Rolf Eickelpasch · Claudia Rademacher Philipp Ramos Lobato (Hrsg.) Metamorphosen des Kapitalismus – und seiner Kritik
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Rolf Eickelpasch · Claudia Rademacher Philipp Ramos Lobato (Hrsg.) Metamorphosen des Kapitalismus – und seiner Kritik
Rolf Eickelpasch Claudia Rademacher Philipp Ramos Lobato (Hrsg.)
Metamorphosen des Kapitalismus – und seiner Kritik
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.
1. Auflage 2008 Alle Rechte vorbehalten © VS Verlag für Sozialwissenschaften | GWV Fachverlage GmbH, Wiesbaden 2008 Lektorat: Frank Engelhardt VS Verlag für Sozialwissenschaften ist Teil der Fachverlagsgruppe Springer Science+Business Media. www.vs-verlag.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Umschlaggestaltung: KünkelLopka Medienentwicklung, Heidelberg Druck und buchbinderische Verarbeitung: Krips b.v., Meppel Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier Printed in the Netherlands ISBN 978-3-531-15780-1
Inhalt
Vorwort ............................................................................................................................. 007 Rolf Eickelpasch/Claudia Rademacher/Philipp Ramos Lobato Diskursverschiebungen der Kapitalismuskritik – eine Einführung .................................. 009
Teil I Diskursverschiebungen der Kapitalismuskritik Franz Schultheis What’s left? Von der Desorientierung zur selbstreflexiven Standortbestimmung linker Gesellschaftskritik .................................................................................................. 021 Tobias Künkler Produktivkraft Kritik. Die Subsumtion der Subversion im neuen Kapitalismus .............. 029 Karin Priester Messianischer Populismus von links? Anmerkungen zu dem Werk Empire von Michael Hardt und Antonio Negri ............................................................................. 048 Sven Kluge Affirmativer Protest – Ambivalenzen und Affinitäten der kommunitaristischen Kapitalismuskritik .......................................................................... 059 Frigga Haug „Schaffen wir einen neuen Menschentyp“ – Von Ford zu Hartz ...................................... 080
Teil II Von den Rändern ins Zentrum? Berthold Vogel Die Begriffe und das Vokabular sozialer Ungleichheit – in Zeiten ihrer Verschärfung ............................................................................................. 093 Klaus Kraemer Alles prekär? Die Prekarisierungsdebatte auf dem soziologischen Prüfstand .................. 104 Claudia Rademacher/Philipp Ramos Lobato „Teufelskreis oder Glücksspirale?“ Ungleiche Bewältigung unsicherer Beschäftigung ................................................................................................. 118
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Inhalt
Olaf Groh-Samberg Armut, soziale Ungleichheit und die Perspektiven einer „Erneuerung der Sozialkritik“ ........................................................................................... 148 Enrico Reuter Weniger ist mehr – Plädoyer für einen ‚exklusiven’ Exklusionsbegriff ........................... 171
Teil III Auswege – Perspektiven kritischer Praxis Alessandro Pelizzari Widerständiges Prekariat? Probleme der Interessenvertretung in fragmentierten Arbeitsmärkten ......................................................................................... 193 Hildegard-Maria Nickel/Hasko Hüning Frauen an die Spitze? Zur Repolitisierung der Arbeits- und Geschlechterdebatte ........... 216 Elisabeth Tuider Umarmter Protest. Soziale Bewegungen in Mexiko zwischen diskursiver Vereinnahmung und eigensinniger Widerständigkeit ....................................................... 239
Die Autorinnen und Autoren ............................................................................................ 253
Vorwort
Idee und Konzeption des vorliegenden Sammelbands sind aus dem Forschungskolloquium Gesellschaftstheorie und Zeitdiagnose am Institut für Soziologie der Universität Münster hervorgegangen. Eine intensive Diskussion neuerer kapitalismustheoretischer und -kritischer Ansätze – im Zentrum standen die den aktuellen Diskurs dominierenden Studien Empire von Hardt/Negri, Der neue Geist des Kapitalismus von Boltanski/Chiapello, Die Metamorphosen der sozialen Frage von Castel und die an Foucault anschließenden Gouvernementalitätsstudien – hatte zu der Einsicht geführt, dass wir Augenzeugen tiefgreifender Transformationen des kapitalistischen Systems sind, denen mit den klassischen Instrumenten der Kapitalismusanalyse und -kritik (‚Klasse’, ‚Ausbeutung’, ‚Entfremdung’, ‚Revolution’ etc.) nicht mehr beizukommen ist. Anliegen dieses Bandes ist es, die aktuellen Diskursverschiebungen der Kapitalismusanalyse und -kritik, die auf die ‚postfordistische’ Transformation des kapitalistischen Systems antworten, aus unterschiedlichen Perspektiven auszuloten und einer kritischen Diskussion zu unterziehen. Die im Titel verwandte – von Castel inspirierte – biologische Metapher der Metamorphose unterstellt nicht etwa eine Konstanz unter dem Wandel der Oberfläche, sondern zielt ganz im Gegenteil auf die Radikalität der sozioökonomischen Umwälzungen: „Eine Metamorphose erschüttert die Gewissheiten und setzt die gesamte Gesellschaftslandschaft neu zusammen.“ (Castel) Der Band versammelt Beiträge von NachwuchswissenschaftlerInnen wie von exponierten FachvertreterInnen. Unser Dank gebührt allen AutorInnen gleichermaßen, nicht zuletzt aber auch den Kolloquiumsmitgliedern, die keinen eigenen Beitrag verfasst, durch ihre rege Diskussionsbereitschaft jedoch zum Gelingen des Projekts beigetragen haben. Herrn Frank Engelhardt vom VS-Verlag danken wir für die gute verlegerische Betreuung.
Rolf Eickelpasch Claudia Rademacher Philipp Ramos Lobato
Münster, den 15. Mai 2008
Diskursverschiebungen der Kapitalismuskritik – eine Einführung
Rolf Eickelpasch/Claudia Rademacher/Philipp Ramos Lobato
Der Zusammenbruch des ‚real existierenden Sozialismus’ in Osteuropa und der folgende globale Siegeszug eines entfesselten Kapitalismus haben die kritischen Gesellschaftswissenschaften in eine tiefe Identitäts- und Orientierungskrise gestürzt, von der sie sich bis heute nicht erholt haben. Die klassischen, diskurskonstituierenden Vokabeln der Gesellschafts- und Kapitalismuskritik – ‚Revolution’, ‚Sozialismus’, ‚Klasse’, ‚Ausbeutung’, ‚Entfremdung’ etc. – sind vielfach diskreditiert und erscheinen merkwürdig stumpf und verbraucht, allenfalls „gut für die Vitrinen historischer Museen“ (Schultheis 2006: 128). Die globale Durchsetzung des Kapitalismus, verbunden mit der warenförmigen Einebnung traditioneller Lebenszusammenhänge und kultureller Milieus, erzeugt eine Eindimensionalität der gesellschaftlichen Verhältnisse, der gegenüber es kein Entrinnen mehr zu geben scheint. „Die grenzenlose Durchkapitalisierung der Welt erscheint unaufhaltsam.“ (Hirsch 1990: 118) Der unangefochten den Globus umspannende und jeden Blick nach außen verwehrende „Weltinnenraum des Kapitals“ (Sloterdijk 2005) verleiht den düsteren Diagnosen der Kritischen Theorie eine bedrückende Aktualität. „Kein Standort außerhalb des Getriebes lässt sich mehr beziehen, von dem aus der Spuk mit Namen zu nennen wäre“, hatte Adorno (1972: 369) schon vor 40 Jahren geklagt. Nicht nur für Adorno hat sich der Glaube an die welthistorische Mission der Arbeiterklasse als Trugschluss erwiesen. Zwar bestehen ‚objektiv’ Klassengegensätze weiter oder haben sich gar noch verschärft (wie schon ein oberflächlicher Blick in den „Armuts- und Reichtumsbericht“ der Bundesregierung belegt), doch ist die ‚Klasse’ der Ausgebeuteten und Unterdrückten im ‚postfordistisch’ transformierten Kapitalismus durch immer neue ‚Individualisierungsschübe’ vielfach durchmischt und durcheinander gewirbelt worden. Im Zuge der Individualisierung alltäglicher Lebensformen und Verhaltensmuster und des schrittweisen Rückzugs des Staates aus der Verantwortung für eine solidarische Daseinsvorsorge werden die Individuen aus den traditionellen Sozial- und Solidarformen ‚entbettet’ und schutzlos dem eisigen Wind einer brutalen Marktradikalisierung ausgesetzt. Begleitet und verstärkt wird dieser Prozess von einer grundlegenden Veränderung der normativen Anforderungen an das ‚Humankapital’, zentriert um Begriffe wie ‚Eigenverantwortung’, ‚Autonomie’, ‚Selbstbestimmung’, ‚Mobilität’, ‚Flexibilität’, ‚Kreativität’. Der geforderte Persönlichkeitstypus des marktgängigen, geographisch mobilen, beruflich flexiblen und privat ungebundenen ‚employable man’ bzw. des ‚unternehmerischen Selbst’ spiegelt direkt die Grundzüge des neoliberalen Wirtschafts- und Gesellschaftsmodells wider. Die ‚Logik’ des Kapitals, seine Tendenz zur totalen Unterwerfung allen Lebens unter das Warenverhältnis und zur Verdinglichung der sozialen Beziehungen, scheint endgültig zu triumphieren, und zwar weltweit. Alles in allem haben die hier nur angedeuteten realhistorischen Transformationen des Kapitalismus die Bedingungen für eine emanzipative Veränderung der gesellschaftlichen
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Verhältnisse um die Jahrtausendwende grundlegend gewandelt. Der neoliberal-postfordistische Kapitalismus von heute ist ein radikal anderer als der keynesianisch-fordistische, sozialstaatlich eingehegte Kapitalismus der 2. Hälfte des letzten Jahrhunderts: Er zeigt andere Vergesellschaftungsformen, andere Ungleichheitsstrukturen, andere soziale Konfliktfronten, andere Krisenverläufe. Eine sozialwissenschaftliche Kapitalismusanalyse und -kritik, die nicht in politische Bedeutungslosigkeit verfallen will, muss den veränderten historischen Bedingungen Rechnung tragen. Sie darf sich daher weder in den antiquierten Begriffsschablonen einer marxistischen Klassen- oder Revolutionstheorie verfangen noch darf sie der Gefahr erliegen, die herrschenden Tendenzen warenförmiger Vergesellschaftung negativistisch zu einem hermetisch geschlossenen und widerspruchslosen „Verblendungszusammenhang“ (Adorno) oder zu einem unentrinnbaren „stahlharten Gehäuse der Hörigkeit“ (Weber) zu verdichten. Eine avancierte und politisch wirksame Gesellschaftsund Kapitalismuskritik muss die neuen Erscheinungsformen des Kapitalismus zur Kenntnis nehmen und sie unter dem Aspekt ihrer Veränderbarkeit darstellen. Vor allem aber muss sie die wissenschaftliche Analyse mit den Erfahrungen vorhandener Oppositions- und Protestbewegungen verbinden. Eben diesem Anspruch suchen prominente Theorieentwürfe zu genügen, die seit einiger Zeit den kapitalismuskritischen Diskurs in den Sozialwissenschaften bestimmen. Beispielhaft sei hier auf das Buch Empire von Michael Hardt und Antonio Negri, auf die Studie Der neue Geist des Kapitalismus von Luc Boltanski und Ève Chiapello und auf die von Michel Foucault inspirierten governmentality studies verwiesen. Bei aller Differenz der theoretischen Zugänge und der politischen Verortung treffen sich diese Theoriemodelle in einer Grundannahme, die gewissermaßen das Leitmotiv der Kapitalismuskritik in Zeiten des ‚Postfordismus’ bildet: der Unterstellung einer radikalen Immanenz und Selbstbezüglichkeit gesellschaftlicher Verhältnisse. „Es gibt keinen ‚Weg nach draußen’, weil es kein ‚draußen’ gibt“, wie Keenan (1987: 29) im Anschluss an Foucault insistiert. Diese geradezu paradigmatische Diskursverschiebung wirft nun aber gravierende Probleme für die Begründung einer theoretisch schlüssigen und politisch wirksamen Kapitalismuskritik auf. Worauf könnte sich eine kritische Perspektive gründen, an welche Instanz könnte sie appellieren, auf welche sozialen Trägergruppen sich stützen, wenn sich jede ‚archimedische’ Kritik, jede Berufung auf einen transzendenten oder externen Standort, jedes Operieren mit den vertrauten Oppositionen von Basis/Überbau, Sein/Bewusstsein, Selbstbestimmung/Fremdbestimmung, Freiheit/Unterdrückung verbietet? Der Beantwortung eben dieser Frage gelten die theoretischen Anstrengungen der erwähnten Forschungsansätze – mit höchst unterschiedlichen Ergebnissen, wie sich zeigen lässt.
Hardt/Negri begründen die Perspektive der Immanenz, welche sie ihrer Analyse des ‚Empire’ zugrunde legen, mit dem aus dem Poststrukturalismus (Foucault/Deleuze) entlehnten Konzept der ‚Biopolitik’. Biopolitik markiert eine neue Etappe kapitalistischer Produktion, den Übergang vom Imperialismus zum Empire. Die Schaffung von ‚Leben’ ist Hardt/Negri zufolge im Empire nicht mehr auf die Reproduktionssphäre beschränkt, sondern integraler Bestandteil der Produktion selbst. ‚Biopolitik’ verweist auf die vielfache Implosion überkommener Grenzziehungen, nicht nur zwischen Produktion und Reproduktion, sondern auch zwischen gesellschaftlicher Produktion und ideologischer Legitimation, zwischen Natur und Kultur, Mensch und Maschine. Insofern die imperiale „Kontrollgesellschaft“
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kraft ihrer „Biomacht“ Subjekte nicht nur unterwirft, sondern hervorbringt, Natur nicht nur ausbeutet, sondern produziert, stellt sie eine „autopoietische Maschine“ (Hardt/Negri 2002: 48) dar, d.h. einen sich selbst erzeugenden und rechtfertigenden Kosmos. Eine Perspektive von Widerstand und Kritik lässt sich innerhalb eines solchen poststrukturalistischen, radikal anti-essentialistischen Bezugsrahmens, der jeden externen Standort verbietet, offenbar nur um den Preis theoretischer Inkonsequenzen gewinnen. In offenkundigem Widerspruch zu ihrer „revolutionären Entdeckung der Immanenz“ (ebd.: 84) suchen die Autoren Zuflucht bei einer messianisch-revolutionären Perspektive, die einen neuen, letztlich ontologischen „Grundwiderspruch“ des imperialen Kapitalismus unterstellt: den zwischen produktiver, vitaler und autonomer „Menge“ (multitude) und dem unproduktiven, parasitär-zerstörerischen „Empire“. In dieser vitalistischen Perspektive bestimmt nicht mehr das Sein das Bewusstsein, sondern das Begehren bestimmt das Handeln. „Der unterjochend-begrenzenden Macht steht die befreiende Entgrenzung der Multitude (des ‚Volkes’ im Weltmaßstab) gegenüber.“ (Priester in diesem Band: 53f)
Fernab eines derartigen messianischen Irrationalismus liefern Boltanski und Chiapello in ihrer Aufsehen erregenden Studie Der neue Geist des Kapitalismus eine originelle, empirisch und historisch ungemein informierte und auf die fortbestehende Deutungskraft klassischer sozialwissenschaftlicher Paradigmen vertrauende Analyse der Funktionsweise und inneren Dynamik des kapitalistischen Systems sowie der vor unseren Augen ablaufenden gesellschaftlichen Transformationsprozesse. Auch Boltanski/Chiapello gehen – wenn auch auf anderen und weit überzeugenderen theoretischen Grundlagen als Hardt/Negri – von einer wesensmäßigen ‚Immanenz’ des kapitalistischen Systems aus; auch sie unterstellen, dass sich der neue Kapitalismus mit den Instrumenten vergangener Protestbewegungen kaum deuten und bekämpfen lässt. Ihrer Kernthese zufolge beruht die immer wieder überraschende Vitalität und scheinbare Unausweichlichkeit des Kapitalismus nicht etwa auf seiner Kritikresistenz, sondern auf seiner Selbsterneuerungskraft, d.h. auf seiner Fähigkeit, kritische Gegenentwürfe und Protestpotenziale aufzusaugen, ‚produktiv’ zu wenden und dadurch im gleichen Zuge zu depotenzieren und zu paralysieren. Der „Geist des Kapitalismus“ ist, wie die beiden Autoren überzeugend nachweisen, von Beginn an mit seiner Antithese, der Kapitalismuskritik, verschwistert. Diese lässt sich in zwei Typen differenzieren, die sich aus unterschiedlichen „Quellen der Empörung“ speisen: Während die „Künstlerkritik“, die ihre Wurzeln in der Bohème des 19. Jahrhunderts hat, sich an entfremdeter Arbeit, an Sinnverlust und fehlender Authentizität entzündet, wendet sich die „Sozialkritik“ der Arbeiterbewegung vorrangig gegen Ausbeutung und materielle Not. Vor allem die Künstlerkritik ist nun, so die Gegenwartsdiagnose von Boltanski/Chiapello, in den letzten Jahrzehnten in eine Art ‚Siegkrise’ geraten, weil ihre wichtigsten Bestandteile, etwa die Forderungen nach Emanzipation, Autonomie und Authentizität, vom neuen, „projektbasierten“ Netzwerkkapitalismus ‚einverleibt’ worden sind. In einer konnexionistischen Welt sind Eigenverantwortung, Selbstkontrolle, Kreativität, Flexibilität und Mobilität Grundforderungen an das ‚Humankapital’. Zu den Paradoxien dieses Gesellschaftstypus zählt es, dass das Mehr an Autonomie durch ein Weniger an Sicherheit ‚erkauft’ wird. Die fortschreitende ‚Subjektivierung der Arbeit’ erzeugt in Verbindung mit dem Rückzug des Staates aus der Daseinsvorsorge neue
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„Verwundbarkeiten“ (Castel 2000) in Gestalt fragmentierter Erwerbsbiographien, prekärer Beschäftigungsverhältnisse und sozialer ‚Exklusion’ all derjenigen, die durch die radikalisierte Marktkonkurrenz schlicht überfordert sind. An diesen systematisch erzeugten neuen Formen der Verwundbarkeit, Schutzlosigkeit und Ausgrenzung entzündet sich eine erneuerte „Sozialkritik“. Einen dauerhaften Mobilisierungseffekt und damit politischen Erfolg kann Boltanski/Chiapello zufolge die neue Sozialkritik – die sie in humanitären Aktionen und sozialen Bewegungen der 80er und 90er Jahre in Frankreich repräsentiert sehen – nur erzielen, wenn es ihr gelingt, die neuartigen Formen von Armut und individuellem Leid, die im Zuge der kapitalistischen Formationen entstanden sind, zu politisieren. Dazu ist es aber notwendig, das Ausgrenzungsthema, das zu einer „Politik des Gefühls“ gehört, in eine revidierte, mit der konnexionistischen Welt kompatible Theorie der „Ausbeutung“ zu überführen. „Erst eine solche Theorie könnte den ‚Ausgegrenzten’ die Last einer einseitigen, individuellen Verantwortung bzw. einer unausweichlichen Fatalität abnehmen.“ (Boltanski/ Chiapello 2003: 389) Eine auf Wirksamkeit bedachte Kritik, so eine Zentraleinsicht der Autoren, muss sich jedes externen Standorts entschlagen. Sie verzichtet auf die Aura von Revolte und vom nahen Zeitalter eines Reichs der Freiheit und übt sich stattdessen in der Tugend reformistischer Bescheidenheit, sucht mit den jeweiligen Transformationen des kapitalistischen Systems auf Tuchfühlung zu bleiben, unablässig Verschiebungen vorzunehmen und neue Waffen zu schmieden. Noch in ihren extremsten Varianten „hat sie stets ‚etwas’ gemeinsam mit dem, was sie kritisieren will.“ (Ebd.: 84) Diese unhintergehbare Dialektik zwischen Kapitalismus und Kritik, zwischen realgesellschaftlichen Transformationen und diskursiven Verschiebungen verurteilt jede mit revolutionärem Pathos vorgetragene Radikalkritik, die darauf zielt, „den Spieltisch umzustürzen“ (Bourdieu), zur politischen Bedeutungs- und Folgenlosigkeit.
Auch der dritte Theoriestrang innerhalb der aktuellen Diskursverschiebung der Kapitalismuskritik, zentriert um das den Spätschriften Michel Foucaults entlehnte Konzept der ‚Gouvernementalität’, nimmt unter Preisgabe jedes romantischen Rests revolutionärer Phantasie eine Perspektive radikaler Immanenz gesellschaftlicher Machtverhältnisse ein – wenn auch unter anderen theoretischen Vorzeichen als bei Boltanski/Chiapello und konsequenter durchgehalten als bei Hardt/Negri. Im Mittelpunkt der theoretischen Neuorientierung Foucaults in den späteren Arbeiten steht der Begriff des ‚Regierens’. Dieser greift weit über die Sphäre des Staates hinaus und bezieht sich auf „die Gesamtheit von Prozeduren, Techniken und Methoden, welche die Lenkung der Menschen untereinander gewährleisten“ (Foucault 1996: 118). Mit dem Konzept der „Regierung“ führt Foucault eine neue Dimension in seine Machtanalyse ein, die es erlaubt, Machtbeziehungen unter dem Aspekt von „Führung“ zu untersuchen. Die Begriffe „Regierung“ und „Führung“ vermitteln zwischen Macht und Subjektivität. „Auf diese Weise wird es möglich zu untersuchen, wie Herrschaftstechniken sich mit ‚Technologien des Selbst’ verknüpfen.“ (Lemke/Krasmann/Bröckling 2000: 8) Foucaults Interesse für Selbsttechnologien in den Spätschriften signalisiert also nicht, wie vielfach angenommen, einen Abschied von der Machtanalytik, sondern dient der Erweiterung und Verfeinerung seiner „Mikrophysik der Macht“. Gerade die historisch spezifischen Formen der Artikulation zwischen Herrschafts- und Selbststechniken – Foucault prägt hierfür den Begriff der Gou-
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vernementalität – stehen im Fokus seines Interesses. „Man muss die Punkte analysieren, an denen die Techniken der Herrschaft über Individuen sich der Prozesse bedienen, in denen das Individuum auf sich selbst einwirkt.“ (Foucault 1993: 203) Das Spezifikum neoliberaler Gouvernementalität besteht nun für Foucault und die an ihn anschließenden Gouvernementalitätsstudien in der Durchsetzung einer ‚autonomen’ Subjektivität als gesellschaftliches Leitbild, wobei die geforderte ‚Eigenverantwortung’ und ‚Selbstbestimmung’ in der Ausrichtung des eigenen Lebens an Markterfordernissen und betriebswirtschaftlichen Effizienzkriterien besteht. Da die Wahl der Handlungsoptionen als Ausdruck eines freien Willens erscheint, sind die Folgen des Handelns allein dem Individuum als „unternehmerisches Selbst“ (Bröckling 2007) zuzurechnen. Gesellschaftliche Risiken – wie Krankheit, Arbeitslosigkeit oder Armut – werden so zu einer Angelegenheit privater Daseinsvorsorge transformiert. Selbstbestimmung, Eigenverantwortung und Wahlfreiheit signalisieren also im Rahmen neoliberaler Gouvernementalität nicht die Grenze des Regierungshandelns, sondern sind selbst Effekt und Instrument des Regimes der unternehmerischen Selbstoptimierung und die entscheidende Triebkraft im neoliberalen Kapitalismus. „Konzepte wie Aktivierung, Empowerment, Partizipation und Flexibilität, deren Wurzeln auf die Kämpfe sozialer Emanzipationsbewegungen zurückweisen, haben sich in institutionelle Anforderungen und normative Erwartungen verwandelt – Subversion ist zur Produktivkraft geworden.“ (Bröckling/Krasmann/Lemke 2004: 14) Exakt diesen Prozess beschreiben Boltanski/Chiapello als „Inkorporierung der Künstlerkritik“. Die Parallelität der Gegenwartsdiagnosen ist umso verblüffender, als sie auf disparaten theoretischen und methodischen Prämissen beruhen. Eben diese Differenz der analytischen Perspektiven führt dann aber zu völlig divergenten Konzeptualisierungen von Widerstand und Kritik in beiden Ansätzen. Während Boltanski/ Chiapello in ihrer Forderung nach einem revidierten Ausbeutungsbegriff als Grundlage einer erneuerten Sozialkritik jedenfalls implizit ein vorsoziales, integres Ich – als ‚Gegenstand’ von Ausbeutung – in Anschlag bringen müssen, wird in der poststrukturalistischen Perspektive der Gouvernementalitätsstudien jede Differenz von Selbstzwang und Fremdzwang, Autonomie und Fremdbestimmung, Freiheit und Unterdrückung radikal eingeebnet. Wenn es aber ein vom neoliberalen Regime der Gouvernementalität unberührtes Außen oder einen ihm entzogenen Innenraum des Subjekts nicht gibt, dann muss Kritik auf einen externen ‚Standpunkt’, von dem aus sie ihren Einspruch erheben könnte, verzichten. Wenn Widerstand, Subversion und Anders-Sein sich als Funktionsbedingung und ‚Schmiermittel’ des Systems erweisen, bleibt der Kritik als letzter Fluchtpunkt nur die „paradoxe Aufgabe, anders anders zu sein“ (Bröckling 2007: 285) Der Impuls, „anders anders zu sein“, bzw. „nicht dermaßen regiert zu werden“ (Foucault), speist sich in gouvernementalitätstheoretischer Sicht aus der Lücke zwischen dem totalitären und unabschließbaren Anspruch des neoliberalen Marktregimes und seiner stets nur partiellen Einlösung und der daraus entspringenden „Wut, nicht zu genügen“ (Bröckling 2007: 290). Nicht Ausbeutung und materielle Not (wie bei Boltanski/Chiapello) sind demnach Quellen der Empörung, sondern der Absolutismus neoliberaler Gouvernementalität, der zu einer konstitutiven Überforderung des unternehmerischen Selbst führt. Diese Denkfigur wirft nun aber eine Reihe von Fragen auf. Abgesehen davon, dass sie – in offenem Widerspruch zu den Grundannahmen des Gouvernementalitätsansatzes – ohne die implizite Unterstellung eines leidenden Subjekts und damit eines vorsozialen ‚Außen’ nicht auskommt, bleibt offen, unter welchen Bedingungen die gegen die „Tyrannei der
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Selbstverantwortung“ (ebd.: 290) rebellierenden Individuen ihre Wut in solidarischen Widerstand überführen und unter welchen sie diese – als Depression und individuelles Unglück – ausschließlich gegen sich selbst richten, was wiederum eine Bestätigung dieser Tyrannei wäre. Mit dem Überbietungsgestus des Imperativs, „anders anders zu sein“, wird jedenfalls, wie es scheint, dem selbstkonstruierten paradoxalen Immanenzzusammenhang von Autonomie und Fremdbestimmung, von Freiheit und Unterdrückung kaum zu entkommen sein.
Die Beiträge des Bandes In den Beiträgen des Bandes werden aktuelle Diskursverschiebungen der Kapitalismusanalyse und -kritik, die auf die ‚neoliberale’ Transformation des kapitalistischen Systems antworten, vorgestellt und einer kritischen Analyse unterzogen. Die Leitfrage wird dabei sein, wie eine theoretisch schlüssige und praktisch aussichtsreiche Kapitalismuskritik zu konzipieren wäre, an welche Instanzen sie appellieren und auf welche sozialen Trägergruppen, Bewegungen und Widerstandspotenziale sie sich stützen könnte, nachdem die klassischen Instrumente der Gesellschaftskritik in vielfacher Weise diskreditiert sind und sich als stumpf und überholt erwiesen haben.
Diskursverschiebungen der Kapitalismuskritik Der erste Block des Bandes versammelt Beiträge, die wichtige Stränge der aktuellen Kapitalismuskritik in ihren Konturen nachzeichnen und sie auf ihre theoretische Schlüssigkeit, ihre empirische Triftigkeit und ihre politisch-praktischen Implikationen befragen. Franz Schultheis beleuchtet in seinem Beitrag die Orientierungskrise linker Gesellschaftstheorie und -kritik nach 1989 unter den Aspekten sozialstruktureller Transformationen (Bedeutungsverlust der Arbeiterklasse und Hegemonie neuer Mittelschichten) und des Auftauchens einer neuen sozialen Frage (Prekarisierung) und fragt in Anlehnung an Boltanski/Chiapello nach dem Anteil der Gesellschaftskritik an der Lernfähigkeit und Modernisierung des Kapitalismus. Der Beitrag von Tobias Künkler geht den Schwierigkeiten und Aporien der Gesellschafts- und Kapitalismuskritik nach, die sich dadurch ergeben, dass im neuen Kapitalismus Kritik sich zur Produktivkraft entwickelt hat und dadurch ‚Subversion’ und ‚Subsumtion’ nicht mehr klar voneinander zu trennen sind. In einer vergleichenden Diskussion werden die Studie Der neue Geist des Kapitalismus von Boltanski/Chiapello und die an Foucault anschließenden gouvernementalitätstheoretischen Studien daraufhin befragt, ob sie theoretisch schlüssige Perspektiven für eine Erneuerung der Kapitalismuskritik enthalten. Karin Priester untersucht am Beispiel des linken Erfolgsbuches Empire von Hardt/ Negri Voraussetzungen und Grundannahmen eines ‚populistischen’ Anarchismus. Mit dem Begriff der ‚Sorelisierung’ bezeichnet sie einen Prozess, der in Anlehnung an das Werk des französischen Anarchosyndikalisten Georges Sorel die Ambivalenzen eines ideologischen Diskurses vor dem Hintergrund der Entstehung des Prekariats als neuem gesellschaftsverändernden Subjekt aufzeigt.
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Der Aufsatz von Sven Kluge konzentriert sich auf die Hauptströmung der seit den 90er Jahren auch in der Bundesrepublik vermehrt rezipierten Kapitalismus- und Modernekritik des ‚Kommunitarismus’. In ideologiekritischer Perspektive werden hier einige bislang wenig beachtete Affinitäten zu geisteswissenschaftlich-neokonservativen Traditionslinien herausgearbeitet. Andererseits zeigt Kluge aber auch auf, dass der im Kommunitarismus zentrale Topos der ‚Gemeinschaft’ für das Projekt einer nicht-affirmativen Kapitalismuskritik von hoher Relevanz ist. Frigga Haug unternimmt in ihrem Beitrag eine sprach- und ideologiekritische Analyse des 2001 erschienenen Buches Job-Revolution von Peter Hartz, dem Begründer und Vordenker der ‚Hartz-Reformen’ und der Agenda 2010, die bis heute die Grundlage der Arbeitsmarktpolitik der Bundesregierung bilden. Sie liest dieses Buch nicht nur als Vorschlag für Arbeitsmarktpolitik, sondern auch als Aufbruch in eine neue politische Kultur. Unter methodischen Rückgriff auf Gramsci zeigt sie auf, wie Hartz mittels einer suggestiven, der Werbung entlehnten Rhetorik und unter Indienstnahme ursprünglich emanzipativ gemeinter Begriffe – wie Zeitsouveränität, Selbst, Selbstbestimmung, Mündigkeit etc. – nicht nur eine neue Arbeitsweise, sondern eine neue Lebensweise, ja einen radikal neuen Menschentypus propagiert: einen Menschentypus, wie die ‚postfordistische’ Produktionsweise ihn verlangt.
Von den Rändern ins Zentrum? Die Arbeiten des zweiten Blocks befassen sich – zentriert um Begriffe wie ‚Prekarität’, ‚Exklusion’ oder ‚neue Armut’ – mit den neuen Risiken, Ungleichheiten, Konfliktlinien und sozialen Verwerfungen im ‚postfordistisch’ transformierten Kapitalismus, an denen sich die aktuelle Gesellschaftskritik entzündet. Berthold Vogel plädiert in seinem Beitrag dafür, das Vokabular der kritischen Soziologie sozialer Ungleichheit neu zu bedenken. Im Mittelpunkt dieses Plädoyers stehen die Begriffe der ‚sozialen Verwundbarkeit’ und des ‚prekären Wohlstands’. In ihnen spiegelt sich eine neue Zone sozialer Unsicherheiten und Ungleichheiten. Insbesondere für Fachangestellte und Facharbeiter wachsen im Zuge wohlfahrtsstaatlichen und arbeitsgesellschaftlichen Wandels soziale Risiken und berufliche Gefährdungen. In den Vordergrund sozialwissenschaftlicher Forschung treten daher veränderte Konfliktfelder, die in der Mitte der Gesellschaft lokalisiert sind. Spaltungsbegriffe des Sozialen werden diesen Entwicklungen nicht mehr gerecht. Klaus Kraemer schlägt in seinem Aufsatz vor, Prekarisierungsprozesse nicht nur auf der Ebene der Erwerbsarbeit zu untersuchen. Vielmehr wird ein mehrdimensionales Konzept skizziert, das ausgehend von der besonderen Bedeutung von Erwerbsarbeit weitere Dimensionen der Lebenslage einbezieht, um differenzierte Aussagen über Prekarisierung in Gegenwartsgesellschaften zu ermöglichen. Im Einzelnen wird gezeigt, dass Aussagen über das prekäre Potenzial einer Beschäftigungsform nur bedingt Rückschlüsse auf die Prekarität der Erwerbs- und Lebenslage zulassen. Zugleich wird vorgeschlagen, systematisch zwischen Prekarität im Sinne einer Abweichung vom Normalarbeitsverhältnis und einer ‚gefühlten’, d.h. subjektiv wahrgenommenen Prekarität zu unterscheiden. Claudia Rademacher und Philipp Ramos Lobato werfen vor dem Hintergrund zunehmender Prekarisierung von Beschäftigungsverhältnissen die Frage auf, mit welchen Strategien die sozialen AkteurInnen in ihren Lebensführungen diese Veränderungen bewältigen.
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Sie zeigen mit Bourdieu und Vester et al. auf, dass der Erfolg von Bewältigungsstrategien von der ‚Passfähigkeit’ milieuspezifischer Habitus abhängt. Prekaritätsanalysen, die diesen Aspekt ausblenden, betreiben, wie dargelegt wird, die Individualisierung sozialer Ungleichheit, die eine Form ‚symbolischer Gewalt’ gegenüber den Betroffenen darstellt. Der Beitrag von Olaf Groh-Samberg greift die Überlegungen von Boltanski und Chiapello zum Versagen und zu einer möglichen „Erneuerung der Sozialkritik“ aus ungleichheitssoziologischer Perspektive auf. In Auseinandersetzung mit den Diskussionen um das Verhältnis von Ausbeutung und Ausgrenzung sowie der verbreiteten Annahme bestehender (relativer) Chancengleichheiten wird die These vertreten, dass erst der Rückbezug sozialer Ungleichheitsentwicklungen auf die aktiven Strategien der sozialen Klassenmilieus ungleichheitssoziologische Perspektiven für eine Erneuerung der Sozialkritik eröffnet. Enrico Reuter versucht in seinem Aufsatz, das analytische und gesellschaftskritische Potenzial des Konzepts der ‚Exklusion’ zu schärfen, das in letzter Zeit in den Fokus der sozialwissenschaftlichen Debatten über neue soziale Ungleichheiten gerückt ist. Die gängigen Einwände gegen dieses vieldeutige Konzept lassen sich, wie er aufzeigt, entkräften, wenn man von einem prozessualen Verständnis sozialer Ausgrenzung ausgeht und die Rolle ausgrenzender Akteure im Zentrum der Gesellschaft in den Blick nimmt. Ebendies ist die Perspektive des von Reuter favorisierten ‚exklusiven’ Exklusionsbegriffs.
Auswege – Perspektiven kritischer Praxis Die im dritten Block vorgelegten Beiträge interessieren sich für die praktisch-politischen Widerstands- und Protestpotenziale gegen die schrankenlose Durchkapitalisierung der Welt und die fortschreitende Durchmarktung aller Lebensbereiche sowie für soziale Bewegungen, die sich um einen Gegenentwurf bemühen. Alessandro Pelizzari diskutiert in seinem Beitrag vor dem Hintergrund empirischer Befunde zu den verschiedenen Formen der Prekarität auf dem schweizerischen Arbeitsmarkt den Stand der kapitalismuskritischen Prekarisierungsforschung und versucht, aus den daraus ablesbaren Verschiebungen in der Sozialstruktur mögliche Anknüpfungspunkte für kollektive Handlungsweisen gegen die allgemeine Verunsicherung der Erwerbsverhältnisse freizulegen. Ausgangspunkt der Argumentation in dem Beitrag von Hildegard-Maria Nickel und Hasko Hüning ist ein Verständnis von Subjektivierung, das dem ‚Eigensinn’ der Subjekte Rechnung trägt und ihnen einen auf ihren ‚praktischen Lebensprozess’ bezogenen Gestaltungswillen zubilligt. Am Beispiel weiblicher Führungskräfte in Unternehmen wird exemplarisch der Spielraum für die eigensinnige Handlungsfähigkeit von Subjekten diskutiert. Der Beitrag zeigt, dass wir es nicht mehr mit einer fest gefügten betrieblichen Arbeitsorganisation und Geschlechterhierarchie zu tun haben und dass Sozialität durch die Individuen selbst hergestellt wird. Dadurch können sich, wie aufgezeigt wird, bei aller Verletzlichkeit, die mit der radikalisierten Vermarktlichung verbunden ist, auch Spielräume für eine aufklärerische Auseinandersetzung mit der Legitimation der am Shareholder Value orientierten Governance eröffnen. Elisabeth Tuider fragt vor dem Hintergrund einer jahrzehntelangen Geschichte der Implementierung des neoliberalen Marktmodells in verschiedenen Ländern Lateinamerikas, ob und wie sich Widerstand gegen die neoliberale Zurichtung des Alltags formiert. Mit
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Blick auf die feministische und zapatistische Bewegung Mexikos steht das Protest- und Veränderungspotenzial sozialer Bewegungen im Fokus des Beitrages. Dabei zeigt sich, dass es sich als wirkungsvolle Strategie des neoliberalen Kapitalismus erweist, Dissidenz und Protest aufzusaugen, ‚produktiv’ zu wenden und dadurch im gleichen Zuge zu entschärfen.
Literatur Adorno, Theodor W. 1972: Spätkapitalismus oder Industriegesellschaft? In: Adorno 1972a: S. 354-370. Adorno, Theodor W. 1972a: Soziologische Schriften I, Gesammelte Schriften, Bd. 8, Frankfurt/M. Boltanski, Luc/Ève Chiapello 2003: Der neue Geist des Kapitalismus. Konstanz. Bremer, Helmut/Andrea Lange-Vester (Hg.) 2006: Soziale Milieus und Wandel der Sozialstruktur. Die gesellschaftlichen Herausforderungen und die Strategien der sozialen Gruppen. Wiesbaden. Bröckling, Ulrich 2007: Das unternehmerische Selbst. Frankfurt/M. Bröckling, Ulrich/Susanne Krasmann/Thomas Lemke (Hg.) 2000: Gouvernementalität der Gegenwart. Frankfurt/M. Bröckling, Ulrich/Susanne Krasmann/Thomas Lemke 2004: Einleitung. In: Dies: (Hg.) 2004: S. 9-16. Bröckling, Ulrich/Susanne Krasmann/Thomas Lemke (Hg.) 2004: Glossar der Gegenwart. Frankfurt/M. Castel, Robert 2000: Die Metamorphosen der sozialen Frage. Konstanz. Foucault, Michel 1993: About the beginning of the Hermeneutics of the Self. In: Political Theory. Bd. 21, Nr. 2, S. 198-227. Foucault, Michel 1996: Der Mensch ist ein Erfahrungstier. Gespräche mit Ducio Trombadori. Frankfurt/M. Hardt, Michael/Antonio Negri 2002: Empire. Die neue Weltordnung. Frankfurt/M. Hirsch, Joachim 1990: Kapitalismus ohne Alternative? Hamburg. Lemke, Thomas/Susanne Krasmann/Ulrich Bröckling 2000: Gouvernementalität, Neoliberalismus und Selbsttechnologie. Eine Einleitung. In: Bröckling/Krasmann/Lemke (Hg.) 2000: S. 7-40. Keenan, Tom 1987: The ‘Paradox’ of Knowledge and Power: Reading Foucault on a bias. In: Political Theory, Jg. 15, H. 1, S. 5-37. Schultheis, Franz 2006: Die Metamorphosen der sozialen Frage in Zeiten des neuen Geistes des Kapitalismus. In: Bremer/Lange-Vester (Hg.) 2006: S. 128-140. Sloterdijk, Peter 2005: Im Weltinnenraum des Kapitals. Frankfurt/M.
Teil I Diskursverschiebungen der Kapitalismuskritik
What’s left? Von der Desorientierung zur selbstreflexiven Standortbestimmung linker Gesellschaftskritik
Franz Schultheis
Mit dem Niedergang des so genannten ‚real existierenden Sozialismus’ scheint für viele Gesellschaftstheoretiker und Zeitdiagnostiker auch das Ende sozialistischer Utopien schlechthin gekommen. Angesichts des fulminanten Sieges des Kapitalismus und der besitzindividualistischen Weltsicht über die sich zum Sozialismus bekennenden Regime und deren kollektive Gesellschaftsentwürfe geriet auch die linke Gesellschaftskritik westlicher Prägung in die Krise. Ihr Vokabular erschien mehr und mehr von der Geschichte überholt, Begriffe wie ‚Klasse’ oder ‚Ausbeutung’, ‚Entfremdung’ oder ‚Herrschaft’ wirkten mehr und mehr hohl und verbraucht, ihre Zeit abgelaufen und somit gut für die Vitrinen historischer Museen. Es ist bestimmt nicht übertrieben, hier von einer Identitäts- und Orientierungskrise der zeitgenössischen kritischen Gesellschaftsanalyse zu sprechen, die sich obendrein den Vorwurf machen lassen und selber machen muss, von den sich anbahnenden weltgeschichtlichen Erschütterungen nichts gespürt, geschweige denn vorausgesehen zu haben. Schlechte Noten für kritische Dauerbeobachtung und Diagnostik gesellschaftlichen Wandels, ‚ungenügend’ aber nicht zuletzt für die Fähigkeit, den dann doch konstatierten Wandel auf überzeugende Weise theoretisch einzufangen und verstehend nachvollziehbar zu machen. Dass die kritische Sozialwissenschaft nur dann und dadurch aus dieser Krise herausfinden kann, dass sie sich selbst als Teil dieser historischen Dynamik und der sie auszeichnenden Radikalisierung des Projektes der Moderne begreift, sich selbst also reflexiv gewendet zum ‚Problem’ macht und auf ihren Beitrag zum Prozess der Rationalisierung und Modernisierung befragt, ist mittlerweile allgemein anerkannt, jedoch in der Regel nur auf der Ebene essayistischer Zeitdiagnostik und einer theorielastigen Selbstbespiegelung, während es doch eigentlich darauf angekommen wäre, den relativen Anteil sozialwissenschaftlicher Repräsentationsarbeit an dieser historischen Dynamik empirisch aufzuzeigen und in ihrer Prägekraft für den vermeintlich nur von einer objektiven Beobachterposition aus registrierten Wandel plausibel nachzuzeichnen. Zunächst gehört einmal hierzu anzuerkennen, dass die Krise der linken Gesellschaftskritik zu einem guten Teil ‚hausgemacht’ war und mit der mangelnden theoretischen Verkraftung grundlegender sozialstrukturellen Transformationen fortgeschrittener Industriegesellschaften einherging, die sich bereits ab den 70er Jahren des letzten Jahrhunderts ankündigten.
Gesellschaftskritik im Namen von? Im Zentrum dieses Wandels stand und steht eine zunehmend ‚schleierhafte’ Gestalt: der Arbeiter. Bis in die siebziger Jahre war er noch eine zentrale Kategorie aller politischen und
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wissenschaftlichen Repräsentationen der sozialen Wirklichkeit und Lieblingskind sozialwissenschaftlicher Studien und Publikationen beiderseits der Mauer. Bis in die 1970er Jahre noch widmete ihm auch die kritische Soziologie eine Vielzahl von Monografien, die, wenn man sie heute in die Hand nimmt, überraschend fremd und fern wirken und uns gleichsam sozialhistorische Eindrücke aus einer anderen Epoche und aus einer anderen Welt liefern, einer Welt, die genauso verschwunden scheint wie die alte DDR. Dabei gibt es sie durchaus noch, die Welt des Arbeiters, und ihn selbst gibt es auch noch, denn immerhin gehören der Kategorie ‚Arbeiter’, einer ja arbeits- und sozialversicherungsrechtlich ‚geschützten’ Kategorie, noch einige Millionen Mitbürger an. Es handelt sich demnach keineswegs um eine zu vernachlässigende Randgruppe, auch wenn sie tatsächlich massiv an gesellschaftlicher Sichtbarkeit und Kohärenz, Aufmerksamkeit und Anerkennung verloren zu haben scheint. Der Verlust an Sichtbarkeit des Arbeiters im deutschen Alltag, zum Beispiel in Gestalt seiner einstmals markanten, heute aber zur historischen Reminiszenz geratenen Attribute wie Blaumann oder Arbeitskittel, Arbeitersiedlung oder Arbeiterkneipe, 1.-Mai-Demonstrationen und lautstarke Arbeitsstreiks etc., kann geradezu als Spiegel der grundlegenden Ambivalenzen und Widersprüche unserer deutschen Gegenwartsgesellschaft dienen. In ihm drückt sich einerseits die für Nachkriegsdeutschland so kennzeichnende Vorstellung einer nivellierten Mittelstandsgesellschaft aus, einer einerseits zwar von deutlichen sozioökonomischen Unterschieden geprägten, sich andererseits aber als ‚klassenlos’ gebärdenden ‚Gemeinschaft’. Trotz unterschiedlichster Strategien der kollektiven Verdrängung des Arbeiterstatus – man denke zum Beispiel an die bei Daimler-Benz gepflegte Umwidmung der Stellungen im Beruf von einfachen Arbeitern zu geadelten Angestellten – ist eine beachtliche Zahl von Vertretern dieser arbeitsrechtlichen Kategorie weiterhin unter uns. Der Abbau ihrer berufsständischen Attribute und Insignien sowie das wachsende Desinteresse am Los dieser ‚traditionslosen’ bzw. entwurzelten und politisch verwaisten Kategorie gingen einher mit einer deutlichen Schwächung ihres sozial- und arbeitsrechtlich geschützten Status, der mühsam erkämpften historischen Errungenschaft jahrzehntelanger Kämpfe um Anerkennung, eine Entwicklung, die in seltsamem Widerspruch zu einem zentralen Mythos der deutschen Nachkriegsgesellschaft steht.
Nivellierte Mittelstandsgesellschaft? Seit den achtziger Jahren gehört es zu den Gemeinplätzen sozialwissenschaftlicher Diskurse, dass unsere fortgeschrittenen Industriegesellschaften alle ihre sozialen Kategorien am Wohlstand und Wohlergehen teilhaben lassen, den durchschnittlichen Lebensstandard quasi wie von einer unsichtbaren Hand orchestriert um ein oder zwei Stockwerke nach oben angehoben haben und hierbei soziale Ungleichheiten und klassen- bzw. schichtspezifische Zugehörigkeiten an Sichtbarkeit und Prägekraft, ja auch an Plausibilität für die Wahrnehmung gesellschaftlicher Wirklichkeit rasch, tief greifend und bleibend verloren hätten. Dieser Prozess einer Nivellierung bzw. Entstrukturierung der gesellschaftlichen Welt wäre dann sozusagen die soziohistorische Hintergrundsfolie, auf der sich das Verschwinden des
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traditionellen Arbeiters aus dem Bild der gesellschaftlichen Alltagswelt plausibel ableiten ließe. Doch dies ist bestenfalls die eine Hälfte einer schon längst verblassten gesellschaftlichen Wirklichkeit. Wenn das Bild einer nivellierten, individualisierten und entstrukturierten Gesellschaft von friedlich koexistierenden Milieus und Lebensstilen in einer Konsum- und Erlebnisgesellschaft im goldenen Zeitalter des Wirtschaftswunders noch eine gewisse Attraktivität beanspruchen konnte, so hat es angesichts der seit den achtziger Jahren einsetzenden komplexen und oft widersprüchlichen soziohistorischen Transformationen längst seine Plausibilität eingebüßt, ja verkehrt sich geradezu ins Gegenteil eines Hinunterfahrens der materiellen Existenzbedingungen und Zugangschancen zu gesellschaftlichen Gütern aller Art für breite Fraktionen der Mittel- und Unterschichten. Dieser Prozess ist dabei Quelle von umso leidvolleren Erfahrungen und Enttäuschungen, als die Kinder der Wirtschaftswunder-Generation mit Versprechen auf den Lebensweg geschickt wurden, die sich weitgehend als leer erweisen sollten. Mit der auf die in den sechziger Jahren ausgerufene Bildungskrise folgenden Bildungsexplosion wurden höhere Bildungsabschlüsse und deren Verheißungen für eine solide berufliche Zukunft auch fester Bestandteil familialer Reproduktions- und Aufstiegsstrategien der Unter- und Mittelschichten. Die Verheißungen eines demokratischeren und egalitäreren Zugangs zu Bildungsgütern sollten sich zwar zu einem guten Teil als Illusion entpuppen und die Beharrungskraft sozialer Schließungen und Ausschließungen der bürgerlichen Gesellschaft sich trotz formal gleicher Bildungschancen auf subtilere, aber kaum weniger effiziente Weise wiederherstellen, dennoch schlug sich die deutlich höhere Bildungsbeteiligung der Kinder aus bis dahin weitgehend von diesen Segnungen ausgeschlossenen Mittel- und Unterschichten in sehr tief gehenden Verschiebungen von Erwartungshorizonten, Anspruchsniveaus und biografischen Entwürfen nieder. Selbstverwirklichung, berufliche Karriere, Streben nach einem höheren Lebensstandard und Konsumniveau und andere Standards unserer fortgeschrittenen kapitalistischen Gesellschaften verallgemeinerten sich und wurden zur normativen Erwartung an das, was dem Individuum als soziales Teilhaberecht zustünde bzw. ihm sogar als eine Art individuell zu realisierende Sollvorstellung vorgegeben schien. Bedenkt man aber, dass die Kinder aus gesellschaftlichen Unterschichten betreffs ihrer materiellen Möglichkeitsbedingungen hinsichtlich der Realisierung solcher universalistisch daherkommender Zielvorstellungen deutlich gehandikapt ins Rennen gingen und selbst wenn sie über Bildungstitel verfügten, diese Titel (Diplome) bei weitem nicht so effizient in ‚Stellen’ (Einkommen und Prestige) umzumünzen wussten wie ihre Konkurrenten mit besseren sozialen Startpositionen, so sieht man schnell, dass die ‚Illusion der Chancengleichheit’ zu einer doppelten Quelle sozialer Frustrationen und Leiden werden musste. Einerseits schlägt sie sich nicht ohne Grund in einem Unbehagen nieder, sozusagen mit ‚Spielgeld’ bezahlt worden zu sein und seine Schulabschlüsse nicht wie erwartet auf dem Arbeitsmarkt in adäquate berufliche Positionen eintauschen zu können, da infolge der Bildungsexplosion eben auch eine massive Inflation des Wertes von Bildungstiteln stattgefunden hat. Andererseits, und nicht weniger folgenreich, findet ein hiermit einhergehender Prozess der Abwertung, wenn nicht Stigmatisierung der klassischen manuellen Tätigkeitsprofile und des Arbeiterstatus statt. Wer will denn noch einen Blaumann tragen, wenn alles Glück der gesellschaftlichen Welt, das heißt gutes Einkommen, angenehme Arbeitsbedingungen und soziale
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Anerkennung, aufs Engste mit der weißen Kragenlinie einherzugehen scheint? Die Kinder aus Familien der Arbeiterklasse der siebziger Jahre sind heute deutlich besser mit schulischem Kapital ausgestattet als ihre Eltern, aber dieses ist zugleich bei Weitem nicht mehr das wert, was die Elterngeneration in ihm sah, und man kann daher durchaus im Sinne Bourdieus von einer ‚geprellten Generation’ sprechen. Trotz höherer Bildung finden sich die Mitglieder dieser geprellten Generation, dreißig Jahre nachdem ihre Eltern dreißig Jahre alt waren, allzu oft in kaum besseren, oft sogar eher schlechteren und vor allem unsichereren sozioökonomischen Situationen und beruflichen Positionen wieder und leiden dabei doppelt an dieser Situation: einerseits an ihrer materiellen Dimension, andererseits an der Diskrepanz zwischen Verheißung und Anspruch hier und dem tatsächlich erreichten Status dort. Man kann also schlussfolgern, dass das Projekt der Verbürgerlichung der gesellschaftlichen Unterschichten unter den Auspizien des Chancengleichheits-Anspruchs letztendlich bis heute immer aufs Neue an den Antinomien der bürgerlichen Gesellschaften selbst scheitert. Diese Widersprüche wurden und werden dabei sukzessive aufgearbeitet, integriert, dass der moderne Kapitalismus sich als erstaunlich lernfähig erweist und aus der Gesellschaftskritik ein wichtiges Input für die schrittweise Anpassung und Modernisierung seiner Legitimation in Gestalt von Gesellschafts- und Menschenbildern bezieht. Hierbei treten beim ‚neuen Geist des Kapitalismus’ Soziodizeen (Bourdieu) an die Stelle der traditionellen Theodizeen (Weber). Diese Soziodizeen speisen sich aus zwei unterschiedlichen Diskurstraditionen der Kapitalismuskritik, was sie, wie Boltanski und Chiapello überzeugend belegten, besonders effizient und kritikresistent macht. Somit kommt der linken Gesellschaftskritik nicht nur das revolutionäre Subjekt abhanden, sondern auch ein guter Teil ihrer Plausibilitätsstrukturen.
Reflexiver Kapitalismus Seit ihrer Geburt im frühen 19. Jahrhundert leistet sich die bürgerliche Gesellschaft den Luxus, die Kritik an sich selbst zu nähren und zu organisieren. Parallel zur Entwicklung der für sie kennzeichnenden utilitaristischen Vernunft und profitorientierten Marktvergesellschaftung entstehen subkulturelle Entwürfe und utopische Gegenwelten, in denen die herrschenden materiellen Werte radikal in Frage gestellt werden. Die in den dreißiger Jahren des 19. Jahrhunderts entstehende Kritik am Prozess der Modernisierung in seinen zwei zentralen Spielarten, dem Geist des Kapitalismus und der bürokratischen Rationalität, präsentiert sich von Beginn an in zwei unterschiedlichen, aber interdependenten Varianten: einerseits als Sozialkritik (Frühsozialismus und Arbeiterbewegung), andererseits als Künstlerkritik (Bohème und L’art pour l’art). Diese beiden verschwisterten Formen antibürgerlicher Weltanschauung, die sich bis zum heutigen Tag als eine Art subkulturelles Grundthema in unterschiedlichsten soziohistorischen Varianten mit unglaublicher Beharrungskraft behaupten, nehmen je auf andere Art und Weise den Bourgeois als abstoßende Charaktermaske zum Bezugspunkt ihrer Konstruktionen von Gegenwelten, bei denen einmal das Ausbeuterische und Profitorientierte des Homo oeconomicus in solidarischen und egalitären Idealvorstellungen, andererseits sein kalkulierendes und geiziges Krämerseelendasein in Utopien eines zweckfreien Schöpfertums verkehrt wird. Gemeinsam ist beiden Kritiken an der bür-
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gerlichen Existenz, dass sie wesentlich im Innern der bürgerlichen Klasse selbst, insbesondere bei ihrer Jugend, eine Art wahlverwandter Grundbefindlichkeit antreffen und sich hier rekrutieren. Dieses Janusgesicht des Bürgertums, Bourgeois und Citoyen als Mr. Hyde und Dr. Jekyll, schlug sich historisch in der Koexistenz unterschiedlicher, ja oft geradezu antagonistischer gesellschaftlicher Felder nieder, in denen Individuen wie unter Einsatz ihres Lebens, mit Leib und Seele, ein je spezifisches Spiel spielen, je unterschiedlichen Spieleinsätzen nachlaufen und wie selbstvergessen sich einem besonderen Spielsinn für ein je besonderes Spiel hingeben, ganz so als gäbe es für sie keine Alternativen dazu. Das Feld der Kunst im engeren und jenes der Kulturproduktion im weiteren Sinne dieser Metapher, scheinen sich seit der Kindheit der bürgerlichen Gesellschaft aus einem Ekel vor der vermassten, nivellierten und geistig verflachenden modernen Arbeitsgesellschaft zu nähren, welcher zunächst hauptsächlich Mitglieder eben dieser Bourgeoisie zu befallen schien. Mythen von Charisma und Genius der Heroen vergangener Tage können im Zeitalter der „Bildungsdiplommenschen“ (Max Weber) wohl nur noch in der Zweckfreiheit und Reinheit künstlerischen Schöpfertums bzw. in wahlverwandten Bereichen wie dem wissenschaftlicher Gelehrsamkeit überdauern. Mit der Entstehung klassenmäßig organisierter Hochkulturen ging von Beginn an eine grundlegende Missachtung von Arbeit im Allgemeinen und Lohnarbeit im Besonderen einher, die auch in Zeiten der protestantischen Arbeitsethik des kapitalistischen Geistes weiter wirkt: Noblesse und Vornehmheit sind nach diesem Weltbild mit einem Broterwerb, der das Individuum zum Mittel anderer macht und Notwendigkeiten unterwirft anstatt freier Selbstzweck zu bleiben, nicht zu vereinbaren. Nur eine Form der Aktivität, welche zweckfreies Schöpfertum voraussetzt und ermöglicht, nämlich die kulturelle Praxis, erscheint als würdig, und folgerichtig entwickeln sich seit dem frühen 19. Jahrhundert Künstler und Kulturschaffende zur Leitfigur der gesellschaftlichen Repräsentation der beruflichen Selbstverwirklichung und der Kritik am Habitus des stumpfen Arbeitnehmers im ehernen Gehäuse bürokratischer Hörigkeit. Parallel zur Kapital besitzenden Bourgeoisie entwickelte sich eine zweite Klassenfraktion, gekennzeichnet durch die Verfügung über hohes kulturelles Kapital, sei es in inkorporierter Form als Kompetenz, Wissen, Virtuosität und Geschmack, sei es in Gestalt von Diplomen und Titeln als staatlich verbürgten Formen kulturellen und zugleich symbolischen Kapitals. Diese ‚alternative’ Form bürgerlicher Existenz, sozusagen die ‚linke Hand’ der Bourgeoisie – um eine Formel Bourdieus zu paraphrasieren – hatte bis in die Nachkriegszeit den Charakter eines gesellschaftlichen Privilegs und ständischen Unterscheidung sowohl gegenüber den arbeitenden Klassen wie auch gegenüber den Geld schöpfenden, einem vulgären Materialismus ergebenen Mitbürgern. Man konnte sich in der Regel eine solche Existenz in einem Reich jenseits der Notwendigkeiten erlauben, weil man von jenen unterhalten wurde oder erbte, die sich in diesen Niederungen des Geschäftslebens tummelten. Man konnte der Zweckfreiheit huldigen, weil man Rentier war, ohne sich selbst die Hände dabei beschmutzen zu müssen. Die Kulturschaffenden gehören demnach traditionellerweise zu den herrschenden Klassen, selbst wenn sie, wie Bourdieu unterstreicht, deren beherrschte Fraktion bilden. Erst mit der Öffnung des höheren Bildungswesens für die Kinder der Mittelschichten und bedingt auch für die der Volksklassen kamen auch diese mit den höheren Dingen in Berührung und damit in den Genuss von symbolischen Werten, die bis dahin nicht zum Spektrum des Möglichen und Erstrebenswerten gehörten. Dies schlug sich in
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einem grundlegenden Wandel der Rekrutierungsmuster des Feldes der Kulturproduktion nieder, welches jetzt auch Individuen in seinen Bann schlug, welche sich dieses aufgrund ihres gesellschaftlichen Hintergrunds eigentlich nicht ‚erlauben’ konnten, das heißt nicht über die entsprechenden familialen Ressourcen und Versorgungsmöglichkeiten verfügten. Kulturproduktion wurde demokratischer, allgemeiner zugänglich, aber auch ein Bereich hohen doppelten Risikos: Zum einen droht jedem, der bei diesem Spiel mitspielt, die Gefahr, verkannt zu werden und bei der Konkurrenz um knappe symbolische Güter mehr oder minder kläglich zu scheitern. Zum anderen jedoch droht aber all jenen, die dieses Risiko ohne Netz und doppelten Boden einer materiellen Absicherung eingehen, das Risiko einer mehr oder minder dauerhaften prekären Existenz, der man von Zeit zu Zeit und aus bequemer Distanz des Fremdbetrachtens zwar sicherlich noch ein Stück charismatischer Verzauberung (‚der arme Poet’) abgewinnen kann, die jedoch im konkreten Alltag wenig mit solchen romantischen Verbrämungen gemein haben dürfte. Das Feld der Kulturproduktion hat sich jedoch nicht allein infolge der Bildungsexplosion der 1960er und 1970er Jahre und eines neuen ‚massenhaften’ Zulaufes radikal verändert, sondern selbst eine massive Ausweitung erfahren und sich zu einer beachtlichen neuen Industrie mit einem breiten Arbeitsmarkt entwickelt. Unsere fortgeschrittenen Konsumgesellschaften haben nicht zuletzt ‚Kultur’ selbst zu einem bevorzugten Konsumgut gemacht und unsere Freizeit- und Erlebnisgesellschaft hat sie zu einem privilegierten Tummelfeld für Selbstverwirklicher aller Schattierung stilisiert. Die zunehmende Marktvergesellschaftung des Kulturellen hat sich in einer enormen Verbreiterung des Spektrums hier angesiedelter Berufs- und Tätigkeitsfelder niedergeschlagen, die miteinander in harter Konkurrenz um Legitimation stehen und immer neue Hierarchisierungen und Distinktionsmechanismen hervorbringen. Der nicht abreißende Zustrom an Aspiranten wird hierbei mittels mehr oder weniger grober oder subtiler gesellschaftlicher Schließungs- und Ausschließungslogiken kanalisiert und Individuen in einem klar hierarchisierten Raum kategorisiert und platziert. In diesem Spiel zweckfreier Interessen jenseits materialistischen Eigennutzes geht es keineswegs mit weniger Ellbogen und Fouls zu als in der freien Wildbahn des Homo oeconomicus. Schlimmer noch: Aufgrund der hier vorherrschenden Ideologien der Zweckfreiheit wirken die auf Schritt und Tritt anzutreffenden Phänomene der Macht und Ausbeutung umso brutaler, als sich die Mitspieler gezwungen sehen, gute Miene zum bösen Spiel zu machen und der „kollektiven Heuchelei“ (Marcel Mauss) ihren Tribut zu zollen.
Sozialkritik unter widrigen Umständen Währenddessen beschäftigte sich die Sozialkritik am Kapitalismus mit anderen Formen gesellschaftlicher Widersprüche und Krisenerfahrungen. Hierbei ging es jedoch nicht primär um das Individuum im Singular und dessen existentielle Infragestellung im Prozess der Modernisierung, sondern vielmehr um gesellschaftliche Kollektive und Strukturen. An die Stelle fundamentaler existenzphilosophischer und kulturwissenschaftlicher Fragen und Deutungen tritt bei dieser Variante der Kritik an Kapitalismus und bürgerlicher Gesellschaft das Element gesellschaftlicher Ungleichheit und Herrschaft und die durch spezifische gesellschaftliche Verhältnisse erzeugten Formen materieller und moralischer Not. Diese sich historisch parallel zur Künstlerkritik herausbildende Sozialkritik nimmt die soziale Frage
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der Industriearbeiterschaft zum Ausgangspunkt, setzt nicht das Individuum als anthropologische Konstante und archimedischen Punkt der Kritik an kapitalistischen Verkehrsformen voraus, sondern fragt kritisch nach den – immer gesellschaftlich ungleich verteilten – Möglichkeitsbedingungen von Individualität und identifiziert diese in der Institution des Privateigentums als deren materielle Basis. Individualität erscheint in dieser sozialkritischen Sicht als ‚Privileg’ der Besitzklassen und für breite Schichten der Bevölkerung als unerreichbares Gut. Diese beiden Stränge der Gesellschaftskritik in der Moderne scheinen zunächst im historischen Prozess gleichberechtigt zum Zuge zu kommen. Dieser Eindruck greift jedoch zu kurz, denn wie Luc Boltanski und Eve Chiapello (2003) aufzeigen, wird die Entwicklung der kapitalistischen Marktgesellschaft in der Spätmoderne durch eine seltsame Dialektik gekennzeichnet, die beide Formen der Kapitalismuskritik in ein neues Verhältnis zueinander rückt. Es scheint ganz so, als ob die seit dem 19. Jahrhundert nicht abreißende Kritik an den Hörigkeiten einer verbürokratisierten und vermassten Arbeitsgesellschaft nun reflexiv und ‚produktiv’ gewendet zu einem enormen Modernisierungs- und Rationalisierungspotenzial der kapitalistischen Gesellschaft wird, aus dem heraus sie neue, normative Anforderungen ans Humankapital schöpft und legitimiert, welche sich nicht nur in einer allgemeinen Effizienzsteigerung bei gleichzeitiger Erhöhung des auf den Individuen lastenden Drucks niederschlägt, sondern insbesondere auch in neuen sozialen Ungleichheiten und Spaltungen zum Ausdruck bringt. Mehr noch: In dieser sozialkritischen Rekonstruktion der produktiven Wendung der Künstlerkritik am Kapitalismus zur Radikalisierung seiner Marktlogik erscheint die aktuelle Dynamik fortgeschrittener Industriegesellschaften wie ein Rückschritt gegenüber den in langfristigen kollektiven Lern- und Aushandlungsprozessen gewonnenen historischen Errungenschaften und Kompromissen. Die von der Künstlerkritik erhobene Anklage gegen die wohlfahrtsstaatlich befriedete kapitalistische Lohngesellschaft und die damit einhergehende Domestizierung und Disziplinierung des ‚freien’ Individuums wird hier zur Rechtfertigung eines schrittweisen Abbaus rechtlicher Garantien und sozialer Sicherungen des Status des ‚Erwerbstätigen’ instrumentalisiert, bei dem Freisetzung aus kollektiven Schutzräumen als Freiheit missverstanden wird.
That’s left: Ungleichheit der Lebenschancen und Erneuerung der Sozialkritik Die zeitgenössische Gesellschaftsdiagnose und -kritik hat es demnach künftig immer mehr mit neuen Verwundbarkeiten „nach den Sicherungen“ (Castel 2003) zu tun, die alle jene in ihrer Existenz bedrohen, die nicht über das Privileg verfügen, sich den zur allgemeinen Norm erhobenen Anspruch auf selbstverantwortliche Lebensführung materiell leisten und ihn lebenspraktisch einlösen zu können. Wie Castel richtigerweise unterstreicht, bedarf es des Eigentums als materieller Möglichkeitsbedingung autonomer Lebensplanung und Lebensführung, um sich selbst ‚eigen’ nennen zu können. Dort, wo Privateigentum in ausreichendem Maße vorhanden, oft schon von Geburt an ohne weiteres Verdienst in die Wiege gelegt, ist dies kein Problem. Wo aber Menschen nur über ihre Arbeitskraft verfügen, um sie auf dem Markt gegen Subsistenzmittel einzutauschen, dort herrscht eine fundamentale Prekarität, Unsicherheit und Verwundbarkeit. Nun haben unsere kapitalistischen Gesell-
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schaften in einem langwierigen Lernprozess Formen der sozialen Sicherung hervorgebracht, die gegen die Standardrisiken der Erwerbsarbeit, d.h. vor allem Invalidität, Alter, Krankheit und Arbeitslosigkeit, ein Mindestmaß an kollektivem Schutz gewähren und eine Art „Sozialeigentum“, wie Castel es treffend nennt, fest institutionalisiert haben. Dieser enorme Fortschritt hin zu einer Anerkennung und Garantie universeller sozialer Teilhaberechte ging einher mit einer Art nachholenden Individualisierung bei den unteren Gesellschaftsschichten, deren sozialer Habitus mehr oder minder deutliche Zeichen einer Ver(klein)bürgerlichung aufweist. Mit diesem langfristigen Transformationsprozess einher gingen aber auch Auflösungen traditioneller Sozial- und Solidarformen – von der Familie und der erweiterten Verwandtschaft, über Nachbarschaft und Gemeinde, bis hin zu gewerkschaftlichen und politischen Organisationsformen, die in ihren unterschiedlichen Kombinationen das widerspiegelten, was man noch in den Zeiten des Wirtschaftswunders der ‚Arbeiterkultur’ zurechnete. Auch diese Formen der Vergesellschaftung in den Volksklassen haben im Zuge der Individualisierung alltäglicher Lebensformen und Verhaltensmuster eine rasche und nachhaltige Erosion erfahren und auf dem Wege vom traditionellen zum traditionslosen Arbeitnehmer sind viele der gemeinschaftlichen Ressourcen an Schutz und Solidarität – wohl unwiederbringlich – verschwunden. Hier liegt das radikal Neue der sich abzeichnenden ‚neuen’ sozialen Frage: Der schrittweise Abbau sozialer Sicherungen und der Rückzug des Staates aus der Verantwortung für eine solidarische Daseinsvorsorge trifft nunmehr hochgradig individualisierte Individuen, die dem kalten Wind einer radikalen Marktvergesellschaftung schutzlos ausgeliefert sind, weil ihr Habitus nun ganz grundlegend durch die schrittweise Gewöhnung an ein Mindestmaß an Schutz vor den Unwägbarkeiten des Alltags in der kapitalistischen Wettbewerbsgesellschaft geprägt ist, eine Gesellschaft, die dazu übergeht, nur noch sehr begrenzt solidarische Haftung für ihre Mitglieder zu übernehmen. Der Gesellschaftskritik an den Widersprüchen des fortgeschrittenen Kapitalismus geht also nicht die Arbeit aus, nur muss sie sich diesen Gegenstand jetzt in (selbst-)reflexiver Weise neu aneignen, d.h. hierbei stets den eigenen Anteil an der Hervorbringung und Durchsetzung neuer gesellschaftlicher Diskurse und Dispositive der Regulierung und Legitimation spätkapitalistischer Verhältnisse im Auge behalten und in deren kritische Objektivierung mit einbeziehen.
Literatur Boltanski, Luc/Ève Chiapello 2003: Der neue Geist des Kapitalismus. Konstanz. Castel, Robert 2000: Die Metamorphose der sozialen Frage. Eine Chronik der Lohnarbeit. Konstanz. Castel, Robert 2003: L’ insécurité sociale. Paris. Schultheis, Franz 2003: Der Soziologe, der Arzt und die Diagnose alltäglichen Leidens in der neoliberalen Marktgesellschaft. In: Primary Care, Jg. 4, H. 5, S. 64-70. Schultheis, Franz mit Barbara Bitting/Sabine Bührer/Patrick Kändler/Kristina Mau/Markus Nensel/Andreas Pfeuffer/Elke Scheib/Winfried Voggel 1996: Repräsentationen des sozialen Raums. Zur Kritik der soziologischen Urteilskraft. In: Berliner Journal für Soziologie, Jg. 6, H. 1, S. 97-119. Schultheis, Franz /Louis Chauvel 2003: »Le sens d’une dénégation: L’oubli des classes sociales en Allemagne et en France«. In: Mouvements, N°26, mars-avril, S.17-26. Schultheis, Franz/Kristina Schulz (Hg.) 2005: Gesellschaft mit begrenzter Haftung. Konstanz.
Produktivkraft Kritik. Die Subsumtion der Subversion im neuen Kapitalismus
Tobias Künkler „Kapitulation. (…) Die endgültige Unterwerfung. Die größte aller Niederlagen und gleichzeitig unser größter Triumph.“ Aus dem ‚Manifest’ von Tocotronic
In einem Zeitungsartikel vom 9. August 2007 lädt der Schriftsteller und Alt-68er Peter Schneider zu einem Gedankenexperiment ein, in dem der Leser sich einen 68er vorstellen solle, der Anfang der 70er Jahre in Schlaf gefallen sei und erst in unseren Tagen wieder aufwache. Dabei sieht Schneider die psychische Gesundheit seines imaginierten Genossen in Gefahr, denn dieser „werde von der Wahnidee heimgesucht, dass die Republik in den Jahren seiner ‚Abwesenheit’ entschieden nach links verrutscht sei – aber irgendwie nach falsch links“ (Schneider 2007: 4). Wo immer der 68er seine lange geschlossenen Augen aufschlägt, er stößt überall „auf die Spuren von Ideen von 68“ (ebd.), jedoch seien diese „ganz anders realisiert worden, als sie gemeint gewesen seien“ (ebd.). Das Verstörende dabei sei, dass „der von ihm bemerkte kulturelle Ruck nach links (…) keineswegs das Ergebnis einer – von ihm verschlafenen – revolutionären Überwindung, sondern der Alleinherrschaft des Kapitalismus“ (ebd.) sei. Der Schläfer erwacht also in einen Albtraum hinein, in dem ein hemmungsloser Kapitalismus ohne Gegner sein Unwesen treibt. Was mit dem Schläfer weiter passiert, verrät Schneider nicht, doch es wäre nicht verwunderlich, wenn dieser sich der nostalgischen Resignation Schneiders anschlösse, der verlauten lässt: „Das Schöne an den Jahren der Revolte war doch, dass jeder jederzeit sagen konnte, wer die Guten und wer die Bösen sind. Damit scheint es vorbei zu sein.“ (Ebd.) Schneiders Geschichte des Schläfers ist eine treffliche Allegorie auf den aktuellen Zustand der Gesellschafts- und Kapitalismuskritik. Wie Schneiders Schläfer reibt diese sich verwundert die Augen angesichts der alternativlosen Dominanz des Kapitalismus und fragt sich, ob sie die letzten drei Jahrzehnte verschlafen habe, schließlich scheint der Kapitalismus einen enormen Strukturwandel durchlaufen zu haben, während die Kritik grosso modo die gleiche geblieben ist (als hätte sie friedlich geschlummert). Und als wäre dies nicht schlimm genug: Sie entdeckt, wo immer sie hinschaut, Elemente der Kritik als Elemente des kapitalistischen Systems – nur ‚irgendwie falsch’. Diese Selbsterkenntnis lässt sie erstarren, denn eine Kritik, die nicht mehr unterscheiden kann – in Gut oder Böse, Sein oder Schein, Subversion oder Subsumtion –, ist ihrer Identität beraubt und handlungs- wie entscheidungsunfähig: Sie ist paralysiert. Im Folgenden soll versucht werden, den Schwierigkeiten und Aporien von Gesellschafts- und Kapitalismuskritik nachzugehen und diese in einen gesellschaftstheoretischen Rahmen zu stellen sowie ausgehend davon nach Möglichkeiten der Erneuerung dieser Kritik zu suchen. Dazu wird erstens auf die Studie Der neue Geist des Kapitalismus der fran-
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zösischen Soziologen Luc Boltanski und Ève Chiapello sowie zweitens auf gouvernementalitätstheoretische Studien zurückgegriffen, die im angelsächsischen Sprachgebiet entstanden sind und in den letzten Jahren auch in Deutschland in verschiedensten Disziplinen (z.B. Soziologie, Erziehungswissenschaft und Politikwissenschaft) rezipiert und weiterentwickelt wurden. Beiden Ansätzen ist nicht nur gemeinsam, dass sie eine ähnliche Verschiebung im gesellschaftlichen System bzw. einen Strukturwandel des Kapitalismus diagnostizieren, sondern auch, dass sie, anhand der Formähnlichkeit von Kapitalismus und herkömmlicher Kapitalismuskritik, die aporetische Situation einer paralysierten Kritik nachzeichnen und nach neuen Wegen der Kritik suchen. In einem ersten Schritt soll auf die jeweiligen Diagnosen der aktuellen kritischen Situation der Kritik eingegangen werden (1. und 2.), anschließend wird die jeweilige Sicht der gesellschaftlichen bzw. kapitalistischen Transformationsprozesse im Zentrum der Aufmerksamkeit stehen (3. und 4.). Nach einem Zwischenresümee, das die Gemeinsamkeiten und theoretischen Differenzen beider Ansätze herausstellt (5.), werden die verschiedenen Überlegungen zu einer Erneuerung der Kritik vorgestellt (6. und 7.) und einer kritischen Diskussion unterzogen, bevor ein abschließendes Fazit versucht wird (8.).
1.
Lähmung der Kritik: Boltanski/Chiapello
Ausgangspunkt der Studie von Boltanski/Chiapello ist die Diagnose einer „Lähmung der Kritik“ (Boltanski/Chiapello 2003: 80), die sie daran verdeutlichen, dass sie den aktuellen 1 Zusammenhang von Kritik und Kapitalismus mit dem vom Ende der 60er/Anfang der 70er Jahre kontrastieren. Während damals „der Kapitalismus unter einem Wachstums- und Rentabilitätsrückgang“ (ebd.: 21) litt, sich die Kritik jedoch „in ihrem Zenit“ (ebd.) befand, herrscht heute „die vielen Beobachtern gemeinsame Verwirrung angesichts einer sozialen und wirtschaftlichen Lebenssituation, die sich für immer mehr Menschen verschlechterte, während gleichzeitig ein völlig neuartiger Kapitalismus immer weitere Kreise zog“ (ebd.). Das eklatante Missverhältnis zwischen einer dramatischen Verschlechterung der Lebenssituation breiter Bevölkerungskreise und einer eigentümlich paralysierten Kritik, die in hilfloser Empörung verharrt, „ohne parallel dazu Alternativvorschläge zu unterbreiten“ (ebd.) oder aber die Utopie einer „Rückkehr in eine idealisierte Vergangenheit“ (ebd.: 31) beschwört, bildet für Boltanski/Chiapello den Anlass, den „Zusammenhang zwischen dem Kapitalismus und seiner Kritik“ (ebd.: 38) einer grundlegenden Analyse zu unterziehen. Der Kapitalismus, dessen Hauptmerkmal, Antriebskraft und Selbstzweck das Regulationsprinzip „der ständigen Umwandlung des Kapitals (…) in neue Investitionen“ (ebd.: 39) ist, stellt für alle Beteiligten ein letztlich absurdes System dar, 2 so die Zentralthese der Autoren. Da er selbst über keinerlei Mittel verfügt, mit deren Hilfe sich Beteiligungsmotive begründen ließen, ist er zum Erhalt seiner Mobilisierungskraft angewiesen auf eine Recht1 2
Konkret zeigen sie dies an Daten und Beispielen auf, die sich auf die Situation Mitte der 90er Jahre beziehen, diese scheint sich auch ein Jahrzehnt später noch nicht substantiell geändert zu haben. Dies gilt laut Boltanski und Chiapello nicht nur für die Arbeitnehmer, die durch ihre Teilnahme am Kapitalismus „ihre Eigentumsrechte an dem Produkt ihrer Arbeitstätigkeit und die Möglichkeit zu einem unabhängigen Erwerbsleben verloren“ (Boltanski/Chiapello 2003: 42) haben, sondern auch für die Arbeitgeber, die „an einen endlosen und unersättlichen, durch und durch abstrakten Prozess gekettet [sind], der von der Befriedigung der Konsumbedürfnisse – und seien es auch Luxusbedürfnisse – losgelöst ist“ (ebd.).
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fertigungsideologie, 3 die er aus ihm äußerlichen Ressourcen schöpft. Die zentrale externe Ressource, derer sich der Kapitalismus bedient, ist dabei ironischerweise die Kritik am Kapitalismus selbst. Der Kapitalismus ist aufgrund seiner normativen Unbestimmtheit „auf seine Gegner angewiesen, auf diejenigen, die er gegen sich aufbringt und die sich ihm widersetzen“ (ebd.: 68). Das „absurde System“ des Kapitalismus verdankt in dieser Sicht seine erstaunliche Überlebensfähigkeit nicht etwa seiner Kritikresistenz, sondern gerade umgekehrt einer fortlaufenden Verinnerlichung der Kritik, die die antikapitalistischen Kräfte gewissermaßen entwaffnet. Der „Geist des Kapitalismus“, wie die Autoren in Anklang an Weber die das Engagement für den Kapitalismus rechtfertigende Ideologie nennen, ist seit je mit seiner Antithese, der Kapitalismuskritik, verschwistert. Er ist „durchdrungen von zeitgleichen kulturellen Erzeugnissen, die zumeist zu ganz anderen Zwecken entwickelt wurden als zur Rechtfertigung des Kapitalismus“ (ebd.: 59). Oftmals sind es „dieselben Paradigmen, die zur Kritik wie zur Legitimierung des Kritisierten herangezogen werden“ (ebd.). Die Kritik am Kapitalismus ist daher der „Motor für Veränderungen des kapitalistischen Geistes“ (ebd.: 68). „Der Kapitalismus erweist sich in dieser Sicht“, wie Schultheis (2006: 130) im Anschluss an Boltanski/Chiapello formuliert, „nicht nur als überaus vital, sondern obendrein noch höchst lernfähig und lernbereit, absorbiert historische Erfahrungen und wendet sie reflexiv. Er lässt Kritik und Widerstand nicht einfach an sich abprallen, sondern öffnet sich ihr, assimiliert und akkomodiert (…) die aufgesogenen Wissensbestände (…), wird klüger und reflexiver, schreitet fort, steigert seine Effizienz, stärkt sich und wird dabei immer unausweichlicher.“ Historisch lassen sich, wie Boltanski/Chiapello überzeugend rekonstruieren, zwei Stränge der Kapitalismuskritik unterscheiden (vgl. ebd.: 80f): zum einen die Sozialkritik, die „sozialistischer und später marxistischer Provenienz“ (ebd.: 82) ist und sich einerseits an Armut und Ungleichheit sowie andererseits an Opportunismus und Egoismus entzündet, zum anderen die Künstlerkritik, die historisch „in der Lebensform der Boheme wurzelt“ (ebd.: 81) und sich aus der Empörung über Sinnverlust, der Zerstörung von Authentizität und Kreativität in der bürokratisierten Massengesellschaft sowie der Unterdrückung speist (vgl. ebd.: 80f). Die Selbsterneuerungskraft des Kapitalismus, so die Zentralthese der Autoren, beruht nun nicht zuletzt auf seiner Fähigkeit, die kritischen Gegenentwürfe zu assimilieren, sie im wörtlichen Sinne ‚produktiv’ zu wenden und dadurch gleichzeitig zu depotenzieren. Beide historischen Formen der Kritik sind nach Boltanski/Chiapello im Zuge der kapitalistischen Transformationen der letzten Jahrzehnte in eine tief greifende Krise geraten: die Sozialkritik, weil mit „den kapitalistischen Verschiebungen eine Welt entstanden [ist], die sich mit den Instrumenten der Protestbewegungen der zurückliegenden hundert Jahre nur schwer deuten und bekämpfen lässt“ (ebd.: 373), die Künstlerkritik, weil es dem neuen Kapitalis-
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Systemzwänge sind für Boltanski und Chiapello „als Beteiligungsmotiv allein nicht ausreichend“ (Boltanski/Chiapello 2003: 46), der Zwang „muss verinnerlicht und begründet werden“ (ebd.). Um Letzteres zu analysieren, formulieren sie mit Bezug auf Weber und Hirschmann einen Rechtfertigungsbegriff, der sowohl „die individuellen (aus welchen Gründen beteiligt sich jemand an dem kapitalistischen Unternehmen) als auch die allgemeinen Rechtfertigungen (inwiefern ist die Beteiligung an dem kapitalistischen Unternehmen dem Allgemeinwohl dienlich)“ (ebd.) berücksichtigt.
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mus gelungen ist, ihre Zentralforderungen nach Autonomie, Kreativität, Authentizität und Emanzipation zu vereinnahmen und für sich zu nutzen (vgl. ebd.: 375). Diese kapitalistischen Verschiebungen und die diversen Pfade einer Vereinnahmung und gleichzeitigen Paralysierung kritischer Gegenentwürfe sollen später (3.) noch eingehender beleuchtet werden; zuvor soll die ‚Lähmung der Kritik’ aus Perspektive der Gouvernementalitätsstudien vorgestellt werden.
2.
Produktivkraft Subversion: Gouvernementalitätsstudien
Gouvernementalitätsstudien gehen auf den Versuch einiger britischer Soziologen zurück, die unter dem Thatcherismus vollzogene marktradikale Abkehr vom Keynesianismus und die Propagierung einer unternehmerischen Kultur, die „die individuelle Selbstverantwortung an die oberste Stelle der politischen Agenda setzte“ (Bröckling 2003: 53), einer kritischen Analyse zu unterziehen. Als geeignetes ‚theoretisches Werkzeug’ erwies sich hierfür Michel Foucaults Konzept der ‚Gouvernementalität’, das den systematischen Zusammenhang von Macht und Subjektivität bzw. von Fremd- und Selbstführung theoretisch zu fassen versucht. Als Initialpublikation der britischen Gouvernementalitätsstudien kann im Rückblick der 1991 von Colin Gordon herausgegebene Reader The Foucault Effect gelten (vgl. ebd.: 59), für Deutschland gilt Ähnliches für den im Jahr 2000 von Ulrich Bröckling, Susanne Krasmann und Thomas Lemke herausgegebenen Sammelband Gouvernementalität der Gegenwart. Studien zur Ökonomisierung des Sozialen. 4 Der theoretische Gewinn des Gouvernementalitätsansatzes besteht darin, dass er im Unterschied zu geläufigen Diagnosen des Neoliberalismus nicht ideologiekritisch die ‚Ökonomisierung der Politik’ beklagt, sondern eine theoretische Perspektive ermöglicht, die den ‚Rückzug des Staates’ bzw. die ‚Dominanz des Marktes’ selbst als politisches Programm dechiffriert. „In dieser Hinsicht impliziert die neoliberale Gouvernementalität weniger das tendenzielle Ende als eine Transformation des Politischen, welche die gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse systematisch restrukturiert.“ (Lemke et al. 2000: 26) Die Macht der Ökonomie beruht in dieser Sicht auf einer ihr vorgängigen ‚Ökonomie der Macht’. Im Mittelpunkt der theoretischen Neuorientierung der Gouvernementalitätsstudien steht der dem Spätwerk Foucaults entlehnte Begriff des Regierens. Seine innovative Funktion bezieht der Begriff aus der ‚Scharnierfunktion’, die Foucault ihm zuspricht: Er vermittelt zwischen Macht- und Herrschaftstechniken, Wissensformen (Rationalitäten) und den ‚Technologien des Selbst’. Jenseits einer exklusiven politischen Bedeutung verweist der erweiterte Regierungsbegriff in den Gouvernementalitätsstudien also auf zahlreiche Handlungs- und Praxisfelder, in denen auf vielfältige, für die Menschen kaum wahrnehmbare Weise Formen der Lenkung und Kontrolle, also der Fremdführung von Individuen mit Techniken der Selbstführung vermittelt sind. Diese Vermittlung vollzieht sich, indem mittels symbolischer Rahmungen die Lebensführung der Individuen strukturiert und produziert
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Thomas Lemke hat mit seinem Buch Eine Kritik der politischen Vernunft. Foucaults Analyse der modernen Gouvernementalität (1997) den Foucault’schen Begriff der Gouvernementalität präzise wie ausführlich herausgearbeitet, dazu auch auf damals im deutschen Raum noch unveröffentlichte Texte Foucaults zurückgegriffen und damit die deutschsprachigen Gouvernementalitätsstudien wesentlich vorbereitet.
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wird; Foucault nennt dies die „Führung der Führungen“. Die Wirkung dieser im Alltag allgegenwärtigen Strategien der Fremd- und Selbstführung ist dabei weniger repressiv als produktiv: Sie können zwar auch unterdrücken, verbieten und zwingen, vor allem aber eröffnen sie ‚Möglichkeitsfelder’, präformieren den Alltagsverstand wie die Wissenschaft und produzieren dadurch Wirklichkeit (vgl. Bröckling et al.. 2004: 9f). Ist die komplexe Verschlungenheit von Macht- und Selbsttechniken, von Fremd- und Selbstführung Kennzeichen jedweder historischen Gestalt von Gouvernementalität, so besteht für Foucault und die Gouvernementalitätsstudien das Spezifikum neoliberaler Gouvernementalität in der Durchsetzung einer ‚autonomen unternehmerischen Subjektivität’ als gesellschaftliches Leitbild, wobei die geforderte ‚Eigenverantwortung’ und ‚Selbstbestimmung’ in der Ausrichtung des eigenen Lebens an Markterfordernissen besteht. Selbstbestimmung, Eigenverantwortung und Kritik sind im Rahmen neoliberaler Gouvernementalität zur entscheidenden Triebkraft des Systems geworden. Subjektivität ist damit nicht mehr letzter Rückzugs- oder Widerstandspunkt, sondern längst in die stets wachsenden Optimierungszwänge des kapitalistischen Gesamtsystems eingespannt. „Konzepte wie Aktivierung, Empowerment, Partizipation und Flexibilität, deren Wurzeln auf die Kämpfe sozialer Emanzipationsbewegungen zurückweisen, haben sich in institutionelle Anforderungen und normative Erwartungen verwandelt – Subversion ist zur Produktivkraft geworden“ (ebd.: 14). Wo Nonkonformismus, Kritik und Widerstand zur avanciertesten Form der Anpassung mutieren, da ist jeder Einspruch gegen das System in „Gefahr, die Unterwerfung fortzusetzen oder sie sogar zu intensivieren“ (Opitz 2004: 168).
3.
Der ‚Projektarbeiter’ als Leitfigur: Boltanski/Chiapello
In der Einsicht, dass Selbstbestimmung, Partizipation und Flexibilität sich im neuen Kapitalismus zu normativen Erwartungen an das ‚Humankapital’ gewandelt haben, dass Kritik zum integralen Bestandteil einer gesellschaftlichen Modernisierung geworden ist, treffen sich die Gouvernementalitätsstudien mit den Grundannahmen von Boltanski/Chiapello. Die Parallelität der Diagnosen, die sich, wie im Folgenden skizziert wird, auch bezüglich der Diagnose der gesellschaftlichen bzw. kapitalistischen Transformationsprozesse zeigt, ist umso verblüffender, als diese auf völlig disparaten theoretischen Pfaden zu ihren Einsichten gelangen. Wie bereits erwähnt, ist der Kapitalismus laut Boltanski/Chiapello insofern ein „absurdes System“, als er die erforderlichen Beteiligungsmotive nicht aus sich selber schöpfen kann. Er ist daher auf eine Rechtfertigungsideologie angewiesen, die mit Hilfe externer Ressourcen, d.h. konventioneller Gerechtigkeitsvorstellungen mit universellem Geltungsanspruch, nicht nur eine individuelle, an Beteiligung ausgerichtete, sondern auch eine allgemeinwohlorientierte Legitimierung kapitalistischer Profit- und Akkumulationszwänge liefert. In der modernen Gesellschaft lassen sich in der Sicht der Autoren sechs Rechtfertigungslogiken oder „Polis-Formen“ 5 unterscheiden. Die zeitgenössische Managementliteratur der 60er und 90er Jahre dient ihnen dabei als Spiegel für die vor unseren Augen ablau5
Mithilfe des Modells der Polis versuchen sie die übergeordneten Prinzipien und Wertigkeitsordnungen zu erfassen, die eine plausible Logik erzeugen, nach der Handlungen, Gegenstände und Personen bewertet und in eine Rangordnung verteilt werden können (vgl. Boltanski/Chiapello 2003: 61ff).
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fenden gesellschaftlichen Transformationsprozesse und den entsprechenden Wandel der Rechtfertigungslogiken: von der „erleuchteten Polis“ über die „marktwirtschaftliche Polis“, die „Reputationspolis“, die „familienweltliche Polis“ und die „industrielle Polis“ bis zur „projektbasierten Polis“ als distinktives Merkmal des Textkorpus der 90er Jahre. In den Managementtexten der 90er Jahre entdecken Boltanski/Chiapello neuartige Gerechtigkeitsvorstellungen, die sich in den bereits bestehenden Polis-Arten nicht finden. Akribische Inhaltsanalysen der Handbücher für die kapitalistischen Wirtschaftseliten führen sie zu der Hypothese, „dass wir gerade der Geburtsstunde eines neuartigen, gängigen Gerechtigkeitssinns beiwohnen“ (Boltanski/Chiapello 2003: 137), der sich nach dem Modell der projektbasierten Polis beschreiben lässt. Wichtigstes Kriterium der Bewertung in einer als Netz gedachten Welt ist nicht mehr, wie noch in der industriellen Polis, die Effizienz, sondern die Aktivität. Einen hohen Wertigkeitsstatus besitzt, wer sich kontinuierlich an Projekten beteiligt, 6 sich zunehmend vernetzt, 7 keine Risiken scheut und keine Zeit verliert, sich durch grenzenlose Flexibilität, Mobilität und Anpassungsfähigkeit auszeichnet 8 und eine Kontaktkompetenz besitzt, die es ihm ermöglicht, Vertrauen zu gewinnen und damit neue Kontakt- und Informationsquellen zu erschließen (vgl. ebd.: 154ff). Mit anderen Worten: In der entstehenden fluiden und unbeständigen konnexionistischen Welt taucht die normative Leitfigur des ‚Projektarbeiters’ auf, der sich vollkommen dem „Ungebundenheitsimperativ“ (ebd.: 169) unterwirft. Diese Verschiebungen aber sehen Boltanski/Chiapello als eine Reaktion des Geistes des Kapitalismus auf die Forderungen der Künstlerkritik nach Authentizität, Freiheit und Autonomie; bspw. sind „die Eigenschaften, die in diesem neuen Geist eine Erfolgsgarantie darstellen (…) direkt der Ideenwelt der 68er entliehen“ (ebd.: 143f). Deren Ideen werden damit „in den Dienst jener Kräfte gestellt, deren Zerstörung sie eigentlich beschleunigen wollten“ (ebd.: 144). So sind es für Boltanski/Chiapello paradoxerweise gerade die Protestbewegungen der 60er und 70er Jahre, die einen ‚neuen Geist des Kapitalismus’ befördert haben, der der konnexionistischen Welt ihre Rechtfertigungsressourcen lieferte.
4.
Das ‚unternehmerische Selbst’: Gouvernementalitätsstudien
Der von Boltanski/Chiapello aus einem riesigen Korpus von Managementtexten herauspräparierte Persönlichkeitstypus des ‚Projektarbeiters’ bzw. des ‚Netzwerkers’ weist deutliche Verwandtschaft auf mit dem Typus des ‚unternehmerischen Selbst’, der im gänzlich anderen analytischen Kontext der Gouvernementalitätsstudien zur Leitfigur des neoliberalen 6
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Das Projekt wird zur zentralen Organisationsform der konnexionistischen Welt: „Für eine befristete Zeit führt es die unterschiedlichsten Personen zusammen und präsentiert sich über eine relativ kurze Periode hinweg als ein Teilbereich des Netzwerkes in hohem Aktivitätsstatus. (…) Die Projekte ermöglichen die Produktion und die Akkumulation in einer Welt, die, wenn sie lediglich aus Konnexionen bestünde, ohne Halt, ohne Zusammenschluss und ohne feste Formen ständig in Fluß befindlich wäre.“ (Boltanski/Chiapello 2003: 149) „Das Leben wird dabei als eine Abfolge von Projekten aufgefasst“ (ebd.: 156), mit anderen Worten ist in einer konnexionistischen Welt nur derjenige existent, der an Projekten beteiligt ist: „Personen geringerer Wertigkeit (…) verschwinden gewöhnlich spurlos.“ (Ebd.: 151) Die Tätigkeit des Vermittelns, Vernetzens, Kontakte-Herstellens wird zum Wert an sich und die Netzmetapher zu einer in allen Kontexten auftauchenden Heuristik (vgl. Boltanski/Chiapello 2003: 152f). „Flexibilität und Anpassungsfähigkeit gelten hier als positive Eigenschaften, die nichts mit Unterordnung zu tun haben.“ (Boltanski/Chiapello 2003: 158)
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Kapitalismus avanciert. Für die Vertreter dieser Forschungsrichtung stellt das ‚unternehmerische Selbst’ das zentrale ‚Regierungsprogramm’ der Gegenwart dar. 9 Schon Foucault hatte Ende der 70er Jahre in seiner Analyse des Neoliberalismus das Konzept des ‚Humankapitals’ eingeführt und postuliert, dieses sei „praktisch untrennbar von der Person (...), die es besitzt (…), so daß der Arbeiter selbst sich als eine Art von Unternehmen erscheint“ (Foucault 2004: 312). Diese Art des Denkens, die sich Ende der 70er Jahre noch „im Zustand der Gärung befindet“ (ebd.: 318), hat längst gesellschaftliche Hegemonie erreicht. 10 Das unternehmerische Selbst verhält sich „konsequent als Marktsubjekt“ (Bröckling 2007: 55) und betätigt sich als Selbstverwalter des eigenen Humankapitals. Als Leitfigur steht es „für ein Bündel aus Deutungsschemata, mit denen heute Menschen sich selbst und ihre Existenzweisen verstehen, aus normativen Anforderungen und Rollenangeboten, aus denen sie ihr Tun und Lassen orientieren, sowie aus institutionellen Arrangements, Sozial- und Selbsttechnologien, die und mit denen sie ihr Verhalten regulieren sollen“ (ebd.: 7). Die Selbstverwaltung des individuellen Humankapitals greift weit über das Berufsleben hinaus, es soll die Potenziale der ganzen Person (und nicht nur der Arbeitskraft) aktivieren. „Persönliches Wachstum und Akkumulation von Humankapital bedingen einander; die Arbeit an sich selbst und das training for the job fallen zusammen.“ (Ebd.: 73) Die Selbstmanagementprogramme im neuen Kapitalismus sind nicht auf ein fixes Inventar von Kompetenzen, sondern auf eine authentisch inszenierte Individualität geeicht. „Distinktion, so die Botschaft, verschafft Marktvorteile“ (ebd.: 68) und „gleich sind die Menschen nur im Zwang, sich voneinander zu unterscheiden“ (ebd.). Die Individualitätsnorm zeigt sich vor allem in den für die Subjektivierungsform des ‚unternehmerischen Selbst’ charakteristischen Omnipotenzphantasien, im nahezu grenzenlosen Vertrauen darauf, dass der Einzelne sein Leben nach eigenem Entwurf gestalten kann. Sein Vorbild findet das unternehmerische Selbst im Genius des Künstlers. Zu den Paradoxien neoliberaler Gouvernementalität zählt dabei, dass gerade in Zeiten, in denen Ersetzbarkeit und Überflüssigkeit des Einzelnen offenkundig sind, ein Persönlichkeitsideal mit einem Höchstmaß an kreativer Individualität und unternehmerischer Initiative propagiert und beschworen wird. Selbstdisziplinierung und Selbstenthusiasmierung laufen im Leitbild des Arbeitskraftunternehmers parallel. Das Gebot permanenter Selbstoptimierung ist dabei prinzipiell unabschließbar: „Anders als das traditionelle Disziplinarsubjekt, das niemals aufhört anzufangen, wird der Unternehmer in eigener Sache nie mit irgendetwas fertig. Permanente Weiterbildung, lebenslanges Lernen, persönliches Wachstum – die Selbstoptimierungsimperative implizieren die Nötigung zur kontinuierlichen Verbesserung.“ (Ebd.: 71)
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Dazu wird im Folgenden vornehmlich auf das Bild vom unternehmerischen Selbst zurückgegriffen, das Bröckling (2007) in seiner jüngsten Publikation skizziert. Alternativ hätte dies bspw. auch mit Hilfe der Studie Gouvernementalität im Postfordismus von Sven Opitz, die sich wie Boltanski/Chiapello auf eine Analyse des Managementdiskurses stützt, geschehen können. Da Bröcklings Monographie jedoch nicht nur die aktuellste wie ausführlichste ‚Gouvernementalitätsstudie’ darstellt, sondern der Autor auch einer der zentralen Protagonisten im deutschen Gouvernementalitätsdiskurs ist, ruht der Hauptfokus auf dessen Analyse. 10 So wird bspw., worauf Bröckling (2007: 7) hinweist, im Abschlussbericht der Kommission für Zukunftsfragen Bayern-Sachsen aus dem Jahr 1997 die Figur des ‚unternehmerischen Selbst’ explizit als politische Zielvorgabe formuliert. Für eine kurze Entstehungsgeschichte der Figur des ‚unternehmerischen Selbst’ siehe Bröckling (2007: 50ff).
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Die Selbstperfektionierungspraktiken des ‚employable man’ folgen einer Entgrenzungsund Überbietungslogik. Sie stehen unter dem Diktat des Komparativs, denn Erfolg hat man als Marktsubjekt nur, „solange man innovativer, findiger, wagemutiger, selbstverantwortlicher und führungsbewusster ist als die anderen“ (ebd.: 125). Ähnlich wie Boltanski/Chiapello den Persönlichkeitstypus des ‚Projektarbeiters’ auf die Inkorporierung der „Künstlerkritik“ der 68er-Bewegung zurückführen, weisen Vertreter der Gouvernementalitätsstudien auf die gegenkulturellen Wurzeln der Leitfigur des ‚unternehmerischen Selbst’ hin. „Zu einer hegemonialen Gestalt konnte das unternehmerische Selbst (…) nur werden, weil sie an ein kollektives Begehren nach Autonomie, Selbstverwirklichung und nicht entfremdeter Arbeit anschloss. Ohne die utopischen Energien und die praktischen Kämpfe der Neuen sozialen Bewegungen (…) hätte dieses Rollenmodell niemals eine solche Anziehungskraft entwickeln können.“ (Bröckling 2007: 58)
5.
Zwischenresümee
Bei aller Ähnlichkeit in den Diagnosen der vor unseren Augen stattfindenden gesellschaftlichen Transformationen und aller Verwandtschaft der herauspräparierten Persönlichkeitstypen des ‚Projektarbeiters’ bzw. des ‚unternehmerischen Selbst’ als Leitfiguren neoliberaler Marktvergesellschaftung weisen die Erklärungsmodelle von Boltanski/Chiapello und der Gouvernementalitätsstudien doch im Einzelnen deutliche Differenzen auf, die dem unterschiedlichen theoretischen Bezugsrahmen geschuldet sind. Eine erste solche Differenz ergibt sich aus den unterschiedlichen analytischen Perspektiven beider Ansätze. Boltanski/Chiapello stellen sich schon mit ihrem Titel in die Tradition der großen gesellschaftstheoretischen Entwürfe und versuchen – theoretisch vor allem an Weber und Hirschman anschließend – aus der Vogelperspektive einen gesellschaftstheoretischen Blick aufs Große und Ganze zu werfen, und das heißt hier vor allem: auf den Kapitalismus. Im Gegensatz dazu nehmen die an Foucaults Forschungsprogramm einer ‚Geschichte der Gegenwart’ anknüpfenden Gouvernementalitätsstudien nicht die Gesellschaft oder den Kapitalismus in den Blick, sondern, in einer aufsteigenden Analyse, die Mikrotechniken und Denkweisen, die sich zu ‚Makrostrukturen’ und Diskursen verdichten. Untersucht werden „jene Rationalitäten und Technologien, die Gesellschaft als Einheit überhaupt denkbar machen und praktisch herstellen“ (Bröckling et al. 2004: 9). Gesellschaft ist daher Resultat und nicht der Ausgangspunkt der Analyse. Auch wenn Gouvernementalitätsstudien ihre Herkunft der kritischen Diagnose neoliberaler Verschiebungen des Kapitalismus verdanken und auch heute im weitesten Sinne dieses Programm fortführen, verstehen sie sich nicht primär als Kapitalismuskritik. Eine zweite Differenz ergibt sich direkt aus der ersten: Boltanski/Chiapello erheben mit ihren Analysen – auch wenn sie Ideologien rekonstruieren und Diskursanalysen vornehmen – den Anspruch, realgesellschaftliche Transformationen nachzuzeichnen und zu bewerten. Gouvernementalitätsstudien untersuchen demgegenüber nicht, „ob Programme wirken, sondern welche Wirklichkeit sie schaffen“ (ebd.: 12). Nicht warum oder wozu, sondern wie heißt ihre Leitfrage. So ist auch die Figur des ‚unternehmerischen Selbst’ nicht – wie der Typus des ‚Projektarbeiters’ bei Boltanski/Chiapello – als ein Weber’scher Idealtypus zu verstehen, sondern als eine Anrufungsfigur. Boltanski und Chiapello lehnen einen solchen poststrukturalistischen Nominalismus ab, weil sie darin die Fiktion sehen, „die jeweilige
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soziale Wirklichkeit und deren Beschreibungsformen ließen sich ohne normative Positionen behandeln“ (Boltanski/Chiapello 2003: 204). Trotz dieser methodischen und theoretischen Differenzen ist Bröckling zuzustimmen, der eine auffallende „Nähe zwischen Boltanskis und Chiapellos Idealtypus des Projektarbeiters und der Anrufungsfigur des unternehmerischen Selbst“ (Bröckling 2007: 265f) feststellt. 11 Die dritte entscheidende Differenz ist der impliziten Anthropologie der beiden Ansätze geschuldet. Boltanski/Chiapello scheinen eine Anthropologie zu vertreten, die, analog zur individualtheoretischen Logik klassischer Vertragstheorien, von außergesellschaftlichen, vorsozialen Subjekten ausgeht – können es doch nur diese sein, die zu ihrer Teilnahme am absurden kapitalistischen System erst überredet werden müssen. In der antiessentialistischen Perspektive der Gouvernementalitätsstudien ist demgegenüber das Subjekt „keine vorsoziale Instanz“ (Pieper/Gutiérrez Rodríguez 2003: 8), sondern immer schon unwiderruflich in gesellschaftliche Machtzusammenhänge verstrickt, die es allererst konstituieren. Nicht auf fertige Subjekte richtet sich das Interesse der Gouvernementalitätsstudien, sondern auf die fortlaufenden und unabschließbaren Prozesse der Subjektivierung. „Anthropologie erscheint hier im Gerundivum“, wie Bröckling et al. (2004: 12f) prägnant formulieren. Die Menschen kommen nur als zu disziplinierende, zu motivierende, zu normalisierende, zu regierende etc. Wesen in den Blick. Anders gesagt: „Analysiert wird kein Produkt, sondern ein Produktionsverhältnis“ (Bröckling 2007: 13). Insgesamt bleibt festzustellen, dass sich die Erklärungsmodelle von Boltanski/Chiapello und der Gouvernementalitätsstudien bei aller Differenz der theoretischen Zugänge in einer Grundannahme treffen: der Unterstellung einer radikalen Immanenz und Selbstbezüglichkeit gesellschaftlicher Verhältnisse. Der neoliberal-postfordistische Kapitalismus verfügt über eine immanente Steigerungslogik, die kein ‚Außen’ mehr kennt und jeden kritischen Impuls, jeden Widerstand, jede subversive Praxis in sein Programm aufnimmt, in eine Produktivkraft verwandelt und damit depotenziert. So sind ehemalige Leitwerte des antikapitalistischen Protests wie Selbstbestimmung, Autonomie, Eigenverantwortung, Kreativität, Flexibilität im neuen Kapitalismus zu normativen Anforderungen an das ‚Humankapital’ avanciert, wie sie von den Figuren des ‚Projektarbeiters’ bzw. des ‚unternehmerischen Selbst’ verkörpert werden. Wenn es aber keinen ‚Weg nach draußen’ mehr gibt, wenn jeder Protest und jede Kritik in Gefahr ist, ins System ‚inkorporiert’ zu werden und zum Schmiermittel kapitalistischer Akkumulation zu mutieren, dann wirft dies gravierende Probleme für die Begründung einer theoretisch schlüssigen und politisch wirksamen Kapitalismuskritik auf. Auf welche Weise müsste Kritik transformiert werden, an welche Instanz könnte sie appellieren, so fragt sich, wenn es keinen ‚archimedischen’ Standort, den zuletzt das Subjekt innehatte, mehr gibt und die vertrauten Waffen der Kapitalismuskritik – Klasse, Revolution, Ausbeutung, Entfremdung etc. – diskreditiert sind. Die Beantwortung dieser zentralen Frage fällt, wie zu zeigen sein wird, bei den hier diskutierten Forschungsansätzen höchst unterschiedlich aus.
