht die neue Integrationskursverordnung – bei Bedarf – eine Erhöhung des Stundenkontingents von 600 auf 900 Stunden Sprachkurs vor.
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Gudrun Hentges
abgeschlossen, wobei zunächst der Orientierungskurs erfolgreich abgeschlossen worden sein muss, bevor der Kursteilnehmer zur abschließenden Sprachprüfung zugelassen wird. Die Koordination und Durchführung dieser Kurse übernimmt das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF), welches seit Beginn des Jahres 2005 Bildungsträger als Träger der Integrationskurse anerkennt. Zurzeit besitzen ca. 1.800 Kursträger an 5.600 Orten eine Zulassung zur Durchführung der Integrationskurse (vgl. http://www.integration-in-deutschland.de; 14.8.2007). Teilnehmen sollen jene Neuzuwanderer, die sich dauerhaft im Bundesgebiet aufhalten, wenn sie erstmals eine Aufenthaltserlaubnis (zu Erwerbszwecken, zum Zwecke des Familiennachzugs, aus humanitären Gründen) oder Niederlassungserlaubnis erhalten. Sofern noch Plätze zur Verfügung stehen, dürfen auch Altzuwanderer (Personen, die seit über zwei Jahren im Bundesgebiet leben) die Kurse besuchen. Folgende Gruppen sind zu einer Teilnahme verpflichtet: Neuzuwanderer, die sich nicht auf einfache Weise in deutscher Sprache mündlich verständigen können, Altzuwanderer, die von der Ausländerbehörde zur Teilnahme an einem solchen Kurs aufgefordert werden. Personen, die ihrer Pflicht zur Teilnahme nicht nachkommen, werden von der Ausländerbehörde vor Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis auf die Auswirkungen der Pflichtverletzung und der Nichtteilnahme am Integrationskurs hingewiesen. Sofern sie der Teilnahmepflicht nicht nachkommen, kann die leistungbewilligende Stelle für die Zeit der Nichtteilnahme die Leistungen bis zu zehn Prozent kürzen.5 Eine Bilanz der Integrationskurse der Jahre 2005 bis 2007 zeigt die Übersicht 1.
5
„Gleiches soll rückwirkend für jene gelten, die noch keine sechs Jahre im Land sind und keine ausreichenden Deutschkenntnisse nachweisen können. Daran knüpfen sich positive wie negative Sanktionen: Wer die Kurse nicht oder nicht erfolgreich absolviert, muss der Ausländerbehörde Rechenschaft ablegen. Dies kann unter Umständen Konsequenzen haben, wenn die Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis beantragt wird. Wer die Kurse hingegen mit Erfolg besucht, soll schon nach sieben Jahren eingebürgert werden können.“ Deutschland: Kabinett verabschiedete Gesetzentwurf zu Zuwanderung und Integration, in: Migration und Bevölkerung, November 2001, S. 1
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Integrations- und Orientierungskurse. Konzepte – Kontroversen – Erfahrungen
Übersicht 1: Bilanz der Integrationskurse der Jahre 2005, 2006 und 20076 Integrationskurse7
2005
2006
2007
Anzahl der begonnenen Kurse
8.666
8.205
8.428
Anzahl der laufenden Kurse (Stichtag 31.12)
5.504
6.175
8.992
Anzahl der beendeten Kurse
3.164
7.528
5.607
Nach Kursart
2005
2006
2007
Integrationskurse allgemein
7.400
6.673
6.059
Jugendintegrationskurse
113
64
82
Eltern- bzw. Frauenintegrationskurse
456
618
876
Kurse mit Alphabetisierung
227
805
1.393
0
5
17
Sonstige spezielle Integrationskurse Förderkurs Gesamt
1 8.196
8.165
8.428
2005
2006
2007
Anzahl der neuen Kursteilnehmer Nach Kursart Integrationskurse allgemein
Jugendintegrationskurse
Eltern- bzw. Frauenintegrationskurse Kurse mit Alphabetisierung
Sonstige spezielle Integrationskurse
117.906
99.623
87.545
(90,2 %)
(84,5 %)
(76,5 %)
2.063
899
1.064
(1,6 %)
(0,8 %)
(0,9 %)
7.875
10.063
13.070
(6 %)
(8,5 %)
(11,4 %)
2.884
7.331
12.546
(2,2 %)
(6,2 %)
(11 %)
0
38
128
130.728
117.954
114.365
(Personen mit Behinderung) Gesamt 6 7
Quellen: Bundesamt für Migration und Flüchtlinge 2006b, Bundesamt für Migration und Flüchtlinge 2007, Bundesamt für Migration und Flüchtlinge 2008 Nach Datenbereinigung haben sich die Vergleichszahlen der Vorjahre verändert.
34
Kursabsolventen im Jahr 2005
Kursabsolventen im Jahr 2006
Teilnehmer an lfd. Kursen am 31.12.2007
Kursabsolventen im Jahr 2007
23.770 (23,9 %)
5.317 (16,9 %)
43.579 (31 %)
22.427 (29,4 %)
43.895 (38,40 %)
26.013 (38,80 %)
17.776
3.493
34.284
16.716
35.3758 (30,90 %)
20.3829 (30,40 %)
davon Neuzuwanderer, berechtigt
8.520 (7,50 %)
5.631 (8,40 %)
Altzuwanderer und EU Bürger
61.724 (54 %)
35.742 (53,30 %)
14.835 (13 %)
9.071 (13,50 %)
1.490 (1,3 %)
14 (0,02 %)
nach Berechtigungstyp Neuzuwanderer davon Neuzuwanderer, verpflichtet
davon verpflichtet (ABH)
8.392 (8,5 %)
1.361 (4,3 %)
Teilnehmer an lfd. Kursen am 31.12.2006
Teilnehmer an lfd. Kursen am 31.12.2005
Gudrun Hentges
16.772 (12 %)
7.816 (10,2 %)
ALG II Bezieher (GS) davon zugelassen
52.715 (53,1 %)
16.086 (51,1 %)
72.000 (51 %)
31.716 (41,5 %)
45.399 (39,70 %)
26.657 (39,80 %)
Spätaussiedler (BVA)
14.373 (14,5 %)
8.714 (27,7 %)
8.452 (6 %)
14.442 (18,9 %)
5.084 (4,4 %)
5.223 (7,8 %)
3.662 (3,2 %)
74 (0,1 %)
114.365
67.052
Deutsche (BAMF)10 Insges.
8 9 10
99.250
31.478
140.803
76.401
Davon 581 Verpflichtungen nach der Neuregelung im Ehegattennachzug, zuzüglich 142 Kurswiederholer in 2007. Davon 581 Verpflichtungen nach der Neuregelung im Ehegattennachzug, zuzüglich 142 Kurswiederholer in 2007. In der Statistik des Jahres 2007 werden „Deutsche“ gesondert als Teilnehmer und Absolventen ausgewiesen.
35
Integrations- und Orientierungskurse. Konzepte – Kontroversen – Erfahrungen
2005 11
2006
2007
Insgesamt
76.401
67.052
174.931
Kursabsolventen davon
31.478
Prüfung teilgenommen
17.482 (55,5 %)
50.952 (66,7 %)
43.853 (65,4 %)
112.287 (64,2 %)
Prüfung bestanden
12.151 (38,6 %)
36.599 (47,9 %)
29.544 (44,1 %)
78.294 (44,8 %)
Bereits wenige Monate, nachdem die ersten Integrationskurse in verschiedenen deutschen Städten begonnen hatten, zeichnete sich ab, dass dieses Angebot insbesondere bei „berechtigten länger in Deutschland lebenden Ausländern“12 auf große Resonanz stieß. Dieser überraschende Trend bestätigt sich auch mit Blick auf die Jahre 2005 und 2006. Mehr als die Hälfte aller Kursteilnehmer/innen (2005: 54 Prozent, 2006: 51 Prozent) zählten zu der Gruppe „durch das BAMF zugelassene Altzuwanderer“. Im Jahr 2007 betrug der Anteil dieser Gruppe immerhin noch ca. 40 Prozent. Bemerkenswert ist vor allem, dass die Migrant(inn)en mit ihrem Interesse an Sprach- und Orientierungskursen eine These widerlegten, die in den vorangegangenen Jahren häufig in der politischen Öffentlichkeit und in den Medien kursierte: Ausländer/innen seien generell integrationsunwillig, neigten dazu, sich in Parallelgesellschaften zurückzuziehen, verweigerten sich den gesellschaftlichen Anforderungen und seien nicht dazu bereit, die deutsche Sprache zu erlernen. Die Tatsache, dass zwischen 2005 und 2007 ca. 170.000 Einwanderer ohne jeden Zwang diese Kurse besuchten, dokumentiert deren Interesse am Erwerb der deutschen Sprache und an einer Auseinandersetzung mit Gesellschaft und Politik der Bundesrepublik Deutschland. Von ca. 127.000 Anträgen auf Teilnahme an einem Kurs (2005) wurden 121.476 Anträge (95,65 Prozent) bewilligt. Demnach waren über 5.500 Altzuwanderer zwar an einer Kursteilnahme interessiert, wurden jedoch als „nicht berechtigt“ abgelehnt. Zu den Gründen der Ablehnung äußerte sich die Bundesregierung leider nicht (vgl. Bundesregierung 2006). Zu vermuten ist jedoch, dass auch geduldete Flüchtlinge, von denen ca. 48.000 seit über zehn Jahren in Deutschland leben, unter den Bewerbern zu finden sind. Geduldete Flüchtlinge wurden bis Ende 2007 als „nicht berechtigt“ abgelehnt.13 Aufgrund der Neufas11 12 13
Die Zahlen zu 2005 beinhalten Nacherfassungen, die erst im Jahr 2006 eingegangen sind. Diese Gruppe wurde von Seiten des BMI und des BAMF zunächst als „Bestandsausländer“ tituliert, aufgrund der vehementen Kritik wurde dieser Begriff durch „Altzuwanderer“ ersetzt. Geduldete Flüchtlinge (laut Angaben des BAMF umfasste diese Gruppe 2004 387.000 Personen) waren zunächst nicht dazu berechtigt, an den Integrationskursen teilzunehmen – unabhän-
36
Gudrun Hentges
sung der Integrationskursverordnung (v. 5.12.2007) können auch Inhaber eines Aufenthaltstitels nach § 23 Abs. 1 Satz 1 i.V. mit § 104a Abs. 1 Satz 2 oder nach § 104a Abs. 1 Satz 1 des Aufenthaltsgesetzes an den Integrationskursen teilnehmen. Es handelt sich hier um langjährig geduldete Flüchtlinge oder um jene, denen eine Aufenthaltserlaubnis erteilt worden ist, da sie sich zum Stichtag (1. Juli 2007) seit mindestens acht Jahren ununterbrochen in der Bundesrepublik aufgehalten haben. Leben die geduldeten Flüchtlinge mit einem oder mehreren Kindern in einer häuslichen Gemeinschaft, verkürzt sich die Frist auf sechs Jahre. Zudem müssen folgende Voraussetzungen erfüllt sein: ausreichender Wohnraum, hinreichende mündliche Deutschkenntnisse, Schulbesuch der Kinder im schulpflichtigen Alter, keine vorsätzliche Täuschung der Ausländerbehörde, keine Bezüge zu extremistischen oder terroristischen Organisationen, keine Verurteilung wegen einer Straftat (Aufenthaltsgesetz, § 104a Altfallregelung; vgl. auch Hentges/Staszczak 2010). Entsprechend den Zielvorgaben sollten die Kursteilnehmer/innen nach 600 Stunden Sprachunterricht das Niveau B1 erreichen – eine Vorgabe, die von Sprachlehrer(inne)n bereits im Vorfeld als illusorisch eingeschätzt wurde. Die Bilanz der Jahre 2005 bis 2007 zeigt, dass von den insgesamt 354.418 Kursteilnehmer(inne)n innerhalb dieser drei Jahre ca. 175.000 den Kurs bis zu Ende besucht haben. Ca. 112.300 Personen nahmen an der Abschlussprüfung teil, ca. 78.300 bestanden die Prüfung, erreichten das Niveau B1 und erhielten somit das Zertifikat Deutsch (vgl. Bundesministerium des Innern 2006a, BAMF 2008). Damit absolvierten in den Jahren 2005, 2006 und 2007 ca. 22 Prozent aller Kursteilnehmer/innen erfolgreich die Abschlussprüfung. Angesichts der Tatsache, dass lediglich die Hälfte den Kurs absolvierten und ca. 36 Prozent derjenigen, die an der Prüfung teilnahmen, diese nicht bestanden, stellte sich die Frage, ob nicht erheblicher Veränderungsbedarf bei der Konzeption dieser Kurse besteht. Im Laufe der letzten Jahre fand die kritische Bewertung der Integrationskurse Eingang in zahlreiche Berichte, Gutachten und Gesetzentwürfe. Die Debatte über den Reformbedarf der Integrationskurse gewann an Dynamik (vgl. Wegner 2007, S. 69 ff.) und wurde angeregt durch
die Evaluation der Integrationskurse (Abschlussbericht und Gutachten über Verbesserungspotenziale bei der Umsetzung der Integrationskurse, Dezember 2006), gig davon, wie lange sie bereits in der Bundesrepublik Deutschland leben. Nach Angaben der Bundesregierung leben ca. 48.000 Personen seit über zehn Jahren mit einer so genannten Duldung in der Bundesrepublik, weitere 5.426 Personen mit einer so genannten Aufenthaltsgestattung (vgl. Bundesregierung 2005a; Teilstatistik Ausländer- und Flüchtlingszahlen, dokumentiert auf der Internetseite des BAMF).
Integrations- und Orientierungskurse. Konzepte – Kontroversen – Erfahrungen
37
den Nationalen Integrationsplan (März 2007), die Bundestagsdebatte über die Novellierung des Zuwanderungsgesetzes (Umsetzung aufenthalts- und asylrechtlicher Richtlinien der Europäischen Union) am 13. Juni 2007, den zweiten Integrationsgipfel am 12. Juli 2007 (Bundesministerium des Innern 2007) sowie diverse Stellungnahmen von Kursträgern und Migrantenorganisationen.
Ohne die kritische Auseinandersetzung mit den gesetzlichen Bestimmungen und der praktischen Umsetzung detailliert nachzeichnen zu können, sei hier auf einige Aspekte verwiesen, die sich in der Debatte als dringend reformbedürftig herauskristallisierten: Bereits ab dem 1. Juli 2007 bezuschusst das BAMF die Qualifizierung der Dozent(inn)en, um eine bessere Qualität von Sprach- und Orientierungskursen zu erreichen. Im Bundeshaushalt 2008 wurden die Kurse mit ca. 155 Mio. EUR veranschlagt (14 Mio. mehr als im Vorjahr). Diese Mittel waren jedoch bereits im Bundeshaushalt 2006 drastisch gekürzt worden. Im Jahr der Einführung der Integrationskurse (2005) hatte das Budget noch ca. 208 Mio. EUR betragen. Die kritische Auseinandersetzung mit den Integrationskursen mündete in eine neue Integrationskursverordnung (vgl. Bundesregierung 2007), die am 21. November 2007 im Bundeskabinett verabschiedet wurde und folgende Maßnahmen vorsieht:
Eine verbesserte Fahrtkostenerstattungsregel für verpflichtete und kostenbefreite Teilnehmer/innen soll deren Teilnahme gewährleisten (vgl. ebd., S. 3 f., S. 8, S. 16 sowie § 4 und § 14). Für den Orientierungskurs stehen nun nicht mehr 30, sondern 45 Stunden zur Verfügung (vgl. ebd., § 12). Unter dem Eindruck der Kritik an der zu knapp bemessenen Stundenzahl und der relativ geringen Erfolgsquote bei den Abschlussprüfungen sieht diese Verordnung eine Flexibilisierung des Stundenkontingents vor. Für spezielle Zielgruppen (Jugendliche, Frauen bzw. Eltern, Analphabeten, Personen mit einem sprachpädagogischen Förderbedarf) werden Integrationskurse angeboten, die 900 Stunden umfassen (vgl. ebd., § 13). Für Teilnehmer/innen, die bei dem Einstufungstest besonders gut abgeschnitten haben, kann der Integrationskurs mit einem reduzierten Stundenumfang als Intensivkurs angeboten werden, der 430 Unterrichtsstunden umfasst (vgl. ebd., § 13). Durch eine Verringerung der Gruppengröße auf 20 Teilnehmer/innen soll die Chance auf einen erfolgreichen Abschluss erhöht werden (vgl. ebd., § 14).
38
3
Gudrun Hentges
Ferner sieht die neue Integrationskursverordnung vor, dass in Zukunft alle Teilnehmer/innen an der Abschlussprüfung teilnehmen müssen, da sie nur so eine ordnungsgemäße Kursteilnahme nachweisen können (vgl. ebd., § 17). Die Kostenerstattung (BAMF an Kursträger) wird von 2,05 EUR auf 2,35 EUR pro Stunde und Teilnehmer/in erhöht (vgl. S. 4). Die Verordnung wird auch jenen Personen die Teilnahme an einem Integrationskurs gestatten, die als geduldete Flüchtlinge unter die Bleiberechtsregelung fallen (vgl. ebd., S. 9). Orientierungskurse als Teil der Integrationskurse
Der Integrationskurs umfasste bislang neben den 600 Stunden Sprachkurs einen 30-stündigen Orientierungskurs, der ebenfalls erfolgreich absolviert werden muss. Während die Bildungsträger im Sprachenbereich über jahrelange Erfahrungen mit Deutsch als Fremdsprache bzw. Deutsch als Zweitsprache verfügen, stellt die Einführung des Orientierungskurses die Kursträger und auch die Dozent(inn)en und Sprachlehrer/innen vor neue Herausforderungen. So sorgte der Vorschlag, Orientierungskurse als Bestandteil eines Integrationskurses aufzunehmen, vor dem Inkrafttreten des Zuwanderungsgesetzes für Kontroversen. Bei den Orientierungskursen handelt es sich um ein integrationspolitisches Novum. Auch wenn die Orientierungskurse mit ca. 5 Prozent Stundenanteil kaum ins Gewicht fallen, wurde (und wird) heftig über deren Ausrichtung diskutiert. 3.1 Dimensionen von Orientierung In der Phase der Einführung von Orientierungskursen wurde der Begriff nicht weiter problematisiert, sondern von den europäischen Nachbarstaaten übernommen, die bereits Erfahrungen mit so genannten „orientation courses“ gesammelt hatten. Da „Orientierung“ zu einem „allgegenwärtigen Begriff“ (Schildknecht 2005, S. 138) geworden ist, ging man in der Debatte, ohne den Begriff zu hinterfragen, davon aus, dass jeder, der den Begriff hört, eine Vorstellung davon haben wird, was Gegenstand und Ziel solcher Kurse sein könnte. Doch was verbirgt sich hinter dem Begriff „Orientierung“? Die Grundbedeutung entstammt einerseits dem Kirchenbau, andererseits der Kartographie: Kirchen werden so erbaut, dass die Apsis gen Osten – also in Richtung des Orients, des Sonnenaufgangs – weist, Landkarten so entworfen, dass deren Richtungen mit denen der Welt zur Deckung gebracht werden (vgl. Luckner 2005,
Integrations- und Orientierungskurse. Konzepte – Kontroversen – Erfahrungen
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S. 226; Thomä 2005, S. 289; Stegmaier 2005b, S. 25). „‚Orientieren‘ heißt also ursprünglich, im irreflexiven Gebrauch des Wortes: nach Osten ausrichten. ‚Sichorientieren‘, also der reflexive und metaphorische Gebrauch des Wortes, bedeutet dementsprechend: sich (seinem Handeln, seinem Leben) eine Richtung geben.“ (Luckner 2005, S. 226) Orientierung kann demnach als eine Leistung verstanden werden, sich in wechselnden Situationen zurechtzufinden und in diesen Situationen Handlungsmöglichkeiten zu erschließen (vgl. Stegmaier 2005b, S. 25). Eingang in die Philosophie fand der Begriff im 18. Jahrhundert, zunächst durch Moses Mendelssohn („Morgenstunden“), dann durch Immanuel Kant, der mit seiner Schrift „Was heißt: Sich im Denken orientieren?“ (1786) die bedeutendste Grundlage des Denkens der Orientierung geschaffen hat (vgl. Stegmaier 2005a, S. 9 f.). Ausgehend von seiner ursprünglich geographischen Bedeutung (i.S. der Ausrichtung am Orient) wurde der Begriff zu einer Metapher und fand Eingang in die unterschiedlichen Fachrichtungen. An dieser Stelle sei auf Stefan Kammhuber und Alexander Thomas verwiesen, die – im Kontext der Debatte um Orientierungskurse – folgende Dimensionen von Orientierung unterscheiden:
die Orientierung auf das Selbst, die Orientierung auf die gegenständliche Umwelt (Raum und Zeit, Objektorientierung) sowie die Orientierung auf die soziale Umwelt (vgl. Kammhuber/Thomas 2004, S. 152).
Die Orientierung auf das Selbst umfasst das Selbstbild, Vorstellungen über den eigenen Körper, die eigenen Fähigkeiten, Motive und Einstellungen. Die Orientierung auf die gegenständliche Umwelt setzt voraus, dass Menschen in der ihr zunächst fremden Umgebung eine „mentale Landkarte“ entwerfen, d.h., sie entwickeln eine Vorstellung davon, wie Raum und Zeit in der Aufnahmegesellschaft strukturiert sind und von welcher Bedeutung Raum und Zeit im sozialen Miteinander sind. Darüber hinaus umfasst die Orientierung auf die gegenständliche Umwelt eine Objektorientierung, d.h. das Wissen um die Funktion bestimmter Gegenstände in einer Gesellschaft. Die Dimension Orientierung auf die soziale Umwelt umfasst die weitgehend akzeptierten, historisch gewachsenen Werte, Normen und Regeln, deren Einhaltung eingefordert und deren Nichtbeachtung möglicherweise negativ sanktioniert wird. In der Konfrontation und Auseinandersetzung mit ihrer sozialen Umwelt entwickeln Menschen ein „kulturelles Orientierungssystem“, überdenken ihr Alltagshandeln und verändern es möglicherweise.
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Gudrun Hentges
Ausgehend von unterschiedlichen Bedeutungsdimensionen des Begriffs „Orientierung“ wurden im Laufe der letzten Jahre verschiedene Pilotprojekte – zunächst auf kommunaler oder lokaler Ebene – durchgeführt.14 Grob lassen sich hierbei zwei verschiedene Typen von Orientierungskursen unterscheiden:
herkunftssprachliche Orientierungskurse, die das Ziel verfolgen, Migrant(inn)en in der Aufnahmegesellschaft Orientierungshilfen zu geben (Pilotprojekte in Frankfurt am Main und München) sowie deutschsprachige Orientierungskurse, die den Neuzuwanderern in erster Linie Kenntnisse über deutsches Recht, deutsche Kultur und Geschichte vermitteln wollen und implizit oder explizit abzielen auf eine Identifikation mit der bundesdeutschen Gesellschaft (Pilotprojekt Nürnberg und die im Zuwanderungsgesetz verankerten Kurse).
3.2 Herkunftssprachliche Orientierungskurse Die Stadt Frankfurt am Main bietet seit September 2001 Orientierungskurse für Neuzuwanderer an, die eine Aufenthaltserlaubnis erhalten haben. Grundlage dieser Kurse war ein Magistratsbeschluss zur Einrichtung eines integrierten Sprachund Orientierungskursangebots. Mitarbeiter/innen des Amtes für multikulturelle Angelegenheiten (AmkA) wurden damit betraut, diese Kurse zu konzipieren und umzusetzen. Die Hessische Stiftung für Friedens- und Konfliktforschung (HSFK) übernahm deren wissenschaftliche Begleitung und Evaluation (vgl. Büttner u.a. 2004). Die ersten Kurse starteten im September 2001. Es handelte sich um ein zunächst kostenloses zielgruppenspezifisches Angebot, das drei Bestandteile umfasste: 14
Richard Wolf und Friedrich Heckmann unterscheiden in ihrem Projektbericht folgende Typologien: Integrationskurs Typ I bezeichnet eine Integrationsmaßnahme – bestehend aus einem Sprach- und einem Orientierungskursmodul –, die sich in erster Linie an Neuzuwanderer richtet. Dessen Schwerpunkt ist in erster Linie auf die sprachliche Förderung durch das Sprachkursmodul ausgerichtet. Die Vermittlung eines bestimmten Orientierungswissens und die Hilfestellung zur beruflichen Integration im Orientierungskursmodul sind sekundär. Durchgeführt wurde dieser Typ des Integrationskurses beispielsweise in den Niederlanden und Schweden und seit 2003 in Österreich. Diesen Integrationskurstyp sieht das Zuwanderungsgesetz vor. Bei dem Integrationskurs Typ II handelt es sich um eine Integrationsmaßnahme, deren Zielgruppe jene Migranten sind, die bereits seit längerer Zeit im Aufnahmeland leben und über Grundkenntnisse der Sprache des Aufnahmelandes verfügen. In solchen Integrationskursen werden in erster Linie sozialkundliche Inhalte vermittelt. Da im Zuge der Einbürgerung möglicherweise Kenntnisse des politischen Systems der Bundesrepublik Deutschland nachgewiesen werden müssen, können solche Kurse als Vorbereitung für Einbürgerungen dienen (vgl. Wolf/Heckmann 2003).
Integrations- und Orientierungskurse. Konzepte – Kontroversen – Erfahrungen
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Erstinformation für die potenzielle Zielgruppe, Orientierungsangebote für ein erstes Zurechtfinden in Frankfurt, Vermittlung von Sprachkursen.
Innerhalb des Zeitraums 2002/2003 nahmen fast 2.000 Neuzuwanderer an diesen Kursen teil (ca. 60 % Frauen und 40 % Männer). Die Teilnehmer/innen verpflichteten sich dazu, alle Programmteile zu absolvieren: sowohl die in der Herkunftssprache durchgeführten Orientierungskurse als auch die teilnehmerbezogene Sprachförderung. Charakteristisch für das Frankfurter Pilotprojekt ist das offene Curriculum. Das Ziel des Kurses bestand darin, Neuzuwanderer in die Lage zu versetzen, weitestgehend selbstständig am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen. Demnach umfasste der Kurs neben Informationsangeboten auch Beratungsangebote zu alltagspraktischen Themen, ferner Beratung zur beruflichen Orientierung und zum Erwerb von Kenntnissen und/oder Erfahrungswissen in Bezug auf politische und gesellschaftliche Strukturen und Abläufe. Diejenigen, die die Konzeption des Kurses entwickelten, und die Kursleiter/innen – Muttersprachler/innen mit Migrationserfahrungen – waren bzw. sind sich dessen bewusst, dass Integration ein langer Prozess ist und Orientierungskurse lediglich den Einstieg erleichtern können. Die Kurse basierten auf dem Prinzip der Freiwilligkeit. Lernergebnisse wurden nicht in einer Abschlussprüfung abgefragt. Methodisch stand das didaktische Prinzip der Teilnehmerorientierung im Zentrum. Angeboten wurden die Kurse in den Sprachen Arabisch, Bosnisch, Dari, Englisch, Farsi, Italienisch, Kroatisch, Russisch, Serbisch, Spanisch und Türkisch. Die Kursleiter/innen waren „native speaker“ und verfügten selbst über Migrationserfahrungen. Die Gruppengröße variierte zwischen acht und 15 Teilnehmer(inne)n; die Kurse umfassten 40 Unterrichtsstunden. Angeboten wurden die Kurse als Intensivkurs (werktags von 14:00 Uhr bis 17:30 Uhr) oder als Wochenendkurs (samstags von 10:00 Uhr bis 17:00 Uhr). Inhaltlich bestanden die Kurse aus zwei Modulen: Erstes Modul: Erstinformation der potenziellen Zielgruppe Gegenseitiges Kennenlernen der Teilnehmer/innen und des Kursleiters, Präsentation des Kursprogramms und Ermittlung individueller Wünsche und Bedürfnisse Geographische und räumliche Orientierung: Deutschland in Europa, die Bundesländer, das Land Hessen, die Stadt Frankfurt Exkursion, bei der Elemente der Stadtteilerkundung verbunden werden mit Curriculum-Elementen einer Einheit über politische Institutionen in der
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Gudrun Hentges
Kommune (z.B. mit der S-Bahn zur Hauptwache, Besucherterrasse auf der Zeil oder Maintower, Frankfurter Rathaus oder Römerberg, Eiserner Steg) „Frankfurt politisch“: Exkursionen zum technischen Rathaus der Stadt Frankfurt
Zweites Modul: Orientierungsangebote für ein erstes Zurechtfinden in Frankfurt Politische und gesellschaftliche Strukturen der Aufnahmekommune (Exkursionen in eine Stadtteilbibliothek, zu Begrüßungsangeboten der Stadt oder zu Sprachkursanbietern), Hinweise auf Freizeit- und Bildungsangebote Erfahrungsaustausch der Kursteilnehmer/innen untereinander, produktive Nutzung von Erfahrungsdifferenzen; Nebeneffekt: den informellen Austausch der Teilnehmer/innen anregen Die wissenschaftliche Begleitung und Evaluation, die sich auf Interviews mit Kursleiter(inne)n und Teilnehmer(inne)n stützte, erbrachte das Ergebnis, dass die Kursleiter/innen mit der Einbindung ihrer Aufgabe in die Integrationsbemühungen der Stadt Frankfurt sehr zufrieden sind. In der Evaluation wurden daneben zwei Problemlinien herausgearbeitet. Erstens: Die Anpassung des Curriculums an die Teilnehmersituation erwies sich aufgrund der Heterogenität der Lerngruppe hinsichtlich der Herkunft und des Bildungsniveaus mitunter als schwierig. In den Interviews mit den Kursleiter(inne)n und Teilnehmer(inne)n zeichnete sich eine Unsicherheit ab, wie die Offenheit des Curriculums in Bezug auf die Lerngruppe zu interpretieren sei und welche Integrationshilfen am ehesten den Lernvoraussetzungen der Teilnehmer/innen entsprechen. Insgesamt wird das offene Curriculum jedoch als gute Grundlage für die Arbeit betrachtet. Zweitens. Ein weiteres Problem resultierte aus der Tatsache, dass die Kursleiter/innen, die selbst über einen Migrationshintergrund bzw. Fluchterfahrungen verfügen, aufgrund ihres Kontakts zu den Teilnehmenden mit ihren Herkunftsgesellschaften konfrontiert wurden. Dies führte mitunter zu Spannungen und Irritationen. Wie in zahlreichen Interviews mit den Teilnehmer(inne)n nachgewiesen, beförderte die Teilnahme an den Orientierungskursen die Bereitschaft, sich die deutsche Sprache anzueignen. Christian Büttner, wissenschaftlicher Mitarbeiter der Hessischen Stiftung für Friedens- und Konfliktforschung und Honorarprofessor an der Evangelischen Fachhochschule Darmstadt, führt einige Argumente an, die dafür sprechen, Orientierungskurse in den Herkunftssprachen anzubieten: „Das Erlernen der Sprache hängt von deren Gebrauch in relevanten Beziehungen ab“ (...) „wie die Motivation für das Erlernen von den alltäglichen Vorteilen, die sich mit dem Gebrauch der Sprache in diesen jeweils spezifischen Anforderungen verbinden. Gerade am Anfang ist es deshalb wichtig, die ersten Schritte
Integrations- und Orientierungskurse. Konzepte – Kontroversen – Erfahrungen
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in vertrautem sprachlichem Terrain zu machen, damit sich solche förderlichen Beziehungen herstellen. Dies ist in den Orientierungskursen ein wichtiger Faktor.“ (Büttner u.a. 2004, S. 25) Ein vergleichbares Projekt wurde von der Stadt München durchgeführt. Auch hier kooperierte die Stelle für interkulturelle Zusammenarbeit (geleitet durch Margret Spohn) mit Wohlfahrtsverbänden, Sprachkursträgern, dem Kreisjugendring, Kirchen, dem Arbeitsamt und dem Ausländeramt. Durchgeführt wurden die Kurse im Sommer 2002. Das Deutsche Jugendinstitut wurde mit der Evaluierung beauftragt (vgl. Landeshauptstadt München/Stelle für interkulturelle Zusammenarbeit 2003). Ähnlich wie in Frankfurt am Main orientierten sich die Münchener Kurse am alltäglichen Leben. Thematisch deckten die Kurse folgende Bereiche ab:
Orientierung in der Stadt München soziales System Arbeit, Beruf, Ausbildung persönliche Perspektive, Förderplan lokale Beratungsangebote finanzielle Angelegenheiten Geschlechterverhältnis interkulturelle Sensibilisierung.
Entgegen der ursprünglichen Planung, die Kurse in zahlreichen Sprachen anzubieten (Türkisch, Englisch, Französisch, Arabisch, Serbokroatisch), kamen nur drei Kurse zustande: zwei in türkischer und ein Kurs in arabischer Sprache. Jeder Kurs umfasste 50 Unterrichtsstunden, von denen fünf für Einzelbetreuung reserviert werden sollten. An den Münchener Orientierungskursen nahmen allerdings nur 29 Personen teil – auch hier mehrheitlich Frauen (26 Frauen und drei Männer). Als Ergebnis des qualitativen Teils der Auswertung ist festzuhalten, dass alle Beteiligten aussagten, der Kurs habe ihnen „sehr“ bzw. „ganz gut“ geholfen, sich in Deutschland zurechtzufinden. Alle Befragten betonten die Notwendigkeit, die Kurse in der Muttersprache anzubieten, denn dies sei die Voraussetzung dafür, dass die Inhalte überhaupt aufgenommen werden könnten. Alle befragten Kursteilnehmer/innen brachten ferner zum Ausdruck, dass für sie das Erlernen der deutschen Sprache sehr wichtig sei. „Dieses Ergebnis zeigt“, so das Fazit des Autorenteams, „dass Orientierungskurse, gleichwohl in der Muttersprache angeboten, nicht nur einen entscheidenden Beitrag für die (lokale) Orientierung leisten, sondern auch die Neugierde und Motivation erheblich steigern, die deutsche Sprache zu erlernen.“ (Landeshauptstadt München/Stelle für interkulturelle Zusammenarbeit 2003, S. 13)
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Gudrun Hentges
Interessant am Münchener Projekt ist vor allem, dass das Instrument der „Kompetenzbilanz“ in den Kursen realisiert wurde. Dieser Ansatz, der zunächst für das Personalmanagement entwickelt wurde, geht von der Prämisse aus, dass Migrant(inn)en bereits mit einer ganzen Palette an Fähigkeiten und Kompetenzen in die Bundesrepublik einreisen – auch wenn diese Fähigkeiten häufig nicht über formale Abschlüsse oder Diplome nachgewiesen werden können. Fähigkeiten und Kompetenzen der Neuzuwanderer wurden in den Kursen – angeleitet durch die Teamer/innen – bei jedem Einzelnen herausgearbeitet. Entscheidendes Mittel war neben der Selbstreflexion der Teilnehmer/innen auch der Dialog über die individuellen Fähigkeiten und Entwicklungsmöglichkeiten. Zusammenfassend stellen wir fest, dass die hier vorgestellten Orientierungskurse verschiedene Dimensionen von Orientierung berücksichtigen. Die rechtliche, politische, geschichtliche und kulturelle Dimension der Orientierung wird in den Kursen nicht komplett ausgeblendet, steht aber nicht am Beginn des Orientierungsprozesses, sondern resultiert aus der Orientierung auf das Selbst und aus der Orientierung auf die soziale Umwelt. 3.3 Staatsbürgerlich ausgerichtete deutschsprachige Orientierungskurse Seit Inkrafttreten des neuen Staatsangehörigkeitsrechts am 1. Januar 2000 sind erleichterte Einbürgerungen möglich. Da von den Einbürgerungswilligen nicht nur deutsche Sprachkenntnisse, sondern auch Verfassungstreue erwartet wird,15 entstand in Bayern die Idee, Einbürgerungskurse zu konzipieren und anzubieten. Dieser Personenkreis sollte die Möglichkeit haben, sich sozialkundliche Kenntnisse anzueignen. Zielgruppe waren also einbürgerungswillige Personen mit guten oder sehr guten Deutschkenntnissen, die seit über acht Jahren in Deutschland leben. Das Bayerische Staatsministerium für Arbeit und Sozialordnung sah sich aufgrund der bevorstehenden erleichterten Einbürgerung von Ausländern dazu veranlasst, ein vom europäischen forum für migrationsstudien (efms) der Universität Bamberg beantragtes Projekt zu fördern. Das efms konzipierte so genannte Einbürgerungskurse für Ausländer/innen, führte diese in Zusammenarbeit mit dem Bildungszentrum Nürnberg durch und evaluierte sie. Das Pilotprojekt begann im Oktober 2001 und endete im Mai 2003. Innerhalb dieses Zeitraums fanden acht Integrationskurse statt. Sie richteten sich an dauerhaft hier lebende und gut Deutsch sprechende Ausländer/innen. Das Ziel dieser Kurse bestand 15
Von einem Einbürgerungswilligen wird erwartet, dass er „sich zur freiheitlichen demokratischen Grundordnung des Grundgesetzes für die Bundesrepublik Deutschland bekennt.“ (Staatsangehörigkeitsgesetz (StAG) § 10 Abs. 1)
Integrations- und Orientierungskurse. Konzepte – Kontroversen – Erfahrungen
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darin, Ausländer(inne)n „gesellschaftliche Grundnormen, demokratische Grundprinzipien und kulturelle Werte der deutschen Gesellschaft zu vermitteln“. Beitragen wollten die Kurse ferner „zur Vermittlung von Gefühlen der Zugehörigkeit und Loyalität“ (Hervorhebung im Original), um damit die „identifikatorische Integration“ zu stärken (vgl. Heckmann u.a. 2000). Von den 61 Personen, die zunächst an einem solchen Kurs teilnahmen, blieben am Kursende noch 47 übrig (Abbrecherquote von 14,5 %). Was die Zusammensetzung der Gruppe nach Geschlechtern betrifft, so manifestierte sich in Nürnberg ein Trend, der ebenso in München und Frankfurt zu beobachten war: Mit einem Frauenanteil von 70 Prozent in den Nürnberger Kursen sind die Teilnehmerinnen deutlich stärker repräsentiert. Die heterogene Zusammensetzung der Gruppe ist bemerkenswert: Die Teilnehmer/innen kamen aus insgesamt 30 Ländern, wobei die größte in Nürnberg lebende Migrantengruppe – die Türk(inn)en – in einem sehr geringen Maße vertreten war. Die Hälfte aller Teilnehmer/innen hatten einen akademischen Abschluss im Herkunftsland erworben. In jedem der insgesamt acht Kurse gaben lediglich eine oder zwei Personen an, sich einbürgern lassen zu wollen. Somit ziehen die Autoren des Evaluationsberichts das Fazit: „Die Zielgruppe der Einbürgerungswilligen und Einbürgerungskandidaten konnte nicht – wie in den Planungen vorgesehen – erreicht werden.“ (Wolf/Heckmann 2003, S. 47; vgl. auch Reiter/Wolf 2006; Wolf/Reiter 2007) Im Gegensatz zum Frankfurter Modell wurde in Nürnberg nicht mit einem offenen Curriculum gearbeitet. Der erste Teil des 30 Stunden umfassenden Programms konzentrierte sich auf die Themen Geschichte, Landeskunde, Migration und Demographie, während der zweite Teil die Vermittlung demokratischer Werte in den Mittelpunkt stellte (vgl. Wolf/Heckmann 2003, S. 42 f.). Nur der letzte Abend wurde thematisch frei gelassen, um gegebenenfalls noch ausstehende Fragen oder Themen zu besprechen. Kapitel des Teilnehmerskripts Kapitel 1: Deutschland und die Migration Kapitel 2: Landeskundliche Einführung Kapitel 3: Deutsche Geschichte: von 1914 bis 1945 Kapitel 4: Deutsche Geschichte: Deutschland seit dem zweiten Weltkrieg Kapitel 5: Grund- und Menschenrechte / Rechte und Pflichten Kapitel 6: Der Rechtsstaat Kapitel 7: Der Sozialstaat Kapitel 8: Staatsbürgerschaft als Mitgliedschaft / Möglichkeiten politischer Mitwirkung Kapitel 9: Das deutsche Wahlsystem
46
Gudrun Hentges
Im Auftrag des Bayerischen Staatsministeriums für Arbeit und Sozialordnung legte das efms im Jahre 2003 ein Kurskonzept vor, das darauf abzielte, bei den Neuzuwanderern einen deutschen Patriotismus herauszubilden. Vorgesehen war die Vermittlung der deutschen Nationalhymne, der deutschen Werte und Tugenden, der Grundrechte in der Verfassung – diese Kurskonzeption stand unter dem Motto „Loyalität mit unserem Staat fördern“.16 Das vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (2004) vorgelegte Konzept orientiert sich an der in Nürnberg entwickelten Konzeption und präzisiert die Ziele des Orientierungskurses wie folgt:
16
„Verständnis für das deutsche Staatswesen wecken.“ Ein wesentliches Ziel des Orientierungskurses bestehe darin, Zuwanderern die besonderen Merkmale des deutschen Staatswesens (Föderalismus, Sozialstaatlichkeit, Parteiensystem) zu vermitteln. Ferner sollen die Kurse zu einem besseren „Verständnis für das institutionelle Umfeld“ (Ausländerbehörden, Stadtverwaltung) beitragen. Die Teilnehmer/innen sollten dazu befähigt werden, die politischen Prozesse in Deutschland besser zu beurteilen („Urteilskompetenz“) (vgl. Bundesamt für Migration und Flüchtlinge 2004, S. 16). Das zweite Ziel der Orientierungskurse besteht darin, eine „positive Bewertung des deutschen Staates“ zu entwickeln. Im Wortlaut heißt es im Konzeptpapier: „Die Vermittlung von Kenntnissen über grundlegende Werte der deutschen Gesellschaft, zum politischen System und der Rechtsordnung der Bundesrepublik Deutschland sollen eine positive Bewertung des deutschen Staates durch die Zugewanderten fördern und Identifikationsmöglichkeiten schaffen.“ (Ebd.) Drittens sollen die Orientierungskurse „Kenntnisse der Rechte und Pflichten“ vermitteln. Neben dem Wissen um die eigenen Rechte als Zuwanderer akzentuiert das Konzeptpapier die Bedeutung dessen, „dass jeder Einwohner bzw. Staatsbürger gegenüber der Allgemeinheit Pflichten hat.“ Das Wissen um die eigenen Rechte, aber auch die Pflichten, gilt als „wichtige Integrationsvoraussetzung.“ (Ebd.) Integrationskurs „In Deutschland zu Hause – Politik, Geschichte und Alltagswissen für Zuwanderer und Einbürgerungswillige“, Förderung: Bayerisches Staatsministerium für Arbeit und Sozialordnung, Familie, Frauen und Gesundheit, Bildungszentrum Nürnberg, Laufzeit: April 2001 bis Dezember 2003, Bearbeiter: Richard Wolf. Im Rahmen des bayerischen Modellprojekts zur Entwicklung und Durchführung so genannter Integrationskurse wurden im Bildungszentrum Nürnberg Kursreihen für dauerhaft hier lebende und gut Deutsch sprechende Ausländer durchgeführt, „um ihnen gesellschaftliche Grundnormen, demokratische Grundprinzipien und kulturelle Werte der deutschen Gesellschaft zu vermitteln.“ Gefördert wurde dieses zweijährige Projekt aus Mitteln des bayerischen Sozialfonds. Vgl. Bayerisches Staatsministerium für Arbeit und Sozialordnung, Familie und Frauen 2003, S. 33, S. 270.
Integrations- und Orientierungskurse. Konzepte – Kontroversen – Erfahrungen
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Viertens greift das BAMF in seinen Zielvorgaben auf den Begriff der „Methodenkompetenz“ zurück und definiert ihn als „Fähigkeit (...), sich weiter zu orientieren“. Da der Orientierungskurs nicht in der Lage sei, umfassendes Wissen zu vermitteln, sei die „Fähigkeit des selbstständigen Wissenserwerbs“ von großer Relevanz (ebd., S. 17). Fünftens: Die Befähigung zur Teilhabe am gesellschaftlichen Leben – übersetzt mit „Handlungskompetenz“ – gelinge nur dann, wenn Zuwanderer mit den „in Deutschland üblichen Verhaltensweisen (Sitten und Gebräuche)“ vertraut seien. Erforderlich seien ferner Kenntnisse über deren „Hintergründe (grundlegende Werte und Anschauungen)“. Zuwanderer müssten dazu befähigt werden, mit den „üblichen Verhaltensweisen“ umzugehen (ebd.). Sechstens: Der Erwerb interkultureller Kompetenz sei zwar auch für die Mehrheitsgesellschaft von Bedeutung, da sich aber Zuwanderer tagtäglich im „fremden kulturellen Kontext“ bewegten, sei interkulturelle Kompetenz von besonderer Wichtigkeit. Von Zuwanderern werde jedoch keineswegs die „Aufgabe ihrer eigenen kulturellen Identität“ erwartet, sondern „gelebte Interkulturalität“ (ebd.).
Die vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge formulierten und im Oktober 2004 vorgelegten sechs Zielvorgaben stellen einen Mix dar:
Einerseits benennt das Konzept den zu behandelnden Gegenstand (das deutsche Staatswesen – Föderalismus, Sozialstaatlichkeit, Parteiensystem – sowie Rechte und Pflichten der Menschen mit und ohne deutschen Pass), andererseits fixiert das Konzept jedoch auch schon das Ziel der zu lehrenden und lernenden Staatsbürgerkunde: die positive Bewertung des deutschen Staates durch die Kursteilnehmer/innen, und zudem wird die Vermittlung von Kompetenzen (Urteilskompetenz, Methodenkompetenz, Handlungskompetenz, interkulturelle Kompetenz) als Zielvorgabe festgeschrieben.
Jedes einzelne dieser Ziele wäre eine eigene Diskussion wert, die an dieser Stelle leider nicht intensiver geführt werden kann. Problematisch erscheint generell, dass die jahrzehntelang geführten Debatten über die Didaktik des politischen Unterrichts unberücksichtigt bleiben. So schlug z.B. Wolfgang Hilligen (1916– 2003), Nestor der politischen Bildung, in seiner Didaktik des politischen Unterrichts vor, dass sich die Fachdidaktik des politischen Unterrichts an vier Dimensionen orientieren solle:
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an der Dimension des Was (Auswahl der Inhalte), an der Dimension des Warum, Wozu (Legitimation, Intentionalität) an der Dimension des Wie (Methoden, Kommunikationsstil) und an den Bedingungen (Voraussetzungen bei der Lerngruppe).
Sicherlich wäre es lohnenswert – inspiriert durch Hilligen (1985) –, die Debatte über die Didaktik des politischen Unterrichts mit Zuwanderern, von denen ein Teil noch nicht das Sprachniveau B1 erreichen wird, erneut zu führen. Mit Blick auf die Ziele wird deutlich, dass eine zentrale Kategorie der politischen Bildung – die Kontroversität – nicht auftaucht. Das Prinzip Kontroversität findet sich u.a. im Beutelsbacher Konsens, einem Dokument, auf das sich politische Bildner/innen unterschiedlicher Provenienz 1976 in Beutelsbach geeinigt und damit jahrzehntelange Lagerkämpfe und Debatten beigelegt haben: „Was in Wissenschaft und Politik kontrovers ist, muß auch im Unterricht kontrovers erscheinen. (...) (D)enn wenn unterschiedliche Standpunkte unter den Tisch fallen, Optionen unterschlagen werden, Alternativen unerörtert bleiben, dann ist der Weg zur Indoktrination beschritten.“ (Der Beutelsbacher Konsens 1977, zit. nach Schiele/Schneider 1996, S. 226; Schneider 1999, S. 171 ff.; vgl. Grammes 1997, S. 80; Grammes 1998, S. 241 ff.; Kuhn/Massing/Skuhr 1993, S. 219 ff.; vgl. zur Konfliktorientierung in der politischen Bildung: Giesecke 2000) Die im Sinne des Beutelsbacher Konsenses kontrovers auszutragenden Positionen, Meinungen und Standpunkte stehen – so die Intention der politischen Bildner/innen – durchaus in Einklang mit der freiheitlich-demokratischen Grundordnung. Politische Bildung – schulische sowie außerschulische – sollte jede Form der Indoktrination vermeiden und stattdessen die Schüler/innen oder erwachsenen Teilnehmer/innen dazu befähigen, Kontroversen auszutragen, Debatten zu führen, sich eine Meinung zu bilden, sich ein Urteil zu erlauben. Das Ziel „positive Bewertung des deutschen Staates“ (BAMF 2004) geht über das Ziel Bekenntnis zur deutschen Verfassung hinaus: Staatliches Handeln umfasst z.B. den Prozess der Gesetzgebung, der im Sinne eines Pluralismus – im Bundestag, in der politischen Öffentlichkeit, in den Medien – zu Recht kontrovers diskutiert wird. 3.4 Auswertung der Erfahrungen mit Orientierungskursen Die Beschäftigung mit den verschiedenen im Bundesgebiet durchgeführten Pilotprojekten (Frankfurt am Main, München, Nürnberg) führt zu folgender Einschätzung: Wir sollten uns in Erinnerung rufen, dass die im Zuwanderungsgesetz festgeschriebenen Kurse sich in erster Linie an Neuzuwanderer richten – auch
Integrations- und Orientierungskurse. Konzepte – Kontroversen – Erfahrungen
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wenn in den Jahren 2005 und 2006 mehr als 60 Prozent aller Teilnehmer/innen so genannte Altzuwanderer waren, die entweder zu einer Teilnahme verpflichtet wurden oder freiwillig an einem solchen Kurs teilnahmen.17 Die in Nürnberg durchgeführten Kurse – zunächst als Einbürgerungskurse konzipiert – richteten sich an Personen, die bereits seit längerer Zeit in Deutschland leben. Dennoch orientierte sich das BAMF bei der Konzeption der 30stündigen Orientierungskurse weniger an den Frankfurter oder Münchener Erfahrungen, sondern eher an dem in Nürnberg entwickelten Konzept. Aus Einbürgerungskursen wurden faktisch Orientierungskurse – ungeachtet dessen, dass es sich um verschiedene Zielgruppen handelt. Interessant erscheint in diesem Zusammenhang ein Rekurs auf die Debatten, die im Bereich der politischen Bildung und Erwachsenenbildung der letzten Jahrzehnte geführt wurden: In den 1950er- und frühen 1960er-Jahren ging der Mainstream der staatsbürgerlichen Bildung davon aus, dass die Vermittlung der politischen Bildung im Kern abzielen solle auf das politische System der Bundesrepublik Deutschland und dessen Funktionsweise. Die Vertreter dieser Zunft knüpften damit an die Staatsbürgerkunde an, die in der Weimarer Republik an Schulen gelehrt wurde. Dieser Ansatz ging auch als „Institutionenlehre“ in die Debatte ein. Im Zuge der aufkommenden Studentenbewegung und der außerparlamentarischen Opposition vollzog sich in der Gruppe der politischen Bildner/ innen ein Paradigmenwechsel: Angeregt durch Diskussionen und Erfahrungen innerhalb der außerschulischen politischen Bildung (vor allem der Erwachsenenbildung), wurde der Ansatz der „Institutionenlehre“ zunehmend in Frage gestellt und durch die Entwicklung einer breiten Palette verschiedener didaktischer Prinzipien abgelöst: Neue Methoden wie Konfliktorientierung, Handlungsorientierung, exemplarisches Lernen, Teilnehmerorientierung, Projektarbeit, außerschulisches Lernen vor Ort, die Unterscheidung zwischen Orientierungswissen und Handlungswissen etc. prägten die Debatte seit der „didaktischen Wende“ Mitte der 1960er-Jahre – und prägen sie auch weiterhin (vgl. Gagel 1995, S. 223 ff.; Olbrich 2001, S. 352 ff.). Im Folgenden werden zwei ausgewählte Methoden der politischen Bildung kurz skizziert, da sie nicht nur für die Fachdidaktik Politikwissenschaft, sondern auch für die Orientierungskurse von Relevanz sind: Konfliktorientierung und Handlungsorientierung. Der Begriff des Konflikts avancierte in Hermann Gieseckes (1965/1972) „Didaktik der politischen Bildung“ zum organisierenden Prinzip. Ausgehend von seinen Erfahrungen in der Jugendarbeit, gelangte er zur Einschätzung, dass nicht die Belehrung Lernprozesse befördert, sondern erzieherisch-produktive Konflikt17
Im Jahr 2005 betrug der Anteil der Altzuwanderer an den Teilnehmer(inne)n der Integrationskurse ca. 62 %, im Jahr 2006 ca. 63 %.
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situationen. Demnach handelt es sich beim Prozess politischen Lernens um den Normalfall politischer Meinungsbildung. Eine wesentliche Voraussetzung politischen Lernens ist laut Giesecke ferner eine demokratische Beziehung zwischen dem Lehrenden und dem Lernenden, wobei auch ein Rollenwechsel denkbar ist. Handlungsorientierung in der politischen Bildung umfasst nach Heinz Klippert (1991) folgende Methoden:
reales Handeln (Erkundungen, Praktika, Expertenbefragungen, Straßeninterviews), simulatives Handeln (Rollenspiele, Planspiele, Entscheidungsspiele, Konferenzspiele, Debatten, Zukunftswerkstatt etc.), produktives Gestalten (Flugblatt, Plakat, Wandzeitung, Reportage, Hörspiel, Ausstellung, Fotodokumentation etc.).
Problematisch wird es jedoch dann, wenn Handlungsorientierung auf einen bloßen politischen Aktionismus reduziert wird – abgekoppelt vom Prozess der Entscheidungsfindung, der Reflexion und des Denkens. Insofern setzt Handlungsorientierung im politischen Lernen immer einen Prozess des Denkens voraus (vgl. Breit/Schiele 1998; Gagel 1998; Reinhard 1997). Einige wenige neue Methoden und Prinzipien haben in das vom BAMF vorgelegte Konzept Eingang gefunden (Urteilskompetenz, Methodenkompetenz, Handlungskompetenz, interkulturelle Kompetenz), viele weitere Methoden und Prinzipien blieben jedoch unberücksichtigt. Hinzu kommt, dass die Orientierungskurse in der Regel nicht von politischen Bildner(inne)n angeboten werden, sondern von Sprachlehrer(inne)n, bei denen ein sozialwissenschaftliches Studium nicht vorausgesetzt werden kann. Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (2004, S. 17 f.) geht in seinem Konzeptionspapier davon aus, dass in den Orientierungskursen ein Grundwissen aus den Bereichen Rechtsordnung, Geschichte und Kultur vermittelt werden müsse. In diesem Kontext unterstreicht das BAMF vor allem die Kenntnisse der Werte des demokratischen Staatswesens und der Bundesrepublik Deutschland. Besondere Bedeutung misst das Konzeptionspapier den Prinzipien Rechtsstaatlichkeit, Gleichberechtigung, Toleranz und Religionsfreiheit bei. Das Grundwissen könne wahlweise durch Aufbauwissen ergänzt werden (Übersicht 2).
Integrations- und Orientierungskurse. Konzepte – Kontroversen – Erfahrungen
Übersicht 2:
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Grund- und Aufbauwissen der politischen Bildung (basierend auf der Handreichung des BAMF (vgl. 2004, S. 17 f.) Grundwissen
Aufbauwissen
Rechtsordnung
Rechtsordnung
Staatsaufbau der Bundesrepublik Deutschland; Demokratie; politische Einflussnahme; Wahlrecht; Stellung der Länder und Kommunen Rechtsstaat Sozialstaatsprinzip Grundrechte Pflichten der Einwohner
Europa
Geschichte Entstehung und Entwicklung der Bundesrepublik Deutschland
Geschichte Europäische Integration
Kultur Menschenbild Zeitverständnis Regelorientierung Religiöse Vielfalt
Soziale Marktwirtschaft
Wiedervereinigung Geschichte der Migration in Deutschland Regionalgeschichte Kultur Kulturelle und regionale Vielfalt Trennung von Privat- und Berufssphäre Symbole
3.5 Evaluation der Integrationskurse nach dem Zuwanderungsgesetz Die Integrationskurse wurden ab Januar 2006 von Mitarbeiter(inne)n der Beratungsfirma Rambøll Management evaluiert, so dass die Bundesregierung dem Bundestag zum 1. Juli 2007 einen Erfahrungsbericht zu Durchführung und Finanzierung der Integrationskurse vorlegen konnte (§ 43 Abs. 5). Der vom BMI herausgegebene Bericht enthält neben einer Analyse der Umsetzung der Integrationskurse, der Effizienz und Effektivität der Verfahren, der regionalen Umsetzung der Kurse und deren Finanzierung auch interessante Analysen, Einschätzungen und Vorschläge in Bezug auf die Orientierungskurse (vgl. Bundesministerium des Innern 2006b). Hinsichtlich der Orientierungskurse kommt der Bericht zu dem Ergebnis, dass sich eine (nicht nur formal) erfolgreiche Teilnahme an den 30-stündigen Orientierungskursen nur schwer ermitteln lässt, da die Abschlusstests der Kurse
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Gudrun Hentges
von den jeweiligen Bildungsträgern bzw. den Lehrenden individuell gestaltet werden und deren Durchführung den Dozent(inn)en selbst obliegt. Dem Orientierungskurs wird generell eine relativ geringe – eher nachgeordnete – Bedeutung beigemessen, obwohl er laut Zuwanderungsgesetz eine wichtige Komponente des Integrationskurses darstellt. Nur in Ausnahmefällen sind die Lehrenden speziell qualifiziert bzw. weitergebildet (worden), um diese Kurse zu unterrichten. Auch aus der Perspektive der Teilnehmer/innen wird der Orientierungskurs – vor allem verglichen mit den standardisierten Sprachprüfungen – lediglich als zweitrangig betrachtet (vgl. Bundesministerium des Innern 2006b, S. ii und S. iv, S. 30, S. 44 f., S. 46, S. 49, S. 53 f.). Aufgrund der hier angedeuteten Diskrepanz zwischen Norm und Wirklichkeit schlägt das Evaluationsteam eine Aufwertung der Orientierungskurse vor: „Sollte es nach wie vor politischer Wille sein, am Orientierungskurs festzuhalten, so muss dieser eine deutliche Aufwertung erfahren. Diese Aufwertung sollte auf drei Ebenen erfolgen:
ein standardisiertes Curriculum für den Orientierungskurs ein standardisierter Abschlusstest eine Schulung der Lehrkräfte, die im Orientierungskurs unterrichten.“ (Bundesministerium des Innern 2006b, S. 189)
Ein Rahmencurriculum gebe den Lehrenden die erforderlichen Vorgaben für die Ausgestaltung der 30-stündigen Kurse. Dieses Curriculum müsse einerseits Lernziele definieren, den Lehrenden andererseits aber auch Freiheiten lassen, um auf Bedürfnisse der Teilnehmer/innen einzugehen. In den Prozess der Entwicklung der Curricula sollten neben der Bundeszentrale für Politische Bildung auch die Landeszentralen für Politische Bildung einbezogen werden.18 Der Evaluationsbericht empfiehlt ferner die Einführung eines standardisierten Abschlusstests zur Durchführung einer Erfolgskontrolle und Aufwertung der im Kurs vermittelten Inhalte bezüglich der Rechtsordnung, Kultur und Geschichte. Dieser Test sollte – ebenso wie der Sprachtest – von extern Prüfenden abgenommen werden. Darüber hinaus empfiehlt das Evaluationsteam, dass auch Teilnehmer/innen des Integrationskurses, die die Sprachprüfung nicht absolvie18
Zu erwähnen ist hier das Engagement der Landeszentrale für Politische Bildung Baden-Württemberg: Diese entwickelte Unterrichtsmaterialien für den Einsatz in Orientierungs- und Sprachkursen, führte 160 Orientierungskurse durch, die auch evaluiert wurden, und qualifizierte ca. 120 Kursleiter/innen (Basiskompetenzen für die Vermittlung politischer Bildung). Vgl. Landeszentrale für Politische Bildung Baden-Württemberg/Feil/Hesse 2006. Bislang liegen u.a. folgende Lehrwerke vor, deren Inhalte als „heimliches Curriculum“ der Orientierungskurse gelten: Pohl 2005a; Pohl 2005b; Pohl 2005c; 30 Stunden Deutschland 2005; Pluspunkt Deutsch 2006; Kaufmann u.a. 2007.
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ren müssen (oder wollen), die Möglichkeit haben sollten, den Orientierungskurs mit einer Abschlussprüfung zu absolvieren. Um den Kreis der potenziellen Teilnehmer/innen zu erweitern, empfiehlt das Team die Einführung des sprachlichen Mindeststandards A2 für den Orientierungskurs und den anschließenden Test (vgl. Bundesministerium des Innern 2006b, S. 191). Die für Dozent(inn)en angebotenen Zusatzqualifikationen sollten auch die Orientierungskurse umfassen. Eine besondere Bedeutung wird der Vermittlung von Methoden und Didaktik beigemessen, vor allem mit Blick auf die Vermittlung von komplexen Themen an Personen, deren Deutschkenntnis unterhalb des Niveaus B1 liegt. Solche Fortbildungen (evtl. auch online) sollten vor allem von den Landeszentralen für Politische Bildung angeboten werden und sich auch an Lehrer/innen richten, die über einen DaF/DaZ-Abschluss oder eine Zusatzqualifikation verfügen (vgl. Bundesministerium des Innern 2006b, S. 192). 4
Ergebnisse der qualitativen Studie „Orientierungskurse“19
Im Rahmen einer qualitativen Studie, finanziert aus Mitteln der Forschungsförderungskommission der Hochschule Fulda, führten Studierende – angeleitet durch Lehrende – 20 Leitfaden-Interviews mit Teilnehmer(inne)n der Orientierungskurse durch. Das erste Interview wurde bei jedem Teilnehmer nach Ende des Sprachkurses (und damit vor Beginn des Orientierungskurses) durchgeführt, das zweite Interview nach Ende des Orientierungskurses. Die Interviewpartner/innen besuchten bei verschiedenen Kursträgern einen Integrationskurs und standen alle kurz vor der Prüfung, einige von ihnen hatten bereits eine Probeprüfung absolviert und bestanden. Es wurden jeweils fünf Männer und fünf Frauen interviewt. Die jüngste Interviewpartnerin war 24, die älteste 43. Die Interviewpartner/innen kamen aus Afghanistan, Angola, Eritrea, dem Kongo, Russland, Ungarn und Usbekistan. In ihren Herkunftsländern waren sie tätig als Bäcker, Buchhalterin, Informatikerin, Krankenschwester/Hebamme, Laborantin, Lebensmittelhändler/Busfahrer, Logopädin/Kosmetikerin/ Kindergärtnerin, Soldat, Theologiestudent, Tauch- und Karatelehrer oder als Verkäuferin. Ihre Aufenthaltstitel decken ein breites Spektrum ab: So hatten einige der Interviewpartner/innen Asyl beantragt und eine Duldung erhalten, eine weitere Interviewpartnerin war EU-Ausländerin, eine andere 19
An der Konzeption des Projekts waren meine Kolleginnen Almut Zwengel und Anne Honer sowie mein Kollege Volker Hinnenkamp beteiligt. Ich bedanke mich herzlich bei Horst Teubert für die Transkription zahlreicher Interviews sowie bei den studentischen Projektmitarbeiterinnen und -mitarbeitern Nicole Bauer, Angelina Bayer, Beatrice Rauner, Florian Schmiedeknecht, Tiemo Pokraka, Elena Turova, Eveline Volz, Maria Wassersleben, Nicola Weinert und Simone Zimmermann.
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im Zuge der Familienzusammenführung nach Deutschland zugewandert, ein Interviewpartner durfte sich zum Zwecke des Studiums in Deutschland aufhalten und ein weiterer war mit einer Deutschen verheiratet. Das Sample der Interviewpartner/innen setzt sich wie in der Übersicht 3 dargestellt zusammen. Übersicht 3: Angaben zu den Interviewten Nr.
Deckname
Geschlecht
Alter
Herkunftsland
1+2
Hemal
männlich
34
3+4
Adnan
männlich
30
Afghanistan Ägypten
5+6
Joseph
männlich
28
Kongo
Schulabschluss/ Bildungsniveau 8 Jahre Schulbesuch Schule bis zu seinem 15. Lebensjahr Hochschulreife
7+8
Filipa
weiblich
32
Angola
12 Jahre
9+ 10 11+ 12
Mehdi
männlich
26
Eritrea
9 Jahre
Sandra
weiblich
24
Russland
Hochschulreife, Studium der Radiotechnik
13+ 14 15+ 16 17+ 18 19+ 20
Atie
weiblich
39
Eritrea
Arijan
männlich
32
Eritrea
Abitur (matriculation) 12 Jahre
Anna
weiblich
25
Ungarn
Fachabitur
Fatima
weiblich
43
Usbekistan
Abitur, abgeschlossenes Studium als Logopädin
Bisherige Berufstätigkeit im Herkunftsland
In Deutschland seit
Lebensmittelhändler, Busfahrer Tauchlehrer und Karatelehrer
5 Jahren
Student der katholischen Theologie Ausbildung als Laborantin im Herkunftsland, derzeit: Hausfrau und Mutter von drei Kindern Soldat
einem halben Jahr 6 Jahren
von Beruf Informatikerin, im Herkunftsland als Verkäuferin gearbeitet Krankenschwester/Hebamme arbeitete in der Bäckerei Buchhalterin
einem halben Jahr
Logopädin, Kosmetikerin, Kindergärtnerin
einem Jahr
4 Jahren
4 Jahren 4 Jahren 3 Monaten 6 Jahren
Die Leitfragen des Interviews vor dem Orientierungskurs umfassen folgende Themenkomplexe: Orientierendes Vorwissen, Aneignungskompetenzen, gewünschtes Orientierungswissen, Relevanz der vorgesehenen Inhalte, regionale Bezüge. Die Leitfragen des Interviews nach dem Orientierungskurs konzentrie-
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ren sich auf folgende Themen: Gesamteindruck vom Kurs, neue Kenntnisse, neue Orientierungskompetenzen, soziale Integration, weitere Perspektiven, persönliche Einstellungen. Alle anonymisierten Interviews wurden unter Beachtung der folgenden Konventionen transkribiert:
Es wurden keine neuen Satzanfänge durch Satzzeichen oder Großbuchstaben markiert. Bei Ausrufen steht ein !, bei fragenden Sequenzen ein ?. Betonte Textstellen wurden unterstrichen. Pausen wurden durch … markiert. Klammern (XXXXX) verweisen auf Unverstandenes; die Zahl der Kreuze markiert die ungefähre Dauer der nicht verständlichen Passagen. Fremdsprachliches wurde kursiv gesetzt. Das betrifft auch Kreuze für Unverstandenes in Klammern. Nach dem fremdsprachigen Text erfolgt seine Übersetzung in doppelten Klammern, z.B. quel idiot! ((was für ein Idiot!)). Kommentierungen wie lachend oder erregt stehen in doppelten Klammern. Falls das Phänomen andauert, wird sein Ende durch # markiert, z.B. ((wütend)) so eine Unverschämtheit#.
Obwohl alle Interviewpartner/innen zuvor bei jeweils verschiedenen Kursträgern einen 600-stündigen Sprachkurs absolviert hatten und kurz vor der Prüfung standen, war die Verständigung häufig schwierig. Manchmal wurden die Fragen gar nicht verstanden, so dass die Interviewer/innen sie umformulieren oder mitunter auch auf andere Sprachen (Englisch, Französisch) ausweichen mussten. Infolge von Missverständnissen passten die Antworten der Interviewpartner/innen manchmal nicht zu den gestellten Fragen und häufig suchten die Befragten nach der entsprechenden deutschen Terminologie. Leicht gerät in der Diskussion über Sprachkompetenzen und -defizite jedoch in Vergessenheit, dass die Migrant(inn)en vor ihrer Einreise nach Deutschland bereits mehrsprachig sind. Bei beiden Interviewpartnern aus Eritrea ist Deutsch ihre fünfte Sprache: So spricht z.B. Mehdi (Eritrea) seine Muttersprache Tigrinya, die äthiopische Sprache Amharisch, ein bisschen Arabisch und Englisch. Arijan (Eritrea) beherrscht neben seiner Muttersprache Tigrinya auch Italienisch sowie die äthiopische Sprache Amharisch und Englisch. Filipa (Angola), die seit sechs Jahren in Deutschland lebt, spricht neben ihrer Muttersprache Lingala auch Portugiesisch und Französisch. Trotz der Verständigungsschwierigkeiten, die gelegentlich auftraten, handelt es sich um sehr interessantes Datenmaterial, das Aufschluss gibt über die Erfahrungen der Teilnehmer/innen mit den Sprach- und Orientierungskursen, über deren Erwartungen an den Orientierungskurs und die inhaltlichen Interessen der
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Gudrun Hentges
Befragten. Ferner lassen sich mit Hilfe der erhobenen Daten die Effekte des Orientierungskurses in Bezug auf Wissen und Kenntnisse über deutsche Geschichte und Politik, Orientierung im Alltag sowie soziale Integration besser einschätzen. Die Auswertung der Interviews (vgl. zur Methode: Strauss 1998) orientierte sich an folgenden Fragen: Welche Erfahrungen machten die Interviewpartner/innen mit ihrer eigenen Sprachkompetenz in der Aufnahmegesellschaft? Inwiefern waren bzw. sind sie dazu in der Lage, dem Kurs inhaltlich zu folgen – vor allem mit Blick auf die Themen Geschichte, politisches System und Verfassung? Sind die Interviewpartner/innen dazu in der Lage (und auch dazu bereit), die Inhalte und Methoden des Kurses kritisch zu reflektieren und gegebenenfalls konstruktive Vorschläge zu entwickeln? Von welcher Bedeutung sind die im Kurs erworbenen Kenntnisse für den Alltag? Ist der Kurs nach Einschätzung der Interviewpartner/innen förderlich für ihre soziale Integration? Die Interviewpartner/innen kommen im Folgenden ausführlich zu Wort, da die Interviewpassagen Auskunft geben über Grenzen und Möglichkeiten ihres sprachlichen Ausdruckvermögens. Gemeinsam ist allen Interviews, dass die Befragten sehr engagiert waren und große Energien aufwandten, um ihre Erwartungen, Hoffnungen, Visionen, aber auch ihre Probleme, Enttäuschungen, Befürchtungen und Ängste zu verbalisieren. 4.1 Mündliche und schriftliche Sprachkompetenz Die Interviewpartner/innen bringen zum Ausdruck, wie eminent wichtig der Spracherwerb für sie war bzw. ist. Dabei unterscheiden sie nicht zwischen Sprach- und Orientierungskurs. Die Passagen, die Erfahrungen mit dem Spracherwerb thematisieren, beziehen sich auf die Kommunikation in Alltagssituationen – mit Behörden, Nachbarn, in Vereinen – und bringen die Schwierigkeit zum Ausdruck, in Deutschland zu leben, aber die deutsche Sprache nicht zu beherrschen. Eine besonders drastische Beschreibung des Lebensgefühls der Sprachlosigkeit findet sich im Interview mit Fatima (Usbekistan). Sie verwendet das Bild, dass sie sich in der Phase, in der sie über keine Sprachkenntnisse verfügte, nur als halben Menschen wahrgenommen habe, dessen Mund immer geschlossen blieb: „F: Früher ich konnte nicht überhaupt nicht ich wusste viele Wörter aber ich konnte nicht in eine richtige Satz verbinden ja nur die Wörter die Leute konnte mir mich nicht verstehen ((lacht)) deswegen ich musste mh mein Mund zu (...) ... vor Wagner20 ich ich mh sehe das war ich ein halb Mensch und Frau Wagner hat uns .. ((lacht)) .... mh 20
An dieser Stelle nennt die Interviewpartnerin den Namen der Lehrerin, die wir hier Frau Wagner nennen.
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I: geholfen“ (Interview 19, Zeile (Z) 152–161). Jekaterina, eine 29-jährige Bankkauffrau aus Russland,21 beschreibt eindrücklich ihre Angst davor, nicht oder falsch verstanden zu werden. Diese Angst hat sie davon abgehalten, einem Verein beizutreten, und führte zu Vereinsamung und sozialer Isolation: „J: Gespräche und das ist mein Problem ich habe kleine Tochter ich habe keine Auto und ich kann nicht ... ich kann nicht ... ich habe Angst zuerst ich habe Angst mit deutsche Menschen weil ich sprechen nicht so gut Deutsch und ich denken ah ich gehe vielleicht zu einem Verein mit zum Beispiel mit kleine Tochter wenn ich fange sprechen auf Deutsch an vielleicht sie können mich nicht verstanden und ich ... ah besser ich bleibe zuhause“ (Interview 21, Z. 143-147). Hemal (Afghanistan), der vor Beginn des ersten Sprachkurses Analphabet war, berichtet mit großem Stolz davon, wie wichtig es heute für ihn ist, seinen Namen und seine Adresse schreiben zu können: „H: Ja das war sehr gut für mich ich hab äh wann ich komme jetzt einmal in Kurs ich hab gar nicht gelesen ja ich hab gelesen so bisschen jetzt ist besser ich kann bisschen besser lesen und wegen Schreiben auch und ich komme jetzt weil jeden Kurs gar nicht ich kann man nur mein Name schreiben und die Familie ich kann meine Adresse schreiben und alles hab ich gelernt“ (Interview 2, Z. 210-213). Einige Interviewpartner/innen verweisen auf das Problem, dass sie zu Hause keinerlei Möglichkeit haben, die deutsche Sprache zu sprechen und der Sprachbzw. Orientierungskurs für sie die einzigartige Möglichkeit bietet, die Sprache auch zu praktizieren. Danach gefragt, inwiefern er den Orientierungskurs anders gestalten würde, antwortet Joseph (Kongo), der in einem Studentenwohnheim wohnt, in dem er sich sozial isoliert fühlt, dass man dem Dialog und der Diskussion einen höheren Stellenwert beimessen müsse: „J: Ja ja mehr sprechen denn weil das ist ein neue Sprache man muss nicht nur die Wörter lernen und im Kopf behalten muss noch miteinander sprechen ja wie gesagt ja ... wird gemacht zum Beispiel bin ich zuhause fast den ganzen Tag bin ich allein und äh ich habe keine Gelegenheit miteinander zu sprechen nur die Schule war für mich eine Gelegenheit miteinander zu sprechen aber dann ähm ... Übungen mit Nebensatz und so ja und Verben und Präpositionen“ (Interview 6, Z. 98-103). Fatima (Usbekistan) warnt davor, sich beim Medienkonsum auf herkunftssprachliche Programme zu konzentrieren und misst stattdessen der Lektüre deutscher Texte und Zeitungen eine große Bedeutung bei: 21
Jekaterina hat in ihrem Heimatland Ökonomie studiert und lebt seit 2 Jahren in Deutschland. Aus organisatorischen Gründen konnten wir nur ein Interview mit ihr führen, so dass sie nicht in das oben genannte Sample aufgenommen wurde.
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„F: Es ist ganz wichtig ohne Sprache geht nicht es war für mich so und ich glaube anderen auch ... keine russische TV kucken nur deutsches ((lacht)) (...) viele lesen und (...) ... ich weiß nicht für mich ist wichtig die Sprache kennen lernen“ (Interview 19, Z. 426-432). Bei Arijan (Eritrea) geht das Interesse an der Sprache weit über das Bedürfnis nach Bewältigung von Alltagssituationen hinaus. Besonders interessiert ihn am Integrationskurs die Beschäftigung mit den Wurzeln der deutschen Sprache: „A.: Woher kommt die deutsche Sprache durch das Latein das war Latein und dann kommt aus Frankreich oder aber das ist wir haben viele Papier auch aber ich hab das gelesen aber das ist interessant“ (Interview 16, Z. 83–85). Mitunter kommt es in den Interviews zu Missverständnissen, z.B. aufgrund der Verwechselung der Begriffe „deutsche Geschichte“ und „Geschichten“ im Sinne von Märchen: „I: Wissen sie etwas über die deutsche Geschichte? F: Deutsche Geschichte? I: Schon F: Oje was meinen sie? Märchen? oder? I: ((lacht)) Nein über die Geschichte von Deutschland vom Land von der Politik oder F: Ähm I: Was passiert ist in Deutschland früher? F: Früher? Mh nach dem Krieg oder bisschen ...? I: Ja so was!“ (Interview 19, Z. 227-236). Sandra (Russland) verwendet mehrfach im Interview den Begriff „Gedicht“, meint aber Geschichte: „I.: Können Sie mir sagen was Ihnen gefallen hat? S: Ja ... eh ... am liebsten ja? I: Ja S: Gefällt ... hat mir gefällt Gedicht I: Gedichte? S: Ja .... ich habe viel ((lachen)) Neue erfahren I: Was zum Beispiel? S: Über Zweite Weltkrieg ...“ (Interview 12, Z. 41–48) I: Was würden Sie gerne noch lernen damit das Leben in Deutschland einfacher wird? S: Gedichte I: Gedichte? S: Ja ... ich habe gedacht aber ich weiß nicht genau ... ich habe gehört aber ich weiß es nicht genau ... aber in Deutschland war irgendwelche König ... er war sehr stark“ (Interview 12, Z. 194–198).
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4.2 Sprachliche Voraussetzungen zum besseren Verständnis der Inhalte des Orientierungskurses Gefragt nach den Themen, die Gegenstand des Orientierungskurses waren, benennen die Interviewpartner/innen eine breite Palette unterschiedlicher Schwerpunkte: die Geschichte Deutschlands im 20. Jahrhundert, den Ersten Weltkrieg, die Weimarer Republik, den Zweiten Weltkrieg, den Nationalsozialismus, die Konzentrationslager, Deutschland zur Zeit der alliierten Besatzung, die Teilung Deutschlands in zwei deutsche Staaten, das politische System Deutschlands, die politischen Organe (Bundesregierung, Bundestag, Bundesrat, Bundeskanzlerin, Bundespräsident, Bundesversammlung), die Parteien, die Verfassung und die Grundrechte (Menschenwürde, Meinungsfreiheit, Religionsfreiheit, Versammlungsfreiheit, Gleichberechtigung der Geschlechter), das Wahlrecht, die deutsche Flagge bzw. die deutschen Nationalfarben, die deutsche Wiedervereinigung, aber auch das Jugendschutzgesetz und die Sozialgesetzgebung, die Geschichte der Migration in Deutschland sowie regionale Geschichte. Die hier benannten Themen, die sich aus der Interviewanalyse ergeben, decken sich weitgehend mit dem Curriculum, das vom BAMF entwickelt wurde. Diese Gesamtschau der erwähnten Aspekte, die Gegenstand des Orientierungskurses waren, sagt jedoch wenig aus über das tiefere historische und politische Verständnis der Prozesse. Mitunter gelingt es den Interviewpartner(inne)n lediglich – mit Hilfe der Interviewer/innen – den Begriff zu finden, ohne dass sie dazu in der Lage sind, Zusammenhänge zu formulieren oder in diesem Kontext zu argumentieren. Gefragt nach den Erinnerungen an den Kurs, erwähnen die befragten Teilnehmer/innen die Lehrwerke (Berliner Platz 1, 2, 3), die Filme, die sie sich gemeinsam mit der Gruppe angeschaut haben (Filme über den Zweiten Weltkrieg oder Filme mit einem regionalen Bezug), gemeinsame Museumsbesuche (Museum zur Stadtgeschichte), gemeinsame Spaziergänge in der Stadt und Ausflüge (Schiffsfahrt auf dem Rhein), Exkursionen (zum Bürgerbüro), Gespräche mit dem Ausländerbeauftragten der Stadt und einer Vertreterin des Jugendamts. Im Interview wird deutlich, dass die Sprachkenntnisse zentrale Voraussetzung für das Verständnis der geschichtlichen und politischen Entwicklung sind. So erinnert sich Atie (Eritrea) vor allem an den Namen des Lehrwerks (Berliner Platz 1, 2, 3), mit dem gearbeitet wurde. Etwas unklar bleibt, ob in ihrer Erinnerung die historischen bzw. zeitgeschichtlichen Ereignisse des Zweiten Weltkriegs und die Wiedervereinigung verschmelzen oder ob sie mit Krieg („und dann die habe Krieg?“) den Kalten Krieg zwischen Ost und West meint: „A.: Ja! Geschichte ja ... die politische sprechen ... (...) Zum Beispiel die ... mh ... was ist Name ... äh ... die SPD ... (...) Die Parteien! die sind in Berlin ...
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I: Also auch wie das System ... geht? was machen die Parteien? haben Sie darüber gesprochen? A.: Ja I.: Und was noch? A.: Mhh ... anderes weiß nicht (lächelt) I.: ((lacht)) Haben Sie es verstanden? was gesagt wurde? A.: Nicht viel verstanden I.: Nicht so viel? auch wenn Sie’s lesen konnten? A.: Ja (...) A.: Aber die Politik ... schwer ... bisschen schwer I.: Ja ... und zum Beispiel Geschichte? Sie haben doch gesagt Sie würden gerne was über ... Berliner Mauer .. erinnern Sie sich? haben Sie darüber gesprochen über deutsche Geschichte ... Ostdeutschland und Westdeutschland A.: Ja auch I.: Und was zum Beispiel ... was haben sie so gesagt was haben sie so gelernt? A: Die deutsche Land zwei ... Ost und West ... und dann die habe Krieg? und jetzt zusammen“ (Interview 14, Z. 46–73). Joseph, der kongolesische Theologiestudent mit wesentlich besseren sprachlichen Kenntnissen, verfügt über komplexes Wissen und Reflexionsvermögen, so dass er dazu in der Lage ist, die Weltwirtschaftskrise als Vorläufer des NSRegimes und des Zweiten Weltkriegs zu benennen und über die ökonomischen Ursachen nachzudenken, die zum Zweiten Weltkrieg führten: „J: Ja ... doch ich habe gelernt dass es gibt es so ... vor dem Zweiten Weltkrieg es war eine schlechte Lage in Deutschland und ähm ... wenn die Wirtschaft war nicht so gut und Leute brauchen eine Änderung und ähm ... diese Lage ist Nationalsozialismus an der Macht gekommen und dann wurde Konzentrationslager und ... sie haben so gemacht aber ... nach äh ... was noch die andere?“ (Interview 6, Z. 145–149) Anhand dieser beiden Interviewpassagen wird die Heterogenität der unterschiedlichen Lernvoraussetzungen deutlich; diese stehen in einem unmittelbaren Zusammenhang zu den sprachlichen Voraussetzungen und den zeitlichen Spielräumen, um das neu erworbene Wissen zu Hause zu festigen und zu vertiefen. 4.3 Die deutsche Geschichte als Thema des Orientierungskurses Die Interviewpassagen, die sich mit der Thematisierung des Zweiten Weltkriegs und der Nachkriegszeit beschäftigten, sind stark emotional eingefärbt. Adnan
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(Ägypten) verdeutlicht sein Interesse an diesem Thema und spricht über die Zerstörung der deutschen Städte nach 1945, die Trümmerfrauen und den Wiederaufbau: I: Welches interessierte dich am meisten? A: Interessant für mich? vorher wurde alles zu Hause kaputt. I: Also vor dem Krieg? ah ja ... A: Vor dem Krieg alles Hause kaputt und die Frau immer Frauen und Kinder bleiben alleine und keine Männer ... keine Männer helfen und so ... und äh die Frauen zu viel Arbeit und (...) I: Ja zu viel Geschichte zu viel Zeit aber äh ... A: ... for mich interessant ist Deutschland vorher fünfzig Jahre alt alles kaputt und alles nicht gut aber vierzig Jahre kurze Zeit und jetzt ... mein Eindruck ist besser ...“ (Interview 4, Z. 74–130). Hemal (Afghanistan) hatte sogar gegenüber der Dozentin sein spezielles Interesse an diesem Themenbereich zum Ausdruck gebracht und angeregt, dass sich die Gruppe gemeinsam einen Film anschauen könne. Dies ließ sich jedoch zu seinem Bedauern nicht realisieren. „H: Ja ich hab gesagt gestern zum Lehrerin ich wollte ich hab selbst meine Meinung ist ich hab gedacht wir schauen eine Film über Deutschland und über die Zweite Weltkrieg ich dieselbe interessiert diese Film zu schauen und die hat nicht geklappt?“ (Interview 2, Z. 193–195). Sandra (Russland) stellt einen direkten Vergleich an und berichtet im Interview, dass sie sich stärker für die Geschichte Deutschlands – insbesondere den Zweiten Weltkrieg und die Nachkriegszeit – interessiert, weniger für das Parteiensystem, das ihr sehr unübersichtlich erscheint und sie eher langweilt: „I.: Können Sie mir sagen was Ihnen gefallen hat? (...) S: Ja ..... ich habe viel ((lacht)) Neue erfahren I: Was zum Beispiel? S: Über Zweite Weltkrieg (...) I: Und was hat Ihnen weniger gefallen oder nicht gefallen? S: ..Politik ... ja ... über Partei Deutschland gibt es verschiedene Partei verschiedene Meinung ... ja .. das ist ein bisschen langweilig ((lacht))“ (Interview 12, Z. 41–55). Auf die Frage hin, was sie noch lernen möchte, äußert Sandra (Russland) ein starkes Interesse an Geschichte. Sie wolle mehr über einen bestimmten König wissen, der sehr stark gewesen und für die Pünktlichkeit als deutsche Tugend verantwortlich sei. Vermutlich nimmt sie hier Bezug auf den preußischen König Friedrich Wilhelm I., der 1713 den Thron bestieg und den Beinamen „Soldatenkönig“ erhielt, weil er in seiner Amtszeit die Größe des Heeres verdreifachte. Unter der Herrschaft Wilhelm I. entstand in Preußen ein straff geführtes Staatsund Militärwesen, das mit den preußischen Tugenden Ordnung, Gründlichkeit,
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Gewissenhaftigkeit, Pünktlichkeit, Strenge und Disziplin in Verbindung gebracht wird. „I: Was würden Sie gerne noch lernen damit das Leben in Deutschland einfacher wird? (...) S: Ja ... ich habe gedacht aber ich weiß nicht genau ... ich habe gehört aber ich weiß es nicht genau .. aber in Deutschland war irgendwelche König ... er war sehr stark (...) S: Er war sehr st ... sehr stark ... und nach diese König eh sie sind die Deutsche sehr pünktlich ... sehr ordentlich .. sehr geordnet (...) S: Ja ja ja ..... ich möchte darüber noch wissen (...) S: Ich werde im Internet recherchieren“ (Interview 12, Z. 194–207). 4.4 Das politische System und die Verfassung als Thema des Orientierungskurses Die Interviewpartner/innen äußern auf einer recht allgemeinen Ebene ihr Interesse an Themen wie politisches System und politische Kultur, auch wenn das Interesse an geschichtlichen Fragen vor allem in Zusammenhang mit dem Zweiten Weltkrieg (und Kriegen generell) deutlicher und vor allem emotionaler („und dann die Krieg ist nur so Scheiße“, Interview 10, Z. 167 f.; Mehdi, Eritrea, früher Soldat) artikuliert wird. „M: das gefällt mir weil ... weil ich möchte alles wissen und dann die Politik und die äh ... Gesetz von Deutschland und alles von die äh ... Regierung und von die wie kann das äh die Parlament oder so und die von die erste bis jetzt Bundespräsident und Bundeskanzler oder regiert alles ich will wissen und ...“ (Interview 10, Z. 195–198; Mehdi, Eritrea). Die Kenntnisse über das politische System erscheinen eher rudimentär. Die Interviewpartner/innen nennen häufig nur Stichworte, ohne einen Begriff zu erläutern. Zum Teil entsteht jedoch auch der Eindruck, dass die Teilnehmer/innen an den Kursen bestimmte Slogans oder Schlagwörter auswendig gelernt haben. Danach gefragt, welche Grundrechte sie kenne, antwortet Sandra (Russland): „S: Einigkeit Recht und Freiheit I:. Das ist was Sie gelernt haben über die Grundrechte? S: Ja .. mmh .. noch .. wann .. wann .. eh .. wann .. eh Grundgesetz ge .. gegrundet .. man hat gegründet“ (Interview 12, Z. 108–110). Auch Hemal (Afghanistan) verwechselt die erste Zeile der deutschen Nationalhymne mit den Grundrechten: „H: Ja wir Grundgesetze wir gesprochen
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I: Könntest du da Beispiele nennen? H: Freiheit Einigkeit und äh ... die Gesetze und äh wie die gilt Freiheit ...“ (Interview 2, Z. 186–188). Die einzige Interviewpartnerin, die – gefragt nach den Grundrechten – die Würde des Menschen nennt, ist Anna (Ungarn), die in ihrem Herkunftsland als Buchhalterin gearbeitet hat: „A.: Ja ich muss überlegen gleich Rechte Rechte mehr Pflicht ((lacht)) # immer gibt es mehr ja die wichtigste die Würde des Menschen ((lacht)) ja das wolltest du hören # die Würde des Menschen ist unan .. unantastbar ja und das ist die erste Grundgesetz ah Grundsatz von von deinem Grundgesetz“ (Interview 18, Z. 155–158). Diese Passage lässt deutlich werden, dass Anna (Ungarn) das Interview als vorweggenommene Prüfung wahrnimmt, denn sie kommentiert ihre Antwort mit „Ja das wolltest du hören“ (Interview 18, Z. 156). Zugleich verweist sie darauf, dass die Menschenwürde – festgeschrieben in der deutschen Verfassung – nicht so einzigartig ist. Die Menschenwürde sei, so ihr Hinweis, mittlerweile nicht nur ein fester Bestandteil der ungarischen Verfassung, sondern der Verfassung eines jeden EU-Mitgliedstaates. „A.: ((lacht)) # eigentlich wahrscheinlich es ist überall in Europa oder Europaunion gibt so drinnen ist dann muss man die erste Grundgesetz das ein“ (Interview 18, Z. 165 f.). Die verfassungsrechtliche Verankerung der Gleichberechtigung von Mann und Frau wird beispielsweise von Mehdi (Eritrea) in die Diskussion gebracht: „M: Ja von Grundgesetz sind zum Beispiel Mann und Frau ist äh ... ist gleich und von Kinder und von Jugendamtgesetz und von Sozialamt oder von Arbeitsamt alle diese Amt ist so von Ausländer oder von Deutsche das ist eine gleiche Gesetz“ (Interview 10, Z. 177–179). Auf Unterschiede im Geschlechterverhältnis in afrikanischen Gesellschaften und in der Bundesrepublik verweist Filipa (Angola): „F: Ja Unterschied ist bei uns Frauen können nicht die ... die ... die Land äh ... Frauen können nicht regieren (...) aber hier in Deutschland Frauen oder Männer können fast alles machen“ (Interview 8, Z. 278–281). Im Kontext der Diskussion über die verfassungsrechtlich verankerten Grundrechte, u.a. die Gleichberechtigung der Geschlechter, signalisiert Sandra (Russland) eine eher distanzierte Haltung. „S: Ich bin ein bisschen konservativ .. und äh ... das gefällt mir nicht I: Und was? S: Ich glaube Frauen müssen Frauen bleiben I: Mmh S: Und Männer als Männer“ (Interview 11, Z. 258–262).
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Diese Passage lässt jedoch den Eindruck entstehen, dass sie den Inhalt des Art. 3 Abs. 2 GG22 nicht versteht im Sinne von Chancengleichheit und eines Diskriminierungsverbots. Vielmehr unterstellt sie, eine Gleichberechtigung der Geschlechter bedeute immer eine Angleichung der Geschlechter bzw. eine Beseitigung geschlechtsspezifischer Unterschiede. Häufig wird in den Interviews deutlich, dass die Interviewpartner/innen (verständlicherweise) nur äußerst schwer einen Zugang zu den verfassungsmäßig verankerten Grundrechten finden, die ihnen zunächst abstrakt erscheinen, dass sie jedoch sehr wohl ihre Rechte kennen, die für ihren unmittelbaren Alltag von Bedeutung sind. Sich fast schon dafür entschuldigend, dass sie bislang keine Gesetze gelesen hat, führt Fatima (Usbekistan) an, dass sie sich z.B. mit der Schulordnung und der Ordnung des Kindergartens auskennt, auch damit, wie man eine Wohnung in Deutschland findet (Mietrecht), nicht jedoch mit anderen Gesetzen oder der Verfassung der Bundesrepublik Deutschland: „F: Mhm ich habe nie Gesetze gelesen und äh aber ich wenn ich in die Schule gehe mit Kinder ich weiß Schulordnung ich weiß Ordnung in Kindergarten wa ich weiß ((lacht)) warum hab ich in unsere Wohnung“ (Interview 19, Z. 102–104). Auch andere Interviewpartner, wie z.B. Hemal (Afghanistan), der als Lebensmittelhändler und Busfahrer tätig war, erinnern sich – nach Gesetzen gefragt – am ehesten an die Straßenverkehrsordnung oder an das Verbot der nächtlichen Ruhestörung: „H: Ja jetzt auch wir ein Zettel die Gesetze setzen zum Beispiel die rote Ampel und die Nachtruhe stören davon wir auch gerade wegen diese Thema gesprochen“ (Interview 2, Z. 181 f.). 4.5 Inhaltliche Interessen und Vorschläge für eine (andere) Kursgestaltung Joseph (Kongo) war einer der wenigen Interviewpartner, die sich kritisch mit den Inhalten und den Methoden des Kurses auseinandersetzten und der deutlich machte, dass er zu einigen Punkten eine abweichende Meinung vertritt. Anlass waren Fragen der Kindererziehung, insbesondere die Behandlung des Themas
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„Männer und Frauen sind gleichberechtigt. Der Staat fördert die tatsächliche Durchsetzung der Gleichberechtigung von Frauen und Männern und wirkt auf die Beseitigung bestehender Nachteile hin.“ Art. 3 Abs. 2 GG.
