MARTIN HEIDEGGER
MARTIN HEIDEGGER
GESAMTAUSGABE
EINFUHRUNG IN DIE METAPHYSIK
II. ABTEILUNG: VORLESUNGEN 1923-1944
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MARTIN HEIDEGGER
MARTIN HEIDEGGER
GESAMTAUSGABE
EINFUHRUNG IN DIE METAPHYSIK
II. ABTEILUNG: VORLESUNGEN 1923-1944
BAND 40
EINFDHRUNG IN DIE METAPHYSIK
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VITTORIO KLOSTERMANN
VITTORIO KLOSTERMANl'
FRANKFURT AM MAIN
FRANKFURT AM MAIN
Freiburger Vorlesung Sommersemester 1935 herausgegeben von Petra Jaeger
INHALT ERSTES KAPITEL
Die Grund/rage der Metaphysik § 1. Die dem Range nach erste, weil weiteste, tiefste und urspriing
§ 2. § 3.
§ 4.
§ 5.
§ 6.
§ 7. § 8.
§ 9. Diesel' Band ist nur im Rahmen del' Gesamtausgabe lieferbal'
© del' Einzelausgabe von »Einfiihrung in die Metaphysik>Und nicht vielmehr Nichts« bl'ingt das Seien de in die Schwebe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das Fl'agen als El'offnung des Bereichs del' eigenen Fragwiir digkeit des Seienden: sein Schwanken zwischen Nichtsein und Sein . Die zweifache Bedeutung des Wol'tes »das Seiende«. Die scheinbare Oberfliissigkeit del' Untel'scheidung von Sein und Seiendem und die Zweideutigkeit del' »Grundfrage« als Frage nach dem Grund des Seins . . . . . . . . . . . . . . . Die Entfaltung del' »Vor-frage«: »Wie steht es urn das Sein und urn unser Verstiindnis des Seins?« . . . . . . . . Die niihere Bestimmung del' Frage: »Wie steht es urn das Sein? 1st Sein nul' ein Wortklang odeI' das Schicksal des Abendlandes?« .
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VI §
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§ 13.
§ 14. § 15.
§ 16.
Inhalt Kliirung der Tatsache: Sein ein Wortdunst! Das Fragen nach dem Sein und die »Ontologie« Verdeutlichung des Verhiiltnisses von Grundfrage der Meta physik und Vor-frage: Der neue Begriff der Vor-frage - die vor-liiufige und als solche durch und durch geschichtliche Frage Philosophie und »Geschichtswissenschaft« Die innere Zugehorigkeit des in sich geschichtlichen Fragens der Seinsfrage zur Weltges,nichte der Erde. Der Begriff des Geistes und seine MiBdeutungen Die Tatsiichlichkeit der Tatsache der Seinsvergessenheit als der eigentliche Grund fUr unser MiBverhaltnis zur Sprache
Inhalt
DRITTES KAPITEL
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Die Frage nach dem Wesen des Seins § 24. Die unabweisbare Tatsiichlichkeit: Verstehen und doch nicht
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46
Verstehen des Seins
53
§ 27.
§ 28. § 29.
Zur Grammatik und Etymologie des W ortes »Sein« § 30.
§ 17. Die Aufhellung des Wesens des Seins hinsichtlich seiner we
56 § 31.
A. Die Grammatik des W ortes »Sein« § 18. Die Wortfonn von »Sein«: Verbalsubstantiv und Infinitiv § 19. Der Infinitiv a) Der Ursprung der abendliindischen Grammatik aus der griechischen Besinnung auf die griechische Sprache: OVO/1a. und eii/1a. b) Das griechische Verstandnis von It'tii:JcrL~ (casus) und EyxAL crL~ (declinatio) § 20. Das griechische Seinsverstiindnis: Sein als Stiindigkeit im Dop pelsinne von ql1J<JL~ und OUcrla. § 21. Das griechische Verstiindnis von Sprache a) Der Infinitiv als Nicht-mehr-zum-Vorschein-bringen des sen, was das Verbum sonst offenbar macht b) Der Infinitiv des griechischen Wortes dVllL c) Die Verfestigung und Vergegenstiindlichung der allge meinsten Leere
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GO GO 63 63 68 69 72
73
B. Die Etymologie des Wortes »Sein« § 22. Die Dreistiimmigkeit des Verbum »sein« und die Frage nach der Einheit § 23. Das Ergebnis der zwiefachen Erorterung des Wortes »das Sein«: DieLeere des Wortes als Verwischung und Vennischung
. . . . . . . . . . . . . . . . ..
§ 25. Die Einzigartigkeit des »Seins«, vergleichbar nur dem Nichts § 26. Die »Allgemeinheit« des »Seins« und »das Seiende« als »Be
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ZWEITES KAPITEL
sensmaBigen Verschlungenheit mit dem Wesen der Sprache
VII
§ 32.
§ 33.
sonderes«. Die notwendige Vorgangigkeit des Seinsverstiind nisses . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Grundversuch: Die Unentbehrlichkeit des Seinsverstand nisses: Ohne Seinsverstandnis kein Sagen, ohne Sage kein Menschsein . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . " Das Seinsverstandnis als »Grund« des menschlichen Daseins. Das Verstehen von Sein und das Sein selbst als das Fragwfu digste allen Fragens. Das Fragen nach dem Sinn von Sein . . Riickblick auf die vorausgegangene Dberlegung: Der entschei dende Schritt von einer gleichgiiltigen Tatsache zum fragwiir digsten Geschehnis . . . . . . . . . . . . . . . . . " Die Auszeichnung des Wortes »Sein« gegeniiber allen Worten yom »SeiendenSein< ein bloBes Wort und seine Bedeutung ein Dunst oder das geistige Schicksal des Abend landes?« Dieses Europa, in heilloser Verblendung immer auf dem Sprunge, sich selbst zu erdolchen, liegt heute in der groBen Zange zwischen RuBland auf der einen und Amerika auf der anderen Seite. RuBland und Amerika sind beide, metaphysisch gesehen, dasselbe; dieselbe trostlose Raserei der entfesselten
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Die Grundfrage der Metaphysik
§ 12. Sein als »Tatsache«?