11 Nicht nachvollziehbar ist, warum Bröckling die Hauptdifferenz beider Ansätze darin sieht, Boltanski und Chiapello interessierten „sich (...) nicht für jene Strategien und Taktiken“ (Bröckling 2007: 266), die zur Durchsetzung des neuen Geist des Kapitalismus dienen und verzichteten daher auch darauf „die Sozial- und Selbsttechnologien zu analysieren“ (ebd.), in denen sich die Ratio der projektbasierten Polis ausdrücke. M. E. präparieren Boltanski und Chiapello eben diese in ihrer Analyse des Managementdiskurses heraus, auch wenn sie sie nicht als Strategien oder (Selbst-)Technologien kennzeichnen.
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‚Anders anders sein’: Gouvernementalitätsstudien
‚Gouvernementalitätsstudien’ verzichten ganz dezidiert auf jede ideologiekritische Perspektive und jedes Operieren mit den vertrauten Oppositionen von Basis/Überbau, Sein/Bewusstsein, Selbstbestimmung/Fremdbestimmung etc. Durch Preisgabe jedes externen Standorts suchen sie zu einer immanenten Kritik zu gelangen, die „keine universellen Prinzipien [formuliert], denen gegenüber sie die bestehende Realität als defizitär erklärt und zugunsten einer den Prinzipien gerecht werdenden, vollkommeneren Realität verwirft“ (Opitz 2004: 161). Vertreten wird demgegenüber „eine Form der Kritik, die weniger bewertet, als die Systeme der Bewertung analysiert“ (Bröckling et al. 2004: 14). Genealogische Analysen zeigen die Gewordenheit und Kontingenz der Regierungsprogramme auf – die sich als ahistorische Wahrheiten, alternativlose Problemlösungen oder freiheitliche Maßnahmen zu gerieren pflegen – und arbeiten so an ihrer Denaturalisierung und Entselbstverständlichung. 12 Erst so gerät in den Blick, „welche Zumutungen die Technologien zeitgenössischer Regierung den Einzelnen abverlangen, welchen Ambivalenzen und paradoxen Anforderungen sie diese aussetzen, schließlich welche Zwänge und Sanktionen sie ihnen auferlegen“ (ebd.: 15). Doch welche Konsequenzen ergeben sich nach der kritischen Analyse der Systeme der Bewertung, nach der Aufklärung über Aporien und Zumutungen? Welche Handlungsmöglichkeiten bleiben dem dermaßen auf- wie abgeklärten Subjekt? Wie oben ausgeführt, ist es die in der unternehmerischen Anrufung unhintergehbare Differenz „zwischen totalitärem Anspruch und seiner stets nur partiellen Einlösung“ (Bröckling 2007: 284), auf der sowohl der überaus wirksame Sog als auch der nötige Raum für kritisches Potenzial beruht, denn „die Nötigung, zwischen Alternativen zu wählen, bietet immer auch die Möglichkeit, sich anders zu entscheiden, als es das Regime der unternehmerischen Selbstoptimierung nahe legt“ (ebd.: 285). Doch wie kann dieser Handlungsspielraum subversiv genutzt werden? Wie ist die Foucault’sche Forderung, „nicht dermaßen regiert zu werden“, umsetzbar, wenn die neoliberale Gouvernementalität „in ihrem Kern selbst ein kritisches Unterfangen“ (ebd.) ist? „Wovon sich befreien, wenn ‚ein grundlegendes Verlangen nach Freiheit’ die Triebkraft unternehmerischen Handelns darstellt?“ (Ebd.) Wenn der Markt unentwegt Distinktion statt Konformität fordert, also von dem Imperativ lebt, ‚anders zu sein’, dann ist Kritik, die auf einen externen Standpunkt verzichtet, nur als paradoxe „Kunst, anders anders zu sein“ (ebd.: 286) denkbar. Eine solche Kunst sucht nach Bröckling der Falle zwischen Einverleibung und Aussonderung durch kontinuierliche Absetzbewegungen, den Mut zur Zerstörung, Beweglichkeit, geschicktes Ausnutzen von Chancen zu entkommen. Subversivität und Widerstand können aufgrund der Unentrinnbarkeit des unternehmerischen Kraftfeldes nicht mit Hilfe globaler Strategien, sondern nur in punktuellen, lokalen Taktiken erfolgen. Die Künstler des ‚Anders-anders-Seins’ setzen „dem Distinktionszwang ihre Indifferenz entgegen, dem Imperativ der Nutzenmaximierung die Spiele der Nutzlosigkeit“ (ebd.). Eine so verstandene Kritik ist weder ein Spiegelbild neoliberaler Gouvernementalität noch ein Gegenprogramm zu dieser, sondern „die kontinuierliche Anstrengung, sich dem 12 „Schließlich resultiert eine große Anzahl an Widerständen aus der Tatsache, dass die Gouvernementalität ihre eigene Kontingenz verschleiert. Weil sie sich als unvermeidbar, als ahistorische Wahrheit und somit als einzige kohärent zu denkende Lösung des von ihr identifizierten Problems präsentiert.“ (Opitz 2004: 167)
Produktivkraft Kritik. Die Subsumtion der Subversion im neuen Kapitalismus
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Zugriff gleich welcher Programme wenigstens zeitweise zu entziehen“ (ebd.). Sie gibt jeden utopischen Rest revolutionärer Phantasie preis und begnügt sich damit, das unternehmerische Kraftfeld zu irritieren: durch Ironisierung, Verweigerung oder auch depressive Erschöpfung. Das Regime neoliberaler Gouvernementalität, das die Individuen permanent überfordert, produziert zugleich mit dem Typus des dynamischen Selbstoptimierers sein Gegenüber: das unzulängliche, erschöpfte, antriebslose Individuum. Als Leitfigur für eine emanzipatorische Praxis, die „nach einer anderen Freiheit sucht als der des Marktplatzes“ (Bröckling 2007: 289), taugt dieser Typus allerdings kaum.
7.
Erneuerung von Sozial- und Künstlerkritik: Boltanski/Chiapello
Laufen die Überlegungen von Gouvernementalitätstheoretikern wohl eher auf eine erneuerte Form der ‚Künstlerkritik’ hinaus, so scheinen Boltanski und Chiapello ihre Hoffnung eher auf ein Wiedererstarken von Künstlerkritik und Sozialkritik zu setzen. Für sie ist es vor allem letztere, „von der neue, wenn auch gegenwärtig noch so zögerliche und bescheidene Impulse ausgehen“ (Boltanski/Chiapello 2003: 380). 13 Eine schlagkräftige Sozialkritik ist aber nach Ansicht der Autoren nur möglich, wenn es gelingt, den in den letzten Jahrzehnten vernachlässigten Kampfbegriff der ‚Ausbeutung’, der über mehr als ein Jahrhundert den Dreh- und Angelpunkt der Kapitalismuskritik ausmachte, zu revitalisieren. Parallel zum Aufkommen des postfordistischen Netzwerkkapitalismus und zur allgemeinen Abkehr vom Klassenschema ist der Ausbeutungsbegriff vielfach diskreditiert und in die Rumpelkammer der Geschichte verbannt worden. In der konnexionistischen Welt ist der Ausbeutungsbegriff zunehmend durch den Begriff der ‚Ausgrenzung’ abgelöst worden. Im Unterschied zum Konzept der Ausbeutung, das sich an der sozial ungleichen und ungerechten Verteilung von Ressourcen entzündet, eignet sich die Semantik der Ausgrenzung jedoch nicht zur Mobilisierung antikapitalistischen Protests, da sie eher zu einer „Topik des Gefühls“ als zu einer „Topik der Kritik“ gehört. (Boltanski/ Chiapello 2003: 382) In der Perspektive des Ausgrenzungskonzepts, das mit der Vorstellung einer vernetzten Welt kompatibel ist, erscheinen gesellschaftliche Armut und Marginalisierung nicht als Produkte sozialer Ungerechtigkeit, sondern als individualisierte, klassenübergreifende Risiken. Erst eine Theorie, die den Begriff der Ausgrenzung in eine Theorie der Ausbeutung überführen würde, könnte nach Boltanski/Chiapello den ‚Ausgegrenzten’ „die Last einer einseitigen, individuellen Verantwortung bzw. einer unausweichlichen Fatalität abnehmen und so ihr Schicksal mit dem der Gut- und Bessergestellten in Zusammenhang bringen“ (ebd.: 389).
13 Die „um sich greifende Armut und die zunehmenden wirtschaftlichen und sozialen Schwierigkeiten, mit denen viele Menschen zu kämpfen hatten“ (Boltanski/Chiapello 2003: 379), führten immer stärker zu Empörung, so dass es der Sozialkritik „nach der Orientierungslosigkeit der 80er Jahre“ (ebd.: 380) gelang „verlorenen Boden wieder gut zu machen“ (ebd.: 379). Die Diagnose der immer stärker werdenden Empörung scheint auch aktuell für Deutschland zu gelten, wenn man der von der Zeitung Die Zeit bei TNS Emnid in Auftrag gegebenen Studie Glauben schenken darf, die zu dem Ergebnis kommt, dass 72 % aller Befragten befindet, die Regierung tue zu wenig für die soziale Gerechtigkeit und 68 % die Einführung eines Mindestlohns befürworten, so dass in dem zugehörigen Zeit-Artikel die Rede von einem ‚Linksruck’ ist, dessen „emotionaler Glutkern“ in einem verbreiteten „Gefühl der Ungerechtigkeit“ (Lau 2007: 3) liege.
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Eine revidierte Theorie der Ausbeutung hätte den Nachweis zu führen, dass die für die konnexionistische Welt charakteristischen Formen des sozialen Elends – wie neue Armut, Ausgrenzung und Marginalisierung – ihre Ursache nicht in persönlichem Versagen sondern in sozialer Ungerechtigkeit haben. Sie hätte deutlich zu machen, dass ein Zusammenhang besteht zwischen dem Reichtum der einen und der Armut der anderen, dem Glück der Starken und dem Unglück der Schwachen. So könnte die Empörung über Egoismus und Ungerechtigkeit – neben der Entrüstung über Armut und Not seit je eine mächtige Quelle der Sozialkritik – neu entfacht und zum Motor antikapitalistischen Protests werden. Um ein Ausbeutungskonzept zu gewinnen, das auf den konnexionistischen Kapitalismus zugeschnitten ist, führen Boltanski/Chiapello (2003: 401) den Begriff des „Mobilitätsdifferentials“ ein. In einer vernetzten Welt, in der Mobilität das entscheidende Humankapital und Erfolgskriterium darstellt, beziehen, wie sie darlegen, „die hohen Wertigkeitsträger einen Teil ihrer Stärke aus der Immobilität der geringen Wertigkeitsträger, deren Elend gerade auf die Immobilität zurückzuführen ist“. Die hohen Wertigkeitsträger können demnach nur deshalb Profite aus ihren häufigen Ortswechseln beziehen, weil die geringen Wertigkeitsträger stellvertretend die bestehenden Kontakte pflegen und so an den Knotenpunkten des Netzes Permanenz gewährleisten. Andernfalls würden den mobilen Akteuren die Mobilitätsprofite und die Gewinne aus der Kontaktbildung zwischen den Händen zerrinnen. Da sich zeigen lässt, dass die Immobilität der einen die Voraussetzung für die Mobilität der anderen ist, der Beitrag der Immobilen zum Wertschöpfungsprozess aber nicht angemessen entlohnt wird, ist es für Boltanski/Chiapello gerechtfertigt, auch im vernetzten Kapitalismus von Ausbeutung zu sprechen, auch wenn diese jetzt nicht mehr dem Klassenschema folgt. Tendenziell jeder lebt in der beständigen Angst, durch den Verlust von Kontakten an den Rand des Netzes gedrängt zu werden und in eine Ent-Bindungs- und Unsicherheitsspirale zu geraten. Paradoxerweise sind Ortsgebundenheit, Firmentreue und Verlässlichkeit die entscheidenden Risiko- und Prekaritätsfaktoren. Die extremsten Ausbeutungsformen zeigen sich in der Netzwelt in der Lebenswirklichkeit der ‚Ausgegrenzten’, die durch drastische Kontaktverarmung gekennzeichnet ist: „Man verliert seine Freunde, kappt das Band der Familie, lässt sich scheiden, verfällt in politische Apathie.“ (Ebd.: 403) Um diese Form der Ausbeutung zu bekämpfen stellen Boltanski und Chiapello eine ganze Reihe von kleineren Reformvorschlägen vor, die „an der Schnittstelle von unternehmerischer und staatlicher Sozialpolitik“ (ebd.: 413) ansetzen und versuchen mittels des Rechtsweges die schwächeren Akteure zu schützen und ausgleichende Maßnahmen zu ergreifen. Diese Vorschläge, deren Durchsetzung weitgehend von der ‚Stärke der Kritik’ abhängt, betreffen sowohl einen neuen Rahmen zur Leistungserfassung, sowie gerechtere Gehaltsregeln und gleichere Mobilitätschancen (vgl. ebd.: 424ff). Zwar setzen Boltanski/Chiapello ihre Hoffnungen vorrangig auf ein Wiedererstarken der Sozialkritik, doch halten sie auch eine Revitalisierung der Künstlerkritik für notwendig, um bestimmten aktuellen Entwicklungstrends des Kapitalismus zu begegnen. Dies ist allerdings umso schwieriger, als die ‚Quellen der Empörung’, an denen sich diese Form des Protests entzündet, weit diffuser sind und weniger offen zutage treten als die Probleme der Sozialkritik wie die Zunahme von Arbeitslosigkeit und prekären Arbeitsformen. Zum anderen waren es ja gerade die Forderungen der Künstlerkritik nach Emanzipation, Autonomie, Kreativität und einem authentischen Eigenleben, die vom neuen Kapitalismus vereinnahmt wurden und der ‚projektbasierten Polis’ auf die Beine halfen.
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Boltanski/Chiapello sehen vielfältige Anzeichen dafür, dass auch in der vernetzten Welt die Quellen der Empörung, aus denen die Künstlerkritik sich speist, noch nicht versiegt sind. Sie beziehen sich hier auf diffuse Phänomene des Lebensüberdrusses und des Sinnverlustes sowie der Steigerung von Handlungsunsicherheit, die sie als „Zeichen einer Beunruhigung“ (ebd.: 450) deuten. Ihre Ursache haben diese Krisenphänomene darin, dass im neuen Kapitalismus die Verwirklichung der Werte von Autonomie und Authentizität stets nur selektiv und widersprüchlich erfolgt. Durch „Vereinnahmungsfallen“ und „Rückgewinnungsschleifen“ entstehen neue Unterdrückungs- und Kontrollformen, „die die Autonomie begrenzen und in Ansätzen rückgängig machen“ (ebd.: 462). Das für die vernetzte Welt charakteristische Regime der Kurzfristigkeit und die Ungewissheiten einer ‚Emanzipation’, die Autonomie und berufliche Unsicherheit miteinander verknüpft, zeitigen in der Sicht der Autoren Phänomene der psychischen Desorganisation, verbunden mit Gefühlen der Zukunfts- und Sinnleere, wie Emile Durkheim sie mit dem Begriff der „Anomie“ oder Richard Sennett unter dem Titel The Corrosion of Character beschrieben hat. So wird „der Bruch eines Kontakts, die Unterbrechung eines Projekts oftmals als ein Scheitern empfunden (…). Da die Werte Autonomie und Selbstverwirklichung betont und die sehr ungleiche Verteilung der Erfolgsvoraussetzungen bei der Selbstverwirklichung verdrängt wird, wird dieses Scheitern als persönliches Versagen erlebt, für das die Betroffenen die ganze Last tragen. (…) Der daraus folgende Verlust des Selbstwertgefühle erschwert das Knüpfen neuer Kontakte und trägt so dazu bei, dass die Isolation zu einer dauerhaften Lebensform wird.“ (Boltanski/Chiapello 2003: 453)
Wie im Fall der Emanzipationsfrage lassen sich nach Boltanski/Chiapello auch in Bezug auf die Authentizitätsproblematik Vereinnahmungsprozesse beobachten, die hochgradige Widersprüche aufweisen. Die ursprünglich gegen Phänomene der Standardisierung und Vermassung gerichtete Authentizitätsforderung wurde im vernetzten Kapitalismus ökonomisiert, d.h. der Markt- und Konsumsphäre einverleibt. Die Verwandlung des ‚Authentischen’ in ein Marktprodukt setzte aber voraus, dass immer mehr Güter, die bislang außerhalb der Marktsphäre waren und eben deshalb als authentisch galten, als ‚Authentizitätsreserven’ der Marktlogik einverleibt wurden und damit tendenziell alle gesellschaftlichen Bereiche (einschließlich der Privatsphäre) und alle menschliche Eigenschaften in den Sog der Marktzirkulation gerieten. Die Möglichkeit, alles ‚Echte’ und ‚Authentische’ zu vermarkten, führte zu einer Generalisierung und Entgrenzung der Authentizitätsforderung und leitete eine „neue Ära des Verdachts“ (ebd.: 482) ein. „Die Ökonomisierung sorgt (…) für neue Formen der Beunruhigung hinsichtlich der Authentizität von Dingen und Menschen, weil man sich nicht mehr sicher sein kann, ob sie ‚authentisch’ oder ‚inauthentisch’ sind, spontan oder auf verkaufsstrategische Ziele zugeschnitten.“ (Ebd.: 483) Auch im zwischenmenschlichen Bereich kann jede Handlungsweise, jede Gefühlsäußerung, jede Absicht und jede Geste als Lug und Trug, als nur vorgetäuscht und strategisch geplant gebrandmarkt werden: „die Illusion als letzte Form der Ware“ (ebd. 487). Die Radikalisierung der Authentizitätsforderung, die tendenziell die gesamte Realität einem Generalverdacht der Inauthentizität unterwirft, führt jedoch, wie Boltanski/Chiapello aufzeigen, die Kritik in eine aporetische Situation, da sie das normative und kognitive Fundament der Kritik untergräbt und damit die Authentizitätsforderung selbst ad absurdum führt: „Wenn alles, ohne jede Ausnahme, nur noch Konstrukt, Code, Schauspiel oder Täuschung ist, stellt sich die Frage, von welcher Außenposition aus der Kritiker überhaupt noch dazu in der
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Lage ist, eine Illusion, die mit der Gesamtheit des Bestehenden zusammenfällt, zu kritisieren.“ (Ebd.: 492) Um diese Aporie zu überwinden, müsste sich den Autoren zufolge die Künstlerkritik „die Zeit nehmen, die Frage nach Emanzipation und Authentizität neu zu stellen“ (ebd.: 507). An welche Instanzen könnte aber eine revidierte Künstlerkritik appellieren, welchen Standort könnte sie beziehen, auf welche Trägergruppen sich stützen, wenn der Glaube an die Möglichkeit eines ‚emanzipierten’ und ‚authentischen’ Lebens jenseits des Kapitalismus sich verflüchtigt hat, wenn alles in den Sog der Warenwelt zu geraten droht und es nichts mehr gibt, „was es allein aufgrund seiner Existenz verdient hätte, vor der Einverleibung durch den Markt geschützt zu werden“? (Ebd.: 505) Einen aussichtsreichen Schritt, sich dem Regime der Kurzfristigkeit und der ins Grenzenlose gesteigerten Mobilitäts-, Kontakt- und Flexibilitätsnorm in der konnexionistischen Welt zu entziehen, sehen sie bspw. in einer Strategie der Entschleunigung – d.h. des Verlangsamens, Hinauszögerns, Hinaussschiebens von ‚Projekten’ –, in dem Bestreben, „das Konnexionstempo zu verringern“ (Boltanski/Chiapello 2003: 598), ohne dadurch ins soziale Abseits zu geraten. Die dringendste Aufgabe der Künstlerkritik ist es demnach, das Band zu durchtrennen, das bislang Emanzipation und Mobilität miteinander verknüpfte. Im vernetzten Kapitalismus werden Immobilität, Dauer und Beständigkeit zu Emanzipationsfaktoren. Boltanski/Chiapello plädieren daher für die „Freiheit, sich für Stabilität zu entscheiden, Treue als Wert anzuerkennen und ein Erbe anzutreten, das als solches akzeptiert wird, nicht, weil es eventuell Profite einbringt, sondern aufgrund seiner bloßen Existenz“ (ebd. 509). Eine relative Unabhängigkeit von den Mobilitäts-, Fragmentierungs- und Vereinzelungszwängen des Marktes versprechen sich die Autoren – in einem für linke Sozialtheoretiker überraschenden Anklang an die Institutionentheorie Arnold Gehlens – von einer Rehabilitierung haltgebender Kollektivformen und Institutionen wie Nation, Klasse, Familie. Für sie entspricht es einer revidierten, auf den neuen Kapitalismus zugeschnittenen Emanzipationsnorm, „die Legitimität und die Überlebensmöglichkeiten dieser Kollektivformen, deren Energie zum Kampf gegen die Entwurzelung mobilisiert wird, zu verteidigen“ (ebd.: 509). Was die Authentizität betrifft, so sehen Boltanski/Chiapello die vordringlichste Aufgabe der Künstlerkritik darin, „Initiativen zur Begrenzung der zunehmenden Ökonomisierung“ (ebd.: 574) zu ergreifen. Derartige Ansätze zur Beschränkung der Marktsphäre bieten ihrer Ansicht nach „die besten Aussichten, sich einer Welt wirksam entgegenzustellen, in der alles in kürzester Zeit in eine Handelsware verwandelt werden kann, in der die Menschen unablässig auf die Probe gestellt und einer steten Veränderungsanforderung unterworfen werden und in der ihnen durch diese Art organisierter Unsicherheit das, was die Fortdauer ihres Ichs garantiert, abhanden kommt“ (ebd.: 575). Eindringlich plädieren die Autoren für ein Verbot einer „Behandlung der Menschen als Marktprodukt“ (ebd.: 512). Wie die Durchsetzung eines solchen Verbots angesichts der von ihnen immer wieder beschworenen Allmacht des entfesselten, alles verschlingenden Marktes und der Ohnmacht des Staates im neuen Kapitalismus auch nur vorzustellen wäre, bleibt freilich offen. Die Frage, mit welchen Mitteln sich der „eiserne Griff der Unterdrückungsinstanz Kapitalismus“ (ebd.: 508) lockern ließe, versuchen Boltanski/Chiapello zwar immer wieder zu beantworten, bleiben dabei aber zumeist relativ unkonkret. Große Hoffnungen setzen sie
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dabei aber stets in die (Re-)Formulierung von Kritik. Denn die Einverleibung der Kritik durch den Kapitalismus hat in ihren Augen zumindest einen Vorteil: Sie erzielt, über ihren Einfluss auf die Gestalt des kapitalistischen Geistes, reale Gerechtigkeitseffekte, auch wenn der Preis dafür eine zeitweilige Schwächung der Kritik ist.
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Resümee
Versucht man, die Entwürfe einer Kapitalismuskritik bei Boltanski/Chiapello und in den Gouvernementalitätsstudien aufeinander zu beziehen, so liegt die Frage nahe, aus welchen ‚Quellen der Empörung’ sich die von den Gouvernementalitätsstudien in Anschlag gebrachten kritischen Impulse speisen und welchen der beiden von Boltanski/Chiapello unterschiedenen Kritikformen – Sozial- oder Künstlerkritik – sie zuzuordnen wären. Die beiden Problemkomplexe, an denen sich die Sozialkritik entzündet, Armut und Not sowie Egoismus und Ungerechtigkeit, finden in den Gouvernementalitätsstudien kaum systematische Berücksichtigung. Zwar ist es der explizite Anspruch dieser Forschungsrichtung, „die konstitutionelle Überforderung sowie die Logik der Exklusion und Schuldzuschreibung sichtbar zu machen“ (Bröckling 2007: 9), zwar finden sich Passagen, in denen der ‚aalglatte’ Opportunismus und Egoismus derjenigen gegeißelt wird, die sich dem unternehmerischen Imperativ widerstandslos unterwerfen, doch findet in Ermangelung sozialstruktureller und empirisch fundierter Analysen eine systematische Berücksichtigung der von den gouvernementalen Regierungsprogrammen erzeugten Ausbeutungs- und Ausgrenzungsphänomene nicht statt. 14 Aber auch die für die ‚Künstlerkritik’ charakteristischen Forderungen nach Emanzipation und Authentizität finden in der Kapitalismuskritik der Gouvernementalitätsstudien kaum eine Parallele. Im Anschluss an Foucault unternimmt ja dieser Forschungsansatz eine machttheoretische ‚Dekonstruktion’ der neuzeitlichen Authentizitätsforderung und verneint die Idee eines authentischen und mit sich identischen Subjekts. Auf Phänomene von ‚Entzauberung und fehlender Authentizität’ als ‚Quellen der Empörung’ können sich demnach gouvernementalitätstheoretische Ansätze nur um den Preis theoretischer Inkonsistenzen berufen. So bleibt als ‚Quelle der Empörung’ die Unterdrückung, doch auch diese kann von den Gouvernementalitätsstudien nicht umstandslos gegen den Kapitalismus in Anschlag gebracht werden. Da Unterdrückung und Hervorbringung, d.h. Repression und Produktion des Subjekts nicht mehr oppositional gedacht und damit strikt voneinander getrennt werden können, bleibt systematisch unklar, wer oder was Subjekt bzw. Objekt von Unterdrückung ist. Dennoch scheinen auch die Gouvernementalitätsstudien in ihrer Konzeption kapitalis14 Zu Recht weist Gutíerrez Rodríguez (2003: 89) darauf hin, dass gouvernementale Studien in Auseinandersetzungen um soziale Ungleichheiten nicht fehlen dürfen, da sie „den Blick auf ein produktives und repressives Machtbeziehungsgeflecht [eröffnen], in dem ungleiche Selbstverhältnisse erzeugt werden“. Einen ersten Schritt in diese Richtung unternimmt Schmidt-Semisch (2000), der aufzeigt, dass die gouvernementalen Regierungsprogramme auf der Logik einer versicherungsmathematischen Gerechtigkeit beruhen, die der Logik der sozialen Gerechtigkeit entgegensteht und letztere zunehmend unterläuft. Dass der Verbindung von gouvernementaler Anrufung und sozialer Ungleichheit bislang jedoch kaum systematisch nachgegangen wurde, mag nicht zuletzt daran liegen, dass dies erst dann gelingen könnte, wenn man die Ebene der diskursiven Anrufungen verließe und bereit wäre, sich mit empirischen Untersuchungen zum subjektiven Niederschlag unternehmerischer Anrufungen zu ‚beflecken’.
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muskritischer Praxen ohne eine – wenn auch diffuse – Figur von Unterdrückung nicht auszukommen. Die ‚Künstler des Anders-anders-Seins’ befinden sich in ihrer Sicht auf einer permanenten Flucht vor einem totalitären Anrufungsregime, das seine mikroskopisch kleinen Fühler in alle Aspekte des Lebens ausstreckt und Konformität nicht mehr über Homogenisierung und Anpassung, sondern über Distinktion und Subversion, über den Imperativ des ‚Anders-Seins’ herzustellen sucht. Dass gouvernementalitätstheoretische Ansätze implizit immer noch ein Konzept von Unterdrückung in Anspruch nehmen müssen, zeigt sich auch daran, dass in ihrer Sicht die Empörung über den für die neoliberale Gouvernementalität charakteristischen Imperativ des Anders-Seins sich weniger an den von diesem evozierten subjektiven Kosten und Leiden zu entzünden scheint als an dem Zwang, dem Imperativ zum Anders-Sein. Allererst der omnipräsente, totalitäre Zwangscharakter des neoliberalen Regimes verwandelt Subversion und Kritik in Anpassung und Unterdrückung, Heterogenität in Homogenität. Systematisch unklar bleibt, weshalb die Individuen das neoliberale Regime als Zwang und Unterdrückung empfinden (sollten), worin also die Motivationsquellen kapitalismuskritischer Praxis liegen könnten, wenn die Differenz von Repression und Freiheit, von Entfremdung und Subjektivierung theoretisch eingezogen wird. In der Realfiktion des ‚Künstlers des Anders-anders-Seins’ – des Helden antikapitalistischer Subversion – scheint sich zudem der Habitus des Bohemien zu zeigen, dem es mit kreativer List gelingt, sich den Zwängen des Systems wenigstens zeitweilig und punktuell zu entwinden. Die nahe liegende Frage, auf welche Stellung im Sozialraum ein solcher Habitus verweist, bleibt im Rahmen der Gouvernementaltätsstudien unbeantwortet. ‚Künstler des Anders-anders-Seins’, also Virtuosen der Subversion, scheinen nur diejenigen sein zu können, die über das erforderliche ‚Humankapital’ und den entsprechenden Habitus verfügen, um erfolgreiche ‚Unternehmer ihrer selbst’ zu sein. Unklar bleibt dann aber, warum für solche Akteure die lebenslange Flucht vor dem totalitären Anrufungsregime attraktiver sein sollte, als sich dem Imperativ permanenter Selbstoptimierung und lebenslangen Lernens widerstandslos zu fügen. Zudem stellt sich die Frage, ob der unterstellte Impuls, „nicht dermaßen regiert zu werden“ bzw. „anders anders zu sein“, nicht letztlich doch wieder die Existenz eines Subjekts voraussetzt, das verzweifelt versucht, es selbst zu sein bzw. autonom zu sein. Statt Unterdrückung und Entfremdung zumindest implizit als omnipräsente ‚Quellen der Empörung’ zu veranschlagen – und damit die totgesagte Figur eines autonomen Subjekts wiederzubeleben –, sollte der Frage nachgegangen werden, welche spezifischen Folgen, Problemlagen und vor allem Leiden bestimmte Modi des Regierens und ‚Regiert-werdens’ mit sich bringen. 15 Vor allem gälte es, die bislang vernachlässigte Dimension sozialer Ungleichheit in den Fokus gouvernementalitätstheoretischer Analysen zu rücken. Während die Gouvernementalitätsstudien den Widerstand gegen die ehernen Zwänge des neuen Kapitalismus der Sisyphusarbeit der Einzelnen zu überlassen scheinen, setzen Boltanski und Chiapello eher auf kollektive Protestformen und das Reformpotenzial des Staates. Sie plädieren für das klassische Modell einer sozialen Marktwirtschaft und suchen auf politischer Ebene die Implementierung gesetzlicher Vorschriften zu forcieren, die die negativen Effekte des kapitalistischen Systems wenn nicht ausmerzen, so doch lindern
15 So etwa Foucault: „Ich wollte sagen: ‚nicht so, nicht dermaßen, nicht um diesen Preis regiert zu werden’. Ich bezog mich nicht auf eine Art fundamentalen Anarchismus, nicht auf eine ursprüngliche Freiheit, die sich schlechterdings und grundlegend jeder Regierungsentfaltung widersetzt.“ (Foucault 1992: 52f)
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sollen. So sympathisch und verdienstvoll diese reformistische Bescheidenheit auch sein mag, so fraglich bleibt es, ob die von den Autoren vorgeschlagenen Formen einer revidierten Sozial- und Künstlerkritik in der Lage sind, die systemischen Effekte, an denen der global vernetzte Kapitalismus sich berauscht, die seine Stärke ausmachen und die sich immer weiter zu verstärken scheinen, erfolgreich zu bekämpfen bzw. diesen auch nur auf Augenhöhe zu begegnen. Deutlich zeigt sich dieses Problem bei den Vorschlägen zur Erneuerung der Sozialkritik. Während die grundsätzliche Stoßrichtung dieser Erneuerung – die darauf zielt, Phänomene der ‚Ausgrenzung’ als Effekte von ‚Ausbeutung’ sichtbar zu machen – nur begrüßt werden kann, scheinen die vorgeschlagenen Widerstandspraxen und staatlichen Reformmaßnahmen – die an Poppers Konzept des ‚piecemeal engineering’ erinnern – im Einzelnen nur sehr bedingt geeignet, den eisernen Würgegriff der „Unterdrückungsinstanz Kapitalismus“ (Boltanski/Chiapello 2003: 508) nachhaltig zu lockern. Einen massenhaften Mobilisierungseffekt kann man sich von den nur spärlich und zudem sehr unkonkret skizzierten Widerstandsformen und Veränderungspotenzialen jedenfalls nicht versprechen. Die grundsätzliche Problematik nationalstaatlicher Maßnahmen in einem globalisierten und weltweit agierenden Kapitalismus ist damit noch gar nicht angesprochen. Noch kritischer muss die von Boltanski/Chiapello vorgeschlagene Erneuerung der Künstlerkritik betrachtet werden, zumal hier die Ebene der Diagnose kaum überschritten wird. Sehr instruktiv erscheint ihr Hinweis auf die anomischen, letztlich jede Form von Solidarität und Sozialität untergrabenden Effekte des Regimes der totalen Mobilität und des Diktats des Komparativs, wie es der Netzwerklogik, die eine nomadische (und damit monadische) Existenzform zur absoluten Norm erhebt, immanent ist. 16 Auch wenn Boltanski und Chiapello zu Recht auf die grundsätzliche Problematik hinweisen, die sich aus der ‚Dekonstruktion der Authentizität’ ergibt und diese bewundernswert luzide auf den Punkt bringen, vermag ihr Plädoyer für eine Schwundform des authentischen Selbst nicht zu überzeugen: zum einen, weil die Identifizierung von Authentizität bzw. Inauthentizität einen – nicht verfügbaren – transzendentalen Standort voraussetzt, zum anderen, weil es, wie insbesondere die gouvernementalitätstheoretischen Studien gezeigt haben, der stete Rückgriff auf diese Logik war, der die diagnostizierten und inkriminierten Verschiebungen erst verursacht. 17 Statt an dieser Unhintergehbarkeit der Dekonstruktion der Authentizität zu verzweifeln und in Indifferenz oder Fatalismus zu verfallen, scheint auch hier die Konzentration auf die Bekämpfung sozialer Ungleichheit und Armut angebracht. Zusammenfassend bleibt festzuhalten, dass sowohl die Gouvernementalitätsstudien als auch Boltanski/Chiapello mit ihrer epochalen Studie Der neue Geist des Kapitalismus auf Widersprüche und Aporien der Gesellschafts- und Kapitalismuskritik aufmerksam gemacht haben, denen jede avancierte Gesellschafts- und Kapitalismuskritik künftig Rechnung zu tragen hat. Ungeachtet deutlich differenter theoretischer Grundannahmen und Ausgangspo16 Für die weiterführende Analyse dieser Situation, sowie der sich daraus ergebenden ‚Immunisierung’ gegen bestimmte Formen von Sozialität vgl. Masschelein/Simon 2002. Um im Umkehrschluss nicht in totalisierende Formen von Gemeinschaft zurückzufallen, siehe auch deren Diskussion des ‚Munus’-Gedankens von Roberto Esposito. Nach diesem ergibt sich ‚Gemeinschaft’ nicht, weil Menschen etwas gemein(sam) haben, sondern weil sie sich gegenseitig etwas Unverrechenbares schulden. 17 Selbstverständlich ist die Diskussion um den Stellenwert von Authentizität ungleich komplexer, als hier angedeutet werden kann. So sollte man mit Taylor (2002) zumindest kritisch fragen, ob in der Norm der Authentizität nicht etwas angesprochen ist, das für die menschliche Existenz letztlich unhintergehbar ist und daher nicht komplett aufgegeben werden sollte bzw. kann. Für eine über Taylor hinausgehende ausführliche Auseinandersetzung mit dem Konzept der Authentizität siehe auch Guignon 2004.
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sitionen kommen beide Ansätze zu überraschend ähnlichen Diagnosen, sowohl bezüglich der realhistorischen Transformationen des kapitalistischen Systems als auch bezüglich der diskursiven Verschiebungen der Kapitalismuskritik. Entscheidende Unterschiede zeigen sich hingegen bei den jeweiligen Vorschlägen zur Revitalisierung von Kritik und Widerstand im neuen Kapitalismus. Eine schlagkräftige und aussichtsreiche Kapitalismuskritik, die sich nicht in Aporien und Paradoxien verfängt – so das Fazit meiner Rekonstruktion und vergleichenden Diskussion der beiden Theorieansätze –, kann nicht umstandslos die klassischen Forderungen nach Emanzipation, Autonomie und Authentizität reanimieren, da diese dem neuen Kapitalismus erst auf die Beine geholfen haben und inzwischen zur Produktivkraft mutiert sind. Eine erneute Schlag- und Mobilisierungskraft könnten diese vielfach diskreditierten Forderungen m.E. nur dann entfalten, wenn diese Formen der Künstlerkritik sich an die Logik der Sozialkritik und damit an Vorstellungen von ‚sozialer Gerechtigkeit’ ankoppeln ließen. 18 Damit soll keineswegs suggeriert werden, dass sich bei diesem Versuch nicht wieder neue Fragen und Problemlagen auftun. Insgesamt liefern beide hier diskutierten Ansätze einen wertvollen Beitrag für die Gesellschafts- und Kapitalismuskritik, der nicht zuletzt darin besteht, wichtige Vorarbeiten zu einer vertiefenden Klärung dieser Problematik geleistet zu haben.
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18 Ein ganz ähnliches Plädoyer formulieren die kanadischen Autoren Heath und Potter mit ihrem 2005 erschienen Buch The Rebel Sell. How the Counterculture Became Consumer Culture. Deren Ziel ist es den ‚Mythos der Alternativkultur’ zu entlarven und die progressive Linke von deren Fehlannahmen und Missverständnissen zu befreien, damit diese sich ganz auf die Belange sozialer Gerechtigkeit konzentrieren können. Kern der Idee der Gegenkultur sehen sie in der Kritik an der Massengesellschaft, die in vielfältigen Formen als Kritik an jeglicher Form von Unterdrückung, Homogenisierung und letztlich jeglicher Weisen von Hierarchien und Institutionen auftaucht und als zentrales Gegengift subversives Anders-Sein empfiehlt. Weil das Streben nach Distinktion jedoch der zentrale Motor des Kapitalismus ist, ist Anders-Sein keineswegs subversiv, sondern treibt entgegen den Intentionen der vermeintlichen Konsumrebellen den Kapitalismus an. “It is competitive consumption that creates the problem, not conformity. If consumers were just conformists, then they would all go out and buy exactly the same stuff, and everyone would be happy.” (Heath/Potter 2005: 106) Auf den Punkt gebracht lautet ihr Fazit: “Rebellion is not a threat to the system, it is the system.” (Ebd.: 178) Statt rebellischen und subversiven Akten zu frönen, die allzu oft in der Sackgasse narzistischer Selbstverwirklichung landen, empfehlen Heath und Potter auf dem Wege demokratisch-politischen Handelns die von Problemen kollektiven Handelns erzeugten sozialen Ungerechtigkeiten zu bekämpfen: „through people making arguments, conducting studies, assembling coalitions and legislating change“ (ebd.: 11).
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Messianischer Populismus von links? Anmerkungen zu dem Werk Empire von Michael Hardt und Antonio Negri Karin Priester
Wir leben in einer Zeit der Verwerfung ideologischer Strömungen und Tendenzen. Ältere, scheinbar objektive Begriffe wie ‚Proletariat’ werden obsolet, neuere wie das ‚Prekariat’ verweisen auf Diffusität. Was noch etwa bis Mitte des letzten Jahrhunderts homogen erschien í Nationalstaat, Schichten und Klassen, Lebensstile, Biographien – weicht heterogenen Formationen, die überdies instabil, fließend und im Umbruch sind. Nicht nur die sozialen Strukturen und Verhältnisse wurden „zum Tanzen“ gebracht (Marx), auch die ideologischen Deutungs- und Rechtfertigungsmuster sozialen und politischen Handelns unterliegen einem Prozess der Kombinatorik, der Paradoxien und des Recycling ideologischer Versatzstücke. In einem fluktuierenden, diffusen, heterogenen und zudem transnationalen Kräftefeld geht es um die Neubestimmung von Akteuren, Identitäten, Interessen und Solidaritätsmustern, nicht zuletzt auch um Inhalt, Reichweite und Aktionsformen des Politischen, um eine Neubestimmung des Verhältnisses von Partizipation und Repräsentation. Die Linke, immer schon gespalten in Reformisten und Revolutionäre, Pragmatiker und Chiliasten, ‚Realos’ und ‚Fundis’, sucht Antworten auf die doppelsinnige Frage What is left? Was ist an Hoffnungen geblieben nach dem Scheitern des ‚real existiert habenden’ linken Projekts und was an analytischen Instrumenten angesichts der sozialen und politischen Verwerfungen? In Umbruchsituationen gewinnt das Transitorische und Ephemere gegenüber ‚festen’, berechenbaren Verhältnissen an Boden. In einer Welt, in der scheinbar alles ungesteuert und naturhaft fließt, sind Ontologisierungen nicht fern. Leben, Begehren, Lebensströme, subjektives Wollen, Ausbruch aus Verkrustungen und Hierarchien, das linke Projekt als weltweiter Befreiungsnomadismus í das sind nur einige der ideologischen Puzzleteile, die insbesondere von jenen Linken ins Spiel gebracht werden, die sich nach wie vor als revolutionär verstehen, theoretisch am anspruchsvollsten in der weltweit rezipierten Erfolgsveröffentlichung Empire von Michael Hardt und Antonio Negri (2002).
Der Prozess der Sorelisierung Das Werk von Hardt und Negri wurde bei seinem Erscheinen als Bibel der Globalisierungsgegner, gar als neues kommunistisches Manifest gefeiert und avancierte rasch zu einem Weltbestseller. Am Beispiel dieses Buches möchte ich im Folgenden einen Prozess nachzeichnen, den ich im Rückgriff auf die Gesellschaftslehre Georges Sorels die Sorelisierung nenne. Er beginnt mit Umformulierungen, Transformationen, semantischen Verschiebungen, ideologischen Akzentverlagerungen und endet bei einer ganz anderen Position. Ein historisches Beispiel ist das Werk des jungen Benito Mussolini, der als prominenter Sozialist begann und als Faschist endete. Ein solcher Übergang vollzieht sich in der Regel nicht
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als radikaler Bruch mit der Vergangenheit, sondern als fließender Übergang durch Abstoßung älterer Denkmuster und die Absorption neuer, als Kombinatorik ideologisch heterogener Elemente. Schon vor dem Ersten Weltkrieg fungierten die Philosophie Friedrich Nietzsches und das Werk Georges Sorels als Katalysatoren der Sorelisierung. In einer Zeit tiefer gesellschaftlicher Krisen und Umbrüche warf Mussolini, der sich bis dahin als Sozialist verstanden hatte, unter dem Einfluss seiner beiden neuen Lehrmeister als erstes den philosophischen Materialismus über Bord. Im Verhältnis von Sein und Bewusstsein setzt der Wille des Handelnden in einem offenen, ständig sich in Bewegung befindenden Feld von Möglichkeiten die Prioritäten. Als zweites eliminierte Mussolini die Dialektik, die ihm ohnehin immer fremd geblieben war, also das Denken in Widersprüchen, die sich zu einer Synthese, zu einem vereinigenden Dritten hin entwickeln. Ausgehend von der Philosophie Hegels waren die Klassiker des Marxismus immer Dialektiker gewesen. Gesellschaftliche Formationen werden nicht als monolithische Entitäten gedacht, sondern als Einheit der Gegensätze von Altem und Neuem, die in ihrer widersprüchlichen Entwicklung der gesellschaftlichen Praxis zugrunde liegt. Drittens musste Mussolini nur noch die marxistische Gesellschaftstheorie umformulieren zu einer Theorie der Macht, um den Weg frei zu machen für eine ganz andere Doktrin, die bereits dem Keim des Faschismus in sich trug. Das Ergebnis lautete nun nach einer Reihe von diskursiven Transformationen und Konzeptverschiebungen: (a) Die Geschichte ist nicht, wie bei Marx/Engels, eine Geschichte von Klassenkämpfen, sondern von Kämpfen um die Macht. Sie sind der eigentliche Motor der Geschichte und Gewalt ist ihr legitimes Mittel; (b) Das Kapital als ein von den handelnden Subjekten unabhängiges, objektives Verhältnis wird subjektiviert zur Herrschaft von Eliten, denen nicht mehr das Proletariat, sondern das ‚Volk’ gegenübersteht; (c) In einem weiteren Schritt lenkte Mussolini diesen Konflikt nach außen auf die (westlichen) imperialistischen Mächte, denen die ausgebeuteten ‚proletarischen’ Nationen, zu denen er auch Italien zählte, gegenüberstehen. Unter dem Banner der ‚proletarischen’ Nation stehen sich nun nicht mehr Bourgeoisie und Proletariat gegenüber, sondern die zum Wohle der Nation schaffenden Produzenten und imperialistische, transnationale Mächte.
Die Renaissance der Lebensphilosophie Schon vor der Heraufkunft des Faschismus war die Lebensphilosophie die Brücke für den Übergang von einer rationalistischen Weltsicht zu einer irrationalen. Auch heute ist bei Teilen der Linken wieder ein solcher Prozess der Sorelisierung im Gange. Er verläuft über die Schiene der postmodernen Lebensphilosophie. Statt klarer Begriffe und rationaler Analysen gewinnt ein dunkles Reden, eine metaphorische Schreibweise Raum. Objektives Wissen wird als Herrschaftsinstrument denunziert und zugleich wächst das Interesse an Subjektivismen aller Art, an Gefühlsäußerungen, Willensbekundungen, Betroffenheiten. Der lebensphilosophische (poststrukturalistische) Diskurs, in den 1990er Jahren vor allem von Gilles Deleuze (vgl. vor allem Deleuze/Guattari 1992) vertreten, rehabilitiert die Rückkehr zur Ontologie. Das Leben als permanentes Werden steht der Materie gegenüber und besteht aus Strömen, Energien, Intensitäten, die aus einem Grundimpuls hervorgehen,
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dem ‚Begehren’. Als Selbsterhaltungstrieb unterwirft er sich das Denken als sein Instrument und bringt es in funktionale Abhängigkeit. Für den Werdegang Mussolinis war die Lebensphilosophie Henri Bergsons wegweisend, für heutige Postmodernisten oder Poststrukturalisten ist es die des Bergsonianers Deleuze. Bergson formulierte die Gegenposition zum Rationalismus und zur daraus resultierenden technokratischen Beherrschung der Welt. Gegen die positivistische Welterklärung nach Art der Naturwissenschaften stellte er Konzepte wie „schöpferische Entwicklung“ oder „schöpferischen Schwung“ (élan vital). Intuition und subjektives Erleben sind erkenntnistheoretisch die allein adäquaten Instrumente, um der Dynamik des Lebens gerecht zu werden. Denken, Begriffe und Intellekt werden dagegen als statisch und konservierend abgewertet; ihr Gegenstand ist die tote Materie. Bergsons Philosophie der Aktion stand um 1900 am Beginn vieler Tatphilosophien, die in den Sog des Irrationalismus gerieten. Als Philosoph der neuen Freiheit verstand Bergson sich aber auch als Künder religiöser Erneuerung, als Sprachrohr eines vagen Drangs nach ‚Wiederverzauberung’ und einer Gottessehnsucht, die pantheistisch mit der Hymne auf das Leben eine Wiederkehr Gottes bringen würde. Auch Sorel verdankte der Lebensphilosophie entscheidende Impulse. Zugleich sah er in ihr aber, scharfsinniger als seine heutigen Adepten, auch den Ausdruck der wirtschaftlichen Mechanismen ‚merkantilistischer’ Gesellschaften mit ihrer Vorherrschaft des Spekulantentums. Wo nicht die Produktion, sondern Spekulation und Börsengeschehen mit ihren permanent fließenden Geldströmen dominieren, liefert die Lebensphilosophie die ideologische Begleitmusik. Schon vor hundert Jahren und auch in der Postmoderne gehörte der Bergsonismus zur ‚Neuen Ökonomie’ als deren Spiegel und ambivalente Rechtfertigung.
Die Sorelisierung im Werk Empire Wie stellt sich nun die Sorelisierung in dem Werk Empire dar? Negri, in den siebziger Jahren ein führender Vertreter und der theoretische Kopf der italienischen ‚Autonomen’, ist geradezu ein Meister ideologischer Verschiebungen und semantischer Umdeutungen. Er gibt vor, eine marxistische Analyse der gegenwärtigen „herrschenden Weltordnung“ vorzulegen, ist aber seinem alten anarcho-syndikalistischen Denken treu geblieben. Diese Richtung trat in Italien unter der Bezeichnung operaismo auf und beharrte, wie auch der französische Anarcho-Syndikalismus, dem Sorel nahe stand, auf der Autonomie der Arbeiter gegenüber ‚fremdbestimmenden’ Organisationen, seien es Parteien, Gewerkschaften oder Parlamente. Auf die Frage, warum Autoren wie Hardt und vor allem Negri sich überhaupt der Mühe unterziehen, das aus ihrer Sicht längst ausgelaugte Erdreich des Marxismus noch einmal umzupflügen, statt mit ihm zu brechen, kann man am ehesten eine charismatheoretische Antwort geben. Negri gehört zu den Gläubigen der großen, weit verzweigten Familie der marxistisch inspirierten Linken; sein millenarischer Zugriff auf diese Theorie ist der eines nach Heil und Erlösung Strebenden. Nachdem sich das Charisma der kommunistischen Parteien aber zusehends veralltäglicht hatte, sank ihre Attraktivität für alle, die dem Messianismus einer Heilslehre treu bleiben wollten. Weder konnten sie die Integration dieser Parteien in das bestehende System akzeptieren noch deren Konstitution als Parteien überhaupt. Alles, was in der politischen Alltagsarbeit unverzichtbar ist – das Abwägen von
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Strategie und Taktik, die Kunst, Bündnisse und folglich Kompromisse zu schließen, „die konkrete Analyse der konkreten Situation“ (Lenin), die realistische Einschätzung des situativ Möglichen – gilt als Verrat oder Anpassung, weil es die Gefahr der Veralltäglichung des Charismas in sich birgt. Die Reinheit und Unbedingtheit eines zutiefst unpolitischen Strebens kann nur bewahrt werden, indem man sich dem auf Parteienrepräsentation beruhenden Spektrum des Politischen entzieht und autonom handelt. Diese Autonomie hat nur einen Haken: Sie führt zu einer Stellvertreterpolitik, die weitaus bedenklicher ist als die von Parteien. Militante, im Grenzfall, wie in Italien und anderswo, auch zum Terrorismus entschlossene Intellektuelle glauben oder maßen sich an, das autonome Handeln der Massen nicht nur anleiten, sondern durch ihre minoritären Aktionen ersetzen zu können. Negri ist biographisch diesen Weg gegangen, hat dann, nachdem er in Italien wegen terroristischer Aktivitäten im Umfeld der ‚Roten Brigaden’ unter Anklage gestellt worden war, Jahrzehnte seines Lebens in Frankreich im Exil verbracht und ist nun erneut auf der Suche nach zeitgemäßen Formen des Widerstandes und neuen Trägern der Subversion. Die Revolution steht nicht mehr auf der Tagesordnung, das realsozialistische Experiment ist Geschichte, die ehemaligen kommunistischen Parteien sind sozialliberal geworden. Wer also könnte den Kampf gegen das Empire aufnehmen? Die Industriearbeiter kommen nicht mehr in Frage, denn erstens schrumpft ihre Zahl im Übergang von der Industriegesellschaft des 19. Jahrhunderts zur heutigen Wissens- und Dienstleistungsgesellschaft und zweitens sind sie als ‚Arbeiteraristokatie’ längst in das herrschende System integriert. Als neues Subjekt identifiziert Negri daher den „gesellschaftlichen Arbeiter“, dessen Status im Verhältnis zum klassischen Industriearbeiter nicht nur prekär ist, sondern der auch in einem Konkurrenzverhältnis zu diesem steht. Zugleich ist dieses neue historische Subjekt nur noch im metaphorischen Sinne Arbeiter, handelt es sich doch zunehmend auch um von Proletarisierung bedrohte Intellektuelle in der neuen Wissensgesellschaft. In der postindustriellen Gesellschaft tritt die diffuse und heterogene Gruppe des Prekariats an die Stelle des Proletariats in der Industriegesellschaft. Hardt/Negri begegnen der Degradierung und Entwertung dieser sozialen Gruppe, indem sie sie nicht nur soziologisch zur Gegenelite der ‚Multitude’ erheben, sondern theologisch/metaphysisch zu Anwälten des Lebens gegen die Mächte des Todes er- und verklären.
Die Renaissance des ‚populistischen’ Anarchismus Objektive Verhältnisse werden aufgelöst in mobile Kraftfelder subjektiven Wollens. Der subjektive Wille der Kapitalisten steht dem subjektiven Willen der ‚gesellschaftlichen Arbeiter’ gegenüber, angetrieben von Wille und Begehren. Gemäß dieser voluntaristischen Theorie der Macht steht der kleinen Gruppe von Herrschenden eine diffuse, soziologisch nicht greifbare Menge gegenüber, die hier nicht den negativ konnotierten, aus dem Begriffsarsenal des Konservatismus stammenden Namen ‚Masse’ trägt, sondern ‚Multitude’ (Menge, Vielheit) genannt wird. Zu ihr gehören Studenten, Jobber, Arbeitslose, Sozialhilfeempfänger, Migranten, Asylsuchende und sonstige Marginalisierte. Die Rolle der Arbeiter gerät dagegen ins Zwielicht. Einerseits gehören auch sie zur großen Gruppe der ‚Multitude’, andererseits stehen sie als ‚arrogante’ Lohnempfänger aber auf der Seite des ‚Systems’. Die Arbeiter sind also nur noch eine Teilmenge des großen, sich weltweit konstituie-
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renden ‚Volkes’ oder der Volksmassen. Die ‚Multitude’ ist indessen kein empirisch-analytischer Begriff, sondern Potenzialität. Wie schon in der Romantik rangiert die Möglichkeit auch hier vor der Wirklichkeit und tritt als Mythos auf. Das antiinstitutionelle Credo dieses Anarcho-Populismus zeigt sich nicht nur in der Aversion gegen Parteien und Parlamente, sondern auch gegen die Gewerkschaften. Nur diese stehen im Visier, die ‚Subjektivität’ der Arbeiter dagegen nicht, was historisch zu dem paradoxen Ergebnis geführt hat, dass Mussolini den Faschismus als „proletarische Errungenschaft“ deklarieren konnte. Eine weitere Schwerpunktverlagerung nehmen Hardt/ Negri im Verhältnis von Staat und Kapital vor. Der Staat ist nicht der relativ autonom handelnde „ideelle Gesamtkapitalist“, der sich auch gegen diese oder jene Kapitalfraktion wenden kann, sondern der reale und wirkliche Gesamtkapitalist. Daher geht der Kampf nicht primär gegen den Kapitalismus, sondern gegen den Staat bzw. gegen den heute weltweit vernetzten Superstaat des Empire. Die dialektische Denkfigur der Vermittlung und Aufhebung der Gegensätze in einem höheren Dritten wird eliminiert und auf einen binären Code reduziert. In diesem manichäischen Denken stehen sich das ohne Differenzierungen und innere Widersprüche gedachte ‚System’ der Herrschenden (das Empire) und die gegnerische ‚Multitude’ als Reiche des Bösen und des Guten gegenüber, tertium non datur. Der Vatermord linker Postmodernisten wie Hardt/Negri gilt in erster Linie Hegel; Marx dagegen mutiert im Zuge dieser Konzeptverschiebungen von einem Philosophen der Praxis zu einem voluntaristischen Philosophen der Tat, der, solchermaßen amputiert, auch für ambivalente politische Grenzgänger attraktiv gehalten wird. Da politische Vermittlung durch Parteien abgelehnt wird, kommt es zu einem direkten Konflikt zwischen den Herrschenden und der ‚Multitude’, die sich aber, anders als in der marxistischen Theorie, nicht über ihre objektive Stellung im Produktionsprozess konstituieren, sondern über ihre Selbstdefinition. Die ‚Multitude’ drängt in ihrer Subjektivität – in ihrem Wollen und Begehren í zum Ausbruch aus einem Machtzusammenhang, der nicht primär durch ökonomische Ausbeutung, sondern durch staatlich-gesellschaftliche Disziplinargewalt charakterisiert wird. Gesellschaftliche Institutionen wirken aus dieser Sicht nicht qua Auftrag und selektiv, z.B. als Gefängnisse, sondern grundsätzlich als Disziplinaranstalten, was zur Folge hat, dass diese „Einschließungsmilieus“ (Deleuze) sich qualitativ nicht mehr unterscheiden, gleich, ob es sich um Schulen, Gefängnisse oder Krankenhäuser handelt. Für diese modernen Gnostiker ist die Gesellschaft insgesamt nichts anderes als ein gigantisches Gefängnis. Nachdem die Disziplinierungsarbeit im Zeitalter der großen Industrie bereits vollbracht worden ist, hätten wir es inzwischen mit einer Kontrollgesellschaft zu tun, in der, mit Norbert Elias zu sprechen, aus Fremdzwängen Selbstzwänge geworden sind. Für Michel Foucault spielte in diesem Prozess der Verinnerlichung von Fremdzwängen historisch neben den politischen Machttechniken auch die Pastoralmacht der Kirche eine zentrale Rolle. Die „Regierung über die Seelen“ wurde durch das besondere Verhältnis von Hirt und Herde ausgeübt. Gehorsam war nicht länger ein Instrument, um bestimmte Tugenden zu erlangen, sondern wurde selbst zur Tugend. Erst im Zuge der Säkularisierung löste sich die Pastoralmacht von ihrem kirchlichen Hintergrund und verweltlichte zu „Selbsttechnologien“, mit deren Hilfe die Individuen selbst die Transformation von Fremd- in Selbstzwänge leisten. Ungeklärt bleibt dabei die Frage, wie denn die Individuen, die die Rolle konditionierender Disziplinarmächte verinnerlicht haben, subversives Begehren und damit Widerstand entwickeln können.
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Macht als Vernetzungszusammenhang Die Macht ist ubiquitär, überall und nirgends, sie ist vorhanden, aber nicht greifbar, weil sie sich, wiederum lebensphilosophisch gedacht, als Energiestrom und perpetuum mobile permanent konstruiert, wieder dekonstruiert und dauernd im Fluss ist. Sie tritt nicht mehr als kompakter Herrschaftsapparat auf, sondern als Vernetzungs- und Verflechtungszusammenhang, den Deleuze in das organologisch-biologische Bild des ‚Rhizoms’ fasst. Ist, in den Worten Pierre Bourdieus (1992: 98), das „Prekariat heutzutage allgegenwärtig“, so ist auch die Macht ein untereinander verflochtenes, verkettetes System rhizomartiger Wucherungen ohne Zentrum, folglich überall und nirgends. Gegen diese in Myriaden von Vernetzungen ortlos gewordene Macht frontal anzugehen, wäre aussichtslos. Der Widerstand muss sich diversifizieren und überall mit gleicher Intensität und Relevanz geleistet werden. Statt einer Konzentration der Kräfte, die wieder nur zu Parteien und damit zu Machtapparaten eines ‚Gegenstaates’ führen würde, postulieren Hardt/Negri daher in Anlehnung an Foucault die Pluralisierung von Widerstand in eine Vielzahl von ‚Mikropraktiken’. Auch hierin sind sie indessen nur die Epigonen Sorels (1969: 254f), der den von Arbeiterparteien präformierten ‚Gegenstaat’ ebenfalls abgelehnt hatte und für einen pluralisierten Kosmos untereinander vernetzter Gruppierungen als Gegenmacht eingetreten war. Sorel forderte die Akephalie dieser Bewegungen. Sie brauchen kein Haupt mehr, sondern bestimmen über sich selbst in locker föderalisierten Zusammenschlüssen, als Verkettung singulärer Ströme des Begehrens. Jeder mit der Kirchengeschichte Vertraute erkennt darin das Vorbild des Kongregationalismus, wie er sich im Zeitalter der Reformation herausgebildet hat. Gegen die Theokratie, sei es die ältere der römischen Kirche oder die jüngere eines Staatssozialismus, postulieren die heutigen „Protestanten“ wiederum Dezentralisierung, Pluralisierung und akephale Vernetzung des Politischen durch das, was bei Foucault Mikropolitik, bei Ulrich Beck Subpolitik heißt. Hardt/Negri erkennen durchaus, dass dies heute längst auch die Strategie des Kapitals oder des Empires ist. Sie versuchen also mit einer gewissen Plausibilität, den Gegner mit seinen eigenen Waffen wenn schon nicht zu schlagen, so doch in Schranken zu weisen. Dabei verzichten sie auf die Analyse des gegenwärtigen Kapitalismus und kehren zurück zum Paradigma der vormodernen Hungerrevolten. Entsprechend lauten auch ihre Forderungen: Alimentation der Massen bzw. der ‚Multitude’ durch garantiertes Grundeinkommen und die Befreiung von der Arbeit, also ‚Brot und Spiele’. Die annona im antiken Rom lauten heute Bürgergeld, die circenses spielen sich im Fernsehen ab. Gesellschaftliche Praxis als Dialektik von Produktivkräften und Produktionsverhältnissen löst sich in fluktuierende Kämpfe unterschiedlicher Subjektivitäten auf. Diese Umdeutung verstehen die Autoren jedoch nicht als Verabschiedung von der marxistischen Lehre, sondern als Rückkehr zu ihren eigentlichen Ursprüngen. Dabei isolieren und verabsolutieren sie die zweifellos auch im Marxismus vorhandenen messianischen Elemente, denn diese waren die eigentlichen Charismaträger und müssen daher in der Reinheit und Unbedingtheit eines Mythos bewahrt werden. Vermittelt über die Lebensphilosophie Bergsons und Deleuzes weicht der philosophische Materialismus einem Vitalismus: Nicht das Sein bestimmt das Bewusstsein, sondern das Begehren bestimmt das Handeln. Als ontologische Elementarkraft strebt dieser élan vital ständig nach Ausbruch aus Fesseln und Eingrenzungen. Der unterjochend-begrenzen-
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den Macht steht die befreiende Entgrenzung der ‚Multitude’ gegenüber. Auch dieser Gedanke bewegt sich auf den Spuren Sorels, für den in diesem metaphysischen Dualismus von Tod und Leben, Erstarrung und Ausbruch ‚rechte’ wie ‚linke’ Subjekte austauschbar wurden, da es nur noch auf den schöpferischen Aufschwung an sich, losgelöst von seinen Zielen, ankommt. Man erinnere sich: Die Tat um der Tat willen, der reine Aktivismus als Ausdruck von Leben, Kraft, Vitalität war einer der frühfaschistischen Imperative. Entscheidend ist nicht das Ziel einer Handlung, sondern ihre Intensität als Erlebnis. „Jedes Erlebnis sei eine Verpflichtung für uns!“, erklärte Ernst Jünger, für den auch der Kampf ein ‚inneres Erlebnis’ war. Alle Tatphilosophien changierten schon seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert zwischen dem Anarchismus des „schöpferischen Lebensschwungs“ und dem faschistischen Tatmenschentum.
Populismus von links? Die ‚Multitude’ als neues gesellschaftsveränderndes Subjekt ist die mit moralischem Pathos eingeführte Masse der Armen. Die theoretische Regression auf die immer schon bekannte Gegenüberstellung von arm und reich wird indessen messianisch überhöht als ewige Potenz, die nun, nach dem fatalen Umweg über den Realsozialismus, wieder in ihrer Ursprünglichkeit sichtbar wird. Dazu Hardt/Negri: „Der Vogelfreie ist ein Engel oder ein schwer zu fassender Dämon. Und hier nach so vielen Versuchen, die Armen zu Proletariern und die Proletarier zu einer Befreiungsarmee zu machen (…), taucht in der Postmoderne im blendenden Licht eines neuen Tages wiederum die Menge auf, der ‚gemeine Name‘ für die Armen. Sie kommt nunmehr voll und ganz zum Vorschein, denn in der Postmoderne haben die Unterjochten die Ausgebeuteten absorbiert “ (Hardt/Negri 2002: 171).
Die Vogelfreien als neue Heilsträger, das „blendende Licht des neuen Tages“, die Erniedrigten und Beleidigten Dostojewskis – das ist die alte anarchistische Romantik, der mystische Populismus eines Tolstoi, die prophetische Sprache des Chiliasmus. Die negative Stigmatisierung der ‚Unterjochten’ schlägt um in ihre positive Auserwähltheit durch das Leben und damit durch Gott. Häretiker haben immer schon gegen die intellektuelle oder institutionelle Erstarrung, sei es der Kirche, der Wissenschaft oder des ‚Systems’ das innere Erlebnis, die gelebte Erfahrung gestellt. Schon die spätmittelalterlichen ‚Brüder des freien Geistes’ suchten die unmittelbare Schau Gottes und die Wiedervereinigung mit ihm durch intuitives und ekstatisches Erleben. Der Widerstand gegen Dogma, geschlossene Doktrin, Kanon oder institutionelles Regelwerk artikuliert sich im Symbol des Lichts. Als inneres Licht der Seele, als lodernde Flamme, als authentisches Erleben des Herzens oder als spontane Erleuchtung ist er nicht auf bevormundende Priester, Intellektuelle oder Parteiführer angewiesen, sondern tritt als ‚direkte Aktion’ in Erscheinung. Das marxistische Vokabular der Autoren ist nur Staffage, denn es geht ihnen nicht um die Abschaffung der Ausbeutung, die bei Marx strikt ökonomisch definiert war als Aneignung des Mehrwerts durch die Kapitaleigner. Für Hardt/Negri stellt sich die heutige Situation anders dar: Die Unterjochten haben die Ausgebeuteten absorbiert. Sie, die Unterjochten, sind die eigentlich neue und treibende Kraft. Dass sie allerdings erst in der Postmoderne, also etwa seit den siebziger Jahren des letzten Jahrhunderts, weltweit zum Vorschein
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gekommen seien, muss man wohl eine Mystifikation nennen. Wie selbstverständlich gehen die Autoren überdies davon aus, dass die ‚Multitude’ ein emanzipatorisches Projekt der Befreiung verfolge. Aber anzunehmen, all diese sich in ihren Subjektivitäten permanent neu artikulierenden Massen würden unterschiedslos von den gleichen, auf Befreiung ausgerichteten Zielen beflügelt, ist linkspopulistisches Wunschdenken. Viele der mythopoetisch gefeierten neuen ‚Nomaden’ sind Wirtschaftsmigranten, die sich nicht freiwillig deterritorialisieren, das Wandern nicht als Lust und befreite Lebensform auf sich nehmen. Mit ihrer Migration streben sie nichts sehnlicher an als bürgerliche Sekurität, sozialen Aufstieg und neue Sesshaftigkeit im Empire. Andere sind Fundamentalisten, die sich eine befreite Gesellschaft auch etwas anders vorstellen als Hardt/Negri. Aber der Glaube versetzt Berge. Gegen ihn können Skeptiker nur die historische Erinnerung daran setzen, wohin derartige Sorelisierungen einmal geführt haben, auch wenn es abwegig ist, mit jeder neoanarchistischen Erfolgsschrift bereits den Faschismus aufmarschieren zu sehen. Dazu bedarf es noch ganz anderer Bedingungen.
Apologie der Gewalt Wie aber kann sich die ‚schöpferische Macht des Seins’, vertreten durch die ‚Multitude’, Geltung verschaffen? Hier erfolgt nun der letzte Schritt der Sorelisierung: die Unterscheidung zwischen zwei Formen von Gewalt. Schon Sorel hatte unterschieden zwischen Macht (force) und Gewalt (violence) (vgl. Sorel 1969: 257, 263). Erstere ist die zu bekämpfende institutionelle Macht des Staates und seiner Apparate, letztere dagegen die schöpferische, befreiende Gewalt der alternativen Subjekte. Gemäß dem binären, manichäischen Code, der nur die Gegenüberstellung von monolithischen Entitäten kennt, steht Gewalt für dynamisch, für Zukunft, Öffnung und Neubeginn in ‚mikropolitisch’ fluktuierenden Zusammenschlüssen. Macht steht dagegen für statisch, für die tote Vergangenheit und institutionelle Erstarrung. Als Manifestation der ontologischen Urkraft des élan vital jenseits und vor jeder Moral, auch vor jedem Recht, erreicht die Gewalt ihren Höhepunkt im Kampf als reinstem Ausdruck des Erhabenen, bei Sorel das sublime genannt. Erst im Kampf erfährt der schöpferische Lebensstrom seine letzte, rauschhafte Steigerung. Hier schließt sich der Kreis zu rechten Anarchisten wie Ernst Jünger, denn es kommt nur auf die psychische Steigerung von Lebensenergien, auf den von Mussolini beschworenen „Seelenzustand“ (stato d´animo) an, der sich situativ seine Ventile und Austragungsorte sucht, bei Sorel im sublimen Generalstreik der Arbeiter, heute in den Aktivitäten des schwarzen Blocks in Seattle, Genua oder Rostock. Ging es dem rechten Anarchisten Jünger um die Verwandlung des Lebens in Energie, so den linken Anarchisten Hardt/Negri um die Verwandlung von Energie in Leben, vermittelt über den Mythos der ‚Multitude’ als potenzieller Anwältin des Lebens gegen das Reich des Todes, das Empire. Die Gewalt ist die charismatische Potenz schlechthin und kann daher nie zu einer ökonomischen Kraft werden. Wie charismatische Personen bleibt auch sie wirtschaftsfern. Gewalt ist keine soziale Kategorie, sondern eine religionspsychologische und steht für seelische Spannung, Transzendenz, Aufschwung, Heroismus, Energie, Leidenschaft, Intensität, Erregung und die reine Flamme des Begehrens. „Weder Nietzsche, noch William James verdanke ich was ich bin, sondern Georges Sorel“, bekannte Mussolini. Aus gutem Grund unausgesprochen und dennoch am reinsten lebt das Werk Sorels, des Denkers der Grenz-
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verwischung, der Hybridität und des Apologeten der Gewalt, heute in den autonomistischen Strömungen fort, aus denen Negri hervorgegangen ist. Auch bei Hardt/Negri stehen sich unvermittelt und undialektisch die Macht des ‚Systems’ (ital. potere) und die schöpferische Macht (ital. potenza) des ‚gesellschaftlichen Arbeiters’ gegenüber und werden metaphysisch überhöht zu Chiffren für Tod und Leben. Der Einfluss der Lebensphilosophie wird nicht zuletzt deutlich bei der Bewertung der Formen dieser schöpferischen Gegenmacht, die, so die Autoren, heute vor allem durch die zahlreichen regierungsunabhängigen Organisationen (die NGOs) vertreten würden. Diese ließen sich nicht auf Vertretungsorgane derer reduzieren, die sich nicht selbst repräsentieren können. „Sie repräsentieren vielmehr das Leben. Sie transformieren die Politik, machen das gattungsmässige Leben zu ihrem Gegenstand, das Leben in seiner ganzen Allgemeinheit.“ (Hardt/Negri 2001: 7) Das Begehren ist das Urmagma des Lebens, aus dem sich nach den je unterschiedlichen Subjektivitäten der Wille zur Macht ebenso herausbilden kann wie auch die ‚schöpferische Macht des Seins’, die sich immer wieder gegen die begrenzende und kontrollierende „Biomacht“ (Foucault) erhebt. Alles ist in dieser heraklitischen Ontologie in einem Dauerprozess von ‚Deterritorialisierungen’ im Fluss, und das gilt auch für den idealen Menschen der Zukunft, den Nomaden. Zur lebensphilosophischen Verflüssigung gesellschaftlicher Beziehungen tritt hier noch die Romantik des Ursprünglichen hinzu. In der Metapher des Nomaden verschmelzen chiliastische Hoffnungen mit der Aura des Primitiven und dem schlechten Gewissen westlicher Intellektueller. Der zivilisatorisch durch die Gesellschaft noch nicht verbogene edle Wilde, der frei, ungebunden und im Einklang mit der Natur seines Weges zieht, wird der Welt ihre ursprüngliche Unschuld in einem egalitären Naturzustand wiedergeben. Das goldene Zeitalter ist das der frei umherschweifenden Jäger und Sammler vor dem Beginn der Sesshaftigkeit durch Ackerbau und Viehzucht. Zugleich steht die Figur des Nomaden für das lebensphilosophische Axiom der Nicht-Festlegung und Dauerveränderung im Lebensstrom, soziologisch für den Migranten, der in permanent sich verschiebenden, verschmelzenden und wieder auflösenden multikulturellen Kontexten den Schlüssel für eine weitere Denkfigur liefert: die Hybridität. Originell ist der Gedanke indes nicht, denn hat es nicht schon immer kulturelle Symbiosen, Verschmelzungen, Assimilationen, Vermischungen, Abstoßungen und Absorptionen gegeben? Das in der Postmoderne sich zeigende Neue sei aber, versichern die Autoren, dass auch die Ausübung der Macht auf hybride Art und Weise erfolgt. Institutionen formieren und reformieren sich kontinuierlich nach den Regeln der Bewegungen „produktiver und kooperierender Subjektivitäten“. Daraus folgt, dass die Macht keinen ihr eigenen Ort mehr hat, z. B. den Nationalstaat, sondern in die „zeitlichen Verschiebungen der Subjektivitäten eingeschrieben“ ist. „Das hybride Kontrollregime des Empire bildet sich an einem NichtOrt aus.“ (Ebd.) Macht als ortlose Wucherung ruft als Gegenkraft Gewalt als gleichermaßen wuchernden Ausbruch hervor. Nicht mehr aufgeklärte Subjekte handeln, sondern Lebensströme, Energiepotentiale und Manifestationen des Begehrens bahnen sich durch uns hindurch ihren Weg. Wo ICH war, soll wieder ES werden!
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Alles fließt – Ende offen Perspektivisch fordern die Autoren nichts Geringeres als die „In-Wert-Setzung“ des gesamten Lebens in „kommunistischer Vielheit“, also das schon etwas in die Jahre gekommene Projekt der Multikulturalität. Hardts und Negris Werk ist der Versuch, nicht nur den Marxismus auf eine lebensphilosophische Grundlage zu stellen – und ihn damit zu verabschieden. Es ist auch der Versuch, die Klassentheorie zu überwinden durch eine anarchoide Variante des Populismus. Die ‚Multitude’ ist der Rohstoff, aus dem sich das ‚Volk’ konstituiert, zugleich aber als Mythos reine Möglichkeitsform, Zukunftsvision und Glaubensanker. Wie bei allen Populisten changiert der Begriff ‚Volk’ auch hier zwischen einer sozialen Kategorie, also den unteren Volksschichten, und den in einem Nationalstaat zusammengefassten Staatsbürgern. Da aber inzwischen die souveräne Handlungsfähigkeit des Nationalstaats nachlässt, setzen die Autoren ihre Hoffnung auf die NGOs. Sie sind die eigentlich ‚popularen Organisationen’, die ‚populare Ansprüche’ und ‚populare Interessen’ im transnationalen Maßstab vertreten. Wo aber die Autonomie des Politischen schwindet und das politische Subjekt sich in amorphe Subjektivitäten auflöst, da zerfließen auch die Konturen der alten Regimenlehre. Wie sich das neue Imperium im Fluidum von ‚Modulationen’, ‚Verschiebungen’ und ‚Hybridisierungen’ entwickeln wird, bleibt in der Schwebe. Vorstellbar ist alles: von terroristischen oder dezentriert-akephalen Kleingruppenaktivitäten bis zum Bonapartismus als Modulation von monarchischen und demokratischen Anteilen, aber auch zu basisorientierten Formen des Neoliberalismus, mit dem so manche NGO längst bestens Hand in Hand geht. Es bleibt die vage Hoffnung auf eine globale Zivilgesellschaft, in der die NGOs ‚jenseits der Politik’ auf dem Terrain der Biomacht als vernetzte Zellen eines Bio-Populismus agieren. Dabei gehe es ums Ganze, um die ‚Belange des Lebens selbst’. Dass es dabei auch ums Geschäft einer inzwischen florierenden, um Gelder und Einfluss konkurrierenden NGO-Wirtschaft geht, sei prosaisch hinzugefügt. Der Soziologe Ulrich Beck hat längst erkannt, dass es sich bei der Hypostasierung der NGOs als alternativen Hoffnungsträgern nur um ein weiteres Beispiel für Paretos Elitenzirkulation handelt: „Wenn Nichtregierungsorganisationen schon das bessere Gewissen der Regierung sind, warum sollten sie dann nicht auch die bessere Regierung sein?“ (Beck 2007: 19) Lebensphilosophien sind Philosophien des Übergangs und als solche ambivalent. In Zeiten der Verwerfungen ideologischer Ströme fungieren sie als Scharnier zwischen alt und neu, rechts und links, als changierendes, im Fluss befindliches Kräftefeld der „neuen Unübersichtlichkeit“ (Habermas). Als Nachfahren Georges Sorels sind Hardt/Negri und andere Poststrukturalisten so ambivalent – und so epigonal – wie die Postmoderne insgesamt. Schon 1926 schrieb Ernst Jünger, der schon damals am Beispiel des Arbeiters als ‚Gestalt’ den Übergang von der Gesellschaftsanalyse zum Mythos vollzogen hatte: „Die Werte, welche vom Inneren in Ruhe gesichtet, gewogen und anerkannt wurden, werden nach außen in Bewegung gesetzt, um sich im Kampfe zu verwirklichen. Aus Gefühlen sollen Taten wachsen, aus Überzeugungen Waffen und aus einem Glauben seine Verkündigung (…) Ein der Aufklärung überdrüssig gewordenes Geschlecht beginnt die Religion wieder sehr ernst zu nehmen“. (Jünger 1926)
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Karin Priester
Literatur Beck, Ulrich 2007: „Die Riesen zittern“. In: Süddeutsche Zeitung, Nr. 127, 05.06.2007, S. 19. Bourdieu, Pierre 1992: Prekariat ist überall. In: Bourdieu 1992a: S. 96-102. Bourdieu, Pierre 1992a: Gegenfeuer. Wortmeldungen im Dienste des Widerstands gegen die neoliberale Invasion. Konstanz. Deleuze, Gilles/Felix Guattari 1992: Tausend Plateaus. Berlin. Hardt, Michael/Antonio Negri 2001: Empire – Konstituierende Macht und transnationaler Staat. Eine Analyse der herrschenden Ordnung. In: Jungle World, Nr. 19. Quelle: http://www.nadir.org/nadir/periodika/ jungle_world/ _2001/19/sub01a.htm [Letzter Zugriff: 20.01.2008]. Hardt, Michael/Antonio Negri 2002: Empire. Die neue Weltordnung. Frankfurt/M. Jünger, Ernst 1926: Der Wille. In: Die Standarte. Quelle: http://www.die-kommenden.net/dk/theorie/der_wille.htm [Letzter Zugriff: 20.01.2008]. Sorel, Georges 1969: Über die Gewalt. Frankfurt/M.
Affirmativer Protest – Ambivalenzen und Affinitäten der kommunitaristischen Kapitalismuskritik
Sven Kluge
Es kann kaum als Zufall bewertet werden, dass kommunitaristische Denkansätze seit den neunziger Jahren auch in der Bundesrepublik rege nachgefragt sind: Angestoßen wird dieses gesteigerte Interesse in erster Linie von einer nahezu ungehemmten neoliberalen Ökonomisierung des Sozialen sowie der Renaissance eines technokratischen Konservatismus im postfordistischen Gewand (vgl. Brumlik 2000: 218). Offenbar hat die kommunitaristische Kulturkritik, in deren Zentrum der schillernde Begriff ‚Gemeinschaft’ angesiedelt ist, lange aufgestaute moralische und politische Kontroversen losgetreten (eine Bündelung der kommunitaristischen Agenda bietet Etzioni 1994); etliche der von jener ‚Bewegung’ erhobenen Forderungen klingen zunächst einmal – auch aus einer dezidiert linken Perspektive – überaus einleuchtend. Denn schließlich forciert die Kultur des neuen Kapitalismus (Richard Sennett) nicht allein in Nordamerika die Erosion noch verbliebener ‚zivilgesellschaftlicher’ Kohäsionskräfte und eine tendenzielle Verabsolutierung instrumenteller zwischenmenschlicher Beziehungen. 1 Die u.a. von Robert Castel analytisch aufgeschlüsselte neue soziale Frage (vgl. Castel 2003: 336-401) ist in hohem Maße als das Produkt einer marktradikalen Deregulierungspolitik anzusehen, welche „versucht, sämtliche kollektiven Strukturen in Frage zu stellen, die der Logik des reinen Marktes irgendwelche Steine in den Weg legen können (...)“. (Bourdieu 1998: 111; vgl. außerdem Chomsky 2000; Butterwegge et al. 2007) Vice versa stammen die eindringlichsten aktuelleren Kritiken an den (selbst-)zerstörerischen Zügen einer mit den Vorgaben flexibilisierter Produktionsregime schritthaltenden Politik und Lebensführung meist aus kommunitaristischer Feder. Gegen den individualistischen und ökonomistischen Zeitgeist werden hier Topoi wie Anerkennung, Gemeinwesen und gutes Leben aufgewertet; die Kommunitarier beklagen den aus einem utilitaristisch geeichten Individualismus resultierenden Freiheits- und Würdeverlust. Sie reagieren direkt und lebensweltorientiert auf die – nach ihrer Überzeugung extremer werdenden – Zerrissenheitsgefühle und Rückbettungssehnsüchte der ‚atomisierten’ Subjekte, sind um konkrete Antworten auf „die Fragen zum menschlichen Charakter, die der neue flexible Kapitalismus stellt“ (Sennett 1998: 12), bemüht. 2 Eigens die in diesem Umfeld unablässig bemühte, vornehmlich philosophisch untermauerte These, wonach eine liberalistische Gesellschaft auf lange bzw. 1
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„Der Neoliberalismus (...) will das Kosten-Nutzen-Kalkül nicht auf die ökonomische Sphäre begrenzt wissen, sondern es auf alle Bereiche des menschlichen Verhaltens ausdehnen. (...) Danach sind selbst private zwischenmenschliche Beziehungen letztlich nichts anderes als ein Tauschverhältnis. Ökonomischer Imperialismus (...) steht für ein Denken, das den Menschen und seine sozialen Beziehungen vollständig ökonomisiert und damit Marktverhältnisse totalisiert.“ (Ptak 2007: 30) „Wie aber können langfristige Ziele verfolgt werden, wenn man im Rahmen einer ganz auf das Kurzfristige ausgerichteten Ökonomie lebt? (...) Wie bestimmen wir, was in uns von bleibendem Wert ist, wenn wir in einer ungeduldigen Gesellschaft leben, die sich nur auf den unmittelbaren Moment konzentriert?“ (Sennett 1998: 12)
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Sven Kluge
mittlere Sicht unweigerlich ihre eigenen sozial-moralischen Fundamente verschleißt, kann sich augenblicklich einer beträchtlichen und durchaus lagerübergreifenden Zustimmung gewiss sein. Selbst von der neoliberalen Ideenlehre durchtränkte Institutionen wie die Weltbank betrachten mittlerweile den sukzessiven Verfall des sog. ‚sozialen Kapitals’ mit einem sorgenvollen Blick (vgl. Mayer 2002: 37) – eingedenk der Tatsache, dass die mit der schrittweisen Umsetzung der „krassen Utopie“ (Karl Polanyi) eines selbstregulierten Marktes einhergehenden destruktiven Konsequenzen kapitalistische (Re-)Produktionslogiken auf Dauer nicht unerschüttert lassen: „Wenn man den Marktmechanismus als ausschließlichen Lenker des Schicksals der Menschen und ihrer natürlichen Umwelt (...) zuließe, dann würde dies zur Zerstörung der Gesellschaft führen. (...) Menschen, die man auf diese Weise des Schutzmantels der kulturspezifischen Institutionen beraubte, würden an den Folgen gesellschaftlichen Ausgesetztseins zugrunde gehen (...).“ (Polanyi 1978: 108; Herv. S.K.)
Freilich könnten in diesem Kontext problemlos eine Reihe von weiteren Gründen für die allgemeine Attraktivität der kommunitaristischen Diagnosen eines Kultur- und Werteverlustes aufgelistet werden. Dies würde jedoch zum einen den Rahmen dieses Beitrages bei weitem sprengen und wäre außerdem ein recht müßiges Unterfangen, da eine wahre Flut an ‚Kommunitarismusliteratur’ vorliegt, die just diesen Aspekt eingehend behandelt und diskutiert. Mein primäres Interesse konzentriert sich indessen auf ein von diesem Sachverhalt nicht völlig abgehobenes, bisher aber allenfalls marginal thematisiertes Phänomen: Nach einem intensiveren Studium der Kernthesen und Programmatiken des kommunitaristischen Mainstreams drängte sich nachdrücklich die gravierende Frage auf, inwieweit bzw. ob die hierzulande meist betont wohlwollend ausfallende, ja positive Wahrnehmung und Einstufung dieser Strömung als ‚progressiv’ – etwa im Sinne der Anliegen der revidierten Kritischen Theorie oder der in den siebziger Jahren entstehenden sozialen Bewegungen – überhaupt plausibel ist. Und nicht nur das: Auf den folgenden Seiten wird darüber hinaus systematisch der starken Hypothese nachgegangen, dass sich stattdessen Affinitäten zu politisch anders gelagerten Traditionssträngen herausstreichen lassen. Jene Behauptung wirkt auf den ersten Anschein wahrscheinlich gewagt, waren es doch von Beginn an vornehmlich kritische Intellektuelle wie Axel Honneth, die mit kommunitaristischen Zeitdiagnosen – abgesehen von einigen Reserviertheiten – sympathisierten (Honneth 1992; Honneth 1993), Maßgebliches zum akademischen Import der ‚Kommunitarismusdebatte’ beitrugen und auf diesem Wege zugleich den vielbeachteten Versuch einer aus den neokantischen Aporien herausführenden Modifikation der Habermasschen Kommunikationstheorie initiierten. Dieses Rezeptionsmuster wurde durch Selbsteinschätzungen führender Kommunitarier begünstigt; 3 die Mehrzahl der diesem Spektrum zuzurechnenden Denker will sich keineswegs als konservativ verstanden wissen (vgl. Priester 1998: 362). Fernerhin attestiert bspw. Seyla Benhabib dem Kommunitarismus das Verdienst, implizit „viele Themen auf[zugreifen], die die erste Generation der Frankfurter Schule beschäftigten“ (Benhabib 1995: 78) und heute erst wieder in ihrer ganzen Breite zu erschließen wären – etwa die Kritik der instrumentellen Vernunft und einer repressiven Subjektivität. Ihrer Auffassung 3
„As our work progressed, we developed our ideas with constant reference to the writings of Jürgen Habermas, whose notion of economic and political ‚systems’ invading the ‚life-world’ significantly influenced us.“ (Bellah et al. 1991: 291)
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nach hat eines der bedeutendsten, aufgrund der inneren Konvergenzen auch zu erreichenden Ziele einer nicht-affirmativen Gesellschaftstheorie darin zu bestehen, den Kommunitarismus, die Kritische Theorie und das Projekt einer kommunikativen Ethik miteinander in eine Art Dialog zu setzen. Folgt man schließlich dem (mehr als fragwürdigen) Gesamturteil des Kommunitarismus-Experten Walter Reese-Schäfer, dann sind die vorhandenen Differenzen zur ‚zeitgenössischen’ Kritischen Theorie generell als außerordentlich dünn zu veranschlagen. Denn: „Was dort mit ‚community’ bezeichnet wird, kommt Habermas´ Begriff der ‚Lebenswelt’ mit seiner Abwehr von Rationalisierung [!], Bürokratisierung und Monetarisierung sozialer Bezüge ziemlich nahe.“ (Reese-Schäfer 1995: 192) Seit der Phase des Einbruchs der autoritär-planerischen Systeme des Kommunismus, so Reese-Schäfer weiter, offeriere die kommunitaristische Moderne- und (Neo-)Liberalismuskritik vielen europäischen Linken „neue Begründungen und neue Impulse einer (...) Gesellschaftskritik“ (ReeseSchäfer 1995: 9). Es könne erwartet werden, dass jene Ideen sich dazu anschicken, jene Lücke auszufüllen, welche durch den endgültigen Niedergang des ‚westlichen Marxismus’ entstanden sei. In diesem Kontext ist es zweifelsohne die intensive und stets mit einer ausgeprägten Staats- und Bürokratiekritik verquickte Verwendung der Gemeinschaftskategorie, welche spontane Assoziationen zu unbotmäßigen, größtenteils in Vergessenheit oder zumindest in den Hintergrund geratenen politischen Bewegungen hervorruft. Zuvorderst können hier die gegen eine grassierende ‚Kolonialisierung der Lebenswelt’ opponierenden neuen sozialen Bewegungen (vgl. Habermas 1979: 13), aber auch klassische sozial-demokratische 4 Genossenschaftsmodelle Tönnies’scher oder Buber’scher Provenienz aufgeführt werden 5 – dies zumal deshalb, da der Verfasser des epochalen Werkes Gemeinschaft und Gesellschaft einigen Kommunitariern als Referenzautorität dient (vgl. etwa Etzioni 1999: 11, der andernorts auch Buber heranzieht). Allerdings münden die kommunitaristischen Proteste gegen „Die Tyrannei des Marktes“ (Bellah et al. 1994) und lebensfremde Großbürokratien mitnichten in Parteinahmen für Konzepte eines ‚kommunitären Sozialismus’ ein, die sich nicht nur bei Martin Buber und Ferdinand Tönnies, sondern z.B. auch bei dem in den USA lebenden und wirkenden Sozialpsychologen Erich Fromm aufspüren lassen (Fromm 1960: 254-331) 6 – im Gegenteil. Und auch die postulierten bzw. heraufbeschworenen Bezüge zur (revidierten) Kritischen Theorie vermögen bei näherem Hinsehen schwerlich zu überzeugen, denn weder knüpfen die Kommunitarier an Max Horkheimers materialistisch basierte „Idee einer künftigen Gesellschaft als der Gemeinschaft freier Menschen“ (Horkheimer 1968: 166) an, noch stimmen sie dem u.a. von Kant und Husserl angeregten Theorem einer Rationalisierung der Lebenswelt zu, welches von Jürgen Habermas vertreten wird. Bis auf wenige Ausnahmen, die jedoch ebenfalls noch exakter zu beleuchten wären, weist die kommunitaristische Neoliberalismus- und Modernekritik in abweichende Richtun4 5
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Ich verwende die Termini soziale Demokratie und Sozialismus durchgängig synonym. Unbedingt zu verweisen ist auf Ferdinand Tönnies´ einflussreiche, jedoch oftmals missverstandene Abhandlung Gemeinschaft und Gesellschaft – Abhandlung des Communismus und des Sozialismus als empirischer Culturformen [1887] sowie Martin Bubers opus magnum Pfade in Utopia – Über Gemeinschaft und deren Verwirklichung [1950]. „Die Lösung des Superkapitalismus vertieft nur noch die dem Kapitalismus eigenen Krankheitserscheinungen; sie verstärkt die Entfremdung des Menschen, seine Automatisierung und vollendet den Prozeß, ihn zu einem Sklaven des Götzen der Produktion zu machen. Die einzige konstruktive Lösung ist die des Sozialismus, der eine grundlegende Neuorganisation unseres Wirtschafts- und Gesellschaftssystems im Hinblick auf die Befreiung des Menschen anstrebt.“ (Fromm 1960: 260)
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Sven Kluge
gen, speist sich aus disparaten Quellen. Im Folgenden soll gezeigt werden, dass vor allem zwei bisher weitgehend verborgen gebliebene ideologische Verwandtschaften existieren, deren Herausarbeitung eventuell provokant anmutet, da sie unbequem ist. Zum einen scheint es möglich zu sein, markante Parallelen zum neuaristotelisch-rechtshegelianisch gelagerten Neokonservatismus des Kreises um Joachim Ritter freizulegen; 7 außerdem ergeben sich mancherorts Tuchfühlungen zur von Ritter et al. aus verschiedenen Gründen skeptisch bis ablehnend beäugten romantischen Gegenaufklärung der geisteswissenschaftlichen Schule Wilhelm Diltheys. Ein gemeinsames Hauptcharakteristikum jenes geisteswissenschaftlich-neokonservativen ‚Flügels’ der Kulturkritik besteht derweil darin, dass seine Protagonisten das krisenverursachende ökonomische System durch ihre hegemoniale, auf die Fabrizierung ‚falscher Versöhnungen’ zugeschnittene Arbeit im Wesentlichen stützen und legitimieren. Im Rahmen dieser theoretischen Modelle wird direkt oder indirekt die speziell in Phasen einer verschärften sozioökonomischen Krise aufkommende Frage verhandelt, „wie angesichts der widersprüchlichen sozialen Struktur des Kapitalismus die Herstellung von ‚Gesellschaft’, d.h. eines die Menschen verbindenden und ihre Gemeinschaftlichkeit begründenden Zusammenhangs, überhaupt möglich ist“ (Hirsch 2002: 41).
Umgekehrt entpuppt sich das bewusste Ausklammern der Dimension ‚Sozialintegration’ (getreu der Thatcheristischen Maxime ‚there is no such thing as society’) aus neoliberalen Regierungsprogrammen, nimmt man für einen Moment die Warte der politisch und ökonomisch Herrschenden ein, à la longue als schwerwiegendes Dilemma: Die sozialdarwinistisch eingefärbten Strategien der sozialen Desintegration und Konkurrenzmobilisierung befördern Missstände, welche mit weiteren marktradikalen und/oder neo-technokratischen Rezepten (allein) nicht zu bewältigen oder gar ‚einzufrieden’ sind, 8 ist doch der Raubbau an den Fundamenten des kapitalistischen Wirtschaftens (Reproduktion der Arbeitskraft; seelische Regeneration; ‚intakte’ moralische Infrastrukturen etc.) primär von ihnen zu verantworten. Genau an diesem heiklen Punkt setzten nun bereits in der Vergangenheit die zuvor aufgeführten kulturkonservativen Strömungen an, deren Konzepte einer affirmativen Krisenbearbeitung heute – in beträchtlichen Teilen – vom Kommunitarismus beerbt werden. Bevor ich mich auf die Darlegung der strukturellen Analogien zu diesen Traditionslinien konzentriere, sollen die für das vorliegende Thema wichtigsten Gehalte der kommunitaristischen Moderne- und Kulturkritik umrissen werden. Zum Ende wird sodann in einem Ausblick der Versuch unternommen, die für eine sozialkritische Perspektive gleichwohl bedeutsamen Anregungen aufzunehmen und in vom Kommunitarismus wie von seinen liberalen Kritikern gemiedene Kontexte zu stellen.
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„Viele der von den Kommunitaristen aufgeworfenen Themen – lokale Gemeinschaften, Tradition, Zivilreligion, Wertebegründungsskepsis – weisen Verwandtschaft zu den deutschen Liberalkonservativen auf.“ (Hacke 2006: 283) „Ein Freiheitsbegriff, der sich weitgehend aus der ökonomischen Struktur erklärt und von aller Gemeinschaftlichkeit abgelöst ist, bedingt oft Selbstüberforderung. Die strukturelle, wirtschaftliche Gewalt demoralisiert zwangsläufig und führt zu Gewalt der Menschen untereinander.“ (Dahn 2002: 12)
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1.
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„Die Stimme der Gemeinschaft hörbar machen“ – Herkunft und Aufbau der kommunitaristischen Kulturkritik
Auch wenn es gewiss ein risikantes Vorhaben ist, von ‚dem’ Kommunitarismus als einem einheitlichen Block zu sprechen – tatsächlich herrscht in diesem Feld ein hoher Grad an innerer Heterogenität vor –, treffen sich seine akademisch-philosophischen Protagonisten doch in zentralen Prämissen, die im Folgenden kurz präsentiert werden sollen. Die Gefahr, einige Differenzen zu übergehen, nehme ich dabei in Kauf, da es mir darum geht, die einschneidendsten Konfliktlinien zu den politisch-philosophischen ‚Gegenlagern’ zu pointieren. 9 Vornehmlich in den einschlägigen Schriften von Charles Taylor, Robert N. Bellah, Michael Sandel und Alasdair MacIntyre erinnert vieles auf den ersten Blick an die in Deutschland besonders hitzig geführten Gemeinschaftsdiskurse im Verlauf des krisen- und sprunghaften Übergangs zur Industriegesellschaft der sog. ‚ersten Moderne’. Die lancierte Kulturkritik besitzt, eigens aus bundesrepublikanischer Sicht, oftmals eine merkwürdig ungleichzeitige und ungewohnt ‚offensive’ Ausstrahlung. 10 Zudem erlebt im Dunstkreis des Kommunitarismus das hellenistische Bürgerlichkeits-, Tugend- und Polisideal – in kritischer Abkehr von den ‚Verfallsformen’ des apolitischen Privatismus und Atomismus (vgl. Bellah et al. 1987; Taylor 1995; MacIntyre 1995) – eine verblüffend starke, fast schon wundersame Renaissance; es ist vor allem die Aristotelische Philosophie, an welche in verschiedenen Varianten Anschluss gesucht wird. Hinzu tritt ein (mehr oder weniger) eindringlicher Rekurs auf die republikanischen Ideale von Alexis de Tocqueville 11 sowie religiös-biblische Traditionen. Diese Wiederentdeckungen und Revitalisierungen sind keineswegs auf impulsive Reaktionen oder willkürliche Akte zurückzuführen, sondern sie erfolgen systematisch vor dem Hintergrund einer weit ausholenden Zeitdiagnose. Festgestellt wird im Allgemeinen (a) ein durch den traditionsfeindlichen Individualismus und die entzaubernde Säkularisierung vorangetriebener Verlust kosmisch-moralischer Horizonte, (b) eine mit der Institutionalisierung der modernen Ökonomie und ihren Technisierungen d´accord gehende Ausweitung der instrumentellen Vernunft sowie (c) ein Freiheitsbeschränkungen und Fragmentierungen nach sich ziehendes Verblassen ‚starker’ Wertungen und Bindungen. Alle drei Aspekte sind in der kommunitaristischen Literatur miteinander verzahnt und lassen einen romantizistischen Unterbau erkennen. In diesem Zusammenhang ist auf den höchst relevanten Umstand hinzuweisen, dass der Kommunitarismus nicht, wie manches Mal angenommen, ausschließlich auf die von den ‚Reagonomics’ verursachten sozialen Verwerfungen fixiert ist. Vielmehr
9 Eine wichtige Ausnahme bilden m.E. die Schriften Michael Walzers und Martha C. Nussbaums. 10 „Die Gefahr liegt (...) in der Fragmentierung, also darin, daß ein Volk immer weniger imstande ist, sich einen gemeinsamen Zweck zu setzen und diesen zu erfüllen. (...) Eine fragmentierte Gesellschaft ist eine Gemeinschaft, deren Angehörigen es immer schwerer fällt, sich mit ihrer politischen Gesellschaft als einer Gemeinschaft zu identifizieren.“ (Taylor 1995: 125/131) 11 In Tocquevilles zweibändigem Werk Die Demokratie in Amerika [1835/1840] stößt man auf eine Vielzahl ‚urkommunitarischer’ Gedanken: so gelten ihm der Despotismus und der extreme Individualismus als immanente Tendenzen und Gefahren (liberal-)demokratischer Gesellschaften. Andererseits könne allein eine nachhaltige Einbindung der Bürger in lokale und regionale Aufgaben sowie ein hohes Maß an politischer Selbstorganisation die Demokratie vor dem inneren Verfall bewahren.
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legen seine Repräsentanten eine umfassende, in erster Linie den politischen und philosophischen Liberalismus ins Visier nehmende Modernekritik vor. Es ist indes ein herausragendes Merkmal dieser Moderne- bzw. Liberalismuskritik, dass sie überwiegend von einer geistig-moralischen Ebene der Weltanschauung aus geführt wird. Dagegen findet eine materialistische Analyse der sozialen und individuellen Zerrissenheiten allenfalls zaghaft statt; die Erforschung der Dynamik des Wandels objektiver Sozialstrukturen wird nur sporadisch in die mit einer ideengeschichtlichen Schlagseite versehenden Betrachtungen einbezogen. Hierin kündigt sich unlängst eine erste Schnittmenge mit den zuvor angetippten Strängen einer konservativ-bildungsbürgerlichen Kulturkritik an. Eine weitere offenbart sich derweil im Kontext der kommunitaristischen Kontroversen mit aufklärerischem Gedankengut bzw. den ‚Ideen von 1789’ (eine prägnante Darlegung des Gehaltes dieser Ideen liefert Marcuse 1952: 224ff). Jene verläuft über weite Strecken undialektisch. Wie schon bei Dilthey und seinen Nachfolgern herrscht die Tendenz, aufklärerische Bestrebungen auf die Durchsetzung der instrumentellen Vernunft bzw. der technischen Naturwissenschaften zu reduzieren. Das aufklärerische Autonomiepostulat wird entweder weitgehend mit der instrumentellen Rationalität gleichgesetzt (die gängigsten, beim Kommunitarismus abermals auftauchenden Stichworte lauten hier ‚lebensfremder Rationalismus’; ‚begrifflichabstrakte Nivellierung’; ‚atomistischer Individualismus’; ‚ahistorisches Systemdenken’ 12 ), so dass die Unterscheidung zwischen den vernünftigen Prinzipien (universale Moral, Autonomie) und der mechanischen Kausalität des Verstandes massiv an Schärfe einbüßt. Oder die vornehmlich kantisch inspirierten Moraltheorien (etwa von Habermas und Rawls) trifft zumindest der hartnäckige Vorwurf, differenzblind und missachtend im Hinblick auf die menschliche Natur zu sein: „Die Gerechtigkeit, so Sandel, trennt die Personen voneinander, das Gute vereint sie. Die ‚deontologische Republik’ ist eine Gemeinschaft von Fremden, ohne Charakter, ohne Bindungen, ohne Identität (...). Diese Schlußfolgerung – aus dem Argument gegen eine atomistische Sichtweise des Selbst eine fundamentale Kritik deontologischer Moralkonzeptionen zu entwickeln – ist nicht nur für Sandels Kritik an Rawls zentral, sondern auch, mutatis mutandis, für den Kommunitarismus MacIntyres und Taylors.“ (Forst 1996: 31)
Das neuzeitliche Weltanschauungs-Bündnis aus Liberalismus, Utilitarismus und Universalismus habe, dies gibt der dominante Tenor zu verstehen, insgesamt zu einer Entfremdung des Menschen von seinen anthropologisch-ontologischen Wurzeln und Grundbedürfnissen, welche ihren adäquaten Ausdruck in als ‚gut’ anerkannten, werterfüllten Lebensformen finden, sowie der Genese einer unkontrolliert-zweckrationalen Wachstumsideologie geführt, die auf die Errichtung einer totalen Herrschaft über innere und äußere Natur zusteuert – den nicht völlig zur Disposition zu stellenden Fortschritten und Freiheitszuwächsen im Einzelnen zum Trotz. Die jüngsten neoliberalen ‚Entgleisungen’ sind deshalb alles in allem nicht von der steten Vorarbeit einer aufklärerischen Rationalisierung abzutrennen, welche die überlieferten Vorstellungen des Gemeinsinns und eines substantiellen Selbstseins zugunsten des – nach liberalem Dafürhalten – die Selbstbestimmung befördernden Konstruktes eines frei12 „In den Adern des erkennenden Subjekts, das Locke, Hume und Kant konstruieren, rinnt nicht wirkliches Blut, sondern der verdünnte Saft von Vernunft als bloßer Denktätigkeit. (...) nur die Intelligenz stiftete zwischen ihnen [den Wesen] einen Zusammenhang, sie rechneten aufeinander, aber kein lebendiges Gefühl von Gemeinschaft bestünde zwischen ihnen; sie vollzögen so pünktlich und vollständig, gleich bewußten Atomen, die Aufgaben ihrer Zweckzusammenhänge (...). Der Mensch ist nicht ein Wesen solcher Art.“ (Dilthey [1883]1933: 18/46f); vgl. ferner Nohl [1911]1970: 78-87)
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schwebenden, gleichsam in der Luft wurzelnden Ichs und des Ideals einer negativen Freiheit verdrängt hat. 13 In Wirklichkeit bringe eine solche Zersetzung sämtlicher ‚wesenhafter’ Gemeinschaftswerte und -bindungen, welche aus kommunitaristischer Perspektive die Vorbedingung für eine gelingende und authentische Individualitätsentfaltung sind, eine um sich greifende Expansion des qualitätslosen ‚Kürwillens’ (um einmal einen passenden Begriff von Tönnies zu gebrauchen) sowie einen nihilistische Ausmaße annehmenden Identitätsverlust auf den Weg. 14 Aufgrund dessen sei auch an diesem durch die liberal-individualistische Ideologie eingeleiteten Stabilitäts- und Anerkennungsproblem der Hebel zur reformerischen Veränderung anzusetzen (vgl. Bayertz 1998: 33). Der intellektualistische und angeblich bindungslose ‚Rechte-Liberalismus’ wird in der Konsequenz mit anthropologischen und essentialistischen Argumentationsmustern konfrontiert, die keineswegs taufrisch sind: Eine von Herder entlehnte Kulturkreislehre, neuaristotelische Tugendethiken und hermeneutische Unternehmungen à la Hans-Georg Gadamer 15 geben sich ein Stelldichein. Jenes Projekt einer Anrufung bzw. Stärkung konventionalistischer Sittlichkeitslehren richtet sich mit gleicher Intensität wider das Ideal eines desangagierten, ‚neutralen’ Staates und ‚mechanistische’ Bürokratieapparate: „Taylor (…) meint, die Sozialthese zwinge zur Aufgabe der liberalen Neutralität, weil der neutrale Staat die für die Selbstbestimmung notwendigen sozialen Bedingungen nicht gewährleisten könne. Dies könne nur die Politik des Gemeinwohls.“ (Kymlicka 1997: 185)
Nach Taylor et al. korrespondiert das die Gesellschaft zusammenhaltende Gemeinwohl mit einer auf die Idee des gemeinsamen Guten abgestellten dichten Wertvorstellung (Dilthey spricht analog von „starken Bändern“), welche die Lebensweise der jeweiligen Kultur-Gemeinschaft idealiter bestimmt und in die ihre Mitglieder immer schon eingebettet sind. 16 Jedoch dünnen diese partikularen, auf rationalen Pfaden niemals in toto einholbaren Bedeutungshorizonte aufgrund der skizzierten krisenhaften Entwicklungen immer mehr aus; die Entzauberung 17 und technokratische Okkupation der sozialen Lebenswelten gefährde die gesellschaftliche Kohäsion und bereite Legitimationskrisen geradezu den Boden. Mit Bezug auf die staatliche Sphäre ergeht in Anbetracht dieses als unheilvoll eingestuften Progresses 13 „Es wird hier [u.a. innerhalb des Kommunitarismus, S.K.] fälschlich unterstellt, daß der Rückgriff auf die Autonomie des Individuums impliziert, daß angenommen werde, daß das Individuum ein vorsoziales Wesen sei und als ließe sich dann das Soziale nur (...) als eine instrumentelle Kooperation denken.“ (Tugendhat 1993: 202) 14 „Sich ein Bild einer Person zu machen, die solcher konstitutiver Bindungen unfähig ist, bedeutet nicht, sich einen idealen, frei und rational Handelnden zu denken, sondern sich eine Person ohne jeglichen Charakter und moralisches Rückgrat vorzustellen. Denn Charakter zu besitzen, heißt zu wissen, daß ich mich im Rahmen einer Geschichte bewege, die ich weder herbeirufen noch lenken kann, die nichtsdestotrotz Konsequenzen für meine Entscheidungen und mein Verhalten hat.“ (Sandel 1993: 29f) 15 „Die Aufgabe könnte [darin] liegen, in einer sich immer mehr nivellierenden Zivilisation das Eigenleben der Regionen, der menschlichen Lebensgruppen und ihres Lebensstils zu entwickeln. Die Heimatlosigkeit, mit der die moderne Industriewelt den Menschen bedroht, läßt nach Heimat suchen.“ (Gadamer 1990: 59) 16 „Der Horizont ist etwas Gegebenes.“ (Taylor 1995: 49; vgl. außerdem Breuer 2000: 92) „Wenn wir in Teilen qualitativ verschiedene Mitglieder eines Ganzen sind, so deshalb, weil noch Traditionen (...) auf uns wirken, Traditionen, die uns über die Natur der Welt, über die Natur unserer Gesellschaft und darüber Auskunft geben, wer wir als Volk sind.“ (Bellah et al. 1987: 319) 17 Damit steht insbesondere auch Habermas´ Theorem einer „Rationalisierung der Lebenswelt“ im Kreuzfeuer der kommunitaristischen Kritik.
