Rosemary Sutcliff
Lubrin und das Sonnenpferd
s&c by Ginevra
Wie es Lubrin schafft, seinem Volk zur Freiheit zu verhel...
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Rosemary Sutcliff
Lubrin und das Sonnenpferd
s&c by Ginevra
Wie es Lubrin schafft, seinem Volk zur Freiheit zu verhelfen, und welches Opfer er bringen muß, um dem Weißen Pferd auf dem Hügel seine magische Kraft und Schönheit zu verleihen, davon erzählt diese Geschichte. ISBN 3 87838 367 3 Originalausgabe Sun Horse, Moon Horse Übersetzung aus dem Englischen von Traute Kießig. 1982 Verlag Urachhaus Johannes Vier farbige Bilder und Umschlaggestaltung von Frantisek Chochola
Dieses E-Book ist nicht zum Verkauf bestimmt!!!
Buch »Ein Pferd, aus der Wiese des Hügels herausgearbeitet, so hoch wie der halbe Hang, das wäre eine feine Sache... Es müßte in den Kalkboden eingeschnitten sein, weiß auf Grund, um alle Zeiten zu überdauern.« Das wünscht sich der Häuptling des feindlichen Stammes, in dessen Gewalt sich Lubrin mit seinem: Volk befindet. »Cradoc, Häuptling der Sieger - ich will versuchen, euch euer hügelhohes Sonnenpferd zu machen - um einen Preis; Wenn es mir gelingt, euch euer Pferd so zu machen, wie ihr es euch vorstellt, so sollt ihr meinem Volk die Freiheit geben.« Wie es Lubrin schafft, seinem Volk zur Freiheit zu verhelfen, und welches Opfer er bringen muß, um dem Weißen Pferd auf dem Hügel seine magische Kraft und Schönheit zu verleihen, davon erzählt diese Geschichte.
Inhalt Vorwort....................................................................................................4 Lubrins weiße Traumstute .......................................................................7 Kampf in der Halle ................................................................................16 Geschichten, die die Händler erzählen...................................................24 Das Fest der Erwählung.........................................................................36 Bedrohung aus dem Süden ....................................................................46 Sieger und Besiegte ...............................................................................56 Winter in der Gefangenschaft ................................................................66 Ein Abkommen wird getroffen ..............................................................73 Vom Falken und von Göttern und Menschen auf der Erde....................84 Das Vorrecht des Häuptlings .................................................................91 Die große Einsamkeit ............................................................................98 Das Lied vom Nordwärts-Treiben der Herden ....................................106 Das Sonnenpferd..................................................................................113
Vorwort Eines der bekanntesten Zeugnisse frühgeschichtlicher Kulturen in Großbritannien ist das 144 in lange White Horse (Weiße Pferd) bei Uffington, nordwestlich von Wantage. Es ist aus der Wiese des Hügels herausgeschnitten, so daß der weiße Kalkboden seinen Körper bildet. Es gibt mehrere Weiße Pferde auf den Hängen englischer Hügellandschaften. Die meisten stammen aus dem achtzehnten oder sogar aus dem neunzehnten Jahrhundert; das Weiße Pferd von Uffington jedoch gehört einer viel älteren Welt an. Niemand weiß genau, vor wie langer Zeit es geschaffen wurde, aber wahrscheinlich war es etwa hundert Jahre vor Christi Geburt. Und während die anderen Pferde steif und starr auf ihren Hängen stehen, elegant zwar, aber ohne einen Funken Leben, ist das Weiße Pferd von Uffington gleichsam umweht von magischem Zauber; es ist voller Bewegung, Kraft und Schönheit. Immer schon war ich überzeugt, daß etwas, von dem ein solcher Zauber ausgeht, seine Geschichte haben müsse. Eine längst vergessene Geschichte, die ich gern erzählen möchte. Und dann, eines Tages, beim Lesen von T.C.Lethbridges Buch »Witches« (Hexen) stieß ich auf seine Theorie, daß die »Iceni«, jener bedeutende Stamm aus der frühen Eisenzeit, die in East Anglia wohnten, auch in den Chiltern-Hügeln und in der Landschaft der Downs nördlich des Oberen Themse-Tales gelebt haben, bis sie durch Eindringlinge aus dem Süden vertrieben wurden. Da nahm die Idee in mir Gestalt an, wie die Geschichte gewesen sein könnte. Und so ist dieses Buch entstanden. T. C. Lethbridge glaubt, daß aus den »Iceni«, die vertrieben wurden, die »Epidi« von Argyll und Kintyre (in Schottland) -4-
geworden sind - beide Namen »Epidi« und »Iceni« deuten an, daß es sich um ein Volk von Pferdezüchtern und Pferdehirten handelt; und wenn das wahr ist, dann können wir annehmen, daß Lubrins Stammesgenossen heil und sicher nach dem Norden durchgekommen sind, zu neuen Weidegründen für ihre Pferde. Und dann hat meine Geschichte in gewisser Weise ein glückliches Ende. Rosemary Sutdiff
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Lubrins weiße Traumstute
Oben auf der höchsten Erhebung des Hügellandes, der Downs (Kreidekalkhügel im südlichen England), hockte der Dun, die Starke Feste, drei ringförmige Wälle, aus Torf errichtet und an der Außenseite mit Holzbohlen verschalt, ringsherum ein breiter, aus dem Kreidefelsen ausgehobener Wehrgraben. Da, wo die Torwege verteidigungsschwache Stellen bildeten, waren die inneren und äußeren Wälle miteinander verbunden, so daß sich die schweren Holztore jeweils am Ende eines Weges befanden, der eine Art Durchgang darstellte. Wenn ein angreifendes Kriegsheer diese erreichen wollte, so mußte es durch ein Kreuzfeuer von Speeren und Schleudergeschossen hindurch, die von beiden Seiten von den Verteidigern herabgeworfen wurden. Fünfmal so lange, wie das Leben eines Mannes währt, hockte die Starke Feste schon dort oben - seit jener Zeit, da sich die jungen Männer des Stammes, dem jüngsten Sohn einer Königin folgend, ihren Weg durch das Hügelland der Downs gebahnt hatten. Sie waren aus den weiten flachen Weidegründen im fernen Nordosten gekommen und hatten sich neues Land gesucht, so wie das junge Männer überall in der ganzen Welt tun. Sie hatten ihre Frauen und Kinder und ihre Pferdeherden mitgebracht. Sie gehörten dem Stamme der Iceni an, dem Volk der Pferdezüchter und Pferdehirten; ihr Besitz zählte nicht nach Gold, sondern nach Hengsten, nach zweijährigen Jungpferden mit struppigem Fell, nach trächtigen Stuten und nach geschickten Wagenlenkern. Hier im Hügelland des »Hohen Kreidehügels« hatten sie ihre neuen Weidegründe gefunden und hatten das »Dunkle Volk«, das Alte Volk, vertrieben, das vor ihnen hier gelebt hatte. Hier hatten sie schließlich ihre Starke Feste erbaut; in den ersten -7-
Jahren hatten alle im Schutz ihrer Wälle gelebt. Dann aber begann das Alte Volk sein eigenes Leben im Schatten seiner einstigen Eroberer, und die Tage waren ruhiger geworden. In Zeiten der Gefahr, unter einem kriegerischen Mond, war es immer noch so, daß der ganze Stamm und die edelsten Pferde aus der Herde, ja manchmal sogar einige Leute aus dem Alten Volk, auf der Feste Schutz und Zuflucht suchten, während die Hirten das Vieh und die übrigen Pferde hinuntertrieben in die Wälder, wo sie sichere Verstecke wußten. In Friedenszeiten aber lebten die meisten Leute in ihren Ansiedlungen längs den niedrigeren und geschützteren Berghängen oder in Waldlichtungen unten im Tal. Kleinere Bollwerke wurden dann im Herbst als Pferch für die zusammengetriebenen Herden benutzt oder für die Stuten, die ihre Fohlen warfen. Nur Tigernann, der Häuptling, wohnte noch in seiner großen Holzhalle oben auf dem windigen Dach der Welt; rundum verstreut lagen die Kuhställe, Scheunen, Pferdeställe, die Behausungen seiner Krieger, seines Harfners, seines Ringkämpfers und seiner Priester und die der Handwerker, die alles zu fertigen wußten, was ein Häuptling und seine Krieger und seine Pferde brauchen. Tigernann, der Häuptling, hatte drei Söhne, die ihm Saba, sein Weib, in dem Frauenhaus hinter der großen Halle geboren hatte: Brach und Corfil, die als Wiegenbrüder bei einer Geburt zur Welt gekommen waren, und Lubrin, der um zwei Jahre jüngere. Lubrin Dhu, der kleine Dunkelhaarige, der mit schwarzem Flaum auf dem Kopf geboren wurde und mit Augen, die, als er sie zum ersten Male aufschlug, schon zu alt schienen in seinem Gesicht. So etwas geschah von Zeit zu Zeit innerhalb des Stammes; denn es hat noch nie ein Volk von Eroberern gegeben, das nicht bisweilen sein Blut mit dem Blut derer gemischt hätte, die vor ihm dagewesen waren. Und Lubrins Mutter weinte, als sie ihn sah; denn durch sie war das Dunkle in den Stamm gekommen, -8-
obwohl sie selber zarte, helle Haut und kupferfarbenes Haar hatte wie jede andere Frau aus dem Pferdevolk; und sie wußte um die Freuden und Leiden und um die Träume, die einst Teil seiner Selbst sein würden und die seine Genossen weder ernst nehmen noch verstehen würden. Doch Lubrin Dhu war ein glückliches Kind, wenigstens in den ersten Jahren seines Lebens. Zusammen mit den jungen Jagdhunden und den anderen Kindern des Duns tollte er vor der Schwelle zu seines Vaters Halle herum. An einem heißen Sommertag, als er fünf Jahre alt war, spielte er mit einem jungen Hund im Hof bei den Stallungen. Nach einer Weile wurde der Welpe des Spielens müde und trottete davon. Lubrin blieb, wo er war, auf seinen Fersen hocken. In der Stille nach dem Weggehen des Hundes bemerkte er plötzlich die Schwalben, die ihre Nester unter den Dachvorsprüngen der Ställe hatten. Pfeilschnell schössen sie im Tiefflug durch einen tanzenden Mückenschwarm; schwebend und gleitend webten sie das Muster ihres Fluges, so daß es sich gegen das Blau des Himmels abhob. Es schien Lubrin, als könne er dieses Muster erkennen. Doch rasch verwandelte es sich. Er spürte ein Verlangen in sich, es festzuhalten, ehe es sich auflöste. Er begann mit seinen Fingern in den Staub zu zeichnen, wobei er versuchte, die dunklen flitzenden Sicheln der Flügel in seiner Zeichnung einzufangen, so wie man wohl versucht, etwas Lebendiges mit der Hand zu fassen. Aber die Schwalben waren zu schnell, ach zu schnell, und entglitten ihm immer wieder. Am oberen Ende des Hofes hatte Urien, der Wagenlenker seines Vaters, einen der leichten Jagdwagen, die an der Wand des Wagenschuppens lehnten, herausgezogen und war dabei, die beiden Roten einzuspannen. Erregt tänzelten die Pferde von einer Seite auf die andere, warfen die Köpfe in die Luft und peitschten mit den Schwänzen. Urien sagte: »Sachte, sachte, meine Brüder! Habt ihr denn noch nie ein heranziehendes -9-
Gewitter in der Luft gerochen?« Beim gewohnten Gang der Dinge wäre Lubrin bei ihm gewesen, um alles mitzubekommen - jedenfalls so nahe, wie er es wagen konnte, heranzugehen (Urien hatte nämlich nicht besonders gern Kinder zwischen seinen Füßen, wenn er es mit einem unruhigen Pferdegespann zu tun hatte) -, denn er liebte die Ponies seines Vaters, am meisten von allen das rote Gespann. Aber das Gleiten und Schweben und Herabstoßen der Schwalben über ihm nahm ihn immer noch ganz gefangen und ebenso auch seine Bemühungen, das Muster ihres Fluges festzuhalten, ehe es sich in der blauen Luft auflöste. Er bemerkte nicht einmal, wie Tigernann, sein Vater, in den Hof trat und in den Wagen hineinsprang, die Zügel dem Wagenlenker aus der Hand nahm und das rote Gespann zur Ausfahrt hinlenkte. Lubrin Dhu war nämlich eine Idee gekommen. Jemand hatte Zweige zur Streu unten aus den Wäldern geholt und hatte dabei ein Büschel zarter, junger Birkenzweige zu Boden fallen lassen. Die Birkenzweige lagen neben Lubrin im weißen Staub. Drei Blätter daran trugen schon einen Schimmer von Gold. Wenn es ihm gelänge, nur eine der herabstoßenden Schwalben im Auge zu behalten und ihr ganz schnell hinterherzulaufen, indem er jeder Drehung und jeder Wendung folgte, und dabei den Birkenzweig durch den Staub hinter sich herzuziehen, und wenn er das gleiche noch mit einem zweiten Vogel versuchte und dann noch mit einem anderen und mit noch einem... Er hob die Birkenzweige auf und stand bereit, den Blick nach oben gerichtet. Eine Schwalbe stieß von den Dachsparren direkt über ihm herunter, und - er hinterher, schoß vorwärts und schwenkte zurück, das Gesicht zum Himmel gerichtet, die Birkenzweige hinter sich durch den Staub ziehend, aber schon war die Schwalbe - seine Schwalbe - verschwunden, verloren in einer Wolke mondsichelförmiger Schwingen. -10-
Und an ihrer Stelle waren plötzlich die hochgeworfenen Köpfe sich aufbäumender Ponies, offene Mäuler und schnaubende Nüstern, ein wildes Schütteln wirrer Mähnen. Es schien ihm, als sei überall um ihn herum und über ihm das Donnern von Hufen. Einen Augenblick lang hörte er nur ein wildes Getrampel, als das Gespann mit einem Ruck zur Seite gerissen und die Tiere am Zügel heftig zurückgezerrt wurden. Lubrin sah auf und blickte über die weidengeflochtene Seite des Wagens in das zornige Gesicht seines Vaters. »Was in Eponas Namen machst du hier?« fragte Tigernann gebieterisch, indem er sich bemühte, seine verschreckten Tiere zu beruhigen. Lubrin blieb furchtlos stehen und blickte seinem Vater ins Gesicht, dessen Stirn sich finster umwölkt hatte. Eine Stimme in seinem Innern sagte ihm, daß es zu schwierig sein würde, zu erklären, er habe versucht, das Muster des Schwalbenfluges einzufangen. »Ich habe versucht, eine Schwalbe zu sein«, sagte er. »Mir scheint, daß du sehr nahe daran warst, eine tote Schwalbe zu sein. Außerdem hast du meine Pferde scheu gemacht.« Der Wagenlenker war herbeigeeilt, um Lubrin wegzuziehen, doch Tigernann wies ihn mit einer Handbewegung zurück. Lubrin sagte nichts. Es schien ihm, daß es nichts zu sagen gäbe. Er und sein Vater sahen sich immer noch an. Bis jetzt hatte Lubrin Dhu seinen Vater kaum bewußt wahrgenommen; er war für ihn etwas Großes und Starkes und Herrliches und Schreckeneinflößendes, so etwas wie eine Mischung aus Sonnenglut und Gewitterwolken am Rande seiner Welt gewesen. Nun, da er dem zornigen Blick seiner hellen blauen Augen gegenüberstand, entdeckte er zum ersten Mal, daß Tigernann, der Häuptling, in der Tat sein Vater war und ein Mann wie andere Männer. Das zu entdecken tat ihm wohl. Und -11-
zu gleicher Zeit machte Tigernann eine sehr ähnliche Entdeckung. Es war zum ersten Mal seit der Geburt seines dritten Sohnes, daß der Häuptling ihn wirklich ansah, den kleinen dunkelhaarigen Knirps, der so anders war als seine hellen Brüder. Aber jetzt sah er ihn, und plötzlich wurde ihm das Herz warm bei diesem Anblick. Er mochte dieses Geschöpfchen, das keinen einzigen Angstschrei ausgestoßen hatte, als es schon fast unter den Hufen der Ponies gewesen war, dieser kleine Kerl, der kaum bis zur Felge des Wagenrades hinaufreichte und keine Angst vor ihm hatte, sondern ihm furchtlos ins Gesicht sah. »Komm«, sagte er, einem plötzlichen Impuls folgend. »Wir sind kein Volk von Vogelzüchtern, sondern ein Volk von Pferdezüchtern, du und ich. Komm mit und sieh dir die Stuten auf den oberen Weideplätzen an.« Und ehe Lubrin noch wußte, wie ihm geschah, hatte der Vater sich zu ihm herabgebeugt, ihn neben sich in den Wagen hinaufgehoben und das Gespann angetrieben, so daß es sich sofort in raschen Trab setzte. Mit hellem Getrappel galoppierte es durch das Nordosttor der Burg hinaus, machte dann eine Drehung zur Seite und kam auf den Pfad, der über den Kamm des langgestreckten Kreidehügels führte. Tigernann ließ seine Peitsche knallen und ließ sie über die Rücken der roten Pferde hinwegtanzen, die im vollen Galopp vorwärts stürmten. Nachdem sie den großen, steil aufragenden Festungshügel hinter sich gelassen hatten, lag zu ihrer Rechten das sanft abfallende weite Land mit den Gerstenfeldern auf den niederen Hängen, die schon weiß der Ernte entgegenreiften, und in der Ferne sah man die verschwommene Bläue der bewaldeten Niederungen. Zu ihrer Linken, der Nordseite, ging es steil abwärts, und das schwankende kopfhohe Gras reichte bis an die nahegelegenen Wälder. Und zwischen beiden folgten sie, begleitet von Sonne und Wolken und Lerchen, dem Kamm der -12-
Kalksteinhügel. Sie hatten nun das Dickicht der Brombeersträucher und Bäume und die stillen feierlichen Erdwälle, die den Pfad markierten, verlassen und das offene Gebiet südlich davon erreicht. Das rote Gespann lief in vollem Trab. Die Wiesenmatten, spätsommerlich lohfarben, glitten in Streifen unter ihnen hinweg, und die Welt war erfüllt vom Donnern der Hufe und eisenbeschlagenen Räder. Lubrin fühlte, wie die gewebten Lederstreifen des Wagenbodens unter ihm vibrierten. Der Wagen hüpfte und schaukelte; Lubrin gab den Versuch auf, sich an der Seite festzuhalten und klammerte sich statt dessen an eines der weit ausgestreckten Beine seines Vaters; denn das schien ihm das sicherste zu sein, woran man sich festhalten konnte. Seine Brüder Brach und Corfil hätten jetzt mit lauter Stimme gejauchzt und gesungen, mit dem Wind um die Wette. Aber Lubrin schwieg still. Sein Vater blickte halb verächtlich auf ihn herab, weil er annahm, daß er Angst hätte, doch sah er, daß es keine Furcht war, sondern daß ein einziges Singen und Jubeln in ihm war. An jenem Tage sah Lubrin zum ersten Mal, wie die Hirten die großen Pferdeherden von einer Weide zur anderen führten, um sie an diesen Spätsommertagen noch einmal grasen zu lassen. Noch nie zuvor war er so weit von zu Hause weggewesen. Und er hatte entdeckt, daß sein Vater Wirklichkeit war - nur eines von all diesen Erlebnissen hätte normalerweise schon genügt, sich eines Tages daran zu erinnern; aber er erinnerte sich sein ganzes Leben lang daran, daß es der Tag gewesen war, an dem er die Weiße Stute gesehen hatte. Den ganzen Tag über hatte man in der Ferne Donner grollen hören; es war einer jener Spätsommertage mit schnell wechselndem Licht, und die Drohung von Donner lag in den Stößen warmen Windes, die durch das Gras und das niedere Dorngestrüpp fuhren. Und dann sah er sie: zuerst eine dichtgedrängte Herde von Stuten, die sich in leichtem Galopp über den Gebirgskamm fortbewegten. Der Himmel hinter ihnen -13-
war voller Sturmwolken, die die Farbe und den Schmelz reifer Schlehen hatten, während die nahen Wiesenhänge noch in gleißendem Sonnenlicht lagen. Dann löste sich eine der Stuten aus der Herde und übernahm die Führung - mit fliegender Mähne, fliegendem Schweif; weiß hob sie sich ab gegen das sich zusammenziehende dunkle Sturmgewölk, weißer als das unter dem Gras verborgene Weiß des Kalkbodens, weißer als die Blüten des Dornbusches; ein paar Herzschläge lang konnte Lubrin sie sehen, gehörte sie ihm, mit dem übrigen Zug dunklerer Stuten, die ihr folgten. Und dann kam mitten aus dem Herzen der zusammengeballten dunklen Wolken ein züngelnder Blitz. Für einen Augenblick sah die Stute aus, als sei sie aus weißem Feuer gemacht, und ihr Feuer brannte sich tief in das innerste Wesen des Knaben ein, so wie ein Brandmal in das Fell eines einjährigen Fohlens eingebrannt wird, wo es ein Zeichen zurückläßt, das niemals vergeht. Dann warf sich die Stute herum, schnaubend vor Angst, und verschwand hinter dem Rand der Hügelkette mit den übrigen Stuten, und im gleichen Augenblick krachte ein Donner hernieder wie ein Peitschenhieb, der unterging in dem Rauschen herabstürzender Himmel und aus den Tobeln und Tälern des Kreidegebirges dröhnte und widerhallte. Der Vater warf einen Zipfel seines dunklen Mantels über Lubrin, als der Regen auf sie herabprasselte. Nach einiger Zeit kam die Sonne wieder heraus, und alles glänzte. Aber nicht das war es, woran sich Lubrin später erinnerte. Er erinnerte sich an die Weiße Stute, an den Traum.
