Katharina D. Giesel Leitbilder in den Sozialwissenschaften
Katharina D. Giesel
Leitbilder in den Sozialwissenschafte...
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Katharina D. Giesel Leitbilder in den Sozialwissenschaften
Katharina D. Giesel
Leitbilder in den Sozialwissenschaften Begriffe, Theorien und Forschungskonzepte
Bibliografische Information Der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.
D 188 Zugl.: Berlin, Freie Universität, Diss., 2005
. 1. Auflage August 2007 Alle Rechte vorbehalten © VS Verlag für Sozialwissenschaften | GWV Fachverlage GmbH, Wiesbaden 2007 Lektorat: Monika Mülhausen / Bettina Endres Der VS Verlag für Sozialwissenschaften ist ein Unternehmen von Springer Science+Business Media. www.vs-verlag.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Umschlaggestaltung: KünkelLopka Medienentwicklung, Heidelberg Druck und buchbinderische Verarbeitung: Krips b.v., Meppel Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier Printed in the Netherlands ISBN 978-3-531-15648-4
Vorwort
Die Entstehung der vorliegenden Arbeit haben viele Menschen mit ihren Ideen, Anregungen oder schlicht einem offenen Ohr begleitet. Manche sind ein Stück des Weges mitgegangen, andere haben den ganzen, langen Schaffensprozess miterlebt. Einigen bin ich zu besonderem Dank verpflichtet. Prof. Dr. Gerhard de Haan hat mich auf meinem Werdegang an der Freien Universität Berlin von der Einführungsvorlesung bis zur vorliegenden Publikation als anregender Mentor, Projektleiter und Doktorvater begleitet. Ausdauernde fachliche und seelische Unterstützung erhielt ich von meinen Beraterinnen, Mutmacherinnen, critical friends und Lektorinnen Andrea Hiesinger, Andrea Effinger, Dr. Friedrun Erben, Ilona Böttger, Dr. Inka Bormann, Julia Mann, Monika Settele und Dr. Sandra Hupka. Meine Eltern haben mich in meinem Vorhaben bestärkt und das existenzielle Netz unter mir aufgespannt. Allen möchte ich hiermit herzlich für ihre Unterstützung danken. Ihre Aufmerksamkeit und Geduld, Zeit und Mühe sowie das in mein Projekt gesetzte Vertrauen haben wesentlich zu seinem Gelingen beigetragen. Danke!
Inhaltsverzeichnis
Vorwort .............................................................................................................................
5
Verzeichnis der Tabellen und Abbildungen ...................................................................... 11 Einleitung ......................................................................................................................... 13 Annäherung an den Gegenstand ................................................................................ Theoretische Rahmung & Aufgabenstellung ............................................................ Vorgehen & Zielsetzung ........................................................................................... Terminologische Klärung .......................................................................................... 1
13 15 18 20
Die Karriere des Leitbildbegriffs ........................................................................... 23
1.1 Der Begriff Leitbild im öffentlichen Sprachgebrauch .............................................. 24 1.2 Der Begriff Leitbild in den sozialwissenschaftlichen Fachwörterbüchern ............... 25 1.3 Die Konjunktur des Begriffes in sozialwissenschaftlichen Forschungsprojekten und Publikationen ...................................................................................................... 30 1.4 Zusammenfassung: Zur Karriere des Leitbildbegriffs .............................................. 33 2
Rekonstruktion des Leitbilddiskurses – Anlage und Resultat der Hauptuntersuchung ................................................................................................ 35
2.1 Die Anlage der Hauptuntersuchung .......................................................................... 35 2.2 Das Resultat: Zwei Typologien zur Orientierung im Diskursfeld ............................ 37 2.2.1 Das Begriffsverständnis von Leitbildern in den Sozialwissenschaften – begriffliche Typologie ................................................................................. 38 2.2.2 Der Status von Leitbildern in der sozialwissenschaftlichen Forschung – konzeptionelle Typologie ............................................................................ 44 3
Leitbilder in den Sozialwissenschaften – die Diskursanalyse ............................. 47
3.1 Leitbilder der Lebensführung .................................................................................... 3.1.1 Psychologisch orientierte Leitbildverständnisse ......................................... 3.1.1.1 Leitbilder in der (Individual-)Psychologie .................................................. 3.1.1.2 Leitbilder in der Entwicklungspsychologie und Idealforschung .................
48 48 48 49
Inhaltsverzeichnis
8 3.1.2 3.1.2.1 3.1.2.2 3.1.2.3 3.1.3 3.1.3.1 3.1.3.2 3.1.4
Soziologisch orientierte Leitbildverständnisse ............................................ Leitbilder zwischen Sozialpsychologie und Soziologie .............................. Leitbilder als Berufsrollenvorstellungen ..................................................... Leitbilder in der Familien- und Geschlechterforschung .............................. Leitbilder in der Pädagogik ......................................................................... Leitbilder in der Pädagogik der 1950er und 1960er Jahre .......................... Moderne Leitbildverständnisse in der Pädagogik ....................................... Fazit zu Leitbildern der Lebensführung ......................................................
51 51 52 54 57 57 59 59
3.2 Leitbilder in der Politik ............................................................................................. 3.2.1 Leitbilder in der Wirtschafts- und Sozialpolitik .......................................... Das Leitbild Soziale Marktwirtschaft .......................................................... 3.2.2 Leitbilder in der Umweltpolitik ................................................................... Das Leitbild der nachhaltigen Entwicklung ................................................ 3.2.3 Leitbilder in der Europapolitik .................................................................... 3.2.4 Gesellschaftspolitische Leitbilder in der Bürgergesellschaft ...................... 3.2.5 Fazit zu Leitbildern in der Politik ................................................................
62 63 66 67 69 74 76 77
3.3 Leitbilder in Organisationen und Unternehmen ........................................................ 3.3.1 Manifeste Unternehmens- und Organisationsleitbilder ............................... 3.3.1.1 Leitbilder als schriftliche Unternehmensgrundsätze und Instrument der Unternehmensführung ......................................................... 3.3.1.2 Funktion, Gestalt und Entwicklung von manifesten Leitbildern ................ 3.3.1.3 Anforderungen an manifeste Leitbilder ....................................................... 3.3.2 Leitbilder zwischen Mission und Vision ..................................................... 3.3.3 Exkurs: Ansätze der Organisations- und Unternehmenskultur ................... 3.3.4 Implizite Leitbilder als Zukunfts- und Wunschdimension organisationskultureller Deutungsmuster .................................................... 3.3.4.1 Das Leitbildkonzept der WZB-Gruppe im Kontext der Organisationskulturforschung ..................................................................... 3.3.4.2 Das Leitbildkonzept der Forschungsgruppe Umweltbildung ...................... 3.3.5 Fazit zu Leitbildern in Organisationen und Unternehmen ..........................
81 82
3.4 Leitbilder in der raumbezogenen Planung und Forschung ....................................... 3.4.1 Das Verständnis von Leitbildern im Spiegel einer veränderten Planungsauffassung ..................................................................................... 3.4.2 Generelle Leitbilder ..................................................................................... 3.4.2.1 Der Ursprung der raumbezogenen Leitbilddiskussion zwischen epochalem Formprinzip und dogmatischer politischer Vorgabe ................ 3.4.2.2 Dominante städtebauliche Leitbilder der 1. Generation .............................. 3.4.2.3 Die Vielfalt der generellen Leitbilder der 2. Generation ............................. 3.4.3 Spezifische Leitbilder .................................................................................. 3.4.4 Kritik und Kontroversen zu raumbezogenen Leitbildern ............................ 3.4.5 Fazit zu raumbezogenen Leitbildern ...........................................................
84 93 97 101 108 113 113 116 122 126 129 131 131 134 140 144 153 156
Inhaltsverzeichnis
3.5 Leitbilder in der Technikforschung ........................................................................... 3.5.1 Leitbilder in der Technikgenese – das Konzept der WZB-Forschergruppe . 3.5.1.1 Das Leitbild als theoretisches Konzept der Technikgeneseforschung ........ Leitbilder im Modell zur Erklärung der Produktion technischen Wissens ... Die Funktionen von Leitbildern .................................................................. Zur Definition von Leitbildern im Rahmen der Technikgeneseforschung ... Zur Genese und Karriere von Leitbildern ................................................... 3.5.1.2 Leitbilder als analytische und praktische Kategorie für Technikforschung und -entwicklung ........................................................... 3.5.2 Leitbilder und Metaphern – das Konzept von Mambrey, Paetau und Tepper .......................................................................................................... 3.5.3 Leitbilder als hermeneutisches Phänomen – die Kritik von Hellige ........... 3.5.4 Fazit zu Leitbildern in der Technikforschung .............................................
9 160 163 164 164 166 167 170 172 180 182 184
3.6 Zusammenfassung: Die sozialwissenschaftliche Kategorie Leitbild ........................ 193 4
Kontextualisierung der Kategorie Leitbild ........................................................... 199
4.1 Orientierung in der Zweiten Moderne ...................................................................... 4.1.1 Rückkehr von Uneindeutigkeit und Ungewissheit – ein wissenssoziologischer Zugriff ............................................................... 4.1.2 Orientierung unter den Bedingungen des sozialen Wandels ....................... 4.1.3 Orientierung unter veränderten Raum- und Zeitbedingungen und die Bedeutung der Reflexivität ..........................................................................
200 201 205 212
4.2 Gesellschaftlicher Zusammenhalt in der Zweiten Moderne ..................................... 216 4.3 Zusammenfassung der gesellschaftlichen Rahmenbedingungen und Formulierung der Prüfkriterien ................................................................................. 221 4.3.1 Gesellschaftliche Rahmenbedingungen der Zweiten Moderne ................... 221 4.3.2 Prüfkriterien für die Angemessenheit einer sozialwissenschaftlichen Beschäftigung mit Leitbildern ..................................................................... 225 4.4 Leitbilder in der Zweiten Moderne – die Anwendung der Prüfkriterien .................. 228 5
Resümee: Zur Neufassung des Leitbildansatzes .................................................. 245
5.1 Leitbilder – eine Begriffsexplikation ........................................................................ 245 5.2 Umrisse eines leitbildbezogenen Forschungsprogramms ......................................... 254 5.3 Der Leitbildansatz im Kontext einer pragmatisch ausgerichteten Zukunftsforschung .................................................................................................... 258 Literatur ........................................................................................................................... 263
Verzeichnis der Tabellen und Abbildungen
Tabelle 1.1:
Der Leitbildbegriff im Spiegel sozialwissenschaftlicher Wörterbücher
26
Tabelle 2.1:
Leitbild-Typen ......................................................................................
39
Tabelle 2.2:
Konzeptionelle Typologie zum Status von Leitbildern in sozialwissenschaftlichen Forschungsarbeiten ......................................
45
Tabelle 3.1:
Leitbilder in der Technikforschung – Umgang und Einsatz .................. 161
Abbildung 1.1: Konjunktur des Leitbildbegriffs in sozialwissenschaftlichen Publikationen ........................................................................................
32
Abbildung 3.1: Leitbilder im Rahmen von Managementkonzepten ............................... 86 Abbildung 3.2: Funktionen von Leitbildern ................................................................... 94 Abbildung 3.3: Typen von Mission Statements .............................................................. 102 Abbildung 3.4: Das Gefühl für die eigene Mission ........................................................ 103 Abbildung 3.5: Ebenen der Unternehmenskultur ........................................................... 109 Abbildung 3.6: Die zehn Phasen der Leitbildanalyse ..................................................... 121 Abbildung 3.7: Kern- und Bezugsdimensionen von Leitbildern .................................... 122 Abbildung 3.8: Leitbildbegriffe der raumbezogenen Planung und Forschung im historischen Verlauf ............................................................................... 128 Abbildung 4.1: Prüfkriterien im Überblick ..................................................................... 227
Das Leitbild ist der Inbegriff der Zukunftsbezogenheit des Menschen. Felix Scherke (1959, S. 127)
Einleitung
Annäherung an den Gegenstand Leitbilder begegnen uns fast täglich im öffentlichen Sprachgebrauch. Man denke beispielsweise an das Leitbild der nachhaltigen Entwicklung, die Leitbilder, die sich Städte zu Zwecken der Stadtentwicklung geben, das Leitbild der sogenannten Hausfrauenehe oder schließlich Leitbilder, mit denen sich einzelne Schulen oder Blumenläden im Internet präsentieren. Aber nicht nur im öffentlichen Diskurs hat die Rede über Leitbilder Konjunktur. In besonderem Maße gilt dies auch für unterschiedliche sozialwissenschaftliche Forschungsbereiche. Man begegnet dem Begriff immer häufiger in der Soziologie, den Wirtschaftswissenschaften, der Politologie oder der Erziehungswissenschaft. Zu Leitbildern wird in so unterschiedlichen Forschungsfeldern wie der Technikgeneseforschung, Stadt- und Regionalforschung, Familien- und Geschlechterforschung oder Organisationsforschung gearbeitet. Damit ergibt sich vorab folgende noch zu belegende Feststellung: ¾
Leitbilder haben Konjunktur – und zwar im öffentlichen Sprachgebrauch ebenso wie in den Sozialwissenschaften.
Einen besonderen Auftrieb erleben die sogenannten Unternehmens- und Organisationsleitbilder. Unternehmen, aber auch Nonprofit Organisationen und Organisationen des öffentlichen Sektors entfalten bereits seit einigen Jahren verstärkt Bemühungen, für sich ein Leitbild zu entwerfen. Auf diese Weise versuchen sie, das eigene Selbstverständnis neu zu formulieren und damit zielgerichtet sowie profiliert nach innen und nach außen die eigene Leistungs- und Entwicklungsfähigkeit zu sichern bzw. zu steigern. Doch gerade der Blick in die Organisationsforschung macht beispielhaft deutlich, dass die an Leitbilder gestellten Erwartungen nicht in jedem Fall erfüllt werden. Unternehmen ebenso wie andere Organisationen machen regelmäßig die Erfahrung, dass die von ihnen formulierten Leitbilder nicht erfolgreich sind, insbesondere deshalb weil sie bei den Akteuren offenbar nicht auf positive Resonanz, mitunter sogar auf Widerstand stoßen. Unbeachtet bleibt dabei häufig die Tatsache, dass die neu aufgestellten Leitbilder mit bereits vorhandenen, in der Organisation gewachsenen Leitbildern kollidieren können. Die hier beschriebene Beobachtung lässt zugleich erahnen, dass mit dem Terminus Leitbild offenbar unterschiedliche Dinge bezeichnet werden. Die Verwendung des Begriffs(wortes) kann somit zu Verständigungsschwierigkeiten und Missverständnissen führen. Die begrifflichen Irritationen beschränken sich durchaus nicht auf Leitbilder im Kontext von Organisationen. Schon lange wird in unterschiedlichen Forschungsfeldern beklagt, dass der Begriff „inflationär“ (Hellige 1996a, S. 16), „willkürlich“ und „gedankenlos“ (Dittrich 1964a,
Einleitung
14
S. 28) verwendet würde und unscharf (vgl. Bittner 1964, S. 15; Dierkes/Hoffmann/Marz 1992, S. 7), „missverständlich“, „überstrapaziert“ oder gar „abgegriffen“ (Albers 1965, S. 1 und 25) sei. Die spätere Untersuchung des sozialwissenschaftlichen Leitbilddiskurses wird zeigen, dass kein einheitliches Begriffsverständnis, folglich auch kein übergeordnetes sozialwissenschaftliches Leitbildkonzept existiert. Was Leitbilder sind, wie sie entstehen, was sie für eine Funktion haben, wie sie wirken und wie mit ihnen umgegangen werden soll, darüber gibt es weder innerhalb einzelner Disziplinen noch zwischen ihnen einen Konsens. Deshalb soll vorab die These festgehalten werden: ¾
Es gibt keinen einheitlichen Leitbildbegriff. In Bezug auf Leitbilder existieren in den Sozialwissenschaften unterschiedlichste theoretische Modelle, Forschungsund Entwicklungskonzepte.
Nun könnte man meinen, dass das aktuelle Interesse an Leitbildern nur eine Modeerscheinung darstellt. Man kann aber auch der Konjunktur der Leitbilder bzw. genauer des Leitbildbegriffs nachgehen und nach einem gemeinsamen Hintergrund dafür fragen. Dabei lässt sich ein übergeordneter Zusammenhang feststellen: Wo immer Leitbilder thematisiert werden, geht es um Orientierungsprobleme – insbesondere auch in Hinblick auf die Zukunft, die mehr und mehr als offen und gestaltbar wahrgenommen wird. Orientierungsprobleme existieren verstärkt unter den Bedingungen des gegenwärtigen gesellschaftlichen Wandels, der mit Stichworten wie Individualisierung, Pluralisierung, Enttraditionalisierung oder Beschleunigung beschrieben wird. Unter diesen Bedingungen ergibt sich das Problem, auf welche Grundlage Menschen, einzeln wie in Gruppen oder sogar gesamtgesellschaftlich, ihr Denken und Handeln, ihre Bewertungen und Entscheidungen stellen. Unter pluralisierten und enttraditionalisierten Bedingungen entsteht eine Vielfalt von Denk- und Handlungsmöglichkeiten, mit der gleichzeitig die Freiheit als auch der Zwang zur Wahl verbunden ist. Die gesellschaftlichen Bedingungen erfordern neue Formen der Orientierung und darüber hinaus andere Modi der sozialen Integration. In dieser Situation kommen nun in unterschiedlichen sozialwissenschaftlichen Disziplinen sowie im öffentlichen Diskurs „Leitbilder“ verstärkt ins Gespräch. Damit liegt es nahe, eine These zu formulieren, die einen – wenn auch nicht notwendig kausalen – Zusammenhang zwischen den gesellschaftlichen Rahmenbedingungen der Gegenwart und der derzeit verstärkten Aufmerksamkeit für Leitbilder stiftet. Der Blick auf die unterschiedlichen Verwendungskontexte des Leitbildbegriffs auf der einen Seite und auf den vornehmlich soziologischen Diskurs zum gesellschaftlichen Wandel auf der anderen Seite legt den Gedanken nahe, dass die Konjunktur der Leitbilder vor dem Hintergrund des gesellschaftlichen Wandels zu verstehen ist. Die Beschäftigung mit Leitbildern kann – so die grundlegende These der vorliegenden Untersuchung – als zeitgemäß angesehen werden, weil mit diesen eine Form der Orientierung beschrieben und ein Modus der sozialen Integration ermöglicht wird, die den derzeitigen gesellschaftlichen Bedingungen angemessen sind. Die letzte These zur Annäherung an den Untersuchungsgegenstand lautet deshalb: ¾
Die gesteigerte Aufmerksamkeit für Leitbilder kann im Zusammenhang mit den gegenwärtigen gesellschaftlichen Bedingungen gelesen werden.
Damit ist folgende Ausgangssituation festzuhalten: Alle reden über Leitbilder. Was darunter zu verstehen ist, ist nicht eindeutig. Es liegt allerdings die Vermutung nahe, dass in der
Einleitung
15
Beschäftigung mit Leitbildern ein den gegenwärtigen gesellschaftlichen Bedingungen angemessener Blick auf die soziale Wirklichkeit vollzogen wird. Die vorliegende Arbeit befasst sich eingehend mit den Fragen, was in den Sozialwissenschaften unter Leitbildern verstanden wird, wie diese Kategorie konzeptionell eingebunden wird und inwiefern Leitbilder eine zeitgemäße Kategorie der Sozialwissenschaften darstellen. Theoretische Rahmung & Aufgabenstellung Die vorliegende Untersuchung fußt auf der konstruktivistisch-interaktionistischen Grundannahme, dass Wirklichkeit sozial konstruiert ist. Das Wissen, das wir von der Welt haben, beruht auf Weltinterpretationen, die in sozialen Interaktionen intersubjektiv (re)produziert werden (vgl. dazu etwa Berger/Luckmann 1969/2001, Schütz 1971a oder Blumer 1973). Die soziale Konstruktion der Wirklichkeit erfolgt vornehmlich über Sprache. Unsere Sprache, unsere Begriffe beeinflussen die Art und Weise, wie wir Welt wahrnehmen und beschreiben. Unsere Begriffe selbst sind Konstrukte, d.h. Interpretationen von Wirklichkeit (vgl. Böhme 1995). Begriffe heben das hervor, was die Mitglieder einer Sprachgemeinschaft an Aspekten der Wirklichkeit für relevant halten (vgl. Bayer/Seiffert 1994, S. 37), und geben dem bezeichneten Wirklichkeitsausschnitt einen intersubjektiven Sinn. Etwas wird als Familie, als Wert oder eben als Leitbild erfasst. Was dabei Familie, Wert oder Leitbild bedeutet, ist nicht ontologisch festgelegt, sondern interpretationsabhängig. Unsere Begriffe konstituieren damit überhaupt erst die Gegenstände bzw. Phänomene, die wir wahrnehmen. Eine andere Sichtweise auf soziale Realität geht folglich mit der Verwendung anderer Begriffe oder einem Bedeutungswandel der Begriffe einher. Grundlegende Begriffe können entsprechend als Wahrnehmungs- und Beschreibungskategorien angesehen werden. Sie steuern, was von der sozialen Wirklichkeit auf welche Weise wahrgenommen wird. Mit den Kategorien wird Wirklichkeit unter bestimmten Aspekten und auf eine bestimmte Weise erfasst und behandelt. Begriffe bzw. Kategorien strukturieren damit Erfahrungen und bauen im Zusammenhang mit anderen Begriffen eine Bedeutungs- und Relevanzstruktur auf, die zu einer spezifischen Ordnung des Wissens über die Welt führt. Dies gilt für gesellschaftliche ebenso wie für wissenschaftliche Wissensvorräte (vgl. Fleck 1935/1993, Schütz 1971a und b, Evers/Nowotny 1987).1 Begriffe weisen nicht nur einzelnen Phänomenen eine Bedeutung zu. Sie sind vielmehr Teil eines intersubjektiv geteilten Begriffs- und damit Bedeutungssystems und stehen in Verbindung mit Überzeugungen bzw. theoretischen Annahmen über die Stellung der Phänomene in der Wirklichkeit. Auch der Leitbildbegriff der Sozialwissenschaften ist eine in Denkkollektiven (re)produzierte Interpretation von Wirklichkeit, die sich in die Wahrnehmungen, das Denken und Handeln der Sozialwissenschaftler einschreibt. Mit ihm erhält das Phänomen Leitbild eine bestimmte Gestalt.2 Die Bedeutung des Phänomens wird in der gemeinsamen Beschäftigung 1
2
Die Konstruktionen der Sozialwissenschaftler sind nicht unabhängig von den Konstruktionen der im Sozialfeld Handelnden, sondern Konstruktionen von diesen Konstruktionen, also Konstruktionen 2. Grades (vgl. Schütz 1971a, S. 5ff.). Die Wissenschaften ihrerseits schaffen Begriffe und Kategorien, die als Beschreibungen der Wirklichkeit im Alltagsdiskurs wieder aufgenommen werden. Wichtig ist hier, dass auch wissenschaftliches Wissen als sozial bestimmt anzusehen ist (vgl. besonders Fleck 1935/1993, im Überblick Gergen 2002, S. 70ff.). Bereits Fleck (1935/1993) arbeitet heraus, dass die wahrgenommene Gestalt bestimmter Phänomene das Ergebnis eines sich ausbildenden Denkstils ist.
16
Einleitung
mit Leitbildern, im Reden darüber und darauf bezogenen Handeln überhaupt erst konstituiert. Als wissenschaftliche Kategorie sind Leitbilder ein grundlegendes Element einer wissenschaftlichen Wissensordnung, von denen aus Wirklichkeit strukturiert und unter deren Gesichtspunkten sie erfasst und behandelt wird. Die Kategorie Leitbild ist Teil mehr oder weniger ausgearbeiteter und konsistenter theoretischer Modelle von Wirklichkeit. Begriffsbildung zu Leitbildern ist damit immer ein Beitrag zur Theoriebildung und umgekehrt. Aussagen über den Gegenstand Leitbild basieren damit auf einem bestimmten Begriff von Leitbildern. Grundlage aller Beschäftigung mit dem Phänomen Leitbild ist folglich die Arbeit am Begriff. Wenn die Herausbildung wissenschaftlicher Begriffe als intersubjektive Interpretation in der Auseinandersetzung mit dem damit bezeichneten Bezugsgegenstand erfolgt, dann erschließt sich auch die Bedeutung des Leitbildbegriffs im Kontext seiner Verwendung innerhalb der Sozialwissenschaften. Wissenschaftliche Begriffe müssen klar definiert werden, um zur fachlichen Verständigung über einen Forschungsgegenstand beizutragen und präzise Aussagen darüber zu ermöglichen. Auch Interdisziplinarität wird erst möglich auf der Grundlage geteilter Begriffe (vgl. Veit-Brause 2000). Gleichermaßen bedarf die wissenschaftliche Verständigung über das mit dem Terminus Leitbild bezeichnete Phänomen eines klaren und konsistenten Begriffs. Zwar hat sich in unterschiedlichen sozialwissenschaftlichen Forschungsfeldern der Begriff „Leitbild“ etabliert und ist vermeintlich evident, was darunter zu verstehen ist. Mit dem Begriffswort Leitbild verbindet sich jedoch nur eine vage, wie sich zeigen wird mehrdeutige mitunter sogar widersprüchliche Bedeutung. Letztlich kursieren damit in den Sozialwissenschaften unterschiedliche Leitbildbegriffe. Die Vagheit und Mehrdeutigkeit des Begriffs ist mitverantwortlich für die innerhalb der Sozialwissenschaften existierenden Kontroversen, Widersprüche und Missverständnisse in Bezug auf den Gegenstand bzw. das Phänomen Leitbild. Es ergibt sich also die fundamentale Frage, worüber eigentlich gesprochen wird, wenn in den Sozialwissenschaften von Leitbildern die Rede ist. Um etwas über den als Leitbild bezeichneten Gegenstand aussagen zu können, muss deshalb der Leitbildbegriff geklärt werden. Vor dem Hintergrund, dass Begriffe intersubjektive Weltdeutungen sind, ist es sinnlos, Begriffe unabhängig von ihrem bisherigen Gebrauch zu definieren. Nicht eine Festsetzung einer Bedeutung ist damit geboten, sondern die Analyse der gebräuchlichen Bedeutungen des Begriffswortes Leitbild und darauf aufbauend die Präzisierung des Begriffs. Solcherart Begriffsbildung bzw. -definition wird als Begriffsexplikation bezeichnet: „Explikation befaßt sich mit Ausdrücken, deren Bedeutung in der Umgangssprache oder sogar in wissenschaftlichen Abhandlungen mehr oder weniger vage ist (...) und sie bezweckt, solchen Ausdrücken eine neue und präzise Bedeutung zu geben, um sie für eine klare und strenge Erörterung des vorliegenden Gegenstandsbereichs brauchbarer zu machen.“ (Hempel 1974, S. 20)
Eine Begriffsexplikation macht einen begriffsgeschichtlich gestützten Gebrauchsvorschlag, mit welchen semantischen Merkmalen ein Begriff bestimmt werden soll (vgl. Fricke 2000, S. 68f.). Der Gebrauchsvorschlag erfolgt dabei auf der Grundlage der Analyse der bisherigen Verwendungsweisen eines Begriffswortes. Die bisherigen Verwendungsweisen des Leitbildbegriffs sollen hier, wie zuvor theoretisch begründet, aus dem Kontext der sozialwissenschaftlichen Auseinandersetzung mit dem damit bezeichneten Gegenstand erschlossen werden. Im Blick ist damit der sozialwissenschaftliche Diskurs über Leitbilder.
Einleitung
17
Diskurse können als Zusammenhänge beschrieben werden, in denen eine gemeinsame Wirklichkeitsauffassung in Bezug auf einen bestimmten Phänomenbereich aufgebaut wird. Diskurse sind folglich Praktiken, die dazu führen, dass deren Teilnehmer ihr Wissen zu einem Gegenstandsbereich angleichen, bestimmte Wirklichkeitsinterpretationen miteinander teilen: „Diskurse lassen sich als mehr oder weniger erfolgreiche Versuche verstehen, Bedeutungszuschreibungen und Sinn-Ordnungen zumindest auf Zeit zu stabilisieren und dadurch eine kollektiv verbindliche Wissensordnung in einem sozialen Ensemble zu institutionalisieren. (...) Diskurse produzieren und prozessieren Deutungszusammenhänge, die Wirklichkeit in spezifischer Weise konstituieren.“ (Keller 2004, S. 7 und 68)
Unter der Annahme, dass der Terminus Leitbild nicht beliebig genutzt wird, damit vielmehr eine intersubjektive Weltdeutung verbunden ist, lässt sich die sozialwissenschaftliche Beschäftigung mit Leitbildern als Diskurs bzw. Diskursfeld möglicherweise verschiedener Diskurse begreifen und untersuchen. Aus der diskursanalytischen Perspektive ergeben sich folgende Prämissen und Konsequenzen für die Anlage der Untersuchung: Die Diskursforschung teilt die konstruktivistisch-interaktionistische Auffassung, dass Wirklichkeit intersubjektiv konstruiert und sprachvermittelt wahrgenommen wird (vgl. Keller 1997; Keller/Hirseland/Schneider/Viehöver 2001, S. 7). Entsprechend wird angenommen, dass in der diskursiven Auseinandersetzung über Leitbilder dieser Gegenstand mit seinen spezifischen Strukturen überhaupt erst konstituiert, ein Begriff von Leitbildern konstruiert wird und darauf aufbauend theoretische Annahmen sowie konzeptionelle Ansätze zum Umgang mit Leitbildern entwickelt werden. Das verbindende Glied des Leitbilddiskurses ist dabei zunächst das Begriffswort, das im Diskurs eine intersubjektive Bedeutung erhält. Wie sich zeigen wird, haben sich im Zuge der Beschäftigung mit dem nur vage bestimmten Phänomen Leitbild unterschiedliche Leitbildverständnisse, also letztlich unterschiedliche Leitbildbegriffe herausgebildet. Da Diskurse selbst ein analytisches Konstrukt darstellen, die Einheit eines Diskurses also Ergebnis wissenschaftlicher Betrachtung ist, kann je nach Perspektive die sozialwissenschaftliche Beschäftigung mit Leitbildern als ein zusammenhängender Diskurs oder – unter Berücksichtigung unterschiedlicher Leitbildverständnisse oder Forschungsfelder – als Diskursfeld, also als eine Arena verschiedener Diskurse begriffen werden. Aus diskursgeschichtlichem Blickwinkel wird die historische Dimension eines Diskurses sichtbar. Auch wenn Diskurse augenscheinlich Wissensordnungen und Bedeutungszusammenhänge auf Zeit stabilisieren, so macht insbesondere die (wissens-)soziologische Perspektive auf Diskurse sichtbar, dass die intersubjektiven Weltdeutungen von den Akteuren permanent (re-)produziert werden und damit stets im Fluss sind. Der Wandel des Leitbilddiskurses spiegelt den Wandel des Leitbildbegriffes und damit die veränderte Sicht auf den Gegenstand wider. Wissenschaftliche Publikationen, die auf Leitbilder Bezug nehmen, können als Elemente des sozialwissenschaftlichen Leitbilddiskurses angesehen werden und bilden damit die Datengrundlage zur Diskursanalyse. Da der Gegenstand Leitbild nicht feststeht, vielmehr aus dem Diskurs erst erschlossen werden soll, werden zunächst alle Publikationen, welche den Terminus Leitbild benutzen, als potenzielle Elemente des Leitbilddiskurses angesehen. Die Diskursanalyse verfolgt dabei folgende sich aus dem Forschungsinteresse ergebende Fragestellungen: Was wird in den Sozialwissenschaften unter Leitbildern verstanden, d.h. wie wird der Leitbildbegriff gebraucht? Wie wird das Phänomen Leitbild im sozialwis-
18
Einleitung
senschaftlichen Diskurs konstituiert? Unter welchen Aspekten werden Leitbilder thematisiert? Wie wird soziale Wirklichkeit unter der Perspektive der Kategorie Leitbild gefasst, d.h. welche theoretischen Annahmen verbinden sich mit dem jeweiligen Leitbildkonzept? Wie binden die Sozialwissenschaften schließlich Leitbilder in ihre Forschungs- und Handlungskonzepte ein? Die vorliegende Forschungsarbeit macht es sich also zur Aufgabe, die in den Sozialwissenschaften vorhandenen unterschiedlichen Begriffsverständnisse und -verwendungen sowie Forschungs- und Handlungskonzepte zu Leitbildern systematisch zu untersuchen und kritisch zu analysieren, um zu einem klaren und differenzierten Leitbildbegriff sowie einem konsistenten und theoretisch begründeten Verständnis des sozialwissenschaftlichen Gegenstandes Leitbild zu kommen. Die Untersuchung konzentriert sich zwar auf einen Grundbegriff – die Leitbilder – beschränkt sich aber nicht auf eine Bedeutungsanalyse dieses Begriffes, sondern fokussiert über diesen zugleich die sozialwissenschaftlichen Forschungs- und Entwicklungskonzepte, die mit der Kategorie Leitbild operieren, also letztlich den sozialwissenschaftlichen Umgang mit Leitbildern. Über die vorliegende Diskursanalyse, die eine Bedeutungsanalyse des Begriffs mit einer Sachanalyse zum sozialwissenschaftlichen Gegenstand Leitbild und seiner konzeptionellen Einbindung verknüpft, wird eine kritische Reflexion des sozialwissenschaftlichen Wissens über den Forschungsgegenstand Leitbild möglich. Auf der Grundlage einer solchen verknüpften Bedeutungs- und Sachanalyse lässt sich schließlich auch ein begriffsgeschichtlich gestützter Gebrauchsvorschlag für einen differenzierten und präzisierten Leitbildbegriff im Sinne einer Begriffsexplikation formulieren und das Aufgabenspektrum der Sozialwissenschaften in Bezug auf Leitbilder begründet abstecken. Mit der vorliegenden Untersuchung soll aber auch plausibel gemacht werden, dass Leitbilder, begrifflich und konzeptionell klar gefasst, eine zeitgemäße Kategorie für die Sozialwissenschaften abgeben. Der dargestellte theoretische Rahmen wird deshalb um ein soziologisches Element erweitert, welches den historisch-gesellschaftlichen Kontext mit einbezieht. Die Theorie reflexiver Modernisierung geht von einem fundamentalen Wandel der Gesellschaft aus. Dieser grundlegende Wandel erfordert auch veränderte Begriffe bzw. Kategorien zur Beschreibung und Analyse der Gesellschaft (vgl. Beck 1996, S. 23; Beck/Bonß/ Lau 2001, S. 12f. und 49). Daraus ergibt sich die ergänzende Forschungsfrage, ob Leitbildbegriff eine solche neue Kategorie darstellt, mit der bestimmte relevante Aspekte der gegenwärtigen sozialen Wirklichkeit adäquat beschrieben und behandelt werden können. Auf den noch näher zu bestimmenden Gegenstand Leitbild bezogen stellt sich damit die Frage, ob Leitbilder – so wie sie gegenwärtig verstanden werden – Antworten auf die Herausforderungen der Zeit bieten. Lässt sich diese Frage positiv beantworten, wäre auch die sozialwissenschaftliche Beschäftigung mit Leitbildern gerechtfertigt. Die Leitbildkonjunktur wäre dann keine Modeerscheinung, sondern ein Hinweis auf die Herausbildung einer zeitgemäßen sozialwissenschaftlichen Kategorie. Vorgehen & Zielsetzung Zunächst soll die anfangs nur behauptete Feststellung belegt werden, dass Leitbilder in den Sozialwissenschaften, aber auch im öffentlichen Sprachgebrauch Konjunktur haben. Des-
Einleitung
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halb wird im ersten Kapitel die Karriere des Leitbildbegriffs im 20. Jahrhundert nachgezeichnet und eine erste Annäherung an den Begriff vorgenommen. Zu diesem Zweck erfolgen eine an der linguistischen Diskurs- und Begriffsgeschichte orientierte lexikographische Analyse und eine Datenbankanalyse, die die Karriere des Begriffs(wortes) Leitbild nachzeichnen.3 Die Untersuchung zur Karriere des Leitbildbegriffs leistet zugleich einen quantitativen Beitrag für die Diskursanalyse der Hauptuntersuchung. Für die diskursanalytische Hauptuntersuchung, in welcher die in den Sozialwissenschaften vorhandenen Leitbildverständnisse und -konzepte analysiert und diskutiert werden, werden diejenigen Forschungsfelder in den Blick genommen, die verstärkt mit Leitbildern operieren (Kapitel 3). Zu den wichtigsten leitbildbezogenen Forschungsfeldern gehören: Leitbilder der Lebensführung, Leitbilder in der Politik, in Organisationen, in der raumbezogenen Forschung und Planung sowie in der Technik. Die interpretativ-analytische Rekonstruktion des sozialwissenschaftlichen Leitbilddiskurses untersucht und diskutiert die Begriffsverständnisse und Formen des Umgangs mit bzw. Einsatzes von Leitbildern in den einzelnen Forschungsfeldern. Berücksichtigung finden dabei disziplinübergreifende und -interne Zusammenhänge und Differenzen sowie Veränderungen im historischen Verlauf. Die methodische Anlage der Hauptuntersuchung und die Auswahl des Textkorpus werden vorab in Kapitel 2.1 dargestellt. Ein wichtiges Resultat der Diskursanalyse bilden zwei Typologien, die zum einen das heterogene Begriffsverständnis und zum anderen die verschiedenen Umgangsformen mit Leitbildern in der theoretischen und empirischen sozialwissenschaftlichen Forschung systematisch unterscheiden. Diese beiden Typologien werden der Interpretation und kritischen Analyse der leitbildbezogenen Forschungsfelder zur besseren Orientierung vorangestellt (Kap. 2.2). Sie helfen dabei, die Kategorie Leitbild in den Sozialwissenschaften differenziert zu betrachten sowie die einschneidenden Unterschiede in der Begriffsverwendung und in der konzeptionellen Einbindung von Leitbildern sichtbar werden zu lassen. Für die soziohistorische Kontextualisierung der Kategorie Leitbild wird der gesellschaftliche Hintergrund beleuchtet, vor dem Leitbildern derzeit eine gesteigerte Aufmerksamkeit zuteil wird (Kapitel 4).4 Aus hauptsächlich soziologischen Arbeiten zum gesellschaftlichen Wandel, insbesondere der Theorie der reflexiven Modernisierung, wird eine Zeitdiagnose5 erarbeitet, die einen Bezug zur Leitbildkonjunktur in den Sozialwissenschaften ermöglicht (Kapitel 4.1 bis 4.3). Auf der Grundlage dieser Zeitdiagnose werden Prüfkriterien formuliert, anhand derer die Angemessenheit einer sozialwissenschaftlichen Beschäftigung mit Leitbildern unter den gegenwärtigen gesellschaftlichen Bedingungen untersucht werden kann (Kapitel 4.3). Die Anwendung der Prüfkriterien auf das aktuelle Leitbildverständnis erfolgt in Kapitel 4.4. In einem letzten Schritt kann schließlich eine begründete Neufassung des sozialwissenschaftlichen Leitbildansatzes vorgenommen werden (Kapitel 5). Auf der Grundlage der kritischen Rekonstruktion des sozialwissenschaftlichen Leitbilddiskurses und der sozio3 4 5
Das methodische Vorgehen für diesen Teil der Untersuchung wird direkt in Kapitel 1 dargestellt. Erinnert sei hier an die letzte einleitende Überlegung, dass die Aufmerksamkeit für Leitbilder im Zusammenhang mit dem grundlegenden Orientierungsproblem unserer Gegenwart gesehen werden kann. Diese Annahme soll ausgearbeitet und auf ihre Plausibilität hin geprüft werden. Der Begriff der Zeitdiagnose wird hier genutzt, um die Kontingenz verschiedener Gesellschaftsbeschreibungen im Blick zu halten. Von Zeitdiagnosen sprechen Soziologen wie Kaufmann (1970), Kneer, Nassehi und Schroer (1997) oder Pongs (1999) im Sinne von mehr oder weniger komplexen Gesellschaftsbeschreibungen bzw. -begriffen, welche die Gesellschaft jeweils unter einer spezifischen Perspektive betrachten.
Einleitung
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historischen Kontextualisierung der Kategorie Leitbild wird eine Begriffsexplikation vorgelegt, die einen Gebrauchsvorschlag für einen allgemeinen sozialwissenschaftlichen Leitbildbegriff formuliert (Kapitel 5.1). Darauf aufbauend wird ein leitbildbezogenes Forschungsprogramm skizziert und aufgezeigt, welche Aufgaben sich für die Sozialwissenschaften im Umgang mit Leitbildern ergeben (Kapitel 5.2). Abschließend wird der somit neu gefasste Leitbildansatz in den Kontext einer pragmatisch ausgerichteten Zukunftsforschung gestellt (Kapitel 5.3). Die vorliegende Forschungsarbeit verfolgt das Ziel, dem derzeit verhältnismäßig diffusen Leitbildansatz der Sozialwissenschaften ein begriffliches, theoretisches und konzeptionelles Fundament zu geben. Hierzu gehört zuallererst ein präziser Begriff von Leitbildern, um den damit bezeichneten Forschungsgegenstand deutlicher bestimmen zu können und die fachliche Kommunikation mittels dieses Begriffs zu verbessern. Dies erfordert zudem ein differenziertes theoretisches Verständnis von dem in verschiedenen sozialwissenschaftlichen Disziplinen mit dem Leitbildbegriff bezeichneten Phänomen und eine kritische Analyse der vorhandenen Forschungs- und Handlungskonzepte zu Leitbildern. Ein solches Vorhaben unterstützt die interdisziplinäre Verständigung über den unterschiedlich verwendeten Begriff und den sozialwissenschaftlichen Bezugsgegenstand Leitbild. Die vorliegende Arbeit leistet damit einen Beitrag zur Begriffs- und Theoriebildung zur Kategorie Leitbild und schafft entsprechend ein begründetes Fundament für sozialwissenschaftliche Forschung und Entwicklung in Bezug auf Leitbilder. Terminologische Klärung Vorab sollen schließlich noch die Begrifflichkeiten geklärt werden, mit denen im weiteren Verlauf operiert wird. Vom Leitbildbegriff wird in zweifacher Hinsicht gesprochen:
als Begriffswort oder Terminus im Sinne der Bezeichnung des Begriffs sowie als Begriffsinhalt (Begriff im wissenschaftstheoretischen Verständnis) im Sinne der semantischen Merkmale eines Bezugsgegenstandes, also der Bedeutungsgehalt bzw. die Intension des Begriffswortes
Diese Mehrdeutigkeit des Ausdrucks Begriff gilt es zwar im Folgenden im Auge zu behalten. Die doppelte Bedeutung (Begriffswort und Begriffsinhalt) entspricht jedoch dem sozialwissenschaftlichen Sprachgebrauch und soll deshalb nicht künstlich aufgelöst werden.6 Nur wo hervorgehoben werden soll, dass es unabhängig von seiner Bedeutung lediglich um das Wort, also den Ausdruck „Leitbild“ geht, wird vom Begriffswort oder Terminus Leitbild die Rede sein. Wort (Terminus) und Begriff Leitbild werden in dieser Untersuchung insofern gleichgesetzt, dass all die sozialwissenschaftlichen Arbeiten weitgehend unberücksichtigt bleiben, die zwar den damit bezeichneten Bezugsgegenstand im Blick haben, dabei aber nicht mit dem Terminus „Leitbild“ operieren. Für eine Bedeutungs- und Sachanalyse zu Leitbildern 6
Zudem ist ein Begriff nach heutiger wissenschaftstheoretischer Auffassung grundsätzlich an ein Wort gebunden, immer in einem Wort repräsentiert und damit nichts Vorsprachliches (vgl. Seiffert 1983, S. 28ff.). Begriffe können allerdings durch verschiedene Worte, sogenannte Prädikatoren wiedergegeben werden.
Einleitung
21
ist es notwendig, die Verwendungsweisen des Begriffswortes Leitbild zu klären und damit von anderen Bezeichnungen (Prädikatoren) für den Begriff abzusehen. Das mit dem Leitbildbegriff bezeichnete Phänomen soll schließlich überhaupt erst erfasst werden. Der Leitbildbegriff wird hier also fast ausschließlich durch das Begriffswort Leitbild repräsentiert. Die Bezeichnung Kategorie hebt den Leitbildbegriff in den Status eines grundlegenden sozialwissenschaftlichen Begriffes. Mit der Kategorie Leitbild wird eine Klasse von Phänomenen mit noch zu bestimmenden gemeinsamen Merkmalen erfasst und zum Gegenstand der theoretischen, empirischen oder anwendungsorientierten Forschung gemacht. Die soziale Wirklichkeit wird unter der Perspektive dieser Kategorie betrachtet und behandelt. Als sozialwissenschaftliche Kategorie sind Leitbilder eine wissenschaftliche Zugriffsweise auf soziale Wirklichkeit, die nicht nur Konsequenzen für die Wahrnehmung derselben, sondern auch für das darauf bezogene (wissenschaftliche) Handeln hat, sich also konzeptionell auswirkt. Eine Leitbildtheorie formuliert Aussagen bzw. Annahmen über die Stellung und Rolle des als Leitbild bezeichneten Phänomens in der Wirklichkeit, über seine Entstehung, Entwicklung, seinen Einfluss, seine Beeinflussbarkeit etc. Eine Leitbildtheorie liefert damit ein Modell für die Beschreibung und Erklärung des Zusammenhanges zwischen Leitbildern und sozialer Realität, genauer dem jeweils in der Forschung fokussierten Gegenstandsbereich (z.B. Wirtschaftspolitik, Technikgenese etc.). Mit der Verwendung des Leitbildbegriffs sind mehr oder weniger ausgearbeitete theoretische Annahmen über das damit bezeichnete Phänomen verbunden. Mehr oder weniger klar gefasste und ausgearbeitete Leitbildbegriffe und Leitbildtheorien liegen schließlich den unterschiedlichen Leitbildkonzepten zugrunde, welche die Kategorie Leitbild jeweils auf eine bestimmte Weise in ein Forschungs- oder Handlungsprogramm einbinden. Leitbildkonzepte umfassen damit implizit oder explizit begriffliche und theoretische Überlegungen zu Leitbildern und führen zu bestimmten Umgangsformen mit Leitbildern in der sozialwissenschaftlichen Forschung und Entwicklung. Der Ausdruck Leitbildansatz verweist allgemein auf die mit der Kategorie Leitbild eingenommene Perspektive der Sozialwissenschaften auf die soziale Wirklichkeit. Vom Leitbildansatz soll die Rede sein, wo in unterschiedlichen sozialwissenschaftlichen Zusammenhängen Leitbilder zum Bezugspunkt bzw. Gegenstand gemacht werden und spezifische Leitbildkonzepte zum Einsatz kommen.
Das Leitbild ist ein Kunstwort, es ist einfach da, als hätte es keine Geschichte und kein Gedächtnis. Dierkes, Hoffmann und Marz (1992, S. 15)
1 Die Karriere des Leitbildbegriffs
Bevor in den folgenden Kapiteln der Leitbilddiskurs der Sozialwissenschaften rekonstruiert wird, soll eine erste Annäherung an den Begriff „Leitbild“ im öffentlichen Sprachgebrauch wie auch in den Sozialwissenschaften vorgenommen werden. Im Mittelpunkt steht hier zunächst das Begriffswort Leitbild und seine Karriere, also sein Ursprung, seine Verbreitung innerhalb des öffentlichen und sozialwissenschaftlichen Sprachgebrauchs sowie sein Konjunkturverlauf. In Bezug auf den öffentlichen Sprachgebrauch interessiert vornehmlich, wann der Begriff Verbreitung gefunden hat. Für die Sozialwissenschaften soll möglichst differenziert nach einzelnen Disziplinen geprüft werden, ob der Leitbildbegriff tatsächlich im sozialwissenschaftlichen Sprachgebrauch verankert ist und die These belegt werden, dass der Leitbildbegriff Karriere gemacht hat. Zunächst gibt ein Blick in verschiedene Ausgaben des Rechtschreibdudens Auskunft darüber, wann der Terminus Leitbild im öffentlichen Sprachgebrauch Fuß gefasst hat.7 Ergänzend werden die beiden großen deutschsprachigen Universal-Enzyklopädien, die Brockhaus Enzyklopädie und Meyers Lexikon, zum Begriff Leitbild befragt (Kapitel 1.1). Schließlich bewegen wir uns in das Feld der sozialwissenschaftlichen Fachdisziplinen und befragen auch dort zunächst die Wörterbücher, um einen ersten Überblick über die Verbreitung und den fachsprachlichen Gebrauch des Begriffs im Zeitverlauf zu erhalten (Kapitel 1.2). Um die These zu belegen, dass der Leitbildbegriff in den Sozialwissenschaften tatsächlich Karriere gemacht hat und Hinweise auf die mit dem Leitbildbegriff operierenden Disziplinen zu erhalten, wird auf zwei zentrale Datenbanken für sozialwissenschaftliche Literatur und Forschung zurückgegriffen (Kapitel 1.3). Das Textkorpus für die lexikographische Analyse zum öffentlichen Sprachgebrauch besteht aus 19 Ausgaben des Rechtschreibdudens und 15 Ausgaben der Brockhaus Enzyklopädie bzw. des Meyers Lexikons. Ergänzend wurden elf gemeinsprachliche und etymologische Wörterbücher gesichtet. Für die lexikographische Analyse der sozialwissenschaftlichen Fachwörterbücher wurden insgesamt 94 Ausgaben von 42 verschiedenen Wörterbüchern aus sieben sozialwissenschaftlichen Disziplinen auf einen lexikalischen Eintrag zum Leitbildbegriff geprüft und inhaltlich ausgewertet.8 Die nun folgenden Ergebnisse der lexikographischen und Datenbankanalyse ergänzen die in den folgenden Kapiteln vorgenommene Rekonstruktion des Leitbilddiskurses um 7
8
Einträge in Wörterbücher können als „destillierte Formen des öffentlichen Sprachgebrauchs“ (Jung 1994, S. 17) verstanden werden. Trotz verlagsbedingter zeitlicher Verzögerung zeigt damit ein Neueintrag in einem Wörterbuch eine sprachliche Veränderung an, die sich im öffentlichen Sprachgebrauch dauerhaft verankert hat (vgl. ebd., S. 21). Die vollständigen Quellenangaben zum Textkorpus der lexikographischen Analyse sind im Literaturverzeichnis gesondert aufgeführt.
1 Die Karriere des Leitbildbegriffs
24
hauptsächlich quantitative Aussagen zum Ursprung und zur Verbreitung des Begriffswortes im öffentlichen und vor allem sozialwissenschaftlichen Sprachgebrauch. 1.1 Der Begriff Leitbild im öffentlichen Sprachgebrauch Der Blick in den Rechtschreibduden gibt uns einen Hinweis darauf, wann der Begriff „Leitbild“ in den öffentlichen Sprachgebrauch eingegangen ist. Gesichtet wurden mehrere Auflagen zwischen 1902 und 2000.9 Der erste Eintrag des Terminus Leitbild findet sich in der 15. Auflage von 1961 und damit zeitlich nach dem Erscheinen einiger, auch öffentlich beachteter sozialwissenschaftlicher Publikationen, die den Leitbildbegriff als zentrale Kategorie genutzt haben (Wurzbacher 1951, Picht 1957, Boulding 1958). Die erstmalige Verwendung in den Sozialwissenschaften liegt sogar noch weit davor (vgl. Klages 1908). Damit wäre der Begriff aus der Fachterminologie in den öffentlichen Sprachgebrauch eingedrungen. Um so erstaunlicher ist der Eintrag im Handwörterbuch der deutschen Sprache (1910), in dem es heißt: „Leitbild, -gedanke, Vd. [Verdeutschung, K.D.G.] für Ideal“. Dieser vereinzelte Wörterbucheintrag macht deutlich, dass der Leitbildbegriff keinen eindeutig fixierbaren Ursprung hat, sondern im öffentlichen Sprachgebrauch wie in der Psychologie zu Anfang des Jahrhunderts auftaucht und nur allmählich – und dies offensichtlich forciert durch den wissenschaftlichen Diskurs – in den festen Sprachgebrauch überging. Die Einschätzung, dass der Begriff Leitbild erst in der zweiten Hälfte der 1950er Jahre breiten Eingang in den öffentlichen Sprachgebrauch gefunden hat, wird auch durch die verschiedenen Auflagen der beiden großen deutschsprachigen Universallexika gestützt.10 Die 17. Auflage von 1966ff. der Brockhaus Enzyklopädie und die 9. Auflage von 1971ff. des Meyers enzyklopädischen Lexikons verzeichnen erstmalig den Begriff Leitbild und führen ihn in allen folgenden Auflagen zum Teil mit deutlichen Veränderungen weiter. Was hiermit für die deutschen Wörterbücher, Rechtschreibduden und UniversalEnzyklopädien der Bundesrepublik gesagt wurde, gilt nicht für die beiden in Leipzig publizierten Auflagen des Meyers Neues Lexikon von 1961ff. und 1972ff. sowie den seit 1951 in Leipzig publizierten Duden (vgl. Duden Rechtschreibung, Leipzig 1951; Der Große Duden 1965ff.). Hier erscheint das Wort Leitbild erst Ende der 1980er Jahre (vgl. Der Große Duden 1989). Spätere Veröffentlichungen aus der DDR zeigen, dass dort der Begriff allmählich ebenfalls gebräuchlich wird.11 Diese Befunde stützen die These, dass der Leitbildbegriff trotz seines historischen Ursprungs kurz nach der Jahrhundertwende erst am Ende der 1950er Jahre breiter im öffentlichen Sprachgebrauch, und zwar vorwiegend in der Sprachgemeinschaft der Bundesrepublik, Fuß gefasst hat. Damit kann zugleich die Behauptung zurückgewiesen werden, dass der Leitbildbegriff einen nationalsozialistischen Ursprung hätte und angesichts dieser Her9 10 11
Auch das Deutsche Wörterbuch der Gebrüder Grimm von 1885 und mehrere Deutsche Wörterbücher der Jahrhundertwende (Heyne 1906, Hermann 1908, Hirt 1910) sowie aus dem zweiten Weltkrieg (Trübner 1943) sind der Vollständigkeit halber geprüft worden, weisen jedoch den Begriff erwartungsgemäß nicht auf. Geprüft wurden die Einträge der Brockhaus Enzyklopädie der 15. bis 20. Auflage von 1928ff. bis 1996ff. sowie des Meyers Lexikon der Originalausgabe (1840ff.) und acht aufeinander folgenden Auflagen von 1908ff. bis 1994. Als früheste ostdeutsche leitbildbezogene Publikationen lassen sich Heyde 1970, Alexander 1972 und Kröber 1974 ausmachen. Kahl und Koch stellen ebenfalls fest, dass der Leitbildbegriff in der wissenschaftlichen marxistischen Literatur selten verwendet wird (vgl. Kahl/Koch 1983, S. 282).
1.2 Der Begriff Leitbild in den sozialwissenschaftlichen Fachwörterbüchern
25
kunft als ein totalitärer und autoritärer Begriff verstanden werden muss.12 Gleichwohl stützt sich das bisweilen geäußerte Ressentiment gegen den Begriff mehrfach auf den Ausspruch Adornos, der im Wort Leitbild einen „leisen militärischen Klang“ (Adorno 1968, S. 7) vernimmt. Die Angaben der beiden großen deutschsprachigen Enzyklopädien zum Begriffsinhalt sind nicht eindeutig. Die seit 1975 aufeinander folgenden Ausgaben des Meyer bezeichnen Leitbilder im Kern als „Vorstellungen über Verhaltensideale von Menschen oder Menschengruppen“ (Meyers 1975, 1983 und 1994). In der Brockhaus Enzyklopädie differieren die Einträge zum Begriff Leitbild über die Ausgaben hinweg zum Teil sehr stark. Insbesondere die disziplinspezifischen Bezüge wechseln sich ab und werden schließlich in den Ausgaben von 1990 und 1998 gar nicht mehr expliziert. Während beispielsweise 1970 und 1979 noch vor dem erzieherischen Einsatz von Leitbildern gewarnt wird, wird deren Entstehung im Rahmen der Sozialisation und Erziehung seit den 1980er Jahren als selbstverständlich hingenommen. Im Brockhaus wie im Meyer wird fast durchgehend der Versuch unternommen, Leitbilder von Vorbildern abzugrenzen, da sie nicht personenbezogen und eher abstrakt verstanden werden. Zu Idealen besteht in fast allen Darstellungen im Brockhaus und Meyer eine gewisse, aber ungeklärte und undeutlich bleibende begriffliche Nähe. Der Blick in die unterschiedlichen Auflagen der beiden großen deutschsprachigen Universallexika zeigt, dass kein lexikographischer Konsens über den Bedeutungsgehalt des Leitbildbegriffs besteht. Den Aussagen ist kein einheitliches Begriffsverständnis zu entnehmen, zum Teil erscheinen sie sogar widersprüchlich. Ein konsensueller Kern – über die Zeit und die beiden Organe hinweg – ist nicht gegeben. Damit spiegeln die Universallexika wider, was einleitend nur behauptet werden konnte: Der Begriff Leitbilder ist im öffentlichen Sprachgebrauch nicht einheitlich und klar umrissen, vielmehr vage bis widersprüchlich. Überdies ist das Begriffsverständnis über die Zeit nicht stabil, sondern verändert sich. 1.2 Der Begriff Leitbild in den sozialwissenschaftlichen Fachwörterbüchern Um zu prüfen, welcher Stellenwert dem Begriff(swort) Leitbild in den einzelnen sozialwissenschaftlichen Disziplinen zukommt, sind über 40 Fachwörterbücher zum Teil mit mehreren Auflagen auf einen entsprechenden Eintrag hin geprüft worden.13 Als Vertreter der sozialwissenschaftlichen Kerndisziplinen wurden Wörterbücher aus der Soziologie, Psychologie, Erziehungswissenschaft, Politologie, den Wirtschaftswissenschaften, der Kommunikationswissenschaft/Publizistik sowie der Ethnologie/Kulturtheorie gesichtet. Der Zeitraum, der mit den jeweiligen fachwissenschaftlichen Wörterbüchern abgedeckt wurde, erstreckt sich insgesamt von den 1950er Jahre bis zum Jahr 2000.14 12
13 14
Für die räumliche Planung hatten Harlander und Fehl (1986) dem Leitbildbegriff eine nationalsozialistische Herkunft unterstellt, allerdings lediglich die Formulierung „Zielbild der Siedlungsgestaltung“ belegt (vgl. Streich 1988, S. 27). Andere Quellen stützen hingegen die Annahme, dass der Begriff erst im Laufe der 1950er Jahre größere Verbreitung gefunden hat (vgl. Däumling 1960, Bittner 1964, Linde 1971, Streich 1988). Die untersuchten Fachwörterbücher sind mit vollständigen Quellenangaben gesondert im Literaturverzeichnis aufgeführt. Es wurde darauf geachtet, Fachwörterbücher heranzuziehen, die möglichst häufig aufgelegt wurden, da diesen eine höhere Bedeutung und Verbreitung in der jeweiligen Disziplin zugeschrieben wird und zudem mit Blick in die unterschiedlichen Auflagen ein gewisser Zeitvergleich möglich ist.
1 Die Karriere des Leitbildbegriffs
26 Tabelle 1.1:
Der Leitbildbegriff im Spiegel sozialwissenschaftlicher Wörterbücher
Fachwörterbuch Politologie (1981 – 2000) Lexikon der Politik (Theimer), 9. Aufl. 1981 Handlexikon der Politikwissenschaft (Mickel/Zitzlaff), 1. Aufl. 1983 Kleines politisches Wörterbuch (Böhme), 7. Aufl. 1988 Pipers Wörterbuch zur Politik (Nohlen), 3. Aufl. 1989 Politik-Lexikon (Holtmann), 2. Aufl. 1994 Politik-Lexikon (Holtmann), 3. Aufl. 2000 Gesellschaft und Staat: Lexikon der Politik (Drechsler), 9. Aufl. 1995 Wörterbuch Staat und Politik (Nohlen), 3. überarb. Aufl. 1995 Kommunikationswissenschaft/Publizistik/Medienforschung (1981 – 2000) Handwörterbuch der Massenkommunikation und Medienforschung (Silbermann), 1982 Elektronische Medien (Ratzke), 2. Aufl. 1990 Publizistik, Massenkommunikation (Noelle-Neumann), 1. Aufl. 1993 Standard-Lexikon für Mediaplanung und Mediaforschung in Deutschland (Koschnick), 2., überarb. und erw. Aufl. 1995 Kulturmanagement von A – Z (Heinrichs/Klein), 1996 (Originalausg.) Das Medien-Lexikon (Kühner/Sturm), 2000 Ethnologie/Kulturtheorie (1988 – 2000) Neues Wörterbuch der Volkskunde (Hirschberg), 1988 Metzler-Lexikon Literatur- und Kulturtheorie (Nünning), 1998 Wörterbuch der Völkerkunde (Hirschberg), 1999 Taschenwörterbuch der Ethnologie (Panoff/Perrin), 3., überarb. Aufl. 2000 Wörterbuch der Ethnologie (Streck), 2., erw. Aufl. 2000 Soziologie (1955 – 2000) Wörterbuch der Soziologie (Bernsdorf/Bülow), 1. Aufl. 1955 Wörterbuch der Soziologie (Bernsdorf), 2. Aufl. 1969 Wörterbuch der Soziologie (Hartfiel), 1. Aufl. 1972 Wörterbuch der Soziologie (Hillmann, begr. v. Hartfiel), 3. Aufl. 1982 Wörterbuch der Soziologie (Hillmann), 4., überarb. und ergänzte Aufl. 1994 Lexikon zur Soziologie (Fuchs), 1973 (Originalausgabe) Lexikon zur Soziologie (Fuchs), 2. Aufl. 1978 Lexikon zur Soziologie (Fuchs-Heinritz), 3., neu bearb. und erw. Aufl. 1994 Grundbegriffe der Soziologie (Schäfers), 1. Aufl. 1986 Grundbegriffe der Soziologie (Schäfers), 2. Aufl. 1989 Grundbegriffe der Soziologie (Schäfers), 4. Aufl. 1995 Grundbegriffe der Soziologie (Schäfers), 6. Aufl. 2000 Wörterbuch der Soziologie [in drei Bänden] (Endruweit), 1989 Soziologie-Lexikon (Reinhold), 3. Aufl. 1997 Soziologie-Lexikon (Reinhold), 4. Aufl. 2000
Leitbild verzeichnet
+ + + + -
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1.2 Der Begriff Leitbild in den sozialwissenschaftlichen Fachwörterbüchern
Fachwörterbuch Psychologie (1950 – 1999) (Dorsch) Psychologisches Wörterbuch, 4. Aufl. 1950 (Dorsch) Psychologisches Wörterbuch, 5. Aufl. 1952 (Dorsch) Psychologisches Wörterbuch, 6. Aufl. 1959 (Dorsch) Psychologisches Wörterbuch, 7. Aufl. 1963 (Dorsch) Psychologisches Wörterbuch, 8. Aufl. 1970 (Dorsch) Psychologisches Wörterbuch, 9. Aufl. 1976 (Dorsch) Psychologisches Wörterbuch, 10. Aufl. 1982 (Dorsch) Psychologisches Wörterbuch, 11. Aufl. 1987 (Dorsch) Psychologisches Wörterbuch, 12. Aufl. 1994 (Dorsch) Psychologisches Wörterbuch, 13. Aufl. 1998 Wörterbuch der Psychologie (Hehlmann), 1. Aufl. 1959 Wörterbuch der Psychologie (Hehlmann), 7. Aufl. 1968 Wörterbuch der Psychologie (Hehlmann), 11. Aufl. 1974 Lexikon der Psychologie (Arnold), 1. Aufl. 1971 Lexikon der Psychologie (Arnold), 2. Aufl. 1980 Handwörterbuch Psychologie (Asanger/Wenninger), 1980 (Orig.ausgabe) Handwörterbuch Psychologie (Asanger), 5. Aufl. 1994 Handwörterbuch Psychologie (Asanger/Wenninger), 1999 (Studienausgabe) Psychologische Grundbegriffe (Grubitzsch), 1998 Lexikon der Psychologie (Städtler), 1998 Psychologie-Lexikon (Tewes), 2. Aufl. 1999 Erziehungswissenschaft (1941, 1953 – 2000) Pädagogisches Wörterbuch (Hehlmann), 2. Aufl. 1941 Wörterbuch der Pädagogik (Hehlmann), 4. Aufl. 1953 Wörterbuch der Pädagogik (Hehlmann), 6. Aufl. 1960 Wörterbuch der Pädagogik (Hehlmann), 7. Aufl. 1964 Wörterbuch der Pädagogik (Hehlmann), 8. Aufl. 1967 Wörterbuch der Pädagogik (Hehlmann), 9. Aufl. 1971 Wörterbuch der Pädagogik (Hehlmann), 11. Aufl. 1971 [Copyright] Wörterbuch der Pädagogik (Hehlmann/Böhm), 12. Aufl. 1982 Wörterbuch der Pädagogik (Böhm), 13. Aufl. 1988 Wörterbuch der Pädagogik (Böhm), 14. Aufl. 1994 Wörterbuch der Pädagogik (Böhm), 15., überarb. Aufl. 2000 Lexikon der Pädagogik (Dt. Institut für wiss. Pädagogik), 4. Aufl. 1965 Wörterbuch für Erziehung und Unterricht (Köck/Ott), 2. Aufl. 1979 Wörterbuch für Erziehung und Unterricht (Köck/Ott), 5. Aufl. 1994 Wörterbuch für Erziehung und Unterricht (Köck/Ott), 6. Aufl. 1997 Pädagogische Grundbegriffe (Lenzen), 1989 (Originalausgabe) Pädagogik-Lexikon (Reinhold u.a.), 1999 (Originalausgabe)
27 Leitbild verzeichnet
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1 Die Karriere des Leitbildbegriffs
Fachwörterbuch Wirtschaftswissenschaften (1982 – 2000) Wörterbuch der Wirtschaft (Recktenwald), 7. Aufl. 1975 Wörterbuch der Wirtschaft (Recktenwald), 9. Aufl. 1981 Wörterbuch der Wirtschaft (Recktenwald), 10. Aufl. 1987 Wörterbuch der Wirtschaft (Recktenwald), 11. Aufl. 1990 Wörterbuch der Wirtschaft (Grüske/Recktenwald), 12., erweiterte Aufl. 1995 Vahlens großes Wirtschaftslexikon (Dichtl), 2., überarb. und erw. Aufl. 1993 Wirtschaftslexikon (Woll), 4. Aufl. 1990 Wirtschaftslexikon (Woll), 7. Aufl. 1993 Wirtschaftslexikon (Woll), 9. Aufl. 2000 Lexikon der Volkswirtschaft (Geigant), 6. Aufl. 1994 Dr. Gablers Wirtschaftslexikon (Sellien), 2. Aufl. 1958 Dr. Gablers Wirtschaftslexikon (Sellien), 6. Aufl. 1965 Dr. Gablers Wirtschaftslexikon (Sellien), 7. Aufl. 1967 Dr. Gablers Wirtschaftslexikon (Sellien), 8. Aufl. 1971 Dr. Gablers Wirtschaftslexikon (Sellien), 9., neubearb. u. erw. Aufl. 1975 Gablers Wirtschaftslexikon (Sellien), 10., neubearb. Aufl. 1979 Gablers Wirtschaftslexikon (Sellien), 11., neubearb. Aufl. 1983 Gabler-Wirtschafts-Lexikon, 12. Aufl. 1988 Gabler-Wirtschafts-Lexikon (Arentzen), 13. Aufl. 1992 Gabler-Wirtschafts-Lexikon (Hadeler/Arentzen), 14. Aufl. 1997 Gabler-Wirtschafts-Lexikon (Hadeler), 15., vollst. überarb. u. akt. Aufl. 2000 WiSo-Lexikon (Weigert/Pepels), 1999
Leitbild verzeichnet
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In keinem der acht gesichteten Fachwörterbücher der Politologie ebenso wie der fünf Lexika zur Ethnologie/Kulturtheorie ist der Begriff verzeichnet. Innerhalb der sechs kommunikationswissenschaftlichen Wörterbücher findet sich das Stichwort Leitbild lediglich in einem einmalig erschienenen Wörterbuch von 1982. Das Leitbild hat in diesen Feldern offensichtlich nicht den Status eines Fachterminus erreicht. Von den sechs verschiedenen Wörterbüchern aus der Soziologie haben die Hälfte den Terminus Leitbild verzeichnet, wobei dabei kein Zusammenhang mit dem Erscheinungsjahr zu erkennen ist. Aus Sicht der Lexikographen wäre es also strittig, Leitbilder zum festen Begriffsrepertoire der Soziologie zu zählen. Diejenigen soziologischen Fachwörterbücher, die den Leitbildbegriff aufgenommen haben, unterscheiden sich im Umfang ebenso wie in den behandelten Details. Trotz ihrer Heterogenität weisen sie doch alle in eine vergleichbare Richtung. Aus dem Lexikon zur Soziologie (Fuchs) erfährt man nicht viel mehr, als dass es sich bei Leitbildern um „komplexe normative Vorstellungen über die erstrebenswerte Gestaltung der Gesellschaft oder eines ihrer Teilsysteme“ handelt. Diese Bestimmung wird wesentlich erweitert durch das Wörterbuch der Soziologie (Hartfiel und Hillmann). Hier werden Leitbilder als erstrebenswerte, handlungsleitende Vorstellungen beschrieben, die gleichfalls prinzipiell erreichbar sind. Durch eine eindeutige „Lebensperspektive“ bieten sie zudem Entlastung von Entscheidungsdruck. Mit dem Hinweis darauf, dass Leitbilder erst dann Bedeutung erlangen, wenn Handlungsalternativen existieren und Lebenspläne
1.2 Der Begriff Leitbild in den sozialwissenschaftlichen Fachwörterbüchern
29
selbst entschieden werden können, argumentiert der Artikel ähnlich wie Papalekas im Wörterbuch der Soziologie (Bernsdorf 1969). Dort wird die Bedeutung von Leitbildern ebenfalls auf die industriegesellschaftlichen Bedingungen zurückgeführt, da mit der Auflösung der Geschlossenheit des gesellschaftlichen Systems auch keine „geschlossenen“ Leitbilder mehr möglich sind. Die drei Wörterbucheinträge nehmen eine explizit soziologische Perspektive ein. All dies gibt wenigstens einen schwachen Hinweis darauf, dass in der Soziologie ein spezifisch soziologisches Leitbildverständnis existiert. Dieses ist allerdings nicht begrifflich fest umrissen und hinlänglich weit verbreitet. Von sieben psychologischen Wörterbüchern hat lediglich ein Wörterbuch den Terminus verzeichnet. Bereits seit der sechsten Auflage von 1959 findet sich der Terminus in Dorschs psychologischem Wörterbuch und trägt ihn unverändert bis zur Auflage von 1998. Diese schwache Präsenz des Leitbildterminus in den psychologischen Wörterbüchern erstaunt, da der Leitbildbegriff zunächst vor allem durch Ludwig Klages (1908) und Alfred Adler (1912) über die Psychologie in die Sozialwissenschaften eingeführt wurde. Lexikographische Aufmerksamkeit wird dem Begriff Leitbild in der Psychologie lediglich im Zusammenhang mit Alfred Adlers Individualpsychologie geschenkt. Der psychologische Leitbildbegriff wäre damit handlungsleitenden Orientierungen individuellen Lebens und Erlebens vorbehalten, die sich ableiten aus dem konkret erlebten Vorbild. In den Wirtschaftswissenschaften ist das Bild wiederum recht gemischt. Von den sechs gesichteten Wörterbüchern findet sich in drei Publikationen der Hinweis auf Leitbilder, allerdings nur jeweils in einem spezifischen Kontext bzw. als Verweis. So sind das Leitbild der freiheitlichen Ordnung (Recktenwald 1990, Grüske/Recktenwald 1995), das Leitbild der Wirtschaftspolitik (Dichtl 1993) sowie wettbewerbspolitische bzw. umweltpolitische Leitbilder (Hadeler 2000) verzeichnet. Selbst das Stichwort Unternehmensleitbilder ist lediglich im Gabler-Wirtschafts-Lexikon verzeichnet – und das auch erst seit 1988. Damit fehlt in den wirtschaftswissenschaftlichen Fachwörterbüchern weitgehend eine im disziplinären Diskurs relevante Begriffsverwendung. Wie sich zeigen wird, spielen Leitbilder als explizit formulierte Orientierungen für Organisationen im Rahmen der Unternehmenskultur bzw. der Unternehmensgrundsätze eine zentrale Rolle (vgl. Kapitel 3.3). Hier hinkt die lexikographische Aufmerksamkeit offenbar um Jahrzehnte dem disziplinären Sprachgebrauch hinterher. Interessant ist schließlich der Blick in einige erziehungswissenschaftliche Wörterbücher. Das Leitbild ist in zwei von fünf gesichteten Wörterbüchern vertreten. Während es im Wörterbuch für Erziehung und Unterricht (Köck/Ott) seit 1979 durchgängig und unverändert verzeichnet ist, hat der Begriff im Wörterbuch der Pädagogik (Hehlmann/Böhm) ein wechselvolles Schicksal erlitten. In den regelmäßigen Auflagen seit den 1940er Jahren taucht der Begriff in den 1960er und 1970er Jahren auf, um dann aber wieder gestrichen zu werden. Im Wörterbuch für Erziehung und Unterricht wird das Leitbild ausschließlich psychologisch gefasst und bezeichnet den jugendlichen „Entwurf eines persönlichen Verhaltenskonzepts“ aufgrund von Lebenserwartungen, Wertvorstellungen, Vorbildern und Idealen. Demgegenüber fasst das Wörterbuch der Pädagogik zwischen 1960 und 1971 (6. bis 11. Auflage) in einem unveränderten Artikel Leitbilder sowohl in einer individuellen wie sozialen Perspektive. Leitbilder werden hier verstanden als Antriebsgrundlage für das Handeln und die Entwicklung des Individuums. Diese individuellen Leitbilder werden hier allerdings in Zusammenhang gestellt mit sozialen oder kollektiven Leitbildern, die aus Zeitströmungen oder national, ständisch oder anders sozial geprägten Einstellungen gespeist
30
1 Die Karriere des Leitbildbegriffs
werden. Das Leitbild wird hier als anschauliche Idealgestalt bezeichnet, vom Vorbild allerdings abgegrenzt. Überblickt man nun die unterschiedlichen sozialwissenschaftlichen Fachwörterbücher, so lässt sich daraus einiges zum Stellenwert des Leitbildbegriffs in den Sozialwissenschaften ableiten. Das eher sporadisch als regelmäßig zu nennende Vorkommen des Stichworts in den Wörterbüchern macht zunächst deutlich, dass Leitbilder zwar Gegenstand unterschiedlicher Sozialwissenschaften sind, dort jedoch als Kategorie unterschiedlich stark verankert sind. Darüber hinaus werden Leitbilder im interdisziplinären Vergleich unterschiedlich begrifflich gefasst. Auch innerhalb der einzelnen Disziplinen existieren nicht immer einheitliche Leitbildbegriffe. Den einen sozialwissenschaftlichen Leitbildbegriff, der den Status eines trennscharf definierten und gebräuchlichen Fachterminus inne hätte, gibt es also nicht. Lexikographische Einigkeit herrscht weitestgehend darüber, Leitbilder als erstrebenswerte Vorstellungen zu begreifen. In jedem Fall wird Leitbildern damit ein normativer bzw. intentionaler Charakter zugeschrieben. Es handelt sich entsprechend um Sollens- bzw. Wollens-Vorstellungen, nach denen gestrebt wird und die handlungsleitend sind. In der Regel werden Leitbilder als ein historisch universelles Phänomen dargestellt. In der Soziologie findet man demgegenüber Hinweise, dass Leitbilder überhaupt erst in einer – gegenwärtig würde man sagen – offenen, pluralisierten und funktional differenzierten Gesellschaft mit gesteigerten Handlungsoptionen zum Tragen kommen bzw. wissenschaftliche Aufmerksamkeit erhalten. 1.3 Die Konjunktur des Begriffes in sozialwissenschaftlichen Forschungsprojekten und Publikationen Die diachrone und systematische Analyse der Datenbanken zur sozialwissenschaftlichen Forschung und Literatur macht es möglich, die Karriere des Leitbildbegriffs in den Sozialwissenschaften allgemein und in einzelnen Disziplinen nachzuzeichnen.15 Über diesen Weg erhält man einen weiteren übergeordneten Einblick in die sozialwissenschaftliche Beschäftigung mit Leitbildern. Dabei wird vom Terminus und seinem Gebrauch in der Betitelung, Verschlagwortung oder Kurzdarstellung (Abstract) zu sozialwissenschaftlichen Publikationen und Forschungsprojekten ausgegangen. Denn die Platzierung eines Terminus in Überschriften, Untertiteln und Schlagworten kann einen Hinweis auf seinen Verbreitungsgrad geben (vgl. Jung 1994, S. 19). Kommt der Terminus Leitbild in einer der drei Positionen – Titel, Schlagwort, Kurzdarstellung – vor, so soll von leitbildbezogener Forschung bzw. Literatur die Rede sein.
15
Bei den herangezogenen Datenbanken handelt es sich einerseits um SOLIS, Sozialwissenschaftliche Literatur, und zum anderen um FORIS, Sozialwissenschaftliche Forschungsprojekte, beide Unterdatenbanken der Datenbank wiso sozialwissenschaften (ehemals WISO 3), herausgegeben vom Informationszentrum Sozialwissenschaften, Bonn. Soweit nicht anders angegeben, ist für die Untersuchung die Datenbank SOLIS mit dem Stand März 2007 herangezogen worden. Die Datenbank FORIS dokumentiert sozialwissenschaftliche Forschungsprojekte der letzten zehn Jahre. Für die Untersuchung ist die Datenbank mit dem Stand September 2000 sowie dem Stand Februar 2007 herangezogen worden.
1.3 Die Konjunktur des Begriffes in sozialwissenschaftlichen Forschungsprojekten und Publikationen
31
Diachrone Analyse Leitbilder sind in den Sozialwissenschaften – das zeigen unterschiedliche Quellen – bis in die 1950er Jahre erst vereinzelt im Gespräch und machen in den folgenden Jahrzehnten eine auffällige Karriere. Die diachrone Analyse der Datenbank SOLIS ermöglicht die Darstellung der Konjunktur des Leitbildbegriffes in den Sozialwissenschaften. In der Datenbank zur sozialwissenschaftlichen Literatur sind für den Zeitraum zwischen 1945 und 2006 annähernd 3.600 Veröffentlichungen dokumentiert, die im Titel, im Abstract oder als Schlagwort den Terminus Leitbild nutzen.16 Setzt man über die Jahre hinweg diese Dokumente, in denen der Terminus Leitbild verwendet wird, jeweils ins Verhältnis zu den insgesamt in SOLIS dokumentierten Publikationen, wird die Karriere des Leitbildbegriffs deutlich sichtbar (vgl. Abb. 1.117). Bis Mitte der 1970er Jahre verzeichnet SOLIS nur vereinzelt Publikationen mit Leitbildbezug. Ab Mitte der 1970er Jahre nimmt die Zahl der leitbildbezogenen Veröffentlichungen deutlich zu. In der ersten Hälfte der 1980er Jahre bleibt die nominal weiter wachsende Literatur mit Leitbildbezug im Verhältnis zu anderen sozialwissenschaftlichen Publikationen auf einem noch verhältnismäßig niedrigen, aber konstanten Niveau. Ab Ende der 1980er Jahre nehmen die leitbildbezogenen Veröffentlichungen – auch im Verhältnis zu der insgesamt stark gestiegenen Anzahl an dokumentierten Quellen – schließlich annähernd exponentiell zu und haben sich seit der Jahrhundertwende auf einem hohen Niveau konsolidiert.18 Die diachrone Analyse der Datenbank zur sozialwissenschaftlichen Literatur zeigt deutlich, dass sich der Leitbildbegriff seit den 1950er Jahren zunehmend verbreitet hat und spätestens für die 1990er Jahre ein nicht zu übersehender Boom festzustellen ist, der bis heute anhält. Leitbilder haben mehr denn je Konjunktur.
16 17
18
Das entspricht 1% der fast 350.000 in SOLIS zwischen 1945 und 2006 dokumentierten Veröffentlichungen. Anmerkungen zu Abbildung 1.1: Berücksichtigt werden alle Publikationen, die im Titel, Abstract oder Schlagwort den Leitbildbegriff aufweisen. Aufgrund der noch schwachen Verbreitung des Leitbildbegriffs werden die Angaben der Jahre bis 1960 und von 1961 bis 1970 zusammengefasst dargestellt. Der letzte berücksichtigte Jahrgang ist 2005, da für die beiden verbleibenden Jahre die Quellenlage in der untersuchten Datenbank noch unbefriedigend ist. Aus datenabfragetechnischen Gründen sind die Veröffentlichungen, die lediglich durch die Verschlagwortung einen eindeutigen Leitbildbezug aufweisen, hier dennoch mit erfasst worden. Diese konzentrieren sich auf den Zeitraum seit 1995, da der Terminus Leitbild ab 1996 offiziell als Deskriptor in den Thesaurus zur Verschlagwortung der SOLIS-Dokumente aufgenommen wurde (vgl. Thesaurus Sozialwissenschaften 1999). Bedingt durch diese zusätzlichen, lediglich durch das Schlagwort Leitbild als leitbildbezogene Literatur identifizierten Quellen steigt die Kurve in den 1990er Jahren besonders drastisch an. Aber auch ohne diesen zusätzlichen Aufschwung würde sich ein deutlicher Konjunkturanstieg ergeben.
Anzahl der sozialwissenschaftlichen Quellen mit Leitbildbezug
0
20
40
60
80
100
120
140
160
180
200
220
240
260
280
300
320
340
Anzahl der Quellen mit Leitbildbegriff in Titel, Abstract oder Schlagwort (3.416 gesamt) Anteil der Leitbildquellen an SOLIS-Quellen insg. (338.161 gesamt)
Abbildung 1.1: Konjunktur des Leitbildbegriffs in sozialwissenschaftlichen Publikationen 1945 - 2005
2005
2003
2001
1999
1997
1995
1993
1991
1989
1987
1985
Quelle: SOLIS aus wiso sozialwissenschaften, Stand: März 2007
0
0,2
0,4
0,6
0,8
1
1,2
1,4
1,6
1,8
2
2,2
32 1 Die Karriere des Leitbildbegriffs
Anteil der Leitbild-Literatur an SOLIS-Titeln insgesamt (in %)
1983
1981
1979
1977
1975
1973
1971
1961-1970 1945-1960
1.4 Zusammenfassung: Zur Karriere des Leitbildbegriffs
33
Systematische Analyse Die Auswertung der Datenbanken SOLIS und FORIS ermöglicht schließlich auch eine systematische Beantwortung der Frage, welche sozialwissenschaftlichen Disziplinen verstärkt den Begriff nutzen und sich folglich mit Leitbildern beschäftigen.19 Nominell taucht der Leitbildbegriff in Forschungsprojekten der Soziologie, den Wirtschaftswissenschaften, der Raum- und Regionalforschung sowie der Ökologie und Umwelt am häufigsten auf. Zu den Forschungsfeldern, die zwar insgesamt in FORIS schwächer vertreten sind, in denen Leitbilder aber eine besondere Rolle spielen, gehören die Technikfolgenabschätzung und Verwaltungswissenschaften.20 Seit 2000 fallen besonders viele leitbildbezogene Forschungsprojekte aus der Frauenforschung und Politikwissenschaft auf. Ein differenzierteres Bild ergibt sich, wenn man die sozialwissenschaftliche Literatur betrachtet, die mit dem Leitbildbegriff operiert. Wie bei den Forschungsprojekten ist auch hier ein großer Teil allgemein der Soziologie zuzuordnen. Hier ist allerdings eine differenzierte Betrachtung möglich. Zunächst spielen Veröffentlichungen zu Organisationssoziologie, zur Wirtschaftssoziologie sowie Industrie-, Betriebs- und Arbeitssoziologie eine herausgehobene Rolle. Daneben lassen sich etliche Veröffentlichungen der Familien- und Sexualsoziologie zuordnen. Schließlich sticht die Siedlungssoziologie hinsichtlich der Nutzung des Leitbildbegriffes heraus. Bei einer detaillierten Betrachtung der unter den leitbildbezogenen Publikationen häufiger anzutreffenden Politikwissenschaft und Wirtschaftswissenschaften werden besonders die Sozial- und Wirtschaftspolitik als leitbildbezogene Forschungsfelder sichtbar. Wie bereits bei den Forschungsprojekten erkennbar, befassen sich auch Veröffentlichungen zur Technikfolgenabschätzung, Raumplanung und Regionalforschung, der sehr schmale Bereich der Verwaltungswissenschaft und – bedingt durch das Leitbild der nachhaltigen Entwicklung – der Bereich Ökologie und Umwelt häufiger mit Leitbildern. Einen steigenden Anteil an leitbildbezogenen Publikationen findet man schließlich in der Frauenforschung. 1.4 Zusammenfassung: Zur Karriere des Leitbildbegriffs Der Begriff „Leitbild“ findet seit der zweiten Hälfte der 1950er Jahre Eingang in den öffentlichen Sprachgebrauch. Ein einheitliches Begriffsverständnis ist damit nicht verbunden. In den Sozialwissenschaften wird der Leitbildbegriff seit Beginn des 20. Jahrhunderts und gleichfalls verstärkt seit den 1950er Jahren genutzt. Die Verbreitung des Begriffs in den Sozialwissenschaften stellt sich als ein stetiger Prozess seit den späten 1970er Jahren dar, der in den 1990er Jahren einen besonderen Aufschwung erlebt und sich seit der Jahrhundertwende auf hohem Niveau stabilisiert hat. Die anfängliche These, dass der Leitbild-
19
20
Den folgenden Aussagen liegt eine Analyse der Datenbanken SOLIS (Stand September 2002) und FORIS (Stand September 2000 und damit den Forschungsprojekten der Jahre 1990 bis 2000) zugrunde. Diese Analyse ist aus datenabfragetechnischen Gründen anhand der aktuellen Datenbank und damit insbesondere für die Forschungsprojekte seit 2000 in dieser differenzierten Form nicht wiederholbar. Die gemachten Aussagen können aber für sich immer noch Gültigkeit beanspruchen. Um sagen zu können, innerhalb welcher Disziplinen Leitbilder eine größere Rolle spielen, wird die Verteilung der einzelnen Disziplinen innerhalb der FORIS-Datenbank insgesamt der Verteilung der Disziplinen innerhalb der leitbildbezogenen Forschungsprojekte gegenübergestellt.
34
1 Die Karriere des Leitbildbegriffs
begriff in den Sozialwissenschaften Karriere gemacht und Konjunktur hat, konnte eindeutig bewiesen werden. Der Blick in die sozialwissenschaftlichen Wörterbücher offenbart Folgendes: Der Leitbildbegriff ist in den einzelnen Sozialwissenschaften unterschiedlich stark verankert. Den einen sozialwissenschaftlichen Leitbildbegriff gibt es nicht. Gleichwohl verfügen die einzelnen Disziplinen aber auch nicht über ein je eigenes, eindeutiges Begriffsverständnis. Innerhalb der einzelnen Disziplinen wie disziplinübergreifend besteht keine Klarheit über den Begriff. Eine Klärung ist also aus dieser Perspektive dringend geboten. Die Untersuchung der Datenbanken zur sozialwissenschaftlichen Literatur und Forschung hat wertvolle Hinweise dafür geliefert, welche spezifischen Forschungsfelder sich verstärkt mit Leitbildern beschäftigen. Die folgende Analyse des Leitbilddiskurses kann auch auf diese Ergebnisse zurückgreifen.
Man kann aber verlangen, daß jeder, der den Begriff „Leitbild“ verwendet, klar sagt, was er darunter versteht. Erich Dittrich (1962, S. 5)
2 Rekonstruktion des Leitbilddiskurses – Anlage und Resultat der Hauptuntersuchung
Der Diskursanalyse zu Leitbildern in den Sozialwissenschaften, welche im folgenden Kapitel ausführlich dargestellt wird, werden folgende Präliminarien vorangestellt: In Kapitel 2.1 wird das methodische Vorgehen der Hauptuntersuchung beschrieben und die Datengrundlage, also die Auswahl und Zusammenstellung des Textkorpus erörtert. Kapitel 2.2 stellt zwei wichtige Resultate der Untersuchung vor, die zu einer besseren Orientierung im Diskursfeld beitragen und somit die Lektüre des darauf folgenden Kapitels erleichtern. 2.1 Die Anlage der Hauptuntersuchung Ein besonderes Desiderat in der Begriffs- und Theoriebildung zu Leitbildern betrifft die Verknüpfung der bereits existierenden Leitbildbegriffe und -konzepte. Denn wer zur interdisziplinären Verständigung über das mit diesem Terminus bezeichnete Phänomen beitragen will, muss an die vorhandenen Leitbildverständnisse und konzeptionellen Ansätze anschließen und diese aufeinander beziehbar machen. Die Sozialwissenschaften selbst konstituieren nämlich den Gegenstand Leitbild in der Auseinandersetzung damit und bringen auf diese Weise – wie sich zeigen wird – unterschiedliche Leitbildbegriffe und -konzepte hervor (vgl. dazu die theoretische Rahmung in der Einleitung). Es gilt also, den sozialwissenschaftlichen Diskurs über Leitbilder zu analysieren und daraus ein differenziertes Verständnis des bisher nur vage umrissenen oder widersprüchlich konzipierten Gegenstandes zu erarbeiten. Das bedeutet, die unterschiedlichen Leitbildbegriffe und darauf aufbauenden Forschungs- und Handlungskonzepte herauszuarbeiten und kritisch zu analysieren. Zu diesem Zweck wird der sozialwissenschaftliche Diskurs über Leitbilder unter folgenden grundlegenden Fragestellungen interpretativ-analytisch rekonstruiert: Was wird unter Leitbildern verstanden und wie werden diese theoretisch gefasst und konzeptionell in den Forschungs- und Entwicklungszusammenhang einbezogen? Unter welchen Gesichtspunkten werden Leitbilder thematisiert und welche Phänomen- bzw. Problemstruktur ergibt sich daraus? Die vorliegende Diskursanalyse konzentriert sich damit auf die Aussageninhalte über Leitbilder und ihre interpretativ-analytische Rekonstruktion (vgl. dazu Keller 2004, S. 97ff.). Die Praktiken der Diskursproduktion treten demgegenüber in den Hintergrund. Der allgemeine soziohistorische Kontext des Diskurses wird gesondert behandelt (vgl. Kapitel 4).
36
2 Rekonstruktion des Leitbilddiskurses – Anlage und Resultat der Hauptuntersuchung
Die einzelnen leitbildbezogenen Forschungsfelder werden nach den in ihnen vorfindbaren Begriffsverständnissen sowie Forschungs- und Handlungskonzepten zu Leitbildern forschungsfeldimmanent und -übergreifend untersucht. Die Aussagen zur Konstitution des Phänomens und zu den damit verbundenen Implikationen und Konsequenzen etwa in Hinblick auf die Bedingungen, Möglichkeiten und Grenzen im Umgang mit Leitbildern werden interpretiert und kritisch analysiert. Gefragt wird also etwa danach, was Leitbilder sind, wie sie entstehen und welche Erscheinungsform sie annehmen, welche Rolle und Bedeutung sie innerhalb des Forschungsfeldes inne haben und welche Wirkungen und Funktionen ihnen zugeschrieben werden. Aus konzeptioneller Sicht ergibt sich die Frage, wie mit Leitbildern innerhalb der sozialwissenschaftlichen Forschung und Entwicklung umgegangen wird, also welche Forschungs- und Handlungsprogramme mit ihnen verbunden werden. Was letztlich im Rahmen der Rekonstruktion der einzelnen leitbildbezogenen Forschungsfelder thematisiert wird, hängt von den jeweiligen Aussagen, den Diskussionsschwerpunkten und Aufmerksamkeitsrichtungen, also der im jeweiligen Teildiskurs wahrgenommenen Phänomen- bzw. Problemstruktur sowie vom jeweiligen Ausarbeitungsgrad der Leitbildtheorien und -konzepte ab. Bei aller zu beachtender Heterogenität der Aussagen über Leitbilder kommt es gleichfalls darauf an, die unterschiedlichen Leitbildverständnisse und die Umgangsformen mit ihnen systematisch zu vergleichen und in Beziehung zueinander zu setzen. Dies ist mit der Bildung von zwei Typologien gelungen, die der eigentlichen interpretativ-analytischen Rekonstruktion zur besseren Orientierung vorangestellt werden (vgl. Kap. 2.2). Die Untersuchung ist dem interpretativen Paradigma verpflichtet und greift auf Verfahren und Prinzipien der Hermeneutik zurück. Es geht dabei im Kern um die Interpretation und kritische Analyse der unterschiedlichen Begriffsverständnisse und -verwendungen und der Umgangsformen mit Leitbildern in den verschiedenen sozialwissenschaftlichen Forschungsfeldern. Dabei kommen Verfahren wie der systematische Vergleich von Aussagen sowie die Bildung von Vergleichsdimensionen unter dem Prinzip der minimalen und maximalen Kontrastierung zum Einsatz, wie sie in der qualitativen, insbesondere typenbildenden Forschung üblich sind (vgl. dazu etwa Strauss 1998 oder Kluge 1999). Die Nachvollziehbarkeit der Interpretationen wird durch klassische Prinzipien der Hermeneutik sichergestellt. Die Interpretation muss sachangemessen sein und wird durch einen systematischen Zweifel und die Reflexion der eigenen Vorurteile begleitet (vgl. Bollnow 1949, Gadamer 1960/1990). Die linguistische Diskursforschung liest Diskurse als virtuelle Textkorpora, deren Zusammensetzung sich aus dem als Forschungsgegenstand gewählten Thema ergibt. Zu einem Diskurs gehören dann alle Texte, welche sich mit dem Forschungsgegenstand befassen und in einem impliziten oder expliziten Verweisungszusammenhang zueinander stehen (vgl. Busse/Teubert 1994, S. 14). Die Eingrenzung des konkreten, zu untersuchenden Textkorpus in Hinblick auf den Zeitraum, den Gesellschaftsausschnitt oder die Textform ergeben sich damit aus dem Forschungsinteresse. In diesem Fall wird der sozialwissenschaftliche Leitbilddiskurs fokussiert. Im Blick sind diejenigen sozialwissenschaftlichen Forschungsfelder, in denen Leitbilder vermehrt Gegenstand der Untersuchung bzw. Entwicklung sind. Hierzu gehören die Psychologie, Soziologie und Pädagogik, Politikwissenschaft, Organisationsforschung, raumbezogene Planung und Forschung sowie die Technikforschung. Bei den für die Diskursanalyse herangezogenen Texten handelt es sich um sozialwissenschaftliche Publikationen aus den benannten Disziplinen, in denen der Leitbildbegriff zentral und aus-
2.2 Das Resultat: Zwei Typologien zur Orientierung im Diskursfeld
37
sagekräftig gebraucht wird und auf ein damit verbundenes Leitbildkonzept geschlossen werden kann.21 Der untersuchte Zeitraum umfasst die gesamte Geschichte der sozialwissenschaftlichen Beschäftigung mit Leitbildern unter diesem Begriff, also das gesamte 20. Jahrhundert. Mit dem Einbezug unterschiedlicher Recherchequellen bei der Zusammenstellung des Textkorpus (Sozialwissenschaftliches Literaturinformationssystem SOLIS, Internetrecherchen, Bibliothekskataloge und Literaturverzeichnisse) wurde vermieden, dass der Leitbilddiskurs der Sozialwissenschaften nur einseitig erfasst würde. Das zu interpretierende Textkorpus wurde vorab nicht vollständig festgelegt, sondern iterativ im Interpretationsprozess und so lange für einzelne Forschungsfelder erweitert, bis eine Sättigung erreicht war, d.h. dass bezüglich der Leitbild-Verständnisse und Umgangsformen im jeweiligen Feld keine wesentlich neuen Aussagen zu finden waren.22 Insgesamt wurden über 600 leitbildbezogene Quellen berücksichtigt, von denen weit über 400 in die nachfolgend dargestellte interpretativ-analytische Rekonstruktion und Diskussion des sozialwissenschaftlichen Leitbilddiskurses namentlich einbezogen werden. Letztlich leistet die folgende Untersuchung einen kritischen Überblick über Theoriebildung und empirische Forschung zu Leitbildern in unterschiedlichen Forschungsfeldern. Sie liefert eine Übersicht über die wesentlichen sozialwissenschaftlichen Arbeiten zu Leitbildern. Die systematische Analyse der Begriffsverständnisse und der leitbildbezogenen Forschungs- und Entwicklungskonzepte ermöglicht dabei einen Vergleich, hilft Zusammenhänge und Differenzen zu erkennen und trägt dadurch zu einer interdisziplinären Verständigung über einen diffusen Gegenstandsbereich bei, der bislang eher intuitiv mit dem Terminus Leitbild bezeichnet wurde. 2.2 Das Resultat: Zwei Typologien zur Orientierung im Diskursfeld Die eingehende Untersuchung der leitbildbezogenen Forschungsfelder wird zeigen, dass in den Sozialwissenschaften höchst unterschiedliche Forschungs- bzw. Entwicklungskonzepte existieren, welche mit dem Terminus Leitbild umgehen, wobei jedoch kein einheitlicher Leitbildbegriff vorliegt. Die unterschiedlichen Begriffsverwendungen führen nicht zuletzt zu Kontroversen und Missverständnissen hinsichtlich der Entstehung, Gestalt, Funktion, Wirksamkeit und des Gebrauchs von Leitbildern. Der vorliegenden Untersuchung ist es gelungen, die unterschiedlichen Begriffsverwendungen so zu systematisieren, dass eine Typologie der Begriffsverständnisse zu Leitbildern entworfen werden konnte. Mit dieser Typologie liegt ein disziplinunabhängiger Schlüssel vor, mit dem die unterschiedlichen Leitbildverständnisse systematisch aufeinander bezogen und besser innerhalb des sozialwissenschaftlichen Diskursfeldes verortet werden können (Kapitel 2.2.1). Mit den verschiedenen Begriffsverständnissen zu Leitbildern sind auch unterschiedliche Umgangsformen mit Leitbildern in den Sozialwissenschaften, mit anderen Worten konzeptionelle Ansätze bzw. Forschungs- oder Handlungsprogramme verbunden, deren Differenzierung ebenfalls ein klärendes Licht auf Leitbilder als Gegenstand bzw. Kategorie der Sozialwissenschaften wirft (Kapitel 2.2.2). 21 22
Berücksichtigt werden hier nur Publikationen, welche unmittelbar mit dem Terminus Leitbild operieren (zur Begründung vgl. die Einleitung). Vgl. zu diesem Vorgehen das Theoretical Sampling der Grounded Theory (Strauss 1998).
38
2 Rekonstruktion des Leitbilddiskurses – Anlage und Resultat der Hauptuntersuchung
Die begriffliche und konzeptionelle Typologie werden zur besseren Orientierung als wichtigstes Resultat der eigentlichen Rekonstruktion vorangestellt. Die Typologien helfen, das weite Feld sozialwissenschaftlicher Beschäftigung mit Leitbildern zu strukturieren und differenziert zu betrachten. Zugleich lassen sich damit einige Kontroversen zum Gegenstand auf die unterschiedlichen Begriffsverständnisse und Forschungs- bzw. Handlungsprogramme zurückführen und vor diesem Hintergrund analysieren. 2.2.1 Das Begriffsverständnis von Leitbildern in den Sozialwissenschaften – begriffliche Typologie In der wissenschaftlichen Auseinandersetzung um Leitbilder kommt immer wieder der Umstand zur Sprache, dass mit dem Terminus Leitbild höchst unterschiedliche Phänomene bezeichnet werden: Zur Unterscheidung spricht man von vorhandenen oder verkündeten, impliziten oder expliziten, bewussten oder unbewussten, formierten oder formulierten, von alltäglich praktizierten oder öffentlich debattierten Leitbildern usw. Ferner ist die Rede von stummen, latenten oder verborgenen Leitbildern. Mit diesen Kennzeichnungen werden zum Teil ähnliche Unterscheidungslinien gezogen. Im Rahmen der Diskursanalyse wurde nach den grundlegenden Dimensionen gesucht, nach denen sich die Begriffsverständnisse von Leitbildern in den Sozialwissenschaften unterscheiden lassen. Es hat sich als äußerst fruchtbar erwiesen, die verschiedenen Verwendungen des Leitbildbegriffes hinsichtlich folgender Merkmale zu unterscheiden: Beachtet man die unterschiedlichen Erscheinungsformen, die Handlungswirksamkeit und die Vertreter von Leitbildern, so lässt sich daraus eine Typologie mit sechs Typen entwerfen (vgl. Tabelle 2.1). Diese grundlegende Typologie zum Begriffsverständnis von Leitbildern wird der Interpretation und kritischen Analyse der einzelnen leitbildbezogenen Forschungsfelder vorangestellt, da sie einen wichtigen Schlüssel bildet für das Verständnis der unterschiedlichen Begriffsverwendungen sowie Leitbildkonzepte und damit des sozialwissenschaftlichen Diskurses über Leitbilder. Vorweg sei die größtmögliche Übereinstimmung hinsichtlich des Leitbildbegriffs festgehalten, die für alle folgenden Typen gilt: Bei Leitbildern handelt es sich um – in aller Regel – sozial geteilte (mentale oder verbalisierte) Vorstellungsmuster von einer erwünschten bzw. wünschbaren und prinzipiell erreichbaren Zukunft, die durch entsprechendes Handeln realisiert werden soll. Leitbilder betreffen also zukunftsgerichtete und handlungsrelevante Vorstellungen davon, was erstrebt wird oder als erstrebenswert und zugleich als realisierbar angesehen wird. Dies kann etwa ein Selbstbild sein, wie man sich (kollektiv oder individuell) zukünftig sieht, oder auch eine Vorstellung eines Zukunftszustandes, der erreicht werden soll.23
23
Die allgemeine Definition ebenso wie die folgende Typologie können nicht jeglicher Begriffsverwendung gerecht werden. Sie stecken jedoch weitgehend das Feld ab, in denen sich die verschiedenen konkreteren Begriffsverständnisse bewegen und helfen zugleich, diese differenziert zu betrachten.
2.2 Das Resultat: Zwei Typologien zur Orientierung im Diskursfeld
39
Tabelle 2.1: Leitbild-Typen Erscheinungsform Handlungswirksamkeit
Vertreter
echte Leitbilder (Typ A) praktiziert, d.h. verinnerlicht, denk- und handlungsleitend, aktiv erstrebt
propagierte Leitbilder (Typ B)
selbst getragen
nicht praktiziert, erstrebenswert, potenziell
fremdgesetzt
mentale Leitbilder
manifeste Leitbilder
Vorstellungsmuster, Bedeutungszusammenhänge
ausdrücklich verbalisierte Vorstellungen, Artefakte
Typ 1 implizite Leitbilder
Typ 2 explizierte Leitbilder
(Orientierungsmuster)
Typ 3 (z.B. Ideen mit Leitbildpotenzial)
Typ 5
Typ 4 explizite Leitbilder (i.d.R. synthetisch)
Typ 6 oktroyierte Leitbilder
Die erste Dimension, nach der sich unterschiedliche Leitbildbegriffe unterscheiden lassen, bezieht sich auf die Erscheinungsform oder – so könnte man sagen – ihren Aggregatszustand. Von Leitbildern wird einerseits in Bezug auf bestimmte mentale Vorstellungs- oder Denkmuster, andererseits in Bezug auf ausdrücklich verbalisierte Vorstellungen und damit manifeste Artefakte gesprochen.24 Letztere liegen häufig als schriftliche Dokumente vor. Auch kursierende Schlagworte oder leitbildhafte Formeln wie das „papierlose Büro“ oder die „autogerechte Stadt“ sind hier zurechenbar.25 Mentale Leitbilder stellen insofern Vorstellungsmuster dar, dass sich unterschiedliche mehr oder weniger konkrete Vorstellungen oder Gedanken in ein Muster fügen und einen Bedeutungszusammenhang bilden, der sozial geteilt wird. Mentale Leitbilder verdichten sich häufig in einer bildhaften Gestalt oder Sinnfigur, welche den erstrebten oder erstrebenswerten Zukunftsentwurf repräsentiert. Die entsprechenden gedanklichen Bilder werden dann mitunter in leitbildhaften Formeln sprachlich fixiert. Die zweite grundlegende Unterscheidung bezieht sich auf die Frage der Handlungswirksamkeit von Leitbildern. Prägen sich die Vorstellungsmuster im Denken und Handeln der Menschen tatsächlich aus? Leitbilder sind entweder tatsächlich denk- und handlungsleitend oder mit ihnen ist lediglich ein entsprechender Anspruch verbunden. Diejenigen Leitbilder, die denk- und handlungsleitend werden sollen, werden hier als propagierte Leitbilder
24
25
Um die mentalen Leitbilder zu identifizieren und zu analysieren, um ihren Sinn zu verstehen, bedarf es immer einer (dauernd fixierten Lebens-)Äußerung (vgl. bereits Dilthey 1900, S. 319), nicht aber der ausdrücklichen manifesten Leitbilder. Unter manifesten Leitbildern sollen hier nicht jegliche Ausdrucksformen der mentalen Vorstellungsmuster verstanden werden. Es geht um die intendierten Artikulations- bzw. Repräsentationsformen der zukunftsbezogenen Vorstellungen. Der Bedeutungsgehalt der manifesten Leitbilder ist dabei prinzipiell nicht unmittelbar zugänglich, sondern muss interpretiert werden. Eine intendierte Manifestation eines Leitbildes – etwa in einer leitbildhaften Formel – erleichtert wiederum die Verständigung über das mentale Leitbild. Die manifesten Leitbilder werden selten auch nicht-sprachlich präsentiert, etwa in Form gegenständlicher oder abstrakter Visualisierungen wie zeichnerischen Entwürfen, Grafiken oder Logos.
40
2 Rekonstruktion des Leitbilddiskurses – Anlage und Resultat der Hauptuntersuchung
bezeichnet.26 Praktizierte Leitbilder strukturieren demgegenüber Wahrnehmung, Denken und Handeln derjenigen, die dieses miteinander teilen. Mit anderen Worten: Praktizierte Leitbilder werden gelebt. In dem Maße wie die praktizierten Leitbilder verinnerlicht und zu selbstverständlich gegebenen Überzeugungen werden, entziehen sie sich einem bewussten und reflexiven Zugriff. Da zum konstitutiven Begriffsverständnis von Leitbildern gerade der Aspekt gehört, dass diese denk- und handlungsleitend sind, können diese auch als echte Leitbilder bezeichnet werden gegenüber propagierten Leitbildern, die diese Eigenschaft (noch) nicht besitzen. Die Handlungswirksamkeit der echten Leitbilder mag dabei graduell und situativ unterschiedlich stark ausgeprägt sein.27 Unter alleiniger Berücksichtigung der Dimension der Handlungswirksamkeit kann man damit eine zentrale Unterscheidung vornehmen zwischen echten (Typ A) und propagierten Leitbildern (Typ B). Als Sonderfall der propagierten Leitbilder lassen sich solcherart Leitbilder darstellen, von denen nur behauptet wird, sie würden aktuell das Denken und Handeln prägen, ohne dass sie dies faktisch tun. Diese sollen als postulierte Leitbilder bezeichnet werden. Dabei handelt es sich – analog zur Unterscheidung von heimlichen und offiziellen Lehrplänen – um offiziell vertretene Leitbilder, während ganz andere, verdeckte (eben implizite) Leitbilder wirksam sind.28 Die schwächste Form propagierter Leitbilder wären Ideen mit Leitbildpotenzial, die ausdrücken, wie Zukunft gedacht werden könnte. Letztlich können alle propagierten Leitbilder als potenzielle (echte) Leitbilder angesehen werden, da sie die denkund handlungsleitende Eigenschaft von impliziten Leitbildern annehmen können. Das Leitbildpotenzial propagierter Leitbilder ist allerdings sehr unterschiedlich ausgeprägt. Propagierte Leitbilder haben insofern eine doppelte Zukunftsbezüglichkeit, als dass sowohl die Wunsch- und Machbarkeitsvorstellungen sich auf die Zukunft beziehen, als auch das darauf bezogene Denken und Handeln noch in der Zukunft liegt. Echte Leitbilder haben demgegenüber nur eine einfache Zukunftsbezüglichkeit in dem Sinne, dass sich das aktuelle Denken und Handeln auf einen Zukunftshorizont bezieht. Zu unterscheiden sind damit Leitbilder als Zukunftsentwürfe,
die das Denken und Handeln schon aktuell prägen (praktiziert, desired) oder die zukünftig das Denken und Handeln prägen sollen (propagiert, desirable).
Hofstede (1981) unterscheidet in Bezug auf Werte zwischen „desired“ und „desirable“ values, also erstrebten und erstrebenswerten Werten.29 Während die denk- und handlungs26
27
28
29
Letztlich reicht das Spektrum der propagierten Leitbilder sehr weit von selbst getragen bis fremdgesetzten, von postulierten, über im engeren Sinne propagierte (zu verfolgende) bis hin zu Ideen mit Leitbildpotenzial (siehe dazu weiter unten). Für das differenzierte Verständnis von Leitbildern ist jedoch deren aller Differenz zu praktizierten Leitbildern hervorzuheben, weshalb sie alle als propagierte Leitbilder bezeichnet werden. Die spezifische Bedeutung von echten Leitbildern gegenüber Werten liegt darin, dass sie nicht einfach eine prinzipielle Vorstellung des „Wünschenswerten“ (Kluckhohn nach Hillmann 1994, S. 928) abgeben, sondern einer erwünschten und für machbar angesehenen Zukunft, auf die sich das Denken und Handeln der Gegenwart aktiv ausrichtet (vgl. auch Fußnote 30). Schließlich können aber auch propagierte Leitbilder nur als solcherart postulierte Leitbilder erscheinen, wenn sie nämlich im Indikativ formulierte Imperative darstellen. Sie entfalten dann unter Umständen (auto-) suggestive Wirkung oder sollen dies zumindest tun. „Wir gestalten Zukunft“ (LandesSportBund NordrheinWestfalen 2003) drückt dann nicht unbedingt die Tatsache aus, dass dies tatsächlich der Fall sei, sehr wohl aber, dass diese Maxime dem gegenwärtigen und zukünftigen Denken und Handeln zugrunde gelegt werden soll. Gerade Organisationen bedienen sich häufig einer solchen indikativischen Form der Absichtserklärung. „(...) what people actually desire versus what they think ought to be desired“ (Hofstede 1981, S. 20).
2.2 Das Resultat: Zwei Typologien zur Orientierung im Diskursfeld
41
leitenden Leitbilder analog zu dieser Unterscheidung als kollektiv verfolgte, also „desired“ einzuordnen sind, haben propagierte Leitbilder nur den Status von „desirable“, erstrebenswerten Werten. Wenngleich das tatsächliche Handlungsergebnis sehr unterschiedlich ausfallen kann, so stehen die verfolgten, erstrebten Leitbilder dem Handeln dennoch näher als lediglich erstrebenswerte.30 Die Besonderheit der Leitbildforschung sollte darin gesehen werden, dass damit vor allem die tatsächlich erwünschten Zukünfte, nicht einfach nur die wünschbaren Zukünfte in den Blick genommen werden. In all den bislang dargestellten Leitbildvarianten sind die Vertreter des angestrebten Zukunftsentwurfs gleichzeitig die Akteure, die dem Leitbild entsprechend denken und handeln (wollen). Demgegenüber lassen sich solcherart Leitbilder als besondere Fälle beschreiben, die nicht von den Akteuren selbst propagiert werden, sondern von außen an sie herangetragen werden. Akteur und Leitbild-Vertreter fallen dann auseinander. Leitbilder sind in diesem Fall vorgegebene Erwartungen oder Anweisungen, wie (zukünftig) zu handeln ist oder gar welchem Leitbild gefolgt werden soll. Somit sind zwei Varianten der fremdgesetzten oder auch oktroyierten Leitbilder zu unterscheiden: 1. 2.
Von außen wird vorgeschrieben, wie zu handeln ist. Den wünschenswerten Zukunftsentwurf, das Leitbild hat jemand anderes als die danach zum Handeln Aufgeforderten. Von außen wird vorgeschrieben, was als wünschenswerte Zukunftsvorstellung, als Strebensziel verfolgt werden soll. Das Leitbild selbst wird also oktroyiert.31
Auch diese oktroyierten Leitbilder können entweder gedanklich repräsentiert oder verbalisiert vorliegen (Typ 5 oder 6). Zurecht kann hier kritisch gefragt werden, ob in diesen Fällen überhaupt noch sinnvoll von Leitbildern gesprochen werden kann. Es handelt sich dabei sicherlich um Grenzfälle der Begriffsverwendung, die entsprechend behandelt werden sollten. In der abschließenden Begriffsexplikation wird diese Begriffsverwendung deshalb auch begründet ausgeschlossen (vgl. Kapitel 5.1). Eine Zuordnung zu fremdgesetzten und selbst getragenen Leitbildern ist nicht immer leicht vorzunehmen. Der Grad der Internalisierung einer gesellschaftlichen Verhaltenserwartung etwa bestimmt, ob ein Leitbild noch als fremdgesetzt oder schon selbst getragen zu verstehen wäre.32 Fremdgesetzt sollen nur diejenigen Leitbilder heißen, die von den Akteuren weder praktisch erstrebt noch als erstrebenswert angesehen werden. In der Unterscheidung von Hofstede könnte man sagen: Fremdgesetzte Leitbilder sagen weder „what people actually desire“ noch „what they think ought to be desired“ (Hofstede 1981, S. 20), 30
31 32
In der Einstellungsforschung ist das Problem breit diskutiert worden, dass keine Einheit zwischen Denken und Handeln bzw. nur eine bedingte Konsistenz zwischen diesen besteht (vgl. Endruweit/Trommsdorff 2002). Ein unmittelbarer Zusammenhang zwischen Denken (kognitiv) und Fühlen (affektiv) auf der einen Seite und Handeln (konativ) auf der anderen Seite kann nicht angenommen werden. Dies schließt jedoch nicht aus, echte Leitbilder im Sinne denk- und handlungsleitender mentaler Orientierungsmuster als eine Handlungsbereitschaft in eine bestimmte Richtung zu denken. Wie sich faktisch das Handeln ausgestaltet, hängt dabei noch von vielen anderen Faktoren ab. So abwegig diese Variante anmutet, so reell ist sie doch – etwa in dem Leitbild des „Sowjetbürger“ oder des „Staatsbürgers in Uniform“, die nicht nur vorgeschrieben haben, wie zu handeln, sondern auch wie zu denken, wonach zu streben sei (vgl. dazu Merck 1956, Picht 1957). Fremdgesetzte versus selbst getragene Leitbilder werden hier nur als Unterarten der propagierten Leitbilder geführt, da die Tatsache, dass ein Leitbild selbst getragen wird (mag es zuvor auch internalisiert worden sein), als Voraussetzung dafür angesehen wird, dass ein Leitbild (kollektiv) verfolgt und in diesem Sinne denk- und handlungsleitend ist.
42
2 Rekonstruktion des Leitbilddiskurses – Anlage und Resultat der Hauptuntersuchung
sondern what others think ought to be desired. Sie handeln nicht vom Wollen, sondern vom Wollensollen.33 Auf der Grundlage der drei dargestellten Dimensionen lassen sich sechs Typen von Leitbildbegriffen unterscheiden (vgl. Tabelle 2.1). In dieser Differenzierung ist es nun auch möglich die mancherorts angesprochene Unterscheidung von impliziten und expliziten Leitbildern genauer zu fassen. Zunächst verweist die Unterscheidung von impliziten und expliziten Leitbildern lediglich auf die Differenz zwischen mentalen Denkmustern und manifesten Artefakten. Gleichzeitig sollte das Verständnis von impliziten Leitbildern auf echte, d.h. praktizierte Leitbilder (Typ 1) konzentriert werden, während den expliziten Leitbildern der Status der (noch) nicht praktizierten Vorstellungen (Typ 4) zugeordnet werden kann.34 Hintergrund hierfür ist der Gedanke, dass, um denk- und handlungsleitend zu werden, ein Leitbild mental verankert sowie internalisiert sein muss und nicht nur eine Absichtserklärung oder gar Aufforderung darstellen darf. Dies geschieht in einem allmählichen Prozess der intersubjektiven Verständigung über das jeweilige Leitbild, nicht durch Deklaration. Das explizite Leitbild hingegen entsteht häufig im Zuge einer initiierten und bewussten Leitbild-Entwicklung, in dem dieses vorsätzlich entworfen und formuliert wird. Entsprechend kann es auch als synthetisches Leitbild bezeichnet werden. Wenn im Folgenden von impliziten und expliziten Leitbildern gesprochen wird, so sind damit die beiden hinsichtlich der Dimension Erscheinungsform und Handlungswirksamkeit sich gegenüberstehenden Typen bezeichnet. Das implizite Leitbild verweist auf die handlungsleitenden, mentalen Vorstellungsmuster (Typ 1). Sie haben die Qualität echter Leitbilder erreicht, da sie wahrnehmungs-, denk- und handlungsstrukturierende Eigenschaften angenommen haben, mithin zu zukunftsbezogenen Orientierungsmustern emergiert sind. Explizite Leitbilder sollen manifestierte Vorstellungen heißen, die (noch) nicht denk- und handlungsleitend sind, sondern lediglich propagiert werden (Typ 4). Implizite und explizite Leitbilder bilden die beiden sich gegenüberstehenden Hauptformen, während die anderen Leitbildtypen als Varianten der einen oder anderen anzusehen sind. Verbalisierte, denk- und handlungsleitende Leitbilder (Typ 2) erweisen sich damit als explizierte, d.h. zum Ausdruck gebrachte implizite Leitbilder. Leitbilder vom Typ 3 sind demgegenüber nur potenzielle, gedankliche Leitbilder oder besser Ideen mit Leitbildpotenzial, also Vorstellungsmuster, die nicht aktiv verfolgt werden und das Denken und Handeln nachhaltig prägen. Die Variante, dass eine Leitbildvorstellung von außen vorgegeben ist, nicht aber ausdrücklich verbalisiert sein muss (Typ 5), tritt beispielsweise in Form sozialer Rollenerwartungen auf.35 Von außen vorgegebene Leitbilder, die beispielsweise in Leitbild-Dokumenten festgeschrieben werden, sollten in Abgrenzung zu expliziten, jedoch selbst getragenen Leitbildern (Typ 4) als oktroyierte Leitbilder (Typ 6) bezeichnet werden.
33
34 35
Eine entsprechende Unterscheidung in der Art der Gerichtetheit auf die Zukunft findet man schon bei Spranger: „Wir erfahren in der Tiefe unseres Gewissens, daß auch etwas von uns gefordert wird, daß wir nicht beliebig wollen dürfen, sondern daß wir Bestimmtes wollen sollen und anderes nicht wollen dürfen. Die Seite des Wollensollens.“ (Spranger 1953a, S. 55) Zwar könnten die fremdgesetzten, manifesten Leitbilder ebenfalls als explizite Leitbilder bezeichnet werden. Dies wird hier zur deutlichen Unterscheidung jedoch vermieden, sodass hinsichtlich des Leitbild-Typs 6 von oktroyierten Leitbildern gesprochen werden soll. Freilich sind soziale Rollenerwartungen nur so lange dem Leitbild-Typ 5 zuzuordnen, wie sie weder als Orientierungsmuster internalisiert (Typ 1) noch als erstrebenswert akzeptiert (Typ 3) sind.
2.2 Das Resultat: Zwei Typologien zur Orientierung im Diskursfeld
43
Leitbilder unterliegen einem fortwährenden Entwicklungsprozess, in dem sie auch ihren Modus grundlegend verändern können. Die Übergänge zwischen den unterschiedlichen Leitbild-Typen sind fließend. Ein fremdgesetztes kann mitunter zu einem gemeinsam getragenen Leitbild werden. Ein mentales Vorstellungsmuster kann verbalisiert und damit expliziert werden. Ein explizites Leitbild kann denk- und handlungsleitend werden usw. Da die unterschiedlichen Leitbildtypen dynamisch sind und ineinander übergehen können, ist hier vermieden worden, den Entstehungszusammenhang von Leitbildern als Unterscheidungskriterium nach vorne zu stellen. Echte Leitbilder entstehen als intersubjektive Orientierungsmuster in einem allmählichen Verständigungsprozess im Rahmen der sozialen Interaktion von Gruppen (im weitesten Sinne). Ein propagiertes Leitbild, das in einem initiierten Entwicklungsprozess entworfen wird, kann demgegenüber als synthetisch hergestellt bezeichnet werden. Eine Verbindung ergibt sich hier wiederum insofern, dass bei der Entwicklung synthetischer Leitbilder der Verständigungsprozess zu forcieren versucht wird. Beispiel Kundenorientierung Um die unterschiedlichen Leitbildtypen anschaulich zu machen, sollen hier anhand der Idee der Kundenorientierung die unterschiedlichen Begriffsverständnisse, die unterschiedlichen Modi von Leitbildern beispielhaft durchdekliniert werden. Man stelle sich Kundenorientierung als Leitbild vor. Dieses kann nun Leitbild in allen zuvor dargestellten sechs Begriffsverwendungen sein. Ein implizites Leitbild wäre es, wenn Kundenorientierung als geteiltes, zukunftsbezogenes Orientierungsmuster dem Denken und Handeln von bestimmten Akteuren zugrunde liegt (Typ 1). Wird dieses tatsächlich verfolgte Leitbild Kundenorientierung sprachlich fixiert, etwa um es für das Unternehmensumfeld transparent zu machen, wird es zu einem explizierten Leitbild (Typ 2). Ist Kundenorientierung jedoch eine Idee, von der man sagt, dass man sie eigentlich zum Prinzip der eigenen Arbeit machen müsste oder von der man behauptet, sie sei das Prinzip der eigenen Arbeit, ohne tatsächlich das Denken und Handeln zu prägen, so wäre es eine propagierte oder postulierte Leitbildvorstellung (Typ 3). Formuliert man schließlich gemeinsam ein Unternehmensleitbild, in dem die Kundenorientierung zum höchsten erst zu verfolgenden Prinzip erhoben wird, so handelt es sich um ein explizites Leitbild (Typ 4). Kundenorientierung bildet zugleich eine beliebte Forderung, die vielen Reformprozessen in Organisationen unausdrücklich zugrunde liegt und als ein von außen vorgegebenes, gleichwohl in der Vorstellung repräsentiertes Leitbild daherkommt. Kundenorientierung ist dann die unausgesprochene Norm, an der sich die Mitarbeiter etwa einer Verwaltungseinheit ausrichten sollen, während sie faktisch anderen Leitbildern folgen (Typ 5). Und schließlich steht eine solche von außen gesetzte Forderung häufig nicht nur unausgesprochen im Raum, sondern wird – etwa in einem durch die Unternehmensspitze formulierten Unternehmensleitbild – festgeschrieben und den Mitarbeitern zur Befolgung vorgegeben (Typ 6). Mit diesem Beispiel wird sichtbar, dass allein mit dem Hinweis auf das Leitbild Kundenorientierung noch nicht viel ausgesagt ist. Daran müssen sich Fragen knüpfen wie: Um wessen Leitbild handelt es sich? Ist dies verbalisiert oder nur eine unausdrückliche mentale Vorstellung? Ist diese Vorstellung lediglich propagiert oder tatsächlich denk- und handlungsleitend?
