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Das Buch Stolz präsentiert der König von Benwick dem Hofmagier Merlin seinen neugeborenen Sohn Lancelot. Während der alte Zauberer das Kind segnet, ereilt ihn eine düstere Vision: Lancelot wird der mächtigste Ritter aller Zeiten werden, jedoch Sieg und Verderben zugleich über Artus bringen. Als die Ländereien des Königs bald darauf dem brandschatzenden Feind anheim fallen, flieht dieser mit seiner Gemahlin und dem Kind auf ein Schiff. Doch der königlichen Familie ist kein Glück beschieden. Der Herrscher selbst stirbt noch während der stürmischen Überfahrt, das Schiff aber strandet, und seine Gemahlin irrt verzweifelt durch die einsamen, fremden Sümpfe. Als Lancelot ihren Händen entgleitet und von den Wassern nach Avalon gesogen wird, verfällt die Königin dem Wahnsinn. Der Knabe aber wächst unter der Obhut Brigids auf der geheimnisumwobenen Insel der Apfelbäume heran. Beseelt von dem Wunsch, ein Ritter der Tafelrunde zu werden, übt er sich unablässig in der Kampfkunst und erstreitet sich von einem Eindringling eine Rüstung mitsamt Schwert. Bald darauf kehrt er Avalon den Rücken und zieht nach Camelot - wo sein weiteres Schicksal bereits auf ihn wartet ... Der Autor Der amerikanische Schriftsteller J. Robert King wurde mit Romanen zu phantastischen Spieleserien bekannt. Lancelots Rache ist nach Merlins Fluch (01/13870, ebenfalls im Heyne Verlag erschienen) sein zweites großes Epos aus der Artus-Saga. Der Autor lebt und arbeitet in Burlington, Wisconsin.
J. R OBERT K ING
Lancelots Rache Roman Deutsche Erstausgabe
WILHELM HEYNE VERLAG MÜNCHEN HEYNE ALLGEMEINE REIHE Band-Nr. 01/13927 Titel der amerikanischen Originalausgabe LANCELOT DU LETHE Deutsche Übersetzung von Jürgen Langowski
Für Gabriel, meinen Galahad: Der Sohn wird den Vater übertreffen.
Inhalt Prolog Geburt und Segen ..................... 9 1. Zwischen Feuer und Wasser .................... 17 2. Knabenzeit................................. 28 3. Von Waffen und Rüstungen..................... 36 4. Ritter in Avalon ............................. 44 5. Die Reise nach Camelot........................ 53 6. In der Kampfbahn............................ 63 7. Einweihung ................................ 76 8. In der Obhut der Feen......................... 84
9. Ritterlicher Bote............................. 93 10. Die vier Königinnen..........................104 11. Die Rose und die Biene .......................113 12. Kämpfer und Beobachter......................125 13. Auch Engel können fallen .....................136 14. Tribut an die Königin ........................147 15. Nach Avalon...............................161 16. Wahrhaftig sein ............................172 17. Feuer des Himmels..........................183 18. Die Wahl der Liebenden.......................194 19. Wer sind wir? .............................204 20. Zwei Arten von Liebe ........................214 21. Tote und lebende Brüder......................224 22. Der Rabe und die Rose .......................235 23. Hindernisse ...............................¿40 24. Ein Mittsommernachtstraum...................257 25. Der Gral und die Lanze .......................268 26. Stadt in Glut und Asche.......................279 27. Opfer....................................290 28. Die Schlacht von Benwick .....................300 29. Kriegsvorbereitungen ........................312 30. Die Belagerung beginnt.......................323 31. Schlimme Neuigkeiten........................334 32. Verbündete ...............................346 33. Die Schlacht von Dover.......................360 34. Abmachungen..............................371 35. Die Schlacht von Camlaun .....................383 36. Tod.....................................393 37. Nur die kleinen Dinge ........................405 Vorboten und Vorzeichen .....................413
Prolog Geburt und Segen Es war ein einfacher Zauberspruch, der Merlin über den Kanal befördern konnte, doch er musste sich dazu die Füße nass machen. So hob er den grauen Reisemantel an, drehte die Hacke, öffnete einen Wasserschlauch und ließ einen kleinen Strahl von Avalons Wasser auf das vernarbte Leder seines Stiefels rinnen. Als er den zweiten Fuß hob, spritzte ein wenig Wasser auf den Boden. Wieder ein Guss. Dann richtete er sich auf und sah sich um. Der größte Teil Merlins befand sich im Vorraum von Artus' Palast Camelot, doch die Fußsohlen standen im Wasser Avalons.
Er hatte Freunde in Avalon und dazu eine ganz besondere Freundin. Nyneve. Wo es Wasser gab, da war auch Nyneve. Wo Nyneve war, da war Merlin willkommen. Sie packte seine Hacken und zerrte ihn nach unten. Er versank im Boden wie in einem tiefen Brunnen. Die weißen Mauern Camelots verschwanden und wichen den kalten Strömen und dem Pulsschlag der Anderwelt. In der tosenden Dunkelheit zwischen den vom Wasser glatt geschliffenen Felsen sprach sie: Wohin willst du reisen, Merlin? Trotz der vielen Jahre bezauberte ihn ihre Stimme noch immer. Er würde die ganze Welt für sie aufgeben - bald, aber noch nicht heute ... Benwick. Wir müssen König Ban besuchen. Wir müssen Krieger für die Schlacht am Mount Badon sammeln. Selbst hier, in den sprudelnden Tiefen, erzeugte der Name einen ängstlichen Schauder. Wenn wir nicht die Truppen von Ban und Bors gewinnen, ist Camelot dem Untergang geweiht. Camelot ist so oder so dem Untergang geweiht. Sie zuckte zusammen, die Worte waren ihr unbedacht entschlüpft. Merlin hielt sich fest. Was meinst du damit? Nur, dass Camelot sterblich ist, genau wie du, Merlin. Ich fürchte mich 4
vor dem, was am Mount Badon geschehen wird. Ich fürchte, du könntest sterben. Lass dies die letzte Gunst sein, die du den Sterblichen erweist, und dann wollen wir uns für immer in die Höhle der Verzückung zurückziehen. Die meisten Kavaliere pflückten Blumen für die Angebeteten. Merlin hatte ihr eine ganze Welt erschaffen. Sei nicht so begierig darauf, in meinen Himmel zu kommen, meine Liebste. Tore aus Perlen halten dich genauso gefangen wie Tore aus Eisen. Das Leben der Sterblichen ist das wahre Leben — mit all den blutigen Fehden, der Blutschande und den tödlichen Ränken der Politik. Selbst die Engel sehnen sich danach, einen Blick auf das Leben der Sterblichen zu erhaschen. Sie schwieg, während sie ihn zu den Wasseradern Galliens zog. Ich sehne mich nicht nach einem Blick in diese Welt. Ich bringe dich nach Benwick, mein Liebster, aber ich werde im Brunnen auf dich warten. Wenn du dich um gefährliche Politik kümmern willst, so musst du es allein tun. Solange du nur auf mich wartest, soll es mir recht sein. Sie schwammen einen unterirdischen Fluss hinauf und erreichten eine mächtige Wasserader. In einem römischen Aquädukt kamen sie heraus und ließen sich nach Benwick treiben. Ein Teil des Wassers wurde in Bäder und Zisternen abgezweigt, doch Nyneve und Merlin folgten den Rohren, die bis zu einem großen Springbrunnen im Hofe von König Ban führten. Aus dieser Flut erhob sich Merlin. Sein alter Mantel war tropfnass. Zwischen den makellos gemeißelten Figuren tauchte er als formlose Gestalt auf und streckte den Kopf heraus wie eine nach Luft schnappende Forelle. Die Leute am Brunnen wichen keuchend zurück. »Ein Wassergeist, ein Wassergeist!« »Hat sich was mit Geist«, spuckte Merlin. Mit jedem Wort spritzte eine Gischtfontäne aus Schnauzer und Bart. Er schüttelte sich wie ein Hund und benetzte die Gaffer in der Nähe. Brokatstoff klebte feucht an der Haut der Höflinge, feines Tuch warf Falten auf der Haut der Knappen. Merlin kümmerte sich nicht weiter darum, sondern schwang ein Bein über den Beckenrand und betrat Benwicks Reich. 4