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Kampf in der Halle
Als der Herbst zu Ende ging, wurde Lubrins Schwester geboren. Die Priester bliesen den Mond-Ruf auf den heiligen Ochsenhörnern, welche die frohe Kunde dröhnend über die Downs hinwegtrugen. Und zur Nacht wurde in der Halle des Häuptlings ein großes Fest gefeiert. Gut war es, Söhne zu haben, aber in Lubrins Stamm wurde die Königswürde und die Häuptlingswürde nicht vom Vater auf den Sohn übertragen, sondern sie wurde durch die Töchter an den Mann weitergegeben, den sie heirateten. Tigernann war Häuptling geworden, weil er mit der Tochter des alten Häuptlings verheiratet war, der Ersten Frau des Stammes. Und jetzt hatte er selber eine Tochter, und so würde sein Geschlecht die Häuptlingswürde nach ihm weitergeben. Deshalb feierte der Stamm ein großes Fest. In jeder anderen Nacht wäre Lubrin längst im Frauenhaus in seine Schlafdecke aus gescheckten Tierfellen eingewickelt worden, ehe das festliche Schmausen und Trinken begann. Aber diese Nacht war nicht wie andere Nächte, und die Frauen waren mit anderen Dingen beschäftigt. Und so kroch er wie die meisten Kinder der Burg zusammen mit den Jagdhunden unter den Tischen herum. Wenn die Krieger Knochen und Fleischstücke zu den Hunden hinunterwarfen, bekamen auch die Kinder ihren Teil; und Lubrin war so selig und so voll mit Schweinefleisch und mit in Honig geschmortem Dachsfleisch wie noch nie in seinem Leben. Sie hatten gelärmt und gelacht und getrunken auf die Geburt der Tochter und auf den unbekannten Krieger, der einmal ihr Herr und Gemahl sein würde. »Möge er ein so edler Krieger sein wie der, der einst den Stamm von den östlichen -16-
Weidegründen hierher geführt hat!« hatten die Krieger gerufen, während sie den dunklen griechischen Wein schlürften, der so kostbar war, daß er nur an hohen Festen getrunken wurde. Doch jetzt waren sie still geworden, und Sinnoch, des Häuptlings Harfner, der auf seinem Schemel oben beim Herdfeuer saß, hatte seine kleine schwarze Harfe aus Eichenholz zu stimmen begonnen, indem er sie sanft zum Klingen brachte - so wie ein Mann seinen Falken aufmuntert zu fliegen. Dann legte er seinen Kopf zurück und begann zu singen. Er sang das alte Lied von den jungen Männern des Stammes, wie sie von den Weidegründen im Osten gekommen waren und ihre Herden hierher getrieben hatten, geführt von dem jüngsten Sohn einer Königin, um neue Weideplätze zu finden für ihre Pferde, jetzt, in der Morgenstunde der Welt. »Kommt«, sagte der Prinz, »Wir wollen uns gen Westen wenden Zum Land der Bäume, die silberne Äpfel tragen. Dorthin laßt uns unsere Herden treiben, Die Pferde, die vollmähnigen und stolzen!« Und die Hügel erzitterten Unter dem Dröhnen ihrer Hufe, Und die Staubwolke ihrer Wagenräder Stieg zur Sonne empor. Lubrin Dhu unter dem hohen Tisch sah den Feuerschein über die gezupften Saiten der Harfe tanzen; die Worte, die der Harfner sang, und die Musik woben in seinem Innern ein Muster er konnte es deutlich sehen: ein starkes, tiefes, fließendes Muster, in dem das Klappern der Hufe und das Wallen der Mähnen eingefangen war, und über und unter diesem Muster -17-
von galoppierenden Pferden hoben sich die anmutigen Töne wie schwebende Wolken, wie Scharen kleiner Vögel, die über dem Herd kreisten und schwebten. Und als diese Bilder in ihm aufstiegen, kehrte seine Sehnsucht zurück, den Flug der Schwalben einzufangen. Fast ohne sich dessen bewußt zu sein, schob er sich vorsichtig unter dem Tisch hervor, über den mit Farnkräutern bestreuten Boden zu der Steinplatte, die den Herd einfaßte. Ein Stück verkohlten Holzes war aus der Glut herausgefallen. Er hob es auf und fing an, auf die Steine zu zeichnen, was er in seinem Innern sah. So vertieft war er bei dem Versuch, die sich ständig wandelnden und fließenden Formen festzuhalten, daß er ebenso wie damals im Hof bei den Ställen - alles vergaß, was um ihn herum geschah. Die lange Holzhalle, die Krieger, die an den Tischen saßen, und die Frauen, die zwischen ihnen hin- und hergingen, mit den schlanken, schöngeschwungenen Weinkrügen in den Händen, der Feuerschein, der bis zu den Dachbalken hinaufsprang, bis dahin, wo die Schädel alter Feinde, rauchgeschwärzt und mit rotem und gelbem Ocker bestrichen, an den überhängenden Ankerbalken aufgereiht waren, das alles verschwand wie in einer Staubwolke galoppierender Pferde. Und ebenso wie alles andere vergaß er auch die anderen Kinder unter dem hohen Tisch. Das Muster nahm Gestalt an. Ein anderer hätte auf den Steinen vielleicht nur ein Gewirr von welligen Linien gesehen und zufällige Kreise und Striche; für Lubrin aber, der dem Geheimnis des Musters diesmal näher auf der Spur war als damals bei seinem Versuch mit den Schwalben, bedeutete es das, wonach er in seinem tiefsten Inneren verlangte; und es war schön. Und außerdem war es auf eine rätselhafte Weise Teil seiner Selbst. Plötzlich bemerkten Brach und Corfil, die sich neben ihm um einen Honigkuchen gebalgt hatten, daß er sich mit einem verkohlten Stück Holz auf der Steinplatte vor dem Herd -18-
beschäftigte und reckten die Hälse, um zuzusehen. Corfil lachte, ein lautes spöttisches Lachen, so daß man ihm in den rosigen Rachen sehen konnte, wo ihm ein paar Milchzähne fehlten. Dann stand er auf und trat absichtlich auf Lubrins Zeichnung und schlurfte mit seinen Füßen darüber, bis alles verwischt und verdorben war. Brach, der alles nachmachte, was sein Zwillingsbruder tat, wollte es ihm gleichtun; aber in diesem Augenblick brach in Lubrin Dhu eine rote Blume des Zornes auf. Mit einem Wutschrei warf er sich auf Corfil, dem sein Angriff unerwartet kam, so daß er nach rückwärts hinfiel, immer noch mit offenem Mund, aber sein Lachen hatte sich in fassungsloses Erstaunen verwandelt. Brach warf sich dazwischen, um seinem Zwillingsbruder zu Hilfe zu kommen. Sie hatten Lubrin zwischen sich, zogen ihn herunter, bearbeiteten ihn mit den Fäusten und traten ihn mit den Füßen. Sie waren zwei gegen einen, und Lubrin war zwei Jahre jünger und außerdem klein; aber er kämpfte und wehrte sich wie ein wildes Tier. Corfil heulte auf und wich einen Augenblick zurück, weil er in den Daumen gebissen worden war; dann stürzte er sich wieder hinein in den wirren Haufen von Armen und Beinen. Doch fast im gleichen Augenblick warf sich ein Vierter mit in den Kampf hinein; es war Dara, dessen Vater Drochmail Anführer der Leibwache des Häuptlings war. Er stieß Brach seinen Kopf in den Leib. Sinnoch hatte mit seinem Harfenspiel gleichsam zwischen zwei Tönen aufgehört; er saß da und schaute voller Neugier auf das wütende Knäuel hinunter, das da zu seinen Füßen hin- und herrollte, fast bis in die Asche des Feuers hinein. Schließlich kamen zwei der Krieger und machten dem Kampf ein Ende, so wie eben Männer halb lachend und gleichzeitig nach rechts und links Klapse austeilend junge Hunde trennen, die miteinander kämpfen. Und damit war die Sache abgetan. -19-
Lubrins rote Blume des Zornes erstarb. Er stand da, im festen Griff eines jungen Kriegers, heftig atmend und noch halb schluchzend vor Kummer und Zorn; aber es war ein trockenes, unterdrücktes Schluchzen. Er wollte nicht weinen wie ein Kind vor den Kriegern des Stammes, vor allem aber nicht vor seinen Brüdern. »Und warum all dies Gekläff und Geknurre junger Hunde?« verlangte Tigernann der Häuptling zu wissen. Für die Dauer eines langen Atemzuges sprach niemand. Dann sagte Brach: »Frage Lubrin, mein Vater. Er war es, der angefangen hat.« Der Häuptling zog seine hellblonden Brauen hoch und wandte sich seinem jüngsten Sohne zu: »Lubrin?« Lubrin antwortete nicht. Schon damals, als er versucht hatte, den Flug der Schwalben einzufangen, hatte er gewußt, daß es sinnlos war, seinem Vater darüber eine Erklärung abzugeben; dies hier aber war noch viel schwieriger. Wenn er sagte: Ich habe ein Bild gezeichnet von Sinnochs Harfengesang, und Corfil hat es kaputt gemacht - wer würde das verstehen? Er war nicht einmal mehr sicher, ob er es selber verstand, jetzt, da es vorüber und der Zauber gebrochen war. »Ich warte, und ich liebe es gar nicht, zu warten«, sagte der Häuptling. Lubrin schüttelte den Kopf. »Ich habe es vergessen«, sagte er eigensinnig. »So? Und wegen einer solchen Kleinigkeit, die du jetzt schon vergessen hast, fängst du in der Hohen Halle einen Streit an wie Hunde, die miteinander kämpfen?« »Ja«, sagte Lubrin. Sie sahen einander an, wie sie einander an jenem Tage über den Rand des Wagenrades angesehen hatten. Dann lehnte sich Tigernann in seinen mit Ochsenfellen bezogenen Sitz zurück. -20-
»Dann wollen wir es für diesmal gut sein lassen. Aber das nächste Mal geht ihr alle miteinander in den Vorhof, um euren Kampf dort auszutragen; und die Stelle, wo die Welpen ihre Schwänze haben, wird euch ganz schön brennen!« Der junge Krieger, der Lubrin festhielt, gab ihm einen kleinen freundschaftlichen Stups und ließ ihn gehen. Sinnochs Hand begann wieder über die Saiten seiner Harfe zu streichen und entlockte ihr süße Töne. Sein altersmüder Blick suchte die kleinen hellen Augen von Gault, dem Bronzeschmied, der auf einen Becherrand oder Schildbuckel wundervolle Muster zu zaubern verstand, in die die Geheimnisse von Wind und Sternen und klaren Wassern eingefangen schienen. Die beiden wußten, was die zerstörten und halb ausradierten Linien auf der Steinplatte bedeutet hatten, und sie sagten einander ohne Worte: »Hier ist einer, der zur Bruderschaft gehört.« Lubrin aber bemerkte nichts davon. Er blickte zu Dara hinüber; und Dara leckte seine aufgerissene Lippe und gab Lubrin den Blick zurück aus runden, erstaunten Augen. Dara hatte nichts verstanden, ebensowenig wie Corfil oder Brach, aber er war Lubrin zu Hilfe gekommen, ohne zu verstehen. Zwischen den beiden geschah etwas, tief verborgen in ihrem Inneren. Sie waren wohl noch nicht alt genug, um das zu begreifen oder in Gedanken zu fassen. Sie hatten miteinander gespielt und sich gebalgt, seit sie krabbeln konnten, zusammen mit den anderen Jungen der Burg und zusammen mit den jungen Hunden. Aber erst in diesem Augenblick wußten sie in ihrem innersten Wesen - wo es des Denkens nicht bedarf -, daß sie Freunde waren. Lubrin grinste zu Dara hinüber, und Dara grinste zurück, vorsichtig, denn das Lachen tat ihm weh, weil ihn jemand mit dem Absatz in den Mund getreten hatte. Und als zwei, die nun zusammengehörten, zogen sie sich wieder unter den Tisch zurück, hockten sich auf den Boden mit einem der Welpen zwischen sich, dem sie die Kletten absuchten, die sich in seinem -21-
zotteligen Fell verheddert hatten. Und über ihren Köpfen ging das Gelage weiter, das große Fest zu Ehren des neugeborenen Mädchens, das einmal das Leben des Stammes weitertragen sollte.
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Geschichten, die die Händler erzählen
Das Leben im Stamm ging weiter, und viele Male vollendete sich der Jahreskreis. Die Stuten warfen im Frühsommer ihre Fohlen, und im Herbst wurden die Herden zum Brandmarken zusammengetrieben. Und im Winter wurden die hochbeinigen Zweijährigen als Reittiere oder als Zugtiere für die Wagengespanne zugeritten. Und seit dem Tag des großen Festes, da man die Geburt von Teleri, Lubrins Schwester, gefeiert und der Kampf in der hohen Halle sich abgespielt hatte, hielten Lubrin und Dara zusammen. Sie waren ein Freundespaar, das sich seltsam zusammen ausnahm, besonders als sie älter wurden: Dara, starkknochig, mit hellen Sommersprossen, sehnig wie ein Wolfshund, neben ihm klein wie sein Mittagsschatten -, dunkelhaarig und schweigsam, Lubrin. Doch in Wahrheit war Lubrin Dhu niemandes Schatten. »Sie sind unter demselben Mond geboren; sie sind wie die beiden Hälften einer Haselnuß«, sagte Sinnoch, der Harfner. »So einfach ist das.« Sie jagten und kämpften und lachten miteinander; sie teilten ihr Essen und aßen aus derselben Schüssel, und sie schliefen fast jede Nacht unter derselben Decke, bis sie neun Jahre alt waren und die Zeit für sie gekommen war, in das Knabenhaus einzutreten. Jedes Frühjahr, einen Tag nachdem die Feuer des BelteneFestes (Feuer-Fest am 1.Mai, mit dem der Beginn der warmen Jahreszeit gefeiert wurde.) niedergebrannt waren, wurden die Knaben des Stammes, die seit dem letzten Beltene ihr neuntes Jahr vollendet hatten, in das Knabenhaus aufgenommen, das lange niedrige Gebäude am unteren Ende des Burg-Vorhofes, -24-
um zu Kriegern herangebildet zu werden. Viele Dinge mußten sie lernen, und es galt manche Geschicklichkeit zu erwerben: die Kunst, mit dem Kriegsspeer und mit den Pferdeherden umzugehen sowie Jagdfährten aufzuspüren. Den Gebrauch von Schwert, Speer und Schleuder mußten sie sich aneignen, ebenso, wie man tötet und wie man Schmerzen erträgt, ohne einen Laut von sich zu geben. Sie mußten lernen, eine ganze Herde in Bewegung zu halten und ein einzelnes Fohlen aus einer dahinfliegenden Wolke von Einjährigen herauszusondern, um ihm ein Mal einzubrennen. Sie mußten auch einen Pferdewagen bauen können; denn ein jeder Mann mußte in seiner frühen Jugend als Wagenlenker dienen, ehe er selber StreitwagenKrieger wurde; und jeder Wagenlenker mußte in der Lage sein, abgenutzte oder zerbrochene Teile seines Wagens auszubessern oder zu ersetzen. Sie mußten verstehen, ein Gespann abzurichten und zuzureiten wie auch es zu lenken. Von dem Priester Ishtoreth Von der Eiche lernten sie die Zauberworte zu lesen und zu schreiben, die in geschälte Weidenruten eingeschnitten wurden. Und von Sinnoch mußten sie all jene Lieder auswendig lernen, die von der Geschichte ihres Volkes kündeten. All diese Fertigkeiten mußten sie nach Ablauf von sieben Jahren beherrschen. »Es ist eine harte Arbeit, bis man soweit ist, ein Mann zu sein«, sagte Bryn, der größte und stärkste unter ihnen, der gern in der Sonne lag und schlief. Lubrin machte die harte Arbeit nichts aus, aber in den ersten Jahren litt er sehr darunter, niemals allein zu sein. Das Leben im Knabenhaus vollzog sich in enger Gemeinschaft; die Gleichaltrigen arbeiteten gemeinsam und schliefen eng zusammengedrängt in ihrem Teil des langgestreckten Gebäudes, und selbst ihre Freizeit verbrachten sie meist miteinander. Dara schien ganz glücklich und zufrieden unter diesen Gegebenheiten. Aber Dara verspürte ja auch nicht den schmerzhaften Drang, den Flug der Vögel oder den -25-
Harfengesang oder den Wind in den Gerstenfeldern oder die galoppierenden Herden in Bildern einzufangen. Niemand lachte Dara aus oder neckte ihn, weil er seltsame Muster zeichnete. Über Lubrin aber machten sie sich lustig, allen voran Brach und Corfil, die stets über alles lachten, was sie nicht verstanden; denn hätten sie nicht darüber gelacht, so hätten sie sich vielleicht davor gefürchtet. Und was noch schlimmer war: sie lachten über Lubrins magische Bilder, so daß er es lange Zeit hindurch beinahe aufgab, sich damit zu befassen. Nur ganz heimlich wagte er es noch: Sein Zufluchtsort während dieser ganzen Jahre war eine große Kork-Ulme am Rande einer Waldlichtung. Er hatte sie schon entdeckt, bevor er ins Knabenhaus übergesiedelt war. Es war an einem hellen Sommertag gewesen, als er mit Dara nach einem Nest wilder Bienen gesucht hatte. Drei große Äste wuchsen aus dem Stamm, die das Klettern leicht machten, und hoch oben in seinem Wipfel hatte der Baum weit ausladende dichte Zweige wie die Geweihsprossen eines Königshirsches. Dort oben konnte er ausgestreckt liegen, hoch über den Wipfeln der niedrigeren Bäume, sicher und vor aller Welt verborgen. Hin und wieder, wenn ihn das brennende Verlangen überkam, seine seltsamen Muster zu zeichnen, nahm er ein paar verkohlte Hölzer und ein Stück Silberbirkenrinde mit sich - die tief durchfurchte graue Rinde des Ulmenbaumes war zu rauh, um darauf zu zeichnen - und gab sich den magischen Bildern hin, die in ihm lebten. Er hatte sogar einen tiefen Spalt zwischen zwei Zweigen entdeckt, wo er seine Zeichnungen für eine Weile verstecken konnte, bis sie von Wind und Regen aufgeweicht und verdorben waren. Bisweilen auch zog es ihn einfach zu diesem Zufluchtsort, weil er allein sein wollte, und er kletterte weit hinaus auf seinen Lieblingsast, bis dieser sich unter ihm mit jeder Bewegung des Windes hob und senkte. Bei starkem Wind war es, als ritte er auf einem riesigen, noch ungezähmten Pferd; bei mildem Wetter konnte er ausgestreckt dort oben liegen und in dem Sonnenlicht dösen, das in hellen -26-
Kreisen durch die Blätter fiel. Im Süden sah er das wellige Hügelland der Downs, das langsam bis zu dem hohen Festungshügel anstieg und dann in seinem Verlauf nach Sonnenuntergang wieder abfiel. Eines Tages, als er da oben lag, machte er die aufregende Entdeckung, daß er, wenn er sich ein Auge zuhielt - die ganze Burg seines Vaters und das Knabenhaus und Brach und Corfil und die steilen Torfhänge unter den Wällen und alles, was zu seiner Welt gehörte, bedecken konnte, wenn er nur ein einziges Blatt der Ulme vor sein Gesicht hielt. Das schien zwar keine sehr wichtige Entdeckung zu sein, doch seit er sie gemacht hatte bedeutete es ihm nicht mehr so viel, wenn die anderen ihn und seine magischen Bilder verspotteten. »Mit einem einzigen Ulmenblatt kann ich euch alle zudecken«, dachte er. Und nach und nach, als sie merkten, daß es ihm nichts mehr ausmachte, gaben sie es auf, ihn zu verhöhnen, und ließen ihn gewähren. Eines Tages im Spätherbst des dritten Jahres, das Lubrin und Dara im Knabenhaus zubrachten, kam ein Händler aus dem Norden den Pfad herauf, der seine Ponies bepackt hatte mit schön bemalten Tierhäuten und mit Schmuckstücken aus gelbem irischen Gold, die er in einer Tasche aus Seehundfell aufbewahrte. Viele Händler kamen und gingen durch Tigernanns Burg; denn unterhalb ihrer Torf- und Holzwälle kreuzten der hohe Gradweg und der Weg der Pferdehirten, der in seinem Schatten an den niederen Hängen entlanglief, eine alte Handelsstraße, die nach Norden und Süden führte. Meist waren es Pferdehändler. Einst hatten die Leute aus Tigernanns Stamm, die Iceni, ihre kleinen feurigen Pferde nur für sich selber gezüchtet, aber jetzt hatten sich im Süden neue Märkte für zugerittene Ponies aufgetan; und deshalb kamen die Pferdehändler. Aber es kamen auch Händler aus dem Norden, die Tierfelle und eiserne Speerklingen brachten und dunkles Salz aus den regenreichen Wäldern von jenseits des großen -27-
Wassers und Bronzebarren, die Gault und die anderen Schmiede zu schönen Weinbechern, Kriegshelmen und Schildbuckeln verarbeiteten; und Wein aus dem Süden in schlanken Krügen, die an Tragriemen zu beiden Seiten des Pferdesattels hingen. Es war Brauch, daß der Händler, nachdem er im Gästehaus bewirtet worden war, seine Pferde im inneren Sattelhof vorführte, ob er nun etwas kaufen oder etwas verkaufen wollte und daß er seine anderen Waren vor dem Hochsitz in der Halle ausbreitete, so daß der Häuptling und anschließend seine Krieger die erste Auswahl hatten. Am nächsten Tag bot er dann seine Waren in dem offenen Vorhof feil, so daß jeder zu ihm kommen und etwas erhandeln konnte. Dann versammelten sich die Leute von nah und fern, nicht nur, um zu kaufen oder zu verkaufen, denn außer ihren Waren brachten die Händler Neuigkeiten mit, Neuigkeiten aus aller Welt, die sie auf ihren Reisen aufgeschnappt hatten und die sie von Ort zu Ort weitertrugen. Das Knabenhaus gehörte zum Haushalt des Häuptlings, obwohl nur die Knaben aus dem letzten Jahr mit den Kriegern in der Halle zusammen essen durften. Und so gingen diejenigen unter ihnen, die nichts Besseres zu tun hatten, am ersten Abend, wenn der Händler fertig gegessen hatte, hinüber in die große Halle, um zu sehen, was er zu verkaufen habe und um seine Geschichten anzuhören. Wenn sie Glück hatten, war er einer von jenen Händlern, die so angefüllt waren mit ihren Erzählungen, wie ein Ei angefüllt ist mit Eiweiß und Dotter. In jedem Fall aber bildeten seine Geschichten eine willkommene Abwechslung zu denen von Sinnoch, dem Harfner, die jeder schon auswendig konnte. Es war mitunter gut, etwas Neues zu hören. Lubrin kritzelte gerade den Kopf einer Hindin auf das flache Schulterblatt eines Hammels, dessen Fleisch sie zu Abend gegessen hatten. Er bemühte sich, den Augenblick im Bilde festzuhalten, wie sie eben entfliehen wollte. Und er hätte wohl -28-
auch weitergezeichnet, ohne sich die Geschichten des Händlers anzuhören. Aber Dara packte ihn bei der Schulter und zog ihn auf die Füße. »Deine Hindin läuft dir nicht weg, du kannst später daran weitermachen«, sagte er und deutete mit dem Kinn nach dem Hammelschulterknochen. Lubrin bezweifelte das. Er bezweifelte, ob es ihm gelingen werde, den Augenblick, da die Hirschkuh eben entfliehen wollte, noch einmal einzufangen. Aber er ging mit Dara und den anderen an dem großen schwarzen Stein in der Mitte des Vorhofes vorbei, an dem die Krieger immer ihre Waffen schärften, und durch den offenen Torweg in die Halle. In der Halle war die Luft rauchig vom Feuer und Fackelschein. Der Häuptling saß auf seinem Hochsitz, nach vorn gebeugt, um besser sehen zu können, wie der Händler diesen und jenen Gegenstand aus seinen Tuchballen hervorzog und auf das Stück karmesinroten Tuches legte, das er zu seinen Füßen ausgebreitet hatte. Die meisten seiner Felle hatte der Mann in den Ballen gelassen - für Felle aus dem Norden fand er weiter südlich einen besseren Markt -, aber er hatte einige außergewöhnlich schöne Marderpelze und ein paar schön gezeichnete Bergkatzen-Felle hervorgeholt. Sie lagen jetzt aufeinandergestapelt auf dem zottigen Fell eines Braunbären, und die Krieger und ihre Frauen drängten sich nahe heran, um zu sehen, was er sonst noch hatte. Die Knaben schoben sich unter den anderen durch, soweit nach vorn, wie sie konnten. Sie sahen ein goldenes Halsband und Broschen, in rote Emaille gefaßt, die im Fackelschein leuchtete wie verglühendes Holz, und prächtige Armreifen aus vergoldeter Bronze und einen Dolch mit einem Griff in Gestalt eines Mannes, der die Hände über dem Kopf gefaltet hat. Der Händler selber jedoch, ein dunkler, untersetzter Mann, auf dessen Unterarmen sich schwarze Haare kräuselten, paßte besser zu den aufeinandergestapelten Fellen als zu dem glänzenden Gold und -29-
der Emaille und dem Narwal-Elfenbein, womit er so liebevoll umging wie eine Frau. Eben hatte er auf das karmesinrote Tuch ein Geklimper kleiner goldener Kugeln geworfen, von denen jede mit einer winzigen Öse zum Aufhängen versehen war, und hob sie behutsam wieder auf, indem er jeweils zwei oder drei von ihnen aus einer Hand in die andere warf. »Was sind das für Kugeln?« fragte der Häuptling. »Solche habe ich noch nie gesehen.« »Goldene Äpfel als Haarschmuck für eine Frau. Das ist eine neue Mode unter den feinen Damen von Eriu. Sie flechten ihr Haar in viele dünne Zöpfe - oh, es sind mehr als Finger an meinen beiden Händen - und binden an jedes Zopfende eine solche Kugel. Eine hübsche Mode.« »Jaja, eine hübsche Mode. Von Eriu, sagst du? Kommst du diesmal aus Eriu?« »Ich war im Frühsommer dort. Warum?« Der Häuptling zuckte die Achseln. Es war nicht wichtig. »Händler aus Eriu kommen fast immer auf dem Pfad, der vom Westen herführt.« »Ich bin mit meiner Ware hinauf nach dem Norden von Eriu gegangen und dann hinüber zu den Inseln und dann weiter nach Albu. Es war eine neue Route. Es ist manchmal gut, einen Weg zu gehen, den andere noch nicht gegangen sind. Aber« - der Händler schüttelte den Kopf -, »ich würde diesen Weg nicht noch einmal gehen. Es leben zu wenig Menschen zwischen den Bergen und dem Meer. Es gibt nur Seen und weites Moorland. Für euch wäre es allerdings etwas anderes: ein weites, leeres Land, voll von Weidegründen für die Pferde, gute Weidegründe zwischen Wäldern mit Haselnußsträuchern und Heide...« Die jungen Männer, die da so im Feuerschein versammelt saßen, blickten einander an. Erinnerung stieg in ihnen auf, -30-
Erinnerung an Sinnochs Lied vom Treiben der Herden gen Westen. Lubrin fühlte die Erregung, die sie bewegte, das leichte Wallen ihres Blutes, das von einem auf den anderen übersprang. Seine Augen begegneten dem Blick Daras, in dem es aufleuchtete, und er wußte, daß auch er davon ergriffen war. In diesem Augenblick - durch die beiläufig gesprochenen Worte des Händlers und die Erinnerung an ein altes Lied - wurde ein Traum zwischen den beiden geboren. Dann wandte sich Tigernann seinem Weibe zu, Lubrins Mutter, die neben ihm auf einem Kissen von Rehhäuten saß. »Saba, mein Weib, würde es dir gefallen, dein Haar so zu tragen?« Saba schüttelte den Kopf. Sie trug ihr Haar in einem gestickten Netz wie viele Frauen des Iceni-Stammes. »Ich mag mein Haar nicht anders tragen, nur weil das bei den Frauen von Eriu Mode ist. Wenn du mir ein Geschenk machen willst, mein Gemahl, dann möchte ich dies hier haben.« Und sie ergriff einen blankpolierten Bronze-Spiegel, der auf der Rückseite fein ziseliert war mit blauer und grüner Emaille und einen Griff aus getriebenem Silber hatte. »Es soll dir gehören, du hast ihn ausgesucht«, sagte Tigernann, und zu dem Händler gewandt frug er: »Was willst du für den Spiegel haben?« Und während sie zu handeln begannen, beugte sich Gault, der Bronzeschmied, vor und streckte seine Hand aus. »Darf ich ihn ansehen, Herrin?« Sie reichte ihm den Spiegel, und er drehte ihn zum Licht und betrachtete ihn im Feuerschein und fuhr mit seinem Finger über die Linien, entlang den drei- und vierfachen Windungen, die auseinander- und wieder zusammenliefen. Und als der Handel abgeschlossen war, sagte er zu dem Händler: »Dies ist ein schönes Muster, es würde sich wunderbar für einen Schildbuckel eignen«. Und er gab Saba ihren Spiegel zurück. -31-
Der Händler lächelte. Er hatte dergleichen schon früher gehört. Er und Gault kannten einander gut. »Gibt es irgend etwas auf der Welt, das du dir ansiehst, ohne zu überlegen, ob es nicht ein passendes Muster für einen Schildbuckel abgeben könnte? Und da wir gerade von diesen Dingen sprechen: Hast du etwas, das du mir zeigen magst, wenn ich in aller Bescheidenheit morgen früh in deine Werkstatt komme?« »Ich habe dir schon etwas zu zeigen«, sagte Gault. »Ob du es aber kaufen möchtest, ist eine andere Sache, eine ganz andere Sache ist das, und es hängt davon ab, an wen du es verkaufen möchtest; meine Arbeiten sprechen nicht zu allen Menschen, und selbst für die, die sich angesprochen fühlen, gilt, daß sie nicht billig sind.« »Oh, das weiß ich schon lange.« Gault lächelte und breitete seine Hände aus: »Ich habe es nicht nötig, billig zu verkaufen.« »Ich kann einen guten Preis anbieten«, sagte der Händler; »denn ich glaube, daß ich die Sachen gut verkaufen kann. Die Attribaten sind ein reiches Volk.« »Die Attribaten? Ja, das habe ich sagen hören. Reich an diesen neuen goldenen Münzen, die sie aus Gallien mitgebracht haben. Aber sicherlich haben sie eigene Bronzeschmiede und Schildermacher?« »Sie sind ein großes Volk, diese Meister im Wagenlenken, und sie haben ihre eigenen Bronzeschmiede und ihre Schildermacher, wie es sich für ihre Größe gehört. Aber da sie ein reiches Volk sind, besonders an Münzen reich, können sie leicht Handel treiben und lieben es, Dinge zu kaufen, die ihnen fremd sind und die aus fremden Werkstätten stammen. Und deshalb werden sie jeden Preis bezahlen.« In dem kurzen Schweigen, das auf diese Worte folgte, sahen die Männer einander an. Dann sagte der Häuptling: »Ich habe von diesem Volk gehört. Es überquert das Meer, um sich da -32-
drüben eine neue Heimat zu suchen.« Er wies mit dem Daumen hinüber gen Süden, wo in der Ebene die großen Wälder lagen. »Es wird von ihnen gesagt, daß sie lieber nach Norden wandern, statt sich widerstandslos von den vorwärtsmarschierenden Roten Helmbüschen überrennen zu lassen. Nun, das ist etwas, das jeder verstehen wird.« Und sie fingen an, über die Welt jenseits der Kreidehügel und der Wälder im Süden bei dem Großen Wasser zu sprechen und über das Volk mit den hart zupackenden Händen, das seine Kriegsheere Legionen nannte. Sie marschierten in geraden Linien und folgten dabei den Gold- und Silberfiguren ihrer wie Adler gestalteten Kriegsgötter. Auf ihren Helmen trugen sie Helmbüsche aus rotem Pferdehaar. Der Händler hatte mehr als einmal mitten unter ihnen geweilt und wußte wundervolle Geschichten von ihnen zu erzählen. Die anderen saßen um ihn herum und hörten zu. Das war es, weshalb sie eigentlich hergekommen waren: Sie wollten die Geschichten des wandernden Händlers hören. Lubrin Dhu aber hörte wenig von alledem. Er dachte immer noch an jenes Land im Norden: weite große Weidegründe für die Pferde zwischen den Bergen und dem Meer. Er träumte törichte Träume von dem Tag, an dem er und Dara eine neue Schar junger Männer gen Norden führen würden, um jenes Land zu finden. Er sah die Stuten grasen unter gewaltigen Bergen, wie er sie noch nie in Wirklichkeit gesehen hatte, und er hörte die Harfner singen an neuen Herdfeuern; sie sangen ein neues Lied, wie die Herden in einem großen Zug gen Norden getrieben wurden... Aber mitten in diesen Träumen wurde er von Dara an den Schultern gerüttelt, denn es war Zeit, in das Knabenhaus zurückzugehen. In dieser Nacht träumte Lubrin - wie er immer wieder geträumt hatte, seit er fünf Jahre alt war - von einer weißen Stute, die über den Hügelkamm galoppierte und die weißer war -33-
als der unter dem Gras verborgene Kreideboden und weißer als die Blüten des Dornbusches, und hinter ihr sah er wie einen großen Schatten die Herde, die ihr folgte.