44
2 Rekonstruktion des Leitbilddiskurses – Anlage und Resultat der Hauptuntersuchung
2.2.2 Der Status von Leitbildern in der sozialwissenschaftlichen Forschung – konzeptionelle Typologie Neben der begrifflichen Typologie ist eine Systematik entwickelt worden, die den konzeptionellen Status von Leitbildern innerhalb der sozialwissenschaftlichen Forschung zu unterscheiden hilft.36 Es geht dabei um die Form des Umgangs mit Leitbildern innerhalb theoretischer und empirischer Forschungsarbeiten. Die unterschiedlichen Umgangsformen können in einem Typenraster dargestellt werden, das grundlegend zwischen Grundlagenforschung, Analyse, Entwicklung und Forschungsperspektive unterscheidet (vgl. Tabelle 2.2). Zu allen Zeiten und in fast allen Feldern der sozialwissenschaftlichen Begriffsverwendung trifft man auf Definitionsversuche, theoretische oder forschungsmethodische Überlegungen zu Leitbildern (Typ I). Sie könnten als Grundlagenforschung im Sinne der Begriffsund Theoriebildung sowie Methodenentwicklung zu Leitbildern verstanden werden, erweisen sich aber selten als in dem Maße systematisch und begründet, dass eine Kennzeichnung als wissenschaftliche Forschungsarbeit immer gerechtfertigt ist. Trotz unterschiedlichster Definitionsversuche sowie theoretischer und konzeptioneller Erörterungen bleibt damit die Begriffsbildung sowie die theoretische und konzeptionelle Arbeit in Bezug auf die Kategorie Leitbild ein Desiderat. Eine Leitbild-Analyse bezieht sich im engeren Sinne auf die Identifikation bzw. Rekonstruktion von vorhandenen (impliziten) Leitbildern (Typ II). Im weiteren Sinne geht es um die Untersuchung der Implikationen impliziter oder expliziter Leitbilder, etwa deren Aussagen, Perspektiven und Konsequenzen. Hier werden Leitbilder zugleich als Einflussfaktor in einem Handlungsfeld untersucht (Typ III). Daneben finden sich regelmäßig Forschungsvorhaben, in denen Leitbild-Entwicklungsprozesse oder die Umsetzung von (expliziten) Leitbildern begleitend untersucht werden (Typ IV). Leitbilder werden innerhalb leitbildbezogener Forschungsvorhaben aber nicht nur analysiert, sondern auch selbst (weiter)entwickelt. Leitbild-Entwicklung selbst wird also gleichfalls in den Sozialwissenschaften betrieben (Typ V). Auch die Konkretisierung und Umsetzung von Leitbildern durch Formulierung bzw. Ableitung von Zielen, Maßnahmen oder Bewertungsmaßstäben findet mitunter von Seiten der Sozialwissenschaften statt (Typ VI). Schließlich werden Leitbilder selbst als Forschungsperspektive oder normative Grundlage im Zusammenhang mit anderen Untersuchungsgegenständen eingesetzt. Ein bestimmtes Leitbild wird als Forschungsperspektive, Bewertungsmaßstab oder normative Bezugsgröße für ein Forschungsvorhaben herangezogen. Es handelt sich dann um ein Leitbild für die sozialwissenschaftliche Forschung selbst (Typ VII). Einige Formen des Umgangs mit Leitbildern bauen aufeinander auf, gehen direkt ineinander über oder sind so eng miteinander verbunden, dass sie nur systematisch, aber nicht immer faktisch unterschieden werden können. Eine Einschätzung des jeweiligen Leitbildgebrauchs anhand dieser konzeptionellen Systematik kann gleichwohl bei der Diskussion über Leitbilder in konkreten Forschungsfeldern zur Klärung der Frage beitragen, worum es in Bezug auf Leitbilder in den jeweiligen Forschungszusammenhängen geht.
36
Grundlage für diese Typologie bildet eine Auswertung der Kurzbeschreibungen zu den leitbildbezogenen Forschungsprojekten in FORIS (Stand: September 2000). Die auf dieser Datengrundlage entworfene Systematik zum Umgang mit Leitbildern in den Sozialwissenschaften ist in die Untersuchung des Leitbilddiskurses (Kapitel 3) mit eingeflossen und daran geschärft worden.
2.2 Das Resultat: Zwei Typologien zur Orientierung im Diskursfeld
45
Die vorliegende Systematik schafft dabei vorab Aufmerksamkeit für eine Grunddifferenz im Umgang mit Leitbildern in den Sozialwissenschaften: Leitbilder werden innerhalb der Sozialwissenschaften nicht nur analysiert, sondern auch neu entwickelt bzw. ausgearbeitet. Damit existiert in Bezug auf Leitbilder sowohl ein analytisches wie auch ein konstruktives Forschungsprogramm. Hinter diesen beiden grundlegend zu unterscheidenden Umgangsformen lassen sich zugleich die beiden Extremformen der Leitbildverständnisse wiedererkennen. Die Leitbild-Analyse im engeren Sinne bezieht sich auf die impliziten, d.h. mentalen, denk- und handlungswirksamen Orientierungsmuster. Eine Leitbild-Analyse im weiteren Sinne kann sowohl anhand impliziter als auch expliziter Leitbilder vorgenommen werden. Die Leitbildentwicklung beruht dagegen auf einem expliziten Leitbildbegriff, der diese als manifeste und propagierte Wert- bzw. Zielvorstellungen begreift. Der Zugriff, den die sozialwissenschaftliche Forschung gegenüber impliziten Leitbildern wählt, ist also analytischer Art. Der Umgang mit expliziten Leitbildern zielt entweder auf deren Analyse oder auf deren (Weiter-)Entwicklung und Umsetzung ab, kann mithin einem analytischen oder einem unmittelbar praktischen Interesse folgen. Tabelle 2.2:
Konzeptionelle Typologie zum Status von Leitbildern in sozialwissenschaftlichen Forschungsarbeiten
Grundlagenforschung
I
Begriffs- und Theoriebildung, Methodenentwicklung zur sozialwissenschaftlichen Kategorie Leitbild
Analyse, Untersuchung - analytisch -
II
Leitbild-Analyse i.e.S. Identifikation bzw. Rekonstruktion von (impliziten) Leitbildern
III Leitbild-Analyse i.w.S. a) b)
Untersuchung der Implikationen eines echten oder propagierten Leitbildes (Aussagen, Perspektiven, Konsequenzen) Leitbilder als Einflussfaktor (inklusive Folgenabschätzung)
IV Begleitforschung zu Leitbild-Entwicklung und -Umsetzung Entwicklung, Umsetzung - konstruktiv -
a) b)
Untersuchung von Leitbildentwicklungsprozessen Analyse der Umsetzung von Leitbildern
V
Leitbild-Entwicklung (i.e.S.) Ein Leitbild wird entwickelt, entworfen, formuliert
VI Leitbild-Konkretisierung / Leitbild-Umsetzung a) b) c)
Forschungsperspektive
Ziele konkretisieren, ableiten Maßnahmen ableiten Maßstäbe ausformulieren - Leitbild als Bewertungsmaßstab ausformulieren - Indikatoren zur Zielerreichungskontrolle
VII Grundlegung als Forschungsperspektive, Bewertungsmaßstab, normative Bezugsgröße
Folgende beispielhafte Forschungsprojekte verdeutlichen die unterschiedlichen Umgangsformen mit Leitbildern:
46 I
II
III
IV
V
VI
VII
2 Rekonstruktion des Leitbilddiskurses – Anlage und Resultat der Hauptuntersuchung
Grundlagenforschung: Der Begriff Leitbild wird definiert und/oder in einen theoretischen Zusammenhang gestellt. Methoden der Leitbildanalyse oder Leitbildentwicklung werden konzipiert. Leitbild-Analyse im engeren Sinne: Die das Denken und Handeln in einer Organisation prägenden impliziten Leitbilder werden analysiert, d.h. rekonstruiert bzw. identifiziert und beschrieben (beachte den Übergang zu Typ III). Leitbild-Analyse im weiteren Sinne: a) Die identifizierten impliziten Leitbilder einer Organisation werden hinsichtlich ihrer Anpassungsfähigkeit an die gegebenen Umfeldbedingungen untersucht. Oder: Die Ziele, Maßnahmen und Strategien im Kontext des propagierten Leitbildes der Chancengleichheit eines Unternehmens werden kritisch reflektiert. b) In einem Projekt zur Untersuchung des Gelingens und Scheiterns von Kooperationsprozessen innerhalb von Selbsthilfegruppen wird die Existenz von gemeinsam geteilten Leitbildern als Faktor für gelungene Kooperationsprozesse verstanden und diese daran gemessen. Oder: Die Genese der Schreibmaschinentechnik wird anhand der im Entwicklungsprozess wirksamen Leitbilder rekonstruiert. Begleitforschung zu Leitbild-Entwicklung und -Umsetzung: a) Der Leitbild-Entwicklungsprozess zu einem Organisationsleitbild für eine Nonprofit Organisation wird begleitend untersucht und ein allgemeines Entwicklungsinstrumentarium daraus entworfen (vgl. den Übergang zu Typ I). b) Die Maßnahmen zur Umsetzung eines Unternehmensleitbildes werden untersucht. Eine Umfrage prüft die Auswirkungen des neuen (expliziten) Leitbildes zur Mitarbeiterführung innerhalb eines Unternehmens. Leitbild-Entwicklung: Ein Forschungsvorhaben macht es sich zur Aufgabe, ein räumliches Leitbild für eine Region zu erstellen. Leitbild-Konkretisierung/-Umsetzung: a) Das propagierte Leitbild der Chancengleichheit wird in Bezug auf konkrete Ziele für die Personalführung und Weiterbildung operationalisiert. b) Aus einem festgeschriebenen Organisationsleitbild werden Maßnahmenkataloge zur kurz-, mittel- und langfristigen Umsetzung des Leitbildes abgeleitet. c) Indikatoren für nachhaltige Regionalentwicklung werden entwickelt, die messen können, inwieweit das als Ziel verstandene Leitbild erreicht wurde. Oder es werden Bewertungsmaßstäbe in Form von Umweltqualitätszielen abgeleitet, die als Hilfestellungen für anstehende Entscheidungen dienen sollen. Grundlegung als Forschungsperspektive, Bewertungsmaßstab, normative Bezugsgröße: Das Leitbild der nachhaltigen Entwicklung wird selbst als normative Grundlage einer Forschungsarbeit benannt und bildet entsprechend den Referenzrahmen für die Fragestellungen und Zielrichtung innerhalb des Vorhabens.
Wer von Leitbildern spricht, der scheint schon mit dem Terminus selbst eine Evidenz einklagen zu können, die ein genaueres Hinsehen unwahrscheinlich macht. (...) Man meint immer schon genau zu wissen, was darunter zu verstehen ist. Katrin Schaar (1996, S. 6)
3 Leitbilder in den Sozialwissenschaften – die Diskursanalyse
Eine sozialwissenschaftliche Beschäftigung mit Leitbildern findet im besonderen Maße in Forschungs- und Handlungsfeldern statt, die sich mit Lebensführung, Politik, Organisationen und Unternehmen, raumbezogener Planung und Forschung oder Technik befassen. Diese fünf leitbildbezogenen Forschungsfelder werden für die Interpretation und kritische Analyse des sozialwissenschaftlichen Leitbilddiskurses in je einem der folgenden Kapitel eingehend betrachtet. Damit erscheint es berechtigt, den Begriff „Leitbild“ nicht als ein beliebiges Modewort, sondern als eine neue sozialwissenschaftliche Kategorie zu betrachten. Denn in sehr heterogenen Zusammenhängen wird der Begriff regelmäßig genutzt und es haben sich darauf bezogen in begrifflicher, theoretischer sowie konzeptioneller Hinsicht einzelne Diskursstränge herausgebildet. Die folgende Analyse des Leitbilddiskurses untersucht deshalb systematisch die existierenden Begriffsverständnisse, theoretischen Annahmen und konzeptionellen Ansätze zu Leitbildern.37 Die vorab dargestellten Typologien zum Begriffsverständnis sowie zum konzeptionellen Status von Leitbildern in der sozialwissenschaftlichen Forschung stellen ein zentrales Resultat der folgenden Diskursanalyse dar. Die Typologien helfen dabei, die unterschiedlichen Begriffsverständnisse und Leitbildkonzepte systematisch zu unterscheiden und aufeinander zu beziehen. Sie ermöglichen es zugleich, die grundlegenden Kontroversen und Missverständnisse im Verständnis von und Umgang mit Leitbildern innerhalb der Sozialwissenschaften aufzuarbeiten und einer Klärung zuzuführen.
37
Zugleich existieren einige Publikationen, in denen der Terminus Leitbild nur beiläufig genutzt wird und entsprechend vage und undeutlich bleibt. Hier erscheint der Begriff tatsächlich eher als leere, modische Hülle (vgl. etwa Kluge/Hippchen/Fischinger 1999, Holetschek/Müller/Ruck/Ferber 2000 oder Rüden 2002). Diese Quellen leisten keinen Beitrag zur Klärung der sozialwissenschaftlichen Kategorie Leitbild und werden deshalb im Folgenden nicht mit aufgegriffen.
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3 Leitbilder in den Sozialwissenschaften – die Diskursanalyse Vor jedem steht ein Bild des, was er werden soll: Solang er das nicht ist, ist nicht sein Friede voll. Friedrich Rückert (1788-1866)
3.1 Leitbilder der Lebensführung Die sozialwissenschaftliche Verwendung des Leitbildbegriffes hat ihren Ursprung in der Individual- und Entwicklungspsychologie der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Seit den 1950er Jahren wird das ursprünglich psychologische Leitbildverständnis jedoch durch eine soziologische Perspektive nach und nach verdrängt. Zwar lässt sich damit prinzipiell eine psychologische von einer soziologischen Perspektive auf den Leitbildbegriff insofern unterscheiden, als einmal die individuellen Vorstellungen, einmal soziale, gruppenspezifische bzw. allgemein gesellschaftliche Vorstellungen im Blick sind. Sie betreffen jedoch allesamt zunächst die Identitätsbildung und Lebensführung, also Fragen, woran sich der Mensch hinsichtlich seiner Persönlichkeit, Lebensplanung oder seiner sozialen Rollen orientieren möchte oder sollte. Erst ganz allmählich wird – vor allem aus einer soziologischen Perspektive – der Blick von der Person erweitert auf andere Sphären des sozialen Handelns (vgl. dazu die nächsten Kapitel). Wenngleich die Begriffsgeschichte sich weit von der Ursprungsbedeutung der individuellen Leitbilder entfernt hat, können bereits aus dem ursprünglichen Begriffsgebrauch als personale Leitbilder der Lebensführung einige Wesenszüge dieser Kategorie abgeleitet werden. 3.1.1 Psychologisch orientierte Leitbildverständnisse Der Blick in die psychologischen Wörterbücher lässt zunächst erwarten, dass Leitbilder in der Psychologie keine Rolle spielen (vgl. Kap. 1.2). Tatsächlich wird der Leitbildbegriff als wissenschaftlicher Begriff jedoch ursprünglich in der Individual- und Entwicklungspsychologie des ersten Drittels des 21. Jahrhunderts entworfen und genutzt. Psychologisch orientierte Leitbilder beziehen sich auf individuelle Vorstellungen der eigenen angestrebten Persönlichkeit, den „Entwurf des eigenen zukünftigen Daseins“ (Thomae 1965, S. 44), welche die Wahrnehmung und das Handeln des Menschen prägen. 3.1.1.1 Leitbilder in der (Individual-)Psychologie Erstmalig in den Sozialwissenschaften wird der Begriff „Leitbild“ 1908 bei Ludwig Klages verwendet. Klages macht den Begriff zu einer grundlegenden Kategorie seiner Charakterkunde. Das persönliche Leitbild stellt für ihn die individuelle Konstante dar, welche bestimmte Denk- und Handlungsmuster hervorbringt und sich in unwillkürlichen Bewegungen wie willkürlichen Handlungen ausdrückt (vgl. Klages 1908, S. 163). Das persönliche Leitbild als „Schlüssel zu Charakterzügen“ (ebd.) ist dabei weitgehend unbewusst. In der Handschrift meint Klages dieses persönliche Leitbild am deutlichsten ablesen zu können, so dass diese zum Ansatzpunkt seiner Charakterkunde wird (vgl. auch Klages 1951). Ebenfalls recht früh lässt sich der Terminus in der Individualpsychologie von Alfred Adler nachweisen (vgl. Adler 1912). Bei Adler hat das Wort Leitbild allerdings keinen he-
3.1 Leitbilder der Lebensführung
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rausgehobenen begrifflichen Stellenwert. Es bildet ein seltener genutztes Synonym für den „fiktiven Zielpunkt“, der zusammen mit der Leitlinie eines Menschen als der Differenz zwischen dem minderwertig erfahrenen Ist-Zustand und dem überhöhten Wunschzustand der eigenen Persönlichkeit gebildet wird. Es ist das zukünftige Bild der eigenen Person, das häufig die Gestalt des Vaters, Lehrers oder eines Helden annimmt (vgl. ebd., S. 66f.). Diese Leitlinie oder leitende Fiktion prägt die Wahrnehmung, Bewertung und das Handeln des Menschen: „Das allgemein Menschliche an diesem Vorgang ist, daß das apperzipierende Gedächtnis unter die Macht der leitenden Fiktion gerät. (...) Ebenso sind unsere Handlungen durch diesen – von der leitenden Fiktion aus bestimmten und gewerteten – Erfahrungsinhalt determiniert. Unsere Werturteile selbst entsprechen dem Maß des fiktiven Zieles, nicht etwa ‚realen‘ Empfindungen oder Lustgefühlen.“ (Ebd., S. 67f.)
Im Anschluss an Adler spricht auch Künkel (1931) – allerdings deutlich systematischer – von Leitbildern: „Wer das Leitbild eines Menschen kennt, weiß, mit welchen Augen er die Welt betrachtet, wie seine Gefühle verlaufen, und welche Richtung seine Gedanken nehmen.“ (Künkel 1931, S. 26) Für Künkel ist das Leitbild eines Menschen Ausdruck seiner Zielstrebigkeit, des letzten Ziels oder Zwecks, auf den hin sich all sein persönliches Werden und Handeln ausrichten. „Wer eine menschliche Tat begreifen will, gelangt erst zur Klarheit, wenn er außer den gleichsam von rückwärts wirkenden Ursachen auch die gleichsam von vorwärts ziehenden Ziele oder Zwecke ausfindig macht.“ (Ebd., S. 19)
Dabei will er das unbewusst wirkende Leitbild vom Ideal abgegrenzt wissen, das dem Menschen stärker bewusst ist, von ihm aber nicht unbedingt tatsächlich verfolgt wird (vgl. ebd., S. 23). Für Künkel und Adler hat das Leitbild immer einen starren oder sogar pathologischen Charakter. Das Leitbild führt beim neurotischen Menschen – mit dem sich Adler letztlich befasst – zur Fixierung auf den unerfüllbaren, fiktiven Zielpunkt und zum Rückzug aus der Wirklichkeit. Aus dieser Perspektive gilt es, das verborgen wirkende Leitbild aufzudecken, um sich davon lösen zu können. 3.1.1.2 Leitbilder in der Entwicklungspsychologie und Idealforschung In der „Psychologie des Jugendalters“ befasst sich Spranger mit der Herausbildung des Persönlichkeitsideals und der Entstehung eines Lebensplanes (vgl. Spranger 1924), ohne freilich hierfür den Leitbildbegriff zu nutzen. Was Spranger als Königs-Ich oder eigenes Hochbild bezeichnet, nehmen Lersch und Remplein im Anschluss an ihn später unter der Bezeichnung Leitbild wieder auf (vgl. Lersch 1951 und Remplein 1949/1971). „Angeregt durch äußere Vorbilder (Persönlichkeiten des geschichtlichen und gegenwärtigen Lebens) entsteht in der Seele des Jugendlichen ein Hochbild, ein Leitbild der Lebensführung und -gestaltung. Dieses Ideal ist nicht unanschaulich wie die Ideen der Wahrheit, Gerechtigkeit usw., aber auch nicht anschaulich wie der Mensch, in dem man sein Ideal verwirklicht sieht; es ist vielmehr ‚die Konkretisierung der Idee beim Übergang zum Anschaulichen‘.“ (Remplein 1971, S. 462)
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3 Leitbilder in den Sozialwissenschaften – die Diskursanalyse
Gleichwohl lässt sich auch bei Spranger – jedoch in einem anderen Zusammenhang – der Leitbildbegriff nachweisen. Spranger spricht von Leitbildern nicht etwa im Zusammenhang mit seiner Entwicklungspsychologie, sondern als Umschreibung für einen spezifischen Ideologiebegriff, der als Zukunftsentwurf, als „schon aktiv gewordene Idee“ (Spranger 1953b, S. 67) das gemeinsame Handeln in Gruppen vorantreibt. Sein Verständnis von Ideologie nimmt sich dabei wie ein höchst modernes Leitbildverständnis aus: „Unter Ideologie soll hier verstanden werden ein gedanklich gefaßtes Leitbild für das Handeln in die Zukunft hinein, das von dem Glauben an seine Wünschbarkeit und Realisierbarkeit getragen ist und folglich dem entsprechenden Handeln Stoßkraft verleiht.“ (Spranger 1953a, S. 49) „Eine Ideologie ist ein von Leidenschaft und Tatwillen durchwirkter gedanklicher Zukunftsentwurf, der durch sinnentsprechendes Handeln verwirklicht werden soll. (...) es sei ein Zukunftsentwurf gemeint, der einer Gruppe gemeinsam ist und für gemeinsames Handeln maßgeblich werden soll.“ (Spranger 1953b, S. 67)
Spranger nutzt damit den Leitbildbegriff nicht in einem (individual-)psychologischen Zusammenhang, sondern fasst Leitbilder als soziales Phänomen auf. In der Entwicklungspsychologie, aber auch in der Soziologie spielen Vorbilder, Ideale und eben Leitbilder von Jugendlichen, an denen sie sich in ihrer Lebensgestaltung und -planung orientieren, eine wichtige Rolle. Dabei werden die jeweiligen Begriffe nicht einheitlich verwendet. Bei Thomae (1965) und Jaide (1961 und 1968) findet man für diesen Forschungszusammenhang ein umfassendes und ausdifferenziertes Leitbildverständnis. Danach bezeichnen Leitbilder die ganzheitlichen, bildhaften Perspektiven und Programme für die eigene Lebensgestaltung, die sich aus unterschiedlichen vorbildhaften Gestalten speisen (vgl. Jaide 1961, S. 60ff.). Sie sind der „allgemeine Entwurf des eigenen künftigen Daseins“ (Thomae 1965, S. 44). Leitbilder bilden dabei den Oberbegriff, der das Vorbild als das an eine bestimmte Person gebundene Modell des Verhaltens mit einschließt. „Vorbilder und Leitbilder werden als Aspekte zukunftsbezogenen Verhaltens Jugendlicher behandelt. Der Begriff des Vorbildes bezieht sich auf die Ausrichtung eigenen Verhaltens an konkreten Personen und Beispielen, der Begriff des Leitbildes, der neuerdings immer mehr stellvertretend für beide Termini angewendet wird, soll bestimmte allgemeine ‚Entwürfe‘ des eigenen künftigen Daseins, aber auch der ‚Welt‘ umschreiben, in der sich dieses Dasein vollzieht.“ (Ebd.)
Die Leitbilder lassen sich dabei hinsichtlich der Herkunft auf einem Kontinuum zwischen Nähe und Ferne zum eigenen Leben sowie hinsichtlich des unterschiedlichen Grades der „Personifikation“ unterscheiden. Jaide zählt zu Leitbildern sowohl Personen des nahen Umgangs, öffentliche Erzieher, Persönlichkeiten aus Geschichte und Gegenwart, Traumweltidole wie Filmstars, erdachte Gestalten und Eigenschaften sowie Sozialleitbilder. Zu den Sozialleitbildern gehören für ihn die sogenannten „Modal-Persönlichkeiten“ oder „allgemeinvorbildlichen Typen“ wie der ehrbare Handwerker, der Gentleman oder der preußische Beamte (vgl. dazu Kap. 3.1.2). Die Leitbilder weisen einen unterschiedlich ausgeprägten Realitätsbezug in dem Sinne auf, dass diesen tatsächlich nachgefolgt wird, diese als unerreichbares, aber anregendes Ideal angesehen werden oder schließlich nur vorübergehend nachgeahmt oder auch nur angeschwärmt werden (vgl. Jaide 1968, S. 13ff.). Interessant ist die Feststellung der Forscher, dass bereits in den 1950er Jahren die befragten Jugendlichen Leitbilder im umfassenden Sinne seltener zu haben schienen. Als Grund hierfür wird nicht der Mangel an notwendiger Reflexionsfähigkeit der Jugendlichen oder
3.1 Leitbilder der Lebensführung
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ein fehlendes Leitbildangebot gesehen – wie es in anderen jugendpsychologischen Arbeiten dieser Zeit geschehen ist –, sondern der „moderne Hang“ zu höherer Selbstbestimmung und Selbstfindung sowie die „Liberalisierung der Lebensführung“ (vgl. Jaide 1961, S. 61 und 77). Die Jugendlichen orientieren sich – so das Ergebnis der Studie – eher an einzelnen Eigenschaften als an ganzheitlichen Gestalten oder bedienen sich einem wechselnden Set an Leitbildern. Damit lösen sich die ganzheitlichen persönlichen Leitbilder in diffuse und dynamische Orientierungsmuster auf. Däumling (1960) und Sigl-Kiener (1960) bemühen sich Anfang der 1960er Jahre um die Grundlegung einer psychologischen Leitbildtheorie und formulieren einen allgemeinen psychologischen Leitbildbegriff: „Das Leitbild besteht inhaltlich aus der Gesamtheit aller Zukunftsvorstellungen, insofern sie mit der eigenen Persönlichkeit und ihrer Verwirklichung zusammenhängen. (...) Das Leitbild gibt dem Leben eine verhältnismäßig einheitliche Linie und prägt den Stil des Handelns eines Menschen.“ (Sigl-Kiener 1960, S. 241)
Damit wurde der psychologische Leitbildbegriff auf weitgehend unbewusste Vorstellungen und auf ein zielbezogenes Bild seiner selbst eingegrenzt, nicht auch auf Vorstellungen bezogen, die Menschen von anderen Menschen oder Dingen entwickeln (vgl. auch Däumling 1960, S. 106f.). Eine entsprechende Erweiterung des Leitbildverständnisses nehmen jedoch Thomae und Jaide vor, wenn sie die auf sich selbst gerichteten Vorstellungen als SuchLeitbilder von den auf die Umwelt gerichteten Vorstellungen, den Orientierungs-Leitbildern, unterscheiden (vgl. Thomae 1965, S. 44). Beide psychologisch orientierten Begriffsverwendungen verorten Leitbilder jedoch auf individueller Ebene. 3.1.2 Soziologisch orientierte Leitbildverständnisse 3.1.2.1 Leitbilder zwischen Sozialpsychologie und Soziologie Während die psychologisch orientierten Leitbildbegriffe noch von individuellen Vorstellungen ausgehen, ergibt sich seit den 1950er Jahren aus soziologischer Perspektive eine wichtige Erweiterung des Leitbildverständnisses. Dabei wird zunächst die kulturelle und historische Bedingtheit sowie Gruppenabhängigkeit der individuellen Leitbilder stärker hervorgehoben. Später werden Leitbilder nicht nur als kulturell abhängige individuelle Vorstellungen, sondern zugleich auch als gesellschaftliche Rollenerwartungen begriffen. Auch Däumling unterscheidet zwischen individuellen und kollektiven Leitbildern: „Die Sozialpsychologie lehrt, daß die Verhaltensmotivation jedes Menschen mit seiner Gruppenzugehörigkeit zusammenhängt, sei diese nun eng begrenzt oder vielfältig, konstant oder häufig wechselnd. Somit liegt der Gedanke nahe, nicht nur dem Individuum, sondern auch der Gruppe ein Leitbild zuzuordnen, nach dem sich die Gruppenmitglieder orientieren.“ (Däumling 1960, S. 103)
Diesem Gedanken folgt Bittner mit dem von ihm dargestellten Typus der geschichtlichkulturellen Leitbilder:
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3 Leitbilder in den Sozialwissenschaften – die Diskursanalyse
„Die jugendliche Lebensform ist nicht nur durch die jeweils individuellen Wertsetzungen bestimmt. Sie ist entscheidend mitgeprägt durch die vorgegebene historische und kulturelle Situation. (...) Besonders im Begriff des Leitbildes, wie wir ihn verwenden, ist der Bezug auf die Kultur mitgegeben.“ (Bittner 1964, S. 28)
Ebenso führt Thomae sogenannte „kulturell oder epochal bestimmte Leitbilder“ an, welche die Prägung der Persönlichkeit durch die Lebensbedingungen der jeweiligen Epoche zum Ausdruck bringen (vgl. Thomae 1959, S. 296). Damit vergleichbar sind wiederum die von Hippius untersuchten epochalen Leitbilder wie der Gralsritter, der alte Grieche oder der Gentleman, die als Bilder vorbildlicher menschlicher Lebensführung in bestimmten Epochen für bestimmte Kreise verpflichtend waren (vgl. Hippius 1943 nach Däumling 1960, S. 103f.). Wie die bereits erwähnten Sozialleitbilder oder „Modal-Persönlichkeiten“ von Jaide (1968) haben diese epochalen Leitbilder aber nicht nur Einfluss auf das Denken und Handeln in der jeweiligen Epoche, sondern wirken über ihre Zeit hinaus. Flitner geht in dieser Hinsicht so weit, vier abendländische Lebensformen zu unterscheiden, welche sich im Laufe der Geschichte als kollektive Normgebilde der Lebensführung entwickelt haben und welche nach wie vor „tatsächlich gelten und von denen wir wirklich geleitet werden“ (Flitner 1967/ 1990, S. 22). Mit diesen verhältnismäßig zeitlosen Lebensformen korrespondieren in seinen Augen „vier abendländische Grundformen pädagogischer Leitbilder“ (Flitner 1947), welche als ideale Lebensformen die Erziehungsgeschichte geprägt haben und „Urbilder des gemeisterten Daseins“ (ebd., S. 63; vgl. auch Flitner 1965, S. XXXIIIff.) darstellen. Es sind die mönchische oder mönchsähnliche, die humanistisch-kontemplative, die ritterlich welttätige Lebensform sowie das tätig-fromme Werkleben (vgl. Flitner 1947, S. 85). Stärker aus gesellschaftlicher Perspektive denken soziologische Begriffsverwendungen, welche von Leitbildern im Sinne von gesellschaftlichen Rollenerwartungen sprechen, wie sie früh schon bei Schelsky (1965) und später vereinzelt zu Berufsrollenvorstellungen und vor allem in der Familien- und Geschlechterforschung zu finden sind. Bei Schelsky geht es ausdrücklich um normativ aufgeladene Vorstellungen und Erwartungen, welche die ältere Generation von der Jugend und ihrer gesellschaftlichen Rolle hat. In diesem Sinne spricht er von sozialen Leitbildern der Jugend oder Jugend-Leitbildern. Damit wird der soziologisch orientierte Leitbildbegriff deutlich stärker als soziale bzw. kulturelle Kategorie begriffen, die zudem gesellschaftliche Rollenstereotype im Sinne von sozialen Verhaltenserwartungen mit einbezieht. Es sind gesellschaftliche Leitbilder, die als Modelle, genauer normativ aufgeladene Normalitätsvorstellungen – etwa von der Rolle als Frau oder Mann, vom Familienleben, der Partnerschaft oder auch bestimmten Berufsgruppen – durch gesellschaftliche Gruppen, Institutionen, Organisationen oder schlicht „die Gesellschaft“ getragen werden und dem Einzelnen zur Orientierung angeboten bzw. vorgegeben werden. 3.1.2.2 Leitbilder als Berufsrollenvorstellungen Eng verbunden mit den allgemeinen Sozialleitbildern oder Modal-Persönlichkeiten im Sinne Jaides sind die normativ aufgeladenen Selbst- und Fremdbilder in Bezug auf einzelne Berufsrollen zu sehen. Der Leitbildbegriff wird in dieser Hinsicht unregelmäßig und mit wechselndem Verständnis genutzt. Leitbilder stehen einerseits in der Tradition etwa von Fürsten- und Kaufmannsspiegeln als Normen- und Wertkodizes für einzelne Berufs- und
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Standesgruppen (vgl. etwa Koehne 1976; Matz 1985). Leitbilder im Sinne von Leitfiguren wie beispielsweise der „ehrbare Kaufmann“ oder der „preußische Beamte“ spiegeln aber auch stereotype Vorstellungen von Berufsgruppen wider. Auch diese stereotypen Vorstellungen sind jedoch normativ aufgeladen, also mit Verhaltenserwartungen verbunden.38 Von Leitbildern ist dabei sowohl im Sinne von Selbst- wie auch Fremdbildern die Rede. Forschungen zu solcherart Leitbildern in Bezug auf einzelne Berufsbilder bzw. Berufsrollenvorstellungen liegen etwa zum Kaufmann (Obendiek 1984), Unternehmer (Koehne 1976; Engelhardt 1979), Erzieher (Stahlmann 1993), Richter (Kauffmann 2003) oder Offizier (Hermann 1982) vor. Beispielhaft soll hier auf die Studie von Stahlmann zu Leitbildern der Heimerziehung eingegangen werden. Stahlmann (1993 und 1994) entwirft für eine Studie zur beruflichen Sozialisation in der Heimerziehung den Leitbildbegriff als Forschungskategorie neu. Dabei versteht er unter Leitbildern in der Heimerziehung das professionelle Selbstverständnis der Heimerzieher. Die wichtigste These seiner Untersuchung besagt, dass die „großen Erzählungen“ der Heimerziehung, in denen die allgemein gültigen Berufsrollen der Heimerzieher aus bestimmten übergeordneten Welt-, Gesellschafts- und/oder Menschenbildern gespeist werden, sich im Zuge der gesellschaftlichen Pluralisierung und Individualisierung auflösen. Stattdessen entstehen einzelne, nebeneinander stehende „kleine Erzählungen“, die Einzelelemente zur Orientierung für das Selbstverständnis und für das professionelle Handeln bieten. Dem einzelnen Heimerzieher kommt dabei die Aufgabe zu, aus der Vielfalt der Orientierungsangebote und in Bezug auf die eigenen berufsbiographischen Erfahrungen einen für ihn sinnvollen Zusammenhang zu stiften, der sein professionelles Selbstverständnis und Handeln leitet und legitimiert. Als Leitbilder in diesem Sinne nennt Stahlmann zum Beispiel den Führer, den geborenen Erzieher, den Kamerad, den Sozialtechniker oder den Lernhelfer. Hier wie auch in der Geschlechter- und Familienforschung wird festgestellt, dass sich die gesellschaftlichen Trends zur Individualisierung und Pluralisierung auf die Form der Orientierungsmuster und den Umgang mit ihnen auswirken. „Universalistische Leitbilder“ gehen zugunsten „partikularistischer Leitbilder“ verloren (Stahlmann 1993, S. 74). Damit unterliegt die Orientierung und Legitimation für das professionelle Handeln der individuellen Wahl des Pädagogen, der sich ein „Patchworkleitbild“ aus den einzelnen Orientierungsangeboten basteln muss (vgl. Stahlmann 1994, S. 219). „Die derzeitige Pluralisierung der Leitbilder und der Verlust an universell gültigen handlungsleitenden Normen und Werten oder positiv formuliert: der Gewinn von Wahlmöglichkeiten, führen auf der Ebene der Kolleginnen also dazu, daß sie sich aus verschiedenen Orientierungsmustern die für sie gültigen ‚Bausteine‘ professionellen Handelns selbst zusammenstellen.“ (Ebd., S. 220f.)
Ebenso kommt Kauffmann (2003) in Bezug auf das Selbstverständnis von Richtern nicht zu einem herrschenden Richter-Leitbild, sondern zu einer Typologie von Richter-Leitbildern, die deutlich werden lässt, dass unterschiedliche Leitbilder auch in Bezug auf einzelne Berufe und die damit verbundenen Berufsrollen jeweils nebeneinander existieren. 38
Das seit den 1950er Jahren diskutierte Leitbild des Staatsbürgers in Uniform als Berufsleitbild der Soldaten der Bundeswehr ist zwar ebenfalls normativ aufgeladen, weist aber über seinen Stellenwert als normativ aufgeladene Berufsrollenvorstellung weit hinaus. Dieses Leitbild macht wie kaum ein anderes das Potenzial von leitbildhaften Formeln als Kristallisationspunkt für die Verständigung in komplexen Handlungsfeldern deutlich (vgl. etwa Hermann 1982, Tetzlaff 2000, Wiesendahl 2005, Schaprian 2006).
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3 Leitbilder in den Sozialwissenschaften – die Diskursanalyse
3.1.2.3 Leitbilder in der Familien- und Geschlechterforschung Eine frühe, fundierte und viel beachtete Untersuchung zu sozialen Leitbildern des Familienlebens legt Wurzbacher erstmalig Anfang der 1950er Jahre vor. Aus der soziologischen Beschreibung anhand von sogenannten Familienmonographien identifiziert Wurzbacher sich wiederholende „Strukturen der familialen Grundbeziehungen“ (Wurzbacher 1969, S. 80f.). Für diese wiederkehrenden Strukturen wird angenommen, dass sie als kulturelle Verhaltensmuster (cultural patterns) aus dem Vorbild gegebener Formen gesellschaftlichen Zusammenlebens entstehen, auf die bewusst oder unbewusst zurückgegriffen wird. Gleichwohl wird dabei nicht von kulturellen Verhaltensmustern gesprochen, sondern von „sozialen Leitbildern“, um die aktive Aufnahme, Sinndeutung und Ausgestaltung dieser kulturellen Vorbilder durch den Einzelnen stärker zu betonen (vgl. ebd., S. 81). Anhand von 164 Familienmonographien werden jeweils mehrere Strukturtypen der Gattenbeziehung, der Eltern-KindBeziehung und der Verwandtenbeziehung sowie der in ihnen wirksamen Leitbilder, d.h. der damit verbundenen Sinndeutungen, identifiziert und beschrieben. Die Studie ist in mehrerlei Hinsicht noch heute von Interesse für die Grundlegung einer allgemeinen sozialwissenschaftlichen Kategorie Leitbild. Interessant ist zum einen die von Wurzbacher wahrgenommene Tendenz zur Pluralisierung der Verhaltensmuster. Daraus ergeben sich höhere Anforderungen an den Einzelnen, nämlich aus der Vielfalt der angebotenen Muster auszuwählen und sich diese individuell anzueignen: „Sicherlich bleibt der einzelne auch weiterhin von sozialen Leitbildern abhängig (...), aber eben von einer Vielzahl konkurrierender Leitbilder.“ (Ebd., S. 250) Die Pluralisierung der Leitbilder und die Notwendigkeit der individuellen Auswahl und Aneignung bringen wiederum einen beschleunigten Wandel des Familienlebens hervor: „Nur aus dieser Wechselwirkung zwischen sozialem Leitbild und aufnehmender, auswählender und deutender, durch das eigene Beispiel mitgestaltender Aktivität des einzelnen erklärt sich die Entstehung neuer Leitbilder, die Verdrängung alter, wie sie den starken Wandel der Familie in der industriellen Gesellschaft, besonders in der letzten Generation, kennzeichnen.“ (Ebd., S. 82)
Sowohl die bereits von Wurzbacher identifizierte Vielfalt der Leitbilder als auch der dadurch verstärkte Zwang zur Wahl bzw. Auswahl und aktiven Aneignung der Orientierungsangebote hat sich seit den 1950er Jahren noch weiter verstärkt. Damit erhöht sich zugleich für den Einzelnen das Risiko der Orientierungslosigkeit und Unsicherheit (vgl. auch Hermanns 1987, S. 116). Die Vielfalt der Leitbilder wird zudem noch dadurch erhöht, dass die Leitbilder keine ganzheitlichen und allumfassenden normativen Verhaltensmuster mehr abgeben, sondern vielmehr einzelne Facetten des Lebens betreffen: „Es ist für die Gegenwart folgerichtig festzustellen, daß Leitbilder als einheitliche, attraktive und den ganzen Lebensbereich umfassende Entwürfe in einer sich als pluralistisch verstehenden Gesellschaft in einer verbindlichen Form kaum vorfindbar sind bzw. daß der Mut zu ihrer Formulierung selten aufgebracht wird. (...) Aus der Mannigfaltigkeit dieser beliebig erscheinenden Angebote ist jeder einzelne gefordert, seine Wahl zu treffen. Dabei lassen sich aber zumindest einige Zeitströmungen aufweisen, die diese prinzipielle Offenheit in bestimmte Richtungen kanalisieren.“ (Lukesch 1996, S. 153f.)
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Interessant ist darüber hinaus die Aufgabe, die Wurzbacher der Familienpädagogik angesichts fehlender fester und allgemeinverbindlicher Normen zuschreibt: nicht Vorgabe von Verhaltensnormen oder Verbreitung von traditionellen Leitbildern, sondern Hilfestellung bei der Wahrnehmung der verschiedenen, vorhandenen Leitbilder, in deren Wirkungsfeld sich der Einzelne befindet, sowie Hilfe bei der reflektierten Auseinandersetzung mit diesen (vgl. Wurzbacher 1969, S. 250f.). Allerdings fehlt dem Leitbildbegriff von Wurzbacher ein konstitutives Element, das man in allen anderen Begriffsverwendungen klar erkennen kann – die normative bzw. intentionale Zukunftsbezüglichkeit. Wurzbacher beschreibt die Leitbilder viel eher als vorfindbare, wiederkehrende Formen des Familienlebens und ihrer Sinnzuschreibungen denn als deren Zukunftsentwurf. Während Wurzbacher in seinem Leitbildkonzept die aktive Aneignung und Sinndeutung der gesellschaftlichen Verhaltensmuster durch den Einzelnen unterstreicht, betont das Leitbildverständnis der Geschlechter- und Familienforschung seit den 1980er Jahren in stärkerem Maße die gesellschaftliche Perspektive und gebraucht den Leitbildbegriff eher als soziale Verhaltenserwartungen denn individuell angeeignete soziale Muster der Lebensführung. Der Leitbildbegriff umspannt hier insgesamt ein Bedeutungsfeld, das sich zwischen gesellschaftlicher Normalitätsvorstellung, vorgegebenem und angeeignetem Ideal aufspannt. Unter Leitbildern werden dabei in aller Regel normativ aufgeladene Frauen- und Familienbilder verstanden, die mehr oder weniger realitätsangepasst sind und die gesellschaftlichen Erwartungen, aber eben auch das individuelle Denken und Handeln prägen (vgl. etwa Scharmann 1962, Enders 1988, Deters/Weigandt 1988, Meyer 1990, Behning 1996, Pfau-Effinger 1997, Vaskovics 1997, Kersten 1997; Graßl 2004; Kuhnhenne 2005).39 In der Geschlechterforschung spricht man von Frauenleitbildern (Enders 1988, S. 29; Meyer 1990; Feldmann-Neubert 1991, Gysi/Meyer 1993; Kuhnhenne 2005), gesellschaftlichen Leitbildern von Frau und Mann (Deters/Weigandt 1988, S. 15), allgemeinen Leitbildern von Weiblichkeit und Männlichkeit (Feldmann-Neubert 1991, S. 32) oder geschlechtskulturellen Leitbildern (Pfau-Effinger 1997, S. 517). In der Familienforschung findet man familiäre oder familiale Leitbilder (Lukesch 1996, S. 153; Behning 1996, S. 146), Familienleitbilder (Gysi/Meyer 1993, Busch/Scholz 2000 und 2001, Cyprian 2003, Mühling/Rost/ Rupp/Schulz 2006) oder Ehe- und Erziehungsleitbilder (Hermanns 1987). Gegenüber dem Begriff der Frauen- und Familienbilder wird der Leitbildbegriff, sofern eine Unterscheidung vorgenommen wird, stärker normativ verstanden (vgl. die differenzierte Verwendung bei Cyprian 2003): „Wie Familien aus der Sicht der unterschiedlichen sozialen Einheiten sein und handeln, welche Aufgaben sie erfüllen sollten, welcher Wert ihnen zugesprochen wird – diese Fragen können aus den familialen Leitbildern von Parteien, Kirchen und anderen mächtigen Deutungsgebern beobachtet und interpretiert werden. Durch normative Überhöhungen werden Familienbilder zu Leitvorstellungen, die positiv bewertet, privat wie öffentlich prominent herausgestellt und durch Wiederholung einprägsam gemacht werden.“ (Ebd., S. 12)
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Über Frauenbilder bzw. -leitbilder wird weitaus häufiger gesprochen als über Männer(leit)bilder. Die Bezeichnung Männerleitbild oder Leitbilder der Männlichkeit wird demgegenüber seltener und diffuser verwendet (vgl. etwa Cornelißen 1994 oder Kersten 1997).
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3 Leitbilder in den Sozialwissenschaften – die Diskursanalyse
Leitbilder erweisen sich damit vornehmlich als Kategorie zur Untersuchung von normativ aufgeladenen Normalitätsvorstellungen, wie sie durch unterschiedliche gesellschaftliche Gruppen, Institutionen, Organisationen und Medien als Deutungs- bzw. Sozialisationsagenturen vertreten bzw. vermittelt werden. So spürt Derichs-Kunstmann (1995) den geschlechtsspezifischen Leitbildern der gewerkschaftlichen Frauenbildungsarbeit nach. Behning (1996) untersucht den Wandel der Leitbilder von Familie und Geschlecht anhand der Familienberichte der Bundesregierung zwischen 1965 und 1993. Meyer (1990) verfolgt den Zusammenhang zwischen Frauenpolitik und Frauen- und Familien(leit)bildern der einzelnen Parteien.40 Feldmann-Neubert (1991), Röser (1992) und Horvath (2000) untersuchen den Wandel des Frauenleitbildes in Frauenzeitschriften, insbesondere der Zeitschrift Brigitte. Leitbilder werden vor allem dann in die Nähe von Stereotypen41 gerückt, wenn den Stereotypen ein normativer Charakter zugesprochen wird (vgl. etwa bei Feldmann-Neubert 1991, S. 38). So setzt auch Dietzen geschlechtsspezifische Leitbilder und Geschlechtsrollenstereotypen als kulturelle Typisierungsschemata gleich: „Geschlechtsspezifische Leitbilder regeln normativ wie Männer- und Frauenrollen aussehen sollen. Sie legen fest, was als angemessenes, wünschenswertes, typisches und abweichendes Verhalten bei dem jeweiligen Geschlecht gilt.“ (Dietzen 1993, S. 30)
Während die hier genannten Untersuchungen Leitbilder stark aus der Perspektive der Gesellschaft oder gesellschaftlicher Teilsysteme und Institutionen denken, berücksichtigt Oechsle zugleich den Einfluss von gesellschaftlichen Leitbildern auf das Denken und Handeln der einzelnen Menschen. Sie definiert allgemein: „Leitbilder repräsentieren für – Individuen, Gruppen oder ganze Gesellschaften – erstrebenswerte Vorstellungen, an denen sich Menschen in ihrem Handeln und ihren Entscheidungen orientieren.“ (Oechsle 1998, S. 186)
Leitbilder sind damit Bestandteil der symbolischen Ordnung der Gesellschaft, lassen sich aber auch beim Individuum wieder auffinden: „Als kulturelle Repräsentationen existieren sie unabhängig vom individuellen Handeln und können als solche analysiert werden. Leitbilder sind jedoch nicht nur Teil des kulturellen Systems, sie sind auch Bestandteil der Handlungsorientierungen von Individuen und Gruppen und somit zum sozialen Handeln hin geöffnet. Kulturelle Leitbilder lassen sich deshalb auch auf der Ebene der Subjekte und ihres Handelns identifizieren. Wenn wir Menschen nach ihrem Handeln und den Begründungen dafür fragen, dann stoßen wir immer auch auf Leitbilder, an denen sich ihr Handeln orientiert und die es legitimieren, wenngleich Leitbilder und Handeln nicht immer kongruent sind, sondern voneinander abweichen können.“ (Ebd., S. 187)
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Meyer spricht immer nur dann von Frauenleitbildern, wenn sie zu diesen aufgrund deren konservativer Haltung ein distanziertes Verhältnis einnimmt. Hingegen ist wertneutraler von Frauenbildern die Rede, wenn diese über rein konservative (Rollen-)Vorstellungen über Frauen hinausgehen. In diesem Fall ist das Leitbild also nicht ein Begriff der konservativen Kulturkritik (vgl. Adorno 1968), sondern ein Begriff der Kritik an der konservativen Kultur. Gleichwohl wird hier nicht reflektiert, dass es sich nicht nur im konservativen, traditionalen Frauenbild der Christdemokraten um „Wunschbilder“ (Meyer 1990, S. 28) handelt – seien diese nun überholt oder nicht –, sondern dass ebenso die Frauenbilder der anderen Parteien normativ aufgeladen sind, so beispielsweise das „emanzipatorische Frauenbild“ (ebd.) der Grünen. Zum Begriff der Stereotypen vgl. ursprünglich Hofstätter 1960.
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Wie schon Hermanns (1987) für die Familienleitbilder sieht Oechsle in der Vielfalt und Widersprüchlichkeit der existierenden Frauenleitbilder die Ursache für die gestiegene Unsicherheit in der Lebensführung und konstatiert ebenso wie Wurzbacher die Notwendigkeit eines reflexiven Umgangs mit den Leitbildern: „Die Leitbilder, an denen sich Frauen in ihrer Lebensführung heute orientieren, weisen ein hohes Maß an Widersprüchlichkeit auf: alte und neue Leitbilder stehen nebeneinander, überlagern und relativieren sich gegenseitig. Statt Handlungssicherheit zu vermitteln, induzieren sie einen Prozeß reflexiver Auseinandersetzung und führen zu mehr Unsicherheit in der alltäglichen Lebensführung. (...) Sie [Frauen, K.D.G.] müssen sich mit den verschiedenen Leitbildern und deren ambivalenten Botschaften auseinandersetzen und diese in ihr Selbstbild und ihre Handlungsorientierungen integrieren.“ (Oechsle 1998, S. 197f.)
Während sich die hier aus soziologischer Perspektive dargestellten Leitbilder der Lebensführung lediglich auf Rollenerwartungen, Persönlichkeitsgestaltung und Lebensplanung, also letztlich auf Menschen und ihr Verhalten beziehen, wird der Leitbildbegriff seit den 1950er Jahren zugleich auf Vorstellungen von anderen Dingen erweitert. Die Aufnahme des Leitbildbegriffs aus soziologischer Perspektive führt damit nicht nur in seiner Erweiterung (hinsichtlich des Subjekts bzw. Leitbildträgers) von individuellen zu gesellschaftlich bzw. sozial (geteilten) Vorstellungen, sondern auch hinsichtlich des Objekts von Leitbildern über die personale Dimension hinaus auf prinzipiell alle Felder sozialen Handelns.42 Der personenbezogene Begriff im Sinne von Leitbildern der Lebensführung bleibt vor allem in der Familien- und Geschlechterforschung erhalten. 3.1.3 Leitbilder in der Pädagogik Im Spiegel erziehungswissenschaftlicher Wörterbücher fasst der Leitbildbegriff in den 1950er Jahren in der Pädagogik Fuß, hat dort jedoch keinen zentralen Stellenwert. Vereinzelte Begriffsverwendungen in pädagogischen Forschungs- und Entwicklungskontexten der 1990er Jahre sind weniger erziehungswissenschaftlich fundiert, sondern schließen an andere Disziplinen und Forschungskontexte an. 3.1.3.1 Leitbilder in der Pädagogik der 1950er und 1960er Jahre „An der emphatischen und temperamentvollen Anpreisung von Leitbildern für die Erziehung fehlt es in unserem öffentlichen Leben gewiß nicht, wenngleich festzustellen ist, daß sich die Erziehungswissenschaft hierin aus guten Gründen zurückhält.“ (Wenke 1956, S. 142)
Die Pädagogik der 1950er und 1960er Jahre kennt den Leitbildbegriff, nutzt ihn allerdings nicht einheitlich und hat zudem ein ausgesprochen ambivalentes Verhältnis zu ihm. Auch hier – wie in der Entwicklungspsychologie – stehen Leitbilder, Vorbilder und Ideale in 42
Vgl. hierzu die folgenden Kapitel. Andere, vereinzelte Beispiele von Leitbildern in gesellschaftlichen Teilsystemen finden sich etwa im Kontext der Versorgung von alten Menschen (vgl. Baumgartl 1997, Kondratowitz 2005) oder im Hinblick auf Medienregulierungskonzepte, insbesondere die Leitbilder vom öffentlichen Rundfunk (Künzler 2003).
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3 Leitbilder in den Sozialwissenschaften – die Diskursanalyse
einem engen Zusammenhang. Die Aussagen zu ihrem Verhältnis sind allerdings äußerst widersprüchlich. Mal werden Leitbilder mit Vorbildern oder mit Idealen gleichgesetzt, mal von ihnen abgegrenzt. Je nach Bedeutungszuschreibung ergeben sich damit verschiedene Argumentationen für oder gegen Leitbilder in der Pädagogik. Die Erziehungswissenschaft der 1950er und 1960er Jahre versteht Leitbilder vornehmlich gleichbedeutend mit Bildungsidealen im Sinne der „idealen Form des zu Bildenden“ (Litt 1929, S. 63). „Wir können in der Pädagogik statt ‚Leitbild‘ geradezu ‚Bildungsideal‘ sagen.“ (Giese 1959, S. 180) In diesem Sinne versteht Picht das Wort Leitbild schlicht als eine Übersetzung für Ideal (vgl. Picht 1957, S. 33). Von Leitbildern wird seiner Meinung nach dort gesprochen, wo die Beschäftigung mit Idealen durch die Abwendung vom Idealismus problematisch geworden ist, gleichzeitig jedoch an einer idealistischen Denkweise festgehalten wird (vgl. ebd.; auch Giese 1959, S. 180). Das Leitbild stellt für Giese ein „postuliertes Ideal“ dar. Das Vorbild ist demgegenüber ein konkreter Mensch, der in der persönlichen Begegnung des Zöglings mit seinem eigenen Vorbild wirkt: „Das Vorbild wirkt in der Erziehung und durch seine verehrungswürdige Gestalt und zwingende geistige Gewalt ganz von selbst; das Leitbild aber postuliert ein Ideal des Menschen, das nun erst durch Erziehung realisiert werden soll und sich um den wirklichen Menschen, wie Gott ihn geschaffen hat, nicht kümmert.“ (Ebd., S. 184)
Ähnlich argumentiert Tillmann (1960), für den Vorbilder eine persönliche Begegnung und Nachfolge möglich machen, während Leitbilder lediglich „Verhaltensmaßregeln“ liefern würden. Gerade umgekehrt argumentiert jedoch Wenke, wenn er sagt, dass Leitbilder gegenüber unter Umständen abstrakten, idealen und unwirksamen Vorbildern „den Zögling zur freien Formung eines eigenen Bildes seiner Person führen“ und einen Impuls zur individuellen Lebensgestaltung bieten (Wenke 1956, S. 144f.). Und in diese Richtung hatte auch Däumling aus psychologischer Sicht argumentiert: „Dem Vorbild wie dem Beispiel entspricht eine Wirkung von außen nach innen. Das Leitbild wirkt, wie zu zeigen sein wird, von innen nach außen. Es entsteht allerdings nicht selten aus Vorbildern, sollte aber begrifflich doch deutlich von diesen unterschieden werden.“ (Däumling 1960, S. 93)
Mit der Ablehnung von Leitbildern in der Pädagogik wird gegen allgemeinverbindliche Bildungsideale opponiert, welche in der Erziehung ohne Blick auf die Individualität des zu Erziehenden durchgesetzt werden sollen. Darin stehen Giese und Tillmann in einer Linie mit Litt (1929) oder Bittner (1964). Denn, „wer als Erzieher seinen Zöglingen Idealbilder aufzwingen will, entwickelt gleichzeitig ein überhöhtes Ideal von sich selbst und seinem Erziehungsauftrag“ (Bittner 1964, S. 108). Auch wenn Bittner mit einem umfassenderen Leitbildbegriff operiert, insbesondere die (sozial-)psychologische Perspektive mit einbezieht und das Leitbild als gesellschaftlich mitgeprägtes „persönliches Wunsch- und Zielbild“ (ebd., S. 16) versteht, bleibt er gegenüber der „idealischen Grundposition“ (ebd., S. 8) aus pädagogischer Sicht skeptisch: „(...) jene Wesensnotwendigkeit des Menschen, sich selbst im Bilde in die Zukunft hinein zu entwerfen, [steht, K.D.G.] ständig in der Gefahr, über diese Zukunftsgestalt selbstherrlich-idealisch verfügen zu wollen.“ (Ebd., S. 134)
3.1 Leitbilder der Lebensführung
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Dem aus der Psychologie stammenden Verständnis von Leitbildern als angeeignetem bzw. vom Individuum selbst geschaffenem individuellen Entwurf des eigenen zukünftigen Daseins wird in der Pädagogik selten gefolgt. Leitbilder werden dort in aller Regel im Sinne von Bildungsidealen verstanden und als solche heftig kritisiert. Damit hat sich in der Pädagogik zunächst kein positiver und eigenständiger Begriff von Leitbildern entwickelt. 3.1.3.2 Moderne Leitbildverständnisse in der Pädagogik In den 1980er und vor allem seit den 1990er Jahren wird der Leitbildbegriff in der Erziehungswissenschaft in mehrerlei Verständnis neu aufgegriffen. Die einzelnen Konzepte beziehen sich dabei nicht auf einen eigenen erziehungswissenschaftlichen Leitbildbegriff, sondern knüpfen an unterschiedliche Leitbildkonzepte aus anderen Forschungskontexten und Disziplinen an. Im Kontext der Geschlechter- und Familienforschung werden pädagogische Fragestellungen aufgegriffen – etwa zur geschlechtsspezifischen Sozialisation, zur Mädchenbildung oder Familienerziehung –, sodass auch in diesem Zusammenhang Leitbilder im Sinne normativ aufgeladener Normalitätsvorstellungen thematisiert werden (vgl. Steffens 1980, Hermanns 1987, Derichs-Kunstmann 1995, Lukesch 1996; Kuhnhenne 2005). Ebenso weisen die Arbeiten zu Berufsrollenvorstellungen zum Teil pädagogisch relevante Bezüge zu Berufsbildung und beruflicher Sozialisation auf (vgl. Hermann 1982, Obendiek 1984, Stahlmann 1993). Ein im erziehungswissenschaftlichen Kontext entwickeltes Konzept der Leitbildanalyse knüpft hingegen an die Leitbildtheorie aus der Technik- und Organisationsforschung an, um ein allgemeines sozialwissenschaftliches Forschungsinstrument zur Identifikation von zukunftsbezogenen Orientierungsmustern einzuführen (vgl. hierzu Kap. 3.3.4.2). Schließlich werden Leitbilder auch im pädagogischen Kontext im Sinne von Organisationsleitbildern begriffen und als Instrument der Profilbildung und Qualitätssicherung in pädagogischen Institutionen diskutiert (vgl. etwa Beer 1998, S. 203ff.; Philipp/Rolff 1998; Nickel 1998; Becker 2000; Lenzen 2001; Regenthal 2001, S. 91ff.; Mandel 2006). 3.1.4 Fazit zu Leitbildern der Lebensführung Entgegen seiner späteren, stärker soziologisch geprägten Verwendungsweise nimmt die Karriere des Leitbildbegriffs seinen Ausgang in der Individual- und Entwicklungspsychologie. Dort meint er den Zukunftsentwurf der eigenen Person oder Ausdruck des bewussten oder unbewussten Persönlichkeitsideals, das angeregt wird durch ein personifiziertes Vorbild und andere fiktive oder reale vorbildhafte Gestalten. Aus soziologischer Perspektive wird dieses ursprüngliche Leitbildverständnis ergänzt um soziale bzw. gesellschaftliche, mehr oder weniger normativ aufgeladene Vorstellungen vom Menschen, seiner Persönlichkeit und seiner Lebensführung. Im Sinne von normativ aufgeladenen Normalitätsvorstellungen oder Rollenstereotypen nutzt die Familien- und Geschlechterforschung den Leitbildbegriff bis heute. Auf den ersten Blick lässt sich damit ein psychologischer von einem soziologischen Leitbildbegriff unterscheiden, der idealtypisch einmal vom Individuum, einmal von der Gesellschaft aus denkt. Einmal geht es um das individuell entworfene, einmal das gesellschaftlich vorgegebene bzw. das sozial geteilte Leitbild. Die psychologische Perspektive
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3 Leitbilder in den Sozialwissenschaften – die Diskursanalyse
legt mit dem Leitbildbegriff größeres Gewicht auf die individuellen Zukunftsvorstellungen, vornehmlich bezüglich der eigenen Person. Die soziologische Perspektive fragt stärker nach der sozialen bzw. kulturellen Bedingtheit der Orientierungen für die Lebensführung des Menschen. Faktisch fließen diese beiden idealtypisch zu trennenden Begriffsverständnisse an verschiedenen Stellen zusammen; und zwar überall dort, wo die kulturelle Abhängigkeit von individuellen Leitbildern oder wo die individuelle Aneignung von gesellschaftlichen Leitbildern in den Blick genommen wird. Heute werden Leitbilder weithin als soziale, nicht als individuelle Kategorie begriffen. Entsprechend ist der aktuelle sozialwissenschaftliche Leitbildbegriff eher soziologisch denn psychologisch fundiert. Die bislang dargestellten Leitbilder aus psychologischer, soziologischer und pädagogischer Perspektive sind allesamt selbst- oder fremdbezogene Leitbilder der persönlichen Lebensführung bzw. der Verwirklichung der Persönlichkeit. Es sind Erwartungen an sich selbst und andere in Bezug auf die gesamte Persönlichkeit, die Lebensführung und das Handeln in einer sozialen Rolle, etwa als Frau, als Jugendlicher, als Familienvater oder in einem bestimmten Beruf. Die Ablösung der psychologischen durch eine soziologische Perspektive hat demgegenüber eine deutliche Erweiterung des Leitbildbegriffes geschaffen. Leitbilder beziehen sich nun auch auf normativ bzw. volitiv aufgeladene Vorstellungen nicht nur von (anderen) Menschen und ihrem Verhalten, sondern allgemein von Welt, etwa der Gestaltung der Gesellschaft und ihrer Teilsysteme oder unterschiedlicher sozialer Handlungsfelder. Hier schließen die Leitbilder der Politik, der Technik, der Organisation und Raumplanung an. Bereits aus der frühen Verwendung des Begriffes lässt sich ein allgemeines Wesensmerkmal von Leitbildern identifizieren: Leitbilder betreffen erstrebenswerte Zukunftsentwürfe, welche die Wahrnehmung, das Denken und Handeln von Menschen (Individuen wie Gruppen) prägen. Leitbilder der Lebensführung stehen in einem wechselhaften Verhältnis zum Individuum. Ursprünglich werden unter Leitbildern individuelle Zukunftsentwürfe des eigenen Daseins verstanden. Schon bald wird deren soziale, kulturelle bzw. gesellschaftliche Bedingtheit beachtet und Leitbilder entsprechend als soziale Kategorie begriffen. Schließlich werden Leitbilder aber auch als gesellschaftliche (Rollen-)Erwartungen dargestellt. In diesem Sinne werden sie vornehmlich als Orientierungsangebot verstanden, auf welche das Individuum in der eigenen Identitätsbildung sowie für die Gestaltung seiner Lebensführung und sozialen Rollen zurückgreifen kann bzw. soll. Von verschiedenen Seiten wird gerade die aktive Rolle des Individuums gegenüber den Leitbildern betont. Wo sie nicht ohnehin als individuelle Leitbilder durch das Individuum selbst produziert werden, werden sie als gesellschaftliche Leitbilder immer noch individuell angeeignet.43 Gerade die Pluralität der angebotenen gesellschaftlichen Leitbilder und ihre Partikularisierung macht einen reflektierten Umgang mit ihnen und eine individuelle Aneignung notwendig. Innerhalb der begrifflichen Typologie (vgl. Kap. 2.2.1) sind die Leitbilder der Lebensführung nicht eindeutig zu verorten. Zunächst stehen Leitbilder für latente, häufig unbewusste Orientierungen des Individuums, die dessen Denken und Handeln prägen (näherungsweise Typ 1). Bei den soziologisch orientierten Leitbildern schwankt das Verständnis 43
In anderen Forschungszusammenhängen wird das Verhältnis zwischen Leitbildern, Gesellschaft und Individuum im Kontext einer interaktionistischen und sozialkonstruktivistischen Perspektive betrachtet, aus welcher Leitbilder in der sozialen Interaktion der Akteure (re-)produziert gedacht werden (vgl. besonders Kap. 3.3.4 und 3.5). Ein solches Verständnis ist prinzipiell auch in Bezug auf die Leitbilder der Lebensführung denkbar, etwa in der Familien- und Geschlechterforschung.
3.1 Leitbilder der Lebensführung
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zwischen sozial geteilten Vorstellungen und gesellschaftlich vorgegebenen (Rollen-)Erwartungen, an denen sich das Handeln nur mehr oder weniger orientiert. Dabei handelt es sich um soziale Repräsentationen, die eher kognitiv repräsentiert als manifest (im Sinne eines Leitbilddokumentes) sind.44 In verbalisierten leitbildhaften Formeln oder typisierten Gestalten wie der Familienernährer, die gute Mutter, die bürgerliche Kleinfamilie oder der geborene Erzieher nehmen sie manifeste Formen an. Damit werden sie einer gesellschaftlichen und individuellen Auseinandersetzung zugänglich. Die Bedeutung dieser manifesten Leitbilder erschließt sich zunächst nur denjenigen, welche den damit verbundenen Bedeutungszusammenhang miteinander teilen und in ihrer Interaktion reproduzieren, ist aber einem Fremdverstehen zugänglich. Der sozialwissenschaftliche Umgang mit Leitbildern der Lebensführung konzentriert sich vornehmlich auf einen analytischen Zugang und eine kritische Auseinandersetzung mit ihren Implikationen. Gefragt wird nach den vorhandenen Leitbildern, den sich daraus ergebenden Argumentationen und Verhaltensweisen einzelner gesellschaftlicher Institutionen und Organisationen sowie den Konsequenzen für die individuelle Lebensgestaltung und das gesellschaftliche Zusammenleben.
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Dies schließt natürlich nicht aus, diese Leitbilder in mündlichen Äußerungen oder schriftlichen Dokumenten, etwa in Parteiprogrammen, Familienbiographien oder Gesetzestexten, identifizieren zu können (vgl. dazu Kapitel 2.2.1).
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3 Leitbilder in den Sozialwissenschaften – die Diskursanalyse Die „Gründerväter“ hielten das ordnungspolitische Leitbild Soziale Marktwirtschaft bewußt relativ allgemein; (...) Gerade weil es so viel Spielraum für Interpretation ließ, erwies sich das Leitbild in der politischen Praxis als brauchbar (...). Dieter Grosser (1988, S. 35)
3.2 Leitbilder in der Politik Leitbilder in der Politik bilden einen weiteren Schwerpunkt der leitbildbezogenen sozialwissenschaftlichen Forschung.45 So trifft man auf leitbildbezogene Forschungsprojekte, die sich mit gesellschafts-, wirtschafts-, sozial-, europa-, verkehrs-, industrie-, agrar-, raumordnungs-, regional- oder bildungspolitische Leitbildern beschäftigen. Schwerpunkte leitbildbezogener politikwissenschaftlicher Forschungsprojekte und Veröffentlichungen finden sich in den Feldern Wirtschaftspolitik, Sozialpolitik, Raumordnungs- bzw. Regionalpolitik, Europapolitik, Familien- und Frauenpolitik sowie Umweltpolitik. Dennoch legt ein Blick in die politikwissenschaftlichen Wörterbücher, die allesamt den Terminus nicht verzeichnet haben, die Vermutung nahe, dass der Leitbildbegriff innerhalb der Politikwissenschaft nicht den Status eines Fachbegriffes erreicht hat (vgl. Kapitel 1.2). Die Auseinandersetzung mit Leitbildern in der Politik geht gleichwohl bis in die 1950er Jahre zurück. Zu dieser Zeit spielte in der wissenschaftlichen Diskussion um die Wirtschaftsund Gesellschaftspolitik das Leitbild der Sozialen Marktwirtschaft eine herausragende Rolle. Die in diesem Zusammenhang vorgenommenen allgemeinen Überlegungen zu (vor allem) wirtschaftspolitischen Leitbildern wurden in der Sozialpolitik aufgenommen. Ebenso hat die Raumordnungspolitik angeregt durch die wirtschaftspolitische Debatte den Leitbildbegriff für sich entdeckt. Von dort aus etablierte sich der Begriff über die politische Perspektive hinaus im Städtebau sowie in der Stadt- und Regionalentwicklung. Auch in der Umweltpolitik haben Leitbilder einen festen Platz. Mit dem Leitbild der nachhaltigen Entwicklung ist eine wissenschaftliche sowie gesellschaftliche Debatte verbunden, die weit über Fragen der umweltpolitischen Zielfindung hinausweist. In der Europapolitik etabliert sich seit den 1970er Jahren ein eigenes Leitbildverständnis. Eine wiederum ganz eigene Auffassung von Leitbildern findet sich in der Forschung zur Familien- und Frauenpolitik. Leitbilder in der Frauen- und Familienpolitik sind als Teilaspekt der gesondert dargestellten, eher soziologisch geprägten wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit Familienund Geschlechterleitbildern allgemein zu verstehen. Entsprechend wird dieser Schwerpunkt der sozialwissenschaftlichen Leitbildforschung an anderer Stelle dargestellt (vgl. Kapitel 3.1.2.3). In der Raumordnungspolitik spielen Leitbilder in unterschiedlicher Gestalt bereits seit den 1950er Jahren eine wichtige Rolle. Der wissenschaftliche Diskurs über städtebauliche Leitbilder, Leitbilder in der Raumordnung, Regional- und Stadtentwicklung umfasst allerdings weit mehr als nur eine politische Dimension. Die Breite dieses Diskursfeldes und auch seine historische Entwicklung legen es nahe, die raumbezogenen Leitbilder als eigenen Forschungsschwerpunkt zu betrachten (vgl. Kapitel 3.4).
45
Auch wenn hier der Einfachheit halber von Leitbildern in der Politik gesprochen wird, geht es vornehmlich um die Verwendung des Leitbildbegriffes in der Politikwissenschaft. Nicht nur in Bezug auf die leitbildbezogene Diskussion ist es allerdings hinsichtlich der verwendeten Begriffe nicht immer möglich und notwendig, den wissenschaftlichen vom fachlichen Diskurs des jeweiligen Gegenstandsfeldes zu unterscheiden. Das gilt auch hier für die Trennung von Politikwissenschaft und Politik.
3.2 Leitbilder in der Politik
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Im Folgenden wird der Leitbildbegriff in den angesprochenen Politikfeldern untersucht und danach gefragt, welche Übereinstimmungen, Varianten und Differenzen bezüglich des Begriffsverständnisses innerhalb der einzelnen Politikfelder sowie über diese hinweg zu identifizieren sind. Neben der Wirtschafts- und Sozialpolitik (Kapitel 3.2.1), der Umweltpolitik (3.2.2) sowie der Europapolitik (3.2.3) werden drei weitere Schwerpunkte gebildet. Innerhalb der Diskussion der Wirtschaftspolitik dominierte lange Zeit das Leitbild der Sozialen Marktwirtschaft. Da dieses als eines der ersten und wirkungsvollsten Leitbilder gelten kann, findet es hier besondere Berücksichtigung. Was das Leitbild der Sozialen Marktwirtschaft für die Diskussion der 1960er Jahre war, ist das Leitbild der nachhaltigen Entwicklung für die 1990er Jahre und die Gegenwart. Das Leitbild der nachhaltigen Entwicklung wird hier im Rahmen des Leitbildbegriffes der Umweltpolitik untersucht, auch wenn er über den umweltpolitischen Diskurs weit hinausreicht. Weitaus sporadischer wird der Leitbildbegriff schließlich in einer aktuellen gesellschaftspolitischen Diskussion genutzt, die sich mit Formen und Möglichkeiten der Bürgergesellschaft beschäftigt. Auch das dort vorzufindende Leitbildverständnis soll kurz charakterisiert werden (Kapitel 3.2.4). Folgende Aspekte werden bei der Untersuchung besonders berücksichtigt: In den Überlegungen zu Leitbildern in der Politik werden die Fragen kontrovers erörtert, in welchem Verhältnis Leitbilder und gegenwärtige Realität stehen, ob Leitbilder realisierbar sein müssen und auf welchem Abstraktionsniveau bzw. auf welcher Allgemeinheitsstufe sie anzusiedeln sind. Zudem werden Leitbilder in den unterschiedlichen Leitbildverständnissen innerhalb der Politik in ein jeweils spezifisches Verhältnis zu Zielen, Mitteln und Zielsystemen gesetzt. Diesen Aspekten wird besondere Beachtung geschenkt, da das Leitbildverständnis innerhalb der Politik diesbezüglich stark variiert. Schließlich soll bereits hier vorweg die Aufmerksamkeit auf ein Phänomen gelenkt werden, das in den einzelnen Politikfeldern in Bezug auf Leitbilder sichtbar wird: Über Leitbilder wird häufig dann gesprochen, wenn die Grenzen eines Politikfeldes überschritten werden. Zwar legen die einzelnen Begriffsverwendungen unter Umständen eine Zuordnung zu bestimmten Politikfeldern nahe. Gleichzeitig wird aber deutlich, dass einzelne Leitbilder gerade nicht politikfeldspezifisch zu verorten sind, sondern sich häufig gerade durch eine übergreifende Perspektive auszeichnen. In einem abschließenden Kapitel (3.2.5) wird das Verständnis des Leitbildbegriffs in der Politikwissenschaft in seinen Übereinstimmungen, Varianten und Differenzen zusammengetragen und der Stellenwert der Leitbilddiskussion in diesem Bereich abgeschätzt. Der Rückbezug auf die begriffliche und konzeptionelle Typologie ermöglicht die Einordnung der politikwissenschaftlichen Beschäftigung mit Leitbildern in den allgemeinen sozialwissenschaftlichen Leitbilddiskurs (vgl. Kap. 2.2). 3.2.1 Leitbilder in der Wirtschafts- und Sozialpolitik In der wirtschafts- und sozialpolitischen Literatur findet die bereits von Pütz (1957) und Giersch (1960) vorgenommene Gleichsetzung von Leitbildern mit Konzeptionen46 eine gewisse Verbreitung (vgl. Lampert 1973, Tuchtfeldt 1973, Lampert 1980, Straubhaar 1993, Tuchtfeldt 1995). So beruft sich bspw. auch eine verhältnismäßig aktuelle Arbeit über die strukturellen Leitbilder der Agrarpolitik auf Pütz und definiert das Leitbild als „einen ratio46
Im Folgenden wird der Begriff Konzeption in dem hier dargestellten Sinne, der Begriff Konzept hingegen unspezifisch verwendet.
64
3 Leitbilder in den Sozialwissenschaften – die Diskursanalyse
nalen Zusammenhang von allgemeinen und langfristig bedeutsamen Grundsätzen, Zielen und Methoden der Wirtschaftspolitik“ (Kible-Kaup 1996, S. 4). Pütz definiert in einer Festschrift für Ludwig Erhard die wirtschaftspolitische Konzeption: „ ‚Wirtschaftspolitische Gesamtkonzeption‘ bedeutet (...) ein für die Gesamtheit aller wirtschaftspolitischen Handlungen und Maßnahmen geltendes ordnungspolitisches Leitbild, bzw. einen geschlossenen und in sich widerspruchsfreien Zusammenhang von wirtschaftspolitischen Zielen, Grundsätzen und zielkonformen Institutionen und Maßnahmen.“ (Pütz 1957, S. 44)
Weiter führt er über die wirtschaftspolitische Konzeption aus, dass sie „als Leitbild (...) auf die allgemein und langfristig bedeutsamen Grundsätze, Ziele und Maßnahmen der Wirtschaftspolitik“ abstellt (Pütz 1957, S. 44). Entsprechend enthält sie nur die auf Dauer angestrebten Hauptziele und keine konkret definierten Einzelmaßnahmen. Sie ist „ein langfristiges und prinzipielles Leitbild der Wirtschaftspolitik“ (ebd., S. 46). In seiner Definition der wirtschaftspolitischen Konzeptionen schließt sich Giersch Pütz an und ergänzt, dass es sich dabei um auf die Zukunft gerichtete Ziel-Mittel-Systeme und in diesem Sinne um ‚gedankliche Leitbilder einer anzustrebenden Wirtschaftsgestaltung‘ handelt (vgl. Giersch 1960, S. 135). Leitbilder, Konzeptionen und Ziel-Mittel-Systeme, die sich auf die zukünftig anzustrebende Wirtschaftsgestaltung beziehen, werden demnach bei Pütz und Giersch gleichgesetzt. Leitbilder erscheinen hier lediglich als der Alltagssprache nähere Synonyme für Konzeptionen, die ihrerseits langfristig angestrebte, konsistente Ziel-MittelSysteme bezeichnen. In Abgrenzung zu Pütz und Giersch werden bei Kloten (1967) und Engelhardt (1973 und 1992) Konzeptionen und Leitbilder voneinander unterschieden. Auch bei Kloten besteht eine wirtschaftspolitische Konzeption aus einem „geschlossenen und in sich konsistenten Zusammenhang von Zielen und Mitteln“ (Kloten 1967, S. 331).47 Die wirtschaftspolitische Konzeption enthält damit immer geordnete Zielvorstellungen und Angaben über die Instrumente zur Erreichung derselben. Leitbilder hingegen sind für Kloten eine gedachte und gewollte Ordnung gesellschaftlicher oder wirtschaftlicher Zustände und können selten widerspruchsfrei dargestellt werden. Zudem sind Leitbilder für ihn mehr oder weniger utopisch, das meint hier sie sind nicht zu verwirklichen bzw. können nicht aus der Gegenwartslage mit Verweis auf realisierbare (politische) Maßnahmen hergeleitet werden (vgl. Kloten 1967, S. 337f.). Die von Kloten wahrgenommene Differenz liegt damit also vor allem in der Realisierbarkeit, wobei er ausdrücklich darauf hinweist, dass letztlich zwischen einer „dauernden Unmöglichkeit“ und einer „temporären Unwirklichkeit“ nicht immer getrennt werden kann. Entsprechend ist die Grenze zwischen Leitbild und Konzeption nicht scharf zu ziehen (vgl. ebd., S. 333 und 338). Darüber hinaus spielen bei Kloten Maßnahmen bzw. Instrumente für Leitbilder offensichtlich keine konstitutive Rolle. Leitbilder werden der Konzeption im politischen Prozess hierarchisch übergeordnet. Sie gehören zu einem zentralen Wertesystem, aus denen die Konzeptionen abgeleitet werden. Den Leitbildern kommt darüber hinaus eine besondere Qualität zu: Sie sind „konkret-bildhaft“ (Kloten 1967, S. 337), zugleich „Ausdruck des menschlichen Wollens, ein Maßstab für das menschliche Urteil und ein Motor des menschlichen Handelns“ (ebd., S. 334). Hier wie auch bei 47
Damit besteht mit Pütz und Giersch wenigstens darin Einigkeit, Konzeptionen auf einem relativ abstrakten Niveau anzusiedeln. Einzelziele, ausgearbeitete und an die Gegebenheiten angepasste Ziel-Mittel-Systeme liegen auf einer hierarchischen Ebene darunter und werden häufig als Programme bezeichnet (vgl. bspw. Giersch 1960, S. 44f.).
3.2 Leitbilder in der Politik
65
Engelhardt (1992, S. 66) ist deshalb im Zusammenhang mit Leitbildern auch von Visionen die Rede (vgl. Kloten 1967, S. 342). Noch deutlicher wird die Differenz zwischen Leitbild und wirtschaftspolitischer Konzeption bei Engelhardt. Dieser bezeichnet Leitbilder als „Noch-Nicht-Konzeptionen“, die im vor-rationalen Raum angesiedelt sind, d.h. noch nicht voll bewusst und noch nicht als Zusammenhang unterschiedlicher Ziele und Mittel abgewogen und ausgearbeitet sind (vgl. Engelhardt 1973, S. 11). Sie haben vorläufigen Entwurfscharakter (vgl. Engelhardt 1992, S. 72). Engelhardt fasst Leitbilder als „individuelle Zielformeln mit überdeterminierten Spielräumen“ oder individuelle Utopien48 (Engelhardt 1973, S. 11). Seine Bestimmung von Leitbildern als personengebundene Utopien im weitesten Sinne, die also in einer einzelnen Person entstehen und noch dazu spontan entworfen sind, grenzt ihn von der übrigen Leitbilddiskussion in der Politikwissenschaft ab, die in aller Regel Leitbilder als soziales Phänomen betrachtet, und erscheint weder begründet noch zwingend. Festzuhalten bleibt allerdings, dass Leitbilder bei Engelhardt als bestimmte zukunftsbezogene Vorstellungen verstanden werden, in denen Ziele sichtbar werden und die (noch) nicht rational begründet sind, gleichsam Zielsysteme und Konzeptionen prägen. Sich diesen wissenschaftlich zu widmen, indem sie interpretiert und im Zusammenhang mit anderen Zielen analysiert werden, ist eine Aufgabe, der – laut Engelhardt – wissenschaftlich nicht genügend Aufmerksamkeit gewidmet wird.49 Eine dritte Position entwirft Sanmann für die Sozialpolitik (vgl. Sanmann 1973). Er grenzt Leitbilder von Zielen ab. Beide stellen Vorstellungen über Erwünschtes und Angestrebtes dar, wobei Leitbilder den Zielen übergeordnet sind. Während er Ziele als Vorstellungen über gewünschte Lagen oder „Programmsituationen“ verstanden wissen will, die seines Erachtens immer spezifischen Sachbereichen der Politik angehören, existieren Leitbilder oberhalb dieser Sachbereiche. Sie sind Vorstellungen über eine erwünschte Gesellschaft im Allgemeinen. Ziele können in diesem Verständnis als sachbereichsspezifische Konkretisierungen von Leitbildern verstanden werden. Leitbilder sind demgegenüber allgemeiner, abstrakter und vager formuliert, sodass auch unterschiedliche Ziele daraus abgeleitet werden können. Diese Differenz wird bei Kleinhenz wieder aufgenommen, wenn er unter Leitbildern einen „Komplex von Wertvorstellungen“ versteht, „der noch nicht den Konkretisierungsgrad von ‚Zielsetzungen‘ oder einem ‚Zielsystem‘ erreicht“ hat (Kleinhenz 1985, S. 461). Während bei Pütz und Giersch Leitbilder im Sinne von Konzeptionen wohl eher als manifeste Ziel-Mittel-Systeme verstanden werden sollten, sind Leitbilder im Verständnis von Kloten und Engelhardt als mentale Ziel- bzw. Wertvorstellungen zu begreifen. Die Frage, ob diese Leitbilder nur propagierte Absichtserklärungen (Typ B) darstellen oder tatsächlich denk- und handlungsstrukturierende Orientierungsmuster (Typ A) abgeben, bleibt hier unbeantwortet. Lediglich bei Kloten und Engelhardt neigt der Begriff eher einem Verständnis von echten Leitbildern zu (vgl. Kapitel 2.2.1). 48
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Engelhardt fasst unter dem Utopiebegriff jede Form von Vorwegnahmen, Konstruktionen und Modellen unabhängig von ihrer Realisierbarkeit. Er umfasst literarische bzw. Utopien im engeren Sinne und Utopien im weitere Sinne, zu denen „hoffnungsvoll nach vorn gerichtete“ Leitbilder und „angstdominierend rückwärtsgewandte“ Weltbilder gehören (vgl. Engelhardt 1992, S. 69). Engelhardt stellt Überlegungen zu einer Nutzbarmachung dieser Leitbilder an. Sie müssen in ihrem „subjektiv gemeinten Sinn“ interpretiert werden und können in ihrem Zusammenhang mit anderen Zielen und den sich daraus ergebenden Anschlussfähigkeiten und Konflikten untersucht werden (vgl. Engelhardt 1973, S. 55). Auf diese Weise kann ein Zusammenhang zwischen Leitbildern und rational durchdachten und abgewogenen Zielsystemen gestiftet werden.
3 Leitbilder in den Sozialwissenschaften – die Diskursanalyse
66 Das Leitbild Soziale Marktwirtschaft
Die Soziale Marktwirtschaft ist das von Alfred Müller-Armack seit 1946 so bezeichnete, von ihm in den weiteren Jahren weiterentwickelte und von Ludwig Erhard seit 1948 politisch aufgegriffene Konzept für die Gestaltung der Wirtschaftspolitik der Bundesrepublik Deutschland nach dem 2. Weltkrieg. Die Soziale Marktwirtschaft stellt die Leitidee für die Wirtschaftspolitik dar, in der ein Ausgleich zwischen staatlich gesicherter wirtschaftlicher Freiheit einerseits und sozialer Sicherheit und Gerechtigkeit andererseits stattfinden soll. In den Worten Müller-Armacks geht es darum, „das Prinzip der Freiheit auf dem Markte mit dem des sozialen Ausgleichs zu verbinden“ (Müller-Armack 1956/1966, S. 243). In der weiteren Ausgestaltung der Sozialen Marktwirtschaft sollte diese über den Bereich der Wirtschaftspolitik hinaus die gesamte Gesellschaftspolitik in Deutschland prägen (vgl. MüllerArmack 1960).50 In der Rezeption der Arbeiten von Müller-Armack, Erhard und anderen sowie in der Diskussion um das Konzept der Sozialen Marktwirtschaft ist im Laufe der späteren Jahre immer wieder vom Leitbild der Sozialen Marktwirtschaft die Rede. Die Soziale Marktwirtschaft wird als das wirtschafts- oder ordnungspolitische Leitbild der deutschen Volkswirtschaft bezeichnet (vgl. etwa Lampert 1990, S. 16).51 Eine unmittelbare Auseinandersetzung mit dem Leitbildbegriff findet sich in dieser Diskussion allerdings nicht. Was Leitbilder sind, wird hier (wie so oft) als selbstverständlich vorausgesetzt. Stattdessen dient der Verweis auf den Leitbildcharakter vielmehr als Erklärung dafür, was die Soziale Marktwirtschaft als wirtschaftspolitische Konzeption ausmacht (vgl. hierzu auch weiter oben das Leitbildverständnis von Pütz und Giersch). Entsprechend heißt es auch noch bei Tuchtfeldt – und hierin spiegelt sich deutlich das Leitbildverständnis von Pütz (1957) und Giersch (1960): „Das Konzept ‚Soziale Marktwirtschaft‘ ist ein Entwurf für die Praxis. (...) Entsprechend den Ergebnissen der diesbezüglichen wissenschaftlichen Diskussion in den fünfziger und sechziger Jahren soll hier unter einem Konzept ein längerfristig gültiges Leitbild verstanden werden, das für die wirtschafts- und gesellschaftspolitische Aktivität Grundsätze, Ziele und Instrumente in einen möglichst widerspruchsfreien Zusammenhang zu bringen sucht.“ (Tuchtfeldt 1995, S. 33f.)
In der Diskussion um die Soziale Marktwirtschaft wird ihr Leitbildcharakter besonders darin gesehen, dass es sich um eine erstrebte, nicht um eine gegebene oder verwirklichte Ordnung handelt, die im Leitbild bzw. Konzept der Sozialen Marktwirtschaft zum Ausdruck 50
51
In diesem Sinne ist auch tatsächlich sowohl der Leitbildgedanke an sich als auch das konkrete Leitbild der Sozialen Marktwirtschaft in der Raumordnung aufgenommen worden. Die der Sozialen Marktwirtschaft zugrunde liegenden gesellschaftspolitischen Prinzipien Freiheit und soziale Sicherheit werden zur Grundlage für ein Leitbild der „sozialen Raumordnung“ (vgl. dazu Dittrich 1958b und 1962; Boesler 1982, S. 79; auch Kap. 3.4.1.2). Tatsächlich ist es Dittrich, der hierfür den Begriff Leitbild vorschlägt, während MüllerArmack zunächst noch allgemein von einem Wirtschaftsstil spricht. Müller-Armack selbst spricht in Bezug auf die Soziale Marktwirtschaft eher von einer Leitidee, einem Konzept oder einem Programm (vgl. etwa Müller-Armack 1981). In den Frühschriften zur Sozialen Marktwirtschaft von Müller-Armack und Erhard aus der zweiten Hälfte der 1940er Jahre und den 1950er Jahren ist noch nicht die Rede von einem Leitbild. Erst in einem weiterführenden Aufsatz, in dem die Soziale Marktwirtschaft als Orientierung für eine umfassendere Gesellschaftspolitik erweitert wird, spricht auch Müller-Armack von einem wirtschaftspolitischen Leitbild (vgl. ders. 1960).
3.2 Leitbilder in der Politik
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kommt (vgl. dazu auch Seraphim 1957, S. 185). Die Leitidee, die Konzeption oder das Leitbild der Sozialen Marktwirtschaft wird also deutlich getrennt von der gegebenen Realität, der (realen) Wirtschaftsordnung (vgl. auch Tuchtfeldt 1973, Müller-Armack 1988, Lampert 1990 oder Tuchtfeldt 1995). Während Pütz (1957) und Giersch (1960) ebenso wie Kloten (1967) und Engelhardt (1973) jedoch davon ausgehen, dass eine Konzeption ein widerspruchsfreies, abgestimmtes Ziel-Mittel-System ist, steht gerade dies für die Soziale Marktwirtschaft in Frage. Es wird bezweifelt, ob für die Realisierung der Sozialen Marktwirtschaft ein geschlossenes und in sich widerspruchsfreies Konzept existiert (vgl. Hamel 1994, auch schon Seraphim 1957). Aus dieser Perspektive würde hier die von Kloten und Engelhardt vorgenommene begriffliche Unterscheidung zwischen Konzeption und Leitbild greifen und die Soziale Marktwirtschaft statt als eine konsistente Konzeption als Leitbild bezeichnet werden können, dessen Eigenart vielmehr in seinem nicht immer widerspruchsfreien Entwurfscharakter liegt. Schließlich wird die Soziale Marktwirtschaft – und diese Bestimmung erweist sich für Leitbilder in der Politik allgemein als relevant – als ein offenes Konzept verstanden, das sich an veränderte Gegebenheiten anpassen muss (vgl. Schlecht 1998). In der Interpretationsfähigkeit des Konzepts wird gleichzeitig seine Chance als auch seine Problematik gesehen. Auf der einen Seite kann mit der Weiterentwicklung und der zeitbedingten Ausgestaltung des Konzeptes auf die sich wandelnden Verhältnisse reagiert werden (vgl. Erhard/ Müller-Armack 1972). Auf der anderen Seite ist das Konzept in dieser Offenheit jedoch auch unterschiedlichsten Interessenlagen zur Interpretation zugänglich gewesen (vgl. Cassel/ Rauhut 1998, Schlecht 1998). Auf diese Weise – so die Kritik – hat sich die Soziale Marktwirtschaft in seiner Realisierung von seinen Grundprinzipien immer weiter entfernt (vgl. auch Tuchtfeldt 1973 und 1995). Die Soziale Marktwirtschaft erweist sich damit als ein inhaltlich nur schwach ausgestaltetes Prinzip, das zwar grundsätzlich als erstrebenswert gilt und zur Grundlage des wirtschafts- und allgemein gesellschaftspolitischen Denkens und Handelns gemacht werden soll. Es stellt damit zunächst aber nur ein propagiertes Leitbild dar, dessen Bedeutungsgehalt zudem gar nicht feststeht. Als vages Prinzip strukturiert es – wenn überhaupt – das Denken und Handeln nur sehr grob. Wo es in einzelnen Interpretationsgemeinschaften oder Sozietäten mit einer geteilten Vorstellung gefüllt wird, kann es wiederum den Charakter eines echten Leitbildes annehmen, welches dem Denken und Handeln die Richtung weist. 3.2.2 Leitbilder in der Umweltpolitik In der Umweltpolitik werden Leitbilder seit dem Ende der 1980er Jahren als Teil von umweltpolitischen Zielsystemen verstanden (vgl. Fürst u.a. 1992). Sie bilden eine übergeordnete, allgemein gehaltene und nicht quantifizierte Zielvorstellung, aus der weitere konkretisierte Ziele abgeleitet werden müssen. Die Leitbilder geben den Konsens allgemeiner Umweltpolitik wieder und beschreiben einen allgemeinen, gesellschaftlich angestrebten qualitativen Zustand der Umwelt (vgl. Feige u.a. 1997, S. 17ff.). Die Umweltpolitik unterscheidet innerhalb des Zielsystems zwischen dem Leitbild, den daraus abgeleiteten Leitlinien, den Umwelt-
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3 Leitbilder in den Sozialwissenschaften – die Diskursanalyse
qualitätszielen, Umwelthandlungszielen und gegebenenfalls Umweltstandards.52 Die Ziele auf den verschiedenen Ebenen nehmen in ihrem Konkretisierungsgrad vom Leitbild bis zu den Umweltstandards zu. Neben Leitbildern als übergeordneten, globalen umweltpolitischen Zielvorstellungen wie der nachhaltigen Entwicklung existieren in der Naturschutzdebatte und Landschaftspflege sowie der umweltpolitisch orientierten Regionalplanung gleichfalls räumlich oder sachlich stärker eingegrenzte landschaftliche bzw. regionale Leitbilder, die einen Bezug auf bestimmte Verwaltungs- oder Naturräume aufweisen (vgl. bspw. Marzelli 1994, S. 12, Jessel 1994 und Knauer 1997).53 Leitbilder werden in diesem Kontext überwiegend als anzustrebende Zustandsbeschreibungen ausformuliert.54 In diesem Verständnis stellen sie vor allem manifestierte Vorstellungen dar, die aktuell noch gar nicht denk- und handlungsleitend sind, dies jedoch werden sollen. Leitbilder in der Umweltpolitik sind entsprechend als explizite, möglicherweise sogar oktroyierte Leitbilder zu kennzeichnen. Mit dem veränderten Planungsverständnis (vgl. Kapitel 3.4.1) setzt sich auch in der Umweltpolitik die Einsicht durch, dass diese Leitbilder nicht „von oben verordnete“, sondern innerhalb eines diskursiven Prozesses „von unten gewachsene“ Zielbestimmungen sein müssen, wenn sie auf Akzeptanz stoßen und umsetzungsfähig sein sollen (vgl. Feige u.a. 1997, S. 64 und 113). Damit handelt es sich bei den Leitbildern der Umweltpolitik um propagierte Leitbilder, die jedoch dadurch handlungsleitend werden sollen, dass sie in einem diskursiven Prozess entwickelt werden. Das Jahr 1994 markiert den Anfangspunkt in der weit über die Umweltpolitik und auch die Sozialwissenschaften hinaus geführten Diskussion um das derzeit bekannteste Leitbild: das Nachhaltigkeits- oder auch Sustainability-Leitbild, das Leitbild der dauerhaftumweltgerechten, nachhaltig zukunftsverträglichen oder nachhaltigen Entwicklung.55 Eine Auseinandersetzung mit diesem speziellen Leitbild und mit der dazu geführten Debatte verspricht einige Einsichten in das Verständnis, die Chancen und Schwierigkeiten, die mit dem Leitbildbegriff allgemein derzeit verbunden sind.
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Leitlinien, die eine grobe Handlungsrichtung bzw. Handlungsgrundsätze vorgeben, bilden die erste Operationalisierungsstufe des Leitbildes. In den Umweltqualitätszielen werden auf einzelne Umweltbereiche bezogene Zieldefinitionen vorgenommen, die angeben, welcher Zustand angestrebt wird. In den Umwelthandlungszielen, die erst später in die Diskussion eingeführt wurden, werden quantifizierte und überprüfbare Ziele formuliert, die angeben, was getan bzw. vermieden werden muss, um die Umweltqualitätsziele zu erreichen. Umweltstandards bilden die quantitativen Festlegungen von Grenzwerten (vgl. Fürst u.a. 1992, S. 9ff.; SRU 1996; SRU 1998, S. 50f.). Jessel (1994) wie Knauer (1997) ordnen die regionalen oder landschaftlichen Leitbilder hierarchisch unter den übergeordneten Grundsätzen der Umweltpolitik, Raumordnung und Landesplanung an, was aufgrund ihres höheren Konkretisierungsgrades sinnvoll ist. So sind in den 1990er Jahren für Großschutzgebiete in Mecklenburg-Vorpommern einzelne, ausformulierte Leitbilder entworfen worden. So heißt es beispielsweise im Leitbild Naturpark Schaalsee: „Naturparks dienen dem großflächigen Schutz wertvoller Kulturlandschaft, die durch traditionelle Landnutzungsformen geprägt wurden, sich durch Vielfalt und Schönheit auszeichnen und sich deshalb für die naturnahe Erholung besonders eignen.“ (Feige u.a. 1997, S. 59) Die Übersetzung des englischen Originals Sustainable Development bzw. Sustainability ist in Deutschland nicht einheitlich erfolgt. Allein die Diskussion um die angemessene Übersetzung bringt bereits die Kontroversen um die Interpretation des Konzepts zum Ausdruck. Im Allgemeinen hat sich jedoch die Formulierung nachhaltige Entwicklung durchgesetzt (vgl. z.B. BMU 1992 oder Bundesregierung 2002).
3.2 Leitbilder in der Politik
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Das Leitbild der nachhaltigen Entwicklung Der Gedanke der nachhaltigen Entwicklung selbst – unabhängig von seiner Kennzeichnung als Leitbild – findet seit 1987 breiten Eingang in die umwelt- und entwicklungspolitische Debatte. Im sogenannten Brundtland-Bericht, dem Abschlussbericht der Weltkommission für Umwelt und Entwicklung, wurde das Prinzip der dauerhaften Entwicklung wie folgt definiert: „Dauerhafte Entwicklung ist eine Entwicklung, die die Bedürfnisse der Gegenwart befriedigt, ohne zu riskieren, daß künftige Generationen ihre eigenen Bedürfnisse nicht befriedigen können.“ (Hauff 1987, S. 46)
Dieses Prinzip wurde 1992 von der UNCED-Konferenz in Rio de Janeiro aufgenommen und in dem umfassenden Entwicklungs- und Umwelt-Aktionsprogramm der Agenda 21 konkretisiert, auf das sich mehr als 170 Staaten verpflichtet haben (vgl. BMU 1992). Die Agenda 21 bildet den wichtigsten Bezugspunkt in der darauf folgenden Debatte und in dem damit einhergehenden weltweiten Agenda-Prozess. Vom Leitbild ist – zumal nur in der deutschsprachigen Debatte – erst seit 1994 die Rede.56 Im Jahresgutachten 1994 des Rates der Sachverständigen für Umweltfragen wird das Konzept der dauerhaft-umweltgerechten Entwicklung erstmals für die Umweltpolitik der Zukunft zum „Leitbild“ erhoben (vgl. SRU 1994, S. 10). Im Jahresgutachten 1996 wird es schließlich sogar als gesellschaftspolitisches Leitbild der Zukunft bezeichnet (vgl. SRU 1996, S. 15). In der Folge erscheint eine ganze Flut von Veröffentlichungen, die sich allgemein, aber auch in Bezug auf einzelne gesellschaftliche Handlungsfelder mit dem Nachhaltigkeits-Leitbild befassen. Verfolgt man die leitbildbezogenen sozialwissenschaftlichen Veröffentlichungen im Laufe der 1990er Jahre, so liegt sogar die Vermutung nahe, dass die Leitbildkonjunktur dieser Zeit zu einem gewissen Teil auf das Leitbild der nachhaltigen Entwicklung zurückzuführen ist. Ein größerer Teil der sozialwissenschaftlichen Literatur nimmt seit 1994 auf das Leitbild einer nachhaltigen Entwicklung Bezug. Gleichzeitig haben sich offenbar aber auch Veröffentlichungen, die nicht in einem unmittelbaren Zusammenhang damit stehen, vom Reden über das Leitbild einer nachhaltigen Entwicklung anregen lassen. Denn ab Mitte der 1990er Jahre haben Leitbilder in sozialwissenschaftlichen Veröffentlichungen mehr denn je Konjunktur (vgl. Kap. 1.3). Die Nachhaltigkeits-Debatte ist ausgesprochen weitläufig und verzweigt. Über nachhaltige Entwicklung wird international ebenso wie national, regional und lokal diskutiert. Der Diskussionsprozess in Deutschland findet auf wissenschaftlicher Ebene ebenso statt wie auf politischer, aber auch auf allgemein gesellschaftlicher Ebene (bspw. in NichtRegierungs-Organisationen und in Lokale Agenda 21-Initiativen) sowie in Unternehmen und Unternehmensverbänden (vgl. hierzu im Überblick Voss 1997). Ausgehend von einer umwelt- und entwicklungspolitischen Kerndebatte hat sich das Leitbild der Nachhaltigkeit in andere politische Bereiche wie z.B. die Wirtschafts-, Sozial-, Regional- oder Verbraucherpolitik, aber auch weit über das Feld der Politik überhaupt ausgeweitet. So spielt das Leitbild der nachhaltigen Entwicklung zugleich in der Wirtschaft, Technik und Bildung als Bezugspunkt für Umorientierungen, Weiterentwicklungen und Innovationen eine hervorragende Rolle. 56
Auch in der deutschsprachigen Diskussion wird die nachhaltige Entwicklung neben der Charakterisierung als Leitbild weiterhin als Formel, Prinzip und vor allem Konzept bezeichnet.
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3 Leitbilder in den Sozialwissenschaften – die Diskursanalyse
Zu den wichtigsten Elementen im Grundverständnis der nachhaltigen Entwicklung gehören das im Brundtland-Bericht hervorgehobene Prinzip der Generationengerechtigkeit oder -verantwortung57, die umweltökonomischen Managementregeln58 sowie das im 3-Säulen-Modell der Nachhaltigkeit verankerte Integrations- sowie Partizipationsprinzip59. Während über diese Grundaussagen des Leitbildes nachhaltiger Entwicklung in der Debatte noch weitgehend Einigkeit zu herrschen scheint, treten die Divergenzen in der Frage der Umsetzung des Leitbildes um so deutlicher zutage (vgl. dazu auch SRU 1994, S. 16 und Voss 1997). In der Umweltpolitik wird aktuell ein Politikmuster favorisiert, in dem die erwünschte Entwicklung über möglichst terminierte, quantifizierte bzw. hinsichtlich ihrer Erreichung anhand von Indikatoren messbare Ziele gesteuert wird, die Maßnahmen und Instrumente hierfür hingegen eher offen gelassen werden.60 Die politische und wissenschaftliche Debatte um die Umsetzung des Leitbildes setzt einen Schwerpunkt auf seine Konkretisierung in operationale Ziele und Indikatoren.61 Folglich stellt das Leitbild der nachhaltigen Entwicklung innerhalb der Umweltpolitik ein Element eines rationalen Zielsystems dar. Es bildet eine übergeordnete, allgemein gehaltene Zielvorstellung, aus der weitere konkretisierte Ziele abgeleitet werden müssen. Für ein solches Zielsystem ist im Rahmen einer handlungsorientierten umweltpolitischen Zielfindung die Ableitung von Leitlinien, Umweltqualitäts- und Umwelthandlungszielen aus dem Leitbild der nachhaltigen Entwicklung vorgesehen (vgl. Fußnote 52). Durch die gängige Formulierung „Operationalisierung“ – wird allerdings suggeriert, dass die Möglichkeit einer wissenschaftlich begründeten, rational abgewogenen Ableitung quantifizierbarer Ziele aus dem Leitbild einer nachhaltigen Entwicklung gegeben wäre. Die oben genannten konzeptionellen Grundelemente lassen sich aber nicht alle mit einem sol57 58 59
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Der Brundtland-Bericht betont die Notwendigkeit einer Entwicklung, welche die Bedürfnisse der gegenwärtigen ebenso wie der nachfolgenden Generationen beachtet (vgl. Hauff 1987). Die Managementregeln umfassen umweltpolitische bzw. umweltökonomische Grundregeln wie bspw. die Forderung, dass die Abbaurate erneuerbarer Ressourcen ihre Regenerationsrate nicht übersteigen darf (vgl. SRU 1994, S. 101 und Enquete-Kommission „Schutz des Menschen und der Umwelt“ 1997, S. 25) Das durch die Enquete-Kommission „Schutz des Menschen und der Umwelt“ in Bezug auf die Agenda 21 propagierte 3-Säulen-Modell beinhaltet eine Vorstellung von einer nachhaltigen Entwicklung, in der ökologische, ökonomische und soziale Zielsetzungen gleichberechtigt und aufeinander abgestimmt berücksichtigt werden (vgl. Enquete-Kommission „Schutz des Menschen und der Umwelt“ 1994, S. 54ff.). Allerdings besteht Uneinigkeit in der Frage, ob das Denken in drei Säulen der Nachhaltigkeit statt zur Integration der drei Dimensionen zu ihrer Isolierung führt (vgl. die Kritik des SRU 1996, S. 54). Werden die ökologische, ökonomische und soziale Dimension der Nachhaltigkeit integrativ betrachtet, so folgt daraus zugleich ein prozedurales und partizipatives Verständnis der nachhaltigen Entwicklung. Was nachhaltige Entwicklung konkret heißt und wie diese umgesetzt werden kann, kann dann nur in einem fortdauernden gesellschaftlichen Verhandlungs- und Abstimmungsprozess diskursiv erarbeitet werden (vgl. Busch-Lüty 1995, S. 124; EnqueteKommission „Schutz des Menschen und der Umwelt“ 1997, S. 22f.; Voss 1997, S. 23ff.). Zum neuen Steuerungsverständnis in der Umweltpolitik vgl. bspw. Jänicke/Kunig/Stitzel 2000 und Jänicke 2002. Allerdings erweist sich die Unterscheidung von Zielen und Mitteln in der Politik als schwierig. In hierarchisch geordneten Zielsystemen bzw. Ziel-Mittel-Ketten stellen in der Hierarchie nachgeordnete Ziele immer die Mittel zur Erreichung der darüber liegenden Zielebene dar (vgl. Brösse 1982, S. 25ff.). In diesem Sinne sind die Umwelthandlungsziele immer schon aktivitätsorientierte Formulierungen, die angeben, was getan werden muss, um die Umweltqualitätsziele zu erreichen, und haben damit bereits einen instrumentellen Charakter. Konkrete Maßnahmen würden demgegenüber jedoch noch spezifischer ausfallen und werden hier nicht festgelegt. Internationale Bemühungen in diese Richtung gehen vor allem auf die Initiative der Commission on Sustainable Development (CSD) zurück, die in Deutschland zur Erprobung eines Indikatorensystems geführt hat (vgl. BMU 2000). Zu weiteren Bemühungen um Indikatorensysteme vergleiche auch SRU 1998, Bundesregierung 2002, Statistisches Bundesamt 2007.
3.2 Leitbilder in der Politik
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chen Verständnis in Einklang bringen. Die umweltökonomischen Management-Regeln sind noch Teil der genannten Zielableitung in einem rationalen Zielsystem. Sie bilden in Bezug auf die ökologische Dimension der Nachhaltigkeit die sogenannten Leitlinien als erste Operationalisierungsstufe der nachhaltigen Entwicklung im umweltpolitischen Zielsystem. Eine vergleichbare Operationalisierung der ökonomischen und sozialen Dimension der Nachhaltigkeit ist demgegenüber bereits umstrittener (vgl. Brand 1997, S. 24f.). Ebenso wird hinsichtlich des Prinzips der Generationenverantwortung bzw. intergenerationellen Gerechtigkeit eingewendet, dass dieses gar nicht in messbare Ziele operationalisiert werden könne (vgl. Matzen 1998, S. 166; Gebauer 1996, S. 137). Wo schließlich der prozedurale und in Bezug auf die drei Dimensionen integrative Charakter der nachhaltigen Entwicklung betont wird, tritt das Kalkül einer wissenschaftlichen Operationalisierung zugunsten diskursiver Verfahren zurück, da eine rein wissenschaftliche Ableitung von Zielen und Indikatoren dem prozeduralen und komplexen Grundverständnis des Leitbildes widersprechen würde: „Dabei kann nicht wissenschaftlich entschieden werden, was optimale Zustände einer Umweltqualität sind. Vielmehr müssen Gesellschaft und Parteien bereit sein, in demokratischen und notfalls auch konflikterfüllten Verfahren einen Konsens über die jeweils anzustrebende Umweltqualität und die daraus abzuleitenden Standards zu suchen.“ (Enquete-Kommission Schutz des Menschen und der Umwelt 1994, S. 57)
Eine Zielableitung kann aus dieser Perspektive nur in einem gesellschaftlichen Prozess stattfinden (vgl. SRU 1998, S. 18). Auch aufgrund der Komplexität des Problemfeldes ist eine solche Ableitung also nicht allein durch wissenschaftliche Abwägungen möglich, sondern kann immer nur kontextuell erfolgen. Und das heißt gleichzeitig, dass eine Konkretisierung und Umsetzung des Leitbildes vielmehr prozedural, diskursiv und kultur-, raumund zeitspezifisch erfolgen muss (vgl. dazu Enquete-Kommission Schutz des Menschen und der Umwelt 1997, S. 23): „Nachhaltigkeit ist ihrem Wesen nach nur als gesellschaftlich diskursives Leitbild bestimmbar. (...) Die inhaltliche Konkretisierung dessen, was als dauerhaft sozial-, umwelt-, wirtschafts- und kulturverträglich bezeichnet werden kann, muß also jeweils historisch-situativ entschieden werden.“ (Matzen 1998, S. 164 und 166)
Damit tritt ein alternatives Verständnis der nachhaltigen Entwicklung als Leitbild zu Tage. Das Leitbild nachhaltige Entwicklung kann demnach auch als übergeordnete „regulative Idee“ (Homann 1996) oder auch „variable Leitplanke“ (Enquete-Kommission Schutz des Menschen und der Umwelt 1997) verstanden werden. In diesem Fall erscheint nachhaltige Entwicklung wie Wohlstand oder Freiheit als ein offener Begriff. Regulative Ideen sind gerade keine operationalisierbaren, im Sinne rationaler und begründeter Handlungsziele, sondern formale Ziele, Werte oder Prinzipien, die lediglich eine Zwischenbestimmung des Problemkreises angeben: „Nachhaltigkeit als regulative Idee bezeichnet in diesem Sinne eine Heuristik und kommt der Ausrichtung einer gesellschaftlichen Entwicklung auf einen anzustrebenden Zustand – den der Nachhaltigkeit – gleich, der aber selbst nicht quantitativ festlegbar oder qualitativ eindeutig zu operationalisieren ist.“ (Ebd., S. 34)
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Das Leitbild nachhaltige Entwicklung gibt als regulative Idee dann lediglich vorläufige Hinweise für einen längeren Suchprozess (vgl. Voss 1997, S. 43): „In diesem Sinne dienen regulative Ideen als Heuristik für die Reflexion, sie lenken die Such-, Forschungs- und Lernprozesse in eine bestimmte Richtung und unter einen bestimmten Fokus und bewahren auf diese Weise davor, zusammenhanglos und zufällig mit der Stange im Nebel herumzustochern. Man braucht wenigstens eine intuitive Vorstellung davon, was man sucht.“ (Homann 1996, S. 38)
Was Nachhaltigkeit ist, wird damit als kultur-, zeit- und situationsabhängig angesehen und kann deshalb nur in einem diskursiven Prozess erarbeitet werden (vgl. Brand 1999; Schwarz 2003). Aus einer solchen Perspektive gibt es dann auch nicht die eine rationale, ein-eindeutige Ableitung von Zielen aus globalen Leitbildern. Insofern ist die gängige Formulierung „Operationalisierung“ des Leitbildes irreführend. Dies schließt jedoch nicht grundsätzlich aus, in einem gesellschaftlichen Konsultationsprozess zur regulativen Idee der nachhaltigen Entwicklung einen vorläufigen Entwurf für ein darauf bezogenes Zielsystem zu erarbeiten, welches politische Entscheidungen ermöglicht. Im politischen Prozess leistet ein solches globales Leitbild wie die nachhaltige Entwicklung damit die grundsätzliche Ausrichtung des Denkens und Handelns auf einen allgemeinen erstrebenswerten Zukunftshorizont. Solcherart globale Leitbilder sind einem Wertesystem näher als einem operationalen Ziel(system) und bedürfen der diskursiven Ableitung weiterer Zielbestimmungen. Diese Konkretisierungen liegen außerhalb des Leitbildes selbst, werden jedoch durch das Leitbild als regulativer Idee zusammengehalten. Als übergeordnete Ziel- bzw. Wertvorstellungen sind Leitbilder damit offen für Interpretation und Ausgestaltung, geben jedoch den weiter zu konkretisierenden Zielen einen allgemeinen Orientierungsrahmen. Die Bewertung des Leitbildcharakters bzw. der Leitbildqualität der nachhaltigen Entwicklung ist umstritten.62 Auf der einen Seite wird dem Konzept nachhaltige Entwicklung durchaus zugestanden, dass es einen Diskurs angeregt, breite soziale Anschlussfähigkeit bewiesen und der Diskussion eine grobe Richtung gegeben hat. Das Leitbild hat zwischen den unterschiedlichen Akteuren eine „gemeinsame Gesprächsebene in Umweltfragen“ entstehen lassen, ist zum „Impulsgeber für eine neue Grundlagenreflexion über die Zukunft der Gesellschaft geworden“ und hat sich als „integrierender und konsensstiftender Orientierungsrahmen im Prinzip bewährt“ (SRU 1996, S. 50f.). Mitunter wird sogar eine im internationalen Maßstab erfolgte Vereinheitlichung politischer Steuerungsmuster und -ziele als Wirkung des Leitbilds der nachhaltigen Entwicklung als Idee festgestellt (vgl. Brozus/Take/Wolf 2003). Auf der anderen Seite wird dem Konzept nachhaltige Entwicklung vorgeworfen, dass es gar nicht über hinreichendes Leitbildpotenzial verfüge (vgl. Lange 2000; Brand 1997 und 1999). Durch die Verknüpfung der ökologischen, ökonomischen und sozialen Problemfelder würden so heterogene Ziele miteinander verknüpft werden, dass die Koordination des Denkens und Handelns der Akteure durch das Leitbild gar nicht gegeben sei (vgl. Lange 2000, S. 60). Das Leitbild scheitere daran, dass es zu allgemein gefasst, zu komplex und 62
In der hier dargestellten Kritik geht es lediglich um den in Frage stehenden Leitbildcharakter der nachhaltigen Entwicklung, nicht das Konzept und seine Aussagen selbst.
3.2 Leitbilder in der Politik
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gar widersprüchlich sei.63 Brand (1997, S. 11) konstatiert zudem, dass die Idee der nachhaltigen Entwicklung, was seine Resonanz und Mobilisierungskraft betrifft, nicht genügend Leitbildpotenzial besitzt: „Das Konzept ist also nicht gerade ein ‚Renner‘. Es ist (in der Öffentlichkeit) nicht mit besonderen Emotionen verknüpft. Es polarisiert nicht, es beflügelt aber auch keine Phantasien. Es ist ein sehr allgemein gehaltenes, abstraktes Konzept, gegen das nicht viel zu sagen ist, wenn man sich die Alltagsassoziationen von ‚nachhaltig‘ oder ‚dauerhaft‘ vor Augen hält: wer ist schon für eine ‚nicht-nachhaltige‘ Entwicklung? Andererseits: was kann man sich unter ‚nachhaltiger Entwicklung‘ schon genau vorstellen? (...) ‚Nachhaltige Entwicklung‘ kommt etwas langweilig, dröge daher.“ (Brand 1999, o.S.)
Die Kritik wird extrem zugespitzt, wenn der Idee der nachhaltigen Entwicklung ihr Leitbildcharakter sogar gänzlich abgesprochen wird. Brand (1999) fragt danach, welche Funktionen Ideen oder Konzepte erfüllen müssen, um als Leitbilder fungieren zu können.64 Dazu gehört unter anderem die Eigenschaft, dass sie Vorstellungen von machbaren und wünschenswerten Entwicklungen bündeln, die Ideen in Bildern attraktiv verdichten und somit eine emotionale Mobilisierung schaffen und Kooperation fördern (vgl. Brand 1999). Brand kommt zu dem Schluss, dass das Konzept nachhaltige Entwicklung diese Funktionen nicht erfüllt, ihm also die Eigenschaften fehlen, um tatsächlich als gesellschaftliches Leitbild wirken zu können. Damit wird deutlich, dass für das Urteil über das Leitbildpotenzial bzw. den Leitbildcharakter des Konzepts der nachhaltigen Entwicklung von grundlegender Bedeutung ist, wie Leitbilder überhaupt definiert werden. Die kritischen Bewertungen des Konzepts der nachhaltigen Entwicklung hinsichtlich seines Leitbildcharakters bei Brand und Lange stehen dabei im Zusammenhang mit der Differenz von echten und propagierten Leitbildern (vgl. Kapitel 2.2.1). Gerade im Metadiskurs über den Leitbildcharakter der nachhaltigen Entwicklung kommt zu Tage, dass es sich auch beim Leitbild nachhaltiger Entwicklung eher um ein propagiertes, denn ein praktiziertes Leitbild handelt: „Jenseits dessen macht es einen Unterschied, ob Akteure ein Leitbild haben, dem sie folgen, oder ob ein oder mehrere vorhandene Leitbilder von einem neuen ersetzt werden sollen. Das Nachhaltigkeitsgebot zielt ausdrücklich auf letzteres.“ (Lange 2000, S. 53)
Die klare Differenz zwischen echten und propagierten Leitbildern ist hier allerdings nur schwer aufrechtzuerhalten. Es ist zwar ein gesetztes Leitbild, entfaltet jedoch bereits durch den darauf bezogenen Diskurs eine strukturierende Wirkung auf das Denken und Handeln. So wird es im Diskurs unter Umständen allmählich zu einem echten, d.h. denk- und handlungsleitenden Leitbild. Wird dem Konzept der nachhaltigen Entwicklung (dennoch) sein zu schwaches Leitbildpotenzial vorgeworfen, so zeigt sich das klassische Problem propagierter Leitbilder, dass diese so lange noch keine Leitbildwirkung entfalten, wie sie nicht im Denken der Akteure verankert sind. Sie haben zunächst nur den Anspruch ihren Leitbildcharakter auszuprägen, nicht jedoch von sich aus auch diese Eigenschaft. 63 64
Auch Lange erkennt jedoch an, dass das Konzept nachhaltige Entwicklung einen integrierenden und konsensstiftenden Orientierungsrahmen schafft (vgl. Lange 2000, S. 55). Hier wird explizit Bezug genommen auf das hauptsächlich aus der sozialwissenschaftlichen Technikforschung stammende Leitbildkonzept der WZB-Gruppe (vgl. Kap. 3.5.1).
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„Es geht vielmehr um ein sehr allgemeines, sehr abstraktes ‚Leitbild‘ gesellschaftlicher Entwicklung – oder genauer, um einen Begriff und ein dahinterstehendes Konzept, das überhaupt erst Leitbild-Qualität in der breiten Öffentlichkeit erlangen soll.“ (Brand 1999, o.S.)
In dem weiten Diskurs- und Handlungsfeld, das sich auf das Leitbild nachhaltige Entwicklung bezieht, gibt es Akteure, für welche die nachhaltige Entwicklung bereits das implizite Leitbild in dem Sinne darstellt, dass ihr Denken und Handeln sich daran orientiert. Ebenso wird es Akteure geben, für welche die nachhaltige Entwicklung eine selbst- oder sogar fremdgesetzte Zielvorstellung darstellt, die jedoch noch nicht aktuell denk- und handlungsbestimmend und somit nur propagiert ist. Zudem ist in Bezug auf das Leitbild nachhaltige Entwicklung deutlich geworden, dass sich unter derselben Bezeichnung sehr unterschiedliche Vorstellungen verbergen, mithin verschiedene Interpretationsgemeinschaften ihren je eigenen Begriff von nachhaltiger Entwicklung entwickelt haben. Hinter demselben manifesten Leitbild verbergen sich damit unter Umständen verschiedene implizite Leitbilder.65 3.2.3 Leitbilder in der Europapolitik Weitgehend unabhängig von der Frage des Zusammenhangs zwischen Leitbildern und Konzeptionen, Zielen bzw. Ziel-Mittel-Systemen wird seit Jahrzehnten auch in Bezug auf die Europapolitik mit dem Leitbildbegriff operiert.66 In diesem Kontext legte Ende der 1970er Jahre Schneider ein eigenes Leitbildkonzept vor, um damit die dem europäischen Integrationsprozess zugrunde liegenden unterschiedlichen Zielvorstellungen und Wahrnehmungsmuster zu beschreiben (vgl. Schneider 1977). Mit dem Verweis darauf, dass die Vorstellungen von einer erwünschten Zukunft die Wahrnehmung der Gegenwart prägen, fasst Schneider unter Leitbildern nicht nur Zielvorstellungen, sondern auch Wahrnehmungs- und Deutungsmuster der gegebenen Situation (vgl. auch Schneider 1992, S. 4). „Gleichwohl wirken Vorstellungen darüber, wie man sich die Wirklichkeit wünscht, welche Gestalt man ihr geben will, auf das Bild ein, das man sich von ihrem heutigen Bestand macht (…).“ (Schneider 1977, S. 23).
Schneider versteht damit unter Leitbildern nicht nur Vorstellungen von erstrebten Zuständen, die mit den Gegebenheiten mehr oder weniger kontrastieren – also immer ein Moment der gewünschten Verbesserung enthalten –, sondern auch Vorstellungen, die sich auf die Ist-Zustände beziehen im Sinne von „Realitätsdeutungen“ (Schneider 1977, S. 20f.). Zielvorstellungen sowie Wahrnehmungs- und Deutungsmuster der gegebenen Situation sind für ihn dialektisch aufeinander bezogen. Aus diesem dialektischen Verhältnis zwischen der Wahrnehmung der erwünschten und der gegebenen Zustände ergeben sich auch unterschiedliche Urteile und Bewertungen der gegenwärtigen Situation (vgl. Schneider 1977, S. 17 und ders. 1992, S. 4). 65 66
Und nur in diesem Sinne wäre der Position zu folgen, die Zukunftsfähigkeit als Meta-Leitbild ansieht, das eine Vielzahl von Leitbildern beinhaltet (vgl. Spangenberg/Lorek 2001 und 2003). In der europapolitischen Debatte taucht der Begriff regelmäßig auf, bleibt dort aber mitunter verhältnismäßig unbestimmt neben Begriffen wie Modell, Konzeption, Motiv etc. stehen (vgl. etwa Schmuck 2003, Brincker 2006).