Ein letztes Mal schüttelte er den Kopf. Weiße Locken schleuderten eine neue Ladung Wasser in den Hof. »Ich habe dringende Nachricht für König Ban. Bitte tretet zur Seite.«
»Das werde ich gewiss nicht tun«, kam eine kühne Antwort. Der barsche Ton verriet Merlin sofort, wer der Sprecher war. »Denn ich bin der, den Ihr sucht.« Ban war ein aufgeräumter Kerl mit kurz geschnittenem schwarzem Haar und Bart. Er trug ein schmales Diadem in römischem Stil, und seine Augen funkelten belustigt. Merlin lächelte, als er den Freund sah, und fasste Ban bei den Händen. »Seid gegrüßt, Majestät. Ich wünschte, wir könnten uns unter günstigeren Umständen wieder sehen.« »Unter günstigeren Umständen?«, fragte Ban erstaunt. »Könnte es denn günstigere Umstände geben als diese? Die Kriege mit Claudas liegen dank Artus hinter uns. Das Land blüht auf und genießt großen Wohlstand. Mein Palast hat noch nie so prächtig ausgesehen. Mir wird sogar die Gelegenheit zuteil, den Hofmagier von Camelot zu bewirten, der gerade aus meinem Wasserspiel gestiegen ist. In Benwick lebt es sich vortrefflich, und die Leute haben beschlossen, ihren Tod vorläufig aufzuschieben. Es ist himmlisch hierzulande.« »Seid da mal nicht so sicher«, warnte Merlin. König Bans Zähne blitzten zwischen den Bartstoppeln. Er legte den Arm um Merlins Schulter. »Nun gut. Warum seid Ihr also hergekommen, Merlin?« »Ich soll Euch für Artus um Hilfe gegen die Horden der Sachsen bitten.« »Artus hat mir den Frieden geschenkt, er hat tausende meiner Soldaten gerettet«, erwiderte Ban nachdenklich. »Ihm habe ich mein Leben zu verdanken. Ich würde für ihn durchs Höllenfeuer gehen - und es klingt, als müsste ich dies nun tun.« »Allerdings, doch ist es ein Brand von einer ganz anderen Art«, erwiderte Merlin. »Wenn die Sachsen beim Mount Badon siegen, werden sie die ganze Mittelmark einnehmen. Wir würden dann von fremden Gottheiten und heidnischen Horden unterworfen.« Bans Lächeln wirkte mit einem Mal ein wenig verkrampft. »Eine Horde ist eine Horde, und eine christliche Horde ist nicht besser als 5
eine heidnische.« Er knirschte mit den Zähnen. »Doch für Artus - ja, ich werde meine Truppen schicken.« »Ich denke, er hat wohl zwanzigtausend Eurer Soldaten gerettet«, drängte Merlin. »Ob er hoffen kann, dass Ihr ihm nun den zehnten Teil davon schickt?« »Oh, ich gebe ihm mehr als zweitausend. Ich schicke eine ganze Legion — meine beste sogar. Wozu brauche ich die Soldaten im Frieden? Und auch mein Bruder Bors wird eine Legion schicken, wenn Ihr ihn fragt.« Merlin nickte dankbar. »Ihr seid überaus großzügig. Ich danke Euch. Ich muss jetzt gehen, denn uns bleibt nicht viel Zeit. So werde ich nun mit Bors sprechen.« »Wartet«, sagte König Ban. Er hob die Hand. »Ich will Euch noch um eine kleine Gefälligkeit bitten.« Er deutete zu einem Durchgang. »Kommt mit, mein Freund, und schaut mit mir die Zukunft meines Königreichs.« Mit einer Hand führte König Ban Merlin über die nassen Steine des Hofs, während die Finger der anderen schnippend einen Befehl erteilten. Edelleute wichen zur Seite, und Diener eilten durch den Bogengang voraus, um alles vorzubereiten. Merlin fügte sich ergeben. Seine Stiefel quietschten und gluckerten bei jedem Schritt. Benwicks Zukunft - welches hässliche Bild mochte sie am besten darstellen? Ein schmieriges Schwein, das den gierigen Händen des Bauern entkommt? Eine betagte Pastete mit verschimmelter Kruste? Ein Trompeter mit dicken Lippen und einem Ohr aus Blech? Derart unfreundliche Gedanken schössen Merlin durch den Kopf, als er durch den Gang lief. Es dauerte eine Weile, bis sie eine kleine Nähstube erreichten. Das Zimmer war warm,
und viele Menschen hielten sich darin auf. Dienerinnen mit Hauben drängten sich wie ein Chor von Engeln strahlend um ihre Madonna — die blonde Königin Elaine mit ihrem Säugling. Merlin sank auf die Knie und legte staunend die Hände auf die Wangen. Alte Augen starrten das Neugeborene an. »Lancelot ist sein Name«, erklärte König Ban, der neben ihm stand. »Mein Sohn. Der Erbe meines Throns.« 6
Merlin gaffte wie benommen. Nie wieder, seit er Artus als Kind gesehen hatte, war ihm solche Schönheit begegnet. Glatt und weich und rein war die Haut, lebendig und göttlich. Ein Knabe, den man als Inbegriff von Ruhm und Schönheit ansehen konnte. Merlin war fast geblendet und musste den Blick abwenden. Er schirmte die Augen ab, doch es war zu spät. Schon hatte ihm das Strahlen eine Vision eingegeben. Er sah Camelot in Trauerfarben. Alle weißen Wände waren mit schwarzen Bannern behängt. Die Pritschen der Garnison waren verwaist. Dicht an dicht ruhten die Krieger in Grabstätten - wenn sie Glück hatten —, oder sie lagen verstreut auf vergessenen Schlachtfeldern. Ein mächtiger Feind hatte sich erhoben und die Ritter dezimiert, Artus getötet und Camelot dem Vergessen anheim gegeben. Dieser große Feind lag jetzt in Windeln vor Merlin. »Lancelot«, schnaufte der alte Mann entsetzt. »Das ist aber ein schöner Name.« König Ban strahlte. »Endlich ward mir ein Erbe geschenkt. Ich werde ihm ein friedvolles Königreich hinterlassen, und er wird es regieren, wenn ich abgetreten bin. Er wird die Welt verändern, Merlin.« »Ja, das wird er«, erwiderte Merlin bedrückt. »Dann segnet ihn, Merlin«, drängte König Ban ihn. »Ihr genießt die Gunst des wahren Gottes und all der falschen Gottheiten. Segnet ihn.« Ihn segnen? Dieses Kind, das sich erheben und alles vernichten würde, was König Artus am Mount Badon zu erreichen suchte? Sollte er das Kind nicht besser verfluchen? Oder gleich an Ort und Stelle umbringen? Was zählte eine Legion von Bans Männern, was zählte eine Legion von Bors Männern, wenn dieses Kind ganz allein deren Werk wieder zu zerstören vermochte? Schweigen senkte sich über den Raum. Merlin öffnete den Mund, um die lastende Stille zu durchbrechen. Was er schließlich sagte, überraschte ihn sogar selbst. »Dieses Kind ... dieser Lancelot ... er wird der größte Ritter werden, der je gelebt hat.« Schönheit lag in diesem Kind, doch auch Verderben. Noch nie hatte Merlin ein Kind von solch irdischer wie überirdischer Schönheit 6 gesehen. Nicht die Parzen hatten ihn erschaffen. Lancelot war das Kind Fortunas, ein glücklicher Zufall und ein unverhofftes Zusammentreffen - der richtige Knabe im richtigen Augenblick am richtigen Ort. Der reine Zufall ist es, der Wunderbares und Schreckliches entstehen lässt, und Lancelot vereinte beides in sich. »Nun segnet ihn doch schon«, drängte der König zähneknirschend. Segne ihn oder töte ihn. Alles Sterbliche ist dem Untergang geweiht. Das Leben der Sterblichen ist das wahre Leben. Auf dieses Streben werfen selbst die Engel sehnsüchtige Blicke. Welch ein Verbrechen, den kleinen Sohn eines Verbündeten zu töten. Welch ein