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Das Fest der Erwählung
Die sieben Jahre im Knabenhaus gingen vorüber, und zusammen mit den anderen Knaben ihres Jahrganges unterzogen sich Lubrin und Dara den düsteren Zeremonien, die sie zu Männern machten. Miteinander durchlebten sie die Verborgenen Tage: die drei Tage, an denen die Frauen des Stammes um sie klagten wie um Tote. Und miteinander kamen sie wieder zurück und schritten stolz in den Reihen der speertragenden Krieger zu ihren Plätzen auf der Seite der Männer, mit den frisch punktierten und gemalten Zeichen und Mustern, die alle Männer trugen und die ihnen noch wund und gerötet auf Brust und Schultern brannten. Lubrin trug jetzt den schmalen bronzenen Halsreif, der ihn wie Brach und Corfil - als Häuptlingssohn auszeichnete. Aber immer noch waren er und Dara, wie der alte Sinnoch gesagt hatte, »wie zwei Hälften einer Haselnuß«, und immer noch träumten sie - obwohl es kaum je zwischen ihnen ausgesprochen worden war - den gemeinsamen Traum von den großen Pferdeweiden im Norden. Zweimal im Jahr, um die Zeit der Beltene-Feuer und dann wieder zur Zeit des Samhein-Festes (Am 1.November wurde der Übergang vom alten zum neuen Jahr gefeiert.), wurden die Herden zusammengetrieben, einmal zum Schlachten des Viehs und dann wieder im Herbst zum Brandmarken. Und etwa zu Beginn des Auftriebs stellten sich die Händler ein; dann wurden die Hänge des Hügellandes rund um Tigernanns Festung für einige Zeit zum Pferdemarkt. Das Zusammentreiben bedeutete jedes Mal eine Zeit abendlicher Feste nach vollbrachtem Tagewerk, und es war auch die Zeit der feierlichen Zeremonien, die bewirken sollten, daß es ein gutes Jahr werde, das Korn zur Reife gelange, die Stuten viele Fohlen würfen und die Frauen -36-
stattliche Söhne zur Welt brächten. Doch über dem ersten Samhein-Fest, seit Lubrin zum Manne geworden war, lag ein dunkler Schatten; denn im Frauenhaus hinter der Halle lag Saba, seine Mutter, die Erste Frau des Stammes, im Sterben, dahingewelkt wie eine kraftlose Hülle ihrer Selbst, ausgezehrt von einer inneren Krankheit, die alle Kunst der Priester nicht zu heilen vermochte. Kalt lag dieser Schatten über Lubrin und verhüllte ihm den Himmel. Doch der Auftrieb der Herden und das Brandmarken mußten weitergehen, und die Söhne des Häuptlings hatten ihre Aufgaben dabei zu erfüllen. Die Arbeiten mit den Kühen und Schafen und dem Korn wurden von dem Alten Volk verrichtet, die Pferde aber waren Sache der Männer. Und an Samhein und Beltene gab es Arbeit für jeden, angefangen vom ärmsten Krieger, der nichts besaß als seinen Speer, bis hinauf zum Häuptling selber. Lubrin hatte geholfen, ein Rudel Zweijähriger in den Pferch hineinzutreiben; und als er eben den Torbalken wieder an seinen Platz gewuchtet hatte und sich umwandte, sah er, daß einer der Fremden, die zum Pferdemarkt gekommen waren, an der alten Torfmauer lehnte und ihn beobachtete: Es war ein junger Mann von stattlichem Wuchs, mit dichtem, glattem blondem Haar und blauen Augen, die sich in seinem von Wind und Sonne gebräunten Gesicht zu Schlitzen verengten, während er die Fohlen prüfend betrachtete. »Eine gute Rasse«, sagte er, sich umwendend, als habe er Lubrins Blick gespürt. Lubrin versuchte - ohne sich eigentlich klar darüber zu sein-, ihn einzuordnen, indem er seine Hände betrachtete und seine Haltung, wie er so dastand und auf seinen Fußballen wippte. »Ich könnte mir denken, daß für jemanden wie euch die Wagengespanne von größerem Interesse sein könnten.« Der Fremde lächelte, wobei seine kräftigen, aber schiefgewachsenen Zähne zum Vorschein kamen. -37-
»Die Zweijährigen von diesem Herbst sind die Wagengespanne des übernächsten Herbstes. Es macht mir Vergnügen, das Rohmaterial zu sehen.« »Jetzt weiß ich, daß ihr ein Wagenlenker seid«, sagte Lubrin. »Was das Rohmaterial betrifft, so gibt es davon noch eine ganze Menge drüben auf den westlichen Weiden.« Er zögerte. »Ich bin gerade dabei, einige Pferde von dort hereinzutreiben. Wollt ihr mit mir reiten?« »Einverstanden. Sehr gern«, sagte der andere, »wenn ihr mir ein Pferd besorgen könnt. Mein eigenes habe ich im Lager auf dem Markt gelassen.« Die Hand schon am Zügel seiner kleinen dunklen Stute, rief Lubrin einen vorübergehenden Mann herbei, der dem Fremden einen Fuchs mit einer gestreiften Reitdecke brachte. Ein wenig später ritten die beiden miteinander die Downs entlang nach Südwesten. Vor ihnen und zu ihrer Linken lag weit ausgebreitet das Land, sanft abfallend in die weite waldige Ebene der Flußlandschaft. Bei klarem Wetter konnte man bis zu den fernen Hügeln mitten im Land der Attribaten sehen. Heute aber hing ein leichter Herbstdunst, blau wie der Rauch eines Holzfeuers, über den Hügeln, und das ganze Land im Süden sah aus wie eine Traumlandschaft. Und aus dieser Traumlandschaft schoben sich Wolkenschatten über den kahlen lohfarbenen Torf. Wie große Kriegspferde, mußte Lubrin plötzlich denken, wie die Schatten von langsam dahingleitenden Heeren von Wagengespannen... »Sicher seid ihr bei den Attribaten gewesen?« fragte er, ohne recht zu wissen, warum. »Und vorher in Gallien. Überall, wo es Pferde zu kaufen und zu verkaufen gibt.« »Man sagt, daß wir hier eines Tages Krieg haben werden.« »Krieg?« Der Fremde warf ihm einen raschen Blick zu. »Daß die Attribaten wieder weiter vorrücken werden, um eine neue Grenze für ihre Jagdgründe festzulegen.« Lubrin schämte -38-
sich, als er dies sagte, weil es ihm bei seinen eigenen Worten kalt über den Rücken lief. Er war ein Krieger; er sollte begierig darauf sein, seinen Speer mit Blut zu röten. »Das sagen sie«, fügte er zögernd hinzu. »Wer sagt das?« »Die alten Männer. Solange ich mich zurückerinnern kann.« »Das sagen die alten Männer immer, zu allen Zeiten, in allen Stämmen. Wenn sie es lange genug sagen, wird es am Ende wahr.« »Vielleicht.« Lubrin gab seiner Stute die Sporen, so daß sie sich in Galopp setzte, und ritt den Berg hinunter, dorthin, wo die Hirten bei der Arbeit waren. Der Hang, der gesprenkelt war mit Weißdornbüschen, schnitt die Sicht nach Süden zu ab. Wolkenschatten trieben darüber hin. Als er an diesem Abend durch die Tore der Burg zurückritt, hörte er die Frauen klagen und wußte, daß seine Mutter gestorben war. Und er dachte nicht mehr an den Fremden, mit dem er tagsüber zusammen geritten war. Sie hatten Lubrins Mutter in ihr Schlafgemach gelegt, geschmückt mit ihrer schönsten Halskette aus blauem Glas, neben sich den Bronze-Spiegel mit dem silbernen Griff. Und Lubrin weinte um sie, eine ganze lange regnerische Herbstnacht hindurch, so wie sie - vor fast siebzehn Jahren - über ihn geweint hatte. Und das Leben ging weiter. Jetzt galt es, das Fest der Erwählung zu begehen. Teleri war eben erst zwölf Jahre alt, und wenn alles normal verlaufen wäre, hätte man bis zu ihrem vierzehnten Geburtstag gewartet, um dann das Fest der Erwählung und das der Vermählung hintereinander zu begehen. Aber nun, da Saba, ihre Mutter, tot war, war sie die Erste Frau des Stammes, und man durfte keine Zeit verlieren, unter den jungen Kriegern denjenigen zu finden, der ihr Gemahl und Herr sein und den Stamm anführen sollte, -39-
wenn Tigernanns Zeit abgelaufen sein würde. So wurde das Fest begangen, und der Priester Ishtoreth Von der Eiche trank aus dem Becher der Erkenntnis den BienenTrunk, dem geheimnisvolle Krauter beigemischt waren, die die Augen des Geistes öffnen. Dann begab er sich hinunter in die geschützte Mulde am Kreidehügel, wo die neun heiligen Apfelbäume unterhalb der niedrigen Torfmauern wuchsen, und legte sich unter dem ältesten Apfelbaum zum Schlafe nieder, auf daß Epona, die Herrin der Fohlen, die Große Mutter, ihm im Schlafe den Namen des erwählten Kriegers offenbare. Die ganze Nacht ging das Fest in der Halle und im Vorhof des Häuptlings weiter, während Ishtoreth am heiligen Orte schlief, eingehüllt in sein Gewand aus Pferdehäuten zum Schutz gegen Regenschauer. Im ersten Morgenlicht hörte das Gelage langsam auf, und die Männer wandten ihre Blicke dem Westtor zu, das während der ganzen Nacht offen gestanden hatte. Und nach und nach senkte sich eine große Stille, die Stille des Wartens, über die ganze Burg. Es war so still, daß - als sie schließlich langsame Schritte den Pfad heraufkommen und das Knirschen von Kieselsteinen hörten - diese Geräusche den ganzen Morgen zu erfüllen schienen. Und dann stand Ishtoreth auf der breiten steinernen Schwelle, die rituellen Muster auf seiner Haut vom Regen verwischt und mit großen schwarzen Ringen unter den Augen, und er sah aus wie ein Mann, der überhaupt nicht geschlafen hat, sondern soeben von einer langen, langen Reise zurückgekehrt ist. Noch lag tiefes Schweigen über der wartenden Burg. Lubrin, der neben Dara mitten unter den jungen Kriegern stand, hörte das Rieseln des Herbstregens und das feine Pfeifen des Windes über dem Hügel und das Stampfen eines Pferdes aus den Stallungen. Langsam schritt Ishtoreth über den Vorhof und über den Platz, den die zurückweichende Menge für ihn freigemacht -40-
hatte, vorbei an dem großen schwarzen Waffenstein, bis zu Tigernann, der ihn auf der Schwelle der Halle erwartete. Tigernann sprach die rituellen Worte: »Warst du dort? Hast du gesehen? Hast du die Frage gestellt? Bringst du die Antwort?« Ishtoreth antwortete, kaum lauter als das leise Seufzen von Regen und Wind: »Ich war dort. Ich habe gesehen. Ich habe die Frage gestellt, und ich bringe die Antwort.« »So sprich; denn wir haben lange gewartet.« Ishtoreth schritt an die Seite des Häuptlings, so daß er nun der Menge, die den Vorhof füllte, gegenüberstand. Plötzlich hob er beide Arme hoch, und diesmal durchbrach seine Stimme das Schweigen wie ein Trompetenstoß. »Merket auf und hört mir zu, ihr Herren der Pferde! Denn ich, Ishtoreth, habe den Erwählungsschlaf getan und mit Epona gesprochen, der Herrin der Fohlen, der Mutter aller Dinge, die da sind. Und von ihr bringe ich den Namen des Kriegers, der Herr und Gemahl sein soll der Ersten Frau des Stammes und Herr über all eure Speere, wenn einmal die Kraft, den Speer zu tragen, aus Tigernanns Arm entweichen wird!« Und wieder war da nichts als das große erwartungsvolle Schweigen und der leise wispernde Wind und das stampfende Pferd im Stall. Dann brach es aus der Menge heraus: »Nenne uns den Namen, Ishtoreth, Eichenpriester!« Abermals herrschte Schweigen, bis endlich die Stimme von Ishtoreth wie ein Trompetenstoß ertönte: »Diesen Namen spricht die Mutter, die unter ihren Apfelbäumen sitzt, während ihre Stuten um sie herum grasen und die Fohlen an den Äpfeln nagen, die sie im Schöße hat. Es ist der Name von Dara, dem Sohne Drochmails! Er soll der Herr sein der Ersten Frau und Herr des Stammes, wenn die Zeit für ihn gekommen ist.« -41-
Und die Männer nahmen den Ruf auf: »Dara, Sohn Drochmails! Dara, Sohn Drochmails!« Tigernann machte einen Schritt vorwärts. Lubrin verspürte ein seltsames Gefühl der Kälte im Bauch, ein ungläubiges, fassungsloses Staunen. Er fühlte, wie Dara neben ihm einen Augenblick zusammenfuhr wie ein erschrecktes Tier. Dann war der Platz an seiner Seite leer. Der, der ihm mehr als ein Bruder gewesen war, war in die Mitte des offenen Platzes getreten, wo Tigernann auf ihn wartete. Dara nahm die Hände des Häuptlings in seine eigenen Hände und hob sie an die Stirn, während alle Männer Beifall schrien und mit dem stumpfen Ende ihrer Speere auf den Boden schlugen, bis es schien, als ertöne aus den Tiefen des Kreidehügels ein Pochen zurück wie der Schlag eines großen schlafenden Herzens - aus der Tiefe und von weit, weit her. Da stahl sich Lubrin leise und unbemerkt hinweg, hinaus aus der Burg und den breiten Damm hinunter, zwischen den tiefer gelegenen Pferdeweiden hindurch zu den Wäldern unten im Tal. Er lief, ohne zu überlegen, zu der großen Kork-Ulme am Rande der Lichtung, die so oft seine Zuflucht gewesen war, wenn er das Leben im Knabenhaus nicht mehr ertragen konnte. Er kletterte hinauf, fast ohne zu denken; er kannte den Weg über die verschiedenen Äste wie ein Mann den Weg zur Schwelle seines Hauses kennt; und bald darauf lag er ausgestreckt auf seinem Lieblingsast. Die Blätter waren fast alle schon abgefallen, aber unter ihm leuchtete noch das Laub der Birken und Haselnußsträucher und Eichen rotbraun und golden im verglimmenden Feuer des Herbstes; und das Grau der gefurchten Rinde war vom vielen Regen fast schwarz geworden. Aber sein Zufluchtsort war noch da, wie er schon immer da gewesen war. Heute blickte er nicht hinüber zu der Burg, die sich oben auf der höchsten Erhebung der Downs duckte, seines Vaters Burg, die er ganz bedecken konnte, wenn er ein Ulmenblatt mit der ausgestreckten Hand davor hielt. Er lag da, -42-
das Gesicht auf seinen Arm gepreßt und starrte in die Schwärze, die in ihm war. Er dachte nicht einmal sonderlich viel. Seltsamerweise kam ihm Teleri in den Sinn, und er überlegte, wie sie es aufnehmen würde, wenn man die Nachricht zu ihr ins Frauenhaus brächte. Er wußte so wenig von ihr. Sie war erst vier gewesen, als er ins Knabenhaus eingetreten war, ein rundliches, weiches kleines Geschöpf, das zu weinen anfing, wenn es nicht bekam, was es vom Leben wollte. Er fragte sich, ob sie wohl auch jetzt weine. Vielleicht war sie glücklich... Er hörte auf zu grübeln und lag nur so da, eine lange Zeit, und er spürte unter sich die vertraute Lebenskraft des Astes und starrte ins Dunkle. Eine ganze Weile später hörte er ein leichtes Rascheln im Gebüsch unter sich - etwas, jemand näherte sich vom Rande der Lichtung her. Er öffnete die Augen und spähte hinunter durch das rotbraune Gewirr der Äste und Zweige. Da sah er, daß es Dara war. Lubrin schwang sich von seinem Ast hinunter, hing einen Augenblick in der Luft und tastete mit den Zehen nach dem unteren Ast, hielt sich an einem anderen fest, sprang tiefer hinab, schwang sich von Zweig zu Zweig und landete auf dem Boden gerade in dem Augenblick, als Dara den Fuß des Baumes erreichte. Es war besser, daß er aus seinem Versteck herauskam, um der »Sache« ins Auge zu sehen, als zu warten, bis die »Sache« zu ihm ins geheime Lager drang! Sie standen und sahen einander an, die warmen blauen Augen und die kühlen dunklen. Und während sie sich so ansahen, strich der eisige Hauch eines Windes am Waldessaum vorüber, der den Winter verkündete, trocknete die regennassen grauen Distelköpfe, verwehte die verwelkten Blütenblätter des Fingerhutes vom letzten Sommer und erstarb. »Ich habe dich gesucht«, sagte Dara schließlich. »Es ist Zeit, beim Fest weiterzufeiern.« Und Lubrin bemerkte, daß das Licht im Schwinden war und -43-
daß es zu dämmern begann. »Wieso wußtest du, wo ich zu finden bin?« fragte er. »Die Zeit im Knabenhaus ist noch nicht so lange her.« Aber der Baum war das einzige gewesen, das Lubrin selbst mit Dara niemals geteilt hatte. Dara sah den Ausdruck auf seinem Gesicht und antwortete auf die unausgesprochene Frage. »Einmal hast du deinen neuen safrangelben Kilt zerrissen, und ein paar Fetzen davon waren an den unteren Zweigen hier hängengeblieben. Es war gut, daß ich sie gefunden habe und nicht irgendeiner von den anderen.« »Pah, es hätte nichts ausgemacht, wenn ein anderer sie gefunden hätte. Ich kann besser klettern als ihr alle.« »Nur weil du nicht größer bist als ein Eichhörnchen.« Sie lachten und versuchten mit harmlosen kleinen Neckereien zu ihrer alten brüderlichen Vertrautheit zurückzufinden, aber das Lachen tat weh und blieb ihnen in der Kehle stecken. Nichts würde je wieder so sein wie früher. Sie sahen einander an, ohne zu sprechen; und der Traum, den sie miteinander geträumt hatten, auch er erstarb: der Traum, zusammen mit ihren Herden gen Norden zu ziehen. Wenn dies je geschähe, so wäre es Lubrin alleine, der die jungen Männer des Stammes zu neuen Weidegründen für ihre Pferde führen würde. Dara durfte von nun an nie mehr die Burg auf dem Hohen Kreidehügel verlassen. Einen Augenblick lang umarmten sie einander wie zum Abschied. Dann sagte Lubrin: »Komm nun, wir müssen zurück zum Fest.«
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Bedrohung aus dem Süden
Noch fast zwei Jahre mußten vergehen bis zur endgültigen Verbindung zwischen Dara und Teleri; denn keine Frau des Stammes durfte mit ihrem Gemahl am gemeinsamen Herde weilen, bevor sie nicht vierzehn Jahre alt geworden war. So lebte Teleri noch fast zwei Jahre als Tochter des Häuptlings im Frauenhaus. Und Dara breitete seine Schlafdecke weiter mit den anderen jungen Kriegern in der Halle aus. Und an der Oberfläche schien alles so, wie es vor Ishtoreths »Schlaf der Erwählung« bei den heiligen Apfelbäumen gewesen war. Noch zweimal lag eine Schneedecke über den Downs, und die Männer des Stammes machten sich Nacht für Nacht zusammen mit dem Alten Volk auf, um die Wolfswache zu halten. Noch zweimal wurde der Torf trocken und glatt in der Sommerhitze, und der Südwind war erfüllt vom Duft des Thymians, des Klees und der schwankenden blauen Skabiosen. Die Schafe warfen ihre Lämmer und die Stuten ihre Fohlen; und Lubrins KorkUlme trieb Knospen, die in den ersten Frühlingstagen den Baum in einen Schleier von winzigen purpurfarbenen Blüten hüllten. Doch auf einmal waren es nicht nur die alten Männer, die von Krieg mit den Attribaten sprachen. Jeder Händler aus dem Süden wußte von Männern zu berichten, die ihre Waffen blank putzten, und von neuen Wagen, die gebaut, und von neuen Pferdegespannen, die zugeritten wurden, so daß Tigernann entlang den Weidegründen der Iceni im Süden ständige Wachen anordnete. Sie mauerten das Osttor der Festung zu und rissen den Damm an jener Seite nieder, so daß man, falls ein Angriff käme, wenn er käme - nur einen Torweg zu verteidigen hätte. Dennoch machte das Jahr zur Erntezeit an den Hängen der Downs die Gerste wieder weiß und reif für die Sichel. Mit dem ersten Neumond nach der Ernte, als die Frauen schon mit dem -46-
Dreschen auf der Tenne, einem in den Kalk eingestampften ebenen Boden, beschäftigt waren, war die Zeit gekommen, das Hochzeitsfest für Dara und Teleri zu rüsten. Beim ersten Licht des Neumondtages begannen sich die Leute des Stammes zu versammeln; und im Laufe des Tages drängte sich eine immer dichtere Menge zusammen, als alle Männer und Frauen der Iceni herbeiströmten aus ihren Behausungen und Ansiedlungen in den Wäldern der Ebene und jenseits des Hohen Kreidehügels: Krieger in ihren feinsten Umhängen, die ihre feurigsten Rosse ritten, und ihre Frauen, die Blüten des heiligen Eisenkrautes in ihr Haar geflochten hatten. Bald war in der Burg ein solches Gedränge wie bei einem Pferdemarkt am Beltene-Fest. Die Luft war erfüllt von Stimmengewirr, Gelächter und Harfengesang und dem Wiehern und Stampfen der Rosse. Safrangelb und rot und blau leuchteten die Kleider der Frauen; bronzen schimmerten Broschen und Dolche. Aus den Kochgruben strömte der Bratenduft von frischem Wild, Ochsen- und Schaffleisch. Doch als die Schatten sich dehnten und es Abend wurde und der Himmel die Farbe welkender Glockenblumen annahm, und als das Feuer mit dem Holz von sieben verschiedenen Bäumen zwischen dem Waffenstein und der Schwelle zur Halle des Häuptlings angefacht war, legte sich eine große Stille über die wartende Menge, und Männer und Frauen blickten nach Westen und suchten mit den Augen über dem Saum des Sonnenunterganges nach der ersten dünnen Sichel des neuen Mondes. Lubrin, der wie die anderen suchend zum Himmel aufblickte, sah ihn schließlich, zuerst nicht einmal ein flaumzartes Licht, sondern nur einen weißen Hauch. Und er wußte, daß die Zeit gekommen war. Ein leises Murmeln lief durch die Menge um ihn herum. Und im selben Augenblick erhob sich aus dem Frauenhof hinter der Halle der hohe helle Ton von Rohrflöten und dazwischen der weiche dunkle Gesang von Frauenstimmen, -47-
die den Brautgesang anstimmten. Dann wurden alle anderen Töne verschluckt von den Stößen in die heiligen Ochsenhörner, durch deren Schall die Stimmen der Götter sprachen. Als das letzte Echo verhallt war, stand Tigernann, der Häuptling, auf der Schwelle der Halle, umgeben von seinen Priestern; Tigernann, nicht in seiner menschlichen, sondern in seiner göttlichen Natur, das Gesicht bedeckt von der Gottesmaske mit ihrem gewaltigen Schweif aus Pferdehaar, an den Handgelenken die heiligen Armreife, die kein Sterblicher tragen durfte. So war es immer bei den größten Zeremonien. Der Häuptling hörte auf, Mensch zu sein, um etwas Höheres zu werden - göttlicher Priester, göttlicher Häuptling, Vermittler zwischen seinem Volk und den Mächten über Leben und Tod. Und immer zu solchen Zeiten senkte sich tiefe Ehrfurcht hernieder auf die Welt, verwandelte sie und legte sich auf die Herzen der Menschen. Erneut dröhnten die Ochsenhörner und - gefolgt von allen Frauen der Burg - kam Teleri aus dem Frauenhaus geschritten. Sie ging aufrecht und still und erschien Lubrin größer, als sie noch gestern gewesen war unter dem hohen mondförmigen Kopfschmuck mit seinen schwingenden Silberscheiben, die zu groß und zu schwer schienen für ihren schlanken Hals. Vielleicht war es der Kopfschmuck, der sie so groß erscheinen ließ. Vielleicht machten es die Mond-Zeichen, die mit Kreide auf ihre Stirn gemalt waren, daß sie so fremd aussah... Nun trat Dara aus der Reihe der Männer heraus, und die beiden standen vor der Gestalt mit der Maske auf der Schwelle der Halle. Und die Stimme des Häuptlings, die hohl klang hinter der Göttermaske, stellte die rituellen Fragen. »Was bietest du dieser Jungfrau für das, was sie um deinetwillen aufgibt?« Und Dara antwortete mit den uralten Worten aus jenen Tagen, -48-