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„Ist es erlaubt, dass Eltern ihre Kinder schlagen?“ (BGB § 1631 Inhalt und Grenzen der Personensorge).23 „J: Ich habe zum Beispiel über die Kinder ... ein Gesetz sagt dass man soll nicht die Kinder schlagen ((lacht)) I: ((lacht)) J: Aber ich habe einmal in Klasse gesagt ja da ... ich mein ... Meinung Erziehung bedeutet auch Kraft und ähm ... die Eltern eine Macht über die Kinder haben und dann die Kinder sind nicht frech manchmal gibt es ... brauchen ein bisschen schlagen (...) ja bei mir zuhause das ist anders ja ... die Eltern sind so der Vater die Mutter sind Chef und sie sollen ihre Kinder erziehen nach was sie denken das ist richtig das ist Wahrheit und nicht so einfach die Kinder das gewaltfreie Erziehung besser ... manchmal braucht man Gewalt ((lacht)) ja ich meine dass äh ... wegen deswegen ist zu viele Probleme Kinder und so und die Kinder sind ähm ... frei sie machen was sie wollen ... und wenn ja und ... Eltern können nicht etwas gegen die Kinder dann ... was ist Erziehung? Erziehung das ist so was ... dass ein kleiner Mensch er weiß nicht was ist das Leben was ist Zukunft ja ... aber die Eltern haben Erfahrung obwohl ... gibt es ab und zu überall ... sind die Eltern auch sind schlecht aber insgesamt Eltern sind immer gut meinen“ (Interview 6, Z. 115–138). Derselbe Interviewpartner setzt sich in der Beantwortung der Fragen kritisch mit neokolonialen Macht- und Abhängigkeitsverhältnissen auseinander. Dieser neue Neokolonialismus äußere sich im politischen Einfluss der USA und Europas auf die Innenpolitik afrikanischer Staaten, in der Diskrepanz zwischen Rohstoffvorkommen in Afrika und der weit verbreiteten Armut, in der hohen Verschuldung von Bauern in Asien, die aufgrund ihrer Verzweiflung den Freitod wählen: „J: (...) warum die Amerikaner und die andere müssen für uns zum Beispiel einen Präsident wählen? Das kann ich nicht verstehen warum wir haben keine Autobahn und so? Warum kaufen wir hier altes Auto um nach Afrika zu schicken? Obwohl wir haben eigene Mineral und man muss hier in Europa leben und Auto kaufen die ... Europa brauchen das und dann ist alt und nach Afrika ... das ist eine Neokolonialismus ich meine ... diese Welt ... ja ich war froh ... letzte Woche oder so am Anfang wenn die G 8 in Hamburg ähm eine Demo gemacht und die Leute haben demonstriert ja gegen (...) ich habe vorgestern das war in Asien und da gibt es Bauern Leute ... Bauern die nehmen Kredit bei Bank und sie können nicht das Geld zurückgeben und viele äh ... Selbstmord die machen so 23
BGB § 1631 Inhalt und Grenzen der Personensorge, Abs. 2: „Kinder haben ein Recht auf gewaltfreie Erziehung. Körperliche Bestrafungen, seelische Verletzungen und andere entwürdigende Maßnahmen sind unzulässig.“
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viele Bauern sterben ... das ist Kapitalismus ... bekommen Geld und kann nicht Geld zurückgeben ... obwohl sie arbeiten ... sterben“ (Interview 6, Z. 314–342). Die inhaltlichen Interessen von Anna, eingewandert aus Ungarn, orientieren sich weniger an den Fragen einer ungerechten Weltwirtschaftsordnung. Sie interessiert sich eher für das Hochmittelalter und die Gründung des Heiligen Römischen Reiches (als Gründungsdatum gilt der 2. Februar 962, das Datum der Kaiserkrönung Ottos I.). Anna scheint jedoch zu glauben, dass Deutschland bereits im Jahre 1000 existiert habe („wie hat früher tausend Jahre wie hat das Deutschland ausgeschaut?“, Interview 18, Z. 410). Ferner gilt ihr Interesse der deutschen Landschaft und dem Tourismus sowie dem kulturellen Leben (Theater und Populärkultur). Hätte sie die Möglichkeit der Gestaltung eines Orientierungskurses, würde sie solche Themen aufgreifen: „A.: So ich möchte unterrichten das zum Beispiel was war früher tausend Jahre hier so was war wie wie hat früher tausend Jahre wie hat das Deutschland ausgeschaut oder mehr von Bergen mehr von See wie läuft das Tourismus hier oder zum Beispiel ... was gibt’s heutzutage in Theater so mehr mehr von früher mehr von heute nicht genau (XXXX) über erste und zweite Weltkrieg und traurig und so etwas Lustiges was Ötzi24 gemacht hat ((lacht))“ (Interview 18, Z. 409–413). 4.6 Relevanz der historischen und politischen Kenntnisse im Alltag Die Frage, ob der Orientierungskurs behilflich ist bei der Orientierung im Alltag, stößt bei den hier interviewten Personen nicht auf allzu große Resonanz. Einige wenige, u.a. Anna aus Ungarn und Joseph aus dem Kongo, bejahen diese Frage, wenn auch aus unterschiedlichen Gründen: „A.: Hm ja mit meinem Freundeskreis es ist bringt schon was weil jetzt hab ich mehr in meinem Kopf und ich fühle mich jetzt besser als früher weil ich fühle mich net so dumm ((lacht))“ (Interview 18, Z. 184–186). „J: Ja ... ja ... wenn jemand etwas neu gelernt hat das ist immer ... immer eine Hilfe um gut zu leben weil ich verstehe so alles und mein Studium was ich mache das ist nur man lernen um gut zu leben ... ich habe so viel gelernt und viele Theorie habe ich im Kopf aber ... für mich alle diese Theorien helfen mir gut zu leben ja ... die Geschichte auch ... so die Geschichte muss den Leuten die heute leben helfen ... diese Leute müssen nicht selbe Fehler machen ja ... warum gibt es Geschichte? und ... ich meine um unsere Welt unsere Zeit die äh ... die 24
Die Interviewpartnerin bezieht sich auf den DJ Ötzi, einen österreichischen Entertainer und Schlagersänger, der bekannt wurde mit seinen Songs „Hey Baby“ (2000) und „Anton aus Tirol“ (2000).
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haben kein ... die denken nicht die überlegen nicht über die Geschichte weil das sind ... zurück zurück ... das ist immer so ...“ (Interview 6, Z. 203–210). 4.7 „Man muss mit den anderen leben, nicht allein mit der Katze“ – Einsamkeit und soziale Isolation oder Kontakte und Freundschaften Filipa (Angola), die seit sechs Jahren in Deutschland lebt und derzeit Mutter und Hausfrau ist, berichtet von positiven Erfahrungen und vielfältigen Kontakten zu Deutschen in der Nachbarschaft. Vermittelt über ihre Kinder hat sie Kontakt zu anderen Eltern. Gemeinsam mit einer Nachbarin trifft sie sich zum Backen und die beiden tauschen Rezepte aus: F: Ich war bei meiner Nachbarin sie ist auch Deutsche erstmal sie war bei mir sie wusste bei uns wir machen immer Berliner diese Kuchen Berliner (...) sie wollte lernen und sie war bei mir ich hab gemacht und ich war auch bei meine Nachbarin sie hat mir ein Rezept über (...) Kuchen gemacht und wir haben zusammen gemacht ja“ (Interview 8, Z. 203–209). Auch Anna (Ungarn), die wegen ihres deutschen Partners eingewandert ist, berichtet von deutschen Freunden und dass sie sich sehr gut integriert fühle. Die Beziehung zu einem Deutschen bzw. die Ehe mit einer deutschen Partnerin ist jedoch keine Garantie dafür, leichter mit Deutschen in Kontakt zu kommen, und schützt nicht vor Isolation oder Einsamkeit in der Aufnahmegesellschaft. So berichtet Adnan, dass er in seinem Heimatland Ägypten mühelos Kontakt zu Deutschen gefunden habe, jedoch in Deutschland keinerlei Kontakt knüpfen könne: „A: Hier in Deutschland zu schwer aber in meine Land Kontakt mit Deutsche ist besser (...) ((lacht)) weil äh ... meine Meinung ja? Deutschland ich gehabt äh Kontakt in Ägypten (...) ich besser zusammen und äh freue mich zusammen zusammen ... aber hier ich weiß nicht wie anders Leute (...) hier anders und Ägypten anders die Deutsch“ (Interview 3, Z. 316–323). Die unterschiedlichen Verhaltensweisen von deutschen Urlaubern in Ägypten und Deutschen in Alltagssituationen verunsicherten ihn dermaßen, dass er seine Frau fragte, ob es an ihm liege; ob er sich in Ägypten möglicherweise anders verhalte als in Deutschland. Seine Ehefrau verneinte diese Frage, so dass die Erklärung für die unterschiedliche Bereitschaft der Kontaktaufnahme von Deutschen (Urlaub vs. Alltag) ausblieb. Es sei sehr schwer, mit Deutschen in Kontakt zu kommen, geschweige denn Freundschaften zu schließen. Er spitzt seine Erfahrungen dahingehend zu, dass „die Deutschen“ andere Menschen seien als „die Ägypter“. Der fehlende Kontakt in Alltagssituationen führt zu Traurigkeit, Angst, Verunsicherung und Irritation: (...) A: Traurig hm weil Leute Deutsche immer gucken aber nicht sagen (...) verstehst du? (...)
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A: Gucken aber nicht sprechen mit ... oder ... ich weiß nicht was (...) was gucken was möchten sagen was möchten sagen (...) aber manchmal ähm in Ägypten ähm gucken und lachen und bisschen so oder vielleicht machen hallo oder so ... sie ein bisschen anders (...) A: Nur gucken aber nicht sagen aber (...) for mir machen traurig etwas“ (Interview 3, Z. 126–139). Joseph (Kongo), der Theologie studiert und relativ isoliert in einem Studentenwohnheim wohnt, weist auf den Widerspruch zwischen dem Reichtum in einer hoch industrialisierten Gesellschaft hin und der Illusion, Menschen seien nicht auf Kontakte zu anderen angewiesen: „J: Ja ... ich meine in Europa das ist meine ... war meine Illusion ja ... mit äh ... diese Entwicklung ... die Leute haben zu viele so genug für das Leben ... haben Geld für Bahn für Auto Computer und so schön ... Haus und so ... sie meinen dass ich brauche nicht andere Leute aber ... es ist nur eine Illusion (...) ((lacht)) Kontakt miteinander dann so ... man muss mit den anderen leben nicht allein mit der Katze“ (Interview 6, Z. 262–268). Während man in seinem Herkunftsland, dem Kongo, bewusst auf Fremde zugehe, um sie zu besuchen, erwarteten Deutsche und Europäer von den Zuwanderern den ersten Schritt zur Kontaktaufnahme. Die widersprüchlichen Umgangsweisen mit Fremden im Kongo und in Deutschland beschreibt Joseph (Kongo) folgendermaßen: „J: Sie erwarten dass andere Leute zu ihnen kommen ... man muss erste Schritt machen ... so bei uns wenn jemand ist neu die Leute die wohnen dort muss ... zum Beispiel ... ich muss bei dir gehen und nicht umgekehrt ... man muss gehen fremde Leute besuchen so ... aber viele in Europa das ist ganz anders“ (Interview 6, Z. 254–258). Während man in seinem Herkunftsland Personen, die man noch nicht kenne, in öffentlichen Verkehrsmitteln oder im Flugzeug begrüße, versteckten sich Deutsche hinter einem Buch oder einer Zeitung, statt die anderen zu begrüßen: „J: (...) Ich weiß nicht wie soll ich sagen und für einen Afrikaner das ist ziemlich schwer weil zum Beispiel bei uns wenn jemand in ein ... in Bus geht muss die andere begrüßen hallo hallo hallo mit einem noch unbekannt der soll kennenlernen ja in Bus oder in Zug oder Flugzeug aber hier anderes hier hier hat eine Buch oder ein Zeitung“ (Interview 5, Z. 304–308). Joseph begrüßt es sehr, dass die Teilnehmer/innen am Integrationskurs ihre Adressen ausgetauscht haben, um sich auch in Zukunft weiterhin treffen zu können. In Anbetracht dessen, dass seine Familie und seine Verwandten im Kongo leben, begreift er die Beziehung zu anderen Teilnehmer(inne)n schon fast als verwandtschaftliche oder als Ersatz für seine Verwandten:
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„J: Ja ... wichtig und sinnvoll ... hier meistens haben keine Verwandtschaft ja ... zum Beispiel ich bin ganz allein ... und diese Leute sind äh ... die ... wie Verwandte wurden“ (Interview 6, Z. 238 f.). Die Erfahrung der sozialen Isolation wird von fast allen Interviewpartner(inne)n in der einen oder anderen Weise thematisiert. Auch Mehdi (Eritrea) hofft, dass sich die Teilnehmer/innen des Integrationskurses nochmals treffen, da er keine weiteren Kontakte unterhält oder Freundschaften pflegt: „M: Ja das ist so unwahrscheinlich schwierig mit ein anderer Mann kennengelernt weil äh ... in meine Heimat so die ganze in eine Dorf bleiben die ganze Dorf äh sprechen und dann kann man auch spielen und kann man auch eher (XXX) aber in Deutschland hm deine Nachbarn von unsere Nachbarn nicht so hallo sagen einfach so laufen das ist was“ (Interview 10, Z. 277–280). Atie (Eritrea) berichtet, dass ihre Nachbarn nur Russisch oder Italienisch sprechen, so dass eine Verständigung mit ihnen kaum möglich ist. Ihre Lebenssituation beschreibt sie wie folgt: „A: Schwer ja ... und meine Freunde auch in meine Land mein Freund nicht kommt in Deutschland ... meine Mutter meine Papa ... in Deutschland alleine (...)“ Auf die Frage hin, was sie von Deutschen erwarte, antwortet sie: „A: Ich möchte die Menschen sprechen sprechen ist gut und dann die Freunde ... haben ... ich alleine ... und meine Freunde jetzt ... meine Freundin die China jetzt fahren zurück China ... aber ich möchte ... zusammen sprechen ... und die Leute Kaffee trinken“ (Interview 14, Z. 221–244). Arijan (Eritrea) ist aufgrund seiner religiösen Überzeugung in das „Freikirchliche Evangelische Gemeindewerk“ eingebunden, und Mitglieder dieser Gemeinde haben sich dazu bereit erklärt, die Gebühren für seinen Integrationskurs zu übernehmen. Obwohl er sich jenseits der Kontakte zu seiner Gemeinde mit Freunden aus Eritrea und Äthiopien trifft, leidet er dennoch sehr unter der sozialen Isolation und hat wegen seiner Wohnsituation und der langen Phase der Arbeitslosigkeit kaum Kontakt zu Deutschen: „A.: Zum Beispiel mein Nachbar ist alles aus anderes Land ich hab keine chance ((Gelegenheit, Möglichkeit)) und dann im zum Beispiel … Arbeit ich hab keine Arbeit mh Schule da ist alles Ausländer (...) ((leise)) ich hab was hab ich nix zum Beispiel (X) drei Jahre war ich war nur von sechs Monate hab ich dort gearbeitet (...) und dann die ganze zwei Jahre und drei Jahre ich war einfach zu Hause (...) ich hab nix gemacht“ (Interview 16, Z. 660–709). Fatima (Usbekistan), berichtet, dass sie deutsche Nachbarn hatte, jedoch vor Besuch des Sprachkurses nicht dazu in der Lage war, sich mit ihnen zu verständigen:
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„F: (...) früher wir wohnen in eine Privathaus äh und dort war nur deutsche Familien und wir (...) konnten nicht sprechen reden und so es war ziemlich komisch ((lacht)) (...) Wir mussten mit Mimik und Hand zeigen und zeigen was wir wissen so so ei ei einfach“ (Interview 20, Z. 335–340). Da ihre Tochter in den Kindergarten geht, ergeben sich daraus jedoch Kontakte zu anderen Eltern. Auch Hemal (Afghanistan) berichtet davon, dass es sehr schwierig sei, zu Deutschen Kontakt aufzunehmen. So hat er die Erfahrung gemacht, dass ihm seine Nachbarin zunächst mit Vorbehalten, Skepsis und Misstrauen begegnete – vermutlich ein Reflex auf die im Fernsehen häufig thematisierte Ausländerkriminalität. H: Weil ich komme erste Mal in H. mein Nachbar bisschen strenger und nachdem wir haben kennengelernen sie hat ge ... sie hat gesehen mich und wir haben kennengelernt und das war einfach gut jetzt so ... ich hab keine Probleme mit Nachbarin und I: Woran glaubst du liegt das? (...) H: ... wann die deutsche Leute denken man manche Ausländer ich sehe im Fernsehen kommt einfach die Wohnung rein und die lassen verlassen die Wohnung ohne Kündigung oder viele schrecklich die Wohnung das denken“ (Interview 2, Z. 272–279). Allerdings habe sich das Verhältnis zu ihr mittlerweile verbessert und sie sprechen miteinander, wenn sie sich zufällig begegnen. Neben der Relevanz der historischen und politischen Kenntnisse im Alltag erwähnen die Befragten im Interview jedoch, dass sie im Integrationskurs andere Teilnehmer/innen kennen gelernt haben, mit denen sie gemeinsam Deutsch sprechen, so dass die zuvor in Deutschland erlebte Isolation zum Teil durchbrochen wird. Einige Interviewpartner/innen berichten davon, dass die Teilnehmer/innen nach Beendigung des Kurses ihre Telefonnummern austauschten, um sich auch weiterhin treffen zu können. In den Interviews wird ferner darauf hingewiesen, wie wichtig es war, dass die Dozentinnen und Lehrerinnen der Kurse als Ansprechperson zur Verfügung standen und wie sehr ihre Freundlichkeit und Hilfsbereitschaft geschätzt wurde. 5
Fazit
Im Rahmen der Beschäftigung mit Integrationskursen wurde deutlich, dass es sich bei der Einführung solcher Kurse um ein Phänomen handelt, das derzeit in zahlreichen – Jacobs/Rea (2007) sprechen von neun – EU-Ländern zu beobachten ist. Zwar wurde die Einführung der Integrationskurse als integrationspolitisches Instrument (auch) von Seiten europäischer Institutionen angeregt (Europäi-
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scher Rat, Europäische Kommission, Europäisches Parlament), doch da die Migrations- und Integrationspolitik bislang nicht auf europäischer Ebene harmonisiert wurde, sondern bestenfalls im Rahmen der „Offenen Methode der Koordinierung“ zwischen den EU-Mitgliedsstaaten abgestimmt wird, sind nach wie vor die national unterschiedlichen Prozesse der Entscheidungsfindung und die national unterschiedlichen Ausprägungen und Akzentuierungen der Migrationsund Integrationspolitik von Relevanz. Vor diesem Hintergrund entfaltete sich in der fachwissenschaftlichen Debatte die Kontroverse über Konvergenz (Joppke/Morawska 2003; Joppke 2007) versus Divergenz nationaler Modelle der Integrationspolitik (Koopmans u.a. 2005; Jacobs/Rea 2007). Die Situation in der Bundesrepublik Deutschland war bekanntlich – im Gegensatz zu anderen klassischen Einwanderungsländern, wie z.B. Großbritannien oder Frankreich – dadurch geprägt, dass es kein offizielles Bekenntnis zum Tatbestand der Einwanderung gab. Infolgedessen mangelte es auch an einer in sich konsistenten Politik der gesellschaftlichen Integration von Einwanderern. Die im Januar 2005 erfolgte Einführung der Integrationskurse kann insofern als Paradigmenwechsel verstanden werden, als nun von Seiten der offiziellen Politik auf den Tatbestand der Einwanderung reagiert wird und Anstrengungen unternommen werden, um sprachliche Defizite bei Neu- und Altzuwanderern auszugleichen. Die Kritik an den Integrationskursen führte zu Modifikationen, die in eine neue Integrationskursverordnung mündeten. In der kritischen Auseinandersetzung mit den Integrationskursen gelten die Orientierungskurse als besondere Herausforderung: So konstatiert z.B. der Nationale Integrationsplan, dass dem Orientierungskurs „eine hohe Bedeutung für den Integrationserfolg (...) aber auch für die Entscheidung über die Erteilung der Niederlassungserlaubnis“ zukommt. Gefordert werden ein „einheitliches Curriculum, ein standardisierter Abschlusstest sowie ein bedarfsgerechtes Angebot zur Lehrkräftequalifizierung“ sowie eine „Ausweitung des Stundenumfangs für den Orientierungskurs“ (Bundesministerium des Innern 2007, S. 8). Mit Blick auf die Vielfalt unterschiedlicher Erfahrungen mit herkunftssprachlichen bzw. deutschsprachigen Orientierungskursen wird deutlich, dass sich letztlich ein Modell durchgesetzt hat, das sich sehr stark an den Lernvoraussetzungen von Einbürgerungswilligen orientiert. Die mitunter sehr geringen Sprachkenntnisse der Teilnehmer/innen und sehr rudimentären Kenntnisse über die Geschichte und das politische System der Bundesrepublik Deutschland wurden bei der Entwicklung eines ersten Curriculums für die Orientierungskurse nicht in ausreichendem Maße berücksichtigt. Mit Blick auf die empirische Studie lässt sich Folgendes feststellen: Eine Auswertung der Interviews zeigt, dass die Dozent(inn)en versuchten bzw. versuchen, das vom BAMF entwickelte Curriculum im Rahmen des 30-stündigen Orientierungskurses umzusetzen, indem sie einzelne Aspekte herausgreifen, die
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ihnen besonders wichtig erscheinen. Die Interviewpartner/innen erinnern sich an einzelne Begriffe oder Stichworte; in den Interviews wurde aber deutlich, dass es ihnen sehr schwer fällt, diese Begriffe in einen Kontext einzuordnen. Sicherlich muss der Orientierungskurs eine Balance herstellen zwischen der Wissensvermittlung und einem Bezug zur Lebenswelt. In den Interviews wurde deutlich, dass sich die Teilnehmer/innen an die behandelten Themen erinnerten, wenn sie im Kontext standen zu ihrer Lebenswelt, ihrem Alltag und ihren Erfahrungen. Insofern stehen die verantwortlichen Institutionen (BAMF) vor der Herausforderung, ein realistisches Curriculum auszuarbeiten, das einerseits an den sprachlichen Voraussetzungen der Migrant(inn)en ansetzt, andererseits auf deren Alltagserfahrungen Bezug nimmt, um die Motivation der Teilnehmer/innen zu stärken. Im Rahmen von Fort- und Weiterbildungen müssen Dozent(inn)en dazu befähigt werden, komplexe Zusammenhänge (Geschichte, politisches System, politische Kultur) in einer einfachen Sprache zu vermitteln, die für die Teilnehmer/innen nachvollziehbar ist. In diesem Zusammenhang erscheint es lohnenswert, die bisherigen Erfahrungen mit Orientierungskursen auszuwerten, und zwar in zweifacher Hinsicht: Relevant sind die Erfahrungen, die bislang im bundesdeutschen Kontext gesammelt wurden; von Bedeutung sind aber auch die Erfahrungen anderer europäischer Staaten, die ja bereits langjährige Erfahrungen mit Orientierungskursen gemacht haben. Quellen und Literatur 30 Stunden Deutschland (2005): Materialien für den Orientierungskurs (Projektteam: Angela Kilimann/Stefanie Plisch de Vega), Stuttgart Act No. 375 of 28 May 2003 on Danish courses for adult aliens, etc.; http://www.nyidanmark.dk/resources.ashx/Resources/Lovstof/Love/UK/danish_courses_act_375_28_ may_2003.pdf (29.11.2007) Act on the Integration of Immigrants and Reception of Asylum Seekers, 493/1999 (Finnland) Arbeitstreffen in Sèvres (2004): Die Sprachintegration erwachsener Einwanderer in Europa. 28.–29. Juni 2004 (hg. v. Ministère de l’emploi, du travail/Ministère de la culture et de la communication et de la cohésion sociale/Délégation générale à la langue française et Direction de la population et des migrations aux langues de France, Paris; http://www.culture.gouv.fr/culture/dglf/maitrise_langue/Seminarbericht2004.Deutsch. pdf (29.11.2007) Arbeitstreffen in Sèvres (2005): Internationales Seminar über die sprachliche Integration von erwachsenen Einwanderern (Rencontres 26/27-09-05). Arbeitstreffen in Sèvres, 26.–27. September 2005: (hg. v. Ministère de la culture et de la communication/Délégation générale à la langue française et aux langues de France), Paris; http://www.culture.gouv.fr/culture/dglf/recherche/seminaires/seminaire%20migrants /Seminaire_migrants_version_allemande.pdf (29.11.2007)
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Politisches Versäumnis und humanitäre Katastrophe: Flüchtlinge – in Deutschland und Europa nicht willkommen1 Flüchtlinge – in Deutschland und Europa nicht willkommen
Peter Kühne
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Fluchtursachen und -motive
Zufluchtnahme in der Bundesrepublik Deutschland gab es von Anfang an, seit Bestehen der Republik. In den ersten drei Jahrzehnten waren es vor allem Flüchtlinge aus den Ostblockstaaten, die davon Gebrauch machten. Ihnen wurde Zuflucht generös gewährt. Ein Beschluss der Innenminister von Bund und Ländern vom 26. August 1966 sicherte ihnen ein Aufenthaltsrecht auch unabhängig von der asylrechtlichen Prüfung zu. Die Zahl der Anträge war allerdings vergleichsweise niedrig. So wurden 1966 – beispielsweise – 4.379 Asylanträge verzeichnet. Erst gegen Ende der siebziger Jahre änderte sich dieses Bild. Das Asylrecht wurde seitdem zunehmend von Fluchtmigranten aus Krisenherden der so genannten Dritten Welt oder bestimmter Schwellenländer in Anspruch genommen: Militärputsche in Chile und der Türkei, Umsturz in Pakistan, Krieg im Libanon, Besetzung Afghanistans durch sowjetische Truppen, Bürgerkrieg in Sri Lanka, Sturz des Schah-Regimes und Installierung der Chomeini-Diktatur im Iran. 1980 überschritt die Anzahl der Asylbewerber erstmals die Einhunderttausend-Grenze. Dies wiederholte sich, nach einem zwischenzeitlichen Rückgang, 1988 mit 103.076 Anträgen und steigerte sich bis 1992 auf 438.191 Anträge. Es waren vor allem drei, einander teilweise überlappende und wechselseitig verstärkende Gründe, die seit Ende der achtziger Jahre zu vermehrter Fluchtmigration Anlass gaben: Zunächst der imperiale Zerfall und die (Re-)Ethnisierung ehemals realsozialistischer Gesellschaften Südost- und Osteuropas und in der Folge: Kriege und Bürgerkriege, pogromartige Verfolgung ethnischer und/oder religiöser Minderhei-
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Bei dem folgenden Beitrag handelt es sich um den leicht gekürzten Text eines Vortrags an der Hochschule Fulda (Fachbereich Sozial- und Kulturwissenschaften) am 2. Juni 2007. Vgl. auch: Kühne/Rüßler 2000; Kühne 2001, 2005 und 2006.
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ten, Diskriminierungen jeder Art. Etwa zwei Drittel aller in den Jahren 1989 bis 1994 zu verzeichnenden Asylbewerber/innen rekrutierten sich aus dieser Gruppe. Von Bedeutung waren zweitens die bekannten sozialen und politischen Krisenherde an der inneren und äußeren Peripherie Europas: Autonomiebestrebungen der Kurden in der Türkei, aber auch im Irak, und der Krieg, den die Regierung der Türkei gegen die kurdische Guerilla und deren soziales Umfeld führte; sodann die Zerklüftung der Gesellschaften Afghanistans, des Libanons und Algeriens mit der Folge eines Zerfalls staatlicher Autorität und sowohl staatlichen wie nicht-staatlichen Terrors. An dritter Stelle zu nennen sind politische Verfolgung und schwere Menschenrechtsverletzungen in weiteren, mehr als hundert Staaten der Welt. Amnesty International legt hierzu einen jährlichen Bericht vor. Dieser Großgruppe zuzurechnen sind z.B. die zahlreichen Flüchtlinge aus dem Iran, aus Sri Lanka und aus verschiedenen schwarzafrikanischen Staaten. Zunehmendes Gewicht kam hierbei – neben staatlicher Verfolgung – einem aus der Gesellschaft heraus inszenierten nicht-staatlichen Terror zu, dem staatlicherseits nichts entgegengesetzt wurde oder werden konnte. Gleich wer als Hauptakteur in Erscheinung trat: Zu verzeichnen waren der Einsatz militärischer Gewalt gegen die zivile Bevölkerung, Zwangsrekrutierung zum Militärdienst, Haft und unmenschliche Haftbedingungen, Folter, Vergewaltigung, Mord, Verschwindenlassen, Massaker. Allen Facetten gemeinsam war der Tatbestand schwerwiegender Menschenrechtsverletzungen und die begründete Furcht, von ihnen betroffen zu werden. Häufig genug waren es nicht allein die Armen, die derartigen Bedrohungen ausgesetzt waren, sondern Angehörige der politisch artikulations- und organisationsfähigen Mittel- und Bildungsschichten der urbanen Milieus, von denen viele dann auch über die notwendigen Geldmittel verfügten, um ihr Land verlassen und europäisches Territorium erreichen zu können. Auf der Grundlage biographisch angelegter, zumeist mehrstündiger Intensivinterviews, die meine Mitarbeiter/innen und ich selbst mit Flüchtlingen aus den wichtigsten Herkunftsstaaten und aller Statuskategorien führen konnten, lässt sich ein eindringliches Bild ethnischer Zerrissenheit und/oder politischer Unterdrückung ermitteln, die den Betroffenen letztlich keinen anderen Ausweg ließen als denjenigen der Flucht ins Exil. Dabei ist häufig zu unterscheiden zwischen verschiedenen Verhaltensvarianten, die der Flucht vorausgingen, und dann dem Fluchtvorgang selbst. Am Anfang stand zumeist eine Phase um Unauffälligkeit bemühten Überlebens, immer getragen von der Hoffnung, dass sich die Verhältnisse in absehbarer Zeit zum Besseren wenden. In dieser Phase kam es unseren Interviewpartnern noch nicht in den Sinn, ein bereits angefangenes Hochschulstudium oder erfolgreiche
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berufliche Tätigkeiten leichtfertig aufzugeben – und erst recht nicht den Kontext familiärer und freundschaftlicher Bindungen. Einige, die einen auch auf sie selbst ausgeübten Verfolgungsdruck deutlich wahrnahmen, suchten eine Überlebensalternative im eigenen Land, zumeist in der Anonymität einer Großstadt, nicht selten der Hauptstadt des Landes. Hier tauchten sie einerseits unter, andererseits ergaben sich für sie neue Verbindungen nicht zuletzt zur jeweiligen politischen Opposition – und von daher neue Verdachtsmomente für den staatlichen Sicherheitsapparat. Irgendwann, oft buchstäblich „über Nacht“, ergab sich dann eine dritte Phase, in der bis dahin latente Bedrohungen akut und sehr konkret wurden: Weggang des Bruders, Onkels, Cousins und der Verdacht, sie hätten sich dem bewaffneten Widerstand angeschlossen; Pressionen der Sicherheitskräfte gegenüber der eigenen Familie; Verhaftung und Folterung engster Freunde; „Verschwinden“ des eigenen Vaters oder Bruders nach Verschleppung durch Sicherheitskräfte oder Paramilitärs und schließlich: Bedrohung der eigenen Person. Unsere Interviewpartner sahen sich schließlich in einer ausweglosen Situation, es sei denn, sie ergriffen die Flucht über die Grenzen ihres Landes. Die Entscheidung zur Flucht musste meist sehr schnell gefällt, ihre Umsetzung – bei den Jüngeren noch mit Unterstützung der Eltern – teilweise durch Schlepper bewältigt werden, die sich dies hoch entgelten ließen, objektiv aber zu Lebensrettern der Fliehenden wurden. 2
Aufnahmebereitschaft in der Bundesrepublik Deutschland
Würde die Bundesrepublik Deutschland bereit sein, diese Menschen – in generöser Auslegung der eigenen Verfassung beziehungsweise der von ihr ratifizierten internationalen Übereinkommen – aufzunehmen? Würden die politisch Verantwortlichen, sofern sich Widerstände zeigen, alles in ihren Möglichkeiten Stehende tun, das Einverständnis eines Großteils, ja möglichst einer Mehrheit der bundesrepublikanischen Inländer/innen zu gewinnen? Hierzu hätte es breiter, die politischen Lager übergreifender, von den Wertkonservativen bis zu den Linken reichender Absprachen bedurft. Sodann hätte es einer Informationskampagne bedurft, die den Bürger(inne)n der Bundesrepublik die Hintergründe des Fluchtgeschehens erläutert und die Motive der Fliehenden nahe gebracht hätte. Anerkannte „öffentliche Personen“, Intellektuelle, Künstler und Popstars, Repräsentanten von Kirchen und Verbänden u.a. hätten als Mentoren und Moderatoren einer solchen breit angelegten Informationskampagne gewonnen werden können. Aus heutiger Sicht kann festgestellt werden, dass Derartiges niemals auch nur versucht wurde. Im Gegenteil: Der Gestus der Abwehr bestimmte von Anfang an das Regierungshandeln, das so schon bald in eine beträchtliche Schiefla-
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ge geriet. Argumente von „pro Asyl“, nicht etwa von Staats wegen, sondern aus der Zivilgesellschaft vorgetragen, aufgegriffen und verstärkt von politischen Intellektuellen sowie dem Zentralrat der Juden in Deutschland, parlamentarisch re-präsentiert zunächst noch von einer beträchtlichen interfraktionellen Minderheit der Abgeordneten des Deutschen Bundestages, fanden nicht das Gehör, das ihnen zugestanden hätte. Bürgerschaftliches Engagement für Flüchtlinge wurde eher „übersehen“, Formen zivilen Ungehorsams – wie z.B. die Gewährung von Kirchenasyl – als „Rechtsbruch“ diffamiert. Selbst „Lichterketten“ gegen Gewalt und Ausländerhass, die aus der Mitte breit gefächerter urbaner Milieus organisiert und in einigen bundesrepublikanischen Metropolen, zum Beispiel München, als eindrucksvolle Großdemonstrationen realisiert werden konnten, blieben in der damaligen Bundeshauptstadt Bonn ohne jede asylpolitische Konsequenz. Nicht gehört wurden schließlich diejenigen Sachverständigen und Institute, die aus demographischen Gründen für Zuwanderung plädierten und die sowohl ökonomische wie sozialpolitische Unbedenklichkeit weiterer Zuwanderung auch rechnerisch detailliert nachwiesen. Deutliches Gehör fanden dagegen Äußerungen der Fremdenfeindlichkeit und des organisierten Rechtsextremismus. Die Abwehr des Rechtsextremismus wurde schließlich zur zentralen Legitimationsbasis für die Abwehr von Fluchtmigranten. Die CSU propagierte in diesem Zusammenhang den Slogan „Rechts von uns kein Raum“ und übernahm teilweise selbst die Sprache der Rechtsextremen: Den Rechtsradikalen in Bayern sei nicht durch Parolen, sondern durch „robustes Handeln“ beizukommen. „Robustes Handeln“ aber bedeute: „Es wird seitens der Staatsregierung mehr Konsequenzen im Vollzug von Abschiebungen und bei der Überprüfung von Sozialschmarotzern geben.“ (Süddeutsche Zeitung v. 28.4.1998) Soweit Flüchtlinge nicht umgehend zurückgewiesen oder abgeschoben werden konnten, wurde und wird ihnen das Transitorische, Uneigentliche, Unerwünschte ihres Aufenthalts stets vor Augen geführt. Räumlich segregiert in zum Teil lagerähnlichen Großunterkünften, sind sie gezwungen, im Zuständigkeitsbereich der jeweiligen Ausländerbehörde zu verbleiben. Staatliche Unterhaltsleistungen, in der Regel in bargeldlosen Formen übermittelt, sind weit unter das Niveau geltender Sozialhilfestandards gedrückt. Erwerbsarbeit muss vielen von ihnen als ferner „Traum“ erscheinen. Das geltende Arbeitserlaubnisrecht bietet die jederzeitige Handhabe, (noch) nicht „anerkannte“ Fluchtmigranten von Erwerbsarbeit fern zu halten. Gleichzeitig stehen sie unter der ständigen Drohung einer Abschiebung ins Herkunftsland.
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Verhinderung weiterer legaler Zufluchtnahme
Die Bundesregierungen jeglicher Couleur verhielten sich im Übrigen präventiv. Ihr Hauptaugenmerk richteten sie zunehmend auf die Verhinderung legaler Zugangsmöglichkeiten zum Territorium der Bundesrepublik Deutschland. Der gewichtigste und folgenreichste Akt der Zuwanderungsbegrenzung erlangte 1992 als „Asylkompromiss“ zwischen Bundesregierung und SPD-Opposition dauerhafte Rechtskraft: die weitgehende Aushebelung des in der Verfassung festgelegten Grundrechts auf Asyl. An die Stelle des alten Artikels 16 Abs. 2 Satz 2 des Grundgesetzes trat der neue Artikel 16 a. Der Verfassungsrang, der diesem Akt staatlicher Ausgrenzung zugesprochen wurde, und das dazu eingeholte Einverständnis einer Mehrheit sozialdemokratischer Bundestagsabgeordneter unterstrich die ihm zugeschriebene staatspolitische Bedeutung. Er garantierte zugleich die faktische Unumstößlichkeit der nunmehr geltenden Regelungen. Dies trifft insbesondere für die Festlegung eines Kordons so genannter sicherer Drittstaaten zu, von denen die Bundesrepublik umgeben sei und für die Definition so genannter sicherer Herkunftsstaaten. Auf einfach gesetzlichem Wege wurde das Asylverfahren neu geordnet und u.a. ein „exterritoriales“ Flughafen-Sonderverfahren eingeführt. Gleichzeitig wurde in immer neuen Abkommen die „Rückübernahme“ abgelehnter Flüchtlinge seitens der Herkunftsländer vereinbart. Der Richter am Bundesverwaltungsgericht Ralf Rothkegel fasste 1997 die geltende Rechtslage lapidar so zusammen: „Das neue Asylrecht bewirkt, dass die Bundesrepublik Deutschland als Zufluchtsland für politisch verfolgte Ausländer auf dem Landweg nicht mehr erreichbar ist. Demjenigen, dem es gelingt, sich durch illegale Einreise vor politischer Verfolgung in Sicherheit zu bringen, droht, ohne Rücksicht auf seine Verfolgungsfurcht und sein persönliches Schicksal, außer Landes verbracht zu werden und dadurch wieder dem Zugriff des Verfolgerstaates preisgegeben zu sein.“ (Rothkegel 1997, S. 121) Zwar rühmten sich die verschiedenen Bundesregierungen, weit mehr als 300.000 Bosnien-Flüchtlinge aufgenommen und damit – im europäischen Kontext – die Hauptlast aus dem Bosnien-Konflikt der 90er-Jahre getragen zu haben. Nur ein Bruchteil der mehr als 300.000 wurde jedoch im Rahmen humanitärer Sonderkontingente aufgenommen. Ein eigens für Bürgerkriegsflüchtlinge geschaffener § 32 a AuslG blieb ungenutzt, weil Bund und Länder sich nicht auf eine Umverteilung der Kosten einigen konnten. Der Aufenthaltsstatus eines Großteils dieser Flüchtlinge beschränkte sich somit auf einen Zustand faktischer Nicht-Abschiebung mit gravierenden Auswirkungen auf Unterbringung, Familienzusammenführung und Ausbildungschancen von Kindern und Jugendlichen. Seit 1997 wurde verstärkt auch zwangsweise „rückgeführt“.
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Ganz ähnlich verlief der Prozess einer Zufluchtnahme kosovoischer Flüchtlinge und deren bis heute anhaltender zwangsweiser Rückführung, von der bisher lediglich die vielfach bedrohte Roma-Minderheit verschont ist. Die Zahl derjenigen, die das Territorium der Bundesrepublik unter diesen Umständen noch erreichen und einen Asylantrag stellen konnten, sank 2006 auf den historischen Tiefstand von ca. 15.000 Personen. Die Zahl der Erstantragsteller in diesem Jahr lag bei 21.029. In demselben Jahr wurden 1.348 Personen als Flüchtlinge anerkannt, weitere 603 erhielten menschenrechtlichen Abschiebungsschutz. Hauptherkunftsländer der Zufluchtnehmenden waren Serbien-Montenegro, der Irak, die Türkei, die Russische Föderation (Tschetschenien), Vietnam, Iran, Syrien, Libanon und Afghanistan. 4
Qualität der Asylverfahren
Von Seiten zuständiger Behörden, zunächst des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge (BAMF), dann auch kommunaler Ausländerbehörden, sind Asylsuchende vor allem damit konfrontiert, den Verdacht einer ungerechtfertigten Berufung auf politische Verfolgung und damit des „Asylmissbrauchs“ zu widerlegen. Den von uns befragten Flüchtlingen war noch nach Jahren die Fassungslosigkeit darüber anzumerken, dass entweder die lebensbedrohende Situation, der sie gerade entkommen waren, als nicht asylrelevant bewertet wurde oder ihnen – schlichtweg – „nicht geglaubt wurde“. „Man glaubte mir nicht“ – dies war einer der am häufigsten zu vernehmenden Sätze. Das Asylverfahren erschien ihnen so als Vabanquespiel: Ob sie anerkannt wurden oder nicht, unterlag – dem Glücksspiel gleich – eher dem Zufall, wobei die Entscheider/innen des Bundesamts in der Mehrzahl der Fälle darauf eingestellt schienen, den Aussagen ihrer Interviewpartner nicht zu glauben. Eine ergebnisoffene, faire und zugleich gründliche Prüfung ihres Einzelfalls war für die Interviewten jedenfalls nicht erkennbar. Deutlicher Beleg hierfür sind die immer wiederkehrenden stereotypen Sätze in den Begründungen der Entscheidungen wie „(...) hat sein Anliegen nicht substantiiert geltend gemacht.“ Oder: „(...) fehlt die beachtliche Wahrscheinlichkeit einer Verfolgung im Herkunftsland.“ Oder: Bisher erlittene Verhaftungen, Verhöre und Folterungen „(...) erreichten nicht die asylbegründende Eingriffsintensität.“ Weitere Belege für eine fragwürdige Entscheidungspraxis finden sich in den dazu getätigten Studien und Untersuchungen. Den Synoden der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) lagen beispielsweise schon 1994 und 1995 einschlägige Berichte vor (EKD 1994 und 1995). Die Deutsche Bischofskonferenz sprach 1998 von „Fehlleistungen der Verwaltungen und Gerichte“ sowie von „Mängeln bei der Durchführung des Asylverfahrens mit z.T. fatalen Folgen für
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die Betroffenen.“ Vor diesem Hintergrund ergebe sich eine Beistandspflicht der Kirche, das Flüchtlingen versagte Recht vom Staat einzufordern (Deutsche Bischofskonferenz 1998). Heribert Prantl, Ressortleiter „Innenpolitik“ der Süddeutschen Zeitung, ehemaliger Richter und Staatsanwalt, hielt 1997 Bescheide des Bundesamtes für „so schlampig wie Entscheidungen kaum einer anderen Behörde in Deutschland“ (Süddeutsche Zeitung v. 5.6.1997). Ein Memorandum der Sozialverbände, Menschenrechtsorganisationen sowie einiger Richter- und Anwältevereinigungen von 2005 charakterisiert das Asylverfahren als „Ort des verdichteten Misstrauens“. (Amnesty International u.a. 2005) Noch eine neueste, im Dezember 2006 veröffentlichte Studie, die sich mit der Entscheidungspraxis bei eritreischen Flüchtlingen befasst, zeigt unverändert desolate Zustände auf (vgl. Welge 2006). Tausende Flüchtlinge suchen ihr Recht vor den Verwaltungsgerichten – wiederum mit sehr unterschiedlichem Erfolg. Sie bedrängen die parlamentarischen Petitionsausschüsse der Bundesländer und die auf Länderebene eingerichteten Härtefallkommissionen. Hunderte suchten und suchen in Kirchen und Klöstern Schutz (Kirchenasyl), um einen Abschiebeaufschub und die erneute Prüfung ihres Asylantrags zu erwirken. Weit über hundert evangelische und katholische Kirchengemeinden sowie Ordensgemeinschaften und Klöster waren bereit, in diesem Sinne „Asyl“ zu gewähren und wurden hierin auch von den Kirchenleitungen legitimiert. 5
Überprüfung des Asylstatus und Widerrufsverfahren
Inzwischen zeichnet sich eine Entwicklung ab, die erkennen lässt, dass selbst diejenigen Flüchtlinge, die als solche anerkannt und – nach dem alten Recht – mit einer unbefristeten Aufenthaltserlaubnis ausgestattet sind, sich nicht auf der „sicheren Seite“ wähnen dürfen. Das zeigen die seit 2002 drastisch angestiegenen Widerrufsverfahren. Was bis 2002 nur in wenigen Ausnahmefällen praktiziert wurde, scheint nun die Regel der Asylpraxis zu werden. Kommt das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) zu der Auffassung, dass die Voraussetzungen für die einstige Anerkennung als Asylberechtigter bzw. als Flüchtling nicht mehr vorliegt, ist der zugebilligte Status „unverzüglich“ zu widerrufen. Ist dieser Widerruf durch das BAMF bestandskräftig erwirkt, befindet die Ausländerbehörde über einen Widerruf auch des Aufenthaltstitels (vgl. § 73 AsylVfG). Betroffen sind insbesondere Flüchtlinge aus dem Irak, aber auch aus dem Kosovo, Sri Lanka, Afghanistan, Angola, der Türkei und dem Iran. Das Protokoll der Konferenz der Landesinnenminister (IMK) vom 8. Juli 2004 rühmt den Bundesinnenminister, der dafür Sorge getragen habe, dass das BAMF noch
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bis zum Datum der Konferenz ca. 4.500 Widerrufsverfahren allein gegen Iraker eingeleitet habe. Im Jahr 2006 wurden weitere 4.400 Widerrufsverfahren gegen Iraker angestrengt. Die Gesamtzahl aller Widerrufsverfahren gegen Iraker lag nunmehr bei 18.000. Die IMK vom November 2006 bekräftigte ihr Ziel einer „baldmöglichen Ausweitung“ auch von Rückführungen in den Irak. Das seit dem 1. Januar 2005 geltende neue Zuwanderungsrecht setzt im Übrigen eine regelrechte Überprüfungsautomatik in Gang. Die Anerkennung als Asylberechtigter bzw. Flüchtling wird zunächst auf nur drei Jahre befristet. Spätestens nach Ablauf dieser Frist und vor Erteilung einer (unbefristeten) Niederlassungserlaubnis ist seitens des Bundesamts zu überprüfen, ob die Voraussetzungen für einen Widerruf gegeben sind. Auch wenn dies nicht der Fall ist und die Niederlassungserlaubnis erteilt wird, bleibt ein Widerruf jederzeit möglich. Eine Entscheidung hierüber liegt nun im Ermessen des Bundesamts (vgl. § 73 Abs. 2a AsylVfG). 6
Zum neuen Zuwanderungsrecht
Wie bereits erwähnt trat zum 1. Januar 2005 nach jahrelangen politischen Diskursen ein neues Artikelgesetz zum Zuwanderungsrecht samt Begründung und zugehörigen Rechtsverordnungen in Kraft. Es folgten sehr bald die Vorläufigen Anwendungshinweise von Bund und Ländern und eine Flut weiterer interpretierender Erlasse der Bundesländer. Zentraler Bestandteil des Artikelgesetzes ist ein so genanntes Aufenthaltsgesetz, das das bisher geltende Ausländergesetz ersetzt. Weitere flüchtlingsrechtliche Bestandteile sind ein novelliertes Asylverfahrensund Asylbewerberleistungsgesetz. Bedeutsam für Flüchtlinge ist sodann die „Beschäftigungsverfahrensverordnung“, die den Zugang bestimmter Flüchtlingsgruppen zum Arbeitsmarkt reguliert. Die Entstehungsgeschichte des neuen Zuwanderungsrechts ist von Anfang bis Ende gekennzeichnet von immer neuen Versuchen, Positionen der Flüchtlingsabwehr gegen liberal rechtsstaatliche und humane Erwägungen in Stellung zu bringen, dies noch dazu in einer Erfolg versprechenden Konstellation offenen oder heimlichen Einverständnisses des federführenden rot-grünen Fachministers mit den Oppositionsparteien CDU und CSU und einer von diesen Parteien gestellten national-konservativen Bundesratsmehrheit. Das Ergebnis war entsprechend. Dringend erforderliche humanisierende Eingriffe in das Flüchtlingsrecht blieben aus – sieht man von wenigen, inzwischen unvermeidlichen Anpassungen nationalen Rechts an völkerrechtliche Normen einmal ab (bekanntestes Beispiel: die Anerkennung auch nicht-staatlicher Verfolgungstatbestände und frauenspezifischer Fluchtgründe).
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Enttäuscht wurden insbesondere die Erwartungen an eine Schlussstrichregelung für die bisher nur Geduldeten. Schien der Gesetzestext selbst noch die eine oder andere vorsichtige Öffnung zu signalisieren, wurden alle, die derartiges annahmen (darunter auch Bundestagsabgeordnete, die den Gesetzestext mitverfasst hatten), bald eines „Besseren“ belehrt. Eine bestimmte Auslegung, nämlich diejenige des Bundesinnenministers, und dessen vorläufige Anwendungshinweise bestimmten bald die Verwaltungspraxis. Erst in das soeben, also zweieinhalb Jahre später, verabschiedete 2. Änderungsgesetz zum Zuwanderungsrecht wurde eine gesetzliche Bleiberechtsregelung eingefügt, die allerdings ganz nach dem Vorbild ihrer Vorläufer nur einem kleinen Teil, günstigstenfalls einem Drittel der Betroffenen, ein Bleiberecht bescheren wird. Auch diese Regelung ist mit einem Stichtag – 1. Juli 2007 – versehen. Sämtliche in Zukunft erteilten Duldungen bleiben somit von dieser Regelung ausgenommen, auch und insbesondere jene Duldungen, die nunmehr tausendfach durch Widerruf des Flüchtlingsstatus neu produziert wurden. 7
Kommt Hilfe von Europa?
Nationalstaatliche Engführungen des Asylrechts müssten doch von Europa her geweitet werden können. Dies läge im Interesse derjenigen Mitgliedsstaaten, die in der einen oder anderen Hinsicht zu einer generöseren Flüchtlingspolitik bereit wären. Ihnen würde die Furcht vor einer überproportionalen Sogwirkung auf ihr Land genommen. Anläufe zu einer Harmonisierung auf höherem Niveau unternahm immer wieder das Europäische Parlament. Diese Anläufe hatten bisher allerdings nur deklamatorischen Charakter. Deutlich wurde stattdessen, dass „Harmonisierung“ für die entscheidenden Akteure „Harmonisierung nach unten“ bedeutet und gerade nicht als Korrektiv nationalstaatlicher Engführungen, sondern als deren Bestätigung dient. Dies gilt schon lange für die zwischenstaatlichen Abkommen zur Sicherung der EUAußengrenzen und für Beschlüsse der Konferenzen der Einwanderungsminister, die ihrerseits grundlegende Entscheidungen der Staats- und Regierungschefs im Europäischen Rat vorbereiten. Zwar überführte das Vertragswerk von Amsterdam, in Kraft getreten am 1. Mai 1999, die Asyl- und Einwanderungspolitik in die Zuständigkeit der EU. Auch ließ die Schlussdeklaration des EU-Sondergipfels von Tampere (15./16. Oktober 1999) aufhorchen, die geradezu emphatisch für eine „uneingeschränkte und allumfassende Anwendung der Genfer Flüchtlingskonvention“ eintrat und hierzu Arbeitsaufträge an die Europäische Kommission erteilte. Doch war die Umsetzung von Amsterdam und Tampere für zunächst fünf Jahre dem Einstimmigkeits-
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prinzip unterworfen. Dies eröffnete den nationalen Regierungen erneut die Möglichkeit, aus ihrer Sicht zu weit gehende Kommissionsvorschläge zurückzuweisen und mit ihrem jederzeit möglichen Veto zu drohen. Hiervon machte nicht zuletzt die rot-grüne Bundesregierung in Gestalt ihres Verhandlungsführers Otto Schily reichlich Gebrauch. Entsprechend zerrupft, gingen vergleichsweise generöse Richtlinienentwürfe der Europäischen Kommission aus diesem Machtpoker hervor. Markanter Eckpunkt einer letztlich durchgesetzten „Harmonisierung nach unten“ ist die Übertragung des Prinzips so genannter sicherer Drittstaaten auf die Europäische Union – mit der Folge einer geradezu ungeheuerlichen polizeilichen Aufrüstung der EU-Außengrenzen und der Unmöglichkeit für Flüchtlinge, das Territorium der EU überhaupt noch legal zu erreichen. Damit ist eine der wenigen humanitären Errungenschaften des 20. Jahrhunderts als des Jahrhunderts gigantischer Totalitarismen, von politischer Emigration, Flucht, Vertreibung und Völkermord tendenziell dementiert: die auch völkerrechtlich festgeschriebene humanitäre Verantwortlichkeit der Nationalstaaten über den Kreis der eigenen Staatsbürger/innen hinaus. Dies gilt in herausgehobener Weise für die 1951 zustande gekommene Genfer Flüchtlingskonvention und das hier verankerte Verbot einer Zurückweisung von Zufluchtsuchenden. Dieses Verbot ist – bezogen auf die Europäische Union – faktisch in Frage gestellt. Menschen, die ihr nacktes Überleben nur dadurch retten können, dass sie ihren Herkunftsstaat fluchtartig verlassen und Schutz auf dem Territorium der EU suchen, befinden sich in einer äußerst prekären, um nicht zu sagen: aussichtslosen Lage. Für sie gilt, was in den dreißiger Jahren des 20. Jahrhunderts bereits die Regel war. So wie damals die Tore demokratischer Nationalstaaten bleiben ihnen heute die Tore der EU verschlossen (vgl. Arendt 1986 und Unabhängige Expertenkommission 1999). Quellen und Literatur Amnesty International u.a. (2005): Memorandum zur derzeitigen Situation des deutschen Asylverfahrens; http://www.proasyl.info/texte/2005/Memorandum_II.pdf (5.1.2008) Arendt, Hannah (1986): Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, München/Zürich Deutsche Bischofskonferenz, Kommission XIV Migration (1998): Hilfe und Schutz bedrohter Menschen im Einzelfall. Eine Argumentations- und Entscheidungshilfe zum sog. „Kirchenasyl“ (existiert nur in Manuskriptform, zu bestellen bei der Deutschen Bischofskonferenz) EKD (1994): Asylsuchende und Flüchtlinge. Zur Praxis des Asylverfahrens und des Schutzes vor Abschiebung, Hannover EKD (1995): Asylsuchende und Flüchtlinge. Zweiter Bericht zur Praxis der Asylverfahren und des Schutzes vor Abschiebung, Hannover
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Kühne, Peter (2001): Zur Lage der Flüchtlinge in Deutschland (Friedrich-Ebert-Stiftung), Berlin Kühne, Peter (2005): Aufenthalts- und Lebensperspektive – weiterhin brüchig, in: Migration und Soziale Arbeit, H. 2, S. 122–131 Kühne, Peter (2006): Flüchtlinge und der deutsche Arbeitsmarkt, in: Christoph Butterwegge/Gudrun Hentges (Hg.), Zuwanderung im Zeichen der Globalisierung, 3., akt. Aufl. Wiesbaden, S. 245–258 Kühne, Peter/Rüßler, Harald (2000): Die Lebensverhältnisse der Flüchtlinge in Deutschland, Frankfurt am Main/New York Unabhängige Expertenkommission (1999): Die Schweiz und die Flüchtlinge zur Zeit des Nationalsozialismus, Bern Rothkegel, Ralf (1997): Kirchenasyl – Wesen und rechtlicher Standort, in: Zeitschrift für Ausländerrecht und Ausländerpolitik (ZAR), H. 3, S. 121–129 Welge, Ines (2006): Untersuchung zur Entscheidungspraxis des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge in Fällen eritreischer Asylantragsteller (in Kooperation mit Pro Asyl e.V./Flüchtlingsrat Wiesbaden); http://www.proasyl.de/fileadmin/proasyl/ fm_redakteure/Broschueren_pdf/Eritrea_Studie.pdf (5.1.2008)
Abschied vom Multikulturalismus? Zu neueren Entwicklungen der Integrationspolitik in Großbritannien und Australien Zu neueren Entwicklungen der Integrationspolitik in Großbritannien und Australien
Sigrid Baringhorst
Multikulturelle Integrationskonzepte und Reformpolitiken sind in den letzten Jahren zunehmend unter Rechtfertigungsdruck geraten und erfahren auf gesellschaftlicher wie politischer Ebene vielfältige Formen der Gegenreaktion. Es scheint mir sogar gerechtfertigt, von einer weltweiten heftigen Reaktion gegen die in den 1970er Jahren zuerst in Kanada und dann in zahlreichen westlichen Ländern entwickelte Politik des Multikulturalismus zu sprechen. So haben, wie im Folgenden beispielhaft erläutert werden soll, konservative Regierungen in Australien seit 1996 die Staatsideologie des Multikulturalismus zwar nicht abgeschafft, aber doch in vielerlei Hinsicht ausgehöhlt. Und auch in Westeuropa – exemplarisch soll hier auf die britische Politik eingegangen werden – haben die Länder, die in den 1980er Jahren die Anerkennung kultureller Differenzen zum grundlegenden Prinzip ihrer Integrationspolitik erklärt hatten, manche Kehrtwende auf den Weg gebracht. Auch in den Ländern, die wie Deutschland keine multikulturalistische Integrationspolitik entwickelt haben, gerieten Konzepte der kulturellen Vielfalt und der Anerkennung von Gruppenrechten von Migranten stark in die Defensive. Diese Kritik am Multikulturalismus wird gegenwärtig in Westeuropa vor allem im Deutungsrahmen eines Anti-Islamismus formuliert. Die Ereignisse des 11. September 2001, die Ermordung Theo van Goghs in Holland, die islamistischen Anschläge von Madrid und London sowie die gewaltförmigen Reaktionen auf die Veröffentlichung von Mohammed-Karikaturen in Dänemark haben der Panikmache vor Überfremdung und unkontrollierter Einwanderung eine neue Wendung gegeben und eine Dynamik moralisierender Kreuzzüge ausgelöst. Auch die Krawalle in den französischen Vororten im Jahr 2005 wurden in den Medien mit Stichworten wie „Ende der multikulturellen Hoffnung“ kommentiert. Und dies, obwohl sich das französische republikanische Integrationskonzept – etwa ganz im Gegensatz zum australischen – explizit nicht als multikulturell, sondern als auf Assimilation zielend verstand und noch immer versteht. Insbesondere muslimische Einwanderer werden in westlichen Medien als gefährliche Eindringlinge, als gewalttätig und fanatisch oder zumindest irratio-
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nal, undemokratisch und sexistisch beschrieben. Im Zentrum dieser Dynamik moralisierender Kreuzzüge stehen weltpolitisch die Protagonisten George W. Bush und Bin Laden; ihre Breitenunterstützung finden sie in populistischen Diskursen westlicher Medien und rechter Parteien sowie in sektiererischen Zirkeln und Zellen islamistischer Netzwerke. Kaum ein Politiker oder Wissenschaftler, der es gegenwärtig wagt, zur Ehrenrettung von Multikulti öffentliche Schelte und Verachtung für die „Ewiggestrigen“ auf sich zu ziehen. Auch unter Migrationsexperten scheint sich eine Abkehr von multikulturellen Integrationskonzepten, verbunden mit einer Hinwendung zum Neoassimilationismus, abzuzeichnen (vgl. Brubaker 2001). Auch dieser Beitrag sollte nicht als schlichtes Plädoyer für eine Politik des Multikulturalismus missverstanden werden. Doch erscheint es mir wissenschaftlich und politisch wenig hilfreich und sinnvoll, das Kind mit dem Bade auszuschütten und das Konzept einer multikulturellen Politik der Anerkennung von Differenzen vollständig und vorschnell einem pragmatischen Assimilationismus zu opfern. Vernünftiger und wissenschaftlichem Vorgehen angemessener scheint es mir, nüchtern die Stärken, Schwächen, Modifizierungen und Revisionen des Konzepts des Multikulturalismus herauszuarbeiten, um zu eruieren, welche Elemente tatsächlich aufgegeben und welche Annahmen jedoch auch unter den Bedingungen verstärkten Gegenwindes angemessen erscheinen. Dies soll zum einen auf theoretischer Ebene geschehen, zum anderen aber auch auf vergleichender empirischer Ebene. Die Wahl der Vergleichsländer Australien und Großbritannien ist dabei nicht zufällig: Kontrastiert wird dabei zum einen ein klassisches Einwanderungsland mit einem postkolonialen Hintergrund, in dem Multikulturalismus als Staatsdoktrin und Kern nationaler Identität propagiert wird, mit einem Land, in dem Multikulturalismus primär als kommunalpolitisches Reformkonzept entwickelt wurde. Im Folgenden sollen zunächst die Grundzüge der Philosophie des Multikulturalismus skizziert werden, wie sie vor allem vom angelsächsischen Philosophen Will Kymlicka entwickelt wurden. Im Anschluss daran werden die australische und die britische Variante der politischen Umsetzung dieser Philosophie skizziert und unter dem Stichwort „vom Multikulturalismus zum zivilen Nationalismus“ Tendenzen der Abkehr von multikulturalistischen Integrationsstrategien in neueren Reformen beider Länder exemplarisch erläutert. Abschließend soll die theoretische Frage aufgegriffen werden, inwiefern es sich bei der Beziehung zwischen Multikulturalismus und Staatsbürgerschaft, wie viele Kritiker propagieren, tatsächlich und notwendigerweise um eine Nullsummenbeziehung handelt und welche alternativen Konzeptualisierungen von Multikulturalismus zu entwickeln wären, um diese Nullsummenrelation zu umgehen bzw. zu vermeiden.
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Zur Theorie des Multikulturalismus
Das Konzept des Multikulturalismus als normative Theorie gesellschaftlichen und politischen Zusammenlebens in multiethnischen Gesellschaften fand vor allem in der sozialwissenschaftlichen und -philosophischen Debatte in angelsächsischen Ländern in den 1980er und 1990er Jahren viel Beachtung und Unterstützung. Der kanadische Philosoph Will Kymlicka spricht 2001 von einem „entstehenden Konsens“ (2001, S. 64; Übersetzung S.B.) in der Wissenschaft über zwei Aspekte: Erstens eine zunehmende Verknüpfung von Liberalismus und Nationalismus in dem Sinne, dass nationalen Minderheiten das Recht zugesprochen wird, einen Sonderstatus zu reklamieren, bis hin zum Recht auf Separierung und Selbstregierung. Territoriale Minderheiten, wie die Frankokanadier, die Katalanen in Spanien oder die Schotten in Großbritannien, die gegen ihren Willen in einen Nationalstaat inkorporiert wurden, dürfen, so der Konsens, nicht gezwungen werden, sich der nationalen Kultur und Identität der Mehrheitsgesellschaft anzupassen. Darüber hinaus seien ihnen Rechte und Mittel zur Aufrechterhaltung ihres Sonderstatus als nationale Minderheiten innerhalb multinationaler Staaten zuzugestehen. Die zweite philosophische Synthese sieht er in einer vor allem im englischsprachigen Raum verbreiteten Verknüpfung von Liberalismus und Multikulturalismus zu einem Konzept des „liberal multiculturalism“ (Kymlicka 2001, S. 65). Dem liberalen Multikulturalismus geht es um die Identitätspolitik gegenüber nicht nationalen kulturellen Gruppen, wie Einwanderergemeinschaften, Flüchtlingsgruppen, religiösen Minderheiten, oder nicht ethnischen kulturellen Gruppen, wie Behinderten oder Homosexuellen. Im Gegensatz zu den eben genannten nationalen bzw. territorialen Minderheiten streben sie zwar auch nach Anerkennung von Gruppenrechten, jedoch nicht jenseits oder außerhalb, sondern innerhalb ethnisch und kulturell fragmentierter Gesellschaften. „Der liberale Multikulturalismus akzeptiert, dass solche Gruppen einen gerechtfertigten Anspruch nicht nur auf Toleranz und Nichtdiskriminierung haben, sondern auch auf ausdrückliche Annahme, Anerkennung und Repräsentation durch die Institutionen der gesamten Gesellschaft.” (Kymlicka 2001, S. 65; Übersetzung S.B.) Ein wichtiger Schritt in der Entwicklung dieses kulturellen Liberalismus, der Verbindung von normativen Postulaten von Liberalismus, Nationalismus und Multikulturalismus, war ein neues Verständnis vom Staat und ein neues Verständnis der für liberale Theorien grundlegenden Trennung zwischen öffentlicher und privater Sphäre. Während traditionelle Vorstellungen des Liberalismus eine auf gleicher Partizipation aller Staatsbürger basierende Politik für unvereinbar hielten mit Konzepten der Identitätspolitik kulturell, ethnisch oder religiös defi-
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nierter Kollektive, entwickelte sich in den 1980er Jahren, nicht zuletzt angesichts des wachsenden politischen Drucks nationaler und kultureller Minderheiten, im philosophischen Diskurs die Annahme, dass Prinzipien, die bisher als unvereinbar galten, miteinander in Einklang zu bringen seien. Dies gilt für die Überwindung der alten Dichotomie zwischen Universalismus und Partikularismus auf der philosophischen Ebene, für die Vereinbarung von Individual- und Gruppenrechten auf der rechtlichen Ebene und auf der politischen Ebene für die Gleichzeitigkeit einer Politik der Chancengleichheit und einer Politik der Anerkennung von Gruppendifferenzen. Ein zentrales Element des kulturellen Liberalismus ist nach Kymlicka die spezifische Deutung der Beziehung zwischen nationalen und Einwanderergemeinschaften auf der einen und Staatsbürgerschaft und Demokratie auf der anderen Seite. Dabei sind, bezogen auf die Definition staatsbürgerlicher Rechte, politische, soziale und kulturelle Rechte zu unterscheiden (vgl. Levy 2000, S. 125–159). Auf politischer und sozialer Ebene unterscheiden sich multikulturelle Konzeptionen des Liberalismus nicht von traditionellen liberalen Integrationskonzepten: Politisch-rechtlich gilt das Prinzip der gleichen politischen Teilhaberechte: Alle Staatsbürger sind vor dem Gesetz gleich, haben z.B. das gleiche Recht, sich an Wahlen zu beteiligen, ihre Stimmen haben gleich viel Gewicht und alle Staatsbürger haben gleichermaßen das Recht, Parteien oder politische Vereinigungen zu gründen. Auf der sozioökonomischen Ebene impliziert das Konzept gleiche soziale Rechte: Alle haben z.B. das gleiche Recht auf Zugang zu Bildung und Ausbildung, Zugang zu staatlichen Transferleistungen, aber auch chancengleichen Zugang zu Arbeitsplätzen, Wohnungen und anderen knappen gesellschaftlichen Gütern. Die Gewährung gleicher sozialer Rechte impliziert auch die Bekämpfung von Rassismus und Diskriminierung, die Durchsetzung gleicher Zugangschancen zu Bildung und wohlfahrtsstaatlichen Leistungen wie auch die Verbesserung der Startchancen von Angehörigen ethnischer oder kultureller Minderheiten, um gleiche gesellschaftliche Zugangs- und Teilhabechancen zu gewährleisten. Der wesentliche Unterschied zu traditionellen Konzepten des Liberalismus besteht hinsichtlich der Anerkennung kultureller Rechte. Während die politische und soziale Chancengleichheit auch innerhalb traditioneller Konzepte von Liberalismus und Assimilation hergestellt werden kann, weist die Anerkennung kultureller Differenzen und daraus resultierender kultureller Gruppenrechte über traditionelle liberale politische Vorstellungen der Integration hinaus. Denn letztere basieren auf den Prinzipien von Individualismus und Universalismus. Gewährung gleicher politischer und sozialer Rechte bedeutet demnach Blindheit des Staates und seiner Institutionen gegenüber ethnischen, kulturellen oder religiösen
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Unterschieden. Multikulturelle Integrationskonzepte gründen demgegenüber auf der Akzeptanz einer unterschiedlichen Behandlung unterschiedlicher Gruppen zur Umsetzung universalistischer Gleichstellungsprinzipien und befürworten unter bestimmten Voraussetzungen auch eine Gewährung gruppenspezifischer kultureller Rechte. Die Legitimität dieser kulturellen Gruppenrechte wird abgeleitet aus der Annahme einer grundsätzlichen kulturellen Formung und Eingebettetheit aller Staaten, d.h. auch der republikanischen, sich selbst als neutral auffassenden Staaten. Eine völlige kulturelle Neutralität des Staates, so die Argumentation, sei illusionär. Politische Ideen und Institutionen reflektierten immer bestimmte kulturelle Voraussetzungen und seien stets durch den historischen und kulturellen Kontext ihrer Gründung determiniert. Diese kulturellen Prämissen können mit den kulturellen Prädispositionen von Einwanderern und einheimischen territorialen Minderheiten kompatibel sein, sie müssen es aber nicht. Ist letzteres der Fall, so sind sie offen für Verhandlungen und Neudefinitionen. Stephen Castles hat die multikulturalistische Argumentationslinie einmal treffend so formuliert: „Eine multikulturelle Gesellschaft kann nicht erwarten, dass die kulturspezifischen Prinzipien der in früheren Phasen ihrer Geschichte dominanten Gruppe angemessen bleiben, wenn neue Gruppen in den politischen Prozess mit eingebunden werden.” (Castles 2000, S. 141; Übersetzung S.B.)
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Multikulturelle Integrationspolitik in Australien und Großbritannien
Neben Kanada gilt Australien als eines der Länder, in denen Multikulturalismus in den 1970er Jahren zum staatstragenden nationalen Identitätskonzept avanciert ist (vgl. Baringhorst 2003b; 2004). Ein offizielles Bekenntnis zum Multikulturalismus wurde zuerst von dem Labor Premier G. Whitlam formuliert. In der Folgezeit wurde dieses Bekenntnis bis zum gegenwärtigen Zeitpunkt in Variationen immer wieder als Staatsdoktrin und Grundlage der nationalen Identität der australischen Gesellschaft bekräftigt. Der Ursprung des multikulturellen Selbstverständnisses der australischen Nation liegt im Eingeständnis des Scheiterns der bis in die 1960er Jahre vertretenen rassistischen Einwanderungs- und assimilatorischen Integrationspolitik. Mit der Gründung des australischen Bundes 1901 wurde vor allem zur Ausgrenzung potentieller asiatischer Einwanderer die Gesetzgrundlage für die „White Australia Policy“ geschaffen, nach der Einwanderung aus dem nicht anglo-keltischen Raum prinzipiell abgelehnt wurde. Erst infolge der Bedrohungserfahrung im Zweiten Weltkrieg wurde die Bevölkerungsarmut des australischen Kontinents als geopolitische Schwäche wahrgenommen und unter der Devise „Populate or
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Perish“ (dt. „Bevölkern oder Untergehen“) eine aktive Politik zur Anwerbung von Einwanderern auch aus nicht anglo-keltischen Ländern entwickelt. Als in den 1950er und 1960er Jahren der auch aus ökonomischen Gründen gestiegene Bedarf an Einwanderern nicht mehr durch Migration aus den angelsächsischen Kernländern sowie aus West- und Nordeuropa gedeckt werden konnte, ging man sukzessive dazu über, auch Südeuropäer und seit den 1970er Jahren auch asiatische Einwanderer ins Land zu lassen. Verschiedene von der Regierung in Auftrag gegebene Untersuchungen wiesen auf klare Defizite in der sozialen Integration der südeuropäischen und asiatischen Einwanderergemeinschaften hin und empfahlen eine Abkehr von der als illusorisch empfundenen Politik der Assimilation zugunsten einer allgemeinen Politik der Anerkennung kultureller Differenzen und der staatlichen Berücksichtigung der besonderen sozialen Bedürfnisse der Einwanderer. Nicht nur die asiatischen Einwanderer, die seit den 70er Jahren verstärkt ins Land kamen, sondern auch schon die in den 1950er Jahren anwachsende Zahl europäischer Siedler mit „Non-English-Speaking Background“, mit nicht englischsprachigem Hintergrund, erfüllten die an sie gestellten kulturellen Anpassungserwartungen nur bedingt: Zwar wurden ihnen die politische Gleichstellung durch relativ leichten Zugang zur australische Staatsbürgerschaft formal zugesichert und auch gleiche Anrechte auf wohlfahrtsstaatliche Leistungen zugestanden, doch war damit das Problem der kulturellen Differenz nicht gelöst. Kulturelle Unterschiede bestanden fort und drückten sich in einer nach außen sichtbaren Bildung ethnischer Gemeinschaften mit ethnischen Selbstorganisationen und einer ethnisch geprägten Nischenökonomie aus. Praktisch relevant wurde das offizielle Bekenntnis zu kultureller Diversität in den 1970er Jahren vornehmlich in der Verbesserung von Bildungs- und wohlfahrtsstaatlichen Integrationsangeboten für „Migranten der Arbeiterklasse mit europäischer Herkunft “ (Castles 1997, S. 126; Übersetzung S.B.). Unter den Laborregierungen 1983–1996 wurde das eher vage Bekenntnis zur kulturellen Diversität erstmals als politisches Interventionsprogramm systematisch ausgearbeitet. Die zentralen Inhalte wurden als Teil einer umfassenden Politik der ökonomischen Deregulierung, der effizienten Verwendung von Humankapital, der Aufrechterhaltung des sozialen Sicherheitsnetzes und nicht zuletzt auch der Integration Australiens in die asiatisch-pazifische Region reformuliert. In der von allen Parteien im nationalen Parlament unterstützten „National Agenda for a Multicultural Australia“ wurden 1989 kulturelle Identität, soziale Gerechtigkeit und ökonomische Effizienz als Kernelemente multikultureller Politik festgelegt und folgendermaßen definiert:
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„kulturelle Identität: das Recht aller Australier, ihr individuelles kulturelles Erbe, einschließlich ihrer Sprache und Religion, innerhalb sorgfältig definierter Grenzen zum Ausdruck zu bringen und zu teilen; soziale Gerechtigkeit: das Recht aller Australier auf Gleichstellung und Chancengleichheit sowie Beseitigung von Barrieren, die auf Rasse, Ethnizität, Kultur, Religion, Sprache, Geschlecht oder Geburtsort basieren, und ökonomische Effizienz: die Notwendigkeit, die Fähigkeiten und Talente aller Australier, ungeachtet ihres Hintergrunds, aufrechtzuerhalten, zu entwickeln und effektiv zu nutzen.“ (Office of Multicultural Affairs 1989, S. vii; Übersetzung S.B.)
Multikulturalismus sollte mehr sein als nur ein Bekenntnis zu Minderheitenrechten. Er galt als Grundlegung der allgemeinen staatsbürgerlichen Rechte in einem demokratischen Staat und umfasste neben dem Recht auf Chancengleichheit und soziale Gerechtigkeit ein zum ersten Mal fixiertes Recht auf Anerkennung kultureller Gruppenansprüche. Er folgte insofern nicht mehr einem rein auf Minderheitenintegration gerichteten „ethnic group approach“ (ethnischen Gruppenansatz), sondern wurde ausgeweitet zu einem allgemeinen „citizenship model of multiculturalism“ (Staatsbürgerschaftsmodell des Multikulturalismus) (Castles 1997). Die „sorgfältig definierten Grenzen“ der multikulturellen Politik bezogen sich vor allem auf die Verhinderung eines ethnischen Separatismus und religiösen Fundamentalismus. Um die soziale Kohäsion der Gesamtgesellschaft und gegenseitigen Respekt zu gewährleisten, wurden in der Agenda wesentliche Pflichten formuliert, wie insbesondere die Verpflichtung auf übergreifende nationale Interessen, auf Verfassungs- und Gesetzestreue und Toleranz, die mit den oben genannten Rechtsansprüchen verbunden wurden:
„multikulturelle Politik basiert auf der Prämisse, dass alle Australier in erster Linie eine vorrangige und vereinigende Bindung zu Australien, seinen Interessen und seiner Zukunft haben sollten; multikulturelle Politik verlangt von allen Australiern, die fundamentalen Strukturen und Prinzipien der australischen Gesellschaft zu akzeptieren – die Verfassung und die Gesetzesvorschriften, Toleranz und Gleichheit, parlamentarische Demokratie, Religions- und Redefreiheit, Englisch als Landessprache und geschlechtliche Gleichberechtigung; und multikulturelle Politik erlegt Verpflichtungen auf und gewährt Rechte; das Recht, seine eigene Kultur und Überzeugungen auszudrücken, beinhaltet die umgekehrte Verpflichtung, das Recht anderer zu akzeptieren, ihre Ansichten und Werte auszudrücken.“ (Office of Multicultural Affairs 1989, S. vii; Übersetzung S.B.)
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In der allgemeinen Wahrnehmung gilt Australien in der bundesdeutschen Öffentlichkeit als Prototyp einer gelungenen Integration zugewanderter Minderheiten auf der Basis der Anerkennung kultureller Differenzen. Australische Sozialwissenschaftler sehen die Ergebnisse der multikulturellen Reformen der letzten 30– 40 Jahre jedoch weitgehend kritisch (vgl. z.B. Hage 1998; Stratton 1998). So hat die Anerkennung kultureller Differenzen nicht zu einer erhöhten Partizipation von ethnischen Minderheiten an der politischen Willensbildung geführt. Ethnische Selbstorganisationen treten mit Ausnahme der vor allem von linken Weißen unterstützen Organisationen der Ureinwohner selten im öffentlichen Diskurs in Erscheinung. Diese geringe politische Partizipation ethnischer Selbstorganisationen ist nur ein Indiz für ein grundlegendes Defizit des australischen Multikulturalismus. Die wachsende ethnische Fragmentierung hat zwar im kulturellen Alltagsleben vielfältige Spuren hinterlassen, wie eine Änderung des Essverhaltens, die Öffnung der Museen für „Aboriginal Art“ und die Entwicklung eines kosmopolitanen weltoffenen Lebensstils in der so genannten neuen städtischen Mittelklasse. Die Olympischen Sommerspiele von 2000 in Sydney gaben ein eindrucksvolles Beispiel für die öffentliche Selbstdarstellung der australischen Nation als multikulturelle Gesellschaft. Sie sollten jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass die sozialen und politischen Folgen der multikulturellen Reformen der Laborregierungen eher beschränkt waren. Der anglo-keltische Charakter der Kerninstitutionen von Staat und Gesellschaft sowie die ethnische Zusammensetzung der Machteliten in allen gesellschaftlichen Bereichen ist entgegen konservativen Unkenrufen weitgehend intakt geblieben. Australien, so die Soziologen Adam Jamrozik, Roland Cathy und Robert Urquhart (1995), hat heute noch immer eine multikulturelle Bevölkerung, die von einer monokulturellen Machtelite regiert wird. Bedürfnisse von nicht-englischsprachigen Einwanderern werden noch immer als „special needs“ (Sonderinteressen) marginalisiert. Nach mehr als 25 Jahren einer nicht mehr nach ethnischer Zugehörigkeit diskriminierenden Einwanderungspolitik gab es im australischen Parlament nur eine einzige Abgeordnete asiatischer Herkunft. Im Gegensatz zu Australien ist Großbritannien kein klassisches Einwanderungsland, sondern wie die anderen westeuropäischen Staaten ein Land, das vor allem im Zuge der boomenden Nachkriegsökonomie auf Zuwanderung angewiesen war. Die staatsbürgerliche Gleichstellung der Zuwanderer war insofern nie ein großes Integrationsproblem auf den Britischen Inseln, als es sich bei den Nachkriegseinwanderern mehrheitlich um Zuwanderer aus ehemaligen Kolonien handelte, die als solche bis 1981 als „Subjects of the British Commonwealth“ einen Anspruch auf einen britischen Pass hatten. Die formale staatsbürgerliche Gleichstellung gibt den zugewanderten Minderheiten aus den ehemaligen briti-
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schen Kolonien einen direkten und chancengleichen Zugang zu politischen Rechten, wie vor allem dem Wahlrecht, aber auch zu wohlfahrtsstaatlichen Leistungen, wie Anspruch auf Sozialhilfe. Da die große Mehrheit der Einwanderer im Vereinigten Königreich wie in Australien hinsichtlich politischer und sozialer Rechte der einheimischen Mehrheitsgesellschaft gleichgestellt sind, liegt auch in Großbritannien die Hauptaufmerksamkeit auf der kulturellen Dimension der Staatsbürgerschaft. Debattiert wurde und wird vor allem das Ausmaß kultureller Homogenität, das ein Staat benötigt, um Minderheiten Gruppenrechte zugestehen zu können. Während sich in Australien wie in Kanada – wohl nicht zuletzt in Ermangelung anderer nationaler Identitätskonzepte (vgl. Stratton/Ang 1998) – Multikulturalismus als wesentlicher Kern des nationalen Selbstverständnisses entwickelt hat, ist die britische Integrationspolitik eher ein Hybrid zwischen Assimilationismus und kulturellem Pluralismus (vgl. Statham 2003, S. 130). Offiziell anerkannt wird nur eine Form der kulturellen Vielfalt, nämlich nach dem dominierenden, aus den USA entlehnten Konzept der „race relations“, die Anerkennung von auf „Rasse“ basierenden Unterschieden. Die für die Integration eingewanderter Minderheiten zentralen Gleichstellungsgesetze heißen „Race Relations Acts“, die damit verbundene Politik „race relations policy“ und die zur Institutionalisierung dieser Politik etablierte Institution „Commission for Racial Equality“ (vgl. Anwar/Roach/Sondhi 2000). Die offizielle Unterstützung des Staates gilt dem Prinzip der „Racial Equality“, der „Rassengleichheit“, und impliziert nur eine minimale Form von kulturellem Pluralismus. Differenzen, die nicht als rassisch bedingt gelten, werden weitgehend nur als individuelle und damit private Angelegenheiten betrachtet. Erst im Jahr 2000 wurde von der Blair-Regierung auch die Diskriminierung aus Gründen der Religion unter den Geltungsbereich des „Race Relations Act“ gefasst. Ein von der Labour-Regierung vorgelegter Gesetzentwurf zum Verbot von Aufrufen zu religiösem Hass – analog zum geltenden Verbot von Aufrufen zum Rassenhass – scheiterte 2005 nur knapp im Unterhaus, da zahlreiche Labourabgeordnete das Recht auf Meinungs- und Pressefreiheit höher schätzten als den Schutz religiöser Gruppen vor Diffamierungen und Herabwürdigungen. Gelobt wird der Inselstaat häufig für seine ausgeprägte Kultur der religiösen Toleranz. Schon seit vielen Jahren gibt es staatliche Unterstützungen und Anerkennung für Schulen christlicher und jüdischer Glaubensgemeinschaften. Die rechtliche Gleichstellung muslimischer Glaubensgemeinschaften mit anderen war lange Zeit heiß umstritten. Erst seit einigen Jahren werden auch wenige muslimische Schulen nach staatlicher Überprüfung vom Staat anerkannt und finanziell unterstützt.
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Im Unterschied zum französischen Republikanismus, der eine strikte Trennung von Kirche und Staat proklamierte und sowohl von den Einwohnern der unterworfenen Kolonien als auch von Zuwanderern ins Mutterland eine kulturelle Assimilation an die „Grande Nation“ einforderte, schloss das imperiale Konzept der Nation des Vereinigten Königreichs kulturelle Differenzen unter den „britischen Untertanen“ durchaus ein. Mit kulturellen Differenzen wurde in den Kolonien des Empire wie im kolonialen Mutterland relativ pragmatisch umgegangen: Gemeinschaft und Gesellschaft, Gruppenrechte und Individualrechte, Kommunitarismus und Universalismus wurden nicht gegeneinander ausgespielt. Man betrachtete sie prinzipiell als sich nicht gegenseitig ausschließende, sondern als sich bedingende Prinzipien. Kam es zu kollidierenden Interessen, so wurden pragmatische Lösungen prinzipiellen Klärungen vorgezogen. Die positive Haltung gegenüber kulturellen Unterschieden kommt auch in der britischen Politik gegenüber eingewanderten Minderheiten zum Ausdruck (vgl. Baringhorst 1998). Danach gilt das Prinzip der Anerkennung und Toleranz der pluralistischen Vielfalt von Formen der privaten Lebensführung. So lehnte Roy Jenkins als Innenminister in den 1960er Jahren eine Begriffsinterpretation ab, die Integration als „Unterschiede reduzierenden Assimilierungsprozess“ definierte, in dem die Einwanderer zu einer „Serie von Kopien einer falschen Vorstellung des stereotypen Engländers“ würden. Stattdessen setzte er sich ein für ein Verständnis von Integration als „Chancengleichheit verbunden mit kultureller Vielfalt in einer Atmosphäre der wechselseitigen Toleranz“ (zit. nach Parekh 2000, S. 208; Übersetzung S.B.). Im Prinzip gilt diese Formel noch immer. Jedoch hat sich unter den BlairRegierungen – nicht zuletzt unter dem Eindruck des 11. September 2001 – der Akzent der britischen Integrationspolitik deutlich zugunsten einer stärkeren Akzentuierung der Verhinderung ethnischer Segregation und der Stärkung des nationalen Zusammenhalts entwickelt. Trotz der stärker assimilationsorientierten Wendung der neueren Integrationspolitik kann Großbritannien jedoch noch immer nicht nur auf eine im europäischen Rahmen wegweisende Antidiskriminierungspolitik verweisen, sondern auch auf einen im Vergleich zu deutschen und französischen Kopftuchkonflikten pragmatischeren Umgang mit migrationsbedingten kulturellen Konflikten. Haupttriebkraft multikultureller Reformen war in Großbritannien nicht die Zentralregierung in London, sondern es waren vor allem die großstädtischen Kommunen, die in den 1980er Jahren vielfältige Aspekte einer pluralistischen Reformpolitik entwickelten, die über eine bloße Politik der Chancengleichheit und der Toleranz religiöser und kultureller Differenzen hinausgeht. Dabei ist zu berücksichtigen, dass Kommunen im Vereinigten Königreich einen im Vergleich zu Deutschland sehr weit gehenden Gestaltungsspielraum in der Schulpolitik
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haben. Insbesondere großstädtische Labour-Hochburgen nutzten diesen Spielraum, um multikulturelle Reformen in die Curricula einzuführen, wie etwa Anerkennung von Minderheitensprachen, wie Urdu, Gujerati u.a., als Fremdsprachen, bilinguale Schulprojekte, die Einführung eines multikonfessionellen Religionsunterrichtes, Aufhebung der Koedukation in sensiblen Unterrichtsbereichen wie Schwimmunterricht u.ä. Auch die Einführung von Halal-Fleisch, d.h. nach muslimischen Riten geschlachtetem Fleisch, in den Schulkantinen und besondere Einrichtungen für die Befolgung religiöser Gebetspflichten sind in dem Zusammenhang zu nennen. Kopftuchkonflikte wie in Frankreich und Deutschland sind in britischen Schulen weitgehend unbekannt. Das Prinzip der religiösen Toleranz gebietet die Achtung von unterschiedlichen religiösen Praktiken und Pflichten. Diese hat Vorrang vor dem Prinzip staatlicher Neutralität. Im Gegensatz zu Australien ist in Großbritannien die staatsbürgerliche Gleichstellung auch in der faktischen politischen Partizipation der Einwanderer spürbar. Zwar hat sich auf den Britischen Inseln nichts an der traditionellen englischen Ausprägung der Institutionen des britischen Parlamentarismus geändert, doch sind Vertreter der Einwanderergemeinschaften nicht nur in den Kommunalvertretungen, sondern auch im britischen Unterhaus nahezu proportional angemessen repräsentiert. Wie in Australien so sind auch in Großbritannien die Auswirkungen der Gleichstellungs- und Anerkennungspolitik in der massenmedialen Repräsentation der Einwanderer zu spüren. In Australien wurde die mediale Integration vor allem mit der Einführung des Special Broadcasting Service, eines nationalen TVMinderheitenkanals, realisiert. Zwar gibt es in Großbritannien diese Art von nationalem Minderheitenfernsehsender nicht, doch sind inzwischen zahlreiche Angehörige zugewanderter Minderheiten als Nachrichtensprecher, Moderatoren und Schauspieler im Fernsehprogramm zu sehen. Auf der sozio-ökonomischen Ebene zeigt die Integration zugewanderter Minderheiten in Großbritannien wie in Australien ein sehr heterogenes Bild. Während einige Gruppen – in Australien etwa die anglo-keltischen und europäischen Zuwanderer, in Großbritannien vor allem indische und chinesische Gruppen – hinsichtlich Bildungsqualifikation und Einkommen signifikante Aufstiegsprozesse erlebten, sind andere Gruppe von diesem sozialen Auf- und Einstieg in die Mehrheitsgesellschaft weitgehend ausgeschlossen. In Australien sind dies vornehmlich Einwanderer aus dem südostasiatischen Raum, im Vereinigten Königreich betrifft dies insbesondere die muslimischen Zuwanderer aus Pakistan und Bangladesh. Sowohl in Australien als auch in Großbritannien sind die ökonomisch am wenigsten integrierten Gruppen auch diejenigen, die im öffentlichen Diskurs am stärksten ausgegrenzt werden.
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Vom Multikulturalismus zum zivilen Nationalismus
Brüche und Widersprüche in der Selbstdarstellung einer harmonischen multikulturellen Einwanderergesellschaft werden in Australien seit Mitte der 1990er Jahre immer offener artikuliert. Bis in die 1980er Jahre wurden sowohl das Konzept des Multikulturalismus als auch die staatliche Einwanderungspolitik von einer großen Mehrheit der australischen Bevölkerung unterstützt. Im Laufe der 1980er Jahre fiel die Zustimmungsrate jedoch nicht zuletzt auf Grund von ökonomischen Schwierigkeiten des Landes signifikant. Nach einer 1990 durchgeführten Befragung der Australian Election Study (AES) betrachteten 58 Prozent der Bevölkerung die Anzahl der „Migranten, denen die Einreise nach Australien erlaubt wird“, als „zu hoch“ bzw. „viel zu hoch“. (Goot 2000, S. 47; Übersetzung S.B.) Drei Jahre später betrug der Prozentsatz derjenigen, die die Einwanderung als zu hoch bzw. viel zu hoch empfanden, sogar 70 Prozent der Befragten. 62 Prozent stimmten mit der Forderung nach einem „befristeten Stopp der Immigration“ überein. Eine Folge der wachsenden Kritik an der von der „Australian Labor Party“ unterstützen Einwanderungspolitik war der Aufstieg der rechtspopulistischen „One Nation Party“ unter ihrer Vorsitzenden Pauline Hanson in den 1990er Jahren. Bei den nationalen Wahlen im Jahr 1998 konnte die „One Nation Party“ sogar 8,4 Prozent der Stimmen auf sich vereinigen. In Queensland, dem Herkunftsstaat von Hanson, betrug die Unterstützung sogar 14,3 Prozent. Bei den Parlamentswahlen im Herbst 2001 verlor die Partei jedoch fast die Hälfte ihrer Wähler – ihr Anteil fiel auf 4,3 Prozent der Stimmen. Die Gründe für diesen Stimmenverlust sind vielfältig und liegen nicht zuletzt in parteiinternen Streitigkeiten und in nachgewiesenen Fällen von Korruption und Betrug. Eine wesentliche Ursache dürfte jedoch auch, wie im Folgenden näher erläutert werden soll, in der restriktiven Politik der seit 1996 regierenden konservativen Koalition von „Liberal Party“ und „National Party“ zu sehen sein. John Howard, von 1996 bis 2007 in Koalition mit der „National Party“ regierender Premierminister und Vorsitzender der „Liberal Party“, hatte sich schon als Oppositionsführer in den 1980er Jahren als scharfer Kritiker der Einwanderungspolitik der „Australian Labor Party“ erwiesen. 1988 nach seiner Meinung zur vermehrten Einwanderung von Asiaten gefragt, antwortete er: „Ich glaube wirklich, dass, wenn [die asiatische Migration] in den Augen mancher in der Gesellschaft zu groß ist, es in unserem unmittelbaren Interesse wäre und den sozialen Zusammenhalt unterstützen würde, wenn sie etwas verlangsamt würde, um die Aufnahmekapazität der Gesellschaft zu erhöhen.“ (zit. in: Kelly 1992, S. 420; Übersetzung S.B.) Eine Howard-Regierung, so erklärte er 1995, d.h. ein Jahr vor seinem Regierungsantritt, in einer programmatischen Rede, werde die
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„Meinungen des australischen Mainstreams“ zum Leitprinzip ihres Handelns erheben: „Unter den Liberalen werden die Ansichten aller Einzelinteressen gegen das nationale Interesse und die Meinungen des australischen Mainstream abgewogen werden. (...) Es gibt heutzutage einen frustrierten Mainstream in Australien, der die Regierungsentscheidungen zunehmend als vom lauten, eigennützigen und auf das nationale Interesse keine Rücksicht nehmenden Geschrei mächtiger Interessengruppen getrieben betrachtet.“ (zit. in: Stratton 1998, S. 74 und S. 78; Übersetzung S.B.) In seinen Reden bezieht er sich gern auf die Bewahrung des „Australian Way of Life“ und der damit verbundenen australischen Werte als Leitziele seiner Regierungstätigkeit. So am 10. Juli 1998 in seiner Rede in der St Paul’s School in Queensland: „Es gibt diese Kontinuität, diesen goldenen Faden, der sich durch die australischen Werte zieht und der sich nicht verändert hat. Und das Australien, das Ihre Kinder erben werden, wenn sie die Schule verlassen, wird sich wiederum auch verändert haben. Aber es wird immer noch eine Kontinuität, einen goldenen Faden der fundamentalen australischen Werte geben.“ Oder am 24. Juli 1998 vor der Chinesischen Handelskammer in Perth: „Australien ist es gelungen, sich einen Kern australischer Werte zu bewahren, der eine lange Kontinuität von Werten pflegt und uns heute, in den letzten Jahren des 20. Jahrhunderts, mit den frühen Anfängen der australischen Föderation vor fast 100 Jahren verbindet.“ (zit. in: Stratton 1998, S. 78; Übersetzung S.B.) Noch im Wahlkampf 1996 war John Howard pessimistischen Vorahnungen entgegengetreten und hatte ihm unterstellte Absichten einer radikalen Änderung der Einwanderungs- und multikulturellen Politik bestritten. Nach seiner Amtsübernahme zeigte sich jedoch bald, wie sehr er der rechtspopulistischen Kritik an der so genannten „ethnic industry“, so die abfällige Bezeichnung für die Interessenvertreter ethnischer Minderheiten, entgegenkam. Zunächst wurden der zentrale institutionelle Träger der multikulturellen Reformen, das „National Bureau of Multicultural Affairs“ in Canberra, abgeschafft und die finanziellen Ausgaben für die Reformen radikal gekürzt. Hatten Einwanderer früher nach sechsmonatigem Aufenthalt im Land einen Anspruch auf Sozialleistungen, so wurde die Warteperiode auf zwei Jahre verlängert. Zugleich wurde nationalen Forschungseinrichtungen wie dem „Bureau of Immigration, Multicultural and Population Research“ sowie zahlreichen universitären Forschungseinrichtungen auf dem Gebiet der Migrationsforschung die weitere Finanzierung verweigert. Entgegen früheren Zusicherungen wurden auch die Mittel für den multikulturellen Radiound Fernsehsender SBS (Special Broadcasting Service) signifikant eingeschränkt (vgl. Federation of Ethnic Communities Councils of Australia 1998, S. 7 f.). Die Kürzung und Schwächung der bisherigen Programme und Maßnahmen ging einher mit einer grundlegenden Umdeutung und Neuausrichtung der multi-
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kulturellen Politik. Zwar wurde der Terminus „multiculturalism“ beibehalten, jedoch sein Inhalt weitgehend ausgehöhlt (vgl. Baringhorst 2004). Nicht soziale und kulturelle Rechte, sondern nationale Harmonie und Zusammenhalt stehen im Zentrum der von der Howard-Regierung 1999 beschlossenen „New Agenda for Multicultural Australia“ (dt. Neue Agenda für ein multikulturelles Australien). Zur Betonung des spezifisch australischen Verständnisses von Multikulturalismus sind alle Verwaltungsabteilungen gehalten, wann immer möglich, bei Nennung des Begriffs „multiculturalism“ diesen mit dem Präfix „Australian“ zu versehen. Ziel des „Australian multiculturalism“ soll die Stärkung der nationalen Einheit sein, „ein vereintes und harmonisches Australien, das auf dem Fundament unserer Demokratie gebaut ist und seine sich stetig weiter entfaltende nationale Identität dadurch fördert, dass es sein Erbe und seine kulturelle Vielfalt anerkennt, wertschätzt und darin investiert.“ (A New Agenda for Multicultural Australia 1999, S. 11; Übersetzung S.B.). Symbolisch bedeutsam ist auch die Einführung eines jährlichen „Harmony Day“. Er wird gefeiert am 21. März, dem von den Vereinten Nationen deklarierten „International Day for the Elimination of Racial Discrimination“, und finanziell von zahlreichen australischen Unternehmen unterstützt. Die Schlüsselbegriffe des „Harmony Day“, „Einbeziehung“, „produktive Vielfalt“ und „gemeinschaftliche Harmonie“, spiegeln die spezifische ökonomische Nutzen- und Harmonieorientierung im konservativen Verständnis des australischen Multikulturalismus wider. Kehrseite des nationalen Stolzes auf australische Werte und Tugenden bildet die Dramatisierung und Bekämpfung der möglichen Bedrohung dieser Werte durch unerwünschte Einwanderer. In der nationalen Debatte heftig umstritten und auch in der internationalen Öffentlichkeit nicht unbeachtet geblieben sind vor allem die restriktiven Eingriffe der neokonservativen Koalitionsregierung im Bereich der Asylpolitik und der Politik zur Bekämpfung illegaler Einwanderer. Seit 1996 wurden zahlreiche restriktive Reformen eingeführt, die die Rechtsstellung nicht autorisierter Zuwanderer erheblich einschränkten (vgl. Baringhorst 2006). In Australien wie in Großbritannien ist der in den 1980er Jahren dominierende Diskurs der Anerkennung und Tolerierung kultureller Differenzen mittlerweile in der massenmedialen Öffentlichkeit weitgehend einem Diskurs der Skandalisierung unerwünschter und unkontrollierter Zuwanderung sowie der Dramatisierung der Bedrohung der nationalen Sicherheit durch Zuwanderer gewichen. Während diese Bedrohung in Australien in den 1990er Jahren primär als asiatische Bedrohung wahrgenommen wurde, dominiert seit dem 11. September 2001 und vor allem seit dem Anschlag auf eine von vielen australischen Touristen frequentierte Diskothek auf Bali die panische Angst vor fundamentalistischen Muslimen die moralisch aufgeladenen Bedrohungsszenarien einwan-
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dererfeindlicher Gruppierungen. Augenfälliger Ausdruck der gewachsenen Ressentiments gegen muslimische Einwanderer waren die international Aufsehen erregenden rassistischen Übergriffe am Strand von Cronulla, südlich von Sydney, im Dezember 2005. In Großbritannien richtet sich die Kritik der Mehrheitsgesellschaft einerseits gegen unerwünschte Neuzuwanderer, andererseits vor allem seit den Londoner Attentaten vom Juli 2005 primär gegen die muslimischen Einwanderer aus Pakistan und Bangladesh. Gemeinsam ist den Diskursen in Australien und Großbritannien ein zunehmendes Infragestellen des integrativen Potenzials multikultureller und pluralistischer Integrationskonzepte. Multikulturalismus, so der Tenor von Medien und offizieller Politik in beiden Ländern, wirke trennend und untergrabe damit den Zusammenhalt der Nation. Schon seit Ende der 1980er Jahre erlebt die Politik der pluralistischen Integration in Großbritannien herbe Gegenschläge. Nachhaltig in die Defensive geraten sind die in den 1980er Jahren entwickelten multikulturellen Integrationsstrategien vor allem seit der Rushdie-Affäre von 1989 und seit den gewalttätigen Konflikten zwischen vornehmlich asiatischen Jugendlichen und der britischen Polizei in den nordenglischen Städten Bradford, Burnley und Oldham im Jahr 2001 und den Anschlägen vom Juli 2005. Wie in den Niederlanden werden auch auf den Britischen Inseln in den letzten Jahren im öffentlichen Diskurs die assimilatorischen Elemente im Integrationskonzept deutlich gestärkt. Während in den 1980er Jahren die Anerkennung von kulturellen Differenzen im Vordergrund stand, geht es in den letzten Jahren primär um die Neuausrichtung der Integrationspolitik im Sinne der Bindung der Anerkennungspolitik an vorgegebene Grenzen der Toleranz. Im Zentrum der Kritik jenseits wie diesseits des Kanals steht die muslimische Einwanderergemeinschaft. Roy Jenkins, Vater der britischen Integrations- und Antidiskriminierungsgesetzgebung in den 1960er Jahren, lamentierte etwa im Nachhinein, bezogen auf die Zuwanderung von Pakistani und Bangladeshi: „wir hätten in den 50ern bezüglich der Erlaubnis zur Schaffung einer beträchtlichen muslimischen Gemeinde vorsichtiger sein können.“ (zit. nach Alibhai-Brown 2000, S. 183; Übersetzung S.B.) Mit Enttäuschung im linken und Genugtuung im rechten Spektrum wurde diese späte Selbstkritik in der britischen Öffentlichkeit aufgenommen. Die Anerkennung kultureller Differenzen im privaten Bereich wird im öffentlichen, medialen Diskurs wie in Regierungsverlautbarungen eng an die Geltung einer von allen Gruppen geteilten politisch-kulturellen Wertebasis geknüpft. Dabei wird als Kern der eingeforderten Loyalität zu den Werten der nationalen Gemeinschaft nicht mehr der simple Treueeid auf die Krone (Pledge of Allegiance to Her Majesty The Queen) verstanden. Neu im Integrationskonzept von New Labour ist der deutliche Akzent auf staatsbürgerliche Rechte und Pflichten
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als Kern der politischen Kultur des Landes. Konkret heißt es zu den nicht zu relativierenden Kernelementen der britischen Nationalkultur im Weißbuch „Secure Borders, Safe Haven“ (dt. „Sichere Grenzen, sicherer Hafen“) von 2002: „Das Menschenrechtsgesetz von 1998 kann als Hauptquelle der Werte angesehen werden, die britische Bürger teilen sollten. Die Gesetze, Regeln und Praktiken, die unsere Demokratie bestimmen, erhalten unsere Verpflichtung gegenüber der ebenbürtigen Geltung und Würde aller unserer Staatsbürger aufrecht. Es wird manchmal notwendig sein, manchen kulturellen Praktiken, die mit diesen fundamentalen Werten in Widerspruch stehen, entgegenzutreten – wie beispielsweise denjenigen, die Frauen das Recht absprechen, als gleichwertige Bürger teilzuhaben. In gleicher Weise bedeutet es sicherzustellen, dass jedes Individuum die erforderlichen Mittel hat, wie etwa die Fähigkeit, unsere gemeinsame Sprache zu sprechen, um sie zu befähigen, sich als aktive Bürger im ökonomischen, sozialen und politischen Leben zu engagieren. Und es bedeutet auch, Rassismus, Diskriminierung und Vorurteile anzugehen, wo auch immer wir sie finden.“ (Home Office 2002, S. 30; Übersetzung S.B.) Nach den Unruhen des Jahres 2001 in den nordenglischen Städten Bradford, Burnley und Oldham richtete die Regierung unter dem ehemaligen Innenminister David Blunkett eine „United Kingdom Advisory Group“ ein, die die britischen Kernwerte und das Schlüsselwissen über Großbritannien, das in Zukunft Neuzuwanderern abgefordert wird, in einem vom Innenministerium herausgegebenen Handbuch mit dem Titel „Life in the United Kingdom, A Journey to Citizenship“ (dt. „Leben im Vereinigten Königreich, Eine Reise zur Staatsbürgerschaft“) im Dezember 2004 zusammenfasste. Der Inhalt des Buches wird in Zukunft die inhaltliche Basis der „Citizenship Tests“ sein, die seit 2002 von neuen Staatsbürgern abzuleisten sind. Dort herausgestellte Elemente des Wissens über den britischen Nationalcharakter sind z.B. „Wir Briten schätzen zum Beispiel den ‚Dunkirk Spirit‘ (Geist von Dünkirchen; SB), den ‚Nelson Touch‘ (bezogen auf die Admiral Nelson zugeschriebene Fähigkeit, seine Untergeben zu inspirieren und aus ihnen das Beste herauszuholen; SB) oder ‚She’s a real nightingale‘ (bezogen Florence Nightingale, die verwundete britische Soldaten aufopferungsvoll pflegte; SB).“ Die britische Geschichte erscheint darin ein wenig geschönt, auch wenn die dunkle Seite des Kolonialismus zumindest partiell angesprochen wird. Das „Institute of Race Relations“ ist in seinem Urteil eindeutig negativ: „Britanniens offizielle Geschichte wurde ‚weißgewaschen‘“, so deren Resumee. „’Das Leben im Vereinigten Königreich‘ suggeriert, dass die Ziele der Regierung bezüglich der Staatsbürgerschaft mehr damit zu tun haben, eine idealisierte ‚Britishness‘ zu etablieren als neue Staatsbürger mit dem kontextabhängigen Wissen auszustatten, das sie für wahrhafte Gleichheit brauchen.“ (Firth 2005; Übersetzung S.B.)