landes aus der Mitte ihres kiinftigen Geschehens hinausstellt in den urspriinglichen Bereich der Miichte des Seins. Gerade wenn die groBe Entscheidung iiber Europa nicht auf dem Wege der Vemichtung fallen solI, dann kann sie nur fallen durch die Ent faltung neuer geschichtlich geistiger Kriifte aus der Mitte. Fragen: Wie steht es urn das Sein? - das besagt nichts Gerin geres als den Anfang unseres geschichtlich-geistigen Daseins wieder-holen, urn ihn in den anderen Anfang zu verwandeln. Solches ist moglich. Es ist sogar die maBgebende Fo= der Ge schichte, weil es im Grundgeschehnis ansetzt. Ein Anfang wird aber nicht wiederholt, indem man sich auf ihn als ein Vo=ali ges und nunmehr Bekanntes und lediglich N achzumachendes zuriickschraubt, sondem indem der Anfang urspriing1icher wiederangefangen wird, und zwar mit all dem Befremdlichen, Dunklen, Ungesicherten, das ein wahrhafter Anfang bei sich fiihrt. Wiederholung, wie wir sie verstehen, ist alles andere, nur nicht die verbessemde Weiter£iihrung des Bisherigen mit den Mitteln des Bisherigen.
teil, wir miissen versuchen, iiber ihre Tatsachlichkeit ins klare zu kommen, urn ihre ganze Tragweite zu iibersehen. Wir treten durch unser Fragen in eine Landschaft, innerhalb derer zu sein, die Grundvoraussetzung ist, urn dem geschicht lichen Dasein eine Bodenstiindigkeit zuriickzugewinnen. Wir werden fragen miissen, warum diese Tatsache, daB uns »das Sein« ein Wortdunst bleibt, gerade heute ansteht, ob und wes halb sie seit langem besteht. Wir sollen wissen lemen, daB diese Tatsache nicht so harmlos ist, wie sie sich bei der ersten Fest stellung ausnimmt. Denn am Ende liegt es nicht an dem, daB uns das Wort» Sein« nur ein Klang und seine Bedeutung nur ein Dunst bleibt, sondern daB wir aus dem, was dieses Wort spricht, herausgefallen sind und vorerst nicht wieder zuriickfin den; daB deshalb und aus keinem anderen Grunde das Wort »Sein« auf nichts mehr trifft, daB sich alles, wenn wir gar zu fassen wollen, wie ein Wolkenfetzen in der Sonne au£lost. Weil es so ist, deshalb fragen wir nach dem Sein. Und wir fragen, weil wir wissen, daB einem Volk die Wahrheiten noch nie in den SchoB gefallen sind. Die Tatsache, daB man diese Frage auch jetzt noch nicht verstehen kann und nicht verstehen will, wenn sie noch urspriinglicher gefragt wird, nimmt dieser Frage .nichts von ihrer Unumganglichkeit. Man kann freilich, scheinbar sehr scharfsinnig und iiberle gen, die liingstbekannte Dberlegung wieder ins Feld fiihren: »Sein« ist doch der allgemeinste Begriff. Sein Geltungsbereich erstreckt sich auf alles und jedes, sogar auf das Nichts, das als Gedachtes und Gesagtes auch etwas »ist«. Also gibt es iiber den Geltungsbereich dieses allgemeinsten Begriffes »Sein« hinaus im strengen Sinne des Wortes nichts mehr, von wo aus dieses selbst noch weiter bestimmt werden konnte. Man muB sich mit dieser hochsten Allgemeinheit abfinden. Der Begriff des Seins ist ein Letztes. Und es entspricht auch einem Gesetz der Logik, das sagt: Je umfassender ein Begriff seinem Umfang nach ist, und was ware umfassender als der Begriff »Sein«? desto un bestimmter und leerer ist sein Inhalt.