als die Männer des Stammes noch wandernde Jäger waren: »Meinen Herd, um ihr Wärme zu spenden, meine Jagdbeute, um ihr Nahrung zu geben, meinen Schild, um sie zu beschützen, meinen Speer, um sie vor drohendem Unheil zu bewahren. Das ist es, was ich der Jungfrau darbringe.« »Das ist genug«, sagte die hohle Stimme hinter der Maske. Und Ishtoreth Von der Eiche trat vor; er trug in seinen Händen einen großen bronzenen Weinbecher, über den ein Dolch gelegt war. Tigernann nahm das Messer und machte damit einen raschen kleinen Schnitt, zuerst in Daras Handgelenk, dann in das von Teleri, und ließ ein paar Tropfen Blut von beiden in den Wein fallen - es war Apfelwein von den neun halbwilden Apfelbäumen, die unterhalb der Burg wuchsen. Immer war es Apfelwein, wenn ein Mann und ein Weib miteinander zur Ehe verbunden wurden. Dara und Teleri nahmen den Becher, und ihre Hände berührten sich auf der Rundung des Gefäßes, wie es der Brauch war, und sie tranken. Dann war alles vorüber. Lubrin hatte die beiden beobachtet, wie sie so beieinander standen, mit ihren Händen auf dem Becher, und er dachte, daß sicherlich nach einer Weile - obwohl sie einander nicht selber ausgewählt hatten - alles gut mit ihnen werden würde; und er versuchte froh zu sein. Später wurden die Kochgruben geöffnet, und alle Bewohner der Burg lagerten sich um das Feuer, das aus dem Holz von sieben verschiedenen Bäumen entfacht war. Die Frauen trugen große Krüge mit Wein und Gerstenbier durch den Feuerschein und durch die Spätsommer-Dämmerung. Und noch später, als die Dunkelheit hereingebrochen war, vollführten sie den Tanz der »Männer und Frauen«. Sie tanzten in zwei langen Reihen, wobei sie zu Beginn einander gegenüberstanden und sich aufeinander zu- und voneinander wegbewegten, erst langsam, dann schneller und schneller, zu dem hohen hellen Ton der -49-
Pfeifen und dem Wirbeln der Trommeln aus Wolfshäuten, die sie mit der Faust und den Fingern und den Innenflächen ihrer Hände schlugen. Dann bildete sich aus den zwei langen Reihen eine Schlange, als - angeführt von Dara und Teleri - jeder Krieger die Hand der ihm gegenüberstehenden Frau ergriff, um sie neben sich zu ziehen und mit ihr das Feuer zu umtanzen. Sie drehten sich im Kreise um die eigene Achse wie die Sonne, schneller und immer schneller, so daß ihre Schatten wie gewaltige schwarze Motten im Feuerschein herumwirbelten. Plötzlich aber war es Lubrin, der gerade mit einem lachenden rothaarigen Mädchen aus einer der ferner gelegenen Wohnsiedlungen tanzte, als spüre er ein anderes Dröhnen hinter den Rhythmen der Trommeln. Eindringlicher - ja verzweiflungsvoll eindringlich - und immer näher heranbrandend, und dann wurde dieses Gefühl zu einem wirklichen Ton. Andere vernahmen ihn fast im selben Augenblick, und eine Trommel nach der anderen verstummte; die Tänzer hielten inne in ihrem Sich-Wiegen und Stampfen und blieben wie angewurzelt stehen - alle Gesichter wandten sich dem einen noch vorhandenen Torweg zu. Pferdehufe donnerten auf dem sommerlich harten Boden - der unregelmäßige Rhythmus eines galoppierenden Pferdes, das kurz vor dem Zusammenbrechen sein mußte, aber dennoch immer näher heranjagte, ohne seine halsbrecherische Geschwindigkeit zu vermindern. letzt hatte es den Damm erreicht und brach durch den Torweg, aus der Dunkelheit herein in den flackernden Schein von Feuer und Fackeln. Ein Reiter auf einem völlig erschöpften Pferd, der seine Nachricht herausschrie, ehe er noch sein Pferd zu einem stolpernden und schwankenden Halt gezügelt hatte und sich vom Rücken des armen Tieres fallen ließ: »Die Attribaten! Die Attribaten sind auf dem Kriegspfad Richtung Norden!« So war es denn wahr geworden, was die alten Männer immer -50-
gesagt hatten! Und die Nacht, die mit einem Hochzeitsfest begonnen hatte, endete mit den Vorbereitungen für eine Schlacht! Pferde wurden zusammengetrieben und zu verborgenen Stellen an den Kreidehügeln und im Wald gebracht. Bei einem Überfall, der rasch kam und rasch vorüberging, konnte man die Herden in die Festung hineintreiben; bei einem Kampf aber, der sich länger hinzog, mußte das in den Regentonnen aufbewahrte Wasser für die Menschen bleiben sowie für die Kriegsponies und für einiges Schlachtvieh; die übrigen Tiere mußten sich auf gut Glück Wasser und Gras in den weiten Wäldern suchen. Die Kriegswagen wurden hergerichtet, Kriegskuchen aus Gerstenmehl wurden in Eile gebacken, die Krieger schärften ihre Schwerter und ihre Speere an dem großen schwarzen Waffenstein. Noch zweimal vor Tagesanbruch kamen Späher aus den südlichen Weidegründen herauf und berichteten von dem feindlichen Kriegsheer - denn es war ein Kriegsheer und nicht nur ein Stoßtrupp -: dreihundert Kriegswagen und mehr, hieß es, außer den berittenen Kriegern; und sie waren im Vormarsch auf den großen Paß der Downs im Westen. Und wenn ihnen dieser Durchbruch gelänge, wären den Attribaten alle nördlichen Weidegründe offen, und die große Festung der Iceni hier auf dem Hohen Kreidefelsen wäre umzingelt wie ein Bär bei der Jagd. Der Morgen dämmerte herauf und breitete Frühwindwolken gleich Stutenschweifen über den Himmel, der schon erfüllt war von Lerchengesang; und während noch lange Schatten auf jeder Erhebung und Vertiefung der Torfgründe lagen, wurden die Pferde in die Wagen eingespannt. Die Krieger standen daneben, bereit, um aufzusteigen. Im Hof bei den Ställen bestürmte Lubrin Dhu, der die ganze Nacht beim Zusammentreiben der Herden geholfen hatte, seinen Vater, außer sich vor Zorn: »Warum?« fragte er. »Warum, und warum und warum?« -51-
»Weil ich es befehle. Genügt das nicht?« »Würde es auch genügen für Brach und Corfil?« Der Häuptling schwieg einen Augenblick, während er sich seinen Mantel aus Wolfsfell um die Schultern hing. Dann sagte er: »Vielleicht nicht.« »Und doch soll es mir genügen? Wenn ich nicht mit der Wagenkolonne mitziehen darf, so sollst du mir sagen warum!« Eines der roten Ponies - Tigernann fuhr immer mit einem roten Gespann - warf seine Kopf hoch und schlug seitwärts aus nach dem Pferd, das neben ihm im Joch ging, und der Wagenlenker fluchte leise. »Zeig du mir nicht deine Zähne, schwarzes Hundchen!« Der Häuptling packte Lubrins Schulter mit einem plötzlichen festen Griff, aber seine Stimme war nicht so hart wie der Griff seiner Finger. »Hör mir jetzt einmal gut zu und versteh mich recht. Dara, der nach mir Häuptling sein wird, muß im Heer an meiner Seite sein und ebenso meine Söhne. Aber einen Sohn muß ich hierlassen, mit Drochmail, dem ich das Kommando hier überlassen werde, falls wir verlieren sollten und die Festung gegen diese Männer aus dem Süden gehalten werden muß. Und auch damit die hier Zurückbleibenden nicht das Gefühl haben, verlassen zu sein, wenn wir fortgeritten sind. Kannst du das nicht einsehen? Sie müssen einen Sohn des Häuptlings bei sich haben.« »Mit den Frauen und den Kindern und den alten Männern«, sagte Lubrin wütend. »Mit den Frauen und den Kindern und den alten Männern, und auch mit Drochmail, dem das nicht besser gefällt als dir, obwohl er deshalb weniger herumkläfft als du, weil er ein älterer und klügerer Hund ist.« Doch Lubrin hörte seinem Vater nicht mehr zu. »Und ausgerechnet ich muß es sein, der zurückbleibt? Weil ich klein bin und anders als meine Brüder? Weil ich der schwarze Welpe -52-
bin?« »Nicht weil du der schwarze Welpe bist, sondern aus einem ganz anderen Grunde...« »Ich kann ebenso gut wie Brach oder Corfil reiten und mit einem Wagengespann umgehen!« »Jetzt hörst du mir zu, sage ich!« Plötzlich wurde des Häuptlings Stimme zu einem Donnern, und der Griff seiner Finger auf Lubrins Schulter wurde noch härter. Dann wurde seine Stimme wieder leise, leiser als zuvor, und was er sprach, war nur für die Ohren des einen Hörers bestimmt: »Ich bin geduldig gewesen, aber ich habe keine Zeit mehr, geduldig zu sein. Ich kann Brach oder Corfil oder Dara vertrauen, wenn es darum geht, einen Wagentransport sicher heimzubringen. Für dies hier aber - und das könnte eine schwerere Aufgabe werden bin ich ihrer nicht sicher. Dafür kann ich mich nur auf dich verlassen.« Und unter dem Blick seines Vaters erstarb der Zorn in Lubrin Dhu. So war das also. Glanz und Vorwärtsstürmen und das Angreifen mit den Streitwagen, mit Dara an seiner Seite, das war ihm nicht vergönnt. Er sollte untätig hinter den Wällen warten. Kein stolzer Platz unter den Kriegern, wenn sein Stamm den Sieg erringen würde, - nur das von niemandem besungene blutige Ende, wenn sie verlieren sollten! Doch er nahm an, was sein mußte. »Ich habe verstanden, mein Vater«, sagte er. So rollten die Wagen durch das große Tor hinaus, flankiert von Reitern auf beiden Seiten. Die ersten Strahlen der Morgensonne leuchteten hell auf eisernen Klingen, auf dem bronzenen Schmuck der Rüstungen, auf den Saiten von Sinnochs Harfe und auf dem hohen halbmondförmigen Kopfschmuck von Ishtoreth Von der Eiche; denn der höchste Priester mußte mit dem Kriegsheer ziehen, um die Kraft und Stärke der Götter auf sie herabzurufen, und der Harfner, um die -53-
Schlacht zu besingen, wenn sie zum Siege führte. Das Donnern der Hufe und der Räder erstarb in der Ferne, und hinter ihnen erhob sich am Kreidehügel eine weiße Staubwolke und verschluckte sie. Und die Festung blieb zurück und wartete. Lubrin stand auf dem Wall neben dem großen Torweg und sah in seinem Inneren, wie die kleinen Punkte der Wagen und Reiter wieder zu ihnen zurückkamen, den gleichen Weg, auf dem sie fortgezogen, über die alten Pfade, die von den Ansiedlungen im Tiefland und den Wohnplätzen in den Seitentälern des Kreidehügels her auf führten. Er sah sie verstreut über den breiten Paß, den Durchgangsweg für jedes Kriegsheer aus dem Süden. Würde der Kampf heute abend stattfinden, überlegte er, so daß sich die Schatten der Kriegswagen über das ganze Land bewegten, oder würden in der Nacht überall auf dem Paß Wachfeuer brennen und der Kampf erst morgen beginnen? Wie lange würde er hier warten müssen? Und wie würde das Warten enden? Sein Volk war ein kleines Volk und die Attribaten ein großes. Selbst wenn sie nur einen Teil ihrer Streitkräfte ausgesandt hatten, würden ihnen doch immer mehr und mehr nachfolgen und immer noch mehr, wenn es nötig wäre - wie die Wolkenschatten vor dem Südwind herantreiben; immer wieder neue würden sich aus der blauen Ferne heraufwälzen, bevor der letzte von ihnen gefallen wäre... Der alte narbenbedeckte Drochmail an seiner Seite sagte mit rauher Stimme: »Komm! Es hat keinen Sinn, hier herumzustehen wie zwei verliebte Mädchen und dem Kriegsheer nachzujammern. Wir haben unsere Arbeit zu tun und - zu warten.«
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Sieger und Besiegte
Arbeit gab es genug, und zu warten gab es auch genug an jenem langen Tag. Am frühen Morgen kamen ein paar kleine Trupps von den östlichen Weidegründen herauf, die den Männern auf den Wällen zuschrieen, ob es Nachrichten gäbe, und die sich - weil man ihnen auch hier nichts Neues sagen konnte weiter westwärts wandten und bald von einer Wolke weißen Sommerstaubs verschluckt wurden. Dann - nichts mehr. Alle Krieger des Stammes waren ausgezogen, um sich mit dem Heer auf dem Paß zu vereinigen. Und die in der Burg zurückgelassenen Kinder und alten Männer und die Frauen mit ihren angstvollen Augen, sie alle waren unter Drochmails Anordnungen verbissen damit beschäftigt, ihre Vorbereitungen zu treffen. Essen wurde zubereitet; denn später war vielleicht keine Zeit mehr zum Kochen; und das Vieh und die wenigen zurückgebliebenen Pferde wurden zum letzten Mal den Südhang hinunter zur Tränke geführt. Danach würde es für sie und die Menschen in der Festung nur noch das Wasser in den Regengruben geben, solange es eben reichte. Lubrin und ein paar der größeren Jungen aus dem Knabenhaus trieben die Tiere hinunter und wieder zurück; denn das Dunkle Volk, das Alte Volk, hatte sich nach seiner Art irgendwo in der Gegend verborgen. Kämpfe ihrer Herren gingen sie nichts an. Drochmail, mit verschlossenem Gesicht und einer Ruhe, von der etwas Bedrohliches ausging, kümmerte sich um die Verteilung der Waffen. Keine der Frauen war mit dem Kriegsheer ausgezogen, wie es bei einigen Stämmen der Brauch war, doch alle wußten mit einem Speer umzugehen. Und die Knaben schwärmten aus, stolz und freudig, um ihre Steinschleudern und Wurfspeere zu holen; als der Tag sich dem Ende zuneigte, -56-
schärften sie alle noch einmal ihre Klingen an dem großen schwarzen Waffenstein im Vorhof. Ein leichter Wind hatte den ganzen Tag von Südwesten her geweht; einmal, gegen Abend, glaubten sie weit aus der Ferne den Klang von Kriegshörnern zu hören. Aber obwohl jeder einzelne bei seiner Beschäftigung innehielt, um mit angespannten Ohren zu lauschen, war nichts weiter zu vernehmen. Nur das Seufzen des Windes um die Wälle und das Muhen der wenigen Kühe, die in der Berme zwischen den inneren und den äußeren Wällen eingepfercht waren. Aber Lubrin nahm sein Schwert, um es noch einmal am Waffenstein zu schärfen – witt-witt-witt -, als ob die Klinge nicht schon so scharf wäre, wie sie nur sein konnte. Er hörte den Schritt eines Mädchens hinter sich, und als er sich umdrehte, sah er, daß es Teleri war, auf der Stirn noch das verwischte weiße Mondmuster - den hohen silbernen Kopfschmuck hatte sie schon lange abgelegt, und ihr Haar war mit einem alten Lederstreifen zurückgebunden, um ihr nicht im Weg zu sein. Sie gab ihm ihren Speer. »Mach ihn scharf für mich. Mach ihn sehr scharf, Lubrin, mein Bruder.« Er hatte immer geglaubt, sie sei ein sanftes kleines Ding. Aber jetzt zeigte sie ihre Zähne wie eine junge Füchsin. »Ich werde ihn so scharf machen, daß man mit ihm Blut aus der Dämmerung herausziehen könnte«, sagte er. »Wenn er nur die Kehle eines Mannes durchbohren kann!« Die Nacht schlich dahin, und ein neuer Tag brach an. Kurz nach Mittag hörten sie Pferdehufe von der Straße her. Doch diesmal kamen sie von Westen. Ein einzelnes Pferd jagte heran. Und alle in der Burg, die da warteten und warteten, stürzten zu den Wällen, um zu sehen, wer da kam, was da kam. Sie erblickten einen Reiter auf einem Pferd, das nahe am Zusammenbrechen war, und vor ihm auf dem Widerrist hing der Körper eines anderen Mannes. -57-
Alles lief zu den großen Holztoren, wuchtete sie auseinander, gerade weit genug, um Pferd und Reiter mit ihrer blutigen Last hindurchzulassen. Das Pferd kam stolpernd zum Stehen und stand mit hängendem Kopf, erbarmungswürdig keuchend und mit zitternden Flanken, während der Reiter halb strauchelnd und halb fallend von seinem Rücken glitt. Und Lubrin, der mit einigen anderen hingelaufen war, um den Mann herunterzuheben, sah, daß es sein Bruder Corfil war. Corfils Mund war zu einem erstarrten Grinsen verzogen, das keine Ähnlichkeit mehr hatte mit seinem alten spöttischen Lachen. Er hatte eine abgebrochene Speerspitze im Leib, die aus seinen Rippen herausragte. Sie hoben ihn herunter und legten ihn zu Boden. Alle umringten ihn und bestürmten den Reiter mit Fragen. Der Reiter, am Ende seiner Kräfte, sank zu Boden und barg seinen Kopf in den Händen. Eine lange, klaffende Wunde, aus der rotes Blut heraussickerte, zog sich über seinen linken Arm. Seine Augen waren rot gerändert in dem weißen Staub, der sein Gesicht wie eine Maske bedeckte. »Wasser!« ächzte er, »Durst!« Jemand brachte ihm einen gefüllten Becher, der gegen seine Zähne klapperte, als er trank. »Sie sind vier gegen einen von uns. Sie haben uns vernichtet.« »Der Häuptling?« »Tot. Und Brach. Fast alle von uns.« Lubrin, der seines Bruders Kopf auf seine Knie gebettet hatte, wollte fragen: »Dara?« Aber er sprach die Frage nicht aus. Es würde jetzt ohnehin nichts mehr ändern. Sie würden alle bald tot sein. »Verrammelt die Tore wieder«, durchbrach Drochmails Stimme die Stille, und zu dem Reiter gewendet sagte er: »Wie dicht sind sie dir auf den Fersen?« Der Mann schüttelte den Kopf. »Ganz dicht!« -58-
Er hatte die Worte kaum ausgesprochen, als erneut - und diesmal aus viel größerer Nähe - der Klang der Kriegshörner zu vernehmen war, den der warme Südwestwind zu ihnen herübertrug. Und so kam die Schlacht. Als die Abenddämmerung sich über die Downs herniedersenkte, war alles vorüber. Überall lagen die Toten - in den breiten Gräben und auf den Wällen verstreut. Männer, Frauen und Kinder, Attribaten und Icenis; kreuz und quer übereinander; denn Lubrins Volk hatte sich nicht kampflos ergeben wie Opfertiere. Die Geier und Raben kreisten immer tiefer am Himmel. In dem einen verbliebenen Torweg lagen die Toten am dichtesten, dort, wo das Knabenhaus seinen ersten und letzten Kampf gekämpft hatte; und die Tore selber waren zerklüftete Haufen aus verkohltem und schwelendem Holz; die Attribaten hatten die erbeuteten Wagen angezündet und die verschreckten Gespanne gegen ihre eigenen Tore gehetzt. Trotz verzweifelter Gegenwehr der Verteidiger mit allen ihren Speeren war doch der Feind durchgebrochen, es war nicht genug Wasser dagewesen, um die lodernden Flammen zu löschen, nachdem das Feuer einmal ausgebrochen war. So waren nach einem alles vernichtenden Feuer, in dem das verzweifelte Schreien der Pferde zu hören war, die vordersten Reihen der feindlichen Wagen schaukelnd und schwankend über die Masse der zertrampelten Toten hinweg in die Festung hineingefahren. Später erinnerte sich Lubrin nur dunkel daran, wie er gleichsam zum letzten Mal vor der Halle des Häuptlings gestanden hatte - Drochmail war zu diesem Zeitpunkt schon tot gewesen. Er erinnerte sich, wie er über einen Körper gestolpert war und beim näheren Hinsehen erkannt hatte, daß es das rothaarige Mädchen war, mit dem er vor zwei Nächten den »Tanz der Männer und Frauen« getanzt hatte. Er erinnerte sich an den Durchbruch der feindlichen Wagen und an die schreckliche Standarte der Attribaten: ein Pferdeschädel mit blinden Augen und safrangelben flatternden Troddeln, die auf -59-
ihn zukam und über ihn hinwegjagte wie in einem Alp träum. Und dann zuckte plötzlich rechts in seinem Kopf etwas auf wie ein flammender Blitz. Darauf folgte eine vollständige Leere, nicht einmal Dunkelheit, nur ein Stück Zeit, die ihm verlorengegangen war. Und dann, während noch alles um ihn herum verschwamm, stand er plötzlich mit auf dem Rücken zusammengebundenen Händen und wußte nicht, wie er eigentlich dorthin gekommen war, wo er sich jetzt befand. Sein Kopf war angefüllt mit Fetzen halber Erinnerungen, daß er, ein Schatten, eingepfercht zwischen andere Schatten, auf die Füße gezerrt, getreten und gestoßen, dann aus dem Pferch herausgerissen worden war, daß ihm übel geworden war und er sich übergeben mußte. Wenn nicht alles ein Traum war... aber es war kein Traum. Er stand im fackelerleuchteten Vorhof seiner väterlichen Burg mit gefesselten Händen vor einem Mann, der sich- etwas müde und gelangweilt, wie es schien - gegen die Seite eines qualmenden Wagens lehnte. Die Räder des Wagens waren blutrot, und ein abgetrennter menschlicher Kopf war an seinem eigenen blutverschmierten Haar oben an den Wagen geknotet. Lubrin blickte genauer hin und sah, daß es seines Vaters Haupt war. Er grüßte dieses Haupt in seinem Herzen und dachte wehmütig: »Nun habe ich es doch nicht besser gemacht, als es Brach oder Corfil auch gemacht hätten, mein Vater!« Ihm war, als sei er ohne Gefühl, aber er vermied es sorgsam, noch einmal dorthin zu sehen. Sein Blick hielt dem des feindlichen Kriegshäuptlings stand, der ihn aus verengten blauen Augen fixierte. Und er sah, daß es der Mann war, mit dem er vor zwei Jahren beim herbstlichen Auftrieb zusammen geritten war. »Ich hätte euch unsere Pferde nicht gezeigt, wenn ich gewußt hätte...«, sagte Lubrin matt und warf seinen Kopf zurück, um die Blutstropfen aus seinen Augen zu schütteln, die von der halbgetrockneten Wunde an seiner Schläfe heruntersickerten. -60-
»Da bin ich ganz sicher.« Der blonde Mann legte einen Finger auf den schmalen bronzenen Halsreif, den Lubrin um den Hals trug. »Du bist der Sohn des Häuptlings? Ich befahl, daß sie mir einen Sohn des Häuptlings bringen sollten, wenn noch einer am Leben wäre.« »Heute morgen war ich noch einer von dreien«, sagte Lubrin. »Und jetzt?« »Jetzt bin ich der einzige noch lebende Sohn des Häuptlings.« Und das war die Wahrheit. Es war noch ein Funken Leben in Corfil gewesen, als man ihn von dem zuschanden gerittenen Pferd gehoben hatte, aber als sie ihm den Speer aus der Wunde gezogen hatten, war auch das Leben aus ihm entwichen. »So«, sagte der Kriegshäuptling, »dann sollst du mir im Namen deines Volkes, das jetzt in meiner Gewalt ist, Rede und Antwort stehen, und wenn ich mit ihm sprechen will, sollst du Ohr sein und Mund zwischen ihm und mir.« »Und wenn ich mich weigere, Ohr und Mund zwischen euch und meinem Volk zu sein?« »Ich glaube nicht, daß du dich weigern wirst.« In dem Blick aus den verengten blauen Augen des Häuptlings blitzte es auf. »Und warum?« »Weil du der Sohn ihres alten Häuptlings bist, und das bedeutet, daß du derjenige bist, der deinem Stamm am nächsten steht, nachdem sie ihren Häutung nicht mehr haben; und immer ist es der Häuptling, der zwischen seinem Volk und den Göttern steht, zwischen seinem Volk und seinem Geschick; das wissen wir beide, du und ich.« Und vor Lubrins innerem Auge tauchte die Gestalt seines Vaters auf, wie er hier auf der Schwelle seiner Halle gestanden hatte, mit der Göttermaske auf dem Gesicht und der Fremdheit, die ihn wie helle Sommerblitze umspielt und eingehüllt hatte. Ja, sie beide wußten das, er und der feindliche Kriegsführer. -61-