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Konservative dagegen monieren die mangelnde Beschäftigung mit der britischen Geschichte. Keine der 24 Fragen des 34 Pfund teuren „Multiple-choice“-Tests thematisiere die Geschichte des Königtums und damit die Grundlage des nationalen Gemeinschaftssinnes (vgl. Die Welt vom 2.11.2005). Wie in Australien so scheint auch in Großbritannien eine integrationspolitische Wende weg vom Multikulturalismus hin zu assimilationsorientierter Integration begonnen zu haben. Zwar wird offiziell das Bekenntnis zu kultureller Vielfalt weiterhin betont, doch deuten die konkret eingeleiteten Schritte eher auf eine Akzentverschiebung zugunsten nationaler Kohäsion und zugunsten eines Integrationskonzepts hin, das man am besten als Konzept eines zivilen Nationalismus bezeichnen könnte, d.h. einer Propagierung nationalen Zusammenhalts nicht auf der Basis von Genealogie und Blutsverwandtschaft, sondern auf der Grundlage geteilter Rechte und Pflichten. Konkrete Schritte in diese Richtung sind die Einführung von obligatorischen Englischkursen sowie von Kursen zur Vermittlung staatbürgerlicher Grundkenntnisse. In dieser Hinsicht gibt es bemerkenswerte Parallelen zwischen der britischen und der deutschen Zuwanderungspolitik, zumal das am 1. Januar 2005 in Kraft getretene deutsche Zuwanderungsgesetz eine ähnliche Pflicht zum Besuch von Sprach- und Integrationskursen kennt. Überlegt wird in Großbritannien eine Reform der Staatsbürgerschaft auch insofern, als sie in Zukunft wie in Australien, in den USA und Kanada nicht nur ein bürokratischer Akt sein soll, sondern in einem öffentlichen zeremoniellen Akt verliehen werden soll. Eine Idee, die gegenwärtig auch im Kontext der Aufwertung der integrativen Funktion der Staatsbürgerschaft in der Bundesrepublik diskutiert wird. Auch wenn es durchaus Gründe für die von Regierung wie Medien erhobene Einforderung von Loyalitätsbekundungen gibt, so ist doch ein wesentliches Argument dagegenzuhalten: Zwar gibt es auch in Großbritannien nicht übersehbare Tendenzen der zunehmenden Segregation vor allem muslimischer Einwanderergruppen vom indischen Subkontinent, doch zeigen Umfragen wie der letzte Zensus von 2001 eindeutig, dass sich die nicht-weißen Einwanderer durchaus zur nationalen britischen Gemeinschaft zugehörig fühlen. Sie bekennen sich – im Gegensatz etwa zu den Einwanderern in Deutschland – in hohem Maße zur britischen nationalen Identität. Demgegenüber fühlt sich ein wachsender Teil der weißen Briten eher einer regionalen als einer nationalen Gemeinschaft zugehörig, sei es eine schottische, walisische oder zunehmend auch englische Gemeinschaft. „Menschen aus der Gruppe weißer Briten beschrieben ihre nationale Identität eher als englisch denn als britisch. Das Gegenteil jedoch traf auf die nichtweißen Gruppen zu, die sich selbst viel eher als britisch identifizierten. Zum Beispiel sagten zwei Drittel (67 Prozent) der Bangladescher, sie wären britisch,
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während nur 6 Prozent sich als englisch, schottisch, walisisch oder irisch bezeichneten.“ (Office for National Statistics 2004, S. 4; Übersetzung S.B.) Selbsteinschätzungen der kollektiven Zugehörigkeit geben ein positiveres Bild der angeblich ausschließlich segregativen Folgen der bisherigen multikulturellen Reformpolitik, als die ständigen Forderungen nach nationalen Loyalitätsbekundungen vermuten lassen. Zuweilen scheint es, dass auch „New Labour“ wie John Howards konservative „Liberal Party“ in Australien den Verlockungen populistischer Diskursgewinne und nationaler Symbolpolitik nicht ganz zu widerstehen vermag.
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Multikulturalismus, Staatsbürgerschaft und Demokratie – ein Nullsummenspiel?
Sucht man nach den Ursachen der heftigen Reaktion gegen die multikulturelle Reformpolitik, so spielen in Australien wie in Großbritannien Faktoren der ökonomischen Globalisierung und daraus resultierende neue Ungleichheiten bzw. Wahrnehmungen von Ausgrenzungen ebenso eine Rolle wie die außenpolitische enge Anbindung an die USA und daraus resultierende Übernahmen simplifizierter Welt- und Freund-Feind-Bilder. Anknüpfend an die zu Beginn dieses Beitrages erläuterten Grundlinien multikultureller Integrationskonzepte, soll im Folgenden jedoch nicht die Frage nach den sozio-ökonomischen Einflussfaktoren fokussiert, sondern eher die allgemeine Frage diskutiert werden, inwiefern die Hauptkritik, die in beiden Ländern gegen die multikulturalistische Reformpolitik der 70er und 80er Jahre formuliert wurde, rationalen Einwänden standhält. Der wiederkehrende Verweis auf einzufordernde staatsbürgerliche Pflichten und die Betonung des nationalen Zusammenhalts als primäres Ziel staatlicher Integrationspolitik werden verbunden mit der generellen Unterstellung, multikulturelle Integrationskonzepte würden gerade dieses Ziel der nationalen Kohäsion untergraben. Multikulturalismus, so ließe sich die Kritik der australischen wie der britischen Regierung zusammenfassen, sei nur auf Kosten von staatsbürgerschaftlicher Inklusion und damit auch liberaler Demokratie zu realisieren. Eine vergleichbare Kritik findet sich durchaus auch in den theoretischen Debatten zum Multikulturalismus. Verschiedene Kritiker haben seit den 1980er Jahren immer wieder potentielle Gefahren multikultureller Reformen hervorgehoben, so z.B. Frank-Olaf Radtke (1994), Professor für Erziehungswissenschaft an der Universität Frankfurt am Main. Radtke hat schon früh auf die Gefahr der Entstehung eines ethnischen Korporatismus hingewiesen. Gemeint ist damit eine Verfestigung von Gruppeninteressen und -unterschieden durch die Selbst- und Fremdzuschreibung ethnischer und kultureller Differenzen. Diese unvermeidbare
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Verfestigung verhindere nicht nur die für liberale Demokratien unverzichtbare Kompromisslösung in Konfliktfällen, sondern sie ginge letztlich auch zu Lasten der ethnischen Minderheiten selbst. Statt Gleichbehandlung führe die mit der Einforderung kultureller Rechte geforderte Ungleichbehandlung zur Degradierung der Minderheiten zu Bürgern zweiter Klasse. Die Essentialisierung von Gruppenunterschieden steht auch im Zentrum der Kritik von britischen Autorinnen wie Pnina Werbner (1997), den Dänen CarlUlrik Schierup und Alexsandra Alund (1990) oder Arthur M. Schlesinger in den USA (1991). Gemeinsam ist all diesen kritischen Einwänden, dass sie von einer prinzipiellen Inkompatibilität zwischen Minderheitenrechten und Staatsbürgerschaft und Demokratie ausgehen. Meines Erachtens sollten demgegenüber hinsichtlich der weit verbreiteten Kritik am Multikulturalismus zwei wichtige Gegenargumente nicht übersehen werden (vgl. Baringhorst 2003, S. 69–74): Erstens ist die Gefahr der Essentialisierung und Verfestigung von Gruppenunterschieden keineswegs eine zwangsläufige Folge multikultureller Integrationspolitik. Sie besteht nur dann, wenn man von einem Konzept fixer, d.h. nicht wandelbarer Identitäten ausgeht. Multikulturelle Integrationskonzepte führen nur dann zu einem spaltend wirkenden ethnischen Korporatismus, wenn man davon ausgeht, dass kulturelle und ethnische Gruppenzugehörigkeiten nicht ständig im Wandel sind. Faktisch ist jedoch das Gegenteil der Fall. Einwanderergemeinschaften sind ständigen Wandlungsprozessen unterworfen. Wer welche Merkmale – ob Kopftuch, Zwangsheirat oder Moscheebesuch – als Gruppenmerkmale definiert und wer daraus legitimerweise welche politischen Forderungen ableiten kann, ist innerhalb ethnischer Gruppen in der Regel höchst umstritten. Diese Divergenzen gilt es auch in der Politik der Anerkennung von Differenzen stets zu berücksichtigen, will man der Null-Summen-Relation zwischen Multikulturalismus und Staatsbürgerschaft entgegenwirken. Ein zweiter Einwand bezieht sich auf die anfangs genannte Prämisse multikultureller Konzepte, nämlich die Annahme einer prinzipiellen kulturellen Eingebettetheit von Staaten und staatlichen Institutionen. Bürger als Träger individueller Rechte entwickeln ihre Individualität in sich stetig verändernden sozialen und kulturellen Kontexten. Dies bedeutet, wie Jürgen Habermas in der Kontroverse mit dem kanadischen Philosophen Charles Tayler hervorgehoben hat, dass das Rechtssystem nicht blind gegenüber sozialen Ungleichheiten und kulturellen Unterschieden sein darf. „Eine richtig verstandene Rechtstheorie verlangt nach einer Politik der Anerkennung, die die Integrität des individuellen Lebenszusammenhangs, in dem die individuelle Identität geformt wird, schützt.“ (Habermas 1994, S. 113; Übersetzung S.B.)
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Aus diesem Grund muss ein demokratischer Staat in einer kulturell und ethnisch fragmentierten Gesellschaft soziale und kulturelle Rechte aller Bürger garantieren. Mit der Entscheidung für eine offizielle Staatssprache oder für ein bestimmtes Curriculum in den Schulen treffen staatliche Institutionen zwangsläufig Entscheidungen über grundlegende Normen und Werte, die von einigen Gruppen geteilt, jedoch von anderen Gruppen abgelehnt werden. Die Anerkennung kultureller Unterschiede ist für die Entwicklung des individuellen Selbstbewusstseins unter Mitgliedern von Minderheiten außerordentlich bedeutsam. Angesichts der kulturellen Prägung staatlicher Institutionen ist simples Insistieren auf ein vorgegebenes Set staatsbürgerliche Rechte und Pflichten, wie etwa in den dargestellten Reformen des zivilen Nationalismus in Großbritannien und Australien, weder angemessen noch fair. Das heißt nicht, dass unterschiedliche kulturelle Gruppen stets unterschiedlich behandelt werden sollten. Wohl aber heißt dies, dass staatliche Reaktionen auf identitätspolitische Ansprüche kontext- und situationsbezogen und damit im besten Sinne pragmatisch sein sollten. Dabei sind insbesondere die Legitimität von Gruppensprechern sowie auch die internen Machtkonflikte in diesen Gruppen zu prüfen. Gerechtigkeit kann in kulturell fragmentierten Gesellschaften sowohl Gleich- als auch Ungleichbehandlung bedeuten. Beide sind nicht kategorisch gegeneinander auszuspielen, sondern vielmehr situationsspezifisch gegeneinander abzuwägen. Weder sind die in den letzten Jahren deutlich gewordenen sozio-ökonomischen Ungleichheiten zwischen Einwanderern und Einheimischen Folgen multikultureller Reformkonzepte, noch ist die fortschreitende Islamisierung muslimischer Communities zwangsläufig eine Folge einer Politik der kulturellen Anerkennung. Vielmehr gilt es hinsichtlich vorschneller Forderungen nach assimilatorischen Integrationsstrategien zu prüfen, ob nicht gerade die mit fortschreitender kultureller Anpassung gestiegenen, aber frustrierten Gleichstellungsansprüche jüngerer Migrantengenerationen eine wesentliche Ursache gesellschaftlicher Segregationstendenzen sind.
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Zu neueren Entwicklungen der Integrationspolitik in Großbritannien und Australien
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Minderheitenschutz in der Europäischen Union unter besonderer Berücksichtigung der Roma Minderheitenschutz in der Europäischen Union unter besonderer Berücksichtigung der Roma
Nerissa Schwarz
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Einleitung
EU-Institutionen erklärten das Jahr 2007 zum Europäischen Jahr der Chancengleichheit für alle, eine Initiative, die „dem Kampf gegen Diskriminierungen in der EU neue Impulse geben soll” (Europäische Kommission 2007a). Unter anderem richtete sich der Fokus dieser Initiative auch auf die Bekämpfung von Rassismus und von Diskriminierung von Minderheitengruppen, die in vielen Mitgliedstaaten der EU noch immer verbreitet sind. Dennoch hat die EU bislang keine kohärente, umfassende Strategie zum Schutz von Minderheiten in der Union entwickelt, auch wenn auf dem Gebiet der Antidiskriminierung wesentliche Fortschritte erzielt wurden. Da die EU keine weit reichenden Kompetenzen für Minderheitenschutz hat, ist letzterer nicht mal ein eigenes Politikfeld. Vielmehr finden sich in einer Reihe von Politikfeldern Ansätze zum Minderheitenschutz, beispielsweise im Bereich der Grundrechte oder in der Sozial- und Beschäftigungspolitik. Dieses Fehlen einer einheitlichen Strategie liegt sicher auch darin begründet, dass Minderheitenschutz Gegenstand kontroverser Diskussionen ist und die Praktiken der einzelnen Mitgliedstaaten stark divergieren. Während zum Beispiel Frankreich in seiner republikanisch-universalistischen Tradition die Existenz von Minderheiten auf seinem Staatsgebiet nicht anerkennt, verfügt Großbritannien über umfassende Mechanismen zum Schutz von Minderheitenangehörigen (vgl. Hughes/Sasse 2003, S. 13). Auch in der Forschungsliteratur wird darüber debattiert, ob Angehörige von Minderheiten spezifische Rechte erhalten sollen oder allgemeine Antidiskriminierungsmaßnahmen ausreichen (vgl. Riedel 2001; Brunner 2002). Dieser Beitrag geht der Frage nach, wie sich der Minderheitenschutz auf EU-Ebene entwickelt hat, wie gegenwärtige EU-Politik und -Gesetzgebung die Situation von Minderheiten in den Mitgliedstaaten beeinflussen und wie sich die interne Minderheitenpolitik der Union in Zukunft weiterentwickeln könnte. Dabei wird beispielhaft die Situation der Roma hervorgehoben, da diese nicht nur die numerisch größte Minderheit in der gesamten EU darstellen (Europäische Kommission 2004a, S. 1), sondern auch besonders stark von Diskriminierung betroffen sind.
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Konzepte des Minderheitenschutzes
2.1 Definitionsproblematik Wenn eine supranationale Organisation wie die EU den Begriff „Minderheit“ verwendet, wie zum Beispiel in der Grundrechtecharta oder den Kopenhagener Kriterien, wirft dies die Frage auf, wen oder was dieser Begriff mit einschließt. Bis heute existiert keine international anerkannte Definition von Minderheiten, auch wenn es durchaus Versuche gab, eine solche zu etablieren. So schlug Francesco Capotorti, der damalige Sonderberichterstatter der UN-Unterkommission für die Verhinderung von Diskriminierung und den Schutz von Minderheiten, im Jahre 1979 folgende Definition vor: “A group numerically inferior to the rest of the population of a State [sic], in a non-dominant position, whose members – being nationals of the State – possess ethnic, religious or linguistic characteristics differing from those of the rest of the population and show, if only implicitly, a sense of solidarity, directed towards preserving their culture, tradition, religion or language”. (Capotorti 1979, Abschnitt 568) Auch wenn diese Definition wichtige Kriterien enthält, wie die zahlenmäßige Unterlegenheit oder spezifische Charakteristika, ist sie dennoch problematisch. Ihr zufolge müssen Angehörige von Minderheiten Staatsangehörige des Landes sein, in dem sie wohnen. Dieses Kriterium würde jedoch Gruppen ausschließen, denen in einem neu gebildeten Staat die Staatsangehörigkeit verweigert wurde (vgl. auch Schlögel 2004, S. 68), wie zum Beispiel Teile der russischsprachigen Minderheit in Estland ebenso wie die so genannten allochthonen oder neuen Minderheiten (vgl. Salzborn 2006, S. 8 und Schlögel 2004, S. 64 f.), zu denen etwa Migranten gehören. Auch das Kriterium der Solidarität und des gemeinsamen Ziels, die eigene Kultur zu bewahren, erscheint fragwürdig, da es suggeriert, dass Minderheiten geschlossene Gruppen mit einem hohen Grad an Homogenität sein müssen. Auf europäischer Ebene schlug der ehemalige Hochkommissar für Nationale Minderheiten der OSZE, Max van der Stoel, eine Definition vor, die der Capotortis ähnelte, das Kriterium der Staatsangehörigkeit aber nicht erwähnte. Van der Stoel stellt allerdings klar, dass es sich hierbei um einen Arbeitsbegriff handelt (vgl. Kaiser 2005, S. 18). Diese pragmatische Haltung brachte auch Vorteile mit sich: Wie Kaiser feststellt, hätten viele europäische Staaten Abkommen der OSZE oder des Europarates zum Minderheitenschutz sicher nicht ratifiziert, wenn Minderheiten darin präzise und für alle Staaten verbindlich definiert wären (ebd., S. 23). Definitionen aus der Forschungsliteratur tragen ebenfalls wenig zur Lösung des Problems bei. So verwendet etwa Kristin Henrard (2002, S. 370) eine Versi-
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on von Capotortis Definition ohne das Kriterium der Staatsangehörigkeit, während James Hughes und Gwendolyn Sasse (2003, S. 20) Ethnizität und kulturelle Charakteristika wie Sprache, Religion oder Bräuche als Kriterien nennen. Auffällig ist, wie viele Definitionen Begriffe wie Ethnizität, Kultur oder gar Bräuche erwähnen, obwohl diese Konzepte ebenso umstritten sind wie der Minderheitenbegriff selbst. Während Muttersprache oder Religion relativ klare und objektive Kriterien sind, zeugt die Erwähnung von Bräuchen von einem obsoleten Kulturverständnis. Minderheiten, die in einer zunehmend globalisierten und multikulturellen Gesellschaft leben, zum Beispiel in EU-Ländern, können kaum anhand solcher traditioneller ethnologischer Merkmale definiert werden. Darüber hinaus setzt sich in der soziologischen Forschungsliteratur immer mehr die Erkenntnis durch, dass Kategorien wie Ethnizität, Identität und Kultur durchlässig sind und entweder von Individuen selbst oder von Teilen der Gesellschaft konstruiert werden. So stellen etwa Adrian Holliday, Martin Hyde und John Kullman in einer bewussten Vereinfachung (vgl. Holliday u.a. 2004, S. 3) die beiden Extreme der essentialistischen und der nicht-essentialistischen Auffassung von Kultur gegenüber. Erstere geht davon aus, dass Individuen ausschließlich einer weitgehend homogenen Kultur angehören, die sie über bestimmte Merkmale (z.B. Sprache) definiert, und durch die sie sich essentiell von Individuen mit einem anderen kulturellen Hintergrund unterscheiden (ebd., S. 4 f.). Die nicht-essentialistische Sichtweise, die Holliday, Hyde und Kullman bevorzugen, basiert hingegen auf der Prämisse, dass Gesellschaften komplex sind, Kulturen keine klaren Grenzen haben und Individuen mehreren Kulturen angehören können (ebd., S. 3 f.). Das Beispiel der Roma zeigt, wie schwierig es ist, die Zugehörigkeit zu einer Minderheit zu definieren, und dass einem essentialistischen Kulturverständnis entspringende Kategorien, wie eine gemeinsame Sprache, Religion oder Bräuche, nicht unbedingt dafür geeignet sind. Die Roma, vermutlich Nachfahren indischer Bevölkerungsgruppen, die im frühen Mittelalter nach Europa immigrierten (vgl. Matter 2005, S. 14), sind heute eine sehr heterogene Minderheit (vgl. Carrasco/Heidbreder 2003, S. 26 und Matter 2005, S. 15). Zwar existiert beispielsweise die Sprache Romanes, jedoch ist sie in zahlreiche Dialekte unterteilt und wird nicht von allen europäischen Roma gesprochen (Carrasco/Heidbreder 2003, S. 26). Auch gibt es keine verbreitete, eigenständige RomaReligion, da Roma in vielen Fällen die Religion des Landes annehmen, in dem sie leben (vgl. Matter 2005, S. 16). Selbst das Stereotyp der Wohnwagensiedlungen entspricht nicht immer der Realität, da nur ein Teil der Roma nomadisch lebt (vgl. Carrasco/Heidbreder 2003, S. 26). Die europäischen „Roma“ selbst sehen sich ebenso wenig als geschlossene Gruppe, was sich schon daran zeigt, dass sich manche gar nicht Ro-
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ma, sondern Sinti oder Travellers nennen (Europäische Kommission 2004a, S. 5). Daraus lässt sich schließen, dass die Roma nicht eine gemeinsame kulturelle Identität besitzen (Carrasco/Heidbreder 2003, S. 26), die sich anhand einfacher Merkmale bestimmen ließe, und ihnen „weniger eine für alle verbindliche Kultur, als vielmehr gemeinsame, leider meist negative Erfahrungen mit ihrer NichtRoma-Umgebung“ (Matter 2005, S. 18) gemein sind. Angesichts dessen erscheint es unmöglich, eine allzu rigide, allgemein gültige und verbindliche Definition von Minderheiten als Grundlage praktischer Politik festzulegen. Eine Alternative für Maßnahmen zum Minderheitenschutz in der EU wäre, Minderheiten als einen zahlenmäßig unterlegenen Teil der Bevölkerung zu sehen, der in besonderem Maße Rassismus und Diskriminierung ausgesetzt ist und von einer Reihe von Organisationen sowie Angehörigen der Gruppe selbst als Minderheit anerkannt wird. Dies wäre etwa für die Roma zutreffend. Letztlich müsste jedoch bei jeder Maßnahme zum Minderheitenschutz diskutiert werden, an wen genau sich diese richtet. 2.2 Kollektiv- versus Individualrechte Neben dem Begriff Minderheit werden auch verschiedene Konzepte des Minderheitenschutzes debattiert. So findet sich in der Forschungsliteratur häufig die scheinbare Dichotomie der Kollektiv- und Individualrechte. Laut Samuel Salzborn wurde bereits nach dem Ersten Weltkrieg darüber diskutiert, ob Bevölkerungsgruppen individuelle oder kollektive Rechte zustehen. Erstere entspringen der Tradition der Aufklärung und sollen alle Individuen, unabhängig von ihrer Herkunft, vor Diskriminierung bewahren (vgl. Salzborn 2006, S. 13). Individualrechte basieren auf dem Gleichheitsprinzip und können unter anderem Angehörige von Minderheiten schützen, da diese oft besonders stark von Diskriminierung betroffen sind. Kollektivrechte hingegen gelten, wie es der Begriff impliziert, für jeweils bestimmte Bevölkerungsgruppen. Während individuelle Rechte die Gleichheit aller Menschen betonen, heben kollektive Rechte die Unterschiede zwischen einer Gruppe und dem vermeintlichen Rest der Gesellschaft hervor (vgl. Salzborn 2006, S. 13). Beispiele sind etwa das Recht auf Territorial- oder Verwaltungsautonomie, Schulunterricht in einer Minderheitensprache oder besondere Rechte für Minderheitenvertreter bei Wahlen (vgl. Schlögel 2004, S. 72 und Arnold 2001, S. 238). Die Trennlinie zwischen beiden Konzepten ist jedoch nicht so scharf, wie es zunächst scheint. Im Hinblick auf die unklare Definition des Begriffs Minderheit vertritt etwa Georg Brunner (vgl. 2002, S. 224) die Ansicht, dass Kollektivrechte nur dann verliehen werden können, wenn eine Minderheit als juristische Person
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angesehen wird. Will Kymlicka (vgl. 1995, S. 45) weist außerdem darauf hin, dass Kollektivrechte nicht immer eindeutig von Individualrechten unterschieden werden können. So werden bestimmte scheinbar kollektive Rechte, wie zum Beispiel die Verwendung von Minderheitensprachen vor Gericht, von Individuen ausgeübt. Trotz dieser Unklarheiten werden Debatten über den Minderheitenschutz in der Forschungsliteratur mitunter polemisch, wenn es um die Frage von Individual- und Kollektivrechten geht. So rückt Salzborn die Befürworter letzterer indirekt in die Nähe von Nationalsozialisten, indem er schreibt, dass Kollektivrechte „völkisch“ (2006, S. 16) sowie oft mit Segregation und Rassismus verbunden seien (S. 13) und nach dem Zweiten Weltkrieg von den UN aufgrund der Erfahrung des Nationalsozialismus verworfen wurden (S. 16). Manche der zuvor erwähnten spezifischen Gruppenrechte haben jedoch die Intention, kulturelle Vielfalt zu fördern, was kaum eine „völkische“ Mentalität vermuten lässt. Dennoch ist Kritik am Konzept der Kollektivrechte grundsätzlich berechtigt, da Minderheiten, wie bereits im vorangegangenen Abschnitt gezeigt, nicht als geschlossene Kollektive betrachtet werden können. Auch wenn heute so genannte Kollektivrechte nicht pauschal rassistische Züge tragen, ist eine grob vereinfachende Darstellung von Minderheiten als quasi einheitliche Gemeinschaft sowohl diskriminierend als auch historisch stark belastet. So zeigt Gudrun Hentges (2006, S. 186) auf, dass die Vorstellung homogener Volksgruppen, die bereits in Johann Gottlieb Fichtes Schriften mit Rassismus und Antisemitismus verknüpft war, auch zum Gegenstand nationalsozialistischer Propaganda wurde (vgl. ebd., S. 187) und mitunter noch nach dem Zweiten Weltkrieg Forderungen nach Gruppenrechten zugrunde lag (vgl. ebd., S. 190). Auch wegen der Unklarheit des Begriffes Kollektivrechte erscheint es für eine Untersuchung der EU-Minderheitenpolitik vielmehr sinnvoll, zwischen Antidiskriminierung und positiven, fördernden Maßnahmen zum Minderheitenschutz zu differenzieren. Dabei schließt Antidiskriminierung alle Maßnahmen mit ein, die dazu dienen, Gleichheit vor dem Gesetz herzustellen, und auch, aber nicht ausschließlich, für Angehörige von Minderheiten gelten. Positive Maßnahmen hingegen richten sich speziell an Angehörige von Minderheiten mit dem Ziel, faktische Gleichheit herzustellen und kulturelle Elemente, zum Beispiel Minderheitensprachen zu fördern. Diese beiden Konzepte schließen sich nicht gegenseitig aus, sondern sind eng miteinander verflochten, da positive Maßnahmen auf Antidiskriminierungspolitik aufbauen und darüber hinausgehen (vgl. Henrard 2002, S. 371 f.). Wie noch gezeigt wird, ist dies insbesondere im Fall der Roma relevant.
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Die Situation der Roma in der EU
Nach übereinstimmender Erkenntnis verschiedener Organisationen und Autoren sind die Roma in der EU besonders stark von Diskriminierung und Ausgrenzung betroffen (vgl. etwa ERRC 2005, S. 28; Amnesty International 2007a; Amato/Batt 1998, S. 13). Ein großer Teil der Roma lebt in den mittel- und osteuropäischen Staaten, die 2004 beziehungsweise 2007 der Union beigetreten sind. Dort ist die Benachteiligung vieler Roma nach wie vor weit verbreitet, obwohl Minderheitenschutz allgemein und die Lage der Roma im Besonderen Gegenstand des EU-Monitoring während des Beitrittsprozesses waren. Laut Matter gehören viele Roma zu den Verlierern des Transformationsprozesses von der Plan- zur Marktwirtschaft in jenen Ländern. Daher seien dort die Arbeitslosen- und Kindersterblichkeitsraten bei den Roma überproportional hoch (vgl. Matter 2005, S. 11). Auch der Bericht „Die Situation der Roma in der erweiterten Europäischen Union“ erwähnt hohe Arbeitslosenquoten bei den Roma, beispielsweise in Tschechien und der Slowakei (vgl. Europäische Kommission 2004a, S. 28). Darüber hinaus werden Romakinder oft Opfer von Diskriminierung und Segregation, da Behörden oder Lehrer sie in eigenen Klassen oder Schulen von Nicht-Romakindern trennen. Die Nichtregierungsorganisation Centrul Romilor pentru Interventie Sociala si Studii (Romani CRISS) etwa reichte erst im Februar 2007 Beschwerde gegen zwei Schulen in unterschiedlichen rumänischen Verwaltungsbezirken ein, die Romakinder in separate Klassen einteilten (vgl. Romani CRISS 2007, S. 3). Ein weiteres verbreitetes Problem sind Vorurteile und rassistische Übergriffe gegen Roma. Amnesty International (vgl. 2005, S. 11) berichtet von einer steigenden Zahl rassistischer Bemerkungen in rumänischen Medien, wie zum Beispiel die Verwendung pejorativer Begriffe für Roma. In Slowenien wurden 2005 bei einem offenbar rassistisch motivierten Bombenanschlag auf RomaSiedlungen zwei Menschen getötet und zwei weitere verletzt (vgl. EUMC 2006, S. 106). Darüber hinaus seien Demonstrationen der örtlichen Bevölkerung in Slowenien gegen Roma-Siedlungen ein häufiges Phänomen (vgl. ebd., S. 66). Auch in den alten Mitgliedstaaten ist die Diskriminierung und soziale Ausgrenzung der Roma weit verbreitet, was auch die Glaubwürdigkeit des EUMonitoring in den Beitrittsländern in Frage stellt. Laut Rachel Guglielmo (vgl. 2004, S. 51) leben Romakinder in Deutschland häufig in ärmlichen Verhältnissen und sind in Sonder- und Förderschulen stark überrepräsentiert. Der Bericht der Europäischen Kommission (2004a) dokumentiert ähnliche Formen der Segregation in Frankreich (vgl. ebd., S. 24). In Irland und Griechenland werden besonders nomadisch lebende Roma benachteiligt, da sie für illegale Siedlungen strafverfolgt
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werden können, aber gleichzeitig legale Stellplätze fehlen (vgl. ebd., S. 42). Ein gravierendes Beispiel für die Ausgrenzung der Roma in den alten Mitgliedstaaten waren auch die Übergriffe auf Roma-Siedlungen in Italien im Jahr 2008. Diese Beispiele zeigen die verbreitete Ausgrenzung und Diskriminierung der Roma. Daher ist es gerechtfertigt, ihre Situation besonders zu berücksichtigen, wenn man die Minderheitenpolitik der EU betrachtet. 4
Historischer Überblick: Die Entwicklung des Minderheitenschutzes auf EU-Ebene
Minderheitenschutz gehörte nicht zu den ursprünglichen Zielen der EG, die zunächst als eine Wirtschaftsgemeinschaft konzipiert war. Vielmehr verlief die Entwicklung des Minderheitenschutzes auf EG-Ebene parallel zu ihrer zunehmend politisch werdenden Ausrichtung, wobei die Osterweiterung einen wichtigen Impuls gab. Bereits in den 80er Jahren gab es erste Bestrebungen, Minderheitenschutz in der Politik und im Recht der Gemeinschaft zu verankern. So wurde 1980 das European Bureau for Lesser-Used Languages (EBLUL) gegründet, nach eigenen Angaben eine von der EU-Kommission mitfinanzierte Nichtregierungsorganisation, die das Ziel hat, Minderheitensprachen und Sprachenvielfalt zu fördern (European Bureau for Lesser-Used Languages: About Us). Im selben Jahr bildete das Europäische Parlament eine Intergruppe mit dem Ziel, Minderheitenfragen auf die politische Tagesordnung der Gemeinschaft zu setzen (vgl. Toggenburg 2004, S. 6). Ein Jahr später verabschiedete das Parlament eine Resolution für eine Gemeinschaftscharta regionaler Sprachen und Kulturen sowie eine Charta für die Rechte ethnischer Minderheiten. Die Resolution forderte die Mitgliedstaaten auf, die Verwendung von Minderheitensprachen in Bildungseinrichtungen und vor Gericht zu gewährleisten (vgl. Schlögel 2004, S. 83 f.; Arnold 2001, S. 240). In einer weiteren Resolution von 1987 warf das Parlament der Kommission Untätigkeit in Minderheitenfragen vor und empfahl den Mitgliedstaaten Maßnahmen in den Bereichen Bildung, Justiz, Verwaltung und der Medien, darunter die finanzielle Förderung von Minderheitengruppen (vgl. Schlögel 2004, S. 85 f.). Im Jahr 1991 schließlich versuchte das Parlament vergeblich, Minderheitenrechte im Gemeinschaftsvertrag zu verankern. Dieser Resolution zufolge sollten die Union wie die Mitgliedstaaten die Existenz von Minderheiten auf ihrem Territorium anerkennen sowie deren Sprachen und regionale Selbstverwaltung fördern (vgl. Schlögel 2004, S. 86 f.). Bis 1990 war das Europäische Parlament von allen EG-Institutionen zweifelsohne die aktivste auf dem Gebiet des Minderheitenschutzes. Auch wenn seine Resolutionen nicht rechtlich bindend waren, sondern lediglich symboli-
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schen Charakter aufwiesen, sollte ihre Rolle bei der Sensibilisierung der EUInstitutionen für das Thema Minderheitenschutz nicht unterschätzt werden (vgl. Arnold 2001, S. 240). Doch erst nach dem Zusammenbruch des sowjetischen Staatensystems spielten Minderheitenfragen eine wichtigere Rolle in der EU-Politik – zumindest gegenüber den Beitrittskandidaten. Das neu erwachte Interesse der EU für die Situation von Minderheiten in Mittel- und Osteuropa war vor allem von Sicherheits- und Stabilitätsdenken geprägt. Ausschlaggebend waren besonders der Krieg und die ethnischen Konflikte im ehemaligen Jugoslawien (vgl. Bíró 2006, S. 66), doch auch andere Faktoren spielten eine Rolle: „Die Bildung neuer Staaten durch die Aufteilung der UdSSR und der Tschechoslowakei wurde von nationalistischen Aufwallungen begleitet, sowohl auf Seiten der Mehrheiten, die ihre neu gewonnene Unabhängigkeit triumphal feierten, als auch auf Seiten beunruhigter Minderheiten, die man nicht konsultiert hatte und die sich unsicherer fühlten als zuvor. Sogar in Staaten, die während des Übergangs intakt blieben, sind Anzeichen für eine Belastung der Beziehungen zwischen nationalen Mehrheiten und Minderheiten sichtbar geworden.“ (Amato/Batt 1998, S. 3; Übersetzung N. Sch.)
Das neue Interesse an Minderheitenfragen führte dazu, dass die EU Minderheitenschutz in die so genannten Kopenhagener Kriterien mit aufnahm. Die Bedingungen für Beitrittskandidaten, die der Europäische Rat 1993 in Kopenhagen beschloss, nennen als politisches Kriterium die „institutionelle Stabilität als Garantie für demokratische und rechtsstaatliche Ordnung, für die Wahrung der Menschenrechte sowie die Achtung und den Schutz von Minderheiten“ (Europa Glossar: Beitrittskriterien). Als fester Bestandteil der EU-Konditionalität erhielt Minderheitenschutz ein eigenes Kapitel in den Fortschrittsberichten der Kommission und wurde teilweise Gegenstand der Beitrittspartnerschaften mit Kandidaten aus Mittel- und Osteuropa. Jedoch wurde der Schutz von Minderheiten im Gegensatz zu den anderen politischen Kopenhagener Kriterien – Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechte – nicht in Artikel 6 des EU-Vertrages verankert. Auch hat die EU bislang keine Möglichkeit, ein effektives Monitoring der Minderheitensituation in den Mitgliedstaaten durchzuführen. Kritiker warfen der EU daher vor, Doppelstandards anzuwenden (vgl. Hughes/Sasse 2003, S. 13) und Minderheitenschutz als ein zum Export bestimmtes Produkt zu betrachten, das in der internen EU-Politik kaum eine Rolle spiele (vgl. De Witte 2002, S. 139). Die Tatsache, dass Minderheitenschutz nicht explizit in den Verträgen erwähnt wird, bedeutet auch, dass die EU keine umfassenden gesetzgeberischen Kompetenzen auf diesem Gebiet hat. Jedoch enthält der EG-Vertrag mehrere Artikel, die der Union Möglichkeiten eröffnen, in verschiedenen Politikfeldern
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zum Minderheitenschutz aktiv zu werden (vgl. Toggenburg 2006, S. 5 f.). Artikel 151 etwa, der die Rolle der Gemeinschaft bei der Förderung regionaler Vielfalt unterstreicht, wurde von Carrasco und Heidbreder als Maastrichts Beitrag zum Minderheitenschutz bezeichnet (2003, S. 19), weil er erstmals im Vertrag von Maastricht enthalten war. Andere Politikfelder, die für den Minderheitenschutz relevant sein können, sind Bildungspolitik (Artikel 149) und Beschäftigungspolitik (Artikel 137) (vgl. Toggenburg 2006, S. 6). Der Artikel mit der größten Bedeutung für den Minderheitenschutz innerhalb der EU ist jedoch Artikel 13 des Amsterdamer Vertrages, der das Fundament für rechtlich bindende, gesetzliche Maßnahmen gegen Diskriminierung legte. Der Amsterdamer Vertrag war sicherlich ein Meilenstein für den Antidiskriminierungs-Aspekt des Minderheitenschutzes auf EU-Ebene. Rainer Arnold (2001, S. 239) geht sogar so weit, zwischen zwei Phasen des Minderheitenschutzes zu unterscheiden: Der „minderheitenblinden“ bis 1999, in der man sich auf die Implementierung des Gemeinsamen Marktes beschränkte, und einer zweiten Phase, die mit dem Inkrafttreten des Amsterdamer Vertrages 1999 begann. Diese Ansicht lässt jedoch das zuvor beschriebene Interesse der EU am Minderheitenschutz in den Beitrittsstaaten außer Acht und kann lediglich für rechtlich bindende Maßnahmen innerhalb der Mitgliedstaaten gelten. Darüber hinaus bezieht sich Artikel 13 des EG-Vertrags nicht ausschließlich auf ethnische Minderheiten. Im Folgenden werden der Artikel und darauf basierende EUGesetzgebung näher erläutert. 5
Für Minderheiten relevante EU-Instrumente
5.1 Legislative Instrumente Laut Absatz 1 des Artikels 13 kann der Rat „im Rahmen der durch den Vertrag auf die Gemeinschaft übertragenen Zuständigkeiten auf Vorschlag der Kommission und nach Anhörung des Europäischen Parlaments einstimmig geeignete Vorkehrungen treffen, um Diskriminierungen aus Gründen des Geschlechts, der Rasse, der ethnischen Herkunft, der Religion oder der Weltanschauung, einer Behinderung, des Alters oder der sexuellen Ausrichtung zu bekämpfen.“ (Vertrag zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft, EGV) Der Artikel erwähnt zwar nicht explizit die Zugehörigkeit zu einer Minderheit als Diskriminierungsgrund, wie Angela Kaiser feststellt (2005, S. 130). Relevant für Minderheiten ist jedoch das Kriterium der ethnischen Herkunft, zumal Ethnizität breit definiert werden und auch Kriterien wie Sprache oder andere kulturelle Merkmale mit einschließen kann.
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Jedoch hat Artikel 13 keine direkte Wirkung, sondern weist dem Rat lediglich die Kompetenz zu, konkrete, rechtlich bindende Maßnahmen zu ergreifen (vgl. Kaiser 2005, S. 132; Schwellnus 2001, S. 17). Darüber hinaus bestehen hohe Hürden für rechtliche Maßnahmen, da der Artikel, zumindest in seiner derzeit gültigen Fassung, Einstimmigkeit im Rat erfordert. Dennoch ist Artikel 13 die Grundlage für zwei der wichtigsten gesetzlichen Maßnahmen gegen Diskriminierung in der Geschichte der Gemeinschaft: die beiden so genannten Anti-Diskriminierungsrichtlinien. Von besonderer Relevanz für Minderheiten ist dabei die Richtlinie 2000/43/EG zur Gleichbehandlung ohne Unterschied der Rasse, die der Rat im Juni 2000 verabschiedete. Die Richtlinie legt Mindeststandards fest, um den Grundsatz der Gleichbehandlung zu verwirklichen (Artikel 6). Laut Artikel 2 verbietet die Richtlinie jegliche unmittelbare oder mittelbare Diskriminierung aufgrund der Rasse oder ethnischen Herkunft. Dies gilt sowohl für öffentliche Einrichtungen als auch für den privaten Sektor. Wie der Artikel erläutert, liegt eine unmittelbare Diskriminierung dann vor, wenn eine Person aufgrund ihrer Rasse oder ethnischen Herkunft eine weniger günstige Behandlung erfährt als andere in einer vergleichbaren Situation. Mittelbare Diskriminierung bezieht sich hingegen auf „dem Anschein nach neutrale Vorschriften, Kriterien oder Verfahren“ (Artikel 2b), die Personen einer bestimmten Rasse benachteiligen können. Darüber hinaus erlaubt die Richtlinie den Mitgliedstaaten bestimmte positive Maßnahmen, um faktische Gleichheit herzustellen: „Der Gleichbehandlungsgrundsatz hindert die Mitgliedstaaten nicht daran, zur Gewährleistung der vollen Gleichstellung in der Praxis spezifische Maßnahmen, mit denen Benachteiligungen aufgrund der Rasse oder ethnischen Herkunft verhindert oder ausgeglichen werden, beizubehalten oder zu beschließen.“ (Artikel 5) Ein weiterer Artikel mit besonderer Relevanz für Minderheiten ist Artikel 7, der juristischen Personen, zum Beispiel Verbänden oder Organisationen, das Recht einräumt, im Namen eines Diskriminierungsopfers Klage einzureichen. Die Richtlinie sieht außerdem vor, dass jeder Mitgliedstaat eine Stelle einrichtet, die Diskriminierungsopfer unterstützt (vgl. Artikel 13). Mit Blick auf die Richtlinie ist Erik Fribergs und Rainer Hofmanns Behauptung (2004, S. 130), dass es im Bereich des Minderheitenschutzes keine klaren, rechtsverbindlichen Maßnahmen auf EU-Ebene gibt, nur insofern gerechtfertigt, als Minderheiten in den Artikeln nicht explizit erwähnt sind. Da die Richtlinie jedoch Diskriminierungsopfern und Nichtregierungsorganisationen umfangreiche Rechte zuspricht und positive Maßnahmen zumindest erlaubt, kann sie durchaus als ein wichtiges Instrument zum Minderheitenschutz betrachtet werden. Die Autoren des Berichts „Die Situation der Roma in der erweiterten Europäischen
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Union“ halten die Richtlinie auch deshalb für bedeutend, weil sie viele Bereiche abdeckt, in denen Roma diskriminiert werden, zum Beispiel den Arbeitsmarkt und Bildungseinrichtungen (vgl. Europäische Kommission 2004a, S. 11). Dennoch wurde die Richtlinie auch als unzureichend kritisiert. In einem Beitrag für die Nichtregierungsorganisation Minority Rights Group International schreibt etwa Anna-Mária Bíró (2006, S. 83), dass die Richtlinie sich auf Einzelfälle beziehe, aber gegenüber systematischer Diskriminierung, wie zum Beispiel institutionalisiertem Rassismus, weitgehend wirkungslos sei, weil sie Mitgliedstaaten nicht zu positiver Diskriminierung verpflichte. Galina Kostadinova (2006, S. 2) untersucht in einem Beitrag für dieselbe Organisation die Auswirkungen der Richtlinie auf die spezifische Situation der Roma. Zwar wird die Bedeutung der Richtlinie für die Bekämpfung von Diskriminierung in Einzelfällen hervorgehoben, aber gleichzeitig darauf hingewiesen, dass besonders benachteiligte Roma aus armen, bildungsfernen Milieus sich kaum auf ein komplexes und teures Gerichtsverfahren einlassen würden. Kostadinovas Analyse betont außerdem das tief verwurzelte Misstrauen mancher Roma in das Justizsystem, da dieses selbst Roma diskriminiert habe. Den Antidiskriminierungsrichtlinien folgten jedoch weitere, ergänzende Maßnahmen, die im Folgenden untersucht werden. 5.2 Politische Instrumente Das Aktionsprogramm zur Bekämpfung von Diskriminierungen (2001–2006) ist eng mit der EU-Gesetzgebung verbunden. Ein Beschluss des Rates von November 2000 begründete das Programm, das die beiden Anti-Diskriminierungsrichtlinien ergänzen sollte und ein Budget von insgesamt 98,4 Millionen Euro zur Verfügung hatte (vgl. Europäische Kommission 2004b, S. 8). Das Aktionsprogramm hatte drei Hauptziele: Die Analyse und Auswertung von Diskriminierungsfällen, die Förderung des Dialoges und des Informationsaustausches zwischen verschiedenen Organisationen sowie Öffentlichkeitsarbeit (vgl. ebd.; Europäische Kommission 2000). Die Kommission veröffentlichte jährlich einen Arbeits- und Budgetplan für das Programm, das auch auf die spezifische Situation der Roma einging. Dies führte 2004 beispielsweise zur Veröffentlichung des Berichts „Die Situation der Roma in der erweiterten Europäischen Union“ (Europäische Kommission 2004a). Darüber hinaus stellte die Kommission im Arbeitsplan für 2005 fest, dass die Roma besonders stark von Diskriminierung und Marginalisierung betroffen seien (Europäische Kommission 2005, S. 3). Das Aktionsprogramm finanzierte daher in den Jahren 2005 und 2006 sechs Projekte für die Integration der Roma in den Bereichen Bildung und Beschäftigung (vgl. Europäische Kommission 2006).
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Zwar trug das Aktionsprogramm dazu bei, die Lage der Roma auf die politische Tagesordnung zu setzen, wie die Veröffentlichung des 62 Seiten langen Berichtes von 2004 zeigt. Jedoch war es nie als spezielle Politik für die Integration der Roma oder anderer Minderheiten konzipiert. Vielmehr war das Programm sehr allgemein formuliert und überließ konkrete Aktionen den Mitgliedstaaten (vgl. Kaiser 2005, S. 143). Die nach wie vor desolate Lage zahlreicher Roma in der EU lässt darauf schließen, dass das Aktionsprogramm, ebenso wie die dazu gehörenden Richtlinien, keine weit reichenden Verbesserungen für Europas größte ethnische Minderheit bewirkt haben. Als im Jahr 2006 das Aktionsprogramm in dieser Form auslief, begründete ein gemeinsamer Beschluss des Rates und des Parlaments das Europäische Jahr der Chancengleichheit für alle (2007). Hintergrund der Initiative war, wie bereits beim Aktionsprogramm, die Erkenntnis, dass EU-Gesetzgebung allein nicht ausreichte, um Diskriminierung zu bekämpfen: „Durch die europäischen Rechtsvorschriften sind Gleichbehandlungsgarantien und Schutz vor Ungleichheiten und Diskriminierungen in der gesamten Europäischen Union erheblich verstärkt (...) worden. Ungeachtet dessen erleben die Menschen in der Europäischen Union in ihrem Alltag nach wie vor Diskriminierung und Ungleichbehandlung.“ (Beschluss Nr. 771/2006/EG, Abschnitt 8 des Vorwortes) Abschnitt 12 des Vorworts erwähnt auch die weit verbreitete Diskriminierung der Roma, die als die „am meisten benachteiligte ethnische Minderheitengruppe in der Europäischen Union“ bezeichnet werden. Das Europäische Jahr hatte vier Hauptziele, die in Artikel 2 des Beschlusses vage mit den Schlagworten „Rechte“, „Gesellschaftliche Präsenz“, „Anerkennung“ und „Respekt“ zusammengefasst werden. Laut Artikel 2b des Beschlusses sollte die Initiative eine „Debatte anregen“ sowie den Abbau von Vorurteilen vorantreiben. Artikel 2c kann als vorsichtiger Hinweis auf positive Maßnahmen zur Förderung von Minderheitenkulturen aufgefasst werden: „Das Europäische Jahr wird, insbesondere durch Hervorhebung der Vorteile der Vielfalt, den positiven Beitrag herausstellen, den Menschen für die Gesellschaft insgesamt leisten können, unabhängig von Geschlecht, Rasse, ethnischer Herkunft, Religion oder Weltanschauung, Behinderung, Alter oder sexueller Ausrichtung.“ (Beschluss Nr. 771/2006/EG) Die meisten Veranstaltungen des Europäischen Jahres fanden auf nationaler oder regionaler Ebene statt. Zu den Aktionen auf EU-Ebene gehörten Konferenzen, die Publikation von Studien und Erhebungen zum Thema Chancengleichheit sowie die Finanzierung regionaler Projekte (Europäische Kommission 2007b). Am Europäischen Jahr waren mehrere Nichtregierungs-Netzwerke beteiligt, relevant für ethnische Minderheiten war jedoch nur das Europäische Netzwerk gegen Rassismus, ENAR (vgl. Europäische Kommission 2007c).
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Wie die anderen bereits behandelten EU-Maßnahmen war das Europäische Jahr nicht als spezifisches Instrument für die Integration ethnischer Minderheiten bestimmt, sondern hatte eine Vielzahl allgemein formulierter Ziele. Aufgrund dieser fehlenden Fokussierung und der kurzen Laufzeit erscheint es unwahrscheinlich, dass die Initiative die Diskriminierung von Minderheiten wie der Roma wirksam bekämpft hat. Im September 2008 fand in Brüssel ein EU-Roma-Gipfel statt, an dem Vertreter von EU-Institutionen, der Mitgliedstaaten, internationaler Organisationen und Nichtregierungsorganisationen teilnahmen. Der Gipfel sollte Gelegenheit zum Meinungsaustausch und Festlegen von Zielen bieten (vgl. Villareal/Walek 2008, S. 3); konkrete Beschlüsse erwähnt der Konferenzbericht hingegen nicht. Der Gipfel stieß bei Vertretern der Roma und der Zivilgesellschaft auf ein geteiltes Echo. Die European Roma Policy Coalition (ERPC), ein Zusammenschluss von Nichtregierungsorganisationen, bezeichnete das Ereignis als ein wichtiges Signal und äußerte sich positiv zu Absichtserklärungen von Mitgliedstaaten, auf EU-Ebene eine umfassende Strategie zur Integration der Roma zu entwickeln. Zugleich kritisierte die ERPC die Kommission, weil diese keine Führungsrolle bei der Ausarbeitung konkreter Maßnahmen zur Integration der Roma übernehme, sondern die primäre Verantwortung bei den Mitgliedstaaten sehe. 5.3 Die Grundrechtecharta und die Grundrechteagentur Die Charta der Grundrechte der Europäischen Union ist bislang nicht rechtsverbindlich, weshalb sie in diesem Beitrag auch nicht unter den legislativen Maßnahmen aufgeführt ist. Dennoch betrachten Rat, Kommission und das Europäische Parlament die Charta bereits jetzt als Grundlage ihres Handelns (vgl. De Witte 2004, S. 114). Im Gegensatz zu den bisher behandelten Instrumenten erwähnt die Charta explizit (autochthone) Minderheiten: „Diskriminierungen, insbesondere wegen des Geschlechts, der Rasse, der Hautfarbe, der ethnischen oder sozialen Herkunft, der genetischen Merkmale, der Sprache, der Religion oder der Weltanschauung, der politischen oder sonstigen Anschauung, der Zugehörigkeit zu einer nationalen Minderheit, des Vermögens, der Geburt, einer Behinderung, des Alters oder der sexuellen Ausrichtung, sind verboten.“ (Kapitel III, Artikel 21) Damit geht die Charta zumindest in der Formulierung über Artikel 13 EGV und die Richtlinie zur Gleichbehandlung ohne Unterschied der Rasse hinaus. Dennoch erscheint es fraglich, ob die Charta tatsächlich die Grundlage für einen wirksameren Minderheitenschutz bietet. Abgesehen vom Begriff Minderheit trägt Artikel 21 nichts substantiell Neues zur bestehenden EU-Gesetzgebung
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gegen Diskriminierung bei (vgl. Bíró 2006, S. 74). Kaiser (2005, S. 120) bemerkt zudem, dass die Charta der EU keine neuen Kompetenzen zuweisen soll. Spezifische Regelungen zum Minderheitenschutz fehlen auch in der Charta, obwohl das Europäische Parlament, der Ausschuss der Regionen sowie mehrere Nichtregierungsorganisationen Minderheitenschutz-Klauseln, die über Anti-Diskriminierung hinausgehen, befürwortet hatten (vgl. Schwellnus 2001, S. 8 f.). Sogar die Mehrheit des Konventes hatte sich für eine Minderheitenschutznorm in der Charta ausgesprochen, was allerdings von Frankreich abgelehnt wurde (vgl. Kaiser 2005, S. 117 f.). Der einzige Teil der Charta, der einen weiter reichenden Minderheitenschutz implizieren könnte, ist Kapitel III Artikel 22: „Die Union achtet die Vielfalt der Kulturen, Religionen und Sprachen“. Dieser Artikel wurde vom EUNetzwerk unabhängiger Experten für Grundrechte als Minderheitenschutzklausel interpretiert. Nach Ansicht von Bíró handelt es sich dabei aber um eine Einzelmeinung eines Netzwerkes mit begrenztem politischen Einfluss (vgl. 2006, S. 75). Darüber hinaus ist Artikel 22 sehr vage formuliert und schon deshalb nicht als eindeutige Minderheitenschutzklausel zu betrachten. Daher ist davon auszugehen, dass die Charta nur in einem geringen Umfang zum Minderheitenschutz beitragen wird (vgl. auch Schlögel 2004, S. 210). Da sie jedoch neben anderen Aspekten das Kriterium der Zugehörigkeit zu einer Minderheit explizit erwähnt, könnte die Grundrechtecharta zumindest den Antidiskriminierungsaspekt der EU-Minderheitenpolitik stärken. Diskussionswürdig ist auch die Rolle der EU-Grundrechteagentur für den Minderheitenschutz. Die Agentur mit Sitz in Wien, die von einer Verordnung des Rates begründet wurde und im März 2007 ihre Arbeit aufnahm, ersetzt die ehemalige Europäische Stelle zur Beobachtung von Rassismus und Fremdenfeindlichkeit (EU Monitoring Centre on Racism and Xenophobia – EUMC). Wie der Name bereits andeutet, gehen die Aufgaben der neuen Agentur weit über die des EUMC hinaus. Das Zentrum hatte die Aufgaben, Daten zu sammeln, Studien zu den Themen Rassismus, Fremdenfeindlichkeit, Antisemitismus und Islamophobie zu publizieren sowie Strategien zur Bekämpfung von Rassismus in den Mitgliedstaaten zu erarbeiten (EUMC 2007). Die neue Agentur hingegen hat die Grundrechtecharta als Bezugspunkt und soll die Gemeinschaft sowie die Mitgliedstaaten bei der Implementierung von Gemeinschaftsrecht beraten. Der Rat legt einen mehrjährigen Rahmen für die Aktivitäten der Agentur fest, die auch nach deren Umbenennung den Kampf gegen Rassismus beinhalten müssen. Zu den weiteren Aufgaben gehören Forschungstätigkeiten, Öffentlichkeitsarbeit sowie die Veröffentlichung eines Jahresberichts über die Grundrechte in der EU. Die Agentur ist jedoch weder für Beschwerden von Ein-
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zelpersonen zuständig, noch verfügt sie über die Kompetenz für ein umfassendes Monitoring in den Mitgliedstaaten (vgl. Fundamental Rights Agency 2007). In vielerlei Hinsicht entspricht die Grundrechteagentur nicht den Erwartungen von Menschenrechts- und Minderheitenorganisationen. So räumt das EUBüro von Amnesty International zwar ein, dass die Agentur effektiv zu den Themenbereichen Diskriminierung und Rassismus arbeiten könne. Zugleich kritisiert die Organisation aber, dass die Agentur über kein Mandat verfügt, andere schwerwiegende Menschenrechtsprobleme in den Mitgliedstaaten zu bekämpfen, wie etwa polizeiliche Gewalt (vgl. Amnesty International 2007b). Von letzterer sind auch die Roma betroffen (vgl. Europäische Kommission 2002, S. 29). Das European Roma Rights Centre (ERRC), eine Organisation mit Sitz in Budapest, hatte sich sogar für ein stärkeres Mandat der Agentur in der Bekämpfung von Diskriminierung und Rassismus eingesetzt. In einem Positionspapier befürwortete das ERRC eine Agentur, die Opfer von Diskriminierung auch in Einzelfällen unterstützen kann. Darüber hinaus forderte die Organisation, dass die Agentur Untersuchungen zu möglichen Menschenrechtsverletzungen in sämtlichen Politikbereichen der Union und der Mitgliedstaaten einleiten kann (vgl. ERRC 2004, S. 2). Die Grundrechteagentur wird sicher langfristig einen Beitrag zur Bekämpfung von Diskriminierung und Rassismus in der EU leisten. Da sie jedoch selbst im Bereich der Antidiskriminierung kein starkes Mandat hat, kann sie kaum als Durchbruch in der Minderheitenpolitik der Union betrachtet werden. 6
Ausblick
6.1 Minderheitenschutz – eine neue Kompetenz für die EU? Wie bereits erwähnt, ist Antidiskriminierung ein für den Minderheitenschutz relevanter Bereich, in dem die EU supranational agieren und Richtlinien verabschieden kann. Davon abgesehen hat die Union jedoch keine umfassende Kompetenz für eine gemeinsame Minderheitenpolitik. Bíró (2006, S. 65) betrachtet eine gemeinsame Minderheitenschutznorm auf EU-Ebene als mögliches, wenn auch nicht sehr wahrscheinliches Szenario nach der Erweiterungsrunde von 2004/2007, bei der die Situation von Minderheiten in den Kandidatenländern Gegenstand von Fortschrittsberichten und Beitrittspartnerschaften war. Jedoch stellt sich die Frage, ob eine Zentralisierung des Minderheitenschutzes überhaupt sinnvoll wäre. In seinem Aufsatz „Minority Protection in a Supranational Context“ setzt sich Toggenburg (2004, S. 10) mit den Vor- und Nachteilen eines supranationalen Minderheitenschutzes auf EU-Ebene auseinander. Zum einen würde eine
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EU-Kompetenz auf diesem Gebiet für alle Mitgliedstaaten verbindliche, legislative Maßnahmen ermöglichen, die wirkungsvoller als das „weiche“ Völkerrecht internationaler Abkommen wären. Ein weiterer Vorteil wäre, dass ein supranationaler Minderheitenschutz der bereits erwähnten Doppelmoral entgegenwirken würde, die der EU-Minderheitenpolitik oft vorgeworfen wird (vgl. Toggenburg 2004, S. 10). Als Gegenargument führt Toggenburg an, dass umfassende Kompetenzen der EU im Bereich des Minderheitenschutzes die sensible Machtbalance zwischen der nationalen und der europäischen Ebene gefährden würden. Da dies jedoch auch in anderen Politikfeldern der Fall ist, in denen die Union über die ausschließliche Kompetenz verfügt oder Zuständigkeiten mit den Mitgliedstaaten teilt, erscheint dieses Argument alleine kaum stichhaltig. Dennoch gibt es einige Gründe, warum eine umfassende EU-Kompetenz problematisch wäre. Minderheitenschutz ist ein komplexes, mitunter auch heikles Thema, da es in engem Zusammenhang mit der Geschichte einzelner Mitgliedstaaten und der sehr spezifischen Probleme von Minderheiten in einer bestimmten Region steht. Daher könnten generalisierte EU-Vorgaben regionale Maßnahmen, die sich an die konkrete Situation einer Minderheitengruppe wenden, beeinträchtigen. Eine zu starke Zentralisierung könnte sogar die Arbeit lokaler Akteure behindern, die über fundierte Fachkenntnisse der Lage von Minderheiten in einer Region verfügen. Insbesondere im Falle der Roma, die offenbar stärker von Diskriminierung und Ausgrenzung betroffen sind als andere Minderheiten, könnte eine zielgerichtete Politik sinnvoll sein, die von generellen Minderheitenschutzmaßnahmen abgekoppelt ist. Darüber hinaus müsste sich eine Union mit umfassender Kompetenz für den Minderheitenschutz auch auf eine gemeinsame Definition von Minderheiten einigen. In naher Zukunft ist es außerdem kaum vorstellbar, dass die Mitgliedstaaten der EU Kompetenzen auf diesem Gebiet übertragen werden. Wie Toggenburg (2004, S. 10) anmerkt, erfordert eine Änderung des EU-Primärrechts bislang Einstimmigkeit, was in einer Union von 27 Mitgliedstaaten mit derart divergierenden Auffassungen zum Minderheitenschutz illusorisch erscheint (vgl. 2004, S. 10). Bíró (2006, S. 92) befürchtet zu Recht, dass fehlende EU-Normen die Mitgliedstaaten zu der Annahme verleiten können, dass Minderheitenschutz eine rein innerstaatliche Angelegenheit sei und keiner internationalen Vorgaben oder Interventionen bedürfe (vgl. 2006, S. 92). Jedoch erfordert eine Ausweitung des Minderheitenschutzes auf EU-Ebene nicht unbedingt eine umfassende, supranationale Kompetenz der Union. Alternativen bieten zum einen die Offene Koordinierungsmethode, zum anderen weiter gehende Maßnahmen im Rahmen von bestehendem EU-Recht.
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6.2 Minderheitenschutz und die Offene Koordinierungsmethode Die Offene Koordinierungsmethode (OKM) wurde 2000 während des Europäischen Rates in Lissabon begründet. Als ein intergouvernementales Instrument des „weichen“ Rechts soll sie die traditionelle Gemeinschaftsmethode ergänzen, die auf supranationaler Rechtssetzung beruht (vgl. Szyszczak 2006, S. 488). Daher kommt die OKM in einer Reihe von Bereichen zum Einsatz, in denen die Dynamik der europäischen Integration zwar eine politische Koordinierung erfordert, jedoch keine Rechtssetzungs-Kompetenz der Gemeinschaft besteht. Zu den Charakteristika der OKM zählen die Festlegung von Leitlinien, Zielen und einem Zeitrahmen für deren Verwirklichung. Darüber hinaus müssen die Mitgliedstaaten regelmäßig so genannte nationale Aktionspläne vorlegen, die es ermöglichen, die Praktiken und Fortschritte in den einzelnen Ländern zu vergleichen (vgl. ebd., S. 493). Die OKM soll ferner mehrere Ebenen des Regierens und der Gesellschaft involvieren, insbesondere die EU-Kommission, die Regierungen der Mitgliedstaaten und Vertreter der Zivilgesellschaft. Da die OKM eine intergouvernementale Form des Regierens ist, haben die Mitgliedstaaten, die Erfahrungen austauschen und ihre Fortschritte gegenseitig bewerten (peer pressure), die wichtigste Funktion, während die Kommission den Prozess lediglich überwacht und das Europäische Parlament sowie der Europäische Gerichtshof quasi keine Rolle spielen (vgl. Europa Glossar: Offene Koordinierungsmethode). Die EU-Kommission lobt die OKM als innovatives Mittel, das den Mitgliedstaaten Kooperation und Erfahrungsaustausch ermöglicht (vgl. Szyszczak 2006, S. 496). Kritiker werfen ihr hingegen ein Demokratiedefizit vor, da das Europäische Parlament ebenso wenig beteiligt ist wie Nichtregierungsorganisationen (vgl. ebd., S. 495). Darüber hinaus wirft der Ansatz der OKM, der auf „weichem“ Recht und peer pressure basiert, die Frage auf, wie effektiv die Methode tatsächlich ist. Die OKM wurde erstmals in der Beschäftigungspolitik, später auch in der Sozial-, Renten- und Gesundheitspolitik angewandt (vgl. Malloy 2005, S. 3). Bislang gibt es keine OKM speziell für Minderheitenschutz, doch haben die bereits existierenden OKMs Minderheitenthemen behandelt, wie zum Beispiel die soziale und wirtschaftliche Ausgrenzung der Roma (vgl. Toggenburg 2006, S. 3). Denkbar wäre auch eine OKM für kulturelle Vielfalt, die Zweisprachigkeit, Unterricht in Minderheitensprachen und die Gleichbehandlung von Minderheiten auf dem Arbeitsmarkt zum Ziel hat (vgl. Brusis 2003, S. 16). Eine EU-Minderheitenpolitik, die auf dem flexiblen und dezentralisierten Ansatz der OKM basiert, hätte einen entscheidenden Vorteil: Die unterschiedlichen Minderheitenschutzsysteme in den einzelnen Mitgliedstaaten könnten so verglichen, bewertet und anhand guter Beispiele verbessert werden (vgl. Bíró
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2006, S. 90 f). Dies würde regionalspezifischen, zielgerichteten Programmen mehr Raum lassen als ein umfassendes supranationales Minderheitenschutzsystem. Wie jedoch Toggenburg anmerkt, wirft auch die OKM die Frage auf, wen der Begriff Minderheit mit einschließt. Bei den bestehenden OKMs wurde der Verweis auf Minderheiten von den Mitgliedstaaten offenbar höchst unterschiedlich interpretiert: „Mitgliedstaaten haben den Verweis auf ethnische Minderheiten auf verschiedene Weise interpretiert, wobei einige (Großbritannien, die Niederlande) eine weit gefasste Definition gebrauchen, um ‚sichtbare Minderheiten‘ (d.h. Menschen, die anscheinend ausländischer Herkunft sind, unabhängig von ihrer Nationalität) mit einzubeziehen, während andere den Umfang der Definition entweder auf Nichtstaatsbürger oder Nicht-EU-Bürger (Deutschland, Schweden) oder auf nationale Minderheiten (Irland, Finnland, Österreich) beschränken.“ (Europäische Kommission 1999, S. 39; Übersetzung N. Sch.)
Diese fehlende Übereinstimmung erschwert auch den Vergleich von Politikansätzen sowie den Austausch von Erfahrungen zwischen den Mitgliedstaaten. Trotz ihrer Schwächen kann die OKM ein sinnvolles, zusätzliches Instrument für die Koordinierung und Verbesserung einer EU-Minderheitenpolitik sein. Die bestehenden OKMs und eine neue OKM speziell für den Minderheitenschutz könnten in Zukunft dem Demokratiedefizit der Methode entgegenwirken, indem sie das Europäische Parlament beteiligen, jene Institution, die einst die Schlüsselrolle bei der Entstehung einer EU-Minderheitenpolitik spielte. Darüber hinaus sollten die Mitgliedstaaten bei einer OKM für Minderheitenschutz ein breites Spektrum von Nichtregierungsorganisationen und Minderheitenvertretern konsultieren, um Ziele festzulegen sowie zu entscheiden, an welche Minderheiten sich die nationalen Aktionspläne richten. Beispielsweise schlagen Lanna Hollo und Sheila Quinn (2006, S. 64) vor, dass die Mitgliedstaaten die Roma als spezifische Zielgruppe in ihre nationalen Aktionspläne zu den Strategien für soziale Eingliederung, Beschäftigung und lebenslanges Lernen aufnehmen. Wie wichtig es ist, die Roma separat aufzuführen, zeigt der Bericht „Die Situation der Roma in der erweiterten Europäischen Union“ (Europäische Kommission 2004a). Demnach werden die Roma in jenen Strategien oft vernachlässigt, während Minderheiten mit einer stärkeren Lobby die Politik leichter beeinflussen können (vgl. Hollo/Quinn 2006, S. 64). Darüber hinaus befürworten Hollo und Quinn eine EU-Strategie für die Gleichbehandlung der Roma mit klaren Zielvorgaben, die mit der OKM umgesetzt wird und Roma-Organisationen eng mit einbindet (vgl. ebd., S. 50). Auch das EU-Netzwerk unabhängiger Experten für Grundrechte schlägt eine OKM speziell für die Integration der Roma vor, falls legislative Maßnahmen von den
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Mitgliedstaaten abgelehnt werden. Laut dem Netzwerk könnte eine OKM die Mitgliedstaaten zumindest verpflichten, Erfahrungen mit Maßnahmen gegen die Segregation der Roma im Bildungssystem und auf dem Arbeitsmarkt auszutauschen (vgl. EU Network of Independent Experts on Fundamental Rights 2005, S. 55). Da eine solche OKM sich ausschließlich auf die Roma konzentrieren würde, die in verschiedenen Mitgliedstaaten ähnliche Formen der Diskriminierung und Ausgrenzung erfahren, wäre der Austausch von Informationen und Praktiken eher möglich als bei einer OKM zum Minderheitenschutz allgemein. Der flexible Ansatz der OKM – oder, wie Kritiker es formulieren würden, ihr Mangel an wirksamen Sanktionierungsmaßnahmen – bedeutet jedoch, dass diese intergouvernementale Methode mit supranationalen Maßnahmen, die innerhalb bestehender EU-Kompetenzen liegen, kombiniert werden sollte. 6.3 Die EU und positive Maßnahmen Wie bereits erwähnt, haben positive Maßnahmen das Ziel, faktische Gleichheit zu fördern. Oft wird der Begriff mit positiver Diskriminierung, auch affirmative action genannt, gleichgesetzt (vgl. Bell 2007, S. 5). Um eine differenziertere Sichtweise zu ermöglichen, unterscheidet Bell daher zwischen zwei Formen positiver Maßnahmen: Der „weiche“ Ansatz versucht, Minderheiten zu fördern, ohne Angehörige einer Bevölkerungsmehrheit zu benachteiligen. Beispiele sind Stellenanzeigen, die Bewerbungen von Minderheitenangehörigen besonders begrüßen, oder Anwerbemaßnahmen einer Universität in einem sozial benachteiligten Umfeld (vgl. Bell 2007, S. 6). „Harte“ positive Maßnahmen hingegen, also positive Diskriminierung, betreffen auch die Rechte (oder Privilegien) nicht benachteiligter Gruppen. Ein Beispiel hierfür wären Studienplätze an Universitäten oder Arbeitsplätze in öffentlichen Institutionen, die ausschließlich für Minderheiten vorgesehen sind. Die Frage, ob die EU die Kompetenz hat, gesetzliche Maßnahmen für positive Diskriminierung in den Mitgliedstaaten zu erlassen, ist umstritten (vgl. Toggenburg 2006, S. 6). Laut Artikel 13 EGV kann der Rat „auf Vorschlag der Kommission und nach Anhörung des Europäischen Parlaments einstimmig geeignete Vorkehrungen treffen, um Diskriminierungen (...) zu bekämpfen“. Dabei wird aber nicht näher erläutert, welche Formen die „geeigneten Vorkehrungen“ annehmen können, was viel Raum für Interpretationen lässt. Im Falle der Geschlechtergleichheit hat der Europäische Gerichtshof entschieden, dass Arbeitgeber keine Quoten festlegen oder geringer qualifizierte Frauen gegenüber ihren männlichen Mitbewerbern bevorzugen dürfen (vgl. Bell 2007, S. 6). Allerdings sind auch andere Formen positiver Diskriminierung denkbar, etwa die Bevorzugung weiblicher Bewerber bei gleicher Qualifikation
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in Einzelfällen. Darüber hinaus bezweifelt Bell, dass der Ansatz des Europäischen Gerichtshofes zu positiver Diskriminierung und Geschlechtergleichheit auch auf andere Benachteiligungsgründe angewandt werden könnte oder sollte. Tatsächlich existiert in manchen Mitgliedstaaten bereits positive Diskriminierung für ethnische Minderheiten. In Deutschland etwa gilt die Fünf-ProzentKlausel bei Wahlen nicht für den Südschleswigschen Wählerverband, eine Partei der dänischen Minderheit in Schleswig-Holstein. Auch in Rumänien haben bestimmte Minderheitenvertreter einen Anspruch auf einen Sitz im Parlament, selbst wenn sie nicht die sonst dafür vorgeschriebene Stimmenanzahl erreichen (vgl. Tontsch 2002, S. 84). Der Europäische Gerichtshof hat bereits zuvor zugunsten positiver Maßnahmen für Minderheitensprachen entschieden, beispielsweise im Fall Angonese in Südtirol, in dem der Kläger eine Arbeitsstelle nicht bekam, weil er ein dafür erforderliches, regionalspezifisches Zertifikat für Kenntnisse in der Minderheitensprache nicht vorweisen konnte (vgl. Toggenburg 2004, S. 27). Toggenburg interpretiert das Urteil als eine Entscheidung für die Förderung von Minderheitensprachen auf Kosten des Gemeinsamen Marktes. Es erscheint zumindest denkbar, dass der Europäische Gerichtshof künftig auch Urteile für andere, weit reichende Minderheitenschutzmaßnahmen, wie positive Diskriminierung, fällen könnte, wenn diese begründet und angemessen sind – selbst wenn davon Prinzipien des Gemeinsamen Marktes und der Nichtdiskriminierung aller EU-Bürger betroffen sind. Ungeachtet der komplexen Rechtslage positiver Diskriminierung in der EU ist diese Maßnahme zum Minderheitenschutz umstritten. Letztlich stellt positive Diskriminierung immer noch eine Form der Diskriminierung dar und steht daher im Verdacht, jene Ungerechtigkeit, die sie kompensieren soll, noch zu verstärken. Dennoch haben sich im Völkerrecht und in Ländern, in denen positive Diskriminierung praktiziert wird, zum Beispiel den USA, verschiedene Organisationen und Gerichte für diese Maßnahme ausgesprochen. Das Menschenrechtskomitee der Vereinten Nationen äußerte die Ansicht, dass gerade das Gleichheitsprinzip manchmal affirmative action erfordere, um faktische Diskriminierung zu bekämpfen (vgl. ERRC 2005, S. 28). In den USA entschied der Oberste Gerichtshof 1968, dass der Staat sich nicht darauf beschränken dürfe, Gleichheit zu verkünden, sondern darüber hinaus gehende Maßnahmen zur Bekämpfung von Rassismus treffen müsse. Dieses Urteil wird mitunter als der Beginn gerichtlich angeordneter affirmative action in den USA gewertet (vgl. ebd., S. 27). Die Beispiele zeigen, dass positive Diskriminierung nicht notwendigerweise anerkannten Menschenrechts- und Antidiskriminierungsstandards widerspricht. Riedel lehnt positive Diskriminierung in der EU aus anderen Gründen ab. Ihrer Meinung nach erschweren „parallele Bildungssysteme“ (2001, S. 1262) und Sonderrechte für Minderheiten bei Wahlen Integrationsmaßnahmen (vgl.
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ebd., S. 1276) und resultieren in Konflikten zwischen der Mehrheits- und der Minderheitsbevölkerung (vgl. ebd., S. 1279). Stattdessen spricht sich Riedel dafür aus, bestehende internationale Übereinkommen konsequent anzuwenden, da diese ausreichenden Schutz vor Diskriminierung böten (vgl. ebd., S. 1285). Fraglich ist allerdings, ob die „parallelen Bildungssysteme“, von denen Riedel schreibt, überhaupt eine positive Diskriminierung darstellen, da zum Beispiel zusätzliche Studiengänge in Minderheitensprachen die Mehrheitsbevölkerung nicht benachteiligen. Darüber hinaus sind die Instrumente des Völkerrechts weniger effektiv als supranationales EU-Recht, und in Kapitel 5 wurde bereits dargelegt, dass gesetzlicher Schutz vor Diskriminierung oft nicht ausreicht, um faktische Gleichheit zu fördern. Kostadinova (2006, S. 4) vertritt sogar die Ansicht, dass die Ausgrenzung der Roma ohne positive Diskriminierungsmaßnahmen, wie zum Beispiel Einstellungsquoten für qualifizierte Roma in öffentlichen Einrichtungen, nicht überwunden werden kann. Wie bei den bereits diskutierten Maßnahmen stellt sich allerdings auch hier die Frage nach der Definition von Minderheiten. Kostadinova weist auf dieses Problem auch in Bezug auf die Roma hin: „Die Frage, wer ein Roma ist, und wer von Plänen für positive Diskriminierung profitieren sollte, muss mit der aktiven Beteiligung von Vertretern der Roma-Gemeinschaften angegangen warden.“ (2006, S. 4; Übersetzung N. Sch.). Im Falle der positiven Diskriminierung ist die Definitionsfrage besonders heikel, da diese Maßnahme sich auch auf die Rechte weniger benachteiligter Bevölkerungsgruppen auswirkt. Eine profunde Debatte über Zielgruppen wäre daher eine nötige Voraussetzung für positive Diskriminierung. Möglich wäre auch eine EU-Richtlinie, die von den Mitgliedstaaten andere, weniger umstrittene positive Maßnahmen fordert, falls diese im Bereich der EUKompetenzen liegen. Beispiele für „weiche“ positive Maßnahmen, die faktische Diskriminierung bekämpfen, ohne Nachteile für die Mehrheitsbevölkerung mit sich zu bringen, wären Informationskampagnen oder Trainingsprogramme über Antidiskriminierung (vgl. Hollo/Quinn 2006, S. 28). Im Folgenden wird untersucht, welche positiven Maßnahmen die EU im Fall der Roma treffen könnte. 6.4 Spezifische Maßnahmen für die Integration der Roma Bereits in seinem Bericht über die Lage der Grundrechte in der Union 2003 hatte das EU-Netzwerk unabhängiger Experten für Grundrechte eine Richtlinie vorgeschlagen, die auf Artikel 13 EGV basiert und die sozioökonomische Integration der Roma zum Ziel hat (vgl. Europäische Kommission 2004a, S. 53). Die gleiche Empfehlung gab das Netzwerk auch zwei Jahre später in seinem Thematic Com-
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ment N 3: The Protection of Minorities in the European Union (EU Network of Independent Experts on Fundamental Rights 2005, S. 52). Das Netzwerk begründet seinen Vorschlag mit der verbreiteten Marginalisierung der Roma in den Mitgliedstaaten und weist darauf hin, dass die Richtlinie zur Gleichbehandlung ohne Unterschied der Rasse nicht ausreiche, um die Ausgrenzung der Roma wirksam zu bekämpfen. Dies liege auch daran, dass sie keine positiven Maßnahmen vorschreibe (vgl. ebd., S. 53 f.). Laut dem Netzwerk ist das Konzept der unmittelbaren und mittelbaren Diskriminierung, von dem die bestehende Richtlinie ausgeht, im Falle der Roma unzureichend. Eine Gleichheitspolitik müsse vielmehr die Segregation der Roma in vielen gesellschaftlichen Bereichen bekämpfen, positive Diskriminierung anwenden, um die vergangene Diskriminierung der Roma auszugleichen, die Integration der Roma befördern und gleichzeitig deren Recht anerkennen, sich für eine nomadische Lebensweise zu entscheiden (vgl. ebd., S. 54). Die Richtlinie, die das Netzwerk in seinem „Thematic Comment“ (EU Network of Independent Experts on Fundamental Rights 2005) vorschlägt, soll daher Segregation entgegenwirken und den Roma ausreichende und angemessene Wohnmöglichkeiten, einschließlich Plätzen für Wohnwagen, zur Verfügung stellen. Außerdem soll die Richtlinie den Roma ermöglichen, eine nomadische oder semi-nomadische Lebensweise beizubehalten, falls sie dies möchten (vgl. ebd., S. 64). In einem Interview mit dem European Roma Rights Centre tritt der Koordinator des Netzwerkes, Olivier De Schutter, auch dafür ein, dass die Richtlinie positive Maßnahmen vorsieht: „Zur Zeit steht es den Mitgliedstaaten frei, bestimmte positive Maßnahmen zugunsten bestimmter ethnischer Gruppen einschließlich der Roma zu beschließen oder sie nicht zu übernehmen. Es ist wichtig zu bekräftigen, dass in gewissen Situationen eine Verpflichtung besteht, solche Maßnahmen zu übernehmen, da das einfache Diskriminierungsverbot in Verbindung mit Marktmechanismen nicht ausreichen wird, um eine wirksame Integration sicherzustellen.“ (ERRC 2005, S. 29; Übersetzung N. Sch.)
Andere Passagen des Interviews (vgl. ERRC 2005, S. 27 f.) verdeutlichen, dass De Schutter auch positive Diskriminierung in die Maßnahmen mit einbezieht. Die Autoren des Berichts „Die Situation der Roma in der erweiterten Europäischen Union“ (Europäische Kommission 2004a) bewerten den Vorschlag des Netzwerkes zwar überwiegend positiv. Jedoch stellen sie auch kritische Fragen, beispielsweise ob die EU überhaupt die Kompetenz habe, den Mitgliedstaaten die Verpflichtung zu positiven Maßnahmen aufzuerlegen, ob eine konsequentere Anwendung bestehenden EU-Rechts nicht ausreiche, und ob Gesetzgebung zu einer einzelnen Minderheitengruppe sinnvoll sei (vgl. ebd., S. 45).
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Tatsächlich kann es problematisch sein, Richtlinien für eine spezifische Minderheit zu erlassen, da dies eine Marginalisierung und Benachteiligung anderer Gruppen zur Folge haben kann. Eine Richtlinie speziell für die Integration der Roma könnte aber mit deren besonders gravierender Situation und Ausgrenzung im Vergleich zu anderen Minderheiten in der EU (vgl. ERRC 2005, S. 28) gerechtfertigt werden. De Schutter gesteht allerdings selbst ein, dass eine Richtlinie für die Integration der Roma allenfalls langfristig verwirklicht werden könnte und bereits die Debatte über eine solche Maßnahme einen Fortschritt bedeute (vgl. ERRC 2005, S. 30). Wie bei allen anderen Maßnahmen, die auf Artikel 13 EGV basieren, erfordert auch eine Roma-Richtlinie zumindest derzeit noch einen einstimmigen Beschluss aller 27 Mitgliedstaaten. Daher stellt sich die Frage nach Alternativen, die keine supranationalen Maßnahmen erfordern und dennoch die anhaltende Diskriminierung der Roma bekämpfen. Wie weiter oben dargelegt, wäre eine Offene Koordinierungsmethode für die Integration der Roma eine Möglichkeit, die Praktiken der Mitgliedstaaten diesbezüglich zu koordinieren und zu verbessern. Weitere mögliche Maßnahmen wären eine finanzielle Unterstützung von Roma-Organisationen durch die EU oder von der Union geförderte Antirassismus-Trainings und Öffentlichkeitsarbeit für bestimmte Zielgruppen wie Lehrer, Polizisten oder Verwaltungsmitarbeiter (vgl. Hollo/Quinn 2006, S. 55 ff.). In einem Bericht über die Diskriminierung von Roma-Kindern in Slowenien schlägt Amnesty International (2006, S. 74) vor, die Sprache Romanes und die Kultur der Roma in Schullehrpläne zu integrieren, da Sprachbarrieren zu den größten Hürden für Roma-Kinder im slowenischen Bildungssystem gehörten. Eine solche Maßnahme wäre auch in anderen Mitgliedstaaten mit einem bestimmten Anteil romanessprachiger Roma denkbar. Wenn die EU jedoch, beispielsweise über die OKM, Schulunterricht auf Romanes fördert, müsste darauf geachtet werden, Stereotypisierungen und eine erneute Benachteiligung von Roma-Kindern zu vermeiden. Wie erwähnt, sprechen nicht alle Roma Romanes, und Kinder, die in ihrer Muttersprache unterrichtet werden, sollten auch profunde Kenntnisse der jeweiligen Amtssprache haben, um weitere gesellschaftliche Ausgrenzung zu vermeiden. Eine weitere mögliche Maßnahme wäre eine engere Zusammenarbeit zwischen der EU und internationalen Organisationen, die zu Minderheitenthemen arbeiten, zum Beispiel dem Europarat und der OSZE. Die Autoren des Berichts „Die Situation der Roma in der erweiterten Europäischen Union“ schlagen sogar eine europaweite „Lenkungsgruppe zu Roma-Fragen“ vor, bestehend aus der EU, Organen des Europarats und der OSZE sowie Vertretern der Mitgliedstaaten und Organisationen der Zivilgesellschaft (vgl. Europäische Kommission 2004a, S. 54).
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Eine stärkere Vernetzung verschiedener Institutionen und Organisationen, einschließlich eines breiten Spektrums von Roma-Verbänden, könnte den Austausch von Fachwissen und Erfahrungen erleichtern und damit eine systematische, koordinierte Politik für die Integration der Roma gewährleisten. 7
Schlussfolgerungen
Dieser Beitrag hat verschiedene Aspekte der Geschichte, des Status quo und einer möglichen Weiterentwicklung des Minderheitenschutzes auf EU-Ebene aufgezeigt. Dabei hat sich herausgestellt, dass die Frage nach der Definition von Minderheiten kein rein theoretischer Diskurs, sondern für praktische Politik und Gesetzgebung relevant ist. Zu starre Kriterien bergen die Gefahr der Stereotypisierung oder der willkürlichen Ausgrenzung bestimmter Gruppen oder Individuen von Minderheitenschutzmaßnahmen. Andererseits können unterschiedliche Konzeptionen des Minderheitenbegriffs die Koordinierung von Politik erschweren. Dahingegen kann die mitunter kontrovers geführte Grundsatzdebatte über kollektive und individuelle Rechte wenig zu einer praktischen Minderheitenpolitik auf EU-Ebene beitragen. Vielmehr sollte hier über Maßnahmen diskutiert werden, die der immer noch verbreiteten faktischen Diskriminierung mancher Minderheiten, wie zum Beispiel der Roma, entgegenwirken. Wie dieser Beitrag gezeigt hat, reichen bestehende Antidiskriminierungsmechanismen auf EUEbene dafür keinesfalls aus, auch wenn sie wichtige erste Schritte für einen effektiveren Minderheitenschutz darstellen. Eine Weiterentwicklung des Minderheitenschutzes auf EU-Ebene unter besonderer Berücksichtigung der Roma würde nicht nur die Glaubwürdigkeit der Union bezüglich Minderheitenthemen in Beitrittsländern stärken. In einer Union, die sich auch als politische Wertegemeinschaft versteht, ist es inakzeptabel, Minderheitenschutz als eine innerstaatliche Angelegenheit der Mitgliedsländer zu betrachten. Die EU könnte ihre Minderheitenpolitik weiterentwickeln, indem sie den intergouvernementalen Ansatz der OKM mit einer gründlichen Überarbeitung und Ausweitung ihrer Maßnahmen auf Grundlage von Artikel 13 EGV verbindet und so einen politischen und gesetzlichen Rahmen schafft, um faktische Gleichheit und kulturelle Vielfalt zu fördern.
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II. Migration und biografische Entwürfe
Von der exotischen Person zur gesellschaftlichen Normalität: Migrantinnen in der soziologischen Forschung und Lehre Migrantinnen in der soziologischen Forschung und Lehre
Annette Treibel
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Vorbemerkung: Migrantinnen in Öffentlichkeit und Forschung
1.1 Öffentlichkeit: keine oder zu viel Aufmerksamkeit Für den alltäglich-öffentlichen Umgang mit Migrantinnen scheint es lediglich zwei Umgangsweisen zu geben: Entweder werden sie gar nicht bemerkt oder sie werden als Fremde markiert und mit besonderer Aufmerksamkeit beobachtet. Im ersten Fall fallen sie nicht weiter auf, weil sie – wie andere Frauen auch – übersehen oder nur als Begleiterinnen (ihrer Chefs, Partner, Kinder) wahrgenommen werden.1 Im zweiten Fall streiten sie vor Gericht dafür, als Lehrerin ein Kopftuch tragen zu dürfen, appellieren als Politikerinnen an die Musliminnen in Deutschland, es abzunehmen, oder erregen als türkischstämmige „Miss Deutschland“ Beachtung. Diese Beispiele sprechen für einen „türkischen Überhang“ in der Fremdheitswahrnehmung. Eine italienischstämmige Schönheitskönigin gälte vermutlich als weniger spektakulär. Die Öffentlichkeit richtet insbesondere an die türkischen Migrantinnen eine Fremdheitserwartung, wobei sowohl bei Bestätigung als auch bei Widerlegung dieser Erwartung die weitere Aufmerksamkeit gesichert ist. Diese Wahrnehmung wird kritisch als Skandalisierung bezeichnet. Damit ist gemeint, dass in der Wahrnehmung von Migrantinnen, insbesondere Türkinnen, Sensationslust und die Erregung über Spektakuläres, wie etwa die so genannten Ehrenmorde, den Blick für unauffälligere Biografien und Integrationsprozesse von Migrantinnen verstellten. Ich komme auf diesen Mechanismus und seine Funktionen in der Forschung am Ende meines Beitrages noch einmal zurück. Die Frage nach einer spezifischen Aufmerksamkeit gegenüber Migrantinnen stellt sich auch beim Blick auf die Wissenschaft; die Übergänge zum öffentlichen Diskurs sind fließend. 1
Inwieweit die Aufmerksamkeit für mächtige Frauen wie Angela Merkel oder Ursula von der Leyen hier eine Trendwende markiert, bleibt abzuwarten.