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§ 12. Kliirung der Tatsache: Sein ein Wortdunst! Das Fragen nach dem Sein und die» Ontologie« Die Frage: Wie steht es urn das Sein? ist in unsere Leitfrage: »Warum ist iiberhaupt Seiendes und nicht vielmehr Nichts?« als Vor-frage eingeschlossen. Wenn wir uns jetzt aufmachen, dem nachzugehen, was in der Vor-frage in Frage steht, namlich dem Sein, dann erweist sich Nietzsches Ausspruch sogleich doch in seiner vollen Wahrheit. Denn was ist uns, wenn wir recht zu sehen, »das Sein« mehr als ein bloBer Wortlaut, eine unbe stimmte Bedeutung, ungreifbar wie ein Dunst? Allerdings meint Nietzsche sein Urteil im rein wegwerfenden Sinn. »Sein« ist £iir ihn eine Tauschung, die nie hatte kommen sollen. »Sein« unbestimmt, verschwebend wie ein Dunst? Es ist in der Tat so. Doch wir wollen dieser Tatsache nicht ausweichen. 1m Gegen
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Die Grundfrage der Metaphysik
Diese Gedankengange sind fur jeden normal denkenden Men schen - und wir wollen aIle Normalmenschen sein - unmittelbar und ohne Einschrankung uberzeugend. Aber, dies ist doch jetzt die Frage, ob die Ansetzung des Seins als des allgemeinsten Be griffes das Wesen des Seins trifft oder es nicht von vornherein so miBdeutet, daB ein Fragen aussichtslos wird. Dies ist doch die Frage, ob das Sein nur als der allgemeinste Begriff gelten kann, der in allen besonderen Begriffen unvermeidlich vorkommt, oder ob das Sein vollig anderen Wesens ist und somit alles ande re, nur nicht der Gegenstand einer »Ontologie«, gesetzt, daB man dieses Wort in der herkommlichen Bedeutung nimmt. Der Titel »Ontologie« wurde erst im 17. Jahrhundert ge pragt. Er bezeichnet die Ausbildung der uberlieferten Lehre yom Seienden zu einer Disziplin der Philosophie und zu einem Fach des philosophischen Systems. Die uberlieferte Lehre aber ist die schulmaBige Zergliederung und Ordnung dessen. was fur Platon und Aristoteles und wieder fur Kant eine Frage war, freilich eine schon nicht mehr ursprungliche. So wird das Wort »Ontologie« auch heute noch gebraucht. Unter diesem Titel betreibt die Philosophie jeweils die Aufstellung und Darstel lung eines Faches innerhalb ihres Systems. Das Wort »Ontolo gie« kann man aber auch »im weitesten Sinne« nehmen, »ohne Anlehnung an ontologische Richtungen und Tendenzen« (vgl. Sein und Zeit 1927, S. 11ob.). In diesem Fall bedeutet »Ontolo gie« die Anstrengung, das Sein zum Wort zu bringen, und zwar im Durchgang durch die Frage, wie es mit dem Sein [nicht nur mit dem Seienden als solchem] steht. Da aber diese Frage bisher weder Anklang noch gar Widerklang gefunden hat, sondern durch die verschiedenen Kreise der schulmaBigen Philosophie gelehrsamkeit sogar ausdrucklich abgelehnt wird, die eine »Ontologie« im uberlieferten Sinne anstrebt, mag es gut sein, kunftig auf den Gebrauch des Titels »Ontologie«, »ontologisch« zu verzichten. Was in der Art des Fragens, wie sich jetzt erst deutlicher herausstellt, durch eine ganze Welt getrennt ist, solI auch nicht den gleichen Namen tragen.
§ 13. Verdeutlichung des Verhiiltnisses von Grundfrage
der Metaphysik und Vor-frage: Der neue Begriff der
Vor-frage - die vor-liiufige und als solche durch und durch
geschichtliche Frage
Wir fragen die Frage: Wie steht es um das Sein? Welches ist der Sinn von Sein? nicht, um eine Ontologie uberliefer ten Stils aufzustellen oder gar kritisch ihren friiheren Ver suchen die Fehler vorzurechnen. Es geht um ein ganz Ande res. Es gilt, das geschichtliche Dasein des Menschen und d. h. immer zugleich unser eigenstes kunftiges, im Ganzen der uns bestimmten Geschichte in die Macht des ursprunglich zu er offnenden Seins zuruckzufUgen; all das freilich nur in den Grenzen, innerhalb derer das Vermogen der Philosophie etwas vermag. Aus der Grundfrage der Metaphysik:» Warum ist uberhaupt Seiendes und nicht vielmehr Nichts?« haben wir die Vor-frage herausgestellt: Wie steht es um das Sein? Das Verhaltnis beider Fragen bedarf der Verdeutlichung, denn es ist von eigener Art. Gewohnlich wird eine Vorfrage vorher und auBerhalb der Hauptfrage, wenn auch im Hinblick auf sie erledigt. Philoso phische Fragen aber werden grundsatzlich nie so erledigt, als konnte man sie eines Tages ablegen. Die Vorfrage steht hier uberhaupt nicht auBerhalb der Grundfrage, sondern sie ist das im Fragen der Grundfrage gleichsam gluhende Herdfeuer, der Herd alles Fragens. Das will sagen: Fur das erste Fragen der Grundfrage kommt alles darauf an, daB wir im Fragen ihrer Vor-frage die entscheidende Grundstellung beziehen und die hier wesentliche Haltung gewinnen und sichern. Deshalb brachten wir die Frage nach dem Sein in den Zusammenhang mit dem Schicksal Europas, worin das Schicksal der Erde ent schieden wird, wobei fUr Europa selbst unser geschichtliches Da sein sich als die Mitte erweist. Die Frage lautete:
1st das Sein ein bloBes Wort und seine Bedeutung ein Dunst,
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Die Grund/rage der Metaphysik
oder birgt das mit dem Wort »Sein« Genannte das geistige Schicksal des Abendlandes? Die Frage mag fur viele Ohren gewaltsam klingen und uber trieben; denn zur Not lieBe sich zwar vorstellen, daB die Eror terung der Seinsfrage in ganz weiter Ferne und auf eine sehr mittelbare Weise schlieBlich auch eine Beziehung zur ge schichtlichen Entscheidungsfrage der Erde haben durfte; aber doch keinesfalls in der Weise, daB von der Geschichte des Gei stes der Erde her Grundstellung und Haltung unseres Fra gens unmittelbar bestimmt werden konnten. Und dennoch, dieser Zusammenhang besteht. Da unser Absehen darauf zielt, das Fragen der Vor-frage in Gang zu bringen, gilt es jetzt zu zeigen, daB und inwiefern das Fragen dieser Frage unmittel bar und von Grund aus sich in der geschichtlichen Entschei dungsfrage mitbewegt. Fur diesen Nachweis ist es notig, eine wesentliche Einsicht zuniichst in der Form einer Behauptung vorauszunehmen. Wir behaupten: Das Fragen dieser Vor-frage und damit das Fragen der Grundfrage der Metaphysik ist ein durch und durch geschichtliches Fragen. § 14. Philosophie und »Geschichtswissenschaft« Aber wird damit die Metaphysik und die Philosophie uber haupt nicht zu einer Geschichtswissenschaft? Die Geschichtswis senschaft erforscht doch das Zeitliche, die Philosophie hingegen das Dberzeitliche. Philosophie ist nur insofem geschichtlich, als sie wie jedes Werk des Geistes im Ablauf der Zeit sich verwirk licht. In diesem Sinne kann aber die Kennzeichnung des meta physischen Fragens als eines geschichtlichen die Metaphysik nicht auszeichnen, sondem nur etwas Selbstverstiindliches an fuhren. Demnach ist die Behauptung entweder nichtssagend und uberflussig oder aber unmoglich, weil eine Vermischung grundverschiedener Arten von Wissenschaften: Philosophie und Geschichtswissenschaft.