So nahm denn Lubrin Dhu die Bürde des Häuptlingsamtes auf seine Schultern, weil es sonst niemand mehr gab, der sie auf sich nehmen konnte. Und dann wurden seine Handgelenke befreit, und er befand sich wieder in seinem Lager, in dem er jetzt erst den Pferdepferch zwischen den inneren und äußeren Wällen erkannte, wo man die Gefangenen zusammengedrängt wie eine Viehherde eingesperrt hatte. Er sah Gesichter im Fackellicht der Wachen, dunkle jämmerliche Gestalten, halb verloren und verschwommen in der Dunkelheit. Die Gesichter waren ihm zugewandt, und er suchte unter ihnen nach solchen, die er kannte; aber er fand nur wenige. Eine Handvoll Krieger hatte man wohl von den Kämpfen auf dem Paß als Gefangene mit hierhergeschleppt; dann waren da noch Frauen und ein paar Kinder. Andere, fremde Gesichter von Leuten aus den entfernteren Ansiedlungen, die er nicht kannte, die aber doch Gesichter von Menschen aus seinem Volke waren. Auf ihnen allen lag der schreckliche versteinerte Ausdruck der Besiegten. Kaum einen gab es in dieser verzweifelten kleinen Schar, der nicht verwundet war. Irgendwo stöhnte ein Mann, und es hörte sich an, als atmete er röchelnd sein eigenes Blut ein. Ein Kind schrie, und eine Frau versuchte, es zu beruhigen. Im Fackelschein sah er Teleri, die neben dem Körper eines zu Boden gefallenen Mannes kniete. Die letzten verwischten Spuren der Mond-Zeichen waren noch auf ihrer Stirn zu sehen; daran erkannte sie ihr Bruder. Die Gesichter blickten ihn an, als wäre er jemand, den wiederzusehen sie nicht erwartet hatten. Sie begannen zu fragen, und ihre Stimmen waren stumpf wie ihre Augen. Angespannt stand Lubrin vor ihnen und beantwortete ihre Fragen. »Nein, sie haben sich nicht auf mich gestürzt wie die Wölfe. Noch nicht, bis jetzt noch auf niemanden von uns, glaube ich. Ich habe vor ihrem Häuptling im Vorhof gestanden, und sie hatten das Haupt meines Vaters an seinen Wagen gebunden. Und ich habe dem -62-
Häuptling zugehört, als er mir sagte, daß - wenn er mit euch, die er alle in der Hand hat, sprechen wolle - er durch mich sprechen werde; ich sei Ohr und Mund zwischen ihm und euch.« Er spürte, wie gleichzeitig zwei verschiedene Strömungen durch die wenigen Überlebenden seines Stammes da vor ihm hindurchgingen: Die eine Strömung war wie ein Seufzer der Erleichterung; das bedeutete doch wohl, daß die Gefangenen nicht alle getötet würden, wie das sonst oft nach einem solchen Sieg geschah. Im Kampf zu fallen war eine Sache, und sie war auch nicht gerade sehr ruhmreich für ein Kriegsvolk; doch den Göttern der Sieger als Opfer dargebracht zu werden, das war noch etwas ganz anderes. Die andere Strömung war wie ein eisiger Hauch, und er verstand nicht gleich, was er bedeutete. Teleri stand auf und blickte ihm ins Auge. Ihre ganze Tunika war vorn mit Blut beschmiert. »Weshalb du?« fragte sie. Nun, da sie sich bewegt hatte, fiel der Fackelschein dorthin, wo vorher ihr Schatten gewesen war, und er sah, daß es Dara war, über den sie sich gebeugt hatte, Dara, mit halb geschlossenen Augen, ein durchweichter Haufen zerfetzter Kleider, durch die es zwischen Hals und Schultern immer noch dunkel sickerte. Lubrin ging näher zu ihm hin und blickte auf ihn nieder: »Wird er leben?« »Ich weiß es nicht«, sagte Teleri, und wiederholte ihre Frage: »Weshalb du?« »Weil ich der Sohn des Häuptlings bin.« »Dara ist der Häuptling.« Und Lubrin, dem es noch zu wirr im Kopf war, um klar denken zu können, wußte in seinem tiefsten Innern, daß sie gut daran täten, Teleris wahre Aussage, wenigstens fürs erste, von Dara und von ihren Eroberern fernzuhalten, ja, sehr fern! Er dämpfte seine Stimme, damit die Wachen nichts hören sollten und sagte: »Ich denke, er sollte besser für eine Weile nicht als Häuptling in Erscheinung treten, und zwar für eine -63-
ganze Weile.« Und Teleri antwortete genauso leise: »Ich denke, er würde sich niemals dafür hergeben, als Mund und Ohr zwischen uns und unseren Eroberern zu dienen!« Da wußte Lubrin, was der kleine eisige Hauch bedeutet hatte. Die Bürde des Häuptlingsamtes schien noch schwerer zu sein, als er gedacht hatte. Die Welt um ihn herum begann wieder zu schwimmen. Nur mit großer Willensanstrengung gelang es ihm, sich auf den Füßen zu halten, und so ging er weg von ihr, weg von Dara, in die dunkelste und fernste Ecke des Lagers, und sank zusammen auf seine Knie und mußte sich erbrechen, daß es war, als müsse er sich das Herz aus dem Leibe würgen.
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Winter in der Gefangenschaft
»Wozu lassen sie uns am Leben?« fragte jemand. »Sie werden uns schon zu irgend etwas gebrauchen können«, antwortete ein anderer. »Wir werden es früh genug erfahren.« Die Feinde konnten sie wirklich brauchen, und bald wußten sie auch, wozu. Nach der Eroberung der Festung schien diese den Attribaten als Grenzbefestigung für einen so großen Stamm nicht groß und nicht sicher genug. Die Torf- und Holzwälle mußten auf der Südseite erweitert, die übrigen Wälle ausgebessert und verstärkt, die Gräben breiter und tiefer gegraben werden. Das war keine Arbeit für die Attribaten, die Speer-Herren. Es war eine Arbeit für das Alte Volk, das »Dunkle Volk«. Aber das hatte sich in die Wälder verstreut, als die Kämpfe begannen. Eines Tages würden sie wieder auftauchen. So hatte es das Alte Volk schon immer gehalten; es sah Eroberer kommen und gehen oder selber zum Alten Volk werden. Also gab es in jenem Herbst und Winter Arbeit für Lubrin und die anderen aus seinem Stamm, die übriggeblieben waren. Zuerst wollten sie sich in wildem Trotz gegen ihre Eroberer auflehnen und kämpfen. Lubrin suchte das mit aller Kraft abzuwehren. »Das wäre eine sinnlose Art zu sterben, mehr würde es nicht bringen. Es würde den Tod bedeuten für alle, die von unserem Stamm noch am Leben sind, sogar für die Kinder. Habt ihr die Kinder vergessen? Besser -« »Besser wir leben weiter, die Faust der Attribaten im Nacken!« Das war Kuno, der mit ihm im Knabenhaus gewesen war; aufrichtig und bitter sah er ihm ins Auge. »Es ist leicht zu erkennen, daß du das dunkle Blut in dir hast, man merkt es nur zu gut an deinen Worten.« -66-
Ringsum erhob sich ein wirres, zustimmendes Gemurmel. Tief in Lubrins Kehle begann es zu klopfen wie das Schlagen einer Trommel. Mit aller Kraft zwang er es nieder. Wenn sie jetzt anfingen, in ihren eigenen Reihen miteinander zu hadern, so würde das wirklich das Ende bedeuten. »Er ist vom gleichen Blut wie die Erste Frau des Stammes!« Das war Daras Stimme, die immer noch nicht mehr war als ein atemloses Krächzen. Lubrin wandte sich um und sah, wie Dara sich mühsam auf dem Ellenbogen von seinem Lager aus alten Kuhhäuten, auf dem er im Schütze des Walles lag, aufrichtete. Sein Gesicht sah aus, als wäre es aus der weißen Innenschicht der Birkenrinde herausgeschnitten, sein Haar war noch dunkel vom Schweiß des Wundfiebers, das eben erst von ihm gewichen war. Aber seine Augen, die tief in den Höhlen lagen, waren weit geöffnet und herausfordernd, und jedes Haar auf seinem Kopf schien aufrecht zu stehen wie Flachs. »Und wenn irgend jemand noch einmal solche Worte spricht, so soll er warten, bis ich wieder auf meinen Beinen stehe, und ich werde sie ihm in die Kehle zurückstoßen, bis er daran erstickt!« In diesem Augenblick war Lubrin zum ersten Mal sicher, daß Dara leben würde. Und wieder überflutete ihn eine Welle von Kraft und Wärme, wie er sie damals in der Nacht am Herdfeuer des Häuptlings gefühlt hatte, als Teleri geboren war. Das gleiche warme Gefühl der Ermutigung, das einen im Kampfe stärkt, wenn man die Schulter eines Freundes an der eigenen spürt. Er wandte sich wieder den übrigen Leuten des Stammes zu. »Besser ist es« - er nahm seine Rede da wieder auf, wo er sie abgebrochen hatte und bemerkte, daß ihm jetzt alle, so unwillig und ärgerlich sie auch waren, schweigend zuhörten -, »... wenn wir zusammenhalten und warten - wie der Samen wartet, bis es Erntezeit ist -, dann wird eines Tages der Augenblick kommen, daß wir wieder ein freies Volk sind.« »Wie?« fragte jemand. -67-
»Ich weiß es nicht.« Lubrin hörte seine eigene Stimme Worte sagen, die nicht ganz seine eigenen zu sein schienen. »Ich bin nicht Ishtoreth Von der Eiche. Wenn er noch lebte - vielleicht wüßte er es. Ich fühle nur in meinem Herzen, daß - wenn wir warten können - der Tag sicherlich kommen wird, da wir wieder ein freies Volk sind. Vielleicht ist dies auch das dunkle Blut, das aus meinen Worten spricht.« Die Sprache der Iceni und die der Attribaten waren einander ziemlich ähnlich, so daß einer den ändern verstehen konnte. Doch fast vom ersten Tage seiner Gefangenschaft an hatte das Volk der Iceni begriffen, daß es eine Möglichkeit gab, miteinander zu sprechen, selbst wenn ihre Bewacher ihnen zuhörten solange sie es nicht zu oft und nicht zu auffällig taten-, indem sie sich nämlich die Sprache aus dem Knabenhaus bedienten. In jedem Knabenhaus erfanden die Jungen ihre eigene Sprache und benutzten sie während der Ausbildungszeit, später jedoch, wenn die Riten, die sie zu Männern machten, erst einmal vorüber waren, nie wieder. Doch jetzt war es wichtiger, miteinander sprechen zu können, ohne daß ihre Eroberer sie verstanden, als die üblichen Regeln einzuhalten. Nach einiger Zeit weihten sie sogar die Frauen in diese Sprache ein, aber soweit war es noch nicht. Der Winter ging vorüber, und es wurde wieder Frühling in der Welt. Bald würden auch die Schwalben wiederkommen und mit ihren sichelförmigen Schwingen um den Hohen Kreidehügel segeln. Dara und einige andere Krieger der Iceni waren von ihren Verwundungen genesen, andere waren gestorben, ebenso die meisten alten Leute und einige Kinder. Auch einige Frauen waren von ihnen gegangen, aber auf eine andere Weise, auf die uralte Weise nämlich, in der Frauen zu den Eroberern gehen, die ihre Männer getötet haben. Die Iceni sahen sie manchmal von weitem zwischen den Frauen und Kindern der Attribaten; denn diese hatten ihre Familien mitgebracht, wie es Lubrins Stamm seinerzeit auch gehalten hatte, oder sie hatten sie zu sich -68-
kommen lassen, ehe der Winter kam. Die Iceni sprachen von ihren Toten, aber die Namen jener Frauen wurden nie wieder von ihnen genannt. Die Arbeiten an der Festung gingen zügig dem Ende entgegen. Die Kreidewände der frisch ausgehobenen Gräben leuchteten in blendendem Weiß, golden schimmerte das neue Holz der Einfriedung, wo vorher das verwitterte Grau alten Holzes gewesen war. Und dann kam ein Tag, der ebenso begann wie alle anderen Tage... Als es an diesem Tag Mittag geworden war, legten sie Querbeile, Hacken, Töpfe mit Kalktünche und die großen Tragkörbe aus Weidengeflecht beiseite, um Mittagspause zu halten. Da sah Lubrin neben seinem linken Fuß auf dem breiten flachen Boden des äußeren Grabens einen einzelnen spitzen Feuerstein. Erhob ihn auf, einfach nur deshalb, weil er dort lag, und saß da und drehte ihn betrachtend zwischen seinen Fingern hin und her. Auf der einen Seite war er dunkel, fast blau, und flach, auf der anderen Seite von verwittertem Grau. Er schmiegte sich angenehm in die Wölbung seiner Hand und kam ihm auf eine seltsame Weise gar nicht wie ein gewöhnlicher Feuerstein vor. Er sah vielmehr so aus, als sei er von irgend jemandem zu einem bestimmten Zweck zurechtgeschliffen und benutzt worden, vielleicht vor sehr langer Zeit, vielleicht lange bevor die Burg hier gestanden hatte. Lubrin fragte sich, wer das wohl gewesen sein mochte und wie dessen geschliffener Feuerstein hier so tief in das Kreidegestein gekommen sein mochte. Und wie er so nachdachte, galoppierte ein Rudel Pferde unterhalb der Burg am Torf entlang. Er konnte sie hier unten in dem Graben nicht sehen, aber er hörte den weichen Aufschlag ihrer Hufe immer näher herankommen und dann vorüberjagen, bis der Ton in der Ferne erstarb. Er sah vor seinem inneren Auge, wie die Herde galoppierte und dahinstürmte. Neben sich hatte er das Weiß der Kreide und in der Hand den zugespitzten Feuerstein, und fast ohne zu denken, begann er auf -69-
dem Boden des Grabens zu zeichnen. Es war das erste Mal, seit die Attribaten gekommen waren, daß er wieder eines seiner magischen Bilder zeichnete. Er zeichnete das Pferd, das die Herde anführte, und ein zweites dahinter, das nur halb zu sehen war, und dann ein drittes... Er zeichnete das Dahinstürmen, die Schnelligkeit und die Kraft und das Durcheinanderfliegen von Mähnen und Schweifen, das Donnern der Hufe und die Ruhelosigkeit des Frühlings in ihren Hinterläufen. Ein Schatten fiel auf das blendende Weiß des Kalkbodens; er wandte sich um und erblickte Cradoc, den Häuptling, der hinter ihm stand. Cradoc, der im letzten Herbst Kriegshäuptling gewesen und nun Herr der Burg war, pflegte häufig die neuen Verteidigungslinien abzuschreiten, um zu sehen, wie die Arbeit voranging. Er stand mit gespreizten Beinen da, die Daumen in seinem Gürtel, den Kopf zur Seite geneigt. Sein Blick verengte sich und wanderte von dem Gekritzel auf dem Kalkboden zu Lubrins Gesicht und wieder zurück. »Was machst du da?« »Ich zeichne ein Bild der Pferdeherde, die eben vorübergaloppiert ist«, sagte Lubrin. »Habt ihr sie nicht gehört?« »Ich habe sie gehört.« Cradoc sah jetzt genauer hin. »Soo. Ich sehe das Leitpferd, und dieses Pferd und dieses - dies hier ist das letzte von allen. Aber was bedeuten diese seltsamen Wellenlinien dazwischen?« »Das ist die gesamte Herde.« »Aber es sollen Pferde sein - ganze Pferde, wie die anderen?« fragte Cradoc verwirrt und mit gerunzelter Stirn. »Natürlich. Aber man sieht sie nicht als ganze Pferde wie die anderen.« Lubrin versuchte ernsthaft, es ihm zu erklären. »Wenn ihr nicht ein einzelnes Tier in der Mitte ins Auge faßt, dann könnt ihr in einer galoppierenden Herde nie mehr als gerade die ersten zwei oder drei genau sehen und dann wieder das letzte, -70-
dazwischen aber nur die Herde als ganzes in ihrer Bewegung.« »Ich habe eine solche Art, Bilder zu zeichnen, noch niemals gesehen«, sagte Cradoc. »Zeichnen andere aus deinem Volke auch so?« Lubrin schüttelte den Kopf. »Für mein Volk wie für das eure sehen alle Pferde so aus, wie die Pferde auf den goldenen Handelsmünzen, die euren Wohlstand ausmachen. Ich zeichne, was ich sehe; aber ich glaube, daß nicht alle so sehen wie ich.«
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Ein Abkommen wird getroffen
Das war für eine Weile alles. Eines Abends nach dem Essen jedoch wurde es Cradoc in seiner Halle langweilig. Er kannte alle Lieder, die sein Harfner singen konnte, und verlangte nach etwas Neuem. Da dachte er an den kleinen dunklen Häuptlingssohn, der es verstand, die Schnelligkeit und die Kraft einer galoppierenden Pferdeherde mit ein paar Strichen in einer Zeichnung einzufangen. Er winkte seinen Schildknappen herbei. »Ferradach, geh hinunter zu dem Lager der Gefangenen und bring mir den Sohn des alten Häuptlings herauf, der, den sie Lubrin Dhu nennen.« Kurz darauf stand Lubrin in der Halle des Häuptlings, wo er nicht mehr gestanden hatte, seit die Attribaten gekommen waren. Er stand vor Cradoc, dem Häuptling, der sich auf den Tierfellen des Hochsitzes räkelte, wo Lubrins Vater gesessen hatte und wo Dara nach ihm hätte sitzen sollen. Er wußte, daß er - wenn er nach oben blickte - seines Vaters Haupt sehen würde, rauchgeschwärzt auf dem Dachbalken über ihm. Er wußte, daß er hinauf blicken sollte; doch er konnte es nicht über sich bringen, höher hinaufzusehen als in Cradocs Gesicht. »Zeichne für mich!« sagte Cradoc. Vor Überraschung blieb Lubrin einen Augenblick stumm. Dann sagte er: »Weshalb soll ich für euch zeichnen?« »Weil mir der Sinn nach etwas Neuem steht.« »Befehlt eurem Harfner, ein neues Lied zu machen.« »Er singt nur immer wieder die alten Lieder«, klagte Cradoc. »Zeichne deshalb für mich - hier auf den Stein vor der Feuerstelle.« »Ich zeichne nicht, weil es mir ein anderer befiehlt«, sagte Lubrin. -73-
Das Schweigen zwischen ihnen währte wohl so lange wie drei lange Atemzüge eines Mannes. (»Sie können mich töten, aber ich werde meine Zauberbilder nicht für sie machen«, dachte Lubrin.) Und Cradoc antwortete auf Lubrins Gedanken, als habe dieser sie ausgesprochen: »Nein, nein, nicht dich werde ich töten. Aber denke daran, daß du mir für dein Volk Rede und Antwort stehst.« Übelkeit stieg in Lubrin hoch; doch er dachte an die kläglichen Reste seines Volkes, und er fragte zwischen den Zähnen: »Was soll ich zeichnen?« »Zeichne wieder Pferde«, sagte Cradoc der Häuptling. So nahm Lubrin verkohltes Holz von dem Feuer, hockte sich auf die Fersen neben die steinerne Platte vor der Feuerstelle und begann zu zeichnen. Es war derselbe Stein, auf dem er vor langer, langer Zeit den Harfensang des alten Sinnoch zu zeichnen versucht hatte. Mit ein paar raschen, heftigen Strichen zeichnete er zwei kämpfende Hengste, während der Häuptling sich vorbeugte, die Arme über den Knien verschränkt, und die Krieger und ihre Frauen sich herandrängten, um zuzusehen. Dann wischte er die Linien wieder weg und zeichnete eine Stute, die ihr Fohlen säugte. Darauf machte er ein Kriegspony, das in gespannter Haltung dastand, mit erhobenem Kopf, als lausche es dem Klange ferner Kriegshörner oder als wittere es im Winde den Geruch von Gefahr für die Herde. Als er auch das wegwischen wollte, beugte sich der Häuptling rasch vor und hielt sein Handgelenk fest. »Nein, das laß stehen!« So legte Lubrin das verkohlte Holz beiseite und hockte sich wieder auf seine Fersen. Während er so kauerte, um - so dachte er - wie ein Hund auf den Pfiff seines Herrn zu warten, und während die Krieger um ihn herum weiter zusahen, saß Cradoc -74-
immer noch mit verschränkten Armen vorgebeugt da und starrte auf das mit ein paar Strichen verkohlten Holzes auf die Steinplatte skizzierte Kriegspony. Nach einer Weile streckte er die Hand nach seinem großen bronzenen Weinbecher aus, und als sein Mundschenk ihm diesen gebracht hatte, nahm er einen tiefen Schluck, richtete sich auf und wandte sich zu seinen Gefährten, die mit ihm am Herdfeuer saßen. »Ich habe nachgedacht«, sagte er. »Cradoc, der Häuptling, hat nachgedacht! Laßt es laut erklingen auf euren Kriegshörnern!« sagte Anbar, des Häuptlings Pflegebruder, der sich einen Scherz mit ihm erlauben konnte, was die übrigen Gefährten nie gewagt hätten. Cradoc entblößte seine kräftigen und schiefgewachsenen Zähne zu einem flüchtigen Grinsen, aber er schüttelte den Kopf. »Ich habe darüber nachgedacht, daß es doch eine sinnlose Verschwendung ist, diese Pferde hier auf die Herdplatte zu zeichnen und sie dann so schnell wieder wegzuwischen, als wären sie selber nur aus Rauch gebildet. Ich dachte mir, daß nun, da wir unsere Grenzen hier hinauf auf den Hohen Kreidehügel verlegt, unseren neuen Befestigungswall auf dem alten Verlauf der Downs errichtet und die äußersten Zelte für unsere Herden hier innerhalb der Festung aufgeschlagen und so erweitert haben, wie es sich für ein großes Volk geziemt, -« (»Die ihr erweitert habt!« dachte Lubrin verbittert und fuhr sich über seine narbigen, harten Hände und dachte an die alten und kranken Männer, die im vergangenen Winter zwischen Holz und nassem Kalk gestorben waren.) »- daß es nun doch eine feine Sache wäre, wenn hier oben auf dem gegenüberliegenden Hang ein Pferd zu sehen wäre wie dieses hier, halb so hoch wie der Berg. Es müßte in den Kalkboden eingeschnitten sein, um alle Zeiten zu überdauern und um jedermann wissen zu lassen, daß hier die Grenze des Attribatenreiches ist.« Cradoc schlug sich mit den Handflächen auf die Knie. »Als Zeichen, daß dies unser Grenzstein ist, der -75-
nicht zu versetzen ist, selbst wenn Gras über den Kalkboden wächst und im Frühling wieder neue Fohlen geboren werden!« Einer seiner Gefährten nickte. »So ein mächtiges Pferd würde die Grenze stark machen, außerdem würde es Lugh, den Herrn der Sonne (Sonnengott der Attribaten), günstig stimmen, so daß er uns viele Fohlen und viele Söhne schicken würde.« »Ja, das auch«, sagte ein älterer Mann weise. »Sicherlich würde ein so großes Sonnen-Pferd, das ja das Zeichen der Attribaten ist, das Wohlgefallen des Herrn der Sonne finden!« So sprachen sie hin und her, über Lubrins Kopf hinweg; und dann wandte sich Cradoc ihm wieder zu: »Bist du so geschickt? Könntest du so ein Pferd machen?« Ein Pferd, aus den Wiesenmatten der Downs herausgeschnitten, weiß auf grünem Grund, so hoch wie der halbe Hang des Hügels; Lubrin sah es vor sich. Und von irgendwoher rührte Erinnerung ihn an, eine leise, ferne Erinnerung, wie er ausgestreckt auf dem Ast seiner Kork-Ulme gelegen und ein Blatt vor sein Gesicht gehalten und dabei die Entdeckung gemacht hatte, daß er damit seines Vaters Burg und die ganze Hügelseite, auf der sie stand, verdecken konnte. Vielleicht könnte man so mit dem Pferd beginnen. Zuerst eine sehr kleine Skizze machen, diese dann hochhalten und sich einprägen, wie die Linien zu verlaufen haben. »Ich weiß es nicht«, sagte er. »Ein Pferd von solchen Ausmaßen ist eine Aufgabe, die sicherlich nur ein Riese bewältigen könnte, aber es müßte einen Weg geben.« »Gut. Die neuen Wälle sind fast fertig. Nimm so viele von deinen Leuten, wie du brauchst, damit sie dir helfen.« »Ich werde keinen von ihnen brauchen«, sagte Lubrin und stand auf. »So viel Torf allein abzutragen, das wäre tatsächlich eine Aufgabe für einen Riesen. Du wirst mehr Hände brauchen als deine eigenen.« -76-