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1.2 Forschung: Vom blinden Fleck zur Etablierung Geht man zu den Anfängen der damaligen Gastarbeiterforschung zurück, so unterschied sich die Wahrnehmung kaum von der einer größeren Öffentlichkeit. Dieser war gar nicht bekannt, dass es überhaupt Migrantinnen gibt: Gastarbeiter – waren das nicht die Italiener und später dann die Türken, die dann ihre Frauen und Kinder nachgeholt haben? Dabei waren und sind Mädchen und Frauen an allen Migrationsformen beteiligt: an Flucht und Vertreibung, an der Gastarbeiterund Pendelwanderung, an Experten- und Elitenmigration. Darauf hinzuweisen ist umso wichtiger, als Frauen lange Zeit nur als Anhängsel von Männern galten, die in die Fremde gehen. Dabei haben sie sich auch schon in früheren Zeiten alleine, mit Familienangehörigen oder in der Gruppe auf den Weg gemacht, um sich an einem neuen Ort ein neues Leben aufzubauen. Interessanterweise hatte bereits in den 1880er Jahren der Demograf Ernest G. Ravenstein, der als Begründer der Migrationsforschung gilt, ganz selbstverständlich die weibliche Migration mit thematisiert (vgl. Treibel 2003, Kap. 1).
2
Migrantinnen in der Soziologie: Von der Exotik der „Ausländerin“ zur Alltäglichkeit von Migration
Die Flüchtlings-, Gastarbeiter-, Ausländer- und Migrationsforschung in der Bundesrepublik Deutschland hat sich in den vergangenen fünfzig Jahren konstituiert und ausdifferenziert. Die Details dieser Entwicklung können hier zwar nicht nachgezeichnet werden (vgl. Motte/ Ohliger/von Oswald 2000), in der Tendenz ist jedoch festzuhalten: Die Beschäftigung mit zugewanderten Gruppen, seien es Flüchtlinge, Vertriebene oder die ersten Gastarbeiter, war über Jahrzehnte ein Randphänomen der Wissenschaft.
2.1 Flüchtlinge und Vertriebene nach 1945 – Migration ohne Integrationsproblem und Vertriebenenforschung ohne Frauen? Die soziale Lage der Zugewanderten musste sich erst stabilisieren, bevor man sich wissenschaftlich intensiver mit ihnen beschäftigte. Die „Flüchtigkeit“ eines sozialen Phänomens verhindert demnach die professionelle Aufmerksamkeit. Dies ist jedoch keine Frage der Quantität: In Bezug auf die Kriegsheimkehrer, Flüchtlinge und Vertriebenen nach 1945 verhinderte eher die schiere Masse eine Thematisierung. „Die Bilanz dieser millionenfachen Fluchtbewegungen, Vertreibungen und Deportationen spricht aus den Daten der Volkszählung in West-
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und Ostdeutschland von 1950: Danach waren insgesamt knapp 12,5 Millionen Flüchtlinge und Vertriebene aus den nunmehr an Polen, die Tschechoslowakei und die Sowjetunion übergegangenen ehemaligen Ostgebietes des Reiches und aus den Siedlungsgebieten der „Volksdeutschen“ in die Besatzungszonen und die daraus entstandenen beiden deutschen Staaten gelangt.“ (Bade 2000, S. 297) Als die Lage sich gefestigt hatte, schien sich auch ein mögliches Integrationsproblem bereits gelöst zu haben. Aus heutiger Sicht mögen die – im Vergleich zu den Gastarbeiter(inne)n – geringe kulturelle Distanz und die politischen Umstände das Integrationsproblem reduziert haben. Die Flüchtlinge und Vertriebenen waren Deutsche, die aufgrund der Neujustierung des soziopolitischen Raumes nach Ende des Zweiten Weltkrieges in den Westen zurückkehrten bzw. vertrieben wurden. Sie waren keine Ausländer, sondern „nur“ Migranten. Eine Migrationsforschung heutigen Zuschnitts gab es damals noch nicht, und politisch war eine möglichst problemlose Eingliederung gewollt. Erst seit Ende der 1980er Jahre kommt die Forschung zu Vertreibung und Flucht wieder in Gang, was mit den auslaufenden Sperrfristen der Archive und mit dem insgesamt gewachsenen Interesse für Migrationsprozesse zusammenhängt. Man setzt sich mit der Vermutung auseinander, „daß der Integrationsmythos zu einem guten Teil Ausdruck eines Verdrängungsprozesses ist“ (Grosser 2006, S. 4). Sozialstrukturelle Analysen zeigen, dass die Integration dadurch „gelingt“, dass die Vertriebenen und Flüchtlinge sich beruflich umorientieren und häufig Statusverluste hinnehmen (vgl. Grosser 2006; Hoffmann/Schwartz 1999). Die weiblichen Zwangszugewanderten nehmen durch zusätzliche geschlechtsspezifische Segregationsprozesse einen „doppelt marginalen Status“ (Rossmann 1989, S. 133) ein. Man könnte ergänzen: einen „dreifach marginalen Status“ – denn insgesamt spielt der Geschlechteraspekt in der Vertriebenenforschung keine Rolle. Die Geschlechtszugehörigkeit der untersuchten Akteure wird nicht gesondert erwähnt, gleichwohl gewinnt man den Eindruck, dass die Perspektive auf Männer konzentriert ist. Hier zeigt sich also der klassische Mechanismus des Androzentrismus (vgl. grundlegend Oakley 1978), der für allgemeingültig erklärt, was de facto männlich ist. Insgesamt mag das wissenschaftliche Desinteresse gegenüber den Vertriebenen und Flüchtlingen damit zusammenhängen, dass die Fremdheitswahrnehmung gegenüber den vertriebenen Sudentendeutschen und weiteren Gruppen nicht ausgeprägt genug war, so konfliktreich die Begegnungen zwischen Vertriebenen als Neubürgern und den Alteingesessenen zunächst auch waren (vgl. Benz 1992). Danach wäre ein Mindestmaß der als solche wahrgenommenen kulturellen Distanz Voraussetzung für einen „Forschungsimpuls“.
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2.2 Die Entdeckung der Ausländerin Den ersten Anwerbevertrag schloss die Bundesrepublik Deutschland mit Italien ab (1955), es folgten bis Ende der 1960er Jahre Verträge mit Spanien, Griechenland, der Türkei, Marokko, Portugal, Tunesien und Jugoslawien (1968). Auf die gesamte Anwerbezeit gesehen, waren 20 Prozent der angeworbenen Arbeitskräfte Frauen (vgl. Schöttes/Treibel 1997). Am höchsten war der Frauenanteil bei den griechischen, spanischen und jugoslawischen Arbeitskräften. In den Studien der Anfangszeit spielte der Geschlechteraspekt eine absolut untergeordnete Rolle. Als mit dem Anwerbestopp von 1973 der Familiennachzug in größerem Maße als zuvor einsetzte und die Aufmerksamkeit sich von den „ausländischen Beschäftigten“ zur „ausländischen Wohnbevölkerung“ verlagerte, waren es eher noch die Kinder der Gastarbeiterinnen und Gastarbeiter, die unter dem Stichwort „zweite Generation“ untersucht wurden (vgl. Schrader/Nikles/ Griese 1976).2 Die zugezogenen Frauen aus den Anwerbeländern waren nicht nur mitreisende Familienangehörige, sondern auch selbst Gastarbeiterinnen, denen dann die Männer nachzogen. Dieser Sachverhalt blieb einer größeren Öffentlichkeit verborgen.3 Auch wissenschaftlich fanden die Gastarbeiterinnen kaum Aufmerksamkeit. Neben der Erwartung, dass die Anwesenheit von Gastarbeiterinnen und Gastarbeitern zeitlich begrenzt sei, spielte auch die generelle „Blindheit“ gegenüber Mädchen und Frauen in der Wissenschaft eine Rolle. Ende der 1970er Jahre erschien das Buch von Andrea BaumgartnerKarabak und Gisela Landesberger über „Verkaufte Bräute. Türkische Frauen zwischen Kreuzberg und Anatolien“ (1978) in der Reihe rowohlt aktuell, die in der damaligen linken und liberalen Öffentlichkeit intensiv rezipiert wurde. Von dem genannten Band wurden bis heute 45.000 Exemplare verkauft (vgl. BeckGernsheim 2006). Baumgartner-Karabak/Landesberger arbeiteten, wie viele Studien nach ihnen, mit Metaphern des „Dazwischen“: Aus ihrer Sicht leiden die Migrantinnen aus Anatolien durch ihre Konfrontation mit der Türkei einerseits und Deutschland andererseits unter einem „Kulturschock“. Für viele politisch Aktive war dieses Buch die Initialzündung für eine Beschäftigung mit den Ausländerinnen – und zahlreiche Wissenschaftler/innen sahen sich angesichts der öffentlichen Aufmerksamkeit zu wissenschaftlichen Analysen, die bis dato ausgeblieben waren, aufgefordert.
2 3
Für die Entwicklung der Ausländerpolitik und der Gastarbeiter- bzw. Ausländerforschung bis Mitte der 1980er Jahre vgl. den Überblick bei Treibel 1988. Eine illustrative und innovative Aufarbeitung dieser Phase wurde 1998 für die Zuwanderung aus der Türkei mit der Ausstellung „Fremde Heimat“ im Ruhrlandmuseum Essen geleistet (vgl. Fremde Heimat 1998).
Migrantinnen in der soziologischen Forschung und Lehre
Übersicht 1: 1980er Jahre 1983 1987 1989 1990er Jahre 1995 1996 1997 1997 1997 1998 1999 ab 2000 2000 2002 2002 2002 2003 2003 2004
2005 2005
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Wichtige Veröffentlichungen der Migrantinnenforschung 1980–2005 Annie Phizacklea (Hg.): One way ticket – migration and female labour Mirjana Morokvasic: Jugoslawische Frauen. Die Emigration – und danach Angelika Schmidt-Koddenberg: Akkulturation von Migrantinnen
Ilse Lenz: Geschlecht, Herrschaft und internationale Ungleichheit Felicitas Hillmann: Jenseits der Kontinente – Migrationsstrategien von Frauen nach Europa Elvira Niesner u.a.: Ein Traum vom besseren Leben Martina Schöttes/Annette Treibel: Frauen – Flucht – Migration Manuela Westphal: Aussiedlerinnen Sedef Gümen: Das Soziale des Geschlechts. Frauenforschung und die Kategorie „Ethnizität“ Encarnacion Gutierrez Rodriguez: Intellektuelle Migrantinnen
Leonie Herwartz-Emden: Geschlechterverhältnisse, Erziehung und Akkulturation Claudia Gather/Birgit Geissler/Maria S. Rerrich (Hg.): Weltmarkt Haushalt. Bezahlte Hausarbeit im sozialen Wandel Helma Lutz: Die neue Dienstmädchenfrage Merle Hummrich: Bildungserfolg und Migration. Biographien junger Frauen in der Einwanderungsgesellschaft Mirjana Morokvasic u.a. (Hg.): Crossing Borders and Shifting Boundaries. Vol I. Gender on the Move Ursula Apitzsch: Migrationsbiographien Mona Granato/Karin Schittenhelm: Junge Frauen – bessere Schulabschlüsse, aber weniger Chancen beim Übergang in die Berufsausbildung Sabine Hess: Globalisierte Hausarbeit. Au-Pair als Migrationsstrategie von Frauen aus Osteuropa Ursula Boos-Nünning/Yasemin Karakasoglu: Viele Welten leben
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Die in der obigen Übersicht für die 1980er Jahre aufgeführten Veröffentlichungen markieren die Trendwende. Parallel zu der in dieser Zeit auch in Deutschland in Gang kommenden Frauenforschung (vgl. zusammenfassend FaulstichWieland 2003) wurde die Ausländerin entdeckt. Für sie galten Motive, Interessen und Problemlagen als charakteristisch, die sie als deutlich anders als „die“ damalige „deutsche Frau“ markierten. Als Mitglieder der Großkategorie „Frau“ konnte sie sich der Solidarität sicher sein, aber interessant wurde sie durch die Differenz.
2.3 Differenz unter Frauen: die Entdeckung der Kategorie Ethnizität Von „Ausländern“ zu sprechen galt und gilt seit Ende der 1980er-Jahre als sachlich unzutreffend und als politisch inkorrekt. Als Ersatzlabel trat in Rückgriff auf den anglo-amerikanischen Begriff („ethnicity“) die Kategorie „Ethnizität“ auf den Plan. Mit ihr wird auf die Volkszugehörigkeit statt auf die Staatsangehörigkeit verwiesen. Sie bietet den Vorteil einer größeren Genauigkeit etwa bei der Gruppe der Kurden, die bezogen auf die Staatsangehörigkeit unter die „Türken“ subsumiert wird, ethnisch gesehen jedoch eine eigenständige Gruppe mit einer eigenen Sprache darstellt (vgl. Schmalz-Jacobsen/Hansen 1995). Zeitgleich wurde auch in der Frauenforschung eine neue Etappe erreicht. 1988 erschien der wegweisende Artikel von Gudrun-Axeli Knapp über „Die vergessene Differenz“ (Knapp 1988). Die Differenz zwischen Frauen und Männern und die von Frauenbewegung und Frauenforschung angeprangerte Benachteiligung ersterer durch letztere habe die Differenz unter Frauen vergessen lassen. Frauen, so Knapp, sind in unterschiedlichem Maße von Diskriminierung und Benachteiligung betroffen. Eine Subsumierung unter eine Großkategorie „Frau“ mag politisch sinnvoll sein, wissenschaftlich ist sie fragwürdig. Hintergrund dieser Debatte war die Kritik von Frauen aus der schwarzen Bürgerrechtsbewegung in den USA, wonach die Wortführerinnen des Feminismus weiß, Angehörige der Mittelschicht und auf ihre eigene Situation fixiert seien. Zehn Jahre später waren diese Überlegungen in der Frauenforschung, die sich zur Geschlechterforschung entwickelt hatte, Allgemeingut. 1998 spitzte Sedef Gümen die Überlegungen von Knapp in ihrem Beitrag „Das Soziale des Geschlechts. Frauenforschung und die Kategorie ‚Ethnizität‘“ für die Ausländerinnenforschung zu. Parallel hatte sich die Ausländer- und Gastarbeiterforschung zur Migrationsforschung entwickelt. Gümen kritisierte die Frauen- und Geschlechterforschung für ihr marginalisierendes Verfahren, Migrantinnen als Sonderfälle der allgemeinen Großkategorie „Frau“ zu behandeln. Der Umgang mit Fremden müsse von einer kritisch-feministischen Gesellschaftstheorie, der Gümen sich zurechnet,
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als gesamtgesellschaftliches Programm neu konzipiert werden: „soziale Verhältnisse und Ungleichheitsstrukturen in der Gegenwartsgesellschaft zu differenzieren und zu kontextualisieren“ (Gümen 2001 [1998], S. 149). In einem grundlegenden Beitrag hatte Ilse Lenz 1995 für die Zusammenschau unterschiedlicher Faktoren sozialer Ungleichheit plädiert, die sie als „dreifache Vergesellschaftung“ bezeichnet: „In dieser dreifachen Vergesellschaftung im Geschlechterverhältnis werden die komplexen wechselseitigen Verbindungen von Klasse, Ethnie und Geschlecht, von sex, race/ethnicity, class geschaffen. Diese drei Formen sozialer Ungleichheit haben verschiedene Ursachen und wirken unterschiedlich; Frauen sind eben weder eine eigene ‚Klasse‘, noch die ‚Dritte Welt bei uns‘. Aber gerade deswegen ist es nicht sinnvoll, sich die genannten Kategorien sozialer Ungleichheit als analoge oder additiv zusammenfallende Unterdrückungsverhältnisse vorzustellen. In den gesellschaftlichen Arbeitsteilungen und Herrschaftsverhältnissen wirken sie vielmehr in ihren Konfigurationen zusammen.“ (Lenz 1995, S. 35 f.) Seit Ende der 1990er Jahre ist der „Opferdiskurs“, wonach Migrantinnen primär als Benachteiligte und Unterprivilegierte wahrgenommen werden, weitgehend abgelöst durch eine größere Zurückhaltung der Forscherinnen (vgl. auch Heß-Meining 2004). Nun sollen systematisch die Perspektiven der Akteurinnen erfasst werden. Hierfür eignen sich insbesondere die Ansätze der so genannten Transmigrationsforschung.
2.4 Transmigration, Netzwerke und Migrationsstrategien von Frauen In der soziologischen Migrationsforschung gibt es seit Anfang der 1990er Jahre (in den USA bereits etwas früher) einen Ansatz, der Transmigration bzw. transnationale Migration für die charakteristische Migrationsform der Gegenwart hält. Danach ist Migration nicht mehr zwangsläufig an den Verlust der vertrauten Umgebung und menschlicher Beziehungen gekoppelt. Denn man trifft zum einen in der Zielregion mit großer Wahrscheinlichkeit auf Bekannte oder Verwandte (die einen vielleicht „angeworben“ haben), und zum andern lässt man die Bindungen an die Herkunftsregion nie völlig abreißen, sondern definiert sich, ähnlich wie die Gastarbeiter der ersten Stunde, über die Heimat. Der Begriff der Transmigration will zum Ausdruck bringen, dass gegenwärtig viele Migrantinnen und Migranten die Brücken zur (alten) Heimat gerade nicht abbrechen und sich in der Fremde neu akklimatisieren, assimilieren oder re-sozialisieren, sondern in mehreren Gesellschaften gleichzeitig, also transnational, leben. Migranten wären dann nicht mehr Entwurzelte, sondern als an mehreren Orten Verwurzelte zu begreifen. In der informativen Zusammenstellung des Bundesinstituts
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für Bevölkerungsforschung heißt es: „Heute spielen bei der räumlichen Mobilität zunehmend Saisonarbeiter oder hoch qualifizierte Personen eine Rolle, die periodisch wandern oder gleichzeitig mehrere Wohnstandorte bzw. Lebensmittelpunkte unterhalten.“ (Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung 2004, S. 47) Eine eindrückliche Studie, die mit dem Transmigrationsansatz arbeitete, war die Pionierstudie von Felicitas Hillmann mit dem Titel „Jenseits der Kontinente“ (1996). Der „Überraschungseffekt“ dieser Studie bestand nicht nur darin, dass es sich bei dem ausgewählten Zuwanderungsland um Italien – das in der hiesigen Wahrnehmung häufig noch Auswanderungsland ist – handelt, sondern welche unterschiedlichen Strategien die Migrantinnen selbst entwickeln. Sie kommen aus Peru, Somalia oder von den Philippinen, und sie – nicht ihre Partner – sichern das Familieneinkommen. Die Situation vor der Migration und nach der Migration unterscheidet sich nicht so eindeutig, wie man es vermuten würde. Nur eine Minderheit der Migrantinnen verabschiedet sich „auf immer“ von ihrem Herkunftsmilieu, ihrer Familie und den Netzwerken ihrer Heimat. Insbesondere Mädchen und Frauen wandern nicht, um sich von der Familie zu befreien, sondern um die Familie zu unterstützen. Sie tun es für sich, aber eben nicht nur für sich (vgl. Deutsche Stiftung Weltbevölkerung 2006). Darüber hinaus unterliegt jede Migration einer Eigendynamik: Die Wanderung zeitigt Folgen, die weder für die Wandernden noch für die Zurückbleibenden kalkulierbar sind. Bei aller Loyalität gegenüber den Netzwerken der Herkunftsgesellschaft werden Migrantinnen im Lauf der Zeit in der Aufnahmegesellschaft neue Perspektiven entwickeln, sich – soziologisch gesprochen – individualisieren oder – politisch gesprochen – emanzipieren (vgl. Treibel 2006c). Zehn Jahre nach der Studie von Hillmann legt Maria S. Rerrich (2006) unter dem Titel „Cosmobile Putzfrauen“ ihren Essay über Migrantinnen in deutschen Privathaushalten vor. Fasziniert nimmt eine breitere Öffentlichkeit zur Kenntnis, was die Migrations- und Geschlechterforscherinnen während der letzten Dekade in vielfältigen Studien erarbeitet haben: die polnischen Putzfrauen, die slowakischen Au-Pairs oder die peruanischen Kindermädchen agieren trotz – oder gerade wegen – ihres informellen Status innerhalb von professionellen Migrantinnennetzwerken.4 Migrantinnen, so Rerrich, wären eigentlich überflüssig, wenn die innerfamiliale Arbeitsteilung funktionieren würde: „Gab es da nicht einmal intensive gesellschaftliche Bemühungen, Haus- und Familienarbeit zwischen Frauen und Männern neu zu verteilen, von den privaten Konflikten in den Beziehungen angefangen bis zur Neugestaltung der Lehrpläne und Schulbücher? Wie konnte es dann passieren, dass die Beschäftigung von bezahlten Haushaltshilfen 4
Vgl. die große Palette an deutschsprachigen Untersuchungen: Gather/Geissler/Rerrich (2002), Hess (2002), Lutz (2002), Odierna (2000); für einen Überblick vgl. Treibel (2006c) und für die internationale Diskussion vgl. Han (2003).
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inzwischen auch in den gesellschaftlichen Gruppen üblich ist, die einmal mit der feministischen Parole ‚das Private ist politisch‘ eine radikal andere Arbeitsteilung zwischen den Geschlechtern auf ihre politische wie private Tagesordnung gesetzt haben?“ (Rerrich 2006, S. 12) Aus dieser Sicht stabilisieren die Migrantinnen die zwar rhetorisch modernisierten (Wetterer 2003), aber nicht wirklich fortschrittlichen Partnerschaftsmodelle in Deutschland, Italien oder Spanien. Diese Beiträge zur Migrantinnenforschung gelten als wichtige Befunde zur Analyse der Geschlechterverhältnisse und Gesellschaftskritik (vgl. Aulenbacher u.a. 2006; vgl. Becker/Kortendiek 2004). 2.5 Das heterogene Spektrum der Frauen mit Migrationshintergrund Der Blick der Öffentlichkeit und lange Zeit auch der Wissenschaft war auf leidvolle Biografien von Ausländerinnen und Migrantinnen konzentriert. Erfolgreiche Integrations- und Aufstiegsprozesse gerieten dadurch kaum in den Blick. Seit Ende der 1990er Jahre verkleinert sich dieses Forschungsdesiderat. 2002 veröffentlichte Merle Hummrich ihre qualitative Studie über „Bildungserfolg und Migration“. Ihre Interviews zeigen durchaus widersprüchliche Biografien der Studentinnen, deren Herkunftsfamilien aus der Türkei, Afghanistan, Syrien und Italien stammen. Hummrich gibt einen Einblick sowohl in die erfahrene Unterstützung als auch die Barrieren, mit denen sich die jungen Frauen – auch bezüglich ihrer Selbstkonzepte – auseinandersetzen müssen. Die andere Seite des sozialen Spektrums beleuchten Mona Granato und Karin Schittenhelm (2004) in ihrer wegweisenden Arbeit über junge Frauen. Wegweisend insofern, als hier Migrantinnen bzw. Mädchen und Frauen als selbstverständlicher Bestandteil der Sozialstruktur betrachtet und analysiert werden. Hier wird deutlich, dass die Beschäftigung mit Migrantinnen keine gesonderte „Spielwiese“ mehr, sondern zwangsläufig erforderlich ist, wenn grundlegende Entwicklungen heutiger Gesellschaften analysiert werden sollen. Granato/ Schittenhelm sind dem Widerspruch von guten bzw. sehr guten Schulabschlüssen und mangelndem beruflichen Erfolg junger Mädchen und Frauen auf der Spur. In ihrem Fokus sind also primär Haupt- und Realschülerinnen. Die Autorinnen spitzen ihre Befunde auf die These von der „nachschulischen Hartnäckigkeit der Geschlechterungleichheit“ zu (Granato/Schittenhelm 2004). Diese betrifft insbesondere die Situation der jungen Frauen mit Migrationshintergrund. Dies deckt sich auch mit dem Befund meiner Studie zur Medienkompetenz von Migrantenjugendlichen: Die jungen Migrantinnen kommen besser zurecht, als die Öffentlichkeit dies vermutet, aber sie kommen beruflich längst nicht so weit, wie die Wissenschaft unter dem Blick der Individualisierung dies konstatiert (vgl. Treibel 2006b, S. 231).
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Eine deutlich positivere Sicht resultiert aus der viel beachteten Studie, die Ursula Boos-Nünning und Yasemin Karakasoglu (2005) im Auftrag des Bundesfamilienministeriums durchgeführt haben.5 „Viele Welten leben“ – so lautet der sprechende Titel der Studie. Die Lebenssituationen und Lebensentwürfe der jungen Frauen mit Migrationshintergrund sind nicht weniger vielfältig und individualisiert als die ihrer einheimischen Geschlechtsgenossinnen, so die Autorinnen. Die überwiegende Mehrheit von ihnen fühlt sich durch familiäre Normierung und Kontrolle keineswegs eingeengt oder gar unterdrückt, sondern begrüßt im Gegenteil die Verwurzelung in der Herkunftsfamilie. Auch die Zukunftsvorstellungen sind enger an eine deutlich frühere eigene Familiengründung geknüpft als bei den Nicht-Migrantinnen.6 Dieser Befund bestätigt die auch von anderen Forschungen betonte starke Familienorientierung von Migrant(inn)en (vgl. Herwartz-Emden 2000; Strotmann 2006; Treibel 2006b).
2.6 Migrationsforschung, Migrantinnenforschung und Soziologie Die Ausländerin – von Migrantinnen ist damals noch nicht die Rede – war lange Zeit ein blinder Fleck der Forschung. Ihre „Entdeckung“ in den 1970er und 1980er Jahren war an die Wahrnehmung einer kulturellen Differenz und die Unterstellung eines Opferstatus geknüpft. Aus der Sicht von Elisabeth BeckGernsheim versäumt es die (Migrations-)Forschung auch heute noch, die Migranten – und besonders die Migrantinnen – als aktiv Handelnde zu sehen: „Die Arbeitsmigrantinnen der sechziger und siebziger Jahre haben zweifellos Diskriminierung erlebt, aber viele von ihnen haben die neuen Lebensumstände dennoch genutzt, um die Grundlagen für eine andere Zukunft zu schaffen. Und Ähnliches gilt auch für die Heiratsmigrantinnen. Sie mögen sich auf eine Situation extrem ungleicher Macht- und Abhängigkeitsverhältnisse einlassen, und einige bezahlen dafür einen hohen persönlichen Preis. Aber sie sind nicht nur passive Opfer, sondern auch Handelnde, die ihr Leben einrichten und gestalten – und zwar nach ihren Werten, Maßstäben, Leitbildern. Solange die Forscherinnen und Forscher der Mehrheitsgesellschaft dies nicht erkennen und anerkennen, solange 5
6
In der Frankfurter Allgemeinen Zeitung wird der Befund betont, wonach die Mehrheit der Migrantenjugendlichen, und gerade der weiblichen, „das Pendeln zwischen den Kulturen zu einem erfolgreichen Programm gemacht“ habe. (27.9.2005) Zu dieser Studie ist ein Sammelband mit methodologischen Reflexionen erschienen (Karakasoglu/Lüddecke 2004), in dem u.a. die Interviewerinnen über ihre Erfahrungen berichten und eine bestimmte Nähe zu den Befragten für unabdingbar und für sachlich richtig erachten (vgl. Grcic/Krüger/Novi/Pavetic 2004). Eben diese Nähe wurde in der Kritik zum Anlass für Zweifel an der Verallgemeinerbarkeit der Ergebnisse für diejenigen Migrantinnen genommen, die nicht einem studentisch-akademischen Milieu angehören (vgl. Neidhardt 2005).
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sie ihre eigenen Vorstellungen von Autonomie, Selbstbehauptung, Befreiung als Maßstab des Universums begreifen, so lange bleibt ihnen verschlossen, was das Leben der Migrantinnen bewegt, worum es sich dreht – was deren Kämpfe, Anstrengungen, Leistungen sind.“ (Beck-Gernsheim 2004, S. 73) Dieses Plädoyer übersieht, dass die Migrantinnenforschung seit den 1990er Jahren die Handlungsmotive und -interessen der Akteurinnen in den Mittelpunkt gerückt hat. Eine reine Opfer- und Ausbeutungsperspektive wird als zu einseitig abgelehnt (vgl. Hillmann 1996; Lenz 1995; Schöttes/Treibel 1997 u.a.). BeckGernsheims Kritik richtet sich wohl an eine andere Adresse, an die Öffentlichkeit und deren Diskurse, die per se stärker zur Verzerrung und Vereinseitigung neigen. Die Forschung hat seit geraumer Zeit einen Perspektivenwechsel vollzogen: „Das ausländische Mädchen“ oder „die Migrantin“ gibt es aus Sicht der Forschung längst nicht mehr. Sobald man die Elemente der Trias Geschlecht/ Ethnizität (resp. Staatsangehörigkeit resp. Migrationshintergrund)/Klasse zueinander ins Verhältnis setzt, bleibt von der vermeintlichen Substanz Ausländerin oder Migrantin nichts übrig. Ein 15-jähriges Mädchen aus Rumänien, das in die Fänge der global agierenden Mafia des Mädchen- und Frauenhandels (in dem übrigens keineswegs nur Männer agieren) gerät und nach Deutschland gelockt oder verschleppt wird,7 hat nichts gemeinsam mit der Managerin aus Ankara, die für fünf Jahre nach Dresden oder München abgeordnet wurde – auch wenn beide temporäre Migrantinnen sind. Die Vielfalt weiblicher Lebensbedingungen und Lebenswelten ist heute Konsens der Migrantinnenforschung. In einem größeren Maßstab betrachtet, erscheint die beschriebene Entwicklung weniger als Besonderheit denn als integraler Bestandteil der Verflechtung der Migrantinnenforschung mit der Frauen- und Geschlechterforschung, der allgemeinen Soziologie und der interkulturellen Pädagogik, die sich aus der „Ausländerpädagogik“ (vgl. Gogolin/Krüger-Potratz 2006) entwickelt hatte. Seit Ende der 1990er Jahre schreitet die „Normalisierung“ der Migrationsforschung weiter voran. Damit ist gemeint, dass dieser Forschungsbereich nicht mehr länger eine Bindestrich-Disziplin darstellt, sondern seine Fragestellungen in die allgemeine Soziologie integriert sind. Die Thematik Zuwanderung, Migration, Multi- bzw. Interkulturalität nimmt in den Sozialstruktur-Kompendien des Faches seither breiten Raum ein. So geht Rainer Geißler, der selbst wichtige Beiträge zur Migrationsthematik verfasst hat, in einem eigenen Kapitel seines Sozialstruktur-Lehrbuchs auf die „Ethnischen Minderheiten“ in Deutschland ein und reflektiert die Benennungsprobleme: „Es ist ausgesprochen schwierig, dieses relativ neue, vielgestaltige und dynamische Segment der deutschen Sozialstruktur angemessen sprachlich zu benennen.“ (Geißler 2006, S. 231) In einem Teil 7
80 % der Opfer des Menschenhandels sind weiblich (vgl. Weltbevölkerungsbericht 2005).
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der allgemeinen Literatur wird jedoch auch noch auf die Bezeichnung „Ausländer“ zurückgegriffen. So entscheidet sich Bernhard Schäfers in einem Studienbuch unter der Bezeichnung „Bevölkerungsstruktur. Ausländer und Ausländerintegration. Wanderungen“ (Schäfers 2004, Kap. 6) für die ältere Terminologie. Georg Elwerts Beitrag über „Ethnizität und Nation“ in Joas Soziologie-Lehrbuch thematisiert „Ausländer als Teil der inländischen Gesellschaft“ (Elwert 2001, S. 256–258). Hinsichtlich der Akzeptanz des Begriffs „Migrant(in)“ gibt es in der allgemeinen Soziologie eine Art „time-lag“ (zeitliches Zurückbleiben). Gesellschafts- und wissenschaftskritische Analysen der jüngeren Zeit zeigen eine starke Affinität zur Transmigration. In der sozialen „Figur“ der Transmigrantinnen und Transmigranten, so Ulrich Beck (2002) und Elisabeth BeckGernsheim (2004, S. 45–50), wird die Fragwürdigkeit einer Sozialwissenschaft deutlich, die nationalstaatlich fixiert sei. Inwieweit der Transmigrations-Ansatz selbst langfristig trägt, ist derzeit noch offen. Im konkreten Fall können vermeintliche transnationale Netzwerke und deren räumliche Verortung auf ganz anderen Prozessen basieren, wie ein beeindruckendes Beispiel aus dem Alltag der Migrationsforschung zeigt. Seiner Anschaulichkeit wegen soll das Beispiel in voller Länge wiedergegeben werden. Ursula Apitzsch berichtet: „Im Rahmen eines Forschungsprojektes … sollten selbständige italienische Pizzabäcker und ihre Kinder als Interviewpartner gewonnen werden. In einer Großstadt im Rhein-Main-Gebiet wurden mehrere Betreiber von Pizzerien auf dieses Projekt hin angesprochen. Die Besitzer sprachen deutsch, wurden von ihren deutschen Kunden jedoch häufig in mehr oder weniger fließendem Italienisch angesprochen, um anzudeuten, dass man sich hier ja gleichsam auf italienischem Territorium befinde, ein wenig wie im Urlaub. Die Pizzeria schien den Kunden so etwas wie ein transnationaler deutschitalienischer Grenzraum zu sein, und der Pizzabäcker, der den Erwartungen entgegenkam, antwortete auf Italienisch. Beim Gespräch der Interviewer mit dem Geschäftsinhaber stellte sich später heraus, dass es sich bei ihm – wie bei mehreren Inhabern italienischer Restaurants in der Nachbarschaft – um einen gebürtigen Rumänen deutscher Staatsangehörigkeit handelte, dessen Kinder ebenfalls Deutsche waren. In einem Prozesse der sog. „ethnic succession“ (ethnischen Sukzession) rücken – so hörten die Forscher später auch in Experteninterviews mit italienischen Verbandsvertretern – Rumänen, aber auch Türken und andere Migrantengruppen in die wirtschaftlichen Enklaven nach, die von Italienern vor zwanzig Jahren geschaffen worden waren. Die Kinder der italienischen Vorbesitzer jedoch waren mit ihren Eltern nach Italien zurückgekehrt, waren in ImportExport-Geschäften tätig oder besuchten deutsche Universitäten. Zweifellos kreierten alle diese komplizierten sozialen Prozesse komplexe transnationale soziale Räume, die es lohnte zu rekonstruieren; die Pizzeria jedoch war nur eine kultur-
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industriell vermarktete Projektionsfläche einer imaginierten Community.“ (Apitzsch 2003, S. 71 f.) Die Wechselbeziehungen zwischen Migrationsforschung und allgemeiner Soziologie werden in der theoretischen Verortung der Migrationsforscher/innen selbst offenkundig. Häufig verwandte Referenzautoren aus den soziologischen „Groß“Theorien sind bislang Pierre Bourdieu, Norbert Elias, Hartmut Esser oder Michel Foucault. In umgekehrter Richtung ist, wie oben angesprochen, das Interesse für die Migrantinnenforschung auch bei „Fachfremden“ gestiegen. Dies hängt mit der Alltäglichkeit von Migration und der Tatsache zusammen, dass Menschen mit Migrationshintergrund eine wachsende Gruppe in der Gesellschaft darstellen. Einen „Migrationshintergrund“ zu haben ist für viele Menschen so normal, dass sie nur ungern in dieser Richtung – ob nun als Migrantin, Ausländer oder Person mit Migrationshintergrund – etikettiert werden möchten. Die wissenschaftspolitisch und propädeutisch zentrale Frage ist die, ob man deshalb aufhören soll, danach zu fragen und gesonderte Studien zu „Migrantinnen“, „Jugendlichen mit Migrationshintergrund“, „italienischstämmigen Sonderschülern“ u. v. a. anzufertigen (vgl. entsprechend Kuropka 2006). Aus meiner Sicht kann man darauf (noch nicht) verzichten, da das soziologische Wissen über diese und andere Gruppen immer noch vergleichsweise gering ist. Bezogen auf die Migrantinnen hat die Forschung über so unterschiedliche Gruppen wie die sog. Bildungsinländerinnen und/oder die Angehörigen der zweiten und dritten Generation der Gastarbeiter/innen gerade erst begonnen. Konsens besteht darüber, dass es unter den Migrantinnen keineswegs nur prekäre, sondern auch privilegierte Lebenslagen gibt. So wäre es also wie bei den Einheimischen auch, und dann wäre der „Migrationshintergrund“ nur noch eine Variable unter vielen. Die spezifische Herausforderung besteht aus meiner Sicht darin, verbliebene oder neu entstandene „Fremdheiten“ nicht zu ignorieren, sondern begrifflich und analytisch genauer zu erfassen. Die Debatte darüber, was an einzelnen Migrantinnen(gruppen) „anders“ und was „gleich“ ist, kommt gegenwärtig durch die so genannte Intersektionalitätsdebatte in der Geschlechterforschung (vgl. Aulenbacher u.a. 2006, S. 38 und S. 54) nochmals richtig in Schwung. In welchem Verhältnis stehen also die sozialen Kategorien Geschlecht – Ethnie – soziale Herkunft zueinander? Und gibt es Migrationsprozesse, die man nicht einfach unter die soziologischen Figuren Etablierte – Außenseiter, der Frage nach geringer oder hoher Ressourcenausstattung oder nach Haushaltsstrategien subsumieren kann? Die Frage nach der Fremdheit und wie mit ihr umgegangen werden soll, bleibt virulent – in der Forschung und in der Lehre. Denn die Studierenden fragen nicht nur nach wissenschaftlicher Absicherung, sondern stehen häufig für den Transfer in die pädagogische Praxis.
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Migrantinnen in der Lehre: Denken in Prozessen statt in Substanzen
Ein vermeintlich kleines Forschungsgebiet, die Migrantinnenforschung, zeigt wie in einem Brennglas die Wandlungen eines ganzen Geflechts von sozialen, politischen und wissenschaftlichen Entwicklungen (s. Abschnitt 2). Studierende, die sich mit der Thematik beschäftigen, haben in der Regel von diesem Expert(inn)enwissen keine Kenntnis. Gleichwohl haben sie „Meinungen“ – und diese meist über Personen. Nun sind das grundsätzliche Anliegen von Soziolog(inn)en gerade nicht einzelne Personen, als vielmehr die Interaktionen von Personen und der gesellschaftliche Kontext, in dem diese stattfinden. Hiermit ist bereits eine zentrale Irritation benannt, die die Lehre in der Soziologie bestimmt.
3.1 Ausgangsposition der Studierenden: Substantialisierungen Alltagsweltlich sind wir auf die Reduktion von Komplexität angewiesen. Wir würden nicht „funktionieren“, müssten wir ständig alle Optionen und Möglichkeiten mit bedenken. Wir verlassen uns auf unser Erfahrungswissen und auf unsere Sortierungen der Welt (vgl. Schütz/Luckmann 1979 und 1984). Die so genannte Multioptionsgesellschaft (vgl. Gross 1994) ist gesellschaftsanalytisch interessant, für die Alltagsvollzüge von Individuen jedoch weniger praktikabel. Wie die meisten Menschen haben die Studierenden ihre alltagsweltlich funktionierende Reduktion von Komplexität schon vollzogen und arbeiten mit bewussten und unbewussten Stereotypisierungen und mit behauptetem Wissen („das ist Fakt“). Vor diesem Hintergrund ist ihre Sensibilität für Ambivalenzen und Heterogenität weniger ausgeprägt. Dies fällt umso mehr auf, als der Normalfall Migration (vgl. Bade/Oltmer 2004) längst und gerade die jüngeren Generationen erreicht hat. Multikulturelle Kontakte sowie interkulturelle Konflikte und Freundschaften gleichermaßen gehören zur Lebenswelt der Mehrheit der heutigen Jugendlichen und Heranwachsenden. In der Lehrpraxis begegnet einem als habituelle Grundorientierung der Studierenden das Denken in statischen, substantiellen Kategorien. Dies ist soziologisch und anthropologisch verständlich, da die Studierenden das Denken in Substanzen aus (einem Teil) der medialen Öffentlichkeit und dem Alltagsdiskurs kennen und in dem Bedürfnis, gesellschaftliche Komplexität zu reduzieren, durchaus unbewusst an ihm festhalten. Im Folgenden sei anhand von drei Beispielen aus Lehrveranstaltungen8 zu Migration erläutert, was ich unter „Substan8
Dabei beziehe ich mich auf die Lehrveranstaltungen zur (Migrations-)Soziologie, die ich seit Mitte der 1980er Jahre (seit 1996 an der Pädagogischen Hochschule Karlsruhe) durchführe. An der Pädagogischen Hochschule Karlsruhe werden Grund-, Haupt- und RealschullehrerInnen aus-
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tialisierungen“ verstehe und wie diese im Sinne einer wissenschaftlichen Reflexion thematisiert und „gewendet“ werden können. Substantialisierung 1: Ausländer/innen sind die, die uns fremd sind In der wissenschaftlichen Diktion entspricht der Begriff „Ausländer“ der juristischen Setzung: Ausländer in Deutschland sind alle Nicht-Deutschen. Die Studierenden operieren jedoch, wie auch die meisten anderen Nicht-Expert(inn)en, mit einer anderen Definition. Für sie ist der Pass nachrangig und so etwas wie die „Erscheinung“ vorrangig. Und diese Erscheinung muss fremd sein, damit jemand zur Ausländerin oder zum Ausländer erklärt wird. In der Lehre habe ich gute Erfahrungen damit gemacht, diese Gleichsetzung von Ausländersein und Fremdsein und die Irrelevanz der Staatsangehörigkeit für die Alltagswahrnehmung zu thematisieren. Studierende hatten ein Video über „Ausländerinnen und Ausländer in Karlsruhe“ erstellt, das ich mehrfach wiederum in der Lehre einsetze. Bei den Sequenzen, in denen eine Österreicherin und ein Schotte befragt wurden, wird gelacht. Diese werden nicht als Ausländer gesehen, die Aussiedlerinnen und Aussiedler jedoch gleichwohl. Die Russlanddeutschen sind als deutsche Staatsbürger/innen nicht zwangsläufig im Vorteil gegenüber anderen Zugewanderten ohne deutschen Pass. Als „fremde Deutsche“ oder „Russen“ kämpfen sie um Akzeptanz unter den länger ansässigen Deutschen und Nichtdeutschen. Die Präsenz von Studierenden, die selbst Rumänienoder Russlanddeutsche sind oder einer solchen Familie entstammen, in den Lehrveranstaltungen ermöglicht die Kontrastierung von Selbst- und Fremdbezeichnungen. Nicht alle Nicht-Deutschen fühlen sich in Deutschland fremd, und umgekehrt sind nicht alle Deutschen im so genannten „eigenen“ Land heimisch. Die Interaktion zwischen Einheimischen und Zugewanderten und von jeder der beiden Gruppen untereinander ist nicht nur Thema von Seminaren, in denen Forschungsergebnisse vorgestellt und diskutiert werden, sondern diese Interaktion findet in den Seminaren selbst statt. So bestand eine türkisch aussehende Kommilitonin darauf, Französin (genauer: Pariserin) zu sein, die gegenwärtig in Deutschland lebt. Ihr Name und ihr Aussehen hätten nur „zufällig“ damit zu tun, dass ihre Eltern ursprünglich aus der Türkei nach Frankreich gekommen wären, sie selbst verbinde nichts mit der Türkei. Die Kommiliton(inn)en sprachen sie jedoch immer wieder auf ihr „Türkisch-Sein“ an. Für sie war die Substanz dieser Person „türkisch“. In diesem Kontext liegt es nahe, die komplexe Begrifflichkeit „Ausländer – Migrant – Migrationshintergrund“ zu bearbeiten (vgl. Abschnitt 3.2).
gebildet. In den grundständigen Studiengängen gehört Soziologie zu den so genannten Grundlagenwahlfächern, in den Diplomstudiengängen zu den möglichen Schwerpunktbereichen.
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Substantialisierung 2: Männer wandern vor – und Frauen hinterher Für Studierende der heutigen Zeit sind Frauen, die ihr Leben selbst in die Hand nehmen, kein Novum. Als Angehörige der Geburtsjahrgänge in der Spanne von 1975 bis 1987 ist Gleichberechtigung für sie tendenziell selbstverständlich, zumindest rhetorisch.9 Sie nehmen sich selbst als individualisiert und selbstständig wahr. Mit dem Emanzipationsdiskurs wollen sie nicht (mehr) in Verbindung gebracht werden. Möglicherweise ist die – je nach Perspektive – anti- oder postfeministische Haltung die Ursache dafür, dass die Befunde derjenigen Forschung, die als „Frauen- und Geschlechterforschung daherkommt, nur wenig wahrgenommen werden. Die Wahrnehmung von Männern als aktiv und Frauen als passiv bzw. allenfalls ko-aktiv ist nicht auf das Thema Migration beschränkt. Der Gedanke, dass Frauen Akteurinnen, gar Pionierwanderinnen sein könnten, wird allenfalls für die unmittelbare Gegenwart erwogen. Hier empfiehlt sich die Behandlung der Studie von Morokvasic (1987) über die jugoslawischen Gastarbeiterinnen, über die deutschen Aussteigerinnen von Dorle Weyers (1993) oder intellektuelle Migrantinnen von Encarnacion Gutierrez Rodriguez (1999). Im Grunde geht es bei der Arbeit mit dieser Form der Substantialisierung um nicht mehr und nicht weniger als den Schnelldurchgang durch 25 Jahre Geschichte der Migrantinnenforschung, wenn man sich alleine auf die soziologische Szene in Deutschland beschränkt. Wie in Abschnitt 2 beschrieben, hätte sich diese Forschung ohne Frauenbewegung und Frauenforschung und ohne die „Exotisierung“ von Ausländerinnen nicht entwickeln können. Insofern sind Widerstände der Studierenden gegenüber feministischen Diskursen einerseits und gegenüber Veralltäglichungen des Fremden andererseits zu erwarten. Substantialisierung 3: Migration, das ist vor allem ein Problem der Politik, und zwar insbesondere derjenigen Deutschlands Die Mehrheit der Studierenden nimmt Deutschland als Land wahr, das ein Ausländer- bzw. Zuwanderungsproblem „hat“. Sie sehen es primär als eine Angelegenheit der Politik in verschiedenen Bereichen (Arbeitsmarkt, Bildung u.a.) an, dieses Problem zu „lösen“. Kenntnisse über den Wandel von Auswanderungs- zu Einwanderungsländern (gegenwärtig etwa Spanien oder Italien) oder über die Heterogenität von Migration können nicht vorausgesetzt werden. Hier empfehlen sich etwa die Thematisierung der Studie von Hillmann über die Migrantinnen in Mailand (Hillmann 1996) sowie interdisziplinäre Kooperationen mit der Ge-
9
Vgl. den illustrativen Bericht von Angelika Wetterer zu soziologischen Lehrveranstaltungen, in denen die partnerschaftliche Arbeitsteilung zwischen Frauen und Männern im Privatbereich thematisiert wurde (Wetterer 2003, S. 296 f.).
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schichtswissenschaft.10 Das Interesse für die bislang zur Angelegenheit der historischen Migrationsforschung erklärte Auswanderung von Deutschen wird gegenwärtig durch die „Auswanderer-Soaps“ in TV-Programmen gestützt.11 Diese Substantialisierung von Migration als ausschließlich politisches und ausschließlich deutsches Problem kann mit explizit migrationssoziologischen Fragen wie den folgenden angegangen werden: Wie kommt es, dass Gastarbeiter aus Italien oder Tunesien, Flüchtlinge aus Afghanistan, japanische Firmenangehörige oder polnische Spargelstecher nach Deutschland kommen? Was sind ihre Beweggründe und was ergibt sich aus ihrer Anwesenheit in Deutschland? Wie gestalten sich die Beziehungen von Einheimischen zu den Zugewanderten, wie entwickeln sich die Netzwerke der Zugewanderten und wie verändert sich die deutsche Gesellschaft durch die Zuwanderung – oder auch die Abwanderung von früher Zugewanderten oder neuerdings vermehrt auch Einheimischen? Diese Fragen weisen auf die Interaktivität, Heterogenität und Prozesshaftigkeit von Migration hin, die im Mittelpunkt des wissenschaftlichen und hochschuldidaktischen Interesses steht (vgl. Übersicht 2, Abschnitt 3.3). Übersicht 2: Substanzen vs. Prozesse Denken in Substanzen
Denken in Prozessen
Exotik von einzelnen Migrantinnen und Migranten
Alltäglichkeit „Normalfall Migration“
Statik
Dynamik
Reduktion von Komplexität
(Erhöhung von) Komplexität
Stereotypisierung Bestätigung von Urteilen
Offenheit Irritation, Neugierde
Aussagen über Eigenschaften von Personen(-gruppen)
Aussagen über Prozesse und wechselseitige Beziehungen
Einfühlung und (vorschnelles) Verstehen
Distanz und (mögliches) Nicht-Verstehen
10
11
An der Pädagogischen Hochschule Karlsruhe führte ich im Wintersemester 2006/07 mit der Kollegin Sabine Liebig eine gemeinsame Lehrveranstaltung zu „Migration aus historischer und soziologischer Sicht“ durch, die im Sommersemester 2007 fortgesetzt wurde. Mit Stand von 2006 sind dies kabel eins, VOX, ARD und Pro Sieben.
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3.2 „Ausländer“ und „Personen mit Migrationshintergrund“: zum Verhältnis von Alltagsbegriffen und Fachbegriffen Wie oben erläutert, haben die Studierenden alle Mühe, den Ausländerbegriff im juristisch korrekten Sinne als „Nicht-Deutsche“ zu verwenden. Ihre Alltagspraxis, mit „Ausländer“ diejenigen zu bezeichnen, die für sie „anders“ oder „fremd“ sind, ist nur mühsam zu korrigieren. Analytisch reicht die Kategorie „Ausländer“ nicht aus, will man etwas über Aussiedler mit deutscher Staatsangehörigkeit und eingebürgerte Kinder von Italienern und Türken erfahren, die als Gastarbeiter eingewandert waren. Nicht der Pass des jeweiligen Individuums, sondern der Migrationshintergrund einer Person bzw. die Migrationsbiografie der Familien ist das zentrale Kriterium. Das 2005 in Kraft getretene Mikrozensusgesetz vom 24.6.2004 setzte diese Neuerung in Gang, indem nun die Staatsangehörigkeit der Eltern und Großeltern mit abgefragt wird. Der Begriff Migrationshintergrund dient der Klarheit der Bezeichnung für diejenigen, die „vordergründig“ keine Ausländer und keine Migranten sind: Ende 2004 lebten 7,3 Mill. Ausländerinnen und Ausländer – jedoch 15 Mill. Menschen mit Migrationshintergrund in Deutschland (vgl. Mikrozensus 2005 und Konsortium Bildungsberichterstattung 2006). Stärker als beim Ausländer- und beim Migrantenbegriff ist demnach nicht die einzelne Person, sondern die Herkunftsfamilie das Kriterium. So rückt die Migrationsbiografie einer Familie, der gesamte Kontext, in den Blick – eine überaus soziologische Perspektive. Den Betroffenen muss diese Gruppenzuweisung nicht unbedingt behagen: „Ich wachte auf und hatte einen Migrationshintergrund“, konstatiert irritiert ein Journalist, der durch seinen Vater, einen italienischen Gastarbeiter, mit dem er nie etwas zu tun hatte, zur Person mit Migrationshintergrund wird (Die Welt vom 14.7.2006). Die Studierenden sind häufig nicht ohne weiteres überzeugt, dass dieser Begriff für die Analyse der gesellschaftlichen Wirklichkeit besser passt oder weiter reicht als der Ausländerbegriff. Der Widerstand gegen eine Zuschreibung von Eigenschaften auf Personen(gruppen) ist bei einem Teil der Studierenden sehr verbreitet, da sie sich vor allem als Individuen sehen oder andere als Individuen sehen wollen. Ein anderer Teil der Studierenden sehnt sich vor allem nach Vereinfachungen, nach der Ordnungsleistung von Kategorien. In dieser Perspektive dominiert das Bescheidwissen, wie Migranten und Migrantinnen sind. Eine typische Diktion in diesem Zusammenhang ist der Nachsatz:„Das ist so!“ oder neudeutsch: „Das ist Fakt!“ Hinter diesem Insistieren steht sowohl das Bemühen, Kompetenz zu signalisieren, als auch der Versuch, Ordnung in die komplexe soziale Wirklichkeit zu bringen. Im Lauf der Erarbeitungen und Diskussionen in den (migrations-)soziologischen Lehrveranstaltungen wird jedoch deutlich, dass die Einsicht in gesell-
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schaftliche Widersprüche und Ambivalenzen genuin zur soziologischen Erkenntnis dazugehört. Dies „auszuhalten“ und sich von dem Wunsch nach „gesicherten, abschließenden Erkenntnissen“ zu verabschieden, fällt nicht leicht.
3.3 Zielorientierung der professionellen Lehr-Lern-Interaktion: Prozessdenken Migration gehört zum Alltag der Studierenden, gleichwohl ist ihr Wissen darüber (etwa über die Hintergründe der Aussiedlermigration nach Deutschland) gering. Als Thema von Lehrveranstaltungen ist Migration in paradigmatischer Weise geeignet, wissenschaftliches Denken einzuüben. Die Spannung zwischen Engagement und Distanzierung (vgl. Elias 2003), zwischen Anteil- und Parteinahme oder Abwehr gegenüber Migrant(inn)en einerseits und dem Interesse an analytischen Zusammenhängen andererseits ist in der Lehrerbildung besonders virulent. Für zukünftige Grund-, Haupt- und Realschullehrer/innen bedarf es keiner Begründung, weshalb Migration ein relevantes Thema ist. Sie sind diejenigen, die mit einer großen Anzahl von Mädchen und Jungen mit Migrationshintergrund zu tun haben werden – nicht nur in Schulen „sozialer Brennpunkte“ mit einem hohen Migrantenanteil. Aufgabe von Lehrveranstaltungen sollte es sein, den „Normalfall Migration“ nachvollziehbar zu machen und von einzelnen Personengruppen zu abstrahieren – und gleichzeitig den offensichtlichen Diskussionsbedarf nicht „abzuwürgen“. Der Bedarf nach Diskussion, auch Streit ist nach meiner Beobachtung immens. So wurden die Befürworter/innen des Kopftuchs (wie ich sie vereinfacht nennen will) von den Gegner(inne)n bei einem Workshop zu diesem Thema hart angegangen: „Wir können im Ref [Referendariat] ja auch nicht tragen, was wir wollen!“ Der Anpassungsdruck wird weitergegeben, Sonderrechte für Migrant/innen – aus welchen Gründen auch immer – werden nicht zugestanden. Kämpfe um soziale Anerkennung sind für die Studierenden selbstverständlich – und im Gegensatz zu der Nach-68er-Generation schrecken sie auch vor pointierter Stellungnahme nicht zurück.12 Anlässe zur Reflexion werden, so meine Erfahrung, von den Studierenden selbst formuliert und in Bedarf nach Information und Forschungsbefunden gewendet. So äußerte eine Studierende in einer Veranstaltung zur Frauen- und Geschlechterforschung kürzlich folgende Beobachtung: „Überraschend viele ausländische Studentinnen in meinem Wohnheim studieren technische Fächer und Naturwissenschaften – und die einheimischen Studentinnen studieren Pädagogik, Geistes- und Sozialwissenschaften. Das hätte ich nicht gedacht.“ Aus 12
Ein Bericht über diesen Workshop, der unter dem Titel „Kopftuch in der Schule – für Schülerinnen ja, für Lehrerinnen nein?“, im Sommer 2004 an der PH Karlsruhe stattfand, findet sich in Treibel 2006 a.
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Irritationen dieser Art („Könnten ‚die‘ moderner sein als wir?“) entstehen Fragen, die in Recherchen und Hausarbeiten bearbeitet werden können. Weiterführende Diskussionsimpulse sind insbesondere von Studierenden mit Migrationshintergrund zu erwarten. So kann der Transmigrationsansatz bei den Akteurinnen und Akteuren der Migration auf Zuspruch rechnen. Diese begrüßen offensichtlich die relativ geringe moralische Aufladung dieses Ansatzes, die ein wohltuendes Gegengewicht zur Diskussion über die Bereitschaft bzw. Fähigkeit von Migrantinnen und Migranten bildet, sich zu integrieren oder zu assimilieren. In der Nachbesprechung zu einem Gastvortrag von Ludger Pries, einem der Wortführer der deutschsprachigen Transmigrationsforschung (vgl. Pries 1997), in einer Seminarveranstaltung an der Pädagogischen Hochschule Karlsruhe stieß eine der Studierenden türkischer Herkunft mit einem Seufzer der Erleichterung aus: „Endlich hat mal jemand verstanden, wie wir leben!“ Es geht um die historisch orientierte und analytische Betrachtung von Migration als Prozess, um die Einsicht in Ursachen, Verlauf und die vielfältigen sozialen Folgen. Die insbesondere in pädagogischen Kontexten und Lehrplänen vorherrschende Praxis, Verständnis und Empathie für Migrant(inn)en entwickeln zu wollen und sollen, reicht als Grundlage nicht aus oder führt gar in eine Sackgasse. Dort gibt es dann nämlich kein Instrumentarium, um mögliches NichtVerstehen zu konstatieren, interkulturelle Konflikte sachlich zu analysieren und über gesellschaftliche Vereinbarungen zur Konfliktminderung zu diskutieren. Die Notwendigkeit des Prozessdenkens, das hier den Studierenden abverlangt wird, propagiere ich auch für die Lehrenden, die bei dem, was sie als unaufgeklärtes Alltagswissen kategorisieren, möglichen Lernprozessen im Wege stehen, wenn sie dieses vorschnell moralisierend korrigieren. Der Ansatz lautet vielmehr: Wissenslücken zugestehen, Denkprozesse zulassen, Stockungen aushalten und sich in dem Bestreben nach political correctness, die niemandem zu nahe treten will, als Lehrperson zurücknehmen.
3.4 Von der Forschung zur Lehre und zurück zur Forschung Nach gängiger Auffassung werden Forschungsergebnisse in die Lehre eingebracht. Lehre ist forschungsgestützt. Ich plädiere dafür, den Blick auszuweiten – ganz im Sinne einer professionellen Interaktion, in der die Studierenden agieren, nicht nur reagieren. Studierende sind nicht nur Adressaten von Forschung, sondern sie sind an ihrer Weiterentwicklung beteiligt. Demnach ist die gängige Auffassung zu ergänzen: Forschung ist auch lehregestützt. Der relativ unvoreingenommene Blick der Studierenden bringt frischen Wind ins Forschungsgeschäft. Sie schielen nicht, wie die Forschenden das häufig
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tun, auf das Fallbeil von begutachtenden Juroren, sondern haben Freude an der Auseinandersetzung und an der Befriedigung ihrer Neugier. Aus Studierendensicht ist es keineswegs nur eine Konsumhaltung, mehr von den Lehrenden hören zu wollen, sondern der Eindruck, dass da „was zu holen ist“, was die eigene Weltsicht erweitert. Möglicherweise unterstellt man, dass Studierende sich nicht für ambitionierte Forschung interessieren. Ganz das Gegenteil ist der Fall: Studierende fühlen sich zur Teilnahme an wissenschaftlicher Auseinandersetzung gerade dann eingeladen, wenn ihnen vermittelt wird, dass Wissenschaft nichts Statisches ist, sondern ihr eine Dynamik innewohnt, die häufig auf persönliche Erfahrungen der Wissenschaftler/innen und auf die Konkurrenz innerhalb der scientific community zurückgeht. Nach außen hat Wissenschaft als Beruf vor allem mit Genialität zu tun, in der Innensicht geht es vor allem um Handwerk. Bei einem neuen Blick auf das Verhältnis von Forschung und Lehre verlieren Studierende den blockierenden Respekt vor großen Namen und fühlen sich eingeladen, Fragen zu stellen und Antworten einzufordern – oder sie in ihren eigenen Beiträgen selbst zu erarbeiten. Das kann eine Doktorarbeit, aber auch eine Gruppenpräsentation sein, deren Beratung für die Lehrenden dann nicht nur zeitaufwändig, sondern im Blick auf neue Forschungsfragen befruchtend ist. Studierende entschuldigen sich häufig für vermeintlich dumme Fragen, die sie einleiten mit „Ich weiß ja nicht“. Eben diese Fragen der Studierenden treffen häufig genau den Kern, um den sich die Forschung – auch nach Jahrzehnten – „drückt“. Diese Fragen offenbaren Forschungslücken und Forschungsprobleme, an denen sich professionell Forschende abarbeiten können. Insofern ist nicht nur der Fachdiskurs, sondern der Diskurs mit den Studierenden eine professionelle Interaktion. Folgende Anregungen für die Lehrpraxis seien nochmals betont: die Spannbreite und Normalität von Migration betonen zum Formulieren von Fragen auffordern Migrationsbiographien von Studierenden als Gesprächsanlässe und zur Lehr-Lern-Forschung nutzen Möglichkeiten des Nicht-Verstehens zulassen gesellschaftliche Konflikte nicht tabuisieren, sondern reflektieren.
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Schlussfolgerungen: Migrantinnen in Forschung, Lehre und Öffentlichkeit
Helma Lutz spricht in ihrem Überblicksartikel von der „komplizierten Beziehung“ zwischen Migrations- und Genderforschung (vgl. Lutz 2004). Dem kann ich nach dem Durchgang durch die Entwicklungsgeschichte nicht beipflichten. Die Migrantinnenforschung weist mittlerweile eine beträchtliche und beachtliche Spannbreite auf. Angesichts der „Feminisierung der Migration“ (vgl. Deutsche Stiftung Weltbevölkerung 2006, S. 25) wird sich diese Entwicklung fortsetzen. Die Verflechtungen zwischen Geschlechterforschung, Migrationsforschung und allgemeiner Soziologie werden noch stärker werden; kompliziert sind sie nicht, sondern ausgesprochen anregend. Spannend bleibt die Widersprüchlichkeit der Diskurse. In der Öffentlichkeit ist der Fokus sehr stark auf die Gewaltthematik gerichtet. „Männliche Hauptschüler mit Migrationshintergrund aus bildungsfernen Milieus“ (so die wissenschaftlich korrekte Diktion – im Alltagsdiskurs häufig salopp „junge Türken und Araber“) dominieren die Politik- und Kulturseiten der Zeitungen. Ihnen wird zur Last gelegt, den Unterricht zu stören, andere Jugendliche „abzuziehen“, in Drogen- und Beschaffungskriminalität verstrickt zu sein – und gleichzeitig umso eifriger auf die Ehre ihrer Schwester zu achten, für die sie notfalls über Leichen gehen. Aufgabe der Wissenschaft ist es in Kontrast hierzu, sachliche und differenzierte Analysen vorzulegen und Kategorisierungen und Zuschreibungen wie die skizzierten zu unterlassen. Es gilt, eine Reifizierung von Geschlecht und eine Stereotypisierung von bestimmten Migrantengruppen zu vermeiden. Für die heutige Migrationsforschung sind folgende Zusammenhänge Konsens: Bei Migrantinnen und Migranten aus einem bildungsbürgerlichen Milieu ist die Wahrscheinlichkeit, diskriminiert zu werden, allein weil sie Migranten sind, geringer. In ähnlicher Weise ist eine Frau aus einer Akademikerfamilie einem Mann aus einer Arbeiterfamilie gegenüber tendenziell im Vorteil. Die soziale Herkunft ist diejenige Kategorie, die hauptsächlich über gesellschaftliche Teilhabemöglichkeiten entscheidet.13 Eine solche Perspektive birgt jedoch gleichzeitig die Gefahr des Kulturrelativismus und der Neigung – insbesondere bei gesellschaftskritischen Wissenschaftler(inne)n – einen Migranten-„Bonus“ zu vergeben. Hier verstellt der Blick auf die „armen“ männlichen Migranten 13
Vgl. demgegenüber Ilse Lenz, die in einer neueren Veröffentlichung zum Verhältnis von Geschlecht, Ethnizität und sozialer Ungleichheit (vgl. Lenz 2006) ein Modell der politischen Teilhabemöglichkeiten entwickelt, in dem sie die Hierarchien zwischen unterschiedlichen Gruppen von MigrantInnen in den Mittelpunkt stellt. Nach diesem Modell sind „Migrantinnen aus dem Süden“ von „Exklusion“ betroffen (vgl. Lenz 2006, S. 113). Eine Differenzierung nach sozialem Status nimmt sie hier nicht vor.
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dann die Einsicht in Diskriminierungshandlungen eben dieser Männer gegenüber ihren Frauen und Töchtern. Das Wissen darum, dass die Mehrheit der Migrantinnen und Migranten sich nicht sozial abweichend verhält, bietet keine Legitimation dafür, die sozial abweichende Minderheit unter ihnen wissenschaftlich zu ignorieren. In diesem Zusammenhang hat die Kritik von Necla Kelek (2005) und Seyran Ates (2003) ihre Berechtigung, wonach die etablierte Migrationsforschung ihre blinden Flecken habe. Ates konstatiert: „Die Gewaltbereitschaft in der türkischen und kurdischen Kultur wird mir wohl für immer ein Rätsel bleiben.“ (Ates 2003, S. 239) So rätselhaft sind die Hintergründe jedoch nach Ates’ eigenen Aussagen nicht. Im Kern geht es um patriarchale Strukturen und in einem vergleichsweise geringen, jedoch gesellschaftlich nicht akzeptablen Ausmaß um gewaltförmige Abweichungen wie im Fall der „Ehrenmorde“, die besser als Frauendisziplinierungsmorde zu bezeichnen wären (vgl. Treibel 2006 a). Die Initiative der von einem Teil der Migrationsforscherinnen heftig kritisierten Soziologin und Publizistin Necla Kelek hat zumindest bewirkt, dass auf Seiten der türkischen Medien eine Kampagne gegen Gewalt in Migrantenfamilien lanciert wurde. Aufgabe von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern wäre es nun, die Forschung in diesem Bereich zu intensivieren. Die Vorbehalte, mit denen Feministinnen und Menschenrechtsaktivistinnen konfrontiert sind, sind ein Hinweis darauf, dass gerade eine sich aufgeklärt und kritisch gebende akademische Öffentlichkeit einen Teil ihrer eigenen Stereotypen noch nicht abgelegt hat: „Türkin, Akademikerin, lesbisch, spricht fließend Deutsch, trägt kein Kopftuch. ‚Nein, so was!‘“ (Ates 2003, S. 216) Der hoch emotionalisierte Streit um die „richtige“ Migrationsforschung und die Ausgrenzung ausgerechnet derjenigen Migrantinnen, die für Emanzipation und Menschenrechte streiten,14 lassen die zahlreichen interessanten Forschungsfragen in den Hintergrund treten, die der Klärung bedürfen. So zeigen neuere Studien zur Mediennutzung und -kompetenz von Migrantenjugendlichen, dass die Jugendlichen ihren Alltag relativ autonom managen und einen Teil ihrer Stärke aus ihrer affektiven familiären Einbindung beziehen und von ihren Eltern 14
Am 2.2.2006 wurde in Die Zeit der gegen Necla Kelek gerichtete Aufruf „Gerechtigkeit für die Muslime“ von Mark Terkessidis und Yasemin Karakasoglu veröffentlicht, den 60 MigrationsforscherInnen, primär aus den Erziehungswissenschaften, unterzeichnet hatten. Neben der Kritik an diesem Aufruf durch Necla Kelek selbst, Alice Schwarzer u.a. veranlasste Hartmut Krauss unter dem Titel „Gerechtigkeit für demokratische Islamkritikerinnen!“ einen „Warnruf“, der vor allem von Frauen- und BürgerrechtlerInnen unterzeichnet wurde. In der Zeitschrift Argument (Nr. 266; 3/2006) wurde eine lebhafte Kontroverse dokumentiert, in der etwa Maria Castro Varela/Nikita Dhawan (2006) den Kontext des Konflikts analysieren und Georg Auernheimer (2006) erläutert, was ihn zur Unterzeichung des Aufrufs gegen Kelek bewogen hatte. Die Details dieser Auseinandersetzung lohnten eine eigenständige Analyse.
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durchaus unterstützt werden (vgl. Strotmann 2006; Treibel 2006 b). Die Familienorientierung der Migrantenjugendlichen in der Hauptschule, wie sie hier konstatiert wurde, steht in Kontrast zu den Krisenszenarien der Öffentlichkeit auf der einen Seite und zu den Befunden von Boos-Nünning/Karakasoglu (2005) auf der anderen Seite. Für die Öffentlichkeit sind die Migrantenfamilien Orte der Krise, Gewalt und Vernachlässigung, für die genannten Autorinnen ist der Familialismus der jungen Migrantinnen deren freie Entscheidung. Aus meiner Sicht ist die familiennahe Adoleszenz Ausdruck rationalen Handelns unter restriktiven Bedingungen – anders ausgedrückt: Angesichts mangelnder Teilhabemöglichkeiten ist es nur vernünftig, sich an der Familie zu orientieren. Im Geflecht der sozialen Kategorien Geschlecht, Ethnie/Migrationshintergrund und soziale Herkunft sind angesichts der durch diesen Beitrag illustrierten Heterogenität von Migrantinnen aufschlussreiche Studien zu erwarten, die – ähnlich wie der oben von Apitzsch (2003) beschriebene Fall – Überraschungen beinhalten werden. An einer „Baustelle“ besteht jedoch eindeutig Handlungsbedarf: Wissenschaftliche Praxis und öffentliche Wahrnehmung sollten stärker aufeinander bezogen werden. In der deutschen Sozialwissenschaft sind die Ängste, durch einen zu intensiven Kontakt zur Öffentlichkeit wissenschaftlich „beschmutzt“ zu werden, relativ stark ausgeprägt – im Gegensatz etwa zu Frankreich (vgl. Bourdieu 2004). Aus meiner Sicht sollten Forschungsergebnisse in wohlverstandenem Sinne popularisiert werden. Die professionelle Interaktion in Lehrveranstaltungen zur Migrationssoziologie ist hierzu eine gute Übung. Die Fragen und Impulse der Studierenden sind nicht nur ein Abbild der Gesellschaft, sondern zeigen auch den weiteren Forschungs- und Differenzierungsbedarf. Es bleiben immer Fragen offen. Was sich in der Lehre nicht vermitteln lässt, ist möglicherweise in der Forschung noch nicht genügend durchdacht. Es ist nicht auszuschließen, dass die Figur des Mädchens oder der Frau mit Migrationshintergrund, die die Migrantin (und diese die Ausländerin) abgelöst hatte, neutralisiert wird durch die klassische Unterscheidung zwischen Arm und Reich – oder zwischen prekären und privilegierten Lebensbedingungen. Bis dahin ist im Feld von Migration und Geschlechterverhältnissen noch eine Menge zu tun, und zwar in allen tangierten Bereichen gleichermaßen: in Forschung, Lehre und Öffentlichkeit.
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Mobilität im Verborgenen. Plurilokale Mobilitätspraxen illegal beschäftigter polnischer Haushaltsarbeiterinnen in Berlin Plurilokale Mobilitätspraxen illegal beschäftigter polnischer Haushaltsarbeiterinnen in Berlin
Norbert Cyrus
Bahnhof Berlin-Lichtenberg. Sonntagabend. Die ankommenden Züge aus Polen sind gut ausgelastet. Ich fahre mit meinem Reisebegleiter, einem polnischen Arbeitsmigranten, in Berlin ein. Um sein Alltagsleben kennen zu lernen, hatte ich ihn über das Wochenende begleitet. Am Freitagnachmittag waren wir zu seiner Familie gefahren und am Sonntagnachmittag zurück. Eine typische Pendlerexistenz: In Deutschland arbeiten, in Polen leben. Die nationalstaatliche Grenze bildet dank der visumfreien Einreise für meinen Begleiter keine Mobilitätsbarriere: „Für mich“, so erklärt er, „ist Berlin näher als Warschau“. (Cyrus 1997) Das gilt offensichtlich auch für viele unserer Mitreisenden, die zumeist nur eine Reisetasche bei sich haben. Für die Zeit bis Freitag, wenn sie Berlin wieder in die Gegenrichtung verlassen werden, braucht man nicht viel Gepäck. Mein Begleiter kommentiert lakonisch: „Die Männer, die arbeiten hier in Berlin schwarz – so wie ich. Und die Frauen – die Frauen putzen.“ Der Zug fährt ein und die Reisenden steigen aus. Zielstrebig und ohne zu zögern gehen die Männer und Frauen ihrer Wege, verteilen sich auf die umliegenden Bahnsteige und Bushaltestellen. Allein, zu zweit oder in kleinen Gruppen lassen sie sich auf dem schnellsten Weg von S-Bahn oder Bus zu ihren Unterkünften bringen. Es fällt der großen Stadt nicht schwer, die Zugereisten zu absorbieren. Über das ganze Stadtgebiet verteilt, versickert der Zustrom an Arbeitskraft ganz unmerklich in den Kapillaren der sozialen Fabrik. Flexibel, billig und fleißig tragen die mobilen Arbeitsmigranten aus Mittel- und Osteuropa dazu bei, die Stadt am Laufen zu halten. Niemand kann sagen, wie viele Menschen so leben. Denn was sie tun, gilt als illegal. Pendelmigranten müssen sich häufig vor den Augen des Gesetzes verbergen. Und wer im Verborgenen lebt, wird nicht gezählt – und zählt deshalb oft auch wenig bei Politik und Wissenschaft. Dabei ist diese unsichtbare Gruppe von durchaus hoher Bedeutung für das Studium der Mobilität (in) der gegenwärtigen Gesellschaft: Einerseits handelt es sich bei den Pendelmigranten um eine Gruppe, die selber räumlich und sozial hochmobil ist, und zwar zu Bedingungen, die sich erheblich von der überwiegend institutionell üppig abgesicherten Mobilität de luxe der Computerexperten, der Berufsoffiziere oder der Journalisten un-
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terscheiden. Andererseits tragen die Pendelmigranten mit ihrer Arbeit dazu bei, die strukturellen Voraussetzungen einer immer mobileren Gesellschaft zu (re-) produzieren: In zahlreichen Haushalten hochmobiler Fach- und Führungskräfte in ganz Deutschland waltet die osteuropäische „Haushaltsperle“ und entlastet von alltäglichem Stress (vgl. Gather u.a. 2002). Schätzungsweise drei Millionen Haushalte in Deutschland nehmen regelmäßig haushaltsnahe Dienstleistungen in Anspruch. Nach Angaben einer Sonderauswertung der Beschäftigtenstatistik im Juni 2000 hatten bundesweit aber nur 38.900 sozialversicherungspflichtig Beschäftigte einen Privathaushalt als Arbeitgeber (vgl. Schupp 2002). Entsprechend groß war die Aufregung, als die Bundesregierung Ende 2003 ankündigte, illegale Beschäftigung ausländischer Haushaltshilfen von einer Ordnungswidrigkeit in eine Straftat umzuwandeln und konsequent verfolgen zu wollen. Die Medien reagierten auf diese Ankündigung mit zahlreichen Berichten und Kommentaren, in denen diese Pläne erstaunlich einhellig kritisiert und abgelehnt wurden. Dieser Betroffenheitsjournalismus – viele Medienschaffende fühlten sich offensichtlich als Kunden von einer möglichen Kriminalisierung persönlich bedroht – führte dazu, dass die Pläne schließlich fallen gelassen wurden. Die unangemeldete Inanspruchnahme der Dienstleistungen ausländischer Haushaltshilfen wird weiterhin „nur“ als Ordnungswidrigkeit eingestuft und mit einem Bußgeld bis zu 1500 € geahndet. Allerdings soll die Arbeitsmarktinspektion angewiesen werden, keine Nachforschungen im privaten Bereich anzustellen (vgl. Tagesspiegel vom 19.2.2004). Faktisch bedeutet dies, dass die unangemeldete Inanspruchnahme der Dienstleistungen ausländischer Haushaltshilfen vom Gesetzgeber toleriert wird. Nicht toleriert werden dagegen der illegale Aufenthalt und die Ausübung einer illegalen Beschäftigung durch ausländische Wanderabeiter(innen). Der illegale Aufenthalt bleibt eine Straftat. Die Höchststrafe beträgt bis zu fünf Jahren Gefängnis. In der Regel werden illegale Einwanderer aber ‚„nur“ abgeschoben und mit einem Wiedereinreiseverbot belegt. Die Konstellation ist widersprüchlich: Mit seinen Gesetzen verdeutlicht der Gesetzgeber, dass illegale Einwanderung nicht akzeptabel ist. Mit dem offen eingestandenen Verzicht auf die Durchsetzung im Bereich der privaten Haushalte signalisiert der Gesetzgeber gleichzeitig, dass sich der unangemeldete Einsatz ausländischer Haushaltshilfen nicht verhindern lässt. Die immer höheren Anforderungen an Flexibilität und Mobilität, die von Wirtschaft und Politik durchweg positiv bewertet werden, zeigen als Kehrseite eine gesellschaftlich (noch) nicht akzeptierte, daher im Verborgenen bleibende Mobilität. Im vorliegenden Beitrag soll dieser verborgenen Mobilität am Beispiel polnischer Haushaltsarbeiterinnen in Berlin nachgespürt werden.
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Forschungsstand und Fragestellung
In den Sozialwissenschaften gibt es keine allgemein akzeptierte Definition des Begriffs Mobilität. Verwendet wird der Begriff zum einen zur Bezeichnung einer physischen Beweglichkeit, einer Bewegung im geographischen Raum, sowie zum anderen als soziale Veränderung, als Verschiebung sozialer Koordinaten (vgl. Bonß/Kesselring 2001, S. 177). Mobilität ist, ganz allgemein gesprochen, eine Bewegung von „hier“ nach „da“, bei der eine bestehende Grenze zwischen „hier“ und „da“ überschritten wird. Unter Mobilität verstehe ich ganz allgemein oszillierende Aktivitäten der Überschreitung von Grenzen, seien diese sozialer, politischer, räumlicher oder virtueller Art. Mobilität ist also ein mehrdimensionales Phänomen. Im Hinblick auf die hier untersuchte Gruppe sind vor allem räumliche, politische und soziale Grenzüberschreitungen mobilitätskonstituierend: Polnische Pendelmigranten sind räumlich mobil, wenn sie ihren Heimatort verlassen. Sie sind geo-politisch mobil durch die Überschreitung nationalstaatlicher Grenzen. Und sie sind sozial mobil, indem sie einerseits ihre Familie, Nachbarschaft und den Freundeskreis verlassen und sich andererseits am Aufnahmeort auf neue soziale Kreise einlassen (müssen). Für die Untersuchung aktueller Phänomene räumlicher Mobilität bildet die Arbeitsmigration aus mittel- und osteuropäischen Staaten ein interessantes, wenngleich schwer zugängliches Forschungsfeld. Mit dem Zusammenbruch des sozialistischen Staatensystems wurden die nationalstaatlichen Grenzen, die bis dahin als Mobilitätsbarrieren ausgesprochen effektiv funktioniert hatten, auf einmal durchlässig. Gleichzeitig boten und bieten die bestehenden strukturellen Ungleichheiten ökonomische Anreize zur Arbeitsmigration. In den westlichen Staaten weckte diese Konstellation zum Ende der achtziger Jahre massive Ängste vor einer unkontrollierbaren Massenzuwanderung aus Mittel- und Osteuropa. Der befürchtete Massenzustrom von Arbeitsmigranten blieb zwar aus. Es haben sich aber internationale Migrationssysteme (vgl. Kritz u.a. 1992) herausgebildet, die weniger die Form dauerhafter Auswanderung als vielmehr zirkulärer Muster der Erwerbsmigration annahmen. Der allergrößte Anteil dieser zirkulären Erwerbsmigration entfällt auf die Staaten des ehemaligen Ostblocks. Bis zu fünf Millionen Menschen versuchen, durch grenzüberschreitenden Handel und zirkuläre Arbeitsmigration ihren Lebensunterhalt zu sichern oder zu ergänzen (vgl. Okólski 1997). Aus westeuropäischer Perspektive haben diese „Zirkulationsräume“ eine Funktion als „Pufferzone“, denn die Mehrzahl der mobilen Menschen bleibt in Osteuropa (vgl. Wallace u.a. 1999; Massey 1998). Doch auch mit westeuropäischen Staaten bestehen, wenngleich in einem quantitativ geringeren Umfang, auf Grund historischer, politischer, sozialer und ökonomischer Rahmenbedingungen systemische Migrationsverbindungen. Dabei
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ist Deutschland von allen westeuropäischen Ländern am intensivsten mit mittelund osteuropäischen Ländern migrationssystemisch verbunden. Bei der dauerhaften Einwanderung dominiert die Zuwanderung von Aussiedlern. Bei der temporären Migration spielt die illegale Arbeitsmigration neben legalen Formen, wie der Entsendung von Werkvertragsarbeitnehmern und der Beschäftigung von Saisonarbeitskräften, eine wichtige Rolle (vgl. Hönekopp 2004; Hönekopp u.a. 2001). Bis zu 200.000 Arbeitskräfte aus Polen sind schätzungsweise in Deutschland illegal beschäftigt (vgl. Rajkiewicz 2000). In den letzten Jahrzehnten hat sich ein Grenzen überspannender, polnischdeutscher transnationaler sozialer Raum herausgebildet. Das Kennzeichen transnationaler sozialer Räume ist die räumliche Mobilität (vgl. Pries 1997; Cyrus 2000). Im polnisch-deutschen Migrationsgeschehen dominieren temporäre Formen der legalen und illegalen Arbeitsmigration. Die Gruppe der mobilen Haushaltsarbeiterinnen bildet im Gesamtkontext der Herausbildung transnationaler sozialer Räume nur eine Teilgruppe. Seit Anfang der neunziger Jahre wird die illegale Beschäftigung osteuropäischer Frauen in westeuropäischen Haushalten untersucht. Mehrere kleinere Studien bieten Informationen über diese Gruppe. Dabei geht eine Forschungsrichtung von der im Kontext feministischer Gesellschaftsanalyse gewonnenen Erkenntnis aus, dass zentrale politische Ziele der feministischen Bewegung nicht verwirklicht wurden. Die bisher erreichten Erfolge der gesellschaftlichen und beruflichen Emanzipation von Frauen führen nicht zu einer Aufteilung der Reproduktionsarbeit zwischen den Geschlechtern, sondern zur Delegierung dieser Tätigkeiten an andere Frauen (vgl. Rerrich 2002). Mit der feministischen Diskussion um die Ausweitung eines Sektors der bezahlten Haushaltsarbeit – auch als „Rückkehr der Dienstboten“ – entwickelte sich auch das Interesse an der Analyse der bezahlten Reproduktionsarbeit in privaten Haushalten. Im Rahmen der Berufs- und Arbeitsmarktforschung wurden inzwischen einige Studien durchgeführt, die u.a. die Qualifikationsanforderungen an die in Privathaushalten Beschäftigten, das Belastungsprofil dieser Tätigkeiten sowie Modelle zur Förderung offiziell angemeldeter Beschäftigung in diesem Bereich behandeln (vgl. Gather u.a. 2002). Zum anderen werden Studien im Kontext der Migrationsforschung durchgeführt. Die Einbindung in den Arbeitsmarkt für haushaltsnahe Dienstleistungen wird hier mit Bezug auf die bestehende globale soziale Ungleichheit untersucht. Inzwischen liegen eine ganze Reihe von Studien vor, in denen die Situation von Haushaltsarbeiterinnen nicht nur aus Mittel- und Osteuropa, sondern auch aus Lateinamerika und Asien beschrieben wird. Bei den zumeist mit qualitativen Methoden durchgeführten Studien werden die fragilen Handlungsstrategien der Arbeitsmigrantinnen unter prekären Lebensbedingungen untersucht. Die vorliegenden Studien betonen, dass die Mobilität der Haus-
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haltsarbeiterinnen durch wirtschaftliche Notlagen erzwungen wird und nicht Selbstzweck ist, sondern Mittel zur Erreichung anderer Zwecke (vgl. Lutz 2001; Hess/Lenz 2001; Shinozaki 2003). Es ist davon auszugehen, dass Frauen aus Mittel- und Osteuropa und insbesondere aus Polen auf dem informellen Arbeitsmarkt für Haushaltsarbeit die zahlenmäßig größte Gruppe bilden (vgl. Alt 2003 und 2004). Über illegal beschäftigte Haushaltsarbeiterinnen aus Polen liegen einige kleinere Studien vor. Bereits Anfang der neunziger Jahre wurde eine besondere Variante der von Frauen aus Polen praktizierten Muster zirkulärer Arbeitsmigration beschrieben: Zwei bis drei Frauen schlossen sich danach zusammen, um sich wechselseitig bei der Familie in Polen und der Haushaltsarbeit in Deutschland zu vertreten und so die familiären Verpflichtungen als Hausfrau und Mutter im Herkunftsland mit der Erwerbsarbeit im Ausland verbinden zu können. Dieses soziale Arrangement der Pendelmigration, das genauer als Rotation bezeichnet werden kann, eröffnete die Option, nicht auswandern zu müssen (vgl. Morokvasic 1994). Neben solidarischen Arrangements wurde aber auch eine zunehmende Ausdifferenzierung und Hierarchisierung der Pendelmigration osteuropäischer Haushaltsarbeiterinnen konstatiert: Einige „Pionierinnen“ der Arbeitsmigration verlegten sich von der Ausübung der Haushaltsarbeit auf die kommerzielle Vermittlung von Arbeitsstellen und Wohnmöglichkeiten. Gezeigt wurde auch, dass die Stabilität dieser solidarischen Arrangements durch die Veränderung sozialer Rahmen oft von begrenzter Dauer war: Ehen gingen kaputt oder Dorfgemeinschaften zerfielen in verfeindete Lager (vgl. Irek 1998; Cyrus/Vogel 2002). Weiterhin wurden die mit der ausländerrechtlichen Ausgrenzung einhergehende prekäre Lage und die Unsicherheit der Lebensführung betont (vgl. Heubach 2002). Vor diesem Hintergrund ist die Ausübung grenzüberschreitender Arbeitsmigration im Hinblick auf die soziale Dimension der Mobilität ambivalent: Einerseits verschafft die Arbeit als Putzfrau wenig berufliches Prestige, da Putzen weder in Polen noch in Deutschland besondere Anerkennung findet. Andererseits ermöglicht die Ausnutzung der Unterschiede bei den nationalen Kaufkraftniveaus, dass in Deutschland durch Putzen verdientes Geld in Polen ein überdurchschnittlich hohes Einkommen bietet. Mit einer plurilokalen Lebensform lassen sich die unauflöslich miteinander verbundenen prestigemindernden und -steigernden Aspekte ausbalancieren. Die Mobilität von Hausarbeitskräften ist an sich kein Phänomen der reflexiven Modernisierung: Bereits in vormodernen Gesellschaften war die Mobilität von Gesinde und Dienstboten eine Form der Allokation von Arbeitskraft (vgl. Friese 2002). Im Kontext der mit der Industrialisierung einsetzenden Land-StadtWanderung boten sich mit der Auflockerung der gesellschaftlichen Ordnung erste Chancen für eine flexible Gestaltung von Lebenswegen. Dennoch blieb
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diese Mobilität noch eingebettet in ein relativ starres Korsett sozialer und ökonomischer Pfade. Die aktuelle Mobilität von Haushaltsarbeiterinnen findet aber unter veränderten gesellschaftlichen Rahmenbedingungen statt. Für die Gegenwart geht die Theorie der Zweiten Moderne von einer „Verflüssigung“ gesellschaftlicher Verhältnisse und Strukturen aus. Traditionale Sicherheiten und Verlässlichkeiten lösen sich zunehmend auf. Unter den Bedingungen einer modernisierten Moderne kommt es zu einem Anstieg der Mobilitätsanforderungen, so dass „Bewegung zu einem Dauerzustand und die Herstellung von Erwartbarkeit und Verlässlichkeit zu einer neuen Aufgabe werden. Während in der einfachen Moderne mit einer unvollständigen Individualisierung Mobilität gegen traditionale Stabilitäten durchgesetzt wurde, steht die reflexive Moderne eher vor dem umgekehrten Problem: In dem Maße, wie klassen-, schicht- oder familienbezogene Erwartungssicherheiten verschwinden oder zumindest brüchig werden, wird die Herstellung von Erwartbarkeit und Sicherheit zur entscheidenden Herausforderung. So betrachtet, können entweder alte Muster wiederbelebt (konservative Variante) oder neue Muster der Herstellung von Stabilität und Verlässlichkeit entwickelt werden (die modernisiert-moderne Variante).“ (Bonß/Kesselring 2001, S. 189) Der Forschungsstand zur Mobilität illegal beschäftigter polnischer Haushaltsarbeiterinnen in Deutschland belegt, dass die Erwartungssicherheit bei dieser Gruppe besonders brüchig ist, denn sie ist von einer nicht vorhersehbaren „doppelten Dynamisierung“ (Berger 1996, S. 46) betroffen: Die zeitlich befristet geplante Mobilität in Strukturen wird mit der Hoffnung aufgenommen, eine Verbesserung der eigenen Situation zu erreichen. Doch die im Laufe der Zeit eintretende unvorhersehbare Mobilität von Strukturen – der durch die Transformationsprozesse in Mittel- und Osteuropa noch beschleunigte soziale und strukturelle Wandel – lässt anfänglich stabile Strukturen sowohl auf der gesellschaftlichen Makroebene wie auf der lebensweltlichen Mikroebene brüchig werden. „Das Besondere an der heutigen Ungewissheit ist die Tatsache, dass sie nicht in Verbindung mit drohenden historischen Katastrophen steht, sondern vielmehr mit den alltäglichen Praktiken des Kapitalismus verbunden“ ist. (Sennett 1998, S. 38) Für polnische Haushaltsarbeiterinnen ist die Instabilität normal. Im Folgenden soll es darum gehen, am Beispiel mobiler polnischer Haushaltsarbeiterinnen die Bemühungen um Herstellung von Stabilisierung unter den prekären Bedingungen illegaler Migration zu analysieren.
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Das Sample und der Forschungskontext
Den Ausgangspunkt für das Teilforschungsprojekt Mobilitätspioniere bildet die Untersuchung von Raumbezug und Mobilität für ausgewählte Berufsgruppen, die sich durch eine erhöhte räumliche Mobilität bzw. Mobilitätsanforderung auszeichnen. Für die Untersuchung der „Berufsgruppe“ der polnischen Haushaltsarbeiterinnen wurden somit gezielt Frauen ausgewählt, die in Berliner Haushalten illegal arbeiten, die Bindungen zum Herkunftsort aber nicht aufgegeben haben. Die Studie konzentriert sich also auf Frauen, die auf Grund einer plurilokalen Lebensführung für einen außenstehenden Beobachter sozialräumlich nicht eindeutig lokalisierbar sind. Durch diese theoretisch motivierte Auswahl der befragten Personen wird deutlich, dass im Mittelpunkt des Erkenntnisinteresses nicht die Berufsgruppe an sich steht, sondern die von dieser Berufsgruppe praktizierten Mobilitätsmuster. Der Feldzugang erwies sich als ausgesprochen schwierig, obwohl ich seit langem zur zirkulären Arbeitsmigration aus Polen forsche und auch in einer Beratungsstelle für Pendlerinnen und Pendler aus Polen mitarbeite (vgl. Cyrus 2001 b). Ich hatte mir den Feldzugang auf Grund der bestehenden Vertrauensbasis zu Kontaktpersonen (gate opener), die mit Haushaltsarbeiterinnen aus Polen in enger Verbindung stehen, erheblich einfacher vorgestellt. Doch bei der Suche nach Gesprächspartnerinnen erhielt ich viele Absagen. Die angefragten Kontaktpersonen – bei denen ich mich an dieser Stelle herzlich bedanken möchte – waren durchweg zur Unterstützung bereit. Jede Kontaktperson konnte mir auf Anhieb mehrere Namen von Frauen nennen, die zwischen Polen und Deutschland pendeln – ein deutlicher Hinweis auf das quantitative Ausmaß und die Alltäglichkeit der Pendelmigration in Deutschland und die enge Verzahnung mit der Lebenswelt in Deutschland lebender illegaler Einwanderer aus Polen. Doch trotz der Vermittlung und Unterstützung der Kontaktpersonen wurde meine Bitte um ein Gespräch zumeist abgelehnt. Immer wieder teilten mir Kontaktpersonen mit, dass die angefragten Frauen misstrauisch sind: „Sie haben Angst. Bist du vielleicht von der Polizei?“ Im Verlaufe einer intensiven fast einjährigen Suche gelang es schließlich, Interviews mit acht Frauen durchzuführen, wobei eine Gesprächspartnerin aus Litauen stammt. Trotz des litauischen Falles benutze ich hier die Sammelbezeichnung „polnische Haushaltsarbeiterinnen“, da die Bezeichnung „osteuropäische“ Haushaltsarbeiterinnen mit nur zwei berücksichtigten Staaten noch weit verzerrender wäre. Die Befragten waren zwischen 21 und 49 Jahre alt, fünf hatten (teilweise schon erwachsene) Kinder. Der Zeitraum der aktuellen Mobilitätspraxis reichte von drei Monaten bis zu zwölf Jahren. Das zum Gesprächszeitpunkt ausschließlich in Deutschland erzielte Einkommen lag zwischen 500 und 1000 Euro.
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In fünf Fällen fanden die Gespräche in den Unterkünften der Gesprächspartnerinnen statt, wodurch ich auch einen Einblick in die Wohnsituation erhielt. Die Dauer der Gespräche, die nach der Methode des problemzentrierten Interviews (vgl. Witzel 1985) gestaltet wurden, betrug zwischen anderthalb und drei Stunden. Je nach Wunsch der Gesprächspartnerinnen wurden die Gespräche auf Deutsch oder auf Polnisch geführt. Insgesamt vier Frauen bevorzugten Polnisch als Sprache. In den anderen drei Fällen – an dieser Stelle muss die litauische Gesprächspartnerin mit der Muttersprache Russisch, das ich nicht spreche, ausgeklammert bleiben – entschieden sich die Gesprächspartnerinnen dafür, die Konversation in deutscher Sprache zu führen. Dabei waren ihre Deutschkenntnisse kaum besser als diejenigen einiger anderer Frauen, welche die polnische Sprache bevorzugt hatten. Im Vergleich zu den polnisch sprechenden Gesprächspartnerinnen wiesen die drei deutsch sprechenden Frauen eine deutlich stärkere soziale Verankerung und Orientierung an Berlin auf. Die Sprachpräferenz erwies sich somit als ein Indikator für die sozial-räumliche Selbstverortung (vgl. Kapitel 4.1). Die Gespräche zeichnen sich dadurch aus, dass die Frauen, nachdem sie einmal zugestimmt hatten, ausführlich und aus eigenem Antrieb erzählten. Dabei hatten alle Gesprächspartnerinnen ein bestimmtes Hauptthema, auf das sie im Verlauf des Gespräches immer wieder zu sprechen kamen: So wurde beispielsweise die Situation als Alleinstehende und das Fehlen eines Partners beklagt, die erlebte Krise der Trennung vom Ehemann in Polen thematisiert oder etwa von der aktuellen Erfahrung berichtet, als Selbstständige in Polen gescheitert zu sein. Eine junge und noch unverheiratete Gesprächspartnerin betonte die Normalität ihrer Situation, die sie als Übergangsphase bis zur Heirat und Familiengründung ansah. Von Frauen mit Kindern wurde die Fürsorge für die Kinder in den Vordergrund gerückt. Die Darstellung dieser Themen bewirkte einen ausführlichen Erzählfluss, so dass nur wenige erzählstimulierende Fragen oder Nachfragen nötig waren. Alle Gespräche wurden auf Tonband aufgezeichnet und anschließend Wort für Wort transkribiert. Die ausgewählten Zitate wurden, soweit erforderlich, von mir ins Deutsche übersetzt und sprachlich überarbeitet. Bei allen in diesem Text verwendeten Namen und Ortsangaben handelt es sich selbstverständlich nicht um die Originalangaben, sondern um Pseudonyme. Auch bei den Gesprächspartnerinnen möchte ich mich für die Hilfe, die Geduld und die Mitarbeit ganz besonders herzlich bedanken.