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der Ruf nach einem Schutz bzw. einer Rehabilitierung des vergessenen kulturellen Rahmens, der den Subjekten eigentliche Wahlmöglichkeiten eröffnet und ihre charakterliche Integrität sichert. Plädiert wird des Weiteren für einen Abbau von vermassenden Verwaltungsapparaten sowie eine Stärkung ‚ursprünglicher’ Bürgerlichkeit, d.h. ein Mehr an republikanischpatriotischer ‚Zivilreligion’ und subsidiärer Selbstregulation. Diese engagierten moralischen Parteinahmen können allerdings nicht über das ebenso schlichte wie auffällige Faktum hinwegtäuschen, dass die kommunitaristische Kritik an der kapitalistischen Produktionsordnung in Relation zu derjenigen an postkonventionellen Moral- und Identitätskonzepten schwach ausfällt und eine randständige Position bekleidet. Attackiert werden – und zwar von einem antisozialistischen Fundament aus (vgl. Reese-Schäfer 1995: 166; Brumlik 2000: 228 18 ) – die neoliberalen Auswüchse und der auf die Weckung ‚niederer’ Reize und Gelüste spezialisierte Konsumkapitalismus. Während diesem eine Vergewaltigung des menschlichen Verlangens nach substantiellen Wahlentscheidungen, identitätsstiftenden Anerkennungsbeziehungen und wahrer Authentizität vorgeworfen wird (vgl. u.a. Taylor 2005), bescheinigt man der (z.T.) real gewordenen neoliberalen Utopie – mit einem nicht geringen Maß an Plausibilität –, „daß sie sogar für unsere Wirtschaft höchst destruktiv ist. (...) Wenn wir unser wertvollstes Wirtschaftsgut – nämlich die kreative Interaktion zwischen Leuten, die gelernt haben, einander zu verstehen und zu vertrauen – im Tagebau ausplündern, verlieren wir unsere langfristige ökonomische Lebensfähigkeit.“ (Bellah et al. 1994: 60f) 19
Was z.B. für Tönnies, Buber oder Fromm unvorstellbar war – der Aufbau eines gemeinschaftlichen Lebens auf besitzindividualistischer Basis – ist innerhalb dieses Spektrums, insbesondere bei den aktivistisch-pragmatisch eingestellten Kommunitariern Etzioni und Bellah, Bestandteil des Programms: „Wir sollten die gemeinsamen Werte der Amerikaner lehren, zum Beispiel (...), daß Sparen für einen selbst und sein Land besser ist, als seinen Verdienst zu verschwenden und sich bei der Vorsorge für zukünftige Bedürfnisse auf andere zu verlassen.“ (Etzioni 1994) 20
Es wäre also verfehlt, die kommunitaristischen Einwände gegen den Neoliberalismus als grundsätzliche Kapitalismuskritik aufzufassen. Diese heben vielmehr nicht selten unverhohlen mit einer Aufdeckung der Bedrohungen an, die eine hemmungslose ‚Tyrannei des Marktes’ für die Fortexistenz der bestehenden Sozial-/Produktionsordnung mit sich bringt, und berühren sich implizit mit Polanyis bzw. Schumpeters Theorem der ‚schützenden Schichten’
18 „Entgegen dem Akzent auf der sozialen Natur des Menschen wird im Bereich der Ökonomie die besitzindividualistische Grundlage des Privateigentums beglaubigt.“ 19 „Da wahr ist, daß der Markt von einem normativen Unterbau abhängig ist (...), den jegliche vertragliche Beziehung erfordert, entsteht ein Paradoxon: Je mehr die Menschen das neoklassische Paradigma zum Leitsatz für ihr Verhalten machen, desto mehr wird die Fähigkeit unterminiert, eine Marktwirtschaft aufrechtzuerhalten.“ (Etzioni 1996: 421) 20 Vgl. dagegen Tönnies’ Kant-Kritik „So ist seine Metaphysik der Sittenlehre nicht danach angetan, für ein heutiges ethisches Bewußtsein die Kritik der politischen Oekonomie überflüssig zu machen, und kann die soziologisch begründete Ethik nicht ersetzen, die nicht nur in ihren Konsequenzen sondern auch in ihren Prämissen sozialistisch oder wie ich lieber sage ‚kommunistisch’ sein muß.“ (Tönnies 1909: 930)
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(Polanyi 1978: 185; Schumpeter 1950: 226 21 ) sowie einer affirmativen Auslegung der Hegemonietheorie Antonio Gramscis: „Der Zusammenbruch oder die Selbstzersetzung des Kapitalismus können (...) nicht adäquat erfaßt werden, wenn wir sie uns primär in ökonomischen Begriffen vorstellen (...). Vielmehr zerstören sich Gesellschaften selbst, wenn sie die Legitimitätsgrundlagen verletzen, die sie selbst zu postulieren und durchzusetzen bemüht sind.“ (Taylor 1992: 235f)
Im Mittelpunkt rangiert hier immerwährend das geistige Problem des ‚Kulturverfalls’, dem vorrangig mit moralischen Rezepten, welche de facto eine klassenübergreifende Loyalitätsund Konsensstiftung gewährleisten sollen, entgegengetreten wird. Letztlich begreifen sich Kommunitarier weder als Feinde des Kapitalismus noch – und dies mag nach den bisherigen Ausführungen überraschen – als schlichte Widersacher des Liberalismus. Unter dem Strich tendieren sie zu einer ‚Mitte-Position’, grenzen sich von einem extremen Kapitalismus und einem (aufklärerischen) Liberalismus in Reinform ab. Dagegen wird das (im Übrigen hoffnungslos illusorische) Ziel einer totalen Rückkehr zu vormodernen Lebensformen nirgends propagiert. Die materialismusabstinente Kulturkritik entspringt nüchtern betrachtet einer defensiven Haltung. Summa summarum sind die ausgebreiteten politisch-moralischen Konzeptionen auf das Bestreben einer kommunitaristischen Korrektur liberal-kapitalistischer Gesellschaften hin geeicht – die utilitaristische Seite der Moderne wird ebenso bis zu einem bestimmten Grad anerkannt wie der hierzulande von Habermas und neokonservativen Theoretikern befürwortete Dualismus von ‚Lebenswelt’ und ‚Sachwelt’ (bzw. ‚System’) (Bellah et. al 1987: 330; Taylor 1992: 276f). 22 Mit der revidierten Kritischen Theorie und der sog. Ritter-Schule können sich kommunitaristische Intellektuelle vornehmlich insofern einig sein, als sie die drängende Frage nach Alternativen zur entfremdeten, Mensch und Natur zum bloßen Mittel degradierenden Produktionsweise von vornherein marginalisieren oder sogar ausblenden. Die teils resignativ, teils aber auch con amore vollzogene Akzeptanz jener – die diversen Bemühungen um die Konstituierung einer ‚authentischen’ Anerkennungskultur permanent durchkreuzenden – Naturwüchsigkeit (vgl. Negt 1987: 173f; Sünker 1989: 109) hat mit einer gewissen Zwangsläufigkeit zur Folge, dass das verkündete Solidaritätsideal in eigentümlicher Weise hohl bleibt und zur Ideologie regrediert. 23 Außerdem scheinen die kommunitaristischen Varianten eines Gemeinschaftsdenkens – im Unterschied etwa zum Modell einer idealen, die individuelle Autonomie verbürgenden Kommunikationsgemeinschaft (Habermas/Apel) – erhebliche autoritär-gegenaufklärerische Potentiale in sich zu bergen (Tugendhat 1993: 200). Solcherlei ‚neoaristotelische’ Gemeinschaftsvisionen sind m.E. nicht allein mit einem (sozial-)liberalen Öffentlichkeits- und Gerechtigkeitsverständnis unverträglich – konstruiert werden im Grunde auf Zugehörigkeit beruhende ‚Schicksalsgemeinschaften’ (Bayertz 1998: 29). Sie harmonieren eventuell auch weitaus reibungsloser mit einem kapitalistischen Produktionssystem als es 21 „Indem der Kapitalismus den prae-kapitalistischen Gesellschaftsrahmen zerbrach, hat er nicht nur Schranken niedergerissen, die seinen Fortschritt hemmten, sondern auch Strebepfeiler, die seinen Einsturz verhinderten.“ (Schumpeter 1950: 226) 22 Zu reflektieren wäre zumal über Ähnlichkeiten zu dem vom US-Neokonservativen Daniel Bell in den siebziger Jahren entworfenen Leitbild einer ‚gemeinschaftlichen Gesellschaft’ (vgl. hierzu Kluge 2008: 513f f). 23 „Denn solange die Gesellschaft durch ökonomischen Klassengegensatz gespalten ist, ist sie selbst noch kein solidarisches Ganzes, und kann sie aus sich auch noch keine Gemeinsamkeit der Lebens- und Entwicklungsinteressen hervorgehen lassen.“ (Adler [1926]1982: 51)
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ihre Schöpfer annehmen: Eine intensivere Insichtnahme der Geschichte der bürgerlichen Gesellschaft liefert eine hinreichende Anzahl von Belegen dafür, dass zwischen einer unter vormodern-konventionalistischen Vorgaben verlaufenden Sozialintegration und einer auf die Parameter der funktionalistischen Rationalität eingeschworenen Systemintegration ein Zusammenspiel möglich ist – bis hin zu einem synergetischen Kreislauf. Im Folgenden sollen bisher wenig beachtete Schnittmengen mit dem bundesrepublikanischen ‚Liberalkonservatismus’ und der geisteswissenschaftlich-romantischen Traditionslinie ausgelotet werden.
2.
„Verborgene Koalitionen“ – Der Kommunitarismus im Spannungsfeld von Liberalkonservatismus und geisteswissenschaftlicher Romantik
Der im Folgenden fokussierte Neokonservatismus des Kreises um Joachim Ritter gewinnt seine Gestalt – analog zum Kommunitarismus – im Kontext der ‚vergeistigten’ Auseinandersetzung mit (sozioökonomischen) Krisenlagen. In diesem Fall ist es einerseits die gravierende Fordismuskrise zu Beginn der siebziger Jahre, welche der konservativen Intelligenzia eine tiefgreifende Reaktion abverlangt. Darüber hinaus nötigt die Erosion der eigenen kulturellen Hegemonie, u.a. beschleunigt durch den 1969 vollbrachten Regierungswechsel und den expandierenden Einfluss der neuen sozialen Bewegungen, zu einer ‚Tendenzwende’: Nach dem Ende der Ära des sog. Wirtschaftswunders geraten die den hehren Kulturbegriff bewusst über Bord werfenden Ansätze eines zivilisationsbejahenden Konservatismus technokratischer Prägung (vgl. Schelsky 1965: 449) unter massiven Begründungsdruck. Aufgrund des relativ abrupten Einbruchs der ökonomischen und hegemonialen ‚Schönwetterbedingungen’ (Vollbeschäftigung, ‚automatisches’ Wirtschaftswachstum, in der Bevölkerung verbreitete Technik- und Fortschrittsgläubigkeit etc.) erweist sich der gewollte Verzicht auf emphatische politische und moralische Ideale als wunder Punkt. Die Abwickelung des als überholt angesehenen geisteswissenschaftlichen Kultur- und Wertkonservatismus im Verlauf der fünfziger Jahre erscheint jetzt in einem anderen Licht. In dieser Phase weicht die Propagierung und ideologische Absegnung des ‚technischen Staates’ (Gehlen, Schelsky) und der ‚sekundären Systeme’ (Freyer) innerhalb des konservativen Diskursfeldes mehr und mehr einer partiellen Reaktivierung des traditionellen Kulturkrisendiskurses; vor allem die an Bedeutung zulegenden Ritter-Schüler wenden sich im gesteigert Maße moralischen Fragestellungen und Lebensweltthematiken zu. Hermann Lübbe, Odo Marquard und Robert Spaemann werten vom konservativen Mainstream zwischenzeitlich aufgegebene Topoi wie Sinnvermittlung, Identitätsstiftung und geistig-moralische Einbettung (= ‚Heimat’) spürbar auf – ohne jedoch sämtliche Verbindungen zum technokratisch operierenden Konservatismus zu kappen. Diese innerkonservative (Selbst-)Kritik wird von dem anhaltenden Versuch begleitet, den politisch anders gepolten sozialen Bewegungen auf ureigenem Terrain zu begegnen (vgl. Dubiel 1985: 14). In diesem Zusammenhang ist es interessanterweise der durch jene Alternativbewegungen und ‚ihre’ Intellektuellen auf den Schild gehobene Topos ‚Lebenswelt’, welcher von diesen Denkern (nicht ohne Erfolg) für die Anliegen einer Wertkulturpolitik in Anspruch genommen wird. In vielerlei Hinsicht fungiert dieser Terminus zudem als Ersatz
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für den in Deutschland nach 1945 weithin als diskreditiert geltenden und auch ansonsten eher unbrauchbar gewordenen Gemeinschaftsbegriff: „Wie bei Habermas spielt die ‚Lebenswelt’ die entscheidende Rolle: Dort legen die Bürger Widerlager zur Rationalisierung und egalisierenden Universalisierung an, indem sie Tradition und Religion pflegen, sich ihrer regionalen Herkunft identitätsbewahrend vergewissern und in Kunst und Kultur Möglichkeiten zur Kompensation des unaufhaltsamen Fortschritts finden.“ (Hacke 2006: 22) ‚Modernitätstraditionalismus’ und ‚Kompensation’ sind die Zauberworte dieses neuen Konservatismus, dessen Wortführer Einspruch wider den Prozess einer fortschreitenden Ersetzung bzw. ‚Kolonialisierung’ der jeweiligen Herkunftswelten durch technisch erzeugte, ‚kalte’ Sachwelten (Ökonomie, Bürokratie, Wohlfahrtsstaat etc.) erheben. So diagnostiziert z.B. Lübbe – fast schon in Habermas’scher Terminologie – eine Abkoppelung lebensweltlicher Orientierungen von den vorherrschenden wissenschaftlichen Weltbildern und gemahnt an die Dringlichkeit einer Rückbesinnung auf verschüttete lebensweltliche Gehalte (Lübbe 1990: 49f). Allerdings moniert er dabei mitnichten den Mangel an aufklärerisch-kommunikativer Rationalität, sondern verurteilt neben der technokratischen eben die ideologiekritische Abdrängung der Geisteswissenschaften: Ohne ihre hermeneutisch angeleitete (Re-)Produktion von traditionalen Werten und Weltvertrauen (common sense) sei der modernisierungsbedingten Verwässerung „unsere(r) kulturellen Gemeinorientierung“ (Lübbe 1990: 50) schließlich nicht konstruktiv beizukommen. Lübbe et al. führen mithin auch insofern die klassische geisteswissenschaftliche Linie weiter, als sie in ihren Entwürfen „die sozial unerwünschten Nebenfolgen eines politisch richtungslosen Wirtschaftswachstums auf die Ebene einer ‚geistig-moralischen’ Krise (verschieben)“ (Habermas 1985: 45), um jene dann in dieser Sphäre pädagogisch und moralphilosophisch zu bewältigen. Im Kern sind diese Philosophen den Grundannahmen einer besonderen Spielart des Rechtshegelianismus verpflichtet, wie sie Ritter in den Nachkriegsdekaden entfaltet hat. Typisch für diese ist zunächst die ausdrückliche Bejahung des nach Hegel für die ‚bürgerliche Gesellschaft’ konstitutiven Entzweiungszustandes, welche – in Abweichung zur Romantik und Heideggers ‚Agrarphilosophie’ – eine fundamentale Anerkennung der technischen Zivilisation beinhaltet. 24 Ritter zufolge wäre es schlichtweg falsch, das allmähliche Heraustreten aus den ursprünglichen Herkunftswelten per se als kritikwürdige Entwicklung zu betrachten: Gerade die Entzweiung erhebe das Subjekt über das bewusstseinslose bzw. -arme Niveau einer ‚ersten Unmittelbarkeit’; sie eröffne ihm vormals ungeahnte Freiheitsoptionen. Ausgehend von Hegels strukturkonservativ interpretiertem Motto „was nicht wirklich ist, ist nicht vernünftig“ zeigen sich Ritter und seine philosophischen Erben bemüht, die (Hegel’sche) Dialektik auf dem historischen Niveau einer Zerrissenheit von An- und Für-SichSein einzufrieren – dieses Anliegen schließt nicht zuletzt die Zementierung der bürgerlichkapitalistischen Produktionsordnung mit ein. Umgekehrt werden über den irrationalen IstZustand hinausweisende Postulate, etwa das Kant’sche Autonomieprinzip oder linkshegelianische Sozialutopien, resolut, z.T. unter Rekurs auf anthropologische Thesen aus dem Plessner-/Gehlen-Umfeld, abgelehnt und einem unnachgiebigen Totalitarismusverdacht ausgesetzt (vgl. Marquard 2004: 161f). 24 „Jeder Theorie, die die moderne Gesellschaft und Zivilisation als Verfall und Auflösung eines ursprünglich heilen Menschseins zu entwerten sucht (...), hält daher die Rph [Rechtsphilosophie, S.K.] die weltgeschichtliche Positivität der rationellen Beherrschung der Natur entgegen.“ (Ritter 1977: 272f)
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Zum diesem breit angelegten Programm einer Entzweiungspositivierung gehört ferner – und hier ergeben sich unweigerlich Assoziationen zu Habermas und zum Kommunitarismus – die Konstituierung eines Lebenswelt-Sachwelt-Dualismus. Nicht die Etablierung einer (kapitalistischen) Sachwelt an sich – und die in ihr vorherrschende instrumentelle Vernunft – wird als kritikwürdig angesehen. Im Hinblick auf diesen Bereich stimmt man vielmehr den Basisprämissen des technokratischen Konservatismus weiterhin zu. Der sachweltliche ‚Fortschritt’ darf nach Ritter et al. keineswegs unkompensiert bleiben. Angesichts der vorhandenen Gefahr einer drohenden Versachlichung aller menschlichen Beziehungen sei es unbedingt nötig verbindliche Grenzen zu setzen. Eine solche ‚Kolonialisierung’ wäre „ein menschlich unaushaltbarer Verlust, weil zunehmend der lebensweltliche Bedarf der Menschen nicht mehr gedeckt wäre, in einer farbigen, vertrauten und sinnvollen Welt zu leben. (...) kompensatorisch zur undurchschaubar und kalt gewordenen Welt [geht es] um den lebensweltlichen Sinnbedarf“ (Marquard 2003: 175f).
In Differenz zu Habermas wird den Lebens- bzw. Herkunftswelten hier eine – unverzichtbare – Entlastungs- und Stützungsfunktion zugeschrieben: Ein Mangel an intakten lebensweltlichen Sphären wirke sich, so die Argumentation, negativ auf die Stabilität der institutionalisierten Gesellschaftsordnung aus; eine unvermittelte Beziehung zur ‚Sachwelt’ leiste dem Aufkeimen von Entfremdungs- und Sinnentleerungsphänomenen Vorschub, begünstige die Ausbildung von extremen Einstellungen und unterminiere soziale Kohärenz. Als umso ‚unvermeidlicher’ wird unterdessen die eigene geisteswissenschaftliche Tradierungs-, Orientierungs- und Vermittlungsarbeit eingeschätzt (Ritter 1973: 131). Denn auf jede sachweltliche Herausforderung (‚challenge’), die einen Eingriff in lebensweltliche Sinnzusammenhänge darstellt, müssen nach der Überzeugung von Ritter et al. passende, d.h. einen weiteren ökonomisch-technischen Fortschritt absichernde Antworten formuliert werden (‚response’). Mit dieser Kritik der ‚Lebensweltvergessenheit’ verbindet sich also kein emanzipatives Projekt – dies wird schon daran ersichtlich, dass die Lebenswelten genauso vor der ‚Okkupation’ durch eine nicht-instrumentelle Vernunft (z.B. in der Gestalt einer kommunikativen Rationalität) geschützt werden sollen. Contra Kant, Husserl, Habermas und verwandte Denker wird mit Bezug auf das ‚Reich der Kompensation’ die aristotelische Lebensweltethik (vgl. hierzu Schulz 1989: 52-56) angezapft sowie der von Gadamer adaptierte Topos des sensus communis (vgl. Gadamer 1960: 16-27) aufgeboten. Speziell Lübbe und Marquard verfolgen in ihren Schriften eindringlich die sozialintegrative Aufgabe einer symbolischen Vergesellschaftung und betreiben eine bedarfsorientierte invention of tradition. Dieses hermeneutische Vorgehen zeichnet sich zuvorderst durch eine antiaufklärerische Stoßrichtung auf der moralischen Ebene aus. Entgegen den ‚bodenlosen’ Konzepten einer diskursiven Dauerreflexion oder einer postkonventionellen Kommunikationsgemeinschaft verweisen die Neokonservativen entschieden auf die Entlastungsfunktion ‚überlieferter’ und dem reflexiven Bewusstsein (angeblich) nie in Gänze zugänglicher lebensweltlicher Sinnhorizonte. Kurzum, das moderne, institutionenkritische Mündigkeitsaxiom wird verworfen, die Ausbildung einer rationalen Urteilskraft frühzeitig blockiert. Im direkten Gegenzug ereignet sich eine signifikante Rehabilitierung von eingelebten Vorurteilen und ‚Üblichkeiten’, der doxa sowie des ‚gesunden Menschenverstandes’. Die Subjekte sollen sich – dies ist gleichfalls ein echt kommunitaristisches Prinzip – wieder der ‚Tatsache’ gewahr werden, dass jede ‚subjektive’ Entscheidung immer schon, gleichsam a priori durch nicht gewählte und reflexionsenthobene Zugehörigkeiten bestimmt wird:
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„Die moderne philosophische Ethik kann und muß – und zwar durch den Abbau ihrer Faktizitätsphobie (also durch Depotenzierung ihrer Abwehrmechanismen gegen das Konventionelle) – zu einer Korrektur ihrer modernen Geringschätzung der Lebenserfahrung und der Üblichkeiten kommen. (...) Es ist eine Rearistotelisierung der modernen Ethik fällig.“ (Marquard 2004a: 60f) 25
Marquards und Lübbes ‚Bürgerkompetenz’ ist, wie derartige Thesen verdeutlichen, mit der Idee einer den Prozess der Aufklärung vorantreibenden Öffentlichkeit unvereinbar. Überhaupt hält die Ritter-Schule Abstand zu den politischen Ideen des Früh- und Hochbürgertums. Zum einen schwingt in dem Plädoyer für eine konventionalistische (Lebenswelt-) Ethik stets die hohe Sympathie für vormodern-antike Bürgerlichkeits- und Sittlichkeitsverständnisse mit, welche das in den ‚Ideen von 1789’ verbriefte Autonomie- und Egalitätsprinzip ausklammern (bzw. noch nicht beinhalten) und mit denen sich die bestehende Klassengliederung rechtfertigen lässt. 26 Andererseits steht die von den Neokonservativen zugleich gepflegte Unterstützung des modernen Wirtschaftsliberalismus weniger – wie etwa bei Kant – mit (größtenteils obsoleten) antifeudalen Prämissen als mit einer Idiosynkrasie gegenüber sozial-demokratischen Prinzipien in Verbindung: „‚Herkunft’ steht für Tradition, ‚Zukunft’ für Fortschritt, und Fortschritt wird nicht mehr, wie in der Aufklärung, moralisch verstanden, als Fortschritt eines aufgeklärten moralischen Bewußtseins und des Wohlergehens der Menschen, sondern nur noch als Fortschritt der modernen (d.h. kapitalistischen, S.K.) Ökonomie.“ (Tugendhat 1993: 206)
In der liberalkonservativen Maxime eines vermittelnden Festhaltens an der neuzeitlichen Entzweiung von Sach- und Lebenswelt bildet sich unverkennbar die während des 19. Jahrhunderts ausgebildete Arbeitsteilung zwischen dem ‚fortschrittsorientierten’ Wirtschaftsbürgertum und einem auf die Erfindung von sozialintegrativen Bewahrungsgeschichten spezialisierten Bildungsbürgertum ab. Jene ist überdies mit einer ausgefeilten Sozialstaatskritik verwoben – über Affinitäten zur kommunitaristischen Bürokratie- und Staatskritik kann durchaus sinniert werden – und desavouiert von vornherein jegliche Sichtweise eines qualitativ anderen Fortschritts. Der in verdeckter oder offener Manier wieder zunehmend rezipierte und dabei nicht selten in Nachbarschaft zum Kommunitarismus gerückte ‚Liberalkonservatismus’ (vgl. z.B. Nolte 2004; 27 Hacke 2006) vereint also unter dem Vorzeichen eines vorauseilenden Gehorsams gegenüber kapitalistischen Freisetzungsdynamiken modernisierungsverhindernde und 25 „Lange bevor wir uns in der Rückbesinnung selber verstehen, verstehen wir uns auf selbstverständliche Weise in Familie, Gesellschaft und Staat, in denen wir leben. Der Fokus der Subjektivität ist ein Zerrspiegel. Die Selbstbesinnung des Individuums ist nur ein Flackern im Stromkreis des geschichtlichen Lebens. Darum sind die Vorurteile des einzelnen weit mehr als seine Urteile die geschichtliche Wirklichkeit seines Seins.“ (Gadamer 1960: 261) 26 „Ritters Grundidee ist (.) die: Die Gesellschaft gliedert sich nach dem alten Aristoteles in ‚Reichtum’ und ‚Armut’, ‚Besitzende’, die nach der Herrschaft der ‚Oligarchie’ und ‚wenig Besitzende und Besitzlose’, die nach der Massenherrschaft der ‚Demokratie’ streben. Ein solcher Klassenkampf wäre natürlich für die Gesellschaft verheerend, die ‚politische Ordnung’ bliebe ‚ohne Festigkeit und dem Umsturz ausgesetzt, wenn sich in einer Polis Reiche und Arme ohne Vermittlung gegenüberstehen’. Stabilitätsfaktor ist in bester aristotelischer Tradition ‚eine starke Mitte der Bürger’.“ (Brunkhorst 1987: 100f) 27 „Die laissez faire-Kultur einer missverstandenen Liberalisierung wird von den Vertretern der ‚Generation Reform’ kritisiert. (...) Wir brauchen eine neue bürgerliche Gesellschaft, in der die Einzelnen, getragen von der Gemeinschaft, Verantwortung übernehmen und zu einer selbständigen Lebensführung befähigt werden. (...) Wir brauchen mehr Freiheit und mehr Gemeinschaft zugleich. Die alte Frontstellung von ‚Liberalismus’ und ‚Kommunitarismus’ hat sich insofern überlebt.“ (Nolte 2004: 16)
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modernisierungsermöglichende Aspekte auf sich, oder besser: er zwingt sie ohne ‚Synthetisierungsaussicht’ zusammen. Diese Praxis bringt seine Protagonisten in Distanz zu den älteren, häufig romantisch infiltrierten Varianten eines geisteswissenschaftlichen Konservatismus (vgl. exemplarisch Dilthey 1933; Eucken 1907; Nohl 1970). Es sind in diesem Kontext primär die hinsichtlich der ‚Sachweltsphäre’ weiterhin als legitim erachteten technokratischen Sachzwanglogiken, welche eine nahtlose Anknüpfung an jenen ‚Altkonservatismus’, ebenso aber an den Kommunitarismus verunmöglichen und Dissonanzen zutage befördern. Diese Kluft zeigt sich deutlich im Hinblick auf den Umgang mit dem – von der RitterSchule gemiedenen – Gemeinschaftsbegriff und dessen ‚ganzheitlichen’ Implikationen (vgl. Kluge 2008: 472) heraus. Auch wenn man in Rechnung stellt, dass diese strikte Distanzierung in nicht geringen Anteilen der politischen Diskreditierung jenes Begriffes durch den Nationalsozialismus geschuldet ist (der aber z.T. an die damals kursierenden nationalkonservativen Gemeinschaftsideale anschließen konnte), existieren doch für die rechthegelianischen, auf ‚abgeklärte’ Sphärentrennungen setzenden Neokonservativen noch weitere stichhaltige Gründe dafür, die Reaktivierung einer offensiven Gemeinschaftsrhetorik bzw. das Einstimmen in den Chor einer romantisch durchtränkten Modernekritik abzuweisen: „Insbesondere dem emphatischen ‚Gemeinschaftsdenken’ der Kommunitarier stehen die deutschen Liberalkonservativen skeptisch gegenüber, wandte man sich doch (...) von der deutschen Gegenüberstellung von Gemeinschaft und Gesellschaft ab, um die Errungenschaften [!] der bürgerlichen Zivilisation zu bewahren. (...) Die unbedingte Absage an die Gemeinschaft und an jedwede Sozialromantik macht den Brückenschlag zum Kommunitarismus unmöglich.“ (Hacke 2006: 284)
Die auch unter dem Eindruck spezifischer historischer Ereignisse (faschistische Diktatur, nachholender Fordismus, Kalter Krieg etc.) erfolgte und weit über diese Gruppe gebildeter Konservativer hinausreichende Umstellung des konservativen Denkens von ganzheitlichen Synthese-Orientierungen, die eine ‚organische Volksgemeinschaft’ oder den ‚höheren Kulturstaat’ als Telos auswiesen, auf (tendenziell) entfremdungsbejahende Mitte-Orientierungen erweist sich – jedenfalls bis auf Weiteres – als irreversibel. Tatsächlich gesteht die RitterSchule ihren konventionalistischen Lebensweltkonzepten nur eine eingeschränkte gesellschaftstheoretische Reichweite zu; ihre Protagonisten sprechen sich vehement wider eine von modernitätsfeindlichen und/oder antiliberalen Impulsen geleitete ‚Kolonialisierung der Sachwelt’ (S.K.) aus. 28 Wenig liegt ihnen bspw. ferner als eine romantisierende Technikkritik oder gar die Aneignung der u.a. von Herman Nohl zeitweise vorgebrachten Forderung nach einer partialen ‚Reagrarisierung’ im produktiven Sektor (vgl. Nohl 1933). Bei einem Gros der Kommunitarier machen sich hingegen sehr wohl Reste einer von der Ritter-Schule als antiquiert, totalitär und realitätsblind titulierten ‚Synthese-Orientierung’ bemerkbar, 29 die unübersehbar den Einfluss von romantischen Quellen verrät (vgl. ReeseSchäfer 1995: 161ff; Priester 1998; Honneth 1999: 245): 30 Diese beziehen ihre ontologischen Gemeinschaftsvisionen – in unterschiedlichen Härtegraden – relational betrachtet mehr auf 28 In mancherlei Hinsicht ähnelt diese Positionierung den Habermas’schen Vorbehalten gegen den ‚Linkshegelianismus’ der klassischen Kritischen Theorie. 29 Zu beachten ist freilich, dass diese Einwände im gleichen Atemzug auch linkshegelianische und marxistische Ansätze treffen sollen, welche in diesem Umfeld in der Regel unisono der ‚Neoromantik’ zugeschlagen werden. 30 In diese These ist keineswegs die Unterstellung eingelassen, dass die kommunitaristischen Konzepte Affinitäten zu den fast durchweg antidemokratisch-(prä-)faschistischen Zielen der in Deutschland während der ersten Dekaden des 20. Jahrhunderts grassierenden politischen Romantik aufweisen.
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das ‚Ganze’ eines Kultursystems, so dass jenen noch die Aura des ‚Umgreifenden’ anhaftet. 31 Allerdings muss – dieser bedeutsame Gesichtspunkt wurde eingangs angerissen – darauf beharrt werden, dass die simplifizierenden Gleichungen Kommunitarismus = Romantik und Romantik = Antikapitalismus (vgl. Reese-Schäfer 1995: 166) keineswegs aufgehen – auch nicht in ihren abgeschwächten Versionen. An dieser Stelle sind stattdessen einige elementare Differenzierungen sinnvoll. Zunächst mit Bezug auf das überwiegend in Deutschland beheimatete romantische Spektrum selbst: Innerhalb dieser Denktradition sind, vergegenwärtigt man sich ihre historische Genese, die geistig ‚radikalen’, meist politisch progressiv eingestellten Frühromantiker von einer eher als ‚spätbürgerlich’ zu klassifizierenden Romantik zu sondern. Deren Protagonisten agitierten bekanntlich in eindimensionaler, oft aggressiver Weise gegen demokratische Überzeugungen. In ihrer Drastik mag diese verhängnisvolle Tendenz eine deutsche Obskurität sein (vgl. Safranski 2007). Interessanter für meine Fragestellung ist jedoch der Befund, dass sich eine weitgehende Anpassung an das Institutionengefüge der inzwischen etablierten bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft beobachten lässt (vgl. Kluge 2008: 69f). In Umrissen deutet sich z.B. schon bei Dilthey, der – hierin richtungweisend – die Leistungen der ‚positivistischen’ Naturwissenschaften (zu diesen gehört für ihn auch die Nationalökonomie) anerkennt und ihnen einen festen Platz jenseits der eigenen Profession zugesteht, die neokonservative Zwei-WeltenLehre an: 32 „Die Selbsterhaltung der Geisteswissenschaften ist zugleich ihre Eingliederung in den großen gesellschaftlichen Maschinenbetrieb, gegen den sie eine Bastion sein wollen, und gehorcht selbst schon dessen Standards.“ (Türcke 1998: 38f)
Es ist insgesamt zu konstatieren, dass die spätbürgerliche Romantik mit ihren Modellen einer affirmativen Kultur Legitimations- und Kompensationsfunktionen wahrnimmt. 33 Von einem romantischen Antikapitalismus kann daher – wird der Fokus auf diese Generation geisteswissenschaftlicher Gelehrter konzentriert – allenfalls sehr bedingt die Rede sein. Und wenn eine derartige rückwärtsgewandte Kapitalismuskritik – vornehmlich in Episoden einer schweren sozialen Krise – aufflammt, werden rasch die vorhandenen Widersprüche zur aufklärerisch und sozial-demokratisch intendierten des originären Marxismus, Linkshegelianis-
31 An diesem Punkt treffen sich die kommunitaristischen Zeitdiagnosen mit der älteren geisteswissenschaftlichen Kulturkritik: „Die Sicherheit der Zeit war [in den Dekaden nach 1870, S.K.] im Innersten erschüttert, und die Bildung gab in ihren geistvollsten Vertretern zu, daß sie durch die Mechanisierung, Spezialisierung und Historisierung seelenlos geworden sei, zersplittert, antiquiert und ohne eigenes Ideal, das eine Kultur zusammenhält und die atomisierten Interessen der Menschen bindet.“ (Nohl 1935: 10; Herv. S.K.) 32 Die Erziehung „will den Individuen eine wertvolle Entwicklung, und sie will den Gemeinschaften den höchsten Grad von Leistungskraft verschaffen. (...) So entsteht das Problem, eine nationale Erziehung zu organisieren, welche die Leistungsfähigkeit des nationalen deutschen Staates im Wettkampf der Nationen auf das höchste Maß brächte und derselben doch zugleich die höchste Dauerhaftigkeit ermöglichte.“ (Dilthey 1961: 198) 33 „Eine der entscheidenden gesellschaftlichen Aufgaben der affirmativen [geisteswissenschaftlichen, S.K.] Kultur gründet in [dem] Widerspruch zwischen der glücklosen Vergänglichkeit eines schlechten Daseins und der Notwendigkeit des Glücks, das solches Dasein erträglich macht.“ (Marcuse 1968: 68f)
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mus und neukantianischen Sozialismus offenbar; 34 zudem hatte Ernst Bloch bereits in den dreißiger Jahren überzeugende Belege für ihre Stumpfheit angeführt (vgl. Bloch 1985: 116f). Der dominante kommunitaristische Diskurs folgt nun darin (eine Vorreiterrolle füllen hierbei Etzioni und das Team um Bellah aus) jenem Strang der jüngeren bildungsbürgerlichen Romantik, dass er die geisteswissenschaftliche Akzeptanz der heteronomen Produktionsweise übernimmt bzw. als selbstverständlich voraussetzt und diese weitertreibt: „Die eigentlichen Barrieren gegen eine Gemeinwesenarbeit liegen unterhalb der Diskursebene. (...) Das ist offensichtlich der Kardinalfehler der sogenannten Kommunitaristen, (...) [daß] das ökonomische System, das den Störungen der Balance [zwischen Individuum und Gesellschaft, S.K.] zugrunde liegt, unangetastet bleibt“ (Negt 2001: 549).
Die in Gang gebrachten, auf den ersten Blick häufig einen unbotmäßigen Charme versprühenden Gemeinschaftsappellationen verlassen deshalb – dies ist eine weitere Parallele zur ‚systemintegrierten’ Romantik – kaum einmal die kulturalistische Ebene und entspringen auf den zweiten Blick aus defensiven Reaktionen wie „(...) der Suche nach dem integrativen Kitt eines Landes, dessen nationaler Konsens eruiert ist und zu zerbrechen droht“ (Priester 1998: 365). So gesehen betreiben die Schöpfer jener Gemeinschaftsmodelle – z.T. den von ihnen geäußerten Absichten zuwider – hauptsächlich eine für die kapitalistische Ökonomie lebensnotwendige und von ihr nicht leistbare ideenpolitische (Wiederverzauberungs-)Arbeit, die dem ‚Modernitätstraditionalismus’ der Ritter-Schule in entscheidenden, wenn auch nicht allen Aspekten nahe kommt. Trennend wirken in diesem Zusammenhang sicherlich die romantischen Überhänge, welche aber nicht soweit überbewertet werden dürfen, dass die zuvor herausgearbeiteten Schnittmengen aus dem Horizont geraten – der an den Kommunitarismus adressierte Vorwurf eines ‚Verlusts der Mitte’ wäre letztlich schwerlich aufrechtzuerhalten.
3.
Mit dem Kommunitarismus gegen den Kommunitarismus denken – zum sozialkritischen Potential der Utopie eines alternativen Gemeinwesens
Zum Abschluss sollen einige der durchaus bedenkenswerten Reflexionsanstöße des Kommunitarismus für eine sozialkritisch-materialistische Perspektive aufgegriffen und ein wenig weitergesponnen werden – wobei die eingefahrenen Spuren der Kommunitarismus-Liberalismus-Debatte weitgehend verlassen werden. Vielleicht ist bis dato zu wenig beachtet worden, dass etliche kommunitaristische Ideen nicht nur auf Schwachstellen der avanciertesten (sozial-)liberalen Theoriegebäude, z.B. die ‚Bodenlosigkeit’ des ethischen Rechte-Formalismus und die unzureichende Behandlung der Identitätsproblematik, aufmerksam machen, sondern gewissermaßen en passant auch eine Reihe von Unzulänglichkeiten der meistbeachteten (real-)sozialistischen Modelle hervorkehren. Zu diesen gehört in erster Linie die beim ‚real existierenden’ Sozialismus sowie den meisten älteren sozialdemokratischen Programmen vorliegende etatistisch-bürokratische 34 Im Unterschied zu Versuchen, Linkshegelianismus bzw. Marxismus ebenfalls der Romantik zuzurechnen (vgl. etwa Safranski 2007: 233ff), halte ich an der Annahme fest, dass zwischen diesen Linien einige unüberbrückbare Differenzen bestehen.
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Fixierung und die mit dem Staatsfetischismus gesetzte, sich mitunter gewaltsam gebärdende Abdrängung von basisdemokratisch-genossenschaftlichen Projekten einer selbstregulativen ‚Vergesellschaftung von unten’ (vgl. Lefèbvre 1977; Negt 1995: 135-148). Sodann ist die von kommunitaristischer Seite geäußerte Kritik an der instrumentellen Vernunft bzw. dem ‚technischen Fortschritt’ zu erwähnen, welche außerdem den strukturalen Marxismus (vgl. Schmidt 1969: 194-212) und – mit Abstrichen – die ursprüngliche Marxsche Theorie trifft. 35 Ebenso sollte der kommunitaristischen Zentrierung der Anerkennungs- und Gemeinschaftskategorie in diesem Kontext keineswegs mit einer ungebrochenen Ablehnung begegnet werden. Diese nötigt vielmehr zu einer Skandalisierung des aus dem Ökonomismus resultierenden moralischen Vakuums vieler materialistischer Ansätze (vgl. Bayertz 1998: 41; Negt 2003: 57) – wie klein von diesem mechanistischen Fundament aus der Schritt zu einer kruden Philosophie- und Humanismusverachtung ist, enthüllen u.a. die unsäglichen Polemiken führender Vertreter einer sogenannten ‚marxistischen Orthodoxie’ gegen die Konzepte eines ethischen Sozialismus (paradigmatisch ist hier Kautsky 1922). Die Lektüre kommunitaristischer Texte kann also zweifelsohne zu einer Sensibilisierung für diese Missstände beitragen. Wird allerdings nach konkreten Möglichkeiten für ihre produktive Überwindung gesucht, ist es einerseits unabdingbar, andere, meist marginalisierte Traditionsstränge zu erschließen und gegebenenfalls zu rehabilitieren. Denn die zuvor genannten Einwände wurden zu früheren Zeitpunkten in ähnlicher Form von einer polyphonen internalen Kritik vorgebracht, deren Repräsentanten über alle Unstimmigkeiten im einzelnen hinweg die Orientierung an der den kommunikationstheoretischen Formalismus von Habermas et al. transzendierenden Realutopie einer Gemeinschaft freier Menschen verbindet. Eines der hervorstechendsten Merkmale des von prosozialistischen Intellektuellen neukantianischer (Cohen, Natorp, Staudinger 36 ), austromarxistischer (Adler, Bauer) und linkshegelianischer Provenienz (der frühe Horkheimer, Lefébvre, Bloch) ins Feld geführten aufklärerischen Gemeinschafts- bzw. Solidaritätsideals ist indessen seine unauflösbare Amalgamierung mit dem Anliegen eines demokratischen Umbaus der Produktionsordnung nach vernünftigen Maßstäben (ganz im Sinne von Marx 1964: 828): Erst eine umfassende solidarische Vergesellschaftung werde, so die in diesem Umkreis anzutreffende Grundüberzeugung, dem tieferen Sinn der Demokratie gerecht und eröffne die Chance zu einer weitgehenden Entfaltung der individuellen Qualitäten. 37 An diese inspirierenden Theoriegebilde hat eine nicht-kulturalistische Kapitalismuskritik gerade heute wieder vermehrt anzuschließen; die dringlichste Aufgabe besteht zunächst in der Revitalisierung jener größtenteils unabgegoltenen Entwürfe. Zum anderen sind – ergänzend hierzu – speziell diejenigen aktuellen Kritiken des globalen Kapitalismus hinzuzuziehen, welche vor dem Hintergrund der brisanten Debatten um 35 „Die Rede vom Mißbrauch unterstellt ja, die Maschinerie sei letztlich dem kapitalistischen Verwertungsprozeß, dem System gesellschaftlicher Beziehungen unter dem Kapitalismus äußerlich; nur unter dieser Voraussetzung läßt sich die (...) implizite Annahme erklären, die Maschinerie könne ohne große Schwierigkeiten in eine Gesellschaftsform übertragen werden, in der sie eben nicht mehr ‚mißbraucht’ würde.“ (Kößler/Wienold 2001: 147) 36 Einen guten Überblick über die politischen Theorien dieser Gruppierung offeriert Holzhey 1994. 37 In diesen Utopien einer Gemeinschaft freier Menschen kommt – in unterschiedlich starker Ausprägung – die von Marx (und Engels) übernommene und materialistisch geerdete (vgl. Marx/Engels 1958: 74) Vorstellung Hegels zum Ausdruck, „daß (...) die individuelle Selbstverwirklichung an die Voraussetzung einer gemeinsamen Praxis gebunden [ist], die nur das Ergebnis einer Verwirklichung von Vernunft sein kann“. (Honneth 2007: 39)
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‚ökologische Nachhaltigkeit’ vorrangig (aber freilich nicht allein) an der systematischen Vergewaltigung der natürlichen Lebensgrundlagen durch das von fossilen Energien angeheizte Produktions- und Konsumptionsregime Anstoß nehmen. Besonders bemerkenswert ist, dass die offensive Forderung nach einer nur durch „eine langfristig angelegte Veränderung aller Arbeits- und Lebensformen“ (Altvater 2005: 202) zu erreichenden qualitativen Veränderung des Stoffwechselprozesses zwischen Mensch und Natur von den „alte(n) Erfahrungen der Genossenschaften“ (ebd.: S.205) angeregt wird, die man z.B. in den weltweiten community movements erneut lebendig werden sieht. In Diskrepanz zum Kommunitarismus, der das sozial-demokratische Genossenschaftsprinzip außen vor lässt, sollen die Kämpfe um eine kollektive Vergesellschaftung von unten den Verfassern dieser Sozialkritik zufolge den Aufbau einer solidarischen Ökonomie vorantreiben, die letztlich nicht auf den regionalen bzw. nationalstaatlichen Rahmen beschränkt bleiben darf, ergo prinzipiell universalisierbar sein muss. Das Gelingen der für die menschliche Gattung überlebensnotwendigen Abkehr vom westlichen Produktivismus ist derweil laut Elmar Altvater in beträchtlichem Maße von der praktischen und theoretischen Entwicklung glaubwürdiger Alternativen zu den kapitalistisch-industriellen Spielregeln (survival of the fittest, Monetarismus, konkurrenzbasiertes Leistungsprinzip etc.) abhängig. Die von ihm konsequenterweise auf den Plan gerufenen Prinzipien Kooperation, Solidarität und Genossenschaftlichkeit verweisen unumwunden auf einen weiteren, für dieses Projekt nützlichen Fundus von progressiven Gemeinschaftsentwürfen (s.o., S.3), die just vom kommunitaristischen Mainstream entweder missdeutet oder zu Unrecht dem Vergessen anheim gegeben werden. Notwendig wäre eine ‚befreiende Erinnerungsarbeit’ (vgl. Assmann 1997: 85), die das Ziel verfolgt, aus dem ‚legitimen’ Wissenschaftskanon verdrängte emanzipativ-kapitalismuskritische Potenziale wieder zugänglich zu machen. Auf diese Weise könnte eine praktische „Wiederaneignung dessen, was Menschen von ökonomisch mächtigen Konzernen, auch von politisch mächtigen Personen und Institutionen [genommen wurde]“ (Altvater 2005: 15), stattfinden. Literatur Adler, Max 1982: Politische oder soziale Demokratie. Ein Beitrag zur sozialistischen Erziehung. Wien. Altvater, Elmar 2005: Das Ende des Kapitalismus, wie wir ihn kennen. Eine radikale Kapitalismuskritik. Münster. Assmann, Jan 1997: Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen. München. Bayertz, Kurt 1998: Begriff und Problem der Solidarität. In: Bayertz (Hg.) 1998: S. 11-54. Bayertz, Kurt (Hg.) 1998: Solidarität. Begriff und Problem. Frankfurt/M. Bellah, Robert N./Richard Madsen/William Sullivan/Anne Swindler/Steven M. Tipton (Hg.) 1987: Gewohnheiten des Herzens. Individualismus und Gemeinsinn in der amerikanischen Gesellschaft. Köln. Bellah, Robert N./Richard Madsen/William Sullivan/Anne Swindler/Steven M. Tipton (Hg.) 1991: The Good Society. New York. Bellah, Robert N./Richard Madsen/William Sullivan/Anne Swindler/Steven M. Tipton (Hg.) 1994: Gegen die Tyrannei des Marktes. In: Zahlmann (Hg.) 1994: S. 57-74. Benhabib, Seyla 1995: Autonomie, Moderne und Gemeinschaft. Kommunitarismus und kritische Gesellschaftstheorie im Dialog. In: Benhabib 1995a: S. 76-96. Benhabib, Seyla 1995a: Selbst im Kontext. Kommunikative Ethik im Spannungsfeld von Feminismus, Kommunitarismus und Postmoderne. Frankfurt/M. Bloch, Ernst 1985: Erbschaft dieser Zeit. Frankfurt/M. Bourdieu, Pierre 1998: Gegenfeuer. Wortmeldungen im Dienste des Widerstands gegen die neoliberale Invasion. Konstanz.
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Revolution – dieses einmal kämpferische, mit Hoffnung und Schrecken besetzte Wort wurde längst weichgeklopft, breitgetreten, ins Beliebige verformt. Es kann ein neues Waschmittel ankündigen oder jede andere Ware bis hin zu Regierungshandeln: Ist die diskutierte Rentenreform nicht auch eine Revolution? Peter Hartz, ehemaliger Vorsitzender der gleichnamigen Kommission in der rot-grünen Regierung, legte in einem 2001 publizierten Buch den projektierten Arbeitsplätzen diesen Namen an: Job-Revolution. 2 Obwohl das Buch im Verlag der FAZ erschien und von dort genügend Publicity bekam, sind die Vorhersagen, Methoden, Ziele kaum öffentlich diskutiert. 3 Da aber das Vorhaben weiterhin Grundlage von Regierungspolitik ist, legen wir es hier auf den Prüfstein. Das Buch spricht ganz offensichtlich im Zeitgeist. Es betreibt die ganz und gar ruchlose Verwandlung aller Worte in Waren, die im ständigen Ausverkauf noch um Marktvorherrschaft streiten. Das beginnt ja sogleich im Titel, den nicht zu beachten die Sache ins Halbbewusste schiebt. Revolution, gerade noch eine Metapher für Ausbruch und Aufbruch, Gewalt gegen zu lange ertragenes Unrecht, Blutbad und endlich Gerechtigkeit – in Begleitung eines Jobs rutscht die Auflehnung in die Niederungen von Arbeitssuche und Kräfteverbrauch, in die Verschiebung des Lebens auf die Zeit danach. Bei Hartz ist das Gegenteil gemeint. Die Verbindung von Job und Revolution veredelt den Job, er ist die Form, in der Arbeit unaufhörlich im Aufbruch ist, der Einzelne sich neu erfindet, Unternehmer ist. Die versprochene revolutionäre Dynamik setzt sich fort in Ausstattung, Kapitelüberschriften, farbig hervorgehobenen Versprechen und Tabellen noch und noch. Ohne Zweifel finden wir uns im Bereich der Werbung, des Buhlens um Kundschaft, die um ihr Begehren noch nicht weiß. Der Autor war seit 1976 Arbeitsdirektor im Personalmanagement, ab 1993 Vorstandsmitglied der Volkswagen AG, auch hier Arbeitsdirektor. Er übernahm den Vorsitz in der nach ihm benannten Kommission im August 2002. Er spricht von oben und vom Standpunkt der Wirtschaft über Arbeitsplätze und ihre Vermehrung – insofern ist von vornherein klar, dass es sich weder um ein wissenschaftliches Sachbuch noch um ein Gutachten handelt, gleichwohl bringt die Lektüre eine doppelte Überraschung. Das Buch kommt aus der unverhüllten, Sprache missbrauchenden, redundanten und schreienden Werbung nicht heraus, und dennoch ist dies der Grundstein, das Zeugnis, die Legitimation und fachkundige Beratung für die Arbeitsmarktpolitik der Bundesregierung Deutschland: das Hartzmodell. Insofern lesen wir das Buch nicht nur als Vorschlag für Arbeitsmarktpolitik, sondern auch als Aufbruch in eine neue politische Kultur. 1 2 3
Zuerst erschienen in: Das Argument 252, S. 606-617. Alle Seitengaben in Klammern beziehen sich im Folgenden auf: Hartz 2001. Das Buch erschien vor der Gründung der Hartz-Kommission, bildete gewissermaßen den Fähigkeitsnachweis, auf dessen Grundlage Hartz zum Leiter der Kommission berufen werden konnte. Einiges von seiner Rhetorik ging in den Kommissionsbericht ein, einiges in die Agenda 2010. Die ‚Ich-AG’ etwa ist inzwischen als Unwort des Jahres 2002 bekannt, was allerdings wiederum nicht als Zeichen klaren Erwachens, sondern selbst noch in der Negation als bloßes Medienereignis zu werten ist.
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Das Fernsehen hat seine Zuschauer erzogen. Ein Film in einem Privatsender etwa wird von den sich stets wiederholenden Werbestücken unterbrochen, in denen einem suggestiv durch Farbenreichtum, Anmut, Exotik, Atmosphäre wie in einem Reiseprospekt und kurze Handlungsgags der Genuss einer bestimmten Kaffeemarke, eines Haarwaschmittels oder einer Fertignahrung geboten wird. Die untermalende Musik mischt sich mit den strahlenden Augen der schönen und jungen Menschen in der Werbehandlung – all dies ist lange schon Brauch und schon vielfach analysiert. Neu ist, dass es immer die gleichen Stücke sind, die durch solch einen Film ziehen wie ein Nummerngirl, sodass man in eine Art Trance gerät und das beleidigte und überdrüssige Bewusstsein anfangen muss, diese kleinen Handlungsstücke selbsttätig in den Film zu verweben und das Ganze als Unterhaltung zu verbrauchen, deren Informationen sich vielleicht zu Kaufentscheidungen sedimentieren. Dies ist Vorbild und Muster für unsere neue politische Kultur, wie sie im Buch von Peter Hartz vorgeführt ist. Prüfen wir die Konstruktion eines solchen rhetorischen ‚Nummerngirls’, das mit besonderer Suggestivkraft Zustimmung organisiert: die Berechnung der Arbeitszeiten. Man kennt die Rede von der Zwei-Drittel-Gesellschaft als Drohung einer strukturellen Arbeitslosigkeit und Aussonderung eines Drittels der Bevölkerung aus aktiver Teilhabe. Hartz rechnet mit der damit verbundenen Angsthaltung und baut auf ihr die Legitimation für seine Vorschläge. Aber er dreht den Spieß um: Wir leben in einer 10-Prozent-Gesellschaft. „Der Anteil der Lebensarbeitszeit am Leben ist bereits unter 10 Prozent gesunken“ (20). Kein Wunder, wenn das System in Krise ist. Der Trick dieser überraschenden Berechnung steckt im Wort „Leben“. Hartz konzipiert den Menschen als eine Maschine, die rund um die Uhr und ihr ganzes Leben arbeiten könnte. Dann begibt er sich an die Berechnung der Stillstandszeiten und kann erkennen, dass diese Maschine nicht ausgelastet ist. „40 volle Jahre im Beruf mit durchschnittlich 1.400 Stunden effektiver Jahresarbeitszeit bei 80 Jahren Lebenserwartung (mal 8.760 Stunden pro Jahr) sind gerade einmal 8 Prozent des Lebens.“ (20) Auf dieser Grundlage, die fortan durch das gesamte Buch geistert, kann Hartz Zumutbarkeiten diktieren, alternative Nutzung vorschlagen, Bescheidenheit und Anspruchslosigkeit anmahnen. Bei 8 Prozent kann sich keine Arbeiterklasse mehr denken, keine Gewerkschaft auftrumpfen. Arbeit ist zur Nebensache geworden. Gegenargumente werden durch Unterbieten erstickt: „Zusammenfassend lässt sich kalkulieren, dass ein durchschnittlicher Arbeitnehmer faktisch nicht mehr als 5% seines Lebens für den eigenen Lebensunterhalt und den seiner Familie arbeitet“ (48). Der Boden ist bereitet, das ganz Andere zu wollen. Hartz arbeitet mit den Gefühlen derer, die Veränderung vorhatten. Er übernimmt die Hoffnungsworte der sozialen Bewegungen und fügt aus ihnen das neue Angebot des „Unternehmers“ zusammen, der ein jeder durch Wortzauber fortan sein kann: „Arbeitszeitsouveränität – das Ende der Arbeitszeiterfassung ist der erste Schritt zu einer neuen Mündigkeit: Zeiten selbst organisieren, statt Auftrag und Aufgabe abzuarbeiten. Vertrauensarbeit ist der zweite Schritt: Ziele setzen und Erfolg abfordern, statt Details zu planen. Die Revolution beginnt mit dem dritten Schritt: Arbeit wird neu definiert: Sie umfasst wieder ein ganzheitliches Stück Leben: lernen, produzieren, kommunizieren. Etwas bewegen! (…) Die zukünftige Arbeit bekommt den Motivator: ‚Beweg etwas – du kannst es!’ Der Unternehmer vor Ort nimmt das Schicksal seiner Beschäftigung mit in die Hand. (…) Diese Neudefinition der Arbeit wird ein beherrschendes Thema der Zukunft.“ (21)
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Gramsci nennt solches Vorgehen eine „passive Revolution“. Die Utopie wird ins Diesseits geholt und erscheint genau dort, wo es uns an den Kragen geht. Diese Verwandlung, bei Hartz „Flucht nach vorn“ genannt, verlangt Sportsgeist. Es gilt, die „Unbequemlichkeit der Zukunft sportlich auszuhalten“ (25). Trotz seiner 5-bis-10-Prozent-Diagnose schließt sich Hartz nicht so ohne weiteres dem Chor der Verabschieder der Arbeitsgesellschaft an. Das Problem ist komplizierter. Was verschwunden ist, zumindest weitgehend, sei die Kopplung von Arbeit und Ausbeutung (ebd.). Und insofern die ‚neue Arbeit’ also ein begehrtes Gut ist, können von den Arbeitsplätzen her Forderungen gestellt werden. Dies scheint auf der einen Seite angemessen, ist aber zugleich der Beginn der Einsetzung der Arbeitsplätze als eigentliche Subjekte der Verhältnisse, denen sich die Arbeitenden unterzuordnen haben. Das ist das zweite Nummerngirl, das durch das gesamte Buch zieht: die Rede vom „Arbeitsplatz, der einen Kunden hat“. „Im erfolgreichen Unternehmen sitzt der Kunde im Bewusstsein mit am Tisch – von der Produktdefinition bis zur Tarifverhandlung.“ (U.a. 30) – Ich komme darauf zurück. Mit diesen Voraussetzungen stellt sich Hartz das zu lösende Problem des Arbeitsmarktes als Effekt des Umbruchs der Produktionsweise: Ohne Umschweife sieht er die Vergangenheit als Taylorismus-Fordismus mit den entsprechenden Produktivkräften. Ihm ist man nun entkommen, ebenso wie der Lohnarbeit überhaupt und dem Kapitalismus. „[Jetzt] ist der ganze Mensch gefragt, mit seinen individuellen Möglichkeiten, seiner Offenheit, seinem Talent und seiner Leidenschaft, zu lernen, zu entdecken, etwas zu entwickeln und weiterzugeben. Es lebe der kreative Unterschied. Wir lassen den Taylorismus hinter uns.“ (16) Unter dem Titel „Fortschritt durch Mündigkeit“ inszeniert Hartz geradezu eine Orgie an Zukunftsversprechen, in denen sich Befreiungshoffnungen unlösbar mit Werbesprüchen vermählen und dies zugleich als eine Art Lebensgefühl vorgestellt wird, untermalt mit Sprachfetzen der Jugendkulturen. Das „Selbst“ tritt in beliebigen Verbindungen (mit -organisation, -disposition-, -ständigkeit usw.) in den Vordergrund, bis es zum Herrn der Schöpfung mutiert, wenigstens in Worten: „Die Welt wird komponierbar: Gene und Moleküle liefern das Design für die übernächste Produktgeneration. Bio- und Nanotechnologien erweitern die Revolution der Informationstechnologie zu einer neuen technischen Plattform für zukünftige Gesellschaften. Janus grüßt den Fortschritt. Am Ende von E-Business und ECommerce steht die weltweite Vernetzung der Wirtschaft – ein sehr viele Lebensvorgänge begleitendes Econet. Die Informationstechnologie wird unausweichlich, sich im Internet zu bewegen zur vierten Kulturfertigkeit (…) Feuer für jede Fantasie. (16f)
Die Einstimmung in den Aufbruch wird weiter mit der Anrufung im Allgemeinen positiv besetzter Worte und Vorstellungen organisiert – Mitbestimmung, Familie, Zuhause, Vertrauen, Kompetenz, Souveränität (passim, u.a. 87) –, die darum die erhoffte Wirkung erzielen können und zugleich schal werden, unbrauchbar, bis man selbst sprachlos wird. Hartz thematisiert solchen Verlust als Realentwicklung. Mitbestimmung etwa ist für ihn zur „realen Utopie“ geworden, was meine: „Die Wirklichkeit hat die Vorstellung noch ‚getoppt’“ (105), denn Mitbestimmung (samt Betriebsrat usw.) braucht es nicht mehr, weil jeder selbst bestimmt. Hartz arbeitet weiter an der Umwertung der Werte. Der Weg nach vorn verlangt den Rückzug in dem, was bislang für Wert erachtet wurde. „Betriebsräte werden gewählt, Manager ernannt, Unternehmer geboren.“ (107) Auch in dieser Allgemeinheit wird so für jeden der Weg frei, Unternehmer zu werden.
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Kritik am Hartzmodell richtet sich gegen den weiteren Abbau des Sozialstaats, Privatisierungen, Streichungen im Sozial- und Gesundheitswesen und gegen die Aufforderung, sich im Niedriglohnbereich einzufinden. So fasst etwa Hans-Jürgen Urban (2003: 40ff) beim Vorstand der IG-Metall die „Essentials“ zusammen: Den Versuch, die Arbeitslosenzahl zu halbieren durch Zumutbarkeitsregelungen, Leiharbeitsunternehmen, Ich-AGs und Minijobs und Verwandlung der Arbeitsämter in „Job-Centers“ (vgl. Urban 2003: 40ff). Christian Brütt (2002) sieht die Hartzvorschläge als eine bestimmte hegemoniale Deutung der arbeitsmarktpolitischen Probleme und verweist auf die Nähe zum US-Modell des „workfare“, mit der „Rückkopplung der Arbeitskraft an das Marktrisiko“ und eine Art „negativer Anreizpolitik“ (vgl. Brütt 2002: 563ff). Der im Frühjahr 2003 über das Internet ergangene „Aufruf von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern“ warnt vor der „Devise ‚Weniger Sozialstaat = mehr Beschäftigung’“ und bezeichnet die Agenda 2010 (deren Vorschläge Programm der Hartzkommission sind) als „Verletzung der Prinzipien sozialer Gerechtigkeit“ und „Gefährdung der Substanz des Sozialstaats“. Kritisiert werden das Armutsrisiko, die Niedriglohnökonomie, Veränderungen in der Sozialversicherung und im Gesundheitswesen. Die nachvollziehbare und gerechtfertigte Kritik steht in einem eigentümlichen Missverhältnis zum Hartz-Ton der schmetternden Werbung und Indienstnahme von Veränderungshoffnung. Offenbar geht es um mehr und um anderes auch. Prüfen wir also, in welchem Umbruch Hartz sich verortet und wie er seine Aufgabe darin bestimmt. Es geht Hartz zweifellos darum, dem Fordismus/Taylorismus wirklich zu entwachsen mit allen Voraussetzungen, insbesondere den subjektiven, also mit den Persönlichkeiten der Arbeitenden. Die Hochtechnologie hat die Arbeitsweise radikal verändert, nun muss auch die Lebensweise folgen, mit allen Haltungen, Werten, Gewohnheiten. Hier muss kulturelle Politik ansetzen. An dieser Stelle ist es weiterführend, sich auf die Analysen Antonio Gramscis zu besinnen, der genau diese Fragestellung für den Fordismus verfolgte (vgl. dazu Haug 1998). Er analysiert das fordistische Modell der Einführung von Massenproduktion am Fließband – die Möglichkeit und Einsetzung von Hausfrauen, die über Disziplin, Gesundheit, Erziehung wachen und für die monotone Verausgabung von Kraft einen Ausgleich in Freizeit und Familie schaffen, die dazugehörigen Strategien der Unternehmer (Inspektion von Konsum, Moral und Hygiene in den Arbeiterhaushalten) sowie die puritanistischen, mit Pioniermoral überhöhten Regierungskampagnen einschließlich des Alkoholverbots – als „die größte [bisher dagewesene] kollektive Anstrengung, mit unerhörter Geschwindigkeit und einer in der Geschichte nie dagewesenen Zielbewusstheit einen neuen Arbeiter- und Menschentypus zu schaffen“ (H. 4, § 52, 529). Mit ähnlicher Zielbewusstheit sehen wir im Umbruch zur hochtechnologischen Produktionsweise Peter Hartz am Werk. Besichtigen wir die Scharnierstellen seines Projekts und folgen dabei methodisch Gramsci: Im widersprüchlichen Zusammenhang von Arbeits- und Lebensweise sind die Möglichkeiten der Herausbildung neuer Arbeiter- und Menschentypen folgendermaßen zu studieren: 1. als subjektive Tat; 2. als bestimmt durch Arbeitsweise (Entwicklung der Produktivkräfte) und 3. durch Produktionsverhältnisse als ideologische Veranstaltung durch industrielle Apparate (Schule bis Betrieb); 4. schließlich als staatliche Kampagnen, in denen neue Erfordernisse unter Aufnahme von Tradition und herkömmlicher Sitte verdichtet werden zu quasi weltanschaulichen Systemen (Beispiel Puritanismus). Der Stoff, um den gerungen wird, ist die Psychophysis der Menschen, motivierte Veraus-
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gabung auf dem geforderten Niveau und subjektive Zustimmung. Das schließt alle Fragen der Haltung zum Körper und zur Seele ein. Die neue Produktionsweise, für die Hartz nach Lösungen sucht, braucht den Massenarbeiter nicht mehr. Die Zustimmung, die jetzt organisiert wird, lässt sich zusammenfassen in der Anrufung, „Unternehmer“ zu sein. Daher hören sich viele seiner Formulierungen auch so an, als spräche er nur für eine Elite im Arbeitsvolk. Aber sein Projekt ist ehrgeiziger und zwiespältiger. Es ist zugleich ein Arbeitsbeschaffungsprogramm für diejenigen, die ausgemustert werden oder es bereits sind: So geht der Appell, sich endlich selbst zu versorgen, mit der Geste einher, so werde Gesellschaftsgestaltung für die Einzelnen möglich. Und es ist ein Vorschlag an die Regierung, dass sie ihre Kampagnen in den Dienst der Wirtschaft stelle und dies als Arbeitsmarktpolitik ausgebe. Welches ist der neue von Hartz angezielte Arbeiter/Menschentyp? Die Bestimmung erfolgt zunächst in Form einer Drohung: „Die Job-Revolution (…) wird keine betuliche Entwicklung, die Job-Inhaber aus geschützten Positionen überleben könnten. Dramatisch wird sie für jeden, dessen persönliche Lerngeschwindigkeit und Beschäftigungsfähigkeit mit der Dynamik (…) nicht mehr Schritt hält.“ (10) Die Worte lassen wenig Zweifel: Es ist eine Frage auf Gedeih und Verderb. Im Zentrum steht wie eine Art Rettungsanker ein neues Wort: Beschäftigungsfähigkeit. Als innere Tugend und verantwortliche Potenz taucht auf, dass man am Markt verkäuflich ist, dass Unternehmen einen einstellen, dass man also einen Arbeitsplatz findet. Das ist, in dieser Radikalität gesprochen, neu. Es ist das Diktat, sein Leben selbstbestimmt so auszurichten, dass man zu jeder Zeit und an jedem Ort auf jede Dauer einsetzbar wird wie eine Maschine, die zudem über zusätzliche ‚menschliche’ Emotionen verfügt. Geplant ist mit anderen Worten eine Art ‚Super-Fordismus’, aus dem die gesellschaftlichen (wohlfahrtsstaatlichen) Sicherungen herausgeschraubt sind. Das hat mit den bekannten Formen von Berufsausbildung und entsprechendem Abschluss nichts mehr zu tun. So heißt es kurz und bündig: „Der Wandel hat die Berufswelt abgehängt. Kein Berufsabschluss garantiert noch Beschäftigungsfähigkeit.“ (70) Der Unterordnung der Einzelnen unter ihre Einstellbarkeit, also ihrer neuen Verwandlung in Waren, folgt, dass die Lebendigkeit der Subjektivität in die Außenwelt des Verkaufs gelangt. Dies wird mit dem für das Amalgam von Politik und Werbung angemessenen Können klar und wirksam ausgesprochen. „Die Elektronik-Kompetenz wird zu einem entscheidenden Wertschöpfungstreiber der Branche. Ein anderer Zukunftstrend ist die Schaffung moderner Kundenwelten. Die neue Autostadt (…) bietet Mobilität als Erlebnis, lässt Werte und Wissen sinnlich erfahrbar werden – ohne Auto. Die Automobilmanufaktur Dresden integriert den Käufer in die Vollendung seines persönlichen Fahrzeugs. Das Spitzenprodukt soll zum Event werden. Sich ihn zu gönnen, lässt vielleicht das Geld vergessen.“ (35) Ein ebenfalls aus der Werbung stammendes sprachliches Mittel ist das Wort-Bombardement. Neue Worte oder Worte in ungewöhnlichen Kontexten prasseln so schnell hernieder, dass es ganz ausgeschlossen ist, darüber nachzudenken. Ein Entkommen bietet, einfach mitzumachen. Da gibt es Jobfamilien, Kreativnetze, eine Klusterbildung von Kompetenz und Engagement als Kerne mit Anziehungskraft, Lerninseln, Handlungskorridore, Vorsorgekapitale und ein Feuerwerk neuer Jobs usw. usf. Der neue Menschentyp, der in alledem geformt wird, benötigt „eine neue Job-Moral, in der sich die Menschen nicht nur als Inhaber ihrer Arbeitskraft verstehen (sozusagen als shareholder ihrer Human Assets), sondern
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die Verantwortung für ihre Beschäftigungsfähigkeit übernehmen, also sich als ‚workholder’, als Bewahrer und aktive Entwickler ihrer Chancen und Arbeitsplätze verhalten“ (41). Immer deutlicher wird, dass es der je Einzelne ist, der die Misere des Arbeitsmarktes verschuldet hat und entsprechend auch als Einzelner die Lösung vorantreibt, der die Fäden zieht und ziehen muss, will er nicht einfach untergehen. An dieser Stelle ist es an der Zeit, sich an eines der oben vorgeführten Nummerngirls zu erinnern, das mit dem Zeitkonto. Erinnern wir also, dass die Einzelnen ja nur knapp 10 Prozent ihrer Lebenszeit als Arbeitszeit verbringen, so folgt: „Diese verkürzte Zeit kann gerannt, gerackert und auf Biegen und Brechen geleistet werden.“ (51) Mit „entsprechender Einstellung und flexiblen Einsatzmodellen ließe sich eine Jahresnutzung von 6000 bis 7000 Stunden erreichen“ (ebd.), womit man dann auch die Maschinen und Anlagen viel wirtschaftlicher nutze. Was wäre die neue politische Kultur, wenn sie die nachwachsende Generation nicht erreichte? Hartz streut entsprechend Anbiederungsworte wie „hipp“, „Flexigesetz“, „fuzzy world“ in seine Sätze, wohl um die Zumutbarkeit der neuen Menschenform für die Jugend zu erleichtern. Die Zumutbarkeit ist das zweite Geheimnis der Hartzvorschläge, sie ist das Bindeglied, welches das Sprechen über die Elite der Hightech-Welt mit dem niederen Fußvolk verbindet. Keiner kann mehr die „Nibelungentreue der Solidargemeinschaft erwarten“ (51), sodass gilt: „Zumutbar wird vieles in der 10-Prozent-Gesellschaft. Das Potenzial zur Senkung der Lohnnebenkosten und zur Verminderung der Arbeitslosigkeit ist noch nicht gehoben.“ (Ebd.) Man erwartet, dass an dieser Stelle die bekannte Regierungsrede von der Zumutbarkeit der Niedriglohn-Jobs kommt und möchte die langen Ausführungen schon überspringen. Aber Hartz geht tiefer: Bei der Schaffung des neuen Menschentyps, bei der Organisation von Zustimmung wird ausgearbeitet, was Zumutbarkeit heißt, sodass es die Einzelnen wirklich an der Wurzel ergreift und sie umkrempelt. Zunächst gilt es also, die Zumutbarkeit selbst aus dem Außenverhältnis des Marktes zu einer inneren subjektiven Tugend zu machen. „Zumutbarkeit gehört zu den zentralen Begriffen für die Gesellschaftspolitik der Zukunft. Jeder kann bei sich anfangen und nach seinen Möglichkeiten beitragen – überbrücken, strecken, befristen und auf der Zeitachse gestalten, neue Maßstäbe, Bewertungen und Überschriften finden. Wichtig ist, dass wir verstärkt über veränderte Erwartungen sprechen.“ (52) Auf dem Prokrustesbett der Selbstformung bleibt die Frage, was eigentlich Zumutbarkeit ist. Hartz klärt auf: Sie ist „die Rückseite des Leistungsprinzips. Wenn der Erfolg da ist, muss nach Leistung und Anteil bemessen werden. Setzt der Misserfolg ein, gilt die Regel der Zumutbarkeit“ (ebd.). Es ist wie beim „Großen und Kleinen Klaus“ aus Andersens Märchen: Auf dem steinigen Acker mit dem mageren Pferd bringt der Kleine keine Leistung, während sie dem Großen mit einem Stall voller Gäule auf dem fetten Acker gelingt. Im Märchen geht die Sache makaber gut aus, aber auch in der Wirklichkeit lässt sich etwas machen, belehrt Hartz. Pech ist eine Praxis. Wenn man in misslicher Lage die Erwartungen ans Ziel herunter- und zugleich die an sich selber hochschraubt, kann es gelingen. Die ‚Spielräume’ sind groß. Zumutbarkeit und Beschäftigbarkeit liegen auf einer Ebene, gehören zusammen wie eineiige Zwillinge. Sie „sind die Eckpfeiler jeder Zukunftsgestaltung unserer Sozialsysteme“ (52). Hartz lässt uns denken, dass diese beiden Pfeiler im Prinzip oder im Allgemeinen einander die Waage halten, nur derzeit gerieten sie ins Ungleichgewicht: „Während die Zumutbarkeit wächst, schrumpft die Beschäftigbarkeit.“ (Ebd.) Solcherart sind die beiden, die wir als Eigenschaften und Haltungen der Einzelnen wahrzunehmen gelernt haben, neu-
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tral beobachtbar wie Gestirne am Himmel. Neues Verhalten, wiederum der Einzelnen, ist gefordert, um die Waagschale auf der hochschwingenden Seite zu belasten. So offenbart sich Zumutbarkeit jetzt auch als Aufruf an Lernhaltung und -praxen und wiederum als Ausleseprinzip. „Lernkurven werden steiler, Qualifikationen verfallen schneller, Anreize greifen seltener, Physis und Psyche halten irgendwann nicht mehr mit.“ (Ebd.) Und gegen die Wahrnehmung fehlender Lehrstellen lehrt Hartz: „Ein Teil des Nachwuchses findet erst gar keinen Anschluss – seine Grundgeschwindigkeit bleibt unter der Schwelle zum Takeoff.“ (Ebd.) Die Worte zeigen eine fast grenzenlose Fähigkeit, sich mit beliebigen Bedeutungen aufzuladen. Zumutbarkeit mutiert schließlich zur Anforderung an selbstbestimmtes Lernen, um den Anschluss an die neue Zeit zu halten. „Zumutbar ist es, sich selbst Sprachen anzueignen, IT-fit zu werden, sich im Internet bewegen zu lernen, fachlichen Anschluss zu halten, mobil zu bleiben und den Blick für Perspektiven zu schärfen“ (ebd.), sonst ist man „Analphabet“. Und so erklärt sich die wachsende Arbeitslosigkeit: „Durch Zumutbarkeit und Beschäftigbarkeit verliert die 10-Prozent-Gesellschaft an ihren Rändern diejenigen, die sich im Hochleistungssystem der letzten 10 Prozent Arbeit nicht mehr halten – halten können oder wollen.“ (Ebd.) Die Formel ist einfach, politisch korrekt gesprochen finden wir uns auf dem nächsten Losungswort des neoliberalen Hartzmodells und zugleich in neuer Zeichensetzung: „Unternehmer(in) sein, kann jede(r)“ (55), denn das „Hochleistungssystem“ kann nur funktionieren, wenn „Mitarbeiter zu Mit-Unternehmern werden“ (53). Das Eigentümliche an solchen Aussagen ist, dass sie so richtig wie verlogen sind. Man könnte den Gegensatz von Unternehmern und Arbeitenden auch dadurch auflösen, dass alle Unternehmer werden. Zudem, was wäre die „Assoziation der freien Produzenten“ (Marx) anderes als ein Verbund selbstbestimmter unternehmender Einzelner, die sich zur Bewältigung der gesellschaftlichen Produktion zusammentun? So arbeitet Hartz mit dem Schein, die Gesellschaft würde endlich ihren Mitgliedern übergeben, „Rücknahme der Arbeit in die Gesellschaft“ (45), geht aber großzügig darüber hinweg, dass sie in der Hauptsache schon verteilt ist, sodass die neuen Unternehmer sich in den übrig gebliebenen Arbeiten wiederfinden, die keinen Gewinn bringen. Dies vor allem jeder allein: keine Assoziation freier Produzenten also. Stattdessen: „Umwertung der Werte“ (45). Hartz nimmt eben die Hoffnungen aus diesem sozialistischen Projekt und schneidert sie passend für die einzelne „Unternehmerin“, die in ihrem Wohnzimmer bügelt und für die Erstausstattung eine Anschubfinanzierung bekam. „Arbeit als betrieblich verfasste Organisation von Tätigkeiten unter fremdem Dispositionsrecht, mit fremden Arbeitsmitteln und in fremden Arbeitsräumen hat als Grundfigur für die Jobs der Zukunft mehr und mehr ausgedient.“ (Ebd.) Der neue Unternehmer der Gegenwart bestimmt sich durch „emotionale Qualität“, die mit „der Individualität und Emotionalität des Einzelnen untrennbar verbunden ist“ (55). Hartz preist das neue Unternehmer-Leitbild an wie den Aufbruch in fast vergessene Hoffnung. Im Verkaufssalon, der wie ein elegantes Reisebüro vorzustellen ist, klingen von weither Lieder aus der Arbeiterbewegung, modern umgetextet: „Wer treibt die neuen Jobs, wer schlägt aus ihnen langfristiges Beschäftigungs- und Einkommenskapital? Ich, du, Sie, wir. Wir sind die Value Driver der Zukunft. Wir suchen die Zukunft der Arbeit, und dies
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wird eine Abenteuerreise.“ (56) 4 Hartz zeigt kulturelles Kapital und holt weit aus, um bis zum „global village der Telekommunikation“ (56) zu gelangen. Von Goethe geht es über die Handelscompagnien, gigantische Reichtümer immer weiter im Fortschritt (der übrigens niemals Subjekte hat, schon gar keine Arbeitenden) bis zur „dritten Dimension der Zukunft – Qualität“; „hinter dem Tauschwert und der Funktionalität“, „jenseits der begrenzten Zweckrationalität“ zeigt sich jetzt „Emotionalität (…). Emotion wird zu Kapital“ (56f). „Wer bisher Gültiges, Geglaubtes, Erlebtes, Machbares, Wahrnehmbares, Gefühltes oder Denkbares noch einmal überschreiten kann – der schafft einen neuen Wert, erzeugt Qualität als ultimatives Entertainment.“ (57) Es gibt in diesem Text u.a. drei Posten, die – und das erweist sich als Strategie der neuen politischen Kultur – unaufhörlich miteinander verschmelzen, dabei wie ein Chamäleon Farbe und Gestalt wechselnd und anpassend. So verbinden sich 1. die Unternehmen mit den darin Arbeitenden, 2. Produktion mit Verkauf und 3. in allen Gruppen die Gewinner und Erfolgreichen, die selbst sehen können, wo sie bleiben, mit den Ausgesonderten, die sich auf andere Weise überlassen bleiben. Hartz wählt Beispiele, Sprache und Perspektive, in denen jeweils alle sich angesprochen fühlen sollen und in denen der Wechsel von Produktion zu Verkauf Programm ist. Es geht letztlich um „die Differenz zu allem Vorhandenen als Wahrnehmungskitzel unter Haut und Hirn. Bei diesem Kampf um neue Kunden öffnet sich der Horizont bis zum Abgrund: Hohes und Rohes droht (…). Das Menschliche und Allzumenschliche liefern den Schlüssel zum Erfolg“ (ebd.). Der neue Menschentyp, der all dies vollbringt, ist „fit, fähig, flexibel und jetzt auch noch fantastisch – wir sind auf dem Weg vom atmenden zum eventiven Unternehmen“ (59). Schließlich wechselt Hartz von der Werbung in postmoderne Sozialtheorie oder umgekehrt: „Die Jobs der Zukunft leben von der Inszenierung. Des feinen Unterschieds wegen: Design, Farbe, Haptik, Geruch und Ton sollen die Sinne fesseln, Erlebnisse den Kunden an das Unternehmen binden. Dies Individuelle und Authentische vermitteln nur Mitunternehmer und Mitunternehmerinnen den Kunden.“ (Ebd.) Die „Schlüsselkompetenz“ des neuen Menschen „heißt Sensibilität, weil sie allein für die notwendige emotionale Qualität sorgt. Sie wird High Touch genannt“ (66). Die Sprache der neuen politischen Kultur des Imperiums ist durchsetzt von Anglizismen. Das scheint im globalen Maßstab zum einen natürlich und verleiht den Sätzen zum anderen eine obskure Bedeutungshaftigkeit, die wie eine Sperre die Inhalte zudeckt. Sie tut dies mittels ungefähren Fingerzeigen, Anklängen an etwas, das man weiß oder wissen müsste, und verschmilzt diese zu einer Losung, über die man nicht nachdenken kann, weil sie ein inneres Geheimnis ist. „High Touch“ z. B. erinnert an Hightech und gewinnt damit ganz ohne Begründung und Analyse sogleich Plausibilität und Zeitgemäßheit, das passende Gefühl zur Produktionsweise. Unpassend ist, wer um den Namen noch nicht weiß, er gerät in den Verdacht, die gesuchte Emotionalität nicht zu besitzen, und tut gut daran, beim nächsten Bewerbungsgespräch die verlangten Wortsignale auszustoßen.
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Zur Erinnerung: In einem der frühesten und revolutionärsten Lieder der Sozialdemokratie, „Die Arbeitsmänner“, heißt es in der Dichtung von 1870 (Most): „Wer schafft das Gold zutage/ Wer hämmert Erz und Stein?/ Wer webet Tuch und Seide?/ Wer bauet Korn und Wein?/ Wer gibt den Reichen all ihr Brot/ und lebt dabei in bittrer Not?/ Das sind die Arbeitsmänner,/ das Proletariat“ usw. Das Lied endet mit der Strophe: „Ihr habt die Macht in Händen,/ wenn ihr nur einig seid! Dann haltet fest zusammen, dann seid ihr bald befreit“ (aus Lammel 1980, 100f)
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Die Werbesprache bedient sich gerne des Stabreims. So prägt auch Hartz immer wieder Bündel von Zuschreibungen, die allesamt mit dem gleichen Buchstaben beginnen und dann als Kürzel gesprochen werden können, die 4 F (fit, fähig, flexibel, fantastisch), die 3 W (Wollen, Wissen, Werte, 72) oder die 4 M. Letzteres bezeichnet das neue Menschenprofil: „Mehrfachqualifiziert, mobil, mitgestaltend und menschlich“ (73). Der neue Menschentyp ist auf jeden Fall ein Single, er ist ein Individuum, kein Teil eines Kollektivs, „denn nur als Individuum erfindet und empfindet der Mensch Qualität“ (65). Hartz würzt seine Rede nicht nur mit Jugend-Slang, übernimmt nicht nur die Sprache der Linken und verdreht sie, er setzt auch auf Zustimmung unter ‚Alternativen’, für die „ganzheitlich“ ein Zielwort ist. „Das ganzheitliche, sinnhafte Grundelement des Arbeitsvollzugs“ – solche Beschwörungen finden sich immer wieder als Versprechen, Schluss zu machen mit Entfremdung. Beim Zuhören oder Lesen darf man niemals vergessen, sich bei alledem die Büglerin im Wohnzimmer vorzustellen. Während die Frage, ob man eine Beschäftigung findet oder nicht, als Eigenschaft des Individuums erscheint, verschwimmen auch dessen Grenzen z. B. in die Eigenschaften eines Autos und springen dann unvermittelt in den Profit. Der „Mitarbeiter“ muss sich für den Kunden begeistern. „Der Kundenwert wächst so über das blanke Kosten-NutzenKalkül hinaus. Beim Auto z. B. gilt es, die emotionalen, eventiven Mehr-Werte – Fahrspaß, Erlebnis durch Mobilität, Statusgewinn, Sorglosigkeit durch Sicherheit und Perfektion, Fahrdynamik im Verkehrsfluss, gutes Gewissen durch Umweltbeachtung, Wertbeständigkeit durch Markenimage – unternehmerisch zu neuen Wertschöpfungspotenzialen zu steigern.“ (66) Hartz nennt dies Amalgam von Mitarbeiter, Werbung und Unternehmen „Verhaltenskultur“ (66). Das zugehörige „mündig-mutige“ Individuum ähnelt unvermittelt Faust: „Nur wer nach den Sternen greift und dabei die inneren Kräfte der Fantasie anfacht, vermag sich zu halten. Die Fähigkeit, neue Qualitäten zu entwickeln, hält uns nah an der Utopie (…). Es ist die Chance, im Job zu Hause zu sein.“ (67) Das Modell von Hartz ist nicht nur eine Verschmelzung von Werbung und Politik bzw. Politik als advertising. Im selben Zug wird staatliche Politik unter die Anforderungen der Wirtschaft gestellt. Dies auf doppelte Weise: Es geht einmal darum, die Gewinner zu Hochleistungen anzuspornen, zum anderen aber auch darum, die Verlierer von Unruhen abzuhalten, sie irgendwie unterzubringen, da man sich ihrer nicht einfach entledigen kann. Letzteres geschieht, indem die Unteren im Namen der Oberen angerufen werden, als ob für alle Gleiches gelte. Und in der Tat geht es auch darum, die Restgesellschaft, das, was nicht bereits profitlich verteilt ist, in die Obhut der Restmenschen zu geben, als seien sie ebenfalls Unternehmer. Dabei strahlt Hartz ein Versprechen auf Zukunft (ein sehr häufig verwendetes Wort) aus, die es für die meisten nicht gibt. In diesem Hochgeschwindigkeitszug, als den wir uns die Gesellschaft vorstellen sollen, bleibt die Frage nach den Geschlechterverhältnissen bzw. danach, wie die Geschlechter eingespannt werden in die Reproduktion dieser Gesellschaft, seltsam leer. Wir erinnern an Gramscis Analyse der fordistischen Produktionsweise und der Stellung der Hausfrauen im Gesamtgefüge, an den männlichen Ernährer und weibliche Abhängigkeit von seinem Lohn. Bei Hartz ist die Entwicklung zumeist geschlechtlich neutral gehalten. Bis auf wenige Ausnahmen handelt er von Menschen im Allgemeinen. Aber es gibt ein Extrakapitel zu Frauen – zwei Seiten sprechen darüber, dass die „Hälfte der Zukunft den Frauen“ (59f) gehört. Hier erlahmt seine gewohnte Wortgewandtheit. Außer allgemein „Frauenförderung“ zu erwähnen und einen „Girls Day“ zu planen, an dem die Töchter mit in den Betrieb dürfen,
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empfiehlt er noch Selbstverteidigungslehrgänge, „Frauenkooperations-Seminare“ sowie ein „Gleichstellungsaudit“ gegen sexuelle Belästigung und begründet: „[Im] Erfolg von morgen (…) die Hälfte der Menschheit übergehen zu wollen, halbiert die unternehmerische Energie und zerstört die Wurzel unternehmerischer Verhaltenskultur – das persönliche Engagement, Initiative mit Herz und Hirn“ (60f). Dies alles trifft jedoch die Frauenproblematik, welche mit der Weise zu tun hat, wie in einer Gesellschaft die Reproduktion von Menschen stattfindet und eingeplant ist, nur peripher. Waren Frauen im alten fordistischen Modell zuständig für die psychophysische Balance – für Freizeit, Gesundheit, Ernährung, Erziehung –, sind sie bei Hartz doppelt freigesetzt. Sie sind die Abhängigkeit vom Ernährer ebenso los wie diesen selbst. Jede kann sich gleichberechtigt in die Hochleistungsgesellschaft begeben und versuchen, die genannten Aufgaben an die Gesellschaft zu delegieren, die sie unter Privatisierungspraxen und Sozialstaatsabbau an sie zurückschickt, sodass sich in der Bewerbung ums Olympiateam sehr viele Behinderte finden, am Start mit Einkaufstüten und Babys im Arm. Kinder im alten Sinn tauchen kurz als Aufgabe auf, die mittels Training zu lösen ist, mit einer Anleitung, „wie werdende Eltern ihr individuelles ‚work & life balance’-Modell gestalten können“ (60f). Wieder geht es um Vereinbarkeit von Erwerbs- und Familienarbeit wie lange schon, diesmal als partnerschaftliches Konfliktmodell – da ist nichts, in das sich Gesellschaft einmischen müsste. Es ist offensichtlich, dass nur eine Minderheit von Frauen zu den Gewinnern zählen wird, während die Mehrzahl in Armut lebt, wie dies schon jetzt für die ‚Alleinernährenden’ der Fall ist. Die Zahlen im Mikrozensus von 2002 weisen Anteile von 68 Prozent, 70 Prozent und 80 Prozent Frauen bei Teilzeitarbeit, Niedriglohn-Jobs und Armut aus. Die doppelt freien Mütter bilden den Sockel der Armut. Dies geht natürlich nicht aufs Konto von Hartz, sondern entspricht einem Gesellschaftsmodell, in dem Natur als Steinbruch genutzt wird, in dem also die vorhandenen Ressourcen verbraucht werden, bis nichts bleibt. Frauen tragen durch ihren ‚Naturanteil’ an der Reproduktion die Effekte neoliberaler Revolutionierung von Gesellschaft mehr, haben mehr Grund gegen Hartz und seinen „neuen Menschentyp“, der auch die Agenda 2010 bestimmt, zu streiten. Gegen Hartz wird häufig eingewandt, er propagiere alte Familienwerte. Dies ist nur sehr bedingt richtig. Er benutzt vielmehr die mit Familie verbundenen Gefühle, um sein Projekt der „Job-Revolution“ zu untermauern. Insofern kann auch sein Familiendiskurs als Studienobjekt für die Verschiebung von Sprache, Wörtern aus dem Gewohnten ins Profitunterworfene dienen. Es geht ihm darum, aus dem „beruflichen Umfeld ein Zuhause“ zu machen, „die Heimat der Job-Familie“ (78). „Job-Familien (…) jagen der Zukunft voran“ (72). Es gibt „Job-Eltern“, das sind Vorbilder in der Arbeit, „Job-Kids“ (74), das sind die Lehrlinge. „Job-Familien sollen schon vom Wortsinn unterstreichen, dass ganz andere Bindungsformen nötig sind.“ (75) „Im Zeitalter der Jobfamilien“ werden Universitäten und Sozialleistungen „virtuell“. Auch ziehen „die Familienmitglieder neue Nachwuchskräfte an. In einer Job-Familie zu arbeiten, der die Zukunft gehört, macht Spaß“ (78f). Jeder hat „im Familien-Konzept (…) einen persönlichen Entwicklungsplan“ (79). Die Vorschläge der Hartzkommission gingen im Großen und Ganzen in die Agenda 2010 der Regierung ein, aber eigentümlicherweise nichts von Hartz’ Vision vom neuen Menschen. Da dieser aber das notwendige Fundament ist, auf dem die ganze Umgestaltung der Gesellschaft ruht, bleiben die Regierungspläne so bürokratisch leer, wie der Protest dagegen aus der defensiven Klage nicht herauskommt. Man sieht nur mehr die Kürzung von Renten, von Gesundheitsversorgung, von Bildung, von Sozialausgaben, von Arbeitslo-
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sengeld usw. Wie wäre es dagegen, sich in den Kampf um den neuen Menschen einzumischen? Wie wir uns als Menschen denken und imaginieren, wohin wir wollen, wer wir sind, dazu könnte man ein buntes Volksbegehren entfachen, streiten, mobilisieren, Stücke schreiben und Straßentheater aufführen, gar Charlie Chaplins Modern Times als Postmoderne Zeiten neu drehen. „Rennen, rackern, rasen“, „fit, fähig, flexibel, fantastisch“ – ist dies der Traum, den wir für unsere Zukunft hegen? Literatur Aufruf von Wissenschaftlern und Wissenschaftlerinnen 2003: „Sozialstaat reformieren“. In der Frankfurter Rundschau vom 23.03.2003. Brütt, Christian 2002: Nach Hartz. Konsensualer „Neoliberalismus plus“. In: Das Argument 247, Jg. 44, H. 2, S. 559-568 Hartz, Peter 2001: Job Revolution. Wie wir neue Arbeitsplätze gewinnen können. Frankfurt/M. Haug, Frigga 1998: Gramsci und die Produktion des Begehrens. In: Psychologie und Gesellschaftskritik, Jg. 18, H.86/87, S. 75-91. Urban, Hans-Jürgen 2003: Mit der „Hartz-Kommision“ in den formierten Kapitalismus? In: Forum Wissenschaft, H. 1, S. 40f.
Teil II Von den Rändern ins Zentrum?
Die Begriffe und das Vokabular sozialer Ungleichheit – in Zeiten ihrer Verschärfung 1
Berthold Vogel
Die Sozialstrukturanalyse der bundesdeutschen Nachkriegsjahrzehnte beruhigte lange Jahre mit Zwiebelbildern sozialer Ungleichheit, Individualisierungstheorien und Lebensstilmilieus die Gefühlslagen einer wohlfahrtsstaatlich geordneten Gesellschaft. Der strukturelle und normative Kern dieser Gesellschaft war eine gleichermaßen umfangreiche wie differenzierte Mittelklasse. Doch mit der Verfestigung dauerhafter Arbeitslosigkeit, der Verhärtung materieller Armut, der Polarisierung der Einkommens- und Vermögensverhältnisse und der Verschärfung sozialer Abstiegsrisiken etabliert sich seit den 1990er Jahren eine schärfer konturierte Sichtweise des sozialen Strukturgefüges. Das Bild einer gespaltenen Gesellschaft tritt uns heute aus zahlreichen soziologischen Publikationen, aber auch im Feuilleton der Tagespublizistik entgegen. Starke Scheidungskategorien wie Exklusion und Inklusion sowie prägnante Dramatisierungsbegriffe wie Überflüssigkeit und Entbehrlichkeit zählen seit einigen Jahren zum Inventar der Debatte um soziale Ungleichheit. Mittlerweile haben sie auch beträchtliche publizistische Resonanz erhalten (zur ‚Debattenhistorie’ aktuell Bude/Willisch 2008). Dieser veränderte, auf Spaltung und Polarität hin orientierte Zuschnitt der soziologischen Ungleichheitsforschung, der vor einiger Zeit von einer großen deutschen Tageszeitung unter dem Titel „Der große Graben“ noch einmal mit Nachdruck ins öffentliche Bewusstsein gehoben wurde (Matzig 2005), hat zweifelsohne gute empirische Gründe und liefert ein erweitertes Verständnis gesellschaftlicher Entwicklungen. Dennoch melden sich aus wissenschaftlicher Perspektive gewisse Zweifel, wie groß tatsächlich der Erkenntniszugewinn dieser soziologischen Verschärfung ist – ja, vielleicht droht auf diese Weise sogar manche wichtige Einsicht in den Wandel und die Neuordnung des sozialen Strukturgefüges verbaut zu werden. So geraten mit der Debatte um Exklusion und Inklusion die Zusammenhänge und Prozesse, die das ‚Innen’ und das ‚Außen’, das ‚Zentrum’ und die ‚Peripherie’ der Gesellschaft aneinander binden, schnell aus dem Blick. Zudem suggeriert das markante Strukturbild einer ‚Innen-Außen’-Spaltung der Gesellschaft das Vorhandensein eines stabilen und homogenen gesellschaftlichen Zentrums, das diesseits exkludierter Randlagen angesiedelt ist. Auf diese Weise erscheinen alle, die irgendeiner Form der Erwerbstätigkeit nachgehen, als privilegierte Besitzer eines Arbeitsplatzes, die an den Segnungen moderner Wohlfahrtsstaatlichkeit und an der Fülle der Konsumgesellschaft teilhaben. Die strukturellen Brüche, Verwerfungen und Spaltungen innerhalb der Industriearbeiterschaft oder zwischen den verschiedenen Beschäftigungsverhältnissen im Dienstleistungssektor haben in dieser Diskussion keinen Raum mehr. In der großen Zone der Inklusion verschwinden die kleinen Nöte und großen Sorgen derjenigen, die eine rechtlich und materiell veränderte Arbeitswelt
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Kerngedanken und Grundbausteine dieses Textes sind in dem Aufsatz veröffentlicht „Soziale Verwundbarkeit und prekärer Wohlstand. Für ein verändertes Vokabular sozialer Ungleichheit“; in: Bude/Willisch 2006.
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zu ertragen haben. Somit lenkt die Dichotomie von ‚Innen’ und ‚Außen’ die Aufmerksamkeit in erster Linie auf die Fluchtpunkte sozialer Ausgliederungsprozesse – auf die wachsende Armut und die dauerhafte Arbeitslosigkeit. Doch die Frage nach der Entwicklung sozialer Ungleichheit kann keineswegs alleine mit dem Verweis auf die Expansion und die Abspaltung wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Randlagen beantwortet werden. Vieles spricht dafür, dass sich veränderte Formen der Ungleichheit nicht nur in der sozialen, mentalen oder räumlichen Peripherie der Gesellschaft kristallisieren – als ‚Ghettoproblem’, ‚Armutsfalle’ oder ‚Überzähligkeitserfahrung’. Vielmehr zeigt ein aufmerksamer Blick auf die Entwicklung des sozialen Strukturgefüges, dass die Eckpfeiler der Mittelschichten, die Welt der Familie, der Schule oder der Haushaltsführung, vor allen Dingen aber die Sphäre der Erwerbsarbeit und die vielfältigen Einrichtungen des Wohlfahrtsstaates mehr und mehr unter Spannung stehen. Zum Beispiel droht die Tragfähigkeit der Familie in Zeiten niedriger ‚Reproduktionsraten’ und steigender ‚Trennungsquoten’ an Substanz zu verlieren. Zugleich tragen Familien die größten Abstiegsrisiken, da sie von steuerlicher Seite, aber auch durch die Last der zunehmenden Privatisierung sozialer Risiken unter Druck geraten. Das Bildungssystem ist zu einem Ort höchster Nervosität und erratischen Reformeifers geworden. Die Grundlagen der allgemeinen und öffentlichen Bildung drohen zwischen Hauptschulelend und Hochschulelite, zwischen Finanznot und Exzellenzcluster zerrieben zu werden. Der Zwang zu demonstrativem Konsum bei stagnierendem oder gar sinkendem Einkommen untergräbt schließlich die solide Haushaltsführung in Mittelschichtfamilien. Die steigenden Verschuldungsraten sprechen hier eine deutliche Sprache. Und im Arbeitsleben verliert der Leittypus des sozialversicherten und disziplinierten Arbeitnehmers an Boden. Umrahmt und forciert werden diese Spannungen durch die fiskalische und normative Erschöpfung sowie durch die rechtliche Neujustierung von Wohlfahrtsstaat und Sozialversicherung. Alleine mit einer Verschärfung soziologischer Ungleichheitsdiagnosen scheint es also nicht getan. Offensichtlich sind hier mittelschichtorientierte Präzisierungen notwendig. Die Anstöße, die die Forschung und die Analyse sozialer Ungleichheit von der Exklusionsdebatte erhalten haben, bedürfen einer systematischen Erweiterung. Der vorliegende Beitrag plädiert erstens dafür, die soziologische Aufmerksamkeit auf die soziale Übergangszone der fachgeschulten und aufstiegsorientierten Mittelschichten zu lenken. Die Mittelschichten können in den Wechselfällen des Lebens nicht mehr ohne weiteres auf die schützende Hand staatlicher Statussicherung hoffen. Der Beitrag versteht sich zweitens als ein Plädoyer dafür, die Begriffe soziale Verwundbarkeit und prekärer Wohlstand soziologisch für die Theorie sozialer Ungleichheit, für die empirische Ungleichheitsforschung und für die zeitdiagnostische Bestimmung der sozialen Frage nutzbar zu machen. Beide Begriffe finden ihre Grundlagen und Bezugspunkte in der angesprochenen Übergangszone, in der die Weichen Richtung Aufstieg oder Abstieg, Richtung Integration oder Ausgrenzung, Richtung Etablierung oder Deklassierung gestellt werden.
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Soziale Verwundbarkeit und prekärer Wohlstand
Der Begriff der ‚sozialen Verwundbarkeit’ hat über die sozialhistorischen Arbeiten Robert Castels zum Gestaltwandel der Lohnarbeit und der mit ihr verknüpften sozialen Frage (Castel 2000: 360ff) Eingang in die hiesige Sozialstrukturanalyse gefunden. Castel schlägt als
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heuristisches Instrument der Sozialdiagnostik ein Modell gesellschaftlicher Ungleichheit vor, das systematisch drei verschiedene Zonen unterscheidet: die Zone der Integration, der Verwundbarkeit und der Abkoppelung. Der Umfang, die Grenzen und das Verhältnis dieser Zonen zueinander bestimmen sich je nach betrieblicher, beruflicher und rechtlicher Sicherheit der Erwerbsarbeit, je nach Stabilität der Einbindung in soziale Netze und je nach politischer wie rechtlicher Gestaltung der Arbeitsmärkte. Mit Blick auf die wachsende Prekarität der Beschäftigung, auf die veränderte Qualität sozialer Beziehungen und auf den aktuellen Zuschnitt staatlicher Politik spricht Castel von der Ausweitung der Zone der Verwundbarkeit, ja sogar von der drohenden Rückkehr „massenhafter Verwundbarkeit“. Der Begriff der sozialen Verwundbarkeit steckt mithin als sozialstrukturanalytische Kategorie eine Zone der Wahrscheinlichkeiten ab, in der es um Abstiegsdrohungen oder Deklassierungssorgen geht, aber eben nicht um Exklusionsgewissheiten. Akteure in unsicheren, fragilen Lagen treten hervor. Strukturelle Gefahren werden ‚subjektiviert’. Die gefühlten Ungleichheiten und Unsicherheiten kommen ins Spiel. Die Kategorie der sozialen Verwundbarkeit kann mithin als eine soziale Beziehung definiert werden, die zwischen zwei Polen angesiedelt ist: Zwischen dem Pol der Wahrscheinlichkeit, mit bestimmten ökonomischen, sozialen oder symbolischen Risiken konfrontiert zu werden, und dem Pol der Fähigkeiten, diesen Risiken ausweichen zu können bzw. Ressourcen gegen diese Risiken mobilisieren zu können. Vulnerabilität „cannot be defined or measured without reference to the capacity of a population to absorb, respond and recover from the impact of the event. (…) vulnerability is the degree to which different social classes are differentially at risk” (Cardona 2003: 6). Der Begriff des ‚prekären Wohlstands’ etablierte sich in der Analyse der Armutsrisiken und der Einkommensverteilung. Mitte der neunziger Jahre machte der Sozialwissenschaftler Werner Hübinger (1996) im Rahmen einer umfangreichen empirischen Studie zu Einkommensungleichheiten auf eine Einkommenszone aufmerksam, die zwischen verfestigter Armut und gesicherten Wohlstandspositionen angesiedelt ist. Das Auskommen mit dem Einkommen fällt hier schwer. ‚Pekärer Wohlstand’ markiert einen gefährdeten Lebensstandard und er signalisiert: bestimmte Zonen der sozialen Mittelschichten sind in ihrer Stabilität bedroht. Materielle Restriktionen und Risiken finden sich nicht erst in den verarmten und langzeitarbeitslosen Randlagen der Gesellschaft. Prekärer Wohlstand ist ein relationaler Begriff, der sich durch soziale Abstände definiert, und der auf ambivalente Erfahrungen und Selbstdefinitionen verweist – eben auf die latent oder offen lebens- und arbeitsweltlich erfahrbare Spannung zwischen ‚Prekarität’ einerseits und ‚Wohlstand’ andererseits. Die Kategorie des prekären Wohlstand ist auch offizielle Kategorie des Datenreports des Statistischen Bundesamtes (Statistisches Bundesamt 2002: 580ff). Dem prekären Wohlstand werden diejenigen Haushalte zugerechnet, deren Einkommen sich zwischen 50% bis 75% des arithmetischen Mittels der monatlichen Haushaltsnettoeinkommen bewegen. Im Jahre 2000 fiel immerhin ein Viertel der Bevölkerung in diese Einkommensgruppe (vgl. ebd.: 585) Beide Begriffe – soziale Verwundbarkeit und prekäre Wohlstand – repräsentieren ein neues Vokabular in der Ungleichheitsforschung, das eher auf ambivalente, uneindeutige und spannungsreiche soziale Lagen zielt. Sie nehmen eine fragile und prekäre Zone in den Blick, in der es zwar noch nicht um Armut und Arbeitslosigkeit, um Marginalisierung und soziale Ausgrenzung geht, aber in denen der erreichte Lebensstandard und die errungenen beruflichen und sozialen Position dennoch in verschiedener Hinsicht als gefährdet er-
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scheint. Mit anderen Worten: In dieser Zone der Gesellschaft steht die Frage von Auf- und Abstieg, von Stabilisierung und Destabilisierung, von Sicherheit und Unsicherheit zur Diskussion. Denen, die in dieser Zone der Gesellschaft leben, darf in ihrem sozialen und beruflichen Alltag nichts ‚dazwischen kommen’ – nicht der Verlust des Arbeitsplatzes, keine chronische Krankheit, keine familiären Probleme, kein erzwungener Ortswechsel oder Umzug, keine unerwarteten finanziellen Anforderungen und Belastungen. In dieser Zone gleicht die eigene Lebens- und Haushaltsführung einem fragilen Kartenhaus, das nur geringer Erschütterungen bedarf, um in sich zusammen zu stürzen. Die Ressourcen sind knapp und deren Verwendung ist genau kalkuliert. Als Prozess- und Wahrscheinlichkeitsbegriffe verändern beide Kategorien die Sichtweise auf die Grundlagen der gesellschaftlichen Ungleichheitsordnung. Statt sozialer Lagen und ihrer statistischen Verteilung kommen nun Biographien und Erwerbsverläufe ins Spiel, statt Individuen rücken Familien und Haushalte in den Mittelpunkt. Die soziologische Betrachtung wendet sich zudem von den Randlagen in das Zentrum der Gesellschaft, hin zu den Quellen möglicher oder wahrscheinlicher sozialer Exklusions- und Abstiegsprozesse.
2.