»Ihr versteht mich falsch. Ich werde keine Hilfe von meinem Volk brauchen, weil ich euch euer hügelhohes Sonnen-Pferd nicht machen werde«, sagte Lubrin geradeheraus. »Ich glaube, daß es einen Weg geben könnte, aber ich werde nicht versuchen ihn zu finden.« Wieder entstand zwischen ihnen ein spannungsgeladenes Schweigen, während Lubrin und der Häuptling einander fest ins Auge sahen und die Krieger sie beobachteten, um zu sehen, was jetzt geschehen würde. »Es ist nicht klug, solche Worte zu mir zu sprechen«, sagte der Häuptling schließlich. »Du hast mir schon gezeigt, daß du keine Angst hast vor dem, was ich mit dir machen kann. Aber ich habe dir auch schon gesagt, daß du an dein Volk denken solltest, dessen Schicksal ich in der Hand habe.« Und während er sprach, ballte er seine Hände langsam zur Faust zusammen, fester und immer fester, bis ihm die Knöchel gelbweiß heraustraten, und es schien, als ob zwischen seinen Fingern Blut herausquölle, dunkelrot wie Brombeersaft. Es war eine Geste, die mehr ausdrückte, als es Worte vermocht hätten. Und wieder stand das Schweigen zwischen ihnen, lastend und schwer wie ein Schwärm Fliegen. Dann sagte Lubrin, während er seinem Eroberer fest ins Auge blickte: »So etwas wie dieses Pferd, von dem ihr sprecht, kann man nicht machen, wenn man es nicht machen will! Wenn ihr mich zwingt durch die Drohung, was ihr meinem Volke alles antun könntet, dann kann ich versuchen, das Pferd für euch zu machen, aber die Götter werden ihm kein Leben einhauchen, wenn es nur auf den Befehl eines Mannes geschieht. Und was entsteht, wird ohne Kraft sein und ohne Sinn wie eine nicht angezündete Lampe. Ihr könnt euer Pferd haben, aber es wird ohne Wert für euch sein.« Während er noch sprach, wurde ihm bewußt, wie das Schweigen in ihm fortdauerte und wie tief im Herzen dieses -77-
Schweigens etwas ihm sagte, was er zu tun habe. Gleichzeitig stiegen noch andere Empfindungen in ihm auf, und das traurigste und überraschendste von allem war wohl der plötzliche Gedanke, wie leicht Freundschaft hätte entstehen können zwischen ihm und dem blonden Mann da vor ihm auf dem Hochsitz, den er bekämpfte, um das Leben seines Volkes zu beschützen. Dann wieder kam ihm das rauchgeschwärzte Haupt auf dem Dachbalken in den Sinn. Er hob den Kopf, als wolle er dem toten Blick begegnen, und sein Herz schrie: »Tigernann, mein Vater, du hast gesagt, es könnte eine härtere Aufgabe werden als die, Kampfwagen zu führen. Ich will tun, was ich kann, um unseren Stamm zu retten; das ist wichtiger als alles andere. Es ist das einzige, was jetzt noch wichtig ist!« Dann senkte er seine Augen, bis sie dem sich verengenden Blick der blauen Augen des lebenden Mannes vor ihm begegneten. »Cradoc, Häuptling der Sieger, ich will versuchen, euch euer hügelhohes Sonnen-Pferd zu machen. Ich werde es aus freiem Willen machen - um einen Preis.« Cradoc zog die Brauen hoch. »Lubrin, Sohn des Häuptlings der von uns Besiegten, was ist das für ein Preis?« »Wenn es mir gelingt, euch euer Pferd so zu machen, wie ihr es euch vorstellt, so sollt ihr denen, die von meinem Volk noch übrig sind, die Freiheit geben. Ihr sollt ihnen aus der Herde genügend Hengste und Zuchtstuten überlassen, damit sie an einem anderen Ort eine neue Herde züchten können.« (»Gute Weideplätze zwischen den Haselnußwäldern und der Heide«, hörte er in seinem Innern aus längst vergangenen Jahren die Stimme des Händlers.) »Und ihr sollt sie fortziehen lassen.« »Das ist ein hoher Preis, den du da forderst«, sagte Cradoc. »Aber ihr habt ihn nur zu zahlen, wenn euch das SonnenPferd gefällt.« »Da ist etwas Wahres dran«, sagte der Häuptling und starrte in seinen Becher mit Wein. Mit einer jähen Bewegung blickte er -78-
auf. »Also gut, einverstanden. Die neuen Wälle - ich sagte es schon - sind fast fertig; und schon schleichen sich die Leute aus dem Alten Volk wieder her, wie es ihre Art ist. Wenn ich mit dem Sonnen-Pferd zufrieden bin, soll dein Volk frei sein. So ist das Abkommen zwischen dir und mir... Genug Pferdebilder für diese Nacht.« So verließ Lubrin die Halle des Häuptlings. Und während dieser ganzen Zeit wußte er, daß da noch etwas anderes war, etwas, das nicht zwischen ihnen ausgesprochen, ja nicht einmal gedacht worden war, das aber dennoch da war, tief auf dem dunklen Grunde der Dinge - und wartete. Später in der Nacht versammelte Lubrin Dhu im Lager zwischen den inneren und äußeren Wällen der Festung alle Leute, die von seinem Volk noch übrig waren, um sich, um ihnen zu sagen, was sich an der Feuerstelle des Häuptlings zugetragen hatte. Doch als er auf die Gesichter schaute, die ihm im Schein des Feuers und des aufgehenden Mondes zugewandt waren, von einem zum ändern, wurde es ihm schwer, zu sprechen, schwerer noch, als er es sich vorgestellt hatte, und er hatte es sich nicht leicht vorgestellt. Kuno fragte: »Nun, Ohr und Mund des Häuptlings, was wollte er von dir?« »Er wollte, daß ich ihm Pferde zeichne auf die steinerne Platte vor dem Herd, um ihn damit zu unterhalten; denn er war der Lieder seines Harfners überdrüssig. Und als ich ihm so viel Pferde gezeichnet hatte, wie er wollte, fragte er mich, ob ich ihm ein Sonnen-Pferd machen könne, eingeschnitten in die Wiese der nördlichen Böschung: ein Pferd so hoch wie der halbe Hang des Hügels, als Grenzmarke für die Attribaten.« »Und du sagtest...?« »Ich sagte, daß ich es nicht wüßte. Dann sagte ich, daß ich es für möglich halte, einen Weg zu finden - für jemanden, der willens sei, diesen Weg zu finden.« »Und du warst willens?« fragte jemand. Kuno beugte sich im -79-
Scheine des Feuers vor. »Willst du uns etwa erzählen, daß er das von dir verlangt hat und du dich geweigert hast und du trotzdem wieder zu uns zurückkommen konntest mit deinen Eingeweiden noch im Leibe und deinem Kopf auf den Schultern? Das ist eine Geschichte, die schwer zu schlucken ist.« »Nei-ein«, sagte Lubrin langsam. »Ich habe mich nicht geweigert. Ich sagte, daß ich es versuchen wolle - um einen Preis.« Teleri, seine Schwester, fiel ihm ins Wort, und ihr Gesicht sah im Licht des Mondes aus wie eine versteinerte weiße Maske. »Die Aufgabe sollte dir leicht genug fallen; denn du kannst ja das Pferd von einer der goldenen Münzen, die sie benutzen, abzeichnen. Ich nehme an, daß sie dich in Goldmünzen bezahlen werden?« Ihre Stimme war wie ihr Gesicht, hart und kalt und anklagend. Und das Schweigen der übrigen schien ihn ebenfalls anzuklagen. »Die Schweife jener Pferde sind falsch«, hörte Lubrin sich sagen, als ob das wichtig wäre. »Bei unseren Pferden sehen sie anders aus.« »Aber das Pferd, das du machst, wird ihr Pferd sein.« »Ja, es wird ihr Pferd sein, das Sonnen-Pferd der Attribaten. Aber es wird auch das Pferd unseres Volkes, das Monden-Pferd sein, so daß - so lange sich die Downs über den Wald erheben und Männer ihre Gebete sprechen zu Epona, der Mutter der Fohlen - jeder wissen wird, daß die Icenis hier gelebt haben.« Unten in den Wäldern durchbrach der Schrei einer Eule die Stille, und die Stille war so kalt wie das Mondlicht. Lubrin verspürte ihren eisigen Hauch und wußte, daß alle wie Teleri glaubten, er habe die Treue zu ihnen gebrochen. Und einen Augenblick stiegen Kummer und Zorn in ihm hoch, so daß er keine Worte finden konnte, ihnen die Sache zu erklären. Es war Dara, der das eisige Schweigen durchbrach. »Ich glaube nicht, daß der Preis, von dem du sprichst, aus Goldmünzen mit Pferden darauf besteht. Sag' uns, was es für ein -80-
Preis ist, Lubrin, mein Bruder.« »Ja«, forderte ein Chor von zwanzig Stimmen, »sag' uns, was es für ein Preis ist!« »Ich habe dem Häuptling gesagt, daß ich versuchen will, ihm sein Sonnen-Pferd, halb so hoch wie der Berghang, zu machen und daß er - wenn es mir gelänge und es ihm gut schiene - allen von uns, die noch übrig sind, die Freiheit geben solle, um anderswo neue Weideplätze zu suchen, und daß wir genügend viele Hengste und Zuchtstuten aus der Herde mitnehmen könnten, um dort eine neue Pferdeherde zu züchten.« Ein leises Stimmengemurmel erhob sich unter den Zuhörern, und Dara sagte: »Soo? Das ist fürwahr ein Preis!« Aus der Dunkelheit hinter ihm hörte er eine andere Stimme: »Aber wird er seinen Teil des Abkommens einhalten? Es wäre leicht zu sagen, wenn das Pferd fertig ist, daß er es nicht gut fände.« »Cradoc wird seinen Teil unseres Abkommens einhalten«, sagte Lubrin, »und ich den meinen.« Sein Blick suchte den Blick Daras und hielt ihn fest. Und wieder stieg in ihnen beiden, unausgesprochen, ihr alter gemeinsamer Traum hoch, vom Nordwärtstreiben der Herden. Einstmals hatten er und Dara davon geträumt, miteinander die Führung zu übernehmen. Und dann, als in der Nacht der Erwählung Dara dazu auserkoren wurde, Teleri zur Frau zu nehmen und einstmals Häuptling des Stammes zu werden, hatte Lubrin gewußt, daß - wenn dieser Traum jemals mehr werden sollte als ein Traum - er es sein würde, der allein die Führung zu übernehmen hätte. Und nun war es umgekehrt. Nun wäre es Daras Sache, ihr Volk nordwärts zu führen, während er... Einen Augenblick verspürte er, wie das, was in der Halle des Häuptlings tief in ihm aufgeblitzt war, dieses Etwas, das unausgesprochen geblieben, ja nicht einmal gedacht worden war, sich wieder zu regen begann. Er stieß es noch einmal -81-
zurück ins Dunkel und sah es nicht an. Die Zeit, es anzusehen, war noch nicht gekommen. »Ich werde Hilfe brauchen«, sagte er, »Hände, die Torf schneiden und Kalk tragen.« »Du wirst sie bekommen.« Dara hielt ihm seine Hände hin, als er das sagte. Und Kuno fügte hinzu: »Wir haben ja jetzt genug Übung darin.« Teleri aber trat aus der Reihe der Frauen heraus und streckte mit einer schnellen scheuen Geste, die kaum sein Handgelenk berührte, die Hand nach ihm aus: »Ich will Kalk für dich tragen. Vergib mir, ich hatte nicht verstanden.« Aber die Einsamkeit, die für Lubrin in der ersten Nacht ihrer Gefangenschaft begonnen hatte, war tiefer und schwerer geworden und ließ ihn nicht mehr los.
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Vom Falken und von Göttern und Menschen auf der Erde
Am nächsten Tag ging Lubrin hinunter von der Burg, vorbei an den neun heiligen Apfelbäumen, die eben zu knospen begannen, und weiter durch die Wälder im Tal zu der KorkUlme am Rande der Lichtung. Er war allein. Zuerst war er erstaunt gewesen, daß Cradoc ihm nicht wenigstens zwei speerbewehrte Männer mitgegeben hatte; doch dann hatte er verstanden. Cradoc wußte ebensogut wie er, daß es dessen nicht bedurfte. Er konnte nicht weglaufen, während sein Volk noch in der Burg in Gefangenschaft war. Der große Baum war übersät mit Büscheln von winzigen purpurfarbigen Blüten, und ihr Duft und das Summen der Bienen umgaben ihn, als Lubrin hinaufkletterte und- als hätte es auf ihn gewartet - hüllte ihn das alte Gefühl der Geborgenheit wieder ein; es war ihm, als käme er nach Hause. Er kletterte den vertrauten Weg hinauf, schwang sich von Ast zu Ast, bis er sich über den Wipfeln der niedrigeren Bäume befand. Und noch weiter hinauf, bis er ausgestreckt auf seinem Ast lag und über die weite Ebene blickte, bis hin zu der fernen Hügelkette der Downs, die zu seines Vaters Burg anstiegen. Alles war ihm so vertraut wie ein Teil seiner Selbst, doch heute sah er es, wie er es nie zuvor gesehen hatte: die langgestreckte breite Kette der Hügel, die mit dem Sonnenaufgang anzusteigen und dann westwärts weiterzuwandern schienen, um sich dann weit in der Ferne mit der untergehenden Sonne wieder zu senken. Selbst die plötzliche Erhebung, wo das Land über steil abfallenden Bergkämmen und Vertiefungen hochragte, mit der Burg auf dem Gipfel, unterbrach die Linie nicht. Es war, als wölbe der Hohe -84-
Kreidehügel seinen Nacken, wie er sich so bis zum Westen fortsetzte. »Kommt«, sagte der Prinz, »Wir wollen uns gen Westen wenden Zum Land der Bäume, die silberne Äpfel tragen. Dorthin laßt uns unsere Herden treiben, Die Pferde, die vollmähnigen und stolzen! Kommt!« Die Worte und der Klang von Sinnochs Harfengesang huschten ihm durch den Sinn. Er zog die Tasche aus Rehfellen, die er über die Schulter gehängt hatte, nach vorn und nahm Stücke silbriger Birkenrinde heraus und verkohlte Hölzer, die er in ein Stück Stoff gewickelt hatte. Seine Augen waren erfüllt von den vertrauten Hebungen und Senkungen des Horizontes, dem wechselnden Spiel des Lichtes über Höhen und Tiefen. Unter der Burg und ein wenig links davon erhob sich ein kleiner flacher Hügel über die niedrigeren Hänge der Downs - es gab eine alte Sage von einem Drachen, der zusammengerollt darin schlief und einen Zauberspeer bewachte -, und dahinter, schon im allerersten hellen Frühlingsgrün, erhob sich der nördliche Steilhang des Kreidehügels zum Horizont empor. Irgendwo darunter, dachte er, wäre wohl der richtige Platz für sein Pferd. Er nahm die Birkenrinde und fing zu zeichnen an. Wieder war es das Pferd, das er auf die Herdplatte des Häuptlings gezeichnet hatte. In gespannter Aufmerksamkeit und wachsam stand es da; ein Kriegs-Pony, das auf den Klang ferner Schlachthörner lauschte, ein Hengst, der über seine Herde wachte. Ein solches Pferd war genau das richtige für eine Grenzmarkierung. Den ganzen Tag lag er ausgestreckt auf seinem Ast, machte seine Zeichnungen und blickte hinüber zu dem Hügel, bis Hang -85-
und Pferd in seinem inneren Auge miteinander verschmolzen und er genau wußte, wie die Linien verlaufen mußten, von dem Dornbusch dort unten bis zum Rande jener Vertiefung und hinunter in einer flachen Kurve bis hin zu der Windung der alten Auftriebsstraße. Von alledem machte er eine Art Skizze auf sein letztes Stück Birkenrinde. Und dann, als die Schatten länger wurden im Abendlicht, sprang er herunter von seinem Baum und machte sich auf den Weg zurück zu der Festung. Als die Dämmerung sich zur Dunkelheit vertieft hatte und die Abendmahlzeit in der Halle des Häuptlings und im Lager der Gefangenen vorüber war, stand Lubrin Dhu wieder vor Cradoc dem Häuptling, der auf seinem Hochsitz thronte. »Ich habe den ganzen Tag damit zugebracht, herauszufinden, wie die Linien verlaufen müssen, und jetzt weiß ich es, und ich bin bereit, mit dem Pferd zu beginnen. Deshalb laß mich morgen gehen, um junge Birken in den Wäldern unten im Tal zu fällen und den Kalk zu holen, der vom Weißen der Balken auf den Wällen übriggeblieben ist, sowie zehn Ochsenfelle. Und laß mich die Leute aus meinem Volk mitnehmen, die ich haben will, um mir zu helfen, und in zwei Tagen werde ich damit beginnen, die ersten Linien drüben auf dem Hang über dem Drachen-Hügel abzustecken.« »Und mit ein paar Ochsenfellen und Birkenbäumchen und etwas Kalkschmiere willst du diese Linien aus deinem Kopf herausnehmen und auf den Hang des Hügels übertragen?« Der Häuptling runzelte die Stirn, aufmerksam und verblüfft. »Wie soll das geschehen?« Lubrin schüttelte den Kopf. »Laßt das eine Weile auf sich beruhen. Ich habe so etwas noch nie gemacht; auch kenne ich keinen Menschen, der es je gemacht hätte. Deshalb muß ich dem Geheimnis auf die Spur kommen, während ich daran arbeite; und ehe ich es nicht kenne, kann ich es auch nicht erklären.« »Ja, das ist recht«, sagte der Häuptling. »Morgen noch nicht, aber wahrscheinlich in drei Tagen, wenn die neuen Tore der -86-
Festung fertig sind, sollst du deine Ochsenfelle haben und deinen Kalk. Dann kannst du gehen, um deine jungen Birken zu fällen, und du kannst aus deinem Volk mitnehmen, wen du willst, damit sie dir bei der Arbeit helfen.« So gingen drei Tage später Lubrin und Dara und die anderen Männer, die dazugekommen waren, hinunter zu den Wäldern im Tal, um Birkenbäumchen zu fällen, und schleppten sie zurück, den gewundenen Pfad hinauf, zu beiden Seiten begleitet von speerbewehrten Wachen. Offenbar traute Cradoc ihnen jetzt weniger, da fast alle Männer frei herumliefen, während er vorher zu Lubrin allein Vertrauen gehabt hatte. Sie brauchten fast zwei ganze Tage, bis sie alles Nötige geschnitten und herbeigeschleppt und aufgestapelt hatten, direkt unter dem Gebirgskamm, so nahe bei dem von Lubrin ausgewählten Platz, wie es die steilen Hänge des Hügels erlaubten. Zuerst breiteten sie die Ochsenfelle so aus, daß sie sie mit Kalk bestreichen konnten, damit sie sich aus der Ferne weiß von dem jungen Grün der Wiesenmatten abheben sollten. Und dann war Lubrin so weit, daß er beginnen konnte. Es war ein windiger Tag, als sie sich daran machten, die Ochsenfelle so auszulegen, daß sie als Markierung dienen konnten für Stirn und Maul, Nacken, Flanken, Brust und Schweif sowie die festen Beine. Der Wind blies von Westen durch das junge Gras und durch die weißflockigen Dornbüsche und trug den Lerchengesang über den ganzen Himmel; er trieb ihnen von den flatternden Ochsenfellen Wolken von Kalkstaub ins Gesicht, so daß ihre Augen sich röteten und brannten. Laut rief Lubrin seine Anordnungen zu Dara und den anderen hinüber: »Dorthin, wo der zweite Dornbusch steht. Versuch es mit vierzig Schritten nein, nein, du gehst zu weit hügelaufwärts. Kuno, halte es dort, während ich nach links gehe; Dara, hilf mir, dies hier festzupflocken...!« Sonst sprachen sie nicht miteinander. Es schien, als gäbe es sonst nichts zu sagen. -87-
Lubrin fühlte sich seltsam fremd, als gehöre er nicht auf diesen vertrauten Hügel, und kein Gefühl des alten Zaubers, der zu seinen Bildgestaltungen dazugehört hatte, wollte sich einstellen. Es war nicht mehr Leben oder Zauber in dem, was er jetzt tat, als er bei den Arbeiten an den neuen Gräben für die Festung verspürt hatte. Statt dessen erfüllte ihn ein seltsam totes Gefühl; vielleicht kam es daher, weil die Arbeit so groß war, daß er nicht sehen konnte, was er machte. Nie zuvor hatte er etwas gezeichnet, ohne mit dem gleichen Herzschlag, da er die Linien zog, zu sehen, ob sie so wurden, wie er sie haben wollte. Wenn er weit genug wegginge, um sehen zu können, was er auf dem Hügel gemacht hatte, dann würde es sicher besser sein und das Leben und der Zauber würden sich einstellen. Doch als sie soweit waren, daß alle Ochsenfelle eingepflockt oder mit Klumpen von Kalk befestigt waren, so daß sie nicht von ihrem Platz wegflattern konnten, trieb der Wind einen feinen Nieselregen herauf, so daß die Wälder im Tal hinter ziehenden Schwaden von Nässe verschwanden. So konnte Lubrin erst am nächsten Morgen, als der Regen aufgehört hatte und die Lerchen wieder über dem Hohen Kreidehügel sangen, von der Festung hinunter ins Tal steigen, um zu seinem Lieblingsplatz zu gelangen. Und auf dem ganzen Weg hütete er sich, zurückzublicken; erst wollte er am richtigen Ort sein. Er war besorgt, ob nicht die Nässe der vergangenen Nacht zu viel von dem Kalkanstrich weggewaschen haben könnte, so daß die Ochsenfelle aus der Ferne nicht deutlich genug zu sehen wären. Doch als er schließlich - weit ausgestreckt auf seinem Lieblingsplatz - das Gewirr der Zweige auseinanderbog und hinübersah, zeichneten sie sich deutlich ab in dem klaren Licht dieses frühen Morgens nach dem Regen. Lange lag er so und betrachtete prüfend nacheinander die gesetzten Markierungen und stellte sich vor, wie die weißen Kreidelinien miteinander verbunden werden müßten zu Ohren und Maul, zu der Schwingung von Hals, Rücken und Schweif -88-
und von den Vorderbeinen bis wieder hinauf zum Bogen von Hals und Kopf. Es würde ein gutes Pferd werden. Einige der Markierungszeichen, dachte er, waren nicht genau an der richtigen Stelle; eines mußte fast um das Doppelte seiner Länge nach rechts verlegt werden, ein anderes fast genauso weit hügelaufwärts. So schien es ihm; aber es war so schwer, sicher zu sein, da der Hang des Hügels so weit von ihm entfernt war. Hoch über dem Tal zog ein Falke weite Kreise am Himmel, die Spitzen seiner breiten Schwingen neigten sich im Wind. Sein Schrei drang schwach bis zu ihm herunter, und er dachte - wie er ihn so beobachtete -, wenn er nur auch so hinuntersehen könnte wie dieser große Vogel, der dort oben am leuchtenden Blau des Himmels kreiste, während sich die breiten Wellenzüge der Downs langsam unter ihm drehten, dann wüßte er... ...Nein, das wäre keine Hilfe; das Pferd mußte immer von Menschen und von der Erde aus gesehen werden. Kein Mensch könnte es jemals von dort oben sehen; nur der Falke und seinesgleichen und vielleicht die Götter. Das alles war so verwirrend, daß es ebenso sehr seinen Kopf schmerzte wie sein Herz. Nur eines wußte er genau: Jene zwei Markierungszeichen müßten verschoben werden. Er würde sein Bestes tun, da er ein Mensch war und kein Gott. Müde ließ er sich aus seiner Kork-Ulme niedergleiten und machte sich auf den Weg zurück zur Burg, zu dem Eroberer und zu der verlorenen kleinen Schar seiner Mitgefangenen, die sein Volk waren.