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3.1 Sozialräumliche Selbstverortung Nach einer kurzen Vorstellung des Forschungsprojektes erfolgte die Eröffnung des „formellen“ Gespräches mit der Vorlage einer so genannten „Ortskarte“. Damit sollte der Einstieg in das Thema erleichtert werden. Die Gesprächspartnerinnen wurden gebeten, auf einem Blatt Papier mit aufgezeichneten konzentrischen Kreisen alle Orte einzutragen, die für sie von Bedeutung sind. Die wichtigsten Orte sollten ins Zentrum und die weniger bedeutsamen Orte entsprechend an den Rand gerückt sein. Auf die Vorlage der Ortskarte gab es zwei typische Reaktionen: In fünf Fällen wurde die Ortskarte genutzt. Dabei wurde als wichtiger Ort zwei Mal allein der polnische Heimatort in das Zentrum der Ortskarte eingetragen, zwei Mal wurde der polnische Herkunftsort an erster und Berlin an zweiter Stelle genannt, und in einem Fall wurden Herkunftsland und Deutschland gleichrangig behandelt. In drei Fällen wurde die Ortskarte dagegen gar nicht genutzt. Es wurde nur verbal auf die Frage eingegangen. Dabei war auffallend, dass Berlin eine höhere Bedeutung als dem polnischen Herkunftsort zugemessen wurde. Ausschließlich der polnische Heimatort wurde von Alina Gazda in die Ortskarte eingetragen. Die vierzigjährige Kosmetikerin war erst seit sechs Monaten in Berlin. Bereits 1987 war sie einmal für ein halbes Jahr dort gewesen und hatte gemeinsam mit ihrem damals sechsjährigen Sohn in einer Sammelunterkunft für Flüchtlinge aus Polen gewohnt. Sie war aber nach Polen zurückgekehrt, als ihr Sohn eingeschult wurde. Zuletzt hatte sie in Polen als Selbstständige ein kleines Textilgeschäft geführt und sich dabei verschuldet. Um Schulden abbezahlen zu können, hatte sie bereits 1999 für fünf Monate in Köln gearbeitet. Zwei Jahre später war sie erneut verschuldet. Diesmal ging sie nach Berlin, wo sie zunächst bei Bekannten wohnen konnte. Frau Gazda betonte, dass sie nach Polen zurückkehren wird, sobald sie die benötigte Summe von 2 000 € erarbeitet hat. Berlin ist für sie ausschließlich ein Ort zum Geldverdienen: „Ich fühle mich wohl in Berlin. Berlin gefällt mir, aber ich kenne noch mindestens drei andere Städte in Polen, in denen ich mich gut und sogar besser fühle, müsste ich dort sein. Wenn ich Berlin verlasse, sehne ich mich nicht danach zurück. Darum geht es mir. Wenn ich zum Beispiel von Posen wegfahre, dann sehne ich mich nach Posen. … Aber mit Berlin bin ich emotional nicht verbunden. Ich bin hier erst ein halbes Jahr.“
Bei der zweiten Gesprächspartnerin, die auf die Frage nach wichtigen Orten allein den Heimatort in Polen in die Ortskarte eingetragen hatte, handelt es sich
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um die einundzwanzigjährige Anetta Hankiewicz, die seit drei Jahren illegal in Berlin lebt. Für die junge, unverheiratete Frau war, in ihren Worten, allein das „Elternhaus“ wichtig: „Der wichtige Ort, das ist der Ort, wo die Familie ist.“ Diese Antwort verdeutlicht, dass die in Polen stark verbreitete Orientierung auf die Familie (vgl. Feldmann 2000) auch für Frau Hankiewicz den primären Bezugsrahmen bildet. Ihre klaren Vorstellungen über ihren weiteren Lebenslauf korrespondieren mit den familienzentrierten konventionellen Erwartungen: Sie will in Berlin Geld verdienen, um nach spätestens zehn Jahren nach Polen zurückzukehren, dort eine Familie zu gründen und ein Haus zu bauen. Im weiteren Verlauf des Gesprächs wird diese eindeutige Orientierung jedoch relativiert: „Meiner Meinung nach ist jeder Ort wichtig, an dem man sich aufhält ... Abgesehen davon, dass ich nicht angemeldet bin und keine Krankenversicherung habe, lebe ich hier [in Berlin] im Moment ganz normal. Der Ort hier ist wichtig, weil das zurzeit praktisch wie mein zweites Zuhause ist. Nun, es gibt nur ein einziges Zuhause, zu dem ich im Augenblick zurückkehre: das Elternhaus. Dort bin ich dann eine Woche, zwei Wochen und im Laufe der Zeit sehne ich mich zurück nach dem, was hier ist ... Wenn ich zwei Monate nicht nach Polen gefahren bin, dann bin ich krank, ganz wörtlich. ... Aber nach einer Woche ist das schon vorbei. Dann zieht es mich wieder hierher, ich sehne mich nach hier [nach Berlin].“
Im Verlaufe des Gesprächs wird deutlich, dass sie in Berlin nicht nur Freundschaften mit anderen Menschen aufgebaut hat, sondern auch eine Beziehung mit einem (verheiratetem) Mann eingegangen ist. Vor diesem Hintergrund ist ihr Berlin offensichtlich doch wichtiger, als sie sich (und ihrer Familie) selber eingestehen mag. In Anbetracht dieser Aussage ist die ausschließliche Nennung des Elternhauses als eine Ad-hoc-Reaktion auf die Vorlage der Ortskarte einzuschätzen, die eher konventionellen Erwartungen geschuldet ist. In zwei Fällen wurde an erster Stelle der polnische Heimatort und an zweiter Stelle Berlin genannt. Die dreißigjährige Magda Duda war erst vor drei Monaten nach Berlin gekommen und fährt jedes Wochenende nach Polen. Sie hatte sich etwa ein Jahr zuvor von ihrem alkoholkranken Mann getrennt und musste seitdem alleine für ihren Unterhalt und den ihrer zwei Kinder sorgen. Auf Anraten und mit Unterstützung einer ehemaligen Schulkameradin, die inzwischen legal in Berlin lebt, kam sie nach Berlin. Sie antwortet auf die Frage nach wichtigen Orten: „Das Zuhause steht an erster Stelle. Danach ist für mich Berlin als Ort wichtig. Und warum Berlin? Deshalb, weil man arbeiten muss, um leben zu können. Und Berlin ist für mich gerade dieser Ort. Deshalb steht Berlin an zweiter Stelle. Weil ich hier die Möglichkeit zur Arbeit, zum Verdienen, zum Unterhalt der Familie habe. Darüber hinaus gibt es keine Orte mehr, die für mich irgendeine Bedeutung, eine kon-
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krete Bedeutung haben. Praktisch diese zwei Orte: Zuhause und hier Berlin. Denn das sind die zwei Orte, in meinem Leben. So kann man sagen.“
Dieses Muster findet sich auch bei der fünfundvierzigjährigen Stefania Cudna, die seit dreizehn Jahren illegal in Berlin lebt. Sie hatte eine leitende Stelle in einer Kommunalen Wohnungsgenossenschaft aufgegeben, weil sie in Berlin mehr Geld verdienen konnte: „Mein Ort ist dort, wo meine Familie ist, das heißt in Polen, in Grünberg. Denn dort habe ich mein Haus gebaut. Ich allein. Das waren meine Pläne, meine Zeit, mein Herz. Alles was war, ist in diesem Haus. Das ist der wichtigste Ort auf der Welt. ... Mein Haus, mein Haus. Ja. Genau genommen, das Haus. Aber schreiben wir Grünberg. ... Das ist im Mittelpunkt. Als zweiter Ort kommt aber leider Berlin – weil Berlin mir die Arbeit erlaubt, weil Berlin mir erlaubt, ein verhältnismäßig würdiges Leben in Polen zu haben. Deshalb steht Berlin für mich bei den wichtigen Orten an zweiter Stelle.“
Deutlich ist in allen Fällen eine funktionale Einteilung von Orten. Berlin ist der Ort der ökonomischen Aktivität. Das Verhältnis bleibt distanziert und instrumentell. Der Heimatort in Polen wird dagegen ausschließlich in lebensweltlicher Funktion beschrieben und emphatisch und emotional positiv aufgeladen. Dem lebensweltlich kodierten Ort wird deutlich mehr Bedeutung zugesprochen als dem ökonomisch-systemisch kodierten Ort. Neben der eindeutigen hierarchischen Abstufung in der Bewertung gab es in einem Falle aber auch eine Gleichgewichtung: Für die vierundvierzigjährige Ludmilla Eleniak sind ihr Herkunftsland Litauen und Deutschland die wichtigsten Orte. Seit 1993 lebt die studierte Textilindustrie-Ingenieurin mit kurzen Unterbrechungen illegal in Deutschland. Sie trägt in die Ortskarte Litauen und Deutschland gleichrangig ein: „Na ja, zuerst mal meine Heimat. Das ist normal. Natürlich. Und dann Deutschland, weil ich hier lebe ... Am wichtigsten, natürlich, ist jetzt Deutschland, weil ich hier Geld kriege.“
Aus der Antwort geht hervor, dass die Nennung der Heimat an erster Stelle durch Verweis auf Konventionen (normal) und nicht auf individueller Präferenz beruht. Dann fährt Frau Eleniak aber fort, dass „jetzt natürlich“ Deutschland „am wichtigsten“ sei. Diese Präferenz für Deutschland wird mit Hinweis auf die Bedeutung der ökonomischen Funktion verbunden. Im Laufe des Gesprächs erweist sich, dass diese Bewertung mit einem deutlichen Verlust der lebensweltlichen Funktion des Herkunftslandes korrespondiert. Frau Eleniak fährt regelmäßig
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nach Litauen, um ihre Eltern zu besuchen. Doch eigentlich fühlt sie sich, wie sie nach dem Abschalten des Tonbands zusammenfasst, dort fremd und überflüssig. Niemand würde ihr als Frau über vierzig noch eine Chance auf dem Arbeitsmarkt geben. „Meine Freundinnen [in Litauen] selber haben keine Arbeit. Sie suchen Arbeit, egal was. Sie haben Familie und nur Probleme. Das sind arme Frauen. Ich bin schon eine arme Frau. Das kann man so sagen, weil ich ja auch hier arbeiten muss, und nicht in meinem Beruf. Und ich habe keine Zukunft und keine Sicherheit. ... Aber von meinen Berufskolleginnen, kann man sagen, arbeitet keine mehr in ihrem Beruf. Sie suchen Arbeit oder arbeiten so Verschiedenes. Diese Generation ist verloren.“
Die erfahrene Ausgrenzung aus dem Arbeitsmarkt, der Verlust ihrer qualifizierten Anstellung und die gescheiterte Ehe geben ihr das Gefühl, in Litauen unnötig und überflüssig zu sein. Sie sieht für sich weder in Deutschland noch in Litauen eine persönliche oder berufliche Zukunft. Am liebsten würde sie in Deutschland bleiben, einen Mann kennen lernen und heiraten. „Ich komme her und verdiene ein bisschen Geld. Ich arbeite jeden Tag, ich habe viel Arbeit. Ich bin zufrieden, natürlich, dass ich hier leben kann. Das ist für Deutsche natürlich zu wenig, aber für mich ist das normal. … Ich denke, ich probiere, in Deutschland zu bleiben, aber bisher weiß ich nicht wie. Das ist nicht einfach. Ich habe keinen [offiziell anerkannten] Grund, in Deutschland zu bleiben. Wissen Sie, so viele junge Leute haben in Deutschland selber keine Arbeit, sie sind arbeitslos, ganz egal, welche Ausbildung sie haben. Und ich finde keine Lösung. Na ja, meine Freundin ist verheiratet mit einem Deutschen, bei ihr ist das anders. Aber ich habe keine guten Erfahrungen gemacht. Die deutschen Männer sind so ein bisschen primitiv. Ein bisschen primitiv, die wissen nicht, was sie wollen. Entschuldigen Sie, aber ich bin wirklich ein bisschen böse …“
In drei Fällen wurde die Ortskarte nicht benutzt, sondern nur verbal auf die Frage nach wichtigen Orten geantwortet. Damit wurde eine eindeutige Objektivierung der Selbstverortung „schwarz auf weiß“, wie sie mit dem Benutzen der Ortskarte verbunden ist, vermieden. Auffallend ist, dass es sich dabei um Frauen handelt, die seit mindestens neun Jahren in Berlin arbeiten und leben und – im Unterschied zu anderen Gesprächspartnerinnen – mit mir Deutsch sprachen. Elbieta Adamiec lebt und arbeitet seit zwölf Jahren illegal in Berlin. Auf das Angebot, die Ortskarte zu nutzen, ging sie nicht ein. Stattdessen begann sie, über die Frage nach dem für sie wichtigsten Ort laut nachzudenken. Sie habe ein Problem damit, die Orte nach der Wichtigkeit zu ordnen. Für einen Moment wechselt sie bei der folgenden Antwort in die polnische Sprache:
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„Deshalb, weil ich auf der Grenze lebe, wie man bei uns sagt. Ich stehe mit einem Bein in Polen, denn ich habe Kinder dort in Polen. Und mit dem anderen Bein bin ich in Berlin. Hier lebe ich. Ich bin schon seit zwölf Jahren hier.“
Vor sechs Monaten, so erzählt Frau Adamiec auf Deutsch weiter, hat sich ihr in Polen gebliebener Ehemann von ihr wegen einer anderen Frau getrennt. Der Herkunftsort – nach ihrer Beschreibung eine reine Schlafstadt ohne kulturelles Angebot – hat für sie damit an Bedeutung verloren. Stattdessen wird Berlin in einer emphatischen Beschreibung zum wichtigsten Ort erklärt: „Ich wollte mit dieser Stadt [in Polen] nichts mehr zu tun haben. Das ist sowieso nicht meine Stadt. Ich bin dort nicht geboren. Ich habe dort gearbeitet, und dort habe ich meinen Mann kennen gelernt, und deshalb ... Meine Kinder sind dort geboren. Aber das ist nur ein großes Schlafzimmer. [...] Normalerweise muss ich sagen, ich wollte unbedingt in Berlin wohnen. Das ist meine Stadt, mit meinem [Lebens]Gefühl. Hier lebe ich. Ich habe hier meine Lieblingsdiskos, mein Kino, mein Theater, meine Bekannten. (...) Ich habe schon nichts mehr zu tun mit dieser Stadt in Polen. Dort wohnen meine Kinder. Aber meine Kinder wollten auch unbedingt hier sein. Die beiden besuchen mich oft, sie sprechen deutsch und englisch. Und beide sehen schon, welche Möglichkeiten es in dieser Stadt gibt. Ich kann nicht sagen, Deutschland. Ich muss sagen: Berlin. ... Und ich sagte, wegen meiner Gefühle, meiner Meinung, meiner Hoffnung: das ist Berlin. Oh, da hast du schon die Antwort, siehst du. (lacht) Aber weißt du, ich muss das verarbeiten, ja...“
Erst im Verlaufe ihrer Antwort auf meine Frage wird ihr selber bewusst, dass Berlin zum wichtigsten Ort geworden ist. Diese Selbstverortung steht im Zusammenhang mit der ganz aktuell durchlebten und noch nicht verarbeiteten Trennung vom Ehemann. Die eindeutige Option für Berlin ergibt sich erst im Anschluss an das Bewusstwerden und Aussprechen der Ablösung und Distanzierung vom Herkunftsort. Trotz der eindeutig geäußerten Präferenz für Berlin hat der Herkunftsort noch Bedeutung, denn dort leben die beiden Söhne bei dem Vater. Ebenfalls ohne Verwendung der Ortskarte antwortet die neunundvierzigjährige Joanna Figa. Sie lebt seit zwölf Jahren illegal in Berlin und verdient mit unangemeldeten Putzarbeiten in Haushalten deutscher Familien den Lebensunterhalt für sich und ihre zwei Kinder. Sie hat sich in Berlin eingelebt: „Wenn jemand sagt, dass ich mich zwischen Berlin und Polen [Ortsname] entscheiden sollte, dann kann ich das nicht. Ich bleibe sowieso mehr Zeit hier [in Berlin]. Ich mag Berlin gerne. Vom ersten Blick an bin ich einfach verliebt. (...) Wenn jemand mich fragte, dass ich mich entscheiden müsste... Ach dann wäre ich sehr traurig, weil ich kann nicht, ich kann nicht. Ich fühle mich sehr, sehr wohl hier [in Berlin]. Weil, zum Beispiel als Frau in meinem Alter in Polen in ein Restaurant oder in eine
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Disko zu gehen, das kann man vergessen. In Polen würde ich schon mit Kopftuch rumlaufen, ohne Zähne, so ‘bssss’, ja. Das sehe ich bei meinen Freundinnen in meinem Alter, leider. Leider, leider, leider, leider, ja, ja, ja. Manche sind schon alte Frauen. Ich kann mich schon nicht mehr mit ihnen unterhalten, verstehen Sie. Ich weiß nicht, was ich sagen soll, über was ich reden sollte? Wir sind total anders. Und hier fühle ich mich wohl, weil ich relativ jederzeit ausgehen kann. Sitzen, Kaffee trinken oder etwas essen. Und es ist ganz normal. ... Ich habe paar Mal Angebote aus Polen bekommen, in meine Firma zurückzukommen. Aber das ist schmutzig, traurig, dunkel, so ... Wissen Sie, ich bleibe gerne hier. Ich fahre [zu Besuch], weil ich habe dort meinen Sohn und ich habe meinen Enkelsohn.”
Für Frau Figa ist Berlin zum Lebensmittelpunkt geworden. Polen erscheint im Vergleich dazu als weniger lebenswert. Gleichzeitig hat sie den Kontakt zu Polen aber nicht vollständig abgebrochen. In Polen ist sie als Selbstständige registriert, zahlt Steuern und Beiträge für die Renten- und Krankenversicherung. Insbesondere ihre Jugendfreundinnen helfen ihr dabei, die notwendigen Formalitäten und organisatorischen Probleme zu bewältigen. Auch mit ihrem erwachsenen Sohn, der dank ihrer finanziellen Unterstützung inzwischen sein Jurastudium abgeschlossen und geheiratet hat, pflegt sie den Kontakt. Ihre Tochter lebt inzwischen in Berlin in einer eigenen Wohnung und studiert. Frau Figa betont, dass sie sich auf einen Kreis von Freunden in Berlin und dem Heimatort in Polen verlassen kann. Zu den Freunden zählen neben den Jugendfreundinnen in Polen und den eigenen Kindern auch einige ihrer Arbeitgeberinnen, die ihr sehr geholfen haben, das Leben in der Illegalität zu bewältigen (vgl. Cyrus 2003). Schließlich verzichtet auch die achtunddreißigjährige Danuta Baranowski auf eine Verwendung der Ortskarte. Sie hat sich von ihrem Mann getrennt und arbeitet seit neun Jahren in Berlin. Inzwischen lebt auch ihr jüngerer Sohn illegal bei ihr in Berlin. Auch Frau Baranowski ist zwischen den beiden Orten hin- und hergerissen. Auf die Frage nach den wichtigen Orten lautet ihre Antwort: „Na ja, ich will sagen, das ist schwer zu beantworten. Ich muss zwei Orte nennen. Einmal Berlin, denn hier kann ich Geld verdienen und weiter leben. Und dann die Heimatstadt in Polen, Posen, weil dort mein zweiter Sohn lebt, der große. Er geht dort zur Schule, weil ich es nicht geschafft habe, hier in Berlin eine Schule für ihn zu finden, er war schon zu alt. Da in der Mitte müssen die zwei Orte stehen.“
Frau Baranowski betont einerseits, dass sie Berlin nicht einfach verlassen könne. Sie arbeitet bei einigen älteren Menschen und fühlt sich verantwortlich, da sie sonst niemanden haben, der für sie sorgen würde. Andererseits träumt sie davon, nach Polen zurückzukehren und sich dort als Modeschneiderin selbstständig zu machen. Doch die Erinnerung an ihren nur wenige Tage zurückliegenden Besuch in Polen klingt recht distanziert:
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„Ehrlich gesagt, als wir durch meine Stadt gelaufen sind, da habe ich gesagt, dass ich Berlin besser kenne als meine Stadt. Die habe ich schon vergessen.“
Die Gespräche verdeutlichen die plurilokale Selbstverortung der illegal beschäftigten polnischen Haushaltsarbeiterinnen. In allen Fällen sind jedoch nicht mehr als zwei Orte wichtig, die mit lebensweltlichen bzw. ökonomischen Funktionen kodiert werden. In einem Zitat von Magda Duda kommt diese Konstellation sehr prägnant zum Ausdruck: „Polen, weil meine Kinder da sind. Berlin, weil ich hier Arbeit habe.“ Der Herkunftsort hat immer eine – wenngleich unterschiedlich gewichtete – lebensweltliche Bedeutung, die sich durch den Bezug auf Familienmitglieder und soziale Beziehungen ergibt. Die Selbstverortung erfolgt vorrangig entlang familienzentrierter Konventionen. Entsprechend ambivalent ist das Verhältnis zu Berlin als dem Ort, wo man von der Familie getrennt ist. Berlin erhielt erst dann eine höhere Bedeutung, wenn die Bezüge zum Herkunftsort nach jahrelanger Abwesenheit problematisch geworden waren. Aber auch in diesen Fällen bestehen offensichtlich psychologische Widerstände, die stärkere Selbstverortung in Berlin offen zuzulassen. Die Gespräche zeigen deutlich, dass der polnische Herkunftsort für alle Gesprächspartnerinnen ein wichtiger und in den meisten Fällen der wichtigste Bezugspunkt bleibt. Dies hat vor allem zwei Hintergründe: Zum einen sind die wichtigsten Bezugspersonen – die Kinder oder die Eltern – in Polen geblieben und die Gesprächspartnerinnen fühlten sich verantwortlich für das Wohlergehen dieser Personen. Zum anderen sehen die Frauen für sich keine Zukunft in Berlin. Die teilweise sehr drastisch vorgebrachten negativen Darstellungen der Verhältnisse in den Herkunftsländern deuten aber darauf hin, dass diese Orientierung auch durch fehlende Alternativen gefördert wird. Alle Frauen lebten und arbeiteten illegal in Deutschland. Ihnen ist bewusst, dass sie kaum Aussicht auf einen dauerhaften legalen Aufenthalt haben. Die rechtliche Ausgrenzung führt dazu, dass auch die Frauen, für die Berlin bei der sozialräumlichen Selbstverortung an erster Stelle steht, Polen als stabilisierenden Bezugspunkt nicht aufgeben. Auch Frauen, die seit zwölf Jahren in Berlin leben und arbeiten und sich hier niedergelassen haben, lassen den Kontakt mit Polen nicht abreißen, denn bei einer Aufdeckung des illegalen Aufenthaltes und der anschließenden Abschiebung, aber auch im Falle einer Rückkehr bei Alter, Krankheit oder Arbeitslosigkeit bleibt nur Polen als Ort der Rückkehr. An der Lebensführung von Frau Figa wird deutlich, dass zur Herstellung von Sicherheit in langfristiger Perspektive letztlich nur die Inanspruchnahme institutioneller und sozialer Angebote in Polen in Frage kommt: Sie ist in Polen als Selbstständige angemeldet, zahlt dort Steuern und führt Beiträge an die Sozial- und Rentenversicherung ab.
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Auch Frau Adamiec, die sich seit der kurz zuvor erfolgten Trennung von dem Ehemann stärker auf Berlin orientiert, hat den Bezug zu Polen (noch) nicht aufgegeben, auch wenn sie überlegt, wie sie sich in Berlin etablieren kann. Eine Scheinheirat will sie aber nicht eingehen. Vor dem Hintergrund, dass bei Arbeitslosigkeit oder im Falle krankheits- oder altersbedingter Erwerbsunfähigkeit keine soziale Absicherung in Berlin besteht, werden die Bezüge zum Herkunftsland nicht gänzlich abgebrochen. Die Schwierigkeit, sich selber in Berlin zu verorten, hängt auch mit dieser Marginalisierung und rechtlichen Unsicherheit zusammen.
3.2 Beweggründe Warum wurde der Herkunftsort verlassen, wenn er eine so hohe Bedeutung hat? In den Erzählungen wurden Beweggründe für die Aufnahme der Arbeitsmigration vorgetragen, die sich im Anschluss an Schütz (vgl. 1974, S. 115–130) ganz grob in ein „Weil-Motiv“ und ergänzende „Um-zu-Motive“ einteilen lassen. Schütz benutzt den Begriff des Weil-Motivs für in der Vergangenheit liegende Ereignisse, die eine Handlung in Gang setzen. Bei Um-zu-Motiven handelt es sich dagegen um in der Zukunft liegende Pläne und Ziele, die eine Handlung motivieren. Das Weil-Motiv für die Aufnahme einer Arbeitsmigration war für alle befragten Frauen die Perspektivlosigkeit auf Grund einer schwierigen ökonomischen Situation. Dies wird deutlich in der Biographie Ludmilla Eleniaks, die nach sechs Jahre illegaler Erwerbstätigkeit in Deutschland 1999 nach Litauen zurückgekehrt war: „Und dann habe ich gedacht, ich werde für immer in Litauen bleiben. Ich habe ein Auto gekauft und bin nach Litauen zurückgekehrt. Ich habe gedacht, ich suche Arbeit. Und überall wurde mir dann gesagt, ich bin zu alt. Und Deutschkenntnisse brauche ich nicht, sondern nur Englischkenntnisse. Und dann bin ich wieder nach Deutschland gegangen und habe wieder geputzt. Das war natürlich schlimm für mich. Das ist keine Zukunft, ich weiß aber nicht, was ich sonst machen soll. Ich habe keine andere Wahl.“
Magda Duda hatte nach der Trennung von ihrem alkoholkranken Mann begonnen, in einer Textilfabrik für einen Monatslohn von umgerechnet knapp 180 € zu arbeiten. Als die Firma ihr drei Monate lang keinen Lohn zahlte, entschied sie sich, nach Berlin zu gehen: „Am liebsten wäre ich überhaupt nicht von zu Hause weggefahren. Wenn es Arbeit gäbe, wäre ich bei meinen Kindern, ich wäre überhaupt zu Hause, denn nur darum
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geht es. Nun, aber die Situation ist nun mal so und nicht anders. Die Zeiten sind nun mal so. Das ist übrigens auch bei vielen anderen Leuten so, die hierher fahren, um hier Geld zu verdienen, nicht wahr.“
Bei Alina Gazda liegt der unmittelbare Anlass für die Entscheidung, nach Berlin zu kommen, in einem anhaltenden wirtschaftlichen Misserfolg als selbstständige Geschäftsfrau: „Ich bin vor einem halben Jahr gekommen. Ich bin illegal in Berlin. Ich bin gekommen, um zu arbeiten, weil ich Schulden habe. Ich muss in Polen Geld zurückzahlen. Ich hatte ein kleines Textilgeschäft, einen kleinen Kiosk, das war mein Laden und ich bin Pleite gegangen (....) Meine Schulden sind nicht so hoch, so riesig. Es ist nur so, dass ich in Polen keine Möglichkeiten habe, das Geld zu verdienen. Ich habe 2000 Euro zu bezahlen, das ist nicht so viel Geld. Es geht nur darum, dass ich nicht im Stande bin, diese Summe in Polen zu verdienen.“
Insgesamt werden die Verhältnisse in Polen durchgängig negativ darstellt. Stefania Cudna erklärte: „Gäbe es in Polen nicht diese ökonomische Situation, dann wäre ich niemals nach Berlin gekommen. Ich würde mich nicht in Berlin aufhalten. Berlin wäre für mich nicht wichtig. Wenn es in Polen nicht so schlecht wäre, vielleicht wäre ich dann nur als Touristin in Berlin, so wie ich in vielen anderen europäischen Städten gewesen bin.“
Auffällig ist, dass die Entscheidung für die Aufnahme der Arbeitsmigration mit biographischen Übergängen oder Brüchen zusammenfällt. Die einundzwanzigjährige Anetta Hankiewicz ist vor drei Jahren unmittelbar nach Abschluss ihrer Ausbildung im Gaststättenservice nach Berlin gekommen. Bei den anderen sieben Frauen waren fünf zum Zeitpunkt der Aufnahme der Arbeitsmigration geschieden oder lebten von den Ehemännern getrennt. Nur zwei Frauen lebten zum Zeitpunkt der Mobilitätsentscheidung in einer – inzwischen nicht mehr – bestehenden Ehe. Beide damals verheirateten Frauen betonten, dass es eigentlich die Aufgabe ihrer Ehemänner gewesen wäre, für das Überleben und einen angemessenen Lebensstandard der Familie zu sorgen. Nur weil ihre Ehemänner dazu nicht in der Lage gewesen seien, hätten sie diese Verantwortung übernommen. Insgesamt lässt sich feststellen, dass die Migrationsentscheidung im Zusammenhang mit einem Versagen der (Ehe-)Männer steht, die mit der Rolle des Familienernährers verbundenen Anforderungen zu erfüllen. Nur auf Grund einer Abwesenheit oder Unfähigkeit der Männer sahen die Gesprächspartnerinnen sich gezwungen, die Rolle des verantwortlichen Familienernährers auszufüllen. Die Mobilität der Frauen bildet vor diesem Hintergrund eine Handlungsstrategie, um
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den gesellschaftlichen Kollaps konventioneller gendercodierter Lebensentwürfe zu bewältigen.1 Als grundlegendes „Weil-Motiv“ lässt sich Perspektivlosigkeit feststellen. Dass ein Mangel an Perspektive beklagt wird, verweist aber gerade darauf, dass die Frauen durchaus auch Ziele und Wünsche haben, die mit Schütz als „Um-zu-Motiv“ bezeichnet werden können. In Ergänzung zum grundlegenden Weil-Motiv lassen sich vier „Um-zu-Motive“ erkennen. (1) Betont wurde von den Frauen, dass sie nicht aus individuellen Motiven, sondern vor allem aus Verantwortung für die Familie handelten. Gegenüber Bekannten in Deutschland erklärt Ludmilla Eleniak: „Wenn ich erzähle, dass ich schwarzarbeite, dann sage ich, dass ich damit meinen Eltern helfe.“ Von den Frauen mit Kindern, die entweder allein erziehend waren oder eine untergeordnete berufliche Stellung innehatten, wurde das Weil-Motiv der „Perspektivlosigkeit in Polen“ mit dem Um-zu-Motiv der „Sorge für die Kinder“ kombiniert. Elbieta Adamiec erinnert sich an die Situation, in der sie sich 1989 zur Aufnahme der Arbeitsmigration entschloss: „Mein Sohn war zu dieser Zeit sechs oder fünf Jahre alt. Und ich habe Mittagessen gemacht. Es war damals ganz schwierig, etwas zu kaufen. In unseren Läden gab es nur Essig. Sonst nichts. Und ich hatte Champignons, ich meine diese Pilze, und mein Sohn will immer etwas naschen, naschen – und zum Schluss habe ich ihm einen Klaps gegeben und gesagt: ‚Lass mal, das muss für alle reichen!‘ Und er hat geweint, aber wie...! Und ich auch. Und da habe ich in diesem Moment gedacht: Schluss, so nicht mehr! Nicht mehr so, das ist unmöglich! Das geht nicht weiter so, ich muss etwas machen.“
Joanna Figa, die zum Zeitpunkt ihrer Migrationsentscheidung in einer großen Baufirma in leitender Position arbeitete und gerade den Magister in Finanzbuchhaltung abgeschlossen hatte, verbindet die Entscheidung zur Aufnahme der Arbeitsmigration ebenfalls mit der Sorge für ihre Kinder und betont die persönlich gebrachten Opfer: „Ich war einkaufen gegangen, mit meinen Kindern zusammen. Und zum Beispiel meine Kinder wollen das, oder das, oder das. Und ich muss immer sagen: Ich hab’ kein Geld, ich hab’ kein Geld, ich habe kein Geld, oder ich habe das gegessen, was meine Kinder auf dem Teller gelassen haben, ja. Und ich war auch glücklich, ja. Aber ich wusste, dass sie wachsen, dass sie immer mehr brauchen werden. Und ich weiß nicht, ich habe nie gedacht, dass ich nach Deutschland komme. Nie! Nie. Wozu habe ich studiert? Wozu habe ich einen Beruf gemacht gerade, und so?“ 1
Allerdings wird das Bemühen zur Ausfüllung der Rolle des Familienernährers (bread winner) von männlichen polnischen Pendelmigranten ebenfalls als Motiv für die Aufnahme einer Beschäftigung genannt (vgl. Cyrus 2001 a).
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Auch bei Danuta Baranowski und Magda Duda wird das Wohlergehen der Kinder bei der Begründung der Migrationsentscheidung an erster Stelle genannt. Für die Zukunft der Kinder werden bestehende eigene Wünsche nach sozialem Aufstieg aufgegeben. Der soziale Aufstieg der Kinder wird zum Ziel der eigenen räumlichen Mobilität. (2) Dagegen hatte Stefania Cudna die Arbeitsmigration mit der erklärten Absicht aufgenommen, den eigenen Lebensstandard zu erhöhen. Bis zu ihrer Mobilitätsentscheidung vor dreizehn Jahren war sie bei einer Wohnungsbaugesellschaft in ihrem polnischen Heimatort in leitender Position tätig gewesen. Für sie war die bezahlte Haushaltsarbeit in Deutschland vor allem eine Chance, den Lebensstandard zu erhöhen: „Ich habe in dieser Zeit im Büro gearbeitet, ich war eine kleine Chefin, und meine Schwester war hier. Und sie hat mich eingeladen. Und ich habe gesagt: Vielleicht kann ich es versuchen, wie das läuft hier in Berlin. Obwohl ich kein Wort Deutsch gesprochen habe in dieser Zeit. Und ich bin hierher gekommen. Ich war drei Monate hier und später habe ich mir für dieses Geld ein kleines Auto gekauft – für drei Monate in Deutschland!“
Nach dieser Erfahrung entschließt sich Frau Cudna, ihre Stelle zu kündigen und für zwei Jahre nach Berlin zu gehen. Aus den anfänglich geplanten zwei Jahren sind inzwischen dreizehn Jahre geworden. (3) Eine weitere Variante des Lebensstandard-Motivs ist die Aufnahme der Mobilität als vorübergehende Phase einer konventionellen Biographie. Anetta Hankiewicz kam vor drei Jahren unmittelbar nach dem Ende ihrer Ausbildung im Gaststättengewerbe nach Berlin. Sie zog zu ihrer älteren Schwester, die damals schon seit sieben Jahren in Berlin illegal arbeitete und lebte und zum Zeitpunkt unseres Gespräches einen polnischen Mann heiratete, der ebenfalls illegal in Berlin gelebt und auf Baustellen illegal gearbeitet hatte. Gemeinsam hatte sich das Paar in den letzten zehn Jahren Geld erspart, um sich eine gemeinsame Existenz in Polen aufzubauen. Ein Haus haben sie bereits gebaut, eine berufliche Existenz ist geplant. Frau Hankiewicz hatte ihre Schwester bereits als Teenager in den Schulferien besucht und orientiert sich an ihrem Vorbild: „Es geht allein und ausschließlich darum, ein bisschen Geld zu verdienen. Selbst wenn ich in Polen die Schule besucht hätte, dann müsste ich auf dieselbe Art Geld verdienen ... Also mache ich es so wie meine Schwester im Augenblick, sie hat eine eigene Wohnung, sie baut jetzt ein Haus, sie hat ein Auto und so weiter... Und das allein und ausschließlich durch diese Arbeit hier [in Berlin]. Daher habe ich die Hoffnung, dass ich vielleicht im Laufe der Zeit wenigstens ein Drittel von dem haben werde, was sie jetzt, nach zehn Jahren, hat. Wir werden sehen. Das Ziel ist es,
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ein bisschen Geld zu verdienen, ein Haus zu errichten, und eine Familie zu gründen. Spätestens bis zum dreißigsten Lebensjahr.“
(4) Ein letzter Aspekt, der im Zusammenhang mit der Ausübung einer illegalen Beschäftigung in Deutschland genannt wurde, ist der Erwerb von Sprachkenntnissen. Elbieta Adamiec hatte nach zehn Jahren mobiler Lebensführung begonnen, die deutsche Sprache systematischer zu lernen, um die beruflichen Chancen in Polen zu verbessern. „Ich war ein halbes Jahr bei einer Sprachschule gewesen. Ja und ich hab’ gedacht, vielleicht kann ich nach Polen zurückkommen und in Polen mit der deutschen Sprache nach Arbeit suchen oder so. Aber in dieser Zeit kommt es zu einer kleinen Katastrophe in meinem Familienleben. Mein Mann will sich scheiden lassen, und das hat natürlich meine ganzen Pläne kaputt gemacht.“
Dieses Motiv wird in dem hier ausgewerteten Beispiel auch von Ludmilla Eleniak angeführt. Sie hatte gehofft, durch einen Aufenthalt in Deutschland ihre Deutschkenntnisse verbessern zu können und damit nach einer Rückkehr nach Litauen auf dem Arbeitsmarkt bessere Chancen zu haben. Frau Eleniak beschreibt, welche Pläne sie mit der Aufnahme der Arbeit in Deutschland verband. „Ja, fahren wir nach Deutschland und arbeiten drei Monate. Ein bisschen Geld verdienen und es kann auch sein, dass ich die deutsche Sprache noch besser lerne und ich bekomme dann wieder eine Arbeit, wenn ich wieder nach Litauen zurückkomme.“
Das richtungslose Weil-Motiv der Perspektivlosigkeit verbindet sich mit dem Sinn gebenden Um-zu-Motiv, für die eigenen Kinder eine Perspektive zu erarbeiten, den Lebensstandard zu erhöhen, eine persönliche Zukunft aufzubauen oder zu lernen (vgl. auch Jordan/Vogel 1997). Die Motive bestehen nebeneinander und können sich ergänzen. Die Analyse der Um-zu-Motive zeigt, dass damit überwiegend eine Anbindung an Polen verbunden ist: Die Kinder leben (überwiegend) in Polen und gehen dort zur Schule. Der Lebensstandard kann nicht in Berlin, sondern nur in Polen erhöht werden. Die Familiengründung wird, wie bei der Schwester, für Polen erwartet. Der Erwerb von Sprachkenntnissen sollte die Arbeitsmarktchancen im Herkunftsland erhöhen. Es besteht bei den Um-zuMotiven eine Orientierung auf das Herkunftsland. Damit wird die sozialräumliche Selbstverortung noch einmal unterstrichen.
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3.3 Mobilitätspraktiken Die festgestellte plurilokale Selbstverortung stellt eine deutliche räumliche Aufspaltung lebensweltlich und ökonomisch-funktional kodierter Bereiche dar. Für plurilokal verortete polnische Haushaltsarbeiterinnern ergibt sich damit ein grundsätzliches Dilemma: Die plurilokale Lebensführung dient dem Ziel der Aufrechterhaltung und Stabilisierung der konventionellen Lebenswelt am Herkunftsort. Gleichzeitig beinhaltet eine Abwesenheit aber die tendenzielle Gefahr der Destabilisierung dieser lebensweltlichen Strukturen. Die eigene Abwesenheit muss sozial „unschädlich“ gemacht werden. Das Zusammenbinden der sozialen Welt der polnischen Haushaltsarbeiterinnen erfordert bewusste Entscheidungen und aktives Handeln, die in ihrer Gesamtheit als „Mobilitätspraktiken“ bezeichnet werden können. Bei einer plurilokalen Lebensführung sind zwei Herausforderungen zu bewältigen: Alltägliche familiäre Aufgaben, wie Kochen, Wäschewaschen, Erziehung der Kinder, müssen auch während der Abwesenheit der Person, die den Haushalt zusammen- und am Laufen hält, erledigt werden. Zum anderen sind lange Abwesenheitszeiten mit der Gefahr verbunden, dass soziale Beziehungen abkühlen und bisher einander nahe stehende Menschen sich entfremden, weil ihnen durch die unterschiedlichen Lebensformen und Erfahrungen ein gemeinsam geteilter Erfahrungshorizont abhanden kommt. Die Pflege sozialer Beziehungen ist nicht nur emotional von Bedeutung, sondern auch im Zusammenhang mit der alltäglichen Organisation des Haushaltes, die von diesen zurückgebliebenen Bezugspersonen während der Abwesenheit zumeist übernommenen wird. Plurilokal verortete Akteure sind auf Unterstützungsleistungen und Kooperationen mit Dritten angewiesen. Dabei sind die polnischen Haushaltsarbeiterinnen vor ganz andere Probleme gestellt als etwa Bundeswehrsoldaten, ITSpezialisten oder Journalisten. Sie selber können nicht wie selbstverständlich die Dienste von Sekretariaten, Reiseagenturen, Hotels, Kofferträgern oder Putzfrauen und Kindermädchen in Anspruch nehmen. Sie verfügen über keine institutionellen Ressourcen, die ihre Mobilität strukturieren und organisieren. Sie können es sich auch nicht leisten, sich wie die privilegierten Hochmobilen die Mobilität ermöglichende und erleichternde Infrastruktur auf einem Markt zu kaufen. Bei den befragten Haushaltsarbeiterinnen übernehmen vor allem Mitglieder der Kernfamilie, aber auch weiter entfernte Verwandte, Nachbarn oder Freunde diese Aufgaben in enger Absprache mit der abwesenden Ehefrau bzw. Mutter. Wenn Magda Duda in Berlin arbeitet, werden ihre zwei Kinder von ihrer Mutter betreut.
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„Als ich meiner Mutter sagte, dass ich keinen anderen Ausweg sehe, als nach Berlin zu fahren und dort Arbeit zu suchen, da sagte sie zu mir: „Fahr! Ich bin noch gesund, ich werde hier in Polen alles machen. Fahr du nur ganz bestimmt.“
Sie geht davon aus, dass sie in zwei Jahren die Reisen nach Berlin wieder aufgeben muss, denn dann wird ihr Kind in die Schule kommen, und ihre Mutter wird nicht mehr bei den Schulaufgaben helfen können. Um ihr Kind zu fördern, wird sie dann in Polen bleiben müssen. Bei Kindern kommt hinzu, dass die Erziehung eine emotionale Beziehung und eine erzieherische Dimension umfasst. Joanna Figa, die ihren siebzehnjährigen Sohn in Polen zurückließ, erinnert sich: „Meine Schwester ist jeden zweiten Tag gekommen, die hat frühmorgens einen großen Topf Suppe gekocht. Und außerdem, damals wusste ich gar nicht, dass ich so tolle Freunde habe, da hat ein Mann sich um meinen Sohn gekümmert, der hat bei der Polizei gearbeitet. … Als die anderen Kinder gemerkt haben, dass die Mutter weg ist, dass die Wohnung leer ist, da sind viele gekommen, haben getrunken und Radau gemacht. Und die Nachbarn riefen die Polizei. Wenn der Bekannte das gehört hat, ist der sofort zu meiner Wohnung gekommen und hat zu seinen Kollegen gesagt: ‚Du, ich passe auf die Kinder auf, ihr könnt wieder gehen.‘ … Das war für meine Kinder eine sehr schlechte Zeit. Mein Sohn hat Geld gehabt, aber er hatte keine Familie zu Hause, nichts. Als junger Mann ist er nach Hause gekommen und war allein. Ich weiß nicht, ich hatte viel Glück, dass er nicht wie alle anderen getrunken … oder Drogen genommen hat. Aber jedes Mal, wenn ich nach Polen gefahren bin, dann bin ich mit meinen Kindern ins Restaurant essen gegangen oder ins Theater oder … Und immer zusammen Urlaub gemacht. Und ich habe viel erzählt, viele Geschichten, und sie konnten mir die schlimmsten Sachen erzählen. Weil sie sicher waren, dass ich kein Theater mache oder so, sondern eine Lösung finden werde. Wir haben immer viel miteinander gesprochen, und manchmal hatten die schon die Nase richtig voll von mir.“
Bei Stefania Cudna blieb der Ehemann in Polen und passte auf den Sohn auf. Sie hat ihm zeitweise sogar eine Putzfrau bezahlt: „Komisch, in dieser Zeit hatte ich auch in Polen eine Putzfrau. Ich war hier, und bei mir in Polen hat auch eine Dame als Putzfrau gearbeitet. Ich wollte meinem Mann das Leben erleichtern. Weil mein Sohn schon in der Schule war und ich dachte, dass es vielleicht für meinen Mann zu schwer ist, die ganze Hausarbeit zu erledigen und zu schaffen. Einkaufen, Bügeln und all die anderen Sachen. Deshalb habe ich ihm eine Dame besorgt. Und früher war das eine Russin, und dann eine Polin.“
Die Darstellungen zeigen, dass alltägliche Aufgaben der Haushaltsführung an Dritte delegiert werden. Für ihre Leistungen partizipieren die unterstützenden Personen am Ertrag der Arbeitsmigration: Nahe Familienmitglieder haben einen
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direkten Nutzen von der Erhöhung des Lebensstandards. Andere Personen erhalten eine Bezahlung. In der Regel ist die Unterstützungsleistung aber nicht marktvermittelt, sondern beruht auf der Basis gegenseitiger persönlicher Verpflichtungen. Diese persönliche Reziprozität muss in persönlichen Begegnungen und im Austausch immer wieder bestätigt werden (vgl. Mauss 1989). Die wichtigste Form der Bestätigung und Festigung der reziproken Beziehung ist die regelmäßige körperliche Anwesenheit, die durch eine mit Hilfe moderner Telekommunikationsmittel vermittelte Präsenz ergänzt wird. Die körperliche Präsenz ist von besonderer Bedeutung. Alle Befragten beschrieben, wie sie den regelmäßigen persönlichen Kontakt mit den ihnen wichtigen Bezugspersonen suchten und aktiv herstellten. Für alle befragten Frauen war es wichtig, regelmäßig Zeit am Herkunftsort zu verbringen. Ludmilla Eleniak betonte: „Ich fahre alle drei Monate nach Litauen. Weil ich dort eine Wohnung habe, ein Auto, die Eltern, meinen Bruder und Freunde. Natürlich. Das ist normal für mich. Ich muss meine Heimat ein bisschen lieben. Ich bleibe nicht lange, so zehn Tage bis vierzehn Tage, und dann wieder zurück. Weil ich Angst habe, diese Arbeit zu verlieren.“
Es werden verschiedene Muster der räumlichen Mobilität praktiziert, die sich im Laufe der Zeit auch verändert haben. Als Danuta Baranowski vor neun Jahren die Arbeitsmigration aufgenommen hatte, war sie zunächst nur zwei Tage in der Woche in Berlin und übernachtete bei einer Freundin. Nach drei Jahren änderte sich der Rhythmus: Sie kam nunmehr für vier Tage, von Dienstag bis Freitag, nach Berlin. Hier wohnte sie zur Untermiete und verbrachte nur noch das Wochenende in Polen. Inzwischen hat sie in Berlin eine eigene Wohnung angemietet und ihren jüngeren Sohn zu sich geholt. Sie fährt nicht mehr jedes Wochenende nach Polen, wo der ältere Sohn bei ihrem Stiefvater lebt und zur Schule geht. Dafür kommen ihr älterer Sohn und ihr Bruder nach Berlin und bringen bei dieser Gelegenheit sogar schmutzige Wäsche zum Waschen mit. Frau Baranowski beteiligt sich noch immer an der Führung des Haushalts, obwohl sich der Lebensmittelpunkt nach Berlin verlagert hatte. Zum Zeitpunkt des Interviews verbrachten alle befragten Haushaltsarbeiterinnen mehr Zeit in Berlin als in Polen. Damit hatte sich das Mobilitätsmuster auch bei Stefania Cudna von der jahrelang praktizierten Rotation, bei der sie sich im Monatsrhythmus mit einer Kollegin bei der Arbeit abgewechselt hatte, zum Pendeln verändert: „Ich war einen Monat in Berlin, einen Monat in Polen. Seit einem halben Jahr bin ich die ganze Zeit hier. Ich bin aber oft in Polen. Manchmal bin ich drei Mal im Monat am Wochenende dort. Wenn ich nicht nach Polen fahren kann, dann fühle ich mich wie leblos. Ich muss! Weil ich mein Haus liebe, ich fühle mich dort wie in ei-
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ner Oase. Ich habe das selber gemacht, selber geschaffen und meine Wohnung besorgt, und das ist mein Platz.“
Die Besuche zu Hause dienen zum einen dazu, den Haushalt zu organisieren und die Beziehungen mit den Bezugspersonen zu pflegen. Der regelmäßige Besuch der Familie hat aber noch eine zweite, weiter gehende Bedeutung: Das Leben und Arbeiten in Berlin hat eine überwiegend instrumentelle Bedeutung und ist durch die Ausübung einer gesellschaftlich stigmatisierten Tätigkeit persönlich unbefriedigend. Bei ihrer Familie und den Verwandten in Polen finden die Hausarbeiterinnen dagegen für ihre Leistung Anerkennung. Sie genießen das mit dem Erwerb von Statussymbolen verbundene Prestige und erhalten so einen „Ausgleich“ (Piore 1979, S. 50 f.). Die Häufigkeit der Besuche zu Hause hängt ab von den finanziellen Möglichkeiten, dem erforderlichen Zeitaufwand und der Art der sozialen Beziehung. Auffällig war, dass die Frauen die Entfernungen nicht in geographischen Kategorien (räumlicher Abstand in Kilometern) angegeben haben, sondern als Geldund Zeitaufwand. Typischerweise wurde auf die Frage, wie weit der Heimatort entfernt ist, die aufzuwendende Fahrzeit genannt. „Früher bin ich mit dem Zug nach Litauen gefahren. Aber jetzt oft mit dem Bus. Das ist bequem. Ich fahre um 19 Uhr von Berlin ab. Und am nächsten Tag bin ich um halb eins zu Hause. Man fährt die ganze Nacht durch.“
Mit der Nachfrage ist seit Anfang der neunziger Jahre ein neuer Markt für den schnellen und billigen grenzüberschreitenden Personenverkehr entstanden. Ein Blick in die zahlreichen Wochenblätter und Anzeigenblätter in osteuropäischen Sprachen zeigt, dass jede größere deutsche Stadt durch Buslinien privater Unternehmen mit mittel- und osteuropäischen Ländern verbunden ist. Kleinunternehmer, die manchmal nur einen einzigen Kleinbus besitzen, bieten einen Service von Haustür zu Haustür an. Die meisten befragten Frauen benutzten jedoch den Zug. Dabei besteht die Möglichkeit, durch die Nutzung von Sondertarifen, wie zum Beispiel Wochenendticket oder Gruppenkarte, den Fahrpreis deutlich zu senken. Zu diesem Zweck verabreden sich Reisende im Voraus ganz gezielt. Es werden aber auch spontan auf den Bahnhöfen oder in Zügen Reisegruppen gebildet. Die Reisenden fragen, ob sie auf einer Gruppenkarte mitfahren können, oder kaufen selber eine Gruppenkarte und suchen andere Personen, die sich am Preis beteiligen. Die Zugreise, aber auch die Busfahrt, bietet darüber hinaus eine hervorragende Gelegenheit, sich über Wohn- und Arbeitsmöglichkeiten auszutauschen. Nur eine der befragten Frauen benutzte für die Besuche in Polen ein Auto.
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Die große Bedeutung einer regelmäßigen körperlichen Präsenz zeigt sich auch darin, dass Haushaltsarbeiterinnen bei der Wahl des Arbeitsortes u.a. darauf achten, ob sie schnell und unkompliziert nach Hause kommen: Magda Duda hat gehört, dass es in Stuttgart einfacher sei, Arbeit zu finden und diese auch besser bezahlt sei. Dennoch denkt sie nicht daran, ihr Glück in Stuttgart zu versuchen. „Ich werde niemals nach Stuttgart gehen, denn das wäre schon viel, viel zu weit weg von zu Hause. Deshalb bleibe ich hier [in Berlin] und arbeite hier. Und außerdem habe ich über andere Städte auch gar keine Kenntnisse, ich weiß nicht, wie es dort funktioniert und wie es dort ist.“
Berlin erhält den Vorzug, weil sie von hier aus jedes Wochenende bei ihren beiden Kindern in Polen sein kann. Auch Alina Gazdas Entscheidung ist durch das Kriterium der besseren und schnelleren Erreichbarkeit ihres Heimatortes bestimmt. Sie hat bereits einmal ein halbes Jahr erfolgreich in Köln gearbeitet. Auf Grund ihrer Erfahrung ist Frau Gazda überzeugt, dass sie in Köln bessere Arbeitsmarktschancen hätte. Sie sieht auch die Möglichkeit, in den USA zu arbeiten. Dennoch zieht sie Berlin vor: „Ich habe auch noch Bekannte in den USA, aber das ist zu weit. Ich habe einen Sohn in Posen, und ganz direkt gesagt, zum Beispiel Berlin ist für mich deshalb um vieles günstiger, weil ich manchmal nach Hause fahren kann. Er ist 19 Jahre alt, aber das ist kein besonders gutes Alter, um allein zu wohnen, vollkommen allein.“
Körperliche Präsenz spielt eine entscheidende Rolle, um die räumlich und funktional getrennten Orte in einen Lebenszusammenhang zu bringen. Dabei verläuft die Mobilität nicht nur in einer Richtung. Frau Gazda war zum Zeitpunkt des Gesprächs auf Wohnungssuche in Berlin. Sie betonte, dass sie eine Wohnung oder ein Zimmer nur dann anmieten wolle, wenn sie Besuch haben darf. Die Söhne von Frau Adamiec besuchten sie regelmäßig in Berlin. Frau Figa hatte ihre jüngere Tochter, die zum Zeitpunkt ihrer Migrationsentscheidung elf Jahre alt war, nach Deutschland geholt, um ihre Erziehung zu übernehmen. Mit Hilfe einer Arbeitgeberin schaffte sie es, ihre Tochter in einem Gymnasium einzuschulen. Auch bei Frau Baranowski lebte der sechzehnjährige Sohn beim Stiefvater in Polen, während der elfjährige Sohn bei ihr in Berlin lebte und zur Schule ging. Alle befragten Frauen leisten aktive Beziehungsarbeit für den Aufbau und die Aufrechterhaltung ihrer grenzüberschreitenden sozialen Verbindungen, indem sie in der Lebenswelt regelmäßig und verantwortlich präsent sind. Neben der körperlichen Präsenz spielt die abwesende Präsenz eine große Rolle. Danuta Baranowski nutzte das Telefon, um zu kontrollieren, ob ihr in Berlin lebender Sohn abends rechtzeitig zu Hause war: „Früher konnte ich im-
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mer kontrollieren, ob mein Sohn schon zu Hause ist. Und später habe ich [ihm] ein Handy gekauft. Und jetzt kann ich das nicht mehr.“ Das Telefon ist auch das entscheidende Kommunikationsmedium, mit dem sie sich über die Schulleistungen des in Polen beim Stiefvater lebenden älteren Sohnes informiert: „Ich telefoniere viel [mit Polen], weil ich auch mit der Lehrerin meines größeren Sohnes spreche. Jeden Freitag kontrolliere ich ihn, weil er die Schule etwas hat schleifen lassen. (Lacht kurz) Also jeden Freitagabend nimmt sie alle Informationen mit nach Hause, sie schreibt die Noten auf einen Zettel, ob er in der Schule eine Stunde gefehlt hat oder nicht und so. … Ich sage meinem Sohn: Vielleicht brauchst Du manchmal Kontrolle, vielleicht denkst du, dass du niemandem etwas bedeutest oder dass ich dich nicht liebe oder so, weil ich nur mit dem Kleinen in Berlin bin. Also, ich muss ihm immer mehr beweisen als jedem anderen. (Lacht).“
Alina Gazda ist seit drei Monaten in Berlin. Im Augenblick hat sie für einen Besuch zu Hause weder Geld noch Zeit, denn sie ist auf Arbeits- und Wohnungssuche. „Seit ich in Berlin bin, war ich zwei Mal zu Hause. Und ich möchte sehr gerne in diesem Monat nach Hause fahren, gerade in diesem Moment. Aber ich habe kein Geld. Wenn alles klappt, werde ich nächsten Monat fahren. Es ist zwar nicht weit, aber die Fahrkarte ist ziemlich teuer. Aber dafür telefoniere ich oft. Ich telefoniere zum Beispiel mit meinen Bekannten und meinem Sohn [in Polen]. [Frage: Wie viel geben Sie für das Telefonieren aus?] Für das Telefonieren? (lacht). Zu viel. … Ich weiß nicht genau, wie viel ich ausgebe, ich zähle nicht, aber ich denke, dass ich so um die 30 Euro monatlich ausgebe, manchmal mehr. Das ist vielleicht nicht viel, aber ich sollte nicht so viel ausgeben, in meiner Situation. Ich habe eine ganz enge Freundin in Polen, und ich sehne mich nach ihr. Sie ruft mich auch manchmal an, aber nicht so oft.“
Für die befragten Haushaltsarbeiterinnen war das regelmäßige Telefonieren mit den Bezugspersonen in Polen sehr wichtig. Die Ausstattung mit Telekommunikationsmitteln war aber eingeschränkt. Niemand hatte Zugang zu Computer und Internet. Die meisten Frauen waren über Festnetz erreichbar, alle besaßen ein Mobiltelefon. Stefania Cudna telefonierte mehrmals in der Woche mit ihrem Ehemann: „Ja, das kostet natürlich, aber ich rechne das nicht so. Wenn ich kann, dann rufe ich in Polen an, weil ich mit meinem Sohn reden kann oder mit meinem Mann. Und ich will sicher sein, dass in Polen alles in Ordnung ist. Das gibt mir mehr Kraft und Lust.“
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Neben dem Reisen ist Telefonieren der zweite Hauptmodus zur Aufrechterhaltung sozialer Verbindungen über Entfernung und Grenzen hinweg. Dabei dient Telefonieren als Ergänzung und Ersatz für körperliche Präsenz. Mit den beschriebenen Mobilitätspraktiken kann die funktionale Trennung zwar nicht aufgehoben, aber immerhin besser gemanagt werden. 3.4 Selbstbeschreibung und Bewertung der mobilen Lebensweise Es wurde bereits deutlich, dass zu Beginn immer ein ausschließlich instrumentelles Verhältnis zur mobilen Lebensführung besteht. Die mobile Lebensführung wurde in keinem Fall freiwillig aufgenommen, sondern in Reaktion auf strukturelle Zwänge. Alle Frauen begannen die Arbeitsmigration ursprünglich als ein Mittel, um einen bestimmten Zweck zu erreichen. Im Laufe der Zeit kann sich diese Einstellung jedoch durchaus ändern, wenn die mobile Lebensführung mit dem Erreichen der gesetzten Ziele einen subjektiv positiven Abschluss bekommt. Auf Grund der Langfristigkeit der Hauptziele, die vor allem auf die Situation der Familie und die Zukunft der eigenen Kinder bezogen sind, haben die meisten der befragten Haushaltsarbeiterinnen noch nicht den Punkt erreicht, um retrospektive Aussagen über die Realisierung dieser langfristigen Ziele machen zu können. Es war auffällig, dass sich die Gesprächspartnerinnen sehr stark auf die Gegenwart konzentrieren. Diese Haltung entspricht dem weit verbreiteten psychologischen Phänomen der kognitiven Dissonanz: „Bei der Konfrontation mit etwas, das ungewiss, konfliktträchtig und daher beunruhigend ist, richtet sich die Aufmerksamkeit eines Menschen eher auf die unmittelbaren Umstände als auf die langfristigen Perspektiven. ... Eine Person, die sich in einem solchen Konflikt befindet, fixiert ihre Aufmerksamkeit auf das naheliegendste Problem, blendet den größeren Zusammenhang aus.“ (Sennett 1998, S. 121) Auch bei der Darstellung der Vergangenheit bestand ein auffällig distanzierter Ton. Die distanzierte Haltung wird verständlich, wenn man bedenkt, dass aus der gegenwärtigen Situation betrachtet, die Vergangenheit, die schließlich in die nicht freiwillig gewählte Tätigkeit als „Putzfrau“ führte, vor allem ein Scheitern eigener Lebenschancen darstellt. Aber auch über die Zukunft redeten die Gesprächspartnerinnen nicht gerne. Betont wurde vielmehr, dass sie nur noch für die Kinder eine Zukunft sehen, aber nicht mehr für sich selber. In einer insgesamt schwierigen Situation gab es verschiedene Haltungen und Selbstwahrnehmungen, um die als unbefriedigend empfundene mobile Situation zu bewältigen. Einige Frauen bewerteten die mobile Situation als vorübergehende Lebensphase und waren mit dieser Deutung in der Lage, die negativen Begleiterscheinungen der Trennung von der Familie und das Scheitern eigener beruflicher Ambitionen zu verarbeiten.
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Bei denjenigen, die länger in Berlin arbeiten und wissen, dass es sich nicht nur um eine befristete Phase handelt, fällt die Bewertung der mobilen Situation eher ambivalent aus: Einerseits beklagt zum Beispiel Stefania Cudna, dass sie den Anschluss an das Berufsleben verloren hat. Anstatt ein Büro zu leiten, putzt sie heute Büros. Auf der anderen Seite betont sie, dass sie mit der mobilen Lebensführung ihren Lebensstandard erhöhen und sich einige materielle Wünsche verwirklichen konnte. Sie betont, die kulturellen Möglichkeiten in der Metropole Berlin wahrnehmen zu können. Deutlich negativer wird die Situation dagegen von Elbieta Adamiec dargestellt, die sechs Monate vor dem Gespräch von ihrem Mann verlassen wurde. Sie hatte ihren Verdienst in den Kauf und die Einrichtung einer Wohnung in Polen investiert, die für sie verloren ist. Mit der Trennung von ihrem Mann ist Berlin dabei, zu ihrem Lebensmittelpunkt zu werden. Auch sie weist darauf hin, dass sie das kulturelle Angebot in Berlin sehr zu schätzen weiß und gerne in die Diskothek oder ins Kino oder Theater geht. Allerdings befindet sie sich auf Grund der rechtlichen Ausgrenzung in einer sehr unsicheren Situation und betont die negativen Aspekte der Arbeitsmigration. Ein überraschend positives Resümee zieht dagegen Frau Figa (vgl. auch Cyrus 2003). Sie hat die berufliche Dequalifizierung von der diplomierten Finanzbuchhalterin zur Putzfrau als persönlichen Abstieg erlebt. Im Privatleben widerfuhren ihr zahlreiche traumatisierende Erlebnisse: Sie hat sich mit ihrer in Polen lebenden Schwester überworfen, weil diese unangemesene finanzielle Forderungen stellte. Von ihrem Freund, mit dem sie zusammengezogen war in der Hoffnung, durch eine Heirat eine Aufenthaltserlaubnis zu erhalten, wurde sie beschimpft, geschlagen und vergewaltigt. Von der schweren körperlichen Arbeit ist ihre Gesundheit inzwischen angegriffen; sie hat Probleme mit dem Rücken. Auch schlimme Erlebnisse werden durch den positiven Ausgang der Migrationsbiographie aufgewogen. Sie zieht im Rückblick eine positive Bilanz: „Nein, das gefällt mir, mein Leben. Ich arbeite, ich mache, was ich mache. Ich bin schon versöhnt mit dem, was ist, ich akzeptiere das. Und das ist mir gut so. Ich verdiene Geld, und Sie haben gehört, dass meine Tochter mit dem Studium auf der Universität anfangen will.“
Damit hat sich die Bewertung der eigenen Mobilität im Laufe der Zeit verändert. Frau Figa betont heute, dass sie sich durch die mobile Lebensführung auch persönlich weiterentwickelt hat, und schätzt diese Entwicklung. „Wenn man selbstständiger sein will, so wie ich es bin, dann muss man so viele Dinge überleben und kämpfen und wirklich positiv schätzen. [Zum Beispiel] ist das unglaublich: Ich bin eine Firma, ich bin eine Firma. Ich bin meine Sekretärin, mein
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Direktor, mein Arbeitsstellensucher, alles, alles bin ich. Und das freut mich und dabei habe ich vieles gelernt, das hat mich vieles gelehrt. Und dazu habe ich Geld verdient. Und dazu noch meine Kinder ganz toll, ganz schön großgezogen (…) Und das ist für mich sehr wichtig, dass ich geschafft habe, was ich eigentlich wollte.“
Mit der Verwirklichung der Um-zu-Motive ist es möglich, der Mobilität in der Rückschau einen positiven Wert zuzuschreiben. Unter den Bedingungen aufenthaltsrechtlicher Unsicherheit und sozialer Ausgrenzung sieht Frau Figa für sich jedoch keine Zukunft. Sie pflegt eine neunundachtzigjährige Dame, möchte selber aber niemandem zur Last fallen und bemerkt ganz nebenbei, dass sie nicht alt werden will. Die Bemühungen der polnischen Haushaltsarbeiterinnen zur Herstellung von Erwartbarkeit und Verlässlichkeit verlangen ihre ganze Aufmerksamkeit und Kraft und vermögen doch nur bestenfalls, die Gegenwart zu stabilisieren – um den Preis des zunehmenden Verlustes der Verortung in der Vergangenheit und der Zukunft.
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III. Migration und Sprache
„Wenn die Worte fehlen...“ – Wie Migrantinnen mit geringen deutschen Sprachkenntnissen ihren Alltag gestalten1
Wie Migrantinnen mit geringen deutschen Sprachkenntnissen ihren Alltag gestalten
Almut Zwengel
1
Problematik
Manche Migrantinnen leben schon recht lange in Deutschland und verfügen dennoch über nur sehr geringe deutsche Sprachkenntnisse. Zum genauen Umfang des Phänomens liegen keine Zahlen vor,2 doch es scheint Einigkeit darüber zu bestehen, dass es sich hierbei um eine äußerst problematische Erscheinung handelt. So titelt Gisela Wölbert (2002) mit der weit verbreiteten Frage „Warum können die nicht besser Deutsch?“ In der Öffentlichkeit wird im Allgemeinen davon ausgegangen, dass es manchen Migrantinnen an Bereitschaft fehle, die deutsche Sprache zu erlernen, und dies wiederum wird auf eine mangelnde Integrationsbereitschaft zurückgeführt. Ob das Erklärungsmuster zutreffend ist oder ob andere Begründungszusammenhänge plausibler erscheinen, soll exemplarisch auf der Grundlage von drei Fallstudien untersucht werden. Diese stützen sich auf offene Interviews mit Migrantinnen, die nur über begrenzte Deutschkenntnisse verfügen. Die Interviews fanden im Herbst 2003 und im Frühjahr 2005 statt, dauerten etwa anderthalb Stunden und wurden in der Wohnung der jeweils Befragten durchgeführt. Zum Zeitpunkt des Interviews lebte Ayla 7 Jahre, Betül 15 Jahre und Ceyda 12 Jahre in Deutschland. Der Erwerb des Deutschen durch bereits länger in Deutschland lebende Migrant(inn)en wird wenig gefördert. Es können Deutschkurse an Volkshochschulen, in privaten Sprachschulen und in Stadtteilzentren genutzt werden. Aber 1 2
Der Aufsatz ist die überarbeitete Form einer Antrittsvorlesung, die am 29.6.2005 an der Hochschule Fulda gehalten wurde. Eine gekürzte Fassung wurde bereits veröffentlicht als Zwengel (2006). Ein Beleg sei genannt. 2000/2001 wurden im Rahmen einer Studie des Bundesinstituts für Bevölkerungsforschung je 1200 junge Erwachsene deutscher, türkischer und italienischer Herkunft befragt (Mammey/Sattig 2002, S. 3). Bei den 26- bis 30-Jährigen türkischer Herkunft gaben 38,5 % an, ihre Mutter könne so gut wie kein Deutsch. 59,7 % der 18- bis 20-Jährigen italienischer Herkunft hingegen stimmten der Vorgabe „Meine Mutter kann sich gut auf Deutsch verständigen“ zu (S. 288).
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Almut Zwengel
in Fulda beispielsweise waren diese Angebote nicht ausreichend. Symptomatisch für eine insgesamt problematische Situation ist der Zuschnitt des neuen Zuwanderungsgesetzes. Hier kann der im Rahmen von Integrationskursen vorgesehene Deutschunterricht nur dann von bereits länger in Deutschland lebenden Migrant(inn)en genutzt werden, wenn die Kapazitäten nicht durch Neuzuwander(innen) ausgelastet sind. In Fulda werden die Integrationskurse stark von den so genannten Bestandsausländer(inne)n genutzt.3 Für die eigene Untersuchung sind jene wenigen Deutschkurse von besonderem Interesse, die sich gezielt an bereits länger in Deutschland lebende Migrant(inn)en richten. Ein typisches Beispiel ist hier der Deutschunterricht für Eltern an Kitas oder Schulen ihrer Kinder. Solche Projekte bestehen zum Beispiel in Frankfurt/Main als „Mama lernt Deutsch“ oder in Berlin als so genannte Mütterkurse. In Fulda wird über die Cuno-Raabe-Schule Erwachsenen Deutschunterricht angeboten. Für die Berliner Mütterkurse liegt eine statistische Auswertung aus dem Jahre 2001 vor (VHS 2001). Danach leben 38 Prozent der 1056 erfassten Teilnehmerinnen bereits seit über zehn Jahren in Deutschland. 57 Prozent der Kursbesucherinnen stammen aus der Türkei, doch insgesamt sind 52 verschiedene Muttersprachen vertreten. Das Bildungsspektrum ist breit. Es reicht von weniger als fünf Jahre Schulbesuch bei 37 Prozent der Frauen bis zum Fachhochschuloder Universitätsabschluss bei 16 Prozent der Frauen. Elf Prozent der Teilnehmerinnen sind berufstätig, doch 73 Prozent verfügen über keine Berufsausbildung (a.a.O., Anhang). Die drei hier präsentierten Fallstudien beziehen sich auf Migrantinnen, die „Mütterkurse“ in Berlin besuchten. Bei der Auswahl wurde versucht, das deutlich werdende breite Spektrum einzufangen. So dominiert Türkisch, doch mit Aylas Muttersprache Arabisch wird eine weitere Herkunftssprache einbezogen. Die Bildungskarrieren sind sehr unterschiedlich. Betül ging nur fünf Jahre zur Schule, Ayla hingegen studierte. Berufstätigkeit spielte im bisherigen Leben nur für Ceyda keine Rolle. Zentraler Fokus der folgenden Ausführungen ist die Kommunikation von Nicht-Muttersprachler(inne)n mit Muttersprachler(inne)n.4 Wie bei Kommunikation überhaupt ist 100-prozentiges Verstehen nicht möglich (Marti 2001, S. 33, gestützt auf Rost-Roth 1994 und Falkner 1997). Wechselseitiges Verstehen muss immer wieder interaktiv ausgehandelt werden (Marti 2001, S. 91). Missver3 4
Die Zahl der schon länger in Deutschland lebenden Migrant(inn)en ist in den Integrationskursen bisher bundesweit sehr hoch. Unter denen, die bis zum September 2006 einen Integrationskurs begonnen haben, waren über 60 % Altzuwander(innen) (Ramboll 2006, S. 34). Vgl. zur Kommunikation bei minimalen Kenntnissen in der Zweitsprache bereits Colette Noyau 1984.
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ständnisse können sich auf die linguistischen Ebenen Phonologie, Morphologie, Semantik, Syntax und Pragmatik beziehen (bevorzugt berücksichtigt von Henrici 1995, S. 41) oder auf Bezugseinheiten der Konversationsanalyse wie Sprecherwechsel, Themenwahl, Reformulierungshandlungen (bevorzugt berücksichtigt von Wagner 1996).5 2
Zentrale kommunikative Bedürfnisse
2.1 Einkauf Um das eigene Überleben sicherzustellen, ist die Versorgung mit Lebensmitteln, Kleidung etc. zwingend. Auch kleinerer oder größerer Luxus kann durch Einkäufe realisiert werden. Die Kommunikationsnotwendigkeiten beim Einkauf sind recht gering. Vieles wird in Supermärkten besorgt. Hier nimmt der Kunde die gewünschte Ware selbst aus dem Regal und kann sich beim Bezahlen durch den an der Kasse angezeigten Betrag orientieren. Alle drei befragten Migrantinnen nennen dieses Vorgehen (Betül 8/24; Ceyda 2/40-41).6 Bei Ayla heißt es: „is am Regal ich muss immer nehmen und bezahlen und alles steht an die Kasse … das is nicht schwer“ (18/12–14). Hinzu kommt, dass viele Migrant(inn)en gerade in Städten wie Berlin auf Geschäfte zurückgreifen können, in denen eine Kommunikation in ihrer Muttersprache möglich ist. Es verwundert daher nicht, dass bei einer Befragung von 203 Mütterkursbesucherinnen durch Martina Rost-Roth (o.J., S. 7) Einkaufen als der Lebensbereich genannt wird, für den die Vorgabe „wenig Deutsch sprechen“ den Maximalwert erreicht. Die hier befragten Migrantinnen weisen auf drei Probleme hin. Ayla möchte gern neue Produkte ausprobieren, doch dies ist mit Risiken verbunden: „aber nur die … die neue Sache ich muss etwas machen … etwas kaufen … ich weiß nicht was … viel Probleme“ (18/14–15). Ein zweites Problem liegt in der räumlichen Entfernung von größeren Einkaufszentren. Diese mit öffentlichen Verkehrsmitteln zu erreichen ist für manche Migrant(inn)en ein Problem. Wie heißt die U-Bahnstation? Wo muss ich umsteigen? Wie erkenne ich die richtige Linie? Bei Betül wurden diese Schwierigkeiten besonders deutlich. In eine ähnliche Richtung weist der Bericht von Frau 5 6
Weitere Systematisierungen finden sich in Henrici 1995, S. 41 und bei Katharina Bremer (1997, S. 46–50). Die erste Zahl bezieht sich auf die Seite der Transkription. Die zweite Zahl benennt die Zeile. A.Z. steht für Almut Zwengel. Pausen sind mit „…“, Unverständliches ist mit „(…)“ und von mir vorgenommene Ergänzungen oder Auslassungen sind mit „[…]“ gekennzeichnet. Abbrüche werden mit „/“ markiert. „?“ steht nach fragenden Sequenzen. Außersprachliche Aspekte stehen in doppelter Klammer„(( ))“.
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Almut Zwengel
Ammassari, einer Lehrerin aus Kassel. Eine Migrantin war zum Deutschunterricht zunächst dadurch motiviert, dass sie in der Lage sein wollte, das Stationsschild an der Straßenbahnhaltestelle zu lesen, an der sie regelmäßig aussteigen musste.7 Die dritte Ebene betrifft die eigene Interessensvertretung. Ceyda will auch verpackte Kleidungsstücke vor dem Einkauf ausprobieren und sie möchte Kinderkleidung umtauschen, wenn sich zu Hause herausstellen sollte, dass sie nicht passt. Ihr Beispiel von einem T-Shirt, das sie zurückgeben wollte, weil es ein Loch hatte, erinnert deutlich an ein Untersuchungsbeispiel aus der linguistischen Studie P-Moll in Berlin. Dort sollten Deutsch Lernende im Rollenspiel versuchen, einen eingelaufenen Pullover im Kaufhaus umzutauschen.8 Typische Kommunikationsbedürfnisse scheinen durch dieses Beispiel gut gefasst. 2.2 Behörden, Ärzte und Ärztinnen Zur Eingliederung in eine Gesellschaft gehört auch ein Sich-zurecht-Finden im Institutionengefüge. Erste zwingend zu bewältigende Aufgabe ist für die meisten Zuwander(innen) die Regelung des Aufenthaltstitels. Dies geschieht häufig bei noch minimalen Kenntnissen der deutschen Sprache und von deutschen Institutionen. So heißt es bei Ayla: „vorher ich wusste gar nix ja vorher viel ... viel Papier muss machen ... ich weiß ich nicht ... anmelden und ... bei Sozial was bei ... der … Ausländerpolizei … (das ist) Ausländerpolizist ich muss dort die Aufenthalt ich muss viel viel Papier muss ich und ich weiß nicht was ist … was ist passiert jetzt“ (17/49–52).
Interessant ist hier, dass Ayla im Interview in einen früheren Sprachstand zurückzufallen scheint. Sie könnte „viel Papier“ heute durchaus präziser benennen. Auch wird der erste Besuch der Ausländerbehörde nicht zu einer richtigen Erzählung ausgebaut. Es entsteht der Eindruck, dass die damalige Desorientierung im Interview noch einmal nacherlebt wird. Auch in späteren Phasen des Aufenthaltes können Probleme mit dem Deutschen und unzureichendes Wissen bezüglich der verschiedenen Institutionen gemeinsam auftreten. Dies trifft beispielsweise zu für Ceydas Rückreise in das Herkunftsland ohne Reisedokumente für ihr Kleinkind. Guter, zielgruppenorien7 8
Mitarbeiterin bei I-Punkt-Familientreffpunkt International, Vortrag auf dem 5. Bundeskongress Soziale Arbeit, 26.9.2003, Kassel Hauptseminar „Modalität, Lokalität und Topikstrukturen“ in Lernervarietäten, Norbert Dittmar/Peter Schlobinski, WS 1986/87, Freie Universität Berlin
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tierter Deutschunterricht greift das doppelte Orientierungsproblem auf. So präsentieren Hans Barkowski, Ulrike Harnisch und Sigrid Kumm (1986, S. 349 f.) bei der Einführung von Modalverben eine Situation, in der Personen mit unterschiedlichen Anliegen eine Ausländerbehörde aufsuchen. Analoge Problematiken bestehen beim Besuch von Institutionen im Zusammenhang mit Arbeitssuche und mit der Beantragung von Sozialleistungen. Andersartige kommunikative Bedürfnisse hingegen bestehen beim Aufsuchen von Ärzt(inn)en. Hier müssen Termine abgesprochen, Beschwerden genannt, Diagnosen verstanden und Behandlungen umgesetzt werden. Ceyda erzählt ein bewegendes Ereignis. „ich war im Krankenhaus meine Tochter geboren … ich ha/ ich habe kein Wort auf Deutsch (...) ist schwer … die anderen Kranken … ich sagt immer helfen Sie mir ich versteh kein Deutsch kein Wort nur ich einen Moment am Telefon oder ich komme die (…) ich versteh kein Wort ja … ist sehr schwer … ich dachte zuerst Deutschkurs besuchen dann Kinder haben“ (18/21–26).
Bei der Geburt ihres ersten Kindes hat Ceyda nicht verstanden, ob ihr „pressen“, „tief einatmen“ oder „der Kopf ist schon draußen“ gesagt wurde. Eine so existentielle Erfahrung wird zum Motiv Deutsch zu lernen: „Ich dachte zuerst Deutschkurs besuchen dann Kinder haben.“ Bei Ärzten besteht – ähnlich wie beim Einkaufen – zum Teil die Möglichkeit, auf muttersprachliche Angebote auszuweichen. So besuchte Ceyda zunächst eine Hausärztin aus Aserbaidschan mit Türkischkenntnissen und später einen türkischen Hausarzt (3/7–13). Von einem deutschen Zahnarzt wechselte sie zu einem türkischen (3/13 f.). Dass der Besuch deutscher Ärzte durchaus keine Selbstverständlichkeit ist, markierte Ceyda im Interview bereits an früherer Stelle. Sie sagte „mein Frauenarzt sie ist deutsch“ (2/50). 2.3 Kinder Kinder können informelle Begegnungen mit Deutschen erleichtern. Möglicherweise lernt man sich auf dem Spielplatz, in der Nachbarschaft oder über Freunde kennen. Zugleich entstehen durch Kinder Kontakte zu deutschen Erziehungsund Bildungsinstitutionen. Da sich die Kontaktmuster mit zunehmendem Alter der Kinder verändern, seien diese für die drei Befragten kurz genannt. Ayla hat einen 3-jährigen Sohn und eine 6-jährige Tochter. Ceydas Sohn ist 8 und ihre Tochter 9 Jahre alt. Betül lebt mit ihrem 14-jährigen Sohn zusammen, aber ohne ihre 23-jährige Tochter.
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Ein recht kurzer, aber regelmäßiger Kontakt zu deutschen Erziehungs- und Bildungseinrichtungen entsteht durch das Hinbringen und Abholen kleinerer Kinder. Ayla scheint diese Phasen recht intensiv zu nutzen: „ich frage immer über mein Kinder wie geht es bei Ihnen sie sie hört oder hört nicht was sie sagt und so und geht so was esst er was esst nicht“ (4/33 f.).
Seltener und deutlicher auf die Leistungsfähigkeit der Kinder orientiert sind Elternabende und Elternsprechtage. Eine persönliche Ansprache wird nicht nur an Elternsprechtagen, sondern auch an Elternabenden erwartet. Für Ceyda ist dies ein Grund, die Elternabende zu meiden: „auch fragen zuerst etwas deshalb ich gehe nicht hin“ (3/29). Elternabende bieten aber gegenüber Elternsprechtagen den Vorteil, dass eine Unterstützung durch Eltern gleicher Herkunftssprache eher möglich ist.9 Als Ausnahmesituationen und besondere Ereignisse können die Übergänge zwischen (Erziehungs- und) Bildungseinrichtungen sowie größere Feste gewertet werden. Ceyda spricht von den wohl im Allgemeinen jährlich stattfindenden Schulfesten: „dann bin ich immer hingegangen ich wir gehen mein Kinder […] dann wir dort wir kennen die Eltern nicht dann müssen sprechen Deutsch ich will nur ein Tag wir sind wieder zu Hause“ (3/46–58).
Der Kontakt zu deutschen Eltern erscheint hier als ein auf Ausnahmesituationen beschränkter: „nur ein Tag wir sind wieder zu Hause.“ 2.4 Berufstätigkeit Es war zu erwarten, dass durch Deutschunterricht an Schulen und Kitas insbesondere Frauen angesprochen werden, die sich weitgehend durch ihre Mutterrolle definieren und die nicht berufstätig sind. Mit Berufstätigkeit verbundene Möglichkeiten des Kontakts zu Einheimischen und zu ungesteuertem Spracherwerb würden ihnen also fehlen (vgl. z.B. Duman 1999, S. 182). Die in den drei Fallstudien deutlich werdenden Zusammenhänge zwischen Erwerb des Deutschen und Berufstätigkeit überraschen. Ayla wollte in Deutschland zunächst ihr Biochemiestudium fortsetzen und weiterhin in einem Labor tätig sein. Stattdessen jedoch arbeitet sie nun im Tuchgeschäft ihres Mannes mit. In der biographischen Eingangserzählung des Interviews erzählt sie stolz von 9
Vgl. zu Sprachproblemen bei Elternsprechtagen auch Eberding (1994, S. 244).
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den absolvierten Deutschkursen. Sie nennt Grundstufe 2, Grundstufe 3, Mittelstufe und Zertifikatsprüfung. Die Deutschkurse haben keinen beruflichen Aufstieg ermöglicht und werden im Rückblick, kompensierend, als Aufstieg selbst wahrgenommen. Betül strebte zunächst keine Berufstätigkeit an, doch nachdem sie sich von ihrem Mann getrennt hat, muss sie Geld verdienen. Der Deutschunterricht wird nicht als in diesem Zusammenhang funktional, als die Berufstätigkeit erleichternd eingeordnet. Betül bedauert, nicht mehr am Deutschkurs teilnehmen zu können, da sich ihre Arbeitszeiten in der Bäckerei und die Zeiten für den Deutschunterricht überschneiden. Im Interview fragte Betül mich wiederholt und drängend nach zeitlich günstiger gelegenen Deutschkursen. Ihr Informationsdefizit ist überraschend. Wie dringend mir ihr Interesse schien, wird daran deutlich, dass ich es für sinnvoll hielt, das Interview zu unterbrechen, um zunächst diese Frage zu klären. Bei Ceyda liegt eine deutliche Berufsorientierung vor. Sie möchte eine berufliche Ausbildung absolvieren und dann im erlernten Beruf arbeiten. Ihre Deutschlehrerin ermutigt sie. „meine Lehrerin (…) ein Jahr noch dann kannst du Ausbildung machen“ (15/42 f.). Doch Ceyda hat nur fünf Jahre lang eine Schule besucht; sie war nie berufstätig und sie ist bereits 40 Jahre alt. Ich selbst halte es für nicht sehr wahrscheinlich, dass sie ihre beruflichen Ambitionen realisieren wird. Zusammenfassend ist festzuhalten: Entgegen den Erwartungen bestehen bei allen drei befragten Frauen deutliche berufliche Interessen. Diese sind präsent als Motivation zum Besuch von Deutschunterricht, als aktuelles Handlungsproblem oder als längerfristige Orientierung. 3
Kommunikative Strategien
3.1 Präsenzen und Kontaktvermeidung Es interessieren zunächst die Erfahrungen unmittelbar nach der Ankunft in Deutschland. Zu vermuten ist, dass die Orientierungsschwierigkeiten bei zunehmender Aufenthaltsdauer in den Hintergrund treten und dass zugleich die Fähigkeit wächst, sich über diese in der Sprache des Aufnahmelandes mitzuteilen. Ayla ist zunächst bei geselligen Runden mit ihrem Ehemann zugegen, doch sie kann nicht kommunizieren. „viel viel viel am Anfang mein Mann spricht mit viele Leute und ich sitze und ich kann nicht ein paar Worte sprechen und das was ärgert mich ich sitze wie ein Stuhl sitze ich kann nicht sprechen“ (5/47–49).
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Als „Stuhl“ hat Ayla einen Platz in der Runde. Doch wie ein Stuhl ist sie lebloses Objekt. Ayla spricht nicht von einem Zwischen-den-Stühlen-Sitzen von Migrant(inn)en (vgl. z.B. Rosen 1997, S. 21 und S. 99) und sie bezieht sich auch nicht auf kulturelle Konventionen, die ein Schweigen in Anwesenheit des Ehemannes nahe legen (vgl. Duman 1999). Im Mittelpunkt steht ihre durch mangelnde deutsche Sprachkenntnis bedingte Unfähigkeit zu kommunizieren. In einem späteren Stadium des Deutschlandaufenthaltes macht Ceyda analoge Erfahrungen. Sie hat Freundinnen gefunden unter Türkinnen der zweiten Generation. Diese sprechen gut Deutsch. Wenn sie sich miteinander auf Deutsch unterhalten, kann Ceyda nicht mitreden und nur wenig verstehen (5/51–6/5). Nach Jakob Marti (2001, S. 14, gestützt auf Gass/Varonis 1991) können Nicht-Muttersprachler eingeschränktem Verständnis aus dem Weg gehen durch Kontaktvermeidung oder Kontaktabbruch. Ein solches Vermeidungsverhalten ist bei Ceyda zu beobachten. Sie geht zunächst kaum aus dem Haus. „Ich konnte nicht rausgehen dann bin ich die ich kenn nicht die Ort gehe hin dann ich verlor immer meine Richtung (ich finde nicht) ich bin nach Haus gegangen weil ich dachte diese Seite mein Haus oder diese Seite ... ich habe Angst alleine ... keine Sprach“ (1/48–51). Wichtig ist hier nicht ein möglicherweise eingeschränkter Zugang muslimischer Frauen zur Öffentlichkeit, sondern die Unfähigkeit Ceydas, nach dem Weg zu fragen, falls sie sich verläuft.10 Zur Kontaktvermeidung kann es auch noch nach längerem Aufenthalt in Deutschland kommen. So geht Ceyda nicht zu Elternabenden, vor allem weil sie eine direkte Ansprache fürchtet (s.o.). Sie informiert sich anschließend bei anderen Eltern über die wichtigsten Ergebnisse (3/28 f.). Festzuhalten bleibt, dass Präsenz ohne sprachliche Teilhabe und Kontaktvermeidung auf Grund mangelnder Kommunikationsfähigkeit im Deutschen nicht nur am Anfang des Deutschlandaufenthaltes, sondern auch noch nach längerer Anwesenheit zu beobachten sind. 3.2 Begleitung und Übersetzung Es wurde bereits in einer Nebenbemerkung deutlich, dass Kommunikationsprobleme auch gelöst werden können durch das Einbeziehen Dritter, die neben der Herkunftssprache die Sprache des Aufnahmelandes kompetenter beherrschen. Die drei befragten Frauen werden zum Teil von engsten Verwandten unterstützend begleitet. So ging Ayla zunächst mit ihrem Mann zu Ärzt(inn)en, in Geschäfte, zum Elternabend und zu Freunden (9/35 f.). Bei außerhäuslichen 10
Fehlende Vertrautheit mit einem städtischen Umfeld könnte wichtig sein. Ceyda lebte jedoch mehrere Jahre in der anatolischen Stadt Bursa.
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Aktivitäten wird Betül auch heute noch häufig von ihrem Sohn begleitet (4/5; 4/8). Zu entfernteren Verwandten entsteht durch derartige Unterstützungsleistungen eine besondere Nähe. So wird Ceyda von einem Schwager zum Beispiel bei Einkäufen, zu denen sie die gewohnte Umgebung verlassen muss, unterstützt (17/15–21). Dankbar sagt sie, er sei für sie wie ein Sohn oder Bruder (17/9–11). Sind Verwandte nicht verfügbar, so wird auf Nachbar(inne)n zurückgegriffen. Die Tochter von Betüls türkischer Nachbarin hilft, wenn der eigene Sohn nicht zugegen oder überfordert ist (4/8; 4/22; 7/7; 9/22 f.). Festzuhalten ist, dass durch begleitende Unterstützung erhebliche personelle und zeitliche Ressourcen gebunden werden. Diese Hilfen sind deshalb am ehesten von nahestehenden Personen zu erwarten, bei denen geringe Reziprozitätserwartungen bestehen. Im Hinblick auf Übersetzungsleistungen ist die Interviewsituation mit Betül aufschlussreich. Zunächst sitzen Betül, ihr Sohn und ich im Wohnzimmer der Familie. Ich bitte den Sohn, uns für das Interview allein zu lassen. Betül ist das nicht so recht, denn sie befürchtet, der Situation allein nicht gewachsen zu sein. Im Interview äußert sie sich dann zunächst unsicher, aber mit der Zeit zunehmend souveräner. Sie kann sich verständlich machen und versteht meine Fragen. Nach dem Interview kommt der Sohn zurück, und das nun folgende informelle Gespräch wird stark von türkischsprachigen Äußerungen Betüls und Übersetzungen durch den Sohn geprägt. In der Gestaltung der Interviewsituation wird deutlich, dass Betül und ihr Sohn ein eingespieltes Team sind. Der Sohn übersetzt weiterhin, obwohl Betül inzwischen durchaus in der Lage wäre, eigenständig zu kommunizieren. Zu unterscheiden ist zwischen Übersetzungshilfen, die sich auf einzelne Ausdrücke beziehen, und dem Übersetzen längerer Sequenzen. Die Übersetzungen können selbst- oder fremdinitiiert sein. Im Fall von Betüls Sohn handelt es sich zumeist um selbstinitiierte Übersetzungen längerer Sequenzen. 3.3 Teilverständnis und Gesprächsführung Bei geringen Deutschkenntnissen kann auf vereinfachende Register, auf Fremdsprachenkenntnisse, auf Mimik und Gestik oder auf Zeigen und Zeichnen zurückgegriffen werden. Im Folgenden interessiert nur die deutschsprachige Kommunikation. Eingeschränktes Verständnis wird nur dann zugänglich, wenn die Interagierenden dieses als solches markieren. Dies kann explizit oder implizit geschehen (vgl. Marti 2001, S. 53–72). Sogenanntes „formal understanding“ ist für den Analysierenden nicht zu fassen. Johannes Wagner (1996) versteht hierunter: „the interactants act without understanding but as if they had understood.“ (S. 232).
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Für die Verständnissicherung unterscheidet Martina Daxer (1989) sieben Strategien. Es kann zu fremdinitiierter Selbstwiederholung, zu verständnissichernder oder ratifizierender Fremdwiederholung11, zu eigen- oder fremdinitiierter Selbstexplikation, zu verständnissichernder Fremdexplikation oder zu Klarifizierungsaufforderungen kommen. In der Interviewsituation zeigten die Frauen bei der Beantwortung unvollständig verstandener Fragen interessante Kommunikationsstrategien. Manchmal knüpfte eine Antwort an einen einzelnen Ausdruck der Frage an. Gelegentlich wurde dieser falsch verstanden. Ein Beispiel aus dem Interview mit Ayla: A. Z.: „deine Tochter was meinst du wird sie später sich mal so kleiden wie du? oder eher wie ein deutsches Mädchen oder?“ Ayla: „Die lan/ große? nein ich glaube sie wird kleiner wie ich … weil sie kleiner als andere Kind … von mein Sohn auch“ (19/5–9). Ayla fragt hier kurz nach und bezieht sich dann bei ihrer Antwort auf das Wort „kleiden“, das allerdings als „kleiner“ verstanden wurde. Ein weiter gehendes Verständnis liegt vor, wenn zwar nur auf einen Ausdruck der vorhergehenden Äußerung Bezug genommen wird, dieser aber richtig verstanden wurde. So fragte ich Betül nach möglichen Schwierigkeiten im Zusammenhang mit dem Besuch von Deutschunterricht und beendete die Äußerung mit „was hat dein Mann gesagt? sagt er es ist gut dass du Deutsch lernst?“ Betül antwortete: „mein Mann? … Gymnasium gegangen“ (6/13–14). Während in den beiden bisher genannten Beispielen nur Bezug auf einen einzelnen Ausdruck genommen wurde, scheint im folgenden Beispiel das Thema grob erfasst. A. Z.: „wissen Sie noch eine Situation wo Sie gemerkt haben der Deutschkurs hat mir geholfen? das konnte ich jetzt besser?“ Ceyda: „Deutschkurs muss gehen ja aber muss zu Hause auch (immer)“ (6/6–8). Die Befragte hat als Thema Sprachkurs erfasst. Im Sinne von Fillmore (1976, zit. in Bremer 1997, S. 31) hat sie eine grobe Antwort gefunden auf die Frage „what was [s]he talking about?“ Sie antwortet aber nicht zu dem erfragten Aspekt des Themas, sondern zu einem ihr im Hinblick auf das Thema Sprachkurs zentral erscheinenden Problem. Interessant an den drei beispielhaft genannten Äußerungen ist, dass trotz begrenztem Verständnis kommuniziert wird, ohne dass es zunächst zu einer ausgebauten Phase der Verständnissicherung kommt. Phasen der Verständnissicherung unterbrechen „den Fluss des Gesprächs“ (Marti 2001, S. 13, gestützt auf Varonis/Gass 1985), sie führen eine vertikale Ebene ein (Wagner 1996, S. 222, gestützt auf Aston 1986) und können sehr viel Zeit in Anspruch nehmen (Bremer 1997, S. 182). Eine pragmatische Lösung, den enormen Verständigungsproblemen, die angesichts minimaler Deutschkenntnisse im Alltag entstehen, zu be11
Im Gegensatz zur ratifizierenden Fremdwiederholung wird bei der verständnissichernden Fremdwiederholung eine direkte Reaktion des Gegenübers erwartet (Daxer 1989, S. 98–100, 104 f.).