Verbrechen, das Kind zu segnen, das ein ganzes Land zerstören sollte. Es war Wahnsinn, so oder so. Merlin tastete nach dem Gürtel. Dort steckte sein Dolch, und dort war auch der Wasserschlauch. Merlin packte den Schlauch, der mit dem Wasser Avalons gefüllt war. Es war zweifellos die gefährlichere Waffe. Er zog den Stöpsel ab und ließ einen Strahl auf seine verschrumpelten Finger laufen. Dann legte Merlin dem Jungen die Hand auf die Stirn. Mit den Fingern konnte er den weichen Schädel umschließen. Er spürte die Lücken zwischen den wachsenden Knochen, die nachgiebigen Stellen, die bei der Geburt so nützlich waren und die es ihm jetzt erlaubt hätten, das Kind mühelos zu töten. Das Wasser von Avalon rann über Lancelots winzigen Kopf und sammelte sich in den Höhlen um die blauen Augen. »Ich segne dich, mein Kind, mit den Worten des alten Täufers, der einst sagte: Und ich kannte ihn nicht, hätte es mir derjenige, der mich schickte, nicht gesagt. So wachse heran, Lancelot, wie es jedes Kind unter dem Himmel tut, und werde, was zu werden dir bestimmt ist.« Merlins Hand zitterte, als er sie zurückzog. Ihn schwindelte. König Ban fasste seinen Ellbogen. »Er lässt Euch taumeln?« »Ja.« Merlin nickte. »Ich schwanke vor Schwäche.« »Er wird noch mehr tun als das. Wunder wird dieser Knabe wirken ...« »Er wird die Welt verändern.« »Er wird mehr sein als der größte Ritter, der je gelebt hat«, drängte 7
Ban. »Das Schicksal wird ihn zum größten König aller Zeiten machen.« »Das Schicksal ist ein anderes Wort für Entscheidungen, die noch nicht gefallen sind«, unterbrach Merlin ihn. Der König deutete auf seinen Erben, als wollte er Merlins Gedankengang fortsetzen. »Glaubt mir, er wird an Größe sogar Artus ebenbürtig sein.« »Ganz gewiss.« »Gegenüber König Lancelots Herrschaft wird Camelot eine Posse sein.« Merlin holte tief Luft. »Ich kann Euch nicht widersprechen.« »Gut«, antwortete der König. Er nahm von einem Diener, der beflissen in der Nähe gewartet hatte, einen schäumenden Krug entgegen. »Auf Lancelot.« Merlin, ebenfalls mit einem Krug versorgt, stimmte ein. »Auf Lancelot.« Die metallenen Krüge stießen scheppernd zusammen, das Gebräu schwappte über die Ränder. Die Männer tranken. »Ich danke Euch, König Ban, für Eure großzügige Gastfreundschaft. Lehrt auch Lancelot den Wert der Gastfreundschaft. Lehrt ihn, jeden ins Herz zu schließen, dem er begegnet, vor allem sich selbst.« »Wie immer sprecht Ihr kluge Worte, weiser alter Mann«, erwiderte König Ban. Merlin schüttelte traurig den Kopf. »Wenn ich die Wahrheit verkünden sollte, müsste ich sagen, dass Lancelot Artus' liebster Schützling und zugleich sein größter Feind sein wird.« Entsetzt verzog König Ban das Gesicht. Er starrte das zarte Gesicht des Knaben Lancelot an. »Wie könnt Ihr so etwas über seine Zukunft sagen? Zur Hälfte Engel und zur Hälfte Teufel soll er sein? Und selbst wenn Ihr Recht habt, alter Weiser, wie könnt Ihr mir und meiner Königin so etwas sagen?«
»Verzeiht mir«, erwiderte Merlin und verneigte sich tief. Er kehrte Lancelots strahlendem Antlitz den Rücken und schritt über feuchte Teppiche zurück zum Brunnen. »Habt Dank für die Truppen.« »Mein Bruder freut sich gewiss, Euch zu sehen, und wird Euch weitere Männer geben«, versprach König Ban. 8
Merlin lächelte. »Gut. Ich werde ihm alles berichten, was sich ereignet hat. Ich werde ihm von Badon Hill und von den Sachsen erzählen, von den Legionen und den Toten. Wenn er dann immer noch Truppen schicken will, werde ich ihm auf Knien danken.« »Das wird nicht nötig sein.« Als Merlin in den Brunnen getreten war, schnippte er mit den Fingern. »Wir werden sehen.« Nyneve ergriff ihn, und wieder bewegten sie sich rasch durch das Grundwasser von Benwick. Hat er dir die Soldaten gegeben, die du brauchst? Ja, und er war großzügig, doch er gab mir einen mehr, als ich haben wollte. Sie schien mit den Achseln zu zucken. Welche Rolle spielt schon ein einziger Krieger? In diesem Fall ist einer mehr der Untergang. 8
1. Zwischen Feuer und Wasser »Es war kein Segen, es war ein Fluch«, sagte König Ban zu sich selbst. Er grollte und knirschte mit den Zähnen, während er die Worte sprach. »So etwas über meinen Sohn zu sagen — das war ein Fluch.« Ban stand im Kaminzimmer der Burg Benwick. Die kostbaren Glasfenster boten nach Westen und Osten hin einen weiten Ausblick. Im Westen brodelte der Atlantik unter einem blutroten Sonnenuntergang. Im Osten verbrannte die Stadt Benwick unter dem Ansturm eines einfallenden Heeres. Claudas' Soldaten schwärmten durch die Hügel. Sie hatten Fackeln mitgebracht - Fackeln für die Häuser und Schwerter für die Besitzer. Tausend Feuer loderten schon in den Hügeln. Tausend Hütten brannten lichterloh. Der Wind entfachte scharenweise kleinere Flammenherde. Brandpfeile flogen über die kaum bewachten Wälle und stanzten schwarze, kokelnde Löcher in die Strohdächer dahinter. So schnell, wie Claudas' Truppen gegen Benwick marschierten, so schnell verließen die Bürger den Ort. Gefangen zwischen Feuer und Wasser, drängten sie sich an den Hafenmolen und sprangen auf alles, was schwimmen wollte. »Meine beste Legion - fort in Britannien«, brummte König Ban. »Bors' beste Legion - fort in Britannien. Merlin hat uns die Verteidigung geraubt. Er gewinnt, und wir verlieren.« »Was sagst du, mein Liebster?«, fragte Elaine. Die große, gertenschlanke Königin war unbemerkt an seine Seite getreten. Sie stillte den kleinen Lancelot. »Was sagtest du über Merlin?« König Ban ließ entmutigt den Kopf hängen. Der Schimmer der brennenden Stadt spiegelte sich in seinen Augen. »Wir müssen uns allmählich über neue Wege Gedanken machen, meine Liebe.« »Neue Wege?« Instinktiv drückte sie Lancelot fester an sich. »Welche neuen Wege?« 8
Wir müssen neue Wege einschlagen, statt einfach hier auszuharren und zu sterben, hätte er am liebsten gesagt. Doch Ban war kein grausamer Mann. Er wandte sich an seine Frau und umarmte sie und das Kind. »Lancelot hat eine Zukunft, eine große Zukunft, und daran musste ich denken. Bevor Lancelot geboren wurde, hätte ich hier ausgeharrt. Jetzt, da ich einen Sohn habe, einen Erben, wäre es dumm, sich gegen übermächtige Kräfte zu stellen ...« Viel zu spät unterbrach er sich. Er zog sich ein wenig von ihr zurück und sah ihr in die Augen. Wo zuvor eine Frage gewesen war, sah er jetzt Verzweiflung. »Kaum eine Stunde ist es her, da hast du noch gesagt, die Stadt werde diesem Ansturm widerstehen. Du sagtest, allein die zweite Legion zähle mehr Kämpfer, als Claudas aufbieten könne.« »Voreilig gesprochene Worte, um zu beruhigen und nutzlose Sorgen zu vertreiben«, erklärte Ban betreten. »Jetzt aber müssen wir uns Sorgen machen. Nicht um mich und nicht um dich, meine Liebe, sondern um Lancelot.« Sie holte tief Luft. Lancelot schrie wie am Spieß. Elaine war schlank und zart, aber dennoch kräftig. Als sie dem Kind ins Antlitz sah, verhärtete sich ihr Gesicht. »Was also sollen wir tun?« König Ban näherte sich ihr wieder. »Komm mit. Es ist nur eine Kleinigkeit und leicht zu bewerkstelligen.« Er fasste ihren Ellenbogen und schob sie zur Tür. »Lass uns hinunter in die Küche gehen, meine Liebste.« Die Tür schwang auf, und sie traten auf die Wendeltreppe aus glatt geschliffenem Stein. Bronzelampen, die Olivenöl verbrannten, dufteten und beleuchteten den Abstieg. König Ban lockte seine Gemahlin die Treppe hinunter. »Die Bauern fliehen aus der Stadt, wie die Ratten das sinkende Schiff verlassen. Sie wissen, was kommen wird. Claudas lässt sie laufen, weil Bauern immer zurückkehren. Ein Herr ist ihnen so gut wie der Nächste. Er hat es auf den Adel abgesehen -auf uns und auf unseren Sohn ...« »Bitte, Ban«, widersprach Elaine zaghaft. »Claudas wird die Burg erreichen. So viel ist sicher. Vielleicht wird er schon in einer Stunde diese Treppe heraufsteigen. Wenn wir bleiben, sind wir dem Untergang geweiht. Wenn wir als König und Kö 9