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Das Vorrecht des Häuptlings
In den folgenden Tagen bestrichen sie auch die Birkenstämme mit Kalk und machten sich daran, diese auf die einzelnen Markierungspunkte zu legen und schlugen Zeltpflöcke ein, damit sie nicht wegrollen könnten, den Hang hinunter. Dann sammelten sie die Felle ein und legten sie beiseite, um sie bei nächster Gelegenheit wieder verwenden zu können. Und jetzt waren die Umrisse des Pferdes auf dem Hügel deutlich zu sehen. Nicht daß man es schon für ein Pferd halten konnte; es sah eher aus wie eine Art Irrgarten aus kalkbestrichenen jungen Baumstämmen, die da zufällig auf dem Torf lagen, als hätten Riesen damit gespielt. »Soll das ein Pferd sein?« fragte Dara zweifelnd und rieb sich mit dem Handrücken über die Stirn, wobei er sich mit Kalk beschmierte. »Wenn wir weit genug entfernt wären und es dann sähen«, sagte Lubrin und blickte hinauf zu dem Falken, der wieder seine Kreise am Abendhimmel zog, die letzten Strahlen der untergehenden Sonne unter seinen Flügeln. »Für ihn - glaube ich - ist es ein Pferd.« »Aber wir haben nicht seine Flügel.« »Nein. Aber von jenseits des Tales sieht man es auch. Heute ist es nicht mehr hell genug, aber morgen früh werde ich zu meinem Baum gehen, und dann werde ich wissen, ob es ein Pferd ist.« In dieser Nacht, wie er so dalag, eingehüllt in einen alten Mantel, beobachtete Lubrin die Sterne über sich, bis der Himmel allmählich heller und farblos wurde und schließlich das erste, zart primelfarbene Morgenlicht im Osten herauf schimmerte. Er schlief die ganze Nacht nicht, weil er wußte, daß der kommende -91-
Tag einer jener Tage sein würde, die das Leben verändern: entweder bedeutete er einen Neubeginn oder ein Ende - oder er ließ etwas wachsen. Der Morgen kam, und die Wälder unterhalb der Burg waren erfüllt von Vogelgesang; und Lubrin trank die morgendliche Buttermilch, die ihm die Frauen brachten, ließ aber das Stück Gerstenkuchen unberührt und ging zu dem von Dornbüschen umwachsenen Tor des Pferchs. Die anderen sahen ihm nach. Er konnte es zwischen seinen Schulterblättern fühlen, wie sie ihn beobachteten. Dara machte eine zögernde Bewegung, als wollte er ihm folgen. Aber er war allein, als er aus dem Lager hinausging, und allein war er auch, als er zum Burgtor kam und die Speerwachen ihn hindurchließen. So ging er auch allein hinunter zu seiner Kork-Ulme, kletterte auf seinen Ast und blickte über das flache Land und hinüber zu den Hängen des Kreidehügels, um zu sehen, ob die Umrisse, die er dort oben mit den weißgestrichenen Birkenstämmen gelegt hatte, schon ein Pferd erkennen ließen. Ja, es war ein Pferd, ganz sicherlich; Beine und Schweif und alles war an der richtigen Stelle; der Kopf war vielleicht ein wenig klein, aber den konnte er leicht größer machen. Man konnte sofort erkennen, daß es ein Pferd war und nicht ein Bulle oder ein Hund. Und doch - alles war falsch! Wie es so dastand, Beine unten, Kopf oben, bildete es eine Art Bruch in der von Sonnenaufgang nach Sonnenuntergang lieblich fließenden Linie der Downs. Es zog den Blick davon ab. So abrupt wie ein Schwerthieb, mußte er denken. Ein Schwerthieb, eine Art Tod ... Ja, das war es: Das Pferd war tot; es hatte die äußere Form eines Pferdes, aber es war ohne Leben. Es war genauso, wie er es empfunden hatte, als er mit den kalkbestrichenen Ochsenfellen im Wind dort oben auf dem Hügel gekämpft hatte. Lange lag er still auf seinem Ast und fragte sich, was er nun tun sollte, während sich das Licht dieses Frühlingsmorgens um -92-
ihn herum veränderte und das feine Gewebe von Licht und Schatten auf den knospenden Zweigen der Ulme hin und her tanzte und der Falke hoch über dem Tal wieder seine Kreise am Himmel zog. Er überlegte, daß Cradoc und die übrigen Attribaten und vielleicht sogar die meisten seiner eigenen Leute es nicht so sehen würden, wie er es sah. Sicherlich könnte er ruhig so weitermachen und sein Pferd in den Kreidestein hineinschneiden, und kein Mensch würde jemals bemerken, daß irgend etwas damit nicht stimmte. Aber er würde es wissen! Er würde wissen, daß er seinen Teil des Vertrages nicht vollständig erfüllt hatte. Er würde wissen, daß er seine besondere Art, die Dinge zu sehen, verraten hatte. Und es wäre eine üble Sache, das zu wissen von dem letzten Bild, das er überhaupt noch machte. Das letzte Bild! In diesem Augenblick, als dieses Wissen in Lubrin erst noch ein halbes Wissen war, hatte der Falke seine Beute gesichtet und schoß steil vom Himmel herab; und irgendwo jenseits des Tales, am Fuße der Downs, starb etwas. Zu weit entfernt, als daß Lubrin einen Schrei hätte hören können, falls es überhaupt einen gab; aber er war sich dieses winzigen Todes mit großer Schärfe bewußt, als hätte er sich in seinen gewölbten Händen zugetragen. Da plötzlich kroch das unausgesprochene Etwas zwischen ihm und Cradoc - ja, es war noch nicht einmal gedacht worden zwischen ihnen - aus dem Dunkel hervor, und er sah ihm ins Gesicht, und es wurde ihm klar, daß er es immer gewußt hatte. Es war das letzte Siegel ihres Vertrages. Es war sein eigener Tod! Sein Blut, sein Leben, das dem von ihm geschaffenen Götter-Pferd Leben verleihen sollte, wie das Alte Volk alle sieben Jahre das Lebensblut eines Mannes in die Furchen der Erde fließen ließ, damit das Samenkorn zur Ernte heranreifen sollte. -93-
Er bemerkte, daß seine Hände zusammengekrampft waren und zitterten, und sein Herz hämmerte, als sei er rasend schnell auf einer Jagdspur gerannt; eine heftige Übelkeit stieg in ihm auf. Vorsichtig streckte er seine Finger und beobachtete - als seien es die Hände eines anderen -, wie sie allmählich zu zittern aufhörten. Die Übelkeit ging vorüber, und langsam schlug sein Herz wieder ruhiger. Ausgestreckt auf seinem Ast liegend nahm er es an, daß er sterben würde für die kleine verlorene Schar, die von seinem Volk übriggeblieben war. Schließlich lag darin nichts Besonderes. Es war das Vorrecht des Königs, des Häuptlings, zwischen dem Volk und den Göttern zu stehen, das bedeutete aber auch, für das Volk zu sterben, wenn es sein mußte. So war es immer gewesen. Er war der einzige Sohn des Häuptlings, der noch am Leben war, und von seiner Hand stammte das Pferd. Doch er brauchte ein wenig Zeit, um sich an den Gedanken zu gewöhnen, daß er bereit war, dieses Los anzunehmen, bevor er zurückging und den anderen wieder ins Gesicht sehen konnte. Er brauchte die Kraft und die Stille des großen Baumes. Und langsam zog Ruhe in ihn ein, eine so tiefe Ruhe, daß er - nach einer Weile - sogar ein wenig schlief, nachdem er die ganze Nacht zuvor wachgelegen hatte. Und er träumte wieder den alten Traum von der weißen Stute, den er lange, lange nicht geträumt hatte. Sein Schlaf war so leicht, daß es fast ein Wachtraum war; denn plötzlich gingen Traum und Wachen ineinander über: Er sah die weiße Stute und den fernen Hügel mit denselben Augen. Dann wich der Traum von ihm und überließ ihn seinem wachen Bewußtsein. Aber er hatte sie beide zusammen gesehen; er hatte das Pferd gesehen, die Stute, die er dort oben auf dem Steilhang des Kreidehügels schaffen mußte. Jetzt wußte er, wie sie sich bewegen mußte auf der fließenden Linie der Downs auf ihrem Weg vom Sonnenaufgang zum Sonnenuntergang. Es war, als hätte Epona selber ihn im Schlafe angerührt und zu ihm gesagt: »Sieh - so muß sie werden!« -94-
Die Schatten wurden schon lang, als er sich von seinem Baum heruntergleiten ließ und wieder einmal den Weg zurück einschlug. Diesmal ging er nicht geradewegs zur Burg, sondern wandte sich ostwärts und kletterte den schwindelerregenden Hang hinter dem Drachen-Hügel hinauf, wo hoch oben in der weiten Leere der Wiese die ausgelegten Birkenbäumchen auf ihn warteten. Er wußte nicht genau, weshalb er dorthin ging. Es gab eigentlich dort nichts mehr für ihn zu tun an diesem Abend; aber der Ort rief ihn, und er antwortete auf den Ruf. Und dann, als er dort oben stand und darüber nachdachte, wie die neuen Linien, die er morgen beginnen würde, verlaufen sollten, hörte er Pferdehufe hinter sich auf dem Torf. Er wandte sich um und hätte sich nicht gewundert, wenn er eine Stute so weiß wie die Blüten des Dornbusches vor sich gesehen hätte. Aber es war Cradoc, der seinen roten Lieblingshengst ritt, mit ein paar Jagdhunden, die ihm in leichten Sprüngen folgten. Das Pferd hatte Tigernann gehört, und es lief sicher wie eine Bergziege auf dem steilen Hang. Cradoc zügelte es und saß da und sah auf Lubrin hernieder und von ihm hinüber zu den Birkenbäumchen, während der Wind an seinem Safranmantel zerrte. »Merkwürdig«, sagte er, »hier oben sagt es einem überhaupt nichts, aber von jenseits des Tales sieht es schon fast aus wie ein Pferd. Die Arbeit geht gut voran.« Als er in die hellen, harten blauen Augen des Mannes über ihm blickte, wußte Lubrin, daß er recht gehabt hatte: Er könnte dieses Pferd fertig machen, wenn er wollte, und niemand außer ihm selber würde jemals wissen, daß er seinen Vertrag nicht voll erfüllt hatte. Niemand außer ihm selber würde dann jemals wissen, daß er seinen Traum verraten hatte, die Vision, die alle Schöpfer in dieser Welt haben, ehe sie etwas Neues erschaffen, sei es ein Lied oder ein Schwert oder ein in den Kalkboden geschnittenes Pferd, halb so hoch wie der Hang eines Hügels. Er schüttelte den Kopf. »Es geht nicht gut voran. Es ist kein -95-
Leben darin, und es ist das falsche Pferd. Aber ich weiß jetzt, wie ich das richtige Pferd machen muß, und morgen werde ich von vorne anfangen.« »Und wenn ich sage, daß mir dieses Pferd gut genug ist?« »Es muß auch mir gefallen«, sagte Lubrin. Plötzlich lächelte er. »Also. Wir haben einen Vertrag geschlossen, daß ich das Pferd machen soll, und wenn es euch gefiele, sollte mein Volk frei sein. Aber wenn dies mein letztes magisches Bild ist, das ich jemals machen werde, so laßt es mich nach den besten Kräften machen, die ich in mir habe.« Das Schweigen, das seinen Worten folgte, war kurz und hart. Der rote Hengst warf seinen Kopf hoch und tänzelte zur Seite auf dem steilen Torfhang, als habe sein Reiter ihn am Zügel gezerrt. »Oder denkt ihr, daß ich nur Zeit gewinnen will?« fragte Lubrin. »Ein wenig mehr Zeit zu leben? Das wäre eine traurige Art zu sterben.« Und damit war es heraus, das unausgesprochene Etwas, und lag offen zwischen ihnen. Cradoc schüttelte den Kopf; und etwas in seinen Zügen verriet Lubrin, daß es auch für ihn im Dunkel gelegen hatte, bis der Augenblick gekommen war, ihm ins Gesicht zu sehen. »Wenn das Pferd fertig ist und uns beiden gut genug erscheint, werde ich bereit sein.« Hoch über dem Kreidehügel sangen die Lerchen; ihr jubelndes Lied wurde vom Abendwind hin- und hergetragen. Cradoc sagte: »Die Priester haben es nicht verlangt.« »Das ist nicht Sache der Priester.« Lubrin strich mit der Hand sein dunkles Haar zurück, das ihm der Wind in die Augen blies. »Sie wissen, daß dies Sache des Häuptlings ist. Sie wissen, daß es ein vorgezeichneter Plan ist zwischen euch und mir; und zwischen dem Volk und den Göttern.« -96-
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Die große Einsamkeit
Als Lubrin in das Lager zurückging, war die Dämmerung hereingebrochen, und der Schein der Feuerstellen blendete ihn. Fragend wandten sich ihm die Gesichter zu, und Dara sah auf von dem Gurt, den er gerade ausbesserte, und fragte: »Ist alles gut mit dem Weißen Pferd?« »Nein«, sagte Lubrin, »es ist nicht gut, obwohl Cradoc nichts daran auszusetzen findet.« »Das ist doch das einzige, worauf es ankommt«, sagte Teleri von der Frauenseite herüber. »Nein«, antwortete Lubrin. »Das ist nicht das einzige, worauf es ankommt.« Er blickte umher, von einem zum anderen, auf die Gesichter, die im Feuerschein zu erkennen waren, die Gesichter seines Volkes, und er sah sie sehr klar und sehr deutlich, nun, da er wußte, daß er für sie sterben würde. »Was denn noch?« fragte Teleri heftig, als ob sie plötzlich etwas nicht wahrhaben wollte. »Es ist wichtig, daß es Eponas, der Mutter der Fohlen, würdig ist«, sagte Lubrin Dhu. »Da mein Blut vergossen wird, um ihm Leben einzuhauchen, wenn es fertig ist, muß es auch so gut werden, daß es sich lohnt, dafür zu sterben.« Ein leichtes Rascheln, ein Geräusch, kaum lauter, als wenn jemand Atem holt, lief durch die kleine verlorene Schar, eine leise Welle der Bewegung, die schnell verebbte. Es lag kein Erschrecken in dieser Bewegung. Auch sie kannten den vorgezeichneten Plan. Nur Dara blickte auf von seiner Arbeit und sagte, aus der Stille heraus: »Ich bin der neue Häuptling. Ich sollte es sein, der für das Leben des Stammes stirbt.« -98-
»Nein«, sagte Lubrin, »deine Aufgabe als neuer Häuptling ist es, mit Teleri dein Volk nach Norden zu den neuen Weidegründen zu führen. Ich bin der Sohn des alten Häuptlings, ich bin es, der das Pferd gemacht hat. Epona selbst hat mir gezeigt, wie es gemacht werden muß. Mir kommt es zu, zu sterben.« Es war jetzt alles ganz einfach, so richtig und unvermeidlich und selbstverständlich, wie es selbstverständlich ist, daß die weiße Ackerwinde am Morgen ihre Blüte öffnet, um sie am Abend, wenn der einzige Tag ihres Lebens vorüber ist, wieder zur Form der Knospe zusammenzuschließen. Er setzte sich neben Dara. »Morgen werden wir unsere Arbeit neu beginnen.« So begannen sie von neuem mit der Arbeit, legten die kalkbestrichenen Felle aus und dann die Birkenstämme. Und Lubrin ging hin und her, zwischen dem Hang des Hügels und seinem Baum, von dem aus er einen Überblick über das Ganze hatte. Jetzt aber schien es, als habe ihn Epona wirklich angerührt, denn nicht eine einzige Linie mißlang. Jetzt war es nicht die äußere Erscheinung eines Pferdes, die er dort oben auf dem steilen Hang im Grundriß absteckte, sondern etwas, das seinen früheren magischen Bildern viel näherkam, in denen er versucht hatte, das Muster des Schwalbenfluges oder das Lied des Harfners einzufangen. In einer einzigen harmonischen ungebrochenen Linie verlief die ganze Länge des geschwungenen Nackens und Rückens bis hin zum Schweif. Es waren mehr als hundertzwanzig Schritte von den gespitzten Ohren bis zur Schwanzspitze, und der grazile Leib war an seiner breitesten Stelle wenig mehr als vier Schritte breit. Der Kopf hatte etwas vom Kopf eines Falken; die beiden am weitesten voneinander entfernten Beine waren überhaupt nicht mit dem übrigen Körper verbunden. Das alles war ohne Bedeutung. Er schuf ja nicht das äußere Erscheinungsbild da oben unter den vorüberziehenden Wolkenschatten und dem -99-
Lerchengesang. Er stellte die Kraft und die Schönheit, das Wesen des Pferdes, ja, Eponas selber dar, obwohl seine Besieger das niemals wissen würden. Dara und die übrigen sagten nichts zu dem seltsamen Werk, das sie da machten. Aber sie waren auch zu nah daran, um mehr sehen zu können als die verstreuten Markierungen auf dem Gras; und vielleicht wußten sie es nicht und wollten es auch nicht wissen bis zu dem Tage, da sie sich aufmachen würden zu ihrem Zug nach Norden und von der anderen Seite des Tales zurückschauen würden. Sie taten, was Lubrin ihnen sagte, so wie sie die Anordnungen der Priester befolgt haben würden, und ersetzten die Ochsenfelle wiederum durch kalkbestrichene Birkenstämme, und die groben Umrisse aus Stämmen wurde sodann noch sorgfältiger ausgeführt mit langen festgepflockten Streifen aus Ochsenfell - ein sauber ausgeschnittenes Ochsenfell kann Streifen liefern von der Länge eines Wurfspeeres. Und während der ganzen Zeit gaben sie acht darauf- selbst Teleri und selbst Dara -, niemals in Lubrins Schatten zu treten. Nicht in seinen Sonnenschatten und nicht in seinen Mondschatten, ja nicht einmal in seinen Schatten an der Feuerstelle abends im Lager. Da begann er, sich sehr einsam zu fühlen, noch einsamer als vorher, und auf eine andere Weise. An dem Abend, als die abgesteckte Umrißlinie fertig war, schritt Lubrin Dhu sie in ihrer ganzen Länge ab; er begann bei dem Maul und kehrte auch wieder dorthin zurück. Es hätte keinen Sinn gehabt, jetzt zu seiner Kork-Ulme zu gehen; die dünnen Fellstreifen würden von so weit her nicht zu sehen sein. Aber als er beim Gehen den Torf unter seinen Füßen spürte, sagte ihm sein Gefühl, daß alles richtig sei. »Morgen werden wir damit anfangen, den Torf zu schneiden«, sagte er zu Dara, der in einigem Abstand mit ihm gegangen war. »Hast du solche Eile?« fragte Dara mit rauher Kehle. -100-
Lubrin blickte gen Westen, wo ein Haufen leichter Federwolken von der untergehenden Sonne in flammendes Rot getaucht wurde. »Wir müssen nicht nur den Torf abtragen, sondern die ganze obere Kreideschicht bis zu der sauberen weißen Kreide darunter. Das wird viel Zeit kosten, und es kann immer irgend etwas passieren, das uns aufhält. Das Wetter kann umschlagen; und alles muß bis zur Erntezeit fertig sein; sonst wird es zu spät, noch in diesem Jahr nach Norden aufzubrechen. Wir müssen die Zeit nützen, solange wir können.« So begannen sie am nächsten Morgen mit dem Schneiden und Abheben des Torfes. Lubrin selber machte mit einer bronzenen Axt die äußersten Schnitte, während Dara und die anderen Männer die grüne Decke des Flachland-Torfs abhoben, die durchsetzt war mit kleinen leuchtenden Blumen, Klee und Thymian und Augentrost, die dann von den Frauen in ihren großen Weidekörben weggetragen und in die tiefe, mit Buschwerk bewachsene Mulde weiter unten gekippt wurde. Tage vergingen und Tage vergingen, und die Männer mit ihren Breithacken und den Hirschhorn-Spitzhacken gruben nun schon tief in die Kreide selber hinein und schnitten die erdverschmierten oberen Schichten weg, und die Frauen trugen sie fort und häuften sie auf. Die Männer gruben weiter, schenkeltief hinein in die reine, weiße Kreide unter dem Gras und auch diese wurde säuberlich nahebei aufgeschüttet, um dann später obenauf gestreut zu werden, wenn erst die schmutzige Kreide von der Oberfläche unten hineingeschaufelt worden war. Den ganzen Sommer lang, während dieses riesige, seltsame Gebilde auf dem Hügel allmählich Form und Gestalt annahm, und die Menschen, die eine Tagereise entfernt wohnten und es am südlichen Horizont sehen konnten, sich verwundert fragten, was für eine Zaubergestalt die Männer vom Hohen Kreidehügel da wohl machten -, diesen ganzen Sommer lang war das Wetter milde und freundlich. Die Gerste war hoch gewachsen und hatte kräftige Ähren in dem Kornland zu beiden Seiten der Downs; -101-
kein Sturm oder Gewitterregen schlug sie nieder. Die Zuchtstuten warfen prächtige Fohlen, so daß die Menschen wußten, daß der Zauber gut war und noch viele Jahre danach von jener Zeit zu ihren Enkeln und Urenkeln sprachen als von dem Sommer des weißen Pferdes. Die Arbeit ging dem Ende entgegen. Das Korn wurde reif zur Ernte; und an dem Tag, da der letzte Schnitt getan war, glättete Lubrin Dhu auch die oberste Schicht weißer Kreide an dem seltsamen Vogel-Pferde-Kopf und wußte, daß sein Werk vollendet war. Am nächsten Morgen, während sein eigenes Volk und die Leute des Alten Volkes, die zurückgekommen waren, sich bei den Garben versammelten, ging er hinüber zu seinem Baum. Die Zweige der großen Kork-Ulme, die mit purpurnen Blüten übersät gewesen waren in jenen ersten Frühlingstagen, als er sein Werk begonnen hatte, hingen jetzt tief herab mit den breiten dunklen Blättern des Spätsommers. Er mußte zwei Zweige auseinanderbiegen, um über das Tal hinausblicken und sein Werk betrachten zu können. Da war sie, die weiße Stute seiner Träume. In leichtem Galopp bewegte sie sich über den Hügel, als wisse sie, daß sie noch weit zu laufen habe; ihr geschwungener Nacken und ihr langer, geschmeidiger Schweif waren harmonisch eingepaßt in die fließende Linie der Downs, als wären beide schon immer eine Einheit gewesen, seit der Zeit, da die Welt noch jung war, und als würden sie für immer zusammengehören, solange die Erde bestand. Er sah, wie fremd sie sich ausnahm mit ihrem Kopf, der dem eines Falken glich, - und zwei ihrer Beine waren nicht einmal mit dem Körper verbunden. Aber er sah auch, daß gerade ihre Fremdheit es war, die ihren Bewegungen diese bezaubernde Leichtigkeit verlieh und die sie zu einem Geschöpf aus Feuer und Mondlicht und Kraft und Schönheit machte. Und wie er so zu ihr hinüberblickte durch die auseinandergebogenen Zweige, wußte Lubrin, daß es ihm gelungen war, seinem -102-
Traumbild so nahezukommen, etwas so Vollendetes zu schaffen, wie es nur einem Sterblichen vergönnt sein kann, selbst wenn ihn der Finger seines Gottes berührt hatte. Nun gab es nur noch eines für ihn zu tun. Er legte seine Hand gegen die rauhe Rinde der Kork-Ulme, so als berühre er einen Freund zum Abschied; denn er wußte, daß er nie wieder die Lebendigkeit des großen Astes unter sich spüren würde. Dann ließ er sich hinuntergleiten. Zum allerletzten Mal machte er sich auf den Weg, der Wellenlinie der Downs entgegen, zu der Burg, die die Festung seines Stammes gewesen war, um Cradoc, dem Häuptling der Attribaten, zu sagen, daß er bereit sei. Er fand den Häuptling im Hof bei den Ställen, wie er einen neuen Wagen prüfte. Die Schwalben zwitscherten unter den Dachsparren und schössen im Tiefflug mitten in einen Mückenschwarm hinein. »Cradoc, Häuptling, ich habe euch euer Weißes Pferd, euer Grenz-Zeichen, gemacht. Wollt ihr nun hingehen und es ansehen?« Cradoc blickte auf von den Rohlederriemen zwischen Joch und Deichsel, die er gerade geprüft hatte, und schüttelte den Kopf. »Ich habe es entstehen sehen, immer wenn ich dort vorbeikam, den ganzen Sommer lang; das weißt du doch. Es ist nicht nötig, daß ich jetzt hingehe und es ansehe.« »Dann sagt mir: Scheint es euch gut?« »Das erste Pferd schien mir genauso gut«, sagte Cradoc, »aber wir stammen beide aus einem Pferdevolk, du und ich.« Lubrin durchzuckte eine Erinnerung an seinen Vater: Er hatte in diesem Haus genau dieselben Worte gesprochen. Damals waren die Schwalben genauso tief geflogen wie heute... »Wir erkennen eine edle Stute, wenn wir eine sehen. Sie wird der Pferdeherde viele Fohlen bringen und den Frauen prächtige Söhne. Ja, ich finde sie gut.« -103-
»Dann will ich gehen und meinem Volk sagen, es solle sich bereit machen zum Aufbruch«, sagte Lubrin. »In vier Tagen ist das Lammas-Fest (uraltes keltisches Kultfest, das im Hochsommer gefeiert wurde, aus Anlaß des bei der ersten Weizenernte gebackenen Brotes.). Wenn die Lammas-Feuer ausgebrannt sind, werden die Pferde bereit sein, und die Tore werden offenstehen für dein Volk, und es wird frei sein«, sagte Cradoc, der Häuptling.