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gegnen, besteht darin, sich von Vornherein mit grobem Teilverständnis zu begnügen. Es ist zu vermuten, dass diese im Interview deutlich werdende Praxis auf alltägliche Kommunikationsstrategien verweist. 4
Deutschunterricht
4.1 Motivation und Zugang Zur Motivation von Migrant(inn)en, Deutschkurse an Kitas und Schulen ihrer Kinder zu besuchen, liegen für Berlin die Daten der bereits zitierten VHSErhebung von 2001 vor. Danach steht der Wunsch, sich beim Besuch von Ärzt(inn)en besser verständigen zu können, an erster Stelle. Insgesamt rangieren Besuche bei Ärzt(inn)en, Behörden und Banken deutlich vor Kontakten zur Schule und einer Unterstützung von Kindern bei ihren Hausaufgaben (VHS 2001, S. 22). Dies überrascht, weil die Frauen über die Kinder angesprochen werden und weil vermutet wird, dass hier ihr zentraler Lebensinhalt liege (vgl. z.B. Brunken/Pajenkamp 2003). Die Befunde decken sich aber mit den eigenen Befragungsergebnissen (vgl. dazu ausführlicher Zwengel 2004). Rost-Roth (o. J.) befragte 203 Besucherinnen der so genannten Mütterkurse, auch danach, für welche Lebensbereiche sie primär Deutsch lernen wollen. Häufig genannt wurden Kontakte zu Ärzt(inn)en, zu Krankenschwestern und Krankenpflegern, zu Lehrer(inne)n, zur Ausländerbehörde, zum Arbeitsamt, zu anderen Behörden, zu Vermietern und zu Verkäufern. Deutlich schwächer gewichtet wurden informelle Gespräche mit Nachbar(inne)n, Eltern oder Kindern (S. 8). Dies lässt vermuten, dass der Erwerb des Deutschen eher auf instrumentelle Beziehungen zu deutschen Institutionen als auf informelle Kontakte zu gleichrangigen Deutschen ausgerichtet ist.12 Die eigenen Daten weisen in die gleiche Richtung. Hervorzuheben ist jedoch, dass Betül zu Beginn des Deutschunterrichtes primär nach Freundinnen suchte, wohl um ihre desolate familiäre Situation zu kompensieren. Die ethnische Herkunft von Freundinnen schien sekundär. Der Zugang zu den Deutschkursen erfolgt zum einen durch Anwerbung über Kindergarten oder Schule. So gibt es Aushänge, den Kindern übergebene Schreiben, gezielte persönliche Ansprache durch Lehrer sowie Informationen bei Elternabenden und Einschulungsfeiern. Besonders erfolgreich scheinen die Vor12
Utz Maas und Ulrich Mehlem (2003, S. 38 f.) favorisieren für Sprachunterricht im Rahmen der Integrationskurse eine Berücksichtigung institutioneller Kontakte und eine starke Ausrichtung auf die Schriftsprache. Barkowski/Harnisch/Krumm (1976) hingegen befürworten für Arbeitsmigranten einen Sprachunterricht, der vorwiegend für informelle, tendentiell solidarische Kommunikation mit gleichrangigen Deutschen qualifiziert.
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Almut Zwengel
stellung des Kursangebotes durch einen türkischen Lehrer (z.B. Kurt-HeldGrundschule in Berlin-Kreuzberg) sowie eine direkte Ansprache durch den Klassenlehrer (z.B. Betül) zu sein. Daneben aber sind informelle Netzwerke wichtig. Die Vermittlung des Deutschkurses erfolgt auch über die Nachbarin (Initiative von Betül), über eine Freundin (Ceyda 2/2 f. und 14) oder über Verwandte (Initiative von Ceyda 18/43–45). Die Haltung von Ehemännern gegenüber dem Besuch von Deutschunterricht durch ihre Ehefrau ist unterschiedlich. Manche Männer stehen den Deutschkursen ablehnend gegenüber (Breitkopf 2002, S. 14), andere freuen sich über die Möglichkeit einer Verbesserung der deutschen Sprachkompetenz ihrer Frau (Deutschlehrerin Bartz, 25.1.2005). Es kommt auch zu Formen wohlwollender Kontrolle. So war Aylas Ehemann während der ersten Unterrichtsstunde zugegen, um zu prüfen, ob das Kursangebot für seine Frau geeignet sei. 4.2 Verlauf Ein niedrigschwelliges Angebot von Deutschkursen an Kitas und Schulen, die die Kinder der Kursteilnehmer(inn)en besuchen, besteht in Berlin in Form von „Mütterkursen“ seit 1998.13 Die Kurse werden in Stadtbezirken mit hohem Migrant(inn)enanteil angeboten in Schulen und Kitas, in denen der Anteil von Kindern nicht-deutscher Herkunft über 56 Prozent beträgt. Die Mindestteilnehmerzahl für einen Deutschkurs liegt bei acht bis zwölf Personen. Wenn für mindestens fünf Kinder Bedarf besteht, wird parallel eine Kinderbeaufsichtigung angeboten. Der Unterricht findet zwischen zwei und vier Mal wöchentlich für drei bis vier Stunden statt. Die Deutschlehrerinnen sind bei den Volkshochschulen angestellt (VHS 2001, S. 2; Breitkopf 2002, S. 14; Fachsitzung für die Kursleiterinnen der Elternkurse 5.9.2000 VHS Kreuzberg). Probleme auf der Angebotsseite entstehen durch Raumknappheit in den genutzten Einrichtungen und durch eine recht hohe Fluktuation beim Lehrpersonal (Bongart VHS Neukölln 7.2000; Hansen VHS Kreuzberg 8.2000; Ceyda 10/40 f.). Ein Problem bei der Durchführung des Unterrichts sind die heterogenen Bildungsvoraussetzungen der Teilnehmerinnen. Manche Frauen haben eine nur sehr geringe und weit zurückliegende Schulbildung, andere hingegen kommen unmittelbar von der Universität. Besondere Schwierigkeiten entstehen für die bildungsfernen Kursteilnehmerinnen. Von Rost-Roth (o. J.) befragte Kursleiterinnen konkretisieren dies. Es fehle an zügiger Auffassungsgabe, an Schreibfä13
Bei den „Elternkursen“ handelt es sich in der Tat weitgehend um „Mütterkurse“. Nur 2 % der Kursteilnehmer sind männlich (Breitkopf 2002, S. 14). Es wird deshalb im Folgenden vereinfachend von Teilnehmerinnen gesprochen.
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higkeit und an Lerntechniken (S. 5).14 Betül ist ein Beispiel für eine Lernende, die nur fünf Jahre die Schule besucht hat und durch den Sprachunterricht überfordert ist. Obwohl sie zwei Jahre lang einen Deutschkurs besuchte, antwortet sie auf den Stimulus „erzähl ein bisschen von dem Deutschkurs“ (4/43) mit den allerersten Lernerfahrungen. Sie könne ihren Namen, die Adresse und den Herkunftsort auf Deutsch nennen. Danach gefragt, was ihr im Unterricht besonders gefallen habe, antwortet sie mit „abschreiben“: „schreiben is gut Tafel erst mal Lehrerin Tafel schreiben und dann abschreiben kann man da […] das ist gut ja“ (5/13–16). Es ist zu befürchten, dass die Kompetenzerfahrung nicht das Verständnis des abgeschriebenen Textes, sondern den Vorgang des Abschreibens selbst betrifft. Viele Teilnehmerinnen haben ein sehr positives Verhältnis zu ihrer Deutschlehrerin (Rost-Roth o.J., S. 9 f.; Hansen VHS Kreuzberg 8.2000; Ceyda 9/8–13, 10/38–40). Dies kann die Lernentwicklung fördern. Problematisch aber ist, dass die Lehrerin häufig selbst zur zentralen deutschen Bezugsperson wird (vgl. z.B. Lehrerin Bartz, 25.1.2005). Sie erleichtert nicht den Kontakt zu Deutschen, sondern repräsentiert diesen selbst. Hier wird die Begrenztheit des sozialen Kontaktes der Migrantinnen zu Deutschen besonders augenfällig.15 Die soziale Einbettung durch den Deutschkurs ist noch auf einer anderen Ebene relevant. Im Kurs kommen Migrantinnen zusammen. Dies schafft für Frauen aus stark Geschlechter segregierenden Kulturkreisen höhere Vertrautheit und erhöht die Akzeptanz des Kursbesuches in ihren Familien. Die Kommunikation in reinen Frauengruppen wird oft idealisierend gefasst (z.B. Duman 1999, S. 203; Brettmeister 2000, S. 35). Auch ich vermutete, dass die Frauen Geselligkeit erleben, Kontakte außerhalb der Familie knüpfen und lernen, ihre Interessen zu formulieren. In der Tat sind Prozesse in dieser Richtung zu beobachten. Die Atmosphäre scheint entspannt. So schreibt eine Kursteilnehmerin: „sind Frauenkurse ist besser ich fühl mich locker“ (Rost-Roth o.J, S. 6).16 Die von mir Befragten betonen die Entstehung sozialer Kontakte. Ayla schätzt informelle Gespräche mit Kursteilnehmerinnen (8/44–50) und hat durch die besuchten Kurse zahlreiche Personen kennen gelernt (13/12–16). Ceyda sagt, sie habe über den Deutschunterricht Freundinnen gefunden (15/12 f.). Eine Teilnehmerin thematisierte sogar den Aspekt der Interessenartikulation: „Frauenkurse sind besser 14 15
16
Friederike Braun (1991) berichtet aus einem Deutschkurs für türkische Frauen, eine Teilnehmerin habe auch nach vier Unterrichtssemestern noch Schwierigkeiten mit dem Schreiben (S. 166 f.). Gerhard Neuner (1995, S. 26–32) unterscheidet zwischen Deutsch als Fremdsprache (DaF) und Deutsch als Zweitsprache (DaZ). Für die hier betrachteten Frauen ist ein wichtiges Element von DaZ, nämlich die permanente, alltägliche Konfrontation mit der Zielsprache, nur eingeschränkt gegeben. Bei Zitaten aus Rost-Roth (o.J.) wurde die Transkriptionsweise angeglichen.
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Almut Zwengel
können wir über unser Probleme sprechen die Männer haben immer andere Meinung deswegen ohne Männer ist besser“ (Rost-Roth o.J., S. 6). 4.3 Beendigung An der Berliner VHS Friedrichshain-Kreuzberg werden inzwischen nur noch halb- und einjährige Mütterkurse durchgeführt. Danach ist der Besuch von Regelkursen der VHS vorgesehen (Lehrerin Bartz, 25.1.2005). Der Übergang in diese Kurse wird durch die Verwendung des Lehrbuchs „Themen neu“ erleichtert. Für die Teilnehmerinnen ergeben sich allerdings höhere Kursgebühren und im Allgemeinen längere Anfahrtswege. Ayla hat den Wechsel in reguläre VHSKurse vollzogen. Die drei befragten Frauen besuchten zum Zeitpunkt des Interviews keinen Deutschkurs mehr. Für den Abbruch des Deutschkurses scheinen zwei Gründe typisch zu sein. Der eine besteht in verstärkten familiären Pflichten. So verzichtete Ayla nach der Geburt ihrer Tochter 1 Jahr lang auf Deutschunterricht (1/17 f.). Ceyda brach einen Deutschkurs ab, weil ihre Schwiegermutter für längere Zeit in die Türkei zurückkehrte und sie nun allein für einen großen Haushalt verantwortlich war (2/6–13). Ein zweiter Grund, den Deutschkurs zu beenden, sind Terminschwierigkeiten. So kann Betül wegen ihrer Berufstätigkeit am Morgen nicht mehr am Unterricht teilnehmen (6/33–40); für Ceyda ist entscheidend, dass der Schulschluss ihrer Tochter zeitlich vor dem Ende des Sprachkurses liegt (2/14–17). Festzuhalten ist, dass alle drei Frauen sagen, sie würden bei günstigeren Rahmenbedingungen gern wieder einen Deutschkurs besuchen. Überraschende Nachwirkungen des Deutschkurses zeigen sich bei Ceyda. Es ist eine Clique aus türkischen Sprachkursteilnehmerinnen und der Kursleiterin Monika entstanden. Für Ceyda ergibt sich hierdurch ein wichtiges Motiv zu weitergehendem Erwerb des Deutschen: „Monika … ja … ich will gut Deutsch lernen ich will auch mit Monika ... unterhalten über … auf Politika auf Deutschland auf Türkisch auf (…) was gibt’s ich will mit Monika etwas .. (teilen) sprechen“ (21/10). Da Monika die einzige Deutsche in der Gruppe ist, liegt ein anderer Spracherwerb nahe: „wir manche erzählen nicht gut Deutsch ... wir wollen Monika auch lernen Türkisch dann sie versteht uns mehr gut“ (20/3 f.). Das Gefühl enger Verbundenheit drückt sich in folgendem Zitat aus: „aber mit Monika (…) manchmal (…) unser Freund mein Freundin sagt dann auch die sagt Monika nicht deutsch Monika auch türkisch wir sehr gut zusammen wir (essen was sie versteht ganz gut)“ (20/24–27). Hier kommt es nicht zu Integration von Türkinnen in ein deutsch dominiertes Umfeld, sondern zur Integration einer Deutschen in ein türkisch dominiertes Umfeld.
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Auswirkungen verbesserter Deutschkenntnisse
5.1 Autonomie: das Beispiel Betül Es soll nun versucht werden, Strukturhypothesen im Sinne von Ulrich Oevermann für die drei dokumentierten Fälle zu entwickeln (vgl. z.B. Oevermann 1988 und 1996). Beginnen wir mit Betül. Hier zeigt sich eine zentrale In-vivoKategorie, die für ein Vorgehen im Sinne der grounded theory geeignet erscheint. Betül spricht häufig und emphatisch von „allein“. „Allein“ bezieht sich auf drei unterschiedliche Kontexte. Im Hinblick auf die angestrebte Verbesserung der Kompetenz im Deutschen heißt es: „alleine ja alleine alle nicht Nachbarn helfen alleine immer alleine ... warum Nachbarn immer ... helfen ja ich gerne alleine aber ((Lachen)) nicht Übung ((Lachen))“ (4/36–38). Wie andere befragte Frauen möchte Betül allein zu Ärzt(inn)en, Ämtern und zum Einkaufen gehen. Das etwas gequälte Lachen zeigt, dass sie ihr Ziel noch nicht erreicht hat. „Allein“ bezieht sich auch auf die soziale Lage Betüls, die durch ihre Trennung vom Ehemann entstanden ist. Zum einen werden damit die neuen beruflichen Anforderungen begründet: „muss Arbeit alleine jetzt ich alleine muss Arbeit“ (1/27). Zum anderen verweist „allein“ auf eine entspanntere private Situation: „jetzt besser ... alleine ist okay ((Lachen)) is gut“ (10/1). Das Lachen relativiert die verbale Einschätzung jedoch ein wenig. Wie lassen sich die Befunde interpretieren? Die häufige und meist positiv konnotierte Verwendung von „allein“ verweist deutlich auf Autonomiewünsche (Abb. 1). Interessant ist, dass ein entscheidender Autonomiezuwachs, nämlich die durch eigene Berufstätigkeit entstandene finanzielle Unabhängigkeit, nicht als solcher eingeordnet wird. „Allein“ könnte auch negativ konnotiert auf die Entfremdung von der Schwiegerfamilie und auf die große räumliche Distanz zur Herkunftsfamilie verweisen. Eine solche Verwendung von „allein“ ist allerdings nicht belegt. Betül gelingt es wohl weitgehend, diese sozialen Defizite durch gesellige Kontakte zu Nachbar(inne)n und Arbeitskolleginnen auszugleichen. Situatives Alleinsein im Sinne eines Auf-sich-selbst-gestellt-Sein scheint den Deutscherwerb von Betül deutlich zu fördern. So zählt sie im Gespräch stolz die Namen der Produkte auf, die sie in der Bäckerei beim Belegen von Brötchen verwendet. Auch kleineren Small Talk mit Kund(inn)en scheint Betül souverän zu bewältigen (7/37–40; 8/18). Außerhalb des Arbeitsplatzes aber ist neben der Unterstützung durch eine Nachbarstochter die enge Bindung zum Sohn entscheidend. Seine sicher lange Zeit hilfreichen Unterstützungsleistungen in Form von Übersetzungen ins Deutsche fördern bei Betül ein Selbstbild unzureichender sprachlicher Kompetenz. Dieses führt zu einem Gefühl von Hilflosigkeit, das
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den souveränen Gebrauch der eigenen Ressourcen im Deutschen verhindert und so den Zuwachs sprachlicher Autonomie blockiert.
Betül: Autonomie finanzielle Unabhängigkeit durch Berufstätigkeit
Besuch von Ärzten, Ämtern und Geschäften
erzwingt Geselligkeit mit Nachbarn und Kollegen
kompensiert
allein
Trennung vom Ehemann
schlechtes Verhältnis zur Schwiegerfamilie + große räumliche Entfernung zur Herkunftsfamilie
Abbildung 1
5.2 Vermittlerin: das Beispiel Ayla Die persönlichen Kontakte zu Kita und Schule werden von Ayla selbst nicht besonders gewichtet, sie scheinen aber im Hinblick auf ihre eigenen sprachlichen und sozialen Möglichkeiten zentral zu sein. Aylas hohe Kompetenz im Deutschen wird an einem detaillierten Bericht zum letzten besuchten Elternabend deutlich (4/37–51). Sie ist sprachlich so kompetent, dass sie zwischen arabischen Frauen und den deutschen Erziehungs- und Bildungsinstitutionen vermitteln könnte (Abb. 2). Ein Beispiel für mögliche Interessensvertretung sei genannt. Im Kindergarten des Sohnes entsteht der Eindruck, pünktliches Abholen der Kinder
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werde von Migrant(inn)en stärker erwartet als von deutschen Eltern: „und sie [die Erzieherinnen] schimpfe mit die die Ausländer weil sie … sie wissen die kann nicht antworten“ (5/41 f.). Vermittlung kann auch als Unterstützung der deutschen Institution geleistet werden. So erklärte Ayla arabischen Müttern, dass sie sich entscheiden müssen, ob ihr Kind in den Sommerferien an einem reduzierten Kita-Programm teilnehmen oder zu Hause bleiben soll: „sie versteht nicht ich hab für sie Übersetzung sie sie müssen Unterschrift sie müssen bleiben zu Hause ... das war ein Mal … gibt’s mehr glaube ich“ (15/27–29).
Ayla: Vermittlerin hohes Bildungsniveau in Ägypten
Besuch mehrerer Deutschkurse Mittlerin
araboislamische Verankerung
Bildung für die Kinder arabische Filme und
Familiensprache
Bücher
Arabisch
lernen ist positiv besetzt
schätzte eigenen Schulbesuch
Kopftuch, bedecken-
Moscheebesuche
des Gewand
Tochter: Koranschule
Ehemann:
Gespräche mit
Besuch aller
Moscheeverein
ErzieherInnen und
Elternabende
LehrerInnen
übersetzt und erklärt für andere
Abbildung 2 Woraus ergibt sich die besondere Eignung Aylas für die Rolle als Mittlerin? Da ist zunächst ihr hohes Bildungsniveau. Ayla hat in Ägypten studiert und in Deutschland Deutschkurse bis zum Niveau der Mittelstufe besucht. Die zweite Besonderheit liegt in Aylas doppelter kultureller Verankerung und deren positiver Bewertung. Da ist zum einen eine klare Verortung im arabisch-muslimischen
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Kulturkreis. Ayla spricht mit ihren Kindern zu Hause Arabisch (2/12–15) und bevorzugt arabischsprachige Lektüre und Filme. Sie trägt ein Kopftuch und lange Kleidung, geht gelegentlich in die Moschee (10/47–49), unterstützt den Besuch der Koranschule ihrer Tochter (2/18–20) und hat einen Ehemann, der sich in einem Verein für den Bau einer Moschee engagiert (6/26–34). Daneben besteht ein deutlicher Bezug auf die Aufnahmegesellschaft, der vor allem durch Aylas Bildungsorientierung gefördert wird. Lernen ist für sie positiv besetzt. Schon als Kind freute sie sich sehr auf den Schulbesuch (7/39–47) und ihrer Tochter ging es nun ganz ähnlich (15/43–46). Ayla unterstützt die Bildung ihrer Kinder. Sie unterhält sich mit den Lehrer(inne)n und Erzieher(inne)n, wenn sie ihre Kinder hinbringt und abholt (4/33 f.) und sie besucht jeden Elternabend (4/37 f.). Wichtig scheint also zum einen die doppelkulturelle Verankerung. Da sind das Studium in Ägypten und die arabisch-muslimische Orientierung im Alltag auf der einen Seite sowie das recht gute Deutschniveau und die Orientierung an deutschen Erziehungs- und Bildungseinrichtungen auf der anderen Seite. Von Bedeutung ist daneben, dass die doppelte soziale Verankerung positiv bewertet wird. Nur so kann eine Mittlerrolle selbstbewusst wahrgenommen werden. 5.3 Fossilierung: das Beispiel Ceyda Ceyda charakterisiert ihre persönliche Situation im Hinblick auf das Deutsche mit: „ja ich verstehe viele Wort gelernt aber ich hab vergessen … zu Hause (…)“ (8/40 f.). Nicht nur zu Hause mangelt es an der Notwendigkeit, sich auf Deutsch zu verständigen: „draußen ich brauche nicht mehr in Kreuzberg leben viele Türkische Arabische“ (2/39). Die Präsenz des Deutschen im alltäglichen Leben von Ceyda ist nicht nur gering, sie scheint sogar abzunehmen. (Abb. 3) Ceyda wechselte zu türkischen Ärzten (s. o.). Die Zahl der türkischen Mieter in dem von ihr bewohnten Haus ist in den letzten Jahren deutlich angestiegen (2/42–48). Dennoch bestehen auch für Ceyda Anreize, ihre Deutschkenntnisse zu verbessern. Da ist zum einen die informelle Ebene. Ceyda würde gern kompetenter an den auf Deutsch geführten Gesprächen ihrer türkischen Freundinnen der zweiten Generation partizipieren (5/51–6/5). Auch würde sie sich gern besser mit ihrer ehemaligen Deutschlehrerin Monika verständigen können, die sie gemeinsam mit anderen früheren Kursbesucherinnen trifft (s. o). Wichtig ist, dass es sich in beiden Kontexten um deutschsprachige Kommunikation in türkisch dominierten Interaktionssituationen handelt.
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Ceyda: Fossilierung geringe Bildungschancen in der Türkei
türkisch dominiertes Umfeld
als älteste Tochter
lernt indem sie
nur 5 Jahre
drei jüngere
Grundschule
Brüder
5 Jahre Leben
unterstützt
geringe Bildungschancen in Deutschland
verstärkt sich
kaum Zeit
begrenzte Möglichkeiten
zum Lesen
zum Deutschkursbesuch Berufsausbildung
recht alt für eine
in der
viele
Schwieger-
türkische
familie
Nachbarn
minimale Kontakte zu Deutschen Deutschlehrerin als Freundin
Türkinnen der 2. Generation als Freundinnen
L e r n a n r e i z
Abbildung 3 Anreize zum Deutscherwerb bestehen für Ceyda auch im Hinblick auf eine verbesserte sozialstrukturelle Integration. Manchmal wünscht sie sich, noch eine Berufsausbildung zu absolvieren. An mangelnden kognitiven Fähigkeiten scheint die 40-Jährige nicht zu scheitern. Neben der Deutschlehrerin war bereits die frühere Grundschullehrerin in der Türkei der Meinung, Ceyda sei zu einer Berufsausbildung fähig und hierfür geeignet (16/9 f.). Doch als älteste Tochter mit drei jüngeren Brüdern musste Ceyda, auf Wunsch vor allem der Großeltern, die Schule bereits nach 5 Jahren verlassen (15/49–52). Sie bildete sich weiter, indem sie Bücher las (15/49) und indem sie ihre jüngeren Brüder bei deren Ausbildung unterstützte (19/12–19). Da es Ceyda nicht möglich war, Bildungszertifikate zu erwerben, sind ihre Möglichkeiten zur sozialstrukturellen Integration in Deutschland sehr begrenzt. Angesichts der geringen beruflichen Entwicklungsmöglichkeiten ist die Struktur des gegenwärtigen Alltags von Ceyda für die Entwicklung ihrer Kompetenz im Deutschen von besonderer Bedeutung. Charakteristisch ist hier ein sehr geringes Ausmaß an Kontakten zu Deutschen. Dies ist nicht nur wichtig im
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Hinblick auf Motivationen zu weiter gehendem Erwerb des Deutschen. Die bereits bestehenden Kenntnisse des Deutschen werden nicht genutzt und entwickeln sich dadurch zurück. Es kommt zu einer Fossilierung.17 6
Fazit
Die befragten Migrantinnen besuchten Deutschunterricht in Schulen mit einem Anteil von über 56 Prozent Schülern nicht-deutscher Herkunftssprache. Sie leben also in einem stark von Migrant(inn)en geprägten Wohnumfeld. Der Umgang hiermit ist ambivalent. Einerseits versuchen sie den Einfluss zu reduzieren. So wird eine Betreuung der Kinder in Gruppen mit geringem Migrant(inn)enanteil angestrebt (Ceyda 6/48–7/3; 7/4–7/8) oder ein Umzug in ein weniger von Migrant(inn)en dominiertes Wohngebiet in Erwägung gezogen (Ayla 12/18–12/30). Andererseits nimmt die Verankerung in der ethnischen Community zu, so wenn der Ehemann von Ayla nun in einem Verein zur Errichtung einer Moschee mitwirkt oder wenn Ceyda zu türkischen Ärzten wechselt (s. o.). Die Auswirkungen einer starken Verankerung in der ethnischen Community auf den deutschen Spracherwerb sind nicht einheitlich. Ayla wird in ihrer Vermittlerrolle durch den selbstbewussten Bezug auf ihre Herkunftskultur gestärkt. Bei Ceyda führt die Dominanz sozialer Interaktion mit Landsleuten zu einer Rückbildung vorhandener deutscher Sprachkenntnisse. Die unterschiedlichen Auswirkungen einer Integration in die Herkunftsgruppe könnten mit dem Bildungsniveau der Betroffenen zusammenhängen. Können Defizite beim Erwerb des Deutschen auf mangelnde Motivation, das Deutsche zu erlernen, zurückgeführt werden? Die drei Befragten haben nicht nur Deutschkurse besucht, sondern würden dies auch gern wieder tun. Besonders deutlich wird dies bei Betül (s. o.). Dass sie keinen Deutschunterricht besuchen, führen sie selbst auf besondere familiäre Belastungen (Ayla, Ceyda) oder auf berufliche Eingebundenheit (Betül, Ayla) zurück. Der Deutschunterricht an Schulen und Kindertagesstätten ist zweifellos ein wichtiges und auch erfolgreiches Angebot. Allein im Jahr 2000 nahmen in Berlin 4000 Personen an den so genannten Mütterkursen teil (vgl. VHS 2001, S. 2). Manche Frauen aber sind überfordert. Wer vor sehr langer Zeit und nur für wenige Jahre eine Schule besuchte, hat Schwierigkeiten. Dies wurde bei Betül besonders deutlich. 17
Vgl. kritisch zum Konzept der Fossilierung Klaus Müller (2000, S. 236). Die beim Fremdsprachenerwerb von Erwachsenen übliche Progression werde unzutreffend verallgemeinert. Einen Stillstand von Sprachentwicklung gebe es nicht. Es komme zu Veränderungen, die nicht notwendig als Progression zu interpretieren seien.
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Wo könnte man ansetzen? Der Gebrauch des Deutschen in den Familien könnte gestärkt werden. Dies gilt für die Kommunikation zwischen den Familienmitgliedern ebenso wie für die Nutzung deutschsprachiger Medien. Schwierig ist dabei, dass in einer nur begrenzt beherrschten Sprache kommuniziert werden müsste und dass die für die Identitätsbildung ebenfalls wichtige Herkunftssprache zurückgedrängt werden könnte. Betül nennt einen anderen Ansatz. Sie würde gern die kurzen informellen Gespräche mit Deutschen bei ihrer Arbeit in der Bäckerei ausbauen. Dies scheint viel versprechend. An Verkaufstransaktionen angebundene kleine informelle Gespräche sind leicht zu realisieren.18 Außerdem sind aus traditionellen Gesellschaften stammende Migrant(inn)en auf solchen Small Talk häufig besser vorbereitet als ihre autochthonen Kolleg(inn)en (vgl. Zwengel 2004). Zu einem nennenswerten Kompetenzzuwachs im Deutschen bei bildungsfernen Migrantinnen dürfte es wohl nur dann kommen, wenn es gelingt, die informellen Begegnungen zwischen Migrantinnen und Deutschen ähnlicher sozialer Lage zu stärken. Dass dies nicht einfach ist, zeigen zwei Beispiele. Ceyda spricht von seltenen Kontaktaufnahmen auf Spielplätzen (13/14). Eine engagierte Lehrerin konnte verstärkte Kontakte zu Deutschen nicht fördern, sondern wurde selbst zur primären deutschen Kontaktperson. Literatur Barkowski, Hans/Harnisch, Ulrike/Krumm, Sigrid (1976): Sprachhandlungstheorie und „Deutsch für ausländische Arbeiter“, in: Linguistische Berichte, H. 45, S. 42–54 Barkowski, Hans/Harnisch, Ulrike/Krumm, Sigrid (1986): Handbuch für den Deutschunterricht mit Arbeitsmigranten, Mainz Braun, Friederike (1991): Türkische Gastarbeiterfrauen – eine heterogene Lerngruppe, in: Armin Wolff/Horst Zindler (Hg.), Heterogene Lerngruppen. Arbeitstechniken. Deutsche DaF-Lehrende im Ausland, Aachen, S. 165–178 Breitkopf, Kathleen (2002): Elternkurse: das Berliner Modell zur sprachlichen Integration von MigrantInnen, in: Deutsch als Zweitsprache, H. 1, S. 14–17 Bremer, Katharina (1997): Verständigungsarbeit. Problembearbeitung und Gesprächsverlauf zwischen Sprechern verschiedener Muttersprachen, Tübingen Brettmeister, Rudolf (2000): Projekt „Schule mal anders“ in München, in: Bildungsarbeit in der Zweitsprache Deutsch, H. 1, S. 34–37
18
Mit Gert Henrici (1995) ist zu unterscheiden zwischen kurzzeitigem Spracherwerb, der punktuell in einer Gesprächssituation entsteht, mittelfristigem Erwerb, der sich auf eine spätere Verwendung in der selben Diskurseinheit bezieht, und langfristigem Erwerb, der korrekten Gebrauch nach mehreren Tagen oder Wochen impliziert.
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Almut Zwengel
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Wie Migrantinnen mit geringen deutschen Sprachkenntnissen ihren Alltag gestalten
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Sprachliche Hybridität, polykulturelle Selbstverständnisse und „Parallelgesellschaft“1 Volker Hinnenkamp
„the concept of a ‘pure’ language as an ideal … is frequently formulated by gatekeepers, be they teachers, parents …. The ideal rests on the concept of languages as entities which can be, and should be, neatly separated from each other. By transgressing the norms of the gatekeepers, adolescents take languages into their own possession“ (Jørgensen 2004, S. 14).
1
Begriffliche Klärungen
Sprachliche Hybridität und polykulturelle Selbstverständnisse bilden die postmodernen Pendants zu einer sprachlichen und interethnischen Grenzziehung und einem klassischen, essentialistischen Sprach- und Kulturbegriff (vgl. LePage/Tabouret-Keller 1982; Hannerz 1987; Hewitt 1994; Schneider 1997; Werbner 1997). „Hybrid“ lässt sich laut Duden umschreiben als „aus Verschiedenartigem zusammengesetzt, von zweierlei Herkunft; gemischt; zwitterhaft“; das Verb „hybridisieren“ wird schlicht mit „bastardisieren“ gleichgesetzt (vgl. Duden – Deutsches Universalwörterbuch 2001, S. 810). Wer mischt, zusammensetzt, bastardisiert usw., widerspricht, ja widersetzt sich dem – wie immer fiktiven – Reinheitsgebot. Hinter der Reinheitsabstinenz verbergen sich allerdings keineswegs Schwäche, Hilflosigkeit und Flickschusterei, sondern – so meine These – implizite wie explizite Selbstverständnisse. Explizite Selbstverständnisse finden sich in Aussagen, in Bewertungen und Urteilen aufgehoben; implizite Selbstverständnisse manifestieren sich „zwischen den Zeilen“, auf der Ebene des Handelns, etwa in einer spezifischen Anerkennungsordnung oder in einer spezifischen Kommunikationsweise. Es liegt auf der Hand, dass Selbstverständnisse und Identität in einem Zusammenhang stehen. Die Sprecher und Sprecherinnen, um die es im Folgenden gehen soll, offenbaren ihre polykulturellen Selbstverständnisse in mannigfacher Weise. In erster 1
Teile des vorliegenden Texts sind mit bereits veröffentlichten Texten identisch bzw. ähnlich. Dank an Almut Zwengel und Gudrun Hentges für ihre kritischen Rückmeldungen – hoffentlich bin ich allem nachgekommen!
232
Volker Hinnenkamp
Linie geschieht dies über Sprache. Diese Selbstverständnisse haben sich – wie ich zeigen will – als Antwort und Reaktion auf bestimmte sprachliche, sprachpolitische, politische und historische Umstände und Diskurse entwickelt. Auch wenn der Begriff der Hybridität als postmodernes Subsumptionskonzept für die „Vermischung von Traditionslinien oder von Signifikantenketten“, bzw. als „Techniken der collage, des samplings, des Bastelns“ (Bronfen/Marius 1997, S. 14) Konjunktur feiert und entsprechend auch in seiner Undifferenziertheit der berechtigten Kritik unterliegt (vgl. Terkessidis 1999; Ha 2005), so halte ich die Diskussion um den Begriff – und vielleicht gerade auch seine Popularisierung – für einen Meilenstein im literatur-, kultur-, sozial- und sprachwissenschaftlichen Diskurs, um kanonische Kategorien wie Sprache, Text, Kultur, Ethnizität, Identität, um kategoriale Festschreibungen mit sakrosankten Definitionen, die allesamt einen gemeinsamen Kern haben – den der metaphorischen Einkapselung und Eingrenzung – zu dekonstruieren. Es geht also um nicht weniger als die Aufhebung, Auflösung, ja mitunter Konterkarierung identitärer Selbst- und Fremdsicherheiten – Sicherheiten, die wir in den großen und kleinen seit der Aufklärung tradierten und erbastelten Konstruktionen von Kultur, Sprache, Nation und natürlich Identität selbst gefunden zu haben glaubten, und die uns nun durch eben die Durchmischung, Bastardisierung, Legierung, Kreolisierung dieser „unserer“ Sprache, Identität, Kultur etc. abhanden zu kommen scheinen. So haben „hybrid“ und „Hybridität“ sich längst des negativen Beiklangs entbunden, haben die Begrifflichkeit verkehrt gegen die Behüter des Reinen und Homogenen und Wesentlichen, die sich ihrer Kultur und ihrer Sprache und ihrer Identität sicher schienen (vgl. Young 1995; Werbner/Modood 1997). Diese antiessentialistische Dekonstruktionsleistung ist vor allem den unterschiedlichen Arbeiten in den letzten beiden Dekaden des vergangenen Milleniums zu verdanken, die unter dem Label „postkolonialer Diskurs“ wirken. Es sind gerade auch Intellektuelle – Schriftsteller, Literaturtheoretiker, Kultur- und Sozialwissenschaftler – aus den postkolonialen Gesellschaften, die diesen Diskurs selbst stetig vorangetrieben haben (vgl. Bhatti 1997), wie etwa Salman Rushdie – um einen prominenten Namen zu nennen. Doch war und ist die Dekonstruktion m.E. nur Nebeneffekt in der Formierung eines neuen Paradigmas: Unter den Bedingungen von Globalisierung und Transmigration werden die alten, allein dependenziellen Beziehungen zwischen dem, was entsprechend mit Erster und Dritter Welt oder Zentrum und Peripherie bezeichnet wurde, in einen neuen, gemeinsamen, sich vermischenden Schauplatz geholt, den der multikulturellen Stadt. Denn hier, in den Metropolen und Großstädten des Westens (bzw. den „verwestlichten“ Kapitalen überall in der Welt) hat die weltumspannende Migration Peripherie und Zentrum zusammengeführt. Viele urbane Zentren des globalen Zeitalters werden bewohnt vom – ironisch-böse formuliert – „Kaffeesatz“
Sprachliche Hybridität, polykulturelle Selbstverständnisse und „Parallelgesellschaft“
233
einer historischen und wirtschaftlichen Globalisierung, der vor allem der Flucht aus der Armut entstammt und teilhaben will an den medialen und konsumtiven Möglichkeiten, aber gleichzeitig in der Diversität seiner mitgebrachten Sprachen, Kulturen und ethnic communities ausgegliedert und ausgegrenzt wird. Diese Verhältnisse einer stetig fluktuierenden Vielheit schaffen eine trans- und interkulturelle Verständigungsdynamik, deren Zeichenbestand und Zeichenwert mitunter nur in gesellschaftlichen Nischen von Nutzen ist, der aber auch – für manche bedrohlich – in die Mehrheitsgesellschaft hinein proliferieren kann.2 Dieser Diversität an Zeichen und Bedeutungen kann man nicht entkommen. Sie manifestiert sich in vielfachen Konstellationen und Codes und belehrt uns immerfort der Unbeständigkeit der eigenen vertrauten Zeichenvorräte (vgl. Hewitt 1994). Eine Option, dieser Wir-leben-in-einer-Welt-Konfrontation auszuweichen, ist die diskursive Konstruktion von Neben- oder Parallelwelten, in die das NichtZugehörige ausgelagert werden kann. Vielleicht ist es das, was sich nunmehr als „Parallelgesellschaft“ im hegemonialen Öffentlichkeitsdiskurs etabliert hat (vgl. Kaschuba 2007a und 2007b; Bukow u.a. 2007). Auf jeden Fall überführt es schon begrifflich eine multikulturelle Gesellschaftsbeschreibung in eine anderskulturelle Gesellschaftskonstitution, wenn auch nur die einer Nebengesellschaft. Das mit der „Parallelgesellschaft“ verbundene Bild erlaubt vielerlei Konnotationen. Eine unter vielen könnte lauten: Der „Kaffeesatz“ hat sich folglich einer eigenständigen Gründung bemächtigt, hat sich nicht nur ausgeklinkt (Integrationsverweigerer und -untaugliche), sondern formiert sich gleichsam neu. Eine andere Lesart ist, dass man sich dieser Teilmenge an Gesellschaftsmitgliedern entledigt, die Augen verschließt – auch relativistisch –, sie sich selbst überlässt, sie aber dann dieser Konstitution bezichtigt (z.B. als Folge einer nicht affirmativen Bildungspolitik oder als Folge eines laissez-faire-Multikulturalismus).
2
Implikationen hybriden Sprechens
2.1 Hybride Praktiken Ganz gleich, in welcher Großstadt ich mich umhöre, wo immer Jugendliche unterschiedlicher ethnischer Herkunft zusammenkommen, wird ein vielsprachiges Stimmengewirr hörbar, das nicht nur in einem Nebeneinander von Deutsch, Türkisch, Griechisch, Russisch und anderen Sprachen besteht, sondern in einem wahrhaften Mit- und – scheinbaren – Durcheinander. Man wird oftmals Zeuge, wie in einem atemberaubenden Tempo nicht nur zwischen den Sprachen hin2
Vgl. dazu die unterschiedlichen Perspektiven in Rampton (1995); Erfurt (2003a); Androutsopoulos (2001), (2003); Dirim/Auer (2004).
234
Volker Hinnenkamp
und hergewechselt wird, sondern wie auch ganz neue, gemischte Codes verwendet werden. Allerdings gilt das, was die Schüler und Jugendlichen in diesen Unterhaltungen produzieren, als nicht gesellschaftsfähig. Denn in den Klassenzimmern, aus denen sie gerade kommen, werden diese Codes kaum geschätzt. Dort herrscht sanktionierte Einsprachigkeit vor – in der Regel und immer noch, zumindest im Unterrichtsdiskurs. Die Anderssprachigkeit der Schulhöfe, der schulischen Nebendiskurse gilt im Sinne der Institution schon längst als parallele, nicht legitimierte Welt. Sie manifestiert sich einer interessierten Öffentlichkeit allerhöchstens als defizitärer Mischmasch oder im Jargon der Pädagogen als – doppelseitige – Halbsprachigkeit bzw. Semilingualismus.3 Dazu ein kleines Beispiel aus der zweisprachigen Unterhaltung an einer Bushaltestelle zwischen den beiden türkischstämmigen 15-jährigen Schülern Ahmet und Ferhat, die auf den Bus warten und dabei ein wenig über Busservice und Busfahrer lästern:4 Transkript5 „Bushaltestelle“ 01 F: Otobüse binecekmiyiz? Werden wir in den Bus einsteigen?
02 A: 03 F:
#((lachend)) Ich weiß nicht# °{Lan}° + bugün zaten öretmen kzmt bize
04 A: 05 F:
#((lachend und Luft einsaugend)) Echt oder?# Bugün geç kalmtm, otobüsü kaçrmtk
Mann
heute hat uns schon der Lehrer beschimpft
Heute war ich spät dran, wir hatten den Bus verpasst
06 A:
Ben de saat acht’ta geldim camiye, lan hehehehehehehehe Und ich kam um acht Uhr in die Moschee, Mann
07 F: 3 4
5
He:: der Busfahrer ist (h)ein Sack hey
Zur Geschichte des Begriffs vgl. Braunmüller/Zeevaert (2001); kritisch vgl. z.B. MacSwan (2000) und Hinnenkamp (2005b). Datengrundlage meiner Untersuchung sind informelle Gespräche, die die Jugendlichen im Raum Augsburg (Bayerisch Schwaben) in der Regel selbst aufgenommen haben. Die meisten der Jugendlichen waren zur Zeit der Aufnahme zwischen 15 und 18 Jahre alt. Mit einigen der Informanten habe ich Interviews über die Mischsprachigkeit geführt. Die meisten Sprecher in meinen Daten sind männlich. Der Großteil der Aufnahmen ist in informellen Freizeitsituationen entstanden. Nicht alle Gesprächsteilnehmer wussten bereits während des jeweiligen Gesprächs, dass sie aufgenommen wurden; sie wurden hinterher informiert und gefragt, ob sie mit der Verwendung der Aufnahmen für die Forschung einverstanden wären. Die Jugendlichen fanden es in der Regel positiv, dass für ‘ihre Sprache‘ Interesse gezeigt wurde. Zusätzlich wurden die Sprecher um grundlegende persönliche Daten gebeten, wie Alter, Ausbildung und Lebensphasen in Deutschland und der Türkei. Näheres vgl. Hinnenkamp (2005a). Die Transkriptionslegende findet sich im Anhang zum Schluss des Textes.
Sprachliche Hybridität, polykulturelle Selbstverständnisse und „Parallelgesellschaft“
08 A:
Hehehe valla:::h hehe
09 F: 10 A:
der kommt (h)der kommt immer zu spät he Otobüsün dolu olmasna çok gicik olyom hey Mann ge + voll
235
Echt oder
Dass der Bus voll ist, nervt mich sehr
11 F:
Ja weisch (+) girdik (h) {giri/giriyoz=imdi} içeriye wir sind rein- {Einstieg/wir steigen jetzt} da rein
12 A: 13 F:
[((lacht)) [bi- bize (.....) (+) seid mal leise diyor ehh das regt mich auf hey zu uns sagt er
14 A: 15
#((3 Sek. lachend, Worte verschluckend)) (....) hohohohohehehehe yi mi? kötü mü?# ((saugt Luft ein)) Ist es gut oder ist es schlecht? (Ist das okay?)
16 F: 17 A:
((genervt)) Eh komm jetzt ((beherrscht, mit tiefer Stimme)) Ya tamam burdayz=lan
18 F:
Wo bleibt der Bus hey
Ja, wir sind hier, Mann (Alles okay, Mann)
Das relativ genaue Transkript ist nützlich, weil es die Vielfalt an Variation und szenischen Stimmen auch entsprechend genau wiederzugeben vermag. In diesem kleinen Gesprächsausschnitt haben wir es mit Deutsch, mit Türkisch und einem zum Teil dialektal eingefärbten Jugendjargon zu tun. Einige Sequenzen sind einsprachig, andere zweisprachig. Eine Sprachalternation vom Typ „Sprecher 1 spricht die eine Sprache, Sprecher 2 die andere“ findet sich z.B. in Zeile 1 bis 5 oder 6 bis 9. Daraus könnte man schließen, dass die Sprachkompetenzen unterschiedlich verteilt sind, und jeder der Beteiligten die jeweilig andere Sprache zwar versteht, es aber vorzieht in seiner stärkeren Sprache zu agieren. Das ist auch oft der Fall. Aber hier sehen wir sogleich, dass mit den Zeilen 6 und 7 das Muster umgedreht wird: Hat in den Zeilen 1 bis 5 Ferhat Türkisch gesprochen und Ahmet in Deutsch geantwortet, so ist Ahmets Beitrag in Zeile 6 Türkisch und Ferhat redet nun in Deutsch weiter (Z. 7 und 9). Findet sich eine sinnvolle Antwort auf die Frage, warum die beiden nun das Muster wechseln? Auch innerhalb einiger Äußerungen kommt es zum Wechsel, so in den Zeilen 10, 11 und 13. Hier könnte man eine Logik entdecken: In Zeile 10 ist der deutsche Teil eine Art abgesetzte emotionale Kommentierung des vorherigen türkischen Teils, zudem noch mit fiktiver Anrede. Auch das als Anredeform fungierende schwäbische „Ja weisch“ (Ja weißt du) in Zeile 11 ist von der kleinen türkischen Erzählsequenz abgehoben. Und in Zeile 13 ist klar erkennbar, dass der Busfahrer au-
236
Volker Hinnenkamp
thentisch in Deutsch zitiert wird, eingeklammert vom türkischen „bize …. diyor“ (zu uns sagt er). Wiederum ist Ferhats Kommentar dazu in Deutsch „das regt mich auf hey“. Die Sprachwechsel beinhalten also beides, eine scheinbare Willkür einerseits und eine gewisse interaktionslogische Geordnetheit andererseits, die wir dem Aushandlungsprozess der Unterhaltung zuschreiben könnten. Aber es ist deutlich, dass beide Sprecher in beiden Sprachen agieren, dass sie stets beide Sprachen als Ressourcen zur Verfügung haben und schon in kleinsten Sequenzen mit unterschiedlichen Formaten (Deutsch–Türkisch, Türkisch–Deutsch, Deutsch–Deutsch, Türkisch–Türkisch) zu spielen vermögen.6 2.2 Hybridisierungen zweiter Ordnung Soziolinguisten nennen dieses Alternieren zwischen Sprachen (und/oder zwischen Sprachvarietäten) Code-Switching.7 Ein Code ist in der Regel ein in sich geschlossenes Set von Merkmalen, das gegenüber einem anderen Set bedeutungsunterscheidend ist. Man könnte sagen: Der Codewechsel steht für etwas jeweilig anderes, er ist Träger metapragmatischer Information, die sich etwa wie folgt erfragen lässt: Wie ist der Codewechsel hinsichtlich dessen, was die Akteure gerade tun, zu verstehen? Welche Bedeutung kommt ihm im Rahmen des Aushandlungsprozesses zu? Es gibt Codes, die wir als Außenstehende, als Zuhörer, sogleich als deutlich unterschiedlich voneinander betrachten, typischerweise Sprache X gegenüber Sprache Y, wie hier Deutsch versus Türkisch. Aber bei vielen Codes müssen wir erst herausfinden, wie die Kommunikationsteilnehmer diese selbst wahrnehmen, was sie überhaupt als eigenständigen Code betrachten und was ein Code-Switching für sie selbst für eine Bedeutung hat.8 So kann neben unterschiedlichen Sprachen zum Beispiel auch ein Dialekt gegenüber einer standardsprachlichen Varietät, ein ethnischer Akzent gegenüber einer neutralen Sprechweise oder ein lakonischer Stil gegenüber einem ausschmückenden Stil als Code-Switching verstanden werden.9 6 7
8 9
Es gibt eine ganze Anzahl weiterer interessanter Erscheinungen in diesem Beispiel, auf die ich hier nicht eingehen kann. Vgl. aber dazu Hinnenkamp (2005a), S. 63 ff. Die Literatur zum Sprachalternieren bzw. Code-Switching ist mittlerweile sehr umfangreich. Verdienstvolle Diskussionen finden sich in folgenden Anthologien: Heller (1988), Eastman (1992), Milroy/Muysken (1995), Auer (1998a). Wegweisend in der Diskussion waren u.a. die Aufsätze von Gumperz (1964), Blom/Gumperz (1972), Poplack (1980), Gumperz (1982) sowie Auer (1988). Vgl. Alvarez-Caccamo (1998), Auer (1998b). Methodisch bringt letztere Auffassung natürlich sehr viel mehr Probleme mit sich, da allein die Teilnehmerperspektive für das, was einen Code konstituiert, herangezogen werden muss. Gleichzeitig macht diese Perspektive es erforderlich, auf filigrane Strukturen der Kommunika-
Sprachliche Hybridität, polykulturelle Selbstverständnisse und „Parallelgesellschaft“
237
Eine Frage, die sich im Zusammenhang mit solchen Sprachformen stellt, ist die nach den dahinter aufscheinenden Kompetenzen: Sind sie Ausdruck von Sprachdefiziten in der jeweiligen Sprache und stellen Ausweichmanöver dar oder sind sie Ausdruck einer spezifischen bilingualen Fertigkeit? Ferhat und Ahmet sprechen ja nicht ungrammatischer als einsprachige Jugendliche, sie weisen auch keine Suchstrategien nach den richtigen Worten aus, erwecken keinen Verdacht durch besonders auffällige Neustarts, Versprecher oder Selbstkorrekturen in der jeweilig anderen Sprache etc. Der alternierende Gebrauch von Deutsch und Türkisch kann wohl auch kaum als Zeugnis einer desintegrierten parallelen Lebenswelt betrachtet werden, sondern erweist sich – wie noch zu zeigen sein wird – als das durchaus logische – und auch gleichzeitig antithetische – Resultat einer in Migrationsgeschichte und multikultureller Gesellschaft begründeten polylingualen Entwicklung inmitten und in Auseinandersetzung mit der Mehrheitsgesellschaft. Diese Mischsprache reflektiert genau den oben erwähnten reaktiv-produktiven Aspekt, der mir in der Tat für eine wie folgt zu spezifizierende Spielart von Hybridität diskurskonstitutiv erscheint: Es handelt sich um hybride Codes, die in eben dieser Auseinandersetzung der globalisierten und hegemonisierten Gesellschaftsmitglieder um eine neue, eigenständige minoritäre Identitätsbildung mit und in der hegemonialen Mehrheitsgesellschaft geboren werden. Diese Auseinandersetzung ist nicht gleichzusetzen mit der modisch aufgemischten Beliebigkeit eines globalisierten Crossover (Ha 2005), sie ist vielmehr unbequem, manchmal auch bedrohlich. Sie ist gekennzeichnet von Gegendiskursen, von mitunter gewaltsamer Raumnahme und eigenwilligen, eben hybriden Konstruktionen von Identitäten (vgl. Diken 1998; Erfurt 2003a; Nilan/Feixa 2006). Unter ideologisch genehmeren Vorzeichen träfe für diesen Prozess der Ausdruck „Emanzipation“ zu, aber der ist in der Regel nur solchen Prozessen und Projekten vorbehalten, die unter den Sachverhalt der politischen Korrektheit fallen (vgl. Terkessidis 1999, S. 246). Ich nenne dies eine Hybridisierung zweiter Ordnung.
2.3 Hybrides Sprechen als Stegreifpoesie Ein weiteres Beispiel: In zweisprachig inszenierten rhetorisch-stilistischen Darbietungen, wie kunstvollen Erzählungen, Spontandichtungen, Sprachspielen und anderen Performances, wird dieser Mischcharakter jenseits interaktionslogischer tion zu achten und sich auf den Aushandlungscharakter der Kommunikation zu konzentrieren. Daraus folgt, dass das, was die Kommunikationsteilnehmer (also nicht nur Sprecher und Hörer, auch Schreiber und Leser) selbst als unterschiedliche Sets von Variablen wahrnehmen, den jeweiligen Code konstituiert.
238
Volker Hinnenkamp
Deutungen noch einmal besonders deutlich. Die vorliegenden Daten der jugendlichen Switcher entkräften dabei nicht nur das normative Argument des bilingualen Defekts, sie strafen auch die schulischen Verdikte von Sprachlosigkeit oder Halbsprachigkeit in gewisser Weise Lügen. Da die mir vorliegenden kunstvollen Erzählungen in zwei Sprachen zu viel Raum einnehmen würden, möchte ich mich hier auf das Beispiel einer kleineren poetischen Sprachspielerei beschränken. Im folgenden Gesprächsausschnitt werden wir Zeuge, wie die drei 15- bis 16-jährigen Jugendlichen Mehmet, Uur und Kamil in einem Selbstbedienungsladen in ihrer Nachbarschaft herumhängen und sich langweilen. Die drei kaufen sich schließlich einen Krapfen, essen ihn und albern dabei herum. Schließlich verschluckt sich Mehmet vor lauter Herumalbern am Krapfen. Kamil klopft ihm kräftig auf den Rücken und wünscht seinem Freund dabei ironisch „Guten Appetit“ – auf Türkisch. Dieser kleine Vorspann geht noch mit weiteren guten Wünschen bis Zeile 5. Transkript „Eingang“ 01 K:
Afiyet[olsun Guten Appetit
02 M: 03 M:
[((Husten)) Afiyetle beraber olsun Guten Appetit miteinander
04 U:
Geber Verreck!
05 K:
Afiyet eker olsun Zuckersüßen Appetit
06 07 U: 08 M:
((2 Sek.)) Stirb langsam hahaha + bizde (+) kaseti açt=„stirb langsam“ yazyor Bei uns hat er die Kassette angemacht, da steht „stirb langsam“ drauf
09
#((in Lachen übergehend)) U-Uur „strb langsam“ okuyor hahaha# U- Uur liest „strb langsam“
10 11 M: 12 K: 13 14 U:
#((Lachen geht ca. 6 Sek. weiter, K. und U. lachen mit)) ha ha ha ha ha ha ha ha ha ha ha [ha ha ha ha ha ha ha ha ha ha ha# #((Aus dem Lachen heraus)) [Stirb langsam (........) {strb/stirb} langsam,{Alter}# {°...°}
Sprachliche Hybridität, polykulturelle Selbstverständnisse und „Parallelgesellschaft“
15 M:
239
((aus dem Lachen heraus)) Bak orda ne yazyor, Ei-gang hahaha Schau, was da steht, Ei-gang, {Ei/Mond}Gang
16 17 U: 18 K:
(+) {Ei/Ay}Gang Ei{n}gang Nerde bunun {ay /Ei-} Wo ist hier {der Mond/das Ei}
19 M: 20 K:
He? Nerde bunun {ay /Ei-} Wo ist {der Mond /das Ei}
21 M: 22 K: 23 M:
((hüstelnd, in Lachen übergehend)) eh [eh ha ha ha [{Ay-/Ei-}Gäng Doru lan Stimmt Mann
24 U:
Nerde bunun {ay/ Ei-} olum Wo ist diese{r/s} {Mond/Ei}, mein Junge
25 M:
Yoa: + #((betont gedehnt)) *ay-yn-gang*# (+) ay{}gang haha ya Nö
26 27 U:
#((engl. Aussprache)) ein geyn zwei geyn# Aynn Gang (+) hhh Der Gang des Bären
28 29 30 31 32 33
K: M: U: K: M:
Eingang (+) Zweigang ((0,5 Sek.)) [ha! [{Weiter-/zweiter} Gang {°...°} Dün ne filmleri vard? Was für Filme gab es gestern?
34 U:
Dün mü? Gestern?
35 K:
Saate baksana Schau mal auf die Uhr
Die für uns interessante Episode beginnt nach der zweisekündigen Pause, die Uur mit „Stirb langsam“ einleitet (Zeile [Z.] 7). Uur kommentiert damit immer noch Mehmets Hustenanfall. „Stirb langsam“ erinnert Mehmet an eine Episode, bei der Uur den gleich lautenden Titel eines Videofilms als „Strb langsam“
240
Volker Hinnenkamp
langsam“ ausgesprochen habe. Mehmets Schilderung führt zu lautem Gelächter (Z. 8–13).10 Noch aus dem Lachen über die Falschaussprache heraus lenkt Mehmet die Aufmerksamkeit seiner Freunde auf eine Aufschrift, die einmal aus den einzelnen Lettern EINGANG bestand und bei der sich aber das erste „N“ gelöst hat und sich folglich nur noch als „EI GANG“ präsentierte (Z. 15). Dies führt die drei Akteure zu einem kurzen, schnellen und effektiven Wortspiel, das mit Hilfe von Transkription und sprachlichen Zuordnungen allerdings nur noch bedingt authentisch wiedergegeben werden kann. Die ganze Episode von Z. 15 bis Z. 31 oder 32 ist nun der Polyfunktionalität und den Assoziationen dieser kleinen abgeschnittenen Vorsilbe „Ei-“ gewidmet, die im Deutschen natürlich auf das „Ei“ anspielt und im Türkischen auf „ay“, den Mond bzw. den Monat, oder – erweitert um den türkischen Laut [I] – auf den Bären (ay). Nun wird beim Sprachalternieren der Jugendlichen so sehr gemischt, dass es keinerlei Restriktionen gibt, türkische Endungen an deutsche Wortstämme oder Grundformen zu hängen, wie wir bei einigen der zitierten Beispiele ja sehen konnten. Das heißt aber für das folgende Spiel, dass alle möglichen deutschtürkischen Kombinationen bei diesen Zusammenfügungen mit gedacht werden können. So kann aus dem deutschen „Eigang“, respektive „eieriger Gang“ genau so schnell ein türkisch-deutscher „Ay Gang“ werden, also übersetzt ein „Mondgang“. Aus diesem multiplen Verständnis heraus erfolgt auch sofort Kamils Nachfrage „Nerede bunun ay/Ei-“ (Z. 18) und dessen Wiederholung (Z. 19), was Mehmet nunmehr mit Lachen goutiert und Kamil zu einer weiteren Variante veranlasst: „Ay/Ei Gäng“ (Z. 22). Kamil variiert also „Ay/Ei Gang“ zu „Ay/Ei Gäng“. Die der deutschen Orthographie angenäherte Schreibweise ist hier allerdings unvollständig. Denn Kamils Aussprache [aI gæ1] macht deutlich, dass er hier genauso gut eine dritte Sprache, Englisch oder Amerikanisch, ins Spiel gebracht haben könnte. Auch der zuvor gehänselte Uur tritt nun ins Wortspiel ein (Z. 24), wobei nicht ganz klar ist, ob er hier schon wirklich mitwirkt oder nur nachfragt. Auch Mehmet, der das Spiel eröffnet hat, klinkt sich hier mit einer weiteren Variante ein (Z. 25 f.): Mehmet spricht nunmehr das vollständige deutsche Wort mit wieder eingefügtem „n“ ganz in Türkisch aus. Er dehnt dabei das Wort und macht quasi einen Dreisilber daraus, sogleich gefolgt vom ursprünglich deutsch-türkischen „ay()gang“ und – als ob diese beiden Varianten ihm 10
Was könnte witzig daran sein? Uurs vorgebliche Realisation von „stirb“ als „strb“ spielt an auf eine hoch stigmatisierte Gastarbeiterdeutsch-Aussprache von Konsonantengruppen, die aufgelöst wird durch so genanntle Sprossvokale, da das Türkische solcherlei KonsonantenCluster nicht kennt. Es bleibt unklar, ob allein Uurs defekte Aussprache Grund für die Belustigung ist oder ob damit auf eine bestimmte Rollenkonstellation in der Gruppe oder ähnliches angespielt wird.
Sprachliche Hybridität, polykulturelle Selbstverständnisse und „Parallelgesellschaft“
241
keine Befriedigung verschafften – nimmt er schließlich Kamils angloamerikanische Variante wieder auf, allerdings den „heavy accent“ eines Deutsch sprechenden Amerikaners karikierend: [aIn geIn svaI geIn] (Z. 26). Die Intonationskurve verläuft dabei in etwa nach dem Muster _ – – . Gleichzeitig verkünstelt sich Mehmets Stimme förmlich um eine ganze Tonlage nach oben. Mehmet generiert mit dieser Variante also zunächst einmal „gehen“, wenn auch amerikanisch ausgesprochen, aus „Gang“. Als Wortbildungsverfahren wird aus dem Nomen das Verb abgeleitet. Auf der paradigmatischen Ebene ersetzt er weiterhin „ein“ durch „zwei“ und stellt einem real existierenden deutschen Verb eines, das zweifelsohne wiederum mehrere Lesarten ermöglicht, das Verb „zwei gehen“, zur Seite, das als Verbparallelismus zu „eingehen“ nicht existiert, aber durchaus als flektierte Verbalphrase „zwei (Personen etc.) gehen“ gelesen werden kann.11 Uur ist nun gleichfalls voll dabei und wartet mit einer eigenen originären Lesart auf: Er bringt schließlich den Bären, ay, ins Spiel (Z. 27), denn er verwendet eine vollständige türkische Genitivkonstruktion, wörtlich „des Bären sein Gang“, wobei dem Gang, in altbekannter Mischmanier das türkische Possessivsuffix angehängt wird: ay-n-n Gang- (vgl. (2)). Kamil fügt in Parallele und in Anschluss zu Mehmets amerikanischem Zweiklang einen weiteren hinzu (Z. 28), in dem er „Eingang“ den „Zweigang“ zur Seite stellt, was Uur zu „Weitergang“ bzw. „zweiter Gang“ inspiriert. Als ob „Weitergang“ wörtlich zu nehmen sei, eröffnet Mehmet im nächsten (hörbaren) Zug ein ganz neues Thema (Z. 33). Offensichtlich ist das virtuose Sprachspiel an diesem Punkt erschöpft. Tatsächlich war Uurs letzter Beitrag ein rein deutsches, real existierendes Wort, weit genug entfernt vom Ausgangswort, um tatsächlich „weiter gehen“ zu können. Auf der folgenden Übersicht ist die Abfolge des kurzen verbalen Schlagabtauschs noch einmal dargestellt.
11
Die pseudoamerikanische Aussprache in Z. 26 spielt u.U. noch auf ein weiteres Phänomen an. So korrespondiert „geyn“ auch mit der Form „geyt“, die im Jargon der Jugendlichen aus dem kriminellen Milieu stammt. Ein lang gezogenes „heute ge::::::yt“ etwa implizierte, dass es Zigarettenautomaten zu knacken galt. Allerdings ist diese regional beschränkte Bedeutung heutzutage obsolet und „geyt“ hat mehr die Insider-Bedeutung von „cool“, „okay“ oder „Ja, dann los!“. Der Ausdruck hat auf jeden Fall „etwas Verwegenes und intentional Dynamisches“ behalten (Information von Gürcan Kökgiran, Fulda).
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Transkript „Eingang“: Spielabfolge (Z. 15) Ei-gang (Z. 16) {Ei/Ay}Gang (Z. 17) Ei{n}gang (Z. 18) {ay / Ei-} (Z. 20) {ay / Ei-} (Z. 22) {Ay-/Ei-}Gäng ((engl.? [aI gæ1])) (Z. 24) bunun {ay/Ei-} olum (Z. 25) *ay-yn-gang* (Z. 25) ay{}gang (Z. 26) #((engl. Akzent)) ein geyn zwei geyn# (([aIn geIn svaI geIn]; _ – – )) (Z. 27) aynn Gang- (Z. 28) Eingang (+) Zweigang (Z. 31) {Weiter/zweiter}Gang Dass Kinder und Jugendliche mit Sprache spielen, sie testen, Worte verkehren und umdrehen, ist ein normaler Vorgang (vgl. Schlobinski/Schmid 1996, S. 213; allg. vgl. Bauman 1986). Dass Mehmet, Kamil und Uur dies in zwei Sprachen beherrschen, das Spielmaterial und die Mehrdeutigkeiten aus beiden Sprachen extrahieren und ausschöpfen, ist sicherlich das Privileg der Zweisprachigen. Mehmet, Kamil und Uur sind Hauptschüler. Ihre Schullaufbahn ist nicht glänzend. In der Schule gelten sie als eher ‚halbsprachig‘, wie das Vokabular des schulinstitutionellen Ausländerdiskurses es ausdrückt. Dass die Jugendlichen allerdings ein sehr hohes sprachliches Reflexionsniveau besitzen, wird ebenfalls deutlich. Die Stigmatisierung von Uurs Gastarbeiterdeutsch-Aussprache zeugt von einem hohen normativen Sprachbewusstsein. Die Jugendlichen sprechen diese Variante selbst nicht und wo doch, wird diese unter Umständen als lächerlich gegeißelt. Dieses normative Bewusstsein zeigt sich auch im Umgang mit dem defekten EINGANG. Linguistisch gesprochen, gehören zu diesem Spiel Wortableitungen, Konversionen, paradigmatische Ersetzungen, Parallelismen und immerzu Mehrdeutigkeiten, die den Grad, die Möglichkeiten und Vieldeutigkeiten der Zweisprachigkeit immer mit einzubeziehen wissen. Spiele dieser Art sind häufig, nicht nur bei Mehmet und seinen Freunden. An anderer Stelle wird mit dem Namen „Wolfgang“ gespielt. In zusammenfassender Darstellung ergibt sich dabei folgende Sequenz:
Sprachliche Hybridität, polykulturelle Selbstverständnisse und „Parallelgesellschaft“
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Transkript „Wolfgang“: Spielabfolge
Wolfgang ad Wolfgang [Wolfgang sein Name ist Wolfgang] Wolfgang Wolf’un olu Molf [Wolfgang Wolf sein Sohn Molf] Wolfgang Wolf’un olu Molfgang [Wolfgang Wolf sein Sohn Molfgang] Wolfgang Wolf’un olu in Wolfsburg [Wolfgang Wolf sein Sohn in Wolfsburg] Adam drei mal Wolf oldu Doppelwolf [Der Mensch war drei mal Wolf Doppelwolf] Ama Wolfsburg’da oynuyor [Aber er spielt in Wolfsburg] Wolfgang oynuyor ama wo wo [Wolfgang spielt aber wo wo]
Neben dem alliterativen Spiel mit „o“ ist auch die bilabiale Anlautvariante „M“ (Wolf’un olu Molf) auffällig. Sie stellt ein typisches Reduplikationsmuster im Türkischen dar (z.B. „Wolfgang Molfgang“ für „Wolfgang et cetera“, „und so“), das hier aber in expressiv-poetischer Funktion eingesetzt wird. Bei einer anderen Gelegenheit beispielsweise wird aus hava (Wetter, Luft) der rhythmische Abzählvers „Bir sana bi hava / bir sana bi hava“ („Einen für dich, einen in die Luft/Einen für dich, einen in die Luft“), was zur „Hava Ana“, der „Mutter Eva“, führt, um dann schließlich ganz profan in „Havanna Zigarre“ übergeleitet zu werden.
2.4 Hybrides Sprechen als ethnolektale Stilisierungen Sprachspiele und andere Performances dieser Art, bei denen die poetische Funktion im Vordergrund steht, teilen die jugendlichen Sprachmischer mit vielen anderen einsprachigen Kindern und Jugendlichen. Bemerkenswert ist aber hier, dass diese konkret-poetischen Sprachspielereien all die ihnen zur Verfügung stehenden Sprachen und Varietäten souverän als Ressource ihrer Mischsprache nutzen. Neben den umgangssprachlichen und dialektalen Anklängen kommen dabei auch stilisierte Elemente des „Gastarbeiterdeutschs“ ihrer Eltern- oder Großelterngeneration zum Zuge. Ethnolektale Stilisierungen12 können wir dabei als eine kommunikative Form betrachten, mit der sich sowohl karikierend als 12
Als Ethnolekte (angelehnt an Dialekt, Soziolekt etc.) bezeichnet man solche Varietäten, die die ethnische Zugehörigkeit als identitäres Merkmal erkennbar machen. Zur Stilisierung allgemein vgl. Selting/Hinnenkamp (1989). Zur ethnischen bzw. ethnolektalen Stilisierung vgl. insbesondere die Arbeiten von Rampton (1995) und (1999) sowie die aufschlussreiche Arbeit von Eksner (2006).
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auch wiederaneignerisch spielen lässt. Die Sprachspieler stellen dabei ein hohes normatives Bewusstsein aus über Sprachen und Varietäten bis hin zum Wissen über Wortbildungsprozesse. In anderen Zusammenhängen würde man den Jugendlichen ein hohes Niveau an Sprachreflexion und Sprachbewusstheit attestieren. Das (Ver-)Mischen von Codes begnügt sich eben nicht nur mit der vorhandenen Bilingualität im Sinne einer „doppelten Einsprachigkeit“,13 sondern nimmt auch andere Varietäten bzw. andere Codes aus dem Kommunikationshaushalt der Migrationsgesellschaft auf, die ebenfalls schon kontaktsprachlich infiziert sind wie „Gastarbeiterdeutsch“, „Foreigner Talk/Xenolekt“ oder „Kanaksprach“,14 die in Form von Zitaten, Karikaturen und Stilisierungen mit eingeflochten werden. So ist etwa die Verwendung von „Gastarbeiterdeutsch“-Elementen integraler Bestandteil des mischsprachlichen Repertoires. Im „Eingangs“-Beispiel (vgl. die „strb langsam“-Episode) fungierte der Rekurs auf diese Varietät in gleich mehrfacher Hinsicht als Zitat: Zum einen bildet diese Varietät das den Migranten und Migrantinnen von der Mehrheitsgesellschaft zugeschriebene Gastarbeiterdeutsch ab, das vor allem die Elterngeneration der jugendlichen Migrant(inn)en zum Teil sprechen oder sprachen. Zum andern nimmt die zitative Verwendung von „Gastarbeiterdeutsch“-Elementen in Anspielung auf dessen Antinormativität gerade auch Bezug auf die dahinter stehende Normativität als vorherrschenden Maßstab durch die Mehrheitsgesellschaft – ein Maßstab, der zum tertium comparationis eines allzeit greifbaren formalen Distinktions- und Diskriminierungsgrunds erhoben worden ist (vgl. Hinnenkamp 1980, 1989a, 1989b und Bourdieu 1977). Sich diese Normverletzung zitierend-karikierend zu eigen zu machen kann somit auch als Wiederaneignung gedeutet werden. Denn obschon diese Normverletzungen den Migrant(inn)en zugesprochen werden, geraten sie qua Stilisierung zu Karikaturen fremder, entliehener Stimmen und werden nun zu Spielmaterial innerhalb ihres eigenen Code-Repertoires. Das wird auch im folgenden kleinen Gesprächsausschnitt deutlich. Mehmet (Me) sitzt zusammen mit seinem Freund Kamil in seinem Zimmer. Die beiden hören leise Techno-Musik. Ebenfalls im Zimmer spielen Mehmets kleine Nichte und kleiner Neffe. Im Hintergrund hört man öfters die Stimme der Mutter (Mu). Schließlich kommt die Mutter zu Mehmet ins Zimmer, wo sich folgender kleiner Dialog entspinnt:
13 14
Diesen Begriff verdanke ich J. Normann Jørgensen von der Universität Kopenhagen. Vgl. Jørgensens Arbeiten zum Dänisch-Türkischen, z.B. Jørgensen (2003) und (2004). Zum „Gastarbeiterdeutsch“ vgl. z.B. frühe Arbeiten wie die von Keim (1978), zum Foreigner Talk bzw. Xenolekt Hinnenkamp (1982) und Roche (1989). Zur sog. „Kanaksprach“ oder „Kanak Sprak“ Füglein (2001), Androutsopoulos (2003), Auer (2003), Pfaff (2005), Kern/Selting (2006) und Deppermann (2007).
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Transkript „Wie-gehts“ 1 Mu ((ihr Enkelkind rufend)): NEREDESN GI:::Z? Wo bist du, Mädchen?
2 3 4 5 6
((1 Sek.)) Mu ((kommt ins Zimmer, zu ihrem Sohn gewandt)): WIE GE::::ST? Me: NIX GU:AT Mu: NIX GU:AT? Me: ((holt Luft und nimmt das Kind)) hopala
Mehmets Mutter spricht ihren Sohn nicht in Türkisch, sondern in einem extrem übertriebenen und lauten Gastarbeiterdeutsch an und vertauscht die beiden Konsonanten „t“ und „s“. Dabei sieht sie weder Mehmet noch Kamil an diesem Nachmittag zum ersten Mal, so dass es keinesfalls eine Begrüßung ihres Sohnes oder dessen Freundes darstellt. Mehmet antwortet in der gleichen extremen Weise. „NIX GU:AT“ ist als Antwort deshalb besonders gut geeignet, weil das hoch stigmatisierte „nix“ darin vorkommt und seine Längung des Vokals und die Diphtongisierung sozusagen einen normverletzenden Parallelismus zur Frage der Mutter darstellt.15 Mit der Echo-Rückfrage der Mutter ist die Sequenz beendet. Es gibt keine weiteren Begründungsanschlüsse auf die Rückfrage der Mutter. Die Isolation, die deplatzierte Thematik und Anschlusslosigkeit der Sequenz, bestehend aus drei Redebeiträgen, spricht für ein metaphorisches intertextuelles Sprachspiel zwischen Mutter und Sohn, in dem genau die oben beschriebene stilisierte Sprechweise zum Tragen kommt. Diese Varietät ist allgegenwärtig. Ihre uneigentliche Benutzung entbindet noch rituelle Floskeln ihrer Ritualität und Inhalte ihrer thematisch anbindenden Relevanzsetzung. Ihre Funktion scheint allein auf das momentane Wir orientiert, das sich auch über die übertriebene, ja karikierende Verwendung fremdbestimmter Stimmen ihrer eigenen Eigentlichkeit rückversichert.
3
Selbstverständnisse: „Gemischt sprechen“ als Gegendiskurs
Die Jugendlichen, die in der beschriebenen Weise switchen und mischen, bezeichnen diese Sprechweise in den Interviews, die ich mit ihnen geführt habe, als „gemischt sprechen“ oder „kark konumak“ (gemischt sprechen) oder „halb deutsch, halb türkisch reden“. Einige meiner Augsburger Informanten nennen sie „yarm 15
Man kann zudem sowohl „nix“ als auch das diphtongierte „guat“ als Anspielung auf das Bayrische betrachten. Damit käme eine weitere reizvolle Mischung zu Stande.
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yamalak konumak“, was ungefähr so viel heißt, wie „halb geflickt sprechen“. Aber was immer sie dazu sagen, es fallen vor allem drei Dinge ins Gewicht: 1.
2.
3.
16
Sie geben dieser spezifischen Sprechweise einen Namen, und sie grenzen sie somit in ihrem subjektiven Bewusstsein von anderen Varietäten oder gar anderen Sprachen ab. Die Kennzeichnung, die die Jugendlichen für diese Varietät verwenden, drückt eine Aktivität aus: Sie bezeichnen sie nicht nominal als „Mischsprache“ oder „Flickwerk“ sondern sie antworten mit verba dicendi-Formulierungen wie „sprechen“, „konumak“ oder „reden“. Das heißt, indem sie gemischt sprechen, tun sie etwas, sind sie aktiv bei der Sache. Die Bedeutung dieser Form der aktivischen Selbstreferenz wird erst wirklich deutlich auf dem Hintergrund der Benennung der Sprache der Eltern und Großeltern dieser Jugendlichen. Diese sprachen „Gastarbeiterdeutsch“, ihre Kinder wurden als „halbsprachig“ bezeichnet.16 Keine dieser Bezeichnungen hatte ihren Ursprung unter den Sprechern und Sprecherinnen selbst. Diese wurden vielmehr von den Spezialisten und Spezialistinnen der Mehrheitsgesellschaft als solche etikettiert und trugen unwillkürlich zur Etablierung eines defizitorientierten ausländerpolitischen Diskurses zur Anders- und Fremdsprachigkeit bei. Die Generation des „Gemischtsprechens“ hat sich diesen Namen allerdings selbst gegeben. Sie bedurfte keiner Fremdkategorisierung. Die Jugendlichen haben ein Bewusstsein darüber, dass sie nicht zwei Sprachen oder mehrere Varietäten sprechen und zwischen ihnen hin- und heralternieren, sondern dass diese Sprechweise des „Gemischtsprechens“ ein eigenständiger Code ist, den allein sie zur Verfügung haben und mit dem sie „Gastarbeiterdeutsch“ ist eine Varietätenkennzeichnung, die ihren Weg selbst in Hadumod Bußmanns „Lexikon der Sprachwissenschaft“ gefunden hat, wo wir nachlesen können: Gastarbeiterdeutsch ist eine „seit den 60er und 70er Jahren in Deutschland sich entwickelnde Pidginvariante, die durch parataktische Satzmuster, beschränkten Wortschatz, wenig Redundanz, Weglassen von Artikel, Präposition, Konjunktion und Verbflexion gekennzeichnet ist. Diese Merkmale besitzen generelle Verbreitung unabhängig von der jeweiligen Ausgangssprache“ (Bußmann 1990, S. 262f.). Zur Vergegenwärtigung: Die Bezeichnung „Gastarbeiterdeutsch“ stammt nicht von ihren Sprechern und Sprecherinnen selbst, sie beinhaltet vielmehr die Fremdcharakterisierung und Fremdbezeichnung einer Sprachvariante, deren Hauptcharakteristikum auch nicht etwa in der Stützfunktion für Sprachnotsituationen gesehen wird, sondern in ihren defizitären Erscheinungen. Die Herkunftssprachen der Migranten und Migrantinnen, auch daran sei erinnert, tauchten in der deutschen linguistischen Diskussion so gut wie gar nicht auf. Und wenn, dann dienten sie als Interferenzspender für Fehler im Gastarbeiterdeutsch. Auch die Versuche der nachfolgenden Generation, „Gastarbeiter-“ oder „Ausländerkinder“ genannt, sich in zwei Sprachen, der Sprache und den Varietäten ihrer Eltern und der Sprache und den Varietäten ihrer deutschsprachigen Umgebung, zurechtzufinden, wurden oft durch „doppelseitige Halbsprachigkeit“ qualifiziert oder besser: abqualifiziert (vgl. Hinnenkamp 1990; 2005b).
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sich identifizieren. Das Gemischtsprechen dieser Jugendlichen ist ein hybridolektaler Code aus eigenem Recht heraus. Sie selbst fassen es nicht als Code-Switching auf, sondern als eine „Sprache“ an sich.17 Eins dürfte dabei deutlich werden: Eine wie immer bemühte Etikettierung dieser Sprechweisen („Sprache“) als Verweis auf eine defizitäre Sprachkompetenz wird der notwendigen Differenziertheit keinesfalls gerecht, ist vielmehr selbst defizitär. Wir – und damit ist prinzipiell die ganze Sprachgemeinschaft gemeint – sprechen ohnehin nicht eine Sprache, sondern mit dem bekannten österreichischen Linguisten Mario Wandruszka gesagt: „Eine Sprache ist viele Sprachen“ (Wandruszka 1979). Wir sprechen in Varietäten, in Stilen, Registern, Modalitäten und switchen zwischen all diesen hin und her. Es wäre auch blauäugig zu meinen, dass die von Muttersprachlern gewählten Optionen des Sprechens gleichzeitig immer auch „optimale Wahlen“ darstellen würden (sofern wir wissen, was optimal ist!). Und der schon zitierte Autor führt an anderer Stelle aus: „Für den Menschen gibt es weder eine vollkommene Beherrschung seiner Sprache noch eine völlig homogene Sprachgemeinschaft. Es gibt nie und nirgends ein perfektes, homogenes Monosystem, immer und überall nur unvollkommene heterogene Polysysteme. Das Verhältnis des Menschen zu seiner Sprache ist nicht das der vollkommenen Einsprachigkeit, sondern im Gegenteil das der unvollkommenen Mehrsprachigkeit und der mehrsprachigen Unvollkommenheit.“ (Wandruszka 1979, S. 313)
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Fazit: Hybridolekt als migrationsgeschichtlicher Rückkopplungseffekt
Die mischsprachlichen Varietäten dieser Jugendlichen sind – so habe ich versucht zu zeigen – Teil der sprachlichen und kulturellen Hybridisierung, von der ich anfangs ganz allgemein gesprochen habe. Viele Jugendliche andersethnischer Herkunft, die als zweite und dritte Generation von Immigranten in Augsburg, Hamburg oder Berlin und anderswo in Deutschland, Europa und der Welt groß geworden sind, mischen Zeichen und Codes in der gleichen oder ähnlichen Weise,18 so wie sie auch in anderen Lebensbereichen Codes vermischen (vgl. Diken
17
18
Der Begriff „Hybridolekt“ lehnt sich an Dialekt, Soziolekt, Ethnolekt usw. an – er ist eben ein multipler „-lekt“. Erfurt (2003b) nennt dasselbe Phänomen z.B. „Multisprech“. Zum EineSprache-Argument vgl. insbesondere auch Jørgensens „languaging“-Diskussion (2004) und Hinnenkamp (2008). Vgl. zusammenfassend Erfurt (2003b), auch Kap. 1 in Dirim/Auer (2004); oder einzelne Studien wie zum Beispiel die von Aguillou/Saïki (1996) (Paris), Kotsinas (1998) (Stockholm), Appel (1999) (Amsterdam), Henze (2000) (New York) oder Quist (2005) (Kopenhagen).
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1998; Nilan/Feixa 2006). Allerdings bleibt es nicht beim formalen Aufmischen. Diese Zeichen weisen weit über die Form hinaus. Viele dieser Jugendlichen, die in den polykulturellen und vielsprachigen Räumen groß werden, entwickeln in ihrem sprachlichen Ausdrucksverhalten spezifische Zwischenformen und Kreationen aus den ihnen zur Verfügung stehenden Codes. Schon formal stellen diese zweisprachigen und zweisprachig gemischten Konversationen nicht allein ein Code-Switching im Sinne juxtaponierter Regelhaftigkeit und interaktionslogischer Aushandlungsfunktion dar. Vielmehr handelt es sich um einen hybriden Code, um ein Oszillieren zweier Sprachen, immerfort sowohl die eine Sprache als auch die andere präsentierend, aber gleichzeitig doch etwas eigenes, drittes konstituierend: nämlich „gemischt sprechen“, „kark konumak“, „yarm yamalak konumak“ und ähnliches, mithin um einen Sprachcode aus eigenem Recht heraus. Fernerhin – und dies steht eben für eine Hybridisierung zweiter Ordnung – fungiert diese Mischsprache als ein Spiegel der historischen, sozialen, kulturellen und linguistischen Bedingungen, unter denen diese Jugendlichen groß werden. Historisch bieten sie eine konterkarierende Antwort auf die Integrationsanforderungen der Mehrheitsgesellschaft: Deutsch zu beherrschen und doch gleichzeitig „türkische (oder eine andere ethnische) Identität“ und „türkische Kultur“ bewahren zu dürfen. Soziolinguistisch reagieren die Jugendlichen mit einer Gruppensprache, einem „identity-related“ We-Code (vgl. Sebba/Wootton 1998), der wiederum beides, Defizit und Kompetenz, vor allem aber Differenz, Eigenes und Autonomie in sich trägt, der folglich nach mehreren Seiten ausschließt, sowohl zur Elterngeneration als auch insbesondere und vor allem zur Mehrheitsgesellschaft; der aber doch wiederum gleichzeitig beide Seiten integriert in einen autonomen Code, die „Spendersprachen“ – um ein Wort aus der Anfangszeit der Kreolistik zu leihen – dabei verzerrt und umdeutet. Der von den Jugendlichen verwendete Hybridolekt impliziert somit eine Art migrationsgeschichtlichen Rückkopplungseffekt, er stellt die (Wieder-)Aneignung und Re-Kontextualisierung eines fremdoktroyierten Diskurses dar. Insofern sind die Jugendlichen, ist ihr Code mit all den genannten Implikationen Teil des Hybriditätsdiskurses. Den kritischen sozial- und kulturwissenschaftlichen Denkern liefern hybride Sprachen sozusagen in empirisch wohlfeiler Manier antiessentialistische Munition. Sie wirken mit bei der Dekonstruktion homogener Sprach- und Kulturverständnisse. Sie dynamisieren und unterminieren folglich alle jene präskriptivistischen Verständnisse von Kultur und Sprache (Romaine 1986), auf die man etwa im immer gleichen Konzert der Assimilationsspezialisten oder – andersperspektivisch – auch bei Gegnern der Rechtschreibreform stößt, wenn sie beispielswei-
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se den Eingriff in die vorgeblich harmonisch und organisch gewachsene deutsche Sprache beschwören.19 Ein weiterer erwähnenswerter Punkt ist vielleicht ein abgrenzender, denn das Gemischtsprechen ist für Außenstehende, sowohl einsprachig Mehrheitssprachige als auch einsprachige Minderheitensprachige (also z.B. Deutsche und Türken, Franzosen und Algerier) entweder gar nicht oder nur rudimentär verständlich. Man muss dieselben lebensweltlichen Erfahrungen und Herausforderungen gemacht haben. Der Beherrschung dieser Sprechweise kommt damit so etwas wie eine Shibbolet-Funktion zu. Sie dient gleichsam als Eintrittsticket zu einer bestimmten Erfahrungsgemeinschaft. Hier schließt sich in gewisser Weise der Kreis, der mit dem Thema „Parallelgesellschaft“ begonnen hat. Denn Exklusion und Ausgliederung gehen Hand in Hand. Allerdings ist das reaktive Exkludieren der jugendlichen Mischer keineswegs gleichzusetzen mit der diskursiven Exklusion durch die Mehrheitsgesellschaft. Das Gemischtsprechen der Migrantenjugendlichen ist jedenfalls kein Code aus dem Jenseits der bundesdeutschen Gesellschaft, sondern eine Stimme, ein Echo und eine Konstruktion, die aus der Mitte der Einwanderungsgesellschaft und in der aktiven und produktiven Auseinandersetzung von Folgegenerationen der Migranten mit der Mehrheitsgesellschaft entstanden ist. Aber diese Beschreibung dichotomisiert in falscher Weise, denn gerade das Gemischtsprechen macht doch nur allzu deutlich, dass Mischung immer auch das Aufheben von Grenzen impliziert.
19
Zitat des Dichters Durs Grünbein, der in diesem Zusammenhang nicht einmal vor den Metaphern der Vergewaltigung und Mutterschändung zurückschreckt: „Man vergreift sich nicht an der Mutter. Man spielt nicht mit dem Körper, der einen gezeugt hat“ (vgl. Der Spiegel 47 v. 15.11.2004). Der Dichter muss sich im Lichte der Hybridität die satirische Fragen stellen lassen: Wie viel Folter, Grausamkeit und Missbrauch tut die lebendige Sprachgemeinschaft mit allen ihren Variationen dieser gewachsenen Sprache dann an?
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Anhang Transkriptionslegende zu den im Text zitierten Beispielen: {kommt} {fährt/Pferd} (....) (( )) #((Komm.)) dadada# wiesa:gt, sa:::gt lanngsam, dasssss damit DAS °da° *ach was* >darüber< /ver/ste/hen/ + (+) (h) = kom [men [da olum mein Sohn
unklar mögliche Alternativen unverständlich Kommentar, Außersprachliches, z.B. ((1,5 Sek.)), ((lachen)) Reichweite des Kommentars Äußerungsabbruch Vokallängung, Grad der Längung Halten des Konsonanten, je nach Intensität intonatorisch hervorgehoben, betont laut leise langsam schnell stakkatohaftes Sprechen; „abgehackt“, silbisch Pause, unter 1 Sekunde Mikropause, deutliches Absetzen Zögern, (z.B. er (h)kommt) schneller Anschluss Überlappung und Ort der Überlappung Türkisch Übersetzungszeile
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IV. Berufliche Qualifizierung von Migrantinnen und Migranten
Berufliche Bildung von Migrantinnen und Migranten. Ein vernachlässigtes Potenzial für Wirtschaft und Gesellschaft Berufliche Bildung von Migrantinnen und Migranten
Ursula Boos-Nünning
1
Berufliche Bildung von jungen Menschen mit Migrationshintergrund heute
Es gibt drei Hürden für Jugendliche beim Übergang in den Beruf: 1. eine Ausbildungsstelle zu finden; 2. die Ausbildung erfolgreich abzuschließen; 3. eine Arbeitsstelle nach Ausbildungsende zu erhalten (so genannte „zweite Schwelle“). Die Negativbilanz im Hinblick auf die berufliche Bildung von jungen Menschen mit Migrationshintergrund lässt sich in allen drei Punkten prägnant beschreiben und ist unstrittig: 1. Die Beteiligung von Jugendlichen mit ausländischem Pass1 an beruflicher Ausbildung ist seit Mitte der 1990er Jahre rückläufig (vgl. Beauftragte 2005, S. 58). Die Ausbildungsquote lag im Jahr 2004 bei 25 Prozent (2002: 28 %; zum Vergleich Deutsche: 61 %). Dieses bedeutet einen deutlichen Rückschritt. 1994 erreichte die Ausbildungsquote mit 34 Prozent (Deutsche: 67 %; Ulrich/Granato 2006) ihren bisherigen Höchststand. Im Zeitvergleich bleibt der Abstand zu deutschen Jugendlichen ungefähr gleich, wobei es zu berücksichtigen gilt, dass deutsche Jugendliche häufiger als ausländische Jugendliche Bildungsalternativen in voll qualifizierenden Berufsfachschulen wie (Fach-)Hochschulen wahrnehmen (können) (vgl. Ulrich/Granato 2006). Groß sind die Unterschiede innerhalb der Gruppe der ausländischen Auszubildenden nach Nationalitäten. Seit Jahren haben die Jugendlichen mit spanischem Pass eine den Deutschen angenäherte Ausbildungsquote (2002: 60 %) und die Jugendlichen mit türkischem Pass eine deutlich geringere (2002: 38 %). Junge Frauen haben in allen Gruppen eine deutlich geringere Ausbildungsquote (bei Ausländern insgesamt: 34 %; 37 % bei männlichen, 31 % bei weiblichen Jugendlichen). Je schlechter die Ausbildungsstellensituation insgesamt ist, desto geringer wird der Anteil von Jugendlichen mit Migrationshintergrund. Nach der Verbleibstatistik 1
In der Berufsbildungsstatistik wird ausschließlich nach der Staatsangehörigkeit differenziert. Das Merkmal Migrationshintergrund wird nicht erfasst.
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der Arbeitsagenturen schafften 2004 von den 740 200 gemeldeten Bewerbern und Bewerberinnen nur 365 100, also weniger als die Hälfte, den Schritt in eine betriebliche, außerbetriebliche oder schulische Berufsausbildung. Von den Bewerbern und Bewerberinnen mit Migrationshintergrund gelang es insgesamt 29 Prozent (ohne Migrationshintergrund 40 %), eine betriebliche Ausbildung aufzunehmen (vgl. Ulrich/Granato 2006). Zwar sank 2003 in allen Ausbildungsbereichen gegenüber dem Vorjahr die Zahl und die Quote der ausländischen Jugendlichen, aber immer noch sind die Anteile in den freien Berufen mit 9,1 Prozent höher als im Handwerk (6,9 %) und in Industrie und Handel (5,4 %). Nach wie vor außerordentlich zurück hält sich der öffentliche Dienst mit nur 2,6 Prozent der Auszubildenden mit einer nicht deutschen Staatsangehörigkeit (vgl. Beauftragte 2005, S. 62). Weiterhin sind ausländische Jugendliche auf ein äußerst enges Berufsspektrum konzentriert: 43 Prozent sind in nur zehn Berufe tätig, und zwar deutlich häufiger in traditionellen Handwerks- und Dienstleistungsberufen als in Bürooder Medienprofessionen bzw. IT-Berufen (vgl. BMBF 2005, S 86) wie auch im Bankgewerbe. Besonders eng ist das Berufsspektrum der jungen Frauen mit ausländischem Pass. Trotz dieser hohen Unversorgtenquote sind ausländische Jugendliche an den beruflichen Bildungsmaßnahmen der Bundesagentur für Arbeit nur unterproportional beteiligt (2002/2003: 9,1 %). Auch im Benachteiligtenprogramm sind sie unterrepräsentiert – mit rückläufiger Tendenz. So waren im Juni 2004 nur 6,6 Prozent aller Teilnehmer an der Berufsausbildung in außerbetrieblichen Einrichtungen (BaE) ausländische Jugendliche; 1997 waren es 12 Prozent und 2000 noch 9 Prozent. Bei den ausbildungsbegleitenden Hilfen (AbH), die einen betrieblichen Ausbildungsplatz voraussetzen, stellten sie 2004 11,8 Prozent der Teilnehmer, während ihr Anteil 1997 noch bei 17 Prozent lag. Und auch am Ende 2004 aufgelegten Sonderprogramm des Bundes zur Einstiegsqualifizierung Jugendlicher (EQJ-Programm) sind ausländische Jugendliche nur zu 9 Prozent beteiligt. Jugendliche mit ausländischem Pass nutzen besonders häufig vollzeitschulische Bildungsgänge als Ausweichmöglichkeit. Dabei sind sie überproportional in den schulischen Bildungsgängen vertreten, die nicht zu einem Abschluss in einem anerkannten Ausbildungsberuf führen und auch nicht zu den weiterführenden Bildungsgängen des beruflichen Schulwesens gehören. Im Schuljahr 2002 waren sie – bei einem Gesamtanteil von rund 7 Prozent an allen Schülern und Schülerinnen der beruflichen Schulen – mit ca. 16 Prozent überproportional im Berufsbildungs- und Berufsvorbereitungsjahr vertreten, aber unterproportional in Fachoberschulen (5,6 %) und Fachschulen (4,4 %) (vgl. auch im Folgenden: BMBF 2005, S. 87).