nigin und Prinz fliehen, sind wir noch schlimmer dran, weil uns das eigene Volk töten wird. Wenn wir aber nicht ganz so wichtig sind ...« Er brach mitten im Satz ab, als er mit seinen königlichen Angehörigen durch den Dienstboteneingang die Küche betrat. Es war ein niedriger Raum, die Balken lagen dicht über Bans Kopf. Breite Feuerstellen sperrten die schwarzen Mäuler auf. Die Überbleibsel eines gebratenen Tiers spuckten noch über glühenden Zweigen. Gusseiserne Töpfe kochten über oder spritzten ihren Inhalt auf die Holzkohle, beißender Rauch stieg auf. Das deutlichste Anzeichen aber waren das fehlende Tafelsilber und die verschwundenen Messer. Elaine betrachtete die verlassene Küche und presste die Lippen zusammen. Mit einer beinahe wilden Bewegung berührte sie das schlafende Kind. »Ich will wie sie werden, wenn ich das Kind damit retten kann. Noch weniger will ich werden. Alles, was sein muss, will ich tun.« Ban nickte nur. Er winkte sie zur Kellertreppe. Dunkel war sie, ohne Geländer und mit Moos bewachsen. Ganz anders als die Treppen, die zu den königlichen Gemächern führten. »Es ist gar nicht so schrecklich, ein Bauer zu werden. Ein Bauer ist freier als ein Edelmann. Gewiss, sie sind Leibeigene. Gewiss, sie müssen dienen, wie man es ihnen
befiehlt. Doch wer ist schon darauf aus, einen Bauern zu töten? Niemand. Wer aber sucht einen König, eine Königin und einen Prinzen zu töten? Jedermann.« Sie stiegen vorsichtig hinab, bis Ban die Kellertür öffnen konnte. Knirschend ging sie auf, und ein kühler, feuchter Luftzug wehte ihnen entgegen. Vor der Tür waren Bierfässer aufgestapelt, und hinter den Fässern und Kisten waren Haken angebracht, auf denen die Bauern ihre schäbige Kleidung zurückließen, wenn sie die Livree von Benwick anzogen. »Siehst du, wie ich es mache?« Ban legte die Hermelinstola und das Seidenhemd ab und schnappte sich einen abgetragenen Rock aus Sackleinen. »Wenn die Kleidung den Mann macht, dann bin ich jetzt ein anderer.« Er wollte schon über seinen eigenen Scherz lachen, doch dann fiel sein Blick auf Elaine. Groß und reglos wie eine Statue stand sie da, und ihre Tränen fie 10
len auf Lancelot. »Wie wollen wir das alles je zurückgewinnen? Wenn wir es nicht einmal halten können, wenn unsere Heere hier sind, wie wollen wir es dann ohne Truppen zurückgewinnen?« »Wie wollen wir es zurückgewinnen, wenn wir tot sind?«, gab Ban angriffslustig zurück. Dann lenkte er ein. »Ich hätte nicht so grob sein dürfen, verzeih mir, meine Liebe. Ich denke nur an unseren Sohn.« Er riss sich die Hose vom Leib und warf sie weg, schnappte sich zerlumpte Beinkleider mit Löchern an den Knien und im Schritt. »Auch wenn wir nicht zurückgewinnen können, was wir verlieren, Lancelot wird es gelingen. Unser Leben hat vielleicht die Blüte schon hinter sich, aber seines beginnt erst.« Er schlang einen Hosengurt aus einfachem Seil um seine Hüften. »Merlin sagte, unser Sohn solle ein Ritter werden - der größte aller Ritter sogar. Er wird zurückgewinnen, was wir heute verlieren.« Ban zog das Kleid einer alten Frau vom Haken und brachte es seiner Gattin. »Zieh das an.« Er nahm das Kind auf den Arm und hielt ihr mit der anderen Hand die Kleider hin. Elaine zitterte sichtlich. Nachdem ihr das Kind genommen war, schlang sie die Arme um sich, als wäre ihr kalt. »Ich kann das nicht tragen.« »Zieh es an«, befahl König Ban. Sie schauderte. Widerwillig, unter Tränen und voller Zorn, aber auch verwirrt begann sie sich zu entkleiden. Es war schrecklich mit anzusehen. Wie eine Frau, die vergewaltigt wurde, was in gewisser Weise sogar zutraf. Jede Vornehmheit war ihr genommen, weggerissen wie das Seidenhemd, das jetzt auf dem Boden lag. Bald stand sie nackt vor ihrem Mann, das Kleid der Alten immer noch in der linken Hand. Sie stieß einen kleinen, verzweifelten Schrei aus. Lancelot regte sich und tastete nach der Mutter. Er fühlte die breite Brust seines Vaters und suchte nach der Quelle. Nur Sackleinen füllte seinen Mund. Er quengelte und nahm Anlauf zu einem größeren Protestgeschrei. Ein wenig grob und drängend wiegte Ban das Kleinkind. Auf einmal wurde ihm bewusst, dass er es noch nie getan hatte. »Lancelot«, murmelte er verzückt. Er hob das Hemd eines Gemeinen auf, wickel 10
te das Kind ein und küsste es auf die Stirn. »Siehst du, Elaine? Schon bin ich ein besserer Mann geworden. Ich kümmere mich um mein eigenes Kind, küsse meinen Sohn und beschütze ihn. Das Werk eines Bauern, die Freiheit eines Bauern.«
»Und ich bin eine schlechtere Frau geworden.« Sie hüllte sich in das gestohlene Gewand. Die schlanke und starke Gestalt und die jugendliche Haut verschwanden unter erbärmlichen Lumpen. »Jetzt bin ich ein altes Weib.« ' »Nicht für mich, obgleich ich hoffe, dass du sehr alt wirst«, sagte Ban. »Lass uns gehen, meine Liebste. Wir wollen uns und den künftigen König von Benwick retten.« Er fasste Elaine an der Hand und führte sie die Küchentreppe hinunter und nach draußen in die dunkle Nacht. »Die Dunkelheit wird uns helfen«, überlegte Ban. »Und der Schmutz und die Verzweiflung. Sie werden uns mit sich tragen wie ein Fluss.« Eine Tür öffnete sich knarrend, und seine Worte sollten sich sogleich als wahr erweisen. Im Außenhof drängte sich das fliehende Volk, die Straße dahinter war ein Strom voller Menschen. »Wir werden uns mit diesem Strom treiben und in die Sicherheit tragen lassen.« Alle Ströme, auch die menschlichen, führen zur See. Die Flüchtigen drängten sich durch die Straßen und quetschten sich durch die Gassen. Einige landeten sogar schon im Wasser. Die meisten liefen auf den Pieren herum, bis sie eine Laufplanke fanden und an Bord eines Bootes gelangten. Alles, was sie brauchten, war ein freies Fleckchen an Bord. Nicht einmal ein williger Kapitän war von Nöten - wer sich sträubte, wurde kurzerhand über Bord geworfen. Schiffe stachen in See. Um ein Vielfaches der normalen Kapazität überladen, lief eine riesige, hoffnungslose Armada aus dem Hafen von Benwick aus. Rümpfe stießen zusammen. Boote kenterten. Kämpfe brachen aus. Meutereien flammten auf. Doch trotz aller Rückschläge entfernte sich die Flotte des Pöbels von der brennenden Stadt. Die steinerne Mole griff wie eine Klaue nach ihnen - die letzte Kralle des Landes —, und einige weitere Menschen starben. Die anderen trieben auf die schwarze Weite des Meeres hinaus. 11
Einige Schiffe segelten nach Süden gen Iberien. Andere machten sich nach Westen auf, wo nichts als das Verderben wartete. Die meisten wandten sich nach Norden und hofften auf ein freundliches Willkommen in der Bretagne. Königin Elaine, König Ban und Prinz Lancelot befanden sich auf einem dieser Schiffe — einem Handelsschiff, das zuletzt Fässer mit Pökelfisch an Bord gehabt hatte. Alles stank danach. Alles bis auf den Kapitän, der nach anderen Dingen roch. Der alte Säufer war halb niedergestreckt vom Roggengeist, als sein Boot übernommen wurde. Freundlich und betrunken willigte er ein, seinen Bruder in der Bretagne zu besuchen. »Er wird euch willkommen heißen. Er hat Töchter für jeden.« Das brave Schiff hieß Zweifel. Es roch nach Fisch und Angst — aber es segelte. Im Laderaum stand die Luft vor Gestank. Wenigstens waren die Menschen, die sich dort drängten, vor dem Wind und der Schwärze draußen geschützt. Diejenigen, die auf Deck ausharrten, konnten in der kalten Nacht besser atmen - oder auch schlechter. Der Wind zerrte an ihnen und riss an ihren Kleidern, versetzte ihnen Ohrfeigen und heulte in ihren Ohren. Die See war die Mitverschwörerin des Windes. Wellen donnerten zornig an den Schiffsrumpf. Tiefe Täler klafften vor dem Bug und ließen das Schiff stürzen, bis Gebirge aus Wasser wuchsen und es dem aufgewühlten Himmel entgegen hoben. Inmitten des Aufruhrs vergaß König Ban seine eigenen Sorgen. Benwick war verloren und wurde, unsichtbar hinter dem Horizont, ein Opfer der Flammen. Allein die tiefe, mahlende Schwärze droben und drunten war noch da. Er war der König von überhaupt nichts mehr. Seine Lumpen waren schlechter als die der meisten Pflüger und Fischweiber an Bord. Die Frau neben ihm war keine Königin mehr, sondern eine verzweifelte, verängstigte Alte in