3.2 Leitbilder in der Politik
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Schneider erweitert den Leitbildbegriff schließlich noch insofern, als Leitbilder nicht nur Vorstellungen der gegebenen und erstrebten Zustände zum Ausdruck bringen, sondern auch die Vorstellung vom Weg zwischen dem faktischen und erstrebten Zustand. Damit können in diesem Konzept auch Strategien und Maßnahmenentwürfe in Leitbildern zum Ausdruck kommen (vgl. Schneider 1977, S. 21f.). In gleicher Weise äußert sich Janning (1991), wenn er als Leitbilder der europäischen Integration nicht nur die Zielaussagen verstanden wissen will, die den Zustand der Vollendung des Integrationsprozesses beschreiben, sondern auch die bildlichen Vorstellungen über den Prozess, wie dieser abläuft bzw. ablaufen soll. Erneut wird der Leitbildbegriff in der politikwissenschaftlichen Forschung zur europäischen Integration von Hörnlein (2000) aufgegriffen und mit Rekurs auf einzelne Leitbildkonzepte – auch außerhalb des politikwissenschaftlichen Diskurses – neu gefasst. Das daraus entstandene Leitbildkonzept weist zwar einige innere Widersprüche auf, folgt aber im Großen und Ganzen dem Ansatz von Schneider und greift überdies wichtige Fragen zur Klärung des Leitbildbegriffes auf. Hörnlein will politische Leitbilder als explizit formulierte verstanden wissen (vgl. Hörnlein 2000, S. 33). Sie kommen in Erklärungen, Verfassungen, Verträgen etc. explizit zum Ausdruck.67 Leitbilder nehmen für Hörnlein als Zielvorstellungen zwischen Idealen und Zielen sowie hinsichtlich ihres Realitätsbezuges zwischen Idealen und Weltbildern eine Vermittlungsposition ein. Gegenüber den abstrakten Idealen sind sie realitätsbezogener und gegenüber den konkreten Zielen wertbezogener (vgl. ebd., S. 67 und 226).68 Ideale, als die für Hörnlein obersten Ziele der Politik, sind eine Setzung der abstrakten und nicht realisierbaren, aber erstrebenswerten Zustände (vgl. ebd., S. 24ff.). Leitbilder haben demgegenüber einen Gegenwartsbezug und beinhalten eine Realisierungschance. Ziele bezeichnen einen zukünftig angestrebten, realisierbaren Zustand, dessen Erreichung messbar ist (vgl. ebd., S. 28f.). Aus bestimmten Idealen lassen sich bestimmte Leitbilder und aus diesen wiederum bestimmte Ziele ableiten, wobei die Beziehung zwischen Leitbildern und Zielen nicht „eineindeutig“ ist (vgl. ebd., S. 29). Weltbilder selektieren und interpretieren die gegebene Wirklichkeit und reduzieren ihre Komplexität, sind dabei aber nicht bewusst (vgl. ebd., S. 33). Demgegenüber sagen Leitbilder nicht nur, wie die Welt zu sehen ist, sondern auch wie die Welt sein sollte (vgl. ebd., S. 34). Leitbilder heben damit in sich Weltbilder und Ideale aufeinander bezogen auf und geben aus diesem Verweisungszusammenhang (zwischen Ideal und Weltbild) bestimmte erreichbare und zu erreichende Ziele vor. Zugleich benennen sie auch den Weg dorthin, das politische Instrumentarium (vgl. ebd., S. 14).69 Für Hörnlein müssen Leitbilder nicht auf die Veränderung des Status quo gerichtet sein, sondern können gleichfalls seine Erhaltung intendieren. Im Gegensatz zu Idealen können Leitbilder in Bezug auf die gegebene Realität also eine Erhaltungsmotivation beinhalten (vgl. ebd., S. 26). In der leitbildbezogenen Forschung zur Europapolitik ist kein einzelnes Leitbild herausgestellt und zu einer leitbildhaften Formel verdichtet worden. Leitbilder sind hier vielmehr als eine Kategorie genutzt worden, den europäischen Integrationsprozess und insbe67 68 69
Im Widerspruch zu dieser Setzung steht allerdings die Feststellung des Autors, dass Leitbilder auch in Diskursen und Handlungen erfassbar werden (vgl. Hörnlein 2000, S. 227). Hierzu bedarf es jedoch keiner expliziten Formulierung, sie müssten den Akteuren nicht einmal (vollends) bewusst sein. Dies entspricht in der Tendenz dem Leitbildverständnis von Schneider, der bei Leitbildern nicht nur nach Zielvorstellungen, sondern auch nach Realitätsdeutungen fragt. Auch in der Mitberücksichtigung von Strategien, Maßnahmen oder Instrumenten zur Zielerreichung als Element von Leitbildern schließt Hörnlein also letztlich an Schneider an.
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sondere die diesem zugrunde liegenden Zielvorstellungen, Wahrnehmungsmuster und Handlungsstrategien zu untersuchen und sinnhaft zu verstehen.70 Der Leitbildbegriff der Europapolitik unterscheidet sich damit fundamental von dem der Wirtschafts-, Sozial- und Umweltpolitik. Hier geht es nicht um lediglich propagierte Leitbilder, sondern um wahrnehmungs-, denk- und handlungsleitende Orientierungsmuster, welche gar nicht explizit formuliert sein müssen. Der Leitbildbegriff in der Europapolitik bezieht sich damit auf implizite Leitbilder. 3.2.4 Gesellschaftspolitische Leitbilder in der Bürgergesellschaft In der aktuellen gesellschaftspolitischen Diskussion zum Verhältnis zwischen Bürger und Staat und zum Konzept einer Bürgergesellschaft wird auf unterschiedlichen Ebenen mit Leitbildern gearbeitet. Die Bürgergesellschaft selbst wird als Leitbild bezeichnet und dieses Leitbild soll den Bezugsrahmen für das bürgerschaftliche Engagement bilden (vgl. etwa Bürsch 2006). Die Bürgergesellschaft als Leitbild ist damit nicht nur Zustandsbeschreibung, sondern auch Programm (vgl. Deutscher Bundestag 2002, S. 6 und 24). Daneben begegnet man Überlegungen zur Rolle des Staates und des Bürgers in der Gesellschaft, die in leitbildhaften Formeln oder Schlagworten charakterisiert werden: Zum einen wird ein Leitbild für den Staat entworfen, das die (zukünftige) Rolle und Funktion von Politik und Verwaltung umreißt. Diesbezüglich kursiert aktuell vor allem das Leitbild des aktivierenden Staates (vgl. Goos-Wille/Keil 2001; Heinze/Olk 2001, S. 19; Olk 2001; SRU 2002, S. 86; Damkowski/Rösener 2003; zum historisch sich wandelnden Staatsverständnis vgl. Baer 2006). Zum anderen werden in historisch vergleichender Betrachtungsweise Leitbilder vom Bürger entworfen, die den jeweiligen gesellschaftlichen Anspruch an die Bürgerrolle prototypisch darstellen – etwa der bürgerschaftliche Aktivbürger (Olk 2001, S. 45 und Ackermann 1999, S. 170) oder die republikanische Idee des Staatsbürgers (Hummel 1999, S. 129). Bei den genannten Leitbildern handelt es sich um typisierte Rollen oder Gestalten, welche bestimmte anzustrebende und in ihrer Entwicklung zu unterstützende Eigenschaften der Akteure – Bürger oder Staat – umreißen. Sie sind anschaulich und in ihrer Prägnanz in einem besonderen Maße der öffentlichen Diskussion zugänglich. Auch hier wird jedoch deutlich, dass diese expliziten Leitbilder zu ihrer Realisierung der Konkretisierung bedürfen, die eine weitergehende Diskussion nötig werden lässt. Die manifestierten Leitbilder in ihrer unmittelbaren Evidenz bilden dabei zunächst einen Aufmerksamkeit schaffenden Bezugspunkt für die Verständigung und geben eine erste Richtung an, was denkmöglich, erwünscht und auch realisierbar erscheint. Diese formulierten Leitbilder sind allerdings häufiger Teil der gesellschaftspolitischen Debatte als Gegenstand sozialwissenschaftlicher Reflexion. Gleichwohl kann diese Form der Beschreibung von typisierten Rollen anhand von manifesten Leitbildern sozialwissenschaftlich genutzt werden, wenn nämlich komplexe Vorstellungen gebündelt und in ihren Implikationen untersucht werden sollen (vgl. im Ansatz Ackermann 1999 und Olk 2001; vgl. auch die Parallelen zu Sozialleitbildern allgemein und Berufsrollenvorstellungen in Kap. 3.1.2).
70
Ein entsprechender rekonstruktiver Forschungsansatz wird aktuell im Institut für europäische Politik verfolgt (vgl. www.iep-berlin.de/index.php?id=72).
3.2 Leitbilder in der Politik
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3.2.5 Fazit zu Leitbildern in der Politik Den Leitbildbegriff der Politik bzw. Politikwissenschaft gibt es nicht. Selbst in einzelnen Politikbereichen kommt selten ein Konsens darüber zustande, was unter Leitbildern konkret zu verstehen ist. Entsprechend hat der Leitbildbegriff hier keinen spezifischen Stellenwert als Fachterminus. Ebenso wenig wie es einen konsensuellen Leitbildbegriff gibt, so wenig existiert ein explizit zusammenhängender Diskurs über Leitbilder als Kategorie der Politikwissenschaft. Viele Autoren nehmen Bestimmungen hinsichtlich ihres Leitbildverständnisses vor, ohne jedoch auf die Überlegungen und Abgrenzungen anderer Autoren einzugehen. Auf diese Weise stehen unterschiedliche Leitbildverständnisse verhältnismäßig unverbunden nebeneinander und können nur schwer systematisch aufeinander bezogen werden. Weitgehend als Konsens kann hier die Bestimmung von Leitbildern angesehen werden, dass diese langfristig angestrebte, übergeordnete Ziel- bzw. Wertvorstellungen darstellen, die in aller Regel noch keine Aussagen über die hierfür notwendigen konkreten Maßnahmen zur Erreichung machen. Leitbilder finden sich in der Politik vor allem dann, wenn einzelne Ressortgrenzen bzw. Politikfelder überschritten werden und übergreifende sowie übergeordnete Zielvorstellungen formuliert werden. Dies wird besonders deutlich an den beiden globalen Leitbildern der Sozialen Marktwirtschaft und der nachhaltigen Entwicklung. Varianten oder Differenzen gibt es gegenüber diesem weitgehend konsensuellen Grundverständnis in den Fragen, in welchem Verhältnis Leitbilder zu Zielsystemen stehen, welches Abstraktionsniveau bzw. welchen Konkretisierungsgrad sie besitzen sowie ob und inwiefern sie als realisierbar angenommen werden. Das Leitbildverständnis in der Politikwissenschaft spaltet sich in drei Grundpositionen. Erstens werden Leitbilder als rationale, d.h. abgestimmte und in sich konsistente Zielsysteme selbst oder doch zumindest übergeordnete Zielvorstellungen als Element dieser operationalen Zielsysteme verstanden. Zweitens stehen Leitbilder für mehr oder weniger vage, mehr oder weniger bildliche, in einem Such- und Aushandlungsprozess kontextuell ausgestaltbare, aber nicht wissenschaftlich operationalisierbare Zukunftsentwürfe. In diesem Verständnis stellen Leitbilder einen vor-rationalen Entwurf, ein Wertesystem bzw. eine regulative Idee dar, welche sich durch Offenheit und Interpretierbarkeit auszeichnen. Ganz eigen ist schließlich drittens das Leitbildverständnis der Forschung zur europäischen Integration, die Leitbilder nicht als Instrument der politischen Zielfindung definiert und behandelt, sondern als Kategorie zur Beschreibung der Ziel- und Hintergrundvorstellungen sowie Motive im europäischen Integrationsprozess nutzt. Leitbilder gelten als übergeordnete und allgemein gehaltene Zielvorstellungen. In der fehlenden Konkretisierung wird ihre besondere Integrationskraft und Anpassungsfähigkeit gesehen. Unmittelbar mit dem Abstraktions- oder Konkretisierungsgrad der Leitbilder verbunden ist jedoch das Problem der Dialektik zwischen Handlungsspielraum und Aussagefähigkeit bzw. Orientierungsleistung der Leitbilder. Dies wird besonders in der Diskussion um die Soziale Marktwirtschaft sowie die nachhaltige Entwicklung deutlich. Einerseits wird die Qualität gewürdigt, dass Leitbilder Handlungsspielraum lassen, andererseits erreicht diese Qualität dann ihren Grenznutzen, wenn der Handlungsspielraum so groß wird, dass sie ihre Orientierungsfunktion verlieren oder dass sie zu einer Leerformel werden. Leitbilder, im Bild von „Leitplanken“ gesehen, grenzen ein bestimmtes Feld ab, das eine mehr oder weniger festgelegte Richtung aufweist. Leitbilder, bei denen der Handlungsspielraum zu groß ist, weil die damit verbundenen Vorstellungen zu vage, zu allgemein sind und ent-
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sprechend heterogene Konkretisierungen darin Platz finden, verlieren sowohl an fassbarer Aussage als auch ihre Orientierungsqualität, weil die einzuschlagende Richtung nicht mehr zu erkennen ist.71 Damit erscheint – insbesondere bei solch globalen Leitbildern wie der nachhaltigen Entwicklung – der Vorwurf des „Leerformel-Charakters“ berechtigt.72 Leerformeln zeichnen sich dadurch aus, dass der Sinn und Inhalt einer Aussage nicht eindeutig erfasst werden kann, so dass keine klaren Interpretationen möglich sind. Das Leitbild als Leerformel ist dann zu allgemein, unkonkret und vage, sodass daraus eigentlich keine begründbaren Entscheidungen abgeleitet werden könnten (vgl. dazu auch Kap. 3.4.4). So heißt es auch zum Leitbild nachhaltiger Entwicklung, dass allein die Berufung auf die „Essentials“ des Leitbildes riskiert inhaltsleer zu werden und damit zu einer unverbindlichen Formel, auf die sich alle berufen können (vgl. Brand 1999). Leitbilder in ihrer vagen Inhaltsbestimmung lassen zwar konfligierende Zielsetzungen zu. Sie als beliebig einzustufen, würde ihnen wohl aber nicht gerecht (vgl. dazu Kleinhenz 1985, S. 461). Die Qualität auch eines so globalen Leitbildes wie dem der nachhaltigen Entwicklung liegt vielmehr darin, dass es eben doch nicht beliebig ist, sondern einen Richtungsanzeiger liefert, sodass mit Bezug darauf gedacht, verhandelt und gehandelt werden kann. Dieses allgemeine Leitbild muss dann allerdings diskursiv konkretisiert werden, um daran orientierte politische Entscheidungen zu ermöglichen. In der Politikwissenschaft gelten Leitbilder in der Regel als realisierbar. Wo Leitbilder als Element eines politischen Zielsystems konzipiert werden, wird ihre Realisierung zugleich aktiv verfolgt, indem ein hierarchisches Zielsystem mit zunehmend konkretisierten und operationalen Zielen entworfen wird. Anders verhält es sich in der Vorstellung vom Leitbild der nachhaltigen Entwicklung als regulativer Idee sowie allen Leitbildvorstellungen, die diese vielmehr als Wertvorstellungen, Leitplanke, Prinzipien oder Orientierungslinie mit Entwurfscharakter verstehen.73 Hier geht es nicht um die Realisierung im Sinne der Erreichung eines konkret festgelegten und klar umrissenen Zielpunktes, sondern um die Ausgestaltung eines Prinzips und die Annäherung an eine Idee bzw. einen angestrebten Zustand, deren Umrisse im Umsetzungsprozess überhaupt erst hervortreten. In diesem Verständnis wird Nachhaltigkeit als Wertvorstellung ebenso wie Freiheit oder Wohlstand auch nicht endgültig erreichbar sein, nicht zuletzt deshalb, weil die Wahrnehmung dessen, was Nachhaltigkeit ist, sich in einem potenziell unendlichen Prozess immer weiterentwickelt. Von echten und propagierten Leitbildern in der Politik Weitgehend unreflektiert bleibt in der politikwissenschaftlichen Diskussion die Frage, ob die als Leitbilder bezeichneten Ziel- und Wertvorstellungen als denk- und handlungsstrukturierende Orientierungsmuster oder lediglich als Absichtserklärungen zu begreifen sind. Diese Aspekte sind in der Unterscheidung von echten und propagierten Leitbildern eingeführt worden (vgl. Kapitel 2.2.1). 71 72 73
Darin gleichen Leitbilder Werten, die vielmehr elementare Handlungsprogramme umfassen und lediglich einen Korridor von Handlungsmöglichkeiten eröffnen statt wie Normen mehr oder weniger konkrete Handlungsanweisungen bereitzuhalten (vgl. Wiehn/Birner/Schuhmacher 1979). Der Vorwurf des Leerformelcharakters von Leitbildern ist besonders in der Raumordnung und im Städtebau diskutiert worden (vgl. Kap. 3.4.4). Die dort geführte Diskussion macht deutlich, dass sich mit dem potenziellen Leerformelcharakter von Leitbildern nicht nur Probleme, sondern auch Chancen verbinden. Hierzu wird auch das Leitbildverständnis von Kloten und Engelhardt gezählt werden können.
3.2 Leitbilder in der Politik
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Leitbilder in der Wirtschafts-, Sozial- und Umweltpolitik bezeichnen eher manifeste und lediglich propagierte Ziel- bzw. Wertvorstellungen, stellen also explizite Leitbilder dar, welche jedoch in Zukunft das Denken und Handeln in eine bestimmte Richtung lenken sollen (Typ 4 bzw. 6). Soziale Marktwirtschaft und nachhaltige Entwicklung als globale Leitbilder haben zudem eher den Charakter von allgemeinen Prinzipien als von Leitbildern, mit denen hinreichend konkrete und anschauliche Vorstellungen von der angestrebten Zukunft verbunden werden. Erst wo diese leitbildhaften Formeln mit einem intersubjektiven Sinn belegt werden, werden sie eigentlich zu echten Leitbildern (Typ A) oder wenigstens Ideen mit Leitbildpotenzial (Typ 3). Die Trennung zwischen echten und propagierten Leitbildern ist in der Politik aber insofern problematisch, dass es sich bei den Leitbildern als Zielsysteme selbst oder als Element der politischen Zielsysteme um manifeste Zielformulierungen handelt, die allein durch Ableitung von konkreteren Zielen und Maßnahmen unmittelbar handlungsrelevant werden. Ob diese Leitbilder dann nur propagiert sind oder ob sie sich als Orientierungsmuster in das Denken und Handeln eingeschrieben haben, lässt sich nur schwer feststellen und wird in der Politikwissenschaft nicht reflektiert. Das Konzept der nachhaltigen Entwicklung kann als der Versuch einer Bündelung international geteilter und allgemein anerkannter Prinzipien und Werte angesehen werden. Insofern ist dieses Leitbild nicht als fremdgesetzte Zukunftsvorstellung anzusehen, sondern Ausdruck einer geteilten, erstrebenswerten Perspektive. Aber inwieweit führt die Zustimmung zu solch allgemeinsten Prinzipien dann auch zu einem geteilten Denk- und Handlungshorizont im Sinne eines impliziten Leitbildes? Die angesprochenen globalen Leitbilder bedürfen, damit sie tatsächlich das Denken und Handeln in konkreten Kontexten leiten können, zunächst der Verständigung über deren Bedeutungsgehalt und damit einer inhaltlichen Konkretisierung. Die politischen Bemühungen, sei es in Bezug auf die Operationalisierung der Leitbilder in Zielsystemen oder in Form diskursiver und kontextueller Suchund Entscheidungsprozesse zur Ausgestaltung der regulativen Ideen, beziehen sich eben auf diese Frage. Nur so kann aus einem allgemeinen Prinzip auch tatsächlich ein geteiltes, komplexes, zukunftsgerichtetes Orientierungsmuster werden, welches das Denken und Handeln in eine bestimmte Richtung zu lenken vermag. Grundlegend anders wird der Leitbildbegriff in der Forschung zum europäischen Integrationsprozess verstanden. Hier geht es ausdrücklich um die Analyse der impliziten (mentalen, praktizierten) Leitbilder, die dem Denken und Handeln der Akteure im Integrationsprozess zugrunde liegen (Typ 1). Damit wird deutlich, dass es sich hierbei um einen anderen Leitbildbegriff handelt als in der übrigen Politikwissenschaft. Deren Differenz verweist auf die unterschiedlichen Umgangsformen mit Leitbildern in der Forschung. Zum Umgang mit Leitbildern in der politikwissenschaftlichen Forschung In politikwissenschaftlichen Konzepten, in denen Leitbilder als Teil von Zielsystemen verstanden werden, werden diese vor allem unter der Frage ihrer Konkretisierung und Umsetzung behandelt. Die Konkretisierung und Umsetzung von Leitbildern wird dabei sowohl direkt zur Aufgabe erhoben als auch begleitend untersucht. Diese Umgangsform bildet den Schwerpunkt in der leitbildbezogenen Politikwissenschaft.
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3 Leitbilder in den Sozialwissenschaften – die Diskursanalyse
Denk- und handlungsleitende implizite Leitbilder überhaupt erst zu identifizieren, gar ihre Implikationen und Auswirkungen zu prüfen, tritt demgegenüber zurück. Solcherart Ansätze findet man lediglich vereinzelt bei Engelhardt, im wissenschaftlichen Diskurs zur Bürgergesellschaft sowie in der europapolitischen Forschung. Engelhardt hat bereits früh angemerkt, dass den noch nicht voll bewussten, noch nicht abgewogenen und ausgearbeiteten, dennoch die Konzeptionen prägenden zukunftsbezogenen Vorstellungen wissenschaftlich nicht genügend Aufmerksamkeit gewidmet würde. Diese müssten interpretiert und im Zusammenhang mit den gesetzten Zielen analysiert werden. Daneben fanden sich in der Debatte um die Bürgergesellschaft vereinzelte Ansätze zur Untersuchung der Implikationen bestimmter Leitbilder. In der Beschreibung von idealen Rollen des Staates und des Bürgers wird versucht, komplexe Vorstellungen zu bündeln und diese in ihren Implikationen zu untersuchen. Demgegenüber nimmt der Leitbildbegriff in der Forschung zur europäischen Integration bereits den Charakter einer analytischen Forschungskategorie an. Schneider und Hörnlein haben einen je eigenen Leitbildbegriff im Sinne impliziter Leitbilder entwickelt, um anhand dessen die dem europäischen Integrationsprozess zugrunde liegenden Motive und Zielvorstellungen, Wahrnehmungsmuster und Gegenwartsdeutungen zu analysieren. Der Leitbildbegriff als analytische Kategorie ist innerhalb der Politikwissenschaft – so kann man abschließend feststellen – nicht auf breiter Ebene ausgearbeitet worden. Zwar spielt der Begriff in unterschiedlichen politisch relevanten Bereichen eine besondere Rolle. Für eine politikwissenschaftliche Analyse ist er als selbständige Kategorie dagegen nur selten aufgegriffen worden. Dementsprechend hat sich auch keine politikwissenschaftliche Leitbild-Methodologie entwickelt, die die Analyse von Leitbildern in der Politikwissenschaft fundieren würde. Stattdessen bezeichnen Leitbilder vor allem eine übergeordnete Zielebene innerhalb von politischen Zielfindungsprozessen, welche in der Ausarbeitung des Zielsystems konkretisiert und operationalisiert werden muss. Seltener meinen Leitbilder eine regulative Idee oder Wertvorstellung, die es in einem längeren Suchprozess inhaltlich auszugestalten gilt. Die politikwissenschaftliche Forschung befasst sich entsprechend schwerpunktmäßig mit der Frage, wie solcherart Leitbilder konkretisiert und umgesetzt werden können. Leitbilder stellen damit im politikwissenschaftlichen Verständnis vornehmlich ein Steuerungsinstrument dar, das im politischen Planungsprozess zur Zielfindung beitragen soll.
3.3 Leitbilder in Organisationen und Unternehmen
81 Insofern trifft ein offizielles Leitbild immer auf schon vorhandene, unter Umständen äußerst stabile Leitbilder der Organisationsmitglieder. Rick Vogel (2003, S. 97)
3.3 Leitbilder in Organisationen und Unternehmen Die Diskussion über Organisationsleitbilder betrifft Unternehmen ebenso wie Nonprofit Organisationen und Organisationen des öffentlichen Sektors. Ursprünglich stammt der in Bezug auf Organisationen dominierende Leitbildbegriff aus der Betriebswirtschaftslehre und bezieht sich dort auf Unternehmensleitbilder als Grundsatzdokumente von Unternehmen, wurde aber auch für andere Organisationen adaptiert. Unternehmensleitbilder sind Gegenstand der fachspezifischen betriebswirtschaftlichen Literatur wie auch der betriebswirtschaftlichen Ratgeberliteratur und schließlich der Praxis der Unternehmensführung selbst. Der Begriff des Unternehmensleitbildes wird mal synonym, mal in Abgrenzung zu einer Vielzahl anderer Begriffe genutzt, wie bspw. Unternehmensgrundsätze, Unternehmensphilosophie, Unternehmensverfassung, Mission oder Vision. Daneben wird der Begriff jeweils in einen spezifischen Zusammenhang gebracht mit Konzepten wie etwa Unternehmenspolitik, Organisations- oder Unternehmenskultur und Corporate Identity. Die Begriffsdefinitionen und Vorstellungen davon, was ein Leitbild darstellt, sind entsprechend vielfältig bis widersprüchlich. Ein einheitliches oder gar konventionalisiertes Begriffsverständnis existiert hier weder für den Begriff des Leitbildes noch für die anderen genannten Begriffe und Konzepte.74 Im Folgenden werden der Diskurs über Leitbilder in Organisationen und Unternehmen sowie der Umgang mit ihnen systematisch aufgearbeitet und bedeutende Diskussionsstränge diskutiert. Im Zusammenhang mit Organisationen und Unternehmen spielen Leitbilder in zweierlei Gestalt eine Rolle. Grundlegendes Unterscheidungsmerkmal bildet dabei die Differenz zwischen manifesten, schriftlich vorliegenden Leitbilddokumenten und impliziten, d.h. mentalen, nicht unmittelbar sichtbaren jedoch handlungsleitenden Wunsch- und Zukunftsvorstellungen in Organisationen (vgl. Kapitel 2.2.1). Die folgende Beschreibung und kritische Analyse des Diskurses orientiert sich an dieser Unterscheidung. Zunächst werden das Verständnis von manifesten und ausformulierten Leitbildern als Instrument der Unternehmensführung dargestellt und entsprechende Konzepte in ihrem betriebswirtschaftlichen Kontext kritisch analysiert (Kap. 3.3.1).75 Demgegenüber beschäftigt sich ein späteres Kapitel mit impliziten Leitbildern als denk- und handlungsleitenden Wunsch- und Zukunftsvorstellungen innerhalb von Organisationen. Diese sind zunächst vor allem als eine sozialwissenschaftliche Analysekategorie, nicht als Steuerungsinstrument anzusehen, haben gleichwohl praktische Bedeutung für die Unternehmensführung (Kapitel 3.3.4). Da in der englischsprachigen Literatur zum Teil andere, wenngleich verwandte Konzepte zu Unternehmensgrundsätzen und zur Unternehmensführung vorliegen, zugleich freilich der Terminus Leitbild nicht vorkommt, hierfür aber auch keine einheitliche Übersetzung existiert, wird die hier gegebene Darstellung weitgehend auf die deutschsprachige Diskussion beschränkt. Ein eigenes Kapitel befasst sich allerdings mit den aus der englisch74 75
Dieser Sachverhalt erschwert die Einordnung von Leitbildern in die unterschiedlichen Modelle ungemein, da es keinen festen Standpunkt zur Darstellung gibt. Das Verständnis von Leitbildern als solcherart Grundsatzdokumente dominiert eindeutig die Diskussion um Leitbilder in Unternehmen ebenso wie in anderen Organisationen.
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3 Leitbilder in den Sozialwissenschaften – die Diskursanalyse
sprachigen Diskussion stammenden Begriffen Mission und Vision sowie ihrem Verhältnis zum Leitbildbegriff (Kapitel 3.3.2). Ein Blick auf ausgewählte englischsprachige Arbeiten zu Missionen und Visionen und ihre Rezeption im deutschen Sprachraum liefert einige Erkenntnisse für die (deutschsprachige) Diskussion um Leitbilder in Unternehmen und Organisationen. In einem Exkurs werden unterschiedliche Konzepte von Organisations- bzw. Unternehmenskultur dargestellt, deren Unterscheidung wichtig ist, um den wechselnden Zusammenhang zwischen Leitbildern und Organisationskultur und damit den Leitbildbegriff selbst zu verstehen (Kapitel 3.3.3). 3.3.1 Manifeste Unternehmens- und Organisationsleitbilder Unternehmensleitbilder werden überwiegend als schriftlich fixierte Unternehmensgrundsätze begriffen und können deshalb als manifeste Leitbilder gekennzeichnet werden. In diesem Sinne bilden manifeste Leitbilder ein spezifisches Instrument der Unternehmensführung.76 Sie sind ein Phänomen älteren Datums. Zwar hat sich die Bezeichnung Leitbild für schriftliche Unternehmensgrundsätze erst mit der Zeit durchgesetzt. Ungeachtet der unterschiedlichen Bezeichnungen, die auch heute noch verwendet werden, lässt sich die Existenz einzelner Unternehmensleitbilder bis in die 1920er Jahre zurückverfolgen (vgl. Gabele/Kretschmer 1985). In den 1970er Jahren etablierten sich Unternehmensgrundsätze nach und nach in der Praxis der Unternehmensführung. Während Anfang der 1970er Jahre nur rund ein Drittel deutscher Unternehmen über schriftliche Unternehmensgrundsätze verfügte, waren es Ende der 1970er Jahre schon 40% (vgl. ebd., S. 15ff.) und Ende der 1980er Jahre über die Hälfte (vgl. Hoffmann 1989a). Am Ende der 1990er Jahren kommen entsprechende Untersuchungen auf einen beachtlichen Anteil von 70% bzw. 85% Unternehmen mit Leitbildern (vgl. Quentin 1997 bzw. KPMG 1999).77 Leitbilder in dem hier gemeinten Sinne stellten zunächst ein Führungsinstrument für Unternehmen dar. Andere öffentliche und private nicht gewinnorientierte Organisationen wie zum Beispiel öffentliche Verwaltungen, Wohlfahrtsverbände, Bibliotheken, Hochschulen oder Schulen haben seit den 1990er Jahren den Leitbildgedanken für sich entdeckt und adaptiert. Im Rahmen des New Public Management wurden betriebswirtschaftliche Steuerungsmethoden auf die öffentliche Verwaltung übertragen und in diesem Zuge auch Leitbilder als Führungsinstrument etabliert (vgl. Radtke 1998, Meyer/Hammerschmid 2000, Eckardt/Kerkhoff 2000, Vogel 2003). Ebenso haben Leitbilder mit der Einführung von 76
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Der Begriff der Unternehmensgrundsätze ist in früheren Jahren besonders verbreitet gewesen und später häufig durch den Leitbildbegriff konkretisiert bzw. ersetzt worden. Der Begriff Unternehmensführung wird hier unspezifisch genutzt und betrifft alle Tätigkeiten, die sich auf die normative Grundlegung, die Festlegung von Unternehmenszweck, Zielen und Verhaltensgrundsätzen, auf Planung, Organisation, Kontrolle sowie Personalführung beziehen. Mit dem Managementbegriff, der prinzipiell synonym zur Unternehmensführung verwendbar ist, wird die strategische Herangehensweise an die sach- sowie personenbezogene Steuerung des Unternehmens stärker herausgestellt (vgl. Matje 1996; Hopfenbeck 1989, S. 409). Aufgrund der schwachen Rücklaufquoten von 40% und 25% und geringen Stichprobe von 135 Unternehmen sind die Ergebnisse dieser Untersuchungen jedoch nicht überzubewerten (vgl. Quentin 1997). In der Untersuchung aus dem Jahre 1998 wurden die 1.000 größten deutschen Unternehmen befragt (vgl. KPMG 1999). Von größeren Unternehmen weiß man aber wiederum, dass sie eher über Leitbilder verfügen als kleinere Unternehmen (vgl. Grünig 1988). Die Angaben zur Verbreitung von Leitbildern in Unternehmen sind in diesen Untersuchungen aus genannten Gründen positiv verzerrt.
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Managementinstrumenten in Nonprofit Organisationen dort Eingang gefunden (vgl. Schwarz 1996, Horak/Matul/Scheuch 1999, Becker 2000). Zudem spielen Leitbilder in öffentlichen und privaten Organisationen als Instrument der Organisationsentwicklung und der Profilbildung eine besondere Rolle (vgl. Deutscher Caritasverband 1997, Maelicke 1998, Nickel 1998, Weber 1998, Stöbe 1998, Buber/Fasching 1999a, Umlauf 1999, Klein 2000). Was im Folgenden speziell in Bezug auf Unternehmensleitbilder gesagt wird, lässt sich prinzipiell auf andere Organisationen übertragen. Nonprofit Organisationen und Organisationen des öffentlichen Sektors haben den hier ausgeführten Leitbildansatz aufgenommen und unter Berücksichtigung der Besonderheiten der jeweiligen Organisationsform adaptiert.78 Die wissenschaftliche Beschäftigung mit Unternehmensgrundsätzen bzw. -leitbildern geht im anglo-amerikanischen Sprachraum bereits bis in die 1960er Jahre zurück, in der deutschsprachigen Literatur ist erst für die 1970er Jahre ein erster Höhepunkt in der Diskussion festzustellen (vgl. Matje 1996, S. 2f.). Das vorliegende Kapitel befasst sich mit diesem akademischen Diskurs sowie der pragmatisch orientierten Debatte um Leitbilder. In der Betriebswirtschaft wird Leitbildern im Rahmen einiger Managementmodelle eine konzeptionell ausgearbeitete Rolle zugewiesen. Zudem bilden Leitbilder in Konzepten zur Corporate Identity und zur Unternehmenskultur einen zentralen Bezugspunkt (Kap. 3.3.1.1). Aus dem hier gebündelten Diskursfeld um Leitbilder als Unternehmensgrundsätze und Instrumente der Unternehmensführung lassen sich wichtige Aussagen zum Verständnis von manifesten Leitbildern im Sinne von Leitbilddokumenten ziehen. Diese Aussagen betreffen die Funktion, die Gestalt sowie Entstehung von Leitbilddokumenten sowie Anforderungen an die Leitbilddokumente und ihre Entwicklungsprozesse (Kap. 3.3.1.2 und Kap. 3.3.1.3). Real existiert überaus häufig die Variante, dass Leitbilddokumente faktisch lediglich als Instrumente der Öffentlichkeitsarbeit und der Public Relation eingesetzt werden, um die Außendarstellung, das Image des Unternehmens zu verbessern (vgl. Siebert 1992; Belzer 1998, S. 17ff.; Knieling 2000, S. 83). In diesem Fall richten sich die Leitbilder ausschließlich an das Unternehmensumfeld, ohne jedoch das Verhalten im Unternehmen adäquat widerzuspiegeln oder zu beeinflussen. Leitbilder erscheinen dann etwa in Gestalt der vielfach kritisierten Hochglanzbroschüren. In dieser Gestalt geben Leitbilder nur „wohlklingende, aber folgenlose Bekenntnisse“ (Ulrich/Fluri 1995, S. 54) ab. Die wissenschaftliche wie auch die pragmatisch ausgerichtete Diskussion stellt demgegenüber höhere Ansprüche, weshalb Leitbilder, die ausschließlich zu Werbe- bzw. Imagezwecken eingesetzt werden, hier keine weitere Berücksichtigung finden. Wo Leitbilder sich lediglich nach außen richten ohne Zusammenhang zu dem, was innerhalb des Unternehmens vor sich geht, können sie sogar zu einem Problem für das Unternehmen werden (vgl. Matje 1996, S. 232).79 In betriebswirtschaftlichen Kontexten wird dagegen die Bedeutung von Unternehmensleitbildern als Instrument der Unternehmensführung in den Vordergrund gerückt.
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Da die Diskussion über Leitbilder in Organisationen und Unternehmen stark von der betriebswirtschaftlichen Diskussion über Unternehmensleitbilder geprägt ist, wird hier darauf verzichtet, durchgehend von Unternehmen und Organisationen, Unternehmens- und Organisationsleitbildern etc. zu sprechen. Tatsächlich bezieht sich ein Großteil der hier herangezogenen Literatur auf Unternehmen. Mit dem Anspruch und der Notwendigkeit, dass die Außendarstellung dem „inneren Bild“, der Persönlichkeit oder der Kultur der Organisation entsprechen muss, befasst sich insbesondere die Diskussion zur Corporate Identity (siehe weiter unten).
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3.3.1.1 Leitbilder als schriftliche Unternehmensgrundsätze und Instrument der Unternehmensführung Im Kontext von Unternehmen werden Leitbilder als schriftlich niedergelegte Unternehmensgrundsätze verstanden. Die Frage, was diese Unternehmensgrundsätze ausmacht, wird dabei nicht konsensuell beantwortet. Die unterschiedlichen theoretischen Ausführungen zu Unternehmensgrundsätzen stimmen jedoch darin überein, in Leitbildern die grundlegendsten Orientierungen für die Unternehmensführung sowie für alle Unternehmenstätigkeiten zu formulieren. Dieses Grundverständnis von Leitbildern als Unternehmensgrundsätzen ist verschiedentlich umschrieben worden. Unternehmensleitbilder werden gleichsam beschrieben als Unternehmensleitlinien (Demuth 1993, S. 13), Leitmaxime und praktische Leitsätze (Hinterhuber 1992a, S. 58), die Summe der obersten Leitsätze (Brauchlin 1979, S. 42) oder zukunftsgerichtete Sollvorstellungen (Ulrich 1995, S. 803). Es werden Vergleiche herangezogen, die Leitbilder metaphorisch beschreiben als Leitstern (Brauchlin 1984, S. 313), Zehn Gebote (Demuth 1993; Belzer 1998, S. 16), Grundgesetz (Hoffmann 1989a, S. 167; Belzer 1998, S. 16) oder Quasi-Verfassung des Unternehmens (Glücksburg/Ochsner 1989, S. 96). Eine vielzitierte Definition von Unternehmensleitbildern hat Brauchlin vorgelegt: „Das Unternehmungsleitbild enthält die grundsätzlichsten und damit die allgemeingültigsten, gleichzeitig aber auch abstraktesten Vorstellungen über anzustrebende Ziele und Verhaltensweisen einer Unternehmung. Es ist ein ‚realistisches Idealbild‘, ein Leitstern, an dem sich alle unternehmerischen Tätigkeiten orientieren. (...) (Es) stellt die Grundkonzeption der Unternehmung dar. Damit ist es das oberste Glied einer Kette von Normen und Vorstellungen, welche Handlungsvollzüge immer detaillierter bestimmen.“ (Brauchlin 1984, S. 313)
Das Spektrum dessen, was Leitbilder beinhalten, reicht von Unternehmenszwecken, über oberste Unternehmensziele, Werte und Normen bis hin zu Verhaltensgrundsätzen und Handlungsprinzipien. In seltenen Fällen werden sie faktisch so konkret formuliert, dass sogar Strategien im Sinne von Plänen und Programmen oder gar Maßnahmenkatalogen darin Eingang finden. Es herrscht weitgehend Einigkeit darüber, in Unternehmensleitbildern nur Aussagen mit geringem Konkretisierungsgrad aufzunehmen. Leitbilder stellen insofern ein Instrument der Unternehmensführung dar, dass sie entweder die gegebenen oder die angestrebten Grundüberzeugungen und Werthaltungen bzw. Zwecke, Ziele und Verhaltensprinzipien zum Ausdruck bringen. Diese bilden die Vorgabe und Orientierung für die gesamte Unternehmensführung. Leitbilder als Unternehmensgrundsätze können im Rahmen der Unternehmensführung strategie- oder kulturorientierte Zwecke verfolgen. Zum einen können Leitbilder auf die Ableitung von Strategien ausgerichtet sein. Sie bilden dann einen Ausgangspunkt zur strategischen Planung in Unternehmen. Zum anderen sollen mit Leitbildern neue Normen und Werte formuliert werden, über welche die gegebenen Wertvorstellungen beeinflusst werden können. Sie bilden dann ein Instrument zur Veränderung der Unternehmenskultur (vgl. Gabele/Kretschmer 1985, S. 27ff. und Matje 1996, S. 4). Die unterschiedlichen Leitbildansätze neigen dem einen oder anderen Typus zu. In der Praxis werden mit der Formulierung von Unternehmensleitbildern häufig beide Zwecksetzungen mit unterschiedlichem Gewicht verfolgt. Auf die unterschiedlichen Zwecksetzungen wird in der folgenden Darstellung Bezug genommen.
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Die drei im Folgenden dargestellten Diskursfelder – Leitbilder innerhalb von Managementkonzepten, Corporate Identity-Konzepten und des Kulturmanagements – liefern eher unterschiedliche Blickwinkel als eine klare Systematik verschiedener Ansätze im Kontext betriebswirtschaftlicher Leitbildkonzepte. Diese drei Diskursfelder zeichnen sich gerade dadurch aus, dass sie verschiedentlich ineinander übergehen bzw. integriert werden. Leitbilder im Rahmen von Managementkonzepten Im Rahmen von Managementkonzepten werden Leitbilder als die schriftlich dokumentierte Unternehmensphilosophie oder Unternehmenspolitik verstanden. Das gängigste Verständnis von Unternehmensphilosophie und -politik versteht diese beiden als hierarchisch aufeinander aufbauende Elemente der Unternehmensführung.80 Dabei beinhaltet erstere das grundlegende Wertesystem des Unternehmens. Die Unternehmenspolitik leitet sich aus diesen Grundüberzeugungen ab und formuliert Zwecke, Ziele und Verhaltensgrundsätze auf verschiedenen Konkretisierungsstufen. Beide bilden die zugleich grundlegendste und allgemeinste Ebene der Unternehmensführung. In der Unterscheidung der drei Handlungsebenen des normativen, strategischen und operativen Managements lassen sie sich weitgehend dem normativen Management zuordnen.81 Leitbilder lassen sich je nach ihrem Konkretisierungsgrad sowie der jeweiligen Begriffsverwendung von Unternehmensphilosophie und -politik auf der einen und/oder anderen Ebene ansiedeln. Sie werden damit gemeinhin oberhalb der strategischen Planung verortet, bilden vielmehr das normative und allgemein-strategische Fundament für an anderer Stelle ausgearbeitete unternehmenspolitische Konzeptionen oder Programme (vgl. hierzu etwa Ulrich 1978, S. 31ff.; Ulrich/Fluri 1995; vgl. Abb. 3.1). Gleichwohl wurde gerade der die unterschiedlichen Managementebenen integrierende Charakter der Leitbilder nach und nach stärker herausgestellt (vgl. etwa Hinterhuber 1992a und vor allem Bleicher 1994). Leitbilder stellen insofern ein Instrument der Unternehmensführung dar, dass sie Vorgabe und Orientierung für alle weiteren Managementaktivitäten auf der strategischen und operativen Ebene geben. Ein Blick in verschiedene Managementkonzepte verdeutlicht das Verhältnis von Unternehmensphilosophie und -politik sowie die wechselnde Verortung von Leitbildern in den entsprechenden Modellen. Brauchlin beschreibt den Zusammenhang von Unternehmensphilosophie und -politik als ein hierarchisches Verhältnis, in dem sich beide Elemente vor allem durch ihren Abstraktionsgrad bzw. Konkretisierungsgrad unterscheiden. Die Unternehmensphilosophie bezieht sich auf die ethischen und moralischen Grundsätze oder obersten Leitsätze des Unternehmens (vgl. Brauchlin 1979, S. 42f.). Die schriftlich niedergelegte Unternehmensphilosophie wird hier als Unternehmensleitbild bezeichnet, sodass Letzteres von ihm auf dem höchsten Abstraktionsniveau der Unternehmensgrundsätze angesiedelt wird, während sich die Unternehmenspolitik aus diesem erst ergibt. 80 81
Auch die Begriffe Unternehmensphilosophie und Unternehmenspolitik werden nicht einheitlich verwendet. In manchen Konzepten wird auf den einen oder den anderen Begriff verzichtet. Die Unternehmensphilosophie als Wertesystem des Managements ragt aus der Handlungsebene des normativen Managements bisweilen heraus (vgl. etwa Bleicher 1994). Die Unternehmenspolitik kann je nach ihrem Ausarbeitungsgrad – etwa in Form eines Unternehmenskonzepts – in die Handlungsebene des strategischen Managements reichen (vgl. etwa Ulrich 1978).
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Abbildung 3.1: Leitbilder im Rahmen von Managementkonzepten* Unternehmensphilosophie
normatives Management Leitbild
Unternehmenspolitik
Programme, Strategien, strategische Planung
strategisches Management
Organisation, Aufträge, operative Planung
operatives Management
Aktivitäten
* Eigene Darstellung in Anlehnung an Bleicher 1994, S. 17 und Hinterhuber 1992a, S. 26
Zwar fällt die Unterscheidung von Unternehmensphilosophie und -politik bei Peter Ulrich und Edgar Fluri (1995) zwar ganz ähnlich aus. Allerdings ordnen Ulrich und Fluri in ihrem Modell die Leitbilder nicht streng der Unternehmensphilosophie oder -politik zu. Leitbilder können für sie auf beiden Ebenen existieren (Ulrich/Fluri 1995, S. 17 und 92). Letztlich lassen sich auch im Verständnis von Hans Ulrich Unternehmensleitbilder auf der Ebene zwischen Unternehmensphilosophie und -politik anordnen. Hans Ulrich hatte für sein frühes Konzept der Unternehmenspolitik zwischen Unternehmensleitbild und Unternehmenskonzept unterschieden, wobei die Bezeichnung Unternehmensleitbild wie bei Peter Ulrich und Fluri lediglich den allgemeinsten unternehmenspolitischen Überlegungen vorbehalten bleiben sollte (vgl. Ulrich 1978).82 Unternehmensleitbilder stellen für Hans Ulrich eine „gewollte Selbstverpflichtung“ und „zukunftsgerichtete Sollvorstellungen“ dar, welche anzustrebende Zustände und Verhaltensweisen des Unternehmens zum Ausdruck bringen (vgl. Ulrich 1995, S. 803ff.). Hinterhuber verzichtet demgegenüber weitgehend auf den Begriff der Unternehmensphilosophie. Letztlich integriert er die Werthaltungen und weltanschaulichen Grundlagen, die anderweitig als Unternehmensphilosophie bezeichnet werden, in sein Konzept der Un82
In einem späteren Aufsatz nutzt Hans Ulrich den Begriff der Führungsphilosophie, versteht darunter letztlich aber nichts anderes, als was er zunächst als Unternehmenspolitik bezeichnet hat (vgl. Ulrich 1995).
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ternehmenspolitik (vgl. Hinterhuber 1992a, S. 57ff.). Leitbilder sind für ihn „synthetischer Ausdruck“ von einer in dieser Form umfassend verstandenen Unternehmenspolitik als der Gesamtheit von Unternehmensgrundsätzen des Unternehmers (vgl. ebd.). Ein weitgehend integratives Verständnis von Leitbildern legt schließlich Bleicher (1994) vor. Für ihn sind Leitbilder die „zugriffsbereite Dokumentation“ der Unternehmungsphilosophie als Einstellung zur Rolle und zum Verhalten der Unternehmung in der Gesellschaft sowie der Managementphilosophie, die sich auf die Gestaltung und das Verhalten des Managements selbst bezieht (vgl. Bleicher 1994, S. 22 und 25). Zugleich sollen die Leitbilder die normative, strategische und operative Dimension des Managements integrieren. Entsprechend beinhalten sie zusätzlich unternehmenspolitische Grundsätze und strategische Missionen bzw. Programme, Strukturgrundsätze zur Unternehmensverfassung sowie Verhaltensgrundsätze für die Führung im Sinne von Führungsgrundsätzen (vgl. ebd., 35ff.). Damit stellt Bleicher ein umfassendes Leitbildkonzept dar, das Aspekte einer übergeordneten Unternehmensphilosophie und einer konkretisierten Unternehmenspolitik integriert. Die Stellung von Leitbildern in Managementkonzepten wird noch einmal deutlich, wenn man diese mit einem älteren alternativen Verständnis kontrastiert. Bei Bidlingmaier werden Leitbilder – analog zum Verhältnis von wirtschaftspolitischen Konzeptionen und Leitbildern etwa bei Pütz (vgl. Kapitel 3.2.1) – mit unternehmenspolitischen Konzeptionen gleichgesetzt. Damit werden Leitbilder als widerspruchsfreier Zusammenhang von Zielen und Strategien verstanden (vgl. Bidlingmaier 1972, S. 46). Dieses Modell wird in der weiteren Diskussion in dieser Form nicht wieder aufgenommen. Leitbilder im aktuellen, allgemeinen betriebswirtschaftlichen Verständnis beziehen sich stattdessen vielmehr auf die obersten Handlungsprinzipien sowie Ziel- und Wertvorstellungen innerhalb des Unternehmens, die gerade keine Aussagen zu den angemessenen konkreten Strategien und Maßnahmen machen. Mit Unternehmensleitbildern werden im Rahmen der hier dargestellten Managementkonzepte zunächst vor allem strategieorientierte Zwecke verfolgt, da sie, wie gezeigt wurde, vornehmlich die Grundlage zur Ableitung von konkretisierten Unternehmenskonzepten, Strategien bzw. der strategischen und operativen Planung abgeben. Daneben hat sich auch in Managementdiskursen mit der Zeit zugleich eine kulturorientierte Perspektive etabliert. Wo Leitbilder als Instrument der Unternehmensführung nicht auf die Ableitung von Strategien, sondern auf die Veränderung der im Unternehmen vorhandenen Werthaltungen zielen, wird Unternehmensführung über geteilte Werte betrieben. Damit spielen kulturorientierte Leitbilder auch im Kontext von Managementansätzen eine Rolle. Diese Variante der Unternehmensführung wird vor allem im Kontext von Corporate Identity-Strategien und Unternehmenskulturkonzepten ausgearbeitet. Leitbilder im Rahmen von Corporate Identity-Konzepten Corporate Identity wird zugleich als gegebener Zustand, als anzustrebendes Ziel wie schließlich auch als Prozess bzw. Strategie verstanden. Im Sinne eines Zustandes stellt die Corporate Identity die gegebene Unternehmensidentität (Körner 1990) dar. Eine solche Corporate Identity entsteht, wo eine Unternehmenspersönlichkeit als das Wesen eines Unternehmens mit seinen sichtbaren Ausdrucksformen einen „schlüssigen Zusammenhang“ (Birkigt/Stadler 1998, S. 18), eine „authentische Ganzheit“ (Schnyder 1991, S. 261) bildet. In
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einem Corporate Identity-Prozess wird das Ziel einer Corporate Identity im Sinne einer starken Unternehmensidentität verfolgt. Wo der Corporate Identity-Prozess bewusst gesteuert wird, wird auch von einer Corporate Identity-Strategie gesprochen. Entsprechend definieren Birkigt und Stadler: „In der wirtschaftlichen Praxis ist demnach Corporate Identity die strategisch geplante und operativ eingesetzte Selbstdarstellung und Verhaltensweise eines Unternehmens nach innen und außen auf Basis einer festgelegten Unternehmensphilosophie, einer langfristigen Unternehmenszielsetzung und eines definierten (Soll-)Images – mit dem Willen, alle Handlungsinstrumente des Unternehmens in einheitlichem Rahmen nach innen und außen zur Darstellung zu bringen.“ (Birkigt/Stadler 1998, S. 18)
Birkigt und Stadler haben in zweierlei Hinsicht eine weithin beachtete Konkretisierung der Corporate Identity vorgenommen. Was allgemein als „Wesen“ des Unternehmens bezeichnet wird, beschreiben sie als Unternehmens-Persönlichkeit und zwar im Sinne des Selbstverständnisses des Unternehmens in Bezug auf seinen Ist-Status sowie seine Zwecke, Ziele und soziale Rolle. Diese Unternehmens-Persönlichkeit bildet den Kern der Corporate Identity. Als Ausdrucksformen der Unternehmens-Persönlichkeit nennen sie das UnternehmensErscheinungsbild (corporate design), das Unternehmens-Verhalten (corporate behavior) sowie die Unternehmens-Kommunikation (corporate communication). Der Corporate Identity als Selbstbild des Unternehmens steht das Corporate Image als Fremdbild gegenüber (vgl. ebd., S. 19ff.). Nach diesem Modell stellen Corporate Identity-Strategien die Bemühung dar, das Selbstverständnis, die grundlegenden Werthaltungen, Zwecke und allgemeinen Zielsetzungen mit dem Verhalten, der Kommunikation und dem Erscheinungsbild des Unternehmens in einen schlüssigen Zusammenhang zu bringen. Wo die Werthaltung, Zweck- und Zielsetzung oder auch die Ausdrucksformen der Unternehmenspersönlichkeit schriftlich festgelegt werden, entstehen letztlich auf die Abstimmung von Selbstverständnis und Selbstdarstellung abzielende Unternehmensgrundsätze. Wo diese Form von Unternehmensgrundsätzen nicht ebenfalls mit dem Begriff der Corporate Identity belegt wird, ist auch von Leitbildern die Rede (vgl. etwa Fenhart/Widmer 1987). Die Funktion des Leitbildes als Instrument der Unternehmensführung im Rahmen einer Corporate Identity-Strategie besteht damit darin, die Unternehmenspersönlichkeit zur Grundlage des nach innen und außen ausgerichteten Handelns im Unternehmen zu machen. Die Corporate Identity wird insofern zu einem strategischen Instrument, dass auf der Grundlage des vorhandenen Selbstverständnisses eine ganzheitliche Gesamtkonzeption entworfen wird, die alle Elemente der Unternehmensidentität integriert (vgl. Birkigt/Stadler 1998, S. 33ff.). Aus dem Argumentationszusammenhang von Birkigt und Stadler ergibt sich allerdings, dass sie letztlich unter dem Selbstverständnis des Unternehmens, d.h. der Unternehmenspersönlichkeit vornehmlich die Geisteshaltung und Wertvorstellungen der Unternehmensleitung und nicht der Unternehmensmitglieder verstehen. Das Selbstverständnis des Unternehmens wird damit in eins gesetzt mit dem Selbstverständnis der Unternehmensleitung.83 83
Birkigt und Stadler befassen sich nicht mit der (möglichen) Differenz im Selbstverständnis, wie es sich für die Unternehmensführung oder für die Unternehmensmitglieder darstellt. Gerade darin besteht aber ein grundlegender Unterschied, der von großer Bedeutung für ein klares Leitbildverständnis ist. Vergleiche hierzu die Syntheseansätze von Corporate Identity- und Unternehmenskulturkonzepten im nächsten Abschnitt.
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Eine andere Lesart ergibt sich allerdings, wo die Unternehmenspersönlichkeit mit Unternehmenskultur gleichgesetzt wird. In entsprechenden Corporate Identity-Konzepten soll nicht die gegebene Unternehmenspersönlichkeit die Grundlage für das einheitliche Handeln des Unternehmens bilden, sondern die Unternehmenspersönlichkeit selbst wird zum gestaltbaren Objekt (vgl. dazu vor allem Körner 1990 und 1993). Einige Corporate Identity-Konzepte zielen also darauf ab, den Kern der Corporate Identity, die Unternehmenspersönlichkeit selbst zu gestalten. In diesem Fall gilt aber stillschweigend nicht mehr die Grundhaltung der Unternehmensleitung, sondern die kollektiv im Unternehmen geteilte, die von allen getragene Unternehmenskultur als Unternehmenspersönlichkeit. Diese Akzentverschiebung stellt zugleich einen fließenden Übergang zu instrumentalistisch ausgerichteten Unternehmenskulturansätzen her. Im Rahmen eines solchen Kulturmanagements werden Leitbilder ebenfalls im Sinne von Unternehmensgrundsätzen eingesetzt. Die Leitbildentwicklung wird dabei als Strategie der Unternehmensführung über geteilte Werte verstanden (vgl. etwa Körner 1993, S. 88). Wie auch in anderen Managementkonzepten fungiert hier das Leitbilddokument dann allerdings vor allem als schriftlicher Ausdruck einer „angestrebten“ oder „gewollten (Unternehmens-)Identität“ (Körner 1993, S. 16 und Körner 1990, S. 9) bzw. „Idealkultur“ (Schnyder 1991, S. 265). Entsprechende Corporate Identity-Konzepte werden im nächsten Abschnitt aufgegriffen. Leitbilder als Instrument eines Kulturmanagements Manifeste Leitbilder im Sinne von schriftlichen Unternehmensgrundsätzen werden nicht nur als Ausgangspunkt zur Ableitung von konkreten Strategien innerhalb des strategischen Managements, sondern auch als Instrumente zur Veränderung der Unternehmenskultur genutzt. Diesem Ansatz liegt ein instrumenteller Organisationskulturansatz zugrunde.84 Unternehmenskultur wird darin als ein im Sinne der Unternehmenspolitik und Unternehmensziele gestaltbarer Parameter angesehen. Der gegebenen Unternehmenskultur als den von den Unternehmensmitgliedern getragenen Werten, Normen, Denk- und Verhaltensmustern wird dabei eine Idealkultur gegenübergestellt. Die Veränderung der gegebenen Unternehmenskultur in Richtung auf die Idealkultur soll die Erreichung der festgelegten Unternehmensziele ermöglichen. Unternehmenskultur wird damit zu einem gestaltbaren Erfolgsfaktor für Unternehmen, ihre Steuerung zu einer Strategie der Unternehmensführung. Unternehmensführung setzt bei den Wertvorstellungen der Unternehmensmitglieder an, die in eine gewünschte Richtung verändert werden sollen (management by values). Das Unternehmen wird hierbei als triviale Maschine begriffen, in der durch geeignete Maßnahmen eine Ist-Kultur zu einer gewünschten Kultur transformiert werden kann. Als zentraler Schritt wird hier die Formulierung und Festlegung der Soll- oder Ideal-Kultur innerhalb des Leitbilddokumentes angesehen. Unternehmenskultur soll hier also durch Formulierung eines Unternehmensleitbildes gezielt verändert werden. Der Umgang mit Unternehmenskultur in diesem Kontext und in diesem Verständnis kann deshalb treffend als Kulturmanagement bezeichnet werden. Bereits Gabele und Kretschmer (1985) hatten in einer empirischen Untersuchung von Unternehmensgrundsätzen neben ihrer typischen Funktion als Input für die strategische Planung ihre Bedeutung als „Instrument der organisationskulturellen Transformation“ be84
Zur Erläuterung der unterschiedlichen Unternehmenskulturansätze vgl. Kapitel 3.3.3.
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schrieben (vgl. ebd., S. 27ff.). Der gegebenen Unternehmenskultur als kollektiv geteiltes Selbstverständnis werden die Unternehmensgrundsätze (später als Leitbilder bezeichnet) als gewünschtes Selbstverständnis gegenübergestellt. Zwar sprechen sich Dill und Hügler zunächst skeptisch gegenüber der Machbarkeit eines Kulturmanagements aus. Letztlich beschreiben aber auch sie Unternehmensgrundsätze bzw. Unternehmensleitbilder als „Anknüpfungspunkte für ein Kulturmanagement“, in dem der Soll-Zustand einem gegebenen Ist-Zustand gegenübergestellt wird (vgl. Dill/Hügler 1987, S. 164f.). Einige Corporate Identity-Konzepte reihen sich ebenfalls in dieses Leitbildverständnis aus dem Kontext eines instrumentellen Unternehmenskulturansatzes ein. Was bei Birkigt und Stadler (1998) allgemein als Unternehmenspersönlichkeit beschrieben wird, wird dort als Unternehmenskultur bezeichnet, sodass eine konzeptionelle Integration des Corporate Identity- und Unternehmenskultur-Ansatzes stattfindet. Auch in diesem Zusammenhang wird im Leitbild die ideale Unternehmenskultur schriftlich niedergelegt, was zur Veränderung der gegebenen Unternehmenskultur beitragen soll. Scholz ordnet die Unternehmenskultur als das implizite Bewusstsein des Unternehmens in den unsichtbaren Innenbereich des Unternehmens, das im Außenbereich in der Unternehmenserscheinung zum Ausdruck kommt (vgl. Scholz 1993, S. 135ff.). Gleichermaßen setzt Schnyder (1991) Unternehmenspersönlichkeit und Unternehmenskultur gleich und beschreibt Letztere als die immateriellen Werthaltungen und Orientierungsmuster innerhalb eines Unternehmens. Die Unternehmenskultur materialisiert sich in kulturellen Ausdrucksformen wie Erscheinungsbild, Kommunikation und Unternehmensverhalten. Entsprechend prägt die Unternehmenskultur die „Ausdruckswelt“ des Unternehmens. Demgemäß beschreibt er den Corporate Identity-Prozess als Verschmelzung der Unternehmenskultur mit ihren Ausdrucksformen zu einer authentischen Ganzheit (vgl. ebd., S. 261). Vor diesem Hintergrund unterscheidet Schnyder drei Aspekte eines Corporate Identity-Prozesses: die Bewusstwerdung der gegebenen Unternehmenskultur, die Festlegung einer zukünftigen Idealkultur und ihre schriftliche Ausformulierung im Leitbild sowie die Konzeption und Realisation von Maßnahmen zur Veränderung der bestehenden Kultur hin zu einer einheitlichen Idealkultur und seinen Ausdrucksformen (vgl. ebd., S. 265). Ganz ähnlich beschreibt Körner den Corporate Identity-Prozess. Er führt dabei vor allem den Prozess der Leitbildentwicklung als Grundlage für die Corporate Identity-Strategie genauer aus. Ein Corporate Identity-Prozess erfolgt auch hier in drei Schritten von der Bewusstwerdung über die Vermittlung bis zur Korrektur der gegebenen bzw. angestrebten Unternehmensidentität (vgl. Körner 1990, S. 8 und Körner 1993, S. 16). Im Prozess der Leitbildentwicklung soll geklärt werden, welche Ziele und Zwecke, welche Werte und Normen verfolgt bzw. gelten sollen und welche Unternehmensidentität damit angestrebt wird (vgl. Körner 1990, S. 9). Auch wenn die gegebene Unternehmenskultur eine gewisse Berücksichtigung findet, geht es in den hier dargestellten Corporate Identity-Konzepten von Schnyder und Körner letztlich darum, durch Bewusstmachung einer vorgegebenen Idealkultur, d.h. hier konkret durch die Formulierung in einem Leitbild und dessen Vermittlung, die gegebene Unternehmenskultur zu verändern. Unternehmensführung findet über die Vorgabe von Werten statt, die zu geteilten Überzeugungen werden sollen (vgl. Körner 1993, S. 87f.). Die Besonderheit der Ansätze zum Kulturmanagement liegt in der doppelten Verwendung des Begriffs der Unternehmenskultur, die weitreichende Konsequenzen für den Leit-
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bildbegriff hat. Auf der einen Seite geht es um Unternehmenskultur als das gewachsene und gegebene System von Wertvorstellungen und Grundüberzeugungen des Unternehmens, gegebenenfalls manifestiert in den kulturellen Ausdrucksformen.85 Auf der anderen Seite wird dieser gegebenen Unternehmenskultur eine Ideal- oder Soll-Kultur gegenübergestellt. Wird diese Idealkultur durch die Unternehmensführung gesetzt, steht sie der von den Mitarbeitern getragenen Unternehmenskultur unverbunden gegenüber. Die Doppeldeutigkeit der Unternehmenskultur und die sich daraus ergebende veränderte Position und Rolle der Leitbilder werden bei Hinterhuber (1992b) offenkundig. Hinterhuber unterscheidet zwei Ebenen von Unternehmenskultur: die Wertvorstellungen der Unternehmensleitung bzw. des leitenden Managements auf der einen Seite und die Wertvorstellungen der Mitarbeiter auf der anderen Seite (vgl. Hinterhuber 1992b, S. 248). Auch bei Hinterhuber wird im Leitbild die zukunftsorientierte Soll-Unternehmenskultur formuliert. Diese wird eindeutig der Unternehmensleitung zugeordnet und weicht damit von den vergangenheitsorientierten Wertvorstellungen der Mitarbeiter ab. Aufgabe des Managements sei es, die vergangenheitsorientierte Unternehmenskultur seinen in die Zukunft gerichteten Vorstellungen anzupassen. Damit schreibt Hinterhuber der Unternehmensleitung die Macht zu, eine ideale Unternehmenskultur und damit ein Leitbild zu definieren und darüber die gegebene Unternehmenskultur zu verändern. Dies wird in seinem Bild des „Unternehmers als Erzieher“ (ebd., S. 258) überdeutlich. Wo den Führungskräften in einer Organisation die Definitionsmacht hinsichtlich der Werte und Grundüberzeugungen und damit Einfluss auf die gegebene Unternehmenskultur zugeschrieben wird, sieht man in ihnen auch die Instanz zur Formulierung des Leitbildes. Unternehmenskultur hängt dann stark davon ab, welche Grundwerte von Führungskräften vorgelebt werden, welche Zeichen durch diese gesetzt werden. Eine ähnliche Perspektive entfaltet selbst Schein, der davon ausgeht, dass Führungspersönlichkeiten Kultur schaffen, lenken und verändern, indem sie ihre eigenen Grundprämissen in Zielen, Strukturen und Arbeitsabläufen verankern. Führungspersönlichkeiten begreift Schein trotz eines weitgehend sozial-konstruktivistischen Ansatzes deshalb ausdrücklich als „Kulturmanager“ (Schein 1995, S. 308). Dieses funktionalistische Verständnis von Unternehmenskultur führt allerdings unweigerlich zu Missverständnissen hinsichtlich der Rolle von Leitbildern. Die gegebene Unternehmenskultur und damit zugleich die Unternehmensrealität, in der diese zum Ausdruck kommt, kann nicht einfach dadurch verändert werden, dass manifeste Leitbilder bzw. Unternehmensgrundsätze als schriftlich fixierter Ausdruck der in den Augen der Unternehmensleitung idealen Unternehmenskultur formuliert werden. So kritisiert Merkens zurecht: „Demgegenüber scheint die Wirksamkeit von Unternehmensgrundsätzen nicht besonders groß zu sein (...). Das, was für das eigentliche Kernstück der Unternehmenskultur gehalten wird, die Philosophie des Unternehmens, ist demnach, das lassen unsere Erfahrungen vermuten, nicht über deren Neuformulierung oder Abänderung zu beeinflussen, sondern eher über Veränderungen in der Organisation.“ (Merkens 1990, S. 72)
Der Leitbildgedanke wird dort ad absurdum geführt, wo Leitbilder zum Ausdruck einer mehr oder weniger von außen vorgegebenen idealen Unternehmenskultur ohne Bezug zur gege85
Dies entspricht dem allgemeinen Verständnis von Organisations- bzw. Unternehmenskultur (vgl. Kapitel 3.3.3).
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3 Leitbilder in den Sozialwissenschaften – die Diskursanalyse
benen Unternehmenskultur werden.86 Manifeste Leitbilder können als kulturtransformierende Unternehmensgrundsätze nur dann wirksam werden, wenn sie an die gegebene Unternehmenskultur, an die vorhandenen Werte und Denkmuster der Organisationsmitglieder anschließen (vgl. auch de Haan 2002). „Leitbilder, die den Werten der bestehenden Unternehmungskultur grundsätzlich entgegenstehende Verhaltensweisen postulieren und versuchen, der Kultur ‚diesen Stempel aufzudrücken‘, laufen Gefahr sich als hoffnungsloses Unterfangen eines kulturtechnologischen Machens zu entpuppen, was eher ein Festhalten an tradierten Verhaltensweisen bewirken wird.“ (Bleicher 1994, S. 21)
Folglich wird auch im Rahmen von Konzepten des Kulturmanagements gefordert, dass in manifesten Leitbilddokumenten nicht nur die ideale Unternehmenskultur zum Ausdruck kommen darf, sondern auch die gegebene Unternehmenskultur mit einfließen muss. Von modernen Unternehmensleitbildern wird deshalb gefordert, dass sie nicht einfach Ausdruck der Idealvorstellungen der Unternehmensleitung sein dürfen, sondern aus der gegebenen Unternehmenskultur selbst erwachsen müssen. Nur so könnten die manifesten Unternehmensleitbilder überhaupt zu einer Entwicklung der Unternehmenskultur beitragen. Hierin liegt schließlich auch die Bedeutung des Leitbild-Entwicklungsprozesses. So hatten bereits Dill und Hügler herausgestellt, dass damit die manifesten Leitbilder überhaupt ihre Wirksamkeit entfalten können, der Leitbildentwurf im Rahmen eines Beratungsprozesses im gesamten Unternehmen entstehen muss (vgl. Dill/Hügler 1987, S. 168; hierzu auch Kap. 3.3.1.3). Entsprechend stellt auch Dierkes fest, dass nicht die schriftliche Fixierung des Leitbildes, sondern der Prozess das eigentlich bedeutende Element der Leitbildentwicklung für die Unternehmenskultur ausmacht (vgl. Dierkes 1990, S. 36f.; auch Kap. 3.3.4). In diesem Modell wird zwar die gegebene Unternehmenskultur als wichtiger Einflussfaktor begriffen, diese allerdings als veränderbare Variable angesehen. In Frage steht dann nur noch, welche Veränderungen an der Kultur vorgenommen werden müssen, um die Differenz zwischen gegebener Kultur und Soll-Kultur zu überbrücken. Damit wird wiederum stillschweigend vorausgesetzt, dass es möglich sei, durch geeignete, jedoch – bis auf die Formulierung eines Leitbilddokumentes – nicht weiter konkretisierte Maßnahmen die gegebene Unternehmenskultur aktiv zu verändern.87 Begreift man Unternehmenskultur aber als ein sozial konstruiertes und geteiltes Ideensystem, dann muss das Veränderungspotenzial und die Steuerungsleistung einer von außen herangetragenen Soll-Vorstellung grundsätzlich bezweifelt werden (vgl. Kap. 3.3.3).
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Eben dieses Problem der fehlenden Anschlussfähigkeit der vorgegebenen Sollvorstellungen an die gegebene Unternehmenskultur nehmen kritische Stimmen in den Blick, wenn sie eine Relativierung der Möglichkeiten eines Kulturmanagements vornehmen. Das Problem liegt jedoch nicht in erster Linie bei den Leitbildern, sondern in der Vorstellung, wie Unternehmenskultur gestaltet werden kann (vgl. deshalb die allgemeine Frage der Gestaltbarkeit von Unternehmenskultur in Kapitel 3.3.3). Es ist kritisch zu hinterfragen, was damit gewonnen sein soll, „herauszuarbeiten, welche Kulturelemente im Hinblick auf die neuen Anforderungen und Erwartungen verlernt und welche Wahrnehmungen, Einstellungen, Werte und Verhaltensweisen neu gelernt werden müssen“ (Dierkes 1990, S. 37).
3.3 Leitbilder in Organisationen und Unternehmen
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3.3.1.2 Funktion, Gestalt und Entwicklung von manifesten Leitbildern Die Diskussion um Leitbilddokumente befasst sich ausführlich mit den Fragen, welche Funktionen ihnen in der Organisation zukommen, welchen Aufbau und Inhalt die Dokumente faktisch haben und wie Leitbilder entwickelt werden. Zur Funktion von Leitbildern Unternehmensleitbildern wird eine Vielzahl unterschiedlicher Funktionen zugeschrieben. Entsprechende Aufzählungen findet man allerorten. Selten wird darüber reflektiert, dass die benannten Funktionen lediglich Wirkungsbehauptungen darstellen, also postulierte Wirkungen sind, die letztlich empirisch gar nicht geprüft sind.88 Diese Erkenntnis verweist auf den nicht immer wahrgenommenen und beachteten Unterschied zwischen impliziten und expliziten Leitbildern. Unternehmens- bzw. Organisationsleitbildern, die in aller Regel explizite oder sogar oktroyierte Leitbilder sind, also als produzierte und propagierte manifeste Leitbilddokumente vorliegen, kommt die Eigenschaft von Leitbildern im Sinne handlungsleitender Vorstellungen nicht automatisch zu. Mit ihnen ist lediglich der Anspruch verbunden, bestimmte Funktionen zu erfüllen bzw. Wirkungen zu erzielen. Einige Autoren unterscheiden die Funktionen nach den Wirkungsfeldern, in denen sie sich entfalten. Maelicke (1998) und Belzer (1998) differenzieren zwischen Wirkungen, die sich auf die Organisation selbst, die sich auf die Organisationsmitglieder und solchen, die sich auf das Organisationsumfeld beziehen. Die Liste der postulierten Funktionen von manifesten Unternehmens- bzw. Organisationsleitbildern ist beachtlich. Nimmt man ungeachtet möglicher Redundanzen, Überschneidungen und vor allem Mehrdeutigkeiten eine Zusammenstellung der in der Literatur aufgeführten Funktionen bzw. Wirkungen vor, ergäbe dies folgendes, sicherlich noch ergänzbare Bild (vgl. Abb. 3.2). Oft genug begnügen sich die Autoren mit der bloßen Nennung einiger dieser Schlagworte und verzichten auf eine weitergehende Erläuterung. Wo die Funktionen ausgeführt werden, ergeben sich durchaus unterschiedliche Interpretationen. Der größte Konsens herrscht hinsichtlich der Orientierungs-, Koordinations-, Motivations- und Identifikationsfunktion, die sich wie folgt konkretisieren lassen (vgl. hierzu etwa Kippes 1993, Maelicke 1998, Radtke 1998, Belzer 1998, Eckardt/Kerkhoff 2000 oder Knieling 2000).
88
Auf diesen Sachverhalt machen Sandner 1995 und Knassmüller/Stockinger/Sandner 2000 ausdrücklich aufmerksam.
3 Leitbilder in den Sozialwissenschaften – die Diskursanalyse
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Abbildung 3.2: Funktionen von Leitbildern89 positives Image
Sinnfindung Transparenz
Prioritätensetzung Verfahrensvereinfachung
Information
Orientierung
Strategie Koordination
Attraktion
Marketing
Identifikation
Reputation
Motivation
Stabilisierung Integration
Kohäsion Aufforderung
Identität
Verlässlichkeit Vertrauen
Loyalität
Legitimation
(unternehmenskulturelle) Transformation
Ein Leitbild gibt Orientierung, indem es für das Handeln richtungsweisend wirkt, die Auswahl zwischen Handlungsalternativen erleichtert, die Entwicklung von Strategien vorprägt und damit Handlungssicherheit schafft. Mit der Orientierungsfunktion eng verbunden ist die koordinierende Qualität von Leitbildern. Leitbilder als sozial geteilte Orientierung fördern die Koordination innerhalb von Gruppen bzw. Organisationen, erleichtern den Informationsaustausch und das aufeinander abgestimmte Verhalten. Leitbilder schaffen Identifikationsmöglichkeiten, ein Wir-Gefühl und ein kollektives Selbstverständnis. Wird der Sinn der Unternehmung transparent gemacht, erhöht dies nicht nur die Identifikation, sondern zugleich die Motivation der Organisationsmitglieder. Die gemeinsam geteilten Überzeugungen bzw. die gemeinsame Vision spornen die Organisationsmitglieder an. In den hier benannten Funktionen wird sichtbar, dass Leitbilder vor allem auf die Organisation und ihre Mitglieder bezogen sind und letztlich deren Kooperation fördern. Wo die Bedeutung von Leitbildern für das Organisationsumfeld mitberücksichtigt wird, treten Aspekte wie die Informations- und Legitimationsfunktion hinzu. Aus den dargestellten Hauptfunktionen ergeben sich Verbindungen zu nachgeordneten Funktionen wie Transparenz, Prioritätensetzung oder Verfahrensvereinfachung. Es ist einleitend darauf hingewiesen worden, dass die aufgezählten Funktionen letztlich nur postulierte Wirkungsannahmen gegenüber den manifesten Leitbildern darstellen. Komplementär dazu lassen sich die formulierten Anforderungen an Leitbilder bzw. den Leitbild-Entwicklungsprozess darstellen. Letztlich werden Anforderungen an zu produzierende (explizite bzw. oktroyierte) Leitbilder gestellt, um ihre Wirkung als handlungsleitende Leitbilder gewährleisten zu können (vgl. hierzu Kap. 3.3.1.3). 89
Die folgende Zusammenstellung berücksichtigt die benannten Funktionen bei Regenthal 1992, Kippes 1993, Sandner 1995, Belzer 1998, Bromann 1998, Maelicke 1998, Radtke 1998, Buber/Fasching 1999b, KPMG 1999, Eckardt/Kerkhoff 2000, Knassmüller/Stockinger/Sandner 2000, Knieling 2000, Meyer/Hammerschmid 2000; Grötzinger/Hohmann 2006).
3.3 Leitbilder in Organisationen und Unternehmen
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Zur Gestalt von Leitbildern Zur Gestalt von manifesten Leitbildern – gemeint sind Aspekte wie Titel, Form, Umfang, formaler Aufbau und inhaltliche Schwerpunkte – gibt es einige empirische Aussagen. In der Bezeichnung, in der Erscheinungsform und im Umfang differieren reale Leitbilddokumente zum Teil sehr stark. Die empirische Untersuchung zu den Unternehmensleitbildern von 100 österreichischen Unternehmen ergab folgendes Bild: Die entsprechenden Dokumente werden hauptsächlich als (Unternehmens-)Leitbild betitelt. Zugleich existieren Bezeichnungen wie (Unternehmens-)Grundsätze, Leitsätze oder Leitlinien sowie vereinzelt (Unternehmens-)Philosophie, Qualitäts-Politik oder (Unternehmens-)Politik (vgl. Knassmüller/Sandner 2001, S. 5). Leitbilder erscheinen hier als eigenständige oder in andere Dokumenten integrierte Texte, in Form von Broschüren, Foldern oder Einzelblättern. Der Umfang der Dokumente streut zwischen 1-seitigen bis mehr als 10-seitigen Dokumenten (vgl. ebd., S. 6f.). Zu vergleichbaren Ergebnissen kommt eine Umfrage unter 1.000 deutschen Unternehmen aus dem Jahre 1998 (vgl. KPMG 1999). Die Frage, welchen formalen Aufbau und welche inhaltlichen Aussagen ein manifestes Unternehmensleitbild charakterisieren, wird vor allem in der pragmatischen Literatur sehr ausführlich behandelt. Zugleich liegen einige empirische Untersuchungen zu dieser Frage vor. Kirsch/zu Knyphausen (1988) stellen Leitbilder als dreigliedrige Dokumente dar mit einer Präambel, welche die Aufgabe des Leitbildes beschreibt, einem Kernleitbild, das die thesenhaften Hauptpunkte des Leitbildes beinhaltet, und dem erweiterten Leitbild, welches den Kern erläutert und spezifiziert (vgl. ebd., S. 491). Dieselbe strukturelle Vorgabe machen Kippes (1993), Belzer (1998) sowie Müller-Stewens und Lechner (2001, S. 181f.). Knassmüller und Sandner (2001) haben eine formale und vor allem thematische Analyse österreichischer Unternehmensleitbilder vorgenommen und kommen auf diese Weise zu einer „Normalitätsfolie“ im Sinne eines typischen Unternehmensleitbildes. Die Autoren kommen zu dem Schluss, dass der Aufbau von Leitbildtexten insoweit konventionalisiert ist, als die Themenabfolge einem ähnlichen Muster folgt. Zu den zentralen Standardthemen gehören vor allem das Marktumfeld, die Kunden, die Produkte bzw. Leistungen und die Mitarbeiter. Sie bilden zugleich im geographischen Sinne wie im Hinblick auf ihren Umfang die Kernthemen der Leitbilddokumente. Diesen zentralen Standardthemen lassen sich typische Wert-/Kompetenz-Themen zuordnen, die regelmäßig zur Sprache gebracht werden (Marktorientierung, Kundenorientierung und Ergebnis-/Erfolgsorientierung, zusätzlich Aspekte wie Kompetenz/Fähigkeiten, Leistungsorientierung, Zusammenarbeit/Teamarbeit, Entwicklung/Lernen der Mitarbeiter sowie die Qualitätsorientierung). Neben den zentralen Standardthemen im Kern des Leitbildes existieren das Dokument einleitende bzw. abschließende typische Rahmenthemen wie Branche und Tätigkeitsbereich, organisatorisch-rechtlicher Rahmen, Aussagen zum Verhältnis bzw. zur Verantwortung gegenüber der natürlichen Umwelt und dem gesellschaftlichen Umfeld (vgl. Knassmüller/Sandner 2001, S. 24ff. und 74ff.). Leitbilddokumente richten sich an unterschiedliche Gruppen innerhalb der Organisation und im Organisationsumfeld. Organisationsinterne Leitbilder können sowohl an alle Organisationsmitglieder als auch an spezifische Funktionsbereiche des Unternehmens, insbesondere das Management gerichtet sein. Zu den organisationsexternen Adressaten eines Leitbildes gehören nicht nur die jeweiligen Bezugsgruppen wie Kunden oder Lieferanten, sondern allgemein die Öffentlichkeit wie auch gesellschaftliche Institutionen (vgl. Belzer 1998, S. 24). Je nach Adressaten ergeben sich andere Funktionen und andere Inhalte für das Leitbild.
3 Leitbilder in den Sozialwissenschaften – die Diskursanalyse
96 Zur Entwicklung von Leitbildern
Dem Verständnis von Leitbildern als schriftlich niedergelegten Unternehmensgrundsätzen entsprechend wird in der Betriebswirtschaft die Frage eingehend diskutiert, wie Leitbilddokumente zu erstellen sind, wie der Prozess der Leitbildentwicklung zu gestalten ist (vgl. dazu auch Kap. 3.3.1.3). In den 1970er und auch noch in den 1980er Jahren wurde die Leitbilderstellung als alleinige Aufgabe des Managements bzw. der Unternehmensleitung begriffen. Hoffmann beschreibt, wie Unternehmensgrundsätze insbesondere in den 1970er Jahren zustande kamen und welche Erwartungen damit verbunden waren: „Die Unternehmungsleitungen legten daher ihre Vorstellungen über Arbeit und Zusammenarbeit in diesen Grundsätzen nieder, mit der Erwartung, daß diese durch zunehmende Akzeptanz zu allgemeinem Gedankengut generieren.“ (Hoffmann 1989a, S. 169)
Auch heute hat sich die Praxis von diesem Gedanken noch nicht vollständig gelöst. Dabei wird jedoch regelmäßig beklagt, dass die auf diese Weise entstandenen Leitbilder nicht die erhoffte Wirkung erzielen. Die manifesten Leitbilder stoßen in den Unternehmen nicht auf positive Resonanz und erzielen keinen hinlänglich positiven Effekt. Mit der Einsicht, dass die Entwicklung und Einführung von Leitbildern viel eher als sozialer denn als technokratischer Prozess zu begreifen ist, in dem es zu einem Wandel der Unternehmenskultur kommen muss (vgl. bereits Brauchlin 1984, S. 316), setzt sich auch nach und nach die Erkenntnis durch, dass der Leitbild-Erstellungsprozess partizipativ, d.h. unter Teilnahme aller Unternehmensmitglieder zu gestalten sei. Dementsprechend werden theoretisch wie praktisch zwei Formen der Leitbilderstellung als Extrempositionen unterschieden (vgl. Belzer 1998, S. 31ff.; Kippes 1993, S. 185f.). Im sogenannten Top-downVerfahren wird das Leitbild durch die Unternehmensleitung bzw. das Management entworfen und entsprechend hierarchisch, „von oben“ vorgegeben. Im Bottom-up-Verfahren wird das Leitbild idealerweise unter Einbezug aller Mitarbeiter „von unten“ erarbeitet. Zwar ist ein Top-down-Verfahren gegenüber dem aufwändigen Bottom-up-Verfahren deutlich kostengünstiger und weniger zeitintensiv. Zugleich ergeben sich mit diesem Verfahren aber erhebliche Akzeptanz- und Identifikationsschwierigkeiten hinsichtlich des oktroyierten Leitbildes, sodass es gar nicht die erwünschte Wirkung im Unternehmensalltag, nämlich die Veränderung im Denken und Handeln aller Mitarbeiter erzielt. Auf der anderen Seite kann sich aber auch ein reines Entwicklungsverfahren „von unten“ über das genannte Kostenund Zeitargument hinaus als problematisch erweisen, wenn ein solcher Prozess entweder lediglich Allgemeinplätze oder nur den kleinsten gemeinsamen Nenner hervorbringt, die dann in ihrer Allgemeinheit in keinem Zusammenhang stehen mit dem Unternehmen selbst oder kaum über den Status quo hinaus nach vorne weisen (vgl. etwa Eckardt/Kerkhoff 2000). Deshalb wird seit den späten 1980er Jahren eine Mischstrategie präferiert. In diesem häufig als Gegenstromprinzip bezeichneten Verfahren wird versucht, Vor- und Nachteile beider Extremformen angemessen zu integrieren. Idealtypisch gestaltet sich ein LeitbildEntwicklungsprozess dann wie folgt (vgl. hierzu etwa Kippes 1993, Hertel u.a. 1998, Maelicke 1998, Weber 1998): In einer ersten Sondierungsphase werden relevante Informationen
3.3 Leitbilder in Organisationen und Unternehmen
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gesammelt90, die von einer eigens zusammengestellten Arbeitsgruppe, in der bestenfalls Mitarbeiter aller hierarchischen Stufen vertreten sind, zu einem ersten Leitbildentwurf verarbeitet wird. Dieser Entwurf wird im Unternehmen zur Diskussion gestellt und die Ergebnisse dieser Diskussion an die Arbeitsgruppe zur Überarbeitung des Leitbildes zurückgegeben. Um die Aufmerksamkeit, Akzeptanz und Identifikation mit dem so entstehenden Leitbild zu erhöhen, werden an verschiedenen Stellen im Entwicklungsprozess Veranstaltungen initiiert, in denen über Leitbilder an sich bzw. den Leitbild-Erstellungsprozess und die Inhalte des konkret entstehenden Leitbildes informiert und diskutiert wird. Um das auf diesem Weg entstandene manifeste Leitbild zu implementieren bzw. umzusetzen, sollen schließlich seine allgemein gehaltenen Überlegungen konkretisiert und auf das alltägliche Handeln im Unternehmen angewendet werden, indem die Konsequenzen des Leitbildes für einzelne Handlungsfelder und Abteilungen im Unternehmen erarbeitet werden (vgl. Stöbe 1995; Waninger 1998, S. 105; Klein 2000). Der Leitbild-Erstellungsprozess wird für andere Organisationen wie Nonprofit Organisationen oder Organisationen des öffentlichen Sektors vergleichbar dargestellt und bedarf hier keiner gesonderten Behandlung. Meyer und Hammerschmid (2000) stellen fest, dass sich die Praxis der Leitbilderstellung in der öffentlichen Verwaltung weitgehend an der Diskussion über Leitbilder in privatwirtschaftlichen Unternehmen orientiert. Die Entwicklung eines Leitbilddokuments wird dabei allerdings häufig als Ausgangspunkt bzw. frühes Element in einem komplexeren Reformprozess angesehen (vgl. hierzu auch Radtke 1998 und Stöbe 1995). 3.3.1.3 Anforderungen an manifeste Leitbilder Die Anforderungen, die an Leitbilddokumente und ihren Entwicklungsprozess gestellt werden, sollen gewährleisten, dass diese produzierten, zunächst aber nur propagierten Leitbilder in Form von schriftlich fixierten Grundsatzdokumenten tatsächlich das Denken und Handeln in den Organisationen prägen.91 In der Literatur zu Unternehmens- bzw. Organisationsleitbildern findet man entsprechend diverse, nicht immer widerspruchsfreie Anforderungen, wie der Prozess der Leitbildentwicklung gestaltet werden soll, sowie Maßgaben zur formalen und inhaltlichen Gestaltung der Leitbilddokumente. Zugleich existieren Überlegungen, die sich damit auseinandersetzen, warum manche produzierten Leitbilder scheitern. Letztlich verweisen auch diese Überlegungen darauf, wie manifeste Leitbilder beschaffen bzw. erstellt werden müssen, um handlungswirksam zu werden. Die entsprechenden Anforderungen entstammen meist der pragmatisch orientierten (Ratgeber-)Literatur zu Unternehmens- und Organisationsleitbildern, der allzu oft eine theoretische Begründung und konzeptionelle Einbindung (etwa in die Managementlehre) fehlt. Die Überlegungen nehmen 90
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Innerhalb des Prozesses der Leitbilderstellung, insbesondere bei der Informations- und Ideensammlung für den ersten Leitbildentwurf kommen unterschiedliche Methoden bzw. Verfahren zum Einsatz. Größere Verbreitung haben unterschiedliche Formen von Mitarbeiterbefragungen sowie eine Stärken-/SchwächenAnalyse der Organisation (vgl. etwa bereits Gabele 1983 sowie Bleicher 1998, Hertel u.a. 1998, Nickel 1998, Weber 1998). Sehr aufwändig gestaltet und umfänglich dokumentiert wurde die den Leitbildprozess der Caritas begleitende Mitarbeiter- und Bevölkerungsbefragung (vgl. Deutscher Caritasverband 1997). Letztlich zielt dieser Gedanke auf die immer wieder angesprochene Notwendigkeit ab, dass die expliziten oder auch oktroyierten Leitbilder in Unternehmen implementiert und von den Unternehmensmitgliedern internalisiert werden müssen. Die propagierten Leitbilddokumente sollen zu praktizierten Leitbild werden.
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3 Leitbilder in den Sozialwissenschaften – die Diskursanalyse
damit die Form von Rezeptwissen an, für das im Folgenden versucht wird, so weit wie möglich einen Bezug zu den konzeptionellen Überlegungen herzustellen. Zunächst zum Prozess der Leitbildentwicklung. Einiges ist hierzu bereits gesagt worden (vgl. Kap. 3.3.1.2). Als Anforderungen an den Entwicklungs- bzw. Implementationsprozess lassen sich vier Aspekte hervorheben:
die Bedeutung und Permanenz des Prozesses selbst die Beteiligung von Organisationsmitgliedern die Konkretisierung und Umsetzung des Leitbildes die Notwendigkeit der Kommunikation über die Leitbilder
In den vergangenen Jahren hat sich die Einsicht durchgesetzt, dass dem Prozess der Leitbildentwicklung eine besondere Bedeutung zukommt (vgl. etwa Körner 1990, Radtke 1998, Weber 1998, Stock 2006, Grötzinger/Hohmann 2006): „Ob Leitbilder die angestrebten Wirkungen entfalten können, hängt entscheidend von dem Prozeß ab, der zu ihrer Entwicklung führt.“ (Stöbe 1995, S. 133) Letztlich weist die zunehmende Prozessorientierung bei der Leitbilderstellung auf die Notwendigkeit hin, dass die manifesten Leitbilddokumente sich im Denken und Handeln der Beteiligten niederschlagen müssen. Manifeste Leitbilder können demnach nur dann handlungsleitend werden, wenn sie verinnerlicht werden, wenn also implizite Leitbilder entstehen. Wo die Bedeutung des Leitbild-Entwicklungsprozesses in den Vordergrund gerückt wird, ist es schließlich nur konsequent, den Entwicklungsprozess als einen permanenten Prozess zu begreifen, der nicht mit der einmaligen Formulierung eines Leitbildes abgeschlossen ist. Zum einen bedarf die Implementation und Umsetzung des Leitbildes besonderer Aufmerksamkeit. Zum anderen ist ein Leitbildprozess aber auch deshalb niemals ganz abgeschlossen, da auch ein explizites Leitbild permanent weiterentwickelt werden muss. „Ein Leitbild muß gelebt und fortgeschrieben werden. (...) Ein Unternehmen muß immer an dem Leitbild arbeiten, damit das Leitbild nicht ein Relikt der Vergangenheit, sondern ein Wegweiser in die Zukunft ist.“ (Kippes 1993, S. 187f.)
Den wichtigsten Anspruch an moderne Leitbild-Entwicklungsprozesse bildet die Beteiligung der Organisationsmitglieder bzw. Unternehmensmitarbeiter am Entwicklungsprozess. Dieser Aspekt wird zunehmend hervorgehoben (vgl. Körner 1990, S. 25; Stöbe 1995; Belzer 1998, S. 46f.; Radtke 1998, S. 19; Weber 1998; Stock 2006). Als diesbezügliche Mindestanforderung kann der Anspruch gelten, dass das Leitbild aus dem Unternehmen bzw. der Organisation kommen muss und nicht „quasi von außen aufgepfropft“ werden darf (vgl. Demuth 1993 sowie Gabele/Kretschmer 1985). Dieser Anspruch hat einen legitimatorischen ebenso wie einen inhaltlichen Hintergrund. Werden neue Leitbilder formuliert, müssen die Mitglieder zunächst aus motivationalen Gründen an der Erstellung beteiligt werden. Nur woran sie selber oder ihre Vertreter mitgewirkt haben, damit können sie sich auch identifizieren (vgl. etwa Dierkes 1990, S. 36 oder Stöbe 1995, S. 134): „Grundsätzlich besteht wohl Einigkeit darüber, daß Personen sich noch am ehesten an das halten, was sie selbst einmal mitgestaltet und mitbeschlossen haben.“ (Gabele 1983, S. 327) Hier stellen Mitarbeiterbefragung und -beteiligung also eine Legitimationsstrategie dar. Zugleich geht es aber auch um den inhaltlichen Aspekt, dass die Vorstellungen der Organisationsmitglieder mit berücksichtigt werden sollen. Nur wo neu formulierte Leitbil-
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der anschlussfähig sind an die bereits existierenden Vorstellungen und Wünsche, wird das neue Leitbild handlungswirksam werden können. Ausgehend von dieser Einsicht finden die im Laufe der Geschichte der Organisation gewachsenen Denk- und Handlungsmuster, die entstandene Unternehmenskultur beim Entwurf der Leitbilddokumente immer häufiger Beachtung (vgl. etwa Vogel 2003, S. 97). Dass der wachsende Anspruch, Leitbildentwicklungsprozesse unter Einbezug aller Unternehmensbereiche und hierarchischen Stufen zu gestalten, noch weitgehend unrealisiert ist, zeigt eine Umfrage unter 1.000 deutschen Unternehmen aus dem Jahre 1998. Diese ergab, dass nicht einmal in jedem dritten Unternehmen Mitarbeiter am Entwicklungsprozess beteiligt waren, die nicht aus oberen Führungspositionen stammen (vgl. KPMG 1999, S. 15). Anspruch und Wirklichkeit klaffen hier also immer noch weit auseinander. Umstritten ist dagegen die Forderung an den Leitbild-Entwicklungsprozess, dass dieser nicht mit der Formulierung und Verbreitung des Leitbildes abgeschlossen sein darf, sondern dass zu einem Leitbildprozess im weiteren Sinne seine Konkretisierung bzw. Umsetzung gehört. Wenige Darstellungen zu Leitbildern gehen so weit zu fordern, dass die Dokumente selbst konkretisierte Aussagen beinhalten müssen – bis hin zu Maßnahmenkatalogen. Aber auch, wo die Konkretisierung und Umsetzung in Maßnahmenkataloge nicht Gegenstand des Leitbilddokumentes selbst sind, wird häufig für den Leitbildprozess im Ganzen gefordert, dass das Leitbild unmittelbar auf einzelne Handlungsfelder bezogen werden muss und so für das Alltagshandeln umsetzbar wird (vgl. Stöbe 1995, S. 137f. und 129; Mai 1995, S. 178; Waninger 1998; Buber/Fasching 1999b; Buber/Falkner/Fasching 1999; Klein 2000; Klose 2006). Gerade wo sich der Konkretisierungsanspruch bereits auf den Gehalt des Leitbildes bezieht, wird dieser Anspruch problematisch. Dann steht dem Anspruch der hinreichenden Konkretheit von Leitbilddokumenten die Notwendigkeit gegenüber, dass das Leitbild bis zu einem gewissen Grad offen formuliert sein muss. Die Frage, wie die Aussagen eines Leitbildes verwirklicht werden können, muss angesichts sich verändernder Bedingungen und Umstände wenigstens teilweise offen bleiben (vgl. Eckardt/ Kerkhoff 2000, S. 5; siehe dazu noch einmal weiter unten). Selbstverständlich erscheint schließlich die Forderung, dass manifeste Leitbilder kommuniziert werden müssen. Dass dieser fundamentale Aspekt dennoch von einigen Autoren hervorgehoben wird, macht deutlich, dass die Praxis der Leitbildentwicklung noch stark von den mehr oder weniger theoretischen Überlegungen hierzu abweicht. Bereits Gabele und Kretschmer (1985) warnten vor den „Stolpersteinen“ bei der Einführung von Unternehmensgrundsätzen, dass Maßnahmen zu ihrer Verbreitung sowie Maßnahmen zur Information und Aufklärung über ihre Bedeutung fehlen könnten (vgl. ebd., S. 152). Aber auch noch bei Stöbe (1995) und Belzer (1998) findet man die Forderung, dass Leitbilder bekannt gemacht, verbreitet und kommuniziert werden müssen. Neben diesen Anforderungen, die den Prozess der Leitbildentwicklung betreffen, werden vielfältige Ansprüche an die formale und inhaltliche Gestaltung der Leitbilddokumente formuliert.92 Herausgehoben werden hier folgende Aspekte:
Realisierbarkeit Konkretheit vs. Allgemeinheit emotionale und motivationale Qualitäten
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Da die Literatur zu Unternehmensleitbildern zu einem großen Teil stark pragmatisch ausgerichtet ist, ist die Grenze zwischen deskriptiven und normativen Aussagen zu Form und Inhalt von Leitbildern fließend.
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3 Leitbilder in den Sozialwissenschaften – die Diskursanalyse
Ein Anspruch, der auch in anderen Forschungsfeldern erhoben wird, bezieht sich auf die Realisierbarkeit der Leitbilder. Die Ziele bzw. allgemeiner Zukunftsvorstellungen, die in einem Leitbild formuliert werden, müssen möglich, müssen umsetzbar, müssen erreichbar sein (vgl. Radtke 1998, S. 19; Becker 2000, S. 38; Bleicher 1994, S. 51). Dies entspricht auch der Grundbestimmung von Leitbildern als „realistischem Idealbild“ in der konzeptionell ausgerichteten Literatur. Der Realisierbarkeitsanspruch ist in der betriebswirtschaftlichen Diskussion über Leitbilder – im Gegensatz zu anderen Forschungsfeldern – weitgehend Konsens. Ebenso universell, im Sinne forschungsfeldübergreifend, ist die Diskussion darüber, wie allgemein bzw. wie konkret ein Leitbild formuliert sein darf bzw. sein muss. Der theoretische Diskurs ordnet Unternehmensleitbildern weitgehend nur Aussagen mit geringem Konkretisierungsgrad zu (vgl. etwa Brauchlin 1979 und 1984, Ulrich 1978 und Ulrich/Fluri 1995). Konkrete Strategien und Verhaltensvorschriften werden zwar aus den im Leitbild festgehaltenen Grundsätzen abgeleitet, sollen aber an anderer Stelle ausgearbeitet werden. Leitbilder werden als Teil des normativen, nicht des strategischen oder gar operativen Managements verstanden. Demgegenüber spricht sich die Ratgeberliteratur bisweilen für vergleichsweise konkrete Leitbilder aus, um auf diese Weise der Beliebigkeit und dem leerformelhaften Charakter der Leitbildaussagen zu entgehen und seine Umsetzung zu garantieren (vgl. etwa Becker 2000, S. 38). Unternehmensleitbilder wandeln sich dann aber zu konkreten Unternehmenskonzepten und -strategien, zu Plänen und Programmen, gar zu konkreten Verhaltensvorschriften, die schwerlich als Orientierung für die gesamte Unternehmensführung herangezogen werden können. Anders begegnen dem Problem der zu großen Allgemeinheit und damit Konsequenzlosigkeit von Leitbilddokumenten Konzepte, die dem Leitbildprozess die eigentliche Bedeutung beimessen. Leitbilder werden dann als Ergebnis eines Verständigungsprozesses angesehen. Ihr eigentlicher Gehalt erschließt sich in der sozialen Interaktion der Interpretationsgemeinschaft. So halten Kirsch und zu Knyphausen fest, „worauf es bei einem Leitbild ankommt: daß es nämlich gelebt wird und nicht als bloßes Aussagengerüst existiert. Die Aussagen, die am Ende eines Leitbildentwicklungsprozesses verabschiedet werden, gewinnen ihre besondere Bedeutung daraus, daß im Prozeßverlauf über sie argumentiert wurde.“ (Kirsch/zu Knyphausen 1988, S. 502)
Nicht auf das manifeste Leitbilddokument kommt es damit an, sondern das darin zum Ausdruck gebrachte Bewusstsein, das seinerseits in einem intersubjektiven Prozess der Bedeutungszuschreibung entsteht. Das Dokument hat nur für diejenigen Bedeutung, die deren Aussagen teilen. Dies verweist wiederum auf die Bedeutung der impliziten Leitbilder. Wo Leitbilder zweckrational begriffen werden und eher einem Zielsystem als einer allgemeinen Orientierung gleichen, wird eingefordert, dass Leitbilder eindeutig, zeitlich begrenzt, messbar und überprüfbar sein müssen (vgl. Becker 2000). Damit entfernen sich entsprechende Argumentationen von den konzeptionellen Bestimmungen, die in Leitbildern die allgemeinen Unternehmensgrundsätze und Werthaltungen, keine konkreten Zielsetzungen festgeschrieben wissen wollen.93 In der pragmatischen Literatur werden schließlich auch Anforderungen formuliert, die auf die emotionalen, motivationalen, kreativen, erinnerungsstützenden und visuellen Quali93
Zur grundlegenden Differenz im Verständnis von Leitbildern als rationalem Zielsystem gegenüber Leitbildern als regulativer Idee vergleiche die Analyse zu Leitbildern in der Politik (vgl. Kap. 3.2).
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täten von Leitbildern setzen. Leitbilder sollen anschaulich, verständlich, einfach und prägnant sein (vgl. dazu Körner 1990, Demuth 1993, Häusel 1991). Sie sollen eine hohe Emotionalität aufweisen und phantasieanregend sein. Häusel spricht hier von einem ikonischen Leitbild, einem „Big Picture“, das aber auch nur eine kreative und visualisierte Umsetzung der zuvor gemeinsam formulierten Identität darstellt (vgl. Häusel 1991, S. 29f.). Solcherart ikonische Leitbilder ebenso wie Unternehmensgrundsätze, die auf einem T-Shirt oder einer Visitenkarte Platz haben sollen, stellen eine spezifische Form von Leitbildern dar, die um so deutlicher werden lässt, dass manifeste Leitbilder nur symbolischen Charakter haben. Das Leitbild in aller Kürze eines Statements oder in einem umfänglicheren Unternehmensgrundsatzdokument steht für implizite Grundannahmen und Wert- sowie Wunschvorstellungen, die im manifesten Leitbilddokument nur zugänglich gemacht und festgeschrieben werden sollen. 3.3.2 Leitbilder zwischen Mission und Vision Die Begriffe Mission und Vision, die beide zum englischsprachigen Begriffsrepertoire der Managementlehre gehören, werden auch im deutschsprachigen Diskurs aufgegriffen. Sie stehen in einem engen, allerdings uneinheitlichen Verhältnis zum deutschsprachigen Leitbildbegriff. Ein Rückgriff auf die vornehmlich englischsprachige Diskussion über Visionen und Missionen fördert gleichwohl einige Aspekte zu Tage, die für ein differenziertes Verständnis des deutschsprachigen Leitbildbegriffs von Bedeutung sind. Über die Unterscheidung zwischen Mission und Vision und deren Bedeutung herrscht wie für alle anderen englisch- und deutschsprachigen Begriffe in dem dargestellten Feld keine Einigkeit. Es gibt Ansätze, welche die Visionen hierarchisch den Missionen unterordnen oder das eine als Teil des anderen begreifen und umgekehrt. In aller Regel wird nur mit einem der beiden Begriffe ohne Bezugnahme zum jeweils anderen operiert. Im Folgenden sollen einige konzeptionelle und empirische Forschungsarbeiten stellvertretend für die englischsprachige Diskussion zu Missionen und Visionen diskutiert werden. Anschließend wird das Verständnis von Mission und Vision und ihr Verhältnis zu Leitbildern im deutschsprachigen Diskurs dargestellt. Weitgehend Einigkeit besteht darin, in Visionen die Vorstellung eines erstrebenswerten Zukunftszustandes zu sehen, welche die Emotionen der Beteiligten ansprechen. Missionen werden demgegenüber stärker als rational geprägte Entwürfe angesehen, die ausgehend von einem Zweck oder Auftrag die diesem entsprechenden übergeordneten Strategien oder auch Wertvorstellungen formulieren. Sie richten sich stärker an den Kopf als an das Herz (vgl. Matje 1996, S. 7). Missionen wie auch Visionen werden in ihrer jeweiligen Eigenart als Instrument der Unternehmensführung genutzt. Die schriftlich niedergelegten Missionen, aber auch andere Grundsatzdokumente werden allgemein als Mission Statements bezeichnet.94
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Bei der Sammlung von rund 200 englischsprachigen Mission Statements weltweit stießen Campbell und seine Mitarbeiter auf so unterschiedliche Bezeichnungen wie „Our Mission“, „Vision, Values and Philosophy“, „A Business Philosophy“, „The Five Principles of ...“, „The ... Way“, „The Character of the Company“ und allgemein „company philosophy“, „vision and values“ oder „company credo“ (vgl. Campbell/ Tawadey 1990, S. viii und S. 314).
3 Leitbilder in den Sozialwissenschaften – die Diskursanalyse
102 Mission und Mission Statement
In einer französisch-britischen Kooperation werden die Ergebnisse von vier verschiedenen Untersuchungen zu „Mission Statements“ in Großbritannien und „projet d’entreprises“ in Frankreich zusammengetragen und verglichen. Dabei werden die Mission Statements in Bezug auf zwei Dimensionen kategorisiert. Einerseits in Bezug auf das Ausmaß der Beteiligung im Prozess der Entwicklung, andererseits in Bezug auf den Inhalt des Mission Statements, ob sich dieses mit Strategien oder Werten befasst (vgl. Brabet/Klemm 1994, S. 86). Entsprechend lässt sich der Erstellungsprozess von Mission Statements auf einer Skala zwischen den Extremen von geringer Beteiligung (Erstellung durch das Management) und hoher Beteiligung (Erstellung durch alle Unternehmensmitglieder) unterscheiden. Der Inhalt der Mission Statements lässt sich auf einem Kontinuum zwischen strategischen und kulturellen Inhalten einordnen (vgl. Abbildung 3.3). Abbildung 3.3: Typen von Mission Statements Little Participation Managerial statement of Values
Managerial statement of Strategy
Strategic Content
Cultural Content Shared Values
Shared Strategy
Extented Participation (nach Brabet/Klemm 1994, S. 89)
Der nationale Vergleich zeigt deutlich, dass das, was ein Mission Statement ausmacht und wie dieses zustande kommt, sehr unterschiedlich ausfallen kann. Diese Erkenntnis lässt sich unmittelbar übertragen auf die manifesten Dokumente der Unternehmensleitbilder, die in ihrem Zustandekommen und ihrem Inhalt hinsichtlich derselben Dimensionen variieren. Allerdings weist die vorliegende Typologie eine gewisse Schwäche bzw. Ungenauigkeit auf. Die Autoren übersehen in Bezug auf die Dimension des Beteiligungsgrades, dass die partizipativ erstellten Inhalte von Mission Statements, die sie als „geteilte“ Werte bzw. Strategien (shared values/strategy) bezeichnen, nicht automatisch mit handlungsleitenden Strategien und Werten gleichgesetzt werden können. Sie können mitunter als erstrebenswert gelten, ohne aber faktisch verfolgt zu werden (vgl. dazu Kapitel 2.2.1 und 3.3.3). Campbell und seine Kollegen befassen sich nicht nur mit Mission Statements von Unternehmen, sondern konzipieren zugleich den Begriff Mission neu. Die Mission eines Unternehmens beinhaltet in ihrem Modell vier miteinander verwobene Elemente: den Zweck (purpose) als grundlegendste Erklärung für die Existenz des Unternehmens, die Strategie
3.3 Leitbilder in Organisationen und Unternehmen
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(strategy), die Werte (organization values) als Überzeugungen und ethische Grundsätze sowie die Verhaltensstandards (behaviour standards) des Unternehmens (vgl. Campbell/Tawadey 1990, S. 2ff.; Campbell/Yeung 1991a und b; Campbell/Devine/Young 1992, S. 43ff.). Je enger diese vier Elemente miteinander verbunden sind und sich gegenseitig verstärken, desto stärker ist die Mission des Unternehmens. Abbildung 3.4: Das Gefühl für die eigene Mission ZWECK Warum das Unternehmen existiert
STRATEGIE
WERTE
Wettbewerbsposition und charakteristische Kompetenz
Woran das Unternehmen glaubt
Persönliche Wertvorstellungen der Mitarbeiter
VERHALTENSNORMEN Praktiken und Verhaltensmuster, die die charakteristische Kompetenz und das Wertesystem unterstützen (nach Campbell/Devine/Young 1992, S. 43 und 54)
Insbesondere die Überlegungen zu den Wertvorstellungen führen zur Einsicht in eine grundlegende, wenn auch schwer zu treffende Unterscheidung. Die Autoren machen dabei auf das Spannungsverhältnis zwischen den Werten und Grundüberzeugungen der Mitarbeiter und denen der Unternehmensleitung aufmerksam. Die Werte als kulturelles Element bezeichnet Campbell in seinem Modell bisweilen als „company values“, also Unternehmenswerte. Diese Unternehmenswerte erwachsen, so die zunächst geäußerte Auffassung, häufig aus den persönlichen Werten der Unternehmensleitung, welche diese durch ihr Managementhandeln im Unternehmen etablieren (vgl. Campbell/Tawadey 1990, S. 150 und 320). 95 Gleichzeitig macht Campbell aber deutlich, dass die Mission des Unternehmens nur dann im ganzen Unternehmen zum Tragen kommen kann, wenn die Unternehmensmitglieder ein „Gefühl für die eigene Mission“ („a sense of mission“) haben (vgl. Campbell/Devine/ Young 1992, S. 26ff. und 54ff.). Ein Gefühl für die Mission entsteht dann, wenn das Wertesystem des Unternehmens mit den persönlichen Werten, Überzeugungen und Prinzipien der 95
Entsprechend findet sich in einem anderen Modell noch die Beschreibung: „company values (what senior management believes in)“ (Campbell/Tawadey 1990, S. 2). In „A Sense of Mission“ heißt es demgegenüber unspezifischer: „Values (what the company believes in)“ (Campbell/Devine/Young 1990, S. 26).
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Mitarbeiter übereinstimmt oder diesem wenigstens nahe ist, wenn eine Identifikation mit der Mission aufgebaut wird, wo die Mission dem Handeln der Unternehmensmitglieder Sinn und Bedeutung verleihen kann (vgl. Campbell/Tawadey 1990, S. 5). Eine Mission wird – so könnte man sagen – erst dann lebendig, wenn die Wertvorstellungen des Unternehmens nicht nur auf den Wertvorstellungen der Unternehmensleitung beruhen, sondern mit den persönlichen Wertvorstellungen der Mitarbeiter in Einklang stehen. Die Existenz einer lebendigen, wirksamen Mission wird also an die Bedingung geknüpft, dass die Mitarbeiter ein Gefühl für diese Mission haben. Mit dieser Voraussetzung entsteht aber spätestens ein Bruch zwischen der (in Campbells Vorstellung von den Mitarbeitern mitgetragenen) Mission und dem, was de facto unter Mission Statement firmiert. Faktisch sind Mission Statements eben nicht einfach nur die schriftliche Darstellung des gegenwärtig herrschenden strategischen und wertorientierten Grundverständnisses, das in einem Unternehmen geteilt wird, sondern ein Stück weit Soll- bzw. Idealvorstellungen. Damit finden sich faktisch in Mission Statements durchaus nicht nur die gegenwärtig gültigen, sondern über den gegenwärtigen Stand des Unternehmens hinausweisenden Vorstellungen, die erst zu verfolgenden Strategien, zugrunde zu legenden Werte, sich daraus ergebenden Verhaltensstandards, kurz die Soll-Kultur und Soll-Strategie. In Mission Statements kommen damit in aller Regel neue, noch nicht etablierte Missionen zum Ausdruck. Hier ergibt sich eine Parallele zu den manifesten Unternehmensleitbildern, die gleichfalls eher die angestrebten denn die bereits etablierten Unternehmensgrundsätze schriftlich fixieren. Die Autoren stellen zudem fest, dass „a sense of mission“ nicht notwendig mit der Existenz eines Mission Statements einhergeht. Vielmehr haben sie Unternehmen identifiziert, die zwar ein Mission Statement besitzen, aber keine klare Vorstellung von ihrer Mission und umgekehrt (vgl. ebd., S. viii). Es ist eben diese Unterscheidung zwischen dem Mission Statement als manifestem Dokument und dem „sense of mission“ als der handlungsleitenden Vorstellung, die auch für das differenzierte Verständnis von Leitbildern zwingend notwendig ist, jedoch selten bewusst und konsequent vorgenommen wird. Aus der dargestellten Notwendigkeit, dass eine Mission von den Unternehmensmitgliedern getragen werden muss, wird den Mission Statements bei Campbell schließlich eine andere Rolle zugeschrieben, als sie derzeit faktisch innehaben. Sie sollen Ausdruck der akzeptierten, nicht der hierarchisch vorgegebenen Grundsätze sein. Eine wirksame, von den Mitarbeitern getragene Mission kann dann, so die Auffassung der Autoren, nicht einfach dadurch hergestellt werden, dass ein Mission Statement im Sinne einer Soll-Kultur und Soll-Strategie vorgegeben wird. Ein gutes Mission Statement muss sich vielmehr aus dem ergeben, was die Autoren als „sense of mission“ beschreiben: die weitgehend im Unternehmen geteilten Vorstellungen von Zweck, Strategien, Werten sowie Verhaltensgrundsätzen. Das Konzept vertraut damit im starken Maße auf die im Unternehmen bereits existierenden und geteilten Grundüberzeugungen. „So gesehen, hat das Mission Statement für das Unternehmen eine ähnliche Rolle wie die Bibel für die Christen oder die Verfassung für die Amerikaner. (...) Die Bibel und die Verfassung sind nur für jene nützliche Dokumente, die an sie glauben, die sich verpflichtet fühlen, ihrer Lehre oder ihren Regeln zu folgen. (...) Ein Mission Statement hat nur für denjenigen Bedeutung, der sich mit der darin beschriebenen Mission identifiziert. Wir betrachten daher Mission Statements als äußerst nützlich, nachdem das Gefühl für die eigene Mission entstanden ist, nicht davor.“ (Campbell/Devine/Young 1992, S. 31f.)
3.3 Leitbilder in Organisationen und Unternehmen
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Was dieses an sich differenzierte Modell damit aber weitgehend unberücksichtigt lässt, ist das Visionäre. Visionen werden demgegenüber in anderen Konzepten als treibende Kraft der Unternehmensentwicklung und Erfolgsfaktor herausgestellt wird. Vision Unter einer Vision verstehen Bennis und Nanus ein „mental image of a possible and desirable future state of the organization“ (Bennis/Nanus 1990, S. 187), die so vage wie ein Traum, aber auch so präzise wie ein Ziel (goal) sein kann (ebd.). „Eine Vision ist eine realistische, glaubwürdige und attraktive Zukunftslösung für eine Organisation.“ (Nanus 1994, S. 21) Eine geteilte Vorstellung von dem erwünschten Zukunftszustand hilft dem Einzelnen, seinem Handeln Sinn zu geben und Entscheidungen zu treffen, die der Organisation, ihrem Zweck und ihren Zielen dienen: „When the organization has a clear sense of its purpose, direction, and desired future state and when this image is widely shared, individuals are able to find their own roles both in the organization and in the larger society of which they are a part. (…) A shared vision of the future also suggests measures of effectiveness for the organization and for all its parts. It helps individuals distinguish between what’s good and what’s bad for the organization, and what’s worthwhile to want to achieve. And most important, it makes it possible to distribute decision making widely.“ (Bennis/Nanus 1990, S. 187f.)
Auch wenn den Führungspersönlichkeiten in einer Organisation eine besondere Bedeutung hinsichtlich der Implementierung einer Vision beigemessen wird, wird auch diese nur dann erfolgreich sein, wenn sie der Organisation selbst entspringt und von vielen getragen wird (vgl. Nanus 1994; Bennis/Nanus 1990, S. 196). Mit diesem Verständnis von Visionen beleuchten die Autoren einen Aspekt, der bei Campbell nicht genügend Berücksichtigung findet: Visionen als geteilte Vorstellungen von einer möglichen und erwünschten Zukunft leisten Identifikations- und Entscheidungshilfen für die Mitglieder einer Organisation. Die folgende Gegenüberstellung zeigt allerdings, dass Visionen und Missionen stärker miteinander verbunden sind, als die vorangehenden Begriffsbestimmungen glauben machen. Vision versus Mission? Visionen und Missionen werden nicht grundsätzlich als Gegensätze dargestellt, weisen allerdings eine unterschiedliche Perspektive auf. Den grundlegenden Unterschied zwischen Vision und Mission sieht Campbell darin, dass sich Missionen auf die Gegenwart des Unternehmens beziehen, auf den gegenwärtigen Charakter des Unternehmens, während die Visionen auf einen zukünftigen, zu erreichenden Zustand ausgerichtet sind (Campbell/ Yeung 1991b, S. 145f.). Visionen beschreiben immer Bedingungen bzw. Zustände, die noch nicht existent sind, sondern nur wünschenswert (vgl. dazu auch Bennis/Nanus 1990, S. 187; Nanus 1994, S. 21f.). Die demgegenüber von Campbell vorgenommene Kennzeichnung von Missionen als dem gegenwärtigen Charakter des Unternehmens löst sich allerdings häufig in
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3 Leitbilder in den Sozialwissenschaften – die Diskursanalyse
Richtung von Visionen auf. Die vorgenommene Unterscheidung von Mission und Vision verschwimmt nämlich spätestens dort, wo der Gedanke von neuen Missionen eingeführt wird. „In Zeiten des Wandels wird eine neue Mission schwer von einer Vision zu unterscheiden sein, weil die neue Mission ein geistiges Bild eines wünschenswerten zukünftigen Zustands darstellt.“ (Campbell/Devine/Young 1992, S. 61)
Als Soll-Vorstellungen bezüglich der Mission hätten die neuen Missionen, wie sie häufig in Mission Statements formuliert werden, selbst visionären Charakter, weil sie eine Mission beschreiben, die noch gar nicht im Unternehmen etabliert ist. In Campbells Mission-Begriff wird allerdings ignoriert, dass die Mitglieder eines Unternehmens selbst auch Vorstellungen von einer erstrebenswerten Zukunft des Unternehmens besitzen, die durchaus Teil der Mission, und zwar des gegebenen Wertesystems sein können. Ziele, Zukunftswünsche und auch Visionen (im Sinne Nanus’) wären damit als Teil der kollektiv geteilten Mission zu verstehen. Diese geteilten Zukunftsvorstellungen unterscheiden sich aber wiederum vom Wesen her von den durch die Unternehmensführung vorgegebenen Missionen und Visionen. Mit diesen ist lediglich die Aufforderung verbunden, das Denken und Handeln daran zu orientieren. Hier ist noch kein Gefühl für die Mission oder auch Vision des Unternehmens gegeben, sodass diese nicht denk- und handlungsleitend werden können. Collins und Porras (1991 und 1992) verstehen demgegenüber Visionen als übergeordnetes Konzept, innerhalb dessen Leitbilder bzw. Missionen ein Element darstellen. Was bei ihnen als Leitbild und Mission umschrieben wird, scheint anderweitig gerade unter dem Begriff der Vision zu firmieren: das Leitbild (Tangible Image) als eine konkrete, real und lebendig wirkende Vorstellung von der Zukunft (vgl. Collins/Porras 1991, S. 42) und die Mission als dessen Element als „greifbares, anspornendes und festumrissenes Ziel, das die Organisation vorantreibt“ (Collins/Porras 1992, S. 114). Ihr Vision-Begriff ist demgegenüber sehr allgemein gefasst und schließt nicht an die übrige Diskussion über Visionen in Unternehmen an.96 Im englischsprachigen Diskurs erweist sich schließlich als zentraler Gedanke, dass konkrete Unternehmensziele erreichbar sind, mit ihrem Erreichen obsolet werden und damit durch neue ersetzt werden müssen. In Unternehmenszwecken wird hingegen die dauerhafte Ausrichtung des Unternehmens beschrieben. Aus diesen dauerhaften Zwecken können schließlich neue Ziele generiert werden. In diesem Sinne verstehen Collins und Porras (1992) etwa die sehr konkreten Ziele von Pepsi – beat Coke – oder von J.F. Kennedy – der erste Mann auf dem Mond – als Mission, was anderweitig gerade als Vision bezeichnet würde.97 Visionen und Missionen lassen sich damit zwar nicht entlang der Differenz von erreichbaren Zielen und langfristigen Zwecken unterscheiden, bewegen sich jedoch – wie im Folgenden gezeigt wird – beide in diesem Spektrum.
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Aus diesem Grund bleibt das Konzept dieser Autoren für die weitere Untersuchung weitgehend unberücksichtigt. Diese Lesart entspricht auch weitgehend der deutschen Rezeption beider Konzepte (siehe weiter unten). Campbell unterscheidet wie folgt: „Vision wird daher mehr mit einem Ziel assoziiert, während Mission mehr mit einer Verhaltensweise in Verbindung gebracht wird.“ (Campbell/Devine/Young 1992, S. 60)
3.3 Leitbilder in Organisationen und Unternehmen
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Leitbilder zwischen Mission und Vision Wie sich der deutschsprachige Leitbildbegriff zu den englischsprachigen Konzepten von Mission und Vision verhält, ist wiederum widersprüchlich und hängt vom jeweils zugrunde gelegten Verständnis der Begriffe ab. Wie Campbell schreibt auch Hinterhuber der Vision einen endlichen Charakter zu und bezeichnet es als konkretes Zukunftsbild, das nach Erreichen des Ziels durch eine neue Vision ersetzt werden muss. Die Mission drückt demgegenüber den dauerhaften Zweck der Unternehmung aus (Hinterhuber 1992a, S. 41ff.). Das Leitbild steht bei ihm als Übersetzung für die Mission. Entsprechend drückt für ihn das Leitbild den Zweck des Unternehmens aus, d.h. es beantwortet die grundlegende Frage, warum das Unternehmen existiert und welchen gesellschaftlichen Beitrag es leistet. „Die wegsuchende Karawane in der Wüste, deren Landschaftsbild sich in Sandstürmen dauernd ändert, richtet ihre Reise an den Leitbildern des Sternenhimmels aus. Die Sterne sind nicht das Ziel der Reise; sie sind aber eine sichere Orientierung für den Weg in die Oase, gleich aus welcher Richtung die Karawane diese anstrebt, mit welcher Reiseausstattung sie versehen und wie unwegsam das Gelände ist.“ (Hinterhuber 1992a, S. 42)
Die Schwierigkeit, Visionen und Leitbilder (Missionen) anhand der Differenz von erreichbaren Zielen und langfristigen Zwecken zu unterscheiden, wird bei Hinterhuber besonders deutlich. Im gleichen Atemzug spricht er von den „Leitbildern des Sternenhimmels“ und vergleicht die Vision mit dem Polarstern.98 Visionen beschreibt er jedoch als konkretes Zukunftsbild im Sinne eines erreichbaren Ziels, womit das Bild des Polarsterns hier gar nicht treffend wäre (vgl. Hinterhuber 1992a, S. 41f.).99 Auch bei Matje werden Leitbilder in seiner Gegenüberstellung von Unternehmensvisionen und Unternehmensleitbildern eher den in seinen Augen rational geprägten Missionen bzw. Mission Statements zugeordnet, ohne dies jedoch zu begründen (vgl. Matje 1996). Ebenso werden bei Botschen/Stoss (1994) und Horak/Matul/Scheuch (1999) Leitbilder mit Missionen gleichgesetzt. Nach Bleicher können innerhalb des umfassenden Leitbildes Missionen formuliert werden ebenso wie die unternehmerischen Visionen, welche – dem Leitbild vorangestellt – einen erstrebenswerten Zukunftszustand des Unternehmens beschreiben (vgl. Bleicher 1994, S. 35). Versucht man, trotz aller Differenzen und Widersprüche, das Verständnis der englischsprachigen Konzepte der Vision und Mission auf den Punkt zu bringen, so lassen sich weitgehend konsensuell folgende Schwerpunkte festhalten:
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Visionen stellen bildliche Vorstellungen von einer erstrebenswerten Zukunft dar. Nur in dem Maße, wie diese Vision konkret ausgestaltet ist, gibt sie ein endliches, zu erreichendes Ziel ab, das bei Erreichen durch ein neues ersetzt werden muss. Missionen erweisen sich demgegenüber zum einen als unter Umständen langfristiger gültig und zum anderen stärker in der Gegenwart des Unternehmens verankert. Vor allem beschreiben Missionen die stärker rational geprägten Unternehmensgrundsätze, Die Sternenmetapher findet sich bereits bei Brauchlin, der von Unternehmensleitbildern als Leitsternen spricht (vgl. Brauchlin 1984, S. 313). Es sei hier daran erinnert, dass beispielsweise Nanus (1994) Visionen nicht nur als solcherart konkrete, erreichbare Ziele definiert hat, sondern jegliche bildliche Vorstellung von einer erwünschten Zukunft.