Wohlstandssicherung und Wohlfahrtspolitik
In der Rede von ‚Verwundbarkeit’ und ‚Wohlstandsgefährdung’ nähern wir uns den Sozialund Berufsmilieus disziplinierter Facharbeiter und statusbewusster Angestellter. Die Frage nach den Mittelschichten ist die Frage nach der Zukunft der Wohlstandssicherung. Das sozialstrukturelle Vokabular der sozialen Verwundbarkeit und der Prekarität macht auf die Gruppen in der Gesellschaft aufmerksam, die tatsächlich (noch) etwas zu verlieren haben. Die Prekarität des Wohlstands setzt Wohlstand voraus und das Gefühl sozialer Verwundbarkeit kennen nur diejenigen, denen soziale Sicherheit und Stabilität nicht fremd ist. Welche Kräfte und Prozesse setzen nun diese Orte des Wohlstands und der relativen Stabilität unter Druck? Die Umbrüche in der Arbeitswelt und in der Organisation der Betriebe wirken hier ebenso wie auch die qualitativen und quantitativen Veränderungen der Familienformen und Generationenbeziehungen oder die wachsenden Disparitäten in der Konsumkraft der Haushalte. Von zentraler Bedeutung ist freilich die politische und rechtliche Neuordnung wohlfahrtsstaatlicher Institutionen und Arrangements. Die Formierung und Konstitution von sozialer Verwundbarkeit und prekärem Wohlstand ist in starkem Maße Ausdruck neuer wohlfahrtspolitischer Regulations- und Steuerungsformen des Sozialen. Im Einzelnen: Zahlreiche industrie- und arbeitssoziologische Studien zeichnen neue Konzepte der Unternehmensorganisation und der betrieblichen Personalplanung und -rekrutierung nach. Eine der zentralen Folgen der internen und externen Neuausrichtung betrieblichen Handelns ist der Verlust der sozialintegrativen Kraft der Unternehmen (Castel 2000). Durch die Projektförmigkeit der Arbeitsabläufe verändern sich die Berufsaussichten und Beschäftigungsperspektiven für weite Teile der Arbeitnehmerschaft. Die Kalkulierbarkeit und die Erwartbarkeit von beruflichen und betrieblichen Karrieren verlieren zunehmend ihre organisatorische Basis. Die Strategien ‚interner’ Flexibilisierung führen zu einer immer stärkeren Individualisierung der Arbeitsverhältnisse und -beziehungen. Die arbeitsvertragliche Gestaltung von Beschäftigungsverhältnissen wird spezieller, variabler und personalisierter (Oschmiansky/Oschmiansky 2003) – und damit auch verwundbarer. Die Strategien der ‚externen’ Flexibilisierung, die Aufspaltung der Unternehmen in Netzwerke und die Glie-
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derung der Betriebe in ‚Costcenter’ dekollektivieren die Arbeitsorganisation und fördern neuartige Selektionsprozesse unter den Beschäftigten (Boltanski/Chiapello 2003). Mit Blick auf die Stabilität, die Perspektiven und die rechtliche Gestaltung der Erwerbsarbeit gilt, dass sich soziale Unterschiede und Ungleichheiten innerhalb der Betriebe erheblich verschärfen. Die gezielte arbeitsmarktpolitische Förderung atypischer Beschäftigungsverhältnisse, beispielsweise der Leiharbeit, der Befristung von Arbeitsverhältnissen (Vogel 2003, 2004), der geringfügigen Beschäftigung oder der prekären Selbständigkeit beschleunigt diesen Prozess erheblich. Die Organisation und die Physiognomie der Erwerbsarbeit verändern sich markant. Doch nicht nur die Welt der Arbeit ist im Umbruch. Auch das soziale Leben der Familien hat in vielerlei Hinsicht neue Konturen gewonnen. Zwar macht uns die familiensoziologische Forschung zu Recht immer wieder darauf aufmerksam, dass die Familie als Institution des Zusammenlebens verschiedener Generationen keineswegs dramatisch an Bedeutung einbüßt (Bertram 2000). Auch in sozialen Krisensituationen bleiben familiäre Beziehungen relevant. Dennoch zeigen eine Vielzahl aktueller empirischer Studien, dass die ‚Sicherheitsnetze’ der sozialen Institution Familie an Tragfähigkeit verlieren (AWO 2000; Chassé/Zander/Rasch 2003). Viele Familien sind materiell und sozial überfordert bzw. bewegen sich am Rande der Belastbarkeit. Und das gilt nicht nur für familiäre Konstellationen, die mit spezifischen sozialen Problemen, beispielsweise mit der Arbeitslosigkeit des Hauptverdieners oder mit dessen beruflicher Perspektivlosigkeit konfrontiert sind. Auch viele Mittelschichtfamilien, die bei durchschnittlichem Einkommen bestimmte Erziehungsleistungen und Kreditbelastungen zu bewältigen haben, geraten in Zeiten der immer stärkeren finanziellen Privatisierung sozialer Risiken unter Druck. Mit Blick auf die soziale Tragfähigkeit der Familie ist zudem von Bedeutung, dass sich nicht nur die Außenanforderungen an familiäres Zusammenleben verstärken, sondern dass sich in den vergangenen Jahrzehnten auch die Binnenstrukturen der Familien in grundlegender Weise gewandelt haben. Die Norm der Ein-Kind oder bestenfalls Zwei-Kind Familie mag zwar die finanziellen Lasten, die die Eltern zu tragen haben, reduzieren. Doch zugleich verringert sich auf diese Weise in der Generationenfolge auch die soziale Reichweite familiärer Strukturen. Der Schrumpfungsprozess familiärer Reichweiten hat erst begonnen und ist eine Seite des demographischen Wandels, die merkwürdig unterbelichtet bleibt. Daran ändert auch die soziologische Entdeckung und Aufwertung der multilokalen Multioptionsfamilie (Bertram 1997) nichts. Hinzu kommt die dramatische Entwertung der Familienarbeit, die von Franks (1999) oder Hochschild (2002) eindrucksvoll dokumentiert wird. Familienarbeit bringt weder Prestige noch Anerkennung. Für Männer schon gar nicht, aber auch für Frauen immer weniger. „Wenn die Firma zum Zuhause wird und zu Hause nur die Arbeit wartet“ – diese prägnante Formel von Hochschild beschreibt die Lage, den Status, die Tragfähigkeit und die Rolle der sozialen Institution Familie nachdrücklicher als manche statistische Kennziffer zu Eheschließung, Scheidung und Kinderzahl. Eng mit der Lebenswelt der Familien ist die Frage der Haushaltsführung und der Konsumanforderungen verbunden. Der Konsum von Waren und Dienstleistungen hat in der symbolischen Ordnung der Gesellschaft eine soziale Signalfunktion. Veblen (1997) verweist auf diese demonstrative Wirkung des Konsums, Bourdieu (1982) macht die sozial distinktiven Effekte des Geschmacks zur Grundlage seiner gesellschaftstheoretischen Überlegungen, Bauman (1999) spricht von der Scham und der sozialen Randstellung derer, die als Konsumenten am Warenkreislauf der Gesellschaft nicht in gewünschter und erwarteter
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Weise teilhaben können. Die Fähigkeit zu demonstrativem Konsum gerät, so die These Baumans, mehr und mehr zum Exempel und Maßstab eines erfolgreichen und gelungenen Lebens. Die rasch steigende Zahl überschuldeter Haushalte und deren Belastung durch Konsumentenkredite (Knies/Spieß 2003) lässt Rückschlüsse auf finanzielle Strategien zu, mit deren Hilfe versucht wird, Ungleichheiten in den Teilhabemöglichkeiten an der Warenwelt auszugleichen und einmal erreichte Wohlstandspositionen zu verteidigen. Verschuldung ist nicht nur das Resultat mangelnder finanzieller Kalkulationsfähigkeit, sondern immer häufer auch Statussicherungsstrategie. Die Tatsache, dass die Finanzierung des eigenen Lebens und dessen symbolische Ausgestaltung für mehr und mehr Haushalte auf tönernen Füßen steht (Bundesministerium 2001), ist eng mit der Herausbildung sozialer Verwundbarkeiten und prekärer Wohlstandslagen verknüpft. Die Belastung der Privathaushalte durch Konsumentenkreditverpflichtungen ist ein soziales und materielles Risiko eigener Qualität. Die Balance von Einkommensspielraum und Rückzahlungspflicht kann rasch aus dem Gleichgewicht geraten. Diese Störung des prekären Gleichgewichts ist häufig der Startpunkt sozialer und beruflicher Deklassierungsprozesse (vgl. Zimmermann 2000). Von zentraler Bedeutung für die Frage von Ab- und Aufstiegen, von neuen Gelegenheiten und Risiken, ist die staatliche Wohlfahrtsproduktion. Der Wohlfahrtsstaat befindet sich in einer tief greifenden finanziellen, politischen und auch normativen Steuerungskrise. Die Problematisierung und Diskussion von Staatsaufgaben währt bereits mehr als eine Dekade (Grimm 1994; Voigt 1992). Von einem Ende des Staates kann dennoch keine Rede sein. Die insbesondere von der Soziologie vorgetragenen These der ‚Entstaatlichung’ – sie war Leitmotiv und Thema des Leipziger Soziologiekongresses 2002 – ist offensichtlich falsch. Gerade die Interventionen des Staates in die Sphäre der Erwerbsarbeit waren noch nie so mannigfaltig wie heute. Wer hierfür Belege sucht, dem genügt ein kurzer Blick auf die aktuelle arbeitsmarkt- und sozialpolitische Debatte. Wenn Arbeitslose ihre Rücklagen aufbrauchen müssen, bevor sie staatliche Unterstützungsleistungen erhalten, wenn qualifizierte Facharbeiter von der Arbeitsagentur in die Leiharbeit gedrängt werden, wenn Familien vom Job-Mix im staatlich geförderten Niedriglohnsektor existieren, wenn darüber räsoniert wird, die Kriterien der Sozialauswahl in Betrieben abzuschaffen, wenn bei der Arbeitssuche der berufliche Bestandschutz aufgehoben ist, wenn nur noch kurzzeitig Arbeitslosen der Weg in weiterbildende und Arbeit schaffende Maßnahmen geöffnet wird, wenn das öffentliche Bewusstsein mehr und mehr von der Vorstellung beherrscht wird, dass jede Arbeit besser sei als keine Arbeit – dann sind wir nicht Zeugen eines Rückzugs des Staates, sondern sich grundlegend verändernder wohlfahrtsstaatlicher Ordnungsprinzipien. Die Ausweitung der Zone der Verwundbarkeit und des prekären Wohlstands ist eben nicht nur ökonomischen Sachgesetzlichkeiten geschuldet, sondern immer auch das Resultat politischer und rechtlicher Regulationsformen des Sozialen (Supiot 2000). Schließlich kann auch von einer verschärften Konfrontation ‚Staat’ versus ‚Markt’, die auf divergente soziale Ordnungsvorstellungen verweist, schwerlich die Rede sein. Es sind doch gerade staatliche Agenturen, die intensiv auf die Einführung von Marktprinzipien drängen – in allen Feldern wohlfahrtsstaatlicher Politik und insbesondere in der öffentlichen Verwaltung selbst (Mezger/West 2000). Die Ökonomisierung des Politischen (Pelizzari 2001) ist ein Projekt der Politik. Die sozialen Ordnungsvorstellungen staatlicher Politik wandeln sich auf grundlegende Art und Weise – ohne die „Staatsbedürftigkeit der Gesellschaft“ (vgl. Vogel 2007) in Frage zu stellen. Alles spricht dafür, dass dieser Wandel nicht ohne Folgen für die Gestalt des sozialen Strukturgefüges bleibt.
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3.
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Dimensionen sozialer Ungleichheit
Wenn von sozialer Verwundbarkeit oder prekärem Wohlstand die Rede ist, dann deutet das weder auf ein Verschwinden der Erwerbsarbeit hin, noch auf die Auflösung der Familie oder auf einen Rückzug des Staates als politischer Steuerungsinstanz. Beide Begriffe ermöglichen vielmehr die empirische Identifikation der gesellschaftlichen Orte, an denen soziale Stabilität und Kohäsion verloren gehen, und die die potentiellen Gefahren des Abstiegs oder der Deklassierung in sich tragen. Die Soziologie gesellschaftlicher Ungleichheiten muss ihr empirisches Augenmerk auf die wachsende Brüchigkeit sozialer Stellungen und Positionen, auf neuartige berufliche Gefährdungen, auf das Scheitern sicher geglaubter Karrieren, auf die Unmöglichkeit der Fortsetzung bestimmter sozialer Arrangements richten. Was ist dabei zu beachten? Im Zentrum der Bestandsaufnahme und der Analyse sozialer Verwundbarkeiten und prekären Wohlstands stehen vier Dimensionen: die prozessurale Dimension der sozialen Laufbahnen und Erwerbsbiographien; die relationale Dimension sozialer Abstände – zu Soziallagen der Armut auf der einen, zu Soziallagen des gesicherten Wohlstands auf der anderen Seite; die haushaltsbezogene Dimension der Lebensführung – im Mittelpunkt der Empirie der Verwundbarkeit und der Prekarität stehen gerade nicht individuelle Lebenslagen, sondern explizit Haushalte und Familien; und schließlich die subjektive Dimension der Erfahrungen und der gesellschaftsbezogenen Wahrnehmungsmuster und Selbstbilder. Zwar verfügen wir mittlerweile über empirische Studien zu prekären Beschäftigungsformen, beispielsweise zu sozialen Laufbahnen und Erfahrungen von Leiharbeitskräften und befristet Beschäftigten (Noller et al. 2005; Vogel 2004), über Familien in prekären Lebenslagen (Bien/Weidacher 2004), und über die allerorten sich ausbreitende soziale Unsicherheit einer „Gesellschaft mit begrenzter Haftung“ (Schultheis/Schulz 2005). Doch neben der Exploration prekärer Konstellationen ist auch eine weitere Systematisierung empirischer Daten und qualitativer Befunde dringend erforderlich, wenn die Diskussion nicht in den einfachen Strukturbildern des ‚Innen’ und ‚Außen’ oder in der begrifflichen Zuspitzung der ‚Überflüssigkeit’ verharren möchte. Empirische Fallstudien zu Alleinverdienerhaushalten, die ihr familiäres Budget und ihre Ressourcen in prekärer Balance zu halten versuchen, sind ebenso Mangelware wie Studien zu Mehrfachbeschäftigten, die mittels ‚Job-Mix’ ihr Auskommen bestreiten, oder zu Beschäftigten in Kleinbetrieben, die durch den Verzicht auf Lohn und Arbeitnehmerrechte den eigenen Arbeitsplatz zu stabilisieren versuchen, oder auch zu Angestellten im öffentlichen Dienst, die unter dem Druck von ‚benchmarking’ und ‚new public management’ stehen. In allen genannten Konstellationen liegen insbesondere mit Blick auf Fragen erwerbsbiographischer Erfahrung nur vorläufige empirische Kenntnisse vor. Durch die Entwicklung einer Empirie sozialer Verwundbarkeit und prekären Wohlstands könnte sich die soziologische Diskussion von der Debatte um Exklusion lösen und sich den komplizierten und wenig eindeutigen Fragen des sozialen Statuserhalts, der materiellen Wohlstandssicherung und der beruflichen Deklassierungsvermeidung zuwenden. Auf diese Weise treten neue, zeitdiagnostisch relevante Soziallagen, Erfahrungsmuster und Konfliktarenen in den Vordergrund gesellschaftswissenschaftlicher Forschung.
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4.
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Die politische Ordnung sozialer Ungleichheit
Wenn wir mit Blick auf die Mitte der Gesellschaft und die dort zu beobachtende Veränderung sozialer Ungleichheit über Verwundbarkeit und prekären Wohlstand diskutieren, dann geraten uns nicht nur neue empirische Fragen, sondern auch ein verändertes normatives Konzept der Sozialordnung in den Blick – der „neue Geist des Kapitalismus“, der in instruktiver Weise von den beiden französischen Soziologen Boltanski und Chiapello beschrieben wird (Boltanski/Chiapello 2003). Diesen ‚neuen Geist’ kennzeichnen die netzwerkartige und projektförmige Struktur des Arbeitslebens, die in allen Branchen wachsenden Anforderungen an die Eigenverantwortung der Beschäftigten und die allmähliche Verbetrieblichung des Familienlebens und der Haushaltsführung. Doch die Ressourcen, um diesem veränderten normativen Konzept der Sozialordnung gerecht werden zu können, sind sozial ungleich verteilt. Alles deutet im Moment freilich darauf hin, dass die neue Architektur wohlfahrtsstaatlichen Handelns soziale Ungleichheiten künftig eher verstärken denn mildern wird. Die neuen sozialen Ordnungsvorstellungen wohlfahrtsstaatlicher Politik haben sich von den normativen Konzepten des „sorgenden Staates“ (de Swaan 1993) gelöst. Mit dem ‚sorgenden’ Staat waren durchaus differenzierte und spannungsreiche Ordnungsbemühungen verknüpft. Diese Bemühungen richteten sich gleichermaßen auf die Minimierung sozialer Risiken, auf die Dämpfung sozialer Ungleichheiten, auf berufliche Statussicherung derjenigen, die sich eine bestimmte Position in der Arbeitswelt erkämpft hatten, und um die Bereitstellung qualifizierter und disziplinierter Arbeitskräfte. Dieses Modell expansiver und interventionsbereiter Wohlfahrtsstaatlichkeit prägte in den vergangenen Jahrzehnten die westeuropäischen Nachkriegsgesellschaften in konstitutiver Weise. Vor dem Hintergrund einer wachsenden Staatsverschuldung, einer brüchigen erwerbswirtschaftlichen Basis und anhaltender politischer wie auch normativer Legitimationskrisen verändert sich die Architektur des Wohlfahrtsstaates in grundlegender Weise. Wir sind aktuell Zeugen einer „Institutionenfortbildung“ (Schelsky) vom ‚sorgenden’ zum ‚gewährleistenden’ Wohlfahrtsstaat. Der ‚gewährleistende’ Wohlfahrtsstaat unterscheidet sich vom ‚sorgenden’ Wohlfahrtsstaat vor allen Dingen durch seine konsequente Preisgabe sozialer und beruflicher Statussicherung. Dieser Verzicht auf Statussicherung findet sich nicht nur im Bereich der Arbeitsmarktpolitik oder der sozialen Sicherung, sondern auch im Pflege- und Gesundheitsbereich oder in der Altersversorgung. Das Grundprinzip des ‚gewährleistenden Wohlfahrtsstaates’ ist die Bereitstellung einer institutionellen Grundausstattung sozialer Sicherungsleistungen sowie die Verfügbarkeit spezifischer öffentlicher Dienste und zentraler Element der technischen oder infrastrukturellen Daseinsvorsorge. Das Staatshandeln konzentriert sich weitgehend auf das Prinzip delegativer Gewährleistungsverantwortung. Den Bürgern werden Chancen ermöglicht, die zu nutzen allerdings ihre Aufgabe ist, und ihnen werden soziale Sicherheiten offeriert, zu deren Stabilität sie allerdings mehr und mehr Eigenleistungen erbringen müssen. Das gilt für den Bereich der Alterssicherung ebenso wie für die Gesundheitsvorsorge und den Sozialschutz im Krankheitsfall. Soziale Sicherung und öffentliche Dienste werden darüber hinaus zu einem Gutteil privatisiert. Ein geradezu paradigmatisches Feld des Modellwechsels von ‚sorgender’ zu ‚gewährleistender’ staatlicher Architektonik ist die allmähliche, aber konsequente Neuausrichtung des Arbeits- und Sozialrechts (Blanke 2004). Diese Abkehr von arbeits- und sozialrechtlichen Regularien der Statussicherung trifft die „arbeitnehmerische Mitte“ (Lepsius 1979) der Facharbeiter und Fachangestellten
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in besonders scharfer Weise. Der ‚gewährleistende’ Staat reduziert seine Sicherungsleistungen und seine Gestaltungskraft in der und für die Mittelschichten deutlich. Vor allen Dingen verstärkt er die Kontrollen an den Rändern der Arbeitsgesellschaft. Diejenigen, die aufgrund langwieriger Arbeitslosigkeit oder wegen schwieriger finanzieller Situationen auf staatliche Unterstützung angewiesen sind, bekommen von einem angeblichen Staatsrückzug nur wenig zu spüren. Es sein denn, der Staat wird alleine unter dem Aspekt des Finanzdienstleisters betrachtet. Die vom Arbeitsmarkt und aus dem Erwerbsleben ‚Exkludierten’ sehen sich mit neuen Formen eines sozialpolitischen Autoritarismus (Dahrendorf 2000: 1067) konfrontiert. Kurzum, die Architektur des Wohlfahrtsstaates verändert sich und mit ihr die Gestaltung von Staatsaufgaben und die politische Regulation der Gesellschaft. Für Castel liegt hier die zentrale Ursache und Triebfeder für eine Rückkehr der „Verwundbarkeit“. In historischer Perspektive, so Castel, lösten sich durch die Durchsetzung des Wohlfahrtsstaates als sozialem Ordnungsprinzip gemeinschaftliche Bindungen der Klasse, der Nachbarschaft oder der Familie auf und gingen in kollektiv-staatliche organisierte Sicherungen und Bindungen über. Die aktuelle Erosion dieser staatlichen Sicherungen und kollektiv garantierten Bindungen kann heute nicht in einer Art historischen Umkehr durch familiäre, nachbarschaftliche und klassenspezifische Gemeinschaften ersetzt werden (Castel 2000). Die Folge ist eine Expansion des „negativen Individualismus“, der von Castel in Begriffen des Mangels – „Mangel an Ansehen, Mangel an Sicherheit, Mangel an gesicherten Gütern und stabilen Beziehungen“ (Castel 2000: 401ff) – dekliniert wird. Die Erfahrung des „negativen Individualismus“ machen nun verstärkt auch diejenigen sozialen Schichten und Milieus, die (häufig als Aufsteiger) bislang vom Ausbau und Bestand staatlich geschützter und gestützter Wohlfahrtsproduktion profitiert haben.
5.
Ungleichheitsszenarien
Die Aufwärtsmobilität, die sich zum Markenzeichen wohlfahrtsstaatlicher formierter Gesellschaften in der europäischen Nachkriegsära entwickelte, ist deutlich ins Stocken geraten. Die stete Erwartung des Mehr schlägt um in die Angst vor dem Weniger. Das soziale Klima prägt die Erfahrung, dass es nicht mehr viel zu gewinnen, aber sehr viel zu verlieren gibt. Soziale Konflikte finden nicht mehr als Klassenkämpfe zwischen Kapitalbesitz und Arbeitskraftbesitz statt, sondern sie werden als Statuskämpfe um Anrechte auf Wohlstand und um Verpflichtungen zur Wohlstandssicherung ausgetragen. Das Zeitalter der kollektiven Aufstiegsperspektiven scheint vorüber zu sein. Abstiegsängste treten nun auf der gesellschaftlichen Bühne deutlicher hervor. Neue Felder gesellschaftlicher Ungleichheit formieren sich. Viele Zeichen deuten auf ein Szenario sozialer Ungleichheit hin, das durch folgende Entwicklungslinien gekennzeichnet ist: erstens durch die Verfestigung einer neuen Unterklasse der geringfügig Beschäftigten, der Jobnomaden, der Gelegenheitsarbeiter, der Niedriglöhner und der dauerhaft Arbeitslosen; zweitens durch die wachsenden sozialen Spannungen in der Mittelschicht. Die ‚arbeitnehmerische Mitte’ der Gesellschaft spaltet und differenziert sich in gesicherte und prekäre Wohlstandspositionen, und sieht sich mit sozialen und materiellen Ver-
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wundbarkeiten sowie mit beruflichen und statusbezogenen Unregelmäßigkeiten konfrontiert. Aufstiegsversprechen verlieren an Realität und Statusnervosität breitet sich aus; drittens durch die zunehmende Abkoppelung der Oberklassen, die auf die quantitative Ausdehnung und die qualitative Ausgestaltung des Wohlfahrtsstaats nicht (mehr) angewiesen sind, und die imstande sind, öffentliche Dienstleistungen auch privat einzukaufen. Von der Armut in den öffentlichen Kassen und den wachsenden Infrastrukturdefiziten bleiben sie aufgrund ihrer Finanzkraft unberührt. Die Zeichen der Zeit deuten auf eine Neuorientierung der soziologischen Ungleichheitsdebatte hin. Diese Neuorientierung gilt in zweifacher Hinsicht. Auf der einen Seite werden die Konturen sozialer Differenzen und Konflikte schärfer und präziser wahrgenommen. Auf der anderen Seite wird die soziale Ungleichheit, ihre Entwicklung und Struktur, nicht mehr nur von der Arbeitswelt, sondern auch von der staatlichen (und nichtstaatlichen) Wohlfahrtsproduktion her gedacht. Es ist offensichtlich, dass sowohl das Zwiebelmuster sozialer Schichtung als auch das Patchwork der Individualisierung für die Beschreibung der Ungleichheitsordnung ausgedient haben. Auch die scharf geschnittenen Strukturbilder der Exklusion und Inklusion, der Desintegration und Integration, der Ausgrenzung und Teilhabe wirken oftmals nur wie Hilfskonstruktionen. Alle diese Wege der Ungleichheitsdiagnostik gleichen in merkwürdiger Weise einem Nachhall aus den guten alten wohlfahrtsstaatlichen Zeiten sozialer Integration und Selektion. Die große Unterscheidung zwischen denen, die ‚drinnen’ sind, und denen die nolens volens ‚draußen’ bleiben müssen, erinnert an die prinzipielle Funktionstüchtigkeit der großen Integrationsmaschinen Arbeitsmarkt und Wohlfahrtsstaat. Doch die grundlegenden Veränderungen der arbeits- und sozialrechtlichen Verfassung der Arbeitswelt und der institutionell neu justierten wohlfahrtsstaatlichen Architektur lassen Zweifel berechtigt erscheinen, ob trotz aller Reparaturmühen diese ‚Maschinen’ jemals wieder anspringen. Diese Skepsis erfordert es, das Vokabular der Sozialstrukturanalyse zu überdenken. Die begrifflichen Vorschläge der ‚sozialen Verwundbarkeit’ und des ‚prekären Wohlstands’ sind in konzeptioneller und empirischer Hinsicht ein Schritt in diese Richtung.
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Alles prekär? Die Prekarisierungsdebatte auf dem soziologischen Prüfstand
Klaus Kraemer
Prekarität ist ein vieldeutiger Begriff, der sowohl in den Medien als auch in den Sozialwissenschaften unterschiedlich verwendet wird. In diesem Beitrag ist genauer zu klären, was gemeint ist, wenn von Prekarität die Rede ist. Was zeichnet Prekarität aus? Werden mit den Begriffen Prekarität und Armut ähnliche Phänomene beschrieben? Oder werden unterschiedliche Phänomene angesprochen? Was unterscheidet Prekarität von anderen Formen der sozialen Benachteiligung? Insbesondere ist zu fragen, wodurch Prekarität zu einer soziologischen Kategorie wird, die über eine rein sozialstatistische Bündelung von Merkmalen hinausgeht? Hierbei ist die Aufmerksamkeit auf die Frage zu richten, ob Prekarität quer zu den Strukturen sozialer Ungleichheit liegt. Kann man von einer sozialen Entgrenzung von Prekarisierungsrisiken sprechen, wie dies Bourdieu (1998) in dem kleinen Beitrag „Prekarität ist überall“ nahegelegt hat? Oder muss man von einer Wahrscheinlichkeitsverteilung von Prekarität entlang sozialer Lebenslagen ausgehen? Vor dem Hintergrund dieser begrifflichen und konzeptionellen Unklarheiten erscheint es ratsam, Prekarisierung stärker in Beziehung zu Strukturen sozialer Ungleichheit zu setzen und nicht hiervon abzukoppeln. Im Folgenden wird ein konzeptioneller Rahmen für die Analyse von Prekarität skizziert. Das Prekarisierungskonzept wird hierbei nicht nur – wie üblicherweise – auf die Analyse der Erwerbsarbeit und den Wandel der Arbeitsgesellschaft in einem engeren Sinne beschränkt. Zugleich wird die umfassendere Dimension der Lebenslage einbezogen, um Aussagen über die gegenwärtige Transformation der Sozialstruktur in modernen kapitalistischen Gesellschaften machen zu können. Im Einzelnen ist zu prüfen, inwieweit das in der Ungleichheitssoziologie und Sozialstrukturforschung entwickelte Konzept der Lebenslage für die Operationalisierung von Prekarität nutzbar gemacht werden kann. Im Zuge einer allgemeinen Kulturalisierung der Sozialstrukturanalyse seit den späten 1970er Jahren ist die Arbeitswelt aus dem soziologischen Beobachtungsfokus der Analyse von Strukturen sozialer Ungleichheit gerückt. So haben zahlreiche Autoren – exemplarisch sind Lüdtke (1989) und Schulze (1992) anzuführen – die These popularisiert, dass die sozioökonomischen Bedingungen keinen zentralen Beitrag zur Konstitution sozialstruktureller Ungleichheitsverhältnisse mehr leisten. Vielmehr seien ästhetisch-expressive Lebensstile konstitutiv für die subjektive Konstruktion sozial strukturierter Ungleichheiten geworden (ähnlich auch Hellmann 2006). Derartige Ansätze haben zwar die soziologische Aufmerksamkeit auf neue Erscheinungsformen von sozialer Ungleichheit gerichtet und damit die Ungleichheitsforschung um wichtige Dimensionen erweitert. Zugleich wurde allerdings die fortdauernde Wirkung ökonomischer Ungleichheiten auf das sozialstrukturelle Gefüge unterschätzt. Gegenüber diesen Lebensstilanalysen hat etwa Kreckel (2004) an die herausragende Bedeutung von Arbeitsmarktlagen für Ungleichheitsanalysen festgehalten. Mit der Prekarisierungsdebatte scheint sich nun wieder, so könnte man an Max Weber erinnern, die sozioökonomische Marktlage gegenüber quasi-ständischen Lagen bzw. ‚Lebensstilen’ und
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‚Milieus’ stärker in den Vordergrund der soziologischen Analyse zu schieben. Gerade Weber (1980: 539) hat darauf aufmerksam gemacht, dass marktvermittelte Erwerbsklassenlagen in Zeiten technisch-ökonomischer Umbrüche (wieder) an Bedeutung für soziale Stratifizierungsprozesse gewinnen, während ‚ständische’ Lagen und Vergemeinschaftungen an Einfluss verlieren, die nicht an der Marktlage, sondern am Prinzip der sozialen ‚Ehre’ ausgerichtet sind.
1.
Prekäre Erwerbsarbeit
Prekarität ist kein Begriff, mit dem ein beliebiger sozialer Wandel beschrieben wird. Vielmehr wird mit dem Begriff seit den wegweisenden Arbeiten von Robert Castel (2000; 2005) eine tiefgreifende Transformation gegenwärtiger Arbeitsgesellschaften diagnostiziert, die insbesondere durch die Rückkehr von Formen der Lohnarbeit (Rekommodifizierung) charakterisiert ist, von denen man unter den Bedingungen des fordistischen Kapitalismus und des rheinischen Wohlfahrtsstaates annahm, dass diese überwunden seien. Betrachtet man die Debatte genauer, dann fällt auf, dass von Prekarität gesprochen wird, um ein Beschäftigungsverhältnis zu charakterisieren, das bestimmte soziale und rechtliche Standards unterschreitet, die üblicherweise durch Arbeits- und Tarifrecht, Sozialpolitik und Sozialversicherung garantiert sind und als ‚normal’ angesehen werden (Mayer-Ahuja 2003). Prekär, so lautet die Argumentation, ist Erwerbsarbeit dann, wenn sonst übliche Sicherheitsgarantien und Rechtsansprüche nur eingeschränkt gültig sind oder diese überhaupt nicht gewährt werden. Prekarität zeigt sich in der negativen Abweichung von Normalitätsstandards der Erwerbsarbeit bzw. in der strukturellen Benachteiligung gegenüber Formen der Erwerbsarbeit, die sich an der Norm des klassischen, sozial abgesicherten „Normalarbeitsverhältnisses“ (Mückenberger 1985) orientieren. So betrachtet ist ein Arbeitsverhältnis dann prekär, wenn Beschäftigung und Einkommen auf längere Sicht ungewiss sind, soziale bzw. Arbeitnehmerrechte nur eingeschränkt gültig sind und der Wertigkeitsstatus der Arbeit fragil ist. Ein prekär Beschäftigter befindet sich damit in einer eigentümlichen sozialen Schwebelage (vgl. Kraemer/Speidel 2005; Kraemer 2007), in der die Hoffnung stets präsent ist, über den Umweg einer unsicheren Arbeitsstelle den Sprung in eine stabile Beschäftigung zu schaffen, zugleich aber auch die Sorge bzw. Angst verbreitet ist, sozial abzusteigen und sich dauerhaft in prekären Beschäftigungsverhältnissen einrichten zu müssen, falls die Rückkehr auf einen gesicherten Arbeitsplatz nicht gelingen sollte.
2. Beschäftigung vs. Arbeitstätigkeit An dieser Stelle ist eine weitere Differenzierung vorzunehmen, um belastbare Aussagen über Prekarität zu machen. Im Rahmen einer eigenen Untersuchung 1 über prekäre Beschäf1
Hierbei handelt es sich um das Forschungsprojekt Prekäre Beschäftigungsverhältnisse und soziale Desintegration, das dem BMBF-Forschungsverbund Desintegrationsprozesse – Stärkung von Integrationspotentialen einer modernen Gesellschaft zugeordnet war. Zu Methodik und Untersuchungsdesign siehe Dörre/Kraemer/ Speidel (2006).
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tigungsverhältnisse wurden zahlreiche IT-Spezialisten in der Finanzwirtschaft, Freelancer in der Werbebranche sowie Wissenschaftler im universitären Feld befragt, deren Beschäftigungsverhältnisse von den Normalitätsstandards dauerhafter, sozial geschützter Erwerbsstellen abweichen. Diese Befragten verfügen über keine ‚feste Stelle’ mit entsprechenden Entgeltregelungen, Kündigungsfristen und Sozialansprüchen, sondern sie sind im Rahmen von Werk-, Projekt- oder Kettenverträgen atypisch beschäftigt. Die Probanden geben an, dass sie über keine Planungssicherheit bezüglich ihres Arbeitsplatzes verfügen, da sie nicht wissen, bei welchem Arbeitgeber, in welcher Projektgruppe und in welcher Position sie in einigen Monaten beschäftigt sein werden. Trotz der Unstetigkeit ihrer Beschäftigungssituation wäre es jedoch kurzschlüssig, die Erwerbssituation der Befragten pauschal als prekär zu klassifizieren. Charakteristisch für die befragten IT-Spezialisten und Werbefachleute ist beispielsweise, dass sie sich in besonderer Weise mit den Inhalten und Produkten ihrer Arbeit sowie mit der Beruflichkeit und Professionalität ihrer Tätigkeit identifizieren. Trotz der unsicheren Rahmenbedingungen des Arbeitskontraktes verfügen die Befragten über relevante Autonomie- und Entscheidungsspielräume in der Arbeit, die ganz besonders wertgeschätzt werden. Hierin kommen ein ausgeprägtes fachlich-berufliches Selbstbewusstsein sowie hohe Ansprüche an die Professionalität der eigenen Arbeitstätigkeit zum Ausdruck. Um genauere Aussagen über die Prekarität einer Arbeitsstelle machen zu können, die derartige Besonderheiten berücksichtigt, sind deswegen auch zwei Ebenen analytisch voneinander zu unterscheiden: Auf der ersten Ebene ist die formale Struktur des Beschäftigungsverhältnisses zu betrachten, während auf der zweiten Ebene nach der konkreten Form der Arbeits- und Berufstätigkeit zu fragen ist. Unter der Struktur des Beschäftigungsverhältnisses ist der Arbeitskontrakt (z.B. befristet/unbefristet), das Erwerbseinkommen (z.B. stetig/unstetig), arbeitsrechtliche (Kündigungsschutz) sowie tarifliche und betriebliche Rahmenbedingungen (Sozialleistungen) der Erwerbsstelle zu fassen. Neben der Struktur des Beschäftigungsverhältnisses ist zugleich die konkrete Form der Arbeits- und Berufstätigkeit in den Blick zu nehmen. Hierbei geht es vor allem darum, sinnhaft-subjektbezogene und sozialkommunikative Dimensionen der konkreten Arbeitstätigkeit zu betrachten. Zu fragen ist, ob die Beschäftigten mit und in der Arbeit zufrieden sind, ob eigene Ansprüche an die Professionalität der Tätigkeit erfüllt werden können, ob die zeitlichen und sachlichen Arbeitsbedingungen mitgestaltet werden können, ob die Beschäftigten an betrieblichen Vergemeinschaftungen teilhaben oder Zugang zu beruflich-sozialen Netzwerken innerhalb und außerdem des Unternehmens haben. Wie am Beispiel der befragten hochqualifizierten IT-Experten und Freelancer in der Werbebranche aufgezeigt werden kann, ist jedenfalls kein einfacher kausaler Zusammenhang zwischen dem Prekaritätsgrad des Beschäftigungsverhältnisses und dem Ausmaß der Zufriedenheit in der Arbeit festzustellen. Umgekehrt verhält es sich bei befragten Fachverkäufern im Einzelhandel, die angeben, in hohem Maße mit der gegenwärtigen Arbeit unzufrieden zu sein, obwohl sie über eine dauerhafte und stabile Erwerbsstelle verfügen, die keinerlei Merkmale von Prekarität aufweist. Die beobachtete beruflich-soziale Unzufriedenheit ergibt sich in diesen Fällen aus dem Umstand, dass die qualifizierten Fachverkäufer im Unternehmen nicht mehr ausbildungsadäquat eingesetzt werden, sondern „in der Schnäppchenabteilung an der Kasse sitzen“ und dies als berufliche Dequalifizierung erfahren sowie als Entzug ihrer Anerkennung im Beruf bewerten. Diese Untersuchungsgruppe unterscheidet sich wiederum von befragten
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Leiharbeitern in der Automobilindustrie, deren Beschäftigungsverhältnisse die oben genannten Kriterien von Prekarität erfüllen. Zugleich haben sie alle qualitativen Ansprüche an die konkrete Arbeitstätigkeit zurückgestellt („Hauptsache Arbeit“) und bis auf weiteres suspendiert, um nach einer längeren Phase von Arbeitslosigkeit überhaupt wieder einen Arbeitsplatz zu haben. Eine prekäre Erwerbstelle erscheint ihnen als einzig verbliebene Exit-Option aus der Arbeitslosigkeit. Deswegen sind die befragten Leiharbeiter bereit, einer nicht ausbildungsadäquaten Tätigkeit nachzugehen, obwohl sie allesamt über eine qualifizierte Berufsausbildung verfügen und obendrein jahrelang im erlernten Beruf gearbeitet haben. In diesem Fall ist nicht nur das Beschäftigungsverhältnis, sondern auch die konkrete Arbeitstätigkeit als prekär zu bezeichnen.
3.
Prekäre Erwerbslage
Wie gesehen wird der Begriff Prekarität verwendet, um die Erosion sozial geschützter Beschäftigungsverhältnisse zu beschreiben. Es stellt sich jedoch die Frage, ob mit der Bewertung eines Beschäftigungsverhältnisses auch Rückschlüsse auf die allgemeine Erwerbslage eines Beschäftigten gemacht werden können. Sind Aussagen über Prekarisierungsrisiken im weiteren Erwerbsverlauf möglich, wenn der gegenwärtige Erwerbsstatus befristet ist, das Arbeitseinkommen nicht-existenzsichernd ist und auch sonst keine oder nur marginale Ansprüche gegenüber dem sozialen Sicherungssystem bestehen? Mit anderen Worten ist zu problematisieren: Kann eine Erwerbslage im Zeitverlauf als prekär bezeichnet werden, wenn die aktuelle Erwerbsstelle alle Merkmale von Prekarität aufweist? Um diese Frage zu beantworten, ist, ganz ähnlich wie in der soziologischen Armutsforschung (vgl. LudwigMayerhofer/Barlösius 2001), eine Dynamisierung bzw. Verzeitlichung der Analyse von Prekarität unumgänglich. Um Aussagen über die Prekarität einer Erwerbslage machen zu können, ist nämlich nicht nur das aktuelle Beschäftigungsverhältnis, sondern der Erwerbsverlauf in die Betrachtung einzubeziehen. Eine dynamische oder verzeitlichte Analyse von Prekarität richtet die Aufmerksamkeit darauf, ob eine als prekär klassifizierte Erwerbsstelle dauerhaft ausgeübt wird oder ob eine prekäre Erwerbsarbeit eine kurze, nicht wiederkehrende Episode im Verlauf der Berufsbiografie darstellt bzw. eine Passage in eine stabile Erwerbslage ist. Verfestigt sich eine prekäre Erwerbssequenz im Erwerbsverlauf, so dass Übergänge in stabile Beschäftigung schwieriger oder unwahrscheinlicher sind? Atypisch oder befristet Beschäftigte befinden sind keineswegs zwangsläufig in einer prekären Erwerbslage. Auch wenn ihre Erwerbsstelle den rechtlichen Standards eines regulären Beschäftigungsverhältnisses nicht entspricht, so können sie durchaus auf eine stabile und kontinuierliche Erwerbsbeteiligung zurückblicken. Dies ist immer dann der Fall, wenn Übergänge zwischen den Arbeitsstellen relativ reibungsarm gelingen, Phasen der Sucharbeitslosigkeit kurz sind oder ein häufiger Arbeitsplatzwechsel sogar förderlich für berufliche Karrierepfade ist. Beispielsweise konnte unter befragten hochqualifizierten ‚Freelancern’ in der IT-Industrie, im Bankenbereich und in der Werbewirtschaft eine stabile Erwerbsbeteiligung beobachtet werden, obwohl sie – aufgrund der Projektförmigkeit der Ar-
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beitsorganisation – die Arbeitsstelle oder den Arbeitgeber häufig wechseln. 2 Eine stabile Erwerbsbeteiligung muss nicht mit einem stabilen Beschäftigungsverhältnis identisch sein. Deswegen ist es auch alles andere als zwingend, atypisch Beschäftigte a priori als prekär zu klassifizieren (vgl. auch Betzelt 2006). Auch können umgekehrt reguläre und formal unbefristete Beschäftigungsverhältnisse viele Merkmale von Prekarität aufweisen. So konnte beispielsweise im Rahmen der soeben erwähnten Untersuchung festgestellt werden, dass die Beschäftigungsverhältnisse der von uns befragten Monteure in der ostdeutschen Bauwirtschaft formal betrachtet zwar nicht oder nur eingeschränkt die weiter oben skizzierten Kriterien von Prekarität erfüllen. Gleichwohl wird die Prekarität ihrer Erwerbslage informell hergestellt, etwa durch eine faktisch erzwungene regelmäßige Ableistung unbezahlter Überstunden, durch die systematische Vernachlässigung von Arbeitsschutzvorschriften oder durch die De-Institutionalisierung und Informalisierung der Entlohnung, etwa wenn nicht alle Lohnbestandteile ausgezahlt und stattdessen mit Fahrgeldansprüchen verrechnet werden. Diese Befunde deuten darauf hin, dass die Frage, ob eine Erwerbsbeteiligung im Erwerbsverlauf stabil oder instabil ist, erst dann beantwortet werden kann, wenn erstens die Höhe und Stetigkeit des Arbeitseinkommens betrachtet, zweitens die Dauer von Beschäftigungszeiten in den Blick genommen, drittens die Dauer des Bezugs von Lohnersatzleistungen berücksichtigt und viertens die Nähe oder Ferne der einzelnen Erwerbsstellen zum dauerhaft gesicherten ‚Normalarbeitsverhältnis’ analysiert werden (vgl. Bartelheimer 2006). Genauer ist zu fragen: Welche Erwerbssequenzen dominieren im Erwerbsverlauf? Wie sind Übergänge im Erwerbsverlauf zu bewerten, z.B. von einer zur nächsten Erwerbsstelle, von Arbeit zu Nicht-Arbeit, von Nicht-Arbeit zu Weiterbildung, von Familienarbeit zurück zu Erwerbsarbeit etc.? Verweisen diese Übergänge im Erwerbsverlauf auf Statuspassagen mit positivem oder negativem Neigungswinkel? Handelt es sich bei den einzelnen Stationen um berufliche Auf-, Ab- oder Wiedereinstiege? Bei einer nicht-isolierenden Betrachtung einzelner Stationen wird deutlich, dass weder Befristung gleich Befristung noch Arbeitslosigkeit gleich Arbeitslosigkeit ist. Es macht einen grundlegenden Unterschied, ob ein Arbeitsloser, wie etwa in Deutschland, Lohnersatzleistungen auf der Grundlage von Rechtsansprüchen (Arbeitslosengeld I) bezieht oder ob er nach dem Sozialgesetzbuch II hilfebedürftig ist und das sogenannte Arbeitslosengeld II erhält. Können in Phasen der Arbeitslosigkeit Weiterbildungsansprüche geltend gemacht werden, um die eigene ‚Beschäftigungsfähigkeit’ zu erhalten oder zu verbessern? Ist während der Arbeitslosigkeit die Ablehnung unterwertiger Erwerbsstellen und die Suche nach bildungsadäquater Beschäftigung noch möglich? Oder sind die individuellen Handlungsspielräume bereits so stark eingeschränkt, weil bedürftigkeitsgeprüfte Sozialleistungen in Anspruch genommen werden und staatliche Institutionen die Annahme jeder legalen Beschäftigung unter Androhung von Sanktionsmaßnahmen erzwingen können? Gelingt nach einer Arbeitslosigkeitsphase der Sprung zurück in eine angemessen entlohnte, stabile und
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Diese Befragung wurde im Rahmen des von Klaus Dörre geleiteten Forschungsprojektes Prekäre Beschäftigungsverhältnisse und soziale Desintegration durchgeführt (Dörre/Kraemer/Speidel 2006), das dem BMBFForschungsverbund Desintegrationsprozesse – Stärkung von Integrationspotentialen einer modernen Gesellschaft zugeordnet war.
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längerfristige Beschäftigung? Ist eine prekäre Erwerbsstelle also nur ein temporäres Phänomen im Erwerbsverlauf oder ist sie zur neuen Normalität, zum Dauerzustand geworden? Um bestimmte Ereignisse im Erwerbsverlauf wie Befristungen, Werkverträge, Arbeitslosigkeit, Weiterbildung etc. bewerten zu können, ist die Qualität und Dauer jener Erwerbssequenzen zu analysieren, die an vorangegangene Sequenzen (z.B. Arbeitslosigkeit) anschließen. Erst wenn die einzelnen Stationen der Erwerbsbiografie nicht isoliert, sondern im Zusammenhang betrachtet werden, können Aussagen über den Neigungswinkel der Erwerbsbiografie und damit über die Nähe oder Ferne eines Erwerbsverlaufs zu wohlstandsnahen und armutsnahen Erwerbslagen gemacht werden. Erst dann kann auch die Frage beantwortet werden, ob Prekarität im Erwerbsverlauf ein transitorisches Problem ist, das von vorübergehender Bedeutung ist oder ob sich Prekarität dauerhaft verfestigt. Anzunehmen ist, dass Dauer und Intensität von Prekarität in wohlstandsnahen Lagen tendenziell begrenzt, während sie in armutsnahen Lagen tendenziell entgrenzt sind. Diese Differenzierung wird allerdings erst sichtbar, wenn Erwerbsverläufe rekonstruiert und Erwerbslagen im Zeitverlauf analysiert werden.
4.
Prekäre Lebenslage
Im vorangegangenen Abschnitt ist begründet worden, warum der aktuelle Erwerbsstatus für sich betrachtet kaum ausreicht, um belastbare Aussagen über Prekarisierungsrisiken zu machen. Deswegen ist der Erwerbsverlauf einbezogen und dafür plädiert worden, die „Marktlage“ (Weber) einer Erwerbsperson nicht isoliert zu betrachten, sondern sie erwerbsbiografisch einzuordnen und die einzelnen Erwerbsstationen in Beziehung zueinander zu setzen. Diese soziale Kontextualisierung der Prekarisierungsproblematik würde allerdings auf halbem Wege stehen bleiben, wenn lediglich individuelle Erwerbsverläufe berücksichtigt werden. Deswegen ist eine weitere Differenzierung von Prekarität vorzunehmen. Neben der sozialen Flugbahn des Erwerbsverlaufs einer Person ist zudem der Haushaltskontext in die Betrachtung einzubeziehen, wenn Aussagen über prekäre Lebenslagen gemacht werden sollen. Einerseits können prekäre Erwerbslagen im Haushalt aufgefangen und gewissermaßen entproblematisiert werden, wenn andere zuverlässige Erwerbseinkommen oder zusätzliche Einkommensquellen vorhanden sind, die die längerfristige Planbarkeit des eigenen Lebensentwurfs ermöglichen. Andererseits kann sich eine Person in einer stabilen und sozial abgesicherten Erwerbslage befinden, die auch im Zeitverlauf keinerlei Merkmale von Prekarität aufweist, und trotzdem aufgrund der Haushaltsstruktur in eine prekäre Lebenslage geraten. Von einer Kumulation der Prekarität auf der Ebene der Lebenslage kann dann gesprochen werden, wenn sowohl die aktuelle Arbeitsstelle als auch der bisherige Erwerbsverlauf prekär im obigen Sinne ist und diese Prekarität aufgrund des Haushaltskontextes eher noch verstärkt als abgemildert wird. In diesem Zusammenhang ist auf eine Untersuchung von Andreß/Seeck (2007) hinzuweisen, in der auf der Grundlage der Daten des Sozioökonomischen Panels (SOEP) aus den Jahren 1991 bis 2004 festgestellt werden konnte, dass ein kleiner, aber zunehmender Teil der unbefristet Vollzeitbeschäftigten sich allein vom Nettolohn kaum finanzieren kann (unter 700,56 €: Westdeutschland: 2,5 %, Ostdeutschland: 8,2 %; alle Angaben für 2004). Bemerkenswerterweise wird diese Quote nicht
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geringer, sondern größer, wenn der Haushaltskontext dieser Vollzeitbeschäftigten, also der jeweilige Einkommensbedarf, aber auch die zusätzlichen Einkommen weiterer Haushaltsmitglieder berücksichtigt werden (Westdeutschland: 8,3 %, Ostdeutschland 18,1 %). In diesen Fällen kann eine unzureichende individuelle Existenzsicherung durch unbefristete Vollzeiterwerbstätigkeit auch nicht mehr durch den gesamten Einkommenspool des Haushalts aufgefangen werden. Wie Andreß/Seeck nachweisen können, wird diese Einkommenslücke durch staatliche Transferleistungen nur teilweise ausgeglichen. Abb. 1: Was ist prekär?
Erwerbsstelle
Erwerbsbiografie
Lebenslage
Prekärer Erwerbsverlauf
Prekäre Wohlstands -lage
Prekärer Job
Temporalisierung
Kontextualisierung
Quelle: Eigene Darstellung
Diese Befunde sollten jedoch nicht zu vorschnellen Schlussfolgerungen verleiten. So kann eine prekäre Erwerbslage nicht pauschal mit einer prekären Lebenslage gleichgesetzt werden. Nicht jede Erwerbsperson, die prekär beschäftigt ist oder auf eine prekäre Berufsbiografie zurückschaut, lebt auch in prekärem Wohlstand. Unbestritten ist, dass beispielsweise eine geringfügige Beschäftigung auf 400 €-Basis nicht zur eigenständigen Bestreitung des Lebensunterhalts ausreicht. Auch sind die üblicherweise an reguläre Dauer- und Vollzeitbeschäftigung gekoppelten Rechtsansprüche wie Kündigungsschutz, Abfindungsregelungen oder Anwartschaften für Altersrenten nicht gegeben. Alle weiter oben angeführten Kriterien prekärer Arbeit sind erfüllt. Und doch wäre es ein Fehlschluss, von der Prekarität der Erwerbsstelle auf die Wohlstandslage der betreffenden Person zu schließen. Gerade im Falle von sogenannten Mini-Jobs auf 400 €-Basis wird das prekäre Potential der Erwerbsstelle immer dann eingehegt, wenn durch die geringfügige Beschäftigung ein Zusatzeinkommen zum Haushaltseinkommen erzielt wird (‚Hinzuverdienst’) und die betreffende Person an-
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sonsten, etwa über risikoabsorbierende Haushaltsstrukturen bzw. stabile Partnerbeziehung abgesichert ist. Im Falle von Arbeitslosigkeit, Scheidung, Trennung oder Tod des Partners können sich allerdings abrupt die Lebensumstände ändern. Dann wird das schlummernde prekäre Potential buchstäblich über Nacht geweckt und die vormals erwünschte geringfügige Beschäftigung kann leicht zu einer Armutsfalle werden. Ganz ähnlich sind auch zahlreiche Arbeitsverhältnisse auf Teilzeitbasis zu bewerten. Umgekehrt ist es aber auch möglich, dass eine Erwerbsperson erst durch den Haushaltskontext in eine prekäre Lebenslage gerät, obwohl weder die aktuelle Erwerbsstelle noch der bisherige Erwerbsverlauf als prekär bezeichnet werden kann (vgl. Strengmann-Kuhn 2001). In diesem Falle wird Prekarität weder durch eine Erosion von sozialen Standards des aktuellen Beschäftigungsverhältnisses noch durch einen nach unten gerichteten Neigungswinkel der beruflichen Biografie hervorgerufen, sondern dadurch, dass infolge von Arbeitslosigkeit des Lebenspartners ein zusätzliches Arbeitseinkommen im Privathaushalt weggefallen ist oder mehrere nichterwerbsfähige Personen, wie insbesondere minderjährige Kinder, versorgt werden müssen.
5.
‚Gefühlte Prekarisierung’ oder zum Verhältnis von Position und Sichtweise
Eingangs ist Prekarität auf der Ebene der Erwerbsstelle bestimmt worden. Hierbei konnte gezeigt werden, dass weitere Differenzierungen unverzichtbar sind, um Aussagen über die Prekarität von Erwerbsverläufen und Lebenslagen machen zu können (vgl. Abb.1). Bei aller Differenzierung ist diesen Begriffsbestimmungen jedoch gemeinsam, dass das Phänomen von Prekarität oder Prekarisierung als objektive Benachteiligung gefasst wird, also im Sinne einer negativen statistischen Abweichung von einem Normalstandard. Im ersten Fall werden soziale und rechtliche Standards eines regulären Arbeitsverhältnisses unterschritten, im zweiten Fall ist der Erwerbsverlauf von wiederkehrenden Beschäftigungsunsicherheiten gekennzeichnet und im dritten Fall wird vom durchschnittlichen sozioökonomischen Absicherungsniveau eines Haushalts dauerhaft negativ abgewichen. Der Prekarisierungsbegriff würde jedoch zu kurz greifen, wenn er lediglich auf ein objektiv messbares, erhöhtes Risiko instabiler und ungeschützter Erwerbsstellen, Erwerbsverläufe oder Lebenslagen Bezug nimmt. Es gibt keine Erwerbsarbeit, die aufgrund spezifischer Merkmale oder Eigenschaften an und für sich prekär ist. Erwerbsarbeit ist nicht allein schon deshalb prekär, weil sie so ist wie sie ist, sondern weil sie in Relation zu anderen Beschäftigungsformen als prekär bewertet wird. Prekarität ist das Ergebnis sozialer Zuschreibungen und Klassifikationen auf der Basis eines normativen Vergleichsmaßstabs. Der Referenzmaßstab für Prekarität ist – auf der Untersuchungsebene der Erwerbsstelle – das sogenannte Normalarbeitsverhältnis, das üblicherweise mit dem Attribut ‚regulär’ umschrieben wird und das mit bestimmten generalisierten Erwartungsmustern verbunden ist. Diese Normalitätserwartungen beziehen sich auf die Stabilität und Stetigkeit von Erwerbsverläufen, auf soziale Sicherheit durch kontinuierliche Erwerbsarbeit, auf die längerfristige Planbarkeit der individuellen Existenz und auf einen spezifischen Arbeitnehmerstatus, der sich unter den historischen Bedingungen des Fordismus herausbilden konnte. Das klassische Normalarbeitsverhältnis ist – besser: war –
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gewissermaßen mit einem Schutzversprechen verbunden. Es fungierte im rheinischen Wohlfahrtskapitalismus als Leitnorm für Arbeits- und Sozialgesetzgebung, für Steuerrecht und Tarifparteien. Und es prägte die gesellschaftlichen Vorstellungen von ‚normaler’ und ‚guter’ Arbeit. Dass es zugleich männlich dominiert (‚Ernährer’) und auf der traditionellen geschlechtlichen, familiären Arbeitsverteilung im Haushalt (Hausfrauenehe, steuerrechtliche Privilegierung des Allein- oder Hauptverdienermodells, Ehegattensplitting) beruhte, sollte nicht vernachlässigt werden. Was ist nun ‚gefühlte Prekarisierung’? Von ‚gefühlter Prekarisierung’ kann dann gesprochen werden, wenn die mit regulärer Beschäftigung verbundenen normativen Sicherheitserwartungen enttäuscht werden und das Schutzversprechen des Normalarbeitsverhältnisses erodiert; und zwar unabhängig davon, ob nach objektivierbaren Kriterien die aktuelle Erwerbsstelle oder der bisherige Erwerbsverlauf gefährdet ist oder nicht. So konnte in der bereits oben erwähnten Untersuchung (vgl. Anm. 1) unter Stammbelegschaften in der Automobilindustrie immer wieder die Sorge angetroffen werden, die eigene, bisher als sicher wahrgenommene Beschäftigung könne in einem wachsenden Umfeld prekärer Arbeitsstellen an Stabilität und Sicherheit einbüßen, obwohl dies aufgrund der eigenen Beschäftigungslage und der starken Marktstellung des Unternehmens eher unwahrscheinlich ist. Genauer betrachtet speist sich die ‚gefühlte Prekarisierung’ aus unterschiedlichen Erfahrungen, die nicht nur in der Arbeitswelt, sondern auch im sozialen Nahbereich gemacht werden und eine tiefgreifende Transformation von Erwartungssicherheiten anzeigen. Die bisherigen sozialen Erwartungssicherheiten beruhten auf dem Versprechen des alten rheinischen Sozialmodells, dass alle an der wirtschaftlichen Entwicklung, am technologischen Fortschritt und am gesellschaftlichen Wohlstand teilhaben können, solange man regulärer Erwerbsarbeit nachgeht oder zumindest im Falle von erzwungener Arbeitslosigkeit bereit ist, legale Erwerbsarbeit anzunehmen, die der eigenen beruflichen Qualifikation entspricht. Mit der Erosion des Sozialmodells werden zugleich die hieran gekoppelten Erwartungssicherheiten enttäuscht. Dies betrifft insbesondere die Erwartungen, dass reguläre Erwerbsarbeit ein hinreichender Garant für dauerhafte soziale Existenzsicherung sei (Kraemer 2006). Derartige Enttäuschungen schaffen einen Nährboden für eine Mentalitätslage, die mit dem Begriff der ‚gefühlten Prekarisierung’ umschrieben werden soll. Diese Mentalitätslage ist zuweilen diffus und nicht trennscharf von anderen sozialen Wahrnehmungsmustern in sozialen Umbruchsituationen unterscheidbar. Ein wesentliches Charakteristikum der gefühlten Prekarisierung besteht jedoch darin, dass die Zunahme diskontinuierlicher Erwerbsverläufe und Lebensbiografien als „Rückkehr der Unsicherheit“ (Castel 2005) bis weit in mittlere soziale Lagen hinein wahrgenommen und als Bedrohung des einmal erreichten sozialen Lebensstandards bewertet wird. Gefühlte Prekarisierung wird durch den Umstand genährt, dass dauerhafte, auf die soziale Stellung im Erwerbssystem bezogene Statusgewissheiten nicht mehr selbstverständlich sind. Erwerbsbiografien verlaufen insbesondere gerade beim Übergang vom Bildungssystem in den Arbeitsmarkt weniger geradlinig. Der Übertritt in ein stabiles Beschäftigungsverhältnis dauert länger und Umwege über Werkverträge und Befristungen sind häufiger in Kauf zu nehmen. Weiter oben ist bereits darauf hingewiesen worden, dass sogar eine reguläre, unbefristete Vollzeitbeschäftigung nicht zwingend vor einer prekären Lebenslage oder sogar vor dem Abrutschen in Armut (working poor) schützen muss. Bezeichnend ist in diesem Zusammenhang, dass insbesondere in jüngeren Geburtskohorten sowie unter Hoch-
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qualifizierten diskontinuierliche Erwerbsverläufe zugenommen haben und berufliche Karrierepfade weniger planbar geworden sind (vgl. Blossfeld/Klijzing/Mills/Kurz 2005; Blossfeld 2006). Erwartungssicherheiten in die Stabilität der eigenen Erwerbsstelle werden zudem in dem Maße untergraben wie betriebliche Senioritätsregeln durch Benchmarking oder Cost Containment ersetzt, Bewährungsaufstiege im Unternehmen durch Near- und Outsourcing buchstäblich über Nacht zur Disposition gestellt und wohlerworbene betriebliche Sozialansprüche durch externe Marktschocks oder gesteigerte Renditeerwartungen der shareholder entwertet werden können. Hinzu kommt, dass beruflich-soziale Verunsicherungen nicht nur durch Entscheidungen in den Unternehmen oder durch Ereignisse auf den Märkten begünstigt werden, sondern zugleich auch dadurch, dass wohlfahrtsstaatliche Arrangements zur Disposition gestellt werden. Dadurch werden bislang gültige, auf die Zukunft gerichtete biografische Statussicherheiten und materielle Teilhabeversprechen (welfare) ungewiss oder an restriktivere institutionelle Bedingungen (enabling state) und Normerwartungen (workfare, employability) geknüpft (vgl. Hall/Soskice 2001; Lessenich 2003; Esping-Andersen 2004; Crouch 2005; Streeck/Thelen 2005). Weiter oben ist darauf hingewiesen worden, dass Prekarisierungsängste gerade auch unter Beschäftigten beobachtet werden können, deren Erwerbsstelle weder akut gefährdet ist noch deren Erwerbsbiografie droht, brüchig zu werden. Bereits Georg Simmel hat in der Abhandlung „Der Arme“ aufzeigen können, dass sich die Wahrnehmung der eigenen sozialen Lage als ‚arm’ nicht an statistischen Durchschnittsdaten oder objektivierbaren Chancenverteilungen orientiert, sondern an schichtspezifischen Erwartungshorizonten und damit an den Möglichkeiten des sozialen Nachbars. Dort formuliert er: „Vielmehr jedes allgemeine Milieu und jede besondere soziale Schicht besitzt typische Bedürfnisse, denen nicht genügen zu können Armut bedeutet. Daher ist es für alle entwickeltere Kultur banale Tatsache, daß Personen, die innerhalb ihrer Klasse arm sind, es innerhalb einer tieferen keineswegs wären, weil zu den für die letztere typischen Zwecken ihre Mittel zulangen würden.“ Und weiter heißt es, dass „die Armut sich innerhalb jeder sozialen Schicht zeigt, die einen Standard typischer (…) Bedürfnisse ausgebildet hat“ (Simmel 1992: 548f).
Aus diesem Grunde kann das jeweilige Armutsempfinden auch von offiziellen Armutsdefinitionen abweichen, woraus zu folgern ist, dass „Arm sein“ nur aus dem sozialen Selbstverständnis der jeweiligen Gruppe und dem „sozialen Apriori, das von Stand zu Stand wechselt“ (ebd.), eruiert werden kann. Dies gilt umso mehr für die Prekarisierungsproblematik, zumal Prekarität eine Schwebelage zwischen Wohlstands- und Armutslagen darstellt und deswegen auch vor allem ein transitorisches Phänomen ist. Wenn man Simmels Überlegungen zu einem relativen Armutsbegriff auf diese Problematik überträgt, dann kann geschlussfolgert werden, dass Prekarisierungsängste (Sichtweise/Wahrnehmung) nur bedingt auf die Prekarität der objektiven Erwerbslage (Position) zurückgeführt werden können. Selbst wenn die Position einer Erwerbslage nicht den weiter oben ausgeführten Kriterien von Prekarität entspricht, so kann die eigene Erwerbslage gleichwohl als gefährdet bewertet werden. Dies ist dann der Fall, wenn Erwerbspersonen spezifische Arbeitsplatzsicherheiten und Einkommenschancen nicht mehr antreffen, die innerhalb derselben Berufs- oder Beschäftigtenkategorie bislang gültig waren. Die gefühlte Prekarisierung dieser Erwerbspersonen gibt jedoch keinen Aufschluss darüber, ob die aktuellen sozialen Standards ihres Beschäftigungsverhältnisses auch tatsächlich unterhalb des
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durchschnittlichen Levels aller anderen Beschäftigungsgruppen gesunken sind. Hieraus ist zu schlussfolgern: Es gibt keine einfache Kausalität zwischen Position (Erwerbslage) und Sichtweise (Wahrnehmung). Beruflich-soziale Unsicherheiten werden aufgrund einer spezifischen Wahrnehmung und Bewertung der sozialen Umbrüche von Arbeit und Beschäftigung artikuliert, die sich im Umfeld des eigenen, bislang als sicher wahrgenommenen Arbeitsplatzes abspielen. Sie können sind jedoch nicht als direkter Ausfluss der eigenen Erwerbslage interpretiert werden.
6.
Ausblick
Abschließend sind vier Aspekte hervorzuheben, die für eine soziologische Analyse von Prekarisierungsprozessen besonders bedeutsam erscheinen: (1) In der Prekarisierungsbedatte werden zuweilen die Begriffe Prekarität und Armut synonym verwendet. Bei genauerer Betrachtung werden jedoch erhebliche Differenzen sichtbar. Der grundlegendste Unterschied besteht darin, dass mit dem Begriff Prekarität soziale Schwebelagen zwischen Wohlfahrt und Armut beschrieben werden sollen. Prekarität ist nicht mit Armut identisch. Zwar sind im Falle einer prekären Lage soziale Schutzmechanismen brüchig geworden. Von einem weitgehenden Schwund dieser Schutzmechanismen oder sogar von sozialer Ausgrenzung – wie dies etwa mit der Rede vom ‚abgehängten Prekariat’ unterstellt wird – kann hingegen nicht gesprochen werden. Personen in prekären Lagen sind Armutslagen nicht schutzlos ausgeliefert. Sie befinden sich vielmehr in einer transitorischen Zwischenlage, von der aus ein weiterer sozialer Abstieg zweifelsohne möglich sein kann. Zugleich ist aber auch in zahlreichen Fällen die – mühsame – Wiedererlangung einer schon einmal eingenommenen (relativen) Wohlfahrtsposition durchaus wahrscheinlich. Diese buchstäbliche soziale Unentschiedenheit macht die Prekarität einer sozialen Lage aus – und damit ihren sozialen Abstand sowohl zu Wohlstand als auch zu Armut. Übertragen auf die Einkommensdimension folgt beispielsweise hieraus, dass die Armutsschwelle bei 60 % des durchschnittlichen Haushaltsäquivalenzeinkommens zu veranschlagen ist, hingegen aber die Wohlfahrtsschwelle bei über 100 %. Zwischen der Armuts- und Wohlfahrtsschwelle wären dann prekäre Einkommenslagen anzusiedeln (vgl. auch GrohSamberg 2004). (2) So wie das Verhältnis von Prekarität und Armut bislang kaum geklärt ist, so verhält es sich auch bei der Frage nach der Sozialstruktur der Prekarität. Die unzureichende sozialstrukturelle Erdung kann darauf zurückgeführt werden, dass Prekarisierung bislang ein zeitdiagnostischer Begriff zur Charakterisierung der sozialen Umbrüche der Arbeitsgesellschaft geblieben ist. In diesem Beitrag ist dafür plädiert worden, das Prekarisierungskonzept aus dem relativ engen Korsett der Arbeitssoziologie herauszulösen und es für weiterreichende Transformationsprozesse der Sozialstruktur zu nutzen, um den Wandel ungleicher Chancenverteilungen auch über den Horizont der Arbeitsgesellschaft hinaus in den Blick zu nehmen. Hierbei ist es unverzichtbar, den Prekarisierungsbegriff für die Analyse von Erwerbsverläufen und Lebenslagen fruchtbar zu machen und ihn damit für die allgemeine Sozialstrukturanalyse zu erschließen. Drei Kriterien sind bei der Analyse von Prekarität im sozialstrukturellen Gefüge unverzichtbar: Erstens ist Prekarität mehrdimensional zu analysieren. Auf der Individualebene bildet die Analyse der Erwerbslage sicherlich den
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Ausgangspunkt, während auf der Mesoebene der private Haushalt die zentrale Untersuchungsebene darstellt (Mehrdimensionalität). Zweitens verweist bereits der Begriff ‚Prekarisierung’ auf die Notwendigkeit einer dynamischen Sichtweise, die sich nicht in einer einfachen Dichotomisierung nach dem Muster drinnen/draußen erschöpft, sondern die Aufmerksamkeit auf abgestufte Lagen, Übergänge, Bewegungen und ‚Flugbahnen’ richtet. Prekarisierung ist kein Zustand, sondern ein sozialer Prozess der Gefährdung von stabilen Erwerbs- und Wohlfahrtslagen (Dynamisierung). Und drittens sind kaum zuverlässige Aussagen über das Ausmaß von Prekarisierung möglich, wenn der Haushaltskontext beispielsweise von prekär Beschäftigten nicht systematisch berücksichtigt wird. (Kontextualisierung). In den Blick zu nehmen ist die umfassendere Dimension der Lebenslage in diachroner (Erwerbsverlauf) und synchroner (Haushaltskontext) Hinsicht. Die Analyse der aktuellen Markt- bzw. Erwerbslage eines Individuums ist um die Analyse des Erwerbsverlaufs und die der Lebenslage zu ergänzen. In Analogie zur Armutsforschung wäre hierfür ein multidimensionales Konzept zu entwickeln, das die Analyse von Arbeit und Nicht-Arbeit einschließt und nach kumulierter Prekarität fragt. Die Erweiterung der Forschungsperspektive sollte zugleich darauf abzielen, nicht nur – im Sinne des Ressourcenansatzes – die Prekarität von Versorgungslagen (inputs) zu untersuchen, sondern gerade aus dem Blickwinkel des Erwerbsverlaufs und des Haushaltskontextes vorhandene bzw. verbliebene Handlungsspielräume (outcomes) auszuloten. (3) Konzepte der Sozialstrukturanalyse sind heranzuziehen, um die Frage zu überprüfen, ob Prekarisierung im Sinne einer positionalen, objektiven Prekarität buchstäblich überall anzutreffen und unabhängig von den Strukturen sozialer Ungleichheit verteilt ist. Zahlreiche empirische Studien haben eine signifikante Häufung von Prekarisierungsrisiken in bestimmten Alterskohorten, Berufs-, Bildungsgruppen und erwerbsbiografischen Phasen nachweisen können. So gelingt Gut- und Höherqualifizierten der Übergang von Befristung zu Unbefristung häufiger und rascher als Geringqualifizierten, ethnischen Minderheiten oder Personen mit niedriger Stellung innerhalb der betrieblichen Arbeitsorganisation (vgl. exemplarisch Giesecke/Groß 2002). Auffallend ist auch, dass die Befristungswahrscheinlichkeit von Erwerbsstellen beim Übergang vom Bildungssystem in den Arbeitsmarkt (Berufseinsteiger), nach längeren Arbeitslosigkeitsphasen oder bei der Rückkehr in Erwerbsarbeit nach der Betreuungsphase von Kindern (Frauen) überdurchschnittlich hoch ist. Überhaupt gilt: Multiple, dauerhafte, armutsnahe Prekarität ist häufiger in unterprivilegierten Berufsklassen – im Sinne des EGP-Klassenschemata – anzutreffen (Groh-Samberg 2004), während temporäre, wohlstandsnahe Prekarität besonders in mittleren Berufsklassen verbreitet ist. Auch ist die gefühlte Prekarisierung, etwa im Hinblick auf Arbeitsplatzunsicherheiten, nicht sozial indifferent auf alle Lagen verteilt. Ganz in diesem Sinne können beispielsweise auch die empirischen Befunde der subjektiven Wohlfahrtsforschung gedeutet werden, die eine signifikante Streuung der subjektiven Wahrnehmungen über das „bisher im Leben Erreichte“, über den angemessenen Lebensstandard in Deutschland und dessen gerechte Verteilung zwischen den einzelnen sozialen Lagen belegen (StBA 2006: 590). (4) Die soziopolitische Brisanz von Prekarisierungsprozessen wird allerdings nicht nur innerhalb, sondern gerade auch außerhalb der „Zone der Prekarität“ sichtbar, wenn nicht nur positionale Merkmale der Erwerbs- und Lebenslage (‚erlebte Prekarisierung’) berücksichtigt, sondern zugleich beruflich-soziale Verunsicherungen (‚gefühlte Prekarisierung’) in die Betrachtung einbezogen werden. Gefühlte Prekarisierung, so lautet die abschließende
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Klaus Kraemer
These, ist nicht so sehr an den prekären Rändern der Arbeitsgesellschaft anzutreffen, sondern in ihrer Mitte. Mit anderen Worten ist die gefühlte Prekarisierung vornehmlich in Mittelklassenlagen anzutreffen, hingegen aber die erlebte Prekarisierung in unterprivilegierten Arbeitsmarktlagen. Die erlebte Prekarisierung sagt allerdings wenig über ihre Skandalisierbarkeit im öffentlichen Repräsentationsraum aus (vgl. Barlösius 2005). Dies gilt umso mehr, wenn man bedenkt, dass die sozialen Träger von Skandalisierungstechniken eher in den mittleren Soziallagen beheimatet sind.
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Alles Prekär? Die Prekarisierungsdebatte auf dem soziologischen Prüfstand
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„Teufelskreis oder Glücksspirale?“ 1 Ungleiche Bewältigung unsicherer Beschäftigung Claudia Rademacher/Philipp Ramos Lobato
Ein Gespenst geht um in Europa, das Politik und Wissenschaft in Atem hält. Sein Name: Prekarität. Was als Debatte um Arbeitslosigkeit, Exklusion und Unterschicht begann, ist inzwischen ins Zentrum der politischen Kontroversen gerückt. Zum Auslöser der aktuellen Debatte in Deutschland wurde eine Infratest-Studie (vgl. Müller-Hilmer 2006), die unabweisbare Belege für eine Rückkehr sozialer Unsicherheit in die Mitte der bundesdeutschen Gesellschaft präsentierte. ‚Abgehängtes Prekariat’, ‚Prekäre Generation’ oder ‚Homo precarius’ sind dabei nur einige der journalistischen Zuspitzungen, mit denen auch Wochenund Tageszeitungen die neuen Arbeits- und Lebensbedingungen in Deutschland beschreiben. Der Kern des Skandals, den diese und andere Studien zutage förderten, besteht darin, dass die registrierte Arbeitslosigkeit, die bislang im Fokus der öffentlichen Aufmerksamkeit stand, nur die Spitze des Eisbergs in der aktuellen Beschäftigungskrise darstellt. Weit dramatischer stellt sich die Situation dar, wenn man die große Zahl derjenigen berücksichtigt, die in ‚geringfügigen’ oder ‚ungeschützten’ Beschäftigungsverhältnissen stehen: Teilzeitarbeiter, befristet Angestellte, Leiharbeiter, Scheinselbstständige, Mini-Jobber etc. Als Tendenz zeichnet sich ab: Die Grenzen zwischen Arbeit und Nichtarbeit werden fließend. Das den ‚fordistischen’ Kapitalismus kennzeichnende System der lebenslangen Ganztagsarbeit wird immer stärker überlagert und unterhöhlt durch ein „System der flexiblen, pluralen, individualisierten Unterbeschäftigung“, wie Ulrich Beck (1986: 152) schon vor mehr als zwei Jahrzehnten registrierte. ‚Prekarität’ meint dabei wesentlich mehr als ‚neue Armut’, Niedriglohnsektoren und Teilsegmente des Arbeitsmarktes. ‚Prekarität’ meint vielmehr die prinzipielle und fundamentale Verunsicherung aller Lebens- und Arbeitsbereiche bis weit in die Mitte der Gesellschaft hinein. Die ‚soziale Frage’, so scheint es, ist in die westlichen Wohlstandsgesellschaften zurückgekehrt (vgl. Castel 2005) und erstreckt sich von deren Rändern zunehmend in die Mittelklassen. Die Zeiten, in denen ein von regulärer Erwerbsarbeit ausgeschlossenes Drittel der Bevölkerung einer Mehrheit an gut bezahlten und relativ sicher beschäftigten ArbeitnehmerInnen gegenüberstand, scheinen vorbei zu sein. In der post-fordistisch transformierten Gegenwartsgesellschaft expandiert zwischen diesen beiden ehemals klar voneinander getrennten Bereichen vielmehr eine soziale Übergangszone der Unsicherheit und Gefährdung. Diese sozialstrukturellen Verschiebungen spiegeln sich in dem Zonenmodell Robert Castels (2000: 359), das zwischen drei arbeitsweltlichen Bereichen – der „Zone der Integration“, der „Verwundbarkeit“ und der „Entkopplung“ – unterscheidet. Während die „Zone der Integration“ für gesicherten Wohlstand und stabile Beschäftigung steht, markiert die „Zone der Entkopplung“ das gesellschaftliche Abseits, die Zone der überflüssig gewordenen Langzeitarbeitslosen. Zwischen diesen beiden Polen breitet sich mit der „Zone der
1
Vgl. Vester 2006: 245
„Teufelskreis oder Glücksspirale?“ Ungleiche Bewältigung unsicherer Beschäftigung
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Verwundbarkeit“ – häufig auch als „Zone der Prekarität“ (vgl. Dörre et al. 2006) bezeichnet – ein Bereich mit unsicheren Beschäftigungsverhältnissen aus. Castels Modell offenbart daher die „Kristallisationskerne“ der neuerlich gestellten sozialen Frage: Deren Spezifikum besteht zu Beginn des 21. Jahrhunderts darin, dass sie sich nicht allein auf die sozialen Randlagen beschränkt, sondern dass auch Teile der sozialen Mittelklassen in ihrer Stabilität bedroht oder bereits in unbeständigen, diskontinuierlichen, das heißt prekären Arbeitsverhältnissen beschäftigt sind. Der Prekaritätsbegriff ist – so scheint es – für die Analyse der sozialstrukturellen Verschiebungen und der sich daraus ergebenden Konflikt- und Integrationspotenziale bestens geeignet, erlaubt er es doch, wie Klautke/Oehrlein (2007) hervorheben, mit der ‚Angst vor sozialem Abstieg’, der Verstetigung prekärer Arbeits- und Lebensverhältnisse und dem vollständigen Ausschluss von regulärer Erwerbsarbeit empirisch unterscheidbare ‚Aggregatzustände von Prekarität’ zu fassen. Der Begriff Prekarität – ursprünglich aus dem französischen Sprachraum stammend (vgl. Barbier 2004, 2007) – hat u.E. ein beachtliches zeitdiagnostisches und analytisches Potenzial. Er gilt daher auch als ein treffliches Beispiel dafür, „wie gesellschaftliche Transformations- und theoretische Reflexionsprozesse etablierte Theoriegebäude in Bedrängnis bringen können.“ (Damitz 2007: 67) Spätestens die Debatte um die Prekarisierung der sozialen Mitte hat eine breite Diskussion der Prekaritäts-Konzepte in den wissenschaftlichen und gewerkschaftlich-poli-tischen Debatten bewirkt. Und dies vor allem deshalb, weil diese Konzepte die Ursachen der arbeitsgesellschaftlichen Veränderungen sowie deren gesamtgesellschaftliche Folgen aufzeigen und dadurch einen entscheidenden zeitdiagnostischen Beitrag leisten; neben den sozialstrukturellen empirischen Rahmenbedingungen auch den Anspruch erheben, die Praxis der sozialen AkteurInnen zu berücksichtigen und damit auch eine handlungstheoretische Forschungsperspektive einholen; mit dem Vermittlungsversuch von Struktur und Praxis auf sozial- und arbeitsmarktpolitische Defizite aufmerksam machen sowie erste Lösungsmöglichkeiten (Flexicurity, neue Gewerkschaftskonzepte, Bildungs- und Berufskonzepte, Mindestlohn, BürgerInnengeld, „Klassenprojekte ‚von unten’“) anbieten (vgl. Pelizzari in diesem Band). Gerade durch die Fokussierung der analytischen Blickrichtung auf die unterschiedlichen ‚Aggregatzustände von Prekarität’ und die ebenso differenzierten Bewältigungs- und Bearbeitungsformen der sozialen Akteure scheint der Prekaritätsbegriff anderen gegenwärtig viel diskutierten Konzepten – wie etwa dem der ‚Exklusion’ (vgl. dazu Reuter in diesem Band) überlegen zu sein. Um die Dynamik und Brisanz des Prekarisierungsprozesses analytisch zu erfassen, ist es, wie in den Debatten um ‚Prekarität’ zu Recht hervorgehoben wird, unumgänglich, neben den strukturellen Verschiebungen auch deren Auswirkungen auf der Mikroebene der sozialen AkteurInnen in den Blick zu nehmen. Erst wenn man weiß, wie die sozialen AkteurInnen die sozialen Veränderungen wahrnehmen und mit welchen Bewältigungsformen sie (re-)agieren, lässt sich u.E. das zeitdiagnostische Potenzial der Rückkehr der sozialen Frage andeuten.
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Claudia Rademacher/Philipp Ramos Lobato
Der in den gängigen Prekaritätskonzeptionen (vgl. Kap. 2.1/2.2) erhobene Anspruch einer Vermittlungsleistung zwischen Struktur und Praxis wird jedoch nicht hinreichend eingelöst. Im Gegenteil, so unsere These: Indem Struktur und Praxis miteinander ‚kurzgeschlossen’ werden, wird die Komplexität und Mehrdimensionalität sozialer Ungleichheit verkannt und die Zunahme symbolischer Gewalt nicht thematisiert. Aufgrund dieses ‚Kurzschlusses’ kann die in der Diskussion um Prekarität angesprochene Verschärfung sozialer Ungleichheit nicht systematisch expliziert werden. Eine mögliche Gefahr dieses theoretisch-analytischen Defizits sehen wir darin, dass die AutorInnen – gegen ihre Intention – an einer Perspektivverschiebung mitwirken, in deren Folge soziale Ungleichheit mehr als eine Frage individueller Risiken und Fehlentscheidungen und weniger als Ausdruck gesellschaftlicher Herrschaftsverhältnisse thematisiert wird. Durch eine solche Verschiebung des Verursacherprinzips leisten die AutorInnen mancher Prekaritätsanalysen ungewollt alltagsweltlichen Deutungsmustern von ‚Teufelskreis’ und ‚Glücksspirale’ Vorschub. Um die angesprochenen ‚blinden Flecke’ zu umgehen, ist aus unserer Sicht die Beantwortung folgender Fragen, die auf das Verhältnis von Struktur und Praxis zielen, entscheidend: (1) (2) (3) (4) (5)
Welche Formen der Unsicherheitsbewältigung nutzen die sozialen AkteurInnen? Lassen sich spezifische Bearbeitungs- und Bewältigungsmuster identifizieren, die sich an Milieu- und Klassenstrukturen rückbinden lassen? Tragen diese zur Verfestigung oder Verbesserung der Lage bei? Worin liegen die Ursachen einer unterschiedlichen Be- und Verarbeitung von Unsicherheiten? Lassen sich typische GewinnerInnen- und VerliererInnenprofile ausmachen?
Unter Rückgriff auf Pierre Bourdieus (1998, 2001) praxeologischen Ansatz und Michael Vesters et al. (2001) Milieuanalysen wollen wir aufzeigen, dass die soziale Welt eben nicht den Maßgaben eines Glücksspiels – Konkurrenz und Chancengleichheit – folgt. Die soziale Welt und damit auch die Art und Weise, wie Menschen „‚objektive’ Lebenslagen ‚subjektiv’ verarbeiten und in spezifische Muster der Alltagspraxis überführen“ (Bremer/LangeVester 2006: 12), gestaltet sich komplexer als es Prekaritätsanalysen (oft) nahe legen (vgl. Vester 2004: 141ff). Für eine differenzierte Analyse bietet sich neben den Arbeiten Bourdieus zur Kapital-, Habitus- und Feldtheorie vor allem das Milieukonzept von Michael Vester an. Dessen analytisch-theoretische und empirische Stärke besteht gerade darin, dass es die sozialstrukturellen Rahmenbedingungen mit den individuellen und milieuspezifischen (Bildungs-)Praktiken verknüpft. In einem ersten Schritt widmen wir uns zunächst dem Ausmaß und der jüngeren Entwicklung atypischer Beschäftigungsformen in Deutschland und erläutern einige zentrale Risikofaktoren, die mit diesen Erwerbsformen verbunden sind. Diese arbeitsweltlichen Veränderungen bilden den Hintergrund für die auch in Deutschland kontrovers geführte Prekaritätsdebatte. Ziel des ersten Kapitels ist es daher, zentrale Argumente und Positionen dieser Debatte zu erläutern und dabei auf analytische Engführungen und notwendige Erweiterungen zu verweisen. Eine entscheidende Weiterentwicklung der zunächst auf objektive Faktoren konzentrierten Prekaritätsanalysen besteht u.E. in der Berücksichtigung subjektiver Wahrnehmungs- und Bewältigungsmuster in avancierten Ansätzen, mit denen wir uns im zweiten Kapitel beschäftigen. Im dritten Kapitel stellen wir ein theoretisches Instrumentarium vor, das – unter Rekurs auf den praxeologischen Ansatz Pierre Bourdieus – von der
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Gleichzeitigkeit von Struktur und Praxis ausgeht und damit die Dichotomien von Struktur und Praxis, Individuum und Gesellschaft, Subjektivismus und Objektivismus etc. hinter sich lässt. Der Gewinn eines solchen Ansatzes für die vorliegende Thematik besteht darin, dass er die ‚objektiven’ Bedingungsfaktoren prekärer Beschäftigung ebenso ernst nimmt wie die ‚subjektiven’ Wahrnehmungs- und Bewältigungsmuster, ohne in die Fallen eines strukturvergessenen Voluntarismus oder strukturellen Determinismus zu tappen.
1.
Prekarisierung der Erwerbsarbeit?
Die Pluralisierung der Erwerbsformen gilt als ein entscheidender Indikator für die weit reichenden Transformationen der Erwerbsgesellschaft. Die unbefristete, sozial abgesicherte und tariflich entlohnte Vollzeittätigkeit – von Mückenberger (1985, 1989) als „Normalarbeitsverhältnis“ bezeichnet – ist im Begriff, ihre hegemoniale Stellung einzubüßen. Seit Mitte der 1980er Jahre nimmt deren Anteil an allen Beschäftigungsverhältnissen stetig ab, während im gleichen Zeitraum eine Vielfalt anderer, von den zentralen Kriterien des Normalarbeitsverhältnisses abweichender Erwerbsformen an Bedeutung gewonnen haben. Zu diesen sog. atypischen Beschäftigungsverhältnissen zählen insbesondere Teilzeit- und Leiharbeit sowie befristete und geringfügige Arbeitsverhältnisse. Eine entscheidende Ursache für den Bedeutungsgewinn atypischer Beschäftigung findet sich in der schrittweisen Neujustierung der arbeitsmarkt- und beschäftigungspolitischen Gesetzgebung in Deutschland. Während der Gesetzgeber bis in die 1970er Jahre hinein versucht hatte, atypische Beschäftigungsformen zurückzudrängen oder sie den Rahmenbedingungen des Normalarbeitsverhältnisses anzupassen, kann seit Mitte der 1980er Jahre die zunehmende „Abkehr vom rechtspolitischen Leitbild des Normalarbeitsverhältnisses“ (Matthies et al. 1994: 179) beobachtet werden. Diese politische Neuausrichtung ist eng mit der anhaltenden Kritik an der Überregulierung und mangelnden Flexibilität des deutschen Arbeitsmarktes verbunden (vgl. Hoffman/Walwei 1998: 410). Es sind insbesondere die unflexiblen Arbeitmarktbedingungen, die wiederholt dafür verantwortlich gemacht werden, dass die Arbeitslosigkeit seit den 1970er Jahren sukzessive zugenommen hat. Unter der Überschrift „Mehr Flexibilität herstellen“ forderte daher etwa der Sachverständigenrat (2002: 259), die „Rigiditäten des deutschen Arbeitsmarktes in zentralen Punkten abzubauen.“ Nur die Überwindung der „Starrheiten des Systems“ kann aus seiner Perspektive dazu beitragen, die Arbeitslosigkeit in Deutschland deutlich zu senken und gleichzeitig eine flexiblere Anpassung der Betriebe und Unternehmen an die sich rasch ändernden Marktbedingungen zu ermöglichen. Konkret forderte der Sachverständigenrat mehr Arbeitszeit-, Lohn- und Beschäftigungsflexibilität (vgl. ebd.). Vor dem Hintergrund dieser Kritik wurden bereits während der Amtszeit der konservativ-liberalen Regierung Kohl die rechtlichen Möglichkeiten für den Einsatz von atypischen Beschäftigungsverhältnissen erweitert und bestehende Restriktionen zunehmend gelockert. Beispiele dafür sind etwa die Verlängerung der Überlassungsdauer von Leiharbeitern oder die Erweiterung des Befristungszeitraumes auf bis zu 24 Monaten (vgl. Rudolph 2005: 109 u. 115). Während die rot-grüne Koalition unmittelbar nach dem Regierungswechsel 1998 ihr Wahlversprechen umsetzte und einige Deregulierungsmaßnahmen der Regierung Kohl rückgängig machte, setzte sie während der zweiten Legislaturperiode die Deregulierungspolitik ihrer Vorgänger – vor allem mit Hilfe der vier Gesetze für moderne Dienstleistungen
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Claudia Rademacher/Philipp Ramos Lobato
am Arbeitsmarkt („Hartz I-IV“) – weiter fort (vgl. Andreß/Seeck 2007: 463; Rose 2003: 119f). Ein Beispiel dieser politischen Kehrtwende ist die Neuregelung der Minijobs, die trotz ihrer problematischen Strukturelemente seit 2003 aktiv gefördert wurden. Die (sozialen) Folgen dieser Verschiebung werden dabei höchst unterschiedlich bewertet. Einerseits wird die Förderung atypischer Beschäftigung als willkommene Flexibilisierungsmaßnahme begrüßt, die den Weg zu mehr Beschäftigung ebnen soll. Andererseits wird diese Entwicklung durchaus kritisch beurteilt, sind mit der Ausbreitung atypischer Beschäftigungsverhältnisse doch auch weit reichende Gefährdungen für die betroffenen ArbeitnehmerInnen verbunden. So wird atypische Erwerbsarbeit in der Regel schlechter entlohnt, die Einbindung in die Systeme sozialer Sicherung ist meist defizitär und die Beschäftigungsstabilität lediglich gering (vgl. Keller/Seifert 2007: 20ff). Neben diesen objektiven Risikofaktoren sind atypisch Beschäftigte – wie qualitative Befunde zeigen – zudem mit einer Reihe von subjektiven Unwägbarkeiten und Belastungen konfrontiert. Eine blockierte Lebensplanung, Abstiegsängste oder Anerkennungsdefizite sind nur einige der zahlreichen Facetten subjektiver Unsicherheitserfahrungen (vgl. Kraemer/Speidel 2004).
1.1
Atypische oder prekäre Beschäftigung?
Die Bezeichnung ‚atypische Beschäftigung’ stellt eine negativ gefasste Sammelkategorie der Erwerbsformen dar, die in zentralen Aspekten nicht der analytischen Referenzgröße des Normalarbeitsverhältnisses entsprechen (vgl. Keller/Seifert 2007: 12). Dessen empirisch beschreibbarer Kern wird in der Regel mit Hilfe der folgenden fünf Kriterien abgegrenzt (vgl. Bartelheimer 2005: 107):
abhängige Beschäftigung; Vollzeittätigkeit bzw. existenzsicherendes Einkommen; unbefristetes Beschäftigungsverhältnis; Sozialversichungsschutz; kollektivvertraglicher Schutz.
Von diesem Kriterienkatalog ausgehend, lassen sich dann Teilzeit- und Leiharbeit, befristete und geringfügige Beschäftigung, aber auch Vollzeiterwerbstätigkeit im Niedriglohnsektor als „Kernformen“ (Keller/Seifert 2007: 12) atypischer Erwerbsarbeit ausmachen. Trotz ihres gemeinsamen Merkmals, nicht den Kriterien des Normalarbeitsverhältnisses zu entsprechen, unterscheiden sich die einzelnen Varianten atypischer Erwerbsarbeit z.T. jedoch erheblich voneinander. So variieren sie nicht nur in ihrem quantitativen Ausmaß oder ihrem betrieblichen Flexibilisierungsbeitrag, auch ihre Sicherheitsdefizite sind unterschiedlich stark ausgeprägt. 2 Zu den häufigsten atypischen Beschäftigungsformen in Deutschland zählen Teilzeitbeschäftigung und geringfügige Erwerbsverhältnisse. Die ausschließlich geringfügigen Beschäftigungsverhältnisse liegen mit 18,2% an allen sozialversichungspflichtigen Beschäf2
An dieser Stelle kann keine vollständige Übersicht über die Entwicklung atypischer Erwerbsarbeit in Deutschland gegeben werden. Wir beschränken uns daher auf einige wenige Hinweise. Einen detaillierteren Überblick leisten dagegen die Artikel von Keller/Seifert 2005, 2007.
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tigten dabei noch vor den Teilzeitbeschäftigten mit 17,7% (vgl. BA 2008: Tab.1). 3 Beide Beschäftigungsverhältnisse weisen dabei eine starke geschlechtsspezifische Asymmetrie auf: Der weitaus größte Teil aller Teilzeitbeschäftigten (83,7%; vgl. BA 2008: Tab.3) und der ausschließlich geringfügig Beschäftigten (67,5%; vgl. BA 2008: Tab.1) in Deutschland sind Frauen. Die Leih- oder Zeitarbeit gehört mit 2,4% (Dez. 2006) 4 an der Beschäftigungsquote zur seltensten atypischen Beschäftigungsform in Deutschland, weist jedoch die weitaus höchsten Zuwachsraten auf. Seit 1995 wuchs der Zeitarbeitssektor im Jahresdurchschnitt um etwa 10% (vgl. Antoni/Jahn 2006). Die befristeten Beschäftigungsverhältnisse lagen 2003 mit 7% in West- und 9,1% in Ostdeutschland im Mittelfeld der atypischen Beschäftigungsquote (vgl. Rudolph 2005: 110). Die Betrachtung der altersspezifischen Befristungsquote macht jedoch deutlich, dass die befristete Beschäftigung dennoch eine ernst zu nehmende Größenordnung darstellt: In der Altersgruppe bis 25 Jahre lag der Anteil der befristeten Erwerbsverhältnisse immerhin bei 22,1% (vgl. ebd.: 111). Angesichts dieser Zahlen stellt sich die Frage, wie angemessen der Begriff der Atypie noch ist. Als Gegenbegriff zum Normal- oder Normarbeitsverhältnis bezeichnet er nicht nur eine Abweichung von der rechtlich institutionalisierten Norm, sondern er suggeriert gleichzeitig, dass es sich bei diesen Beschäftigungsverhältnissen lediglich um eine Ausnahme vom (statistischen) Regelfall handelt. Greift man bestimmte Gruppen von Erwerbstätigen heraus, wird das skizzierte Problem offenkundig: Wenn 33,1% aller sozialversichungspflichtig tätigen Frauen einer Teilzeitbeschäftigung nachgehen, kann dies nur schwerlich als Ausnahmefall gewertet werden. Keller/Seifert (2005: 134) bezeichnen Teilzeitarbeit daher auch als „‚Normalarbeitszeit’“ der weiblichen Erwerbsbevölkerung. Der Begriff der Atypie suggeriert also nicht allein die quantitative Randständigkeit solcher Erwerbsformen, sondern unterschlägt ebenfalls, dass ein sozial abgesichertes und ausreichend entlohntes Arbeitsverhältnis vorwiegend der männlichen Erwerbsbevölkerung vorbehalten war und nach wie vor noch ist (vgl. Nickel/Hüning in diesem Band). Atypische Beschäftigung ist für den weiblichen Teil der Erwerbsbevölkerung daher weder ein neues Phänomen noch eine Ausnahme, sondern der Regelfall (vgl. Ludwig/Mennel 2005). Die verschiedenen Varianten atypischer Erwerbsarbeit sind durch nicht unerhebliche Sicherheitsrisiken entlang der Dimensionen Einkommen, Integration in die soziale Sicherung, Beschäftigungsstabilität und -fähigkeit gekennzeichnet. Tabelle 1, entnommen bei Keller/Seifert (2007: 23) soll diesen Sachverhalt zusammenfassen. Hier wird deutlich, dass alle aufgeführten Formen atypischer Beschäftigung Sicherheitsdefizite aufweisen. Hinsichtlich des Einkommens sind die größten Gefährdungen bei ausschließlich ausgeübter geringfügiger Beschäftigung sowie bei Teilzeittätigkeiten mit geringem Stundenvolumen zu erwarten. Bei der sozialen Sicherung sind es wiederum die geringfügigen Beschäftigungsverhältnisse, die die größten Risiken bergen. Die geringste Beschäftigungsstabilität weisen dagegen ex definitione die befristeten Beschäftigungsverhältnisse auf. Neuere Untersuchungen (vgl. Brehmer/Seifert 2007: 33) konnten diese Vermutung auch empirisch stützen. Hinzu kommt, dass ausnahmslos alle hier untersuchten atypischen Erwerbsformen hinsicht3 4
Anteil der Teilzeitbeschäftigung (4.773.168) und der ausschließlich geringfügig entlohnten Beschäftigung (4.881.535) im Juni 2007 an allen sozialversichungspflichtig Beschäftigten (26.854.566) in Deutschland (vgl. BA 2008: Tab 1). Der Angabe liegt die Zahl der im Dezember 2006 überlassenen Leiharbeitnehmer (631.076) und ihr Anteil an allen sozialversichungspflichtigen Beschäftigten (26.636.361) im Dezember 2006 zugrunde (vgl. BA 2007: Tab.5; BA 2008: Tab.1).
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lich der Beschäftigungsfähigkeit gegenüber ‚normaler’ Erwerbsarbeit benachteiligt sind. Zudem gilt es zu berücksichtigen, dass die Kumulation von atypischen Merkmalen das Sicherheitsrisiko drastisch erhöhen kann (vgl. Keller/Seifert 2007: 21). Tab. 1: Atypische Beschäftigung und Prekarität Einkommen
Integration soziale Sicherung Beschäftigungsstabilität
Beschäftigungsfähigkeit
Teilzeit - formal anteilig, faktisch niedriger - Stundenvolumen - Stundenlöhne - anteilig
Geringfügigkeit - faktische Benachteiligung - Haupt- vs. Nebentätigkeit - minimal
- gegeben
- gering
- geringer als bei NAV
- sehr gering
Befristet - abhängig vom Abschluss - geringer als bei NAV - abhängig vom Abschluss - ex definitione gering - Anschluss möglich - geringer als bei NAV
Leiharbeit - geringer als bei NAV
- gegeben - niedriger als bei NAV
- geringer als bei NAV
Quelle: Keller/Seifert 2007: 23
Für die Beurteilung der zu erwartenden Folgen für die materielle, rechtliche und soziale Absicherung atypisch Beschäftigter wäre es jedoch unzureichend, ausschließlich die rechtlichen Rahmenbedingungen des jeweiligen Arbeitsverhältnisses zu betrachten (vgl. Klammer/Leiber 2007: 189). Es fehlt nach wie vor an eindeutigen Kriterien, die es erlauben ‚eher sichere’ von ‚eher unsicheren’ oder – übersetzt in eine geläufigere Terminologie – atypische von prekären Beschäftigungsverhältnissen zweifelsfrei zu unterscheiden. Für drei der hier verwendeten Dimensionen (Einkommen, Beschäftigungsstabilität und -fähigkeit) können zwar eindeutige Schwellenwerte festgelegt werden (vgl. Brehmer/Seifert 2007), die einzelnen Dimensionen jedoch nicht zu einem gemeinsamen Unsicherheits- oder Prekaritätsindex verrechnet werden (vgl. Keller/Seifert 2007: 21). Erschwerend kommt hinzu, dass die verwendeten Indikatoren nur erste Anhaltspunkte für die Einschätzung der sozialen Risiken eines atypischen Beschäftigungsverhältnisses darstellen. Mit Blick auf die Bewertung der Einkommenshöhe und des Niveaus sozialer Sicherung etwa ist es u.a. notwendig, auch den Haushaltskontext des Beschäftigten, die Ausübungsdauer des atypischen Beschäftigungsverhältnisses sowie die erwerbsbiographische Phase zu berücksichtigen, während der einer solchen Erwerbstätigkeit nachgegangen wird. Die Analyse und Bewertung des Sicherheitsrisikos atypischer Beschäftigung – so verdeutlichen bereits diese knappen Ausführungen – sind mit einigen Schwierigkeiten konfrontiert. Ihren Ausdruck findet diese Problematik nicht zuletzt in der wissenschaftlichen Kontroverse um die adäquate Bezeichnung derartiger Beschäftigungsverhältnisse. Deren Leitfrage könnte daher auch lauten: ‚Atypische oder prekäre Beschäftigung?’ Wie der Begriff der atypischen Beschäftigung wird auch der Zusatz prekär verwendet, um den Abstand zu den konstitutiven Kriterien des Normalarbeitsverhältnisses und damit zugleich die Unterschreitung dessen Sicherheitsstandards zu bezeichnen. Beide Ausdrücke werden daher keinesfalls „substantialistisch“ (Kraemer 2006: 662), sondern ausschließlich relational, d.h. nur in Bezug zu den gängigen Normalitätsstandards abhängiger Erwerbsar-
„Teufelskreis oder Glücksspirale?“ Ungleiche Bewältigung unsicherer Beschäftigung
125
beit verwendet. Als prekär gilt eine Beschäftigung nach dieser grundlegenden Definition daher dann, wenn ansonsten gängige Sicherheitsstandards verwehrt oder lediglich eingeschränkt gewährt werden. Eine ‚prekäre’ Beschäftigung, so scheint es, ist demnach eine Sonderform atypischer Erwerbsformen, mit denen sie die entscheidenden strukturellen Merkmale teilt. „Prekäre Arbeit ist Teil des ‚atypischen’ Beschäftigungssektors“ heißt es bei Mayer-Ahuja (2003: 15) und auch Kraemer (2006: 665) bestätigt: „Prekäre Erwerbsarbeit ist in einem weiten Spektrum atypischer Beschäftigungsformen anzutreffen“. Wenn beide Erwerbsformen wesentliche strukturelle Merkmale teilen, aber dennoch nicht identisch sind, worin besteht dann die qualitative Differenz zwischen einer atypischen und einer prekären Beschäftigung? Mit den im Prekaritätsdiskurs verbreiteten Definitionen kann diese Frage u.E. nicht hinreichend beantwortet werden. Dies hat seinen Grund darin, dass die gängigen, in der Forschungsliteratur verbreiteten Definitionsvarianten versuchen, den entscheidenden Unterschied zwischen ‚atypischer’ und ‚prekärer Beschäftigung’ ausschließlich anhand der formalen Struktur des jeweiligen Beschäftigungsverhältnisses zu bestimmen. Damit fallen diese Bestimmungsversuche jedoch hinter die oben bereits benannten Einsichten zurück. Selbst bei Autoren, die sich vorwiegend um eine „differenzierte sozial- und beschäftigungspolitische Betrachtung und Bewertung“ (Keller/Seifert 2007: 11) atypischer Beschäftigungsverhältnisse bemühen, gehört es zum ‚common sense’, dass neben der formalen Beschäftigungsstruktur auch die „allgemeinen Lebensbedingungen“ (ebd.) sowie „die Erwerbsbiographie in ihrer kurz- und langfristigen Perspektive“ (ebd.) nicht vernachlässigt werden dürfen. Zielführend scheint uns die von Kraemer (in diesem Band; vgl. auch Dörre et al. 2006) vorgeschlagene Definitionsvariante zu sein: Prekarität kann seiner Ansicht nach nicht auf Erwerbsarbeit im engeren Sinne begrenzt gedacht, sondern muss vielmehr als Wechselwirkung von Erwerbs- und Lebenslage konzipiert werden. Nicht jede atypische Beschäftigung kann dann umstandslos als prekär bezeichnet werden, auch wenn sie stets – so Kraemers Argumentation – ein strukturell angelegtes prekäres Potenzial (vgl. auch Mayer-Ahuja 2003: 51) in sich birgt. Vielmehr ist es nötig, von der Ebene individueller Beschäftigungsund Einkommenssituationen auf die Haushaltsebene zu wechseln. Erst wenn diese systematisch mit berücksichtigt wird, kann das Ausmaß sozialer Unsicherheit hinreichend beurteilt werden. Zu Recht weisen Dörre et al. (2006: 11) daher darauf hin, dass nur am Einzelfall empirisch überprüft werden kann, wann und unter welchen Umständen das prekäre Potenzial einer atypischen Beschäftigung wirksam wird. Kurzum: Die materiellen, rechtlichen und sozialen Rahmenbedingungen machen nur einen Aspekt der Beschäftigungs- und Lebenssituation atypisch Erwerbstätiger aus und müssen daher nicht notwendigerweise eine prekäre Existenz oder Lebenslage zur Folge haben. 5
1.2
Prekäre Einkommens- und Lebenslagen
Seit Mitte der 1990er Jahre wird der vormals auf Erwerbsarbeit im engeren Sinne beschränkte Prekaritätsbegriff daher auch verwendet, um Lebenslagen und -situationen zu 5
Dass diese Einsicht jedoch keineswegs neu ist, belegt die Lektüre des Artikels von Büchtemann/Quack (1990: 321). Die Autoren beklagten bereits vor fast zwanzig Jahren die Engführung der arbeitssoziologischen Debatte und deren einseitige Konzentration auf die formale Struktur atypischer Beschäftigungsverhältnisse.
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bezeichnen. Kennzeichen derartiger Lebenslagen ist, dass sie weder materiell gesicherten Wohlstandslagen auf der einen noch deprivierten Armutslagen auf der anderen Seite eindeutig zugeordnet werden können. Vielmehr sind sie in einer von Unsicherheit und Vorläufigkeit geprägten sozialen Übergangszone anzusiedeln, in der Auf- und Abstiegsbewegungen ebenso wie Phasen ‚stabilisierter Unsicherheit’ möglich sind (vgl. Vogel 2006). In diesem Zusammenhang ist häufig auch von „Armutsrisiko oder Abstiegsgefahr“ (Damitz 2007: 76) die Rede. Gemeint sind Situationen, in denen die betroffenen Personen und Haushalte ihre Lebensführung in einer Art prekären Balance halten können, deren äußerst knappe Kalkulation jedoch bei unvorhergesehen Ereignissen zusammenzubrechen droht (vgl. ebd.). „Das Auskommen mit dem Einkommen“, so formuliert es Berthold Vogel (2006a: 345) treffend, „fällt in dieser Zone schwer.“ Wegweisend war in diesem Kontext die von Werner Hübinger (1996) durchgeführte Studie zum prekären Wohlstand. Das zentrale Ergebnis seiner Untersuchung ist die Bestimmung eben solcher Lebenslagen, die mit der herkömmlichen Unterscheidung zwischen Armut und Wohlstand nicht hinreichend charakterisiert werden können und die trotz eines hohen Armutsrisikos bis dato von der Armutsforschung weitgehend vernachlässigt worden sind (vgl. ebd.: 18). Die rein dichotomisch operierende Unterscheidung zwischen Armut einerseits und Wohlstand andererseits, die definitorisch in der Regel mit Hilfe der statistisch ermittelten Armutsgrenze getroffen wird, geht – so die Kritik Hübingers – an der Realität der betroffenen Personen vorbei. Der Ausstieg aus der Armutszone ist keinesfalls mit dem „Verlassen einer mehr oder weniger deprivierten sozialen Lage“ (ebd.: 19) gleichzusetzen. Denn insbesondere knapp überhalb der Armutsgrenze ist eine starke Konzentration von Bevölkerungsteilen zu verzeichnen, die akut „armutsgefährdet“ (Hübinger 1999: 19) sind. Anstatt die Armutsgrenze mittels eines einzigen Schwellenwerts zu konzipieren schlägt Hübinger stattdessen vor, mit einem Einkommensbereich zu operieren, den er als Zone des „prekären Wohlstandes“ bezeichnet. 6 Ähnlich verfährt – wie eingangs erwähnt – das von Castel (2000) entwickelte und vielfach als heuristischer Rahmen genutzte Modell gesellschaftlicher Zonen. Auch für Castel verliert die u.a. in der Exklusionsdebatte vertretene These einer sozialen Spaltungslinie, die zwischen integrierten und exkludierten sozialen Lagen, zwischen gesichertem Zentrum und marginalisierter Peripherie verläuft, am Ausgang der „Lohnarbeitsgesellschaft“ ihre Plausibilität und Gültigkeit. Mit der Ausbreitung einer „Zone der Verwundbarkeit“ beschreibt Castel (ebd.: 359) die Expansion eines gesellschaftlichen Zwischenraumes der Verunsicherung und Gefährdung, eines „prekären Niemandslandes“ (Vogel 2006: 89) zwischen Armut und Wohlstand. Beide Autoren, Hübinger wie Castel, widersprechen folglich der wesentlich prominenteren Deutung einer sich verfestigenden sozialen Spaltung und verweisen stattdessen auf den „gestuften Charakter sozialer Lagen“ (Groh-Samberg 2004: 654), die sich entlang relativ stabiler Zonen des Wohlstandes, der Prekarität und der Entkopplung ordnen lassen (vgl. ebd.). 6
Mittlerweile wurde die Zone des „prekären Wohlstandes“ in den Jahresbericht des statistischen Bundesamtes aufgenommen. Sie umfasst dort Einkommenslagen, die sich zwischen 50 bis 75% des arithmetischen Mittels des äquivalenzgewichteten Haushaltsnettoeinkommens bewegen. Seit 1991 (25,4%) befindet sich rund ein Viertel der Bevölkerung in Deutschland in dieser Einkommenszone. 2005 waren es 23,8%. Konkret bedeutet dies, dass 2005 knapp ein Viertel der bundesdeutschen Haushalte über ein monatliches Nettoäquivalenzeinkommen zwischen 649 Euro (50% Grenze) und 973 Euro (75% Grenze) verfügen (vgl. Statistisches Bundesamt 2006: 608).