Lumpen. Das Schlimmste aber war, dass Lancelot inzwischen nichts weiter war als ein schreiendes Kleinkind. Vergangenheit und Zukunft wurden von der Schwärze verschlungen, und nur die allgegenwärtige, unerträgliche Gegenwart war ihm geblieben. Lancelot schrie. Ein Geschöpf mit solcher Wut im Bauch musste kämpfen und konnte vielleicht sogar überleben. 12
Ban wollte diese Wut fühlen. Er drehte sich zur Seite und langte nach seinem Sohn. Elaine schien nur zu froh, ihn abgeben zu können. Ban hob den strampelnden Jungen hoch, der sich grau gegen die dunkle Nacht abzeichnete. Elaine zog Bans Arme wieder nach unten. Er wiegte das Kind und drückte den Kopf gegen sein Herz. »Möge dich der gleichmäßige Herzschlag trösten, mein liebes Kind. Du sollst keine Angst haben.« Lancelot beruhigte sich einen Moment, dann trat er aus. Bans Arm, der tausende von Schwerthieben auf Schilde ausgehalten hatte, konnte diesen einen Tritt des kleinen Kindes nicht ertragen. Ein heißer Schmerz fuhr von seiner Schulter durch den Ellenbogen bis hinunter ins Handgelenk. Es war, als bestünde das Kind aus rot glühendem Eisen. Ban hatte Mühe, ihn nicht fallen zu lassen, während der scharfe Schmerz nun auch noch auf den Nacken übergriff. Lancelots Protestschreie aber wurden immer lauter. »Er hat dir einen Fluch auferlegt«, keuchte König Ban. Der linke Arm baumelte hilflos, als er das Kind auf die rechte Seite herübernahm und seiner Mutter zurückgeben wollte. Nimm ihn, wollte Ban sagen, doch er hatte nicht einmal mehr genug Kraft zum Sprechen. Missmutig nahm Elaine den Jungen wieder an sich. Keuchend presste Ban sich die Hände auf die Brust. Alles bis auf den Schmerz war verschwunden. Sogar der Herzschlag war nicht mehr zu spüren. Mit vortretenden Augen glotzte er seine Frau an. Elaine und Lancelot schwebten in der Mitte eines tosenden Tunnels. Sie schienen sich zu entfernen, doch es war Ban, der entschwand. »Behüte Lancelot, meine Liebe«, keuchte König Ban von Benwick. Dann war er tot. Das Unwetter ließ nicht nach - auch hier nicht, an Land, zwei Tage später und bei hellem Tageslicht. Nicht hier in Britannien (hatte man nicht gesagt, das Schiff segelte in die Bretagne?) auf den weiten Ebenen, weit entfernt von den Felsen, die das Schiff zerschmettert hatten. Der Sturm, in dem Elaine stand, würde niemals mehr abebben. Er tobte in ihr selbst. In ihren Ohren heulte der Wind, im Mund brann 12
te das Salzwasser, auf der Haut stach der Regen. Am schlimmsten aber war es, wenn sie ihr Kind Lancelot anschaute. Schwarze Wolken zogen über seine blauen Augen. Der Vater des Jungen war tot. Er war vor Kummer gestorben. Warum war der Engel herabgekommen und hatte den Vater, aber nicht die Mutter genommen? Was war denn mit ihrem eigenen Kummer? Man hatte Ban über Bord werfen wollen, als sein Körper kalt war, doch sie hatte es verhindert. »Er ist der König!«, hatte sie erklärt. »König Ban - euer König.« Die Menschen hatten sie getröstet mit weichen Armen, aber gehässigem Grinsen. Man hatte sie für verrückt gehalten. Die Leute hatten Recht. Sie hätten den Toten über Bord werfen und den Haien zum Fraß überlassen sollen. So hatten ihn eben die Felsen zerfetzt. Zwei Tage lang war sie mit Lancelot gewandert. Sie wurde ständig schwächer, er wurde stärker. Sie nahm nichts zu sich außer Wasser, er aber nährte sich von ihrem Leib, ihrem
Blut, ihren Knochen. Eine Frau musste nicht bei Sinnen sein, um für ihr Kind zu sorgen, solange sie nur Milch hatte. Doch nun war die Milch versiegt. Sie hatte ihm nichts mehr zu bieten. Der Tod würde sie beide holen. Der siebentausendsechshundertvierunddreißigste Schritt, der siebentausendsechshundertfünfunddreißigste Schritt. Sie stand knietief im Morast, im Brackwasser. Ringsum wuchs Schilf. Wenn sie den Blick hob, sah sie sumpfige Niederungen, dahinter Hügel und über sich einen dräuenden Himmel. Inmitten des von Ungeziefer bevölkerten Sumpfs erhob sich ein dreieckiger Hügel. Wie ein verbeulter Hut mit durchnässter, tropfender Krempe sah er aus. Elaine sank im Schlamm auf die Knie. Vielleicht kam ihre Milch wieder, wenn sie trank. Die rissigen Lippen näherten sich dem Wasser. Sie stieß eine Anklage aus, eine Gotteslästerung, ein Gebet: »Mutter Gottes!« Plötzlich sah Elaine sich von einem Strahlen eingehüllt und schaute auf. 13
Jemand kam. Sie schritt auf dem Wasser, wie es ihr Sohn in Galiläa getan hatte. Licht ging von ihr aus, als trüge sie einen Stern anstelle eines Kleides. Ihr Strahlen verbrannte die trockenen Stängel, durchdrang das schlammige Wasser und reinigte den Sumpf. Tiefer und weiter wurde die Wasserfläche um sie herum. Ihre Schritte verwandelten die Oberfläche in Silber. Engel bewegten sich im Wasser und in der Luft. Elaine starrte in das Licht der Liebe, und endlich ließ der Sturm in ihr nach. Alle unreinen Winkel wurden gereinigt, jeder hoffnungslose, hilflose Gedanke verbannt. Nachdem sie zwei Tage lang den Säugling krampfhaft gehalten hatte, lockerten sich endlich ihre Arme. Elaine stand voller Ehrfurcht vor der prächtigen Gestalt. »Mutter Gottes«, keuchte sie. »Du hast mein Gebet erhört.« Voll unendlicher Liebe antwortete ihr eine Stimme. »Ja. Ich bin gekommen, um dein Kind zu nehmen.« Erst jetzt bemerkte Elaine, dass Lancelot irgendwie aus ihren kraftlosen Armen verschwunden war und still und zufrieden an der Brust der Frau ruhte. Doch obwohl halb wahnsinnig, ohne Milch und verzweifelt, war Elaine noch immer eine Mutter. »Du kannst mir mein Kind nicht wegnehmen.« Ein Ausdruck tiefer Trauer trat in die Augen der Frau. Eine Trauer, die Elaine bekümmerte. »Ich kann ... aber ich werde es nicht tun. Wenn er mit mir kommt, wird sich sein Schicksal erfüllen — er wird der größte Ritter sein, der je gelebt hat, und er wird Benwick beanspruchen, nachdem Claudas tot ist.« Sie hielt ihr das Kind hin. »Wenn ich ihn dir zurückgebe, wird nichts davon geschehen, und ihr beide werdet dem Wahnsinn anheim fallen und verhungern. Du hast die Wahl.« Elaine war immer noch eine Mutter. Sie neigte den Kopf. »Dann rette ihn, Herrin. Lass ihn sein, was ihm bestimmt ist.« Es war genug. Augenblicke, die man im Traum und in der Gegenwart des Göttlichen erlebt, können Stunden währen. Ein einziger Satz vermag ein ganzes Buch zu füllen. Sie war fort, die Frau, die sich in einen Stern gekleidet hatte. Das 13
Schilf war wieder da, der von Ungeziefer erfüllte Sumpf, die zerklüfteten Hügel, alles. Es war nur eine Vision gewesen, ein Fiebertraum — doch Lancelot blieb verschwunden.