§ 14. Philosophie und »Geschichtswissenschaft«
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Hierzu muB gesagt werden: 1. Metaphysik und Philosophie sind uberhaupt keine Wis
senschaft und konnen es auch nicht dadurch werden, daB ihr
Fragen im Grunde ein geschichtliches ist.
2. Die Geschichtswissenschaft ihrerseits bestimmt als Wissen schaft uberhaupt nicht das urspriingliche Verhiiltnis zur Ge schichte, sondem sie setzt ein solches Verhiiltnis immer schon voraus. Nur deshalb kann die Geschichtswissenschaft das Ver hiiltnis zur Geschichte, das immer selbst ein geschichtliches ist, entweder verunstalten, miBdeuten und bis in die bloBe Kennt nis des Antiquarischen abdriingen, oder aber sie kann dem schon gegrundeten Bezug zur Geschichte wesentliche Sichtbe reiche bereitstellen und Geschichte in ihrer Verbindlichkeit er fahren lassen. Ein geschichtlicher Bezug unseres geschichtlichen Daseins zur Geschichte kann Gegenstand und ausgebildeter Zustand eines Erkennens werden; aber er muB es nicht. AuBer dem konnen nicht aIle Bezuge zur Geschichte wissenschaftlich vergegenstiindlicht und wissenschaftlich zustiindlich werden, und zwar gerade nicht die wesentlichen. Geschichtswissenschaft kann den geschichtlichen Bezug zur Geschichte nie stiften. Sie kann nur jeweils einen gestifteten Bezug durchleuchten, kennt nismiiBig begrunden, was freilich fur das geschichtliche Dasein .., eines wissenden Volkes eine Wesensnotwendigkeit ist, also we der nur »Nutzen« noch nur »Nachteil«. Weil nur in der Philo sophie - im Unterschied zu jeder Wissenschaft - immer wesent liche Bezuge zum Seienden sich ausgestalten, kann, ja muf3 fur uns heute dieser Bezug ein ursprunglich geschichtlicher sein. Zum Verstiindnis unserer Behauptung, das »metaphysische« Fragen der Vor-frage sei durch und durch geschichtlich, ist aber vor allem zu bedenken: Geschichte heiBt uns da nicht soviel wie das Vergangene; denn dieses ist gerade das, was nicht mehr 34 geschieht. Geschichte ist aber auch und erst recht nicht das bloBe Heutige, was auch nie geschieht, sondem immer nur »pas siert«, eintritt und vorbeigeht. Geschichte als Geschehen ist das aus der Zukunft bestimmte, das Gewesene ubemehmende Hin
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Die Grundfrage der Metaphysik
durchhandeln und Hindurchleiden durch die Gegenwart. Diese ist es gerade, die im Geschehen verschwindet. Unser Fragen der metaphysischen Grundfrage ist geschicht lich, weil es das Geschehen des menschlichen Daseins in seinen wesentlichen Bezugen, d. h. zum Seienden als solchem im Gan zen, nach ungefragten Moglichkeiten, Zu-kunften eroffnet und damit zugleich in seinen gewesenen Anfang zuruckbindet und es so in seiner Gegenwart verscharft und erschwert. In diesem Fragen wird unser Dasein auf seine Geschichte im Vollsinn des Wortes hin angerufen und zu ihr und zur Entscheidung in ihr hingerufen. Und das nicht nachtraglich im Sinne einer mora lisch-weltanschaulichen Nutzanwendung, sondern: Die Grund stellung und Haltung des Fragens ist in sich geschichtlich, steht und halt sich im Geschehen, fragt aus diesem fUr dieses.
§ 15. Seinsfrage und Weltgeschichte
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dasselbe sind, namlich in bezug auf ihren Weltcharakter und ihr Verhaltnis zum Geist. Die Lage Europas ist urn so verhang nisvoller, als die Entmachtung des Geistes aus ihm selbst her kommt und wenn auch durch FrUheres vorbereitet sich end gultig aus seiner eigenen geistigen Lage in der ersten Halfte des 19. Jahrhunderts bestimmt. Bei uns geschah urn jene Zeit, das, was man gern und kurz als den »Zusammenbruch des deutschen Idealismus« bezeichnet. Diese Formel ist gleichsam ein Schutzschild, hinter dem sich die schon anbrechende Geist losigkeit, die Auflosung der geistigen Machte, die Abwehr alles ursprunglichen Fragens nach Grunden und die Bindung an solche verstecken und decken. Denn nicht der deutsche Idea lismus brach zusammen, sondern das Zeitalter war nicht mehr stark genug, urn der GroBe, "Veite und Ursprunglichkeit jener geistigen Welt gewachsen zu bleiben, d. h. sie wahrhaft zu ver wirklichen, was immer ein Anderes bedeutet, als nur Satze und § 15. Die innere Zugehorigkeit des in sich geschichtlichen
Einsichten anzuwenden. Das Dasein begann in eine Welt hin Fragens der Seinsfrage zur Weltgeschichte der Erde.