„Teufelskreis oder Glücksspirale?“ Ungleiche Bewältigung unsicherer Beschäftigung
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In der jüngeren arbeits- und ungleichheitssoziologischen Debatte wird die Existenz einer derartigen Einkommenszone jedoch nicht allein aufgrund der Beobachtung diskutiert, dass die (willkürlich) gezogene Armutsgrenze nicht länger der Einkommenswirklichkeit bestimmter Haushalte gerecht wird und daher neu justiert werden muss. Die Signalwirkung dieser prekären Zone, so die Schlussfolgerung von Vogel (2006a), reicht deutlich weiter: Sie offenbart seiner Ansicht nach, dass sich materielle Unsicherheiten nicht länger ausschließlich an den gesellschaftlichen Rändern finden, sondern dass auch „bestimmte Zonen der sozialen Mittelschichten (…) zumindestens in ihrer Stabilität bedroht“ (ebd.: 345) sind. Die sozialen Folgen der wohlfahrtsstaatlichen Transformationen und arbeitsweltlichen Dekonstruktionen wirken sich seiner Argumentation zufolge immer häufiger auch auf die aufstiegsorientierten und auf Wohl-standssicherung bedachten Mittelschichten der Gesellschaft aus. Der Umbau des deutschen Sozialstaates – und hier insbesondere die Abkehr vom Prinzip der Status- und Lebensstandardsicherung – in Kombination mit der Ausbreitung unsicherer Beschäftigungsverhältnisse erzeugt nunmehr auch bei der lange Zeit sicher geglaubten arbeitnehmerischen Mitte Unruhe und Nervosität (vgl. Vogel 2007: 74). Die These von der Verunsicherung und Destabilisierung der sozialen Mitte hat zu Beginn des vergangenen Jahres auch außerhalb des akademischen Diskurses in den Reportagen und Berichten der überregionalen Feuilletons für Aufregung gesorgt. „Die Angst der Mittelschichten“ titelte etwa DIE ZEIT im Februar 2007 und berichtete von Abstiegsgeschichten mittelständischer Unternehmer, von über Schulden finanzierten Lebensstilen und von Strategien der symbolischen Abgrenzung nach unten. Handelt es sich bei den Sterbegesängen auf die Mittelschicht (vgl. etwa Spiegel online, 3. März 2008) zwar vor allem um journalistische Zuspitzungen und Verengungen, findet sich doch auch ein Körnchen Wahrheit in der Übertreibung: Verkürzt man die Analyse sozialer Ungleichheit nicht auf die vertikale und materielle Dimension, dann zeigt sich, dass die VerliererInnen-Gruppen der arbeitsmarktlichen Umstellung sich keineswegs „nur im unteren Achtel der sozialen Hierarchie, bei den unterprivilegierten Milieus (konzentrieren)“ Vester/Gardemin (2001: 254, Anm. 98). Doch erst die Einbeziehung der o.g. subjektiven Faktoren unter Vermeidung jeder ökonomistischen Verkürzung der Ungleichheitsanalyse macht sichtbar, welche Zumutungen die Veränderungen für die verschiedenen Milieus- und Klassenfraktionen konkret beinhalten und welche Bewältigungsstrategien sie jeweils mobilisieren und dagegen setzen (vgl. Kap. 3).
2.
Subjektive Wahrnehmung und Bewältigung unsicherer Beschäftigung
Dass das subjektive Unsicherheitsempfinden nicht immer der objektiven Bedrohungslage entspricht, wird auch in der Prekaritätsdebatte – und dort in der Regel unter dem Stichwort der ‚gefühlten Prekarisierung’ oder der ‚Prekarisierungsangst’ – diskutiert. Geschürt wird die Angst vor dem Verlust des erreichten Lebensstandards, vor dem sozialen Abstieg durch die weit reichenden Reformen des deutschen Wohlfahrtsstaates (vgl. Vogel 2007: 73f) ebenso wie durch die direkte Konfrontation mit unsicher beschäftigten ArbeitnehmerInnen im eigenen Unternehmen oder Betrieb (vgl. Kraemer 2007: 132f). Die Berücksichtigung von subjektiven Indikatoren erlaubt jedoch nicht allein die Auswirkungen und Folgen von
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Prekarisierungsprozessen in den gesellschaftlichen Zonen zu erfassen, die nicht oder noch nicht von unsicherer Erwerbsarbeit direkt betroffen sind. Die Integration der Akteursperspektive soll zugleich ermöglichen, die eingangs formulierten Fragen nach den konkreten Unsicherheitsbewältigungsstrategien, nach spezifischen Bearbeitungs- und Bewältigungsmustern unmittelbar betroffener Arbeitnehmer zu untersuchen. Wie neben der Untersuchung von objektiven Risikofaktoren auch die subjektiven Indikatoren berücksichtigt werden können, ist daher eine der entscheidenden Aufgaben, die Prekaritätsanalysen zu erfüllen haben. Denn erst die empirisch und theoretisch gehaltvolle Auslotung der subjektiven Wahrnehmungs- und Deutungsmuster kann Aufschluss darüber geben, wie die sozialen AkteurInnen unsichere Beschäftigungssituationen und Lebenslagen wahrnehmen, welche Einschränkungen dies für sie bedeutet und welche Maßnahmen sie ergreifen um ihre Situation zu stabilisieren oder zu verbessern. Der Beantwortung dieser Fragen widmen sich eine Reihe empirischer Forschungsprojekte, von denen wir zwei herausgegriffen haben und im Folgenden näher beleuchten möchten. Bei den von uns ausgewählten Studien handelt es sich zum einen um die von Dörre et al. (2006) durchgeführte Untersuchung zum Desintegrationspotential ‚prekärer Beschäftigung’ und zum anderen um die Analyse von Bude/Lantermann (2006) zu „Soziale[r] Exklusion und Exklusionsempfinden“. 7 Beide Forschungsprojekte gehen der Frage nach, wie eine objektiv unsicherer Beschäftigungs- und/oder Lebenslage von den betroffenen Akteuren wahrgenommen wird, wie sich deren (politische) Einstellungen verändern, welche Ressourcen sie mobilisieren und welche Strategien sie aktivieren um ihre Lage zu bewältigen. Gemeinsame Grundannahme beider Untersuchungen ist dabei, dass die objektive Beschäftigungs- und/oder Lebenssituation sich keineswegs exakt und linear in der subjektiven Wahrnehmung spiegelt, sondern dass diese von einer Vielzahl weiterer Faktoren beeinflusst wird.
2.1
‚Prekäre Beschäftigung’ als Ursache sozialer Desintegration?
Die Studie von Dörre et al. (2006), Teil des BMBF-Forschungsverbundes ‚Desintegrationsprozesse – Stärkung von Integrationspotentialen einer modernen Gesellschaft’, basiert auf der Ausgangshypothese, dass die arbeitsweltlichen Umbrüche „einen grundlegenden Bedeutungswandel von Erwerbsarbeit“ (ebd.: 9) mit sich bringen. Je weniger Erwerbsarbeit materielle, rechtliche und soziale Sicherheiten garantieren kann – so ihre Argumentation – desto mehr verliert sie an integrativer Kraft. Dieser Verlust ist dabei nicht allein der nach wie vor hohen Erwerbslosigkeit in Deutschland geschuldet, sondern auch die deutliche Zunahme atypischer Beschäftigungsverhältnisse begünstigt ihrer Ansicht nach diese Entwicklung. Jede rein dichotome Unterscheidung zwischen integrierten Arbeitsplatzbesitzern einerseits und desintegrierten Erwerbslosen andererseits greift ihrer Ansicht nach daher entschieden zu kurz, ignoriert sie doch die tiefen Spaltungen und Risse innerhalb der Lohnarbeiterschaft.
7
Die empirische Bestimmung des Zusammenhangs von objektiver Lage und deren subjektiver Wahrnehmung leisten die beiden Studien jedoch auf unterschiedlichem Wege: Während Dörre et al. (2006) mit qualitativen Leitfadeninterviews arbeiten, verwenden Bude/Lantermann stattdessen statistische Analyseverfahren.
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Vor derartigen Vereinseitigungen schützt Dörre et al. (2006) zu Folge auch nicht das in der Einleitung bereits erwähnte Zonenmodell Robert Castels. Dieses denke zwar die doppelte Spaltung der Arbeiterschaft systematisch mit, privilegiere jedoch andererseits geschützte Normalarbeit als „irreduzible[n] Integrationsanker“ (Kraemer 2007: 128) und könne daher deren Erosion nur einseitig als Schwächung der sozialen Kohäsionskräfte deuten. „Kontraintuitive Einsichten“ und „widersprüchliche oder paradoxe Effekte“ (Dörre et al. 2006: 12), wie Prekarisierungsängste in der Zone der Integration oder Zufriedenheit in der Zone der Verwundbarkeit, können ihrer Kritik nach mit dem Zonenmodell Castels analytisch nicht erfasst werden. Indem sein Modell zu „eindimensional auf die materiellreproduktive Kategorie“ (ebd.) von Beschäftigungsverhältnissen abhebe, sei es nicht in der Lage desintegrative Tendenzen mit der notwendigen Differenziertheit zu bestimmen. Dies ist nach Ansicht von Dörre et al. nur dann möglich, wenn über die Struktur der Beschäftigungsverhältnisse hinaus auch die subjektiven Wahrnehmungsmuster und Verarbeitungsformen Berücksichtigung finden. Denn erst auf der Ebene der Akteursperspektive kann deutlich werden, ob das strukturelle Prekaritätsrisiko einer atypischen Beschäftigung auch subjektiv von Relevanz ist. Im Umkehrschluss bedeutet dies jedoch nicht, dass es sich bei Prekarität lediglich um eine ‚Einstellungsfrage’ handelt. Wie Kraemer (2006: 667) an anderer Stelle betont, solle keinem „strukturvergessenen Voluntarismus“ Vorschub geleistet werden, sondern man wolle durch die Integration beider Perspektiven ein möglichst differenziertes Bild der arbeitsweltlichen Umbrüche zeichnen. Um die konzeptionelle Lücke des Castelschen Zonenmodells zu schließen, möchten die Autoren der Studie auch der Subjektseite der arbeitsweltlichen Transformationen die notwendige Beachtung schenken. Die drei von Castel unterschiedenen Zonen – der Integration, der Verwundbarkeit und der Entkopplung – nutzen sie dabei auch weiterhin und trotz aller Kritik als analytisches Grundgerüst. Ausschlaggebend für die Verteilung der Beschäftigten auf die verschiedenen Zonen ist dabei die strukturelle Gestalt des jeweiligen Arbeitsverhältnisses. 8 In sich sind die drei Zonen nochmals in insgesamt neun verschiedene Typen unterteilt, die Dörre et al. (2006) in Abhängigkeit von der Wahrnehmung und Interpretation der befragten ArbeitnehmerInnen gebildet haben. Die Ergebnisse der Untersuchung bestätigen ihre Ausgangsvermutung: Die subjektiven Verarbeitungsformen folgen „keinem einheitlichen Muster“ (ebd.: 12), das einen einfachen Zusammenhang von objektiver und ‚gefühlter’ Prekarität nahe legt. Prekarisierungsängste müssen keineswegs „unmittelbarer Reflex realer Bedrohung“ (Brinkmann et al. 2006: 58) sein, sondern lassen sich auch bei sozialen Akteuren feststellen, die in formal sicheren Arbeitsverhältnissen beschäftigt sind. Diese Gruppe von Beschäftigten haben Dörre et al. (2006: 16) im Typus des „Verunsicherten“ zusammengefasst. Obwohl die Beschäftigungssituation dieser Gruppe von ArbeitnehmerInnen durch „stabile arbeitsrechtliche und betriebliche Sicherheitsgarantien“ gekennzeichnet ist, leiden sie dennoch unter einer „diffusen Verunsicherung über die Stetigkeit und Verlässlichkeit des gegenwärtigen Beschäftigungsverhältnisses.“ Gleichzeitig muss atypische Erwerbsarbeit – wie Kraemer/Speidel (2004: 8
Der „Zone der Integration“ ordnen sie dabei unbefristete Beschäftigungsverhältnisse zu, die ein stetiges und tariflich festgelegtes Einkommen garantieren und über Kündigungs- und Sozialversicherungsschutz verfügen. Beschäftigungsverhältnisse, die von diesen Rahmenbedingungen abweichen, werden dementsprechend der „Zone der Verwundbarkeit“ zugeordnet. In der „Zone der Entkopplung“ werden schließlich diejenigen Personen verortet, die meist dauerhaft von Erwerbsarbeit ausgeschlossen oder allenfalls noch sporadisch erwerbstätig sind.
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140) am Beispiel von Leiharbeitern dokumentiert haben – nicht automatisch resignative Wirkung zeitigen, sondern sie kann durchaus als „Sprungbrett in ‚normale’ Beschäftigung“ oder als willkommene Alternative zur Erwerbslosigkeit bewertet und erfahren werden. Unsichere Erwerbsarbeit, so die Schlussfolgerung, führt daher keineswegs zu „linearen, sich beständig verstärkenden Desintegrationsprozessen“ (Dörre et al. 2006: 23). Die arbeitsweltlichen Transformationen leiten nicht den „unaufhaltsamen Zerfall der Gesellschaft“ (ebd.: 23) ein und anomische Zustände sind in der Bundesrepublik auch trotz steigender Leiharbeits- oder Teilzeitquoten in nächster Zukunft nicht zu erwarten. Desintegration bezeichnet in dem von ihnen gemeinten Sinn nicht etwa die Auflösung des sozialen Zusammenhaltes, sondern den Durchbruch neuer „Kontroll- und Disziplinierungsmechanismen“ (ebd.: 9). Unsichere Erwerbssituationen können daher durchaus und zwar insbesondere in der ‚Zone der Prekarität’ (Re-)Integrationsbemühungen mobilisieren. Ebenso kann ‚normale’ Erwerbsarbeit nicht uneingeschränkt mit ‚gelungener Integration’ gleichgesetzt werden. Zeigt sich die „subtile Wirkung marktförmiger Disziplinierungsmechanismen“ (ebd.: 26) auch und gerade bei den gesellschaftlichen Gruppen, die einiges zu verlieren haben. Während die objektive Unsicherheit ihrer atypisch beschäftigten Kollegen bei den (noch) nicht Betroffenen Unsicherheitsempfinden und Abstiegsängste auslöst, dienen letztere den bereits betroffenen Arbeitnehmern als Leitbild dem sich anzunähern, alle Kraftanstrengungen als lohnenswert erscheinen lässt. Die Autoren sprechen daher auch von dem „(Des-)Integrationsparadoxon gespaltener Arbeitsgesellschaften“ (Herv. n.i.O.) und von neu erzeugten, vorwiegend in der ‚Zone der Prekarität’ vorfindbaren „sekundären Integrationspotentialen“ (ebd.). 9 Letztere beruhen insbesondere auf der „erwartungsstrukturierenden Wirkung des Normalarbeitsverhältnisses“ (ebd.: 23), die in Abhängigkeit vom Qualifikationsniveau, Lebensalter und Geschlecht jedoch erheblich variiert. Das Verdienst der Studie besteht nicht zuletzt darin, den komplexen Zusammenhang von objektiver und ‚gefühlter’ Prekarität beispielhaft zu verdeutlichen. Mit dem Neigungswinkel der Erwerbsbiographie, der individuellen Qualifikation, Geschlecht und Lebensalter konnten Dörre et al. darüber hinaus einige der entscheidenden Einflussfaktoren identifizieren, die „die Art der Auseinandersetzung mit und die Bewertung von prekären Beschäftigungsverhältnissen“ (ebd.: 11) nachhaltig beeinflussen. Ungeklärt bleibt jedoch, wie diese Faktoren die subjektive Wahrnehmung und Bewältigung unsicherer Beschäftigungssituationen beeinflussen. „Subjektivität“ wird in dieser Studie, wie Candeias (2007: 51) zutreffend kritisiert, „nur vom Standpunkt der Reproduktion der Gesellschaft betrachtet, quasi als affektiver Reaktionismus. Das Problem dabei ist, dass den Subjekten zwar Eigenaktivität zugestanden, jedoch die Kompetenz oder Fähigkeit, die Verhältnisse zu verändern, abgesprochen (bzw. auf zukünftige Untersuchungen verwiesen) wird“. 9
Der von Dörre et al. (2006) verwandte Begriff des „sekundären Integrationsmodus“ ähnelt rein begrifflich dem von Alda et al. (2004; vgl. auch Land/Willisch 2006) entwickelten Konzept der „sekundären Integration“, weist jedoch deutliche inhaltliche Differenzen auf. Während Dörre et al. gerade dort „sekundäre Integrationspotentiale“ sehen, wo atypische oder auch transferfinanzierte Beschäftigungsformen als ‚Sprungbrett’ in ‚normale’ Beschäftigung dienen, bezeichnen Land/Willisch (2006) derartige (Erwerbs-)tätigkeiten gerade dann als „sekundäre Integration“, wenn sie diese Brückenfunktion nicht mehr erfüllen. Sie bezeichnen mit „sekundärer Integration“ Erwerbsverläufe, „bei denen der Wechsel zwischen Leistungsbezug, Maßnahmen und kurzfristiger Beschäftigung zur systematischen Voraussetzung des Verlaufs selbst geworden ist (…). Leistungsbezug und Maßnahmen sind keine Brücken zwischen Beschäftigungen, sondern, umgekehrt, ein Beschäftigung wird zur Brücke und zum Mittel, den Leistungsbezug und das Anrecht auf neue Maßnahmen zu reproduzieren“ (Ebd.: 86).
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Von diesem „Standpunkt der Reproduktion“ lässt sich u.E. kein komplexes Handlungsmodell entwickeln. Ein solches müsste die Dichotomien von Struktur und Praxis überwinden, da ansonsten weder begründete Vermutungen angestellt werden können, aus welchen Gründen sich welche Personen wie verhalten, noch diese Überlegungen einer empirischen Überprüfung zugänglich sind.
2.2
Determinanten des „Exklusionsempfindens“
An der Entwicklung eines solchen Handlungsmodells haben Heinz Bude und Ernst-Dieter Lantermann (2006) gearbeitet. In einer bundesweit durchgeführten Telefonumfrage haben sie den Zusammenhang von Prekarität, Ressourcen und Exklusionsempfinden auf seine empirische Plausibilität hin überprüft. Wie Dörre et al. (2006) gehen die beiden Autoren davon aus, dass die subjektive Wahrnehmung einer Person nicht einfach das Spiegelbild ihrer objektiven Lage, sondern das Ergebnis des komplexen Zusammenwirkens einer Vielzahl von Faktoren ist. In dem von ihnen entwickelten Prekaritäten-Ressourcen-Modell des Exklusionsempfindens unterschieden sie fünf verschiedene Einflussfaktoren der subjektiven Wahrnehmung. Ausgangspunkt ihres Modells ist dabei die objektive Lage. Deren Prekarität wird mit Hilfe des individuellen Wohlstandes, der Erwerbssituation, der sozialen Vernetzung, der Gesundheit sowie dem institutionellen Vertrauen operationalisiert (vgl. ebd.: 238). Das Wissen um eine hochgradig prekäre Lage allein ermöglicht ihrer Modellannahme nach jedoch noch keinerlei Aussage über deren subjektive Wahrnehmung. Entscheidend ist vielmehr „wie, mit welchen Strategien und mit welchen individuell verfügbaren Handlungsressourcen und Bewertungen“ (ebd.: 236) auf die objektive Situation geantwortet wird. Ob eine objektiv prekäre Lage primär als Bedrohung oder als lösbares Problem betrachtet wird, hängt demnach zunächst von der Bewertung der gegenwärtigen Situation und der Beurteilung ihrer künftigen Entwicklung ab. Die Einschätzung und Bewertung wiederum ist das Ergebnis eines Abwägungsprozesses zwischen „wahrgenommener Anforderung und verfügbaren Ressourcen“ (ebd.). Diese an der psychologischen „Coping“-Theorie von Lazarus/Folkman (1984) orientierten Überlegungen unterziehen Bude/Lantermann einer soziologischen Erweiterung, in-dem sie den Einfluss vorhandener interner wie externer Ressourcen auf die Art der Bewertung unterscheiden. Als externe Ressourcen wurden die Höhe des Haushaltseinkommens, die schulische und berufliche Bildung, die berufliche Karrierestufe, die partnerschaftliche Einbindung sowie Alter und Geschlecht der befragten Personen aufgenommen. Bei der Konzeption der internen Ressourcen haben sich Bude/Lantermann erneut an (sozial-)psychologischen Konzepten orientiert (vgl. ebd.: 239) und mit dem ‚Kohärenzsinn’ und der ‚Unbestimmtheitsorientierung’ solche individuellen Kompetenzen und Fähigkeiten ausgewählt, die für die Bewältigung von unsicheren Situationen entscheidend sind. Unter ‚Kohärenzsinn’ oder -erleben wird dabei eine Orientierung verstanden, die deutlich macht, „in welchem Umfang man in den äußeren und inneren Ereignissen und Sachverhalten einen ‚Sinn’, eine erkennbare Bedeutung erkennt und darauf aufbauend ein generalisiertes Gefühl des Vertrauens besitzt, das die eigene innere und äußere Umwelt vorhersagbar macht.“ (Ebd.: 239)
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Während es sich beim ‚Kohärenzsinn’ damit um eine Bewältigungsressource handelt, die es Menschen auch in unsicheren und risikoreichen Situationen ermöglicht, die „Selbstwirksamkeit“ (Bandura) ihres Handelns zu erleben, ermöglicht die Unbestimmtheitsorientierung eine hinreichende Offenheit gegenüber unvertrauten Situationen und Informationen. Neben der objektiven Lage, deren Bewertung und der Antizipation ihrer zukünftigen Entwicklung sind es die externen und internen Ressourcen, die das Gefüge von Einflussfaktoren auf das Exklusionsempfinden komplettieren. Auch wenn die Ergebnisse ihrer Untersuchungen geringe direkte Effekte zwischen objektiver Lage und subjektiver Wahrnehmung aufweisen, kann ihre Modellannahme eines vornehmlich indirekt wirkenden Zusammenhangs dennoch weitgehend bestätigt werden. „Es gibt den Unterschied zwischen jenen, die sich trotz misslicher Lebenslage in der gesellschaftlichen Welt zu Hause fühlen, und denen, die trotz günstiger Lebensverhältnisse von der Frage beherrscht sind, ob sie überhaupt noch einen Platz im gesellschaftlichen Ganzen haben.“ (Ebd.: 248)
Beispiele wie diese illustrieren, wie widersprüchlich der Zusammenhang von objektiver und ‚gefühlter’ Unsicherheit sein kann. Im Unterschied zu Dörre et al. (2006), deren Untersuchung einen ähnlichen Befund liefert, können Bude/Lantermann (2006) auf Grund ihres Handlungsmodells auch eine Ursache für diesen Sachverhalt benennen. Ihren Ergebnissen zufolge sind es insbesondere die skizzierten internen Ressourcen, die als eine Art „‚Aneignungsmedium’“ (ebd.: 248) überhaupt erst dazu verhelfen, die vorhandenen externen Ressourcen in „‚reale’ Handlungsmittel und Optionen“ (ebd.: 244) zu überführen. Die Verfügbarkeit der von ihnen beschriebenen internen Ressourcen fungiert dabei nicht allein als notwendige Bedingung, die vorhandenen externen Ressourcen erfolgreich einzusetzen, sondern sie vermag es sogar, eine Mangelsituation – wenigstens bis zu einem gewissen Grad – zu kompensieren. „Wer das, was ihm widerfährt, auch für sich nachvollziehen und verstehen kann und unsichere Lebenslagen nicht scheut, sondern sich diesen beherzt stellt, der verfügt möglicherweise auch über die Fähigkeit, aus Wenigem das Maximum herauszuholen, auch mit geringen externen Ressourcen seine Lebenslage einigermaßen günstig zu gestalten.“ (Bude/Lantermann 2006: 248)
Der Gewinn der Studie von Bude/Lantermann (2006) besteht nicht zuletzt darin, dass sie die Kompetenzen zur Bewältigung unsicherer Situationen nicht allein abstrakt benennen, sondern durch ihre Anleihen bei sozialpsychologische Konzepten in der Lage sind, vorteilhafte Kompetenzen und Ressourcen konkret auszuweisen. Darüber hinaus ermöglicht das von ihnen entwickelte „Prekaritäten-Ressourcen-Modell des Exklusionsempfindens“ erste Einsichten in den komplexen Wirkungszusammenhang von objektiver Lage und subjektiver Wahrnehmung. Die zentrale Bedeutung der „internen Ressourcen“ in ihrem Modell bedarf u.E. jedoch einer analytischen Erweiterung. Die beiden Autoren räumen zwar ein, dass die „internen Ressourcen“ nicht in „gesellschaftsfreien Räumen“ (Bude/Lantermann 2006: 244) entstehen und daher – so unsere Schlussfolgerung – nicht losgelöst von der sozialstrukturellen Position der Akteure gedacht werden können. Wie dieser Zusammenhang jedoch zu verstehen ist, bleibt in dem Modell von Bude/Lantermann (2006) ungeklärt. Zur Beantwortung unserer eingangs formulierten Frage, worin die Ursache unterschiedlicher Wahrnehmungs- und Bewältigungsmuster besteht, ist es unumgänglich, diesen Zusammenhang zu klären.
„Teufelskreis oder Glücksspirale?“ Ungleiche Bewältigung unsicherer Beschäftigung
3.
133
Weder Teufelskreis noch Glücksspirale: Milieuspezifische Bewältigung unsicherer Beschäftigung
Wie wir gezeigt haben, betonen Dörre et al. und Bude/Lantermann zu Recht die Unverzichtbarkeit, die subjektiven Wahrnehmungs-, Bewältigungs- und Bearbeitungsstrategienund Kompetenzen der AkteurInnen in eine sowohl theoretisch als auch empirisch gehaltvolle Prekaritätsanalyse mit einzubeziehen. Denn erst unter Berücksichtigung der Perspektive der sozialen AkteurInnen lässt sich das zeitdiagnostische Potenzial des Prekarisierungsprozesses herausstellen und dadurch das Ausmaß gesellschaftlicher (Des-)Integration und Exklusion mit all seinen paradoxen Effekten explizieren, wie sie in der These eines „(Des-)Integrationsparadoxons“ und im „Prekaritäten-Ressourcen-Modell des Exklusionsempfindens“ angedeutet werden. Gemeinsam ist den von uns bis hierher vorgestellten Prekaritätsanalysen, dass sie einen Ausweg aus dem Dilemma von „strukturvergessene[m] Voluntarismus“ (Kraemer 2004: 667) einerseits und sozialstrukturellem Determinismus andererseits aufzeigen wollen. Die subjektiven Verarbeitungsformen, so fassen Dörre et al. (2006) die Ergebnisse ihrer Untersuchung zusammen, folgen „keinem einheitlichen Muster“ (ebd.: 12), das einen einfachen Zusammenhang von tatsächlicher und ‚gefühlter’ Prekarität nahe legt. Prekarisierungsängste sind „keineswegs unmittelbarer Reflex realer Bedrohung“ (Brinkmann et al. 2006: 58), sondern lassen sich auch bei sozialen Akteuren feststellen, die in formal sicheren Arbeitsverhältnissen beschäftigt sind. Trotz eines völlig anderen theoretischen und empirischen Designs der Studie kommen auch Bude/Lantermann (2006: 244f) zu einem ähnlichen Ergebnis, nämlich „dass die Verfügbarkeit von externen Ressourcen wie Einkommen, Beruf, Bildung, Alter, Geschlecht oder Partnerschaften allein keine Grundlage für die Einteilung von Risikogruppen sein kann“. Vielmehr ergibt sich erst aus der Analyse des Zusammenspiels von „internen und externen Ressourcen“ die Möglichkeit das Ausmaß zu beurteilen, ob die Gefahr einer objektiven oder subjektiven Exklusion besteht. Wie Bude und Lantermann zu Recht betonen, bilden sich diese „internen Ressourcen“ allerdings nicht in „gesellschaftsfreien Räumen“. Vielmehr folgen sie, wie wir nun in Anlehnung an Bourdieu und Vester aufzeigen wollen, aus der Logik des Sozialen. Das heißt, die so genannten ‚internen Ressourcen’ entwickeln sich in den Kämpfen der sozialen AkteurInnen in den jeweiligen Feldern. Das von Bude/Lantermann (2006) vorgeschlagene soziologisch-psychologisch integrative „Prekaritäten-Ressourcen-Modell des Exklusionsempfindens“ bedarf u.E. einer weiteren soziologischen Erdung. Erst dann lassen sich erstens die sozialen Wirkungen von Prekarisierungsprozessen, die Dimensionen sozialer Ungleichheit und das Ausmaß gesellschaftlicher (Des-)Integration differenziert betrachten. Zweitens lassen sich die aus dem 19. Jahrhundert stammenden, auch in den Prekaritätsanalysen von Dörre et al. sowie Bude/Lantermann nach wie vor wirkmächtigen Dualismen von Individuum und Gesellschaft, Körper und Geist, Struktur und Praxis erst dann überwinden, wenn ein Modell zugrunde gelegt wird, das davon ausgeht, dass „Gesellschaft und Individuum“ sich gegenseitig erzeugen (Dölling/Krais 2007: 18).
134 3.1
Claudia Rademacher/Philipp Ramos Lobato
Milieuspezifische Habitus – „Dialektik von Dispositionen und Positionen“
Um differenzierte Antworten auf unsere Frage zu erhalten, ob spezifische Bearbeitungsund Bewältigungsmuster identifiziert werden können, die sich an Milieu- und Klassenstrukturen rückbinden lassen, scheint uns Michael Vesters Milieuansatz besonders geeignet. Im Anschluss an Pierre Bourdieu versucht Vester „vertikale und horizontale Dimensionen sozialer Ungleichheit, Praktiken alltäglicher Lebensführung und Mentalitäten mit einem eigenständigen gesellschaftstheoretischen Ansatz (…) zu vermitteln“ (Bittlingmayer/Bauer 2006: 114). Unter Rückgriff auf Bourdieus Konzeptionen von Habitus, Kapital, Feld, sozialer Raum entwickelt Vester einen eigenständigen Forschungsansatz, der sich u.E. in hervorragender Weise eignet, die dargestellten Prekaritätsanalysen sozialstrukturell zu fundieren und die offenen Fragen zu beantworten. 10 Da er in seinem Milieukonzept analytisch die sozialstrukturellen Rahmenbedingungen auf der Makroebene mit den gruppenspezifischen Praktiken auf der Meso- und den individuellen Praktiken auf der Mikroebene verknüpft, gelingt es ihm, die Dualität von Struktur und Praxis, die in vielen Prekaritätsanalysen nach wie vor gegeben ist, aufzulösen. Die im Rahmen von Vesters „Arbeitsgruppe interdisziplinäre Sozialstrukturforschung (AGIS)“ entstandenen vielfältigen Untersuchungen zu den Sozialen Milieus im gesellschaftlichen Strukturwandel zwischen Integration und Ausgrenzung entziehen sich dadurch dem alten und gegenwärtig neu entfachten Streit, „ob nämlich die sozialen Akteure den Strukturwandel aktiv mit gestalten können oder ob sie eher passiv und damit Spielball gesellschaftlicher Verhältnisse sind“ (Bremer/Lange-Vester 2006: 11). Im Unterschied zu vollmundigen Zeitdiagnosen, „die alles auf große überpersonelle und lineare Trends reduzieren“ (Vester 2005: 27), geht Vester mit Bourdieu davon aus, dass gesellschaftliche Entwicklungen im sozialen Raum, das heißt in den Kämpfen der sozialen AkteurInnen innerhalb spezifischer Felder zustande kommen. Ausgangspunkt des theoretischen Konzepts – von Vester (2004: 132) auch als „sozialwissenschaftliche[n] Relativitätstheorie“ bezeichnet – wie auch Ergebnis der umfassenden empirischen Untersuchungen ist, dass „so gut wie alle Milieus […] ihre äußeren Lebenslagen mit aktiven individuellen wie auch sozial vernetzten Strategien zu bewältigen [suchen]“ (Vester 2002: 102). Unter Rekurs auf Bourdieus Strategiebegriff gehen wir mit Vester davon aus, dass individuelle wir kollektive (Gruppen- bzw. Milieu-)Strategien aus den im Habitus verankerten Bewertungs-, Handlungs- und Klassifikationsschemata hervorgehen. Strategien sind also nicht, wie es der Begriff nahe legen könnte, intentional und zielgerichtet. Vielmehr versucht Bourdieu mit seiner Soziologie der Praxis, wie oben schon angedeutet wurde, diese unfruchtbaren Dichotomien aufzulösen und die Komplexität menschlichen Handelns zu analysieren. Menschliches Handeln erfolgt aufgrund bewusster und unbewusster Denk- und Gefühlsschemata, die im Verlauf der Sozialisation in die Körper und in die Hirne eingeschrieben werden. Unter „Umstellungsstrategien“ versteht Bourdieu jene Strategien, die den Veränderungen in den Feldern Rechnung tragen. Auch die Erfahrungen aus anderen Feldern, in denen die AkteurInnen handeln und handelten, spielen in diese Strategien herein, da der Habitus als Genera-
10 Bei der Vielfalt an Diskussionen um Prekarität und bei der Fülle an Untersuchungen zur gesellschaftlichen (Des-)Integration und sozialen Polarisierung erstaunt es in der Tat, wie Susanne Völker bemerkt (2006: 286), „dass die Befunde und das Wissen darüber, wie die einzelnen selbst sich in praxi diesen Wandel aneignen, wie sozial und kulturell different sie ihn interpretieren (…) relativ rar gesät sind“.
„Teufelskreis oder Glücksspirale?“ Ungleiche Bewältigung unsicherer Beschäftigung
135
tor von Handlungs-, Bewertungs- und Klassifikationsschemata nicht mechanistisch funktioniert. Dass diese Strategien, wie Vester (2002) zu Recht hervorhebt, je nach Habitus, nach Milieutradition verschieden ausfallen, so dass verschiedene Milieus objektive prekäre Lebenslagen subjektiv unterschiedlich bearbeiten und bewältigen und in differente Muster der Alltagspraxis überführen, wollen wir im Folgenden exemplarisch deutlich machen. Damit möchten wir in Anwendung von Vesters Milieuanalyse und Bourdieus Habituskonzept aufzeigen, dass Bewältigungsformen unsicherer Beschäftigung erfolgreich sind, wenn sie sich auf die jeweiligen milieuspezifischen Traditionen stützen, die umgestaltet und modernisiert werden können, wenn es „zu einer Art Dialektik [kommt] zwischen mitgebrachten Dispositionen und neuen Umständen, durch die sich einzelne Mentalitätszüge [umwandeln] und auch neue Varianten der alten Milieus (entstehen)“ (Vester et al. 2001: 78f; vgl. auch Bremer/Lange-Vester 2006; Pelizzari in diesem Band; Vester 2002). Erfolglos sind die Bewältigungs- und Bearbeitungsformen prekärer Lebenslagen, wenn sie einen Bruch mit den Milieupfaden bedingen und die Dispositionen des Habitus dysfunktional werden. Diese Dysfunktionalität der habituellen Dispositionen betrifft vor allem diejenigen, die der vorherigen Situation am besten angepasst waren und die den krisenbedingten neuen Anforderungen nicht gerecht werden können: „Ihre Dispositionen werden dysfunktional, und je mehr Mühe sie sich geben, sie am Leben zu halten, um so gründlicher wird ihr Mißlingen.“ (Bourdieu 2001: 207) Erfolglose und erfolgreiche Bewältigungsstrategien unsicherer Beschäftigung sind damit keineswegs, wie es manche Prekaritätsanalysen unterschwellig nahe legen, dem Schicksal von Teufelskreis oder Glücksspirale unterworfen. Ob die jeweiligen Bewältigungsstrategien sowohl aus der Perspektive des einzelnen als auch aus der gesellschaftlichen Sicht als erfolgreich oder erfolglos angesehen werden, steht vielmehr im deutlichen Zusammenhang mit der Sozialstruktur und den sich daraus ergebenden sozialen Ungleichheitsverhältnissen. Wir gehen mit Vester und Bourdieu davon aus, dass die Akteurinnen und Akteure über praktisches Wissen um die institutionellen und sozialen Veränderungen und Umbrüche verfügen und darauf mit unterschiedlichen milieuspezifischen Strategien und Handlungsmustern (re-)agieren. Eine differenzierte Betrachtung des Zusammenhangs von objektiv-prekärer Lage und deren subjektiver Wahrnehmung und Bewältigung ist, so unsere These, mit Hilfe des Habitus- und Milieukonzepts möglich, das wir im Folgenden deshalb kurz darstellen.
Jenseits der Dichotomien: Habitus Das Habituskonzept von Pierre Bourdieu beschäftigt sich mit dem Wie der Generierung sozialer Praxis (vgl. Schwingel 1998; Krais/Gebauer 2002); es verwirft die Dichotomie von Struktur und Praxis. Unter Habitus versteht Bourdieu im strikten Gegensatz zu manchen psychologischen Modellen kein anlagebedingtes, angeborenes ‚natürliches’ Dispositionssystem. Vielmehr ist der Habitus eines Menschen ein erworbenes „System von Erzeugungsmustern“. Beim Habitus spielen frühere individuelle Erfahrungen eine zentrale Rolle. Er bildet sich im Verlauf des Sozialisationsprozesses und betrifft die Psyche eines Menschen ebenso wie seine Physis: „Als einverleibte, zur Natur gewordene und damit als sol-
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Claudia Rademacher/Philipp Ramos Lobato
che vergessene Geschichte ist der Habitus wirkende Präsenz der gesamten Vergangenheit, die ihn erzeugt hat.“ (Bourdieu 2001: 105) Mit dem Habituskonzept erhebt Bourdieu (2001: 201) den Anspruch, den unfruchtbaren Alternativen von Individuum und Gesellschaft, von Individuellem und Kollektivem zu entgehen. „Der Habitus – verstanden als Individuum oder als sozialisierter biologischer Körper oder als Verkörperlichung von biologisch individuiertem Sozialem – ist kollektiv oder transindividuell; es ist daher möglich, statistisch relevante Habitusklassen zu konstruieren. Insofern ist er in der Lage, in einer sozialen Welt oder einem Feld, dem er angepasst ist, wirksam zu agieren.“ Die Übereinstimmung von Habitus und Struktur bildet für Bourdieu einen „Sonderfall“ (Bourdieu 2001: 204). Gerade in komplexen, differenzierten, arbeitsteiligen kapitalistischen Gesellschaften ist die den „objektiven Bedingungen vorgreifende Angepasstheit des Habitus“ (ebd. 204) kaum mehr zu finden. Die Vielfalt der Bildungswege, die Gliederung in Berufsgruppen, die miteinander konkurrieren, die Auf- und Abstiege innerhalb einer und zwischen Generationen führen nach Bourdieu dazu, „dass die Habitus oftmals mit Aktualisierungsbedingungen konfrontiert sein können, die von denen abweichen unter denen sie produziert wurden“ (ebd. 206). Wie in Jean Piagets Modell der Komplementarität und Widerläufigkeit von Assimilation (Anpassung) und Akkomodation (Modifikation der Schemata) geht auch Bourdieus Habituskonzept von der Komplexität menschlichen Handelns aus. Der Habitus funktioniert nicht mechanistisch, sondern, wie Krais/Gebauer (2002: 63f) mit einem Hinweis auf die neuere Gehirnforschung erläutern, „nach dem Modell lebender Systeme. Auf Lernprozesse bezogen bedeutet dies, dass Gelerntes verarbeitet wird.“ Der Habitus ist „wie ein dispositionelles Netz organisiert (…), das Erfahrungen und sinnliche Eindrücke aufnimmt und in spezifischer Weise verarbeitet, damit aber auch selbst immer wieder modifiziert wird. Das heißt auch, dass der Habitus nur Dinge aufnehmen kann, für die er bereits eine Art ‚Ankopplungsstelle’ hat. Damit wird auch die Kohärenz und Stabilität des Habitus (…) verständlich.“ (Krais/Gebauer 2002: 63)
Wie oben schon angedeutet wurde, ist eine gewisse ‚Trägheit des Habitus’ gegenüber Veränderungen in der Arbeitswelt, gegenüber Änderungen bezogen auf die Anforderungen und Spielregeln in den sozialen Feldern u.a. der Somatisierung geschuldet. Bourdieu erläutert die Mühseligkeit, den Habitus zu verändern, häufig mit Beispielen aus dem Sportbereich. Wer sich heute entschließt, einen Marathon zu laufen, wird dieses Ziel wohl nur mit Disziplin und kontinuierlichem Training erreichen können. Wille und Bewusstsein spielen dabei auch eine Rolle, reichen aber allein nicht aus. Mit den Vergleichen aus dem Feld des Sports macht Bourdieu deutlich, dass der Habitus nicht determiniert, aber ebenso wenig durch eine bloße Willensentscheidung zu verändern ist. „In Abhängigkeit von neuen Erfahrungen ändern die Habitus sich unaufhörlich. Die Dispositionen sind einer Art ständiger Revision unterworfen, die aber niemals radikal ist, da sie sich auf der Grundlage von Voraussetzungen vollzieht, die im früheren Zustand verankert sind. Sie zeichnen sich durch eine Verbindung von Beharren und Wechsel aus, die je nach Individuum und der ihm eigenen Flexibilität oder Rigidität schwankt.“ (Bourdieu 2001: 207)
Zeigen sich in den Handlungsmodellen, die den Prekaritätsanalysen von Bude/Lantermann und Dörre et al. zugrunde liegen, abstrakte Gegenüberstellungen und verkürzte Perspektiven, bezeichnet der Habitus bei Bourdieu „nicht etwa einen Komplex von Persönlichkeits-
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merkmalen“ – kein Set von internen und externen Ressourcen, wie Bude/Lantermann nahe legen, „die das Individuum jenseits seines Handelns einfach ‚hat’“(Dölling/Krais 2007: 20). Vielmehr ist er immer bezogen auf soziale Strukturen und mit allen Dimensionen sozialer Ungleichheit (Klasse, Geschlecht, Ethnizität) zusammen zu denken. Darin liegt u.E. die Überlegenheit des Habituskonzepts sowohl in Hinsicht auf sozialpsychologische Modelle als auch im Hinblick auf reine Sozialstrukturanalysen, die keine Bezüge zu Handlungsebenen der AkteurInnen und zur sozialen Ungleichheit herstellen. Im Unterschied zu diesen Ansätzen entlarvt das Habituskonzept die Dichotomie von Struktur und Praxis als künstliche und falsche Opposition (vgl. Schwingel 1998: 36; Engler/Zimmermann 2002) und ist so in der Lage, die wechselseitigen Verkürzungen beider Konzepte zu umgehen und damit der Widersprüchlichkeit des gegenwärtigen Kapitalismus eher gerecht zu werden. Im Unterschied zu früheren Phasen kapitalistischer Vergesellschaftung verläuft heute in der postfordistischen Phase die Rückkehr sozialer Unsicherheit, die in den Prekarisierungsprozessen materialisiert wird, viel gegenläufiger, widersprüchlicher und paradoxer (vgl. Castel 2000, Vester et al. 2001, Boltanski/Chiapello 2003). In vielen sozialen Feldern – in den Bildungssystemen, den Arbeitsmärkten, den Wohlfahrtsstaatssystemen – finden tief greifende Umbrüche statt. Die Assimilation an diese Transformationen und die Akkomodation bewirken im Verlauf der Sozialisation „Sprengsätze im Habitus“ (Krais). Diese „Inkohärenzen und Potenzialitäten des Habitus“ (Völker 2007) werfen schon ein Licht auf die Komplexität des Zusammenhangs von prekären Lebenslagen und deren subjektiver habitueller Bearbeitung und Bewältigung.
Vom Defizit- zum Differenzmodell: Milieus Diesem komplexen Zusammenhang trägt das Milieukonzept von Vester Rechnung. Es geht von der Grundannahme aus, dass auf den zentralen gesellschaftlichen Strukturachsen (Herrschaft, Arbeitsteilung, institutionelle Differenzierung, historische Zeit, Generationen) gravierende Differenzierungs- und Modernisierungsprozesse stattfinden, allerdings „nicht als Auflösung in wahlfreie einzelne Individuen, sondern als Gliederung in Berufe, als in Gruppen, die im Austausch miteinander ihre beruflichen Kompetenzen kultivierten (also professionalisierten) und damit auch eigene Milieus mit einem eigenen Korpus moralischer Regeln und einen eigenen moralischen Habitus herausbildeten“ (Vester 2006a: 174; Herv n.i.O.).
Im Unterschied zu modischen Individualisierungs- und Lebensstiltheorien wird von Vester et al. die Transformation kapitalistischer Ungleichheits- und Herrschaftsverhältnisse nicht als Entstrukturierung, sondern als permanente Restruktururierung konzipiert (vgl. Vester/ Gardemin 2001). Durch Reflexion auf die Bildung der Habitus in Klassen und Milieus gelingt es der Forschergruppe, die Opposition von Struktur und Praxis zu überwinden und so weder in die Falle eines sozialstrukturellen Determinismus noch in die eines ‚strukturvergessenen Voluntarismus’ zu tappen. Bezogen auf die vorliegende Thematik besteht der Gewinn dieses Konzepts darin, dass sich mit ihm die Dynamiken der Prekarisierung, die mit der Ausdifferenzierung der sozialen Milieus einhergehen, sowie die jeweiligen Bewältigungsstrategien beschreiben lassen, ohne eine Defizitperspektive einzunehmen, wie sie vielen Prekaritäts- und Exklusionsana-
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lysen zugrundeliegt. (Vgl. die Diskussion zum Defizit- bzw. Ressourcenmodell bei Bittlingmayer/Bauer 2006; Neef/Keim 2007) Wie Gardemin, Vester et al. in ihren Untersuchungen zur „Unsicherheit in der Mitte“ belegen, nutzen die Milieus unterschiedliche Strategien, um Prekarisierung, Unsicherheit und Deklassierungsgefahren zu begegnen (vgl. Gardemin 2006: 309). „In Milieus, die gute soziale Netze oder effiziente Strategien des Umgangs mit knappen und unsicheren Ressourcen mobilisieren können, destabilisieren sich soziale Lagen seltener. Die Bewältigungsformen werden aber durch die neuen Lagen auch auf die Probe gestellt, und es zeigt sich, dass nicht alle Teile der Milieus sie erfolgreich anwenden können. Vielmehr teilen sich heute die Milieus in sich selbst zwischen relativen Gewinnern und relativen Verlierern.“ (Vester et al. 2001: 92)
Zum Erhalt der Position oder gegen den Abstieg bedienen sich die Milieus unterschiedlicher Strategien, die sich aus der Logik des sozialen Raums ergeben und aus den Habitus folgen. Exemplarisch wollen wir anhand von Vesters Synopse „Bewältigung der Umstellungskrise in den verschiedenen Milieutraditionen“ und Gardemins Untersuchungen zu „Mittlere(n) Arbeitnehmermilieus und Strategien der Respektabilität“ aufzeigen, dass die ungleichen Strategien nicht so paradox sind, wie sie in den unter 2.1 und 2.2 behandelten Prekaritätsanalysen erscheinen, vorausgesetzt, man analysiert sie mit einem anderen Instrumentarium.
3.2
Prekäre Lagen – Zumutungen und Handlungsressourcen
Verbleiben die Prekaritätsanalysen (wie z.B. bei Bude/Lantermann und Dörre et al.) in der Dualität von Struktur (Lage) und individueller Kompetenz im Rahmen des sozialpsychologischen Modells, dann kommt es zu Verkürzungen in der Theorie wie in der Analyse der empirischen Ergebnisse. Die von Bude/Lantermann akzentuierte „Unbestimmtheitsorientierung“ mit den Bestandteilen „Ungewissheitstoleranz“ und „Risikofreude“ bildet sich nicht im „gesellschaftsfreien Raum“. Vielmehr entwickeln, verändern und verfestigen sich diese habituellen Bewältigungsmuster über Milieus und deren Traditionen. 11 In seinem Milieumodell stellt Vester dar, dass die Milieus der Etablierten und der Entwurzelten durch eine über Veränderungen hinweg stabile Grenze der Respektabilität getrennt sind. Soziale Zugehörigkeit beinhalte wesentlich mehr als die Verfügung über materielle Ressourcen. Vielmehr erfolgt die Grenze von zugehörig oder nicht zugehörig, inkludiert oder exkludiert auch entlang der „allgemeinen Respektabilität“ und bis heute – so Vester – trennt die Grenze der Respektabilität die so genannten ehrbaren mittleren Milieus von den unsicheren Milieus (vgl. auch Gardemin 2006: 309ff). „Respektabilität“ ist nach Vester definiert durch „Statussicherheit“: „Es kommt darauf an, eine beständige, gesicherte und anerkannte soziale Stellung einzunehmen, die entweder durch Leistung oder durch Loyalität verdient ist“ (Vester et al. 2001: 148; vgl. Gardemin 2006: 318).
11 Erst eine fundierte empirische Analyse der Habitusformationen und „Habitusmetamorphosen“ (Bremer/ Lange-Vester 2006: 13), letztlich die „gewandelte deutsche Habitustypologie“ (Vester 2004: 144) kann den Zusammenhang von Klasse/Milieu und der Bewältigung prekärer Lagen deutlich machen. Wir wollen an dieser Stelle lediglich die Richtung aufzeigen, die fundierte Prekaritätsanalysen aus unserer Sicht einschlagen müssten.
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Vester und auch Gardemin zeigen in ihren empirischen und theoretischen Untersuchungen immer wieder den (direkten) Zusammenhang auf zwischen sozialer Anerkennung bzw. Respektabilität und den materiellen und kulturellen Ressourcen der sozialen Milieus. „Diejenigen, denen die soziale Anerkennung versagt wird, werden auch vom Erwerb anderer Ressourcen ausgeschlossen. Entzug von Respektabilität ist demnach weder nur Schicksal oder eine vorübergehende Schwäche eines Individuums noch handelt es sich um einen reinen ökonomischen Tatbestand.“ (Gardemin 2006: 313) Vor allem sind es die Zuweisungsmerkmale sozialer Ungleichheit wie Geschlecht und Ethnizität, die heute über gesellschaftliche Partizipation mit entscheiden und Prekarisierungsrisiken erhöhen: „Genau die Gruppen, die die negativen Zuweisungsmerkmale sozialer Ungleichheit aufweisen, geraten in Zeiten ökonomischer Unsicherheit bzw. damit einhergehenden gesellschaftlichen Modernisierungsprozessen an die Grenze der Teilhabegesellschaft oder sind, so Robert Castel, in einer Zone der Prekarität, der ‚sozialen Verwundbarkeit’ ausgeliefert.“ (Ebd.) Die durch den neoliberalen Kapitalismus bedingten biografischen Brüche und Krisen werden in den verschiedenen Milieutraditionen unterschiedlich bewältigt. Von den sozialen AkteurInnen werden neue Anpassungs- und Umstellungsstrategien verlangt. Allerdings gelingt zum Beispiel Teilen des Arbeitermilieus die Herstellung ihrer ‚Passfähigkeit’ (Zimmermann 2000), das heißt die erfolgreiche Anpassung an die postfordistischen Anforderungen nicht. Wie die Untersuchung von Groh-Samberg (2006) belegt, werden Teile des Milieus durch den „doppelten Kontinuitätsbruch“, zunächst durch die „Entproletarisierung“ und dann durch die Umstellung auf nicht-industrielle Tätigkeiten überfordert. Die milieuspezifische Bewältigung unsicherer Beschäftigung lässt auch, wie die Untersuchungen von Vester et al. (2001), Gardemin (2006) und Pelizzari (in diesem Band) belegen, vor allem an den mittleren ArbeitnehmerInnnemilieus aufzeigen. Diese Milieus 12 der respektablen Arbeitnehmer-Mitte, die mit beinahe 70% die große Mehrheit der bundesrepublikanischen Bevölkerung bilden, „zeichnen sich“, so Vester (2006: 273ff), „durch ein besonderes Pflicht- beziehungsweise Arbeitsethos aus. Gerade dadurch sind sie meist weit weniger flexibel und nun gerade gefährdet.“ Machte in den Zeiten der wirtschaftlichen Prosperität ihr „Pflicht- und Leistungsethos“, ihre auf Beständigkeit basierende Lebens- und Arbeitsweise ihr „Kapital der Ehre“ aus, das sie von den unterprivilegierten Milieus abgrenzte, so erweist sich eben jenes Kapital in der gegenwärtigen Situation als hinderlich. Es steht der Bewältigung der Transformationskrise im Weg. Am Beispiel eines Teilmilieus dieses sozialen Milieus, dem leistungsorientierten ArbeitnehmerInnenmilieu, das zum großen Teil aus FacharbeiterInnen und Fachangestellten besteht und etwa ein Fünftel der westdeutschen Bevölkerung umfasst, wollen wir die Herstellung der unterschiedlichen ‚Passfähigkeit‘ in Abhängigkeit von milieuspezfischen Habitus darstellen. Aus drei Gründen ist dieses Milieu für uns von besonderem Interesse: (1)
zeigt sich besonders an diesem Teilmilieu die Notwendigkeit, prekärer Beschäftigung und deren Bewältigung nicht nur an den Rändern nachzugehen. Vielmehr
12 Die Milieus der respektablen Arbeitnehmer-Mitte untergliedern sich mittels Binnenclusterung in zwei Teilmilieus, das kleinbürgerliche und das leistungsorientierte Arbeitnehmermilieu, die sich wiederum in je zwei Untergruppen spalten: in die traditionellen Kleinbürger und die modernen Kleinbürger bzw. in die geprellten Leistungsorientierten und die asketischen Leistungsorientierten.
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(2)
(3)
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zeigt die Analyse im Zentrum, in der so genannten Mitte, dass der „Bruch des Gerechtigkeitsvertrags und nicht die materielle Not als solche (…) immer das stärkste Motiv für sozialen Protest gewesen [ist]“ (Vester/Gardemin 2001: 464); bestätigt sich hier die Annahme der „Klassengeschlechtshypothese“ (Frerichs/ Steinrücke), der ‚Neigungswinkel‘ des Geschlechts in der ungleichen Bewältigung unsicherer Beschäftigung (vgl. Vester/Gardemin 2001a); liegt hier die Verknüpfung zu dem gegenwärtig auch sehr intensiv diskutierten und rezipierten Ansatz in der Arbeits- und Industriesoziologie, zu dem von Voß und Pongratz 1998 entwickelten Idealtypus des „Arbeitskraftunternehmers“ (vgl. auch Pelizzari in diesem Band; Vester et al. 2001; Vester/Gardemin 2001a).
Das leistungsorientierte Arbeitnehmermilieu – „die mittlere Generation, eingerahmt von dem schrumpfenden Milieu der Großeltern, dem ‚traditionellen Arbeitnehmermilieu‘ und dem wachsenden Milieu der Jüngeren, dem ‚modernen Arbeitnehmermilieu‘“ (Vester/Gardemin 2001a: 462f) – nimmt die mit der Bewältigung von Transformationskrisen einher gehende „Lernaufforderung“ (Vester 2002) an. Durch die Tradition der historischen Facharbeit und praktischen Intelligenz repräsentiert dieses Teilmilieu ausdrücklich den „Milieustammbaum“ mit dem „Habitus der Strebenden“ (Vester/Gardemin 2001a: 460) und erwartet, wie die anderen Milieus der Facharbeit, für die erbrachte Leistung Teilhabe am erarbeiteten Wohlstand und Partizipation an den Bildungschancen unabhängig von Geschlecht, sozialer Herkunft und Ethnizität. Der Verdruss über die „Illusion der Chancengleichheit“ (Bourdieu), den „Zweifel an der Leistungsgerechtigkeit“ (Vester) und die Einsicht in die Ideologie der meritokratischen Triade 13 beantworten die Gewinner- wie Verlierergruppen dieses Teilmilieus mit tiefer Skepsis und großem Misstrauen gegenüber den politischen Parteien. Im Unterschied zu dem benachbarten traditionellen Arbeiternehmermilieu, 14 das auf die veränderten Anforderungen „auch mit Ressentiments gegen die Jugend, die Ausländer und die Politik“ (Vester 2006: 275) reagiert, lenken die sozialen AkteurInnen des leistungsorientierten Milieus den politischen Verdruss in der Regel „nicht auf Ausländer oder sozial Schwache“ (ebd.). Vielmehr begründet die Enttäuschung über die Aufkündigung des historisch gewachsenen Gerechtigkeitsvertrages und des von den Gewerkschaften erkämpften Versprechens von „Leistung gegen Teilhabe“ „tiefe Zweifel daran, dass in der Gesellschaft Leistung sich noch lohnt und die Mächtigen nicht bevorzugt werden“ (ebd.). Die folgende, von Gardemin (2006: 322) entnommene Grafik gibt einen Überblick:
13 „Diese meritokratische Ideologie bezieht gleichermaßen Männer und Frauen mit ein, ohne dass jedoch ein mögliches (berufliches) Scheitern sofort auf eine ungleiche Ausgangssituation der Geschlechter zurückgeführt wird.“ (Vester/Gardemin 2001a: 457) 14 Für Vester bilden Arbeiter/innen und Angestellte aufgrund ihres ähnlichen im Habitus angelegten Bildungsverhaltens und des ähnlichen erworbenen kulturellen Kapitals ein gemeinsames Milieu. (Vgl. Vester et al. 2001: 514ff)
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„Teufelskreis oder Glücksspirale?“ Ungleiche Bewältigung unsicherer Beschäftigung
Abb. 1: Respektable Volks- und Arbeitnehmermilieus und die Zone der Prekarität. Fraktionen des ‚Leistungsorientierten Arbeitnehmermilieus’ und des ‚Kleinbürgerlichen Arbeitnehmermilieus’ Fraktionen im leistungsorientierten Arbeitnehmermilieu
Fraktionen im kleinbürgerlichen Arbeitnehmermilieu
Etablierte Leistungsorientierte Ca. 8% (4,3 Mio.)
Moderne Kleinbürger Ca. 4% (2.1 Mio.) Statusorientierte Kleinbürger Ca. 13% (7 Mio.)
Zone der Prekarität: Drohender oder eingetretener Verlust des Arbeitsplatzes; starke Statusunsicherheit; Zukunftsängste; keine finanziellen Ressourcen; Schlechte oder veraltete Qualifikationen
Asketische Leistungsorientierte Ca. 6% (3,2 Mio.) Geprellte Leistungsorientierte Ca. 9% (4,8 Mio.)
Ca. 44% der Westdeutschen Bevölkerung ab 14 Jahre
Traditionelle Kleinbürger Ca. 5% (2.7 Mio.)
Quelle: Gardemin (2006: 322) „nach repräsentativer Erhebung (n=2.699) der deutschsprachigen Bevölkerung Westdeutschlands ab 14 Jahren 1991“.
Als Beleg für die differenzierte Rückbindung von erfolgreichen und erfolglosen Bearbeitungs-, Bewältigungs- und „Umstellungsstrategien“ (Bourdieu) an Klasse und Milieu eignet sich die Untergruppe der „geprellten Leistungsorientierten“. Im Unterschied zu den „asketischen Leistungsorientierten“ 15 zeigt sich bei dieser Gruppe, wie das „Ethos des Milieus“, die eigene Leistungsfähigkeit, die Familienorientierung und eine dadurch bedingte Immobilität sie stärker der sozialen Verwundbarkeit, den Prekarisierungsprozessen ausliefert (vgl. Gardemin 2006: 324ff) Der Fraktion der „asketischen Leistungsorientierten“, jenen dinkies (double income no kid), gelingt die Anpassung an kapitalistische neoliberale Anforderungsund Bildungsprofile ohne größere Reibungsverluste. Die ‚Passfähigkeit‘ kann durch die Beschränkung auf die berufliche Karriere, die eben nicht durch Familie, Eigentum und Ortsgebundenheit beschwert wird, hergestellt werden (vgl. ebd.). 15 Wie in dem Forschungsprojekt zu Mentalitäten der gesellschaftlichen Mitte Die doppelt blockierte Mitte (vgl. Gardemin 1997) dargestellt wird, bilden die Asketen das „Kernstück“ der Leistungsorientierten Mitte. Sie sind in modernen Berufen mit einem hohen Anteil an Selbstentfaltung und erweiterten Handlungsspielräumen beschäftigt und bilden den Hintergrund für den „Idealtypus des Arbeitskraftunternehmers“. Die Haltung, dass Erfolg gewollt und machbar ist, speist sich aus der Nachkriegserfolgsgeschichte. Der berufliche Erfolg gilt für Frauen und Männer gleichermaßen, wenn sie meritokratischen Leistungsidealen folgen. Aufgrund des Versprechens über Bildung und Berufserfolg sozial aufzusteigen, kam es aus unterschiedlichen gesellschaftlichen Feldern zu Zuwächsen in der Kerngruppe. Die „Geprellten“ und „Etablierten“ verinnerlichten diesen Aufstiegsgedanken und trennten sich teilweise von ihren Herkunftsmilieus, den traditionellen Fraktionen der Mittelklasse.
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Schon ein kurzer Blick auf die mittleren Arbeitnehmermilieus macht deutlich, dass jedes Milieu und jede Milieu- und Klassenfraktion im Rahmen seiner Lebensvorstellung bestimmte Strategien und Prinzipien hat, mit denen Verunsicherungen wahrgenommen und bewältigt werden. Das einigende Band in den mittleren Milieus ist „der Erwerb eines geachteten Status durch Leistung oder Pflichterfüllung“ (Vester/Gardemin 2001a: 463). Innerhalb dieses Orientierungsrahmens konnten von der Arbeitsgruppe AGIS über multivariate Analyseverfahren (Cluster- und Faktorenanalyse) drei Fraktionen der Leistungsorientierten Mitte herausgestellt werden: die Asketen, die Etablierten und die Geprellten. Erst die differenzierte Analyse der unterschiedlichen Fraktionen der Leistungsorientierten Mitte kann die Prekarisierungsdynamiken und die damit einhergehenden Widersprüche in den Blick bekommen. „Hier prallen die Widersprüchlichkeiten der Mitte – und damit auch der gesamten Gesellschaft – deutlich aufeinander. In der leistungsorientierten Mitte wird die ökonomische Krise zur Sinnkrise der Leistungs- und Aufstiegsorientierten.“ (Gardemin 1997) Allein die hier kurz skizzierten Profile von konkurrierenden Fraktionen der Mitte zeigen auf, dass das in Öffentlichkeit wie Wissenschaft häufig strapazierte Bild der sich öffnenden Schere die Sozialstruktur der Prekarisierung nicht abzubilden vermag. Statt die Prekarisierung mit der „einfachen Figur einer sich langsam spreizenden Schere, der alle auf die gleiche Weise unterworfen sind“ zu vergleichen, beschreibt Vester die Prekarisierung und deren subjektive Wahrnehmung und Bewältigung zu Recht mit „einem Mosaik verschiedener Milieus, in denen sich die nach beiden Seiten aufgehenden Scheren sozialer Ungleichheiten vielfach und vieldimensional wiederholen und abwandeln“ (Vester 2002: 102; vgl. auch Pelizzari in diesem Band). Die Metapher des Mosaiks beschreibt plastisch die Beobachtung, dass die Verunsicherung der ArbeitnehmerInnenmilieus in der gesellschaftlichen ‚Mitte‘, im Zentrum zunimmt. Das Bild verdeutlicht, dass die Dynamik der Prekarisierung auf weite Teile der abhängig Beschäftigten einwirkt. Die Bewältigungs- und Umstellungsstrategien erfolgen nach Klassen- und Milieufraktionen unterschiedlich (vgl. Gardemin 2006: 327ff; Vester/Gardemin 2001: 257ff). Die Milieus greifen dabei auf die Traditionen ihres Habitus und ihre erprobten „Umstellungsstrategien“ (Bourdieu) zurück, um sich den arbeitsmarktlichen Anforderungen anzupassen. Dieser Anpassungsprozess, die Herstellung ihrer „Paßfähigkeit“ (Zimmermann 2000) ist dann von Erfolg gekrönt, wenn die sozialen AkteurInnen sich auf die habituellen und milieuspezifischen Traditionen verlassen können, wenn ihre Dispositionen, wie es Bourdieu (2001: 207) ausdrückt, der „neuen Ordnung“ gegenüber funktional sind. Die Notwendigkeit, sich auf neue sozialstrukturelle Bedingungen einzustellen und sich den arbeitsmarktlichen Anforderungen anzupassen, betrifft alle (Arbeitnehmer-)Milieus und Klassenfraktionen gleichermaßen. Wer zu den GewinnerInnen- und VerliererInnengruppen zählt, lässt sich nur durch eine differenzierte Analyse klären. Wie das Beispiel der mittleren Arbeitnehmermilieus belegt, kann auch ein Privileg, wie das „Kapital der Ehre“ (Vester 2006: 273) zum „Hemmschuh im Wettbewerb mit weniger gut gestellten sozialen Gruppen“ (Bourdieu 2001: 208) werden. Der soziale Raum ist eben „nicht einfach ein Klettergerüst, auf dem um die besten Plätze gestritten wird, sondern ein Kräftefeld, das nur durch seine Akteure zustandekommt“ (Vester 2002: 63). 16 Häufig folgen Prekaritätsanalysen 16 „Daraus ergibt sich, dass die Habitustypen nicht wie Schubkästen auf einen abgeteilten Platz im Regal der Milieutypen festgelegt sind.“ (Vester 2002: 77)
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eindimensionalen Modellen und gehen unterschwellig davon aus, dass unten im sozialen Raum ein Teufelskreis sozialen Handelns und oben die Glücksspirale waltet. Dabei werden die komplexen Bewältigungsstrategien der arbeitnehmerischen Milieu- und Klassenfraktionen verkannt. Auch die in den Kämpfen der Felder unterlegenen sozialen AkteurInnen sind nicht aller Ressourcen, Fähigkeiten und Möglichkeiten beraubt. Zu diesen Ressourcen zählen, wie Vester (2005: 27) belegt, „die – bewussten oder vorbewussten – Strategien, mit denen die Angehörigen sozialer Klassen ihre Bildungs- und Berufswege verfolgen, um ihre erreichte soziale Stellung zu sichern. Hierzu gehören auch erhebliche Fähigkeiten, sich auf neue sozialstrukturelle Bedingungen umzustellen“. Spricht man den benachteiligten Gruppen oder den in den Kämpfen unterlegenen AkteurInnen die Ressourcen und Kompetenzen zur Bearbeitung der Veränderungen der Lebenswelt ab, die sich aus dem Wandel der Sozialstruktur und aus der prekären Lage ergeben, verdoppelt sich durch den sozialwissenschaftlichen Blick die Stigmatisierung, die sich aus den Ungleichheitsrelationen (Einkommen, Beruf/Status, Bildung, Geschlecht, Ethnizität) ergeben (vgl. Bittlingmayer/Bauer 2006: 217ff). „Klassifikation und Zuschreibung avancieren“, wie Neef und Keim (2007: 12) in ihrer ‚Untersuchung über deutsche und französische Problemviertel‘ überzeugend nachweisen, „zu einer eigenen Form sozialer Ungleichheit“. Diese besondere Form sozialer Ungleichheit bezeichnet Bourdieu als „symbolische Gewalt“, als „symbolische Herrschaft“ bzw. als „symbolische Macht“. Kennzeichen dieser ‚symbolischen Gewalt’ ist nach Bourdieu gerade ihre Verkennung als Gewalt und ihre Anerkennung als legitime Macht (vgl. Rademacher 2007). Durch diesen Verkennungsprozess wird die symbolische Gewalt unter Mitwirkung der Beherrschten und mit ihrem Einverständnis ausgeübt. „Die symbolische Gewalt ist jene Gewalt, die, indem sie sich auf die ‚kollektiven Erwartungen‘ stützt, auf einen sozial begründeten und verinnerlichten Glauben, Unterwerfungen erpreßt, die als solche gar nicht wahrgenommen werden.“ (Bourdieu 1998: 174)
Basiert die symbolische Gewalt auf der Komplizenschaft von Herrschenden und Beherrschten, dann verlängert die sozialwissenschaftliche Analyse durch die Verwechslung von ‚topic‘ und ‚resource‘, also von Untersuchungsgegenstand und Erkenntnismittel, die symbolische Gewalt. Mit welchen Kategorien, Begriffen und Theorien die Praxis der sozialen AkteurInnen sozialwissenschaftlich (re-)konstruiert wird, ist nach Bourdieu ein eminent politischer und machtvoller Prozess, weil er Wirklichkeit konstituiert: „Die symbolische Macht, die Macht, das Gegebene zu konstituieren, indem man es ausspricht“ (Bourdieu/Wacquant 1996: 183). Bleiben diese ‚performativen Akte‘ unreflektiert, kommt es nach Bourdieu zu einem „intellektualistischen bias“ (ebd.: 67), der dazu führen kann, dass „die differentia specifica der Logik der Praxis“ (ebd.) verfehlt bzw. verzerrt wird. Diese Verzerrung durch den intellektualistischen Bias wird noch dadurch verschärft, dass die sozialwissenschaftlich eingenommene Defizitperspektive die individualisierte Leistungsideologie der „respektablen Arbeitnehmermilieus“ bedient. Da gerade die arbeitnehmerische Mitte, vor allem das leistungsorientierte Arbeitnehmermilieu mit den Fraktionen der etablierten, asketischen und geprellten von der Ideologie der meritokratischen Triade durchzogen sind, wird hier gewissermaßen die symbolische Sinnwelt ohne Rekurs auf Klasse, Geschlecht, Ethnizität konstruiert. Diese „Klassenlosigkeit als Konstrukt“ (Bittlingmayer/Kraemer 2001) hat Auswirkungen auf die Beurteilung der Strategien der anderen Milieus. Entlang der „Trennlinie der Respektabilität“ werden die Bearbeitungs- und Bewältigungsstrategien der „unterprivilegierten Volksmilieus“ mit ihrer
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durch die Milieustammbäume bedingten Ausrichtung auf „flexible Gelegenheitsorientierung“ bzw. „Spontaneität und Anlehnung“ (vgl. Vester et al. 2001: 522ff) abgewertet. Obwohl die „unterprivilegierten Milieus (…) durch ihre seit Generationen eingeübten Strategien der flexiblen Gelegenheitsorientierung auf die neue soziale Unsicherheit besser vorbereitet sind als andere Milieus“ (Vester 2006: 271), können weite Teile des Milieus ihre Strategien auf dem Arbeitsmarkt nicht langfristig erfolgreich anbieten. Die unterschwellig und unreflektiert angelegte Messlatte von erfolgreichen und erfolglosen Bewältigungsformen ist die individualistisch Leistungsideologie der prozentual starken mittleren ArbeitnehmerInnenmilieus. Im Hintergrund läuft das Modell des Mittelklassebürgers und seiner Kompetenzen und Bewältigungsformen geräuschlos mit. Wegen dieses Mittelklassebias werden die Ressourcen und Kompetenzen der AkteurInnen ungleich bewertet. Die Bewertung erfolgt anhand der sozialen Ungleichheitstrennlinien. Dadurch dass die Mittelklasse die Maßstäbe setzt, können bestimmte Akteursgruppen ihre Ressourcen und Bewältigungsstrategien erfolgreicher anbieten als andere. Die Bearbeitungs- und Umstellungsstrategien vor allem der unterprivilegierten Klassen- und Milieufraktionen erfahren eine Abwertung: „Gerade die traditionellen Arbeitermilieus drohen so, durch die ‚öffentliche Dominanz der klassenlosen symbolischen Sinnwelt der neuen Mittelschichten‘ (…) eine neue Form symbolischer Gewalt zu erfahren“. (Pelizzari 2007: 71f) Vor allem die etablierte Fraktion der so genannten leistungsorientierten ArbeitnehmerInnenmilieus profitiert von der Konstruktion der Klassenlosigkeit, die sich u.a. in der Ausblendung von sozialen Ungleichheitsprozessen von Geschlecht, Herkunft und Ethnizität zeigt. Da ein großer Teil der sozialwissenschaftlichen Exklusions- und Prekaritätsanalysen durch ihre Verwechslung von ‚topic‘ und ‚resource‘ die Differenz zwischen der Logik des Alltagslebens und der Logik des wissenschaftlichen Diskurses einzieht, kommt es zur Trübung und Verzerrung des soziologischen Blicks (vgl. Engler/Zimmermann 2002: 42ff). Kritische Prekaritätsanalysen hätten allerdings die Aufgabe durch eine reflektierte Analyse und Aufklärung dazu beizutragen, „die symbolische Gewalt innerhalb der sozialen Beziehungen zu verringern“ (Bourdieu 1998a: 21f). Durch die Ausblendung milieu- und klassenspezifischer Habitusformen bei der Bewältigung unsicherer Beschäftigung folgen die gängigen sozialwissenschaftlichen Prekaritätsanalysen einer impliziten Defizithypothese, die einer Individualisierung sozialer Ungleichheit unbeabsichtigt Vorschub leistet. Paradoxerweise wird durch diesen ‚blinden Fleck’ der aktuellen Prekaritätsdebatte die soziale Ungleichheit verschärft und der ‚Schleier der symbolischen Gewalt’ (Bourdieu) dichter gewebt.
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Armut, soziale Ungleichheit und die Perspektiven einer „Erneuerung der Sozialkritik“
Olaf Groh-Samberg
In ihrem Buch Der neue Geist des Kapitalismus versuchen Boltanski/Chiapello (2003) zu erklären, wie es dem Kapitalismus gelungen ist, die kritischen Energien und Strömungen, mit denen er sich in den 70er und 80er Jahren noch konfrontiert sah, zu vereinnahmen und zu neutralisieren – nicht zuletzt, um von dieser Analyse ausgehend auch Perspektiven einer Erneuerung der Kritik aufzeigen zu können. Ihre zentrale These lautet, dass der moderne Kapitalismus einen Teil dieser Kritik, die „Künstlerkritik“, die sich auf die Standardisierungen der Arbeits- und Lebensweisen und die starren betrieblichen Hierarchien bezog, in sich aufnehmen konnte, während die Kritik an den sozialen Ungleichheiten und Ungerechtigkeiten, die „Sozialkritik“, darüber weitgehend in Vergessenheit geraten konnte – und dies gerade zu einer Zeit, als der sich flexibel aus seinem fordistischen Korsett lösende Kapitalismus neue soziale Verwerfungen und Spaltungen in ungeahntem Ausmaß zu produzieren begann. Boltanski/Chiapello betten diese Analyse in einen theoretischen Erklärungsrahmen ein, der eine immanente Dialektik zwischen dem ‚Geist des Kapitalismus’ und der Kritik an ihm entfaltet. In der Tradition von Weber und Durkheim machen sie deutlich, dass der Kapitalismus als gesellschaftliche Formation nicht einfach einen Überbau an Ideologien produziert, sondern essentiell auf intellektuellen Rechtfertigungsideologien basiert, die ihm Sinn und Geist verleihen. Und in – weniger expliziter – Tradition der kritischen Theorie zeigen sie, wie sich der kapitalistische Geist aus der Kritik und Opposition gegen ihn beständig erneuert und transformiert. Die breit angelegte Analyse der Dialektik von Kapitalismus und Kritik hat einen zeitgeschichtlich und klassensoziologisch konkreten Gegenstand und Adressaten. Sie lässt sich lesen als einschneidende Kritik an der Generation und dem intellektuellen Milieu der 68er. Denn diese Generation von Intellektuellen und Aktivisten war es, die – zum vorläufig letzten Mal – aus dem Zentrum der kapitalistischen Welt heraus eine umfassende Kritik an ihm entwickelt und fundamentale Alternativen artikuliert hat. Aber diese Generation war es auch, deren zunehmend ästhetisch und intellektuell orientierte Kritik vom Geist des Kapitalismus selbst erfasst und vereinnahmt wurde, und die über dem halb schmerz- und halb lustvollen Prozess realpolitischer Veränderung den Blick und den Sinn für die sich erneut dramatisierenden sozialen Ungleichheiten und Polarisierungen weitgehend aus dem Auge verloren hat. Eindringlich beschreiben Boltanski/Chiapello im „Prolog“ ihres Buches das Versagen der Sozialkritik, und fragen: „wieso sie [die Sozialkritik, O.G-S.] unfähig war, die laufende Entwicklung zu begreifen, weshalb sie gegen Ende der 70er Jahre plötzlich von der Bildfläche verschwand und einem Kapitalismus, der sich neu formierte, fast zwei Jahrzehnte lang das Feld überlassen (...) hat. Wir wollten verstehen, wie es kommen konnte, dass sich viele ‚68er’ in der neu entstehenden Gesellschaft in einer Art und Weise wohl fühlten, dass sie diese sogar verteidigten und den Umbau förderten.“ (Boltanski/Chiapello 2003: 21f)
Armut, soziale Ungleichheit und die Perspektiven einer „Erneuerung der Sozialkritik“
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Der vorliegende Beitrag möchte die von Boltanski/Chiapello skizzierten Perspektiven für eine „Erneuerung der Sozialkritik“ aufgreifen und weiterverfolgen, und zwar aus der Perspektive der soziologischen Ungleichheitsforschung. Wenn man den Einschätzungen von Boltanski/Chiapello folgt, dann ist die Soziologie mitschuldig am Versagen der Sozialkritik. Als die neoliberale Ideologie die strategischen Stellungen in Wirtschaft und Politik eroberte und die Weichen der Zukunft auf Entsolidarisierung und Ausgrenzung stellte, schwelgte insbesondere die deutsche Soziologie in Träumen von Überfluss und Pluralisierung. Die Illusion, die sie damit nährte, dass der moderne Kapitalismus einer geradlinigen Entwicklung zu mehr Chancengleichheit, sozialer Absicherung und Leistungsgerechtigkeit folgen würde, stellt möglicherweise eine der größten Fehleinschätzungen der modernen Sozialwissenschaften dar. Wenn die Struktur und Entwicklung sozialer Ungleichheiten in jüngerer Zeit erneut als eine problematische Dynamik des modernen Kapitalismus thematisiert wird, dann kommen die Anstöße zu dieser Sensibilisierung wohl weniger aus der deutschen Soziologie als von außen. Zwei Entwicklungen sozialer Ungleichheit haben in jüngerer Zeit besondere Aufmerksamkeit auf sich gezogen: Das ist zum einen die Zunahme von Armut und sozialen Ausgrenzungen, die sich bereits seit den 80er Jahren beobachten lässt, aber gerade in jüngster Zeit deutlich an Tempo gewonnen hat und – nicht zuletzt im Kontext der Debatten um ‚Hartz IV’ – zunehmend die Gemüter bewegt. Zum zweiten geht es um die kaum gebrochene Abhängigkeit der Bildungs- und Lebenschancen von der sozialen Herkunft. Die weitgehende Stabilität relativer Chancenungleichheiten ist ebenfalls alles andere als ein neuartiger Befund für die soziologische Bildungs- und Mobilitätsforschung. Vor dem Hintergrund einer geradezu beschwörenden Betonung der gesellschaftlichen Bedeutung von Bildung ist vor allem mit den PISA-Studien die Abhängigkeit der Bildungschancen von der sozialen Herkunft wieder in das allgemeine Bewusstsein gerückt. 1 Die beiden genannten Aspekte sozialer Ungleichheit, Armut und intergenerationale Mobilität, betreffen jeweils Kernbereiche der sozialen Gerechtigkeit. Die Bekämpfung von Armut und die Sicherung von Mindeststandards der gesellschaftlichen Teilhabe folgt traditionellen Vorstellungen der Bedarfsgerechtigkeit und der staatlichen Absicherung von Mindeststandards der Teilhabe. Die Herstellung von Chancengleichheit, zumindest aber die Wahrung von Leistungsgerechtigkeit, stellt dagegen eine fundamentale Norm ’freiheitlicher’ Gesellschaften dar. In der Konzeption der ‚sozialen Marktwirtschaft’, die – mit unterschiedlichen Akzenten – das Selbstverständnis des modernen Kapitalismus prägt, sind beide Gerechtigkeitsprinzipien miteinander verknüpft: Soziale Ungleichheiten gelten solange als legitim und sogar als notwendig, wie sie individuelle Leistungsunterschiede widerspiegeln und solange auch die schwächsten sozialen Gruppen noch von der wettbewerbsinduzierten Wohlstandsentwicklung profitieren können. Im Folgenden werden zunächst empirische Befunde zur Entwicklung von Armut und zur Stabilität sozialer Chancenungleichheit rekapituliert. Sie verweisen nachdrücklich darauf, dass die in der fordistischen Periode institutionell und mental verankerten sozialen Gerechtigkeitsnormen durch die Realität der sozialen Ungleichheiten fortwährend und zu-
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Eine dritte Entwicklung betrifft die Prekarisierungen der Erwerbsarbeit. Sie ist eng und ursächlich mit der Dynamik wachsender Armut und sozialer Ausgrenzungen verbunden, reicht aber als allgemeine Tendenz der Verunsicherung des Statuserhalts auch in hoch qualifizierte Gruppen hinein. Sie wird als solche in diesem Beitrag allerdings nur am Rande erwähnt (vgl. auch Pelizzari in diesem Band).
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nehmend verletzt werden. Daran schließt sich – folgt man der Argumentation von Boltanski/Chiapello – jeweils die Frage an, wie diese Entwicklungen soziologisch erklärt und dabei in Beziehung zum Kapitalismus gesetzt werden können. Boltanski/Chiapello entwickeln mit den Konzepten der ‚Bewährungsprobe’ und einer allgemeinen Ausbeutungsgrammatik zwar einen eigenständigen Erklärungsversuch der Ungleichheitsentwicklung – er bleibt jedoch relativ abstrakt und gerade aus ungleichheitssoziologischer Perspektive wenig pointiert.
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Armut, Ausgrenzung, Ausbeutung
Die Zunahme von Armut und sozialer Ausgrenzung ist vielleicht die wichtigste Entwicklung, an der eine „Erneuerung der Sozialkritik“ ansetzen kann und auch tatsächlich ansetzt (vgl. Boltanski/Chiapello 2003: 379f). Insbesondere der Begriff der sozialen Ausgrenzung ist, aufgrund seines dynamischen und multidimensionalen Charakters, zu einem theoretisch gehaltvollen und politisch wirksamen Begriff aufgebaut worden, der darauf verweist, dass der moderne Kapitalismus aus sich heraus zu neuen sozialen Verwerfungen führen kann, wenn nicht nachhaltig politisch gegengesteuert wird. Gleichwohl ist der Begriff – zumal in der Abgrenzung gegenüber dem älteren Begriff und Phänomen der Armut – in zentralen Punkten unscharf und mehrdeutig geblieben. Diese Unschärfe betrifft insbesondere die Frage, inwiefern mit dem Konzept der Ausgrenzung auf eine historische neuartige Struktur sozialer Ungleichheiten verwiesen werden soll und wie sich diese zu den traditionellen Strukturen sozialer Ungleichheit verhält. Konkret geht es dabei um das Verhältnis von Ausgrenzung und Ausbeutung. Obwohl von den BefürworterInnen des Ausgrenzungsbegriffs fast lehrbuchartig wiederholt wird, dass Ausgrenzung – anders als Armut – in aktiver Lesart nicht nur die Ausgegrenzten bezeichnet, sondern auf die Ausgrenzung als Prozess und damit auf die Ausgrenzenden zielt, wird dieses Postulat kaum je mit Leben gefüllt. Boltanski/Chiapello kritisieren vielmehr zu Recht: „Im Unterschied zur Ausbeutung profitiert niemand von der Ausgrenzung, so dass auch niemand (...) dafür verantwortlich gemacht werden kann.“ (ebd.: 390) Dennoch nehmen sie das Konzept der Ausgrenzung ernst, „insofern es auf neuartige Formen der Armut verweist“ (ebd.: 391), und betonen nachdrücklich die Notwendigkeit, die Konzepte der Ausbeutung und der Ausgrenzung wieder miteinander zu verbinden. Ihr eigener Versuch, eine „allgemeine Grammatik der Ausbeutung“ auf der Grundlage des Netzwerkgedankens zu entwickeln und den Ausgrenzungsbegriff in diesem Rahmen als Ausbeutung von Mobilitätschancen zu konkretisieren, kann jedoch nicht wirklich überzeugen.
Armutsentwicklung Seit mittlerweile etwa dreißig Jahren nehmen Armut und soziale Ausgrenzungen in Deutschland – sofern wir das empirisch verfolgen können – langsam, aber beständig zu. In den letzten fünf Jahren hat dieser Prozess nochmals deutlich an Fahrt gewonnen: Die Quoten der relativen Einkommensarmut sind so steil gestiegen wie noch nie in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland, und sie haben eine Höhe erreicht, die über dem Niveau
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liegt, das die frühesten verlässlichen Armutsmessungen für Anfang der 1960er Jahre berichten. Abb. 1: Indikatoren zur Armutsentwicklung in (West-)Deutschland 1950-2005 (Bevölkerung in %) 20 18 16 14 12 10 8 6 4 2
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Fürsorge
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Einkommensarmut EVS
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Erläuterungen und Quellen: Fürsorge: FürsorgeempfängerInnen in v.H. der Bevölkerung; Quelle: Hauser et al. 1981: 36. Sozialhilfe: EmpfängerInnen von laufender Hilfe zum Lebens-unterhalt außerhalb von Einrichtungen, jeweils am Jahresende, in v.H. der Bevölkerung; Quelle: Statistisches Bundesamt, Fachserie 13, Reihe 2.1 (ab 2001 alte BL inkl. Berlin). Einkommensarmut EVS: Personen in Einkommensarmut (50% des arithmetischen Mittels, alte OECD-Skala, Jahreseinkommen inklusive Mietwert selbstgenutzten Wohneigentums), nur Privathaushalte mit deutschem Haushaltsvorstand (ohne Spitzeneinkommen, 1973-88: ohne Haushalte mit über 6 Personen), Datenbasis: EVS; Quelle: BMAS 2001: 26. Einkommensarmut SOEP: Personen in Einkommensarmut (60% des Median, modifizierte OECD-Skala, Vorjahreseinkommen inkl. selbstgenutzten Wohnraums) in v.H. der privaten Wohnbevölkerung, Datenbasis: SOEP (1984-2005); Quelle: SOEPmonitor. Arbeitslose: Arbeitslose in v.H. der zivilen abhängigen Erwerbspersonen; Quelle: Bundesanstalt für Arbeit.
Die Abbildung 1 zeigt verfügbare längere Zeitreihen zu zentralen Armutsindikatoren, die alle demselben U-förmigen Verlauf folgen. Einer steilen Abnahme der hohen nachkriegsbedingten Armut folgt eine mehrjährige Talsohle der Armutsquoten in den 70er Jahren. Ende der 70er Jahre beginnt dann der zwar langsame, aber kontinuierliche Wiederanstieg der Armut in Deutschland, der insbesondere in den letzten fünf bis zehn Jahren noch einmal eine drastische Beschleunigung erfährt. Die Zahl der Sozialhilfeempfänger (HLU außerhalb von Einrichtungen) ist zwischen 1970 und 2004 von unter 1% auf 3,6% der Bevölkerung gestiegen. Die Zunahme wäre noch stärker ausgefallen, wenn nicht die Asylbewerber und Pflegebedürftigen ausgegliedert, die Regelsatzanpassung mehrfach gedeckelt und die Restriktionen beim Sozialhilfebezug verschärft worden wären. Im selben Zeitraum stieg die Einkommensarmutsquote von 6,5% (1973) auf 10,9% (1998). Diese Quote wird auf Basis der amtlich alle fünf Jahre erhobenen
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Einkommens- und Verbrauchsstichprobe (EVS) berechnet; Ausländer sind dabei untererfasst. Umfassender lässt sich die Entwicklung der Einkommensarmut ab Mitte der 80er Jahre anhand der Daten des Sozio-oekonomischen Panel (SOEP) verfolgen. Aufgrund der repräsentativen Einbeziehung der ausländischen Wohnbevölkerung und Unterschieden in der Erhebung der Einkommen liegt die Armutsquote auf Basis des SOEP im Niveau durchgehend höher als auf Basis der EVS. Zuletzt sind die Einkommensarmutsquoten sieben Jahre in Folge gestiegen, und zwar von 12,8% im Jahr 1999 auf 18,8% in 2006, also um gut die Hälfte. Den bis dahin letzten Schub hatte es zu Beginn der 90er Jahre gegeben; damals stieg die Einkommensarmutsquote binnen fünf Jahren von 10,7% (1990) auf 15,1% (1995), also ebenfalls um etwa die Hälfte An der Tendenz einer Zunahme der Armut in Deutschland kann nach diesen Daten kein Zweifel bestehen. Kontrovers wird jedoch diskutiert, was sich hinter dieser Entwicklung im Einzelnen verbirgt und wie sich die Armutsentwicklung interpretieren lässt. Auf der einen Seite steht dabei die Diagnose einer Verzeitlichung und Entstrukturierung der Armut (vgl. Leibfried et al. 1995). Sie stützt sich auf eine längsschnittliche Betrachtung von individuellen Armutskarrieren, die deutlich macht, dass Armutsphasen häufig nur kurz andauern und oftmals mit kritischen Passagen im Lebensverlauf verbunden sind. In einer dynamischen Perspektive sind einerseits weitaus mehr Menschen (zumindest kurzzeitig) von Armut betroffen, als in der Querschnittsbetrachtung eines Zeitpunktes, aber andererseits ein nur geringer Anteil kontinuierlich arm. Vor dem theoretischen Hintergrund der Individualisierungsthese wird die Verzeitlichung der Armut als Ausdruck neuer Lebenslaufrisiken interpretiert, die sich quer zu den sozialen Klassen oder Schichten in der Gesellschaft verbreiten und damit zu einer sozialen Entgrenzung der Armut führen. Die Antithese zu diesem Szenario bildet die Diagnose einer entstehenden neuen underclass der „Überflüssigen“ und „Entbehrlichen“ (vgl. Kronauer 2002; Bude/Willisch 2006) oder eines „abgehängten Prekariats“. Den unterschiedlichen Etiketten gemeinsam ist die Vorstellung einer sozialen Schicht am untersten Rand der Gesellschaft, die nahezu vollständig abgekoppelt ist von der Welt der Erwerbsarbeit, im Wesentlichen von sozialstaatlichen Transfers lebt und eine eigene Unterschichtskultur entwickelt, die je nach ideologischer Färbung und intellektuellem Feingefühl in mehr oder minder stereotypen und stigmatisierenden Bildern gezeichnet wird – in übrigens krassem Kontrast zu dem ethnographischen Material, dass die qualitative Forschung über diese sozialen Gruppen gesammelt hat (vgl. etwa Keller 2005). Zwischen diesen Extremen bewegen sich weitere Diagnosen wie die einer Zweidrittelgesellschaft und fortschreitenden Polarisierung von Armut und Reichtum, oder die Diagnose einer „schrumpfenden Mittelschicht“ (Frick/Grabka 2008), die bisweilen zur Annahme drastischer Verelendungstendenzen der Mittelschichten zugespitzt werden. Um diese unterschiedlichen Trenddiagnosen empirisch überprüfen zu können, bedarf es jedoch eines differenzierteren Armutskonzepts, das (a) die Dynamik der Armut, wie auch (b) das Zusammenwirken von Ressourcenmangel und Lebenslagen-Deprivationen, und (c) die Abstufungen und Graubereiche zwischen Armut und Wohlstand, sprich die Formen der Prekarität, zu erfassen vermag.
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Trendanalysen multipler Armut Ein solches Konzept liegt den folgenden Abbildungen zu Grunde (vgl. ausführlich GrohSamberg 2008). Basierend auf den Längsschnittdaten des Sozio-oekonomischen Panels (vgl. Wagner et al. 2007) wurden dazu die Informationen über Einkommen und drei Lebenslagendimensionen (Wohnen, Rücklagendecke und Arbeitslosigkeit) für jeweils fünf aufeinander folgende Jahre derselben Person betrachtet. Die folgenden Erscheinungsformen von Armut und Prekarität konnten unterschieden werden: Zum einen finden wir eine Zone der extremen Armut und – spiegelbildlich – des stabilen Wohlstands. In der Zone der extremen Armut leben Personen, die sich dauerhaft sowohl in Einkommensarmut befinden wie auch Deprivationen in gleich mehreren Lebensbereichen aufweisen. Die Zone des stabilen Wohlstands beschreibt dagegen zwar keine Zone des Reichtums, aber eine Zone der weitgehenden Absenz von Armut und Prekarität. Zwischen diesen Zonen liegen die Zonen der Prekarität und des instabilen Wohlstands. Mit Prekarität ist hier gemeint, dass es innerhalb der jeweils fünf betrachteten Jahre wiederholt zu Phasen, wenn nicht der Einkommensarmut, so doch der Niedrigeinkommen und, wenn nicht der mehrfachen, so doch der Deprivation in einzelnen Lebensbereichen kommt. Die Armut ist zwar nicht dauerhaft manifest, aber ihr langer Schatten ist immer präsent – umgekehrt gibt es hier vereinzelt auch Jahre guter Einkommen oder ohne Lebenslagendeprivationen, aber keine dauerhafte Bannung der materiellen Gefährdungen. Die Zone des instabilen Wohlstands ist, spiegelbildlich, dadurch gekennzeichnet, dass vereinzelte Deprivationen und Jahre geringer Einkommen immer wieder kehren: der Wohlstand zeigt Risse. Während sich diese vier Zonen der Armut, der Prekarität, des instabilen und des stabilen Wohlstands auf einer vertikalen Achse anordnen lassen, finden wir auch quer dazu stehende Erscheinungsformen von Armut und Wohlstand. Der Typus der temporären Armut ist dadurch charakterisiert, dass sowohl Jahre der konsistenten Armut, d.h. Einkommensarmut plus Lebenslagendeprivationen, wie auch Jahre des Wohlstands, mit guten Einkommen und ohne Deprivationen, erfahren werden. Beim Typus der einseitigen Armut ist dagegen der mismatch zwischen Einkommensarmut ohne Deprivationen oder umgekehrt, mehrfache Deprivationen bei soliden Einkommen, auf Dauer gestellt. Während diese beiden Typen der „entstrukturierten Armut“ und die Zone der Prekarität im 5-Jahres-Durchschnitt gesehen ein ähnliches Niveau an materiellen Problemlagen aufweisen, verbergen sich dahinter sehr unterschiedliche Erscheinungs- und Erfahrungsweisen von Armut. Es wird häufig vermutet, dass temporäre und einseitige Armuts-Wohlstands-Lagen typische Erscheinungsformen der ‚neuen Armut’ sind, die nicht mehr als strukturelle Marginalisierung bestimmter sozialer Gruppen zu verstehen sind, sondern als Ausdruck der Risiken individualisierter Lebensläufe. Es zeigt sich aber, dass extreme Wechsel zwischen Armut und Wohlstand, wie auch dauerhafte Inkonsistenzen zwischen Einkommen und Lebenslagen insgesamt eher seltene Erscheinungen sind und vor allem, dass im Zeitverlauf keine Zunahme dieser entstrukturierten Formen der Armut zu beobachten ist, wie es die These der ‚Verzeitlichung der Armut’ nahe legt. Die Abbildun 2 zeigt den Verlauf für die genannten Ausprägungen des Armutsindikators, getrennt für West- und Ostdeutschland. Für beide Landesteile zeigen sich vor allem zwei Trends: Die Zone des instabilen Wohlstands nimmt über den gesamten Zeitraum hinweg stetig ab, und die Zone der extremen Armut nimmt seit Begin der 90er Jahre deutlich zu. Die temporäre und die einseitige
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Armut, aber auch die Zonen der Prekarität und des gesicherten Wohlstands erweisen sich dagegen als weitgehend stabil.
Abb. 2: Trendentwicklung von Armut und Prekarität in West- und Ostdeutschland (19842006; Personen in Prozent)
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Die Armut greift also nicht so stark auf die breite Mitte der Gesellschaft über, wie mit der These von einer Entgrenzung der Armut oder der Prekarisierung der gesellschaftlichen Mitte behauptet. Wie vertiefende Analysen (vgl. Groh-Samberg 2008) zeigen, nimmt die Verfestigung der Armut im Sinne ihrer zeitlichen Verstetigung, ihrer kumulativen Wechselwirkung über verschiedene Lebensbereiche hinweg und damit ihrer Konzentration auf eine bestimmte Bevölkerungsgruppe im Zeitverlauf zu. Die Armut wächst quasi von unten nach oben, im Sinne einer zunehmenden Kumulation materieller Benachteiligungen bei einer kleinen, ohnehin schon benachteiligten Bevölkerungsgruppe, und nicht in Gestalt eines von der Mitte der Gesellschaft her abbröckelnden Wohlstands. Dieser Befund gilt besonders für Ostdeutschland, wo nicht nur die Zone der verfestigten Armut seit Beginn der Wiedervereinigung kontinuierlich größer geworden ist, sondern auch die Zone des gesicherten Wohlstands. Diese Polarisierungstendenz ist indes auch ein Prozess der Angleichung an die westdeutschen Strukturen. Abb. 3: Risikoquoten verfestigter Armut nach Klassenlage (Personen in verfestigter Armut in Prozent) 25%
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Quelle: SOEP, Wellen A-W (gepoolte 5-Jahres-Panel); eigene Berechnungen
Von besonderem Interesse ist neben der zeitlichen Entwicklung die Frage nach den betroffenen Gruppen. Abbildung 3 zeigt den Verlauf der Quoten verfestigter Armut für unterschiedliche soziale Klassen. Dabei zeigt sich ein recht stabiler Zusammenhang zwischen Armut und Klassenstruktur: Hauptbetroffene der Armut sind nach wie vor die Arbeiterklas-
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sen, insbesondere die Klasse der einfachen ArbeiterInnen. Zugleich zeigt sich ein Unterschied zwischen den konjunkturell beeinflussten Verlaufsmustern bei den FacharbeiterInnen und den Mittelklassen und der kontinuierlichen Zunahme der Armutsquoten der einfachen ArbeiterInnen. 2 Insgesamt nimmt die Armut zwar in allen Berufsgruppen tendenziell zu, eine ‚soziale Entgrenzung’ der Armut lässt sich jedoch nicht beobachten. Im Gegenteil, der rapide Anstieg der Armutsquoten bei einfachen ArbeiterInnen deutet eher darauf hin, dass sich im Hinblick auf das Risiko, in eine verfestige Armutslage zu geraten, die sozialen Unterschiede noch weiter vertiefen. Im betrachteten Zeitraum gehören jeweils rund drei Viertel aller Personen in der Zone der verfestigten Armut den beiden Arbeiterklassen an. Freilich wird das Armutsrisiko noch von einer Vielzahl anderer Faktoren beeinflusst. Es ist besonders hoch für Personen mit Migrationshintergrund, für Alleinerziehende und für Familien mit mehr als zwei Kindern – und kumuliert dementsprechend bei den kinderreichen Arbeiterfamilien mit Migrationshintergrund (vgl. ausführlich Groh-Samberg 2008).
Entsteht eine ‚neue Klasse der Entbehrlichen’? Wenn es vor allem die verfestigte Armut ist, die im Zeitverlauf dramatisch zugenommen hat, kann dann von der Entstehung einer neuen Unterklasse der Entbehrlichen gesprochen werden? Die These der Entbehrlichkeit besagt, dass es eine Gruppe von Menschen gibt, die aufgrund ihrer geringen Qualifikationen und Kompetenzen und/oder aufgrund ihrer physischen und sozialen Gebrechen nicht mehr gebraucht werden können, die nutzlos und entbehrlich sind. Damit sind zum einen die subjektiven Erfahrungsweisen sozialer Ausgrenzung angesprochen, denn gerade vor dem Hintergrund verinnerlichter arbeitsgesellschaftlicher Normen ist Nutzlosigkeit eine gefühlte Realität von Langzeitarbeitslosigkeit und Dequalifizierung. Theoretisch bedeutsamer aber ist die politökonomische Dimension, in welcher der Unterschied zwischen der alten Ausbeutung und der neuen Konstellation sozialer Ausgrenzung daran festgemacht wird, dass von der underclass keine fremde Mehrarbeit mehr abgeschöpft wird. Die Ausgegrenzten sind, so die These, für den Kapitalverwertungsprozess nicht nur überflüssig und nutzlos, sie verursachen sogar noch Kosten, da der Sozialstaat sie mit Transfers unterstützen muss. Von einer entbehrlichen Unterklasse kann, mit anderen Worten, dann gesprochen werden, wenn ein nennenswerter Teil der Population, der sich in einer marginalen sozioökonomischen Position befindet, in einer Weise vom Erwerbssystem ausgegrenzt wird, dass er nicht einmal mehr zur Reservearmee gehört. Die Überflüssigen nehmen dann am Arbeitsmarktgeschehen überhaupt nicht mehr aktiv teil, nicht einmal als Arbeitssuchende, die über ihr Angebot an Arbeit die Löhne und Beschäftigungsbedingungen der Beschäftigten drücken könnten. In der Terminologie der Arbeitslosenforschung trifft dies auf die Gruppe der resignierten Langzeitarbeitslosen zu (vgl. Kronauer et al. 1993). Sie haben die Hoffnung auf einen Wiedereintritt ins Erwerbsleben aufgegeben und dementsprechend alle Suchaktivitäten eingestellt. Wenn sie noch arbeitslos gemeldet sind, dann nur, um die Bedingungen 2
Markant ist zudem der sprunghafte Anstieg der Armutsquoten bei den ostdeutschen Mittelklassen in den letzten drei Messperioden. Vertiefende Analysen zeigen, dass er primär auf das Konto der Routine-DienstleisterInnen geht.
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für Transferbezüge zu erfüllen. Streng genommen freilich nimmt eine Person allein durch ihre Arbeitslosenmeldung noch am Arbeitsmarktgeschehen teil, da sie in die offizielle Arbeitslosenstatistik eingeht, von der wiederum Formen der sozialen Angst und damit auch ein Druck auf die Beschäftigten ausgehen. Diese Argumentation unterschätzt jedoch systematisch den Beitrag, den die soziale Konstruktion einer underclass im Kontext der Ausbeutung leistet. Sie ist zweifelsohne ein wirksamer Bestandteil des Reservearmee-Mechanismus – sie dient als Drohkulisse. Herbert Gans (1992) hat bereits vor zwanzig Jahren ganze 16 „positive Funktionen der unwürdigen Armen“ aufgezählt, die fast alle auch heute noch zutreffen. Die symbolische Konstruktionsarbeit einer solchen Klasse, unter welchem Etikett auch immer, folgt letztlich der Logik der Sozialdisziplinierung, die darauf abzielt, eine moralische Trennlinie zu errichten zwischen denen, die sich den Anforderungen prekärer und niedrigentlohnter Arbeit bereitwillig unterwerfen – nicht zuletzt, um ihre Würde zu bewahren – und denen, die das nicht tun und sich damit – der Logik der Sozialdisziplinierung zufolge – selbst als nutzlosen Kostenfaktor für die soziale Gemeinschaft qualifizieren. 3 In seiner historischen Rekonstruktion der „Überflüssigen“ weist Kronauer (1998) zu Recht daraufhin, dass der Gegensatz von arbeitenden Armen und überflüssigen Armen die gesamte (Vor-)Geschichte des industriellen Kapitalismus durchzieht. Die kategorische Unterscheidung zwischen diese beiden Gruppen, die sie in eine scharfe Opposition zueinander bringt, ist bereits ein wesentlicher Aspekt der frühneuzeitlichen Armutspolitik und erhält sich bis heute. Die soziale Konstruktion des ‚überflüssigen Armen’ ist nämlich nur die Rückseite der sozialen Konstruktion der ‚Lohnarbeitsexistenz’. Überflüssige und arbeitende Arme unterscheiden sich denn auch – in der Logik ihrer sozialen Konstruktion – nicht primär in ihren materiellen Lebensbedingungen, als vielmehr in den diametral entgegen gesetzten moralischen Eigenschaften, die beiden Gruppen zugeschrieben wird. 4 Dabei wird jedoch übersehen, dass ein Großteil der Population, die in einer individualistischen und statischen Perspektive als abgekoppelt vom Arbeitsmarkt erscheint, in einer längsschnittlichen und haushaltsorientierten Perspektive durchaus am Erwerbsleben und dem Arbeitsmarktgeschehen partizipieren kann. Empirisch zeigt sich tatsächlich, dass die Gruppe der Personen, die sowohl über einen mehrjährigen Zeitraum wie im Haushaltskontext betrachtet vollständig entkoppelt ist vom Arbeitsmarktgeschehen, so klein ist, dass man hier kaum von der Entstehung einer neuen Unterklasse der Entbehrlichen reden kann. Mit anderen Worten, der größte Teil der Menschen, die in Armut leben und von sozialer Ausgrenzung bedroht sind, leisten nach wie vor – direkt, als zumindest gelegentlich Erwerbstä-
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In den Worten von Gans (1992: 53): „Die unwürdigen Armen legitimieren – das ist die sechste und vielleicht zentralste Funktion – auch die bestehende Hierarchie in der sozialen Schichtung. Bezeichnet man die Menschen ‚ganz unten’ als unwürdig, dann ist automatisch jeder oberhalb von ihnen als würdig anzusehen. Damit wird das System der sozialen Schichtung mit einem moralischen Ethos versehen (...). Natürlich können unwürdige Arme weiterhin zu würdigen Mitgliedern der Gesellschaft werden: (...) etwa indem sie bereit sind, zunächst eine schlechte Beschäftigung im Niedriglohnbereich anzunehmen, z.B. als ‚Hamburger-Umdreher’ in Schnellimbissketten.“ Neben vielen anderen Formen lebt diese symbolische Konstruktionsarbeit fort in der medialen Präsentation von Menschen, die, nur um eine Arbeit zu haben und nicht von staatlicher Unterstützung leben wollen, auch zu Bedingungen arbeiten, die ihnen ökonomisch nicht mehr bringen als das Transferniveau bei Nichtarbeit. Der Respekt, der solchen geladenen Betroffenen in Talkshows von verantwortlichen PolitikerInnen gezollt wird, ist oftmals vergiftet mit der Wut gegen diejenigen, die stattdessen lieber zu Hause bleiben und Transfers beziehen.
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tige, oder indirekt, als Haushaltsangehörige – einen Beitrag an der Arbeitswertschöpfung, oder sie nehmen die klassische Rolle einer ‚Reservearmee’ ein, die durch ihr Angebot an Arbeit die Verhandlungsposition der noch Beschäftigten schwächt.
Ausgrenzung vs. Ausbeutung – und der Geist des Kapitalismus Auch wenn man die Vorstellung einer entbehrlichen Unterklasse empirisch zurückweist, bleibt jedoch die Frage, wie sich die Konzepte der Ausbeutung und der Ausgrenzung miteinander verbinden lassen. Boltanski/Chiapello (2003: 377-448) entwickeln dazu eine eigene, allerdings recht gekünzelt wirkende und wenig überzeugende Argumentation, die auf dem Gedanken aufbaut, „dass die Immobilität der einen eine Voraussetzung der Mobilität der anderen ist“ (ebd.: 400), und in diesem Sinn die Mobilen die Immobilen ausbeuten. Diese sperrige Argumentation verdankt sich dem Versuch, das Ausbeutungskonzept mit dem „Polis“-Konzept zu verknüpfen, worauf hier aber nicht weiter eingegangen werden soll. Systematischer als Boltanski/Chiapello hatte sich bereits der marxistische Klassentheoretiker Erik Olin Wright (1995) mit dem Verhältnis beider Konzepte beschäftigt. Auch Wright formuliert zunächst ein generelles Konzept „ökonomischer Herrschaft“ (economic oppression), und führt dann Ausbeutung und Ausgrenzung als zwei unterschiedliche Formen ökonomischer Herrschaft ein. Ökonomische Herrschaft liegt dann vor, wenn (a) der Wohlstand der einen kausal mit der Armut der anderen verknüpft ist, (b) dieser Zusammenhang über den Ausschluss des Zugangs zu produktiven Ressourcen vermittelt ist und (c) dieser Ausschluss als unmoralisch gilt. Der zentrale Unterschied zwischen Ausbeutung und Ausgrenzung besteht nun darin, dass in einem Ausbeutungsverhältnis der Wohlstand der einen aus den Anstrengungen, der Arbeit der anderen resultiert, während im einfachen Ausgrenzungsverhältnis der Wohlstand der einen schlicht von der Armut der anderen abhängt, also davon, dass sie nichts oder möglichst wenig bekommen. Dieser Unterschied zeitigt grelle Konsequenzen: „The crucial difference between exploitation and nonexploitative oppression is that in an exploitative relation, the exploiter needs the exploited since the exploiter depends upon the effort of the exploited. In the case of nonexploitative oppression, the oppressors would be happy if the oppressed simply disappeared. Life would have been much easier for the European settlers to North America if the continent had been uninhabited by people. Genocide is thus always a potential strategy for nonexploitative oppressors. (...) It is no accident that culturally we have the saying, ‘the only good Indian is a dead Indian’, but not the saying ‘the only good worker is a dead worker’.” (Wright 1995: 92)
In Rahmen dieser Argumentation bestimmt Wright die underclass über das Konzept der ökonomischen Herrschaft, während sich die working poor in einen Ausbeutungszusammenhang stellen lassen. Die ‚zynische’ Schlussfolgerung dieser Argumentation ist, dass die underclass nach der Logik des Kapitalismus tatsächlich überflüssig ist, nicht anders wie die indigenen Einwohner es für die amerikanischen Siedler waren. Da aber der Genozid keine zeitgemäße Strategie des Umgangs mit innerstädtischen Jugendlichen und anderen Angehörigen der underclass sei, trete die massenhafte Inhaftierung und andere Formen der staatlichen Repression an dessen Stelle (vgl. ebd.: 98).