Elaine erinnerte sich noch, wie die Kraft aus ihren Armen gewichen war. Sie schrie auf, sank auf die Knie, grub die Hände in den Schlamm und durchwühlte ihn. Er musste dort sein, er trieb ja nicht an der Oberfläche. Er musste dort sein, zwischen den Schlangengruben und Wurzeln. Nichts Warmes spürte sie, nur kalte Fäulnis. »Lancelot!«, kreischte sie. Sie warf sich nach vorn, zur einen und zur anderen Seite. Im aufgewühlten Wasser wallte der Dreck. Sie tauchte unter und forschte mit beiden Armen im Schilf. Vergebens. So war echter Kummer. Sie vergaß sich, atmete einen tiefen Zug Wasser ein und spuckte es zuckend wieder aus. Neues Brackwasser strömte herbei und ersetzte, was sie ausgestoßen hatte. Sie ertrank. Egal. Zuerst Ban, dann Lancelot, jetzt Elaine. Sie ertrank. Wenn sie sein Fleisch, das Fleisch ihres Kindes nicht mehr berühren konnte, dann war ihr alles egal. Sie ertrank. Eine Hand ... sie spürte eine Hand ... die Hand packte sie und zog sie heraus - keine Kinderhand, sondern die Hand einer alten Frau, einer gebeugten alten Frau, deren Muskeln sich wie Garn auf dürren kleinen Knochen spannten. »Kind, welcher Teufel ist nur in dich gefahren?«, fragte die Äbtissin. Elaine stieß die Hand fort und spuckte die Frau an. Maria hatte ihr Gebet nicht erhört. Maria hatte sie verhöhnt und ihr das Kind genommen. Elaine kreischte. Blubbernd vor schäumendem Blut drang der Schrei aus ihrem Mund. Sie wollte sich wieder in den Morast werfen, doch der Boden sprang ihr entgegen und schlug sie nieder. Die Äbtissin bückte sich und stemmte ihr ein Knie in den Rücken. »Ruhig, mein Kind. Wir werden den Dämon austreiben. Du wirst wieder gesund werden, du sollst wieder heil werden.« Elaine zischte und spuckte Schlamm. »In nomine patri et filii et Spiritus sancti ...« 14
Er träumte. Sogar Kinder träumen. Kleinkinder tun nichts anderes als träumen. Schon einmal war er vom Wasser getragen worden — das Wasser unter Mutter pochendem Herzen, das Wasser unter Vaters donnerndem Himmel. Von einer Welt zur nächsten hatte ihn das Wasser getragen. Jetzt träumte er von neuen Wassern - weich wie eine Windel und tief wie der Blick einer alten Frau. Das Wasser trug ihn in die nächste Welt, zu einem alten, aber doch ganz neuen Ort... 14
2. Knabenzeit Er stand früh auf. Die Sonne schlief noch hinter den schwarzen Hügeln. Vor der Dämmerung war der See wie Gold, wie flüssiges Gold. Kleine Wellen fingen die Sonnenstrahlen ein, noch bevor sie am Himmel aufschienen. Lancelot mochte das Dämmern. So nannte Tante Brigid dieses Licht. Das Dämmern wenn der Tag in der Nacht aufging oder die Nacht sich dem Tag ergab. Wenn Dunkelheit und Licht sich mischten und man das eine nicht vom andern unterscheiden konnte. Lancelot stieg gern beim ersten Morgendämmern aus den Federn. Die Erwachsenen beherrschten den Abend, doch der Morgen - noch bevor Hahn und Kessel sangen -, der Morgen gehörte Lancelot.
Er ging barfuß. Schuhe waren grausam. Warum einem Tier die Haut wegschneiden, um Menschenhaut zu bedecken und sich Blasen zu laufen? Das Gras war da, um zwischen die Zehen zu gleiten. Sohlen waren da, um hart zu werden und die Farbe der Dinge anzunehmen, auf die sie traten. Lancelots Fußsohlen waren grün. Es gab viel Gras in Avalon. Er rannte durchs Gras. Tau spritzte. Zehn Tropfen saßen auf jedem Blatt. Jeder Tropfen barg noch die Kälte der Nacht. Sie funkelten wie Diamanten, nur weicher. Lancelot rannte durch die Apfelbäume — hübsche, wilde kleine Bäume. Sie wurden gern knorrig wie Eichen und waren versponnen wie wilde Möhren, aber es waren Apfelbäume - weiß im Frühling und grün im Sommer, rot im Herbst und dann wieder weiß im Winter. Wie schnell die Winter vergingen. Schnell wie die kurze Dunkelheit, wenn das Auge blinzelt. Zwölf waren es nun schon. Lancelot war die ganze Zeit gewachsen, doch er maß die Zeitspannen in Apfelbäumen und nicht an seinem aufblühenden Leib. 15
Er rannte zwischen die Apfelbäume. Weder sie noch die Eichen hatten die langen, schlanken Äste, die er brauchte. Wer will schon ein Schwert, das krumm ist wie der Ast einer Eiche? Nur Birken geben ordentliche Schwerter. Lancelot sprang vor einer hoch und brach einen Ast ab - einen toten Ast. Tante Brigid hatte ihn gelehrt, keine grünen Äste abzubrechen. Er riss die kleinen Zweige ab, löste die Rinde und ließ sein Schwert durch die Luft sausen. Es machte ein pfeifendes Geräusch, als bestünde es tatsächlich aus Stahl. Das war mal ein Schwert! Eine gut ausbalancierte Klinge, die mit tödlicher Genauigkeit niederfahren konnte. Lancelot machte einen Ausfallschritt, traf mit der Klinge den Feind. Er musste nie zurückweichen, denn seine Schwertkunst war unübertroffen. Er setzte nach, führte den Stahl mit der jugendlichen Kraft seines Arms, seiner Schulter und seines Rückens. Sein Gegner hatte einem solchen Angriff nichts entgegenzusetzen und zog sich taumelnd zurück. Mit einer brillanten Parade und Riposte blockte Lancelot den nächsten und bisher besten Schwertstreich seines Gegners ab und beendete den Kampf mit einem Stich in dessen Herz. Gleichgültig zog er das Stockschwert aus dem gefallenen Körper, wischte es lässig im hohen Gras ab und schob es in die geträumte Scheide am Waffengurt. Dann wanderte er gemächlich zum See. Dort am Ufer gab es eine Stelle, die Lancelot den »verzauberten Ort« nannte. Er hatte niemandem von dessen Existenz erzählt, von der genauen Ortsangabe ganz zu schweigen. Dort liefen die vom Wind getriebenen Wellen des Sees auf einen halb untergetauchten, rissigen Felsbrocken auf. Löcher im Stein ließen kleine, lebhafte Fontänen aufschießen. Schnell, geschmeidig, unberechenbar — diese Fontänen boten Lancelot eine ganze Heerschar von Feinden, die ihn schulten. Immerhin war er ein Prinz und der einzige Erbe des Throns von Benwick. Claudas hatte die Stadt erobert, und wenn Lancelot nicht zu kämpfen lernte, dann konnte er sein verlorenes Erbe niemals wiedergewinnen. Der verzauberte Ort war sein Schwertmeister. Lancelot trat auf den Felsblock, stand inmitten der Löcher und sammelte sich. Unverhofft sprangen hier und dort kleine Geysire auf. Stets unberechenbar waren sie, nie zu packen. Die kleinen Fontänen 15
forderten ihn heraus und schärften seine Reflexe im Schwertkampf. Es waren überhaupt keine Fontänen, es waren Claudas' Männer. Er fuhr herum, schlitzte einem Eindringling den Bauch auf und schnitt den Hund entzwei, bevor die Wassersäule in sich zusammenfiel.