einzugleiten, die ohne jene Tiefe war, aus der jeweils das We sentliche auf den Menschen zu- und zuruckkommt, ihn so zur Der Begriff des Geistes und seine Mif3deutungen
Oberlegenheit zwingt und aus einem Rang heraus handeln laBt. AIle Dinge gerieten auf dieselbe Ebene, auf eine FHiche, Aber nodI fehlt uns die wesentliche Einsicht, inwiefern dieses die einem blinden Spiegel gleicht, der nicht mehr spiegelt, in sich geschichtliche Fragen der Seinsfrage eine innere Zuge nichts mehr zurUckwirft. Die vorherrschende Dimension wurde horigkeit sogar zur Weltgeschichte der Erde hat. Wir sagten: die der Ausdehnung und der Zahl. Konnen bedeutet nicht mehr Auf der Erde, urn sie herum, geschieht eine Weltverdusterung. das Vermogen und Verschwenden aus hohem OberfluB und aus Die wesentlichen Geschehnisse derselben sind: die Flucht der der Beherrschung der Krafte, sondern nur das von jedermann Gotter, die Zerstorung der Erde, die Vermassung des Men anlernbare, immer mit einem gewissen Schwitzen und mit schen, der Vorrang des MittelmaBigen. Was heiBt Welt, wenn wir von der Weltverdusterung spre Aufwand verbundene Ausuben einer Routine. All dieses stei gerte sich dann in Amerika und RuBland in das maBlose Und chen? Welt ist immer geistige Welt. Das Tier hat keine Welt, auch keine Umwelt. Weltverdusterung schlieBt eine Entmach so-weiter des Immergleichen und Gleichgultigen so weit, bis dieses Quantitative in eine eigene Qualitat umschlug. Nunmehr tung des Geistes in sich, seine Auflosung, Auszehrung, Ver ist dort die Vorherrschaft eines Durchschnitts des Gleichgiilti drangung und MiBdeutung. Wir versuchen, diese Entmach tung des Geistes in einer Hinsicht zu verdeutlichen, und zwar gen nicht mehr etwas Belangloses und lediglich Odes, sondern das Andrangen von Solchem, was angreifend jeden Rang und der der MiBdeutung des Geistes. Wir sagten: Europa liegt in jedes welthaft Geistige zerstort und als Luge ausgibt. Das ist der Zange zwischen RuBland und Amerika, die metaphysisch
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Die Grundfrage der Metaphysik
der Andrang von Jenem, was wir das Damonische [im Sinne des zerstorerisch Bosartigen] nennen. Fur das Heraufkommen dieser Damonie, in eins mit der wachsenden Ratlosigkeit und Unsicherheit Europas gegen sie und in sich selbst, gibt es man nigfache Kennzeichen. Eines davon ist die Entmachtung des Geistes im Sinne einer Mi13deutung desselben, ein Geschehen, in dem wir noch heute mitten innestehen. Diese Mi13deutung des Geistes sei kurz nach vier Hinsichten dargestellt. 1. Entscheidend ist die Umdeutung des Geistes zur Intelli genz als der bloBen Verstandigkeit in der Dberlegung, Berech nung und Betrachtung der vorgegebenen Dinge und ihrer mog lichen Abanderung und erganzenden Neuherstellung. Diese Verstandigkeit ist Sache blo13er Begabung und Dbung und massenhafter Verteilung. Die Verstandigkeit unterliegt selbst der Moglichkeit der Organisation, was alles yom Geiste nie gilt. Alles Literaten- und Asthetentum ist nur eine spate Folge und Abart des zur Intelligenz umgefalschten Geistes. Das Nur Geistreiche ist der Anschein von Geist und die Verhiillung sei nes Mangels. Q. Der so zur Intelligenz umgefalschte Geist fallt damit herab in die Rolle eines Werkzeugs im Dienste von anderem, dessen Handhabung lehr- und lernbar wird. Ob dieser Dienst der In 36 telligenz sich nun auf die Regelung und Beherrschung der mate riellen Produktionsverhaltnisse (wie im Marxismus) oder uber haupt auf die verstandige Ordnung und Erklarung alles jeweils Vor-liegenden und schon Gesetzten (wie im Positivismus) be zieht oder ob er sich in der organisatorischen Lenkung der Lebensmasse und Rasse eines Volkes vollzieht, gleichviel, der Geist wird als Intelligenz der machtlose Dberbau zu etwas An derem, das, weil geist-los oder gar geist-widrig, fUr das eigent lich Wirkliche gilt. Versteht man, wie es der Marxismus in der extremsten Form getan, den Geist als Intelligenz, dann ist es, in der Gegenwehr zu ihm, vollig richtig zu sagen, daB der Geist, d. h. die Intelligenz, in der Ordnung der wirkenden Krafte des menschlichen Daseins stets der gesunden leiblichen Tuchtigkeit
§ 15. Seinsfrage und Weltgeschichte
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und dem Charakter nachgeordnet werden mu13. Diese Ordnung wird aber unwahr, sobald man das Wesen des Geistes in seiner Wahrheit begreift. Denn aIle wahre Kraft und Schonheit des Leibes, aIle Sicherheit und Kuhnheit des Schwertes, aber auch alle Echtheit und Findigkeit des Verstandes grunden im Geist und Hnden Erhohung und Verfall nur in der jeweiligen Macht und Ohnmacht des Geistes. Er ist das Tragende und Herr schende, das Erste und Letzte, nicht ein nur unentbehrliches Drittes. 