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Die analytisch präzise Unterscheidung von Ausbeutung und Ausgrenzung bei Wright – wie bei anderen VertreterInnen des Ausgrenzungskonzepts – überzeichnet jedoch den rationalen Charakter ökonomischer Herrschaft. 5 Sie unterstellt implizit, dass Ausbeutungsstrukturen auch ohne soziale Ausgrenzungen existieren könnten – was historisch noch nie der Fall war. Ausbeutung und Ausgrenzung sind eher als zwei Seiten desselben Prozesses zu begreifen. Einerseits existieren fließende Übergänge zwischen arbeitenden und überflüssigen Armen, sind es dieselben Personen, die in unterschiedlichen Phasen ihres Lebens der einen oder der anderen Kategorie zugeordnet werden können. Gleichzeitig markiert dieser Unterschied eine reale Konfliktlinie zwischen sozialen Gruppen und Milieus, wobei diese Konflikte durch staatliche und symbolische Politiken angeheizt werden, und so die ‚positiven Funktionen’ der underclass im Sinne einer Reservearmee hervorbringt. Diese sozialdisziplinarischen Politiken, die darauf aus sind, die arbeitenden Armen fortwährend gegen die überflüssigen Armen auszuspielen, und auf diese Weise erst hervorbringen helfen, worauf sie sich beziehen, sind andererseits auch in der Formierung der herrschenden Klassen, im ‚Geist des Kapitalismus’ angelegt. Während diesem Geist die Ausbeutung als legitimer Tausch erscheint, ist die Ausgrenzung, mit ihrer eigentümlichen Mischung aus Verachtung und Nicht-Beachtung, ein authentisches Motiv der herrschenden Klassen.
Die gesellschaftliche Abwertung von manueller und routineförmiger Arbeit Das ‚Neue’ der jüngeren Armutsentwicklung liegt wohl weniger in einer epochalen Veränderung auf der Ebene der Funktionsweise kapitalistischer Ausbeutung, sondern auf der Ebene der Verteilung des gesellschaftlichen Reichtums und der damit verbundenen zeitgeschichtlichen Veränderungen der Klassen- und Milieustrukturen. Insgesamt scheinen sich die gesellschaftlichen Machtverhältnisse in Richtung einer Abwertung geringqualifizierter Arbeit entwickelt zu haben (vgl. Groh-Samberg 2006). Der Rückgang insbesondere an industriellen Arbeitsplätzen für geringqualifizierte ArbeiterInnen, die langsamen Erosionen und Differenzierungen in den facharbeiterlichen Milieus und die infolgedessen reduzierte Verhandlungsmacht der Gewerkschaften dürften dazu ebenso beigetragen haben wie die gezielten ökonomischen, politischen und kulturellen Strategien der herrschenden Klassenfraktionen, sich aus dem Korsett des fordistischen Klassenkompromisses wieder zu befreien. Die Abwertung manueller und routineförmiger Arbeit erschöpft sich mitnichten in ‚modell-ökonomischen’ Prozessen von Rationalisierung, globalem Wettbewerb und Marktpreisbildungen für einfache Arbeitstätigkeiten. Sie ist auch nicht vollständig beschrieben, wenn man die damit einher gehenden Veränderungen auf arbeitsorganisatorischer Ebene und die Verschiebungen der Prioritätensetzungen zwischen Flexibilität und sozialer Sicherheit in den tariflichen Bestimmungen betrachtet. Die Abwertung gering qualifizierter Arbeit ist vielmehr ein Prozess der Abwertung einer ganzen Lebensweise, mitsamt ihren alltagskulturellen Präferenzen, biographischen Normen und den moralischen Prinzipien sozialer Ordnung. Die Kritik und die Distanzierung von dieser Lebensweise hatte vielfältige Quel5
Das theoretische Problem ist nicht neu: Es geht um die Dialektik von ökonomischer und unmittelbarer Herrschaft (vgl. Adorno 1972).
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len, nicht zuletzt in den Arbeitermilieus selbst. Im Ergebnis blieb jedoch nur die Durchsetzung eines ‚neuen kapitalistischen Geistes’, dem die industrielle Lohnarbeitsexistenz, die über hundert Jahre der umkämpfte Bezugspunkt des kapitalistischen Geistes war, buchstäblich nichts mehr Wert ist (vgl. auch Groh 2002).
2.
Die Illusion der Leistungsgerechtigkeit – Relative Chancenungleichheiten der sozialen Mobilität und des Statuserwerbs
Die zweite Entwicklung sozialer Ungleichheiten, die in jüngerer Zeit Anlass für kritische Schlagzeilen wurde, betrifft die anhaltenden Ungleichheiten der Bildungs- und Statuschancen in Abhängigkeit von der sozialen Herkunft. Damit steht der Kern des Selbstverständnisses des modernen Kapitalismus, das Prinzip der Leistungsgerechtigkeit, in Frage. Das ist gerade in Verbindung mit der wachsenden Armut so bedeutsam, weil die soziale Konstruktion einer Klasse der ‚Entbehrlichen’ nur insofern eine Chance auf Legitimierung besitzt, wie plausibel gemacht werden kann, dass diese Entbehrlichen sozusagen der Bodensatz der Leistungsgesellschaft sind, denen am besten damit geholfen ist, wenn man sie auf geringem Transferniveau absichert und unter konsequenten Sanktionsdrohungen mit den Normen der Arbeits- und Leistungsgesellschaft konfrontiert. Der empirische Nachweis, dass das Prinzip der Leistungsgerechtigkeit von der Realität kapitalistischer Ungleichheitsstrukturen systematisch missachtet und unterlaufen wird, trifft damit ins Herz des ‚kapitalistischen Geistes’.
Der innere Widerspruch des Leistungsprinzips Das Prinzip der Leistungsgerechtigkeit ist das normative Fundament für die Legitimität sozialer Ungleichheiten in kapitalistischen Marktgesellschaften. Soziale Ungleichheiten gelten solange als legitim, wie sie Unterschiede in den individuell erbrachten Leistungen widerspiegeln. Mehr noch, als solche sind soziale Ungleichheiten notwendig, gleichsam das Movens freier Marktgesellschaften, weil erst die leistungsgerechte Gratifikation der individuellen Anstrengungen die optimale Anreizstruktur für Innovation, Wachstum und Wettbewerbsfähigkeit darstellt. Im Konzept der ‚sozialen Marktwirtschaft’ wird das Prinzip der Leistungsgerechtigkeit gleichwohl ergänzt mit dem Prinzip der Sicherung minimaler Teilhabestandards für alle und dem Postulat der Chancengleichheit. Die ‚Versöhnung’ des Leistungsprinzips mit der sozialen Gerechtigkeit geschieht nach dem von Rawls (1975) ausführlich dargelegten Argument, dass auch eine Zunahme sozialer Ungleichheiten infolge von Leistungswettbewerb solange als legitim gilt, wie auch die ärmsten sozialen Schichten absolut gesehen von dieser Entwicklung profitieren können, das heißt solange wie sich ihr eigener Lebensstandard – trotz des wachsenden relativen Abstands zu den reichen Schichten – zeitlich gesehen verbessert. Das Prinzip der individuellen Leistungsgerechtigkeit gerät jedoch an einem Punkt in fundamentalen Widerspruch zur Chancengleichheit, und das ist die Familie. Denn Gratifikationen reizen letztlich nur dann zu individuellen Leistungen, wenn sie mit der Perspektive verknüpft sind, den im eigenen Leben erworbenen Wohlstand, sozialen Status und poli-
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tischen Einfluss auch an die eigenen Kinder weitergeben zu können. Seit den Tagen, als das junge Bürgertum seine Ideen von Gleichheit und Freiheit, sprich Arbeit und Markt, gegen die ständische Welt ins Feld führte, prägt die Stärkung der familialen Bande und die Weitergabe des familialen Erbes als geradezu dynastisches Gegenprinzip die praktische Formierung des Bürgertums als sozialer Klasse. Die Möglichkeit, das im Leben Erreichte an die eigenen Kinder weitergeben zu können, bildet einerseits einen zentralen Anreiz individueller Leistungserbringung; andererseits unterminiert die daraus hervorgehende Ungleichheit kindlicher Startchancen qua Geburt das Prinzip eines fairen Wettbewerbs mit gleichen Startchancen für alle und befördert soziale Strategien der Verteidigung ererbter Privilegien, auch unabhängig von der tatsächlich erbrachten Leistung. Dieser Zusammenhang steht im Hintergrund der empirischen Befunde zur Stabilität relativer Chancenungleichheiten. Obwohl diese Problematik die soziologische Mobilitätsund Bildungsforschung schon lange beschäftigt, ist sie erst in jüngerer Zeit wieder verstärkt ins öffentliche Bewusstsein gerückt, nicht zuletzt ausgelöst durch PISA und andere vergleichende Schulleistungsstudien. Weil diese Studien mehr oder minder unabhängige und vergleichbare Tests von Kompetenzen bereitstellen, ermöglichen sie es etwa zu prüfen, inwiefern es einen Zusammenhang zwischen sozialer Herkunft und Schulerfolg auch bei Kindern mit identischen Kompetenzen gibt. Wenn für die marxistische Klassentheorie die Kritik der politischen Ökonomie den zentralen Bezugspunkt darstellt, so ist das für die neo-weberianische Klassenanalyse die Kritik der meritokratischen Statuszuweisung. Meritokratie bezeichnet das liberale Selbstverständnis moderner Gesellschaften, demnach der soziale Status, den eine Person im Laufe des Lebens erwirbt, ihren tatsächlich erbrachten ‚Leistungen’ und erworbenen Qualifikationen entspricht (vgl. Goldthorpe 1996). Eine Schlüsselstellung nimmt in dieser Konzeption der Meritokratie das Bildungssystem ein (vgl. Solga 2005). Indem die nachwachsenden Generationen im Bildungssystem allein nach ihren individuellen Leistungen bewertet werden, werden sie einerseits mit entsprechend differenzierten Bildungstiteln ausgestattet, und zugleich wird ihnen das Leistungsprinzip als eine allgemeingültige Norm vermittelt. Die empirische Klassenanalyse lässt sich als Programm einer systematischen Kritik der meritokratischen Ideologie verstehen, indem sie empirisch aufzeigt, wie die soziale Herkunft unabhängig von den messbaren ‚Leistungen’ die Lebenschancen beeinflusst. Dabei haben sich zwei Forschungsansätze als fruchtbar erwiesen: die intergenerationale Mobilitätsforschung und die lebensverlaufstheoretische Analyse von Statuszuweisungen.
„The Constant Flux“: Klassenmobilität in industrialisierten Gesellschaften Die soziale Mobilitätsforschung ist ein gutes Beispiel dafür, wie neue statistische Methoden zu neuen theoretischen Einsichten und Perspektiven führen können (vgl. Goldthorpe 2003). Ein Kernproblem der Analyse sozialer Klassenmobilität besteht darin, dass die absoluten Mobilitätsraten – also etwa der Anteil an sozialen Aufstiegen aus den Arbeiterklassen in die Dienstklassen – immer auch die Verschiebungen in der Klassenstruktur widerspiegeln. Wenn die Dienstklasse im historischen Verlauf an Umfang zu- und die Arbeiterklasse abnimmt, weil sich die Wirtschaftsstrukturen verändern, so muss zwangsläufig ein bestimmter Anteil der Kinder aus der Arbeiterklasse in die Dienstklasse aufsteigen, ohne dass dies notwendigerweise eine größere Offenheit und Chancengleichheit in der Gesellschaft an-
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zeigt. Dies hat zur Unterscheidung zwischen struktureller oder erzwungener Mobilität, die letztlich exogene Veränderungen der Klassenstrukturen widerspiegelt, und der „Austauschmobilität“ geführt, die das Ausmaß an Offenheit oder Geschlossenheit der Klassenstrukturen wiedergibt, ohne dass diese Versuche jedoch zu befriedigenden und konsistenten Resultaten geführt haben. In ihrer bahnbrechenden Studie The Constant Flux verwenden Erikson und Goldthorpe (1992) die Methode log-linearer Modelle, um hier zu einem neuen Ansatz zu gelangen. Mithilfe dieser Technik lassen sich die Beziehungen im Innern einer Mobilitätstabelle, also die Beziehungen zwischen einer Herkunfts- und einer Zielklasse, unabhängig von den Randverteilungen (also den Klassenstrukturstrukturen in der Elternund in der Kindergeneration) analysieren. Auf diese Weise lassen sich eine Vielzahl von theoretischen Annahmen empirisch testen, wie sich – unabhängig von absoluten Veränderungen der Klassenstrukturen – die relativen Mobilitätschancen im Vergleich zwischen Geburtskohorten verändern. Ebenso lassen sich internationale Vergleiche über die Offenheit oder Geschlossenheit von Klassengesellschaften anstellen, weil der größte Teil der Variation zwischen verschiedenen Ländern den unterschiedlichen Entwicklungen der Klassenstrukturen geschuldet ist, von denen abstrahiert werden kann. Erikson und Goldthorpe (1992) kommen dabei zu zwei Kernthesen. Die These der „constant social fluidity“ besagt, dass die relativen Chancenungleichheiten der sozialen Mobilität für industrialisierte Länder keinen inhärenten Trend zu mehr oder weniger Offenheit aufweisen, sondern weitgehend konstant sind. Damit widersprechen sie sowohl der marxistischen Polarisierungsthese wie – mit besonderem Nachdruck – der liberalen Modernisierungstheorie. Die zweite Kernthese besagt, dass auch im internationalen Vergleich die relative Klassenmobilität ein zumindest ähnliches Muster aufweist („common social fluidity“). Zusammen genommen lautet damit ihr zentraler Befund, dass es ein „endogenes Mobilitätsregime“ industrialisierter Länder gibt, das alles in allem eine bemerkenswerte Stabilität besitzt. Unterhalb der Ebene der beobachtbaren absoluten Mobilitäten, die sowohl im historischen wie im internationalen Vergleich sehr verschieden ausfallen, existiert also eine weitgehend ähnliche Struktur relativer Mobilitätschancen, die sich weitgehend unbeeindruckt erweist von den historischen Wechselfällen und nationalen Unterschiede der Klassenstrukturen. Während die Erklärung der Varianz von absoluten Mobilitätsprozessen damit eher in historischen als in theoretisch-systematischen Ursachen zu finden sein sollte, stellt die Gleichartigkeit und Stabilität des relativen Mobilitätsregimes industrialisierter Gesellschaften das eigentlich erklärungsbedürftige Phänomen einer Klassentheorie dar (vgl. Goldthorpe 2000). In einer jüngeren von Richard Breen (2004) herausgegebenen Studie sind die Befunde von Erikson und Goldthorpe auf Basis neuerer und verbesserter Daten teilweise korrigiert worden. Insbesondere die These eines weitgehend ähnlichen relativen Mobilitätsregimes in allen industrialisierten Ländern wird von Breen zurückgewiesen. Breen (2004a) stellt vielmehr fest, dass trotz der Angleichungen der absoluten Mobilitätsraten in den europäischen Ländern deutliche Unterschiede in den relativen Mobilitätsregimen existieren, die auch im Zeitverlauf stabil bleiben. Auch in Bezug auf die historische Konstanz der relativen Klassenmobilität zeigen sich zumindest in einzelnen Ländern Ausnahmen, die damit auch deutlich machen, dass das endogene Mobilitätsregime nicht invariant, sondern politisch beeinflussbar ist. Von besonderem Interesse ist der Befund, dass die Beziehung zwischen sozialer Herkunft und eigener erreichter Klassenposition in keinem anderen Land so eng ist wie in
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Deutschland. Müller und Pollak (2004) liefern eine differenzierte Analyse der Veränderungen relativer Klassenmobilitäten in der Kohortenfolge. Sie können zeigen, dass die älteste Generation der 1920-29 geborenen Männer sogar noch eine größere Offenheit der Mobilität aufweist als die 1930-39 geborene Generation, die durch die Migrationsprozesse im Kontext des zweiten Weltkriegs beeinflusst ist. Erst für die Kohorte der in den 1950er Jahren geborenen Männer lässt sich eine Zunahme an sozialer Offenheit konstatieren, die sich auch für die 1960er Kohorte noch fortsetzt. Vertiefende Analysen zeigen, dass diese leichte Zunahme der sozialen Mobilität für die Wirtschaftswunder-Generationen im Wesentlichen durch eine Zunahme der vertikalen Mobilität über verschiedene Hierarchieebenen hinweg erklärbar ist, die sich ihrerseits auf verbesserte Zugangschancen zu Bildungsqualifikationen zurückführen lässt. Innerhalb des EGP-Klassenschemas werden solche Hierarchieschwellen zwischen den Dienstklassen und allen anderen sowie zwischen den ungelernten ArbeiterInnen und allen anderen Klassen verortet. Während diese Schwellen aufgrund abnehmender Bildungsungleichheiten an Gewicht verlieren, bleiben jedoch andere Mobilitätsbarrieren – Vererbungseffekte, Sektoreffekte und positive und negative Affinitäten – weitgehend unverändert hoch. Anders gesagt bedeutet das: Die weitgehende Stabilität der Mobilitätsmuster lässt sich in hohem Maße auf unveränderte Effekte der Selbstreproduktion und Vererbung beruflicher Ressourcen wie Neigungen sowie auf eine unverminderte Distanz zwischen blue-collar und white-collar-Berufen zurückführen. Diese Effekte, die nicht allein der hierarchischen Dimension der Klassenstruktur (in der Abgrenzung des EGP-Schemas) entspringen, erweisen sich relativ unbeeindruckt von der Bildungsexpansion und strukturieren das Mobilitätsgeschehen in hohem Maße.
Klassenherkunft und Bildungserwerb – Mechanismen institutioneller Diskriminierung Der Befund einer weitgehenden Stabilität der intergenerationalen sozialen Mobilität erhält eine besondere Brisanz durch die Befunde einer zweiten Forschungsrichtung, die sich auf die Mechanismen der Statuszuweisung konzentriert. Einen zentralen Ausgangspunkt für die empirische Analyse klassenspezifischer Ungleichheiten des Bildungserwerbs bildet Boudons (1974) Unterscheidung von primären und sekundären Effekten der sozialen Herkunft. Unter den primären Effekte der sozialen Herkunft sind die Unterschiede in den messbaren schulischen Kompetenzen und Leistungen zu verstehen, konkret also der Sachverhalt, dass Kinder höherer sozialer Klassen aufgrund ihrer Sozialisation und elterlichen Unterstützung in der Regel auch bessere schulische Leistungen erzielen, und dementsprechend auch erfolgreichere Bildungsverläufe und höhere Bildungsabschlüsse erreichen. Die Kritik dieses Zusammenhangs bildete den Ausgangspunkt für die bildungsreformerische Forderung nach einer ‚kompensatorischen Erziehung’, also den Ausgleich der in der familialen Primärsozialisation vermittelten klassenspezifisch unterschiedlichen ‚Startchancen’ durch die Schule. Die Crux der empirischen Analyse klassenspezifischer Bildungsungleichheiten liegt jedoch darin, zu zeigen, dass sich die Klassenungleichheiten auch dann noch reproduzieren, wenn man die primären Herkunftseffekte quasi als legitime Quellen sozialer Ungleichheit konzediert und statistisch kontrolliert. Die Wirksamkeit sekundärer Effekte der sozialen Herkunft auf den Statuserwerb besagt nichts anderes, als dass Angehörige höherer Klassen auch bei gleichen Kompetenzen und Leistungen noch systematisch gegenüber unteren sozialen Klassen privilegiert werden.
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Solche sekundären Effekte sind für verschiedene Ebenen und Übergänge im Lebensverlauf empirisch nachgewiesen worden, vor allem jedoch im Bildungsverlauf. Wiederholt konnten etwa klassenspezifische Ungleichheiten in der Benotung sowie in den Übergangsempfehlungen am Ende der Grundschulzeit nachgewiesen werden (vgl. zusammenfassend Ditton 2004). Offenbar beurteilen LehrerInnen ihre Schüler nicht allein aufgrund ihrer Leistungen, sondern auch unabhängig davon nach der sozialen (und ethnischen) Herkunft. Die auch bei gleichen schulischen Kompetenzen oder Leistungen klassenspezifisch ungleiche Verteilung auf die verschiedenen Schulformen (Haupt-, Realschule und Gymnasium; vgl. Baumert/ Schümer 2001) resultiert jedoch nicht allein aus der ungleichen Bewertung und Zuteilung durch die LehrerInnen bzw. die Schule, sondern auch aus den unterschiedlichen Schulwahlentscheidungen der Eltern. Während in der von Boudon ausgehenden Forschungstradition die elterlichen Entscheidungsprozesse alleinig im Vordergrund stehen, hat die neuere Forschung eine Vielzahl institutioneller sekundärer Effekte aufgedeckt (vgl. Dravenau/GrohSamberg 2005). Neben den genannten Selektions- und Bewertungsprozessen ist hier insbesondere die unterschiedliche Förderintensität der drei Schulstränge zu nennen. Baumert et al. (2000) konnten nachweisen, dass die Kompetenzentwicklung auch unter Kontrolle der Eingangsvoraussetzungen in den unterschiedlichen Schulformen unterschiedlich verläuft, und sprechen hier von „schulformspezifischen Entwicklungsmilieus“. Für eine spätere Schwelle, nämlich den Übergang von der Berufsausbildung zur Arbeitsmarkteinmündung, konnte Solga (2002) zeigen, dass ausbildungslose Jugendliche noch über das Maß ihrer zertifizierten Benachteiligung hinaus auf dem Arbeitsmarkt ausgegrenzt werden. Sie bezeichnet dies als „Stigmatisierungseffekt“ der Ausbildungslosigkeit. Den genannten Studien ist gemeinsam, für jede der betrachteten Schwellen im Statuserwerbsprozess sekundäre Herkunftseffekte empirisch identifizieren zu können, die über jenes Maß an sozialer Ungleichheit hinaus gehen, das aus der Perspektive des meritokratischen Prinzips als legitim erscheint. Das Leistungsprinzip zieht seine ideologische Kraft nicht zuletzt aus dem Umstand, dass die sekundären Effekte ‚mit dem bloßen Auge’ nicht zu erkennen sind, sondern erst nach ‚statistischer Kontrolle’ der primären Effekte sichtbar werden. Mehr noch, so wird die systematische Gewalt der sekundären Effekte erst dann sichtbar, wenn man sich ihre Akkumulation über den gesamten Lebensverlauf vergegenwärtigt. Denn das, was in einem späteren Statuserwerbsprozess als primärer Effekt wirkt, ist bereits selbst die Summe primärer und sekundärer Effekte früherer Statuserwerbsprozesse. Auf dem Arbeitsmarkt etwa ist der Bildungstitel Träger eines primären Effekts, und nur die Ungleichheiten des Berufseinstiegs, die nicht über den Bildungstitel legitimiert sind, bilden die sekundären Effekte in diesem Übergangsprozess. Aber der Bildungstitel ist selbst bereits Ergebnis primärer Effekte – etwa der Noten in der Sekundarstufe II – und sekundärer Effekte, wie die sozial selektive Schulwahl oder Schulempfehlung. Und die Noten der Sekundarstufe II lassen sich wiederum zerlegen in primäre Effekte und sekundäre Effekte, wenn man sie etwa mit einem möglichst unabhängigen Kompetenztest konfrontiert und die herkunftsspezifischen Unterschiede in der Fähigkeit, kognitive Kompetenzen auch in gute Lehrerbewertungen umzusetzen, als sekundäre Effekte dieses ‚Statuserwerbsprozesses’ betrachtet. Man kann, mit anderen Worten, die Boudon’sche Unterscheidung primärer und sekundärer Effekte in einen allgemeineren analytischen Rahmen stellen, der sich auf alle Prozesse der sozialen Zuschreibung und des damit verbundenen Statuserwerbs bezieht – sofern es für diese angebbare ‚legitime’ Grundlagen im Sinne der Leistungsgerechtigkeit bzw. der
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Meritokratie gibt. Primäre Herkunftseffekte beschreiben dann die zum betreffenden Zeitpunkt tatsächlich erreichte Ungleichverteilung der Kompetenzen und Fähigkeiten, die als legitime Grundlage für den Erwerb eines bestimmten Status gelten. Die sekundären Herkunftseffekte rühren dagegen aus sozial ungleich verteilten Fähigkeiten, Ressourcen oder Motiven, die zwar faktisch den Statuserwerb beeinflussen, aber nicht als legitime Gründe gelten können. Weil jedoch die Chancen zur Entwicklung von Kompetenzen und Fähigkeiten, im Lebensverlauf gesehen, abhängig sind von den Statuszuweisungen und Laufbahnselektionen früherer Übergangsentscheidungen, übersetzen sich die sekundären Effekte dieser früheren Übergänge in die primären Effekte späterer. Auch wenn auf jeder Stufe des Statuserwerbsprozesses die empirisch nachweisbaren sekundären Effekte nur gering sein mögen, so addieren sie sich über den gesamten Lebensverlauf zu einer enormen „strukturellen Gewalt“ (Galtung) klassenspezifischer Chancenungleichheiten (vgl. Mayer/Blossfeld 1990).
Klassentheorie Die empirische Klassenanalyse liefert damit eine ganze Reihe von Befunden, die geeignet sind, die verbreiteten Vorstellungen einer Irrelevanz sozialer Klassen ins Reich der Mythen und der Ideologie zu verweisen. Und sie leistet eine systematische Kritik der meritokratischen Leistungsideologie, die nach wie vor den legitimatorischen Grundpfeiler sozialer Ungleichheiten darstellt. Gerade in Deutschland, wo man häufig nur mit Zimperlichkeitsattitüden von sozialen Klassen redet, ist der Zusammenhang von Klassenherkunft, Bildungserwerb und eigener erreichter Klassenposition so eng wie in kaum einem anderen entwickelten Land auf der Welt. Angesichts dieser empirischen Befunde stellt sich die Frage, wie sich diese theoretisch erklären und insbesondere in Beziehung zum Kapitalismus setzen lassen. Während die empirische Klassenanalyse in den letzten Jahrzehnten bedeutsame Weiterentwicklungen erfahren hat und dabei durchaus gemeinsame systematische Perspektiven verfolgt, ist die Theorie sozialer Klassen weitgehend vernachlässigt worden bzw. in unterschiedliche Ansätze fragmentiert, die sich kaum aufeinander beziehen. Dabei lassen sich vor allem drei klassentheoretische Ansätze oder Theorietraditionen unterscheiden, die jeweils einzelne Dimensionen sozialer Klassen in den Vordergrund stellen: Die marxistische Klassentheorie zeichnet sich durch die Betonung der antagonistischen Herrschaftsbeziehungen und die makrostrukturellen Rückbindung der Klassendynamiken an die des Produktionssystems aus, die Klassentheorien Goldthorpes (2000) durch den Rückbezug auf sozioökonomische Theorien des rationalen Handelns und des Marktgeschehens, die kulturalistischen Theorien – etwa von Pierre Bourdieu (1987) oder Paul Willis (1977) – durch die Betonung des Eigensinns klassenkultureller Praktiken. Alle drei klassentheoretischen Ansätze unterscheiden sich freilich in ihrem Theorieverständnis, ihren Erkenntnisinteressen und normativen Implikationen und dementsprechend auch in der Konzeption des Verhältnisses von Theorie und Empirie. Hier kann es nicht um einen systematischen Vergleich dieser Ansätze gehen, der vor allem ihre Unterschiede, möglicherweise sogar ihre Inkommensurabilität hervorkehren würde. Vielmehr werde ich versuchen, anhand einiger zentraler Themenkomplexe anzudeuten, wie sich diese Ansätze auch ergänzend lesen lassen. Goldthorpe selbst hat die Ausarbeitung einer mikrosozialen Klassentheorie, die eine Erklärung für den Kernbefund einer weitgehenden Stabilität der relativen Klassenmobilitä-
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Olaf Groh-Samberg
ten liefern könnte, in den letzten zehn Jahren in den Mittelpunkt seiner Arbeiten gerückt (vgl. Goldthorpe 2000). Er greift dabei auf die rational action theory (RAT) zurück. Im Zentrum seiner Überlegungen steht die Annahme, dass sich die sozialen Mobilitätsprozesse auf strategische Handlungsentscheidungen der sozialen Akteure zurückführen lassen, die unter den mit ihrer Klassenlage gegebenen Restriktionen und Opportunitäten als rational zu begreifen sind (vgl. Goldthorpe 2000). Das universale rationale Motiv, dem alle sozialen Akteure folgen, ist das des Statuserhalts, bzw. der Vermeidung eines sozialen Abstiegs. Goldthorpe argumentiert weiter, dass sich allein mithilfe der Kernannahme des Statuserhaltungsmotivs – und ohne Rekurs auf „subkulturelle Normen“ – die Stabilität klassenspezifischer Chancenungleichheiten erklären lässt (vgl. Goldthorpe 1996a). Der in der Tradition von Boudon (1974) stehende Grundgedanke besteht in der Annahme, dass die Entscheidung über den Bildungsweg von dem Motiv des Statuserhalts, und zwar primär der Vermeidung von sozialen Abstiegen geleitet ist. An jeder Weichenstellung des Bildungssystems werden die Kosten und Risiken einer höheren Bildungslaufbahn abgewogen gegen die Risiken dieser Entscheidung. Wenn der Statuserhalt auch mit einer jetzt schon erreichten Bildung relativ sicher gewahrt werden kann, dann verringern sich die marginalen Erträge einer weiteren Fortsetzung der (Aus-)Bildung rapide. Für die höheren Klassen ist es dagegen im Sinne der Abstiegsvermeidung fast unerlässlich, einen maximalen Bildungsabschluss anzustreben. Aus dieser einfachen Überlegung heraus zeigt Goldthorpe, dass sich die relativen Chancenungleichheiten zwischen den Klassen selbst dann nicht verringern würden, wenn es keine weiteren Mechanismen der Diskriminierung und auch keine Leistungs- und Kompetenzunterschiede zwischen den Klassen geben würde (Breen/Goldthorpe 1997).
Rationalität vs. Kultur? – Zur Kritik eines falschen Gegensatzes Der Rückgriff auf die rational action theory weist genau dort theoretische Schwächen auf, wo Goldthorpe sie in einen Gegensatz zu kulturalistischen Klassentheorien bringt, die auf klassenspezifische Subkulturen und Handlungsnormen sowie auf Mechanismen der kulturellen und institutionellen Diskriminierung verweisen. Goldthorpe verwickelt sich in Widersprüche, wenn er das Statuserhaltungsmotiv als ein ‚rationales’ Handlungsmotiv, in das aber im Sinne der bounded rationality klassenspezifische Prägungen schon eingelassen sind, in einen kategorischen Gegensatz zu subkulturellen Handlungsnormen setzt, die er damit implizit als irrational qualifiziert. Wenn die Kinder aus den Arbeiterklassen sich mit dem bloßen Erhalt ihres Status zufrieden geben und Bildungslaufbahnen vorzeitig abbrechen, weil ihnen die Risiken einer ungewissen Zukunft zu groß sind, dann gehen in diese ‚Rationalität’ bereits alle Erfahrungen der sozialen Benachteiligung und kulturellen Diskriminierung ein. In genau diesem Sinne verwendet auch Bourdieu (1987) den Begriff der objektiven Strategien, die in den Habitus eingelassen sind. 6
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Unverständlicherweise erhebt Goldthorpe (1996b) den Einwand gegen Bourdieu, dieser argumentiere im Sinne eines kulturellen Determinismus, der das Ausmaß der absoluten Bildungsaufstiege von Arbeiterkindern nicht erklären könne, und hält dem sein ‚relatives’ Mobilitätsverständnis entgegen. Dabei gehört das relationale und probabilistische Denken zu den Grundlagen der Bourdieu’schen Soziologie (vgl. dazu Vester 2002).
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Rationalität der Entscheidungen und klassenkulturelle Normen sind kein sinnvoller theoretischer Gegensatz. Unter den Bedingungen klassenspezifischer Handlungsrestriktionen ist es ‚rational’, diese Restriktionen ernst zu nehmen und sich in seinen Ansprüchen, Zielsetzungen und Entscheidungen, mithin in der klassenspezifischen Kultur, an ihnen zu orientieren. Bourdieu beschreibt das als Ergebnis der Inkorporation von Opportunitäten in die handlungsleitenden Präferenzen, Goldthorpe als Ergebnis gebundener rationaler Entscheidungen. Trotz ihrer gegensätzlichen Metaphorik beschreiben sie vielfach denselben Sachverhalt. Bourdieu verwendet eine Metaphorik der Körperlichkeit und Unbewusstheit strategischer Klassenkalküle, um den verschleierten rationalen Charakter von Kultur zu beschreiben, während Goldthorpe zwar von der Metaphorik des homo oeconomicus ausgeht, diese aber im Sinne einer ‚als-ob’-Rationalität an die restringierten Handlungs- und Planungshorizonte sozialer Klassen zurückbindet. Die theoretischen Differenzen beider Ansätze liegen weniger in der Konzeption von Rationalität vs. Kultur, sondern in der Art, wie die Mikro-Ebene sozialer Strategien mit der Makro-Ebene gesellschaftlicher Strukturen verknüpft wird. Während Bourdieu hier von einem strukturellen Herrschaftsverhältnis ausgeht, das durch die kulturellen Abgrenzungsund Distinktionsstrategien der sozialen Akteure aktiv reproduziert wird, scheint sich Goldthorpe an der Vorstellung von sozialen Ungleichheiten als unintendierten Effekten rationalen Handelns zu orientieren. Die Betonung und Verteidigung der Rationalität von Laufbahnentscheidungen gegen die Theorien klassenkultureller Prägungen scheint vor allem diesen Sinn zu haben, die beständige Reproduktion sozialer Ungleichheiten (im Sinne der Akkumulation sekundärer Herkunftseffekte über den Lebensverlauf) als das Ergebnis individueller Handlungen begreifen zu können, die jeweils nur rationalen, an der Vermeidung des eigenen Statusverlusts orientierten Motiven folgen. Diese Annahme übersieht, dass dieses universale und für alle sozialen Klassen gleichermaßen rationale Motiv im gegeben Rahmen von Klassengesellschaften für die einen die Verteidigung ihrer Privilegien und für die anderen die Verarbeitung ihrer Benachteiligungen impliziert. Diese Privilegien und Benachteiligungen, das ist Bourdieus zentrale These, werden alltäglich erfahren, im Klassenzimmer, auf dem Arbeitsmarkt, im Betrieb, in der Konsumsphäre. Ohne Berücksichtigung dieser Erfahrungen lässt sich weder die Aversion unterer Klassen gegen das Risiko des Statusverlusts, noch der Ehrgeiz erklären, mit dem die oberen Klassen ihren Statuserhalt verfolgen.
3.
Schluss: Ungleichheitssoziologische Perspektiven der Sozialkritik
Die rekapitulierten Entwicklungen sozialer Ungleichheit in Deutschland sollten deutlich machen, dass sich der moderne, wohlfahrtsstaatliche Kapitalismus keineswegs in einer geradlinigen Entwicklung zu abnehmender Armut und zunehmender Chancengleichheit bewegt. Das liberale Selbstverständnis kapitalistischer Marktgesellschaften, dass soziale Ungleichheiten nur als legitimes Resultat von individuellen Leistungsunterschieden fortbestehen, während alle auf zugeschriebenen Merkmalen beruhenden Ungleichheiten sich entweder in legitime, leistungsbegründete Ungleichheiten verwandeln oder aber abgeschafft werden, verschleiert wirksam die sich fortwährend reproduzierenden Mechanismen der sozialen Schließung und Diskriminierung.
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Diese verborgenen Mechanismen der Macht entziehen sich einstweilen auch der soziologischen Analyse hartnäckig. Die Befundlage einer deutlich zunehmenden Armut und einer weitgehenden Stabilität relativer Chancenungleichheiten ist zwar empirisch gut abgesichert, aber theoretisch kaum durchdrungen. Die Armutsforschung hat, in Deutschland wie auf europäischer Ebene und darüber hinaus, eine unüberschaubare Fülle an empirischem Material über die Messung und Entwicklung von Armut angehäuft, aber sie schweigt sich weitgehend aus über die Ursachen zunehmender Armut. Die dominante politische Reaktion bleibt somit weitgehend unbeeinflusst von der sozialwissenschaftlichen Kritik eine der sozialen Disziplinierung, der Stigmatisierung und sozialen Kontrolle. Diese Politik zielt längst nicht mehr auf eine Beseitigung und effektive Bekämpfung der Armut, sondern darauf, sie in Schach zu halten und ihre gesellschaftlichen Auswirkungen zu kontrollieren. Die soziologischen Diagnosen der Entstehung einer neuen ‚Klasse der Überflüssigen’ und ‚Entbehrlichen’, die sich wenn nicht erklärend, so zumindest deutend um ein präziseres Verständnis dieser Prozesse, und um ihre öffentlichkeitswirksame Kritik und Thematisierung, bemühen, laufen indes Gefahr, diese Stigmatisierungen und symbolischen Abspaltungen noch zu verstärken. Die Erklärung der überraschenden Stabilität sozialer Chancenungleichheiten stellt ebenfalls eine noch weitgehend offene zentrale Herausforderung dar. Die Entgegensetzung rationalistischer und kulturalistischer Handlungstheorien führt jedoch, wie gezeigt werden sollte, in eine Sackgasse. Die Rationalität von Bildungs- und Mobilitätsentscheidungen folgt nicht nur anthropologisch verankerten Abstiegsvermeidungsmotiven, sie folgt auch den Erfahrungen klassenspezifischer Diskriminierungen und Privilegierungen, die sich über Generationen tradieren und in klassenspezifische Einstellungsmuster und Strategien gegenüber schulischen und anderen Institutionen übersetzen. Beide Entwicklungen der sozialen Ungleichheit sind, wie zumindest angedeutet werden sollte, nur aus der Dynamik sozialer Klassenauseinandersetzungen heraus zu erklären. Die kontinuierliche Zunahme von Armut und sozialen Ausgrenzungen ist – so zumindest die Hypothese – einer gesellschaftlichen Abwertung der fordistischen Lohnarbeitsexistenz geschuldet, die keine alternativen Formen der Repräsentation, Integration und Anerkennung manueller oder routineförmiger Arbeiten entwickelt hat. Im Gegenteil, werden die Milieus der einfachen, gering qualifizierten Arbeit einer Art ‚blindwütigen’ Sozialdisziplinierung unterworfen. Am anderen Ende der sozialen Hierarchie verteidigen die herrschenden Klassen ihre Privilegien und ihren Führungsanspruch in der Gestaltung globaler gesellschaftlicher Entwicklungen gegen die Bildungsaufsteiger aus den facharbeiterlichen Milieus (vgl. Vester et al. 2007). Die anhaltenden relativen Chancenungleichheiten im Bildungs- und Berufssystem, die wir empirisch beobachten, können vor diesem Hintergrund als das Ergebnis struktureller Spannungen und Konflikte zwischen sozialen Klassenmilieus interpretiert werden. Diese Hypothesen bedürfen sicherlich der empirischen Überprüfung – gerade auch im europäischen und internationalen Vergleich – und theoretischen Weiterentwicklung. Gleichwohl sollen sie deutlich machen, dass erst der Versuch, soziale Ungleichheiten als das Ergebnis aktiver Strategien der sozialen Akteure zu begreifen, anstatt sie auf Sachgesetzlichkeiten oder anthropologische Konstanten zurückzuführen, der soziologischen Ungleichheitsanalyse den kritischen Stachel einer ‚Sozialkritik’ verleiht, die den Geist des Kapitalismus herauszufordern vermag.
Armut, soziale Ungleichheit und die Perspektiven einer „Erneuerung der Sozialkritik“
169
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Olaf Groh-Samberg
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Weniger ist mehr – Plädoyer für einen ‚exklusiven’ Exklusionsbegriff Enrico Reuter
Zur Konjunktur des Exklusionskonzeptes Das Konzept der sozialen Exklusion hat mit einiger Verspätung mittlerweile auch in Deutschland Eingang in gesellschaftspolitische und sozialwissenschaftliche Debatten gefunden (vgl. Kronauer 2007: 27f). Nach jahrelanger Abstinenz sind von deutschsprachigen Autoren in den letzten Jahren eine Reihe von sozialwissenschaftlichen Arbeiten erschienen, die sich mit dem Begriff der Exklusion kritisch auseinandersetzen oder ihn als theoretischen Rahmen für empirische Untersuchungen nutzen (vgl. u.a. Bude/Willisch 2006; Kronauer 1997, 2002; Mohr 2007). Zudem deutet einiges darauf hin, dass auch in der öffentlichen Diskussion, genährt durch entsprechende Veröffentlichungen in Massenmedien, der Begriff der Ausgrenzung an Popularität gewinnt, wenngleich dessen Verwendung in Deutschland noch recht zaghaft erfolgt. Unterstützt wird die Verbreitung des Konzeptes der Exklusion dabei von politischen Akteuren, v.a. auf europäischer Ebene. Im sozialpolitischen Vokabular europäischer Institutionen haben Exklusion und verwandte Begriffe wie soziale Kohäsion oder Eingliederung vormals dominante Termini zur Beschreibung sozialer Missstände, wie bspw. Armut oder soziale Ungleichheit, verdrängt. Selbst wenn momentan noch nicht endgültig abzusehen ist, in welchem Maße eine solche diskursive Verschiebung auch in der deutschen Politik zu erwarten ist, erscheint angesichts des zumindest im Bereich von sozialpolitischen Leitbildern vorhandenen harmonisierenden Einflusses europäischer Programme eine gewisse Konvergenz wahrscheinlich (vgl. Reuter 2006: 7ff). Kritiker des Exklusionsbegriffes vermuten, dessen Bevorzugung gegenüber Konzepten wie Armut oder soziale Ungleichheit habe handfeste Gründe: So argumentiert etwa VeitWilson, die Fokussierung auf Exklusion blende Verteilungsfragen aus und beschränke politische Programme auf das verhältnismäßig bescheidene Ziel der Wiedereingliederung Exkludierter (vgl. Veit-Wilson zit. n. Kronauer 2002: 144). Und in der Tat scheint das Exklusionskonzept auf einen ersten Blick geradezu ideal, um das Augenmerk auf die Ausgeschlossenen und ihre (vermeintlichen) Defizite zu lenken, um damit Verantwortung für soziale Benachteiligung zu individualisieren und ihre gesellschaftlichen Ursachen zu verschleiern sowie letztlich Sozialpolitik auf ‚aktivierende’ Hilfen zur Wiedereingliederung zu beschränken. Der Begriff der sozialen Exklusion ist zudem auch hinsichtlich seiner analytischen Trennschärfe vielfältiger Kritik ausgesetzt, so dass die Mehrzahl aktueller Arbeiten zu diesem Thema um eine Begriffspräzisierung und weitreichende Abgrenzungen zu alternativen Definitionen bemüht ist. Man könnte gar vermuten, der Begriff der Exklusion verdanke seine Konjunktur gerade seiner semantischen Unschärfe und Flexibilität (vgl. Karsz 2004: 118ff). Dies führt jedoch gelegentlich zu Irritationen, wie bspw. im Sammelband Das Prob-
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Enrico Reuter
lem der Exklusion (Bude/Willisch 2006), in dem recht unterschiedliche Definitionen der Exklusion verwendet werden, wobei Bezüge zwischen den Texten nicht selten fehlen. 1 Folglich stellt sich die Frage, welchen analytischen Wert ein Begriff hat, der eine nahezu beliebige Vielfalt an Definitionen und Interpretationen zulässt. Oder anders, wohlwollender formuliert: Welches Verständnis von Exklusion müsste einem klar begrenzten, kompakten Konzept zu Grunde liegen, das gegenüber ‚klassischen’ Ansätzen der Ungleichheitssoziologie und Armutsforschung einen Erkenntnisgewinn verschafft? Des Weiteren soll es um eine Bestimmung des gesellschaftskritischen Potenzials des Exklusionskonzeptes (oder sollte man besser sagen: der Exklusionskonzepte?) gehen, wobei zu hinterfragen ist, auf welchem Wege die von Gegnern des Exklusionsbegriffes beklagte Blindheit gegenüber sozialstrukturellen Ursachen für Ausgrenzungstendenzen zu vermeiden ist. Ziel des Aufsatzes ist es, Exklusion als sozialwissenschaftliches und gesellschaftskritisches Konzept zu ‚retten’. Bevor der m.E. hierfür geeignete ‚exklusive’ Exklusionsbegriff näher erläutert wird (3.), erscheint eine kurze Darstellung der Entwicklung und Verbreitung von Exklusionsansätzen sowie der gängigen Einwände (1.) ebenso sinnvoll und nötig wie ein Abriss der im Rahmen bisheriger Debatten über Ausgrenzung gefundenen Lösungen und der mit diesen einhergehenden Schwierigkeiten (2.). Abschließend soll der analytische und kritische Mehrwert eines ‚exklusiven’ Exklusionsbegriffes am Beispiel der ausgrenzenden Wirkung von Unternehmen und Wohlfahrtsstaat (4.) zumindest skizziert werden, bevor als Schlussfolgerung das gesellschaftskritische Potenzial des Exklusionskonzeptes zusammenfassend betrachtet wird (5.). Zur Vermeidung von Enttäuschungen ist an dieser Stelle noch anzumerken, dass die systemtheoretische Verwendung des Exklusionsbegriffes ausgeblendet wird. Wenn auch die Ansätze zur Ausweitung systemtheoretischer Überlegungen auf Fragen der sozialen Exklusion interessante Impulse liefern, bestehen doch substantielle Unterschiede zwischen den in diesem Beitrag aufgegriffenen Annahmen und systemtheoretischen Prämissen, deren Erläuterung hier zu weit führen würde, zumal das Verständnis von Exklusion auf Grundlage Luhmann’scher Theorien bereits von der Anlage her ein verhältnismäßig geringes gesellschaftskritisches Potenzial aufzuweisen vermag. 2
1
2
Daraus ergibt sich bspw. die bizarre Situation, dass Land/Willisch (2006) im Zuge einer überzeugenden Darstellung der arbeitsmarktpolitischen Inklusionsstrategien für Personen, die auf dem ersten Arbeitsmarkt chancenlos sind („sekundäre Integration“), zu dem Schluss kommen, „die Alternative Inklusion oder Exklusion“ sei falsch, da es vielmehr auf die „Art der Inklusion“ und die „emanzipatorische[n] Qualität der Integration“ ankomme (Land/Willisch 2006: 91). Dies mag ohne Zweifel richtig sein, doch fußt eine Ablehnung des Exklusionsbegriffes aus diesen Gründen auf einem sehr simplistischen, da dichotomen Ausgrenzungsbegriff, der von keinem der führenden Verfechter der Exklusionsforschung vertreten wird und der – Kap. 2 wird dies ebenso illustrieren wie andere Beiträge im zitierten Sammelband – bereits als überwunden angesehen werden kann. Für einen Einstieg in diese Thematik bieten sich folgende Texte an: grundlegend Luhmann 1995; weiterführend Nassehi 2000, kritisch Kronauer 1998.
Weniger ist mehr – Plädoyer für einen ‚exklusiven’ Exklusionsbegriff
1.
Exklusion: Wandlungen und Einwände
1.1
Konzepte der Exklusion im Wandel
173
Ursprünglich aus Frankreich kommend, hat sich das Konzept der Exklusion mittlerweile – auch in Folge tatkräftiger Unterstützung seitens europäischer Institutionen 3 – , innerhalb der Europäischen Union verbreitet. Dabei fanden jedoch eine Reihe inhaltlicher Veränderungen statt, die erheblich zur Uneindeutigkeit und Vielfältigkeit des Begriffes beigetragen haben. So bezog sich Ausgrenzung in den 1970er Jahren noch primär auf ‚sozial Unangepasste’ wie Obdachlose, psychisch Kranke oder Drogenabhängige, bevor seit Ende der 1980er Jahre das Problem der Langzeitarbeitslosigkeit und der Entbehrlichkeit breiterer Bevölkerungsgruppen als Arbeitskräfte in den Mittelpunkt rückte (vgl. Kronauer 2002: 40f; Paugam 1996: 10f; Vleminckz/Berghman 2001; zum Zusammenhang von Arbeitslosigkeit und Ausgrenzung vgl. Vogel 2001). Zudem bleibt das Verständnis von Exklusion durch nationale Denktraditionen und Vorstellungen beeinflusst, so dass bspw. in Großbritannien noch bis Mitte der 1990er Jahre Ausgrenzung in erster Linie als Mangel individueller Rechte v.a. sozialer Art im Sinne T. H. Marshalls begriffen wurde, während in Frankreich seit Einführung des Begriffes primär die gesamtgesellschaftliche Integration Durkheim’scher Inspiration als bedroht erachtet wird (vgl. Merrien 1996: 422). Dabei sollten diese Differenzen jedoch nicht als festgeschrieben verstanden werden: Vielmehr kann es zu diskursiven Verschiebungen kommen, die etwa zur Begründung veränderter (sozial)politischer Orientierungen und Programme dienen, wie Levitas für den Exklusionsdiskurs von New Labour gezeigt hat, in dem in hohem Maße die Eingliederung in Erwerbsarbeitsverhältnisse als Mittel sozialen Zusammenhalts propagiert wird und damit eine integrationistische Sicht dominiert, welche die Autorin eher der Durkheim’schen Denktradition zuordnet (vgl. Levitas 2005). Trotz dieser Unterschiede lässt sich Exklusion vereinfacht als extreme Form sozialer Ungleichheit beschreiben, bei der ein „qualitative[r] Bruch“ (Kronauer 2002: 51) im sozialen Schichtungsgefüge dazu führt, dass soziale Ungleichheit ein Ausmaß erreicht, das gesellschaftliche Teilhabe und die Wahrung individueller sozialer Rechte erheblich erschwert oder in der längerfristigen Perspektive gar unmöglich macht. Bedient man sich dieses Definitionsansatzes, erweist sich Exklusion als durchaus vielversprechender Begriff einer kritischen Gesellschaftsdiagnose, die bestehende Missstände vor dem normativen Hintergrund des demokratischen Gleichheitsgrundsatzes, der umfassenden Freiheitsrechte sowie der sozialen Kohäsion und Solidarität zu erfassen versucht. Exklusion erscheint dabei als neues Paradigma, als „Metapher der sozialen Transformation“ (Katz 1993: 440, z. n. Kronauer 1997: 31).
3
Die „Bekämpfung von Ausgrenzungen“ (Art. 136 EGV) gehört seit dem Vertrag von Amsterdam zu den offiziellen Zielen der Europäischen Gemeinschaft, nachdem bereits seit den 1980er Jahren der Exklusionsbegriff Eingang in das Vokabular europäischer Institutionen gefunden hatte. Hauptinstrumente für die Sicherung sozialer Kohäsion sind aktivierende Arbeitsmarktpolitik sowie Wachstum und Wettbewerbsfähigkeit sichernde Wirtschaftspolitik im Sinne der Lissabon-Strategie (vgl. zur Einführung Carmichael 2001b; kritisch Reuter 2006).
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Enrico Reuter
Der Begriff der Metapher verdeutlicht dabei, dass in demokratisch verfassten Gesellschaften Exklusion nicht als totaler Ausschluss verstanden werden kann, sondern im Sinne einer „Gleichzeitigkeit von Drinnen und Draußen“ (Kronauer 2002: 146ff), bei der von Exklusion betroffene Personen einerseits in mehreren Dimensionen von gesellschaftlichen Verflechtungen und Teilhabemöglichkeiten abgekoppelt sind, andererseits jedoch – bspw. über sozialstaatliche Programme, Konsum oder politische Rechte – in die Gesellschaft eingebunden bleiben. 4 Damit bedeutet Ausgrenzung „Nichtteilhabe an gesellschaftlichen Subsystemen“, ohne dass zugleich von einer „Position außerhalb der Gesellschaft“ auszugehen wäre (Häußermann/Kronauer/Siebel 2004: 22).
1.2
Zur Kritik am Begriff der sozialen Exklusion
So vielfältig Konzepte der Exklusion sind, so facettenreich erweisen sich auch die Einwände gegen diesen Begriff (vgl. u.a. Castel 2000a, 5 2004; Karsz 2004; Paugam 1996): Neben analytischen Bedenken, die in erster Linie den Erkenntnisgewinn gegenüber alternativen Ansätzen und die Eindeutigkeit des Exklusionsbegriffes angesichts der Heterogenität der von Exklusion bedrohten Bevölkerungsgruppen in Frage stellen, werden Zweifel am gesellschaftskritischen Potenzial artikuliert.
1.2.1 Zweifel am wissenschaftlichen (Mehr-)Wert Die als Kritik an Exklusionskonzepten formulierten Einwände hinsichtlich analytischer Trennschärfe und wissenschaftlichem Nutzen lassen sich im wesentlichen auf zwei argumentative Grundstränge reduzieren, die im Folgenden skizziert werden sollen: 6 Plausibel erscheint zunächst der Hinweis, die Einordnung höchst unterschiedlicher sozialer Lagen und Lebenssituationen unter dem Schlagwort Exklusion trübe den Blick für die Besonderheiten der jeweiligen Gruppen und beschränke damit erheblich den Erkenntnisgewinn von Forschung. In der Tat ist es, wie Castel kritisch bemerkt, auf den ersten Blick nicht einsichtig, welche Gemeinsamkeiten ein älterer langzeitarbeitsloser Industriearbeiter und ein arbeitsloser Jugendlicher aus der Vorstadt haben, deren Leben kaum unterschiedlicher sein könnten (vgl. Castel 2000a: 13f). Und auch die vollständig nachvollziehbare Unterscheidung verschiedener „Sozialfiguren der Abspaltung“ nach Lessenich/Nullmeier (2006: 12ff) wirft Fragen bezüglich des Sinns einer genralisierenden und damit Differenzen einebnenden Kategorie auf. 4 5
6
Zu Formen totaler Exklusion in der Vergangenheit vgl. Castel 2004: 42f. Der französische Soziologe Robert Castel hat mit den hier zitierten Arbeiten einen nicht zu unterschätzenden Beitrag zur Etablierung des prozessualen Konzeptes sozialer Exklusion geleistet, obwohl er sich v.a. in neueren Schriften sehr kritisch mit dem Begriff der Exklusion auseinandersetzt und ihn durch „Entkopplung“ ersetzt. Dies führt zu der eigenwillig anmutenden Tatsache, dass einer der führenden Vertreter der Exklusionsdebatte den Begriff ablehnt. Als dritter Punkt ließe sich noch die Frage nach der empirischen Möglichkeit tatsächlicher Exklusion in heutigen Gesellschaften anführen. Dies soll an dieser Stelle jedoch ausgeblendet werden, da bereits durch die erste Definition von Exklusion in Kap. 1 deutlich geworden sein sollte, dass Exklusion im hier verwendeten Sinn nicht mit totalem Ausschluss, sondern mit einer Situation der „Gleichzeitigkeit von Drinnen und Draußen“ zu übersetzen ist.
Weniger ist mehr – Plädoyer für einen ‚exklusiven’ Exklusionsbegriff
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Zum zweiten bleibt bis hierhin noch fraglich, ob Exklusionsansätze gegenüber alternativen Konzepten – v.a. der Ungleichheitssoziologie und Armutsforschung, die aufgrund ihrer längeren Tradition bereits über ein ausgefeiltes Instrumentarium und einen reichhaltigen Theorienschatz verfügen – Vorteile aufweisen. Einfach gefragt: Können mit Hilfe der Exklusionsforschung Einsichten gewonnen werden, die bei Verwendung anderer Konzepte verborgen geblieben wären?
1.2.2 Zweifel am gesellschaftskritischen Potenzial Bezüglich des gesellschaftskritischen Werts der Exklusionskonzepte wird zum ersten kritisch eingewandt, die gesteigerte Aufmerksamkeit für Ausgrenzung verleite zu einer Fokussierung auf die Ausgegrenzten. Dabei würden persönliche Defizite wie geringe formale Bildung, (vermeintlich) mangelnder Wille zur Arbeit oder deviante Verhaltensmuster zur Erklärung prekärer Lagen verwendet, wodurch die ausgrenzende Wirkung zentraler gesellschaftlicher Institutionen aus dem Blick gerate oder gar verschleiert werde. Dadurch würden bestehende Ausgrenzungsrisiken der so Stigmatisierten weiter verstärkt (vgl. etwa Kronauer 2002: 11f) – und die wissenschaftliche Bearbeitung des Themas würde ihren Beitrag zur Verfestigung oder gar Verstärkung dieser Stigmatisierung leisten. Dies kann, bei entsprechender Akzentuierung eines solchen Diskurses, einer Individualisierung von Verantwortung für Armut, Ausgrenzung oder soziale Ungleichheit Vorschub leisten, wodurch Ideen einer ‚Kultur der Armut’ (vgl. für einen Überblick Schäuble 1984: 265ff) an Einfluss gewinnen können. Damit würden im Extremfall zugeschriebene kulturelle Merkmale als ursächlich für die Festigung von sozialer Ungleichheit angesehen, womit letztlich der Übergang von einer umverteilenden Sozialpolitik zu strafenden oder primär kontrollierend-erziehenden Eingriffen gerechtfertigt werden könnte. Berücksichtigt man in diesem Zusammenhang die wachsende Bedeutung aktivierender Sozialpolitik mit ihrer Betonung der Pflichten von Leistungsempfängern durch Einforderung konkreter Gegenleistungen (vgl. für einen Überblick Lamping/Schridde 2004), die mittlerweile zum Standardrepertoire sozialstaatlicher Reformdiskurse gehört, sollte diese Kritik am Exklusionskonzept ernst genommen werden. Darüber hinaus besteht in Staaten mit Einwanderungstradition die Gefahr, im Zuge einer Kulturalisierung sozialer Ungleichheit zugleich ihrer weiteren Ethnisierung den Weg zu bereiten – angesichts der häufigen Korrelation von sozialer Benachteiligung und Migrationshintergrund und der latent vorhandenen Fremdenfeindlichkeit nicht zu unterschätzender Teile der Bevölkerung eine beunruhigende Aussicht. 7 Unabhängig davon, ob eine Spaltung nun zwischen den untersten und mittleren sozialen Lagen bzw. Schichten (vgl. hierzu Habermas 1985: 150; Rosanvallon 1995: 89ff) oder entlang religiöser und kultureller Unterschiede wahrgenommen wird, kann die Unterwande-
7
Wie schnell entsprechende Spaltungen konstruiert und auch akzeptiert sind, hat zum Teil die deutsche Berichterstattung über die Unruhen in den französischen Banlieues im Herbst 2005 gezeigt: Der primär soziale Konflikt wurde von einigen Medien wie Focus oder Spiegel als kulturelle bzw. religiöse Spannung gedeutet. Für eine historisch und soziologisch fundierte sowie zudem konzise Analyse der Situation in französischen Vorstädten, in denen sich die soziale Frage in ihrer gegenwärtigen Form kristallisiert, sei auf Castel 2007 verwiesen.
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rung der Bereitschaft zu gesellschaftlicher Solidarität, auf der sozialstaatliche Sicherung letztlich beruht, nicht ausgeschlossen werden. Der zweite kritische Einwand gegen das Konzept der Ausgrenzung konzentriert sich noch stärker auf das grundlegende Gesellschaftsbild. Wenn Exklusion ein Problem darstellt, so scheint sich als Lösung Inklusion, Integration oder Insertion anzubieten. Diese binäre Sicht könnte jedoch nahe legen, dass Vermeidung und Bekämpfung von Ausgrenzung bereits ausreichten, um dem normativen Anspruch einer sozial gerechten und demokratischen Gesellschaftsordnung (was immer das genau bedeutet) zu genügen. Damit blieben allerdings ‚interne’ Probleme der Gesellschaften wie soziale Ungleichheit, prekäre Beschäftigung, Diskriminierung und Ausbeutung, die zu einem großen Teil erst zum Problem der Ausgrenzung führen, unbehandelt. An die Stelle der ‚alten’ Gesellschaftskritik radikaler Art, die auf Überwindung des Kapitalismus zielte, tritt damit auf den ersten Blick das deutlich bescheidenere Ziel der (Wieder-)Einbindung der Ausgegrenzten in das kapitalistische Wirtschaftssystem (vgl. Kronauer 2002: 236f), das in seiner Funktionsweise unangetastet bleibt: ein berechtigter und gewichtiger Einwand, der insbesondere hinsichtlich der sozialpolitischen Programme zur Vermeidung und Bekämpfung von Ausgrenzung Gültigkeit beanspruchen kann. Diese richten sich ja primär auf die (Wieder-)Herstellung von Qualifikationen und Kompetenzen, die für die Einbindung in den Arbeitsmarkt unerlässlich sind und dienen damit der Sicherung der Marktbefähigung von Individuen. Bezogen auf Gesellschaftskritik ließe sich folglich vermuten, dass unter diesen Umständen der Gegenstand kritischer Betrachtung nahezu vollständig verloren ginge, da die Wiederaufnahme Exkludierter in die Gesellschaft als Idealzustand und Zielpunkt verklärt würde. Diese hier in aller gebotenen Kürze zusammengefassten Schwachstellen des Exklusionsbegriffes führen im Grunde unausweichlich dazu, das kritische Potenzial dieses Konzeptes in Frage zu stellen. Dies sollte jedoch nicht dazu verleiten, die Thematisierung von Exklusion vorschnell als unkritisch oder gar gefährlich zur Seite zu schieben. Vielmehr liefert die bisherige Diskussion des Exklusionsbegriffes eine Reihe guter Argumente, welche die vorgetragenen Einwände zumindest soweit entkräften, dass Exklusion durchaus als erkenntnisbringendes und kritisches Konzept begriffen werden kann. Hierbei kommt insbesondere der Exklusionsdebatte in Frankreich eine herausragende Bedeutung zu.
2.
Zum französischen Verständnis von Exklusion
Die Einführung des Exklusionskonzeptes in Deutschland war und ist in hohem Maße von Arbeiten französischer Exklusionstheoretiker geprägt. Auch wenn es ohne Zweifel unangemessen ist, die Vielfalt der in Frankreich seit den 1980er Jahren begründeten Ansätze unter dem Dach eines einheitlichen Theoriengebäudes zusammenzufassen, haben sich doch sowohl im französischen Wissenschaftssystem als auch in der deutschen Rezeption zentraler Texte der Exklusionsforschung eine Reihe gemeinsamer Annahmen herauskristallisiert, die es durchaus erlauben, von einem ‚französischen Exklusionsverständnis’ zu sprechen. Da eben diese Ansätze die benannten Einwände im wesentlichen widerlegen können, soll ihr Kern im Folgenden wiedergegeben werden: Grundkonstante der Debatte um exclusion sociale ist ein Verständnis von Exklusion als Prozess, der im Zentrum der Gesellschaft seinen Ursprung hat und das gesamte soziale Gefüge betrifft, womit ein (auch kritischer) Blick auf ausgrenzende Akteure möglich wird
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(vgl. Castel 2000b; Schnapper 1996). Damit geraten die ausschließenden Wirkungen der sozialstaatlichen Einrichtungen im weiten Sinne (also etwa auch des Bildungssystems) ebenso in den Blick wie die besonders selektiven und damit exkludierenden Aktivitäten der Unternehmen im Kapitalismus postfordistischer Prägung. Durch die Betrachtung der Unternehmen als „Exklusionsmaschinen“ (Gaullier 1996) und eine kritische Würdigung der sozialstaatlichen Integrationsleistung wird, wie etwa von Castel gefordert, die Aufmerksamkeit von der Peripherie auf das Zentrum verlagert. Hält man dieses Verständnis konsequent durch, lassen sich stigmatisierende, auf von Exklusion bedrohte Personen beschränkte Analysen im Grunde ebenso vermeiden wie die Idealisierung der bestehenden Gesellschaftsordnung als Folge der Ausblendung sozialstruktureller Ungleichheits- oder ökonomischer Ausbeutungsverhältnisse. Und auch methodische Einwände bezüglich des wissenschaftlichen Wertes eines Exklusionsbegriffes, der höchst heterogene Bevölkerungsgruppen zu erfassen versucht, verlieren durch diesen Blickwinkel beträchtlich an Gewicht (vgl. Kronauer 2000: 81f). Damit schärft man zudem den kritischen Blick für Konzepte und Politiken, die anstelle der Erkenntnis beziehungsweise Bearbeitung von Ursachen sozialer Probleme die von eben diesen Problemlagen Betroffenen zum Gegenstand haben. Castel skizziert dies am historischen Beispiel der Landstreicher, die in der Vorphase der Industrialisierung in Folge der Transformation agrarischer Produktionsformen zur Landflucht getrieben wurden, aufgrund eines noch hochgradig geschlossenen Arbeitsmarktes in den Städten jedoch keine Anstellung fanden und so gezwungen waren, ihre Existenz als Vagabunden zu sichern. Anstatt sich allerdings mit den Gründen dieser Entwicklung auseinander zu setzen, konzentrierte sich damalige Politik auf die Bestrafung, Kontrolle, Vertreibung und gar Eliminierung der Betroffenen (vgl. Castel 1996: 37f, 2007: 66ff). Rückblickender Hochmut ist an dieser Stelle unangebracht, zeigt Castel doch, wie sich ähnliche Muster bei den Versuchen, die kritische Lage in den französischen Vorstädten wenigstens zu entschärfen, wiederholen, wobei auch hier ein Problem, das im Zentrum der Gesellschaft seinen Ursprung hat, in die Peripherie verschoben und durch die Wiederbelebung der Vorstellung von der „gefährlichen Klasse“ verzerrt wird (vgl. Castel 2005: 75, 2007: 66): Eine Eigenwilligkeit, die selbstverständlich nicht französischer Sozialpolitik allein vorbehalten ist. Ist also das Problem bei Berücksichtigung dieser Aspekte gelöst, sind die skeptischen Einwände ausgeräumt und kann Exklusion unter diesen Umständen als sozialwissenschaftlicher und gesellschaftskritischer Begriff verwerfungsfrei verwendet werden? Ja und nein: Zwar kann die in Kap. 1 skizzierte Kritik durch den ‚französischen Ansatz’ eines prozessualen Exklusionsverständnisses als im wesentlichen widerlegt gelten, leider entsteht dadurch jedoch ein neues Problem, das m.E. nur über einen ‚exklusiven’ Exklusionsbegriff gelöst werden kann. Zudem bleibt die Frage nach dem wissenschaftlichen Mehrwert von Exklusionskonzepten gegenüber Ansätzen der Armuts- und Ungleichheitsforschung noch teilweise im Dunkeln. Versteht man Exklusion im Anschluss an v.a. französische Ansätze als Prozess, der sich ausgehend vom Zentrum der Gesellschaft schockwellenartig durch den sozialen Raum bewegt, gelingt es, die Verfasstheit sozialer Institutionen und ihre ausgrenzende Wirkung besser zu verstehen. Allerdings leiden sowohl eine Reihe wissenschaftlicher Ansätze als auch v.a. der politisch genutzte Exklusionsbegriff unter ihrem zumeist impliziten Alleinvertretungsanspruch.
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Anders gesagt liegt dem jeweiligen Exklusionsbegriff in der Regel die These zu Grunde, Exklusion sei das zentrale Paradigma zur Beschreibung der westlichen Gesellschaften zu Beginn des 21. Jahrhunderts. Damit erheben Exklusionskonzepte, verstanden als „Metaphern der sozialen Transformation“, nicht selten einen Anspruch, dem sie nur schwer gerecht werden können. Zwar werden soziale Ungleichheit und Exklusionsprozesse als miteinander verschränkt gedacht und eine ungleiche Betroffenheit von Exklusionsrisiken je nach individueller Ausstattung mit ökonomischem, sozialem und kulturellem Kapital angenommen, dennoch bleibt die Rolle von Markern sozialer Ungleichheit zu oft unterbelichtet, während die Bedeutung der vom Zentrum ausgehenden Ausgrenzungsprozesse tendenziell überbewertet wird. Doch auch wenn (oder besser: gerade weil) prozessuale Exklusionskonzepte den Anspruch erheben, sich eben nicht in erster Linie für die von Exklusion Bedrohten, sondern für die gesellschaftlichen Prozesse der Ausgrenzung zu interessieren, stellt die Berücksichtigung von Theorien sozialer Ungleichheit eine Bedingung für ein umfassendes Verständnis dar, das auch die Ungleichverteilung von Exklusionsrisiken ernst nimmt. Ein zu weit gefasster Exklusionsbegriff, der gewissermaßen Gültigkeit für den gesamten sozialen Raum beansprucht und die Bedeutung sozialer Ungleichheit unterschätzt, erweist sich sowohl hinsichtlich seines wissenschaftlichen Mehrwertes als auch seines gesellschaftskritischen Potenzials als begrenzt. Zudem leistet ein solchermaßen überdehntes Exklusionsverständnis der Herausbildung eines falschen Gegensatzes bei der Deutung aktueller sozialer Wirklichkeit Vorschub: Während innerhalb des gegenwärtig ebenfalls wirkmächtigen Prekarisierungsdiskurses (vgl. Rademacher/Ramos Lobato in diesem Band) die Bedeutung sozioökonomischer Wandlungen für die „Zone der Verwundbarkeit“ (Castel), sprich für mittlere soziale Lagen betont wird, neigt die Exklusionsdebatte dazu, das Gros der sozialen Verwerfungen an den Rändern der Gesellschaft auszumachen. Da sich empirische Befunde für beide der hier stark vereinfacht dargestellten Grundannahmen finden lassen, steht einer wenig fruchtbaren Auseinandersetzung um das überzeugendere Konzept nichts im Weg. Indessen bleibt jedoch die Frage offen, ob diese Gegenüberstellung sinnvoll ist oder ob nicht eher von einer Gleichzeitigkeit von Prekarisierungs- und Exklusionsphänomenen auszugehen ist, die für ein komplementäres Verständnis beider Ansätze spricht. Damit würde zwar deren jeweilige Reichweite beschränkt, es bliebe jedoch die Hoffnung, durch größere Bescheidenheit den Grundstein für ‚exklusive’ und letztlich für Wissenschaft und Gesellschaftskritik wertvollere Konzepte zu legen.
3.
Für ein ‚exklusives’ Exklusionskonzept
3.1
Grundlagen
Was bedeutet aber nun ein ‚exklusives’ Exklusionsverständnis? Zunächst ist zu betonen, dass die durch die prozessualen Ansätze geleistete Verlagerung der Perspektive von den Rändern zum Zentrum unbedingt zu bewahren ist. Nur so können jene tiefgreifenden Veränderungen in den Fokus gelangen, die in den westlichen Gesellschaften seit etwa 30 Jah-
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ren zu beobachten sind. Und nur so kann das Risiko eines letztlich stigmatisierenden Blickes gemindert werden. Allerdings sollte dabei nicht die Bedeutung sozialer Ungleichheit vernachlässigt werden. Wenn sich Exklusionsprozesse ausgehend vom Zentrum bis an die Peripherie bewegen, dann sollte für die Exklusionsforschung v.a. jene Verdichtung von Ausgrenzungsprozessen von Interesse sein, die an den Rändern der Gesellschaft auftritt, dort wo multiple Formen sozialer Ungleichheit die Lebenschancen der Betroffenen beschränken und minimieren. Dadurch erscheint es bei der Untersuchung der Folgen von Exklusion unvermeidlich, stärker auf Aspekte sozialer Ungleichheit einzugehen, da nur diese erklären können, warum bestimmte Gruppen besonders von Exklusionsprozessen betroffen sind. Dieser Anspruch bedeutet freilich eine Aufweichung des Prinzips, bei der Analyse von Exklusion vorrangig und nahezu ausschließlich Prozesse der Ausgrenzung in den Blick zu nehmen. Die Stärke des Exklusionsbegriffes liegt in der Untersuchung der Verbindungen von im Zentrum entspringenden Prozessen und der sozialräumlichen Lage der von diesen Prozessen Betroffenen. Wird die Gleichberechtigung dieser zwei ineinandergreifenden Dimensionen ernst genommen, ist ein solches Exklusionskonzept auch gegen die in Kap. 1 beschriebenen kulturalistischen bzw. subjektivierenden Tendenzen ausreichend immun. Die Exklusivität eines derartigen Exklusionsbegriffes liegt in seiner doppelten Bescheidenheit: Einerseits ist sein Erklärungsanspruch auf periphere Bereiche des Sozialgefüges beschränkt, andererseits wird auf Versuche der Verdrängung von Theorien der Armuts- und Ungleichheitsforschung verzichtet. Letztere dienen vielmehr als Bezugspunkt, werden aufgegriffen und nach Möglichkeit ergänzt. Insgesamt lässt sich ein solches Exklusionskonzept für zwei Arten der Analyse sinnvoll verwenden: Zum ersten für die Betrachtung der Folgen von Exklusionsprozessen an den Rändern der Gesellschaft, etwa indem subjektive Bewältigungsformen von Ausgrenzungserfahrungen wie der Umgang mit ausgrenzenden Akteuren und Institutionen in den Mittelpunkt gestellt werden; zum zweiten für die Untersuchung der Einflüsse ausgrenzender Prozeduren auf Personen im unteren Teil der sozialen Hierarchie, etwa indem die exklusionsstrukturierende Wirkung sozialstaatlicher Programme beleuchtet wird (vgl. Paugam 2005). Anders formuliert: Exklusion im hier beschriebenen Sinne erlaubt den Blick sowohl aus einer top-down- als auch aus der bottom-up-Perspektive, wobei in beiden Fällen das Zusammenspiel von Prozessen im Zentrum der Gesellschaft mit sozialen Problemlagen und den von ihnen betroffenen Personen am unteren Rand der Sozialstruktur im Fokus des Interesses liegt. Ein solches Exklusionsverständnis wirft sicherlich unverzüglich Fragen nach dem Verhältnis von Exklusion zu anderen sozialwissenschaftlichen Konzepten auf, das im Folgenden ein wenig erhellt werden soll.
3.2
Abgrenzung zu alternativen Ansätzen
Eine Unterscheidung oder Abgrenzung erscheint nicht nur erforderlich, um den eingeführten Begriff der ‚exklusiven’ Exklusion zu schärfen, sondern v.a. um seinen wissenschaftlichen und kritischen Mehrwert näher zu begründen. Gerade dieser wird, wie in Kap. 1 gezeigt wurde, von den Gegnern der Exklusionstheorien in Frage gestellt. Offensichtlich zeigt sich hier eine Eigenart des wissenschaftlichen Feldes im Sinne von Bourdieu: Die Auseinandersetzung zwischen orthodoxen und häretischen Kräften bei Wahrung der Grundregeln
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des Spiels (vgl. Bourdieu 1993: 109). In diesem Fall bedeutet das eine Gegenüberstellung klassischer Erklärungsansätze der Armuts- und Ungleichheitsforschung einerseits, sowie neuerer Konzepte der Exklusionsforschung andererseits. Ganz der Logik des Feldes folgend, sind beide Seiten bemüht, ihre Argumente durch Absetzung vom jeweils anderen Ansatz zu schärfen, während eine dritte Partei, zu der auch dieser Text sich zählt, Vorteile bei der Versöhnung beider Stränge sieht – selbstverständlich wie alle anderen nur im Namen der wissenschaftlichen Wahrheit.
3.2.1 Soziale Ungleichheit und Exklusion Ohne die Vielfalt der diversen Theorien sozialer Ungleichheit an dieser Stelle zusammenfassen zu können (vgl. für einen Überblick Hradil 2001), ließe sich soziale Ungleichheit stark vereinfacht folgendermaßen definieren: Eine Gesellschaft ist sozial ungleich, wenn „Menschen aufgrund ihrer Stellung in sozialen Beziehungsgefügen von den ‚wertvollen Gütern’ einer Gesellschaft regelmäßig mehr als andere erhalten“ (Hradil 2001: 30). Oder anders gewendet: Wenn Menschen regelmäßig weniger als andere erhalten. Welche ‚wertvollen Güter’, also welche Dimensionen, bei der Bestimmung sozialer Ungleichheit herangezogen und welche Ursachen für deren Bestehen identifiziert werden, ist zwar für das Verständnis der sozialstrukturellen Verfassung einer Gesellschaft von größter Wichtigkeit und muss gerade bei empirischen Arbeiten klar bestimmt werden, für das Anliegen dieses Textes ist es jedoch zweitrangig. Ungleichheits- und Exklusionsansätze teilen den Anspruch auf Multidimensionalität und sind bei Verwendung identischer Indikatoren kompatibel, d.h. die zumindest in Deutschland noch in den Kinderschuhen steckende Exklusionsforschung kann sowohl theoretisch als auch empirisch von den Erkenntnissen der Ungleichheitsforschung und Sozialstrukturanalyse profitieren: Theorien und empirische Befunde zu sozialer Ungleichheit ergänzen die Untersuchung prozessualer Exklusion und ermöglichen damit die oben angemahnte sozialstrukturelle ‚Erdung’ von Exklusionsforschung. Das Konzept der Ausgrenzung seinerseits ergänzt die ‚klassische’ Ungleichheitsforschung um die Idee eines „qualitativen Bruchs“ (Kronauer 2002: 51), der bei Kumulation multipler Benachteiligungen eines bestimmten Ausmaßes eintritt. An die Stelle des ‚Mehr oder Weniger’ im Sinne sozialer Ungleichheit tritt eine durch extremes Weniger bedingte Andersartigkeit, die als Exklusion bezeichnet werden kann. Damit gehören Konzepte der Exklusion zu jener Art der Darstellung und Wahrnehmung von sozialer Ungleichheit, die Berger als „kategorial-exklusive Ungleichheitssemantik“ beschreibt (vgl. Berger 1989, zit. n. Kreckel 2004: 107). Exklusion in diesem Sinne bedeutet jedoch, dies muss hier erneut betont werden, erstens nicht, dass die von ihr Betroffenen außerhalb der Gesellschaft oder außerhalb des sozialen Raumes stünden. Vielmehr erweist sich dieser „Bruch“ als Zustand der „Gleichzeitigkeit von Drinnen und Draußen“ (vgl. Kap. 1). Sie bedeutet zweitens nicht, dass die von Exklusion Betroffenen allein im Zentrum des wissenschaftlichen Interesses stehen, sondern erfordert in Übereinstimmung mit den bisherigen Erläuterungen eine Analyse der Ausgrenzung als vom Zentrum der Gesellschaft ausgehender Prozess. Dies schließt natürlich eine Untersuchung individueller Bewältigungsformen oder anderer betroffenenfokussierter Fragestellungen nicht aus.
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Folgt man diesen Überlegungen, bleibt in erster Linie die Frage nach der Bestimmung des Bruchpunktes. Dieser kann nur normativ festgelegt und dann empirisch belegt werden, wobei das Modell der Modi gesellschaftlicher Zugehörigkeit nach Kronauer (2002: 151ff) als hilfreiche Heuristik erscheint, da es neben der Einbindung in die gesellschaftliche Arbeitsteilung und in soziale Netze auch Dimensionen der Teilhabe (materiell, politischinstitutionell und kulturell) erfasst und damit ein multidimensionales Bild sozialer Integration zeichnet, das als Kontrastfolie zur Bestimmung von Exklusionsrisiken fungieren kann. Alternativ könnten hierfür auch Abwandlungen einer Methode verwendet werden, die ursprünglich vom britischen Armutsforscher Peter Townsend zur Bestimmung der Grenze multipler Deprivation (vgl. Townsend 1974) verwendet wurde: Repräsentativ ausgewählte Personen werden dabei nach der Notwendigkeit bestimmter Güter und Dienstleistungen befragt, wobei Items, die von einer Mehrheit als für einen angemessenen Lebensstandard notwendig erachtet werden, als Indikatoren für Deprivation dienen. Selbstverständlich können derartige Festlegungen nicht absolut und dauerhaft sein, sondern erweisen sich als veränderbar und kritikanfällig, v.a. da das Verständnis von Exklusion zwingend sehr eng an das vorherrschende und stets potenziell umstrittene Bild sozialer Integration gekoppelt ist. Nichtsdestotrotz ist nicht ersichtlich, warum eine derartige normative Setzung bei logisch schlüssiger Begründung problematisch sein sollte, zumal das gesellschaftliche Selbstverständnis mit Normen und Werten gesättigt ist, die als Ableitungsbasis dienen können. Ganz im Gegenteil, erst diese normative Bestimmung erlaubt einen Vergleich von propagiertem Ideal und Wirklichkeit und öffnet damit einen Weg zu nachvollziehbarer Gesellschaftskritik. Zusammenfassend wird deutlich, dass ein ‚exklusives’ Exklusionsverständnis mit ungleichheitssoziologischen Konzepten vereinbar ist und durch die Ergänzung eines Bruchpunktes eine Zuspitzung von Theorien sozialer Ungleichheit erlaubt: Zuspitzung zum einen durch Überschreitung der Logik des Mehr oder Weniger und zum anderen durch die Beschränkung der Untersuchung auf einen begrenzten Bereich der Sozialstruktur. Exklusion ist also eine Teilmenge sozialer Ungleichheit und zugleich deren Sonderform, womit Exklusionstheorien ihren legitimen Platz innerhalb der Ungleichheitssoziologie im weiteren Sinn begründen. Und auch wenn man mit einigem Recht einwenden kann, dass unter diesen Umständen die Ausdifferenzierung einer Exklusionsforschung nicht zwingend notwendig ist, erscheint es in Anbetracht der unterschiedlichen Schwerpunktsetzungen durchaus angebracht, diese Unterscheidung zu etablieren.
3.2.2 Armut und Exklusion Ein wenig verwobener und auch konfliktreicher stellt sich das Verhältnis von Exklusionskonzepten zu Theorien der Armutsforschung dar: Armut erscheint als Teildimension und Folge von Exklusionsprozessen. Während bspw. längerfristiger Ausschluss von Erwerbsarbeit in hohem Maße zu relativer Armut führt, ökonomische Exklusion also ursächlich für Verarmung ist, ist Armut oder relative Deprivation eine eigenständige Achse im Rahmen von Ausgrenzungsprozessen, da durch den Mangel an finanziellen Mitteln materielle Teilhabemöglichkeiten empfindlich eingeschränkt werden. Die Vorteile von Exklusionskonzepten gegenüber Theorien der Armutsforschung liegen dabei zum ersten in einer relationalen Betrachtung der Folgen von Armut und/oder Arbeits-
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losigkeit, zum zweiten in einem stärkeren Fokus auf die Prozesshaftigkeit von Marginalisierungstendenzen und zum dritten in einem umfassenderen, da multidimensionalen Bild, das neben der finanziellen Dimension auch Aspekte wie soziale Kontakte einbezieht (vgl. Kronauer 2002: 17f). Ohne Zweifel lässt sich dagegen einwenden, dass auch im Bereich der Armutsforschung dynamische Konzepte (vgl. grundlegend für Deutschland Leibfried et al. 1995) und multidimensionale Ansätze weit verbreitet sind, die sich im Wesentlichen mit Exklusionsansätzen decken (vgl. für einen Überblick zur produktiven Vielfalt der Armutsforschung Barlösius/Ludwig Mayerhofer 2001). Dennoch kann kaum bestritten werden, dass in der politischen und wissenschaftlichen Praxis Armut meistens auf unzureichende finanzielle Ressourcen (v.a. Einkommen) reduziert wird. Folglich ist der Begriff der Armut nach wie vor stark mit statischem Einkommens- und Vermögensmangel konnotiert und bietet damit einen engeren Blick auf soziale Problemlagen. Dies bedeutet freilich nicht, dass der Zugang über Armutsforschung weniger wertvoll wäre als vom Exklusionsbegriff inspirierte Forschungsfragen. Es kann vielmehr angenommen werden, dass gerade im Bereich empirischer Sozialforschung Untersuchungen zu Armutslagen hochgradig relevante Informationen liefern, die in die Analyse von Exklusionsprozessen einbezogen werden können und sollten.
3.2.3 Prekarisierung und Exklusion Betrachtet man sozialwissenschaftliche und auch gesellschaftspolitische Debatten der letzten Jahre, scheinen die Begriffe Prekarisierung (vgl. dazu in diesem Band Kraemer, Rademacher/Ramos Lobato, Vogel) und Exklusion um Dominanz als Schlagworte der Gegenwartsdiagnose zu ringen, wobei in Deutschland der Prekarisierungsdiskurs gerade im medialen Bereich stärker vertreten zu sein scheint. Beide Ansätze sehen die Ursachen sozialer Probleme im Zentrum der Gesellschaft. Unterschiede ergeben sich jedoch hinsichtlich der im sozialen Raum beobachtbaren Auswirkungen. Während Prekarisierung, im Gegensatz zu Prekarität, vereinfacht gesagt das Unsicherwerden ehemals verhältnismäßig sicherer Lebensverhältnisse beschreibt, also in erster Linie ein Problem mittlerer Schichten ist, liegt der Schwerpunkt von Exklusion auf den Rändern der Gesellschaft, an denen Personen mit besonders geringen Perspektiven unter denkbar ungünstigen Bedingungen ihr Leben zu meistern versuchen. Dass dadurch die Folgen dieser den beiden Konzepten gemeinsamen Prozesse äußerst unterschiedlich ausfallen, dürfte auf der Hand liegen und rechtfertigt parallele Forschung zu beiden Themenkomplexen. Wichtig erscheint dabei nur, die Tatsache im Auge zu behalten, dass sich die im Zentrum der Gesellschaft entspringenden Schockwellen im Zuge ihrer Ausbreitung zu den Rändern intensivieren, was erklären dürfte, warum die Gefahr sozialer Exklusion eben keine allgemeine Bedrohung ist, die bis in mittlere Schichten vorreicht, sondern in erster Linie diejenigen betrifft, die von vornherein im unteren Abschnitt der sozialen Schichtung zu finden sind (vgl. Paugam 2004: 74), weswegen eine Unterscheidung zwischen Destabilisierung der gesellschaftlichen Mitte und Ausgrenzung zu treffen ist (vgl. Böhnke 2006: 119f). Exklusion und Prekarisierung sind letztlich eher graduell als prinzipiell voneinander zu unterscheiden, sind damit primär eine Frage des selbst gewählten Schwerpunktes. Daher
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wirken die Abgrenzungsversuche zwischen beiden Konzepten seltsam bemüht, ebenso wie die letztlich überflüssige Frage, welcher der Begriffe nun eher aktuelle soziale Probleme beschreibt. 8
4.
Exkludierende Akteure: Ausgrenzung vom Arbeitsmarkt und Zentralität wohlfahrtsstaatlicher Institutionen
Nimmt man den Anspruch des Exklusionsbegriffes ernst, den Blick auf die Mitte der Gesellschaft zu lenken und von dieser ausgehende Exklusionsprozesse zu erfassen, stellt sich zwangsläufig die Frage nach den zentralen Akteuren der Ausschließungsprozesse.
4.1
Exkludierende Wirtschaft, exkludierende Unternehmen
In auf Erwerbsarbeit beruhenden Gesellschaften kommt ohne Zweifel der Einbindung in die gesellschaftliche Arbeitsteilung, also der Eingliederung in den Arbeitsmarkt, herausragende Bedeutung zu. Diesem Sachverhalt werden alle gängigen Exklusionskonzepte gerecht, indem sie die Integration über Erwerbsarbeit als bedeutende Achse sozialer Integration darstellen. Bezahlte Arbeit dient in diesen Modellen nicht nur der Einkommensgenerierung, sondern sichert auch soziale Absicherung, Anerkennung, soziale Kontakte und Selbstachtung. Selbstverständlich ist dabei die Qualität der ausgeübten Arbeit von größter Bedeutung, wie die Debatten um Arbeitsbedingungen im Niedriglohn-, Zeit- und Leiharbeitsbereich unterstreichen. Sowohl hinsichtlich der Zugangsschranken zum Arbeitsmarkt als auch der Arbeitsbedingungen geraten dadurch Unternehmen in den Fokus, die letztlich durch ihre Personalpolitik und Ansprüche den Rahmen für die Möglichkeiten der Erwerbstätigkeit setzen. Nun ist dieser Text sicher nicht der Ort, um das komplexe Zusammenspiel zwischen makroökonomischen Strukturen, Prinzipien der Unternehmensführung, zwischen einzelnen Unternehmen und weltwirtschaftlichen Entwicklungstendenzen auch nur im Ansatz anzureißen. Daher müssen die folgenden Anmerkungen genügen, um das Verhältnis von Exklusion und Unternehmen zu illustrieren:
8
So wendet sich Vogel gegen das Konzept der Exklusion, das ihm für die Beschreibung des sozialen Wandels als unangemessen erscheint, da es „die sozialen Zwischenräume und biographischen Übergangszonen“ nicht in den Blick nehmen könne und damit auf Spaltungen und klare Unterscheidungen abhebe, wo eigentlich ein nuancierteres Porträt angemessen wäre (vgl. Vogel 2007: 76f). Stattdessen schlägt er mit überzeugenden Argumenten die Einführung der Begriffe „soziale Verwundbarkeit“ und „prekärer Wohlstand“ vor, die in Folge der Veränderungen von Arbeitsmarkt und Wohlfahrtsstaat als passender erscheinen. Zugleich weist Vogel jedoch darauf hin, dass sich die „Verfestigung einer neuen Unterklasse“ (Vogel 2006: 354) als Merkmal sozialer Ungleichheit andeute und greift die These Dahrendorfs auf, dass „während der ‚gewährleistende’ Staat seine Sicherungs- und Gestaltungskraft in der Mitte der Gesellschaft reduziert, (...) er seine Kontrolle in deren Randlagen [stärkt]“ (Vogel 2006: 353) – ein Gedanke, den im Übrigen auch Bauman teilt, wenn er auf die Aufwertung repressiver Staatstätigkeiten parallel zum Abbau von Wohlfahrtsstaatlichkeit hinweist (vgl. Bauman 2005: 120f). Wenn dem allerdings so ist, stellt sich die Frage, warum dann nicht die zeitdiagnostischen sozialwissenschaftliche Konzepte Exklusion und Prekarisierung (oder prekärer Wohlstand/soziale Verwundbarkeit) nebeneinander bestehen sollen, wo doch in beiden Fällen Forschungsbedarf gegeben zu sein scheint.
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Es ist zu einem gesellschaftsdiagnostischen Gemeinplatz geworden, dass sich die Funktionsbedingungen der Wirtschaft in den vergangenen Jahrzehnten weitreichend verändert haben. Ob man dies nun wie Vertreter der Regulationstheorie als Etablierung eines neuen Akkumulationsregimes und einer neuen, ‚postfordistischen’ Regulationsweise bezeichnet, ob man mit Bob Jessop (2002) von der Entwicklung zu „Schumpeterian Workfare Postnational Regimes“ spricht oder ob man das ubiquitäre Schlagwort Globalisierung bemüht, ändert wenig am Befund eines Wandels in Richtung einer Aufwertung von Flexibilität im Zuge einer Subjektivierung der Arbeit. Auch die Folgen für den einzelnen Beschäftigten sind hinreichend bekannt: Notwendigkeit von Flexibilität, Einforderung zusätzlicher Kompetenzen (soft skills), dauerhafte Anpassung an die Anforderungen des kapitalistischen Wirtschaftslebens durch lebenslanges Lernen. Wie Gaullier (1996) zeigt, führen diese Anforderungen letztlich zu Selektionsprozessen, bei denen all diejenigen aus dem Berufsleben entfernt werden, die nicht in der Lage sind, den steigenden Ansprüchen zu genügen. Verstärkt durch die generelle Entwertung niedrigqualifizierter Tätigkeiten in den westlichen Industriegesellschaften durch wachsende Kapitalintensität der Produktion (vgl. Kaufmann 1997: 96f), entsteht so, forciert durch neue Formen der Unternehmensführung im Sinne permanenter Rationalisierung, eine schiefe Bahn, die von Selektion über Prekarisierung zur Exklusion führt (vgl. Gaullier 1996: 214f). Unternehmen werden damit, gewollt oder ungewollt, bewusst oder unbewusst, zu Akteuren des Ausschlusses für all diejenigen, deren ‚employability’ als unzureichend angesehen wird und die den Idealen des ‚neuen Geistes des Kapitalismus’ (Boltanski/Chiapello 2003, vgl. Künkler in diesem Band) bezüglich Mobilität und Projektfähigkeit nicht entsprechen. Folge davon ist ein zunehmend segmentierter Arbeitsmarkt (vgl. im Detail Kreckel 2004: 184f), in dem unterschiedlich sichere und bezahlte Tätigkeiten nebeneinander bestehen, wobei in der Regel schulische und berufliche Qualifikationen darüber entscheiden, wo der Einzelne seinen Platz zu suchen hat (vgl. zum Zusammenhang von Arbeitsmarktstrukturen und Exklusion Konietzka/Sopp 2006). In Anbetracht der gesellschaftlichen Verpflichtung zu sozialer Absicherung, wie sie sich in den Wohlfahrtsstaaten der Nachkriegszeit durchsetzte, obliegt es dann dem Staat, genauer den sozialen Sicherungssystemen sowie den Sozialversicherungsträgern, den von der Wirtschaft als dauerhaft überflüssig deklarierten Arbeitnehmern 9 die Existenz zu sichern. Dadurch kommt es faktisch zu einer stärkeren Trennung der Sphären des Sozialen und der Wirtschaft, wobei letztere allein dem Ziel der Profitmaximierung zu dienen hat, während die Reparatur der dadurch bedingten Schäden dem Sozialsystem, also der Allgemeinheit, zufällt (vgl. Rosanvallon 1995: 108f). Nun mag man mit einigem Recht einwenden, dass dies nun einmal in der Logik des Kapitalismus liege, würde damit aber verkennen, dass im sog. ‚Goldenen Zeitalter’ des Wohlfahrtskapitalismus auch in den Unternehmen Nischen für weniger produktive Kräfte existierten, deren Lohn indirekt von höherqualifizierten
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Die Idee der Überflüssigkeit v.a. geringqualifizierter Arbeitnehmer taucht in unterschiedlich expliziter Form in zahlreichen Arbeiten zu Exklusion auf und dient dabei zumeist als Indikator einer grundlegenden sozialen Veränderung, infolge derer nicht mehr Ausbeutung, sondern das Ausbleiben von Ausbeutung als Folge von fehlender Integration in die Arbeitsteilung problematisch ist. Am drastischsten in der Formulierung erweist sich hier Baumans (2005) Begriff des Abfalls. Umstritten ist dabei jedoch, ob die Überflüssigen des Arbeitsmarktes andere soziale Funktionen erfüllen (wie die des Konsumenten oder der Disziplinierung anderer Arbeitnehmer) oder ob die gesellschaftliche Überflüssigkeit eine totale ist.
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Beschäftigten subventioniert wurde, wodurch Teile der sozialen Kosten von den Unternehmen internalisiert wurden (vgl. ebd.: 111). Mit dem Einbruch sozialer Verantwortung der Unternehmen, der wahrscheinlich auch in Folge eines gewandelten Kräfteverhältnisses zwischen Kapital und Arbeit zu verzeichnen war, stellt sich die Frage nach der Sicherungspflicht der sozialstaatlichen Systeme in verschärfter Form.
4.2
Wohlfahrtsstaatlichkeit und die Strukturierung von Exklusionsprozessen
Trotz oder gerade wegen gewandelter Bedingungen spielt der Wohlfahrtsstaat bei der Wahrung sozialer Integration und der Sicherung eines gesellschaftlich akzeptablen Mindeststandards eine bedeutende Rolle – die „Staatsbedürftigkeit der Gesellschaft“ (Vogel 2007) zeigt sich folglich auch im untersten Bereich der Sozialstruktur: eine Bedürftigkeit, die u.a. daher rührt, dass im Zuge von Individualisierungsprozessen traditionelle Unterstützungssysteme wie Familien (zur Defamialisierung durch den Wohlfahrtsstaat vgl. in aller Kürze Ullrich 2005: 109ff) und nachbarschaftliche Netzwerke an Bedeutung verloren haben, während der sich entwickelnde Wohlfahrtsstaat zunehmend zur „hauptsächlichen Stütze und Absicherung“ des Individuums wurde, das sich damit in eine Abhängigkeit begab, die v.a. dann problematisch ist, wenn sozialstaatliches Handeln zurückgefahren wird (vgl. Castel 2000b: 344f). 10 Doch wie sieht nun der Zusammenhang von Sozialpolitik und Exklusion aus, welche Fragen stellen sich diesbezüglich? Sozialpolitik offenbart, wie Heimann formulierte, im allgemeinen ein „konservativ-revolutionäres Doppelwesen“ (Heimann 1980: 167ff): eine Ambivalenz zwischen Bewahrung der sozialen Hierarchie und Kontrolle der Bürger auf der einen, und emanzipativen Elementen und Sicherung des Lebensunterhalts auf der anderen Seite. Diese Zwiespältigkeit zeigt sich besonders im Bereich jener Sozialpolitiken, die gegen Exklusion gerichtet sind und damit oftmals Personen zum Gegenstand haben, die nicht (mehr) über private und Sozialversicherung versorgt werden und folglich auf Fürsorge aus zumeist steuerfinanzierten staatlichen Mitteln angewiesen sind. Eingliederungsmaßnahmen in den (zweiten) Arbeitsmarkt oder öffentlich geförderte und angeordnete Qualifizierungsmaßnahmen, also die zentralen Instrumente des sozialpolitischen Bemühens um Wiederherstellung der wirtschaftlichen Selbstständigkeit, zeugen von dieser Ambivalenz, bedeuten sie doch einerseits eine Hilfestellung bei der Verbesserung der Arbeitsmarktchancen, stellen jedoch andererseits in allzu vielen Fällen eine erzwungene Ersatzlösung dar, welche die Betroffenen in der intermediären „Sphäre der Eingliederung“ (Roche 2004: 88) zwischen regulärer Erwerbsarbeit und Arbeitslosigkeit hält (vgl. u.a. Castel 2000b: 364ff; Land/Willisch 2006). Ähnliches gilt für finanzielle Sozialleistungen wie Sozialgeld oder Arbeitslosengeld II: Auf der einen Seite sichern diese Mittel ein Leben auf äußerst bescheidenem oder gar unzureichendem Niveau, auf der anderen Seite stehen vor der Zahlung dieser Gelder eine Veröf10 Verschärft wird diese längerfristig in die Entwicklung des Wohlfahrtsstaates eingeschriebene Abhängigkeit durch Transformationen der letzten Jahrzehnte: So beschreiben etwa Dubet/Lapeyronnie die Erosion der klassischen Arbeitermilieus in den „roten Vorstädten“ Paris’ und die daraus resultierende Schwächung gemeinschaftlicher Regelungsformen und gegenseitiger Hilfen, welche stärker staatliche Interventionen erfordere (vgl. Dubet/Lapeyronnie 1994: 68).
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fentlichung von Vermögen und Einkommen sowie dauerhafte Kontrollen, die tief in das Privatleben der Leistungsbezieher eingreifen. Vom Stigma des Gescheiterten und den negativen Folgen für das Selbstwertgefühl vieler Leistungsbezieher ist damit noch nicht gesprochen. Zielgruppenorientierte Programme ermöglichen zwar im günstigen Fall eine höhere Effektivität, sorgen jedoch zugleich für eine Kategorisierung und unter Umständen anschließende Stigmatisierung der Betroffenen, von denen bspw. Bewohner ‚schwieriger’ Stadtviertel berichten können. Gerade in Großbritannien und Frankreich, also in jenen europäischen Ländern, in denen der Armutstypologie Paugams zufolge bereits seit einigen Jahren eine disqualifizierende, d.h. exkludierende Armut vorherrscht (vgl. Paugam 2004, 2005), haben sich in der jüngeren Vergangenheit die sozialstaatlichen Aktivitäten gegen Exklusion verstärkt (vgl. für einen ersten Überblick Carmichael 2001a; Choffé 2001): Während in Frankreich der Staat seit der Einführung des für nahezu alle Bürger beziehbaren Revenu minimum d’insertion (RMI) im Jahre 1988 Verantwortung für all diejenigen übernommen hat, die durch die Lücken des an Sonderregimen reichen Sozialversicherungsnetzes fallen, hat die 1997 gewählte LabourRegierung Großbritanniens ihre Reparaturarbeiten an den sozialen Folgen der vorherigen konservativen Regierung unter das Leitbild des Kampfes gegen Armut und soziale Exklusion gestellt. Hier ist nicht der Ort, um Prinzipien, Instrumente, Erfolge und unübersehbare Defizite dieser Politiken zu erläutern. Jedoch sollen diese Beispiele unterstreichen, dass Sozialpolitik gegen Exklusion zum Kernbestand von Wohlfahrtsstaatlichkeit gehört und gerade dann an Bedeutung gewinnt, wenn übergelagerte Sicherungssysteme fehlen oder mangelhaft funktionieren – zumindest solange der gesellschaftliche Konsens fortbesteht, dass die Verpflichtung zu Solidarität auf Mindestniveau über wohlfahrtsstaatliche Einrichtungen zu sichern ist. Ob man im Zuge der Formulierung und Implementierung dieser politischen Programme direkt von Exklusion spricht oder, wie in Deutschland, den Begriff scheut, ist dabei letztlich zweitrangig. In jedem Fall ist es sowohl für sozialwissenschaftliche Forschung als auch für eine fundierte Gesellschaftskritik von großer Wichtigkeit, die ambivalenten Wirkungen sozialpolitischer Interventionen in den Blick zu nehmen. Gerade diejenigen, die für den Arbeitsmarkt als überflüssig erachtet werden, sind in hohem Maße auf wohlfahrtsstaatliche Leistungen angewiesen (vgl. Kreckel 2004: 180f), unterliegen jedoch zugleich besonders dessen Disziplinierungs- und Kontrollmechanismen. Es kann daher nicht überraschen, dass die Bewertung der Staatstätigkeit aus der Sicht kritischer Sozialwissenschaft und Zeitdiagnose ebenfalls zumeist ambivalent ausfällt und oftmals zwischen theoretischer Staatskritik und Affirmation von als emanzipativ angesehenen Staatstätigkeiten oszilliert. Aus der unübersehbaren Bedeutung von Wohlfahrtsstaatlichkeit im Bereich von Exklusion ergeben sich zwei Notwendigkeiten in der Forschung: zum einen im Rahmen der Sozialstaats- oder Wohlfahrtssystemforschung stärker auf diesen zentralen Aspekt einzugehen, zum anderen im Feld der Exklusionsforschung sozialstaatliche Einflüsse zu untersuchen. Zu fragen ist dabei nach dem Wechselspiel zwischen Exklusion verhindernden und fördernden Wirkungen sozialstaatlicher Interventionen, d.h. nach der Strukturierung von Exklusionsprozessen durch den Wohlfahrtsstaat. Eine solche Arbeit wird letztlich, angesichts nationaler Eigensinnigkeiten, empirisch erfolgen müssen, liefert dabei jedoch Einsichten in das Interaktionsverhältnis von Sozialpolitik und Exklusion, die nicht nur Grundlage für
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wissenschaftliche Erkenntnisse, sondern eben auch für eine kritische Betrachtung sozialstaatlicher Integrations- und Hilfeleistungen sein kann. Eine praktische und sehr überzeugende Anwendung dieses Forschungsprogramms liefert Mohr (2007) mit ihrer vergleichenden Untersuchung von Arbeitslosensicherung und Sozialhilfe in Großbritannien und Deutschland. Durch die Verwendung eines aus Exklusionstheorien abgeleiteten Analyserasters gelingt eine konzentrierte Darstellung der „institutionellen[n] Strukturierungslogiken sozialer Exklusion“, indem „Barrieren wohlfahrtsstaatlicher Inklusion“, die „ambivalente Qualität“ der Sozialleistungen und „wohlfahrtsstaatlich induzierte Inklusions- und Exklusionskarrieren“ offengelegt werden (vgl. zum Analyserahmen ebd.: 66ff). Auf diesem oder ähnlichem Wege lassen sich sozialpolitische Aktivitäten an den Rändern der Gesellschaften, d.h. praktisch v.a. im Bereich der ‚Eingliederungszone’ oder der „sekundären Integration“ (Land/Willisch 2006), in den Blick nehmen und auf ihre ambivalenten Wirkungen befragen. Dabei liegt der Schwerpunkt bei der Erforschung westeuropäischer Staaten sicher zu Recht in sozialpolitischen Politikfeldern, dennoch sollten andere Formen staatlicher Eingriffe nicht vorschnell ausgeblendet werden. Die Arbeiten Wacquants zu US-amerikanischen Ghettos verdeutlichen, dass der Rückzug sozialstaatlicher Institutionen aus benachteiligten Stadtgebieten einhergehen kann (und vielleicht sogar muss) mit der Aufwertung von Instrumentarien der Justiz und Polizei, dass also Abbau von Sozialstaatlichkeit nicht automatisch Rückzug des Staates bedeutet, sondern eher eine Wandlung vom sorgenden zum überwachenden und repressiven Staat (vgl. Wacquant 2006, v.a. 26ff, 90ff, 144ff). Und auch wenn eine solche Entwicklung in den europäischen Ländern nicht zu beobachten ist, gibt es doch einige Indizien, die zumindest zur Wachsamkeit mahnen.
5.