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Zudem erreichen die Beratungsangebote Jugendliche mit ausländischem Pass wie auch solche mit Migrationshintergrund weniger als gleichaltrige Deutsche. Im Beratungsjahr Oktober 2002 bis zum September 2003 ließen sich 198.577 ausländische Jugendliche von der Berufsberatung der Agenturen für Arbeit beraten. Damit nahmen etwa 2 Prozent weniger junge Ausländer diese Leistung in Anspruch als im Vorjahr (nach Bericht 2005, S. 59; vgl. Bundesagentur für Arbeit 2004, S. 22). Der Anteil aller Ausländer an allen Ratsuchenden betrug in Westdeutschland 11,7 Prozent, während ihr Anteil an den noch nicht vermittelten Bewerbern bei 15,1 Prozent lag. 2. Ausbildungsabbrüche sind in der hier angesprochenen Gruppe häufiger. Im Schnitt wird nach dem Berufsbildungsbericht (BMBF 2005, S. 104 ff.) etwa jeder fünfte neu abgeschlossene Vertrag während der Ausbildung wieder gelöst. Eine Aufschlüsselung nach Nationalität oder Migrationshintergrund erfolgt nicht, so dass es nicht möglich ist, die Abbruchquote differenziert zu ermitteln. Allerdings konzentriert sich die Vertragsauflösung auf jene Bereiche (Handwerk 2003 27 %; hingegen Industrie und Handel 19 %; öffentlicher Dienst 7 %), zu denen Auszubildende mit ausländischem Pass häufiger Zugang erhalten haben2. Der Anteil der Jugendlichen mit Migrationshintergrund, die nach einer Vertragslösung eine neue Ausbildungsstelle finden, ist mit 40 Prozent geringer als der der deutschen Jugendlichen (über 50 %) (vgl. Granato 2003b, S. 40 f.). 3. Auch der Übergang von der Ausbildung in den Beruf ist für junge Menschen mit Migrationshintergrund hindernisreicher. Männliche Jugendliche mit ausländischem Pass haben nach einer Untersuchung von Konietzka und Seibert (2003) nach erfolgreichem Abschluss mit größeren Schwierigkeiten zu kämpfen: Sie werden häufiger arbeitslos und haben häufiger den Beruf und den Betrieb gewechselt als die deutsche Vergleichsgruppe, was nicht selten mit Dequalifizierung verbunden ist. 2
Siehe dazu die Zahlen für Nordrhein-Westfalen in einzelnen Berufsfeldern (Jahr 2000) bei M. Granato 2002a und Werner 2002. Bei einer Vertragsauflösungsquote von 28 % insgesamt (alte Bundesländer ohne NRW: 24%) brachen 43 % aller Auszubildenden im Friseurhandwerk und jeweils 30 % der Arzt- und Zahnarzthelferinnen ab, das sind drei Berufe, in denen junge Frauen mit Migrationshintergrund besonders häufig eine Ausbildung aufnehmen. Bei den gewerblichen Berufen des Handwerks werden Ausbildungsverträge besonders häufig gelöst: bei den Malern und Lackierern (47 %), den Gas- und Wasserinstallateuren (39 %), den Elektroinstallateuren (33 %) und den Zentralheizungslüftungsbauern (33 %) sowie den Kfz-Mechanikern (32 %). Doch auch die wenigen kaufmännischen Berufe, in denen Jugendliche mit ausländischem Pass eher eine Ausbildung beginnen, sind von einer vergleichsweise hohen „Ausstiegsquote“ betroffen, die über dem Durchschnitt der Ausbildungslösungen in Industrie und Handel liegt (Kaufleute im Einzelhandel 31 %; Bürokaufleute 29 %; Verkäuferinnen 33 %) (alles nach M. Granato 2002a, S. 36). Leider werden die Daten der repräsentativen Erhebung bei Jugendlichen, Ausbildern und Berufskolleglehrern über Gründe für den Ausbildungsabbruch nicht nach Migrationshintergrund ausgewertet (vgl. Westdeutscher Handwerkskammertag 2001).
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Die Konsequenzen der teilweise fehlenden beruflichen Bildung werden ebenfalls einheitlich dargestellt: Auch in Deutschland aufgewachsenen jungen Menschen mit Migrationshintergrund ist der Zugang zu qualifizierten beruflichen Positionen verbaut. Jugendliche mit Migrationshintergrund sind deutlich häufiger als deutsche Jugendliche von Arbeitslosigkeit betroffen. Die ausländerspezifische Arbeitslosenquote (zurzeit 20 %) ist seit Jahren etwa doppelt so hoch wie die allgemeine Arbeitslosenquote mit einem Anteil an Langzeitarbeitslosen von etwa einem Drittel. Fehlende berufliche Qualifizierung vergrößert neben dem Risiko von Arbeitslosigkeit auch das Risiko von Armut. Seit langem wird thematisiert, dass ungefähr ein Viertel der ausländischen Haushalte von Armut betroffen sind. So liegt die Zahl der einkommensschwachen Haushalte bei ausländischen Familien nach den Daten des Sozio-ökonomischen Panels seit 1984 mit ca. 25 Prozent mindestens doppelt so hoch wie bei deutschen Haushalten. Ausländische Haushalte erhalten häufiger als deutsche Sozialhilfe. Die Sozialhilfequote betrug Ende 2003 8,4 Prozent (Deutsche: 2,9 %). Ausländische Kinder und Jugendliche weisen mit 14,9 % eine mehr als doppelt so hohe Sozialhilfequote auf als deutsche (vgl. Deutscher Bundestag 2005, S. 162 ff.). Fehlende berufliche Qualifizierung erschwert die soziale und die gesellschaftliche Integration der Eingewanderten und ihrer Kinder und Kindeskinder. In diesen Punkten besteht in Wissenschaft und Praxis Einigkeit. In der Feststellung der Ursachen für das schlechte Abschneiden der jungen Menschen mit Migrationshintergrund greifen unterschiedliche Theorien oder Hypothesen, wobei die erhobenen statistischen Daten die Analyse erschweren. In der amtlichen Statistik und so auch in der Berufsbildungsstatistik wird das Merkmal „keine deutsche Staatsangehörigkeit“ zugrunde gelegt. In einem Teil der Untersuchungen wird das aussagekräftigere Merkmal „mit Migrationshintergrund“ verwendet. Auf der Grundlage der Daten des Sozio-ökonomischen Panels (SOEP) ist belegt, dass es häufiger die wirtschaftlich Erfolgreicheren sind, die eingebürgert werden. Bei den Eingebürgerten mit türkischem Migrationshintergrund ist der Anteil der Un- und Angelernten geringer (45 % gegenüber 56 % der Personen mit ausländischem Pass), der der Selbstständigen (9 % gegenüber 3,5 %) und der qualifizierten Angestellten (25 % gegenüber 13,5 %) höher. Weniger Eingebürgerte (12 % gegenüber 17 %) verfügen über ein Einkommen unterhalb der Armutsgrenze. Auch der Bildungsstatus der Eingebürgerten ist deutlich höher als der von denjenigen mit ausländischem Pass (alles nach Salentin/Wilkening 2003).
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Gründe für das schlechte Abschneiden von jungen Menschen mit Migrationshintergrund bei der beruflichen Qualifizierung
Im Alltagsverständnis werden heute wie früher fehlende oder gering bewertete Schulabschlüsse (kein Schulabschluss oder nur ein Hauptschulabschluss) sowie mangelhafte oder unzureichende deutsche Sprachkenntnisse sowohl als Grund für die Schwierigkeiten beim Übergang in eine berufliche Ausbildung als auch für das nicht erfolgreiche Absolvieren der Berufsausbildung und für die Probleme beim Erreichen einer beruflichen Position genannt. Es ist richtig, dass ein bedeutsamer Anteil von Jugendlichen mit ausländischem Pass (19,5 %; Vergleich Deutsche: 8 %) die Schule ohne Abschluss verlassen und dass deutlich mehr die allgemein bildende Schule ohne die für einen Übergang in eine berufliche Ausbildung notwendige Qualifikation beenden. PISA 2003 hat das hinsichtlich der mathematischen und naturwissenschaftlichen Kompetenzen und insbesondere hinsichtlich der Lesekompetenz wieder nachgewiesen.3 Schwächen in der Allgemeinbildung sind bei Jugendlichen mit Migrationshintergrund häufiger anzutreffen als bei deutschen Jugendlichen, da das deutsche Bildungssystem Benachteiligung, die sich aus der sozialen Herkunft und aus dem Migrationshintergrund ergibt, anders als in anderen Ländern, nicht kompensiert. Es ist weiter richtig, dass die schulische Qualifikation eines Teils der Jugendlichen mit Migrationshintergrund von den Ausbildungsbetrieben als unzureichend angesehen wird und werden kann. Es ist ebenfalls richtig, dass ein – allerdings geringer – Teil der Jugendlichen mit Migrationshintergrund aufgrund unzureichender deutscher Sprachkenntnisse insbesondere den schulischen Teil der Berufsausbildung ohne Förderung nicht zu bewältigen vermag, sei es, weil die jungen Menschen als Seiteneinsteiger und Seiteneinsteigerinnen in das deutsche Schulsystem kamen – wie vor allem Jugendliche aus Aussiedler- und Flüchtlingsfamilien –, sei es, weil sie – obgleich in Deutschland geboren – nicht die notwendigen Kompetenzen vermittelt bekamen.4 In beiden Fällen liegen Versäumnisse des Bildungssystems vor, das sowohl einem erheblichen Teil der Seiteneinsteiger und Seiteneinsteige3 4
Dieses gilt für einen erheblichen Teil der Hauptschüler/innen, aber auch für ca. ein Viertel der Gesamtschüler/innen sowie 10 bis 15 % der Realschüler/innen, vgl. Prenzel 2004, S. 254–272. In einer Untersuchung bei 950 jungen Frauen im Alter von 15 bis 21 Jahren mit einer positiv verzerrten Stichprobe schreibt sich ein Teil schlechte oder sehr schlechte Kompetenzen in der deutschen Sprache zu, und zwar 60 % der überwiegend als Seiteneinsteigerinnen beschulten Aussiedlerinnen, aber immerhin 35 % der in Deutschland geborenen jungen Frauen mit türkischem, 24 % mit italienischem und 12 % mit jugoslawischem Migrationshintergrund (s. dazu Boos-Nünning/Karakaolu 2005a, S. 216 ff.). Insgesamt 24 % der jungen Frauen mit türkischem, 16 % mit italienischem und 7 % mit jugoslawischem Hintergrund und 15 % aus Aussiedlerfamilien bezeichnen ihre Kompetenzen sowohl in der deutschen als auch in der Muttersprache als gering. (vgl. ebd., S. 228; s. auch Boos-Nünning 2005)
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rinnen als auch – wiederum anders als in den meisten anderen Einwanderungsländern – den Kindern und Kindeskindern der Eingewanderten die notwendige Sprachbildung vorenthält.5 Dennoch scheitern deutlich mehr Jugendliche mit Migrationshintergrund bei dem Versuch, eine Ausbildungsstelle zu bekommen und eine Ausbildung aufzunehmen, als der Prozentsatz derjenigen, die über eine unzureichende Schulbildung und über (zu) geringe Kompetenzen in der deutschen Sprache verfügen, erwarten ließe. Es bleibt daher zu belegen, welche Faktoren neben den Fähigkeiten und den Voraussetzungen der Jugendlichen hinreichende Erklärungen bieten. Die wissenschaftliche Diskussion folgt (nach: Nadia Granato 2003) drei Erklärungssträngen. Sie setzt sich mit dem humankapitaltheoretischen Ansatz auseinander, prüft die Arbeitsmarktdiskriminierung und ermittelt den Einfluss der Arbeitsmarktsegmentation.
2.1 Humankapitaltheoretische Ansätze Die Humankapitalausstattung der jungen Menschen mit Migrationshintergrund wird durch arbeitsmarktrelevante Fertigkeiten, die im familiären Kontext vermittelt werden, sowie durch die von ihnen selbst erworbenen Fertigkeiten bestimmt. Galt für die Einwanderungsgeneration vielfach, dass die im Herkunftsland erworbenen Qualifikationen entwertet wurden, haben die Jugendlichen, die heute um Ausbildung nachfragen, zum weitaus größten Teil die deutschen Bildungseinrichtungen durchlaufen. Ihr aus dem familiären Aufwachsen und dem Leben in einer ethnischen Subkultur resultierendes „ethnisches Kapital“6, das sich z.B. in Zwei-(Mehr-)sprachigkeit und interkulturellen Kompetenzen niederschlagen kann, wird in der deutschen Gesellschaft und in der Arbeitswelt allerdings nicht positiv eingeschätzt und daher in der Regel nicht berücksichtigt. Das aus deutschen Sprachkenntnissen und Informationen über den lokalen Arbeitsmarkt wie auch aus der Zugehörigkeit zu Netzwerken resultierende Humankapital fehlt zu einem Teil, das spezifische ethnische Kapital ist und bleibt entwertet. Vor diesem Hintergrund wird der Aufbau weiteren Humankapitals erschwert. Der Hu5
6
Wie schlecht das deutsche Schulsystem dieser Aufgabe nachkommt, wird durch einen Vergleich Deutschlands mit der Schweiz und Österreich, also Ländern mit ähnlichen Einwanderungsbedingungen, belegt. Zugewanderte Jugendliche mit jugoslawischem oder türkischem Hintergrund finden in Deutschland ungünstigere Bedingungen für ihre Kompetenzentwicklung als Jugendliche gleicher Herkunft in der Schweiz und in Österreich (nach Prenzel 2004, S. 267 f.). Siehe dazu die Diskussion bei N. Granato 2003, S.27–30, die sich allerdings mit der Situation der Migranten und Migrantinnen und den Ursachen ethnischer Ungleichheit auf den Arbeitsmarkt und nicht mit dem Zugang von Jugendlichen mit Migrationshintergrund zum Ausbildungsmarkt beschäftigt.
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mankapitalansatz führt zu der Frage: Welche Bedeutung haben die Voraussetzungen der Jugendlichen bei der Platzierung auf dem Ausbildungsstellen- und Arbeitsmarkt, und wie wirken sich die in der Familie vorhandenen Ressourcen und Defizite aus? Was die jungen Menschen mit Migrationshintergrund selbst anbelangt, ist eine indirekte Prüfung der Humankapitalhypothese möglich, wenn untersucht wird, ob und wie sich die Ressourcen in Form eines in Deutschland erworbenen Schulabschlusses auf den Zugang in eine berufliche Ausbildung auswirken. Jugendliche mit Migrationshintergrund sind gegenüber deutschen Jugendlichen bei der Ausbildungsplatzsuche auch dann benachteiligt, wenn sie über gleiche Schulabschlüsse verfügen. Dieses wird im Berufsbildungsbericht der Bundesregierung auf der Grundlage einer Untersuchung des Jahres 2002 belegt: „Deutsche Hauptschul- oder Sonderschulabsolventen finden mit 43 Prozent wesentlich häufiger einen Ausbildungsplatz als ausländische Jugendliche mit gleichen Abschlüssen, denen dies nur zu 23 Prozent gelingt. Noch deutlicher ist diese Diskrepanz bei Realschulabsolventen und -absolventinnen mit 61 Prozent zu 24 Prozent. Zudem erhöhen sich bei ausländischen Jugendlichen die Chancen auf einen Ausbildungsplatz – anders als bei deutschen Bewerbern – mit steigender schulischer Vorbildung offenbar nicht. Die Chance eines ausländischen Realschulabsolventen, einen Ausbildungsplatz zu erhalten, ist nicht höher als die eines ausländischen Hauptschulabsolventen (Differenz 1%). Bei deutschen Jugendlichen liegt diese Differenz bei 18 %“ (BMBF 2005).7 Zwei Jahre später (2004)8hat sich die Situation der einheimischen Schulabgänger und Schulabgängerinnen mit Hauptschulabschluss deutlich verschlechtert. Nur noch 29 Prozent gegenüber 25 Prozent aus Migrationsfamilien finden einen Ausbildungsplatz (vgl. Granato 2005). Aber auch in diesem Jahr – dem zurzeit letzten, für das Daten zur Verfügung stehen – werden die Unterschiede mit zunehmendem Bildungsabschluss stärker: „Während von den Realschulabsolventen aus Migrationsfamilien nur 34 Prozent einen Ausbildungsplatz finden, sind es bei der deutschen Vergleichsgruppe 47 Prozent. Fazit: Mit besserer schulischer Vorbildung steigen die Aussichten von Bewerbern ohne Migrationshintergrund stärker an als die Aussichten von Bewerbern mit Migrationshintergrund.“ (ebd.) Die Untersuchung belegt darüber hinaus das starke Interesse, 7
8
Die Angaben beruhen auf der BA/BIBB-Bewerberbefragung 2002. Dabei handelt es sich um eine repräsentative Befragung von rund 4000 Jugendlichen, die bei der Berufsberatung als Ausbildungsstellen-Bewerber gemeldet waren. Diese Befragung wurde vom Bundesinstitut für Berufsbildung und der Bundesagentur für Arbeit bundesweit schriftlich-postalisch bei Lehrstellenbewerbern durchgeführt. BA/BIBB-Bewerberbefragung 2004, s. auch Ulrich 2005 und 2006. So sank der Anteil der Auszubildenden im Handwerk an der Gesamtzahl der Auszubildenden von jeweils ca. 16 % 1993 bis 1995 auf 11 % im Jahr 2000 mit einer Frauenquote von ca. einem Viertel.
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das ungebrochene Engagement und die hohe Flexibilität, über die junge Menschen mit Migrationshintergrund bei der Suche nach einer Ausbildungsstelle verfügen (vgl. Granato/Soja 2005). Auch die Migrationsfamilien sind – wie seit Jahren in zahlreichen Studien belegt wurde und auch in neueren Untersuchungen ermittelt wird – an einer Bildung und Ausbildung ihrer Kinder interessiert, und zwar für die Söhne wie für die Töchter.9 Auch eine Untersuchung in Nordrhein-Westfalen (Granato 2002a, S. 26 ff.) weist nach, dass Schulabgänger ausländischer Nationalität im Vergleich zu deutschen Schulabsolventen auch bei gleichem Schulabschluss zwei- bis dreimal so häufig ohne abgeschlossene Berufsausbildung bleiben: Schulabgänger ausländischer Nationalität ohne Hauptschulabschluss doppelt so häufig wie deutsche Schulabgänger ohne Hauptschulabschluss, Schulabgänger ausländischer Nationalität mit Fachoberschulreife zweieinhalbmal so oft wie die deutsche Vergleichsgruppe und Hauptschulabsolventen mit ausländischem Pass dreimal so oft wie die entsprechende deutsche Vergleichsgruppe. Die zitierten Untersuchungsergebnisse belegen, dass Schulabschlüsse zwar Einfluss auf den hohen Anteil von Ungelernten bei Schulabgängern ausländischer Nationalität haben, dass sie allein aber zur Erklärung nicht ausreichen. Ein Teil der Jugendlichen verfügt über die notwendigen Schulabschlüsse mit entsprechend guten Noten und Qualifikationen, ist zweisprachig und bikulturell aufgewachsen, ist selbst an einer guten Ausbildung interessiert, hat Eltern, die die ihnen mögliche Unterstützung leisten – und ist dennoch beim Zugang in eine berufliche Ausbildung, gemessen an deutschen Jugendlichen, benachteiligt. In einer in der Schweiz durchgeführten Untersuchung wurde ermittelt, dass Jugendliche mit türkischem und portugiesischem Hintergrund und solche, die vom Balkan stammen, doppelt so häufig wie alle anderen Gefahr laufen, sich nicht innerhalb von zwei Jahren nach Verlassen der Schule in einer Ausbildung etablieren zu können (vgl. Meyer 2003, S. 27). Auch mit guter Schulausbildung und guten Schulleistungen wird diese Gruppe gegenüber einheimischen Jugendlichen schlechter gestellt. Eine in Deutschland durchgeführte Untersuchung kommt zu dem Ergebnis, dass auch jene Jugendlichen mit Migrationshintergrund, die eine Ausbildung abgeschlossen haben, es seltener schafften als deutsche Jugendliche, die zweite Schwelle zu überwinden. Strukturelle Faktoren, wie die Größe des Ausbildungsbetriebes oder das Segment des Arbeitsmarktes, waren nicht allein für diese 9
Kaum eine Vorstellung hält sich in den Alltagsdeutungen so hartnäckig wie die von dem fehlenden Interesse der Migrationseltern an Bildung und Ausbildung ihrer Kinder. Kaum ein Sachverhalt ist seit Beginn von Untersuchungen in Migrationsfamilien aber so eindeutig zugunsten einer hohen Bildungsorientierung belegt worden, zu den Bildern: vgl. Hummrich 2002; Weber 2003; zu den Bildungsansprüchen in Migrationsfamilien s. Boos-Nünning/Karakaolu 2005a, S. 198 ff.
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Differenzen verantwortlich, da die jungen Menschen mit ausländischem Pass in fast allen Größenklassen häufiger nicht im Ausbildungsberuf verblieben sind (vgl. Konietzka/Seibert 2003, S. 587).10 Die mittels logistischer Regression durchgeführten Analysen des Berufswechsels verweisen darauf, dass die Unterschiede beim Berufseinstieg sowohl auf unterschiedliche Ausbildungsstrukturen als auch auf Muster der Bewältigung der zweiten Schwelle zurückgehen (Nichtübernahme durch den Ausbildungsbetrieb und nach einer Arbeitslosigkeit). Werden der Bildungsstand und die Verteilung auf die verschiedenen Ausbildungsberufe berücksichtigt, verbleiben nur geringe Unterschiede im Hinblick auf die berufliche Kontinuität des Arbeitsmarktzugangs (vgl. ebd., S. 588). Dieses gilt allerdings nicht für die türkischen jungen Männer. Für sie bleibt bei Konstanthalten dieser Faktoren die Wahrscheinlichkeit gegenüber deutschen jungen Männern um rund die Hälfte (48 %) erhöht, den Beruf wechseln zu müssen. Weder strukturelle Merkmale wie Kohortenzugehörigkeit, schulische Vorbildung, Betriebsgröße und Ausbildungsberuf noch die Erfahrungen an der zweiten Schwelle erklären diesen Unterschied (vgl. Konietzka/Seibert 2003, S. 586). Auch eine andere Untersuchung (vgl. Granato/Kalter 2001, S. 515 ff.) belegt, dass junge Menschen mit türkischem und (ex-)jugoslawischem Hintergrund vor besonderen Problemen bei der Verwertung ihrer formellen Ausbildung gestellt werden. Die ethnische Ungleichheit setzt sich auf dem Gesamtarbeitsmarkt fort: Die Migranten aus den ehemaligen Anwerbeländern und aus Osteuropa sind in Angestelltenpositionen deutlich unter- und in Arbeiterpositionen deutlich überrepräsentiert (s. dazu: Nadia Granato 2003, S. 19 ff.). Sie üben überwiegend niedrig qualifizierte Tätigkeiten ohne Führungsaufgaben aus. Auch hier lassen sich nationalitätenspezifische Differenzierungen vor allem zugunsten der spanischen und osteuropäischen Einwanderer erkennen.11 Auf der Grundlage der Daten des Sozio-ökonomischen-Panels wurde zudem ermittelt, dass Ausländer in stärkerem Maße als Deutsche von einer Nichtübereinstimmung zwischen ihren erworbenen und den für die Tätigkeit erforderlichen Qualifikationen betroffen sind. Dieses gilt – wenn auch deutlich abgeschwächt – auch für die Jugendlichen ausländischer Herkunft, die die deutsche Schule besucht haben (vgl. Szydik 1996, S. 668 f.). Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen mit ausländischem Pass haben nicht nur beim Schulbesuch und bei der Berufsausbildung schlechtere Chancen, sondern auch beim Zugang in eine ihrer Qualifikation entsprechenden Position auf dem 10
11
Die empirischen Analysen werden in dieser Untersuchung mit der IAB-Beschäftigtenstichprobe 1975 bis 1995 durchgeführt und beziehen sich daher auf eine andere Gruppe von jungen Menschen mit Migrationshintergrund und auf eine andere Arbeitsmarktsituation. 25 % der Spanier und Osteuropäer sind in der höchsten Angestelltenkategorie zu finden (vgl. N. Granato 2003, S. 24).
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Arbeitsmarkt. Dieses lässt sich für die Nationalitäten, die einen höheren Anteil gut qualifizierter Personen stellen (z.B. Spanier), eindeutiger belegen als für Gruppen mit einer geringeren Quote (z.B. Türken). „Da für Ausländer relativ wenige anspruchsvolle Stellen zur Verfügung stehen, dürften ethnische Gruppen mit relativ vielen gut Ausgebildeten aber besonders viele Überqualifizierte aufweisen.“ (Szydik 1996, S. 673) Bei der zweiten Generation ergeben sich ohne Bildungskontrolle negative Effekte, die unter Berücksichtigung des Qualifikationsniveaus verschwinden. Dieses gilt nicht für die jungen Menschen mit türkischem Migrationshintergrund (vgl. Nadia Granato 2003, S. 154). Alle Darstellungen und Untersuchungen belegen, dass – nach wie vor – Menschen mit ausländischem Pass in jenen beruflichen Bereichen überrepräsentiert sind, in denen es sich um einfache Tätigkeiten handelt, die geringe Qualifikationen voraussetzen. In Tätigkeitsbereichen mit höherer Qualifikation sind sie deutlich unterrepräsentiert (vgl. auch Räthzel 1995). Auch bei den Jugendlichen sind seit langem keine entscheidenden Aufwärtsbewegungen zu vermerken (vgl. dazu Seifert 1995): Sie sind gegenüber den einheimischen Jugendlichen auch dann benachteiligt, wenn sie die deutsche Schule besucht haben und über entsprechende Schulabschlüsse verfügen. Die Verbesserung der schulischen Voraussetzungen vergrößert nicht notwendigerweise die Chancen auf eine attraktive Ausbildungsstelle, und die Erhöhung der Qualifikation durch eine Ausbildung ermöglicht nicht unbedingt eine bessere berufliche Position.
2.2 Diskriminierung auf dem Arbeitsmarkt Diskriminierung auf dem Arbeitsmarkt liegt dann vor, wenn zur Bewertung einer Arbeitskraft Merkmale herangezogen werden, die nicht im Zusammenhang mit ihrer Produktivität stehen (vgl. Nadia Granato 2003, S. 30). Das bildungspolitische Postulat einer leistungsgerechten beruflichen Zuweisung (meritokratische Allokation) fordert (so Haeberlin/Imdorf/Kronig 2004, S. 164),12 dass den bestqualifizierten Jugendlichen die anspruchsvollsten bzw. die größten Erfolg versprechenden beruflichen Ausbildungswege offen stehen sollten. Häufig wird davon ausgegangen, dass eine meritokratische Allokation über den Transfer von Schulabschlusszeugnissen (Schultyp, Schulnoten) in berufliche Positionen realisiert werden kann. Bei einem solchen Transfer gilt die Annahme, dass die Schulabschlusszeugnisse das schulisch erworbene Wissen adäquat wiedergeben. Dass sich darin bereits Benachteiligungen in Abhängigkeit von der nationalen und 12
Eine differenzierte Auswertung der Daten derselben Untersuchung erfolgt bei Imdorf 2005.
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sozialen Herkunft sowie vom Geschlecht niedergeschlagen haben könnten, bleibt in der Regel unberücksichtigt. Die Ausbildungsstellen Suchenden befinden sich in einem harten Konkurrenzkampf, wobei sie sich (so Imdorf 2005, S. 105) in sämtlichen Phasen des Selektionsprozesses „bewähren“ müssen: bei der Erfüllung der formalen Voraussetzungen (Schulzeugnisse sowie -abschlüsse, Bewerbungsunterlagen), bei den immer bedeutsamer werdenden Eignungstestverfahren, bei den Vorstellungsgesprächen und bei einer immer häufiger verlangten Schnupperlehre. Je nach der Berufsbranche, der Unternehmensgröße und der Region kommen auch in der Schweiz auf eine Ausbildungsstelle zwischen 1 und 5 oder auch über 100 Bewerbungen (vgl. Imdorf 2005). Ähnliche Bedingungen sind in Deutschland gegeben. Beim Zugang in eine Ausbildung oder in einen Beruf findet ein „Screening“ statt, das sind Entscheidungen, denen Hypothesen über die Produktivität des Arbeitnehmers zugrunde liegen. Es werden Arbeitskräfte bevorzugt, die über möglichst viele kostengünstige Merkmale (wie z.B. adäquater Bildungsabschluss oder Testergebnisse, Passgenauigkeit in das fachliche und persönliche Profil für die Arbeitstelle und für den Betrieb) verfügen. Zusätzlich aber werden Gruppenmerkmale wie Geschlecht, ethnische Zugehörigkeit oder Wohnbezirk zum Screening verwandt, die von der Vorstellung geleitet werden, dass für die jeweiligen Gruppen bei Einstellung unterschiedliche Risiken vorhanden sind Es fehlen neuere Studien, die die Diskriminierung von Jugendlichen mit Migrationshintergrund im Zugang zu Ausbildung oder Beruf aus der Sicht der einstellenden Betriebe darstellen, so dass hier nur auf frühere Untersuchungen verwiesen werden kann. Diese beziehen sich auf die Auswahlkriterien der Betriebe bzw. der Ausbilder und Ausbilderinnen (vgl. Boos-Nünning 1999). In der Selektionspraxis der Ausbildungsbetriebe – so wird in einer Studie (vgl. Universität Bremen 1997, S. 60) ausgeführt – überlagert das Inländerprimat die strukturellen, leistungsorientierten Zuweisungskriterien. Faktisch führt dies zu ethnischen Abschließungen in stark nachgefragten Ausbildungsgängen. Mittlere und höhere berufliche Statuslinien stehen Jugendlichen mit Migrationshintergrund allenfalls in marginalem Ausmaß offen. Vergleichsweise gute Ausbildungschancen besitzen ausländische Jugendliche dann, wenn sie mindestens die mittlere Reife besitzen und auf dem Ausbildungsmarkt mit deutschen Schulabsolventen konkurrieren, die geringere Schulerfolge aufweisen. Dies ist primär in unattraktiven Berufen mit niedriger Entlohnung, schlechteren Arbeitsbedingungen und geringerem Karrierepotenzial der Fall. Die ethnische Diskriminierung wird durch unterschiedliche Sachverhalte legitimiert. Es werden die Mechanismen herausgestellt, die diese Jugendlichen hinter deutschen zurückstehen lassen, so z.B. die fehlende bzw. geringere Ein-
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bindung der Jugendlichen und ihrer Familien in soziale Netzwerke, die den Bewerbern bessere Ausgangsbedingungen verschaffen, und die Auswahlkriterien der Betriebe, die soziale Hintergrundmerkmale und soziale Orientierungen (z.B. Aussehen, Integrationsbereitschaft) berücksichtigen.13 Durch die Ausklammerung von Bewerbern und Bewerberinnen, die dem Anschein nach über vom Betrieb erwartete soziale (Hintergrund-)Variablen nicht verfügen oder von denen Störungen erwartet werden, versucht der Betrieb die Reibungsverluste so gering wie möglich zu halten. Jugendlichen ausländischer, insbesondere solchen türkischer Herkunft werden solche störenden Sozialisationsfaktoren und durch sie bedingtes Verhalten unterstellt, insbesondere unzureichende Kenntnis der deutschen (Betriebs-)Kultur (wegen der fehlenden Einbindung der Jugendlichen und ihrer Familien in deutsche soziale Netzwerke) und das Fehlen von Fertigkeiten, die außerhalb der Bildungsinstitutionen erworben werden. Außerdem werden aufgrund der Zugehörigkeit zu einer anderen Kultur spezifische Schwierigkeiten erwartet (z.B. Überziehung des Urlaubs, Verweigerung von Tätigkeiten, Nichtakzeptanz von Arbeitszeiten, insbesondere bei Mädchen und jungen Frauen). In Kleinbetrieben, insbesondere im Handwerk, und in freien Berufen können zudem vermutete Kundeninteressen eine Rolle spielen. Diese Überlegung kann sich dann positiv auswirken, wenn Personen mit spezifischen sprachlichen Qualifikationen und Hintergrundkenntnissen gewünscht werden (z.B. in der Anwaltskanzlei oder Arztpraxis). Negativ wirkt sich hingegen die Befürchtung aus, dass Auszubildende ausländischer Herkunft von den Kunden nicht akzeptiert werden. In einigen Berufen – insbesondere im sozialen Bereich – erfolgt eine Diskriminierung von Stellensuchenden ausländischer Herkunft aufgrund der Einstellungsbedingungen der Träger. Es handelt sich um eine institutionelle Benachteiligung, die in vielen sozialen Berufen besteht. Das im Kinder- und Jugendhilfegesetz verankerte Subsidiaritätsprinzip und die daraus abgeleitete Bevorzugung der Freien Träger der Jugendhilfe und die Bedeutung der kirchlichen Träger schränkt den Arbeitsmarkt für Personen mit muslimischer Religion entscheidend ein. Dieser Mechanismus wird von Martensen (1999)14 am Beispiel des Berufes der Erzieherin belegt. Die historisch gewachsene Einbindung der Verbände in das Staatssystem – als Korporatismus bezeichnet – wird zur Inklusionsstrategie für die Einheimischen und führt zur Exklusion für einen erheblichen Teil der Eingewanderten. Je knapper Ausbildungsstellen werden, desto bedeutsamer wird die Einbindung oder Nicht-Einbindung in soziale Beziehungsnetze. Diese Netzwerkres13
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Siehe dazu die Untersuchungen von König (1991) und Schaub (1991), die sich allerdings zeitlich bedingt auf eine Zielgruppe mit anderen Ausgangsbedingungen (großer Anteil von Seiteneinsteigern und Seiteneinsteigerinnen) beziehen. Die Ergebnisse der Untersuchung von Martensen werden ausführlicher referiert in BoosNünning 1999.
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source, die erweitert als soziales Kapital bezeichnet werden kann (vgl. Imdorf 2005, S. 95), spielt bei allen Betrieben eine gewisse Rolle und macht es möglich, dass Insiderwissen den Zugang zu Stellenausschreibungen erleichtert und Beziehungen und Kontakte in die Stellenvergabe eingebracht werden können. Großbetriebe betonen zwar ihre universalistischen Einstellungspraktiken mittels Tests oder Assessmentverfahren.15 Diese gelten jedoch nur für die erste Auswahlstufe. Bei der Auswahl der Einzustellenden aus der Gruppe derjenigen, die im Test positiv abgeschnitten haben, spielen dennoch partikulare Muster eine erhebliche Rolle. Diese wirken sich dadurch aus, dass etwa die Jugendlichen mit der Ausbildungsstelle in einem Großbetrieb in familiäre Traditionen eintreten und dass der Betrieb vor allem solche Jugendliche rekrutiert, deren Vater, Mutter oder andere Verwandte im selben Betrieb tätig sind (vgl. Bommes 1996, S. 41). Ein erheblicher Teil der Ausbildungsstellen wird aufgrund von „guten Worten“ und Wünschen Vorgesetzter, des Betriebsrates oder von Kollegen, also über informelle Beziehungen, vergeben. Sie resultieren aus Traditionsbindung bei den Ausbildungsstellen Suchenden auf der einen und bei den Großbetrieben auf der anderen Seite und begründen in ihrem Verlauf eingespielte, routinisierte und stillschweigend akzeptierte Inklusionsverhältnisse. Hinter der Selektion der Auszubildenden stehen betriebliche Logiken,16 die nicht selten auf einer Kosten-Nutzen-Rechnung beruhen. Während Großbetriebe auf eine langfristige Kalkulation setzen und die Nachwuchssicherung für den Betrieb in den Mittelpunkt stellen, legen Kleinbetriebe Wert auf eine zusätzliche Rentabilität während der Ausbildungszeit. In beiden Fällen werden Kompetenzen berücksichtigt, die den extrafunktionalen Fähigkeiten zuzuordnen sind: Sozialkompetenzen wie Motivation, Teamfähigkeit usw. Auszubildende mit solchen Kompetenzen lassen sich eher auf der Grundlage von „Empfehlungen“ gewinnen als durch neutrale Verfahren. Jugendliche mit Migrationshintergrund sind selbst dann, wenn ihre Eltern in dem Betrieb arbeiten, aufgrund der ethnischen oder zuwandererspezifischen Segregation in vielen Fällen nicht in die Beziehungsnetze eingebunden.
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Untersuchungen, die darstellen, welche Mechanismen den Zugang zur Ausbildung regulieren, sind in Deutschland wie auch in anderen deutschsprachigen Ländern selten (s. dazu Imdorf 2005, S. 101 ff.), vor allem fehlt es an neueren Untersuchungen. So Imdorf 2005, S. 102 ff. auf der Grundlage einer Untersuchung im Kanton Bern. Die in der Schweiz gewonnenen Ergebnisse lassen sich m.E. auf Deutschland übertragen.
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2.3 Arbeitsmarktsegmentation Ein dritter Ansatz geht davon aus, dass Arbeitsmärkte nicht offen und einheitlich sind, sondern in eine Reihe geschlossener Teilmärkte zerfallen, zwischen denen Mobilitätsbarrieren bestehen (vgl. Nadia Granato 2003, S. 37). Für junge Menschen mit Migrationshintergrund besteht eine doppelte Barriere: im Hinblick auf den Zugang in hoch bewertete Segmente und im Hinblick auf den Aufstieg in höherwertige Positionen innerhalb der Segmente. Bei der Berufsausbildung handelt es sich um ein dem Arbeitsmarkt analog segmentiertes System, das eine wesentliche Voraussetzung für die Durchsetzung und Aufrechterhaltung einer segmentierten Arbeitsmarktstruktur mit ihren ungleichen Beschäftigungschancen darstellt.17 Das Ausbildungssystem reguliert die Berufschancen bereits zu einem frühen Zeitpunkt über den Zugang zu den Ausbildungsgängen. Hier wiederum werden die Weichen gestellt für den Einstieg in Teilmärkte. In einem ersten Segment finden sich anspruchsvolle Tätigkeiten, die ein ausgeprägtes Fachwissen voraussetzen. Der Betrieb ist von vornherein daran interessiert, dass sich die in die Ausbildung investierten Kosten amortisieren, und der Eintritt in den Arbeitsmarkt erfolgt bereits mit Beginn des Ausbildungsverhältnisses. Zu diesem Segment gehören vor allem die Großunternehmen einschließlich der Banken und Versicherungen. Ein zweites Segment umfasst Betriebe, die neben dem Ziel der Ausbildung zumindest gleichrangig an der Arbeitskraft des Auszubildenden interessiert sind, indem über Bedarf ausgebildet wird. Der Ausbildungsüberhang trägt zur Überlastung des fachlichen Arbeitsmarkts bei und anschließend zu berufsfremden Tätigkeiten im Um- und Angelerntenbereich mit der Gefahr der Dequalifizierung oder sogar der Arbeitslosigkeit(vgl. Lex 1997, S. 44 f.). Der Bereich der schulischen Ausbildungen und der überbetrieblichen Ausbildungsmaßnahmen stellt ein zahlenmäßig expandierendes drittes Segment dar. Die Verwertbarkeit wird durch die Akzeptanz der Arbeitsplatzanbieter begrenzt, die häufig eine Person vorziehen, die einen vergleichbaren betrieblichen Ausbildungsgang besucht hat (vgl. Imdorf 2005, S. 114).18 Lex (1997, S. 311) macht als Folge der Segmentation des Ausbildungsmarktes eine eindeutige Bevorteilung der jungen Männer gegenüber den jungen Frauen und der Deutschen gegenüber den Ausländern aus.19 Jugendliche mit 17 18
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Die Darstellung folgt Imdorf 2005, S. 110 ff., der sich auf Lex 1997, S. 47, bezieht. Nicht berücksichtigt werden sollen berufsvorbereitende Maßnahmen, die nach Imdorf (2005, S. 115) als vorqualifizierende Zwischenlösungen und Brückenangebote ein eigenes Segment darstellen. Gleiches wird von Imdorf (2005) für die Schweiz ermittelt.
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Migrationshintergrund werden eher in Berufen ausgebildet, die für einheimische Jugendliche weniger attraktiv sind und die durch eine geringere Übernahmewahrscheinlichkeit und eine höhere Arbeitslosenquote nach Ausbildungsende gekennzeichnet sind. Sie sind in jüngster Zeit mehr als zuvor auf das dritte Segment des weiteren Schulbesuchs oder auf Warteschleifen in Form beruflicher Grundbildung, Praktika u. ä. verwiesen. Jede(r) vierte Bewerber/Bewerberin mit Migrationshintergrund findet sich schließlich (so Granato 2005) in Bildungsgängen des „Chancenverbesserungssystems“ wieder, in vielen Fällen, ohne die Aussicht auf eine Qualifizierung mit Berufsabschluss deutlich zu erhöhen. Ebenfalls jeder vierte bzw. knapp jede(r) fünfte Ausbildungsstellenbewerber(in) bleibt arbeitslos oder jobbt. Um innerhalb eines Segmentes aufzusteigen, bedarf es der betrieblichen Weiterbildung (on-the-job-training), die dem Betrieb Kosten verursacht. Diese sollen so gering wie möglich gehalten werden. Die Höhe der Ausbildungskosten wird (so Nadia Granato 2003, S. 47) anhand von Merkmalen der Arbeitskräfte (z.B. Bildung, Fähigkeiten, Geschlecht, Alter und ethnische Zugehörigkeit) abgeschätzt.20 Auf dieser Grundlage wird entschieden, welche Personen wann an einer Weiterbildung teilnehmen dürfen, die die Möglichkeit einer Positionsverbesserung bereithält. Personen mit Migrationshintergrund werden so lange als nicht beschäftigungsstabile Arbeitnehmergruppen und daher als nicht oder nur nachrangig für Weiterbildung zu berücksichtigend eingestuft, wie die Rückkehr ins Herkunftsland als Alternativmöglichkeit angesehen wird oder – so muss ergänzt werden – sie aus anderen Gründen in ihrem Arbeitspotenzial nicht als berechenbar gelten.
2.4 Fehlendes Humankapital oder Inklusion des Ausbildungsstellenmarktes? Für die Bestätigung aller drei Ansätze gibt es in den Untersuchungen empirische Belege. Die Unterrepräsentanz in der Ausbildung, die schlechteren Chancen beim Übergang von der Ausbildung in einen Beruf sowie beim innerbetrieblichen Aufstieg können sowohl durch Defizite in der Humankapitalausstattung als auch durch Diskriminierung erklärt werden. Auch die Segmentierung des Ausbildungsstellenmarktes spielt eine Rolle. Die vorn zitierten Untersuchungen verweisen – in Teilen entgegen ihren empirischen Daten – letztlich allein oder überwiegend auf die eher ungleiche Ausstattung mit sozialem und kulturellem Kapital von jungen Menschen mit Migrationshintergrund und Einheimischen oder betonen, dass es offen bleiben müsse, ob individuelle Ressourcenunter20
Zu Formen der Diskriminierung im Betrieb s. Räthzel 1995; Räthzel/Sarica 1994; Hunger/Hinken 2001.
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schiede, Strukturmerkmale oder Diskriminierungspraktiken für den Befund verantwortlich seien.21 So bleibt es bei der Vorstellung, dass fehlende Bildungsvoraussetzungen, also persönliche Qualifikationen, nach wie vor ein entscheidendes Hindernis zur Aufnahme einer Ausbildung darstellen. Aber auch in diesen Untersuchungen wird – sofern sie die Jugendlichen mit Migrationshintergrund nach ihrer nationalen Herkunft differenzieren – von der These Abschied genommen, dass von einer Angleichung von deutschen Arbeitskräften und Arbeitskräften mit Migrationshintergrund, die ihre Schul- und Berufsausbildung in Deutschland absolviert haben (so Szydlik 1996, S. 669) ausgegangen werden kann und dass somit die Unterschiede für alle nationalen Gruppen ausschließlich oder überwiegend auf die Humankapitalausstattung zurückzuführen seien (vgl. Velling 1995; Nadia Granato/Kalter 2001, S. 515). Defizite im Humankapital reichen nach allen neueren Untersuchungen nicht aus, die Ausbildungs- und Arbeitssituation von jungen Menschen mit türkischem Migrationshintergrund zu erklären. Sowohl in Bezug auf den Übergang in die betriebliche Ausbildung sowie nach der Ausbildung in den Beruf als auch in Bezug auf die Positionierung auf dem Gesamtarbeitsmarkt haben, unter Kontrolle der Bildungslaufbahn, junge Menschen mit türkischem Hintergrund nicht nur deutlich geringere Chancen als Deutsche, sondern auch geringere Chancen als junge Menschen mit anderen Migrationshintergründen (vgl. dazu Nadia Granato 2003, S. 128 ff.).22 Drei Untersuchungen, wovon zwei schon oben in ihren Ergebnissen angesprochenen wurden – zwei durchgeführt in Deutschland, eine in der Schweiz –, führen die Diskussion weiter, da sie mittels multivarianter Verfahren den relativen Erklärungswert der verschiedenen Einflussfaktoren einschätzen. Im Ergebnis der BA/BIBB-Bewerberbefragung 2004 (vgl. Ulrich 2006; Granato 2006) erscheinen die schulischen Bildungsvoraussetzungen als (allgemeiner) Erklärungsansatz für die geringen Partizipationschancen von Schulabgängern mit Migrationshintergrund an einer beruflichen Bildung als wenig tauglich: Die Erfolgsaussichten von Lehrstellenbewerbern und -bewerberinnen mit Migrationshintergrund liegen selbst bei gleichen Schulabschlüssen weit unter denen deutscher Jugendlicher. So finden Bewerber und Bewerberinnen aus Migrationsfamilien mit Hauptschulabschluss zu 25 Prozent (ohne Migrationshintergrund: 28 %) einen Ausbildungsplatz. Diese Unterschiede verschwinden aber 21
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So eine Schlussfolgerung von Konietzka/Seibert 2003, S. 573, die nicht ganz nachvollziehbar ist, da vorn darauf verwiesen wird, dass bei Absolventen einer Berufsausbildung von gewissen individuellen Ressourcen ausgegangen werden könne und dass ein erheblicher Teil möglicher Strukturmerkmale kontrolliert werde. N. Granato (2003) ordnet in ihren Schlussfolgerungen die Ergebnisse so ein, dass sie – entgegen ihrer Analyse vorn – die Ursachen in der ungleichen Ausstattung mit relevantem Humankapital von Migranten sieht und nicht in erster Linie in einer Arbeitsmarktdiskriminierung. M.E. widersprechen ihre Ergebnisse dieser Folgerung (vgl. S. 156; anders S. 154).
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mit gestiegenem Bildungsabschluss nicht – im Gegenteil: sie sind bei Absolventen mit einem mittleren Abschluss noch stärker ausgeprägt. Während von den Realschulabsolventen aus Migrantenfamilien nur 34 Prozent einen Ausbildungsplatz finden, sind es bei der deutschen Vergleichsgruppe 47 Prozent. Fazit: Mit besserer schulischer Vorbildung steigen die Aussichten von Bewerbern ohne Migrationshintergrund stärker an als die Aussichten von Bewerbern und Bewerberinnen mit Migrationshintergrund (vgl. Granato 2005, S. 7 f.). Die Untersuchung auf der Grundlage einer repräsentativen23 Bewerber- und Bewerberinnenstichprobe erlaubt Aussagen über die Variablen, die den Bewerbungserfolg beeinflussen. Geprüft wurden neben dem Einfluss des Migrationshintergrundes der eines qualifizierten Schulabschlusses und guter Zeugnisnoten (positive Effekte), eines fortgeschrittenen Alters (negative Effekte), die Absolvierung einer beruflichen Grundbildung (positive Effekte) oder einer berufsvorbereitenden Maßnahme (keine Effekte) sowie der Beschäftigungslage vor Ort (bei einer Arbeitslosenquote unter 9 % positive Effekte). Zwar haben nach dieser Untersuchung die Arbeitsmarktbedingungen am Wohnort und die schulischen Voraussetzungen, wie die Höhe des Schulabschlusses und die Mathematiknote, einen signifikanten Einfluss auf die Aussichten von Ausbildungsstellenbewerbern und -bewerberinnen, aber der Migrationshintergrund ist für sich allein genommen eine Variable, die unter Konstanthaltung der anderen Variablen den Zugang zu einer dualen Ausbildung erklärt (vgl. ebd.). Von den Bewerbern und Bewerberinnen mit Migrationshintergrund haben 29 Prozent (ohne Migrationshintergrund: 40 %) eine Chance auf eine betriebliche Ausbildung, der Anteil steigt bei einem mittleren Abschluss bis hin zur Fachhochschulreife um 5 Prozent auf 34 Prozent (ohne Migrationshintergrund: um 7 % auf 47 %), bei einer guten bis sehr guten Mathematiknote um 12 Prozent auf 41 Prozent (ohne Migrationshintergrund: um 24 % auf 64 %) und bei einem Wohnort in einer Region mit einer Arbeitslosenquote unter 9 Prozent um 15 Prozent auf 44 Prozent (ohne Migrationshintergrund: um 31 % auf 71 %; vgl. ebd.). Von den Jugendlichen ohne Migrationshintergrund haben bei günstigen persönlichen und regionalen Rahmenbedingungen 71 Prozent eine Chance auf einen Ausbildungsplatz, von den Jugendlichen mit Migrationshintergrund mit genau den gleichen Voraussetzungen hingegen nur 44 Prozent. Deutlich wird der Einfluss des nationalen Hintergrundes. Während jugendliche Aussiedler ohne Ausdifferenzierung der Rahmenbedingungen eine, gemessen an den Migrationsjugendlichen insgesamt, mit 35 Prozent (aus den GUSStaaten) und 32 Prozent (aus Polen) leicht überdurchschnittliche Chance auf 23
Im November/Dezember 2004 wurden Bewerber/innen auf postalischem Wege befragt. Von 9.688 angeschriebenen Jugendlichen antworteten ca. 5.100 (Rücklaufquote: 53 %; vgl. Eberhard/Krewerth/Ulrich 2006; vgl. auch Ulrich 2006, 2005).
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einen betrieblichen Ausbildungsplatz haben, sinkt diese bei Bewerbern und Bewerberinnen mit türkischem Migrationshintergrund auf 16 Prozent. Die Untersuchung von Haeberlin, Imdorf und Kronig (2004) zur Benachteiligung von ausländischen (und weiblichen) Jugendlichen bei der Lehrstellensuche in der Schweiz24, ermittelt mittels regressionsanalytischer Verfahren auf der Grundlage logistischer Mehr-Ebenen-Modelle, dass mit den schulischen Qualifikationen allein nur etwa ein Zehntel der aufgeklärten Varianz insgesamt25 (vgl. ebd., S. 112 ff.) erklärt wird. Gering ist sowohl der Einfluss des an objektiven Schulleistungstests gemessenen Schulwissens (Deutsch und Mathematik) als auch der Einfluss der mit einem Intelligenztest gemessenen kognitiven Leistungsfähigkeit sowie der Formalqualifikation in Form des besuchten Schultyps und der Schulnoten. Stärkere Erklärungsvariablen sind Geschlecht und Migrationshintergrund, differenziert nach Generationenstatus (etwa ein Drittel der total aufgeklärten Varianz), wobei sich der Seiteneinstieg in das Schulsystem (Generationenstatus) besonders hinderlich auswirkt. Bei vergleichbaren Formalqualifikationen sind die Lehrstellenchancen von Jugendlichen mit zwei Schweizer Elternteilen gegenüber ausländischen Jugendlichen der 2. Generation um den Faktor 1,9 erhöht, gegenüber ausländischen Jugendlichen der 1. Generation um den Faktor 4,4 (vgl. Haeberlin u.a. 2004, S. 117). Weitere wesentliche Indikatoren sind das Verfügen über geeignete soziale Beziehungen, die ein Viertel der aufgeklärten Varianz der Lehrstellenchancen erklären, sowie die Beanspruchung von Beratungsangeboten und die Anzahl so genannter Abkühlungsagenten (das sind Personen aus dem nahen sozialen Umfeld, wie Eltern, Bekannte und Lehrpersonen, die versuchen, die Jugendlichen von ihren beruflichen Aspirationen abzubringen), die an einem weiteren Drittel der erklärten Varianz beteiligt sind (vgl. ebd., S. 118 f.). Diese Untersuchung verweist auf die schon vorn genannte Bedeutung der sozialen Netzwerke und auf den Einfluss einer geringeren Beanspruchung von Beratung. Über frühere Darstellungen hinaus vermag sie den Einfluss zu quantifizieren und zu belegen, dass die geringen Einmündungsquoten von Jugendlichen mit Migrationshintergrund zu einem nicht unerheblichen Teil auf unterschiedliche Ausstattung mit Zugängen zu sozialen Netzwerken (Sozialkapital) zurückgeführt werden können. Unzureichende Beratung und Abkühlungsagenten haben ebenfalls deutlich mehr Einfluss als die formale Qualifikation oder das Leistungsvermögen. In einer in Hamburg durchgeführten Untersuchung werden ähnliche Resultate ermittelt. Zwar zeigen Jugendliche mit Migrationshintergrund (insbesondere 24 25
Ausführlich dargestellt werden die Ergebnisse dieser Untersuchung bei Imdorf 2005, zur Methode, vgl. ebd., S. 149 ff. Die total aufgeklärte Varianz beträgt 34 %.
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diejenigen mit ausländischem Pass, gefolgt von deutschen Staatsangehörigen mit Migrationshintergrund) niedrigere Fachleistungen als einheimische deutsche Schüler und Schülerinnen (vgl. Lehmann u.a. 2000, S. 110),26 aber die Chance eines einheimischen deutschen Jugendlichen, eine voll qualifizierende Berufsfachschule oder Berufsschule zu besuchen, ist unter Konstanthaltung der Fachleistung zweimal so hoch wie die Chance eines Jugendlichen mit Migrationshintergrund. Die Chance zum Besuch einer teilqualifizierenden Berufsfachschule ist – ebenfalls bei gleichen Fachleistungen – immer noch eineinhalbfach so hoch zugunsten der einheimischen Deutschen. Die einheimischen deutschen Jugendlichen haben bei niedrigeren Fachleistungen größere Chancen, zu einem Berufsabschluss zu gelangen (vgl. ebd., S. 108 f.). Jugendliche mit ausländischem Pass haben über das gesamte Leistungsspektrum hinweg geringere Chancen, eine vollzeitschulische berufliche oder einen Platz in der dualen Ausbildung zu erhalten. Aus den Befunden – so die Autoren (ebd., S. 110) – „ist eindeutig zu schließen, dass ihre Benachteiligung vor allem im dualen System wirksam ist“. Nach dem nationalen Migrationshintergrund differenziert, sind bei Kontrolle des Bildungsstatus der Eltern und der Verfügbarkeit bildungsrelevanter Ressourcen in der Gruppe der afghanischen, der iranischen, der türkischen und der arabisch-sprachigen Schüler und Schülerinnen zusätzliche den Erfolg hemmende Einflussgrößen wirksam (vgl. ebd., S. 112). Ungleichheiten nach dem nationalen Migrationshintergrund bestehen auch im Übergang zu einer beruflichen Ausbildung. Die Ergebnisse der Regressionsanalyse zeigen eindeutig, „dass es in Hamburg an der Schnittstelle zur beruflichen Ausbildung unter Berücksichtigung der Fachleistungen Bevorzugung einiger bzw. Benachteiligung anderer ausländischer Schülergruppen aufgrund ihrer Herkunft gibt: Die Chance der Jugendlichen aus der Russischen Föderation, aus dem ehemaligen Jugoslawien, aus Polen und aus der Europäischen Union, eine voll qualifizierende Berufsfachschule oder eine Berufsschule zu besuchen, ist nach Berücksichtigung der allgemeinen Fachleistung um ein Mehrfaches höher gegenüber der Chance der Jugendlichen aus Afghanistan/Referenzgruppe). Im Vergleich dazu haben die Schülerinnen und Schüler aus der Türkei, dem Iran, Ost- und Südostasien und aus den arabischsprachigen Ländern offensichtlich die gleiche Distanz zu einem beruflichen Abschluss wie die Referenzgruppe.“ (Ebd., S. 113) Dieses gilt, obgleich die Jugendlichen mit ausländischem Pass positivere Erwartungen an die Berufliche 26
Die Untersuchung der Leistungen, Motivation und Einstellungen zu Beginn der beruflichen Ausbildung (ULME) ermittelt als ausschlaggebende Faktoren für die geringeren Leistungen die niedrigeren Schulabschlüsse der Eltern, geringere bildungsrelevante Ressourcen und den geringeren Gebrauch der deutschen Sprache. Die Autoren registrieren, dass die Schüler/innen aus Ost- und Südostasien, Polen, den GUS-Staaten und aus Ländern der Europäischen Union auffällig gut in der Lage sind, hohe Fachleistungen zu erbringen.
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Schule zeigen als einheimische deutsche Jugendliche und Jugendliche mit Migrationshintergrund und deutschem Pass und motivierter für ihren Ausbildungsberuf sind (vgl. ebd.). Der berufliche Optimismus ist in allen drei Gruppen gleich ausgeprägt (vgl. ebd., S. 114). Die Untersuchungen belegen, dass das Humankapital, sofern es als formale und inhaltliche Qualifikation der jungen Menschen verstanden wird, zur Erklärung der deutlich schlechteren Chancen, in eine berufliche Ausbildung einzumünden, nicht ausreicht. Wenn unter Humankapital aber auch die Einbindung in Netzwerke und die Möglichkeit der Nutzung von formellen und informellen Beziehungen verstanden wird, die bestimmte Familien zum Erreichen von beruflichen Zielen ihrer Kinder zu aktivieren verstehen, dann und erst dann trägt dieser Ansatz zur Erklärung bei. Gleichzeitig ist dann aber eine Diskriminierung aufgrund ethnischer Zugehörigkeit gegeben, wenn Migrationsfamilien aufgrund ihrer sozialen Bedingungen der Zugang zu solchen Netzwerken und Beziehungsstrukturen nicht offen steht.27
3
Was ist zu tun?
Ein großer Teil der Jugendlichen, denen der Übergang in die Ausbildung nicht gelingt, bleiben auch als junge Erwachsene ohne berufliche Qualifikation. Zählt man zu den ausländischen Auszubildenden die Schülerinnen und Schüler an den beruflichen Vollzeitschulen (ohne die Teilnehmer am Berufsvorbereitungsjahr oder ähnlichen Maßnahmen) und die Schülerinnen und Schüler der gymnasialen Oberstufe hinzu, so steigt nach dem Bericht der Integrationsbeauftragten (2005, S. 60) die Quote derer, die einen Ausbildungsvertrag haben oder in Vollzeitschulen lernen, nicht über 60 Prozent. Dieses bedeutet, dass 40 Prozent aller Jugendlichen mit ausländischem Pass im Anschluss an die Pflichtschulzeit ohne jede Ausbildung bleiben. Bei deutschen Jugendlichen beträgt das Verhältnis ca. 85 Prozent zu 15 Prozent. Die Chancenlosigkeit eines so großen Teils von Jugendlichen mit Migrationshintergrund wird seit Jahren immer wieder als problematisch für die Sozialisation der Jugendlichen selbst wie auch für das Zusammenleben in Deutschland herausgestellt. Gudrun Stoltenberg führte schon 1984 aus: „Berücksichtigt man 27
Siehe dazu auch Hinken 2001, S. 38, der auf die Funktion von innerbetrieblichen Netzen verweist, in denen Rekrutierungs-, Weiterqualifikations- und Beförderungsentscheidungen getroffen werden. „Einheimische sind in weit höherem Maße in Kommunikationsnetze über Versetzungs- und Aufstiegsmöglichkeiten eingebunden und erfahren häufig schneller geplante Beschäftigungsveränderungen bzw. sind gegenüber den Entscheidern präsenter – dies gilt sowohl für herkömmliche Arbeitsstrukturen in den Betrieben als auch für höhere Positionen in anderen Organisationen und Institutionen, wie den Gewerkschaften oder den Betriebsräten.“
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hierbei noch die jungen Ausländer, die berufliche Vollzeitschulen und die gymnasiale Oberstufe besuchen, kann man sagen, dass schätzungsweise etwa ein gutes Drittel (37 %) der 15- bis unter-18-jährigen Jugendlichen eine Berufsausbildung macht oder weiterführende Schulen besucht. Ein weiteres Drittel etwa absolviert berufsvorbereitende Maßnahmen unterschiedlicher Art, erwirbt Teilqualifikationen, z.B. an Berufsfachschulen, arbeitet oder ist arbeitslos. Ein letztes Drittel besucht keinerlei Schule. Dies waren im Ausbildungs- und Schuljahr 1984/85 immerhin 75.000 von 204.000 jungen Ausländern in der genannten Altergruppe“. Heute – 20 Jahre später – lebt eine große Zahl von jungen Menschen mit Migrationshintergrund in Deutschland, die keinerlei berufliche Qualifikation erlangt haben.28 Die genaue Zahl der jungen und älteren Erwachsenen mit Migrationshintergrund, die die Lebenszeit der Schul- und Berufsausbildung in Deutschland verbracht haben und dennoch keinerlei berufliche Qualifizierung erworben haben, lässt sich nicht berechnen. Sie dürfte aber deutlich über eine Million ausmachen. Jedes Jahr kommen einige Zehntausend hinzu. Veränderungen werden seit langem angemahnt. Es müssen Bedingungen geschaffen werden, die jungen Menschen mit Migrationshintergrund, die zum weitaus größten Teil in Deutschland geboren sind und die deutsche Schule besucht haben, den Zugang zu qualifizierten Berufen in gleicher Weise wie deutschen Jugendlichen sichern. Es geht um die Erhöhung ihres Anteils in allen Positionen und Segmenten sowie auf allen Ebenen des Berufssystems. Dabei müssen für verschiedene Gruppen mit unterschiedlichen Voraussetzungen unterschiedliche Strategien entwickelt und in ihren Erfolgen geprüft werden: 1. Für die Gruppe der originär Benachteiligten, d.h. derjenigen, die über unzureichende schulische Voraussetzungen verfügen, muss das Angebot an kompensatorischen Hilfen in der Region abgefragt werden, und es muss ermittelt werden, ob es die Zielgruppe erreicht und ob es der Zielgruppe entspricht. Wenn seit Jahrzehnten 40 Prozent der Jugendlichen mit Migrationshintergrund „verschwinden“, lässt dieses auch auf Lücken im Übergang von der Schule in die berufliche Ausbildung schließen. Ein Teil von ihnen hat von vornherein auf die Suche nach einem Ausbildungsplatz verzichtet, ein anderer Teil hat trotz Suche keinen Ausbildungsplatz gefunden. Unverständlich sowie politisch und sozial 28
Dieses wird durch eine repräsentative Befragung von jungen Erwachsenen ohne abgeschlossene Berufsausbildung im alten Bundesgebiet, durchgeführt vom Bundesinstitut für Berufsbildung, bestätigt. Während unter deutschen jungen Erwachsenen im Alter zwischen 24 und 29 Jahren zum Zeitpunkt der Befragung (2000) 10,4 % ohne Ausbildungsabschluss waren bzw. sich nicht in einer Ausbildung befanden, betrug der Anteil bei den ausländischen jungen Erwachsenen 39,7 % (Bericht 2005, S. 60; vgl. Troltsch 2003). Auch Berechnungen des Mikrozensus weisen nach, dass 2002 38 % der 20- bis unter-30-jährigen jungen Erwachsenen ausländischer Herkunft keinen Berufsabschluss haben (m: 36 %; w: 41 %), aber nur 12 % der deutschen Vergleichsgruppe (m: 11 %; w: 12 %; vgl. M. Granato/Gutschow 2005).
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nicht akzeptabel ist, dass gerade diese Gruppe, die aufgrund ihres teilweisen Scheiterns an der Schule besonders förderbedürftig ist, in allen Formen der ausbildungsbegleitenden und überbetrieblichen Ausbildungen sowie vorbetrieblichen Förderungen, gemessen an ihrem Anteil an der Altersgruppe, unterrepräsentiert ist, und das ebenfalls seit vielen Jahren. Es kann nicht davon ausgegangen werden, dass die Einrichtungen, die Maßnahmen in unterschiedlichen Programmen durchführen, sich ausreichend um diese Zielgruppe bemühen. Zudem finden sich zu wenige Ansätze, die interkulturell ausgerichtet sind oder dem Prinzip des cultural mainstreaming folgen.29 2. Für die Gruppe derer, die wegen der Verringerung der betrieblichen Ausbildungsstellen oder des höheren Angebots an Ausbildungsstellenbewerbern und -bewerberinnen keine Stelle fanden, muss die Möglichkeit der Erweiterung des Stellenangebots geprüft werden. Vom Rückgang der betrieblichen Ausbildungsstellen waren Jugendliche mit Migrationshintergrund überdurchschnittlich betroffen. Es ist aber keineswegs sicher, dass sie von einer Zunahme der Ausbildungsstellen anteilmäßig profitieren würden. Hinzu kommt, dass sich bei einer Vergrößerung und qualitativen Verbesserung des Angebots auch die Bewerberund Bewerberinnenzahlen und deren schulische Voraussetzungen verbessern werden. Ausbildungsbetriebe können dennoch gewonnen werden, zusätzliche Ausbildungsstellen für Jugendliche mit Migrationshintergrund zur Verfügung zu stellen. Neu gegründete Betriebe, deren Ausbildungsbeteiligung bisher besonders gering ist, könnten für die Ausbildung im Allgemeinen und insbesondere für die Ausbildung von Jugendlichen mit Migrationshintergrund gewonnen werden. Das Ansprechen der Betriebe bedarf einer intensiven Vorbereitung. Auch Betriebe, die von Menschen mit Migrationshintergrund geführt werden, könnten stärker für Investitionen in die berufliche Ausbildung gewonnen werden. Die im Jahr 2000 ca. 280.000 Selbstständigen ausländischer Herkunft, die in Deutschland vor allem im Handel und im Gastgewerbe tätig waren, verhalten sich bisher überwiegend ausbildungsabstinent.30 3. Vorn wurde dargestellt, dass für einen erheblichen Teil von jungen Menschen beim Zugang zu einer beruflichen Ausbildung leistungsunabhängige Kriterien, wie – neben Geschlecht und sozialer Schicht – die nationale Herkunft, die Selektionsentscheidungen beeinflussen. Es ist besonders schwierig, mit Formen 29
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Es ist auffallend, dass die Benachteiligung von Jugendlichen mit Migrationshintergrund in allen Formen der Benachteiligtenförderung bisher kaum thematisiert wird. Erst in jüngster Zeit – z.B. im BQF-Programm – werden Migration und cultural mainstreaming zu einem Schwerpunkt gemacht. Allerdings stellt der Verweis auf Unternehmer und Unternehmerinnen mit Migrationshintergrund kein Allheilmittel dar, es bedarf einer genauen Darstellung und Analyse der Leistungsfähigkeit der Migrantenökonomie. Vgl. dazu den kritischen Beitrag von Pütz 2005.
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der ethnischen Diskriminierung umzugehen und Änderungen für die Jugendlichen mit Migrationshintergrund zu erreichen, die trotz guter Qualifikation wegen der Exklusionsstrategien und wegen der in der deutschen Gesellschaft vorhandenen Fremdheitsdefinitionen ausgesperrt bleiben. (Deutsch)sprachliche und fachliche Förderung sind für diese Gruppe nicht vonnöten, ebenso wenig bedürfen sie einer umfangreicheren oder spezifischeren Beratung, sie wissen durchaus, welche Berufe sie erlernen und welche Stellen sie innehaben möchten; ihnen fehlen die Zugangsmöglichkeiten. Um die Chancen dieser Gruppe zu verbessern, bedarf es einer Änderung des Klimas in der Region und einer Korrektur der Bilder, die (insbesondere) über junge Menschen muslimischer Religion weit verbreitet sind. Schon seit langem wird gefordert, statt der Defizite31 die Ressourcen der jungen Menschen mit Migrationshintergrund in den Mittelpunkt zu stellen, wie Zweisprachigkeit, die Disposition zu interkulturellen Kompetenzen, Bildungsorientierung und Werthaltungen.32 Der Versuch stößt auf wenig Verständnis bei einem Teil der Ausbildungsbetriebe. Diese fordern – wie am Beispiel des Handwerks dargestellt werden kann – in erster Linie (verständlicherweise) kompensatorische Maßnahmen, vor allem im Hinblick auf die Verbesserung der deutschen Sprache und die Verbesserung von Informationen im Rahmen der Berufswahl unter Einbeziehung der Eltern, sowie die Erhöhung der „Ausbildungsfähigkeit“ (Handwerkskammer Düsseldorf 2002, S. 24 ff.). Darüber verweigern sie allerdings den Blick auf Ressourcen. Die Muttersprache der Jugendlichen wird als nicht relevant abgewertet und die Vorstellung, dass das „immer wieder angeführte ‚bilinguale und interkulturelle Potenzial‘ junger Ausländer“ im Zeitalter der Globalisierung an Bedeutung gewinne, mit erwarteten Defiziten in der Fremdsprache Englisch zurückgewiesen (vgl. ebd., S. 26).33 Zwar beschäftigt sich das Handwerk vor dem Hintergrund eines wachsenden Nachwuchs- und Facharbeitermangels – Folgen der demografischen Entwicklung und der Konkurrenz um qualifizierte Auszubildende – intensiv mit der Bedeutung von Nachwuchskräften mit Migrationshintergrund, registriert aber dennoch eine Verringerung der Aus-
31 32 33
Auch in der Jugendberufshilfe wird die Defizithypothese zum Ausgangspunkt sozialstaatlicher Integrationsmaßnahmen genommen, so belegt bei Bendit/Keimeleder/Werner 2000. Siehe dazu die Darstellung von Ressourcen auf Grundlage der Ergebnissee einer empirischen Untersuchung bei Boos-Nünning/Karakaolu 2005b. Es sollte eine Auswertung des BQF-Programmes unter dem Gesichtspunkt vorgenommen werden, ob und wieweit insbesondere durch Einrichtung der BQN’s eine Änderung der Sichtweise und darüber eine Klimaverbesserung in der Region allgemein und insbesondere bei den Ausbildungsbetrieben erreicht wurde.
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zubildenden mit ausländischem Pass sowohl in absoluten als auch in relativen Zahlen.34 4. Unabdingbar sind Angebote zur beruflichen Nachqualifizierung, will man nicht knapp die Hälfte eines jeden Jahrgangs der jungen Menschen mit Migrationshintergrund ins Abseits stellen. Auch die Tatsache, dass 70 Prozent der ausländischen Arbeitslosen Ungelernte sind, verdeutlicht die Notwendigkeit der nachträglichen beruflichen Qualifizierung Erwachsener (s. Beauftragte 2005, S. 95). Die Zahl der Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen mit Migrationshintergrund, die auf eine berufliche Weiterbildung zur Verbesserung ihrer Arbeitsmarktchancen angewiesen sind, ist besonders groß. Die Beteiligung dieser Gruppe an Weiterbildung ist mit 13 Prozent (ausländischer Pass) und 19 Prozent (Deutsche mit ausländischem Hintergrund) hingegen besonders gering (einheimische Deutsche: 28 %) (vgl. Infratest Sozialforschung 2005 nach Bethschneider/Schwerin 2005). Daher bedarf es besonderer Initiativen, diese Zielgruppe für die Nachqualifizierung zu gewinnen und das Programm zielgruppenorientiert auszurichten. Konzepte sind entwickelt und erprobt worden, die von einer spezifischen Werbung (durch besondere Ansprache und spezielle Zugänge zur Zielgruppe) und die Abstimmung des Programms auf eine Zielgruppe, deren Kompetenz in der deutschen Sprache Lücken hat und die Mängel im Sozialisations- und Kulturwissen besitzt. Es geht aber auch um die interkulturelle Öffnung der Angebote sowie die Qualifizierung des Personals durch interkulturelles Training und die Einübung in eine Didaktik der Unterrichtung heterogener Lerngruppen. Außerdem werden die interkulturellen Kompetenzen von Personen mit Migrationshintergrund in diesem Konzept genutzt und erweitert. In dem Forschungsprojekt des BIBB „Anforderungen an Trainerinnen/Trainer in der beruflichen Weiterbildung von Lerngruppen mit Teilnehmenden deutscher und ausländischer Herkunft“ werden curriculare Elemente erarbeitet und erprobt (s. dazu Bethschneider/Schwerin 2005). Ziel ist eine zu einem Berufsabschluss führende berufsbegleitende Nachqualifizierung, die auf den Ressourcen der Erwachsenen mit Migrationshintergrund aufbaut, wozu im BIBB modulare Ansätze in verschiedenen Berufsfeldern entwickelt wurden (s. Granato/Gutschow 2005). Es gilt in allen Bereichen zugleich Änderungen einzuleiten und durch ein Qualitätsmanagement abzusichern.
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Siehe dazu Handwerkskammer Düsseldorf (2002), vor allem S. 9 f.; vgl. auch die Dokumentation der Fachtagung der Zentralstelle für die Weiterbildung im Handwerk (ZWH), Neuss/Düsseldorf 2003. Nur noch ein Drittel aller Auszubildenden mit ausländischem Pass werden im Handwerk ausgebildet.
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Die Notwendigkeit der Ausschöpfung von Ausbildungspotenzialen
Momentan bleibt ein erheblicher Teil von Jugendlichen, die um eine Ausbildung nachfragen, ohne Ausbildungsstelle. Es gibt auf dem Arbeits- und Ausbildungsstellenmarkt nicht nur ein Struktur-, sondern auch ein Generationenproblem: Das Recht auf Bildung und Ausbildung der nachwachsenden Generation wird nicht ausreichend berücksichtigt (vgl. Bundesjugendkuratorium (BJK) 2005). Unter denjenigen ohne Ausbildungschance machen die jungen Menschen mit Migrationshintergrund einen deutlich überproportionalen Anteil aus, und zwar auch in der Gruppe derer, die über hinreichende oder sogar gute Bildungsvoraussetzungen verfügen. Wie ausgeführt, bleibt von ihnen seit Jahrzehnten ein erheblicher Teil ohne berufliche Ausbildung. Auch und vielleicht gerade in schwieriger Zeit in Bezug auf den Ausbildungsstellen- und Arbeitsmarkt muss gefordert werden, dass die Aufgabe, Ausbildung für alle jungen Menschen zu sichern, auch für diejenigen mit Migrationshintergrund angenommen und erfüllt wird. Nur vordergründig steht das Interesse der jungen Menschen mit Migrationshintergrund im Mittelpunkt, deren Vorstellungen von einem „guten“ Beruf mit der Möglichkeit der Existenzsicherung nicht verwirklicht werden kann. Doch mit eben dieser Vision sind ihre Eltern nach Deutschland eingewandert In einer anderen Sichtweise liegt es im Interesse der Bundesrepublik Deutschland, eine stärkere Berücksichtigung dieser Gruppe zu fordern: Angesichts des prognostizierten demografischen Wandels und des damit einhergehenden Fachkräftemangels profitieren auch Betriebe von einer Verbesserung der beruflichen Qualifizierung der jungen Menschen mit Migrationshintergrund sowohl in Form der beruflichen Erstqualifizierung als auch in Form einer abschlussbezogenen Nachqualifizierung zur Fachkräfterekrutierung bzw. zur besseren Ausschöpfung von Personalressourcen (vgl. Granato/Gutschow 2005, S. 1). Spätestens seit dem Zehnten Kinder- und Jugendbericht der Bundesregierung (vgl. BMFSFJ 1998), der erstmalig eine breitere Öffentlichkeit darauf hinwies, dass „bei mehr als einem Viertel der Kinder entweder Vater oder Mutter oder beide Eltern in anderen kulturellen Zusammenhängen aufgewachsen sind als in traditionell deutschen“, ist deutlich geworden, dass der Anteil der Gruppe Jugendlicher aus Zuwanderungsfamilien weitaus höher ist, als ihn die Zahlen der amtlichen Statistiken zu ‚ausländischen Kindern‘ ausweisen.35 Neuere Untersuchungen, die das Kriterium der Zuwanderung mindestens eines Elternteils 35
Nach Daten des Statistischen Bundesamtes beträgt der Anteil „ausländischer Schüler und Schülerinnen“, d.h. derjenigen, die eine ausländische Staatsangehörigkeit besitzen, an der Gesamtschülerschaft 9,8 %. (http://www.destatis.de/basis/biwiku/schulab9.htm, abgerufen am 15.04.2004) Die amtliche Statistik der Stadt Köln weist für die 18- bis 25-Jährigen 25,6 % Ausländer, jedoch 34,7 % Personen mit Migrationshintergrund aus.
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zugrunde legen, bestätigen empirisch noch höhere Anteile als diese frühen Schätzungen. Sie kommen übereinstimmend zu dem Ergebnis, dass Jugendliche mit Migrationshintergrund ein Drittel der jugendlichen Population Deutschlands insgesamt ausmachen. In den Städten Westdeutschlands kommen sie bei den 15Jährigen sogar heute schon auf 40 Prozent. Die zugrunde gelegten Untersuchungen verweisen darauf, dass auch bei gleichen Voraussetzungen, wie sie deutsche Jugendliche besitzen, zumindest junge Menschen mit türkischem, teilweise auch mit (ehemals) jugoslawischem und/oder portugiesischem Hintergrund deutlich seltener einen Arbeitsplatz finden. Noch braucht der Arbeitsmarkt die Jugendlichen mit Migrationshintergrund nicht. Bis 2010, in manchen Regionen bis 2012, ist eine weiterhin steigende Nachfrage nach Ausbildungsstellen bei eher geringerem Angebot zu erwarten. Eine vorsorgliche Personalpolitik denkt aber in die Zukunft. Anderenfalls gehen die vielfältigen Potenziale dieser jungen Menschen verloren. Eine alternde Gesellschaft, die bereits in den nächsten Jahren vor einschneidenden demografischen Veränderungen steht, kann es sich nicht leisten, auf dieses Qualifizierungs- und Arbeitsmarktpotenzial zu verzichten (vgl. Granato/Gutschow 2005, S. 120). Außerdem ist zu fragen, wie eine Gesellschaft damit umgeht, dass 40 Prozent einer durch den Migrationshintergrund beschreibbare Gruppe durch Fehlen einer abgeschlossenen Berufsausbildung weitgehend vom Arbeitsmarkt ausgegrenzt ist und ohne Qualifizierung auch ausgegrenzt bleibt. Eine große Zahl von jungen Erwachsenen (20- bis 30-Jährigen) mit Migrationshintergrund verfügt über keinen anerkannten Berufsabschluss (Troltsch 2003), das sind ca. eine halbe Million junge Menschen mit ausländischem Pass und eine nicht bekannte, aber ebenfalls erhebliche Zahl mit deutschem Pass und Migrationshintergrund. Hinzu kommen die Jugendlichen mit Migrationshintergrund und ohne Berufsausbildung, die das deutsche Bildungs- und Ausbildungssystem Jahr für Jahr neu produziert. Zuletzt ist zu fragen, ob sich eine Gesellschaft und ihr wirtschaftliches System auch weiterhin erlauben kann, das kulturelle Kapital, das die eingewanderten Personen mitgebracht haben und über das zumindest teilweise auch heute noch deren Kinder und Kindeskinder verfügen, weiterhin zu vergeuden, statt es für das Leben in einer globalisierten Gesellschaft zu nutzen. In diesem Zusammenhang muss noch einmal sehr nachdrücklich an die Potenziale erinnert werden, die durch die Einwanderung zugeflossen sind. Es ist eine neue Ausbildungspolitik zu wünschen und zu erhoffen, in der diese Potenziale erkannt, gepflegt und erweitert werden. „Zuwanderung“, so hieß es schon 1994 im „Manifest der 60“, „kann ein Beitrag zur Lösung innerer Probleme nur dann sein, wenn einheimische Mehrheit und zugewan-
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derte Minderheiten neben- und miteinander leben können. Das verlangt von beiden Seiten ein gewisses Maß an Integrationsbereitschaft. Sie hat kulturelle, aber auch ökonomische Voraussetzungen: Am günstigsten sind sie, wenn Einwanderer wirklich gebraucht werden, für ihren eigenen Lebensunterhalt sorgen und ihren Beitrag zur Sicherung des Generationenvertrages leisten können. Umgekehrt kann Migration auch destabilisierend wirken, wenn die Mehrzahl der Zugewanderten auf Sozialleistungen angewiesen bleibt und am Rande der Gesellschaft, in einer Gettosituation oder gar in der Illegalität lebt. Bildung und Ausbildung stellen die Voraussetzungen dafür dar, dass sich die vergangene und die neu zu erwartende Zuwanderung als Problemlösung für die deutsche Gesellschaft insgesamt erweist.“ (Bade 1994, S. 15)
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Vom Ausländer zum „Menschen mit Migrationshintergrund“
Die Interventionsstrategien zur Verbesserung der Ausbildungsbeteiligung junger Migrantinnen und Migranten im Rahmen eines Bundesprogramms der Benachteiligtenförderung können sinnvoll nur präsentiert werden, wenn zunächst geklärt wird, wer dieser Zielgruppe zugerechnet wird. Dazu ist ein Blick auf die neuere Geschichte der Bundesrepublik Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg und das Selbstverständnis der deutschen Gesellschaft notwendig, wie es in Grundgesetz, Staatsbürgerschaftsrecht, Ausländergesetzgebung und Zuwanderungsgesetz seinen Niederschlag gefunden hat. Nur so kann man auch den öffentlich geführten Integrationsdiskurs und dessen Entwicklung entsprechend einordnen. Durch den direkten Bezug zum deutschen Volk stellt das Grundgesetz fest, dass Deutschland das Land der Deutschen sei. Das Staatsbürgerschaftsrecht beruht folgerichtig auf dem Abstammungsrecht und nicht, wie etwa in Frankreich, auf dem Territorialrecht. Deutscher ist also nur, wer entweder eine unverheiratete Mutter mit deutscher Staatsangehörigkeit oder als eheliches Kind einen Vater mit deutscher Staatsangehörigkeit besitzt. Ende der 90er Jahre erst wurde eine gewisse Öffnung für Kinder vorgenommen, die auf deutschem Boden als Kinder von Ausländern geboren werden, welche mindestens seit acht Jahren mit geregeltem Aufenthaltsstatus und Arbeitsverhältnis in Deutschland leben. Diese Kinder haben das Recht auf deutsche Staatsbürgerschaft. 1
Der Beitrag beruht auf Ergebnissen der Projekte im Migrationsschwerpunkt des Programms „Kompetenzen fördern – Berufliche Qualifizierung von Zielgruppen mit besonderem Förderbedarf (BQF-Programm) des Bundesministerium für Bildung und Forschung. Das Programm wurde zwischen November 2001 und Dezember 2006 durchgeführt und befindet sich derzeit in einer Transferphase. Es wurden insgesamt 136 Vorhaben gefördert. Zur wissenschaftlichen Begleitung und prozessbegleitenden Evaluation der 17 Modellprojekte und der zehn Beruflichen Qualifizierungsnetzwerke auf kommunaler, regionaler und Landesebene im Migrationsschwerpunkt wurde für die Laufzeit des Programms die Initiativstelle Berufliche Qualifizierung von Migratinnen und Migranten (IBQM) im Bundesinstitut für Berufsbildung (BIBB) ins Leben gerufen. Die Autorin hat IBQM von Februar 2002 bis Ende September 2006 geleitet.
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Eine Einbürgerung ist möglich, aber mit hohen Auflagen verbunden. Außerdem ist eine doppelte Staatbürgerschaft nur mit Staaten möglich, die das Territorialrecht praktizieren, so dass viele in Deutschland lebende Ausländer eine Einbürgerung nicht anstreben, wenn sie die Staatsbürgerschaft ihres Herkunftslandes aufgeben müssen. Die deutsche Gesetzgebung bestimmt also bereits, „wer nicht dazu gehört“. Bezogen auf „Personen mit Migrationshintergrund“, entsteht aufgrund des Abstammungsrechts eine Ungleichbehandlung, da die Aussiedler und Spätaussiedler deutscher Abstammung die deutsche Staatsbürgerschaft erhalten und damit den Anspruch auf Eingliederungshilfen, welche den Arbeitsmigranten der 60er Jahre und ihren Nachkommen zum Beispiel nicht zustehen. Somit wird auch die ideologische Unterscheidung zwischen „Heimkehrern“ und Einwanderern festgeschrieben. Der Streit um das Zuwanderungsgesetz betrifft daher auch nur die eingewanderten Nicht-Deutschen, während man sich in Zeiten des Kalten Krieges um die Deutschen in den sowjetischen Republiken bemühte und ihre Ausreise durch die Gewährung nicht rückzahlbarer Kredite oder sonstiger Geldleistungen zu ermöglichen suchte (vgl. Bade/Oltmer 2004). Im Laufe der Jahre änderte sich auch durch die EU-Erweiterung der Status der Arbeits-Migranten: Aus Einwanderern (aus Italien, Spanien, Griechenland beispielsweise) wurden EU-Bürger mit den entsprechenden Niederlassungs- und Freizügigkeitsrechten. Statistisch erfasst wurden bis zum letzten Mikrozensus im Jahre 2005 nur die Ausländer ohne deutschen Pass. 2005 ist die Kategorie des „Migrationshintergrundes“ eingeführt worden, die auch schon bei der PISA-Studie eine Rolle spielte. Über die Herkunft von Eltern und Großeltern und die jeweilige Familiensprache wird der „Migrationshintergrund“ festgestellt. Statt 10 Prozent Ausländer wurde nun ein Anteil von 20 Prozent Menschen mit Migrationshintergrund festgestellt (vgl. Bildungsbericht 2006). 2
Die Bildungsbenachteiligung Jugendlicher mit Migrationshintergrund
Da viele Migrantenfamilien in sozialen Brennpunkten leben, wo sie für einen, verglichen mit dem Bundesdurchschnitt, erheblich höheren Anteil der Migrantenbevölkerung sorgen (zwischen 40 % und 100 %, wie etwa in Berlin), sind ihre Kinder auch im schulischen Bereich gehandikapt. Sie finden sich in Haupt- und Sonderschulen wieder, denen sie in der Mehrzahl nach der Grundschule zugewiesen werden. Ihre Eltern kennen das deutsche System in der Regel zu wenig, um ihre Kinder unterstützen zu können, was ihnen gemeinhin als Bildungsferne ausgelegt wird, obwohl viele von ihnen nachgewiesenermaßen in der Bildung
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durchaus die Zukunftschancen ihrer Kinder sehen. Zu wenig wird dabei der Tatsache Rechnung getragen, dass sie aus anderen (Lern-)Kulturen kommen, in denen, wie beispielsweise in der Türkei, Eltern in der Schule nicht nur nicht erwünscht sind, sondern im gesellschaftlichen Verständnis der Staat die Aufgabe hat, die schulische Erziehung ohne Mithilfe der Eltern zu gewährleisten. Die konstante Weigerung der deutschen Gesellschaft, sich als Einwanderungsgesellschaft zu begreifen, hat auch über Jahre hinweg verhindert, dass nachziehende Ehefrauen und Kinder von Arbeitsmigranten die notwendige Unterstützung erhalten haben, die es ihnen erlaubt hätte, mehr über die deutsche politische Kultur zu erfahren und sich, insbesondere zugunsten des Schulerfolgs der Kinder, besser einbringen zu können. Erschwerend kommt hinzu, was unter dem Stichwort „institutionelle oder strukturelle Diskriminierung“ diskutiert wird. So hat man anhand von Sekundäranalysen der Daten aus der PISA-Studie festgestellt, dass die alleinige Berücksichtigung der unterrichtsnahen Kompetenzen, wie beispielsweise Lesen und Mathematik, gerade bei Jugendlichen mit Migrationshintergrund vorhandene übergreifende, eher informell erworbene Kompetenzen, wie z.B. die Problemlösungskompetenz, in den Hintergrund drängt und damit den Blick für vorhandene Potenziale verstellt (vgl. Walter u.a. 2006). Hinzu kommt, dass die schulische Leistung in vielen Fällen gegenüber anderen, sozial motivierten Überlegungen (die Hauptschule „genügt“ für Migrantenkinder, denen zu Hause die Unterstützung fehlt … ist ein in empirischen Studien immer wieder auftauchendes Argument) bei der Schulorientierung sogar eine untergeordnete Roll spielt. So gibt es, wie im Bildungsbericht 2006 dokumentiert, nachweisbar die Tendenz, leistungsstärkere Jugendliche mit Migrationshintergrund dennoch Hauptschulen oder bestenfalls Realschulen zuzuweisen, während Kinder aus deutschen Mittestandsfamilien, deren Eltern Beamte, Lehrer, Hochschullehrer, Mediziner oder Rechtanwälte sind, auch mit schlechteren Ergebnissen ohne weiteres mit einer Gymnasialempfehlung rechnen können. Unterforderte Jugendliche, denen der Zugang zur gymnasialen Sekundarstufe aufgrund der viel getadelten Selektivität des deutschen Bildungssystems verwehrt bleibt, verlieren die Lust an der Schule und wenden sich anderen Aktivitäten zu. Schulversagen oder Schulabbruch sind daher bei Jugendlichen mit Migrationshintergrund in den seltensten Fällen auf mangelnde Intelligenz zurückzuführen. Versagte Anerkennung, Nichtbeachtung sind die Hauptgründe für die Abkehr von der Schule. Was intensive Auseinandersetzung und Projektarbeit mit diesen Jugendlichen bewerkstelligen können, wird in einem Film mit achtbis 16-jährigen Schülern aus Neuköllner und Kreuzberger Hauptschulen eindringlich vorgeführt. Der Film handelt von der Aufführung des Balletts Sacre du Printemps von Igor Strawinski durch die Berliner Philharmoniker unter Simon
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Rattle in Kooperation. Das Besondere an dieser Aufführung: Sie wurde vom Choreographen Royston Maldoon mit eben diesen Schülern einstudiert – eine gemeinsame Aufführung in einer so renommierten Einrichtung wie der Berliner Philharmonie, einem normalerweise unerreichbaren Ort, als ehrgeiziges Ziel der Künstler, die den Schülerinnen und Schülern nicht nur die Choreographie nahe bringen, sondern ihnen zunächst den Erwerb das notwendigen Könnens von professionellen Tänzern ermöglichen müssen. Welch eine komplexe Herausforderung, die die normalen schulischen Anforderungen an Einsatzbereitschaft, Disziplin, Unterordnung unter die Gruppe in unvorhergesehenem Ausmaß überschreitet. Das „Wir haben es geschafft!“ der Kleinsten am Ende des Films ist ein lebendiges Zeugnis dafür, dass die pädagogische Botschaft angekommen ist. Der Glaube der Künstler an die Fähigkeiten ihrer jungen „Kollegen“, deren neu erwachendes Selbstgefühl und Selbstbewusstsein, das Erlebnis, zu bisher als unerreichbar geglaubten Leistungen fähig zu sein, die alle, gleich welcher Herkunft, vom gleichen Nullpunkt an in derselben Zeit erbringen mussten, um etwas Gemeinsames zu schaffen, und die öffentliche Anerkennung dieser Leistung bei der Aufführung – das sind Voraussetzungen, die Bildung innerhalb unseres Systems schaffen müsste, wenn die von der Wirtschaft geforderten Schlüsselqualifikationen ebenso wie die für die Aufrechterhaltung einer lebenswerten Gesellschaft unabdingbaren ausgebildet werden sollen. Meist unbewusste Ängste und Vorurteile führen aber gerade bei den Verantwortlichen in der Wirtschaft, in Kammern und Betrieben in vielen Fällen dazu, dass Jugendliche mit Migrationshintergrund auch trotz guter Deutschkenntnisse und guter Noten keinen Ausbildungsplatz bekommen. Experimente mit Bewerbungen, die einmal mit deutschem Namen und einmal mit ausländischem Namen an dieselben Firmen geschickt wurden, beweisen diese These: Derselbe Lebenslauf, der beim ausländischen Namen abgelehnt wurde, fand mit dem deutschen Namen Anklang. Firmen, die mit der Nutzung so genannter objektiver Tests die Überzeugung verbinden, dass alle Aspiranten für einen Ausbildungsplatz gleich behandelt werden, verkennen dabei, dass außerfachliche Faktoren, wie beispielsweise die sprachliche Formulierung von Mathematikaufgaben, der schnelle Rhythmus von Multiple-choice-Tests etc. die Leistungen der Schüler mit Migrationshintergrund beeinträchtigen können. Sprache spielt also, obwohl nicht die alleinige, so doch eine wichtige Rolle beim Versagen in der Schule und bei der Bewerbung um Ausbildungsplätze. Immer mehr Sprachförderungsmaßnahmen in Vorschule und Grundschule sollen in präventiver Absicht die Bildungsbeteiligung der Kinder mit Migrationshintergrund und zugleich auch der sozial benachteiligten deutschen Kinder, die ebenfalls große sprachliche Defizite haben, ab der Grundschule verbessern.
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Am Beispiel der jungen Spätaussiedler, die meist, ohne es zu wollen, mit ihren Eltern nach Deutschland auswandern mussten, ist allerdings deutlich erkennbar, dass die Staatsbürgerschaft und die deutsche Abstammung keine hinreichenden Voraussetzungen für den Weg in die deutsche Gesellschaft sind. Die traumatische Erfahrung von Fremdheit, das böse Erwachen aus dem Traum der Eltern vom Paradies Deutschland stellt für die jungen Russlanddeutschen ein größeres Hindernis für Integration dar als für viele junge Türkinnen und Türken. Die Flucht in die eigene Gruppe, in Sucht, Alkohol und Kriminalität sind Folgen einer unzureichenden Problemwahrnehmung und -lösung seitens der zuständigen Stellen, aber auch einer zu eingeschränkten Kapazität. Das französische Beispiel erhärtet diese Sicht, da die Jugendlichen der Vorstädte in der Regel aufgrund der Geburt in Frankreich sowohl die französische Staatsangehörigkeit besitzen, als auch sehr gut Französisch sprechen, sich aber dennoch ausgeschlossen fühlen. Ulrike Hormel und Albert Scherr (2005) entwerfen ein sehr umfassendes und differenziertes Bild institutioneller Diskriminierung im deutschen Bildungsund Ausbildungssystem, das durch den Vergleich mit schulischen Integrationsansätzen in anderen europäischen Ländern in ihrem Buch „Bildung für die Einwanderungsgesellschaft“ noch ein besonderes Profil bekommt. Da es aber jahrelang versäumt wurde, sich in Kindergarten und Schule auf diese Situation adäquat einzustellen und vorbeugend tätig zu werden, ist das Problem beim Verlassen der Hauptschule am dramatischsten. Die ohnehin zurückgehende Zahl an Ausbildungsplätzen wird mehrheitlich von deutschen Jugendlichen besetzt. Der Verlust von Ausbildungsplätzen durch Globalisierungsfolgen (Konkurse, Änderung von Unternehmensstrategien, die Ausbildung nicht mehr rentabel erscheinen lassen – Stichwort: Delokalisierung –, der Verdrängungswettbewerb zwischen den Abgängern der verschiedenen Schultypen zugunsten der Abiturienten, insbesondere in den zukunftsorientierten Bereichen, in denen sich die Anforderungen an die Fähigkeit zu abstraktem Denken erhöht haben) verschärft die Konkurrenz auf dem Ausbildungsmarkt. Dies hat zur Folge, dass das so genannte „Übergangssystem der Benachteiligtenförderung“, das vor 25 Jahren offiziell installiert wurde, immer stärker wächst und immer mehr Jugendliche, darunter auch Schülerinnen und Schüler mit guten Realschulabschlüssen, in Maßnahmenkarrieren und Warteschleifen dieses Übergangssystems landen, ohne sehr viel Chancen zu haben, wieder ins Regelsystem zurückzukehren. Nachgewiesenermaßen sind die Hauptopfer Jugendliche mit Migrationshintergrund, insbesondere Mädchen (s. Bildungsbericht 2006). Als System ist das deutsche duale Berufsbildungssystem, das – vom allgemein bildenden Schulsystem abgekoppelt – unter der Verantwortung von Kammern und Gewerkschaften nach arbeitsrechtlichen und nicht bildungspolitischen Gesichtspunkten verfasst ist, den Einwanderern in der Regel völlig fremd. Außerdem hat
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die Berufsbildung in den Herkunftsländern der meisten Migranten einen denkbar schlechten Ruf als letzte Auffangstation für diejenigen, die im allgemein bildenden Schulwesen, insbesondere in der Sekundarstufe II, versagt haben. Es ist leicht nachzuvollziehen, dass beispielsweise türkische Eltern aufgrund ihres eigenen Erfahrungshintergrundes Mühe haben, eine Berufbildung im Betrieb als besonders attraktiv anzusehen, abgesehen davon, dass sie vom Angebot an Ausbildungsberufen, insgesamt 350 an der Zahl, keine Vorstellung haben. Es verwundert daher auch nicht, dass türkische Jungen und Mädchen nur in zehn Ausbildungsberufen überhaupt vorkommen, allen voran dem Kfz-Mechaniker bei den Jungen und der Friseurin bei den Mädchen. Die Skepsis der Eltern wird außerdem von der realen Entwicklung des deutschen Bildungssystems bestätigt. In seinem Artikel zum deutschen „BildungsSchisma“ (Baethge 2006) – gemeint ist die strukturelle Trennung des allgemein bildenden und des berufsbildenden Bildungssystems mit zwei unterschiedlichen Ordnungssystemen und gesetzlichen Grundlagen: Bildungsgesetzgebung in der Zuständigkeit der Bundesländer und Arbeitsrecht in der Zuständigkeit des Bundes – verweist Martin Baethge auf die Abschottung beider Bereiche voneinander, die neueren Entwicklungen der Verwissenschaftlichung auch des beruflichen Handelns nicht mehr gerecht wird, und übt scharfe Kritik an der Reformunfähigkeit des deutschen Bildungssystems. Das veränderte Rekrutierungsverhalten der Betriebe mit ihrer Bevorzugung von Abiturienten ist daher nicht nur dem Überangebot an Auszubildenden anzulasten, sondern auch mit einem gewandelten Bedarf zu erklären. Im Zuge der demographischen Entwicklung entsteht Nachwuchsmangel. Die deutsche Gesellschaft ist daher auf die Höherqualifizierung aller auf deutschem Boden lebenden Jugendlichen angewiesen. 3
Vorstellung des Programms
Der mit der Entwicklung des 2001 vom BMBF gestarteten Programms verbundene politische Wille, die weit verbreitete Orientierung der Benachteiligtenförderung an Defiziten der Migrant(inn)en zu überwinden, schlägt sich in dem programmatischen Titel „Kompetenzen fördern“ nieder, der insbesondere für die Migranten, denen ein eigener „Innovationsbereich“ gewidmet wurde, eine besondere Bedeutung hat: Zu den üblichen sozialen Defiziten kommen durch Stereotype und Zuschreibungen (Fremd- und Selbstzuschreibungen) ethnischkulturelle und kommunikative Defizite hinzu, die den Blick auf Stärken noch mehr verstellen als bei Jugendlichen deutscher Herkunft. Die Betonung der Belange dieser Zielgruppe ist daher Produkt eines Bewusstseinsprozesses, der auch
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schon in den so genannten Migrantenbeschlüssen des Bündnisses für Arbeit vom Juni 2000 zum Ausdruck gekommen war, als nachdrücklich eine verbesserte Bildungs- und Ausbildungsbeteiligung der Migrantinnen und Migranten gefordert wurde. Eingedenk der Tatsache, dass innerhalb des Übergangssystems Migrant(inn)en oft 50 und mehr Prozent der Teilnehmer/innen von Maßnahmen ausmachen, ihnen aber vielfach wenig Aufmerksamkeit geschenkt wurde, galt es
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die Akteure des Handlungsfeldes Bildung und Berufsbildung inklusive außerschulische Berufsbildung und Jugendarbeit für die Zielgruppe und ihre Belange zu sensibilisieren, gute Ansätze zu identifizieren und modellhaft aufzubereiten, die Erfahrungen außerschulischer Träger und Projekte für eine Öffnung des Regelsystems nutzbar zu machen, präventives Handeln im allgemein bildenden Primar- und Sekundarbereich durch Zusammenarbeit zwischen Agentur für Arbeit, Bildungsträgern, Betrieben und Schulen zu fördern, durch Vernetzung von Akteuren aus der Verwaltung, den Kammern und Betrieben, den Migrantenorganisationen und Bildungsträgern auf kommunaler und regionaler Ebene eine Veränderung der strukturellen Rahmenbedingungen für eine verbesserte Bildungs- und Ausbildungsbeteiligung von Jugendlichen mit Migrationshintergrund herbeizuführen. Kompetenz feststellen und entwickeln
Der im Titel des BQF-Programms „Kompetenzen fördern“ propagierte und angestrebte Perspektivenwechsel in der Wahrnehmung benachteiligter Jugendlicher insgesamt und der Jugendlichen mit Migrationshintergrund im Besonderen legte es nahe, dass sich eine Reihe von Vorhaben dem Thema Kompetenzfeststellung zuwandte mit dem Ziel, bei den Jugendlichen positiv zu bewertende Fähigkeiten festzustellen, welche dazu dienen konnten, ihr Image bei Akteurinnen und Akteuren des Bildungs- und Ausbildungssystems zu verbessern, sich Anerkennung zu verschaffen, ihr Selbstbewusstsein zu stärken und neue Motivationen für Lernen und Arbeiten besonders bei denjenigen zu schaffen, welche auf gescheiterte Schullaufbahnen, Ausbildungen, Lebensentwürfe zurückblickten. Innerhalb von Entwicklungswerkstätten2 kamen die Projekte zu der Überzeugung, dass sowohl die Verfahren schulischer Leistungsbewertung als auch 2
Diese wurden durch die mit der wissenschaftlichen Begleitung der Projekte beauftragte Initiativstelle Berufliche Qualifizierung von Migrantinnen und Migranten im Bundesinstitut für Berufsbildung, IBQM, initiiert und koordiniert.