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wie den Zweck, die Strategien, Verhaltensstandards aber auch Ziele und grundlegenden Wertvorstellungen. Während Campbell unter Missionen den gegebenen Charakter des Unternehmens versteht, werden Missionen und Mission Statements (als ihre schriftliche Niederlegung) gemeinhin auch als die angestrebten, im Sinne zu verfolgender Grundsätze des Unternehmens angesehen.
In der Diskussion um Missionen und Visionen hat sich die Erkenntnis durchgesetzt, dass beide nur dann handlungswirksam werden können, wenn sich die Unternehmensmitglieder mit ihnen identifizieren, die damit verbundenen Zukunfts- und Wertvorstellungen teilen. Gerade Mission Statements beinhalten faktisch häufig nicht die gegebene, von den Mitarbeitern getragene Mission, sondern eine Idealvorstellung dessen und weisen damit ebenso wie Visionen über die gegebene Realität hinaus. Missionen und Visionen sind damit enger miteinander verbunden als manche Konzepte es darzustellen versuchen. Die in Visionen beschriebene anzustrebende Zukunft kann sich ebenso gut auf zu verfolgende Zwecke, Strategien oder Werte beziehen, also eine Vision einer Mission darstellen. Da auch Missionen bzw. Mission Statements faktisch durchaus nicht nur den gegenwärtigen Ist-Zustand innerhalb des Unternehmens beschreiben, sondern ebenso Soll-Vorstellungen in Bezug auf Strategien und Werte beinhalten, ist die Differenz zwischen Missionen und Visionen weniger deutlich, als es in den konzeptionellen Darstellungen zunächst den Anschein hat. In der Gesamtsicht wird deutlich, dass das betriebswirtschaftliche Verständnis von Leitbildern eher dem rationalen Verständnis von Missionen folgt, zugleich in diesen Leitbildern jedoch auch Visionen als erstrebenswerte Zukunftsvorstellungen formuliert sein können. Was im Deutschen im Sinne des Grundsatzdokumentes allgemein als Leitbild bezeichnet wird, entspricht dem Mission Statement in der englischsprachigen Diskussion. Hier wie dort existieren für diese Grundsatzdokumente in der Praxis unterschiedliche Bezeichnungen und changiert ihr Verständnis zwischen praktizierten und zu verfolgenden Grundsätzen. 3.3.3 Exkurs: Ansätze der Organisations- und Unternehmenskultur Ein Rückgriff auf theoretische Arbeiten zur Organisationskulturforschung ermöglicht einen differenzierten Blick auf das Verständnis von Organisationskultur, das wiederum zur Unterscheidung der Leitbildbegriffe in der Organisationsforschung von Bedeutung ist. Die Organisationskultur umfasst Werte und Normen sowie Grundannahmen über erfolgreiche Strategien und Verhaltensweisen, die von Mitgliedern in Organisationen geteilt werden. Sie prägen die Entscheidungen und das Verhalten in der Organisation (vgl. etwa Dierkes 1988, S. 267f.; Dierkes 1991, S. 105; Heinen/Dill 1986, S. 207). Organisationskultur kann mit Hofstede (1981, S. 13) als „collective programming of the mind“ bezeichnet werden. Organisationskultur als Muster von Grundannahmen schafft gemeinsame Wahrnehmungen und Interpretationsformen, eine gemeinsame „Sicht der Dinge“ (vgl. Knie/Helmers 1991, S. 431). Schein sieht die geteilten Grundprämissen im Sinne selbstverständlicher Wahrnehmungsweisen, Gedanken und Gefühle als die Essenz der Kultur an. Daneben gehören für ihn zu einer Kultur die Ebene der bekundeten Werte (Strategien, Ziele, Philosophie) und die Ebene der sichtbaren Artefakte. Ein bekundeter Wert, der eine bestimmte Strategie trans-
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portiert, wird durch seine Bewährung zu einem gemeinsamen Wert, der schließlich zu einer unhinterfragten Grundprämisse wird (vgl. Schein 1995, S. 32; auch Schein 1984).100 Abbildung 3.5: Ebenen der Unternehmenskultur Artefakte
sichtbare Strukturen und Prozesse im Unternehmen (leicht zu beobachten, aber schwer zu entschlüsseln)
bekundete Werte
Strategien, Ziele, Philosophie (bekundete Rechtfertigung)
Grundprämissen
unbewusste, selbstverständliche Anschauungen, Wahrnehmungen, Gedanken und Gefühle (Ausgangspunkt für Werte und Handlungen)
(nach Schein 1995, S. 30)
Schein operiert dabei mit einem spezifischen Wertbegriff. Er spricht von „espoused values“ oder „bekundeten Werten“ und meint damit ein Mittel zur Darstellung der eigenen Grundhaltung. Werte sind hier diejenigen Strategien, Ziele etc., die artikuliert werden, um das eigene Handeln zu begründen bzw. zu rechtfertigen. Diese will er deutlich von den unbewussten, nichtverhandelbaren, selbstverständlichen Werten („non-debatable, taken-for-granted values“) unterscheiden, die für ihn die Essenz, den eigentlichen Kern der Unternehmenskultur ausmachen. Letztere nennt er Grundprämissen oder „basic assumptions“ (vgl. Schein 1984, S. 4 und Schein 1995, S. 30ff.).101 Diese Unterscheidung weist darauf hin, dass bekundete und tatsächlich verfolgte Werte und Grundhaltungen auseinanderfallen können. So hatte bereits Hofstede (1981) grundsätzlich unterschieden zwischen erstrebten und erstrebenswerten bzw. erwünschten und wünschbaren Werten: „Whe should further distinguish between values as the desired and the desirable: what people actually desire versus what they think ought to be desired. Whereas the two are of course not independent, they should not be equated. (...) However, values as the desired are at least closer to deeds than values as the desirable.“ (Hofstede 1981, S. 20) 100 Auch Dierkes beschreibt die Entwicklung einer Unternehmenskultur als einen Prozess, in dem vorangehende Vorstellungen, Annahmen etc. bestätigt werden und so allmählich selbstverständlich und unhinterfragt werden. Bestimmte Wahrnehmungen, Vorstellungen, Werte und Ziele und die sich daraus ergebenden Strategien und Handlungsmuster erweisen sich als erfolgreich und werden in der jeweiligen Organisation zu Grundannahmen und geteilten Werten verfestigt, sodass bestimmte Denk- und Handlungsmuster entstehen, die sich als selbstverständlich gegeben in die Unternehmenskultur einprägen (vgl. Dierkes 1990, S. 19). Schein wie Dierkes machen deutlich, dass sich mit dem Prozess der Etablierung von Grundannahmen, Werten etc. diese dem Bewusstsein entziehen und in der Folge unhinterfragt und unreflektiert bestehen bleiben. Unter veränderten Umweltbedingungen können solche zunächst bewährten und als selbstverständlich angenommenen Grundannahmen dysfunktional werden (vgl. hierzu besonders die Analyse in Buhr 1997 und Buhr 1998). 101 Vgl. hierzu auch die Differenz zwischen „espoused theories“ und „theories-in-use“ bei Argyris und Schön, dazu Bormann (2002, S. 54f.).
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Aber nicht den bekundeten Werten, sondern den unbewussten, grundlegenden Annahmen kommt in Organisationen und Unternehmen Einfluss auf das Denken und Handeln zu.102 Diese Unterscheidung ist zugleich fruchtbar für ein differenziertes Verständnis von Leitbildern. So wären manifeste Leitbilder auf der Ebene der bekundeten Werte, implizite Leitbilder als Orientierungsmuster hingegen auf der Ebene der Grundprämissen anzusiedeln. Denk- und handlungsleitend sind weniger die manifesten Leitbilder (als spezifische bekundete Wert- bzw. Wunschvorstellungen) denn die impliziten Leitbilder, die wiederum spezifische Grundannahmen im Sinne von selbstverständlich gegebenen Wert- und Wunschvorstellungen darstellen. Innerhalb der Unternehmens- und Organisationskulturforschung werden zwei verschiedene konzeptionelle Ansätze unterschieden: ein funktionalistischer bzw. instrumenteller und ein interpretativer Ansatz. Die Ansätze werden auch als Variablen- und Metaphernansatz der Organisationskultur bezeichnet (vgl. Kaschube 1993). In der praxisorientierten Unternehmenskulturforschung wird die Organisationskultur im Sinne eines Werte- und Normensystems als Variable aufgefasst. Sie wird als ein zu gestaltender Parameter des Unternehmens gesehen, der im Sinne der Unternehmensziele veränderbar ist (vgl. Heinen 1987, S. 15). „Das instrumentelle Kulturverständnis möchte Kultur organisieren. Man setzt verbindliche Ziele (für das Fühlen), Sichtweisen (für das Denken) und Konventionen (für das Handeln).“ (vgl. Gonschorrek/Gonschorrek 1999, S. 399).
Im interpretativen Ansatz wird alles, was in der Organisation beobachtbar ist, zum Ausdruck der zugrunde liegenden Überzeugungen und Werte, also seiner Kultur (vgl. Rosenstiel 1993, S. 16). Damit wird Kultur zur grundlegenden Metapher („root metaphor“), in der die Organisation beschrieben werden kann (vgl. Heinen 1987, S. 17; hierzu auch Morgan 1997). In der einen Perspektive würde man sagen, Organisationen haben Kultur. In der anderen Perspektive sind Organisationen Kulturen (vgl. etwa Prätorius/Tiebler 1993, S. 56f. oder Kaschube 1993, S. 105). Der Kern der Differenz liegt jedoch in den unterschiedlichen Umgangsformen mit der Organisationskultur im jeweiligen Forschungsansatz: Kultur bildet einmal eine zu gestaltende Variable, einmal einen erkenntnisleitenden Grundbegriff. Hinter den beiden unterschiedlichen Ansätzen von Unternehmenskultur stehen damit unterschiedliche Forschungsziele bzw. -programme. Einem funktionalistischen steht ein interpretatives Programm gegenüber. Das Ziel ist es, entweder Unternehmenskultur zu gestalten oder diese zu beschreiben (vgl. Prätorius/Tiebler 1993, S. 58). Diese Dichotomie lässt sich mit der Unterscheidung zwischen einem instrumentellen und institutionellen Verständnis von Organisation verbinden (vgl. Bormann 2002, S. 26ff.). Im instrumentellen Verständnis von Organisation wird diese als ein System von rational geteilten und gestaltbaren Einzelteilen verstanden. Eine Organisation wird entsprechend als triviale Maschine konzipiert, in der lineare und vorhersagbare Ursache-Wirkungs-Zusammen102 Diese Tatsache hatte auch Gabele in seiner Untersuchung von Unternehmens- und Führungsgrundsätzen im Verhältnis zu den Wertvorstellungen von Managern herausgearbeitet. Im Vergleich stellte sich heraus, dass die Führungskräfte in Unternehmen häufig ganz anderen Werten folgten als was die schriftlichen Unternehmensgrundsätze zum Ausdruck brachten und dass diese (von ihm selbst so bezeichneten) zwei Typen von Leitbildern häufig widersprüchlich und unvereinbar waren. Entsprechend kommt auch er zu dem Schluss: „Dabei wird meist übersehen, daß die schönsten Grundsätze wenig nützen, wenn die Manager weiterhin nach Wertvorstellungen handeln, die damit nicht im Einklang stehen.“ (Gabele 1983, S. 326) Ein Bewusstsein dafür, dass gleichsam die Wertvorstellungen und Grundannahmen aller Unternehmensmitglieder das Gesicht des Unternehmens prägen, ist hier noch nicht ausgebildet (vgl. hierzu aber bspw. Vogel 2003).
3.3 Leitbilder in Organisationen und Unternehmen
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hänge vorherrschen. Das institutionelle Verständnis von Organisation versteht diese als nichttriviales System, das aufgrund seiner Komplexität nicht vorhersagbar funktioniert. Zwischen diesen beiden Positionen lassen sich systemisch orientierte Ansätze der Organisationstheorie verorten, welche Organisation ebenfalls als nicht-triviales, zugleich jedoch als zwar operational geschlossenes, aber umweltoffenes System verstehen, das permanentem Wandel unterworfen ist. Die Organisation wird als sozial konstruiert, d.h. über Kommunikation, Handeln und Interpretation konstituiert begriffen. Die Frage, ob und wie Organisations- bzw. Unternehmenskulturen gezielt verändert oder gestaltet werden können, wird aus Sicht der verschiedenen Ansätze entsprechend unterschiedlich beantwortet. Im instrumentellen Ansatz von Organisation und Organisationskultur bildet Letztere eine wie jedes andere Element der Organisation steuerbare Größe. Der interpretative Organisationskulturansatz verbindet sich mit einem institutionellen Verständnis von Organisation und sieht Organisationskultur folglich als nicht steuerbar an. In Erweiterung des interpretativen Ansatzes um eine systemische Perspektive wird die Organisationskultur durch Schaffung der Bedingungen der Möglichkeit des Wandels als begrenzt gestaltbar und indirekt beeinflussbar angesehen. Der instrumentelle Unternehmenskulturansatz unterscheidet zwischen einer gegebenen und einer idealen Unternehmenskultur. Die gegebene Unternehmenskultur soll in einem Prozess, der treffend als Kulturmanagement bezeichnet werden kann, durch geeignete Maßnahmen in Richtung auf die Soll- oder Idealkultur transformiert werden (vgl. Kap. 3.3.1.1). Heinen und Dill sowie Ulrich sprechen sich gegen ein derart vordergründiges technokratisch-instrumentalistisches Kulturmanagement aus, halten aber die Pflege von Werten und Normen durch bestimmte Symbole und Zeichen für möglich, die eine bestimmte Grundorientierung vorleben (vgl. Heinen/Dill 1986 und P. Ulrich 1984). Einen zweiten Ansatzpunkt für ein „kulturbewusstes Management“ sieht Ulrich in einer „dialogischen Willensbildung“, in der man sich um argumentative Verständigung mit allen bemüht, die Teil der „Sinngemeinschaft“ werden sollen (vgl. Ulrich 1984, S. 319). Beide Alternativen nähern sich bereits einem systemischen Verständnis von Organisationskultur und Organisation. Im interpretativen Organisationskulturansatz wird unter einer sozialkonstruktivistischen Perspektive davon ausgegangen, dass die Bedeutungszuschreibungen, Werte und Überzeugungen, die den Kern der Organisationskultur bilden, in einem fortwährenden sozialen Interaktionsprozess entstehen, der nicht geplant bzw. gesteuert werden kann. Unternehmenskultur als geteiltes Ideensystem entsteht überhaupt erst in der sozialen Interaktion und wird darin reproduziert. Daraus ergibt sich die Annahme, dass die Unternehmenskultur nicht gezielt veränderbar und vordergründig steuerbar ist. Dieser Annahme folgen auch die kritischen Stimmen zu einem gezielten Kulturmanagement. Die „Grenzen einer intentionalen Kultur-Transformation“ werden eben dann offenkundig, wenn man Kultur als „evolutorisch und im Sozialisationsprozeß der in einer Institution tätigen Menschen weitgehend ‚spontan‘ entstandenes Normen- und Wertgefüge“ (Bleicher 1994, S. 21) begreift. „Unternehmenskultur als Sinngemeinschaft der in einer Unternehmung Arbeitenden kann immer nur gemeinschaftlich im offenen Dialog von innen heraus über einen langen Zeitraum wachsen. Bewußte, zielorientierte Kulturentwicklung ist ein notwendiger, aber gleichzeitig riskanter und offener Prozeß, der zu einem gewissen Maße evolutionär und ungeplant verläuft.“ (Hoffmann 1989b, S. 172).
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3 Leitbilder in den Sozialwissenschaften – die Diskursanalyse
Gleichwohl ist es denkbar, die Entwicklung der Unternehmenskultur indirekt zu beeinflussen. Mit diesem Gedanken setzt sich auch Schein über die Dichotomie von gestaltendem gegenüber beschreibendem Unternehmenskulturansatz hinweg. Er geht zwar von einem sozialkonstruktivistischen Kulturverständnis aus, erwägt aber die Möglichkeit, durch Einbringen gezielter Interpretationen die Unternehmenskultur verändern zu können und somit letztlich auch auf die Grundannahmen (basic assumptions) einwirken zu können. In die gleiche Richtung weist der Leitbildansatz von Dierkes (vgl. hierzu Kap. 3.3.4.1). Diese Ansätze folgen damit einer systemisch orientierten Organisationstheorie. Leitbilder und Organisationskultur Organisationskultur und Leitbilder stehen je nach Organisationskulturansatz und Leitbildbegriff in einem höchst wechselhaften Zusammenhang. Im Rahmen des instrumentellen Organisationskulturansatzes werden Leitbilddokumente, welche die Soll-Kultur zum Ausdruck bringen, als Steuerungsinstrument der Kulturtransformation eingesetzt. Managementkonzepte, Corporate Identity- und instrumentelle Unternehmenskulturkonzepte führen Leitbilddokumente im Sinne einer Idealkultur ein, die der gegebenen Unternehmenskultur gegenübergestellt werden. Die Unternehmenskultur wird zu einem disponiblen Objekt, das im Sinne von vorgegebenen Unternehmenszielen gesteuert und gestaltet werden soll. Anders lassen sich Leitbilder im Kontext eines interpretativen Organisationskulturansatzes verstehen. Organisationskultur als gegebene Bedeutungs- und Wertesysteme umfasst auch zukunftsgerichtete Wunschvorstellungen. So beinhaltet eine solche Organisationskultur auch Wunsch- oder Idealvorstellungen der Organisation selbst. Implizite Leitbilder als kollektiv geteilte Zukunfts- und Wunschvorstellungen lassen sich damit als Teil der Organisationskultur begreifen.103 Über die Analyse dieser impliziten Leitbilder ließe sich dann ein wichtiger Beitrag zum Verständnis der Unternehmenskultur leisten. Mit einem entsprechenden Leitbildbegriff operiert die Forschungsgruppe um Dierkes, deren Konzept im folgenden Kapitel diskutiert wird. Gleichwohl beschäftigen sich Dierkes und seine Forschungsgruppe eingehend mit der Frage, wie solche impliziten Leitbilder gestaltet und damit zur Transformation von Organisationskulturen beitragen können. Dierkes verbindet das implizite Verständnis von Leitbildern mit einem gestalterischen Anspruch. Auch er geht davon aus, dass die impliziten Leitbilder in sozialer Interaktion als Bedeutungszuweisungen entstehen und will sie – analog zu Scheins Ansatz des Kulturmanagements – durch gezielte Interpretationsalternativen verändern.
103 Demgegenüber meinen die Soll- oder Idealkulturen innerhalb der Managementkonzepte etc. nicht das ideale Selbstverständnis wie es immer schon Teil der Organisationskultur ist, sondern von außen an diese herangetragene Forderungen hinsichtlich der Organisationskultur, des Selbstverständnisses, Wertesystems und der Denkmuster, die es zu verändern gilt.
3.3 Leitbilder in Organisationen und Unternehmen
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3.3.4 Implizite Leitbilder als Zukunfts- und Wunschdimension organisationskultureller Deutungsmuster Implizite und manifeste Leitbilder in Organisationen unterscheiden sich nicht einfach in ihrem Aggregatszustand, einmal als manifestes Dokument, einmal als (organisations-)kulturelles Denk- und Handlungsmuster. Die vorangegangene Analyse der manifesten Leitbilder hat ergeben, dass darin in aller Regel nicht die in der Organisation etablierten, sondern die angestrebten Grundsätze verbalisiert werden. Sie bilden lediglich Absichtserklärungen der Organisation, die zudem häufig hierarchisch, d.h. durch die Organisationsleitung vorgegeben werden. Damit handelt es sich bei den manifesten Organisations- bzw. Unternehmensleitbildern in aller Regel um explizite oder gar oktroyierte Leitbilder (Typ 4 oder 6), wie sie die begriffliche Typologie definiert hat (vgl. Kap. 2.2.1). Ganz anders ist das Verständnis von Leitbildern aber, wenn damit die Wunsch- und Zukunftsvorstellungen der Organisationsmitglieder selbst gemeint sind. In den letzten Jahren ist das Bewusstsein für diese schon immer in der Organisation vorhandenen impliziten Leitbilder gestiegen (vgl. auch Fußnote 102). Wird Organisationskultur als sozial geteiltes und konstruiertes Sinnsystem verstanden, dann können implizite Leitbilder im Sinne kollektiv geteilter Zukunfts- und Wunschvorstellungen als Teil der gegebenen Organisationskultur angesehen werden. Von solcherart impliziten Leitbildern soll im Folgenden die Rede sein. 3.3.4.1 Das Leitbildkonzept der WZB-Gruppe im Kontext der Organisationskulturforschung Das Leitbildkonzept der Forschungsgruppe um Meinolf Dierkes korrespondiert mit dem systemischen bzw. sozial-konstruktivistisch orientierten Organisationskulturansatz.104 Die Organisationskultur umfasst dabei im Kern die kollektiv geteilten Grundannahmen, Vorstellungen und Werte, die sich in geteilten Wahrnehmungs-, Denk- und Handlungsmustern ausprägen (vgl. Dierkes 1988, S. 267f.). Diese kollektiv geteilten Orientierungen sind in einem allmählichen Prozess der intersubjektiven Deutung gemeinsam gemachter Erfahrungen entstanden. Diese sozial geteilten Denkmuster werden – je nach theoretischem Hintergrund – als gemeinsame kognitive Räume, kollektive Deutungsmuster, soziale Repräsentationen oder Denkstile bezeichnet (vgl. Knie/Helmers 1991, Buhr 1997 und 1998, Dierkes/ Marz 1998a). Zu diesen sozial geteilten Denkmustern gehören auch bestimmte Vorstellungen von der Zukunft, wie diese sein könnte und wie diese sein sollte. Diese Wunsch- und Zukunftsdimension organisationskultureller Denkmuster bezeichnet die Forschungsgruppe als Leitbilder. Leitbilder sind damit die „weitgehend geteilten Vorstellungen von bestimmten, in der Regel wünschenswerten und prinzipiell als möglich angesehenen Zukünften“ (Dierkes 1988, S. 268). Sie sind eine Form der Zukunftsantizipation, die Vorstellungen integriert, was erwünscht ist und was realisierbar erscheint – Wunsch- und Machbarkeitsprojektionen (vgl. Dierkes/Marz 1998b, S. 16). Die Forschungsgruppe geht davon aus, dass gerade Zukunftserwartungen und Wunschvorstellungen die Wahrnehmung, das Denken und darüber schließlich das Handeln prägen (vgl. Dierkes/Marz 1998a, S. 43 und 49). Leitbilder eröffnen überhaupt erst bestimmte 104 Das Leitbildkonzept des Wissenschaftszentrums Berlin (WZB) wurde vor allem im Kontext sozialwissenschaftlicher Technikforschung entwickelt. Vergleiche deshalb auch Kapitel 3.5.1.
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3 Leitbilder in den Sozialwissenschaften – die Diskursanalyse
„Wahrnehmungs-, Denk- und Entscheidungshorizonte“ und schließen andere wiederum aus (vgl. Dierkes/Marz 1998b, S. 16f.; Dierkes/Marz 2001, S. 169f.). Auf diese Weise denken und handeln diejenigen, die ein Leitbild teilen, in eine gemeinsame Richtung. Leitbilder schaffen somit Orientierung, die gerade in unsicheren Situationen von Bedeutung ist (vgl. Dierkes/Marz 1998b, S. 19; Dierkes/Marz 2001, S. 169f.). Auch wenn Leitbilder als Teil einer im sozialen Interaktionsprozess entstandenen Organisationskultur auf Bedingungen und Erfahrungen der Vergangenheit beruhen und damit in der Vergangenheit der Organisation verankert sind, weisen sie doch über diese hinaus. Sie sind zwar insofern in der Vergangenheit verwurzelt, dass sie Ergebnis eines kulturellen Verständigungsprozesses aufgrund bestimmter gemeinsam gemachter Erfahrungen sind. Gleichwohl bilden sie das zukunftsgerichtete und dynamische Element der Organisationskultur selbst, da sie die geltenden Zukunfts- und Wunschvorstellungen beinhalten (vgl. Dierkes/Marz 1998b, S. 19).105 Der dynamische Charakter von Leitbildern kann sehr unterschiedlich ausfallen. Manche Leitbilder weisen weit über vergangene und gegenwärtige Zustände hinaus und kommen damit einer fernen Utopie nahe. Auch diese erwachsen allerdings aus den gemeinsamen Erfahrungen und sind Produkt eines gemeinsamen Konstruktionsprozesses der Wirklichkeit. Andere Leitbilder speisen hingegen ihre Zukunfts- und Wunschvorstellungen so stark aus der Vergangenheit bzw. dem Status quo, dass sie vielmehr als eine feste und bewahrende Tradition denn als Zukunftsprojektion erscheinen.106 Leitbilder entstehen in der sozialen Interaktion durch Aufbau einer geteilten Wirklichkeitskonstruktion und bilden damit das Ergebnis eines Verständigungsprozesses. Zugleich stellen Leitbilder aber auch einen Bezugspunkt für kollektives Handeln dar, indem sie einen gemeinsamen Wahrnehmungs- und Denkhorizont aufspannen, in dem aufeinander bezogenes und gemeinsames Handeln erleichtert wird (vgl. Dierkes/Marz 1998a, S. 45). Damit entstehen Leitbilder im sozialen Zusammenhang und wirken gleichzeitig gruppenkonstituierend (vgl. auch Buhr 1997, S. 45). Entsprechend lassen sich Leitbilder sowohl als „Ergebnis als auch Katalysator sich formierenden kollektiven Handelns“ (Dierkes/Marz 1998a, S. 20) verstehen. Das Leitbildkonzept von Dierkes gerät nun aber in einen Selbstwiderspruch, wo Leitbilder nicht als Elemente der Organisationskultur betrachtet werden, sondern diesem gegenübergestellt werden und zu ihrer Transformation eingesetzt werden sollen. Marz und Dierkes sprechen davon, dass Leitbilder als flexibler und dynamischer anzusehen sind als Unternehmenskulturen (vgl. dagegen Fußnote 105). Überdies werden sie von der Unternehmenskultur abgehoben, da sie „als ‚Soll-Vorstellungen‘ einer Kultur stets noch nicht oder nicht ganz erreichte Ziele im Hinblick auf das Denken und Verhalten der Mitarbeiter enthalten“ (Marz/Dierkes 1992, S. 35). Ein Unternehmensleitbild zu formulieren, heißt dann nicht mehr die geteilten zukunftsbezogenen Orientierungsmuster als Element der Kul105 Organisationskultur wird häufig statisch begriffen, sollte aber als dynamisch angesehen werden, gerade weil der Prozess der Wirklichkeitskonstruktion nie abgeschlossen ist (vgl. hierzu die Differenz zwischen einem statischen und prozessualen Verständnis von Organisation bei Bormann 2002, S. 26ff.; auch Berthoin Antal/ Dierkes/Helmers 1993, S. 211). 106 Ein Beispiel für ein traditionsstiftendes Leitbild gibt Buhr in einer umfassenden Analyse der kulturellen Deutungsmuster eines schreibmaschinenproduzierenden Unternehmens (vgl. Buhr 1997 und 1998). Im Laufe der Unternehmensgeschichte wird das ursprüngliche Produkt symbolisch aufgeladen und zum bewahrenden Leitbild, das die Zukunftsperspektive des Unternehmens – die Produktion von Schreibmaschinen – festschreibt.
3.3 Leitbilder in Organisationen und Unternehmen
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tur sichtbar zu machen. Über die Entwicklung eines neuen Leitbildes soll es möglich sein, eine „neue Vision für die Zukunft des Unternehmens“ (Dierkes 1990, S. 32) herauszuarbeiten und festzuschreiben, womit die Veränderung der Organisationskultur über das Leitbild, das eigentlich als Element der Kultur selbst begriffen wurde, herbeigeführt werden soll. Ganz im Geiste eines – so könnte man sagen – „kulturbewussten Kulturmanagements“ stellt Dierkes (1990) die Leitbildentwicklung als einen mehrstufigen Prozess dar: Zunächst muss die bisherige Kultur analysiert werden. Im zweiten Schritt werden strategische Visionen entwickelt und ein neues Leitbild entworfen. In einem dritten Schritt müssen die bisherige Kultur und das neue Leitbild gegenübergestellt werden, um die notwendigen Veränderungen in der Kultur zu identifizieren (vgl. Dierkes 1990, S. 37). An anderer Stelle wird die Entwicklung des neuen Leitbildes genauer ausgeführt: Neue Leitbilder sollen in einem allmählichen diskursiven Prozess aus der Sammlung, Selektion und Diskussion von „alternativen Ideen mit Leitbildpotential“ entstehen, die selbst aus dem Unternehmen stammen (vgl. Marz/Dierkes 1992, S. 36ff. und Dierkes/Marz 2001, S. 171f.). Das in einem entsprechenden Prozess entworfene Leitbild stellt dann aber nicht mehr die geteilten Wunsch- und Zukunftsvorstellungen innerhalb der gegebenen Unternehmenskultur dar, sondern den Entwurf eines neuen Leitbildes, das seine Eigenschaft als denk- und handlungsleitendes Leitbild überhaupt erst entfalten muss und erst zu einem Element der Organisationskultur werden soll. Über die Aufnahme von Ideen mit Leitbildpotenzial aus dem „Pool“ der im Unternehmen herrschenden Ideen wird zwar die Möglichkeit geschaffen, dass neue Wunsch- und Zukunftsvorstellungen im Unternehmen in Betracht kommen. Dies allein schafft jedoch noch keine Sicherheit dafür, dass ein neues kollektiv geteiltes und gelebtes Leitbild entsteht. Hier wird unreflektiert mit unterschiedlichen Leitbildbegriffen operiert. Von der Erstellung eines Leitbildes zu sprechen, verführt zu dem Gedanken, dass ein – wenngleich partizipativ formuliertes – manifestes Leitbilddokument mit dem Leitbild als geteilte denk- und handlungsleitende Zukunfts- und Wunschvorstellung gleichzusetzen wäre. In der Unterscheidung von echten, d.h. praktizierten, denk- und handlungsleitenden (Typ A) gegenüber potenziellen bzw. propagierten Leitbildern (Typ B) kommt diese Differenz zum Tragen. Manifeste Leitbilder erweisen sich häufig gerade nicht als explizierte echte Leitbilder, sondern als propagierte Leitbilder, die bestenfalls Absichtserklärungen abgeben, woran man sich in Zukunft orientieren möchte. Sehr wohl ist der Gedanke, vorhandene Ideen mit Leitbildpotenzial diskursfähig zu machen, ein lohnenswerter Ansatz der Arbeit an einer Organisationskultur, insbesondere um alternative Zukunftsperspektiven zu entwickeln (vgl. Dierkes/Marz 1998d, S. 3). Wo dieser Ansatz aber in den Entwurf eines neuen Leitbildes mündet, geht es nicht um die Explizierung denk- und handlungsleitender, sondern um die Aufstellung propagierter, allenfalls potenzieller Leitbilder. Wiederum vorhandene implizite Leitbilder sprachlich zu fixieren, also zu explizieren, um sie reflektierbar, kommunizierbar und diskutierbar zu machen, ist ebenso von Bedeutung.107 Eine daraus folgende Veränderung der impliziten Leitbilder als Teil der Organisationskultur ist wünschenswert und denkbar, nicht aber gezielt steuerbar. In einem entsprechenden Leitbild-Diskurs, der freilich weit entfernt ist von einem „Leitbilddiktat“ (Pankoke 1996, S. 78), spielt eine gesteigerte Reflexivität im Sinne eines bewussten Umgangs mit dem eigenen Bedeutungs- und Wertesystem eine wichtige Rolle, um zu einem „geteilten 107 Ein entsprechender Umgang mit Leitbildern spielt in der sozialwissenschaftlichen Technikforschung eine wichtige Rolle. Entsprechende Ansätze sind in diesem Zusammenhang analysiert worden (vgl. Kap. 3.5).
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3 Leitbilder in den Sozialwissenschaften – die Diskursanalyse
Sinn“ zu kommen (vgl. ebd., S. 58). Dierkes selbst ist sich der Spannweite seiner Begriffsverwendung bewusst: „Diese reicht vom Gebrauch als praktische Organisationstechnik im Sinne von: wir schaffen uns ein neues Leitbild, bis hin zur analytischen Kategorie zur Beschreibung unsichtbar wirkender Verständigungsprozesse.“ (Dierkes 1997, S. 131)
Damit, dass er diese beiden grundlegend unterschiedlichen Begriffsverständnisse jedoch nicht deutlich voneinander abhebt, sondern vielmehr mal von Leitbildern als Vorstellungskategorie mit denk- und handlungsleitenden Eigenschaften, mal von Leitbildern als manifestem Phänomen im Sinne der häufig in schriftlicher Form fixierten, erst zu verfolgenden Unternehmensgrundsätze spricht, verliert sein Leitbildkonzept an Klarheit. Manifeste Leitbilddokumente haben jedoch nicht automatisch die Eigenschaften, die impliziten Leitbildern als prägenden Denkmustern zugeschrieben werden. Entsprechend ist es auch ein Fehlschluss zu glauben, man könne über die Produktion expliziter Leitbilder die Zukunfts- und Wunschprojektionen gezielt verändern, welche ihrerseits Teil der gewachsenen Organisationskultur sind. In diesem Ansatz scheint ein Steuerungsoptimismus durch, der den impliziten Leitbildern als kulturellem Phänomen nicht gerecht wird. Indem zwischen impliziten und expliziten Leitbildern nicht immer konsequent getrennt wird, wird der Leitbildbegriff der WZBGruppe mit Mehrdeutigkeiten überladen und das Konzept verliert an Stimmigkeit. 3.3.4.2 Das Leitbildkonzept der Forschungsgruppe Umweltbildung Die Forschungsgruppe Umweltbildung an der Freien Universität Berlin wendet seit Mitte der 1990er Jahre die sogenannte Leitbildanalyse als analytisches Forschungsinstrument der qualitativen Sozialforschung an. Das von der Forschungsgruppe ausgearbeitete Verfahren der Leitbildanalyse stellt eine Aufnahme und Weiterentwicklung des Leitbildkonzeptes der Forschergruppe am Wissenschaftszentrum Berlin dar. Im Gegensatz zu dem Ansatz der WZB-Gruppe benutzt die Forschungsgruppe Umweltbildung die Leitbildanalyse streng analytisch und rekonstruktiv, um vorhandene implizite Leitbilder in bestimmten Handlungsfeldern zu identifizieren und legt auf die Entwicklung eines intersubjektiv nachvollziehbaren und kodifizierten Verfahrens großen Wert. Diese Leitbildanalyse wurde bereits in thematisch weit streuenden Untersuchungen sowie an unterschiedlichen Materialien (Leitfadeninterviews, erzählende Kinder- und Jugendliteratur, Filme, wissenschaftliche Aufsätze sowie Beobachtungen von Organisations- und Gruppenprozessen) verwendet und weiterentwickelt.108 Die Anwendung geht dabei über den Kontext einzelner Organisationen weit hinaus. So wurden beispielsweise Einrichtungsvertreter und Kooperationspartner der außerschulischen Umweltbildung (vgl. Giesel/de Haan/Rode 2002) oder Akteure aus sechs Lokale Agenda 21-Initiativen (vgl. de Haan/Kuckartz/Rheingans-Heintze 2000) hinsichtlich der in den jeweiligen Kontexten existierenden Leitbilder untersucht. Das Verfahren ist somit 108 Entsprechende Leitbildstudien finden sich bei de Haan/Schaar 1994, Schack 1994, Schaar/Böttger 1995, Schaar/de Haan 1995, Böttger 1996, Schaar 1996, de Haan/Kuckartz/Rheingans/Schaar 1996, Giesel 1998a, Schaar 1998, Giesel 1999, de Haan/Kuckartz/Rheingans-Heintze 2000, Puls 2000, Giesel/de Haan/Rode 2002, Giesel/de Haan/Diemer 2007.
3.3 Leitbilder in Organisationen und Unternehmen
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ausgesprochen universell.109 Gegenüber allen anderen Ansätzen zur Analyse von impliziten Leitbildern ist dies überdies das theoretisch fundierteste, konzeptionell am stärksten ausgearbeitete und transparenteste Verfahren. Wie bei anderen Verfahren der rekonstruktiven Sozialforschung bzw. sozialwissenschaftlichen Hermeneutik, geht es darum, latente, also nicht unmittelbar wahrnehmbare Sinnund Bedeutungsgehalte von Texten im weitesten Sinne zu rekonstruieren und intersubjektiv nachvollziehbar zu machen (vgl. Hitzler/Honer 1997, S. 23). Gegenüber der Dokumentarischen Methode oder einigen Varianten der Deutungsmusteranalyse fragt die Leitbildanalyse nicht nach der Gewordenheit der Orientierungsmuster und rekonstruiert ihren Entstehungsbzw. Herstellungsprozess (vgl. Bohnsack 1997 und Lüders/Meuser 1997), sondern versucht stattdessen die zukunftsbezogenen Orientierungsmuster, also Wahrnehmung-, Denk- und Handlungsmuster zu rekonstruieren und daraus das vergangene, gegenwärtige oder auch zukünftige Handeln verstehend zu erklären. Bei der Gestaltung des Analyseinstrumentes hat sich die Forschungsgruppe explizit mit der Frage auseinandergesetzt, was die wirksamen Konstituenten von Leitbildern sind, um die bei Leitbildern zu berücksichtigenden Aspekte in der Analyse erschließen zu können und zu ihrer Operationalisierung in einem Analyseinstrument zu kommen. Im Folgenden werden das zugrunde gelegte Leitbildverständnis und das Vorgehen der Leitbildanalyse dargestellt werden.110 Das zugrunde liegende Leitbildverständnis Das Leitbildverständnis, das der Leitbildanalyse zugrunde liegt, kann wie folgt umrissen werden: Leitbilder sind grundlegende zukunftsbezogene Orientierungen, die als komplexe, sozial geteilte und verinnerlichte Vorstellungen das Denken und Handeln in bestimmten Handlungsfeldern leiten. In Sozietäten111 werden intersubjektiv Bedeutungsuniversen geschaffen und Denkstile geprägt, welche die Wahrnehmungen synchronisieren.112 Leitbilder betreffen ein spezifisches Element in diesen Bedeutungsuniversen. Sie beschreiben den anvisierten Zukunftshorizont, der sowohl die Wünsche als auch die Vorstellungen von dem, was machbar ist, umfasst. Indem Leitbilder die Wahrnehmungsperspektiven und Bewertungen in Sozietäten strukturieren, prägen sie das Denken wie das Handeln ihrer Mitglieder. Mit ihnen sind bestimmte Grundüberzeugungen und Strategien verbunden. Auf diese Weise reduzieren sie die Komplexität der Welt und geben Orientierungshilfe in Entscheidungssituationen. Leitbilder kanalisieren die Wahrnehmung und das Denken zugleich in dem Sinne, dass immer auch be109 Aufgrund der Verwandtschaft mit dem Leitbildkonzept der WZB-Gruppe wird es hier im Kontext von impliziten Leitbildern in Organisationen dargestellt. 110 Weitere Darstellungen des Verfahrens der Leitbildanalyse, ihrer Entstehungshintergründe und theoretischen Grundannahmen finden sich bei de Haan 2001 und im Rahmen der bereits genannten Studien. 111 Unter Sozietäten werden hier soziale Gruppen verstanden, welche in der Interaktion gemeinsame Grundhaltungen und mentale Sichtweisen ausgebildet haben (vgl. dazu Schaar 1998, S. 55 und 76). 112 Diese Prämissen werden theoretisch gestützt durch den Symbolischen Interaktionismus, die Wissenssoziologie von Schütz oder die Idee der Denkstile von Fleck. Wahrnehmung, Denken und Handeln sind abhängig von den Bedeutungen, die den Dingen und Handlungen zugeschrieben werden. Das „Universum von Bedeutungen“ wird in der sozialen Interaktion intersubjektiv geschaffen (vgl. Blumer 1973, S. 81; Schütz 1971a, S. 11). Bestimmte Denkstile in Denkkollektiven bündeln die Aufmerksamkeitsrichtung sowie Intentionen und schaffen somit die Bereitschaft für ein bestimmtes Handeln (vgl. Fleck 1993).
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3 Leitbilder in den Sozialwissenschaften – die Diskursanalyse
stimmte Denk- und Handlungsmöglichkeiten ausgeschlossen werden. Bestimmte Deutungen und Handlungsoptionen werden explizit abgelehnt oder geraten erst gar nicht in den Blick. Leitbilder sind nicht einfach nur abstrakte Handlungsmaximen und Prinzipien, sondern wecken greifbare, unter Umständen bildliche Vorstellungen. Leitbilder sind auch in dem Sinne mehr als Zielkataloge oder Prinzipien, dass sie nicht nur den Verstand ansprechen, sondern auch die Emotionen. Dies ist insofern von Bedeutung, als Entscheidungen und Begründungen für ein bestimmtes Handeln nicht nur rationale Hintergründe haben, die kognitiv bearbeitet werden können. Vielmehr spielen in Gestaltungs- und Entscheidungsprozessen auch immer emotional besetzte Orientierungen eine zentrale Rolle. Und schließlich sind Leitbilder nicht nur sozial konstruiert und werden sozial geteilt. Mit den gemeinsam geteilten Wahrnehmungsperspektiven, Wünschen usw. entsteht über die Leitbilder ein Zusammenhalt. Sozietäten und die in ihnen kursierenden Leitbilder stützen und verstärken sich also gegenseitig. Entsprechend wird definiert: Leitbilder bündeln „(...) die Ziele, Träume, Visionen und Hoffnungen von Menschen, dienen der Selbstdefinition von Sozietäten und ihren Organisationen. (...) Leitbilder haben die Eigenschaft, für Sozietäten und die Individuen in diesen Gemeinschaften wahrnehmungsstrukturierend, das Denken fokussierend, für den Einzelnen entscheidungs- und verhaltensbestimmend zu sein. In Organisationen prägen sie die Themen und Formen der sachbezogenen Kommunikation, der Kooperation und auch der Koordination. Leitbilder verdichten die Vorstellungen von übergreifenden Zielen, die in einer Gemeinschaft geteilt werden. Kurz: Leitbilder reduzieren für das Individuum und für Sozietäten die Komplexität von Welt und strukturieren die Aktivitäten in einzelnen Handlungsfeldern.“ (de Haan/Kuckartz/Rheingans-Heintze 2000, S. 32)
Dabei dürfen Leitbilder nicht als ein statisches Phänomen missverstanden werden. In einem Handlungsfeld werden immer unterschiedliche Leitbilder nebeneinander existieren. Zudem sind die einzelnen Menschen Mitglieder verschiedener Sozietäten und tragen damit unterschiedliche Leitbilder mit. Dies schafft für die Entstehung und den Wandel von Leitbildern eine Dynamik der ständigen Reproduktion, (Um-)Deutung und Ausgestaltung im konkreten und situativen Denken und Handeln. Das Verfahren zur Identifikation von Leitbildern: Die Leitbildanalyse Die Leitbildanalyse ist ein spezifisches Verfahren der qualitativen Inhaltsanalyse. Der Analyse- und Auswertungsprozess orientiert sich an dem aus der qualitativen Sozialforschung bekannten Verfahren der „Grounded Theory“ (vgl. Strauss 1998) sowie textanalytischen Verfahren (vgl. z.B. Mayring 1993, Übersicht in Mayring 1995). Dabei wählt das Instrument der Leitbildanalyse einen Mittelweg zwischen der größtmöglichen Offenheit gegenüber dem Gegenstand, wie ihn die Grounded Theory fordert, und einer Geschlossenheit der vordefinierten Kategoriensysteme, wie sie in der traditionellen quantitativen Inhaltsanalyse vorgesehen ist. Die Leitbildanalyse arbeitet dabei mit einem Kategoriensystem auf mehreren hierarchischen Stufen (Ordnungen), wobei deren oberste Stufe der Leitbild-Fragestellung entsprechend konstant bleibt und die Kategorien weiterer Ordnungen gegenstandsnah aus dem Untersuchungsmaterial entwickelt werden. Die Kategorien 1. Ordnung oder Leitbilddimensionen bilden die konstitutiven Komponenten von Leitbildern ab. Diese Leitbilddimensionen beziehen sich vor allem auf die grundlegenden Funktionen von Leitbildern, da
3.3 Leitbilder in Organisationen und Unternehmen
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diese letztlich über ihre spezifischen Eigenschaften bzw. Wirkungen identifiziert werden.113 Im Blick sind die den Zukunftshorizont betreffenden, emotional ansprechenden und motivierenden, häufig bildlich repräsentierten Denkmuster, die mit bestimmten geteilten Grundüberzeugungen sowie Wahrnehmungsmustern verbunden sind, während sie andere ausschließen oder ausblenden, und sozietätsstiftend bzw. -fördernd wirken. Somit werden sechs Leitbilddimensionen unterschieden, welche zugleich die Grundstruktur für das gegenstandsnah auszudifferenzierende Kategoriensystem abgeben: Wunsch- und Machbarkeitsprojektionen, Coenästhetische Resonanzen, Sozietätsstiftende Imaginationen, Semantische Sukzessionen, Perspektive Synchronisationen und Perspektivische Desynchronisationen. Die Wunsch- und Machbarkeitsprojektionen bilden die zentrale Dimension von Leitbildern, welche den anvisierten Zukunftshorizont im Spannungsverhältnis zwischen Wunsch und Machbarkeit beschreibt. Auf der einen Seite geht es um die Vorstellungen davon, was erwünscht wird, was reizvoll wäre. Auf der anderen Seite wird aber auch gefragt, was davon tatsächlich für realisierbar gehalten wird. In der Dimension der Coenästhetischen Resonanz kommen die Handlungsmotive und weitere Aspekte zur Sprache, die mit Emotionen und Affekten aufgeladen sind. In den Sozietätsstiftenden Imaginationen werden alle Schlagworte, Symbole, Metaphern, Mythen und Erzählungen festgehalten, die gemeinschaftsbildend und -fördernd wirken. Demgegenüber fokussiert die Dimension der Semantischen Sukzession allgemein die bildhafte Sprache bzw. Metaphern, welche abstrakte Aussagen und sachliche Argumentationen begleiten oder ersetzen.114 Dieser Wechsel zwischen Bild und Begriff drückt anschaulich aus, in welchem Denkrahmen die Akteure sich gedanklich bewegen. Die Dimension der Perspektivischen Synchronisation beleuchtet die geteilten Grundüberzeugungen etwa hinsichtlich Problemstellung und Aufgabe, die zu einer gemeinsamen Wahrnehmung und Beurteilung des betreffenden Wirklichkeitsausschnitts führen. Demgegenüber gibt es aber auch immer Perspektiven und Positionen, von denen man sich gemeinsam abgrenzt und die damit gleichfalls zu einer kognitiven und affektiven Synchronisation der Sozietätsmitglieder führen. Diese finden in der Dimension der Perspektivischen Desynchronisation Beachtung. Das Vorgehen der Leitbildanalyse lässt sich in zehn Phasen einteilen115: Die Datengrundlage der Leitbildanalyse wird zumeist durch leitfadengestützte Experteninterviews geschaffen, kann aber auch auf der Grundlage jeder Form von inhaltsanalytisch zu bearbeitenden Texten, etwa Beobachtungsprotokollen, produziert werden. Die Formulierung eines Interviewleitfadens steuert die weitere Auswertung insoweit, dass darin die Leitbilddimensionen (Kategorien 1. Ordnung) berücksichtigt werden. Somit folgt der Merkmalsraum einer jeden Leitbildanalyse derselben Grundstruktur, welche die konstitutiven Komponenten von Leitbildern als Kategoriensystem abbildet (Phase 1). Nach der Grobcodierung einzelner Textsegmente unter die Leitbildkategorien 1. Ordnung (Phase 2) werden die Kategorien 2. und weiterer Ordnungen entwickelt und festgelegt (Kategorisierung), um anschließend die 113 Das Leitbild ist ebenso wie das Denkkollektiv weniger ein substanzieller als ein funktioneller Begriff (vgl. Fleck 1993, S. 135), d.h. etwas wird viel eher über bestimmte Funktionen, denn eine bestimmte Gestalt als Leitbild identifiziert. 114 Ausgehend von Überlegungen aus der Metaphorologie wird in der Analyse von Metaphern die Möglichkeit gesehen, die mentalen Orientierungen und ihre Implikationen, die ausgeschlossenen Denkoptionen sowie die Grundstimmung der Personen zu identifizieren (vgl. Black 1954/1983, Black 1977/1983, Haverkamp 1983, de Haan 1991, Oelkers 1991, Debatin 1996). 115 Für das Folgende vgl. vor allem de Haan 2001, S. 90ff.
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3 Leitbilder in den Sozialwissenschaften – die Diskursanalyse
Textsegmente entsprechend unter die Subkategorien feinzucodieren (Phase 3 bis 5). Während die Texte bis hierhin zergliedert werden, werden sie in den folgenden Phasen auf Muster hin untersucht, um daraus Typen zu rekonstruieren, die als Leitbilder ausformuliert werden können. Hierfür werden die vercodierten Textsegmente zu relativ geschlossenen Leitbildmodulen zusammengestellt, sodass ein strukturiertes Textkorpus entsteht. Im Zuge dieser Verdichtung werden die Kategorien 3. und 4. Ordnung zu Kategorien 2. Ordnung sinnvoll reaggregiert (Phase 6). Die einzelnen Interviews bzw. Texte können nun klassifiziert werden, indem ihnen für jede Äußerung zu einer Leitbildkategorie 2. Ordnung eine positive Ausprägung im entsprechenden Merkmalsraum zugeordnet wird. Zur weiteren Reaggregation des Datenmaterials werden wiederkehrende Muster über die einzelnen Konfigurationen hinweg identifiziert. Hierfür werden quantifizierende Verfahren der Typenbildung – und zwar cluster- und vor allem faktorenanalytische Verfahren – heuristisch genutzt (Phase 7). Die mittels Faktoren- und Clusteranalysen identifizierten Muster von Leitbildkategorien 2. Ordnung werden auf ihre Plausibilität bzw. Sinnadäquanz hin geprüft, indem sie in Beziehung gesetzt werden mit den ausführlichen Leitbildmodulen sowie Informationen aus den Kontextprotokollen (Phase 8). Auf diese Weise kristallisieren sich untereinander heterogene und in sich möglichst homogene Leitbilder heraus, die mit Rückgriff auf die Leitbildmodule in einer bündigen Narration dargestellt werden (Phase 9).116 Ergebnis der Leitbildanalyse sind damit in aller Regel mehrere Leitbilder, die in demselben Handlungsfeld nebeneinander bzw. konkurrierend kursieren. Auf diese Weise können mit Blick auf die Besonderheiten, aber eben auch Gemeinsamkeiten die einzelnen Leitbilder miteinander verglichen und auf die Forschungsfrage rückbezogen werden (Phase 10). Damit leistet die Leitbildanalyse zuallererst eine Ist-Standsbeschreibung der vorhandenen grundlegenden zukunftsbezogenen Orientierungsmuster. Zugleich können die differenzierten Ergebnisse der Leitbildanalyse gerade im Vergleich der unterschiedlichen Leitbilder einen Beitrag leisten bei der Suche nach einer gemeinsamen Perspektive und Verständigungsgrundlage. Sind die aktuellen Leitbilder bekannt, ist es schließlich möglich, sie zu reflektieren, über sie zu kommunizieren und ihre Weiterentwicklung zu verfolgen (vgl. Giesel 1999, S. 6). Damit erweist sich dieses Leitbildkonzept über die Ausgestaltung als inhaltsanalytisches Forschungsinstrument hinaus als ein pragmatisches Konzept, das zur Reflexion und Gestaltung in gesellschaftlichen Handlungsfeldern genutzt werden kann. Erste Überlegungen hierzu wurden von mir im Anschluss an eine Analyse der pädagogischen Leitbilder der außerschulischen Umweltbildung und in einem Entwurf eines Leitbildmanagements angestellt (vgl. Giesel 1998b und 1999; auch Kap. 5.2). Mit diesen Kennzeichnungen wird sichtbar, dass die Forschungsgruppe ausdrücklich und ausschließlich mit einem impliziten Leitbildbegriff operiert (Typ 1). Die Darstellung des Verfahrens hat gezeigt, dass sich das vorliegende Leitbildkonzept entsprechend auf einen analytischen Umgang mit Leitbildern konzentriert.
116 In der Anwendung des Auswertungsverfahrens hat sich die an sich innovative Einbindung quantifizierender typenbildender Verfahren wie der Faktoren- und Clusteranalyse nicht immer als handhabbar und erfolgreich erwiesen. Deshalb ist ein alternatives typenbildendes Verfahren entwickelt und angewendet worden, das sich auf die Identifikation von Gruppen anhand vordefinierter Merkmalsbündel und deren weiterer Beschreibung stützt (vgl. Anwendung in Giesel 1999, zur methodischen Diskussion der Probleme, ihrer Ursachen und des vorgeschlagenen Lösungsweges vgl. Giesel 2001).
3.3 Leitbilder in Organisationen und Unternehmen
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Abbildung 3.6: Die zehn Phasen der Leitbildanalyse
5. Die vercodierten Textsegmente werden weiter ausdifferenziert: Leitbildkategorien 3. und 4. Ordnung entstehen (2. Feincodierung)
4. Die grobcodierten Textsegmente werden thematisch den Leitbildkategorien 2. Ordnung zugewiesen (1. Feincodierung)
3. Innerhalb der Leitbildkategorien 1. Ordnung werden thematische Differenzierungen vorgenommen. Es entstehen Leitbildkategorien 2. Ordnung (Kategorisierung)
2. Textsegmente aus den transkribierten Interviews werden den Leitbildkategorien 1. Ordnung zugeordnet (Grobcodierung)
1. Durchführung von Interviews auf der Grundlage eines Leitfadens, der die Leitbilddimensionen 1. Ordnung berücksichtigt
6. Die Resultate werden zu einem umfänglicheren Text verdichtet. Somit entstehen Leitbildmodule. Dabei werden die Leitbildkategorien zu Kategorien 2. Ordnung reaggregiert
7. Für die Interviewten werden je eigene Konfigurationen von Leitbildkategorien 2. Ordnung identifiziert, die anhand einer Faktorenanalyse nach wiederkehrenden Mustern untersucht werden
8. Die gefundenen Ordnungen der Faktorenanalyse werden mit den Einsichten aus Kontextprotokollen und den Leitbildmodulen in Beziehung gesetzt
9. Leitbilder werden identifiziert, indem aus den Analysen heraus in sich möglichst homogene Typen gebildet und im Rahmen von Narrationen dargestellt werden
10. Die Leitbilder werden miteinander verglichen und rückbezogen auf das Forschungsdesign mit dem Ziel der IstStandsbeschreibung
(leicht verändert nach Giesel/de Haan/Rode 2002, S. XIII)
Dieses Verfahren hat sich in unterschiedlichen Studien bewährt. Allerdings muss darauf hingewiesen werden, dass der Auswertungsaufwand in diesem Verfahren sehr hoch ist. Damit bietet sich das Verfahren nicht unbedingt für eine Diskussionsprozesse begleitende Leitbildanalyse an. Gleichwohl könnte dieses aufwendige Verfahren Pate stehen für eine pragmatisch ausgerichtete Variante, in der dieselben Dimensionen Beachtung finden, die Aufmerksamkeit jedoch stärker fokussiert und die Datenerhebung und -auswertung gege-
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benenfalls stärker standardisiert wird. Ansatzpunkt zur Vereinfachung des Verfahrens sollte dabei der Gedanke sein, dass letztlich die Wunsch- und Machbarkeitsprojektionen als angestrebter Zukunftshorizont die zentrale Dimension bilden, während alle anderen Dimensionen sich darauf beziehen sollten. Mit anderen Worten, es sollte nicht nach allen genutzten Metaphern und sprachlichen Bildern, motivationalen und emotionalen Ausdrücken, sozietätsstiftenden Äußerungen sowie Wahrnehmungsperspektiven und Überzeugungen gefragt werden, sondern diejenigen Aspekte fokussiert werden, welche relativ eindeutig im Zusammenhang stehen mit dem zu konkretisierenden anvisierten Zukunftshorizont (vgl. Abb. 3.7). Damit würde das Verfahren durch Konzentration auf die Hauptdimension der Leitbilder immer noch gerecht werden. Abbildung 3.7: Kern- und Bezugsdimensionen von Leitbildern Semantische Sukzession
Coenästhetische Resonanz
Metaphern, sprachliche Bilder
Emotionen, Motivationen, Motive
Wunsch- und Machbarkeitsprojektion
Sozietätsstiftende Imagination Zusammenhalt fördernde Bilder, Schlagworte und Erzählungen
Perspektivische Synchronisation & Persp. Desynchronisation Wahrnehmungsperspektiven, Überzeugungen, Bewertungsmaßstäbe
Ebenso kann der Aufwand bei der Erstellung des Kategoriensystems dadurch reduziert werden, dass die Kategorienbildung nur an einem kleineren Teil des Untersuchungsmaterials vorgenommen wird oder das Vorwissen der Forscher stärker einbezogen wird, also stärker auf deduktive Kategorien gesetzt wird (vgl. hierzu etwa Kuckartz 1999, S. 199ff.). Schließlich kann bereits bei der Datenerhebung durch ein gestuftes Verfahren von explorativen und stärker standardisierten Interviews der Aufwand reduziert werden. Auch wenn mit diesen Maßnahmen der Effektivierung des Verfahrens ein Informationsverlust insbesondere im Hinblick auf die Dichte der Beschreibung riskiert wird, erweitert sich damit das Spektrum seiner Einsatzmöglichkeiten erheblich. 3.3.5 Fazit zu Leitbildern in Organisationen und Unternehmen Ist von Leitbildern in Organisationen oder Unternehmen die Rede, so geht es dabei in aller Regel um schriftlich fixierte Unternehmensgrundsätze, die als Führungsinstrumente eingesetzt werden. Diese Vorstellung von Leitbildern als manifesten Dokumenten dominiert die Diskussion um Leitbilder in diesem Feld.
3.3 Leitbilder in Organisationen und Unternehmen
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Betriebswirtschaftliche Leitbildkonzepte stehen in einem Spannungsverhältnis zwischen den beiden uneinheitlich verwendeten Begriffen Mission und Vision. Leitbilder als Vision, Mission oder auch Mission Statement begriffen, ergeben jeweils ein eigenes Begriffsverständnis. Während Visionen mehr oder weniger bildliche Vorstellungen einer erwünschten Zukunft beschreiben, betreffen Missionen meist die eher rational geprägten Grundsätze eines Unternehmens, den Zusammenhang von Zwecken, Zielen, Strategien, aber auch Werten und Verhaltensstandards. Missionen werden entweder gegenwärtig praktiziert oder sind erst zu verfolgen. Im zweiten Fall nehmen sie visionären Charakter an. Die konzeptionelle Spannweite steckt zugleich das Feld ab, in dem Leitbilder verortet werden. Bei Leitbildern geht es um
gegenwärtig gültige oder zukünftig zu verfolgende Ziele, Zwecke etc. in Form stärker rational geprägter Strategien oder emotional und ethisch geprägter Wertvorstellungen, die kollektiv geteilt oder von der Unternehmensführung bzw. dem Management vorgegeben werden.
Viele Leitbildkonzepte integrieren die dargestellten Varianten. Selten werden die damit verbundenen Mehrdeutigkeiten und Differenzen wahrgenommen oder gar thematisiert. Manifeste Leitbilder stellen als Unternehmensgrundsätze ein betriebswirtschaftliches Steuerungsinstrument dar, das entweder auf die Ableitung von Strategien und Maßnahmen oder auf die Veränderung der gegebenen Unternehmenskultur abzielt. Diese Unternehmensleitbilder werden auf der Ebene des normativen Managements verortet und umfassen die obersten Ziel- und Wertvorstellungen des Unternehmens. Erst in der Gesamtbetrachtung wird eine Eigenart der manifesten Unternehmensleitbilder sichtbar, die für deren Begriffsverständnis jedoch grundlegend ist. Vor allem in früheren Modellen zu Unternehmensleitbildern wurde meist selbstverständlich davon ausgegangen, dass diese Unternehmensgrundsätze den Wert- und Zielvorstellungen der Unternehmensleitung entspringen. Das Wertesystem des Unternehmens und der Unternehmensleitung wurden somit gleichgesetzt. Leitbilder als schriftlicher Ausdruck der grundlegenden normativen Orientierung der Unternehmensleitung bzw. des führenden Managements sollten gewährleisten, dass die gesamte Unternehmensführung sowie jegliches Handeln im Unternehmen konsequent an diesen Grundsätzen ausgerichtet würde. Mit der „Entdeckung“ der Organisationskultur wurde deutlich, dass Erscheinungsbild und Verhalten einer Organisation von den Wertvorstellungen und Grundannahmen aller Mitarbeiter abhängt. In dieser differenzierten Perspektive wurde erst sichtbar, dass Unternehmensleitbilder als schriftlicher Ausdruck des Selbstverständnisses (zumeist der Unternehmensleitung) den tatsächlich gelebten Orientierungen, Grundannahmen und Wertvorstellungen widersprechen können. Betriebswirtschaftliche Ansätze zogen daraus jedoch nicht den Schluss, die Ziele und Zwecke des Unternehmens der Unternehmenskultur als dem geteilten System von Grundannahmen und Werten anzupassen, sondern interpretierten stattdessen die Unternehmenskultur als disponibles Element. Es gilt nun, die gegebene Unternehmenskultur den Wert- und Zielvorstellungen der Unternehmensleitung anzupassen. Leitbilder fungieren dabei als Instrument, die angestrebte Unternehmenskultur vorzugeben und auf diese Weise die gegebene Unternehmenskultur zu verändern. Manifeste Unternehmensleitbilder werden somit vielmehr zum Ausdruck der zu verfolgenden statt der praktizierten Grundsätze.
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3 Leitbilder in den Sozialwissenschaften – die Diskursanalyse
In aller Regel sind diese manifesten Unternehmensleitbilder also noch nicht denk- und handlungsleitend. Sie bezwecken freilich häufig, handlungsleitende Denkmuster zu erzeugen. Mit der Formulierung von propagierten Leitbildern besteht somit die Hoffnung oder sogar der Anspruch, dass diese von den Organisationsmitgliedern internalisiert werden, ihr Denken und Handeln leiten. Die stärkere Einbeziehung der Organisationsmitglieder in die Leitbilderstellung stellt einen beachtenswerten Versuch dar, die vorhandenen impliziten Leitbilder stärker zu berücksichtigen und somit eine Anschlussfähigkeit zwischen implizitem und explizitem Leitbild zu erzeugen. Der Einsatz oktroyierter Leitbilder zielt hingegen darauf ab, mit instrumentellen Mitteln ein kulturelles Phänomen zu steuern. Die diesen expliziten Unternehmensleitbildern zugeschriebenen Funktionen wie Orientierung, Koordination, Motivation oder Identifikation stellen lediglich Wirkungsbehauptungen dar, die, solange die expliziten Leitbilder nicht von den Akteuren im Feld mitgetragen werden, nicht gerechtfertigt sind. Demgegenüber kommen die Funktionen, welche den expliziten Leitbildern nur unterstellt werden, den impliziten Leitbildern als Eigenschaften zu. Implizite Leitbilder stellen als Teil der gegebenen Unternehmenskultur sozial geteilte mentale Vorstellungsmuster hinsichtlich einer erwünschten und für machbar gehaltenen Zukunft dar, die einen gemeinsamen Wahrnehmungs-, Denk- und Handlungshorizont schaffen, d.h. Komplexität reduzieren, das Denken auf einen gemeinsamen Zukunftspunkt hin fokussieren und somit Orientierung für das Handeln schaffen. Die Ausrichtung auf einen gemeinsamen Zukunftshorizont wirkt integrierend, motivierend und erleichtert die Kooperation und Koordination in der Gruppe. Implizite Leitbilder sind eine Kategorie der interpretativen Organisationskulturforschung, welche die vorhandenen und praktizierten Wunsch- und Zukunftsvorstellungen einer gegebenen Unternehmenskultur in den Blick nimmt. Wer die impliziten Leitbilder einer Organisation kennt, kann abschätzen, worauf sich die Aufmerksamkeit richtet und in welche Richtung sich das Denken und Handeln bewegen wird. Gestaltungsorientierte Erweiterungen der interpretativen Organisationskulturforschung sehen zudem die Möglichkeit, in der Identifikation der vorhandenen impliziten Leitbilder und dem Entwurf alternativer Ideen, die Bedingung der Möglichkeit zur Veränderung der impliziten Leitbilder zu schaffen. Dies wäre dann aber ein langfristiger, partizipativ zu gestaltender, nicht aber zielgenau steuerbarer Prozess. Damit wird deutlich, dass im Zusammenhang mit Leitbildern in Organisationen und Unternehmen mit unterschiedlichen Leitbildbegriffen operiert wird. Der Rückgriff auf die begriffliche Typologie verdeutlicht die verschiedenen Begriffsverwendungen (vgl. Tab. 2.1). Manifeste Leitbilder in Organisationen bringen selten die bereits denk- und handlungswirksamen Denkmuster zum Ausdruck (Typ 2), sondern formulieren in aller Regel propagierte Unternehmensgrundsätze, die dem Denken und Handeln zukünftig zugrunde gelegt werden sollen (Typ 4 oder 6). Wird ein solches Leitbild von der Unternehmensspitze definiert und den Unternehmensmitgliedern vorgegeben, handelt es sich um oktroyierte Leitbilder (Typ 6). Drückt das Leitbild die Selbstverpflichtung weitgehend aller Unternehmensmitglieder, dann handelt es sich um ein explizites Leitbild (Typ 4). Aber auch ein explizites Leitbild bedeutet nur eine Absichtserklärung oder die Kundgebung des Willens, sich zukünftig daran zu orientieren. Die Chance, dass dieses explizite Leitbild tatsächlich das Denken und Handeln der Akteure prägen wird und so zu einem impliziten Leitbild (Typ 1) wird, ist bei einem selbst getragenen expliziten Leitbild (Typ 4) ungleich höher als bei einem oktroyierten (Typ 6).
3.3 Leitbilder in Organisationen und Unternehmen
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Demgegenüber lassen sich implizite Leitbilder im Sinne kollektiv geteilter, denk- und handlungsleitender Zukunfts- und Wunschvorstellungen (Typ 1) als Teil der gegebenen Unternehmenskultur auffassen. Innerhalb einer Organisation existiert daneben immer auch ein Pool an Zukunftsvorstellungen, die aber noch nicht in dem Sinne etabliert sind, dass sie denk- und handlungsleitend sind (Typ 3). Es sind etwa Ideen mit Leitbildpotenzial einzelner Unternehmensmitglieder oder aber Zukunftsvorstellungen, von denen gesagt wird, dass sie wünschenswert wären, ohne tatsächlich verfolgt zu werden. Solcherart potenzielle Leitbilder können, wenn sie in einem partizipativen Leitbild-Entwicklungsprozess gemeinsam formuliert werden, zukünftig an Bedeutung gewinnen und somit allmählich zu denk- und handlungsleitenden Leitbildern (Typ 1) werden. Die Tatsache, dass sich die Sozialwissenschaften in Bezug auf Organisationen vornehmlich mit manifesten Leitbildern befassen, die in aller Regel nur propagierte, nicht schon praktizierte Zukunftsvorstellungen beinhalten, spiegelt sich in den Umgangsformen der Organisationsforschung mit Leitbildern wider. Zudem ist bereits erwähnt worden, dass die Beschäftigung mit Unternehmensleitbildern häufig im Grenzbereich zwischen pragmatisch orientierter Ratgeberliteratur und wissenschaftlicher Forschungsarbeit geschieht. Entsprechend changiert die Beschäftigung mit Leitbildern zwischen der anwendungsorientierten Erörterung und der empirischen Untersuchung von Fragen etwa zu Entwicklung, Aufbau oder Inhalt von manifesten Unternehmensleitbildern oder ihrer Verortung im Prozess der Unternehmensführung. Dies geschieht vornehmlich in Form von Erfahrungsberichten und Handlungsvorschriften, vereinzelt auch auf der Grundlage von Unternehmensbefragungen oder in Begleitforschungen zu Entwicklungsprozessen. Wo Leitbilder im Sinne mentaler, tatsächlich verfolgter Zukunftsvorstellungen als Teil der gegebenen Unternehmenskultur verstanden werden, geht es um die Analyse von Leitbildern im Sinne der Identifikation und Untersuchung ihrer Implikationen. Aber auch aus dieser Perspektive heraus werden pragmatische Überlegungen angestellt, wie neue Leitbilder entwickelt oder vorhandene verändert werden könnten.
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3 Leitbilder in den Sozialwissenschaften – die Diskursanalyse Je unanschaulicher das Leben in der Stadt und sie selbst geworden ist und je ungewisser die Zukunftsaussichten, desto intensiver ist die Suche nach Orientierung und Sinn. Heidede Becker (1998b, S. 454)
3.4 Leitbilder in der raumbezogenen Planung und Forschung Leitbilder haben in der raumbezogenen Forschung und Planung eine lange Tradition. Die folgende differenzierte Analyse der Begriffsverwendung lässt sichtbar werden, dass auch in diesem relativ begrenzten Feld der Leitbildbegriff höchst unterschiedlich verwendet wird. Er ist zugleich in der raumbezogenen Forschung wie auch in der räumlichen Planung und Politik zu Hause und bildet eine wichtige, wenngleich unterschiedlich, bisweilen diffus verstandene Kategorie im Diskursfeld innerhalb und zwischen diesen Bereichen. Im Laufe der Jahre werden raumbezogene Leitbilder auf unterschiedlichen Ebenen diskutiert, so dass Leitbilder mal für die Tätigkeit der Raumordnung117 auf Bundesebene, mal auf der Ebene der Gemeinden im Städtebau bzw. der Stadtentwicklung, mal auf regionaler Ebene mit jeweils unterschiedlichem Verständnis im Mittelpunkt stehen. Damit ist eine langjährige Debatte angesprochen, in welcher der Leitbildbegriff unter verschiedensten Blickwinkeln und in unterschiedlichen Kontexten diskutiert und eingesetzt wurde. Im Diskurs über raumbezogene Leitbilder werden vielfältige Möglichkeiten des Begriffsverständnisses ebenso sichtbar wie konkrete mit dem jeweiligen Begriff verbundene Implikationen, die einen wertvollen Beitrag leisten für eine differenzierte und kritische Betrachtung der sozialwissenschaftlichen Kategorie Leitbild. Der Leitbildbegriff wurde in den 1950er Jahren von Ernst Dittrich in die Raumordnung als Kategorie zur Orientierung für die bundesdeutsche Raumordnung eingeführt (vgl. Dittrich 1958a und 1958b). Das Leitbild der sozialen Raumordnung, das im Sachverständigengutachten für Raumordnung (SARO 1961) unter seiner Mitwirkung ausgearbeitet wurde, wurde im 1965 verabschiedeten Bundesraumordnungsgesetz verankert. Damit war die Leitbilddiskussion auf der übergeordneten Ebene der Raumordnung der Bundesrepublik zunächst wieder abgeschlossen (vgl. Streich 1988, S. 2ff.). Das Reden über Leitbilder hatte aber zugleich die Diskussion über generelle raumplanerische, insbesondere städtebauliche Zielvorstellungen erfasst. Anfang der 1960er Jahre wurde der Leitbildbegriff für die Diskussion übergeordneter städtebaulicher Konzepte aufgegriffen und zum Teil retrospektiv auf die historischen Modellvorstellungen für Städte angewendet. Ebenso wurde in der laufenden städtebaulichen Diskussion in Bezug auf die häufig zu Schlagworten verdichteten städtebaulichen Konzepte von Leitbildern gesprochen. Sowohl in der Raumordnung als auch im Städtebau gerieten seit dem Ende der 1960er Jahre nicht nur einzelne Leitbilder, sondern das Denken und Planen mit Leitbildern an sich im bis dahin existierenden Leit117 Unter Raumordnung wird sowohl die tatsächlich vorhandene räumliche Struktur eines Gebietes als auch die durch die Raumordnungspolitik zu schaffende künftige räumliche Struktur wie schließlich die Tätigkeit zur Verwirklichung der angestrebten räumlichen Ordnung selbst verstanden (vgl. Ernst 1995, S. 752; Schweizerische Vereinigung für Landesplanung 1996, S. 122f.; Leser 1998; BBR/BMVBS 2006, S. 7). In der Diskussion um Leitbilder der Raumordnung ist in der Regel die Tätigkeit der Raumordnung gemeint. Gegenüber diesem allgemeinen Begriff bezieht sich die Raumplanung auf das gezielte Einwirken auf die räumliche Entwicklung der Gesellschaft, die auf der Ebene der Regionen und Städte in der Regional- und Stadtplanung konkreter gefasst wird. Der Begriff der Raumplanung ist gegenüber dem älteren und allgemeineren Begriff der Raumordnung eher fachlich-technischer Natur (vgl. Dittrich 1962, S. 3).
3.4 Leitbilder in der raumbezogenen Planung und Forschung
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bildverständnis unter scharfe Kritik. In den 1970er Jahren wurde über Leitbilder im Allgemeinen wie auch über konkrete Leitbilder wenig diskutiert. Mitte der 1980er Jahre wurde die Leitbilddiskussion zunächst für die Regionalentwicklung erneut aufgenommen – allerdings mit einem grundlegend veränderten Verständnis. Vermehrt entstanden Bemühungen zur Entwicklung von sogenannten regionalen Leitbildern als spezifischen Konzepten für die Entwicklung von einzelnen Regionen (vgl. Knieling 2000). Diese Renaissance der Leitbilder erfasste in der Folge auch wieder den Städtebau sowie die weiter gefasste Stadtentwicklung und schließlich auch wieder die Bundesraumordnung. Knieling (2000) spricht infolgedessen von einem Wechsel von Leitbildern der 1. zur 2. Generation und setzt diesen mit dem Wandel von generellen zu spezifischen Leitbildern gleich. Mit Rücksicht auf die verzweigt verlaufende Entwicklung des Leitbildbegriffs auf der Ebene der Städte, Regionen und des Bundes sollen diese beiden Unterscheidungen – 1. oder 2. Generation sowie generelle oder spezifische Leitbilder – getrennt vorgenommen werden. Der Generationswechsel zeigt zunächst die unterschiedlichen Zeiträume der Begriffskonjunktur an, die durch eine Phase, in der Leitbilder kaum thematisiert wurden, deutlich zu trennen sind. Die Leitbilder der 1. Generation beziehen sich schwerpunktmäßig auf die 1950er und 1960er Jahre. Von Leitbildern der 2. Generation kann seit Mitte der 1980er Jahre gesprochen werden. Mit dem Generationswechsel ist die grundlegende Veränderung verbunden, Leitbilder nicht mehr singulär zu verstehen und nach einem dominanten, d.h. allein gültigen und allgemein verbindlichen Leitbild zu suchen oder dieses gar verbindlich vorzugeben. Statt dessen wird von einer Vielfalt von Leitbildern ausgegangen. Die Pluralität von Leitbildern, d.h. das Nebeneinander von unterschiedlichen Leitbildern kommt zum einen durch eine sachliche Differenzierung von Leitbildern in unterschiedlichen Handlungsfeldern und unter verschiedenen Perspektiven zustande. Während Leitbilder der 1. Generation vornehmlich raumstrukturelle Leitbilder abgeben, betreffen die Leitbilder der 2. Generation verschiedene raumbezogene Aspekte. Zum anderen ergibt sich die Vielfalt der Leitbilder der 2. Generation durch die räumliche Differenzierung. Diese Leitbilder beziehen sich nun auf konkrete (Teil-)Räume, etwa eine bestimmte Region. Die Unterscheidung von generellen und spezifischen Leitbildern ist also zum Teil mit dem Generationswechsel verbunden, geht aber nicht gänzlich darin auf. Auf regionaler Ebene ist mit dem Generationswechsel zugleich der Wechsel von generellen, die Raumordnung allgemein betreffenden zu spezifischen Leitbildern für einzelne Regionen verbunden gewesen. Analog dazu sind auch auf kommunaler Ebene spezifische Leitbilder im Rahmen der Stadtentwicklung entworfen worden. Daneben hat sich jedoch vor allem im Städtebau ein Diskurs erhalten, der sich weiterhin mit generellen Leitbildern befasst, sich gleichwohl vom dominanten und dogmatischen Leitbildverständnis der 1. Generation verabschiedet hat. Diese generellen städtebaulichen Leitbilder der 2. Generation haben ihren Allgemeingültigkeitsanspruch verloren und existieren stattdessen als heterogene Perspektiven nebeneinander. Seit der Neufassung des Raumordnungsgesetzes von 1997 werden Leitbilder auch wieder auf der Ebene der Bundesraumordnung diskutiert – nun jedoch analog zur Entwicklung auf Stadtund Regionalebene als Instrument zur Abstimmung der Entwicklungsvorstellungen von Bund und Ländern (vgl. Aring/Sinz 2006, S. 44). Abbildung 3.8 gibt einen Überblick über die unterschiedlichen Leitbildbegriffe der raumbezogenen Planung und Forschung und ordnet diese mit einigen Beispielen zeitlich ein. Es wird sich zeigen, dass raumbezogene Leitbilder aktuell grundsätzlich in zweierlei Verständnis existieren, die es zu unterscheiden gilt – als Planungsinstrument und als analytische Kategorie.
3 Leitbilder in den Sozialwissenschaften – die Diskursanalyse
128 Abbildung 3.8:
Leitbildbegriffe der raumbezogenen Planung und Forschung im historischen Verlauf
1. Generation
2. Generation
(allgemeingültig, singulär)
(plural)
Generelle Leitbilder (der Raumordnung, des Städtebaus etc.) epochales Formprinzip (Dittrich)
Generelle Leitbilder
Soziale Raumordnung dogmatisches LB der Raumordnung (SARO)
dominante Leitbilder (nach Streich) Urbanität durch Dichte nachhaltige Stadt/Region
gegliederte und aufgelockerte Stadt
generelle Leitbild-Vorstellungen (nach Weeber oder Köhler)
Spezifische Leitbilder
LBer d. Raumentwicklung (MKRO)
Spezifische regionale und kommunale Leitbilder Lokale Agenda 21 Leitbilder ...
Bodensee
... ...
Passau ...
1950
1960
1970
1980
1990
2000
3.4 Leitbilder in der raumbezogenen Planung und Forschung
129
Es folgt eine Darstellung zum geschichtlichen Wandel des Leitbildbegriffs in der Raumforschung und -planung, welche die grundlegenden Varianten im Begriffsverständnis sichtbar werden lässt. Der grundlegende Wandel im Verständnis und der Anwendung von Leitbildern sowohl in der Planungspraxis als auch in der raumbezogenen Forschung wird auf das in den vergangenen Jahrzehnten veränderte Planungsverständnis zurückgeführt. Der Zusammenhang von Leitbildern und Planungsverständnis soll zur besseren Orientierung vorweg verdeutlicht werden (Kap. 3.4.1). Anschließend werden die grundlegend zu unterscheidenden Leitbildbegriffe, wie sie im Laufe der letzten fünfzig Jahre in der raumbezogenen Planung und Forschung genutzt wurden, dargestellt. Dabei wird grundlegend zwischen generellen und spezifischen Leitbildern unterschieden (Kap. 3.4.2 und 3.4.3). An diese historisch-systematische Analyse anschließend werden einige Kritikpunkte und Kontroversen aufgegriffen und diskutiert, die in der raumbezogenen Planung und Forschung gegenüber Leitbildern vorgebracht wurden und die für ein allgemeines Verständnis von Leitbildern in den Sozialwissenschaften relevant sind (Kap. 3.4.4). Abschließend werden der Wandel des Begriffsverständnisses von Leitbildern in der raumbezogenen Planung und Forschung zusammengefasst und einige Aspekte aufgegriffen, die für ein allgemeines sozialwissenschaftliches Verständnis von Leitbildern von Bedeutung sind (Kap. 3.4.5). 3.4.1 Das Verständnis von Leitbildern im Spiegel einer veränderten Planungsauffassung Das veränderte Begriffsverständnis und die veränderte Gestalt von Leitbildern hängt, das ist in der Literatur mehrfach dargestellt worden, eng mit dem veränderten Planungsverständnis zusammen (vgl. Streich 1988, Schäfers/Köhler 1989, Becker 1998a und 1998b, Knieling 2000, Kuder 2004). Bereits Ende der 1980er Jahre hat Streich das im Laufe der Jahrzehnte veränderte Leitbildverständnis mit dem gewandelten Planungsverständnis in Zusammenhang gebracht (vgl. Streich 1988, S. 85f.). Streich macht drei verschiedene Phasen im raumplanerischen Selbstverständnis aus: Nach einer technokratischen Phase, die er den 1950er und 1960er Jahren zuordnet, kommt es zu einer Phase, in der man sich auf rationalisierte Planungsmethoden konzentriert hat, die ihrerseits im Laufe der späten 1980er Jahre von einem diskursiven Planungsverständnis abgelöst wird (vgl. ebd., S. 85f.). Während der technokratischen Phase findet Planung auf ministerieller oder Verwaltungsebene statt. Die „richtigen“ Leitbilder sind prinzipiell schon bekannt und müssen nur noch umgesetzt werden (vgl. ebd., S. 85). Mitte der 1960er Jahre wird Kritik an dieser Form von Leitbildern und der damit verbundenen technokratischen Planung laut. Von Leitbildern wird Abstand genommen und diese werden aus der Diskussion verbannt. Stattdessen konzentriert man sich auf die Entwicklung von wissenschaftlich abgesicherten Planungsmethoden, in denen allerdings eine Zieldiskussion nicht vorgesehen ist (vgl. ebd., S. 86). Am Ende der 1980er Jahre zeichnet sich eine erneute Wende hin zu einer „leitbildorientierten Politikberatung“ ab. Im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit steht die Diskussion über entworfene Konzepte, die „den Konsens über Ziele und Leitbilder auf ein breites Fundament (...) stellen“ sollen (vgl. ebd., S. 88). Das planerische Selbstverständnis tritt in eine diskursive Phase ein. Etwas differenzierter stellen Knieling (2000) und Kuder (2004) den Wandel des Planungsverständnisses dar. Der Diskussion über das allgemeine Leitbild der Raumordnung schließt sich zunächst eine Phase der geschlossenen Planung mit Prognosen und Zielhierar-
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chien an, die Mitte der 1970er Jahre durch eine Phase der offenen Planung abgelöst wird. Dieser offenen Planung liegt zunächst ein „inkrementalistisches“ Planungsverständnis zugrunde, d.h. es wird problemorientiert und kleinschrittig vorgegangen und es werden pragmatische Ziele für die Lösung von Einzelproblemen gesetzt (vgl. Brösse 1975, S. 47; Knieling 2000, S. 24 und 33ff.). In der wissenschaftlich rationalisierten, auf Prognosen und Zielhierarchien konzentrierten geschlossenen Planung der späten 1960er Jahre wird das gesamtstaatlich ausgerichtete allgemeine Leitbild der Raumordnung nicht weiter diskutiert, da es ja gesetzlich fixiert vorliegt. Im inkrementalistischen Planungsverständnis werden umfassende Leitbilder im vorgenannten Sinne sogar ausdrücklich abgelehnt, da man problemorientiert arbeitet und die Entwürfe und Ziele permanent der Situation anpasst. Kuder verdeutlicht, dass der Leitbildbegriff der frühen Jahre mit einem hierarchischen und staatszentrierten Planungs- und Steuerungsverständnis verbunden ist und folglich in der Planungsphase des basisdemokratisch orientierten Inkrementalismus unweigerlich abgelehnt werden musste (vgl. Kuder 2001, S. 94). Bereits 1975 warnt aber Brösse davor, dass jeder Pragmatismus unbefriedigend bleiben muss, „wenn er nicht durch leitbildartige Vorstellungen gelenkt wird“ (Brösse 1975, S. 48). Er konstatiert, dass für die räumliche Entwicklung der Bundesrepublik ein Leitbild fehlt, welches er jedoch anders verstanden wissen will als den Leitbildbegriff der frühen 1960er Jahre: „Das Leitbild gibt eine Beschreibung der längerfristigen, potentiell wünschbaren und grundsätzlich realisierbaren Nutzung, Gestaltung und Entwicklung von Räumen.“ (Ebd., S. 49) In einer späteren Auflage fügt er hinzu, dass weder eine kurzfristige problemorientierte Zielfindung noch ein Leitbild allein zu einer hinreichenden Zielbestimmung in der Raumordnungspolitik führen können, und verweist damit auf eine notwendige Synthese (vgl. Brösse 1982, S. 30). Seit den 1980er Jahren erfolgt eine solche Synthese des pragmatischen und problemorientierten Vorgehens mit einer Zielfindung anhand allgemeiner Leitbilder zu einem „perspektivischen Inkrementalismus“, in dem den Einzelmaßnahmen eine gemeinsame perspektivische Zielrichtung gegeben wird (vgl. Knieling 2000, S. 24f.). Diese Zielrichtung wird zunehmend in Form eines Leitbildes formuliert. Mit dem Wandel des Planungsverständnisses verändert sich zugleich die Rolle des Staates. Wird Raumordnung in den 1950er und 1960er Jahren noch als alleinige Aufgabe des Staates angesehen, so nimmt der Staat in der Raumplanung seit den späten 1980er Jahren die Rolle eines Initiators und Moderators innerhalb umfassender Regionalentwicklungsprozesse an (vgl. ebd., S. 33 und 38). Das hierarchische wird durch ein kooperatives Steuerungsverständnis ersetzt (vgl. ebd., S. 14ff.). Entsprechend werden Leitbilder der 2. Generation nicht hierarchisch vorgegeben, sondern im kommunikativen und auf Kooperation der Akteure setzenden Planungsprozess als informelle Instrumente der Planung eingesetzt (vgl. Knieling 2000, S. 29ff.). Gleichzeitig beziehen sich Leitbilder häufig nicht mehr nur auf räumliche Planung im engeren Sinne der raumstrukturellen Entwicklung, sondern werden als Instrumente einer umfassenden Regional- oder Stadtentwicklung eingesetzt und tauchen schließlich auch wieder auf der Ebene des Bundesraumordnung als Instrument der Raumentwicklung auf.
3.4 Leitbilder in der raumbezogenen Planung und Forschung
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3.4.2 Generelle Leitbilder 3.4.2.1 Der Ursprung der raumbezogenen Leitbilddiskussion zwischen epochalem Formprinzip und dogmatischer politischer Vorgabe Die Geschichte des Leitbildbegriffs in der Raumordnung und -forschung beginnt mit der Einführung des Begriffs durch Erich Dittrich in den 1950er Jahren.118 Dittrich prägt den Begriff Leitbild, um damit der Tätigkeit der Raumordnung eine wissenschaftlich fundierte Orientierung zu geben. Unter Leitbildern versteht er die „geistigen Formprinzipien“ einer Epoche, die alle Lebensgebiete, also auch die Raumordnung prägen und diese in einen Gesamtzusammenhang bringen: „Man muß von der Auffassung ausgehen, daß jeweils in einer echten geschichtlichen Epoche alle Lebensgebiete in einem Gesamtzusammenhang stehen, indem sie unter einen Gesamtsinn oder ein geistiges Formprinzip gestellt werden. Dieses gestaltende Prinzip ist das Leitbild, es bestimmt die menschliche Gesamthaltung, die Gesellschaftspolitik, konkretisiert sich im allgemeinen Lebensstil wie in tausend Alltäglichkeiten. (...) Das große Leitbild einer Epoche formt die gesellschaftliche Wirklichkeit.“ (Dittrich 1958b, S. 54)
In der Abgrenzung zu den Leitbildern früherer Epochen soll die Differenz zum gegenwärtigen Leitbild und seine Besonderheit herausgearbeitet werden (vgl. Dittrich 1958a, S. 2). Da in diesem Verständnis das Leitbild der Raumordnung ein Element eines umfassenden gesellschaftspolitischen Leitbildes darstellt, soll das Leitbild der Raumordnung dem gesellschaftspolitischen entnommen werden (vgl. Dittrich 1958b, S. 55). Analog zum wirtschaftspolitischen Konzept der Sozialen Marktwirtschaft von Müller-Armack spricht Dittrich deshalb vom Leitbild der sozialen Raumordnung mit den dem Grundgesetz entnommenen Leitgedanken Freiheit, sozialer Ausgleich und Sicherheit (vgl. Dittrich 1962, S. 6ff.; siehe auch Kap. 3.2.1). Der Wissenschaft, in diesem Fall der Raumforschung, kommt dabei die Aufgabe zu, das Leitbild bewusst zu machen (vgl. ebd., S. 11). Die Raumforschung soll dabei helfen, „die diffusen, zum Teil unbewußten Strebungen und Vorstellungen“ zu erkennen (vgl. Dittrich 1960, S. 43). Diese ins Bewusstsein gebrachten intentionalen Vorstellungen und Forderungen werden den Ergebnissen der „Bestandsaufnahme als Erfassung der Gegebenheiten und Entwicklungstendenzen im Raum“ (Dittrich 1964a, S. 26) gegenübergestellt. Die Überwindung der auf diese Weise festgestellten Differenz zwischen Sein und Sollen ist schließlich Aufgabe der Raumordnungspolitik (vgl. ebd., S. 54; Dittrich 1964b). In diesem Sinne befasst sich das Gutachten des 1955 beauftragten Sachverständigenausschusses für Raumordnung (SARO) zunächst mit der gegebenen räumlichen Ordnung, um in einem zweiten Schritt das Leitbild der Raumordnung aus dem gesellschaftspolitischen Leitbild herauszuarbeiten. Erst in einem dritten Schritt wird das herausgearbeitete Leitbild mit der Bestandsaufnahme für die Raumordnungspolitik gegenübergestellt (vgl. SARO 1961).119 118 Die grundlegenden Leitbild-Veröffentlichungen von Dittrich stammen aus den Jahren 1958 und 1962 (vgl. Dittrich 1958a, 1958b und 1962). Er selbst verweist aber darauf, dass er den Begriff in einer Veröffentlichung erstmals im Jahre 1953 verwendet hat (vgl. Dittrich 1958a, S. 1). 119 Dieses Vorgehen enttäuschte aber offenbar die Auftraggeber, die Bundesregierung und mehrere Ministerien. Der Auftrag sah vor, „Richtlinien (ein Leitbild) für die Koordinierung der von der Bundesregierung zu treffenden raumrelevanten Maßnahmen“ zu erarbeiten (SARO 1961, S. 7). Damit differierte das politische Ver-
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Lehmann (1963) verdeutlicht, dass die Bemühungen von Dittrich um die wissenschaftliche Aufarbeitung des Leitbildes der Raumordnung darauf abzielten, den die gesellschaftliche Wirklichkeit prägenden Zeitgeist aufzudecken, um die räumliche Entwicklung bewusst danach gestalten zu können. Dies wird notwendig, da aufgrund der erhöhten Veränderungsgeschwindigkeit das räumliche Geschehen einer bewussten Technik unterzogen werden muss: „Wenn die unbewußten Zusammenhänge bisher immer den richtig angepaßten räumlichen Ausdruck des Zeitgeistes geschaffen haben, warum dann jetzt bewußt gestalten wollen bei der nicht auszuschließenden Gefahr, es falsch zu machen? (...) Während in Epochen geringer Veränderungsgeschwindigkeiten Bewußtseinsveränderung und entsprechende räumliche Veränderungen synchron liefen, muß beides heute synchron geschaltet werden.“ (Lehmann 1963, S. 150)
In dieser Explikation wird allerdings ein Problem des Leitbildkonzepts von Dittrich sichtbar: Leitbilder werden als Ausdruck des gegenwärtigen Zeitgeistes angesehen und drohen damit, eher konservativ bewahrend zu wirken und lediglich die Trends der Gegenwart zu beschreiben statt neue Ziele zu setzen. Damit wären – so die Kritik – Leitbilder lediglich ein „Destillat vorhandener Trendlinien“ (Streich 1988, S. 28). Aus dieser Ambivalenz des Begriffes heraus, ob er die Trends und Tendenzen der Gegenwart oder darüber hinausgehende Zielvorstellungen bezeichnet, definiert auch Ernst den frühen Leitbildbegriff in zweierlei Weise entweder als den vorgefundenen faktischen Zustand der räumlichen Ordnung und die erkennbaren Tendenzen zu seiner Veränderung oder als die geordnete Vorstellung der angestrebten Ziele der Raumordungstätigkeit (vgl. Ernst 1970, S. 1908). Demgegenüber hebt Albers aber bereits in den 1960er Jahren das Leitbild deutlich vom Trend ab, sodass sich das Leitbild nicht auf die ohnehin ablaufende Entwicklung des Raumes bezieht, sondern die darüber hinausgehenden Zielvorstellungen bezeichnet (vgl. Albers 1965 und 1967). Zudem hatte Dittrich betont, dass das Leitbild nicht aus den räumlichen Gegebenheiten und den darin gegebenen Entwicklungstendenzen, sondern aus den gesellschaftspolitischen Vorstellungen und Forderungen abzuleiten sei (vgl. Dittrich 1960, S. 45 und ders. 1964a, S. 31f.). Die Kritik, Leitbilder würden lediglich den ohnehin ablaufenden Trend der räumlichen Entwicklung beschreiben, ist damit nicht berechtigt. Sie entstammen allerdings dem gesellschaftspolitischen Geist ihrer Zeit, sind somit historisch bedingt und zugleich als veränderlich anzusehen (vgl. Dittrich 1958a, S. 1). Dennoch kritisiert Linde diese Form von Leitbildern als den „primitivsten und (...) beschränktesten Versuch, sich der Möglichkeiten der Zukunft in unserer dynamischen Welt zu vergewissern“ (Linde 1971, S. 105): „Ich halte ihn für primitiv, weil nicht viel dazugehört, sich auszumalen, wie es wäre, wenn es wirklich schön wäre. Ich halte ihn für beschränkt (...), weil er glaubt, die Zukunft aus der Lage des aktuellen öffentlichen Bewußtseins von heute gewinnen und festschreiben zu können, aus einer Bewußtseinslage also, die schon morgen von gestern oder vorgestern ist.“ (Ebd.)
ständnis von Leitbildern zu dem von Dittrich vorgegebenen Konzept insofern, dass im Verständnis der Politik das Leitbild nicht nur das gültige Formprinzip, sondern vor allem die sich daraus ergebenden Handlungsrichtlinien umfassen sollte. Die Auftraggeber hatten sich vom Gutachten – so Dittrich rückblickend – viel eher eine „Bedienungsvorschrift“, mit anderen Worten konkrete Handlungsanweisungen versprochen, die Dittrich jedoch einer Raumordnungspolitik, nicht der Raumforschung als Aufgabe zuwies (vgl. Dittrich 1962 und 1964a).
3.4 Leitbilder in der raumbezogenen Planung und Forschung
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Linde kann zu einer solchen Kritik allerdings nur deshalb kommen, da er – dem herrschenden Planungsverständnis seiner Zeit entsprechend – den langfristigen und übergeordneten Zielvorstellungen für Planungsprozesse keine Bedeutung beimisst. Er konzentriert sich stattdessen auf Verfahrenstechniken der Planung, die dem damaligen Stand der Planungswissenschaft entsprechen. Die seiner Kritik entgegenzusetzende und für das beschriebene Problem entscheidende Frage, woher, wenn nicht aus dem gegenwärtigen Bewusstsein, eine Zukunftsvorstellung zu nehmen ist, stellt sich damit für ihn gar nicht. Aus dem von Dittrich dargestellten Verständnis von Leitbildern als Ausdruck des identifizierten Zeitgeistes ergibt sich allerdings noch ein weiteres Problem. Das „richtige“ Leitbild, ist es erst einmal durch die Wissenschaft in das Bewusstsein gehoben, steht fest und wird jeder weiteren (politischen) Diskussion entzogen. Heterogene Zielvorstellungen geraten damit erst gar nicht in den Blick. Zurecht spricht Linde deshalb von Leitbildern als „harmonisierten Zustandsbildern“ und von „dirigistisch gesetzten Zielen“, die aus „postulierten gesellschaftlichen Leitbildern“ abgeleitet werden (Linde 1971, S. 99f. und 105). Die weitere Aufmerksamkeit in der Raumordnung richtete sich statt auf das Leitbild auf konkretisierte Zielsetzungen und Maßnahmen zur Realisierung des festgestellten Leitbildes.120 In eben diesem Sinne hat die Bundesregierung den Leitbildbegriff von Dittrich aufgenommen und beauftragte den Sachverständigenausschuss letztlich, Handlungsrichtlinien für die Raumordnung zu entwerfen. Das wissenschaftlich herausgearbeitete Leitbild (hier zugleich als Handlungsrichtlinien) sollte der Raumordnung in der Bundesrepublik verbindlich vorgegeben werden. Das im SARO-Gutachten formulierte Leitbild und die daraus entwickelten Handlungsrichtlinien für die Raumordnung fanden Eingang in das Bundesraumordnungsgesetz. Auf diese Weise wurde das Leitbild staatlich vorgegeben und erhielt seinen verbindlichen, aus Sicht der Kritik dogmatischen Charakter. Zwar hatte Dittrich herausgestellt, dass Leitbilder als historisch bedingt und damit veränderlich anzusehen sind. Durch die besagte politische Handhabung des Leitbildbegriffes, aber auch schon durch die inhaltliche Bestimmung des Leitbildes der Raumordnung durch Dittrich hatte sich eine statische und konservative Lesart des Leitbildbegriffes eingeschlichen. Mit der allgemeinen Bestimmung des Leitbildes der Raumordnung durch Dittrich, der dieses auf die im Grundgesetz verankerten Prinzipien der Freiheit, der Sicherheit und des sozialen Ausgleichs gründete, erschien das Leitbild für das gegebene Gesellschaftssystem ein für alle Mal festlegbar. Mit den Bemühungen von Seiten der Bundesregierung und den Ministerien, ein verbindliches Leitbild für die Raumordnung aufzustellen und dieses gesetzlich zu verankern, ist das Leitbild zusätzlich fixiert worden.121 In den Folgejahren konzentrierte sich die Raumplanung entsprechend auf die Ableitung von Zielkatalogen, ohne das festgestellte und festgelegte Leitbild weiter zu diskutieren. Diese Entwicklung, die der Leitbildbegriff in der Raumordnung der 1950er und frühen 1960er Jahre genommen hatte, sowie die sich daraus ergebende Rolle von Leitbildern im Planungsprozess wurde heftig kritisiert. Der Leitbildbegriff galt vor diesem Hintergrund als dogmatisch, konservativ und statisch. Aus dieser prinzipiellen Kritik an solcherart Leitbil120 Entsprechend kritisiert auch Berndt (1968) das technokratische Selbstverständnis der Verwaltung, die ausgehend von dem einmal festgelegten Leitbild dieses nur noch umzusetzen hat, es aber nicht mehr kritisch hinterfragt (vgl. ebd., S. 103ff.). 121 Die Geschichte der Raumordnung zeigt jedoch, dass auch solche durch gesetzliche Vorgaben fixierte und damit vermeintlich statische Zielsetzungen beweglich sind. An die Stelle des im Bundesraumordnungsgesetz von 1965 fixierten Leitbilds der sozialen Raumordnung tritt 1997 die – man beachte die terminologische Veränderung – Leitvorstellung der nachhaltigen Entwicklung.
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3 Leitbilder in den Sozialwissenschaften – die Diskursanalyse
dern und im Zuge des veränderten Planungsverständnisses, das sich stärker mit Methoden und Verfahren der Planung als mit übergreifenden Zielen beschäftigte, ergab es sich, dass Leitbilder in der Diskussion der 1970er Jahre kaum thematisiert wurden. 3.4.2.2 Dominante städtebauliche Leitbilder der 1. Generation Nachdem der Leitbildbegriff von Dittrich zunächst als allgemeines epochales Formprinzip zur Orientierung der Raumordnung auf allgemeinster Ebene eingeführt worden war, fand er bereits um 1960 Eingang in die städtebauliche Diskussion (vgl. Albers 1975). Auch auf städtebaulicher Ebene bemühte sich das seit 1961 so benannte Bundesministerium für Wohnungswesen, Städtebau und Raumordnung um die Formulierung eines verbindlichen städtebaulichen Leitbildes und klagte dieses nachdrücklich ein (vgl. dazu Albers 1975, S. 149; Lücke 1962a). Hier war der Widerstand gegen die bundespolitische Festlegung derartiger verbindlicher Leitbilder aber besonders groß.122 Arnulf Klett, der Oberbürgermeister Stuttgarts, verwehrte sich in der Diskussion gegen ein Leitbild mit allgemeingültigem Anspruch mit den häufig zitierten Worten: „Ein ‚gültiges Leitbild‘ ist des Teufels.“ (Klett 1964, S. 616) Dieses ambivalente Verhältnis zu Leitbildern erwuchs aus der Begriffsverwendung von raumbezogenen Leitbildern zu dieser Zeit, die mit einer konservativen Geisteshaltung assoziiert wurde (vgl. die zahlreichen Hinweise auf Adorno 1968). Der Ruf nach Leitbildern oder ihre Ablehnung ergab sich entsprechend aus der Einstellung gegenüber solchen Vorgaben. Leitbilder riefen im Städtebau aber nicht nur Widerspruch hervor. Zugleich wurde der Begriff auch retrospektiv auf die städtebaulichen Modellvorstellungen und Konzepte mindestens seit der Jahrhundertwende angewendet und avancierte damit zu einem auf breiter Ebene genutzten Begriff zur Diskussion über modellhafte räumliche Strukturen und Stadtgestalten.123 Der Leitbildbegriff verlor dabei seine Bestimmung als „epochales Formprinzip“ im Sinne Dittrichs und wurde auch nicht zwingend als politische Vorgabe begriffen. Was stattdessen unter dem Begriff Leitbild diskutiert wurde, wurde zunehmend undeutlich.124 Trotz des uneinheitlichen Begriffsgebrauchs lassen sich in Anlehnung an Streich (1988) die städtebaulichen Leitbilder der 1. Generation – jenseits der zuvor dargestellten dogmatischen Leitbilder im raumordnungspolitischen Kontext – als übergreifende und dominante Zielvorstellungen charakterisieren. Von Leitbildern wurde im Städtebau faktisch vor allem dann gesprochen, wenn es sich um komplexe städtebauliche Vorstellungen handelte, die gegenüber anderen Konzepten auf einen größeren Konsens stießen und die Diskussion oder die Planungspraxis prägten. Den dominanten städtebaulichen Leitbildern der 1. Generation wurde insofern eine gewisse Vorherrschaft gegenüber anderen Vorstellungen zugespro122 Die Suche nach verbindlichen Leitbildern für die allgemeine Raumordnungspolitik und zugleich für die Maßstabsebene der Städte wurde auf Bundesebene initiiert. Vermutlich wurde deshalb die politische Vorgabe von allgemein verbindlichen Leitbildern (von Seiten der Bundesregierung) besonders auf der Ebene der Städte als unzulässiger Eingriff in die Planungshoheit der Städte und Länder empfunden. 123 Wie breit die Diskussion über Leitbilder im Städtebau in den 1960er Jahren geführt wurde und wie tief damit der Leitbildbegriff in den städtebaulichen Diskurs Eingang fand, macht die Einschätzung von Albers deutlich, der bereits 1965 den Begriff des Leitbildes „vielleicht schon ein wenig überstrapaziert und abgegriffen“ findet (vgl. Albers 1965, S. 1). 124 Bereits Mitte der 1960er Jahre moniert Dittrich die „willkürliche, oft gedankenlose Verwendung des Wortes ‚Leitbild‘ in der Raumordnung“ (Dittrich 1964a, S. 28).
3.4 Leitbilder in der raumbezogenen Planung und Forschung
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chen, dass sie als allgemein anerkannt galten (vgl. hierzu weiter unten die Leitbildtheorie von Streich). Ideal- und Modellvorstellungen von Städten gibt es vermutlich schon so lange, wie es Städte gibt. Albers verweist auf Idealstadtentwürfe bei Platon, Morus und Bacon (vgl. Albers 1975, S. 150). Von Leitbildern scheint aber erst dann sinnvoll gesprochen werden zu können, wo auch Alternativen denkbar werden. So argumentiert Streich, dass städtebauliche Leitbilder ein Phänomen der Neuzeit seien. Dies begründet er damit, dass Leitbilder, die in der Regel im Plural gedacht werden, weil sie miteinander konkurrieren und sich gegenseitig ablösen, Ausdruck von dynamischen und nicht statischen Gesellschaftsformen sind. Sie dienen als „künstlicher Orientierungsrahmen“, wo kein integrierendes Normengefüge mehr existiert, also in einer funktional differenzierten, säkularisierten Gesellschaft (vgl. Streich 1988, S. 55ff.).125 Becker verdeutlicht darüber hinaus, dass Stadt- und Sozialutopien eng beieinander liegen und als „Modelle für eine bessere Zukunft“ dienen (vgl. Becker 1998a, S. 125). Damit bilden die Ideal-, Modell- oder Leitvorstellungen der Stadt „Kontrastbilder“ zum Gegebenen, zielen auf Veränderung, insbesondere auf einen gesellschaftlichen Wandel (vgl. ebd., S. 127). Der Gedanke eines gesellschaftlichen Wandels durch Städtebau wird Ende des 19. Jahrhunderts verstärkt aufgegriffen, als die durch die Industrialisierung bedingten im weitesten Sinne sozialen Probleme der Städte drängend werden (vgl. Albers 1957). So entstehen im ausgehenden 19. Jahrhundert nach der Etablierung der Disziplin Städtebau die ersten fachlich geprägten städtebaulichen Modellvorstellungen, die sich mit der Raumstruktur, d.h. der räumlichen Anordnung der unterschiedlichen Nutzungsformen und Funktionen beschäftigen. Es werden mustergültige Siedlungsstrukturen entworfen, denen bestimmte gesellschaftspolitische Grundüberzeugungen zugrunde liegen. All diese theoretischen Modelle, unter denen Howards Gartenstadtkonzept vielleicht das berühmteste Beispiel darstellt126, sind durch unterschiedliche geometrische Muster zur räumlichen Strukturierung der Gemeinden geprägt, mit denen der Verstädterungsprozess bewältigt werden sollte (vgl. Weeber/ Weeber/Mürb/Wahmann 1985, S. 32ff.).127 Diese raumstrukturellen Leitvorstellungen für den Städtebau werden nach der Etablierung des Leitbildbegriffs in der Raumforschung und Raumordnung in den 1950er Jahren als Leitbilder bezeichnet und als solche diskutiert: „Der Absolvent einer deutschen Technischen Hochschule oder Universität, Fachrichtung Städtebau und Raumplanung, wird, nach den städtebaulichen Leitbildern der letzten hundert Jahre befragt, aufzählen: Gartenstadt, Charta von Athen, Aufgelockerte und Gegliederte Stadt, Autogerechte Stadt, Urbane Stadt – aufs neue urban durch Verdichtung. Das ist es, was ein Städtebaustudent zur Geschichte des modernen Städtebaus gelernt hat.“ (Boeddinghaus 1995, S. 7)
125 Diese Darstellung von Streich darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass er dennoch davon ausgegangen ist, dass es – trotz möglicher Konkurrenzen – immer ein städtebauliches Leitbild geben wird, welches die Vorherrschaft im Denken und Handeln der jeweiligen Zeit innehat (siehe weiter unten). 126 Das Gartenstadtkonzept sowie einzelne darin enthaltenen Prinzipien wie die Nachbarschaftseinheit waren bis in die Nachkriegszeit in der städtebaulichen Diskussion und in der städtebaulichen Planung wirksam. 127 Spitzer grenzt diese Art räumliche Leitbilder als Raumtypen gegenüber dem institutionellen Leitbild der Raumordnung im Sinne Dittrichs ab (vgl. Spitzer 1995, S. 15). Zudem spricht er diesbezüglich von strukturellen Leitbildern für die Stadt, welche häufig von einem zeichnerischen Entwurf geprägt werden und wiederum den späteren Programmen der Stadtentwicklung als verbalen Entwürfen gegenüberstellt werden können (vgl. ebd., S. 59).
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3 Leitbilder in den Sozialwissenschaften – die Diskursanalyse
Der zuvor erwähnte Widerspruch von Seiten der Stadtplaner, Architekten, aber auch Kommunalpolitiker gegen die Leitbilder bezog sich nicht nur auf die Verbindlichkeit bzw. Dogmatik der politisch vorgegebenen Leitbilder (der Raumordnungspolitik). Der städtebauliche Leitbilddiskurs der 1960er Jahre gestaltete sich vor allem als Ringen um die vorherrschende Grundorientierung für den Städtebau. Mitte der 1960er Jahre geriet der Gehalt des Leitbildes, das den Diskurs ebenso wie die Praxis des Städtebaus der Nachkriegszeit dominierte, unter Kritik. Das bis dahin vorherrschende Leitbild der „gegliederten und aufgelockerten Stadt“128 wurde nun verstärkt in Zweifel gezogen.129 Dabei wurde das Unbehagen der Stadtplaner und (Kommunal-)Politiker an diesem Leitbild durch die Kritik von Seiten der Soziologie unterstützt. Diese entlarvten die Vorstellungen von der gegliederten und aufgelockerten Stadt mit Nachbarschaftseinheiten sowie die darin immanente Großstadtkritik als Ideologie im Sinne unaufgedeckter gesellschaftlicher Vorurteile bzw. Gesellschaftsbilder (vgl. Bahrdt 1964 und 1967, Berndt 1968). Dem entgegengesetzt wurde das Bild einer Stadt, die gerade in ihrer Dichte die Bedürfnisse der Bevölkerung befriedigen könne.130 Damit formierte sich gegenüber dem dominanten städtebaulichen Leitbild der Nachkriegszeit das Gegenleitbild einer „Urbanität durch Dichte“, das den Städtebau der späten 1960er Jahre prägte. Mit dem veränderten Planungsverständnis in den 1970er Jahren und der Kritik an den dogmatisch vorgegebenen und allgemeingültigen Leitbildern verschwand der Leitbildbegriff weitgehend aus der Diskussion. Dem dominanten Leitbild der Urbanität durch Dichte folgte damit kein weiteres, die akademische Diskussion ebenso wie die Planungspraxis dominant prägendes Leitbild, das auf einen bildlich fassbaren Begriff hätte gebracht werden können. Zwar wurde der Leitbildbegriff in der städtebaulichen Diskussion hier und da wiederbelebt und heftig, aber verhältnismäßig fruchtlos über das Wohl und Übel von Leitbildern diskutiert (etwa bei Stracke 1979). Letztlich schien aber ein umfassendes und gar allgemeingültiges Leitbild für den Städtebau angesichts der Pluralität der gesellschaftlichen Interessen und der Komplexität der Problemlagen in den Städten nicht mehr denkbar (vgl. etwa Gerd Nieke in Stracke 1979, S. 14). Die vor allem von akademischer Seite forcierte Suche nach dem dominierenden städtebaulichen Leitbild für die späten 1980er Jahre führte immer wieder zur Beachtung ökologischer Aspekte im Städtebau, wenngleich sich ein entsprechendes übergreifendes und domi128 Die „gegliederte und aufgelockerte Stadt“ gilt als das Leitbild, das den städtebaulichen Diskurs der Nachkriegszeit dominiert und den Städtebau geprägt hat. Eine Ausarbeitung des Konzepts wurde erst 1957 mit einer gleichnamigen Veröffentlichung vorgelegt (vgl. Göderitz/Rainer/Hoffmann 1957). 129 Das Raumordnungsgesetz von 1965 hatte aus einer negativen Bewertung der Ballungsräume heraus das allgemeine städtebauliche Ziel der „Entballung“ formuliert (vgl. Boeddinghaus 1995, S. 9) und sprach von einer „planmäßig gegliederten und durch hinreichende Grünflächen aufgelockerten Besiedlung“ (nach Albers 1965, S. 14). Die politische Festlegung auf das Leitbild der gegliederten und aufgelockerten Stadt findet sich ausdrücklich auch bei Bundesbauminister Lücke: „Bei allen baulichen Maßnahmen soll dem Leitbild einer gegliederten und aufgelockerten Siedlungsstruktur entsprochen werden.“ (Lücke 1962b, S. 573) An dieser Stelle fielen also das den Diskurs dominierende städtebauliche Leitbild und das politisch vorgegebene Leitbild zusammen. Dennoch lassen sich die formale Kritik an den politisch vorgegebenen und damit dogmatischen Leitbildern und die inhaltliche Kritik an dem konkreten, gleichsam dominanten Leitbild der gegliederten und aufgelockerten Stadt unterscheiden. 130 „Nicht allein mit Licht, Luft und Sonne, nicht mit aufgelockerten und durchgrünten Städten könne den Bedürfnissen der Bevölkerung entsprochen werden. Nur in dicht gebauten Städten würden die Menschen die vielfältigen Kontakte finden, die sie suchten. (...) Nur wenn die Städte wieder in diesem Sinne [gemeint ist, die unterschiedlichen Nutzungen wieder in ein dichtes Gefüge zusammenzubringen, K.D.G.] verdichtet würden, könne sich Urbanität entfalten.“ (Boeddinghaus 1995, S. 10)
3.4 Leitbilder in der raumbezogenen Planung und Forschung
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nantes Leitbild in der Diskussion offensichtlich nicht durchsetzte. Der ökologische Städtebau bildete zwar einen wichtigen Schwerpunkt der Diskussion, wurde aber nicht als Leitbild im alten Stil verstanden (vgl. etwa Betker 1992). Gleiches gilt für das seit Mitte der 1990er Jahre diskutierte Leitbild einer nachhaltigen Stadt, das eine generelle Orientierung darstellt, ohne jedoch (den Anspruch zu haben) den Diskurs vollkommen zu dominieren (vgl. Spiekermann 1999, S. 36; Fürst/Himmelmann/Potz 1999).131 Stattdessen nimmt man eine Vielfalt von Leitbildern oder Leitvorstellungen wahr, die jedoch nicht in ein allgemeingültiges, dominantes Leitbild für den Städtebau mündet (vgl. dazu später). Mitte der 1980er Jahre, als die Diskussion um die großen und dominanten städtebaulichen Leitbilder bereits der Vergangenheit angehörte, sich die Renaissance der Leitbilder in neuer Gestalt gerade erst abzeichnete und diese wieder im raumbezogenen Diskurs auftauchten, formulierte Streich eine städtebauliche Leitbildtheorie, die letztlich einen Leitbildbegriff im Sinne der hier dargestellten dominanten Leitbilder der 1. Generation umfasst, aber bereits zu der Pluralität der Leitbilder der 2. Generation hinüberweist. In seinen „Grundzügen einer städtebaulichen Leitbildtheorie“ versucht Streich (1988), Leitbilder begrifflich zu fassen, ihre Entstehung und ihren Einfluss auf den städtebaulichen Planungsprozess zu erklären. Unter Berücksichtigung der erarbeiteten Leitbildtheorie fasst er bereits erfolgte Systematisierungsansätze zu städtebaulichen Leitbildern zusammen, um schließlich Kristallisationspunkte für mögliche zukünftige Leitbilder zu identifizieren. Mit Rückgriff auf etliche Definitionsversuche und begriffliche Explikationen zum Leitbildbegriff innerhalb der räumlichen Planung, aber auch in anderen wissenschaftlichen Disziplinen erarbeitet Streich konstituierende Begriffselemente sowie weitere Aspekte von Leitbildern (vgl. Streich 1988, S. 49f.). Zusammenfassend definiert er: „(...) (S)tädtebauliche Leitbilder (lassen sich) definieren als dominierende und übergreifende, verdichtete und bildlich faßbare Zielkonzepte, die immer auf einem gewissen kollektiven Grundkonsens beruhen und mit utopischen, manchmal auch modischen Momenten durchsetzt sind.“ (Ebd., S. 133)
Streich spricht von übergreifenden, verdichteten und bildlich fassbaren Zielkonzepten in dem Sinne, dass Leitbilder eine gewisse Anzahl von Zielen bündeln, indem sie einen „ganzheitlichen Überbau“ darstellen, der zur Orientierung für Entscheidungen dient und hinreichend konkrete Vorstellungen hervorruft (vgl. Streich 1986, S. 25).132 Zudem spricht Streich von utopischen und auch modischen Momenten der Leitbilder. Sie beinhalten modische Momente, da sie bisweilen einer Dynamik unterliegen, in der „stets etwas Neues“ gesucht wird (vgl. Streich 1988, S. 50). Die utopischen Momente sieht Streich nicht etwa darin, dass Leitbilder unrealisierbar seien, sondern darin dass sie sich zwar auf den engeren Sachbereich des Städtebaus beziehen, aber zugleich darüber hinausweisen können.133 131 Gleichwohl hat sich in der Diskussion um eine übergeordnete Stadtentwicklung die nachhaltige Entwicklung als globales Leitbild verhältnismäßig breit durchgesetzt (vgl. Charta von Aalborg 1994 und die Bedeutung von Leitbildern in Lokale Agenda 21-Prozessen weiter unten). 132 Streich unterscheidet Leitbilder von Zielen insofern, das Letztere eindeutig operationalisierbar sind (vgl. Streich 1988, S. 40). 133 Streich geht davon aus, dass auch Utopien realisierbar sein können. Er unterscheidet Leitbilder von Utopien, indem er Utopien einen „gesellschaftsreformerischen Totalansatz“ zuschreibt, während sich Leitbilder in der Regel auf einen engeren Sachbereich beziehen (vgl. Streich 1988, S. 43). Wenn Leitbilder in Verbindung zu bestimmten Gesellschaftsentwürfen stehen, erhalten sie einen utopischen Akzent.
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Schließlich versteht Streich Leitbilder nicht als von Individuen getragene, sondern von einer größeren Gruppe als erstrebenswert angesteuerte Vorstellung (vgl. ebd., S. 209). „Individuelle Konzepte einzelner Personen stellen keine Leitbilder dar; sie werden es nur dann, wenn es gelingt, einen möglichst breiten Konsens über ein solches individuell entwickeltes Konzept herzustellen.“ (Streich 1986, S. 26)
Diesen Aspekt spitzt Streich soweit zu, dass er Leitbilder nicht nur als einen Konsens einer „größeren Gruppen von Menschen“ ansieht, sondern von Leitbildern als dominierenden Ideen spricht (vgl. Streich 1986, S. 26). Das konstitutive Element besteht bei Streich darin, dass Leitbilder „dominierende Zielkonzepte“ (Streich 1988, S. 49) darstellen, d.h. dass sie andere Konzepte an Bedeutung überragen, sich diesen gegenüber durchsetzen, mithin den größten Konsens auf sich vereinen (vgl. ebd., S. 78f. und 89). Gerade dieses Dominanzkriterium erweist sich jedoch gegenüber der anders verlaufenden Entwicklung der Begriffsverwendung in den 1980er und 1990er Jahren als problematisch. Streich sieht zwar das veränderte Planungsverständnis, in dem Leitbilder nun statt durch den Staat und die Verwaltung gesetzt, stärker durch einen demokratischen Konsens zustande kommen. Er nimmt aber noch nicht wahr, dass sich damit auch die Gestalt der städtebaulichen Leitbilder grundlegend verändert hat. Sie werden nicht mehr, wie er selbst noch definiert, als dominierende, d.h. andere Konzepte an Bedeutung überragende Zielvorstellungen verstanden. Eben diesen Wandel stellen Schäfers und Köhler fast zur selben Zeit fest und gehen in ihrer Untersuchung der Leitbilder des Städtebaus deshalb von einer Vielzahl von konkurrierenden Leitbildern aus (vgl. Schäfers/Köhler 1989, S. 2; siehe auch weiter unten zu den generellen städtebaulichen Leitbildern der 2. Generation). Obwohl in dieser Hinsicht die Definition des dominanten Leitbildbegriffs von Streich bereits zu seiner Zeit überholt war, bleibt seine theoretische Arbeit die umfassendste und fundierteste Auseinandersetzung mit dem Begriff und Phänomen des Leitbildes im Städtebau. Geht man hinter die theoretische Setzung des Dominanzkriteriums auf den Gedanken zurück, dass Leitbilder einen gewissen Konsens auf sich vereinen, erweisen sich die übrigen Bestimmungen von Leitbildern sowie die Überlegungen zu ihrer Entstehung und Wirkung weiterhin als beachtenswert. So befasst sich Streich auch mit der Frage, wie Leitbilder entstehen, wie sie den Planungsprozess beeinflussen und wie – für die Sozialforschung höchst relevant – Leitbilder identifiziert werden können. Sein Modell geht davon aus, dass Leitbilder aus einem gegenüber anderen konkurrierenden Konzepten sich durchsetzenden Konsens zur Lösung bestimmter Problem- und Konfliktsituationen entstehen. Aus einem Entstehungsimpuls durch eine bestimmte Problemsituation wird die Suche nach einem Lösungskonzept angestoßen, die in Bezug auf ein bestimmtes Konzept durch Konsensbildung zu einem Leitbild führt. In diesem Modell wird sichtbar, was das Wesen von Leitbildern für Streich ausmacht: Nicht das Konzept an sich, sondern der Konsens darüber macht ein Leitbild zu einem solchen. Leitbilder bezeichnen damit eine bestimmte kollektiv geteilte Bewusstseinslage, die im städtebaulichen Handeln zum Ausdruck kommt.134 Und daraus leitet Streich schließlich – und hier wird der grundlegende Unterschied zu den dogmatischen Leitbildern der Raumordnungspolitik sichtbar – ab, dass Leitbilder nicht vorgeschrieben werden können: „Im übrigen muß betont werden, daß Leitbilder nicht oktroyierbar sind.“ (Streich 1988, S. 82) 134 Damit schwebt Streich ein impliziter bzw. echter Leitbildbegriff vor.