Schlussfolgerung: Zum gesellschaftskritischen Potenzial des Exklusionsbegriffes
Bereits die zunehmende Verbreitung des Begriffes der Exklusion in sozialpolitischen Programmen und Leitbildern lässt eine weitere sozialwissenschaftliche Beschäftigung mit diesem Thema notwendig erscheinen. In Anbetracht der oft widersprüchlichen, uneinheitlichen und nicht selten verschleiernden Verwendung des Exklusionskonzeptes durch Akteure des politisch-administrativen Systems ist es mehr als wünschenswert, die Instrumente einer sozialwissenschaftlichen Analyse zu schärfen, um sozialpolitische Programme gegen Ausgrenzung kontrastierend untersuchen und bewerten zu können – auch wenn sich dies angesichts der gegenseitigen Durchdringung von Wissenschaft und Politik in diesem Bereich (vgl. Autès 2004: 10f) nicht immer als leicht erweist. Darüber hinaus ermöglichen Konzepte der sozialen Exklusion einen nicht zu unterschätzenden Mehrwert bei der Untersuchung aktueller sozialer Probleme und sind auch aus gesellschaftskritischer Perspektive von Interesse. Folgt man der Argumentation dieses Textes ergeben sich dabei Erkenntnisgewinne gegenüber alternativen Ansätzen. Dabei liegt es jedoch auf der Hand, dass diese Perspektive zunächst keiner grundlegenden Kritik kapitalistischer Wirtschaftsordnungen den Weg bereitet. Denn wie die Kritiker des Exklusionskonzeptes mit einigem Recht einwenden, verweist Exklusion in einem ersten Schritt auf Defizite gesellschaftlicher Integration, auf die mit Maßnahmen zur Einbindung
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Enrico Reuter
und zur Sicherung allgemein geteilter Mindeststandards reagiert wird. Allerdings illustriert der auch in diesem Aufsatz skizzierte Exklusionsbegriff unmissverständlich eine Reihe gesellschaftlicher Missstände, die durchaus als aus der Gesellschaftsordnung resultierend zu sehen sind. Damit erweisen sich Exklusionskonzepte als anschlussfähig an weiterführende und tiefgründigere Ansätze. Auch an dieser Stelle sollte also eher von der Möglichkeit fruchtbarer Ergänzungen ausgegangen werden als von einer grundlegenden Widersprüchlichkeit. Theorien der Exklusion sind in der Regel Ansätze mittlerer Reichweite, deren kritisches Potenzial damit unausweichlich ebenfalls eine mittlere Reichweite aufweist. Folgt man jedoch einem pragmatischen Verständnis von Kritik, d.h. stellt man die Frage nach ihrem potenziellen Nutzen bei der Überwindung oder zumindest Linderung sozialer Missstände, wird die Stärke des Exklusionsbegriffes deutlich: Angesichts der häufigen Verwendung in sozialpolitischen Zusammenhängen kann das Konzept als kritische Kontrastfolie zur Bewertung praktischer Politik dienen. Darüber hinaus zeichnen sich Exklusionskonzepte eben gerade durch jenes Maß an Flexibilität aus, das eine jeweils ‚passende’, also erfolgversprechende Kritik ermöglicht. Überspitzt gesagt, kann die Beschreibung von Exklusionsprozessen sowohl einer kritischen Hinterfragung kleinteiliger arbeitsmarktpolitischer Maßnahmen dienen als auch einer weitreichenden Kritik des ‚entfesselten Kapitalismus’ und seiner Folgen. In dieser Vielfalt, man könnte auch sagen: Beliebigkeit, liegen Stärke und Schwäche des Exklusionsbegriffes. Denkt man jedoch auch bei kleinteiligen Analysen die erläuterten Grundannahmen des Konzeptes mit, erweist sich dieses als anpassungsfähiges und wirksames Instrument der kritischen Hinterfragung gesellschaftlicher Realitäten. Allerdings sind Exklusionskonzepte recht voraussetzungsreich und zuweilen überambitioniert. Die in diesem Aufsatz erfolgten Anmerkungen zu einem ‚exklusiven’ Exklusionsverständnis sollen einen Versuch darstellen, durch einen knapperen, auf die gesellschaftliche Peripherie begrenzten Ansatz und eine stärkere Verschränkung mit anderen sozialwissenschaftlichen Forschungsrichtungen die beschriebenen Defizite des Exklusionsbegriffes zu minimieren. Dass dabei auch dieses ‚verschlankte’ Exklusionskonzept nicht ohne normative Setzungen auskommt und letztlich umstritten bleibt, liegt auf der Hand. Dies gilt jedoch bspw. auch für Theorien der Armutsforschung im speziellen und den Begriff der Armut im allgemeinen. Ein Grund, das Konzept ‚Exklusion’ aufzugeben, kann dies folglich kaum sein – zumal die darin zum Ausdruck kommenden Probleme einer Lösung dringend bedürfen.
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Enrico Reuter
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Teil III Auswege – Perspektiven kritischer Praxis
Widerständiges Prekariat? Probleme der Interessenvertretung in fragmentierten Arbeitsmärkten
Alessandro Pelizzari
Im Winter 2006 meldete sich die Neue Zürcher Zeitung mit einem Abstand von nur zehn Tagen mit zwei Artikeln zu Wort, die sich nur auf den ersten Blick widersprechen: Am 9. Dezember führte das Blatt die Überschrift „Robuste Verfassung des Arbeitsmarktes“, und verwies auf den Rückgang der Arbeitslosigkeit in der Schweiz. Am 19. Dezember berichtete die gleiche Zeitung über die Resultate des so genannten ‚Sorgenbarometers’, der im Auftrag der Großbank Credit Suisse periodisch die wichtigsten ‚sozialen Probleme’ erfasst, die die Schweizer Einwohnerinnen und Einwohner beschäftigen, und titelte: „Die größte Sorge der Schweizer bleibt trotz boomender Wirtschaft die Arbeitslosigkeit“. Hinter dem Schein der Vollbeschäftigung liegt also eine diffuse Realität von Abstiegs- und Ausgrenzungsängsten, die sich in den offiziellen Arbeitsmarktstatistiken nicht widerspiegeln und den von der Krise gebeutelten Gewerkschaften eine Rückkehr zum ‚economic boom trade unionism’ (Pelizzari/Schief 2007: 9) des Fordismus nicht so ohne weiteres ermöglichen. Tatsächlich sind die zwei vergangenen Jahrzehnte, die in der Schweiz wie in anderen europäischen Ländern von Deindustrialisierung, tiefgreifenden Arbeitsmarktreformen und der Ausbreitung von Armut unter Erwerbstätigen geprägt waren, nicht spurlos an der gesellschaftlichen Chancenstruktur vorbeigezogen: Die Kerne ‚normaler’ Vollzeitbeschäftigung und damit die gewerkschaftlichen Bastionen der Nachkriegszeit unterliegen seither einem langsamen, aber unaufhaltsamen Schrumpfungsprozess, und ihnen steht eine beträchtliche Zahl Langzeitarbeitsloser und anderer sozialstaatlich Unterstützter gegenüber, die nach wie vor einen erheblichen Druck auf die Arbeitsbedingungen ausüben und deren Anzahl sich auch durch die angebliche Entspannung des Arbeitsmarktes kaum komprimieren lässt. Dazwischen öffnet sich ein Graubereich von prekären Erwerbsverhältnissen wie Leiharbeit, befristete oder geringfügige Beschäftigung und Scheinselbständigkeit, die in der Regel weder existenzsichernd noch dauerhaft sind und von deutlichen Anzeichen der Unsicherheit geprägt sind. In dieser gewerkschaftlich schwach durchdrungenen Zone sind die Beschäftigten wegen ihrer durchschnittlich kurzen Präsenzzeit im Betrieb und den erhöhten Abhängigkeitsverhältnissen nicht nur schwerer zu organisieren; auch stellen Konkurrenzsituationen zwischen gewerkschaftlich organisierten ‚Insidern’ und den ‚Outsidern’ in den Randbelegschaften sowie vordergründige Interessenkonvergenzen zwischen Unternehmern und Arbeitsmarktneulingen die organisierte Arbeiterschaft vor neuartige Herausforderungen. Vor dem Hintergrund eigener empirischer Befunde zur Dynamik der Prekarisierung auf dem schweizerischen Arbeitsmarkt (vgl. Böhringer et al. 2007; Nollert/Pelizzari 2007a, 2007b; Pelizzari 2007a, 2007b, 2006; Pelizzari et al. 2007) diskutiert der vorliegende Aufsatz den Stand der (kapitalismus-)kritischen Prekarisierungsforschung und versucht, aus den daraus ablesbaren Verschiebungen in der Sozialstruktur mögliche Anknüpfungspunkte für kollektive Handlungsweisen gegen die allgemeine Verunsicherung der Erwerbs- und
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Alessandro Pelizzari
Lebensverhältnisse freizulegen und gewerkschaftliche Marksteine für eine ‚Politik der Entprekarisierung’ (Dörre 2007) zu formulieren. Die hier vertretene These, dass Prekarisierung wesentlich auf eine Neuordnung der Beziehungen zwischen den sozialen Klassen hinausläuft, ist gewerkschaftspolitisch insofern von Belang, als sie sich nicht darauf beschränkt, die sichtbare Ausgrenzung angeblich hilfloser Opfer zu skandalisieren. Sie will dazu einladen, anstelle von Aktivierungs- oder Stellvertreterpolitiken über tatsächliche Partizipationsmöglichkeiten innerhalb der Lohnarbeit (und über sie hinaus) nachzudenken.
1.
Die Diskurse der Prekarisierung
Die theoretische Debatte über Prekarisierung ist kontrovers; und dass Theorien immer auch Politiken sind (vgl. Steinert 2004), zeigt sich am Beispiel der Arbeitsmarkttheorien besonders deutlich: Während sich die ökonomische und soziologische Arbeitsmarktforschung in den 1980er Jahren nicht zufällig zu dem Zeitpunkt, als die neoliberale Welle durch den Westen fegte, mit der Individualisierung und Ausdifferenzierung von Berufs- und Lebensverläufen beschäftigte, waren die 1990er Jahre vor allem dadurch geprägt, die ‚Funktionsstörungen’ des Arbeitsmarktes in Form der penetrant in Erscheinung tretenden Phänomene wie Exklusion und Massenarbeitslosigkeit zu erklären. Seit dem merklichen Rückzug individualisierungstheoretischer Ansätze zeichnet sich die Arbeitsmarktforschung jedoch nicht etwa durch eine Rückkehr zu den klassischen Frage- und Themenstellungen der Industrieund Arbeitssoziologie der 1970er Jahre, sondern eher durch eine „theoretische Ratlosigkeit“ (Bittlingmayer/Bauer 2006: 212) aus, welche in einer schier unüberschaubaren Fülle der Definitionen, Theorien und politischen Deutungsmuster ihren Ausdruck findet. So gibt es zwar eine inzwischen breit rezipierte Definition ‚prekärer Erwerbsverhältnisse’, die der Experte des Internationalen Arbeitsamtes Rodgers im Hinblick auf ein objektivierbares, international vergleichbares Indikatorensystem erarbeitet hat (vgl. Rodgers 1989: 3f). Diese umfasst Merkmale wie den Grad der Arbeitsplatzsicherheit (kurzfristiges Risiko und längerfristige Planungsunsicherheit für den eigenen Lebensentwurf), den schwachen Einfluss auf die Kontrolle der Arbeitssituation (insbesondere auf den Rhythmus der Arbeit aber auch auf gleichberechtigte Partizipationschancen am Arbeitsplatz), fehlende Schutzbestimmungen (schwache Abdeckung durch sozial- und arbeitsgesetzliche Bestimmungen, Tarifverträge oder Gewohnheitsrechte) und die mangelnde Existenzsicherung und niedrige Einkommen, die Armut zur Folge haben können. Aufgrund solcher oder ähnlicher Definitionen entstand in den letzten Jahren eine Fülle an Untersuchungen, welche den Anteil prekärer Beschäftigungsverhältnisse in je nach Land und Untersuchungsgrundlage auf 10 bis 35 Prozent aller Erwerbsverhältnisse beziffert (vgl. z.B. Fleissner et al. 2002; Prodolliet et al. 2001; Marti et al. 2003). Während aufgrund solcher Befunde also konstatiert werden kann, „dass atypische, nicht-standardisierte Beschäftigung längst zu einem Massenphänomen“ (Brinkmann et al. 2006: 41) mit beträchtlichem prekären Potenzial geworden sind, ist indes mit Definitionen solcher Art ein gewichtiges Problem theoretischer Art verbunden. Tatsächlich erlauben sie nicht, wie die Forschergruppe um Klaus Dörre feststellt, die im deutschsprachigen Raum die bisher dichteste Forschungstätigkeit zu Prekarität vorgelegt hat, „fließende Übergänge und Abstufungen zwischen stabilen und instabilen Erwerbslagen in Rechnung zu stellen“ (Kraemer 2007: 132) und neben den formalen Strukturen des Beschäftigungsverhältnisses
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auch die subjektiven Erwartungshaltungen zu berücksichtigen, die mit dem jeweiligen Beschäftigungsverhältnis verbunden sind. Damit wird richtigerweise unterstellt, dass sich die sozialen Wirkungen von Prekarisierungsprozessen in vollem Maße erst erschließen, wenn neben den objektiven Kriterien auch die ‚relationalen’ und subjektiven Dimensionen der Prekarität in die Analyse einbezogen werden. Tatsächlich kann eine Erwerbstätigkeit, die nach ihren strukturellen Merkmalen als sicher zu bezeichnen ist, subjektiv durchaus als prekär eingestuft werden. Und umgekehrt gilt, „dass ein Beschäftigungsverhältnis auch dann ein prekäres Potenzial besitzen kann, wenn es sich im Bewusstsein des oder der Beschäftigten um eine erwünschte Form der Erwerbstätigkeit handelt“ (Brinkmann et al. 2006: 16). In diesem Sinne ist die Kategorie ‚prekäre Beschäftigung’ kein ausschließlich objektivierbares soziales Phänomen, das isoliert betrachtet werden kann, sondern sie ist immer auch „das Ergebnis positionaler Wahrnehmungen zwischen sicheren und unsicheren Lagen innerhalb der Arbeitswelt“ (Kraemer/Speidel 2004). Präziser als ein Begriff von ‚Prekarität’ ist also ein Verständnis von ‚Prekarisierung’ als Prozess, in welchem sich die subjektive Wahrnehmung der eigenen Arbeitsmarktposition sowohl im Verhältnis zum Neigungswinkel der eigenen erwerbsbiographischen Laufbahn wie auch relativ zu anderen Lagen innerhalb der Arbeitswelt spiegelt. Zu den einflussreichsten Deutungsmustern der Dynamiken der Prekarisierung gehört zweifellos die Ansicht, prekäre Erwerbsverhältnisse böten gerade in Zeiten wachsender Massenarbeitslosigkeit Minderqualifizierten mit geringen Beschäftigungschancen eine mögliche Alternative zur Arbeitslosigkeit, indem sie den Übergang in reguläre Beschäftigung erleichterten und damit zur Arbeitsmarktintegration beitrügen. Diese ‚Brückenfunktion’ flexibler Erwerbssegmente wurde jahrzehntelang prominent durch die Job Strategy der OECD (vgl. Brandt et al. 2005) postuliert, deren Empfehlungen, die Arbeitslosigkeit mittels einer Ausdehnung atypischer Arbeitsverhältnisse zu bekämpfen, heute die meisten Industriestaaten folgen. Auch die Europäische Kommission erwähnt in ihrem Grünbuch zum Arbeitsrecht, dass weitere Flexibilisierungsanstrengungen nötig seien, um die Segmentation des Arbeitsmarktes zwischen den ‚Insidern’ und den ‚Exkludierten’ zu überwinden. Ins Visier genommen wird dabei insbesondere das Normalarbeitsverhältnis, welches als ‚zu geschützt’ betrachtet wird (vgl. Europäischer Gewerkschaftsbund 2007). Diese Haltung wurde Ende der 1990er Jahre vom damaligen deutschen sozialdemokratischen Regierungschef Gerhard Schröder als Verfechter des ‚Dritten Weges’ mit der Formel auf den Punkt gebracht, wonach es besser sei, „mit weniger Schutz in den Arbeitsmarkt rein zu kommen, als mit viel Schutz draußen zu bleiben“ (zit. n. Notz 2004: 38). Aus dieser Perspektive sind prekäre Beschäftigungsverhältnisse freilich unproblematisch: Sie gelten als wichtige Formen flexibler Beschäftigung, die besonders geeignet sind, die Ausgegrenzten überhaupt erst in Beschäftigung zu bringen. Allerdings findet sich diese ‚Inklusions-These’ auch in weniger sperrigen Denktraditionen wieder, die sich von neoklassischen Theoretikern und neoliberalen Politikern auf den ersten Blick stark unterscheiden. Tatsächlich stellt auch für manch eine kapitalismuskritische Position, wie Huckenbeck pointiert angemerkt hat, „Prekarität schon der Übergang zu neuen, freieren, vernetzten, assoziierten Formen der Produktion und Reproduktion auf internationalem Niveau“ dar (Huckenbeck 2005: 38). Vor allem haben feministische Analysen immer wieder zu Recht auf die ausgrenzenden Seiten des Normalarbeitsverhältnisses und die damit verbundene Abwertung anderer Tätigkeitsformen hingewiesen. So wird die Ausdehnung von Teilzeitarbeit und geringfügigen Beschäftigungsverhältnissen sowie anderen flexiblen Arbeitsfor-
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men, die parallel zum Anstieg der Frauen- und auch Müttererwerbstätigkeit erfolgt ist, in der Geschlechterforschung in der Regel als ‚Modernisierung’ des traditionellen Geschlechtervertrags interpretiert (vgl. Klammer/Tillmann 2001: 10). Am gegenüberliegenden Pol dieser in Wahlverwandtschaft zwischen neoklassischen und kritischen Autoren geteilten Position artikuliert sich die ‚Exklusions-These’, wonach prekäre Arbeit nichts anderes ist als ein Zwischenschritt in die vollständige Exklusion, in dem sich biographische Risiken, soziale Benachteiligungen und Deprivationen kumulieren und Ausgrenzungserfahrungen sukzessive ineinander greifen (vgl. Herkommer 1999). An dieses Postulat knüpft in jüngster Zeit eine Vielzahl von neueren soziologischen Ansätzen Durkheim’scher Tradition an (vgl. Kronauer 2002; Paugam 2000), welche mit dem Normalarbeitsverhältnis die Vorstellung der sozial akzeptierten Vollintegration – mit der Aussicht auf berufliche Anerkennung, soziale Sicherheit und relativen Wohlstand – in den Arbeitsmarkt verbinden und in der Lohnarbeit das zentrale Bindemittel der Gesellschaft sehen. Diese Idee einer ‚Normalintegration’ in die Gesellschaft verbindet sich mit einem „Ensemble von normativen Orientierungen einerseits und deren institutioneller Grundlage andererseits“ (Kronauer 1997: 36), welches die kapitalistischen Gesellschaften in der fordistischen Nachkriegszeit geprägt haben, vor allem durch den Ausbau von sozialstaatlichen Sicherheitsstandards der Normalarbeit, Tarifkampfrechten der Gewerkschaften und Arbeiterrechten im Betrieb, aber auch durch die Infrastrukturen des Bildungs-, Gesundheits- und Sozialwesens. Der Rückgang des Normalarbeitsverhältnisses korrespondiert demnach mit der „Erosion des gesellschaftlichen Integrationsmodus durch den Arbeitsmarkt“ und „zunehmend größere Teile der Bevölkerung (haben) wenn überhaupt noch, so doch eine deutlich reduzierte Teilhabe an sozialer Sicherung und gesellschaftlichen Entfaltungsmöglichkeiten“ (Bartelheimer 2002: 16). Beide Positionen besitzen indes beträchtliche blinde Flecken. So sind zwar mit Blick auf die ‚Inklusions-These’ gerade die Impulse aus den arbeitskritischen sozialen Bewegungen im Anschluss an 1968 zur Aufweichung des Normalarbeitsverhältnisses keineswegs zu unterschätzen (vgl. Boltanski/Chiapello 2003), jedoch ist nicht von der Hand zu weisen, dass die zurzeit dominante arbeitsmarktpolitische Tendenz weniger die Befreiung der Lohnarbeit von Ausbeutung und Herrschaft, als vielmehr deren Re-Kommodifizierung, d.h. den neoliberalen Rückbau sozialstaatlicher und arbeitsrechtlicher Protektion der Beschäftigungsverhältnisse im Auge hat, die nicht zuletzt in empfindlichen Niederlagen der europäischen Gewerkschaften in den 1980- und 1990er Jahren ihren Ausdruck fand. Und so produktiv die ‚Exklusions-These’ für die neuere soziologische Ungleichheitsforschung durch die Ausweitung eines allein am Einkommen orientierten Armutsverständnis mit Facetten gesellschaftlicher (Des-)Integration auch ist, so greift das dichotomische Bild einer solchen ‚Innen-Außen-Spaltung’ der Gesellschaft, welches das Vorhandensein eines stabilen und relativ homogenen Zentrums suggeriert, das sich verschiedenen Problemgruppen von ‚Ausgeschlossenen’ gegenübersieht, zu kurz. Zwei französische Soziologen haben sich in ihren Alterswerken prominent mit diesen gesellschaftlichen Transformationsprozessen befasst und ein theoretisches Instrumentarium entwickelt, an das sich für eine kapitalismuskritische Prekarisierungstheorie anknüpfen lässt. Auf der einen Seite zeichnet Robert Castel (2000) in seiner sozialhistorischen Aufarbeitung der Metamorphosen der sozialen Frage die Herausbildung einer breiten „Zone der Verwundbarkeit“ nach, die sich von der „Zone der Integration“ mit geschützten Normarbeitsverhältnissen, aber auch von der „Zone der Exklusion“, in der sich die ‚Entbehrlichen’
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der Arbeitsgesellschaft befinden, unterscheidet. Auf der anderen Seite verfolgte Pierre Bourdieu in seiner Studie Das Elend der Welt (Bourdieu et al. 1997) das Ziel, die durch gesellschaftliche und arbeitsmarktliche Verwerfungen ausgelösten Erschütterungen hergebrachter Muster biografischer Entwürfe und Erfahrungen des ‚Leidens an der Gesellschaft’ wissenschaftlich zugänglich zu machen. Seine Schlussfolgerungen fasste er als zeitdiagnostische Aussagen über die zunehmende Prekarisierung der Lebens- und Arbeitsverhältnisse, d.h. als „eine gesellschaftliche Tendenz zur Verallgemeinerung sozialer Unsicherheit, deren Ursprung im ökonomischen und Erwerbsystem der Gesellschaft zu verorten ist“ (zit. n. Brinkmann et al. 2006: 8), zusammen. Beide Beiträge schärfen den Blick für die zum Teil widersprüchlichen Dynamiken der Prekarisierung und die dahinter liegenden Kräfteverhältnisse und werden in den folgenden Abschnitten für die hier interessierende konfliktund klassentheoretische Fragestellung aufgegriffen und im Hinblick auf gewerkschaftspolitische Schlussfolgerungen weiter entwickelt.
2.
Der Arbeitsmarkt der Prekarisierung
Castels Modell der drei Zonen der Erwerbsgesellschaft hat den Vorteil, die vereinfachende Dichotomie von ‚Drinnen’ und ‚Draußen’ bzw. ‚Insidern’ und ‚Outsidern’ zu überwinden und mögliche vielfältige Übergänge und die Dynamik von Aufstiegs- und Abstiegsprozessen ins Blickfeld zu nehmen. Das macht die ‚Zone der Verwundbarkeit’ zum zentralen gesellschaftlichen Ort, in dem „die Weichen Richtung Aufstieg oder Abstieg, Richtung Integration oder Ausgrenzung, Richtung Etablierung oder Deklassierung gestellt werden“ (Vogel 2004a: 175). Diese Perspektive lässt sich gut mit der Vorstellung verbinden, dass sich der Arbeitsmarkt in unterschiedliche, mehr oder weniger geschützte und ökonomisch benachteiligte Segmente aufteilt, die eine innere Struktur aufweisen, mehr oder weniger gegeneinander abgeschirmt sind und unterschiedliche Zugangschancen und Ausgrenzungsrisiken aufweisen. Mehrere Studien weisen in der Tat mit Rückgriff auf die Arbeiten von Sengenberger zur ‚dynamischen Arbeitsmarktsegmentation’ (Sengenberger 1978) auf eine neuartige und dauerhafte Aufspaltung des Arbeitsmarktes in Teilarbeitsmärkte hin, welche den Unternehmern unterschiedliche Verwertungschancen von Qualifikation und die Nutzung von Arbeitskraftpotentialen in unterschiedlicher Intensität erlauben sollen. Im Widerspruch zur These von prekärer Arbeit als ‚Brücke’ in den regulären Arbeitsmarkt sind diese Segmente durch ‚erwerbsstrukturierende Institutionen’ (Pries 1998) und Mobilitätsbarrieren in Form eingeschränkter Bewegungsfreiheit für gewisse Kategorien von Migranten oder Sozialleistungsbezüger, aber auch in Form von bildungs- und tarifpolitischen Schließungsstrategien von einander separiert (vgl. Nollert/Pelizzari 2007a, 2007b; Oschmiansky/Oschmi– ansky 2003). Sengenberger datiert die Herausbildung ‚prekärer’ Teilarbeitsmärkte auf das Ende der 1970er Jahre: Von dem Moment an fangen die Betriebe systematisch an, Flexibilisierungsstrategien einzusetzen, um angesichts erhöhter Kompetitivität, „dem Faktor Arbeit das Prinzip der Liquidität aufzuzwingen, mit der die Finanzmärkte das Kapital ausstatten“ (Brinkmann et al. 2006: 12). Die gängige Erklärung der notwendigen Anpassung von Unternehmen an die Erfordernisse eines globalisierten Marktes ist indes bei weitem nicht auf alle Betriebe zu übertragen, denn nicht alle stehen in einem weltweiten Wettbewerb, in dem sie gezwungen sind, kurzfristig auf Auftragsschwankungen zu reagieren. Entsprechend sind
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„viele prekäre Beschäftigungsverhältnisse in Branchen und Betrieben entstanden, die sowohl ihren Umsatz oder ihr Auftragsvolumen recht gut planen können und auch nicht in einem weltweiten Wettbewerb stehen (Gastronomie, Handel, Reinigungsgewerbe, usw.)“ (IG Metall 2006: 18). Dies deutet darauf hin, dass es bei den betrieblichen Strategien weniger um grundsätzliche unternehmerische Flexibilität als vielmehr um eine generelle Weitergabe von Marktrisiken an die Belegschaft geht, was unter den Bedingungen der neoliberalen Offensive nicht ohne schmerzliche Rückschläge der Gewerkschaften in zentralen tarifpolitisch regulierten Branchen des Arbeitsmarktes einherging, wo sie „der Dezentralisierung und Deregulierung der Verträge zu einem großen Teil machtlos gegenüber“ (Oesch 2007a: 342) standen. Entgegen verbreiteter Ansicht hat die Prekarisierung somit nicht nur an den Rändern des Arbeitsmarktes zugenommen, sondern auch in den Kernbereichen der ‚Zone der Integration’: So gingen in den 1990er Jahren die Beschäftigten in strategischen Wirtschaftssektoren Konzessionen ein hinsichtlich der Aufweichung von tariflichen Zeit- und Lohnarrangements, um sich gegen Konkurrenten aus den externen Arbeitsmärkten zu schützen (vgl. Keller/Seifert 2006). Dirk Hauer (2005a) beschreibt anschaulich, wie beispielsweise auf dem Werksgelände von Opel in Bochum sich Arbeiter und Angestellte von 50 und mehr Firmen bewegen, die zu Zulieferern, Leiharbeitsfirmen oder zu ausgegründeten Betriebsteilen der Konzerne gehören. In der gleichen Werkhalle arbeiten somit unzählige Beschäftigte zu völlig unterschiedlichen Konditionen nebeneinander, manchmal machen sie sogar dieselbe Arbeit, allerdings unter komplett unterschiedlichen Tarif- und Entlohnungsbedingungen. Damit fallen die Effekte prekärer Erwerbsverhältnisse freilich höchst unterschiedlich aus: Sie können einerseits Chancen auf einen Einstieg in einen firmenspezifischen internen Arbeitsmarkt bieten, wenn sie als ‚port of entry’ zum Zwecke der Erprobung eines zukünftigen Mitarbeiters eingesetzt werden (vgl. Giesecke 2006: 108). In anderen Fällen dienen sie der reinen Kostensenkung, womit sich deutlich höhere Risiken für die Erwerbskarrieren der in diesen Stellen beschäftigten Personen ergeben, da sie keine Übertrittsmöglichkeit in ein reguläres Beschäftigungsverhältnis erhalten, sondern in der Prekarität gefangen bleiben. Aber auch in Segmenten der stark ‚selbstbestimmt’ organisierten Kommunikations- und Informationstechnologiebranche sowie in Medien- und Kulturberufen treten massive Prekarisierungseffekte auf, welche aus dem Streben nach Selbstverwirklichung resultieren und mit hohem Leistungsdruck und Diskontinuitätserfahrungen bei der Projektarbeit einhergehen. Untersuchungen belegen, dass daraus nicht nur außerordentliche zeitliche Inanspruchnahme, sondern auch Situationen „extremer psychischer Belastung und Erkrankung“ (Peter 2003: 178) erwachsen können, die sich in der Zunahme von Burnout-Fällen und Absentismus widerspiegeln. Prekarisierungserfahrungen resultieren dabei v.a. aus den Widersprüchen der individualisierten Leistungssteuerung: Die Konkurrenz zwischen den Arbeitern wird zum entscheidenden Hebel, um neben Arbeitsformen, Arbeitszeiten und Entgelten auch die Beschäftigungsverhältnisse zu flexibilisieren. Gerade in Zeiten wirtschaftlicher Konsolidierung bewirken permanente betriebliche Restrukturierungen nicht nur eine weitere Leistungsverdichtung der Arbeit, sie begünstigen auch eine neue Form der Unstrukturiertheit von Arbeit. Solche Schutzunterschiede zwischen den Erwerbsverhältnissen spiegeln letztlich, so Mückenberger, eine Vielzahl von „Kapitalinteressen, gemeinsamen Interessen von Arbeit und Kapital, Interessen von abhängig Beschäftigten, aber auch sektoralen Kapitalinteressen und partikularen Interessen der untereinander in Konkurrenz stehenden Lohnarbeitern“
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(Mückenberger 1989: 212). Während in einigen Fällen das Bestreben im Vordergrund stehen kann, mit niedrigen Produktionskosten gegenüber ausländischen Mitbewerbern konkurrenzfähig zu bleiben und allenfalls Auslagerungen in Billiglohnländer als ‚Exit-Option’ ins Auge zu fassen, können in anderen Fällen insbesondere große Marktakteure ein Interesse daran haben, den Unterbietungswettbewerb kleinerer Konkurrenten durch allgemeinverbindliche Regen im Zaum zu halten. Gewerkschaften in Branchen, die direkt der internationalen Konkurrenz ausgesetzt sind, tendieren ihrerseits eher dazu, zum Schutze der Arbeitsplätze ‚Flexibilisierungspakte’ einzugehen, während sie in Binnenbranchen eher für protektionistischen Maßnahmen einstehen (vgl. Mach/Oesch 2003). Damit verbunden sind vielfältige Diskriminierungen schwächer gestellter Gruppen, da die dem Normalarbeitsverhältnis zugrunde liegenden Schutzmechanismen letztlich nicht nur den Kriterien des Schutzbedarfs folgen, sondern auch denjenigen des sozialen Durchsetzungsvermögens. Der politische Charakter der gesellschaftlichen Ordnung des Arbeitsmarktes tritt so deutlich in Erscheinung: „Marktverhältnisse sind immer auch Machtverhältnisse“, und eine relationale Prekarisierungstheorie nimmt im Anschluss an Webers Theorie der sozialen Schließung „eine generell konflikttheoretische Perspektive ein, in der Inklusion und Exklusion als Resultat der sozialen Auseinandersetzungen strategisch handelnder (kollektiver) Akteure begriffen werden, die um die Partizipation an jenen Gütern kämpfen, die Gruppen, Organisationen oder Institutionen zu vergeben haben“ (Mackert 2004: 11). Die Durchsetzung von prekären Erwerbsverhältnissen bedarf freilich neben der unsichtbaren Hand der entfesselten Kräfte eines von Tarifverträgen und anderen Regulierungen befreiten Arbeitsmarktes auch der drohenden Faust der staatlichen Repression gegenüber Erwerbslosen und Migranten und deren Zwangsmobilisierung in Niedriglohnbereichen; die Eingriffe des Staates in die Sphäre der Erwerbsarbeit waren in der Tat noch nie so vielfältig wie heute. Auf der einen Seite steht die so genannte ‚Aktivierungspolitik’ in der Sozialund Arbeitslosenpolitik, welche sich generell darauf beschränkt, so das Fazit von Magnins Studie über die Beratungspraxis von schweizerischen Arbeitsvermittlungszentren, „die Arbeitskräfte zu erziehen“ (Magnin 2005: 346) und deren Wiedereintrittsbedingungen auf dem Arbeitsmarkt zu regulieren. Dabei soll der temporäre Ausschluss bei den Ausgeschlossenen nicht lediglich materielle Not und Statusverlust erzeugen, sondern zugleich die Bereitschaft, die eigenen Forderungen und damit die Bedingungen des Wiedereintritts zu modifizieren. Die aktivierungspolitische Wende in der Sozialpolitik schafft also erst die Voraussetzungen dafür, dass Arbeiten zu sehr niedrigen Löhnen, die unter dem Existenzminimum liegen, angeboten werden können, ebenso wie die migrationspolitische Entwicklung hin zum „migrationspolitischen Utilitarismus“ (Morice 2004), welches ein flexibles Angebot an zeitlich einsetzbaren und gut qualifizierten Arbeitskräften ohne Anrecht auf Bleiberecht garantiert. Auf der anderen Seite gehen die bildungspolitischen Entwicklungen gerade in Ländern, wo das Bildungssystem durch die starke Verankerung berufsorientierter Komponenten eng mit dem Beschäftigungssystem verknüpft ist, mit einer zweifachen Prekarisierungsfalle einher: Für Arbeitsmarktneulinge ohne marktgängige Berufszertifikate verläuft der Laufbahnstart zunehmend destrukturiert, und Phasen der zeitweiligen Arbeitslosigkeit und der prekären Beschäftigung nach Verlassen des Ausbildungsbetriebs gehören für viele Jugendliche inzwischen zur ‚Normalität’ (Konietzka/Seibert 2001: 88). Gleichzeitig führt auch der Überhang an Hochschulabgängern mit allgemeinen Bildungsabschlüssen zu erheblichen Dequalifizierungstendenzen beim Einstieg ins Erwerbsleben. Durch die Verschärfung des
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Wettbewerbs in Bildungsinstitutionen und der Einführung von individuellen Leistungskriterien bei der Vergabe von marktgängigen Bildungstiteln kommt es somit zu einer zunehmenden bildungsbezogenen Schließung der vorteilhaftesten Berufspositionen (vgl. Pelizzari 2005). Bildung (und damit auch der Zugang zu ihr) ist nicht mehr nur notwendige Voraussetzung für bessere berufliche Chancen, „sondern wird zumindest in den höheren Qualifikationsrängen auch wieder öfter zu einem hinreichenden Kriterium für Statussicherung und Statuserhalt – freilich in modernisierter, nicht so sehr auf quasi-ständischer Distinktion, sondern eher auf berufliche Verwertbarkeit und Marktgängigkeit verweisender Form“ (Berger/Konietzka 2001: 21f).
Diese neue ‚Architektur’ sozialstaatlichen Handelns kann folglich nur schwer als prinzipieller Rückzug des Staates beschrieben werden. Es gibt, wie Mayer-Ahuja treffend formuliert, „keine Prekarität ohne Staat“ (Mayer-Ahuja 2005: 14). An die Stelle der kollektiven Sicherung gegen die erwerbsbiographischen, gesundheitlichen und altersbezogenen Wechselfälle des Lebens tritt vielmehr das Prinzip der individuellen ‚Arbeitsmarktfähigkeit“, und der Entzug sozialer Statussicherung in der sozialen Mitte wird zusammen mit der Ausweitung von Zwangsmaßnahmen in den sozialen Randlagen „zu dem zentralen Bauelement der neuen Architektur staatlicher Aufgaben“ (Vogel 2004a: 185). Die bisherigen Ausführungen zu den unternehmensstrategischen Entscheiden bei der Allokation der Arbeitskräfte auf verschiedene Erwerbsformen, den gesellschaftspolitischen Kräfteverhältnissen und deren Einfluss auf die institutionelle Segmentierung des Arbeitsmarktes sowie den politischen Schließungsprozessen, die auf bestimmte Erwerbskategorien einwirken, erlauben an dieser Stelle, Castels Zonenmodell mit segmentations- und schließungstheoretischen Überlegungen zu erweitern und die Dynamiken der Prekarisierung in ihren zum Teil widersprüchlichen Wirkungsweisen in den verschiedenen Zonen bzw. Segmenten des Arbeitsmarktes ins Auge zu fassen. Idealtypisch lässt sich dabei der ‚Arbeitsmarkt der Prekarisierung’ in drei unterschiedliche Teilsegmente unterteilen. (1) Im unstrukturierten Teilarbeitsmarkt finden sich fast ausschließlich unqualifizierte oder wenig qualifizierte Tätigkeiten. Sozial- und migrationspolitische Zwangsmobilisierung weist diesem Segment Arbeitskräfte zu, die über sehr reduzierte Verhandlungsmacht verfügen: (Illegale) Migranten, sozialstaatlich Unterstützte, aber auch weibliche ‚Zuverdienerinnen’. Prekäre Erwerbsformen gelten nur im Ausnahmefall als Eingangstür zu anderen Erwerbssegmenten; in der Regel herrschen in diesen prekären Sektoren (Reinigung, Detailhandel, Gastgewerbe, usw.) oder niedergehenden binnenmarktorientierten Industriebranchen aufgrund eines schwachen kollektivvertraglichen Schutzes ‚prekäre Normalarbeitsverhältnisse’ (Vollzeit- bis geringe Teilzeitbeschäftigung) sowie prekäre Arbeitsverträge (Arbeit auf Abruf, Objektverträge) vor. (2) Auch auf dem abhängigen externen ‚Puffermarkt’ sind die Beschäftigungsverhältnisse qualitativ minderwertig, sie stehen hier jedoch mit Arbeitsplätzen in anderen Segmenten in enger Beziehung: Puffermärkte kommen vor allem am Rande hoch qualifizierter oder gewerkschaftlich stark durchdrungener Teilarbeitsmärkte vor (z.B. Maschinenindustrie, öffentliche Verwaltung, Dienstleitungsbranchen mit hoher Wertschöpfung) und umfassen prekäre Beschäftigungsverhältnisse wie befristete Stellen, Leiharbeit oder Scheinselbständigkeit. Spezifische Schließungsprozesse wälzen den Flexibilisierungs-
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druck auf schwächere Erwerbskategorien (weibliche und ausländische Arbeitskräfte, aber auch jüngere Arbeitskräfte mit allgemeinen tertiären Qualifikationen) ab, die schwer kollektiv organisierbar sind. Prekär Beschäftigte haben zwar Chancen, die prekäre Beschäftigung als Sprungbrett in ein stabiles Normalarbeitsverhältnis zu nutzen. Allerdings häuft sich bei schlechter Ausgangsposition der Arbeitskräfte die Gefahr einer Verfestigung der Prekarität. (3) Auf den betriebsinternen und berufsfachlichen Teilarbeitsmärkten befinden sich einerseits Arbeitskräfte, die entweder betriebsintern qualifiziert sind, aber nur geringe überbetriebliche Qualifikationen aufweisen und daher wenig Transfermöglichkeiten zwischen Betrieben haben, oder aber über standardisierte, relativ breite Qualifikationen verfügen, die in regulären, mehrjährigen Ausbildungsgängen erworben und die durch überbetriebliche Instanzen über Zertifikate kontrolliert werden. In Großunternehmen verfügen diese Beschäftigten über eine relativ große Verhandlungsmacht, ihre marktgängigen Fachqualifikationen gegen prekaritätsresistente flexible Sonderarrangements einzutauschen (Projekt- oder Freelancearbeit sowie bedürfnisorientierte Teilzeitarbeit). Wo die Fachqualifikationen von Dequalifizierung bedroht sind (gewerbliche Fachkräfte, kaufmännische Berufe), erfolgt der Eintritt in den Arbeitsmarkt jedoch verstärkt über destrukturierte Erwerbsverläufe (Leiharbeit, Praktika, befristete Anstellungen). Deutlich wird durch die typologische Differenzierung, dass Prekarisierung als latente Gefährdung der materiellen Existenz sämtliche Segmente des Arbeitsmarktes betrifft: Das Zusammentreffen von Prekären und Normalbeschäftigten im gleichen Betrieb führt nicht nur, wie Castel es treffend formuliert, zu einer ‚Destabilisierung des Stabilen’. Indem sie die einen diszipliniert und den anderen elementare Voraussetzungen für Widerständigkeit und Gegenwehr nimmt, „fördert sie zugleich eine eigentümliche ‚Stabilisierung der Instabilität’“ (Brinkmann et al. 2006: 62). Auch in diesem Sinne ist die Kategorie ‚prekäre Beschäftigung’ also kein ausschließlich objektivierbares soziales Phänomen, das isoliert betrachtet werden kann und nur eine präzise abgrenzbare Population von ‚Marginalisierten’ betrifft, sondern sie ist immer auch „das Ergebnis positionaler Wahrnehmungen zwischen sicheren und unsicheren Lagen innerhalb der Arbeitswelt“ (Kraemer/Speidel 2004: 57). Die Ungewissheit, die mit prekären Beschäftigungsformen einhergeht, erstreckt sich über weite Bereiche der sozialen Existenz, erfasst sowohl berufliche als auch private Zukunftserwartungen und spiegelt sich nicht zuletzt in der Einschätzung der eigenen Stellung auf dem Arbeitsmarkt und im betrieblichen Alltag. Hierin liegt der entscheidende subjektive Aspekt der Prekarisierung. Wie es Bourdieu selbst pointiert auf den Punkt brachte, flößt die Existenz einer beträchtlichen Reservearmee von Prekären, „jedem Arbeitnehmer das Gefühl ein, dass er keineswegs unersetzbar ist und seine Arbeit, seine Stelle gewissermaßen ein Privileg darstellt, freilich ein zerbrechliches und bedrohtes Privileg“. Die objektive Unsicherheit bewirkt eine allgemeine subjektive Verunsicherung, welche heutzutage sämtliche Beschäftigte „einschließlich derjenigen unter ihnen in Mitleidenschaft zieht, die gar nicht oder noch nicht direkt von ihr betroffen sind“ (Bourdieu 1998: 99). An die Stelle einer Einbindung, die nicht ausschließlich, aber doch wesentlich auf materieller und demokratischer Teilhabe beruhte, treten somit Integrationsformen, in denen die subtile Wirkung marktförmiger Disziplinierungsmechanismen eine deutliche Aufwertung erfährt.
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„Prekarisierungsprozesse wirken desintegrierend und zugleich als disziplinierende Kraft. Mit ihren entgrenzten Flexibilitätsanforderungen schaffen sie doch neue Abhängigkeiten. Sie stellen ein Macht- und Kontrollsystem dar, dem sich in der gespaltenen Arbeitsgesellschaft auch die Integrierten kaum zu entziehen vermögen.“ (Brinkmann et al. 2006: 62)
Damit wird auch deutlich, dass ‚Prekarität’ bei weitem kein neues Phänomen der Lohnabhängigkeit im Kapitalismus ist: Wer darauf angewiesen ist, zum eigenen Überleben seine Arbeitskraft zu verkaufen, muss in einem ‚freien’ Arbeitsmarkt immer damit rechnen, dass dies nicht oder nur bedingt gelingt. Dass dies in der aktuellen Diskussion oftmals vergessen geht, hat auch damit zu tun, dass sich die Lohnarbeit, angetrieben durch enorme Produktivitätsfortschritte und die relative Arbeitskräfteknappheit der Nachkriegszeit, größtenteils ‚dekommodifiziert’ wurde und so zu einer stabilen und sozusagen ‚mehrheitsfähigen’, d.h. für die große Masse der Proletarier akzeptable Existenzform wurde (vgl. Castel 2000). Die Abhängigkeit vom Lohneinkommen wurde gesellschaftliche Normalität und das ‚fordistische Regulierungsmuster’ zum dominanten Leitbild für die Regulierung der Arbeitsbeziehungen (Kress 1998: 489). Für eine Mehrheit der Arbeiter schwanden damit auch die alten Merkmale der ‚Proletarität’, d.h. die unsichere Beschäftigung, die soziale Rechtlosigkeit und die eher geringe Fachqualifikation. Die Lohnarbeit, oder genauer das Normalarbeitsverhältnis, wurde somit zum Herzstück einer „konfliktvermittelten Integration“ (Kronauer 2002: 49), durch die die Arbeiterschaft und ihre gewerkschaftlichen Organisationen an der ökonomischen Entwicklung teilhaben konnten. Die kollektive Absicherung der Lohnarbeiter gegen individuelle Risiken veränderte damit nicht nur das Verhältnis zwischen Arbeit und Sicherheit, sondern auch die Beziehungen zwischen Eigentum und Arbeit, denn ‚(Normal-)Arbeit’ wurde gleichzeitig zum Kriterium, welches legitime Bürgerrechte verteilte. Mit Hilfe der Sozialversicherungen entstand eine spezifische Form des Sozialeigentums, das die grundlegende Verwundbarkeit der Unterschichten beendete. Aus der immerwährenden Prekarität der Erwerbsarbeit im Industriekapitalismus war ein ‚Dispositiv’ der Integration und der Identität geworden: „Die Labilität der antagonistischen Klassengesellschaft (wurde) deutlich reduziert und die Stabilität einer lohnarbeitszentrierten Arbeitnehmergesellschaft (trat) an ihre Stelle. Aus den proletarischen Massen der großen Industrie und der kleinen Gewerbe (bildete) sich eine statistisch wohlgeordnete Einheit regulärer Erwerbspersonen (heraus).“ (Vogel 2006: 77) Heute indessen tritt Prekarisierung als „Teil einer neuartigen Herrschaftsform, die auf der Errichtung einer zum allgemeinen Dauerzustand gewordenen Unsicherheit fußt“ (Bourdieu 1998: 101) an wieder die Stelle der institutionalisierten Kontroll- und Sicherheitsmechanismen des Fordismus. Stabile Wohlstandspositionen und soziale Aufstiegsperspektiven, die sich im Zuge der sozialpolitischen Arrangements der Nachkriegszeit herausgebildet haben, werden damit fragil.
3.
Die Sozialstruktur der Prekarisierung
Dieser differenzierte (Des-)Integrationsprozess bringt somit nicht nur neue prekäre Erwerbssegmente hervor, sondern wirkt auch restrukturierend auf die gesamte Arbeitsgesellschaft zurück. Von den Beschäftigten werden neue Anpassungsstrategien verlangt, und neue Konkurrenzverhältnisse zwischen unqualifizierten, traditionellen Erwerbsgruppen und besser qualifizierten Arbeitsmarktneulingen (jüngere Arbeitnehmer, Frauen, ‚neue’ Migran-
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ten) sind im Entstehen begriffen. Dies sind deutliche Hinweise darauf, dass die Sozialstruktur der Nachkriegszeit an zentralen Scharnierstellen geräuschvoll zu knacken beginnt. Nicht selten sind es dabei die Betroffenen selbst, die durch ihre Wortmeldungen im politischen Feld zur Konstitution neuer Spaltungslinien beitragen, die eine kritische Prekarisierungstheorie zwar aufnehmen aber auch mit kritischer Distanz zu ihren Produktionsbedingungen betrachten muss, welche die dahinter liegenden Klassifizierungskämpfe offenbart. Solche Kämpfe um Deutungshegemonie prägen zurzeit die Diskussion über die neue Klassenstruktur des Kapitalismus maßgeblich. So riefen nicht zuletzt die in Frankreich ausgebrochenen Massenproteste gegen die Aufweichung des Kündigungsschutzes sowie die Demonstrationen gegen die Hartz-Reformen in Deutschland in Erinnerung, dass sich arbeitsmarktliche Akteure als Gruppen zusammenschließen können. Während neokonservative Beobachter diese und andere neu entdeckten ‚Unterschichten’ seither am liebsten mit ‚aktivierenden Massnahmen’ in den Arbeitsmarkt zurückdrängen, sehen bildungsbürgerliche Meinungsmacher an Hochschulen und in Redaktionsstuben im ‚Prekariat’ jenes lang erwartete neue Subjekt, welches an bunten Umzügen eine „Alternative zu den ritualisierten Maidemonstrationen der Gewerkschaften“ und deren strukturkonservativen „Kampagnen zur Verteidigung von Mitbestimmung, Tarifautonomie und Kündigungsschutz“ (Binger 2007) für einen schrumpfenden Kern von ‚Normalarbeitern’ bietet. Als ginge es darum, eine direkte Nachfolgeorganisation der Proletariats und damit die verloren gegangene Einheit aller Ausgebeuteten wiederherzustellen, erkennen, so Candeias kritisch, plötzlich gutmeindende Intellektuelle eine „universelle gesellschaftliche Figur der neuen Produktions- und Lebensweise“ und eine „Klassenfraktion im Werden“ (Candeias 2007: 58). Vester moniert zu Recht, dass die Vorstellung eines „undifferenzierten, flächendeckenden Trends zur Herausbildung einer ‚neuen Unterklasse’ (...), in der sich Tendenzen der Dequalifizierung, Verarmung, Anomie, Flexibilisierung am Arbeitsplatz, Fremdbestimmung und Auflösung sozialer Beziehungen zu einem Bild verdichten“ (Vester 2005: 21), den Verelendungsszenarios des frühen 19. Jahrhunderts nahe kommt. Die ‚Prekariats’-Debatte reproduziert damit ein ähnliches Muster wie die bereits um einige Jahre zurückliegende Underclass-Debatte (vgl. Kronauer 2002) oder, noch weiter zurück, die Marienthal-Studie, welche die Verfestigung von Arbeitslosigkeit und Armut zu einer eigenständigen ‚Klassenlage’ herausgearbeitet hatte (vgl. Jahoda et al. 1975: 97). Es stellt sich aber grundsätzlich die Frage, ob und wann Prekarisierung überhaupt zur Herausbildung neuer gesellschaftlicher Gruppen führt, gilt doch für Prekarität zunächst dasselbe, was Simmel für die Armut feststellte: Sie konstituiert für die meisten, die von ihr betroffen sind, keine eigenständige soziale Lage, sondern stellt einen Zustand dar, der sich mit den verschiedensten sozialen Lagen verbindet (vgl. Simmel 1968). Vor diesem Hintergrund definiert beispielsweise Kraemer deshalb die soziale Verunsicherung „als fluide Schwebelage ohne kalkulierte Verortung im betrieblichen und außerbetrieblichen Sozialraum“ (Kraemer 2007: 130). Damit klingt die Diskussion über die ‚entgrenzte’ Armut an, die im Zuge der ‚dynamischen Armutsforschung’ (vgl. Leibfried et al. 1995) aufkam. Die explizite Lebenslaufperspektive führte hier zu einer Betrachtungsweise, mit der gezeigt werden sollte, „dass Ausgrenzung überwiegend keine verfestigte soziale Struktur darstellt, sondern temporär bleibt“ (Kohli 1999: 126), da durch Prekarisierung Individuen nicht mehr fest einer sozialen Kategorie zugeordnet werden: Es muss vielmehr immer mit der Möglichkeit gerechnet werden, dass sich ihre Zugehörigkeit im Lauf des Lebens verändert.
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Prekarisierung lässt sich jedoch weder auf eine einzige Bevölkerungsgruppe beschränken noch auf einen Generaltrend reduzieren, durch den alle unaufhaltsam auf eine schiefe Ebene geraten. Sie hat bei weitem nicht für alle gesellschaftlichen Milieus die gleichen Konsequenzen, und der „vereinheitlichenden Verunsicherung und Entgarantierung von Lebensund Arbeitsbedingungen stehen (…) jede Menge reale Zerklüftungen, Spaltungen und soziale Hierarchien in den Lebenswirklichkeiten gegenüber“ (Hauer 2005b), welche ihrerseits auf der Ungleichheitsstruktur des fordistischen Normalarbeitsverhältnisses aufbauen. Denn ‚Normalarbeit’ war nicht nur eine historisch auf die drei Jahrzehnte der Nachkriegsprosperität reduzierte Ausnahme. Sie war auch während dieser Zeit „nie eine empirische Realität der ausschließlichen oder auch nur vorherrschenden Form der Verrichtung von Arbeit in dieser Gesellschaft” (Mückenberger 1985: 211), sondern privilegierte immer ein bestimmtes Segment der in der Regel männlichen Industriearbeiterschaft und galt für die anderen Erwerbsgruppen höchstens als normatives Orientierungsziel einer gewerkschaftlichen Reformpolitik (vgl. Dufour/Hege 2005: 15). Die ‚Norm’ des ‚Normalarbeitsverhältnisses’ hat nie viel mit der ‚Normalität’ von Frauenarbeit zu tun gehabt, weil Frauen im Rahmen des herkömmlichen Geschlechterarrangements der männlichen Versorgerehe nicht oder nicht voll und kontinuierlich erwerbstätig sein konnten, und auch Arbeitsmigranten haben immer mehrheitlich unter ‚nicht-normalen’ Bedingungen gearbeitet. Selbst innerhalb der Arbeitermilieus ist es nie zur viel beschworenen ‚Erosion der Klassenverhältnisse’ gekommen, denn das Normalarbeitsverhältnis schützte immer, wie es Dieckmann pointiert formuliert, nach zwei Seiten hin: „Gegen Unternehmerwillkür einerseits, andererseits gegen die Konkurrenz durch andere Lohnabhängige, der man Grenzen zieht“ (Dieckmann 2004: 13). Für Mückenberger besteht die historische Bedeutung des Normalarbeitsverhältnisses denn auch vor allem darin, dass es ermöglichte, „in die durch Flexibilität begründete Unsicherheit, Unordnung und Unruhe der Lohnarbeiterexistenz sozusagen Korsettstangen von Gewissheit, Voraussehbarkeit und Frieden einzuziehen“ (Mückenberger 1985: 17), ohne dass dabei die Ausbeutungsverhältnisse außer Kraft gesetzt würden. Ähnlich definiert Castel den Platz, welcher den Lohnarbeitern in der fordistischen Gesellschaft zukam, als „eine relative Integration in der Unterordnung“ (Castel 2000: 302), bei der es weniger um Egalität und Vereinheitlichung ging als vielmehr um Differenzierung und Distinktion. Wie Groh-Samberg in einem bemerkenswerten Aufsatz herausgearbeitet hat, stand im Fordismus somit vor allem die Etablierung einer ‚respektablen’ Arbeiterschaft aus bildungsorientierten Arbeiter- und Angestelltenmilieus im Zentrum, die im Gegenzug für ihre körperlichhandwerkliche Arbeitsleistung ein bisher ungekanntes Maß an sozialer Sicherheit und kulturellen Konsum- und Partizipationsmöglichkeiten erhielten. Damit wurden sie zwar sozial und kulturell integriert, gleichzeitig konservierte die industriegesellschaftliche Prosperität die spezifischen Formen der sozialen Benachteiligung der Arbeiterschichten. Der Widerspruch des Integrationsmodells bestand also darin, dass es die Arbeiter „in einer Sicherheit wiegte, die nur einem Moratorium der Ausgrenzung gleichkam. Nur einem geringen Teil wurden tatsächlich Aufstiegspfade in die zukunftsträchtigeren Berufe der postfordistischen Wachstumsbranchen eröffnet“ (Groh-Samberg 2006: 245). Dieser ungleichheits-konservierende Charakter der ‚Entproletarisierung’ wird insbesondere dann deutlich, wenn man das ernüchternde Bild ins Auge fasst, welches empirische Studien über die Entwicklung sozialer Aufstiegschancen von Arbeiterkindern zeichnen (vgl. Müller 2001). Vogel führt in seinen Studien über prekäre Arbeit überzeugend vor, dass dieses Moratorium heute ein jähes Ende gefunden hat: Mit dem Leitbild des Vollzeit erwerbstätigen, so-
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zialversicherungspflichtigen und tarifvertraglich geschützten Arbeitnehmers zerfällt nicht nur die materielle Existenzsicherung sondern auch die „Grundlage beruflicher und sozialer Karrieren“ und seine Funktion als „sozialer Platzanweiser und Türöffner zum wohlfahrtsstaatlichen Leistungssystem“ (Vogel 2004b: 6). Aus einer klassentheoretischen Perspektive lässt sich Prekarisierung somit Re-Proletarisierung der Angestellten- und Arbeitermilieus analysieren, die nunmehr von der Realisierung jener Lebensweise ausgeschlossen werden, die nach wie vor „als die milieuübergreifende, herrschende Norm unterstellt und propagiert wird“ (Kronauer 2002: 49). Sie folgen der Zangenbewegung des Abbaus einfacher, aber gut bezahlter und geschützter Arbeitsplätze in der Industrie und der gleichzeitigen Ausweitung tief qualifizierter, mehrheitlich weiblicher Dienstleistungsberufe im Niedriglohnbereich (vgl. Oesch 2007b: 73). Das Ergebnis lässt sich leicht in den Armutsstatistiken wieder finden: Dreiviertel der armen Personen in Deutschland sind einfache Arbeiter oder Facharbeiter, in der Tendenz ist eine Polarisierung der klassenspezifischen Armutsrisiken zwischen 1984 und 2004 zu erkennen (vgl. Groh-Samberg 2004; vgl. für die Schweiz: Branger et al. 2002; Tillmann/Budowski 2006; Bergmann et al. 2002). Knackpunkte der sozialen Unsicherheit finden sich aber auch in der sozialen Mitte: Kleinbürgerliche Arbeitnehmermilieus mit veralteten Berufsausbildungen und die neuen, höher gebildeten Erwerbsgruppen der ‚praktischen Intelligenz’ (kaufmännische, soziale und technische Berufe), welche im Eintritt in den Arbeitsmarkt mit erheblichen Dequalifizierungsprozessen zu kämpfen haben, konkurrenzieren sich zeitweilig um die Teilhabe an geschützter Vollzeiterwerbsarbeit. Vor diesem Hintergrund wachsen nicht nur die Ressentiments gegenüber den sozialen Nachbarn auf den unteren Plätzen der Sozialstruktur, sondern auch im Hinblick auf die älteren Generationen von ‚Arbeitsplatzbesitzern’, welche den besser ausgebildeten jungen Beschäftigten den Weg aus Kettenverträgen und Dauerpraktika zu versperren scheinen. Damit eröffnen sich nicht nur eine neue Konfliktdynamik zwischen den unterschiedlichen Arbeitnehmermilieus; auch zeichnen sich neue Herausforderungen für die Gewerkschaftsbewegung ab, da die ‚Normalarbeiter’ ihre positive Orientierungsrolle als Vorkämpfer für die Verbesserung der Arbeitsbedingungen aller Lohnabhängigen in den Augen der Nachrückenden verlieren, die ihre prekäre Erwerbssituation oftmals als erwünschte, abwechslungsreiche Übergangserfahrung erleben (vgl. Dufour/Hege 2005). Damit wird auch deutlich, dass die aus der Prekarisierung resultierenden Umbrüche am Arbeitsmarkt zu erheblichen Verschiebungen in den Koordinaten des gesamtgesellschaftlichen Ungleichheitsgefüges führen, „wobei diesen Veränderungen sowohl die Chance auf einen Abbau sozialer Ungleichheit als auch das Risiko der Verfestigung ‚alter’ Ungleichheiten oder sogar der Entstehung ‚neuer’ Ungleichheiten immanent ist“. Damit kommt die Prekarisierung, so Giesecke, weniger einer „Entstrukturierung“ als vielmehr einer „Umstrukturierung sozialer Ungleichheit“ (Giesecke 2006: 306) gleich, und es kann Vester zugestimmt werden, wenn er die Prekarisierung nicht mit „der einfachen Figur einer sich langsam spreizenden Schere, der alle auf die gleiche Weise unterworfen sind“, beschreibt, sondern sie vergleicht mit „einem Mosaik verschiedener Milieus, in denen sich die nach beiden Seiten aufgehenden Scheren sozialer Ungleichheiten vielfach und vieldimensional wiederholen und abwandeln“ (Vester 2002: 102). Das Bild des Mosaiks bezeichnet in Anlehnung an Bourdieu letztlich nichts anderes als eine Klassengesellschaft im Übergang, ein Ensemble von Klassifizierungskämpfen zwischen widerstreitenden sozialen Kräften und mehr oder weniger erfolgreichen Anpassungsund Konversionsstrategien auf gegebene soziale Wandlungsprozesse in den gegeben sozia-
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len Feldern, Zonen oder Segmenten, in denen sich die Akteure bewegen. Damit entpuppt sich auch der verbreitete Kurzschluss von flexibilisierten Strukturen auf quasi-automatisch modernisierte Denk- und Handlungsmuster der Beschäftigten als eine verkürzte Ableitung: Der Wandel arbeitsmarktlicher Anforderungen impliziert nicht automatisch einen Wandel des Arbeitsmarktsverhaltens der Erwerbstätigen, sondern führt nur zu jenen Anpassungen, die für sie im „Raum der Möglichkeiten“ (Bourdieu 1987: 597) zulässig sind, der durch den ‚Erwerbshabitus’ (vgl. Kutzner/Pelizzari 2004: 113f) vorgegeben ist. Mit anderen Worten: Umstellungsstrategien sind dann erfolgreich, wenn sie sich auf den Rahmen milieuspezifischer Traditionslinien stützen, die umgestaltet und ‚modernisiert’ werden können. So kommt es „zu einer Art Dialektik zwischen mitgebrachten Dispositionen und neuen Umständen, durch die sich einzelne Mentalitätszüge (umwandeln) und auch neue Varianten der alten Milieus (entstehen)“ (Vester et al. 2001: 78f). Wie die viel beachtete Studie über den ‚Arbeitskraftunternehmer’ aufzeigen konnte, fällt diese Dialektik von Verharrung und Anpassung nach dem Rückgang von Normalerwerbsbiographien und stabilen Lebensverlaufmustern verstärkt ins Gewicht: Im Gegensatz zum ‚verberuflichten Arbeitnehmer’ des Fordismus, der „unter hochregulierten Arbeitsbedingungen in weitgehend standartisierter Form Arbeitsaufträge nach Anweisung“ (Pongratz/Voss 2003: 9) ausführte, ist heute verstärkt Selbstorganisation der Arbeitsausführung gefragt. Um diesen ‚arbeitskraftunternehmerischen’ Anforderungen zu genügen, müssen die Beschäftigten stärker auf ihre sozialen und biographischen Hintergründe zurückgreifen: Es sind heute in hohem Maße die Erwerbspersonen selbst, die bisher nur unsystematisch betrieblich genutzte Momente ihrer Persönlichkeit – emotionale Energie, kommunikative Bedürfnisse und individuelle Erfahrungsbestände, Identifikationsbereitschaft, Disponibilität und Improvisationswillen, die Fähigkeit, Netzwerke zu bilden, die Offenheit gegenüber Neuem – in den Arbeitsprozess einbringen sollen. Die Prekarisierung privilegiert somit diejenigen Milieus, die bereits zahlreiche Trümpfe in der Hand haben, um „Brüche und Diskontinuitäten individuell zu verarbeiten und Unsicherheiten zu bewältigen“ (Kraemer/Bittlingmayer 2001: 318). Wie Berger folgert, sind solche Unsicherheitsbewältigungskompetenzen selbst wiederum ungleich verteilt, „womit die Herkunft aus unterschiedlichen Sozialmilieus auch angesichts stärker individualisierter Lebenslaufmuster ihre Bedeutung erhält“ (Berger 1998: 27). Pongratz und Voss kommen in ihrer Studie denn auch zum Ergebnis, dass der Arbeitskraftunternehmer längst nicht zum dominanten Modell des Erwerbshabitus geworden ist: Daneben bestehen nach wie vor die alten Formen des ‚verberuflichten Arbeitnehmers’ weiter, und den aktuellen Entwicklungen der Arbeits- und Erwerbsbedingungen sind gar rückkehrende Formen des ‚proletarischen Lohnarbeiters’ zuzuschreiben, die von Unsicherheit und Widerruflichkeit geprägt sind. Wo die im Erwerbshabitus angelegten Dispositionen, Vorstellungen und Erwartungen – so zum Beispiel das Festhalten an Pflicht- und Akzeptanzwerte wie Fleiß, Bescheidenheit, Anstand und Gehorsam – nicht mehr an die Gegenwart rückgebunden werden können, sind die Milieus mit zunehmenden sozialen Belastungen und Zumutungen konfrontiert, die deren „Lebensziele, Lebensweisen, Weltsichten und Bewältigungsstrategien“ als ganze auf die Probe stellen (Vester/Gardemin 2001: 256). Allerdings kann die Persistenz unzeitgemäßer Unsicherheitsbewältigung auch mit einer habituellen Verweigerungshaltung zu tun haben, da die neuen Anforderungen gewissen traditionellen milieuspezifischen Wertekonstellationen widersprechen: So hat Wittel gezeigt, wie Arbeiter zwar prinzipiell in der Lage sind, kommunikationsintensivere Teamarbeit zu vollziehen, aber nicht willens sind, ihre proletari-
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schen sozialkulturellen Routinen aufzugeben, die angeeignet wurden, „um in einer Arbeitswelt bestehen zu können, die ihnen wenig Subjektivität und geringe Handlungsspielräume zugestand“ (Wittel 1998: 179). Kurzum: So gut wie alle Milieus versuchen, ihre äußeren Lebenslagen mit aktiven individuellen wie auch sozial vernetzten Strategien zu bewältigen; diese Strategien sind jedoch je nach Erwerbshabitus und kultureller Tradition verschieden, so dass verschiedene Milieus die gleiche objektive Situation verschieden erfolgreich verarbeiten. Entsprechend lassen sich an dieser Stelle in Analogie zur Typologie der prekären Arbeitsmarktsegmente die subjektiven milieuspezifischen Bewältigungsmuster zu einer ‚Sozialstruktur der Prekarisierung’ idealtypisch verdichten: (1) Der (re-)proletarisierte Erwerbshabitus umfasst jene Wertekonstellationen, die um die Wahrung der eigenen finanziellen Autonomie und das Festhalten and Würde und Ehre in der Erfüllung von oftmals unzumutbaren Arbeitsleistungen kreisen. Aus Notwendigkeit und mangels Wahlmöglichkeiten hinsichtlich einer anderen Beschäftigung, sind diese Beschäftigten bereit, einfache und gering bezahlte Arbeit anzunehmen, was insbesondere in den kleinbürgerlichen Milieus zu erheblichen Dequalifizierungstendenzen führt. Mit dem langsamen Abstieg konfrontiert, halten diese Milieus in der Regel nicht nur an Handlungsweisen und Bewältigungsstrategien fest, die sie an einer vertikalen Mobilität hindern. Angesichts der zunehmenden Konkurrenz durch neue Erwerbsgruppen und der trotz hoher Leistungsbereitschaft ausbleibenden Teilhabe, schlägt ihr Bemühen, im Arbeitsmarkt zu verbleiben, oft in Resignation oder Ressentiments um. Besser gewappnet sind jene unqualifizierten Volksmilieus, die aufgrund ihrer unsicheren und unkalkulierbaren Lebenslage seit jeher an informelle Strategien des Überlebens sowie am widerständigen Festhalten an kollektivistische Gegenkulturen gewöhnt sind. (2) Als übergangsorientierter Erwerbshabitus kann jenes Ensemble an Dispositionen definiert werden, mit dem zwar ebenfalls Kontinuität des Erwerbsverlaufs und sozialer Statuserhalt angestrebt werden, wo aber aufgrund längerer Ausbildungszeiten Anpassungsstrategien entwickelt werden können, die längerfristig aus den destrukturierten Lebensläufen in sichere Erwerbspositionen weisen. Abstiegsprozesse oder ein Verharren in der Unsicherheit sind zwar nicht ausgeschlossen, da sich trotz der Ausweitung der Bildungschancen die höheren Positionen nicht vermehrt haben, aber insbesondere jüngere Menschen mit mittleren Qualifikationen können die Werte der neuen Marktbedingungen einfacher zu persönlichen Eigenschaften machen. Auffallend ist dennoch das Festhalten an den Sicherungen der Arbeitnehmergesellschaft oder an arbeitsmarktexternen Absicherungen (Familie), da Arbeitsmarktneulinge (Jugendliche, Frauen, Migranten) insbesondere im neuen Dienstleistungsproletariat risikoanfällig bleiben, aber auf keine eigenständigen kollektiven Bewältigungsstrategien zurückgreifen können. (3) Der arbeitskraftunternehmerische Erwerbshabitus schließlich findet sich jenen modernisierten Angestelltenmilieus wieder, die durch ein ehrgeiziges Arbeitsethos und eine ausgeprägte Fähigkeit zu Improvisation und Kompetenzmanagement, aber auch durch Werte wie Eigenverantwortlichkeit, Autonomiegewinn, Gleichberechtigung und dem Streben nach sinnstiftenden Arbeitsinhalten geprägt sind. Prekäre Erwerbssituationen sind eher die Seltenheit, und wenn, dann werden sie bewusst im Sinne der Optimierung
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einer strategischen Karriereplanung oder zur besseren Vereinbarkeit mit alternativen Wertekonstellationen (Familie, Freizeit) eingegangen. Die Ressourcenausstattung besitzt in der Regel einen tendenziell hohen Marktwert und ist entsprechend ausreichend, um eine monetär ansprechende Absicherung oder ein zumindest partielle Gestaltung der neuen Zumutungen aushandeln zu können. Während sich für gewisse Milieus also ehemals projektierte und gesellschaftlich versprochene Laufbahnen zunehmend verschließen, angestrebte Positionen unerreichbar und sicher geglaubte Aussichten verbaut werden, eröffnen sich für vormals vom Normalarbeitsverhältnis ausgeschlossene Gruppen neuartige Aufstiegsmöglichkeiten. Gleichzeitig wird aus der Typologie auch der Widerspruch moderner Klassengesellschaften zwischen der „horizontalen Dynamik der Produktivkräfte“ und der „vertikalen Ordnung der Produktionsverhältnisse“ deutlich (Vester et al. 2001: 17). Mit anderen Worten: Die neuen Umstände, auf die sich die Beschäftigten umstellen müssen, liegen nicht allein in der Zunahme sozialer Chancen, die durch die horizontale Differenzierung der Bildungsvoraussetzungen und der Lebensweisen möglich werden. Sie liegen viel mehr in einer Destabilisierung der vertikalen Chancen- und Machtverteilung. Gerade aus gewerkschaftlicher Perspektive ist es zentral, diese Widersprüche und die vielfältigen Anpassungsstrategien und Konkurrenzkämpfe der Beschäftigten in den Blick zu nehmen, denn nur so „kann herausgefunden werden, wie die Einzelnen zur Reproduktion dieser Verhältnisse beitragen, wie aber auch aufbrechende Widerspruchskonstellationen immer neue Möglichkeiten für eingreifendes Handeln bieten, an denen sich widerständige Haltungen entzünden“ (Candeias 2007: 51).
4.
Politik der Entprekarisierung
Sowohl in den objektiven Rahmenbedingungen wie auch in der subjektiven Wahrnehmung von Prekarisierung verbergen sich also erhebliche soziale Unterschiede und Hierarchien, aber auch unterschiedliche Ansprüche und Forderungen an die eigenen Erwerbsverhältnisse. Um mögliche Anknüpfungspunkte für kollektive Handlungsweisen im Rahmen einer gewerkschaftlichen Politik der Entprekarisierung freizulegen, werden nun abschließend die dargestellten Ausführungen zu den unterschiedlichen Formen und Wirkungsweisen von Prekarität noch einmal schematisch zusammengefasst (vgl. Tab. 1). Die erste Kategorie der notwendigen Prekarität umfasst jene bildungsschwachen Milieus, deren Erwerbschancen in den unstrukturierten und Puffermärkten wegen der steigenden Bildungsanforderungen auf dem Arbeitsmarkt weiter gesunken sind. Sie konnten zwar im Fordismus einen beschiedenen Wohlstand erarbeiten, entwickelten aber keine Strategien der Umstellung auf die zukunftsträchtigeren Berufe und die entsprechenden höheren Bildungsqualifikationen. Diese Beschäftigten verfügen weder über Wahlmöglichkeiten hinsichtlich einer anderen Beschäftigung noch über eine Aussicht auf mittelfristige Veränderung; es genügt ihnen, einfache und gering bezahlte Arbeit auszuführen, um der Ausgrenzung ihrer Kinder vorzubeugen. Ihre ganze Anstrengung ist darauf gerichtet, im Arbeitsmarkt zu bleiben, und wer sich nicht in die (Früh-)Verrentung hat retten können, muss empfindliche Einbussen und Dequalifizierungen hinnehmen. Nicht selten geht hier Prekarisierung aber auch einher mit einer Renaissance jener informellen Alltagsstrategien und einer
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‚Ökonomie der Notbehelfe’, wie sie das traditionslose Arbeitermilieu über Jahrhunderte charakterisiert hat. Tab. 1: Formen der Prekarität Milieuspezifischer Erwerbshabitus
Arbeitsmarktsegmente
(re-)proletarisiert
Unstrukturierter Arbeitsmarkt
Abhängiger
‚Puffermarkt’
Fachlicher Arbeitsmarkt
übergangsorientiert
arbeitskraftunternehmerisch
Notwendige Prekarität Transitorische Prekarität Avantgardistische Prekarität
Quelle: Eigene Darstellung
Die zweite Kategorie, die unter dem Begriff der transitorischen Prekarität zusammengefasst werden kann, schließt jene Beschäftigten ein, die prekäre Arbeit als Übergangsphase in eine berufliche Konsolidierung betrachten, und die daraus entstehenden Nachteile für eine bestimmte Zeit akzeptieren. Hier findet man oftmals die Kinder der ersten Gruppe wieder, deren Aufstiegschancen sich trotz ihrer besseren schulischen Ausbildung getrübt haben, für die es aber undenkbar ist, die Laufbahnen ihrer Eltern einfach wiederholen zu können. Auch wenn ihnen nicht immer Wahlmöglichkeiten hinsichtlich einer anderen Beschäftigung offen stehen, so besitzen sie jedoch oft in der eigenen, subjektiven Wahrnehmung das Potenzial, ihre Jobsituation zu verbessern. Dabei unternehmen sie nichts, was die eigenen Aufstiegschancen gefährden könnte und werden doch dabei von den Kindern der Oberschichtsmilieus überrundet, die etwa in Studienphasen oder anderen Statuspassagen ärmliche materiellen Verhältnisse in Kauf nehmen, ohne dass deren Restriktionen und Zwänge in ihre biographischen Perspektiven hineinwirken. Migranten oder Frauen, die zusätzlich für Familienarbeit zuständig sind, kommen oft trotz guter Qualifikation auch in fachlichen Arbeitsmärkten nicht über die Phase der transitorischen Prekarität heraus. In der dritten Kategorie der avantgardistischen Prekarität befinden sich schließlich all jene Beschäftigten in den fachlichen Arbeitsmärkten, die entweder eine Wahlmöglichkeit hinsichtlich einer anderen sicheren Beschäftigung hätten, diese Option aber zugunsten anderer Prioritäten (Familienorientierung, Arbeitsinhalte) nicht wahrnehmen, oder aber aus verschiedenen Gründen eine bildungsinadäquate Erwerbsstelle besetzen (Überqualifizierte
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usw.). Bei dieser Gruppe finden sich am ehesten jene Merkmale, die das Arbeitskraftunternehmer-Theorem anspricht: Sie verhalten sich hoch mobil und müssen sich kurzzyklisch auf neue Arbeitsanforderungen und ein verändertes betriebliches Umfeld einstellen können. Kurzum: Die Erfahrungen verunsicherter Existenz spielen sich in höchst unterschiedlichen Erwerbssegmenten ab und werden von den verschiedenen Milieus sehr unterschiedlich erlebt und verarbeitet. Daraus leiten sich auch sehr unterschiedliche Bedürfnisse und Interessen ab: Ein ‚Flexicurity’-Interesse eines jungen, gut ausgebildeten Intellektuellen kann deutlich von relativ ‚traditionellen’ Re-Regulierungsinteressen (fester Dauerjob, Mindestlohn etc.) einer Verkäuferin im Einzelhandel abweichen. Und zwar kann die Ausbreitung flexibler Arbeitsverhältnisse „an der Interessenlage von Gruppen gemessen, die die Vorzüge von Normalarbeitsverhältnissen für sich nicht oder nur bedingt realisieren konnten“ (Brinkmann et al. 2006: 10) eine geradezu emanzipatorische Perspektive besitzen kann, die es legitimiert, den ‚Normalisierungsdruck’ der Gewerkschaften zu kritisieren, der bis hin zur gewerkschaftlichen Handreiche zur Verfolgung von Papierlosen auf Baustellen reichen kann. Dennoch darf diese ‚Prekarisierung von unten’ nicht überbewertet werden. Die hier ausgeführten Differenzierungen zeigen deutlich, dass eine selbst gewählte prekäre Existenz nur für wenige eine lebbare Perspektive bedeutet – ein Sachverhalt den Hauer mit dem Bonmot auf den Punkt gebracht hat: „Die Vereinheitlichung von Laptop und Putzmob ist also in höchstem Maße voluntaristisch.“ (Hauer 2005b) Ebenso mündet auch die gewerkschaftliche Abschottung gegenüber neuen Beschäftigtengruppen zwangsläufig in eine Krise der traditionellen Formen der Interessensvertretung, denn solange sie unsichere Arbeitsverhältnisse nur als Konkurrenz zum Normalarbeitsverhältnis wahrnehmen und prekären Beschäftigten keine Organisations- und Vertretungsangebote machen, wird sich der Einfluss der Gewerkschaften mit der Ausweitung der Prekarisierung weiter reduzieren. Denn „der Kampf um die (Re-)Positionierung wird nur scheinbar ‚individualistisch’ geführt. Am Arbeitsmarkt konkurrieren Individuen, sie führen ihre Konkurrenzkämpfe jedoch mittels – realer wie imaginärer – Gruppenbildungen. Anders gesagt, Individuen und soziale Gruppen begegnen den desintegrierenden Effekten, die aus dem Zerfall zuvor für legitim befundener Arbeitsteilungen resultieren, durch interessengeleitete und symbolisch vermittelte Strategien einer – und sei es imaginären – Integration“ (Brinkmann et al. 2006: 76). In dem Maße, wie gewerkschaftliche Politik die neuen sozialen Folgen und Spaltungen ignoriert, entsteht Spielraum für politische Formationen, die solche Lücken im Sinne nationalistischer und rassistischer Klassifikationen nutzen. Umso wichtiger ist es also, die unterschiedlichen Wahrnehmungen von Prekarisierung zu erkennen, um auch ihre möglichen Gemeinsamkeiten überhaupt erst in den Blick nehmen zu können. Denn eine Vereinheitlichung von Positionen ist kein Ding der Unmöglichkeit, Prozesse der „kollektiven Subjektivierung“ (Hauer 2005b) wurzeln aber immer in den Erfahrungen gemeinsamer realer Kämpfe. Was verbindet also die Auseinandersetzungen von Bauarbeitern für ihren Tarifvertrag mit den Demonstrationen gegen die deutschen Arbeitsmarktreformen? Es sind allesamt Kämpfe gewesen gegen die Zumutungen der Flexibilisierung, Kämpfe dafür, „schön und gut zu leben, auch wenn man nach heutigen Verwertungsgesichtspunkten unflexibel, unproduktiv und unkreativ ist“ (ebd.). Gewerkschaftliche Arbeitsmarktpolitik müsste also vor allem mit einer Drei-Säulen-Politik der Entprekarisierung den unterschiedlichen Bedürfnissen der Beschäftigten Rechnung tragen und dabei gleichzeitig deren Interessenkonvergenz fördern.
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Die erste Säule umfasst die Sicherung der Normalarbeitsverhältnisse, wobei es in erster Linie darum geht, die verlorenen gewerkschaftlichen Bastionen zurückzuerobern und dabei mit einer offensiven tariflichen Mindestlohn- und Arbeitszeitpolitik dafür zu sorgen, dass ‚Normalarbeit’ wieder zu einem erstrebenswerten Leitbild für die übrigen Kategorien der Lohnarbeiter wird. Um die Gefahr einer Hyperflexibilisierung der Arbeitszeit zu vermeiden, ließe sich die Forderung nach Arbeitszeitverkürzung mit der Ausweitung des arbeitsund sozialversicherungsrechtlichen Schutzes atypischer Erwerbsverhältnisse (durch so genannte ‚Beschäftigungsbrücken’ zwischen Arbeitslosigkeit, Teilzeit- und Vollbeschäftigung sowie zwischen Bildungszeit, Familienarbeit und Erwerbstätigkeit) verbinden, mit dem Ziel, prekaritätsresistente flexible Arbeitsformen nicht zu verhindern. Einen wichtigen Ansatzpunkt könnte hier weniger die sozialliberale Flexicurity-Debatte als vielmehr die französische Diskussion um die Schaffung eines gesellschaftlichen Aktivitätsstatus bieten. Damit ist gemeint, dass jede Person, die eine gewisse Zeit lang in irgendeiner Form erwerbstätig war, für einen begrenzten Zeitraum einen Status in Anspruch nehmen kann, der eine wirkliche Wahl zwischen Erwerbsarbeit und anderen Tätigkeitsformen ermöglicht (vgl. Dörre 2007). Die zweite Säule entspricht einer auf die ‚Zone der Verunsicherung’ gerichteten Partizipationspolitik, die dafür zu sorgen hat, dass bislang gewerkschaftlich kaum organisierte prekär Beschäftigte handlungsfähig bleiben. Aufgabe einer gewerkschaftlichen Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik wäre es hier, den Druck von den schwächsten Gruppen der Gesellschaft zu nehmen, indem nicht nur für den Ausbau von regulären Arbeitsplätzen in öffentlichen Diensten, sondern auch für gesetzliche Mindestlöhne und Schutzbestimmungen in den tariflich nicht abgedeckten Arbeitsmarktsegmenten gekämpft würde. Hierfür steht auch das Konzept, im Rahmen eines ‚garantierten Grundeinkommens’ Arbeit, Einkommen und soziale Sicherung mehr oder weniger zu entkoppeln. Eine solche Grundsicherung könnte den Zwang zur Aufnahme prekärer Lohnarbeit verringern und damit die Verhandlungsmacht der Beschäftigten verbessern: Wer materiell abgesichert ist, braucht nicht mehr den Verlust der Arbeit zu fürchten und kann sich gegen unwürdige Bedingungen zur Wehr setzen. Dieses bedingungslose, weil an keinen Arbeitszwang gekoppelte Grundeinkommen wird beispielsweise von den ‚Euromärschen gegen Erwerbslosigkeit und Ausgrenzung’ und von zahlreichen zivilgesellschaftlichen Organisationen propagiert. Die dritte Säule schließlich umfasst konkrete organisatorische Maßnahmen in der ‚Zone der Verwundbarkeit’, um die Prekären in die Organisationen der Arbeiterschaft einzubinden. Trotz der bekannten Schwierigkeiten, die unstete Beschäftigung für die Definition und Durchsetzung von Kollektivinteressen mit sich bringt, ist die Förderung der Selbstorganisation nicht unmöglich: Zahlreiche Beispiele belegen, dass spezifische Dienstleistungen und lokale Bündnisse mit sozialen Bewegungen, Kirchen und Selbsthilfeorganisationen beträchtliche Organisationserfolge ermöglichten, die auch erheblich zur Revitalisierung gewerkschaftlicher Strukturen beigetragen haben (vgl. Dörre 2007). Mit einer solchen ‚Politik der Entprekarisierung’ wüchse der Gewerkschaftsbewegung eine neue politisierende Gestaltungsrolle im sozialen Konflikt zu.
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Tillmann, Robin/Monica Budowski 2006: La pauvreté persistante: un phénomène de classe, de cumul de désavantages ou d'individualisation? In: Schweizer Zeitschrift für Soziologie, Jg. 32, H. 2, S. 329-348. Vester, Michael 2002: Das relationale Paradigma und die politische Soziologie sozialer Klassen. In: Bittlingmayer/Eickelpasch/Kastner/Rademacher (Hg.) 2002: S. 61-121. Vester, Michael 2005: Der Wohlfahrtsstaat in der Krise. Die Politik der Zumutungen und der Eigensinn der Alltagsmenschen. In: Schultheis/Schulz (Hg.) 2005: S. 21-33. Vester, Michael/Daniel Gardemin 2001: Milieu und Klassenstruktur. Auflösung, Kontinuität und Wandel der Klassengesellschaft? In: Rademacher/Wiechens (Hg.) 2001: S. 219-274. Vester, Michael/Peter von Oertzen/Heiko Geiling/Thomas Hermann/Dagmar Müller 2001: Soziale Milieus im gesellschaftlichen Strukturwandel. Zwischen Integration und Ausgrenzung. Frankfurt/M.. Vogel, Berthold 2004a: Neue Ungleichheiten im Wohlfahrtsstaat. Die politische Ordnung sozialer Verwundbarkeit und prekären Wohlstands. In: Zeitschrift für Sozialreform, Jg. 50, H. 1–2, S. 174–188. Vogel, Berthold 2004b: Nachmittag des Wohlfahrtsstaats. In: Die Tageszeitung, 8.9.2004. Vogel, Berthold 2006: Sicher – prekär. In: Lessenich/Nullmeier (Hg.) 2006: S. 72-91. Wittel, Andreas 1998: Gruppenarbeit und Arbeitshabitus. In: Zeitschrift für Soziologie, Jg. 27, H. 1, S. 178-192.
Frauen an die Spitze? Zur Repolitisierung der Arbeitsund Geschlechterdebatte
Hildegard-Maria Nickel/Hasko Hüning
Vorbemerkung: Asymmetrien im Subjektivierungsprozess Die Frage nach der Handlungsfähigkeit des Subjekts angesichts der ‚Durchkapitalisierung der Welt’ wird gegenwärtig sehr unterschiedlich diskutiert. Die einen gehen von einer totalen Unterwerfung des Subjektes unter das globalisierte Kapital und von der restlosen Vereinnahmung des Subjektiven durch den ‚Neoliberalismus’ aus. Die anderen hingegen betonen das ‚Selbst’ und es ist von Selbstorganisation, Selbstbefähigung, Selbstverwirklichung und der Befreiung des Subjekts aus überkommenen Bindungen und Traditionen die Rede. Wir orientieren uns in diesem Beitrag an einer Position, die den praktischen Lebensprozess zum Ausgangspunkt nimmt, einer Position, die den Subjekten einen eigenen, auf ihre Lebensverhältnisse bezogenen Sinn zubilligt: „Die Menschen sind die Produzenten ihrer Vorstellungen, Ideen pp., aber die wirklichen, wirkenden Menschen, wie sie bedingt sind durch eine bestimmte Entwicklung ihrer Produktivkräfte“ (Marx/Engels 1972: 212). Allerdings scheint diese Position vor dem Hintergrund des ‚Wucherns der Diskurse’ veraltet zu sein. Wer noch hält es für zeitgemäß, den „wirklichen Lebensprozess“ mit Marx und Engels fassen zu wollen? „Die Produktion des Lebens sowohl des eigenen in der Arbeit wie des fremden in der Zeugung erscheint nun sogleich als doppeltes Verhältnis – einerseits als natürliches, andererseits als gesellschaftliches Verhältnis –, gesellschaftlich in dem Sinne, als hierunter das Zusammenwirken mehrerer Individuen, gleichviel unter welchen Bedingungen, auf welche Weise und zu welchem Zweck verstanden wird (…) Und diese Weise des Zusammenwirkens ist selbst eine ‚Produktivkraft’, daß die Menge der den Menschen zugänglichen Produktivkräfte den gesellschaftlichen Zustand bedingt und also die ‚Geschichte der Menschheit’ stets im Zusammenhang mit der Geschichte der Industrie und des Austausches studiert und bearbeitet werden muß.“ (Marx/Engels 1972: 220) Diese, von Ursula Beer (1990) als „vollständiges Materialismuspostulat“ gekennzeichnete Position ist offen für eine Perspektive, die im aktiven Zusammenwirken der Individuen die „innere Natur der Gesellschaft“ entdeckt und im Handeln der Subjekte Eigensinn erkennt. Individuen gehen nicht in der Zuweisung, Träger sozialer Verhältnisse zu sein, auf, sondern Menschen führen eine eigenständige, eigensinnige Existenz (Beer/Chalupsky 1993: 209-210). Indem Individuen ihren Arbeits- und Lebenszusammenhang organisieren, entäußern sie ihre „Subjektpotentiale“ (Knapp 1987). Durch die Erweiterung der Analyseperspektive über die (neoliberale) Marktökonomie hinaus auf die Fortpflanzungs- und Versorgungsökonomie wird der Zusammenhang von ‚Arbeit und Leben’ systematisch hergestellt und die innere Natur der Gesellschaft in ihrer Einheit von Produktion und Reproduktion fassbar. Ist diese Perspektive in der Frauen- und Geschlechterforschung relativ gut verankert, so gilt für die Arbeits- und Industriesoziologie, dass der Zusammenhang von Produktion und Reproduktion des Lebens entweder verkürzt bzw. ausgeblendet oder oft
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nachträglich als ein empirisches Phänomen auf die ‚eigentliche’ Analyse draufgesattelt wird (vgl. Aulenbacher 2005). Aber auch hier hat diese Perspektive partiell Eingang gefunden. Vermarktlichung und Individualisierung resp. Subjektivierung werden nicht nur als zwei Seiten einer Medaille betrachtet (vgl. Sauer 2005), sondern von Interesse ist dabei der Zusammenhang von Produktion und Reproduktion (vgl. Kratzer/Sauer 2007) und die Tatsache, dass sie Eigenlogiken hervorbringen, die die traditionelle Arbeits-, Beschäftigungssowie Familien- und Sozialpolitik in Frage stellen. Eine ‚widerständige’ Arbeitspolitik (Sauer 2005; Peters/Sauer 2005), die der Eigenlogik und dem Eigensinn der Subjekte Rechnung trägt, habe – so die Autoren – die lebensweltlich aufgeladenen Ansprüche an ‚gute Arbeit’ sichtbar zu machen und zu vertreten. Die aktuellen Entwicklungen auf der betrieblichen Ebene, die zum Teil durch neue Formen von Gruppen- und Projektarbeit und durch selbstorganisierte Arbeitszusammenhänge charakterisiert sind, verstärken den interaktionistischen (vgl. Deutschmann 2003), sozial-kommunikativen und affektiven (vgl. Hardt 2004), d.h. subjektiven Charakter von Arbeit. Dabei werden Leistungsanforderungen nicht mehr nur ‚von oben’ per Anweisung oder qua Kunden, sondern indirekt durch Zielvorgaben und Erwartungen (der Vorgesetzten, Kollegen und Kolleginnen), aber auch durch den persönlichen Leistungs- und Qualitätsanspruch, den Individuen selbst an ‚gute Arbeit’ haben, erzeugt. Das verweist auf einen eigensinnigen Kontrollanspruch der Subjekte. Er geht über den unmittelbaren Arbeitsplatz hinaus und sucht die Komplexität der Arbeits-, Beschäftigungs- und Lebensbedingungen im Blick zu haben. Zwischen betrieblicher und außerbetrieblicher Lebenswelt besteht dabei ein Wechselverhältnis, ohne dass durch die intensivere Verflechtung die Trennung beider Sphären aufgehoben wäre: Zum einen wird das Ausmaß betrieblicher Integration und Partizipation (Engagement, Beteiligung, etc.) der Subjekte vom Grad ihrer außerbetrieblichen Anforderungen, von der Reproduktionssphäre beeinflusst. Zum anderen bestimmen umgekehrt die über Erwerbsarbeit vermittelten Ressourcen (v.a. Einkommen und berufliche Stellung) und Stressfaktoren die Lebens- und Entfaltungschancen in der außerbetrieblichen Sphäre. Der Begriff ‚Subjektivierung’ 1 – wie er hier verwendet wird – beschreibt „eine Intensivierung von ‚individuellen’, d.h. Subjektivität involvierenden Wechselverhältnissen zwischen Person und Betrieb bzw. betrieblich organisierten Arbeitsprozessen“ (Kleemann et al. 2002: 57). Das beinhaltet zwei Aspekte: Zum einen eine betrieblich induzierte Form der Subjektivierung (als neue Strategie der Rationalisierung und daraus folgenden Anforderungen an die Arbeitssubjekte), zum anderen eine subjektinduzierte Form der Subjektivierung als Sinnanspruch und Erwartung der Subjekte an ihre Arbeit. Es ist nicht sehr überraschend, wenn empirisch festzustellen ist, dass sich zwischen Führungskräften und Beschäftigten sehr deutliche strukturelle Asymmetrien in den Formen der Subjektivierung bzw. in der Ausstattung mit jenen Ressourcen, die Subjektivität überhaupt erst ermöglichen, zeigen. Diese Ungleichheitslinien in den Subjektivierungsprozessen lassen sich sehr grob und vorläufig folgendermaßen zuspitzen: Strukturierende, aktive, auf den Betrieb bezogene Subjektivierung ist eher im Handlungs- und Anforderungsrepertoire 1
Die Argumentation basiert auf dem Endbericht zum HBS-Projekt „Vermarktlichung und Subjektivierung der Arbeit? Neue Arbeitspolitik und betriebliche Geschlechterverhältnisse“. Der Projektbericht erscheint demnächst bei Sigma: Hildegard-Maria Nickel/Hasko Hüning/Michael Frey unter Mitarbeit von Susanne Braun und Cordula Kiank: Subjektivierung, Verunsicherung, Eigensinn. Auf der Suche nach Gestaltungspotenzialen für eine neue Arbeits- und Geschlechterpolitik.
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von Führungskräften anzutreffen als bei Beschäftigten, wiewohl auch hier in Abhängigkeit von der jeweiligen Beschäftigungsposition und Qualifikation der Tätigkeit „aktive Subjektivierung“ zu finden ist. Führungskräfte sind Strukturgeber im Unternehmen, das ist – wie sich in Interviews gezeigt hat – ihr primärer individueller Sinndeutungsbezug. Die „strukturierende Subjektivierung“ resultiert aus „eigensinnigem“, dem Selbständigkeitsbedürfnis der Führungskräfte wie zugleich der betrieblichen Wertschöpfung Rechnung tragendem Gestaltungswillen. Führungskräfte definieren und inszenieren sich mit der ganzen Person in dieser Rolle. Allerdings ist die reale Gestaltungsmacht der befragten Führungskräfte mehr oder weniger begrenzt, so dass zu vermuten ist, dass sich gerade bei Führungskräften Effekte einer diskursiven, inszenierten oder ‚ideologisierten’ Subjektivierung Geltung verschaffen. ArbeitnehmerInnen ohne Führungsposition haben in Bezug auf betriebliche Strukturen und Arbeitsanforderungen ebenfalls einen Gestaltungsanspruch, aber in der Regel eine deutlich eingeschränkte Gestaltungsmacht. ‚Vermarktlichung’ in den Betrieben wird unter anderem mittels Implementierung von Unsicherheit organisiert, um bei den Beschäftigten Anpassungs- und Problemlösungspotentiale, Arbeitsintensivierung und unternehmerisches Handeln zu initiieren. Die Herausnahme von Sicherheiten aus dem Arbeitsprozess produziert auf Seiten der Beschäftigten nicht selten Angst. Ihr Eigensinn äußert sich demzufolge eher im Sinne der Optimierung ihres Sicherheitsbedürfnisses und in Form traditioneller Widerständigkeit gegenüber betrieblichen Zumutungen. Übergriffe des Unternehmens auf die ganze Person werden abgewehrt, um Reserven bzw. Ressourcen für die Strukturierung des eigenen Lebens außerhalb der Arbeit behaupten zu können. Dennoch ist durchaus Selbstorganisation, Selbstkontrolle und Selbstinszenierung in ihrer Tätigkeit gefragt. Ihr Selbständigkeitsbedürfnis orientiert sich aber im Unterschied zu Führungskräften weniger auf Autonomie und Selbstverwirklichung in der Arbeit, als auf die Sicherung ihrer privaten Lebensbedingungen und materiellen Existenz. Bei den Beschäftigten ist kaum von auf das Unternehmen oder die Beschäftigungsbedingungen bezogener „strukturierender Subjektivierung“ zu reden und gegen die ideologisierte, diskursive Aufladung der auf die ganze Person zielenden Anforderungen scheinen sie vergleichsweise immun zu sein. Aspekte einer „reklamierenden Subjektivität“, die normative Ansprüche an ‚gute Arbeit’ und Beschäftigung geltend macht, sind hingegen deutlicher festzustellen. In der folgenden Argumentation beschränken wir uns weitgehend auf Subjektpotenziale weiblicher Führungskräfte, um einerseits den Zusammenhang von Arbeit und Leben, Produktion und Reproduktion vertiefen und andererseits die eigensinnige Handlungsfähigkeit von Subjekten beispielhaft diskutieren zu können. Zunächst ist aber der gesellschaftliche Handlungsrahmen genauer zu beleuchten.
1.
Finanzmarktkapitalismus, Umbau der Unternehmensstruktur und Subjekt
Der Begriff ‚Fordismus’ steht allgemein für eine spezifische Regulationsweise der Kapitalakkumulation. In Deutschland (und Europa) hatte dieser Regulationszusammenhang bis in die 70er Jahre die charakteristische ökonomische Bewegungsform von industrieller Massenproduktion und -konsum mit einem ausgebauten Wohlfahrtsstaat, mit sozialgeschützten Normalarbeitsverhältnissen für Männer und geschlechtsspezifischer Arbeitsteilung in der
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Normalfamilie, mit einer (relativ) niedrigen Frauenerwerbsquote und mit kompromissorientierten Arbeitsbeziehungen angenommen. Dieser gesellschaftliche Modus verliert seither seine Gestaltungskraft und es löst sich der überkommene Zusammenhang von hoher Produktivitätsentwicklung, sozialstaatlicher Modellierung der Verteilungsverhältnisse und der Entwicklung pluralistischer Individualitäts- und Lebensformen auf.
1.1
Radikalisierte Verselbständigung der finanzgetriebenen Akkumulation
„Die globalen Finanzmärkte gelten heute – da sind sich Befürworter wie Kritiker einig – als diejenige Instanz, die die Entwicklungsrichtung kapitalistischer Ökonomien und der mit ihnen verwobenen Gesellschaften am nachdrücklichsten bestimmt.“ (Kädtler 2005: 31) Neben der gewachsenen Bedeutung der Finanzmärkte spielt eine weitere Veränderung eine große Rolle: Infolge der beschleunigten Akkumulation von Geldkapital und von Vermögenstiteln verschieben sich die Machtbeziehungen zwischen den Unternehmen und den (organisierten) Akteuren der Finanzmärkte (vgl. Windolf 2006: 18). Basierte der Kapitalismus früherer Phasen auf einer Unterordnung des Geld- und Finanzkapitals unter das produktive (industrielle) Kapital, so hat sich diese Machtbeziehung umgekehrt. Zwar gilt die Bewährung der Unternehmen auf den Produktmärkten nach wie vor noch als notwendige Bedingung der Wirtschaftlichkeit, aber nicht mehr als hinreichend (vgl. Kädtler 2005: 31). Der Shareholder-Value wird zur dominierenden Unternehmensphilosophie der Kapitalgesellschaften. „Die Orientierung der Unternehmensentscheidungen am Ziel einer Maximierung des Börsenwerts des Unternehmens nennt man das Shareholder-Value-Prinzip. Seine Durchsetzung ist eng verbunden mit der Professionalisierung des Kapitalmarkts.“ (v. Weizsäcker 1999: 101) Es findet ein Strategiewechsel statt: Durch die organisierte Vermögensverwaltung drängen die Shareholder auf eine aktive und dynamische Verwaltung ihrer Vermögensbestände. Vermittelt über den Wettbewerb auf den Finanzmärkten wird der Konkurrenzdruck auf die Produktions- und Dienstleistungsunternehmen übertragen und deren Management wird durch offensive Einflussnahme der Shareholder (z.B. im Aufsichtsrat der Unternehmen) in eine Strategie der Optimierung der Kapitalrenditen und des Unternehmenswerts an den Börsen eingebunden. Auch für die Bundesrepublik Deutschland kann formuliert werden, dass sich in Folge der Veränderungen auf den internationalen Finanzmärkten das deutsche Finanzsystem in Richtung einer stärkeren Marktorientierung gewandelt hat. Doch es ist nicht die „seit dem Ende des Währungssystems von Bretton Woods gewachsene Bedeutung der Kapitalmärkte an sich, die das deutsche Produktionsregime in jüngster Zeit herausfordert. Die Konfrontation resultiert vielmehr aus institutionellen Veränderungen innerhalb des ‚Kapitalmarktkapitalismus’ und aus der Verselbständigung dieses Funktionssystems der Weltwirtschaft gegenüber allen Instanzen nationaler und internationaler Kontrolle“ (Abelshauser 2003: 179). War die relative Verselbständigung der Finanzsphäre in den 1960er und 1970er Jahren (Herausbildung des Eurodollarmarktes und Erosion des Bretton-Woods-Systems) zunächst noch als Resultat vorangegangener Entwicklungen kapitalistischer Verhältnisse zu interpretieren (vgl. Zinn 1997: 93), übernehmen nun die Akteure des Finanzsystems die Funktion, die Marktöffnung durch kapitalmarktbasierte Finanzierungsinstrumente und durch die zunehmende Verlagerung der Wertschöpfung von der realwirtschaftlichen zur vermögensgetriebenen Akkumulation weiter zu radikalisieren. Mit dieser weiteren, ‚radika-
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lisierten Verselbständigung’ der Finanzsphäre sind die „Langfristigkeit der Perspektive unternehmerischen Handelns und die Unabhängigkeit der in den Kapitalmarkt integrierten Unternehmen gefährdet“ und die Orientierung am Shareholder-Value ist „nicht mit den Spielräumen korporativer Marktwirtschaft kompatibel“ (Abelshauser 2003: 180), was nichts anderes heißt, als dass damit auch die Auflösung des fordistischen Leistungskompromisses verknüpft ist, also sowohl eine Verschiebung in den Anteilen von Arbeitnehmerentgelten hin zu den Gewinn- und Vermögenseinkommen wie auch die Erosion der Mitbestimmung und des Gewichts der Gewerkschaften. Der Aufstieg der finanzgetriebenen Akkumulation in den letzten zwanzig Jahren beruht auf einer Relativierung der produktiven Wertschöpfung und auf einer Dominanz des Wachstums des Marktwerts von Vermögen(-stiteln). Die „wealth driven economy“ (Bluestone/Harrison 2002) hat ohne Zweifel Produktivitätspotenziale und bisher unerschlossene Verwertungsspielräume in den Unternehmen freigelegt und für größere betriebliche wie gesellschaftliche Kosteneffizienz gesorgt. Doch unzweifelhaft ist auch, dass sich die ‚Finanzialisierung’ auf Grund der ihr inhärenten Tendenz zur Abflachung von Investitionen (materielle Ressourcen und Personal) nicht automatisch und auf Dauer in ein Wachstum der produktiven (realwirtschaftlichen) Wertschöpfung umsetzt. Ob, wann und wie sich die ‚radikalisierte Verselbständigung’ der vermögensgetriebenen Akkumulation korrigiert, bleibt empirisch abzuwarten.
1.2
Radikalisierte Vermarktlichung
Wie dargestellt findet die langanhaltende Krise des Fordismus u.a. ihren „ökonomischen Ausdruck in der zunehmenden Unterordnung der Produktions- unter die Marktökonomie“ (Sauer 2005: 118). Parallel zur Herausbildung des Finanzmarktkapitalismus haben sich in der Organisation der Wertschöpfungs- und Verwertungsprozesse gravierende Veränderungen ergeben. Die Ausrichtung der Unternehmen auf die Finanzmärkte und ihre Renditeerwartungen vollzieht sich seit Beginn/Mitte der 1990er Jahre. Wir haben es seither ohne Zweifel mit neuen Formen und Elementen einer flexiblen Restrukturierung von Produktion und Arbeitsteilung in den Unternehmen wie auch in den überbetrieblichen Zusammenhängen (Netzwerkstruktur) zu tun. Man kann diesen Vorgang als eine „Radikalisierung der Vermarktlichung bezeichnen: Während es in der Perspektive fordistischer Unternehmen darum ging, die konkreten Produktionsabläufe gegenüber den Umwägbarkeiten des Marktes abzuschotten, setzen neue Konzepte darauf, den Markt zum Motor der permanenten Reorganisation der Binnenstrukturen zu machen. Mit seiner Internalisierung wird der Markt in seiner Kontingenz und Dynamik zum Strukturierungsmoment der betrieblichen Organisation. Umgekehrt wird im Zuge dieser Prozesse jedoch auch der Markt selbst organisatorisch gestaltet. Marktprozesse werden instrumentalisiert und inszeniert, die Unbestimmtheit und Dynamik des Marktes wird auf diese Weise strategisch genutzt“ (Sauer 2007: 206).
Zu den Schranken des Fordismus gehörte, dass die Potenziale der Individualitätsentwicklung der Beschäftigten blockiert wurden und nur zum Teil in die Verwertungsprozesse integriert werden konnten. Die Ansätze der Auflösung fordistischer Fremdbestimmung und der Übergang zu Formen der indirekten Steuerung als Modus, „mit dem der Markt, in mehr oder weniger abstrakten Zielvorgaben oder Wertgrößen übersetzt, zur ‚Naturbedingung’ von Arbeit wird“ (ebd.: 207), erfordert eine neue, bewusstere Nutzung der Arbeitskraft. Der
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Zugriff auf die Steuerungs- und Flexibilitätspotenziale der Ressource Arbeitskraft bleibt jedoch ambivalent und „verwirrend widersprüchlich“ (Illouz 2006: 162), weil sie letztlich immer (noch) in den kapitalistisch organisierten Wertschöpfungs- und Verwertungsprozess eingebunden ist. (Akteurs-)Handeln bleibt im Kapitalismus somit letztlich zwar an die unbewussten Formen des Werts gekettet, nichtsdestotrotz haben wir es heute zunehmend mit bewussteren Akteuren zu tun. Die heute wesentlich durch die Kapitalseite betriebene marktorientierte Öffnung der bisher hierarchisch organisierten Arbeitsorganisation setzt einerseits subjektive Entfaltungspotenziale frei und weitet Gestaltungsspielräume in der Arbeit aus, erhöht aber andererseits zugleich die subjektive Verletzlichkeit der Arbeitenden dadurch, dass sie Eigenorganisation, (soziale) Selbstverantwortung und Empowerment in der alltäglichen Unternehmenspraxis auf die Interessen der Shareholder und die Optimierung des Unternehmenswerts einzuengen sucht. „Lohnarbeit basiert auf dem kontinuierlichen Verkauf der Arbeitskraft und damit auf einer spezifischen Eigenständigkeit (Herv. d. Verf.). Das Lohnarbeitsverhältnis ist insofern widersprüchlich, weil es einerseits in die fertig organisierte Despotie des Fabriksystems eingebunden bleibt, andererseits die Konkurrenz in Absetzung zu anderen Subjekten fördert. Insofern strebt das Kapitalverhältnis ‚einerseits dahin, die Individualität und damit Freiheitsgefühl, Selbständigkeit und Selbstkontrolle der Arbeiter zu entwickeln, andererseits ihre Konkurrenz unter- und gegeneinander’ (MEW 23: 579).“ (Bischoff 2006: 89)
1.3
Erweiterung der Perspektive: ‚soziale Subjektivität’
Hier kommt also eine bereits im Lohnarbeitsverhältnis selbst angelegte Konstellation zum Tragen. „Die kapitalistische Produktion (…) geht äußerst sparsam um mit der verwirklichten, in Waren [und in Arbeitsmitteln, d. Verf.] vergegenständlichter Arbeit. Dagegen ist sie, weit mehr als jede andere Produktionsweise, eine Vergeuderin von Menschen, von lebendiger Arbeit.“ (Marx 1969: 99) Nach der vorrangigen Revolutionierung der Arbeitsmittel in den Zeiten der ‚Großen Industrie’ war schon mit dem Einsatz von ‚Human RelationsProgrammen’ in den Zeiten fordistischer Produktion eine Suche nach Subjektentwicklung, nach erweiterter Freisetzung subjektiver Produktionspotenziale zur Vereinbarung von Rationalisierung und Humanisierung eingeleitet worden (vgl. Kern/Schumann 1984). Die unter dem Fordismus entwickelte Individualität war eine wichtige Vorbedingung für die heute angestrebte Wertschöpfungspraxis, die dem subjektiven Faktor ein höheres Gewicht zuerkennt, indem die arbeitenden Individuen nicht mehr nur bloß als Objekt betrieblicher Rationalisierung erscheinen. Die heutigen Formen der Ökonomisierung primär des lebendigen Arbeitsvermögens zielen darauf ab, die zunehmend eigenverantwortliche Selbstregulierung der Arbeitstätigkeit in der Weise in ein übergreifendes objektivierendes Handeln zu transformieren, dass die verbreitete Gleichgültigkeit der Arbeitenden gegenüber der Sparsamkeit und Rationalität des Einsatzes von Kapital – eine Operation, die bisher allein in die Verantwortung des unternehmerischen Handelns fiel – überwunden wird. Die von den Subjekten zu leistende „Selbst-Objektivierung des Arbeitshandelns“ (Böhle 2003: 135) impliziert die theoretische wie praktische Aneignung des Wissens um die vom Markt wie auch um die von der Unternehmensführung gesetzten Rahmenbedingungen der Unternehmens- und Arbeitsorganisation. „Das beginnt bei der Entscheidung über Produkt- und Marktsegmente, betrifft die Ausstattung von Produktion und Vertrieb mit finanziellen, sachlichen und personellen Ressourcen und umfasst die Ausgestaltung von internen Abrechnungs- und Kon-
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kurrenzverhältnissen.“ (Bischoff 2006: 93f) Dieser Bezugsrahmen ist allerdings zu erweitern. „Eigensinn steht gegen die Strategien der Anpassung an die Imperative einer radikalen Vermarktlichung“ (Sauer 2007: 212) und eigensinnige Arbeitspolitik findet ihren Bezugspunkt in den Erfordernissen der Reproduktion der Arbeitskraft wie in den Ansprüchen der Arbeitenden an die Gestaltung der Arbeit. Dies fasst sich zum einen in der Formel „Widerstand statt Anpassung“ (ebd.) zusammen, kann aber zum andern eine Erweiterung durch handlungsanleitende subjektive Orientierungen erfahren, die der Selbst-Objektivierung des Arbeitshandelns Grenzen setzen. Letzteres verbindet sich mit der Frage, ob die neuen Formen selbstorganisatorischen Handelns in der tagtäglichen Wertschöpfungspraxis die Einengung auf die rein unternehmerischen Zielsetzungen (Unternehmensprofit und Kapitalrendite) erzwingen, oder ob der Eintritt der Subjekte in die Sphäre unternehmerischen Handelns nicht auch ermöglicht, andere individuelle und kollektive Interessenlagen, die in den Sphären außerhalb der Arbeit situiert sind, in den Blick zu nehmen; dies impliziert u.a. auch die Zielsetzung zu verhindern, dass „die Fachkompetenz des Arbeitskraftunternehmers zu seiner Daseinskompetenz verfälscht“ (Negt 2006: 272) wird. Wenn mit der intensivierten Rückbindung der Arbeitskraft an die Risiken des Marktes ohnehin verstärkt Ressourcen der außerbetrieblichen Lebenswelt ins Kalkül gezogen werden und den Subjekten zunehmend die Aufgabe zuteil wird, durch z.B. uneingeschränkte zeitliche Verfügbarkeit, private Unterstützungsnetzwerke, selbstorganisierte Weiterbildung und durch die Ökonomisierung der Organisation der privaten Lebensverhältnisse etc. die neuen betrieblichen Anforderungen und die damit einhergehenden Unwägbarkeiten aufzufangen, dann eröffnet sich die Perspektive, tendenziell das Verhältnis von Arbeit und Leben, von Ökonomie und Lebensweise insgesamt zum Ausgangs- und Bezugspunkt neuer betrieblicher Nutzungsstrategien von Arbeit werden zu lassen, eine Perspektive, die weit über die Begrenzungen des bisherigen Verständnisses von ‚unternehmerischem Handeln’ hinausreicht und andere Aspekte ökonomisch-sozialen Verhaltens in die unternehmerische Kalkulation einzubringen in der Lage wäre. Die radikalisierte Marktökonomie löst partiell und in unterschiedlicher Weise die Arbeitenden aus ihren bisherigen institutionellen und motivationalen Begrenzungen heraus und die ‚ganze Person’ wird in den Arbeitsprozess involviert. Der vielfach im Diskurs um neue Arbeits- und Geschlechterpolitik anzutreffende Blick vornehmlich auf die ohne Zweifel nach wie vor vorfindbaren Begrenzungen einer am ganzen Leben orientierten ‚sozialen Subjektivität’ sollte die Potenziale ihrer Durchsetzungskraft nicht vergessen machen. 2 Der Kapitalismus verlangt und schafft Netzwerke der Interdependenz und zieht so die Welt des Privaten und der Gefühle in den Kernbereich der Produktions- und Austauschprozesse: „Der emotionale Kapitalismus hat die emotionalen Kulturen neu geordnet, indem er das 2
Um den progressiven Potenzialen zur Entfaltung zu verhelfen und „ihre Einmischung in die neuen marktorientierten Steuerungssysteme“ (Sauer 2005) zu unterstützen und eine transparente Verknüpfung von Wertschöpfung und zivilgesellschaftlichen Strukturen herzustellen, bedarf es einer Aufwertung des Eigentümerstatus der lebendigen Arbeit, um den alleinigen Einfluss vermögensdominanter Eigentumsstrukturen auf Unternehmensebene z.B. durch die Implementierung neuer, pluralistischer Formen wirtschaftsdemokratischer Elemente in Betrieben und Verwaltungen und durch erweiterte Formen der betrieblichen und überbetrieblichen Mitbestimmung zurückzudrängen (vgl. Bischoff/Hüning/Lieber 2005). Diesem nicht zu vernachlässigenden Aspekt kann hier aber nicht nachgegangen werden. Allerdings könnte auch schon heute – zugestanden: im beschränkten Rahmen eines Co-Managements – von Seiten der sog. ‚Arbeitnehmerbank’ im Aufsichtsrat in Fragen der Arbeits-, Personal- und Innovationspolitik dem Eigentümerstatus der lebendigen Arbeit intensiver Raum gegeben werden.