3. Sobald diese werkzeugliche Mi13deutung des Geistes ein setzt, riicken die Machte des geistigen Geschehens, Dichtung und bildende Kunst, Staatsschaffung und Religion in den Um kreis einer moglichen bewuf3ten Pflege und Planung. Sie wer den zugleich in Gebiete aufgeteilt. Die geistige Welt wird zur Kultur, in deren Schaffung und Erhaltung zugleich der ein zelne Mensch sich selbst eine Vollendung zu erwirken sucht. Jene Gebiete werden Felder freier Betatigung, die sich selbst in der Bedeutung, die sie gerade noch erreicht, ihre Ma13stabe setzt. Man nennt diese Ma13stabe einer Geltung fur das Her stellen und Gebrauchen die Werte. Die Kultur-Werte sichern sich im Ganzen einer Kultur nur dadurch Bedeutung, daB sie sich auf ihre Selbstgeltung einschranken: Dichtung urn der / der Dichtung, Kunst um der Kunst, Wissenschaft urn der Wis senschaft willen. An der Wissenschaft, die uns hier in der Universitat beson ders angeht, la13t sich der Zustand der letzten Jahrzehnte, der heute trotz mancher Sauberung unverandert ist, leicht sehen. Wenn jetzt zwei scheinbar verschiedene Auffassungen der Wis senschaft sich scheinbar bekampfen, Wissenschaft als technisch praktisches Berufswissen und Wissenschaft als Kulturwert an sich, dann bewegen sich beide in der gleichen Verfallsbahn einer Mi13deutung und Entmachtung des Geistes. Nur darin unterscheiden sie sieh, daB die teehniseh-praktische Auffassung 37 der Wissensehaft als Fachwissenschaft noch den Vorzug der offenen und ldaren Folgerichtigkeit bei der heutigen Lage be
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Die Grundfrage der Metaphysik
§ 16. Tatsache der Seinsvergessenheit
anspruchen darf, wahrend die jetzt wieder aufkommende reak tionare Deutung del' "VVissenschaft als Kulturwert die Ohn macht des Geistes durch eine unbewuBte Verlogenheit zu ver decken sucht. Die Verwirrung del' Geistlosigkeit kann sogar so weit gehen, daB die technisch-praktische Auslegung del' Wis senschaft sich gleichzeitig zur Wissenschaft als einem Kultur wert bekennt, so daB beide in del' gleichen Geistlosigkeit sich untereinander gut verstehen. Will man die Einrichtung des Zusammenschlusses del' Fachwissenschaften nach Lehre und Forschung Universitat nennen, so ist das nul' noch ein Name, abel' keine urspriinglich einigende, verpflichtende geistige Macht mehr. Es gilt auch heute noch von del' deutschen Univer sitat, was ich im Jahre 1929 in meiner hiesigen Antrittsrede sagte: »Die Gebiete del' Wissenschaften liegen weit auseinan del'. Die Behandlungsart ihrer Gegenstande ist grundverschie den. Diese zerfallene Vielfaltigkeit von Disziplinen wird heute nul' noch durch die technische Organisation von Universitaten und Fakultaten zusammen- und durch die praktische Abzwek kung del' Facher in einer Bedeutung erhalten. Dagegen ist die Verwurzelung del' Wissenschaften in ihrem Wesensgrunde ab gestorben.« (Was ist Metaphysik? 1929, S. 8).2 Wissenschaft ist heute in all ihren Bezirken eine technische, praktische Sache del' Kenntnisgewinnung und -vermittelung. Von ihr als Wis senschaft kann iiberhaupt keine Erweckung des Geistes aus gehen. Sie selbst bedarf einer solchen. 4. Die letzte MiBdeutung des Geistes beruht auf den vorge nannten Verfalschungen, die den Geist als Intelligenz, diese als zweckdienliches Werkzeug und dieses zusammen mit dem Her stellbaren als Bereich del' Kultur vorstellen. Del' Geist als zweckdienliche Intelligenz und del' Geist als Kultur werden schlieBlich zu Prunk- und Ausstattungsstii.cken, die man neben vielem Anderen auch beriicksichtigt, die man offentlich heraus stellt und vorfUhrt zum Beweis, daB man die Kultur nicht ver
neinen und keine Barbarei will. Del' russische Kommunismus ist nach einer anfanglich rein verneinenden Haltung alsbald zu solcher propagandistischen Taktik iibergegangen. Diesel' mehrfachen MiBdeutung des Geistes gegeniiber be stimmen wir das Wesen des Geistes kurz so (ich wahle die Fas sung aus meiner Rektoratsrede, weil hier alles del' Gelegenheit entsprechend knapp zusammengegriffen ist): »Geist ist wedel' leerer Scharfsinn, noch das unverbindliche Spiel des Witzes, noch das uferlose Treiben verstandesmaBiger Zergliedenmg, noch gar die Weltvernunft, sondern Geist ist urspriinglich ge stimmte, wissende Entschlossenheit zum Wesen des Seins.« (Rektoratsrede S. 13). Geist ist die Ermachtigung del' Machte des Seienden als solchen im Ganzen. Wo Geist herrscht, wird das Seiende als solches immer und jeweils seiender. Daher ist das Fragen nach dem Seienden als solchem im Ganzen, das Fragen del' Seinsfrage, eine del' wesentlichen Grundbedingun gen fUr eine Erweckung des Geistes und damit fiir eine ur spriingliche Welt geschichtlichen Daseins und damit fiir eine Bandigung del' Gefahr del' Weltverdiisterung und damit fiir ein Dbernehmen del' geschichtlichen Sendung unseres Volkes del' abendlandischen Mitte. Nul' in diesen groBen Ziigen kon nen wir hier deutlich machen, daB und inwiefern das Fragen del' Seinsfrage in sich durch und durch geschichtlich ist, daB demnach unsere Frage, ob uns das Sein ein bloBer Dunst bleibe odeI' ob es zum Schicksal des Abendlandes weI'de, alles andere denn eine Dbertreibung und eine Redensart ist.