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Aus diesem Verständnis heraus ergibt sich schließlich seine Darstellung zur Wirkung von Leitbildern auf den Planungsprozess. Streich zeichnet nach, dass Leitbilder den Planungsprozess in seinen unterschiedlichen Phasen beeinflussen. So hängen Situationsanalyse und -bewertung vom Leitbild ab, die Planungsziele werden aus dem Leitbild abgeleitet und mögliche Planungsalternativen durch dieses selektiert. In der Wirkungskontrolle nach der Planverwirklichung bildet das Leitbild schließlich erneut das übergeordnete Referenzsystem zur Prüfung der Zielerreichung (vgl. ebd., S. 96ff.). Für eine wissenschaftliche Handhabung erörtert Streich Leitbildindikatoren, mit deren Hilfe aus den vorhandenen Ziel- und Modellvorstellungen die Leitbilder identifiziert werden können (vgl. ebd., S. 89). Letztlich konzentriert sich Streich auf die Dominanz eines Leitbildes gegenüber anderen städtebaulichen Konzepten als wichtigsten Indikator. Das Dominanzkriterium operationalisiert er in zweierlei Weise: entweder über die Häufigkeit der tatsächlichen Realisierung des städtebaulichen Leitbildes oder über die Häufigkeit seiner Bezugnahme in der Literatur (vgl. ebd., S. 89ff.). Dass mit dieser Operationalisierung letztlich zwei grundverschiedene Aspekte angesprochen sind, zum einen die realisierte Stadtgestalt und zum anderen die den Diskurs prägenden Grundorientierungen, wird von ihm nicht reflektiert.135 Streich verweist darauf, dass diese Indikatoren lediglich auf historische Leitbilder analytisch-deskriptiv angewendet werden können. Welches Konzept sich in Zukunft als dominantes Leitbild durchsetzen kann, ist damit nicht prognostizierbar. Auf der Grundlage der dargestellten Leitbildtheorie untersucht Streich schließlich bereits erfolgte Systematisierungsansätze zur Darstellung der städtebaulichen Leitbilder der Bundesrepublik Deutschland (vgl. ebd., S. 105ff.). Als dominierende städtebauliche Leitbilder macht er die gegliederte und aufgelockerte Stadt (ca. 1945 bis 1960), Urbanität durch Dichte (ca. 1960 bis 1973) und Stadterneuerung und Stadtbildpflege (1973 bis 1985) aus. Damit identifiziert Streich auch für die hinsichtlich des Planungsdiskurses „leitbildlose“ Zeit der 1970er und Anfang der 1980er Jahre ein städtebauliches Leitbild.136 Das macht zweierlei deutlich: Auch wenn in der städtebaulichen Diskussion Leitbilder im Sinne von generellen, übergreifenden und dominanten Zielvorstellungen zu dieser Zeit kaum zur Sprache gekommen sind, kann man unter Umständen dennoch für die städtebauliche Praxis retrospektiv Grundorientierungen identifizieren, welche die Planungspraxis geprägt haben. Das macht überdies deutlich, dass die von Streich identifizierten Leitbilder nicht einfach die in der Diskussion propagierten städtebaulichen Modelle und Konzepte bezeichnen, sondern eine sozialwissenschaftliche Konstruktion bilden, die den Grundkonsens über die Gestaltung der Städte in ihrem Wandel zu identifizieren versucht.
135 Dass das Leitbild als gedanklicher Entwurf bzw. diskutierte Modellvorstellung in der Regel anders ausfällt als die letztlich realisierte Stadtgestalt, hatten bereits Weeber/Weeber/Mürb/Wahmann (1985) deutlich gemacht: „Zwischen der Entstehung des Leitbilds und realen Auswirkungen in der gebauten (und natürlichen) Umwelt liegt noch das Stadium der Planung. Es stellt ebenso wie die Umsetzung in die Realität einen Auswahl- und Ordnungsprozeß dar, in dem vielerlei Kräfte wirksam sind.“ (Ebd., S. 170) Zugespitzt stellt Thalgott, Stadtbaurätin in München, fest: „Wir wissen auch, daß die Leitbilder, die nicht gebaut wurden, die Utopien, die nicht realisiert wurden, immer am einflußreichsten waren.“ (Thalgott in Birk u.a. 1998, S. 89) 136 Das letzte Leitbild unterscheidet sich jedoch von den vorangegangen Leitbildern dahingehend deutlich, dass damit keine klaren raumstrukturellen Modell- oder Konzeptvorstellungen verbunden waren, die zudem deutlich weniger bildlich zu fassen waren (vgl. dazu auch Streich 1988, S. 124f.).
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3.4.2.3 Die Vielfalt der generellen Leitbilder der 2. Generation Spätestens in den 1970er Jahren wird deutlich, dass ein allgemeingültiges Leitbild für den Städtebau wie für die räumliche Entwicklung allgemein nicht mehr zur Verfügung steht: „In der gegenwärtigen Zeit der neuen Unübersichtlichkeit, die auf keinem Gebiet von Kultur, Gesellschaft und Wirtschaft irgendwelche verbindlichen, mehrheitsfähigen Leitbilder kennt, kann auch der Städtebau keine verbindlichen Leitbilder mehr entwickeln – dazu ist er viel zu stark gesellschaftlich eingebunden.“ (Sieverts 1998, S. 35)
Mit der Erkenntnis, dass es das eine übergreifende und konsensuell getragene Leitbild im Städtebau gar nicht mehr gibt, verschwindet nicht etwa der Leitbildbegriff endgültig aus der Diskussion. Nach einer Periode, in der Leitbilder tatsächlich nicht thematisiert wurden, wird der Begriff in den 1980er Jahren wieder aufgenommen und nimmt wiederum eine neue Gestalt an. Leitbilder werden nun ausdrücklich im Plural gedacht. Zwar hat schon immer eine Vielfalt von Leitvorstellungen, um hier den Begriff des Leitbildes zu vermeiden, existiert. Aber in der Begriffsverwendung seit den 1980er Jahren wird diese Vielfalt und Heterogenität der nebeneinander existierenden gegebenenfalls auch konkurrierenden Vorstellungen bewusst wahrgenommen und in das Begriffsverständnis von Leitbildern aufgenommen. Leitbild ist jetzt nicht mehr das homogene geistige Formprinzip einer Epoche, nicht die eine politische Vorgabe und auch nicht nur das jeweils dominierende städtebauliche Konzept. Leitbilder sind die allgemeinen und komplexen Vorstellungen, die wenigstens einen gewissen Konsens auf sich vereinen und auf diese Weise das kollektive Denken und Handeln im Handlungsfeld prägen. In diesem Sinne soll von generellen (städtebaulichen) Leitbildern der 2. Generation gesprochen werden.137 Dieses Begriffsverständnis erweist sich häufig als Kategorie einer wissenschaftlichen Beschäftigung mit im Planungsdiskurs kursierenden allgemeinen Zielvorstellungen zur vornehmlich raumstrukturellen, aber auch umfassenden Entwicklung der Städte. Einen entsprechenden neuen Zugang zu städtebaulichen Leitbildern schaffen Weeber, Weeber, Mürb und Wahmann (1985). Der von ihnen verwendete Leitbildbegriff bezeichnet die gegenwärtigen Vorstellungen über eine erwünschte Stadtgestalt und städtisches Leben, die von ihnen untersucht werden: „Städtebauliche Leitbilder sind komplexe, nicht unbedingt rational begründete Vorstellungen einer wünschbaren Gestalt der Stadt und des Lebens in der Stadt. Sie sind eng verbunden mit städtebaulichen Utopien, Idealen, Modellen, Zielsystemen, Lehrmeinungen und Theorien.“ (Ebd., S. 4)
Leitbilder entstehen, wo soziale Gruppen eine gemeinsame Vorstellung von der Stadt miteinander teilen (vgl. ebd., S. 6). Zwar sprechen auch die Autoren davon, dass sozial bedeutsame Leitbilder sich „in der Vorstellungswelt einer Mehrheit von Menschen“ (ebd.) herausbilden. Dennoch unterscheidet sich ihr Leitbildverständnis von den dominanten Leitbildern im Sinne von Streich, da sie für die Gegenwart nicht ein einzelnes dominantes Leitbild 137 Prinzipiell sind solche generellen Leitbilder auch in anderen Feldern der raumbezogenen Planung und Forschung anzutreffen. Allerdings ist im Städtebau hierfür der Leitbildbegriff und die damit verbundene Konnotation verhältnismäßig verbreitet gewesen (vgl. Schneider 1997, S. 53f.).
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erwarten und beschreiben, sondern unterschiedliche nebeneinander existierende Leitbilder. Vor diesem Hintergrund können die Leitbilder dieses Konzepts der 2. Generation zugerechnet werden, wobei es sich gleichwohl um generelle Vorstellungen über die zudem schwerpunktmäßig raumstrukturelle Gestaltung von Stadt an sich handelt. Leitbilder werden hier als handlungsleitend gekennzeichnet. Als Vorstellungen einer wünschbaren Stadtgestalt prägen Leitbilder die Orientierungen, Deutungen, Wertungen und Entscheidungen in komplexen Situationen, in den Worten der Autoren: Sie bilden hierfür „Filter“ (ebd., S. 6). Da Leitbilder als nicht unbedingt rational begründbar, logisch ableitbar und systematisch aufgebaut verstanden werden, werden sie von Planungszielen bzw. Zielsystemen abgegrenzt. Letztere sind eingebunden in einen Ziel-Mittel-Zusammenhang und damit instrumentell besetzt. Leitbilder werden stattdessen außerhalb von Zielsystemen verortet (vgl. ebd., S. 7f.). Leitbilder können allerdings Ziele integrieren und gegebenenfalls auch filtern, indem sie das Spektrum möglicher Zielsetzungen eingrenzen (vgl. ebd., S. 9f.). Dieses eigenständige Leitbildkonzept wurde genutzt, um die städtebaulichen Leitbilder in Flächennutzungsplänen zu untersuchen (vgl. ebd., S. 14). Gesucht wurde nicht nach ausdrücklich formulierten und in sich geschlossenen Leitbildern. Stattdessen wurden aus dem Material Leitvorstellungen ermittelt, die vor einem einheitlichen gedanklichen Hintergrund zu umfassenden Leitbildern zusammengefasst wurden (vgl. ebd., S. 15). Damit bilden die von ihnen untersuchten Leitbilder ein wissenschaftliches Konstrukt, welches die das Denken und Handeln in der Planung prägenden Wunschvorstellungen erfassen soll. Eine nähere methodische Beschreibung, wie die Bündelung der Vorstellungen zu Leitbildern vorgenommen wurde, ist nicht gegeben worden, sodass dieses Leitbildkonzept, obwohl es einem Forschungsvorhaben zur Analyse von impliziten städtebaulichen Leitbildern entspringt, keinen weiteren Beitrag zu einer methodischen Entwicklung einer Leitbildanalyse leistet. Ebenfalls zu einer Wiederaufnahme des Leitbildbegriffs in der sozialwissenschaftlichen Beschäftigung mit dem Städtebau haben Schäfers und Köhler mit einer Studie über Leitbilder der Stadtentwicklung beigetragen (vgl. Schäfers/Köhler 1989).138 Die Autoren heben ihren Leitbildbegriff deutlich von dem Verständnis der 1960er und 1970er Jahre ab. Der grundlegende Unterschied, den die Autoren ausmachen, liegt in der verlorengegangenen Dominanz bzw. Allgemeingültigkeit einzelner Leitbilder und damit zugleich dem Abschied von der Dogmatik der frühen Leitbilder. Stattdessen existiert eine Vielfalt konkurrierender Leitbilder (vgl. Schäfers/Köhler 1989, S. 2). Darüber hinaus stellen die Autoren heraus, dass sie Leitbilder statt als ausformulierte Zielkataloge viel eher als sozial geteilte Dispositionen verstehen. Damit arbeiten die Autoren wie Streich und Weeber u.a. zunächst mit einem impliziten Leitbildbegriff. Entsprechend definieren sie Leitbilder wie folgt: „Unter ‚Leitbild der Stadtentwicklung‘ wird hier die Gesamtheit aller Vorstellungen verstanden, die sich (bei einem zu bestimmenden Personenkreis) auf die jetzige und künftige Gestaltung und Entwicklung von Städten – insbesondere von Großstädten – bezieht. Leitbilder sind heute mehr an Personen und/oder Gruppen gebundene Vorstellungen, weniger anonyme Zielformulierungen. Nur einzelne Elemente dieser Leitbilder sind ausformuliert und ein nicht geringer Teil hat kaum die Schwelle bewußter Vorstellungen erreicht.“ (Ebd., S. 4) 138 Im Gegensatz zur Arbeit von Weeber u.a. setzt sich diese Studie mit dem deutlich veränderten Leitbildbegriff ausdrücklich auseinander und stellt darüber hinaus ihr methodisches Vorgehen transparent dar.
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Aufgabe der Studie war es, die gegenwärtigen Leitbilder der Akteure der Stadtentwicklung im dargestellten Sinne zu identifizieren (vgl. ebd.). Dafür wurden aus zuvor durchgeführten leitfadenorientierten Expertengesprächen Aussagenkataloge zu einzelnen Problemfeldern bzw. Themenbereichen zusammengestellt und – an die Delphimethode angelehnt – in einem rekursiven Verfahren einem größeren Expertenkreis mehrfach zur Einschätzung vorgelegt (zur Darstellung der Methodik vgl. auch Köhler 1992). Ergebnis der zweistufigen Delphibefragung waren Mehrheitsvoten, die eine „begründete Gesamtschau der Problemlagen der Stadtentwicklungsplanung“ (Schäfers/Köhler 1989, S. 29) ergeben sollten. Damit wird aber eine deutliche Schwäche der Studie sichtbar: Durch das zugrunde gelegte Verständnis von Leitbildern als „Gesamtheit aller Vorstellungen“ zur Gestaltung und Entwicklung von Städten entsteht eine verhältnismäßig unverbundene Aufzählung von erhobenen Einstellungen zu diversen Planungsproblemen und -schwerpunkten wie bspw. Freiflächen, Verkehr, Stadtbild oder Image (vgl. ebd., S. 56ff.). Letztlich werden damit durch Mehrheitsvoten qualifizierte Einzelaussagen gesammelt, die aber in keinen inneren Zusammenhang gebracht werden. Damit stellt sich die Frage, warum hier überhaupt von Leitbildern gesprochen wird und nicht ebenso von Zielen, Zielsetzungen oder neutral Vorstellungen die Rede hätte sein können. Die Studie gibt lediglich eine – wie die Autoren selbst sagen – Momentaufnahme zu den aktuell wahrgenommenen Problemlagen der Stadtentwicklung und ihrer Bewertung, keine Darstellung der komplexen Vorstellungen von der angestrebten Zukunft in der Stadtentwicklung. Die Fokussierung auf mehrheitsfähige Einschätzungen widerspricht zudem dem ausdrücklich formulierten Ziel der Studie, die Vielfalt der Vorstellungen zur Gestaltung und Entwicklung von Städten darstellen zu wollen. Dies bleiben jedoch nicht die einzigen Kritikpunkte, die in methodischer Hinsicht gegenüber dem vorliegenden Verfahren der Leitbildanalyse zu äußern sind. Formulierte Aufgabenstellung der Studie war es, die gegenwärtigen Leitbilder der Stadtentwicklung zu identifizieren. Erstaunlich viel Aufmerksamkeit wurde stattdessen zunächst der retrospektiven Analyse der Entwicklung der Aufgabenfelder seit 1945 (vgl. ebd., S. 33ff.) gewidmet. Die Einschätzung der Experten innerhalb des Delphis bezog sich zudem vor allem auf gegenwärtige Planungsprobleme. Eine solche Defizitperspektive wird aber dem Zukunftsbezug der Leitbilder nicht genügend gerecht. Leitbilder als Vorstellungen auch von der künftigen Gestaltung und Entwicklung von Städten waren somit erst gar nicht unmittelbar Gegenstand der Expertenbefragung. Zudem lässt die Anlage der Befragung eine Differenzierung zwischen Gegenwart und Zukunft sowie zwischen Wunsch- und Machbarkeitsvorstellungen vermissen. Neben der rückgekoppelten Abfrage von Experteneinschätzungen zu unterschiedlichen Themenfeldern der Stadtentwicklung, die zur Identifikation der aktuellen Leitbilder führen sollte, wurde der Leitbildgedanke an sich selbst zum Gegenstand der Expertengespräche gemacht. Zu diesem Zweck wurde gefragt, ob ein „formales Leitbild“ der Stadtentwicklung wünschenswert sei und ob dieses einen normativen Charakter haben sollte. Schließlich wurde auch nach einer Wunschstadt bzw. einer Stadtutopie gefragt (vgl. Schäfers/Köhler 1989, S. 18).139 In die Ergebnisdarstellung sind diesbezüglich letztlich nur die aus den Ge139 Damit wird deutlich, dass die Autoren selbst mit unterschiedlichen Leitbildbegriffen operieren. Der dieser Studie zugrunde gelegte Leitbildbegriff bezieht sich sehr vage auf die Gesamtheit der vorhandenen Vorstellungen zur Stadtentwicklung. In den Expertengesprächen und der Delphi-Befragung werden die Experten selbst nach ihrer Einstellung zu Leitbildern befragt, wobei das mit den Fragen transportierte Verständnis zwischen „formalem Leitbild“, Wunschstadt und den namentlich genannten historischen Leitbildern (wie der gegliederten und aufgelockerten Stadt) sowie vergleichbaren Maximen für eine künftige Stadtentwick-
3.4 Leitbilder in der raumbezogenen Planung und Forschung
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sprächen in die Delphibefragung eingeflossenen Aussagen und ihre Expertenvoten aufgenommen worden. Die Studie kommt resümierend zu dem Schluss, dass unter den Experten nach wie vor Skepsis gegenüber allgemeingültigen Leitbildern herrscht. Zugleich sind sich die Experten wenigstens zum Teil darüber bewusst, dass es Vorstellungen „vom Ganzen der Stadt“ bedarf, um über Einzelvorhaben hinaus handeln zu können. Diese Leitbilder sind zeitlich begrenzt gültig und werden auf die jeweilige Stadt und ihre Problemlage angewendet. Ein allgemeingültiges Leitbild mit „klaren Zielvorgaben“, aus denen konkrete Planungsschritte abgeleitet werden könnten, existiert hingegen nicht mehr (vgl. Köhler/Schäfers 1986, S. 34 und 39; Schäfers/Köhler 1989, S. 111). Mit einer Befragung unter den Stadtplanern von rund 100 deutschen Mittel- und Großstädten legt Spiekermann eine gegenüber den zuvor genannten Studien aktuellere Untersuchung zur Bedeutung räumlicher Leitbilder der Stadtplanungspraxis in Deutschland vor. Gefragt wurde nach den Leitbildern der räumlichen Stadtentwicklung und ihrem Niederschlag in Planwerken der Stadtentwicklung sowie nach der Einstellung der Stadtplaner zu Leitbildern. Städtebauliche Leitbilder werden dabei knapp als Aussagen zu raumstrukturellen Zielen der Stadt definiert (vgl. Spiekermann 1999, S. 5; ders. 2000, S. 290). Zwar scheint die Untersuchung damit ein repräsentatives Meinungsbild zur Bedeutung und Wirksamkeit von Leitbildern in der Stadtplanung zu geben. Ein genauerer Blick in die Anlage der Befragung deckt demgegenüber jedoch erhebliche Mängel hinsichtlich ihrer Validität auf. Gegenüber den Befragten wird der Leitbildbegriff nicht weiter erläutert. Zu Beginn des Fragebogens und in der ersten Frage zu den Leitbildern heißt es lediglich: „Im ersten Teil des Fragebogens möchten wir die Erfahrungen der Planungspraxis Ihrer Stadt mit räumlichen Leitbildern erfragen. (...) Gibt es für Ihre Stadt ein zur Zeit relevantes Leitbild für die räumliche Stadtstruktur?“ (Spiekermann 1999, S. 56). Damit unterstellt die Befragung ein konsensuelles Begriffsverständnis zu räumlichen Leitbildern, das angesichts der bis hierhin dargestellten Leitbilddiskussion im Städtebau nicht voraussetzbar ist. Die entgegen der Erwartung der Forscher heterogenen und z.T. unklaren Aussagen zu den jeweiligen Leitbildern sind entsprechend als Hinweis darauf zu lesen, dass hier tatsächlich nur sehr vage und vor allem unterschiedliche Verständnisse von räumlichen Leitbildern zum Tragen kamen.140 Unklar bleibt vor allem auch, ob es sich bei den untersuchten Leitbildern um formelle, schriftlich niedergelegte Leitbilder oder um die impliziten Vorstellungen hinsichtlich der angestrebten Stadtgestalt handelt. Offenbar geht es hier, im Gegensatz zu den beiden vorangestellten Studien um explizit formulierte städtebauliche Leitbilder, sonst könnte nicht so detailliert nach ihrem Entstehungszeitpunkt, darin enthaltenen umweltbezogenen Aussagen und danach gefragt werden, ob es in bestimmte Planwerke aufgenommen worden lung changiert. Die Begriffsverwendung rekurriert damit sowohl auf implizite als auch auf explizite Leitbilder (vgl. Kap. 3.4.5). 140 Aufgefordert, das aktuelle Leitbild zu benennen und seine Hauptaussagen zu den räumlichen Strukturen kurz zu skizzieren, gaben die Befragten offensichtlich andere Antworten, als die Forschungsgruppe erwartet hatte: „Allerdings wurden die Antworten der ursprünglichen Erwartung, hier bekannte und eindeutige räumliche Leitbilder wiederzufinden, nicht gerecht. Vielmehr wurde eine große Vielzahl mehr oder weniger präziser räumlicher Ordnungsvorstellungen oder auch nichträumlicher Ziele der Stadtentwicklung benannt.“ (Spiekermann 2000, S. 21) Dass an dieser Stelle möglicherweise die fehlende Übereinkunft hinsichtlich des untersuchten Gegenstandes zum Ausdruck kommt, wurde in der Auswertung der Befragung erst gar nicht in Erwägung gezogen. Worüber denn eigentlich gesprochen würde, wenn von räumlichen Leitbildern die Rede ist, darin schien aber unter den Befragten offenbar gar nicht Klarheit und Einigkeit zu herrschen.
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ist. Unter Validitätskriterien ist diese Befragung damit als mangelhaft zu bewerten. Setzt man sich über diese konzeptionellen Mängel hinweg, geben die Ergebnisse der Befragung wenigstens in der Tendenz Aufschluss über die Bedeutung von Leitbildern im Sinne von übergreifenden, raumstrukturellen Zielen in der gegenwärtigen Stadtentwicklung.141 Leitbilder sind nicht nur Gegenstand einer akademischen Debatte zum Städtebau und zur Stadtentwicklung, sondern spielen seit dem Ende der 1980er Jahre in der Planungspraxis (wieder) eine zunehmende Rolle. In 70% der Städte existieren nach Angaben der Stadtplaner zum Erhebungszeitpunkt 1996 räumliche Leitbilder. Betrachtet man die Entstehungsjahre der Leitbilder so zeigt sich seit Mitte der 1980er Jahre bis zum Erhebungszeitraum eine deutliche Konjunktur (vgl. ebd., S. 20). Trotz der ambivalenten Einschätzung hinsichtlich des Einflusses der vorhandenen Leitbilder auf die Entwicklung der Städte, kommen die Stadtplaner zu dem Schluss, dass Leitbilder zukünftig für die Stadtentwicklung relevant sind. Gefragt nach einer abschließenden Wertung hinsichtlich der Bedeutung von Leitbildern für die gegenwärtige Stadtplanung, räumen die Stadtplaner den Leitbildern diese mehrheitlich eine ein. Uneinigkeit herrscht jedoch in der Frage, ob Leitbilder dabei als Vorgabe für die Planerstellung direkt zu nutzen sind oder lediglich eine Hilfe im Diskussions-, Zielfindungs- und Entscheidungsprozess bieten (vgl. ebd., S. 36 und 57). Verständigung über (zukünftige) Entwicklungslinien im Städtebau und in der Raumentwicklung allgemein findet gegenwärtig also nicht nur im Mikrobereich einzelner Städte oder im Mesobereich von Regionen statt, sondern bleibt weiterhin auch Gegenstand von allgemeinen fachlichen und öffentlichen Diskursen. Wenngleich sich die Einsicht durchgesetzt hat, dass angesichts gesellschaftlicher Pluralisierungstendenzen auch kein allgemeingültiges Leitbild der Stadt oder des Raumes an sich existieren kann, so bleiben doch verbalisierte praktizierte wie potenzielle Leitbilder im Sinne von generellen Vorstellungen einer zukünftig erwünschten räumlichen Gestalt und Entwicklung wichtiges Verständigungsmedium in einer verknüpften fachlichen, politischen und öffentlichen Debatte über Stadt, Region oder den Raum an sich. Den Sozialwissenschaften kommt darin die wichtige Rolle zu, vorhandene Leitbilder zu identifizieren, deren Implikationen zu analysieren, zu kritisieren und diese sowie alternative (potenzielle) Leitbilder zur Diskussion zu stellen (vgl. dazu Kap. 3.4.4). 3.4.3 Spezifische Leitbilder Eine gegenüber den generellen und zudem schwerpunktmäßig raumstrukturellen Leitbildern der 1. Generation gänzlich andere Gestalt haben die spezifischen Leitbilder (der 2. Generation) angenommen, wie sie seit den 1980er Jahren formuliert werden. Sie sind (zunächst) regions- oder stadtspezifische Leitbilder, die für die sektorale wie auch übergreifende, nicht nur raumstrukturelle Entwicklung einer bestimmten Region oder Stadt als Orientierung formuliert werden. Sowohl auf regionaler als auch auf kommunaler Ebene bilden diese Leitbilder ein Instrument der kooperativen Zielfindung und der Verständigung in Planungsprozessen. Mit dem Raumordnungsgesetz von 1997 sind Leitbilder der räumlichen 141 Während Köhler und Schäfers den engeren raumstrukturellen Rahmen des Städtebaus verlassen und nach Leitbildern in der Stadtentwicklung fragen, sich damit zugleich mit Aspekten wie Stadtimage u.Ä. befassen, konzentriert sich Spiekermann wieder auf die raumstrukturellen Aspekte der Stadtentwicklung und damit den Städtebau im engeren Sinne.
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Entwicklung auch für die Bundesraumordnung wieder vorgesehen und zwar als „gemeinsame Strategie für die Raumordnungs- und Raumentwicklungspolitik von Bund und Ländern“ (vgl. MKRO 2006, S. 30). Die neuen Leitbilder der Raumentwicklung in Deutschland erfüllen diesen gesetzlichen Auftrag (vgl. BMVBS 2006). Die Handlungsfelder, für die solcherart Leitbilder entwickelt werden, gehen weit auseinander. Leitbilder können sich vornehmlich auf die Entwicklung der Raumstruktur, auf die Wirtschaftsförderung, die Verwaltungsmodernisierung oder den Naturschutz bzw. die Landschaftsplanung beziehen. Sie können damit etwa als Verkehrsleitbilder, Cityleitbilder, Tourismusleitbilder, Verwaltungsleitbilder oder naturschutzfachliche Leitbilder jeweils einen spezifischen Leistungsbereich bzw. ein abgrenzbares Handlungsfeld eines Raumes betreffen. Oder sie bilden ein Instrument zur übergreifenden Stadt- bzw. Regionalplanung und betreffen dann die künftige Gesamtentwicklung des jeweiligen Bezugsraumes, wie es Funke (1997) für die Stadtkonzeption oder Knieling (2000) für das Regionalmanagement beschreiben. So wurde beispielsweise für die Bodenseeregion gleich zweimal – bereits Anfang der 1980er und Anfang der 1990er Jahre – an einem gemeinsamen Leitbild zur Bestimmung der längerfristigen Entwicklungsperspektive und als Grundlage für die regionale Zusammenarbeit gearbeitet (vgl. Mäding 1984, Partzsch 1984, IBK 1995). Städte und Gemeinden wie Wolfsburg, Passau, Köln, Bern oder Berlin haben sich in unterschiedlichen Verfahren und mit unterschiedlichem Ergebnis einem Leitbildprozess unterzogen (vgl. Kahlenborn u.a. 1995, Schweizerische Vereinigung für Landesplanung 1995, Guthardt 1997, Mandelartz u.a. 1999, www.stadt-koeln.de/leitbild). Leitbilder können auch – wie in Österreich üblich – ein Kernelement eines Lokale Agenda 21-Prozesses abgeben (vgl. www.lokaleagenda21.at; auch Häusler 2002). Besonders für polyzentrische, aber auch monozentrische Stadtregionen wird der Leitbildprozess zum Ausgangspunkt einer stadtregionalen Kooperation und Grundlage für ein gemeinsames Entwicklungskonzept genutzt (vgl. dazu Fakultät Raumplanung der Universität Düsseldorf 2002; mehrere Beispiele in Knieling 2000; auch Zweckverband Großraum Braunschweig 2004). In jedem Fall stellen Leitbilder „Projektionen in die Zukunft“ (vgl. Becker 1998a, S. 124) dar, einen abstrakten Soll-Zustand, der angibt, was längerfristig angestrebt und als umsetzbar bzw. erreichbar angesehen wird (vgl. Knieling 2000, S. 214). „Der Terminus ‚Leitbild‘ wird mit einer gewissen Präferenz überall dort verwendet, wo es darum geht, einen erwünschten künftigen Zustand als anzustrebendes Ziel vorzugeben. Ein entworfener, konzeptionell geprägter Sollzustand wird als Zielvorgabe bestimmt, wobei vorausgesetzt wird, daß das Ziel erreichbar ist.“ (Lendi 1995, S. 624)
Angesichts zunehmender Konkurrenz und knapper werdender öffentlicher Mittel müssen Gemeinden und Regionen ihr Profil schärfen und individuelle Entwicklungsperspektiven für die Zukunft entwerfen. Nur über eine klare Vorstellung von der anzustrebenden Entwicklung finden einzelne Entscheidungen und Maßnahmen einen inneren Zusammenhang (vgl. Mandelartz u.a. 1999, S. 27). Leitbilder stellen dabei „eine Navigationshilfe – eine Art Polarstern – auf der Fahrt in die Zukunft“ (Funke 1997, S. 40) dar. In der Stadt- und Regionalentwicklung tragen Leitbilder dazu bei, den Einzelmaßnahmen und -entscheidungen eine gemeinsame Zielrichtung und Zukunftsperspektive zu geben. Als spezifische Leitbilder der 2. Generation werden diese jedoch nicht dogmatisch vorgegeben, sondern im kommunikativen und auf Kooperation der Akteure setzenden offenen Planungsprozess konsensual entworfen und tragen so zur Koordination des gemeinsamen
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Handelns bei (vgl. Knieling 2000, S. 215 und 219). Dementsprechend stellt Becker resümierend fest, dass Leitbilder im Laufe der Jahrzehnte ihren autoritären Charakter verloren haben. Sie umfassen nun vielmehr in kooperativen und auf Konsens ausgerichteten Prozessen formulierte Zielvorstellungen und Handlungsprinzipien (vgl. Becker 1998b, S. 456). „Der Weg vom dominanten städtebaulichen Leitbild der Aufbauzeit zu den übergreifenden Leitbildern der Stadtentwicklung von heute läßt sich charakterisieren als Wandel vom autoritär-normativ vorgegebenen zum konsensorientierten und kooperativ formulierten Leitbild.“ (Becker 1998a, S. 128)
Leitbilder, genauer Leitbildprozesse bilden nun ein Instrument der kooperativ angelegten, strategischen Stadt- bzw. Regionalplanung.142 Damit stellen sie ein wichtiges Element bzw. normatives Fundament für unterschiedliche Konzepte wie Stadtmarketing, Stadtmanagement oder Stadtkonzeptionen, für Regionalmarketing, Regionalmanagement oder Regionale Entwicklungskonzepte dar. Leitbild(prozesse) haben darin die Aufgabe, einen kooperativen regionalen oder kommunalen Entwicklungsprozess zu befördern, insbesondere zur konsensualen Zielfindung beizutragen. In einem umfassenden Planungs- bzw. Entwicklungsprozess wird dabei in der Regel auf einer Situationsanalyse (häufig in Form einer Stärken-Schwächen-Analyse) aufbauend in einem nicht formalisierten Verfahren ein Leitbild kooperativ entworfen. Auf dieser Grundlage können konkrete Teilziele, Strategien und Maßnahmen geplant und durchgeführt werden. In diesem Sinne entwirft Funke (1997) ein umfassendes Modell zur Erstellung einer Stadtkonzeption, die strategisch geplant wird. Analog zum Managementmodell mit den Stufen des normativen, strategischen und operativen (Stadt-)Managements wird das Stadtleitbild auf der Ebene des normativen Managements verortet. Entsprechend bietet das Stadtleitbild die normative Grundlage, die Grundorientierung zur Ausarbeitung einer umfassenden Stadtkonzeption. Gleiches gilt für das Stadtmarketing als Teil der Stadtkonzeption, das sich mit den Beziehungen der Stadt zu ihren Partnern und Zielgruppen befasst. Gleichermaßen ordnet Knieling Leitbildentwicklungsprozesse als Verfahrensbaustein in ein umfassend theoretisch fundiertes Konzept des Regionalmanagements ein (vgl. Knieling 2000, S. 39ff.). Letzteres verbindet unterschiedliche theoretische Konzepte wie die strategische Planung, die Selbststeuerung durch Kooperation, regionale Netzwerke und die Aktivierung endogener Potenziale. Im Rahmen der strategischen Planung lässt sich die Leitbilderstellung zwischen der Situationsanalyse und der Suche nach geeigneten Strategien und Maßnahmen einordnen und gibt die konsensualen Zielperspektiven für die Erarbeitung einer Konzeption vor. Das auf Dialog, Diskurs und Verhandlung abzielende Verfahrensprinzip der Kooperation, das zugleich auf Selbststeuerung statt staatlicher Steuerung setzt, gibt den Leitbildprozessen ihr besonderes Profil als Instrument einer kooperativen Zielfindung. In der Herausbildung regionaler Netzwerke ergibt sich ein Organisationsmuster bzw. Koordinationsmechanismus für die Akteure, in dem sich die unterschiedlichen Deutungsmuster aneinander annähern können, sodass schließlich auch ein (implizites) Leitbild als geteilte Zukunftsperspektive entstehen kann. Regionale Leitbildprozesse sollen schließlich zur Integration möglichst vieler Akteure in den regionalen Entwicklungsprozess und damit zur Aktivierung endogener Potenziale beitragen. Sie werden dementsprechend partizipativ angelegt. 142 Zu den neuen Leitbilder der Raumentwicklung in Deutschland siehe weiter unten.
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Von den generellen Leitbildern der 1. Generation heben sich die spezifischen Leitbilder der 2. Generation damit neben dem veränderten Maßstab und der Bezugnahme auf einen spezifischen Referenzraum vor allem durch ihren Prozesscharakter sowie ihre Beteiligungsorientierung ab. Leitbilder entstehen in einem kooperativen Leitbildprozess, der seinerseits eingebettet ist in einen offenen Planungsprozess (vgl. Schnell/Walser 1995, Rauschelbach 1997, Rehle 1997, Knieling 2000). In Leitbildprozessen wird zudem besonderer Wert darauf gelegt, möglichst viele Betroffene zu Beteiligten zu machen oder doch wenigstens alle wesentlichen gesellschaftlichen Gruppen am Leitbildentwicklungsprozess zu beteiligen (vgl. Zepf 1991, S. 12; Funke 1997, S. 40; Mandelartz u.a. 1999). Dabei sind weder das Verfahren der Leitbilderstellung noch die Gestalt und der Aufbau des Leitbildes als Produkt konventionalisiert. Innerhalb des Leitbildprozesses können unterschiedliche Verfahrensbausteine und Methoden eingesetzt werden. Konkrete Beispiele für Beteiligungs- und Kooperationsverfahren, die im Rahmen einer Leitbildentwicklung zur Anwendung kommen (können), liefern Zepf (1991), Sinning (1997) oder die Fakultät Raumplanung der Universität Düsseldorf (2002). Beispielsweise wurde der konfliktreiche Leitbildprozess der Hansestadt Lübeck in einem Prozess- und einem Evaluationsbericht ausführlich dokumentiert (vgl. www.leitbild-luebeck.de). Umfassend dokumentiert wurde auch der Zukunftsdialog Stadt+Um+Land 2030 der Region Braunschweig (vgl. www.zgb.de/ barrierefrei/content/veroeffentlichungen/veroeffentlichungen.php). Weder auf regionaler noch auf kommunaler Ebene haben die Leitbilder (als Produkte des Leitbildentwicklungsprozesses) eine einheitliche Gestalt oder gar einheitliche Struktur. Es handelt sich um mehr oder weniger umfängliche Dokumente, die textlich oder visuell einen anzustrebenden Zukunftszustand beschreiben. So arbeiten beispielsweise das Bodenseeleitbild sowie der Leitbildentwurf für die Hansestadt Lübeck mit mehreren dutzend Leitsätzen, die durch Erläuterungen ausgeführt werden (vgl. Knieling 2000, S. 198; www.leitbild-luebeck.de). Im Leitbild des Bergischen Städtedreiecks wird von einem Leitmotto und mehreren Leitgedanken gesprochen (vgl. Knieling 2000, S. 157f.). In der Regionalen Entwicklungskonzeption Halle-Leipzig existieren wiederum eine Leitidee und mehrere sektorale Leitbilder, die sowohl einen analytischen Befund als auch Leit- und Handlungsziele beinhalten (vgl. ebd., S. 144f.). Viele Leitbilder sind strukturiert nach unterschiedlichen Handlungs- bzw. Themenfeldern, für die sektorale Zukunftsperspektiven, fachbezogene Oberziele und gegebenenfalls sogar Ansatzpunkte zu ihrer Umsetzung beschrieben werden (vgl. Guthardt 1997; Knieling 2000, S. 141ff.). Auch diese sektoralen Perspektiven bzw. Schwerpunktsetzungen werden mitunter als Leitbilder bezeichnet (vgl. BMBau 1993143). 143 Der Raumordnungspolitische Orientierungsrahmen von 1993 formuliert Perspektiven, Aufgabenschwerpunkte und Prinzipien für die Ausgestaltung der bundesrepublikanischen Raumordungspolitik. In fünf Leitbildern wurden verschiedene relevante Dimensionen der räumlichen Entwicklung der Bundesrepublik beleuchtet – so z.B. die Siedlungsstruktur, Umwelt und Raumnutzung oder Verkehr. Diese wurden im Raumordnungspolitischen Handlungsrahmen konkretisiert und zu einem mittelfristigen Arbeits- und Aktionsprogramm ausgearbeitet (vgl. BMBau 1995). Diese Leitbilder sind auf nationaler Ebene angesiedelt, also den generellen Leitbildern näher, heben sich aber zugleich von den dogmatischen und auch dominanten Leitbildern der 1. Generation insofern ab, dass sie nicht ein einziges, sondern mehrere nebeneinander stehende Leitbilder formulieren, die überdies einen politischen Konsens der Ministerkonferenz für Raumordnung darstellen. Während die Leitbilder des Raumordnungspolitischen Orientierungsrahmens von 1993 noch in einem verwaltungsinternen Prozess erarbeitet sind, entstanden die neuen Leitbilder der Raumentwicklung in Deutschland in einem breit angelegten fachwissenschaftlichen sowie -politischen Diskussionsprozess (vgl. Aring/Sinz 2006).
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Hinsichtlich ihres Ausarbeitungs- bzw. Konkretisierungsgrades sind Leitbilder hier uneinheitlicher als ihre allgemeine Bestimmung vermuten ließe. Zwar herrscht theoretisch weitgehend Konsens darüber, dass Leitbilder nur abstrakte Zielformulierungen und allgemeine Entwicklungsziele beinhalten (vgl. Fellner/Kohl 1997; Knieling 2000). Leitbilder werden dann entweder als oberste Ebene in einem an anderer Stelle weiter auszuarbeitenden Zielsystem oder sogar eher als Werte- denn Zielsystem gekennzeichnet, da sie keine strenge Zielhierarchie beinhalten und nicht unmittelbar operational formuliert werden (vgl. Schnell/ Walser 1995, S. 270; Fellner/Kohl 1997, S. 58). Gleichwohl werden diese Leitbilder aufgrund des ihnen entgegengebrachten Anspruchs als Planungsinstrument faktisch immer wieder zu Konzeptionen ausgeweitet, in denen für einzelne Handlungsfelder konkretisierte Ziele und Maßnahmen zur Realisierung zur Sprache kommen (vgl. etwa Schweizerische Vereinigung für Landesplanung 1995). Leitbilder verlieren in der Praxis damit gegenüber anderen Planungsinstrumenten, von denen sie theoretisch klar unterscheidbar wären, ihr besonderes Profil. Die terminologische Uneinheitlichkeit und die übersteigerten Erwartungen an Leitbilder tragen dazu nur noch bei. Leitbilder sollten aber vielmehr in einem Ergänzungsverhältnis zu anderen Planungsinstrumenten wie Prognosen, Szenarien, Konzeptionen, Plänen oder Programmen gesehen werden und lassen sich dann zum Teil mit diesen sinnvoll verbinden. Leitbildprozesse tragen vorrangig zur Zielfindung bei, während sich Konzeptionen und Pläne zusätzlich auf die Realisierung, Prognosen und Szenarien auf die Zielprüfung beziehen. Während Konzeptionen ausdrücklich einen Ziel-Mittel-Bezug herstellen und Programme diesen um Zeitvorgaben noch ergänzen, werden den in manifesten Leitbildern formulierten übergeordneten Zielen keine Maßnahmen zugeordnet (vgl. Lendi 1995, S. 625f. und Knieling 2000, S. 29ff.). Die Bestimmung, dass Leitbilder keinen Ziel-Mittel-Bezug aufweisen, verweist letztlich darauf, dass sie nicht zur unmittelbaren Umsetzung in Planung operational formuliert sind. Da jedoch immer wieder von Leitbildern eine unmittelbare Umsetzung in Planung erwartet wird, werden in ihnen bisweilen doch planerische Zielkataloge oder gar hierarchisch aufgebaute Zielsysteme aufgenommen. Gegenüber den wertneutralen Szenarien, die nur die Möglichkeit verschiedener Entwicklungen oder Zukünfte beschreiben, haben Leitbilder einen normativen Gehalt. Szenarien und Leitbilder werden entsprechend häufig als Planungsinstrumente miteinander verbunden.144 Auf der Grundlage einer Situationsanalyse werden mögliche Szenarien entwickelt und schließlich die Frage nach der erwünschten Zukunftsvorstellung gestellt, sodass ein Szenario, gegebenenfalls die positiven Aspekte mehrerer Szenarien zu einem normativen Leitbild ausgearbeitet werden (vgl. hierzu bereits die Beschreibung der landesplanerischen Leitbilder der Schweiz bei Brösse 1975145 sowie Weisbauer 1998). Szenarien erweitern damit die gegebenen Denkhorizonte, zeigen Entwicklungsalternativen auf und bieten sich
144 Leitbilder und Szenarien fallen begrifflich zusammen, wo Leitbilder nur als realisierbare, als mögliche Zukunftszustände beschrieben werden, nicht aber auch als anzustrebende oder erwünschte. In diesem Fall würde aus mehreren möglichen Leitbildern (im Sinne von Szenarien) ein anzustrebendes Leitbild (im engeren Sinne) ausgewählt (vgl. etwa Lendi 1995, S. 625). 145 Die landesplanerischen Leitbilder der Schweiz bezogen sich gerade auf die möglichen Zustände der räumlichen Entwicklung, die heute wohl treffender als Szenarien bezeichnet werden würden (vgl. Brösse 1975, S. 3 und 66). Sie bieten damit Alternativen zur Diskussion an, die im Leitbildbegriff der 1. Generation in der bundesrepublikanischen Raumordnung gerade fehlten.
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als Diskussionsgrundlage zur Erstellung eines gemeinsamen Leitbildes an.146 Leitbilder liefern schließlich die normative Grundlage zur Formulierung von Zielsystemen und Maßnahmen innerhalb von Konzeptionen, Programmen und Plänen. Die Operationalisierung der Leitbilder, so viel Bedeutung ihr in der Planung auch beigemessen wird, geschieht – wenigstens aus theoretischer Sicht – nicht in den Leitbildern selbst, sondern in der folgenden strategischen und operationalen Planung, etwa durch Konzeptionen oder Programme (vgl. etwa Funke 1997 oder Fellner/Kohl 1997). Leitbildern wird häufig vorgehalten, dass sie gar nicht operationalisierbar seien, d.h. keine Planungsziele unmittelbar abgeleitet werden können. Bei Leitbildern handele es sich deshalb um Leerformeln.147 Die in den vergangenen Jahren erarbeiteten Leitbilder für die Raumentwicklung in Deutschland entsprechen in ihrer Entstehung und ihrer Rolle als informelles Instrument der Zielfindung den spezifischen Leitbildern (der 2. Generation), wenngleich sie wiederum auf der höheren Maßstabsebene der Bundesraumordnung angesiedelt sind und damit generelle Impulse und Orientierungen für die konkrete Raumplanung und -entwicklung auf der Ebene der Länder, Regionen und Gemeinden liefern sollen. Die neuen Leitbilder der Raumentwicklung sind in einem breit angelegten fachwissenschaftlichen und -politischen Diskussionsprozess entstanden (vgl. dazu insbesondere Aring/Sinz 2006) und stellen einen „aktuellen Strategiekonsens“ (BBR/BMVBS 2006, S. 8) zu den Aufgabenschwerpunkten und Handlungsfeldern für die zukünftige Raumentwicklung dar. Rolle und Funktion von Leitbildern in Stadt- und Regionalentwicklungsprozessen Die Rolle und Funktion von Leitbildern bzw. Leitbildprozessen in der Stadt- und Regionalentwicklung ist im Vorangehenden bereits an verschiedenen Stellen zur Sprache gekommen. In der wissenschaftlichen und konzeptionellen Diskussion bemüht man sich, diese Funktionen bündig zu benennen. Entsprechend zählen unterschiedliche Autoren Leitbildfunktionen auf, die auch aus anderen Diskursfeldern bekannt sind. Hier erweist es sich als äußerst fruchtbar, zu beachten, ob die jeweiligen Funktionen dem Leitbild selbst oder den Prozessen zu ihrer Erarbeitung zukommen. In Anlehnung an die Bedeutung von Leitbildern in der Technikforschung nennt Kahlenborn (1995) Orientierung, Koordination und Motivation als Funktionen von Leitbildern – auch in regionalen Entwicklungsprozessen. Leitbilder tragen zur Orientierung bei, indem sie einen „gemeinsamen Bezugspunkt im Zukunftsdenken“ darstellen. Anhand des gemeinsamen Ziels und Grundverständnisses koordinieren sie zugleich die Wahrnehmungs-, Denk- und Entscheidungsprozesse der Menschen. Schließlich aktivieren sie die emotionalen Potenziale der Menschen, wecken somit Engagement und motivieren zum Handeln (vgl. Kahlenborn u.a. 1995, S. 16). Kahlenborn gibt selbst zu bedenken, dass sich diese Funktionsbestimmung auf allmählich gewachsene, also implizite Leitbilder im Sinne denkund handlungsleitender Vorstellungen von einer erwünschten Zukunft beziehen, überträgt sie gleichwohl auf explizite Leitbilder, die in einem Diskussionsprozess entwickelt werden. 146 Vgl. hierzu etwa die Rolle von Szenarien bei der Erstellung eines Leitbildes für die „Gemeinsame Landesplanung Bremen/Niedersachsen“ (Knieling 2000, S. 181ff.), im Rahmen der Erstellung eines gemeinsamen Leitbildes für die Europastadt Görlitz/Zgorzelec (Kreibich 2003) oder zuletzt im Rahmen des fachwissenschaftlichen Diskurses zu den neuen Leitbildern für die Raumentwicklung in Deutschland (vgl. Aring/Sinz 2006, S. 50ff.; Stiens 2003). 147 Zu diesem Vorwurf und einer möglichen Replik siehe Kap. 3.4.4.
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Bei den hier dargestellten spezifischen Leitbildern der Stadt- und Regionalentwicklung handelt es sich jedoch um entworfene, explizite Leitbilder, die verbalisiert werden und zunächst nur den Anspruch haben, denk- und handlungsleitend zu werden. Hier wird besonders deutlich, dass das Problem darin besteht, dass den expliziten Leitbildern Funktionen zugeschrieben werden, die ihnen nicht per se zukommen. Leitbilddokumente werden mit den vorhandenen impliziten Vorstellungen gleichgesetzt und die Effekte der handlungswirksamen kollektiven Denkmuster auf die manifesten Dokumente unmittelbar übertragen.148 Anders geht Knieling (2000) vor, der die Aufmerksamkeit ausdrücklich auf die Leitbildprozesse, nicht die Leitbilddokumente als Ergebnis des Prozesses lenkt und diese zudem einer empirischen Prüfung unterzieht. Mit Blick auf die Zielsetzung bzw. Erwartungen an Leitbildprozesse nennt Knieling vier denkbare Funktionen: Koordination, Reflexion, Innovation und Marketing. Anhand von fünf Fallbeispielen prüft er die Ausprägung dieser angenommenen Funktionen innerhalb von Regionalentwicklungsprozessen. Daraus entsteht eine theoretisch und methodisch fundierte Analyse von regionalen Leitbild-Entwicklungsprozessen (vgl. Knieling 2000, S. 92ff. und 204ff.). Die Analyse der Leitbildprozesse ergibt, dass diese vor allem eine Koordinationsfunktion erfüllen. Dies bedeutet für Knieling, dass Leitbilder zum einen die Zielbestimmung, zum anderen die Integration der Akteure in den gemeinsamen Entwicklungsprozess unterstützen. Die Reflexion beschränkt sich faktisch weitgehend auf den Status quo, die Marketingbemühungen auf die am Prozess beteiligten Akteure. Innovationen werden innerhalb der untersuchten Leitbildprozesse eher selten gezielt angestoßen.149 Ergänzt man dieses Bild um weitere theoretische Überlegungen von Knieling selbst und anderen Autoren, lassen sich diese Funktionsbestimmungen noch erweitern bzw. ausdifferenzieren. Betrachtet werden hier sowohl der Leitbildentwicklungsprozess als auch die Leitbilder selbst. Mit Leitbildern bzw. Leitbildprozessen wird – vorsichtig formuliert – die Hoffnung verbunden, dass sie den Akteuren im Feld Orientierung geben, zu deren Koordination, Integration, Identifikation und Motivation beitragen. Daneben können Leitbildprozesse die Reflexion sowie Verständigung unter den Akteuren unterstützen. Dies soll kurz ausgeführt werden. Leitbilder schaffen Orientierung, wenn sie eine allgemeine kollektiv getragene Zielperspektive entwerfen, die als Vorgabe für das strategische und operative Management von Städten und Regionen herangezogen werden kann. Leitbilder stellen damit eine Orientierungshilfe und einen Beurteilungsmaßstab in Bezug auf zu treffende Einzelentscheidungen dar.150 Die konsensual entworfene Zielperspektive für die Stadt bzw. Region bildet zudem die Kooperationsgrundlage der Akteure, indem sie einen gemeinsamen Bezugspunkt für das Denken und Handeln schafft. Für Knieling besteht die Koordinationsleistung des Entwicklungsprozesses entsprechend darin, zu einer gemeinsamen Zielvorstellung zu kommen. Der kooperative Leitbildprozess unterstützt zudem die Integration der Akteure in den regionalen Entwicklungsprozess. Die Einbindung der Akteure in den Leitbildprozess wie auch die konsensuale Zielperspektive sollen wiederum die Motivation der Akteure stärken. 148 Dies gilt es auch bei allen weiteren Überlegungen zu den Funktionen von Leitbildern zu bedenken. 149 Knieling verweist allerdings darauf, dass die Leitbildprozesse selbst eine Verfahrensinnovation innerhalb der Regionalentwicklung darstellen. Inwieweit die Leitbildprozesse einen geeigneten und förderlichen Rahmen für Sachinnovationen schaffen, bleibt offen (vgl. Knieling 2000, S. 209f.) 150 Für die Akteure stellen die im Leitbild festgehaltenen Zielperspektiven eine Selbstverpflichtung dar und können, wenn sie internalisiert werden, auch zu impliziten Leitbildern im Sinne von denk- und handlungsleitenden Vorstellungsmustern werden.
3.4 Leitbilder in der raumbezogenen Planung und Forschung
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Knieling unterscheidet zwischen Binnen- und Außenmarketing und stellt für seine Fallbeispiele fest, dass die kooperative Prozessgestaltung zu einem Binnenmarketing beiträgt, aber trotz entsprechender Aufgabenstellung gegenüber externen Zielgruppen kaum Aktivitäten hinsichtlich eines Außenmarketings entfaltet werden. Kommunale und regionale Leitbilder richten sich – so auch der formulierte konzeptionelle Anspruch – zuallererst nach innen. Sie sollen eine Orientierung für die Akteure in der Stadt, in der Region bieten und eine Diskussion über die Zukunft der Stadt initiieren (vgl. Mandelartz u.a. 1999; Guthardt 1997, S. 408; Funke 1997, S. 40).151 Diese Leitbilder können gleichwohl Außenwirkung erzielen bzw. Grundlage für ein in stärkerem Maße auch nach außen gerichtetes Stadt- oder Regionalmarketing abgeben (vgl. etwa Eckhardt/Kerkhoff 2000).152 Im Rahmen eines Stadt- und Regionalmarketings sollen Leitbilder nach innen wie nach außen einen Beitrag leisten zur Herausbildung einer räumlichen Identität in zweierlei Bedeutung – zur Identifizierbarkeit von einer Stadt oder Region als einer unverwechselbaren Einheit sowie zur Identifikation mit dem jeweiligen Referenzraum (vgl. Werthmöller 1995). Neben diesem Funktionsbündel stellt Knieling die Bedeutung von Leitbildprozessen für eine vergangenheits- und zukunftsgerichtete Reflexion der Akteure heraus. Diese Qualität verbindet sich in unterschiedlicher Weise mit der in der Stadt- und Regionalentwicklung allseits benannten und neuerdings auch in der Bundesraumordnung an Relevanz gewinnende Rolle von Leitbildern als Medium zur Verständigung. Leitbildprozesse bieten die Chance, sich gegenüber der Vergangenheit und Zukunft reflexiv zu verhalten. Dies bezieht sich auf eine Reflexion bezüglich der Frage, woher man kommt und wohin es gehen soll. Das schließt aber auch einen reflexiven Umgang mit der Zukunft ein, indem nach den möglichen Konsequenzen oder Folgen einzuschlagender Entwicklungspfade gefragt wird. Ein reflexiver Umgang bedeutet dann zugleich, Spielräume für Unvorhergesehenes zu schaffen. Ein reflexives Verhältnis gegenüber einer unvorhersehbaren Zukunft schaffen Leitbilder dann, wenn sie eher Entwicklungskorridore denn Zielkataloge und Maßnahmenbündel beinhalten. Es kommt dann also nicht so sehr darauf an, den im Leitbild beschriebenen Zustand zu erreichen, sondern eine entsprechende Richtung einzuschlagen. In diesem Sinne werden Leitbilder deshalb eher als Werte- denn als Zielsysteme begriffen. Leitbildprozesse bzw. Leitbilder können nur zur kollektiven Orientierung, Koordination und Reflexion beitragen, wenn sich die Beteiligten auf einer gemeinsamen Sprach- und Denkebene bewegen. Damit bildet Verständigung zugleich die Voraussetzung wie auch das Ziel der Leitbildprozesse. Manifeste Leitbilder erweisen sich darin zugleich als Medium der Verständigung wie auch als Ergebnis des Verständigungsprozesses. Wie ist das zu verstehen? Leitbildprozesse tragen zur Verständigung bei, wenn in ihnen ein Dialog über die Zukunft angeregt und nach einer gemeinsamen Zukunftsperspektive gesucht wird. Die hierfür notwendige gemeinsame Sprach- und Denkebene bildet sich aber erst im intersubjektiven Verständigungsprozess heraus. Der als Verständigungsprozess zu lesende Leitbildprozess erweist sich damit als allmähliche Annäherung – oder je nach erkenntnistheore151 Gegenüber den generellen Leitbildern der 1. Generation, die – egal ob dogmatisch oder nur dominant – vornehmlich für den fachlichen Diskurs bestimmt waren, richten sich die spezifischen Leitbilder der 2. Generation also an eine breitere Öffentlichkeit. 152 Damit wird aber zugleich deutlich, dass mit Leitbildern in der Regel etwas anderes gemeint ist, als die gleichsam zu Marketingzwecken entworfenen, werbewirksamen Slogans wie „Schafhausen – das Paradies am Deich“. Diese Slogan können aus dem Leitbild entwickelt werden, haben letztlich aber nur Wert, wo sie aus dem Verständigungsprozess zum Leitbild erwachsen, wo sie mit Bedeutung gefüllt werden (vgl. hierzu Guthardt 1997, S. 410; Schückhaus 1998; Sieverts 1998, S. 24).
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3 Leitbilder in den Sozialwissenschaften – die Diskursanalyse
tischem Grundverständnis – Ko-Konstruktion der unterschiedlichen gegenwarts- und zukunftsgerichteten mentalen Muster. Dies verweist auf die unterschiedlichen impliziten Leitbilder als verborgene zukunftsgerichtete Orientierungsmuster, die erst transparent gemacht werden müssen, bevor daran anschließend in einem Leitbildprozess ein gemeinsames explizites Leitbild entwickelt werden kann (vgl. dazu auch Knieling 2000, S. 103). (Explizite) Leitbilder bilden damit das Ergebnis dieses Verständigungsprozesses, in dem eine gemeinsame Zielperspektive entworfen und verbalisiert wird. Gleichzeitig stellen verbalisierte Leitbilder aber auch ein Kommunikationsmedium dar, auf das sich der (allmähliche und fortlaufende) Verständigungsprozess beziehen kann.153 Verbalisierte Leitbilder bilden dann eine bedeutungsgeladene Formel, die für eine komplexe Zielvorstellung steht, auf die sich im Diskurs bezogen werden kann. Mit diesen Formeln können (zunächst) durchaus unterschiedliche Vorstellungen verbunden werden. Einige Autoren verweisen deshalb darauf, dass (manifeste) Leitbilder, die in den Diskurs als Diskussionsangebot eingebracht werden, zunächst gerade Kontingenzen und Mehrdeutigkeiten beinhalten, da sie in den jeweiligen Sichtweisen der einzelnen Akteure mit unterschiedlichen Wahrnehmungs- und Denkmustern gedeutet werden: „Es wird eine produktive Missverständlichkeit erzeugt, um diese für einen Verständigungsprozess nutzbar zu machen.“ (Naegler 2003, S. 100) Leitbilder umreißen nur die Konturen eines Projekts, schaffen ansonsten Anschlussmöglichkeiten für verschiedene kulturelle Orientierungen (vgl. ebd., S. 91). Ziel der intersubjektiven Verständigungsprozesse, in dem verbalisierte, potenzielle Leitbilder als Diskussionsangebote eingebracht werden, ist aber schließlich eine weitgehend geteilte Zukunftsperspektive, die bestenfalls ein implizites Leitbild abgibt. Die Leitbilddokumente sind dann Ausdruck dieses (vorläufig) hergestellten Konsenses, die ihrerseits wieder Bezugspunkt für weitere intersubjektive Verständigungsprozesse darstellen. Leitbilddokumente und leitbildhafte Formeln, egal ob sie auf einer intersubjektiven Verständigung beruhen oder in diese erst eingebracht werden, sollen also zum Dialog über Zukunft anregen und zur fortschreitenden Verständigung beitragen. Deshalb stellen verbalisierte Leitbilder nicht nur das Ergebnis der Kommunikation dar, sondern auch das Medium der Verständigung selbst (vgl. Becker 1998a, S. 135, Sieverts 1998, S. 28, Kuder 2004, S. 53; Meyer zu Schwabedissen/Miggelbrink 2005, S. 161ff.). Leitbildprozesse zeichnen sich gerade durch eine ausgeprägte Konsensorientierung aus. Deren Ziel soll eine kooperativ entworfene Zielperspektive sein, also ein Konsens über die gemeinsam zu erreichende Zukunft. Leitbildern bzw. Leitbildprozessen wird deshalb zurecht vorgeworfen, dass sie die Tendenz haben, heterogene Sichtweisen zu unterdrücken oder auszublenden. Gleichwohl wird auch darauf aufmerksam gemacht, dass im Leitbildprozess überhaupt erst die Möglichkeit gegeben ist, verborgene Kontroversen offenzulegen und zur Sprache zu bringen. Nur in der Verständigung über das gemeinsame (manifeste) Leitbild werden heterogene Sichtweisen und auch Kontroversen, werden unterschiedliche implizite Leitbilder sichtbar und können in den Verständigungsprozess eingebracht werden. Abschließend soll erneut herausgestellt werden, dass die genannten Funktionen manifesten Leitbildern bzw. Leitbildprozessen nicht per se zukommen, sondern vielmehr entsprechende Erwartungen an diese darstellen. Mit der von vielen Autoren herausgestellten Bedeutung von Leitbildprozessen gegenüber dem Leitbild als Produkt selbst, verweisen 153 Der Leitbildbegriff wird hier der Diskussion gemäß erweitert und meint hier nicht nur die mehr oder weniger umfänglichen Leitbilddokumente, sondern auch andere manifeste, vor allem verbalisierte leitbildhafte Formeln, die im Diskurs genutzt werden.
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diese damit indirekt darauf, die Prozesse so zu gestalten, dass die entsprechenden Effekte überhaupt erzielt werden können. Die Funktionen sind dann als Bewertungskriterien, allenfalls Erwartungen, nicht als Garantieversprechen zu lesen. Die Erwartung besteht letztlich darin, im Leitbildprozess nicht nur ein manifestes Leitbild zu entwerfen, das eine bestimmte Zielperspektive propagiert, sondern implizite Leitbilder als geteilte Vorstellungsmuster zu erzeugen, die das Denken und Handeln der Akteure und aller Zielgruppen prägen.154 3.4.4 Kritik und Kontroversen zu raumbezogenen Leitbildern Die Kritik und Kontroversen, die sich im Laufe der Zeit in der raumbezogenen Planung und Forschung in Bezug auf Leitbilder ergeben haben, sind weit gefächert, dabei aber natürlich abhängig vom jeweilig implizierten Leitbildbegriff. Über die Kritik, die an den generellen Leitbildern der 1. Generation geäußert wurde, ist bereits gesprochen worden. Der Vorwurf, Leitbilder seien konservativ, statisch und dogmatisch, bezog sich auf das Leitbildverständnis, wie es in der Folge von Dittrichs epochalem Formprinzip politisch aufgenommen wurde, und ist mit dem veränderten Begriffsverständnis weitgehend obsolet geworden. Leitbilder werden seit Mitte der 1980er Jahre erstens als ausdrücklich dynamisch angesehen und sind zweitens nicht dogmatisch vorgegeben, sondern erwachsen aus einem konsensuellen Verständigungsprozess. Gerade die spezifischen Leitbilder der 2. Generation stellen zwar langfristig gültige, dennoch veränderliche Zielvorstellungen dar, die zudem in einem offenen und kooperativen Prozess entstehen. Gleichwohl wird die Gefahr der Statik auch noch für die spezifischen Leitbilder der 2. Generation gesehen, da auch in ihnen Zukunftszustände festgehalten werden, die zu einer finalisierten Planung auf einen Endzustand hin tendieren (vgl. Lendi 1995, S. 626). Um diesem Problem zu entgehen, wird gefordert, dass Leitbildprozesse als stetig zu begreifen sind und nicht mit der einmaligen Formulierung des Leitbildes abgeschlossen sein dürfen (vgl. Knieling 2000, S. 237). Zum einen soll die Umsetzung der Leitbilder für deren Anpassung an die jeweiligen Gegebenheiten sorgen. Zum anderen sollen die Leitbildinhalte sowie deren Umsetzung regelmäßig überprüft und weiterentwickelt werden. Albers hatte bereits in der „leitbildlosen“ Zeit der 1970er Jahre auf die Notwendigkeit hingewiesen, anschauliche Zielvorstellungen zu entwickeln, auch wenn diese durch veränderte Bedingungen vor ihrem Erreichen verworfen würden (vgl. Albers 1975, S. 150). Ein weiterer aktueller Kritikpunkt bezieht sich auf die fehlende politische Durchsetzbarkeit und die mangelhafte Steuerungsleistung von Leitbildern (vgl. Becker 1998a, S. 130). Mit dieser Kritik wird sehr unterschiedlich umgegangen. Eine Reaktionsmöglichkeit setzt auf die Durchsetzung des Leitbildes mittels politischer Legitimierung, indem dieses von politischen Gremien nachträglich verabschiedet bzw. beschlossen wird (Becker 1998b, S. 462). Eine andere Sichtweise setzt stattdessen auf die Selbstverpflichtung der Akteure, die gerade nicht durch eine politische Entscheidung, sondern den kooperativ angelegten Prozess und die Einbeziehung der Akteure realisiert werden soll (vgl. ebd., S. 456). Schließlich weisen einige Stimmen darauf hin, dass Leitbilder weniger als Steuerungsinstrument denn als Kommunikationsinstrument zu verstehen seien (vgl. etwa Thalgott in Birk 1998). Eine Steuerung unmittelbar durch Leitbilder wäre damit gar nicht intendiert. 154 Vor diesem Hintergrund wird auch der Leitbildcharakter der neuen Leitbilder der Raumentwicklung in Zukunft weiter zu diskutieren und zu untersuchen sein (vgl. Knieling 2006).
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3 Leitbilder in den Sozialwissenschaften – die Diskursanalyse
Ein Kritikpunkt, der sich durch die gesamte Leitbilddebatte zieht, betrifft den Vorwurf, Leitbilder würden der Komplexität der Wirklichkeit bzw. Problemlage nicht gerecht werden (vgl. Kommission Zukunft Stadt 2000 1993; Becker 1998a, S. 130). Dieser Vorwurf verweist letztlich auf den paradoxen Anspruch an Leitbilder, einerseits die Komplexität durch eine ganzheitliche, übergreifende Sicht zu erhalten, andererseits insbesondere durch Zielverdichtung zu einer notwendigen Komplexitätsreduktion beizutragen (vgl. hierzu besonders Streich 1988, S. 20 und 30). Ob und wie dieser doppelte Anspruch eingelöst wird, hängt letztlich vom einzelnen Leitbild ab. Prinzipiell wird der Vorteil von Leitbildern gegenüber einzelnen Zielen gerade in der Ganzheitlichkeit der Sichtweise und der Vielfalt der beachteten Sachverhalte gesehen – also im Komplexitätserhalt. Zugleich wird in der anschaulichen Darstellung und der Bündelung der Ziele die Komplexität reduziert und verarbeitbar (vgl. Kuder 2004, S. 97; auch Bote/Krautzberger 1999).155 Die Frage nach der Komplexität der Leitbilder berührt zugleich die ambivalenten Erwartungen an Leitbilder bezüglich ihrer Konkretheit und Allgemeinheit. Leitbilder sollen langfristig wirksam sein und eine übergeordnete Zielperspektive bieten, die Orientierung bei Einzelentscheidungen und für die weitere Planung bietet. Dies verweist auf die Notwendigkeit einer allgemeinen Formulierung. Damit Leitbilder aber nicht auf der „Proklamationsebene“ verweilen, sondern sich im Handeln niederschlagen, müssen sie konkretisiert werden. Leitbilder riskieren, so allgemein formuliert zu werden, dass sich daraus gar keine Handlungsanweisungen zweifelsfrei ableiten lassen. Leitbildern wird deshalb vorgeworfen, dass sie lediglich Leerformeln abgeben würden. Bei Leerformeln handelt es sich um sprachliche „Formeln (Wörter oder Sätze), deren Inhalt und Sinn sich einer erfahrungswissenschaftlichen Überprüfung oder klaren Interpretation entzieht, die aber dennoch (bei Sachaussagen) zur wissenschaftlichen und (bei Normaussagen) zur politischen Orientierung und Entscheidung eingesetzt werden“ (Hillmann 1994, S. 479). Der Leerformelcharakter von Leitbildern wurde vor allem daran festgemacht, dass sie nichtoperational formuliert seien. Nichtoperational meint, dass sich mit ihnen gar keine Zieldefinitionen ergeben, deren Erreichung empirisch geprüft werden könnte. Und das heißt auch, dass sich aus ihnen gar nicht unmittelbar Maßnahmen ableiten lassen.156 Die mangelnde Operationalität der Leitbilder rührt gerade aus ihrer Komplexität und Allgemeinheit.157 Brösse hat jedoch die Bedeutung leerformelhafter Ziele herausgestellt und verdeutlich damit zugleich den Stellenwert von solcherart Leitbildern. Leerformeln bringen eine komplexe Problematik zum Ausdruck und leisten einen Ausgleich bzw. eine Integration unterschiedlicher Interessen. Sie sind oberste Ziele, die ein System von Zielen tragen können. Zugleich sind sie jedoch interpretationsbedürftig, eröffnen Ermessens- und Entscheidungsspielräume und begrenzen diese zugleich grob. In dieser Rolle erweisen sie sich als Vorgänger operationaler Ziele und weisen den diesbezüglichen Suchprozess in eine bestimmte Richtung. Dies macht deutlich, dass solcherart „formale Ziele“ zwar nicht unmittelbar anwendbar, dennoch nicht inhaltsleer sind (vgl. Brösse 1982, S. 37f.). 155 Es herrscht weitgehend Einigkeit darüber, dass mit dem Begriffsteil Bild aktuell weniger die konkrete Bildhaftigkeit als die Anschaulichkeit der Vorstellungen angesprochen ist (vgl. Becker 1998a, S. 124 oder Kuder 2004, S. 51ff.). Gleichwohl wird mitunter in der raumbezogenen Planung die Umsetzung der Leitbilder in Leitbildkarten gefordert, um eine räumliche Konkretisierung der Leitbilder zu erreichen (vgl. Aring/ Sinz 2006, S. 54f.; das Ergebnis in BMVBS 2006). 156 Erinnert sei hier an den fehlenden Ziel-Mittel-Bezug von Leitbildern. 157 Brösse stellt heraus, dass Ziele um so schwieriger zu operationalisieren sind, je höher sie in der Hierarchie eines Zielsystems stehen (vgl. Brösse 1982, S. 36).
3.4 Leitbilder in der raumbezogenen Planung und Forschung
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Der Leerformelcharakter der Leitbilder wird damit erst dort zum Problem, wo die Notwendigkeit einer weiteren Interpretation, Ausarbeitung und Operationalisierung ignoriert wird oder aber von Leitbildern eine unmittelbare Ableitbarkeit von Umsetzungsschritten erwartet wird. Folglich sieht Streich zwei integrierbare Strategien zur Überwindung der Leerformelproblematik von Leitbildern: Die Ableitung operationaler Ziele sowie die diskursive Behandlung von Leitbildern, in der diese mit Inhalt gefüllt werden (vgl. Streich 1988, S. 45f.; auch Kap. 3.2.5). All die genannten Kritikpunkte und Kontroversen zu Leitbildern verweisen darauf, dass diese nicht als alleinige Strategie überbewertet werden dürfen. Leitbilder reihen sich vielmehr in das Set anderer Planungsinstrumente ein und müssen zwingend durch weitere Schritte – etwa der operationalen Zielbildung, Formulierung von Strategien und Maßnahmen – ergänzt werden. In diesem Setting können Leitbilder als relativ abstrakte, übergeordnete und verdichtete Ziele, die gleichwohl hinreichend konkrete Vorstellungen hervorrufen, einen wertvollen Beitrag leisten. Die Verständigung, der Dialog über die Leitbilder ist dabei unabdingbare Voraussetzung, um sie mit Bedeutung zu füllen und in konkretes Handeln umzusetzen. Die Stadtsoziologie befasst sich mit der kontroversen Frage, welche Rolle den Sozialwissenschaften gegenüber den Leitbildern zukommt.158 Bahrdt warnt die Sozialwissenschaften und insbesondere die Soziologie davor, sich zu einer Produktion von Leitbildern verleiten zu lassen, welche für ihn nicht Ergebnis von Wissenschaft sein können: „Nun, in unserer säkularisierten Zeit, die sehr wissenschaftsgläubig ist, meint man mitunter, die Soziologen oder auch die politischen Wissenschaftler müßten die Werte oder die Leitbilder erfinden oder entwerfen, denen die Gesellschaft in ihrer Entwicklung nachzustreben habe. Die Soziologen beschäftigen sich ja mit der Gesellschaft, also müssen sie doch auch in der Lage sein, Rezepte zu geben. (...) Aber insofern er [der Soziologe, K.D.G.] dies tut [Produktion von Leitbildern, K.D.G.], hat er kein Recht mehr, sein Produkt als Ergebnis seiner Wissenschaft anzugeben.“ (Bahrdt 1964, S. 16)
Dem Anspruch der Leitbildentwicklung von Seiten der Stadtplanung verwehrt sich Bahrdt und stellt stattdessen als Leistungen der Soziologie für die Stadtplanung heraus: Eine allgemeine Ideologiekritik, die nach den Leitbildern, Normen und Ideologien fragt, welche die Planungsdiskussion prägen, Kritik an konkreten Planungen und planerischen Entscheidungen hinsichtlich der darin wirksamen unreflektierten Leitbilder, Überprüfung der in den Leitbildern enthaltenen Tatsachenbehauptungen, Bereitstellung empirischer Informationen (etwa zur Sozialstruktur eines Raumes) und Klärung relevanter gesellschaftlicher Zusammenhänge sowie schließlich die Erfolgskontrolle konkreter Maßnahmen anhand der darin gesetzten Ziele (vgl. Bahrdt 1964, S. 17 und Bahrdt 1967, S. 217ff.). Gleichermaßen verortet auch Siebel (1967) die Aufgabe der Soziologie in der räumlichen Planung zwischen „kritischer Aufklärung“ und „empirischer Faktenerhebung“ (ebd., S. 289) und fügt hinzu: 158 Zwar taucht der Leitbildbegriff in der Stadtsoziologie nur gelegentlich auf, wird dort nicht ausdrücklich definiert und meint zudem eher gesellschaftspolitische denn raumstrukturelle Zielvorstellungen (vgl. etwa Bahrdt 1964, 1967 und 1974; Berndt 1968; Waber 1995). Dennoch erweisen sich gerade die Überlegungen von Bahrdt als ausgesprochen ergiebig für die Erörterung des Verhältnisses der Sozialwissenschaften zur Stadtplanung.
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3 Leitbilder in den Sozialwissenschaften – die Diskursanalyse
„Es wäre daher Aufgabe der Soziologie, eine wissenschaftlich kontrollierte Diskussion gerade auch der Zielvorstellungen städtebaulicher und architektonischer Planung und der ihnen zugrunde liegenden Werte zu führen.“ (Ebd., S. 291f.)
Damit besteht der Beitrag der Sozialwissenschaften darin, die vorhandenen, aber verborgenen, unausgedrückten Zukunftsvorstellungen von der Gestaltung und Entwicklung von Stadt und Raum zu identifizieren und hinsichtlich ihrer Implikationen und möglichen sozialen Folgen zu kritisieren, aber vor allem durch Verbalisierung der fachlich, politischen und öffentlichen Diskussion zugänglich zu machen. 3.4.5 Fazit zu raumbezogenen Leitbildern Im vorangehenden Kapitel wurden die unterschiedlichen Begriffsverständnisse in der raumbezogenen Planung und Forschung systematisch aufgearbeitet und einige damit verbundene Implikationen diskutiert. Gegenüber der hier gegebenen relativ systematischen Darstellung zur Entwicklung des Leitbildbegriffs in der raumbezogenen Planung und Forschung erweist sich die Begriffsverwendung in der Diskussion um Einiges undurchsichtiger.159 Bereits Mitte der 1960er Jahre moniert Dittrich die „willkürliche, oft gedankenlose Verwendung des Wortes ‚Leitbild‘ in der Raumordnung“ (Dittrich 1964a, S. 28). Dieses Problem hat sich in der raumbezogenen Forschung und Planung durch mehrfachen Begriffswandel über die Jahre nur noch verschärft.160 Verfolgt man die Geschichte des Leitbildbegriffs in der raumbezogenen Planung und Forschung, so lassen sich folgende Entwicklungslinien ausmachen: Im Laufe der Jahre verändert sich das Leitbildverständnis grundlegend von einer dogmatisch vorgegebenen Handlungsrichtlinie, die einen statischen und konservativen Charakter aufweist, zu einem diskursiven, kooperativen und konsensorientierten Prozess. Zudem verlagern sich Leitbilder von einer allgemein staatlichen Maßstabsebene auf die regionale und kommunale Ebene, um schließlich auch auf Bundesebene zurückzukehren. Spezifische regionale oder kommunale Leitbilder werden erstellt, um der sektoralen oder umfassenden Entwicklung in einer einzelnen Stadt oder einer Region eine Richtung zu geben und eine gemeinsame Zielperspektive zu entwerfen, die Grundlage für weiteres Handeln, für weitere Planung darstellt. Neben diesem spezifischen Leitbildverständnis, das sich hinsichtlich seiner Gestalt und Entstehung stark an Organisationsleitbildern orientiert, existiert aber vor allem im städtebaulichen Diskurs weiterhin ein Begriffsverständnis, welches generelle Leitbilder meint. Im Gegensatz zu den dogmatischen städtebaulichen Leitbildern der Nachkriegszeit erheben diese aber keinen Allgemeingültigkeits- und vor allem keinen Allgemeinverbindlichkeitsanspruch mehr. Im Laufe der Geschichte wandelt sich der Leitbildbegriff damit von dominanten, d.h. singulären Leitbildern der 1. Generation zu pluralen Leitbildern der 2. Generation. Die Pluralität drückt sich in einer sachlichen und räumlichen Differenzierung – Leitbilder für einzelne Handlungsfelder bzw. raumrelevante Dimensionen der Pla-
159 Eben daraus lassen sich die über die Jahrzehnte hinweg immer wieder aufs Neue vorgenommenen Versuche erklären, den Leitbildbegriff einer Klärung zuzuführen. 160 Dass die Vorstellungen davon, was ein Leitbild sei und was es leisten könne, sich als diffus, wenigstens aber höchst unterschiedlich erweisen, lässt sich beispielhaft ablesen an den Dokumentationen zweier Veranstaltungen zu städtebaulichen Leitbildern, an denen sowohl Politiker, Planer als auch Wissenschaftler teilnahmen (vgl. Stracke 1979 und Becker/Jessen/Sander 1998a).
3.4 Leitbilder in der raumbezogenen Planung und Forschung
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nung sowie für spezifische (Teil-)Räume stehen nebeneinander – und vor allem in einer generell wahrgenommenen Ko-Existenz unterschiedlicher Leitbilder aus. Weitgehender Konsens besteht darin, Leitbilder in der raumbezogenen Planung und Forschung als
komplexe Vorstellungen von einer erwünschten und prinzipiell als realisierbar erachteten Zukunft zu verstehen, in der eine Anzahl von Zielen gebündelt wird, deren Konkretisierungsgrad relativ gering ist, mit denen dennoch hinreichend konkrete Vorstellungen verbunden werden können, die kollektiv geteilt werden (d.h. auf einem gewissen Konsens beruhen), als mentales Vorstellungsmuster oder (in einem Dokument) verbalisierter bzw. visualisierter Zukunftsentwurf, welche das Denken und Handeln in raumbezogenen Aktivitäten entweder bereits prägen oder prägen sollen und entweder allmählich entstehen oder in einem initiierten Diskussionsprozess entworfen werden.
Raumbezogenen Leitbildern kommt zudem ein „visionärer Charakter“ zu, da sie in die Zukunft weisen und die Gegenwart verändern wollen (vgl. Streich 1988, S. 40f.). Sie weisen damit immer über die Gegenwart, den gegenwärtigen Zustand hinaus und heben sich von diesem deutlich ab. Dies gilt für alle im Laufe der Zeit genutzten Leitbildverständnisse. Von impliziten und expliziten Leitbildern Die Darstellung hat deutlich werden lassen, dass das Leitbildverständnis in der raumbezogenen Planung und Forschung auf unterschiedliche Leitbildbegriffe zurückgreift, die jedoch nicht deutlich unterschieden werden. Auf der einen Seite stehen die Leitbilder als analytische Kategorie, mit der die komplexen denk- und handlungsleitenden Vorstellungen von der zukünftig angestrebten Gestaltung und Entwicklung des Raumes erfasst werden. Sie fokussieren die kollektiv geteilten zukunftsbezogenen Denk- und Handlungsmuster. Auf der anderen Seite geht es um manifeste, verbalisierte oder visualisierte Zukunftsentwürfe, die in der 2. Generation in einem Leitbildprozess entworfen werden. Leitbilder bilden dabei ein Instrument der raumbezogenen Planung und können entsprechend als Planungsleitbilder bezeichnet werden. Vor allem in der Planung und zugleich in der pragmatisch ausgerichteten Forschung meinen Leitbilder damit verbalisierte Absichtserklärungen, in welche Richtung in Zukunft gedacht und gehandelt werden soll. Im Licht der allgemeinen Typologie der Begriffsverwendung (vgl. Kap. 2.2.1) verweist erstere auf implizite Leitbilder, also mentale Vorstellungen, die kollektiv verfolgt werden (Typ 1). Planungsleitbilder hingegen sind manifeste Formen, die eher (noch) nicht denk- und handlungsleitend, dies aber werden sollen, also lediglich propagiert sind. Dies verweist auf explizite, mitunter sogar oktroyierte Leitbilder (Typ 4 oder 6). Der Blick in die Geschichte des Leitbildbegriffs zeigt, dass beide Begriffe nebeneinander existiert haben und häufig eng aufeinander bezogen waren. Leitbilder bildeten zum einen von Anfang an eine wissenschaftliche Kategorie zur Identifizierung von raumbezogenen handlungsleitenden Vorstellungsmustern (Dittrichs epochales Formprinzip). Zugleich
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wurden Leitbilder aber auch als Instrument für die politische Steuerung und als unmittelbare Vorgabe für die raumpolitische Planung verstanden. Im SARO-Gutachten wurde damit das erste Planungsleitbild schriftlich fixiert. Die generellen städtebaulichen Leitbilder der 1. Generation (z.B. Urbanität durch Dichte) waren einerseits Ausdruck eines Richtungsstreits, in dem ein allgemeinverbindliches, dominantes Leitbild durchzusetzen versucht wurde (Typ 6). Zugleich waren diese Leitbilder aber auch Ausdruck der vorhandenen, die Planungsdiskussion und -praxis prägenden zukunftsgerichteten Vorstellungen (Typ 2). Welchen Status das jeweilige Leitbild innehat, hängt damit von der jeweiligen Bezugsgruppe ab. Seit den 1980er Jahren entstanden die spezifischen Leitbilder (der 2. Generation) dem neuen diskursiven und kooperativen Planungsverständnis entsprechend in einem fortlaufenden, kooperativen und partizipativen Prozess. Bei den spezifischen Leitbildern der Stadt- und Regionalplanung sowie den neuen Leitbildern des Bundesraumordnung handelt es sich damit um manifeste Leitbilder, die über einen bewusst gesteuerten Prozess der Leitbildentwicklung zustande kommen und eher selten bereits praktiziert, sondern nur propagiert werden. Damit handelt es sich dabei um explizite Leitbilder (Typ 4). Die Grenze zwischen echten, praktizierten Leitbildern und propagierten, synthetischen Leitbildern löst sich hier aber insofern auf, dass potenziell alle Akteure, deren Handeln das jeweilige Leitbild zugrunde liegen soll, selber am Prozess der Leitbildentwicklung beteiligt werden. Insofern kann die Leitbildentwicklung zu einem Prozess werden, in dem die tatsächlich denk- und handlungsleitenden, impliziten Leitbilder artikuliert bzw. expliziert werden (Typ 2). Dies wäre allerdings lediglich der für einen partizipativen Leitbildentwicklungsprozess angenommene Idealfall. Real wird in den spezifischen Leitbildern eher ein Konsens über einen erstrebenswerten Zukunftsentwurf formuliert, der noch nicht dem kollektiven Denken und Handeln zugrunde liegt, sondern eine entsprechende Absichtserklärung beinhaltet (Typ 4). Gegenüber diesen manifesten, eher propagierten Leitbildern wurde der Leitbildbegriff in der raumbezogenen Forschung von Anfang an auch dazu genutzt, die denk- und handlungsleitenden Zukunftsvorstellungen, also echte Leitbilder im Feld zu identifizieren (Typ 1). Ein entsprechendes Leitbildverständnis liegt den dominanten Leitbildern Streichs und den generellen Leitbildern der 2. Generation zugrunde. Vom Umgang mit Leitbildern in der raumbezogenen Planung und Forschung Aus der Trennung zwischen impliziten und expliziten bzw. echten und propagierten Leitbildern in der räumlichen Planung und Forschung erschließt sich zugleich der wechselnde Umgang mit Leitbildern in diesem Bereich. Auf politischer und planerischer Ebene hat man sich zunächst auf die Vorgabe von dogmatischen Leitbildern und die Frage ihrer Umsetzung in konkrete Handlungsanweisungen konzentriert. Aufgabe der raumbezogenen Forschung sollte es dabei sein, Handlungsrichtlinien zur Umsetzung des feststehenden Leitbildes der Sozialen Raumordnung zu entwerfen (vgl. den Widerspruch von Dittrich gegenüber diesem politischen Anspruch an die Raumforschung, Kap. 3.4.2). Auch die spezifischen Leitbilder (der 2. Generation) zielen auf den Entwurf und die Umsetzung eines Zukunftsentwurfs ab, und zwar für einzelne räumliche Einheiten. Die leitbildbezogene sozialwissenschaftliche Forschung befasst sich im Hinblick auf diese spezifischen Leitbilder vor allem mit der Frage angemessener Verfahren und Methoden zur Leitbildentwicklung. Vor allem die spezifischen Leitbilder der 2. Generation
3.4 Leitbilder in der raumbezogenen Planung und Forschung
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sind damit ein Planungsinstrument. Die generellen Leitbilder der 1. Generation (im Sinne Dittrichs) und vor allem der 2. Generation bilden demgegenüber vor allem eine analytische Kategorie zur Untersuchung von zukunftsbezogenen Vorstellungen, Wünschen, Dispositionen etc., die dem Denken und Handeln im Kontext von Raumplanung und -politik zugrunde liegen. Damit entsteht allerdings eine Kluft zwischen dem, was seit Ende der 1980er Jahre hauptsächlich in der Planungspraxis und der politischen Praxis der Stadt- und Regionalentwicklung sowie aktuell in der allgemeinen Raumentwicklung unter Leitbildern verstanden wird – nämlich das Produkt eine Leitbildprozesses als Instrument der Raumplanung – und den (generellen) Leitbildern (vornehmlich der 2. Generation) im Sinne einer sozialwissenschaftlichen Kategorie zur Analyse impliziter Leitbilder. Da Wissenschaft und Praxis jedoch nicht unverbunden sind, vielmehr Politiker, Planer und Sozialwissenschaftler in engem diskursiven Austausch miteinander stehen, entstehen hier unreflektierte Mehrdeutigkeiten und Missverständnisse. Nur durch eine differenzierte Betrachtung des Leitbildbegriffs als Planungsinstrument oder analytische Kategorie, die Unterscheidung von impliziten und expliziten, von praktizierten und propagierten Leitbildern kann mit diesen in den Sozialwissenschaften sinnvoll umgegangen werden und das Potenzial der unterschiedlichen Leitbildtypen genutzt werden.
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3 Leitbilder in den Sozialwissenschaften – die Diskursanalyse Innerhalb seines Geltungsbereichs strukturiert die Existenz eines Leitbildes die kollektiven Denk- und Handlungsprozesse. Ein stabiles Leitbild wirkt als Korridor für die konstruktive Arbeit wie für die techniknutzenden Optionen und Bedeutungszuschreibungen. Andreas Knie (1998, S. 45)
3.5
Leitbilder in der Technikforschung
Auch in der sozialwissenschaftlichen Technikforschung kursiert eine heterogene Vielfalt von Begriffsverwendungen bezüglich Leitbilder, die kaum überschaubar ist.161 Im Folgenden soll es um die Hauptpositionen zum Verhältnis von Leitbildern und Technik sowie um die diesbezüglich existierenden Kontroversen gehen. Daraus können die aus Sicht der Technikforschung wahrgenommenen Einsatzmöglichkeiten und Probleme des Leitbildansatzes in den Sozialwissenschaften herausgearbeitet werden. In die sozialwissenschaftliche Technikforschung fand der Leitbildbegriff insbesondere als Kategorie der Technikgeneseforschung Ende der 1980er Jahren Eingang.162 Darin wird der Leitbildbegriff in dreierlei Absicht genutzt: Erstens soll er zur Analyse von Technikgeneseprozessen dienen. Zweitens sollen Leitbilduntersuchungen einen frühzeitigen Beitrag für eine Technikfolgenabschätzung leisten. Und drittens sollen Leitbilder schließlich auch für die Techniksteuerung nutzbar gemacht werden. Barben nennt Leitbilder deshalb eine „theoretisch-praktische Kategorie“ (vgl. Barben 1999, S. 167). „Von der Leitbildforschung wird hier also zugleich die analytische Rekonstruktion, die kritische Technikbewertung, die prognostische Technikfolgenabschätzung und -antizipation sowie die positive, normative Steuerung von technischen Entwicklungs- und Geneseprozessen erwartet.“ (Hellige 1993, S. 195)
Eben dieser weitreichende Anspruch, mit dem Rückgriff auf Leitbilder die Technikentwicklung nicht nur rekonstruieren zu wollen, sondern gleichzeitig einen Beitrag zur Technikfolgenabschätzung und -bewertung sowie Technikgestaltung bzw. -steuerung zu leisten, ist in der Technikforschung mehrfach auf Kritik gestoßen. Den Kern der Kontroverse um die Stellung von Leitbildern in der Technikforschung bildet die Frage, ob und in welcher Form Leitbilder als auslösende und steuernde Momente der Technikentwicklung angesehen werden können. Aus der diesbezüglichen Position ergeben sich andere Funktionszuschreibungen bzw. Erwartungen an die Rolle der Leitbildforschung. Die spätere Analyse wird zeigen, dass es möglich ist, mit Leitbildern in der Technikforschung über einen rein deskriptiven Ansatz hinauszugehen, ohne dass damit ein lineares Ursache-Wirkungs-Modell und mechanistisches Verständnis des Zusammenhangs von Leitbildern und Technik zugrunde gelegt werden muss. Stattdessen wird eine sozialkonstruktivistische Perspektive eingenommen und damit ein kulturalistisches Verständnis von Technikentwicklung entworfen. Freilich erweisen sich dann Technikprognose und -steuerung 161 Eine Zusammenstellung einiger Varianten findet man bei Hellige (1996d). Er macht überdies deutlich, dass diese Leitbildbegriffe in die unterschiedlichsten theoretischen Kontexte und Begriffssysteme eingebunden sind (vgl. Hellige 1996a, S. 18ff.). 162 Als Vorläufer innerhalb der Technikgeschichte, an den jedoch nicht unmittelbar angeschlossen wurde, gilt Stöcklein (1969), der in historischen Maschinen-Büchern biblische und andere Motive als Leitbilder untersucht, die epochentypische Argumentationen für bestimmte Maschinen bzw. Techniken abgegeben haben.
3.5 Leitbilder in der Technikforschung
161
als Einsatzfelder für Leitbildforschung als zu stark gewählte Formulierungen, die dem kulturalistischen Grundverständnis widersprechen. Die in der Debatte um Leitbilder und Technikentwicklung vorgebrachten Überlegungen und Argumentationen, haben in der Diskussion zu einigen Unklarheiten, Missverständnissen und Unterstellungen geführt. Hier Klarheit zu schaffen, ist Anspruch des folgenden Kapitels. Systematisch lassen sich vier unter Umständen miteinander verwobene Umgangsformen mit Leitbildern unterscheiden, die hier vorweg genannt werden sollen, um die Varianten im Umgang mit und der Anwendung von Leitbildern innerhalb der Technikforschung systematisch aufarbeiten zu können.163 Mit diesen Umgangsformen verbinden sich wiederum drei unterschiedliche Einsatzfelder, in denen Leitbilder eingesetzt werden können (vgl. Tab. 3.1). Tabelle 3.1: Leitbilder in der Technikforschung – Umgang und Einsatz Einsatzfeld
Umgangsform analytischrekonstruktiv analytischantizipativ
Technikentwicklung TA – Prognose/ erklären bzw. Bewertung der verstehen Technikentwicklung retrospektiv
Techniksteuerung/ -gestaltung
prospektiv
X
–
–
–
X
entweder X
konstruktiv
–
–
oder X
diskursiv
(x)
X
X
Ein analytisch-rekonstruktiver Umgang mit Leitbildern zielt auf die Identifikation historischer oder gegenwärtig vorhandener Leitbilder und gegebenenfalls die Analyse ihrer bereits erfolgten Auswirkungen auf die Technik. Ein analytisch-antizipativer Umgang mit Leitbildern meint ebenfalls die Analyse vorhandener, aber auch potenzieller Leitbilder insbesondere unter der Frage ihrer möglichen Folgen für die zukünftige Technikentwicklung, die auf diese Weise antizipiert werden soll. Ein konstruktiver Umgang mit Leitbildern läuft auf die Formulierung bzw. Entwicklung von neuen Leitbildern hinaus. Und schließlich gibt es auf der Grundlage bzw. im Zusammenhang mit allen anderen Umgangsformen die Möglichkeit, sowohl vorhandene als auch potenzielle Leitbilder und ihre Auswirkungen zur Diskussion zu stellen. Diese unterschiedlichen Umgangsformen kommen nun in Bezug auf die Technikentwicklung an verschiedenen Stellen zum Tragen. Zunächst werden Leitbilder als eine analytische Kategorie eingesetzt, um im Kontext der Technikgeneseforschung erfolgte Technik163 Diese Systematik orientiert sich nur grob an dem allgemein entworfenen Typenraster zum Status von Leitbildern in sozialwissenschaftlichen Forschungsprojekten (vgl. Kap. 2.2.2). Sie erweitert das Grundschema und differenziert es nach unterschiedlichen Einsatzfeldern in der Technikforschung aus.
162
3 Leitbilder in den Sozialwissenschaften – die Diskursanalyse
entwicklungsprozesse retrospektiv zu untersuchen. Leitbildanalysen decken dann die Bedeutungszuschreibungen, Denk- und Wahrnehmungshorizonte auf, in denen bestimmte Technikentwicklungen erfolgt sind. Werden Leitbilder als dominanter Einflussfaktor auf die Technikentwicklung verstanden, ist es zudem möglich, im Rahmen der Technikfolgenabschätzung (TA) die möglichen Konsequenzen vorhandener oder potenzieller Leitbilder für die Technikentwicklung prospektiv zu erfassen. Auf dieser Grundlage können wiederum die sich aus vorhandenen oder potenziellen Leitbildern ergebenden Technikfolgen diskutiert werden.164 Dies weist in Richtung auf Prognose und Bewertung noch nicht abgeschlossener Technikentwicklungen. Schließlich werden Leitbilder auch in Bezug auf ihren Beitrag für eine Techniksteuerung bzw. -gestaltung thematisiert. Dabei geht es entweder darum, als informationelle Grundlage für Techniksteuerung die noch nicht eingetretenen Folgen vorhandener Leitbilder zu antizipieren und gegebenenfalls zur Diskussion zu stellen. Oder es geht darum, durch Entwicklung von neuen Leitbildern bzw. die Veränderung vorhandener Leitbilder, die Technikentwicklung in eine bestimmte Richtung zu lenken. Die verschiedenen Umgangs- und Einsatzformen sind miteinander kombinierbar. Was hier noch als abstrakte Systematisierung daherkommt, wird sich bei der Darstellung der unterschiedlichen Leitbildkonzepte innerhalb der Technikforschung konkretisieren und maßgeblich zum Verständnis der Differenzen der unterschiedlichen Positionen beitragen. Es sei den weiteren Ausführungen als Instrument zur systematischen Unterscheidung vorangestellt. Im Folgenden sollen drei zentrale Positionen zu Leitbildern in der Technikforschung dargestellt werden. Die Arbeiten der Forschungsgruppe um Meinolf Dierkes, von Mambrey und seinen Kollegen sowie von Hellige zeichnen sich gegenüber den vielen Einzeluntersuchungen zu Leitbildern in der Technikforschung dadurch aus, dass sie die Fragestellung umfassend sowie theoretisch grundlegend, d.h. nicht lediglich in Bezug auf einzelne Forschungsbereiche oder Fallbeispiele, bearbeiten. Abschließend werden, die zuvor erarbeiteten Konzepte und Positionen mitberücksichtigend, übergreifend für den Bereich der Technikforschung Problemkreise diskutiert, die über das Feld der Technikforschung hinaus für ein allgemeines Verständnis von Leitbildern innerhalb der Sozialwissenschaften von Bedeutung sind. Zum besseren Verständnis der weiteren Darstellung sei hier eine allgemeine, weitgehend konsensuell getragene Definition von Leitbildern in der Technikforschung vorangestellt: Unter Leitbildern werden in der Technikforschung längerfristig geltende Vorstellungen über gleichzeitig erwünschte und für machbar gehaltene technische Zukünfte verstanden, die das Denken und Handeln der Akteure prägen.
164 Zu einer Technikfolgenabschätzung gehört nicht nur die Abschätzung und Voraussage der Auswirkungen einer Technik, sondern auch die Bewertung der Technik anhand ihrer Folgen (vgl. Baron 1995, S. 50). Die Technikfolgenforschung bildet die wissenschaftlich-informationelle Grundlage für die Technikfolgenabschätzung. Eine zukunftsorientierte Technikfolgenforschung hat einerseits einen normativen Charakter in dem Sinne, dass nach den Maßstäben und Wünschen gegenüber dem technischen Fortschritt gefragt wird. Andererseits bzw. daraus folgend wird in einer solchen zukunftsorientierten Technikfolgenforschung auch die Steuerungsfrage gestellt, d.h. sie erhebt gleichzeitig den Anspruch einer (perspektivischen) Technikgestaltung (vgl. ebd., S. 35; Dierkes 1981, S. 74). In diesem Sinne wird auch von der vierten Generation der Technikfolgenforschung gesprochen (vgl. Baron 1995, S. 44f.). Der Beitrag der Leitbildforschung für die Technikfolgenabschätzung besteht vornehmlich darin, eine mögliche Technikentwicklung bereits vor ihrer Realisierung antizipieren zu können, um daran wiederum mögliche Folgen der Technik diskutieren zu können. Technikfolgen lassen sich jedoch nicht unmittelbar aus den Leitbildern ablesen (vgl. Kap. 3.5.1.2).
3.5 Leitbilder in der Technikforschung
163
Dierkes und seine Mitarbeiter fassen Technikleitbilder als „Vorstellungen über gegebene oder herstellbare technische Möglichkeiten (...), die sich zu vorausdeutenden Technikentwürfen verdichten und als wahrnehmungs-, denk-, entscheidungs- und handlungsleitender Orientierungsrahmen für individuelle und kollektive Akteure in technikgenetischen Prozessnetzwerken wirken“ (Dierkes/Hoffmann/Marz 1992, S. 11).
Überdies verschmilzt Leitbilder das, „was Menschen für machbar ansehen und das, was sie für wünschbar halten, untrennbar, es kristallisiert in bildhafter Gestalt aus und erhält eine raumzeitlich ausgedehnte Verbindlichkeit.“ (Dierkes/Canzler 1998, S. 25) 3.5.1 Leitbilder in der Technikgenese – das Konzept der WZB-Forschergruppe Bereits seit Ende der 1980er Jahre befassen sich Meinolf Dierkes und seine Mitarbeiter mit Leitbildern im Technikgeneseprozess. Die in diesem Zusammenhang vorgenommenen Untersuchungen, Analysen, Konzeptentwicklungen und Theorieentwürfe können als die umfänglichste Auseinandersetzung mit Leitbildern in den Sozialwissenschaften überhaupt bezeichnet werden. Die Diskussion um Leitbilder in der Technikforschung, insbesondere auch die Kritik hat sich immer wieder auf dieses in unzähligen Veröffentlichungen entworfene und dargestellte Konzept bezogen. Deshalb soll das aus dem Wissenschaftszentrum Berlin (WZB) stammende Leitbildkonzept im Folgenden umfassend dargestellt und diskutiert werden. Das Leitbildkonzept der WZB-Forschergruppe ist im Rahmen von sozialwissenschaftlichen Untersuchungen zur Technikentstehung – der sogenannten Technikgeneseforschung – und über den Kontext der Technikforschung hinaus entwickelt und angewendet worden. Leitbilder wurden zum einen allgemein im Rahmen der sozialwissenschaftlichen Technikgeneseforschung untersucht (vgl. Dierkes 1988, Dierkes/Marz 1990, Dierkes 1991, Knie/ Helmers 1991, Dierkes/Hoffmann/Marz 1992, Dierkes/Knie 1994, Knie 1998). Zum anderen wurden Fallanalysen und konzeptionelle Überlegungen vorgenommen, die sich auf konkrete Technikfelder und technisch bedingte gesellschaftliche Handlungsfelder wie zum Beispiel die Motor-, Schreibmaschinen- oder Telefontechnik sowie die Automobilitätsforschung (vgl. Rogers 1990, Marz/Dierkes 1992, Dierkes/Hoffmann/Marz 1992, Buhr 1997, Canzler 1997), die Bio- und Gentechnologie (Barben/Dierkes/Marz 1993, Barben 1997), die Künstliche Intelligenz und die Kommunikations- und Informationstechniken (Dierkes/ Marz 1992, Marz 1993a, b und c, Canzler/Helmers/Hoffmann 1997) und zuletzt die Stromversorgung durch die Energiewirtschaft und die Medienregulierungskonzepte des öffentlichen Rundfunks (Künzler 2003, Baedeker 2004) bezogen. Mehrfach wurde der Zusammenhang von Politik und Technikentwicklung bzw. -steuerung erörtert (Dierkes 1992, Dierkes/ Canzler/Marz/Knie 1995, Dierkes/Canzler 1998, Canzler/Dierkes 2000). Über den Technikbezug hinaus wurden Leitbilder in Bezug auf die Entwicklung von Regionen (Kahlenborn u.a. 1995) und in Bezug auf das Organisationslernen (Dierkes/Marz 1998a, 1998b und 1998c) thematisiert. Ebenso wurden die Möglichkeiten und Grenzen der Gestaltung von Unternehmensleitbildern erörtert (Marz 1991, Marz/Dierkes 1992, Dierkes/ Marz 2001).165 165 Neben den Untersuchungen und Theorieentwürfen zu Leitbildern in der Technikforschung haben sich Dierkes und seine Mitarbeiter vor allem mit Leitbildern in Organisationen beschäftigt. Tatsächlich ist das Konzept zu technischen Leitbildern an einigen Stellen eng verbunden mit ihren Überlegungen zu Organisa-
164
3 Leitbilder in den Sozialwissenschaften – die Diskursanalyse
Es folgt eine kritische Darstellung des theoretischen Modells zur Technikgenese und zur Rolle von Leitbildern im Prozess der Entstehung neuen technischen Wissens sowie eine kritische Analyse der in diesem Modell gemachten Annahmen hinsichtlich der Funktionen, der Genese und Karriere von Leitbildern. In Rückbezug auf die eingangs systematisch unterschiedenen Umgangsformen und Einsatzfelder von Leitbildern innerhalb der Technikforschung werden anschließend die bei Dierkes und seinen Mitarbeitern zu findenden Überlegungen und Konzepte zur Leitbildanalyse und Leitbildgestaltung sowie zur Technikfolgenabschätzung und Techniksteuerung durch Leitbilder dargestellt. 3.5.1.1 Das Leitbild als theoretisches Konzept der Technikgeneseforschung Das Leitbildkonzept ist im Rahmen der sozialwissenschaftlichen Technikgeneseforschung, also zur Untersuchung der Entstehung von Techniken, entwickelt worden. Zunächst wurden vier Faktoren identifiziert, die den Technikentwicklungsprozess über die darin erfolgenden Forschungs- und Entwicklungsentscheidungen maßgeblich prägen: Die in einem Forschungsfeld bzw. in einer Gruppe von Technikentwicklern herrschende Konstruktions- und Forschungstradition als der Pool des für relevant erachteten vorhandenen Wissens, der Forschungs- und Konstruktionsstil als in einzelnen Organisationen spezifizierte Form der technischen Problemlösungssuche, die Unternehmens- bzw. Organisationskultur als die organisationsintern geteilten Sichtweisen und Wahrnehmungsmuster sowie (technische) Leitbilder (vgl. Dierkes/Marz 1990, S. 22ff.; Marz/Dierkes 1992, S. 2; Dierkes 1992, S. 284ff.). „Komprimiert zusammengefaßt geht die technikgenetische Forschung von der Grundhypothese aus, daß die Selektions- und Eliminierungsentscheidungen im Prozeß der Entwicklung von Technik durch die organisationsspezifische Interpretation allgemeiner technischer Leitbilder geprägt werden (...).“ (Dierkes/Marz 1990, S. 22f.)
Damit werden nach diesem Ansatz die Entscheidungen im Technikgeneseprozess durch organisationsspezifische und organisationsübergreifende Wahrnehmungen, Werte und Ziele, Grundannahmen über angemessene Strategien und Verhaltensweisen sowie für relevant erachtete vorhandene Erfahrungs- und Wissensbestände geprägt. Während Organisationskultur, Konstruktions- und Forschungstradition sowie Konstruktionsstile die tradierten Wahrnehmungs-, Denk- und Verhaltensmuster sowie Erfahrungs- und Wissensbestände umfassen, weisen die Leitbilder über diese insoweit hinaus, dass sie die erwünschten und für machbar gehaltenen Zukunftsentwürfe betreffen. Diesen wird eine herausragende Bedeutung zugeschrieben und deshalb konzeptionell besondere Beachtung geschenkt. Leitbilder im Modell zur Erklärung der Produktion technischen Wissens In der Technikentwicklung kann nicht lediglich auf bereits vorhandene Wissensbestände zurückgegriffen werden, sondern muss neues Wissen produziert werden. Leitbilder bilden selbst noch kein neues Wissen, regen aber zur Suche danach an und übernehmen damit eine tionskultur, organisationellem Lernen und Organisationsleitbildern. Die Darstellung der organisationsspezifischen Überlegungen zum Leitbildkonzept von Dierkes erfolgt in Kapitel 3.3.4.1.
3.5 Leitbilder in der Technikforschung
165
wichtige innovationsfördernde Funktion. Wie dies geschieht, ist Gegenstand eines komplexen, von Dierkes, Hoffmann und Marz dargestellten Modells zur Erklärung der Produktion technischen Wissens (vgl. Dierkes/Hoffmann/Marz 1992). Hierbei wird insbesondere auch die Bedeutung von Leitbildern in diesem Prozess als theoretische Grundlage für die Technikgeneseforschung herausgearbeitet. Ausgangspunkt des besagten Modells ist die Frage, wie neues technisches Wissen entsteht.166 Bei der Entstehung neuen technischen Wissens spielt das Zusammenwirken verschiedener „Wissenskulturen“ eine besondere Rolle.167 Neues technisches Wissen wird durch Kooperation und Kommunikation von Akteuren unterschiedlicher Wissenskulturen hervorgebracht, genauer durch das Zusammenwirken und die Überlagerung, in den Worten von Dierkes, Hoffmann und Marz durch die „Interferenz der Wissenskulturen“.168 Die Interferenz erfolgt dabei auf zwei verschiedenen Ebenen: „der ‚äußeren‘ Ebene der interpersonellen Kommunikation und Kooperation und der ‚inneren‘, intrapersonellen Ebene individueller Erkenntnis- und Entscheidungsmuster, Denk- und Verhaltensweisen, Konflikt- und Kooperationsstrategien“ (Dierkes/Hoffmann/Marz 1992, S. 12). Die im Rahmen der Interferenz ablaufenden Kommunikations- und Individuationsprozesse müssen koordiniert und stabilisiert werden.169 Es muss zu einer Synchronisation der Kommunikationsprozesse und der Individuationsprozesse sowie beider Prozessebenen miteinander kommen (vgl. ebd., S. 38). Dierkes und seine Mitarbeiter stellen die These auf, dass Leitbilder diese Synchronisationsleistung erbringen können (vgl. ebd., S. 82). Leitbilder bilden somit die Vermittlungsinstanz, welche die Kooperation und das Zusammenwirken der verschiedenen Wissenskulturen ermöglicht. Zur Begründung dieser These formulieren die Autoren Kriterien, die gegeben sein müssen, um die Kommunikations- und Individuationsprozesse synchronisieren zu können: Es müsste auf beiden Synchronisationsebenen – individueller und Kommunikationsebene – existieren, es müsste evident sein, d.h. immer schon selbstverständlich im technikgenetischen Prozessnetzwerk vorhan166 Das Modell der Technikgenese von Dierkes und Mitarbeitern versteht sich selbst als ein Entwurf, nicht als fertige Theorie. Allerdings wird von anderer Seite kritisiert, dass sowohl die Autoren selbst als auch deren Rezipienten den Entwurfscharakter des Modells mit der Zeit immer häufiger übersehen und das Konzept als allgemeine Theorie der Technikgenese dargestellt haben (vgl. Hellige 1996a, S. 29 und Barben 1999, S. 168). 167 Unter Wissenskulturen versteht Dierkes soziale Handlungsräume, in denen ein bestimmtes Wissen auf eine bestimmte Weise (re-)produziert und repräsentiert wird (vgl. Dierkes/Hoffmann/Marz 1992, S. 30ff.). Zunächst wurden Organisationen als der Ort für technische Forschungs- und Entwicklungsprozesse herausgestellt und entsprechend organisationsspezifische, insbesondere organisationskulturelle Faktoren für die Technikgenese verantwortlich gemacht (vgl. Dierkes/Marz 1990). Im Laufe der ersten Untersuchungen zur Technikgenese ist diese Perspektive relativiert und den überbetrieblichen Wissens- und Erfahrungsbeständen mehr Beachtung geschenkt worden (vgl. bereits Knie/Helmers 1991 und Dierkes/Knie 1994, S. 88). Entsprechend stehen im Mittelpunkt des hier dargestellten Modells verschiedene Wissenskulturen, die sich gleichsam innerhalb einer Organisation finden lassen (vgl. Marz/Dierkes 1992, S. 31). Auch das Konstrukt der Wissenskulturen ist offenbar später zugunsten der „Schließungstheorie“ der Technikgenese über generierte Erfahrungs- und Wissensbestände aufgegeben worden (vgl. bspw. Canzler/Dierkes 2001 und weiter unten). 168 Der Begriff der Interferenz soll darauf hinweisen, dass das Ergebnis der Kommunikations- und Kooperationsprozesse zwischen den verschiedenen Wissenskulturen nicht einfach die Addition ihrer Wissensbestände ist, sondern die Entstehung von neuem Wissen und damit gleichzeitig neuer Wissenskulturen durch „Kreisläufe der Anziehung/Abstoßung, Verstärkung/Schwächung, Fusion/Dissoziation, Assimilation/Dissimilation“ (vgl. Dierkes/Hoffmann/Marz 1992, S. 33). 169 Auf der Kommunikationsebene geht es um Verhaltenskoordination und Kooperation der Akteure sowie deren Reproduktion. Auf der Ebene der Individuation geht es um die „Internalisation“ der Wahrnehmungs-, Denkund Handlungsmuster sowie die subjektive Koordination der verschiedenen Muster (vgl. ebd., S. 33ff.).
3 Leitbilder in den Sozialwissenschaften – die Diskursanalyse
166
den sein, es müsste sowohl wissenskulturspezifisch als auch -übergreifend sein, mit anderen Worten innerhalb einer Wissenskultur und darüber hinaus verstehbar sein. Schließlich müsste es Impulse zur Interferenz auslösen, richtungsweisend sein, stabilisierend und korrigierend wirken können (vgl. ebd., S. 39f.). Dierkes und seine Kollegen benennen insgesamt sechs Funktionen von Leitbildern, an denen deutlich gemacht werden soll, dass Leitbilder dieses Synchronisationsproblem lösen. In einem mehrstufigen Plausibilitätstest wird unter anderem die These, dass Leitbilder die Synchronisation dieser Kommunikations- und Individuationsprozesse leisten, über die Wirkung der dargestellten Funktionen von Leitbildern innerhalb der beschriebenen Technikgeneseprozesse geprüft (vgl. ebd., S. 81ff.). Mit den beschriebenen Funktionen von Leitbildern werden also insbesondere ihre Effekte oder Wirkungen im Rahmen der Technikgenese und konkret in Bezug auf die Interferenz von Wissenskulturen dargestellt. Die Funktionen von Leitbildern Die Forschungsgruppe um Dierkes nennt sechs Funktionen von Leitbildern. Da diese Funktionen ein tragendes Element ihres Leitbildkonzeptes bilden und auch als Operationalisierung für eine Leitbildanalyse herangezogen werden, sollen sie im Folgenden dargestellt werden: Die wohl wichtigste Funktion bildet die sogenannte kollektive Projektion. Leitbilder bringen die geteilten Wunsch- und Machbarkeitsvorstellungen zum Ausdruck. Die dahinter stehende gedankliche Figur stellt ein kollektiv geteiltes Dreieck dar, das aus einer Basislinie als Spannungslinie zwischen gegenwärtigen Wünschen und der Wirklichkeit besteht und zwei aufeinander zulaufenden Projektionslinien in die Zukunft – Wunschprojektion und Machbarkeitsprojektion –, die sich in der Zukunft treffen. Dieser gemeinsame Fluchtpunkt stellt die Vorstellung dessen dar, was gleichzeitig erwünscht und für machbar gehalten wird (vgl. ebd., S. 42f.). „Leitbilder bündeln die Intuition und das (Erfahrungs-)Wissen der Menschen darüber, was ihnen einerseits als machbar und andererseits als wünschbar erscheint. (...) Man hat eine konkrete Vorstellung vor Augen, die man erreichen will, (...) und die man zugleich erreichen zu können meint, weil sie einem, zwar nicht umstandslos, aber prinzipiell als machbar erscheint.“ (Marz/Dierkes 1992, S. 5)
Insofern unterscheiden sich Leitbilder von reinen Wunschbildern, weil Leitbilder immer auch einen Machbarkeitsbezug haben, und zwar nicht nur in dem Sinne, dass das, was erwünscht wird auch für machbar gehalten wird, sondern dass seine Realisierung im Zeitverlauf auch schrittweise erfahren wird. Dierkes zufolge muss sich, damit sich ein Leitbild erhalten kann, die Differenz zwischen Wunsch und Wirklichkeit stetig verringern, muss also nicht nur die Machbarkeit der Vorstellung angenommen werden, sondern auch tatsächlich graduell erfahren werden. Abgeleitet aus den gemeinsamen Wunsch- und Machbarkeitsvorstellungen ergibt sich ein geteilter Bewertungsrahmen bzw. -maßstab, der seinerseits die Wahrnehmung steuert. Auf diese Weise leisten Leitbilder eine synchrone Voradaption, d.h. sie synchronisieren die
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Bewertungen der Akteure und bilden einen gemeinsamen Wahrnehmungshorizont.170 Als funktionale Äquivalente ersetzen Leitbilder die in einer noch nicht etablierten neuen Wissenskultur fehlenden diskursiven Regeln, Konventionen sowie Entscheidungslogiken und bieten auf diese Weise eine sichere Grundlage für Entscheidungen (vgl. Dierkes/Hoffmann/ Marz 1992, S. 48). Als kognitiver Aktivator ermöglichen Leitbilder das Denken in einem bestimmten Bild und somit einen kreativen Umgang mit einem Problem. „Die Menschen, die sich in ihrem Denken von einem Leitbild leiten lassen, tun dies also, indem sie vermittels des Bildes und in dem Bild denken.“ (Marz/Dierkes 1992, S. 7) In der Funktion des personellen Mobilisators aktivieren Leitbilder die emotionalen, volitiven und affektiven Kräfte, berühren das Fühlen, die Interessen, Bedürfnisse und Affekte der Menschen. „Das Bild residiert nicht nur in den Köpfen, es sitzt auch in den Herzen der Menschen.“ (Dierkes/Hoffmann/Marz 1992, S. 55) Als interpersoneller Stabilisator sorgt das Leitbild schließlich dafür, dass die Kooperation zwischen den Akteuren der unterschiedlichen Wissenskulturen aufrechterhalten wird und dämpfen auftretende Spannungen. „Leitbilder binden Menschen aneinander, die sonst nichts aneinander bindet.“ (ebd., S. 57) 171 Knapp und allgemein verständlich heißt das: Leitbilder bieten Orientierung bzw. Orientierungsangebote, indem sie bestimmte Wahrnehmungs-, Denk- und Entscheidungshorizonte eröffnen und andere ausschließen. Leitbilder ermöglichen Koordinierung, indem sie zwischen unterschiedlichen Wahrnehmungs- und Denkweisen vermitteln und die Verständigung erleichtern. Leitbilder wirken schließlich dadurch motivierend, dass sie die Akteure emotional ansprechen (vgl. Dierkes/Canzler/Marz/Knie 1995, 12ff., Canzler/Dierkes 2000, S. 460f.). Zur Definition von Leitbildern im Rahmen der Technikgeneseforschung Zu Beginn des Kapitels ist bereits eine allgemeine Definition von Leitbildern innerhalb der Technikforschung gegeben worden, an die hier zunächst erinnert sei: Unter Leitbildern werden in der Technikforschung Vorstellungen über gleichzeitig erwünschte und für machbar gehaltene technische Zukünfte verstanden, die das Denken und Handeln der Akteure prägen. Für die Technikgenese lässt sich aus Sicht des vorgestellten Leitbildkonzepts die Bedeutung von Leitbildern konkretisieren. Als kollektiv geteilte und ebenso wünschbare wie machbare Zukunftsentwürfe (vgl. Canzler/Dierkes 2000, S. 472) leisten sie Orientierung, Koordinierung und Motivation, die allesamt als Funktionen bedeutend sind im Prozess der Technikgenese, insbesondere bei der Generierung neuen technischen Wissens. Leitbilder sind „für Gruppen und Individuen denk-, verhaltens- und entscheidungsleitend, sowie für Organisationen kooperations-, koordinations- und kommunikationsleitend“ (Dierkes/Marz 1990, S. 30). In Technikgeneseprozessen helfen Leitbilder bei der Generierung von neuem technischen Wissen, indem sie die Denk- und Handlungsmuster der am Technikentwicklungs170 Hierbei wird davon ausgegangen, dass Bewertungen die Wahrnehmung steuern. „Das ‚wozu‘ bestimmt wesentlich, ob, wie und als was das sensorisch Erfaßte tatsächlich wahrgenommen, erkannt, gewußt wird.“ (Dierkes/Hoffmann/Marz 1992, S. 46) 171 Die sechs dargestellten Funktionen entstammen den Überlegungen zu Leitbildern im Rahmen der Interferenz von Wissenskulturen und sind auf diesen Zusammenhang zugespitzt worden. Sie sind einerseits um einiges konkreter und operationaler als die drei später formulierten allgemeinen Funktionen der Orientierung, Koordinierung und Motivierung. Andererseits entziehen sie sich nicht nur durch die Wahl der Bezeichnungen einem unmittelbaren Verständnis.
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prozess Beteiligten auf ein gemeinsames Ziel ausrichten und auf diese Weise die Koordination erleichtern und die Motivation erhöhen. Sie dienen hier insbesondere zur Orientierung für Entscheidungen unter Unsicherheitsbedingungen (vgl. auch Dierkes 1988, S. 268): „In technikgenetischen Prozessen befinden sich Akteure immer wieder in Situationen großer Offenheit und Unsicherheit, zu deren Bewältigung sie verschiedene Formen der Zukunftsantizipation und -projektion entwickeln (...). Leitbilder stellen nun eine besondere Form der Zukunftsprojektion dar, (...) da in ihnen das, was Menschen für machbar ansehen und das, was sie für wünschbar halten, untrennbar ineinander verschmilzt und in bildhafter Gestalt auskristallisiert.“ (Dierkes/Canzler/Marz/Knie 1995, S. 10f.)
Knie u.a. haben den Technikgeneseprozess als einen „Schließungs- und Konsolidierungsprozeß generierter Erfahrungs- und Wissensbestände“ (Dierkes/Knie 1994, S. 91; Knie 1997, S. 228; Knie 1998, S. 41; vgl. auch Canzler/Dierkes 2000, S. 460) beschrieben. Das meint, dass Technikentwicklung ein Prozess der Pfadverengung und Einschränkung des Denkund Handlungsspielraums in Bezug auf die Konstruktion, Nutzung und Anwendung von Techniken darstellt. Das Ergebnis eines solchen Verständigungsprozesses, in dem es zur Ausdehnung einer entsprechenden Übereinkunft mit hoher Verbindlichkeit und kollektiver Projektionskraft kommt, kann als Leitbild bezeichnet werden (vgl. Knie 1997, S. 222 und Knie 1998, S. 44).172 Ein Leitbild wird dann als solches bezeichnet, wenn es von einer größeren Anzahl von Akteuren in einem technischen Feld aufgenommen wird und von diesen als Konsens in dem Sinne angenommen wird, dass sie ihre Wahrnehmungs-, Denk-, Verhaltens- und Entscheidungsmuster prägen (vgl. Dierkes/Hoffmann/Marz 1992, S. 107f.).173 Leitbilder bilden damit mentale Fixierungen bzw. kognitive Muster, die als „geistige Korridore“ (Dierkes/Knie 1994, S. 91) die Technikkonstruktion und -nutzung vorprägen. Leitbilder bündeln und strukturieren die Kommunikation und Vorstellungen aufgrund eines geteilten Sinnzusammenhanges. In dieser Funktion strukturieren sie das Denken und Handeln und begrenzen es zugleich (vgl. Knie 1998, S. 45). Die Leitbilder schreiben sich in dem Maße in die Technik ein, wie sie die Wahrnehmungs-, Denk- und Entscheidungsprozesse innerhalb der Technikgenese prägen. Die Autoren unterscheiden zwischen feldgenerierenden und pfadselektierenden Leitbildern. Erstere eröffnen überhaupt erst bestimmte technische Entwicklungsfelder, Letztere 172 Knie nimmt mit seinem Verständnis von Leitbildern insofern eine besondere Perspektive ein, dass er den Technikgeneseprozess nicht auf den technischen Entwicklungsprozess begrenzt, sondern die gesellschaftliche Aneignung der Technik durch Bedeutungszuschreibung hinsichtlich ihrer Anwendung mitberücksichtigt (vgl. Knie 1997, S. 229 und Knie 1998, S. 43). „Der Geneseprozeß (...) hat dann einen ‚Abschluß‘ gefunden, wenn der gefundene Lösungsweg in einem Prozeß der gesellschaftlichen Aneignung und Bedeutungszuschreibung den kristallisierten Kern einer Verständigung zwischen Herstellenden und Verwendenden darstellt und auf der Meso- bzw. Makroebene die Funktion von ‚Leitbildern‘ einnimmt.“ (ebd., S. 41) Leitbilder in der Technikgeneseforschung stellen hier entsprechend die gesellschaftliche Übereinkunft über die Konstruktion und Anwendung einer Technik dar. In früheren Veröffentlichungen hatte aber auch Knie darauf hingewiesen, dass Leitbilder auf verschiedenen Ebenen, nicht nur allgemein gesellschaftlicher existieren (vgl. Knie/Helmers 1991). 173 Damit ist das Kriterium für Leitbilder – abgesehen von seiner denk-, wahrnehmungs- und handlungsleitenden Eigenschaft – verhältnismäßig vage: Ob ein Leitbild als solches bezeichnet wird, hängt von der Größe der Gruppe ab, deren Denken und Handeln das entsprechende Leitbild zugrunde liegt. Hier kann es keine absolute Grenze geben, da diese im Verhältnis zur Gesamtgröße des Technikfeldes steht, auf das sich das Leitbild bezieht. Ist das Technikfeld überschaubar, muss die Gruppe der Ideenträger auch nicht sonderlich groß sein, damit man von einem Leitbild sprechen kann (vgl. Dierkes/ Hoffmann/Marz 1992, S. 108f.).