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leistungsunabhängige Überlegungen zu der jeweils angemessenen Schulzuweisung sich an inakzeptablen Kriterien orientieren: an stereotypen Defizitvorstellungen, die sich auch auf die „mangelnde Unterstützung durch das Elternhaus“ bezogen, sowie auch an uneingestandenen ethnisierenden Vorstellungen (nach dem Motto: „für Migrantenkinder reicht die Hauptschule, allerhöchstens aber die Realschule“) von Lehrer(inne)n und Schulverwaltung. Die Suche nach den Stärken der Kinder und Jugendlichen war demnach nicht nur eine Frage der Untersuchung individueller Kompetenzprofile. Kompetenzfeststellung findet innerhalb eines institutionellen Rahmens statt, in dem bestimmte Verwertungsinteressen der betreffenden Organisation oder Einrichtung eine zentrale Rolle spielen. Kompetenzfeststellungsverfahren (Assessment Center, Eignungstests, Einstellungstests, Profilings) haben signifikanterweise Eingang gefunden in Einstellungsverfahren und Personalentwicklung der Betriebe (vgl. Gesellschaft für Berufliche Maßnahmen e.V. 2006, Anhang I) sowie in die aktive Arbeitsmarktpolitik der Bundesagentur für Arbeit (BA), aber auch in die Verfahren zur Auswahl von Jugendlichen für Maßnahmen von Bildungsträgern der Benachteiligtenförderung. Im Zentrum steht dabei in vielen Fällen nicht die Person, deren Kompetenzen „festgestellt“ werden sollen, sondern die Selektion von Kandidatinnen und Kandidaten, die bestimmten betrieblichen beziehungsweise trägerspezifischen Interessen und Maßnahmetypen entsprechen. Die Verfahren sind vom Kontext ihrer Entstehung abhängig, so auch von den institutionellen Zielen, denen sie dienen. Infolgedessen ist gerade im Zusammenhang mit jungen Menschen mit Migrationshintergrund keine Kulturalisierung der Verfahren erforderlich, sondern eine Analyse des Übergangssystems sowie des Ausbildungs- und Arbeitsmarktes und der Einstellung der Akteure. Zu achten ist auf die Herstellung förderlicher Rahmenbedingungen für die Entdeckung und Entfaltung vorhandener Potenziale im Sinne einer umfassenden Persönlichkeitsentwicklung und Lebensbewältigungskompetenz dieser Jugendlichen. Gerade der Anschein der Objektivität, die den marktgängigen Kompetenzfeststellungsverfahren anhaftet, birgt neue Gefahren für die Ausgrenzung der Jugendlichen mit Migrationshintergrund. Die notorisch wiederkehrende Aussage von Betrieben, dass „alle gleich behandelt werden“, beruht auf dieser Vorstellung der (Kultur-)Neutralität und Objektivität von Testverfahren, deren Normativität (Kontingenz) unsichtbar bleibt. Zu betonen ist hier, dass es sich nicht um eine kulturelle Normativität handelt, sondern um eine am (zugeschriebenen) Sozialstatus orientierte Normativität innerhalb eines hierarchischen Gesellschaftsmodells auf der Grundlage ethnisch-kultureller Differenzierung. Portfolioansätze (vgl. Schweizerisches Qualifikationsbuch 2000), die Kompetenzfeststellung in einen biographischen Zusammenhang stellen, mit Kompe-
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tenzentwicklung verknüpfen und als Prozess begreifen, bieten den betreffenden Individuen die Chance, durch ein Bewusstsein vorhandener Entwicklungsmöglichkeiten diese gezielt in Angriff zu nehmen bzw. in Bewerbungssituationen entsprechend zu präsentieren. Kompetenzfeststellung und -entwicklung sind jedoch in hohem Maße interpretationsabhängig. Es besteht also ein Zusammenhang zwischen Selbst- und Fremdbild und den damit verbundenen Selbst- und Fremdzuschreibungen. Da die Orientierung an Defiziten von vielen Jugendlichen insbesondere aufgrund ihres Scheiterns im Schulsystem übernommen wird, genügt es nicht, die Begriffe lediglich umzudeuten. Nur eine entsprechende Praxis der Aushandlung von Bedeutungen, der sozialen Anerkennung und Wertschätzung innerhalb einer Organisation, die nicht nur kognitive, sondern auch emotionale Komponenten der Persönlichkeit ansprechen, können die Grundlagen dafür schaffen, dass Selbstbewusstsein entsteht und damit die Vorstellung vom eigenen Können und Wollen. Die Fähigkeit, sich in verschiedenen Kontexten zurechtzufinden und bewegen zu können, dabei aber seine Persönlichkeit zu behalten, Überzeugungen zu entwickeln und durchzusetzen, kann nur durch Mobilität erworben werden. Wichtig ist daher die Rolle der Zielgruppe bei der (Selbst-) Organisation von Lernprozessen. Die öffentliche Diskussion um das Zuwanderungsgesetz, die parallel zur Umsetzung der Vorhaben des BQF-Programms geführt wurde, verstellt den Blick für die strukturellen Probleme der Bildungsintegration der Jugendlichen mit Migrationshintergrund. Im Vordergrund des integrationspolitischen Diskurses standen und stehen die Anpassungen an die Mehrheitsgesellschaft, welche von den Personen mit Migrationshintergrund gefordert werden. Dem BQFProgramm ging es aber um einen Brückenschlag zwischen dem verselbstständigten und unübersichtlichen System der Benachteiligtenförderung und dem Regelsystem von Bildung und Ausbildung. Um die Vorhaben bei der Entwicklung innovativer Modelle zu unterstützen, deren Ziel es war, in präventiver Absicht in das Bildungs- und Berufsbildungssystem hineinzuwirken, führte die IBQM im Bundesinstitut für Berufsbildung (BIBB) so genannte Entwicklungswerkstätten durch, die zentrale Ansätze der Benachteiligtenförderung, wie beispielsweise die Individualisierung der Förderung im Zusammenhang mit Kompetenzfeststellung, aufgriffen und auf ihre Anwendbarkeit für die Zielgruppe der Migrantinnen und Migranten untersuchten. Joachim Dellbrück und Susanne Neumann waren verantwortlich für das Projekt „Differenzieung von Kompetenzfeststellungsverfahren für junge Migrantinnen und Migranten“ bei der Gesellschaft für berufliche Maßnahmen (2006) in Berlin. Dieser Bildungsträger verfügt über vielfältige Erfahrungen im Bereich der Benachteiligtenförderung, insbesondere bei der Berufsorientierung und Be-
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rufsintegration, und hat ein eigenes Kompetenzfeststellungsverfahren (P.E.A.Ce) entwickelt. Aus der Zusammenarbeit mit Berliner Trägern, die sich mit der Förderung junger Migrantinnen und Migranten beschäftigen, erwuchs die Erkenntnis, dass nicht die Verfahren an die Zielgruppe angepasst werden mussten, sondern dass ihre Anwendung zur Feststellung von Kompetenzen bei den Jugendlichen im Kontext eines Trägers, eines Betriebes oder einer öffentlichen Verwaltung reflektiert werden musste. Ein inklusionsorientiertes, Vertrauen erweckendes Klima und eine entsprechende Offenheit der Lehrer, Trainer und Ausbilder für Heterogenität und Diversität der Probanden sind Voraussetzung dafür, dass die vom Programm unterstellten Potenziale der Jugendlichen tatsächlich sichtbar gemacht und zur Entfaltung gebracht werden können. Zielgruppe der Arbeit des Projektes waren nicht die jungen Migrantinnen und Migranten selbst, sondern die Trainerinnen und Trainer, Pädagoginnen und Pädagogen in Bildungsträgern, die dafür qualifiziert werden sollten, Kompetenzfeststellung in ihrem institutionellen Kontext einzuführen. Dellbrück/Neumann haben zu diesem Zweck einen „Materialkoffer“ für die Praxis entwickelt und im Mai 2006 publiziert, der Qualitätsstandards für die Anwendung von Kompetenzfeststellungsverfahren bei Organisationen anbietet, die es Erzieherinnen und Erziehern, Pädagoginnen und Pädagogen, Personalverantwortlichen, Ausbilderinnen und Ausbildern, Beraterinnen und Beratern ermöglichen, die Materialien zielorientiert und mit der entsprechenden Sensibilität für Jugendliche und junge Erwachsene mit Migrationshintergrund einzusetzen: „Der Projektansatz basiert auf folgender Vorgehensweise: Anforderungen auf verschiedenen Betrachtungsebenen formulieren: Teilnehmer/innen (Individuen) Fachkräfte (Personal) Methodik/Didaktik Verfahren institutionelle Rahmenbedingungen existierende Verfahren zur Kompetenzfeststellung analysieren Teile der Kompetenzfeststellungsverfahren nach ihren Zielstellungen abgrenzen Differenzierungskriterien formulieren und festlegen beispielhafte Materialien entwickeln.3 3
Vgl. Gesellschaft für Berufliche Maßnahmen e.V. (2006). Die Broschüre sowie das gesamte Baukastensystem (Materialkoffer) können bei der GFBM, Reichenberger Straße 88, 10999 Berlin, oder über
[email protected];
[email protected] bezogen werden.
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In das Konzept des „Materialkoffers“ gingen auch die Ergebnisse der Diskussionen aller an der Entwicklungswerkstatt Kompetenzfeststellung und -entwicklung beteiligten Projekte ein, welche, wie z.B. die Jugendvollzugsanstalt Wiesbaden, Kompetenzfeststellung im Zugangsbereich eingeführt und erprobt haben, um die Jugendlichen gezielter an Bildungs- und Berufsbildungsangebote der Anstalt heranzuführen und damit ihren Übergang in die Freiheit und die Berufswelt zu erleichtern. Auch hier hatte die Einführung verschiedener Verfahren zur Folge, dass sich auch die Angebotsstruktur veränderte und der Qualifizierungsaspekt den arbeitstherapeutischen Aspekt immer stärker in den Hintergrund rückte. Wegweisend sind dabei Ansätze, in denen außerschulische Träger und Betriebe mit Hauptschulen zusammenarbeiten, in denen 70 Prozent der Jugendlichen mit Migrationshintergrund vertreten sind, um schulbegleitend den Jugendlichen sowohl neue Wege zum Lernen und zum Erwerb sozialer Kompetenz zu eröffnen, als auch konkrete Einblicke in die Berufswelt und ihre Anforderungen zu vermitteln. Ein besonders interessantes Modell wurde vom Projekt inVolve2 des internationalen Jugend-Kunst- und Kulturzentrums „Schlesische 27“ in Berlin-Kreuzberg entwickelt: Schülerinnen und Schüler von Hauptschulklassen der Stadtbezirke Kreuzberg und Neukölln mit sehr hohen Anteilen an Jugendlichen mit Migrationshintergrund werden schulbegleitend zur Mitarbeit in Kunstprojekten mit professionellen Künstlern eingeladen und entdecken und entwickeln bei dieser Arbeit, beispielweise bei der Vorbereitung und Durchführung von Theateraufführungen, eine Reihe von technischen und sozialen Fähigkeiten, welche in der Schule nie zum Tragen kamen. In diesem Sinne kommt dieser mit hohen Anforderungen an Teamarbeit und Engagement verbundenen Mitarbeit bei Kunstprojekten zusätzlich zur Entwicklung neuer Lebensperspektiven eine wichtige Funktion bei Berufsorientierung und Berufsvorbereitung zu, welche den Jugendlichen die Möglichkeit gibt, sich in den sechsmonatigen Praktika der Betriebe, die mit der Schlesischen 27 zusammenarbeiten, zu bewähren und auf diese Weise die Chance auf einen Ausbildungsplatz zu bekommen. Zugleich, und dies ist besonders für die Jugendlichen mit Migrationshintergrund, die an diesen Projekten beteiligt sind, von großer Bedeutung, eröffnen sich sehr oft auch Möglichkeiten des Besuchs weiterführender Bildungsgänge bis hin zur Hochschule, da neben den Hauptschülern auch Jugendliche aufgenommen werden, die ihre Orientierung im Schulsystem verloren oder selbst mit Realschulabschluss oder gar Fachabitur keinen Ausbildungsplatz gefunden haben.
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Institutionen und organisationsübergreifende interdisziplinäre Zusammenarbeit auf kommunaler Ebene
Als sehr dienlich für die Bearbeitung und Überwindung von Wahrnehmungsschranken und Berührungsängsten bei Vertreterinnen und Vertretern von Kammern, Arbeitsagentur, Kommunalverwaltung, Betrieben, Schulen und Trägern inklusive Migrantenorganisationen erwiesen sich die netzwerkbasierten Ansätze der BQN, in denen Personen aus diesen Organisationen sich meist zum ersten Mal gemeinsam mit der Bildungsintegration von jungen Migrantinnen und Migranten auseinandersetzten und an Konzepten für deren Verbesserung arbeiteten. Während dieser Zusammenarbeit wurde den Beteiligten bewusst, wie stark ihre Erwartungen an Verhalten, Präsentation, Leistung, Kommunikationsfähigkeit bei Jugendlichen vom Bild eines durchschnittlichen deutschen Mittelstandskindes geprägt waren. Vor diesem Hintergrund erklärt sich auch die Überzeugung vieler Träger und Betriebe, dass man, etwa bei der Anwendung von „neutralen Tests“, davon ausging, „alle Probanden gleich zu behandeln“. Ausgrenzung, die auf anderen als Kompetenzkriterien beruhte, aber von den Beteiligten in der Regel verdrängt wird, war die Folge. Stellvertretend soll hier ein Ansatz kommunaler Schulentwicklung präsentiert werden, welcher vom BQN Stuttgart innerhalb des Teilnetzwerks Schule konzipiert und erprobt wurde. Es soll nun in Zusammenarbeit mit der Stabsabteilung Integrationspolitik der Stadt Stuttgart als kommunales Schulentwicklungsprogramm realisiert werden. Die Projektleiterin des BQN Stuttgart, Wiltraud Paule, ENAIP, hat dieses Programm unter dem Titel „Schulentwicklung in kulturell und sprachlich vielfältigen Schulen im Rahmen des BQN Stuttgart“ als Tischvorlage für den Internationalen Ausschuss des Stuttgarter Gemeinderats im Oktober 2006 veröffentlicht. „Ziel dieser Arbeit ist die Verabschiedung eines Konzepts zur kommunalen Schulentwicklung durch die Landeshauptstadt Stuttgart.“ (S. I) Die Philosophie dieses inklusionsorientierten und auf den Umgang mit Heterogenität ausgerichteten Konzepts schulischer Organisationsentwicklung wird in den von der Autorin zitierten Leitfragen eines 2004 von Mechthild Gomolla gehaltenen Vortrags verdeutlicht: „Wie ist das institutionelle Setting im Unterricht, im Schulhaus sowie im Schulumfeld zu gestalten, um das Lernen aller Kinder zu fördern und allen gleiche Bildungschancen zu gewährleisten? Und wie können schulische Lernkulturen ermutigt werden, in denen Fragen der ethnischen Gleichheit und Diskriminierung kein Randthema mehr bleiben, sondern Prozesse des ‚doing and learning about difference and power‘ zur praktischen Herausforderung in den Institutionen werden bei der Erfüllung ihres regulären Geschäfts?“ (Paule 2006, S. 14)
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Ausgehend von einem innerhalb des BQN Stuttgart entwickelten Bottomup-Modells netzwerkbasierter Intervention, präsentiert Wiltraud Paule Empfehlungen für ein Gesamtkonzept kohärenter kommunaler Bildungsförderung als integralem Bestandteil der Stadtentwicklungspolitik mit dem Ziel einer Verbesserung der Standortqualität (vgl. Paule 2006, S. 17). Wesentlicher Bestandteil ist dabei die Formulierung kommunaler Bildungsziele: „Auch wenn die Bildung in der primären Zuständigkeit des Landes liegt, wird Stuttgart den Standortfaktor ‚Bildung‘ nur dann auf hohem Niveau erhalten (...), wenn die Stadt die kommunalen Bildungsziele explizit formuliert und die Zielerreichung zu einer vorrangigen Aufgabe macht. Chancengerechtigkeit an den Schulen, bessere Qualität des pädagogischen Angebots zum Erwerb von Fähigkeiten und Fertigkeiten für alle Schüler, insbesondere in der Grund- und Hauptschule, Sicherung der Voraussetzungen für kompetenzbasierte Bildungsbiographien, die nicht durch kompetenzferne Selektionsmechanismen behindert werden, sind solche Ziele, deren Erreichung mit einem Set von Indikatoren empirisch überprüfbar sein muss.“ (Paule 2006, S. 18) Begleitend soll ein Bildungsmonitoring in Form eines jährlichen Bildungsberichts, der den traditionellen Schulbericht ersetzt, auch eine Differenzierung der statistischen Basis für Personen mit Migrationshintergrund und eine Berücksichtigung der sehr unterschiedlichen Teilgruppen ausweisen (vgl. Paule 2006, S. 19). Besonders bedeutsam ist hierbei die Warnung „vor einer ausschließlich output-orientierten Bildungsberichterstattung, die ausschließlich die Bildungserfolge einzelner Handlungskonzepte, Maßnahmen oder Bildungseinrichtungen erfasst“, da dies zu einer „Aussonderung schwieriger Schülerinnen und Schüler“(...) bzw. zu einer Vergrößerung der Unterschiede zwischen den Schulen“ führen kann. (Paule 2006, S. 19) Die Netzwerkerfahrung im Rahmen der BQN hat gezeigt, dass auf kommunaler Ebene „eine Vielzahl unterschiedlicher Akteure in Stadt, Region und Land an der Entwicklung von Bildungs-, Schul-, und Unterrichtskonzepten und ihrer Umsetzung sowie an der Definition von Bildungserfolg (z.B. Ausbildungsreife, Anerkennung von ausländischen Bildungs- und Ausbildungsabschlüssen oder Sprachkompetenz) beteiligt sind. Einige relevante Akteure – wie z.B. Migrant(inn)enorganisationen – sind aber noch weitgehend davon ausgeschlossen.“ (Paule 2006, S. 19) Das von der Autorin vorgeschlagene Bottom-upModell der Entwicklungsarbeit – von der Praxis zur Bildungspolitik – setzt auch eine „Kooperation der Kommune mit der Bildungspolitik des Landes in Bezug auf die ‚inneren Angelegenheiten‘ der Schule“, eine „Beteiligung von Fachkräften mit Migrationshintergrund“ voraus. Gleiches gilt auch für eine bessere „Verzahnung der Kooperationsstrukturen in Erziehung, Bildung und Ausbildung zur Verbesserung der Übergänge im Bildungs- und Ausbildungsweg, insbesondere Elementarbereich und Schule, allgemein bildende und beruflichen Schulen,
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Schule und Wirtschaft, Schule und Übergangssystem U 25“. (Paule 2006, S. 19 f.) Schließlich fordert Wiltraud Paule die Entwicklung von „Unterstützungssystemen für die Organisations- und Personalentwicklung von Bildungseinrichtungen“. Damit sind sämtliche Angebote für Fachkräfte von Bildungseinrichtungen gemeint, welche die Konzipierung, Umsetzung und Auswertung von Bildungsund Beratungsarbeit und die Kooperation zwischen den Akteuren erleichtern und verbessern. Das wären beispielsweise Anreize und Anerkennung für Individuen und Einrichtungen, wie z.B. die Bindung von Ressourcenzuweisungen an das Vorliegen einschlägiger Schulprogramme, Gewinnung engagierter Lehramtsstudentinnen und -studenten, Lehrerinnen und Lehrer durch eine neue Öffentlichkeitsarbeit für den Beruf, insbesondere eine Ermutigung von Migrantinnen und Migranten zum Ergreifen dieses Berufs parallel zu einer Überzeugungsarbeit bei den Schulen, Fachkräfte mit Migrationshintergrund bevorzugt einzustellen. Qualifizierung und Beratung, Aufbau und Pflege von institutionsinternen und -übergreifenden Partnerbeziehungen, benutzerfreundlich aufbereitete Informationen und ihre Wartung sowie eine Evaluierung der angebotenen Maßnahmen zur Unterstützung von Schulleitungen, Kollegien und allen außerschulischen Kooperationspartnern, bezogen auf ihre Angemessenheit und Problemlösungsqualität, sind weitere wichtige Elemente der Gesamtstrategie (vgl. Paule 2006, S. 20). Am kompliziertesten war es für die in den BQN-Netzwerken mitarbeitenden Vertreterinnen und Vertreter der Arbeitsagenturen, Kammern, Träger, Betriebe und der Kommunalverwaltung, zu erkennen und zuzugeben, dass stereotype Vorstellungen, geheime Ängste und antizipierte Risiken die Auswahl von Bewerberinnen und Bewerbern mit Migrationshintergrund – meist unbewusst – beeinflussten und zur vorzeitigen Ausgrenzung führten. Die Mechanismen institutioneller Diskriminierung etwa durch den Einsatz so genannter neutraler Testbatterien durch die „aufnehmenden Institutionen“, bei welchen die Schulabgängerinnen und -abgänger landen, sind nach der BQN-Erfahrung für den Zugang zur Ausbildung, gerade für Jugendliche mit Migrationshintergrund, zentrale Hürden, welche sie bei gleicher Qualifikation gegenüber deutschstämmigen Jugendlichen benachteiligen. Das Bild wird ergänzt durch die als „Bildungsferne“ bezeichnete Unkenntnis der Eltern und Angehörigen dieser Jugendlichen, die in Wirklichkeit eher auf eine fehlende Sozialisation im deutschen Bildungssystem zurückzuführen ist. Schulkulturen in anderen Ländern, wie z.B. in der Türkei, aber auch in einem EU-Land wie Frankreich, halten Eltern bewusst von Schulkontext fern, da die Erziehung als Aufgabe des Staates verstanden wird. Eltern mit diesem gesellschaftlichen Erfahrungshintergrund haben daher keine Vorstellung von Beteiligungsmöglichkeiten am Schulgeschehen oder gar der
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aktiven Rolle, welche sie bildungsbegleitend wahrnehmen sollen. Hier kommt den Fachkräften mit Migrationshintergrund eine bedeutende Rolle als Mittler zu. Die BQN-Erfahrung unterstreicht die Notwendigkeit, kommunale Verantwortungsgemeinschaften als Instrumente der verbesserten Bildungsintegration Jugendlicher mit Migrationshintergrund zu entwickeln. Dieser von Wilfried Kruse4 geprägte Begriff spielt eine wichtige Rolle bei der notwendigen Öffnung der mit Bildung, Ausbildung und Arbeitsmarkt befassten Institutionen. Die Entwicklung und Erprobung von Konzepten innerhalb konkreter Organisationskontexte, Sozialräume und Institutionen übergreifender Netzwerke erlaubte es, zwischen konsequenter Zielgruppenorientierung und Umgang mit Heterogenität unter Einbeziehung auch der deutschstämmigen Jugendlichen eine Brücke zu schlagen: Die geschärfte Aufmerksamkeit für die Zielgruppe führte daher nicht zu einer Sonderbehandlung. Sie diente vielmehr dazu, beispielsweise die schulbegleitenden Angebote so zu konzipieren, dass Jugendlichen mit Migrationshintergrund die notwendige Aufmerksamkeit und Anerkennung zuteil wurde, indem man ihnen Möglichkeiten eröffnete, ihre Fähigkeiten zu entfalten und sich aktiv in die Arbeit einzubringen. Eine inklusionsorientierte Strategie beinhaltet aber gleichzeitig die Einbeziehung aller Kinder und Jugendlichen im allgemein bildenden und berufsbildenden Schulsystem und in der dualen Berufsausbildung (vgl. BMBF 2006). Quellen und Literatur Bade, Klaus J./Oltmer, Jochen (2004): Normalfall Migration. Deutschland im 20. und frühen 21. Jahrhundert (hg. v. der Bundeszentrale für politische Bildung), Bonn Baethge, Martin (2006): Das deutsche Bildungs-Schisma: Welche Probleme ein vorindustrielles Bildungssystem in einer nachindustriellen Gesellschaft hat, in: SOFI-Mitteilungen 34, S. 13–27 BMBF (2006): Modelle und Strategien zur Verbesserung der Bildungsbeteiligung von Jugendlichen mit Migrationshintergrund: Ergebnisse der Initiativstelle Berufliche Qualifizierung von Migrantinnen und Migranten (IBQM) beim Bundesinstitut für Berufsbildung (BIBB), Band III der Schriftenreihe Kompetenzen fördern – berufliche Qualifizierung von Zielgruppen mit besonderem Förderbedarf des Bundesministeriums für Bildung und Forschung, Berlin u.a. 4
Sozialforschungsstelle Dortmund, Experte von IBQM bei der prozessbegleitenden Evaluation der BQN. Im Rahmen der Aktivitäten der Freudenbergstiftung zur Verbesserung der Bildungsund Berufsintegration benachteiligter Jugendlicher auf kommunaler Ebene hat Herr Kruse dieses Konzept entwickelt. Die Erfahrungen der BQN dienen dabei gewissermaßen als Meßlatte für Weiterentwicklungen auf kommunaler Ebene, die auch vom Bundesministerium für Bildung und Forschung unterstützt werden.
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Gesellschaft für Berufliche Maßnahmen e.V. (2006): Modellprojekt: Differenzierung von Kompetenzfeststellungsverfahren für (junge) Migrant(inn)en, Berlin Hormel, Ulrike/Scherr, Albert (2005): Bildung für die Einwanderungsgesellschaft. Perspektiven der Auseinandersetzung mit struktureller, institutioneller und interaktioneller Diskriminierung (hg. v. der Bundeszentrale für politische Bildung), Bonn Paule, Wiltraud (2006): Schulentwicklung in kulturell und sprachlich vielfältigen Schulen im Rahmen des BQN Stuttgart. Tischvorlage für den Internationalen Ausschuss des Stuttgarter Gemeinderats im Oktober 2006, Stuttgart Schweizerisches Qualifikationsbuch (2000): Portfolio für Jugendliche und Erwachsene zur Weiterentwicklung in Bildung und Beruf. Arbeitsanleitung, Nachweise, Notizen. Gesellschaft CH-Q. Schweizerisches Qualifikationsprogramm zur Berufslaufbahn, 2., erw. Aufl., Zürich Walter, Oliver/Ramm, Gesa/Zimmer, Karin/Heidemeier, Heike/Prenzel, Manfred (2006): PISA 2003 – Kompetenzen von Jungen und Mädchen mit Migrationshintergrund in Deutschland: ein Problem ungenutzter Potentiale? Unterrichtswissenschaft, 34 (2), 146–169
Erfahrungen, Strategien und Potenziale von Akademikerinnen mit Migrationshintergrund Erfahrungen, Strategien und Potenziale von Akademikerinnen mit Migrationshintergrund
Schahrzad Farrokhzad
Der in Deutschland geführte Einwanderungsdiskurs ist immer noch in einem hohen Maße bestimmt durch Klagen über mangelnde Deutschkenntnisse und andere Qualifikationsmängel bei Migrationsjugendlichen und ihren Familien, über Parallelgesellschaften und Gewaltbereitschaft sowie über Tendenzen von Traditionalismus und Frauenfeindlichkeit, die insbesondere muslimischen Einwandererfamilien zugeschrieben werden. Insofern dominiert ein defizitorientierter Blickwinkel die aktuellen Debatten über Migration (vgl. Hormel/Scherr 2005, S. 12 ff.; Rommelspacher 2002, S. 141 ff.; Farrokhzad 2002, S. 75 ff.). Dabei lässt sich bei genauerem Hinsehen feststellen, dass mit Blick auf die Bildungs- und Arbeitsmarktchancen von Jugendlichen, Frauen und Männern mit Migrationshintergrund in Deutschland in zweierlei Hinsicht ein immer dringender werdender Handlungsbedarf besteht: Auf der einen Seite gibt es, wenn man sich die alarmierenden Zahlen zur Schulbildung und zum Ausbildungsmarkt ansieht, tatsächlich eine im Vergleich zu deutschen Jugendlichen überproportional große Zahl Jugendlicher mit Migrationshintergrund, die aufgrund mangelnder Schulbildung bzw. mangelnder Schulabschlüsse kaum eine Chance auf eine halbwegs aussichtsreiche berufliche Zukunft haben. Diese große Gruppe von „Bildungsverlierer(inne)n“ mit Migrationshintergrund steht im Fokus öffentlicher Einwanderungsdebatten.1 Hierzu gehören nicht nur diejenigen ohne Schulabschluss und mit Sonderschulabschluss, sondern auch zunehmend diejenigen mit Hauptschulabschluss, wenn 1
Im Schuljahr 2004/2005 besuchten 36,2 % aller im Schulwesen befindlichen Migrationsjugendlichen eine Hauptschule, 17,5 % eine Realschule, 17,6 % ein Gymnasium und 12,6 % eine Gesamtschule, wobei die Mädchen prozentual etwas besser abschneiden als die Jungen, was übrigens auch in der deutschen Schülergruppe der Fall ist. Ungefähr so viele deutsche Jugendliche besuchen ein Gymnasium wie Migrantenjugendliche eine Hauptschule. Anteilig ungefähr doppelt so viele Migrationsjugendliche wie Deutsche besuchen eine Sonderschule. Diese Entwicklungen werden unter anderem darauf zurückgeführt, dass der Anteil der Migrationsjugendlichen aus Arbeiterfamilien im Durchschnitt weit höher liegt als derjenige der deutschen Jugendlichen. Somit ist die Repräsentanz der Migrationsjugendlichen im deutschen Schulsystem am ehesten mit derjenigen der deutschen Schülerschaft aus dem Arbeitermilieu vergleichbar. Dies unterstreicht, wie auch die PISA-Studien zeigten, die hohe soziale Selektivität im deutschen Schulsystem.
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man bedenkt, dass Betriebe und Institutionen mittlerweile nur noch einem relativ geringen Teil der Hauptschulabsolvent/innen (mit und ohne Migrationshintergrund) einen betrieblichen Ausbildungsplatz zur Verfügung stellen (vgl. BoosNünning 2006, S. 16 ff. sowie den Beitrag von Boos-Nünning im vorliegenden Band). Die Ursachen hierfür sind vielfältiger, als allgemein behauptet wird: Für mangelnde Sprachkenntnisse und geringe Bildungsabschlüsse können nicht ausschließlich die Einwandererfamilien verantwortlich gemacht werden. Vielmehr müssen auch die Strukturen des Bildungssystems kritisch beurteilt werden. Es sind Reformprozesse einzuleiten, die der durch die PISA-Studien belegten hohen sozialen Selektivität des Schulsystems entgegenwirken und zudem die ebenfalls mittlerweile einschlägig nachgewiesenen ethnischen Diskriminierungen auf struktureller wie auch individueller Ebene innerhalb des Schulsystems (vgl. Radtke/Gomolla 2002; Weber 2003), aber auch auf dem Ausbildungsmarkt (Boos-Nünning 2006; Granato 2004) verhindern.2 Darüber hinaus besteht ebenfalls dringender (bildungs- und arbeitsmarktpolitischer) Handlungsbedarf, wenn man die Gruppe der Bildungsaufsteiger/innen und der qualifizierten Quereinsteiger/innen3 mit Migrationshintergrund ins Visier nimmt. Im Gegensatz zu der vorhin beschriebenen Gruppe sind die bildungserfolgreichen Frauen und Männer mit Migrationshintergrund im dominierenden Einwanderungsdiskurs nach wie vor weitgehend unsichtbar. Dabei haben nicht wenige von ihnen eine hohe Motivation und eine ebenso hohe Frustrationstoleranz bewiesen, indem sie (als Bildungsaufsteiger/innen) sich nicht selten trotz struktureller Barrieren (wie z.B. der Übergangspassage zu weiterführenden Schulen) und Vorurteilen aufgrund ihrer Herkunft – und dies zum Teil mit vergleichsweise wenig schulbezogener fachlicher Unterstützung von außen – durch das Schul- und Ausbildungssystem gekämpft, Abitur gemacht und ein 2
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Das Bundesinstitut für Berufsbildung (BIBB) hat überdies mittlerweile nachgewiesen, dass auch bei gleicher Schulqualifikation auf dem Ausbildungsmarkt die Migrant(inn)en schlechter abschneiden als deutsche Bewerber/innen. 29 % aller deutschen Hauptschulabgänger/innen finden einen Ausbildungsplatz – bei den Migrationsjugendlichen sind es nur 25 %. Besonders problematisch ist jedoch, dass mit steigendem Schulabschluss die Chancen der Migrationsjugendlichen gegenüber den Deutschen mit steigendem Schulabschluss weiter auseinanderklaffen: Während von den deutschen Realschulabsolvent(inn)en immerhin 47 % einen betrieblichen Ausbildungsplatz finden, sind es bei den Migrationsjugendlichen mit Realschulabschluss nur 34 % (BIBB, zit. nach Boos-Nünning 2006, S. 16 ff.; vgl. auch den Beitrag von Gisela Baumgratz-Gangl im vorliegenden Band). Dies bestätigt die auch meiner Dissertation zugrunde liegende Annahme, dass selbst Bildungserfolg den Migrantinnen im Hinblick auf eine angemessene Arbeitsmarktintegration zu wenig zugute kommt. Als Bildungsaufsteiger/innen bezeichne ich diejenigen bildungserfolgreichen Personen mit Migrationshintergrund, die in Deutschland aufgewachsen sind, die gesamte Schullaufbahn hier absolviert haben und deren Herkunftsfamilie aus dem Arbeitermilieu kommt. Mit Quereinsteiger/innen meine ich die Personen mit Migrationshintergrund, die einen Teil ihrer Bildungslaufbahn im Ausland absolviert haben und dann in die Bundesrepublik eingewandert sind.
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Studium aufgenommen haben. Bei vielen Quereinsteiger/innen kommen – je nach Alter und Ausbildungsstand zum Zeitpunkt der Einwanderung und je nach Bundesland – die mangelnde Anerkennung von Bildungsabschlüssen (dies betrifft insbesondere diejenigen aus sog. Schwellen- und Dritte-Welt-Ländern) und die Verweise auf im Vergleich zum Herkunftsland niedrigere Schulformen hinzu. Die Bildungsbeteiligung der Bildungsaufsteiger/innen und Quereinsteiger/innen mit Migrationshintergrund steigt an Gymnasien und Hochschulen zwar kontinuierlich an, dies aber noch auf einem Niveau, das mit den prozentualen Anteilen der Deutschen längst nicht vergleichbar ist.4 Gleichzeitig – und das sollte zu denken geben – steigt die Zahl der Akademiker/innen mit Migrationshintergrund, die Deutschland verlassen und ins Ausland abwandern. Und dies ist genau die Gruppe, welche mit Blick auf den aktuellen und zukünftig noch steigenden Fachkräftemangel in Deutschland gehalten werden müsste. Hier sollten also ebenfalls entsprechende Diskussionen über Maßnahmen angestoßen werden, um den bundesdeutschen akademischen Arbeitsmarkt für Akademiker/innen mit Migrationshintergrund stärker zu öffnen.5
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Bildungs- und Erwerbsverläufe von Akademikerinnen mit Migrationshintergrund
Gegenstand meines Forschungsprojekts waren Bildungs- und Erwerbsverläufe von Akademikerinnen mit Migrationshintergrund. In diesem Kontext widmete ich mich ihren beruflichen Chancen und Barrieren, um ihre Motive, ihre Wege und Strategien zu einem erfolgreichen Bildungsabschluss und zu einem Arbeitsplatz – unter Berücksichtigung geschlechtsspezifischer Aspekte – zu rekonstruieren (vgl. Farrokhzad 2007).6 Hierbei beabsichtigte ich einerseits diese Gruppe stärker sichtbar zu machen, andererseits auf die Ressourcen und Potenziale von bildungserfolgreichen Migrantinnen aufmerksam zu machen, da diese Gruppe über ein wertvolles Humankapital verfügt.7 4 5
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Es besuchen ungefähr so viele Migrationsjugendliche eine Hauptschule, wie deutsche Jugendliche ein Gymnasium besuchen (vgl. Statistisches Bundesamt 2005 a, b, c). In dem von der EU geförderten Programm EQUAL versuchen derzeit einige Projekte, gezielte Maßnahmen zur Verbesserung des Zugangs von Akademiker(inne)n mit Migrationshintergrund auf den Arbeitsmarkt zu entwickeln. Mehr Informationen unter http://www.equal-de.de. Hierzu gehören z.B. der Umgang mit frauenspezifischen Zuschreibungen oder der Umgang mit der Vereinbarkeit von Beruf und Familie. Der Lesbarkeit halber verwende ich die Begriffe „Migrantinnen“ und „Frauen mit Migrationshintergrund“ synonym. Gemeint sind jedoch immer Frauen mit Migrationshintergrund, also auch solche, die in der Bundesrepublik geboren wurden, und solche, die einen deutschen Pass und ein oder zwei Elternteile mit Zuwanderungsgeschichte haben.
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Im Rahmen meines Forschungsprojekts habe ich a) die gesellschaftlichen und sozialen Lebensbedingungen in Biographien von Akademikerinnen mit Migrationshintergrund rekonstruiert, die einen Einfluss auf ihren jeweiligen Werdegang im Bildungsbereich und auf dem Arbeitsmarkt genommen haben (z.B. Aufenthaltsbedingungen, Familie, Peergroups, Rolle der Bildungs- und Beratungseinrichtungen, Bedeutung des Einwanderungsdiskurses); b) die Rolle der Frauen als Akteurinnen im eigenen biographischen Sozialisationsprozess erörtert (und dies unter Berücksichtigung von Ressourcen wie kulturellem und sozialem Kapital, der Bedeutung von Prozessen der Ethnisierung und Vergeschlechtlichung bei der Ressourcenbildung und -nutzung und der Herausbildung eines Verhaltens- und Handlungsrepertoires). Um diese Forschungsziele umzusetzen, habe ich u.a. biographisch-narrative Interviews mit türkischen und iranischen Akademikerinnen geführt und schließlich acht biographische Porträts erstellt.
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Migrationsgeschichten: Hoffnung auf eine bessere Zukunft
Welche Bedeutung können die Migrationsgeschichten in Herkunftsländern für die Bildungs- und Berufskarrieren von Akademikerinnen mit Migrationshintergrund haben? Die in meiner Forschungsarbeit untersuchten Herkunftsgruppen haben aufgrund der historischen Entwicklungen in den jeweiligen Herkunftsländern eine sehr unterschiedliche (kollektive) Migrationsgeschichte. Die Migrantinnen und Migranten aus der Türkei sind zu einem großen Teil im Zuge der Arbeitsmigration und des Familiennachzugs und zu einem zahlenmäßig kleineren Teil aus politischen Gründen nach Deutschland eingewandert. Politische Gründe waren zum Beispiel die Folgen des Militärputsches 1980 oder die Unterdrückung der kurdischen Minderheit, auch mit militärischen Mitteln. Ein weiterer, zahlenmäßig allerdings geringfügiger Anteil von Einwanderinnen und Einwanderern aus der Türkei reiste vor allem bis in die 60er Jahre zu Studienzwecken nach Deutschland. Eine große Gruppe kam vor allem in der zahlenmäßig stärksten Migrationsphase der späten Arbeitsmigration von 1968 bis 1973 aus ländlichen Gebieten der Türkei.8 Insgesamt kamen die aus der Türkei 8
Seit 1968 überstieg die Zahl derjenigen, die aus ländlichen Gebieten stammen, die jener, welche aus städtischen Gebieten kamen (vgl. Gitmez 2001). Während in der Anfangszeit der Arbeitsmigration aus der Türkei vornehmlich qualifizierte Migrant(inn)en genommen wurden, sank ihre Zahl bei der zweiten, weitaus größeren Arbeitsmigrationswelle 1968–1973 (vgl.
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Eingewanderten im Durchschnitt zu einer größeren Anzahl aus der Arbeiterschicht oder dem bäuerlichen Milieu. In Deutschland waren sie dann zunächst vorwiegend als an- und ungelernte Arbeiterinnen und Arbeiter tätig.9 Mittlerweile steigt die Anzahl der Selbstständigen wie auch der Angestellten mit türkischem Migrationshintergrund an. Die Migrantinnen und Migranten aus dem Iran haben eine andere Migrationsgeschichte. Bis zur Islamischen Revolution von 1979 sind viele Iranerinnen und Iraner als Geschäftsleute, zu Studienzwecken oder aus politischen Gründen nach Deutschland gewandert. Sie zählten zu einem erheblichen Teil zu der städtischen höheren Mittel- und Oberschicht des Iran. Nach der Islamischen Revolution haben sich die Migrationsmotive stärker zur Fluchtmigration hin verschoben, aber auch ein Großteil dieser zahlenmäßig weitaus größeren Gruppe stammte aus der Mittel- und Oberschicht des Iran.10 Außerdem war der Iran nicht an der Arbeitsmigration der 50er, 60er und 70er Jahre beteiligt. Entsprechend unterscheiden sich, durchschnittlich gesehen, der Bildungshintergrund und die Sozialstruktur der Mehrzahl der Eingewanderten aus der Türkei von denen aus dem Iran. Die Migrationsgeschichten und -verläufe meiner Interviewpartnerinnen repräsentieren auf den ersten Blick die oben beschriebenen Unterschiede. Drei der vier iranischen Frauen sind nach der Islamischen Revolution von 1979 als Flüchtlinge in die Bundesrepublik eingereist, der Vater der vierten von mir interviewten iranischen Migrantin ist in den 70er Jahren als Geschäftsmann emigriert und hat seine Familie mitgenommen. Drei der vier Frauen kommen aus dem
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Hunn 2002). Nermin Abadan-Unat (1993) stellt zudem fest, dass von den türkischen Arbeitsmigrant(inn)en 70 % der Männer und 61 % der Frauen lediglich einen Grundschulabschluss hatten. 21 % der Männer und 38 % der Frauen hatten eine weiterführende Ausbildung. 10 % der Männer und 7 % der Frauen hatten keinen Schulabschluss. Damit waren die Frauen im Durchschnitt etwas besser qualifiziert als die Männer (vgl. Abadan-Unat 1993, S. 210). Hunn (2002) erklärt das damit, dass vor allem in der späten Einwanderungsphase, in welcher Männer mittlerweile aufgrund geringerer Qualifikation bis zu mehrjährige Wartezeiten hätten in Kauf nehmen müssen, sie daher ihre in diesen Fällen besser qualifizierten Frauen vorschickten, um dann von ihnen nachgeholt zu werden. Insgesamt spricht Hunn aus diesen Gründen von einer zunehmenden Akzeptanz der Migration sowohl lediger als auch verheirateter Frauen seitens der türkischen Gesellschaft. Dafür spricht auch der zunehmende Frauenanteil an den türkischen Arbeitsmigrant(inn)en im Laufe der Arbeitsmigration (vgl. Gitmez 2001). Die Sozialstruktur der eingewanderten kurdischen Minderheit entspricht laut dem „Handbuch ethnische Minderheiten“ (Schmalz-Jacobsen/Hansen 1995) in etwa derjenigen der türkischen Eingewanderten. Unter den kurdischen Eingewanderten aus dem Iran hingegen hat eine vergleichsweise größere Anzahl eine akademische Ausbildung. Beispielsweise gehörten zu den Flüchtlingen linke und liberale Studierende, welche nach der Schließung der Universitäten das Land verließen, und ehemalige Funktionäre des SchahRegimes (vgl. Hashemi/Adineh 1998). Weitere Informationen zu Wanderungsmotiven und der Zusammensetzung der Bevölkerungsgruppe aus dem Iran in Deutschland vgl. Agha (1997), Schröder/Schuckar/Adineh (1994) und Ghaseminia (1996).
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akademischen Milieu. Die Familien der türkischen Akademikerinnen hingegen sind alle im Kontext der Arbeitsmigration in die Bundesrepublik gekommen und repräsentieren damit die große Gruppe der Arbeitsmigrant(inn)en aus der Türkei. Die Herkunftsfamilien dieser Frauen sind alle dem Arbeitermilieu zuzurechnen. Was bedeutet dies für die Bildungs- und Berufsbiographien der befragten Frauen? Zwar zeigt sich, dass es hinsichtlich der Migrationsformen (Arbeitsmigration, Flucht, Geschäftsbeziehungen) zwischen den Akademikerinnen iranischer und türkischer Herkunft bzw. ihren Familien große (erwartbare) Unterschiede gibt. Die Migrationsmotive und die Bedeutung der Migration für Bildungsbestrebungen sind aber zwischen den Gruppen weitaus ähnlicher, als man auf den ersten Blick vermuten mag. Hervorzuheben ist in diesem Zusammenhang, dass Bildung für die Befragten, unabhängig von der Herkunftsgruppe, als der Schlüssel zu Selbstverwirklichung, einem guten Leben, ökonomischer Sicherheit und Unabhängigkeit galt. Während es in den iranischen Akademikerfamilien als Selbstverständlichkeit angesehen wurde, dass der akademische Status eines oder beider Elternteile von den Kindern weitergeführt wird, stand bei den türkischen Familien der Interviewpartnerinnen, die alle als Bildungsaufsteigerinnen zu bezeichnen sind, der Wunsch der Eltern im Vordergrund, dass ihre Kinder es einmal besser haben sollten als sie selbst.11 Für alle Befragten bzw. ihre Familien standen, unabhängig von Herkunft, Migrationsgeschichte, Sozialstatus und Bildungshintergrund, Bildung und eine bessere Zukunft (die eigene und/oder die der Kinder) als wichtige Gründe für die Migration an vorderster Stelle – wenn auch aufgrund unterschiedlicher Motive.12 Diese Erkenntnis relativiert im Übrigen die im Einwanderungsdiskurs häufig anzutreffende Annahme einer „Bildungsresistenz“ türkischer Einwandererfamilien und unterstützt vielmehr die wissenschaftlich bereits mehrfach dokumentierte Annahme einer hohen Bildungsmotivation vieler türkischer Familien (vgl. Nauck 1998; Özkara 1990; Familienbericht 2000; Herwartz-Emden 2000).
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Schul- und Hochschullaufbahnen: Erfahrungen mit deutschen Bildungsinstitutionen und Erfolg versprechende Handlungsstrategien
Wenn man neben dem allgemein bildenden das berufsbezogene Schulwesen mit einbezieht, haben vier der acht von mir interviewten Migrantinnen Einrichtungen 11 12
Solche Bestrebungen wurden übrigens in der Vergangenheit auch bei deutschen Arbeiterfamilien festgestellt (vgl. Schlüter 1993). Bei den politischen Flüchtlingen kam zusätzlich der Wunsch nach Freiheit und freier Meinungsäußerung und bei den Iranerinnen (aufgrund der politischen Entwicklungen im Iran) der Wunsch nach Emanzipation als Frau als Migrationsgrund hinzu (vgl. Farrokhzad 2007).
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des deutschen Schulwesens durchlaufen. Während fast allen Biographien zu entnehmen ist, dass die Schullaufbahnen derjenigen, die den Schulbesuch ganz oder teilweise im Herkunftsland absolvierten, positiv oder zumindest unproblematisch verliefen, verhielt sich dies mit den Schulbesuchen in Deutschland genau umgekehrt. Von denjenigen Frauen, die in Deutschland eine Schule besuchten, berichtet nur eine von einer unproblematischen Schullaufbahn. In den Biographien aller anderen lassen sich Hinweise sowohl auf den in Deutschland problembehafteten Einwanderungsdiskurs als auch auf die reformbedürftigen Strukturen des bundesdeutschen Schulsystems finden. Diese Biographinnen mussten sich alle – in der einen oder anderen Weise – mit Zuschreibungen aufgrund der Herkunft seitens einiger Lehrkräfte und Mitschüler/innen auseinandersetzen. Teilweise wurde aber auch von einem besonderen Engagement einzelner Lehrkräfte berichtet, die von einigen der interviewten Frauen besonders deutlich erinnert werden. Ein großes Problem stellte die mangelnde Anerkennung von im Herkunftsland erworbenen Bildungsressourcen (z.B. der Abschluss einer 9. Klasse im Herkunftsland) und mangelnde Sprachlern- und Sprachförderangebote insbesondere jenseits der Haupt- und Sonderschulen dar. In der Folge wurde z.B. eine Iranerin, welche die 10. Klasse eines Gymnasiums im Iran absolviert hatte, in einer ersten Entscheidung auf die 9. Klasse einer Hauptschule verwiesen. Die Befunde zu den Schulerfahrungen bestätigten in vielerlei Hinsicht die bereits vorhandenen Erkenntnisse über ethnische Segregation und ethnische Diskriminierungsmechanismen. Auch in anderen Studien wird belegt, dass Migrantinnen mit dem deutschen Schulsystem mehr negative als positive Erfahrungen gemacht haben (vgl. Hummrich 2002; Weber 2003; Ofner 2003). Zudem ist aufgrund der unzureichenden Anerkennung von Bildungsgängen und Bildungsabschlüssen insbesondere aus den so genannten Schwellenländern und Dritte-Welt-Ländern mit dem Übergang in das bundesdeutsche Schulwesen häufig eine Abqualifizierung bereits erworbenen kulturellen Kapitals verbunden, und auch die Bewertungskriterien sind häufig nicht eindeutig und transparent.13 Darüber hinaus ist das Wirken rassistischer stereotyper Vorurteile aufgrund der Herkunft, zum Teil auch in Kombination mit der Geschlechtszugehörigkeit, auch über mein Forschungsprojekt hinaus einschlägig belegt (vgl. Auernheimer 2003; Ofner 2003; Hummrich 2002; Weber 2003; Antidiskiminierungsbüro Köln 2004). Diese Diskriminierungen können auf die Schülerinnen mit Migrationshin13
Die hohe Wirksamkeit der Abqualifizierung und der mangelnden Transparenz der Entscheidungsmechanismen in der (Nicht-)Anerkennung von Abschlüssen wird mittlerweile auf EUEbene behandelt. In Projekten werden derzeit Versuche unternommen, die Anerkennungspraxen transparenter zu gestalten bzw. auch deren Unzulänglicheiten mit passgenauen Maßnahmen und Instrumenten zur verstärkten Anerkennung von Abschlüssen zu begegnen. Quelle: http://www.equal-de.de.
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tergrund entweder demotivierend wirken oder aber – im günstigeren Fall – ein gesteigertes Leistungsstreben hervorrufen (nach dem Motto: „Jetzt erst recht!“). Meine Interviewpartnerinnen setzten sich letztendlich trotz dieser Probleme durch, benötigten hierzu aber meistens soziale Netzwerke zur fachlichen und psychischen Unterstützung (z.B. Eltern, Freundeskreis, einzelne Lehrer/innen, die sich für Migrantinnen besonders engagieren) und ein besonderes Maß an Zähigkeit und Zielstrebigkeit. Weiterhin wird mein Befund bestätigt, dass an verschiedenen Übergangspassagen des Schulwesens die Tendenz besteht, Migrantinnen von einem höheren Bildungserfolg praktisch abzuhalten. Dies ist einerseits den Strukturen des Bildungssystems geschuldet, dessen mehrmalige „Ausleseverfahren“ (Übergänge zu weiterführenden Schulen, zur Oberstufe, zu Berufsschulen mit der Möglichkeit des Erwerbs der Fachhochschulreife) nachweislich für Migrantinnen eine besondere Gefahr darstellen, trotz gleicher oder sogar besserer Leistungen „aussortiert“ zu werden (vgl. Radtke/Gomolla 2002). Zudem ist einigen (in diesen Strukturen agierenden) Lehrkräften anzulasten, dass sie Migrantinnen von höheren Bildungsabschlüssen „wegberaten“. Zahlreiche Forscher/innen haben die in diesem Kontext weit verbreiteten Argumentationsmuster zusammengetragen und herausgearbeitet: Sie reichen von „Als türkisches Mädchen braucht man kein Abitur“ und „Als Muslimin brauchst du kein Abitur, weil du ja doch bald heiratest und Kinder bekommst“ über „Auch viele Deutsche haben kein Abitur“ bis zu „Du kannst das Gymnasium nicht schaffen, weil deine Familie dich nicht gut genug unterstützen kann“.14 Alle Argumentationsmuster – sowohl die rassistischen als auch die „wohlmeinenden“ – tragen jedoch zur Reproduktion der auch durch PISA belegten sozialen Unterschichtung und damit sozialen Benachteiligung von Migrantinnen bei. Daher haben sich auch die Eltern einiger der von mir befragten Migrantinnen nicht umsonst Sorgen um die Bildungskarrieren ihrer Töchter gemacht und entschieden, dass diese ihr Abitur besser im Herkunftsland absolvieren sollten. In einem Fall wurde dies sogar von einer Beratungsstelle der Arbeiterwohlfahrt empfohlen. Somit waren diese Frauen verglichen mit dem Lebensweg anderer Migrantinnen tatsächlich vor „holprigen“ Schullaufbahnen geschützt. Besonders hervorheben möchte ich abschließend die auch in meiner Arbeit erkennbare besondere Bedeutung einzelner Lehrkräfte für die von mir interviewten Migrantinnen, welche sie in ihrer schulischen Laufbahn beeinflussten, und zwar entweder auf besonders positive oder besonders negative Weise. Nicht selten waren es diese Einzelpersonen, die entweder (z.B. durch trotz guter Leistungen eher ungünstige Übergangsempfehlungen) für einen „Knick“ in den Bil14
Diese Aussagen sind keine wortwörtlichen Zitate, sondern sie repräsentieren jeweils einen bestimmten Argumentationstypus.
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dungslaufbahnen der Frauen (mit) sorgten oder (z.B. durch privaten Sprachunterricht und anderes besonderes Engagement) die Migrantinnen in besonderer Weise fachlich und psychisch unterstützten. Es stellt sich auch angesichts dieses Befundes die Frage nach der Reformbedürftigkeit des Schulsystems, wenn sich Lehrkräfte, die häufig ohnedies bereits ein hohes Arbeitspensum haben, privat und in ihrer Freizeit engagieren müssen, um mehr Migrantinnen einen guten Schulabschluss zu ermöglichen. Als positiv hingegen stellten sich die Möglichkeiten dar, das Abitur extern oder auf einem Abendgymnasien nachzuholen. Dort wurden im Übrigen auch der persönliche Umgang und das Lernklima als besonders positiv beschrieben. Diese Wege sind häufig die einzigen Möglichkeiten für Migrantinnen, nach dem „Herausfallen“ aus den regulären Wegen zur gymnasialen Oberstufe doch noch das Abitur zu absolvieren. Im Vergleich zu den Schullaufbahnen in Deutschland waren die Hochschullaufbahnen der von mir interviewten Migrantinnen weit weniger problematisch. Schwierigkeiten gab es insbesondere für die Quereinsteigerinnen beim Zugang zu den Hochschulen. Ihre Bildungsabschlüsse wurden nicht oder nur unzureichend anerkannt; außerdem führten einige Hochschulen für bestimmte Fachbereiche „Ausländerquoten“ ein, durch welche viele Studienwillige mit Migrationshintergrund ausgeschlossen werden. Die Studienfachwahl wurde nur bei wenigen der Befragten von den Eltern beeinflusst. In den meisten Fällen trafen die Interviewpartnerinnen ihre Entscheidungen autonom und orientierten sich an ihren fachlichen Neigungen, an ihren persönlichen oder auch politischen Ambitionen und/oder an den zu erwartenden Arbeitsmarktchancen. Zu ähnlichen Ergebnissen kommt auch Ulrike Selma Ofner (2003, S. 250 ff.) in ihrer Analyse der Studienfachwahl türkischer Akademikerinnen. Bis auf anfängliche sprachliche Schwierigkeiten bei den Quereinsteigerinnen schilderten die von mir interviewten Migrantinnen ihre Studienzeit in Deutschland im Vergleich zur Schulzeit als weitaus weniger problematisch. Im Gegensatz zum Schulbereich wird zudem deutlich, dass an Hochschulen Heterogenität eher als Normalfall gilt. Das hat m. E. mit der zunehmenden Internationalisierung des Hochschulwesens zu tun, die so in den gängigen allgemein bildenden Schulen nicht anzutreffen ist. Während eine internationale Ausrichtung von Hochschulen (und eine damit einhergehende Inkaufnahme von Heterogenität der Studierendenschaft) als Qualitätsmerkmal gilt, gelten viele Schulen mit multikultureller Schülerschaft (hierunter fallen z.B. Haupt- und Gesamtschulen) als soziale Brennpunkte und für viele (angehende) Lehrer/innen als unattraktive Arbeitsplätze.
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Entsprechend berichteten die von mir interviewten Migrantinnen seltener von Diskriminierungserfahrungen im Hochschulwesen als im Schulbereich. Zudem betreffen, im Unterschied zum Schulsystem, strukturelle Diskriminierungsmechanismen schwerpunktmäßig den Zugang zum Hochschulwesen und weniger die Hochschullaufbahn. Die Schullaufbahn hingegen birgt durch die mehrfachen institutionalisierten Ausleseverfahren größeres strukturelles Diskriminierungspotenzial nach ethnischen Trennlinien. Erfahrungen von persönlicher Diskriminierung wurden an den Hochschulen vorwiegend mit deutschen Kommiliton(inn)en gemacht.
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Wege in den Arbeitsmarkt und der Umgang mit ethnischen Nischen
Migrantinnen sind – verglichen mit deutschen Männern und Frauen, aber auch mit nichtdeutschen Männern – überproportional häufig von Arbeitslosigkeit betroffen. Wie auch andere Autorinnen berichten, die sich mit bildungserfolgreichen Migrantinnen beschäftigten, war es nicht einfach, erwerbstätige Akademikerinnen mit Migrationshintergrund ausfindig zu machen, die einen ihrer Qualifikation angemessenen Beruf ausüben (vgl. Ofner 2003). Auch Encarnacion Guiterrez Rodriguez (1999, S. 249) weist auf das Problem der überproportional hohen Arbeitslosigkeit bei qualifizierten Migrantinnen hin. Vorliegende Statistiken belegen überdies, dass Akademikerinnen mit Migrationshintergrund sogar häufiger arbeitslos sind als Migrantinnen ohne akademischen Abschluss, aber mit einer betrieblichen Ausbildung. Deutschen Frauen und Männern und männlichen Migranten hingegen sichert ein akademischer Abschluss die geringste Arbeitslosigkeit innerhalb ihrer Bezugsgruppe.15 Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, aus welchen Gründen der Zugang zum akademischen Arbeitsmarkt für Frauen mit Migrationshintergrund so schwierig ist bzw. welche Barrieren sie dort im Einzelnen vorfinden. Einige Barrieren zeigen sich auch in den von mir untersuchten Biographien; die Frage der höheren Arbeitslosigkeit von Akademikerinnen mit Migrationshintergrund im Vergleich zu den anderen oben genannten Gruppen müsste jedoch in zukünftigen Forschungsarbeiten näher untersucht werden. Die Wege der in meiner Untersuchung interviewten Migrantinnen in den Arbeitsmarkt und deren Arbeitsfelder waren ebenso vielfältig wie ihre Zugänge zu beruflichen Tätigkeiten und die Übergänge zwischen verschiedenen Jobs. Die Frauen berichteten von unterschiedlichen Erfahrungen auf dem Arbeitsmarkt, die von einem hohen Respekt aufgrund der fachlichen und persönlichen Kompeten15
Quelle: Eigene Berechnungen nach: Bundesanstalt für Arbeit 2002.
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zen bis hin zu Diskriminierungen aufgrund der Herkunft oder der Geschlechtszugehörigkeit und damit verbundenem Mobbing oder auch sexueller Belästigung am Arbeitsplatz reichen. Die Zugänge zu den verschiedenen Arbeitsplätzen erfolgten entweder über externe Bewerbungen, Beziehungen oder Praktika. Am schwierigsten gestaltete sich der Zugang zum Arbeitsmarkt über externe Bewerbungen – ein nicht überraschendes Ergebnis, denn dieser Weg des Zugangs zum Arbeitsmarkt ist auch für andere Personengruppen im Vergleich zu den beiden anderen Wegen der ungünstigste. Einige der Frauen berichteten von langen Bewerbungsphasen trotz guter Bildungsabschlüsse. Die Untersuchung zeigt aber auch, dass Migrantinnen mit einem zusätzlichen Problem zu tun haben: In den Biographien ließen sich Spuren von Fremdzuschreibungen aufgrund der Herkunft finden, die sich im Verhalten einiger Arbeitgeber zeigten16 – ein Befund, der auch in anderen Arbeiten zu qualifizierten Migrantinnen zu finden ist (vgl. Ofner 2003; Guiterrez Rodriguez 1999). Aber auch die allgemein bzw. branchenspezifisch schwierige Arbeitsmarktlage wurde von einigen Migrantinnen benannt. Insgesamt lässt sich bei zwei der acht Biographinnen von einem relativ reibungslosen Übergang in den Arbeitsmarkt und einem ebenso verhältnismäßig reibungslosen Übergang zwischen verschiedenen Jobs sprechen. Eine der beiden Frauen hatte diese erleichterten Übergänge jedoch vor allem im Bereich der ethnischen Nischen gefunden. Alle anderen Migrantinnen mussten lange Bewerbungszeiten, zum Teil lange Zeiten der Arbeitslosigkeit oder größere Umwege in Kauf nehmen. Praktika und persönliche Beziehungen bzw. soziale Netzwerke hingegen konnten als Türöffner für den akademischen Arbeitsmarkt fungieren. Bei der Analyse der Biographien meiner Interviewpartnerinnen wurde deutlich, dass diese dann einen leichteren Zugang zum Arbeitsmarkt hatten, wenn sie Tätigkeitsfelder in ethnischen Nischen in Betracht zogen. Mit dem Begriff der ethnischen Nische lassen sich zweierlei Arbeitsmarktbereiche umschreiben: Auf der einen Seite geht es allgemein um Arbeitsplätze, die von Arbeitgebern mit Migrationshintergrund geschaffen werden, um der eigenethnischen Klientel Produkte und Dienstleistungen anzubieten, oder um eine selbstständige Tätigkeit in diesem Bereich. Auf der anderen Seite gibt es Arbeitgeber und Institutionen auf Seiten der Mehrheitsgesellschaft, die eine überproportional große Gruppe von Migrant(inn)en zu ihren Kunden oder ihrer Klientel zählen, zum Beispiel 16
So wurde eine türkische Juristin im Bewerbungsverfahren eines der Landeskriminalämter nur auf ihre „Herkunft“ (sie war in Deutschland geboren) getestet. Sie wurde gefragt, warum sie kein Kopftuch trüge und ob Deutschland ein Einwanderungsland sei. Ihre Qualifikation spielte in dem Gespräch keine Rolle. Der Umgang des LKAs mit dieser türkischen Migrantin repräsentiert sehr anschaulich, dass das „Türkisch-Sein“ als solches genügen kann, um unter den Generalverdacht des Islamismus zu fallen (vgl. Farrokhzad 2007, S. 492 ff.).
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weil sie in einem Stadtteil mit hohem Migrant(inn)enanteil ihren Sitz haben. Hierzu gehören z.B. Krankenhäuser, Sozialbehörden, Wohlfahrtsverbände und ihre Einrichtungen. Die Chancen von Migrantinnen auf dem Arbeitsmarkt können sich etwa dann erhöhen, wenn eine bestimmte Zielgruppe mit Migrationshintergrund angesprochen werden soll und die Bewerberinnen z.B. durch Mehrsprachigkeit eine besondere Kompetenz aufweisen. So lässt sich beispielsweise beobachten, dass die Chancen für türkische Bewerberinnen in Krankenhäusern, die viele türkische Patient(inn)en betreuen, steigen. Die besseren Arbeitsmarktzugänge für Frauen mit Migrationshintergrund über ethnische Nischen wurden bereits in einigen Studien zu qualifizierten Frauen nachgewiesen (vgl. Lutz 1991; Ofner 2003). Die Erkenntnisse aus diesen Arbeiten und die Ergebnisse meiner Arbeit zeigen gleichermaßen die erhöhten Arbeitsmarktchancen von Frauen mit Migrationshintergrund in ethnischen Nischen, aber auch die damit einhergehende Gefahr der Reduktion auf diesen Arbeitsmarktbereich. In Anbetracht dessen, dass meine Untersuchung nicht zur gleichen Zeit durchgeführt wurde wie die anderen, lässt sich von einer zeitlichen Kontinuität dieses Phänomens sprechen. Darüber hinaus lässt sich eine weitere Gemeinsamkeit feststellen: Die Frauen haben überproportional häufig ihre beruflichen Chancen nicht gezielt in ethnischen Nischen gesucht, sondern sind vielmehr dort „hineingerutscht“ und haben diese Gelegenheitsstrukturen beruflich genutzt. Unterschiede zwischen den vorliegenden Untersuchungen und meiner eigenen Arbeit ergaben sich beim Blick auf die jeweiligen Nationalitätengruppen. Während Ofner (2003) und Lutz (1991) sich ausschließlich mit Migrantinnen türkischer Herkunft beschäftigten, bestand meine Untersuchungsgruppe aus Frauen mit türkischem oder iranischem Migrationshintergrund, und diese waren jeweils in der Mehrheit unterschiedlich von der Thematik der ethnischen Nischen betroffen. Während die meisten der iranischen interviewten Migrantinnen auf dem deutschen Arbeitsmarkt Fuß fassten (als Textilunternehmerin, als Redakteurin bei einem deutschen Fernsehsender und als Programmiererin) und beruflich nicht mit dem Thema Migration befasst waren, waren die türkischen Akademikerinnen überwiegend im eigenen ethnischen Arbeitsmarktbereich tätig (als Filmemacherin und Dozentin im Migrationsbereich, als Bankerin in einer deutsch-türkisch-niederländischen Bank und als interkulturelle Projektleiterin in der türkischen Vereinsszene). Aus diesem Befund lässt sich vorsichtig die These formulieren, dass eine mögliche Verengung der Chancen qualifizierter Migrantinnen auf dem Arbeitsmarkt auf ethnische Nischen sich nach Nationalitätengruppen unterscheiden kann. Dies kann mit den unterschiedlichen Fremdbildern zusammenhängen, die über die jeweiligen Migrationsgruppen existieren (bezüglich kultureller Klischees, Traditionalität, Bildungsferne der Elternhäuser etc.). Dies kann aber auch
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darauf zurückzuführen sein, dass es im Bereich der türkischen Community schlichtweg einen weitaus größeren Arbeitsmarkt der ethnischen Nischen gibt, da diese Gruppe zahlenmäßig viel größer ist und sich überproportional stark als „Problemgruppe“ im Visier von Bildungs- und Sozialeinrichtungen befindet (wo dann eben solche Arbeitsplätze für qualifizierte türkische Frauen als Mittlerinnen entstehen). Ein weiterer Unterschied zwischen den bereits vorliegenden Studien und meiner Arbeit zum Thema ethnische Nischen besteht im Umgang der Frauen mit ihrer diesbezüglich Situation: Während in den Arbeiten von Helma Lutz (1991) und Ulrike Ofner (2003) sich die Migrantinnen häufig auf ihre Rolle als Mittlerinnen reduzierten, sich nicht mit all ihren individuellen Fachkenntnissen und Kompetenzen ernst genommen fühlten und zum Teil daher versuchten, beruflich aus den ethnischen Nischen auszubrechen, erachtete die Mehrheit der von mir befragten Migrantinnen ihre jeweiligen Tätigkeiten in den ethnischen Nischen als wichtig und sinnvoll und nahm ihre Rolle als Mittlerin und Multiplikatorin als Herausforderung an. Dieses Ergebnis ist aber nicht als Widerspruch, sondern als Ergänzung zu den vorliegenden Arbeiten zu sehen, denn es erweitert das Spektrum des individuellen Umgangs von qualifizierten Migrantinnen mit ihrer beruflichen Situation im Hinblick auf ethnische Nischen. Abschließend kann festgehalten werden, dass der erleichterte Zugang für Migrantinnen zu ethnischen Nischen mit einer verengten Wahrnehmung ihrer Kompetenzen einhergehen kann: Einerseits boten diese Nischen zwar manches Mal die einzige Chance, überhaupt einen der Qualifikation angemessenen Arbeitsplatz zu finden. Andererseits hatte die Reduktion der Kompetenzen der Frauen auf Mehrsprachigkeit und Kenntnisse kultureller Skripts in der Regel zwei Konsequenzen: a)
b)
Sie bedeutete eine Arbeitsmehrbelastung, da ihnen die „ausländische“ Klientel zugewiesen wurde (welche unter Umständen einen großen Teil der gesamten Klientel ausmachen konnte), und andere Kompetenzen allgemeiner Art, die auch Angehörigen der Mehrheitsgesellschaft zugeschrieben werden (z.B. Mathematikkenntnisse oder Kenntnisse des deutschen Rechtssytems), wurden ihnen entweder häufig nicht zugetraut bzw. diese Arbeitsfelder wurden eher anderen zugewiesen. Vor diesem Hintergrund ist – bei allen Chancen und Herausforderungen, die ethnische Nischen für Akademikerinnen mit Migrationshintergrund bieten können, – die Reduktion ihrer Kompetenzen auf die Herkunft als problematisch zu bezeichnen. Diese Einstellungs- und Personalpolitik ähnelt in gewisser Weise der Politik während der Arbeitsmigration der 60er und 70er Jahre: Arbeitsfelder, auf denen qualifizierte Migrantinnen gebraucht werden
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oder die aufgrund der großen Gruppe der Klientel mit Migrationshintergrund nicht besonders beliebt sind, bieten Chancen für diese Gruppe. Damit fungieren Frauen mit Migrationshintergrund zumindest in Teilen des bundesdeutschen Arbeitsmarktes als „Lückenfüllerinnen“: Dies kann für die Frauen als Chance und Herausforderung wahrgenommen werden und mit einer hohen beruflichen Zufriedenheit einhergehen. Für diejenigen, die sich auf die ihrer Herkunft zugeschriebenen Kompetenzen reduziert fühlen, können solche Arbeitsplätze auf Dauer eine Belastung darstellen, da ihr fachliches Qualifikationsprofil kaum oder zu wenig anerkannt wird.
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Informelle Ressourcen und ihre Initiativfunktionen für Bildungs- und Berufschancen
Der qualitative Forschungszugang zur Untersuchungsgruppe der Akademikerinnen mit Migrationshintergrund durch narrative Interviews ermöglichte es, für deren Bildungs- und Berufschancen biographisch relevante Themenfelder zu entdecken, die sich zunächst nicht im Blickfeld der Forscherin befanden, sondern erst im Forschungsprozess herausgearbeitet wurden. Hierzu gehörte die systematische Identifizierung von informellen Lernprozessen und informellen Bildungsorten, die für die Werdegänge der Frauen bedeutsam waren. Nach einer Definition der Europäischen Kommission von 2001 bedeutet informelles Lernen das „Lernen, das im Alltag, am Arbeitsplatz, im Familienkreis oder in der Freizeit stattfindet. Es ist (in Bezug auf Lernziele, Lernzeit oder Lernförderung) nicht strukturiert und führt üblicherweise nicht zur Zertifizierung. Informelles Lernen kann zielgerichtet sein, ist jedoch in den meisten Fällen nicht intentional“ (Overwien 2005, S. 346). In den untersuchten Biographien ließen sich mehrere informelle Bildungsorte ausfindig machen: die Familie17, die Peergroup, der Sportbereich, der Arbeitsplatz, politische Gruppierungen oder politische Parteien und soziale Vereine. Im Folgenden werden exemplarisch die Formen sozialen und politischen Engagements der Befragten, ihre Wirkungsweisen als informelle Lernprozesse und daraus entstandene Vorteile für die Bildungs- und Berufsbiographien betrachtet. Alle befragten Akademikerinnen haben vor dem Hintergrund ihrer Lebensverläufe ein gesellschaftskritisches Bewusstsein entwickelt. Dieses drückte sich bei den meisten von ihnen im Verlauf ihres Lebens in sozialem und/oder politischem Engagement aus. Die gesellschaftskritische Bewusstseinsbildung wie auch die Ausformung gesellschaftlichen Engagements hingen von den jewei17
Hierbei kam der innerfamiliären Lesesozialisation eine hohe Bedeutung zu. Dabei war nicht die Wahl der Sprache ausschlaggebend, sondern die Qualität der Sprachlernprozesse.
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ligen biographischen Erfahrungen und ihrer Verarbeitung ab. Gemeinsam ist allen interviewten Migrantinnen, dass sie sich sowohl mit ethnischen als auch geschlechtsspezifischen Zuschreibungen auseinandersetzen mussten. Einige von ihnen haben daraufhin entweder soziale Benachteiligung erfahren oder kennen Personen aus ihrem Umfeld, die diese Erfahrung gemacht haben. Einige der Frauen, die außerhalb Deutschlands aufwuchsen, haben sich bereits dort mit geschlechtsspezifischen Zuschreibungen und Menschenrechtsfragen auseinandergesetzt und waren mehrheitlich dort in politischen Gruppen aktiv. Nach der Migration transformierten sie ihr Engagement und nutzten in Deutschland vorhandene Gelegenheitsstrukturen, um weiterhin für Menschenrechte im Allgemeinen oder die Rechte von Frauen bzw. Migrantinnen und Migranten einzutreten, z.B. als Flüchtlingsberaterin oder in einem deutsch-iranischen Frauenverein. Da sie in Deutschland sozialisiert wurden, entwickelte sich ihr gesellschaftskritisches Bewusstsein vor allem in der Auseinandersetzung mit Zuschreibungen aufgrund ihres Migrationshintergrundes. Eine weitere Voraussetzung für gesellschaftskritische Bewusstseinsbildung und gesellschaftliches Engagement war bei einigen der interviewten Migrantinnen eine familiäre Tradition der politischen Aktivität. Die gesellschaftskritische Bewusstseinsbildung und das politische Engagement haben die Selbstbilder der Migrantinnen beeinflusst und deren Handlungsspielräume jeweils individuell variabel erweitert. Hierzu gehörten u.a. eine Stärkung des Selbstbewusstseins; die Nutzung politischer Gruppen als Experimentierfelder, um neue Ideen und Handlungsformen auszuprobieren; das Knüpfen von sozialen Kontakten und die Netzwerkbildung; das Aneignen von Wissen über Bücher, welches zum Teil als Fachwissen beruflich verwertbar sein kann (z.B. Fachwissen über die Migrationsgeschichte in Deutschland), zumindest aber die Allgemeinbildung erhöht und Bildungsprozesse insgesamt fördert; eine hohe berufliche Motivation, sofern der Beruf mit dem gesellschaftspolitischen Engagement in Verbindung steht; und die Entwicklung bzw. der Ausbau praktischer Fähigkeiten und sozialer Kompetenzen wie organisatorische Fähigkeiten, kommunikative Kompetenzen, Bereitschaft, Verantwortung zu übernehmen, Durchhaltevermögen und Frustrationstoleranz. Dies kann als wertvolles soziales Kapital (Netzwerke) und kulturelles Kapital (Fachwissen, Fähigkeiten, Fertigkeiten)18 gewertet werden und wird von den 18
Bourdieu gliedert kulturelles Kapital in drei Zustände: Mit kulturellem Kapital in objektiviertem Zustand sind z.B. Bücher, Gemälde, Kunstwerke oder Maschinen gemeint. Kulturelles Kapital in korporiertem Zustand umfasst durch institutionalisierte und alltagspraktische Bildung erwerbbare kulturelle Fähigkeiten, Fertigkeiten und Wissensformen – eine personengebundene Form des kulturellen Kapitals, womit sowohl die Möglichkeiten der Akkumulation als auch die des Verlustes eingeschränkt sind. Kulturelles Kapital in institutionalisiertem Zustand schließlich erwächst aus dem Erwerb von Bildungstiteln, womit dessen Erwerber nicht nur ü-
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Frauen zum Teil beruflich erfolgreich umgesetzt. Dennoch bleibt zu bedenken, dass dieses soziale und kulturelle Kapital bei Migrantinnen auf dem bundesdeutschen Arbeitmarkt noch viel zu wenig Anerkennung findet, denn erstens ist dieses Kapital informell und damit nicht durch Zertifikate legitimiert, und zweitens erfahren einige der informellen Bildungsorte von Migrantinnen (z.B. deren Familien und Peergroups, aber auch Migrant(inn)enselbstorganisationen oder politische/soziale Gruppen des Herkunftslandes) keine angemessene Anerkennung auf dem Arbeitsmarkt (z.B. in Bewerbungsverfahren) bzw. werden nicht als Lernorte für fachliche und soziale Kompetenzen auf dem Arbeitsmarkt wahrgenommen – außer vielleicht auf dem Segment der ethnischen Nischen.
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Schlussfolgerungen
Folgende Bedingungen erwiesen sich, so das Ergebnis meiner Forschungen, als besonders bedeutsame Barrieren für Migrantinnen in Bildung und Beruf:
der Aufenthaltsstatus und damit zusammenhängende rechtliche Regelungen im Bildungsbereich und auf dem Arbeitsmarkt; die Nichtanerkennung von Bildungs- und Berufsabschlüssen; die Auswirkungen von diskursiv hergestellten Stereotypen und Vorurteilen von Personen, die in den Bildungseinrichtungen und auf dem Arbeitsmarkt über die Karrieren der Frauen mit entscheiden, bzw. damit zusammenhängend die Rolle einzelner Personen der Aufnahmegesellschaft als Gatekeeper; die strukturelle Situation des Bildungswesens und dessen monokulturelle Ausrichtung; offene und subtile Diskriminierungsmechanismen bezüglich der ethnischen Herkunft, des Geschlechts und/oder des sozialen Status, aber auch aufgrund von nicht perfekten Deutschkenntnissen oder aufgrund eines spürbaren Altersunterschieds, z.B. in der Schule; die unterschiedlichen Arbeitsmarktchancen in ethnischen Nischen und in den von Angehörigen der Mehrheitsgesellschaft dominierten Arbeitsmarktsegmenten, weil vielfach die Kompetenzen der Migrantinnen auf Kompetenzen „qua Herkunft“ reduziert werden. ber inkorporiertes, sondern auch über legitimes (im Gegensatz zu illegitimem, d.h. informellem) kulturelles Kapital verfügt (Bourdieu 1997, S. 49 ff.). Als soziales Kapital wird ein dauerhaftes Netz von „mehr oder weniger institutionalisierten Beziehungen gegenseitigen Kennens und Anerkennens“ (Bourdieu 1997, S. 63) bezeichnet, auf welches ein Individuum, z.B. bei der Jobsuche, zurückgreifen kann. Beispiele wären die Familie, Clubs, Sportvereine, politische Parteien.
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Die folgenden Ressourcen und Handlungspotenziale waren für den Erfolg von Migrantinnen in Bildung und Beruf relevant:
politische Bewusstseinsbildung und politisches Engagement und dadurch erworbenes soziales und kulturelles Kapital; die Orientierung an Vorbildern; die Bedeutung von Familie, Freund(inn)en, Angehörigen der eigenethnischen Community und anderer sozialer Netzwerke als Rückzugsareal und als Stütze für den Werdegang; die Art der Nutzung anderer kultureller und sozialer Ressourcen (Bildungshintergrund in Form von Bildungstiteln, informeller Bildung und sozialer Netzwerke) als Rückhalt und als Quelle für das eigene Selbstbewusstsein; Immunisierung gegen Diskriminierung oder ein kreativer Umgang mit solcher (wie Protestverhalten nach dem Motto „Jetzt erst recht“, Relativierung oder Belächeln der Diskriminierung); erfolgreiche Nutzung ethnischer Nischen oder Versuch des Ausbruchs und der Platzierung in einem von Angehörigen der Mehrheitsgesellschaft dominierten Arbeitsmarktsegment, um Ethnisierungen zu entgehen; psychische Stabilität und Durchsetzungsvermögen; Nutzung von Gelegenheitsstrukturen, wie der Unterstützungsleistung durch einzelne Personen oder Institutionen (der Herkunfts- und der Aufnahmegesellschaft).
Wie kann man nun dafür sorgen, dass qualifizierte Migrantinnen mit ihrem biographischen Kapital besser als bisher im Bildungssystem und auf dem Arbeitsmarkt Fuß fassen können, und das auf Bildungsstufen und in beruflichen Positionen, die ihrer Qualifikation angemessen sind? Zunächst wäre eine kritische Überprüfung der derzeitigen Praxis in Schulen zu fordern. Dort sollten nicht nur vordergründig die Defizite, sondern vor allem auch die Ressourcen von Mädchen mit Migrationshintergrund genauer unter die Lupe genommen werden, um passgenaue Fördermöglichkeiten anbieten oder auf externe Fördermöglichkeiten im Bildungsbereich hinweisen zu können. Da insbesondere Realschulen und Gymnasien für spezifische Belange von Migrantinnen (und Migranten) im Bereich der sprachlichen Förderung und im Bereich des konstruktiven Umgangs mit ethnischer Heterogenität kaum sensibilisiert sind, wäre eine bessere diesbezügliche Angebotsstruktur an diesen Schulen zu fordern. Wenn dies aufgrund von Geld- oder Personalmangel nicht möglich ist, können als Alternative Kooperationsstrukturen mit örtlichen Beratungsstellen, Weiterbildungseinrichtungen und/ oder Migrant(inn)enorganisationen aufgebaut werden, um ergänzende Bildungsund Beratungsangebote zu machen. Wichtig wäre weiterhin eine interkulturelle
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Sensibilisierung des Lehrpersonals und der Schulleitung, damit diese ihre Deutungsmuster, Selbst- und Fremdbilder einer selbstkritischen Überprüfung unterziehen können. Ergänzend hierzu wäre eine regelmäßig stattfindende interkulturelle Supervision sinnvoll, nicht nur um mögliche Fremdbilder und Stereotypisierungen zu relativieren, sondern auch um die Lehrkräfte im Umgang mit einer heterogenen Schülerschaft pädagogisch und psychologisch zu unterstützen. Nicht zuletzt wäre die Einstellung von Integrationsbeauftragten für Schulen (oder Schulbezirke) angebracht. Schüler/innen könnten sich im Falle von erfahrener Diskriminierung an den betreffenden Integrationsbeauftragten wenden, dessen Aufgabe darin bestünde, zwischen Schüler(inne)n, Lehrer(inne)n, Schulleitungen und Eltern zu vermitteln. Darüber hinaus sollte die Elternarbeit verstärkt werden, und hierbei wäre es wichtig, mit den Eltern und den Schüler(inne)n familiäre Ressourcen zu identifizieren, bewusst zu machen und zu aktivieren (z.B. eine Verstärkung der häuslichen Lesesozialisation, elterliche Strategien zur Verbesserung der Motivation der Schüler/ innen). Eine weitere Forderung betrifft die Praxis der Anerkennung von Bildungsstand und Bildungsabschlüssen. Angesichts der Tatsache, dass die aus dem Herkunftsland mitgebrachten Bildungsressourcen vieler Jugendlicher, Frauen (und Männer) mit Migrationshintergrund vor allem aus so genannten Schwellen- und Dritte-Welt-Ländern hier häufig eine unangemessene Abqualifizierung erfahren, müssten die Bedingungen der Anerkennung kritisch überprüft und flexibler gehandhabt werden. Außerdem sollten die Ergebnisse informeller Lernprozesse zur Kenntnis genommen und bei der Beurteilung berücksichtigt werden. Pädagogische Beratungsstellen könnten, z.B. durch an biographischen Ressourcen orientierte Kompetenzfeststellungsverfahren, hierbei wertvolle Unterstützung leisten. Schließlich scheint es in Anbetracht der nach wie vor vorhandenen Klischeebilder über Migrant(inn)en bei Arbeitgebern (vor allem im kleinbetrieblichen und mittelständischen Bereich)19 und deren Befürchtung etwa vor innerbetrieblichen interkulturellen Konflikten sinnvoll zu sein, durch öffentlichkeitswirksame Kampagnen Arbeitgeber auf die Potenziale von Migrant(inn)en aufmerksam zu machen. Zum Beispiel könnte ihnen im Rahmen einer interkulturellen Unternehmensberatung die Sorge um interkulturelle Konflikte genommen werden – durch Informationen über entsprechende Unternehmensstrategien. Darüber hinaus kann mit Berichten über die positiven und auch finanziell lohnenswerten Beispiele heterogener Belegschaften in anderen Unternehmen, z.B. solchen, die mit dem Diversity-Ansatz arbeiten, Überzeugungsarbeit geleistet werden. Schließlich erhöht ein positiveres Arbeitsmarktklima für qualifizierte und hoch motivierte Frauen (und Männer) mit Migrationshintergrund deren Ambitionen, nicht abzu19
Diese Erfahrung bestätigen mehrere Projektkoordinator(inn)en, die mit der Arbeitsmarktintegration von Migrant(inn)en befasst sind. Mehr Informationen unter www.equal-de.de.
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wandern, sondern in Deutschland zu bleiben und einen wertvollen wirtschaftlichen Beitrag durch hoch qualifizierte Arbeit und gegebenenfalls auch durch die Schaffung neuer Arbeitsplätze zu leisten.
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Abkürzungsverzeichnis Abkürzungsverzeichnis
Abbildung ausbildungsbegleitende Hilfen Absatz Australian Election Study Arbeitsstelle Interkulturelle Konflikte und gesellschaftliche Integration am Wissenschaftszentrum Berlin (WZB) AmkA Amt für multikulturelle Angelegenheiten, Frankfurt am Main Art. Artikel AsylVfG Asylverfahrensgesetz Aufl. Auflage Ausg. Ausgabe BA Bundesagentur für Arbeit BaE Berufsausbildung in außerbetrieblichen Einrichtungen BAMF Bundesamt für Migration und Flüchtlinge Bd. Band BeitrAB Beiträge zur Arbeitsmarkt- und Berufsforschung BGB Bürgerliches Gesetzbuch BGBl. Bundesgesetzblatt BiB Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung BIBB Bundesinstitut für Berufsbildung BJK Bundesjugendkuratorium BMBF Bundesministerium für Bildung und Forschung BMFSFJ Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend BMI Bundesministerium des Innern BQF-Programm Programm: „Kompetenzen fördern – Berufliche Qualifizierung für Zielgruppen mit besonderem Förderbedarf“ des Bundesministeriums für Bildung und Forschung (BMBF) BQN Berufliches Qualifizierungsnetzwerk BT Bundestag bzw. beziehungsweise d.h. das heißt DaF Deutsch als Fremdsprache DaZ Deutsch als Zweitsprache Abb. AbH Abs. AES AKI
326 ders. Dipl.-Pol. Dr. Drs. dt. durchges. e.V. ebd. EBLUL ed. eds. efms
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derselbe Diplom-Politikwissenschaftler/in Doktor/in Drucksache deutsch durchgesehen/e eingetragener Verein ebenda European Bureau for Lesser-Used Languages editor editors europäisches forum für migrationsstudien, Universität Bamberg EG Europäische Gemeinschaft EGV Vertrag zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft EKD Evangelische Kirche in Deutschland em. emeritiert ENAR European Network against Racism – Europäisches Netzwerk gegen Rassismus EQJ-Programm Programm: Einstiegsqualifizierung Jugendlicher ERRC European Roma Rights Centre, Budapest erw. erweitert/e etc. et cetera EU European Union EUMC EU Monitoring Centre on Racism and Xenophobia – Europäische Stelle zur Beobachtung von Rassismus und Fremdenfeindlichkeit, Wien EUR Euro EVG Europäische Verteidigungsgemeinschaft evtl. eventuell f. folgende G Grundgesetz GFBM Gesellschaft für berufliche Maßnahmen, Berlin GUS Gemeinschaft Unabhängiger Staaten H. Heft hg. v. herausgegeben von Hg. Herausgeber/in HSFK Hessische Stiftung für Friedens- und Konfliktforschung i.e. id est – das heißt i.E. im Erscheinen
Abkürzungsverzeichnis
IAA IAPASIS IBKM IBQM ibv ICEUS IMIS IMK INBAS IntV Jg. Kap. KOM LBR/NL LKA m. M.A. m.E. MdB MPG neubearb. No. Nr. NRW o.J. o.O. OBST OKM OMC OMK p. P.E.A.Ce
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Internationales Arbeitsamt, Genf Informal Administration Practices and Shifting Immigrant Strategies in four member-states, EU-Forschungsprojekt Institut für Bildung und Kommunikation in Migrationsprozessen, Universität Oldenburg Initiativstelle Berufliche Qualifizierung von Migratinnen und Migranten im Bundesinstitut für Berufsbildung (BIBB), Bonn Informationen für die Vermittlungs- und Beratungsdienste der Bundesanstalt für Arbeit Intercultural Communication and European Studies, Hochschule Fulda Institut für Migrationsforschung und Interkulturelle Studien, Universität Osnabrück Innenministerkonferenz bzw. Konferenz der Landesinnenminister Institut für berufliche Bildung, Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik Integrationskursverordnung Jahrgang Kapitel Europäische Kommission Landelijk Bureau ter bestrijding van Rassendicriminatie, Niederlande Landeskriminalamt männlich Magister Artium – Magistra Artium meines Erachtens Mitglied des Bundestags Migration Policy Group, Brüssel neubearbeitet number Nummer Nordrhein-Westfalen ohne Jahr ohne Ort Osnabrücker Beiträge zur Sprachtheorie Offene Koordinierungsmethode Open Method of Co-ordination Offene Methode der Koordination page Potenzial-Ermittlungs-Assessmentcenter
328 PH PISA pp. Prof. resp. Romani CRISS S. s. s.o. SBS SOEP SOFI sog. StAG TGD u.a. UK ULME vgl. VHS Vol. vs. w. WIN Z. z.B. z.T. ZAR zit. ZWH
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Pädagogische Hochschule Programme for International Student Assessment pages Professor/in respektive Centrul Romilor pentru Interventie Sociala si Studii – RomaZentrum für Soziale Interviention und Studien Seite siehe siehe oben Special Broadcasting Service Sozio-Ökonomischer Panel Soziologisches Forschungsinstitut Göttingen, Georg-AugustUniversität so genannt/e/r Staatsangehörigkeitsgesetz Türkische Gemeinde in Deutschland und andere United Kingdom Untersuchung der Leistungen, Motivation und Einstellungen zu Beginn der beruflichen Ausbildung vergleiche Volkshochschule Volume versus weiblich Wet Inburgering Nieuwkomers – Gesetz über die Eingliederung von Neuzuwanderern Zeile zum Beispiel zum Teil Zeitschrift für Ausländerrecht und Ausländerpolitik zitiert Zentralstelle für die Weiterbildung im Handwerk
Autor(inn)en
Prof. Dr. Sigrid Baringhorst, Hochschullehrerin für Politikwissenschaft an der Universität Siegen Prof. Dr. Gisela Baumgratz-Gangl, Hochschullehrerin für Kulturwissenschaften an der Hochschule Fulda Prof. Dr. Ursula Boos-Nünning, Hochschullehrerin für Erziehungswissenschaften an der Universität Duisburg/Essen Dr. Norbert Cyrus, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Politikwissenschaft an der Universität Oldenburg Dr. Schahrzad Farrokhzad, freiberufliche Wissenschaftlerin, Beraterin und Trainerin mit den Arbeitsschwerpunkten Migration und Geschlechterverhältnisse, Interkulturelle Bildung und Kommunikation Prof. Dr. Gudrun Hentges, Hochschullehrerin für Politikwissenschaft an der Hochschule Fulda Prof. Dr. Volker Hinnenkamp, Hochschullehrer für interkulturelle Kommunikation an der Hochschule Fulda Prof. em. Dr. Peter Kühne, Dortmund Nerissa Schwarz, M.A., Absolventin des Master-Studiengangs „Intercultural Communication and European Studies“ (ICEUS) an der Hochschule Fulda Prof. Dr. Annette Treibel, Hochschullehrerin für Soziologie an der Pädagogischen Hochschule Karlsruhe Prof. Dr. Almut Zwengel, Hochschullehrerin für Soziologie an der Hochschule Fulda