Im ersten Jahr hatte er es mit Mühe und Not geschafft, sich umzudrehen und jede flüssige Bedrohung zu erschlagen, die sich rings um ihn erhob. Jetzt war er so schnell, dass sein bloßer Blick auszureichen schien, um das Wasser zu locken und die Fluten zu zwingen, seinen Vorstellungen gemäß zu kämpfen. Das war die wahre Ritterschaft - ein Mann, der den gegnerischen Krieger nicht nur besiegen, sondern den Feind so fechten lassen konnte, wie er selbst es wünschte. Lancelot drehte sich um die eigene Achse, und das Schwert war schnell, aber das Auge war schneller. Er zerschnitt eine Wassersäule, besiegte eine zweite, bevor sie überhaupt aufschießen konnte, und erweckte eine dritte mit grimmigem Starren zum Leben. Es schien beinahe, als wäre das Wasser ein lebendiges Geschöpf, das auf seine Wünsche reagierte. Bald jedoch wurde Lancelot des Spiels überdrüssig, wie es eben bei jungen Burschen geht. Er verließ die Lehrmeister des Wassers und wandte sich denen aus Stein zu. Der verzauberte Platz lag in der Nähe eines Steinbruchs, in dem weißer Stein gewonnen wurde - die zusammengepressten Schalen und Knochen von Meeresgeschöpfen. Zurechtgeschnitten und gestapelt, gaben die toten Tiere schöne Gebäude ab. Noch tropfnass nach seinem Kampf im See, lief Lancelot über den feuchten Sand und einen langen, flachen Hang hinauf. Auf dem schrägen Stein hinterließen seine Füße makellose Abdrücke. Er stieg bis zur Kante des Steinbruchs und starrte hinab. Wie die Ameisen schufteten dort unten die Steinhauer - unermüdlich und wortlos. Die Spitzhacken klirrten laut, Sägen zerteilten rasselnd den Stein. Gestalten schleppten Steinplatten, die sie mit staubigen Fingern hielten. »Beschwerlich« - das war das Wort, welches Tante Brigid für sie gebrauchte. Sie waren gebeugt von den schweren Lasten, sie bekamen krumme Beine und wurden in die Erde ge 16
drückt. Trotz ihrer schweren Arbeit aber waren sie Lancelots Freunde und spielten seine Spiele mit. »Ho, ihr da unten, mein Volk«, hob Lancelot an. Er versuchte, mit männlich voller Stimme zu rufen. »Wie geht es denn so mit der Hauerei?« Wie auf Kommando hielten sie inne und schauten hinauf. Augen zwinkerten unter grauen Brauen, Lippen verzogen sich unter dichten Schnurrbärten zu einem Lächeln. Sie verneigten sich, wo sie auch standen, und einige riefen sogar: »Es ist der Prinz!« Tante Brigid hatte ihnen erzählt, wie Lancelot hergekommen war — die Stadt ein Opfer der Flammen, der Vater tot, die Mutter von Sinnen -, und all dies lastete nun auf so jungen Schultern. Von Stund an nannten sie ihn nur noch den Prinzen. »Die Arbeit geht gut, junger Herr. Zwei Wochen noch, dann haben wir genug Stein für den neuen Hexenkessel.« »Tante Brigid sagt, er werde verwunschen sein«, erwiderte Lancelot. »Lauter Meeresgeschöpfe, und sie sollen Flammen in ihrer Mitte bergen.« Der Steinhauer nickte ehrerbietig. »Ganz Avalon ist verwunschen, junger Herr. Und so soll es auch immer bleiben.« »Ja«, stimmte Lancelot zu, auch wenn er in Gedanken schon wieder woanders war. An einem anderen Tag wäre er vielleicht in den Steinbruch hinuntergestiegen und hätte sich zwischen Staub und Stein in höfischer Politik geübt. Wenn der verzauberte Platz ihn den Umgang mit Feinden lehrte, so zeigte ihm der Steinbruch, wie man mit Freunden zu verkehren hatte. Heute aber zog es ihn fort. Die Erwähnung des neuen Hexenkessels hatte in ihm den Wunsch geweckt, den Vorgänger anzuschauen. Er war aus Bronze und alt, grün
und vom Rost zerfressen, dass er beinahe lebendig wirkte. Lancelot konnte ihn bereits drüben in den fernen Hügeln spüren. »Ich danke euch für eure Mühe, Männer. Ich muss jetzt gehen und den alten Hexenkessel inspizieren.« Wieder verneigten sie sich tief. Einer nahm sogar mit eleganter Geste die staubige Mütze ab. 17
Lancelot stieg lächelnd den Hügel hinauf. Er schritt durchs Heidekraut und achtete darauf, es nicht unter seinen Füßen zu zerdrücken. So dick und grün die Schwielen an seinen Füßen auch waren, er konnte den Tod einer einzigen Blüte spüren, und solche Empfindungen bekümmerten ihn. Das Leben den Lebenden, wie Tante Brigid immer sagte. Nie, niemals darfst du ein Lebewesen versklaven, Lancelot. Wenn du schon musst, dann versklave die Toten und benutze die Vergangenheit, um die Gegenwart besser zu machen. Am Ende leben wir doch alle in der Gegenwart, und wenn jeder gegenwärtige Augenblick voller Leben ist, dann wird es in der Vergangenheit wie in der Zukunft keine Bosheit mehr geben. Das Leben den Lebenden. Es war mehr als ein guter Rat und mehr als ein Glaubenssatz. Es war der Pulsschlag, der Lancelots Blut bewegte. Warum ein Herz haben, wenn es nicht heftig pochen darf? Warum einen Arm haben, wenn nicht, um unermüdlich zu kämpfen? Warum einen Kopf haben, wenn nicht, um immerfort zu lernen? Er stieg bergan, mühelos und ohne außer Atem zu kommen. Der Hexenkessel zog ihn an. Die bloßen Füße fanden im zerklüfteten schwarzen Hügel mühelos einen Halt. Der Steinbruch mit den seltsamen kleinen Männern war schon fast vergessen, der verzauberte Platz war entschwunden. Jetzt gab es nur noch die weite grüne Senke, die sich in den steilen Hügel schmiegte. Es war ein heiliger Ort, an dem geopfert wurde. Die Leute brachten schöne Dinge mit, knieten zum Gebet nieder und schenkten her, was sie hatten. Viele gaben Gold oder Edelsteine in den schwarzen Bauch des Hexenkessels und erweckten so sein Feuer zum Leben. Tante Brigid nahm die grünen Zweige, die sie ihm abzubrechen verboten hatte, und einen Fisch, den sie aus dem Netz freigekauft hatte, oder ein großes Bündel Heidekraut. Das waren ihre größten Schätze, die sie häufig im Hexenkessel opferte. Ewig kamen die Opfergaben, ewig stiegen die Gebete mit dem Rauch gen Himmel, und ewig brannte das Feuer. Sehr selten kam es auch vor, dass eine arme Seele sich in die Flammen warf und das Feuer mit dem eigenen Leib nährte, um als Asche zum Himmel aufzusteigen. 17
Wie verzweifelt musste man sein, um sein Leben in einer kurzen Feuersbrunst zu vergeuden? Das Leben den Lebenden. Lancelot stand nun vor dem mit Grünspan bedeckten Kessel auf der weiten Wiese. Schwarzer Rauch stieg aus der großen Schale — ein Opfer, ein frisches Opfer aus Fleisch. Lancelot sank auf die Knie und neigte den Kopf. Die Hitze aus dem Kessel umhüllte sein Haar und die Schultern. Er verstand die Bedeutung. Wenn man sich dem Göttlichen näherte, musste man etwas opfern, das einem teuer war, vielleicht sogar sich selbst. Bisher hatte er sich dem Kessel immer zusammen mit Tante Brigid und dem vollen Gefolge genähert. Heute war er allein. Was konnte er opfern? Er war arm. So arm wie Tante Brigid, die nur Blumen und Stöcke opferte. Er blieb gebeugt hocken, tastete nach dem Gürtel und zog den kleinen Birkenast