3.5 Leitbilder in der Technikforschung
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begünstigen bestimmte Entwicklungspfade (vgl. Marz/Dierkes 1992). Dierkes, Hoffmann und Marz vermuten überdies, dass im Laufe einer Leitbildkarriere dieses seine für den Technikentwicklungsprozess so bedeutende innovationsfördernde Wirkung immer mehr verliert und statt dessen die entstandene Technik, die entstandenen Konstruktionsroutinen und Verfahrensprozeduren legitimiert. Die technikanstoßende Wirkung wird durch die techniklegitimierende abgelöst (vgl. Dierkes/Hoffmann/Marz 1992, S. 114).174 Leitbilder existieren auf verschiedenen Ebenen. Dies betrifft zum einen das damit fokussierte Gegenstandsfeld und zum anderen seinen Geltungsbereich: Marz und Dierkes unterscheiden Makro-, Meso- und Mikro-Leitbilder voneinander, um die Diskursbreite hinsichtlich des Leitbildbegriffes zu verdeutlichen. Als Beispiele wählen sie die Informationsgesellschaft auf der Makroebene, das papierlose Büro auf der Meso-Ebene und „nichts ist unmöglich“ oder „Qualität ist Zukunft“ auf der Mikroebene (vgl. Marz/Dierkes 1992, S. 3f.). Damit scheint in diesem Fall eher die unterschiedliche Größe des Gegenstandsfeldes angesprochen. Im gleichen Sinne unterscheidet Dierkes (1988) zwischen Makroleitbildern wie der Informationsgesellschaft, Leitbildern auf der Ebene von Technikfeldern und -familien sowie Leitbildern auf der Ebene von Einzeltechniken. Gleichzeitig kann die Differenzierung von Mikro-, Meso- und Makro-Leitbildern aber auch auf unterschiedliche Geltungsbereiche verweisen, also auf die Frage, für welche Gruppe ein bestimmtes Leitbild Gültigkeit beansprucht, welche personale Reichweite es hat. So stellen Canzler und Dierkes fest, dass sich Leitbilder „auf der Mikro-Ebene von Technikfeldern und Branchen bzw. Unternehmen ebenso wie auf der gesellschaftlichen Makro-Ebene finden“ (vgl. Canzler/Dierkes 2000, S. 460). Ebenso stellen Knie und Helmers schon frühzeitig dar, dass Leitbilder als organisationsspezifische Sinnzusammenhänge gebildet werden und betriebsintern wirken, dass gleichzeitig aber auch überbetriebliche Übereinkünfte, wie beispielsweise der institutionalisierte „Stand der Technik“, Leitbildfunktionen erfüllen (vgl. Knie/Helmers 1991, S. 442). Daneben können schließlich unterschiedliche Leitbilder als geteilte Sinnzusammenhänge von verschiedenen Subkulturen auch innerhalb einer Organisation existieren (vgl. ebd., S. 433ff.). Die hier vorgenommene Differenzierung von Leitbildern auf verschiedenen Ebenen einerseits hinsichtlich des Gegenstandsfeldes und andererseits hinsichtlich ihres Geltungsbereichs wird in diesem Leitbildkonzept nicht herausgearbeitet. Zwar hängen Gegenstandsfeld und Geltungsbereich unter Umständen zusammen, können aber durchaus auch unterschiedlich ausfallen.175 In der Diskussion über Leitbilder, in ihrer Analyse wie auch ihrer Entwicklung sollte diese Differenz beachtet werden. Im Allgemeinen unterscheidet Dierkes zwischen allgemeinen technischen Leitbildern und ihrer organisationsspezifischen Interpretation (vgl. Dierkes 1988 und Dierkes/Marz 1990). Damit werden technische Leitbilder auf überorganisationeller Ebene angesiedelt, 174 Für Rammert und Zill gilt, dass sie in Leitbildern weniger innovationsfördernde Wirkungen wahrnehmen als vielmehr ihre legitimatorische Funktion (Rammert 1994, S. 16; Zill 1996; zur Bedeutung der Legitimationsfunktion von Leitbildern siehe auch Barben 1997 und 1999). 175 Die Informationsgesellschaft kann sowohl hinsichtlich des angesprochenen Gegenstandes als auch hinsichtlich seiner Geltung als Makroleitbild verstanden werden. Informationsgesellschaft kann aber auch im Mikrobereich einer kleineren Interpretationsgemeinschaft anders verstanden werden und sollte dann hinsichtlich seines Geltungsbereichs als spezifisches Mikro-Leitbild verstanden werden. Demgegenüber stellen die Leitbilder in Knies Ansatz zwar hinsichtlich des Geltungsbereiches ausgesprochene Makro-Leitbilder auf gesellschaftlicher Ebene dar, beziehen sich aber hinsichtlich ihres Gegenstandsfeldes eher auf den Mikrobereich einzelner technologischer Artefakte (vgl. Knie 1998).
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3 Leitbilder in den Sozialwissenschaften – die Diskursanalyse
wenngleich Organisationskulturen und Organisationsleitbilder – wenigstens in frühen Arbeiten – bei der Modifikation ebenso wie bei der Entstehung von allgemeinen technischen Leitbildern sowie für Entscheidungen im Technikgeneseprozess als bedeutend angesehen werden (vgl. Marz/Dierkes 1992). Technische Leitbilder bzw. Technikleitbilder finden sich schließlich nicht nur bei den am Entwicklungsprozess Beteiligten, sondern ebenso bei deren Nutzern. Leitbilder stiften für die jeweilige Technik und ihre Anwendung einen kulturellen Sinn. Im Prozess der gesellschaftlichen Aneignung einer Technik kommt es zur gesellschaftlichen Sinnkonstitution in Bezug auf die jeweilige Technik (vgl. Dierkes/Canzler/Marz/Knie 1995, S. 19).176 Zur Genese und Karriere von Leitbildern Die Frage, wie Leitbilder entstehen, ist aus den Darstellungen der Forschergruppe heraus nur schwer zu beantworten. Dort heißt es zunächst nur, dass Leitbilder aus Ideen mit Leitbildpotenzial entstehen. Ideen mit Leitbildpotenzial werden zu Leitbildern, wenn sie von einer größeren Anzahl von Akteuren in einem (technischen) Feld getragen werden. Prinzipiell wird die Entstehung von Leitbildern als Ausweitung des Konsenses über die entsprechenden Vorstellungen in einer größeren Gruppe begriffen, die sich über diese geteilte Bedeutungszuschreibung in das Denken und Handeln der Akteure einschreiben und auf diese Weise das technische Produkt prägen (vgl. Dierkes/Hoffmann/Marz 1992, S. 107f.).177 Der charakteristische Verlauf einer Leitbildkarriere wird wie folgt dargestellt: Zunächst entsteht eine Idee mit Leitbildpotenzial (1. Stufe). In dem Maße wie der Konsens über dieses Leitbild sich in einer größeren Gruppe ausweitet, vergrößert sich auch das Leitbildpotenzial (2. Stufe). Im weiteren Verlauf stabilisiert sich das Leitbild (3. Stufe) und schließlich kommt es angesichts veränderter Umweltbedingungen zu seiner Erstarrung oder Umorientierung bzw. zur Verdrängung durch ein anderes Leitbild (4. Stufe) (vgl. ebd., S. 111ff.). Dierkes, Hoffmann und Marz stellen Überlegungen zu den Faktoren an, die die Entstehung bzw. Ausprägung von Leitbildern und den dargestellten idealtypischen Verlauf einer Leitbildkarriere beeinflussen (vgl. ebd., S. 113ff.): Zunächst hängt der Erfolg eines Leitbildes davon ab, inwieweit es tatsächlich die unterschiedlichen Leitbildfunktionen für eine wachsende und damit zwangsläufig auch heterogener werdende Gruppe erfüllen kann und wie plausibel das Leitbild für die Beteiligten ist. Ob und inwieweit sich eine Idee mit Leitbildpotenzial als Leitbild etablieren kann, hängt zudem davon ab, wie stark sich die Träger der Idee damit identifizieren und wie groß ihre Einflussmöglichkeiten und Überzeugungskraft sind, ihre Idee zu verbreiten. Denn zur Durchsetzung eines Leitbildes spielen Akteure mit unterschiedlich großem Einfluss eine Rolle (vgl. ebd., S. 108f. und 117; auch Dierkes/ Canzler/Marz/Knie 1995, S. 17). Das Leitbildpotenzial einer Idee prägt sich schließlich in dem Maße aus, wie es sich in die Gestalt eines technischen Artefaktes einschreibt und darin sichtbar wird (vgl. Dierkes/Hoffmann/Marz 1992, S. 113 und 119). Die Kopplung zwischen 176 Diesen Gedanken stellt besonders Knie heraus (vgl. Fußnote 172). 177 Zunächst wurde für die Entstehung von Leitbildern die Bedeutung von Organisationen, in denen Ideen mit Leitbildpotenzial generiert würden, herausgestellt (vgl. Marz/Dierkes 1992). In späteren Veröffentlichungen ist die Bedeutung von Organisationen nicht nur in Bezug auf die Technikgenese, sondern auch in Bezug auf die technischen Leitbilder zurückgenommen worden, da überbetrieblich konstituierte Wissens- und Erfahrungsbestände mehr Beachtung fanden (vgl. Dierkes/Knie 1994, S. 88). Bereits die Konzentration auf die Wissenskulturen trägt dieser Schwerpunktverschiebung Rechnung (vgl. Dierkes/Hoffmann/Marz 1992).
3.5 Leitbilder in der Technikforschung
171
Leitbild und Artefakt erscheint dabei jedoch als Wechselwirkung, die sich einer kausalen Erklärung bzw. Einflussnahme entzieht. Je größer wiederum die Verbreitung eines technischen Artefaktes in der Gesellschaft ist, desto größer ist auch die Aufmerksamkeit für das damit transportierte Leitbild, sodass sich dieses wiederum ausbreiten kann (vgl. ebd., S. 113). Schließlich hängt der Erfolg eines bestimmten Leitbildes auch von der Anschlussfähigkeit an bereits existierende Vorstellungen und Wünsche ab. Die Autoren sprechen hier von „verschiedenen Passungsmöglichkeiten mit dem allgemeinen Erwartungsrahmen einer Gesellschaft“ (ebd., S. 118). Die Frage, wie Leitbilder entstehen, erweist sich als das undeutlichste und sogar widersprüchlichste Element des Konzepts. In der Darstellung von Dierkes, Hoffmann und Marz (1992) wird ein Zirkelschluss zwischen Leitbildern und Wissenskultur-Interferenz sichtbar, der kritisch erörtert werden soll. Zunächst stellen die Autoren in ihrem Modell der Produktion von neuem technischen Wissen dar, dass dieses durch die Interferenz von verschiedenen Wissenskulturen zustande kommt (siehe dazu weiter oben). Die hierfür notwendige Synchronisation der Prozesse auf den unterschiedlichen Interferenzebenen (Kommunikation und Individuation) leisten – so die Argumentation – Leitbilder. Für die Beantwortung der Frage, wie ihrerseits Leitbilder entstehen, wird die Darstellung jedoch umgekehrt. Nun sind es die Wissenskulturen bzw. ihre Interferenz, die Leitbilder hervorbringen (vgl. ebd., S. 154). Hier entsteht ein Zirkelschluss, der weder sinnvoll noch notwendig erscheint (vgl. auch Zill 1996, S. 104). Dass Leitbilder durch die Interferenz von Wissenskulturen entstehen, ist aber nicht unbedingt einsichtig. Warum sollten ausgerechnet unterschiedliche Wissenskulturen notwendig sein, um Leitbilder entstehen zu lassen? Im Gegenteil: Das Leitbildkonzept wird als kulturalistische Perspektive auf den Technikgeneseprozess verstanden (vgl. Canzler 1997, S. 100 und Dierkes/Canzler 1998, S. 23). Leitbilder werden darin als konstitutive Elemente von einzelnen Kulturen178 angesehen, die ihrerseits gemeinsame Sinnzusammenhänge und Verständigungsräume bilden (vgl. Knie/Helmers 1991, S. 432). Leitbilder werden als geronnene Sinnzusammenhänge beschrieben, die gleichermaßen das Ergebnis von Verständigungsprozessen darstellen wie auch zur weiteren Verständigung beitragen (Dierkes/Knie 1994, S. 91). Zwar beschreibt Knie Leitbilder als das Ergebnis eines entsprechenden Verständigungsprozesses. Da Verständigung und Verstehen aber keinen Nullpunkt kennen, sondern immer auf der Grundlage von geteilten Sinnzusammenhängen, von Vor-Verständnissen erfolgen, ist hier ein kausales Verständnis unangebracht.179 Tatsächlich verschließt sich eine solche kulturalistische Sichtweise auf Leitbilder als Sinnzusammenhänge und 178 Der Kulturbegriff wird im Zusammenhang mit Leitbildern und Technikgenese mehrfach verwendet. Knie/Helmers (1991) stellen Leitbilder allgemein als ein konstitutives Element von Kulturen dar. Kulturen fassen sie mit Verweis auf Geertz und die symbolisch-interpretative Kulturauffassung der Ethnologie als Sinnzusammenhänge und Verständigungsräume mit einem Bestand an kognitiven Repräsentationen (vgl. Knie/Helmers 1991, S. 432). Die Untersuchung von Leitbildern ermögliche es, die Verständigungsprozesse und Sinnzusammenhänge von Organisationskulturen ebenso wie von „Technikfeldkulturen“ zu erfassen (vgl. ebd., S. 427 und 442). Dierkes stellt in früheren Veröffentlichungen zur Technikgenese Organisationskulturen als besonderen Faktor der Technikentwicklung heraus (Dierkes 1988, Dierkes/Marz 1990; zum Begriffsverständnis vgl. Fußnote 181), um später den organisationsspezifischen Kontext zu verlassen und sich auf „Wissenskulturen“ zu konzentrieren (Dierkes/Hoffmann/Marz 1992). Schließlich wird der Kulturbegriff weitgehend vermieden, der Ansatz der Technikgeneseforschung aber weiterhin als „kulturalistisch“ gekennzeichnet (vgl. Canzler 1997 und Dierkes/Canzler 1998). 179 In einem anderen Zusammenhang haben Dierkes und Marz deutlich herausgestellt, dass Leitbilder sowohl Ergebnis als auch Bezugspunkt bzw. Katalysator kollektiven Handelns darstellen (vgl. Dierkes/Marz 1998b).
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3 Leitbilder in den Sozialwissenschaften – die Diskursanalyse
Verständigung schaffende Elemente einer Kultur einer kausalen Frage nach den Ursachen ihrer Entstehung.180 Damit ist jedoch der dargestellte Zirkelschluss zwischen Leitbildern und Wissenskultur-Interferenz nicht gerechtfertigt. Wenn Leitbilder als konstitutive Elemente von Kulturen verstanden werden, dann ist der Entstehungskontext von Leitbildern innerhalb einzelner Kulturen zu suchen, aber nicht zwischen ihnen. Stellt man sich die Frage, wie diese geteilten Sinnzusammenhänge zustande kommen, so kann auf den geteilten Erlebnis- und Erfahrungszusammenhang einer Kultur verwiesen werden.181 Damit ist eine Kultur als ein sozialer Handlungsraum und eine Interpretationsgemeinschaft konstitutiv für die Entstehung von Leitbildern. Leitbilder ihrerseits stabilisieren die Kultur, die sie erst hervorgebracht hat.182 3.5.1.2 Leitbilder als analytische und praktische Kategorie für Technikforschung und -entwicklung Leitbildanalyse als Identifikation von vorhandenen Leitbildern Dierkes und seine Forschungsgruppe haben keine Operationalisierung des Leitbildbegriffes vorgenommen, aus der ein Analyseinstrument unmittelbar ableitbar wäre. Mit ihrem Modell steht noch kein ausgearbeitetes Instrument der Leitbildidentifikation zur Verfügung. Allerdings sind die dargestellten Funktionen von Leitbildern von Marz und Dierkes als provisorisches Instrument zur Analyse von Leitbildern genutzt worden.183 Dort wird geprüft, ob bestimmte Vorstellungen, Ideen, Visionen oder Ziele die dargestellten Funktionen von Leitbildern erfüllen (vgl. Marz/Dierkes 1992). Damit werden Leitbilder als Visionen, Ziele etc. operationalisiert, die bestimmte Funktionen aufweisen. Mehrfach ist diese Prüfung lediglich durch einen zum Teil sehr knappen Plausibilitätstest erfolgt und wurde nicht einmal hinsichtlich aller benannten Funktionen durchgeführt (vgl. ebd.; Dierkes/Hoffmann/Marz 1992).184 Wie aber die potenziellen Leitbilder identifiziert werden konnten, wird nicht thematisiert. Bei Marz findet man lediglich einige nicht weiter begründete Fragen, die als Auswahlkriterien für die zentralen Leitbilder unter den vielfältigen Vorstellungen und Visionen dienen sollen: 180 Die Untersuchung der Kultur ist „keine experimentelle Wissenschaft, die nach Gesetzen sucht, sondern eine interpretierende, die nach Bedeutungen sucht“ (Geertz 1987, S. 9). Die geteilten Bedeutungen haben auf ihre Weise Einfluss auf die Technikentwicklung. 181 In diesem Sinne lehnt sich auch Dierkes in seinem Verständnis von Organisationskultur an die Definition von Schein an, wenn er sagt, es handele sich dabei um das „Muster solcher grundlegenden Annahmen (...), die eine bestimmte Gruppe von Menschen, die lange genug existiert, um bedeutende Erfahrungen gemeinsam erlebt zu haben, entwickelt hat“ (Dierkes 1988, S. 267 in Anlehnung an Schein 1984, S. 5; zur Erläuterung der verschiedenen Ansätze von Organisations- bzw. Unternehmenskultur vgl. Kap. 3.3.3). 182 Und in diesem kulturellen Kontext handeln die Akteure der Technikentwicklung in Bezug auf die Technik nach ihren Leitbildern und nimmt Technikentwicklung damit einen bestimmten Lauf. 183 Auch die Überlegungen zur Genese von Leitbildern sowie zur leitbildorientierten Techniksteuerung haben einen – von den Autoren selbst so dargestellten – provisorischen Charakter (vgl. Dierkes/Hoffmann/Marz 1992, S. 8, 119 und 157f.; siehe dazu auch Fußnote 166). 184 So handelt es sich auch bei der Untersuchung der Leitbilder in der Geschichte der Schreibmaschinenproduktion (Marz/Dierkes 1992) eigentlich nicht um eine Leitbildanalyse im Sinne der Identifikation von Leitbildern in diesem Feld, sondern um die Plausibilisierung der Funktionen von Leitbildern anhand des Diskursmaterials.
3.5 Leitbilder in der Technikforschung
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„Scheint ein Leitbild im Diskurs nur punktuell auf oder durchzieht es ihn sozusagen wie ein roter Faden, ist also in sämtlichen Diskursmaterialien auszumachen? (...) Nehmen nicht nur einzelne, sondern viele Diskursteilnehmer in dieser oder jener Form auf das Leitbild Bezug? (...) Deutet einiges darauf hin, daß das Leitbild den Köpfen der Diskursteilnehmer nicht einfach wie Pallas Athene dem Haupte des Zeus entspringt, sondern eine eigene, mit den Wissenskulturen der Diskursteilnehmer zusammenhängende Geschichte besitzt, in der es unterschiedliche diskursive Karrierestadien durchlaufen hat?“ (Marz 1993a, S. 17)
Wie man überhaupt Leitbilder in einem Diskurs identifizieren kann, wird forschungsmethodisch nicht ausgeführt. Letztlich macht die Vorgehensweise von Marz und Dierkes in ihren Untersuchungen den Anschein, als läge ein vermeintliches Leitbild schon immer auf der Hand und müsste nur noch auf seine Leitbildqualität hin geprüft werden. In allen Untersuchungen aus der Arbeitsgruppe um Dierkes werden die fraglichen Leitbilder bereits zu Beginn der Analyse eingeführt, scheinen also von den Forschern vorgegeben und an den Untersuchungsgegenstand herangetragen. In der weiteren Untersuchung wird lediglich ihr Leitbildcharakter, d.h. ihre Wirkung innerhalb des Diskurses bzw. Entwicklungsfeldes anhand der bekannten Leitbildfunktionen plausibel gemacht, und der Diskurs anhand des Leitbildes analysiert.185 Damit erscheint die Kritik von Hellige berechtigt, der vermutet, dass es sich bei den Leitbildern der sozialwissenschaftlichen Technikgeneseforschung um Ex-post-Konstruktionen von Forschern handelt (vgl. Hellige 1996a, S. 25). Er geht in seiner Kritik sogar so weit, dass er der technikgenetischen Leitbildforschung im Konzept von Dierkes ein autosuggestives Vorgehen unterstellt: „Die technikgenetische Leitbildforschung verfährt hier autosuggestiv: Die bloße Nennung von scheinbar so einprägsamen, einleuchtenden Leitbildern gilt bereits als Beweis ihrer gesellschaftlichen Wirkungsmacht. Dabei wird kaum problematisiert, wie man historische Technikleitbildkomplexe überhaupt identifiziert und aufgrund welcher Kriterien und welcher Belege (Erfinderaussagen, Fachzeitschriften, Verbands- und Kongreßmaterialien, Technikprognosen) man die Wirksamkeit konkret nachweisen kann.“ (Hellige 1993, S. 195f.)
Aus Ermangelung einer eigenen Methodik für eine Leitbildanalyse verweist die Forschungsgruppe lediglich auf allgemeinste, „einschlägige Standardwerke“ der empirischen Sozialforschung und vereinzelte Studien zur Inhaltsanalyse zum Nachweis bestimmter Leitbilder und ihrer Funktionen in einem Diskurs (vgl. Marz 1993a, S. 18). Die hier so benannte leitbildzentrierte Diskursanalyse stellt sich damit als eine Inhaltsanalyse zum Nachweis bestimmter Leitbilder und ihrer Funktionen in einem Diskurs dar, deren methodisches Vorgehen aber nicht weiter expliziert wird. Stattdessen entsteht eine Sammlung von plausibilitätsstiftenden Sequenzen zu den einzelnen Leitbildfunktionen, die verdeutlichen sollen, dass das fokussierte Leitbild tatsächlich die Funktionen eines Leitbildes in einem Feld innehat. Weitere Arbeiten vermitteln den Eindruck, als seien die Autoren über dieses provisorische Stadium nicht hinausgekommen und haben ihr Leitbildkonzept forschungsmethodisch nicht weiterentwickelt. Letztlich haben Dierkes und seine Mitarbeiter also kein Instrument zur Leitbildidentifikation ausgearbeitet.
185 Vgl. hierzu den Entwurf einer diskursorientierten Leitbildanalyse von Mambrey u.a. in Absetzung zu der hier dargestellten leitbildorientierten Diskursanalyse (vgl. Kap. 3.5.2 und Tepper 1996).
3 Leitbilder in den Sozialwissenschaften – die Diskursanalyse
174
Die Forschungsgruppe um de Haan hat in dem Bemühen um ein Instrument zur Rekonstruktion vorhandener Leitbilder festgestellt, dass das vorliegende Leitbildkonzept der WZB-Gruppe hierzu nicht hinreicht, und von diesem angeregt ein eigenständiges Analyseinstrument entwickelt (vgl. Kap. 3.3.4.2). Leitbildgestaltung In der Frage ob und wie Leitbilder gestaltet bzw. konstruiert werden können, bewegen sich Dierkes und seine Kollegen auf einem schmalen argumentativen Grat. Auf der einen Seite betonen sie, dass es nicht möglich sei, Leitbilder zu produzieren. Auf der anderen Seite räumen sie die Option ein, Leitbilder zu gestalten, zu transformieren bzw. zu modifizieren: „Leitbilder können zwar gestaltet, nie jedoch ‚gemacht‘ werden. Es ist möglich, vorhandene Leitbilder zu identifizieren und zu explizieren und sie in eine bestimmte Richtung zu transformieren. Man kann jedoch neue Leitbilder nicht wie in einer Retorte synthetisieren, um sie dann den Akteuren technikgenetischer Prozeßnetzwerke – sei es von ‚oben‘ oder von ‚außen‘ – schnell, schmerzarm und wirkungsvoll zu injizieren.“ (Dierkes/Hoffmann/Marz 1992, S. 43f.)
Worin sie jedoch den für sie offenbar fundamentalen Unterschied zwischen Gestaltung und Synthetisierung sehen, bleibt eher vage. Der freien Produktion von Leitbildern sind in ihren Augen insofern erhebliche Grenzen gesetzt, dass bei fehlender Passung zwischen offiziell propagierten und alltäglich praktizierten Leitbildern erstere unwirksam bleiben oder gar den Prozess negativ beeinflussen (vgl. Dierkes/Marz 1990, S. 39 oder Dierkes 1992, S. 295). Bezüglich der Gestaltung von Leitbildern im Sinne der Modifikation vorhandener und der Anregung, aber auch der Konstruktion neuer Leitbilder machen Dierkes und seine Forschungsgruppe Anleihen aus ihren Überlegungen zu Organisationskultur und Organisationswandel. Auch dort wird zwar die Problematik der Differenz zwischen propagierten und praktizierten Leitbildern wahrgenommen, letztlich herrscht dort jedoch ein größerer Optimismus und eine verbreitete Praxis zur Entwicklung neuer Leitbilder (vgl. dazu Kapitel 3.3). Marz und Dierkes sehen Organisationen als das Feld an, in dem es möglich sein könnte, technische Leitbilder zu gestalten. Einerseits würden allgemeine, d.h. organisationsübergreifende technische Leitbilder in Organisationen spezifiziert und erhalten eine organisationsspezifische Ausprägung, die sich dann auf die innerhalb der Forschungs- und Entwicklungseinrichtungen erfolgenden Technikentwicklung auswirkt. Andererseits würden Organisationen als der Ort angesehen, an dem Ideen mit Leitbildpotenzial in Bezug auf Technik entstehen, die zu organisationsübergreifenden technischen Leitbildern werden können (Marz/ Dierkes 1992, S. 29). Die Transformation der Organisations- bzw. Unternehmensleitbilder wird als ein möglicher Ansatzpunkt zur Gestaltung von allgemeinen technischen Leitbildern verstanden (vgl. ebd., S. 35ff.). Die in diesem Kontext vorgeschlagene Strategie zur Transformation von Unternehmensleitbildern suggeriert allerdings die Möglichkeit, technische Leitbilder dennoch „synthetisch“ herstellen zu können (vgl. hierzu Kap. 3.3.4.2).186
186 In der weiteren Technikgeneseforschung ist die Bedeutung von Organisationen und Organisationskulturen für die Technikentwicklung relativiert worden (vgl. Knie/Helmers 1991; Dierkes/Knie 1994, S. 84ff.).
3.5 Leitbilder in der Technikforschung
175
Darüber hinaus wird im Rahmen der Technikfolgenabschätzung und Techniksteuerung mehrfach die Möglichkeit dargestellt, Gegen- oder Alternativleitbilder zu entwickeln und den vorhandenen Leitbildern diskursiv entgegenzustellen. Ebenso ist die Rede davon, Leitbilder anzuregen oder wenigstens – was auch immer das bedeutet – die Entwicklung von Ideen mit Leitbildpotenzial zu stimulieren (siehe dazu den folgenden Abschnitt). Technikfolgenabschätzung und Techniksteuerung durch Leitbilder Eng verbunden mit den beiden zuvor diskutierten grundlegenden Umgangsformen von Leitbildern, deren Analyse im Sinne der Identifikation und deren Gestaltung, ist ihre weitere Anwendung innerhalb der Technikgeneseforschung. Zur Disposition stehen das Ob und Wie einer Technikfolgenabschätzung sowie Techniksteuerung mit Hilfe von Leitbildern. Hierzu wurden in der Forschungsgruppe um Dierkes über die Zeit unterschiedliche Entwürfe formuliert, die sich auf eine mit dem Ziel der Techniksteuerung mehr oder weniger stark verbundene Technikfolgenabschätzung beziehen. Dierkes und seine Mitarbeiter stellen schon frühzeitig ihren Entwurf des Leitbildkonzepts als Erweiterung der traditionellen Methoden der Technikfolgenabschätzung dar (vgl. Dierkes 1991, S. 106). Die Technikfolgenabschätzung macht sich zum Ziel, die Auswirkungen einer Technologie zu antizipieren und zu bewerten, um diesen möglichst frühzeitig entgegenzusteuern. Das Problem der vorhandenen Ansätze zur Technikfolgenabschätzung ist dabei, dass sie entweder zu früh ansetzen, wenn die Auswirkungen einer Technologie noch gar nicht genau abschätzbar sind, oder dass sie zu spät geschieht, wenn sich die Technik bereits etabliert hat und die Auswirkungen nicht mehr aufzuhalten sind. Um diesem Dilemma zu entgehen, ist in der Technikfolgenforschung nach den Faktoren gesucht worden, die die Technikentwicklung bestimmen (vgl. Kap. 3.5.1.1). Organisationskulturelle Faktoren und insbesondere Leitbilder sollen identifiziert und ihre Wirkung auf die Technikentwicklung untersucht werden. Über diese Einflussfaktoren sollen einerseits frühe Hinweise auf die weitere Entwicklung der Technik gesammelt, andererseits soll Einfluss auf die weitere Technikentwicklung genommen werden (vgl. ebd., S. 104ff.).187 In den folgenden Jahren wird dieser Grundgedanke unterschiedlich konzeptionell ausgeführt. Marz schlägt eine leitbildzentrierte Analyse von Diskursen als einen Beitrag für eine „diskursive Technikfolgenabschätzung“ vor (vgl. Marz 1993a): In einem ersten Schritt werden die den Diskurs formierenden Leitbilder identifiziert. In einem weiteren Schritt wird der Diskurs anhand der identifizierten Leitbilder analysiert und geprüft, ob diese den Diskurs tatsächlich prägen. Schließlich sollen die durch das Leitbild induzierten Grenzen des Denkbaren, Diskutierten und damit auch Machbaren identifiziert werden und somit eine Öffnung des gedanklichen Horizonts ermöglicht werden. Es geht also darum, die Leitbilder, die als „Kristallisationspunkte von Fundamental-Vor-Urteilen“ (ebd., S. 88) fungieren, in einem Diskurs aufzudecken und damit überwindbar zu machen. Die Leistung des Leitbildansatzes beschränkt sich in diesem Vorschlag also auf die Identifikation und Diskussion der mentalen Fixierungen im Zusammenhang mit bestimmten Techniken.
187 Hier wird deutlich, dass Technikfolgenabschätzung und Techniksteuerung also unmittelbar miteinander zusammenhängen.
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3 Leitbilder in den Sozialwissenschaften – die Diskursanalyse
Demgegenüber weiter gefasst ist der Gedanke eines Leitbild-Assessments.188 Unter einem Leitbild-Assessment wird dabei ein Verfahren verstanden, in dem die Frage gestellt wird, „was passieren würde, wenn die Technikentwicklung einem bestimmten Leitbild folgt (...)“ (Dierkes 1992, S. 292). Hier kann es um die Abschätzung der Folgen sowohl vorhandener und etablierter als auch potenzieller, also auch synthetischer Leitbilder auf die Technik gehen. Prospektiv wird die Frage gestellt, in welche Richtung ein bestimmtes (vorhandenes oder potenzielles) Leitbild die Technik beeinflusst, wenn es sich als Orientierungsrahmen in der Technikentwicklung etablieren würde.189 Bei einem Leitbild-Assessment handelt es sich also zunächst um eine Leitbild-Folgenabschätzung, also die Analyse der Folgen bestimmter Leitbilder auf die Technikentwicklung. Daran anschließend sollen auch die sich potenziell ergebenden Technikfolgen antizipiert werden.190 Allerdings weist Dierkes darauf hin, dass es sich dabei weniger um Prognosen denn um Perspektiven handelt und spricht deshalb von einer prospektiven Technikfolgenabschätzung (vgl. Dierkes/Marz 1990; Marz/ Dierkes 1992). In einem erweiterten Ansatz des Leitbild-Assessments geht es darum, die Leitbilder und ihre Technikfolgen zur öffentlichen Diskussion und auf diese Weise zur Disposition zu stellen (vgl. Dierkes 1992). Gleichzeitig wird das Leitbild-Assessment nicht nur als Ergänzung der traditionellen Technikfolgenabschätzung präsentiert und als ein zentrales Element der sozialwissenschaftlichen Technikfolgenforschung verstanden, sondern wird schließlich auch als Ansatzpunkt einer prospektiven Technikgestaltung gekennzeichnet (vgl. Dierkes/ Marz 1992).191 Hinsichtlich der Möglichkeit einer Techniksteuerung durch Leitbilder sind die Überlegungen der Forschergruppe um Dierkes ambivalent. Zunächst klingt die Einschätzung zur Frage der Techniksteuerung durch Leitbilder verhältnismäßig optimistisch. Zwar wird darauf hingewiesen, dass eine direkte, schnelle und präzise Steuerung der Technikgenese nicht möglich sei und auf die „verheerende“ Wirkung von „verbal propagierten, jedoch alltäglich nicht gelebten Leitbildern“ hingewiesen (Dierkes 1992, S. 293ff.). Dennoch werden Leitbilder als eine Form der „weichen Techniksteuerung“ präsentiert (vgl. ebd., S. 277). Leitbilder und Leitbild-Diskurse werden als der zentrale Ansatzpunkt zur Beeinflussung der Technikgenese angesehen (vgl. ebd., S. 290f.). Beeinflussungsmöglichkeiten der in Unternehmen bzw. FuE-Einrichtungen sich vollziehenden Technikgenese sieht Dierkes sowohl organisationsintern durch Leitbildanregung, -erstellung oder -Assessment als auch organi188 Der Gedanke des Leitbild-Assessments wird mehrfach von Dierkes genannt, aber wenn überhaupt nur vage umrissen. Bei dieser Begriffsschöpfung handelt es sich offensichtlich um eine begriffliche Anleihe aus der Technikfolgenabschätzung, die als Übersetzung des Begriffs des Technology Assessments üblich ist (vgl. Baron 1995, S. 38f. und Dierkes 1981). An anderer Stelle ist statt von Leitbild-Assessment auch von Leitbild-Folgenabschätzung die Rede (vgl. Dierkes/Hoffmann/Marz 1992) 189 „Welche spezifischen positiven oder negativen Folgen wären zu erwarten, wenn sich eine bestimmte technische Entwicklung längerfristig an diesem oder jenem Leitbild orientiert?“ (Dierkes/Hoffmann/Marz 1992, S. 156) 190 Dieser Ansatz täuscht darüber hinweg, dass sich die Technikfolgen kaum unmittelbar aus den Leitbildern ablesen lassen. Viele Technikfolgen erweisen sich ja gerade als unvorhersehbar. Dennoch spricht einiges dafür, Leitbilder als Reflexions- und Verständigungsinstrument in die Technikfolgenforschung einzubringen (vgl. auch den Ansatz von Mambrey Kap. 3.5.2 und von Hellige Kap. 3.5.3) 191 Dierkes und Marz (1992) schlagen das Leitbild-Assessment als den für sie treffendsten Ausdruck vor, Forschungs- und Entwicklungsprozesse über die Gestaltung von Leitbildern zu beeinflussen, ohne dieses Verständnis eines Leitbild-Assessments jedoch weiter auszuführen (vgl. ebd., S. 17). Das widerspricht der Verwendung des Begriffs zu dieser Zeit, die sich lediglich auf eine Leitbild-Folgenabschätzung bezieht. Der enge Bezug zur Techniksteuerung wird jedoch im Folgenden sichtbar.
3.5 Leitbilder in der Technikforschung
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sationsextern für Akteure wie den Staat, wissenschaftliche und technische Vereinigungen, Gewerkschaften, Gruppen und Bewegungen sowie die Medien (vgl. ebd., S. 291ff.). Zwar geht Dierkes von dem Grundsatz aus, dass die Beeinflussung von Technikgenese lediglich langfristig, kommunikativ und indirekt möglich ist, hält hier jedoch die Entwicklung von Leitbildern, das „Setzen“ von Leitbildern für eine denkbare Option, die durch ein Leitbild-Assessment und die öffentliche Diskussion der Ergebnisse des Leitbild-Assessments ergänzt wird (vgl. ebd., S. 291).192 Entsprechend nennt Dierkes beispielsweise die Entwicklung technologischer Visionen, das Einbringen der Leitbilder in die öffentliche Diskussion sowie die Durchführung von Leitbild-Assessments als Möglichkeiten des Staates zur Beeinflussung von technischen Leitbildern und damit zur indirekten Beeinflussung der Technikgenese (vgl. ebd., S. 292). In einer späteren Veröffentlichung wird der Ansatz eines Leitbild-Assessments als Instrument der Technikfolgenabschätzung eindeutig erweitert zu einem Instrument der Techniksteuerung (vgl. Canzler/Dierkes 2000). Zwar wird auch hier betont, dass Leitbilder nicht konstruiert werden können. Dennoch setzt man für den Diskurs über Leitbilder auf die Entwicklung von Gegen- oder Alternativleitbildern (vgl. ebd., S. 470f.). Ein Leitbild-Assessment wird hier als mehrstufiges Verfahren von der Darstellung vorhandener Leitbilder über die Entwicklung und Prüfung von Alternativleitbildern bis zur Formulierung von so bezeichneten Richtungsempfehlungen beschrieben. Letztlich geht es darum, vorhandene wie alternative potenzielle Leitbilder zum öffentlichen Thema zu machen. Diese Form von Leitbild-Assessment soll „die Grundlage breiter öffentlicher Diskurse über die einzuschlagenden Technikpfade unter einem weiten Zielspektrum ermöglichen“ (ebd., S. 470). Dies entspricht weitgehend der Darstellung eines allgemeinen Modells der leitbildorientierten Techniksteuerung, das zudem als Versuch dargestellt wird, „technische Entwicklungen über eine Transformation der ihnen zugrunde liegenden Leitbilder gestalten zu wollen“ (Dierkes/Hoffmann/Marz 1992, S. S. 161). Hier geht es um die Identifikation von vorhandenen Leitbildern sowie die Stimulierung der Entwicklung von Ideen mit Leitbildpotenzial, die Folgenabschätzung193 von Leitbildern und Ideen mit Leitbildpotenzial sowie schließlich die Selektion und Modifikation von Ideen mit Leitbildpotenzial auf der Grundlage ihrer Folgenabschätzung (vgl. ebd., S. 154ff.). Die Überlegungen fallen hier weitgehend weniger sozialtechnisch aus als zunächst zu vermuten wäre und wie es ihnen auch von anderer Seite vorgeworfen wurde (vgl. Hellige 1993 und 1996a sowie Kap. 3.5.3). Es geht zunächst darum, vorhandene Leitbilder und ihre Folgen bewusst und beide der Diskussion zugänglich zu machen sowie nach alternativen Ideen zu suchen, die den Leitbildern im Diskurs gegenübergestellt werden können: „Und es würde dann auch Sinn machen, zum einen ‚stumme‘ oder verborgene, nichtsdestoweniger jedoch in den alltäglichen Forschungs- und Entwicklungspraxen wirksame Leitbilder aufzuspüren, prägnant zu verdichten und in öffentliche Diskurse einzuspeisen, und zum anderen alternative Ideen mit Leitbildpotential zu entwickeln und in die Diskussion zu bringen, um so mit Hilfe miteinander konkurrierender Diskurslinien mit vergleichsweise geringem Aufwand die Katakomben der ersten Richtungsentscheidungen einer technischen Entwicklung möglichst frühzeitig und allseitig auszuleuchten.“ (Dierkes/Hoffmann/Marz 1992, S. 162) 192 Aus der knappen Ausführung zum Leitbild-Assessment wird deutlich, dass dieses hier noch auf die LeitbildFolgenabschätzung konzentriert bleibt, die aber mit einer Diskussion der Ergebnisse des Leitbild-Assessments sowie einer Leitbildentwicklung verbunden wird. 193 Der Begriff des Leitbild-Assessments wird hier vermieden. Statt dessen ist von Leitbild-Folgenabschätzung die Rede. Vgl. hierzu auch Fußnote 190.
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Es wird überdies darauf hingewiesen, dass es sich bei der Leitbild-Folgenabschätzung nicht um exakte Prognosen, sondern lediglich um Perspektiven handelt, die sichtbar gemacht werden, in denen jedoch die zukünftigen technischen Entwicklungspfade noch nicht detailliert beschrieben werden können (vgl. ebd., S. 156). Über diesen vergleichsweise wenig technokratischen Ansatz der Techniksteuerung mit diskursivem Schwerpunkt geht der besagte Entwurf jedoch insofern hinaus, dass er schließlich die „Modifikation und Selektion“ von Leitbildern bzw. Ideen mit Leitbildpotenzial vorsieht (vgl. ebd., S. 154 und 157). Wie letztlich dieser letzte Schritt der „Transformation“ (ebd., S. 161) der vorhandenen Leitbilder aussieht und gestaltet wird, bleibt offen. Damit rücken die Autoren ihr Leitbildkonzept wieder stärker in die Nähe ihrer Überlegungen zur aktiven Gestaltung von Organisationsleitbildern. An anderer Stelle wird über den Umweg über Organisationsleitbilder, denen wiederum Einfluss auf die allgemeinen technischen Leitbilder zugesprochen wird, gleichsam die Möglichkeit gesehen, Technikentwicklung durch die Transformation bzw. Konstruktion von Leitbildern zu steuern (vgl. Marz/Dierkes 1992, den Abschnitt Leitbildgestaltung). Demgegenüber wird die Möglichkeit einer Techniksteuerung durch Leitbilder im Rahmen einer „leitbildorientierten Technologiepolitik“ wieder wesentlich vorsichtiger formuliert: „Mit einer stärkeren Beschäftigung mit den Entstehungsbedingungen von Techniken wird daher nicht nur die Hoffnung auf ein tiefergehendes Verständnis über die Prozesse der Technikentwicklung und -verbreitung verbunden, sondern auch die vorsichtig formulierte Erwartung einer Erweiterung von Gestaltungsspielräumen der Praxis im Umgang mit Technik. (...) Bei aller aktuellen Steuerungsrhetorik ist allerdings Vorsicht angeraten, was konkrete politische Gestaltungs- und Eingriffsmöglichkeiten betrifft.“ (Dierkes/Canzler 1998, S. 23 und 28)
Die Rolle des Staates wird nun als Vermittler und Moderator gesehen (vgl. ebd., S. 33). Insgesamt treten die diskursiven Möglichkeiten im Zusammenhang von Leitbildern und Technik stärker in den Vordergrund. In der öffentlichen Diskussion um Technikentwicklung sollen Leitbilder die Verständigung zwischen Öffentlichkeit und Experten erleichtern, indem die Vertreter der Expertenkulturen gezwungen werden, „ihre konzeptionell und terminologisch diffizilen und nicht gerade selten schwer durchschaubaren Argumentationsmuster auf einen beurteilbaren Kern zu bringen“ (ebd.). Umgangsformen und Einsatzfelder von Leitbildern im WZB-Konzept Die unterschiedlichen Entwürfe und Darstellungen aus der Forschungsgruppe um Meinolf Dierkes changieren zwischen verschiedenen Möglichkeiten des Umgangs mit Leitbildern und verschiedenen, zum Teil aufeinander aufbauenden Einsatzfeldern innerhalb der Technikforschung, und zwar zwischen Technikgeneseforschung, Technikfolgenabschätzung sowie Techniksteuerung (vgl. Tab. 3.1). Es lassen sich im Leitbildkonzept der WZB-Gruppe grundsätzlich alle systematisch unterschiedenen Umgangsformen mit Leitbildern – rekonstruktive oder antizipative Analyse, Leitbildentwicklung und Diskussion – wiederfinden. Für die Frage, ob Leitbilder auch konstruiert werden können, ergibt sich allerdings ein widersprüchliches Bild. Auf der einen Seite wird immer wieder betont, dass Leitbilder nicht „gemacht“, nicht synthetisch hergestellt werden können. Auf der anderen Seite wird die Entwicklung von Alternativ- und Gegenleitbildern bzw. die „Stimulierung von Ideen mit
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Leitbildpotenzial“ ebenso wie die Möglichkeit erwogen, über die Transformation von Unternehmensleitbildern allgemeine technische Leitbilder zu verändern. Für den Einsatz von Leitbildern in der Technikforschung ergeben sich aus den genannten Umgangsformen höchst unterschiedliche, zum Teil kombinierbare Nutzungsmöglichkeiten. Die ausführliche Rekonstruktion des Leitbildkonzepts der WZB-Gruppe hat deutlich werden lassen, dass die Rolle von Leitbildern im Rahmen der Technik(genese)forschung, Technikfolgenabschätzung und Techniksteuerung an verschiedenen Stellen durchaus unterschiedlich konzipiert wurde. Mit der Darstellung von Leitbildern als konstitutivem Element von (Wissens-, Organisations- oder Technikfeld-)Kulturen wurde eine kulturalistische Perspektive eingenommen, die es vor allem ermöglicht, erfolgte Technikentwicklungsprozesse rekonstruktiv zu analysieren, indem die darin vollzogenen Verständigungsprozesse, Sinnzuschreibungen und hinsichtlich der Denk- und Handlungsmöglichkeiten gegebenen mentalen Fixierungen anhand von Leitbildern aufgedeckt und verstehend nachvollzogen werden. Da Leitbilder als Einflussfaktor für Technikgeneseprozesse angesehen werden, lassen sich nicht nur bereits erfolgte, sondern auch zukünftige Technikentwicklungen in Abhängigkeit von bestimmten Leitbildern interpretieren. Daran anschließend wurden verschiedene Einsatzmöglichkeiten von Leitbildern in der Technikfolgenabschätzung sowie Techniksteuerung entwickelt: Im Rahmen der Technikfolgenabschätzung soll die Identifikation und Analyse bereits vorhandener Leitbilder die noch nicht erfolgten Auswirkungen auf die Technik antizipieren (Leitbild-Assessment im ursprünglichen Sinne der Leitbildfolgenabschätzung). Ein solcher Einsatz der Leitbildforschung darf jedoch nicht als Prognoseinstrument missverstanden werden, sondern deckt lediglich prospektiv mögliche Entwicklungslinien auf. Indem die Ergebnisse eines solchen Leitbild-Assessments und/oder entworfene Gegen- bzw. Alternativleitbilder zur Diskussion gestellt werden, soll ein Beitrag zu einer diskursiven Technikfolgenabschätzung geleistet und die Technikentwicklung indirekt gesteuert werden. Im Laufe der Zeit hat gerade der Gedanke an Gewicht gewonnen, dass Leitbilder zum Gegenstand einer fachlichen ebenso wie öffentlichen Diskussion gemacht werden können und sollen. Leitbildern wird damit eine besondere Bedeutung für Technikdiskurse zugeschrieben. Über Leitbilder, seien sie nun bereits vorhanden und wirksam oder nur potenziell entworfen, sollen die Hintergrundannahmen und Horizonte des Denkens, Wahrnehmens und Handelns zur Sprache gebracht und damit zur Disposition gestellt werden. Schließlich wird auch vereinzelt die Möglichkeit erwogen, Leitbilder, wenn schon nicht neu zu konstruieren, so wenigstens neue Ideen mit Leitbildpotenzial zu befördern oder vorhandene Leitbilder zu modifizieren und damit die Technikentwicklung in eine andere Richtung zu lenken. Entsprechende Ansätze dürfen wiederum nicht dahingehend missverstanden werden, dass Leitbilder produzierbar seien und darüber wiederum Technikentwicklungsprozesse steuerbar wären. Die WZB-Gruppe geht von einem kulturalistischen Verständnis von Leitbildern aus, das diese als sozial konstruiert begreift, wobei eine indirekte Beeinflussung der Leitbilder denkbar bleibt. Allerdings neigen einige Darstellungen aus diesem Kreis wiederum einem Steuerungsoptimismus zu, der diesem kulturalistischen Grundverständnis widerspricht. Wo nicht deutlich gemacht wird, dass die Arbeit mit Leitbildern in der Technikforschung keine Prognose- und direkten Steuerungsleistungen erbringen kann, werden ihre Möglichkeiten überspannt, Missverständnisse produziert und falsche Erwartungen geweckt.
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3 Leitbilder in den Sozialwissenschaften – die Diskursanalyse
3.5.2 Leitbilder und Metaphern – das Konzept von Mambrey, Paetau und Tepper Mambrey u.a. verstehen Leitbilder und Metaphern als Hilfsmittel sowohl für die Technikbewertung als auch für die Technikgestaltung (vgl. Mambrey/Paetau/Tepper 1995). Dabei geht es den Autoren einerseits um die Analyse von Metaphern und Leitbildern im Rahmen der Technikbewertung und Technikfolgenabschätzung, andererseits um deren Konstruktion im Technikentwicklungsprozess. Das Interesse an Leitbildern bezieht sich einerseits auf ihre kritische Analyse, um unerwünschte Folgen von Techniken bereits in den frühen Entwicklungsphasen zu antizipieren und damit vermeiden zu können (Technikfolgenabschätzung). Andererseits geht es um die Prägung von Leitbildern, um bereits zu Beginn einer Technikentwicklung letztere zu steuern (Technikgestaltung) (vgl. Mambrey/Tepper 1992, S. 2; auch Mambrey 1993). In diesen beiden Zusammenhängen spielen Metaphern im Verhältnis zu den Leitbildern jeweils eine andere, aber konstitutive Rolle. Mambrey u.a. arbeiten als Grundlage ihres Konzepts ein spezifisches Verhältnis zwischen Metaphern und Leitbildern heraus. Grundsätzlich beinhalten in diesem Konzept Leitbilder die Vision einer neuen Technik, während die Metaphern das Mittel sind, diese Visionen, für die ein wörtlich zu verstehender Begriff (noch) fehlt, zum Ausdruck zu bringen (vgl. Mambrey/Tepper 1992, S. 167 und Mambrey/Paetau/Tepper 1995, S. 37). Metaphern werden hier als nicht-wörtliche sprachliche Ausdrücke verstanden, die in einen über ihre ursprüngliche Bedeutung hinausgehenden Kontext übertragen werden (vgl. Mambrey/Paetau/Tepper 1993, S. 17 und dies. 1995, S. 37f.). Sie können Leitbilder repräsentieren: „Sie [die Metaphern, K.D.G.] haben zunächst wenig mit Leitbildern gemein. Da aber Visionen häufig Wortschöpfungen erfordern und nicht mit einem wörtlichen Sprachgebrauch erläutert werden können, werden Metaphern häufig als Leitbilder verwendet.“ (Mambrey/Tepper 1992, S. 4)
Metaphern nehmen für Mambrey dann Leitbildcharakter an, wenn sie handlungsleitend werden (vgl. Mambrey/Paetau/Tepper 1993, S. 17). Damit kommt bei Mambrey u.a. deren implizite Grundposition zum Ausdruck, dass Leitbilder letztlich nicht produziert werden können, lediglich deren Herausbildung über das Hilfsmittel der Metaphern unterstützt werden kann. Entsprechend steht die Arbeit an Metaphern im Mittelpunkt ihres Konzepts. Metaphern werden von Mambrey sowohl als Mittel zur Konstruktion als auch zur Interpretation von Leitbildern verstanden (vgl. Mambrey/Tepper 1992, S. 167). Vor allem in den frühen Entwicklungsphasen von Technik können Metaphern bzw. metaphorische Szenarios – als spezifischer Zusammenhang von im Feld existierenden Metaphern – eingesetzt, indem sie bewusst und systematisch erzeugt werden bzw. im Konstruktions-, Reflexionsund Verständigungsprozess über die neu einzuschlagenden Entwicklungspfade genutzt werden. Metaphern können instrumentell genutzt werden, das insbesondere zu richtungsweisenden, kreativ konzeptionellen und kommunikativen Zwecken (vgl. Mambrey/Paetau/Tepper 1995, S. 72ff.): „Metaphern eröffnen die Chance des diskursiven Selbstgespräches, um Lösungen zu antizipieren und zu evozieren. Sie können aber auch im Kleingruppendiskurs verwendet werden, um leitende Vorstellungen, Konzepte, Zielmodelle, Orientierungen und Paradigmen präziser und damit anfaßbarer zu machen. Besonders zu Beginn eines Designprozesses ist der breite Diskurs über Richtungsentscheidungen mit Metaphern leichter zu führen.“ (Ebd., S. 210)
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Im Rahmen der Technikentwicklung bzw. -gestaltung sind Metaphern das Mittel, Leitbilder zu prägen und zu etablieren. Die Entstehung von Leitbildern soll also durch die systematische und bewusste Arbeit mit und an Metaphern forciert werden. Damit legen Mambrey und seine Kollegen gegenüber dem vagen Gedanken der „Stimulierung von Ideen mit Leitbildpotenzial“ von Dierkes einen spezifischeren, aber vor allem ausgearbeiteten und hinsichtlich des Prinzips der Nicht-Produzierbarkeit von Leitbildern konsequenten Entwurf zur Förderung neuer Leitbilder vor. Einen anderen Stellenwert haben Leitbilder bei der Technikbewertung. Hier geht es reflexiv um die Analyse der bereits etablierten, d.h. der bereits handlungsleitenden Leitbilder. Im Rahmen der Technikfolgenabschätzung verstehen Mambrey u.a. die Analyse von Leitbildern als ein andere Verfahren ergänzendes Reflexionsinstrument (vgl. ebd., S. 212ff.). Die Beschäftigung mit den vorhandenen Leitbildern und Metaphern kann dabei sowohl als Instrument zur Selbstreflexion von Forschern und Entwicklern wie auch als Instrument der öffentlichen Diskussion eingesetzt werden (vgl. ebd., S. 215). Entsprechend verstehen die Autoren Leitbilder hauptsächlich als Kommunikationsmittel, mit dem sich über die Entwicklung von neuen Techniken verständigt werden kann. Wie auch Dierkes betonen Mambrey und seine Kollegen, dass eine Veränderung von (etablierten) Leitbildern nur möglich ist auf der Grundlage ihrer Beschreibung und Analyse (vgl. ebd., S. 18). In einer spitzfindig anmutenden begrifflichen Unterscheidung, versuchen Mambrey u.a. ihre Form der Leitbildanalyse vom Ansatz der Dierkes-Gruppe abzugrenzen. Der leitbildorientierten Diskursanalyse von Dierkes und Mitarbeitern stellen Mambrey und seine Kollegen eine diskursorientierte Leitbildanalyse gegenüber. Die Gruppe um Mambrey liest die leitbildorientierte Diskursanalyse der Forschergruppe um Dierkes als eine Analyse von Diskursen mit Hilfe eines Leitbildes. Wird ein Diskurs aus der Perspektive dieses Leitbildes untersucht, kann nur das wahrgenommen werden, „was im Lichtkegel des von ihnen beobachteten Leitbildes sichtbar wird“ (Mambrey/Paetau/Tepper 1995, S. 142). Da jedoch – so die Autoren – ein Diskurs Leitbilder konstituiert und nicht Leitbilder den Diskurs, sollte stattdessen „der das Leitbild betreffende Diskurs für sich sprechen können und die darin enthaltenen Leitbilder zum Vorschein bringen“ (ebd., S. 147). Es geht hier also um die Identifikation von Leitbildern in Diskursen und nicht die Untersuchung von Diskursen anhand vorgegebener Leitbilder. Diese Argumentation gegen den Ansatz von Dierkes und Kollegen erscheint insofern treffend, als dass deren Analysen nicht den Anschein machen, als würden sie bestimmte Leitbilder innerhalb eines Diskursmaterials rekonstruktiv identifizieren, sondern vielmehr an den Diskurs herantragen und ihre Wirksamkeit plausibilisieren (siehe oben). Im Konzept der Forschungsgruppe um Mambrey werden andererseits Leitbilder auf die in ihnen transportierten bzw. diese repräsentierenden Metaphern reduziert. Andere Ausdrucksformen geraten dagegen aus dem Blickfeld. Eine Leitbildanalyse reduziert sich damit auf eine Metaphernanalyse. Und ebenso reduzieren sich die Bemühungen um eine aktive Gestaltung von Leitbildern auf die Arbeit mit Metaphern. Sucht man das Konzept von Mambrey und seinen Kollegen in die zu Anfang dargestellte Systematik zu den unterschiedlichen Umgangs- und Einsatzformen von Leitbildern in der Technikforschung einzuordnen, so erweist sich die Unterscheidung von Leitbildern und Metaphern als bedeutend. Letztlich erfolgt sowohl der analytische wie auch der konstruktive und diskursive Umgang mit Leitbildern über das Mittel der Metapher. Über die Analyse von vorhandenen Metaphern werden Leitbilder und ihre Implikationen aufgedeckt. Über den kreativen Umgang mit Metaphern und die systematische Erzeugung von meta-
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phorischen Szenarien wird die Entwicklung neuer Leitbilder gefördert. Und schließlich werden Metaphern als leitbildbezogenes Reflexions- und Verständigungsinstrument eingesetzt. Das Interesse der Autoren ist eindeutig pragmatisch und gilt sowohl der Technikfolgenabschätzung als auch der Technikgestaltung, wobei konsequenter Weise nicht die Leitbilder als gegebene Visionen einer Technik, sondern Metaphern das Instrument, das Hilfsmittel oder den Ansatzpunkt bilden, um Leitbilder entweder kritisch zu analysieren oder ihre Entstehung zu fördern.194 3.5.3 Leitbilder als hermeneutisches Phänomen – die Kritik von Hellige Hellige hat sich insbesondere mit dem Leitbildkonzept der WZB-Gruppe kritisch auseinandergesetzt, dessen Annahmen geprüft und die Rolle von Leitbildern neu definiert. Das Leitbildkonzept der WZB-Gruppe wurde als Versuch einer allgemeinen Theorie zur Erklärung von Technikgeneseprozessen formuliert und erhebt damit einen weitreichenden Erklärungsund zum Teil auch Gestaltungsanspruch (vgl. Barben 1997, S. 135 und Barben 1999, S. 168f.). Eine Überprüfung der Theorie kann jedoch immer nur an spezifischen Einzelfällen aus verschiedenen Technikfeldern vorgenommen werden. Damit stellt sich das Problem, dass das Leitbildkonzept als allgemeine Theorie entworfen wurde, aber ungeklärt bleibt, d.h. empirisch nicht nachgeprüft ist, ob das Konzept tatsächlich für alle Technikbereiche wie z.B. die Biotechnologie oder Informatik in gleichem Maße gültig ist. Hellige kritisiert nun gerade diese Gleichbehandlung bzw. -bewertung von Leitbildern innerhalb verschiedener Technikfelder. Er bezweifelt, dass Leitbilder in allen Technikfeldern dieselbe Wirkungskraft und Funktion innehaben. Insbesondere für den Computer- und Softwarebereich ist mehrfach die Rolle von Leitbildern anders wahrgenommen worden als in anderen Feldern wie bspw. der Automobilindustrie oder Großchemie (vgl. Hellige 1996a, S. 28). Dies schmälert in seinen Augen die Bedeutung der Leitbildtheorie als allgemeinen Erklärungsansatz für Technikgeneseprozesse, berührt jedoch nicht die prinzipielle Möglichkeit eines hermeneutischen Zugangs zur Technikgenese mittels der Kategorie des Leitbildes. Hellige prüft das Leitbildkonzept von Dierkes hinsichtlich der darin gemachten Annahmen unter anderem anhand einer spezifischen Entwicklung in der Informatik, den TimeSharing-Systemen (vgl. Hellige 1996b). Zunächst bestätigt er die Annahme, dass die Entstehung von Time-Sharing-Systemen durch unterschiedliche Vorstellungen und Visionen der Forscher geprägt wurden. Er weist allerdings die Vermutung zurück, dass von Beginn der Entwicklung an ein einzelnes dominantes Leitbild existiert hätte. Zunächst existierten eine Vielzahl von einzelnen Vorstellungen, die sich erst im Verlauf zu umfassenden Leitbildern entwickelt haben. Für das Untersuchungsfeld spricht er deshalb von einem anfänglichen Leitbild-Überschuss sowie von Leitbilddifferenzen und -konkurrenzen (vgl. ebd., S. 230f.). Diese anfängliche Vielfalt und Heterogenität von Leitvorstellungen werden auch in anderen Fallstudien aus der Informatik beschrieben (vgl. Hellige 1996a, S. 26). Hellige vertritt damit in Abgrenzung zu Dierkes vehement die Position, dass einzelne Leitbilder nicht als „feldgenerierende“ Faktoren angesehen werden können, d.h. dass diese nicht als 194 Mambrey und seine Kollegen schreiben ihrem Leitbildkonzept selbst eine pragmatische Perspektive zu: „Die Leitbild-Analyse (...) ist ein heuristischer, phänomenologischer Ansatz und sucht nach Nützlichkeit und praktischer Verwertbarkeit, nicht Wahrheit.“ (Mambrey/Paetau/Tepper 1995, S. 211)
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der Technik vorausgehende und diese von Beginn an vordeterminierende Vorstellungen anzusehen sind, da gar nicht immer von Beginn an ein fertiges Leitbild existiert: „Leitbilder sind jedenfalls nicht die ‚Keimzelle oder Genstruktur‘ (Dierkes in VDI 1993) einer Technik, die als der faßbare Nukleus dem Technikgeneseforscher Ansatzpunkte für Korrekturen oder Umsteuerungen zum frühest möglichen Zeitpunkt bieten.“ (Ebd., S. 26)
Damit wäre auch eine Antizipation der Entwicklung anhand von frühen Leitbildern gar nicht möglich. Faktisch ist im Fallbeispiel der Time-Sharing-Systeme die spätere Entwicklung von den Akteuren auch gar nicht antizipiert worden. Die Kritik richtet sich damit zugleich gegen den Anspruch, über die Analyse von Leitbildern Technikentwicklung und gar Technikfolgen bereits im Entstehungsprozess antizipieren zu wollen und somit gleichzeitig korrigierbar zu machen (vgl. Hellige 1993, S. 196). Hellige verweist zudem darauf, dass die Technikfolgen erst als Wechselwirkung von Leitbildern und weiteren Faktoren in ihrer Langzeitdynamik entstehen, die in ihrer Komplexität zu Beginn der Entwicklung nicht antizipiert werden können (vgl. Hellige 1996a, S. 30). Vor diesem Hintergrund bewertet er dann auch die Möglichkeit einer Technikfolgenabschätzung durch Leitbild-Assessment oder gar die Steuerung der Entwicklungsprozesse durch ein bewusstes „management by visions“ als Illusion (vgl. Hellige 1993, S. 205; Hellige 1996b, S. 230f.). Hellige kennzeichnet Leitbilder stattdessen als „hermeneutische Phänomene, die auf der Ebene von Vorverständnissen, Zielvorstellungen und Problemhorizonten angesiedelt sind“ (Hellige 1996c, S. 177). Sie drücken damit die Bedeutungszuschreibung in Bezug auf bestimmte Techniken aus, die deren Ausgestaltung wie Nutzung prägt, können aber nicht als lineare und gar eindimensionale Ursache-Wirkungszusammenhänge angesehen werden: „Leitbildansätze sollten daher in erster Linie als wichtiger Bestandteil der Hermeneutik von Technikgeneseprozessen verstanden werden, statt sie als Instrumente der Technikgestaltung und -steuerung zu überfordern.“ (Hellige 1996a, S. 31)
Die Aufgabe der Leitbildforschung bzw. die Rolle der Leitbilder sollte sich nach Hellige deshalb darauf beschränken, einen Verständigungsprozess über Vorverständnisse und angestrebte Ziele anzuregen: „Die Aufgabe einer entwicklungsbegleitenden Leitbildforschung reduziert sich so am Ende darauf, Problemlösungshorizonte durch die Aufdeckung von Vorverständnissen und Fixierungen zu öffnen, den Interessenbezug von Leitbildern aufzuzeigen und dadurch auf die Notwendigkeit des Aushandelns von Leitbildern hinzuweisen. Die Analyse impliziter Leitbilder ist dabei vielleicht wichtiger als die Aufstellung und Propagierung neuer expliziter Leitbilder.“ (Hellige 1996a, S. 30)
Damit reduziert sich das Konzept von Hellige bezüglich der Umgangs- und Einsatzformen mit bzw. von Leitbildern auf die rekonstruktive Beschreibung der sozialen Bedeutungszuschreibungen in bereits erfolgten Technikgeneseprozessen sowie die Identifikation und Diskussion von vorhandenen Leitbildern in laufenden Technikentwicklungsprozessen (vgl. hierzu noch einmal Kap. 3.5.4). Zwar fordert Hellige eindringlich, dass der Leitbildbegriff ausdifferenziert und operationalisiert werden muss, um zu einem „soliden Forschungsin-
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strument“ zu werden (vgl. Hellige 1993, S. 196). Dies ist jedoch bislang von seiner Seite nicht geschehen.195 3.5.4 Fazit zu Leitbildern in der Technikforschung Eine allgemeine Definition von Leitbildern in der Technikforschung ist bereits einleitend gegeben worden: Leitbilder werden in der Technikforschung als längerfristig geltende Vorstellungen über gleichzeitig erwünschte und für machbar gehaltene technische Zukünfte verstanden, die das Denken und Handeln der Akteure prägen. Leitbilder sind damit kollektiv geteilte, denk- und handlungsleitende technikbezogene Zukunftsentwürfe. Letztlich werden damit Leitbilder über ihre Eigenschaften und Funktionen definiert. Eine Idee oder Zukunftsvorstellung wird dann zu einem Leitbild, wenn sie bestimmte Funktionen erfüllt und Wirkungen erzielt. Als Funktionen von Leitbildern werden ihre Orientierungs-, Koordinations- und Motivationsfunktion herausgestellt. In Technikgeneseprozessen richten Leitbilder die Wunsch- und Machbarkeitsvorstellungen auf einen gemeinsamen Zukunftshorizont aus, synchronisieren Wahrnehmung und Bewertung, erleichtern somit die Koordination des Denkens und Handelns und entfalten volitive und affektive Kräfte, welche motivierend wirken. Leitbilder bilden damit einen intersubjektiv hergestellten Konsens über Technikkonstruktion und -nutzung, welche als mentale Fixierungen oder geistige Korridore den Entwicklungsprozess und ggf. deren Nutzung prägen. Für die Frage nach der Entstehung bzw. Genese von Leitbildern erscheint hier ein wissenssoziologisch bzw. kulturalistisch fundiertes Verständnis sinnvoll. Danach entstehen Leitbilder in der Interaktion innerhalb einer Kultur oder Interpretationsgemeinschaft mit gemeinsamem Erlebnis- und Erfahrungszusammenhang sowie Handlungsraum als geteilte Orientierungsmuster, genauer denk- und handlungsleitende Wunsch- und Machbarkeitsprojektionen. Leitbilder sind damit (wissens-)kulturspezifisch. Dierkes beschreibt Leitbilder zugleich aber auch als kulturübergreifend. Dies kann nur so verstanden werden, dass sprachlich repräsentierte Leitbilder dem Verstehen anderer zugänglich sind. Voraussetzung für einen intersubjektiven Verständigungsprozess, in dem ein geteiltes Bedeutungssystem herausgebildet wird, bleibt aber die Interaktion, in welcher ein gemeinsamer Erfahrungsund Handlungsraum gegeben ist. Die Verbalisierung von vorhandenen sowie potenziellen Leitbildern und die diskursive Auseinandersetzung darüber liefert einen Interaktionszusammenhang, in dem Verständigung möglich wird. Leitbilder werden in der sozialwissenschaftlichen Technikforschung nicht nur dazu eingesetzt, (bereits erfolgte) Technikentwicklungen zu rekonstruieren, sondern sollen zugleich einen Beitrag zur Technikfolgenabschätzung und zur Technikgestaltung bzw. -steuerung leisten. Das Einsatzfeld der Kategorie Leitbild ist damit sowohl retrospektiv als auch prospektiv ausgerichtet. Mit Leitbildern wird in der Technikforschung damit zugleich analytisch-rekonstruktiv, antizipativ, konstruktiv sowie diskursiv umgegangen (vgl. Tabelle 3.1). Die Kontroversen und Missverständnisse zur Rolle und Bedeutung von Leitbildern in der Technikforschung entzünden sich letztlich an diesem weitreichenden Anspruch und der 195 Hellige schlägt lediglich eine soziale und inhaltliche Ausdifferenzierung des Begriffs vor, die für eine allgemeine Diskussion über den technikspezifischen Kontext hinaus wenig ergiebig ist. Mit der Notwendigkeit einer Ausdifferenzierung des Leitbildbegriffs ist allerdings ein wichtiger Aspekt benannt: Der Leitbildbegriff variiert unter anderem im Zeithorizont, im Realitätsgehalt und in der Wirkungskraft sehr stark.
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Frage, ob und wie Leitbilder Technikentwicklung auslösen sowie steuern und wie Leitbilder ihrerseits gestaltet werden können. Um hier zu einer Klärung zu kommen, werden die unterschiedlichen Leitbildansätze im Lichte der vorab entworfenen allgemeinen begrifflichen und konzeptionellen Typologie zu Leitbildern in den Sozialwissenschaften untersucht. Von echten und propagierten Leitbildern Der Untersuchung der Leitbildverständnisse und -konzepte in den einzelnen Forschungsfeldern wurde eine begrifflichen Typologie vorangestellt, die unter anderem zwischen echten und propagierten bzw. genauer impliziten und expliziten Leitbildern unterschieden hat (vgl. Kap. 2.2.1). Die damit angesprochene Unterscheidung wird nun an den Leitbilddiskurs der sozialwissenschaftlichen Technikforschung herangetragen, um die darin enthaltenen mit dem Begriffsverständnis in Verbindung stehenden Mehrdeutigkeiten und Missverständnisse aufzudecken und zu diskutieren. Dabei hilft vor allem die Unterscheidung von echten und propagierten Leitbildern (Typ A und B), die Diskussion über Leitbilder in der Technik differenziert zu betrachten.196 Rammert unterscheidet zwischen impliziten kulturellen Orientierungen bzw. Modellen und Leitbildern als eher expliziten Orientierungskomplexen (vgl. Rammert 1994, S. 16). Entsprechend verweist er darauf, dass letztlich nicht die öffentlich debattierten Leitbilder die technischen Entwicklungen prägen, sondern die impliziten Modelle, die in Analogie zur Erziehung als „heimlicher Lehrplan“ zu verstehen sind. Leitbilder würden in der Technikforschung dagegen lediglich zur „Legitimation ihrer Produkte und zur leichteren Beschaffung von Forschungs- und Entwicklungsgeldern“ genutzt (vgl. ebd., S. 16). Letztlich ist es lediglich eine terminologische Verwechslung197, die bei Rammert zur Zurückweisung der Bedeutung von Leitbildern für die Technikentwicklung führt. Ordnet man stattdessen seinem Verständnis von implizit-kulturellen Modellen den Begriff des echten Leitbildes, im Sinne einer wahrnehmungs-, denk- und handlungsleitenden Vorstellung (Typ A), und den von ihm als Leitbilder bezeichneten öffentlich debattierten Orientierungen die propagierten Leitbilder (Typ B) zu, passen auch Rammerts Überlegungen – freilich mit terminologischer Umkehrung – in ein allgemeines sozialwissenschaftliches Leitbildkonzept. Unter dieser Voraussetzung schließen auch seine Überlegungen an die hier gemachten Überlegungen zu einer technikbezogenen Leitbildforschung an. Eine reflexive Technikentwicklung muss sich mit den impliziten Orientierungen diskursiv beschäftigen und diese explizit machen. Kulturelle Orientierungen einer technischen Entwicklung werden „erst durch die wissenschaftliche Analyse, durch den Vergleich oder durch die technikkritische Debatte in der Gesellschaft explizit gemacht“ (Rammert 1998, S. 58). Das Leitbildkonzept von Mambrey u.a. enthält zwar immanent die Differenz zwischen echten und propagierten Leitbildern, arbeitet sie jedoch nicht konsequent heraus, sodass diesbezüglich fundamentale Missverständnisse entstehen. Einerseits sprechen die Autoren gelegentlich auch von der Konstruktion von Leitbildern durch Metaphern, sind sich jedoch 196 Die hier beachtete Unterscheidung von echten und propagierten Leitbildern (Typ A und B) konzentriert sich auf die zentrale Dimension der Handlungswirksamkeit, während die begriffliche Typologie in der Unterscheidung von impliziten und expliziten Leitbildern zusätzlich zwischen unterschiedlichen Formen unterscheidet (vgl. Kap. 2.2.1). 197 Mit Verwechslung ist hier nicht die herkömmliche Bedeutung eines Irrtums gemeint, sondern lediglich die wertneutrale Feststellung, dass zwei Begriffe hinsichtlich ihrer Bedeutungen vertauscht sind.
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andererseits darüber bewusst, dass Leitbilder ihre Wirkungen nur dann entfalten können, wenn sie bereits etabliert sind (vgl. Mambrey/Paetau/Tepper 1995, S. 42). Mit der Unterscheidung von Leitbildern und Metaphern gelingt ihnen letztlich die notwendige Differenzierung, um die Bedeutung von impliziten Leitbildern (Typ 1) herauszuheben. Metaphern können dabei einerseits Ausdruck vorhandener, denk- und handlungsleitender Leitbilder sein (im Sinne von explizierten Leitbildern). Deren Analyse ermöglicht dann die Identifikation vorhandener impliziter Leitbilder. Sie können aber auch zur Herausbildung neuer Leitbilder beitragen, indem sie (im Sinne von expliziten Leitbildern) erzeugt werden. Im Rahmen der Überlegungen zur Technikentwicklung stehen bei Mambrey u.a. deshalb konsequenterweise nicht die (impliziten) Leitbilder, sondern Metaphern als Instrument im Mittelpunkt.198 Mit der Unterscheidung von Metaphern als Mittel und Leitbildern als Ziel gelingt den Autoren der Ansatz für eine Unterscheidung von echten und propagierten Leitbildern, zwischen dem Anspruch und der Eigenschaft handlungsleitender Orientierung. Ebenso findet man bei Hellige die Unterscheidung zwischen impliziten Leitbildern als gegebenes Vorverständnis und expliziten Leitbildern, die neu aufgestellt (synthetisiert) und propagiert werden (vgl. Hellige 1996a, S. 30). Mit dem klaren Anspruch, die sozialwissenschaftliche Beschäftigung mit Leitbildern eben gerade auf das Aufdecken der impliziten Leitbilder konzentrieren zu wollen, statt sie als Instrumente der Techniksteuerung und -gestaltung zu überfordern, konzentriert er damit sein Begriffsverständnis auf echte, d.h. im Denken und Handeln verankerte Leitbilder (Typ A) und gewinnt damit begriffliche wie methodologische Eindeutigkeit. Auch die WZB-Gruppe setzt sich mit der Differenz von echten und propagierten Leitbildern auseinander. Allerdings ist das Leitbildkonzept hinsichtlich dieser Differenz nicht in letzter Konsequenz konsistent. Das Leitbildkonzept der WZB-Gruppe bezieht sich schwerpunktmäßig auf Leitbilder, die im Denken und Handeln der Akteure verankert sind. Leitbilder werden als wahrnehmungs-, denk-, entscheidungs- und handlungsleitende Vorstellungen und damit über die Eigenschaft von echten Leitbildern definiert. Zudem wird auf die Differenz von offiziell propagierten und alltäglich praktizierten Leitbildern hingewiesen. Ebenso wird zwischen Ideen mit Leitbildpotenzial und Leitbildern selbst unterschieden, wobei mit einer gewissen Ausbreitung des Konsenses über die entsprechende Idee und seiner Etablierung dieses zum Leitbild wird. In diesem Modell der Leitbildentstehung, in dem sich der Konsens über eine bestimmte Idee in einer größeren Gruppe ausweitet, droht bereits das Verständnis von Leitbildern als wahrnehmungs-, denk- und handlungsleitende Wunsch- und Machbarkeitsvorstellung undeutlich zu werden. Es bedarf schließlich nicht nur der Zustimmung zu einer Idee, sondern ihrer Verankerung im Denken und Handeln der Akteure, damit diese als echtes Leitbild verstanden werden kann. Darüber hinaus wird betont, dass Leitbilder nicht künstlich produziert werden können (vgl. Dierkes/Hoffmann/Marz 1992, S. 154). Dennoch ist das Konzept in diesem Punkt nicht konsequent (vgl. Kap. 3.5.4.2). Überlegungen zur Stimulierung von Leitbildern, Entwicklung von Ideen mit Leitbildpotenzial, Formulierung von Alternativ- und Gegenleitbildern und zur Transformation von Organisationsleitbildern legen die Vorstellung nahe, in irgendeiner Weise Leitbilder auch aktiv herstellen zu können, und beziehen sich dann aber 198 Die Autoren haben zwischen Leitbildern als Ziel und Metaphern als Mittel unterschieden und damit inhärent die notwendige Unterscheidung zwischen echten und synthetischen Leitbildern vorgenommen. Allerdings ist eben diese Differenzierung bereits in der unmittelbaren Diskussion des Ansatzes nicht beachtet worden. Dies unterstreicht die Notwendigkeit einer unmissverständlichen Kommunikation über Leitbilder.
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auf explizite, also synthetische Leitbilder, die zunächst jedoch nur propagiert, aber nicht auch automatisch denk- und handlungsleitend sind. Das Leitbildverständnis in der Technikforschung bezieht sich somit schwerpunktmäßig auf echte Leitbilder, d.h. Leitbilder, die sich in einem kulturellen Verständigungsprozess herausgebildet haben und das Denken und Handeln der Akteure leiten (Typ A). Dabei wird die Differenz zwischen echten und propagierten Leitbildern durchaus wahrgenommen. Dennoch wird auch immer wieder die Möglichkeit erwogen, vorhandene Leitbilder zu verändern und neue Leitbilder in irgendeiner Weise herzustellen, zu konstruieren oder wenigstens anzuregen. Die konzeptionellen Überlegungen zu einem Leitbildeinsatz innerhalb der Technikgestaltung, sofern sie über den reflexiven Einsatz von Leitbildern im Technikdiskurs hinausgehen, bedienen sich eben dieser Vorstellung, bei der propagierte, synthetische Leitbilder im Mittelpunkt stehen, deren Leitbildeigenschaft jedoch nur behauptet bzw. erhofft wird. Zum Umgang mit und Einsatz von Leitbildern in der Technikforschung Im unmittelbaren Zusammenhang mit dem Grundverständnis über Leitbilder, ob diese als echte oder propagierte Leitbilder verstanden werden, steht die Frage, ob man Leitbilder in irgendeiner Form gestalten oder gar entwickeln kann. Letzteres spielt gleichzeitig in die Frage hinein, ob und wie Technik bzw. ihre Folgen mit Hilfe von Leitbildern antizipiert bzw. prognostiziert und gar gesteuert werden können. Diese Fragen sollen folgend auf der Grundlage der gemachten Ausführungen zu Leitbildern in der Technikforschung systematisch diskutiert werden. Leitbildanalyse Die Leitbildanalyse im Sinne der Identifikation vorhandener, denk- und handlungsleitender Leitbilder spielt sowohl in historisch-rekonstruktiver Perspektive als auch für eine prospektiv ausgerichtete, d.h. zukunftsbezogene Technik(genese)forschung eine große Rolle. Leitbilder zu analysieren, um Zielvorstellungen und damit verbundene mentale Fixierungen, Vorverständnisse und Problemhorizonte in Bezug auf eine Technik zu identifizieren, bildet den Minimalkonsens zum Einsatz von Leitbildern in der Technikforschung. Dies gilt vor allem in historischer Perspektive und ist zugleich zukunftsbezogen angedacht.199 Trotz langjähriger Konzeptentwicklung und Diskussion ist letztlich von keiner Seite eine klare, das Leitbildkonzept operationalisierende Methode der Leitbildanalyse für die Technikforschung entwickelt und angewendet worden. Mambrey und seine Kollegen konzentrieren ihre analytischen Bemühungen um Leitbilder auf die Analyse von Metaphern. Die WZB-Gruppe um Dierkes hat auf der Grundlage der von ihnen beschriebenen Funktionen von Leitbildern ein vorläufiges Instrument genutzt, das sich jedoch darauf beschränkt, die Funktionen bestimmter, offenbar schon immer bekannter Leitbilder in einem Diskurs nachzuzeichnen.
199 Diese zweite Variante der Leitbildanalyse im Sinne einer antizipativ-analytischen Leitbild-Folgenabschätzung wird im Abschnitt Prognose und Steuerung von Technik mit Hilfe von Leitbildern genauer erörtert.
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3 Leitbilder in den Sozialwissenschaften – die Diskursanalyse
Leitbildentwicklung/Leitbildgestaltung Lassen sich Leitbilder aktiv gestalten? Die Beantwortung dieser Frage hängt zunächst vom Grundverständnis der Leitbilder ab, ob man darunter echte oder auch propagierte Leitbilder versteht. In der Technikforschung wird diese Differenz nicht immer deutlich wahrgenommen und konsequent berücksichtigt. Dierkes und seine Kollegen betonen zwar, dass Leitbilder nicht „gemacht“ werden können, halten es aber durchaus für möglich, sie im Sinne einer Modifikation oder Transformation zu gestalten. Die Entstehung bestimmter Leitbilder (gemeint sind implizite Leitbilder, Typ 1) könnte zudem dadurch unterstützt werden, dass Ideen mit Leitbildpotenzial (Typ 3) „stimuliert“ werden. Die Überlegungen hierzu erscheinen zunächst sehr vage. Letztlich changieren die Konzepte zwischen einem konsequent kulturalistischen Verständnis von Leitbildern, in dem ihre Herausbildung als denk- und handlungsleitende Leitbildvorstellungen lediglich durch anregende Rahmenbedingungen gefördert werden kann, und einem tendenziell steuernden Zugriff auf Leitbilder, in dem Alternativleitbilder entwickelt und lanciert werden. Mit der Unterscheidung von Leitbildern und Metaphern gelingt es Mambrey und Kollegen nicht nur implizite Leitbilder (Typ 1) gegenüber expliziten Leitbildern (Typ 4) abzugrenzen, sondern auch einen konkreten Vorschlag zu machen, wie die Herausbildung von neuen, aber tatsächlich denk- und handlungsleitenden Leitbildern (Typ 1) gefördert werden kann. Ein kreativer Umgang mit Metaphern (Leitbild-Typ 4) ist dabei das Hilfsmittel zur Entwicklung von Ideen mit Leitbildpotenzial (Leitbild-Typ 3). Ob diese jedoch auch einen (echten) Leitbildcharakter (Typ 1) annehmen, wird dabei offen gehalten. Hellige hat zurecht Zweifel angemeldet, ob die betriebswirtschaftliche Praxis, Leitbilder für Unternehmen oder Organisationen zu entwerfen, für die Technikforschung übernommen werden könne. Er spricht sich deutlich dagegen aus, im Rahmen der leitbildbezogenen Technikforschung neue explizite oder gar oktroyierte Leitbilder (Typ 4 oder 6) aufzustellen und zu propagieren. Man kann jedoch den Anspruch einer Leitbildentwicklung nicht allein damit zurückweisen, dass man sagt, dass propagierte Leitbilder gar nicht die Eigenschaften bzw. Funktionen von (echten) Leitbildern haben und (deshalb) auch nicht hergestellt werden können. Explizite, d.h. manifeste, propagierte Leitbilder (Typ 4) sollten als etwas vom Wesen her Anderes als implizite Leitbilder (Typ 1) angesehen werden. Erstere können als potenzielle Leitbilder verstanden werden, bei denen die Hoffnung bzw. der Anspruch besteht, dass sie die Wirkungen von echten denk- und handlungsleitenden Leitbildern erzielen und damit zu ebensolchen werden. Sie bilden den verbalisierten Entwurf eines möglichen denk- und handlungsleitenden Leitbildes. Die Herausbildung entsprechender Denk- und Handlungsmuster geschieht allerdings in einem intersubjektiven Prozess der Wirklichkeitskonstruktion und ist nicht steuerbar. Explizite Leitbilder (Typ 4) produzieren zu wollen, lässt sich dennoch durchaus rechtfertigen. Produzierte Leitbildentwürfe können dabei helfen, Technik anders zu denken. Solcherart explizite Leitbilder haben dann aber lediglich Leitbildpotenzial, sie sind ein Interpretationsangebot, das zur Erweiterung des durch das gegebene implizite Leitbild (Typ 1) eingeschränkten Horizonts beitragen kann. Ein neuerlicher Schließungsprozess durch ein neues oder verändertes implizites Leitbild bleibt dagegen ein nicht steuerbarer sozialer Prozess. Diesen Prozess aktiv und systematisch zu gestalten, in dem die Bedingungen der Möglichkeit der Entstehung eines neuen Leitbildes geschaffen werden, erscheint jedoch auch für das Technikfeld ein vielversprechender Ansatz. In aller Regel bleiben auch die
3.5 Leitbilder in der Technikforschung
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Überlegungen der WZB-Gruppe in den Grenzen eines solchen Anspruchs und erkennen damit die soziale Konstruiertheit, aber Nicht-Konstruierbarkeit von (echten) Leitbildern an. Prognose und Steuerung von Technik mit Hilfe von Leitbildern Die sozialwissenschaftliche Technikforschung stellt sich seit Mitte der 1980er Jahre schwerpunktmäßig sowohl als retrospektiv analysierende wie auch prospektiv ausgerichtete Technikgeneseforschung dar. Damit verändert sich auch die Perspektive sozialwissenschaftlicher Technikforschung, die statt „therapeutisch“ die Folgen einer Technik immer erst nach ihrem Auftreten festzustellen, „prophylaktisch“ tätig wird (vgl. Baron 1995, S. 46ff.). Zwar ist sich die sozialwissenschaftliche Technikforschung durchaus ihrer begrenzten Prognosefähigkeit bewusst (vgl. bereits Dierkes 1981, S. 79). Die Lösung dieses Problems wird darin gesehen, dass nicht auf genaue Prognose gesetzt wird, sondern in einer frühen Phase der Technikentwicklung die Einflussfaktoren auf die Entwicklungsentscheidungen beobachtet und deren Folgen in die Zukunft „projiziert“ werden sollen (vgl. Dierkes 1991). Als ein herausragender Einflussfaktor werden von der Technikgeneseforschung Leitbilder angesehen. Sie prägen – so die Annahme – den Technikgeneseprozess bereits in einem frühen Stadium. Von Anfang an schwingt in dem Ansatz, Technikfolgen frühzeitig über die bereits vorhandenen Leitbilder antizipieren zu wollen, die Option mit, durch Beeinflussung der Faktoren der Technikgenese diese auch zu steuern. Hier sind in Bezug auf den Einsatz von Leitbildern zwei verschiedene Vorgehensweisen zu unterscheiden: Techniksteuerung mit Hilfe von Leitbildern konzentriert sich zunächst auf einen analytischen und diskursiven Einsatz, in dem vorhandene praktizierte oder potenzielle Leitbilder identifiziert und zur Diskussion gestellt werden. Techniksteuerung geschieht dann aber nicht durch die Erstellung oder Veränderung von Leitbildern, sondern lediglich auf der Grundlage einer Leitbildreflexion (Leitbild-Assessment als Leitbildfolgenforschung). Zum anderen wird aber auch die Möglichkeit erwogen, Alternativleitbilder, technologische Visionen oder Ideen mit Leitbildpotenzial zu entwerfen in der Hoffnung, dass diese zu einer Veränderung der vorhandenen impliziten Leitbilder und darüber auch der Richtung der Technikentwicklung führen. Sowohl gegen den Anspruch, Technikfolgen über Leitbilder zu antizipieren als auch den Versuch der Techniksteuerung durch Leitbilder – sei es durch Leitbildentwicklung oder Leitbild-Assessment – werden in der Debatte jedoch gravierende Argumente angeführt. Hellige stellt in Fallanalysen dar, dass sich bestimmte Leitbilder als Zukunftsvorstellungen erst im Laufe der Technikgenese herausgebildet haben, ihr also nicht vorausgingen. Zudem ist angeführt worden, dass in einem Technikfeld immer verschiedene Leitbilder nebeneinander existieren und einander beeinflussen (vgl. Mambrey/Paetau/Tepper 1995, S. 42; Eulenhöfer 1996; Hellige 1996b). Schließlich mahnen viele Stimmen, Leitbilder nicht als alleinigen Einflussfaktor auf die Technikentwicklung zu überschätzen und damit die Komplexität des Prozesses nicht zu unterschätzen. Rammert verweist darauf, dass neben Leitbildern noch weitere Faktoren wie Ökonomie, Politik oder das Militär die technische Entwicklung als „selektive Filter oder katalytische Faktoren“ beeinflussen (vgl. Rammert 1994, S. 9). So spielen auch für Barben beispielsweise wirtschaftliche Kalküle wie Gewinnerwartungen als Selektionsfaktoren eine Rolle (vgl. Barben 1999, S. 174f.). Für Hellige finden in den meisten Leitbildkonzepten weder die sozialökonomischen Strukturbedingungen noch die Interessenbezüge Beachtung (vgl. Hellige 1996a, S. 27). Ebenso moniert Klischewski, dass letztlich das Verhältnis zwischen wirtschaftlichen, sozialen oder politischen Faktoren und
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3 Leitbilder in den Sozialwissenschaften – die Diskursanalyse
Leitbildern ungeklärt ist (vgl. Klischewski 1996, S. 188). Leitbilder wären damit als eine spezifische Dimension in einem komplexen Wirkungszusammenhang zu begreifen. Wenn sich einzelne Leitbilder jedoch nicht als ein dominanter, frühzeitig zu identifizierender Einflussfaktor in der Technikgenese erweisen, so muss auch ihr Steuerungspotenzial innerhalb von Technikentwicklungsprozessen kritisch hinterfragt werden. Entsprechend plädiert Barben dafür, die Rolle von Leitbildern nicht als archimedischen Punkt der Techniksteuerung zu überschätzen (vgl. Barben 1997, S. 164). Die Kritik, dass das Leitbildkonzept überschätzt bzw. überfordert werden würde, richtet sich gegen den umfassenden Anspruch, Leitbilder im Zusammenhang mit Technikentwicklung zugleich rekonstruktiv, vermeintlich prognostisch und konstruktiv bzw. gestalterisch zu nutzen. Die fundamentalsten Einwände führen bei Hellige zu der Forderung, Leitbilder lediglich als eine hermeneutische Kategorie an Prozesse der Technikgenese heranzutragen. Auch Hellige erwägt jedoch die Möglichkeit einer „entwicklungsbegleitenden“ Leitbildforschung, die über eine rein retrospektive Blickrichtung einer historischen Analyse hinausginge. Ein solcher Ansatz würde sich für ihn aber auf die rekonstruktive Analyse vorhandener Leitbilder im Sinne der Aufdeckung von mentalen Fixierungen reduzieren. Wird aber der Leitbildansatz nicht im Sinne eines Prognose- und Steuerungsinstrumentes missverstanden und überstrapaziert, so eröffnen sich darüber hinausgehende Möglichkeiten der Leitbildforschung. Die Ergänzung, die Dierkes hier vornimmt, bezieht sich nun auf den Gedanken, anhand von vorhandenen wie auch potenziellen Leitbildern mit möglichen Entwicklungslinien der Technik reflexiv umzugehen. Das reflexive und diskursive Element der Leitbildkonzepte Die wachsende Bedeutung des diskursiven Umgangs mit Leitbildern ist Ausdruck eines zunehmend reflexiven Umgangs mit Technik selbst. Leitbilder können, so die einhellige Meinung, in öffentlichen wie fachlichen Technikdiskursen einen wichtigen Beitrag zur Verständigung leisten. Leitbilder werden in der Technikforschung immer wieder als Medien der öffentlichen Diskussion über Technik, insbesondere über die ihr entgegengebrachten Erwartungen, Wünsche, aber auch die wahrgenommenen Risiken gesehen. Spezielle Leitbild-Diskurse gäben damit „Foren für machbare und wünschbare technologiezentrierte Zukünfte“ (Canzler/Dierkes 2000, S. 470) ab. Allerdings sollte dabei beachtet werden, dass die unterschiedlichen Leitbildtypen dabei jeweils eine andere Rolle spielen. Barben, Dierkes und Marz (1993) betonen die Notwendigkeit zur Offenheit, die eigenen Leitbilder zur Diskussion und sogar Disposition zu stellen. Wo implizite Leitbilder oder genauer denk- und handlungsleitende Vorstellungsmuster von wünschbaren und machbaren Zukünften (Typ 1) reflektiert und zur Diskussion gestellt werden, können zum einen die mit ihnen verbundenen Implikationen zur Sprache gebracht werden. Eine kritische Analyse, ein reflexiver Umgang mit diesen Wunsch- und Machbarkeitsvorstellungen kann auch dazu beitragen, die Konsequenzen entsprechender Entwicklungskorridore anzudenken und sich über anvisierte Anwendungskonzepte zu verständigen (vgl. Hellige 1993, S. 196). Zum anderen mahnt Hellige einen kritischen Umgang mit vorhandenen (impliziten) Leitbildern an, die im Diskurs als „überschießende Produktmythen“ und „notorisch erfolglose Wandermythen technischer Revolutionen“ entlarvt werden können, da sie sich als dauerhaft unrea-
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lisierbar erweisen (vgl. Hellige 1993, S. 204).200 In jedem Fall kann über die Verbalisierung und Diskussion der praktizierten Leitbilder deren Machbarkeit sowie die Erwünschtheit ihrer Konsequenzen zur Diskussion gestellt werden. Zum anderen lässt die Aufmerksamkeit für implizite Leitbilder in einem Feld häufig konkurrierende Leitbilder sichtbar werden, die eine Auseinandersetzung über die meist hinter den Argumentationen stehenden kontroversen Zukunftsentwürfe ermöglichen. Leitbildkontroversen werden so sichtbar und bearbeitbar (vgl. etwa Dierkes/Canzler 1998, S. 33). Gleichzeitig kann auch die Diskussion über Alternativen zu den vorhandenen impliziten Leitbildern zu einer Horizonterweiterung beitragen und den Möglichkeitsraum in Bezug auf zukünftige Technikentwicklung und Techniknutzung erweitern. Angedacht wird hier die Möglichkeit, alternative Ideen mit Leitbildpotenzial zu kreieren und gezielt in die Diskussion einzubringen. Geht man mit Dierkes davon aus, dass in einem Technikfeld neben den dominierenden, praktizierten Leitbildern immer auch alternative Ideen mit Leitbildpotenzial (Leitbild-Typ 3) existieren, so können auch diese in das gemeinsame Bewusstsein gehoben und in den Auseinandersetzungsprozess eingebracht werden: „Ziel muß es deshalb sein, nicht nur Ideen mit Leitbildpotential zu kreieren, sondern vor allem auch vorhandene, aber oft nicht gesehene zu explizieren und sozusagen diskursfähig zu machen.“ (Dierkes/Hoffmann/Marz 1992, S. 154)
Schließlich spielen aber auch explizite Leitbilder (Typ 4) in der öffentlichen Diskussion eine wichtige Rolle. In diesem Fall sind verbalisierte Leitbilder gemeint, die häufig bestimmte mehr oder weniger komplexe Vorstellungen in Schlagworten verdichten. Sie bieten die Möglichkeit der Komplexitätsreduktion und einen gemeinsamen Bezugspunkt, der gruppenbildend wirkt und Identifikation ermöglicht: „In gleicher Weise haben die expliziten Leitbilder der Technik ihren Stellenwert in der öffentlichen Technikdebatte. Sie bündeln unterschiedliche Wünsche und Interessen zu Zielen. Sie fungieren als offizielle Orientierungspunkte. Sie bilden die Grundlage für politische Bündnisse zwischen den Akteuren.“ (Rammert 1998, S. 60)
Gerade wo sie komplexe Vorstellungen und Sachverhalte bündeln, leisten sie einen wichtigen Beitrag zu deren öffentlicher Verhandelbarkeit (vgl. Barben 1997, S. 139). Allerdings ziehen entsprechende – häufig schlagwortartige – Leitbilder ein gravierendes Problem nach sich. Mit dem scheinbar evidenten Leitbild können höchst unterschiedliche Vorstellungen verbunden und damit nur eine scheinbare Verständigung gegeben sein. Wo solcherart explizite Leitbilder nicht einem intersubjektiven Verständigungsprozess erwachsen und ihr Ergebnis darstellen, sondern gerade umgekehrt als Schlagwort in einen Diskurs eingebracht werden, muss der Diskurs erst zur Annäherung an ein gemeinsames Verständnis dienen. Das explizite Leitbild bildet dann nur das Medium und den Ausgangspunkt, auf das sich der Verständigungsprozess beziehen kann. Gerade in der Frage der öffentlichen Diskussion der Leitbilder und einem reflexiven Umgang mit ihnen treffen sich die unterschiedlichen Leitbildansätze der Technikforschung. Nur eine differenzierte Begriffsverwendung macht jedoch deutlich, an welchen Stellen und 200 Ironischerweise führte Hellige als Beispiele für „notorisch erfolglose Wandermythen“ ausgerechnet Leitbilder wie die Telearbeit, das Teleshopping oder die elektronische Zeitung an, die sich alle seit Erscheinen des Aufsatzes realisiert haben.
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3 Leitbilder in den Sozialwissenschaften – die Diskursanalyse
in welcher Form Leitbilder als Gegenstand bzw. Medium in der öffentlichen und fachlichen Diskussion sinnvoll eingebracht werden können. Technik mittels Leitbilder verstehen oder erklären? Der Dissenz zwischen Hellige und Dierkes schien zuerst nahezulegen, den Ursprung der Debatte in der Differenz zwischen einem hermeneutisch-verstehenden gegenüber einem erklärenden, mechanistisch-instrumentellen Ansatz zu suchen. Erklären hieße, die UrsacheWirkungszusammenhänge aufzudecken und auf diese Weise auch in der Lage zu sein, prognostisch tätig zu werden, sofern man die beeinflussenden Faktoren kennt. Steuern könnte man dann, wenn die beeinflussenden Faktoren ihrerseits beeinflussbar sind. Verstehen hieße, die Bedeutungszuschreibungen und Sinnzusammenhänge aufzudecken und auf diese Weise den Sinn einer Handlung, eines Artefaktes (in diesem Fall der Technik) beschreiben zu können. Tatsächlich löst sich die Differenz zwischen erklärendem und verstehendem Paradigma jedoch unter einer sozial-konstruktivistischen Perspektive auf. Darin wird davon ausgegangen, dass die Vorverständnisse und Bedeutungszuschreibungen die Wahrnehmung und Bewertung der Wirklichkeit determinieren und auf diese Weise das Handeln prägen, sich schließlich auch in die Artefakte einschreiben und entsprechend auf die Technikgenese auswirken. Aus einer solchen Perspektive wäre dem streng hermeneutischen Zugang entgegenzuhalten, dass mit Hilfe von Leitbildern plausible Narrationen möglich sind, die nicht nur erfolgte Technikentwicklungsprozesse nachvollziehend verstehbar machen, sondern einen reflexiven Umgang mit möglichen Zukünften eröffnen. In der Technikforschung ergibt sich damit der Konsens, Leitbilder nicht als berechenbare und aktiv veränderbare Steuerungsgröße, sondern als kulturelles Phänomen zu verstehen, das hilft Technikentwicklung als einen sozialen Prozess zu begreifen. Auch mit einem solchen Ansatz ist es jedoch möglich, über einen rein deskriptiven Umgang mit Leitbildern hinauszugehen und Leitbilder stattdessen prospektiv zu nutzen. In einem kulturalistischen Verständnis von Technik lassen sich zwar keine Vorhersagen für die Technik machen, sehr wohl können aber Denk- und Handlungskorridore identifiziert werden, die bestimmte Entwicklungsrichtungen nahelegen. Vorhandene, wie auch in gewisser Weise potenzielle Leitbilder geben einen Hinweis darauf, in welche Richtung in Zukunft geschaut, gedacht und gegangen wird bzw. würde.
3.6 Zusammenfassung: Die sozialwissenschaftliche Kategorie Leitbild
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Das Wort Leitbild wird heute in vielen wissenschaftlichen Arbeiten verwendet; aber es ist unmöglich, daraus einen fest umgrenzten und sicheren Begriff zu gewinnen. Irene Sigl-Kiener (1960, S. 25)
3.6
Zusammenfassung: Die sozialwissenschaftliche Kategorie Leitbild
Die vorangehende diskursanalytische Untersuchung hat deutlich gezeigt, dass bislang kein einheitlicher Leitbildbegriff in den Sozialwissenschaften existiert. Das begriffliche und konzeptionelle Spektrum zu Leitbildern streut sehr weit. Der Leitbildbegriff ist deshalb sicherlich gegenüber anderen sozialwissenschaftlichen Begriffen schwächer konturiert und firmiert überdies keinesfalls als Kategorie mit einer konsistenten Diskursgeschichte, aus der eine klare Begriffsbestimmung oder gar ein einheitliches Leitbildkonzept abgeleitet werden könnte. Gleichwohl sind die unterschiedlichen leitbildbezogenen Forschungs- und Handlungsfelder hinsichtlich ihres Leitbildverständnisses mehrfach untereinander verbunden. Man stößt immer wieder auf direkte oder indirekte disziplin- und handlungsfeldübergreifende Verweise. Über die einzelnen Felder hinweg findet man wiederkehrende Begriffsbestimmungen, theoretische Annahmen und konzeptionelle Ansätze, sodass sich einzelne Diskursstränge ausgebildet haben. Entsprechend kann man in Bezug auf die sozialwissenschaftliche Beschäftigung mit Leitbildern von einem lose gekoppelten Diskursfeld sprechen, in dem Leitbilder eine wenn auch bislang diffuse sozialwissenschaftliche Kategorie darstellen. Die sozialwissenschaftlichen Überlegungen zu Leitbildern reichen bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts zurück. Zunächst als Kategorie für individuelle Zukunftsvorstellungen von der eigenen Persönlichkeit in der Psychologie genutzt, ist der Begriff nach dem Zweiten Weltkrieg soziologisch umgedeutet worden und bezieht sich spätestens seitdem allgemein auf sozial geteilte, erstrebenswerte Vorstellungen von zukünftigen Zuständen oder Prozessen. Mit wechselndem Verständnis wird der Leitbildbegriff seit den 1950er Jahren in der Politik, Erziehungswissenschaft, Familien- und Geschlechterforschung sowie raumbezogenen Planung und Forschung genutzt. Im Kontext von Organisationen ist von Leitbildern verstärkt seit den 1980er Jahren die Rede. Anfang der 1980er Jahre wird der Leitbildbegriff schließlich in der sozialwissenschaftlichen Technikforschung aufgegriffen. Der Leitbildbegriff selbst unterliegt dabei einem historischen Wandel. Das psychologisch fundierte Verständnis von persönlichen Leitbildern im Sinne individueller Persönlichkeitsideale hat sich sehr rasch zu einer soziologisch orientierten Kategorie kultureller bzw. sozialer Leitbilder im Sinne sozial geteilter erstrebenswerter Zukunftsvorstellungen gewandelt. Während zunächst und zum Teil auch noch bis heute vornehmlich (gesamt-) gesellschaftliche und in diesem Sinne kulturelle Leitbilder in den Blick genommen wurden, werden Leitbilder heute eher in einzelnen Interpretations- bzw. Sinngemeinschaften verortet. In der Begriffsgeschichte der Leitbilder zeichnet sich in den unterschiedlichen Forschungsfeldern eine allgemeine Entwicklung des Verständnisses von singulären, dominanten und damit zugleich allgemeinverbindlichen, gar dogmatischen Leitbildern hin zu einer Vielfalt von mitunter partikularen Leitbildern deutlich ab. In unterschiedlich großen Handlungsfeldern wird heute in aller Regel von einem Nebeneinander der Leitbilder ausgegangen. Sie liefern zudem selten noch „große Erzählungen“, welche Utopien gleich ganze Weltbilder transportieren. Leitbilder unterliegen damit Tendenzen der Pluralisierung im Sinne einer zahlenmäßigen Vervielfältigung, sozialen Ausdifferenzierung und sachlichen Partikularisierung. Damit erweisen sie sich aus Subjektsicht mitunter eher als Orientie-
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3 Leitbilder in den Sozialwissenschaften – die Diskursanalyse
rungsangebote, welche erst durch Internalisierung und Reproduktion den Status eines selbstverständlich gegebenen Orientierungsmusters erlangen. Aus den vorgefundenen Verwendungsweisen des Begriffs ergibt sich folgende aktuelle sozialwissenschaftliche Minimaldefinition für Leitbilder201: Leitbilder bündeln in aller Regel sozial geteilte (mentale oder verbalisierte) Vorstellungen von einer erwünschten bzw. wünschenswerten und prinzipiell erreichbaren Zukunft, die durch entsprechendes Handeln realisiert werden soll. Innerhalb dieser allgemeinen Definition differieren die Begriffsverwendungen zum Teil sehr stark. Im Rahmen der Untersuchung der Leitbildverständnisse und -konzepte ist es allerdings gelungen die vorgefundenen heterogenen Verständnisse in einer Typologie systematisch zu unterscheiden und damit zugleich aufeinander beziehbar zu machen. Die grundlegenden Unterscheidungslinien sind bereits vorab dargestellt und im Laufe der Detailuntersuchungen zur Differenzierung und Klärung der verschiedenen Leitbildverständnisse angewendet worden. Die verschiedenen Leitbildtypen bzw. die Dimensionen zu ihrer Unterscheidung seien hier in der gebotenen Kürze noch einmal aufgeführt202: Unterscheiden lassen sich Leitbilder primär hinsichtlich ihrer Erscheinungsform und ihrer Handlungswirksamkeit. Hinsichtlich der Form stehen sich mentale Vorstellungsmuster und ausdrücklich manifestierte, zumeist verbalisierte Artefakte (z.B. Leitbilddokumente, aber auch leitbildhafte Formeln) gegenüber. In der Dimension der Handlungswirksamkeit kann zwischen tatsächlich denk- und handlungsleitenden und in diesem Sinne praktizierten Leitbildern auf der einen Seite sowie propagierten und damit (noch) nicht praktizierten Leitbildern auf der anderen Seite unterschieden werden. Die propagierten Leitbilder lassen sich schließlich in selbst getragene und fremdgesetzte bzw. oktroyierte Leitbilder unterteilen. Die beiden Hauptformen – mentale praktizierte gegenüber manifesten propagierten, aber selbst getragenen Leitbildern – sind in der vorliegenden Untersuchung als implizite und explizite Leitbilder bezeichnet worden (Typ 1 und 4). Von diesen beiden Hauptformen abzusetzen sind oktroyierte Leitbilder (Typ 5 oder 6). Diese dreifache Unterscheidung bildet den wichtigsten Schlüssel zum Verständnis der Differenzen, Kontroversen und Missverständnisse in Bezug auf die Kategorie Leitbild in den Sozialwissenschaften. Die Übergänge zwischen den unterschiedlichen Leitbildtypen sind fließend. Letztlich hängt es von der jeweiligen Bezugsgruppe ab, welcher Leitbildtypus vorliegt. Für die einen bildet ein bestimmter Zukunftsentwurf das tatsächlich im Denken und Handeln verankerte Orientierungsmuster. Für andere stellt dieselbe Idee eine von außen an sie herangetragene Verhaltenserwartung dar. Leitbilder sind zudem insofern dynamisch, als sie einer steten Entwicklung unterliegen, in der sie auch ihren Modus verändern können. Propagierte Leitbilder können allmählich zu denk- und handlungsleitenden Leitbildern emergieren. Mentale Leitbilder können wiederum ausdrücklich, zumeist sprachlich fixiert und in diesem Sinne manifest werden. Da in aller Regel die Eigenschaft, das Denken und Handeln zu leiten, zu den konstitutiven Elementen von Leitbildern gezählt wird, und die sozial geteilten Vorstellungen der Leitbilder, die darin repräsentierte Übereinkunft hinsichtlich einer angestrebten Zukunft dafür mental verankert, nicht aber auch ausdrücklich verbalisiert sein müssen, erweist sich 201 Auch diese Minimaldefinition bezieht nicht jegliche auffindbaren Begriffsverständnisse ein, sondern stellt einen Versuch dar, der Mehrzahl vor allem aktueller und begründeter Begriffsverwendungen gerecht zu werden. 202 Für eine ausführliche Darstellung der begrifflichen Typologie vgl. Kapitel 2.2.1.
3.6 Zusammenfassung: Die sozialwissenschaftliche Kategorie Leitbild
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letztlich der implizite Leitbildbegriff (Typ 1) als der Kerngedanke von Leitbildern.203 Alle anderen Leitbildtypen lassen sich als Ausdrucksformen, Vorformen oder Abweichungen dieses Kerngedankens darstellen: Explizierte Leitbilder (Typ 2) stellen eine Ausdrucksform der ansonsten mental verankerten impliziten Leitbilder dar. Propagierte Leitbilder (Typ 3 bis 6) sind (noch) nicht handlungsleitend und entsprechend bestenfalls potenzielle Leitbilder. Mit ihnen wird häufig die Hoffnung verbunden, dass sie als Orientierungsmuster internalisiert und damit zu impliziten Leitbildern werden. Explizite Leitbilder (Typ 4) stellen einen ausdrücklich formulierten und geteilten, jedoch noch nicht gelebten Konsens darüber dar, was als wünschenswert gilt. Sie geben eine entsprechende synthetische Übereinkunft ab mit dem Anspruch, dass sich diese im Denken und Handeln niederschlägt. Sie sind damit auf implizite Leitbilder ausgerichtet. Auch oktroyierte Leitbilder (Typ 5 und 6) zielen mitunter auf die Etablierung von impliziten Leitbildern ab. Sie drücken jedoch lediglich die Vorstellungen darüber aus, was andere für wünschenswert halten. Sie sollten deshalb in Zukunft nicht länger unter dem Begriff Leitbild geführt werden (vgl. dazu Kap. 5.1). Die Mehrdeutigkeit des Begriffes, insbesondere die unreflektierte Differenz zwischen impliziten, expliziten und oktroyierten Leitbildern ist für einige der Kontroversen und Missverständnisse verantwortlich, welche sich im sozialwissenschaftlichen Leitbilddiskurs im Hinblick auf die Rolle von Leitbildern im Handlungsfeld sowie auf die mit ihnen verbundenen Forschungs- und Handlungsansätze ergeben. Dies betrifft vor allem die Frage nach den ihnen zugeschriebenen Funktionen sowie die Frage nach dem Ob und Wie ihrer Gestaltbarkeit. Wo implizite, explizite und oktroyierte Leitbilder deutlich voneinander getrennt werden, ergibt sich zu diesen Punkten hingegen ein verhältnismäßig klares Bild: Die Leitbildern gemeinhin zugeschriebenen Funktionen wie Orientierung, Koordination, Motivation oder Kohäsion erweisen sich nur als Eigenschaften echter Leitbilder, welche nämlich das Denken und Handeln unmittelbar strukturieren. Explizite Leitbilder haben dagegen lediglich den Anspruch, dass sie zukünftig denk- und handlungsleitend werden und damit die besagten Funktionen erfüllen können. Wo zudem deutlich gemacht wird, dass explizite Leitbilder lediglich Ausdrucksformen von Ideen mit Leitbildpotenzial, aber nicht schon echte Leitbilder, d.h. denk- und handlungsleitende Orientierungsmuster sind, und wo beachtet wird, dass geteilte Orientierungsmuster sich allmählich in der Interaktion von Interpretations- und Sinngemeinschaften herausbilden, wird unmittelbar evident, dass implizite Leitbilder nicht durch Formulierung von expliziten Leitbildern produziert werden können. Oktroyierte Leitbilder sind demgegenüber fremdgesetzte Vorschriften, wie zu handeln oder gar zu denken ist. Es ist wohl möglich, über Handlungsvorschriften das Handeln zu steuern. Man sollte aber ebenso wenig glauben, dass diese zur Etablierung von echten Leitbildern führen können. Implizite Leitbilder sind nicht gezielt herstellbar oder veränderbar. Deren Internalisierung ist weder verordenbar noch steuerbar. Die Entwicklung von expliziten Leitbildern hat dann einen eigenen Wert, wenn diese als ein dauerhafter und partizipativer Verständigungsprozess konzipiert wird, in dem die gegebenen Zukunftsvorstellungen zur Sprache kommen und über einen konsensualen Zukunftsentwurf als synthetische Übereinkunft verhandelt wird, welche die Grundlage bildet für einen weiteren permanenten und kooperativen Ausgestaltungsprozess. Explizite Leitbilder bilden dann ein Verständigungsmedium über wünschbare und mögliche Zukünfte. Mit ihrer Hilfe kann sich mitunter eine praktizierte Übereinkunft in Bezug auf die angestrebte Zukunft, kann sich ein echtes Leitbild intersubjektiv ausbilden. 203 Aus diesem Grund werden tatsächlich verfolgte hier als echte Leitbilder bezeichnet (vgl. Kapitel 2.2.1).
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3 Leitbilder in den Sozialwissenschaften – die Diskursanalyse
Die Beschäftigung mit Leitbildern folgt in den Sozialwissenschaften nicht nur einem analytischen, sondern auch einem praktischen (Forschungs)Interesse. Leitbilder geben für die Sozialwissenschaften nicht nur eine Analysekategorie zur Beschreibung und Untersuchung von zukunftsgerichteten Vorstellungsmustern ab, sondern werden dort auch unmittelbar als ein Gestaltungsinstrument zur Planung, insbesondere Zielfindung sowie zur Steuerung genutzt. Zu einem Gestaltungsinstrument kann ein Leitbild aber nur werden, wenn es seinerseits steuerbar ist. Damit korrespondieren die unterschiedlichen Forschungsinteressen mit den beiden grundsätzlich zu unterscheidenden Leitbildbegriffen. Implizite Leitbilder als tatsächlich verfolgte, zukunftsbezogene Orientierungsmuster stellen eine Analysekategorie dar. In Bezug auf explizite Leitbilder kann hingegen sowohl ein analytisches als auch ein unmittelbar praktisches Interesse verfolgt werden. Den unterschiedlichen Interessen entsprechend ergeben sich verschiedene Umgangsformen mit Leitbildern innerhalb der Sozialwissenschaften. Die verschiedenen Umgangsformen sind bereits vorab dargestellt worden und in die Untersuchung der leitbildbezogenen Forschungsfelder zu deren Systematisierung eingeflossen.204 Dem wechselnden Status von Leitbildern innerhalb der Sozialwissenschaften als Analysekategorie oder Gestaltungsinstrument entsprechend wird mit Leitbildern sowohl analytisch als auch konstruktiv umgegangen. Instrumentell kann ein Leitbild nur genutzt werden, wenn es seinerseits gestaltbar ist, also produziert und gesteuert werden kann. Dies verweist auf explizite Leitbilder. Konstruktiv wird mit expliziten Leitbildern umgegangen, wenn diese neu entwickelt oder umgesetzt werden.205 Ein analytischer Zugriff erfolgt hier hingegen, wenn deren Implikationen und deren Auswirkungen analysiert, die Leitbildentwicklung oder -umsetzung begleitend untersucht wird. In Bezug auf implizite Leitbilder beschränkt sich der sozialwissenschaftliche Zugriff zunächst auf deren Analyse im Sinne der Identifikation von vorhandenen Leitbildern, der Untersuchung ihrer Implikationen und Konsequenzen sowie ihres Einflusses im jeweiligen Untersuchungsfeld. Eine anwendungsorientierte Wendung nimmt dieser analytische Ansatz, wo die Ergebnisse der Leitbildanalysen kritisch diskutiert und in die jeweiligen Handlungsfelder zur Diskussion zurückgespiegelt werden. In den einzelnen untersuchten Forschungsfeldern variieren nicht nur die Begriffsverständnisse, sondern auch der Umgang mit Leitbildern. Gerade in Feldern, in denen auf implizite wie auch explizite und mitunter oktroyierte Leitbilder Bezug genommen wird, wo Leitbilder als Analysekategorie ebenso wie als Gestaltungsinstrument genutzt werden, ist es dringend erforderlich, die jeweils zugrunde liegenden differenten Leitbildbegriffe und Umgangsformen zu beachten. Als Leitbildmethoden lassen sich grundsätzlich Analyse- und Entwicklungsmethoden unterscheiden. Beide können Gegenstand der sozialwissenschaftlichen Beschäftigung im Sinne der Methodenentwicklung sein. Zugleich kommen bislang Analyse- ebenso wie Entwicklungsmethoden innerhalb der Sozialwissenschaften zum Einsatz. Von einem verbreiteten Instrumentarium und kodifizierten Verfahren zur Analyse von Leitbildern kann allerdings nicht die Rede sein. Die einzelnen Leitbildkonzepte sehen in aller Regel keine spezifischen oder gar konventionalisierten Analysemethoden vor. Wie die Kategorie Leitbild 204 Zur Darstellung der unterschiedlichen Umgangsformen vgl. ausführlich Kapitel 2.2.2. 205 Wo die Sozialwissenschaften nicht nur die latenten Übereinkünfte hinsichtlich einer wünschbaren Zukunft innerhalb des jeweiligen Handlungsfeldes artikulieren, sondern von sich aus ein Leitbild formulieren, wird letztlich von den Sozialwissenschaften ein oktroyiertes Leitbild produziert.
3.6 Zusammenfassung: Die sozialwissenschaftliche Kategorie Leitbild
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konzeptualisiert und in der Folge operationalisiert, d.h. hinsichtlich spezifischer zu analysierender Dimensionen konkretisiert wird, bleibt häufig unklar. Ein kodifiziertes und systematisches Vorgehen bei der Analyse, insbesondere der Rekonstruktion von impliziten Leitbildern, ist nur in einzelnen Konzepten bzw. vereinzelten Vorhaben und dann häufig nur im Ansatz zu erkennen.206 Das methodische Spektrum zur Analyse von impliziten wie expliziten Leitbildern ist ausgesprochen vielfältig. Zu den häufiger angegebenen Methoden der Datenerhebung und -auswertung zur Analyse von Leitbildern (auch im weiteren Sinne) gehören Interviews (vor allem Leitfaden- und Experteninterviews), Gruppendiskussionen und -gespräche, qualitative ebenso wie quantitative Inhaltsanalysen sowie Dokumenten-, Akten- oder Literaturanalysen. Es dominieren allgemein Befragungen als Erhebungsmethode. Empirisch erhobene Daten werden häufig qualitativ ausgewertet.207 Auch die Entwicklung von expliziten Leitbildern kann auf kein konventionalisiertes Verfahren zurückgreifen. Mit dem Hinweis darauf, dass eine Leitbildentwicklung vorgenommen worden ist, Leitbilder selbst erarbeitet wurden, vorformulierte Leitsätze oder andere Konzeptentwürfe zur Diskussion gestellt wurden, ist die Darstellung des leitbildentwickelnden Vorgehens zumeist schon erschöpft.207 Vereinzelte Konkretisierungen wie der Hinweis auf eine Szenarienwerkstatt oder Planungswerkstatt, den Einsatz von Mindmaps oder einer Stärken-Schwächen-Analyse unterstreichen die Feststellung, dass Leitbildentwicklung kein spezifisches Verfahren darstellt, sondern durch unterschiedliche methodische Bausteine in verschiedenen Handlungsfeldern und von Fall zu Fall realisiert wird (vgl. dazu besonders Kapitel 3.3.1.2 und 3.4.3). Die Frage, welche Methoden und Verfahren zur Analyse wie Entwicklung von Leitbildern angemessen und erfolgreich sind, ist selbst Gegenstand sozialwissenschaftlicher Erörterung. Die Frage nach den angemessenen Analysemethoden bildet das methodische Fundament der Leitbildforschung und bedarf auch weiterhin besonderer Aufmerksamkeit. Die Konzipierung von Entwicklungsmethoden für explizite Leitbilder ist demgegenüber als Beitrag der Sozialwissenschaften für gesellschaftliche Gestaltungsprozesse zu betrachten und hat seinen eigenen Wert, deren Nutzen jedoch außerhalb der Leitbildforschung liegt. Wo der Leitbildbegriff differenziert genutzt wird, kann die Beschäftigung mit Leitbildern in unterschiedlicher Weise einen Beitrag leisten zur Analyse und Gestaltung von Gegenwart und Zukunft. Im folgenden Kapitel wird die hier differenziert aufgearbeitete sozialwissenschaftliche Kategorie Leitbild soziohistorisch kontextualisiert und die Angemessenheit einer sozialwissenschaftlichen Beschäftigung mit Leitbildern unter gegenwärtigen gesellschaftlichen Bedingungen untersucht. Auf der Grundlage der vorgenommenen kritischen Rekonstruktion des sozialwissenschaftlichen Leitbilddiskurses sowie unter Berücksichtigung der gesellschaftlichen Rahmenbedingungen kann abschließend eine Begriffsexplikation zu Leitbildern vorgenommen werden (vgl. Kapitel 5.1) und können die möglichen Aufgabenfelder einer sozialwissenschaftlichen Leitbildforschung skizziert werden (vgl. Kapitel 5.2). 206 Vgl. etwa das Leitbildkonzept der WZB-Gruppe (Kapitel 3.3.4.1 und 3.5.1), die Studie von Köhler und Schäfers (Kapitel 3.4.2) oder den Ansatz von Schneider und Hörnlein (Kapitel 3.2.3). Demgegenüber legt die Forschungsgruppe Umweltbildung der Freien Universität Berlin ein theoretisch fundiertes und kodifiziertes Verfahren der Leitbildanalyse vor (Kapitel 3.3.4.2). 207 Grundlage für diese Aussagen bildet eine quantitative Analyse der leitbildbezogenen Forschungsprojekte in FORIS (Stand September 2000) bezüglich ihrer Angaben zu den genutzten Forschungsmethoden sowie eine Sichtung der Kurzbeschreibungen hinsichtlich genannter Methoden, insbesondere zur Analyse von Leitbildern (vgl. hierzu auch Kapitel 1).
Der Mensch als Orientierungswaise zwischen Zukunftsgewissheitsschwund und Sinnerfahrungsdefizit nach Hermann Lübbe (1982 und 1990)
4 Kontextualisierung der Kategorie Leitbild
Die dieser Arbeit zugrunde liegende These besagt, dass Leitbilder, sofern sie begrifflich und konzeptionell klar gefasst sind, eine zeitgemäße sozialwissenschaftliche Kategorie abgeben können. Um diese These zu belegen, bedarf es einer soziohistorischen Kontextualisierung der Kategorie. Hierfür werden im Folgenden die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen beschrieben, unter denen der Leitbildbegriff derzeit Konjunktur hat. Aus dieser Zeitdiagnose lassen sich begründete Anforderungen bzw. Herausforderungen gegenüber Leitbildern ableiten, mit denen die Passfähigkeit der Kategorie in die gesellschaftlichen Bedingungen geprüft werden kann. Lassen sich diese Prüfkriterien positiv beantworten, lässt sich auch die gegenwärtig verstärkte sozialwissenschaftliche Beschäftigung mit Leitbildern als angemessen und relevant rechtfertigen. Zudem hilft die Auseinandersetzung mit den differenzierten Prüfkriterien dabei, den gesellschaftlichen Bedingungen angemessene Formen im sozialwissenschaftlichen Umgang mit Leitbildern herauszuarbeiten. In der soziologischen Debatte findet man derzeit unterschiedliche Gesellschaftsbeschreibungen sowie Begründungen für den auszumachenden gesellschaftlichen Wandel. Die verschiedenen Positionen nehmen dabei alle tiefgreifende gesellschaftliche Veränderungen wahr. Mit verschiedenen Begrifflichkeiten wird versucht, den Kern der derzeitigen Gesellschaft zu beschreiben und die zentrale Kraft für die grundlegenden Veränderungen zu identifizieren. Konzepte wie die Wissensgesellschaft, die Medien- oder auch die Risikogesellschaft zeugen davon. Prozesse und Phänomene, die als Motor für den gesellschaftlichen Wandel ausgemacht werden, kreisen um Schlagworte wie Individualisierung, Globalisierung oder Enttraditionalisierung. Bisweilen wird sogar von einem Meta-Wandel der Moderne gesprochen und für die Gegenwart eine neue Epoche konstatiert. Dabei wird konstatiert, dass nicht länger von einer Kontinuität der Moderne ausgegangen werden kann.208 Für die hier erarbeitete Zeitdiagnose ist es nicht so sehr von Bedeutung, ob es sich nun um eine gänzlich neue Epoche handelt. Vielmehr sind die einzelnen wahrgenommenen Phäno208 Während im Diskurs der Postmoderne die Moderne mit der Auflösung der Industriegesellschaft zu ihrem Ende kommt, unterscheidet die Theorie der reflexiven Modernisierung eine erste, industriegesellschaftliche von einer zweiten, reflexiven Moderne (vgl. Beck 1996, S. 45). Welsch (1988a und b) unterscheidet allerdings ähnlich wie die Konzeption der Zweiten Moderne eine neuzeitliche Moderne von einer Moderne des 20. Jahrhunderts, wobei sich die Postmoderne von der ersteren abgrenzt, aber im Sinne der Moderne des 20. Jahrhunderts gerade als radikal-modern zu verstehen ist. Die Frage, ob es sich bei den derzeitigen gesellschaftlichen Veränderungen um einen Epochenbruch handelt oder die Kontinuität der Moderne angenommen werden kann, ist umstritten. Ein Bruch wird weithin wahrgenommen hinsichtlich der Auflösung der Industriegesellschaft (vgl. Bell 1989, Beck 1993). Kontinuität wird hinsichtlich unterschiedlicher, bereits in der Moderne angelegter Prozesse konstatiert, so z.B. der Pluralisierung oder Enttraditionalisierung (vgl. Welsch 1988a und b, Beck 1986).