2 Vgl. Wegmarken, Gesamtausgabe Bd. 9, Frankfurt am Main 1976, 8.104.
53
§ 16. Die Tatsiichlichkeit der Tatsache der Seinsvergessenheit als der eigentliche Grund fur unser Mif3verhiiltnis zurSprache Hat abel' unsere Frage nach dem Sein diesen wesentlichen Ent scheidungscharakter, dann miissen wir vor allem anderen mit dem vollen Ernst machen, was del' Frage ihre unmittelbare
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Die Grundfrage der Metaphysik
§ 16. Tatsache der Seinsvergessenheit
Notwendigkeit gibt, mit der Tatsache, daB uns das Sein in der Tat fast nur noch ein Wort und dessen Bedeutung ein ver schwebender Dunst ist. Diese Tatsache ist nicht nur solches, wovor wir stehen als einem fremden Anderen, was wir als Vor kommnis in seinem Vorhandensein nur feststellen durfen. Sie ist solches, worin wir stehen. Es ist ein Zustand unseres Daseins; dies freilich nicht im Sinne einer Eigenschaft, die wir nur psy chologisch aufweisen konnten. Zustand meint hier unsere ganze Verfassung, die Weise, wie wir selbst im Bezug auf das Sein gefaBt sind. Es handelt sich hier nicht urn Psychologie, sondern urn unsere Geschichte in einer wesentlichen Hinsicht. Wenn wir dieses, daB das Sein uns ein bloBes Wort und ein Dunst ist, eine »Tatsache« nennen, so liegt darin eine groBe VorHiufigkeit. Wir halten und stellen damit nur erst einmal fest, was noch gar nicht durchdacht ist, wofur wir noch keinen Ort haben, wenn es auch so aussieht, als sei es ein Vorkommnis bei uns, diesen Menschen, »in« uns, wie man gern sagt. Die einzelne Tatsache, daB das Sein uns nur noch ein leeres Wort und ein verschwebender Dunst ist, mochte man in die allgemeinere einordnen, daB viele und gerade die wesentlichen Worte in dem gleichen Fall sind, daB uberhaupt die Sprache verbraucht und vernutzt ist, ein unentbehrliches, aber herren loses, beliebig verwendbares Mittel der Verstiindigung, so gleichgultig wie ein offentliches Verkehrsmittel, wie die Stra Benbahn, in der jedermann ein- und aussteigt. Jedermann re det und schreibt ungehindert und vor allem ungefiihrdet in der Sprache so daher. Das ist gewiB richtig. Auch sind nur die We nigsten noch imstande, dies MiB- und Unverhiiltnis des heuti gen Daseins zur Sprache in seiner ganzen Tragweite auszuden ken. Aber die Leere des Wortes »Sein«, der vollige Schwund sei ner Nennkraft, ist nicht ein bloBer Einzelfall der allgemeinen Sprachvernutzung, sondern - der zerstorte Bezug zum Sein als solchem ist der eigentliche Grund fur unser gesamtes MiBver hiiltnis zur Sprache.
Die Organisationen zur Reinigung der Sprache und zur Ab wehr der fortschreitenden Sprachverhunzung verdienen Beach tung. Doch man beweist durch solche Einrichtungen schlieBlich nur noch deutlicher, daB man nicht mehr weiB, urn was es bei der Sprache geht. Weil das Schicksal der Sprache in dem jewei ligen Bezug eines Volkes zum Sein gegriindet ist, deshalb wird sich uns die Frage nach dem Sein zuinnerst mit der Frage nach der Sprache verschlingen. Es ist mehr als ein iiuBerlicher Zufall, daB wir jetzt, wo wir uns aufmachen, die genannte Tatsache der Verdunstung des Seins in ihrer Tragweite herauszustellen, uns gezwungen sehen, von sprachlichen Dberlegungen auszugehen.
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§ 17. Wesensmiif3ige Verschlungenheit von Sein und Sprache
ZWEITES KAPITEL
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Zur Grammatik und Etymologie des Wortes »Sein«
Wenn das Sem uns nur noch ein leeres Wort und eine verschwe bende Bedeutung ist, dann miissen wir erst einmal versuchen, zum mindesten noch diesen verbliebenen Rest eines Bezugs ganz zu fassen. Wir fragen daher zuniichst: 1. VVas ist das iiberhanpt fUr ein Wort: »das Sein« - seiner W ortform nach? 2. Was sagt uns das VVissen von der Sprache iiber die ur spriingliche Bedeutung dieses VVortes? Um es gelehrt auszudriicken: Wir fragen 1. nach der Gram matik und 2. nach der Etymologie des Wortes »Sein«.l
§ 17. Die Aufhellung des Wesens des Seins hinsichtlich seiner wesensmaf3igen Verschlungenheit mit dem Wesen del' Sprache Die Grammatik der Worter befaBt sich nicht nur und nicht in erster Linie mit ihrer buchstiiblichen und lautlichen Gestalt. Sie nimmt die hier auftretenden Formelemente als Hinweise auf bestimmte Richtungen und Richtungsunterschiede des mogli chen Bedeutens der Worte und der damit vorgezeichneten moglichen Einfiigung in einen Satz, in ein weiteres Redege fiige. Die Worter: er geht, wir gingen, sie sind gegangen, geh!, gehend, gehen - sind Abwandlungen desselben Wortes nach bestimmten Bedeutungsrichtungen. Wir kennen sie aus den 1 Zu diesem Abschnitt vgl. jetzt: Ernst Fraenkel, Das Sein und seine Mo dalitaten, erschienen in »Lexis« (Studien zur Sprachphilosophie, Sprach geschichte und Begriffsforschung) herausgeg. v. Johannes Lohmann Bd. II (1949) S. 149 ff.