heraus. Er hielt ihn vor sich und starrte das graue Holz an. Wenn es ein echtes Schwert wäre, dann könnte man es im Kessel opfern. Aber dieser Ast? Trocken und grau, wie er war? Ich habe nichts zum Opfern. »Deine Träume haben den Stock in etwas anderes verwandelt«, sagte Tante Brigid. Lancelot blieb hocken, doch er sah sich zu ihr um. Tante Brigid stand am Rand der Plattform mit dem Kessel. Sie trug ein Reisegewand, das einst blau gewesen war, jetzt aber die Farbe von Staub angenommen hatte, einen geflochtenen Gürtel und Sandalen, die sie nun abstreifte. Sie zog die Kapuze ihres Gewands zurück und ließ das Sonnenlicht auf das graue Haar scheinen. Weisheit strahlte aus ihren Augen und machte die Anzeichen des Alters vergessen. Lancelot wusste nicht zu sagen, ob sie alt oder jung war, er wusste nur, dass sie schön war. Sie trug ein Bündel Reisig, einen Bund Blumen und einen Fisch. »Wenn es dir viel bedeutet, dann ist es auch für den Kessel von Wert.« Hatte sie ihn gehört? Hatte er unwillkürlich laut gesprochen? Lancelot senkte den Blick. »Ich will etwas Echtes opfern, keinen bloßen Traum.« 18
»Träume sind etwas Echtes«, antwortete sie. »Besonders wenn man sie opfert.« »Warum opferst du dann diese Dinge und nicht deine Träume?« »Diese Dinge sind meine Träume.« Andächtig kam sie näher und setzte die Füße genau auf jeden Abdruck, den er hinterlassen hatte. Ihre Augen blickten in weite Fernen. »Einst habe ich an einem weiten Ufer und einem tiefen Meer gewohnt. Ich hatte einen Mann, den ich geliebt und verehrt habe. Er verehrte auch mich. Ein Fischer war er, der seine Netze zwischen Felsen und Haien auswarf. Er warf sie aus und schleppte sie und zog sie ein, bis das Dollbord zu brechen drohte. Wenn es dunkel wurde, entfachte ich am Strand ein Feuer, um seinem Boot den Weg nach Hause zu leiten ...« Sie hob das Holzbündel, küsste es und ließ es in den Kessel gleiten. Begierig fraßen die Flammen die Zweige, und das Holz verbrannte. Die Stöcke rollten auseinander, knisterten vor Saft. Ein beständiges Rauschen war zu hören, ähnlich den Wellen am Strand. »Die ganze Nacht schnitt und stapelte ich die Zweige, damit die Flammen über den Schaumkronen zu sehen waren, doch dort, wo er war, gab es kein Licht. In der Morgendämmerung ließ ich die Flamme niederbrennen und hielt vergebens Wache. Zwei Nächte harrte ich voller Sorge am Feuer aus. Lang genug, um den Erlöser zu erwecken, aber nicht meinen Liebsten. Endlich trugen ihn die Wellen an Land - an Bord eines Schiffs, das so sehr mit Fischen gefüllt war, dass es fast unterging.« Sie gab den Fisch in den Kessel, und eine schwarze Rauchwolke stieg auf. »Ich küsste seine Lippen - so kalt waren sie. Ich zog ihn aus dem Boot und weinte. Ich trug, was von ihm übrig war, zur grünen Ebene. In meinen Röcken sammelte ich Heidekraut, und auf sein Grab legte ich die Zweige, die mit mir getrauert hatten ...« Sie legte den Strauß Heidekraut in den Kessel und sah zu, wie er in die Flammen rollte. Dann wandte sie sich wieder an Lancelot. »Nicht was du besitzt ist wichtig, mein Junge. Nur das, was du liebst.« Die Antwort sprang wie von selbst über Lancelots Lippen. »Ich liebe Avalon. Ich weiß schon, du sagst, ich sei der Prinz von Benwick und es sei mir bestimmt, ein großer Ritter in Camelot zu werden, und ich müsse lernen zu lesen und zu handeln, zu kämpfen und zu arbei 18
ten, da die Welt mich rufe. Aber mehr als alles andere liebe ich diesen Ort.« Tante Brigid sah ihn ernst an. »Dann gib dein Schwert, Lancelot. So groß du auch im Krieg sein wirst, sei bereit, diese Größe für Avalon zu opfern.« »Ich bin bereit.« Endlich erhob er sich wieder. Der Prinz von Benwick streckte Hals und Rücken und stand stolz wie ein Mann. Er warf den Zweig in den Kessel und sah ihm zu, wie er verbrannte, rot wie eine offene Wunde. Das Feuer verzehrte ihn ihm Nu, und das Schwert war verschwunden. Er träumte in dieser Nacht wie in jeder Nacht. Wie der alte Apoll ritt Lancelot auf der Sonne in die Unterwelt. Sie versank im See, und ihre Glut wurde im Wasser gelöscht. Auch Lancelot brannte. Er klammerte sich an den Sonnenwagen, ging in den Fluten unter und starrte staunend in die bizarre Welt, die ihn umgab. Eines Nachts würde er in diesen schweigenden Tiefen schwimmen und wieder aufsteigen und sich an alles erinnern. Eines Nachts, aber nicht in dieser Nacht. Die Fluten sangen und trieben ihm die Erinnerungen aus, und dann schwemmten sie seine Gedanken und alles, was er war, davon. Er trieb an die Oberfläche des Traums und tanzte auf den Wogen wie ein Ertrunkener. Die Sonne stieg ohne ihn aus dem See. Lancelot erwachte und erinnerte sich nicht. 19
3. Von Waffen und Rüstungen Sechs Sommer kamen und gingen. Er wuchs, und Tante Brigids Heim schrumpfte. Regelmäßig hatte er Zusammenstöße mit dem Türsturz. Dieser Morgen sollte keine Ausnahme sein. »Verdammt!«, knurrte er, als er in den Herbstmorgen hinaustaumelte. Schlaksige Beine verhedderten sich - er hatte die Größe, aber noch nicht die Breite eines erwachsenen Mannes -, und er strauchelte. Lancelot hielt sich den Kopf, zwischen den Fingern lugten blonde Büschel hervor. Er wiegte sich ein wenig hin und her und verdrehte die Augen, bis er wieder klar sehen konnte. »Verdammt auch!« »Was fluchst du denn so, mein Lieber?« Tante Brigid war hinter ihm im Türrahmen aufgetaucht. Lancelot stöhnte. »Dieser verdammte Türsturz. Da könnte ich doch gleich einen Räuber anheuern, der sich hierher stellt und mir jedes Mal, wenn ich herauskomme, mit einem Vorschlaghammer auflauert.« »Du meinst, damit du dich daran gewöhnst?«, neckte Tante Brigid ihn. Sie trug ihre Gärtnerkluft — die Knie verkrustet mit Erde und der Stoff auf dem Rücken gebleicht von der Sonne. Heute war jedoch kein Tag zum Umgraben, heute war ein Tag zum Äpfel pflücken. Sie lief an der vorderen Wand der Hütte entlang und strich mit den Händen zärtlich übers Efeu, bevor sie die alte, wacklige Leiter nahm. »Und das Fluchen gehört auch zur Ausbildung?« Lancelot gab sich Mühe, sein lächelndes Gesicht zu einer finsteren Miene zu verziehen. Er stand auf und klopfte sich die Rupfenhosen ab. »Krieger fluchen nun einmal, Tante.« »Ein Krieger, soso.« Sie begutachtete ihn. »Ein Krieger ohne Rüstung.« 19
Lancelot legte über der jugendlichen Brust die flache Hand auf das einfache Hemd. »Meine Rüstung heißt Courage.« Brigids Augen funkelten belustigt, während sie Reisigkörbe aus dem Schuppen holte und den Weg zum Obstgarten einschlug. »Courage ist ein gallisches Wort. Es heißt >voller
Herzenskraft