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mene und Prozesse von Interesse, um die gesellschaftliche Situation differenziert zu beschreiben, in welcher die Aufmerksamkeit für Leitbilder wächst. Entsprechend bedient sich die folgende Darstellung sowohl Überlegungen aus der Theorie der reflexiven Modernisierung als auch dem Diskurs der Postmoderne sowie einzelnen soziologischen und philosophischen Zeitdiagnosen. Zur Kennzeichnung der Gegenwart wird in Anlehnung an Beck und andere die Bezeichnung Zweite Moderne gewählt (vgl. Beck/Bonß/Lau 2001). Wie die gesellschaftliche Wirklichkeit beschrieben wird, welche Phänomene und Einflussfaktoren des sozialen Wandels identifiziert und in Zusammenhang miteinander gebracht werden, ist letztendlich von der Blickrichtung und Fragestellung abhängig (vgl. dazu bspw. Bell 1989, S. 28f.; Pongs 1999 und 2000). Unter der Annahme einer komplexen und kontingenten Welt (siehe dazu weiter unten) kann auch eine Zeitdiagnose nur eine mögliche Darstellung unter vielen anderen denkbaren sein. Ausschlaggebend bei der Analyse der komplexen sozialen Welt ist mehr denn je der Fragehorizont, die Problemstellung bzw. das untersuchte Phänomen, die ihrerseits die Komplexität des beobachteten Sachverhalts reduzieren. Mit Blick auf den Umstand, dass allerorten von Leitbildern die Rede ist, mithin Leitbildern im sozialwissenschaftlichen Diskurs wachsende Aufmerksamkeit zuteil wird, soll eine spezifische Zeitdiagnose vorgenommen werden. Dabei wird das Problem der Orientierung zum Ausgangs- und Mittelpunkt der Darstellung gemacht (Kapitel 4.1). Im Zusammenhang mit dem Orientierungsproblem, aber auch darüber hinaus stellt sich zudem die Frage nach dem gesellschaftlichen Zusammenhalt und der sozialen Integration (Kapitel 4.2). Auf der Grundlage dieser Zeitdiagnose werden Prüfkriterien formuliert, die differenziert die Frage beantworten, ob Leitbilder, so wie sie aktuell verstanden werden, eine den gegenwärtigen gesellschaftlichen Bedingungen angemessene Form der Orientierung darstellen und einen zeitgemäßen Modus der sozialen Integration ermöglichen (Kapitel 4.3). Die Anwendung der Prüfkriterien auf das aktuelle Leitbildverständnis erfolgt in Kapitel 4.4. 4.1 Orientierung in der Zweiten Moderne Bereits seit den 1970er Jahren findet man Zeitdiagnosen, die den Verlust von Sicherheiten und Orientierungsprobleme als das die Zeit prägende Phänomen ausmachen (vgl. Kaufmann 1970, Lübbe 1975 und 1983, Evers/Nowotny 1987, Bauman 1992, Beck 1993, Bonß 1995, Giddens 1997; Kaufmann 2003). Ursache des gestiegenen Sicherheitsbedürfnisses und des erhöhten Unsicherheitsgefühls ist nicht so sehr die Zunahme von Gefahren als die Unsicherheit der Orientierungen (vgl. Kaufmann 1987, S. 39f.).209 Hermann Lübbe nähert sich dem Orientierungsbegriff über einen metaphorischen Zugang, der eine Typisierung von Orientierungsproblemen ermöglicht. Er benutzt das Bild des Wanderers, um die Struktur von Orientierungen zu beleuchten. Der Wanderer ist orientiert, wenn er weiß, wo er sich befindet, wo er hin will und wie er dort hinkommt (vgl. Lübbe 1982, S. 11). Damit wird festgehalten, dass Orientierungen sowohl deskriptive als auch normative Elemente besitzen – sie geben Auskunft darüber, was der Fall ist und was gewünscht bzw. gefordert ist (vgl. ebd., S. 9). Nach diesem Bild sind Orientierungsproble209 Der Sicherheits- bzw. Unsicherheitsbegriff wird nicht einheitlich verwendet. Zum einen geht es allgemein um ein Unsicherheitsgefühl bzw. ein Gefühl der Verunsicherung, zum anderen ist von Sicherheit in der Soziologie zumeist im Sinne von Ungewissheit die Rede (vgl. dazu Bonß 1993b und 1995).
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me möglich, die aus der Unsicherheit hinsichtlich der Lage, des Weges bzw. der Mittel oder des Ziels herrühren.210 Schließlich erweitert Lübbe das Bild des Wanderers um ein wichtiges Orientierungsmittel: „Wir denken uns also den Wanderer für Zwecke der Orientierung ausgerüstet mit einer Karte. Alsdann ist denkbar, ja vorgekommen, daß er in Orientierungsschwierigkeiten gerät, weil die Verhältnisse, über die die Karte ihn informieren sollte, sich rascher geändert haben als die Kartenproduzenten nachkamen und nachkommen konnten. Kurz: das Orientierungshilfsmittel ist veraltet. (...) Orientierung im Raum unter Bedingungen einer orientierungsrelevanten Änderung der Verhältnisse oder auch der Medien, die über die Verhältnisse informieren, in der Zeit – das ist die Variante im Bild der orientierungspraktischen Ursprungssituation, die für das analoge Verständnis der temporalen Struktur aktueller Orientierungsprobleme nützlich ist.“ (Lübbe 1982, S. 13)
Während unter stabilen Bedingungen durch Orientierungsmittel die Orientierung(ssicherheit) hergestellt werden kann, kann unter sich verändernden Verhältnissen die Orientierung problematisch werden. Was das Bild des Wanderers zur Erhellung der Orientierungsprobleme der Gegenwart jedoch noch nicht hergibt, ist die Möglichkeit, nicht nur dass sich die Verhältnisse gegenüber den Informationen seines Orientierungshilfsmittels verändern können, sondern dass der Wanderer selbst durch Eingriff in seine Umgebung diese verändert und damit sein Orientierungssystem obsolet wird. Das ist, wie sich zeigen wird, eine wichtige Variante der Orientierungsprobleme der Gegenwart. Nur vermittelt gibt das Bild schließlich einen letzten Aspekt von Orientierung wider: Orientierungen schaffen sowohl für die Gegenwart als auch für die Zukunft Verhaltensund Erwartungssicherheit. Orientierung heißt nicht nur, sich zurechtzufinden in der derzeitigen Lage (Gegenwart), sondern gerade auch mit Blick auf die Zukunft. Die Karte als Orientierungssystem verweist ja gerade darauf, dass – im Bild der Wanderkarte räumlich dargestellt, was zeitlich analog verstanden werden kann – Orientierung gegeben ist, für denjenigen der weiß, was vor ihm liegt, was kommen wird oder was er zukünftig zu erwarten hat. 4.1.1 Rückkehr von Uneindeutigkeit und Ungewissheit – ein wissenssoziologischer Zugriff Die gegenwärtige Gesellschaft ist durch die Erfahrung von Uneindeutigkeit bzw. Ambivalenz sowie von Unsicherheit, Ungewissheit bzw. Kontingenz geprägt. Darin unterscheidet sich die Gegenwart grundlegend von der gesellschaftlichen Epoche, die bislang als Moderne bezeichnet und bisweilen als abgeschlossen erklärt wird.211
210 Die zweckrationale Frage nach den Mitteln gehört nicht unbestritten zur Frage von Orientierungen. In der Unterscheidung von Verfügungs- und Orientierungswissen ordnet Mittelstraß (1989) dem Verfügungswissen das Wissen um Ursachen, Wirkungen und Mittel zu, das Orientierungswissen hingegen bezieht sich auf regulatives Wissen um Ziele und Maxime. Unterstrichen wird in diesem Fall die Bedeutung der normativen Elemente von Orientierungen, ihre wegweisende Bedeutung. 211 In der Theorie der reflexiven Modernisierung ist es lediglich die erste, industriegesellschaftliche Moderne, die zu ihrem Ende kommt. Im Zuge der reflexiven Modernisierung hat sich die Moderne selbsttransformiert und erscheint nun in neuer Gestalt als nachindustrielle (vgl. Bell 1989) oder reflexive (vgl. Beck/Giddens/Lash 1996) Moderne (vgl. auch Fußnote 208).
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Die Moderne ist gekennzeichnet durch die Idee der Eindeutigkeit: „Die Moderne hat diese Idee der Eindeutigkeit in vielerlei Hinsicht hervorgerufen: wissenschaftliche Eindeutigkeit durch die Idee der einen Wahrheit und die Einheit der Wissenschaften; Einheit des Gemeinwesens durch die Idee der nationalen Identität; (...) Eindeutigkeit der Lebensführung durch stabile, an der Schichtungsordnung der Gesellschaft ausgerichtete Lebensstile; (...) Eindeutigkeit im Sinne stabiler Lebenslaufmuster und hoher biographischer Erwartungssicherheit; Eindeutigkeit kultureller Bewertungsmaßstäbe für Kunst und Kultur etc.“ (Nassehi 1997, S. 50)
Wurde die (bisherige) Moderne als eine ‚Kultur der Eindeutigkeit’ gekennzeichnet, so ist die Gegenwart gerade von einer „Kultur der Uneindeutigkeit“ geprägt (vgl. ebd., S. 49f.). Bauman kennzeichnet die Postmoderne – und dies lässt sich ebenso für die 2. Moderne sagen – als das Ende der Eindeutigkeit (vgl. Bauman 1992).212 Die Kultur der Eindeutigkeit der Moderne löst sich auf, Uneindeutigkeiten bzw. Mehrdeutigkeiten prägen die Prozesse, das Bewusstsein, das Handeln und die Beurteilungen der Gegenwart. Mit dem Bewusstsein der Mehrdeutigkeit kommt die Ambivalenz der Dinge in den Blick, dass diese nicht mehr eindeutig klassifiziert und in der Folge beurteilt und bewertet werden können.213 Gleichzeitig haben die Sozialwissenschaften gerade im Widerspruch zu den Ordnungsbemühungen und universalen Wahrheitsansprüchen der modernen Wissenschaft ein Bewusstsein für die Kontingenz der modernen Gesellschaft geschaffen (vgl. Bauman 1992, S. 281). Die gesellschaftlichen Gegebenheiten sind immer auch anders möglich, anders denkbar. Kontingenz bedeutet deshalb in Bezug auf die Zukunft Erwartungsunsicherheit und Ungewissheit. Trotz allen wissenschaftlich-technischen Fortschritts erscheint uns die Welt immer unübersichtlicher. Und gleichzeitig scheint der Blick in die Zukunft ungewisser zu werden: „Nie hat eine Zivilisationsgenossenschaft über ihre Zukunft, die ihr bevorsteht, weniger gewußt als unsere eigene.“ (Lübbe 1990, S. 68; vgl. hierzu Kap. 4.1.3) Diese Feststellungen erscheinen paradox, gehört schließlich zum Projekt der Moderne der Fortschrittsglaube, durch kumulativen Erkenntnisfortschritt der Wissenschaft zu einer Rationalisierung der Welt zu gelangen, die letztlich eine eindeutige Ordnung der Wirklichkeit herstellt und durch Berechnung die Welt kontrollierbar und beherrschbar macht (vgl. Bonß 1998). Ordnungsbildung bedeutet, die Verhältnisse überschaubar zu machen und die Komplexität der Welt zu reduzieren (vgl. Kaufmann 1970, S. 23). Indem Komplexität reduziert und damit Kontingenz eingeschränkt wird, sollen Orientierung und (Erwartungs-)Sicherheit aktiv hergestellt werden. Diese Sicherheiten stellen jedoch fiktive, gesellschaftlich konstruierte, auf Wahrscheinlichkeitskalkülen beruhende und damit letztlich nicht eindeutige oder absolute Sicherheiten dar (vgl. Bonß 1997, 1998). Mit zunehmenden Eingriffen in soziale und natürliche Systeme entstehen gleichzeitig wachsende Gestaltungschancen wie auch Ungewissheiten – in diesem doppelten Sinne Risiken –, die als selbst „hergestellte Unsicherheiten“ die Gegenwart prägen (vgl. Giddens 1997, S. 116). 212 In diesem Sinne bezeichnet Welsch die Pluralität als Grundverfassung der postmodernen Gesellschaft. Entsprechend identifiziert er als Schlüsselerfahrung der Postmoderne, dass „ein und derselbe Sachverhalt in einer anderen Sichtweise sich völlig anders darstellen kann und daß diese andere Sichtweise doch ihrerseits keineswegs weniger ‚Licht‘ besitzt als die erstere – nur ein anderes“ (Welsch 1988a, S. 5). 213 Sellmaier (2004) untersucht mit dem Problem der Feststellung des Todeszeitpunkts ein beispielhaftes Phänomen der Uneindeutigkeit in der Zweiten Moderne.
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Unsicherheit und Ambivalenz – so lautet die wissenssoziologisch orientierte Zeitdiagnose – kehren zurück, d.h. die Wirklichkeit wird zunehmend unübersichtlich, mehrdeutig und nicht eindeutig bewertbar, Zukünftiges wird unvorhersehbar und ungewiss (vgl. Bonß 1993a und b). Die Unsicherheiten sind dabei nicht immer neu, sie werden nur bewusst wahrgenommen. Unsicherheit und Uneindeutigkeit werden zu einer gesellschaftlichen Basiserfahrung. Unsicherheiten und Ambivalenzen werden nach Bonß (1993a, 1993b und 1995) in drei verschiedenen Bereichen diskutiert – erstens in Wissenschaft und Technik, zweitens in Politik und Ökonomie sowie drittens in den Vergesellschaftungsmechanismen und Strukturen des Sozialen. Dies wird zum besseren Verständnis im Folgenden kurz dargestellt. Wissenschaft und Technik Seit der Aufklärung und der Industrialisierung herrschte der Glaube an den modernen Fortschritt, durch zunehmendes Wissen die natürliche und soziale Welt beherrschen und unter Kontrolle bekommen zu können (vgl. auch Giddens 1996, S. 116). Damit verbunden war die Vorstellung, man könne durch mehr Wissen die Komplexität der Welt durchschaubar machen, die Risiken kontrollieren und Ungewissheiten und Unsicherheiten auf diese Weise ausschließen. Die Bemühungen um die Erkenntnis der Welt, um ihrer besseren Beherrschbarkeit willen, haben zwar das Wissen über die Welt vermehrt, aber gleichzeitig auch die Einsicht in ihre Komplexität sowie Kontingenz gebracht und damit die Grenzen ihrer Beherrschbarkeit aufgezeigt. Wissenszuwachs führt dementsprechend nicht notwendigerweise zu einem Zuwachs an Gewissheiten (vgl. Giddens 1995, S. 56). Es sind vor allem die Erfahrungen mit den unvorhergesehenen, nicht-intendierten und unkalkulierbaren Nebenfolgen des wissenschaftlich-technischen Fortschritts, die das oben dargestellte moderne Sicherheits- und Eindeutigkeitsversprechen von Wissenschaft und Technik ins Wanken bringen (vgl. auch Lübbe 1975, 1982 und 1993; Beck 1986). Vor allem die großen ökologischen Katastrophen des vergangenen Jahrhunderts haben hier ein neues Risikobewusstsein entstehen lassen. Tschernobyl ist das vielfach herangezogene Beispiel dafür, dass mit dem technischen Fortschritt Nebenfolgen produziert werden, die in ihrem Ausmaß und ihrer Qualität nicht vorhergesehen werden können. Die gesteigerten Handlungsmöglichkeiten gehen gerade mit einer Zunahme von neuen, selbst hergestellten Unsicherheiten einher (vgl. Giddens 1997). Die Welt ist in dieser Perspektive zwar als gestaltbar, nicht aber beherrschbar oder kontrollierbar anzusehen. Nebenfolgen produziert die Technik nicht nur in technischer Hinsicht. Die sozialen Nebenfolgen des Fortschritts (in der Moderne die sozialen Folgen der Arbeitsteilung oder Industrialisierung, heute bspw. der Gendiagnostik) für die Gesellschaft sind nicht weniger einschneidend. Der Fortschritt erscheint ambivalent. Der Verlust der Eindeutigkeit zeigt sich auch in Bezug auf die Gültigkeit von Wissen. Innerhalb der Wissenschaften kommt es verstärkt zu konkurrierenden Erkenntnissen und das Expertenwissen sieht sich den Ansprüchen anderer Formen des Wissens gegenüber. Wissen pluralisiert und diversifiziert sich, die Grenzen zwischen Wissen und Nicht-Wissen, zwischen Experten und Laien lösen sich auf (vgl. Beck/Bonß/Lau 2001, S. 39ff.). So fällt beispielsweise die Definition und Bewertung von Risiken im Fall eines Atomkraftwerkes, einer Müllverbrennungsanlage oder bei der Anwendung gendiagnostischer Verfahren bei Experten- und Betroffenengruppen, aber auch innerhalb von Expertengruppen jeweils unterschiedlich aus.
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Wurden durch die Vorstellung einer rationalen Ordnung und universalen Wahrheit in der Moderne Kontingenz und Ambivalenz ausgeschlossen, so werden in der Postmoderne nun Zweifel an den Wissensansprüchen der Wissenschaft als universale Wahrheiten laut (vgl. Bauman 1992, S. 290). Politik und Ökonomie Die aktuellsten Diskussionen um die Rentenpolitik, Gesundheitsvorsorge oder die Finanzmärkte sind Beispiele für den Verlust von Sicherungen und Gewissheiten im ökonomischen und vor allem politischen Sektor. Steuerungsinstrumente versagen und vormals feste Sicherheitserwartungen in der Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik brechen weg. Politische Planung und sichere Wirtschaftssteuerung scheinen immer weniger möglich (vgl. dazu Bonß 1995, S. 23f.). Insbesondere die Steuerungs- und Regulierungsmöglichkeiten der Nationalstaaten sind im Zuge der vielgestaltigen Globalisierung weit eingeschränkt worden (Albrow 1998). Auf der einen Seite gewinnen damit internationale Organisationen und Verbände an Bedeutung. Auf der anderen Seite hat die Globalisierung zu einer Aufwertung des Nahbereichs geführt. Der Arbeitsmarkt gibt eindrückliche Beispiele für die Ambivalenzen und Ungewissheiten, die bereits die Gegenwart prägen. Richard Sennett (2000) beschreibt in „Der flexible Mensch“ die Anforderungen der Wirtschaft an den Arbeitnehmer. Er muss Flexibilität zeigen hinsichtlich der Arbeitszeit, des Arbeitsortes und des Arbeitsplatzes überhaupt. Das heißt, er muss im Laufe seiner beruflichen Karriere unterschiedlichste Tätigkeiten ausführen, muss auf wechselnde Anforderungen hinsichtlich seiner Qualifikationen und Kompetenzen reagieren, aber auch auf wechselndes Einkommen gefasst sein. Sicherheit ist damit das Letzte, was der Arbeitnehmer der Zukunft für sich erwarten darf. Die neu entstehenden Berufe und Tätigkeiten, die wechselnden beruflichen Anforderungen, die Notwendigkeit des lebenslangen Lernens machen deutlich, dass wir mit Unsicherheiten und Ungewissheiten auf dem Arbeitsmarkt individuell leben müssen. Die Einsicht in die Komplexität der Sachverhalte, die auf politische Entscheidungen drängen, und in die Vielfalt der Interessen stellt das politisch-administrative System schließlich vor die Notwendigkeit, die Betroffenen am Entscheidungsprozess stärker als bisher zu beteiligen. „Erst durch Teilhabe werden sachlich richtige Entscheidungen auch sozial richtig.“ (Van den Daele nach Zilleßen 1993, S. 36) Beteiligung an Entscheidungsprozessen spielt in der modernisierten Demokratie eine zunehmende Rolle. Insbesondere auf kommunaler Ebene stößt politische Beteiligung in der Öffentlichkeit auf wachsendes Interesse. Planfeststellungsverfahren, Anhörungen, Mediationsverfahren in Umweltkonflikten, Lokale Agenda 21-Initiativen, Planning for real-Verfahren oder Zukunftswerkstätten sind eindrückliche Beispiele für eine stärkere Bürgerbeteiligung, welche die repräsentative parlamentarische Demokratie ergänzt. Damit – so könnte man sagen – pluralisiert sich auch die politische Kultur. Sozialer Wandel, Sozialstruktur Als Uneindeutigkeiten bzw. Mehrdeutigkeiten und damit folglich in der Bewertung Ambivalenzen sowie Ungewissheit erzeugend lassen sich auch sozialstrukturelle Veränderungen und der soziale Wandel beschreiben. Die Pluralisierung der Schichtstruktur, der Lebensformen oder Lebensstile stellt einen gesellschaftlichen Veränderungsprozess dar, der auf Komplexitätssteigerung hinausläuft und damit ambivalent und kontingent ist.
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Soziologisch vielbeachtet ist der Verlust der Eindeutigkeit in Bezug auf den Lebenslauf und die Lebensformen. Normalbiographien lösen sich auf zu sogenannten Patchwork- oder Bastelbiographien. Die gesellschaftliche Institution Familie verliert ihr eindeutiges Profil sowie ihre eindeutige Relevanz und Funktion für die Gesellschaft. Unterschiedliche Konstellationen zwischen Heranwachsenden und Aufziehenden werden nun als Familie bezeichnet. Auch hier gehen die vervielfältigten Wahrnehmungs-, Beurteilungs- und Handlungsmöglichkeiten mit Ungewissheit einher und produzieren Orientierungsprobleme und Unsicherheitsgefühle. Und auch die Sozialstruktur verliert ihre eindeutige Ordnung. Lebensstil- und Milieuansätze sind als Versuch zu verstehen, gesellschaftliche Muster der Lebensführung wiederauffindbar zu machen, in der Pluralität und Komplexität des gesellschaftlichen Lebens neue Ordnungen und Strukturen zu entdecken (vgl. Zapf u.a. 1987 oder Eickelpasch 1998). Die Pluralisierung der Lebensformen und Lebensläufe schafft zwar neue Optionen, neue Handlungsmöglichkeiten und damit Freiheiten, vergrößert aber im gleichen Maße die Unsicherheit, individuell die falsche Entscheidung zu treffen. Die Rede von der Ambivalenz und Ungewissheit, die gegenwärtig in unsere Gesellschaft zurückkehren, schließt hier vor allem an Zygmunt Bauman an, findet aber Beispiele, Belege und ähnlich argumentierende Ansätze in der Philosophie, Soziologie und Sozialforschung. Bonß ordnet Baumans Perspektive auf die Moderne als wissenssoziologischen Zugriff ein, der die Frage behandelt, „wie die Individuen Wirklichkeit konstruieren und mit ihr kognitiv umgehen“ (Bonß 1993a, S. 25). Während die Moderne als Versuch verstanden wird, ein einheitliches Sinndeutungsuniversum durch die Herstellung einer universalen Ordnung unter Ausschluss von Ambivalenzen und Kontingenzen zu produzieren, werden in der Postmoderne oder Zweiten Moderne stattdessen gerade die Kontingenz und Ambivalenz der Wirklichkeit und die Vielfalt ihrer Deutungs-, Bewertungs- und Handlungsmöglichkeiten wahrgenommen. Orientierung als komplexitätsreduzierende Strukturierung der Wirklichkeit und Zielformulierung wird unter diesen Bedingungen zu einem Problem. Die Veränderungen im Zuge des sozialen Wandels und ihre Folgen für die Orientierung sollen im Folgenden weiter ausgeführt werden. 4.1.2 Orientierung unter den Bedingungen des sozialen Wandels Die den sozialen Wandel grundlegend beeinflussenden Prozesse werden als Pluralisierung, Enttraditionalisierung und Individualisierung beschrieben.214 Diese drei Prozesse beziehen sich häufig auf dieselben Fakten, die aus unterschiedlichen Perspektiven wahrgenommen werden. Während die Beschreibungen der Pluralisierung und Enttraditionalisierung eine makrosoziologische Perspektive einnehmen, in der die Auflösung fester und einheitlicher Muster und Strukturen einmal als Vervielfältigung und das andere Mal hinsichtlich ihrer Auflösung als fraglose, fest vorgegebene Gegebenheiten dargestellt wird, steht innerhalb der Individualisierungstheorien das Individuum und die veränderte Form seiner Vergesellschaftung im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit.
214 Die Prozesse der Globalisierung und der beschleunigten Veränderungsgeschwindigkeit werden gesondert dargestellt (vgl. Kap. 4.1.3).
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Pluralisierung Aus einer makrosoziologischen Sicht stellen sich die Ab- und Auflösungserscheinungen der Individualisierung als Enttraditionalisierung und Pluralisierung dar. Die Pluralisierung der Sozialstruktur, der Lebensläufe, Lebensformen und Lebensstile sowie der Werte bilden ein zentrales Element des sozialen Wandels. Es kommt zu einer Vervielfältigung statt – sozialstrukturell bedingter – Einheitlichkeit der Muster. Die klare Gliederung des Lebenslaufs des einzelnen Menschen in Ausbildung, Erwerbstätigkeit, Kindererziehung und Ruhestand existiert so nicht mehr (vgl. Zapf u.a. 1987). Mit der Auflösung fester Muster von Lebensverläufen gehen auch biographische Erwartungssicherheiten verloren und müssen individuell konstruiert werden (vgl. Bonß u.a. 2004; Zinn/ Bonß 2005). Man findet eine Ausdifferenzierung möglicher individuell zu gestaltender Lebensverläufe, die Biographie des Einzelnen hängt in einem stärkeren Maße von seinen individuellen Entscheidungen ab und muss von diesem als sinnvoller Zusammenhang konstruiert werden (vgl. Beck 1986, S. 216; Beck/Beck-Gernsheim 1994; Beck/Sopp 1997, S. 14; Bonß/Hohl/Jakob 2001; Bonß u.a. 2004; Zinn/Bonß 2005). Ausdruck der pluralisierten Gesellschaft sind auch die veränderten Lebens- bzw. Familienformen. Partnerschaft, Familie, Geschlechterverhältnisse und -rollen sind nicht mehr nach einheitlichen Mustern, sondern höchst individuell gestaltet (vgl. Keupp u.a. 2001, S. 167). Die feste Sozialstruktur, die den Einzelnen zuordnet zu einer Klasse oder Schicht, welche ihrerseits seine soziale Lage, seine Lebenschancen und -möglichkeiten, die Einstellungen, Mentalität und den Lebensstil prägen, löst sich auf.215 Der feste Zusammenhang zwischen Lebensbedingungen auf der einen Seite sowie Mentalitäten und Lebensstilen auf der anderen Seite ist nicht mehr gegeben. Die Identifikation von Lebensstilen oder sozialen Milieus sind Versuche, jenseits dieser festen und übergreifenden Strukturen noch gesellschaftliche Gruppen zu identifizieren, die sich hinsichtlich ihrer Wertorientierungen, Mentalitäten, Einstellungen und Verhaltensweisen ähneln, und die Vielfalt von Mustern der Lebensgestaltung fassbar zu machen.216 Die Ergebnisse der Milieuforschung der letzten fünfzehn Jahre zeigen, dass auch die Milieustruktur immer differenzierter wird und sich insgesamt stark ändert. Die Veränderungen im Umfang und in der Schneidung, d.h. der Definition der Milieus, sind Indikator für den sozialen Wandel. Eine wichtige Orientierungsgröße für das Handeln und Entscheiden des Einzelnen sind Werte und Normen. Diese sind gesellschaftlich oder in sozialen Gruppen vorgegeben und bieten Orientierungs- und Verhaltenssicherheit. Seit Ende der 1960er Jahre wird in den westlichen Industrieländern ein Wertewandel wahrgenommen. Dieser hat grundlegende Verhaltens- und Einstellungsveränderungen in der Bevölkerung nach sich gezogen. Der Verlust der sicheren sozialen Basis für die eigenen Normen und Werte und ihr schneller Wandel ruft Orientierungsprobleme in der Bevölkerung hervor. Seit den 1980er Jahren setzt sich eine Lesart des Wertewandels durch, die von einer Pluralisierung der Werte ausgeht. Das Wertespektrum hat sich demnach ausdifferenziert. Es ist insbesondere zu einem 215 In dieser Frage herrscht keine Einigkeit innerhalb der Soziologie. Auch innerhalb der Lebensstilforschung existieren Ansätze, die davon ausgehen, dass der Zwang der Schichtzugehörigkeiten ungebrochen ist und sich Lebensstile lediglich unter Prosperitätsbedingungen und vor dem Hintergrund unterschiedlicher Ressourcenausstattungen und Lebenslagen ausprägen (vgl. Eickelpasch 1998 und Funke/Schroer 1998). 216 „Soziale Milieus fassen (...) Menschen zusammen, die sich in Lebensauffassung und Lebensweise ähneln, die also subkulturelle Einheiten innerhalb der Gesellschaft bilden.“ (Friedrich-Ebert-Stiftung 1993, S. 20)
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Bedeutungsgewinn der Selbstentfaltungswerte gekommen. Damit wurden die eher traditionell orientierten Werte jedoch nicht abgelöst. Stattdessen kommt es zu einer „Wertesynthese“, in der gegensätzlich erscheinende, als modern und traditionell zu unterscheidende Werte miteinander einhergehen (vgl. Klages 2001a; auch Deutsche Shell 2000, S. 93ff.). Sich für bestimmte Werte zu entscheiden und danach zu handeln, wird viel stärker vom einzelnen Individuum abhängig. Und dieser Einzelne kann sich in seinen Wertentscheidungen immer seltener an großen weltanschaulichen Instanzen oder großen sozialen Gruppen orientieren. Seine Grundeinstellungen und Werte muss der Einzelne aus dem Angebot der vielfältigen Wertorientierungen, die ihm sein soziales Umfeld bietet, auswählen. Der Prozess der Pluralisierung im Zuge des sozialen Wandels führt zur Vervielfältigung der Wertorientierungen, Lebensstile, Lebensformen und Lebensläufe. Denk- und Handlungsmuster diversifizieren sich, die soziale Landschaft wird unübersichtlicher und damit die Orientierung darin erschwert. Enttraditionalisierung Enttraditionalisierung als Auflösung von Traditionen bzw. als Abnahme ihrer Verbindlichkeit gehört bereits als grundlegender Prozess zur Moderne. Die Moderne hat Traditionen jedoch nicht gänzlich aufgelöst, sondern sogar neue geschaffen (vgl. Giddens 1996). Kennzeichen der reflexiven Modernisierung ist nun die Auflösung der „Traditionen“ oder Prämissen der Moderne selbst – Familie, Beruf, Geschlechterrolle, Schichtstruktur (vgl. Beck 1986; Beck 1996, S. 40). Erst in der Zweiten Moderne verlieren die „ständisch eingefärbten, kollektiven Lebensmuster“ (Beck/Bonß/Lau 2001, S. 22) und die mit ihnen gegebenen Verbindlichkeiten an prägender Bedeutung. In traditionell vorgegebenen Geschlechterrollen weiß jeder und jede, wie er/sie sich zu verhalten hat und was von ihm/ihr erwartet wird. Ebenso gibt die Tradition bestimmter Berufsstände ihren Mitgliedern vor, was sie wann auf welche Weise zu tun haben, welche Normen und Werte herrschen und welche Zukunftsaussichten ihnen gegeben sind. Mit der Auflösung der noch in der industriegesellschaftlichen Moderne gegebenen festen, dauerhaften und übergreifenden sozialen Bindungen verlieren die in ihnen transportierten Traditionen ihre entlastende Kraft. In ihrer Eigenschaft als „orientierungssichernde, einstellungsund handlungsleitende kulturelle Selbstverständlichkeiten von generationenüberdauernder Geltung“ (Lübbe 1983, S. 57) schaffen Traditionen für den Einzelnen Entlastung von Entscheidungen. Gerade diese Entlastung durch gemeinsam geteilte und nicht weiter zu legitimierende Selbstverständlichkeiten geht verloren. „Nicht petrifizierte Traditionen drücken uns, vielmehr der fortschreitende Wegfall von Entlastung durch orientierungspraktisch hilfreiche kulturelle Selbstverständlichkeiten.“ (Lübbe 1982, S. 163)
Die Beschleunigung der Veränderungsprozesse verhindert den Aufbau neuer, gültiger kultureller Selbstverständlichkeiten, geronnener Erfahrungen und legitimierter Wirklichkeitsannahmen (vgl. Lübbe 1975, S. 41; ders. 1983, S. 57). Was auf makrosoziologischer Ebene als Pluralisierung und Enttraditionalisierung beschreibbar ist, stellt sich eher subjektorientiert als Individualisierung dar.
4 Kontextualisierung der Kategorie Leitbild
208 Individualisierung
Individualisierung stellt nach Beck einen sozialen Prozess dar, der drei verschiedene Dimensionen beinhaltet: „Herauslösung aus historisch vorgegebenen Sozialformen und -bindungen im Sinne traditionaler Herrschafts- und Versorgungszusammenhänge (‚Freisetzungsdimension‘), Verlust von traditionalen Sicherheiten im Hinblick auf Handlungswissen, Glauben und leitende Normen (‚Entzauberungsdimension‘) und (...) eine neue Art der sozialen Einbindung (‚Kontroll- bzw. Reintegrationsdimension‘).“ (Beck 1986, S. 206)
Im Prozess der Individualisierung wird der Mensch aus den Sozialformen der industriellen Gesellschaft freigesetzt. D.h. die für die industriegesellschaftliche Moderne prägenden Institutionen wie Kleinfamilie, Stand bzw. Klasse oder Geschlechterrollen verlieren ihre strukturierende und verbindliche Form und werden in diesem Sinne enttraditionalisiert (vgl. Beck 1986, S. 115ff. und den vorangegangenen Abschnitt zur Enttraditionalisierung). Diese festen sozialen Bindungen geben in der industriegesellschaftlichen Moderne die Lebensläufe, Wertentscheidungen und Normen, Traditionen, Ordnungsmodelle und Interpretationsmuster vor, die für das Individuum Verhaltens- und Erwartungssicherheiten bereithalten. Das Individuum wird nun „freigesetzt aus verbindlichen Denk-, Deutungs- und Verhaltensnormen“ (Hitzler 1997b, S. 175) und gewinnt dadurch wachsende Freiräume für eigene Entscheidungen. Damit gehen aber auch die in diesen sozialen Bindungen selbstverständlich gegebenen Orientierungen und Sicherheiten verloren. Gleichzeitig entstehen im Prozess der Individualisierung neue Formen der sozialen Einbindung, die das Individuum weniger umfassend und verbindlich gesellschaftlich (re-) integrieren. Für Beck (1986, S. 119) geht es bei diesen neuen Formen der Einbindung zunächst um neue Institutionalisierungen und Standardisierungen der Lebenslagen. Arbeitsmarkt, Bildungssystem, Konsummarkt, Recht, Sozialstaat oder Verkehrssystem sind die „sekundären Institutionen“, die den Rahmen bilden, in dessen Raum das Leben individuell ausgestaltet werden kann und muss (vgl. Beck 1986, S. 211f.). Sie steuern das Handeln indirekt, lassen mehr Handlungs- und Entscheidungsspielräume und beruhen statt auf festen Nahbeziehungen und Vergemeinschaftungen auf abstrakten Herrschaftsverhältnissen und unpersönlichen Beziehungen zu anderen (vgl. Leisering 1997).217 Für den Einzelnen heißt das, dass er sein Leben jenseits von festen, übergreifenden Vorgaben und Erwartungssicherheiten selbst gestalten, seine Entscheidungen hinsichtlich Lebensgestaltung und -planung selbst treffen und sich schließlich die Werte und Orientierungen für sein Handeln selbst setzen muss (vgl. Beck 1993, S. 152; Beck/Beck-Gernsheim 1994, Hitzler/Honer 1994, Hitzler 1997a und 1997b, Brater 1997). Individuelle Lebensgestaltung, die eigene selbst herzustellende „reflexive“ oder „Bastelbiographie“ (Beck/BeckGernsheim 1994, S. 13) und die soziale Integration werden zur Aufgabe und Eigenleistung des Individuums und von diesem abverlangt (vgl. Beck 1986; Beck/Sopp 1997; Bonß u.a. 2004). 217 Beck hat damit weniger neue Formen der „Vergemeinschaftung“ im Blick. Bei den sekundären Institutionen geht es ihm vielmehr um durch strukturelle Bedingungen entstehende Standardisierungen und Normierungen (vgl. Beck/Sopp 1997, S. 12). Lebensstile als neue Vergemeinschaftungsform spielen für ihn keine Rolle (vgl. Eickelpasch 1998, S. 21). Für Schulze (1993, S. 271) spielen hingegen soziale Milieus eine zentrale Rolle, da sie als „Deutungsgemeinschaften“ entlastende Selektions- und Verarbeitungsroutinen bieten.
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Die Auflösung der „kollektiven und gruppenspezifischen Sinnquellen“ (Beck 1993, S. 38) in der enttraditionalisierten Gesellschaft führt zu einem „Meinungs-, Deutungs- und Glaubenspluralismus“ (Hitzler 1996, S. 274), in dem Sinngebung vom Individuum geleistet werden oder dieses doch wenigstens zwischen konkurrierenden Sinnsystemen entscheiden muss (vgl. ebd., S. 280; Hitzler 2006). Zentrales Merkmal der individualisierten, pluralisierten und enttraditionalisierten Gesellschaft ist damit die Optionssteigerung und Wahloder Entscheidungsfreiheit: „Die Steigerung der Erlebens-, Handlungs- und Lebensmöglichkeiten, die Optionssteigerung, ist der augenscheinlichste Vorgang der Modernisierung.“ (Gross 1994, S. 14f.) Das Leben des Einzelnen, sein Werte- und Sinnsystem, seine Deutungsmuster sind nicht mehr determiniert von der festen sozialen Ordnung, in die er eingebunden ist. Damit ist er vor allem auch nicht mehr an ein festes Ordnungssystem mit selbstverständlich vorgegebenen Werten und einem geschlossenen Sinnsystem gebunden. Das Individuum erhält auf diese Weise aber nicht nur die Freiheit und Möglichkeit, Entscheidungen aus eigenem Ermessen zu fällen, sondern steht somit gleichfalls vor der Notwendigkeit, sogar dem Zwang, die Entscheidungen selbst zu treffen und zu begründen. „In posttraditionalen Kontexten haben wir keine andere Wahl, als zu wählen, wer wir sind und wie wir handeln wollen.“ (Giddens 1996, S. 142; vgl. auch Bonß u.a. 2004, Zinn/Bonß 2005) Die Zunahme an Handlungsmöglichkeiten erweist sich aber aufgrund der Notwendigkeit, unter der Bedingung nicht länger vorgegebener Orientierung zu entscheiden, als problematisch. „Durch die Zunahme der Optionen wird das Subjekt zwar immer mehr auf sich selbst als wählende Instanz zurückverwiesen. Mit dem Entscheidungsbedarf wächst aber auch der Orientierungsbedarf, so daß an die Stelle des äußeren Orientierungsdrucks der innere tritt.“ (Schulze 1993, S. 76)
In Becks Individualisierungsthese ist der Einzelne zwar durch die sekundären Institutionen in gewisse standardisierte und normierte gesellschaftliche Rahmenbedingungen der Lebensgestaltung eingebunden. Neue Sozialzusammenhänge, möglicherweise neue Vergemeinschaftungsformen, die sozial geteilte Orientierungen und damit Sicherheit schaffen, werden aber nicht in den Blick genommen.218 Das Individuum muss Unsicherheiten selbst verarbeiten (vgl. Beck 1986, S. 102), die Fähigkeit erwerben, sich unter Ungewissheitsbedingungen auf der Grundlage selbst zu verantwortender Entscheidungen zu verhalten, sich selbst gültige Orientierungen schaffen (vgl. Brater 1997, S. 154f.). Und auch wo Muster in Lebensläufen oder Lebensstilen zu erkennen sind, erwachsen diesen keine sozial geteilten Orientierungen, sondern entsprechen ihnen individuell beschrittene Wege, die lediglich durch standardisierte Rahmenbedingungen eingegrenzt werden (vgl. Beck/Sopp 1997). Diesen Analysen widersprechend wird an anderer Stelle angenommen, dass es zu neuen sozialen Bindungen, „posttraditionalen“ (Eickelpasch 1998) oder „sekundären“ (Beck/Bonß/ Lau 2001, S. 35) Vergemeinschaftungen kommt, die zwar eine andere Form annehmen als bisher, aber dennoch Orientierungsangebote für die Individuen bereithalten. In diesem Sinne werden Lebensstile als Orientierungssicherheit schaffende „posttraditionale Vergemein218 Spätere Darstellungen von Beck scheinen für derart neue soziale Bindungen prinzipiell offener (vgl. Beck/Bonß/Lau 2001). Von notwendigen Koalitionsbildungen ist bereits in der Risikogesellschaft (Beck 1986) die Rede, die allerdings auf der Freiheit des seine Interessen selbst vertretenden Individuums beruhen und damit eine subjektzentrierte Sicht der Individualisierungsthese zum Ausdruck bringen.
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schaftungen“ verstanden, in denen es zur „bereitwilligen Übernahme von intersubjektiven Erlebnismustern, Stiltypen und milieuspezifischen Existenzformen“ kommt (Eickelpasch 1998, S. 9ff.; vgl. auch Schulze 1993). Die traditionellen und auch noch die historisch vorgegebenen Sozialformen der industriegesellschaftlichen Moderne binden das Individuum zwar in ein umfassendes Ordnungssystem, das (relativ) verbindlich und alternativlos festlegt, wie Welt aufzufassen ist, wie Wirklichkeit strukturiert ist und welchen Platz das Individuum darin inne hat. Dagegen wird in der Zweiten oder Postmoderne der Einzelne freigesetzt aus diesen Bindungen, in denen die umfassenden Orientierungen gegeben waren. Seine Orientierungen schafft das Individuum aber durchaus nicht aus sich selbst heraus. Der Einzelne bleibt weiterhin eingebunden, und zwar in ein Netz mehrerer sozialer Bindungen. „Statt des eindeutigen Drucks klar bestimmter Normen und Rollenanforderungen entsteht ein Netz sich vielfältig überkreuzender und wechselseitig destabilisierender Bindungen, welches zunehmend größere Freiräume für individuelle Entscheidungen schafft.“ (Hitzler 1997b, S. 177)
Die Beziehungsmuster der neuen sozialen Bindungen zeichnen sich durch eine Netzwerkstruktur aus, welche locker verknüpft ist und in die der Einzelne durch seine freie Wahl eingebunden ist (vgl. Keupp u.a. 2001, S. 167). Statt der traditionalen Schicksalsgemeinschaften existieren Wahlgemeinschaften, deren Kontakte eher kurz- oder mittelfristig angelegt sein können (Rosenmayr/Kolland 1997, S. 256).219 Die sozialen Bindungen werden überdies unabhängig vom Standort bzw. sind nicht mehr lokal gebunden und beziehen sich jeweils nur auf einen Teil des Lebens der beteiligten Individuen (vgl. Albrow 1998, S. 244ff. und Keupp u.a. 2001, S. 166ff.).220 Neue soziale Bindungen stehen in Konkurrenz zueinander, was die in ihnen geteilten Deutungsmuster, Werte und Normen angeht. Die Vielfalt der sozialen Bindungen schafft eine Vielfalt von Orientierungsmöglichkeiten, die jedoch lediglich Teil-Orientierungen für das Individuum anbieten: „Sinn steht also zwar durchaus bereit, aber die in vormodernen Gesellschaften ‚normale‘, umgreifende, kulturelle Dauerorientierung, die verbindliche, alternativlose Festlegung, was wann wie und warum zu tun und zu lassen ist, ist zerbrochen.“ (Hitzler 1997a, S. 57)
219 Hondrich wendet kritisch ein, dass Wahlbindungen Herkunftsbindungen im Zuge der gesellschaftlichen Modernisierung nicht einfach ersetzen, sondern dass vielmehr selbst gewählte und vorgegebene soziale Beziehungen einander ergänzen (vgl. Hondrich 1996). Für diese „Komplementaritätshypothese“ spricht beispielsweise die Weiterexistenz von ethnischen Netzwerken u.Ä. Gleichzeitig bleibt jedoch unbestritten, dass in der differenzierten und pluralisierten Gesellschaft Optionen gegeben sind und soziale Bindungen nicht mehr umfassend determinierend wirken, sondern sich gegenseitig in ihrer Orientierungskraft destabilisieren bzw. begrenzen. Wenn die Zugehörigkeit zu Gruppierungen in der individualisierten Gesellschaft als „eher flüchtig“ beschrieben wird (vgl. Keupp u.a. 2001, S. 167ff.), so geschieht dies in Abgrenzung zu den auf Dauer angelegten traditionellen Beziehungsmustern. Dauerhaftigkeit ist damit allerdings für die neuen Bindungen nicht ausgeschlossen, sondern lediglich nicht mehr zwangsläufig gegeben. 220 Wenn die lokale Ungebundenheit der sozialen Beziehungen betont wird, so geschieht dies wiederum in Erweiterung bzw. Ergänzung zu den bisherigen Vergemeinschaftungsformen. Damit sind lokale Beziehungen deshalb aber nicht ausgeschlossen. Demokratische Beteiligungsformen setzen gerade auf den lokalen Handlungskontext und die Mobilisierung lokaler bzw. regionaler Kräfte spielt nicht nur im umweltpolitischen Diskurs eine besondere Rolle. Zum Prozess der Globalisierung gehört gerade auch die Stärkung des Nahbereichs.
4.1 Orientierung in der Zweiten Moderne
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Der Gemeinschaftsbegriff ist an dieser Stelle umstritten, da den neuen Beziehungsmustern eine zentrale Eigenschaft verloren geht, die für Gemeinschaften als konstitutiv angesehen wird: Die neuen sozialen Bindungen sind unabhängig von emotionaler Übereinstimmung (vgl. Albrow 1998, S. 244ff.).221 Statt von Gemeinschaften wird deshalb auch von „sozialen Netzwerken“ oder „sozialen Landschaften“ (Keupp 2001, S. 72), Enklaven, Soziosphären oder persönlichen Milieus (Albrow 1998, S. 244ff.) gesprochen.222 Soziale Bindungen behalten auch unter der Bedingung von Individualisierung, Optionssteigerung und Handlungsfreiheit ihre Bedeutung für die Orientierung des Individuums. Wahl- und Handlungsfreiheit erzeugen Ordnungs- und Orientierungsbedürfnisse. Orientierung wird letztlich weiterhin im sozialen Zusammenhang hergestellt. Soziale Integration, als Einbezug in gemeinsam geteilte Wertstrukturen und Verhaltensmuster, ist notwendig um Intersubjektivität – eine gemeinsam geteilte Weltauffassung – herzustellen. Denn Erwartbarkeiten in der Interaktion, aber auch eine gemeinsam geteilte Wirklichkeitsauffassung ermöglichen überhaupt erst gemeinsames und auch aufeinander bezogenes Handeln (vgl. dazu Schütz/Luckmann 1979, Berger/Luckmann 1969, Baecker u.a. 1992).223 Für Keupp bleibt offen, wie „ein gemeinsames Bedeutungsuniversum in einer Welt der Pluralität und Komplexität geschaffen werden kann und welche Rolle soziale Gruppierungen dabei spielen“ (Keupp u.a. 2001, S. 172). Es erscheint sinnvoll, mit Bezug auf Theorien der Wissenssoziologie oder des sozialen Konstruktivismus weiterhin davon auszugehen, dass Wirklichkeit sozial konstruiert wird und damit stabilisierende Orientierungen intersubjektiv geteilt werden. Lediglich von der Vorstellung der geteilten, alles umgreifenden Dauerorientierung der traditionalen und in eine umfassende soziale und kognitive Ordnung einbindenden Gemeinschaften und Sozialformen muss man sich verabschieden. Stattdessen entsteht in der funktional differenzierten und pluralistischen Gesellschaft eine gewisse Vielfalt an Orientierungen, Weltauffassungen und Wertvorstellungen. Diese Orientierungen erfassen jeweils nur einen relevanten Weltausschnitt und strukturieren diesen Teil der Wirklichkeit. Durch soziale Bindung, d.h. durch soziale Integration in unterschiedliche Gemeinschaften, Gruppen, Assoziationen und andere Gruppierungen sowie durch Teilnahme an Diskursen, politischen Arenen, Sprachspielen und anderen Kommunikations- und Interaktionszusammenhängen konstruiert das Individuum den jeweils relevanten Wirklichkeitsausschnitt mit und kann die darin geteilten Deutungsmuster und Wertvorstellungen adaptieren bzw. internalisieren. Statt des einheitlichen „Bedeutungsuniversums“ entstehen sozial konstruierte, partiell geteilte Bedeutungen und Sinnzusammenhänge. Orientierung wird also im fortschreitenden sozialen Wandel schwieriger, verlangt dem Individuum größere Eigenaktivität und Syntheseleistung ab, ist jedoch weiterhin sozial konstituiert. 221 Gemeinschaften – im durch Ferdinand Tönnies beschriebenen Gegensatz zu Gesellschaften – zeichnen sich demgegenüber durch einen hohen Grad an persönlicher Intimität und emotionaler Gebundenheit aus (vgl. Berger 1988, S. 228). 222 So wie Hondrich die vollkommene Ablösung der Herkunfts- durch die Wahlbindungen bezweifelt, ist auch die Auflösung der Gemeinschaften nicht zwingend. Das menschliche Bedürfnis nach emotionaler Übereinstimmung, Verbundenheit und Geborgenheit geht im Zuge der Modernisierung schließlich nicht einfach verloren. Entsprechend entstehen „inszenierte Gemeinschaften“ als Gruppenangebote, in denen Emotionalität, Geborgenheit und Verbundenheit zu finden sind und Normen, Einstellungen und Orientierungsmuster gemeinsam geschaffen werden (müssen) (vgl. Puch 1991). 223 Die Frage, ob es sich tatsächlich um eine geteilte Weltauffassung handelt oder nur um den konsensuellen Bereich strukturell gekoppelter autopoietischer Systeme, soll hier beiseite gelassen werden (vgl. hierzu den Diskurs des Radikalen Konstruktivismus, bspw. bei Maturana 1987 oder Glasersfeld 1987).
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Schließlich sind weitere Faktoren zu identifizieren, welche die Veränderungen im Zuge des sozialen Wandels verschärfen und auf diese Weise zu den Orientierungsproblemen der Gegenwart beitragen. Hierbei handelt es sich um das Phänomen der Reflexivität, die Prozesse der Globalisierung und Beschleunigung sowie das veränderte Verhältnis zur Zukunft. Auf diese vier Aspekte wird im Folgenden eingegangen. 4.1.3 Orientierung unter veränderten Raum- und Zeitbedingungen und die Bedeutung der Reflexivität Pluralisierung, Enttraditionalisierung und Individualisierung sind bereits Ausdruck der industriegesellschaftlichen Modernisierung und beeinflussen seitdem den sozialen Wandel. In der Zweiten Moderne, die durch eine reflexive Modernisierung gekennzeichnet ist, prägen sich diese Prozesse verstärkt aus. Die Beschleunigung der Veränderungsgeschwindigkeit und die Globalisierung treiben dabei die genannten Veränderungen an. Darüber hinaus gibt das Phänomen der Reflexivität der Zweiten Moderne ihre spezifische Gestalt. Für die Frage nach der Orientierung spielt schließlich ein letzter Aspekt eine besondere Rolle, der sich zum Teil aus dem bereits gesagten ergibt – der veränderte Umgang mit Zukunft. Reflexivität Der Begriff der Reflexivität gehört zu den Grundbegriffen der gegenwärtigen Modernisierungstheorien. Beck bezeichnet den Prozess, den die Zweite Moderne ausmacht, als „reflexive Modernisierung“ im Sinne der Modernisierung der Moderne (vgl. Beck/Bonß/Lau 2001, Beck/Holzer 2004), in der die Prämissen und Selbstverständlichkeiten der industriegesellschaftlichen Moderne auf- und abgelöst werden, es zur Selbsttransformation der Industriegesellschaft kommt (vgl. Beck 1993 und 1996). Neben dieser allgemeinen Kennzeichnung der gegenwärtigen Moderne markiert der Begriff der Reflexivität zwei verschiedene grundlegende Phänomene dieser Zeit: die Reflexivität im Sinne der Rückkopplung des menschlichen Handelns auf die Bedingungen des Handelns selbst und die (soziale) Reflexivität im Sinne der Reflexion. Beide Begriffsverwendungen sind im Zusammenhang mit den Orientierungsproblemen der Gegenwart von Bedeutung. Der zunehmende Einfluss des Menschen auf die Welt, hat nicht nur die beabsichtigten Folgen gezeitigt. Die nicht-intendierten Nebenfolgen wirken auf die Handlungssysteme zurück (vgl. hierzu auch weiter oben zu den Ambivalenzen und Ungewissheiten in Wissenschaft und Technik in Kap. 4.1.1). Dieses Phänomen der Rückkopplung des menschlichen Handelns auf die Bedingungen des Handelns sowie der erzeugten Nebenfolgen ist das, was Beck als Reflexivität der Zweiten Moderne bezeichnet (Beck 1993, S. 37; Beck/Holzer 2004). Diese Nebenfolgen stellen sich unbeabsichtigt und nach Beck ungesehen – in diesem Sinne unreflektiert – ein (vgl. Beck 1996, S. 27). Das Unsicherheitsgefühl, die Angst und die Risikoerfahrung entstehen aber gerade durch die Wahrnehmung dieser Nebenfolgen (vgl. Lübbe 1993, S. 26). Die bisherigen Selbstverständlichkeiten werden brüchig. Die Einsicht in die Komplexität der Welt, die durch die Wahrnehmung der Nebenfolgen mitgeprägt wird, geht also auch mit der Notwendigkeit einer verstärkten Reflexion einher. Gid-
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dens spricht hier von einer erhöhten sozialen Reflexivität. Die Einsicht in die Komplexität und Kontingenz der Welt macht eine erhöhte Reflexivität gerade notwendig (vgl. Giddens 1997, 126). Globalisierung Globalisierung gehört für Beck neben der Individualisierung zum zweiten grundlegenden Veränderungsprozess, der den gesellschaftlichen Wandel der Zweiten Moderne prägt (vgl. Beck 1996 und Beck 1997a, S. 32). Die Globalisierung ist dabei nicht lediglich als ökonomisches Phänomen zu verstehen, sondern bezieht gleichzeitig kulturelle, soziale, politische und ökologische Veränderungen mit ein (vgl. Giddens 1997 und Beck/Bonß/Lau 2001, S. 23). Unter globalisierten Bedingungen steht das menschliche Handeln in einem globalen Kontext. Einfluss- und Kommunikationsräume bekommen wenigstens potenziell eine globale Dimension (vgl. Giddens 1995, S. 85ff.). Entsprechend verlieren Nationalstaaten ihre zentrale Bedeutung für die Konstitution von Gesellschaft (vgl. Albrow 1998). Es ist einsichtig, dass sich unter globalisierten Bedingungen auch die Bedingungen der Orientierung ändern. Der Bezugsrahmen für zu berücksichtigende Zusammenhänge vergrößert sich dramatisch. Zu berücksichtigende Informationen vermehren sich. Soziale Bindungen werden „entterritorialisiert“, womit der Aufbau intersubjektiv geteilter sozialer und kultureller Selbstverständlichkeiten unter Umständen erschwert wird oder wenigstens unter anderen Bedingungen stattfindet (zu den sozialen Bindungen vgl. Kap. 4.1.2). Beschleunigung Die Orientierungsprobleme in der fortschreitenden Moderne verschärfen sich schließlich deutlich mit der „Hyperdynamik“ oder beschleunigten Veränderungsgeschwindigkeit der Gesellschaft (vgl. Lübbe 1994, S. 13ff.; auch Giddens 1995, S. 15). Die Geschwindigkeit, mit der sich die Lebensverhältnisse ändern, nimmt immer mehr zu. Damit veralten Wissen, Selbstverständlichkeiten, Traditionen, allgemein könnte man sagen Orientierungsgrößen, sehr rasch. Es kommt zu einem „Zukunftsgewißheitsschwund“ (Lübbe 1990, S. 68), d.h. die unbekannte Zukunft rückt durch die beschleunigten Veränderungen immer näher an die Gegenwart. Als letzter bereits angeklungener Aspekt der Zeitdiagnose, der im Zusammenhang mit den Orientierungsproblemen der Gegenwart steht, soll deshalb das veränderte Verhältnis zur Zukunft angesprochen werden. Umgang mit Zukunft Zukunft wird in der Moderne als offen wahrgenommen. Und dies in zweifacher Hinsicht: Zukunft ist nicht determiniert, auf diese Weise gleichzeitig unvorhersehbar und gestaltbar. Im Zuge der gesellschaftlichen Modernisierung und unter der Bedingung des beschleunigten Wandels ist es immer weniger möglich, die Zukunft als die Verlängerung der Gegenwart anzusehen, sie ist „das Ungewisse schlechthin“ (Kaufmann 1987, S. 39). Mit der Einsicht in die Kontingenz zukünftiger Entwicklungen sinkt die Gewissheit darüber, was
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kommen wird, die Vorhersehbarkeit der Zukunft nimmt ab. Wie mehrfach angesprochen, nimmt mit den menschlichen Eingriffen in die soziale und natürliche Welt diese Ungewissheit noch zu (vgl. Lübbe 1990, auch Kap. 4.1.1). Diese Unvorhersagbarkeit und Ungewissheit gegenüber der Zukunft produziert eine Unsicherheitserfahrung, die mit der Beschleunigung des sozialen Wandels noch wächst (vgl. Kaufmann 1987, S. 39). Die von Bonß (1993a) identifizierte gesellschaftliche Basiserfahrung der Unsicherheit korrespondiert dementsprechend mit dem Zukunftsgewissheitsschwund. Und das zunehmende Wissen über die Welt führt gerade nicht zu ihrer besseren Kalkulierbarkeit und Kontrollierbarkeit, sondern verändert diese und führt in seiner Anwendung gerade zu den selbst hergestellten Unsicherheiten (vgl. Giddens 1995). In diesem Sinne kann auch die Logik der neuzeitlichen Moderne – mehr (technisches) Wissen für eine bessere Beherrschbarkeit der Welt – die hergestellte Unsicherheit nicht in Sicherheit verwandeln. Mehr Wissen kann unter den Bedingungen einer reflexiven Modernisierung nicht vor den kontingenten Entwicklungen bewahren. Dennoch spielen Reflexion und Wissen (unterschiedlichster Form) eine zentrale, unabdingbare Rolle. Diese ergibt sich nicht zuletzt aus der Notwendigkeit, den Bedingungen und Folgen des Handelns angesichts der damit hergestellten Unsicherheiten und unbeabsichtigten Nebenfolgen größere Beachtung zu schenken (vgl. Giddens 1996). In der Moderne wird Zukunft überhaupt erst als Ergebnis des eigenen Handelns wahrgenommen. Mit dem Bewusstsein, dass Zukunft auch anders ausfallen könnte, wird menschliches Handeln zur Gestaltung der Zukunft erst relevant. Mit der Offenheit der Zukunft werden damit also auch unterschiedliche Handlungsoptionen denkbar (vgl. Bonß 1993a, S. 22). Während in der Moderne von einem linearen Fortschrittsmodell ausgegangen wurde, das nur ein Zukunftsziel kannte, nämlich die vollkommene Rationalisierung der Welt durch eine umfassende Verwissenschaftlichung, verliert die wissenschaftliche Rationalität ihre Vorrangstellung und werden stattdessen unterschiedliche Lösungswege denkbar. Es entsteht eine „Vielfalt gleichermaßen legitimer und erfolgreicher Vorgehensweisen“ (Beck/Bonß/ Lau 2001, S. 35). Damit braucht es Entscheidungen darüber, welche Handlungsoption wahrgenommen werden und in welche Richtung das Handeln zielen soll. Auf diese Weise steht nicht mehr die technische Machbarkeit im Mittelpunkt, sondern die Frage des Wohin und Wozu. Die Wünschbarkeit bestimmter anzustrebender Zukunftsbedingungen bekommt einen größeren Stellenwert.224 „Der Verlust von Gewißheit über die Zukunft führt zu größerer Offenheit beim Nachdenken über Wünschenswertes (...).“ (Becker 1998a, S. 135) Mittelstraß (1989) unterscheidet zwischen zwei Wissensformen, dem Verfügungswissen, das ein Wissen um Ursachen, Wirkungen und Mittel ist, und dem Orientierungswissen, das ein Wissen um Ziele und Maxime darstellt. Allein das Verfügungswissen, das mit der wissenschaftlichen Rationalisierung der Moderne stetig zugenommen hat, kann zwar sagen, was wir tun können und damit Handlungsoptionen eröffnen, nicht aber darüber Auskunft geben, was wir tun sollen oder wollen. Zum Fällen und zur Begründung von Entscheidungen bedarf es handlungsorientierenden Wissens, das zwangsläufig einen normativen Charakter besitzt. „Die Problemperspektive des Lebens verlagert sich von der instrumentellen auf die normative Ebene; an die Stelle der technischen Frage ‚Wie erreiche ich X‘ tritt die philosophische Frage ‚Was will ich eigentlich?‘.“ (Schulze 1993, S. 33) 224 Entsprechend fragt auch die gegenwärtige Zukunftsforschung nicht nur nach möglichen und wahrscheinlichen, sondern zugleich nach wünschbaren Zukünften (vgl. Graf 2003, S. 362).
4.1 Orientierung in der Zweiten Moderne
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Ähnlich argumentieren Evers und Nowotny, wenn sie sagen, dass in Phasen relativer Verunsicherung technisches Expertenwissen allein die Überwindung von Unsicherheit nicht leisten kann (vgl. Evers/Nowotny 1987, S. 306). Es bedarf vielmehr eines Orientierungswissens, „das antizipierenden Charakter hat, wo sedimentierte Erfahrungen, aber auch Zukunftsbilder die Suche nach Prioritäten und Sicherheit (...) leiten“ (ebd., S. 24). Orientierungswissen meint dabei „ein komplexes Gebilde von wissenschaftlichem Wissen und sozialem Wissen, von den in einer Gesellschaft vorhandenen kollektiven Repräsentationen, von Gesellschafts-‚bildern‘ und Theorien über ihr Funktionieren ebenso wie über jene grundsätzlichen Orientierungen, die weiterführende Zielsetzungen angeben“ (ebd., S. 306). Das soziale Wissen entsteht im gesellschaftlichen Diskurs, in dem die Wirklichkeit über den Aufbau sozial geteilter Bedeutungszuweisungen und Kategorien sozial konstruiert wird, die wiederum Erfahrungen strukturieren und Orientierung für das Handeln bieten (vgl. ebd., S. 19 und 309). Angesichts unterschiedlicher Zukünfte, die denkbar sind, ist es notwendig, intersubjektiv Zukunftsbilder zu entwerfen, die sagen, wie Zukunft aussehen sollte, und welche Denken und Handeln, Wahrnehmung und Bewertung strukturieren und leiten sowie schließlich Entscheidungen ermöglichen. Gesellschaftliche Verständigungsund Aushandlungsprozesse, in denen aktiv mit Ambivalenzen und Kontingenzen umgegangen wird, geteilte Orientierungen, Überzeugungen und Selbstverständlichkeiten aufgebaut werden und insbesondere Zukunft entworfen wird, werden damit konstitutiv für die individuelle wie gesellschaftliche Unsicherheitsbewältigung und Orientierung. Zukunft wird also als offen, d.h. als unvorhersagbar, ungewiss und gleichzeitig mit erweiterten Handlungsmöglichkeiten versehen verstanden. Mit den gestiegenen Handlungsoptionen erscheint die soziale wie die natürliche Welt gestaltbar. In der fortschreitenden Modernisierung wächst jedoch auch das Bewusstsein der grundlegenden und durch Eingriffe noch erhöhten Komplexität der Welt und der damit verbundenen Kontingenz der Entwicklungen, die absolute Sicherheit ausschließen. Dies macht einen neuen Umgang mit der Zukunft und ihrer Ungewissheiten notwendig. Die Kontingenz und Unkontrollierbarkeit muss anerkannt werden, es entsteht die Notwendigkeit der „Erwartung des Unerwarteten“ (Beck/Bonß/Lau 2001, S. 37f.), verschiedene Entwicklungsmöglichkeiten müssen berücksichtigt werden. Die Feststellung der Kontingenz von Zukunft und ihrer Abhängigkeit vom menschlichen Handeln legt es schließlich nahe, statt von Zukunft von Zukünften zu sprechen, und zwar von unterschiedlichen Zukünften, die einerseits denkbar bzw. möglich und andererseits wünschenswert erscheinen. Über diese kann und muss sich gesellschaftlich auseinandergesetzt werden. Angesichts der Anerkennung der Ambivalenz und Komplexität, der unterschiedlichen Lösungswege sowie der Pluralisierung von Rationalitäten bedarf es schließlich gesellschaftlicher Diskurse, Verständigungs- und Aushandlungsprozesse, in denen die Wirklichkeit gemeinsam strukturiert, soziales Wissen aufgebaut wird. Dies schafft geteilte Orientierungen, die es ermöglichen, gemeinsam zukunftsbezogen zu handeln und in diesem Sinne Gesellschaft reflektiert zu gestalten. Beck/Beck-Gernsheim (1994, S. 35f.) sehen gerade in der Ausrichtung auf die Zukunft, der gemeinsamen Ausgestaltung der Zukunft und konstruktiven Beschäftigung mit Zukunftsfragen die Möglichkeit der Integration der individualisierten Gesellschaft. Diese wäre eine projektive Integration, die statt über einen Wertekonsens, über geteilte materielle Interessen oder über ein Nationalbewusstsein in der zukunftsgerichteten Mit- und Ausgestaltung der
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Gesellschaft diese immer wieder neu entwirft. Wichtige Voraussetzung hierfür wäre die Mobilisierung der Menschen für diese Mitgestaltung der gesellschaftlichen Zukunft. 4.2 Gesellschaftlicher Zusammenhalt in der Zweiten Moderne Bisher stand das Problem der Orientierung im Mittelpunkt der Betrachtung der gesellschaftlichen Situation. Es ist beschrieben worden, inwieweit Orientierung im Zuge des gesellschaftlichen Wandels zu einem Problem wird. Unter den Bedingungen des sozialen Wandels stellt sich jedoch auch unabhängig von den angeführten Orientierungsproblemen die zentrale Frage des gesellschaftlichen Zusammenhalts. Wie ist soziale Integration in einer pluralisierten, enttraditionalisierten und individualisierten Gesellschaft noch möglich? Hierzu existieren höchst unterschiedliche Positionen, die bereits in der grundlegenden Frage auseinandergehen, ob und wie weit der gesellschaftliche Zusammenhalt unter den gegebenen Bedingungen überhaupt gefährdet ist. Die Frage nach dem gesellschaftlichen Zusammenhalt bzw. der sozialen Integration225 kann dabei auf verschiedenen Ebenen gestellt werden. Im Blick sind ebenso die Gesellschaft als Ganze, ihre Teilbereiche, vor allem auch ihre Institutionen und Organisationen und die Beziehungsmuster zwischen den Menschen. Einen besonderen Beitrag zur Integrationsfrage liefert die Diskussion um die Bürgergesellschaft. Symptome des schwindenden gesellschaftlichen Zusammenhalts In einer enttraditionalisierten und individualisierten Gesellschaft, in der die festen Sozialstrukturen und sozialen Bindungen sich auflösen, stellt sich für das Fortbestehen der Gesellschaft die Frage nach der Integration ihrer Mitglieder. Wie kann die Gesellschaft noch einen Zusammenhang bilden, wenn sich die traditionelle Sozialstruktur und Wertorientierungen auflösen, wenn die Bedeutung von gesellschaftlichen (Groß-)Institutionen schwindet? Pessimistische Beobachter sehen im Zuge der Individualisierung den gesellschaftlichen Zusammenhalt gefährdet (vgl. hierzu Joas 2001). Mit der Auflösung der traditionellen Gemeinschaften und sozialen Bindungen wie Familie, Schicht oder Berufsstand und der Auflösung der traditionellen sozialen Milieus gehen die kollektiv geteilten Werte verloren. All dies führe – so die pessimistische Zeitdiagnose von der desintegrierten Gesellschaft – zu einem abnehmenden Gemeinsinn, rückläufigem Engagement und schwindender Solidarität. Tatsächlich sprechen Befunde wie die konstatierte Politikverdrossenheit, die sinkende Wahlbeteiligung oder das Desinteresse bzw. sogar die fehlende Akzeptanz gegenüber den großen
225 Gesellschaftlicher Zusammenhalt und soziale Integration sind unterschiedlich konnotierte und verwendete Begriffe. Im Folgenden werden die beiden Ausdrücke jeweils im Zusammenhang mit einem eingenommenen Blickwinkel genutzt. Ist vom gesellschaftlichen Zusammenhalt die Rede, so wird von der Gesellschaft aus nach dem Zusammenhalt ihrer Mitglieder bzw. ihrer Teilbereiche gefragt. Die soziale Integration hat demgegenüber den Einzelnen im Blick und fragt nach dessen Einbindung auf unterschiedlichen Ebenen wie Gruppierungen, gesellschaftlichen Teilsystemen und der Gesellschaft allgemein. Die soziale Integration subjektbezogen zu betrachten, begründet sich daraus, dass im Zuge der reflexiven Modernisierung dem Individuum diesbezüglich größere Bedeutung zugeschrieben wird. Integration wird stärker als bisher zur Eigenleistung des Individuums, statt dass sie als Systemleistung begriffen wird (vgl. Beck/Sopp 1997). Die hier eingenommene Perspektive ist in jedem Fall eher subjekt- als systemorientiert.
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gesellschaftlichen Institutionen und Organisationen wie den Kirchen, Parteien oder Gewerkschaften für eine solche Sicht der Dinge. Demgegenüber zeigt sich, dass die Auflösung der klassischen Milieus, denen bislang die Tradierung von Werten zugeschrieben wurde, nicht zu einem Verlust von Gemeinsinn und Wertbindungen geführt hat (vgl. Joas 2001). Zugleich stellt die Wertewandelforschung trotz gegenteiliger Befürchtungen einen positiven Zusammenhang zwischen dem Vordringen von Selbstentfaltungswerten und der Engagementbereitschaft der Bevölkerung fest (vgl. Klages 2001b). Statt der Rückläufigkeit des gesellschaftlichen Engagements wird vielmehr dessen Strukturwandel festgestellt. Zwar ziehen sich die Individuen mehr und mehr aus den großen (weltanschaulichen) Organisationen und Verbänden zurück und das kontinuierliche, institutionalisierte Ehrenamt nimmt ab. Gleichzeitig wächst jedoch das Engagement in zeitlich befristeten, überschaubaren und projektorientierten Zusammenhängen (vgl. Heinze/Strünck 2001; Blanke/Schridde 2001).226 Das gleiche Phänomen wird speziell für das politische Engagement wahrgenommen (vgl. Hitzler 1997a, S. 60; Rosenmayr/Kolland 1997, S. 274f.; Wilkinson 1997, S. 109ff.). Auch dieses ist vielmehr zeitlich und thematisch begrenzt. Es sind Einzelthemen, Einzelprobleme, welche die Bürger mobilisieren. Beck spricht von punktuellen, situations-, themen- und personenabhängigen Koalitionen, die „wechselnd mit unterschiedlichen Gruppen aus unterschiedlichen Lagen geschlossen“ werden (Beck 1986, S. 159). Neue Formen der sozialen Integration Der Symptombeschreibung einer desintegrierten Gesellschaft steht eine Darstellung der gesellschaftlichen Verhältnisse gegenüber, die vielmehr andere, neue Formen der sozialen Integration, des gesellschaftlichen Zusammenhalts konstatiert. Einiges ist hierzu bereits im Kontext von Individualisierung und Orientierung angesprochen worden (vgl. Kap. 4.1.2). Dies soll hier noch einmal aufgegriffen werden und um einige Aspekte in Bezug auf den gesellschaftlichen Zusammenhalt ergänzt bzw. erweitert werden. In der Zweiten Moderne verändern sich die sozialen Beziehungsmuster zwischen den Menschen. Es entstehen soziale Figurationen (Keupp 2001), die eine andere Form annehmen als die bislang vertrauten Bindungen. Soziale Beziehungen nehmen verstärkt die Gestalt von sozialen Netzwerken an, die auf Freiwilligkeit, insbesondere freie Wahl beruhen, weniger verbindlich sind und damit nicht von Dauer sein müssen, die unabhängig vom Standort sind und zudem nur jeweils partiell bestimmte Lebensbereiche der beteiligten Menschen betreffen. Damit ist Solidarität jedoch nicht ausgeschlossen. Solidarität wird als freiwillige Verpflichtung zwischen sich zusammengehörig fühlenden Personen verstanden (vgl. Hondrich/ Koch-Arzberger 1992). Den unter Umständen flüchtigeren, dafür jedoch selbstgewählten Bindungen werden deshalb sogar besondere Chancen für Solidarität zugeschrieben, weil Zugehörigkeiten gewählt und die Gemeinsamkeiten bewusst wahrgenommen werden können (vgl. Heinze/Strünck 2001, S. 234). Wenn Solidarität aus einem Zugehörigkeitsgefühl – beispielsweise aufgrund gemeinsamer Interessen und Ziele – erwächst, dann kommt es 226 Zum Wandel des Engagements bzw. Ehrenamts gehört vor allem der Wandel der Motive für gesellschaftliches Engagement (vgl. Nothelle-Wildfeuer 1999, S. 272ff., Klages/Gensicke 1999, Gensicke 2001, Heinze/ Strünck 2001)
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allerdings darauf an, immer wieder neu Gemeinsamkeiten zu finden bzw. herzustellen. Offen bleibt allerdings die Frage, wie in diesen posttraditionalen Figurationen Selbstverständlichkeiten und Kontinuität erzeugt und wie langfristige Ziele angestrebt werden können (vgl. Keupp 2001, S. 74). Kontinuität schaffen weniger die einzelnen Individuen, die sich auf Zeit in unterschiedliche Netzwerke einbinden und wechselnde Koalitionen bilden, aber vielleicht die in diesem dauerhaften Prozess entstehenden und durch wechselnde Personen aufrechterhaltenen gesellschaftlichen Institutionen. Auch diese verändern in der Zweiten Moderne ihre Gestalt. Gesellschaftliche Pluralisierung und Individualisierung führen nicht zwangsläufig zu einer Auflösung oder Desintegration der Gesellschaft. Für Beck (1986) gehört zum Prozess der Individualisierung neben der Freisetzung des Individuums aus traditionellen Sozialformen auch seine gesellschaftliche Reintegration, die allerdings eine andere Form als zuvor annimmt. Hierfür sorgen individualisierte oder sekundäre Institutionen wie der Arbeitsmarkt, Konsummarkt, das Recht oder die Bildung (vgl. Beck 1986 und Leisering 1997). Mit dem Verweis auf die sekundären Institutionen wird auf der einen Seite der weiterhin bestehende institutionalisierte Charakter menschlicher Beziehungen in der Gesellschaft hervorgehoben, der nach wie vor Standardisierungen und Normierungen und auf diese Weise die für das menschliche Zusammenleben konstitutiven Erwartungssicherheiten schafft. Auf der anderen Seite wird auf den veränderten Charakter von Institutionen hingewiesen, der sich im Zuge des Individualisierungsprozesses ausprägt: Sekundäre Institutionen „lassen mehr Raum für Handlungsbeiträge und Entscheidungen des Einzelnen, fordern solche Selbststeuerungsleistungen aber auch ein“ (Leisering 1997, S. 144). Hitzler und Koenen (1994) verweisen darüber hinaus auf eine gewisse Freiwilligkeit des Individuums im Verhältnis zu den Institutionen. Institutionen werden auf diese Weise zu „opportunity structures“ (ebd., S. 457), also Strukturen, die Möglichkeiten eröffnen und deren Chancen ergriffen werden wollen. Nicht nur dem weitreichenden Institutionenbegriff, sondern auch der Ambivalenz der Institutionen selbst ist es zuzuschreiben, dass die Institutionen auf der einen Seite Abhängigkeiten und auf der anderen Seite opportunity structures schaffen. Zum einen wird eine zunehmende „funktionelle Abhängigkeit“ des Individuums von Institutionen wahrgenommen (vgl. ebd., S. 447). Im Zusammenhang mit den genannten sekundären Institutionen entstehen „institutionenabhängige Individuallagen“ (Beck 1986, S. 119). Diesen Institutionen kann sich der Einzelne bei der Gestaltung seines Lebens nur schwer entziehen. Hier besteht die im Zuge der Individualisierung gewonnene Freiheit weniger in der Frage, ob man innerhalb dieser Institutionen agiert oder nicht, sondern wie man dies tut. Gegenüber traditionellen Institutionen und Organisationen wie den Parteien, Kirchen oder Gewerkschaften kann zum anderen gleichzeitig von einem gestiegenen Autonomieanspruch der Individuen gesprochen werden (vgl. Hitzler/Koenen 1994, S. 447). Institutionen können allgemein als „dauerhafte Muster menschlicher Beziehungen“ verstanden werden (vgl. Hillmann 1994, S. 375). In Institutionen wird das menschliche Zusammenleben auf das relativ dauerhafte Fundament von gegenseitigen (Verhaltens-)Erwartungen gestellt. In ihnen finden sich typische wechselseitig aufeinander bezogene soziale Rollen, welche die Erfüllung bestimmter sozialer Funktionen der Institutionen ermöglichen. Organisationen sind eine besondere Form sozialer Institutionen, in denen bestimmte Ziele verfolgt werden. Sie bestehen aus bewusst geplanten und koordinierten Handlungseinheiten und einer arbeitsteiligen Rollengliederung bzw. Funktionsteilung, welche die Un-
4.2 Gesellschaftlicher Zusammenhalt in der Zweiten Moderne
219
abhängigkeit von konkreten Personen möglich macht (vgl. ebd., S. 638). Die Gesellschaft bildet ein Ensemble von Institutionen. Gesellschaft ohne Institutionen ist demnach gar nicht denkbar (vgl. Hitzler/Koenen 1994). Sie ermöglichen koordiniertes und kooperatives Handeln in komplexen Handlungszusammenhängen. In den Institutionen nimmt das Individuum an der Gesellschaft teil. Die Überlegungen zu dem in der Zweiten Moderne veränderten Verhältnis zwischen Individuum und Institutionen zeigen, dass auch hier die Anforderungen an das Individuum hinsichtlich seiner aktiven Eigenleistung steigen. Die im Zuge der Individualisierung vom Einzelnen abverlangte größere Eigenverantwortung bezieht sich damit auch auf sein Handeln in Bezug auf die Institutionen. Wo zuvor die Form des gesellschaftlichen Zusammenlebens durch traditionelle Institutionen enger vorgegeben war, tritt unter den Bedingungen der Pluralisierung, Individualisierung und Enttraditionalisierung die (Mit-)Gestaltung in den Vordergrund.227 In der individualisierten Gesellschaft ist der Einzelne damit zugleich stärker gefordert, am gesellschaftlichen Leben mitzuwirken. Die Institutionen werden damit in größerem Maße individuumabhängig, durch den gestiegenen Freiheitsgrad ihnen gegenüber zustimmungs- und auslegungsbedürftig (vgl. Beck 1995, S. 26). Für das gesellschaftliche Zusammenleben gewinnt die Selbstintegration in die einzelnen gesellschaftlichen Institutionen und Organisationen an Bedeutung. Diese beruht stärker als bisher auf der freien Wahl des Einzelnen, sodass diesbezüglich Aufmerksamkeiten und Identifikationsmöglichkeiten geschaffen werden müssen. Wenn der Einzelne und seine freiwillige Entscheidung für eine Organisation an Bedeutung gewinnen, muss dieser angesprochen werden, muss die opportunity structure der jeweiligen Institution für ihn Bedeutung und Sinn bekommen. Bürgergesellschaft als Vision für den gesellschaftlichen Zusammenhalt Auf die Frage, was die Gesellschaft zusammenhält, was den „sozialen Kitt“ der modernen Gesellschaft ausmacht, antwortet nicht nur Beck mit dem Hinweis auf politische Freiheit und Bürgerschaft (vgl. Beck 1997b, S. 382f.). Politische Freiheit bedarf in den Augen Dahrendorfs (1994, S. 425) neben einem demokratischen Verfassungsstaat und einer Marktwirtschaft der Bürgergesellschaft. Die Bürgergesellschaft ist für ihn das „Medium der Freiheit“ (vgl. ebd., S. 427). Damit führt ein Pfad von der Frage des gesellschaftlichen Zusammenhalts zur Bürgergesellschaft. Die Bürgergesellschaft dient gleichzeitig als Realitätsbeschreibung und als Vision für eine zukünftige Gesellschaft. Sie betrifft in mehrerlei Hinsicht unmittelbar die Frage des gesellschaftlichen Zusammenhalts. Die Enquete-Kommission „Zukunft des Bürgerschaftlichen Engagements“ versteht unter Bürgergesellschaft „ein Gemeinwesen, in dem sich die Bürgerinnen und Bürger nach demokratischen Regeln selbst organisieren und auf die Geschicke des Gemeinwesens einwirken können. Im Spannungsverhältnis von Markt, Staat und Familie wird Bürgergesellschaft überall dort sichtbar, wo sich freiwillige Zusammenschlüsse bilden, wo Teilhabe- und Mitgestaltungsmöglichkeiten genutzt werden und Bürgerinnen und Bürger Gemeinwohlverantwortung übernehmen.“ (Deutscher Bundestag 2002, S. 6) 227 Bereits Berger und Luckmann (1969) verweisen darauf, dass Institutionen immer gesellschaftlich konstruiert sind. Durch die größere Eigentätigkeit und Eigenverantwortung der Individuen innerhalb der Institutionen wird ihre Gestaltbarkeit jedoch stärker sichtbar.
220
4 Kontextualisierung der Kategorie Leitbild
Insgesamt berührt die Diskussion um Bürgergesellschaft und Bürgerengagement unterschiedliche Problemkreise, die von der sozialen Sicherung im Sozialstaat über die Diskussion um die Verteilung von Arbeit und die Tätigkeitsgesellschaft sowie die Frage der Stärkung der Gemeinwohlorientierung und des Gemeinsinns bis hin zu einem Diskurs um die Modernisierung der Demokratie reichen (vgl. Heinze/Olk 2001; Keupp 2001). Die Förderung des gesellschaftlichen Zusammenhalts könnte dabei als übergreifendes Ziel verstanden werden. Auf der Ebene der sozialen Sicherung geht es unter anderem um die Frage, wie soziale Dienstleistungen zukünftig gewährleistet werden können. Zu diesem Zweck wird über Gelegenheitsstrukturen u.Ä. diskutiert, welche die Übernahme sozialer Aufgaben von aktiven Bürgern ermöglichen. Auf politischer Ebene geht es vor allem um die Modernisierung oder Weiterentwicklung der Demokratie. Die Entwicklung der Bürgergesellschaft heißt in politischer Hinsicht, neue Formen der gesellschaftlichen Teilhabe und Teilnahme an gesellschaftlichen Meinungsbildungs-, Diskussions- und Entscheidungsprozessen zu finden. Damit zielt das Konzept der Bürgergesellschaft auf den gesellschaftlichen Zusammenhalt, der durch die gemeinwohlorientierte Tätigkeit der Bürger, d.h. letztlich durch die gemeinsame Gestaltung der Gesellschaft und durch Teilhabe an einer (politischen) Diskussion um ihre Zukunft hergestellt werden soll (vgl. Olk 2001, S. 35). Konstitutiv für die Bürgergesellschaft sind zum einen die freiwilligen und gemeinwohlorientierten Zusammenschlüsse der Bürger in Institutionen, Organisationen und Verbänden und zum anderen die Bürger selbst und ihre Aktivitäten innerhalb der Bürgergesellschaft – ihr bürgerschaftliches Engagement228. Die Vielfalt dieser Assoziationen bietet den mehr oder weniger institutionalisierten Rahmen, in dem die Bürger zusammenkommen, um an öffentlichen Diskussionsprozessen und gesellschaftlichen Gestaltungsprozessen teilzuhaben. In ihnen können sich die verschiedenen Interessen verdichten und öffentlich zu Wort kommen. Für den Einzelnen bieten die bürgergesellschaftlichen Zusammenschlüsse eine Plattform zur politischen und allgemein gesellschaftlichen Teilhabe (vgl. etwa Besson/Jasper 1990, S. 41). In diesen Assoziationen baut sich der Einzelne Netzwerke auf, die ihm soziale Kontakte ermöglichen. Diese verschaffen ihm Zugang zu Ressourcen wie beispielsweise Informationen und ein Zugehörigkeitsgefühl, das seinerseits Grundlage für ein solidarisches Handeln ist. Das Engagement in den Organisationen und Institutionen ist damit ein Beitrag zur Selbstintegration des Einzelnen in die Gesellschaft (vgl. dazu auch Brömme 2001). Die Bürgergesellschaft ist Ausdruck einer pluralistischen Gesellschaft, in der unterschiedliche Vorstellungen, Interessen und Wertorientierungen existieren (vgl. NothelleWildfeuer 1999, 218ff.). Pluralität, Vielfalt seiner Elemente ist ein grundlegendes Merkmal der Bürgergesellschaft (vgl. Dahrendorf 1994, S. 427). Die Vielfalt der Interessen, Normvorstellungen und Wertorientierungen hat damit in der Bürgergesellschaft eine konstitutive Berechtigung und Notwendigkeit (vgl. Nothelle-Wildfeuer 1999, S. 221). Der Zusammenhalt der Bürgergesellschaft wird also gerade nicht auf einen umfassenden Wertekonsens gestützt, wenngleich bestimmte Grundwerte wie der Pluralismus, die Gemeinwohlorientierung oder die Anerkennung der demokratischen Verfassung deren Fundament bilden (vgl. ebd., S. 222).
228 Bürgerschaftliches Engagement wird im Kern als freiwillige, unentgeltliche und gemeinwohlorientierte Arbeit im öffentlichen Raum definiert, die keinen reinen Erlebnis- oder Erholungscharakter hat und die Investition von Zeit sowie geistiger oder körperlicher Anstrengung bedeutet (vgl. Gensicke 2001 und Heinze/ Olk 2001).
4.3 Zusammenfassung der gesellschaftlichen Rahmenbedingungen und Formulierung der Prüfkriterien
221
Ebenso wie in Bezug auf die gesellschaftlichen Institutionen allgemein ist auch die Bindung an bestimmte Zusammenschlüsse und Organisationen der Bürgergesellschaft nicht mehr traditionell vorgegeben. Alle Organisationen müssen entsprechend um die Aufmerksamkeit der angesprochenen Öffentlichkeit werben, müssen stärker als bisher ihre Zielsetzungen, ihr Profil nach außen wie auch nach innen kommunizieren. Gleichzeitig werden sie in ihrer Gestalt und in ihren Zielsetzungen deutlicher als zuvor von ihren Mitgliedern geprägt. Beck/Beck-Gernsheim (1994) haben die zukunftsgerichtete Mit- und Ausgestaltung der Gesellschaft als die Integrationsmöglichkeit in einer individualisierten Gesellschaft herausgestellt. Die Bürgergesellschaft bietet für eine solche „projektive Integration“ (ebd., S. 35) einen geeigneten Rahmen. In der Bürgergesellschaft spielt die gemeinsame Zukunftsorientierung und die Verfolgung von Zielen, die gleichfalls gemeinsam gesetzt bzw. vertreten werden, eine besondere Rolle. Die kooperative Gestaltung von Zukunft unter sich stetig wandelnden Bedingungen und bei nicht-determinierten Entwicklungspfaden, macht dabei eine permanente Verständigung über die mögliche und erwünschte Zukunft besonders notwendig. In den bürgergesellschaftlichen Organisationen, Verbänden, aber auch anderen Zusammenschlüssen ist eine solche Verständigung über die mögliche und erwünschte Zukunft, die Ziele und gegebenen (Umfeld-)Bedingungen möglich. 4.3 Zusammenfassung der gesellschaftlichen Rahmenbedingungen und Formulierung der Prüfkriterien 4.3.1 Gesellschaftliche Rahmenbedingungen der Zweiten Moderne Orientierung in der Zweiten Moderne Nach Lübbe sind Orientierungsprobleme denkbar, die aus der Verunsicherung oder Unkenntnis hinsichtlich der Lage, des Weges bzw. der Mittel oder des Ziels herrühren (vgl. hierzu Kap. 4.1). Konkret heißt das, Orientierungen helfen individuell wie kollektiv, die gegenwärtige Wirklichkeit strukturiert wahrzunehmen und Erwartungen hinsichtlich einer möglichen Zukunft aufzubauen. Darin werden Wünsche und Ziele, Anforderungen und Erwartungen mit einbezogen und schließlich auch Wissen darüber, wie diese erreicht werden können. Eingangs ist festgestellt worden, dass unter den gegenwärtigen gesellschaftlichen Bedingungen Orientierung zu einem besonderen Problem wird. Die Darstellung des gesellschaftlichen Wandels hat gezeigt, dass dies Orientierungsprobleme in allen drei Dimensionen – Lage, Weg und Ziel – betrifft. Wo steht man, wo geht es lang und wo will man hin – diese Fragen stellen sich für das Individuum genauso wie für ein Kollektiv, sei dies eine Gruppe, Gemeinschaft, Organisation oder die ganze Gesellschaft. Mit der Wahrnehmung der Ambivalenz und Kontingenz der Wirklichkeit, welche die Zweite Moderne kennzeichnet, sind sowohl Orientierungsprobleme hinsichtlich der Lage als auch des Weges – sofern man ihn als das zukünftig zu Erwartende versteht – verbunden. Die gegenwärtige Wirklichkeit erscheint zunehmend komplex und undurchschaubar, uneindeutig und nicht eindeutig bewertbar, d.h. ambivalent. Orientierung in der Gegenwart wird damit erschwert. Zugleich bereitet aber auch die Orientierung im Hinblick auf die Zukunft Schwierigkeiten, weil Prozesse und Entwicklungen, die Zukunft allgemein kontingent, d.h. in unterschiedliche Richtungen offen erscheinen.
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4 Kontextualisierung der Kategorie Leitbild
Orientierung hinsichtlich der gegenwärtigen und zukünftigen Lage, welche es dem Menschen ermöglicht, sich in der Welt zurechtzufinden, wurde in der Moderne durch umfassende, universelle Ordnungen hergestellt, die in der Zweiten Moderne verloren gehen. Der Verlust der Orientierungssicherheit rührt aus der Erfahrung einer komplexer gewordenen Welt, in der alte Ordnungen, die komplexitätsreduzierend gewirkt haben, Erwartungssicherheiten und Orientierungsgrößen geliefert haben, aufgelöst werden. Zwei grundlegende orientierungsstiftende Ordnungssysteme werden im Zuge der reflexiven Modernisierung brüchig und an ihre Stelle tritt Pluralität. Es sind zum einen die ordnungsstiftende, auf Rationalisierung der Welt ausgerichtete Wissenschaft und zum anderen die soziale Ordnung, in der historisch vorgegebene Sozialformen und -bindungen feste und übergreifende Orientierungen bieten. Gesellschaftliche Pluralisierungs-, Enttraditionalisierungs- und Individualisierungsprozesse unter globalisierten und beschleunigten Bedingungen führen zur Auflösung der übergreifenden und dauerhaften Orientierungen. Die durch die Auflösung der festen sozialen Ordnung induzierten individuellen Orientierungsprobleme entstehen aus identitätsbezogenen und biographischen Verunsicherungen, die sich beispielsweise auf die eigene gesellschaftliche Stellung, die an den Einzelnen herangetragenen Erwartungen und die ihm offen stehenden Möglichkeiten im Lebensverlauf beziehen. Andererseits lösen sich mit den festen sozialen Bindungen auch umfassende Orientierungen als Weltsichten, sozial geteilte Wirklichkeitskonstruktionen und Zukunftserwartungen auf. Mit dem Verlust von Traditionen gehen die mit ihnen verbundenen sozial geteilten Selbstverständlichkeiten verloren, die Entlastung von Entscheidungen bedeutet haben, durch die Wirklichkeit strukturiert und bestimmte Perspektiven für das Denken und Handeln selektiert wurden. Mit den festen, vorgegebenen Ordnungen sind schließlich auch immer normative Elemente verbunden, sodass sich mit ihrer Pluralisierung auch die verfolgten Ziele, Wertmuster und Normen vervielfältigen. Auch im Falle, dass man die Frage nach den angemessenen Mitteln zur Erreichung vorgegebener Ziele zu den möglichen Orientierungsproblemen zählt, wird deutlich, dass diese Frage zunehmend schwer zu beantworten ist. Letzteres ergibt sich aus der postmodernen Einsicht, dass es nicht die optimale Lösung für jedes Problem gäbe, die durch fortschreitende wissenschaftliche Rationalisierung gefunden werden kann. Gleichzeitig muss angesichts der Komplexität der Wirklichkeit und des menschlichen Handelns als Einwirkung auf die komplexen sozialen und natürlichen Systeme immer mit unvorhergesehenen und nicht-intendierten Interdependenzen und Nebenfolgen gerechnet werden. Damit ist die Frage nach den angemessenen Mitteln, dem richtigen Weg nicht eindeutig zu beantworten. Trotz Uneindeutigkeiten, Ambivalenzen und Ungewissheiten, die auch durch zunehmendes Wissen nicht ausgeschlossen werden können, müssen Entscheidungen getroffen werden. Diese hängen letztlich von Wertvorstellungen und Zielen ab, die nicht mehr selbstverständlich geteilt und einheitlich, sondern vielmehr durch Vielfalt gekennzeichnet sind. Orientierungen beinhalten auch immer normative bzw. volitive Elemente. Orientierungen sagen nicht nur, was ist und was sein wird, sondern vor allem was sein soll: Orientierungen geben Sicherheit hinsichtlich des angestrebten Ziels. Und eben diese Form von Orientierung ist das, von dem gesagt wird, es würde in dieser Welt zunehmend fehlen (vgl. Mittelstraß 1989, S. 19). Geteilte Wertorientierungen und Ziele sind grundlegend für gemeinsames Handeln und Zusammenleben. Insbesondere die normative Dimension von Orientierungen bereitet also im Zuge der Enttraditionalisierung, Pluralisierung und Individualisierung Schwierigkeiten.
4.3 Zusammenfassung der gesellschaftlichen Rahmenbedingungen und Formulierung der Prüfkriterien
223
Zwar ist, das machen Autoren wie Bonß, Bauman oder Lübbe deutlich, die Gegenwart durch Unsicherheit als Basiserfahrung geprägt und Orientierungen sind nicht mehr selbstverständlich gegeben. Es wäre nun aber einseitig, nur die Nachtseite dieser Zeitdiagnose zu beschreiben – Orientierungsverlust, Unsicherheiten und damit ja letztlich Handlungsunfähigkeit. Wie Beck, Gross oder Bonß deutlich machen, gehen diese kritischen Veränderungen ja gerade mit erweiterten Chancen, Freiheiten, Möglichkeiten und Optionssteigerung einher. Wichtig ist festzuhalten, dass Orientierungen notwendig sind, um sich in der Gegenwart zurechtzufinden, aktiv mit der Zukunft umgehen zu können und handlungsfähig zu sein. Orientierungen sind notwendig, um zu handeln. Diese Orientierungen sind nicht mehr in jedem Fall selbstverständlich gegeben, sondern müssen vom Individuum, ebenso wie von Kollektiven aktiv aufgebaut werden. Was feste, traditionsgebundene Sozialbindungen und -formen und das Eindeutigkeitsversprechen der modernen Wissenschaft jeweils durch ihre Form der vorgegebenen, übergreifenden Ordnungsbildung geleistet haben, nämlich dauerhafte Orientierungen in Form von Wirklichkeitsstrukturierung und Komplexitätsreduktion, Erwartungssicherheit und Zielvorgaben zu gewähren, muss nun auf andere Weise hergestellt werden. Soziale Bindungen und Zusammenhänge behalten dabei nach wie vor ihre Bedeutung für die individuelle und kollektive Orientierung und den Aufbau einer geteilten Wirklichkeitsauffassung. Mit den veränderten gesellschaftlichen Bedingungen verändert sich auch die Form der Orientierungen. Wie werden Orientierungen gegenwärtig hergestellt oder aufgebaut? Welche Gestalt nehmen sie in der Gegenwart bzw. absehbaren Zukunft an?
Bestimmte Orientierungen müssen selbst als eine mögliche unter anderen Orientierungen verstanden werden. Orientierungen sind nicht (mehr) Ausdruck der einen umfassenden und einzig gültigen Ordnung der Welt, sondern stattdessen ein vorläufiger Entwurf unter anderen möglichen, die Wirklichkeit zu strukturieren, Komplexität angemessen zu reduzieren und bestimmte Deutungen und Bewertungen der Dinge vorzunehmen. Kriterium ihrer Gültigkeit oder Angemessenheit ist dann die Frage, ob sie entscheidungs- und handlungsfähig machen und ob sie sozial anerkannt werden. Orientierungen sind viel eher kontext- und situationsabhängig als universell, zeitlich und in ihrem Gültigkeitsbereich umfassend. Das heißt: a) Orientierungen betreffen nur noch bestimmte Wirklichkeitsausschnitte, beziehen sich nur noch auf einen Teilausschnitt des gesellschaftlichen oder individuellen Lebens. b) Orientierungen müssen aufgrund der sich immer schneller wandelnden gesellschaftlichen Verhältnisse flexibel sein und umfassen somit unter Umständen nur noch kürzere Geltungszeiträume. Gerade angesichts der sich schnell wandelnden Verhältnisse sollen Orientierungen jedoch auch (Erwartungs- und Verhaltens-)Sicherheit bieten und müssen deshalb gerade eine gewisse Stabilität aufweisen.229 Orientierungen müssten dann auf der einen Seite so stabil sein, dass sie auch bei sich wandelnden Verhältnissen über einen gewissen Zeitraum Gültigkeit beanspruchen können und angemessen bleiben, und auf der anderen Seite so flexibel sein, dass sie den wandelnden Verhältnissen entsprechend anpassungsfähig sind.
229 Die Forderung nach Flexibilität der Orientierungen auf der einen Seite und nach ihrer Stabilität auf der anderen Seite angesichts der schnellen Veränderungen der Bedingungen stehen in einem dialektischen Verhältnis zueinander, das nicht zur einen oder anderen Seite aufgelöst werden kann, sondern vielmehr in diesem Spannungsverhältnis beachtet werden muss.
224
4 Kontextualisierung der Kategorie Leitbild
Gerade aufgrund der gestiegenen Deutungs- und Handlungsmöglichkeiten gewinnt die Frage nach dem Sinn eine größere Bedeutung. Der Aufbau eines (individuellen) Sinnsystems, in dem der betreffende Wirklichkeitsausschnitt in einen Bedeutungs- und Relevanzzusammenhang gestellt wird, geschieht nicht unabhängig von sozialen Zusammenhängen, sondern sozial vermittelt. Um begründete und sozial anerkannte Entscheidungen zu treffen, bedürfen diese der Einordnung in einen intersubjektiv geteilten Sinn- bzw. Bedeutungszusammenhang. Um geteilte Orientierungen, Selbstverständlichkeiten zu schaffen, die begründete, mit Sinn erfüllte und sozial anerkannte Entscheidungen zwischen verschiedenen Optionen ermöglichen, sind deshalb soziale Interaktion und Integration notwendig. Die geteilten Orientierungen und Vorstellungen sind ihrerseits Voraussetzung für die soziale Interaktion und stabilisieren den Sozialzusammenhang. Sozial geteilte Orientierungen bedürfen der stetigen gemeinsamen Reproduktion bzw. ihrer Aufrechterhaltung in einem Sozialzusammenhang – in Diskursen, politischen Arenen, Gemeinschaften, Gruppen, Assoziationen, Institutionen oder Organisationen. Unter pluralisierten, enttraditionalisierten und hoch dynamischen Verhältnissen, zu denen auch die personale Fluktuation aufgrund der Wahlfreiheit der Individuen in den sozialen Zusammenschlüssen zählt, bedarf es noch offenkundiger als bisher der stetigen gesellschaftlichen Reproduktion der geteilten Wirklichkeitsauffassung und Zielsetzungen sowie einer permanenten Verständigung darüber.
Gesellschaftlicher Zusammenhalt in der Zweiten Moderne Angesichts der beschriebenen gesellschaftlichen Pluralisierung und Individualisierung verändern sich die Formen der Vergemeinschaftung und der sozialen Bindung, der sozialen Integration des Einzelnen und des gesellschaftlichen Zusammenhalts allgemein. Die Form der Integration wandelt sich in der Zweiten Moderne mit den veränderten Beziehungsmustern. Soziale Integration beruht stärker als bisher auf der Entscheidung des Einzelnen, bestimmte soziale Beziehungen einzugehen und mit anderen Akteuren aufrechtzuhalten. Die Integration ist damit ein dauerhafter Prozess, der aktiv betrieben werden muss und der sich gleichzeitig in unterschiedlichen gesellschaftlichen Teilbereichen abspielt. Auch im Verhältnis zu den gesellschaftlichen Institutionen und Organisationen steigt die Handlungs- und Entscheidungsfreiheit des Individuums sowie der Anspruch ihm gegenüber, unterschiedliche Rollen innerhalb einer Vielzahl von Institutionen eigenverantwortlich auszufüllen. Soziale Integration beruht in der individualisierten Gesellschaft damit im stärkeren Maße auf der Eigenleistung des Individuums, auf seinen selbstverantworteten Entscheidungen und seinem Handeln. Gesellschaftlicher Zusammenhalt ist nicht mehr durch Tradition selbstverständlich gegeben und auf Dauer gesichert, sondern muss in den sozialen Zusammenhängen und Institutionen durch konkrete Ausgestaltung von den Mitgliedern aktiv aufrechterhalten werden. Gesellschaftlicher Zusammenhalt wird unter diesen Bedingungen dynamischer. Mit dem Konzept der Bürgergesellschaft wird für das Fortbestehen und die Weiterentwicklung der demokratischen Gesellschaft ein Modell vorgelegt, das in der Frage des gesamtgesellschaftlichen Zusammenhalts auf den Gemeinsinn, das bürgerschaftliche Engagement,
4.3 Zusammenfassung der gesellschaftlichen Rahmenbedingungen und Formulierung der Prüfkriterien
225
die gemeinwohlorientierte Mitgestaltung und gesellschaftliche Teilhabe des aktiven Bürgers sowie die mehr oder weniger institutionalisierten freiwilligen Zusammenschlüsse und Organisationen in der öffentlichen Sphäre zwischen Markt, Staat und Privatsphäre setzt. Sozial integrierend wirkt – in der Perspektive der Bürgergesellschaft – die Teilhabe an einem zukunftsgerichteten Verständigungs- und Gestaltungsprozess. Die Bürgergesellschaft ist charakterisiert durch die Pluralität der Institutionen und Assoziationen und damit Ausdruck der gesellschaftlichen Vielfalt der Werte, Vorstellungen und Interessen. Diese kommen in Assoziationen und Organisationen öffentlich zu Wort. Die Institutionen und Assoziationen müssen durch aktive Bürger getragen werden. Diese sind nicht mehr auf Dauer an bestimmte Assoziationen und Organisationen gebunden, prägen allerdings die Gestalt und Inhalte bzw. Ziele der Zusammenschlüsse aktiv mit und müssen ihr freiwilliges Engagement als sinnhaft erfahren. Folgende Herausforderungen ergeben sich zukünftig für einen gesellschaftlichen Zusammenhalt und die soziale Integration ihrer Mitglieder:
Da soziale Integration stärker als bisher die Eigenleistung der Individuen erfordert, bedarf sie der vielfältigen Möglichkeiten, am gesellschaftlichen Leben teilzuhaben. Integration erfolgt damit in besonderem Maße durch Beteiligung. Die Mitgestaltung und Beteiligung an der Gestaltung der Gesellschaft wird deshalb als Chance zur gesellschaftlichen Integration gesehen. Der Fortbestand der pluralen und funktional differenzierten Gesellschaft hängt von der Aufrechterhaltung bzw. der Weiterentwicklung seiner Institutionen und Organisationen ab. Mit fortschreitender Individualisierung, erweiterten Handlungsspielräumen und der gewachsenen Entscheidungsfreiheit der Individuen müssen diese als Akteure für die gesellschaftlichen Institutionen und Organisationen gewonnen und an sie gebunden werden. Hierzu bedarf es Identifikationsmöglichkeiten von Seiten der Institutionen. Sie müssen vom Einzelnen als sinnvoll erfahren werden und für ihn Relevanz haben. Die Organisationen müssen ein Profil präsentieren, mit dem der Einzelne sich angesprochen fühlt. Angesichts der Vielfalt der Werte, Interessen, Lebensstile etc., der stärkeren Eigenaktivität der Individuen und ihrer wechselnden Mitgliedschaften kommt der Verständigung über Ziele und Wege, die in einzelnen Organisationen und Zusammenschlüssen gemeinsam verfolgt werden sollen, besondere Bedeutung zu. Dabei geht es um eine Verständigung im Sinne eines Aushandlungsprozesses, in der die gemeinsamen Ziele und Strategien verhandelt und festgelegt werden, gleichzeitig aber auch um die Möglichkeit, diesen Zielsetzungen und dem Handeln trotz wechselnder Akteure eine gewisse Kontinuität zu verleihen. Diese müssen also stärker als bisher kommuniziert und ausgehandelt werden.
4.3.2 Prüfkriterien für die Angemessenheit einer sozialwissenschaftlichen Beschäftigung mit Leitbildern Im folgenden Kapitel wird die Angemessenheit einer sozialwissenschaftlichen Beschäftigung mit Leitbildern unter den gegebenen gesellschaftlichen Rahmenbedingungen geprüft werden. Hierfür werden Anforderungen an Leitbilder, ihre Gestalt, Rolle und Funktion formuliert, die sich aus den Bedingungen der Zweiten Moderne ergeben. Der vorangehenden Zeitdiagnose entsprechend soll geprüft werden, ob Leitbilder im zuvor erarbeiteten
226
4 Kontextualisierung der Kategorie Leitbild
sozialwissenschaftlichen Verständnis eine zeitgemäße, d.h. erstens den gesellschaftlichen Bedingungen angemessene Form der Orientierung abgeben und dabei zweitens einen neuen Modus der sozialen Integration ermöglichen. Bei manchen Prüfkriterien liegt ihre Bestätigung bereits nahe, wenngleich eine genauere Begründung noch aussteht. In diesen Fällen sind deshalb zur Operationalisierung der Prüfkriterien keine Fragen, sondern Thesen formuliert worden, die gleichwohl erörtert werden müssen. Zunächst werden die Prüfkriterien in Form von Thesen und Fragen aufgeführt. Eine Begründung der Fragen und Thesen sowie ihre Rückbindung an die soziologische Zeitdiagnose erfolgt zusammen mit der Anwendung der einzelnen Prüfkriterien im nächsten Kapitel. 1.
Leitbilder schaffen Orientierung These: Leitbilder schaffen Orientierung, d.h. sie strukturieren die Wirklichkeit, vermitteln Sinn und eine Vorstellung von der angestrebten Zukunft.
2.
Umgang mit Komplexität These: Leitbilder schaffen Ordnung, reduzieren die Komplexität der Welt und verhelfen zur Orientierung, indem sie bestimmte Deutungen und Bewertungsmaßstäbe anbieten. Berücksichtigen Leitbilder gleichwohl die Komplexität der einbezogenen Wirklichkeit, reduzieren sie diese angemessen?
3. 4. 5.
Flexibilität bzw. Plastizität und Stabilität der Orientierungen angesichts hoher Veränderungsgeschwindigkeit Verfügen Leitbilder gleichzeitig über die Plastizität und Stabilität, sowohl Kontinuität zu schaffen als auch auf Wandel zu reagieren? Anerkennung der Vielfalt der Orientierungen und Verständigung darüber Können Leitbilder als Orientierungen verstanden werden, die ebenso legitime bzw. mögliche Alternativen neben sich zulassen? Werden andere Deutungen und Wahrnehmungen akzeptiert und finden Beachtung? Sind Leitbilder artikulierbar und auf diese Weise kommunizierbar und diskutierbar? Ermöglicht die Auseinandersetzung mit unterschiedlichen Leitbildern eine Verständigung zwischen diesen? Auseinandersetzung mit der zu erwartenden und erwünschten Zukunft Schaffen Leitbilder Erwartungssicherheiten sowie Gewissheiten in Bezug auf die Zukunft und in dieser Hinsicht auch Handlungssicherheit? Lassen Leitbilder gleichzeitig aber auch Denk- und Handlungsspielräume für unterschiedliche Entwicklungen offen? Schaffen Leitbilder einen Begründungs- und Sinnzusammenhang für einzelne Ziele und Entscheidungen? Sind Leitbilder eine Form, in der verfolgte Ziele und Zukunftsperspektiven vergegenwärtigt werden können, d.h. sowohl tradiert als auch aktualisiert werden? Hilft die Beschäftigung mit Leitbildern bei der (Neu-)Formulierung bzw. der Entwicklung von Wünschen und Visionen? Hilft die Auseinandersetzung mit Leitbildern bei der Abschätzung von in die Zukunft gerichteten Denk- und Handlungskorridoren und der Auseinandersetzung mit den Folgen des Handelns?
4.3 Zusammenfassung der gesellschaftlichen Rahmenbedingungen und Formulierung der Prüfkriterien
6.
227
Sozial geteilte Orientierungen und Selbstverständlichkeiten These: Leitbilder stellen sozial geteilte Selbstverständlichkeiten und damit eine intersubjektive Weltauffassung dar. Auf diese Weise erleichtern sie die gegenseitige Verständigung, das gemeinsame Handeln und die Entscheidungsfindung. Wird Leitbildern eine begrenzte zeitliche und personelle Gültigkeit zugeschrieben, d.h. werden sie als historisch-kontextuell bedingt und gruppenspezifisch statt allgemeinverbindlich verstanden?
7.
Geteilte Orientierungen und sozialer Zusammenhalt Schaffen Leitbilder sozialen Zusammenhalt? Helfen Leitbilder bei der Einbindung neuer Mitglieder in soziale Zusammenschlüsse und Bindung der vorhandenen? Schaffen Leitbilder Kontinuität in den Sozialzusammenhängen?
8.
Soziale Integration des Individuums Helfen Leitbilder bei der sozialen Integration des Individuums? Bieten Leitbilder Orientierungsangebote und Sinnstiftung, die anschlussfähig sind an die Weltdeutungen und Bedeutungsuniversen der Individuen?
9.
Herstellung von Orientierung und sozialem Zusammenhalt durch neue Leitbilder Können Leitbilder produziert werden bzw. kann der Prozess der Leitbildentstehung forciert werden?
Die Anwendung der Prüfkriterien wird zeigen, dass die einzelnen zu prüfenden Aspekte eng aufeinander bezogen sind und letztlich verschiedene Facetten der beiden fokussierten Problembereiche von verschiedenen Seiten beleuchten (vgl. Abb. 4.1). Abbildung 4.1: Prüfkriterien im Überblick
Orientierung - Leitbilder schaffen Orientierung (PK1) - Umgang mit Komplexität (PK2) - Flexibilität & Stabilität (PK3) - Anerkennung der Vielfalt/Verständigung (PK4) - Auseinandersetzung mit Zukunft (PK5) - Sozial geteilte Selbstverständlichkeiten (PK6) - Herstellung von Orientierung/sozialem Zusammenhalt durch neue Leitbilder (PK9) - Geteilte Orientierungen & sozialer Zusammenhalt (PK7) - Soziale Integration des Individuums (PK8) sozialer Zusammenhalt
4 Kontextualisierung der Kategorie Leitbild
228
Die Tatsache, daß man sich in sehr unterschiedlichen Kontexten des Leitbildgedankens intuitiv bedient, spricht dafür, daß „irgendetwas dran ist“. Dierkes, Hoffmann und Marz (1992, S. 7)
4.4 Leitbilder in der Zweiten Moderne – die Anwendung der Prüfkriterien Es folgt die Anwendung der zuvor erarbeiteten Prüfkriterien zur Angemessenheit einer sozialwissenschaftlichen Beschäftigung mit Leitbildern unter den gegenwärtigen gesellschaftlichen Bedingungen. Es ist zuvor gezeigt worden, dass aktuell in den Sozialwissenschaften sehr heterogene Verständnisse von Leitbildern existieren. Entsprechend ist es mitunter notwendig, die Prüfkriterien an die unterschiedlichen Leitbildbegriffe anzulegen. Die Typisierung der verschiedenen Leitbildbegriffe in den Sozialwissenschaften, insbesondere die Unterscheidung von impliziten, expliziten und oktroyierten Leitbildern hilft dabei, die aufgeworfenen Fragen differenziert zu beantworten (zur Unterscheidung der verschiedenen Leitbildtypen vgl. Kap. 2.2.1). 1. Leitbilder schaffen Orientierung Orientierungen, die die Wirklichkeit strukturieren, Erwartungen aufbauen, Ziele und Wege vorgeben, werden unter den gegebenen gesellschaftlichen Bedingungen problematisch. Die gegenwärtigen Orientierungsprobleme betreffen dabei alle drei Dimensionen der Orientierung – Lage (Gegenwartsinterpretation), Weg (Zukunftserwartungen bzw. Mittel) und Ziel (inklusive Zukunftswünsche und Wertvorstellungen) (vgl. dazu Kap. 4.1). Die Zukunftsdimension, insbesondere die Frage nach dem „Wohin“ bereitet dabei besondere Probleme. In den Sozialwissenschaften herrscht weitgehend Übereinstimmung darüber, Leitbildern eine Orientierungsfunktion zuzuschreiben. Entsprechend lässt sich folgende These formulieren:
Leitbilder schaffen Orientierung, d.h. sie strukturieren die Wirklichkeit, vermitteln Sinn und eine Vorstellung von der angestrebten Zukunft.
Diese grundlegende These soll hier sowie mit Hilfe der folgenden Prüfkriterien differenziert erörtert werden. Die Orientierungsleistung von Leitbildern, das ist bereits ausgeführt worden, stellt zunächst nur eine Wirkungsbehauptung dar (vgl. etwa Kap. 3.3.1.2). Nur wo die in einem Leitbild gegebenen Zukunftsentwürfe verinnerlicht werden und im Denken verankert sind, leisten sie unmittelbar Orientierung. Eine Orientierungsfunktion kommt damit den impliziten, aber nicht im gleichen Maße den expliziten Leitbildern zu. Implizite Leitbilder strukturieren die Wahrnehmung, das Denken und Handeln, reduzieren Komplexität, geben dem Denken eine Richtung und dem Handeln einen intersubjektiv geteilten Sinn.230 Leitbilder schaffen Orientierung aus ihrer Gerichtetheit auf einen bestimmten, geteilten Zukunftshorizont. Damit betreffen Leitbilder vornehmlich die normative, genauer volitive Dimension von Orientierungen. Von dort aus ergibt sich die Strukturierung der Wirklichkeit, d.h. dessen, was in der Wirklichkeit für relevant erachtet wird – also eine Orientierung hinsichtlich der Lage. Dies bedingt zugleich in gewissem Maße auch Vorstellungen darüber, wie das Ziel erreicht werden kann. Leitbilder schaffen damit zwar am ehesten intentionale Orientierung. Sie haben aber für die Wahrnehmung der gegenwärtigen und zukünftig zu erwartenden Wirklichkeit und der angemessenen Mittel zur Erreichung der 230 In diesem Sinne werden sie als Orientierungsmuster bezeichnet.
4.4 Leitbilder in der Zweiten Moderne – die Anwendung der Prüfkriterien
229
Ziele hohe Relevanz. Ob und inwieweit ein implizites Leitbild Strategien bzw. Mittel zur Zielerreichung mit beinhaltet, hängt vom Grad der Etablierung und Ausgestaltung der Zukunfts- und Wunschvorstellungen innerhalb der leitbildtragenden Sinngemeinschaft ab.231 Auch explizite Leitbilder können ein Hilfsmittel zur Orientierung abgeben, wenn der darin enthaltene Zukunftsentwurf nicht nur eine passive Absichtserklärung darstellt, sondern zum Denk- und Handlungsrahmen erhoben wird. Er bildet dann den übergeordneten Bezugspunkt, auf den ausgerichtet weiter gedacht, geplant und gehandelt werden kann. Implizite Leitbilder gleichen damit einem inneren Kompass, explizite Leitbilder eher einer auf einem Zettel notierten Adresse. In dem Maße, wie Orientierungen unter den gegebenen gesellschaftlichen Bedingungen problematisch werden, wächst die Aufmerksamkeit gegenüber impliziten Leitbildern als wahrnehmungs-, denk- und handlungsleitenden Orientierungsmustern. Die Bemühungen um die Entwicklung expliziter Leitbilder sind Ausdruck des Versuches, Orientierung und Sinn aktiv herzustellen. Vor diesem Hintergrund erklärt sich der spätestens seit den 1970er Jahren wahrzunehmende Leitbild-Boom innerhalb der Sozialwissenschaften. Orientierungsschwierigkeiten ergeben sich in der Zweiten Moderne angesichts des gestiegenen Bewusstseins für die Komplexität der Welt, der zunehmenden Veränderungsgeschwindigkeit, der Vervielfältigung der Denk-, Bewertungs- und Handlungsmöglichkeiten, der offenen Zukunft und dem Verlust von Sinnhaftigkeit sowie traditionell vorgegebenen, sozial geteilten Selbstverständlichkeiten. Auf diese differenzierenden Aspekte gehen die folgenden Prüfkriterien ein. 2. Umgang mit Komplexität Das omnipräsente Orientierungsproblem der Gegenwart steht im Zusammenhang mit dem gestiegenen Bewusstsein für die Komplexität der natürlichen, sozialen und technischen Welt. Um handlungsfähig zu werden, muss die Komplexität reduziert werden. Leitbildern wird eben diese Qualität in den Sozialwissenschaften zugeschrieben:
Leitbilder schaffen Ordnung, reduzieren die Komplexität der Welt und verhelfen zur Orientierung, indem sie bestimmte Deutungen und Bewertungsmaßstäbe anbieten.
Zugleich lässt sich damit aber in dialektischer Weise die Frage anschließen:
Berücksichtigen Leitbilder gleichwohl die Komplexität der einbezogenen Wirklichkeit, reduzieren sie diese angemessen?
Eben diese Dialektik zwischen Komplexitätserhalt und Komplexitätsreduktion wird in den Sozialwissenschaften für den Leitbildbegriff erörtert. Die Einschätzung, dass Leitbilder Komplexität reduzieren, findet man quer durch alle leitbildbezogenen Forschungsfelder und sowohl in Bezug auf implizite als auch explizite Leitbilder (vgl. etwa Kap. 3.3.4, 3.4.2 oder 3.5.1). Das wachsende Interesse an Leitbildern wird dabei auf die wachsende Komplexität der Handlungsfelder zurückgeführt. In Unternehmen sind es die komplexer werdenden Umfeldbeziehungen, in der Verwaltung die sich vervielfältigenden Anforderungen an die kommunale Planung. Und für die Technikentwicklung wie für viele andere Handlungsfelder gilt, dass die Handlungsketten immer länger und die Handlungsfelder immer unüber231 In dem Maße, wie Leitbilder als geteilte Zukunftshorizonte sich in das Denken der Akteure einschreiben, bilden sich allmählich auch intersubjektive Grundannahmen über angemessene Strategien und Verhaltensweisen heraus.
230
4 Kontextualisierung der Kategorie Leitbild
sichtlicher werden, so dass die Koordination der Akteure erschwert wird. Leitbilder spielen in dieser Situation in ihrer denk-, verhaltens- und entscheidungskoordinierenden Eigenschaft eine besondere Rolle (vgl. dazu besonders Kapitel 3.5.1). Allgemein werden Leitbilder – gleichviel ob implizite oder explizite – als übergeordnete, komplexe Zielvorstellungen begriffen, sodass sie ein ganzes Bündel konkreterer Ziele integrieren und in einen inneren Sinnzusammenhang stellen können (vgl. auch Prüfkriterium 5). Leitbilder – etwa im Gegensatz zu bereichsspezifischen Zielsystemen – erweisen sich zudem häufig als ressort- oder sachgebietsübergreifend (vgl. Kap. 3.2 und 3.4). Zwar wird mit dem Begriffsteil „Bild“ heute vor allem die Anschaulichkeit der Leitbilder zum Ausdruck gebracht, zugleich verweist er jedoch auf eine ganzheitliche Sichtweise (vgl. etwa Kuder 2004, 51ff.). Damit erhalten Leitbilder in einem gewissen Rahmen durch die Vielfältigkeit der beachteten Sachverhalte und die Ganzheitlichkeit ihrer Sichtweise die Komplexität der Wirklichkeit. Inwieweit letztlich ein implizites oder explizites Leitbild die Komplexität von Welt tatsächlich angemessen reduziert, hängt vom einzelnen Fall ab. Im sozialwissenschaftlichen Grundverständnis von Leitbildern findet jedenfalls die nötige Balance zwischen Komplexitätserhalt und -reduktion Beachtung. Mit der gewachsenen Einsicht in die Komplexität von Welt schwindet zugleich das Vertrauen in die menschliche Kontrollier- und Beherrschbarkeit von natürlichen wie sozialen Prozessen. Gerade in der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit Leitbildern spiegelt sich ein sinkender Steuerungsoptimismus wider. Entsprechend wächst die Einsicht, dass implizite Leitbilder nicht einfach über die Formulierung expliziter Leitbilder produziert oder gar durch oktroyierte Leitbilder verordnet werden können. Wenn implizite Leitbilder nicht steuerbar sind, können sie auch nicht steuernd eingesetzt werden. Darüber hinaus sollten implizite Leitbilder nicht als einziger Faktor in Entwicklungsprozessen – etwa in der Technikgenese oder Raumplanung – überbewertet werden. Damit kann der proaktive Umgang mit impliziten wie expliziten Leitbildern immer nur als ein Beitrag in einem komplexen, nicht direkt steuerbaren Prozess angesehen werden (vgl. Prüfkriterium 9). 3.