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Das Lied vom Nordwärts-Treiben der Herden
Die Pferde wurden heraufgebracht, und sie trappelten durch eine Wolke von weißem Sommerstaub; nahe bei der Burg wurden sie zusammengetrieben: eine kleine gemischte Herde, nicht eben die Blüte der Pferdeweiden, wie Lubrin mit prüfendem Blick sogleich feststellte, aber auch nicht die schlechtesten Tiere; Cradoc verhielt sich anständig. Zwei Hengste in einem besonderen Verschlag, ein dunkelbrauner, ein fuchsroter, etwa zwanzig oder mehr Stuten, von denen einige trächtig waren; eine kleine Auswahl von Zweijährigen mit rauhem Fell, die wahrscheinlich unterwegs Schwierigkeiten machen würden, fünf Ponies... Am Lammas-Abend loderten die Doppelfeuer auf der höchsten Erhebung des Kreidehügels östlich von der Burg, und die besten Tiere aus den Vieh- und Pferdeherden wurden zwischen die beiden Feuer getrieben, damit sie im kommenden Jahr fruchtbar seien. Aus der Dunkelheit kamen sie herauf; man hörte den weichen Aufschlag von Hufen und hinter ihnen die anfeuernden Rufe der Hirten. Lubrin, der inmitten seines eigenen Volkes stand - denn auch sie hatten sich bei den Lammas-Feuern versammelt - sah das alles, wie er es so viele Male vorher gesehen hatte: die Hengste mit wilden Augen und wallenden Mähnen, die verschreckten Stuten mit ihren Fohlen, die ihnen dicht auf den Fersen folgten - wie sie aus der Dunkelheit herausbrachen, in den roten Schein der beiden Feuer hinein, und dann wieder im Dunkel verschwanden, über den Kamm des Berges. Einmal streifte sein Blick zwischen dem Strom hochaufgeworfener Köpfe, fliegender Mähnen und Schweife den Feuerschein auf einer milchweißen Flanke, als eine weiße Stute aus dem Dunkel herausgaloppierte und wieder -106-
zurück ins Dunkel verschwand wie ein sich auflösender Traum. Wie die weiße Traumstute, die sein ganzes Leben lang ein Teil seiner Selbst gewesen war, und die nun auf ihn wartete, nur einen Speerwurf weit in die Kreide geschnitten, gerade unter dem Gebirgskamm, wo die Lammas-Feuer in den leichten Wind hinaufloderten. Als letztes von allen Pferden liefen auch der fuchsrote Hengst und seine drei besten Stuten zwischen den beiden Feuern hindurch, damit auch sie die Fruchtbarkeit des kommenden Jahres mit in den Norden tragen sollten. Als auch das Vieh hindurchgelaufen war und die Feuer langsam niederbrannten, nahmen einige der jungen Krieger ihre Frauen bei der Hand und sprangen mit ihnen durch die letzten ersterbenden Flammen, auf daß sie prächtige Söhne bekämen. Dara trat heraus aus der hohlwangigen und zerlumpten Schar der Iceni-Männer, nahm Teleri bei der Hand und lief mit ihr los. Ihre Füße verstreuten die verglühenden Holzscheite, und sie pfiff so fröhlich wie ein Brachvogel im Frühling in der plötzlichen hellen Freude der bevorstehenden Freiheit. Andere aus der Schar der Icenis folgten. Sie würden Kinder brauchen und sie würden Fohlen brauchen in ihren neuen Weidegründen. Lubrin sah ihnen zu. Nun, da die Flammen nur noch ganz klein und niedrig brannten und aussahen wie gekräuselte Blütenblätter aus Feuer, die noch hier und da in der Asche glommen, war der Nachthimmel, den die hellen Flammen ausgelöscht hatten, wieder sichtbar mit all seinen Sternen, den Sternen der Wanderschaft und der Jagdfährten und der neuen Weidegründe. Lubrin war froh, daß es eine Nacht voller Sterne war. Der Morgen kam mit dem hellen Ruf des grünen Regenpfeifers und mit einem leichten Dunst, der tief über dem Walde lag, bis er sich langsam auflöste und von der Sonne weggewischt wurde. Die weiße Stute auf dem Hügel blickte in den Morgenhimmel hinein. Und die großen Tore der Burg -107-
standen offen, damit das Volk der Iceni hindurchgehen konnte. Die drei Männer zu Pferde, welche die Herde vorwärtstreiben sollten, waren schon aufgesessen; und das kleine Rudel Pferde war aus dem Pferch herausgeführt worden. Ihre Habseligkeiten und die kleinen Kinder hatten die Iceni auf ein paar alte Kriegskarren geladen oder sie in Kiepen untergebracht, die über den Rücken kleiner stämmiger Ponies gehängt waren. Männer und Frauen trugen große Körbe und Bündel; jemand führte eine ältliche Ziege an einem Strick. Einige der Männer trugen Speere, zum ersten Mal seit vielen Monden. Die Frauen hatten ihre zerschlissenen und von Wind und Wetter beschmutzten Kleider mit ihrem Gürtel hochgebunden für die Wanderschaft. Alte Leute gab es nicht. Das Jahr der Gefangenschaft hatte einen hohen Tribut gefordert unter den Alten, weil sie keine Hoffnung mehr hatten; einige hatten sogar einen tödlichen Schlaftrunk genommen, als die Zeit herankam, weil sie wußten, daß man sie zurücklassen mußte oder daß sie eine Last für das übrige Volk bedeuten würden. Von einer solchen Wanderung nach dem Norden hatte Sinnoch, der Harfner, nicht gesungen, dachte Lubrin Dhu; er hatte von Kriegswagen und Gespannen gesungen, die den Hohen Kreidehügel entlang donnerten, von großen, stattlichen Pferdeherden, von Ochsenkarren für die Frauen und Kinder, von Gütern, Gerätschaften und Werkzeug, von dem Brüllen der Rinder, die vorwärtsgetrieben wurden. Vielleicht aber war dies hier tapferer, diese Handvoll Krieger und Frauen, ausgemergelt durch die Gefangenschaft, die sich aufmachten mit nichts als einem bißchen fadenscheiniger Hoffnung... Die runden, ernsten Augen eines Kindes begegneten den seinen über den Rand eines Pony-Korbes; ein magerer Hund schnüffelte an seinen Fersen und trottete dann davon, seinem Herrn hinterher. Bald, sehr bald würden sie nun alle fortgegangen sein. Sie sahen ihn an, wie er so dastand, zwischen den geöffneten großen Holztoren; aber es gab wenig, fast nichts, -108-
was sie einander hätten sagen können. Im allerletzten Augenblick kam Teleri; sie strich sich ein paar Strähnen ihres blonden Haares aus der Stirn, die sich wie immer aus ihren dicken Zöpfen gelöst hatten. Sie sah gar nicht mehr aus wie ein junges Mädchen; von Gestalt war sie schön und kräftig geworden, ihre Augen schienen immer in die Ferne zu blicken, selbst als sie ihm ins Gesicht sah. »Mögest du sicher zu den neuen Weidegründen kommen«, sagte er, weil er merkte, daß sie nicht wußte, was sie sagen sollte. Sie machte eine kleine Bewegung zu ihm hin, aber dann zog sie ihre Hände wieder zurück und berührte ihn nicht. »Wir werden dorthin kommen«, sagte sie mit großer Sicherheit, »und wir werden nicht vergessen, daß wir das deiner Tat verdanken. Vielleicht hat einer von den Kleinen, die dort in dem Kriegskarren sitzen, die Gabe, Harfner zu werden; vielleicht wird diese Gabe einem geschenkt, der noch nicht geboren ist. Wenn es so ist, dann hoffe ich, daß er Dara und mir geboren wird. Aber wie es auch sei, die Zeit wird kommen, dort in den Weidegründen im Norden, da der Stamm wieder einen Harfner haben wird, und er wird ein Lied singen von der Wanderung gen Norden, und das wird auch das Lied von Lubrin Dhu sein.« Wieder machte sie eine kleine Bewegung, und wieder zog sie ihre Hand zurück, ohne ihn zu berühren, und wandte sich ab. Es war lange her, seit irgend jemand Lubrin berührt oder aus derselben Schüssel mit ihm gegessen hatte. Das hatte zur gleichen Zeit begonnen, als sie es vermieden, in seinen Schatten zu treten, und die große Einsamkeit über ihn gekommen war. Und bald, so bald nun würden sie alle fort sein. Und dann, im allerletzten Augenblick ihres Aufbruchs, kam Dara, der sich sehr eifrig mit den letzten Vorbereitungen zu schaffen gemacht hatte, so daß Lubrin dachte, er werde ohne jeden Abschied gehen - nun, er an seiner Stelle hätte es -109-
wahrscheinlich ganz genauso gehalten -, jetzt also war es Dara, der das Bündel, das er eben auf eines der Ponies laden wollte, hinwarf und zurückkam durch das große Tor, seine Arme um Lubrins Schultern legte - Kummer und Schmerz ließen ihn jede Scheu vergessen. Einen Atemzug lang stand Lubrin starr und steif wie das neue Holz des Torpfeilers. Dann warf er seine Arme um Dara, den Freund seines Herzens, der ihm mehr als ein Bruder gewesen war seit ihren frühesten Kinderjahren. Lange hielten sie einander fest umschlungen, und jeder von ihnen preßte sein Gesicht an des anderen Schulter. »Herzensbruder«, sagte Dara, »warte auf mich im Lande der Apfelbäume, sei es morgen oder wenn ich Herr über viele Speere im Norden bin und zu alt, um ein Pferd zu besteigen oder ein Schwert zu schwingen; warte auf mich, bis ich komme. Und vergiß mich nicht; denn ich werde dich nicht vergessen.« »Ich vergesse dich nie!« sagte Lubrin. Sie lösten sich voneinander, und Dara wandte sich zu dem Pony, das einer der anderen Männer für ihn bereithielt. Er stieg auf und gab mit erhobener Hand das Zeichen zum Aufbruch. Die Pferde, von ihren Reitern angespornt, setzten sich in Bewegung, und die Räder der beiden alten Wagen begannen sich zu drehen. Männer und Frauen rissen ihre Bündel hoch; die Hirten auf ihren Pferden trieben die Herde an. Irgendwo fing ein Kind zu weinen an, es war ein dünnes Weinen wie von einem neugeborenen Lamm. Lubrin wandte sich ab und stieg hinauf zu den nördlichen Wällen, um ihnen nachzusehen. Er sah den ärmlichen Zug von Männern und Frauen, die beiden alten Kriegswagen, die aussahen, als würden sie schon nach dem ersten Tag zusammenbrechen, die kümmerliche Pferdeherde und die Männer auf beiden Seiten, die sie antrieben; einmal waren sie sichtbar, dann verlor er sie aus den Augen und sah sie erneut, je -110-
nachdem wie der Pfad sich schlängelte in Windungen wie eine Peitschenschnur, zwischen Vorgebirge und steil abfallenden Bergkämmen der Downs, bis sie das Tal erreichten und die uralte Straße der Pferdevölker überquerten, um dann weiterzuziehen auf dem Weg, der nach Norden führte. Irgendwo - das wußte er - würden sie stehen bleiben und noch einmal zurückblicken auf die große Weiße Stute auf dem Hang des Hügels. Und dann würden sie nicht mehr zurücksehen, sondern vorwärts schauen gen Norden, getreu ihrem alten Traum von den fernen Weidegründen zwischen Gebirge und Meer. So wenige waren sie, weniger als zweihundert, wenn man das kleinste Kind dazurechnete. Er überlegte, wie viele Kinder wohl unterwegs geboren und wie viele sterben würden. Wie lange würden sie wohl brauchen, um ihr Ziel zu erreichen? Ein Jahr? Zwei Jahre? Ein halbes Leben lang? Würden sie überhaupt jemals dort ankommen? Eine weiße Staubwolke stieg hinter ihnen auf, und der Pfad verlor sich zwischen den Bäumen. Er stand da, bis er selbst die Staubwolke nicht mehr sehen konnte.
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Das Sonnenpferd
Gegen Mittag versammelte sich das Volk; die neuen Herren vom Hohen Kreidehügel strömten aus der Burg heraus, bis der Hügel mit bunten Farben übersät war: blau, braun, safrangelb und mohnrot. Schon um diese Mittagsstunde wurden die Schatten von Menschen und Sträuchern lang und dünn wie Abendschatten auf dem steilen Nordhang. Nach dem langen heißen Sommer war der Torf ausgebleicht und lohfarben, und der Geruch von sonnenwarmem Gras und kleinen süßduftenden Wiesenblumen, der daraus aufstieg, war unverkennbar der Duft der vollen Mittagsstunde. Lubrin roch ihn durch den schweren Moschusgeruch der Menge hindurch, als er hinaustrat auf den offenen Platz, der seine große, in den Kalkboden geschnittene Stute umgab. Ein leichter Wind strich über die kahlen Schultern des Kreidehügels und trug von den Wäldern im Tale den kühlen Hauch von schattigen Bäumen herauf, und auch diesen Geruch nahm er wahr und hörte den scharfen, spitzen Schrei eines Turmfalken hoch über sich. Die Menge verharrte in Schweigenes war so still, daß nichts den hellen scharfen Ton zu verwischen vermochte. Ein leichter blauer Hitzeschleier lag über dem weiten Land. Das alles war ihm seit jeher vertraut er kannte es so lange, wie er das Leben kannte; aber nie zuvor war es ihm so scharf und schmerzhaft im Bewußtsein gewesen. Es war, als hätte er eine Haut weniger, die ihn von dem Wind und dem sonnenwarmen Torf und dem Schrei des Turmfalken trennte. Er war nackt; sein Körper war bemalt mit roter und gelber Ockerfarbe, in Mustern, die anders waren als die seines Volkes. Die Priester hatten mit dem Saft dunkler Beeren Linien auf seine Stirn und um seine Augen herum gemalt. Auf jeder Seite neben ihm schritt ein Priester; und auf der Wiese zwischen den -113-
Vorderbeinen der Stute warteten zwei Männer auf ihn. Der eine war Cradoc, bekleidet mit seinem Mantel, den er nur bei besonderen Zeremonien trug, einen Mantel aus blutroter Wolle, besetzt mit Marder-Schwänzen. Der andere war der Hohe Priester, in weißgebleichte Tücher gehüllt, wie sie nur die Priester trugen, bekränzt mit Eichenlaub, fett wie ein mit Eicheln gefüttertes Mastschwein, wie alle Priester der Attribaten, weil sie zu üppig lebten von den vielen, den Göttern dargebrachten Opfern. Er hielt ein Messer aus dunkel poliertem blaugrünem Stein in der Hand. Lubrin sah das Messer, und es schien so sehr ein Teil von ihm selbst zu sein wie der Wind und der warme Torf und der Falkenschrei. Aber er wollte seinen Tod nicht aus der Hand dieses fremden Priesters empfangen. So war es nicht in dem Vertrag ausgemacht. Er blickte zu Cradoc hinüber. »Dies ist etwas zwischen euch und mir.« »Gewiß ist dies etwas zwischen dir und mir«, gab Cradoc zurück. »In meinem Volk gibt es keine Zeremonie für die Götter, wenn nicht die Priester anwesend sind. Aber dies hier ist Sache des Häuptlings, mein Bruder.« Er streckte dem Hohen Priester an seiner Seite die Arme entgegen, und der Mann legte ihm das seltsame dunkle Messer auf die flachen Hände. Seite an Seite schritten Lubrin und Cradoc dahin und betraten die bloße weiße Kreide auf der Brust der Stute. Ein leises rhythmisches Sprechen erhob sich aus der Schar der Priester, wurde von der Menge aufgenommen, schwoll an, lauter und lauter, wurde Gebet und Triumphgesang zugleich. Der geschwungene Hals der Stute war wie eine königliche Straße, und Lubrin wandelte darüber hin wie ein König, der zu seiner Krönung schreitet, bis er zu dem seltsamen Kopf gelangte, der dem eines Falken glich. Es schien ihm, als blicke das stolze -114-
Auge des Pferdes auf Sonne und Mond und kreisende Sterne und auf die Winde der ganzen Welt. »Und doch ist es im Grunde nur ein rundes Stück Torf«, sagte eine Stimme in ihm, leise lachend über seine eigene Torheit. Doch etwas anderes in den Tiefen seines Wesens wußte, daß ein starker Zauber darin steckte, daß es gleichsam der Ort war, wo Erde und Himmel sich berührten. Und eine andere Stimme in ihm sagte: »Es wächst eine Glockenblume darauf- das ist das allerschönste.« Dann legte er sich hin. »Bist du bereit?« fragte Cradoc und kniete sich neben ihn. Lubrin lächelte zu ihm auf, in die schmalen blauen Augen in dem windverbrannten Gesicht. »Ich bin bereit.« Er kannte den hohen, vom Wind erfüllten Himmel über sich und die warme Beständigkeit der Erde unter sich. Er kannte die Glockenblumen in dem gelbbraunen Gras, wie sie sich im Winde auf ihren schlanken Stielen hin- und herwiegten. Und irgendwo weit weg in Raum und Zeit erlebte er die Freude seines erschöpften Volkes über das Heimkommen zu ihren Weidegründen im Norden zwischen den Bergen und dem Meer. »Bruder, sei frei«, sagte Cradoc. Lubrin sah die Sonne aufblitzen auf der herabfallenden Klinge.
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