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Titeln der Sprachlehre: Indicativ Praesens - Conjunctiv Imper fect - Perfect - Imperativ - Particip - Infinitiv. Aber Hingst sind dies nur noch technische Mittel, nach deren Anweisung man mechanisch die Zerlegung der Sprache vornimmt und Re geln festlegt. Gerade dort, wo ein urspriinglicher Bezug zur Sprache sich regt, spiirt man das Tote dieser grammatischen Forroen als bloBer Mechanismen. Die Sprache und Sprachbe trachtung hat sich in diesen starren Formen wie in einem Stahl netz festgefahren. Jene Forrobegriffe und Titel der Grammatik werden uns schon in der geistlosen und oden Sprachlehre der Schule zu leeren, vollig unverstantlenen und unverstiindlichen Hiilsen. Es ist gewiB richtig, wenn die Schiiler statt dessen von ihren Lehrern etwas iiber germanische Ur- und Friihgeschichte er fahren. Aber all dieses versinkt alsbald in dieselbe Ode, wenn es nicht gelingt, die geistige Welt fiir die Schule von innen her und aus dem Grunde umzubauen, d. h. der Schule eine geistige, nicht eine wissenschaftliche Atmosphiire zu verschaffen. Und hierbei ist das erste die wirkliche Revolution des Verhaltnisses zur Sprache. Aber dazu miissen wir die Lehrer revolutionieren, und hierfiir wiederum muB erst die Universitat sich wandeln und ihre Aufgabe begreifen, statt mit Belanglosigkeiten sich aufzubliihen. Wir kommen schon gar nicht mehr auf den Ge danken, daB all das, was wir aIle liingst und genug kennen, anders sein konnte, daB jene grammatischen Forroen nicht seit Ewigkeit wie ein Absolutes die Sprache als solche zergliedern und regeln, daB sie vielmehr aus einer ganz bestimmten Ausle gung der griechischen und lateinischen Sprache erwachsen sind. All dieses wiederum geschah aufgrund dessen, daB auch die Sprache etwas Seiendes ist, das wie anderes Seiendes in be stimmter Weise zugiinglich gemacht und urogrenzt werden kann. Ein solches Unternehmen hiingt offensichtlich in der Art seiner Durchfiihrung und Geltung von der hierbei leitenden Grundauffassung des Seins abo Die Bestimmung des Wesens der Sprache, schon das Fragen
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Grammatik und Etymologie von »Sein«
§ 18. Die Wortform von »Sein«
darnach, regelt sich jeweils nach der herrschend gewordenen Vonneinung iiber das Wesen des Seienden und die Wesenser fassung. Wesen und Sein aber sprechen in der Sprache. Der Hinweis auf diesen Zusammenhang ist jetzt wichtig, weil wir dem Wort »Sein« nachfragen. Wenn wir, was zunachst unver meidlich ist, bei dieser grammatischen Kennzeichnung des Wortes von der iiberlieferten Grammatik und ihren Formen Gebrauch machen, dann muB das gerade in diesem FaIle mit dem grundsatzlichen Vorbehalt geschehen, daB diese gramma tischen Formen fiir das, was wir anstreben, nicht zureichen. DaB dem so ist, wird sich im Gang unserer Betrachtungen an einerwesentlichen grammatischen Fonn erweisen. Dieser Nachweis aber wachst alsbald iiber den Anschein hin aus, als handle es sich noch urn eine Verbesserung der Gram matik. Es handelt sich vielmehr urn eine wesentliche Aufhel lung des VVesens des Seins hinsichtlich seiner wesensmaBigen Verschlungenheit mit dem Wesen der Sprache. Dies ist im fol genden zu bedenken, damit wir die sprachlichen und gramma tischen Betrachtungen nicht als eine ode und abseitige Spielerei miBdeuten. Wir fragen 1. nach der Grammatik, 2. nach der Etymologie des Wortes »Sein«.
lauben scheinen. Es gibt zwar zu »das Haus« die Form »das Hausen«: »er haust im vVald«. Allein, das bedeutungsmaBig grammatische Verhaltnis zwischen, >das Gehen< (der Gang) und >gehen< ist verschieden von dem zwischen >das Haus< und >das Hausendas Gehendas Fliegendas Brotdas HausotS; und EyxhoLS; bedeuten Fallen, Kippen und Sichneigen. Darin liegt ein Ab-weichen yom Aufrecht- und Geradestehen. Dieses aber, das in sich hoch gerichtete Da -stehen, zum Stand kommen und im Stand bleiben, verstehen die Griechen als Sein. Was dergestalt zum Stand kommt, in sich stiindig wird, schlagt sich dabei von sich her frei in die Notwen digkeit seiner Grenze, miQus;. Diese ist nichts, was zum Seienden erst von auBen hinzukommt. Noch weniger ist sie ein Mangel im Sinne einer abtraglichen Beschrankung. Der von der Grenze her sich bandigende Halt, das Sich-Haben, worin das Standige sich halt, ist das Sein des Seienden, macht vielmehr erst das Seiende zu einem solchen im Unterschied zum Unseienden. Zum Stand kommen heiBt darnach: sich Grenze erringen, er -grenzen. Deshalb ist ein Grundcharakter des Seienden to tEAOS;, was nicht Ziel und nicht Zweck, sondern Ende bedeutet. »Ende« ist hier keineswegs im verneinenden Sinne gemeint, als ob mit ihm etwas nicht mehr weiter gehe, versage und aufhore. Das Ende ist Endung im Sinne von Vollendung. Grenze und Ende sind jenes, womit das Seiende zu sein beginnt. Von daher ist der hochste Titel zu verstehen, den Aristoteles fur das Sein gebraucht, die EVtEAEXELa, - das Sich-in-der-Endung (Grenze) halten (wahren). Was die nachkommende Philosophie und gar
die Biologie aus dem Titel »Entelechie« gemacht hat (vgl. Leib niz), zeigt den ganzen Abfall vom Griechischen. Das in seine Grenze, sie ergrenzend, sich Stellende und so Stehende hat Gestalt, ~toQist