Flexibilität bzw. Plastizität und Stabilität der Orientierungen angesichts hoher Veränderungsgeschwindigkeit Ebenso ambivalent wie hinsichtlich des Umgangs mit Komplexität sind die Anforderungen gegenüber Leitbildern hinsichtlich ihrer Flexibilität und Stabilität. Die beschleunigte Veränderungsgeschwindigkeit der Gesellschaft trägt zur Destabilisierung der Orientierungen bei. Wenn aber die Verhältnisse sich so schnell ändern, ist es notwendig, Orientierungshilfen zu haben, die grundlegender Art sind und auf diese Weise stabilisierend wirken. Beschleunigter gesellschaftlicher Wandel und die gesellschaftliche Pluralität fordern für zukunftsbezogenes Handeln gleichzeitig aber auch Orientierungen, die sich flexibel an die Bedingung des steten Wandels anpassen. Daraus ergibt sich für Leitbilder die dialektische Frage:
Verfügen Leitbilder gleichzeitig über die Plastizität und Stabilität, sowohl Kontinuität zu schaffen als auch auf Wandel zu reagieren?
Das heißt konkreter: Können Leitbilder Orientierungen schaffen, die so grundlegend sind, dass sie auch unter veränderten Verhältnissen ihre Gültigkeit bewahren? Sind Leitbilder auf der anderen Seite so flexibel, dass sie bzw. das auf ihnen beruhende Handeln an veränderte Verhältnisse anpassungsfähig sind?
4.4 Leitbilder in der Zweiten Moderne – die Anwendung der Prüfkriterien
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Die Bedeutung von Leitbildern liegt gerade in ihrer Dialektik zwischen Stabilität und Flexibilität. Ihnen wird prinzipiell eine langfristige Geltung zugesprochen. Das gilt vor allem für implizite, aber auch explizite Leitbilder. So befassen sich auch manifeste Organisationsleitbilder nur mit Werten und Zielen, die das Handeln in der Organisation auf längere Zeit bestimmen sollen. Damit schaffen sie sowohl für die Organisationsmitglieder als auch für ihre Partner aus dem Umfeld Kontinuität. Auf der anderen Seite wird in dem geringen Konkretisierungsgrad von Leitbildern, in ihrer Allgemeinheit und relativen Unbestimmtheit die Möglichkeit der kontextuellen Ausgestaltung gesehen, aus der sich wiederum eine größere Anpassungsfähigkeit an sich wandelnde Bedingungen ergibt. Gerade dadurch, dass Leitbilder keine unmittelbaren Handlungsanleitungen vorgeben, sind sie flexibel für die Ausgestaltung in sich wandelnden Rahmenbedingungen. In der Debatte um das Leitbild nachhaltige Entwicklung wird jedoch auch die Kehrseite dieser Offenheit sichtbar. Je größer der Handlungsspielraum ist, den ein Leitbild eröffnet, desto geringer ist wiederum seine Orientierungsleistung. Es riskiert dann inhaltsleer zu werden und damit Leerformelcharakter anzunehmen. Dabei beinhalten Leitbilder angesichts von Umfeldveränderungen aber zugleich die Chance, auch bei veränderlichen Umfeldbedingungen immer noch zu passen, weil sie situativ und kontextsensibel interpretiert und ausgestaltet werden können.232 Leitbilder bilden zudem die notwendige Synthese zwischen Flexibilität und Stabilität durch ihre Ausrichtung auf einen erwünschten bzw. wünschbaren Zukunftshorizont. Wenn nämlich die Zielsetzungen so allgemein gefasst sind und nur die Richtung feststeht, dann behalten sie auch unter wechselnden Bedingungen Gültigkeit. Mit dem Vorgriff der Leitbilder auf eine mehr oder weniger weit entfernte Zukunft, d.h. ihre Ausrichtung auf einen bestimmten für machbar gehaltenen und erwünschten Zukunftshorizont, wird die Bindung an spezifische gegebene Kontexte und Bedingungen ein Stück weit überwunden. Die Balance zwischen Stabilität und Flexibilität wird für implizite und explizite Leitbilder unterschiedlich wahrgenommen. Bei expliziten Leitbildern wird aktuell besonderen Wert gelegt auf ihre Veränderbarkeit und damit Anpassungsfähigkeit. Die vermehrten Bemühungen in Bezug auf Leitbildentwicklungen in Organisationen können letztlich als aktiver Umgang mit den veränderten Umweltbedingungen verstanden werden. Dierkes und Hähner (1991) haben allerdings in einer Untersuchung von manifesten Unternehmensleitbildern feststellen müssen, dass gegenüber neu auftretenden gesellschaftlich relevanten Problemen und Themen die Reizschwelle der Unternehmen sehr hoch und die Wahrnehmungsgeschwindigkeit verzögert ist. Aber nur durch stete Kontrolle und Weiterentwicklung können die jeweils vorliegenden Leitbilddokumente den sich schnell ändernden Umfeldbedingungen noch gerecht werden. Deshalb begegnet die Leitbildentwicklung der Forderung nach Flexibilität, wenn sie als steter Prozess begriffen und gestaltet wird, in der die Umsetzung, Fortentwicklung und Überprüfung des expliziten Leitbildes fortdauernd betrieben wird. Demgegenüber sind implizite Leitbilder als weniger flexibel einzustufen und unterliegen damit in stärkerem Maße dem Problem der Anpassungsfähigkeit. Daraus ergibt sich im Umgang mit impliziten Leitbildern unter den gegenwärtigen gesellschaftlichen Bedingungen die Forderung nach einer erhöhten Reflexivität. Um die erforderliche Plastizität zu erlangen, müssen implizite Leitbilder der Reflexion und Diskussion zugänglich gemacht werden. 232 Zu Problemen und Chancen des Leerformelcharakters von Leitbildern vgl. Kapitel 3.2.5 und 3.4.4.
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4 Kontextualisierung der Kategorie Leitbild
Nur so ist die Möglichkeit gegeben, dass die eigenen Leitbilder überdacht und den möglicherweise veränderten Bedingungen angepasst werden. Bedingung dieser Möglichkeit ist die Bewusstmachung der eigenen, verborgenen (impliziten) Leitbilder und deren Artikulation (siehe dazu weiter unten). 4. Anerkennung der Vielfalt der Orientierungen und Verständigung darüber Statt einer eindeutigen Ordnung der Welt sehen sich die Menschen in der Zweiten Moderne einer Vielfalt von Deutungs-, Bewertungs- und Handlungsmöglichkeiten gegenüber, die eine Orientierung in der gegenwärtigen Welt und in Bezug auf die Zukunft erschwert. Die existierende Vielfalt von Lebensentwürfen, Realitätsdeutungen und Wertvorstellungen fordert zur Anerkennung und auch zur Aufmerksamkeit gegenüber dieser Pluralität auf. Andere ebenso mögliche und legitime Wünsche, Deutungen, Handlungsmöglichkeiten und Lösungen müssen akzeptiert werden und Beachtung finden. Deshalb stellt sich an Leitbilder als zeitgemäßer sozialwissenschaftlicher Kategorie die Frage:
Können Leitbilder als Orientierungen verstanden werden, die ebenso legitime bzw. mögliche Alternativen neben sich zulassen? Werden andere Deutungen und Wahrnehmungen akzeptiert und finden Beachtung?
Leitbilder eröffnen nicht nur bestimmte Wahrnehmungs-, Denk- und Handlungshorizonte. Sie schließen damit zugleich andere Möglichkeiten aus. Durch die Reduktion von Deutungsmöglichkeiten entfalten sie überhaupt erst ihre Orientierungsqualität. Innerhalb des Denkrahmens eines Leitbildes wird die Vielfalt möglicher Orientierungen damit also ausgeschlossen (vgl. auch Prüfkriterium 2): „Einerseits erleichtern Leitbilder die Kommunikations- und Vermittlungsprozesse, indem sie Bündelungs- und Strukturierungsfunktionen übernehmen, andererseits besitzen diese kognitiven Fixierungen auch eine ausschließende Wirkung. Außerhalb des Leitbildes endet die Vorstellungswelt, ist weder Denken noch Verständigung möglich.“ (Knie 1998, S. 44) Das sozialwissenschaftliche Interesse an impliziten Leitbildern bezieht sich nun gerade darauf, die darin gegebenen mentalen Fixierungen sichtbar zu machen. Die Etablierung eines impliziten Leitbildes stellt einen Schließungsprozess dar, der Erwartungs-, Entscheidungs- und Handlungssicherheit bietet. Erst die Reflexion und die Distanznahme zu dem eigenen etablierten Leitbild öffnet den Blick für andere Denk- und Handlungsmöglichkeiten. Voraussetzung für die Offenheit gegenüber anderen Leitbildern ist damit der reflektierte Umgang mit dem eigenen impliziten Leitbild. Dieser ist nur möglich, wenn das eigene Leitbild bewusst gemacht und artikuliert wird. Die diskursive Auseinandersetzung mit eigenen und fremden Leitbildern bildet eine Möglichkeit, Distanz gegenüber den eigenen impliziten Leitbildern einzunehmen und diese gegenüber Alternativen abzuwägen bzw. offen zu halten. Der bewusste und reflektierte Umgang mit vorhandenen echten, aber auch mit potenziellen Leitbildern ermöglicht damit die Öffnung des eigenen Horizonts. Von Seiten der Sozialwissenschaften fand in den vergangenen Jahrzehnten das Nebeneinander unterschiedlicher Leitbilder immer stärker Beachtung. Statt universeller, allgemein verbindlicher Leitbilder wird nun in unterschiedlichen Forschungsfeldern viel eher eine Vielfalt nebeneinander existierender und unter Umständen konkurrierender Leitbilder wahrgenommen. Demnach verfügen die Sozialwissenschaften diesbezüglich über ein zeitgemäßes Verständnis von Leitbildern. Die Sozialwissenschaften können überdies die Bedingung der
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Möglichkeit schaffen, mit eigenen und fremden Leitbildern reflexiv und diskursiv umzugehen. Ihre Aufgabe besteht dabei vor allem darin, die impliziten Leitbilder zu identifizieren und ihre Implikationen sowie Auswirkungen und damit zugleich die Grenzen und Fixierungen der Wahrnehmungen, Deutungen und Handlungsperspektiven zu thematisieren. Die Vielfalt der Orientierungen zwingt nicht nur zu ihrer Anerkennung, sondern zugleich zur Verständigung zwischen diesen. Gesellschaftliche bzw. soziale Verständigungs- und Aushandlungsprozesse über Gegenwartsinterpretationen und vor allem zukunftsgerichtete Wünsche, Ziele und Strategien gewinnen an Bedeutung. Damit müssen Orientierungen stärker als zuvor artikulierbar sein. Deshalb ist zusätzlich zu fragen:
Sind Leitbilder artikulierbar und auf diese Weise kommunizier- und diskutierbar? Ermöglicht die Auseinandersetzung mit unterschiedlichen Leitbildern eine Verständigung zwischen diesen?
Um Orientierungen kommunizierbar und diskutierbar zu sein, müssen sie artikulierbar sein. Implizite Leitbilder als denk- und handlungsleitende, mentale Vorstellungsmuster sind zunächst nicht artikuliert und müssen nicht einmal bewusst sein. Ausdrücklich formuliert werden sie in Form von verbalisierten leitbildhaften Formeln oder umfänglicheren Leitbilddokumenten, welche dann aber im Gegensatz zu expliziten Leitbildern (Typ 4) die tatsächlich denk- und handlungswirksamen Leitbilder artikulieren (explizierte Leitbilder, Typ 2). Wird das implizite Leitbild in einem sprachlichen Bild fixiert, wird es um so anschaulicher, handhabbarer und attraktiver, entfaltet kreatives Potenzial und motiviert zum Weiterdenken und Handeln. Explizite Leitbilder sind demgegenüber von sich aus immer schon manifest, artikuliert und auf diese Weise der Diskussion zugänglich. Eine tatsächliche Auseinandersetzung (auch über explizite Leitbilder) kann wiederum nur als Forderung erhoben werden. Die Voraussetzung zur Auseinandersetzung, d.h. ihre Artikulation ist bei expliziten Leitbildern unmittelbar gegeben und kann durch Explizierung bei impliziten Leitbildern hergestellt werden. Der Anspruch auf Kommunizierbarkeit der Leitbilder unterstreicht damit die Forderung, implizite Leitbilder zu identifizieren und ausdrücklich zu formulieren. Die Aufgabe der Sozialwissenschaften besteht gerade darin, implizite Leitbilder kommunizierbar und diskutierbar zu machen, indem sie identifiziert, benannt und beschrieben werden. Dies ist die erste Voraussetzung zur Verständigung. Eine Verständigung zwischen unterschiedlichen Leitbildern ist aber auch unter der Voraussetzung, dass diese artikuliert sind, nicht automatisch gegeben. Leitbilder tragen zunächst nur zur Verständigung zwischen den Akteuren bei, die diese miteinander teilen. Echte Leitbilder entstehen in Sinn- bzw. Interpretationsgemeinschaften, die auf der Grundlage gemeinsamer Erfahrungen und deren Interpretation in der Interaktion der Akteure geteilte Sinnsysteme oder Bedeutungsuniversen ausbilden. Soziale Interaktion und insbesondere Kommunikation bilden damit die Bedingung dafür, dass echte Leitbilder als geteilte zukunftsbezogene Orientierungsmuster entstehen können. Damit stellen Leitbilder das Ergebnis von Verständigungsprozessen dar.233 Innerhalb dieser Sinngemeinschaften erleichtern die geteilten Leitbilder zugleich die weitere Verständigung. Denn: „Wenn das Denken, Fühlen und Handeln unterschiedlicher Individuen durch gleiche oder sehr ähnliche Vorstel233 Diese Aussage bezieht sich hier zunächst auf implizite Leitbilder. In anderen Kontexten werden auch explizite Leitbilder (Typ 4) als manifestiertes Ergebnis eines Aushandlungsprozesses, eben dem LeitbildEntwicklungsprozess, dargestellt (vgl. etwa Kap. 3.4.3).
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lungen geleitet wird, dann erleichtert dies die Verständigung zwischen den Menschen in jeder Kommunikations- und Kooperationsbeziehung.“ (Buhr 1997, S. 45) Bleibt damit die Verständigungsleistung von Leitbildern auf die jeweiligen Denkkollektive oder Sinngemeinschaften, in denen sie intersubjektiv hergestellt wurden, begrenzt? Diese Beschränkung gilt für implizite Leitbilder, solange sie nicht ausdrücklich artikuliert und kommuniziert werden. In unterschiedlichen Handlungsfeldern wird aber zugleich darauf verwiesen, dass Leitbilder nicht nur das Ergebnis von Verständigung darstellen, sondern auch als Verständigungsmedium angesehen werden können (vgl. Kap. 3.4.3 und 3.5).234 Gemeint sind dabei allerdings artikulierte Leitbilder, die zudem noch gar nicht denk- und handlungsleitend sein müssen, also im weitesten Sinne propagiert sind.235 Als verbalisierte Leitbilder stellen sie bedeutungsgeladene Formeln dar, auf die sich diskursiv bezogen werden kann. Mit diesen artikulierten Ideen mit Leitbildpotenzial können zunächst unterschiedliche Bedeutungen verbunden werden. Erst in der diskursiven Auseinandersetzung kann es dann allmählich zur Annäherung der unterschiedlichen mentalen Vorstellungsmuster kommen. Die zunächst vieldeutigen Ideen mit Leitbildpotenzial bilden damit den Bezugspunkt für eine Verständigung, in welcher sich ein intersubjektiver Entwurf einer wünschbaren und machbaren Zukunft (als geteiltes propagiertes Leitbild) herausbilden kann. Artikulierte praktizierte oder propagierte Leitbilder eignen sich im besonderen Maße für eine öffentliche Diskussion etwa über die Möglichkeit und Wünschbarkeit einer bestimmten Technikentwicklung, die Zukunft einer Region, das Selbstverständnis einer Organisation oder die Angemessenheit von gesellschaftlichen Geschlechtsrollenerwartungen etc. Sie bündeln Vorstellungen und helfen damit, komplexe Zusammenhänge zur Diskussion und Disposition zu stellen. Sie sind anschaulich und regen das Denken an. Insbesondere in Form von Metaphern oder metaphorischen Szenarien als Artikulationsform für echte wie potenzielle Leitbilder werden sie einem kreativen Umgang und einem reflektierenden sowie diskursiven Zugriff zugänglich (vgl. besonders Kap. 3.5.2). Aber erst in einem gemeinsamen Verständigungsprozess wird ihr Bedeutungsgehalt interaktiv (re-)produziert und entstehen kollektiv geteilte Vorstellungsmuster, egal ob diese schon verinnerlicht und praktiziert oder zunächst nur propagiert sind. Gerade bei sehr globalen Leitbildern wie der Sozialen Marktwirtschaft oder der nachhaltigen Entwicklung besteht die Tendenz, diese als allgemeinen Konsens und geteilten Bedeutungszusammenhang zu präsentieren, während dahinter vielfältigste Vorstellungen verborgen bleiben. Damit verdecken solcherart manifeste Leitbilder die hinter der leitbildhaften Formel stehenden divergenten Bedeutungszuschreibungen und bringen sie nicht zur Sprache. Für derart globale Leitbilder ist es deshalb von besonderer Bedeutung, das manifeste Leitbild nur als Impulsgeber für weitere Verständigungs- und Aushandlungsprozesse zu begreifen und seine Konkretisierung diskursiv zu gestalten (vgl. Kap. 3.2.2 und 3.2.5). 5. Auseinandersetzung mit der zu erwartenden und erwünschten Zukunft Das gestiegene Bewusstsein der Kontingenz der Dinge schafft in Bezug auf zukünftige Entwicklungen Ungewissheit und Erwartungsunsicherheit. Angesichts unterschiedlicher möglicher Zukünfte bzw. einer offenen Zukunft, die unterschiedliche Handlungsmöglichkeiten 234 Damit ist nun aber mehr gemeint als der bereits benannte Aspekt, dass geteilte implizite Leitbilder innerhalb des Denkkollektivs zur weiteren Verständigung beitragen. 235 Als versprachlichte Vorstellungen lassen sie aufgrund des allgemein geteilten, sprachlich vermittelten kulturellen Hintergrunds aber nur ein begrenztes Set an Deutungsmöglichkeiten zu.
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eröffnet, wird die Auseinandersetzung mit der Zukunft unabdingbar. Daraus ergeben sich folgende Überlegungen zur Angemessenheit der sozialwissenschaftlichen Kategorie Leitbild:
Schaffen Leitbilder Erwartungssicherheiten sowie Gewissheiten in Bezug auf die Zukunft und in dieser Hinsicht auch Handlungssicherheit? Lassen Leitbilder gleichzeitig aber auch Denk- und Handlungsspielräume für unterschiedliche Entwicklungen offen?
Leitbilder sagen nicht, was zukünftig kommen wird oder was zu erwarten ist, sondern was angestrebt wird. Gerade dadurch schaffen sie Spielraum im Denken und Handeln gegenüber einer offenen Zukunft. Handlungssicherheit vermitteln sie nicht durch Gewissheiten hinsichtlich dessen, was kommen wird, sondern in der intentionalen Sicherheit darüber, was angestrebt und für machbar gehalten wird. Diese intentionale Sicherheit bieten allerdings am ehesten die verinnerlichten und selbstverständlich gegebenen impliziten Leitbilder. Die sich daraus ergebende Handlungssicherheit geht jedoch in der Regel nicht so weit, dass aus dem Leitbild eindeutige Entscheidungen für bestimmte Verhaltensweisen abgeleitet werden könnten. Vielmehr bleibt das konkrete Verhalten, die performative Ausgestaltung des Leitbildes im Ermessensspielraum und Entscheidungsbereich des Einzelnen. Wo die echten Leitbilder formuliert werden – etwa in einem Organisationsleitbild, das allerdings tatsächlich gelebt wird – gewinnt das Handeln zugleich für das Organisationsumfeld an Transparenz und wird in begrenztem Maße erwartbar. Angesichts der Vielfalt von Orientierungs- und Handlungsmöglichkeiten müssen die angestrebten Ziele und die getroffenen Entscheidungen begründet werden, d.h. das Handeln muss in einen sozial anerkannten Sinnzusammenhang gestellt werden.
Schaffen Leitbilder einen Begründungs- und Sinnzusammenhang für einzelne Ziele und Entscheidungen?
Mit echten Leitbildern verbinden sich komplexe Vorstellungen von einer erwünschten Zukunft. Der angestrebte Zukunftshorizont schafft einen Sinnzusammenhang, auf den sich die Formulierung einzelner Ziele rückbeziehen kann bzw. mit deren Hilfe sich Einzelentscheidungen leichter treffen und legitimieren lassen. Mit anderen Worten, echte Leitbilder geben dem Handeln einen Sinn. Allerdings herrscht weitgehend Einigkeit darüber, dass aus den übergeordneten Leitbildern keine eindeutigen Ziele und Maßnahmen unmittelbar operational ableitbar sind. Sie sind damit übergeordneten Werten näher als konkreten Zielen und bedürfen der situativen Ausgestaltung. Wo echte Leitbilder expliziert werden, kann dieser Sinn nach innen und außen kommuniziert werden und dient zugleich der Legitimation des Handelns. In partizipativen Leitbild-Entwicklungsprozessen bemüht man sich, geteilten Sinn durch einen initiierten Verständigungsprozess zu produzieren. Wo Leitbilder hingegen oktroyiert werden, verbindet sich mit ihnen auch kein geteilter Sinn. Sie erweisen sich damit in doppelter Hinsicht als sinnlos. Wenn Zukunft nicht mehr die Wiederholung der Vergangenheit bzw. Gegenwart darstellt und offen erscheint, d.h. unterschiedliche Entwicklungspfade denkbar werden, wird sie gestaltbar. Wünsche und Visionen hinsichtlich der Zukunft gewinnen an Bedeutung und müssen vergegenwärtigt, formuliert bzw. überhaupt erst entwickelt werden. Ziele müssen gesetzt und begründet, Entscheidungen hinsichtlich der anzustrebenden Zukunft getroffen werden.
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Sind Leitbilder eine Form, in der verfolgte Ziele und Zukunftsperspektiven vergegenwärtigt werden können, d.h. sowohl tradiert als auch aktualisiert werden? Hilft die Beschäftigung mit Leitbildern bei der (Neu-)Formulierung bzw. der Entwicklung von Wünschen und Visionen?
In impliziten Leitbildern werden die verfolgten Ziele, wird die angestrebte Zukunft häufig in einer anschaulichen Vorstellung verdichtet. Diesen „Leit-Bildern“ kommt entsprechend eine Erinnerungsfunktion zu (vgl. de Haan 2001). In manifesten (Organisations-)Leitbildern werden die aktiv verfolgten oder zu verfolgenden Werte und Zielvorstellungen ausdrücklich festgehalten und auf Dauer fixiert. Auch sie helfen also dabei, Zielsetzungen und Zukunftsperspektiven präsent zu halten. Die Beschäftigung mit Leitbildern dient zugleich der Klärung von Zukunftswünschen und -plänen – dies gilt für bereits vorhandene volitive Zukunftsvorstellungen ebenso wie für neu zu entwickelnde. Die Beschäftigung mit den eigenen impliziten Leitbildern ermöglicht dabei eine Selbstreflexion hinsichtlich des eigenen Selbstverständnisses und der eigenen Sinnbildung (vgl. etwa Pankoke 1996, S. 58f.). Dabei können Leitbilddiskurse eine Reflexionsfunktion in Bezug auf die eigenen Zukunfts-, Wunsch- und Machbarkeitsvorstellungen erfüllen, wenn diese nämlich als partizipative Verständigungsprozesse angelegt sind und die unterschiedlichen vorhandenen impliziten Leitbilder zur Sprache kommen (vgl. etwa Kap. 3.4.3). Aktuelle beteiligungsorientierte Leitbild-Entwicklungsprozesse werden vornehmlich als Planungsinstrumente zur kooperativen Zielfindung genutzt. Hier geht darum, in einem partizipativen und kooperativen Prozess gemeinsame Zukunftsperspektiven und eine konsensuelle Zielbestimmung, also explizite Leitbilder neu zu entwerfen. Der gemeinsame, kreative Umgang mit sprachlichen Bildern und insbesondere Metaphern regt dabei die Generierung neuer Ideen mit Leitbildpotenzial an. Auch in diesem Sinne versteht man artikulierte Leitbilder nicht nur als Ergebnis, sondern auch als Medium der Verständigung – nämlich über eine gemeinsame, mögliche und erwünschte Zukunft. Explizite Leitbildentwürfe oder leitbildhafte Formeln können somit zum Dialog über Zukunft anregen (vgl. auch Prüfkriterium 4). Wo hingegen Leitbilder oktroyiert werden und die Akteure eines Handlungsfeldes nicht am Konsultations- und Entwicklungsprozess beteiligt werden, findet weder Dialog noch Verständigung noch eine Auseinandersetzung mit den eigenen zukunftsbezogenen Orientierungsmustern statt. Mit der Einsicht in die Offenheit und Gestaltbarkeit der Zukunft wächst zugleich die Notwendigkeit, unterschiedliche Entwicklungsmöglichkeiten in Rechnung zu stellen und reflexiv danach zu fragen, wie das gegenwärtige Handeln diese Entwicklungspfade beeinflusst und welche Folgen es in Zukunft haben kann. Gefragt ist ein reflektierter Umgang mit den Bedingungen und Folgen des eigenen Handelns.
Hilft die Auseinandersetzung mit Leitbildern bei der Abschätzung von in die Zukunft gerichteten Denk- und Handlungskorridoren und der Auseinandersetzung mit den Folgen des Handelns?
Die hier angesprochene Reflexionsfunktion von Leitbildern betrifft die Folgen des eigenen zukunftsgerichteten Denkens und Handelns. In den meisten leitbildbezogenen Forschungsfeldern ist man hinsichtlich der Bedeutung von Leitbildern für prognostische Zwecke sehr
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vorsichtig. Zwar gehört zum Grundverständnis von echten Leitbildern deren denk- und handlungsleitende Eigenschaft. Eine Beschäftigung mit den praktizierten Leitbildern eröffnet damit den Blick in die zukunftsgerichteten Denk- und Handlungskorridore. Dies wird aber nicht mit einer Zukunftsprognose gleichgesetzt. Die Rolle von Leitbildern im Zusammenhang mit Zukunftsantizipation, Prognosen und Folgenabschätzungen ist im Rahmen der leitbildbezogenen Technikforschung ausführlich thematisiert worden (vgl. dazu auch Kap. 3.5). Hier existieren Versuche, über die Analyse und Bewertung von Leitbildern Technikbewertung vorzunehmen und die Entwicklung und Folgen von Technik anhand der bereits existierenden (impliziten) oder gar potenzieller Leitbilder zu antizipieren. An einer Prognosefähigkeit der Leitbildforschung ist jedoch deshalb Zweifel angebracht, da der Zusammenhang der Technikgenese hoch komplex ist, Leitbilder bei Weitem nicht den einzigen (zentralen) Faktor für Technikentwicklungen darstellen und darüber hinaus in Technikfeldern auch nicht von Anfang an einzelne dominante Leitbilder auszumachen sind. Wohl aber scheint es sinnvoll, im Rahmen eines sogenannten Leitbild-Assessments bzw. eines Leitbild-Diskurses die mit den praktizierten Leitbildern verbundenen Vorverständnisse und die damit angestrebten Entwicklungspfade aufzudecken, kritisch zu hinterfragen und ihre Erwünschtheit öffentlich zu diskutieren. Eher prospektiv denn prognostisch kann dann nach den Folgen gefragt werden, welche sich aus dem durch das Leitbild begrenzten Entwicklungskorridor ergeben könnten. Leitbildanalysen ergänzen in diesem Fall andere Methoden und Verfahren der Technikfolgenabschätzung, können sie aber nicht ersetzen. Was hier hinsichtlich Zukunftsantizipation und Folgenabschätzung für die Technikentwicklung herausgearbeitet wird, lässt sich auf andere Felder übertragen. Allerdings gilt es dabei zu klären, welche Rolle Leitbilder in verschiedensten Handlungsfeldern spielen. Lediglich in der Technikforschung hat man zu bedenken gegeben, dass Leitbilder nicht in allen Technikfeldern denselben Einfluss haben. Ebenso gilt es zu beachten, dass die Durchsetzungskraft eines Leitbildes von der Definitionsmacht seiner Träger abhängt. Hierzu bedarf es weiterer Forschungsleistungen und Erfahrungen in der Leitbildforschung. Leitbilder werden seit jeher als der „Inbegriff der Zukunftsbezogenheit des Menschen“ (Scherke 1959, S. 27) begriffen. Dies betrifft weniger die Wahrscheinlichkeit, als die Möglichkeit und vor allem die Erwünschtheit bestimmter Zukünfte. Gerade die Erwünschtheit von Zukünften ist allerdings ein Desiderat der Zukunftsforschung (vgl. Helbig 2005). Leitbildforschung kann hierzu einen wichtigen Beitrag leisten (vgl. hierzu auch Kapitel 5.3). 6. Sozial geteilte Orientierungen und Selbstverständlichkeiten Die Auflösung fester, vorgegebener, orientierungsstiftender Traditionen bedeutet den Verlust stabiler geteilter Selbstverständlichkeiten. Dennoch müssen Weltauffassungen, Wertorientierungen und Zielvorstellungen weiterhin intersubjektiv geteilt werden, um koordiniert und entscheidungsentlastet handeln zu können. Auch hier knüpft das aktuelle sozialwissenschaftliche Verständnis von Leitbildern unmittelbar an:
Leitbilder stellen sozial geteilte Selbstverständlichkeiten und damit eine intersubjektive Weltauffassung dar. Auf diese Weise erleichtern sie die gegenseitige Verständigung, das gemeinsame und aufeinander bezogene Handeln sowie die Entscheidungsfindung.
Von geteilten Selbstverständlichkeiten oder Grundüberzeugungen kann – dem Begriffsverständnis nach – wiederum nur in Bezug auf implizite bzw. echte Leitbilder die Rede sein.
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Sie stellen kollektiv verfolgte Zukunftsvorstellungen und Orientierungsmuster dar. Die Wahrnehmungen und Bewertungen der einzelnen Akteure werden „synchronisiert“, das Denken und Handeln aufeinander abgestimmt. Die in echten Leitbildern geteilten selbstverständlichen Grundüberzeugungen, die das Denken und Handeln der Akteure prägen, betreffen dabei vornehmlich die Vorstellungen von einer erwünschten und für realisierbar erachteten Zukunft. Damit verbunden sind geteilte Wertmaßstäbe, was sinnvoll, gut und richtig ist. Auf diese Weise wird das gemeinsame Denken und Handeln vom Ergebnis des Handelns, vom Ziel her strukturiert. In diesem Sinne wird echten Leitbildern allerorten eine Koordinationsfunktion zugesprochen. Explizite Leitbilder stellen lediglich „bekundete Werte“ dar und sind damit weniger handlungswirksam und nicht auf der (Bewusstseins-)Ebene des selbstverständlich Gegebenen angesiedelt (vgl. besonders Kap. 3.3.3). Auch sie schaffen aber insofern eine Grundlage für koordiniertes Handeln und Entlastung von Grundsatzentscheidungen, als in ihnen für alle zugänglich eine gemeinsame Absichtserklärung über das, woran sich orientiert werden sollte, festgehalten wird. Wo sich diese propagierten Leitbilder allmählich in das Denken und Handeln einschreiben und damit häufig auf die Ebene selbstverständlich gegebener Orientierungen absinken, emergieren sie zu echten Leitbildern. Allerdings existieren sozial geteilte Orientierungen nur noch partiell für bestimmte Teilbereiche der sozialen Wirklichkeit bzw. des individuellen Lebenszusammenhanges und für einen begrenzten Geltungszeitraum. Es gibt keine allumfassenden Dauerorientierungen mehr. Ein zeitgemäßes Leitbildverständnis muss dieser Tatsache Rechnung tragen. Deshalb wird gefragt:
Wird Leitbildern eine begrenzte zeitliche und personelle Gültigkeit zugeschrieben, d.h. werden sie als historisch-kontextuell bedingt und gruppenspezifisch statt allgemeinverbindlich verstanden?
Zum sozialwissenschaftlichen Begriffsverständnis von Leitbildern gehört insbesondere deren relative zeitliche Gültigkeit. Gerade die historische Bedingtheit von Leitbildern ist von Anfang an betont worden (vgl. etwa Dittrich 1958a). Für explizite Leitbilder ergibt sich gleichfalls die Forderung, dass diese den sich verändernden Bedingungen angeglichen, ständig kontrolliert und überarbeitet werden müssen und als steter Prozess zu begreifen sind. Aber auch implizite Leitbilder werden eher als dynamisch denn statisch angesehen und müssen dies angesichts sich immer schneller wandelnder Bedingungen auch sein (vgl. Prüfkriterium 3). Mit der Zeit wurde zudem immer deutlicher, dass universelle, allgemeingültige Leitbilder in der Gesellschaft nicht mehr existieren. Stattdessen entsteht eine heterogene Vielfalt koexistierender (echter) Leitbilder (vgl. hierzu besonders Kap. 3.1 und 3.4). Auch innerhalb relativ begrenzter Handlungsfelder wird ein Nebeneinander unterschiedlicher Leitbilder wahrgenommen. Eine solche Einsicht wird der Tatsache gerecht, dass Leitbilder gruppenspezifische und eben nicht allgemeingültige Orientierungsmuster darstellen. Mit der Pluralisierung der Gesellschaft vervielfältigen und dynamisieren sich damit auch die Leitbilder. Gerade weil Orientierungen mehr denn je in Konkurrenz zu anderen möglichen Orientierungen stehen und von einem wechselnden, in unterschiedlichsten (Lebens- und damit Sinn-)Zusammenhängen stehenden Personal reproduziert werden, verlieren sie mitunter ihre Selbstverständlichkeit und bedürfen einer erhöhten Aufmerksamkeit. Der Prozess zur Herausbildung bzw. Reproduktion geteilter Orientierungen muss damit unter den gegebe-
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nen Bedingungen stärker denn je aktiv und reflexiv gestaltet werden. Die Bemühungen, mit expliziten Leitbildern geteilten Sinn zu konstituieren, entsprechen dieser Situation. 7. Geteilte Orientierungen und sozialer Zusammenhalt Geteilte Orientierungen sind nicht mehr traditionell vorgegeben, sondern werden in immer wieder neu sich konstituierenden sozialen Zusammenhängen von den teilhabenden Subjekten aktiv hergestellt. Geteilte Orientierungen und sozialer Zusammenhalt bedingen sich entsprechend gegenseitig. Es bedarf der sozialen Interaktion, um eine geteilte Weltsicht aufzubauen. Soziale Zusammenschlüsse, gesellschaftliche Institutionen und Organisationen bedürfen ihrerseits einer gemeinsamen Weltsicht und einer geteilten Zukunftsperspektive um fortzubestehen. Geteilte Orientierungen müssen aufgebaut und aufrechterhalten werden, um koordiniert miteinander und aufeinander bezogen handeln zu können. Daraus ergibt sich die allgemeine Frage an Leitbilder:
Schaffen Leitbilder sozialen Zusammenhalt?
Leitbildern wird eine gemeinschaftsbildende und -stärkende Wirkung zugeschrieben. Dierkes spricht deshalb von Leitbildern als interpersonellen Stabilisatoren (vgl. Kap. 3.5.1.1). De Haan sucht entsprechend im Rahmen der Leitbildanalyse nach Sozietätsstiftenden Imaginationen als einer Dimension von Leitbildern (vgl. Kap. 3.5.1.2). Auch diese Eigenschaft kommt zunächst nur echten Leitbildern, also kollektiv geteilten Orientierungsmustern zu. Echte Leitbilder wirken zunächst nur für diejenigen integrierend, die an der damit konstituierten Sinngemeinschaft teilhaben. Leitbilder stiften Gemeinsamkeiten und darüber mitunter ein Wir-Gefühl, bilden eine Identifikationsmöglichkeit und wirken auf diese Weise integrierend. Es ist die gemeinsame Überzeugung, der geteilte Sinn in Bezug auf den angestrebten Zukunftshorizont, der diejenigen, die ein Leitbild miteinander teilen, vereint. Aber auch explizite Leitbilder können mitunter sozialen Zusammenhalt fördern und ein Identifikationsangebot liefern. Wo Leitbild-Entwicklungsprozesse partizipativ gestaltet sind, entfalten sie für die teilnehmenden Akteure integrierende Wirkung. Die gemeinsame Suche nach einem konsensualen expliziten Leitbild fördert den inneren Zusammenhalt und liefert Impulse für gemeinsames Handeln. Die Akteure schaffen im Diskussionsprozess einen Interaktionszusammenhang, in dem sich mitunter auch ein gemeinsames implizites Leitbild ausbilden kann. Gerade die Ausrichtung auf eine gemeinsam zu gestaltende Zukunft kann als Integrationsmodus in der individualisierten Gesellschaft angesehen werden (vgl. Kap. 4.1.3 und 4.2). Das auf diese gemeinsam vorentworfene Zukunft gerichtete und darauf abgestimmte Handeln wirkt integrativ. Die Ausrichtung auf eine gemeinsame Zukunftsvision kann dabei eine motivierende Wirkung entfalten. Leitbilder spornen dazu an, an dieser Zukunft mitzuwirken. Leitbilder bilden in diesem Sinne einen zentralen Beitrag zur sozialen Integration in einzelnen sozialen Zusammenhängen und der Gesellschaft allgemein. Damit liefert die sozialwissenschaftliche Kategorie Leitbild unzweifelhaft eine zeitgemäße Aufmerksamkeitsrichtung. Umso allgemeiner ein manifestes Leitbild gehalten ist, desto höher ist unter Umständen seine Integrationskraft auch für Außenstehende in dem Sinne, dass es auf breiter Ebene sozial anschlussfähig ist. Seine Allgemeinheit macht es der individuellen und situativen Aneignung und Interpretation zugänglich. Dies ist insbesondere für das Leitbild der nachhalti-
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gen Entwicklung hervorgehoben worden. Dieses Leitbild und die darüber geführte Debatte hat erstmalig eine gemeinsame Gesprächsebene, einen gemeinsamen Horizont in Umweltund Entwicklungsfragen geschaffen. Allerdings erreichen solche globalen Leitbilder ihren Grenznutzen, wenn sie ob der Allgemeinheit ihrer Aussagen ihre Orientierungskraft und Aussagefähigkeit verlieren (vgl. Prüfkriterium 3 und Kapitel 3.2). Die Frage nach dem sozialen Zusammenhalt lässt sich konkretisieren, wenn man eine differenzierte Betrachtung vornimmt und nach seinen aktuellen Bedingungen fragt. Statt der festen, traditionalen sozialen Bindungen spielen in der Zweiten Moderne wechselnde, nebeneinander existierende soziale Zusammenschlüsse, die eher frei gewählt werden können, eine Rolle. Soziale Bindungen beruhen stärker als bisher auf der Freiwilligkeit und Aktivität ihrer Mitglieder. Damit ist es für die Entstehung und den Bestand solcher freieren sozialen Bindungen notwendig, die Mitglieder überhaupt erst zu gewinnen, sie aneinander zu binden und eine gewisse Kontinuität zu erlangen. Es soll deshalb gefragt werden:
Helfen Leitbilder bei der Einbindung neuer Mitglieder in soziale Zusammenschlüsse und Bindung der vorhandenen? Schaffen Leitbilder Kontinuität in den Sozialzusammenhängen?
Implizite Leitbilder verbinden zunächst nur diejenigen, welche das Leitbild miteinander teilen. Gerade die geteilte Vorstellung von einer möglichen und erwünschten Zukunft schafft eine Identifikation mit der jeweiligen sozialen Einheit, sei es eine Organisation, die europäische Staatengemeinschaft oder eine räumliche und soziale Einheit einer bestimmten Stadt oder Region. Treten Akteure in einen neuen sozialen Zusammenhang, begegnen ihnen diese impliziten Leitbilder in den kulturellen Ausdrucksformen (Erscheinungsbild, Kommunikation, Verhalten etc.) der Sozietät. Die Einbindung neuer Mitglieder wird dadurch erleichtert, dass die in der jeweiligen sozialen Einheit geteilten impliziten Leitbilder expliziert werden. Diesbezüglich können manifeste (Organisations-)Leitbilder als Identifikationsangebot fungieren, wenn sie die in der Organisation praktizierten Leitbilder ausdrücklich formulieren. Sie schaffen mitunter auch die nötige Kontinuität in fluktuierenden Sozialzusammenhängen. Eine schriftliche Fixierung der tatsächlich denk- und handlungsleitenden Leitbilder wird aufgrund von Dezentralisierung und verlängerter Handlungsketten, der zunehmenden Veränderungsgeschwindigkeit sowie der höheren Fluktuation der Akteure zunehmend notwendig. 8. Soziale Integration des Individuums In der pluralisierten, enttraditionalisierten und individualisierten Gesellschaft, in der das Subjekt freigesetzt wird aus den traditionellen Bindungen, verlieren die darin aufgehobenen umfassenden und selbstverständlich vorgegebenen Orientierungen und Traditionen ihre Verbindlichkeit. Damit entsteht für den Einzelnen die Freiheit und der Zwang, seine Wertorientierungen, Einstellungen und Bewertungsmaßstäbe auf eine selbstgewählte Grundlage zu stellen und selbstbestimmt sein Leben zu gestalten und zu handeln.236 Mit der Vervielfältigung der Handlungsmöglichkeiten sind selbstbestimmte Entscheidungen nicht nur strukturell möglich, sondern auch notwendig. Damit muss das Individuum aus der Vielfalt der 236 Diese Zeitdiagnose darf jedoch nicht dahingehend missverstanden werden, dass das Individuum ohne soziale Bindungen im gesellschaftlichen Raum stehen würde (vgl. Kap. 4.1.2 und 4.1.3).
4.4 Leitbilder in der Zweiten Moderne – die Anwendung der Prüfkriterien
241
Orientierungsangebote auswählen, die ihm Entlastung bei den vielfältigen Entscheidungen für sein Verhalten und seine persönliche Lebensgestaltung ermöglichen. Diese müssen vom Einzelnen in einen sinnvollen Zusammenhang gebracht und in das individuelle Sinnsystem und Bedeutungsuniversum integriert werden können. Gleichzeitig nehmen die Individuen an der sozialen (Re-)Produktion intersubjektiver Sinnsysteme teil. Soziale Integration des Individuums bedeutet damit die Teilhabe an kollektiv geteilten Deutungsmustern, sozial konstruierten Sinnzusammenhängen oder intersubjektiv geteilter Wirklichkeit. Deshalb werden folgende Fragen an das aktuelle Leitbildverständnis gerichtet:
Helfen Leitbilder bei der sozialen Integration des Individuums? Gilt dies auch angesichts der Tatsache, dass diese stärker als bisher vom Individuum aktiv betrieben wird? Bieten Leitbilder Orientierungsangebote und Sinnstiftung, die anschlussfähig sind an die Weltdeutungen und Bedeutungsuniversen der Individuen?
Die gesellschaftlichen Enttraditionalisierungs-, Pluralisierungs- und Individualisierungsprozesse der Zweiten Moderne wirken sich auch auf das Wesen von Leitbildern aus. Leitbilder existieren nicht mehr singulär, sondern stets in einem pluralen Nebeneinander mitunter konkurrierender Orientierungsangebote. Zudem betreffen Leitbilder selten noch eine allumfassende Orientierung, sondern unter Umständen nur noch sehr begrenzte Handlungsfelder.237 Universalistische Leitbilder gehen zugunsten partikularer verloren. Mit der Vervielfältigung und bisweilen auch Partikularisierung der gesellschaftlich vorhandenen Leitbilder ergibt sich für den Einzelnen die gesteigerte Notwendigkeit einer reflektierten Auseinandersetzung mit den sozial konstruierten Orientierungsmustern und ihrer aktiven Aneignung. Damit folgt das aktuelle Leitbildverständnis den veränderten gesellschaftlichen Bedingungen. Aufgrund der Pluralität der geteilten Leitbilder und vor allem ihrer relativen Unbestimmtheit gegenüber konkreten Handlungsanweisungen (vgl. Prüfkriterium 3) lassen diese dem Individuum Interpretations- und Gestaltungsspielraum. Dies erhöht die Anschlussfähigkeit der kollektiven Leitbilder an das individuelle Sinnsystem und Bedeutungsuniversum. Angesichts des vorherrschenden Verständnisses von Leitbildern als zukunftsbezogenen Orientierungsmustern und der Tatsache, dass diese sozial konstituiert sind, sollte man diese als ein soziales Phänomen begreifen. Gleichzeitig bleibt unbenommen, dass auch auf Subjektebene leitbildartige Vorstellungen eben im Sinne von handlungsleitenden Vorstellungen einer erwünschten und realisierbaren Zukunft, insbesondere auch in Bezug auf die eigene Lebensgestaltung existieren. Um jedoch die soziale Konstituiertheit von Leitbildern herauszustellen, sollte es vermieden werden, von individuellen Leitbildern zu sprechen.238 Leitbilder stellen somit soziale Repräsentationen dar. Sie lassen sich gleichwohl in individueller Aneignung und Deutung auch auf subjektiver Ebene wieder auffinden.239 Soziale Integration wird in der pluralisierten Gesellschaft stärker als bisher zu einer Leistung des Einzelnen. Soziale Integration bedarf deshalb der vielfältigen Möglichkeiten, am gesellschaftlichen Leben teilzuhaben und dieses mitzugestalten. Deshalb gilt es auch zu fragen: 237 Dennoch bleiben Leitbilder gegenüber Zielsystemen o.Ä. häufig sachgebietsübergreifend (vgl. Kapitel 3.2. und 3.4). Leitbilder strahlen aus. 238 Hansis (2001) etwa spricht zur besseren Unterscheidbarkeit von individuellen Leitvorstellungen. 239 Zum Vorgang der individuellen Aneignung der sozial konstruierten Wirklichkeit vgl. etwa Berger/Luckmann 1969.
242
4 Kontextualisierung der Kategorie Leitbild
Ermöglichen Leitbilder die aktive Teilhabe am sozialen Geschehen?
Diese Frage lässt sich für implizite Leitbilder nur insofern beantworten, als sich Leitbilder interaktiv ausbilden, mithin der Einzelne an ihrer Konstruktion bzw. Reproduktion potenziell teilhat. Das echte Leitbild ist dann aber Beschreibungskategorie für die soziale Konstruktion von zukünftiger Wirklichkeit, nicht aber Instrument für gesellschaftliche Teilhabe. Anders stellt sich die Frage für explizite Leitbilder dar. Wo Leitbild-Entwicklungsprozesse partizipativ angelegt sind, wird aktive Teilhabe eigens initiiert. Die Beteiligungsorientierung in Leitbild-Entwicklungsprozessen korrespondiert damit mit der allgemeinen gesellschaftlichen und politischen Forderung nach Partizipation und dem herrschenden Modus kooperativer Planung und Steuerung (vgl. etwa Kap. 3.4). Oktroyierte Leitbilder tragen weder zur Teilhabe noch Integration bei. Ihre Resonanzund Anschlussfähigkeit gegenüber den vorhandenen kollektiven und individuellen Sinnsystemen bleibt dem Zufall oder zweifelhaft erscheinender kulturtechnologischer Managementaktivitäten überlassen. 9. Herstellung von Orientierung und sozialem Zusammenhalt durch neue Leitbilder Orientierung und sozialer Zusammenhalt müssen in der Zweiten Moderne aktiv hergestellt werden. Auch in den Sozialwissenschaften existiert die verbreitete Hoffnung, über die Formulierung neuer Leitbilder das eine wie das andere zu erreichen. Damit ergibt sich also aus den gesellschaftlichen Rahmenbedingungen selbst die Notwendigkeit der Formulierung, Entwicklung oder Produktion neuer Leitbilder. Allerdings muss dafür noch einmal grundlegend gefragt werden:
Können Leitbilder produziert werden bzw. kann der Prozess der Leitbildentstehung forciert werden?
Wenn von der Entwicklung neuer Leitbilder die Rede ist, so können damit nur explizite, nicht implizite Leitbilder gemeint sein. Zwar ist das Ziel der Formulierung expliziter Leitbilder zumeist, eine Veränderung der denk- und handlungsleitenden Orientierungsmuster, also der impliziten Leitbilder, zu bewirken. Dies ist jedoch kein unmittelbar steuerbarer Prozess. Implizite Leitbilder können weder unmittelbar produziert noch verordnet werden. Sie entstehen im Rahmen sozialer Interaktion in einem allmählichen intersubjektiven Verständigungsprozess, in dem sich eine Übereinkunft hinsichtlich der erstrebten Zukunft ausbildet. Damit lassen sich Leitbilder „weder in expertenkulturellen Retorten synthetisieren noch an grünen Tischen konstruieren. Die Entwicklung von Leitbildern bzw. Ideen mit Leitbildpotential kann nicht verfügt oder verordnet werden.“ (Dierkes/Hoffmann/Marz 1992, S. 154) Die denk- und handlungsleitende Eigenschaft von impliziten Leitbildern bildet sich in dem Maße heraus, wie sich diese als Orientierungsmuster im Denken und Handeln verankern. Die Vorgabe oktroyierter Leitbilder kann diesen Prozess in keiner Weise beeinflussen. Es ist jedoch denkbar, eine Veränderung der vorhandenen bzw. Entstehung neuer impliziter Leitbilder zu fördern, indem begünstigende Rahmenbedingungen hierfür geschaffen werden. Hierzu zählen die Artikulation, Reflexion und Diskussion der vorhandenen impliziten Leitbilder, die Auseinandersetzung mit konkurrierenden impliziten wie expliziten Leitbildern ebenso wie der Entwurf von und die reflexive Auseinandersetzung mit Ideen mit Leitbildpotenzial bzw. alternativen Vorstellungen. Unter den gegebenen pluralen und dynamischen gesellschaftlichen Bedingungen gewinnt die Reflexion und Diskussion über vorhan-
4.4 Leitbilder in der Zweiten Moderne – die Anwendung der Prüfkriterien
243
dene und alternative Leitbilder und Ideen zunehmend an Bedeutung. Voraussetzung hierfür ist jedoch, die verborgenen impliziten Leitbilder überhaupt erst zu identifizieren und zu artikulieren (vgl. die Prüfkriterien 3-5). Zur Schaffung dieser Rahmenbedingungen und Voraussetzungen kann die sozialwissenschaftliche Leitbildforschung einen Beitrag leisten. Explizite Leitbilder entstehen häufig in initiierten Leitbild-Entwicklungsprozessen, werden also synthetisch hergestellt bzw. produziert. Sie bilden zunächst nur Absichtserklärungen bzw. Selbstverpflichtungen. Auch diese sind in ihrer Art jedoch wertvoll als synthetische Übereinkunft darüber, was wünschenswert wäre, als Verständigungsmedium sowie Impuls für alternatives Denken und Handeln. Wie solche Leitbild-Entwicklungsprozesse zu gestalten sind, darüber wird ausführlich diskutiert und geforscht (vgl. Kap. 3.3.1.3 oder 3.4.3). Dies bleibt auch weiterhin ein wichtiges Arbeitsfeld der sozialwissenschaftlichen Leitbildforschung. Zusammenfassung Die Anwendung der Prüfkriterien auf Leitbilder im aktuellen Verständnis der Sozialwissenschaften hat deutlich gezeigt, dass echte und mitunter auch propagierte Leitbilder eine zeitgemäße sozialwissenschaftliche Kategorie darstellen. Das Leitbildverständnis hat sich dabei den gesellschaftlichen Bedingungen der Pluralisierung und Partikularisierung angepasst. Aus den gesellschaftlichen Rahmenbedingungen ergeben sich allerdings im Umgang mit impliziten wie expliziten Leitbildern zu beachtende Anforderungen. Echte Leitbilder schaffen Orientierung, insbesondere in Bezug auf das Ziel des Handelns. Sie stellen eine volitive Zukunftsantizipation dar. Sie stiften damit Sinn, reduzieren Komplexität und berücksichtigen sie zugleich. Echte Leitbilder sind einerseits stabil und langfristig gültig, lassen andererseits Interpretations- und Handlungsspielraum, so dass sie auch unter wechselnden Bedingungen viabel bleiben. Sie sind prinzipiell artikulierbar und damit der Reflexion und Diskussion zugänglich. Sie helfen im Umgang mit einer offenen Zukunft, einen bestimmten erwünschten Entwicklungspfad zu verfolgen und zu bewahren. Und sie sind für diejenigen, welche das Leitbild teilen, gemeinschaftsbildend und erleichtern deren Kooperation. Implizite, also mentale, mitunter nicht bewusste echte Leitbilder bedürfen aber zunehmend eines reflektierten und diskursiven Umgangs, um alternative Denk- und Handlungsmöglichkeiten zu berücksichtigen, die nötige Flexibilität gegenüber sich schnell wandelnden Verhältnissen zu gewinnen und auch die Folgen des leitbildgelenkten Handelns zu berücksichtigen. Hierfür müssen die impliziten Leitbilder in das Bewusstsein gehoben und artikuliert werden. Dabei kommt der sozialwissenschaftlichen Leitbildforschung eine zentrale Rolle zu. Explizite Leitbilder ergänzen die impliziten Leitbilder dann sinnvoll, wenn sie Produkt und Bezugspunkt eines permanenten Verständigungsprozesses darstellen. Sie können eine Orientierungshilfe sein, wenn sie zum Ausgangspunkt für weitere Verhandlungen, Planungen und Entscheidungen gemacht werden. Artikulierte Ideen mit Leitbildpotenzial schaffen die nötige Flexibilität im Denken, indem sie alternative Denk- und Handlungsmöglichkeiten zur Disposition stellen. Leitbild-Entwicklungsprozesse gewinnen unter gegenwärtigen gesellschaftlichen Bedingungen an Bedeutung, da in ihnen eine initiierte Verständigung über eine wünschbare und
244
4 Kontextualisierung der Kategorie Leitbild
machbare Zukunft sowie eine kooperative Zielfindung stattfinden kann. Voraussetzung für fruchtbare Leitbild-Entwicklungsprozesse ist die Beteiligung der betroffenen Akteure, die mehr denn je von Bedeutung ist. Aber auch die partizipative Entwicklung expliziter Leitbilder ist noch nicht mit der Herausbildung impliziter Leitbilder gleichzusetzen. Leitbilddiskurse können allerdings den Rahmen abgeben für eine Reflexion und Diskussion über vorhandene implizite Leitbilder sowie Ideen mit Leitbildpotenzial. Damit schaffen sie zugleich einen förderlichen Rahmen zur Entstehung neuer bzw. zum Wandel vorhandener impliziter Leitbilder. Oktroyierte Leitbilder erweisen sich demgegenüber nicht als den gesellschaftlichen Bedingungen angemessen. Sie bleiben unabhängig von den vorhandenen impliziten Leitbildern, die das Denken und Handeln der Beteiligten bereits prägen. Ihre notwendige Resonanz- und Anschlussfähigkeit bei den Akteuren ist unter dieser Voraussetzung ausgesprochen fraglich.
Träume sind unerlässlich, wenn man die eigene Zukunft gestalten will. Victor Hugo (1802-1885)
5 Resümee: Zur Neufassung des Leitbildansatzes
In einem letzten Schritt wird nun auf der Grundlage der kritischen Rekonstruktion des sozialwissenschaftlichen Leitbilddiskurses und der gesellschaftstheoretischen Kontextualisierung der Kategorie Leitbild der Leitbildansatz neu gefasst. Zu diesem Zweck wird eine Begriffsexplikation, das heißt ein Gebrauchsvorschlag für einen allgemeinen sozialwissenschaftlichen Leitbildbegriff vorgelegt (Kapitel 5.1). Anschließend werden die möglichen Aufgabenfelder einer auf diesem Leitbildbegriff beruhenden Leitbildforschung skizziert und somit ein leitbildbezogenes Forschungsprogramm umrissen (Kapitel 5.2). Abschließend wird gefragt, welchen Beitrag die sozialwissenschaftliche Leitbildforschung für eine pragmatisch ausgerichtete Zukunftsforschung leisten kann (Kapitel 5.3). 5.1 Leitbilder – eine Begriffsexplikation Im Anschluss an die eingehende Untersuchung der leitbildbezogenen Forschungsfelder und den darin vorgefundenen Verwendungsweisen des Begriffs ist eine aktuelle Minimaldefinition für Leitbilder vorgenommen worden: Leitbilder bündeln sozial geteilte (mentale oder verbalisierte) Vorstellungen von einer erwünschten bzw. wünschenswerten und prinzipiell erreichbaren Zukunft, die durch entsprechendes Handeln realisiert werden soll. Anhand einer begrifflichen Typologie wurde dieser übergreifende Leitbildbegriff nach seinen wesentlichen Varianten differenziert.240 Wichtigstes Unterscheidungsmerkmal ist die Frage, ob Leitbilder faktisch denk- und handlungsleitend, also praktiziert und in diesem Sinne echt oder nur propagiert sind. Echte Leitbilder liegen vornehmlich als Vorstellungsmuster auf mentaler Ebene vor und werden dann als implizite Leitbilder bezeichnet. Propagierte Leitbilder sind demgegenüber häufig ausdrücklich artikuliert und liegen dann in manifester Form als Leitbilddokumente oder leitbildhafte Formeln vor. Diese Variante wird als explizites Leitbild bezeichnet. Implizite und explizite Leitbilder bilden die wichtigsten Varianten im Begriffsverständnis der Sozialwissenschaften. Letztlich verbergen sich damit aber hinter dem Terminus Leitbild zwei grundlegend zu unterscheidende Begriffe, die freilich in einem spezifischen Verhältnis zueinander stehen: Implizite Leitbilder sind denk- und handlungsleitende, zukunftsbezogene Orientierungsmuster. Explizite Leitbilder stellen dagegen meist Steuerungs- bzw. Planungsinstrumente dar, in denen zukünftig zu verfolgende Zukunfts-, Ziel- oder Wertvorstellungen zur Orientierung für weiteres Handeln festgelegt werden.
240 Zu den Unterscheidungsdimensionen sowie zum Verhältnis von echten und propagierten, mentalen und manifesten, impliziten und expliziten Leitbildern vgl. Kap. 2.2.1.
246
5 Resümee: Zur Neufassung des Leitbildansatzes
Implizite Leitbilder werden gelebt, explizite Leitbilder werden aufgestellt, um gelebt zu werden. Zu einer Begriffsexplikation, wie sie im Folgenden vorgenommen wird, gehört nicht nur, die historisch üblichen Verwendungsweisen des Begriffs zu analysieren. Hinzutreten muss eine begriffliche Bestimmung, ein Gebrauchsvorschlag, mit welchen semantischen Merkmalen der betreffende Begriff verwendet werden soll (vgl. Fricke 2000). Um den Leitbildbegriff zu explizieren, ist es sinnvoll, den Kerngedanken, also die impliziten Leitbilder in den Vordergrund zu stellen (zur Begründung vgl. auch Kapitel 3.6). Den sozialwissenschaftlichen Leitbildbegriff lediglich in Hinblick auf implizite Leitbilder zu explizieren, würde jedoch zu kurz greifen. Im sozialwissenschaftlichen Sprachgebrauch ist ein Leitbildverständnis im Sinne expliziter Leitbilder weit verbreitet und muss entsprechend beachtet, aber vor allem begrifflich getrennt werden von impliziten Leitbildern. Eine Unterscheidung dieser beiden zentralen Leitbildtypen wird in den Sozialwissenschaften in aller Regel nicht vorgenommen, so dass es regelmäßig zu Missverständnissen hinsichtlich der Rolle und Bedeutung von Leitbildern kommt. Eine Differenzierung trägt hier wesentlich zur Klarheit des Begriffes bzw. der Begriffe und somit zum Verständnis des damit bezeichneten Gegenstandes bzw. Phänomens bei. Der vorgelegte Gebrauchsvorschlag unterscheidet deshalb zwischen impliziten und expliziten Leitbildern.241 Die folgende Begriffsexplikation fokussiert den Kerngedanken im Sinne von impliziten Leitbildern, also tatsächlich denk- und handlungsleitende, zukunftsbezogene Orientierungsmuster. In Abgrenzung davon werden die relevanten Abweichungen dargestellt, die sich in Hinblick auf explizite Leitbilder ergeben. Auf eine bündige Begriffsexplikation folgen die Ausführungen zur Begriffsbestimmung, die zugleich Ansätze der Theoriebildung in Bezug auf Leitbilder liefern. Implizite Leitbilder bezeichnen sozial geteilte, mental verankerte und verinnerlichte Orientierungsmuster, die sich aus Vorstellungen von einer sowohl erwünschten als auch für realisierbar angesehenen Zukunft speisen. Sie prägen Wahrnehmung, Denken und Handeln derjenigen, die das Leitbild miteinander teilen. Sie sind Ausdruck volitiver Zukunftsgerichtetheit, wecken Emotionen und richten das Denken und Handeln intentional aus. Sie beziehen sich auf langfristig angestrebte, übergeordnete Wert- oder Zielvorstellungen bzw. Zukunftsentwürfe, mit denen komplexe, mehr oder weniger bildlich fassbare Vorstellungen verbunden werden. Echte Leitbilder stellen einen funktionalen, nicht substanziellen Begriff dar, d.h. sie werden letztlich über ihre Wirkungen bzw. Funktionen definiert. Eine Idee oder Vision wird dann zu einem echten Leitbild, wenn sie bestimmte Wirkungen erzielt bzw. Funktionen erfüllt. Als sozial geteilte, zukunftsbezogene Orientierungsmuster, die bestimmte Wahrnehmungs-, Denk- und Entscheidungskorridore eröffnen und emotionale sowie volitive Kräfte freisetzen, kommen ihnen vornehmlich Orientierungs-, Koordinations-, Motivationsund Kohäsionsfunktionen zu. Leitbilder entstehen als geteilte zukunftsbezogene Sinnzusammenhänge in der Interaktion von Sozietäten, Denkkollektiven, Sinn- oder Interpretationsgemeinschaften und wirken auf diese stabilisierend zurück. Dabei müssen die Leitbilder den Akteuren, die danach ihr Denken und Handeln ausrichten, gar nicht unbedingt in 241 Insgesamt behalten mit diesem Gebrauchsvorschlag die Leitbildtypen 1 bis 4 Gültigkeit (vgl. Tab. 2.1), wobei die impliziten und expliziten Leitbilder die üblichen Hauptformen darstellen und deshalb expliziert werden. Wird im Folgenden allgemein von Leitbildern gesprochen, sind damit implizite bzw. echte Leitbilder gemeint. Im anderen Fall wird von manifesten bzw. expliziten Leitbildern die Rede sein. Auf die mit dieser Begriffsexplikation ausgeschlossenen Begriffsverwendungen wird zum Abschluss des Kapitels eingegangen. Dies betrifft insbesondere die in der Diskursanalyse als oktroyierte Leitbilder gekennzeichneten Varianten.
5.1 Leitbilder – eine Begriffsexplikation
247
vollem Umfang transparent sein. Gleichwohl kommen sie in sprachlichen Äußerungen und im Handeln zum Ausdruck und können daran abgelesen werden. Sie können aber auch – sofern sie hinreichend bewusst sind – ausdrücklich formuliert werden (explizierte Leitbilder, Typ 2). Leitbilder variieren hinsichtlich ihres Geltungsbereichs, Gegenstandsfeldes, Konkretisierungsgrades sowie Gegenwartsbezuges. Hingegen stellen explizite Leitbilder in einem initiierten und bewussten Entwicklungsprozess ausdrücklich formulierte, lediglich wünschenswerte, aber gleichfalls für machbar gehaltene Zukunftsentwürfe dar, die das Denken und Handeln (noch) nicht prägen. Entsprechend kommen ihnen die Funktionen, die impliziten Leitbildern als Eigenschaften zugeschrieben werden, nicht automatisch zu. Gleichwohl erheben sie den Anspruch, das Denken und Handeln in Zukunft zu leiten und somit letztlich zu impliziten Leitbildern zu werden. Wie implizite Leitbilder betreffen auch sie eher langfristig angestrebte und übergeordnete Zielvorstellungen. Explizite Leitbilder werden ausdrücklich formuliert, um das Handeln daran auszurichten. Die genannten Bestimmungen und Varianten eines allgemeinen sozialwissenschaftlichen Leitbildbegriffes werden im Folgenden ausgeführt. Im Fokus bleiben die impliziten Leitbilder. Implizite Leitbilder bezeichnen sozial konstituierte und geteilte zukunftsbezogene Orientierungsmuster. Als Orientierungsmuster sind sie bei denjenigen, die ein Leitbild miteinander teilen, mental verankert und verinnerlicht.242 Leitbilder bilden damit intersubjektive Wahrnehmungs-, Denk- und Handlungsmuster, die sich in je individuellen Vorstellungen ausdrücken können, jedoch auf einem geteilten Sinn beruhen. Das geteilte Orientierungsmuster muss damit den Leitbildträgern gar nicht in vollem Umfang bewusst sein, um seine wahrnehmungs-, denk- und handlungssteuernde Wirkung zu entfalten. Insofern sind implizite Leitbilder mitunter nur latent vorhanden. Der Grad der Latenz von Leitbildern fällt allerdings sehr unterschiedlich aus. Leitbilder können als Orientierungsmuster dem Denken und Handeln zugrunde liegen und dabei in einzelnen Einstellungen, Vorstellungen und Überzeugungen zum Ausdruck kommen, während deren intersubjektives Muster, deren selbstverständlich geteilter Sinnzusammenhang lediglich durch wissenschaftliche (Re-)Konstruktion sichtbar werden. Allerdings wird das Leitbild einer Sozietät häufig in einem gedanklichen Bild verdichtet und nimmt eine bestimmte Gestalt an. Diese soziale Repräsentation steht dann für den geteilten Sinnzusammenhang, der sich in Bezug auf die angestrebte Zukunft intersubjektiv ausgebildet hat (siehe dazu weiter unten). Um so selbstverständlicher das Leitbild erscheint, desto weniger ist es den Beteiligten reflexiv zugänglich (vgl. dazu auch Geideck/Liebert 2003). Da Leitbilder wie andere soziale Orientierungsmuster überhaupt erst zustande kommen müssen, immer stärker in Konkurrenz zueinander treten und ihre Selbstverständlichkeit schneller verlieren, werden sie unter den gegebenen gesellschaftlichen Bedingungen auch immer häufiger zum Thema gemacht (vgl. dazu auch Siegel 2003, S. 24f.).
242 Explizite Leitbilder sind demgegenüber ausdrücklich und zumeist sprachlich (mündlich oder schriftlich) fixierte Zukunftsentwürfe.
248
5 Resümee: Zur Neufassung des Leitbildansatzes
Nicht nur propagierte Leitbilder, sondern mitunter auch echte Leitbilder werden ausdrücklich in Leitbilddokumenten oder leitbildhaften Formeln sprachlich fixiert.243 Der Sinn dieser manifesten Leitbilder, insbesondere der leitbildhaften Formeln, erschließt sich jedoch unmittelbar nur denjenigen, welche den damit verbundenen Bedeutungszusammenhang, das mentale (echte oder propagierte) Leitbild miteinander teilen. Manifeste Leitbilder sind demgegenüber nur ein vornehmlich sprachlicher Ausdruck für einen nicht unmittelbar zugänglichen Sinnzusammenhang, dessen Bedeutung erst interpretiert werden muss. Echte Leitbilder bündeln Vorstellungen davon, was gleichzeitig erwünscht und für machbar oder realisierbar gehalten wird: Wunsch- und Machbarkeitsvorstellungen konvergieren im Leitbild. Die Machbarkeitsüberzeugung und der mit Tatwillen verbundene Wunsch geben dem Handeln Stoßkraft.244 Insofern geht es bei Leitbildern um tatsächlich erwünschte, genauer aktiv angestrebte und mit Leidenschaft verfolgte Zukunftsentwürfe, nicht nur wünschbare Zukünfte.245 Echte Leitbilder betreffen also die schon „aktiv gewordene Idee“ (Spranger 1953b, S. 67), propagierte und damit auch explizite Leitbilder dagegen lediglich wünschenswerte oder wünschbare Zukunftsvorstellungen.246 Implizite wie explizite Leitbilder sind damit keine reinen Wunschbilder oder überhöhten Ideale. Im Gegensatz zu unerreichbaren Idealen beinhalten sie prinzipiell realisierbare Zukunftsentwürfe. Allerdings ist die Grenze zwischen temporärer Unwirklichkeit und dauernder Unmöglichkeit ebenso fließend wie bewertungsabhängig. Gerade in den theoretischen Annahmen zur Entstehung von Leitbildern kommen die unterschiedlichen Begriffe deutlich zum Tragen. Implizite Leitbilder werden als sich ausweitender Konsens über einen bestimmten angestrebten Zukunftsentwurf konzipiert. Bei diesem Konsens handelt es sich nicht nur um eine oberflächliche Zustimmung, sondern um allmählich gewachsene und verinnerlichte intersubjektive Orientierungsmuster, die Wahrnehmung, Denken und Handeln strukturieren. Hierfür bietet sich eine kulturalistische bzw. interaktionistische Perspektive zur Theoriebildung an. Demnach werden echte Leitbilder in den Interaktionen einer Sozietät als allmählich sich ausbildende und ausweitende Übereinkunft in Bezug auf eine angestrebte Zukunft (re)produziert, aus der sich ein geteilter Sinnzusammenhang ergibt: Leitbilder stellen innerhalb einer Sozietät die volitive und intentionale Zukunftsdimension ihrer Kultur dar. Eine Sozietät besteht aus einer Gruppe von Menschen, in der in einem Handlungsraum gemeinsam gemachte Erfahrungen interpretiert werden und sich dadurch allmählich eine geteilte mentale Sichtweise ausprägt. Sozietäten stellen damit Sinn- oder Interpretationsgemeinschaften dar. Eine Sozietät zeichnet sich durch eine gemeinsame Kultur im Sinne eines Musters gemeinsamer Ideen, Einstellungen und Grundannahmen aus (vgl. dazu Schaar 1998, S. 55 und 76). Die Kultur einer Sozietät bildet deren intersubjektives Sinnsystem oder „Bedeutungsgewebe“ (Geertz 1997, S. 9).247 243 Die ausdrücklich artikulierten, echten Leitbilder werden als explizierte Leitbilder bezeichnet. Mit manifesten, propagierten Leitbildern sind die expliziten Leitbilder gemeint (vgl. Kap. 2.2.2). 244 Zur Motivations- oder Pull-Funktion sowie den energetischen und motivationalen Aspekten von durch Wünsche ausgelösten Emotionen vgl. de Haan 2001, S. 76ff. Nach Bloch (1973) müsste man hier genauer vom Wollen statt vom Wünschen sprechen, weil das Leitbild nicht nur ein passives Sehnen, sondern „aktives Fortgehen zu diesem Ziel“ (ebd., S. 51) zum Ausdruck bringt. 245 In der Analyse von tatsächlich erwünschten Zukünften liegt auch der besondere Beitrag der Leitbildforschung für die Zukunftsforschung, welche sich bislang lediglich mit möglichen, wahrscheinlichen und wünschbaren Zukünften befasst (vgl. etwa Graf 2003, S. 362; siehe dazu auch Kapitel 5.3). 246 Vgl. hierzu auch die Differenz von desired und desirable values bei Hofstede, Kap. 2.2.1 und 3.3.3. 247 Wird eine solche Sozietät selbst als Kultur bezeichnet, entstehen Leitbilder demnach in bestimmten Kulturen (vgl. zu dieser Begriffsverwendung bspw. Kapitel 3.5.1.1).
5.1 Leitbilder – eine Begriffsexplikation
249
Offen bleibt allerdings die Frage, wer in welcher Form Einfluss hat auf den Entstehungsprozess, wer in Bezug auf Leitbilder Definitionsmacht besitzt. Es ist zu vermuten, dass der Einfluss, eine Idee als Leitbild einzubringen und durchzusetzen, zwischen den Akteuren im jeweiligen Feld unterschiedlich verteilt ist.248 Demgegenüber stellen explizite Leitbilder das intendierte manifeste Produkt eines initiierten Leitbild-Entwicklungsprozesses dar, in dem ein wünschenswerter Zukunftsentwurf möglichst konsensual formuliert wird und nach dem sich das gemeinsame Handeln ausrichten soll. Implizite wie explizite Leitbilder stellen also beide eine soziale Übereinkunft hinsichtlich einer erstrebten bzw. zu verfolgenden Zukunft dar. Im Falle der impliziten Leitbilder ist diese Übereinkunft in der Interaktion einer Sozietät allmählich gewachsen und damit selbstverständlich gegeben. Explizite Leitbilder stellen den Versuch dar, die allmählich gewachsene Übereinkunft der impliziten Leitbilder synthetisch herzustellen, indem der dahin führende Verständigungsprozess proaktiv gestaltet und die Absichtserklärung schriftlich fixiert wird. Implizite Leitbilder sollten als sozial geteilte, handlungsstrukturierende Denkmuster verstanden werden, die als spezifische Bedeutungssysteme in der sozialen Interaktion einer Erfahrungs- und Sinngemeinschaft (re-)produziert werden. Als allmählich entstandene kollektive Orientierungsmuster sind implizite Leitbilder nicht gezielt herstellbar oder veränderbar. Die Internalisierung von Leitbildern ist weder verordnenbar noch steuerbar. Explizite Leitbilder sind hingegen gestaltbar. Die Differenz von echten und propagierten, damit auch impliziten und expliziten Leitbildern löst sich dann ein Stück weit auf, wenn explizite Leitbilder, die zwar neu entworfen und damit propagiert sind, in beteiligungsorientierten Prozessen von den Betroffenen selbst diskursiv erarbeitet werden. Damit können die Akteure ihre Vorstellungen in die explizite Leitbildformulierung mit einbringen. Mit einem partizipativen Leitbildprozess wird zwar die notwendige Anschlussfähigkeit der neu entworfenen, expliziten Leitbilder an die impliziten Leitbilder erhöht. Damit ist aber nicht sichergestellt, dass die verfolgten impliziten Leitbilder und nicht nur Absichtserklärungen oder wünschenswerte, aber nicht tatsächlich intentional verfolgte Ideen (Typ 3-Leitbilder) Eingang finden in das manifeste Leitbild. Dies gilt um so mehr, da zum einen implizite Leitbilder als tatsächlich verfolgte Orientierungsmuster gar nicht in vollem Umfang bewusst sein müssen und zum anderen in einem Handlungsfeld unterschiedliche, mitunter konkurrierende implizite Leitbilder existieren können. Das explizite Leitbild stellt dann lediglich einen Konsens hinsichtlich eines zu verfolgenden Zukunftsentwurfs dar, der allerdings noch nicht als Orientierungsmuster verinnerlicht und damit im Denken und Handeln verankert ist. Der Interpretations- und Handlungsspielraum, den Leitbilder eröffnen, ist mitunter recht groß. Dies verweist auf das ambivalente Verständnis von Leitbildern hinsichtlich ihres Konkretisierungsgrades bzw. Abstraktionsniveaus. Leitbilder liegen in einem variablen Bereich, der auf der einen Seite von konkreten Zielen und auf der anderen Seite von abstrakten Werten begrenzt wird. Manche Leitbilder weisen eher den Charakter einer konkreten Zielvorstellung auf (z.B. J.F. Kennedys Vision vom ersten Mann auf dem Mond), andere neigen eher abstrakten Werten zu (z.B. das Leitbild nachhaltige Entwicklung). Leit248 Entsprechende Überlegungen findet man etwa in der Organisationsforschung (vgl. Schein 1995, Morgan 1997), Familienforschung (vgl. Cyprian 2003) oder Technik(genese)forschung (vgl. Dierkes/Hoffmann/ Marz 1993, S. 115ff.; Knie 1992), aber auch allgemein in Bezug auf Denkkollektive bei Fleck (vgl. Fleck 1935/1993).
250
5 Resümee: Zur Neufassung des Leitbildansatzes
bilder sind in aller Regel anschaulicher als abstrakte Werte, aber auch nicht in dem Maße konkret wie operationale Ziele. Entsprechend können sie als globale Ziele bzw. übergeordnete, allgemeine Zielvorstellungen bezeichnet werden. Aus einem Leitbild lassen sich eine Vielzahl von Zielen ableiten. Als formale bzw. nicht-operationale Ziele können Leitbilder damit zwar ein ganzes Bündel von Zielen integrieren, sind aber interpretationsbedürftig und damit nicht nur einer einzigen möglichen rationalen Ableitung von Zielen zugänglich (vgl. dazu besonders Kap. 3.2.2 und 3.4.4). Trotz dieser übergeordneten Stellung und dem damit einhergehenden geringen Konkretisierungsgrad von Leitbildern sind mit diesen meist hinreichend konkrete, gar bildlich fassbare Vorstellungen von einer erstrebten Zukunft verbunden. Das Spektrum der Anschaulichkeit der jeweiligen Vorstellungen reicht dabei von konkret-bildlichen Vorstellungen (wie das papierlose Büro) bis hin zu relativ abstrakten Ideen (wie der Sozialen Marktwirtschaft). Oft genug kristallisieren Leitbilder in „bildhafter Gestalt“ (Dierkes/Canzler 1998, S. 25) aus, d.h. sie werden in Form typisierter Figuren oder Gestalten repräsentiert und damit bildlich verdichtet.249 Diese stellen dabei gedanklich personalisierte oder materialisierte Verkörperungen einer komplexen Idee dar, die somit konkret vorstellbar wird. Solcherart Leitbilder werden dann häufig auch auf einen Begriff gebracht (bspw. ‚Staatsbürger in Uniform‘, ‚aktivierender Staat‘, ‚Schreibklavier‘ oder ‚autofreie Stadt‘) und sind auf diese Weise besonders prägnant, einprägsam und zugleich kommunizierbar. Die impliziten Leitbilder finden damit einen manifesten Ausdruck in einer leitbildhaften Formel. Die damit bezeichnete Figur, Gestalt bzw. das sprachliche Bild gibt den Denkrahmen ab, in dem gedacht wird.250 Die bildlich repräsentierte Vorstellung spricht zudem nicht nur die rationale Seite des Menschen an, sondern berührt ihn auch emotional und weckt die coenästhetischen, also sinnlich-emotionalen Wahrnehmungspotenziale.251 Diese manifesten Leitbilder sind auch anderen Kreisen als der Sozietät, in der das Leitbild interaktiv (re)produziert wird, zugänglich. Der Verständigungsraum solcherart manifester Leitbilder lässt sich damit als konzentrisches Feld darstellen.252 Für die Sozietät bzw. das Denkkollektiv repräsentiert das manifeste Leitbild die intersubjektive Bedeutung des mentalen Leitbildes. Mit dem Leitbild können damit relativ konkrete geteilte Vorstellungen verbunden werden.253 Als manifeste, also vornehmlich sprachlich repräsentierte Leitbilder sind die leitbildhaften Formeln aber auch einem exoterischen Kreis zugänglich, wobei deren Bedeutungszuschreibung sowie die damit assoziierten Vorstellungen dort verhältnismäßig weit auseinandergehen können. Erst in einem interaktiven Verständigungsprozess können sich zu dem manifesten Leitbild ein intersubjektiver Sinn und damit ein geteiltes Vorstellungsmuster herausbilden. Das Leitbild ist vielmehr ein funktioneller denn ein substanzieller Begriff, d.h. etwas wird eher über bestimmte Funktionen, denn über eine spezifische Form als Leitbild identifiziert. Zu den wichtigsten Funktionen von Leitbildern gehören ihre Orientierungs-, Koordinations-, Motivations- und Kohäsionsfunktion. Implizite Leitbilder erfüllen zuallererst 249 Thielicke spricht deshalb von Leitbildern als einer „bildlich visionären Verdichtung von Zielen, die wir mit ganzer Leidenschaft ansteuern“ (Thielicke 1961, S. 42). 250 Zum Einfluss sprachlicher Bilder, insbesondere Metaphern auf das Denken und Handeln vgl. etwa Hofbauer 1995, Morgan 1997, auch Kap. 3.3.4.2. 251 Vgl. dazu Schaar 1998, S. 79 sowie die Leitbilddimension der Coenästhetischen Resonanz, Kap. 3.3.4.2. 252 Vgl. auch die esoterischen und exoterischen Kreise eines Denkkollektivs bei Fleck 1993, S. 136ff. 253 In einem Leitbildkollektiv bilden sich dann unter Umständen auch geteilte Überzeugungen zu Handlungsgrundsätzen, Teilzielen oder konkreteren Strategien heraus.
5.1 Leitbilder – eine Begriffsexplikation
251
eine Orientierungsfunktion. Sie leiten Wahrnehmung, Denken und Handeln, indem sie ausgehend von einem bestimmten erwünschten und für machbar gehaltenen Zukunftshorizont die Wahrnehmung und Bewertung der Gegenwart und Zukunftsoptionen strukturieren, dem Denken und Handeln eine bestimmte Richtung und einen bestimmten Rahmen geben. In dieser Eigenschaft wirken sie komplexitätsreduzierend. Zur Koordination tragen Leitbilder durch den gemeinsam geteilten Zukunftshorizont bei, durch den die Wahrnehmungen und Bewertungen der Akteure synchronisiert werden und auf den das gemeinsame Handeln ausgerichtet wird. Der dadurch entstehende gemeinsame Denkrahmen erleichtert seinerseits die Verständigung innerhalb der Sozietät. Der geteilte Zukunftshorizont wirkt zudem unter anderem dadurch gemeinschaftsfördernd, dass er ein gemeinsames Identifikationsobjekt abgibt. Leitbilder regen insbesondere durch ihre bildliche oder allgemein anschauliche Repräsentationsform zum kreativen Denken an, sprechen emotional an, wecken volitive Kräfte und motivieren so zum Handeln. Damit erfüllen sie eine Kohäsions- und Motivationsfunktion. Expliziten Leitbildern kommen diese Funktionen nicht automatisch zu. Sie können, in dem Maße wie sie zum Bezugspunkt für gemeinsames Denken und Handeln gemacht werden, eine Orientierungshilfe sein, über das gemeinsam anvisierte Ziel koordinierend wirken und schließlich auch ein Identifikationsangebot abgeben, das motivierend und integrierend wirken kann. Explizite Leitbilder müssen, um diese Funktionen zu erfüllen, „gelebt“ werden. Sie kommen dann den echten, also praktizierten Leitbildern sehr nahe. Leitbilder weisen eine verwickelte Zeitstruktur auf. Sie sind insofern auf die Zukunft gerichtet, als sie Vorstellungsmuster von einer angestrebten Zukunft darstellen und damit Ausdruck der intentionalen Gerichtetheit des Handelns auf einen Zukunftshorizont sind. Leitbilder gehen damit zwar über die Gegenwart hinaus, weisen aber auch in mehrerer Hinsicht einen Gegenwartsbezug auf. Stärker visionär sind Leitbilder, wenn sie mit der gegebenen Wirklichkeit deutlich kontrastieren und auf Veränderung abzielen. Leitbilder können aber auch tradierend wirken, damit vornehmlich auf Bewahrung abzielen, wenn sie den Status quo zum erhaltenswerten Zustand erheben. Zugleich sind Leitbilder insofern auf die Gegenwart bezogen, als sie sich immer schon in der Gegenwart bzw. Vergangenheit, nicht nur in der Zukunft auswirken, da sie bereits das gegenwärtige bzw. bereits vergangene Denken und Handeln prägen.254 Als Vorstellungen von einer erwünschten Zukunft prägen sie die Wahrnehmung und Bewertung der Gegenwart. Leitbilder sind schließlich aber auch in der Gegenwart und Vergangenheit verankert und entstehen vor dem Hintergrund der dort gegebenen Bedingungen und gemachten Erfahrungen. Damit sind sie ihrerseits gleichermaßen gegenwarts- und vergangenheitsabhängig, also historisch bedingt und entspringen dem Geist ihrer Zeit: „(...) jeder Entwurf, jedes Ideal, jeder Entschluß, mit dem das Denken und Wollen der Lebenden sich der Zukunft entgegenstreckt, ist und bleibt doch eben – Gegenwart, Geist von ihrem Geist, gebunden an die Bedingungen, festgehalten in den Grenzen, abhängig von den Vorurteilen, die den Horizont dieser Gegenwart ausmachen (...).“ (Litt 1929, S. 20)
Vergangenheits-, Gegenwarts- und Zukunftsdeutung bedingen sich also gegenseitig. Letztlich beruht der Leitbildansatz auf der theoretischen Annahme, dass gegenwarts- und zukunftsbezogenes Wahrnehmen, Denken und Handeln durch intentionale und volitive 254 Für die Unterscheidung der einfachen und doppelten Zukunftsbezüglichkeit bei echten und propagierten Leitbildern vgl. Kapitel 2.2.1.
252
5 Resümee: Zur Neufassung des Leitbildansatzes
Zukunftsantizipationen geprägt werden. Damit lassen sich bereits erfolgte und mitunter auch zukünftige Entwicklungspfade unterschiedlicher sozialer Handlungsfelder, lässt sich vergangenes und gegenwärtiges Handeln aus diesen zukunftsbezogenen Orientierungsmustern verstehend erklären. Die personelle Reichweite, also der Geltungsbereich von Leitbildern variiert erheblich.255 Leitbilder können potenziell für die gesamte Gesellschaft Gültigkeit haben oder auch nur für eine kleine Sozietät, etwa eine Subkultur innerhalb einer Organisation. In zeitlicher Hinsicht wird den Leitbildern eine mittel- bis langfristige Gültigkeit zugeschrieben. Gegenüber früheren Leitbildverständnissen gelten diese heute jedoch nicht mehr als statisch, sondern als durch ständige Re-Interpretation und Re-Produktion im Interaktionszusammenhang dynamisch. Leitbilder variieren schließlich auch hinsichtlich ihres Gegenstandsfeldes. Leitbilder können sich auf Einzelobjekte (bspw. das Leitbild einer Einzeltechnologie) oder auch auf hoch komplexe Zusammenhänge (bspw. die Bürgergesellschaft) beziehen. Gleichermaßen variieren die zeitliche und personelle Reichweite sowie das Gegenstandsfeld von expliziten Leitbildern. Implizite Leitbilder stellen für die Sozialwissenschaften eine analytische Kategorie dar, die sich einreiht in andere sozialwissenschaftliche Ansätze, die Wahrnehmung, Denken und Handeln in Abhängigkeit von kollektiv geteilten Vorstellungen sehen. Leitbilder sind damit eng verwandt mit Kategorien wie Denkstilen, Deutungsmustern oder sozialen Repräsentationen. Sie können insofern als Deutungsmuster angesehen werden, dass sie gleichfalls kollektive Sinngehalte darstellen, welche nicht unmittelbar reflexiv verfügbar sind, da sie auf einer latenten, „tiefenstrukturellen“ Ebene angesiedelt sind (vgl. Lüders/Meuser 1997, S. 59). Leitbilder wie Deutungsmuster lassen sich in einer konstruktivistischen bzw. interaktionistischen Perspektive verstehen als in sozialen Interaktionen (re-)produzierte Bedeutungssysteme, sozial konstruierte Wirklichkeiten, Weltsichten bzw. -interpretationen (vgl. dazu ebd., S. 62ff.; Keller 2003). Mit den Denkstilen haben sie die Grundannahme gemein, dass durch sie in einer Sinngemeinschaft (Denkkollektiv) die Wahrnehmung ausgerichtet und das Denken fokussiert wird, bestimmte Grundüberzeugungen als selbstverständlich gegeben geteilt werden und andere aus dem Blick geraten. Dadurch, dass Mitglieder wiederum zu unterschiedlichen Denkkollektiven gehören, bricht der innerhalb der einzelnen Denkkollektive gegebene Denkzwang auf und gewinnen die Denkstile an Dynamik (vgl. Fleck 1935/1993). Mit sozialen Repräsentationen teilen Leitbilder die Annahme, dass diese gruppenspezifisch ausgebildet werden und dass sich die sozialen Gruppen oder Sozietäten über die gemeinsam geteilten Vorstellungen konstituieren und darin wiederum von anderen abgrenzen (vgl. dazu Flick 1995; Flick 1996, S. 20ff. und 94ff.). Die vorangehende diskursanalytische Untersuchung der leitbildbezogenen Forschungsfelder sowie der vorliegende Gebrauchsvorschlag machen deutlich, dass Leitbilder in je spezifischer Hinsicht mit anderen Begriffen wie etwa Zielen, Werten, Visionen, Utopien, Metaphern, Vorbildern oder Idealen korrespondieren. Gleichwohl hat die vorgelegte Begriffsexplikation deutlich gemacht, dass mit dem Leitbildbegriff eine ganz spezifische Qualität und Bedeutung verbunden werden kann. Diese ist durch andere Begriffe nicht ersetzbar. Das Alleinstellungsmerkmal von impliziten Leitbildern besteht gegenüber allen anderen genannten Begriffen darin, dass damit sozial konstituierte und geteilte, denk- und handlungsleitende, zukunftsbezogene Orientierungsmuster bezeichnet werden, in denen erwünsch255 Vgl. dazu auch die konzentrische Struktur von manifesten Leitbildern weiter oben.
5.1 Leitbilder – eine Begriffsexplikation
253
te, intentional sowie mit Leidenschaft verfolgte und für machbar gehaltene Zukunftsvorstellungen gebündelt werden. Propagierte Leitbilder verdienen so lange noch die Bezeichnung Leitbild, wie sie auf implizite Leitbilder bezogen sind. Die Untersuchung hat allerdings deutlich gemacht, dass explizite Leitbilder in zwei wesentlichen Dimensionen von impliziten Leitbildern abweichen und deshalb von diesen auch begrifflich deutlich getrennt werden sollten: Die in expliziten Leitbildern ausgedrückten Vorstellungen sind (noch) nicht handlungsleitend und erweisen sich überdies als manifeste, nicht unbedingt mental verankerte Zukunftsentwürfe. Sie sind aber insofern auf implizite Leitbilder bezogen, dass sie ausdrücklich eine sozial geteilte Absichtserklärung formulieren, woran sich das Denken und Handeln orientieren sollte. Mit dem gegebenen Gebrauchsvorschlag zum sozialwissenschaftlichen Leitbildbegriff wird demgegenüber ein Begriffsverständnis ausgeschlossen, das in der Diskursanalyse als oktroyierte Leitbilder gekennzeichnet wurde. Diese geben fremdgesetzte Vorschriften ab, wie zu handeln oder gar zu denken ist. Oktroyierte Leitbilder sind weder das Produkt eines allmählichen noch initiierten Verständigungsprozesses, ihr Zukunftsentwurf wird von den Akteuren weder faktisch verfolgt noch gilt er als wünschenswert und wird entsprechend weder in dem einen noch anderen Sinne sozial geteilt. Dies betrifft etwa Unternehmensleitbilder, wenn sie durch die Unternehmensleitung vorgegebene Grundsätze abgeben. Dies betrifft aber auch gesellschaftliche bzw. teilgesellschaftliche Verhaltenserwartungen an gesellschaftliche Gruppen in ihrer Rolle (etwa bestimmte Berufe oder geschlechtsspezifische Rollen) im Sinne normativ aufgeladener Normalitätsvorstellungen, solange diese nicht von den jeweiligen Akteuren selbst getragen oder wenigstens als erstrebenswert akzeptiert werden. Leitbilder handeln vom Wollen, nicht vom Sollen. Leitbilder stellen volitive, nicht normative zukunftsbezogene Vorstellungen dar. Ebenso gilt es zu beachten, dass sich aus der gegebenen Begriffsexplikation eine Abgrenzung zwischen sozial konstituierten und geteilten Leitbildern und individuellen Leitvorstellungen ergibt. Individuelle Zukunftsvorstellungen mögen ebenso von sozialwissenschaftlichem Interesse sein, sollten aber nicht unter dem Leitbildbegriff gefasst werden. Leitbilder sind kollektiv geteilte Vorstellungsmuster. Um der Klarheit des Begriffs willen sollte schließlich auch die schwächste Form der propagierten Leitbilder, die Ideen mit Leitbildpotenzial, nicht unter dem Leitbildbegriff gefasst werden, da mit ihnen nicht einmal die Absicht verbunden ist, danach zukünftig sein Denken und Handeln auszurichten. Mit dem genannten begrifflichen Alleinstellungsmerkmal und der ausführlichen Begriffsexplikation lässt es sich rechtfertigen, den Leitbildbegriff als eigene sozialwissenschaftliche Kategorie zu begreifen. Der Begriff Leitbild ist unter der Voraussetzung der gegebenen Explikation nicht durch andere Termini ersetzbar. Die Anwendung der Prüfkriterien zur Frage der Angemessenheit einer sozialwissenschaftlichen Beschäftigung mit Leitbildern hat überdies deutlich gemacht, dass solcherart zukunftsbezogenen Orientierungsmustern zu Recht wachsende wissenschaftliche Aufmerksamkeit zuteil wird.
254
5 Resümee: Zur Neufassung des Leitbildansatzes Es ist ein weites Feld. Theodor Fontane (1896)
5.2 Umrisse eines leitbildbezogenen Forschungsprogramms Auf der Grundlage der vorangegangenen Begriffsexplikation kann auch die Frage beantwortet werden, was die Sozialwissenschaften unter Verwendung der Kategorie Leitbild leisten können. Zu diesem Zweck werden die Aufgaben einer sozialwissenschaftlichen Leitbildforschung skizziert, die das potenzielle Feld einer sozialwissenschaftlichen Beschäftigung mit impliziten und expliziten Leitbildern abstecken. Jenseits einiger vorzunehmender Einschränkungen eröffnet sich für eine sozialwissenschaftliche Beschäftigung mit Leitbildern ein ausgesprochen weites Feld. Abgesehen von einer notwendigen Grundlagenforschung zur sozialwissenschaftlichen Kategorie Leitbild, die sich weitergehend mit der Begriffs- und Theoriebildung sowie mit Analysemethoden zur Rekonstruktion und Untersuchung von echten sowie propagierten Leitbildern beschäftigt, steht für die Sozialwissenschaften ein Umgang mit Leitbildern als analytische Kategorie ebenso wie als praktisches (Gestaltungs-)Instrument zur Disposition.256 Auch für die Skizzierung der Aufgabenfelder ist es sinnvoll, zwischen impliziten und expliziten Leitbildern zu trennen. Sozialwissenschaftliche Forschung zu impliziten Leitbildern betrifft folgende Aufgabenfelder:
a.
b.
Rekonstruktive Leitbildanalyse (Leitbildanalyse im engeren Sinn, Typ II): Zentrales Element einer sozialwissenschaftlichen Leitbildforschung bildet die Leitbildanalyse zur Rekonstruktion von impliziten Leitbildern. Es gilt vorhandene zukunftsgerichtete, wahrnehmungs-, denk- und handlungsleitende Orientierungsmuster zu identifizieren und zu explizieren, um sie einer weiteren Analyse sowie der Reflexion und Diskussion zugänglich zu machen. Hierfür steht die Leitbildanalyse der Forschungsgruppe Umweltbildung der Freien Universität als erprobtes Verfahren zur Verfügung (vgl. Kap. 3.3.4.2). Kontextanalyse der Leitbilder (Leitbildanalyse im weiteren Sinn, Typ III): Die rekonstruktive Analyse geht in eine Kontextanalyse zu Leitbildern über, wenn deren Implikationen, d.h. deren Aussagen, Perspektiven oder Konsequenzen kritisch untersucht werden. Zu diesem Arbeitsschwerpunkt gehört auch die Untersuchung der Auswirkungen von impliziten Leitbildern in bestimmten Handlungsfeldern. Dies betrifft eine historisch ansetzende ebenso wie eine zukunftsgerichtete Leitbildanalyse: Eine retrospektive Leitbildforschung interpretiert bereits erfolgte Entwicklungen in bestimmten Handlungsfeldern anhand der darin aufzufindenden Leitbilder. Hierzu sind in allen Forschungsfeldern bereits Erfahrungen gemacht worden (vgl. insbesondere Kap. 3.2.3, 3.3.4, 3.4.2 und 3.5). Eine prospektive Leitbildforschung stellt einen Ansatz der leitbildgestützten Vorausschau im Sinne der Projektion und Reflexion möglicher und aufgrund der identifizierten Wahrnehmungs-, Denk- und Handlungskorridore plausibler Entwicklungen dar. Die möglichen Konsequenzen und Folgen eines leitbildbasierten Handelns können reflektiert und diskutiert werden (vgl. dazu besonders Kap. 3.5).
256 Die Darstellung der unterschiedlichen Arbeitsfelder der Leitbildforschung orientiert sich an den im Leitbilddiskurs systematisch unterschiedenen Umgangsformen mit Leitbildern (vgl. Tab. 2.2).
5.2 Umrisse eines leitbildbezogenen Forschungsprogramms
255
Leitbildvergleich: Sind die (historisch oder synchron gegebenen) impliziten Leitbilder in einem Handlungsfeld rekonstruiert, können hierzu vergleichende Untersuchungen vorgenommen werden. Unter anwendungsorientierten Gesichtspunkten interessieren hier besonders die Vereinbarkeit von verschiedenen vorfindbaren impliziten Leitbildern und die Suche nach Anschlussfähigkeiten untereinander.
Gegenüber expliziten, also propagierten manifesten Leitbildern ergeben sich für eine sozialwissenschaftliche Leitbildforschung folgende Aufgaben:
Leitbildanalyse (im weiteren Sinn, Typ III): Auch explizite Leitbilder können hinsichtlich ihrer Implikationen und Auswirkungen im Handlungsfeld untersucht werden (siehe dazu die Kontextanalyse weiter oben). Die Sozialwissenschaften verstehen explizite Leitbilder dann mitunter als Gestaltungsinstrumente, greifen darauf jedoch lediglich analytisch zu, formulieren also selbst keine Leitbilder. Erarbeitung von Leitbild-Entwicklungsmethoden (Typ I): Auch wenn die Entwicklung expliziter Leitbilder nicht zum Aufgabenfeld einer leitbildbezogenen Forschung gezählt werden sollte, so können doch die Verfahren der Leitbildentwicklung zum Gegenstand sozialwissenschaftlicher Untersuchung gemacht werden. Der Beitrag der Sozialwissenschaften liegt hier in der Suche nach angemessenen Verfahrensbausteinen zur Leitbildentwicklung und -umsetzung (vgl. dazu bspw. Kap. 3.3.1 und 3.4.3). Leitbild-Evaluation: Explizite Leitbilder müssen sich die Frage nach ihrer Angemessenheit und Wirksamkeit gefallen lassen. Eine Evaluation der expliziten Leitbilder betrifft entweder deren Inhalt, deren Entwicklungs- und Umsetzungsprozess oder deren Effekte. Eine inhaltsbezogene Konzeptevaluation entspricht dabei einer Leitbildanalyse im weiteren Sinne (Typ III), welche die Implikationen und Konsequenzen der untersuchten expliziten Leitbilder aufzudecken hat. Eine Prozessevaluation konzentriert sich demgegenüber auf den Prozess der Entwicklung und Umsetzung eines expliziten Leitbildes (Typ IV). Eine Ergebnisevaluation hat schließlich die Ergebnisse, d.h. die Wirksamkeit, Effekte und Folgen des Handelns, insbesondere der strategischen Planung an den im expliziten Leitbild manifestierten Absichtserklärungen zu messen (vgl. hierzu etwa Kapitel 3.4.4).
Außerdem lassen sich implizite und explizite Leitbilder aufeinander beziehen:
Vergleich von impliziten und expliziten Leitbildern: Es gilt, die in einem Handlungsfeld existierenden verborgenen impliziten Leitbilder mit den propagierten expliziten Leitbildern zu vergleichen und zu prüfen, ob Widersprüche, Brüche, Ungleichzeitigkeit etc. auftreten. Die Resonanz- und Anschlussfähigkeit von neuen expliziten Leitbildern an die gegebenen impliziten ist eine wichtige Voraussetzung, damit Erstere wirksam werden können.
Neben den genannten Aufgabenbereichen ergibt sich aus der Beschäftigung mit der sozialwissenschaftlichen Kategorie Leitbild zu folgenden Fragen weiterer Forschungsbedarf:
256
5 Resümee: Zur Neufassung des Leitbildansatzes
Wie kann die Resonanzfähigkeit von potenziellen Leitbildern bzw. Ideen mit Leitbildpotenzial ermittelt werden? Wie bildet sich ein implizites Leitbild heraus? Wer und was hat Einfluss auf die Ausbildung von Leitbildern? Welche Möglichkeiten gibt es, die Entstehung oder Veränderung eines impliziten Leitbildes zu fördern? Wie lässt sich der Wirkungszusammenhang zwischen Leitbildern und anderen Faktoren innerhalb einzelner Handlungsfelder beschreiben und abschätzen? Wie kann sozialwissenschaftliche Leitbildforschung in gesellschaftliche Gestaltungsprozesse eingebunden werden?
Um die leitbildbezogene Forschung richtig einzuschätzen, müssen auch ihre Grenzen beachtet werden. Aus der vorliegenden Begriffsexplikation sowie aus der kritischen Rekonstruktion der in den Sozialwissenschaften existierenden Leitbildverständnisse und -konzepte ergeben sich Hinweise, was die Sozialwissenschaften in Bezug auf Leitbilder nicht leisten können oder sollten:
Die Sozialwissenschaften können keine impliziten Leitbilder produzieren. Deren Entstehung ist ein allmählicher Prozess, der nicht unmittelbar steuerbar ist. Sehr wohl können die Sozialwissenschaften aber dazu beitragen, Bedingungen der Möglichkeit zur Herausbildung oder Veränderung von impliziten Leitbildern zu schaffen, und nehmen damit eine pragmatische Ausrichtung an. Zu den Aufgaben der Sozialwissenschaften gehört allerdings auch nicht die Vorgabe propagierter Leitbilder (Typ V). Letztlich würde es sich dabei um oktroyierte Leitbilder handeln, die jedoch aus dem Gebrauchsvorschlag zum Leitbildbegriff aufgrund ihrer grundlegenden Differenz zu echten Leitbildern ausgeschlossen wurden. Leitbilder können zwar von den Sozialwissenschaften als (Gestaltungs-)Instrument untersucht, aber nicht sinnvoll als solche eingesetzt werden. Ohnehin verbietet es sich für die Sozialwissenschaften, normative Aussagen darüber zu machen, was erstrebt werden soll. Wiederum alternative Ideen mit Leitbildpotenzial in die Leitbildreflexion und -diskussion einzubringen, steht auch den Sozialwissenschaften als Option offen. Diese sollten jedoch um der Klarheit des Begriffs willen nicht als Leitbilder bezeichnet werden. Auch eine Ableitung von konkreten Zielen und Maßnahmen zur Umsetzung eines Leitbildes (Typ VI), sei dieses nun praktiziert oder propagiert, mental verankert oder manifestiert, sollte vielmehr als eine Aufgabe der Akteure des jeweiligen Feldes angesehen werden (vgl. dazu Kap. 3.2.2, 3.3.1.3 und 3.4.3). Den Sozialwissenschaften kann hier lediglich die Aufgabe zukommen, die Ergebnisse des Planens und Handelns anhand der Leitbilder im Rahmen einer Leitbild-Evaluation kritisch zu bewerten. Schließlich ergibt sich eine letzte Einschränkung der Leitbildforschung in Hinblick auf ihre Prognoseleistung. Für eine Prognose auf der Grundlage von echten Leitbildern erweisen sich die Zusammenhänge, in denen Leitbilder ihre Wirkung entfalten, zu komplex und der sich aus Leitbildern ergebende Denk- und Handlungsspielraum zu groß. Eine Prognose mittels Leitbildern ist damit auszuschließen. Ebenso wenig ist vorhersagbar, welche Idee mit Leitbildpotenzial oder welches propagierte Leitbild sich in Zukunft durchsetzen wird. Hier können lediglich begründete Annahmen formuliert werden, ob und inwiefern ein potenzielles Leitbild resonanzfähig ist sowie welche Akteure eine gewisse Definitionsmacht besitzen, ihre Ideen im Handlungsfeld einzubringen.
5.2 Umrisse eines leitbildbezogenen Forschungsprogramms
257
Der hiermit skizzierte Vorschlag für ein umfassendes leitbildbezogenes Forschungsprogramm steckt die Arbeitsfelder einer mit Leitbildern befassten Sozialwissenschaft ab. Zwar bildet die Leitbildanalyse das zentrale Element einer sozialwissenschaftlichen Beschäftigung mit Leitbildern. Leitbilder geben damit für die Sozialwissenschaften zunächst vor allem eine analytische Kategorie ab. Dennoch lässt sich der Leitbildansatz als pragmatisch ausgerichtet und damit anwendungsorientiert verstehen. Dies wurde bereits am sozialwissenschaftlichen Leitbilddiskurs deutlich (vgl. Kap. 3). Dies gilt aber auch noch für den in der Begriffsexplikation präzisierten Leitbildbegriff und die daraus abgeleiteten Aufgabenfelder einer sozialwissenschaftlichen Leitbildforschung. Mit der Erarbeitung von Leitbild-Entwicklungsmethoden sowie den verschiedenen Formen der Leitbild-Evaluation verbindet sich ein unmittelbar praktisches Forschungsinteresse. Aber auch die sozialwissenschaftliche Leitbildanalyse lässt sich praktisch nutzen. Wo die Ergebnisse einer rekonstruktiven und Kontextanalyse zu impliziten Leitbildern in einen gesellschaftlichen Leitbilddiskurs eingebracht werden, werden die mitunter verborgenen Leitbilder der Reflexion und öffentlichen Diskussion zugänglich gemacht (vgl. dazu auch Kap. 3.3.4.2 und 3.5.4). Hier erfährt der zunächst analytisch orientierte Leitbildansatz eine pragmatische Ausrichtung, indem die Leitbildanalyse in zukunftsgerichtete Verständigungsund Gestaltungsprozesse einbezogen wird.257 Die Zusammenführung von Leitbildanalyse und reflexivem Leitbilddiskurs könnte dabei beispielsweise einen Lösungsansatz für konfliktreiche Kommunikationsprozesse bieten. Eine entsprechende Anwendungsmöglichkeit der rekonstruktiven Leitbildanalyse wurde bereits als sogenanntes Leitbildmanagement angedacht (vgl. Giesel 1998b): Innerhalb des Leitbildmanagements wird – ausgehend von den vorhandenen impliziten Leitbildern und deren Vergleich – der Dialog zwischen den unterschiedlichen Konfliktparteien gestaltet und moderiert. Der Leitbilddiskurs, in den die Ergebnisse der rekonstruktiven Leitbildanalyse zur Reflexion und Diskussion eingebracht werden, ermöglicht es den beteiligten Konfliktparteien, die eigene sowie die gegnerische Position mit den dahinter liegenden zukunftsbezogenen Orientierungsmustern zu reflektieren und in einen Verständigungsprozess über eine geteilte Zukunftsperspektive einzutreten. Eine den Diskurs begleitende vergleichende Leitbildanalyse fragt dann, ob und wo gemeinsame oder aufeinander beziehbare Zukunftsvorstellungen und Grundorientierungen existieren, die eine gemeinsame Perspektive ermöglichen und das Fundament für einen möglichen Konsens – zum Beispiels in einem expliziten Leitbild formuliert – abgeben können. Die sozialwissenschaftliche Beschäftigung mit Leitbildern kann also als pragmatischer Ansatz gelesen werden und fügt sich damit in den aktuellen Trend zur weiteren Pragmatisierung der Sozialwissenschaften ein. Der Pragmatismus fragt nach der Nützlichkeit zur „Schaffung einer besseren Zukunft“ (Rorty 1994, S. 16). Und in diesem Sinne lässt sich eine fortschreitende Pragmatisierung der Sozialwissenschaften feststellen. Diese wenden sich mehr und mehr der Zukunft zu und stellen sich der Herausforderung ihrer Mitgestaltung. Für die Sozialwissenschaften bedeutet das eine stärkere Hinwendung zur Praxis und Anwendungsorientierung, eine stärkere Verknüpfung von Analyse und Gestaltung, von
257 Die (vorläufigen) Ergebnisse des Verständigungsprozesses können schließlich in expliziten Leitbildern festgehalten werden, sodass diese wiederum das Medium zur weiteren Verständigung abgeben (vgl. dazu Kap. 3.4.3, 3.5.4 sowie Prüfkriterium 4 und 9 in Kap. 4.5).
258
5 Resümee: Zur Neufassung des Leitbildansatzes
Forschung und Entwicklung. Neu ist dieser Anspruch freilich nicht.258 Für die Pädagogik etwa ist eine solche Zukunftsorientierung auf der einen Seite und Praxisorientierung auf der anderen Seite bereits Gedankengut und Anspruch mit langer Tradition (bspw. bei Schleiermacher oder Litt). Zukunftsdeutung und -gestaltung haben als Aufgabenfelder für alle Sozialwissenschaften an Bedeutung gewonnen. Gegenwärtig paradigmatisch ist die allerorten in den Sozialwissenschaften zu findende Hinwendung zu einer pragmatisch ausgerichteten Zukunftsforschung, die sich nicht nur mit möglichen und wahrscheinlichen, sondern auch wünschbaren Zukünften und deren Gestaltung befasst. Hierauf geht das folgende und abschließende Kapitel ein und gibt damit einen Ausblick auf ein künftiges Einsatzfeld des sozialwissenschaftlichen Leitbildansatzes.
Die Zukunft wird sich gerade dadurch als echte Zukunft erweisen, daß sie alle, auch die genialsten Antizipationen des ahnenden und planenden Menschengeistes so oder so Lügen straft. Theodor Litt (1929, S. 20)
5.3 Der Leitbildansatz im Kontext einer pragmatisch ausgerichteten Zukunftsforschung Zwar wurde im vorangehenden Kapitel mit den dargestellten Aufgabenfeldern der sozialwissenschaftlichen Leitbildforschung ein umfassendes Forschungsprogramm umrissen. Seinen Nutzen und seine Relevanz entfaltet der Leitbildansatz allerdings vor allem dort, wo er nicht als allein stehender Ansatz genutzt wird, sondern in andere Forschungszusammenhänge, etwa die Zukunftsforschung integriert wird. Die mit der Kategorie Leitbild eingenommene Perspektive lässt sich in eine pragmatisch ausgerichtete Zukunftsforschung einbringen und der Leitbildansatz flexibel mit anderen Verfahren der Zukunftsforschung verbinden.259 Hierauf soll anstelle eines Ausblicks unter folgenden Fragestellungen eingegangen werden: Wie passt sich der Leitbildansatz in die Zukunftsforschung ein? Welchen Beitrag leistet die Leitbildforschung zur Zukunftsforschung und -gestaltung? Zukunftsforschung befasst sich mit der „systematische(n) Erzeugung von Orientierungswissen, das zur Bewältigung kommender Herausforderungen und Krisen beiträgt“ (Steinmüller 1997, S. 27). Das Aufgaben- und Aufmerksamkeitsspektrum der aktuellen Zukunftsforschung beschränkt sich dabei nicht auf klassische Vorhersagetätigkeiten in Form von Prognosen, die mehr oder weniger deterministische Aussagen über die Möglichkeit und Wahrscheinlichkeit bestimmter Zukunftsentwicklungen bzw. -zustände machen. Hinzu kommt die normative Frage nach der Erwünschtheit bestimmter Zukünfte und ihrer Planung bzw. Gestaltung. Zudem wird die Möglichkeit verschiedener Zukünfte in den Vordergrund gerückt und die Vielfalt der Perspektiven berücksichtigt. Zukunftsforschung befasst sich also mit möglichen, wahrscheinlichen und wünschbaren Zukünften und ihrer 258 „(...) die Frage nach der sozialwissenschaftlichen Forschung im Dienste der gesellschaftlichen Praxis (ist) so alt wie die Sozialwissenschaften selbst“ (Dierkes 1996, S. 1). Gleichwohl muss die Beziehung zwischen beiden immer wieder neu definiert werden. 259 Hierfür muss in der Zukunftsforschung der Leitbildbegriff klar und präzise genutzt werden, was derzeit noch nicht der Fall ist (vgl. etwa die Begriffsverwendung bei Kreibich/Sohr 2002; Kreibich 2003). Die vorangegangene begriffliche und konzeptionelle Klärung schafft hierfür eine Grundlage.
5.3 Der Leitbildansatz im Kontext einer pragmatisch ausgerichteten Zukunftsforschung
259
Gestaltung.260 Damit wird die Zukunftsforschung im engeren Sinne durch Aktivitäten zur Zukunftsgestaltung ergänzt.261 Zwar hat die Beachtung der „Wünschbarkeit“ von möglichen Zukünften eine fundamentale Erweiterung der Zukunftsforschung hinsichtlich ihres Aufgabenverständnisses, ihrer Herangehensweise und ihrer Methoden gebracht. Gleichwohl bringt die Kategorie Leitbild hier einen Aspekt ein, der bisher nicht konsequent beachtet wurde. In der Zukunftsforschung werden bislang die Möglichkeit bzw. Wahrscheinlichkeit und die Wünschbarkeit von Zukünften getrennt verhandelt. Die Grundannahme des Leitbildansatzes lautet hingegen, dass die volitive Zukunftsantizipation das zukunftsgerichtete Handeln prägt, die Leitbilder also die Schritte in Richtung auf die angestrebte Zukunft lenken. Der Leitbildansatz stellt eine Verbindung zwischen der erwünschten und für machbar gehaltenen und der wahrscheinlichen Zukunft her. Dabei macht es allerdings einen Unterschied, ob eine Zukunftsvorstellung lediglich wünschbar bzw. wünschenswert ist oder tatsächlich erwünscht und in diesem Sinne aktiv verfolgt wird, also denk- und handlungsleitend ist. In der begrifflichen und theoretischen Aufarbeitung der Kategorie Leitbild wurde zwischen wünschenswerten und aktiv erstrebten Zukunftsentwürfen unterschieden. Diese Unterscheidung schlägt sich in der Differenz von praktizierten (echten) und propagierten Leitbildern nieder. Die Kategorie Leitbild verweist im impliziten Kernverständnis auf die denk- und handlungsleitenden, zukunftsbezogenen Orientierungsmuster und bringt damit einen spezifischen Aspekt in die Zukunftsforschung ein. Der Beitrag der sozialwissenschaftlichen Leitbildforschung für die Zukunftsforschung besteht vor allem darin, die erwünschten und für machbar angesehenen Zukunftsvorstellungen, also die impliziten Leitbilder zu identifizieren und ihre Implikationen, Konsequenzen und möglichen Auswirkungen zu analysieren. Zwar sind Prognosen mit Hilfe von impliziten Leitbildern ausgeschlossen. Denkbar ist jedoch eine prospektive Leitbildforschung, die plausible zukünftige Entwicklungen aufgrund der identifizierten Leitbilder projiziert, indem die mit einem Leitbild verbundenen Wahrnehmungs-, Denk- und Handlungskorridore sowie die möglichen Konsequenzen des auf einem bestimmten Leitbild beruhenden Handelns reflektiert werden. Ebenso kann die Leitbildforschung einen Beitrag zur Zukunftsgestaltung leisten. Leitbilder stellen für die Sozialwissenschaften vor allem eine analytische Kategorie dar, geht es hier schließlich zuallererst um die Analyse von impliziten wie expliziten Leitbildern. Der Beitrag der sozialwissenschaftlichen Leitbildforschung für Gestaltungsprozesse liegt also zunächst in der Identifikation und Artikulation, Reflexion und Diskussion grundlegender zukunftsbezogener Orientierungsmuster. Die Ergebnisse der Leitbildanalysen können dabei in den gesellschaftlichen bzw. jeweiligen Fachdiskurs eingebracht werden. Der sozialwissenschaftliche Leitbildansatz kann damit zu einem Reflexionsinstrument im Rahmen von gesellschaftlichen Verständigungs- und Gestaltungsprozessen ausgearbeitet werden.262 Der 260 Vgl. hierzu Graf 2003, 362; Kreibich 2004; ausführlicher Steinmüller 1997. 261 Demgemäß spricht man heute statt von Forecasting im Sinne der Vorhersage eher von Foresight im Sinne offener Verfahren der Vorausschau (vgl. Steinmüller 1997, S. 11). Beispielhaft für eine auf Zukunftsgestaltung ausgerichtete Vorausschau ist der vom Bundesministerium für Bildung und Forschung initiierte „deutsche Forschungsdialog Futur“ (vgl. BMBF 2003; www.futur.de bzw. www.bmbf.de/de/6502.php). 262 Anwendbar wäre dieser Ansatz über die spezifischen derzeit bereits mit Leitbildern agierenden Forschungsfelder hinaus auch im allgemeinen gesellschaftspolitischen Kontext. Vorstellbar ist beispielsweise die Integration von Analyse, Reflexion und Diskussion der vorhandenen impliziten Leitbilder in gesellschaftliche Beteiligungsprozesse, um die dem Agieren und Argumentieren der Akteure zugrunde liegenden zukunftsbe-
260
5 Resümee: Zur Neufassung des Leitbildansatzes
Leitbildansatz erhält aber auch insofern eine anwendungsorientierte Ausrichtung und trägt damit zur Zukunftsgestaltung bei, als die Sozialwissenschaften Leitbild-Entwicklungsprozesse begleiten und methodisch fundieren oder Leitbildevaluationen durchführen können. Die Entwicklung von expliziten Leitbildern und ihre Umsetzung sollte hingegen den Akteuren des jeweiligen Feldes überlassen bleiben. Schließlich bleibt die Frage, wie die Leitbildforschung mit anderen Verfahren der Zukunftsforschung und -gestaltung verknüpft werden kann. Zum Methodenkern einer pragmatischen Zukunftsforschung gehören neben klassischen Prognoseverfahren (bspw. Trendexploration) und Expertenbefragungen (bspw. mit Hilfe der Delphi-Technik) Szenariomethoden und Kreativmethoden (vgl. Steinmüller 1997). Die mehr oder weniger komplexen Kreativmethoden wie Zukunftskonferenzen, Zukunftswerkstätten oder Brainstorming zielen als partizipative und (im oben genannten Sinne) normative Verfahren ausdrücklich auf Zukunftsgestaltung ab. Auch für die seit den 1970er Jahren immer breiter zum Einsatz kommenden Delphi- und Szenariomethoden gilt eine wachsende Gestaltungs-, Akteurs- und damit Partizipationsorientierung. Damit einher geht die Betonung diskursiver bzw. kommunikativer Aspekte. Zukunftsstudien bedienen sich dabei jeweils kombinierter und variierter Verfahren und Methoden, sodass die Flexibilität und Kombinierbarkeit der Methoden an Bedeutung gewonnen hat. Insgesamt ist der Bedarf an flexiblen, offenen und partizipationsorientierten Methoden gestiegen (vgl. ebd., S. 46ff.).263 So wie die einzelnen Methoden der Zukunftsforschung nicht als geschlossene Verfahren genutzt werden, sondern in unterschiedlichen Kombinationen und Varianten in Zukunftsstudien zum Einsatz kommen, so sollte auch die Leitbildforschung mit den genannten Arbeitsschwerpunkten bzw. die Kategorie Leitbild variabel in die Zukunftsforschung integriert werden. Der Leitbildansatz sollte also nicht singulär betrachtet, sondern mit anderen Instrumenten, Methoden und Verfahren der Zukunftsforschung und -gestaltung verknüpft werden. Vereinzelt findet man entsprechende Konzepte bereits in unterschiedlichen leitbildbezogenen Forschungs- und Handlungsfeldern. Die Anwendungs- und Kombinationsmöglichkeiten des Leitbildansatzes sind dabei lange noch nicht alle angedacht, geschweige denn ausgeschöpft. Eine Verbindung des Leitbildansatzes bietet sich etwa mit der Delphi-Technik oder der Szenariomethode an. So wurden bereits mit Hilfe eines Delphi-Verfahrens Leitbilder der Stadtentwicklung analysiert (vgl. Schäfers/Köhler 1989; Kap. 3.4.2.3). Und in der raumbezogenen Planung werden Szenarien und explizite Leitbilder miteinander verbunden (vgl. Kap. 3.4.3). Bei der Entwicklung von Zukunftswünschen und -plänen sollten die bereits vorhandenen impliziten Leitbilder stets beachtet werden, damit nicht nur wünschbare Zukünfte, sondern die tatsächlich denk- und handlungsleitenden, zukunftsbezogenen Orientierungsmuster einbezogen werden. Andererseits können verschiedenste Kreativmethoden zur Entwicklung von expliziten Leitbildern eingesetzt werden. Die Entwicklung eines expliziten Organisationsleitbildes ist bereits mit der Großgruppenmethode der Zukunftskonferenz verbunden worden (vgl. Nazarkiewicz 2003). Strigl (2003) verknüpft die Leitbildentwicklung mit einem ganzen Set an Methoden, etwa dem Open Space-Verfahren, den Zukunftswerkstätten und -konferenzen oder dem Backcasting-Ansatz.264 Ebenso ist die Rolle von Leitzogenen Orientierungsmuster aufzudecken und in den Verständigungsprozess offen mit einzubeziehen. Vergleiche die Hinweise zum Leitbildmanagement in Kapitel 5.2. 263 Hier finden also die wachsende Gestaltungs- sowie Partizipationsorientierung im Umgang mit expliziten Leitbildern und die Bedeutung der Reflexion und Diskussion von impliziten Leitbildern eine Entsprechung. 264 Zu den einzelnen genannten Verfahren vgl. auch Jungk/Müllert 1989, Steinmüller 1997, Böttger 1999.
5.3 Der Leitbildansatz im Kontext einer pragmatisch ausgerichteten Zukunftsforschung
261
bild-Entwicklungsprozessen als Instrument der informellen, kooperativen Planung im Kontext einer komplexen Regional- und Stadtentwicklung ausgearbeitet worden (vgl. Knieling 2000).265 Schließlich bietet sich der Leitbildansatz auch für Methoden der Konfliktregulierung, etwa für Mediationsverfahren an. Leitbildanalysen und Leitbilddiskurse helfen dabei, die verborgenen zukunftsbezogenen Orientierungsmuster der Konfliktparteien aufzudecken und der Diskussion zugänglich zu machen. Erste Überlegungen zu einer Nutzbarmachung des Leitbildansatzes für Verfahren der Konfliktregulierung sind von mir im Rahmen eines Projektentwurfs zu einem „Leitbildmanagement für einen reflexiven Dialog um den nachhaltigen Einsatz von Biotechnologien in der Umwelttechnik“ angestellt worden.266 Leitbilder haben angesichts der veränderten gesellschaftlichen Situation und der Anforderungen, die sich daraus für die Sozialwissenschaften ergeben alle Chancen, in Zukunft als eine zentrale sozialwissenschaftliche Kategorie genutzt zu werden. Der Leitbildansatz könnte zu einem zentralen Forschungsansatz avancieren, der sich mit erstrebten bzw. wünschenswerten Zukunftsantizipationen befasst und damit auf eine spezifische Weise zur reflektierten Gestaltung der Zukunft beiträgt. Leitbildforschung empfiehlt sich damit nicht zuletzt als brauchbarer Beitrag zu einer künftig an Bedeutung gewinnenden pragmatischen Zukunftsforschung. Die vorgelegte Klärung der sozialwissenschaftlichen Kategorie Leitbild bietet hierfür ein begründetes begriffliches, theoretisches und konzeptionelles Fundament.
265 Zur Kombination des Leitbildansatzes mit anderen Planungsinstrumenten vergleiche besonders den Leitbilddiskurs in der raumbezogenen Planung und Forschung, Kap. 3.4.3. 266 Vgl. Giesel 1998b; zur Idee des Leitbildmanagements vgl. auch Kap. 5.2.
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