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ökonomische Selbst emotionaler und die Emotionen instrumenteller machte.“ (Illuoz 2006: 41) Dadurch werden die Modi sozialer Interaktion sowie die Modi der praktischen Geschlechterregulation in der Arbeitswelt anderen Bedingungen unterworfen als nur denen des traditionellen unternehmerischen Handelns.
2.
Die Krise des fordistischen Genderregimes
Das fordistische Geschlechterregime ist in der Krise. Es verändert sich, ohne dass es bereits eine klar zu definierende neue Form gefunden hätte. Bezogen auf das hier zu verhandelnde Thema sind zwei Achsen der Veränderung besonders bedeutsam: Erstens die gleichzeitige Erodierung wie Intensivierung von Geschlecht als Strukturkategorie, und zweitens der gleichzeitige Formwandel von Arbeit wie der privaten Lebenswelt. Auf beide Phänomene soll zunächst kurz eingegangen werden. Es ist eine alte These der Frauen- und Geschlechterforschung, dass die Art der strukturellen Verknüpfung von Produktions- und Reproduktionsphäre die Geschlechterordnung formt (vgl. Beer 1990; Becker-Schmidt/Knapp 1995). Für den Industrialismus (vgl. Baethge 2001) war das Geschlecht zentraler Modus der Zuständigmachung entweder für die Erwerbsarbeit (male breadwinner) oder die Familie (female carer). Spätestens seit dem Ende des 20. Jahrhunderts ist auch in der Bundesrepublik Deutschland ‚Geschlecht’ als organisierendes Prinzip der (Sozial-)Politik und der Arbeit tendenziell obsolet. Das macht es Frauen zunehmend schwieriger, sich als Gruppe zu artikulieren und kollektive Ansprüche an den Staat, an Arbeitgeber oder an ‚die’ Männer in Bezug auf Gleichheit, Ressourcen oder soziale Sicherheit zu stellen. Das wird zum Teil als „De-Institutionalisierung“ (Heintz 2001) oder als „De-Thematisierung“ (Pasero/Priddat 2004) von Geschlecht charakterisiert. Paradoxerweise hat allerdings – und das wird dabei oft übersehen – die Bedeutung des Geschlechts im Alltag vieler Frauen keineswegs an Gewicht verloren. Das spüren Frauen auf dem Arbeitsmarkt, wo sie in die Domäne stereotyper Frauenjobs verwiesen sind, die durch niedrigere Löhne, Teilzeitbeschäftigung und/oder drohende Prekarität gekennzeichnet sind. Das erfahren sie in der Familie, die sich mittlerweile „für die Individuen zu einem Lebensraum mit neuen sozialen Beziehungen und emotionalen Ansprüchen“ (Bischoff/ Herkommer/Hüning 2002: 98) entwickelt hat und heute häufig auf zwei Lohnbezüge, also die Erwerbsarbeit von Müttern und Vätern angewiesen ist, ohne dass das mit einer geschlechtlichen Neuverteilung unbezahlter Reproduktionsarbeit im häuslichen Bereich einhergeht. Das zeigt sich auch auf der mesopolitischen Ebene von Betrieben und Unternehmen, deren Akteure – vom Management über die Betriebsräte bis hin zu den Beschäftigten – sich erstaunlich einig darin sind, dass Gleichstellung und Chancengleichheit von Frauen und Männern keine Probleme sind, denen sie besondere Aufmerksamkeit widmen müssten, „weil, das Problem haben wir nicht (…) also bei uns haben die Frauen die Oberhand.“ 3 Während die Fakten das Gegenteil zeigen: Horizontale und vertikale Segregation, die Frauen im Vergleich zu Männern betrieblich schlechter stellen; glass ceiling-Effekte, die Frauen aus den oberen Etagen ausgrenzen und eine wertschöpfungsorientierte ‚unternehmerische’ Personalpolitik, die oft zur Schlechterstellung von Frauen führt, weil sie die Tatsache, dass 3
Die empirischen Aussagen basieren auf eigenen betriebssoziologischen Untersuchungen in der DB AG und in der Landesbank Berlin (vgl. unten).
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Arbeitskräfte, zumal weibliche, in der Regel fürsorgende Menschen sind, die soziale Verbindlichkeiten und Verpflichtungen auch außerhalb der Erwerbstätigkeit haben, ausblendet. Der aus der systematischen Gleichgültigkeit kapitalistischer Verwertung gegenüber ihren ‚natürlichen’ Voraussetzungen (vgl. Kratzer/Sauer 2007) resultierende geschlechtsunspezifische Individualismus in der Arbeitswelt findet keine Entsprechung in der Reproduktionsphäre bzw. in der Organisation der fürsorglichen Praxis, die immer noch geschlechtskonnotiert und geschlechtsspezifisch verteilt ist. Der neoliberal orientierte Staat delegiert zudem einesteils immer mehr Fürsorgepflichten in die individuelle private Sphäre. Anderenteils findet auch eine Verschiebung der Fürsorgepflichten aus dem öffentlichen in den privaten Sektor durch Kommodifizierung/Warenförmigkeit von Sorgearbeit statt. Privatisierung „stellt zwei unterschiedliche, aber sehr oft miteinander verbundene Strategien des Regierens dar – entweder die Unterwerfung unter die Warenform (die Umwandlung öffentlicher Güter in private Güter, die käuflich erworben werden können) oder die Familiarisierung/Individualisierung (die Verschiebung von Verantwortung aus dem Öffentlichen und Kollektiven zur Familie und den Individuen).“ (Brodie 2004: 23) In der Arbeitswelt führt das nicht nur zur Reproduktion ‚alter’ Trennungslinien zwischen Männern und Frauen, sondern die soziale Differenzierung unter Frauen verläuft nicht zuletzt entlang dieser ‚Privatisierungslinie’ und polarisiert innerhalb der Gruppe der Frauen. Geschlecht – so lässt sich schlussfolgern – hat seinen Status als Platzanweiser nicht generell verloren, kommt aber nicht mehr immer und überall und in gleicher Weise zum Tragen (vgl. Hansen/Müller 2003). Geschlecht kann, muss aber nicht ein ausschlaggebender Faktor für die soziale Positionierung im Erwerbsfeld und für die Zuweisung von Aufgaben und Verantwortungen sein. Vielmehr kommt es darauf an, mit welchen anderen Dimensionen Geschlecht in welchen konkreten Kontexten und Entscheidungskonstellationen zusammentrifft. Die mit der Marktradikalisierung verbundene zentrale Arbeitsanforderung heißt: Selbstmanagement bzw. Selbstorganisation, und zwar unter steigendem existenziellen Druck und bei für Frauen und Männer ungleichen individuellen Ausgangsbedingungen. Der Marktdruck soll sich mittels ‚unternehmerischer Mitarbeiterführung’ von einem äußeren Anliegen der Wirtschaft bzw. des Unternehmens zur verinnerlichten Handlungslogik der Beschäftigten transformieren. Das betrifft nicht nur Frauen und Männer auf unterschiedliche Weise, sondern forciert die bereits angesprochene soziale Differenzierung vor allem unter Frauen. Ein Teil der Frauen – hoch qualifiziert und karriereorientiert – definiert sich in Abgrenzung zu traditionellen Zuschreibungen zunehmend über das Muster der zunächst Männern vorbehaltenen ‚Arbeitsmarktindividulisierung’, d.h. primär über Erwerbsarbeit. Ist dieses Muster bei Männern zumeist allerdings noch immer „familiengetragen oder -gestützt“, so ist es bei Frauen „familiengebrochen“ (Krüger 1995; vgl. auch Leitner/Ostner/Schratzenstaller 2004) bzw. bedeutet oft Verzicht auf Familie. Unternehmensintern entwickelt sich eine soziale Polarisierung zwischen Frauen, und zwar in Abhängigkeit von Alter, Qualifikation, Position und – dies im Unterschied zu traditionellen Faktoren sozialer Ungleichheit unter Männern – von der Lebensform: Ob allein, in einer PartnerInnenschaft oder in einer Familie, ob mit oder ohne Kind(er) oder versorgungsbedürftigen Angehörigen bestimmt den Grad der zeitlichen Verfügbarkeit für die Erwerbsarbeit bzw. für den Betrieb. Unter den betrieblichen Bedingungen der ‚Vermarktlichung’, d.h. des Abwälzens marktlicher Risiken auf die Beschäftigten, und des fortwähren-
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den Appells an das Engagement und die Eigeninitiative für den Betrieb, wird zeitliche Verfügbarkeit für den Betrieb zum ausschlaggebenden Faktor der Karrierechancen. Höher qualifizierte kinderlose bzw. von Sorgearbeit ‚befreite’ Frauen gewinnen z.T. vom marktorientierten Umbau der Unternehmen und vom kommodifizierten Ausbau von Dienstleistungsbereichen. Für einen Teil karriereorientierter Frauen in Führungspositionen scheint gelebte Mutterschaft ein Ausweis für qualifiziertes Kompetenzmanagement oder gar ein Statussymbol ‚organisationsbegabter’ Berufstätigkeit geworden zu sein. Zugleich sind viele Frauen aber auch Opfer dieser Marktradikalisierung, weil sie wegen ihrer Sorgearbeit dem Verfügbarkeitsanspruch der Unternehmen nicht gerecht werden können bzw. wollen (vgl. Voß/Weiß 2005).
3.
Neukonfiguration geschlechtlicher Ungleichheit
Vester/Gardemin (2001) haben der Debatte um die Beteiligung von Frauen an der ‚Kompetenz-Revolution’, die zur Dynamik der Produktivkräfte beitrage und Druck auf die Produktionsverhältnisse ausübe, einen interessanten Impuls gegeben. Wenn – so stellen sie fest – „die Qualifikation (…) zunimmt, aber bei den Frauen überproportional abgewertet, d.h. nicht nach Leistung und Chancengleichheit honoriert wird, so ist das nicht technologischökonomisch zu erklären. Es ist vielmehr bedingt durch die Mechanismen der Herrschaft auf der vertikalen Achse, und zwar der patriarchalischen wie der sozialen Klassenherrschaft, die sich hier miteinander verschränken und so die Organisationsform und Entscheidungsstrukturen der Betriebe und des Marktes bestimmen.“ (Vester/Gardemin 2001: 479) In der momentanen Konkurrenz neuer mit alten Wirtschaftseliten um die Macht und um neue Organisationskonzepte ist noch immer „offen, ob es in einer Stärkung des vertikalen Chefprinzips oder aber dessen Abbau durch flache Hierarchien, mehr Vernetzung und mehr Partizipation münden wird“ (ebd.). Frauen sind, so die Autoren, eine gesellschaftspolitische Kraft, die einen „stetigen Druck auf die Trägheit der bisherigen Eliten und institutionellen Formen ausübe(n)“ (ebd.: 483), zumal der Ungleichheit der Geschlechter längst nicht nur die moralische, sondern auch die ökonomische Legitimation entzogen sei. Vor dieser argumentativen Folie soll in einem nächsten Schritt der Frage nachgegangen werden, was leistungsorientierte, qualifizierte Frauen hindert, diesen Ball aufzunehmen und ihre Potenziale und Kompetenzen voll in Einsatz zu bringen, beispielsweise an der Spitze von Unternehmen.
3.1
Das „Machttabu“
Naomi Wolf steht für eine Erklärungsperspektive, die Ursachen für die Persistenz von Machtasymmetrien im Geschlechtervergleich vornehmlich in der (Sozial-)Psychologie bzw. in den weiblichen Selbsttechnologien findet. Sie stellte Anfang der 1990er Jahre ein doppeltes Problem fest, an dem Frauen leiden: Sie haben zu wenig Macht, und gleichzeitig haben sie Angst vor der Macht (vgl. Wolf 1996: 25). Es habe sich, so die amerikanische Feministin, ein „Machttabu“ in den Köpfen von Frauen festgesetzt, das es zu bekämpfen gelte: „Frauen müssen endlich das Selbstbild der Ohnmacht gegen eines der unbeirrbaren Stärke eintauschen“ (ebd.: 19). Der „Opfer-Feminismus“ müsse deshalb durch einen „Po-
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wer-Feminismus“ (ebd.) überwunden werden. Das ist nicht leicht zu bewerkstelligen, und: Verändert sich damit auch die Spitze? Der Feminismus fand im letzten Drittel des vergangenen Jahrhunderts Gehör, weil sich mit ihm erstens eine Kritik an den vorfindlichen (patriarchalen) Verhältnissen, an der Organisation von Macht und an den damit verbundenen Herrschaftsverhältnissen verband und zweitens weil er eine solidarische Perspektive, die nicht nur auf das eigene Klientel bezogen war, repräsentierte. Er plädierte also nicht einfach für die „Schaffung einer neuen weiblichen Psychologie der Macht“ (Wolf 1996: 19), sondern verwies darauf, dass das an einer historisch überlebten Männlichkeitskonstruktion orientierte androzentrische Macht- und Arbeitsverständnis verändert werden muss. Solange aber für Frauen in Deutschland noch immer Kind oder Karriere (vgl. Kleinert/ Kohaut/Brader/Lewerenz 2007) gilt und in der Privatwirtschaft das Prinzip der Freiwilligkeit Vorrang hat vor verbindlichen, verlässlichen Rahmenbedingungen der Chancengleichheit und eine Harmonisierung von Arbeit und Leben bzw. Macht und (Für-)Sorge ausbleibt, mehr noch die strukturellen und organisationalen Bedingungen von Unternehmensführung oft Ausblendung des ‚Sozialen’ bedeutet, werden Männer in den Spitzenpositionen – von wenigen Ausnahmen abgesehen – noch lange unter sich sein. Andererseits ist ohne Zweifel mit der Subjektivierung von Arbeit eine neue Stufe der Selbstführung von Individuen erreicht, die auch Folgen für die Neukonstituierung von Formen der Machtverteilung auf Unternehmensebene (und darüber hinaus) hat. In der Etablierung von Verhandlungssystemen (Zielvereinbarung etc.), von Selbstorganisationsmechanismen (Gruppen- und Teamund Projektarbeit etc.) und Empowerment-Strategien reflektieren sich veränderte Formen der betrieblichen Organisation. Zugleich trägt die betriebliche Neuorganisation u.U. durch den damit gegebenen Übergang zu einer „individualisierenden Macht“ (Foucault 1976: 228) zu einer Neukonfiguration geschlechtlicher Ungleichheit bei, die Vorstellungen über individuelle Lebensführung mit dem Paradigma der Solidarität zu verknüpfen in der Lage ist.
3. 2
Potenzialträgerinnen sichtbar machen 4
Das untersuchte Bankenunternehmen ist ein hoch weiblich segregiertes Unternehmen mit einer Frauenbeschäftigungsquote von ca. 70%. Betrachtet man allerdings die Geschlechterverteilung in den verschiedenen Hierarchieebenen des Unternehmens, so zeigt sich, dass der Frauenanteil mit steigender Hierarchie sinkt und Frauen auf den obersten Führungsebenen kaum noch vertreten sind: Im Vorstand ist keine der Positionen mit einer Frau besetzt und der Frauenanteil auf der zweiten Führungsebene beträgt lediglich 7,1%. Auch auf der dritten Führungsebene, zu der z.B. die Filialleitung zählt, sind Frauen mit 34,3% deutlich unterrepräsentiert. Erst am unteren Ende der Führungshierarchie, der vierten Führungsebene (z.B. TeamleiterInnen), entspricht der Frauenanteil von 69,3% ihrem Anteil an der Gesamtbelegschaft.
4
Nickel/Fahrenholz/Meißner 2002: Potenzialträgerinnen sichtbar machen. Forschungsprojekt bei der Landesbank Berlin, gefördert von der Hans-Böckler-Stiftung, Humboldt-Universität zu Berlin (unveröffentlicht). Die kursiv gesetzten Zitate entstammen den Interviews aus diesem Projekt (vgl. dazu auch Fahrenholz/Meißner 2003).
Frauen an die Spitze? Zur Repolitisierung der Arbeits- und Geschlechterdebatte
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Das Unternehmen hatte sich zum Ziel gesetzt, den Frauenanteil in Führungspositionen zu erhöhen. Deshalb war es auch selbst an der Untersuchung der Gründe, die zu dieser Pyramide führen, interessiert: Von der Ausbildung des Arbeitskräftenachwuchses an – so das Selbstbild des Unternehmens – wurden Potenzialeinschätzungen vorgenommen, Führungskräfte identifiziert und durch ausgefeilte Entwicklungskonzepte gefördert; aber trotz diverser Maßnahmen zur Chancengleichheit und differenzierter Personalentwicklungsinstrumente war der Anteil von Frauen an den Fach- und Führungskräften im oberen Management nicht bemerkenswert gestiegen. Wie lässt sich das erklären?
Feminine Skills Ansatzpunkt neuer Hoffnungen in den Aufstieg von Frauen im Unternehmen bildeten die Debatten über die Relevanz so genannter ‚weicher’ Führungskompetenzen und die in diesem Zusammenhang betonte Bedeutung von Schlüsselqualifikationen wie Kommunikations- und Teamfähigkeit, Sozialintelligenz und Ganzheitlichkeit (vgl. Sordon 1995). Diese ‚weichen’ Kompetenzen gelten häufig als ‚feminine skills’ und werden landläufig eher Frauen als Männern zugeschrieben (ebd). Damit verknüpft sich weithin die Hoffnung, dass der Karriereein- und -aufstieg für Frauen in höhere Führungspositionen durch den Bedeutungsgewinn dieser Kompetenzen erleichtert wird. Aus der Perspektive der Frauen- und Geschlechterforschung ist es jedoch nicht unproblematisch, die steigende Bedeutung von Schlüsselqualifikationen mit verbesserten beruflichen Chancen für Frauen gleichzusetzen (vgl. Krell 1992). Gerade im Hinblick auf gehobene Führungsebenen ist davon auszugehen, dass neben der formalen Qualifikation weiterhin auch Kompetenzen gefragt sind, die vor der Folie des herrschenden Geschlechterstereotyps eher Männern zugeschrieben werden, z.B. Durchsetzungsfähigkeit, Verhandlungsstärke und Zielstrebigkeit. Somit könnte das Etikett ‚feminine skills’ ein neuer Modus alter (stereotyper) Tätigkeitszuschreibungen sein, der traditionelle Arbeitsteilungen und Geschlechterhierarchien eher befestigt. 5 Geschlechtergrenzen sind zudem in den Strukturen und Regeln einer Organisation selbst verfestigt und kommen nicht nur durch diskriminierende Praktiken zustande, sondern z.B. auch durch Arbeitsbewertungssysteme, Anciennitätsregeln oder Arbeitszeitnormen. Frauen stoßen – selbst in weiblich segregierten Unternehmen – mit ihren beruflichen Ansprüchen und Fähigkeiten noch immer an männlich geprägte betriebliche Maßstäbe, Strukturen und Regelungen. Dadurch werden sie oftmals in ihren beruflichen Ambitionen gebremst, auf Positionen verwiesen, die nicht ihren Leistungspotenzialen entsprechen und so zur resignierten (Selbst-)Rücknahme veranlasst. Dies gilt insbesondere an der Schwelle zum höheren Management – gerade hier macht sich ein Phänomen geltend, das als ‚glass ceiling’ bezeichnet wird. Die sog. ‚gläserne Decke’ macht sich für karrierewillige Frauen anscheinend nicht vorrangig in den traditionellen bürokratisch-hierarchischen Organisationsstrukturen bemerkbar, sondern vielmehr in den informellen Praktiken und Regeln einer
5
Solche in der Forschungsliteratur auch als „boundary work“ (Heintz et al. 1997) bezeichneten Ab- und Ausgrenzungsstrategien seitens der männlichen Kollegen lassen sich als Versuch interpretieren, traditionell männlich besetzte Bereiche (wie z.B. das Top-Management) vor weiblicher Konkurrenz zu schützen (vgl dazu auch Hofbauer 2006).
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Hildegard-Maria Nickel/Hasko Hüning
Organisation (wie z.B. in der Bewertung von Qualifikation und Kompetenz). Weibliche Führungskräfte müssen sich in einer männlich geprägten Managementkultur behaupten, die traditionell für Frauen weder Platz noch Verhaltensmuster vorsah. 6 Wenn die Frage, was Frauen daran hindert, ihre Potenziale voll in die „KompetenzRevolution“ (Vester/Gardemin 2001) einzubringen, konkret beantwortet werden soll, müssten im Rahmen einer organisationssoziologischen Analyse drei Ebenen detaillierter in ihrer (sich verstärkenden) Wechselwirkung betrachtet werden: Faktoren struktureller, kultureller und personaler Art. 7 Im Zentrum der hier diskutierten Studie stehen Faktoren personaler Art und damit die Arbeits- und Aufstiegsorientierungen der vom Unternehmen identifizierten ‚Potenzialträgerinnen’ einerseits und das Führungs- und Förderverhalten der ihnen vorgesetzten männlichen Führungskräfte als ‚Strukturgeber’ für Karrierewege andererseits. Die untersuchungsleitende Fragestellung lautete daher, ob sich für Frauen durch veränderte Führungskompetenzen tatsächlich verbesserte Karrierechancen ergeben; ob ‚feminine skills’ als Führungskompetenzen von Frauen (an-)erkannt werden, und ob bei den ‚Potenzialträgerinnen’ ein ‚Eigensinn’ zu erkennen ist, der gegebenenfalls als Kritik an den vorfindlichen (patriarchalen) Verhältnissen gedeutet werden kann.
Der formale Weg des Aufstiegs – „Also es darf nicht der Eindruck entstehen, dass man irgendwo Quotenfrauen installiert“ Der typische betriebliche Karriereweg in dem hier untersuchten Unternehmen beginnt mit dem Berufseinstieg als Bankkauffrau/mann und der anschließenden Weiterqualifikation zur/zum Bankfachwirt/in. Mit erfolgreichen AbsolventInnen wird üblicherweise ein Personalentwicklungsgespräch geführt, bei dem zusammen mit dem/der Linienvorgesetzten über die zukünftige berufliche Entwicklungsrichtung der MitarbeiterIn beraten wird. Für den beruflichen Aufstieg eröffnen sich in der hier untersuchten Bank zwei mögliche Laufbahnen, die SpezialistInnen- oder Führungslaufbahn. SpezialistInnen üben Beratungs- oder Sachbearbeitungsaufgaben aus, z.B. als höherwertige KundenberaterInnen, ImmobilienspezialistInnen oder FachspezialistInnen in der Zentrale; Führungsaufgaben im Unternehmen sind z.B. die Filialleitung oder die Leitung eines Anlage-und-Finanzierungs-Centers. Mit beiden Laufbahnen können Führungspositionen im Sinne statushoher Positionen in der Betriebshierarchie erreicht werden. Personalentscheidungen werden auf der Grundlage eines betriebsweiten Verfahrens getroffen, das an das betriebsinterne Qualifikationssystem anknüpft. Die betrieblichen Karrierestrukturen können hinsichtlich der Qualifikationsvoraussetzungen als formalisiert gelten. Dies lässt sich grundsätzlich als positiv für Frauenkarrieren bewerten, denn einschlägi6
7
Auf die damit auf personaler Ebene auch einhergehenden Probleme soll nur kurz am Rande verwiesen werden: Neu ins Management eintretende Frauen können nicht auf bewährte (geschlechtskonforme) Rollenmodelle zurückgreifen, an denen sie ihr Verhalten orientieren könnten. Das Vorbild ‚Managerin’ existiert bislang erst in Ansätzen. Faktoren struktureller Art sind z.B. betriebliche Arbeitsbedingungen, Arbeitszeitregelungen, Stellenbewertungen, Aufstiegsregelungen und Weiterbildungsangebote; Faktoren kultureller Art z.B. Arbeitsklima, Arbeitszeitnormen, informelle Regeln und Praktiken, kurzum die gesamte ‚Arbeits- und Sozialkultur’ eines Unternehmens; Faktoren personaler Art z.B. individuelle Arbeitsorientierungen, Aufstiegsmotivationen, Weiterbildungsinteressen, aber auch das Führungsverhalten der übergeordneten hierarchischen Ebenen (vgl. Hüning/Nickel et al. 1995; Hüning/Nickel 1998; Nickel/Völker/Hüning 1999).
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ge Forschungsergebnisse verweisen auf den Abbau von geschlechtlicher Diskriminierung mit zunehmender Transparenz und Formalisierung der Auswahl- und Beurteilungsverfahren (vgl. Fried/Wetzel/Baitsch 2001). Angesichts der in den Interviews angesprochenen Befürchtung, dass es im Zuge einer seit Anfang der 1990er Jahre anhaltenden Umstrukturierung des Unternehmens neben Arbeitsplatz- auch zu einem Qualifikationsabbau kommen könnte, stellt sich allerdings die Frage, ob diese hohe Formalisierung auch zukünftig – z. B. bei der jetzt vollzogenen Privatisierung des zum Zeitpunkt der Untersuchung noch landeseigenen Unternehmens – weiter bestehen bleibt. Zudem sind die aufstiegsrelevanten Qualifikationen nur mit enormem persönlichen finanziellen Einsatz und zeitlichen Aufwand zu erwerben. Hinter den vordergründig bürokratisch geregelten Aufstiegsvoraussetzungen verbirgt sich somit eine spezifische Anforderungsstruktur und -kultur, die potentiell nur Arbeitskräfte erfüllen können, die von außerbetrieblichen Pflichten weitgehend frei gestellt sind. Hier zeigt sich die Ambivalenz dieser zwar formal geregelten, aber trotzdem nicht geschlechtsneutralen Aufstiegswege. So lässt sich möglicherweise auch erklären, warum die interviewten ‚Potenzialträgerinnen’, Filialleiterinnen, denen ein weiterer Aufstieg seitens des Unternehmens zugetraut wird, zum Zeitpunkt der Untersuchung durchweg kinderlos sind. Auch die Personalauswahl und Stellenbesetzung erfolgt nach einheitlichen Regularien. Offene Stellen werden betriebsweit ausgeschrieben und interessierte MitarbeiterInnen können sich eigenständig darauf bewerben. Nicht unüblich ist jedoch auch die Ermutigung zur Bewerbung durch eine/n Vorgesetzte/n. Die Auswahl aus dem BewerberInnenpool erfolgt dann anhand bestimmter Kriterien: Der erforderlichen Qualifikation, der Beurteilung durch den Linienvorgesetzten und dem bescheinigten Potenzial, das in einem so genannten Personalentwicklungsseminar ermittelt wurde. Dies ist das übliche Verfahren für Stellenbesetzungen der vierten und dritten Führungsebene, also der Ebene der Team- und Filialleitung. BewerberInnen für die zweite Führungsebene durchlaufen anstelle des Personalentwicklungsseminars ein Einzel-Assessmentcenter. Die Teilnahme erfolgt ausschließlich auf Vorschlag der/des Vorgesetzten. Mit dieser Personalisierung wird die Methode der Formalisierung und Transparenz der Aufstiegswege an einer zentralen Stelle durchbrochen und damit der Zugang für Frauen in die hohen Führungspositionen erschwert. Eine systematische Führungskräfteentwicklung in Form verankerter Instrumente, die die weiteren beruflichen Entwicklungsprozesse von (weiblichen) Nachwuchskräften systematisch fördert, existiert nicht. Dementsprechend zentral ist die Rolle, die den jeweils übergeordneten, zumeist männlichen Führungskräften bei der Potenzialerkennung und -förderung zukommt. Dabei stellt sich jedoch die Frage, ob die Förderungswürdigkeit von Männern und Frauen tatsächlich mit gleicher Elle gemessen wird. Das mangelnde Genderwissen (vgl. Dölling 2003) und die unreflektierte Haltung vieler Führungskräfte gegenüber geschlechtlichen Asymmetrien lassen vermuten, dass ihre Potenzialwahrnehmungen und Förderentscheidungen durch Geschlechterstereotype beeinflusst sind. Der relativ hohe Formalisierungsgrad der Qualifikationsanforderungen, der zunächst als gute Rahmenbedingung für den Aufstieg von Frauen betrachtet werden kann, wird durch die Relevanz der subjektiven Förderung durch Vorgesetzte zum Teil konterkariert. Hier kommen eindeutig persönliche Beziehungen und Netzwerke ins Spiel, die zum Erhalt der ‚gläsernen Decke’ für Frauen beitragen. Diese Vermutung erhärtet sich, weil gezeigt werden kann, wie sehr Führungspositionen im oberen Management symbolisch mit ‚Männlichkeit’ verknüpft sind.
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Hildegard-Maria Nickel/Hasko Hüning
Das Unternehmen als „geschlechtsneutrale“ Organisation – „Wer will, der kann, geschlechtsunabhängig” Die Führungskräfte der zweiten und dritten Ebene haben alle mehr oder weniger detaillierte formale Kenntnisse über die geschlechtsspezifische Verteilung von Positionen im Unternehmen. Sie wissen auch, dass der Übergang von der dritten zur zweiten Führungsebene die entscheidende Hürde ist, an der sich das Geschlechterverhältnis dramatisch zu Ungunsten von Frauen verändert. An dieser Stelle befindet sich im Unternehmen offenbar die ‚gläserne Decke’. Das wird von den meisten ‚Strukturgebern’ rhetorisch durchaus als ein Problem benannt, das zielstrebiger gelöst werden sollte. Generell gilt das Bild, das Unternehmen diskriminiere Frauen nicht, Frauen in diesem Unternehmen werden genauso gefördert wie Männer. Wer qualifiziert und leistungsbereit ist, habe eine Chance, Karriere zu machen, wer will, der kann, geschlechtsunabhängig. Von den befragten Frauen, den ‚Potenzialträgerinnen’ berichtet zwar keine über persönliche Erfahrungen der Benachteiligung durch Vorgesetzte, gleichwohl könne von einem ’Direktoren-Männer-Konsortium’ gesprochen werden, das „Frauen nichts zutraut, warum auch immer“. Führungspositionen der zweiten und ersten Ebene haftet eine männliche Konnotation an, die es Frauen schwer macht, sich hier Geltung zu verschaffen. Für die Vermutung, dass den subtilen Mechanismen der Grenzziehung, die auch über eine fallweise Reformulierung von Geschlechterstereotypen verläuft, große Aufmerksamkeit geschenkt werden muss, spricht schließlich, dass der geringere Anteil von weiblichen Führungskräften im Topmanagement von männlichen Führungskräften beharrlich damit begründet wird, dass die Frauen ihre Karriereambitionen schlichtweg weniger signalisieren würden. Die befragten Frauen selbst haben allerdings durchweg sehr deutlich ihre Karriereambitionen gezeigt, den Kopf rausgestreckt, sonst wären sie nicht dort, wo sie jetzt sind. Die unterstellte mangelnde Karriereaktivität der Frauen oder auch die vermeintliche Angst vor der Macht erweist sich als eine männliche Konstruktion, die als Argument dient, vorhandene Ungleichheiten zu legitimieren, mehr noch deren Ursachen bei den Frauen selbst zu verorten.
Anforderungen an Führungskräfte und die reflexive Karriereorientierung von Frauen – „Die Hammer-Methode ist nicht mein Ding“ Die entscheidende Hürde weiblicher Karrieren liegt – das ist weiter oben gezeigt worden – in dem untersuchten Unternehmen zwischen der dritten und der zweiten Führungsebene. Es lohnt sich also, hier etwas genauer hinzuschauen und zu fragen, inwiefern die Interviewten Unterschiede in den Anforderungen und Arbeitsinhalten zwischen diesen beiden Ebenen sehen. Für die befragten ‚Potenzialträgerinnen’ ist die Leitung einer Filiale – also die dritte Führungsebene – zunächst eine Führungsposition mit allen damit verbundenen Anforderungen. Die InhaberInnen dieser Positionen haben eine betriebswirtschaftliche Verantwortung gegenüber dem Unternehmen: „Das Firmengeschäft muss laufen und da müssen auch die Zahlen sein.“ Die Aufgaben der Filialleitung haben sich in den letzten Jahren im Zuge der marktorientierten Restrukturierung des Unternehmens verändert. LeiterInnen müssen im Sinne der Kundenorientierung verstärkt verkäuferisch tätig sein. Die jungen Frauen
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sehen sich selbst aber vor allem als Leiterinnen eines Teams und legen großen Wert auf den Einsatz sozialer Kompetenzen. Die Frauen wollen – so lässt sich zusammenfassend feststellen – eine anspruchsvolle, abwechslungsreiche und herausfordernde Tätigkeit und sind bereit, dafür einen hohen Einsatz zu bringen. Zugleich – und das ist der Kern dessen, was hier ’reflexive Karriereorientierung’ heißt – bewerten sie ihre berufliche Tätigkeit an recht klaren Maßstäben: Die Arbeit soll Spaß machen, sie soll eine Herausforderung und keine Überforderung sein und sie soll nicht ausschließlicher Bestandteil des Lebens sein. Darüber hinaus zählen auch ethischmoralische Bewertungskriterien, die sich vor allem auf die sozialen Konsequenzen von Unternehmensentscheidungen beziehen. Angesichts der Überlegungen, wie sich die Anforderungen an Führungstätigkeiten zukünftig entwickeln könnten, z.B. durch Privatisierung, verschärfte Konkurrenz und Individualisierung der Leistungsbewertung, verdeutlicht eine „Potenzialträgerin“ die persönliche Relevanz ethisch-moralischer Kriterien: „Aber ich weiß, wenn ich irgendwann mit dieser Führungsaufgabe nicht mehr zurecht komme und sage, dahinter stehe ich nicht mehr, würde ich die Konsequenzen ziehen und mir was anderes suchen, dass ich da irgendwo hingehe, wo mir dann zwar vielleicht die Kunden wieder fehlen werden, aber wenn ich in den Spiegel jeden Tag schauen kann und sagen kann, das bin ich.“
Es ist auffällig, dass die Inhalte und Anforderungen einer Tätigkeit in der zweiten Führungsebene von den Frauen vor allem in Kontrast, quasi als Negativfolie zu ihrer jetzigen, hierarchisch niedrigeren Tätigkeit beschrieben werden. Sie sind sich einig, dass es in der Führungsetage hinter der ‚gläsernen Decke’ härter zugeht: „Da kommt’s auf Ellenbogen an“ und „da denke ich, dass da doch zur Zeit die Hammer-Methode existiert und das ist nicht so mein Ding.“ Auf dieser Führungsebene entfällt die von den befragten Filialleiterinnen geschätzte Integration in ein Team, „der Filialdirektor hat ja nur noch mit Mittelsmännern zu tun.“ Damit ginge „dieses Miteinander, dieses Menschliche verloren.“ Einen weiteren entscheidenden Unterschied zur dritten Führungsebene sehen die „Potenzialträgerinnen“ in den zeitlichen Anforderungen, denn „als Filialdirektor hat man noch ein viel größeres Arbeitspensum abzuwickeln als ein normaler Filialleiter.“ FilialdirektorInnen müssten in ganz anderem Maße zeitlich flexibel sein. Hier ist offenbar für die befragten Potenzialträgerinnen ein Punkt erreicht, an dem sie die Vereinbarkeit von Beruf und übrigem Leben nicht mehr ausreichend gewährleistet sehen. Auch ohne konkrete Familienplanung und Kinderwunsch ist es für die interviewten Frauen wichtig, neben den beruflichen Herausforderungen ein Leben außerhalb der Arbeit zu haben. Sie wollen zwar Karriere machen und schrecken nicht vor Verantwortung zurück, aber sie sind nicht bereit, jeden Preis dafür zu bezahlen: „Auf der einen Seite will man Karriere machen, man will mehr Geld verdienen, auf der anderen Seite möchte man sich auch die Lebensqualität, wie es so schön heißt, erhalten. Da hat man nichts davon, wenn ich – 40 Jahre – wenn ich tot bin und nichts von meinem Leben hatte außer der Arbeit.“
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4.
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Marktradikalisierung, unternehmerische Personalführung und neue Interessenkonstellationen
Die Risiken des Marktes werden – um in den Bildern der Interviewten zu bleiben – mit der „Hammer-Methode“ verstärkt an die Arbeitssubjekte weitergegeben (vgl. Lohr/Nickel 2005). Ihnen wird zunehmend zugemutet, durch uneingeschränkte zeitliche Verfügbarkeit, private Unterstützungsnetzwerke, selbst organisierte Weiterbildung und die Ökonomisierung der privaten Lebensführung die neuen betrieblichen Anforderungen und Risiken aufzufangen. Die ‚ganze Person’ wird in den Arbeitsprozess hineingezogen. In dieser ‚Kultur der Subjektivierung’ wird ‚weibliches Arbeitsvermögen’ (soziale Kompetenz, Teamfähigkeit, emotionale Intelligenz etc.) nicht nur aber vor allem auch von weiblichen Beschäftigten zunehmend gefragt. Das hat die Erwerbs- und Karrierechancen – wie auch die Fallstudie gezeigt hat – von Frauen verbessert. Die Kehrseite dieser Entwicklungen ist, dass die private Lebenswelt zunehmend „durch die Person und in der Person selbst konstituiert und gegen ‚fremde’ Einflüsse geschützt“ werden muss (vgl. Jürgens/Voß 2007). Insgesamt verändert sich vor diesem Hintergrund das Geschlechterverhältnis in der Erwerbswelt, ohne dass es dabei allerdings automatisch zu einer Gleichstellung der Geschlechter kommt. Vielmehr führt der neue „Geschlechterpluralismus (Lenz 2007) zu komplexeren, vielschichtigeren und komplizierteren sozialen Lagen von Frauen und Männern. Das stellt die traditionelle Frauen- und Gleichstellungspolitik z.T. in Frage. So glaubt beispielsweise anscheinend die Gruppe der jungen, karriereorientierten Frauen der „neuen F-Klasse“ (Dorn 2007), sich am besten selbst vertreten zu können. Die Frage, die sich dann interessenpolitisch stellt, ist: Kann es unter den Bedingungen von Marktradikalisierung und Individualisierung zu einer am ‚ganzen Leben’ orientierten Re-Vitalisierung einer solidarischen betrieblichen Arbeitspolitik kommen und sind Frauen eine gesellschaftspolitische Kraft (vgl. Vester/Gardemin 2001), die den Druck in diese Richtung forciert? Mit Kratzer/Sauer gefragt: Entstehen mit dem veränderten Verhältnis von Erwerbssphäre und privater Reproduktion neue interessenpolitische Konstellationen, die die Ausgangsbedingungen für eine Veränderung von Herrschaftsverhältnissen – jeder Art – verbessern? (Vgl. Kratzer/Sauer 2007: 247) Bisher blendet betriebliche Arbeitspolitik nicht nur aus, dass Arbeitskräfte fürsorgende Menschen sind, die ein Leben jenseits von Erwerbsarbeit haben, sondern sie ignoriert vor allem auch die Ungleichheiten, die mit der geschlechtlichen Zuschreibung von (Sorge)Arbeit zusammenhängen. Diese De-Thematisierung der Geschlechterfrage verbindet sich mit einer wertschöpfungsorientierten Personalpolitik, die sich nicht an der normativen Frage von Geschlechtergerechtigkeit orientiert, sondern an individueller Kompetenz und Verfügbarkeit. Diese „Personalpolitik für Wertschöpfungsstarke“ (Wetterer 2002) wird anscheinend den Bedürfnissen relevanter Gruppen von Frauen gerecht, die an ihrer Kompetenz gemessen werden wollen und nicht an ihrem Geschlecht. Zugleich ist es aber auch zunehmend eine Frage der individuellen Durchsetzungsfähigkeit, ob Beschäftigte, insbesondere Frauen betriebliches Entgegenkommen (commitment) für die von ihnen zu leistenden Verpflichtungsbalancen einfordern können. Die Betriebe halten in der Regel keine verlässlichen Rahmenbedingungen für die Vereinbarkeit von Beruf und Familie, geschweige denn dem ‚sonstigen’ Leben vor, sondern machen das zu einer Frage von Aushandlung. Einzelne Frauen in bestimmten Positionen und mit wertschöpfungsrelevanten Qualifikationen sind in der Lage, individuelle Vereinbarkeitsarrangements zu verhandeln. Viele aber
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werden, wenn sie ihren Job behalten, gar Karriere machen wollen, gedrängt, private Lösungen für ihr Vereinbarkeitsproblem zu finden, besser noch, es gar nicht erst aufkommen zu lassen. Eine männliche Führungskraft in dem jüngst von uns untersuchten Konzern 8 formuliert – entgegen der landläufig formulierten Annahme, dass der zu erwartende Fachkräftemangel die Chance für Frauen erhöhe – das so: „Wir haben momentan einen Arbeitgebermarkt. Wir haben nicht das Problem, dass der Arbeitgeber heutzutage Schwierigkeiten hat, Top-Leute zu finden (…) Die Unternehmen spülen momentan eher Leute raus, als dass sie auf der Suche sind (…) Was ist hier die Konsequenz daraus? Welches Maß an Attraktivität muss ich denn meinen Bewerbern bieten? Muss ich mir Gedanken darüber machen, dass ich auch noch Frauensondermodelle (…) Muss ich doch, jetzt mal brutal gesagt, nicht.“
Dieser Unternehmensbereich kann sich über einen Mangel an weiblichem Nachwuchs vom Typus des Arbeitskraftunternehmers (vgl. Voß/Weiß 2005) dennoch nicht beklagen: „(…) das Umfeld von meinem Bereich bietet eigentlich gerade solchen Frauen, die sehr ehrgeizig sind, die was erreichen wollen, die beste Plattform (…)Wir (…) ziehen (…) solche Leute an, die auf einem hohen Niveau (…) bereit sind, Themen zu steuern und zu tun und zu machen, deswegen habe ich noch nicht Frauen jetzt (…) gehabt, die zum Beispiel gerade schwanger geworden sind oder kurz (davor standen) (…) also das habe ich einfach (…) noch nicht gehabt.“
Obwohl es in diesem Unternehmen eine an commitments, also individuellen Vereinbarungen und Aushandlungen orientierte betriebliche Integrationspolitik für Beschäftigte, insbesondere Führungs- und Fachkräfte gibt, die dafür sorgen soll, dass Frauen (und Männer) während und nach der Elternzeit dem Unternehmen verbunden bleiben, gilt Mutterschaft den meisten männlichen Führungskräften als objektiver ‚Karrierekiller’. Für sie selbst ist das aber überwiegend kein Problem, Vaterschaft und Führungsposition lassen sich immer noch auf der Basis traditioneller Arbeitsteilung im häuslichen Bereich relativ problemlos verbinden (vgl. Kleinert et al. 2007). Diese Entwicklungen sind allerdings auch noch in einer anderen Perspektive zu sehen: Wenn die Subjektpotenziale der Arbeitenden zunehmend zur Produktivitätsressource werden, liegt darin auch eine Chance. Subjektivierung ist nicht einfach Funktion und Vollzug von marktradikalisierten Ansprüchen, sondern Subjektpotenziale entstehen, indem Individuen ihren Arbeits- und Lebenszusammenhang organisieren. Insgesamt könnte der Subjektivierungsprozess also auch forcieren, dass ‚Leistungsträgerinnen’ eigensinnig betriebliche Angebote einfordern, die sie nicht dauerhaft zwingen, ihre Reproduktionsinteressen zu verleugnen oder auszublenden. Auch wenn der Druck auf Personalkosten und existenzielle Unsicherheiten momentan nicht optimistisch stimmen, liegt hier eine arbeits- und geschlechterpolitische Option. Frauen gelingt es eher in kleinen und mittleren Unternehmen Führungspositionen einzunehmen als in Großbetrieben. In den Vorständen und Aufsichtsräten von Großkonzernen 8
In diesem Abschnitt stammen die zitierten Interviewpassagen aus der von der HBS geförderten Studie „Vermarktlichung und Subjektivierung der Arbeit? Neue Arbeitspolitik und betriebliche Geschlechterverhältnisse“, Humboldt-Universität zu Berlin, 2006. Der Projektbericht erscheint demnächst bei Sigma: Hildegard-Maria Nickel/Hasko Hüning/Michael Frey unter Mitarbeit von Susanne Braun und Cordula Kiank: Subjektivierung, Verunsicherung, Eigensinn. Auf der Suche nach Gestaltungspotenzialen für eine neue Arbeits- und Geschlechterpolitik.
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sucht man meist vergeblich nach weiblichen Führungskräften. Wenn sie hier Führungspositionen innehaben, verorten sie sich zumeist im Personalbereich. Nun ist aber nicht nur in den hier untersuchten Unternehmen festzustellen, dass Personalverantwortung zu einer zentralen Ressource unternehmerischen Handelns geworden ist. Das wertet den Bereich und die hier Führungsverantwortung tragenden Frauen auf. Das könnte – so ließe sich schlussfolgern – eine Perspektive in den Unternehmen stärken, die – zumal die Sensibilität für Geschlechterfragen hier vergleichsweise hoch ist – erstens die Reproduktionssphäre der Beschäftigten in der Lage ist wahrzunehmen, und zweitens diese nicht von der Wertschöpfung abkoppelt, sondern als deren notwendige Voraussetzung begreift. Einesteils leben weibliche Führungskräfte die Integration von Verpflichtungsbalancen und damit eine andere soziale Konstruktion von Zeit, Produktivität und Verbindlichkeit selbst oft vor („reflexive Karriereorientierung“). Andernteils wissen sie „beides, also Arbeit und Familie überein zu kriegen (…) [erfordert] Problemlösungsfähigkeiten, Kommunikationsfähigkeit (…) Skills, die man in beiden Bereichen seines Lebens (…) braucht.“
Es sind Fähigkeiten, die unter den heutigen Bedingungen und Anforderungen wie aber auch im weit gefächerten Selbstverständnis der Arbeitenden zum Kern des ‚unternehmerischen Handelns’ gehören. Die implizite, auf Kompetenz umgestellte und an die Personalarbeit delegierte Geschlechterpolitik enthält also Chancen im von Vester/Gardemin (2001) diskutierten Sinne. Aber sie stößt systematisch an Grenzen, wenn strukturelle und sozial-kulturelle Barrieren verhindern, dass die sozialen Verbindlichkeiten der Subjekte, die sich aus dem Zusammenhang von Arbeit und Leben ergeben, in den betrieblichen Rahmenbedingungen ihren Niederschlag finden. ‚Work-life-balance’ oder andere wohlklingende Commitments in den Unternehmen sind oft individuelle ‚Verhandlungsmasse’ und kein Rechtsanspruch, auf den sich Beschäftigte berufen können. Das betrifft nicht nur, aber vor allem Frauen. Eine explizite, an Chancengleichheit orientierte Geschlechterpolitik bzw. die Re-Thematisierung von Geschlecht auf betrieblicher Ebene wäre demnach anhaltend geboten. Das könnte auch dazu beitragen, die verdeckten, oft subtilen Mechanismen in den betrieblichen Strukturen wieder deutlicher zur Sprache zu bringen und sie zu entindividualisieren. Ein kollektiver Reflexionsprozess über die männliche, androzentrische Konstruktion von Führung und Erwerbsarbeit und die dazu im Gegensatz stehenden realen Ansprüche des Lebens könnte auch im Interesse der Unternehmen liegen. Denn es ist davon auszugehen, dass nicht nur weibliche Beschäftigte und Führungskräfte den Unternehmen stressfreier zur Verfügung stünden, wenn Planungssicherheit im Alltag und für die Belange des privaten Lebens existiert. Denn zunehmend thematisieren auch männliche Führungskräfte einen gewissen persönlichen Leidensdruck, der sich mit der einseitigen Entgrenzung von Arbeit bzw. dem grenzenlosen Verfügbarkeitsanspruch des Unternehmens verbindet. Sie folgen in ihrem Handeln aber zumeist – nicht nur im Unterschied zu weiblichen Führungskräften, sondern auch zu männlichen Beschäftigten ohne Führungsfunktion – dem vermeintlichen Sachzwang ihrer Position.
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Alle in der jüngsten Untersuchung befragten männlichen Führungskräfte (durchaus im Unterschied zu früheren Fallstudien) 9 spüren das Konfliktpotential, das damit für den privaten Bereich verbunden ist: „Meine Arbeitszeit ist von Montagfrüh bis Freitagabend und privat kriege ich das einfach nicht mehr unter einen Hut.“
Zwar verträgt sich männlicher Leidensdruck anscheinend noch recht gut mit männlicher Verhaltensstarre, gleichwohl zeichnen sich auch in diesem Punkte veränderte Interessenkonstellationen ab, die der arbeits- und geschlechterpolitischen Debatte neue Impulse geben könnten. Auch unter Männern könnten sich Bündnispartner für eine andere soziale Konstruktion von Führung und Macht in Unternehmen finden lassen. Aber hier kann sicher für beide Geschlechter als Einschränkung der Gedanke aufgegriffen werden: „Selbst wenn die Rationalisierung und Kommodifizierung des Selbstseins unwiderruflich mit seiner Emanzipation verwoben ist, können beide Prozesse unmöglich verwechselt werden. Es bleibt als Aufgabe, Lust nicht mit Macht zu verwechseln.“ (Illouz 2006: 162)
5.
Fazit
Eine Vernetzung der verschiedenen Konflikt- und Interessenpotenziale zur Rezivilisierung des Kapitalismus muss sinnvoll an die heutigen entwickelten Formen von Selbststeuerung und Selbstorganisation anknüpfen, die sich inner- und außerhalb der Unternehmen herausgebildet haben. Bei allem Selbststeuerungspotenzial schließt die flexible Arbeitsorganisation immer noch Über- und Unterordnungsverhältnisse ein, die mögliche Autonomie- und Gestaltungsspielräume konterkarieren oder gar unmöglich erscheinen lassen. Insofern geht es nach wie vor eher um die „Möglichkeit der Zähmung“ des kapitalistischen Antagonismus (Chantal Mouffe), aber auch um die Prüfung darüber hinaus treibender Potenziale. Wir haben es – trotz der auch heute noch aufzeigbaren Begrenzungen – nicht mehr mit einer festgefügten betrieblichen Arbeitsorganisation und Geschlechterhierarchie zu tun, die die Sozialität determinieren. Die Sozialität wird in viel höherem Maße auch durch die Individuen selbst hergestellt und dadurch können sich Spielräume für eine aufklärerische Auseinandersetzung mit der Legitimation der am Shareholder-Value orientierten Corporate Governance eröffnen.
Literatur Abelshauser, Werner 2003: Kulturkampf. Der deutsche Weg in die Neue Wirtschaft und die amerikanische Herausforderung. Berlin. Andresen, Sünne/Irene Dölling/Christoph Kimmerle (Hg.) 2003: Verwaltungsmodernisierung als soziale Praxis. Opladen 9
Seit Anfang der 1990er Jahre wurden männliche Führungskräfte im Rahmen unterschiedlicher Betriebsfallstudien immer auch zu Geschlechterbeziehungen im betrieblichen und privaten Bereich befragt. Die Offenheit der männlichen Führungskräfte in der jüngsten Studie war auffällig. Die Gründe dafür sind sicherlich vielfältig, gleichwohl ist der Fakt bemerkenswert. Er könnte die These vom Aufkommen ‚neuer’ Väter bzw. Männer bestätigen und den latenten Wandel von Geschlechterarrangements zeigen.
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Hildegard-Maria Nickel/Hasko Hüning
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Frauen an die Spitze? Zur Repolitisierung der Arbeits- und Geschlechterdebatte
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Hildegard-Maria Nickel/Hasko Hüning
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Umarmter Protest. Soziale Bewegungen in Mexiko zwischen diskursiver Vereinnahmung und eigensinniger Widerständigkeit
Elisabeth Tuider
8. März 2008, Mexiko Stadt, Internationaler Frauentag Den Internationalen Frauentag wieder einmal in Lateinamerika, in Mexiko, zu verbringen, ist aufregend. Keine kleine Latsch-Demo bei strömendem Regen und keine wütende Verbannung der Männer aus den Reihen der Frauen, sondern ein großes Aufgebot an Info-Ständen der diversen Frauenorganisationen, Frauen-NGOs, autonomen Gruppen und staatlichen Einrichtungen, viele Menschen und politische Reden. Das habe ich erwartet. Aber was ist in diesem Jahr los? Der Zócalo wird dominiert von den Fraueninstituten der Regierung. Statt politischer Forderungen gibt es Luftballons und die unvermeidlichen Sambatrommeln auf der Rednerinnenbühne; Filme werden über (ausnahmsweise?) Kinder betreuende Väter gedreht, Wickelkurse für Begleitpersonen und Bastelgruppen für die Kinder angeboten. So erinnert die Feier am Zócalo mehr an eine große fröhliche Kirmes als an einen Internationalen Frauenkampftag. Wo sind die Revolutionärinnen, die Feministinnen, Frauenrechtlerinnen und compañeras geblieben? Sind sie tatsächlich wie angekündigt zu vielen unterschiedlichen anderen Plätzen und Feiern gegangen? (Elisabeth Tuider, Auszug aus dem Forschungstagebuch, 8. März 2008) 1
Die veränderte Präsentation und Struktur des Internationalen Frauentages 2 in Mexiko Stadt spiegelt, so meine These, die im Zuge der Institutionalisierung erfolgte Anpassung der Frauen- und feministischen Bewegungen Mexikos an die staatlichen Modernisierungspolitiken wieder. Es zeigt sich darin aber auch die Selbsterneuerungskraft des neoliberalen Kapitalismus, seine Fähigkeit, jede Form von Dissidenz und Protest aufzusaugen, ‚produktiv’ zu wenden und dadurch im gleichen Zuge zu entschärfen (vgl. Boltanski/Chiapello 2003 sowie Eickelpasch et al. in diesem Band). Angesichts des Vereinnahmungspotenzials neoliberaler Politiken und der schwindenden Widerständigkeit sozialer Bewegungen im neuen, ‚postfordistisch’ transformierten Kapitalismus stellen sich folgende Fragen: Formieren sich heute jenseits der zerbrochenen Kollektividentitäten ‚Frau’ und ‚Proletariat’ neue soziale Bewegungen? Oder sind diese im Zuge gesellschaftlicher und sozialer Transformationsprozesse hin zur globalen Weltgesellschaft, dem „Empire“ (vgl. Hardt/Negri 2002), restlos aufgesogen worden? Stellen sich Frauen, unter ihnen indigenas und campesinas, gegen die (neuen) Formen und Auswirkungen des kapitalistischen neoliberalen Systems, und wie tun sie dies? Reagieren soziale Bewegungen auf das weltweit agierende Kapital mit transnationaler Vernetzung? Erlangt das Lokale als Motor sozialer Aktionen neue Bedeutung oder wird es auf neue Weise vereinnahmt und reguliert? 1
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Im März 2004 und 2005 sowie zuletzt im März 2008 habe ich mehrwöchige Forschungsreisen nach Mexiko unternommen. Die in diesem Absatz dargestellten Eindrücke gehen auf unstrukturierte Beobachtungen am 8. März und im Umfeld dieses Tages zurück. Ich beziehe mich dabei auf den zentralen historischen Platz in Mexiko Stadt, den Zócalo (Placa de la Constitucion), der vom Nationalpalast und der Kathedrale gerahmt wird. Der Internationale Frauentag genießt in vielen Ländern Lateinamerikas eine lange Tradition. Er wurde 1910 von der Sozialistin Clara Zetkin ins Leben gerufen und wird in ganz Lateinamerika so auch in Mexiko groß von allen Menschen begangen. In anderen Ländern, bspw. in Chile, findet er seit 1936 und in Venezuela seit 1934 statt (vgl. Schumacher/Friebel 2006: 25f).
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Elisabeth Tuider
Am Beispiel der feministischen Bewegungen Mexikos, aber auch der seit 1994 öffentlich auftretenden zapatistischen Bewegung, soll im Folgenden diskutiert werden, wie sich Protestbewegungen im neuen Kapitalismus formieren, wie sich Widerstand äußert und welche Formen er dabei annimmt. In den ersten Teilen des Beitrages wird ein kurzer Blick auf die Geschichte verschiedener lateinamerikanischer Länder sowie der jeweiligen Implementierungen des neoliberalen Marktmodells geworfen. Vor diesem Hintergrund wird die Politisierung von Weiblichkeit/Mutterschaft in allgemeiner Form skizziert. Danach werden diese Überlegungen anhand der Formierung der feministischen und Frauenbewegungen Mexikos konkretisiert, um schließlich ihr Kooptationspotenzial bzw. ihr ‚Scheitern’ zu thematisieren. Abschließend wird ein Blick auf die zapatistische Bewegung und ihre politischen Strategien geworfen.
Frauen und Widerstand – Frauen im Widerstand In den verschiedenen Ländern Lateinamerikas kam es v.a. während der Zeit der blutigen Militärdiktaturen in den 1970er Jahren zur Implementierung der neoliberalen Austeritätsund Anpassungsprogramme. Damit einher gingen die Privatisierung von Staatsbetrieben, Geldwertstabilisierung, Marktöffnung und selektive Weltmarktintegration. 3 Die hohe staatliche Repression, die Zerschlagung traditioneller politischer Interessenverbände und die Erosion sozialpolitischer Netze und Ausgleichsmechanismen durch die diktatorischen Regime waren der ideale Nährboden dafür, die neoliberale Marktlogik nicht nur zu propagieren, sondern auch durchzusetzen. 4 Die Hegemonie des Neoliberalismus in Lateinamerika ist gerade auch wegen seiner (weltweit) institutionalisierten Formen und Strukturen nach wie vor ungebrochen. Die Folgen dieser neoliberalen Politiken zeigen sich v.a. auf sozialer Ebene: als Verarmung, als wachsende Ungleichheit und als Ungleichzeitigkeit von Entwicklungen. Zudem nimmt auch die ökonomische Ausbeutung Formen an, die mehr als bisher die Lebensbedingungen der Menschen bestimmt, indem sie die Grenzen zwischen privatem Leben und öffentlicher Sphäre einreißt. 5 Frauen erleb(t)en dabei den Widerspruch zwischen den Versprechungen der neoliberalen Politik und deren tatsächlichen Auswirkungen auf die (familiäre) Existenzsicherung besonders. Denn sie sahen und sehen sich mit der Unmöglichkeit konfrontiert, ihre traditionelle Aufgabe als „Hauptverantwortliche für ‚Leben’ und ‚Überleben’“ (Boris 1998: 170)
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Die Ökonomien vieler Länder Lateinamerikas gingen – nach der kolonialen Ausbeutung aller Rohstoffe – seit Beginn des letzten Jahrhunderts in eine andere Richtung: Zwischen 1930 und 1970/80 liegt die Phase der ‚Importsubstituierenden Industrialisierung’, in der Infrastrukturen, Industrien und staatseigene Unternehmen ausgebaut sowie die einheimische Produktion mit Krediten und Schutzzöllen gegen die ausländische Konkurrenz geschützt wurden. Spätestens seit den 1980er Jahren kam es unter dem Diktat der Auslandsverschuldung zur Öffnung der Märkte, zur grundlegenden Umstrukturierung der Wirtschafts- und Sozialpolitiken in weiten Teilen Lateinamerikas. Albert Sterr unterscheidet zwei Phasen in der Konsolidierung neoliberaler Marktgesetze: „Die blutige Phase der Diktaturen in den 1960er und 70er Jahren sowie die daran anschließenden zwei Dekaden von Demokratisierung und Wirtschaftliberalisierung unter der Ägide liberal-konservativer Parteien.“ (Sterr 2006: 15) Unter ‚Biopiraterie’ bekannt gewordene Projekte beuten nicht nur materielle Ressourcen sondern auch orale Traditionen und Wissen sowie symbolische Praktiken aus. Die seit der Kolonialisierung praktizierte Ausbeutung der ‚Unterentwickelten’ wird heute also abgelöst von Verwertungsmechanismen, die weniger auf Nationen als auf spezifische Gruppen und Individuen abzielen.
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wahrzunehmen, d.h. ihre soziale Fürsorgefunktion als Mutter, Ehefrau und Versorgerin zu erfüllen. Wohl deswegen beruh(t)en viele der frauenpolitischen Aktivitäten in Lateinamerika gerade auf einer „Fixierung auf die traditionellen weiblichen Rollen“ (Boris 1998: 177). Denn das Überleben ihrer Familien zu sichern und weniger die Probleme als Frau in einer patriarchal strukturierten Gesellschaft gaben den Anlass für frauenpolitischen Protest. Sonia Alvarez (1999) hat dieses Faktum treffend als „Politisierung der Mutterschaft“ bezeichnet. 6 Eines der bekanntesten Beispiele für die politische Mobilisierung von Frauen sind die Madres de la plaza de Mayo, die sich seit dem 30. April 1977 wöchentlich auf dem Hauptplatz von Buenos Aires treffen. Die Mütter (und mittlerweile auch die Großmütter) der in der Diktatur „verschwundenen“ Angehörigen (desaparesidos) fordern so Gerechtigkeit von den Regierenden ein. Das weiße Kopftuch, das die Mütter dabei tragen, wurde zum Symbol ihres Widerstands und Kampfes für Gerechtigkeit. 7 In den als Kochtopf-Demos (cacerolazos) bekannt gewordenen Aufständen nicht zuletzt breiter Teile der Mittelschicht werden die Auswirkungen des neoliberal strukturierten Regimes auf die leeren Kochtöpfe lautstark anprangerten. Und auch aktuell organisieren sich im Zuge der unaufgeklärten Frauenmorde (feminicidios) an der mexikanischen Nordgrenze in Ciudad Juárez Frauen – Mütter, Schwestern, Tanten, Großmütter und Lehrerinnen der Ermordeten – und fordern Aufklärung von Seiten der mexikanischen Regierung. 8
Inkorporierung der Frauenbewegungen Als mit dem Ende der Diktaturen sozialdemokratisch orientierte Regierungen an die Staatsmacht kamen und die Diktaturen formalen Demokratien Platz machten, wurde dies auch als mögliche Abkehr von einem neoliberal-kapitalistischen System diskutiert. 9 Die
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Auch viele der nicht als Frauenbewegungen deklarierten sozialen Bewegungen wurden zum Großteil von Frauen getragen. Dieter Boris (1998) spricht von einem 80%igen Frauenanteil in den sozialen Bewegungen, der aber als solcher nicht sichtbar war, da Männer weiterhin die Führungspositionen übernahmen. Auch dann, wenn die sozialen Bewegungen erfolgreich waren – wie in Kuba oder Nicaragua – und sie nach der Befreiung eine Regierung zu bilden hatte, wurden Frauen – obwohl ihr Anteil am Guerillakampf hoch war – keine Führungspositionen überlassen. Frauen, so schlussfolgert Gabriele Küppers, sind zwar „das Rückgrat der Bewegung, aber sie stellen nicht die Köpfe“ (Küppers 2000: 23). Die Überlebenssicherung der Familie und der Familienmitglieder hat die ersten ‚feministischen’ Gruppierungen zur Folge: neben der Agrupación de Familiares de Detenisos/Desaparecidos (Vereinigung der Angehörigen von Verhafteten/Verschwundenen) sind dies die Agrupación de Prisioneros Políticos (Vereinigung politischer Gefangener) und die Comedores Infantiles (Kinderspeisestätten), die Ollas Comunes (Gemeinschaftsküchen) und Comprando Junto (Einkaufsgruppen). Die in Ciudad Juárez aktive Gruppe Nuestras Hijas de Regreso a Casa wurde von Marisela Ortiz gemeinsam mit den Angehörigen der ermordeten Frauen gegründet (vgl. Ortiz 2005). In diesem Kontext stellt Servando Pineda Jaimes, Dekan an der Universidad Autonoma Ciudad Juárez, wohl eine der rühmlichen Ausnahmen dar, da er auch den feminicidio thematisiert (vgl. Pineda Jaimes 2005). (Gespräch mit Marisela Ortiz und Pineda Jaimes in Ciudad Juarez am 15.03.2008) Verschiedene AutorInnen stellen der Demokratie in Lateinamerika Ende der 1990er ein mangelhaftes Zeugnis aus: „[D]ie bürgerlich, politische Demokratie ist in Lateinamerika äußerst mangelhaft realisiert.“ (Boris 1998: 36) Stattdessen hat „[d]ie Verbreitung von Gewalt, Armut, Diskriminierung und Ausgrenzung ein nie da gewesenes Maß erreicht und legt den Gedanken nahe, dass (….) die gesamte Struktur der ‚neuen’ Demokratien Lateinamerikas alles andere als befriedigend ist“ (Alvarez/Dagnino/Escobar 1998).
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Diskussionen um Menschenrechte und Frauenrechte erhielten in dieser Phase neuen Raum und großes, z.T. juristisch verankertes Gewicht. Diese postdiktatorischen Regierungen traten zwar an, um die schlimmsten Folgen marktradikaler Politik abzufedern, haben aber letztlich das unter dem Zwang der Diktaturen eingeführte neoliberale Modell vertieft. 10 Dabei bedienten sich die neuen Demokratien gerade der Strategie der diskursiven (aber auch personellen) Vereinnahmung ehemals oppositioneller AkteurInnen und Forderungen in die aktuellen Regierungspolitiken. Die Forderungen nach Demokratie und freien Wahlen beispielsweise waren nicht nur von linken Oppositionellen zu hören, sondern wurden auch von den neuen postdiktatorischen Staatsparteien vertreten. Mit der Rückkehr zur sogenannten Demokratie verschwanden die vormals in den Frauenbewegungen bestehenden breiten Bündnisse über unterschiedliche Klassen- und politische Zugehörigkeiten hinweg. Denn nur ein Teil der feministischen Bewegungen institutionalisierte sich und der andere Teil wurde zu Klientinnen gemacht. Ehemals kritische Diskurse und Praktiken wie diejenige der ‚active citizenship’ und des ‚empowerments’ wurden zudem direkt mit den individualisierenden und atomisierenden Politiken des Neoliberalismus verbunden. Verónica Schild gibt in diesem Zusammenhang am Beispiel der chilenischen Frauenbewegungen zu bedenken, dass diese nicht nur einfach von den post-diktatorischen Regierungen kooptiert wurden, sondern ihre spezifischen Forderungen, Anliegen und Arbeitsweisen begünstigten darüber hinaus „Formen von Subjektivität, die der aktuellsten Phase des Kapitalismus angepasst sind“ (Schild 2004). In der ersten Phase neoliberaler Reformen, so Schild, wurden die ökonomischen Spielregeln übergreifend implementiert. In der zweiten, subtileren Phase wurde „der Ethos des neoliberalen Marktes als dominante politische Grammatik und Regierungsverständnis verankert“ (Schild 2002: 5). Die Konstitution von Subjektivitäten steht nun völlig in Einklang mit den Leitlinien des neoliberalen Ethos. „Durch Expertentum, Diskurse und Praktiken, die ein Erbe des Frauenaktivismus für die Emanzipation von Frauen sind, werden diese Frauen zu einer neuen Art von Klientinnen gemacht. Bei diesem klaren Zusammenfluss des Aufrufs der Frauenbewegungen, Frauen sollten autonome, selbständige Individuen werden und des Projekts zum Aufbau selbstregulierter Individuen werden arme Frauen und Arbeiterinnen ermutigt, ‚selbständige, verantwortliche Bürgerinnen’ zu werden und dieses Staatsbürgertum auf dem Markt als Produzentinnen und Konsumentinnen auszuüben. Die Schattenseite dieses individualistischen Appells an Frauen als selbstregulierte Subjekte ist, dass jede Frau für sich dazu aufgerufen ist, sich alleine durchzuschlagen und es auf dem Markt ‚zu schaffen’ – oder eben nicht.“ (Schild 2002: 8).
Gut dreißig Jahre nach der ersten Installierung einer neoliberalen Ökonomie in Chile sind neoliberale Effekte in ganz Lateinamerika zu beobachten – bis hin zu den Formen, wie Menschen sich als Subjekte konstituieren (vgl. Foucault 2000). Der neoliberale Kapitalismus fordert eine neue Form der Subjektivität ein, die des „unternehmerischen Selbst“ (Bührmann 2005; vgl. auch Künkler in diesem Band). Menschen sollen durch geschicktes Selbstmanagement ihre eigene ‚employability’ sichern, sind damit aber auch im Falle des Scheiterns an ihrem Unglück selber schuld (vgl. Bröckling 2000: 156). Ein zentrales Funktionsprinzip des neuen, ‚postfordistischen’ Kapitalismus ist es, die Verantwortung für ge10 Auch die Weltbank sowie die Interamerikanische Entwicklungsbank setzen sich mittlerweile für einen sozialen Ausgleich ein – weil sonst die Aufrechterhaltung des neoliberalen Modells auf globaler Ebene gefährdet wäre (vgl. Sterr 2006: 15).
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sellschaftliche Teilhabe den Individuen selbst zu übertragen. In diesem Prozess, der alle gesellschaftlichen Bereiche einschließlich des Verhältnisses zwischen Individuum und Staat der Marktlogik unterwirft, wird gleichzeitig mit der Forderung nach Selbstvermarktung der Einzelnen die kollektive, staatliche Verantwortung für individuelle und gesellschaftliche Problemlagen und Risiken abgebaut. Durch die Vereinnahmung oppositioneller Positionen – gepaart mit der Strategie der Individualisierung sozialer Probleme und der Privatisierung von Risiken – wird jede Form kollektiver Dissidenz paralysiert. Der neoliberale Kapitalismus bleibt damit nicht nur ein ökonomisches Modell, sondern er beinhaltet auch ein sozial-kulturelles Programm, das in der beschriebenen Weise Solidarpraktiken aller Art den Boden entzieht.
Widerständige Erneuerungskraft Erst seit dem Ende der 1990er Jahre ist ein Erstarken sozialer Bewegungen in vielen Ländern Lateinamerikas zu beobachten (vgl. Kaltmeier et al. 2004). Dabei können nun – nachdem die autoritären Regime oder Diktaturen eine marktradikale, neoliberale Umstrukturierung in Gang gebracht und implementiert haben – veränderte Orte und Formen des Protestes und des Widerstands beobachtet werden. In Lateinamerika hat sich gesellschaftlicher Protest in den letzten fünfzehn Jahren zum einen v.a. im ländlichen Räumen formiert. Die Landlosenbewegungen MST in Brasilien bspw. hatte einen nicht geringen Anteil daran, dass der Kandidat der linken Arbeiterpartei PT, ‚Lula’ Ignacio da Silva, seit 2002 Präsident Brasiliens ist. Zum anderen kann von einer „Indigenisierung der Sozialen Bewegungen“ (ebd.: 9) gesprochen werden. Die Wahl von Evo Morales in Bolivien zum ersten indigenen Präsidenten oder die seit 1994 aus dem lakandonischen Urwald erklingende Botschaft der Zapatistas „Nunca mas un Mexico sin nosostros!“ 11 sind Beispiele hierfür. Die Mobilisierungsdiskurse verfolgen dabei meist zweierlei: Zum einen zielen sie auf die Anerkennung ethnischer Differenzen und zum anderen auf den Abbau bestehender Differenzsysteme. Die erste Dimension aktueller sozialer Bewegungen erfasst die Ausweitung von ‚soziopolitischer Bürgerschaft’, vor allem den Kampf der Menschen um soziale Anerkennung ihrer Existenz und um politische Räume, um sich auszudrücken (Stichwort: ‚ciudadania’ 12 ). Die zweite charakteristische Dimension sozialer Bewegungen bezieht sich auf die Besetzung und Transformation neuer kulturell-politischer Räume durch die AkteurInnen und ihre Konstitution oppositioneller Identitäten (Stichwort: ‚zapatista’). Identität und ganz besonders ethnische Identität stellt in diesem Zusammenhang keinen Rückgriff auf etwas Gegebenes dar, vielmehr sind Identitäten als strategische Ressource, als Teil des „gegenhegemonialen kollektiven ‚Imaginären’“ (Ramírez Voltaire 2004: 226) zu verstehen. „Die ‚Ethnizi-
11 „Nie mehr ein Mexiko ohne uns!“ 12 Das spanische ciudadano ist ähnlich schwierig zu übersetzen, wie der englische Begriff citizenship. Über das deutsche Wort der StaatsbürgerInnenschaft hinausgehend wird damit auch das BürgerInnenrecht erfasst, d.h. die Rechte und Pflichten, die diese mit sich bringt. In den feministischen Diskursen in Mexiko fand eine konzeptionelle und inhaltliche Erweiterung von ciudadano auf ciudadana/ciudadania statt. Denn Frauen sollten nicht mehr in der spanischen mensch-männlichen Form (ciudadano) verschwinden, sondern explizit benannt und damit sichtbar werden.
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tät des Widerstandes’ ist dabei nicht selten auch eine ‚Gegenethniziät’ zu derjenigen der herrschenden Klasse.“ (Kaltmeier et al. 2004: 23) In der aktuellen Situation der „Linkswende in Lateinamerika“ konstatiert Albert Sterr mit dem US-amerikanischen Sozialwissenschaftler Steve Ellner (2006: 17) „drei antineoliberale Strategien Lateinamerikas“: (1) eine Mitte-Links-Strategie, die linke Reformer, die Mittelschicht und Teile der nationalen Unternehmer miteinander verbindet, (2) eine gemäßigte anti-neoliberale Strategie und (3) eine anti-neoliberale Strategie, die mit Antiimperialismus und Antikapitalismus korreliert. Zur ersteren zählt Sterr die Reformregierung „Lulas“, die chilenische Concertación Regierung unter der Sozialistin und Allende-Enkelin Michelle Bachelet sowie die Regierung Uruguays unter Tabaré Vázquez, zur zweiten die national-popularen Regimes unter Hugo Chávez in Venezuela und Evo Morales in Bolivien, zur dritten den Indigena-Dachverband CONAIE in Ecuador, die campesino-Vereinigung in Paraguay oder die Anti-Privatisierungsbewegung in Bolivien, die erfolgreich das Gasvorkommen renationalisierte. Auch die zapatistas wenden sich mit ihrem ‚Aufstand der Würde’ explizit gegen die Auswirkungen des Neoliberalismus und vertreten unter den Prämissen des preguntando caminamos 13 und mandar abediciendo 14 einen dezidierten Antiparlamentarismus. Aber obwohl nach den langen Jahren des ‚Übergangs zur Demokratie’ in verschiedenen Ländern Lateinamerikas einige linke Regierungen an der Macht sind und die lateinamerikanischen Frauenbewegungen ein wichtiger Teil des Widerstandes gegen die Militärdiktaturen und die neoliberalen Regierungen waren, konnte und kann „[d]ie Kritik des neoliberalen Kapitalismus (…) die patriarchalen Verhältnisse in der zutiefst machistischen Gesellschaft nicht an[greifen]“ (Schumacher/Friebel 2006: 26). Ich möchte im Folgenden den Zusammenhang von Kapitalismus- und Patriarchatskritik am Beispiel Mexikos näher beleuchten.
Frauen bewegen sich – Feministische Bewegungen in Mexiko In Mexiko formier(t)en sich die Frauen- und feministischen Bewegungen 15 in erster Linie im Kampf gegen die autoritäre, klientelistische Regierung und deren Auswirkungen auf der Alltagsebene. Neben den Themen Demokratie und Partizipation, Selbstbestimmung, Recht auf den eigenen Körper 16 und familiäre Gewalt ging Widerstand dabei von den ganz konkreten Bedürfnissen der Frauen aus: In den 1980er Jahren (in Folge der Peso-Krise) wurden 13 „fragend schreiten wir voran“ 14 „gehorchend befehlen“ statt „befehlen und gehorchen“ („mandar y obedecer“) 15 Die Frauenbewegungen in Mexiko, aber auch in den anderen Ländern Lateinamerikas, sind keine ‚einheitlichen’ Bewegungen, die aufgrund einer kollektiven Geschlechtsidentität als ‚Frau’ gemeinsame Ziele formulieren. Eine solche weibliche Identität oder ein gemeinsames Substrat geschlechtsspezifischer Erfahrungen, das die Möglichkeit zu politischen Aktionen benennen könnte, gab und gibt es nicht (vgl. Tuider 2004). 16 Der Kampf für das Recht auf selbstbestimmte Mutterschaft und damit auch für die Möglichkeit eines legalen Schwangerschaftsabbruchs hat in Mexiko eine lange Geschichte. Bereits 1916 kam es in Yucatán zum ersten ‚Feministinnentreffen’ und bereits damals war das Thema Schwangerschaftsabbruch präsent. Bis vor Kurzem war aber in Mexiko wie in den meisten Ländern Lateinamerikas ein Schwangerschaftsabbruch nur aufgrund von Vergewaltigung, akuter Lebensgefahr der Schwangeren und/oder Missbildung des Fötus gesetzlich gestattet. Am 24. April 2007 liberalisierte das mexikanische Parlament diese Indikationenlösung und stellte den Abbruch bis zur 12. Schwangerschaftswoche straffrei – in Mexiko Stadt! (Vgl. Riaskov 2007: 4ff)
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Forderungen nach Land, minimalen staatlichen Sozialleistungen und Gesundheitsversorgung laut (vgl. Stephen 1997: 111ff); Frauen organisier(t)en sich gegen das pan-amerikanische Freihandelsabkommen NAFTA, das am 1.1.1994 unterzeichnet wurde und seit dem 1.1.2008 den Agrarhandel völlig liberalisiert; 17 Kleinbäuerinnen verbünden sich, um ihr Recht auf Land, Biodiversität und Saatgut zu sichern und sich gegen die Privatisierung von Gemeinschaftsgütern und Patentierung von Heilkräutern und Erfahrungswissen (in Südmexiko) durch Pharmakonzerne zu verteidigen. Frauen stellten sich so gegen die abstrakten Erfordernisse des Kapitals (vgl. Millán 2000: 199) und leiteten aus alltäglichen Bedürfnissen ihre politischen und auch ökonomischen Forderungen ab. Parallel zur Organisierung der Frauen der Basis und der Arbeiterklasse, die Seite an Seite mit Männern in den marxistisch inspirierten Kampf gegen die imperialistische Ausbeutung zogen, organisierten sich seit den 1970ern auch die städtischen Frauen. 18 Denn die UN-Weltfrauenkonferenz, die 1975 in Mexiko stattfand, inspirierte v.a. die akademischen Diskurse. Infolge der Wirtschaftskrise in den 1980er Jahren, des Erdbebens 1985 und der ausbleibenden staatlichen Hilfe sowie des Wahlbetrugs Salinas de Gortaris 1988 kam es zu einem großen Mobilisierungsschub der verschiedenen sozialen Bewegungen. Demokratisierungsund Partizipationsforderungen wurden nun von einem Großteil der Bevölkerung geäußert. In diesem Zusammenhang entstanden zahlreiche Frauen-Organisationen, die eine aktive staatsbürgerliche Partizipationskultur in der weiblichen Bevölkerung entgegen dem bisherigen Modell des callar y obedecer (schweigen und gehorchen) implementieren wollten (vgl. Lang 2001: 117). 19 Die Schaffung neuer, legaler und transparenter Strukturen, der Angriff auf die Regeln des korporativen Systems sowie der Ein- bzw. Ausschluss vom ciudadano und der Diskurs vom Bürger und der Zivilgesellschaft wurden zum umkämpften Terrain (vgl. Lang 2001: 116; Bultmann 1995: 195). Während der bewegungsdynamischen Vorbereitung zur Abwahl der 71 Jahre regierenden PRI (Partido Revolucionario Institucional) im Jahr 2000 wurden bestimmte frauenpolitische und feministische Belange im Zuge des so genannten mexikanischen Modernisierungsprozesses aufgegriffen. Bereits 1988 kam es unter der Präsidentschaft von Salinas de Gortari zur Umsetzung frauenspezifischer Anliegen im Bereich der familiären Gewalt.20 Lang resümiert dazu, dass „[d]er Reformeifer der Regierung unter de Gortari im Bereich der Gewalt gegen Frauen (…) so ausgeprägt [war], dass er den Feministinnen vorüberge17 Wie sehr dieses nordamerikanische Freihandelsabkommen „ein Schritt weiter in die falsche Richtung“ ist thematisiert Carolina Hernández (2008) v.a. in Hinblick auf die Marktunterwerfung des Maispreises. Damit ginge eine drastische Verteuerung des Grundnahrungsmittels Mexikos, der tortillas, einher, das bisher noch staatlich reguliert war. 18 1981 gründete sich in Mexiko Stadt das CONAMUP (Women´s Regional Council of the National Council of the Urban Popular Movement) aus über 60 verschiedenen Gruppen (vgl. Stephen 1997: 113ff). 19 Gegen den Wahlbetrug und mit der Forderung nach Demokratie und nach Recht auf Leben (im Sinne von Überleben) schlossen sich Frauen und Feministinnen 1988 zum Frente de Mujeres en Defensa del Voto Popular (Frauenfront zur Verteidigung der Wahlstimmen) und wenig später zum Frente Mujeres en Lucha por la Democracia (Frauen im Kampf für die Demokratie) und zur Coordinadora Benita Galeana zusammen. Die Debatten wurden 1991 durch die Convención Nacional de Mujeres por la Democracia (Nationale Frauenkonvention für die Demokratie) ins Parlament getragen (vgl. Hellmann 1995). 20 1988 eröffneten sich mit dem neu gewählten Präsidenten Salinas de Gortari deswegen neue Interventionsmöglichkeiten für frauenpolitische Anliegen, da er nach der Wahlmanipulation bestrebt war, seine Legitimität in der Bevölkerung wiederherzustellen. Dies dürfte die Motivation gewesen sein, Anliegen aus den Frauenbewegungen in seinem Modernisierungsdiskurs aufzugreifen.
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hend die Initiative aus der Hand nahm und diese zum großen Teil auf die von oben vorgegebenen Maßnahmen nur noch reagieren konnten“ (Lang 2002: 15). Aber nicht nur in die staatliche Argumentation haben die feministischen Forderungen Eingang gefunden. Umgekehrt haben auch mexikanische Feministinnen Ende der 1990er das Vokabular des neoliberalen Diskurses aufgegriffen und strategisch genutzt. Dabei wurden die Interessen des Staates oder diejenigen des Marktes zitiert, um z.B. Gewalt gegen Frauen als Hindernis für die ökonomische Entwicklung und die Demokratie Mexikos anzuprangern (vgl. Duarte 1996 in Lang 2002). Denn eine demokratische Gesellschaft, so die feministische Argumentation nun, könne nicht auf autoritären und despotischen Familienstrukturen aufbauen. In diesem Perspektivenwechsel wurden Frauen explizit als Staatsbürgerinnen angerufen, die aktiv die Modernisierung Mexikos und damit seine Beteiligung in der internationalen Politik und Wirtschaft mit gestalten sollten (vgl. Tuider 2004). Durch die neu eröffneten Partizipationsmöglichkeiten entradikalisierte sich der feministische Diskurs und ließ viele von einer grundsätzlichen (vormals marxistischen) Staats- und Gesellschaftskritik Abstand nehmen. Während feministische Aktivitäten in Mexiko in den 1970er Jahren marginalisiert und minimal organisiert waren, können sie sich heute auf eine weitreichende Institutionalisierung und Professionalisierung stützen. Der Preis dafür war, dass die Frauenbewegungen aufgesogen wurden, ohne aber tiefer gehende Veränderungen nach sich zu ziehen. Vielmehr wurden die feministischen Forderungen nur befriedet und von ihren Basisgruppen abgespalten sowie die praktischen Interessen z.B. an Erziehungsund Gesundheitsfragen marginalisiert. Mit der diskursiven Vereinnahmung durch die staatliche Politik gingen nicht nur die radikalen Forderungen und die ehemals marxistischen Grundsätze des mexikanischen Feminismus verloren, sondern es vollzog sich auch eine Spaltung des feministischen Widerstands entlang der Differenzachsen Klasse und Ethnizität, aber auch entlang von Sexualität. Denn während Frauen unterschiedlicher sozialer Gruppen vormals als gemeinsame Kämpferinnen agierten, mutierten nun Arbeiterinnen, campesinas (Kleinbäuerinnen) und indigene Frauen zu Empfängerinnen von Hilfsprogrammen. Mit der Institutionalisierung des Feminismus und der Frauenbewegungen wurden diese Frauen zu Klientinnen der feministischen Programme. Die mexikanische Soziologin Margara Millán stellt dieses Verhältnis folgendermaßen dar: „In Mexiko gibt es eine sehr stark ausgebildete feministische urbane Tradition, die die Rechte der Frauen im Terminus der Frauenemanzipation vorgetragen hat. Dieser sehr homogene Feminismus hat ein starkes Geschlechter-Bewusstsein beinhaltet und in die patriarchalen Geschlechterverhältnisse interveniert. Es war und ist aber schwierig für ihn, kulturelle Differenzen oder die Differenz aufgrund von Klasse zu beachten. So kam es zwar zu Arbeiten über indigene Frauen, aber kaum zu Versuchen, den Dialog mit indigenen Frauen zu etablieren. In zweierlei Hinsicht entpuppt sich der mexikanische Feminismus dabei als ethnozentrisch: Zum einen gibt es eine feministische Richtung, die die indigenen Frauen als Unterentwickelte ansieht und indigene Frauen an den Ort der Armut und der Marginalisierung situiert. Zum anderen gibt es einen Diskurs, der das feministische Bewusstsein der indigenen Frauen ‚erwecken’ und sie aus ihrer Situation befreien will. Denn sie müssen lernen, wie Schuhe getragen werden und dass sie sich waschen müssen.“ (Millán in Tuider 2004a: 516)
Die zapatistischen Frauen veranschaulichen eine Form des Feminismus, der einer spezifischen Problematik entspringt. Durch die Artikulation und das Auftreten der zapatistischen
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Frauen musste bzw. müsste der Feminismus als weitläufiges, plurales Projekt, im Hinblick auf Ein- und Ausschlüsse neu konzipiert werden.
Hoffnung durch/auf Autonomie – die zapatistische Bewegung Seit den 1980er Jahren (unter den Regierungen Salinas de Gortaris 1988-1994 und Ernesto Zedillos 1994-2000) setzte in Mexiko ein verstärkter neoliberaler Kurs ein, der zusammen mit der Abschaffung des Art. 27 (ejido-Land) 1992 das NAFTA-Abkommen vorbereitete. Als am 1. Januar 1994 dieses in Kraft tritt, erhebt die EZLN (Ejércitio Zapatista de Liberación Nacional/Zapatistische Armee der nationalen Befreiung) für 12 Tage die Waffen, besetzt im Laufe des Jahres 38 Städte und erklärt diese zu autonomen zapatistischen Gemeinden. Auffallend an der zapatistischen Bewegung war die von Beginn an hohe Beteiligung junger, indigener Frauen in den militärischen Reihen, den Märschen, in den Unterstützungsbasen und den Kooperativen. 21 Und bereits im März 1993, d.h. ein knappes Jahr vor dem ersten öffentlichen Erscheinen der Guerilla, wurde in den mit den RebellInnen sympathisierenden Gemeinden das „Revolutionäre Frauengesetz“ erlassen. „Durch die sehr direkten Forderungen, die einfach wirken mögen, hinterfragen die zapatistischen indigenen Frauen die Grundlagen der patriarchalen Ordnung in den Gemeinden. Sie zeigen auch die Ebenen auf, wo die Gemeinde mit dem mexikanischen Staat und der ihm inhärenten ökonomischen und kulturellen Rationalität zusammenstößt, und verorten gleichzeitig ihren spezifischen Raum als Frauen innerhalb dieser Konfrontation mit der Regierung.“ (Millán 2000: 204)
Die ‚Revolutionären Frauengesetze’ haben weitreichende soziale Prozesse ausgelöst und Veränderungen bewirkt. Nikola Siller (in Kerkeling 2008: 12) resümiert zum 1. Treffen der zapatistischen Frauen mit den Frauen der Welt: „Heute arbeiten die Frauen in allen Bereichen mit, als Guerilleras und Kommandantinnen der zapatistischen Befreiungsarmee EZLN, als Autoritäten der zivilen Verwaltungsräte und anderer Gremien, als Promoterinnen in den Bereichen Gesundheit, Bildung, Agrarökologie und Kollektivarbeit sowie als Beauftragte für Rechtsangelegenheiten.“ 22 Anlass der EZLN war der Kampf gegen das kapitalistische System und gegen den ausbeuterischen Parlamentarismus. Von Beginn an stellen sie ein basisdemokratisches und anti-neoliberales Programm vor. Die Zapatistas wollten noch nie die politische Macht in Mexiko erobern, weder mit Waffengewalt noch über die Wahlurnen, sondern ihr Ziel ist gesellschaftliche Emanzipation ‚von unten’. Ihr Machtbegriff impliziert keine ‚Macht über andere’ sondern die ‚Macht zu handeln’, was John Holloway (2002) als Konzept der „AntiMacht“ beschrieben hat. 21 Die feministische Kritik, die innerhalb Mexiko dazu geäußert wurde, verdeutlicht Margara Millán im Interview (vgl. Tuider 2004a). 22 Die paritätische Verteilung funktioniert auf der Basisebene, z.B. bei der Beteilung an den Consultas (1995, 1999), den nationalen Befragungen, die von der EZLN-Basis hinsichtlich der Zustimmung zu ihren Zielen unternommen wurden, und dem Intergalaktischen Treffen (1996) weitestgehend. Auf der Führungsebene hingegen sind von den 23 KommandeurInnen nur vier Frauen. Dennoch scheint gerade innerhalb der militärischen Struktur der Guerilla der Frauenanteil immer noch wesentlich höher als in den 2003 neu geschaffenen zivilen Verwaltungseinheiten, den Juntas de Buen Gobierno (Räte der Guten Regierung).
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Nach dem 1996 initiierten „Intergalaktisches Treffen gegen den Neoliberalismus und für die Menschheit“, das mit 5.000 Menschen aus 42 Ländern stattfand und dem medial aufmerksam verfolgten Marsch der Kommandantur der Zapatistas in die mexikanische Hauptstadt 2001 hat sich die EZLN in den letzten Jahren auf den Aufbau der eigenen Autonomiestrukturen und der zivilen Regionalregierungen (‚Juntas de buen Gobierno’ in den sog. caracoles) konzentriert. Die autonome Infrastruktur der zapatistischen Gemeinden bezieht sich auf die Schulbildung, die Gesundheitsversorgung, auf die eigene Kreditverwaltung und die kollektive Verwaltung von Naturressourcen, wie auch auf eine autonome Vermarktung in Form von Kooperativen und den Aufbau eigener autonomer ziviler Verwaltungen der Gemeinden. 23 Die Autonomie der zapatistischen Gemeinden ist die eine Seite ihrer Widerstandsverständnisses, die andere Seite beinhaltet einen Frontalangriff auf die traditionelle (PRIistische) Politikkultur Mexikos, die durch Klientelismus und Patronage gekennzeichnet ist. Erneut eine radikale Form der Basisdemokratie propagierend meldete sich die zapatistische Bewegung am 1. Januar 2006 auf der nationalen Ebene zurück und startete in San Cristobal de las Casas die „andere Kampagne“ (La Otra Campaña). Ziel der ‚anderen Kampagne’ war es, den zivilgesellschaftlichen Widerstand in Mexikos zu vernetzen und gemeinsam eine ‚Verfassung von unten’ auszuarbeiten. Dazu bereiste Subcomandante Marcos (oder, wie er sich nun nannte, der „Delegierte Null“) alle 32 mexikanischen Bundesstaaten, um so alle antikapitalistischen, linken und autonomen Gruppen Mexikos, die durch das neoliberale Projekt ausgegrenzt werden, kennenzulernen, zu kollektivieren und zu stärken. 24 Die ´andere Kampagne´ fand zwar zeitgleich mit dem mexikanischen Präsidentschaftswahlkampf statt und wurde auch kurz als verkappter Wahlkampf in der medialen Öffentlichkeit thematisiert, doch sie „konkurriert mit den Präsidentschaftskandidaten der großen Parteien weder um Zuhörerzahlen auf den plazas noch um Medienpräsenz – sie untergräbt den Wahlkampf eher: Sie spricht dem Wahlspektakel als solchem und dem Handeln der Herrschenden die Definitionsmacht über das Schicksal der mexikanischen Gesellschaft ab. Sie will ‚unten links’ ansetzen und die MexikanerInnen davon überzeugen, dass sie ihr Schicksal selbst in die Hand nehmen können.“ (Lang 2006: 5) Mit der ‚anderen Kampagne’ grenzten sich die Zapatistas von verschiedenen in sie gesetzte Erwartungen ab: zum von der Erwartung, den linksmoderaten Präsidentschaftskandidaten der PRD (Partei der Demokratischen Revolution) Andrés Manuel López Obrador zu unterstützen und damit Mexiko erstmals die Chance auf einen linken Präsidenten zu geben, zum anderen von den Erwartungen linker Regierungen in anderen Ländern Lateinamerikas, denen es um die Eroberung der Staatsmacht durch linke Basisgruppen geht. Marcos erteilte derartigen Erwartungen während seiner Rundreise in Campeche eine deutliche Absage:
23 Wie ich an anderer Stelle vertreten habe (vgl. Kaltmeier/Kastner/Tuider 2004: 15), ist der Begriff der Autonomie ambivalent und prekär und lässt sich kaum mit den Vorstellungen von Freiheit, Selbstbestimmung, Emanzipation und Widerstand gleichsetzen. Darüber hinaus zeigt sich, „dass er nicht selten durchaus kompatibel ist mit den neoliberalen Diskursen, von denen die Autonomie gerade gefordert wird und gegen die sie sich wendet“ (ebd.). Erinnert sei hier nur an die Begriffe wie self-help oder personal development (vgl. Schild 2004; Leubolt 2004). 24 Marcos traf sich während der ‚anderen Kampagne’ mit Indigenas, Kleinbauern und -bäuerinnen, mit MaquilaArbeiterinnen und UmweltaktivistInnen sowie mit subkulturellen Jugendlichen aber auch mit Sexarbeiterinnen, um ihre Themen und von ihren Kämpfen zu hören.
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„Wir schauen weder nach Bolivien noch nach Lateinamerika. Wir wollen die Geschichte unseres Landes und unserer Leute sehen. Wir haben uns entschieden, nicht mit großen Anführern zusammenzutreffen. Wir haben uns entschieden, mit Euch zu sprechen. Mit denjenigen, deren Stimme, deren Denkweise niemals zur Kenntnis genommen worden ist.“ 25 (Lang 2006: 6)
Mit ihrem Anspruch, den „Verachteten, Gedemütigten, extrem Ausgebeuteten [und] rassistisch Ausgegrenzten“ (Brand 2006: 25) innerhalb Mexikos eine Stimme zu geben, wandte sich die zapatistische Bewegung gegen die partei- und staatszentrierte Strategien derjenigen linken Regierungen, die nun in Brasilien, Bolivien oder Venezuela an der Macht sind und doch nur – obwohl sie gerade wegen ihrer Kritik am Neoliberalismus gewählt wurden – der neoliberalen Marktlogik folgen (vgl. Brand 2006). Mit der ‚anderen Kampagne’ erteilt Marcos aber auch den von manchen Seiten gehegten Hoffnungen in die Transnationalisierungstendenzen der zapatistischen Autonomie eine Absage. 26 Obwohl der Nationalstaat als Aktions- und Bezugsrahmen für soziale Bewegungen an Bedeutung verliert, heißt dies nicht, dass die staatliche Herrschaft damit überwunden wäre. Die verstärkte Abhängigkeit der einzelnen Staaten von den internationalen Kapital- und Finanzmärkten im Zuge von ökonomischer Globalisierung und politischer Internationalisierung (vgl. Hirsch/Jessop/Poulantzas 2004) hat nicht etwa eine Depotenzierung, sondern eine Transformation der Staatsapparate und ihrer Handlungsspielräume zur Folge. 27
Schluss Die Umsetzung der feministischen Interessen im Zuge der Modernisierungspolitik der letzten PRI-Regierungen bis 2000 sowie der nachfolgenden oppositionellen PAN-Regierungen Vicente Fox´ (2000-2006) und Felipe Calderóns (seit 2006) hat, wie hier gezeigt wurde, in Mexiko zu einer Erweiterung des Handlungsspielraumes für manche Frauen geführt. Gleichzeitig fanden diese Veränderungen aber nur innerhalb der Grenzen der „neoliberalen Demokratie“ (Taylor in Lang 2001: 129) statt.
25 Evo Morales nahm bei seiner Antrittsrede als Präsident Boliviens direkten Bezug auf Marcos und lud diesen auch zur Amtseinführung ein. Dieser Einladung ebenso wie jener auf das Weltsozialforum in Caracas ist Marcos nicht gefolgt. Mit seiner Rede in Campeche positioniert Marcos sich also in Bezug auf die Linksregierungen in anderen lateinamerikanischen Ländern in mehrfacher Hinsicht. 26 Hardt/Negri (2004), die sich in ihrer Thematisierung der neuen Weltordnung völlig von einer territorialen Perspektive auf soziale Bewegungen entfernen und stattdessen den Netzwerkcharakter sowie die in jeglicher Hinsicht entbettete Multitude ins Zentrum rücken, interpretieren die Zapatistische Bewegung als eines der Beispiele für die neuen Netzwerkkämpfe. „Die Zapatisten, die als bäuerliche, indigene Bewegung entstehen und es im Wesentlichen auch bleiben, benutzen das Internet und avancierte Kommunikationstechnologie nicht nur als Instrumente, um ihre Botschaften der Welt draußen zukommen zu lassen, sondern auch als internes Element der Organisation, zumal die Organisation über den Süden Mexikos hinausreicht und nationale und globale Ebenen besitzt. Kommunikation ist für die zapatistische Vorstellung von Revolution ein zentrales Moment, und die Notwendigkeit, horizontale Netzwerke anstelle von vertikalen, zentralisierten Strukturen zu schaffen, wird ständig betont“ (ebd.: 103). Auch Jens Kastner (2004) thematisiert die Transnationalisierung der Zapatistas. 27 „Trotz gestiegener Macht der ‚Multis’ sind die Staaten weder einfach deren Instrumente, noch kommt es zu einer Verschmelzung von Staat und Kapital. Staaten besitzen, bedingt durch die in ihren herrschenden sozialen Kräfteverhältnisse, nach wie vor über eigene, wenn auch höchst unterschiedliche Handlungsspielräume.“ (Hirsch 2003: 38)
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Die Frauenbewegung als subversive Gegenkraft ist, so scheint es, im Zuge ihrer diskursiven und politischenVereinnahmung durch neoliberale Modernisierungsprogramme weitgehend depotenziert worden: Frauenpolitische Forderungen sind zum Bestandteil neoliberaler Herrschaftsstrukturen geworden. Ein Verständnis von (Frauen-)Emanzipation als individuelle Befreiung fügt sich reibungslos in die Marktlogik ein, diesem ‚neoliberalen Feminismus’ ist der kritische Stachel endgültig gezogen. Seit der 4. Weltfrauenkonferenz in Peking rückten die Frauenbewegungen auf internationaler Ebene von ihren ehemaligen Autonomieforderungen ab und ließen sich auf die Verhandlungsformen der Kooperation und des Global Governance ein. Die daraus resultierenden Taktiken des Lobbyings und Mainstreamings führten zwar dazu, dass die internationale politische Agenda um Frauenrechtsansprüche und die Anerkennung von weiblichen Akteurinnen erweitert wurde. Aber dieses Mehr an Partizipation bedeutete keineswegs ein Mehr an Entscheidungsmacht (vgl. Wichterich 2003: 78). Denn internationale frauenpolitische Aktivitäten hatten lediglich eine Modernisierungs-, aber keine Transformationsfunktion. Die Kosten dieser Konsenspolitik zeigten sich v.a. an der Übernahme kritischer Begriffe aus sozialen Bewegungen in die politische Rhetorik wie z.B. des Empowerment-Begriffs, der „weichgespült und seiner herrschaftskritischen Substanz entkernt wurde“ (ebd.: 79). Dieses Vorgehen entspricht auch dem in den letzten Jahren vorherrschenden Politikverständnis in Mexiko. Dementsprechend war zwar Kritik und auch Korrektur möglich, aber diese sollte immer innerhalb des staatlichen neoliberalen Kurses bleiben. Durch den neoliberalen Kapitalismus ist aber auch das politikkulturelle Terrain, auf dem soziale Bewegungen ihre Kämpfe führen, umstrukturiert worden. So ergeben sich jenseits von eindeutigen Identitätspositionen und Klassenkonstellationen für soziale Bewegungen auch neue Formen der Bündnispolitiken. Die aktuellen, stark von den Cultural Studies beeinflussten Ansätze Sozialer Bewegungsforschung betonen, dass sich die politischen Kämpfe auf das kulturelle Feld ausdehnen und dass sich Ziele und Aktionsformen von der nationalen auf die interoder transnationale Ebene erweitern. Dabei richtet sich der Widerstand der sozialen Bewegungen nicht mehr vorrangig gegen staatliche Herrschaft, sondern gegen die kulturellen Homogenisierungs- und Überfremdungstendenzen einer globalisierten Ökonomie, denen mit der Forderung nach ‚Autonomie’ sowie dem Bestehen auf regionalen und lokalen kulturellen Differenzen begegnet wird. Arturo Escobar, Sonia Alvarez und Evelina Dagnino (1998) haben dafür den Begriff der „cultural politics“ geprägt. Auch die zapatistische Bewegung hat sich 2006 mit ihrer ‚anderen Kampagne’ linke Autonomie jenseits staatlichinstitutioneller Politik auf die Fahnen geschrieben. Wie weit sie mit ihrem Politik-, Machtund Autonomieverständnis gegen die Gefahr diskursiver Vereinnahmung durch Markt und Staat gefeit ist, bleibt mit Skepsis abzuwarten – ist es doch geradezu ein Funktionsprinzip des neuen, globalisierten ‚Differenzkapitalismus’, mit den Differenzen zu leben und sich durch sie fortlaufend zu erneuern.
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Die Autorinnen und Autoren
Eickelpasch, Rolf, Dr. phil., geb. 1940, war bis 2006 Professor für Soziologie an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster Groh-Samberg, Olaf, Dr. phil., geb. 1971, Mitarbeiter an der Längsschnittstudie Soziooekonomisches Panel (SOEP) am Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) Berlin Haug, Frigga, Dr. phil., geb. 1937, war bis 2001 Professorin für Soziologie an der Universität für Wirtschaft und Politik Hamburg Hüning, Hasko, Dipl. Pol., geb. 1943, wiss. Angestellter im Fachbereich Politik- und Sozialwissenschaften der Freien Universität Berlin, Otto-Suhr-Institut Kluge, Sven, Dr. phil., geb. 1976, z.Z. Lehrbeauftragter am Fachbereich Bildungswissenschaften der Universität Duisburg-Essen sowie am Fachbereich Sozialwesen der Fachhochschule Münster Kraemer, Klaus, PD Dr. phil., geb. 1962, z.Z. Vertretungsprofessur für Soziologie an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster Künkler, Tobias, M.A., geb. 1979, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Fachbereich Erziehungs- und Bildungswissenschaft der Universität Bremen Nickel, Hildegard-Maria, Dr. sc. phil., geb. 1948, Professorin für Soziologie am Institut für Sozialwissenschaften an der Humboldt-Universität zu Berlin Pelizzari, Alessandro, geb. 1974, Gewerkschaftssekretär der Unia Genf und Lehrbeauftragter für Sozialpolitik an der Universität Freiburg/Schweiz Priester, Karin, Dr. phil, geb. 1941, war bis 2007 Professorin für Soziologie an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster Rademacher, Claudia, Dr. phil., geb. 1962, Professorin für Soziologie und Geschlechterforschung an der Fachhochschule für Verwaltung und Rechtspflege Berlin Ramos Lobato, Philipp, geb. 1982, Studium der Soziologie, Politikwissenschaft, Philosophie an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster
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Die Autorinnen und Autoren
Reuter, Enrico, Dipl.-Soz.wis., geb. 1981, seit 2006 Doktorand an der Graduate School of Politics der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster Schultheis, Franz, Dr. soc., geb. 1953, Professor für Soziologie an der Universität St. Gallen/Schweiz Tuider, Elisabeth, Dr. phil., geb. 1973, arbeitet z.Z. im Rahmen des Maria-GoeppertMayer-Programms als Gastprofessorin für Internationale Frauen- und Geschlechterforschung am Institut für Erziehungswissenschaft der Universität Hildesheim Vogel, Berthold, Dr. disc. pol., geb. 1963, Projektleiter und wiss. Mitarbeiter am Hamburger Institut für Sozialforschung, kooperierendes Mitglied des Soziologischen Forschungsinstituts (SOFI) an der Universität Göttingen